Mensch: Anthropologie in sozialwissenschaftlichen Perspektiven [1 ed.] 9783428526956, 9783428126958

Das vorliegende Buch, entstanden im Fachbereich Sozialwissenschaften an der Führungsakademie der Bundeswehr, bietet dem

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German Pages 297 Year 2008

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Mensch: Anthropologie in sozialwissenschaftlichen Perspektiven [1 ed.]
 9783428526956, 9783428126958

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Sozialwissenschaftliche Schriften Heft 44

Mensch Anthropologie in sozialwissenschaftlichen Perspektiven

Herausgegeben von Stefan Bayer und Volker Stümke

Duncker & Humblot · Berlin

STEFAN BAYER / VOLKER STÜMKE (Hrsg.)

Mensch Anthropologie in sozialwissenschaftlichen Perspektiven

Sozialwissenschaftliche Schriften Heft 44

Mensch Anthropologie in sozialwissenschaftlichen Perspektiven

Herausgegeben von

Stefan Bayer und Volker Stümke

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten # 2008 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: L101 Mediengestaltung, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0935-4808 ISBN 978-3-428-12695-8 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Der Fachbereich Sozialwissenschaften an der Führungsakademie der Bundeswehr zeichnet sich gegenüber vergleichbaren akademischen Einrichtungen durch zwei Besonderheiten aus: Zum einen ist er ein ziviler Fachbereich in einer ansonsten rein militärischen Institution: der Führungsakademie der Bundeswehr als höchster Ausbildungsstätte der deutschen Streitkräfte in der Freien und Hansestadt Hamburg. Zum anderen steht er wie kaum eine andere Institution für Interdisziplinarität – allein schon aufgrund der Zusammensetzung seiner Angehörigen. Solche Besonderheiten führen zwar bisweilen zu einigen Nachteilen, ermöglichen es dem Fachbereich auf der anderen Seite jedoch, die durch diese Doppelrolle besetzte Nische konstruktiv zu nutzen. Das eröffnet den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern die Möglichkeit, bundeswehrrelevante Fragestellungen aus ihrem spezifischen Forschungsblickwinkel zu analysieren und mithin einen Brückenschlag zwischen Theorie und Praxis anzubieten, der die theoretische Expertise des Fachbereichs auf den konkreten Gegenstandsbereich Bundeswehr anwendet. Darüber hinaus wird die Analyse nicht nur aus der Perspektive einzelner Wissenschaftsdisziplinen heraus vorgenommen, durch die multidisziplinäre Zusammensetzung des Fachbereichs besteht die in der deutschen Forschungslandschaft immer noch zu seltene Chance, die Anwendungsfragen multi- bzw. gar interdisziplinär anzugehen. Diese Möglichkeit wird in zunehmender Weise im Fachbereich genutzt: Interdisziplinäre Seminare bildeten den Anfang, die mittlerweile im Rahmen einer „Arbeitsgruppe Sozialwissenschaften“ institutionell verankert wurden. In dessen Rahmen werden Forschungsergebnisse einzelner Kolleginnen und Kollegen aus verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen diskutiert und es wird versucht, die disziplinären Ergebnisse mit den anderen Wissenschaftsdisziplinen in Verbindung zu bringen und auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede hin zu hinterfragen. Bei einigen Fragen findet sich schnell ein Konsens aller bzw. eines Großteils des Kollegiums. Viel spannender waren und sind allerdings die Diskurse, die aufgrund scheinbarer disziplinärer „Unvereinbarkeiten“ entstanden, markierten doch gerade diese Begrenzungen oftmals den Startpunkt intensiver Debatten innerhalb des Fachbereiches. Zumindest ermöglichte der geführte Diskurs ein an Sachfragen orientiertes gemeinsames Verständnis, was die Initiierung gemeinsamer neuer Projekte und die Intensivierung dieses Austausches ermöglichte. Mittler-

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Vorwort

weile sind wir uns einig, dass gerade im Zeitalter der zunehmenden Funktionalisierung einzelner Wissenschaftsbereiche es wichtig ist und zunehmend wichtiger werden wird, Grundsatzdebatten nachvollziehbar für einen interdisziplinär ausgerichteten Leserkreis aufzubereiten und damit einen Beitrag zu deren Gesamtverständnis in der Gesellschaft zu leisten. Ansonsten droht eine Verabsolutierung des Wissenschaftsbetriebes mit der Konsequenz mangelnder gesellschaftlicher Akzeptanz und – mittelbar – dem Entzug von Haushaltsmitteln. Aus den genannten Gründen war schnell die Idee geboren, den im Fachbereich geführten Diskurs auch interessierten Lesern zugänglich zu machen. Thematisch einigten wir uns darauf, das von den Herausgebern in ihren Antrittsvorlesungen an der Führungsakademie vorgestellte Menschenbild einzelner Wissenschaftsbereiche zum „Subjekt der Begierde“ zu machen. Neben der theoretischen Darstellung und deren Analyse sollten in jedem Aufsatz die jeweiligen Menschenbilder hinsichtlich ihres Realitätsbezuges überprüft und auf den Gegenstandsbereich der Bundeswehr angewendet werden. Der Band versucht neben der Entfaltung disziplinärer Gedankengänge mit Blick auf das jeweils zugrunde liegende Menschenbild einen Beitrag zur Einordnung der Bundeswehr aus gesellschaftlicher Perspektive zu leisten. Gerade in Zeiten eines tiefgreifenden gesellschaftlichen Wandels mit der Notwendigkeit, darauf individuell und institutionell zu reagieren, regen die einzelnen Beiträge zum Nachdenken über menschliche Verhaltensparadigmen und deren Einpassung in die Rolle als Soldaten an. Darüber hinaus ermöglicht der vorliegende Sammelband nicht nur, die altbekannten Grenzen zwischen den einzelnen Wissenschaftsdisziplinen zu erkennen, sondern auch Gemeinsamkeiten zu entdecken. In ihren Beiträgen setzen sich die Autorinnen und Autoren deshalb intensiv mit benachbarten Disziplinen auseinander oder machen dem Leser deutlich, dass etwa eine konträre Sicht der Dinge in einem anderen Artikel dominiert. Die Leserin wird dadurch in die Lage versetzt, selbst Brücken zwischen einzelnen Wissenschaftsdisziplinen zu bauen und sich somit ein umfassenderes Verständnis der Rolle des Menschen anzueignen als bei Lektüre der jeweils isoliert stehenden disziplinären Sichtweisen. Die Autorinnen und Autoren des Bandes stehen allesamt in direkter Verbindung mit dem Fachbereich Sozialwissenschaften der Führungsakademie der Bundeswehr. Sie sind entweder derzeit aktive Dozentinnen und Dozenten, waren in früheren Verwendungen dort eingesetzt oder befinden sich mittlerweile im wohlverdienten Ruhestand. Dies verdeutlicht neben dem interdisziplinären auch den generationenübergreifenden Ansatz, den dieser Sammelband verfolgt. In ihren Beiträgen stellen die Autorinnen und Autoren ihre Sichtweise und deren wissenschaftliche Begründung dar, sie ist na-

Vorwort

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türlich nicht die offizielle Position der Bundeswehr, steht aber auch nicht notwendig im Widerspruch zu ihr. Die einzelnen Artikel werden derzeit als Vorlesung und in Seminaren an der Führungsakademie vorgestellt und diskutiert. Das gemeinsame Thema und die konkrete Ausrichtung auf sowohl die fachwissenschaftliche Debattenlage als auch den Bundeswehrbezug erleichtert unterschiedliche Verknüpfungen der Aufsätze zu einem jeweils in sich stimmigen Gesamtbild von der methodischen und wissenschaftlichen Vielfalt des Fachbereichs bei gleichzeitiger Konzentration auf den Menschen. Aber es hat auch die Reihung in diesem Aufsatzband erschwert, weil keine sachliche Folge und schon gar keine hierarchische Stufung vorgenommen werden kann. Doch lassen sich die Artikel tendenziell vier wissenschaftlichen Feldern zuordnen, nämlich der Ideengeschichte, der Gesellschaft, der Politik und dem Militär. Der evangelische Sozialethiker Volker Stümke beschäftigt sich mit der Frage, welche anthropologischen Voraussetzungen die Ethik als Lehre vom guten Handeln setzt – nämlich Vernunft und Willensfreiheit. Im Rekurs auf zunächst die philosophische Debattenlage, dann auf die theologische Sicht erörtert Stümke die Notwendigkeit dieser Voraussetzungen, aber auch ihre Probleme. Freiheit und Vernunft sind für den Ethiker notwendige Ideen – und mit ihnen lässt sich auch die konkrete Herausforderung, die Kindersoldaten darstellen, ethisch beurteilen. Der Politikwissenschaftler Alexander Mätzig analysiert ebenfalls ein Idealbild des Menschen; im Rückgriff auf Aristoteles und Hannah Arendt entwickelt er die Rede vom Menschen als politisches Wesen, der, obgleich Individuum, immer schon in eine Gemeinschaft eingebettet ist und dessen Handeln immer auch Macht ausübende Aspekte umfasst. Dieser philosophischen Tradition entnimmt Mätzig klare moralische Anforderungen für sowohl die Regierung wie die Exekutive eines Gemeinwesens und hat damit den Bogen zur Bundeswehr geschlagen. Nur auf den ersten Blick steht der politische Realismus konträr zu solcher Ideengeschichte, denn, wie der katholische Sozialethiker Matthias Gillner nachweist, auch sein Menschenbild speist sich aus anthropologischen Idealvorstellungen, die folglich nur inhaltlich dem Idealismus widersprechen. Im Rekurs auf Thomas Hobbes und die Soziobiologie profiliert Gillner die Konzentration auf Macht und Sicherheit als Charakteristika des Realismus, dem er abschließend ein reduktionistisches Menschenbild vorwirft, das sowohl dem Einzelnen wie den (internationalen) Beziehungen zwischen Menschen nicht gerecht wird. Im Gegensatz zum politischen Realismus steht das Menschenbild der Friedensforschung, das die Politikwissenschaftlerin Sabine Jaberg am Werk von Johan Galtung herausarbeitet. Die entscheidende Differenz liegt Jaberg folgend bereits in der bewussten Perspektivität Galtungs, der den Menschen unter die Begriffe Gewalt und Frieden ein-

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Vorwort

spannt, wobei er sowohl die personale und strukturelle wie auch die kulturelle Dimension der Anthropologie entwickelt. Jaberg nutzt diesen Ansatz, um die Bundeswehr – insbesondere ihre Auslandseinsätze – auf ihre immanenten Gewalt- und Friedensanteile hin zu reflektieren. Die gesellschaftliche Perspektive auf den Menschen lässt sich gegenwärtig nur im Plural vorstellen, zu differenziert ist unsere Gesellschaft und zu pluralistisch sind die Überzeugungen in ihr. Der Volkswirt Stefan Bayer analysiert das Menschenbild der Ökonomie. Dabei differenziert er zwischen einem enggeführten Menschenbild, das nur eine Nutzenmaximierungsmaschine vor Augen stellt, damit aber das faktische Verhalten von Menschen nur unzureichend erfasst, und einem erweiterten Spektrum, das neben der Ökonomie weitere Faktoren als Determinanten menschlichen Handelns einbezieht, ohne den berechnenden Zugriff auch auf diese Faktoren zu negieren. Genau dieses Neben- und Gegeneinander eines engen und eines erweiterten „homo oeconomicus“ entdeckt Bayer auch im Menschenbild der Bundeswehr; auch hier würde eine Engführung den Menschen in Uniform nicht gerecht und wäre damit auch der Auftragserfüllung hinderlich. Der Ökonom Günter Mohrmann erweitert die Perspektive, indem er – wie zuvor Mätzig – die politische Einbindung der Ökonomie in die Globalisierung bedenkt. Dass Menschen in unterschiedlicher Weise von den Veränderungen der Weltwirtschaft betroffen sind, ist nur die Spitze eines Eisberges, darunter verbirgt sich der alles umgreifende Wettbewerbsgedanke, der stetig Druck auf traditionale Lebenswelten ausübt, die sowohl räumlich (weltweiter Zugriff) wie zeitlich (verkürzte Innovationszyklen) einem Wandel unterworfen werden. Weil auch Staatszerfall und Bürgerkriege daraus resultieren, ist die Bundeswehr durch ihre humanitären Interventionen ebenfalls in die Globalisierung eingespannt und sollte um diese wirtschaftliche wie politische Einbindung wissen. Der Soziologe Heiko Biehl schlägt die Brücke von der Ökonomie zur Soziologie. Nachdem er zunächst die grundsätzliche Kontroverse über die Unabhängigkeit des Einzelnen versus seine Einbindung in die Gesellschaft rekonstruiert hat, fokussiert er den Blick auf die empirische Sozialforschung, um sowohl die Ausbildung wie das politische Engagement der Bürger präziser zu ergründen. Abschließend analysiert er die Berufsmotivation von Soldaten und lenkt auch hier den Blick auf die soziale Prägung dieser so persönlich anmutenden Einstellung. Die Ethnologin Maren Tomforde erweitert die soziologische Fragestellung, indem sie die Unterschiede zwischen den Gesellschaften zur Geltung bringt und damit den Begriff der Kultur als maßgebliche Bestimmungsgröße profiliert. Ein besonders Kennzeichen der kulturellen Einbindung des Menschen ist nach Tomforde das „othering“, also die Abgrenzung des Eigenen vom Fremden. Weil dieses Verhalten

Vorwort

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durchaus konfliktträchtig ist, plädiert sie angesichts der Auslandseinsätze der Bundeswehr und der damit gegebenen Begegnung mit anderen Kulturen eindringlich für die Schulung interkultureller Kompetenz bei Bundeswehrsoldaten. Der Pädagoge Jörg Keller knüpft ebenso an die soziologische Grundkontroverse an, spezifiziert aber die Fragestellung auf die Debatte um sex und gender. Nunmehr steht die gesellschaftliche Prägung nicht mehr gegen individuelle Potenzen, sondern gegen natürliche Vorgaben und Prädispositionen des Menschen. Eine evolutionsbiologische Bestimmung des Menschen, der wesentlich durch seine Gene und seine tierische Abstammung bestimmt sei, konkurriert mit einer konstruktivistischen Lesart, wonach menschliches Verhalten maßgeblich durch kulturelle Prägung entwickelt werde. Beide Denkungsarten prägen das Alltagswissen und sind daher auch unter den Soldaten präsent. Schließlich trägt der Elektronik-Ingenieur Michael Dinkhauser ein lang vernachlässigtes, aber inzwischen wieder aktuelles Paradigma in die Debatte: die Abhängigkeit des Menschen von der Natur, verstanden als die kosmischen Konstellationen, die nicht von Menschen gemacht sind. Naturwissenschaftliche Berechnungen legen eine bescheidene Verortung des Menschen nahe, dessen Selbsteinschätzung mit dem sowohl räumlichen wie zeitlichen Ausmaß des Universums nicht konvergiert. Andererseits ist es der Mensch, der die Technik vorangebracht hat, die ihm inzwischen weitaus größere Lebensperspektiven ermöglicht. Abschließend stellt auch Dinkhauser den Bezug zur Bundeswehr her, indem er die Bedeutung der Technik für das Militär erörtert. Die politische Dimension des Menschenbildes wird vom Politikwissenschaftler Sven Bernhard Gareis eröffnet. Anknüpfend an die grundlegende Einsicht der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, dass dem Menschen Rechte zukommen, bietet Gareis eine vielschichtige Interpretation der Menschenrechte. Dabei analysiert er sowohl ihre normative Verankerung in den Dokumenten der Vereinten Nationen wie die Möglichkeiten und Grenzen ihrer Umsetzung, die in den juristischen und politischen Verfahren angelegt sind. Zu diesen Schutzverfahren zählt nicht zuletzt auch die Möglichkeit humanitärer Interventionen, womit wieder die Brücke zur Bundeswehr geschlagen wird. Eine methodisch wie analytisch höchst instruktive Perspektive zeichnet die Historikerin Cornelia Schenke, indem sie das Bild des Sowjetmenschen rekapituliert. Der Versuch, das ideologisch vorgegebene Bild vom neuen Menschen im Kommunismus in die reale Welt der Sowjetunion umzusetzen, zeitigte nicht nur Stagnation und Ernüchterung bei der versuchten Umsetzung, sondern hinterließ zudem tiefe Spuren im Selbstverständnis der Russen, die sich bis heute zeigen. Der Zerfall der Sowjetunion wird damit nicht nur als politischer Prozess, sondern zusätzlich von der Anthropologie her rekonstruiert. Den Wechsel von der Außenpolitik zur Innenpolitik unternimmt der Soziologe Elmar Wiesendahl, der die Eliten der Ge-

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Vorwort

sellschaft wie der Politik auf das dahinter stehende Menschenbild hin untersucht. Handelt es sich bei einer Spitzenkraft um einen „great man“, eine Führungspersönlichkeit, die durch ihre Ausstrahlung, ihr visionäres Denken und Handeln überzeugt, oder nicht eher um einen „rational man“, der Entscheidungen wohlüberlegt fällt und dabei über die nötige Fachexpertise selbst verfügt oder sie sich präzise zukommen lässt? Während die erste Annahme in der jüngsten Geschichte durch versagende und egoistische Manager widerlegt werden kann, spricht die Entwicklung der Kubakrise auch gegen die zweite Annahme. Wiesendahls Bilanz ist dementsprechend nüchtern; er votiert gegen überzogene Ansprüche an die Eliten, wohl aber für präzise Anforderungen, wozu insbesondere das Wissen um die Komplexität, das ein monokausales Denken und schlichte Entschlüsse verhindern kann, zählt. Am Übergang von der politischen zur militärischen Perspektive steht der Aufsatz des Politikwissenschaftlers Volker Matthies, der die neuen Kriege unter anthropologischer Fragestellung analysiert. Näherhin wird nach einer kritischen Rekonstruktion der Rede von den neuen Kriegen der Mensch sowohl als Täter wie als Opfer der kriegerischen Gewalt betrachtet und jeweils nach den Ursachen und Ausprägungen gefragt. Matthies widerspricht einer Entpolitisierung dieser Kriegsform, an dritter Stelle blickt er auf den Menschen als politisches Wesen, das – wie bei Galtung – zwischen Frieden und Gewalt sich bewegen kann. Damit gelangt er abschließend zur Rolle der Bundeswehr in den neuen Kriegen, die einer umfassenden Reflexion auf die vorstehenden Veränderungen bedarf. Der Blick auf die Bundeswehr wird vom Historiker Martin Kutz durch eine Darlegung der Bilder vom deutschen Soldaten im Verlauf der Geschichte vertieft. Beginnend bei der Entstehung des geordneten Militärverbandes im Unterschied zum Gewalthaufen betont Kutz den erzieherischen Impetus des Militärs, das sich immer seine Soldaten formte. Dabei waren aber niemals nur die Bedingungen des Kampfes, sondern immer auch die gesellschaftlichen Mentalitäten und die politischen Leitvorstellungen einflussreich. Am Ende steht eine kritische Bestandaufnahme des gegenwärtigen Soldaten, der den Anforderungen der Inneren Führung immer weniger entspricht. Diese Anforderungen werden im abschließenden Beitrag des Pädagogen Jürgen Franke in normativer Perspektive entwickelt, der das Konzept der Inneren Führung vorstellt und hinsichtlich seines Menschenbildes analysiert. Franke weist historisch wie inhaltlich nach, wie stark das Menschenbild der Inneren Führung sich dem Grundgesetz verpflichtet weiß, dessen Grundrechte eben nur in bestimmten Ausnahmen eingeschränkt werden dürfen. Auch die Rede vom Staatsbürger in Uniform wird in diesem Licht interpretiert. Damit hat Franke ein starkes normatives Gerüst aufgebaut, an dem er die Wirklichkeit der deutschen Streitkräfte differenziert misst.

Vorwort

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Blickt man auf diese unterschiedlichen Konzepte und Denkungsarten zurück, so könnte zunächst der Eindruck einer unverbundenen Fülle entstehen, gleichsam ein Kessel Buntes. Liest man hingegen die Texte, so zeigen sich eine Fülle von Querverbindungen, die hier nur ansatzweise aufgezeigt werden konnten. Die grundlegende Verbindung ist natürlich das gemeinsame Thema, das Menschenbild markiert einen bedeutenden Gegenstand und einen zentralen Bezugspunkt aller Forschungen. Aber auch die Frage nach der Freiheit des Menschen und ihrem Verhältnis zu den zahlreichen Abhängigkeiten, die zudem untereinander noch hinsichtlich Relevanz und Extension im Streit liegen, stellt sich in fast allen Zugängen. Darüber hinaus wird das faktische wie gedankliche Agieren des Menschen, bei aller Unterschiedlichkeit in den Ausführungen, doch stets als wesentliches Kennzeichen des Menschen in Betracht gezogen, das Bild vom tätigen, die Welt gestaltenden Menschen zieht sich durch alle Aufsätze. Schließlich stellen fast alle Texte einen expliziten Bezug zur Bundeswehr und ihrem Menschenbild her, was ja auch dezidiert dem Anliegen des Bandes entspricht. Am Ende des Vorwortes wollen wir allen Autorinnen und Autoren herzlich danken. Alle haben den sehr engen Zeitplan trotz der damit verbundenen individuellen Belastungen immer akzeptiert, Unmut den Herausgebern gegenüber nicht direkt ausgedrückt, sehr zuverlässig ihre Beiträge geliefert und die wegen des Begutachtungsprozess eingeforderten Modifikationen eingearbeitet. Dank gilt auch dem Verlag Duncker & Humblot und hier insbesondere dem Verleger Herrn Dr. Simon, der unseren Sammelband in den Sozialwissenschaftlichen Schriften publiziert, sowie Frau Schädlich, die bei allen drucktechnischen Fragen kompetent und hilfreich zur Seite stand. Hamburg, im Februar 2008

Stefan Bayer und Volker Stümke

Inhaltsverzeichnis Volker Stümke Was ist der Mensch? Das Menschenbild in der Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Alexander Mätzig Der Mensch als politisches Wesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Matthias Gillner Das Menschenbild des politischen Realismus. Kritische Anmerkungen aus ethischer Perspektive. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Sabine Jaberg Der Mensch aus Perspektive der Friedensforschung. Überlegungen am Beispiel des Werks von Johan Galtung . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Stefan Bayer Der Homo Oeconomicus – Das Menschenbild in der Ökonomie . . . . . . . . . . .

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Günter Mohrmann Der Mensch in der ökonomischen Globalisierung. Zur individuellen Bewältigung epochaler Wirtschaftsentwicklungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Heiko Biehl Was ist der Mensch? Zum Menschenbild der Soziologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 Maren Tomforde Die Menschenbilder in der Ethnologie und die Konstruktion des Gegenmenschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 Jörg Keller Menschenbild und gender . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 Michael Dinkhauser Der Mensch in der Technik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 Sven Bernhard Gareis Der Mensch und seine Rechte. Normen, Verfahren und Probleme des internationalen Menschenrechtsschutzes zu Beginn des 21. Jahrhunderts . . . . . . . . 197

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Inhaltsverzeichnis

Cornelia Schenke Der Sowjetmensch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 Elmar Wiesendahl Spitzenführungskräfte im Licht von Menschenbildern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 Volker Matthies Der Mensch in den „neuen Kriegen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 Martin Kutz Söldner – Gewalttechnokrat – Bürger in Uniform. Historische Bilder vom deutschen Soldaten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 Jürgen Franke Das Menschenbild der Inneren Führung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273

Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293

Was ist der Mensch? Das Menschenbild in der Ethik Von Volker Stümke

I. Ethische Begriffsbestimmung: Der Handelnde ist vernünftig und frei Ethik ist – einer geläufigen Definition folgend – die Lehre von der Moral, man könnte also auch von Moralphilosophie sprechen. Als moralisch bezeichnet man das als sittlich gut qualifizierte Handeln von Menschen, Moral meint demnach die Ausrichtung menschlichen Handelns auf das Gute. Sitte schließlich steht für die Regeln und Vorschriften einer Gemeinschaft, die idealiter von allen geteilt und als beachtenswert eingestuft werden. Diese Begriffsbestimmungen sind nur als Annäherungen zu verstehen, die Verwendung der Ausdrücke in der Alltagssprache ist nicht immer präzise, wohl aber ist das Feld, auf das sie abzielen, ziemlich klar bestimmbar: Es geht um eine Bewertung menschlicher Handlungen, die zumeist mit dem Prädikat „gut“ oder dessen Gegenteile (schlecht bzw. böse) vollzogen wird. Ethik hat also den handelnden Menschen im Blick. Die nunmehr zu erörternde Frage lautet: Welches Menschenbild setzt die Ethik bei der Bewertung menschlichen Handelns voraus? Zunächst muss als Grundüberzeugung der Ethik festgehalten werden, dass Menschenbilder erstens differieren und zweitens schwerlich die Realität von Menschen umfassend darstellen können. Daher konzentrieren sich die folgenden Überlegungen auf anthropologische Grundaussagen. Um präziser zu ergründen, welches Menschenbild die Ethik voraussetzt, soll mit einer konfrontativen Vergleichsfrage begonnen werden: – Gibt es eine Ethik für Dackel? – Gibt es eine Ethik für Soldaten? Der vorstehenden Definition folgend gibt es keine Moralkunde für Dackel, sofern diese Haustiere – wieder landläufigem Verständnis folgend und sich nicht in die Feinheiten der Verhaltensforschung begebend – nicht nur des Lesens unkundig, sondern vor allem durch ihre Instinkte gesteuert sind und lediglich auf bestimmte Reize reagieren. Wer Dackel zu einem be-

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Volker Stümke

stimmten, nämlich als gut definierten Verhalten führen will, muss sie dressieren. Das Verhalten des Dackels wird durch den Instinkt oder ihn übersteuernd durch den Dresseur, in beiden Fällen aber fremdbestimmt. Folglich sprechen wir nicht davon, dass ein Dackel „handelt“, ihm fehlen sowohl die Vernunft wie die Freiheit, die wir voraussetzen, wenn wir jemanden mit moralischen Forderungen oder ethischen Sätzen konfrontieren, die sein Handeln leiten sollen. Das scheint beim Menschen anders zu sein, er ist weltoffen und frei, sein Handeln und darüber hinaus sogar sein Leben selbst zu bestimmen. So behauptet jedenfalls der Renaissancephilosoph Pico della Mirandola (etwa 1485), der wohl als erster das moderne Verständnis menschlicher Würde in einer Rede Gottes an den erstgeschaffenen Menschen artikulierte: „Wir haben dir keinen festen Wohnsitz gegeben, Adam, kein eigenes Aussehen noch irgendeine besondere Gabe, damit du den Wohnsitz, das Aussehen und die Gaben, die du selbst dir ausersiehst, entsprechend deinem Wunsch und Entschluß habest und besitzest. Die Natur der übrigen Geschöpfe ist fest bestimmt und wird innerhalb von uns vorgeschriebener Gesetze begrenzt. Du sollst dir deine ohne jede Einschränkung und Enge, nach deinem Ermessen, dem ich dich anvertraut habe, selber bestimmen“1.

Der Dackel ist, ohne dass er es merkt, durch Naturgesetze bestimmt, determiniert – und damit gibt es keinen Anknüpfungspunkt für Moral oder deren Lehre. Eine Ethik für Soldaten hingegen kann entworfen werden, weil und insofern, aber auch nur insoweit Soldaten Menschen sind, die frei und selbstbestimmt leben, die sich die Gesetze ihres Handelns selbst geben können. Der Mensch lebt – Pico folgend – frei und selbstbestimmt, er kann sein Handeln an eigenen moralischen Regeln ausrichten und ebenso an ihnen überprüfen, er kann sich bewusst nach Geboten richten, einen tugendhaften Charakter ausbilden, die Folgen seiner Taten bedenken, für sie Verantwortung übernehmen und wichtige Güter befördern oder zumindest bewahren.2 Neben der Freiheit ist somit auch die Vernunft, also die Ansprechbarkeit auf allgemein gültige Gründe und die Fähigkeit zu abstrahieren und zu subsumieren, als Kennzeichen des Menschen nach Pico impliziert. Wer handelt, vollzieht bewusst eine Tätigkeit und das heißt, dass er diese Tätigkeit auch hätte anders vollziehen können und genau darum auch weiß.3 1

Pico della Mirandola (1990), S. 5–7. Diese Auflistung greift zentrale Richtungen der Ethik auf, um zu verdeutlichen, dass das nunmehr zu entwerfende Menschenbild für alle divergierenden Ethikkonzepte grundlegend ist. Sowohl eine Gebotsethik, wie eine Tugendlehre, eine Verantwortungsethik und auch eine Güterlehre gehen vom handelnden Menschen aus und setzen dessen Vernunft und Freiheit voraus. 3 Vgl. Fischer (1983), S. 10: „Es gehört analytisch zum Begriff der Handlung, daß, wer handelt, unter identischen Umständen anders hätte handeln können; und daß, wer unter identischen Umständen anders hätte handeln können, handelt“. 2

Was ist der Mensch? Das Menschenbild in der Ethik

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Wer demnach eine Ethik für Soldaten konzipiert oder auch nur Ethikunterricht für Soldaten anbietet, geht davon aus, dass Soldaten vernünftig und frei handeln können – wie wir bei jedem Handelnden voraussetzen, dass er vernünftig und frei sei. Allerdings sind diese für die Ethik grundlegenden Behauptungen strittig – und zwar sowohl in Bezug auf Soldaten, wie grundlegend in anthropologischer Hinsicht. Beide Aspekte können in diesem Rahmen nur angedeutet und sollen daraufhin jeweils theologisch kommentiert werden, ich beginne mit dem allgemeineren.

II. Übertragbarkeit auf die Realität: Ist der Mensch vernünftig und frei? Diese Überschrift formuliert die anthropologische Streitfrage: Ist der Mensch wirklich so, wie ihn die Ethik beschreibt und voraussetzt, nämlich vernünftig und frei?4 Dass der Mensch vernunftbegabt ist, wird sich dabei schwerlich leugnen lassen, bestenfalls könnte man argumentieren, dass diese Beschreibung auf manche Menschen nicht zutreffe – doch die Rede von der Vernunftbegabtheit lässt solche Ausnahmen zu. Wer hingegen die Unvernunft des Menschen beweisen wollte, beginge einen performativen Selbstwiderspruch,5 denn diese Behauptung (der menschlichen Unvernunft) will verständlich und allgemeingültig sein und somit andere Menschen überzeugen – und geriert sich so als vernünftiger Satz eines Menschen.6 Andererseits genügt ein Blick in die Tageszeitung, um den Eindruck zu gewinnen, der Mensch oder die Menschen handelten nicht vernünftig – man denke beispielsweise an die beginnende Klimakatastrophe.7 Aber genau besehen besagt dieser Eindruck nicht, dass die Menschen keine Vernunft hätten, sondern, dass ihr Handeln nicht immer von der Vernunft bestimmt wird. Zugleich ist damit ausgesagt, dass dem Menschen zugemutet wird, 4

Vgl. zum Folgenden Stümke (2007), S. 31–58. Als performativen Selbstwiderspruch bezeichnet man eine Aussage, bei der die Äußerung selbst und der Inhalt der Äußerung sich widersprechen; bspw. die Sätze „mit dir rede ich nicht“ oder „I don’t speak English“. Weil eine Behauptung immer den Anspruch erhebt, wahr zu sein und damit auf eine allgemeine Nachvollziehbarkeit und sogar Geltung Anspruch erhebt, wäre auch die Äußerung „Menschen sind nicht vernünftig“ in sich widersprüchlich, weil sie beansprucht, dass andere sie verstehen und ihr sogar zustimmen können – und damit voraussetzt, dass diese anderen über das Vermögen des Verstehens und des Zustimmens verfügen, was als Vernunft bezeichnet wird. 6 Indem Allgemeingültigkeit und Verständlichkeit als wesentliche Merkmale der Vernunft herausgestrichen worden sind, wird der Vernunftbegriff formal bestimmt. Diskussionen, welche Inhalte vernünftig seien und ob sich darüber Einigkeit erzielen lasse, tangieren diese Bestimmung nicht. 7 Vgl. dazu die Ausführungen von Bayer in diesem Sammelband. 5

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Volker Stümke

vernünftig zu handeln. Es wird – im Falle unvernünftigen Handelns – davon ausgegangen, dass der Mensch anders, nämlich vernünftig hätte handeln können. Diese Zumutung impliziert die Vorstellung, dass der Mensch die Freiheit hat, sein Handeln an der Vernunft auszurichten. Demnach bleibt weiterhin zugestanden, dass der Mensch über Handlungsfreiheit verfügt. Er muss nicht – die Umwelt schädigend – auf der Autobahn rasen, sondern kann auch vernünftig fahren. Sicherlich kann man Faktoren aufführen, die solche Handlungsfreiheit beschränken, seien es subjektive Eigenheiten oder objektive Hindernisse: Wer während der Fahrt einen Muskelkrampf erleidet oder wem die Bremsen des Autos versagen, kann vielleicht das Tempo zu diesem Zeitpunkt nicht auf ein vernünftiges Maß drosseln. Aber beide Faktoren beschreiben sehr spezifische Konstellationen, die kaum verallgemeinerbar sind. Vor allem aber taugen sie nur als Einwand, wenn die Handlungsmöglichkeiten des Menschen dual konstruiert sind, was kaum zutrifft – im Beispiel bleibend: Der Fahrer kann immer noch die Handbremse betätigen und zudem mit dem Gasgeben aufhören, so dass die genannten Faktoren die vorausgesetzte Handlungsfreiheit lediglich limitieren, nicht aber unmöglich machen. Weitaus gravierender ist die kritische Rückfrage, ob der Mensch auch über den freien Willen verfügt, dieses andere Handeln, das vernünftiger wäre, in die Tat umzusetzen. Kann der Mensch sich selbst bestimmen oder ist er so konstituiert, dass er zwar anders handeln könnte, aber nicht anders handeln will? Hat der Mensch also lediglich Handlungsfreiheit, nicht aber Willensfreiheit, weil sein Willen immer schon durch andere Faktoren bestimmt ist? Es wäre kurzsichtig, diese anderen Bestimmungsgrößen des Willens zu leugnen und ein geistiges Vakuum zu behaupten. „Ein Wille ist stets ein bestimmter Wille, und er ist stets jemandes Wille“8. Damit wird ausgeschlossen, dass ein Mensch völlig willkürlich handeln kann. Stets ist der Handlungswille durch etwas bestimmt – sei es durch die Vernunft, durch gesellschaftliche Prägungen, durch gewaltsames Einwirken oder limitierende Einflüsse von außen oder durch individuelle Vorlieben.9 Wohl aber sollte zurückgefragt werden, ob sich der Mensch zu diesen Faktoren nicht noch einmal bewusst und selbstbestimmt verhalten kann. Sowohl Erziehung wie Gesellschaft, sowohl vorangegangene Entscheidungen wie eigene Überzeugungen, sowohl Wünsche wie Interessen prägen unser Wollen – aber das heißt nicht, dass wir dieser Prägung zustimmen müssen oder ihr ausgeliefert wären. Man kann beispielsweise die Religionsgemeinschaft verlassen oder sich vergangener Entscheidungen schämen. Demnach 8 9

Bieri (2003), S. 239. Vgl. Pieper (2007), S. 1–8.

Was ist der Mensch? Das Menschenbild in der Ethik

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gehen wir davon aus, unseren Willen trotz seiner unbestrittenen Prägungen zumindest indirekt noch frei bestimmen zu können, ihm nicht ausgeliefert zu sein, sondern uns bewusst zu ihm verhalten zu können – und sei es in der nachträglichen Einsicht, dass wir anders hätten handeln sollen. Die Freiheit des Willens wird somit zurückgebunden an unsere Reflexion: Als frei verstehen wir uns dann, wenn wir die vollzogenen Taten als eigene akzeptieren, unfrei fühlen wir uns, wenn wir uns zu Taten getrieben sehen – durch andere oder durch eigene Triebe. Und falls dieses Getriebensein zu weit gegangen ist, fühlen wir uns schuldig, weil wir die Triebe nicht (durch unsere Vernunft und unseren bewussten Willen) beherrscht haben. Wer so argumentiert, orientiert sich am Bild eines selbstbewussten Menschen, der – metaphorisch gesprochen – abends in den Spiegel guckt und dann den Handelnden mit seinem Selbstbild abgleicht. In den Sozialwissenschaften wird in diesem Kontext oftmals von Authentizität und Rollenübernahme gesprochen. Der Spiegelnde fragt demnach: Bleibe ich in den unterschiedlichen Rollen, also in den mannigfaltigen gesellschaftlich bedingten und vorgeprägten Handlungsmustern, noch ich selbst? Kann ich bestimmte Rollenerwartungen erfüllen, ohne mich zu verlieren? Und an welchen Stellen werde ich den Erwartungen bewusst nicht entsprechen, weil sie meinem Selbstverständnis (entspricht dem Spiegelbild) entgegenstehen? Diesem Menschen käme sowohl Handlungsfreiheit wie Willensfreiheit zu, beide Begriffe zusammenfassend kann man von Entscheidungsfreiheit sprechen. Doch auch die Metapher des Spiegels ist inzwischen umstritten: Handelt es sich nicht um einen Fall von ethischer Gewalt,10 einen Menschen darauf festzulegen, mit sich identisch sein zu sollen, sein Handeln also durchgängig an einem Maßstab zu messen? Das Problem liegt nunmehr nicht darin, dass man gemessen an diesem Maßstab bisweilen sein Scheitern (und/oder seine Schuld) eingestehen müsste, es liegt auch nicht daran, dass man an veraltete, gesellschaftlich überkommene Maßstäbe gebunden wird,11 sondern darin, dass der durchgängige Rekurs auf einen Maßstab selbst nur eine zufällige und folglich fremdbestimmte Prägung wäre. Damit steht die Freiheit des eigenen Lebensentwurfes in Frage: Verfügt der Mensch über eine solche Lebensfreiheit,12 also über einen einheitlichen und durchgehenden Bezugspunkt des eigenen Lebens? Schon ontogenetisch, also in der Entwicklung des Lebens, fällt auf, dass der Mensch vergleichsweise spät „ich“ sagt. Ist das nicht ein Indiz dafür, dass das selbstbewusste Ich nur 10

Vgl. Butler (2003), S. 50 ff. Vgl. Adorno (1996) [1963], S. 32 f. 12 Der Begriff ist entlehnt von Joest (1990), S. 391. Davon unterscheidet Joest die Wahlfreiheit und die Spontaneität, die tendenziell mit der hier bevorzugten Rede von der Handlungsfreiheit bzw. der Willensfreiheit konvergieren. 11

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eine späte und begrenzte Stufe menschlichen Lebens umfasst? Statt dem einen Ich nun imperiale Macht zuzusprechen, könnte man auch ein Nebeneinander von Rollen zugestehen, die eben nicht mehr eingebunden werden, sondern das Leben in seiner Mannigfaltigkeit auszeichnen.13 Andererseits dürfte dieses Selbstverständnis auf ein beziehungsloses Nebeneinander von Positionierungen hinauslaufen, das schon unserem Erinnerungsvermögen mit seiner integrativen Tendenz zu widersprechen droht, aber erst recht eine Rückfrage an unser Handeln nicht mehr plausibel zu handhaben weiß.14 Blicken wir nunmehr zurück. Das Menschenbild in der Ethik ist dadurch gekennzeichnet, dass es einerseits starke Voraussetzungen bereit stellt, nämlich Freiheit und Vernunft, dass es andererseits in einen Streit über den Realitätsgehalt dieser anthropologischen Prämissen führt, in dem es keine Beweise, wohl aber Argumente gibt. Dabei ist die Voraussetzung der Vernunft argumentativ unhintergehbar, wenngleich nicht gesagt werden kann, dass alle Menschen immer vernünftig seien. Das ist schon ein erster Hinweis, dass Vernunft kein biologisches Kennzeichen des Menschen ist wie beispielsweise die Lunge, sondern ein unsichtbares Vermögen, das wir bei Menschen voraussetzen. Das gilt ebenso für die Freiheit. Dabei ist die Handlungsfreiheit weitestgehend unproblematisch, umstritten ist hingegen, ob und inwiefern der Mensch über Willensfreiheit oder gar über Lebensfreiheit verfüge. Aber auch sie sind kein biologisches Phänomen, sondern eine Zumutung, die sich in Gesprächssituationen – sei es im Selbstgespräch vor dem Spiegel, sei es in den Rückfragen anderer an meine Lebensgestaltung – Geltung verschafft. Obwohl also der Realitätsgehalt von Vernunft und Freiheit anthropologisch strittig ist, setzen wir beide notwendigerweise voraus, wenn wir wie in der Ethik vom Menschen als einem Handelnden reden. Aus der Perspektive evangelischer Sozialethik ist als Zuspitzung dieser Ausführungen ein Blick auf das Menschenbild Martin Luthers angebracht. Luther definiert den Menschen in seiner „Disputation über den Menschen“ im Rückgriff auf Paulus als denjenigen, der durch den Glauben gerechtfertigt wird: „hominem iustificari fide“15. Der Mensch wird demnach nicht – 13

Vgl. Rorty (1988), S. 57 ff. Ich halte es jedenfalls für eine nicht hinreichende, unbefriedigende Antwort auf die Frage „wie konntest du diese Handlung vollziehen?“ zu entgegnen: „das bin ich eben auch“ oder „das war ich zumindest zu diesem Zeitpunkt auch“. Sobald ich darüber hinaus behaupte, dass ich diese Rollenabweichung auch gewollt habe, integriere ich sie und rekurriere damit auf einen authentischen Bezugspunkt – nämlich das Ich (konkret: dessen Wollen). Eine kritische Auseinandersetzung mit dieser Argumentation liefert auch Habermas (1999), S. 240 ff. 15 Luther (1539), These 32: „Paulus fasst in Röm 3,28: ‚Wir halten dafür, dass der Mensch gerechtfertigt wird durch den Glauben ohne Werke‘ kurz die Definition 14

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wie wir es von Pico hörten – vom Schöpfer in das Offene gestellt und zur Welt gestaltenden und sich dabei selbst verwirklichenden Aktivität berufen, sondern an ihm geschieht etwas, das ihn als primär passives, empfangendes Wesen auszeichnet: Er wird gerechtfertigt. Diese Rechtfertigung wiederum wird von Luther als Befreiung von den Sünden und als Befähigung zum guten Handeln expliziert. Die Freiheit eines Christenmenschen, die sich in den Werken der Nächstenliebe artikuliert, gründet für Luther nicht im durch die Natur gegebenen freien Willen des Menschen, sondern in der Befreiung aus der sündigen Selbstbezogenheit, die sich ansonsten in allen Handlungen manifestiert. Frei zum guten Handeln ist nur derjenige, der von sich selbst absehen kann. Von sich selbst absehen kann nur derjenige, der sich in anderen Beziehungen geborgen weiß und daher die Selbstsorge als überflüssig ansehen kann. Diese Geborgenheit schließlich wird in der Zusage der Sündenvergebung erfahrbar. Gottes Zusage „Dir sind deine Sünden vergeben“ ist ein performativer Akt, der den Menschen innerlich befreit und damit die inneren Kräfte des Menschen, also namentlich seine Vernunft und seinen Willen, weg von der Selbstbezogenheit und hin zum guten Handeln ausrichtet. Zwei Aspekte möchte ich an Luthers Argumentation in ethischer Perspektive hervorheben: Erstens wird der Mensch als Beziehungswesen verstanden und diese Beziehung wird durch Anrede und Antwort als Sprachgeschehen konturiert. Das ist kein frommes Gerede, sondern Wissenschaft, näherhin eine relationale Grundlegung der Anthropologie.16 Unsere Leitfrage „Was ist der Mensch“ lässt sich Luther folgend eben nicht mit einer Nominaldefinition beantworten; sie findet sich in Psalm 8 und lautet komplett: „Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst und des Menschen Kind, dass du dich seiner annimmst?“ (Vers 5). Ohne eine solche nachzuerzählende Beziehung gibt es keinen Menschen – und dementsprechend ist aus theologischer Sicht „für den Menschen die bildhafte, gleichnishafte Sprache angemessen“17. Das gilt nicht nur ontogenetisch, sondern auch sozialethisch: Verantwortung ist die Reaktion auf eine Frage. Zweitens nimmt Luther den Menschen zunächst als empfangendes und erst dann als handelndes Wesen wahr. Dass wir nach Luther über keine Lebensfreiheit verfügen und sie uns auch nicht revolutionär erkämpfen oder durch reformerische Schritte erwerben müssen,18 ist ein Plädoyer für die Menschlichkeit des Menschen und gegen eine moralische Überforderung. Die Würde des Menschen ruht darin, von Gott angeredet zu werden;19 sie kann von Mendes Menschen zusammen, indem er sagt: Der Mensch wird durch den Glauben gerechtfertigt“ (zitiert nach Luther (2006), S. 669). 16 Vgl. Bayer (2003), S. 140–159 und Joest (1967), S. 233–319. 17 von Lüpke (2006), S. 23. 18 Vgl. Kant (1983), S. 694 ff. 19 Vgl. Stümke (2005).

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schen missachtet, aber nicht destruiert werden; sie ist kein materiales Geschenk, das man zerstören könnte, sondern eine von Gott ausgehende Beziehung,20 die Gott bis in den Tod und darüber hinaus durchhalten wird – dafür steht der von Menschen missachtete und misshandelte Jesus von Nazareth. Mit Blick auf das Menschenbild der Ethik ergibt sich daraus nicht nur eine tendenziell restriktivere Sicht der menschlichen Freiheit: Der Mensch verfügt lediglich über Handlungsfreiheit; die Willensfreiheit ist verschüttet und muss erst wieder (durch Christus im Glauben) befreit werden; die Lebensfreiheit kommt dem Menschen schlechthin nicht zu. Vor allem ergibt sich eine Nachrangigkeit des ethischen Menschenbildes: Der Mensch ist zuerst der von Gott Angesprochene (und an dieser Stelle ist von Menschenwürde zu reden), erst daraufhin kommt er als Handelnder in den Blick. Damit wird einer anthropologischen Überforderung, die den gesamten Lebensentwurf und das Gelingen des Lebens ausschließlich dem Menschen zumutet, eine Grenze gesetzt. Dementsprechend gelten Vernunft und Freiheit nur für den und in dem Bereich des Handelns, die Gebote Gottes rekurrieren auf diese Fähigkeiten. Aber ihnen kommt keine konstitutive Bedeutung zu, an ihnen hängt nicht die Würde des Menschen; vor den Handlungsanweisungen des Dekalogs steht das Heilshandeln Gottes, das im ersten Gebot geschildert wird. Das moralische Handeln wird damit nicht nur in seiner Wirkung (angesichts der prioritären Aktivität Gottes), sondern vor allem in seiner Bedeutung begrenzt.

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Zur Verdeutlichung sei erwähnt, dass die Menschenwürde unterschiedlich am Menschen festgemacht werden kann. Man kann einerseits versuchen, sie substantiell am Wesen jedes Menschen aufzuzeigen – klassisch wurde die Vernunftfähigkeit des Menschen als Kennzeichen seiner besonderen Würde (im Unterschied zu den anderen Lebewesen) verstanden („animal rationale“); das führt jedoch zu Schwierigkeiten, weil es Menschen gibt, die dieses Charakteristikums – und sei es zeitweise – entbehren (bspw. Embryos, Komatöse, Altersdemente). Ein moderner Versuch besteht darin, die „Geburtlichkeit“ des Menschen als Grundlage seiner Würde zu betonen; damit wird die Gefahr der Ausgrenzung eindrucksvoll vermieden, aber es verschwimmt die Differenz zu den anderen Lebewesen. Andererseits kann die Menschenwürde relational fundiert, also in einer Beziehung gegründet werden. Näherhin kann diese Relation entweder immanent (auf gesellschaftlichem Konsens beruhend) oder transzendent (in Gottes Handeln gründend) vorgestellt werden – im ersten Fall besteht die Gefahr des politischen Missbrauchs, im zweiten Fall ist kein Konsens erkennbar. Vgl. dazu weiterführend Härle (2005), S. 370 ff.

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III. Anwendung auf die Bundeswehr: Handelt der Soldat vernünftig und frei? Neben die allgemeine anthropologische Streitfrage tritt eine zweite, spezifisch auf Soldaten zugespitzte Problematik. Selbst wenn wir den Menschen ethisch nicht anders denken können als jemanden, der vernünftig und selbstbestimmt handelt, ist noch nicht gesagt, dass auch der Soldat unter diese Kategorie fällt. Sogar eine wohlwollende Nominaldefinition, die Soldaten als uniformierte Bürger versteht und die Uniform als Kennzeichen eines Kombattanten identifiziert, markiert eine differentia specifica, die sich auf das Verständnis des Soldaten als Menschen auswirkt. Denn zum Kämpfen wird man ausgebildet und diese Ausbildung geschieht teilweise über den Drill,21 der explizit darauf ausgerichtet ist, die Handlungsfreiheit des Menschen einzuschränken, um schnell und sicher eine bestimmte Reaktion herbeizuführen, was für den Akteur und andere lebensrettend sein kann. Indirekt ist davon auch die Willensfreiheit betroffen, weil sie durch die Automatisierung der Abläufe ausgeschaltet wird. Der Beruf oder die Rolle des Soldaten führt also zu Einschränkungen der Vernunft und der Freiheit des menschlichen Akteurs.22 Mit der Rede vom Soldaten, vom Bürger und selbst von der Uniform haben wir zudem den anthropologischen Bezugsrahmen erweitert: Zusätzlich zu den Qualifikationen, die wir bislang dem Menschen an sich zugedacht haben, wird auch seine gesellschaftliche Einbindung (in einen Beruf) einbezogen. Die Relationalität des Menschen bildet sich ab in seiner Sozialität. Damit erweitert sich die ethische Problematik zur sozialethischen Frage, inwieweit der Beruf des Soldaten die menschlichen Merkmale, die wir ihm in ethischer Perspektive unverzichtbar zugeschrieben haben, verändern, begrenzen oder gar aufheben dürfe, ohne selbst ethisch disqualifiziert zu werden. Berufe, die Freiheit und Vernunft des Menschen aufheben, zerstören die Bedingung der Möglichkeit, diesen Menschen als Subjekt moralischen 21 Der Begriff „Drill“ soll hier im umgangsprachlichen Sinn weit und unspezifisch verstanden werden, also die spezifischeren Begriffe „operantes Konditionieren“ oder „instrumentelles Lernen“ mit umfassen. Das entscheidende Moment ist, dass eine (bestimmte, gewollte) Reaktion (beim Soldaten) auf einen bestimmten Reiz ausgelöst wird, ohne dass Bewusstsein und Aufmerksamkeit explizit einbezogen werden. – Zur ethischen Auseinandersetzung verweise ich auf die entsprechenden Passagen im Handbuch der evangelischen Militärseelsorge, das im Erscheinen begriffen ist. 22 Zum Konzept der Inneren Führung als der spezifischen Antwort der Bundeswehr, die genau diese Einschränkungen durch die Einbindung des Soldaten in die Gesellschaft (Staatsbürger in Uniform) und durch die Rückbindung aller Begrenzungen an präzise Rechtsbestimmungen nicht ausufern lassen will, vgl. den Beitrag von Franke in diesem Sammelband.

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Handelns zu verstehen und können daher ethisch nur zurückgewiesen werden – klassisches Beispiel ist die Sklaverei. Gilt das auch für den Beruf des Soldaten und seine spezifischen Einschränkungen? Ich möchte diese Fragestellung anhand der aktuellen Problematik der Kindersoldaten andiskutieren:23 Wer beispielsweise als Warlord Kinder rekrutiert, zerstört ihre Willensfreiheit und manipuliert nachhaltig ihre Vernunft, indem er sie so drillt, dass sie durch die erlebte und verinnerlichte Brutalität irreversibel geprägt werden. Solche Kinder werden wahrscheinlich nie wieder die Möglichkeit haben, frei und vernünftig zu handeln; sie werden in ethischer Hinsicht deformiert, dressiert wie Dackel – auch wenn sie in christlicher Perspektive Geschöpfe Gottes sind und bleiben, denn an das Urteil Gottes reicht auch der Warlord nicht heran. In ethischer Hinsicht hingegen kann sein Handeln nur als böse qualifiziert und verurteilt werden, dementsprechend muss der Kampf gegen die Rekrutierung von Kindersoldaten aus ethischer Sicht unterstützt werden – die Frage nach Mitteln dieses Kampfes, die vorrangig friedlich sein (und Gewalt nur als ultima ratio verstehen) sollen, verfolge ich jetzt nicht. Wer hingegen Soldaten als Bürger in Uniform ansieht, wird sie als freie und vernünftige Menschen respektieren und behandeln. Folglich dürfen nur Volljährige einberufen werden, weil sie gesellschaftlich als frei und vernünftig gelten.24 Für den Drill besagt dies, dass seine Notwendigkeit dem Soldaten dargelegt wird, dass dessen Grundentscheidung, sich diesem Drill zu unterwerfen oder ihn zu verweigern, respektiert wird und dass vor allem der Drill auf diejenigen Handlungsabläufe begrenzt wird, die auf solche Einübungen angewiesen sind. Wer sich als freier und vernünftiger Bürger dem in manchen Bereichen unverzichtbaren Drill unterwirft, bleibt dennoch das Subjekt seines Handelns, weil es sich um die eigene Entscheidung handelte. Und sofern dieser Drill nicht den Soldaten durchgängig bestimmt, kann vorausgesetzt werden, dass seine Freiheit und Vernunftfähigkeit nicht zerstört, sondern nur in manchen Handlungsabläufen bewusst zurückgedrängt werden, so dass an dieser Stelle keine grundsätzlichen ethischen Bedenken laut werden müssen. Aber auch hier führt die Existenz von Kindersoldaten in eine ethische Problematik, wenn man nämlich die Perspektive verändert und nicht auf die Kinder, sondern auf deren Bekämpfer (Kombattanten) blickt:25 Könnte es 23

Vgl. dazu den Beitrag von Matthies in diesem Sammelband. Diese Formulierung weist noch einmal darauf, dass Freiheit und Vernunft als innere Größen des Menschen nur vorausgesetzt, nicht aber bewiesen werden können. Die terminierte Volljährigkeit ist keine natürliche Konstante, sondern eine gesellschaftliche Festlegung, für deren Fixierung es keine Beweise, wohl aber gute Gründe gibt. 24

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nicht notwendig werden, Soldaten vor einem Kampf gegen unseren (ernsthaft26) bösen Warlord dazu zu drillen, auf Kindersoldaten zu schießen und die entsprechende Hemmung abzubauen, damit die Soldaten im Kampf Akteure blieben und nicht bedingt durch moralische Bedenken und die damit verbundene Unschlüssigkeit (längere Reaktionszeit) selbst zu Opfern der Kindersoldaten würden? Aber würde nicht damit zugleich die Einstellung dieser Soldaten zu Kindern verändert? Führt der Drill den desensibilisierten Soldaten nicht in die Gefahr, auch in Friedenszeiten allzu rabiat gegen junge Nervensägen vorzugehen? Wollen wir, dass solche Soldaten in unserem Land ausgebildet werden? Oder wollen wir uns vor der Verantwortung drücken und die Warlords weiter gewähren lassen? Dass hier zivile, politische und militärische Maßnahmen ineinander greifen müssen, ist unstrittig, trifft aber auch nicht meine Frage. Wer Warlords militärisch bekämpfen will, was m. E. ethisch durchaus legitim ist, gegebenenfalls sogar geboten sein kann, muss sich schon aus Gründen der Fürsorge auch auf den Kampf gegen Kindersoldaten einstellen. Angesichts starker Emotionen erscheint hier ein entsprechender Drill militärisch unverzichtbar. Aber wollen wir (unsere) Soldaten so gedrillt sehen, und sind wir als Gesellschaft bereit, die Verantwortung für diese militärische Ausbildung und deren personale Folgen zu übernehmen? Eine Antwort auf diese Fragen kann ich hier nicht geben. Wohl aber möchte ich zum Schluss – wieder dezidiert als evangelischer Sozialethiker – zwei Hinweise formulieren. Erstens weisen die vorgestellten Fragen darauf hin, dass es nicht nur um die (zudem in sich facettenreiche) Sachfrage geht, ob und inwiefern der Drill die Soldaten zu Kinderhassern deformieren werde, sondern auch um die sozialethische Bewertung dieser Veränderung. Es muss geklärt werden, ob solche Soldaten von den Bürgern unseres Landes noch als ihresgleichen – nur in Uniform – akzeptiert würden. Ebenso ist zu fragen, ob wir als Gesellschaft bereit wären, diese Soldaten aufzufan25 Die folgenden Überlegungen sind erste Gedanken und wollen eine Diskussion anregen, nicht hingegen bestimmen. Anregungen dazu stammen aus Gesprächen mit Offizieren im LGAN (Ausbildung für den General- und Admiralitätsstabsdienst der Bundeswehr), die bekannten, dass sie sich zwar nicht vor Auslandseinsätzen fürchteten, wohl aber tiefes Unbehagen spürten bei dem Gedanken, gegebenenfalls mit Kindersoldaten in einem Kampfeinsatz konfrontiert zu werden. Es ist meine feste Überzeugung, dass solche Gesprächsthemen nicht nur in die Seelsorge gehören, sondern auch wissenschaftlich bearbeitet werden müssen. Nur ein kritischer und offener Diskurs kann dazu führen, die vom Kampf gegen Kindersoldaten ausgehenden realen Bedrohungen umfassend zu präzisieren und von Assoziationen zu unterscheiden. 26 Die Rede vom bösen Warlord ist also nicht verharmlosend gemeint, sondern eine sicherlich gegenwärtig umstrittene, gleichwohl klare ethische Bewertung. Sie soll das angezeigte Verhalten des Warlords gegenüber Kindern eindeutig und mit Anspruch auf allgemeine Geltung disqualifizieren.

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gen und wieder zu integrieren.27 Umgekehrt dürfte dieser Diskurs und die Analyse möglicher Folgeschäden dazu beitragen, Soldaten noch stärker für nicht militärische Problemlösungen zu gewinnen. Solche Klärung kann sich in unserer freiheitlich demokratischen Gesellschaftsordnung nur diskursiv vollziehen. Aber dieser Diskurs müsste geführt werden – am besten an einer Akademie, die sowohl Raum ließe für solche grundlegenden, wissenschaftlich zu erörternden Fragen wie personale Kompetenz vorhielte, um den notwendig interdisziplinären Diskurs gedanklich voranzutreiben. Zweitens weisen die in den Fragen angedeuteten Alternativen auf die Unverzichtbarkeit einer theologischen Einbindung der Ethik. Sowohl die Rede von der Würde des Menschen, die auch von einem bösen Warlord nicht zerstört werden kann und die auch einem gedrillten Soldaten zuerkannt bleiben muss, wie die spürbare Gewissheit, bei allen Handlungsoptionen mit Schuld konfrontiert zu werden und die Grenzen eigenen Handelns vor Augen geführt zu bekommen, führen über eine allgemeine Ethik hinaus. Die Bewertung menschlichen Handelns ist jedenfalls nach christlicher Überzeugung weder das erste noch das letzte, was über den Menschen zu sagen ist, das lautet vielmehr: hominem iustificari fide. Literatur Adorno, Theodor W. (1996) [1963]: Probleme der Moralphilosophie, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Bayer, Oswald (2003): Martin Luthers Theologie. Eine Vergegenwärtigung, Tübingen: Mohr Siebeck. Bieri, Peter (2003): Das Handwerk der Freiheit. Über die Entdeckung des eigenen Willens, Frankfurt am Main: Fischer. Butler, Judith (2003): Kritik der ethischen Gewalt. Adorno-Vorlesungen 2002, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Fischer, Johannes (1983): Handeln als Grundbegriff christlicher Ethik. Zur Differenz von Ethik und Moral, Zürich: Theologischer Verlag.

27 Es ist eine Grunderfahrung des Krieges, dass die an ihm beteiligten Soldaten nicht nur körperlich leiden, sondern auch seelisch so stark beansprucht werden, dass sie selbst im Falle der Rückkehr ohne Verwundung nicht sofort in die Gesellschaft, die sie verteidigt haben, integrativ zurückgeführt werden können. Sehr pointiert formuliert Jonathan Shay mit Blick auf die Veteranen des Vietnamkrieges: „The painful paradox is that fighting for one’s country can render one unfit to be its citizen“, Shay (1994), S. XX. Im Falle eines Kampfes gegen Kindersoldaten samt Vorbereitungsdrill dürfte die Reintegration noch aufwendiger (langwieriger, schwieriger, auch kostenintensiver) werden.

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Habermas, Jürgen (1999): Wahrheit und Rechtfertigung. Zu Richard Rortys pragmatischer Wende; in: Habermas, Jürgen (Hrsg.): Wahrheit und Rechtfertigung. Philosophische Aufsätze, Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 230–270. Härle, Wilfried (2005): Der Mensch Gottes. Die Orientierungsleistung des christlichen Menschenbildes im gegenwärtigen ethischen Diskurs, in: Härle, Wilfried (Hrsg.): Menschsein in Beziehungen. Studien zur Rechtfertigungslehre und Anthropologie, Tübingen: Mohr Siebeck, S. 363–378. Joest, Wilfried (1990): Dogmatik Band 2: Der Weg Gottes mit den Menschen, 2. Auflage, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. – (1967): Ontologie der Person bei Luther, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Kant, Immanuel (1793): Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, Königsberg, (= Werke in zehn Bänden, hrsg. von Wilhelm Weischedel, 5. Auflage, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1983, Band VII, S. 647–879). von Lüpke, Johannes (2006): Der Mensch im Entwurf. Grundgedanken theologischer Anthropologie, in: Dehn, Ulrich und Erika Godel (Hrsg.): „Du salbest mein Haupt mit ÖL . . .“. Wellness – Körperkultur oder Sinnfrage?, Berlin: Evangelische Zentrale für Weltanschauungsfragen, S. 16–31. Luther, Martin (2006): Lateinisch-deutsche Studienausgabe, Band 1: Der Mensch vor Gott, hrsg. von Wilfried Härle, Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt. Pico della Mirandola, G. (1990): De hominis dignitate. Über die Würde des Menschen, lateinisch und deutsch, übersetzt von Norbert Baumgarten, hrsg. und eingeleitet von August Buck, Hamburg: Meiner. Pieper, Annemarie (2007): Grenzen der Freiheit, in: fiph-Journal (= Zeitschrift des Forschungsinstituts für Philosophie Hannover), 10/2007, S. 1–8. Rorty, Richard (1988): Freud und die moralische Reflexion, in: Rorty, Richard (Hrsg.): Solidarität oder Objektivität? Drei philosophische Essays, Stuttgart: Reclam, S. 38–81. Shay, Jonathan (1994): Achilles in Vietnam. Combat Trauma and the Undoing of Character, New York: Atheneum Books. Stümke, Volker (2007): Das Friedensverständnis Martin Luthers. Grundlagen und Anwendungsbereiche seiner politischen Ethik, Stuttgart: Kohlhammer. – (2005): Wie viel Selbstbestimmung gehört zur Würde des Menschen? Gedanken zur Menschenwürde bei Luther und Kant aus ethischer Perspektive, in: Scharbau, Friedrich-Otto (Hrsg.): Kant, Luther und die Würde des Menschen, Erlangen: Martin-Luther-Verlag, S. 101–137.

Der Mensch als politisches Wesen Von Alexander Mätzig

I. Alles Politik? Die Frage nach dem eigenen Selbst ist wahrscheinlich so alt wie die Menschheitsgeschichte selbst und ist eng verbunden mit einer intellektuellen Analyse. Religiöse, philosophische, naturwissenschaftliche sowie technische, gar ausschließlich biologistische Deutungsmuster versuchen Antworten auf die Ausgangsfrage, „Was ist der Mensch?“, zu geben.1 In den folgenden Ausführungen wird versucht, eine mögliche Antwort dem Leser aus politikwissenschaftlicher Perspektive vorzuführen. Damit geht eine Reduzierung der Komplexität des Antwortspektrums einher. Verschiedene Theorien der Politikwissenschaft stehen als Angebot zur Verfügung, um Einblicke und Unterscheidungen über das Wissen vom Menschen unter politikwissenschaftlicher Perspektive hervorzubringen.2 Zentral bleibt aber allen Erklärungsansätzen das noch nicht näher bestimmte Wort ‚Politik‘. Reflexionen über Einsichten vom Wissen über Politik ist ein Teilgebiet der politischen Philosophie oder der politischer Ideengeschichte. Politische Ideengeschichte ist allerdings eine der ältesten Disziplinen, die sich mit normativen Fragen menschlichen Zusammenlebens beschäftigt – beispielsweise wird nach dem besten Staatswesen gefragt oder sich mit Fragen von Krieg und Frieden beschäftigt. Solche grundsätzlichen Fragen zeigen an, dass die politische Ideengeschichte entgegen einzelner Wahrnehmungen immer noch weit verbreitet ist. In der Regel werden dem Menschen Handlungsanweisungen gegeben, wie ein gewünschter Sollenszustand erreicht oder erhalten werden kann. Hierzu wird ein Ausgangspunkt angenommen, welcher die Voraussetzungen, Methoden und Ziele dieser Zielerreichung durch Handlungen beschreiben. Leitfragen von politikwissenschaftlichen Theorien kreisen um Charakteristika und Erklärungen sowie deren Methoden und normativen Absichten. Das spezifische Erklärungsmerkmal ist das Handeln bzw. Tätigsein des 1 2

Vgl. Jaspers (1971), S. 50 ff. Vgl. von Beyme (1987), S. 204 ff.

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Menschen. Das Feld der praktischen Philosophie ist mit diesen Abgrenzungen bestellt. Theorie und Praxis sind eng miteinander verbunden. Im Weiteren soll auf zwei Denker Rekurs genommen werden, welche sich grundlegend mit einer Beschreibung von Politik befasst haben. Zum einen wäre dies Aristoteles (384–322 v. Chr.), zum anderen, aufbauend auf dem griechischen Philosophen, Hannah Arendt (1906–1975), eine deutschamerikanische Politiktheoretikerin. 1. Aristoteles Aristoteles gilt als der Gründungsvater der politischen Theorie. In diskursiver Form beschreibt er als Empiriker die Herausforderungen menschlicher Gemeinschaften, welchen sich die Menschen gegenübersehen. Er sucht nach einer Form menschlichen Zusammenlebens, die dem Wesen des Menschen am nächsten kommt. Hierfür diskutiert er anhand verschiedener Staatsformen seiner Zeit die unterschiedlichen Auswirkungen dieser Konzepte auf das Individuum. Gibt es eine beste Lebensform? In der aristotelischen Beschreibung seiner Schrift ‚Politik‘ führt er das sogenannte 6-er Schema auf. Drei rechte stehen drei entarteten Entwürfen gegenüber. Angelehnt an Platon stellt Aristoteles Königtum und Tyrannis, Aristokratie und Oligarchie sowie Volksherrschaft und Demokratie gegenüber. Das Ordnungskriterium stellt die jeweilige Anzahl der Inhaber der Regierungsgewalt dar: einer – einige – alle. Als gut gilt die Form, die der Gemeinschaft dient. Allerdings favorisiert Aristoteles auch von den rechten Formen prinzipiell keine. Seinen Vorstellungen nach ist die Politie (gemäßigte Volksherrschaft), die am besten realisierbare und stabilste Form menschlichen Zusammenlebens. Insgesamt kann das Zusammenleben nur im Zusammenhang mit seinen Überlegungen über Ethik gedacht werden. Diese Ethik gehört zum Bereich menschlicher Praxis, die von seiner Geburt an durch Erziehung und dem Einüben vernünftiger Verhaltensweisen veredelt werden kann. Ansätze eines Naturzustands-Theorems sind hier zu erkennen.3 Neben der Schrift ‚Politik‘ befasst sich seine ‚Nikomachische Ethik‘ mit ethischen Konzeptionen. Beide Abhandlungen sind auf das Engste miteinander verbunden. Obwohl Aristoteles die höchste Erfüllung in der ‚vita contemplativa‘, d.h. in der philosophischen Suche der Weisheit sah, betrachtete er doch den Menschen als politisches Wesen (zoon politicon), als einen politischen Menschen (homo politicus). Aristoteles formuliert keinen Gegensatz zwischen normativem und praktischem Handeln. Menschliches Handeln ist die Bedingung für das Erreichen eines guten Lebens. 3

Vgl. Hobbes (1984).

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2. Hannah Arendt Die politische Theorie Hannah Arendts fußt auf einer an Aristoteles angelehnten Handlungstheorie. Drei Grundaktivitäten bilden ihr Handlungsrepertoire: „Arbeit, Herstellen und Handeln“,4 wobei das Handeln der eigentliche Raum bzw. der Ort des Politischen ist. Handeln und Kommunikation formen einen von Herrschaft freien Raum, in dem Menschen miteinander in Beziehung treten können. Demnach besteht in der Politik zwischen den Menschen eine potentielle Freiheit und Gleichheit. Wichtig ist es, die Perspektive des anderen einzunehmen. An politischen Vereinbarungen, Verträgen und Verfassungen sollten auf möglichst konkreten Ebenen gewillte und geeignete Personen beteiligt sein. Auf Grund dieser Auffassung steht Arendt einer rein repräsentativen Demokratie skeptisch gegenüber und bevorzugt nahezu basisdemokratische Formen direkter Demokratie. Darüber ließe sich eine Beteiligung vieler Menschen am politischen Prozess am direktesten gewährleisten. In ihrer Abhandlung ‚Vita activa oder vom tätigen Leben‘ führt Arendt diesen Gedanken aus.5 Mit der Geburt beginne die Möglichkeit, einen Anfang machen zu können, welcher frei und gleich ist. Dieser Zustand kommt wie schon oben bei Aristoteles angedeutet einer Art Naturstand gleich. Das Individuum habe die Aufgabe, in Verbindung mit anderen Personen, die Welt zu gestalten. Handeln besteht aus politischer Interaktion, die für Arendt fundamental ist. Darüber hinaus impliziert Handeln Kommunikation, d.h. „finden des rechten Wortes im rechten Augenblick“6. Zwei Formen des Handelns streicht Arendt, orientiert an Aristoteles, heraus. Zum einen das private Handeln im eigenen Haus, ‚oikos‘ genannt – die später als Ökonomie bezeichnete Hauswirtschaft. Hingegen wird das öffentliche Handeln als ‚politeia‘ mit dem Wort Politik beschrieben, welches sich auf dem frei zugänglichen Marktplatz, der ‚agora‘ abspielt und die zweite Form des Handelns umfasst. Arendt weist auf die Implikationen von Zwangsherrschaft im Haushalt im Gegensatz zum Handeln im öffentlichen Raum, in der Polis, hin. Öffentliches Handeln ist der Ort der ‚vita activa‘, des aktiven Lebens, der politischen Kommunikation, der Gestaltung eines freien Lebens unter Gleichen. Handeln dient der Gründung und dem Erhalt eines politischen Gemeinwesens. Öffentliches und privates Handeln verfolgen unterschiedliche Ziele. Das Öffentliche weist ein kategoriales Element auf. Nur im öffentlichen 4 5 6

Vgl. Arendt (1971), S. 14 f. Vgl. Arendt (1981). Arendt (1981), S. 36.

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Agieren ist der Mensch seiner Selbstverwirklichung am nächsten, während er im privaten an seine Hausgemeinschaft gebunden bleibt.

II. Der Wesenscharakter des Menschen – eine Definition Aus den beiden Kurzprofilen zu Aristoteles und Arendt steht eine Definition zur Beschreibung „Was ist der Mensch“ an: Der Mensch ist ein „zoon politikon“, ein „homo politicus“ – d.h. ein politisches Wesen.

Die beiden synonym verwendeten Wesensbeschreibungen gehen auf Aristoteles Schrift ‚Politik‘ zurück.7 Hannah Arendt thematisiert darauf aufbauend im Besonderen das ‚tätige Leben‘.8 Sie streicht menschliche Grundtätigkeiten wie Arbeiten, Herstellen und Handeln als typische Aktivitäten heraus, um menschliches Handeln beschreiben zu können. Beide Denker führen Grundnormen an, welche den Menschen umfassend erklären sollen bzw. erfüllt sein müssen, um als menschliches Wesen gelten zu können. Diese Normen sind das Unterscheidungsmerkmal zum Tier oder einer Sache. Entscheidend ist, dass es sich beim „zoon politicon“ bzw. „homo politicus“ um ein idealtypisches Erklärungsmuster vom Menschen handelt. Dieser politische Mensch existiert jedoch nicht in Reinkultur, sondern entspricht einem Idealtypus im Sinne Max Webers.9 „Homo politicus“ steht für einen Menschen, der als soziales Wesen nach einer Verwirklichung eines ‚politischen‘ Gemeinsinns strebt. Unter Gemeinsinn ist keine altruistische Haltung zu verstehen, sondern die Fähigkeit und Fertigkeit gemeinsame Lebensperspektiven zu entwickeln und gemeinsame Interessen zu formulieren und letztendlich auch umzusetzen. Insofern ist für den „homo politicus“ das Leben in einer Gemeinschaft konstitutiv. Nur das Leben in einer ‚polis‘ ermöglicht es nach Aristoteles den Menschen, das Interesse an einem gelungenen Lebensentwurf zu verwirklichen. Seine Annahme basiert auf zwei grundlegenden Bestandteilen: a) in jedem Gemeinwesen gibt es Angelegenheiten die viele bzw. alle betreffen und geregelt werden müssen. b) für den Bestand und die Wohlfahrt des Gemeinwesens müssen allgemeinverbindliche Entscheidungen getroffen werden. Die ‚polis‘ ist in diesem Verständnis nicht mit einem Staat moderner Prägung gleichzusetzen. Sie beschreibt eher einen flächenmäßig begrenzten 7 8 9

Vgl. Aristoteles (1981), Politik 1253a, S. 6 f. Vgl. Arendt (1981). Vgl. Weber (1973), S. 235 ff.

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Raum, in dem Menschen mehr oder minder wirtschaftlich autark leben können. Auseinandersetzungen über die Regeln und die Art und Weise der Umsetzung gehören zur Umsetzung notwendigerweise dazu. Flächenstaaten wie die USA/Kanada oder größere Organisationsformen bzw. Herrschaftsordnungen wie Frankreich oder die Bundesrepublik Deutschland waren noch nicht in der Vorstellungswelt denkbar. Im Weiteren wird ‚polis‘ und Staat dennoch als Begriffseinheit verwendet. Die Bedeutungsähnlichkeit der beiden Wörter hat sich im Erklärungskontext durchgesetzt. Es lassen sich gemeinsame Strukturen identifizieren: alle verbindlichen Entscheidungen werden durch die Angehörigen der ‚polis‘ selbst getroffen; Regierende und Regierte sind Bestandteil der Politischen Gemeinschaft; Diskussions- und Entscheidungswesen ist eindeutig geregelt, kodifiziert; Orte der Entscheidung sind klar festgelegt. Aristoteles beschreibt hier das Wesen des Politischen. Jeder Mensch hat einen klar umrissenen Platz in der Gemeinschaft und handelt dementsprechend. Ein Richter richtet, ein Bauer bestellt das Feld, ein Soldat schützt das Gemeinwesen vor Feinden von außen. Die Gemeinwohlorientierung ist das grundlegende Element der ‚polis‘ Die Orientierung am Gemeinwohl gilt als Maßstab politischen Handelns. Aristoteles findet in der Schrift ‚Politik‘ in der Idee des Guten eine Art Definition, was als Gemeinwohl zu verstehen sein könnte. Er unterscheidet zwischen guten und verfehlten Regierungsformen. Nur die gut verfassten Regierungsformen gewähren dem Menschen die Möglichkeit sich seiner Natur nach entwickeln, entfalten zu können und entsprechen dadurch dem Gemeinwohl. Nur wer frei leben kann, erfährt was Freiheit bedeutet. Wer sklavisch leben muss hat nicht die Möglichkeit sich seiner Natur nach als zoon politicon zu verhalten und entwickeln zu können. Gerade in der menschlichen Entwicklungsmöglichkeit sieht Aristoteles den zentralen Punkt an einer gemeinwohlorientierten Lebens- bzw. Herrschaftsweise. Eine entartete Form, dem Gemeinwohl konträre Verhaltensweise, gar Gegenentwurf, wäre eine Spielart des ökonomischen Liberalismus des 18. und 19. Jahrhunderts. Im Gegensatz zum Manchesterkapitalismus des 18. Jahrhunderts achtet Aristoteles auf einen gelungenen Lebensentwurf. Ohne den Gang der Entwicklung hier nachzeichnen zu wollen kann man konstatieren, dass der moderne Rechtsstaat des 20. und 21. Jahrhunderts auf den hier kurz skizzierten Strukturelementen einer ‚polis‘ beruht. Als Strukturelemente werden hier Freiheit und Gleichheit sowie Verantwortlichkeit für das eigene Handeln verstanden. Der Mensch existiert in einem Gemeinwesen als politischer Bürger. In modifizierter, Form ausbuchstabiert finden sich diese aristotelischen Ansätze auch im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland wieder. Insbesondere in den Artikeln 1–20 (Die Grundrechte) sowie den Artikeln 70 ff. (Gesetzgebung des Bundes) und 92 ff. (Rechtsprechung).

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Das Vorbild für den „homo politicus“ ist die Figur des ‚zoon politicon‘. Die Nominaldefinition des Menschen als politisches Lebewesen zielt auf die Einsicht, dass der Mensch ein soziales und auf Gemeinschaft angelegtes sowie ein Gemeinschaft bildendes Wesen ist. Der ‚politische Mensch‘ wäre demnach gleichbedeutend mit dem ‚geselligen Lebewesen‘ dem ‚zoon politicon‘. Ist der Begriff des ‚geselligen Lebewesens‘ gefasst, lässt sich die Bedeutung von Politik für den „homo politicus“ näher beschreiben. Diese Interpretation hält darüber hinaus fest, dass der Mensch ein handelndes Subjekt ist, der über eine eigene ratio verfügt. Er ist Subjekt, nicht Objekt.

III. Definition von Politik Im Folgenden soll gezeigt werden, wie sich Politik in den einzelnen Feldern ausgestaltet. 1. Die ‚polis‘ Der Staat nach aristotelischer Interpretation ist kein Selbstzweck, sondern verfolgt ein bestimmtes Ziel, nämlich die Ermöglichung guten Lebens. Allerdings verfolgen die Stadtstaaten in der klassischen Zeit unterschiedliche Ziele. Sparta verfolgt ein Konzept von Abhärtung durch Kampfsport und absolute Disziplin, um das Leben/Überleben zu sichern – bekannt auch unter dem Begriff der spartanischen Erziehung. Ein anderes Konzept verfolgt der Stadtstaat Athen. Hier wird ein genügsames Leben ohne extreme Übersteigerungen angestrebt – der Ausdruck Mäßigung bietet hier eine angemessene Beschreibung. Diese Ziele werden je nach der Verfasstheit des Staates unterschiedlich bestimmt und sind dem Souveränitätsanspruch des jeweiligen Staates unterworfen. Allerdings ist die Konstruktion nicht beliebig. Dass Menschen sich zusammenschließen und unterschiedlichste Zwecke verfolgen ist nicht hinreichend, um von einer ‚polis‘ sprechen zu können. Obwohl die „Natur“ den Menschen quasi vorbestimmt, ein politisches Wesen zu sein,10 werden spezifische Zwecke gesetzt, bevor überhaupt von einem Staat gesprochen werden kann. Die innewohnende Leistung des Begriffs von Politik nach Aristoteles soll im Weiteren erneut fruchtbar gemacht werden. Was steht hinter diesen Gedanken? Jede Gemeinschaft bzw. Gesellschaft verfolgt ein wie oben angedeutetes Ziel. Zweck einer polis ist die Verwirklichung menschlichen Lebens. Darunter wird die Realisierung eines guten Lebens in freier Selbstbestimmung und Selbstgenügsamkeit verstanden, welche auch Muße zulässt. Gelingt diese Art der Lebensführung, führt der Mensch ein glück10

Vgl. Aristoteles (1981), Politik 1252b 30, S. 4.

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liches Leben. Sowohl das Ziel als auch der Zweck stehen in einer engen Wechselbeziehung. Im Mittelpunkt steht der Mensch welcher aufgrund seines Menschseins eine politische Gemeinschaft, eine ‚polis‘ gründet, auf die er für die Führung eines guten Lebens angewiesen ist. Eine eindeutige genetische Herleitung ist nicht möglich, weil zwei Faktoren zugleich festzuhalten sind und sich wechselseitig bedingen: Der Mensch ist zugleich Einzelner und kein Eremit. Er kann nur existieren, weil er miteinander interagiert, in Beziehung tritt und nicht allein auf dieser Welt lebt. Zugleich ist er aber Individuum, das sich von anderen Individuen unterscheidet und nur so mit ihnen in Beziehung tritt. Somit lebt er aufgrund seiner eigenen Disposition in einer ‚polis‘ und die ‚polis‘ ist auf das gelungene Leben des Menschen hin ausgerichtet. Eine ‚polis‘ liegt demzufolge nicht vor, wenn Menschen nur wegen des monetären Vermögens in Kooperation treten. Eine pekuniäre Nutzenmaximierung ist nicht staatsbildend. Erst wenn die Menschen dadurch ein ‚gutes‘ und erfülltes Leben führen können, lässt sich laut Aristoteles von einem Staat sprechen. Auch Handelsbündnisse (und selbst militärische Allianzen) zum gegenseitigen Nutzen, ggf. vertraglich abgesichert, sind mit Aristoteles noch keine ‚polis‘. Vielmehr wohnt der ‚polis‘ eine gewisse Art des Umgangs der Menschen untereinander inne; zur ‚polis‘ gehört der eigene Wille des Bürger und letztendlich der Entschluss zu einem wirklichen Zusammenleben. Trotz individueller Verschiedenheit verhalten sich die Menschen in der ‚polis‘ freundschaftlich untereinander. Die Gründung einer ‚polis‘ ist kein einmaliges Ereignis, welches sich lediglich durch einen Gründungakt vollzieht. Vielmehr ist eine bestimmte Disposition der eigenen Lebensweise nötig, um als Mensch stetiger Teil, Angehöriger der ‚polis‘ sein zu können. Dazu schreibt Aristoteles: „Der Staat besteht aber nicht bloß aus einer Mehrheit von Menschen, dieselben sind auch der Art nach verschieden; aus ganz gleichen Menschen kann nie ein Staat entstehen.“11 Dem Menschen gelingt es, sich als Bürger zu begreifen. Eine ‚polis‘ ist eine frühe Form der Republik und zeichnet sich durch ebensolche republikanische Muster aus. Ein republikanisches Staatswesen, lateinisch res publica, bedeutet übersetzt die Sache der Allgemeinheit. Der Staat in diesem ursprünglichen Sinne ist ein öffentliches Gemeinwesen, in dem die Herrschaft im Rahmen einer verfassten Rechtsordnung ausgeübt wird. Das Gemeinwohl, der beste Wille der Allgemeinheit ist das Leitmotiv des Handelns. Der Bestand dieses Gemeinwesens ist von der Zustimmung seiner Bürger abhängig. So lange es mehr Zustimmung als Ablehnung für das eigene Staatswesen seitens seiner Bürger gibt, kann dieser Zustimmungsstaat existieren. 11

Vgl. Aristoteles (1981), Politik 1261a 20, S. 32 f.

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Das Leben in einer ‚polis‘ berührt darüber hinaus den Bereich einer politischen Ethik. Normative Kriterien einer Bewertung der politischen Ordnung, politischer Programme und politischer Prozesse sowie des Handelns politischer Akteure bilden das ethische Verständnis von Politik. Mit deduktiven Begründungen und sozialtechnischen Arrangements wird die Gesellschaft nur als eine soziale Maschine gedacht, die ähnlich einer Naturwissenschaft objektiv erkannt werden muss. Darauf aufbauend wird es möglich, vernünftig in die soziale Maschine zu intervenieren. Daraus resultiert auch eine gesellschaftliche Arbeitsteilung. Die Wissenschaft stellt objektive Probleme fest und ein Sozialingenieur repariert Fehlentwicklungen. Mit einer stabilen, freiheitlichen Ordnung hat diese politische Ethik nur wenig gemein. Vielmehr handelt es sich um ein Set bestimmter Tugenden, die allgemein als zustimmungsfähig erachtet werden. Auf die ‚polis‘ bezogen sind es Bürgertugenden. Ein Bürger handelt tugendhaft, wenn er das Gute aus rechten Motiven heraus tut. Somit wäre für Bürgertugenden beispielsweise Toleranz, politisches Engagement, Gemeinsinn, Solidarität, Zivilcourage und Patriotismus zu nennen. Aristoteles bemerkt dazu: „Die Tugend ist also ein Verhalten der Entscheidung (des Wählens), der die Mitte in Bezug auf uns hält und durch Überlegung (Vernunft) bestimmt wird, und zwar so, wie sie ein kluger (verständiger) Mann zu bestimmen pflegt“.12 2. Der Bürger Das Gemeinwohl kennzeichnet die ‚polis‘. Die Ausrichtung am Gemeinwohl macht die Menschen zu Bürgern dieser ‚polis‘. Die Möglichkeit frei und selbstbestimmt handeln zu können ist spezifisches Merkmal eines Bürgers. Arendt nennt es „vita aciva“ im Sinne eines tätigen Lebens. Der Mensch als Bürger wird selbstbestimmt tätig. Das Tätigsein ist die Abgrenzung gegen ein funktionales Menschenbild und eine ökonomische Zweckrationalität.13 Er ist eben keine Maschine, welche nur nach funktionalen Abläufen handelt, um in einer industriellen Arbeitswelt Produkte herzustellen. Ein solches funktionales Menschenbild beschreiben beispielsweise der Film ‚Modern Times‘ von Charles Chaplin und der Roman ‚Homo faber‘ von Max Frisch. Aber auch die Materialschlachten im ersten Weltkrieg haben Menschen, insbesondere Soldaten, eben nur als Material gesehen und entsprechend eingesetzt. Der Mensch wird in solchen Fällen durch sich selbst und in der Folge durch eine selbstentwertende Ordnung herabgesetzt. 12

Vgl. Aristoteles (1981), Nikomachische Ethik 1106b f) S. 34 f. Vgl. zur (Zweck-)Rationalität die Beiträge von Bayer und Gillner in diesem Sammelband. 13

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Er ist nicht mehr gemäß seiner ihm innewohnenden Anlagen frei. Der Mensch kann seine Bürgerqualitäten gar nicht entwickeln, obwohl sie schon von Geburt an vorhanden sind. Lange vor der Französischen Revolution (1789) und der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (1949) spricht Aristoteles bereits von ‚eingeborenen Ideen‘ als Urgrund allen politischen Handelns. Richtung und Intensität der Ausbildung menschlicher Aktivitäten hängt an den erstrebten Zielen, insbesondere am Lebensziel. Solche Ziele sind nicht beliebig. Ein ‚gutes‘ Leben führen zu können ist das teleologische Moment dieser Überlegung. An dieser Stelle ist anzumerken, dass unter ‚gutem‘ Leben etwas ganz Bestimmtes zu verstehen ist: Die Möglichkeit bestimmte Fähigkeiten und Fertigkeiten auszubilden ist nur in einem entwickelten Gemeinwesen, einer ‚polis‘ gegeben. Dort werden diese Fähigkeiten sowohl durch Erziehung wie durch aktive Teilhabe am gemeinschaftlichen Leben ausgebildet und verfeinert. Das ‚gute‘ Leben ist nicht mit einer Art Selbstverwirklichung rein egoistischer Natur zu verwechseln oder lediglich mit dem Steigern eines persönlichen Glücksgefühls gleichzusetzen, sondern die letztendliche Verwirklichung eines gelungenen Lebensentwurfs. Politisches Handeln hat somit mit Maßnahmen zur Führung, Erhaltung und Verwaltung eines Gemeinwesens zu tun. Ein Politiker ist demnach ein Mensch, der aktiv an der Politik teilnimmt und zum Wohlergehen der Gemeinschaft beiträgt. Somit öffnet die Figur des „homo politicus“ die Tür für den späteren Zentralbegriff der politischen Wissenschaft: den Staat als eine Gemeinschaft von Bürgern als ‚homines politici‘. Festzustellen ist aber, dass das Politische unter aristotelischen Prämissen keinen Gottesbezug besitzt, sondern diesen sogar bewusst vernachlässigt. Das Modell des „homo politicus“ bleibt für Aristoteles säkular gestaltet. Aristoteles führt in seinen Schriften keine Auseinandersetzung mit dem Göttlichen noch eine Theodizee vor. In der Vorstellungswelt der Griechen werden die Götter menschähnlich gedacht. Die Götter verfügen über ähnliche Eigenschaften und Verhaltensweisen wie die Menschen. „Wie nämlich der Mensch die Gestalt der Götter der seinigen ähnlich denkt, so urteilt er auch über ihre Lebenseinrichtungen“14. Götter werden als Könige gedacht und somit menschlich dargestellt. Somit hat die ‚polis‘ und der sich daraus entwickelte Staat immer auch einen unterschwelligen göttlichen Bezugspunkt. Von Aristoteles über Augustinus (354–430) und Thomas von Aquin (1225–1274) prägt eine Stellungnahme zu Gott im Wesentlichen die Gedankenwelt einer Staatswerdung, einer Staatsbegründung – sei sie nun ablehnend oder bejahend. Diese Positionierung gilt bis in die Neuzeit hinein. Selbst areligiöse Gemeinwesen wie der Nationalsozialismus oder Spielarten des Kommunismus weisen quasi religiöse Muster auf. Personenkult oder Zeremonien gelten als fester 14

Vgl. Aristoteles (1981), Politik 1252 b 25/26, S. 6

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Bestandteil solcher Staatswesen. Profanbauten haben eine quasi sakrale Bedeutung erlangt. Auch das Kapitol in Washington D. C. als Amtssitz des Kongresses verbreitet eine sakrale Aura. Einen Übergang in eine ‚zivile Religion‘ (civil religion) finden seine Ursprünge in der Kultur des klassischen Griechenlands.

Die Stärke des aristotelischen Gedankengangs ist, dass Begründungen für kriegerische Auseinandersetzungen menschliche Schwächen sind. „Neid, Furcht, Verachtung, Ruhmsucht, Habsucht“15 können Gründe für Kriege sein. Weil der homo politicus nur säkular gedacht wird, taugt Aristoteles nicht als Stichwortgeber zur Begründung oder Rechtfertigung „heiliger Kriege“. 3. Das Handeln Der „homo politicus“ zeichnet sich im besonderen Maße durch eine freiwillige, aktive sowie stetige Teilnahme bei gleichzeitiger Teilhabe am politischen Leben aus. Damit ist er als Handelnder gedacht. Sein Agieren ist von einer Intention der Nachhaltigkeit motiviert, denn die kontinuierliche Verbesserung des politischen Gemeinwesens prägt sein Handeln bis hin zur Inkaufnahme persönlicher Nachteile – ein Topos, welcher heute wieder aktuell ist: Im Brundtland-Bericht (1987) wird Nachhaltigkeit wie folgt definiert: „Entwicklung zukunftsfähig zu machen, heißt, dass die gegenwärtige Generation ihre Bedürfnisse befriedigt, ohne die Fähigkeit der zukünftigen Generation zu gefährden, ihre eigenen Bedürfnisse befriedigen zu können“16. In diesem Sinne ist der homo politicus ein politisch aktiver Bürger. Er zeichnet sich durch ein stetiges Interesse am politischen Geschehen aus, nimmt beispielsweise an Diskussionen, Demonstrationen o. ä. teil. Er übernimmt Ämter im kommunalen Bereich. Der Bürger ist am politischen Leben als partizipierender Mensch in der Gemeinschaft zu verstehen. Im Zeitalter der Französischen Revolution nannte man diesen Bürger auch citoyen. Er nimmt aktiv und eigenverantwortlich im Geist der Aufklärung am öffentlichen Leben teil. Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit sind normative Vorgaben des bürgerlichen Handelns. Der Bürger ist immer ein vollberechtigter Einwohner eines Staates. Die politisch-rechtliche Ordnung lässt den Bürger laut Verfassung und ihren Gesetzen handeln. Die Verfassung gestaltet dem Menschen einen möglichen Handlungsraum, der an ausbuchstabierte Rechte und Pflichten gemäß seiner Verfassung gebunden ist. Dazu gehören u. a. die Befolgung der Steuer- und Wehrpflicht oder auch die Übernahme ehrenamtlicher Aufgaben (z. B. Schöffe). Insofern ist der Ausdruck Staatsbürger ein Pleonasmus. Bürgerqualitäten sowie die Gemeinschaft15 16

Vgl. Aristoteles (1981), Politik 1312 b 15–25, S. 202. Vgl. Hauff (1987), NR. 3 o. A.

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lichkeit sind Ausdruck dieses Gemeinwesens, welches auch Staat genannt werden kann. Andererseits: Wird der Bürger eher als freies Wirtschaftssubjekt innerhalb einer von Marktmechanismen gesteuerten Wirtschaftsordnung verstanden, demnach als Wirtschaftsbürger interpretiert, ist diese Art von Bürger unter den Begriff bourgeois einzuordnen. Der bourgeois zielt auf die Befriedigung seiner individuellen persönlichen Bedürfnisse ab, hegt aber kein politisches Interesse. Hegel macht in seiner Schrift „Vorlesung zur Rechtsphilosophie auf den Unterschied dieses Bürgerstatutes aufmerksam. Im Deutschen gibt es kein Wort für das Begriffspaar citoyen/bourgeois. Ein anderer Ausdruck für den bourgeois wäre der des homo oeconomicus.17 Allerdings existiert die theoretische Trennschärfe nicht in der Realität. Dennoch trägt sie wesentlich zum Verständnis bei, was unter dem Mensch als „homo politicus“ und „homo oeconomicus“ verstanden werden kann. Es sind zwei Seiten der gleichen Medaille und beide weisen auf ein Gemeinwesen hin, in dem der Mensch im Mittelpunkt der Lebens- und Handlungswelt steht. 4. Das Recht Der „homo politicus“ ist als politischer Mensch in rechtliche Zusammenhänge eingebunden. Zum einen gestaltet er durch das positive Recht Gesetze mit und ist zum anderen gleichzeitig diesen Gesetzen unterworfen. Dieser rechtssetzende und rechtsgewährende Status wird nach Aristoteles allerdings nur freien Bürgern gewährt. Recht wird ursprünglich nicht egalitär ausgesprochen. Die Idee der Gleichheit, gleicher Rechte für alle, ist vielmehr Produkt einer rechtsgeschichtlichen Entwicklung über mehr als tausend Jahre hinweg. Für Aristoteles hingegen gilt: Rechte und Pflichten untermauern die Stellung des „homo politicus“ als Bürger. Innerhalb der Gemeinschaft schützt das positive Recht den Einzelnen und sichert ihn unter freiheitlichen Bedingungen gegenüber andern Bürgern und auch vor Zugriffen des Staates ab. Die Ausformung des Rechts obliegt den Gesetzgebungsprozessen, Gesetze sind daher veränderlich. Allerdings ist es nach Arendt dem Menschen wesentlich, Rechte zu haben.18 Nicht erst der König/Regent oder Heerführer gewährt spezielle Rechte, sondern dem Bürger stehen schon aufgrund seines Menschseins Rechte, Bürgerrechte zu.

17 Vgl. hierzu die Ausführungen von Bayer und die Relativierungen in Stümke und Biehl in diesem Sammelband. 18 Vgl. Arendt (1986), S. 703 ff.

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IV. Der Bürgersoldat Eine weitere Lesart des „homo politicus“ bezieht sich auf den Soldatenberuf. Äußerungen zum Beruf des Soldaten trifft Aristoteles indirekt über umfassende Erziehungsfragen: „Es kann also kein Zweifel bestehen, dass das Erlernen der Musik weder ein Hindernis der späteren Berufstätigkeit bilden, noch körperlich banausisch machen und für die Verrichtung des Krieges und des Staatsdienstes bilden. [. . .] Der Zögling muß körperlich, zunächst für die Dienstübung und in der Folge für die Aneignung gut gestellt bleiben.“19

Insgesamt ist für Aristoteles das Streben nach dem guten Leben auch Garant für eine gute Tätigkeit als Heerführer. Arendt hingegen macht auf die Bürokratisierung und Technisierung von Handlungsabläufen aufmerksam, die zu einer Entpolitisierung des Menschen und zu einem totalitären Herrschaftssystem führen und somit den Menschen jeglichen Bürgerstatus raubt. Gerade die Deutungsfigur des Soldaten als Bürger in Uniform gibt dem Soldaten dezidiert sowohl Restriktionen als auch Freiräume und damit ein Handlungsfeld vor. Selbstverständlich ist auch das Handeln des Soldaten von politischer Natur. Das Interesse am Gemeinwohl kann auch in dieser oben aristotelisch beschriebenen Art dem Soldaten zugeschrieben werden. Die Anbindung an das Recht ist allerdings für die Bundeswehr ein handlungsbildendes Spezifikum. An die Stelle des guten Lebens tritt das Recht als Verhaltensregulativ und substituiert den aristotelischen Ansatz des guten Bürgers. Die Zeit des Ausprägens von bürgerlichen Verhaltensweisen ist mit einer Neugründung von Streitkräften nach dem Ende der Terrorherrschaft nicht direkt abbildbar. Die Etablierung eines „homo politicus“ in Uniform wird zunächst über das Recht versucht. Sein Handeln als Soldat ist unmittelbar an Recht und Gesetz der Bundesrepublik gebunden. Würde er sich nicht in letzter Konsequenz als Bürgersoldat in Sinne eine „homo politicus“ verstehen, wäre er „nur“ ein „homo militarius“. Ein ausschließliches Interesse am Materiellen würde sogar den Ausdruck Söldner rechtfertigen. „Moderne Mentalitäten als Konstrukteure von Realität“20 hegen zusätzlich den Soldaten ein und formen sein Handeln. Jegliches Handeln ist an Verfassung und Recht gebunden. Sonderrechte des Soldaten im Sinne eines des sui generis Berufsverständnisses würden den Soldaten der Bundeswehr außerhalb der republikanischen Rechtsordnung stellen.21 Artikel 1, Absatz 3 GG („Die nachfolgenden Grundrechte binden Gesetzgebung, voll19 20 21

Vgl. Aristoteles (1981), Politik 1341a 5, S. 296. Vgl. Kutz (2006), S. 107 ff. Zum sui generis vgl. Reep/Többicke (2003), S. 229 f.

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ziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht“) und Artikel 3, Absatz 1 GG („Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich“) betonen die Egalität aller Menschen, die im Geltungsbereich dieses Rechts leben. Die innere Disposition des Soldaten ist deshalb so elementar, weil die militärische Macht ein Mittel der Politik des Staates darstellt. Die Wertebindung ist an das Recht gebunden. Begreift sich der Soldat der Bundeswehr im ursprünglichen bürgerlichen Sinne als politischer Soldat, wäre eine zusätzliche Hegung durch Artikel 87a GG unnötig. Der Erhalt des Staates ist ein hohes Gut ist, weil nur in ihm die höchste Erfüllung des irdischen Lebens, das höchste Gut, realisiert werden kann. Aristoteles nennt dieses Ziel „Eudämonie“ Glückseligkeit. Das Konzept der Inneren Führung führt den Soldaten der Bundesrepublik zusätzlich auf seine bürgerlichen Wurzeln zurück. Dies darf allerdings nicht als eine bestimmte Sozialtechnik missgedeutet werden.22 War das Handeln für Aristoteles noch natürliches Kennzeichen des Menschen (als ‚zoon politicon‘), wird nunmehr das Einüben eines bestimmten Verhaltens, nämlich nach verfassten Rechtsnormen (namentlich: nach den Rechtssätzen der Bundesrepublik Deutschland) zu handeln, zur Aufgabe des Soldaten.

V. Die Ubiquität des Politischen Politik hält, so lässt sich zusammenfassen, in seiner ursprünglich aristotelischen Sichtweise eindeutige Richtlinien für das eigene Handeln im Alltag sowie für den Dienst des Soldaten der Bundeswehr bereit. Die Allgegenwart des Politikbegriffes im persönlichen Alltag, in den Medien, der Literatur etc. braucht den Menschen als aufgeklärten Bürger nicht schrecken. Die Figur des „homo politicus“ und seiner abgeleiteten Definition von Politik steht dem Leser zu persönlichen Bereicherung gar Aufklärung zur Verfügung. Der Begriff des homo politicus kann als ein modernes Selbsterklärungsmuster für den Soldaten der Bundeswehr dienen und das Konzept der Inneren Führung fortschreiben.

22

Vgl. ausführlich hierzu den Beitrag von Franke in diesem Sammelband.

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Literatur Arendt, Hannah (1986): Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, München/Zürich: Piper. – (1981): Vita Aktiva oder vom tätigem Leben, München/Zürich: Piper. – (1971): Macht und Gewalt: Piper. Aristoteles (1981): Politik, übers. von Eugen Rolfes u. Günther Bien, Hamburg: Felix Meiner Verlag. Beck, Ulrich (1993): Die Erfindung des Politischen, Frankfurt/M: Suhrkamp. von Beyme, Klaus (1987): Politikwissenschaft, Stuttgart: Kohlhammer. Dahrendorf, Ralf (1977): Homo Sociologicus, ein Versuch zur Geschichte, Bedeutung und Kritik der Kategorie der sozialen Rolle, Opladen: Westdeutscher Verlag. Hauff, Volker (1987) (Hrsg.): Unsere gemeinsame Zukunft. Der Brundtland-Bericht der Weltkommission für Umwelt und Entwicklung, Greven: Rat für Nachhaltige Entwicklung: UNESCO-Papier. Heins, Volker/Warburg, Jens (2004): Kampf der Zivilisten, Militär und Gesellschaft im Wandel, Bielefeld: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Hobbes, Thomas (1984): Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates, hg. Und eingeleitet von Iring Fetscher, Frankfurt/M: Suhrkamp. Jaspers, Karl (1971): Einführung in die Philosophie, München/Zürich: Piper. Kutz, Martin (2006): Deutsche Soldaten. Eine Kultur und Mentalitätsgeschichte, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Leonhard, Nina/Werkener, Ines-Jaqueline (Hrsg.) (2005): Militärsoziologie – Eine Einführung, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaft. Meyer, Thomas (2003): Was ist Politik? Opladen: Westdeutscher Verlag. Reep, Hans-Joachim/Többicke, Peter (2003): Lexikon Innere Führung, Regensburg/ Berlin: Walhalla u. Praetoria Verlag. Weber, Max (1973): Soziologie, Universalgeschichtliche Analyse, Politik, Stuttgart: J. C. Mohr Verlag.

Das Menschenbild des politischen Realismus Kritische Anmerkungen aus ethischer Perspektive Von Matthias Gillner Jeder philosophischen Ethik liegt ein bestimmtes Menschenbild zugrunde. Ohne basale anthropologische Annahmen können die ethischen Probleme nicht gelöst werden. Dieses Wissen bringt der Königsberger Philosoph Immanuel Kant in der relationalen Abhängigkeit der grundlegenden moralischen Frage ‚Was soll ich tun?‘ von der anthropologischen Frage ‚Was ist der Mensch?‘ zum Ausdruck.1 Das Abhängigkeitsverhältnis können selbst jene Konzeptionen nicht bestreiten, die explizit auf weitgehende anthropologische Reflexionen verzichten. Denn die Vorstellungen vom Menschen haben einen unmittelbaren Einfluss auf die Ausgestaltung einer ethischen Theorie. Ob das „Wesen“ des Menschen als prinzipiell eher gut oder schlecht/böse bestimmt, ob die natürliche Veranlagung oder die kulturelle Ausformung hervorgehoben, ob die genetische Veranlagung oder die pädagogische Formbarkeit betont, ob das „Geistige“ auf das bloß Biologische und Physikalische zurückgeführt (der Mensch ist nicht mehr als ein Tier unter anderen) oder auf eine Irreduzibilität des „Geistigen“ bestanden wird (der Mensch verfügt über eine spezifische Würde)2, solche anthropologische Einschätzungen wirken sich auf die Konzeption einer jeden Ethik aus. Insofern sollte eine wissenschaftlich fundierte Moraltheorie sich stets Rechenschaft darüber ablegen, welches Bild vom Menschen ihr zugrunde liegt; mehr noch: Sie hat die Pflicht, die anthropologischen Voraussetzungen ihrer Konzeption transparent zu machen. Eine konstitutive Bedeutung des Menschenbildes kommt auch den Bereichsethiken und den korrespondierenden Fachtheorien zu: der Rechtsethik wie der Rechtstheorie, der Wirtschaftsethik wie der Wirtschaftstheorie. Auch die politische Ethik und die politische Theorie werden stets durch eine philosophische Anthropologie fundiert, selbst wenn die entsprechenden Prämissen nicht immer in der gewünschten Weise expliziert werden. So liegt auch dem „politischen Realismus“ als einer „Theorie internationaler 1 2

Vgl. Kant (1968), Logik A 26. Vgl. dazu den Beitrag von Stümke in diesem Band.

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Politik“ ein bestimmtes anthropologisches Leitbild zugrunde. Einer der wissenschaftlichen „Gründungsväter“, Hans J. Morgenthau, erhob sogar den Anspruch, eine politische Theorie zu entwickeln, die auf Einsichten über das „wahre“ Wesen des Menschen beruhe.

I. Das anthropologische Fundament des politischen Realismus Der Begriff „politischer Realismus“ bezeichnet eine variantenreiche Bandbreite politikwissenschaftlicher Theorien, die gemeinsam davon ausgehen, dass Politik im Unterschied zum Recht und zur Ökonomie von der Eigengesetzlichkeit des Machtprinzips bestimmt wird. Macht sei die entscheidende Kategorie der Politik: Erst die Macht mache die Politik zur Politik. Auch die internationale Politik sei ein permanenter Kampf um die Macht, Macht das zentrale nationale Interesse. Die konkreten Interessen des Staates könnten sich wandeln, müssten aber immer der Macht dienen. Die innere Verfassung sei unbedeutend, die letzten Ziele unwichtig. Für Morgenthau bleibt das unmittelbare Ziel der internationalen Politik stets die Macht: „Woodrow Wilson wollte die Welt für die Demokratie gewinnen, die Nazis wollten Osteuropa für die deutsche Kolonisierung erschließen, Europa beherrschen und die Welt erobern. Alle bedienten sich der Macht, um diese Ziele zu erreichen, alle beteiligten sich daher am Spiel der internationalen Politik.“3 Das politische Handeln der Staaten müsse die Gesetze dieses Machtkampfes anerkennen und dürfe sich nicht nach anderen Maßstäben orientieren. Den Staaten könne es in den internationalen Beziehungen nur darum gehen, Macht zu erhalten, Macht zu vermehren oder Macht zu demonstrieren. Diese Machtpolitik spielt sich für den politischen Realismus auf dem Hintergrund eines Staatensystems ohne Entscheidungs- und Sanktionsgewalt ab. Insofern kein Staat in der Lage sei, durch Akkumulation von Macht eine umfassende weltweite imperiale Macht auszuüben, könne das daraus resultierende Sicherheitsdilemma nicht aufgelöst werden. Friede sei daher nicht mehr als die Abwesenheit von Krieg; Sicherheit könne nur durch Aufrüstung oder durch ein Abschreckungsgleichgewicht garantiert werden. Das Wesen des Politischen erschließt sich für den klassischen politischen Realismus aus der Natur des Menschen. Die Gesetzlichkeiten staatlicher Politik ließen sich nur in Analogie zur Natur menschlichen Handelns gewinnen. Im Gegensatz zu idealistischen Bestimmungen des Menschen vertritt der politische Realismus ein eher pessimistisches Menschenbild. Es 3

Vgl. Morgenthau (1963), S. 69 f.

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gelte, den Menschen nüchtern wahrzunehmen und seine wirklichen Handlungsmotive schonungslos offen zu legen. Und die Erfahrung zeige, dass er selten altruistisch handle, sondern sich hauptsächlich am Eigennutz orientiere. Zwar sei er durchaus vernunftbegabt, vor allem aber triebgesteuert. Für Morgenthau bestimmen zwei Triebkräfte den Menschen zu allen Zeiten und an allen Orten: der Selbsterhaltungs- und der Machttrieb. Der Kampf um das Überleben und um die Macht stelle eine unwiderlegliche Erfahrungstatsache dar und die moralischen Ressourcen des Menschen seien nicht stark genug, den „animus dominandi“ im Zaum zu halten, die wesentlichen biopsychologischen Triebkräfte zu bändigen. Mit dieser Vorstellung von der Natur des Menschen berufen sich die politischen Realisten auf eine lange Tradition der politischen Philosophie: auf den griechischen Geschichtsschreiber Thukydides (460–400 v. Chr.), der im Melierdialog seiner „Geschichte des Pelopennesischen Krieges“ Politik als Anwendung von Macht und Gewalt im Dienste der eigenen Interessen definierte, und auf den römischen Historiker Tacitus (55–116), der in den „Annalen“ sein Augenmerk auf die dunkle Seite der Politik richtete, auf den italienischen Schriftsteller Niccolò Machiavelli (1469–1527), der in „Il Principe“ die mittelalterliche Vorstellung des den christlichen Tugenden verpflichteten Herrschers verwarf und eine von moralischen Normen losgelöste Machtpolitik rechtfertigte, und auf den deutschen Philosophen Friedrich Nietzsche (1844–1900), der dem Menschen einen unbändigen „Willen zur Macht“ attestierte. Maßgeblich aber orientiert sich der politische Realismus an der Anthropologie des englischen Philosophen Thomas Hobbes (1588–1679). Denn kaum ein anderer politischer Denker hat eine so gründliche und systematische anthropologische Basis für seine Theorie ausgearbeitet. Von daher können die Auswirkungen der Hobbessschen Anthropologie für die „realistische Schule“ der internationalen Politik kaum überschätzt werden.

II. Das Menschenbild von Thomas Hobbes Beeindruckt durch die von den physikalischen Erkenntnissen Galileis revolutionierte Naturwissenschaft und geprägt von der Unrast und Ziellosigkeit der frühkapitalistischen englischen Gesellschaft versucht Thomas Hobbes die politische Philosophie mit Hilfe des aus den mathematischen Wissenschaften entlehnten Methodenideals völlig neu zu bestimmen, sie ‚more geometrico‘ zu analysieren. Gegenüber der mangelhaften Erkenntnisgewissheit der bisher vorherrschenden aristotelisch-scholastischen Tradition soll die neue mechanisch-physikalische Einheitsmethode wissenschaftlich objektives und empirisch gesichertes Wissen auf allen Ebenen der Philosophie produzieren.

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Die methodischen Grundlagen seiner auf drei Teile angelegten Darstellung der gesamten Philosophie, der „Elementa Philosophia“, hat Hobbes in „De Corpore“ entwickelt. Die Theorie des physikalischen Körpers wird in „De homine“ auf den Menschen, in „De cive“ – und später vor allem im „Leviathan“ – auf den Staat und das gesellschaftliche Zusammenleben der Bürger angewendet. Thomas Hobbes vertritt eine Philosophie des „dynamischen Materialismus“:4 Alles, was auf dieser Welt existiert, ist Körper in ständiger, ruheloser Bewegung – auch der Mensch. Wegen seiner körperlichen Konstitution reagiert er auf äußere Veränderungen mit inneren Bewegungen, die Sinneseindrücke, Vorstellungen, Willensbildungen und Urteile erzeugen, die ihrerseits reflexartige Handlungen veranlassen. Alle kognitiven Prozesse, emotiven Regungen und volitiven Strebungen lassen sich als physiologische Reaktion auf kausal verursachte äußere Bewegungen beschreiben. Es gibt keine mentale Eigenwirklichkeit. Die Psyche des Menschen wird materialistisch gedeutet. Der Mensch ist ein durch physikalische Bewegungsgesetze programmierter Automat, deren geistige Aktivitäten sich auf eine appetitive und eine aversive Bewegungsform reduzieren lassen: das Streben und das Vermeiden. Auch wenn die Menschen als individuelle „Bewegungsapparate“ Verschiedenes begehren und meiden, so gilt doch für alle das gleiche allgemeine Bewegungsgesetz: „Jeder verlangt das, was gut, und flieht das, was übel für ihn ist; vor allem flieht er das größte der natürlichen Übel, den Tod; und zwar infolge einer natürlichen Notwendigkeit, nicht geringer als die, durch welche ein Stein zur Erde fällt.“5 Der Tod ist das „summum malum“, die Selbsterhaltung das primäre Gut. Dagegen ist das menschliche Streben nach einem höchsten Gut – wie noch bei Aristoteles und Thomas von Aquin – für Hobbes unmöglich. Glückseligkeit im Sinne eines Ruhezustandes kann es in einer materiellen Welt nicht geben. Als bewegter bedürftiger Körper begehrt der Mensch – gleich den Tieren – alles, was seiner Befriedigung zuträglich ist. Doch das Verlangen kann an keinen definitiven Endpunkt gelangen; über das erstrebte Objekt wird wieder hinausgegriffen, das erreichte Ziel ist immer nur eine weitere Etappe zur nächsten. Die innere Dynamik des Menschen zur Befriedigung der Bedürfnisse kann sich für Thomas Hobbes nicht ohne zwischenmenschliche Konflikte entfalten. Denn die erstrebten Güter sind nur begrenzt vorhanden, die begehrten Ressourcen äußerst knapp. Daher stellen sich dem Menschen in dem jeweiligen Begehren andere in den Weg. „Am häufigsten wollen die 4 5

Vgl. Kersting (1992). Hobbes (1994), Vom Bürger (De Cive) Kap. 1, Abs. 7.

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Menschen einander verletzen, weil viele denselben Gegenstand zugleich begehren, der sehr oft weder gemeinsam genossen noch geteilt werden kann. Deshalb muss der Stärkste ihn haben; und wer der Stärkste ist, das muss durch das Schwert entschieden werden.“6 Der Stärkste aber ist nach Thomas Hobbes derjenige, der über die umfangreichsten Mittel zur Erreichung der begehrten Güter, der über die größte Macht verfügt. Macht ist die Verfügungsgewalt über die Mittel zur Selbsterhaltung und zur Bedürfnisbefriedigung. Alles, was zur Realisierung der begehrten Güter tauglich ist, zählt für Hobbes zum Machtpotential des Menschen. Und dazu gehören sowohl die natürlichen geistigen und körperlichen Fähigkeiten wie Intelligenz und Beredsamkeit, Geschicklichkeit und Körperkraft, als auch die erworbenen materiellen Mittel und sozialen Beziehungen wie Vermögen und Besitztümer, Familie und Freunde. Unter diesen Bedingungen ist das Streben nach Macht eine Grundkonstante menschlichen Lebens. Der um seine Selbsterhaltung besorgte und nach einem angenehmen Leben strebende Mensch muss sich um die Anhäufung der Machtmittel kümmern, da er bei der Bedürfnisbefriedigung in permanenten Konflikt mit anderen um die begehrten Güter gerät. „So halte ich an erster Stelle ein fortwährendes und rastloses Verlangen nach immer neuer Macht für einen allgemeinen Trieb der gesamten Menschheit, der nur mit dem Tode endet. Und der Grund hierfür liegt nicht immer darin, dass sich ein Mensch einen größeren Genuss erhofft als den bereits erlangten, oder dass er mit einer bescheidenen Macht nicht zufrieden sein kann, sondern darin, dass er die gegenwärtige Macht und die Mittel zu einem angenehmen Leben ohne den Erwerb von zusätzlicher Macht nicht sicherstellen kann.“7 Das permanente Streben nach immer mehr Macht korrespondiert für Thomas Hobbes mit der Vernunft. Im Gegensatz zu den anderen Lebewesen ist der Mensch ein „vernünftiger Körper“, der nicht nur bedürftig, sondern auch zur Vorsorge in der Lage ist. Ein providentielles Wesen ist befähigt zur planenden Vorausschau, zur Antizipation von Folgen, zu präventivem Handeln; es ist imstande nicht nur die momentanen Bedürfnisse zu befriedigen, sondern auch langfristige Befriedigungsstrategien zu entwickeln. Es ist „Gegenstand menschlichen Verlangens (. . .), nicht nur einmal und zu einem bestimmten Zeitpunkt zu genießen, sondern sicherzustellen, dass seinem zukünftigen Verlangen nichts im Wege steht. Und deshalb gehen die willentlichen Handlungen und Neigungen aller Menschen nicht nur darauf aus, sich ein zufriedenes Leben zu verschaffen, sondern auch darauf, es zu sichern.“8 Das Streben nach Macht ist zweckrational kalkuliert. Denn um seine zu6 7 8

Hobbes (1994), Vom Bürger (De Cive), Kap. 1, Abs. 6. Hobbes (1999), Kap. 11, S. 75. Hobbes (1999), Kap. 11, S. 75.

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künftige Bedürfnisbefriedigung vorab zu sichern, müssen die geeigneten Machtmittel maximiert werden, muss die Macht präventiv begehrt, muss Macht akkumuliert werden. Der Mensch ist qua Vernunft ein nach Macht strebendes Wesen. Die Vernunft des Menschen ist für Thomas Hobbes auf technisches und strategisches Denken beschränkt. Wegen der physikalischen Determiniertheit der Vernunft können sich andere Rationalitätsformen nicht entwickeln. Die Menschen können sich wechselseitig gar nicht anders als instrumentell verhalten. Ebenso wie die dinghafte Welt werden auch die Menschen zur Verwirklichung der eigenen Interessen und Bedürfnisse benutzt. Weil eine mentale Eigenwirklichkeit bestritten wird, kann es auch keine moralische Vernunft im engeren Sinne geben, nach der die Menschen in ihrer Würde geachtet und ihre natürlichen Rechte respektiert werden sollen. Es gibt keine ethischen Werte und Gebote, es gibt nur menschliche Neigungen und Begierden, es gibt keine moralischen Motive, es gibt nur eigene Interessen, die auf die Bewegungsgesetze des Menschen zurückgeführt werden können. Angebliche ethische Phänomene müssen gemäß den anthropologischen Gegebenheiten physikalisch dechiffriert werden. „Die Positionen der traditionellen Moralphilosophie werden in seiner materialistischen Psychologie aufgelöst.“9 Die Anthropologie von Thomas Hobbes konstruiert ein extrem individualistisches Menschenbild, das auf seinen dynamischen Materialismus zurückzuführen ist. Außerhalb des atomistisch konstruierten Menschen gibt es nur Nützlichkeitsbeziehungen, die auf am Eigeninteresse orientierten strategischen Überlegungen basieren. Gut ist daher alles, was dem Handelnden nutzt, schlecht was unnütz ist oder ihm schadet.

III. Die gegenwärtige Unterstützung des Menschenbildes durch die Soziobiologie Gegenwärtig erhält die Hobbes’sche Anthropologie und damit das Menschenbild des politischen Realismus durch die moderne Soziobiologie großen Aufwind. Wie Thomas Hobbes erhebt auch sie den Anspruch, mit einer objektiven naturwissenschaftlichen Einheitsmethode ein begründetes Bild vom Menschen zeichnen zu können. Sie basiert zudem auf einem mechanistischen Weltbild, das stark an den philosophischen Materialismus von Hobbes erinnert. In kritischer Abgrenzung zur Selektionstheorie von Darwin wirkt für die Soziobiologie die natürliche Auslese auf der Ebene der Gene. Als stabile Erbinformationseinheiten sind sie die entscheidenden Subjekte 9

Kersting (1992), S. 70.

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der Evolution. Sie verhelfen ihren Trägern zu mehr oder weniger günstigen Reproduktionschancen im natürlichen Überlebenskampf. Die Organismen selbst sind dagegen nicht mehr als deren Mittel, auch die Menschen nicht mehr als von Genen gesteuerte Maschinen. Für den Evolutionsprozess ist daher nicht das Überleben der Individuen, sondern der Gene entscheidend. Die Zustimmung der Soziobiologie konzentriert sich auf den Hobbes’schen Vernunftbegriff als einer lediglich am Eigennutz orientierten instrumentellen Rationalität sowie auf die alleinige Interessenausrichtung des Menschen an Selbsterhaltung und Bedürfnisbefriedigung, die sich gegenüber Konkurrenten im Streben nach Macht und Unterwerfung auswirkt. Diese Bestimmungen korrespondieren mit zwei grundlegenden Eigenschaften des menschlichen Organismus: der Zweckrationalität und der Aggressionskompetenz. Die Aussagen der Soziobiologie über den Menschen basieren auf der Prämisse, dass auch alle spezifisch menschlichen Eigenschaften, vor allem die Leistungen der Vernunft in theoretischer und praktischer Absicht, kausal auf Anpassungsprozesse in der Evolution zurückzuführen sind, die sich allein am Zweck der Steigerung der reproduktiven Tauglichkeit orientieren. Damit verteidigt die Soziobiologie die von Hobbes vollzogene Aberkennung jeder mentalen Eigenwirklichkeit, so dass die Reduktion der praktischen Vernunft auf zweckrationale Erwägungen nicht überraschen kann. Solches Denken beschränkt sich notwendig auf technische und strategische Überlegungen, die im Dienste des Überlebens der Gene stehen. Denn „aus der Sicht der Soziobiologie ist das ‚Prinzip Eigennutz‘, das Prinzip also, nach dem jedes Individuum nahezu in jeder Situation bestrebt sein wird, seinen eigenen (inklusiven) Nutzen zu maximieren, als anthropologische Konstante universell und unaufhebbar.“10 Moralität, die einen Bruch mit der egozentrischen Perspektive voraussetzt und die eigenen Maximen des Handelns mit den anderen auf Vereinbarkeit prüft, gibt es im engeren Sinne nicht. Für die Soziobiologie sind derart motivierte Handlungen reine Erfindungen, die sich stets als egoistisches Verhalten im Blick auf den selektiven Vorteil der eigenen Gene entlarven lassen. Gerechtigkeit, Barmherzigkeit und Liebe gibt es durchaus gegenüber Mitgliedern der eigenen näheren, manchmal auch weiteren Verwandtschaft. Dies widerspricht aber keineswegs der Selektionstheorie, wenn sie im Sinne der „kin-selection“ (Verwandtschaftsselektion) verstanden wird. Denn keinem Menschen geht es nur um die eigene Selbsterhaltung und die eigene „fitness“, sondern auch um die der Angehörigen („inclusive-fitness“), da sie zu einem bestimmten Anteil Träger seiner Gene sind. Sofern gerechtes und 10 Mohrs (1995), S. 46. Vgl. zu diesen Überlegungen auch den Beitrag von Bayer in diesem Band.

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barmherziges Verhalten die „fitness“ von Verwandten steigert, dient sie für die Soziobiologie auch der Überlebensstrategie der eigenen Gene. Mit der genetisch implementierten Aggressionskompetenz gegenüber Menschen außerhalb der eigenen Verwandtschaft oder der „ingroup“ verfeinert die Soziobiologie die Hobbes’sche These von einem dem Menschen angeborenen Machttrieb. Das aggressive Verhalten gegenüber Mitgliedern der „outgroup“ kann sich verschiedenartig auswirken und je nach empfundener Bedrohung beträchtlich steigern: von der einfachen Ablehnung, über die massive Ausgrenzung bis hin zur brutalen Tötung. Für die Soziobiologie lässt sich auch der Völkermord auf die Aggressionskompetenz zurückführen. Gegenüber Mitgliedern der „outgroup“ muss sich der Mensch aber nicht notwendig aggressiv verhalten. Denn für die Soziobiologie ist die Ausübung der Aggressionskompetenz – wie schon für Hobbes der Machttrieb – zweckrationalen Überlegungen unterworfen. Ob gegenüber den Anderen kooperiert oder sich aggressiv verhalten wird, ist eine taktische oder strategische Frage und vom „Prinzip Eigennutz“ abhängig. Lediglich am radikalen Individualismus von Thomas Hobbes wird bescheiden Kritik geübt. Denn für die Soziobiologie ist der Mensch von Natur aus in engen Grenzen ein soziales Wesen und kein vereinzeltes Individuum. Wie die Ethnologie empirisch belegen kann, lebte er immer schon in überschaubaren sozialen Verbänden, in Großfamilien, Sippen oder Clans. Dagegen teilt die Soziobiologie die Hobbes’sche Kritik an der aristotelischen Lehre vom „zoon politikon“, sofern die Menschen von Natur aus keine „Polis-Wesen“, zur Vereinigung zu einem großen gesellschaftlichen Gebilde, zur Bildung eines Staates nicht natürlich bestimmt sind. Deshalb bleibt die Logik des Naturzustandes, die Hobbes mit der berüchtigten Terminologie „homo homini lupus“ ausgedrückt hat, in Bezug auf das Verhältnis von menschlichen Sozialverbänden untereinander erhalten. Es sei ein historisches Faktum, dass „einem hochentwickelten Sozialverhalten gegenüber den Mitgliedern der ‚Ingroup‘ (. . .) eine massive Aggressionskompetenz gegenüber Artgenossen der ‚Outgroup‘ “ korrespondiert.11

IV. Kritische Anmerkungen zum „realistischen“ Menschenbild Neben dem radikalen Individualismus, dem Bild vom Menschen als Monade, das bereits von der Soziobiologie hinreichend kritisiert wird, lassen sich gegen die Hobbes’sche Anthropologie noch mindestens zwei weitere wichtige Einwände formulieren, die sich in erster Linie gegen unberechtigte Reduktionen richten. 11

Mohrs (1995), S. 40.

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Der erste Einwand wendet sich gegen die Reduktion sozialer Konflikte auf das zentrale menschliche Interesse an der Selbsterhaltung und des physiologisch angelegten Machttriebes. Bereits Hegel hatte gegen Hobbes ethische Motive ins Feld geführt und einen moralisch motivierten „Kampf um Anerkennung“ als Ausgangspunkt seiner Kritik gewählt. Nicht nur die Angst um sein Leben, die Erhaltung seiner selbst, sondern auch die Verletzung sozialer Anerkennungsbeziehungen können zwischenmenschliche Konflikte hervorrufen. Im Rückgriff auf die Sozialpsychologie von Mead, der eine ungestörte Selbstbeziehung von den unterschiedlichen Formen der Anerkennung: Liebe, Recht und Wertschätzung abhängig macht, kann nach Honneth die Missachtung von Anerkennungsbeziehungen in Familie, Gesellschaft und Staat zur Entstehung von sozialen Konflikten beitragen.12 Es gibt also nicht nur eine machtorientierte, sondern auch eine moralische Logik von sozialen Konflikten. Der zweite Einwand richtet sich gegen die Reduktion der praktischen Vernunft auf die Zweckrationalität. Der Mensch hat nicht nur eigene Interessen, die er als selbst gewählte Ziele verfolgt und die er taktisch raffiniert und strategisch schlau erreichen muss. Für die menschliche Vernunft gibt es nicht nur die Imperative der Geschicklichkeit und der Klugheit, sondern auch der Pflicht. Bereits Kant hat zwischen einer technischen, die sich an beliebigen Zwecken misst, einer pragmatischen, die sich am Verlangen nach Glück orientiert und einer moralischen Handlungslogik, die der unbedingten Pflicht folgt, unterschieden. Habermas hat die kantische Moraltheorie mit ihren verschiedenen Handlungsrationalitäten aufgegriffen und ihr, unter den modernen Bedingungen pluraler Lebensformen und Weltanschauungen, die Unterscheidung zwischen einer ethischen und einer moralischen Rationalität, zwischen Fragen eines guten Lebens und Problemen des gerechten Handelns hinzugefügt.13 Menschliches Denken lässt sich nicht auf den pragmatischen Gebrauch der praktischen Vernunft einschränken: auf die rationale Wahl zwischen den zur Verfügung stehenden Mitteln zur Erlangung eines bestimmten Zwecks. Es gibt nicht nur den „geschickten“ und „schlauen“ Menschen, der alle Probleme mit Hilfe rationaler Entscheidungsregeln (z. B. Effizienz) löst; es gibt auch einen ethischen Gebrauch der praktischen Vernunft, der sich an persönlichen Wertentscheidungen orientiert, und dementsprechend Menschen, die nach einer bewussten Lebensführung streben, die vor dem Gewissen Bestand hat. Und es gibt darüber hinaus einen moralischen Gebrauch der praktischen Vernunft, der Probleme unter der Maßgabe der allgemeinen Zustimmungsfähigkeit beurteilt, und korrespondierend gerechte Menschen, die nach unparteilichen Lösungen suchen. 12 13

Vgl. Honneth (1994). Vgl. hierzu und im Folgenden Habermas (1991), S. 100–118.

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V. Kritik an der Engführung internationaler Politik auf Sicherheits- und Machtpolitik Wenn sich für den politischen Realismus das Wesen des Politischen aus der Natur des Menschen, die Gesetzmäßigkeiten der Politik zwischenstaatlicher Beziehungen in Analogie zur Natur menschlichen Handelns erkennen lassen, dann begrenzt ein reduktionistisches Verständnis praktischer Vernunft und eine verkürzte Motivanalyse sozialer Konflikte den Blickwinkel auf die internationale Politik und führt zu einem schrumpftheoretischen Konzept der „Internationalen Beziehungen“. Aus den beiden enggeführten anthropologischen Grundannahmen – eine rein zweckrationale Bestimmung der praktischen Vernunft und eine alleinige Rückführung sozialer Konflikte auf das Selbsterhaltungsinteresse und den physiologisch angelegten Machttrieb – resultiert eine Beschränkung der internationalen Politik auf Sicherheits- und Machtpolitik. Eine Erweiterung des Konzepts praktischer Vernunft um die moralische Rationalität und eine Ergänzung der Theorie sozialer Konflikte um den „Kampf um Anerkennung“ (Axel Honneth)14 hätten dagegen auch eine Verbreiterung der Außenpolitik um die friedenspolitische Komponente zur Folge. Sicherheit als Abwesenheit von Gefahren und Bedrohungen, anthropologisch fundiert im menschlichen Grundbedürfnis nach Schutz, stellt ein berechtigtes politisches Interesse eines Staates bzw. einer Gesellschaft dar. Aber erst die Finalisierung der Sicherheitspolitik auf den Frieden ermöglicht es der internationalen Politik, jenen Zielhorizont in den Blick zu nehmen, in der ein sicheres und gerechtes Zusammenleben zwischen Staaten und Gesellschaften möglich wird. Denn das in Kategorien der Sicherheit und der Macht zentrierte Denken folgt der vormoralischen Rationalität des aufgeklärten Eigeninteresses. Seine Sprache verweist auf die rein selbstbezogene Orientierung an den eigenen Präferenzen. Die Logik der Sicherheit entspringt utilitaristischen oder vertragstheoretischen Fixierungen. Sie folgt der Maximierung des Nutzens oder der rationalen Wahl. Die Vorstellung von Sicherheit stützt sich auf eine Anthropologie des klugen Egoisten, dessen Überlegungen sich allein im Horizont der Zweckrationalität vollziehen und dessen Urteilsfähigkeit sich lediglich an den Regeln der Geschicklichkeit orientiert. Das von Kategorien des Friedens und des Rechts bestimmte Denken dagegen folgt der moralischen Rationalität internationaler Gerechtigkeit. Seine Sprache verweist auf die soziale Orientierung gegenseitiger Anerkennung. Die Logik des Friedens entspringt normativen Fixierungen. Sie folgt der unbedingten Geltung moralischer Pflicht. Die Vorstellung von Frieden stützt sich auf eine Anthropologie eines zur Verantwortung befähigten Wesens, 14

Honneth (1994).

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dessen Überlegungen sich im Horizont der Gerechtigkeit vollziehen und dessen Urteilskraft sich an den Regeln der Unparteilichkeit orientiert. Der „homo politicus“, der nichts als die Selbsterhaltung und die Machtsteigerung im Sinn hat, ist eine ebensolche Fiktion wie der „homo oeconomicus“, dem es nur um das eigene Wohl und die Nutzenmaximierung geht.15 Politisches Handeln muss sich auf ein Zusammenwirken von Moral und Selbstinteresse, auf Anerkennung und Macht stützen, politisches Handeln muss sich an beiden menschlichen Leitbildern orientieren: an dem egoistischen, kalkulierenden, schlauen Menschen und noch mehr an dem altruistischen, moralisch erwägenden, gerechten und barmherzigen Menschen. Literatur Beestermöller, Gerhard (1999): Normative Ethik und Politik. Rückfragen an den politischen Realismus (H. J. Morgenthau), in: Freiburger Zeitschrift für Philosophie und Theologie, 46. Jg., S. 295–307. Dicke, Klaus (2001): Der Mensch und die Menschen – anthropologische Leitbilder in der Politik, in: Dummer, Jürgen und Meinolf Vielberg (Hrsg.): Leitbilder in der Diskussion, Stuttgart: Franz Steiner Verlag, S. 11–31. Ebeling, Klaus (2001): Verliert die Innere Führung ihr ethisches Fundament?, in: Opitz, Eckardt (Hrsg.): 50 Jahre Innere Führung. Von Himmerod (Eifel) nach Priština (Kosovo), Bremen: Edition Temmen, S. 101–115. Gillner, Matthias (2002): Praktische Vernunft und militärische Professionalität, Bremen: Edition Temmen. Habermas, Jürgen (1991): Erläuterungen zur Diskursethik, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Hobbes, Thomas (1999): Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates, hrsg. von Fetscher, Iring, 9. Auflage, Frankfurt am Main: Suhrkamp. – (1994): Elemente der Philosophie II/III: Vom Menschen. Vom Bürger, eingeleitet und hrsg. von Gawlick, Günter, 3. Auflage, Hamburg: Felix Meiner. Honneth, Axel (1994): Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Kant, Immanuel (1968): Logik, in: Theorie-Werkausgabe Immanuel Kant. Werke in zwölf Bänden: Band VI, herausgegeben von Weischedel, Wilhelm, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 418–582. Kersting, Wolfgang (1992): Thomas Hobbes zur Einführung, Hamburg: Junius. Krell, Gert (2003): Weltbilder und Weltordnung. Einführung in die Theorie der Internationalen Beziehungen, 2. Auflage, Baden-Baden: Nomos. 15 Vgl. die zum Teil konträr zu diesen Schlussfolgerungen stehenden Beiträge von Mätzig, Biehl und Bayer in diesem Band.

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Menzel, Ulrich (2001): Zwischen Idealismus und Realismus. Die Lehre von den internationalen Beziehungen, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Mohrs, Thomas (1995): Vom Weltstaat. Hobbes’ Sozialphilosophie – Soziobiologie – Realpolitik, Berlin: Akademie Verlag. Morgenthau, Hans J. (1963): Macht und Frieden. Grundlegung einer Theorie der internationalen Politik, Gütersloh: Bertelsmann Verlag. Münkler, Herfried (1993): Thomas Hobbes, Frankfurt/New York: Campus. Rohde, Christoph (2004): Hans J. Morgenthau und der weltpolitische Realismus, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Weimayr, Matthias/Enzersdorf, Maria (1996): Bürgerkrieg und Machtzerfall. Thomas Hobbes und die Logik der Macht, in: Staat 35, H.2, 167–187.

Der Mensch aus Perspektive der Friedensforschung Überlegungen am Beispiel des Werks von Johan Galtung Von Sabine Jaberg Johan Galtung zählt zu den Gründervätern der Friedensforschung. Mit seiner Aufsatzsammlung „Strukturelle Gewalt“ (1975) wirkt er auch in der Bundesrepublik Deutschland gleichsam „kanonisch“1 (Hajo Schmidt). Während die von ihm geprägten Schlagwörter von der personalen und der strukturellen Gewalt sowie vom negativen und positiven Frieden zum begrifflichen Allgemeingut gehören, bleibt das dahinterstehende Konzept oftmals unbeachtet. Dieses stellt den einzelnen Menschen in den Mittelpunkt. Es sieht ihn sowohl zum Frieden als auch zur Gewalt fähig. Allerdings begreift Galtung das menschliche Wesen weniger als ein jedem Individuum inwohnendes Abstraktum: Als „dauerhafte Eigenschaften des Menschen“2 lässt er lediglich vier Grundbedürfnisse gelten: Überleben, Wohlbefinden, Identität sowie Freiheit.3 Außerdem sieht er ihn in der Lage, sich neue Ziele zu setzen, sich quasi „neu [zu] programmieren“4. Vor allem aber thematisiert der Friedensforscher das menschliche Wesen im Sinne von Karl Marx als „ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse“5. Diese hält er jedoch nicht durch die ökonomische Basis determiniert. Vielmehr sieht er den Menschen in vielfältige Gewalt- und Friedenszusammenhänge eingesponnen. Zunächst sollen Galtungs kategoriale Grundlegungen verdeutlicht und mit Beispielen illustriert werden, um sie danach auf ihre Relevanz für die Bundeswehr zu befragen.

1 2 3 4 5

Schmidt (1998), S. 10. Galtung (2007), S. 93. Siehe unten. Galtung (2007) S. 49. Marx (1845), S. 6.

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I. Kategoriale Grundlegungen mit illustrierenden Beispielen 1. Allgemeine Definition von Gewalt und Frieden Galtung beginnt mit einem umfassenden Verständnis von Gewalt und – hieraus abgeleitet – von Frieden. Demnach liegt Gewalt dann vor, „wenn Menschen so beeinflußt werden, daß ihre aktuelle somatische und geistige Verwirklichung geringer ist als ihre potentielle Verwirklichung“6. Folglich bestünde Frieden in der Identität von Aktualität und Potentialität. Konsequenterweise erhebt Galtung den Begriff der „Selbstverwirklichung zum Schlüsselbegriff“7. An diesen Festlegungen fallen zwei Aspekte auf: Erstens ist das entscheidende an der Gewalt und am Frieden weder der Vorgang noch die Absicht, sondern die beim Adressaten erzielte Wirkung, nämlich die Differenz zwischen Aktualität und Potentialität (Gewalt) bzw. deren Identität (Frieden). Und zweitens: Galtungs Bezugspunkt sind die Menschen, genauer: die Individuen. Der einzelne Mensch gilt als „die Einheit, auf die es ankommt“8. Nationen – oder auch andere Kollektive (z. B. Klassen, Organisationen) – stellen „Abstraktionen“9 allenfalls sekundärer Relevanz dar. Mithin handelt es sich um eine (hedonistische) Variante des Kant’schen praktischen Imperativs, wonach der Mensch nicht als Mittel (etwa eines übergeordneten Kollektivs), sondern als sein eigener Zweck gesehen werden solle.10 Ein radikaler Individualismus, der ein bestimmtes Individuum und dessen subjektive Wünsche ungeachtet ihrer Auswirkungen auf andere absolut setzt, ist damit gerade nicht verbunden. Nach Galtungs Weiterungen ist offenkundig jeder Sachbereich potentieller Ort von Gewalt bzw. Frieden und jeder Tatbestand ihr möglicher Ausdruck. Auch wenn der Friedensforscher seine Begriffe später deutlicher an die Verletzung bzw. Erfüllung menschlicher Grundbedürfnisse koppelt und auf diese Weise ein beschränkendes Relevanzkriterium einführt,11 bemüht er sich aufgrund der Einsicht in die Entgrenzungsproblematik schon sehr früh um eine doppelte Einhegung: 6

Galtung (1969), S. 9. Galtung (1971), S. 49 (Herv. im Original). 8 Galtung (1971), S. 49 (Herv. im Original). 9 Galtung (1971), S. 49. 10 Vgl. Der praktische Imperativ, auch Selbstzweckformel genannt, lautet: „Handle so, daß du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.“ (Herv. im Original) – Kant (1785), S. 429. 11 Vgl. Galtung (1998), S. 343–348. – In einer grundbedürfnisorientierten Reformulierung seiner Begrifflichkeiten verdrängt der Begriff der Bedürfnisbefriedigung denjenigen der Selbstverwirklichung (vgl. ebenda, S. 343). 7

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– Ursachencharakter: Galtung erblickt die eigentliche Gewalt nicht im Phänomen der Differenz. Es gilt lediglich als Erscheinungsform. Gewalt bedeutet vielmehr die „Ursache für den Unterschied“12. Dies soll anhand eines von Galtung selbst gewählten Beispiels illustriert werden, nämlich der Erkrankung an Tuberkulose: Noch heute sterben zwei Millionen Menschen jährlich an dieser Krankheit, obwohl sie heilbar ist.13 Hierfür könnten folgende Ursachen in Betracht kommen: Imperialismus und Kolonialismus, wenn der Grund in einer global ungerechten Verteilung von Lebenschancen – etwa zwischen ‚Nord‘ und ‚Süd‘ – besteht; Rassismus, wenn Angehörigen einer bestimmten ‚Ethnie‘ der Zugang zu Ressourcen zugunsten einer anderen ‚Ethnie‘ verweigert wird; Patriarchat, wenn Frauen aus einer gleichwertigen Gesundheitsversorgung ausgeschlossen werden; Kapitalismus, wenn Klassenzugehörigkeit über die Verfügbarkeit medizinischer Hilfe entscheidet. Wird der Friedensbegriff analog zum Gewaltbegriff entfaltet, dann wäre Frieden die Ursache für die Identität von aktueller und potentieller Selbstverwirklichung. Diese friedensgenerierende Kraft erblickt Galtung in „soziale[r] Gerechtigkeit“14 – im erwähnten Beispiel äußerte sie sich im Einsatz vorhandener Medikamente allein nach Bedürftigkeit ohne Ansehung der räumlichen, ethnischen, geschlechtlichen oder sozialen Lage der Kranken. – Vermeidbarkeitskriterium: Die Differenz zwischen Aktuellem und Potentiellem gilt ausschließlich dann als Ausdruck von Gewalt, wenn sie zum Zeitpunkt ihres Auftretens „vermeidbar“15 wäre. Damit bindet Galtung die Unterscheidung von Gewalt und Frieden primär an die gegenwärtigen Möglichkeiten: Wenn Ressourcen „innerhalb eines Systems monopolisiert oder zweckentfremdet gebraucht werden, dann fällt das Maß des Aktuellen unter das Maß des Potentiellen, und in diesem System ist Gewalt präsent“16. Offenkundig folgt Galtung keinem moralphilosophischen Perfektionismus, wonach Frieden erst dann einträte, wenn der Mensch all seine Möglichkeiten unter optimalen Bedingungen entfaltete.17 Aber ab wann lässt sich davon sprechen, dass eine bestimmte Form der Gewalt zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem bestimmten Ort vermeidbar wäre? Sicherlich läge mit Blick auf das oben genannte Beispiel – Krankheit mit Todesfolge – keine Gewalt vor, wenn zwei Bedingungen gleichermaßen erfüllt wären: Erstens ist eine wirksame Prävention bzw. 12 13 14 15 16 17

Galtung (1969), S. 9 (Herv. SJ). Vgl. Eine sicherere Welt (2004), S. 30, Zi. 50. Galtung (1969), S. 33. Galtung (1969), S. 9. Galtung (1969), S. 10. Vgl. Ladwig (1996), S. 24.

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Therapie noch nicht möglich, weil es bereits am erforderlichen Wissen fehlt. Und zweitens werden alle erdenklichen Anstrengungen unternommen, um das Problem zu beheben. Umgekehrt läge eindeutig Gewalt vor, wenn Bedürftigen eine mögliche Vorbeugung bzw. Behandlung vorenthalten würde. Häufig erweisen sich Situationen aber nicht als so eindeutig. Wie verhält es sich, wenn ein Medikament in hinreichender Menge fehlte, aber in genügender Anzahl produziert werden könnte? Bereits die begründete Abschätzung des Möglichkeitsraums (in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft) bereitet diagnostische Schwierigkeiten. Und was wäre zu tun, wenn realisierte Potentialität in einem Bereich (z. B. Tuberkulose-Bekämpfung) realisierte Potentialität in anderen Bereichen (z. B. Aids-Therapie) verhindert? Hier handelt es sich aber weniger um ein kategoriales Problem als um einen praktischen Optimierungskonflikt, welcher der prinzipiellen Endlichkeit der Welt geschuldet ist. 2. Personale, strukturelle und kulturelle Dimensionen von Gewalt und Frieden Galtung nimmt in seinem Grundlagenwerk „Strukturelle Gewalt“ mehrere analytische Unterscheidungen vor. Seine „wichtigste“18 besteht in jener zwischen personaler und struktureller Gewalt. Personale Gewalt wird von (mindestens) einem Akteur verübt, deshalb spricht Galtung synonym von ‚direkter Gewalt‘. Dieser Akteur ist prinzipiell identifizierbar. Hätte genau er auf sein Tun verzichtet, dann wäre dieser bestimmte Akt personaler Gewalt unterblieben. Strukturelle Gewalt ist hingegen nachhaltig in ein über Zeit geronnenes System „eingebaut“19. Sie äußert sich in „ungleichen Machtverhältnissen und folglich in ungleichen Lebensverhältnissen“20. Zwar mag es noch möglich sein, aktuelle Nutznießer und historisch-genetisch Mitverantwortliche zu benennen, aber es „tritt niemand in Erscheinung, der einem anderen direkt Schaden zufügen könnte“21. Selbst wenn sich ein Akteur des Systems punktuell anders verhalten hätte, wäre bestenfalls ein Symptom gemildert, die Gewaltstruktur im Kern aber unverändert geblieben. Diesem weiten Gewaltbegriff folgt ein weiter Friedensbegriff: Dabei korrespondiert die Kategorie des negativen Friedens mit derjenigen personaler Gewalt und die Kategorie des positiven Friedens mit derjenigen struktureller Gewalt. Denn anders als ein populäres Missverständnis nahe legt, implizieren die Attribute negativ und positiv keine Werturteile im 18 19 20 21

Galtung Galtung Galtung Galtung

(1969), (1969), (1969), (1969),

S. S. S. S.

12 (Herv. im Original). 12. 12. 12 (Herv. SJ).

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Sinne eines schlechten und eines guten Friedens, vielmehr charakterisieren sie die Art und Weise der Definition: Negativer Friede besagt, dass etwas Bestimmtes – nämlich personale Gewalt – abwesend und in diesem Sinne negiert ist. An die Stelle struktureller Gewalt hingegen muss ein Anderes treten, das ausdrücklich – und damit in positiver Weise – auszuführen ist (z. B. soziale Gerechtigkeit).22 Im opus magnum „Frieden mit friedlichen Mitteln“ (1998) tritt neben den personalen und den strukturellen Aspekt eine kulturelle Dimension. Unter ‚kultureller Gewalt‘ versteht Galtung „jene Aspekte der Kultur, der symbolischen Sphäre unserer Welt [. . .], die dazu benutzt werden können, direkte oder strukturelle Gewalt zu rechtfertigen oder zu legitimieren“23. Analog meint die Rede vom kulturellen Frieden genau jene „Aspekte einer Kultur, die dazu geeignet sind, direkten und strukturellen Frieden zu rechtfertigen und zu legitimieren“24. Besonderes Augenmerk richtet Galtung dabei auf die „Kosmologien“, die quasi als „sozio-kulturelle Code[s]“25 Informationen zu Art und Weise einer sich unbewusst vollziehenden Wirklichkeitskonstruktion transportieren. Diese auch Tiefenkulturen genannten Phänomene setzt Galtung zwar nicht mit den jeweils vorherrschenden Religionen gleich, er sieht sie aber durch deren architektonische Prinzipien nachhaltig geprägt: Monotheismus – wie im Christentum, Judentum und Islam – begünstigt demnach vertikale Strukturen und gewaltsames Verhalten; Polytheismus bzw. Pantheismus – wie etwa im Hinduismus bzw. im Buddhismus – stimulieren hingegen horizontale Strukturen und friedliches Verhalten. Beim Monotheismus gilt das exklusive Konstrukt des Ausgewähltseins als besonders gewaltträchtig, das dem Poly- bzw. Pantheismus gleichsam notwendig fehlt. Wenngleich Galtungs Transcend-Methode sogar auf die kosmologische Ebene direkt einwirken möchte,26 böte sich auch ein Umweg über die bewusstseinsnäheren und daher veränderungsfreundlicheren „Oberflächen-Kultur[en]“27 an – in der Hoffnung, dass Korrekturen in diesem Bereich auf die ungleich schwerer zu beeinflussenden Kosmologien durchwirken. Beispielsweise fiele es immer noch leichter, auf der Ebene der Oberflächenkultur die christliche Lehre des gerechten Kriegs in eine Lehre vom gerechten Frieden zu überführen,28 als die dahinter stehende vertikale Kosmologiestruktur in eine mehr horizontale zu transformieren.29 22 23 24 25 26 27 28 29

Siehe oben. Galtung (1998), S. 341. Galtung (1998), S. 342. Galtung (1998), S. 372 (Herv. im Original). Vgl. Galtung (2000); Graf (2005). Galtung (1998), S. 372. Vgl. Gerechter Friede (2000). Vgl. hierzu auch den Beitrag von Tomforde in diesem Sammelband.

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Frieden bedeutet für Galtung zunächst „Abwesenheit von personaler Gewalt und Abwesenheit von struktureller Gewalt“30; später lautet die ‚Friedensformel‘: „Friede = direkter Friede + struktureller Friede + kultureller Friede“31. Weiter aufgefächert ergibt sich folgendes Bild. Tabelle 1 Gewalt und Frieden personale Dimension

strukturelle Dimension

kulturelle Dimension

Räume

Religion

Natur

Recht

Person

Ideologie

Soziales

Sprache

Welt

Kunst

Kultur

Wissenschaft

Zeit

Kosmologie

menschliche Bedürfnisklassen

Schule

Überleben Wohlbefinden

Universität Medien

Identität Freiheit Dimensionen von Gewalt und Frieden nach Galtung (1998), S. 69 und S. 344 (eigene Tabelle).

Wie verhalten sich die drei Dimensionen zueinander? Galtung offeriert zwei einander ergänzende Bilder. Das „Gewaltdreieck“32 verdeutlicht graphisch den Sachverhalt, dass Gewalt grundsätzlich an jedem der drei Eckpunkte anfangen und die jeweils anderen Formen von Gewalt nach sich ziehen kann. Das vielfältige Zusammenspiel soll anhand eines von Galtung gewählten Beispielkomplexes illustriert werden:33 Personale Gewalt gegen die schwarzafrikanische Bevölkerung (Menschenraub) führt zu struktureller Gewalt (Sklaverei) und rechtfertigender kultureller Gewalt (Rassismus). Strukturelle Gewalt (Sklaverei) wiederum zieht personale Gewalt (Misshandlun30 31 32 33

Galtung (1969), S. 32 Galtung (1998), S. 458. Galtung (1998), S. 348 (Herv. im Original). Vgl. Galtung (1998), S. 350.

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gen, Tötungen, weiterer Menschenraub) nach sich, beide verlangen nach legitimierender kultureller Gewalt (Rassismus).34 Kulturelle Gewalt (Rassismus) wiederum stachelt zu personaler Gewalt (Menschenraub, Tötungen, Misshandlungen) auf und produziert bzw. reproduziert strukturelle Gewalt (Sklaverei). Das „Gewaltschichtenmodell“35 bildet hingegen Galtungs Auffassung ab, dass bei aller Vielfalt eine „Hauptstoßrichtung“36 besteht – und zwar „von der kulturellen über die strukturelle hin zur direkten Gewalt.37 Im Marx’schen Kategoriensystem gedacht, handelt es sich um eine idealistische Auffassung, welche den kulturellen Überbau und gerade nicht die ökonomischen Produktionsverhältnisse zur Basiskategorie erklärt. 3. Yin und Yang als erkenntnistheoretisches Prinzip Kennzeichnend für Galtung ist seine epistemologische Offenheit: Bildhaft gesprochen gibt er keine festen Wege vor, sondern er stellt einen Kompass zur Verfügung, mit dessen Hilfe Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen sich ebenso frei wie zielorientiert auf dem Boden der Friedensforschung bewegen können. Er betont die Rolle der „Phantasie“38 und rät ausdrücklich dazu, „vorhandenes Wissen nicht zu übernehmen, ganz unvoreingenommen loszulegen und die einschlägige Literatur erst nach eigenen Bemühungen zu konsultieren, um sich von ihr nicht zu sehr leiten zu lassen“39. Diese Nähe zu Paul Feyerabends40 anarchistischer Erkenntnistheorie verbindet sich bei ihm mit einer daoistisch geschulten Denkweise entlang des Yin und YangModells. Dessen (formalen) Grundgedanken beschreibt Galtung wie folgt: „Yin ist in Yang enthalten und Yang in Yin; Yang ist im Yin des Yang enthalten und Yin im Yang des Yin, usw., ad infinitum.“41 Damit schärft er die „detektivische Kraft“42 (Wolf-Dieter Narr) seiner Begriffe, weil diese nunmehr systematisch dazu anleiten, im Frieden nach Gewalt, aber auch in der Gewalt nach Frieden zu suchen.

34 Hinzu kommt unter Umständen gegen die strukturelle Gewalt der Sklaverei gerichtete personale Gewalt der Unterdrückten, die ihrerseits der kulturellen Rechtfertigung bedarf (in Form von Befreiungsideologien). 35 Galtung (1998), S. 349 (Herv. im Original). 36 Galtung (1998), S. 19. 37 Galtung (1998), S. 349. 38 Galtung (1998), S. 37. 39 Galtung (1998), S. 53. 40 Vgl. Feyerabend (1997). 41 Galtung (1998), S. 43 (Herv. im Original). 42 Narr (1980), S. 546.

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II. Bundeswehr im Lichte der Galtung’schen Theorie von Gewalt und Frieden 1. Streitkräfte als Instrument und Ursache der Gewalt Wie wäre Bundeswehr im Rahmen des Galtung’schen Ansatzes zu verorten? Sicherlich bestünde die Möglichkeit, der Frage nachzugehen, wie die Streitkräfte zum Auseinanderklaffen oder zur Annäherung von gegenwärtiger und möglicher Verwirklichung ihrer Soldaten beitragen. Offensichtlich gibt es in der Bundeswehr beides: Einerseits beschneidet das System von Befehl und Gehorsam individuelle Entfaltungsmöglichkeiten. Andererseits eröffnen die Streitkräfte ihren Angehörigen spezifische Chancen auf Selbstverwirklichung – als Retter, als Helfer, als Kämpfer.43 Handelt es sich hier also um eine Einrichtung, die mit Blick auf die Frage nach Gewalt und Frieden als ambivalent anzusehen wäre? Diese Frage beinhaltet eine Verkürzung und damit auch Verzerrung des Problems. Denn Streitkräfte stellen jenen Teil der potestas (Staatsgewalt) dar, dem die violentia im Sinne personaler Gewalt am eindeutigsten eingeschrieben ist. Sie mutieren sogar zu einer möglichen Quelle von Gewalt: Eingedenk des „Sicherheitsdilemma[s]“44 (John H. Herz) gerät die militärische Bewaffnung eines Staats zur potentiellen Bedrohung für andere Staaten. Dies setzt unter Umständen nicht nur eine Rüstungsspirale in Gang, sondern leistet auch (vermeintlichen) Präventiv- bzw. Präemptivschlägen Vorschub. Damit entsprechen Streitkräfte zumindest partiell Galtungs ursachenorientiertem Gewaltbegriff. Im Bündniskontext kommt die Beistandsverpflichtung problemverschärfend hinzu, die die Mitglieder in einen Konflikt hineinziehen kann, dem sie andernfalls ferngeblieben wären. Dieser Vorgang wird in bündnistheoretischem Vokabular als entrapment be43 Vgl. hierzu auch die Beiträge von Bayer, Kutz und Franke in diesem Sammelband. 44 John H. Herz definiert das Sicherheitsdilemma wie folgt: „Das Dilemma entspringt einer grundlegenden Sozialkonstellation, derzufolge eine Vielzahl miteinander verflochtener Gruppen politisch letzte Einheiten darstellen, d.h. nebeneinander bestehen, ohne in ein noch höheres Ganzes integriert zu sein. Wo und wann immer eine solche ‚anarchische‘ Gesellschaft existiert hat, ergab sich [. . .] eine Lage, die sich als ‚Sicherheitsdilemma‘ bezeichnen läßt. Gruppen oder Individuen, die in einer derartigen, eines Schutzes ‚von oben‘ entbehrenden Konstellation leben, müssen um ihre Sicherheit vor Angriffen, Unterwerfung, Beherrschung oder Vernichtung durch andere Gruppen und Individuen fürchten, eine Besorgnis, die sich aus der Sachlage selbst ergibt. Und in einem Streben nach Sicherheit vor solchen Angriffen sehen sie sich gezwungen, immer mehr Macht zu akkumulieren, nur um der Macht der anderen begegnen zu können. Diese wiederum macht die anderen unsicherer und zwingt sie, sich auf ‚das Schlimmste‘ vorzubereiten.“ – Herz (1950), S. 39.

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zeichnet.45 Und Streitkräfte bedienen auch Galtungs zweites Gewaltkriterium: Sie sind prinzipiell vermeidbar – die Frage, ob der Verzicht auf nationale Streitkräfte vernünftig wäre, steht auf einem anderen Blatt.46 Das Grundgesetz sieht den Gründungszweck der Streitkräfte in der Verteidigung gegen einen vollzogenen oder doch zumindest unmittelbar bevorstehenden bewaffneten Angriff auf bundesdeutsches Territorium (Artikel 87a im Verbund mit Artikel 115a).47 Nur in streng konditionierten Ausnahmefällen ist es bislang zulässig, Militär im Landesinnern einzusetzen. Folglich richtet sich das Gewaltpotential der Bundeswehr in erster Linie gegen externe Angreifer. Auf die Optimierung dieser äußeren Funktion sind die inneren Strukturen und Prozesse ausgerichtet. Zwar könnten auch sie prinzipiell nach ihren Gewalt- bzw. Friedenskomponenten untersucht werden, allerdings steht im folgenden die Außenwirkung im Fokus. Die personalen, strukturellen und kulturellen Aspekte werden formal im Yin und Yang-Modus beschrieben, wobei Yin als Gewalt und Yang als Frieden gesetzt wird. In diesem System wäre theoretisch eine unendliche Tiefe zu erzielen, es soll aber auf drei Ebenen begrenzt werden: (1) Yin, (2) Yang im Yin sowie (3) Yin im Yang des Yin. 2. Personale Gewalt im Yin- und Yang-Modus Die nach außen gerichtete personale Gewalt zeigt sich in zwei Abstufungen: Abschreckung und Kampf bzw. Krieg. a) Abschreckung (1) Abschreckung kennt unterschiedliche Varianten: Erfolgsverwehrung, Eskalation und Bestrafung.48 Gemein ist ihnen die Absicht, durch Aufbau militärischer Potentiale mögliche Gegner von einem Angriff abzuhalten, indem deren Kosten vorab ersichtlich in untragbare Höhen geschraubt werden. Diese Funktion übernimmt die Bundeswehr seit ihrem Bestehen haupt45

Vgl. Varwick/Woyke (2000), S. 49. – Afghanistan entwickelt sich diesbezüglich zusehends zum Paradebeispiel. Obwohl die Bundesregierung mit den entsandten Streitkräften dort vornehmlich einen Beitrag zum zivilen Wiederaufbau leisten wollte, wird Deutschland immer tiefer in die Kampfhandlungen unter amerikanischer Führung hineingezogen. – Vgl. Mutz (2006), S. 269 f. 46 Während Anhänger realistischer Politikansätze ebenso wie Verfechter gradualistischer Strategien einseitige Totalabrüstung als sträflichen Leichtsinn abtäten, bewerteten dies Anhänger sozialer Verteidigung oder gar konsequente Pazifisten in der Tradition Mahatma Gandhis gleichsam naturgemäß anders. 47 Vgl. Jaberg (2007). 48 Vgl. Johannsen (1994), S. 53–106.

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sächlich im Militärverbund mit der Nordatlantischen Vertragsorganisation (NATO). In der Zeit der Ost-West-Konfrontation führte das System gegenseitiger Abschreckung zu einer Zwischensituation, die nicht mehr als ‚Frieden‘, aber auch noch nicht als ‚Krieg‘ bezeichnet werden kann. Dieser Tatbestand spiegelt sich in Neologismen wie Kalter Krieg oder „organisierte Friedlosigkeit“49 (Dieter Senghaas) wider. (2) Gleichwohl fanden sich auch im Abschreckungssystem Elemente des Friedens. Dazu zählen nicht nur gegenläufige Proteste der Friedensbewegung und Ansätze einer blockübergreifenden kooperativen Sicherheitskultur im Rahmen der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE),50 sondern auch der von Wolf Graf von Baudissin protegierte abschreckungsimmanente Ansatz kooperativer Rüstungssteuerung.51 Dieser wollte über Verhandlungen zwischen den gegnerischen Bündnissen zu einem aufeinander bezogenen Streitkräftedispositiv gelangen, das die Stabilität des Systems wechselseitiger Abschreckung verlässlicher zu gewährleisten versprach. (3) Beim Ansatz kooperativer Rüstungssteuerung handelt es sich aber um ein im Grundsatz abrüstungsindifferentes Konzept, bei welchem strategische Stabilität sowohl durch Minderung als auch durch Aufwuchs militärischer Potentiale herbeigeführt werden kann. Letztlich zielte es während der Ost-West-Konfrontation – und hierin liegt das erneute Gewaltmoment – nicht auf Abschaffung, sondern lediglich auf Zähmung des Abschreckungssystems.52 Entsprechend nahm Baudissin den einzelnen Soldaten in die Pflicht, durch „ein Höchstmaß an Kriegstüchtigkeit das Risiko eines gegnerischen Angriffs soweit wie möglich [zu] steiger[n]“53. b) Kampf und Krieg (1) Die der Abschreckung nachfolgende Stufe personaler Gewalt wäre der Krieg gewesen, der mutmaßlich im nuklearen Schlagabtausch apokalyptischen Ausmaßes bestanden hätte. Soweit ist es indes nicht gekommen. Während sich die Bedeutung der Abschreckung mit Auflösung des globalen Macht- und Systemkonflikts zusehends zurückbildet, ist die Bundeswehr seither sehr wohl in unterschiedlichste Kampfhandlungen involviert: Zu nennen wäre etwa die Beteiligung am eigenmächtig geführten Kosovokrieg der NATO (1999). Hinzu kommen Beiträge zu Friedenskonsolidierungsmissionen der Vereinten Nationen (UNO) vor allem auf dem Balkan, aber auch 49 50 51 52 53

Senghaas (1972 a), Titel. Vgl. Schlotter (1997). Vgl. Baudissin (1970). Vgl. Senghaas (1972 b). Baudissin (1969), S. 217.

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in entfernteren Regionen. Neuerdings unterstützt die Bundeswehr sogar den US-geführten Krieg im Süden Afghanistans durch Aufklärungsflüge der Recce-Tornados.54 (2) Sicherlich lässt sich die Ausübung personaler Gewalt nicht als Frieden bezeichnen, ohne Orwell’sche Sinnverdrehung zu praktizieren (‚war is peace‘). Aber zum einen lassen sich im Krieg Elemente identifizieren, die als Vorleistung auf einen künftigen Frieden gelesen werden können. Nicht umsonst rechnet bereits Immanuel Kant das Verbot „solche[r] Feindseligkeiten [. . .], welche das wechselseitige Zutrauen im künftigen Frieden unmöglich machen müssen“55, zu den Präliminarien – also notwendigen Vorbedingungen – eines ewigen Friedens. Heute findet sich dieser Gedanke in den Genfer Konventionen, die der Kriegführung rechtliche Grenzen setzen, ebenso wie in der Konvention zur Ächtung des Völkermords. Zum anderen könnte unter günstigen Umständen militärische Präsenz Friedensprozesse absichern helfen. Einem solchen Auftrag dienen etwa die Stabilisierungsmissionen auf dem Balkan. (3) Mehr als ein Hoffnungsschimmer verbindet sich mit den genannten Elementen nicht: Zum einen zielen die Genfer Konventionen nicht auf Überwindung, sondern lediglich auf humane Hegung des Kriegs. Und die Völkermordkonvention richtet sich nur gegen eine extreme Form der Gewalt. Einen wirksamen Schutz der Bevölkerung in Krisengebieten haben beide indes nicht gebracht:56 Nach einer Berechnung von Milton Leitenberg sind den Gewaltkonflikten nach 1945 bis ins Jahr 2000 rund 41 Millionen Menschen zum Opfer gefallen, davon ungefähr 18,5 Millionen Zivilisten.57 Manche Kampfhandlungen ziehen heute vor allem Nichtkombattanten in Mitleidenschaft: Der ohne Deutschland geführte Irakkrieg der USA hat bislang nicht nur über 4.000 Soldaten, sondern mehr als 70.000 Zivilisten das Leben gekostet.58 Und selbst bei aufrichtigstem Bemühen der Konfliktparteien ließen sich Opfer unter der Bevölkerung nicht definitiv ausschließen. Im Vokabular des Krieges heißen sie ‚Kollateralschäden‘. Zum anderen haben die Missionen im ehemaligen Jugoslawien der geschundenen Region zwar ein gewisses Maß an Sicherheit gebracht. Die Politik hat es aber weder im Kosovo noch in 54 Der Einsatz der Tornados erfolgt zwar für die von der UNO mandatierte Internationale Sicherheitsunterstützungstruppe in Afghanistan (ISAF) und nicht im Rahmen des von den USA geführten Antiterrorkampfes Operation Enduring Freedom (OEF). Die Grenzen zwischen beiden Missionen verschwimmen in der Praxis aber zusehends. 55 Kant (1795), S. 346. Im einzelnen erwähnt der Königsberger Philosoph: Anstellung von Meuchelmördern, Giftmischer, Brechung der Kapitulation und Anstiftung zum Verrat. 56 Vgl. hierzu auch den Beitrag von Matthies in diesem Sammelband. 57 Vgl. Leitenberg (2006), S. 70–76. 58 Vgl. Iraq Coalition Casualty Count (http://icasualties.org.oif/) und Iraq Body Count (http://www.iraqbodycount.net/) (beide abgerufen: 30. August 2007).

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Bosnien-Herzegowina bislang vermocht, den Spielraum für einen selbstragenden Frieden zu nutzen.59 3. Strukturelle Gewalt im Yin- und Yang-Modus Im Bereich struktureller Gewalt muss schon die detektivische Kraft des Galtung’schen Begriffsinventars bemüht werden, da Streitkräfte allenfalls einen personalen Beitrag zur Absicherung derartiger Gewaltverhältnisse leisten – wenn vom Strukturproblem des Sicherheitsdilemmas abgesehen wird, an dem sie ursächlichen Anteil haben. Unter dem Aspekt der Reproduktion struktureller Gewaltbeziehungen geraten jene Missionen ins Visier, die die Bundeswehr im Auftrag der Vereinten Nationen oder im Gefolge hegemonialer bzw. imperialer Ordnungspolitik der USA durchführt. Denkbar wären auch andere Kontexte, in denen deutsche Streitkräfte bislang aber noch nicht eingesetzt werden – insbesondere zur Ressourcensicherung. Denn in den entwickelten Industrieländern scheint der Anspruch auf kostengünstige wie garantierte Rohstoffversorgung zur Selbstverständlichkeit geworden. Vor dem Hintergrund einer Weltwirtschaftsordnung, die mit ihrer extremen Ungleichverteilung von Lebenschancen schwerlich als gerecht gelten kann, lässt er sich als reklamiertes Recht auf jene Ausbeutung lesen, die Galtung zum „Kernbereich der archetypischen Gewaltstruktur“60 erklärt. a) Einsätze im Rahmen der Vereinten Nationen (1) Auch wenn dies nicht unmittelbar auf der Hand liegen mag: Die Beziehung der Vereinten Nationen zu den Mitgliedstaaten und deren Bevölkerungen ließe sich durchaus als strukturelles Gewaltverhältnis beschreiben. Demnach wäre die UNO gemeinsam mit Michael Hardt und Antonio Negri als Zentrum eines supranationalen Empires zu begreifen, das auf Grundlage eines eigenen Polizei- und Interventionsrechts in Verbindung mit hegemonialem Konsens Ordnungspolitik im vorgeblichen Dienste von Frieden und Gerechtigkeit betreibt.61 Eine andere Perspektive auf die Vereinten Nationen, die ebenfalls einen Anteil struktureller Gewalt enthielte, wäre ihre Ausdeutung als „Kollektivhegemonie der Großmächte“62 (Werner Link), die die Weltorganisation als Transmissionsriemen benutzen, um mittleren und kleineren Staaten ihren Willen aufzuerlegen. (2) Die Vereinten Nationen fungieren aber auch als institutioneller Knotenpunkt unterschiedlicher Frie59 60 61 62

Zu einer friedenspolitischen Bewertung der Einsätze vgl. Mutz (2007). Galtung (1998), S. 346. Vgl. Hardt/Negri (2003), S. 20–36. Link (1998), S. 110.

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densstrategien: Frieden durch internationale Organisation, Frieden durch Recht, Frieden durch Gerechtigkeit, Frieden durch Zivilisierung.63 (3) Diese komplexe Friedensstruktur sieht wiederum nicht nur militärische, sondern auch ökonomische Beugemaßnahmen vor, die die menschlichen Grundbedürfnisse insbesondere nach Überleben und Wohlbefinden in der Regel massiv beeinträchtigen. Allein die gegen den Irak unter Saddam Hussein verhängten umfassenden Sanktionen kosteten mindestens 500.000 Kindern das Leben.64 Außerdem läuft die Weltorganisation Gefahr, dass ihre Friedensfunktion durch hegemoniale oder imperiale Ordnungspolitik fast bis zur Unkenntlichkeit überformt wird.65 b) Einsätze im Gefolge hegemonialer oder imperialer Ordnungspolitik der USA (1) Zweifelsohne beanspruchen die USA die Rolle einer imperialen oder doch zumindest hegemonialen Ordnungsmacht, die die Welt nach ihren Vorstellungen formt bzw. führt.66 In diesem Lichte betrachtet wäre die Bundeswehr etwa auf dem Balkan und in Afghanistan vor allem deshalb aktiv, weil zuvor die USA die Entscheidung getroffen haben, in den jugoslawischen Konflikt mit militärischen Mitteln zu intervenieren und das Land am Hindukusch als Refugium mutmaßlicher Drahtzieher der terroristischen Anschläge vom 11. September 2001 anzugreifen. Mithin fungierten deutsche Streitkräfte vor allem als Erfüllungsgehilfe hegemonialer oder imperialer Praxis. Sie trügen damit zur Reproduktion eines bestimmten strukturellen Gewaltverhältnisses bei. (2) In der Ordnungspolitik der USA ließe sich aber auch der Versuch erblicken, eine machtgestützte pax americana zu etablieren. Und in Übereinstimmung mit der (neo-realistischen) Theorie hegemonial (re-)produzierter Stabilität könnte der Führungsmacht ein friedensdienlicher Beitrag attestiert werden, sofern sie in Abwesenheit einer globalen Staatsgewalt öffentliche Güter für alle bereitstellt (z. B. Sicherheit, Wohlstand, harte Währung). (3) In beiden Fällen liegt aber die erneute Gewaltkomponente mehr oder weniger offen zu tage. Wie bereits im römischen Vorbild gehen beim Versuch einer pax americana Frieden und Gewalt, Recht und Willkür eine unauflösliche Symbiose ein.67 Und auch im Ansatz hegemonialer Stabilität, der eher auf freiwilliger denn auf erzwungener Ge63

Vgl. Czempiel (1998); Jaberg (2003), S. 231–239. Vgl. Sponeck (2002). 65 Vgl. Ruf (2005). 66 Zu Möglichkeiten und Schwierigkeiten einer Unterscheidung zwischen Hegemonie und Imperium vgl. Jaberg/Schlotter (2005); Münkler (2005); Speck/Sznaider (2003). 67 Vgl. Bender (2003). 64

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folgschaft basiert, bleibt für militärische Ordnungsmaßnahmen Platz. Volker Rittberger hält sogar den ‚Krieg gegen den Terror‘, den Sturz des TalibanRegimes sowie die militärische Beseitigung Saddam Husseins bei äußerst wohlwollender Betrachtung noch mit der Theorie hegemonialer Stabilität für vermittelbar.68 4. Kulturelle Gewalt im Yin- und Yang-Modus Gegenwärtig gibt es zahlreiche Argumentationsfiguren, welche strukturelle wie personale Gewalt zu rechtfertigen vermögen und demnach als kulturelle Gewalt im Sinne Galtungs anzusehen wären. Im Folgenden soll nur auf jene mit Bundeswehrbezug eingegangen werden: das Recht auf Selbstverteidigung samt Nothilfe, die Befugnis der Vereinten Nationen zur Anordnung militärisch gestützter Maßnahmen, die dem Sicherheitsrat übertragene responsibility to protect bzw. das von staatlichen Akteuren reklamierte Recht zur humanitären Intervention sowie das Plädoyer zur (auch) gewaltsamen Interessenpolitik. a) Recht auf Selbstverteidigung und Nothilfe (1) Das in Artikel 51 der UNO-Charta völkerrechtlich zugestandene Recht auf Selbstverteidigung gegen einen bewaffneten Angriff ist auch im Grundgesetz verankert (Artikel 87a und 115a). Mit ihm korrespondiert ein Recht auf Nothilfe, das Staaten erlaubt, Angriffsopfern militärisch beizustehen. Auch Deutschland reklamiert es für sich zumindest mit Blick auf seine Bündnispartner, obwohl sich dies nicht zwingend aus dem Verfassungstext ableiten lässt.69 Die Einstufung beider Rechtsfiguren als Beiträge kultureller Gewalt mag auf den ersten Blick überraschen. Immerhin sind sie integraler Bestandteil des modernen Völkerrecht, das gemeinhin als Friedenskraft gilt, weil es den Krieg als Instrument zur Durchsetzung nationaler Anliegen eben nicht mehr nur hegen, sondern überwinden möchte.70 Dieser Kontext kulturellen Friedens darf aber nicht dazu verleiten, das darin placierte Element kultureller Gewalt zu übersehen. Nicht ohne Grund bemühen die Staaten gerade das Selbstverteidigungsrecht, wenn sie ihre Militäraktionen mit Legitimation ausstatten wollen. Und nicht zufällig versuchen sie, dieses in Richtung eines entgrenzten Präventivrechts aufzubohren. Erinnert sei beispielhaft an die Figur antizipatorischer Selbstverteidigung der US-Sicherheitsdoktrin71 sowie an Versuche des amerikanischen Präsidenten, die Bei68 69 70

Vgl. Rittberger (2003), S. 193. Vgl. Jaberg (2007). Vgl. Kimminich/Hobe (2000), S. 44.

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standsverpflichtung des NATO-Vertrags auf Angriffe im Ausland auszudehnen.72 In der deutschen Politik finden sich vergleichbare Tendenzen. Verwiesen sei hier auf die prägnante Formel des damaligen Verteidigungsministers Peter Struck von einer ‚Verteidigung am Hindukusch‘.73 Und der Entwurf zum Weißbuch 2006 warb – wenn auch vergeblich – für „ein neues, gemeinsames Verständnis des Systems der Charta der Vereinten Nationen“, in welchem „das Recht auf Selbstverteidigung präzisiert und präventives Eingreifen auf völkerrechtlich gesicherten Grundlagen geregelt“74 ist. (2) Zwar wirkt die thematisierte Seite des Rechts auf Selbstverteidigung tatsächlich gewaltlegitimierend. Dessen Friedenselement deutet sich aber bereits in den strikten Konditionierungen gemäß Artikel 51 der UNOCharta an: Zunächst muss ein bewaffneter Angriff vorausgegangen sein, Gegenmaßnahmen sind dem Sicherheitsrat sofort anzuzeigen und im Falle seines Einschreitens einzustellen. Darüber hinaus besteht im Recht auf Selbstverteidigung eine unthematisierte Seite: Sie delegitimiert jene Gewalt, die zu anderen Zwecken als der existentiellen Notwehr eingesetzt wird. Denn im Recht auf Selbstverteidigung ist dasjenige auf Angriffskriege negiert. (3) Gleichwohl wird das gewaltlegitimierende Element konserviert und damit auch für zusätzliche Ausweitungsversuche bereitgestellt. Zwar findet sich im aktuellen Weißbuch anders noch als im vorgängigen Richtlinienpapier von 2003 der weite Verteidigungsbegriff nicht ausdrücklich wieder, nichtsdestoweniger lassen sich seine Spurenelemente identifizieren, wenn es heißt: „Sicherheitsvorsorge kann [. . .] am wirksamsten durch Frühwarnung und präventives Handeln gewährleistet werden und muss dabei das gesamte sicherheitspolitische Instrumentarium einbeziehen“75, was auch den Einsatz militärischer Gewalt der Möglichkeit nach einschließt.

71 Das Recht auf antizipatorische Selbstverteidigung soll ausdrücklich dann greifen können,, „wenn Unsicherheit darüber besteht, wann und wo der Feind angreifen wird“. – Die nationale Sicherheitsstrategie der Vereinigten Staaten von Amerika (2002), Kapitel V, S. 23. 72 Vgl. Bush verlangt Solidarität in der NATO (2006). 73 Vgl. „Die Sicherheit der Bundesrepublik wird auch am Hindukusch verteidigt.“ (http://www.uni-kassel.de/fb/frieden/themen/Bundeswehr/struck.html.) (abgerufen am 15. Dezember 2005). 74 Weißbuch 2006 (vorläufige Fassung), S. 12 (Herv. SJ). – Eine solche Formulierung findet sich im nunmehr gültigen Dokument nicht wieder. – Vgl. Jaberg (2007). 75 Weißbuch 2006, S. 29 (Herv. SJ). – Vgl. Jaberg (2007).

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b) Recht der Vereinten Nationen zur militärisch gestützten Friedenssicherung (1) Die UNO-Charta gesteht nicht nur den Staaten Selbstverteidigung, sondern auch dem Sicherheitsrat der Weltorganisation militärische Zwangsmaßnahmen nach Kapitel VII zu. Mittlerweile hat sich ein breites Spektrum von der Friedenswahrung über Friedenserzwingung bis hin zur Friedenskonsolidierung entwickelt, an dem auch deutsche Streitkräfte mitwirken. Wenngleich es intentional auf Frieden zielt, beinhaltet es Elemente personaler Gewalt, die an Intensität zwischenstaatlichen oder auch innerstaatlichen Kriegen unter Umständen gleichkommen können. Dieses Faktum darf auch in solchen Konzeptionen nicht eskamotiert werden, die die Vereinten Nationen als Ort einer friedensförderlichen Weltinnenpolitik begreifen, in welcher den Mitgliedern das Recht auf eigenmächtige Gewaltanwendung zur Durchsetzung ihrer Anliegen entwunden und auf Grundlage einer globalen Rechtsordnung in die Obhut einer Art Weltexekutive überführt wird.76 (2) Zwar sehen die Vereinten Nationen militärische Zwangsmaßnahmen vor – aber nur als Instrument der ultima ratio in dem Sinne, dass der Sicherheitsrat sich zu ihnen laut Artikel 42 ausschließlich dann verstehen darf, wenn seines Erachtens die in Artikel 41 vorgesehenen friedlichen Maßnahmen entweder unzulänglich sein würden oder sich bereits als unzulänglich erwiesen haben. Darüber hinaus besteht die unthematisierte Seite des Kapitels VII darin, dass den Mitgliedern ein Recht auf gewaltsame Ordnungspolitik im Dienste des Friedens abgesprochen wird. Dieser Tatbestand wird durch das Gewaltverbot in Artikel 2 (Absatz 4) und das Interventionsverbot in Absatz 7 des gleichen Artikels sogar ausdrücklich unterstrichen. Diese identifizierten Yang-Seiten ändern aber nichts daran, dass die gewaltlegitimierende Funktion gleichsam konserviert wird – bei beständiger Gefahr ihrer Erweiterung (3). c) Rechtsfiguren der Responsibility to protect und der humanitären Intervention (1) Seit geraumer Zeit tut sich mit der Formel einer responsibility to protect eine weitere Quelle zur Legitimation personaler Gewalt auf. Die reklamierte Schutzverantwortung bezieht sich ausschließlich auf die Verpflichtung der Weltorganisation, „rechtzeitig und entschieden kollektive Maßnahmen über den Sicherheitsrat im Einklang mit der Charta, namentlich Kapitel VII, zu ergreifen, falls friedliche Mittel sich als unzureichend erweisen und die nationalen Behörden offenkundig dabei versagen, ihre Be76

Vgl. Jaberg (2006), S. 18–23.

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völkerung vor Völkermord, Kriegsverbrechen, ethnischer Säuberung und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu schützen“77. Auf sie wird auch im neuen Weißbuch rekurriert, allerdings vermischt sie sich dort mit der umstrittenen Rechtsfigur der sogenannten humanitären Intervention, die Staaten, Bündnisse oder ad hoc-Koalitionen eigenmächtig für sich reklamieren, wie dies die NATO-Staaten im Kosovokrieg (1999) praktiziert haben.78 (2) Unbezweifelbar finden sich in der responsibility to protect Friedenselemente: Durch ihren Status eines Extremsituationen vorbehaltenen Notinstruments bestätigt sie den prinzipiellen Vorrang ziviler Mittel. Und durch die explizite Bindung der Schutzverantwortung an den Sicherheitsrat wird den Staaten das ‚Recht‘ auf humanitäre Interventionen implizit abgesprochen. Aber sogar diesem könnte, sofern es sich auf einen „gewaltabwehrenden, gewaltunterbindenden Interventionismus“79 (Wolfgang Kersting) beschränkt, eine friedensförderliche Wirkung dann attestiert werden, wenn es gelänge, Greueltaten zu stoppen. (3) Aber in beiden Varianten bleiben Gewaltelemente bestehen: Die Debatte um die militärisch gestützte Schutzverantwortung überlagert und verdeckt – nolens volens – diejenige um Möglichkeiten einer langfristig angelegten Präventionspolitik mit zivilen Mitteln.80 Auch der Einsatz von Gewalt zum Schutze bedrohter Menschen gebiert neue Gewalt und fordert Opfer. Beispielsweise ist bis heute umstritten, ob die humanitäre Katastrophe, die die NATO im Kosovo bekämpfen wollte, nicht erst durch die militärische Intervention ausgelöst oder doch zumindest dramatisch verschärft worden ist.81 Darüber hinaus besteht die Gefahr der Entgrenzung: Otfried Nassauer sieht in der responsibility to protect ein mögliches Einfallstor für ein allgemeines „Recht zu präventiver militärischer Intervention [. . .] auch gegen Terroristen und die Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen“82. Und bei der humanitären Intervention existiert das Risiko des Umschlagens in einen aggressiven „Promotionsinterventionismus“83 (Kersting), welcher beispielsweise die Durchsetzung und Ent77

Resolution der Generalversammlung A/Res/60/1: Zi. 139 (Herv. SJ). Wörtlich heißt es: „Als Reaktion auf die Intervention im Kosovo 1999 ist die völkerrechtliche Lehre von der ‚Responsibility to Protect‘ entstanden. Auch wenn Staaten, die sich diese Lehre zu Eigen gemacht haben, wahrscheinlich noch nicht in der Mehrheit sind, prägt die Debatte um die ‚Responsibility to Protect‘ doch zunehmend das Denken westlicher Länder. Dies wird langfristig Auswirkungen auf die Mandatierung Internationaler Friedensmissionen durch den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen haben. Denn gerade wenn es zum Einsatz militärischer Gewalt kommt, ist die völkerrechtliche Legitimation entscheidend.“ – Weißbuch 2006, S. 57 f. 79 Kersting (2000), S. 221. 80 Vgl. Matthies (2000). 81 Vgl. Jaberg (2002), S. 55–58. 82 Nassauer (2006), S. 6. 83 Kersting (2000), S. 221. 78

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faltung von Demokratie aktiv befördern soll – möglicherweise sogar in der (allerdings trügerischen) Hoffnung, auf diese Weise die Zone des zwischen Demokratien bestehenden Separatfriedens zu erweitern.84 Hier kommt ein Sachverhalt problemverschärfend hinzu: Ein reklamiertes oder gar etabliertes Recht auf humanitäre Intervention unterminiert das zwischen Staaten geltende Gewaltverbot als tragenden Pfeiler einer Weltfriedensordnung, die allein dem Sicherheitsrat entsprechende Befugnisse zuerkennt. Es ist mithin friedensunverträglicher als die responsibility to protect.85 d) Plädoyers für (auch) gewaltsame Interessenpolitik (1) Das in realistischer Politiktradition86 stehende Plädoyer für eine – unter Umständen auch militärisch gestützte – Interessenpolitik findet sich in der neueren deutschen Debatte in zwei Kontexten: Zum einen häuften sich sowohl mit Blick auf den Bundeswehreinsatz im Kongo im Rahmen einer EU-Mission als auch im Zusammenhang mit der Kontroverse um das neue Weißbuch Forderungen, Streitkräfte unmittelbar im Dienste nationaler Interessen jenseits der Selbstverteidigung einsetzen zu können. Dabei spielt das Argument einer sicheren Versorgung mit Rohstoffen aus entfernten Kontinenten eine immer prominentere Rolle.87 Zum anderen werden nationale Interessen in kollektive Partikularinteressen inkorporiert. Insbesondere im Kontext des Einsatzes der NATO in Afghanistan sehen nicht nur die Verbündeten,88 sondern auch Kommentatoren des politischen Geschehens die Bundeswehr verstärkt in der Pflicht: Die Existenz des Bündnisses, an dem doch auch Deutschland gelegen sein müsse, stehe auf dem Spiel.89 (2) Noch müssen mehrere Hürden vor einem Militäreinsatz genommen werden: Dazu gehört das Friedensgebot der Präambel, das im allgemeinen Bekenntnis zum Völkerrecht (Artikel 25) und im speziellen Verbot des Angriffskriegs (Artikel 26) seine Fortsetzung findet. Auch hat der Bundestag gemäß Parlamentsbeteiligungsgesetz seine Zustimmung zu erteilen. Und nicht zuletzt lehnen große Teile der Bevölkerung gegenwärtig Kampfeinsätze im Süden Afghanistans rundweg ab.90 (3) Keine dieser Hürden liegt unüber84

Vgl. Geis (2001); Hasenclever (2003). Vgl. hierzu auch den Beitrag von Gareis in diesem Sammelband. 86 Vgl. hierzu auch den Beitrag von Gillner in diesem Sammelband. 87 Vgl. „Verteidigung neu definieren“. Minister Jung über die Bundeswehr und das Grundgesetz (2006), Schockenhoff (2006). 88 Vgl. Bush verlangt Solidarität in der NATO (2006), NATO-Führung fordert Verstärkung für Afghanistan (2007). 89 Vgl. Frankenberger (2006); Bacia (2007). 90 Nach einer Forsa-Umfrage haben Anfang Februar 2007 stattliche 77 Prozent der Bevölkerung eine Entsendung von Tornados abgelehnt. Nur 21 Prozent unter85

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windbar hoch: So hat in den letzten Jahren die friedenspolitische Substanz des Grundgesetzes durch Urteile des Bundesverfassungsgerichts zu Auslandseinsätzen der Bundeswehr (1994/2001) und die Entgrenzung des Verteidigungsbegriffs Schaden genommen.91 Für einen positiven Entscheid des Parlaments genügt die einfache Mehrheit: Die Zustimmung zur Entsendung von Recce-Tornados nach Afghanistan ist bereits erteilt – und Einsätze der Krisenreaktionskräfte entziehen sich bislang ohnehin wirksamer parlamentarischer Kontrolle.92 Auch eine kritische öffentliche Meinung ist kein Garant: Zum einen setzt sie sich im Bereich der Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik, der wie kein anderer als Domäne der Exekutive gilt, kaum unmittelbar in Politik um: Trotz kontinuierlichem Rückgang der Zustimmung zum Afghanistaneinsatz in den letzten Jahren von 55 Prozent (2002) auf nur noch 29 Prozent (2007) weitet die Bundesregierung ihr militärisches Engagement aus.93 Zum anderen könnte unter dem Eindruck aktueller Ereignisse die Skepsis der Bevölkerung einer Befürwortung militärischen Eingreifens weichen. 3. Bewertung Galtungs Auffassung von Gewalt und Frieden wurzelt in einem normativen Individualismus, der durch das universelle Prinzip menschlicher Grundbedürfnisse eingehegt wird: Die eigene Selbstverwirklichung wird dann illegitim, wenn sie andere in ihrem legitimen Streben nach Überleben, Wohlbefinden, Identität sowie Freiheit beeinträchtigt. Denn in moralphilosophischer Perspektive begründen solche Basisbedürfnisse „Interessen in einem fundamentalen Sinn, [. . .] die man einander nicht streitig machen kann“94 (Christoph Horn). Galtung sieht die Menschheit zwar weder zum Guten noch zum Bösen prädestiniert, aber zu beidem fähig.95 Folglich gäbe es aus anthropologischer Perspektive wenn auch keine Garantie, so doch Hoffnung auf eine friedlichere Welt. Diese gälte es zu nutzen: Ähnlich wie Kant96 stützen demnach einen Einsatz im umkämpften Süden des Landes. – Vgl.: Deutsche gegen Tornado-Einsatz. (http://www.focus.de/politik/deutschland/umfrage_aid_ 124090.html.) (abgerufen am 30. August 2007). 91 Vgl. Jaberg (2006). 92 Vgl. Löwenstein (2006); Bittner (2006). 93 Vgl. N24-EMNID-Umfrage. Mehrheit der Bundesbürger wünscht Pläne zum Abzug der Bundeswehr. (http://www.presseportal.de/politik/NA3730990037.htm.) (abgerufen am 30. August 2007). 94 Horn (2002), S. 20. 95 Vgl. Galtung (2007), S. 172. 96 Bei Kant liest sich dieser Gedanke folgendermaßen: „Also ist nicht mehr die Frage: ob der ewige Friede ein Ding oder ein Unding sei [. . .], sondern wir müssen so handeln, als ob das Ding sei, was vielleicht nicht ist, auf Begründung desselben

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sieht Galtung die Menschen trotz ungewisser Erfolgsaussichten in der „Verpflichtung, dafür zu sorgen, dass der Prozess [zum Guten, SJ] sich fortsetzt“97. Mit der konzeptionellen Entwicklung und praktischen Anwendung seiner auf Gewaltfreiheit, Empathie und Kreativität basierenden TranscendMethode hat Galtung zweifelsohne einen entsprechenden Beitrag geleistet, der näherer Untersuchung wert wäre. Darüber hinaus helfen seine normativ fundierten erkenntnistheoretischen Prinzipien dabei, versteckte personale, strukturelle und kulturelle Gewalt- und Friedensanteile sichtbar, thematisierbar und bearbeitbar bzw. nutzbar zu machen. Anhängern wie Kritikern seiner pazifistischen Praxeologie liefert er zumindest eine Anleitung dazu, das eigene Handeln systematisch auf dessen Implikationen für Frieden und Gewalt zu befragen. Einem informierten Diskurs über Zukunft und Auftrag deutscher Streitkräfte kann dies nur förderlich sein.

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Der Homo Oeconomicus – Das Menschenbild in der Ökonomie Von Stefan Bayer

I. Begriffsbestimmung: Der Homo Oeconomicus Der Homo Oeconomicus ist eine schillernde Person, die bei vielen Menschen bekannt zu sein scheint. Aber was stellt er eigentlich genau dar? Ist er wirklich das „Wesen“, für das er in der breiten Öffentlichkeit gehalten wird? Die folgenden Ausführungen versuchen, ihn genauer vorzustellen, seine Motive zu verdeutlichen und den Anwendungsbereich dieser Figur genauer darzulegen. Dazu sollen zunächst die zwei verschiedenen Begriffsbestimmungsmöglichkeiten für „Ökonomik“ und „Homo Oeconomicus“ im Rahmen einer positiven Analyse dargestellt werden: Ökonomik kann zum einen gegenständlich definiert werden als Wissenschaft, die mit Ökonomie bzw. Wirtschaft zu tun hat. Dies impliziert, dass der „Homo Oeconomicus“ der in der Wirtschaft tätige Mensch ist. Analog kann ein Homo Politicus, ein Homo Sociologicus, ein Homo Oecologicus etc. in anderen Wissenschaftsdisziplinen definiert werden. Problematisch hierbei sind unklare Abgrenzungsmöglichkeiten aufgrund intensiver Interdependenzen zwischen den einzelnen Wissenschaftsbereichen.1 Ökonomik kann zum anderen aber auch methodisch über den Begriff der Rationalität gefasst werden: Mit Kirchgässner ist „Ökonomik [. . .] der Versuch, menschliches Verhalten dadurch zu erklären, dass man unterstellt, dass sich die einzelnen Individuen ‚rational‘ verhalten. Individuen handeln dadurch, dass sie aus den ihnen zur Verfügung stehenden Möglichkeiten eine rationale Auswahl treffen. Dies gilt unabhängig vom Gegenstandsbereich. [. . .] Die Ökonomik ist somit eine Methode der Sozialwissenschaften, während die Ökonomie einer ihrer Gegenstandsbereiche ist.“2 Die sich aus diesen Definitionen ergebende Matrix von Gegenstandsbereich und Methodik wollen wir nicht weiter vertiefen, jedoch festhalten, dass wir uns weitgehend in der Welt der ökonomischen Analyse aufhalten 1 2

Vgl. etwa Herms (1997) und Herms (2004). Kirchgässner (2000), S. 2.

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wollen. In unseren Überlegungen zeichnet sich eine ökonomische Entscheidungssituation dadurch aus, dass menschliches Handeln als zweckrationale Auswahl aus Alternativen verstanden wird. Leitbild ist dabei immer, dass der individuelle Nutzen eines Agenten maximiert werden soll. Somit steht in der Ökonomik immer der Mensch im Mittelpunkt der Betrachtungsweise. Zudem liegt in ökonomischen Entscheidungssituationen grundsätzlich eine Knappheitssituation vor, d.h., der Mensch kann nicht alle seine Bedürfnisse gleichzeitig erfüllen. Er muss sich zwischen zwei (oder mehreren) sich gegenseitig ausschließenden Handlungsmöglichkeiten entscheiden. Innerhalb dieses verfügbaren Entscheidungsraumes versucht das Individuum immer, seine individuellen Präferenzen bestmöglich zu erfüllen („Nutzenmaximierung“). Gelegentlich verbindet man den Homo Oeconomicus mit einer reinen Nutzenmaximierungs„maschine“. Er agiert in der Wahrnehmung vieler rein egoistisch – und damit asozial, jederzeit zweckrational, materialistisch, einzig an Geld interessiert und würde „zum eigenen Vorteil auch seine eigene Mutter opfern.“3 Diese Vorstellung war lange Zeit auch in der Ökonomie dominant, wird heute jedoch zunehmend als die alte Form des Homo Oeconomicus beschrieben. Der neue, „aufgeklärte“ Homo Oeconomicus ist im Gegensatz zu den Vorstellungen in vielen mikroökonomischen Lehrbüchern nicht gezwungen, zu jedem Zeitpunkt optimal zu handeln: Er muss nicht eines Computers gleich völlig stereotyp alle Handlungsalternativen ständig auf ihr Nettonutzenmaximum hin untersuchen, da sich der Mensch zu jedem Zeitpunkt in einem Zustand der Unsicherheit befindet und die Beschaffung zusätzlicher Informationen zur sorgfältigen Alternativenabwägung immer auch Kosten verursacht (nicht nur monetärer Art, auch der Zeitverlust stellt ökonomisch eine Kostenkomponente dar, weil in dieser Zeit etwa keine „kostenlosen“4 Waldspaziergänge möglich sind). Da manche Entscheidungen nicht aufgeschoben werden können und Zeit nicht reversibel vergeht, können gar nicht alle Entscheidungen rational im Sinne der theoretischen Kriterien getroffen werden. Auch kann es sein, dass der Restriktionenraum, innerhalb dessen Entscheidungen getroffen werden, sich verändert, so dass eine bislang präferierte Handlungsalternative sich im Nachhinein als irrationale Entscheidung darstellt. Ursache solcher Veränderungen können sowohl andere Individuen als auch natürliche Umstände sein. Die ökonomische Theorie geht davon aus, dass sich Individuen an veränderte Restriktionen (Umweltbedingungen) entsprechend ihrer Präferenzen in systematischer und damit antizipierbarer Weise anpassen. Der moderne, auf3

Homans (1972), S. 79 f. Hier sind direkte Kosten gemeint, die in direktem Zusammenhang mit der Ergreifung einer Alternative stehen. 4

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geklärte Homo Oeconomicus orientiert sich deshalb immer an Nettonutzen (wobei nutzenstiftende Elemente vielfältiger Art sein können) unter Abwägung von Nutzen- und Kostenkomponenten bei der Suche nach der nutzenmaximalen Verhaltensalternative. Neben Egoismus können seine zweckrationalen (vernünftigen) Entscheidungen allerdings auch von Altruismus oder Hedonismus geprägt sein. In der aktuellen Debattenlage haben sich – in Abgrenzung zum alten Homo Oeconomicus – zwei neue Bezeichnungen für die aufgeklärte Variante des Homo Oeconomicus etabliert. Zum einen wird in der deutschsprachigen Literatur vom REM, dem Rationalen Egoistischen Menschen gesprochen. Im englischsprachigen Schrifttum findet man diesbezüglich zum anderen den REMM (Resourceful, Evaluating, Maximizing Man).5 Dieser Menschentypus zeichnet sich dadurch aus, dass er grundsätzlich dazu in der Lage ist, (zweckrationale) Werturteile gemäß ihrer relativen Dringlichkeit zu fällen; er muss dies aber nicht stereotyp zu jedem Zeitpunkt auch durchführen. Mit diesen Konzepten werden mannigfache kritische Vorurteile einzelner Wissenschaftsbereiche gegenüber der dominierenden Methodik der Ökonomie relativiert und deutlich gemacht, dass es in ausgewählten Gegenstandsbereichen unter expliziter Nennung der Prämissen sinnvoll ist, modellhaft menschliches Verhalten so simplifiziert abzubilden. Somit können einzelne ökonomisch motivierte Entscheidungen sehr gut und flexibel erklärt und gedeutet werden, ohne den Status der „Allgemeinverbindlichkeit“ dieser Modellierungsweise zu beanspruchen.6 Weitgehend unberücksichtigt bleiben in allen Modellen des Homo Oeconomicus jedoch alternative menschliche Verhaltens- und Interaktionsmuster benachbarter Wissenschaftsdisziplinen: Menschen interagieren nicht nur in ökonomischen Zusammenhängen und aus ökonomischen Motiven mit anderen Menschen, sondern darüber hinaus etwa auch – als religiöse Wesen, – als politische Wesen und – als naturwissenschaftliche Wesen.7 Zwischen diesen verschiedenen Dimensionen bestehen zudem z. T. sehr enge Interdependenzen, die das Ökonomische auch überlagern können. Dies wird zwar teilweise in den angesprochenen REM/REMM-Modellen aufgenommen, in der reinen ökonomischen Theorie jedoch nur sehr selten bis gar nicht umgesetzt.8 5 6 7

Vgl. etwa Schäfer/Ott (2000), S. 55–69. Vgl. etwa Endres (2007). Vgl. hierzu und im Folgenden Herms (2004).

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II. Anwendung auf die Praxis Inwieweit verhalten sich Menschen in der Realität tatsächlich wie der in Abschnitt eins angesprochene Homo Oeconomicus? Selbstverständlich wollen wir den Bezug zur Realität nur im ökonomischen Kontext beleuchten ohne die angesprochenen interdependenten Verflechtungen menschlicher Entscheidungen eingehender zu beleuchten. In der Werbung etwa wird bewusst versucht, diesen Aspekt zu betonen. Slogans wie „Geiz ist geil“, „Saubillig“ oder „Dauertiefstpreise“ sollen den Menschen als Homo Oeconomicus dazu anreizen, qualitativ gleichwertige Produkte in der beworbenen Unternehmung billiger zu erhalten als in einer konkurrierenden Unternehmung. Auch Tankstellen werden gezielt ausgewählt, um einen Cent pro Liter Super oder Diesel sparen zu können. Solange die gleichen Qualitäten angeboten werden, agiert der Mensch tatsächlich wie der theoretisch unterstellte Homo Oeconomicus. Um Suchkosten bei der Realisierung solcher „Schnäppchen“ einzusparen, konzentrieren sich mittlerweile auch Webseiten wie „billiger.de“, „preisvergleich.de“ etc. auf die Bedienung der menschlichen Präferenz, „Schnäppchen“ zu realisieren. Versicherungsvergleiche werden auf gleiche Weise möglich, um die unübersichtlichen Angebote miteinander in Beziehung setzen zu können. Solange eine spürbare Nachfrage nach solchen Produkten vorhanden ist, bedienen derartige Angebote immer den Trieb des Homo Oeconomicus, zweckrationale Entscheidungen bezüglich des Kaufes einer Waschmaschine, des Abschlusses eines Versicherungsvertrages etc. zu treffen. Hier scheinen sich viele Menschen tatsächlich wie der oben beschriebene Homo Oeconomicus zu verhalten. Einzelne Vertreter der ökonomischen Theorie gehen noch weiter, sehen sie doch die Grundeigenschaften des Homo Oeconomicus durch diese Beispiele bestätigt: Insbesondere die Analysen des Ökonomen Gary Becker, der für die Anwendung der ökonomischen Methodik auf nahezu alle Lebenslagen und die damit verbundenen Implikationen 1992 den Nobelpreis für Ökonomie erhielt, unterstellen, dass die ökonomisch geprägten Entscheidungen des Menschen die weiteren Facetten seines individuellen Agierens dominieren.9 Konträr zu diesen Ausführungen stehen allerdings Situationen innerhalb des menschlichen Lebens, in denen deutlich wird, dass reale Entscheidungen eben nicht unter allen Umständen gemäß der oben abgeleiteten HomoOeconomicus-Annahmen getroffen werden: Es finden sich bei realen Entscheidungen sehr häufig „Anomalien“ (aus Sicht des Homo Oeconomicus) im individuellen Verhalten von Menschen. Beispielsweise hat der Ökonom 8

Vgl. zu diesen interdisziplinären und integrierenden Überlegungen auch die Beiträge von Biehl, Gillner, Mätzig und Stümke in diesem Sammelband, die teilweise bestätigend und teilweise konträr zu unseren Ausführungen sind. 9 Vgl. etwa Becker (1993), aus anderer Perspektive Gillner in diesem Band.

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und Psychologe Daniel Kahneman (Träger des Wirtschaftsnobelpreises 2002) für seine vielfältigen Arbeiten im Bereich der experimentellen Ökonomie einige interessante Details herausgefunden: So zeigt er in einem Papier mit Amos Tversky10 folgenden „Framing-Effekt“:11 Medizinstudenten hatten bei der Frage, ob bei einer Epidemie eine bestimmte Therapie angewendet werden sollte, deutlich andere Antworten gegeben, je nachdem, ob die Erfolgsaussichten dieser Therapie anhand von Überlebenswahrscheinlichkeiten oder anhand der komplementären Sterbewahrscheinlichkeiten angegeben wurde. Sie schlussfolgern: Wenn dies bei bezüglich der Fragestellung hochqualifizierten Individuen geschieht, so ist davon auszugehen, dass entsprechende Effekte auch im täglichen Leben auftreten. Damit wird grundsätzlich infrage gestellt, dass Individuen sich jederzeit zweckrational verhalten. Ein weiteres (Alltags-)Beispiel ist etwa die Inanspruchnahme eines Kontokorrentkredits zu 12% Überziehungszinssatz (Kreditzinssatz), wenn auf einem Sparbuch zu 3% Guthabenzinssatz Geld angelegt bleibt. Oder: Trotz identischer Stromqualität wechseln nur sehr wenige Haushalte zum gegenwärtig günstigsten lokalen Anbieter. Weitere Anomalien vor allem im intertemporalen Bereich finden sich bei Bayer.12 Eine weitere Abkehr vom eigentlichen Homo Oeconomicus kommt ins Spiel, wenn individuelle Entscheidungen bei unbeteiligten Dritten Effekte verursachen: In vielen Fällen berücksichtigen Individuen nicht immer alle mit ihren Entscheidungen verbundenen „Nebeneffekte“ (ökonomisch: Externalitäten). Viele Familien setzen sich etwa massiv für die Einrichtung einer Tempo 30 Zone in der Nähe von Kindergärten und Schulen ein, sind selbst aber diejenigen, die sich dann nicht an die Vorgaben halten (mangelnde Konsistenz der beiden Entscheidungen). Oder Raucher rauchen während eines Essens in einem Restaurant selbst nicht – wegen der Verfälschung des Geschmacks –; nach Beendigung ihres Mahls berücksichtigen sie allerdings nicht, dass ebenfalls anwesende und noch essende Gäste sich durch die „Verdauungszigarette“ belästigt fühlen. Auch im Umweltbereich finden sich einige Abweichungen vom reinen Modell des Homo Oeconomicus, weil der Zeitpunkt der Verursachung eines Schadens und der Zeitpunkt des tatsächlichen Schadenseintritts möglicherweise sehr weit auseinander liegen. Dies impliziert, dass individuell zweckrationale Entscheidungen nicht immer auch allen an dieser Entscheidung beteiligten Akteuren den größtmöglichen Nutzen stiften müssen, mithin somit individuelle Entscheidungen nicht zum gesellschaftlich höchsten Nutzenniveau führen müssen. 10

Vgl. Kahneman/Tversky (1982). Vgl. hierzu auch die sehr lesenswerte Reihe „Anomalies“ im Journal of Economic Perspectives, die in verschiedenen Bänden in loser Folge erschienen sind. 12 Vgl. Bayer (2000), S. 118–138. 11

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Die Anomalien lassen sich – grob – in die zwei folgenden zentralen Kategorien einteilen, die deutlich machen, dass sich nicht alle menschlichen Entscheidungen mit Hilfe des Zweckrationalitätskalküls des Homo Oeconomicus erklären lassen. So stellen Menschen zum ersten oftmals ihre begrenzten Verarbeitungskapazitäten von Informationen unter Beweis. In manchen Fällen kann dies allerdings auch gerade Reflex des ökonomischen Handelns sein, nämlich dann, wenn die zusätzlichen Informationsbeschaffungskosten höher sind als die zusätzlichen Nutzengewinne, die sich daraus realisieren lassen („Rationale Uninformiertheit“). Zum zweiten kann häufig beobachtet werden, dass Menschen suboptimale Entscheidungen fällen: Insbesondere auf der Zeitachse ergeben sich nicht-antizipierte (bzw. sogar nicht-antizipierbare) Effekte, die das ursprünglich erreichte Nutzenniveau im Moment des Konsums eventuell sogar erheblich reduzieren (Rauchen, Alkoholkonsum etc.). In diesen Fällen stellt sich die Frage nach der Rolle von gesellschaftlich legitimierten Eingriffen dafür eingerichteter Institutionen aufgrund asymmetrischer Informationslagen, paternalistischer Überlegungen oder der Existenz von (de)meritorischen Gütern.13 Zusammenfassend lassen sich nachfolgende Sachverhalte festhalten: Die „alte“ (klassische) Ausprägung des Homo Oeconomicus lässt sich in der Realität in Reinform nur sehr selten beobachten (trotz Gary Becker). Gleichwohl gilt, dass trotz der Meere von Anomalien, die jede Theorie umgeben, die aufgeklärte Variante des Homo Oeconomicus v. a. im ökonomischen Kontext eine gute theoretische Beschreibung individuellen Handelns darstellt. Allerdings stellen ökonomische Entscheidungen immer nur eine Dimension menschlichen Handelns dar, so dass neben den ökonomischen auch alle außer-ökonomischen Determinanten menschlicher Entscheidungen einbezogen werden müssen. Ziel muss es sein, ein interdisziplinäres Menschenbild zu entwerfen, in dem sämtliche unterschiedlichen Facetten menschlichen Interagierens Berücksichtigung finden können, um ein möglichst valides und robustes Menschenbild für die Analyse seiner Interaktionen zugrunde legen zu können.14 Zuletzt soll auf die teilweise Diskrepanz zwischen individuell zweckrationaler Entscheidung und der Summe individuell zweckrationaler aller in einem Zweckverbund (einer Institution mit gemeinsamer Sinnstiftung) zusammenlebender Menschen eingegangen werden: In Abkehr zur in der Ökonomie weit verbreiteten Meinung, die auf Adam Smith zurückgeführt wer13

Vgl. Cansier/Bayer (2003), S. 179–190. Dieses starke Plädoyer für mehr Interdisziplinarität mit dem Ziel des besseren Verständnisses menschlichen Verhaltens und Interagierens lässt sich durch Lektüre des Beitrags von Biehl in diesem Band noch besser nachvollziehen. Vgl. auch Herms (2004). 14

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den kann und die besagt, dass individuelles Streben nach Nutzenmaxima immer auch zum gesellschaftlich bestmöglichen (i. S. v. wohlfahrtsmaximalen) Ergebnis führt, zeigen uns in der Realität die Existenz sozialer Dilemmasituationen deutlich auf, dass dies nicht unter allen Umständen der Fall sein muss: Individuell zweckrationale Entscheidungen führen eben nicht immer auch gesellschaftlich zum bestmöglichen ökonomischen Ergebnis. Beispiele sind der Klimawandel als Folge rationaler Mobilitätsentscheidungen oder die Erkrankung an Lungenkrebs als Folge rationaler Einkommensverwendungsentscheidungen, dem Konsum von Zigaretten. Die Theorie spricht davon, dass hier eine Form des klassischen Gefangenendilemmas vorliegt. Solche Situationen – so der Tenor der ökonomischen Debattenlage – können nur über Zwangsmaßnahmen politisch gesteuert werden, die Problemlösungskapazität dezentraler, marktorientierter Lösungen reicht in der Regel nicht aus, weil die Akteure die (meist) langfristig realisierbaren Erträge nicht adäquat in ihr heutiges, meist kurzfristig orientiertes Nutzenmaximierungskalkül aufnehmen oder über einen „Ungeduldsparameter“ wie die Diskontierungsrate klein rechnen.15 Damit stellt sich die interessante und sehr grundsätzliche Frage, an welcher Stelle individuellen Agierens politische Regelungsmechanismen ansetzen sollten: Sollten politische Maßnahmen direkt darauf abzielen, die Präferenzen der Akteure zu beeinflussen oder sollte der Restriktionenraum, innerhalb dessen Entscheidungen getroffen werden, beeinflusst werden? Aus Platzgründen soll diese Frage an dieser Stelle jedoch nicht beantwortet werden und stattdessen die Frage nach der Adäquanz dieses Menschenbildes in der Bundeswehr gestellt werden.

III. Anwendung auf die Bundeswehr Nach unseren Vorüberlegungen, durch welche Verhaltensweisen sich ein Homo Oeconomicus auszeichnet und inwieweit sich dieses theoretische Verhaltensmodell auch in der Praxis wiederfindet, soll im letzten Abschnitt der Frage nachgegangen werden, inwieweit das Leitbild des Homo Oeconomicus auch Leitbild für soldatisches Verhalten innerhalb der Bundeswehr sein kann und soll. „Homo-Oeconomicus-Verhalten“ von Soldaten liegt dann vor, wenn Soldaten die ihnen zur Verfügung stehenden individuellen Ressourcen so einsetzen, dass die individuellen Ziele bei den jeweiligen Präferenzen innerhalb des Restriktionenraumes bestmöglich erreicht werden können. Auf der Zielebene liegen verteidigungspolitische Grundlagendokumente vor, die formale Antworten auf die Zielfrage soldatischen Agierens geben. Zu nennen sind vor allem die Verteidigungspolitischen Richtlinien von 15

Vgl. Bayer (2000), S. 21–41.

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2003, die Konzeption der Bundeswehr von 2004 oder das Weißbuch von 2006.16 Die materielle Ausgestaltung dieser formalen Vorgaben ist jedoch bislang weitgehend offen, was die Beantwortung unserer Frage erschwert. So steht etwa – trotz des Weißbuches von 200617 – nicht zweifelsfrei fest, welche verteidigungs- bzw. sicherheitspolitischen Ziele die Bundesrepublik Deutschland erreichen möchte. Die Bundeswehr beteiligt sich zwar als außenpolitischer Akteur an einer Fülle von Auslandseinsätzen, die dahinter stehende Zielsetzung und der Nutzen für die Bundesrepublik sind jedoch nicht für jedermann sofort offensichtlich. Möglicherweise sind die Auslandseinsätze auch nur ein Instrument, um außenpolitische Ziele – etwa den Erwerb eines ständigen Sitzes im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen oder die Kompensation des Reputationsverlustes bei den NATO-Bündnispartnern wegen der Nicht-Teilnahme an der „Coalition of the Willing“ im Irak – zu erreichen. In scharfem Kontrast zu diesen Argumenten steht die Frage, ob Auslandseinsätze per se nicht doch ein sinnstiftendes Element militärischen Agierens darstellen und ein Auslandseinsatz losgelöst vom politischen Zweck von denjenigen Akteuren der Bundeswehr gefordert wird, die sich mit der Rolle des Helfens bei Katastrophen nicht mehr zufrieden geben wollen? Ob nun die eine oder andere Argumentation zutrifft – in beiden Fällen besteht auf politischer wie auf Ebene der Institution Bundeswehr ein fundamentales Defizit in der Vermittlung des hinter den Auslandseinsätzen stehenden Zieles. Auf der Präferenzenebene ist die Frage zu stellen, welche Motivation Staatsbürger zu Staatsbürgern in Uniform werden lässt. Die wesentlichen kategorialen Aufgaben der Bundeswehr lassen sich mit den Schlagworten (i) Verteidigen/Kämpfen, (ii) Retten, (iii) Helfen und (iv) Schützen beschreiben:18 Mit der Transformation hin zu einer Einsatzarmee und der damit neu eingenommenen Streitkräftekategorisierung in Eingreifkräfte, Stabilisierungskräfte und Unterstützungskräfte (organisational weitgehend losgelöst von den bisher die Struktur dominierenden Teilstreitkräften Heer, Luftwaffe und Marine) beeinflusst die Bundeswehr auf alle Fälle die jetzige und vor allem zukünftige Personalstruktur. Möglicherweise findet eine zunehmende Auswahl von solchen Nachwuchskräften statt, die eine hohe Präferenz für Auslandseinsätze aufweisen; zugleich könnte genau diese Gruppe zunehmend die Bundeswehr als attraktiven Arbeitgeber wahrnehmen und zunehmend in die Bundeswehr hineindrängen. Die Restriktionenebene ist durch folgende wesentliche Elemente geprägt: Zum einen ist der Prozess der Transformation in den Streitkräften ein un16 17 18

Vgl. Bundesministerium der Verteidigung (2003), (2004) und (2006). Vgl. Bundesministerium der Verteidigung (2006). Vgl. Bundesministerium der Verteidigung (2003), (2004) und (2006).

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umstößliches Faktum geworden, das mittelfristig irreversibel scheint. Die Neuausrichtung der Bundeswehr im Licht des erweiterten und vernetzten Sicherheitsdenkens wird noch einige Zeit in Anspruch nehmen, da wechselseitige Vorbehalte existieren und die Bevölkerung diesem Prozess weitgehend mit freundlichem Desinteresse begegnet. Gleichwohl muss in Zeiten knapper Haushaltslagen und zunehmender Verteilungskämpfe zwischen den verschiedenen Einzelplänen festgestellt werden, dass der Einzelplan 14 relativ zu den anderen Einzelplänen auf Bundesebene seit der deutsch-deutschen Wiedervereinigung erheblich an Bedeutung verloren hat (Rückgang von etwa 20% der Gesamtausgaben des Bundes von 1988 auf etwa 10% im Jahre 2007, vgl. die jeweiligen Bundeshaushaltspläne). Grundsätzlich kann somit festgehalten werden, dass die sinkenden relativen Mittelzuweisungen in den Einzelplan 14 auch als sinkende gesellschaftliche Wertschätzung gemessen an alternativen Bundesausgaben interpretiert werden kann, die neue Lösungen nicht nur innerhalb der Bundeswehr erforderlich macht, sondern darüber hinaus darauf drängt, dass die gesamte Verteidigungslandschaft überdacht und insbesondere sondiert wird, welche Modifikationsmöglichkeiten die existierenden Bündnisstrukturen (etwa NATO, EU) bereit stellen können. Berücksichtigen wir diese Gemengelage und konzentrieren uns wieder auf unsere Frage nach dem Verhalten von Soldaten als Homines Oeconomici folgt zunächst, dass der einzelne Soldat sich aufgrund unpräziser bzw. sogar fehlender übergeordneter Ziele in der reinen Theorie kaum wie ein Homo Oeconomicus verhalten kann. Weitere Überlegungen brauchen in diesem Falle aus formalen Gründen nicht angestellt werden. Wird allerdings die Einsatzorientierung als eigenes Ziel interpretiert und der Einsatz für einzelne Soldaten die Hauptmotivation für den Eintritt in die Bundeswehr, so wird vor allem der Mensch, der dem technokratisch funktionalen Soldatentypus sehr nahe steht,19 dauerhaft den Soldatenberuf ergreifen. Der Einsatz könnte dann einen Selbstzweck darstellen, der vor allem die Interessen von Soldaten, die genau darin einen zentralen Lebensinhalt sehen, vollständig bedient. Damit könnte sich jedoch ein gewisser Menschentypus der Bundeswehr dauerhaft zuwenden, der für die umfassende Auftragserfüllung gerade in den bestehenden und zu erwartenden folgenden komplexen Auslandseinsätzen allenfalls wenig geeignet wäre.20 Dieser Trend kann sich zusätzlich verstärken, wenn innerhalb der Bundeswehr die Tendenz zur Ökonomisierung (in seiner Minimaxausprägung, 19

Vgl. Vogt (1987), S. 101 ff. Vgl. zur weiteren Ausführung dieses Argumentes die Überlegungen von Matthies in diesem Band. 20

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also eine bestehende politische Auftragslage zu den geringst möglichen Kosten zu realisieren) anhält oder sogar weiter zunimmt. Die Transformation hin zu einer Einsatzarmee könnte eine Priorisierung der Mittelverteilung innerhalb der Bundeswehr zugunsten einsatzrelevanter Ausgaben nach sich ziehen. Der Einsatz würde dann – formal, institutionell und materiell – das zentrale Ziel der Bundeswehr werden, und alle anderen Aufträge müssten sich den Einsätzen unterordnen. Dies hätte dann wiederum Rückwirkungen auf die unterschiedlichen individuellen Präferenzen der Soldaten: Das Kämpfen könnte die dominante Eigenschaft von Soldaten in einem derart konstruierten Kontext werden, die weiteren soldatischen Tugenden wären in einer solchen Situation von untergeordneter Bedeutung. Würde der Soldat im Rahmen dieses Bedingungswerkes sich wie ein Homo Oeconomicus verhalten, bestünde eine große Gefahr, dass das Leitbild des Staatsbürgers in Uniform und mithin das gesamte Konstrukt der Inneren Führung als organisationale „Geschäftsordnung“ stark vernachlässigt wird – einzig und allein dem Umstand geschuldet, dass derartige moralische Restriktionen im Widerspruch zur Erfüllung des Auftrages (= Einsätze) stehen und mithin knappe Ressourcen binden, die nicht mehr für Einsätze zur Verfügung stünden. Jegliches individuelles Handeln legitimiert sich immer dann, wenn es der Zielsetzung „Einsatztauglichkeit der Bundeswehr“ dient, ohne dass etwa ethisch-moralische Rahmenbedingungen des Leitbildes der Inneren Führung berücksichtigt werden müssten (etwa die Möglichkeit, Zwang zur Ausübung bestimmter Tätigkeiten ohne Berücksichtigung individuell garantierter Grundrechte auszuüben). Der Soldat als Homo Oeconomicus könnte somit ausschließlich funktional im Sinne der Optimierung der Bundeswehr als Einsatzarmee agieren und sein darauf ausgerichtetes Handeln wäre per definitionem gut, wenn es diesem Ziel dient. Dass aus der schleichenden Erodierung des Leitbildes der Inneren Führung in einer solchen Konstellation erhebliche Probleme resultieren, liegt auf der Hand. Zu erwarten sind Dysfunktionalitäten für die Bundeswehr als Institution sowie für den politischen Auftraggeber, der in einer solchen Konstellation möglicherweise die mit dem Instrument Bundeswehr zu erreichenden außenpolitischen Ziele jetzt und in der Zukunft nicht dauerhaft erreichen kann. Zum einen ist zu befürchten, dass die Auswahl und Förderung des einsatz- und kampffreudigen Soldatentypus nicht hinreicht, um sämtliche komplexe Problemlagen in den existierenden und zukünftigen Auslandseinsätzen bestmöglich beantworten zu können. Neben der Rolle des Kämpfers kann der klassische Soldat zusätzlich retten, helfen und schützen. Steht ausschließlich das Kämpfen im Vordergrund soldatischen Interagierens, hat man grundsätzlich ein Abgrenzungsproblem hin zum professionellen Söldner. Und derartige „Soldaten“ zeichnen sich gerade dadurch aus – wenn sie sich gemäß der Homo-Oeconomicus-Maxime verhal-

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ten –, dass stabilisierende und nachhaltig friedensstiftende Einsätze nicht unbedingt deren prioritäres Einsatzziel darstellen.21 Neben dieser kurzfristigen Implikation lässt sich auch eine wesentliche langfristige anführen: Wären die aktuellen Rahmenbedingungen genau so wie beschrieben, könnten sich Menschen bereit erklären, sich der Bundeswehr anzuschließen, um ihre Einsatzpräferenzen auch ausleben zu können. Die Bundeswehr würde solchen Nachwuchs auch benötigen, um alle Einsätze gut absolvieren zu können. Mithin könnte jedoch die Personalzusammensetzung für stabilisierende, friedenserhaltende oder gar präventive Einsätze wenig geeignet werden. Nimmt man ein solches Defizit ernst, würde sich mithin die Art der Einsätze in Abhängigkeit des verfügbaren Personalpools möglicherweise massiv verändern – möglicherweise mit der Notwendigkeit einer Grundgesetzänderung in der Bundesrepublik. Die mit der momentanen Personalstruktur der Bundeswehr erreichbaren außenpolitischen, ressourcenpolitischen, wachstumspolitischen etc. Ziele lassen sich dann möglicherweise nicht mehr erreichen und die Bundeswehr wäre bei der ausschließlichen Rekrutierung von Soldaten, die einem Homo Oeconomicus gleich Einsätze als sinnstiftendes Element sehen, zukünftig nicht mehr in der Lage, ihren komplexen Aufgaben, die weit über das den bloßen Kampfeinsatz hinaus gehen, nachzukommen.

IV. Fazit Es wurde deutlich, dass insbesondere die vielfältigen soldatischen Tugenden ein zu verengtes Menschenbild für den aufgeklärten Soldaten und Staatsbürger in Uniform nicht zulassen. Die komplexen Herausforderungen, vor denen die Soldaten in ihren verschiedenen Tätigkeitsbereichen stehen, können nicht im Rahmen eines derart vereinfachenden Verhaltensmodells abgebildet werden. Deshalb kann der Homo Oeconomicus kein alleiniges Verhaltensleitbild für den Staatsbürger in Uniform darstellen. Die rein funktionale Ausrichtung solcher Soldaten hätte überaus negative Auswirkungen auf die Bundeswehr als Institution sowie auf die Erreichbarkeit von politischen Zielen beim Einsatz des Instruments Bundeswehr. Unsere Überlegungen verdeutlichen allerdings auch die Gefahr, die beim Trend zur Ökonomisierung in der Bundeswehr bei gleichzeitiger Transformation hin zu einer Einsatzarmee bestehen. Die möglichen Dysfunktionalitäten und die allenfalls sehr zeitintensive Reversibilität dadurch ausgelöster Prozesse müssen somit immer bei der weiteren Ökonomisierung der Bundeswehr bei gleichzeitiger Einsatzorientierung berücksichtigt werden. 21 Vgl. zu diesen Überlegungen vertiefend den Beitrag von Franke in diesem Band.

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Wohlgemerkt – unsere Ausführungen richten sich gegen eine maßlose, alles umfassende und unreflektierte Ökonomisierung in der Bundeswehr. Der effiziente Umgang mit knappen Ressourcen und das Ernst nehmen ökonomischer Erwägungen stellt jedoch grundsätzlich eine notwendige Voraussetzung bei öffentlich wahrzunehmenden Aufgaben dar. Allerdings gibt es neben den ökonomischen Erwägungen weitere für die Funktionsfähigkeit der Bundeswehr wesentliche Kategorien, die im Rahmen ihrer Transformation zu berücksichtigen sind und kategoriale Eigenschaften aufweisen, etwa das Leitbild der Inneren Führung. Diese ökonomischen Abwägungsprozessen nicht offen stehenden Bereiche können somit auch nicht im Rahmen einer ökonomischen Analyse traktiert werden.

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Der Mensch in der ökonomischen Globalisierung Zur individuellen Bewältigung epochaler Wirtschaftsentwicklungen Von Günter Mohrmann

I. Verstetigung der Globalisierung als dynamischer Prozess Die Globalisierung grenzüberschreitender Wirtschaftsbeziehungen kann längst nicht mehr als vorübergehende Erscheinung anwachsender außenwirtschaftlicher Verflechtungen angesehen werden, die sich mit Hilfe merkantilistischer Rückbesinnungen und einem damit einhergehenden Protektionismus noch aufhalten ließ. Dafür sprechen mehrere Ausprägungen des modernen Weltwirtschaftssystems: – Dabei handelt es sich erstens um die im Vergleich zum Wachstum des Weltsozialprodukts rapide zunehmende Verdichtung internationaler Austauschprozesse von Gütern, Dienstleistungen und Kapital seit Mitte der 80er-Jahre des 20. Jahrhunderts. Seither lag die Zunahme des Welthandelvolumens für Güter und Dienstleistungen im Durchschnitt nahezu doppelt so hoch wie der Zuwachs der globalen Erstellung von Gütern und Leistungen. Parallel dazu ist das Volumen von Direktinvestitionen um das 15-fache gestiegen.1 – Es handelt sich zweitens um das rasante Wachstum der sich geradezu ungestüm entwickelnden internationalen Finanzmärkte. So nahm beispielsweise der Aktienhandel zwischen 1980 und 2005 um den Faktor 170 auf 51 Billionen US-Dollar zu. Der Anleihehandel erhöhte sein Volumen zwischen 1991 und 2005 von 3 auf 13 Billionen US-Dollar pro Jahr. Und der Umsatz des Devisenhandels wird für 2007 auf ca. 2.000 Milliarden Dollar pro Tag geschätzt, den höchsten historisch bislang erreichten Werten. Im Jahre 1980 lag der Devisenumsatz noch bei 120 Milliarden USDollar am Tag.2 – Drittens geht es um die Einsicht in die Tatsache, dass die intensiven wissenschaftlichen, publizistischen und politischen Debatten über die negativen Auswirkungen der Globalisierung sowie die mit diesen Debatten kor1 2

Vgl. Jacobeit (2006), 273–274. Vgl. Somov (2007).

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respondierenden weltweiten Protestaktionen (u. a. Seattle 1999, Prag 2000, Neapel 2001, Heiligendamm 2007) und die organisierte weltweite Gegenöffentlichkeit gegen die neue Weltwirtschaft (insbesondere „Attac“) das Fortschreiten der Globalisierung bislang nicht wirkungsvoll aufhalten konnten.3 – Viertens ist festzustellen, dass die Globalisierung der internationalen Wirtschaftsbeziehungen eine bewusst von der Politik inszenierte Weichenstellung für die Weltwirtschaftsbeziehungen der Zukunft darstellt.4 Dieser Paradigmenwechsel, weg von den vor den Unwägbarkeiten und Wettbewerbsgefahren des Weltmarktes relativ geschützten Sozialstaaten hin zum liberalisierten Außenhandel, zeichnete sich bereits mit den Zielvorstellungen von einer anwachsend offenen Weltwirtschaft auf dem ersten Weltwirtschaftsgipfel 1975 in Rambouillet ab. Signal gebend verstetigte dann die 1986 in Punta del Este begonnene Uruguay-Runde des GATT die Absichtserklärungen von Rambouillet. Die Welthandelsrunde bewirkte im Resultat nicht nur weitere Absenkungen von Zollbarrieren. Sie führte mit nachhaltiger Wirkung erstens zur Verständigung auf die Rücknahme nicht-tarifärer Handelshemmnisse im Bereich des grenzüberschreitenden Handels mit Gütern. Zweitens kam es zu Öffnungsvereinbarungen für den Bereich des Handels mit Dienstleistungen. Drittens wurden internationale Standards für den globalen Handel mit geistigem Eigentum vereinbart. Herausgefordert durch die Weltmarktkonkurrenz der asiatischen Tigerstaaten, ergriffen zudem Mitte der 80er-Jahre die Europäische Union und die USA Maßnahmen zur Wettbewerbssteigerung ihrer Wirtschaftsregionen. Dabei wurde in Europa nach den bitteren Erfahrungen der so genannten „Eurosklerose“, der innereuropäisch anwachsenden ökonomischen Desintegration der 70er-Jahre und dem damit einhergehenden Verlust von Wettbewerbsfähigkeit im Außenhandel, ein offensiver Pfad der Wettbewerbsrevitalisierung beschritten. Dieser führte Anfang 1993 zur Etablierung des EU-Binnenmarktes. Dadurch kam es im Europa der seinerzeit 12 EU-Mitgliedsstaaten zum massiven Abbau von Barrieren für den Güter-, Dienstleistungs-, Personen- und Kapitalverkehr. In den USA, in Kanada und Mexiko führte die Reaktion auf die sich kontinuierlich liberalisierende Weltwirtschaft zur Schaffung einer Nordamerikanischen Freihandelszone (NAFTA).5 Im gleichen Zeitraum leitete auch eine Vielzahl von Entwicklungsländern nachhaltige Liberalisierungen ihrer Außenwirtschaftsbeziehungen ein. Sie verordneten ihrer oft noch bis Mitte der 80er-Jahre favorisierten Wirtschaftspolitik der Import3 4 5

Vgl. dazu generell Lienen (2007), S. 48–60. Vgl. Varwick (2005), S. 161. Vgl. Andersen (2005), S. 583–591.

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substitution und Dissoziation (Abkoppelung von den Abhängigkeiten des Weltmarktes) eine spürbare Wende. Dabei setzten sie zunehmend, angelehnt an die Erfolge von Schwellenländern, auf Exportorientierung. Es ging ihnen also nunmehr um die aufwachsende Erlangung von internationaler Konkurrenzfähigkeit.6 Noch vor dem Ende des Ost-West-Konflikts war es vor allem China, das beispielhaft erfolgreich auf dem Weg der Weltmarktöffnung voranschritt und jetzt knapp drei Jahrzehnte später den Titel eines Exportweltmeisters anstrebt. Bereits 1979 hatte das sozialistische China mit der Errichtung von Sonderwirtschaftszonen für ausländische Direktinvestitionen eine neue, alternative Ausrichtung seiner ökonomischen Außenbeziehungen angekündigt und konsequent umgesetzt.7 – Fünftens ist schließlich zu konstatieren, dass mit der Globalisierung ökonomischer Austauschbeziehungen und der dadurch bewirkten Entstehung neuer, „grenzloser“ Wirtschaftsräume fortschreitende Prozesse der Entstaatlichung ökonomischer Ordnungspolitik einhergehen. Deren Regulierung ist mangels Verständigungsbereitschaft in der internationalen Politik allerdings bis heute rudimentär geblieben und begünstigt deshalb offensiv die Geburt weiterer kaum politisch steuerbarer neuartiger Spielarten ökonomischer Globalisierung.8 Alle genannten Tatsachen zeugen also keineswegs von einer Stagnation oder gar vom Ende der ökonomischen Globalisierung. Sie lassen vielmehr auf das Gegenteil schließen, nämlich die Fortschreibung der Globalisierung als eines sich verstetigenden Trends mit vermutlich Dekaden anhaltender Vitalität!9 Es handelt sich demgemäß um die Etablierung eines historischen Prozesses einer freihändlerisch (neoliberal) ausgerichteten Weltwirtschaft, dem kein Staat bzw. keine Wirtschaftsregion, die sich auf diese Prozesse eingelassen haben, kaum jemals wieder ohne die Strafe von Wohlfahrtsverlusten und von Ausgrenzungen im internationalen System entkommen können dürften.

II. Entwicklung der Weltwirtschaft zum neoliberalen Verflechtungssystem Mit dem Fortschreiten der ökonomischen Globalisierung setzten sich zunehmend wirtschaftskonzeptionelle Leitvorstellungen durch, die sich bereits in der Gedankenwelt früher liberaler Theoretiker finden und besonders mit den Namen Adam Smith (1723–1790) und Richard Ricardo (1772–1823) 6 7 8 9

Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.

Nuscheler (2004), S. 110–114. Weinert (2004), S. 460–461. dazu generell Leibfried/Zürn (2006). Straubhaar (2006), S. 2–3.

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verbunden sind. Smith, der Begründer der klassischen Nationalphilosophie, präzisierte seine Gedanken bereits im Jahre 1776 in seiner Publikation mit dem Titel: „An inquiry into the nature and causes of the wealth of nations.“ Im Zuge seiner theoretischen Reflexionen riet er der Politik eine „Doktrin“ eines freien internationalen Handels als ökonomisch einzig sinnvoll gebotene Handlungsoption für die Gestaltung von Außenwirtschaftsbeziehungen an. Zentrale Prämisse seiner Überlegungen war die Annahme, dass der Wohlstand von Nationen auf Arbeitsteilung und Marktwirtschaft beruhe. Arbeitsteilung sei die notwendige Voraussetzung, um Spezialisierungen optimal ausschöpfen zu können. Und die unsichtbare Hand des Marktes befördere wirtschaftliche Effizienz und sorge für einen harmonischen Interessenausgleich zwischen persönlichem und gesellschaftlichem Interesse. Dabei wird die Ökonomie als „eigenständiger“ Bereich betrachtet, der nicht einer staatlichen Logik untergeordnet sein dürfe. Dem folgend sei die Wirtschaft nicht auf nationale Ziele zu verpflichten, sondern auf die Steigerung von Wohlstand auszurichten. Dies werde im höchsten Maße erst für alle Beteiligten dadurch erreicht, dass wirtschaftliche Aktivitäten und wirtschaftliche Leistungsfähigkeit nicht Gefangene von Autarkieansinnen bzw. protektionistischen Mauern eines nationalen Wirtschaftsraumes blieben, sondern ihnen – im Gegenteil – möglichst neue, großräumig auszudehnende KapitalVerwertungsmöglichkeiten geboten würden.10 Wirtschaftsliberale Konzeptionen für die Weltwirtschaft beziehen ihre Attraktivität also aus einem allgemeinen Wohlfahrtsversprechen, das außer auf Spezialisierung unter den Bedingungen eines Marktmodells auf uneingeschränkt grenzüberschreitend organisierten Austauschprozessen beruht. Dadurch entwickeln sich – in der letztlich zu denkenden Prozessfinalität – die globalen Marktbeziehungen zu einem weltumspannenden Binnenmarkt ohne Grenzen für Güter, Dienstleistungen, Arbeit und Kapital. Noch stärker als bei Smith sind die Vorzüge des Freihandels von Ricardo herausgearbeitet worden. Anhand seines Konzepts der komparativen Kostenvorteile verdeutlicht er, dass ein Land, trotz unterstellter Unterlegenheit seiner Produktivität in allen Wirtschaftsbereichen, dann gar zu einer Wohlstandsteigerung aller Handelspartner beitragen kann, wenn es sich auf seine relativen Stärken konzentriert. Eine krasse Gegensicht erfährt das wirtschaftsliberale Freihandelsmodell bei den Vertretern des Merkantilismus. Diese lehnen eine Trennung zwischen Staat und Wirtschaft ab. Ihrer Auffassung nach ist die Wirtschaft vielmehr zentraler Bestandteil der Politik. Internationaler wirtschaftlicher Wettbewerb sei dementsprechend Teil des politischen Machterwerbs in der internationalen Staatenwelt und bedürfe deshalb der staatlichen Steuerung zur 10

Vgl. dazu im Überblick Blauberger/Mergler/Wagschal (2005), S. 166–167.

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Sicherstellung von Handelsbilanzüberschüssen und Staatsschätzen mit den Mitteln protektionistischer Eingriffe in die Außenwirtschaftsbeziehungen. Zudem sprechen die Vertreter des Merkantilismus dem freien Wettbewerb unter Markbedingungen die Fähigkeit ab, hinreichend gesellschaftlichen Wohlstand hervorbringen und öffentliche Güter bereitstellen zu können. Das merkantilistische Staatsverständnis beruht also sowohl nach innen wie auch nach außen hin ordnungspolitisch auf Steuerung und Interventionen. Die Zwecke der Sicherung von nationaler Wohlfahrt und internationaler Macht als Aufgaben der Politik erheben die Staatsraison zum ökonomischen Leitwert des Merkantilismus. Diese Auffassung grenzt sich dadurch nicht nur graduell, sondern konzeptionell strikt gegenläufig von den Leitbildern liberaler wirtschaftspolitischer Konzeptionen ab, die den rationalen Egoismus des Individuums in den Vordergrund stellen.11 Die Geschichte der internationalen Wirtschaftsbeziehungen weist seit Jahrhunderten beide Varianten der vorstehend skizzierten Typen denkbaren Staatsverhaltens auf. Im Spiegelbild der Entwicklungen vergegenständlichten sich einerseits wirtschaftliche Fähigkeiten erfolgreicher, innovativer Unternehmer. Diese drängten folgerichtig auf globale Marktausdehnung. Andererseits wirkten nachhinkende Bereiche der Wirtschaft gegenüber freihändlerischen Außenhandelsbestrebungen ablehnend. Mangels hinreichend bei ihnen aufgewachsener Wettbewerbsfähigkeiten forderten sie von ihren Regierenden protektionistischen Schutz gegenüber den Konkurrenten auf den Weltmärkten. Hinzu kam, dass politische Machtinteressen und Bündniskonstellationen zwischen den Außenhandelsstaaten immer wieder Konflikte, Krisen und Kriege heraufbeschworen, sodass schließlich Liberalisierungsfortschritte in den internationalen Wirtschaftsbeziehungen politischen Kalkülen, nicht aber dem Ziel der Wohlstandsoptimierung geopfert wurden. In solchen historischen Fällen (insbesondere den beiden Weltkriegen, den damit verbundenen Autarkiebestrebungen, dem Übergang vom Handel zur Beutewirtschaft der kriegsstiftenden europäischen Staaten) hat so die politische Strategie die ökonomische Rationalität vernichtend übersteuert. Einen weiteren tiefen Einschnitt stellte die Weltwirtschaftskrise ab 1929 dar. Anstatt auf kooperative Krisenbewältigung zu setzen, haben die seinerzeit führenden Industriestaaten die denkbare Bandbreite protektionistischer Abschottung genutzt und sich mittels des dadurch ausgelösten gravierenden Rückgangs des internationalen Handels auf nur noch ein Drittel zwischen 1929 und 1932 gegenseitig massiv in der sonst denkbaren Wohlstandsentwicklung geschädigt. Die Wettbewerbswirkungen des Freihandels verflachten auf diese Weise rapide. Die denkbar beste Kombination von Produktionsfaktoren wurde zur Utopie degradiert. Die Konsumentenmacht, unter Freihandels11

Vgl. Blauberger/Mergler/Wagschal (2005), S. 167–168.

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voraussetzungen die maximal mögliche Gütermenge und Produktqualität erwerben zu können, verfiel weitgehend wieder zum Denkgebäude liberaler Außenhandelstheorien. Neue Öffnungsperspektiven für liberalisierte Außenwirtschaftsbeziehungen wurden für lange Zeit nicht absehbar.12 Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts haben unterschiedliche Ausprägungen merkantilistischer Staatsführung die Außenwirtschaftsbeziehungen mehr oder weniger stranguliert. Befruchtet von den Ideen von Smith und Ricardo, forderte dann aber vor allem das britische Bürgertum ab 1840 die Aufgabe der hartnäckigen Schutzzollpolitik der Krone. In vorderster Front – unter Führung von Richard Coben – entwickelten sich die Manchesterliberalen zur Erfolgsbewegung für den Freihandel. Großbritannien war seinerzeit mit über 60 Prozent Welthandelsanteil die weltweit führende Außenhandelsnation. Cobens besonderer Erfolg bestand darin, dass er schrittweise auch die Arbeiterschaft für seine Freihandelsappelle gewinnen konnte. So entfiel u. a. mit großem Symbolwert der in Großbritannien besonders hohe Schutzzoll für importiertes Getreide, wodurch sich als Folge von Preissenkungen für Brot etc. die Lebensbedingungen der einfachen Menschen spürbar verbesserten. Zugleich war die Landwirtschaft gezwungen, ihre Produktivität zu erhöhen, um mit dem Ausland mithalten zu können. Dadurch kam es im großen Stil zur Freisetzung von Landarbeitern. Die negativen Effekte der Arbeitsplatzverluste konnten seinerzeit im Zuge der Arbeitsplatzbeschaffung durch das boomende englische Manufakturwesen kompensiert werden.13 Auf den Rückbau des britischen Protektionismus reagierten deren wichtigen Außenhandelspartner mit dem Zugeständnis von Gegenseitigkeit. Dadurch verbesserten sich die Exportchancen der Industrie Englands erheblich. Dem britischen Beispiel einer bedeutenden Zollreform folgten – mit Ausnahme Deutschlands und Frankreichs – zahlreiche weitere Staaten. Dies führte schließlich dazu, dass sich die Außenhandelsbeziehungen bis zum Ersten Weltkrieg sehr umfangreich liberalisierten. Dieser Grad an Öffnung für grenzüberschreitende Wirtschaftsbeziehungen wurde erst wieder mit der Liberalisierung der Weltwirtschaft der vergangenen zwanzig Jahre erreicht. Die Lehren aus den Folgen merkantilistischer Markt-, Spezialisierungs- und Wettbewerbsvernichtung konnten erst wieder nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges auf die internationale politische Agenda gesetzt werden.14 In Anlehnung an Jörg Huffschmid lassen sich für die Liberalisierung der Weltwirtschaft seit Kriegsende zwei Haupt- und eine Zwischenetappe ausmachen.15 Die erste Zeitphase bis Mitte der 70er-Jahre war geprägt durch 12 13 14 15

Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.

dazu auch Mildner (2004), S. 159–168. Kindleberger (1975), S. 20–55. Neuschander (2005), S. 591–598. Huffschmid (2000).

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Versuche und Erfolge kooperativer Globalisierung. Dazu gehörten neben der Schaffung wichtiger internationaler politischer Foren, wie in erster Linie die Vereinten Nationen zur Wahrung des Friedens und der Menschenrechte, auch die institutionalisierte Regelung der Weltwirtschaftsbeziehungen, einschließlich der Ambitionen auf eine gerechte Weltwirtschaftsordnung. Die Gründung des GATT, des IWF, der Weltbank sowie die Bestrebungen der UNCTAD 1976 zur Durchsetzung einer gerechteren Weltwirtschaftsordnung stehen beispielgebend für diese Globalisierungsanstrengungen. Die Zwischenetappe siedelt Huffschmid zwischen dem Beginn der 70erJahre und der Mitte der 80er-Jahre an. Diese Periode sei durch eine große Zahl von Berichten über globale Probleme, insbesondere von Hunger, Armut, Umweltzerstörung sowie Wasser- und Rohstoffkonflikten gekennzeichnet gewesen. Von exklusiver Bedeutung war dabei die Tatsache, dass die Problemartikulation nicht nur von internationalen Regierungsorganisationen ausging, sondern erstmals eine Vielzahl von Nichtregierungsorganisationen wirkungsvoll die internationale Bühne betreten haben, wie etwa der Club of Rome 1972 und die Brundland-Kommission 1987. Ihr damals erworbenes Standing wirkt noch heute massiv in die laufenden Prozesse fortschreitender Globalisierung hinein. Sie fordern vor allem, auf die Entstaatlichtung und damit die Entmachtung nationaler Regulierungspolitik mit einem Aufwuchs an Vereinbarungen internationaler Ordnungspolitik, insbesondere in Gestalt global wirksamer Sozial-, Umwelt- und Verhaltensvorgaben, zu reagieren. Allerdings zeichnen sich angesichts der Zurückhaltung oder auch Ablehnung vieler Staaten, sich auf eine institutionalisierte und verlässliche neue Ordnungspolitik für die Weltwirtschaft im Globalisierungszeitalter einzulassen, für die Menschheit nur bruchstückhaft neue Horizonte kooperativer Weltwirtschaftspolitik ab. Die dritte Etappe der Globalisierung trägt das Etikett des Neoliberalismus, mit dem die Nutzung der Weltwirtschaftsbeziehungen einem radikalen Paradigmenwechsel unterworfen wurde. „Neoliberalismus“ steht dabei für die Rückbesinnung wirtschaftswissenschaftlicher Schulen auf Konzeptionen angebotsorientierter Wirtschaftspolitik. Dabei wird als eine zentrale These die Auffassung vertreten, dass den Unternehmen (Anbietern) mit ihren Investitionsentscheidungen die herausragende Schlüsselrolle für die Schaffung von Arbeitsplätzen und die Steigerung allgemeiner Wohlfahrt zufällt. Deshalb sei es wichtig, den Unternehmen durch entsprechende politische Rahmenbedingungen die Voraussetzungen für günstige Investitionsbedingungen und internationale Wettbewerbsfähigkeit zu garantieren. Als markante Belege für neoliberale Rückbesinnungen, die sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zunehmend abzeichneten und dann auch politisch durchsetzten, stehen die wissenschaftlichen Arbeiten der Chicagoer Schule, ins-

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besondere Milton Friedmans, sowie die konsequent daran orientierten Wirtschaftspolitiken des amerikanischen Präsidenten Ronald Reagan (Amtszeit 1981–1989) sowie der britischen Premierministerin Margaret Thatcher (Amtszeit 1979–1990). In der Diktion Huffschmids vergegenständlicht sich in der Globalisierung „. . . ein vom Fortschritt der (I + K)Technologie und den Gesetzen der Ökonomie (Konkurrenz) vorangetriebener, objektiver und äußerst dynamischer Prozess, dessen hohes Tempo, unbeschränkte territoriale Reichweite und Anpassungsherausforderungen sich weder Staaten noch Gesellschaften, weder Unternehmen noch Individuen entziehen können . . .“16. Ziel dieser neuen Qualität internationaler Wirtschaftsbeziehungen sei nicht Kooperation, sondern Konkurrenz und somit „. . . nicht gesellschaftlicher oder individueller Wohlstand, sondern internationale Wettbewerbsfähigkeit.“17 Zwar unterstellen die Verfechter der neuen Weltwirtschaft in neoliberaler Lesart der Globalisierung einen Erfolgsprozess, in dessen langfristigem Verlauf auch die vorübergehend als Verlierer erscheinenden Menschen letztlich zu Wohlstandsgewinnern werden. Allerdings dürften die negativ von der Globalisierung betroffenen Menschen an den denkbaren Aufstiegsprozessen aus der Verlierer- in die Gewinner-Position in der Wirtschafts- und Gesellschaftsrealität krass unterschiedlich partizipieren, insbesondere abhängig von der weiteren Entwicklung ihrer eigenen Fähigkeiten wie auch derer ihrer Wirtschaftssektoren, Unternehmen und Staaten, sich der durch die Globalisierung entfachten Wettbewerbsdynamisierung erfolgreich stellen zu können. Und dies, ohne dabei weiterhin auf sozialen Flankenschutz durch die Politik, der in früheren Jahren in vielen Nationen komfortabel aufgewachsen war, hoffen zu können. Denn die Schaffung von mehr internationaler Wettbewerbsfähigkeit verlangt aus neoliberaler Sicht massive Eingriffe in soziale Besitzstände, die in den Stichworten Lohnsenkungen, Abbau von Lohnnebenleistungen, Eigenvorsorge, Senkung von Unternehmenssteuern, Deregulierung, Privatisierung und natürlich Liberalisierung aufrüttelnd zum Ausdruck kommen.

III. Erklärungsinteresse und analytisches Konzept Folgt man den Annahmen Huffschmids, dann handelt es sich bei der andauernden globalen ökonomischen Globalisierung um einen epochalen Quantensprung der Praxisumsetzung liberaler Außenwirtschaftsdoktrinen. Dies äußert sich vor allem in der stark fortgeschrittenen Entkoppelung von Wirtschaft und (sozialem) Interventionsstaat als der fundamentalen Voraussetzung zur entfesselten Durchsetzung des Marktprinzips als eines univer16 17

Vgl. Huffschmid (2000). Vgl. Huffschmid (2000).

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sellen Prinzips. Soziale Schutzwälle werden weltumspannend relativiert, die Bürger nicht nur als Wirtschaftssubjekte, sondern dadurch ausgelöst auch in ihren sonstigen mehrschichtigen Lebenswelten neuen Chancen und Risiken einer selbstbestimmten Existenzsicherung ausgesetzt. Die folgenden Ausführungen orientieren sich daran, die Auswirkungen der Globalisierung für das Individuum zu erfassen und zu bewerten. Zentraler Ansatzpunkt der folgenden Darlegungen ist die exemplarische Behandlung besonders dominanter Einwirkungen auf die Lebenswelten von Menschen. Ein solches analytisches Konzept fragt also nicht lediglich nach den wirtschaftlichen Auswirkungen der neuen Weltwirtschaft, sondern auch nach solchen Folgen für die Determinanten menschlichen Verhaltens, die zwar ökonomisch induziert werden, sich jedoch in der praktischen Lebensbewältigung weit ereignisreicher darstellen als nur aus wirtschaftlicher Perspektive erklärbar. Die folgenden Darlegungen beschreiben zunächst wesentliche Erscheinungsformen der neuen Weltwirtschaft. Dem folgen Analysen zu den Auswirkungen von ökonomischen Modernisierungsprozessen auf die Zukunftshorizonte individueller Selbstentfaltung, die schließlich für den Bereich der Bundeswehr vertieft werden.

IV. Ökonomische Globalisierung und menschliche Modernisierungsverarbeitung – exemplarische Problemskizzen Von der bereits genannten Annahme ausgehend, dass die Globalisierung sich zu einem unumkehrbaren historischen Prozess verstetigt hat, bedarf es für die individuelle Bewältigung der damit einherkommenden Herausforderungen eines gewandelten, modernisierten Sozialisationstypus des Menschen. Gefragt ist ein Mensch, der bildlich gesprochen, bereits mit der Muttermilch die Bereitschaft in sich aufsaugt, sich offensiv der globalen Wettbewerbsgesellschaft zu stellen. Denn in dem Maße, wie sich das Marktprinzip als universelles Prinzip durchsetzt, also weltweit Märkte geöffnet und miteinander verschmolzen werden, kommt es zur Konfrontation zwischen den Fähigkeiten der nationalen Wirtschaftsstandorte und der protektionistisch nicht mehr zu zähmenden, sich im Weltmaßstab ausdehnenden Konkurrenz.18 18 Zur umfangreichen Literatur zum Thema „Globalisierung“ siehe u. a. Donges/ Menzel/Paulus (2003), Bemerburg/Niederbacher (2007), Schirm (2006), Beck (2007), Apolte (2006), Smith (2006), Osterhammel/Petersson ( 2006), Budzinski/ Kerber (2003), Rauscher (2007), Ekardt (2007), Lütge (2007), Hantel-Quitmann/ Kastner (2004), Neuhaus (2004) und Kempe/Sonnenschein (2003).

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Dabei beschränken sich die Wettbewerbswirkungen nicht nur auf die Wirtschaft. Vielmehr wirken sie gleichzeitig mit zunehmender Aufforderungskraft in alle Bereiche der Gesellschaft hinein und erzwingen dort fundamentale Modernisierungsbeiträge. Die Penetrationswirkungen der Globalisierung nisten sich auf diese Weise tief in tradierten Lebenswelten ein und minimieren die Nischen bewahrender menschlicher Lebensführung. Die Befähigung des Menschen zur erfolgreichen Selbstbehauptung und -entfaltung im Zeitalter der Globalisierung bleibt unterentwickelt, wenn die Horizonte zeitgemäßer Sozialisation lediglich auf Reaktion, auf Anpassung abstellen. Im Gegenteil: Es bedarf solcher Personen, die die Prozesse der Globalisierung antizipierend angehen, in visionären Zukunftsszenarien denken und dabei zugleich den Willen ausprägen, zur kreativen, durchsetzungsstarken Elite aufzusteigen. Und dies nicht nur in der Wirtschaft, sondern zugleich in den vielfältigen Rollen, die es als Vertreter organisierter Interessen im Zuge des notwendigen Umbaus der Gesellschaft zu entfalten gilt. Die Globalisierung vollzieht sich mit geradezu atemberaubendem Tempo. Dabei üben die äußert kurzen Innovationszyklen bei der Erneuerung und Effizienzsteigerung der Informationstechnik als weltumspannender Querschnittstechnologie die herausragende Katalysatorenfunktion aus. Daneben begünstigen ausgeklügelte neuartige Logistiksysteme, immer preiswerter nutzbare und leistungsfähige Transportkapazitäten die grenzüberschreitenden Möglichkeiten ökonomischer Raumerschließung. Die dominierende Steuerung der internationalen Güter-, Dienstleistungs- und Kapitalströme sowie die Regie der internationalen Finanzmärkte liegen vornehmlich in den Händen von Großunternehmen, die ihre Ziele als Weltmarktstrategien formuliert haben („Global Players“). Anders gesagt: Bei ihnen konzentrieren sich in erster Linie die Fähigkeiten, Waren, Dienstleitungen und Investitionen für einen globalen Markt zur Verfügung stellen und Produktionsketten internationaler Spezialisierungsprozesse erfolgreich vernetzen zu können. Diese Firmen sind traditionell überwiegend aus Multinationalen Unternehmen hervorgegangen, die teilweise schon seit nahezu 150 Jahren aus ihrem Ursprungsland heraus agierend internationale Geschäftsbeziehungen aufgebaut haben. Ihrem oft patriotischen Selbstverständnis nach sind sie, trotz bereits lange andauernder Internationalisierung ihrer wirtschaftlichen Aktivitäten, vielfach generöse Bindungen gegenüber dem politischen und sozialen System ihres Heimatlandes eingegangen. Das zeigte sich etwa in Form von Zugeständnissen wohlwollender Sozialleistungen, nationaler Besetzung ihrer Vorstände und der Aufrechterhaltung großer Anteile nationaler Aktienbesitzstreuung. Insbesondere in den letzten beiden Jahrzehnten haben sich diese ursprünglich konstitutiven Bestimmungsgrößen in der Unternehmensausrichtung grundlegend gewandelt: Viele Großunternehmen sind immer mehr zu

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so genannten „vaterlandslosen Gesellen“ geworden. Die Aktienbeteiligungen sind längst international breit gestreut, die Führungseliten rekrutieren sich aus internationalen Spitzenkräften, die Unternehmensziele sind einem möglichst hohen „shareholder value“ verpflichtet. Letzteres setzt optimale Wettbewerbsfähigkeit im Weltmaßstab voraus. Die Multis wandelten sich so zu Transnationalen Unternehmen. Deren „. . . Organisationsform ist ein Netzwerk mit einer Reihe wechselseitig abhängiger und geografisch verteilter Zentren, die von gemeinsamen Strategien, Normen und einem intensiven Austausch von Informationen, Erfahrungen und Ressourcen zusammengehalten werden.“19 Rückwärtsgewandte „Sozialromantik“ hat in der hart umkämpften internationalen Konkurrenzwelt Transnationaler Unternehmen keinen Platz mehr. Die Verhältnisse haben sich vielmehr umgekehrt: Es sind heute vor allem die globalen Unternehmen, die die Nationalstaaten massiv unter Reformdruck setzen und ihnen Standortbedingungen zu diktieren versuchen, die ihrer Kapitalverwertung am nützlichsten sind. Die globalisierte Wirtschaft ordnet sich so Staat und Gesellschaft unter, speziell mit der permanent virulenten Strafandrohung von Investitionsreduzierungen, Produktionsverlagerungen oder gar der Abwanderung des Hauptfirmensitzes. Zwar hat der Wandel im Selbstverständnis von Weltunternehmen und die Tatsache, dass sie es sind, die den internationalen Transfer von Investitionsmitteln, Technologie und Managementfähigkeiten vorantreiben, die Dynamik der Globalisierung und damit im Allgemeinen die Chancen auf mehr Wohlfahrt erhöht. In den Lebenswelten in den betroffenen Wirtschaftsregionen erhöht sich umgekehrt allerdings dadurch die Unsicherheit durch Ungewissheit über die Dauerhaftigkeit von Firmenstrategien und Standortverlässlichkeit. Jeder muss also letztlich jederzeit mit gravierenden Einschnitten in der Ausrichtung von Firmenpolitiken und mit globalen Neuorientierungen rechnen. Einfach qualifiziertes Humankapital mit geringer Mobilität und eingeschränkter mentaler Flexibilität weist in solchen Fällen höchste Verletzlichkeiten ihrer ökonomischen wie auch der damit zusammenhängenden sonstigen persönlichen Entfaltungsmöglichkeiten auf. Hingegen erhöht die Zugehörigkeit zu solchermaßen auf Erfolg ausgerichteten Unternehmen die Karriere- und Einkommensmöglichkeiten gut ausgebildeter, wendiger, aufstiegsorientierter und mobiler Arbeitskräfte. Dementsprechend entwickeln sich die Einkommen zwischen den Beschäftigten in der globalen Wirtschaftswelt weiter scherenartig auseinander. Besondere Gestaltungsmacht erwächst den transnationalen Unternehmen aus ihrer exklusiven Fähigkeit, dass sie es sind, die mit ihren Direktinvesti19

Bürklin (2000), S. 24.

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tionen die Weichen für zukünftige erfolgreiche Standortentwicklungen stellen. Dies führt zu einem Wettkampf der Nationalstaaten um die Gunst der Global Players, wobei letztere die Macht gewinnen, über den zukünftigen Wohlstand weiter Wirtschaftsräume entscheidend mitzubestimmen. Anders gesprochen: Sie sind aktive und beherrschende Spieler der Zuweisung und Neuordnung weltweiter Lebenschancen. Dies hat dort positive Entwicklungseffekte und dient den Menschen besonders solcher Regionen, in denen als Vorleistung für die Zuweisung von grenzüberschreitenden Investitionen aufholende Entwicklungsprozesse, etwa durch Neubau von Infrastruktur und Schaffung von mehr Bildungsmöglichkeiten, induziert werden. Es wirkt sich aber dort spürbar nachteilig aus und führt zur Entwertung denkbarer Lebenschancen, wo der Konkurrenzkampf zwischen aufholenden Ländern und den etablierten Sozialstaaten von letzteren nur um den Preis des Sozialabbaus und der dadurch bewirkten Reduzierung von Standortkosten gewonnen werden kann. Dieser Wettkampf ist von den etablierten Sozialstaaten in den Fällen nicht zu gewinnen, in denen krasse Lohnunterschiede für einfach qualifizierte Tätigkeiten die Verlagerung von Produktionsstätten in Billiglohnländer von vornherein nicht aufhalten lassen. Der erfolgreiche Eintritt der südostasiatischen Tigerstaaten in die Weltwirtschaft, aber auch Chinas, Indiens und zahlreicher osteuropäischer Transformationsländer beruht bislang zu großen Teilen auf den Lohndifferenzen und dem offenen Zugang zu anderen Volkswirtschaften. Längst aber beruhen die Weltmarkterfolge der genannten Länder nicht mehr nur auf dem Export von Billigprodukten. Wie die Beispiele der prosperierenden Software-Standorte in Indien, die Erfolge der Investmentbanker am Bankplatz Singapur und die revitalisierte russische Raumfahrtindustrie zeigen, ist nicht nur die einfache Arbeit dem internationalen Wettbewerb ausgesetzt, sondern auch die der Hochqualifizierten. Die Bundesrepublik Deutschland befindet sich bei der Sicherung von Arbeitsplätzen damit nicht mehr nur in einem verschärften Wettkampf mit den Konkurrenten aus der Welt der OECD-Länder, sondern zunehmend auch der aufholenden Länder. Die Qualifikation der Arbeitnehmer, die Optimierung ihres Wissens und ihrer technischen Begabungen, aber auch der Ausbau ihrer Führungseigenschaften bzw. Managementfähigkeiten werden in der Zukunft, neben den strukturellen Erwartungen an die staatlichen Vorleistungen zur Schaffung wettbewerbsfähiger Standorte, in vorderster Linie darüber mitentscheiden, ob die Attraktivität einer Wirtschaftsregion als internationaler Investitionsstandort zu halten und – erfolgreich moderne Standortentwicklungen antizipierend – weiter auszubauen ist. Trotz ihrer Macht, von den Nationalstaaten zunehmend durchsetzungsfähiger attraktive Standortqualitäten abfordern und dadurch die Vorteile der

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privaten Wirtschaft gegenüber den Gesellschaften optimieren zu können, stehen die globalen Unternehmen selbst zugleich in einem permanent sich verschärfenden Konkurrenzkampf, der geradezu die Gestalt eines Hyperwettbewerbs annimmt. Führungsentscheidungen, Innovationsziele, Organisationsabläufe und die Outputerfolge werden tagtäglich auf den Prüfstand des Vergleichs ihrer Leistungs- und Vorsprungsfähigkeiten mit den weltweiten Wettbewerbern gestellt. Verfällt die Wettbewerbsfähigkeit, wird die gesamte Organisationswirklichkeit von Unternehmen zur Disposition gestellt. Die Folgen sind zumeist Fusionen, neue strategische Allianzen, Standortverlagerungen einzelner Unternehmensbereiche bis hin zur Abwanderung des Firmensitzes in attraktivere Niedrigsteuerländer. Mit solchen Transformationsprozessen verbinden sich tief greifende Einschnitte in die Erwerbsbiografien, sozialen Sicherheiten und Einkommen betroffener Mitarbeiter. Dazu zählen u. a. die Aussonderung aus dem Arbeitsleben als Frührentner, die Neuzuweisung von Arbeitsplätzen in fremden Unternehmensregionen, die Herausforderung, sich auf neue Unternehmenskulturen einlassen zu müssen, die Reduzierung von freiwilligen Sozialund Bonusleistungen und die Erfahrungen von wachsender Ungewissheit in der Beschäftigungswelt globaler Unternehmen. Individuelle Erfolgsaussichten halten solche Entwicklungen immer mehr nur für den bereit, der sich mental, seelisch stabil, flexibel und mobil auf die neuen Unternehmenswelten einstellen kann, wobei ein ausgeprägt hohes und durch lebenslanges Lernen weiter fundiertes Qualifikationsniveau als Beschäftigungsbedingung vorausgesetzt wird. Von diesen Lagen sind nicht nur große Unternehmen betroffen, sondern auch Klein- und Mittelbetriebe und eine zunehmende Schar von Freiberuflern. Diese Wirtschaftssubjekte sind im Zuge der durch den internationalen Wettbewerbsaufwuchs erzwungenen Reorganisation von Großunternehmen (Outsourcing) und der damit einhergehenden Neuordnung internationaler Arbeitsteilung verstärkt in die Entwicklungs- und Produktionsketten von Großunternehmen integriert worden: Die neue internationale Arbeitsteilung vergegenständlicht sich in einer Spezialisierung nach Tätigkeiten, während die traditionelle Arbeitsteilung auf Spezialisierung nach Produkten beruhte. Dadurch hat sich in den Unternehmen die Fertigungstiefe von industrieller Produktion, aber auch die der Zusammenstellung kombinierter Dienstleistungen verringert. Mehr und mehr zersiedelten sich die Erstellungsprozesse von Produkten und Leistungen zu einer Kette von Vorprodukten, die in den Unternehmen mit Entwicklungsführerschaft allenfalls nur noch ihre letzte Werkbank bzw. den letzten Schreibtisch finden. Die Folgen waren zum einen für die Vorlieferanten und Zuarbeiter, dass sie Souveränitäten selbst bestimmter Firmenzielsteuerung den mächtigen Auftraggebern und damit neuen Risiken nicht nur nationaler, sondern auch der Weltmarktkonkurrenz opfern mussten. Bei den Auftraggebern von Vorpro-

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dukten löste die Ausgliederung von Fertigungstiefen zum anderen Entlassungen und Produktionsverlagerungen aus. Alles zusammen bewirkte gravierende Einschnitte in die Lebenswelten betroffener Individuen. Diese erhielten im günstigsten Falle Chancen auf Übernahme durch neue Arbeitgeber, wurden Beschäftigungsgesellschaften zugewiesen oder mit Abfindungen in neue Herausforderungen der Arbeitsplatzsuche entlassen. Diese Abwicklungsprozesse überkommener Beschäftigungssituationen waren in der Regel mit Neuverträgen und Gehaltskürzungen durch neue Arbeitgeber bzw. in den Beschäftigungsgesellschaften verbunden. Sie schlugen somit nicht nur auf die Bedürfnisentfaltung der Menschen in den privaten Haushalten nachhaltig durch, sondern sind zugleich ein wesentlicher Auslöser reduzierter Binnennachfrage. Dies bedeutet für viele Volkswirtschaften seit Jahren, dass die Globalisierung von vielen Menschen nicht als Wohlstandzuwachs, sondern als Wohlstandverlust wahrgenommen wird. Anderseits aber verbessert gerade die Globalisierung der Märkte die Lebensbedingungen der Menschen. Ihnen steht nicht nur ein deutlich erweitertes Güterangebot zur Verfügung. Die Internationalisierung von Spezialisierungsprozessen – gepaart mit einem extensiven globalen Wettbewerb – ermöglicht es ihnen, höhere Produktqualitäten zu günstigeren Preisen zu erwerben. Zudem beschleunigt die durch die Globalisierung ausgelöste Reduzierung von Produktlebenszyklen den Fortschritt und die Erhöhung von Produktdifferenzierungen und damit von Angebotsvielfalt. Die Wahrnehmung dieses Zuwachses an Konsumentensouveränität dürfte allerdings solchen Beschäftigten und ihren Angehörigen nur schwer zu vermitteln sein, die durch die Vernichtung ihrer Arbeitsplätze erst die schöpferische Neuschaffung überlegener Wertschöpfungsprozesse an anderen Ecken der Welt ermöglicht haben. Wohlstandeffekte ergeben sich weiter dadurch, dass die Globalisierung dynamischer Auslöser einer vermehrten Güterproduktion und Leistungserstellung ist. Dadurch entstanden bereits und entstehen weiterhin weltweit Millionen neuer Arbeitsplätze. Es kommt dabei aber nicht nur zu einem Aufwuchs von Arbeitschancen in den Aufhol- bzw. Billiglohnländern, sondern auch in den etablierten Welthandelsstaaten (allen voran die OECDLänder), die mit ihren Innovationsstärken, Lernprozessen aus der Produktentwicklung und überlegenen Erfahrungen in Marketing und Vertrieb punkten. Sie werden, insbesondere im Anlagenbau, im Maschinenbau, in der Erstellung von Transportinfrastruktur und durch die Beschaffung benötigter Investitionsmittel über die internationalen Finanzmärkte, quasi automatisch Profiteure neuer Unternehmensaktivitäten in allen fernen Winkeln der Erde. Beispielsweise wäre ohne die Leistungsfähigkeit des deutschen Maschinen-

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baus, dem bei zahllosen solcher Produkte führenden Weltmarktproduzenten, der Aufschwung Südostasiens und Chinas zu weltmarktfähigen Anbietern preiswerter Massengüter nicht denkbar gewesen. Da im deutschen Maschinenbau die hohen Spezialisierungen zu großen Teilen bei Klein- und Mittelbetrieben angesiedelt sind, entfalten sich positive Arbeitsmarkteffekte der Globalisierung nicht nur in Großunternehmen, sondern auch unterhalb solcher Unternehmensgrößen. Gleiche Feststellungen lassen sich für die zumeist klein- und mittelständisch beheimateten Import-, Export- und Logistikfirmen treffen. Die Teilhabe an den denkbaren Wohlstandsversprechen der Globalisierungsbefürworter lässt sich allerdings nur dann nachhaltig auf den Weg bringen, wenn einerseits die unabweisbar dadurch ausgelösten politischen Reformen eingeleitet und durchgesetzt werden, die die Wirtschaft zur Erhaltung und zum Ausbau ihrer Wettbewerbsstärke im Konkurrenzkampf der Welthandelsländer benötigt.20 Andererseits ist die politische Reformvollendung aufs Engste mit der Fähigkeit gekoppelt, die bislang skeptischen Meinungsträger des gesellschaftlichen Traditionalismus auf dem Weg ins Zeitalter der Globalisierung Mentalitäten verändernd und handlungsoffensiv mitzunehmen.21 Dieser Umbau des Hergebrachten hat, etwa bezogen auf die Bundesrepublik Deutschland, nicht nur erhebliche wirtschaftskonzeptionelle Konsequenzen. Er ist parallel dazu und dies voraussetzend mit tiefen Einschnitten in die Besitzstände und Gewohnheiten von Milieus, organisierten Interessen, privaten Lebenswelten und somit schließlich den Möglichkeiten individueller Selbstentfaltung und der Erfüllung gesellschaftlicher Verpflichtungen als Bedingungsrahmen menschlichen Handelns verbunden.22 Kern der Reformen ist es, die Wertschöpfungsbeiträge, die die nationalen Standortfaktoren für die globale Wirtschaft zu leisten vermögen, zu optimieren. Tätigkeiten mit hohem Wertschöpfungsanteil vollziehen sich an Standorten, an denen ausreichend hoch qualifizierte Fachleute zur Verfügung stehen. Die intellektuellen Fähigkeiten der Beschäftigten, ihr Wissen und die Umsetzungsroutine im Team innovativer Entwicklungsprojekte werden zu einem Erfolgsschlüssel in der Globalisierung. Dies verlangt hohe Investitionen in Vorschule und Schulbildung, insbesondere in Gestalt neuer schulischer Betreuungsformen benachteiligter Bildungsreserven, und den Mut zu neuen Pflichtfächern (Wirtschaftslehre/ Technik/ Führungs- und Organisationslehre) sowie konsequentes Training problemlösenden Denkens und von Teamfähigkeiten. 20 21 22

Vgl. auch Heise (2005), S. 230–237. Vgl. Apolte (2007), S. 59–64. Vgl. auch Wienert (2007), S. 388–390.

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Zudem gehört die gesamte Wissenschaft auf den Prüfstand ihrer Leistungsfähigkeit. Reformen der Bildungsabschlüsse, Studienzeitverkürzungen, Effizienzsteigerungen im Lehr- und Forschungsbetrieb, aber auch die private Bereitschaft, durch Studiengebühren in die Höherwertigkeit individueller Qualifikation zu investieren, gehören zur Erneuerungsagenda. Gefordert ist auch die Forschungs- und Technologiepolitik. Die Politik ist dabei nicht in althergebrachter Weise als Subventionsstaat gefragt. Dies würde Bumerangeffekte in anderen Regionen der Welt heraufbeschwören und neuen Protektionismus begründen. Vielmehr kommt es darauf an, in Wissenschaft und Forschung politisch solche neuen Rahmenbedingungen zu schaffen, die innovative Pfade intensiver Zusammenarbeit zwischen Wirtschaft und staatlich verantworteter Forschung in Form von leistungsstarken Kompetenzzentren ermöglichen. Dabei gilt es, sich auf jene Bereiche der Wirtschaft zu konzentrieren, die, wie etwa die Mikroelektronik, Softwareentwicklung, Medizintechnologie und Fertigungstechnik, als besonders zukunftsträchtig gelten. Dies wären zugleich wesentliche Vorleistungen, um die Abwanderung wissenschaftlichen Nachwuchses in konkurrierende Länder abzuschwächen.23 Standortstärke wird auch dadurch erhalten, dass die Steuer- und Wirtschaftspolitik einer grundlegenden Reform unterzogen wird. Der Steuerwettbewerb ist weltweit entbrannt, die weitere Senkung von Unternehmenssteuern ist unabweisbar. Kompensation kann nur dadurch geschaffen werden, dass der Staat die standortgebundenen Produktionsfaktoren stärkt und sich dadurch neue Einnahmequellen erschließt. Neben den Investitionen in Bildung und Forschung verlangt dies ganz wesentlich auch die Schaffung einer Infrastruktur moderner Verkehrs- und Kommunikationsnetze. Im Angesicht der unausweichlichen Steuersenkungen erhöht sich gleichzeitig der Druck auf die Politik, die Kosten des Sozialstaates zu reduzieren und dem Bürger mehr Eigenverantwortung für medizinische Vorsorgemaßnahmen und das Alter abzuverlangen. Die mit diesen Reformmaßnahmen vorausgesetzten mentalen Umbrüche bezüglich der Einsicht der Menschen in die verringerte Leistungsfähigkeit der etablierten Sozialstaaten dürften aber nur dann Erfolge haben, wenn sich neue Leitwerte verbreiten. Dies korrespondiert nicht nur mit der Fähigkeit zur Einsicht in modifizierte, neuen Lagen angepasste und abgeschmolzene Besitzstandserwartungen bei den Trägern organisierter öffentlicher Interessen. Es verlangt vielmehr eine erweiterte Partizipationsbereitschaft bei all jenen Kräfte, die den Sozialisationstypus des aufgeschlossenen Menschen im Zeitalter des Neoliberalismus verkörpern und bereit sind, sich den damit verbundenen Herausforderungen offensiv zu stellen. Sie müssen be23

Vgl. Bürklin (2000), S. 17–19.

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reit sein zu einem Marsch durch die Foren öffentlicher Meinungs- und Willensbildung, in denen politische Entscheidungen thematisiert, diskutiert, vorbereitet und durchgesetzt werden. Nicht die Lethargie bereits langjährig betonter Politikverdrossenheit ist das Gebot der Stunde, sondern der aktive Bürgerdiskurs über die Herausforderungen der Zukunft in der ökonomischen Globalisierung und die Haltung des eigenen Staates bzw. der eigenen Gesellschaft dazu. Zweifelsohne muss mit dieser Debatte auch eine differenzierte Klärung der Abhängigkeiten und Gefahren sowie der Begrenzung von Praktiken unfairen Wettbewerbs einhergehen, die die globale Ausdehnung der Wirtschaftsbeziehungen mit sich bringt. Abhängigkeiten ergeben sich dadurch, dass Krisen in weit entfernten Wirtschaftsregionen, aber auch wirtschaftspolitische Entscheidungen in Zeitalter der Globalisierung kosmopolitische Relevanz erhalten und vom einzelnen Welthandelsstaat nicht mehr folgenlos abgewiesen werden können. Die Ausstrahlungen der aktuellen Bankenkrise, die ausgehend von den Insolvenzen von Hypothekenbanken in den USA inzwischen gravierende Auswirkungen auch für europäische Banken angenommen haben, sind ein beredetes Beispiel. Beispiele für globalisierte Gefahren sind die Verbreitung der asiatischen Vogelgrippe durch Hähnchenfleischexporte oder der Export von mit gesundheitsschädigenden Quecksilberrückständen belasteten Spielwaren aus China. Unfairer Wettbewerb entsteht beispielsweise dann, wenn durch verdeckte Subventionen, Lohndumping, Korruption oder durch die Duldung der Verletzung ausländischer Patentrechte einseitige Wettbewerbsvorteile entstehen. Diese Angelegenheiten sind Gegenstand vielfältiger Medienberichterstattung. Und da es zur Praxis der Medien gehört, spektakuläre Fehlentwicklungen besonders publikumswirksam zu präsentieren, verstärkt sich so die in der Wahrnehmung vieler Menschen vorhandene Globalisierungsskepsis. Es ist deshalb eine besondere Herausforderung für die Vertrauensbildung im Verhältnis von Bürgern und Staat im Globalisierungszeitalter, die Unwägbarkeiten von fernen ökonomischen Ereignisabhängigkeiten, Gesundheitsrisiken und unfairen Wettbewerbspraktiken mit ordnungspolitischen Vereinbarungen wirkungsvoll einzuhegen. Dazu bedarf es wohlwollender kooperativer zwischenstaatlicher Verhandlungen und der Bereitschaft zu internationalen Verträgen. Das Aushandlungsspektrum vertrauensbildender Begleitung des weiteren Globalisierungsprozesses ist noch immer weit: Dazu gehört insbesondere die erfolgreiche Beendigung der Doha-Runde der WTO, also die Fortschreibung einer zukunftsfähigen und fairen Welthandelsordnung,24 die Schaffung einer Risiken und akute Krisen minimierenden Währungs- und Finanzord24

Vgl. Cottier (2005), S. 67–71 und Hauser (2005), S. 71–75.

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nung,25 die Verhandlung einer globalen Sozialordnung und Umweltordnung und die Frage der gerechten Teilhabe der Staatenwelt an den versprochenen Wohlstandswirkungen der ökonomischen Globalisierung.26 Denn noch immer handelt es sich bei der Intensivierung der grenzüberschreitenden Austauschprozesse von Gütern, Leistungen und Kapital um einseitig die Industrieländer begünstigende Transaktionen. Auf diese entfallen bei einem Weltbevölkerungsanteil von ca. 15 Prozent und ca. 58 Prozent der weltweiten jährlichen Wertschöpfung 75 Prozent aller Welthandelsanteile. Hingegen lässt sich den Entwicklungsländern, die ca. 78 Prozent der Weltbevölkerung stellen, nur ca. 21 Prozent des Weltexports zurechnen.

V. Ökonomische Globalisierung und Bundeswehr Es entspricht der These von einer engen Verflochtenheit von Wirtschaftsentwicklungen und herausfordernden Auswirkungen auf die Gesellschaften, dass sich dies auch in allen bedeutenden Subsystemen einer Gesellschaft widerspiegelt. Dies gilt speziell für epochale Entwicklungsschübe. Für den Bereich der Bundeswehr lassen sich solche Wirkungen – exemplarisch verdeutlicht – insbesondere mit Bezug auf den (zukünftigen) Auftrag, den Haushalt, die Personalentwicklung, die technische Ausstattung und das Führungsmanagement feststellen. Wie dargelegt, sind Entwicklungsländer in der Weltwirtschaft noch immer marginalisiert. Und dies trotz der in den vergangenen Jahren teilweise jährlich deutlich gestiegenen Zuwächse ihrer Sozialprodukte. Die Öffnung ihrer Volkswirtschaften für ausländische Direktinvestitionen, eine zentrale Voraussetzung für Entwicklung, sowie die Verbesserung von Infrastruktur, Bildung und Staatsführung, haben zwar in zahlreichen Ländern optimierte Ausgangspositionen für die Standortwahl von ausländischen Unternehmen geschaffen. Dies hat jedoch noch nicht zu einem nachhaltigen Entwicklungsbeitrag in der Gesamtheit geführt.27 Denn noch immer sind weite Räume der unterentwickelten Welt deshalb aus dem Weltwirtschaftssystem ausgegrenzt, weil korrupte, als Kleptokratien angelegte Systeme (allen voran in Afrika) zum Zwecke der Ausbeutung und nicht mit dem Ziel der Wohlfahrtentwicklung für die Bevölkerung betrieben werden. Die Entstehung von Gewaltökonomien, Hunger und die Ausdehnung informeller Märkte treten an die Stelle geordneter Staatsführung mit zweckmäßig koordinierter ökonomischer Ordnungspolitik und Wohlstandsperspektiven 25 26 27

Vgl. Dieter (2003), S. 17–26. Vgl. Sautter (2004), insb. S. 152–286. Vgl. Scholz (2003), S. 4–10.

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für die Bevölkerung. Die Unterentwicklung in diesen Lebensräumen verstetigt sich.28 Angesichts der Tatsache also, dass die Triebkräfte der globalen Ökonomie bis heute nicht die ihr oft zugeschriebenen Leistungsfähigkeiten eines weltumspannenden Hoffnungsträgers von Entwicklung hervorgebracht haben, ist davon auszugehen, dass es auch in der Zukunft zu Einsätzen der Bundeswehr kommt. Denn Unterentwicklung und die Wahrnehmung von unaufholbar erscheinenden Modernisierungsrückständen ist der Nährboden insbesondere für Staatszerfallsprozesse, dadurch bewirkte Bürgerkriege, humanitäre Katastrophen und weltweite Flüchtlingsbewegungen. Bundeswehreinsätze sind somit Teil des Reparaturbetriebs des Versagens von Entwicklungszusammenarbeit und internationaler Kooperation zwischen reicher und armer Welt. Zugleich sind das Tempo und die schnelle räumliche Ausdehnung, mit der die globale Ökonomie in bisher relativ stark voneinander abgeschottete Kulturräume eindringt, Ursache neuer Konflikte. Denn besonders in wirtschaftlich wenig entwickelten Ländern mit insgesamt ausgeprägtem Modernisierungsrückstand haben hergebrachte und oft religionsfundierte Lebensformen teilweise seit Jahrhunderten traditionellen Bestand. Das drängelnde Vordringen der neuen Weltwirtschaft in solche Räume beflügelt kulturelle Bedrohungsängste, die sich heute u. a. in Gestalt terroristischer Kampfansagen an die moderne Staatenwelt entladen. Der durch die Globalisierung stark dynamisierte internationale Systemwettbewerb erzwingt massive Anstrengungen der Staaten, die standortgebundenen Produktionsfaktoren und die Infrastruktur auf die Zukunftserfordernisse der weltweiten Konkurrenzökonomie erfolgreich vorzubereiten. In der Bundesrepublik Deutschland sind die dafür erforderlichen Haushaltsmittel angesichts hoher Staatsverschuldung, der Begrenzung der staatlichen Neuverschuldung im Euroland auf maximal drei Prozent, der Steuermindereinnahmen als Folge der in den letzten Jahren erheblich reduzierten Unternehmenssteuern sowie der geringeren Spielräume für weitere steuerliche Mehrbelastungen von privaten Haushalten knapp. Ziele öffentlicher Investitionen in die zukunftsgerichtete Standortsicherung konkurrieren deshalb hart mit den Haushalten anderer Ressorts. Für die Bundeswehr ist aus dem Grunde alsbald kaum mit der Zuweisung geforderter, deutlich höherer Haushaltmittel zu rechen.29 Dies setzt die Bundeswehr angesichts der hohen Ausgaben für die Ausrüstung und Durchführung von Auslandseinsätzen unter Kostensenkungsdruck, der der Armee weiterhin erhebliche Rationalisierungsbeiträge abverlangt. Neue Standortreduzierungen, die Auslagerung von Leistungsprozessen in die private Wirtschaft, die Streckung 28 29

Vgl. Hippler (2005), S. 3–11. Vgl. Hubatschek (2006), S. 12–15.

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von Rüstungsprogrammen etc. bleiben auch zukünftig unumgänglich und werden die Bundeswehr weiterhin einer personell und strukturell einschneidenden Transformation ihrer Organisationswirklichkeit aussetzen. Der starke Geburtenrückgang in Deutschland verknappt in wenigen Jahren das Angebot an qualifiziertem Führungsnachwuchs erheblich.30 Und diesen benötigen Wirtschaft und öffentlicher Dienst, einschließlich der Bundeswehr, gleichermaßen. Besonders attraktive Aufstiegskarrieren bieten solche Unternehmen, die erfolgreich global agieren und die mit ihren oft „amerikanisierten“ Gehalts- und Karriereangeboten einmalige soziale Aufstiegs- und Einkommensversprechen offerieren. Erfolgt die individuelle Berufswahl für die Offizierslaufbahn nicht lediglich auf der Grundlage leidenschaftlicher „Berufung“, sondern als rationale Auswahl zwischen konkurrierenden Entwicklungsperspektiven, gerät die Bundeswehr angesichts ihrer im Vergleich zur Wirtschaft nachteiligeren Gegebenheiten von Entlohnung und Zuweisung von Sozialprestige unter wachsenden Konkurrenzdruck um den quantitativ wie auch qualitativ zu sichernden Führungsnachwuchs. Hinzu kommt, dass die Wirtschaft ihrem Führungsnachwuchs bereits im frühen Alter beachtliche Karrieren anbieten kann, während bei der Bundeswehr der Aufstieg zum Stabsoffizier in der Regel erst im vergleichbar höheren Lebensalter möglich ist.31 Attraktiv ist die Bundeswehr allerdings für diejenigen Bewerber, die mit der Beschäftigung bei der Bundeswehr die Arbeitsplatzgarantien des öffentlichen Dienstes suchen. Jedoch stellt sich die Frage, ob sich bei einer „Vermassung“ solcher Eintrittsmotive in die Bundeswehr überhaupt das Personal rekrutieren lässt, das kreativ, offensiv und entscheidungsfreudig in der Lage ist, die sich noch langfristig abzeichnenden Transformationsprozesse der Armee motiviert und engagiert mit voranzutreiben? Anders stellt sich das Bild im Bereich der Rekrutierung des weniger qualifizierten Humankapitals für das Militär dar. Bei diesem Rekrutierungspotenzial wird es aufgrund der auch zukünftig kontinuierlich in Deutschland fortschreitenden Ausgliederung einfacher Produktions- und Dienstleistungstätigkeiten an ausländische Billiglohnstandorte sowie von Automatisierungsprozessen zu weiterhin signifikanten Entlassungsraten kommen. Für die davon Betroffenen könnte die Bundeswehr bei Personalknappheit – oder gar im Zuge einer Abschaffung der Wehrpflicht – zu einer beruflichen „Notperspektive“ werden. Es ist allerdings fraglich, ob ein solchermaßen angeworbener Soldat auf Dauer die Motivation und Belastungsfähigkeit in einem ursprünglich nicht gewollten Beruf entwickelt, die von der Bundeswehr angesichts der stark herausfordernden Widrigkeiten einer Armee im Einsatz und 30 31

Vgl. auch Bormann/Jungnickel/Keller (2007), S. 127–134. Vgl. Dörre (2003).

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ihrer zudem noch lange anhaltenden Transformation mit all ihren Planungsunsicherheiten für Mann/Frau und Familie abverlangt werden.32 Die Wettbewerbsverschärfung in der Weltwirtschaft und die fortschreitenden Spezialisierungseffekte, insbesondere in Forschung und Produktion, beschleunigen die Verfügbarkeit technischer Innovationen und senken Produktlebenszyklen. Dadurch stehen permanent wesentliche Neuerungen ins Haus, vor allem in der Kommunikations- und Informationstechnologie. Diese Fortschrittsbedingung gilt aber auch für die Rüstungsgüterproduktion, bei der zu großen Teilen auf dual-use-Produkte zurückgegriffen wird. Dadurch werden die immer kürzer in Erscheinung tretenden Alterungen ziviler Güter zum Treiber moderner Rüstungsproduktion. Allerdings können moderne Rüstungsgüter wegen der angespannten Situation des Verteidigungshaushalts, langfristiger Bindungen an Rüstungsverträge vergangener Bundeswehrtage und lang andauernder Erprobungsphasen vielfach nur zeitverzögert umgesetzt werden. Dies kann zu einer gefährlichen Aushöhlung denkbarer Fähigkeiten – besonders im Einsatz – führen, zumal gegnerische Parteien auch in asymmetrischen Kriegen auf moderne Informations-, Kommunikations- und Kampfmittel zurückgreifen können.33 Die Beschaffung moderner Mittel zur Führung auch so genannter kleiner Kriege ist dabei nicht nur eine Frage des Geldes. Sie wird zudem dadurch begünstigt, dass moderne, weltweit verteilte Spezialisierungen und Produktionsketten den Zugriff auf Schlüssel- und Querschnittstechnologien globalisieren und die von den Sicherheitskräften einzelner Staaten gewünschten Verfügbarkeitskontrollen sich mangels Abstimmungsfähigkeiten in der internationalen Staatenwelt nicht hinlänglich wirkungsvoll umsetzen lassen. Zudem verstärkt der rasante Aufwuchs grenzüberschreitender Fusionen sowie von strategischen Allianzen ganzer Wirtschaftssektoren die Gefahren des weltweiten, immer weniger kontrollierbaren Zugriffs auf Innovations- und Spezialisierungsvorsprünge in der Rüstungsproduktion. Im Vergleich zur Modernisierungsgeschwindigkeit in der Wirtschaft sieht die Bundeswehr „alt“ aus, wenn sich die Umsetzung von Innovationen in beiden Bereichen deutlich auseinanderentwickelt. Diese Feststellung gilt nicht nur für die technische Ausstattung, sondern auch für die Organisationswirklichkeit, speziell des Führungsmanagements. Die für die Bundeswehr typischen, oft geradezu fossil anmutenden Mitzeichnungs- und Entscheidungsvorgänge befördern noch immer deutliche Unterschiede hinsichtlich der Dynamik und Flexibilität in der Umsetzung von Modernisierung in 32

Vgl. dazu auch Gerlach (2007). Vgl. zu Auswirkungen auf die Innere Führung Franke sowie zu Auswirkungen auf Ökonomisierungstendenzen innerhalb der Bundeswehr Bayer in diesem Sammelband. 33

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den bürokratisch gegensätzlichen Handlungswelten von Wirtschaft und Militär. Auch wenn beide Bereiche wegen ihrer unterschiedlichen funktionalen Ausrichtungen genuin keine gleichförmige Organisationswirklichkeit aufweisen bzw. aufweisen müssen, können sich Modernisierungsklüfte dennoch fatal auswirken. So ist beispielsweise die Frage, auf welche Qualitäten von Technik und Führungsmanagement sich ein Mensch für seine langfristig angelegte Berufsbiografie einlässt, ein Schlüsselkriterium für die Auswahl des Arbeitgebers. Diese Feststellung gilt angesichts der demografisch bedingten, anhaltenden Knappheit von Nachwuchskräften in exklusiver Weise für das zunehmend von Staat und Wirtschaft hart konkurrierend zu umwerbende hochqualifizierte Humankapital.

VI. Fazit: Menschliche Zukunftsperspektiven im Prozess der Globalisierung Für die Zukunftsgestaltung individueller Selbstentfaltung verbinden sich mit dem Begriff der Globalisierung ambivalente Wahrnehmungen. Letztere bewegen sich zwischen den Antipoden Hoffnung und Angst. Ist ein Mensch komfortabel in der Lage, die Entwicklungsprozesse der neuen Weltwirtschaft für sein berufliches Fortkommen und die Bereicherung seiner Lebenswelten erfolgreich zu nutzen, spricht er positiv bis geradezu euphorisch von den Hoffnungen auf neue Chancen, die die Globalisierung (angeblich) für alle Menschen bereithalte. Menschen, die sich den Modernisierungsherausforderungen der Globalisierung machtlos ausgeliefert fühlen, entwickeln hingegen Ablehnungen bis hin zu existenziellen Ängsten, einschließlich aller damit verbundenen persönlichen psychischen Dispositionen. Trifft die eingangs argumentierte These eines sich noch langfristig verstetigenden Prozesses zunehmender außenwirtschaftlicher Verflechtungen und wirtschaftlicher Integrationen bis hin zu binnenmarktähnlichen Verhältnissen für Kontinente übergreifende Wirtschaftsräume zu, dann kann sich kein Mensch – schon gar nicht in den Lebenswelten der OECD-Länder und aufstrebenden Schwellenländern – den damit verbundenen Entwicklungen entziehen. Zudem werden sich die politischen Führungen moderner Welthandelsstaaten der Globalisierung auch zukünftig kaum mit gravierenden Abschottungen entgegenstellen. Kommt es dennoch zur Ankündigung und eventuell auch zur Durchführung neuer protektionistischer Maßnahmen, dürfte es sich letztendlich allenfalls um kosmetische Handlungen handeln, die auf die Beruhigung verängstigter Bürger zielen. Sie werden kaum dauerhaft von substanzieller Relevanz sein. Denn die Verlockungen der Wohlstandsversprechen einer liberalisierten Weltwirtschaft und der unaufhaltsame technische Fortschritt, der die Kontinente immer enger vernetzt, bestimmen heute zumeist die dominanten Handlungsperspektiven staatlicher Zukunfts-

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ausrichtung. Dennoch sind solche Vorgänge, wie die Ankündigung neuer Handelshemmnisse und von einseitigen Währungsabwertungen, wie sie jüngst beispielsweise in Form eindrucksvoller Drohgebärden des französischen Staatspräsidenten Nicolas Sarkozy für die Tagesordnung der internationalen Politik vorgeschlagen wurden, ein Zeichen dafür, dass das Tempo der Wettbewerbsdynamisierung in der globalisierten Ökonomie selbst wirtschaftlich starke Staaten und deren Gesellschaften phasenweise überfordert. Auch lassen der schleppende Verlauf der Doha-Runde der WTO und ihr denkbares Scheitern auf solche Überforderungen zahlreicher WTO-Mitgliedsländer schließen. Spricht letztlich einerseits – im Sinne liberaler Wirtschaftstheorien – dem Grunde nach nichts gegen die Entfaltung unternehmerischer Kreativität unter den Bedingungen der Universalität von Marktgesetzen, um privatwirtschaftlich global zur Wohlstandsmehrung beizutragen. So verweisen andererseits die Signale von Überforderung auf die politische Dimension der Globalisierung. Es geht dabei erstens um die Aufgabe, die Bereitstellung öffentlicher Güter auch für diejenigen Menschen weiterhin im hinreichenden Maße sicherstellen zu können, die durch die Entwicklungen der Globalisierung in ihren ökonomischen und gesellschaftlichen Lebensbezügen deutlich herausgefordert oder gar benachteiligt werden. Dazu gehören vor allem die staatlich zu sichernden Chancen auf Bildung und sozial gerechte Lebensbedingungen. Und es geht zweitens darum, zur Sicherung der Fähigkeiten zur Bereitstellung öffentlicher Güter die Zukunft der Globalisierung politisch stärker gemeinsam zu gestalten. Stichworte dafür sind etwa internationaler Umweltschutz, sozialer Frieden, fairer Wettbewerb, Integration von Entwicklungsländern in die Weltwirtschaft, Ausbau der Entwicklungszusammenarbeit, Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit. Kurzum: Wohlstandszugewinne bilden sich – bildlich gesprochen – auf einer Medaille nicht nur als alleiniger Erfolg vorteilhaften Unternehmertums ab. Sie haben ihre zweite Seite in der Bereitstellung öffentlicher Güter, wodurch letzten Endes die entscheidende Grundlage dafür gelegt wird, dass sich nicht nur Marktgesetze global durchsetzen, sondern auch die durch sie erhofften Wohlstandsgewinne universell wirksam werden können. Politisch verlangt dies nach zukunftsweisenden Politikern. Ihre Aufgabe ist es, jene die Gesellschaften überfordernden Verwerfungen, die sich im Gefolge der der Politik vorauseilenden ökonomischen Globalisierung ergeben, endlich mit einer längst überfälligen international angelegten Ordnungspolitik, einer „Global Governance“, konstruktiv und konsequent zu flankieren. Es liegt heute mehr denn je in der Hand aller Menschen, diese Prozesse nachholender Global Governance zu beschleunigen. Denn seit Längerem entfaltet sich – neben der Wirtschaft und den staatlichen Akteuren – eine weitere Akteursgruppe immer medienwirksamer in der internatio-

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nalen öffentlichen Meinungsbildung, nämlich die Zivilgesellschaft. Deren Wirkungspotential lässt sich von den Menschen noch erheblich mehr ausschöpfen, als dies bislang der Fall ist. Seattle, Venedig, Prag und Heiligendamm wären dann nur erste Meilensteine auf dem Weg einer zivilgesellschaftlich breit angelegten Begleitung der ökonomischen Globalisierung in eine wirtschaftlich wie gesellschaftlich erhoffte „bessere Welt“ für alle.

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Was ist der Mensch? Zum Menschenbild der Soziologie Von Heiko Biehl

I. Grundzüge der soziologischen Debatte: Vom homo oeconomicus über den homo sociologicus zum homo socio-oeconomicus Wer vom Menschenbild der Soziologie spricht, muss sich darüber im Klaren sein, dass wesentliche Vertreter des Fachs der individualistischen Perspektive kaum analytische Relevanz beimessen. Dabei wird naturgemäß nicht die Existenz der Spezies Mensch in Abrede gestellt. Aber in der Soziologie ist durchaus die Auffassung verbreitet, dass eine auf Individuen basierende Herangehensweise ungeeignet ist, soziale Phänomene zu verstehen und zu erklären. Für die so genannten Makrotheorien stehen stattdessen größere soziale Strukturen und kollektive Prozesse im Fokus des Interesses. Am radikalsten wird diese Sichtweise gegenwärtig von der Systemtheorie Luhmannscher Prägung verfolgt, für die sich gesellschaftliche Phänomene ausschließlich unter Rückgriff auf soziale Systeme, verstanden als ausdifferenzierte und funktional separierte Kommunikationszusammenhänge, analysieren und deuten lassen.1 Dem stehen die Vertreter soziologischer Mikrotheorien gegenüber, die Gesellschaftsanalyse aus der Perspektive der Individuen betreiben. Für sie sind kollektive Phänomene nur zu erklären, wenn man die dahinter stehende Handlungslogik der einzelnen Akteure versteht. Deshalb ist für Mikrotheoretiker eine Verständigung über das zugrundeliegende Bild vom Menschen unerlässlich. Sie folgen dabei einem Verständnis ihrer Disziplin, wie es bereits von Max Weber angelegt wurde: „Soziologie . . . soll heißen: eine Wissenschaft, welche soziales Handeln deutend verstehen und dadurch in seinem Ablauf und seinen Wirkungen ursächlich erklären will. ‚Handeln‘ soll dabei ein menschliches Verhalten (einerlei ob äußeres oder innerliches Tun, Unterlassen oder Dulden) heißen, wenn und insofern als der oder die Handelnden mit ihm einen subjektiven Sinn verbinden. ‚Soziales‘ Handeln aber soll ein solches Handeln heißen, welches seinem von dem oder den Han1

Vgl. Luhmann (2006, zuerst 1984); Luhmann (1997).

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delnden gemeinten Sinn nach auf das Verhalten anderer bezogen wird und daran in seinem Ablauf orientiert ist“.2 Mit dieser Begriffsbestimmung sind die Parameter benannt, an denen sich die soziologische Diskussion seit etwa einem Jahrhundert orientiert. Das Zitat verrät nicht nur, wie zentral die Kategorie des sozialen Handelns für die Konstituierung der Soziologie ist. Es verdeutlicht auch, dass sich dieses in Interaktion mit Anderen realisieren muss. Für die Soziologie stellt sich folglich stets die Frage nach dem Verhältnis zwischen dem Einzelnen und den anderen, sprich: zwischen Individuum und Gesellschaft. Dabei konzentriert sich die Debatte auf zwei Kernfragen: 1. Wie viel Freiheitsgrade besitzt der Einzelne in seinem sozialen Handeln? Determinieren die sozialen Bedingungen die Handlungen der Individuen? Oder sind die Akteure weitgehend frei in ihren Entscheidungen und konstituieren sie durch ihr soziales Tun erst die gesellschaftlichen Strukturen? 2. Die Webersche Definition illustriert zugleich, dass die soziologische Analyse den spezifischen Sinn einer Handlung zu bestimmen hat. Entsprechend lautet das Erkenntnisinteresse soziologischer Mikrotheorien: Warum handeln Individuen? Welches sind die Motive, die soziales Verhalten bestimmen? Mit diesen Fragen tritt die Soziologie zwangsläufig in Konkurrenz zu anderen Wissenschaftsdisziplinen – insbesondere zur Ökonomie. Diese bietet mit dem homo oeconomicus ein etabliertes (und erfolgreiches) Modell zur Erklärung menschlicher Handlungen und der dahinter stehenden Motivlagen. Zwar ist dessen Anwendung zumeist auf die ökonomische Sphäre beschränkt, aber es fehlt nicht an prominenten Versuchen,3 dieses Modell zur Erklärung aller sozialen Phänomene heranzuziehen. Der homo oeconomicus, der seine Handlungen aufgrund einer Kalkulation zwischen den wahrgenommenen ökonomischen Kosten und dem Nutzen der jeweils verfügbaren Optionen vollzieht,4 war (und ist) Provokation und Herausforderung für die Soziologie gleichermaßen. Schließlich gelten in diesem Modell ökonomische Präferenzen als handlungsleitend und sozialen Erwägungen wird eine bestenfalls untergeordnete Relevanz zuerkannt. Hieran knüpft die soziologische Kritik an: Das Konstrukt blende die gesellschaftlichen Einflüsse menschlichen Handelns nahezu aus, da sich das Interesse fast ausschließlich auf den Entscheidungsprozess konzentriere. Da2 Vgl. Weber (2006, zuerst 1922), S. 11 f., als § 1 der soziologischen Grundbegriffe; Hervorh. im Orig. 3 Vgl. etwa Becker (1993). 4 Vgl. dazu in diesem Sammelband den Beitrag von Bayer.

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durch gerate außer Acht, wie sich Präferenzen ausbildeten und weshalb sich spezielle Neigungen und Ressourcen in bestimmten gesellschaftlichen Gruppen konzentrierten. Dabei seien die Handlungsoptionen, über die jemand verfüge, auch abhängig von seiner sozialen Position. Das Modell des homo oeconomicus überakzentuiere jedoch die Akteursperspektive und unterschätze den Einfluss sozialer Bedingungen. Als expliziten Gegenentwurf entwickelte deshalb Ralf Dahrendorf – in Anschluss an Klassiker wie Marx und Durkheim – in den 1950er Jahren den homo sociologicus, um die Wirkung sozialer Strukturen zu illustrieren. Gemäß dem als wissenschaftliches Konstrukt und nicht als Realfigur angelegten homo sociologicus ist der Mensch „Träger sozial vorgeformter Rollen“.5 Jedes Individuum hat parallel mehrere solcher Rollen inne, bzw. ‚spielt‘ diese. So kann derselbe Mensch zugleich Ehemann, Familienvater, Büroangestellter, Kollege, Skatbruder, Parteifreund oder Mitglied einer Fußballmannschaft sein. Entsprechend bestehen zu jeder Stellung gewisse Verhaltensweisen, die man vom Inhaber dieser Position erwartet. So soll das Individuum als Ehefrau verständnisvoll, als Büroangestellte verantwortungsvoll, als Kollegin solidarisch und als Sportlerin kämpferisch sein. Die jeweiligen Rollenerwartungen können kongruent zueinander sein, sie können aber ebenso in Konkurrenz zueinander stehen. Zudem kann es zu Anforderungskonflikten innerhalb einer Rolle kommen – etwa wenn Eltern im Umgang mit ihren Kindern einsichtig und konsequent zugleich zu sein haben. Der homo sociologicus akzentuiert folglich die Abhängigkeit des Einzelnen von seinem sozialen Umfeld. Das Individuum leistet dabei in der Aussicht auf positive bzw. negative Sanktionen Anpassungsarbeit an die Erwartungen seiner Umgebung. Die Stärke dieses Konstrukts ist seine prinzipielle Anschlussfähigkeit an die diversen soziologischen Theorien. So können über das Theorem der sozialen Rolle soziologische Aspekte wie Klassen-, Schichten oder Generationenzugehörigkeit ebenso abgebildet werden wie Gender-, Sozialisations- oder Milieueinflüsse. Problematisch am homo sociologicus ist demgegenüber, dass er die existenten und definierten Merkmale einer sozialen Rolle in den Vordergrund rückt und die Übernahme einer sozialen Rolle vor allem als Anpassungsprozess begreift. Dadurch gerät die Dynamik gesellschaftlicher Prozesse aus dem Blick, obwohl gerade die sozialen Rollenerwartungen einem steten und teils massiven Wandel unterliegen – man denke nur an die Aufgabenzuschreibungen für Familienmütter und -väter, die sich heute merklich anders darstellen als noch vor einigen Jahrzehnten. Der homo sociologicus unterschätzt folglich den Gestaltungsfreiraum, den individuelle Akteure ungeachtet ihrer Orientierung an gesell5

Vgl. Dahrendorf (1967, zuerst 1958), S. 133.

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schaftlichen Erwartungen und Normen besitzen, und überschätzt die Wirkund Bindekraft sozialer Strukturen und Regeln. Die klassische Konfrontation zwischen homo oeconomicus und homo sociologicus hat mittlerweile einer Debatte Platz gemacht, in der gewisse Annäherungen festzustellen sind. So hat die Rational-Choice-Theorie den homo socio-oeconomicus in den Sozialwissenschaften etabliert.6 Dieser Ansatz beansprucht unter Rückgriff auf den Rationalitätsbegriff der Wirtschaftswissenschaften allgemein gültig soziales Verhalten zu erklären. Dabei erachtet die Rational-Choice-Theorie – im Unterschied zum homo oeconomicus – jedoch nicht nur ökonomische Anreize als handlungsleitend, sondern ebenso soziale Motive. Sie geht davon aus, dass sich der Einzelne in seinem sozialen Umfeld im Prinzip genau so verhält wie ein Konsument bei Kaufentscheidungen. Die Handlungen der Individuen sind demnach das Ergebnis einer Kalkulation zwischen den wahrgenommenen Kosten und dem Nutzen der jeweils verfügbaren Optionen. Die Vor- und Nachteile jeder Handlungsmöglichkeit schätzt der Einzelne anhand seiner stabilen und hierarchisierten Präferenzen ein und wählt die Alternative, der er den günstigsten Kosten-Nutzen-Saldo zuerkennt. Als handlungsrelevant gelten dabei sowohl selektive Anreize im engeren Sinne, also ökonomische Kosten- und Nutzen-Erwägungen, als auch soziale Präferenzen.7 D.h. der Einzelne trachtet in seinem sozialen Tun nicht allein danach, sein unmittelbares wirtschaftliches Wohlergehen zu steigern, sondern er strebt ebenso nach sozialer Anerkennung und Einbindung. Damit erkennt die Rational-Choice-Theorie ausdrücklich an, dass sich soziale Handlungen in gesellschaftlicher Interaktion konkretisieren. Erkenntnisse aus der Bedürfnisforschung8 und der Anthropologie9 stützen diese Annahme. Wesentlich strittiger als die Integration sozialer Präferenzen in die Rational-Choice-Theorie ist die Berücksichtigung ideeller Momente (seien sie politischer, ideologischer oder religiöser Natur). So wird bemängelt, dass damit eine wesentliche Stärke der Rational-Choice-Theorie, nämlich ihre auf wenigen Axiomen beruhende theoretische Stringenz sowie ihre Trennschärfe zu anderen Erklärungsmustern, verloren ginge. Denn das Individuum vollzieht hinfort jede Handlung rational, da es aufgrund seiner ideellen Präferenzen zu einer positiven Kosten-Nutzen-Kalkulation kommt. So könnte sogar ein Selbstmord – suizidale Vorlieben vorausgesetzt – als rational erscheinen. Damit verliert jedoch der für den homo socio-oeconomicus zentrale Begriff der Rationalität seine Plausibilität. Die Theorie nimmt in 6 7 8 9

Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.

Esser (2000), Lindenberg (1990). Esser (2000), S. 215 f. v. a. Maslow (1981). Honneth (1994).

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der Folge einen tautologischen Charakter an, denn die verhaltensbestimmenden Präferenzen lassen sich stets im Nachhinein aufgrund vollzogener Handlungen erschließen. Die um ideelle Anreize erweiterte RationalChoice-Variante, die auch kollektive Zielsetzungen als handlungsrelevant anerkennt, liefert keine Erklärung sozialen Verhaltens mehr und dient lediglich als ein Beschreibungsmuster für soziale Situationen mit theoriespezifischer Begrifflichkeit. Erklärungen werden „regelmäßig post hoc, also ad hoc“ geliefert, wodurch „das Rationalitätskonzept zwar universell verwendbar, aber ganz überflüssig“10 wird.11 Folglich wird von den meisten Beobachtern aus theoretischen Erwägungen der Ausschluss von ideellen Motiven aus der Rational-Choice-Theorie gefordert. Der homo socio-oeconomicus richte sein Handeln ausschließlich nach ökonomischen und sozialen Präferenzen aus – ideelle Überzeugungen und Wertbezüge seien für ihn nicht handlungsleitend. Doch die Stringenz eines Erklärungsmusters sagt noch nichts über ihre empirische Relevanz aus. Lediglich aufgrund theoretischer Erwägungen ist nicht zu entscheiden, wie groß die individuellen Handlungsmöglichkeiten sind und was den Menschen in seinem Handeln bestimmt: Ist das Handeln des Individuums eher Ausdruck seiner Herkunft oder ist der Einzelne Gestalter seiner Umwelt? Richtet er sein soziales Tun in erster Linie an wirtschaftlichen Vorteilen aus oder geht es ihm vor allem um soziale Anerkennung und Einbeziehung? Kommt ideellen Überzeugungen und Wertorientierungen tatsächlich nur eine untergeordnete Relevanz zu? Die empirische Sozialforschung hat diese Fragen verfolgt und dabei sowohl die Prägekraft sozialer Strukturen als auch die Handlungsfreiheit des Akteurs herausgearbeitet.

II. Empirie des sozialen Handelns: Möglichkeiten, Grenzen und Motive Es ist naturgemäß nicht möglich – und auch wenig sinnvoll – an dieser Stelle den Versuch zu unternehmen, einen umfassenden Überblick über die Befunde der empirischen Sozialforschung bezüglich des Verhältnisses von Struktur und Akteur sowie der handlungsleitenden Motive zu geben. Statt10

Zintl (1989), S. 55. Die Problematik, dass durch Berücksichtigung ideeller Überzeugungen und Wertorientierungen eine Beliebigkeit in die Erklärungsmuster kommt, ist keineswegs auf die Rational-Choice-Theorie beschränkt. Dennoch gibt es immer wieder Versuche in den Sozialtheorien, Handlungen unter Rückgriff auf Wertorientierungen zu erklären. Ursache dieser Bemühungen ist nicht zuletzt die Vielzahl von Befunden der empirischen Sozialforschung, die belegen, dass Menschen sich in ihrem Tun sehr wohl an Werten und kollektiven Zielen orientieren (vgl. hierzu die Abschnitte II. und III.). 11

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dessen soll anhand zweier ausgewählter Beispiele illustriert werden, wie soziale Prädispositionen die Handlungsmöglichkeiten des Einzelnen prägen und entlang welcher Zielvorstellungen Individuen handeln. Untersuchungen zu den Bildungschancen von Schülern aus verschiedenen sozialen Schichten belegen die Wirkkraft sozialer Strukturen (Abs. II.1.); die Forschung zur politischen Partizipation wiederum verdeutlicht, woran Individuen ihre Handlungen ausrichten (Abs. II.2.). Auf den ersten Blick mögen die gewählten Beispiele vielleicht etwas disparat erscheinen – aber gerade durch ihre Unterschiedlichkeit dokumentieren sie, dass die beiden oben definierten soziologischen Kernfragen für eine ganze Bandbreite gesellschaftlicher Phänomene von Relevanz sind. 1. Jeder nach seinen Fähigkeiten? Zum Dualismus von sozialer Struktur und frei handelndem Akteur Vor einigen Jahren sorgte die PISA-Studie in der deutschen Politik und Öffentlichkeit für große Aufmerksamkeit und lieferte Reformimpulse im Bildungssektor. Die Studienergebnisse wurden zunächst unter dem Fokus der (vermeintlich oder tatsächlich) unterdurchschnittlichen Leistungen deutscher Schüler wahrgenommen. Erst mit einiger Verzögerung rückte ein weiterer wesentlicher Befund der PISA-Studie, der viel über das eigentliche Potential des deutschen Bildungssystems verrät, in den Mittelpunkt des Interesses: Die Leistungen der Schüler sind in keinem anderen der untersuchten Länder so stark von deren sozialen Hintergrund (Elternhaus, Sozialisation, soziales Umfeld) abhängig wie in Deutschland.12 Dies bedeutet, dass die schulischen Erfolge keineswegs nur Ausdruck der individuellen Fähigkeiten, sondern stets auch gesellschaftlich bedingt sind. Kinder und Jugendliche aus schwächeren sozialen Verhältnissen erreichen systematisch niedrigere Bildungsabschlüsse als Schüler, deren Eltern gehobenen gesellschaftlichen Schichten angehören. Die in der PISA-Studie dargelegten Zusammenhänge verdeutlichen mit Blick auf die hier interessierende Thematik zweierlei: 1. Der Einzelne ist in seinen Handlungen und Handlungschancen stets agierender Akteur, insofern er über gewisse (etwa kognitive) Fähigkeiten verfügt und diese ausbilden und einbringen kann. Zugleich sind seine Möglichkeiten und Handlungsoptionen durch den sozialen Hintergrund begrenzt. Nicht jeder Mensch besitzt die gleichen Lebenschancen – vielmehr sind diese gesellschaftlich ungleich verteilt. So können Kinder, die in den bildungsaffinen Elternhäusern der gehobenen Schichten 12

Vgl. Baumert u. a. (2001), Kap. 8.

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aufwachsen, ihre Fähigkeiten leichter ausbilden als Kinder aus bildungsfernen Schichten. 2. Die PISA-Studie veranschaulicht, dass die Frage nach der Prägekraft sozialer Strukturen nicht nur von rein akademischem Interesse ist, sondern grundlegende Überzeugungen und politische Konfliktfelder berührt. Die Antwort auf die Frage, wie frei Menschen in ihrer Lebensgestaltung und individuellen Entfaltung sind, tangiert den normativen Kern moderner Gesellschaften – denn diesen ist die Idee der Chancengleichheit implizit oder explizit zueigen. Demnach sollte sich jeder entsprechend seiner Fähigkeiten, seiner Leistungen und Neigungen entwickeln können und nicht aufgrund vorgeburtlicher Konstellationen massive Vor- oder Nachteile erfahren. Entsprechend groß ist deshalb auch die öffentliche Aufregung, wenn trotz diverser bildungspolitischer Anstrengungen der schulische Erfolg immer noch im hohen Maße von der Herkunft geprägt ist – war es doch die explizite Absicht der Bildungsreformen seit den 1960er Jahren, diesen Makel zu beseitigen und Kindern aus allen gesellschaftlichen Schichten gleiche Bildungschancen zu eröffnen. Die Brisanz der PISA-Befunde steigt nochmals, wenn man sich vor Augen hält, dass der Bildungsabschluss in der Folge nicht nur die beruflichen Möglichkeiten determiniert, sondern die Lebenschancen insgesamt. Die Erkenntnis, dass schulischer Erfolg wesentlich sozial bedingt ist und das erworbene Bildungsniveau wiederum einen zentralen Indikator für die beruflichen, wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen und politischen Entwicklungsmöglichkeiten darstellt, ist zugleich ein notwendiger Kontrapunkt zu den Individualisierungsdiskursen der vergangenen Jahrzehnte. Angestoßen durch die Beiträge von Ulrich Beck13 dominierte in den 1980er und 1990er Jahren die Vorstellung, dass die Prägekraft der klassischen sozialen Strukturen, wie Klasse, Beruf oder Schicht – aufgrund von (radikalisierten) Modernisierungsprozessen stetig nachlasse. Demnach hätte der Einzelne Freiheitsgrade in seinem Handeln hinzugewonnen und müsste sich immer weniger an den vorgegebenen sozialen Normen und Rollenerwartungen orientieren. Entsprechend ließe die Prägekraft soziologischer Merkmale und Herkunftsmilieus nach und schwände die Zahl der Standard-Lebensentwürfe. Dem stehen die Befunde der PISA-Studie (und vieler anderer Untersuchungen zum Bildungssystem) wie auch Erkenntnisse aus anderen Bereichen (etwa zur Elitenbildung und zur sozialen Partizipation, s. auch Abs. II.2.) entgegen. Weiterhin gilt, dass die sozialen Merkmale die Handlungen von Individuen prägen. Diese Einsicht darf allerdings nicht dahingehend missverstanden werden, dass der Einzelne und sein Tun allein das 13

Vgl. Beck (1986).

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Ergebnis sozialer Strukturen seien. Ein solcher Determinismus würde den Handlungs- und Gestaltungsspielraum von Individuen drastisch unterschätzen. Individuen sind schließlich keineswegs nur Produkt ihrer gesellschaftlichen Herkunft und Position, sondern können zwischen verschiedenen Optionen wählen und ihr Dasein zu einem erheblichen Teil selbst gestalten. An dieser Stelle drängt sich konsequenterweise die Frage nach den Motiven auf, die den sozialen Handlungen zugrunde liegen: Richtet der Einzelne sein Tun vor allem an den damit verbundenen ökonomischen Vorteilen aus, erstrebt er zuvorderst soziale Anerkennung oder handelt er vornehmlich nach seinen Idealen und Werten? Im Folgenden wird die Frage nach den handlungsleitenden Motiven am Beispiel politischer Aktivität illustriert. 2. Warum engagiert sich jemand politisch? Zu den Motiven sozialer Handlungen Auf den ersten Blick mag es verwundern, dass im Rahmen soziologischer Erwägungen das politische Engagement in den Blick rückt. Allerdings handelt es sich bei politischer Partizipation im Kern nur um eine Variante sozialen Handelns. Die Beschäftigung mit den Befunden zur politischen Aktivität lohnt gerade deshalb, weil auf diesem Feld die Diskussion um die Wirkkraft ökonomischer, sozialer, normativer und ideeller Motivlagen besonders weit vorangeschritten und empirisch solide unterfüttert ist. Die gängige Antwort auf die Frage, weshalb sich jemand politisch engagiert, weshalb er etwa eine Partei wählt oder sich ihr anschließt, lautet: ‚Er tut dies, da er sich mit den Zielen dieser Partei identifiziert.‘ Soziologisch gesprochen sind es mithin die ideellen Überzeugungen des Individuums, die ihn zu einem politischen Engagement bewegen sollten. Diese auf den ersten Blick überzeugende Sichtweise ist jedoch in der Forschung höchst umstritten. Es gibt eine Reihe theoretischer Versuche und empirischer Untersuchungen, die beabsichtigen, diese Annahme zu widerlegen. Am prominentesten bezweifelt Mancur Olson14 – unter Rückgriff auf die Prämissen des homo oeconomicus –, dass ideelle Motive politische Aktivitäten bedingen. Wie kommt Olson zu seiner provokanten These? Olson entfaltet das Beteiligungsparadox politischer Partizipation, indem er aufzeigt, dass die Wahrscheinlichkeit, mit der das Engagement des Einzelnen den Ausschlag für oder gegen die Realisierung einer verfolgten Zielstellung gibt, äußerst gering ist.15 Da aber niemand beim Erreichen eines politischen Kollektivguts von dessen Genuss ausgeschlossen werden kann, 14 15

Vgl. Olson (1998; zuerst 1965). Vgl. Olson (1998, Kap. 1)

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gleichviel ob er zu dessen Herstellung einen Beitrag geleistet hat oder nicht, übersteigen die Teilnahmekosten des Einzelnen strukturell den objektiv zu erwartenden Nutzen. Nach der „Logik des kollektiven Handelns“ – so nennt Olson sein Werk und unter diesem Namen wird auch sein Theorem verhandelt – verhält sich also derjenige rational, der sich nicht politisch engagiert und beim Erreichen des Kollektivzieles, quasi als Trittbrettfahrer, gleichwohl von der Arbeit der Aktiven profitiert. Weshalb engagieren sich dennoch so viele Menschen politisch? Warum betätigen sich nicht mehr Menschen als Trittbrettfahrer, indem sie von kollektiven Gütern profitieren, ohne sich für deren Realisierung einzusetzen? Olson argumentiert, dass nicht die Verfolgung eines Ideals der eigentliche Antrieb für die politische Beteiligung sei, sondern der unmittelbar aus der Beteiligung resultierende Nutzen. Maßgeblich selektive (ökonomische) Prämien – wie die Aussicht auf gut dotierte und repräsentative Mandate und Ämter – könnten Individuen zum Engagement (etwa in einer Partei) bewegen.16 Die Arbeit Olsons unternimmt den Versuch, die Mikrologik des Individuums mit den Makrophänomenen kollektiven politischen Engagements in Einklang zu bringen. „Die Logik des kollektiven Handelns“ hat erst im vollen Umfang verdeutlicht, wie erklärungsbedürftig die Beteiligung von Bürgern am politischen Geschehen ist, da die Interessen des Einzelnen und die seiner politischen Organisation keineswegs deckungsgleich sind. Daraus kann aber nicht geschlossen werden, dass ausschließlich ökonomische und politische bzw. selektive und instrumentelle Motive das soziale Handeln bestimmen.17 Denn so ambitioniert und provokant die Thesen Olsons auch sein mögen, ihre empirische Ausbeute ist recht bescheiden. Studien, die versucht haben, die Teilnahme von Bürgern an Wahlen oder an weitergehenden politischen Beteiligungsformen ausschließlich mit den damit verbundenen selektiven Vorteilen zu erklären, war bislang kaum Erfolg beschieden. Vielmehr weisen die vorliegenden Untersuchungen darauf hin, dass Personen desto intensiver partizipieren, je stärker sie den verfolgten Zielen anhängen.18 Die Identifikation mit Werten und Inhalten ist und bleibt folglich (mit-)entscheidend für soziales Verhalten: Es ist richtig, dass sich Individuen an ökonomischen Anreizen und eigenen Vorteilen orientieren – aber nicht nur und nicht immer. Auch soziale Anerkennungsbedürfnisse treiben den Menschen an, und er handelt entsprechend seinen normativen Leitbildern und Wertüberzeugungen. Individuen – und wie im Folgen16

Vgl. Olson (1998), S. 49 f. Vgl. dazu auch die interdisziplinären Überlegungen im Beitrag von Bayer in diesem Sammelband, die sich mit den hier dargestellten Ausführungen decken. 18 Vgl. Green/Shapiro (1999) mit weiteren Belegen. 17

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den gezeigt wird, gilt dies selbstredend auch für Soldaten – engagieren sich für ihre Wertvorstellungen und nehmen dafür persönliche Kosten und Nachteile in Kauf – mag dies aus der Perspektive des homo oeconomicus auch wenig rational erscheinen.

III. Wer wird warum Soldat? Soziale Strukturen und Berufsmotivation von Soldaten Die soziologischen Kernfragen nach der sozialen Prägung individuellen Handelns und den zugrunde liegenden Motiven haben auch für die Streitkräfte analytische wie praktische Relevanz. Dies belegt die militärsoziologische Forschung zum Beruf des Soldaten, die untersucht, aus welchen sozialen Gruppierungen sich die Streitkräfte zusammensetzen und welches die Motive sind, in einer Armee zu dienen. Kurz: Wer wird warum Soldat? Streitkräfte rekrutieren – sofern die Rekrutierung auf freiwilliger Basis erfolgt und nicht erzwungen wird, wie dies bei der Wehrpflicht der Fall ist – ihr Personal stets in Konkurrenz zu anderen Arbeitgebern. Analysiert man die Zusammensetzung derjenigen, die den Soldatenberuf ergreifen, dann stellt man fest, dass gewisse soziale Gruppierungen besonders stark im Militär vertreten sind. Am augenfälligsten ist dies für die alters- und geschlechtsspezifische Komposition, da es hierfür von Seiten der Armee gewisse Einstellungseinschränkungen gibt (oder zumindest gab). In den letzten Jahrzehnten ist eine sukzessive Aufhebung dieser Restriktionen zu verzeichnen. Forcierte man vor einigen Jahrzehnten noch die Gewinnung von Offiziernachwuchs aus den ‚erwünschten Kreisen‘, so hängt man heutzutage eher einem egalitären Ideal an. Nicht zuletzt aus legitimatorischen Gründen sollte die Armee ein ‚Spiegelbild der Gesellschaft‘ darstellen. Abgesehen davon, dass die Bundeswehr – mit Blick auf die Geschlechterverteilung bis 2001 – ohnehin bestenfalls ein Spiegelbild der männlichen Gesellschaft darstellen konnte, ist das Leitbild der sozialen Repräsentativität konzeptionell in Frage zu stellen und empirisch ohnehin haltlos. Analysen der Sozialstruktur des Offizierkorps der Bundeswehr haben ergeben, dass deren Angehörige mittlerweile schwerpunktmäßig der mittleren und unteren Mittelschicht entstammen, wodurch der Beruf des Offiziers den Charakter eines Aufstiegsberufs angenommen hat.19 Aktuelle Umfragen zeigen ferner auf, dass die Neigung von Haupt- und Realschülern, sich in den Streitkräften zu verpflichten in etwa doppelt so groß ist wie die der Abiturienten.20 Dies belegt, dass die Streitkräfte für Personen mit be19 20

Vgl. Elbe (2004) mit weiteren Belegen. Vgl. hierzu und im Folgenden Bulmahn (2007).

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grenzten beruflichen Alternativen von besonderem Interesse sind.21 Soziale Merkmale und Zugehörigkeiten beeinflussen folglich wesentlich die Berufsentscheidung des Individuums. Allerdings darf aus diesem Befund nicht unmittelbar auf die dahinter stehenden Motive – etwa in dem Sinne, dass ausschließlich wirtschaftliche Motive ausschlaggebend wären – geschlussfolgert werden. Ökonomische Überlegungen spielen zweifelsohne eine wesentliche Rolle – dies gilt jedoch bei der Wahl jedes Berufs. Nur aufgrund der materiellen Anreize ist die Entscheidung für bzw. gegen den Soldatenberuf folglich kaum zu erklären.22 Diverse Untersuchungen belegen denn auch, dass neben die ökonomischen Aspekte noch andere Anreize treten müssen – etwa ein grundlegendes Bekenntnis zur Organisation Bundeswehr.23 Auf den ersten Blick erscheint die Einsicht trivial, dass die Streitkräfte wohl kaum Personen rekrutieren, die ihnen kritisch bis ablehnend gegenüber stehen. Aber dieser Zusammenhang verdeutlicht, dass Armeen politische Tendenzbetriebe (ähnlich wie Kirchen, Parteien oder Gewerkschaften) sind und der Beruf des Soldaten aufgrund seiner Möglichkeit von Töten und Getötet-werden einen höheren Legitimationsbedarf aufweist als die meisten anderen Tätigkeiten. Zugleich wird deutlich, wie wesentlich das soziale Ansehen der Organisation und des Berufs für die Personalpolitik des Militärs sein kann. Schließlich sollte in einer Gesellschaft, in der die Streitkräfte wie der Beruf des Soldaten ein hohes soziales Ansehen genießen, die Rekrutierung leichter fallen als in Gesellschaften, die dem Militär mehrheitlich ablehnend gegenüber stehen. Mit Blick auf die Bundeswehr stellt sich die öffentliche Wahrnehmung derzeit ambivalent dar: Während die Organisation ein ausgesprochen hohes Ansehen genießt, ist das Renommee des Soldatenberufs nur mäßig ausgeprägt. Aber nicht nur das Ansehen der Streitkräfte im größeren sozialen Umfeld beeinflusst die Bereitschaft, Soldat zu werden. Ebenso entscheidend – zuweilen gar noch wichtiger – ist der Einfluss von Freunden, Bekannten und Familienangehörigen.24 So gibt es bestimmte soziale Milieus, in denen es üblich ist, seiner Wehrpflicht nachzukommen oder sich darüber hinausgehend bei der Bundeswehr zu verpflichten. Umgekehrt existieren ebenso „militärferne“ Milieus, in denen der Option, Soldat zu werden, bei der Berufswahl keinerlei Aufmerksamkeit geschenkt wird. Diese Wirkung des sozialen Umfeldes ist den meisten Jugendlichen bei ihrer Berufsfindung kaum bewusst, da sie sich auf eher subtile Art und Weise entfaltet. 21 22 23 24

Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.

hierzu auch die Ausführungen bei Mohrmann in diesem Sammelband. Leonhard (2007). Leonhard/Biehl (2005); Leonhard (2007), S. 113–117. Leonhard (2007), S. 42 f.

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Die Erfahrungen, die Wehrpflichtige sowie Zeit- und Berufssoldaten während ihres Dienstes in den Streitkräften machen, beeinflussen zwei Facetten, die für die Entscheidung zum Soldatenberuf ebenfalls von Belang sind.25 Zum einen ist dies die Tätigkeit als solche. So sollte der Interessent eine gewisse affektive Neigung zu den klassischen Attributen des Soldatenberufs (etwa Freude an Technik, körperlicher Beanspruchung und gemeinsamem Handeln) aufweisen. Die Bundeswehr mit ihrem äußert differenzierten Set an Tätigkeitsfeldern hat im Vergleich zu anderen Arbeitgebern den Vorteil, eine ganze Bandbreite an Interessen und Neigungen bedienen zu können. Zum anderen ist die Kameradschaft eine Größe, die viele Gediente wie Ungediente primär mit den Streitkräften assoziieren. Solche sozial-integrativen Anreize spielen eine wesentliche Rolle bei der Entscheidung, Soldat zu werden, zumal die Kameradschaft als spezifische Stärke der Bundeswehr gilt. Die sozialen Beziehungen erschöpfen sich nicht im freundschaftlichen oder kameradschaftlichen Umfeld. Wesentlich – und mit zunehmendem Lebensalter nochmals wichtiger – sind die familiären Einflüsse.26 Ein bedeutsames Moment – insbesondere bei der Frage nach der Dienstzeitverlängerung – ist die Aussicht auf ein Arrangement zwischen den Anforderungen des Militärs und den familiären Aufgaben. Dass dieses gerade angesichts gestiegener Einsatzverpflichtungen immer schwieriger wird, liegt auf der Hand. Hinzu kommt, dass sich durch die veränderte sicherheitspolitische Konstellation und die Transformation von einer Verteidigungs- zu einer Interventionsarmee die Handlungsoptionen der Bundeswehr in diesem Bereich verschlechtert haben. Die deutschen Streitkräfte verlangen ihren Soldaten und Familien deutlich mehr ab, als noch zu Zeiten des Kalten Krieges. Während in der Verteidigungssituation des Ost-West-Konflikts das Risikogefälle zwischen Soldaten und Zivilisten verschwindend gering war, setzen sich die Soldaten bei den Auslandseinsätzen heutzutage Gefahren aus, denen sie im Heimatland entgehen könnten. Bei gleich bleibenden Anreizen fällt folglich das individuelle Kosten-Nutzen-Kalkül ungünstiger aus.

IV. Fazit Die Befunde zur Rekrutierung von Freiwilligen für den militärischen Dienst verdeutlichen mit Blick auf die eingangs aufgeworfenen soziologischen Kernfragen zweierlei: 1. Der Soldatenberuf ist aufgrund seiner Anforderungen und Möglichkeiten für bestimmte soziale Gruppierungen attraktiver als für andere. Es ist 25 26

Vgl. Leonhard (2007), S. 109–113. Vgl. Leonhard (2007), S. 66–69.

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folglich unsinnig und auch kaum zu realisieren, ein soziales Abbild der Gesellschaft in die Streitkräfte reproduzieren zu wollen. 2. Eine ganze Palette von Motiven kommt bei der Wahl des Soldatenberufs zum Tragen: Ökonomische Anreize spielen eine Rolle; die öffentliche Reputation der Streitkräfte ist von Belang; die Bewerber sollten an den genuin militärischen Tätigkeiten interessiert sein und sich mit der Armee und ihren Aufgaben identifizieren. Der Arbeitgeber Bundeswehr muss dementsprechend ein breites Spektrum an Anreizen und Angeboten aufweisen, um den vielfältigen Ansprüchen der Jugendlichen (erst recht unter den Bedingungen eines sich erholenden Arbeitsmarktes und einer aufgrund der demographischen Veränderungen schrumpfenden Klientel) gerecht zu werden. Auch in ihrer Funktion als Arbeitgeber sollte die Bundeswehr folglich den Menschen als soziales Wesen betrachten, dem aufgrund seines gesellschaftlichen Hintergrunds gewisse Optionen offen stehen (während andere verschlossen bleiben) und der mit seinem Handeln nach ökonomischen Vorteilen, aber auch nach sozialer Anerkennung strebt und sich für seine Überzeugungen, Werte und Ideale engagiert. Eine Konzentration der beruflichen Angebote auf rein ökonomische Anreize würde den Erwartungen der Interessenten kaum gerecht. Zudem bestünde die Gefahr, die ‚falsche‘ Klientel anzuziehen und die personale Zusammensetzung der Armee in qualitativer Hinsicht entscheidend zu beeinträchtigen. Gerade Streitkräfte, die sich immer stärker zu Freiwilligenarmeen entwickeln, stehen angesichts dieser Tendenzen vor der Aufgabe, ihre soziale und politische Integration in die Demokratie zu gewährleisten. Zu Zeiten der Allgemeinen Wehrpflicht stand hinter dem (uneinlösbaren) Ideal der gesellschaftlichen Repräsentativität die Hoffnung, Quantität und Qualität der Rekrutierung mit der gesellschaftlichen Einbindung der Streitkräfte zu verbinden. Künftig wird dies auf anderen Wegen zu gewährleisten sein, wobei es insbesondere auf die innerorganisatorische Sozialisation und die konsequente Durchsetzung von Rechtsnormen ankommen wird. Nur dadurch kann verhindert werden, dass sich innerhalb der Armee Eigendynamiken entwickeln, die aus demokratietheoretischer Perspektive problematisch sind und die bei entsprechenden Vorfällen den Erfolg des Auftrages gefährden können. Das Verhältnis von Akteur und sozialer Struktur sowie die handlungsleitenden Motive geben folglich nicht nur Hinweise für die akademische Debatte. Sie liefern zugleich normative Aussagen über die Identität des Menschen und tragen zur Charakterisierung von Organisationen entscheidend bei. Mit Blick auf die Bundeswehr wird es künftig darum gehen, die sich verändernden Akteure, Strukturen Berufsmotiven und -motivationen auftragsorientiert und demokratieverträglich aufeinander abzustimmen.

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Die Menschenbilder in der Ethnologie und die Konstruktion des Gegenmenschen Von Maren Tomforde „Weil der Mensch das verbindende Wesen ist, das immer trennen muss und ohne zu trennen nicht verbinden kann – darum müssen wir das bloße indifferente Dasein zweier Ufer erst geistig als eine Getrenntheit auffassen, um sie durch eine Brücke zu verbinden.“ Georg Simmel 1

I. Einleitung: Was ist Ethnologie? Im Blickwinkel der Ethnologie, der sogenannten Wissenschaft des kulturell Fremden, stehen unterschiedlichste Formen von Gesellschaft und Kultur. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts bis in die 1960er Jahre hinein untersuchte die Ethnologie, damals noch als Völkerkunde bezeichnet, vorwiegend die andersartigen Strukturen von Wirtschaft, Verwandtschaft, Politik, sozialer Organisation und Religion bei sogenannten schriftlosen, vermeintlich isolierten und abgeschlossenen Gesellschaften in Übersee.2 Mit dem Ende der Kolonialzeit, der Zunahme von Mobilität und Migrationsströmungen sowie der Internationalisierung soziokultureller Phänomene fand in der Ethnologie (international als Cultural oder Social Anthropology bezeichnet) ein Paradigmenwechsel statt, der nunmehr der sogenannten Hybridisierung menschlicher Lebensformen gerecht werden soll. Die Untersuchung von scheinbar abgeschlossenen, überschaubaren gesellschaftlichen Einheiten, in denen alle sozialen Vorgänge direkt beobachtbar und erfassbar sind, gehören der Vergangenheit an. In der heutigen Ethnologie richtet sich der Blick vielmehr auf andere Arten sozialer Organisation, den kulturellen Austausch zwischen den Gesellschaften und die Komplexität von Strukturen wie etwa in transnationalen Migrantengemeinden, Großunternehmen oder religiösen Bewegungen. Kulturelle Unterschiede und kulturelle Vielfalt zeichnen den heutigen Gegenstand des Faches aus. Der kulturvergleichende Blickwinkel richtet sich auf unterschiedlichste Formen von Gesellschaft und Kultur und 1 2

Simmel (1909), S. 3. Vgl. Wolf (2001), S. 309.

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damit auf das breite Spektrum unterschiedlicher Lebensweisen. Ethnographische Untersuchungen reichen z. B. von ethnographischen Studien kultureller Fremd- und Selbstwahrnehmung in Papua Neuguinea, Mechanismen des Kulturerhalts in Diaspora-Gemeinden oder Lebensformen von Migrantengruppen in Hamburg. Dieser Beitrag geht zunächst der Frage nach, welches Menschenbild in der Ethnologie vorherrscht. Dem Titel des Kapitels ist zu entnehmen, dass in der Ethnologie – gemäß der ethnologischen Konzentration auf kulturelle Differenz – nicht ein Menschenbild, sondern eine Vielzahl von Menschenbildern vorherrscht. Darüber hinaus existiert das Konzept des Gegenmenschen, mit dem die soziokulturelle Abgrenzung zwischen dem Eigenen und dem Fremden, zwischen innen und außen und die Kategorien von „wir“ und „sie“ erfasst werden soll. Weiteres Ziel des Kapitels ist mit Blick auf die Bundeswehr zu erörtern, welche Konsequenzen diese vielen Gesellschaften innewohnende Abgrenzung zwischen dem Eigenen und dem Fremden für die Soldaten in den Auslandseinsätzen hat. Welche Menschenbilder liegen bei deutschen Militärangehörigen vor; wie gehen sie mit der einheimischen Bevölkerung in den Einsatzgebieten um? Definieren sie sie als „Fremde“ von denen sie sich abgrenzen müssen oder gelingt es den Kontingentangehörigen mittels interkultureller Kompetenz etwaige kulturelle Vorbehalte und Abgrenzungsmechanismen zu überwinden? Das Kapitel gliedert sich wie folgt: Zunächst wird der Kulturbegriff skizziert, der grundlegend für die Betrachtung menschlicher Daseinsgestaltung aus ethnologischer Perspektive ist. Darauf aufbauend wird auf die Existenz verschiedenster Menschenbilder eingegangen, die sich durch die ethnographische Untersuchung unterschiedlichster Kulturen und Gesellschaften aufzeigen lassen. Das eigene Menschenbild und die eigene Lebensweise wird in den meisten Kulturen – in Abgrenzung zu anderen Lebensformen und Gesellschaften – als Norm gewertet. In einem weiteren Schritt wird aufgezeigt, dass die meisten Gesellschaften, in Rückbezug auf das Eigene, immer Grenzen zu dem vermeintlich Fremden, zu dem sogenannten „Gegenmenschen“ ziehen. Diese Mechanismen werden in der Ethnologie als Prozesse des othering (der sogenannten „VerAnderung“) verstanden, die allerdings nicht notgedrungen zu Rassismus und Fremdenfeindlichkeit führen müssen. Diese theoretischen Überlegungen werden schließlich auf das Beispiel der Bundeswehr angewandt. Es wird aufgezeigt, inwiefern diese Organisation mit kultureller Fremdheit konfrontiert ist und sich mit dieser auseinandersetzt. Am Beispiel des direkten und indirekten Kulturkontakts von Soldaten3 in den Auslandseinsätzen wird verdeutlicht, in welchem 3 Aus vereinfachten Gründen wird im Verlauf des Texts das generische Maskulinum verwendet, welches gleichermaßen auch auf Frauen zutrifft. Der Frauenanteil

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Maße Militärangehörige mit fremdkulturellen Begegnungssituationen konfrontiert sind, welche Gruppen für sie in die Kategorie des „Gegenmenschen“ fallen und wie sie auf die Begegnung mit „dem Fremden“ reagieren. In einem Fazit wird das Gesagte kritisch reflektiert und zu einem Resümee zusammengefasst.

II. Was ist Kultur? Es gibt keine einheitliche, eindeutige Definition von Kultur, selbst – oder gerade – nicht in der Ethnologie. Nach wie vor gibt es eine virulente methodologisch, epistemologisch und politisch beeinflusste Debatte über gültige Definitionen dieses Terminus.4 Die erste Verwendung des Kulturbegriffs wurde in der Ethnologie von E. B. Tylor im Jahre 1871 vorgenommen, der Kultur als ein komplexes Ganzes verstand, welches Wissen, Glauben, Moral, Kunst, Tradition und andere Bräuche und Fähigkeiten von Mitgliedern einer Gesellschaft umfasst. Seitdem hat sich der Kulturbegriff in vielschichtiger Weise entwickelt. Die existierende Vielfalt der bestehenden Kulturdefinitionen und theoretischen Ansätze scheint allerdings mehr Verwirrung als Klarheit zu stiften.5 Erschwerend kommt hinzu, dass das Kulturkonzept eine sehr unterschiedliche Geschichte in anderen Disziplinen hat, in denen der Begriff Kultur zusätzlich mit eigenen Konnotationen und Definitionen versehen wird. Viele dieser Konzepte verstehen Kultur eher als eine Variable, die aus strukturellen Bedingungen heraus entsteht, denn als einen interaktiven, immerwährenden Prozess, der mittels sozialer Praxis zwischen Individuen und Strukturen stattfindet. Der Hauptfokus der Ethnologie liegt jedoch auf eben diesen Prozessen sowie auf den diversen Lebensformen, die Menschen hervorbringen und die das soziale Leben von Gruppen regeln.6 Damit ist Kultur nicht nur als Werte- und Normensystem auf der kognitiven Ebene angesiedelt, sondern erstreckt sich auf die Verhaltensebene kultureller Objektivationen, die jedoch als kognitiv beeinflusst gesehen werden müssen.7 Kultur wird in der Ethnologie somit in holistischer bzw. systemischer Perspektive gesehen. Vorstellungen von einer Einheitlichkeit, Verbindlichkeit und Determiniertheit von Kultur, deren verhaltenslenkender und verhaltensbestimmender Charakter vor allem durch Mythen, Riten und Werte zum Ausdruck kommt, beträgt unter den deutschen Kontingentangehörigen auf dem Balkan und in Afghanistan circa sechs Prozent. 4 Vgl. Jensen (1999), S. 61. 5 Vgl. Schönhuth (2007). 6 Vgl. Tyrrell (2000), S. 85. 7 Vgl. May (1997), S. 43.

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wie sie insbesondere in den theoretischen Auffassungen des Funktionalismus und Strukturalismus bis Mitte des 20. Jahrhunderts vertreten wurden, sind mittlerweile durch eine Konzeption von Kultur, die Prozesse und Praktiken in den Mittelpunkt stellt, abgelöst worden.8 Anstelle von einer Homogenität und klaren Abgrenzbarkeit von Kulturen werden somit die Variationen und Differenzierungen, aber auch deren Wechselwirkung gesehen. Diese entstehen unter anderem dadurch, dass kulturelle Elemente von sozialen Akteuren produziert, reproduziert und transformiert werden. Kulturelle Eigenheiten können nur solange bestehen, wie sie von einer Gruppe gelebt, praktiziert und tradiert werden. Kultur bezeichnet somit die sozial erworbenen Muster.9 Die Variabilität, Differenziertheit sowie Offenheit und Flexibilität der ethnologischen Kulturbegriffe sollen es erlauben, die für die gesamte Menschheit in gleicher Weise zutreffenden Phänomene abzudecken und gleichzeitig einzelne Kulturen nach allgemein feststellbaren Merkmalen zu kategorisieren.10 Kultur wird als ein kollektives Phänomen verstanden, das von Menschen geteilt wird, die im selben sozialen Umfeld leben und darin agieren. Ein Zusammenleben menschlicher Gesellschaften nach diesem Verständnis ist nur dann möglich, wenn zumindest eine geringe Schnittmenge von Gemeinsamkeiten vorhanden ist. Bildlich gesprochen kann man daher Kultur als ‚Kitt‘ oder ‚Klebstoff‘ einer Gesellschaft oder sozialen Gruppe beschreiben. Nach Clifford Geertz11 ist Kultur ein Netz von Bedeutungen, die von den Mitgliedern einer Gesellschaft geteilt werden. Ein solches Verständnis von Kultur entspricht auch einer soziologischen Konzeption, wie sie von Max Weber vertreten wird. Weber, dessen Kulturkonzept in der Ethnologie vielfach rezipiert worden ist, versteht unter Kultur „ein vom Standpunkt des Menschen aus mit Sinn und Bedeutung bedachter endlicher Ausschnitt aus der sinnlosen Unendlichkeit des Weltgeschehens“12. Kultur ist für ihn die zentrale Dimension menschlicher Lebensverwirklichung und Sinngebung. Sein Kulturkonzept weist drei zentrale Merkmale auf: (1) Kultur klammert keinen Lebensbereich aus. (2) Kultur ist soziomorph, das heißt, Kultur ist das Produkt einer sozialen Gruppe, welches die Wirkung der Persönlichkeitsstruktur außen vor lässt. Diese sozialen Gruppen können aus Nationen, Organisationen, religiösen Gemeinschaften, ethnischen Minderheiten, sozialen Randgruppen, Sportvereinen, Familien und anderen bestehen. (3) Kultur- und Sozialwelt sind in den einzelnen sozialen Erscheinungen primär und lebenssteuernd verschmolzen. 8

Vgl. Geertz 1987 [1983]. Vgl. Brumann (1999), S. 23, Carrithers (1997), S. 101 und May (1997), S. 45. 10 Vgl. Jensen (1999), S. 60. 11 Vgl. Geertz (1987) [1983]. 12 Weber (1973), S. 180. 9

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Kultur ist, im Sinne der Strukturationstheorie von Anthony Giddens13 und des Habitus-Ansatzes von Pierre Bourdieu14, sowohl Ausdruck als auch Element der soziokulturellen Handlungswelt. Kultur ist somit einerseits Produkt menschlichen Handelns, andererseits sind die ‚Produzenten‘ dieser Kultur auch Kulturträger.15 Wir alle tragen in unserem Inneren Muster des Denkens, Fühlens und potenziellen Handelns, die wir ein Leben lang erlernt haben. Dieser erlernte Habitus beeinflusst wiederum unsere gesellschaftlichen Strukturen, welche die Basis für Praktiken und Vorstellungen darstellen, die unbewusst unser Handeln bestimmen. Soziokulturelle Praxis und Strukturen stehen somit in einem dialektischen Verhältnis zueinander. Kultur ist somit auch kein statisches System mit starren Verhaltensmustern und Strukturen, sondern befindet sich ständig ‚im Fluss‘.16 Kulturen einer ethnischen Gruppe, einer Migrantengruppe oder auch einer Streitkraft werden konstant generiert und implizit verhandelt. Die Vielfalt menschlicher Daseinsgestaltung liegt u. a. in dem steten Wandlungs- und Austauschprozess begründet, dem Kulturen durch die Dialektik zwischen soziokultureller Praxis und Strukturen unterliegen.

III. Viele Menschenbilder Alle verwandt, alle verschieden? Wodurch ergeben sich überhaupt kulturelle Unterschiede? Worin unterscheiden sich Menschen und Kulturen und was sind die Gemeinsamkeiten menschlicher Lebensweisen? Warum grenzen wir uns gegenüber dem vermeintlich Fremden ab und fühlen uns durch das Andersartige bedroht? Dies sind die zentralen Fragen, mit denen sich Ethnologenweltweit auseinandersetzen. Dabei verfolgen sie den Ansatz, dass sich soziale Gegebenheiten nicht auf biologische, ökologische oder wirtschaftliche Ursachen reduzieren lassen, sondern für sich und in ihrem jeweiligen kulturellen Kontext erklärt werden müssen. Auch wenn jede Kultur bestimmte biologische Notwendigkeiten wie die Ernährung oder den Fortbestand der Gruppe bedienen muss, können nicht alle kulturellen Besonderheiten nur rein biologisch erklärt werden, sondern gehen über die naturbedingten Notwendigkeiten hinaus. Es sind die Menschen, die sich in allen Teilen der Welt als sogenannte „polymorphe Spezies“17 fortwährend in ihren kulturellen Besonderheiten, Kombinationen und Innovationen selber formen, untereinander austauschen und dadurch immer wieder umformen. 13 14 15 16 17

Vgl. Giddens (2001). Vgl. Bourdieu (1996) [1972]. Vgl. Tyrrell (2000), S. 86. Vgl. Hannerz (1992), S. 15 f. Barth (1996), S. 25.

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Ethnologen heben als „Priester der Vielfalt“18 in erster Linie diese Diversität menschlicher Daseinsgestaltung hervor und kommen erst in einem zweiten Schritt, über den Kulturvergleich, zu Aussagen über die Gemeinsamkeiten soziokultureller Lebensformen. Somit zeigen sie die mannigfachen Menschenbilder auf, die in den unterschiedlichsten (ethnischen, sozialen, nationalen, . . .) Gruppen und Gesellschaften vorherrschen und kommen erst über die Vielfalt zur Einheit des Menschen. Durch die sogenannte emische (Innen-)Sicht auf Kulturen, die im Prozess langwieriger Feldforschungen insbesondere mittels der Methode der teilnehmenden Beobachtung erhoben wird, versuchen Ethnographen soziale Gruppe und ihre Lebensweise mittels der ihr eigenen eigenen Konzeptionen und Kategorien aus sich heraus zu erklären. Ein zu starker Kulturrelativismus, der jede Kultur nur als geschlossenes System und nicht auch als Bestandteil einer „globalen Menschenkultur“ sieht, wird dabei abgelehnt.19 Neben kultureller Variabilität gibt es eben auch menschliche, genetisch bedingte und im Laufe der Sozialisation erworbene Universalien, die die Unterschiede zwischen den Kulturen relativieren. Diese Universalien machen es möglich, einseitige Betonungen der kulturellen Differenz und der Unvereinbarkeit von Kulturen argumentativ entgegenzutreten. Zudem gilt immer zu beachten, dass kulturelle Besonderheiten, die an der Oberfläche als verschiedenartig erscheinen, in ihrem normativen Kern sehr vereinbar sein können. Die Liste kulturallgemeiner Werte wie z. B. die gesellschaftliche Anerkennung von Hilfsbereitschaft und Tapferkeit oder das Inzest-, Lügeund Betrugsverbot ist lang.20 Trotzdem ist es immer wieder notwendig, Kulturen auch entlang ihrer eigenen Kategorien zu betrachten. Vermeintlich irrationales Verhalten wie ökonomische Präferenzen einer Gesellschaft (z. B. die heiligen Kühe in Indien) lässt sich aus ethnologischer Perspektive mittels Innensicht als für die Handelnden und deren Wertmaßstäbe rational darlegen. Wenn schwindelerregende Summen für Hochzeits- oder Totenzeremonien ausgegeben werden, die die Existenz einer Großfamilie oder gar eines ganzen Klans gefährden können, so erscheint dies für uns zunächst ökonomisch irrational21. In der jeweiligen Kultur kann durch eine groß angelegte Zeremonie die Verbindung zu einer Vielzahl der Mitglieder einer Gesellschaft bestärkt und insbesondere ein guter Kontakt zu den Ahnen oder anderen spirituellen Wesen18

Antweiler (2007), S. 13. Vgl. Gingrich (2002). 20 Vgl. Höffe (2006), S. 140 f. 21 Zur Thematik der ökonomischen Zweckrationalität siehe auch den Beitrag von Bayer sowie zu dessen Relativierung die Beiträge von Gillner und Biehl in diesem Sammelband. 19

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heiten hergestellt werden. Von diesen Wesenheiten wird geglaubt, dass sie maßgeblich das irdische Leben beeinflussen und über Glück, Reichtum oder Gesundheit bestimmen. Eine strikte Einhaltung vorgeschriebener, auch noch so teurer Rituale ist somit aus der Perspektive dieser Gesellschaftsmitglieder, auch aus ökonomischer Sicht, vollkommen rational. Die Menschen ergeben sich den Regeln ihrer Ahnen, da sie fest daran glauben, dass sie in positiver und negativer Hinsicht einen direkten und alltäglichen Einfluss auf das irdische Dasein ausüben. Es gilt diese unterschiedlich kulturell geprägten Rationalitäten, die sich einem Außenbetrachter nicht auf den ersten oder auch zweiten Blick erschließen, zu erfassen, um der kulturellen Komplexität unserer Menschheit wertfrei gerecht werden zu können.22 Wie schwer vielen Menschen dieser wertfreie Zugang zu kultureller Andersartigkeit fällt, erfahren wir tagtäglich aus den Medien, aber auch bei einer Auseinandersetzung mit den universellen Katgeorien „Mensch“ und „Fremder“.

IV. Der Gegenmensch und Prozesse des othering Ein Blick in das Nachschlagewerk „Völker der Vierten Welt“23 oder auch in andere Lexika der Ethnologie zeigt, dass die Ethnonyme (Selbstbezeichnungen) vieler Volksgruppen schlicht für den Begriff „Mensch“ stehen. Die eigene Gruppe wird als repräsentativ für die Menschheit angesehen, während alles „Fremde“ als nicht-menschlich abgewertet und zum Teil gar als Bedrohung empfunden wird.24 Aus ihrer Perspektive sind nicht sie, sondern die Außenwelt peripher, fremd und anders. Diese Phänomene der Ein- und Ausgrenzung, des sogenannten othering (VerAnderung), sowie des Bedrohungsempfindens gegenüber allem Fremden gibt es nicht nur bei den sogenannten indigenen Völkern, sondern in allen menschlichen Gesellschaften, auch in Deutschland – wie Debatten über „Ausländer“ immer wieder deutlich machen. Es herrschen, neben politischen Motivationen, Vorstellungen der Perfektion und der normativen Allgemeingültigkeit des Eigenen vor. Das Fremde wird zum Gegenbild des Eigenen gemacht. Tendenziell wird der „Andere“ zunehmend mehr zum „Fremden“ für die eigene Wahrnehmung, je mehr seine kollektiven Prägungen nicht dem eigenen Hintergrund entsprechen.25 Georg Simmel schreibt dementsprechend in seinem „Exkurs über den Fremden“: „Der Fremde ist uns nah, insofern wir Gleichheiten nationaler oder sozialer, berufsmäßiger oder allgemein menschlicher Art zwischen ihm und uns fühlen; er ist 22 23 24 25

Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.

Tomforde (2006), Kapitel 6. Lindig (1981). Tomforde (2006), S. 221 ff. Said (1978).

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uns fern, insofern diese Gleichheiten über ihn und uns hinausreichen und uns beide nur verbinden, weil sie überhaupt sehr Viele verbinden. In diesem Sinne kommt leicht auch in die engsten Verhältnisse ein Zug von Fremdheit.“26

Obwohl bewusst ist, dass wir alle – egal aus welcher Region der Erde wir kommen – Menschen sind und damit gewisse Universalien teilen, wird der Andere nur schwer in seiner Andersheit akzeptiert. Das Konzept des Gegenmenschen und des Feindes hat es unter Menschen schon immer gegeben. Es wird zwischen Gut und Böse unterschieden, wobei es gerade das Fremde ist, auf das alles Negative, Böse und Andersartige in normativer Abgrenzung zum Eigenen, Guten und Bekannten projiziert wird. Die Unterscheidung des Menschen in „Wir“ und „Sie“, in „Einheimisch“ und „Fremd“, in „Mensch“ und „Gegenmensch“ ist eine anthropologisch universale Disposition. Der Grund dafür liegt in dem organisierenden, gruppenerhaltenden Prinzip, das Bedeutung stiftet, Gruppenidentitäten fördert und psychohygienische Ursachen hat.27 Für den polnisch-britischen Soziologen und Philosophen Zygmunt Baumann ist das Fremde der Inbegriff des Ambivalenten, des „Unentscheidbaren“.28 Der, die oder das Fremde wird also erst durch den Beziehungsmodus fremd. Das Andere wird in einem stets variablen Kontext dem „Eigenen“ und dem „Innen“ gegenübergestellt und im Zuge eines ubiquitären, gesellschaftlichen Ordnungswillens entweder negiert, assimiliert oder ausgeschlossen. „Der Fremde ist also stets ein in bestimmter Hinsicht ausgezeichneter Anderer, ein Bezugspunkt, der nicht zum Eigenen gehört und eben aufgrund dieser Eigenschaft ein Bezugspunkt kognitiver und pragmatischer Orientierung ist.“29

Es ist somit leichter, das Ungewohnte zu erkennen und die Differenz zu bestimmen, als die eigene Kultur in ihrer Ganzheit von innen heraus zu erfassen. Bei Kultur handelt es sich eben um ein verinnerlichtes, größtenteils unbewusstes kulturelles Orientierungssystem, das leichter durch einen „Spiegel“ – dem Fremden – bestimmt werden kann.30 Gegenmensch, Feindbilder und Prozesse des othering sind jedoch keine biologischen, psychologischen oder gar unüberwindbare Notwendigkeiten, sondern treten u. a. vermehrt als Abwehrmotivation auf, wenn Unsicherheit oder Bedrohung objektiv gegeben ist oder subjektiv empfunden wird. Zygmunt Baumann31 unterstreicht, dass Menschen mit kulturellen Unterschie26 27 28 29 30 31

Simmel (1968), S. 511. Vgl. Heim (1992), S. 723 sowie Wulf (1999). Vgl. Baumann (1992), S. 76. Stenger (1997), S. 161, Hervorhebungen im Original. Vgl. Fornet-Betancourt (2006), S. 124. Vgl. Baumann (1992), S. 79 f.

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den leben können, solange sie nur daran glauben, dass die verschiedene Welt eine ordentliche Welt wie die eigene ist. Das Erleben des Fremden entspringt einer bestimmten Beziehungsstruktur und Sichtweise gegenüber kultureller Differenz und ist somit wandel- und beeinflussbar.

V. Die Bundeswehr: Umgang mit kultureller Differenz Die Art und Weise, in der die Anderen konstruiert werden, ist gleichzeitig die Art und Weise, in der eine Gesellschaft sich auch selbst konstruiert. Wie geht nun eine Organisation, die ursprünglich zur Verteidigung eigener Landesgrenzen, Werte und Lebensweisen gegenüber einem feindlichen Gegenüber gedacht war, mit kultureller Fremde um? Inwiefern haben Militärangehörige Kontakt zur lokalen Bevölkerung in den Einsatzgebieten und wie nehmen sie diese wahr? Als Teil einer zu beschützenden „Wir-Gruppe“ oder als „die Fremden“? Weisen die Soldaten interkulturelle Kompetenz auf, wenn sie mit den Einheimischen interagieren oder stellen sie sich normativ über die „Anderen“, zu deren Beschützung und Unterstützung sie vom deutschen Parlament entsandt werden? Soldaten der Bundeswehr werden in drei Bereichen mit sogenannten kulturellen Überschneidungssituationen konfrontiert, in denen sie sich ihrer eigenen kulturellen Prägung bewusst sein und das Fremde wertneutral als anders aufnehmen sollten: Erstens im Umgang mit der lokalen Bevölkerung in den Einsatzländern, zweitens im Umgang mit Soldaten anderer Nationen im Rahmen multinationaler Kooperationen sowie drittens im Umgang mit Bundeswehrsoldaten, die einen fremdkulturellen und/oder -religiösen Hintergrund aufweisen. Die folgenden Ausführungen beziehen sich vorwiegend auf die Auslandseinsätze der Bundeswehr. Interkulturelle Kompetenz wird an einigen Stellen in der Bundeswehr mittlerweile als „Schlüsselqualifikation“ für die Einsatzarmee des 21. Jahrhunderts betrachtet und bezeichnet.32 Gesprächen mit Vertretern des Bundesministeriums der Verteidigung ist zu entnehmen, dass die militärische Führung weitgehend erkannt hat, dass der kultursensible Umgang mit der einheimischen Bevölkerung in den Einsatzgebieten friedensstabilisierend sein kann und den Eigenschutz der stationierten Soldaten erhöht. Bei Einsätzen wie in Afghanistan, im Kongo, im Kosovo oder in Bosnien-Herzegowina ist es für die Bundeswehr sowie für andere Streitkräfte von zentraler Bedeutung, einen guten Kontakt zur Zivilbevölkerung aufzubauen, ihr Vertrauen durch kulturadäquate Verhaltensweisen zu gewinnen und dadurch 32 Vgl. Haußer (2006), S. 441, Berns/Wöhrle-Chon (2004), S. 323 und Bil (2003), S. 58.

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über etwaig geplante Anschläge vermeintlicher Terroristen, Regierungsgegner oder Kriegstreiber informiert zu werden. Die Einsatzarmeen werden einen Auftrag wie z. B. die Stabilisierung einer Region nicht erfolgreich verfolgen können, wenn die lokale Bevölkerung ihnen nicht das Vertrauen entgegenbringt, eine neutrale Kraft zu sein, der tatsächlich an einer friedlichen Entwicklung und nicht z. B. an der (verdeckten) politischen Unterstützung einer Konfliktpartei oder der Ausbeutung natürlicher Ressourcen gelegen ist.33 Projekte der Streitkräfte können z. B. aufgrund mangelnder Kenntnisse über komplexe soziokulturelle Gegebenheiten sowie an einer Unkenntnis über unterschiedlichste Kommunikationsformen scheitern. Misstrauen und Ablehnung gegenüber als „Besatzern“ empfundenen Soldaten können fatale Folgen haben wie das Beispiel US-amerikanischer Soldaten im Irak täglich beweist, das von Misstrauen, Ängsten und soziokulturellen Missverständnissen geprägt ist. Das stark erweiterte Einsatzspektrum und die gewachsene Anzahl an internationalen Einsätzen stellen somit nicht nur die Organisation Bundeswehr vor neue Aufgaben interkultureller Art, sondern auch die Soldaten. Im Kontakt mit der zumeist multikulturell zusammengesetzten Bevölkerung der Einsatzregionen sollten Soldaten, um interkulturell kompetent handeln zu können, Ambiguitätstoleranz, Einfühlungsvermögen, Rollendistanz, Kommunikations- und Empathiefähigkeit, Kontaktfreudigkeit, Verhaltensflexibilität, Unvorgenommenheit, Toleranz, Respekt, Offenheit, Initiative, geringen Ethnozentrismus sowie eine hohe Frustrationstoleranz mitbringen. Sie müssen sich obendrein ihrer eigenen kulturellen Prägung bewusst sein, um sich fremdkulturellen Wert- und Deutungsmustern sowie Verhaltensweisen gegenüber öffnen zu können. Es stellt sich bei diesem komplexen Anforderungsprofil, welches zusätzlich zu militärischen Fähigkeiten und sozialen Kompetenzen aufgewiesen werden sollte, berechtigterweise die Frage, ob alle Soldaten diesem Profil gerecht werden können und müssen. Interkulturelle Kompetenz (IK) wird in der Bundeswehr nach wie vor weitestgehend nicht als Ergebnis eines längerfristigen Lernprozesses, sondern als ein in einem „Crash Kurs“ vermittelbarer, kulturspezifischer Lerninhalt konzeptualisiert. Infolgedessen wird in der militärischen Ausbildung zu wenig Zeit und Raum für dieses Thema reserviert.34 In den meisten Einsatzregionen gelingt es den Bundeswehrangehörigen trotz des erheblichen Mankos in der IK-Vorausbildung, sich mittels ihrer zurückhaltenden, höflichen Art – auch im Vergleich mit anderen Streitkräften – einen guten Ruf innerhalb der Bevölkerung zu erarbeiten. Das kulturell sensible Auftreten der Soldaten hat im Kosovo beispielsweise maßgeb33 34

Vgl. Berns/Wöhrle-Chon (2004), S. 322. Vgl. BGS (2007), S. 53 f.

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lich dazu beigetragen, dass die deutschen Streitkräfte als militärischer, neutraler Partner der Zivilbevölkerung angesehen wird.35 Zusätzlich gewährleistet die von der Bundeswehr verfolgte Deeskalationsstrategie, die auch in den kontingentvorbereitenden Ausbildungen eine zentrale Rolle spielt, eine hohe Akzeptanz für die Präsenz und die Arbeit der Bundeswehr bei den krisengeschüttelten Bevölkerungen in den Einsatzgebieten. Dies trifft selbstredend nicht auf Gruppierungen zu, die kein Interesse an einem friedlichen Wiederaufbau ihres Landes haben, von einem Fortbestand des Konflikts profitieren und dementsprechend die militärische Präsenz mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln bekämpfen. Angehörige der Bundeswehr sind sich sehr wohl bewusst, dass sie einen maßgeblichen Anteil der Bevölkerung von ihrer Anwesenheit und Arbeit überzeugen müssen, um rechtzeitig über geplante Anschläge informiert zu werden und eine breite Unterstützung der zumeist divers zusammengesetzten feindlichen Akteure zu verhindern. Ob der noch mangelhaften interkulturellen Vorausbildung der Bundeswehrangehörigen, haben viele Soldaten im direkten Kontakt mit der lokalen Bevölkerung in den Einsatzgebieten bisher beachtenswertes Fingerspitzengefühl bewiesen. Gleichzeitig hatten sie Glück, dass sie bisher vergleichsweise selten in „kritische“ Situationen geraten sind, in denen mehr als allgemeines Einfühlungsvermögen und Höflichkeit gegenüber dem Anderen erforderlich war. Im folgenden Abschnitt wird verdeutlicht, welche Art des direkten und indirekten Kontakts Bundeswehrsoldaten während der Auslandseinsätze mit Einheimischen in der Regel haben, wie sie diese wahrnehmen und wie sie mit der kulturellen Fremde umgehen.

VI. Direkter und indirekter Kulturkontakt Bei einem Besuch36 in den Einsatzgebieten der Bundeswehr fällt zunächst auf, dass nur ein geringer Anteil der Soldaten überhaupt täglich das Feldlager verlassen darf. Der Prozentsatz derer, die aus dienstlichen Gründen täglich oder mehrmals in der Woche die Möglichkeit haben, außerhalb des Lagers tätig zu sein, schwankt je nach Sicherheitslage zwischen 10 (Kabul, Afghanistan) und 45 Prozent (Rajlovac, Bosnien-Herzegowina). Alle anderen Soldaten verbringen einen Großteil ihres Einsatzes für unterstützende Tätigkeiten innerhalb des eingezäunten, militärisch geprägten Feldlagers. Die Erfahrungen mit der einheimischen Bevölkerung reduzieren sich auf wenige Begegnungen mit dem im Feldlager arbeitenden lokalen Per35

Vgl. Haußer (2006), S. 448. Die folgenden Aussagen beziehen sich auf qualitative Forschungsdaten, die im Laufe von vier Jahren (2003–2007) in den Auslandseinsätzen der Bundeswehr gewonnen worden sind. 36

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sonal sowie auf Erzählungen seitens der außerhalb agierenden Kameraden sowie auf im Feldlager kursierende Geschichten und per Hören-Sagen weitergegebene Begebenheiten und Beurteilungen. So muss in einer Betrachtung von interkultureller Kompetenz im Auslandseinsatz zwischen dem direkten Kulturkontakt derer, die außerhalb des Lagers, und dem indirekten Kulturkontakt derer, die vorwiegend innerhalb des Lagers tätig sind, unterschieden werden. Die Kontingentangehörigen, die außerhalb des Feldlagers tätig sind, sind in einem besonderen Maße durch kulturelle Überschneidungssituationen gefordert. Nicht nur, dass sie sich auf die unterschiedlichen ökonomischen, politischen, religiösen und sozialen Umstände der soziokulturell zumeist heterogenen Gastbevölkerung einstellen müssen, sie müssen dies auch noch in einem von Krieg, Gewalt und Instabilität geprägten Umfeld leisten. Interkulturelle Kompetenz wird ihnen in Situationen abverlangt, in denen sie nicht genau einschätzen können, wer Freund und wer Feind ist. In denen sie nicht wissen, wem sie trauen können und wem nicht. Die interkulturellen Beziehungen zwischen Soldaten und der Bevölkerung des Einsatzlandes sind somit auch immer von Machtrelationen und -gefällen beeinflusst. Einheimische und Soldaten begegnen sich nicht gleichberechtigt „auf gleicher Augenhöhe“, sondern vor dem Hintergrund, dass die Bundeswehr zur Stabilisierung des Landes beitragen soll. Diese Tatsache führt bei einigen Kontingentangehörigen zu Überlegenheitsgefühlen und Ethnozentrismus. Die Einheimischen werden in diesem Falle in der Tat als die „Anderen“, als die „Gegenmenschen“ konzipiert, denen sich die Soldaten moralisch, politisch, ökonomisch, sozial, etc. überlegen fühlt. Interkulturell kompetentes Verhalten, welches über die reine Höflichkeit hinausgeht und auch in unvorhergesehenen, kritischen Situationen von Handlungssicherheit in einem kulturfremden Umwelt zeugt, ist schwer zu erreichen, wenn der Gegenüber als nicht gleichwertig empfunden wird. Ein kulturoffenes, nicht wertendes Verhältnis seitens der Bundeswehrangehörigen im Auslandseinsatz gegenüber Bewohnern der Einsatzregion wird nicht nur durch die permanente Gefahr, die unzähligen Unsicherheiten und die weltpolitisch beeinflussten Machtrelationen erschwert, sondern zusätzlich durch die Folgen der Massenverelendung und der fehlenden Zivilgesellschaft in den Einsatzgebieten. Viele der noch sehr jungen Soldaten sind das erste Mal mit extremer Armut und dem Fehlen gesellschaftlicher Strukturen konfrontiert. Selbst auf dem Balkan sind Militärangehörige immer wieder über die Mittellosigkeit der Menschen sowie das allgegenwärtige Abfallproblem schockiert. Themen wie diese erschüttern die Soldaten zum Teil nachhaltig, belasten sie psychisch und beschäftigen sie auch noch lange nach der Rückkehr nach Deutschland. Für viele löst nicht der (ohne-

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hin kaum stattfindende) Kontakt mit der fremden Kultur des Einsatzlandes einen Kulturschock aus, sondern die Konfrontation mit Elend und den mannigfachen Folgen von Gewalt und Krieg. Nicht wenige Soldaten beginnen zudem an der Sinnhaftigkeit der Auslandseinsätze sowie ihres eigenen Beitrags zu zweifeln, wenn sie bereits das zweite oder dritte Mal in einer Region eingesetzt sind und in der Zwischenzeit keine erkennbaren (Entwicklungs-)Fortschritte erzielt werden konnten. Als Folge setzt Frust und Motivationsverlust ein, die Offenheit und Frustrationstoleranz gegenüber der lokalen Bevölkerung erschweren. Als Folge einer noch unzureichenden, tiefgreifenden interkulturellen Vorausbildung und der komplexen Herausforderungen, mit denen Einsatzsoldaten in kulturellen Überschneidungssituationen vor Ort konfrontiert sind, mangelt es einigen Einsatzsoldaten somit an kulturadäquatem und -sensiblem Verhalten. Fehlende interkulturelle Kompetenzen beziehungsweise ethnozentristische Einstellungen machen sich insbesondere durch abfällige Bemerkungen gegenüber der Einsatzlandbevölkerung und einer niedrigen Toleranzgrenze im Umgang mit Einheimischen bemerkbar. „Das sind doch alles Klingonen“ ist ein weit verbreiteter, zum Teil scherzhaft, zum Teil aber eben doch sehr ernst gemeinter Satz, der von kultureller Überheblichkeit und Vorurteilen zeugt. Die aus dem Film Star Trek für Außerirdische übernommene Bezeichnung ist dabei austauschbar mit anderen pejorativen Begriffen wie Bimbo, Neger, Affen etc. Im Sinne Georg Simmels stehen die Menschen der Einsatzgebiete den meisten Kontingentangehörigen, sowohl außerhalb als auch innerhalb der Feldlager, in der Tat „jenseits von fern und nah“37, sie sind so fremd wie Außerirdische und würden damit in die Kategorie des „Gegenmenschen“ fallen. Konzeptionell ist die Lokalbevölkerung der Einsatzgebiete vielen Soldaten, insbesondere denen hinter den Feldlagerzäunen, so fern, dass sie zwischen sich und ihnen keine soziokulturellen Gemeinsamkeiten erkennen können. Diese Grundhaltung, die sicherlich nicht bei allen zu beobachten ist, erschwert kultursensibles Verhalten gegenüber den Einheimischen in der Fremde. Viele Soldaten können die Folgen der Gewalt und die Armut auf den Straßen Afghanistans nicht in einem größeren Gesamtzusammenhang sehen und auch nicht für die vom Krieg zerrütteten Gesellschaften Toleranz und Empathie aufbringen. Sie können zudem negative Handlungen seitens einiger gegen sich oder die Streitkräfte nicht nachvollziehen; sie nehmen diese persönlich und fühlen sich in ihren eigenen normativen Grundüberzeugungen zutiefst bedroht. Ferner sind viele Soldaten durch den beständig propagierten „Kampf der Kulturen“ zwischen Christentum und Islam, zwischen westlichen und arabischen/islamischen Ländern beeinflusst. Viele Kontin37

Simmel (1968), S. 509.

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gentangehörige sind sich der z. T. politisch motivierten Polarisierung nicht bewusst, sondern fühlen sich – wie weite Teile der deutschen Bevölkerung auch – von „dem“ (zumeist sehr undifferenziert wahrgenommenen) Islam bedroht.38 Diese Bedrohung wird für die meisten Militärangehörigen insbesondere in den Einsatzgebieten aktuell, da diese muslimische Bevölkerungsanteile aufweisen. Mangelnde interkulturelle Fähigkeiten und abwertende Stereotypisierungen gegenüber der Bevölkerung der Einsatzländer unter den Soldaten können als Folge unzähliger Umstände gewertet werden. Zu den wichtigsten zählen: 1. die unzureichende interkulturelle (Vor-)Ausbildung seitens der Bundeswehr; 2. die mannigfachen Herausforderungen der kriegszerrütteten Einsatzregionen; 3. die weltpolitisch beeinflussten Machtrelationen; 4. der Zweifel an der Sinnhaftigkeit des Einsatzes seitens der Soldaten; 5. die diversen persönlichen Erschwernisse des Einsatzes, welche die Soldaten sehr belasten und für psychische Instabilität sorgen können und 6. die in westlichen Ländern auf allen Ebenen weit verbreitete Polarisierung gegen „den“ Islam und „die“ Muslime. Diese sechs Punkte tragen dafür Rechnung, dass viele Bundeswehrsoldaten die Bevölkerung der Einsatzländer nicht als gleichberechtigte Partner, als Teil einer „Wir-Gruppe“, sondern als „Fremde“ und „Gegenmenschen“ wahrnehmen. Vor diesen Gegenmenschen gilt es sich normativ abzugrenzen und zu schützen. Dieses Ergebnis darf jedoch nicht den Blick für die Bundeswehrangehörigen versperren, die z. B. die Afghanen als gleichberechtigte Partner verstehen, die fremde Lebensweise von innen heraus kennen lernen möchten und den Hilfsbedürftigen auf der Basis eines sehr engagierten, partizipativen Ansatzes zu helfen versuchen. Diese Soldaten weisen ausgeprägte interkulturelle Fähigkeiten auf. Sie verstehen kulturelle Fremdheit nicht als Bedrohung, sondern als Ergänzung zum Eigenen – als persönliche Bereicherung.

VII. Fazit Darüber hinaus existiert das Konzept des Gegenmenschen, mit dem die soziokulturelle Abgrenzung zwischen dem Eigenen und dem Fremden, zwischen innen und außen und die Kategorien von „wir“ und „sie“ erfasst werden soll. Weiteres Ziel des Kapitels ist mit Blick auf die Bundeswehr zu erörtern, welche Konsequenzen diese vielen Gesellschaften innewohnende Abgrenzung zwischen dem Eigenen und dem Fremden für die Soldaten in den Auslandseinsätzen hat. Welche Menschenbilder liegen bei deutschen Militärangehörigen vor; wie gehen sie mit der einheimischen Bevölkerung in den Einsatzgebieten um? Definieren sie sie als „Fremde“, von denen sie 38

Vgl. Hossein Nasr (2006), S. 181 ff. und Croissant/Schwank (2006).

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sich abgrenzen müssen, oder gelingt es den Kontingentangehörigen mittels interkultureller Kompetenz, etwaige kulturelle Vorbehalte und Abgrenzungsmechanismen zu überwinden? Dieser Beitrag ist zunächst der Frage nachgegangen, welches Menschenbild in der Ethnologie vorherrscht. Es konnte aufgezeigt werden, dass nicht nur ein Menschenbild, sondern ob der ethnologischen Auseinandersetzung mit kultureller Vielfalt, eine Vielzahl an Menschenbildern vorherrscht. Diese Feststellung hat zu der Diskussion geführt, wie Menschen im allgemeinen mit dieser kulturellen Differenz umgehen und wie sie grundsätzlich gegenüber dem „Anderen“ eingestellt sind. Als Ergebnis konnte festgehalten werden, dass es zu den anthropologisch universellen Dispositionen von Gesellschaften zählt, dass Menschen sich vom vermeintlich „Fremden“ – wie auch immer diese Fremde definiert sein mag – abgrenzen. Wird der „Fremde“ in seiner Andersartigkeit nicht wertneutral, sondern ethnozentristisch als minderwertig wahrgenommen, wird er in einem Prozess des othering, der VerAnderung zum „Gegenmenschen“, dem nur noch schwer ohne stereotype Vorbehalte und Vorurteile begegnet werden kann. Auch für die Bundeswehr ist es mittlerweile von sicherheitspolitischer Relevanz, wie ihre Angehörigen in kulturell fremden Einsatzregionen wie im Kosovo oder in Afghanistan mit dem Gegenüber, der Bevölkerung der Krisengebiete, umgehen. Für die Erfüllung des Auftrags sowie für die Sicherheit der Truppe ist es zentral, dass die Soldaten das Vertrauen möglichst vieler Einheimischer gewinnen. Dies kann ihnen langfristig nur gelingen, wenn sie den Menschen auch in Krisensituationen interkulturell kompetent und professionell gegenüber treten. Den Gegenüber nicht pejorativ als „Gegenmenschen“ wahrzunehmen, sondern als einen Angehörigen einer anderen Kultur, ist eine der Grundvoraussetzungen für Interkulturelle Kompetenz. Andere, auch noch so schwer verständliche und nachvollziehbare Werte, Normen, Glaubens- und Lebensweisen gilt es zunächst nichtwertend in ihrer Andersartigkeit zu erfassen und zu akzeptieren. Erst in einem zweiten Schritt sollten wir unsere eigene kulturelle Prägung betrachten und für uns persönlich feststellen, inwiefern wir Toleranz gegenüber der anderen Kultur aufbringen können und in welchen Bereichen wir für uns Grenzen ziehen müssen, ohne einen Dialog gänzlich unmöglich zu machen. Ferner sollten neben den Unterschieden auch die vielen Gemeinsamkeiten menschlicher Daseinsgestaltung Beachtung finden, welche die Basis für gelungene interkulturelle Überschneidungssituationen bilden. Insbesondere zu Zeiten von Globalisierung, veränderten sicherheitspolitischen Rahmenbedingungen und militärisch-zivilen Friedensmissionen kann ein kultursensibles Verhalten gegenüber dem Anderen nicht länger ein zu negierender Faktor sein, sondern muss in das Leitbild international agieren-

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der Organisationen wie das der Streitkräfte sowie in das berufliche Selbstverständnis der Akteure integriert werden. Für die Bundeswehr bedeutet dies, dass sie sich u. a. im Rahmen von Dienstposten für IK-Spezialisten/ Trainer, Curricula und klar frei gehaltener Zeitfenster für die IK-Ausbildung zum Respekt vor der Vielfalt der Kulturen offen bekennen muss. Durch IK-Lehre und Trainings in der Bundeswehr kann nicht nur die Sicherheit der Soldaten in den Einsatzländern maßgeblich erhöht, sondern auch ein Beitrag zur gesamtgesellschaftlichen Einbindung von Militärangehörigen erreicht werden. Als Multiplikatoren können Soldaten interkulturelle Fähigkeiten in die Zivilgesellschaft hineintragen und somit gesamtgesellschaftlich wünschenswerte Übermittlungseffekte erzielen. Unsere Gesellschaften werden nicht soziokulturell homogener, sondern heterogener – nicht abgeschlossener, sondern immer vernetzter. Es ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, das Fremde an sich als Vielfalt und Bereicherung unseres Lebens anzusehen. In diesem Zusammenhang gilt es gegen Ethnozentrismus, Überhöhung und Überschätzung der Eigenkultur auf der einen Seite und gegen Ablehnung, Misstrauen und Vorurteile gegenüber Trägern einer Fremdkultur auf der anderen Seite anzugehen. Es ist somit eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, das Fremde an sich als Vielfalt und Bereicherung anzusehen.39 Literatur Antweiler, Christoph (2007): Grundpositionen interkultureller Ethnologie, Nordhausen: Traugott Bautz. Barth, Fredrick (1996): Global Cultural Diversity in „Full World Economy“, in: Arizpe, Lourdes (Hrsg.), The Cultural Dimensions of Global Change: An Anthropological Approach, Paris: United Nations International, UNESCO Publishing, S. 19–29. Baumann, Zygmunt (1992): Moderne und Ambivalenz: Das Ende der Eindeutigkeit. Hamburg: Junius Verlag. Berns, Andreas/Wöhrle-Chon, Roland (2004): Interkulturelle Kompetenz im Einsatz, in: Gareis, Sven und Paul Klein (Hrsg.): Handbuch Militär und Sozialwissenschaft, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 322–330. – (2006): Interkulturelles Konfliktmanagement, in: Gareis, Sven und Paul Klein (Hrsg.): Handbuch Militär und Sozialwissenschaft, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 350–358. BGS Beratungsgesellschaft (2007): Abschlussbericht zur Studie „Interkulturelle Kompetenz“ für das Zentrum Operative Information, Mayen, Köln/Bonn: BGS. Interne Studie. 39

Vgl. Berns/Wöhrle-Chon (2004), S. 323.

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Menschenbild und gender Von Jörg Keller

I. Einführung Im Jahr 2000 ereignete sich etwas für manchen „Bundesbürger“, aber auch für manchen „Staatsbürger in Uniform“ Unerhörtes: Alle Laufbahnen und Verwendungen in der Bundeswehr wurden für Frauen geöffnet. Freilich geschah dies nicht aus heiterem Himmel oder auf der Basis einer demokratischen Entscheidung, die Öffnung der Bundeswehr für Frauen folgte einer richterlichen Entscheidung. Etwas anderes Unerhörtes ereignete sich im Jahr 1971 in der Schweiz: Kopfschüttelnd nimmt die Masse der Deutschen wahr, dass mit einem Abstimmungsergebnis mit 66% Ja-Stimmen gegen 34% Nein-Stimmen die Schweizer Frauen das Wahlrecht auf Bundesebene erhalten. Doch es dauerte noch bis zum 27.11.1990, bis die Frauen ihr Stimmrecht auf der Basis eines Bundesgerichtsurteils auch im letzten Kanton auf Kantonsebene erhielten.1 Das Kopfschütteln, das Gefühl des Unerhörten tritt ein, wenn etwas der natürlichen Ordnung zu widersprechen scheint. „Frauen geben Leben, sie töten nicht; daher können sie natürlicherweise keine Soldaten sein.“ „Männer und Frauen sind gleichberechtigt, wie kann ihnen das Wahlrecht vorenthalten werden?“ Noch dramatischer werden unsere Reaktionen, wenn wir mit dem Kopftuchzwang, dem Schador oder der Burkha in islamischen Gesellschaften konfrontiert werden. Was dort als natürliches Recht oder Verpflichtung gesehen wird, gilt hier als himmelschreiendes Unrecht. Im normalen Alltag haben wir Antworten auf die Fragen nach richtig und falsch, recht und unrecht, doch die Soziologie beginnt dort, wo man anfängt, das zu bezweifeln oder zu hinterfragen, was „man so weiß“. Nach den Vorstellungen Emil Durkheims „tritt uns die soziale Ordnung in Form sozialer Tatsachen entgegen. Dazu gehören Werte und Überzeugungen, Vorschriften und Regelungen. Sie sind Teil dessen, was jeder in der Gesellschaft mehr oder weniger über das richtige Verhalten weiß“2. Komplementär zu den sozialen Tatsachen und unmittelbar auf sie bezogen ist jedem 1 2

Vgl. Jud (2004). Abels (2007), S. 127 – Hervorhebung im Original.

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Menschen ein Menschenbild zu eigen, das in individueller Weise geprägt ist. Es speist sich aus grundlegenden Annahmen über das Wesen des Menschen und begründet gleichsam naturhaft die gültigen Überzeugungen, Vorschriften und Regelungen. Jeder von uns, sei er studiert oder nicht, reich oder arm, trägt ein solches facettenreiches, manchmal auch in sich widersprüchliches Bild mit sich und bezieht sich in seinen Handlungen darauf. In dieser Arbeit soll nun von einigen derartigen Menschenbildern die Rede sein. Sie sollen knapp skizziert und nach den Folgerungen für die sozialen Tatsachen, welche sich im Verhältnis der Geschlechter äußern, untersucht werden. Ziel ist es dabei nicht, Menschenbilder zu desavouieren, zu widerlegen oder aber zu ihrem Recht zu verhelfen; Ziel ist vielmehr, einerseits die gesellschaftliche Bedingtheit der Menschenbilder aufzuzeigen und andererseits ihre Folgen für das menschliche Handeln zu beleuchten. Warum ist das von Bedeutung? Wir fordern allzu schnell, muslimische Frauen vom Kopftuch oder Schador zu „befreien“, Mädchen in Afghanistan den Schulbesuch zu ermöglichen oder Soldaten im Einsatz das dienstliche Bordell zu verschaffen. Hinter jeder dieser Forderung steht ein ganz bestimmtes Bild der Frau oder des Mannes, das meist vorbewusst wirkt. Unser Gegenüber, an den wir die Forderung richten, argumentiert und reagiert ebenfalls auf der Grundlage eines Bildes, eines Menschenbildes. Ist es unserem ähnlich, haben wir meist Glück und unsere Wünsche werden erfüllt. Ist es das nicht, mag es zum unversöhnlichen Konflikt kommen, der bis zur tödlichen Folge getrieben werden kann. Ehrenmorde – auch in Europa – und/oder niedergebrannte Mädchenschulen in Afghanistan legen Zeugnis dafür ab. Aber nicht nur von Gewalt in der Ferne muss hier die Rede sein, auch die Gewalt in Deutschland gegen das jeweils andere Geschlecht in ihrer ganzen Bandbreite, von der Benachteiligung über die Belästigung bis zur physischen Schädigung, entspringt häufig diesen Grundeinstellungen.3 Wie bereits gesagt, ist es nicht Ziel dieser Arbeit zu moralisieren, falsch und richtig aufzuzeigen, es sollen vielmehr anhand einiger Beispiele Menschenbilder aufgezeigt werden und ihre jeweiligen Folgen für die Sicht auf die Geschlechter entwickelt werden. Im Vergleich dieser Bilder wird von selbst die konflikthafte Spannung deutlich werden, welche die Bilder und damit ihre Träger oft in unversöhnliche Positionen scheidet.

3 Vgl. zu diesen Überlegungen auch den Beitrag von Tomforde in diesem Sammelband.

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II. Der Ursprung der unterschiedlichen Menschenbilder Woher rühren diese unterschiedlichen Menschenbilder? Berger und Luckmann gehen davon aus, dass die objektiven Bedingungen, unter denen ein Mensch lebt, sein Denken beeinflussen.4 Sie zählen zu diesen objektiven Bedingungen auch das Wissen, welches in der Gesellschaft existiert. Wissen ist dabei allerdings nicht das lexikalische Wissen, es ist das Alltagswissen, welches jedermann besitzt. „Dieses ‚Wissen‘ eben bildet die Bedeutungs- und Sinnstruktur, ohne die es keine menschliche Gesellschaft gäbe“5. Indem dieses gesellschaftliche Wissen immer wieder durch das Handeln praktiziert und bestätigt wird, schafft es permanent soziale Ordnung und wird als objektiv und wahr erfahren. „Ich erfahre die Wirklichkeit der Alltagswelt als eine Wirklichkeitsordnung. Ihre Phänomene sind vor-arrangiert nach Mustern, die unabhängig davon zu sein scheinen, wie ich sie erfahre, und die sich gewissermaßen über meine Erfahrungen von ihnen legen. Die Wirklichkeit der Alltagswelt erscheint bereits objektiviert, das heißt konstituiert durch eine Anordnung der Objekte, die schon zu Objekten deklariert worden waren, längst bevor ich auf der Bühne erschien.“6

Durch die alltägliche Sprache werden diese Objektivationen unter den Menschen geteilt und mitgeteilt und mit ihnen eine Ordnung konstituiert, die den Menschen in dieser Alltagswelt sinnvoll erscheint. Subjektive Einzelerfahrungen werden so durch Wiederholung zu typischen Erfahrungen verallgemeinert und bilden Erwartungen an die Wirklichkeit. Wenn andere sich dann gemäß dieser Erwartungen verhalten, werden sie, da intersubjektiv geteilt, für das Individuum objektiv. Aus „subjektiv sinnvollen Vorgängen“ entsteht so eine „intersubjektive Welt“7. Mit Hilfe dieser Gedankenlinie lässt sich leicht erfassen, was Gesellschaft und auch Kultur bedeuten. Gesellschaft gibt eine Gruppe von Menschen an, die einen gemeinsamen Alltags-Wissensbestand teilen, der für sie objektiv gilt. Kultur umfasst sowohl diesen Wissensbestand als auch die Handlungserwartungen und Handlungen, die auf ihm beruhen. Die Gedanken von Berger und Luckmann weiterspinnend wird erklärlich, warum es unterschiedliche Kulturen gibt, warum unterschiedliche „Wahrheiten“ existieren und diese Wahrheiten – auch Menschenbilder sind solche Wahrheiten – und die mit ihnen verknüpften Verhaltenserwartungen Menschen in äußerste Konflikte treiben können. 4 Vgl. dazu auch die Ausführungen in den Beiträgen von Stümke, Bayer und Biehl in diesem Sammelband. 5 Berger/Luckmann (1966), S. 16. 6 Berger/Luckmann (1966), S. 24. 7 Berger/Luckmann (1966), S. 16.

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III. Menschenbild und Geschlecht 1. Wissenschaft An dieser Stelle sei eine zweifelnde Nachfrage erlaubt: Ist Geschlecht denn nicht eine biologische Kategorie und damit eine tatsächlich objektive Tatsache, erhaben über gemeinsam konstruiertes Alltagswissen? Die Frage ist berechtigt und geht an den Nerv unserer säkularen und aufgeklärten westlichen Kultur, welche naturwissenschaftliche und damit „objektive“ Wahrheiten als Argumentationsgrundlagen fordert. An dieser Stelle könnte nun ein anstrengender Ausflug in die Wissenschaftstheorie erfolgen, der hier aber verkürzt werden soll. Nur zwei Gedanken zu diesem Thema: Blicken wir auf die augenblickliche Landschaft wissenschaftlicher, besonders naturwissenschaftlicher Forschungsergebnisse, dann halten wir sie für gültig und verlässlich (valide und reliabel). Man würde sonst nie in ein Flugzeug steigen. Blicken wir aber zurück, dann stellen wir schon in der nahen Vergangenheit kopfschüttelnd fest, wie begrenzt dort die Erkenntnismöglichkeiten waren und wundern uns, was alles für wahr gehalten wurde. Der zweite Gedanke führt uns zu den Gegenständen von Wissenschaft: Was wird geforscht und was wird für bedeutend gehalten? Einerseits können wir heute „Rassenforschung“ beim Menschen weder verstehen noch akzeptieren, andererseits fällt uns nicht auf, dass es keine „Männerheilkunde“ als Komplementär der Frauenheilkunde gibt. Was geforscht wird und welche Forschungsgegenstände wie bewertet werden, hängt von gesellschaftlichen Gegebenheiten ab. Damit scheint sogar Naturwissenschaft nicht ganz frei von „soziologischer Kontamination“ zu sein. So dürfte es sich auch mit dem Geschlecht verhalten. In unserer biologischen Alltagssicht ist der größte Teil der zoologischen und ein kleiner Teil der botanischen Welt dichotom in männlich und weiblich geteilt. Wir stellen den Unterschied fest und schreiben beiden Seiten der Unterscheidung Eigenschaften zu. Auf diese Weise machen wir Geschlecht zur Ursache der Eigenschaft: „Frauen können nicht einparken, Männer können nicht zuhören“. Ute Frevert hat in ihrer Arbeit „Mann und Weib, und Weib und Mann“8 anhand von LexikaEinträgen über mehrere Jahrhunderte verfolgt, wie diese Eigenschaftszuschreibungen sich entwickelt und verändert haben. Sie belegt darin auch, dass die Zuweisung bestimmter charakterlicher Eigenschaften an die Geschlechter, sogenannte Geschlechtscharaktere, erst eine Erfindung der Neuzeit sind. Bezüglich des Geschlechts können wir also zwei Ebenen unterscheiden: Einmal die biologische Ebene, welche durch den Unterschied zwischen männlich und weiblich markiert wird, und die soziale Ebene, auf 8

Frevert (1995), S. 23.

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welcher die Zuschreibungen zu diesen beiden Seiten gelagert sind. Im sozialwissenschaftlichen Diskurs wird deshalb auch zwischen Sex, dem biologischen, und Gender, dem sozialen Geschlecht, unterschieden.9 Zusätzlich wird im biologischen/medizinischen Diskurs noch unterschieden zwischen a) genetischem Geschlecht: nach der Ausstattung mit Geschlechtschromosomen, b) phänotypischem oder somatischem Geschlecht: nach der Ausstattung mit den primären und sekundären Geschlechtsmerkmalen, c) Geschlecht durch die Entwicklung der Gonaden10: die Ausstattung mit den Geschlechtshormonen allein reicht nicht aus, dass sich die entsprechenden Gonaden bilden. Entscheidend ist das Vorhandensein eines SRY-Gens (sex determining region Y gene, normalerweise auf dem Y-Chromosom) und dessen Auslesen zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt der embryonalen Entwicklung. Ist das Gen nicht vorhanden oder wird es nicht ausgelesen, entwickelt sich ein weiblicher Phänotyp. So kann ein Mensch durch eine Besonderheit bei der meiotischen (Zell-)Teilung zwar die XY-Austattung erhalten, jedoch fehlt SRY, was zu einem weiblichen Phänotyp führt. Umgekehrt ist eine XX-Austattung mit dem SRY möglich, was trotz weiblicher Gen-Ausstattung zu einem männlichen Phänotyp führt. Zusätzlich kann der Phänotyp in Abhängigkeit des Entwicklungsstadiums durch Mangel oder Zugabe von Testosteron geändert werden.11 Sogar schon bei der Grundausstattung mit Chromosomen gibt es beim Menschen einige Variationen über XX-weiblich und XY-männlich hinaus (X0, Y0, XXX, XXY und XYY). Dabei sind einige Variationen unauffällig, andere mit mehr oder weniger schwerwiegenden Auffälligkeiten/Krankheitsbildern verbunden.12 Der kurze aber tiefere Ausflug in die Biologie zeigt, selbst das biologische Geschlecht ist manchmal so eindeutig dichotom nicht.13 Die dichotomische Unterscheidung in Mann und Frau auf der Basis des Phänotyps aber ist Grundlage unserer gesellschaftlichen Organisation, 9

Vgl. Dietzen (1993), S. 21–22. Keimdrüsen (Hoden/Eierstock). 11 Vgl. Merz (1979). Darüber hinaus findet sich eine sehr anschauliche Darstellung in einem Internetkurs der Universitäten Fribourg, Lausanne und Bern zur Embryonalentwicklung. 12 Vgl. hierzu Universitäten Fribourg, Lausanne und Bern (2007). 13 Ganz außer Acht gelassen haben wir in den Betrachtungen Erscheinungen wie Homosexualität, Transsexualität und Transgender. Deren Einbeziehung würde der tatsächlichen Komplexität von Sex und Gender zwar gerechter, aber sie ändert am Grundanliegen dieser Arbeit wenig, da diese Sachverhalte sich zusätzlich noch quer über die Einteilung in männlich und weiblich legen. 10

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nach der für Männer und Frauen unterschiedliche Verhaltensnormen gelten, unterschiedliche Räume zugeteilt und unterschiedliche hierarchische Positionen angemessen sind. Grundsätzlich können wir zwei Typen der Grundüberzeugungen unterscheiden: einen säkularen und einen religiösen Typus. Der eine gründet in meist wissenschaftlichen, der andere in religiösen Glaubenssätzen. Für beide Typen sollen hier skizzenhaft sowohl zentrale Glaubenssätze als auch die daraus folgenden Grundmuster von Menschenbildern umrissen werden. Den säkularen Typus vertreten hier zwei populäre, aber gegensätzliche Auffassungen, die biologisch fundierte Psychologie und der Konstruktivismus; die religiös fundierten Typen werden durch Christentum und Islam vertreten. a) Die Biopsychologie und Evolutionsbiologie „Menschen sind Tiere. Mal sind wir Monster, mal Elfen, aber immer bleiben wir Tiere. Wir sähen uns gern als gefallene Engel, aber in Wahrheit sind wir Affen, die sich erhoben haben.“14 Mit dieser Aussage verortet Desmond Morris, ein populärer britischer Verhaltensforscher, der unter anderem eng mit dem Nobelpreisträger Nikolaas Tinbergen zusammengearbeitet hat, den Menschen eindeutig im Reich der Biologie, was viele Menschen, die in der westlichen Moderne leben, grundsätzlich auch nicht anzweifeln werden. Allerdings ist der Hinweis auf die gefallenen Engel genauer zu beachten und in zweierlei Hinsicht zu verstehen. Einerseits wendet er sich gegen religiöse/biblische Vorstellungen der Erschaffung des Menschen und der Welt, wie sie neuerdings die sogenannte Kreationisten vor allem in den USA (darunter auch George W. Bush) wieder vehement als auch wissenschaftlich fundierte Wahrheit vertreten; andererseits wendet er sich gegen ein in der abendländischen Philosophie grundlegendes Bild vom entscheidungsfreien Menschen mit eigenem Willen. Morris präzisiert in einem seiner nächsten Sätze: „Allem, was wir tun, liegt ein angeborenes genetisches Muster zugrunde, und alles menschliche Handeln hat etwas mit dem Handeln anderer Arten gemeinsam.“15 Mit dieser Gedankenwelt wird die oben erarbeitete Unterscheidung von Sex und Gender wieder obsolet. Der Mensch hat ein Geschlecht und durch die biologische Programmierung liegt auch sein Verhalten fest und die Differenzen zwischen Mann und Frau sind prinzipiell nicht überbrückbar. Alles, was an Unterschieden zwischen den beiden Geschlechtern beobachtet und auf das biologische Geschlecht zurückgeführt wird, ist gegeben und nicht zu verändern. Diese hier extreme Position eines 14 15

Morris (1994), S. 6. Morris (1994), S. 6.

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Biologismus kann auch in milderer Form auftauchen, indem mehr oder weniger große Einflüsse durch Kultur eingeräumt werden. Während in den Veröffentlichungen der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts die biologische Steuerung des Menschen vor allem in sexueller Hinsicht mit Instinkten und Trieben begründet wurde, so geht der Trend heute eher zu einer biochemischen Betrachtungsweise. Louann Brizendine hat 2006 unter dem Titel „The Female Brain“16 ein viel beachtetes, gut verkauftes, aber zum Teil auch vehement17, 18 bekämpftes Buch aus diesem Blickwinkel vorgelegt. Auf der Basis von Ergebnissen, welche durch bildgebende Verfahren über das menschliche Gehirn gewonnen wurden, zeigt sie massive Unterschiede zwischen den Geschlechtern auf, die durch Geschlechtshormone (z. B. Östrogen, Testesteron, Oxytocin etc.) verursacht seien. „Im Mikroskop und in fMRI-Aufnahmen zeigt sich, dass zwischen männlichem und weiblichem Gehirn komplizierte, umfassende Unterschiede bestehen. Die Gehirnzentren für Sprache und Hören beispielsweise enthalten bei Frauen elf Prozent mehr Neuronen als bei Männern. Der Dreh und Angelpunkt für die Entstehung von Gefühlen und Erinnerungen – der Hippocampus – ist im weiblichen Gehirn ebenfalls größer, und das Gleiche gilt für die Schaltkreise, die der Sprache und der Emotionen bei anderen dienen. Das bedeutet, dass Frauen in der Regel besser in der Lage sind als Männer, Gefühle auszudrücken und sich an emotionale Ereignisse in allen Einzelheiten zu erinnern. Bei Männern dagegen ist dem Sexualtrieb im Gehirn zweieinhalb mal mehr Raum gewidmet, und auch die Gehirnzentren für Aktivität und Aggression sind größer. Einem Mann schießen viele Male am Tag sexuelle Gedanken durch den Kopf, einer Frau etwa ein Mal am Tag oder an besonders hitzigen Tagen auch drei bis vier Mal.“19 Sie geht 16

Deutsche Ausgabe: Brizendine/Vogel (2007). Anne Fausto-Sterling, US-Biowissenschaftlerin und Gender-Theoretikerin, zu diesem Buch: „Louann Brizendine ist eine populäre Autorin, deren Werk von akademischen Ungenauigkeiten strotzt.“, vgl. Fausto-Sterling (2007). 18 Brizendine erhielt den sog. Becky Award für eine schlechte wissenschaftliche und sprachliche Veröffentlichung: „But by a unanimous vote, this year’s Becky goes to the psychiatrist Louann Brizendine, whose bestselling book The Female Brain argues that most of the cognitive and social differences between the sexes are due to differences in brain structure. It’s a controversial thesis. The New York Times’s David Brooks and others have hailed the book as a challenge to feminist dogma, and Brizendine herself has charged that her critics are angry because her conclusions aren’t politically correct. Actually, though, you can leave out the ‚politically‘ part. The reviewers for the British science journal Nature described the book as ‚riddled with scientific errors.‘ And in newspaper commentaries and posts on the LanguageLog blog, the University of Pennsylvania linguist Mark Liberman has been meticulously debunking Brizendine’s claims about men’s and women’s language.“, Language Hat (2007). 19 Brizendine/Vogel (2007), S. 17. 17

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auch davon aus, dass Männer „über eine größere Verarbeitungskapazität in der Amygdala“ verfügten, „jenem urtümlichen Gehirnareal, das Angst wahrnimmt und Aggressionen auslöst.“ (Brizendine/Vogel 2007: 17) Dies sei der Grund, warum Männer aus heiterem Himmel Schlägereien anfingen, während Frauen alles darum gäben, den Konflikt zu entschärfen. Stimmt diese Theorie, dann sind Männer und Frauen dem genetisch vorgegebenen Hormonmix eher mehr als weniger ausgeliefert. Ältere Theorien, welche stärker mit dem Triebbegriff arbeiten, erhielten eine biochemische Fundierung. So auch populäre Vorstellungen, die davon ausgehen, der männliche Sexualtrieb funktioniere wie ein Dampfkessel: Bei Enthaltsamkeit, wie sie zum Beispiel im Auslandseinsatz durch die Umstände erzwungen wird, käme es zu einem Stau und Druckanstieg, der sich entladen müsse. Damit es nun nicht zu Vergewaltigungen oder anderen Übergriffen komme, sollte der Dienstherr (also die Bundeswehr) in solchen Fällen für kontrollierte Bordelle zur Triebabfuhr sorgen. Die Theorie Brizendines sorgt durch die Art der von ihr gemachten Unterscheidung auch dazu, dass dies den zu Hause gebliebenen Frauen nicht zustünde, ihr Sexualtrieb sei schwächer, er funktioniere anders. Für den Leser mag dieses Beispiel nach Gusto und/oder Menschenbild pikant oder geschmacklos sein, ein anderes Buch auf der Basis eines biologischen Begründungszusammenhanges könnte ihn sogar erschrecken: Randy Thornhill und Craig T. Palmer „The History of Rape: Biological Bases of Sexual Coercion“. Thornhill und Craig entwickeln in ihrem Buch eine evolutionstheoretische Theorie, welche auf der darwinistischen Theorie der Evolution durch natürliche Selektion beruht, und sie setzen sich dadurch kritisch mit dem soziologischen Erklärungsmodell auseinander, welches auf kulturellen Lernprozessen fußt. In einer Auseinandersetzung mit ihren Kritikern heißt es: „So gründet sich z. B. die Ansicht, dass das Lernen eine wichtige Ursache für Vergewaltigung sei, auf ideologische Überzeugungen und nicht auf wirkliches Wissen über das Zustandekommen von Verhaltensmerkmalen. Soziales Lernen scheint zwar eine direkte Vergewaltigungsursache zu sein, ist aber nur eine von mehreren gleich wichtigen direkten Ursachen. Vergewaltigung ist zudem das Ergebnis einer ultimaten bzw. evolutionären Ursache.“20

Mit dieser These wollen sie zwar nicht behaupten, dass Vergewaltigung durch Gene unvermeidbar bestimmt sei, sie bezeichnen sie jedoch als eine evolutionäre Adaption oder Begleiterscheinung einer evolutionären Adaption. Durch das Wissen um ihre evolutionären Ursachen ist der Mensch jedoch nicht für die Tat der Vergewaltigung entschuldigt, sondern seine Verantwortung steigt. 20

Thornhill (2000), S. 1.

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„Eine ‚Hypothese‘ über den Zusammenhang von Evolution und menschlicher Vergewaltigung besagt, dass Männer eine vergewaltigungsspezifische Adaptation besitzen, aber im Hirn. Wir skizzieren in unserem Buch, wie weitere Forschungen das Vorhandensein von sechs vergewaltigungspsychologischen Adaptationen nachweisen könnten. Ein wissenschaftlicher Nachweis der Existenz einer psychischen Vergewaltigungsadaptation wäre der abschließende Beweis, dass das Gehirn des Manns (einen) informationsverarbeitende(n) Mechanismus/Mechanismen hat, der/ die gezielt die adaptive Vergewaltigung in der menschlichen Evolutionsgeschichte fördern soll(en). So wie die psychische Adaptation der Farbwahrnehmung beim Menschen zur Farbbeurteilung dient, würde eine psychische Vergewaltigungsadaptation genau dann zu einer maximalen Motivation für eine Vergewaltigung führen, wenn die evolutionsgeschichtlichen Vorteile einer Vergewaltigung (Kopulation mit einem Weibchen in fortpflanzungsfähigem Alter) größer als die historischen Kosten der Vergewaltigung (Verletzung, Ächtung und Bestrafung des Übeltäters) sind. Wer gehört hat, dass wir davon ausgingen, dass jeder Aspekt menschlichen Verhaltens, einschließlich Vergewaltigung, eine Adaptation ist, die direkt durch natürliche Selektion gefördert wurde, wird überrascht sein, eine ausführliche Abhandlung einer alternativen Hypothese zu finden. Vergewaltigung selbst ist keine Adaptation, sondern ein Nebenprodukt oder ein Begleiteffekt anderer Adaptationen, wie etwa derjenigen psychischen Adaptationen beim Mann, die das Streben nach Partnervielfalt ohne Verpflichtung motivieren. Gemäß der Nebenprodukthypothese führte die natürliche Selektion indirekt zu Vergewaltigung, weil sie männliche Sexualadaptationen begünstigte, die Vergewaltigung als Begleiteffekt nach sich zogen. Die unzähligen Belege, dass Vergewaltigung auf Grund der evolutionsbedingten Sexualpsychologie von Männern und Frauen auftritt, werden im Buch erörtert. Frauen haben sich dahingehend entwickelt, ihren Partner sorgfältig auszuwählen; Männer dahingehend, weniger wählerisch zu sein und viele Partner anzustreben, auch ohne Verpflichtungen. Vergewaltigung ist eines der aus diesem evolutionsbedingten Unterschied zwischen männlicher und weiblicher Sexualität resultierenden Verhalten. Die beiden angesprochenen Vergewaltigungshypothesen (die Hypothese der Vergewaltigungsadaptation und die Nebenprodukthypothese) versuchen aufzuzeigen, wie Evolution und Vergewaltigung zusammenhängen. In unserem Buch legen wir dar, warum diese beiden Hypothesen die ultimaten (= evolutionären) Erklärungsmodelle für Vergewaltigung erschöpfend abdecken. Wir überprüfen hier auch die umfangreichen Daten über Vergewaltigung und kommen zu dem Schluss, dass noch weiter geforscht werden muss um festzustellen, welche der beiden Hypothesen Vergewaltigung am besten erklärt. (. . .) Beide evolutionsbiologischen Vergewaltigungshypothesen sehen in mehr Wissen den Schlüssel zu einer Senkung der Vergewaltigungsrate. Wenn Vergewaltigung ein Begleiteffekt der psychischen Adaptation des Mannes zur Erlangung vieler Partner ohne Verpflichtung ist, hängt die Verringerung von Vergewaltigungen vom vollständigen Wissen um alle involvierten Adaptationen ab, und um die Umstände, unter denen sie zu Vergewaltigung als Nebenprodukt führen. Ist Vergewaltigung selbst eine Adaptation, hängt die Senkung der Vergewaltigungen vom vollen Verständnis der evolutionsgeschichtlichen Auslöser ab, die adaptive Vergewaltigung bei Männern im Lauf der menschlichen Evolutionsgeschichte stimulierten. Dieses Wissen könnte z. B. die hohe Zahl an Vergewaltigungen im Krieg reduzie-

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ren, wo die evolutionshistorischen Vorteile einer Vergewaltigung hoch und die dafür zu erwartenden Kosten für gewöhnlich belanglos sind.“21

An dieser Stelle ist es angebracht, eine knappe Zwischenbilanz zu ziehen. Zwei naturwissenschaftlich (biologisch) fundierte Beispiele wurden zitiert, eines stärker physiologisch das andere evolutionsbiologisch fundiert, beide jedoch nehmen Verhaltensunterschiede der Geschlechter als biologisch begründet wahr. Die Zuschreibung von Geschlecht korrespondiert daher unmittelbar mit dem beobachteten Verhalten. Folge dieses gedanklichen Modells ist die Festschreibung zweier naturhaft begründeter Verhaltens-Sphären, einer weiblichen und einer männlichen, die nur mehr oder weniger kulturell überformt und in ihrer Naturhaftigkeit kulturell gezähmt werden können. Bei Thornhill könnten Männer so adaptiert sein, dass Promiskuität ein Engramm darstellt, welches nur durch erwartete Kosten (und Einsicht?) im Zaum gehalten wird, während in Frauen die duldende abwartende Position der Nutzenmaximiererin für den zu erwartenden Nachwuchs eingeschrieben ist. Unausweichliche Folge derartiger Theorie ist die unausweichliche Anerkennung zweier Lebenssphären, einer weiblichen und einer männlichen, und dies sowohl psychisch als auch physisch, die nicht aufhebbar sind, da natürlich. Eine evolutionsbiologische oder biopsychologische Fundierung erzeugt aber nicht nur männliche und weibliche Schonräume, sie grenzt auch das andere Geschlecht aus. Berufsverbote und Exclusionen auf der einen sowie Zwänge zu Maskulinisierung oder Feminisierung auf der anderen Seite sind die Folge. Frauen sind keine Soldaten und richtige Männer verhalten sich männlich. b) Konstruktivistische Sicht Einen Gegenpol zu den gezeigten biologischen Modellen bildet der Konstruktivismus, ein interdisziplinärer Forschungszusammenhang, welcher von der Grundannahme ausgeht, dass es keine „Erkenntnis“ der Welt gibt, sondern menschliches Wissen eine Konstruktion der Welt ist, die im Gehirn des Menschen entsteht. Die Wurzeln des Konstruktivismus gehen schon bis zu den Vorsokratikern zurück, den entscheidenden Schub erhielt diese Sichtweise aber durch biologisch orientierte Arbeiten zur Wahrnehmung von Lebewesen. Hervorzuheben sind hier insbesondere die Arbeiten von Maturana und Varela22 sowie von Foerster23. Der radikale Konstruktivismus betont, dass das, was wir wahrnehmen, ein Konstrukt unseres Gehirns ist, es demnach eine objektive Erkenntnis einer vom Bewusstsein unabhängigen 21 22 23

Thornhill (2000): S. 1. Vgl. Maturana/Varela (2005). Vgl. von Glasersfeld (1985).

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Welt nicht gibt. Dementsprechend kann es auch keine objektiven Informationen, sondern nur intersubjektive Informationen geben. Interessanterweise ist eine der theoretischen Grundlagen des Konstruktivismus, neben den philosophischen, epistemologischen und systemtheoretischen, ebenfalls die Biologie: Die Biologen und Nobelpreisträger Humberto Maturana und Francisco Varela bezeichnen ihr Buch „Der Baum der Erkenntnis“ selbst als eine „Einführung in die Biologie der Erkenntnis“24. Ausgehend von den physischen Vorgängen des Erkennens, angefangen bei der Repräsentation der Umwelt beim Einzeller (strukturelle Koppelung erster Ordnung) über das Beobachten des eigenen Erkennens (Koppelung zweiter Ordnung) bis hin zur rekursiven Interaktion zwischen zwei Organismen (strukturelle Koppelung dritter Ordnung), entwickeln Maturana und Varela ein neues Verständnis von sozialen Systemen. Sie gehen dabei auch auf den sexuellen Bereich ein. „Auch wenn die Koppelung dritter Ordnung eine universelle Erscheinung ist, entdecken wir, dass die verschiedenen Tierarten sie auf die unterschiedlichsten Weisen verwirklicht haben, sowohl was ihre Form als auch was die resultierenden Phänomene angeht. Als in einer eher patriarchalischen Kultur aufgewachsenen Menschen neigen wir zu der Überzeugung, daß natürlicherweise die Frau die Kinder beaufsichtigt, während der Mann für Schutz und Lebensunterhalt sorgt.“25

Dabei nehmen sie an, dass diese Vorstellung von unserer Eigenschaft Säugetiere zu sein herrührt und bei diesen kein männliches die Aufgabe des Säugens übernimmt. Allerdings schränken sie ein, dass diese deutliche Rollenaufteilung im Tierreich nicht universell sei und stellen dies auch in einem breiten Exkurs über viele Tierarten dar. „Wir könnten noch viele Beispiele dafür nennen, wie die unerläßliche Koppelung zur Zeugung und Aufzucht beschaffen sein kann. Alles in allem ist offensichtlich, daß es keine festen Rollen gibt. Ebensowenig gibt es sie in den menschlichen Gesellschaften mit ihren vielen Fällen sowohl von Polyandrie als auch Polygamie, wobei die Aufgabenteilung bei der Aufzucht der Kinder variiert. Gerade weil diese Koppelungen unter Beteiligung eines Nervensystems auftreten, ist die mögliche Vielfalt immens, und die Naturgeschichte zeigt uns dementsprechend zahlreiche Variationen. Wollen wir menschliche soziale Dynamik als biologisches Phänomen verstehen, ist es notwendig, daß wir dies in Erinnerung behalten.“26

Was folgt daraus für Männlichkeit und Weiblichkeit? Die Ausprägungen von Geschlecht in Männlichkeit und Weiblichkeit können von der Ableitung aus dem biologisch-physischen Unterschied losgelöst werden und in ihrer gesellschaftlichen Bedingtheit gesehen werden. Wie Ute Frevert anhand der 24 25 26

Maturana/Varela (2005), S. 7. Maturana/Varela (2005), S. 197. Maturana/Varela (2005), S. 200.

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Untersuchung der lexikalischen Einträge dreier Jahrhunderte zu den Begriffen Mann und Weib gezeigt hat,27 verändern sich im Laufe der Zeit die Sichtweise und die Zuschreibungen. Agnes Dietzen28 beleuchtet dieses Phänomen in anderer Weise und zeigt, dass mit der Veränderung der Wirtschaftsform, der Trennung der Berufssphäre von der Privatsphäre sich auch die Zuweisungen von Rollen und Charakteren für die Geschlechter verändern. Der Raum für die Frau wird das Private, der Haushalt, das Emotionale/Passive und die Mutterrolle, der Raum für den Mann wird die Öffentlichkeit, das Rationale/Aktive und die Rolle des Ernährers. Im weiteren verselbständigen sich diese Zuschreibungen zu Geschlechtscharakteren, zu naturhaft begründeten normativen Erwartungen, welche auf den ersten Blick komplementär erscheinen, aber durch die unterschiedlich zugewiesenen Machtpositionen ein hierarchisches Gefälle innehaben. Die Männer dominieren. So liefert Dietzen eine soziologische Beschreibung des Entstehens von Geschlechterverhältnissen und deren historische Bedingtheit, aber auch die Möglichkeit ihrer Fortschreibung in anderer Art. Durch das Verständnis der Welt als Konstruktion in den Gehirnen der Menschen wird einerseits, wie es Maturana angedeutet hatte, die Vielfalt der Erscheinungen, die vom strengen Patriarchat der arabischen Welt hin bis zum Matriarchat der Mosuo in China reicht, erklärbar und andererseits die Veränderbarkeit der Geschlechterverhältnisse prinzipiell möglich. Welche Folgen hat nun die konstruktivistische Sicht für Menschenbild und Geschlecht? Der Mensch wird zentral als soziales Wesen gesehen, das in der strukturellen Koppelung der dritten Ordnung mit den anderen gemeinsam seine Welt intersubjektiv konstruiert. Auf der Basis des darin enthaltenen Reflexionspotentials kann ein starkes Element der Gleichheit und Freiheit der Mitglieder des sozialen Systems entstehen. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass gerade konstruktivistische Sichtweisen sehr stark mit feministischer Theorie in den 80er und 90er Jahren verknüpft waren. Reflexion der Geschlechterverhältnisse auf der einen Seite und Gestaltung der Gesellschaft hin zu mehr Gleichheit und Freiheit auf der anderen Seite sind jedoch zwei unterschiedliche Zusammenhänge. Gestaltung verlangt den konstruierenden Diskurs, die strukturelle Koppelung der dritten Ordnung und eine gemeinsame Wirklichkeitskonstruktion. Wie schwierig dies ist, lassen augenblicklich die Bemühungen um Gender-Mainstreaming29 erkennen. Das Wissen, dass eine Welt, welche ein Machtgefälle zwischen den 27

Vgl. Frevert (1995). Vgl. hierzu Dietzen (1993), insbesondere Kapitel 3. 29 Gender Mainstreaming bedeutet die (Re-)Organisation, Verbesserung, Entwicklung und Bewertung des Politikprozesses mit dem Ziel der Integration der Perspektive der Gleichstellung der Geschlechter in allen Politiken, auf allen Ebenen und Stufen von allen politischen Akteuren, vgl. Council of Europe (1998). 28

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Geschlechtern bereithält, veränderbar und zu verändern ist, bedeutet noch lange keine Veränderung in vivo. Beide wissenschaftliche Sichtweisen, die biologische und die konstruktivistische haben interessante Seiten und liefern erklärende Perspektiven. Die Biologie zeigt, dass der Mensch und seine Geschlechtlichkeit „von dieser Welt“ sind und der Mensch sich im Tierreich verorten muss, allerdings besteht die Gefahr, sich auf die Biomaschine zu reduzieren, die dann auch männlich und weiblich sein kann. Der Konstruktivismus hingegen beleuchtet den Menschen als geschichtliches und kulturelles Wesen, das sich die Welt erschafft, dennoch kann hier die Gefahr des „Anything goes“ bestehen, der Idee, alles ist konstruierbar. Das männliche Säugetier Mensch wird wohl nie den Nachwuchs selbst an der Brust säugen können, welche Bedeutung jedoch das Säugen und Muttersein in der Gesellschaft hat, das dürfte beeinflussbar, „konstruierbar“ sein. 2. Religion Die andere in der Einführung angekündigte und hier zu behandelnde Form der Grundüberzeugungen basiert auf religiösem Glauben. Nach dem Lexikon der Ethik gibt es eine Reihe von Grundzügen, die mehr oder weniger vollständig vorhanden sein müssen, um ein gesellschaftliches Phänomen als Religion bezeichnen zu können: a) Ein Glaube an übernatürliche Wesen und Kräfte, b) die Unterscheidung heiliger und profaner Gegenstände, c) rituelle Akte, die sich um heilige Gegenstände zentrieren, d) die Annahme eines vom Göttlichen angeordneten und sanktionierten Moralkodex, e) spezifische Gefühle bei ritueller Praxis, die in Verbindung mit dem Göttlichen gesetzt werden, f) Gebete und andere Formen der Kommunikation mit dem Göttlichen, g) eine aus Erzählungen, Bildern und Begriffen zusammengesetzte Vorstellung von Natur und Geschichte im ganzen, die den Platz des Individuums in der Welt und die Möglichkeit seines Heils oder Unheils, seiner Erlösung oder Verdammung vorzeichnet, h) eine Gemeinschaft, die durch Anerkennung und Praxis des eben genannten konstituiert wird.30 30

Vgl. Höffe (1997), S. 249.

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Religionen liefern also den Menschen über die Vorstellung von Natur und Geschichte eine ganz bestimmte, göttlich geschaffene Weltordnung, zu welcher auch moralische Vorschriften gehören. Das Heil und die Erlösung hängen unmittelbar von der Erfüllung des göttlich sanktionierten Moralkodex ab. Im weiteren ist es nun von Bedeutung, inwieweit eine Religion in einem Säkularisierungsprozess eine historisch-kritische Sichtweise auf sich selbst entwickeln konnte. Im Zuge dieses Prozesses können die religiösen Grundlagen, insbesondere die Erzählungen, Bilder und Texte in ihrer geschichtlichen Bedingtheit gesehen werden. Hierdurch ist dann eine andere Form der Exegese möglich, die sich von der wörtlichen Auslegung auf den göttlichen Sinn hin verschiebt. Der Text wird sozusagen aus der historischen Vorstellungswelt seiner Genese in die heutige Sprach- und Bilderwelt übersetzt. Besonders deutlich wird dieser Vorgang für das Christentum im Umgang mit dem alttestamentlichen Schöpfungsmythos unter den Bedingungen der Evolutionslehre Darwins. Nimmt eine Religion nicht den historisch-kritischen Blickwinkel an, dann ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass ihr Moralkodex nicht mit Vorstellungen der westlichen Moderne harmoniert. Was dennoch bei Religionen bleibt, ist ein an den durch Exegese gewonnen Sinn gekoppelter Bestand von unumstößlichen Glaubenswahrheiten, welche den Moralkodex begründen, dessen Einhaltung wiederum eng mit Heil und Erlösung verknüpft ist. Gerade der Glaube an den göttlichen und damit unumstößlich „wahren“ Gehalt der religiösen Grundlagen, des damit verknüpften Moralkodex und der Verknüpfung mit dem persönlichen Heil machen eine religiös fundierte Weltsicht unumstößlich und begründen beim Glaubenden seine Überzeugung. Mit dem Wahrheitsanspruch nehmen religiöse Überzeugungen eine andere Position ein als wissenschaftliche, denn diese sind nach den Regeln der Wissenschaft a priori auch der Kritik aussetzbar, ob dies nun im Einzelnen toleriert wird oder nicht. Religiöser Glaube dagegen setzt Wahrheit, und ein damit einherkommender Moralkodex, welcher den für die Daseinsweise der Menschen konstitutiven normativen Grundrahmen für das Verhalten bildet,31 ist somit verbindlich und prinzipiell nicht veränderbar. Erst die Fähigkeit die Grundlagen der religiösen Überzeugungen (Texte, Offenbarungen, Erzählungen usw.) zu reflektieren und in einen historischen Kontext zu setzen, macht eine Veränderung möglich. Was dabei nicht angetastet wird, ist ein mehr oder weniger dichtes Substrat, ein Kerngehalt der Religion. So ist es möglich, dass beruhend auf denselben religiösen Texten in unterschiedlichen Glaubensgemeinschaften unterschiedliche Ausgestaltungen des Moralkodex sich entwickeln können.

31

Vgl. Höffe (1997), S. 204.

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a) Christliche Vorstellungen Der Versuch, christliche Vorstellungen zu den Themen Geschlecht, Mann und Frau und deren Zusammenleben in einem Abschnitt darzustellen, wäre eine sehr grobe Verkürzung, besteht das Christentum doch aus ganz unterschiedlichen religiösen Gemeinschaften, angefangen bei der römisch-katholischen Kirche, über die griechisch-katholische, die östlich-orthodoxen, die evangelischen, die anglikanische Kirche bis hin zu kleinsten Splittergruppen. Allen gemeinsam als Grundlage ist die Überzeugung der bedingungslosen Liebe Gottes gegenüber den Menschen, die er nach seinem Ebenbild geschaffen hat. „Dann sprach Gott: Lasst uns Menschen machen als unser Abbild, uns ähnlich . . . Gott schuf also den Menschen als sein Abbild; als Abbild Gottes schuf er ihn. Als Mann und Frau schuf er sie“ (Gen 2, 4–25). „In der Bibel ist ‚Liebe‘ ein Zentralwort, z. B. für das Verhältnis Gottes zum Menschen, des Menschen zu Gott und für das Verhältnis der Menschen untereinander“32. So hat das „gesamte christliche Ethos (. . .) im Glauben, der in der Liebe wirksam wird, seinen Einheitsgrund und seine Mitte“33. Der Mensch als freies und verantwortliches Wesen ist aufgerufen, sein Leben in der Liebe zu Gott und den Mitmenschen zu verwirklichen, wobei die Vorschriften für die Gestaltung dieses Lebens zwischen den verschiedenen christlichen Glaubensgemeinschaften höchst unterschiedlich sein können. Als Ursprung der Unterschiede ist vornehmlich auf den kulturellen Rahmen zu verweisen, welchen diese Glaubensgemeinschaften vorgeben und in welchem sie sich bewegen, eng damit verbunden ist die Einstellung zur Anwendung der historisch-kritischen Methode auf die biblischen Texte. Die beiden großen christlichen Konfessionen in Deutschland, die katholische Kirche und die Evangelisch-Lutherische Kirche hatten prägenden Charakter auf die moralischen Leitbilder dieses Landes. Nicht umsonst wird daher die Verantwortung vor Gott in der Präambel des Grundgesetzes genannt. In der Botschaft, welche Gott durch Jesus an die Menschen sendet „gewinnt der Mensch als Mitmensch und Nächster einen unendlichen Wert. Jesus macht deshalb beispielhaft deutlich, daß Gott lieben und den Nächsten lieben unauflöslich zusammengehören“34. In den bisherigen Ausführungen wurden die zentrale Bedeutung der Liebe, die Stellung Gottes zu den Menschen und die Schöpfung des Menschen in zwei Geschlechtern betrachtet. Wie sieht nun aus christlicher Sicht dieses Verhältnis der Geschlechter aus? 32 33 34

Jentsch (1975), S. 552. Deutsche Bischofskonferenz (1985), S. 99. Jentsch (1975), S. 360 – Hervorhebung im Original.

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Küng macht in seiner Schrift „Die Frau im Christentum“35 deutlich, dass Jesus von Nazareth, im Gegensatz zum Geist seiner Lebenszeit, keine Frauenverachtung zeigt und sie aufwertet. Auch ist seiner Argumentation folgend, die Gruppe der Apostel, welche ursprünglich mehr als die Zwölf (Repräsentation des Zwölf-Stämme-Volks Israel) umfassten, nicht ausschließlich männlich. Küng beschreibt dabei auch die wichtige Rolle der Frauen in Jesu Umgebung, wie Maria von Magdala, Susanna, Johanna und Maria, die Mutter von Jakobus. Nicht unerwähnt bleibt dabei, dass bei der Kreuzigung gerade die Frauen bei Jesus bleiben, während die Zwölf, von denen einer Jesus verraten hatte, schon geflohen sind. Nachzuvollziehen ist dies in den Darstellungen der Kreuzigungsszene, in welchen die Frauen häufig den Gekreuzigten links und rechts flankieren. Küng betont ganz ausdrücklich, dass „die im Glauben an Jesus Christus versammelte Urkirche (. . .) im besten Sinne des Wortes demokratisch“ genannt werden könne. Sie sei eine „Gemeinschaft in Freiheit, Gleichheit und Geschwisterlichkeit“ (Hervorhebung im Original) gewesen, „keine Herrschaftsinstitution, gar Großinquisition, sondern eine Gemeinschaft von Freien;“ „keine Klassen-, Rassen-, Kastenoder Amtskirche, sondern eine Gemeinschaft von grundsätzlich Gleichen;“ „kein patriarchalisch regiertes Imperium mit Personenkult, sondern eine Gemeinschaft von Brüdern und Schwestern“36. Nach seiner Auffassung kann sich auch ein Zölibatsgesetz, wie es die katholische Kirche vorsieht, nicht von Jesus her legitimieren.37 Küngs Auffassung ist eine spezifische Leseweise der religiösen Grundlagen und entwirft ein eher egalitäres Bild der Geschlechter und ihres Zusammenlebens. Eine stark divergierende Lesart weist die Enzyklika „Immortale Dei“ des Papst Leo XIII aus, wo der „Mann zum Vorgesetzten des Weibes“ erklärt wird und die Frauen „in keuschem und treuem Gehorsam ihren Männern, nicht zur Befriedigung der Wollust, sondern zur Fortpflanzung des Menschengeschlechtes und zum gemeinsamen Leben in der Familie“ unterworfen werden.38 Die Frau wird ausschließlich von ihrer „natürlichen Veranlagung als Mutter“ gesehen, mit der sie an Familie und Herd gebunden ist.39 Auch wenn die Unterordnung, mit Ausnahme des Verbots der Ordination von Frauen in der katholischen Kirche, heute nicht mehr betont wird, so bleibt doch das am Naturrecht orientierte Verständnis vom Wesen der Frau bestehen. In der Verlautbarung des Apostolischen Stuhls Nr. 166 vom 31. Juli 2004 über die Zusammenarbeit von Mann und Frau in der Kir35 36 37 38 39

Vgl. Küng (2002). Küng (2002), S. 17–18. Vgl. Küng (2002), S. 15. zitiert nach Küng (2002), S. 107–108. Vgl. Küng (2002), S. 108.

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che und in der Welt heißt es: „Darüber hinaus ist zu unterstreichen, wie wichtig und sinnvoll die Verschiedenheit der Geschlechter als eine dem Mann und der Frau tief eingeschriebene Wirklichkeit ist“40. Die Frauen haben danach eine „unersetzliche Rolle in allen Bereichen des familiären und gesellschaftlichen Lebens (. . .), bei denen es um die menschlichen Beziehungen und die Sorge um den anderen geht“41. Darüber hinaus sollen die Frauen auch „in der Welt der Arbeit und des gesellschaftlichen Lebens gegenwärtig sein und zu verantwortungsvollen Stellen Zugang haben (. . .), die ihnen die Möglichkeit bieten, die Politik der Völker zu inspirieren und neue Lösungen für die wirtschaftlichen und sozialen Probleme anzuregen“42. Mit dieser Feststellung der Unterschiedlichkeit von Mann und Frau, trotz der Gleichheit vor Gott, und den nachfolgenden Zuweisungen von unterschiedlichen Aufgaben werden beiden zugleich auch unterschiedliche Lebenssphären zugewiesen. Sie haben damit – gottgewollt – differente Lebensaufgaben, ein Leben nach sogenannten männlichen Maßstäben und Rollenvorbildern kann für eine Frau (für Männer vice versa) demnach keine Alternative sein. Eine Vorstellung, die vielen Bestrebungen unserer Gesellschaft der Moderne zuwiderläuft und Sprengstoff auch in die aktuelle Diskussion um Gesetzesvorlagen, wie der geplanten Regelung zur Kinderbetreuung, bringt. Im Evangelischen Erwachsenenkatechismus wird die Verschiedenheit ebenfalls angezeigt, jedoch deutlich subtiler: „Männer und Frauen schulden sich gegenseitig die volle Freiheit der Entfaltungsmöglichkeiten. Aber nicht in der Gleichmacherei liegt das Glück, sondern darin, dass ‚ein jeder nach seiner Art‘, wie es im biblischen Schöpfungsbericht heißt, zur vollen Entfaltung kommt. Dazu gehört auch die Achtung vor der besonderen Art des anderen Geschlechts als auch die Übernahme des eigenen.43“ Beide Kirchen – sowohl die evangelische als auch die katholische – stellen Gleichheit vor Gott, aber Unterschiedlichkeit in der Art der Geschlechter heraus, welche in der Schöpfung Gottes begründet sind. Zentrale Aufforderung an beide Geschlechter, wie an den Menschen an sich, ist die Aufforderung zur Liebe und Verantwortung, die sich aus der Liebe Gottes zu den Menschen ableiten. Beide Bekenntnisse stellen die besondere Bedeutung von Ehe, allerdings in verschiedener Akzentuierung heraus und sehen die gleichgeschlechtliche Liebe44, nicht als gleichwertig an. Auch hier betont 40

Kongregation für die Glaubenslehre (2004), S. 19. Kongregation für die Glaubenslehre (2004), S. 19. 42 Kongregation für die Glaubenslehre (2004), S. 19. 43 Jentsch (1975), S. 560. 44 Vgl. hierzu Rat der EKD (1996) und Stellungnahme der kath. Kongregation für die Glaubenslehre (2003). 41

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die katholische Kirche, mit Verweis auf den göttlichen Sinn der Zweigeschlechtlichkeit in der Fortpflanzung, stärker die Ablehnung dieser Orientierung. Menschen, die sich zum christlichen Glauben, vornehmlich in enger Anlehnung an die katholische Lehrmeinung, bekennen, dürften in dieser Gesellschaft mit vielen aktuellen Strömungen in leidvolle Konflikte geraten, insbesondere was die Veränderung von männlichen und weiblichen Rollenmodellen angeht. Eine Bearbeitung der Konflikte kann allerdings immer nur auf der gesellschaftlichen Seite erfolgen, sofern die andere Seite Wahrheit beansprucht und ihre Argumentation mit der Vorstellung des moralisch wertvolleren, dem eigenen Heil dienenden und letztlich von Gott gewollten Lebenswandel verbindet. b) Muslimische Vorstellungen Islam wie Christentum speisen sich in weiten Teilen aus denselben Quellen. So erkennt der Islam, der sich ebenso wie das Christentum in viele unterschiedliche Richtungen gliedert, das Alte und das Neue Testament als Grundlage an. Jedoch gilt Jesus Christus nicht als Gottes Sohn, er ist in diesem Verständnis ein Prophet wie Moses vor ihm und Mohammed nach ihm. Als großer Unterschied erweist sich allerdings die Sichtweise, wie das persönliche Heil erlangt werden kann. Während im Christentum der Glaube und das Vertrauen in Gott den zentralen Aspekt bilden45, so spielt das richtige Handeln in der Welt im Islam eine große Rolle. Akasoy schreibt hierzu in einem Aufsatz zu Glaube und Vernunft im Islam, „Der Islam wird häufig als Orthopraxie beschrieben, in der das richtige Handeln im Mittelpunkt steht, im Unterschied zum Christentum, das durch eine Orthodoxie gekennzeichnet sein soll, in der es auf die richtige Lehre ankommt – eine Beschreibung, die nicht unberechtigt ist.“46 Aus dieser grundlegenden Feststellung folgt sogleich, dass Verhaltensvorschriften im Islam eine stärkere Rolle spielen und das tägliche Handeln der Menschen im Islam deutlich durch religiös begründete Normen bestimmt ist. Zwei Quellen dieser Vorschriften sind hier von Bedeutung: zum einen der Koran und zum anderen der Hadith, eine Sammlung von Aussprüchen, Anordnungen und Handlungen des Propheten Mohammed,47 welche durch seine Gefährten überliefert wurden. Diese „Überlieferungen des Propheten bieten Wegweisungen in Angelegenheiten wie persönliche Hygiene, Kleidung, Ernährung, Behandlung der Ehefrauen, Diplomatie und Kriegfüh45 Deutsche Bischofskonferenz (1985), S. 465: „Weil Jesus Christus der endgültige Maßstab sein wird, wird dieses Gericht aber für die, die auf ihn vertrauen, ein Gericht der Gnade sein.“ 46 Akasoy (2007), S. 12. 47 Vgl. Elger/Stolleis (2001), S. 111.

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rung.“48 Anders als im Christentum wird durch Mohammed gleichsam ein Modell des richtigen und zum Heil führenden praktischen Lebens vorgestellt, was nicht ohne Auswirkungen auf die Vorstellung von Mann und Frau bleiben kann. Generell gilt die „Beziehung von Mann und Frau (. . .) nach islamischem Recht als komplementär; sie reflektiert die unterschiedlichen Eigenschaften, Fähigkeiten und Dispositionen beider Partner, aber auch die traditionellen Rollen von Mann und Frau in der patriarchalischen Familie.“49 In diesem Zitat wird neben der Sicht auf Mann und Frau auch der Zusammenhang zwischen den Grundlagen des Islam und Ort und Zeit seiner Entstehung, der patriarchalischen arabischen Gesellschaft in der zweiten Hälfte des ersten Jahrtausends, deutlich. Gemessen an den Bedingungen dieser Zeit und Gesellschaft erhält die Frau in den Texten bezüglich rechtlicher Stellung, Position in der Ehe und bei Scheidungen einen deutlichen Rechtszuwachs, sie wird vom Eigentumsobjekt zum Verhandlungspartner.50 Was in der Entstehungszeit jedoch als Fortschritt zu werten war, ist aus heutiger westlich-moderner Sicht bei wörtlicher Auslegung als rückschrittlich anzusehen. Der Islam kann so häufig als Werkzeug der Unterdrückung von Frauen gesehen werden, insbesondere festgemacht an Bekleidungsvorschriften, der Separation der Frauen im öffentlichen Leben und körperlicher Gewalt gegen Frauen. Zwar betonen Einführungen in den Islam und andere Schriften über den Islam häufig zu diesen Themen, dass Koran und Hadith nur wenige und dann auch zum Teil widersprüchliche Aussagen hierzu machen. Im Islam-Lexikon wird darauf hingewiesen, dass es kein Verschleierungsgebot gebe, jedoch sollen Frauen (nach Sure 24:31 des Koran) ihre Reize nicht offen zur Schau stellen und sich in ihren Überwurf hüllen, damit sie nicht belästigt werden (Sure 33:59). Zur Trennung der Geschlechter zitiert Esposito eine Sure (33: 32–33) in welcher es heißt: „Ihr Frauen des Propheten! Ihr seid nicht wie sonst jemand von den Frauen. Wenn ihr gottesfürchtig sein wollt, dann seid nicht unterwürfig im Reden [mit fremden Männern], damit nicht einer, der in seinem Herzen eine Krankheit hat, nach euch Verlangen bekommt! Sagt nur, was sich geziemt! Und bleibt in eurem Haus mit Würde und Anstand, und putzt euch nicht heraus, wie man das früher im Heidentum zu tun pflegte.“ Die Männer bekommen ihrerseits gesagt „Und wenn ihr [die Gattinnen des Propheten] um irgendetwas bittet, das ihr benötigt, dann tut dies hinter einem Vorhang! Auf diese Weise bleibt euer Herz eher rein“ (33:53).51 Eine wörtliche Akzeptanz dieser Regeln, zu48 49 50 51

Esposito/Thies (2006), S. 26. Esposito/Thies (2006), S. 176, vgl. auch Elger/Stolleis (2001), S. 106. Vgl. Esposito/Thies (2006), S. 174–179 sowie Elger/Stolleis (2001), S. 85–87. Vgl. auch Esposito/Thies (2006), S. 110–111.

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mal in einer traditionellen, patriarchalischen Kultur, führt direkt zu Verschleierung, Schador, Burkha und strenger geschlechtlicher Segregation unter direkter Berufung auf Gott. Mann und Frau werden im Koran nicht gleich behandelt. Es ist zum Beispiel dem Mann gestattet, bis zu vier Frauen zu heiraten, allerdings mit der Auflage, dass er sie versorgen und gleich behandeln können muss;52 das Umgekehrte ist allerdings nicht der Fall. Zur Berechtigung der körperlichen Züchtigung von Frauen, die bis zur Steinigung führen kann, wird ebenfalls der Koran herangezogen. Esposito erläutert diesen Fall im Zusammenhang mit Ehestreitigkeiten, für die drei Methoden der Lösung vorgesehen sind: erstens die Hinzuziehung eines Schiedsrichters, zweitens die physische Trennung, das Schlafen in getrennten Betten, zur Beruhigung und um Zeit zum Nachdenken über die Beziehung zu geben. Die dritte und letzte Methode ist das Schlagen.53 An dieser Stelle weist Esposito darauf hin, dass im Originaltext hier die Einzahl steht, also ist nur ein Schlag erlaubt. Es scheint also so, dass sich bei den schweren körperlichen Strafen, welche im Namen des Islam an Frauen vollzogen werden, um eine Vermischung patriarchalischer und religiöser Vorschriften handelt, die jedoch von den vollziehenden Menschen als von Gott gewollt verstanden werden. Je weniger diese Menschen durch Aufklärung und Moderne berührt sind, desto stärker wird das Beharren auf der gottgegebenen Ordnung sein. Westlich freier Lebenswandel, ja sogar schon die Wahrnehmung der Menschenrechte, stellen dann eine sündige und inakzeptable Bedrohung dar. Ähnlich wie im Alten und Neuen Testament befinden sich im Koran und der Hadith Textpassagen, welche in beide Richtungen zugunsten des Mannes und der Frau ausgelegt werden können. Zu beobachten ist dies in der tatsächlichen Welt in den unterschiedlichen Formen und Vorschriften, in welchen islamischer Glaube gelebt wird. Welche Auslegung gewählt und in tatsächliche Handlungsvorschriften umgesetzt wird, hängt sehr stark vom kulturellen Umfeld ab. Häufig handelt es sich um stärker traditionell und patriarchalisch geprägte Gesellschaften, die natürlich ausgestattet mit der männlichen Definitionsmacht, diese auch gebrauchen. Zwar dürfte dann nicht der Islam die Ursache für Normen sein, sondern das Patriarchat, deren Geltungsanspruch jedoch wird religiös vorgebracht und begründet. Da der Islam eine eher praxisorientierte Religion ist, stehen Veraltensweisen für die Handelnden in dieser Religion unmittelbar im Zusammenhang mit der Erlangung des persönlichen Heils; dies ist besonders dann fatal, wenn die Handlungsvorschriften nicht mit den modernen Menschenrechten im Einklang stehen. Diese wiederum haben unter Umständen für den Muslim 52 53

Vgl. Esposito/Thies (2006), S. 128–129. Vgl. Esposito/Thies (2006), S. 132–133.

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keine Verbindlichkeit, weil die Rechte der Menschen bereits im Koran durch Allah geregelt sind. Für Deutschland und den hiesigen muslimischen Kontext ist es interessant, die Verlautbarungen der unterschiedlichen Gemeinschaften zur Thematik des Geschlechts zu betrachten. Dies wird durch die zahlreichen Internetauftritte54, die sehr häufig auch in deutscher Sprache verfasst sind, leicht gemacht. Hier können die Vorschriften und besonders eine weibliche islamische Sichtweise auf diese nachgelesen und nachvollzogen werden. Ähnlich wie im Christentum kann auch im Islam nicht von einem Menschenbild gesprochen werden. Folglich sind es viele und zum Teil sehr unterschiedliche Bilder von Mann und Frau und ihrem Verhältnis zueinander, die hier wirksam sind. Entsprungen sind sie wohl nur zum Teil dem eigentlichen Islam, dem Koran und der Hadith, weitaus stärker jedoch der jeweiligen Kultur. Das Konfliktpotential mit der Moderne scheint allerdings im Islam durch die Handlungsorientierung deutlich stärker ausgeprägt zu sein. Bedeutsam sind bei beiden behandelten Religionen jedoch die Fundierung im Glauben und die Verbindlichkeit der Aussagen, die durch göttliche Autorität, Heilsversprechen und Drohung von Verdammnis einen absoluten Wahrheitsanspruch erheben.

IV. Schlussbemerkung Zu Beginn war mit Berger und Luckmann festgestellt worden, dass das Alltagswissen, welches jedermann besitzt „die Bedeutungs- und Sinnstruktur, ohne die es keine menschliche Gesellschaft gäbe“55 bildet. Indem dieses gesellschaftliche Wissen immer wieder durch das Handeln praktiziert und bestätigt wird, schafft es permanent soziale Ordnung und wird als objektiv und wahr erfahren. Genau zu diesen Wissensbeständen zählen die hier angeschnittenen Grundpositionen. Nimmt man die biologischen Sichtweisen, so wird der Mensch mehr oder weniger zu einer Bio-Maschine, deren Verhaltensweisen durch das eingeschriebene biologische Programm begrenzt und festgelegt sind. Männliches und weibliches Verhalten sind auf einer biologischen Ebene festgelegt. In einem religiösen Glauben fundiertes Wissen unterliegt ebenfalls Festlegungen, die allerdings unterschiedlich als Verhaltensnormen konkretisiert sein können, wie dies für Christentum und Islam dargelegt wurde. Dem christlichen Menschenbild folgten weniger Handlungsforderungen als dem islamischen. Während sich die wissenschaft54

Vgl. hierzu z. B. Frauen im Islam (2007), Die Stellung der Frau im Islam (2007), Muslima-aktiv (2003), Frauen im pakistanischen Rechtssystem (2007) und Die Frau im Islam (2006). 55 Berger/Luckmann (1966), S. 16.

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lichen Bilder aus den Regeln der Wissenschaftlichkeit als objektiv, gültig und zuverlässig legitimieren, beziehen die religiösen Bilder ihre Geltung aus der göttlichen Offenbarung und gelten damit bei den Gläubigen als wahr. Eine gewisse Sonderstellung nimmt die konstruktivistische Sichtweise ein. In ihr sind die Wege der Erkenntnisgewinnung beschrieben, weniger die Inhalte des Erkennens, diese sind es ja gerade, die durch den Vorgang des Erkennens konstruiert werden. Hier liegt die größte Freiheit und Vielfalt des Bildes vom Menschen und der Möglichkeiten der Gestaltung des Lebens: Was männlich ist und was weiblich entsteht in der Kultur und ist weniger durch körperliche oder glaubensgebundene Voreinstellungen im Vornhinein festgelegt. So gesehen kann eigentlich unter biologischen und religiösen Blickwinkeln nur mit dem Begriff Geschlecht operiert werden. Der Gender-Begriff harmoniert eigentlich nur mit einer konstruktivistischen Sichtweise; nur unter diese Betrachtungsweise können die verschiedenen Menschenbilder systematisch verglichen werden. Aus einem anderen Blickwinkel muss eines der Bilder als wahr und müssen die anderen als falsch kategorisiert werden.

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Der Mensch in der Technik Von Michael Dinkhauser

I. Einleitung Technik oder Technologie sind heutzutage die Zauberworte, von denen man glaubt, dass sie alle Probleme der Menschheit zu lösen vermögen. Man investiert viel Geld in den technischen Fortschritt und hofft dadurch, sich der „Fesseln“ der Natur entledigen zu können. Es gibt ein unbegrenztes Vertrauen in die Technik im Allgemeinen, kritisch werden dabei von wenigen nur ausgewählte – meist medienwirksame – Teilaspekte betrachtet. Dies ist jedoch nur die eine Seite der Medaille. Wie sieht eigentlich die andere Seite aus. Welche Vorstellung hat die „Technik“ oder der „Techniker“ vom Menschen? Kann wirklich jeder jede beliebige technische Errungenschaft sinnvoll anwenden oder gar verstehen? In der folgenden Abhandlung möchte ich nach einer einordnenden Einleitung aus naturwissenschaftlicher Sicht und zweier futurologischer Modelle auf die Anfänge der Technik eingehen. Danach gehe ich auf das Verständnis der Menschen für die Technik ein und zum Abschluss möchte ich die geänderte Philosophie in der Technik in Bezug auf den Menschen aufzeigen. Den Abschluss bildet eine Betrachtung, welche Anforderungen die aktuelle wie auch die zukünftige Technologie an den Soldaten und die Offiziere stellen wird. Aufgrund des vorgegebenen Umfanges werde ich mich dabei auf ausgewählte Aspekte beschränken. Ich habe diese Vorgehensweise gewählt, um zu verdeutlichen, in welchen zeitlichen und räumlichen Zusammenhängen sich ein Naturwissenschaftler bewegen können muss. Das erste Kapitel ist hierbei der Erkenntnis geschuldet, welche Rolle die menschliche Phantasie im Vergleich zu den naturwissenschaftlichen Fakten spielt. Die Ideen über die Zukunft stelle ich dar, um einige unterschiedliche Sichtweisen dieser Phantasien mit Blick auf die Vergangenheit wie die Zukunft vorzustellen, zumal diese Theorien auch in den Grundlagen zweier Studien des Zentrums für Transformation verwendet werden. Nach diesen grundsätzlichen Ansätzen möchte ich auf die Entwicklung der Technik eingehen, um eine Bewertung der vorgenannten Theorien zu ermöglichen. Dabei ist anzumerken, dass ein großer Teil des Wissens

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der Antike aus unserem Gedächtnis verschwunden ist. Bereits in der Steinund in der Eisenzeit wurde die Wasser- und Windkraft intensiv genutzt und die Möglichkeiten der Galvanik konnten zum Beispiel zum Vergolden von Münzen herangezogen werden. Die Auswahl der beiden Zukunftstheorien erfolgt aus dem Grund, dass beide Theorien die jeweiligen Studien des heutigen Zentrums für Transformation zum Thema der zukünftigen Streitkräfte beeinflusst haben. Es folgt eine Betrachtung über die „Verfügbarkeit und Fähigkeit“ von Menschen im Vergleich zur „Verfügbarkeit und Fähigkeit“ von Maschinen, welche sich in dem jeweiligen Verständnis der Akteure/ Maschinen zueinander widerspiegelt. Daraus ergibt sich mich ein Anforderungsprofil an die zukünftigen militärischen Spezialisten und Führer, bei dem ein Wettstreit zwischen Industrie und Militär um die Ressource „wissenschaftlich gebildeter Mensch“ unvermeidlich sein wird.

II. Naturwissenschaftliche Einordnung Gegenwärtig berichtet man sehr häufig von der Beherrschung der gesamten Natur und der Machbarkeit des Unmöglichen. Der Menschheit wird eine goldene Zukunft vorher gesagt, wenn die Technologie – als Beispiel die Stammzellenforschung – mit unbegrenzten Mitteln gefördert werde. Jedoch zeigen bereits – im geologischen Kontext – kleinere Katastrophen wie zum Beispiel der Tsunami von Banda Aceh am 26. Dezember 2004, oder der Ausbruch des Mount St. Helens am 18. Mai 1980, dass dieses anthropozentrische Weltbild nicht ganz der Wirklichkeit entsprechen kann. Inhaltlich werde ich mich in der nachfolgenden Betrachtung grundsätzlich auf unsere westliche, stark technikorientierte Kultur beschränken, da hier der aktuelle Technologiestandard und -einsatz am deutlichsten ausgeprägt ist und diese Nationen als eine ihrer Grundlagen die moderne Industrie besitzen und schon in Teilen sich im Übergang zur Informationsgesellschaft befinden. 1. Zeitlicher und räumlicher Horizont Zuerst führe ich in den Bereich der Astronomie ein, um einen kurzen Überblick über die Maßstäbe zu geben, in denen einige, leider nicht alle, Naturwissenschaftler zu denken pflegen. Zu diesem Zweck stelle ich einen Film vor, der die gesamte Zeitspanne der Existenz der Erde in ein Sonnenjahr projiziert. Bei einem aktuellen Alter der Erde von ca. 4,517 Milliarden Jahren entspräche der Zeitraum einer Filmsekunde hierbei knapp 143 Jahren und 3 Monate. Das Drehbuch mit seinen fünf großen Kapiteln sähe dann wie folgt aus:

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Mit der Erdurzeit, dem Azoikum, begänne das erste Kapitel, nämlich die Zeit bevor sich Leben in irgendeiner Form sicher nachweisen lässt, am 01. Januar 00:00:00 Uhr und endet je nach Lesart und Überzeugung entweder am 11. Februar 18:38:20 Uhr nach 517 Millionen oder am 02. Mai 13:58:45 Uhr nach etwa 1,517 Milliarden Jahren. Das zweite Kapitel, die Erdfrühzeit oder Proterozoikum, mit einer Dauer von 1,9–2,9 Milliarden Jahren handelt von der großen Zeit der Experimente, wobei verschiedenste Lebensformen von Einzellern erscheinen, deren Arten und Baupläne inzwischen vollständig ausgelöscht wurden (z. B. Ediacaria). Dieses Kapitel endet dann am 17. November um 23:03:34 Uhr mit der so genannten „Präkambrischen Explosion“, in der die fossil nachgewiesenen „modernen“ Arten eine explosionsartige Entwicklung nehmen. Im Anschluss daran folgt als drittes Kapitel das Erdaltertum oder Paläozoikum. Hier entstehen die Arten und Formen des Lebens, wie sie bis heute noch generell existieren. Dieses Zeitalter umfasst die Zeitspanne vom Kambrium bis zum Perm mit 295 Millionen Jahren. In unserem Film wäre dann das Ende dieses Kapitels am 11. Dezember um 19:09:54 Uhr. Das folgende Kapitel, das Erdmittelalter oder Mesozoikum kennt man im Allgemeinen als das Zeitalter der Schreckensechsen (Dinosaurier), die über einen Zeitraum von 185 Millionen Jahren die absoluten Herrscher auf der Erde waren. Als geologische Formationen sind hier Trias, Jura und Kreide zu nennen. Als die Dinosaurier vor etwa 65 Millionen Jahren aussterben, schreiben wir im Film bereits den 26. Dezember 17:56:34 Uhr. Nun beginnt die Erdneuzeit oder Känozoikum bestehend aus dem 63 Millionen Jahre andauernden Tertiär und dem 1,8 Millionen Jahre alten Quartär, dem letzten Unterkapitel des Drehbuches. Man schreibt bereits den 31. Dezember 20:30:33 Uhr und der Mensch besiedelt als „homo erectus“ die Erde in Afrika. Der „Homo Sapiens“ tritt zusammen mit dem „Homo Neanderthaliensis“ vor ca. 200.000 Jahren auf die Weltbühne, also am 31. Dezember 23:36:44 Uhr. Der „Homo Sapiens“ ist heute die einzige Menschengattung, die noch existiert, wie anhand des „Human Genom Project“ nachgewiesen wurde. Die Geburt Christi fände am 31. Dezember 23:59:46 Uhr statt und die „Industrielle Revolution“ durch den mechanischen Webstuhl von 1764 hätte er 2 Sekunden vor Mittenacht des 31. Dezember stattgefunden.

Wenn man also in diesem Zeitrahmen seine Gedanken spielen lässt, so kann man eindeutig erkennen, dass die anthropozentrische Sichtweise insbesondere in der industrialisierten Welt einen Anspruch erhebt, den sie nicht besitzen kann. Betrachtet man die Aussagen insbesondere über die rasante Entwicklung der Technologie und die daraus entstehenden Gefahren für den Globus, insbesondere über die „Zerstörung des Lebensraumes“ in dem aufgeführten zeitlichen Horizont, so ist getrost festzustellen, dass der Einfluss der Menschheit auf die gesamte lebende Umwelt (dazu gehören auch Pflanzen, Tiere und Pilze, sowie der Kreislauf der Chemosynthese in der Tiefsee) nicht überschätzt werden sollte. Die Katastrophen, die vor 250 und 65 Mil-

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lionen Jahren zum Aussterben ganzer Tier- und Pflanzenfamilien führten, hatten ein um Potenzen höheres Vernichtungspotenzial. Ich möchte dazu ermuntern, sich einmal in diese Gedankenwelt einzufinden und die Relation zwischen dem Anspruch des anthropozentrischen Weltbildes und einer „naturwissenschaftlichen Realität“ auf der anderen Seite zu ergründen. Im Anschluss an die Ausführungen zum zeitlichen Horizont folgt eine kurze Einführung in die räumlichen Entfernungen, die für die Naturwissenschaft grundlegend sind: Astronomische Entfernungseinheiten sind Astronomische Einheit, Lichtjahr und Parsec. Die Astronomische Einheit ist die durchschnittliche Entfernung der Erde von der Sonne entsprechend 149,6 Millionen Kilometern. Das Lichtjahr ist die Strecke, die elektromagnetische Wellen im Vakuum in einem Jahr zurücklegen; dies ergibt bei einer Lichtgeschwindigkeit von 299.792.458 Meter/Sekunde etwa 9,460526 Billiarden Kilometer. Als größte Einheit stellt das Parsec die Entfernung dar, bei der die Erdbahn unter dem Winkel von einer Bogensekunde erscheint. Dies sind 3,26 Lichtjahre oder etwa 30,86 Billiarden Kilometer. Mit Bezug auf das Sonnensystem ergeben sich folgende Fakten: Das Sonnensystem hat einen Einflussbereich von etwa 2 Lichtjahren, die Milchstraße ist eine Spiralgalaxie mit etwa 120.000 Lichtjahren horizontaler Ausdehnung, in der die Sonne für einen Umlauf etwa 250 Millionen Jahre benötigt. Insgesamt bildet das Weltall eine Sphäre von ungefähr 15 Milliarden Lichtjahren in unserem erkennbaren dreidimensionalen Raum. Die VoyagerMission ist seit dem Jahr 1977 unterwegs und die beiden Sonden befinden sich jetzt in einer Entfernung von 103,75 Astronomischen Einheiten oder 15,52078 Milliarden Kilometern von der Sonne entfernt. Die weiteste bemannte Raumfahrt war die Landung auf dem Mond, mit einer Entfernung von 384.000 Kilometern. Wenn also einige Menschen von der Eroberung des Weltalls reden, so kann man den Eindruck gewinnen, dass hier die exakten Dimensionen des Weltraums nicht richtig verinnerlicht worden sind. Zudem muss angemerkt werden, dass im Vergleich zu den angesprochenen Dimensionen und Größenordnungen die Menschheit noch nicht einmal in der Lage ist noch in naher Zukunft sein wird, sich im Vergleich zur irdischen Schifffahrt weiter als einen Millimeter vom Ufer zu entfernen. Ebenso ist zu bedenken, dass wir das Weltall quasi in der Vergangenheit sehen. Das Licht der Sterne, das heute auf die Erde trifft, wurde in einer Vergangenheit abgestrahlt, die der Entfernung des Sterns vom Sonnensystem entspricht. Der Nachthimmel ist gleichsam eine gigantische Zeitmaschine, man erkennt noch Sterne, besonders in großen Entfernungen, die bereits vergangen sind. Auch die Annahme der Singularität des Lebens auf Sauerstoffbasis nur auf der Erde erscheint in Anbetracht der Größe des Weltalls und der Anzahl

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der Sterne und wohl auch Planeten aus sichtbarer Materie zumindest fragwürdig und wird wohl in absehbarer Zukunft falsifiziert werden, da man inzwischen in der Tiefsee und in heißen Quellen einen Schwefelzyklus nachweisen kann. 2. Zukünftige Entwicklungsmodelle für Gesellschaften Nach diesem Schnelldurchgang in Astronomie möchte ich jetzt mit Hilfe zweier Modelle auf die Möglichkeiten der Technologisierung unserer Gesellschaft eingehen. Beide Theorien haben Einschätzungen über die Zukunft der Streitkräfte in zumindest zwei Studien des heutigen Zentrum für Transformation beeinflusst und sind daher auch aus Perspektive der Bundeswehr bedenkenswert. Die Tofflersche „Drei-Wellen“-Theorie: Das erste Modell, das eine Möglichkeit für die weitere Entwicklung der Menschheit sein kann, wurde von Alwin und Heidi Toffler, zwei amerikanischen Futurologen, die sich seit Beginn der 70er Jahre des letzten Jahrhunderts mit den allgemeinen Entwicklungslinien menschlicher Zivilisation beschäftigen, entwickelt. Nach ihrer Vorstellung schreitet die Menschheit in einem Prozess von Wellen, dessen treibende Kraft die Form der Wertschöpfung, d.h., die Art und Weise der Produktion darstellt, die wiederum maßgeblich durch technologische Entwicklungen beeinflusst, voran. Die erste Welle wird mit einer Dauer von ca. 3000 Jahren dem Agrarzeitalter zugeordnet. Hierbei stellt sich das soziale und ökonomische System als System von Stämmen mit ihren jeweiligen hierarchischen Funktionen dar. Die originären Produktionsfaktoren sind Boden und Arbeit mit den Produkten aus der Landwirtschaft sowie den zur damaligen Zeit verwertbaren Bodenschätzen. Die Waffentechnik beschränkt sich auf Schwert und Schießpulver und die Form des Kampfes ist das klassische Duell. Mit dem Aufkommen der exakten Naturwissenschaften und der Ingenieurskunst beginnt die etwa 300 Jahre dauernde zweite Welle, das Industriezeitalter. Hier entstehen die ersten Nationalstaaten und durch die Auflösung der Großfamilie eine homogene Massengesellschaft. Die Produktionsfaktoren erweitern sich auf Kapital und vorhandene Rohstoffe. Die Produktion wird zur Massenproduktion, die Manufaktur wird zum Luxusgut. Die Kriegsführung nutzt Massenvernichtungswaffen und die Kampfform ändert sich von der klassischen Duellsituation Mann gegen Mann zu Waffensystem gegen Waffensystem. Die dritte Welle, die heute bereits begonnen hat, ist das Informationszeitalter. Hierin werden Wissen und Information immer mehr zum bestimmenden Faktor in der Produktion. Die Gesellschaften verschmelzen zu internationalen Konglomeraten ohne nationalstaatliche Bindungen und es entsteht eine heterogene Individualgesellschaft. Die Kriegsführung wird durch Computer bestimmt und die Form des Kampfes soll sich auf Duelle zwischen Computern reduzieren. Dies bedeutet

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jedoch nicht, dass dabei keine Menschen zu Schaden kommen können (Kollateralschäden).

Diese drei Wellen haben jedoch weltweit keine zwingende zeitliche Synchronisation, vielmehr besteht ein Nebeneinander von Zivilisationen mit den unterschiedlichen Entwicklungsständen, die mit mächtigen Neben- und Gegenströmungen aufeinander treffen können. In dieser dreigeteilten Welt soll der schnell wachsende Sektor der Dritten Welle die Vorherrschaft über die Staaten der Zweiten und auch die in gewissem Umfang weiterhin existierenden Staaten der Ersten Welle erringen. Die Kondratieff-Zyklen:1 Nikolai Kondratieff ist der Begründer der Theorie der langen Wellen, die als nützliche Entscheidungshilfe für die Prognose langfristiger Trends angewandt werden kann. In seinem Modell kommt es alle 30–50 Jahre zu einer so genannten Basisinnovation; es postuliert insbesondere, dass wirtschaftliche Entwicklungen nicht nur durch das Auftreten kurzer und mittlerer Konjunkturschwankungen gekennzeichnet sind, sondern dass auch lange Phasen von Aufschwung und Rezession gleichmäßig wiederkehrend auftreten. Die Theorie der langen Konjunkturwellen beschreibt dabei nicht nur bloße Wirtschaftszyklen, sondern vor allem auch gesellschaftliche Prozesse. Die Basisinnovationen im ersten Zyklus waren Baumwolle und Dampfmaschine, im Zweiten Stahl und Eisenbahn, im Dritten die Elektrotechnik und die Chemie, im Vierten dann Petrochemie und Automobil, im Fünften die Informationstechnik. Aktuell stehen wir an der Schwelle zum Sechsten Zyklus, da der Boom des Fünften Zyklus’ in den Industrienationen überschritten sein dürfte. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit werden Gesundheitswesen, Biotechnologie, Umwelttechnologie und optische Technologie die bestimmenden Faktoren des neuen Zyklus werden, was man anhand der aktuellen Themen in der politischen Diskussion aufzeigen könnte.

Ein Kennzeichen der Kondratieff-Zyklen ist, dass schon vorhandene, aber bisher nicht allgemein genutzte Ressourcen plötzlich in das allgemeine Bewusstsein treten und dadurch eine hohe Bedeutung erlangen. Im ersten bis vierten Zyklus waren diese Ressourcen in der Regel materieller Art, seit dem fünften Zyklus ist es prinzipiell immaterielle Information. Dadurch, dass sich ein System – insbesondere die westliche Gesellschaft – viele neue Ressourcen zugänglich macht, kommt es zu exponentiellem Wachstum in bis dahin unerschlossenen Gebieten. Dieses Wachstum vollzieht sich nichtlinear, also anfangs langsam und fast unbemerkt, plötzlich wird es jedoch steil und dramatisch. Es zeichnet sich ab, dass sich die Dauer der Zyklen ständig verringert, da sich auch das Wissen in immer kürzeren Abständen verdoppelt. Wie lange daher der sechste Kondratieff-Zyklus dauern wird, ist nicht prognostizierbar. 1

Vgl. hierzu Stumpf (2000) und Nefiodow (2006).

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Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass die Theorie der Tofflers keine Aussage darüber erkennen lässt, welche Gesellschaftsform nach dem Informationszeitalter kommen wird. Sollte das Informationszeitalter der Schlusspunkt der Entwicklung sein, so steht uns nur noch eine kurze Zeitspanne bis zum Stillstand zur Verfügung. Sollte es aber eine Weiterentwicklung geben, so stellt sich zwingend die Frage, wie das Post-Informationszeitalter aussehen werde. Die Kondratieff-Zyklen stellen eine in sich stetige Entwicklungslinie auf, die vom prinzipiellen Verlauf unendlich ist. Deshalb wird dieser Theorie auch eine höhere Wahrscheinlichkeit in der Prognostik zugebilligt und sie wurde auch im Rahmen der Europäischen Forschungsrahmenprogramme als eine der Grundlagen ausgewählt. Welche der beiden Theorien sich letztendlich als die zutreffendere erweisen wird, kann allein die nähere Zukunft zeigen. Wie stets wird es wahrscheinlich ein Kompromiss aus diesen beiden und eventuellen weiteren Theorien werden, da die Wechselwirkung zwischen der Natur und dem Menschen – genau in dieser Reihenfolge – in ihrer Hologenität (Gesamtheit) durch keinerlei Modellvorstellung oder gar Modell umfassend beschrieben werden kann. Aus diesem Grunde sollte man zwar versuchen, den anthropogenen Einfluss auf die Erde zu beschreiben, bei der Prognose der Auswirkungen auf unseren Planeten ist jedoch höchste Vorsicht geboten, da hier ein äußerst komplexes System zu beschreiben ist, das die Vorstellungskraft der Menschheit sprengt. Dies gilt insbesondere, weil wir uns in der Regel nur mit dem Teil der belebten Erde beschäftigen, den wir sehen und beobachten können. Der Mikrokosmos wird in der Regel von den meisten Menschen unterschlagen.

III. Die Geschichte der Technik Wann begann eigentlich die Technik? Dies ist noch keine abschließend beantwortete Frage, wenn man sich mit der Historie der Technik beschäftigt. Ist es schon der Gebrauch von Werkzeugen oder erst der Gebrauch von Distanzwaffen? Für die folgenden Ausführungen beantworte ich diese Frage mit dem Gebrauch der Distanzwaffen, also Speer mit Speerschleuder sowie Pfeil und Bogen. Denn einfache Werkzeuge werden auch von Tieren, wie Raben, Ottern und Affen verwendet. 1. Die nichtmilitärische Technik Bereits im Übergang von der Bronzezeit zur Eisenzeit wurde die erste industrielle Fertigung von Pharao Ramses II in seiner Hauptstadt Piramesse betrieben. Die Kapazitäten der Schmelzöfen betrugen mehr als eine Tonne

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Bronze pro Tag, die dann auch im flüssigen Zustand verarbeitet werden musste. Es wurden dabei hauptsächlich Werkzeuge und Waffen quasi in einer Art Fließbandverfahren gefertigt. Der Einsatz von Werkzeugen/Maschinen, deren Antrieb durch Muskeloder Wasserkraft bewerkstelligt wurde, begann nachweisbar erst in der Antike. Hier ist anzumerken, dass die Entwicklung dieser Maschinen oder Mechaniken/Hydrauliken stets an die mechanischen Grenzen der jeweiligen vorhandenen und, was bedeutend wichtiger war, verfügbaren Werkstoffe gebunden war. Es gab zwar schon damals auch ständig bediente interkontinentale Handelsrouten, auf denen viele Güter transportiert wurden, jedoch waren die Kapazitäten dieser Karawanen stets auf die Möglichkeiten der Tragtiere, Esel oder Kamel, sowie der Versorgung von Mensch und Tier auf der Reise teils durch unwegsame und öde Gebiete eingeschränkt. Daraus ergab es sich zwangsläufig, dass die Konstruktion und der Einsatz der „Hochleistungsmaschinen“ stets kostenintensiv und an der Grenze des Machbaren erfolgte. Unter diesem Gesichtspunkt ist es verständlich, dass dabei weniger die „kostengünstigere“ Gesundheit des/der Bediener im Focus der Aufmerksamkeit war als vielmehr der reibungslose und störungsfreie Betrieb der Maschine. Eine grundlegende Änderung in der Nutzung der Technik wurde dann durch die Einführung von „modernen“ Antriebsmaschinen eingeleitet. War vorher der Handwerker und sein Produkt im Mittelpunkt der Betrachtung, wurde dem Individuum und dessen Handarbeit im Verfahren der Massenproduktion, bei dem es bekanntlich auf die Stückzahl ankommt, nur noch im Rahmen der Eigenschaft als Bediener oder Handlanger dieser Maschinen Bedeutung zugemessen. Die Maschinen der damaligen Zeit waren, wie bereits im Vorigen erwähnt, nicht so sicher und die Werkstofftechnik noch nicht so ausgereift, so dass jederzeit Störungen auftreten konnten und die Gefahr von Unfällen bestand. Fabriken und Werkstätten konnten aus Kostengründen nicht überall mit den wenigen Maschinen ausgestattet werden, so dass diese nur an vereinzelten Orten, vorzugsweise Städten, gebaut wurden. Die benötigten Handwerker mussten aus ihren Heimatdörfern wegziehen, um in der Nähe dieser Fabriken wohnen zu können, wo sich allerdings auch für Arbeiter ein höherer sozialer Standard erreichen ließ. Am Anfang der Industrialisierung gab es häufig schwere Unglücksfälle, da der Arbeitsschutz in dieser Zeit nicht sehr ausgeprägt war und nur als Kostenfaktor oder gar als Störfaktor angesehen wurde. Es war die Zeit der reinen Profitmaximierung für Besitzer und Händler. Diese Einstellung änderte sich erst, als auch „leitende Angestellte“ mit ihren Familien zum Beispiel in die Nähe von Hochöfen oder auch Munitionsfabriken ziehen mussten, in denen sich fast täglich Unglücke ereigneten. Sobald die eigenen Familien im Ge-

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fahrenbereich wohnten, legten auch die Fabrikleiter erfreulicherweise sehr viel Wert auf Gefahrenminderung am Arbeitsplatz sowie in den Lagerstätten und Magazinen. Durch die geringe Anzahl verfügbarer Antriebsmaschinen war zum Anfang des 20. Jahrhunderts eine weitere große Gefahr für Leib und Leben in Kauf zu nehmen, die ledernen Transmissionsriemen, die bei Materialermüdung zu todbringenden Geschossen in den Fabrikhallen werden konnten. Diese Transmissionsriemen waren die einzigen störungsfreieren und durch verschiedene Über- und Untersetzungen regelbaren Kraftübertragungsmöglichkeiten, die in den Fabrikhallen effektiv eingesetzt werden konnten, um von nur einer Antriebsmaschine viele unterschiedliche Werkmaschinen wie Pressen, Stanzen, Fräsen, Bohrer etc. mit ihren jeweiligen unterschiedlichen Drehzahlen zu betreiben. Diese „Infrastruktur“ änderte sich erst mit der kontinuierlichen Verfügbarkeit der Elektrizität und der Elektromotoren für die Fertigung und auch für die Gesellschaft. Es war jetzt möglich, kleinere Antriebsmaschinen in jede einzelne Werkmaschine zu integrieren und von einer Zentralversorgung unabhängig zu betreiben. Ebenso war es nach der Erfindung des elektrischen Lichtes und insbesondere der Glühbirne möglich geworden, sich dem natürlichen Tag/Nachtrhythmus zu entziehen und die Schichtarbeit einzuführen. Da Maschinenlaufzeit kostbar war, musste sich der Mensch, sprich Fabrikarbeiter, in seinem Lebensrhythmus dem Maschinenrhythmus (Betriebs-, Wartungs- oder Reparaturzeit) anpassen. Die nächste „Revolution“ war dann die Einführung des Fließbandes in der Autoproduktion. Hierbei konnten auch Arbeiter ohne abgeschlossene Berufausbildung bestimmte antrainierte Handgriffe in kurzer Zeit lernen und danach in den Gesamtfertigungsprozess vollständig mit einbezogen werden. Aus heutiger arbeitspsychologischer Sicht trug dies nicht immer zur Zufriedenheit des Arbeiters mit seiner persönlichen Situation bei, aber jeder Mensch war dadurch ohne größere Probleme ersetzbar (hire and fire). Dieses Verständnis, dass die Technik und dabei die Maschine dem Menschen gegenüber das Maß aller Dinge war, galt bis in die sechziger Jahre des letzten Jahrhunderts als Standard in der weltweiten Rechtssprechung. Dies änderte sich in den USA radikal, als die Unfehlbarkeit der Technik klar in Frage gestellt wurde, und die enormen Kosten der Schadenersatzprozesse, die vor allem der amerikanische Verbraucheranwalt Ralph Nader angestrengt und gewonnen hatte, zu einem Umdenken innerhalb der Industrie führten. Begründung war dabei in der Regel, die Technik habe sich so zu verhalten, dass keine Schädigung des Bedieners durch das Betreiben von Geräten erfolgen dürfe. Wenn Technik problematisch war, musste explizit darauf hingewiesen werden. An die Werbung wurden entsprechende Forde-

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rungen gestellt. Ein kleines Beispiel, eine Automarke hatte geworben, dass ihr Wohnmobil von alleine führe. Diesen Slogan hat ein Fahrer dann wörtlich genommen und sich beim Fahren einen Kaffee in der Küche gekocht. Nach dem zwangsläufigen Unfall verklagte er dann den Fahrzeughersteller auf Schadenersatz und bekam diesen auch zugesprochen. Solche Urteile führten in letzter Konsequenz, besonders in der Vorstellung technisch nicht vor- oder ausgebildeter Menschen, zu dem vorhandenen aktuellen Verständnis, dass sich die Technik an den Menschen anzupassen habe. 2. Die Waffentechnik Werkzeuge und Waffen sind schon seit der Frühzeit des Menschen in Gebrauch und wurden und werden ständig weiterentwickelt. Dies begann mit dem Speer und der Speerschleuder, führte zu Pfeil und Bogen, dem Katapult, der Armbrust, der Kanone, der Muskete und letztendlich der Rakete. Die Anwendung dieser Technologien beinhaltete aber immer ein hohes Verletzungspotential der eigenen Truppe, sei es aus Unachtsamkeit des Bedieners/Schützen oder auf Grund technischer Mängel am eingesetzten Gerät. Diese oft tödlichen Verletzungen wurden jedoch stets im Hinblick auf die „enormen“ Vorteile dieser „Waffen“ billigend in Kauf genommen, um das jeweilige Eroberungsziel zu erreichen. Die Kriegswaffen waren ebenso wie die zivilen Werkzeuge/Maschinen somit nicht in Hinblick auf den Bediener und dessen Fähigkeiten konzipiert, sondern der Bediener/Betreiber musste sich immer auf die Konstruktion der jeweiligen Waffe einstellen. In dieser Zeit galt auch noch für die Technik die Aussage, dass der Krieg der Vater aller Dinge sei, da in der Waffenentwicklung stets auf state of the art geachtet wurde. Anhand der Luftfahrzeugtechnik seit 1945 kann man jedoch erkennen, dass der Mensch zum begrenzenden Faktor geworden ist; denn nur ein Mensch benötigt für sich ein Lebenserhaltungssystem und seine persönliche Belastungsgrenze (z. B. Einsatzdauer, Beschleunigung und Aufmerksamkeit) liegt deutlich unter derjenigen, die ein unbemanntes Luftfahrzeug ohne Schaden zu nehmen erreichen kann. Ähnliche Prämissen gelten allerdings auch für moderne See-, Land- und Raumfahrzeuge, bei denen auch der Mensch immer der begrenzende Faktor ist. Möglichkeiten diese menschliche Unzulänglichkeit zu überbrücken wären einerseits autarke/autonome unbemannte oder ferngesteuerte unbemannte Systeme, bei denen der Controller jederzeit in jeder Situation ohne Beeinträchtigung des Einsatzes ausgewechselt werden kann. Beiden Varianten wohnen zwangsläufig Vor- und Nachteile inne. Das rein autarke/autonome System bietet – gemäß dem Motto „fire and forget“ – nach dem Betätigen des Feuerknopfes keinerlei Möglichkeiten mehr – außer vielleicht einem zusätzlich von außen aktivier-

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baren Selbstzerstörungsmechanismus – auf eine geänderte Situation zu reagieren. Diese, in ihrer Bedeutung nicht zu unterschätzende Reaktionsfähigkeit, besitzt jedoch ein bemanntes System, da der Mensch vor Ort auch in kritischen Situationen „emotional und emotionell“ reagieren kann. Diese Tatsache führt automatisch zu einem „ideologischen“ Wettstreit, welche Philosophie im Bereich der Waffentechnik und des Waffeneinsatzes die bessere sei (Luftfahrzeug oder Rakete). 3. Das Zeitalter der Computer Der nächste große Fortschritt war der globale Einsatz von Computern als schnelle Datenverarbeitungsmöglichkeit auf allen Gebieten und Disziplinen, da die von allen Sensoren und Geheimdiensten gelieferten Datenmengen nicht mehr von Hand ausgewertet werden konnten. Weiterhin konnten neue Werkstoffe und auch Wirkstoffe nach rechnergestützter Entwicklung geeigneter Modelle ohne aufwendige Versuchsreihen „designed“ werden und der Aufwand, nach Möglichkeiten für den Einsatz der neuen Technologien zu suchen, verringerte sich erheblich. So wurden die ersten Mikrobauteile und Mikromaschinen berechnet und gefertigt. Sie sind auch militärisch nutzbar und stehen inzwischen in Konkurrenz zu Nanobauteilen und Nanomaschinen, die im Labor bereits in der Lage sind, mit einer Eigenversorgung zu funktionieren. Im Laufe der militärisch bedeutsamen Computervernetzung entstand auch das berühmte World Wide Web als Nachfolger des amerikanischen ArpaNets. Ebenso wurden in der Sensorik und im Bereich von Mensch-Maschine-Interfaces erhebliche Fortschritte erzielt. So kann man heute detailgenaue Bilder aus dem Weltraum für alle möglichen Zwecke erhalten. Wer Google-Earth nutzt, kann ahnen, welche Auflösung inzwischen militärische Satelliten mit ihren optischen, infraroten und Radar-Sensoren erreichen können. Ebenso ist es heute nicht mehr zwingend notwendig, die eigenen Soldaten direkter Gefahr für Leib und Leben auszusetzen, da solche Einsätze auch mit Hilfe von autarken oder ferngesteuerten Robotern erledigt werden können. Die künstliche Intelligenz wird in der Weltraumtechnik perfektioniert, da die physikalischen Gesetze nicht außer Kraft gesetzt werden können und die Übertragung von Signalen maximal mit Lichtgeschwindigkeit erfolgen kann. Das bedeutet, dass ein Steuerbefehl für eine Sonde auf dem Mars, unserem zweitnächsten Nachbarn im Sonnensystem, der auf einer Umlaufbahn mit einem mittleren Abstand von 225 Millionen Kilometern um die Sonne kreist, in der erdnahen Konstellation erst nach 2 Minuten und 10 Sekunden und in der erdfernen Konstellation 20 Minuten und 50 Sekunden erreicht. Dass in einer solchen Zeitspanne auch zusätzliche Steuerbefehle notwendig sein können, dürfte wohl für jeden verständlich sein.

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Ein ähnliches Dilemma stellt sich dem Menschen in der Tiefsee, die noch frei von Massenvernichtungswaffen ist. Hier ist nicht die Entfernung das hauptsächliche Problem, denn eine Tiefe von etwa 10 Kilometern stellt an sich keine wirkliche unüberwindliche Größe dar, sondern der unheimlich hohe Druck, den die Wassersäule dort ausübt. Bekanntermaßen erhöht sich der Druck etwa alle 10 Meter um ein Bar, so dass man dort mit 1.001 Bar, also 1.001 Kilogramm pro Quadratzentimeter rechnen muss. Diese dort herrschenden Drücke erfordern Stahlhüllen von mehreren Zentimetern, um menschliches Leben in seinem gewohnten Umgebungsdruck von einem Bar sicherzustellen. Zur Verdeutlichung möchte ich als kleines Beispiel anführen, dass man in dieser Tiefe keine Pistole abfeuern kann. Da der äußere Druck um ein vielfaches höher ist als der Explosionsdruck der Treibladung tritt folgender Effekt ein: Die Treibladung zündet, und versucht das Projektil aus dem Lauf zu befördern. Der vorhandene Umgebungsdruck verhindert jedoch, dass sich das Projektil in Richtung Mündung bewegen kann. Gleichzeitig können aber auch der Lauf und die Patronenkammer der Pistole nicht explodieren, da der Umgebungsdruck keine Verformung zulässt. Somit ist auch im Bereich der Tiefsee der Einsatz von Robotern – auch mit künstlicher Intelligenz – angesagt. Ein weiteres großes Betätigungsfeld für künstliche Intelligenz und Human-Machine-Interface sind nervenleitungsgesteuerte Computer und Gliedmaßen, bis hin zu einem vollständigen rechnergestützten Exoskelett, um Menschen mit Querschnittlähmung oder Muskelerkrankungen wieder zu einem Stück Selbstbestimmung zu verhelfen. Ein solches Exoskelett kann man natürlich auch im militärischen Bereich einsetzen, wobei ich Ihrer persönlichen Fantasie keine Grenzen setzen möchte. Hinzu tritt die Tatsache, dass in manchen Waffensystemen durch die Computersteuerung die menschlichen Einflussmöglichkeiten quasi auf Null reduziert wird. Im kalten Krieg hatte der Präsident der Vereinigten Staaten eine Reaktionszeit von weniger als einer Minute, um einen atomaren Gegenschlag zu verhindern, den sonst die Computersysteme eigenständig eingeleitet hätten. Der nächste Quantensprung in der Computertechnologie wäre der „Quantencomputer“, der als einziger bekannter Computer jegliche Beeinflussung oder Datenmanipulation auf dem Übertragungsweg nachweisbar werden lässt. Jedoch ist auch ein solcher Quantencomputer nur in der Lage mit den Zuständen 0 und I zu rechnen, wenn auch deutlich schneller und sicherer als die heutigen Computer. Der absolute Durchbruch in der Computertechnik wäre es jedoch, wenn man einen biologischen Computer entwickeln könnte. Ein solcher Computer wäre nicht nur in der Lage, mit vier Variablen, nämlich den Basen Adenin, Cytosin, Guanin und Thymin zu arbeiten, sondern er wäre auch fähig, kreative und damit völlig unerwartete Lösun-

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gen zu finden, so wie die Evolution ebenfalls solche für uns teilweise erstaunlichen Lösungswege gefunden hat. Welche Schlussfolgerung kann man aus diesen historischen Daten ziehen? Es ist mit Sicherheit anzunehmen, dass wir in naher und/oder in ferner Zukunft noch Entwicklungen im Bereich der Technik haben werden, von denen heute nur im Rahmen von Science Fiction gedacht wird. Ich denke dabei an Möglichkeiten, die sich aus der Anwendung der Superstringtheorie mit ihrem multidimensionalen Ansatz ergeben könnten: Wie sähe es aus, wenn wir in die Lage versetzt würden, die Grenzen unseres örtlich dreidimensional und zeitlich eindimensional erkennbaren Raumgefüges zu überwinden? Vielleicht wird es aber auch möglich sein, die Besonderheit der dunklen Materie zu erkennen und daraus Fortschritte im Rahmen einer umfassenden Universaltheorie zu erreichen, die nicht mehr auf eingrenzende Rahmenfaktoren angewiesen ist. Es gibt jedenfalls noch viel zu entdecken und die Menschheit sollte für alle Erkenntnisse, auch wenn sie die eigene Marginalität aufzeigen, offen sein und die Fähigkeit besitzen, sich damit zu arrangieren.

IV. Das Verhältnis zwischen Mensch und Technik Nach diesem Abriss der Geschichte der Technik möchte ich nun auf das Verhältnis von Mensch und Technik und seine Wechselwirkung eingehen. Denn Technik in der von meisten Menschen verstandenen und gelebten Form ist nicht wertneutral, sondern stark mit emotionalen Bindungen behaftet. Wie es damit aussieht und welche unterschiedlichen Wertevorstellungen verbunden waren und sind, wird im Folgenden dargestellt. 1. Die Bedeutung der Technik für den Menschen Bis in die sechziger Jahre war das vorherrschende Verständnis so ausgeprägt, dass die Technik das Maß aller Dinge ist, da man nicht über die Möglichkeiten verfügte, sowohl die menschlichen Fehler wie auch Materialund Fertigungsfehler von vornherein zu erkennen, ihnen immer vorzubeugen und sie zu kompensieren. Dies lag hauptsächlich daran, dass die Wissenschaftler sich aufgrund nicht ausreichender Rechnerkapazitäten, ungenügender Modellbildungsmöglichkeiten und einem deutlich geringeren Verständnis für die naturwissenschaftlichen Zusammenhänge mit den Werkstoffen und Formen zufrieden geben mussten, die fertigungstechnisch realisierbar waren. Man denke zum Beispiel an Automotoren in den frühen sechziger Jahren. Der stolze Autobesitzer war begeistert, wenn sein Motor 60 PS besaß, eine Laufleistung von 60.000 km erreichte und die Inspek-

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tionsintervalle schon 5000 km betrugen. Wenn man sich diese Tatsachen vor Augen führt, so ist es verständlich, dass sich der Mensch der Technik anpassen musste. Wer ein modernes Kraftfahrzeug besitzt, kann über solche Leistungsdaten nur mitleidig lächeln. Mit Beginn der elektronischen Datenverarbeitung kam noch ein weiterer Faktor hinzu, nämlich die höhere Rechengeschwindigkeit und die „Unbestechlichkeit“ der Rechenvorgänge. Dies erreichte auch durch die massenhafte Verbreitung der neuen Medien wie Fernsehen und Radio sowie der Nutzung von Satelliten eine solche Dimension, dass man der Technik uneingeschränktes Vertrauen entgegenbringen wollte und auch sollte. So ist es auch zu erklären, dass Atomkraftwerke als absolut sicher galten und ein Störfall unvorstellbar war. Es gab die Idee einer völlig technisierten Welt, in der der Mensch wie im Schlaraffenland leben konnte und alle wichtigen Funktionen durch „unfehlbare“ Roboter wahrgenommen werden konnten. Dass diese Vorstellung nur ein Wunschtraum von geschickten Marketingstrategen war, erkannten zum damaligen Zeitpunkt nur sehr wenige Menschen. Mit dem Bericht des „Club of Rome“ wurde dann erstmals die Endlichkeit der Ressourcen öffentlich festgestellt und die Wahrscheinlichkeit, dass wichtige Ressourcen in naher Zukunft erschöpft sein werden, rückte in das Bewusstsein der Menschen.2 Die Grenzen des Wachstums wurden wissenschaftlich benannt und gesellschaftlich diskutiert. Plötzlich nahm man die Störfälle in Kernkraftwerken (Three Mile Island in Pensylvania am 28. März 1979) bewusster wahr, und die Erkenntnis keimte, dass die begrenzten Energie- und Nahrungsressourcen das Bild vom allmächtigen Menschen deutlich in seine Schranken wies. Seit diesem Zeitpunkt wurden die technischen Entwicklungen von Umweltaktivisten auch stets in Hinblick auf Ihre nachhaltige Verträglichkeit für die Erde betrachtet und nicht mehr nur unter dem Aspekt des Marketings. Kommentierte man z. B. in Filmen der sechziger Jahre noch Expeditionen im Amazonasgebiet dahin gehend, dass man Treibstoff nicht ins Wasser verschütten dürfe, weil Treibstoff wertvoller als Wasser sei, so hat sich das Verständnis für die Umwelt deutlich gewandelt. Die Verseuchung des Urwaldes in Südamerika mit Quecksilber zur Goldgewinnung ist heute weitaus schlimmer und umweltzerstörender, wird aber auch als solche an den Pranger gestellt. Ebenso hat sich die Erkenntnis verdichtet, dass der Mensch nicht außerhalb der belebten Natur steht, sondern ein – wenn auch besonders – Geschöpf dieses Planeten Erde ist.

2

Vgl. Meadows (1974) und Meadows et al. (2006).

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2. Das Menschenbild der Technik Erfindungen und Erkenntnisse der Grundlagenforschung in den Naturwissenschaften sind grundsätzlich wertneutral zu betrachten. Ich möchte dabei allerdings nicht die Tatsache leugnen, dass einige Grundlagenforschungsarbeiten mit einem erheblichen materiellen Interesse an Verwertbarkeit verbunden sind, wie es zum Beispiel die Arbeiten am menschlichen Genom darstellen. Eine solche Arbeit wird bereits mit Versprechungen begonnen, die aus Sicht des Autors keinerlei Bezug zu den Rahmenbedingungen des menschlichen Lebens besitzen. Eine ähnliche Prämisse gibt es auch für Forschungen in der Waffentechnologie, wobei zu bedenken ist, dass ohne die Erkenntnisse der Astronomie im Bereich des Sternentodes die modernen Nuklearwaffen nicht berechnet werden könnten. Es gibt also stets mindestens zwei unterschiedliche Anwendungsgebiete für ein und dasselbe Forschungsergebnis. Die eine Seite wäre das Fusionskraftwerk, in dem kontrolliert unter Abgabe von Energie Wasserstoff in Helium umgewandelt wird, die andere Seite ist hinlänglich als Wasserstoffbombe mit einigen Megatonnen TNT-Äquivalent bekannt. Heutzutage sind durch das bedeutend bessere Verständnis für die inneren Zusammenhänge die Maschinen und Produkte um ein mehrfaches belastbarer und durch den Einsatz von Prozessoren hoher Leistung deutlich flexibler als noch vor einem Jahrzehnt. Markantes Beispiel hierfür ist die „fuzzy logic“, die durch das Erkennen der Abweichungen vom Idealzustand auch bei unterschiedlichsten Rahmenbedingungen die korrekte Ausführung der Tätigkeit erreicht. Mit Hilfe dieser Technik und Programmen, die in der Lage sind inzwischen auch Bedienfehler und Fehlentscheidungen zu verhindern, verwischen die bewussten interaktiven Grenzen zwischen dem Anwender und der Technik sowie der dazugehörigen Physik. Wenn man heute mit einem Fahrzeug, das alle Extras für eine sichere Straßenlage besitzt, bei schlechten Straßenverhältnissen fährt, erkennt man die physikalischen Gegebenheiten erst dann, wenn sämtliche Parameter für die Regel- und Steuermechanismen überschritten werden und das Fahrzeug ausbricht. Man denke etwa auch an das Flugzeugunglück mit einem Airbus, bei dem der Pilot bewusst den Bordrechner außer Funktion gesetzt hat, um Flugmanöver durchzuführen, die er bei eingeschaltetem Computer nicht hätte fliegen können. Der Vorteil dieser Technik ist, dass der Bediener sich nicht mehr um die Möglichkeiten des Objektes zu kümmern braucht, sondern das Gerät funktioniert bis an die Grenze der Selbstzerstörung. Dies gilt inzwischen für fast alle Bereiche der Technik. Die Sicherheit des Bedieners ist heute das höchste Gebot, das für technische Errungenschaften gilt. Die aktuelle Debatte über Nuklearkraftwerke ist im Grunde nur der Erkenntnis geschuldet, dass der Mensch erfahren hat, wo die Gefahren einer Technologie liegen,

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die zwar mit dem nötigen Respekt beherrschbar ist, aber stets auch ein hohes Zerstörungspotential beinhaltet. Der Mensch wird derzeit in der Regel als Bediener anerkannt,3 der sich „unlogisch“ verhalten darf und dem in jeder Beziehung geholfen werden muss. Dies ging und geht allerdings auch soweit, dass ein Entscheidungsträger bei einer für das System unlogischen Entscheidung zuerst erneut befragt wird und – je nach hinterlegter Logik – dieser Befehl dann ausgeführt, wenn auch mit dem Hinweis, dass sich daraus fatale Ergebnisse entwickeln können, oder durch die Maschine ignoriert wird. Ein weites unübersichtliches Feld ist die Fehlersuche in modernen Systemen. So stellt sich immer die Frage, ist der auftretende Fehler systemimmanent, bauteilabhängig oder vielleicht sogar von außen eingespeist. Um diese stets wichtige Frage beantworten zu können, müssen auch die Anwender dieser Techniken in der Lage sein, selbständig eine erste Vorauswahl auf die Fehlerursache treffen zu können. Somit stellt sich die Technik, besonders bei kritischen Systemen wie Flugsicherung, Waffensystemen und Frühwarnsystemen, um nur einige zu nennen, nicht nur unterstützend dar, sondern sie stellt gerade an den Bediener/Betreiber immer höhere Anforderungen, wie zum Beispiel ein hohes Maß an Einfühlungsvermögen und Sensibilität, besonders wenn die Leistungsgrenze des Systems erreicht wird. Für diejenigen jedoch, die sich auch mit dem Innenleben, der Hard- und Software dieser Geräte auseinandersetzen müssen, werden die Voraussetzungen an das Verständnis und das Verstehen der Funktionsweisen immer höher und komplexer, so dass letztendlich nur noch eine kleine „Elite“ in der Lage sein wird, diese Technologien zu verstehen und auch in letzter Konsequenz zu beherrschen. Diese „Elite“ wird mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit von allen wichtigen gesellschaftlichen Schichten und Entscheidungsträgern umworben werden und sie wird sich ihre persönlichen Arbeitsbedingungen aussuchen können.4

V. Die Bedeutung der Technik für das Militär Die moderne Technologie hat auch für das Militär zwei Gesichter. Einerseits werden viele, einfach zu bedienende und effiziente Waffensysteme zur Verfügung stehen. Dies beinhaltet auch, wie bereits erwähnt, dass sich der Soldat nicht mehr zwingend auf dem Gefechtsfeld unter Einsatz seines Lebens bewegen muss. Er wird, wenn man amerikanischen „Joint Visions“ 3

Vgl. dazu konträr die Beiträge von Stümke und Gareis in diesem Sammelband. Auswirkungen auf die Bundeswehr thematisiert der Beitrag von Mohrmann in diesem Sammelband. 4

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Glauben schenken darf, entweder als „Bediener“ eines Netzwerkorientierten Systems eingesetzt werden, so dass er mit Hilfe von Drohnen, Mikrowaffensystemen, ferngesteuerten Robotern und anderen Sensoren von einem sicheren Standort aus, der überall zu Land, See, Luft oder gar im erdnahen Weltraum sein kann, ohne direkte Bedrohung durch den Feind am Kampfgeschehen teilnehmen kann. Die andere Variante wäre es, dass er im Gefechtsraum als aktiver Kämpfer an den Kampfhandlungen teilnimmt, der einerseits in einem oder mehreren Informationsnetzwerken eingebunden ist und alle für ihn notwendigen Daten über den Feind erhält. Andererseits kann er auch autark und autonom an den Kämpfen teilnehmen und seine Informationen automatisch an die verschiedenen Informationsnetzwerke andauernd übermitteln. Ebenso ist es vorstellbar, dass autarke und autonome Waffensysteme die Kampfhandlungen durchführen und der Mensch sich dem direkten Kampfgeschehen entzieht. Dies hat jedoch zur Folge, dass die notwendige Erfolgskontrolle nicht direkt vor Ort erfolgt, sondern sich die Einsatzzentrale auf Sensorergebnisse abstützen muss. Dass Sensoren nur im Mehrfachverbund verschiedenster Typen nicht getäuscht werden können, ist allerdings spätestens seit dem Golfkrieg II eine feststehende Tatsache. Daraus ergibt sich, dass letztendlich doch wieder Menschen vor Ort eingesetzt werden müssen, um ein intersubjektives Lagebild erstellen zu können. Dies war das erste Gesicht der Technik. Das zweite Gesicht wird in den Anforderungen an das Führungs- und Instandsetzungspersonal deutlich. Auch wenn heutige Waffensysteme in der Lage sind, mit hoher Präzision zutreffende Entscheidungen in atemberaubender Zeit zu treffen, sind sie dennoch von den eingegebenen oder übermittelten Daten abhängig. So wäre es in der Tat möglich gewesen, dass ein Nuklearkrieg aus der zufälligen Verkettung von harmlosen Einzelereignissen entstanden wäre. Dass dennoch kein Nuklearkrieg stattgefunden hat, ist dem „gesunden“ Misstrauen von Menschen gegenüber der Technik geschuldet. Dies bedeutet jedoch im Umkehrschluss, dass das Führungspersonal sich zwar auf Computer als präzise Entscheidungshilfen verlassen kann, jedoch aber jederzeit die eingehenden Daten auf deren Zuverlässigkeit und auch Glaubwürdigkeit bewerten können muss. Somit muss sich das Militär auch um die im vorigen Kapitel angesprochenen „Eliten“ bemühen. Das bedeutet, dass diese „Eliten“ mit attraktiven Angeboten an die Bundeswehr gebunden werden müssen, da sonst der „Brain Drain“ für die Bundeswehr fatale Folgen haben dürfte.5 Für die Führungskräfte der Bundeswehr wird es sicherlich eine große Herausforderung sein, sich auch dem technologischen Fortschritt zu stellen, da 5 Vgl. zu diesen Ausführungen auch die Beiträge von Wiesendahl und Mohrmann in diesem Sammelband.

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Technik zwar viel kann, aber, und dies muss deutlich unterstrichen werden, herkömmliche Systeme können nur so gut funktionieren und vorausschauen, wie sie von ihren Entwicklern geschaffen wurden und wie zuverlässig sie mit „unverfälschten“ Daten versorgt werden. Literatur Arquila, John/Ronfeld, David (2005): Swarming and the Future of Conflict, Santa Monica, RAND Corporation, http://www.rand.org/pubs/documented_briefings/ 2005/RAND_DB311.pdf, Verfügbarkeitsdatum 19.11.2007. Banse, Gerhard/Reher, Ernst-Otto (Hrsg.) (2002): Allgemeine Technologie Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft, Berlin: Trafo-Verlag. Die Erdzeitalter (2007): http://www.biologie.uni-hamburg.de/b-online/d41/t1.htm, Verfügbarkeitsdatum 13.11.2007. Die Geschichte des Menschen (2007): http://www.quarks.de/dyn/15556.phtml, Verfügbarkeitsdatum 13.11.2007. Enzinger, Thomas (2002): Sicherheitspolitik und Streitkräfte in der Informationsgesllschaft, in: Vollert, Jens (Hrsg): Zukunft der Bundeswehr, Band 18, Bremen: Edition Temmen, S. 97–150. Marahrens, Sönke (2001): Das Vierte Gebot in der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft, Serie „Aktuell“ des Wissenschaftlichen Forums für Internationale Sicherheit e. V., Band 20, Bremen: Edition Temmen. Meadows, Dennis (1974): Die Grenzen des Wachstums: Bericht des Club of Rome zur Lage der Menschheit, aus dem Amerikanischen übertragen von Hans-Dieter Heck, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. Meadows, Donella/Randers, Jørgen/Meadows, Dennis (2006): Grenzen des Wachstums, das 30-Jahre-Update: Signal zum Kurswechsel, aus dem Englischen von Andreas Held, Stuttgart: Hirzel. Nefiodow, Leo A. (2006): Der sechste Kondratieff. Wege zur Produktivität und Vollbeschäftigung im Zeitalter der Information, 6., aktualisierte Auflage, Sankt Augustin: Rhein-Sieg-Verlag. Pins, Markus (Hrsg.) (1998): Möglichkeiten, Risiken und Grenzen der Technik auf dem Weg in die Zukunft: Beiträge zur Technikfolgenabschätzung und Forschungsförderung aus Politik, Wirtschaft und Ethik, Bonn: Forschungsinstitut der Friedrich-Ebert-Stiftung, Abt. Technik und Gesellschaft. Silberglitt, Richard et al. (Eds.) (2006): The Global Technology Revolution 2020, Bio/Nano/Materials/Information Trends, Drivers, Barriers, and Social Implications, Santa Monica, RAND Corporation. Stumpf, Ralf (2000): Der sechste Kondratieff, http://www.ralf-stumpf.de/k6.htm, Verfügbarkeitsdatum 13.11.2007. Als weiterführende Literatur können Studien des Zentrum für Transformation, der RAND-Corporation (http://www.rand.org/), sowie anderer renommierter Institute, die sich mit Technologie und Waffenkontrolle befassen, empfohlen werden.

Der Mensch und seine Rechte Normen, Verfahren und Probleme des internationalen Menschenrechtsschutzes zu Beginn des 21. Jahrhunderts Von Sven Bernhard Gareis Betrachtet man im Jahr 2007 die Lage der Menschenrechte im globalen Maßstab, so zeigt sich ein gemischtes Bild. Zweifellos ist der Bestand an menschenrechtlichen Schutznormen besser ausgebaut denn je, auch wird die Entwicklung immer weiterreichender Standards für immer spezifischere Personengruppen dynamisch vorangetrieben, kaum ein schützenswertes menschenrechtliches Gut ist noch nicht durch eine internationale Konvention erfasst. Auf der anderen Seite jedoch werden die Bemühungen der Staatenwelt um die Beachtung und Umsetzung verbriefter Menschenrechtsstandards verstärkt sicherheits- und stabilitätspolitischen Erwägungen untergeordnet. Wie in vielen anderen Politikbereichen markiert auch auf dem Gebiet des internationalen Menschenrechtsschutzes der 11. September 2001 eine dramatische Zäsur. In deren Folge relativierten selbst freiheitliche und demokratische Staaten ihre Protagonistenrolle für die Menschenrechte und erwiesen sich – Stichworte Guantanamo Bay oder Abu Ghraib – als anfällig für massive Verletzungen elementarer menschenrechtlicher Standards.1 Zugunsten tatsächlicher oder behaupteter öffentlicher Schutzerfordernisse treten individuelle bürgerliche und Persönlichkeitsrechte – Stichwort geheime Überwachungen – zurück, für Flüchtlinge oder Asylsuchende werden neue Hürden und Hindernisse aufgebaut und Staaten mit ohnedies prekärer Menschenrechtsbilanz wie China, Pakistan oder Russland nutzen den Kampf gegen den Terrorismus als willkommenen Vorwand für ein weiteres Vorgehen gegen Minderheiten und Oppositionelle. In vielen westlichen Demokratien wird über diese Praxis nicht nur hinweggesehen, sondern es werden Staaten und Regime als Partner akzeptiert, die noch vor wenigen Jahren wegen ihrer Menschenrechtspraxis als Sorgenkinder der internationalen Politik galten. 1

Vgl. Heinz (2004) sowie Frowein (2004).

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Das Verschwinden der Menschenrechte von den vorderen Plätzen der globalen Themenagenda ist umso augenfälliger, als die 1990er Jahre mit Recht als die „Dekade der Menschenrechte“ bezeichnet werden können. Das Ende der bipolaren Weltordnung hatte weltweit zu demokratischen Aufbrüchen, Ratifizierungsschüben bei den großen Menschenrechtsverträgen und zur Etablierung neuer Schutzmechanismen wie dem Hochkommissariat der Vereinten Nationen für die Menschenrechte (UNHCHR) geführt. Der Mensch war zunehmend anerkannt als Subjekt eines Völkerrechts, das dem Individuum unveräußerliche und einklagbare Rechte zuwies und zu deren weitergehenden Schutz auch internationale Strafnormen für Menschenrechtsverletzungen schuf. Seit 2005 sind im Zuge der Bemühungen um eine Reform der Vereinten Nationen (VN) die besondere Verantwortung der Staatenwelt für den Menschen und seine Rechte wieder verstärkt unterstrichen und – etwa durch die Schaffung des VN-Menschenrechtsrates – wichtige institutionelle Schritte zum verbesserten Menschenrechtsschutz unternommen worden. Vor dem Hintergrund dieser – allerdings noch eher zögerlichen – Rückkehr der Menschenrechte ins Bewusstsein der Weltöffentlichkeit sollen im vorliegenden Beitrag die normative Ausgestaltung wie auch die politische und rechtliche Praxis der Gewährleistung des internationalen Menschenrechtsschutzes analysiert werden.

I. Was sind Menschenrechte? Wenngleich die Menschenrechtsidee in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine bespiellose Verbreitung fand, reißt die Kette der Menschenrechtsverletzungen weltweit nicht ab. Auch sind die auf globaler Ebene gesetzten Standards im positiven Recht der Staaten weit weniger fest verankert als dies die Verbreitung der zahlreichen Menschenrechtsdokumente nahe legen würde. Diese zu Beginn des 21. Jahrhunderts fortdauernde Schwäche der Menschenrechte hat ihre Gründe auch in einer nicht immer schlüssigen konzeptionellen Ausgestaltung der Menschenrechtsidee selbst. Denn der Begriff ‚Menschenrechte‘ suggeriert einen universalen Anspruch und eine materielle Eindeutigkeit, die bei näherem Hinsehen so nicht gegeben sind. Zur konzeptionellen Erfassung des Menschrechtsbegriffes hat sich ein an die historische Entwicklung des Menschenrechtsdiskurses angelehntes Generationenmodell eingebürgert:2 • Dabei umfasst eine erste Generation die klassischen liberalen Schutzrechte des Individuums gegenüber staatlicher bzw. gesellschaftlicher 2

Alternativ hierzu vgl. Fritzsche (2004), S. 27 f.

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Willkür und Gewalt, also etwa das Recht auf Leben, auf Meinungs-, Rede- und Religionsfreiheit oder auf Rechtsstaatlichkeit. • Die Menschenrechte der zweiten Generation erstrecken sich dagegen auf individuelle Anspruchs- und Teilhaberechte im wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Bereich, wie sie im Recht auf Arbeit, auf menschenwürdige Arbeitsbedingungen, auf eine materiell gesicherte Existenz oder auf Gesundheit zum Ausdruck kommen. • Dagegen nehmen die Menschenrechte der dritten Generation kollektive Ziele in den Blick. Beim Recht auf Entwicklung, auf eine saubere Umwelt oder auf Frieden handelt es sich denn auch eher um Solidarrechte, die das Individuum als originären Träger der Menschenrechte allenfalls indirekt berücksichtigen. Die diesen Generationen zugrundeliegenden Auffassungen offenbaren kategoriale Unterschiede, die nicht zuletzt in der politischen und kulturellen Pluralität des Menschenrechtsverständnisses begründet liegen. Diese ist nicht nur geeignet, das Postulat eines unteilbaren und weltweit akzeptierten Kernbestandes menschenrechtlicher Normen und Standards in Frage zu stellen, sondern verleitet auch dazu, die Menschenrechtsidee selbst zu ideologisieren und zu politischen Zwecken zu instrumentalisieren. Während die westlichen Industriestaaten traditionell die Einhaltung bürgerlicher Freiheitsrechte der ersten Generation einfordern, versuchen insbesondere die Staaten der südlichen Erdhalbkugel die Verwirklichung von Teilhaberechten und kollektiven Rechten, vor allem des Rechts auf Entwicklung, zur Voraussetzung für die Gewährung weitergehender Individualrechte zu erklären.3 Marktwirtschaftliche Demokratien kritisieren gern die Menschenrechtspraxis vieler Entwicklungsländer und erklären deren Verweis auf kulturelle Prägungen ihres Menschenrechtsverständnisses zur Legitimationsfigur für die Machtstabilisierung autoritärer Regime. Andererseits jedoch können sich die Industriestaaten dem Vorwurf doppelter Standards nicht entziehen, indem sie Entwicklungshilfen an die Erfüllung menschenrechtlicher Forderungen knüpfen, dann aber über gravierende Verfehlungen hinwegsehen, wenn sich diese in wirtschaftlich oder politisch relevanten Ländern ereignen.4 Eine Definition von Menschenrechten, die auf universale Akzeptanz und Verständnis trifft, fällt vor diesem Hintergrund schwer. Gibt es ein universales Menschenbild, aus dem sich die Ausstattung des Menschen mit derlei fundamentalen Rechten stringent ableiten ließe? Die Begründungen für die Existenz von Menschenrechten sind vielfältig und reichen von der Eben3 4

Vgl. Howard (1997/98), S. 99 f. Vgl. Kümmel (1999), S. 8.

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bildlichkeit des Menschen mit Gott im christlich-abendländischen Verständnis über vernunft- und naturrechtliche Vorstellungen der Aufklärung bis hin zu philosophischen Betrachtungen etwa des frühen Konfuzianismus in China, wo unter dem Begriff des ‚ren‘ eine sittliche Verpflichtung zum guten zwischenmenschlichen Umgang postuliert wird. Doch so vielfältig wie die Begründungen, so breit gefächert sind die Unterschiede, die zwischen Nationen, Regionen, Kulturen und politischen Systemen bezüglich des Verhältnisses von Individuum und Kollektiv als einer zentralen Kategorie zur Bestimmung des jeweils vorherrschenden Menschenbildes fortdauern Als Referenzgröße eines universal akzeptierten Menschenbildes kann aber wohl gelten, dass jedem Menschen eine einzigartige, staatlicher und gesellschaftlicher Regelungsmacht vorgelagerte Würde zukommt. In einem wiederum möglichst allgemein gehaltenen Minimalverständnis gebietet diese Würde einige fundamentale Rechte wie das auf Leben und verbietet zugleich eine rein instrumentelle Verwendung des Menschen. Der aus dieser Grundannahme resultierende Schutzanspruch bildet die kulturanthropologische Voraussetzung der Menschenrechtsidee insgesamt.5 Denn aus dieser Idee ergibt sich ein Verständnis von Menschenrechten als einem Set angeborener, unveräußerlicher, individueller und egalitärer Rechte, die einem Individuum unbeschadet seiner persönlichen Merkmale wie Alter, Geschlecht, ethnischer Zugehörigkeit, Bildungsstand, religiöser Überzeugung, sexueller Orientierung oder gesundheitlicher bzw. körperlicher Verfassung diskriminierungsfrei zustehen und die es gegenüber seiner staatlichen und sozialen Umgebung geltend machen kann. Menschenrechte regeln demnach in elementarer Weise politische, soziale, wirtschaftliche und kulturelle Beziehungen zwischen den Personen und Gruppen einer Gesellschaft bzw. zwischen Personen und dem Staat.6 Des weiteren dürfte zu einem universalen Verständnis von Menschenrechten auch die Einsicht gehören, dass die oben angesprochenen Generationen von Menschenrechten nicht isoliert betrachtet werden können. Dem Anspruch westlicher Industriestaaten auf Verbreitung und Beachtung liberaler Schutzrechte gesellt sich in wachsendem Maße die Erkenntnis hinzu, dass – wie Johan Galtung es einmal ausgedrückt hat – der Mensch von der Freiheit allein nicht leben kann. Nach Jahrzehnten der Debatte gerade um die kollektiven Solidarrechte der Dritten Generation7 hat sich mit der Schlusserklärung der Wiener Menschenrechtskonferenz 1993 zumindest auf der normativ-konzeptionellen Ebene die Erkenntnis durchgesetzt, dass die ver5 6 7

Vgl. Chen (2004), S. 137 f. Vgl. zu diesen Aspekten auch den Beitrag von Stümke in diesem Band. Vgl. Vasak (1974).

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schiedenen Menschenrechtsgenerationen eine eng verflochtene und interdependente Einheit bilden.8 Ein weiterer Begründungsstrang greift das Konzept der Menschenwürde auf und stellt es in einen Länder und Kulturen übergreifenden Zusammenhang: Ihm liegt die Annahme zugrunde, dass erst die Erfahrung eigener Würde und Rechte ein Individuum dazu befähigt, diese auch seinem Gegenüber zuzugestehen. Menschenrechte verstanden als Ausdruck gegenseitiger Respektierung bilden so eine wesentliche Grundlage für Stabilität und Frieden innerhalb von Staaten und Gesellschaften, aber auch im internationalen System. Gerade in der globalisierten Welt wird der enge Zusammenhang zwischen Menschenrechten und Frieden, der auf eine lange ideengeschichtliche Tradition zurückblickt,9 durch die Bemühungen der Staatengemeinschaft um die Schaffung und Einhaltung menschenrechtlicher Standards in besonderer Weise unterstrichen. Haben sich unter Rückgriff auf die hier genannten Konzepte ein universal gültiges Bild vom Menschen und seinen Rechten einstellen und wirksame Mechanismen zu ihrem Schutz entwickeln können? Dieser Frage soll im Folgenden nachgegangen werden.

II. Normative Grundlage: Die Internationale Menschenrechtscharta Wenngleich die internationale Menschenrechtspolitik in den zurückliegenden anderthalb Jahrzehnten ihre größte Dynamik entfaltet hat, reichen die Bemühungen um die Kodifizierung und die Gewährleistung grundlegender Menschenrechte sehr viel weiter zurück. So verdeutlichten der Völkermord an den europäischen Juden während des Zweiten Weltkrieges sowie weitere gravierende und massenhafte Verbrechen an ethnischen oder religiösen Gruppen nicht nur die Notwendigkeit eines wirksamen Menschenrechtsschutzes. Vielmehr entwickelte sich als Folge dieser Taten auch ein wachsendes Bewusstsein für den oben angesprochenen engen Zusammenhang zwischen der Achtung der Menschenwürde und dem Weltfrieden. Neben der Verpflichtung zur Friedenswahrung wurde der Schutz der Menschenrechte zum zweiten Grundpfeiler einer sich in den VN neu organisierenden internationalen Ordnung. Doch zeigte sich rasch, dass die Staaten auch nach der Menschheitskatastrophe des Zweiten Weltkrieges weder bereit waren, die neu gegründete Weltorganisation mit allzu konkreten Kompetenzen auf dem Gebiet des 8 9

Vgl. Gareis/Varwick (2006), S. 187 f. Vgl. Gosepath/Lohmann (1998).

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Menschenrechtsschutzes auszustatten, noch besonderen Nachdruck auf die Entwicklung effektiver Vertragsregime zu verwenden.10 Diese Zögerlichkeit wird nachvollziehbar, wenn man bedenkt, dass die Menschenrechte unmittelbar an das stets gespannte Verhältnis zwischen staatlicher Souveränität und dem Geltungsanspruch internationaler Normen rühren. Schließlich gehört kaum eine andere Form staatlichen Handelns nach überbrachtem Verständnis unmittelbarer in den Bereich der ‚inneren Angelegenheiten‘ als der Umgang des Staates mit dem Individuum. Genau diese Beziehung jedoch rechtlich zu verregeln und zu überwachen ist das Ziel internationaler Menschenrechtsübereinkommen. Es nimmt daher nicht wunder, dass die Diskussion um die Menschenrechte seit mehr als einem halben Jahrhundert unter Beimengung einiger Ideologie und politischer Opportunität genau entlang dieser Konfliktlinie zwischen kollektiver Regelungskompetenz und staatlichem Souveränitätsgrundsatz geführt wird. Gleichwohl ist es im Zusammenspiel von VN, Staatenwelt und internationaler Zivilgesellschaft gelungen, einen sehr weitreichenden Kodex menschenrechtlicher Schutzvorschriften zu erarbeiten und in Völkerrecht sowie staatlichen Rechtsordnungen zu verankern. Den Ausgangspunkt bildete die dabei die Internationale Menschenrechtscharta (International Bill of Human Rights), mit deren Erarbeitung die neugeschaffene Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen 1946 ihre Arbeit aufnahm. Um den Grundwiderspruch zwischen der Staatssouveränität und der zunehmenden Verbindlichkeit internationaler Menschenrechtsnormen zu entschärfen, wurde zunächst mit der am 10. Dezember 1948 durch die Generalversammlung der Vereinten Nationen verabschiedeten Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (AEMR) eine zwar rechtlich unverbindliche, politisch aber äußerst wirkungsvolle Bestandsaufnahme der zu schützenden Rechtsgüter vorgelegt. Nach der Festschreibung des Gleichheitsgrundsatzes und des Diskriminierungsverbotes in den ersten beiden Artikeln der AEMR legt ihr Artikel 3 als erster entscheidender Pfeiler des Menschenrechtsschutzes fest: „Jedermann hat das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit der Person.“ In den nachfolgenden Artikeln wird dieses Fundamentalrecht durch zahlreiche weitere bürgerliche und politische Rechte präzisiert. Art. 22 bildet den zweiten Grundpfeiler der Erklärung, indem er bestimmt, dass jedermann als Mitglied einer Gesellschaft das Recht auf soziale Sicherheit sowie auf die zur Entwicklung seiner Persönlichkeit nötigen wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Teilhaberechte hat. Art. 28 eröffnet einen Anspruch aller Menschen darauf, in einer sozialen und internationalen Ordnung zu leben, in der die in der Erklärung verbrieften Rechte verwirklicht werden können. Neben der Berücksichtigung der erst später so 10

Vgl. Partsch (1991).

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genannten beiden ersten Generationen, klingt hier bereits die Vorstellung kollektiver Rechte der dritten Generation an. Aufgrund ihres umfassenden Charakters ist dieses erste Element der Internationalen Menschenrechtscharta auch nach fast sechzig Jahren das zentrale Bezugsdokument des internationalen Menschenrechtsschutzes. Zugleich jedoch widerspiegelt die AEMR die große Bandbreite der weltweit bestehenden Menschenbilder und Menschenrechtsauffassungen, deren effektive Ausgestaltung in Form justiziabler Normen sich ungleich schwieriger gestaltete und weiterhin gestaltet. Machte es die Unverbindlichkeit der AEMR den Staaten relativ leicht, sich zu ihr zu bekennen, verlangten die Divergenzen zwischen den polarisierten Lagern des Ost-West-Konfliktes, aber auch die unterschiedliche Natur von Schutz- und Abwehrrechten auf der einen sowie von sozialen Teilhaberechten auf der anderen Seite, den völkervertraglichen Teil der Internationalen Menschenrechtscharta in Form von zwei verschiedenen Pakten vorzulegen. Nach langwierigen Verhandlungen verabschiedete die Generalversammlung schließlich am 16. Dezember 1966 den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte (IPBPR, kurz Zivilpakt) sowie den Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (IPWSKR, kurz Sozialpakt). Wie schwer den Staaten auch danach die Akzeptanz internationaler Kontrolle ihrer Menschenrechtspolitik fiel, zeigt das nur schleppende Ratifikationsverhalten: Zivil- und Sozialpakt traten erst 1976 in Kraft. Beide Pakte enthalten eine Vielzahl gemeinsamer Bestimmungen, wie das Diskriminierungsverbot und das Gleichberechtigungsgebot. Allerdings unterscheiden sich die zwei Übereinkommen außer bei den verschiedenen Gruppen zu schützender Rechte vor allem hinsichtlich ihrer Durchsetzungsfähigkeit und den Möglichkeiten zu ihrer Einschränkung. Während die Rechte aus dem Zivilpakt ohne weiteres in staatliche Verpflichtungen überführt werden können, verlangt der Sozialpakt von seinen Mitgliedern eigene Maßnahmen zur Verwirklichung der in diesem Pakt anerkannten Teilhaberechte zu ergreifen. Zwar bestehen auch im Sozialpakt mit dem Kinderschutz oder dem Recht auf freie Gewerkschaften unmittelbare Anspruchsrechte, doch sind seine Garantien wesentlich offener gehalten. Dies kommt bereits darin zum Ausdruck, dass dem Sozialpakt jede Form der Individualoder Gruppenbeschwerde (vgl. Abschnitt IV.1) fehlt. Ergänzt wird der Zivilpakt durch zwei Zusatzprotokolle: Das bislang von 105 Staaten ratifizierte erste Zusatzprotokoll erlaubt natürlichen Personen die Individualbeschwerde beim Menschenrechtsausschuss, dem Vertragsorgan zur Überwachung der im Zivilpakt niedergelegten Rechte (s. u.). Deutlich weniger Staaten (57; Stand Oktober 2007) verpflichten sich im

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2. Zusatzprotokoll auf die Verhängung und Vollstreckung der Todesstrafe zu verzichten. Den genannten Schwächen und Defiziten bei ihrer Umsetzung zum Trotz stellt die Internationale Menschenrechtscharta das entscheidende Fundament für den Menschenrechtsschutz dar. Die Welle der Ratifikationen seit Anfang der 1990er Jahre hat dafür gesorgt, dass dem Zivilpakt mittlerweile 156 und dem Sozialpakt 153 Vertragsparteien angehören (Stand Oktober 2007); die dort verankerten Menschenrechte konnten sich so als kollektives Gut fest im öffentlichen Bewusstsein etablieren. Vor allem durch die beiden Pakte wird es Staaten, internationalen Institutionen und Nichtregierungsorganisationen ermöglicht, sich der Menschenrechtssituation in den einzelnen Ländern anzunehmen, ohne dass sich diese auf das Nichteinmischungsgebot berufen können. Der Schutz des Individuums vor staatlicher und gesellschaftlicher Willkür ist so substanziell erweitert worden, das Individuum hat schrittweise den Status eines handlungsfähigen Subjekt des Völkerrechts erlangt. Der einzelne Mensch kann seine Rechte gegenüber Staat und Gesellschaft unter Berufung auf internationale Normen und Institutionen geltend machen – allerdings nicht überall in gleicher Weise. So haben die USA den Sozialpakt zwar unterzeichnet, ihn aber für ihr innerstaatliches Recht nicht in Kraft gesetzt. Gleiches gilt für China im Falle des Zivilpaktes. Die grundlegenden Unterschiede in den Auffassungen beider Staaten bezüglich des Verhältnisses von Individuum und Kollektiv sind maßgebend bezüglich der Gewährung bestimmter Kategorien von Menschenrechten. Des weiteren zeigen im Ratifizierungsverhalten der Zusatzprotokolle zum Zivilpakt aber auch bei den hohen Hürden für die Individualbeschwerde sowie bei der insgesamt eher schwachen Position der Vertragsorgane (s. u.), dass die effektiven Möglichkeiten des Menschenrechtsschutzes den in den Verträgen niedergelegten verbalen Bekenntnissen stark hinterherhinken.

III. Umfassender Menschenrechtsschutz Zügiger als die Arbeit an der Menschenrechtscharta gingen die Aktivitäten zum Ausbau eines umfassenden Menschenrechtsschutzes voran. Im Vordergrund stehen dabei bis die Bemühungen, Personengruppen, die besonders häufig Opfer von gravierenden Menschenrechtsverletzungen waren bzw. sind, adäquate Hilfe zukommen zu lassen. Insgesamt ist so über die Jahrzehnte von den VN, aber auch vielen regionalen Staatenorganisationen ein dichtes Geflecht von Normen und Standards geschaffen worden, das einerseits kaum noch durchschaubar erscheint, das andererseits jedoch dazu beigetragen hat, dass zur Beurteilung der Legitimität staatlichen Handelns

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immer häufiger die Qualität seiner Menschenrechtspraxis herangezogen wird. Aus der Fülle der Menschenrechtsdokumente ragen neben den beiden genannten Pakten fünf weitere Verträge heraus, die außer ihrer rechtlichen Verbindlichkeit auch Durchsetzungsmechanismen enthalten.11 Die Beseitigung der Rassendiskriminierung stand angesichts der wachen Erinnerung an die Shoah und des fortbestehenden Apartheidsystems in Südafrika ganz oben auf der Prioritätenliste der in die Unabhängigkeit gelangten ehemaligen Kolonien. Die in den beginnenden 1960er Jahren noch vagen Aussichten auf eine Realisierung der Menschenrechtspakte, die ja rassische Diskriminierung ebenfalls verbieten, ließen eine eigene Anti-Rassismus-Konvention als um so dringlicher erscheinen. Die International Convention on the Elimination of all Forms of Racial Discrimination (CERD) wurde 1965 verabschiedet und trat bereits 1969 als erstes Menschenrechtsinstrument mit einem internationalen Überwachungsmechanismus und den Vorkehrungen für eine Individualbeschwerde (s. u.) in Kraft. Die Gleichberechtigung von Mann und Frau ist bereits in der VN-Charta in Präambel und Art. 1, Ziff. 3 verankert und die Organisation hat mit zahlreichen Entschließungen der Generalversammlung, der Frauenrechtskommission, der Schaffung des unabhängigen International Research and Training Institute for the Advancement of Women (INSTRAW) oder des UN Development Fund for Women (UNIFEM) sowie der Ausrufung des Internationalen Jahrs der Frau (1975) und der „Dekade der Frau“ (1976–1985) viel zur Mobilisierung des weltweiten öffentlichen Bewusstseins für die Menschenrechte der Frauen beigetragen. Das wichtigste Ergebnis jedenfalls im rechtlichen Kodifikationsprozess bildet die Convention on the Elimination of All Forms of Discrimination against Women (CEDAW), die 1981 in Kraft trat und in der zahlreiche bestehende Schutzbestimmungen zum Diskriminierungsverbot oder zum Gleichstellungsgebot zusammengeführt wurden. Zu den offenkundigsten Verstößen gegen die Menschenwürde gehören Folter, Grausamkeiten und erniedrigende Strafen oder Behandlung. Diese noch immer in vielen Staaten der Welt verbreiteten Praktiken abzuschaffen ist das Ziel der 1987 in Kraft getretenen Convention against Torture and other Cruel, Inhuman or Degrading Treatment or Punishment (CAT). Die Konvention verpflichtet ihre Vertragsparteien in detaillierten Vorschriften, wirksame gesetzgeberische Maßnahmen zur Beseitigung der Folter zu ergreifen, und schließt dabei jegliche „außergewöhnlichen Umstände“ wie Krieg oder innerstaatliche Instabilität als Rechtfertigungsgründe aus – eine in ihrer Klarheit bemerkenswerte Vorschrift, deren Bedeutung gerade im 11 Zu den nachstehend nur skizzierten Verträgen siehe ausführlich Bundeszentrale (2004) sowie Gareis/Varwick (2006), S. 181 f.

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Zusammenhang mit dem internationalen Kampf gegen den Terrorismus bzw. im Irak-Krieg wieder unterstrichen wurde. Der Schutz von Kindern als besonders schwachen und gefährdeten Personen gehörte von Anbeginn zu den besonderen Prioritäten des internationalen Menschenrechtsschutzes. So gründeten die Vereinten Nationen bereits 1946 das Kinderhilfswerk UNICEF, eines der bis heute wirksamsten Spezialorgane der Organisation. 1959 verabschiedete die Generalversammlung die Declaration of the Right of the Child, auch in der AEMR sowie den beiden Menschrechtspakten wird die Bedeutung des Kinderrechtsschutzes unterstrichen. Diese und vielfältige weitere Aktivitäten beförderten eine Entwicklung, die dann 1989 zur Verabschiedung der Kinderrechtskonvention (Convention on the Rights of the Child, CRC) führte. Dieses 1991 in Kraft getretene Übereinkommen wurde schnell zu einem der am meisten ratifizierten Verträge überhaupt, 192 Staaten gehören ihm an. Zwei weitere, allerdings deutlich weniger angenommene Zusatzprotokolle, befassen sich mit dem Schutz von Kindern in bewaffneten Konflikten sowie mit ihrem Schutz vor sexueller Ausbeutung. Als bislang letztes Übereinkommen dieser Art trat am 1. Juli 2002 die Konvention über den Schutz der Rechte von Wanderarbeitern und ihren Familien in Kraft. Obwohl Wanderarbeit unter den Vorzeichen der Globalisierung zu einem weltweiten und verbreiteten Phänomen geworden ist, bedurfte es mehr als eines Jahrzehnts, um die Konvention mit der Mindestzahl von zehn Ratifikationen in Kraft zu setzen. Im Prozess der Ratifizierung befinden sich weiterhin die Convention on the Rights of Persons with Disabilities sowie die International Convention for the Protection of All Persons from Enforced Disappearance. Durch die Schaffung dieser Instrumente und die Vielzahl der hier nicht aufgeführten Initiativen und Aktivitäten wurde ein umfassender Menschenrechtsschutz hervorgebracht – jedenfalls soweit das standard setting und die Kodifikation betroffen sind. Es gibt kaum einen Bereich der Menschenrechte, für den nicht internationale Normen entwickelt und von der übergroßen Mehrheit der Staaten akzeptiert wurden. Aber was oben zur Internationalen Menschenrechtscharta gesagt wurde, gilt auch für die spezifischen Menschenrechtsverträge: Auf den ersten Blick lässt die differenzierte Kodifikation auf ein globales Verständnis von Menschenrechten schließen. In den Feinheiten ihrer tatsächlichen Schutzmechanismen indes zeigt sich, dass diese oft nur sehr eingeschränkt zur Geltung gebracht werden können.

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IV. Mechanismen und Verfahren des Menschenrechtsschutzes Menschenrechtsschutz kann sich nicht auf die Festlegung von Normen und den ethischen Appell zu ihrer Beachtung beschränken, sondern bedarf vielmehr wirksamer Überprüfung. Eine der ersten und wichtigsten Aufgaben dabei ist die Herstellung von Öffentlichkeit und Transparenz. Auf diesem Gebiet engagieren sich tausende internationaler, regionaler und auch nationaler Nichtregierungsorganisationen (NGOs), zu deren weltweit aktivsten Repräsentanten Amnesty International oder Human Rights Watch gehören. NGOs können – ohne durch staatliche oder wirtschaftliche Interessen gebunden zu sein – die Menschenrechtssituation in den Ländern untersuchen, gegebenenfalls auch anprangern und auf diese Weise zumindest dazu beitragen, dass Menschenrechtsverletzungen nicht einfach ignoriert oder vergessen werden. Nichtregierungsorganisationen sind so zu einem zentralen Faktor in der internationalen Menschenrechtspolitik geworden. Das Bestreben der Staaten hingegen war stets darauf gerichtet, Überprüfungen und Durchsetzungsmechanismen im Menschenrechtsbereich völkervertragsrechtlich zu vereinbaren – vor allem um auf diese Weise die schlussendliche Kontrolle über die ihren Bürgern zustehenden Rechte sowie der Verfahren zu ihrer Durchsetzung zu behalten. Aufgrund ihrer Verankerung in völkerrechtlichen Verträgen werden diese Mechanismen auch als ‚juristische Verfahren‘ bezeichnet. 1. Juristische Verfahren Zur Überwachung ihrer Bestimmungen verfügen die beiden Menschenrechtspakte wie auch die weiteren fünf oben angesprochenen Verträge über eigene Vertragsorgane, sog. Ausschüsse. Diese setzen sich aus 10 bis 23 Experten zusammen, die zur unparteiischen Wahrnehmung ihres Amtes verpflichtet sind und daher keine Staatenvertreter sein dürfen. Für ihre Arbeit stehen den Ausschüssen eine Reihe von Instrumenten und Mechanismen zur verfügen, deren wichtigste das Staatenberichtsverfahren, die Staatenbeschwerde sowie die Individualbeschwerde sind. Die Anwendbarkeit dieser drei Instrumente variiert indes zwischen den verschiedenen Vertragsausschüssen. Allen sieben Verträgen gemeinsam ist das Staatenberichtsverfahren. So muss jeder Vertragsstaat in einem ersten Bericht nach seinem Beitritt und dann im fünfjährigen Rhythmus über den Stand der Implementierung und der Befolgung der vereinbarten Normen Rechenschaft ablegen. Die Staatenberichte werden durch die Ausschüsse geprüft und das Ergebnis (je nach

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Ausschuss) in Form von „abschließenden Bemerkungen“, eigenen Berichten oder Empfehlungen öffentlich gemacht. Gegen dieses sehr souveränitätsschonende Kontrollverfahren kann eingewendet werden, dass es die Befolgung der Informationspflicht ins Ermessen der Staaten legt. Allerdings muss auch gesehen werden, dass angesichts der öffentlichen Behandlung der Berichte und der Möglichkeit ihrer Kommentierung durch NGOs ein auch nur einigermaßen auf seine Reputation bedachter Staat an ernsthaften Berichten interessiert sein sollte. Im Gegensatz zur Berichtspflicht ist die Staatenbeschwerde nur in der Anti-Rassismus-Konvention obligatorisch verankert. Im Zivilpakt und der Anti-Folter-Konvention können sich Staaten freiwillig diesem Verfahren unterwerfen, in den anderen Verträgen ist sie nicht vorgesehen. Mit einer Staatenbeschwerde kann eine Vertragspartei einer anderen vorwerfen, sich nicht an gemeinsame Normen zu halten. Dabei hat – theoretisch – der beschwerdeführende Staat nicht seine eigenen Interessen im Blick, sondern wirkt, wie Karl-Josef Partsch es bildlich ausgedrückt hat, „als Wachhund für die Achtung einer objektiven Ordnung“12. Gegenseitige Rücksichtnahmen haben die Staaten jedoch bislang auf die Anwendung dieses Instruments verzichten lassen. Das im Rahmen der Menschenrechtscharta entwickelte Instrument ist aber in eine Reihe regionaler Menschenrechtsabkommen in Afrika (BanjulCharta) und Europa (Europäische Menschenrechtskonvention, EMRK) übernommen worden und dort auch zum Einsatz gekommen. Die Individualbeschwerde schließlich eröffnet einzelnen Staatsbürgern der Vertragsparteien, sich direkt an die Vertragsorgane zu wenden. Allerdings kennen nur vier Vertragswerke die Individualbeschwerde, zudem müssen sich die Staaten zuvor diesem Verfahren durch die Ratifikation entsprechender Zusatzprotokolle (Zivilpakt, Frauenrechtskonvention) oder durch Erklärung (Konventionen gegen Folter und Rassismus) unterworfen haben. Die Ausgestaltung des Individualbeschwerdeverfahrens ist zwischen den Verträgen unterschiedlich, beim Zivilpakt muss zuvor die innerstaatliche Rechtswegegarantie ausgeschöpft sein, bei der Frauenrechtskonvention existiert eine solche Beschränkung nicht. Insgesamt unterliegen die Vertragsorgane erheblichen Beschränkungen, die eine effiziente Arbeit sehr schwer machen. So ist ihr personeller Zuschnitt und die ihnen zur Verfügung stehende Sitzungszeit (im Falle des Frauenrechtsausschusses gerade zwei Wochen pro Jahr) schon für die Bewältigung der anfallenden Berichte und Individualbeschwerden kaum ausreichend. Weiterführende Verfahren wie Sonderberichterstattung oder Expertenanhörungen können so nicht im erforderlichen Maße genutzt werden. 12

Partsch (1991a), S. 567.

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Die Zustimmung der Staaten zur Arbeit der Vertragsorgane ist zudem durch viele Vorbehalte eingeschränkt. Die Menschenrechtsverträge begründen verbindliches Völkerrecht. Doch zeigt sich gerade bei der nur zögerlich ermöglichten Individualbeschwerde, dass die überwiegende Zahl der Staaten den formal eingegangenen Verpflichtungen im Menschenrechtsbereich nur schwache Mechanismen zu deren Überwachung und Durchsetzung gegenüberstellen. Einige Verfahren wie das Länderberichterstatterwesen oder Feldmissionen in Staaten gehören zwischenzeitig zur gängigen Praxis, andere Bemühungen wie die um den Ausbau von Vor-Ort-Untersuchungen oder ein Initiativrecht der Kontrollorgane stecken noch in den Anfängen. In der Zukunft werden daher die Bemühungen vor allem auf die stärkere Verankerung des Menschenrechtsschutzes in regionalen Arrangements sowie in den Staaten selbst zu richten sein. Auf der globalen Ebene stehen die Bündelung und Vereinheitlichung der Arbeit der verschiedenen Ausschüsse auf der Agenda, um die Prüfverfahren zu beschleunigen.13 Angesichts des elaborierten Normenbestandes ist der Lackmustest für das tatsächliche Engagement der Staaten für den umfassenden Menschenrechtsschutz der weitere Ausbau wirksamer Kontrollinstrumente. 2. Politische Verfahren Die rechtliche Bindungswirkung als entscheidender Vorteil der Menschenrechtsverträge bleibt naturgemäß auf die Staaten beschränkt, die diesen Übereinkommen auch beigetreten sind. Als Ergänzung zu diesen konventionsgestützten juristischen Verfahren des Menschenrechtsschutzes haben sich die Vereinten Nationen durch die schrittweise Ausdehnung ihrer Überwachungsfunktionen eigene Kompetenzen gegenüber den Mitgliedstaaten errungen. Dabei mussten sie sich nicht langen Ratifikationsverfahren unterwerfen, sondern konnten sich bei der extensiven Interpretation bestehender Charta-Vorschriften auf einfache Resolutionen des Sicherheitsrates, der Generalversammlung bzw. des Wirtschafts- und Sozialrates stützen. Nicht zuletzt wegen dieser Möglichkeit werden die charta-gestützten Schutzmechanismen auch als die politischen Verfahren des Menschenrechtsschutzes bezeichnet. Als politische Mechanismen sind sie grundsätzlich flexibler als die vertragsbasierten, zugleich aber auch anfälliger für politische Einflussnahmen, weil Entscheidungen in den VN-Gremien von Regierungsvertretern getroffen werden.

13

Vgl. Schöpp-Schilling (2004).

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a) Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen Neben den genannten Hauptorganen der Vereinten Nationen, denen ein eigenes Befassungsrecht mit Menschenrechtsfragen zusteht, war vor allem die Menschenrechtskommission (MRK) für den internationalen Schutz entsprechender Rechtsgüter zuständig. Die 1946 gegründete, zuletzt aus 53 Mitgliedstaaten bestehende Funktionale Kommission des Wirtschafts- und Sozialrates (ECOSOC) löste sich im März 2006 zum Ende ihrer 62. Sitzungsperiode auf. Die Kommission war wegen ihrer langjährigen Praxis, hartnäckige Menschenrechtsverletzer wie Libyen oder den Sudan mit dem Schutz der Menschenrechte zu beauftragen, hoffnungslos diskreditiert,14 auf Vorschlag des VN-Generalsekretärs beschloss der Weltgipfel der Staats- und Regierungschefs im September 2005, die Kommission durch einen Menschenratsrat zu ersetzen.15 Diesem am 15. März 2006 durch die Generalversammlung (VN-Dokument A/RES/60/251) geschaffenen neuen Menschenrechtsrat gehören 47 Staaten an, wobei um einer ausgewogenen geographischen Verteilung der Sitze willen die fünf Regionalgruppen feste Kontingente erhalten: Afrika und Asien halten je 13 Sitze, Osteuropa verfügt über sechs, Lateinamerika und die Karibischen Staaten haben acht, die Westeuropäischen und Anderen Staaten sieben Sitze. Die Dauer der Mitgliedschaft beträgt drei Jahre mit der Möglichkeit einer einmaligen direkten Wiederwahl. Wie schon bei der MRK werden Mitgliedstaaten während der Sitzungen und Konsultationen des Menschenrechtsrates durch Regierungsdelegationen vertreten. Seit Aufstellung seiner Verfahrensregeln am 18. Juni 2007 (VN-Dokument A/HRC/5/21) ist der Rat arbeitsfähig. Neben der Übernahme des schon durch die MRK praktizierten Länder- und Themenberichterstatterwesen sowie des Individualbeschwerdeverfahrens ist als wesentliche Neuerung die schrittweise Überprüfung der Menschenrechtssituation in allen VN-Mitgliedstaaten im Rahmen des sog. Universal Periodic Review-Verfahrens hinzugefügt worden. Mit der Aufwertung des Menschenrechtrates zu einem permanent aktiven Nebenorgan der Generalversammlung (mit der Option zur weiteren Beförderung als VN-Hauptorgan) ist sicher eine qualitative Verbesserung der Arbeitsmöglichkeiten im Vergleich zur MRK und ihrer kurzen Sitzungsperioden im Frühjahr erzielt worden. Allerdings hat die nach wie vor große Zahl von Mitgliedern in Verbindung mit dem Länderproporz sowie der niedrigen Hürde einer einfachen Mehrheit in der Generalversammlung dazu geführt, dass dem Menschenrechtsrat weiterhin Staaten wie Russland, China, Kuba 14 15

Vgl. Sterr (2005). Vgl. Annan (2005), Ziff. 182 f.; Ergebnis des Weltgipfels (2005), Ziff. 157 f.

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oder Iran angehören, die neben einer durchwachsenen eigenen Menschenrechtsbilanz kein allzu hohes Interesse an einem energischen Vorgehen gegenüber Menschenrechtsverletzern an den Tag legen. Die auch der MRK innewohnende Grundproblematik, dass die Menschenrechte Spielball der politischen Opportunitäten der Staaten sind, bleibt auch im Menschenrechtsrat erhalten – wofür die zögerlichen Behandlungen der Vorfälle in Darfur/Sudan 2006/07 beredtes Beispiel geben. Andererseits hat der Menschenrechtsrat auf seiner 6. Sondersitzung am 2. Oktober 2007 in einem einstimmigen Votum die massiven Menschenrechtsverletzungen in Birma/Myanmar verurteilt (VN-Dokument A/HRC/RES.S.5-1) und so die Möglichkeit für Sanktionen von Staaten und Regionalorganisationen eröffnet. Die weitere Entwicklung dieses neuen VN-Organs wird also zu beobachten sein. b) Das VN-Hochkommissariat für Menschenrechte Eine ganz andere Rolle als der Menschenrechtsrat spielt das Amt des Hochkommissars für die Menschenrechte (Office of the High Commissioner for Human Rights, OHCHR). Zur eigenständigen Befassung mit Menschenrechtsfragen hatte das Sekretariat der Vereinten Nationen zwar bereits kurz nach Gründung der Weltorganisation eine eigene Menschenrechtsabteilung ins Leben gerufen, die ihren Sitz 1974 von New York nach Genf verlagerte. Allerdings fehlte dieser Abteilung auch nach ihrer 1982 erfolgten Aufwertung zum VN-Menschenrechtszentrum ein Mandat, durch das sie sich zu einem operativen Organ mit eigenen Handlungskompetenzen hätte entwickeln können. Den entscheidenden Schritt zur Stärkung der VN-eigenen Kapazitäten für den Menschenrechtsschutz vollzogen die Mitgliedstaaten erst während der Wiener Menschenrechtskonferenz von 1993. Sie empfahlen nicht nur die Verbesserung der Fähigkeiten des Menschenrechtszentrums zur Koordination der VN-weiten Menschenrechtsaktivitäten, sondern plädierten auch für die Schaffung des neuen Amtes eines VN-Hochkommissars für die Menschenrechte. Das Amt des UNHCHR, welches seit 2004 von Louise Arbour aus Kanada wahrgenommen wird, steht zwar unter der Autorität des VN-Generalsekretärs und der Generalversammlung, verfügt aber über ein hohes Maß an Autonomie, die vor allem in seinem weitreichenden Initiativrecht zum Ausdruck kommt. So kann die Hochkommissarin aus eigener Kompetenz in den Dialog mit Regierungen eintreten, ihnen Hilfen anbieten, Empfehlungen an VN-Organe richten und die öffentliche Aufmerksamkeit auf bestehende Probleme und Defizite lenken. Von besonderer Bedeutung sind die Feldaktivitäten des UNHCHR, deren Zahl sich seit Beginn der 1990er Jahre stetig vergrößert hat. Bedeutsamer noch als die quantitative Steigerung ist jedoch ihre qualitative Veränderung dieser Feldmissionen. Waren Einsätze wie in Ruanda

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1994 zumeist noch reaktive Maßnahmen in Katastrophensituationen, liegt der Schwerpunkt der Arbeit der Menschenrechtsbüros zu Beginn des neuen Jahrhunderts vor allem auf Prävention. So unterhält der UNHCHR sechs Regional- und zwölf Länderbüros und betreibt 12 Projekte zur Technischen Zusammenarbeit, in denen die Beratung staatlicher Organe im Vordergrund steht. Zudem ist es dem UNHCHR gelungen, in den zunehmend komplexen Friedensmissionen eigene Menschenrechtskomponenten zu integrieren. Im Jahr 2007 sind in 11 VN-Missionen solche Komponenten präsent, hinzu kommen Menschenrechtsberater in vier VN-Länderteams. Die Hauptaktivitäten der Hochkommissarin selbst bestehen vornehmlich in der Stillen Diplomatie und der Zusammenarbeit mit den Regierungen. Ihr Mandat verpflichtet die Hochkommissarin, die Staatensouveränität und die nationale Rechtshoheit zu respektieren und zwingt sie damit häufig zu Gratwanderungen zwischen Kooperation und der Ausübung öffentlichen Drucks. Durch die Beschlüsse des Weltgipfels 2005 wurde das Amt der Menschenrechtskommissarin massiv aufgewertet und u. a. mit der Steuerung des mainstreaming der Menschenrechte als verpflichtende Querschnittsaufgabe im gesamten VN-System beauftragt.16 c) Humanitäre Interventionen und die responsibility to protect Einen Spezialfall des Menschenrechtsschutzes stellen die humanitären Interventionen mit militärischen Mitteln dar, die der Sicherheitsrat in den 1990er Jahren in zunehmender Zahl autorisierte bzw. die auch unter Umgehung des Sicherheitsrates durch einzelne Mitgliedstaaten durchgeführt wurden (wie der Kosovo-Krieg 1999). Dieser Prozess eröffnete den Vereinten Nationen weitreichende Kompetenzen zum Eingreifen in Ländern auch aus humanitären und menschenrechtlichen Gründen und führte zu einer fortschreitenden Relativierung des Souveränitätsgrundsatzes. Vorgänge, die der Sicherheitsrat als Friedensbedrohung qualifizierte, wurden automatisch der domaine reservé der Staaten entzogen. Eine expansive Interpretation seiner in Art. 39 der Charta verankerten Befugnisse im Falle von Friedensbedrohungen erlaubt dem Sicherheitsrat dabei so breite Handlungsmöglichkeiten, dass Dieter Blumenwitz ihn sogar als den „Dreh- und Angelpunkt für einen wirksamen Schutz der Menschenrechte im Rahmen der UNO“17 bezeichnete. Die Bilanz der so durchgeführten Operationen fällt indes eher ernüchternd aus. Der Optimismus der frühen 1990er Jahre, durch militärische Interventionen zur weltweiten Durchsetzung von Menschenrechten beitragen 16 17

Vgl. Gareis/Varwick (2006), S. 297 f. Blumenwitz (1994), S. 7.

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zu können, ist bald der Erkenntnis einer Überforderung der Kompetenzen und Möglichkeiten der Vereinten Nationen gewichen. Neben konzeptionelle und durchführungstechnische Probleme VN-geführter Militäraktionen traten neue Fragen, wie die nach der ethischen Verantwortbarkeit der Gefährdung bzw. der Opferung menschlichen Lebens auch auf der Seite, zu deren Gunsten interveniert wird. Des weiteren haben die hohen Verluste vor allem in Somalia und Ex-Jugoslawien die Bereitschaft der intervenierenden Staaten zum selbstlosen Engagement für die Sache der Menschenrechte deutlich reduziert. Insbesondere demokratische Regierungen müssen ihren Öffentlichkeiten gegenüber rechtfertigen, aufgrund welcher Interessen sie Leben und Gesundheit ihrer Soldaten und zivilen Missionsangehörigen riskieren. Die Verknüpfung von Interventionsentscheidungen bzw. Nichtentscheidungen mit nationalen Interessen und Vorbehalten führt jedoch zu einer Selektivität, die unter dem Aspekt der Unveräußerlichkeit und Unteilbarkeit der Menschenrechte bedenklich ist. Aus ihr können gravierende Folgen für „vergessene Regionen“ aber auch für die moralische Integrität der intervenierenden Mächte resultieren. So stellt auch die im Mai/Juni 2003 erfolgte Interventionsentscheidung im Nordosten des Kongo nur die lange hinausgezögerte Reaktion auf einen seit Jahren tobenden Völkermord dar. Ähnliches gilt für die im Frühsommer 2003 erst nach langen Diskussionen erfolgte Intervention in Liberia oder für die seit Sommer 2004 laufende und erst im Sommer 2007 durch eine Interventionsentscheidung (vorläufig) abgeschlossene Debatte über die Lage in der Darfur-Region im Sudan. Seit der Tragödie in Ruanda 1994 sind humanitäre Interventionen zumindest in Afrika gleichbedeutend mit dem Versagen der Staatengemeinschaft beim Management mörderischer Konflikte an der Peripherie des Weltinteresses. Ob die seit Anfang 2003 in der Diskussion befindliche18 und – wenngleich nur in allgemeiner Form – im Ergebnisdokument des Weltgipfels19 verankerte responsibility to protect tatsächlich zu einer neuen Völkerrechtsnorm führt, auf deren Grundlage die Staatengemeinschaft großflächigen Menschenrechtsverletzungen bis hin zum Völkermord entgegentreten kann,20 muss vor dem Hintergrund dieser Erfahrungen bezweifelt werden.

V. Fazit und Perspektiven Insgesamt zeigt die Analyse des Normenbestandes zum internationalen Menschenrechtsschutz wie auch der Verfahren zu seiner Verwirklichung, dass ein global akzeptiertes Verständnis vom Menschen und seinen Rechten 18 19 20

Vgl. Bericht der Hochrangigen Gruppe (2004), Ziff. 203. Vgl. Bericht der Hochrangigen Gruppe (2004), Ziff. 139. Vgl. Fröhlich (2006).

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noch nicht in vollem Umfang existiert, sondern weiterhin der Ausbildung bedarf. Diese könnte konkret geschehen, indem die genannten internationalen Verträgen, Pakten und Konventionen errichteten Standards mit Leben erfüllt, in den nationalen Rechtsordnungen implementiert und die vorhandenen Instrumente zu ihrer Durchsetzung entschlossen und effektiv angewendet werden. Hierzu gibt es – trotz vielfältiger politischer und kultureller Unterschiede in der Welt – durchaus Chancen. Der Niedergang des Sozialismus hat in den 1990er Jahren gezeigt, welche Anziehungskraft die westlichen, auf das Individuum konzentrierten Menschenrechtsvorstellungen in Verbindung mit dem demokratischen Staatsmodell haben. Umgekehrt haben sich die westlichen Staaten zunehmend den Ideen kollektiver Menschenrechte der zweiten und dritten Generation geöffnet. Die Herausbildung einer hierarchiefreien Interdependenz aller drei Generationen von Menschenrechten unter Einschluss des oft gescholtenen Rechts auf Entwicklung bleibt daher auf der Agenda. Dafür, dass es sich bei diesem Bestreben nicht um eine Utopie handelt, sprechen die Bemühungen, welche die Staatenwelt seit 2005 für eine Verbesserung des internationalen Menschenrechtsschutzes unternommen hat. Sie belegen, dass die Menschenrechte als eigenständige Werte wahrgenommen werden – und nicht vollständig hinter kollektive Ansprüche wie staatliche Sicherheitserwägungen zurücktreten müssen. Andererseits zeigen die Minimalkonsense, die gerade beim neugeschaffenen Menschenrechtsrat gefunden wurden, dass die eingangs dargelegte Grundspannung zwischen staatlichen Souveränitätsansprüchen und dem internationalen Schutz von Menschenrechten keineswegs kleiner geworden ist. Die Menschenbilder changieren weiterhin im Spannungsfeld zwischen Individuum und Kollektiv. Der Menschenrechtsrat umfasst nicht ausschließlich konstruktive Verfechter eines effektiven Menschenrechtsschutzes und die verbesserten Arbeitsbedingungen des Menschenrechts-Hochkommissariats sind notwendige, aber noch keine hinreichenden Schritte auf dem Weg zu diesem Ziel. Im Wechselspiel zwischen staatlichen Interessen, Machtpolitik und der Beachtung von Menschenrechtsstandards bleiben letztere noch immer tendenziell auf der Strecke, den starken Normen stehen weiterhin eher schwache Mechanismen zu ihrer Gewährleistung gegenüber und die Staaten bleiben die Herren des internationalen Menschenrechtsschutzes. Der Schlüssel für einen effektiven Menschenrechtsschutz liegt also bei den Regierungen und Gesellschaften. Beim Aufbau menschenrechtsfreundlicher politischer und gesellschaftlicher Strukturen sind die Staaten weiter auf gegenseitige Unterstützung angewiesen, was die weitere Arbeit an gemeinsamen Menschenbildern und Menschenrechten erforderlich macht. Die Staaten müssen dabei aber auch denjenigen in ihrer Gemeinschaft entgegen-

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treten, die in ihren Hoheitsbereichen massive Menschenrechtsverletzungen begehen oder zulassen. Insbesondere die freiheitlichen Demokratien im politischen Westen, die die individuellen Freiheitsrechte gerne und zu Recht hoch halten, sind dabei in der besonderen Pflicht, die eigenen Standards nicht zugunsten von Sicherheitserwägungen gegen terroristische Bedrohungen zur Disposition zu stellen. Die Menschenrechtsverträge, ihre Durchsetzungsmechanismen, wie auch die politischen Verfahren im VN-Rahmen bieten den geeigneten Rahmen für einen wirksamen Menschenrechtsschutz. Die Staaten müssen diese von ihnen selbst geschaffenen Instrumente aber auch nutzen.

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Der Sowjetmensch Von Cornelia Schenke Die Vorstellung vom „neuen Menschen“, dem Sowjetmenschen, gehörte zu den zentralen Elementen der Sowjetideologie. Der Sowjetmensch sollte zugleich Erbauer und Produkt des Kommunismus und einer klassenlosen Gesellschaft sein. In wechselnder Gestalt begleitete er das Experiment Sowjetkommunismus von seinem Vorbeben, der sozialen und intellektuellen Unruhe der vorrevolutionären russischen Gesellschaft, bis hin zum Bankrott der kommunistischen Ideologie und dem endgültigen Zerfall des Sowjetimperiums im Dezember 1991. Seine Fortsetzung findet der Diskurs über den Sowjetmenschen bis heute in den Debatten um die historische Bewertung der sowjetischen Epoche und die Spätfolgen der über siebzig Jahre währenden Einparteiendiktatur für die politische Kultur und die Gesellschaft Russlands und anderer Nachfolgestaaten der Sowjetunion. Der Metadiskurs über den Sowjetmenschen lässt sich anhand des Kriteriums „Verhältnis der Diskursträger zur (sowjet-)kommunistischen Ideologie“ in zwei kontrapunktische Hauptstimmen unterteilen: a) Die Verfechter der marxistisch-leninistisch-stalinistischen Ideologie gingen von der anthropologischen Prämisse aus, dass die menschliche Persönlichkeit vorwiegend von ihrer Klassenzugehörigkeit, ihrer Stellung im Rahmen der herrschenden Eigentums- und Produktionsverhältnisse determiniert werde. Aus der Annahme, dass der Mensch ein Produkt seiner sozialen Umgebung sei, folgerten sie, dass die revolutionäre Umgestaltung der Eigentumsverhältnisse und die Festigung der sozialistischen Gesellschaftsordnung einen grundsätzlichen, qualitativen Wandel der menschlichen Persönlichkeit, ihres Selbst- und Weltbildes, ihrer Einstellungen, Verhaltensweisen und Beziehungen zu anderen Menschen notwendig herbeiführen müsse. Pendant der Sowjetmacht und des gesellschaftlichen Eigentums an den Produktionsmitteln sollte der „neue Mensch“, der Sowjetmensch sein. Die Frage nach den besonderen Charakteristika dieses als zukunftsweisende, dauerhafte Erscheinung betrachteten „sozialistischen Menschentyps“ wurde in verschiedenen Phasen der Entstehung und Entwicklung, der Stagnation, Degeneration und des Zerfalls der Sowjetmacht unterschiedlich beantwortet. Die autoritative Auslegung und Weiterentwicklung der Klassiker des Marxismus-Leninismus durch die Partei(-führung), die ab Ende der zwanziger

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Jahre uneingeschränkt galt, ließ (eingeschränkte) Varianz dabei nur im Zeitverlauf zu, nicht aber ein Nebeneinander unterschiedlicher Stimmen. Ein Abweichen führte schnell zur Exklusion und Expedierung in den Gegendiskurs der „Feinde“ der Sowjetmacht. b) Der Chor der Kritiker des Sowjetkommunismus erscheint weit vielstimmiger und bunter. Hier reichten die Positionen von kategorischem Antikommunismus, der sämtliche Elemente der neuen Ordnung, die marxistischleninistische Ideologie, die Einparteienherrschaft und die Zentralverwaltungswirtschaft vollständig verdammte, bis hin zu lediglich partieller Kritik an der konkreten Umsetzung der kommunistischen Ideologie und ihrer Überführung in praktische Politik durch die KPdSU-Führung. Auch die Kritiker des sowjetkommunistischen Experiments stellten die gravierenden Auswirkungen der unter der Sowjetmacht vollzogenen sozialen und ökonomischen Umwälzungen auf die kollektive und individuelle Psyche der Menschen generell nicht in Abrede, betrachteten diese jedoch keineswegs als Fortschritt. Neben einer kritischen Bewertung der Auswirkungen der Abschaffung des Privateigentums auf die ökonomische Initiative, Innovationsfähigkeit und Arbeitsleistung standen hier vor allem die Fragen nach den Auswirkungen der jahrzehntelangen totalitären Gewalt- und Zwangsherrschaft, des Terrors und der allgemeinen Repressivität des politischen Systems im Focus der Betrachtung. Welche Folgen für den Menschen und seine sozialen Beziehungen zeitigte der Zwang zur Konformität mit einer allerklärenden, absolut verbindlichen Ideologie, in deren Namen der Staat und die ihn beherrschende Partei in alle gesellschaftlichen Subsysteme einzudringen und diese gleichzuschalten suchten? Ideologisch indoktriniert, von der Propaganda verblendet und getäuscht, durch die Erfahrung von Gewalt, Not und Unterdrückung beschädigt oder abgestumpft, durch Anpassungszwang und mangelnde Chancen zur Entfaltung der eigenen Persönlichkeit deformiert und reduziert, von einem allmächtigen Staat und seinen Repressionsorganen versklavt oder selbst in die Denunziation und Verfolgung Andersdenkender verstrickt: Der Sowjetmensch, wie ihn Kritiker des Sowjetkommunismus in unterschiedlichen Schattierungen zeichneten, wies wenig Ähnlichkeit mit der Lichtgestalt des Erbauers des Kommunismus auf. Er erschien nicht als zukunftsfähiger Typus eines „neuen Menschen“, sondern als eine besonders bemitleidens- oder verurteilenswerte Variante des alten Adam. Die folgenden Ausführungen beschäftigen sich mit dem Sowjetmenschen ausschließlich auf der Diskursebene. Die Diskussion um die grundsätzliche Wandlungsfähigkeit der menschlichen Natur wird ausgespart, und es wird keine Antwort auf die Frage gesucht, ob die dem sowjetkommunistischen Experiment ausgesetzten Menschen tatsächlich bestimmte charakteristische

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Eigenschaften und Persönlichkeitsmerkmale entwickelten, welcher Art diese waren und wie sie sich rekonstruieren lassen.1 Es geht nicht um den Sowjetmenschen, wie er war, sondern um das, was über ihn gesagt und geschrieben wurde. Dabei beschränkt sich die Darstellung im Wesentlichen auf den innersowjetischen Diskurs über den Sowjetmenschen, mit Schwerpunkt auf dem Zeitraum unmittelbar vor und unmittelbar nach dem „Kippen des Diskurses“: dem Verlust oder der Aufgabe der absoluten, hegemonialen Kontrolle der KPdSU über das, was über die gesellschaftliche Realität in der Sowjetunion, u. a. auch über den Sowjetmenschen öffentlich gesprochen und publiziert werden durfte. Dieser Zeitpunkt wurde auf dem Höhepunkt von Glasnost’ am Ausgang der achtziger Jahre erreicht. Der offiziösen Darstellung des Sowjetmenschen in der Stagnationsphase des „entwickelten Sozialismus“ der Ära Breshnev wird der ramponierte, vom Sockel gestürzte Sowjetmensch gegenübergestellt, wie er von sowjetischen Soziologen, die das Joch der staatlichen und parteilichen Gängelung und Zensur abgeschüttelt hatten, in das grelle Licht empirischer soziologischer Forschung gezogen wurde. Dabei wird deutlich werden, dass Inhalt und Form des radikalen Gegenentwurfs durch eben den Diskurs, von dem er sich abzusetzen trachtete, weitgehend vorgeprägt wurden.

I. Neue Menschen und Übergangsmenschen Vorstellungen vom „neuen Menschen“, die sich im „Sowjetmenschen“ konkretisieren sollten, haben ihre Wurzeln in der vorrevolutionären russischen Geistesgeschichte, in den sozialistischen und sozialrevolutionären Utopien, in denen Angehörige der oppositionellen russischen Intelligenz die bevorstehenden revolutionären Umwälzungen antizipierten.2 Wie mussten die Menschen beschaffen sein, die den ersehnten vollständigen Bruch mit der überkommenen verhassten Ordnung herbeiführen konnten? Bekanntestes und vielleicht folgenreichstes Beispiel für die Ausgestaltung des Topos vom „neuen Menschen“ ist Cˇernyševskijs 1862 erschienener Roman „Was tun?“, der den Untertitel „Aus Erzählungen von neuen Menschen“ trägt.3 Ungeachtet seiner mäßigen literarischen Qualität entfaltete diese Erzählung, die später von Lenin hoch geschätzt worden sein soll, eine beachtliche Wirkung auf die Generation der revolutionären Intelligenz der sechziger Jahre 1 Zum generellen Menschenbild der Politik, Soziologie, Ethik und Ökonomie vgl. die Beiträge von Mätzig, Biehl, Stümke und Bayer in diesem Band. 2 Vgl. Müller (1998), S. 23–119, zum Topos des „neuen Menschen“ in der vorrevolutionären russischen Geistesgeschichte und insbesondere zur Wirkungsgeschichte von Cˇernysˇevskij (1988). 3 Vgl. C ˇ ernysˇevskij (1988).

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des 19. Jahrhunderts. Die Charakterisierung des heimlichen Helden des Romans, des prinzipientreuen und asketischen „Rigoristen“ Rachmetov, weist viele gemeinsame Züge mit dem späteren Idealbild eines bolschewistischen Berufsrevolutionärs auf, der die Entbehrungen eines Lebens im Untergrund, Gefängnis und Verbannung auf sich nimmt, auf privates Glück verzichtet und sich rastlos, unerschrocken und unbarmherzig gegen sich und andere der Sache der Revolution verschreibt. In den Jahren des Ersten Weltkriegs, der Revolutionen und des blutigen Bürgerkriegs erlebte die (sowjet-)russische Gesellschaft soziale und politische Erschütterungen bisher ungekannten Ausmaßes. Die alte Ordnung war in sich zusammengestürzt, ihre Träger waren enteignet, vertrieben, entrechtet oder umgekommen. Die Konturen des Neuen blieben in der von Chaos und dem Kampf ums nackte Überleben gekennzeichneten Phase des Kriegskommunismus undeutlich. Die 1921 eingeläutete „Neue Ökonomische Politik“ (NÖP), die allgemein als Übergangsperiode empfunden wurde, brachte eine Atempause. Das Alte war unwiederbringlich dahin, und seine Wiederherstellung wurde von den wenigsten ersehnt, doch ob und wie die sozialistische Utopie trotz Ausbleibens der Weltrevolution in politische und soziale Realität umgesetzt werden konnte, war selbst in den Reihen der siegreichen Bolschewiki umstritten und unklar. In den Augen des Partei- und Staatsgründers W. I. Lenin blieb das Ideal des „neuen Menschen“, der den Aufbau des Kommunismus bewerkstelligen sollte, ein asketisches, wie eine an die kommunistische Jugend gerichtete programmatische Rede vom Oktober 1920 verdeutlichte: die noch in der kapitalistischen Gesellschaft erzogene Arbeitergeneration werde bestenfalls die Aufgabe lösen können, die Grundlage der kapitalistischen Lebensweise zu zerstören. Erst die neue Generation, die sich unter den Bedingungen des disziplinierten, erbitterten Kampfes gegen die Bourgeoisie in „bewusste Menschen“ zu verwandeln begonnen habe, werde in 10–20 Jahren in der von ihr errichteten kommunistischen Gesellschaft leben. Der Parteiführer empfahl nicht nachlassenden Lern- und Arbeitseifer im Dienste des Aufbaus des Sozialismus. Seine ganze Arbeitskraft und darüber hinaus „jede freie Stunde“ sollte der Sowjetmensch auf die eine oder andere Weise dem Wohl des übergeordneten Ganzen widmen, sei es, indem er sich das „letzte Wort der Wissenschaft“, nämlich die Grundlagen der Elektrizität aneignete, sei es im Kampf gegen Analphabetismus, bei der „Förderung von Sauberkeit“ oder bei der Entwicklung des „Gemüsebaus“.4 „Bei alledem sollte er gewissenhaft und ehrlich sein, keine nervöse Hektik zeigen, sondern Geduld, Ausdauer und Disziplin. (. . .) Dekadenter fokstrotizm, sinnlicher tangoizm und sonstige westlichen Moden hatten ihm ebenso fremd zu sein wie 4

Lenin (1966), S. 372–390; vgl. auch Hildermeier (1998), S. 320.

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Passionen für Tabak, Alkohol und fremde Frauen. Von selbst verstand sich, dass er der ‚Nepifizierung‘ in Gestalt von ‚Luxus‘ und anderen Formen privater Akkumulation widerstand.“5 Während sich sowjetrussische Pädagogen mit der praktisch zu lösenden Frage auseinander setzten, wie sich die Erziehung der in den Wirren der Revolutions- und Bürgerkriegsjahre verwahrlosten Jugendlichen zu „neuen Menschen“ bewerkstelligen lasse, trat der „neue Mensch“ in der sowjetrussischen Literatur häufig in der Variante des sogenannten „Übergangsmenschen“ in Erscheinung, der noch nicht voll und ganz Produkt der neuen Zeit ist, aber den Weg für die kommenden Generationen der nach der Revolution Geborenen ebnet.6 In der für die zwanziger Jahre zu konstatierenden Vielfalt der für die Zukunft projizierten „Menschenbilder“ spiegelt sich die im Rahmen des sowjettreuen sozialistischen Paradigmas noch gegebene relative Meinungsvielfalt und Offenheit der Entwicklungsrichtung während der NÖP wider.7

II. Neue Menschen – Neue technische Normen: der Sowjetmensch im Stalinismus Mit der Entscheidung, die Sowjetunion mittels einer forcierten Industrialisierung und begleitenden Kollektivierung der Landwirtschaft in kürzester Zeit in die Reihen der fortschrittlichsten Industrienationen zu katapultieren, den Sozialismus in einem Lande aufzubauen und den kapitalistischen Westen einzuholen und zu überholen, nahm die Sowjetmacht spezifische Züge einer Modernisierungs- und Mobilisierungsdiktatur an. Zur Erreichung der ehrgeizigen, letztlich völlig unrealistischen Planziele des 1. Fünfjahresplans (1929–1932) war aus den Arbeitskräften, den Menschen, das letzte an Leistungs- und Produktivitätssteigerung herauszuholen, bei gleichzeitigem Konsumverzicht und rapider Absenkung des Lebensstandards für die Masse der ohnehin schon armen arbeitenden Bevölkerung.8 Als mobilisierendes und integrierendes Leitbild schuf die kommunistische Ideologie und Propaganda einen Menschen, der sich dem Gigantismus ihrer Vorhaben und der Megalomanie ihrer Planziffern gewachsen zeigte. Bekanntestes und zugleich bezeichnendstes Beispiel für die Propagierung des „neuen Menschen“, den übermenschliche Arbeitskraft und Ausdauer im Dienste des sozialistischen Aufbaus auszeichneten, war die Bewegung der Stachanovarbeiter.9 Als der 5 6 7 8 9

Hildermeier (1998), S. 320 f. Vgl. Müller (1998), Teil 2. Für eine Auswahl vgl. Groys (2005). Vgl. Hildermeier (1998), Kapitel V, S. 367–434. Vgl. zur Stachanovbewegung Maier (1990) und Siegelbaum (1988).

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Bergarbeiter Stachanov in der Nachtschicht vom 30. auf den 31. August 1935 in einer Zeche im Doneck einen sensationellen Arbeitsrekord aufstellte, indem er 102 t Kohle aus dem Stollen hieb und damit die Norm zu 1457% übererfüllte, wirkte er an der Entstehung eines der beliebtesten Propagandamythen des Stalinismus mit. Die staatliche Berichterstattung popularisierte seine Höchstleistung landesweit, und so fand Stachanov bald zahlreiche Anhänger und Nachahmer, die auf dem Schlachtfeld der Produktion an allen Fronten Rekorde aufstellten. Die Arbeitskraft und der Arbeitseifer des vom Sozialismus beflügelten Sowjetmenschen kannten offensichtlich keine Grenzen. Auf der 1. Unionsberatung der Stachanovleute, zu der im November 1935 ca. 3000 Stachanovisten, die in den vergangenen Monaten durch heldenhafte Arbeitsleistungen hervorgetretenen waren, in Moskau zusammenkamen, hielt Stalin eine programmatische Rede, in der er die Formel „Neue Menschen – Neue technische Normen“ prägte und die von den Stachanovarbeitern erzielten Rekorde als qualitativen Entwicklungssprung der menschlichen Leistungsfähigkeit unter den Bedingungen des Sozialismus deutete. U.a. hob er das materielle Wohlergehen der Arbeiter als Ursache für das Erscheinen der „neuen Menschen“ hervor.10 Dabei verdrehte Stalin Ursache und Wirkung. Denn die Stachanovisten lebten zwar nicht schlecht, doch war dies nicht Voraussetzung, sondern Ergebnis ihrer herausragenden Arbeitsleistung, denn sie genossen vielfältige Privilegien, u. a. wurden ihnen bis zu neunmal höhere Löhne ausbezahlt, als den gewöhnlichen Arbeitern.11 Spätestens mit Stalins Stachanov-Rede war die Denkfigur vom „neuen Menschen“ in das Zentrum der sowjetischen Ideologie und Propaganda gerückt. Der literarische Topos avancierte zum Ideologem. Propagandistische Sprachregelungen begannen zunehmend an die Stelle der Realität zu treten, die sich den überspannten Zielprojektionen der politischen Führung nicht fügen wollte. Die Planziele für die industrielle Produktion waren unerreichbar und die übereilt und mit äußerster Brutalität durchgeführte „Entkulakisierung“ und Zwangskollektivierung mündeten in die Hungerkatastrophe der Jahre 1932/33 mit über 5 Millionen Toten. Die Realität des Lebens in der Sowjetunion war für Millionen von Menschen von Entbehrungen, Angst, Verfolgung, Entrechtung und erzwungener Anpassung geprägt. Die offizielle Version der Wirklichkeit hieß, dass es sich „besser und fröhlicher“12 lebe. Das Auseinanderklaffen von Schein und Sein machte es notwendig, alternative Interpretationen der Wirklichkeit aus dem öffentlichen Raum gänzlich zu verbannen. Die Sowjetdiktatur der NÖP-Periode hatte zu10 11 12

Stalin ( 1976), S. 27 f. Vgl. Maier (1990), S. 66. Stalin (1976), S. 27.

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nächst nur die politische Opposition eliminiert, die Industrie verstaatlicht und den Klassenfeind enteignet. Nun wurden nicht nur die Relikte privatwirtschaftlicher Tätigkeit beseitigt, sondern auch Kunst und Wissenschaft gleichgeschaltet. Der Regelungsanspruch des totalitären Staates war nahezu unbegrenzt. Für das künstlerische und mit dem 1. Allunionskongresses der Sowjetschriftsteller ab 1934 auch für das literarische Schaffen wurde der „Sozialistische Realismus“ als allgemeingültige Form des künstlerischen Ausdrucks verbindlich gemacht. Der sozialistische Realismus erhob nicht den Anspruch, ein naturgetreues Bild vom Menschen und der ihn umgebenden Gesellschaft zu zeichnen, sondern Aufgabe von Kunst und Literatur im Sozialismus sollte es sein, das Typische und Charakteristische herauszuarbeiten, das auf die Finalität der Entwicklung, den Sieg des Sozialismus verwies. Eine verdichtete, plakative, gleichsam wirklichere Wirklichkeit sollte sichtbar gemacht werden. In der bildenden Kunst tritt uns der Sowjetmensch der Ära des industriellen Aufbruchs als muskelbepackter Hüne entgegen, er wird vorzugsweise bei der Arbeit vor industrieller Kulisse gezeigt oder reckt die Attribute der ihn heiligenden Werktätigkeit in die Höhe. Seine Grobschlächtigkeit verkörpert das Ideal der Einfachheit, seine gigantische auf- und vorwärts stampfende Gestalt symbolisiert die Größe und Dynamik der von ihm vollbrachten Aufbauleistung. Die Architektur der Ära Stalin errichtete Paläste und Prospekte für die „neuen Menschen“, die Titanen der Propaganda-Parallelwelt, in der sich die normalen Menschen verloren, auf Ameisengröße zusammenschrumpften.13 In der Literatur weichen die staubbedeckten, rastlosen, leidenden, oft kranken und beziehungsunfähigen „Übergangsmenschen“14 der Bürgerkriegsliteratur sowie die Schelmengestalten, Gauner, Sowjetbürokraten und Kleinbürger der NÖP-Periode den „echten“ Sowjetmenschen, die, ausgestattet mit dem richtigen Bewusstsein und dem richtigen Klassenhintergrund, jung, aufopferungsvoll und selbstlos am Aufbau des Sozialismus mitwirken. Dabei gehen sie konsequent gegen Überbleibsel des Kapitalismus vor, indem sie Kulaken, weißgardistischen Verschwörern, Volksfeinden, Opportunisten und Saboteuren die Maske vom Gesicht reißen. Diese Helden machen kaum noch eine nennenswerte Entwicklung durch. Sie sind von der ersten Seite an nahezu vollkommen.15 Einen Hauch von Tragik vermag ihnen allenfalls ein früher Tod im Dienste des Kommunismus zu verleihen. Kein Wunder also, dass die Protagonisten der Epen des sozialistischen Realismus reihenweise in jugendlichem Alter dahingerafft werden. 13 Zur Bedeutung der Architektur als wichtigster künstlerischer Manifestation der Stalin-Ära vgl. Ryklin (2003), Hegel in den Räumen des Jubels, S. 71–86. 14 Vgl. Müller (1998), S. 123. 15 Vgl. Hildermeier (1998), S. 565.

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In der Bildungspolitik trat das Ideal der revolutionären Pädagogik, der sich ganzheitlich entwickelnde, theoretische und praktische Erfahrung vereinende Mensch in den Hintergrund zugunsten einer auf die Maximierung des Gebrauchwerts des Individuums für den Staat abzielenden Ausbildung. „Nicht mehr der Einzelne war Maßstab der Methoden und Inhalte, sondern seine künftige Verwendung“.16

III. Der stagnierende Sowjetmensch Dem Zerfall der Sowjetunion ging bereits seit den beginnenden 70er Jahren eine Periode der Stagnation und des schleichenden Niedergangs voraus. Die marxistisch-leninistische Ideologie hatte ihre Überzeugungskraft im Grunde schon in den Wellen von Gewalt und Terror seit dem Ende der 20er Jahre eingebüßt.17 Seine Stütze fand das Regime jedoch in einer in der Hochphase des Stalinismus sozialisierten kommunistischen Nomenklatura, der die Selbstenthauptung des Regimes durch die Liquidierung der alten (auch kommunistischen) Eliten in den Säuberungen der 30er Jahre hervorragende Aufstiegschancen eröffnet hatte. In der breiten Bevölkerung sicherten die Einparteienherrschaft vor allem das engmaschige Netz von Überwachung und Repression, der unter gewaltigen Opfern errungene Sieg im „Großen Vaterländischen Krieg“ und das Charisma des Diktators Stalin. Nach Stalins Tod trug auch die seit den 50er Jahren einsetzende spürbare Verbesserung der materiellen Lebensumstände für breitere Bevölkerungsschichten zur Stabilisierung der Sowjetmacht bei.18 Auch wenn es immer weniger „gläubige Kommunisten“ gab, wurde an der Ideologie des Marxismus-Leninismus dennoch festgehalten, weil nur sie die Herrschaft der Kommunistischen Partei und damit die privilegierte Stellung der kommunistischen Nomenklatura rechtfertigen konnte. Die Alternativlosigkeit der herrschenden Machtverhältnisse, die allumfassende Macht des Staates, der zugleich auch Arbeitgeber war, über die Zuteilung von Wohnungen, Urlaubsreisen und beruflichen Aufstiegschancen entschied sowie das engmaschige Netz von Überwachung und sozialer Kontrolle veranlasste die Mehrzahl der Menschen, der Anerkennungsregel des Systems, dem Marxismus-Leninismus und ihren symbolischen und rituellen Manifestationen formal ihren Tribut zu zollen. Dies sollte sich erst ändern, als das Auseinanderklaffen von propagandistischem Schein und trister Realität mit der stetig nachlassenden Leistungskraft der zentralistischen Planwirtschaft immer sichtbarer wurde und die Hoffnungen auf eine glänzende kommunistische 16 17 18

Hildermeier (1998), S. 545. Vgl. Simon (1995), S. 3. Vgl. Simon (1995), S. 15 f.

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Zukunft angesichts des unübersehbaren wirtschaftlichen Niedergangs zerstoben waren. Der „Sowjetmensch“ oder synonym verwendet der „neue Mensch“ gehörte bis in die Ära Gorbatschow zum festen Inventar des marxistisch-leninistischen ideologischen Diskurses. Doch hatte er ebenso wie die kommunistische Ideologie insgesamt seine mobilisierende und integrierende Kraft eingebüßt. Der Sowjetmensch versteinerte zum Gegenstand einer selbstreferentiellen, immer ausdifferenzierteren und zugleich immer wirklichkeitsferneren marxistisch-leninistischen Scholastik.19 Die vom wissenschaftlichen Marxismus-Leninismus entdeckte „Gesetzmäßigkeit“ der Entwicklung der sozialistischen Gesellschaft und als abhängiger Variable des „sozialistischen Persönlichkeitstyps“ hin zur kommunistischen Gesellschaft mit adhärentem kommunistischem Persönlichkeitstyp enthob die sowjetischen Soziologen der Notwendigkeit, ihre Thesen über Selbst- und Weltbild, Einstellung und Verhalten des Sowjetmenschen einer empirischen Überprüfung zu unterziehen. Das von G. L. Smirnov zu Beginn der siebziger Jahre verfasste Standardwerk über den Sowjetmenschen legte auf der Grundlage der Klassiker des Marxismus-Leninismus und der Materialien und Beschlüsse des XXIV. Parteitags der KPdSU, der Arbeiten sowjetischer Soziologen, einiger eingestreuter Anekdoten sowie zahlreicher Beispiele aus der sowjetischen Literatur des sozialistischen Realismus die segensreichen Auswirkungen der sozialistischen Gesellschaftsordnung auf Charakter und Verhalten der sowjetischen Menschen dar. Dabei kam der Autor zu dem Ergebnis, dass die grundlegende Umgestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse im Sozialismus eine völlig neuartige Qualität der Wechselwirkungen zwischen gesellschaftlicher Umwelt und Individuum etabliert habe: „In keiner Gesellschaft vor dem Sozialismus war zu verzeichnen, dass das gesamte System sozialer Institutionen – die Familie, die Vorschuleinrichtungen, die Schule, die Kinder- und Jugendorganisationen, die gesellschaftlichen, politischen, staatlichen und anderen Organisationen – auf der Grundlage gemeinsamer Prinzipien, Normen und Ideale, die die einheitlichen Interessen zum Ausdruck bringen, zielgerichtet auf das Bewusstsein aller Gesellschaftsmitglieder einwirkte.“20 Neben nach wie vor bestehenden klassen- und gruppenspezifischen Besonderheiten und individuellen Eigenschaften kämen im Sozialismus allgemeinen, also allen Gesellschaftsgruppen und allen einzelnen Gesellschaftsmitgliedern eigenen sozialen Charakteristika erstrangige Bedeutung zu. In der Sowjetunion habe sich eine neue historische Gemeinschaft von Menschen, das Sowjetvolk, herausgebildet. Diese sei trotz noch bestehender Unterschiede zwischen Klassen und Nationen 19 20

Vgl. Müller (1998), S. 10. Smirnov (1975), S. 230.

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durch die Einheit der Interessen, Ziele und Ideale so zusammengeschweißt, ihr Einwirken auf die Persönlichkeit sei so intensiv und einheitlich, dass sie die für den sozialistischen Persönlichkeitstyp charakteristischen Merkmale massenhaft entwickle.21 Smirnov identifizierte drei grundlegende Wesenszüge des Sowjetmenschen: 1. Die sozialistische Persönlichkeit sei eine „ideentreue Persönlichkeit“, die die gesellschaftlichen Interessen an den ersten Platz stelle und die Ziele und Prinzipien der kommunistischen Ideologie zu ihren eigenen mache. 2. Die Arbeit im sozialistischen Betrieb werde von der sozialistischen Persönlichkeit als höchster Sinn des Lebens empfunden. 3. Ihre Beziehungen zu anderen Menschen seien von Brüderlichkeit, Kollektivismus und Internationalismus geprägt.22 Dabei warnte der Autor vor einer normativen Herangehensweise in Fragen des sozialistischen Persönlichkeitstyps. Man dürfe nicht vergessen, dass die Muttermale des Kapitalismus auch unter den neuen Verhältnissen noch existierten und Einfluss ausübten. Außerdem unternehme die kapitalistische Welt, die imperialistische Reaktion gewaltige Anstrengungen, um die Entwicklung der neuen Gesellschaft aufzuhalten.23 Bei aller gebotenen Wachsamkeit blickte Smirnov in Bezug auf die fortschreitende Ausbreitung des sozialistischen Persönlichkeitstyps in der sowjetischen Gesellschaft jedoch zuversichtlich in die Zukunft. Kein überraschendes Ergebnis, denn anlässlich des 50. Jahrestags der Oktoberrevolution hatte das ZK der KPdSU ja bereits im Jahre 1967 festgestellt, die „Herausbildung des neuen Menschen“ sei das „gesetzmäßige Ergebnis der Durchsetzung der sozialistischen gesellschaftlichen Verhältnisse in der Sowjetunion und der Erziehungsarbeit der Kommunistischen Partei und des Sowjetstaates“.24

IV. Soziogramm eines Zerfalls Die unter dem Stichwort „Glasnost’“ in der Endphase der Sowjetunion einsetzende Liberalisierung, die noch vor der Implosion des Jahres 1991 zu einem rasant fortschreitenden Kontrollverlust der KPdSU über das geistige und wissenschaftliche Leben in der Sowjetunion führte, bescherte den sowjetischen Soziologen neue Möglichkeiten, sich dem Sowjetmenschen empirisch zu nähern sowie die Ergebnisse ihrer Forschungen publik zu machen 21 22 23 24

Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.

Smirnov Smirnov Smirnov Smirnov

(1975), (1975), (1975), (1975),

S. S. S. S.

256. 239 ff. 231, 257. 232.

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und in die öffentliche Diskussion einzubringen. 1989, auf dem Höhepunkt von Glasnost’, begann eine Forschergruppe des staatlichen „Allunionsinstituts zur Erforschung der öffentlichen Meinung“ (VZIOM) um den Pionier der sowjetischen Meinungsforschung, Jurij A. Levada, mit der Durchführung einer unionsweiten repräsentativen Umfrage, die, durch Folgebefragungen ergänzt, ein Bild des Wandels des Sowjetmenschen als Konsequenz der politischen und ökonomischen Veränderungen der 1985 begonnenen Perestroika ergeben sollte. In einer mehrere Republiken umfassenden repräsentativen Umfrage wurden 2.700 Personen, darunter 1.250 Bewohner der RSFSR, befragt. Die Auswertung und Interpretation der erhobenen Daten geriet den Forschern zum „Soziogramm eines Zerfalls“. Ihre 1993 unter dem Titel „Der einfache Sowjetmensch“ veröffentlichte Studie legte schonungslos die Verlogenheit und Absurdität des Bildes offen, das die kommunistische Ideologie und Propaganda von den Menschen in der Sowjetunion und der durch sie konstituierten sowjetischen Gesellschaft gezeichnet hatten. Die Levada-Studie definiert den Sowjetmenschen als einen in der UdSSR dominanten „sozial-anthropologischen Typus“, dem die explizit oder implizit auferlegte oder angeeignete Funktion eines soziokulturellen Standards zukommt, der durch Mechanismen der sozialen Kontrolle, der positiven oder negativen Sanktionen stabilisiert wird.25 Den Sowjetmenschen der reifen „klassischen“ Periode der 30er und 40er Jahren sah das Autorenkollektiv durch vier fundamentale Merkmale charakterisiert: Einzigartigkeit: Der Sowjetmensch begreift sich als grundsätzlich verschieden von den Menschen anderer historische Epochen und anderer sozialer Systeme. Seine Wahrnehmung der Welt ist durch das Prinzip der Gegenüberstellung von „Eigenem“ und „Fremdem“ strukturiert. Dabei sind die Vorzeichen der Gegenüberstellung ambivalent. Die gewohnte Selbsterhöhung des Sowjetmenschen, das Bewusstsein, besser zu sein als alle anderen, kann in Selbsterniedrigung umschlagen, also die Vorstellung „schlechter“ als alle anderen zu sein, jedoch immer noch einzigartig. Staatsfixiertheit: der Sowjetmensch kann sich selbst nur innerhalb einer allumfassenden Staatsstruktur denken. Bei diesem Staat handelt es sich um eine vormoderne, da nicht in funktionelle Komponenten aufgegliederte, paternalistische Super-Institution, die in alle Winkel der menschlichen Existenz vordringt und den Menschen keinerlei Freiraum zubilligt. Dem Paternalismus des Staates entspricht der Infantilismus der Herrschaftsunterworfenen. Idealiter existiert eine Polarität von Fürsorge und Dankbarkeit, die aber gegen den Staat gerichtete spontane Revolten nicht ausschließt. 25

Vgl. Lewada (1992), S. 12 ff.

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Hierarchischer Egalitarismus: Der Sowjetmensch akzeptiert bereitwillig vertikale hierarchische Strukturen, wobei die Stellung des Einzelnen in der hierarchischen Struktur über Zugang zu Machtprivilegien und im Sowjetsystem defizitäre Ressourcen (Konsum und Information) entscheidet. Die egalitaristische Komponente seines Hierarchismus manifestiert sich in der vehementen Ablehnung von „Ungleichheit, die nicht der angenommenen Hierarchie entspricht. (. . .). Unzulässig sind (. . .) erstens die Früchte jeder originellen, schöpferischen Arbeit und Begabung, zweitens die Einkünfte aus Eigentum und wirtschaftlichen Dienstleistungen und drittens „zu große“ Privilegien für Menschen mit einem „ungenügend“ hohen Status.“26 Imperiales Syndrom: Die Träger des Sowjetimperiums, die russischen und russifizierten Eliten, füllen transnationale organisierende und modernisierende Funktionen aus. Das Nebeneinander von transnationalen/anationalen und nationalen Elementen in der Wertestruktur und den Organisationsprinzipien des Sowjetstaates, die Leugnung des Nationalen bei seiner gleichzeitigen Verankerung und Fixierung (durch den nationalen Punkt im Pass und die nach pseudonationalen Kriterien vorgenommene administrative Untergliederung) führt notwendig zu einer Frustrierung ihrer nationalen Identität. Der Homo sovieticus ist „vor die unlösbare Aufgabe gestellt, zwischen ethnischer und überethnischer Zugehörigkeit zu wählen“.27 Dieser „sozial-anthropologische Typus“ war, laut der Levada-Studie, in Reinform nur in der Generation verwirklicht, die zu Beginn der 30er Jahre, also auf dem Höhepunkt des Stalinismus, in das soziale Leben eintrat und bis Mitte der 50er Jahre in Schlüsselpositionen vorgerückt war. Anschließend habe die sowjetische Gesellschaft sich als unfähig erwiesen den „Sowjetmenschen“ als Standard sozialen Verhaltens zu reproduzieren.28 Gegenwärtig sei der Homo sovieticus ein Auslaufmodell und nur noch in seinem Verfallsstadium zu studieren. Die Studie zeichnete das Bild einer Gesellschaft, in der das „menschliche Muster“ Sowjetmensch in Auflösung begriffen war und sich dort, wo es noch überdauerte, wegen seiner inneren Widersprüche für den Erhalt, bzw. die Erneuerung des Systems als dysfunktional erwies. Ohne sich explizit auf Smirnov oder andere orthodox marxistisch-leninistische Soziologen zu beziehen, rechneten die Autoren bei der Darstellung und Interpretation ihrer Befragungsergebnisse nebenbei nach und nach mit sämtlichen Elementen des offiziösen Bildes von den charakteristischen Eigenschaften des real existierenden sowjetischen Menschen ab: Danach lag der Prozentsatz der Anhänger des wissenschaftlichen Kommunismus, der 26 27 28

Vgl. Lewada (1992), S. 20 ff. Vgl. Lewada (1992), S. 18, 24. Vgl. Lewada (1992), S. 31.

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orthodox gläubigen Marxisten-Leninisten, bei zu vernachlässigenden 5% der Bevölkerung.29 Weit entfernt davon, die Arbeit im sozialistischen Betrieb als höchsten Lebenssinn und als Quelle der Selbstverwirklichung zu betrachten, charakterisierten die Sowjetmenschen ihren Beitrag zur sozialistischen Volkswirtschaft mit der gängigen Redensart: „die einen tun so, als ob sie arbeiten und die anderen, als ob sie sie für die Arbeit bezahlen.“ Dies sei der Sozialvertrag, auf dem die Sowjetgesellschaft beruhe.30 Anstelle von Brüderlichkeit lege der Sowjetmensch Aggressivität und Misstrauen an den Tag. Feindschaft gegen alles Fremde und von der Norm Abweichende offenbarten Ergebnisse der Befragung nach einem angemessenen Umgang mit 13 Randgruppen der sowjetischen Gesellschaft. Für die Antwortvariante „Sollten liquidiert werden“ entschieden sich bei Homosexuellen 33%, bei Prostituierten 28%, für die Liquidierung von Behinderten plädierten 22%.31 Die Aggressivität des Sowjetmenschen richte sich nicht nur gegen äußere wie innere Feinde, sondern auch gegen sich selbst, was sich in autoaggressiven Verhaltensweisen, u. a. der weiten Verbreitung der dem Lager- und Kriminellenmilieu entstammenden Mutterfluch-Sprache manifestiere.32 Die Armee, in der Nachkriegs-Sowjetunion ein nationales Heiligtum, wurde als Schule der Grausamkeit gebrandmarkt. Die Studie führt Schätzungen an, nach denen die Verluste der Armee durch Gewalt gegen eigene Kameraden in den zurückliegenden 5 Jahren die offiziell bekannt gegebenen Verluste in den 10 Jahren des Afghanistankrieges überstiegen. In einer Umfrage zu den Auswirkungen des Militärdienstes unterstützten 43% der Befragten die Aussage, dass der Dienst in der gegenwärtigen Armee die jungen Männer moralisch und manchmal auch physisch verkrüppele.33 Ausnahmsweise in Übereinstimmung mit Smirnov unterstrich die Levada-Studie die Kollektivität als grundlegenden Charakterzug des Sowjetmenschen. Sie lieferte jedoch eine gänzlich andere Deutung dieses Phänomens. Die eminent wichtige Bedeutung des Kollektivs für den Sowjetmenschen führten die Autoren unter anderem auf dessen Funktion als (Über-)Lebensversicherung und Bollwerk gegen eine feindselige unberechenbare Umwelt zurück. Das Kollektiv übernehme für den Staat Aufgaben der Disziplinierung und Kontrolle des Individuums, gewähre Letzterem aber auch Schutz vor der Willkür der höheren Macht sowie Zugang zu ansonsten unerreichbaren defizitären Waren und Dienstleistungen.34 Laut 29 30 31 32 33 34

Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.

Lewada Lewada Lewada Lewada Lewada Lewada

(1992), (1992), (1992), (1992), (1992), (1992),

S. S. S. S. S. S.

239. 34. 143 f. 100 ff. 127. 71 ff.

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den Ergebnissen der Levada-Studie zog der „Erbauer des Kommunismus“ gesellschaftlichem und politischem Engagement den Rückzug ins Private vor. Die Sowjetgesellschaft war nicht von zukunftsgewandtem Optimismus, sondern von Verunsicherung und allgegenwärtigen Angst- und Bedrohungsgefühlen geprägt. An die Stelle der dem Sowjetmenschen zugeschriebenen Bereitschaft, durch eigene Opfer künftigen Generationen den Weg in eine bessere Zukunft zu ebnen, dominierten im Verhältnis der Generationen gegenseitige Abneigung, Feindseligkeit und Argwohn.35 Als die Studie 1993 auch in Russland im Druck erschien, war die Sowjetunion bereits Geschichte. Die Denkfigur des Sowjetmenschen hatte in der Hochzeit des Stalinismus in den 30er und 40er Jahren durchaus erfolgreich die Rolle eines zentralen, integrierenden und für die Ziele des Regimes mobilisierenden Ideologems erfüllt. In der Stagnationsphase erodierte das gesellschaftliche Leitbild „Sowjetmensch“ in dem Maße, in dem auch die kommunistische Utopie insgesamt an Überzeugungskraft und an Anhängerschaft einbüßte. Dass die kommunistische Ideologie und Propaganda, die im öffentlichen Raum das Meinungsmonopol besaß, ihren ebenso idealistischen wie wirklichkeitsfernen Diskurs unverdrossen und dogmatisch weiterspann und ihn der Gesellschaft aufnötigte, löste in der sowjetischen Gesellschaft zunehmend Überdruss und Zynismus aus, zumal es immer schwieriger wurde, die offensichtlichen Verfallssymptome des Systems zu übersehen.36 Glasnost’ wirkte in dieser Hinsicht wie eine Befreiung. Der aufklärerische Elan der LevadaStudie ist für diese Periode typisch. Und doch führte die plötzliche Konfrontation einer Gesellschaft, die über sich selbst nur Gutes zu hören gewohnt war, mit der nicht nur tristen, sondern zunehmend alarmierenden sozialen, ökonomischen und politischen Wirklichkeit des Landes zu einer schweren Erschütterung des Selbstbildes der realen sowjetischen Menschen. Als die Sowjetunion 1991 zerbrach, folgten die russischen Sowjetbürger der Implosion ihres Staates wie interessierte aber letztlich unbeteiligte und passive Zuschauer. Die Sowjetunion ist zerfallen und ihre Wiedererrichtung wird auch von den Anhängern der alten Ordnung nicht als realistische Option erachtet. Der Sowjetmensch ist tot. Doch die Debatte um die Bewertung der sowjetischen Vergangenheit steht im postsowjetischen Russland auch 16 Jahre nach dem Ende der Sowjetunion erst am Anfang. Sie steht zugleich im Kontext eines breiter angelegten Identitätsdiskurses. Zu einer langanhaltenden tiefen Identitätskrise der russischen Gesellschaft haben viele Faktoren 35 36

Vgl. Lewada (1992), S. 50 ff., 278 ff. Vgl. etwa den Roman des Sowjetemigranten Sinowjew (1984).

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beigetragen: Die vollständige Diskreditierung einer bislang absolut dominanten, allerklärenden Ideologie, der Verlust des Imperiums und des Großmachtstatus, die im staatsfixierten nationalen Bewusstsein vieler Russen einen zentralen Platz einnahmen, der ökonomische Absturz, den breite Bevölkerungskreise im Gefolge der ökonomischen Transformation in den 90er Jahren erlebten (mitsamt seinen gravierenden sozialen Folgen), die sich hinter der Fassade des rezentralisierten „starken Staates“ verbergende andauernde und systemimmanente Instabilität des neoautoritären Regimes; die unzulängliche Aufarbeitung der kommunistischen Vergangenheit und die Unfähigkeit der Eliten, der Gesellschaft jenseits von Präsidentenkult, „starkem Staat“ und „Energiegroßmacht“ attraktive Identifikationsangebote zu unterbreiten. Die russische Gesellschaft befindet sich immer noch und wieder in einer Phase des Übergangs. Beiträge der zeitgenössischen russischen Literatur und Kunst zur Identitätsdebatte und zur Bewältigung der totalitären Vergangenheit setzen interessanterweise nicht selten beim Elementaren an. Die Kunstdoktrin des sozialistischen Realismus hatte „niederen Physiologismus“ mit einem Tabu belegt. In der anti-utopischen postsowjetischen russischen Kunst und Literatur spielt dagegen der menschliche Körper (mit wirklich allen seinen Funktionen) die Rolle einer zentralen Metapher. Er wird nicht selten als hässlich und von Leiden gezeichnet, verstümmelt, vernarbt oder tätowiert gezeigt. So etwa bei Vladimir Sorokin, der mittels einer „postmodernen Poetik des Grotesk-Hässlichen“ die „Gewalt von oktroyierten Diskurspraktiken“ aufzuzeigen sucht.37 Literatur Burkhart, Dagmar (2007): Körper und Zeichen in der russischen Literatur der Gegenwart. Vladimir Sorokin. Vladimir Makaniun. Viktor Pelewin, in: kultura, 2/2007, S. 3–7. ˇCernysˇevskij, Nikolaj G. (1988): Was tun? Aus Erzählungen von neuen Menschen, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. Clark, Katerina (2000): The Soviet Novel. History as Ritual, 3. Auflage, Bloomington [u. a.]: Indiana Univ. Press. Groys, Boris (2005): Die neue Menschheit: Biopolitische Utopien in Russland zu Beginn des 20. Jahrhunderts, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Gudkov, Lev (2007): Russlands Systemkrise, Negative Mobilisierung und kollektiver Zynismus, in: Osteuropa, 57. Jg., 1/2007, S. 3–13. Hildermeier, Manfred (1998): Geschichte der Sowjetunion 1917–1991, Entstehung und Niedergang des ersten sozialistischen Staates, München: Beck. 37

Vgl. Burkhart (2007), S. 3–7.

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Spitzenführungskräfte im Licht von Menschenbildern Von Elmar Wiesendahl

I. Einleitung Es ist weitgehend unbestritten, dass es in Wirtschaft und Politik, in der Verwaltung und beim Militär, selbst in freiwilligen Vereinigungen, Personen geben muss, die Leitungs- und Führungsaufgaben übernehmen. Mit Blick auf diesen Personenkreis muss nicht gleich von Elite gesprochen werden. Aber zweifelsohne handelt es sich um Personen, die Spitzenämter, Spitzenpositionen innehaben und die sich gegenüber anderen durch ihre Entscheidungsmacht, ihren Einfluss und ihre Verantwortungsfülle herausheben. Besser bezahlt werden sie auch noch. Zumeist ist gegenüber diesen Personen, um die es im Folgenden geht, von Spitzenführungskräften die Rede. Diese exklusive Gruppe von weiteren Führungskräften gesondert abzugrenzen, ist hier nicht weiter wichtig. Auch wie sich Führungskräfte zusammensetzen, über welche soziale Herkunft sie verfügen, wie sie ausgelesen werden und auf der Karriereleiter nach oben steigen, soll nicht weiter vertieft werden. Was allein im Folgenden interessiert, ist die Frage, mit welchen Vorstellungsbildern und Annahmen diese herausgehobene Personengruppe bedacht wird. Genauer: Was ist aus der Menschenbildperspektive das Besondere, was Führungskräfte auszeichnet? Stellt man die Antworten hierauf ausführlicher dar, wird es notwendig sein, den weiteren Gedankengang präziser zu strukturieren. Zunächst wird auf den in der Führungsforschung tief verankerten Eigenschaftsansatz rekurriert, der noch am ausgeprägtesten mit anthropologischen Annahmen über das Persönlichkeitsbild und Merkmalsprofil von Führungskräften einhergeht. Unwidersprochen soll dieser Ansatz natürlich nicht bleiben. Dann soll von der Verhaltensperspektive her beleuchtet werden, in welcher Art und Weise Führungskräfte Entscheidungen treffen, wobei hier auf sowohl theoretische Vorstellungen als auch empirisches Untersuchungsmaterial zurückgegriffen werden kann. Das Beispiel der Kubakrise soll die Menschenbildannahmen über Führungskräfte als Entscheider relativieren. Am Ende werden Fähigkeiten skizziert, auf die es bei erfolgreichen Führungskräften ankommt.

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II. Das „great man“-Menschenbild Die Welt ist voller steinerner Hinterlassenschaften in Gestalt von imposanten Grabmälern, Mausoleen, Triumphbögen, Kathedralen, Schlössern und Palästen, nicht zu vergessen herrschaftliche Regierungssitze, die von dem unvergänglichen Ruhm großer Gestalten der Geschichte künden. Insbesondere überragende Männer scheinen die Geschicke der Welt bestimmt und die Menschheit vorangebracht zu haben. Waren es zunächst große Imperatoren, Heerführer, Fürsten, Könige und Kaiser, traten dann mit dem Aufstieg der Industriegesellschaft Gründer von Industrieimperien, Wirtschafts-Tycoons und Finanzmagnaten an ihre Stelle, die allein schon durch ihre schier unglaubliche Anhäufung von Reichtum und Luxus Bewunderung und Ehrerbietung auslösten. In der Tat muss es sich dem Eindruck nach bei denjenigen, die es an die Spitze von Staaten, Konzernen, Streitkräften und überlebenswichtigen gesellschaftlichen Einrichtungen gebracht haben, um Menschen herausragender Qualität handeln, die zu schier übermenschlichen Großtaten, zu Gigantischem fähig sind. Dieser Eindruck drängt sich ja schon allein deshalb auf, weil die Inhaber von Spitzenpositionen von je her selbst darauf bedacht waren, durch Prachtbauten, steinerne Monumente, durch Pomp, höfisches Zeremoniell und Tschingarassabum, durch Hofgeschichtsschreibung und Memoiren ihre überragende Bedeutung gegenüber den Lebenden und der Nachkommenschaft ins rechte Licht zu rücken. So ist etwa in der Münchner Residenz, dem Stammsitz der Wittelsbacher – die über Jahrhunderte Bayern beherrschten, eine Ahnengalerie zu besichtigen, in der das Hochwohlgeborene Geschlecht genealogisch bis zu den Halbgöttern und Heldengestalten der griechischen Mythologie zurückgeführt wird. Sicherlich passt dies nicht mehr in die Gegenwart. Aber auch heute noch lassen das Hofzeremoniell und die zur Schau gestellten Insignien der Macht bei mancher imperialen Demokratie die Vergangenheit hochleben. Das zuallererst der menschlichen Geltungssucht entspringende, ungebrochene Streben nach Glanz, Gloria und Ehrerbietung schafft indessen nicht die Frage aus der Welt, ob sich hinter dem kulissenhaft erzeugten Schein von Größe nicht doch ein substantieller Kern von Herausragendheit und Überlegenheit verbirgt, der die Spitzen der Gesellschaft auszeichnet. Diese Frage ist nicht zu weit hergeholt, weil naheliegender Weise die Ausübung von Spitzenführungsämtern mit höheren Ansprüchen und Erwartungen einhergeht als etwa die Ausübung einfacher Handlangertätigkeiten. Was ist es also, was Männer und Frauen in Top-Positionen auszeichnet und aus der Masse der untergeordneten Führungskräfte und den vielen Zuarbeitern hervorhebt? Obgleich sich die Forschung mit Antworten auf diese

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Frage nach wie vor schwer tut, ist es sinnvoll, sich dem Eigenschaftsprofil von Spitzenkräften von der Seite der Anforderungen her, die sie zu erfüllen haben, zu nähern. Spitzenführungskräfte grenzen sich von anderen Führungskräften dadurch ab, dass sie an zentralen Schalt- und Kommandostellen stehen und die Geschicke des Ganzen, eines Staates, eines Unternehmens, einer Armee, lenken. In ihren Händen konzentriert sich eine enorme Machtfülle, die ihnen die Gesamtverantwortung überträgt. Als Staatenlenker, Wirtschaftskapitäne und Heerführer werden von ihnen Eigenschaften und Fähigkeiten verlangt, die mit ihrer strategischen Spitzenstellung korrespondieren. Es sind Menschen, die über eine starke persönliche Ausstrahlung und Unabhängigkeit, über strategische Weitsicht, visionäres Denken, geistige Flexibilität und Ideenreichtum, Ausgeglichenheit und Unaufgeregtheit, Mut, Unerschütterlichkeit und Krisenfestigkeit, ausgeprägte Antriebs- und Tatkraft, Konzentriertheit und Ich-Stärke, moralische Integrität, verfügen sollten. Das Herausragende wirkt sich bis auf das Physische, Körperliche aus, wobei das Kraftvolle, die Willensstärke, der Stolz sich in physischen Dominanzmerkmalen widerspiegeln. Mitunter wird in den Personalabteilungen und bei Headhunters auch bildhaft von Adlern, Löwen und Alpha-Tieren gesprochen. Große Führungspersönlichkeiten, die damit ins Blickfeld geraten, sind sicherlich rar, lassen sich aber an Einzelbeispielen belegen. Konrad Adenauer mit seiner Vision eines vereinten Europas auf der Basis der Aussöhnung mit Frankreich fällt sicherlich hierunter. Ein überzeugter und gegen alle Anfechtungen standhafter Militärreformer wie Wolf Graf von Baudissin ist hier ebenfalls zu erwähnen. Und auch ein unternehmerischer Geist wie Bill Gates mit seinem Lebenswerk Microsoft und seinem großzügigen Mäzenatentum ist in den kleinen Kreis großer Führungsgestalten des 20. Jahrhundert einzureihen. Aber nicht nur sie allein. Schließlich fallen Personen, die sich für etwas Großes und Ganzes eingesetzt und selbst aufgegeben haben, ebenfalls unter die Kategorie herausragender Menschen und Führungspersönlichkeiten, wie beispielsweise Graf Stauffenberg und die Männer und Frauen des Widerstands gegen Hitler. Stellvertretend für viele andere weniger bekannte „Helden des Alltags“ sei auf eine unscheinbare Gedenktafel im Eingangsbereich des Schlosses Friedenstein in Gotha hingewiesen. Auf ihr steht der Satz: „Damit Gotha leben kann, muss ich sterben“. Es ist der letzte Ausspruch von Josef Ritter von Gadolla, des Stadt-Kommandanten von Gotha, vor seiner standrechtlichen Erschießung am 5. April 1945 durch Wehrmachts-Truppen, weil er die Stadt befehlswidrig den anrückenden Amerikanern kampflos übergeben hatte.

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Gegenbeispiele zu dem Respekt einflößenden Bild sogenannter großer Männer, die in den verantwortlichen Führungspositionen sitzen, gibt es aber ebenfalls genug: So trat im Frühjahr 2007 mit Jürgen Schrempp ein Konzernlenker ab, der mit der Einverleibung von Chrysler und Mitsubishi den Automobilkonzern Daimler-Benz auf den Gipfelplatz einer Welt AG und eines Global Players hochkatapultieren wollte. Dieses strategisch unbedachte Abenteuer endete in einem Desaster und in einer Kapitalvernichtung riesigen Ausmaßes von über 100 Milliarden Euro. Pikanter Weise war die vom Schrempp-Vorgänger Edzard Reuter betriebene Umwandlung des Autoherstellers Daimler-Benz zu einem Technologiekonzern auf ähnlich desaströse Weise gescheitert. Dieses eklatante Versagen von Schrempp als Konzernlenker hinderte das Unternehmen, das jetzt unter dem neuen Vorstandsvorsitzenden Dieter Zetsche als Daimler AG zu seinem Kerngeschäft als Hersteller deutscher Luxusautos zurückgeschrumpft ist, nicht daran, seinen Ruhestand mit in die Millionen gehende Aktienoptionen zu versüßen. Flecken auf der blütenweißen Weste einer großen Führungspersönlichkeit trug auch der langjährige Chef und Aufsichtsratsvorsitzende des Siemens-Konzerns, Heinrich von Pierer, davon, weil während seiner Ära die systematischen Grundlagen gelegt wurden, um den einst sprichwörtlich seriösen Konzern im Korruptionssumpf versinken zu lassen. Die hier aufgeführten Beispiele sind weder von der einen noch der anderen Seite repräsentativ, wenngleich sie sich durch beliebig viele weitere Fälle untermauern ließen. Da es keine wirklich profunde Erhebung zu den Führungspersönlichkeitsmerkmalen der Spitzen von Politik, Wirtschaft und Militär gibt, ist es zudem auch müßig, weiter nach der Deckung zwischen dem erwünschten Eigenschaftsprofil und der tatsächlichen Eigenschaftskonfiguration bei Spitzenführungskräften zu fahnden. Der springende Punkt ist ohnehin ein anderer. Es ist nämlich strittig, ob das „great man“-Modell für die Frage nach den richtigen Personen in den Spitzenstellungen allzu viel her gibt. Denn es setzt einseitig und ausschließlich auf die Attribute, die Eigenschaftsausstattung von Führungskräften, von denen der Führungserfolg, also die Bewährung gegenüber den Ansprüchen und Herausforderungen, die sich mit Spitzenpositionen verbinden, abhängig gemacht wird. Nicht zu vernachlässigen ist obendrein das narzisstische Gefahrenpotential des Bestrebens, derart als solitäre Spitzenkraft in den Himmel gehoben zu werden. Schlummert darin doch u. U. der Nährboden für maßlose Größen- und Allkompetenzfantasien, für Selbstüberschätzung und kritische Selbstgefälligkeit, gepaart mit einem Hang zu Unduldsamkeit, Rechthaberei und dem Zwang, immer als Sieger vom Platz gehen zu müssen.

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Beobachtet man Führungskräfte, ob nun aus dem mittleren oder Topmanagement, bei dem, was sie täglich tun und wie sie sich in die anfallenden Aufgaben einbringen, geht es recht ernüchternd zu. Der Tagesablauf ist relativ hektisch und wenig strukturiert, unterbrochen von vielen kurzen Gesprächen und Gremiensitzungen. Untersuchungen des kanadischen Managementforschers Henry Mintzberg stellten dabei fest, dass Führungskräfte eine Vielzahl von Rollen zu spielen haben, die ihnen eine enorme Flexibilität und Situationsangepasstheit abverlangen. Jede der Rollen, ob nun in der Repräsentations-, Führungs-, Entscheidungs- oder Kontaktrolle, verbindet sich mit gesonderten Ansprüchen. Die mit der Ausübung der Rolle zu befriedigenden Erwartungen sind häufiger dissonant und nicht konvergent, so dass die größte zu bewältigende Herausforderung von Führungskräften darin besteht, Widersprüche zu ertragen und auszubalancieren. Nach Neuberger ist deshalb Führen per se die Bewältigung widersprüchlichen Handelns. Erfolgreiches Führen, so die Befunde aus diesen Beobachtungen, hat zwar auch mit der Persönlichkeitsausstattung und dem Eigenschaftsprofil der Führungskräfte zu tun. Werden Menschen aber praktisch in Führungssituationen gestellt, können sie, auch wenn man ihnen „great man“-Eigenschaften bescheinigt hat, grandios scheitern. Umgekehrt bringen es auch solche Leute zum Führungserfolg, die mit ihrer Aufgabe wachsen, obgleich man ihnen ein Spitzenamt zuvor nie zugetraut hätte. Und nicht zu selten bedarf es des Zufalls und des puren Glücks, um als groß und bedeutend in die Geschichte einzugehen. Gute, erfolgreiche Führung ist jedenfalls, anders als es die Eigenschaftstheorie darstellt, nicht nur das Ergebnis überragender Persönlichkeitsmerkmale von Spitzenführungskräften. Diese sind zwar wichtig, doch hat sich eine Führungskraft mit ihrer Kompetenzausstattung im Führungsprozess zu bewähren, und da spielen förderliche und begrenzende Umstände, das Zusammenspiel mit dem Führungsteam und den Geführten sowie der Führungsstil und das konkrete Führungsverhalten eine wichtige Rolle. Die Führungs- und Kommunikationskultur bildet einen weiteren weichen Einflussfaktor erfolgreichen Führens. Auf jeden Fall, und das vernachlässigt die „great man“-Theorie, ist Erfolg das Ergebnis kollektiver Anstrengungen. Dies gilt in der Gesamtschau auch für Misserfolge, für die gleichwohl Spitzenführungskräfte, die die Verantwortung tragen, sie auch zu übernehmen haben.

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III. Das „rational man“- Menschenbild Führungskräfte sind von ihrer Aufgabenstellung Entscheidungsträger. Spitzenführungskräfte haben noch dazu Entscheidungen von großer Reichweite zu treffen, die über den Fortbestand eines Unternehmens oder die Richtungsbestimmung von Gesellschaft und Politik befinden. „Men at the top“ übernehmen damit eine große Verantwortungslast, weil von ihren Entscheidungen und Nichtentscheidungen das Wohlergehen vieler Menschen, gar die Zukunft ganzer Staaten und Gesellschaften abhängen kann. Damit drängt sich die Frage auf, was diesen exklusiven Kreis von Einflussträgern in den Spitzenstellungen von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft befähigt, Entscheidungen von solch großer Reichweite und Verantwortung zu treffen. Glücken wird das vermutlich dann, wenn Menschen über die Eignung verfügen, einen Entscheidungsbildungsprozess dermaßen vernünftig und durchdacht durchzuspielen, dass er in einer bestmöglichen Entscheidung endet. Es sind Entscheidungsträger gefragt, die nach den Vorstellungen normativer rationaler Entscheidungstheorie als „rational men“ denken und handeln. Eine Entscheidung zu fällen bedeutet generell, im Hinblick auf ein Ziel ein intentionalen Wahlprozess durchzuführen, der in der Entscheidung zugunsten einer zieladäquaten Handlungsalternative endet.1 Betrachtet man den Entscheidungsakteur als „homo rationalis“ und schaut man sich den Entscheidungsprozess unter diesem Blickwinkel genauer an, handelt es sich um einen mehrstufigen, sequentiellen Prozess von kognitiven Wahrnehmungs-, Einschätzungs- und Beurteilungsvorgängen einerseits und Wahlvorgängen andererseits, die zu einer Letztentscheidung führen. Der Entscheidungsakteur befindet sich dabei in einer Lage, die er im Hinblick auf ein gewünschtes Ziel verändern möchte. Hierfür muss er sich ein Bild davon machen, was er unternehmen könnte, um den gegebenen Zustand in den gewünschten Zustand zu überführen. Unter Rationalitätsvoraussetzungen glückt dies dann, wenn der Entscheider folgende Kriterien beachtet. Zunächst hat er sich ein klares, umfassendes Bild von der Lage zu verschaffen und die damit verknüpften Probleme zu identifizieren, die er angehen und beseitigen möchte. Dann, nachdem er ein klares Ziel, welches er realisieren möchte, ins Auge gefasst hat, verschafft er sich einen möglichst umfassenden Überblick über die Ansätze und Wege, die sich anbieten, um das Problem einer Lösung auf den gewünschten Zielzustand hinzuführen. Die verschiedenen Lösungsalternativen werden genau geprüft und auf ihre Tauglichkeit hin für die Problemlösung 1 Vgl. zum Rationalitätsbegriff in unterschiedlichen Ausprägungen die Beiträge von Bayer, Biehl und Gillner in diesem Sammelband.

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untereinander verglichen. Ist dies abgeschlossen, kann eine Wahl zugunsten der tauglichsten bzw. bestmöglichen Alternative vorgenommen werden. Was hier simpel als ein Verknüpfungsvorgang eines Ist- mit einem SollZustand durch Auswahl eines geeigneten Bindeglieds beschrieben wird, unterliegt allerdings einiger kognitiver Voraussetzungen, die dem „rational man“ oder „homo rationalis“ unterstellt werden. So verfügt er über vollkommene Information und kann sich infolgedessen ein klares, eindeutiges Bild von der Ausgangssituation und den damit zusammenhängenden Mängeln und Problemen verschaffen. Es ist darüber hinaus für ihn und alle weiteren Beteiligten unstrittig, welcher Zielzustand angestrebt werden soll. Am wichtigsten ist aber, dass er sich nicht nur einen Überblick über alle zur Wahl stehenden Problemlösungsalternativen zu verschaffen weiß, sondern auch die daraus resultierenden Folgen mit hoher Gewissheit abzuschätzen vermag, von derem tatsächlichen Eintreten die Erreichung des Zielzustands abhängt. Eine bestmögliche Entscheidung lässt sich nach dieser Logik nur dann treffen, wenn die Wahl auf eine Lösungsalternative fällt, die unter vollkommener Voraussicht garantiert, dass dadurch erwünschte Folgen eintreten und unerwünschte, nichtintendierte Nebenfolgen unterbunden werden können, mit dem Effekt bestmöglicher Zielverwirklichung.2 Die Fähigkeit zur Folgenabschätzung bei vollkommener Information und Voraussicht wird damit zum Schlüssel für bestmögliche „rationale“ Entscheidungen. Im Licht des „rational man“-Menschenbilds wird verständlich, warum sich Spitzenführungskräfte für die verantwortliche Ausübung von Entscheidungspositionen bestens eignen. Sie verfügen, so die Prämisse, über ein enormes kognitives Potential, strategische Weitsicht, Voraussicht und Einfühlungsvermögen hinsichtlich des Wirkungszusammenhangs speziell von Langfrist- und Nebenfolgen von Entscheidungsalternativen, und sie behalten immer ihre klaren Ziele im Auge. Dass hiervon in der Realität erhebliche Abstriche vorzunehmen sind, dafür liefert die Erfahrung nicht enden wollende Beispiele. Eins soll hier zur Veranschaulichung herausgegriffen werden: die Kriegskunst des preußischen Königs Friedrich II., der als strategischer Denker mit genialischem Scharfsinn und Reflexionsvermögen ausgestattet gilt, doch im Praktischen der Kriegskunst gegen die von ihm selbst aufgestellten Grundsätze zielbezogener strategischer Kalkulation sowie kluger Voraussicht und Wappnung verstieß. So ließ er sich im Siebenjährigen Krieg (1756 bis 1763) mit dem Einmarsch in Sachsen auf einen Mehrfrontenkrieg gegen Österreich, Russland und Frankreich ein, der nach den Kräfteverhältnissen strategisch nicht zu gewinnen war. Bezeichnenderweise weigerte er sich, so ist überliefert, den 2

Vgl. hierzu die Beiträge von Bayer und Stümke in diesem Sammelband.

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technischen Ausrüstungsstand der österreichischen und russischen Artillerie überhaupt zur Kenntnis zu nehmen. Der Kriegsverlauf mit unmenschlich-strapaziösen Gewaltmärschen und hohem Blutzoll der preußischen Truppen in zahllosen Schlachten manövrierten Friedrich II in eine dermaßen geschwächte Lage hinein, dass dem preußischen Heer in der Schlacht von Kunersdorf (12.08.1759) und von Maxen (20.11.1759) katastrophale Niederlagen beigebracht wurden. Militärisch was das Schicksal Preußens damit besiegelt, und Ostpreußen, Sachsen und Schlesien gerieten in die Hände der Gegner. Nur glückliche Umstände, nämlich der Tod der Zarin Elisabeth und die Thronfolge durch Peter III., einem vorbehaltlosen Bewunderer Friedrichs, der einen Friedens- und Bündnisvertrag mit Preußen schloss, brachten eine Schicksalswende und ermöglichten den Aufstieg Preußens zur europäischen Großmacht. Von blindem irrationalen Hasardeurtum ist allerdings auch noch aus dem 1. Weltkrieg zu berichten. So wurde 1914 ein kaiserliches Ulanen-Regiment (mit Lanzen bewaffnete Reiterkavallerie) in Lothringen gegen französische Truppen ins Gefecht geführt, die Kanonen und Maschinengewehre zum Einsatz brachten. Nach dem ungleichen Kampf hatte das Ulanen-Regiment den Tod von 151 Mannschaften und 70 Offizieren zu beklagen. Wie sehr aber „rational man“-Vorstellungen mit der Wirklichkeit kollidieren können, soll nun detaillierter am Verlauf der Kubakrise dargestellt werden.

IV. Das Lehrstück der Kubakrise Im Oktober 1962 erschütterten 13 Trage die Welt. Es ging um nicht mehr und nicht weniger als die ernsthafte Gefahr eines Atomkriegsausbruchs zwischen den USA und der Sowjetunion, was bekanntlich abgewendet werden konnte. Den Auslöser der Krise lieferten am 14. Oktober 1962 Luftaufnahmen durch amerikanische U2-Flugzeuge, die der US-Administration unter Präsident John F. Kennedy den Beleg dafür lieferten, dass auf Kuba der Bau von Abschussbatterien für SS-4-Mittelstreckenraketen vorgenommen wurde. Die Stationierung von atomaren sowjetischen Raketen im Vorgarten der USA, auf Kuba, stellte für die Amerikaner eine Provokation größten Ausmaßes dar. Setzte doch der Radius der SS-4-Raketen mit einer Reichweite von ca. 2000 km große Teile der Ostküste, Floridas, des Südens und mittleren Westens der USA unter Einschluss der Hauptstadt Washington einer unmittelbaren Zerstörungsgefahr aus. Und diese Bedrohung ging vom kommunistischen Kuba aus, aus dem Guerillas unter Führung von Castro 1959 den Diktator und amerikanischen Vasallen Baptista aus dem Land verjagt

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hatten. Frisch in Erinnerung war zudem noch die Schmach, mit der ein im Frühjahr 1961 von den USA zusammengestelltes und ausgerüstetes Landeunternehmen zur „Okkupation“ Kubas in der Schweinebucht kläglich scheiterte. Für Kennedy, der sich im November 1962 Zwischenwahlen zum amerikanischen Kongress zu stellen hatte, stand das Ziel zur Lösung der Raketenkrise außer Zweifel: Die Raketen mussten wieder vollständig abgezogen werden! Um eine dafür geeignete Lösungsstrategie zu entwickeln, setzte er unter größter Geheimhaltung eine Beratungsgruppe, das sogenannte Executive Committee (ExComm) ein, dass ihm in einer Frist von fünf Tagen einen Entscheidungsvorschlag unterbreiten sollte. Er selbst setzte seine Regierungsgeschäfte und Wahlkampfeinsätze wie geplant fort, um ein Bekanntwerden der Krise in der Öffentlichkeit zu verhindern. Vertraulich besuchte er die Beratungsgruppe mehrmals, um sich über den Fortgang der Entscheidungsbildung zu informieren. Von größtem Aufschluss ist nun unter dem Blickwinkel rationaler Entscheidungsbildung das Verhalten der ExComm-Mitglieder. Die Gruppe setzte sich aus rund 17 Personen zusammen, worunter namentlich erwähnenswert sind: einmal der Bruder und Vertraute des Präsidenten, Robert F. Kennedy. Dann der Verteidigungsminister Robert McNamara. Ihm zur Seite der nationale Sicherheitsberater McGeorge Bundy. Weiterhin dabei Vizepräsident Lyndon B. Johnson, Außenminister Dean Rusk, CIA-Chef John McCone und Dean Acheson, UNO-Botschafter. Von militärischer Seite waren schließlich noch die Vereinigten Stabschefs mit ihrem Vorsitzenden, General Maxwell Taylor, vertreten. Zum Verlauf der Beratungen ist wichtig zu wissen, dass der Kenntnisstand der Gruppe über die Bedrohungslage durch die im Aufbau befindlichen Raketen äußerst dürftig war. Gesichert war allein, dass Raketenabschussanlagen, die die U2 identifiziert hatten, gebaut wurden. Nicht bekannt und ungewiss war, wie viele stationäre oder mobile Abschussrampen im Bau waren und wer sie installierte und bewachte. Anzunehmen war, dass es sich um sowjetische Bautrupps und Wachsoldaten handeln müsse, wobei deren Zahl unbekannt war. Der Kenntnis der Gruppe entzog sich überdies die Antwort auf die Frage, wie viele Sprengköpfe bereits nach Kuba gebracht worden waren, ob es sich um konventionelle oder nukleare Sprengköpfe handelte, wie viele Raketen bereits einsatzbereit waren, wie schnell sich weitere Raketen mit Sprengköpfen bestücken ließen und, besonders wichtig, wem die Verfügungsgewalt über den Abschuss der Raketen zufiel. Im Nachhinein stellte sich heraus, dass die sowjetische Führung insgesamt 40 Rampen mit 80 Raketen, bestückbar mit 40 atomaren Spreng-

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köpfen installieren wollte. Zum Zeitpunkt der Entdeckung durch die U2 war die Hälfte der Raketenstellungen ausgeliefert, aber größtenteils noch nicht einsatzbereit. Die CIA gab gegenüber dem ExComm die Einschätzung ab, die Raketenbasen wären innerhalb von zwei Wochen „operabel“. Die sowjetischen Stationierungstruppen umfassten insgesamt 43.000 Soldaten. Hinzu kamen 270.000 kubanische Soldaten. Aus Gründen der Entfernung hin zur sowjetischen Zentrale war im Fall einer amerikanischen Invasion der Einsatz der Raketen durch Kommandeure vor Ort vorgesehen. Unter diesen Bedingungen höchst lückenhafter, unvollkommener Information und weit reichender Ungewissheit begann das Executive Committee mit seinem Beratungsprozess und fand in einer Art Brain Storming schon am 1. Tag zu einer Liste von Handlungsalternativen, die den weiteren Entscheidungsprozess bestimmen sollte. Dies waren 1. nichts zu tun, 2. eine diplomatische Offensive zu starten, 3. mit Castro zu verhandeln, 4. einen Tauschhandel mit Castro einzugehen, 5. eine Invasion mit dem Ziel der Beseitigung Castros durchzuführen, 6. einen gezielten Luftangriff – entweder mit oder ohne Vorwarnung – zu starten, 7. die Insel mit einem massiven Luftangriff zu bombardieren und Castro auszuschalten, und schließlich 8. durch eine Militärseeblockade Kubas die weitere Zulieferung von Raketen und Abschussanlagen zu unterbinden. Dem rationalen Entscheidungskalkül nach hätten nun die Mitglieder des ExComm mit einer Prüfung und Folgenabschätzung der zur Wahl stehenden Alternativen beginnen müssen. Beispielsweise hätte man bei dem Gedanken an eine Invasion der Insel die Fragen durchspielen müssen, mit welcher Reaktion der Sowjettruppen und der kubanischen Soldaten zu rechnen sei. Wichtiger noch hätte geklärt werden müssen, ob es in dem Fall zum Einsatz der abschussbereiten Raketen hätte kommen können. Und mit Blick auf mögliche Gegenreaktionen der Sowjets in Europa hätte man eine Besetzung Berlins oder der Türkei mit ins Auge fassen müssen. Und last not least hätte man abklären müssen, ob bei militärischen Maßnahmen wie der Invasion die Sowjets einen Atomkrieg (Atom-Unterseeboote vor Kuba, Interkontinentalraketen) riskieren würden.

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All dies geschah in der gebotenen Sorgfalt und Gründlichkeit nicht. Stattdessen kaprizierten sich die Vereinigten Stabschefs auf eine rasch umzusetzende Militärschlagslösung, die sie für machbar und vertretbar hielten. Machbar deshalb, weil die militärische Seite bereits über fertige Bombardierungs- und Invasionspläne verfügte und bereits im August mit Truppenkonzentrationen an der Ostküste begonnen worden war. Vertretbar deshalb, weil zur UdSSR gesagt wurde, sie sei im Falle kriegerischer Auseinandersetzungen zum Gegenschlag nicht fähig und im Zweifelsfall auch zu feige. Man könne worst case zum Atomschlag gegen die Sowjetunion ausholen, um den Russen zuvorzukommen. Gegenüber weiteren Alternativen jenseits der militärischer Lösungsansätze per Luft, Boden und Wasser erwiesen sich die Stabschefs nicht aufgeschlossen. Die beteiligten Spitzenmilitärs konnten nicht anders als sich in der ihnen vertrauten Welt militärischer Angriffslösungen zu bewegen. So schlugen sie am 1. Tag der Beratungen einen Überraschungsluftangriff vor, der die Raketenstellungen und die Flugabwehr ausschalten sollte. Am 3. Tag vorgebrachte Einwände gegen die unberechenbaren Risiken eines Luftschlags beantworteten die Spitzenoffiziere mit dem Vorschlag, eine Invasion zu starten. Die anderen ExComm-Mitglieder erteilten dagegen einen Prüfauftrag für eine Seeblockade. Am 4. Tag unternahmen die Vereinigten Stabschefs einen weiteren massiven Versuch, um eine kombinierte Luftschlags-/ Invasionsoption durchzusetzen. Sie stützten ihren Vorschlag auf die Vermutung, dass die Russen wegen der amerikanischen Überlegenheit die Militäraktionen hinnehmen würden. Eine Kompromisslinie, es bei einem punktuellen Bombardement mit Vorwarnung zu belassen, wurde von den Stabschefs abgelehnt. Gleichzeitig liefen die militärischen Vorbereitungen für einen Luftangriff und für eine Invasion weiter. Schließlich verständigte sich das ExComm am 6. Tag auf den von Robert Kennedy vorgeschlagenen Kompromiss einer Seeblockade, zumal eine Invasion dann immer noch möglich sei. Der Präsident akzeptierte diesen Vorschlag, weil er ihm am wenigsten anfechtbar erschien und verkündete ihn nach einem Tag Bedenkzeit am 22. Oktober 1962 in einer historisch gewordenen Fernsehansprache. Angesichts der konkret drohenden Gefahr eines unbeherrschbaren Atomkriegs zwischen den USA und der UdSSR tat er zuvor im internen Kreis sein grundsätzliches Misstrauen gegen die Urteilskraft der militärischen Spitzenberater kund und verlangte, sie in jeder Lage unter Kontrolle zu halten. Die Lehren, die sich aus dem Entscheidungsbildungsprozess des Executive Committees zur Lösung der Raketenkrise ziehen lassen, sind zweifelsohne von großer Reichweite und erschüttern einiges von dem, was nach dem „rational man“-Modell Entscheidungsakteuren unterstellt wird. Zu-

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nächst einmal wird durch die Brille des „homo rationalis“ der Mensch als Individuum gesehen, das über die kognitiven Kapazitäten verfügt, um, vollkommene Information vorausgesetzt, eine bestmögliche Auswahl von Entscheidungsalternativen zur Verwirklichung des klar ins Auge gefassten Ziels zu treffen. Es wird dabei die Fähigkeit unterstellt, die von den Alternativen ausgehenden Wirkungen so abschätzen zu können, dass auf jene Alternative die Entscheidung fällt, welche von den erwarteten Folgen am besten geeignet ist, das anvisierte Ziel zu verwirklichen. Werden Entscheidungen in Gremien kollektiv herbeigeführt, wird zumeist unterstellt, dass sich der kollektive Akteur wie ein individueller Akteur verhält (unitary actor- und Homogenitätsprämisse). Bei der Kubakrise ging es darum, einen möglichst geeigneten und schadlosen Weg zu finden, um den Abzug der Sowjetraketen auf Kuba zu bewirken. Klar ist, dass das Beratungsgremium nicht homogen dachte und agierte, sondern in Einzelgruppen mit instabilen, wechselnden Koalitionsbildungen zerfiel. Es waltete nicht Ratio im Sinne unvoreingenommener, nüchterner Vernunft und Kalkulation, sondern die Beteiligten folgten der ihnen antrainierten professionellen Urteils- und Einschätzungslogik. Aus rationaler Entscheidungsbildungssicht bildete die Seeblockade sicherlich keine wirklich durchdachte, bestmögliche Lösung. Denn als mögliche Folge der Seesperre war allein mit einem Stopp weiterer Waffenlieferungen per See zu rechnen. Dagegen konnte damit der Ausbau der Raketenstellungen auf Kuba selbst nicht unterbunden werden. Und gar vom Abzug der Raketen konnte überhaupt keine Rede sein. Was allein zählte, war, der sowjetischen Führung unter Chruschtschow einen gewissen Handlungsspielraum einzuräumen. Bis auf den Präsidenten selbst ließen es alle Beteiligten eklatant an elementarer rationaler Folgenabschätzung gegenüber den zur Wahl stehenden Entscheidungsalternativen vermissen. Einmal lag dies an dem höchst unvollständigen Kenntnisstand über die Lage und deren Entwicklung. Zum anderen ging man auf die von John F. Kennedy wiederholt gestellte Frage: „Was passiert dann“? „Was tun die Russen?“ entweder gar nicht oder besorgniserregend leichtfertig ein, mögliche und nicht auszuschließende massive militärische Reaktionen der Gegenseite abwiegelnd. Dagegen sollte nach den Vorstellungen des Präsidenten jede Alternative auf die Folgen hin geprüft werden, die sie für die Russen und ihre möglichen Reaktionen haben könnte. Vor allem lag ihm daran, die Reaktionsmöglichkeiten der Sowjetführung unter Chruschtschow nicht auf die Wahl zwischen Krieg und absolutiver Demütigung zu verengen. Dass es nicht schon bald nach kurzer Beratung zur Auslösung eines militärischen Überraschungsangriffs aus der Luft kam, ist vor allem Robert Kennedy zu verdanken. Die USA seien, so sein Einwand, nicht der Tojo

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der sechziger Jahre. Hideki Tojo war der japanische Premierminister, der Ende 1941 mit einem Überraschungsangriff der japanischen Luftwaffe gegen Pearl Harbour den Pazifikkrieg auslöste. Deshalb sei die Vorgehensweise für ihn moralisch nicht akzeptabel. Solch ein Angriff aus dem Hinterhalt bilde einen klaren und unvertretbaren Vorstoß gegen amerikanische Werte und Traditionen. Aus einer Vernunftsperspektive kaum nachvollziehbar ist vor allem jedoch das Verhalten der vereinigten Stabschefs. Ihr hartes und kompromissloses Eintreten für eine militärische Lösung des Konflikts ist nur so zu verstehen, dass sie sich durch besondere Umstände in der Lage sahen, mit Luftangriffen oder einer Invasion unverzüglich losschlagen zu können. An dem Erfolg dieser Operationen hatten sie in Vernachlässigung einer gründlichen Lagebeurteilung keine Zweifel. Mit ihren Angriffsplänen verfolgten sie allerdings weniger das Ziel, den Abzug der Raketen zu erreichen, sondern Kuba zu besetzen und das Castro-Regime zu beseitigen. Dies hatte mit der Raketenkrise nichts zu tun, sondern mit Zielen, die sie vorher, vor Eintritt der Krise, schon verfolgten. Noch mehr springt ins Auge, dass die Militärchefs mit ihrem Verhalten den dem „rational actor“-Modell zugrunde liegenden Ablaufprozess sequentiellen Prüfens und Entscheidens auf den Kopf stellten. Mit ihren Angriffsplänen verfügten sie von Anfang an über einen Lösungsansatz, für den sie nur noch ein Problem brauchten. Die Kubakrise spielt ihnen dieses Problem zu, wobei sie vorgaben, dafür die richtigen Antworten parat zu haben. Es ging ihnen gar nicht darum, für den Abzug der Raketen geeignete Lösungswege zu suchen, sondern umgekehrt darum, bereits fertige Lösungen einem später eintretenden Problem aufzupfropfen. Das Prinzip „solutions follow problems“ wurde so in „problems follow solutions“ umgekehrt. Was sich überdies zeigte, war, dass hochkarätige Entscheidungsakteure dazu fähig waren, ihre einmal vernünftig begründete Position durch nicht vollziehbare Einnahme der Gegenposition zu untergraben. Aus „rational actor“-Sicht muss nämlich die Wankelmütigkeit des damaligen Verteidigungsministers Robert McNamara als höchst problematisch eingeschätzt werden. Zunächst lehnte er am 16.10.1962 mit dem Argument „Rakete sei gleich Rakete“ jedweden Angriff gegen Kuba ab, weil die Gefahr des Gegenschlags durch einsatzbereite Raketen von Kuba aus zu groß sei. Er plädierte für eine Seeblockade. Dagegen befürwortete er am 27.10.1962 einen militärischen Angriff, obgleich die Raketen, vor deren Gegenschlag er zunächst gewarnt hatte, nun tatsächlich einsatzbereit waren. Was wohl die Kubakrise am eindringlichsten lehrt, ist, dass nicht individueller Rationalität, sondern der Gruppendynamik im Entscheidungsprozess die größte Beachtung zu schenken ist. Denn die Entscheidung zugunsten

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der Seeblockade ergab sich ja nicht als das Resultat eines rationalen Zweck-Mittel-Abwägungsprozesses. Zwar konnte sich Kennedy deshalb mit der Seeblockade anfreunden, weil sich damit der Ball zurück ins Spielfeld der Sowjetunion bringen ließ, um von deren Reaktion abhängig zu machen, ob auf eine massive militärische Lösung des Konflikts zurückgegriffen würde. Doch diese Variante entwickelte ein gefährliches Risikopotential, weil die Russen dadurch zu womöglich nicht mehr zu kontrollierenden militärischen Gegenmaßnahmen gedrängt wurden. Doch gruppendynamisch war die Seeblockadeentscheidung als Kompromisslinie Ergebnis des militärischen Lösungsdrucks, wobei man glaubte, die Stabschefs beschwichtigen und zugleich darin bremsen zu können, die Militärmaschinerie zum vollen Einsatz zu bringen. Die Kubakrise ging am Ende deshalb friedlich aus, weil sich die Sowjetunion der Seeblockade beugte. Zugleich gelang es dem Weißen Haus anschließend, in den darauffolgenden kritischen Tagen durch waghalsige Geheimdiplomatie an den amerikanischen und russischen Hardlinern vorbei sich mit Chruschtschow auf eine gesichtswahrende Abzugslösung der Raketen zu verständigen. Da es aber bei alledem um die Bewältigung eines Krisenproblems von größtem Ausmaß ging, kann Verlauf und Ergebnis der ExComm-Entscheidung nicht wirklich beruhigen. Zwischen dem „rational actor“-Modell und der Entscheidungsrealität klafften Welten.

V. Bilanz Zieht man eine Bilanz, wollen die „great man“- und „rational man“Menschenbilder zu den Personen, die die Spitzen der Gesellschaft verkörpern, nicht so recht passen. Nur auf die angeblich überragenden Persönlichkeitseigenschaften von Spitzenkräften zu blicken, reicht offenkundig nicht aus, um deren Erfolg und auch Misserfolg erklären zu können. Wie sich überdies herausstellte, ist dem „rational man“ – Modell ein Rationalitätsüberschuss inhärent, der weder in den Gegebenheiten noch den Fähigkeiten von Entscheidern eine Entsprechung findet. Der Nobelpreisträger für Ökonomie, Herbert Simon, zog daraus die Konsequenz, die Rationalitätsansprüche an Entscheider und den von ihnen durchgeführten Entscheidungsprozess an die Realität „begrenzter“ Rationalität anzupassen. An Stelle von illusionären bestmöglichen Entscheidungen ließen sich so wenigstens „befriedigende“ Entscheidungsergebnisse realisieren. Noch weiter geht Charles Lindblom:. Angesichts der schlechten Informationslage und der weitreichenden Gefahrenmomente, die durch Fehlentscheidungen der Politik, Wirtschaft und Gesellschaft drohen würden, empfiehlt er speziell den politischen Spitzen, sich auf das Machbare anstelle

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des Wünschbaren zu konzentrieren, und dies selbst um den Preis, zu hoch gesteckte Ziele an die Umstände anzupassen. Eine von ihm präferierte Strategie des „Muddling Through“, des Durchwurstelns oder der kleinen Schritte, berge den großen Vorteil, nach dem Prinzip von „Trial and Error“ Irrtümer und unbedachtes Entscheiden korrigieren zu können. Spitzenkräften wird aber, und das ist von den hohen Anforderungen her, denen sie ausgesetzt sind, ein großes Manko, mit dieser Theorie des Inkrementalismus gewissermaßen Generalabsolution dafür erteilt, wenn sie sich der Rolle von weitsichtigen, vorausschauenden und strategisch denkenden Entscheidern verweigern. Sie können sich als Spitzenpositionsinhabern nicht der Verantwortung entziehen, über den Tellerrand des kleinteiligen Alltagsbetriebs hinaus für das Ganze zu denken und Entscheidungen von größter Reichweite zu treffen. Diesen Anforderungen gerecht zu werden, sind Maßstäbe zu beachten, an die – jenseits von „great man“- und „rational man“-Vorstellungen – Spitzenführungskräfte heranreichen sollten. Hierzu zählt grundlegend ein generalistisches Verständnis der Aufgaben und eine ganzheitliche Sicht der Dinge. Scharfsinn und Urteilskraft im Sinne von Clausewitz sind unabdingbar. Man ist sich über die Ziele klar, die man verfolgt und zu verwirklichen sucht. Welches Ziel zuerst und welches nachgeordnet angepackt werden sollte, darüber ist die Führungsperson mit sich ebenfalls im Reinen. Dies schließt ein, mit den eigenen und den Kräften anderer haushalten und Schwerpunkte bilden zu können. Gute Entscheider wissen um die Komplexität der Dinge. Deshalb verfallen sich nicht in monokausales und lineares Ursache-Wirkungs-Denken. Sie dringen tief in komplexe Sachverhalte ein, ohne sich in Einzelaspekten zu verlieren. Vielmehr treffen sie Entscheidungen auf der Grundlage eines systemischen Überblicks und der Gesamtschau von relevanten Einzelaspekten. Nichts lenkt sie durch Störgrößen und Aufgeregtheiten ab. Sie konzentrieren sich auf das Wesentliche und Wichtige und lassen sich nicht vom Weg abbringen. Starre Fixierung auf eine Sache ist damit allerdings nicht gemeint. Sondern die Schrittfolge des Vorgehens ist wohl überlegt und bei aller Beweglichkeit in der Methode und des Wegs darauf bedacht, das ins Auge gefasste Ziel zu erreichen. Dies setzt voraus, die Verhältnisse nicht statisch, sondern prozesshaft zu verstehen und sich auf die Dynamik von Situationen einstellen zu können. Doch im Mittelpunkt all dessen steht die Kompetenz, die Folgen und Nebenfolgen des geplanten Tuns abschätzen und in Rechnung stellen zu können, um Handlungsintention und Handlungswirkung in Übereinstimmung bringen zu können. Vom Heldenhaften, Gigantischen und großen strategischen Design ist das Gesagte weit entfernt. Nur dient es der Sache und dem von allen erhofften Erfolg, wenn Führungskräfte wenigstens diesen Ansprüchen genügen.

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Der Mensch in den „neuen Kriegen“ Von Volker Matthies

I. Einleitung Um die Wende vom 20. zum 21. Jahrhundert mehrte sich die Zahl der Studien, die auf neue Formen von Gewaltkonflikten und auf neue Aspekte kriegerischen Konfliktaustrags aufmerksam machten. Manche Autoren sprachen gar von einem fundamentalen historischen „Modellwechsel“ des Krieges. Diese Veränderungen im gegenwärtigen Konfliktgeschehen wurden auf den Begriff der „neuen Kriege“ gebracht.1 Dabei war allerdings nicht immer klar, was denn das originär „Neue“ sein sollte. War der Typus dieser Kriege neu, traten sie zeitlich und räumlich neu auf, hatten sie neue Ursachen, Hintergründe und Entstehungsbedingungen, oder wiesen sie besondere, bislang nicht gekannte Merkmale auf? Gemeinsam ist all diesen Studien, dass sie innerstaatliche Kriege bzw. „Bürgerkriege“2 thematisieren, deren Grundmerkmale herausstellen und zunächst auf die Unterscheidung zu dem als „klassisch“ angesehenen Typus des „alten“ zwischenstaatlichen Krieges zielen. Dieser Typus war charakterisiert durch die Symmetrie der Kriegsgegner (staatliche Gewaltakteure), durch den Kampf um politischstaatliche Zwecke, durch die staatliche Organisation und Finanzierung der Kriegshandlungen, die von regulären Streitkräften getragen waren, sowie durch eine zumindest idealtypisch klare Trennung zwischen Front und Hinterland und zwischen Kombattanten und Nichtkombattanten. Das Attribut „neu“ soll nun die Kriege der Gegenwart von den aus einer früheren Epoche stammenden Kriegskonzeptionen insbesondere hinsichtlich ihrer Akteure, ihrer Ziele, der Art der Kriegführung und ihrer Finanzierung abgrenzen. Im folgenden Beitrag soll das Menschenbild in diesen „neuen“ Kriegen in dreifacher Hinsicht untersucht werden: Erstens das Bild des Menschen als Gewaltakteur: welches sind die gesellschaftlichen Kontextbedingungen, Antriebskräfte, Motive und Interessen, die Menschen bewegen, solche Kriege zu beginnen und in ihnen Gewalt auszuüben? Zweitens das Bild des 1 2

Vgl. Kaldor (2000) und Münkler (2002). Vgl. Waldmann (2002).

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Menschen als Opfer kriegerischer Gewalt: wie erklärt es sich, dass in den neuen Kriegen offenkundig mehr Nicht-Kombattanten (Zivilisten, Frauen und Kinder) als Kombattanten drangsaliert werden und ums Leben kommen? Drittens das Bild des Menschen als politisches Wesen, das willig und fähig ist, Gewaltkonflikte zu überwinden und auch bereit ist, mit externen Akteuren in Friedensprozessen zu kooperieren. Um eine realitätsgerechte Einschätzung des Menschenbildes in den neuen Kriegen vornehmen zu können, ist es zunächst erforderlich, sich kritisch mit den behaupteten Grundmerkmalen der neuen Kriege zu befassen.3

II. Grundlagen Als ein erstes Hauptmerkmal der neuen Kriege wird deren Entstaatlichung und Privatisierung angeführt. Die Staaten hätten ihr Monopol der Kriegsgewalt verloren und seien nicht länger die Herren des Krieges. Demgegenüber sei ein wesentliches Element der neuen Kriege die wachsende Beteiligung und Zunahme nichtstaatlicher bzw. substaatlicher Gewaltakteure, eine Art von Globalisierung privater Gewalt in Gestalt von Kriegsherren, Gewaltunternehmern, Rebellen, Guerilleros, Banditen, Milizen, Söldnern, Terroristen und organisierten Kriminellen. Insbesondere die Figur des „Kriegsherren“ (Warlords) wurde zum Proto-Typen des Gewaltakteurs in den neuen Kriegen. Aus der Auflösung von Gewaltmonopolen in zerfallenen Staaten und zerbrechenden Gesellschaften resultieren in der Regel partikulare Gebietsherrschaften lokaler Kriegsherren, die gewaltbereite junge Männer um sich scharen. Als ein zweites Hauptmerkmal der neuen Kriege wird deren Ökonomisierung bzw. Kommerzialisierung genannt. Aus dieser Perspektive stellen sich die neuen Kriege – in Abwandlung des berühmten Clausewitz-Diktums – nicht mehr als eine Fortsetzung der Politik sondern als eine Fortsetzung der Ökonomie mit anderen Mitteln dar. Der neue Krieg gilt als ein Mittel der ökonomischen Reproduktion und Reichtumsaneignung. Langandauernde Kriege würden zu einer Art von eigenständiger Produktionsweise werden, bei der gewaltunternehmerische Kalküle das Geschehen bestimmten. Politische Motive würden von Gewaltunternehmern nur instrumentell zur Erringung wirtschaftlicher Vorteile eingesetzt. Die Gewalt ermögliche die Durchsetzung asymmetrischer Tauschverhältnisse, die Privatisierung der Gewinne sowie die Sozialisierung der Verluste und Kosten. Typisch für die neuen Kriege sei die Entstehung von Gewaltmärkten bzw. Bürgerkriegsökonomien, in Gestalt von Drogenanbau und Drogenhandel, Rohstoffplünderung, Men3 Zu der Debatte über die neuen Kriege vgl. Matthies (2004), Frech/Trummer (2005), Geis (2006) sowie Bakonyi/Hensell/Siegelberg (2006).

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schen- und Waffenhandel, Schmuggel, Raub und (Schutzgeld-)Erpressung sowie dem Missbrauch humanitärer Hilfe. Auch der Einsatz von Kindersoldaten folge dem ökonomischen Prinzip, da diese kostengünstiger zu rekrutieren und zu unterhalten seien als erwachsene Kämpfer.4 Als ein drittes wichtiges Merkmal der neuen Kriege gilt ihre Regellosigkeit, Enthegung, Entzivilisierung oder Barbarisierung. Diese Kriege seien brutaler und grausamer als herkömmliche und insbesondere zwischenstaatliche Kriege, würden selbst Mindestnormen des humanitären Völkerrechts missachten und die Gewaltanwendung gegen Zivilisten zu einem strategischen Instrument der Kriegsführung machen. Dies gelte beispielsweise auch für systematische Massenvergewaltigungen von Frauen. Nicht mehr die offene Entscheidungsschlacht zwischen Kombattanten stünde im Zentrum der Gewaltausübung, sondern die Terrorisierung von Zivilisten und das Massaker an der Zivilbevölkerung. Auch der massive Einsatz von Kindersoldaten, die zugleich Täter und Opfer seien, könne als Element der Enthegung des Krieges gedeutet werden.

III. Realitätsbezug 1. Der „neue Krieger“ Homo Oeconomicus oder Homo Politicus? Mit der Formel „Gier“ („greed“) oder „Leid“ („grievance“) ist im Zusammenhang mit der Debatte über neue Kriege die herkömmliche politische bzw. sozialstrukturelle Erklärung innerstaatlicher Kriege durch eine ökonomische Perspektive herausgefordert worden. Diese betrachtet Kriege, wie oben erwähnt, wesentlich als ökonomische Phänomene und Prozesse, die durch ökonomische Zweckrationalität zu erklären sind. Kriege resultieren gemäß dieser Sichtweise nicht so sehr aus sozialer Ungleichheit, Mangel an Demokratie, politischer Ausgrenzung und Repression oder ethnisch-kultureller Zerklüftung, sondern vor allem aus materieller Gier (etwa nach wertvollen Rohstoffen) und glichen eher wirtschaftlichen Raubzügen und Formen organisierter Wirtschaftskriminalität als genuin politischen Unternehmungen und militärischen Feldzügen. Mit anderen Worten: „Der Homo Oeconomicus zieht in den Krieg“.5 Doch stellt sich die Frage nach der empirischen Reichweite bzw. Generalisierbarkeit dieser Sichtweise. Denn die Präsenz des ökonomischen Kalküls in Bürgerkriegssituationen bedeutet nicht notwendig, dass dieses gleicher4 5

Vgl. Pittwald (2004). Vgl. Cramer (2002).

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maßen auch immer die eigentliche Ursache des Konflikts ist. Auch wenn es in Bürgerkriegen vor allem um Verteilungsprozesse geht, können derartige Prozesse sich aber auch auf die Verteilung politischer Macht oder symbolischer Güter beziehen, und eben nicht nur auf die materielle Umverteilung. Zudem sind Verteilungsprozessen immer auch Streitigkeiten über die Legitimität und Gültigkeit von Normen, Regeln, Verfahren und Institutionen der Verteilung inhärent. Die systematische Ausblendung der politischen und sozialen Dimension in ökonomischen Untersuchungen zu Bürgerkriegen führt daher letztlich zu einem extremen, realitätsfernen Reduktionismus. Eine differenziertere Betrachtung der empirischen Realität und Vielfalt von Bürgerkriegen legt es also nahe, bei der Suche nach deren Ursachen und Dynamik stärker als bisher das komplexe Zusammenwirken von materiellen „Giermotiven“ und politisch-sozialen „Leidfaktoren“ in den Blick zu nehmen. Denn unklar bleibt oft, ob es sich bei den ökonomischen Interessen von Gewaltakteuren um die primären Ursachen der Kriege handelt oder eher um sekundäre Begleiterscheinungen und Folgen der kriegerischen Gewalt.6 Zwei prominente afrikanische Bürgerkriege sollen in diesem Zusammenhang zur exemplarischen Illustration herangezogen werden. Bei der kontroversen Diskussion über die Ursachen des mit dem Stigma des „Ressourcenfluchs“ der „Blutdiamanten“ belegten Bürgerkrieges in Sierra Leone wurde mittlerweile der Streit über „Giermotive“ oder „Leidfaktoren“ zugunsten der letzteren entschieden. Die tieferen Ursachen des Bürgerkrieges waren nicht die Gier nach Diamanten, sondern politische und soziale Faktoren wie die Zentralisierung der Macht, die Zerschlagung der Opposition, die Vernachlässigung des ländlichen Raumes, die Unzufriedenheit der (männlichen) Jugend sowie die Kultur der Straflosigkeit. Erst nach dem Ausbruch des Krieges spielte die Gier nach Diamanten eine zentrale Rolle bei der Finanzierung und Dynamik der Kriegshandlungen. Auch für den Krieg im Kongo wurde behauptet, dass die Aneignung wertvoller Bodenschätze wie Gold, Diamanten und Coltan durch die Konfliktparteien die primäre Ursache der Gewaltkonflikte gewesen sei. Doch wird hier die Ursache mit der Wirkung verwechselt. Denn zahlreiche Studien belegen, dass eine ursächliche Verbindung zwischen dem Ausbruch des Krieges und dem Rohstoffreichtum des Kongo nicht nachweisbar ist.7 Doch haben dann sekundär ökonomische Interessen die tieferen politischen und sozialen Ursachen des Konflikts (vor allem Staatszerfall und gesellschaftliche Desintegration) überlagert. Die Plünderung der Rohstoffe diente im weiteren Verlauf des Konflikts zu dessen Finanzierung und zur Ausbildung von kriegsökonomischen Strukturen. 6

Vgl. hierzu die Überlegungen bei Bayer sowie relativierend Biehl in diesem Sammelband. Auch der Beitrag von Mätzig in diesem Band beleuchtet eine spezifische Sichtweise des Homo Politicus. 7 Vgl. Kaul (2007).

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Darüber hinaus wäre auf eine Reihe von Bürgerkriegen in afrikanischen Ländern zu verweisen (beispielsweise in Burundi, Uganda, Somalia und Mali), in denen es überhaupt keine wertvollen Ressourcen gibt, die zum Gegenstand von Giermotiven hätten werden können. Es zeigt sich also, dass die Ökonomisierung des Krieges keineswegs zugleich auch dessen Entpolitisierung bedeutet und dass der „neue Krieger“, oft abhängig von der Dynamik des Krieges, sowohl politisch als auch ökonomisch motiviert handelt. In diesem Sinne kann er Homo Politicus und Homo Oeconomicus in einer Person sein. 2. Die Zivilbevölkerung als bevorzugtes Opfer neuer Kriege Ob die gezielte Gewaltanwendung gegen Zivilisten in vielen innerstaatlichen Kriegen der Gegenwart tatsächlich neu ist, erscheint in einer historischen Perspektive eher zweifelhaft.8 Denn auch schon in etlichen quasi-innerstaatlichen Dekolonisations- und Interventionskriegen nach dem Zweiten Weltkrieg (wie z. B. im Koreakrieg, im Algerienkrieg, in den Indochinakriegen Frankreichs und der USA, im Afghanistankrieg der UdSSR und im Tschetschenienkrieg Russlands) sowie in herkömmlichen innerstaatlichen Konflikten und Bürgerkriegen der letzten Jahrzehnte (wie z. B. in Indonesien, in Burma, in Kambodscha, im Libanon, in Ruanda und Burundi, im Tschad, in Nigeria/Biafra oder in Guatemala) gab es unvorstellbare Grausamkeiten, Kriegsverbrechen und Massentötungen von Zivilisten und damit Regelverstöße gegen Mindestnormen einer „zivilisierten“ Kriegsführung. Namentlich Guerilla- und Antiguerillakriege im Kontext von anti-kolonialen Befreiungs- und Unabhängigkeitskämpfen galten ja deshalb geradezu sprichwörtlich als „Schmutzige Kriege“. Auch wies das Regelwerk des humanitären Völkerrechts für den innerstaatlichen Krieg immer schon eine weitaus geringere Dichte und Durchsetzungsfähigkeit auf als für den klassischen Staatenkrieg. Ein stärker ausgebildetes Normensystem für den innerstaatlichen Konflikt war den meisten Regierungen aus Gründen der Staatsräson suspekt. Seit einiger Zeit verweisen Völkerrechtlicher auf die deutlich erkennbare Erosion des humanitären Völkerrechts in den bewaffneten Konflikten der Gegenwart.9 Da nichtstaatliche Gewaltakteure oftmals einen verdeckten Kampf führen und die Zivilbevölkerung dabei gleichsam als Deckung benutzen, geschieht es häufig, dass die regulären staatlichen Sicherheitskräfte aus Ohnmacht und Unsicherheit heraus eine militärische, ethische und völkerrechtliche 8 9

Vgl. Leitenberg (2006). Vgl. Zechmeister (2007) sowie Gareis in diesem Sammelband.

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Entgrenzung ihres Kampfes gegen die militärisch schwer fassbaren irregulären Gegner betreiben: Dabei kommt es dann vielfach zu Kriegsverbrechen und Greueltaten, Entgleisungen und Übergriffen gegen die Zivilbevölkerung, die nicht selten unter den Generalverdacht gestellt wird, den regierungsfeindlichen Kräften behilflich zu sein. Zudem stellen die „Zivilisten“ in einer Kriegsgesellschaft immer auch soziale Wesen dar, die vielfältigen politischen, ethnisch-kulturellen und ökonomischen Netzwerken angehören und daher häufig zwischen die Fronten und in das Kreuzfeuer rivalisierender und konkurrierender machtpolitischer Gruppen geraten. Selbst scheinbar irrationale Gewaltanwendung und scheinbar sinnlose Grausamkeit gegenüber der Zivilbevölkerung dient in der Regel dem strategischen Zweck der Erlangung politischer Macht und der Kontrolle ökonomischer Ressourcen sowie der Demütigung, der Einschüchterung und der Vertreibung des Gegners. Die großen Opferzahlen unter der Zivilbevölkerung resultieren aber meist nicht aus direkter Gewalteinwirkung, sondern eher aus den indirekten Kriegsfolgewirkungen wie vor allem dem weitflächigen Zerfall von Infrastrukturen und dem mangelnden Zugang zu lebenswichtigen Ressourcen, der unter den ständig um ihr Überleben ringenden, entwurzelten und bedrohten Menschen zu Auszehrung, Krankheit und Hunger führt. Wenn auch verallgemeinernde Aussagen über die Zivilbevölkerung als Hauptopfer der neuen Kriege infolge mangelnder und unzuverlässiger empirischer Daten durchaus umstritten sind, so ist doch unverkennbar, dass es in zahlreichen innerstaatlichen Kriegen der Gegenwart eine erhebliche Anzahl ziviler Opfer gibt und komplexe humanitäre Katastrophen auftreten. Dies galt und gilt beispielsweise in den letzten Jahren für die Massentötungen, Vergewaltigungen und Vertreibungen in Darfur/Sudan, für den mit massenhaften Verstümmelungen verbundenen Krieg in Sierra Leone oder für die diversen regionalen und lokalen Kriege im Kongo, deren Opferbilanz mit bis zu 4 Millionen Toten und rund 3 Millionen Binnenflüchtlingen als die größte humanitäre Katastrophe seit Ende des Zweiten Weltkrieges gilt. Ohne Zweifel kommt es also in etlichen neuen Kriegen zu großen Verlusten unter der Zivilbevölkerung. Mithin ist die Rolle des „Zivilisten“ als Opfer kriegerischer Gewalt eine Realität, die zugleich als moralisches Argument angeführt wird, um friedenspolitische Bemühungen zur Eindämmung und Beendigung dieser Gewalt zu rechtfertigen.

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3. Nichtstaatliche Gewaltakteure Blockadekräfte oder Partner in Friedensprozessen? Das typische Bild vom nichtstaatlichen Gewaltakteur in den neuen Kriegen, namentlich das vom Warlord, ist stark negativ geprägt. Nichtstaatliche Gewaltakteure gelten in der Regel als Blockadekräfte („Spoiler“) in Kriegsbeendigungs- und Friedensprozessen, da sie aus machtpolitischen und/oder ökonomischen Gründen mehr an der Fortsetzung der kriegerischen Gewalt interessiert seien als an deren Überwindung.10 Mithin zeigt die internationale Gemeinschaft eine große Zurückhaltung gegenüber nichtstaatlichen Gewaltakteuren und Warlords, da mit diesen ein ethisch vertretbarer und konstruktiver politischer Dialog so gut wie unmöglich sei. Im Hinblick auf die komplexe Realität von Krisengesellschaften und die Vielfalt nichtstaatlicher Akteure sowie aus der Perspektive des politischen Pragmatismus stellt sich jedoch die Frage, ob diese grundsätzliche Einschätzung immer und überall zutreffend ist. Womöglich könnten und sollten differenziertere Möglichkeiten des Umgangs mit nichtstaatlichen Gewaltakteuren ausgelotet werden.11 Dies erfordert zunächst eine genaue Kenntnis der Interessen und Motive dieser Akteure, ihrer Binnenstrukturen und Entscheidungsprozesse sowie ihrer Ressourcen und Allianzbindungen. Darüber hinaus ist zu prüfen, in welchem räumlichen Umfang solche Akteure effektive politische Macht und Kontrolle ausüben, in welchem Maße sie von der lokalen Bevölkerung politische, soziale und ökonomische Unterstützung erhalten und auf welche Weise und in welchem Maße sie Gewalt ausüben. Unter diesen Aspekten können nichtstaatliche Akteure recht unterschiedliche Grade von Legitimität in der jeweiligen Krisengesellschaft aufweisen. Der Umgang mit wirklichen oder vermeintlichen Blockadekräften, beispielsweise in Form von Geheimkontakten, informellen Treffen, formalisierten Dialogen oder Verhandlungen, birgt allerdings viele Unsicherheiten und Risiken in sich. Ein solcher Umgang sollte sowohl ethisch als auch juristisch vertretbar und mithin nicht gleichbedeutend mit einer ausdrücklichen oder stillschweigenden Anerkennung oder gar Legitimierung der Ziele oder Methoden von nichtstaatlichen Gewaltakteuren sein. Doch auch die militärische Bekämpfung, politische Ausgrenzung und soziale Missachtung solcher Gewaltakteure stellt ein großes Risiko dar, nämlich das mögliche Scheitern von Kriegsbeendigungsund friedlichen Wiederaufbauprozessen. Ob also nichtstaatliche Gewaltakteure in Krisengesellschaften als Blockadekräfte oder Partner handeln, ist letztlich abhängig von den jeweiligen 10 11

Vgl. Newman/Richmond (2006). Vgl. Grävingholt/Hofmann/Klingebiel (2007) und Tull (2005).

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politischen, sozialen, ökonomischen und militärischen Kontextbedingungen vor Ort, sowie von der Art und Weise, wie die internationale Gemeinschaft diese Akteure wahrnimmt und mit ihnen interagiert.

IV. Bundeswehrbezug Im Zuge ihrer vermehrten Auslandseinsätze ist die Bundeswehr seit den 1990er Jahren verstärkt in Berührung mit dem Phänomen der neuen Kriege gekommen. Dies gilt in besonderem Maße für ihre Einsätze auf dem Balkan, in Afrika (Somalia, Kongo und Sudan) sowie vor allem in Afghanistan. In all diesen Einsatzregionen mit ihren Problemen des Staatszerfalls, des Kriegsherrentums, der Bürgerkriegsökonomien und komplexer humanitärer Katastrophen traf die Bundeswehr auf Kriegsbilder und Gewaltarenen, die sich weithin von denen klassischer zwischenstaatlicher Kriege unterschieden. Als Teil internationaler Friedensmissionen agierten Bundeswehrsoldaten nunmehr als externe Parteien asymmetrischer Konflikte, die sich im Kontext neuer Kriege wesentlich durch die Ungleichartigkeit der Akteure (staatliche versus nichtstaatliche Akteure) und Ungleichwertigkeit ihrer Strategien, Ressourcen und Waffen (high tech versus low tech) auszeichnen.12 Im Hinblick auf die oben untersuchten drei Aspekte des Menschenbildes in den neuen Kriegen galt und gilt es für die Bundeswehr zu beachten: Erstens: Selbst wenn, wie oben gezeigt wurde, der Gewaltakteur in den neuen Kriegen nicht immer und überall als „Homo Oeonomicus“ agiert, so ist von Seiten der Bundeswehr dennoch stets zu beachten, dass die Verfolgung genuin ökonomischer Interessen ein wesentliches Motiv gewaltbereiter Menschen ist und sein kann. Zudem behindern bereits im Zuge langjähriger Kriegshandlungen etablierte kriegsökonomische Strukturen, wie beispielsweise der Drogenanbau und der Drogenhandel in Afghanistan, den friedlichen Wiederaufbau und die Schaffung friedenswirtschaftlicher Strukturen. Hier gilt es, in enger Zusammenarbeit mit Polizeikräften und entwicklungspolitischen Fachleuten sowie vor allem mit Friedensorientierten Kräften der Zivilgesellschaft solche Gewaltgesteuerten und mit hochgradiger Korruption verbundenen kriegsökonomischen Strukturen zurückzudrängen und zu transformieren. Dabei müssen auch mögliche kommerzielle Komplizenschaften lokaler Kräfte mit internationalen Wirtschafts- und Handelspartnern (wie z. B. bei der Rohstoffplünderung im Kongo) aufgeklärt und unterbunden werden. Doch handelt der Gewaltakteur in den neuen Kriegen, wie bereits erwähnt wurde, auch als „Homo Politicus“, da die Entstaatlichung und Öko12

Vgl. Münkler (2006).

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nomisierung des Krieges nicht zwangsläufig auch eine Entpolitisierung des Krieges bedeutet. Gewaltakteure orientieren sich dann an zentralen politischen und sozialen Problemfeldern wie dem Streben nach Macht und Einfluss, nach Anerkennung und Partizipation, nach Legitimität, nach Sozialer Gerechtigkeit und ethnisch-kultureller Identität. Von diesen Problemfeldern her können sich auch Ansatzpunkte und Perspektiven für einen konditioniert kooperativen Umgang externer Friedensmissionen mit Gewaltakteuren in den neuen Kriegen ergeben, sofern letztere bereit sind, sich auf einen Kriegsbeendigungs- und friedlichen Aufbauprozess einzulassen. Zweitens: Die vornehmste Aufgabe der Bundeswehr ist der Schutz der Zivilbevölkerung in den neuen Kriegen, die ja, wie oben gezeigt wurde, zu deren bevorzugten Opfern geworden ist. Dies kann sowohl durch direkte Schutzmaßnahmen vor unmittelbarer Gewalteinwirkung geschehen als auch durch die stetige Eindämmung von Gewalt, die Schaffung von relativ sicheren Zonen und vor allem durch die Absicherung friedlicher Wiederaufbaumaßnahmen, die eine Normalisierung des Alltagslebens ermöglichen. Dabei können sich zwei Dilemmata ergeben: Zum einen kann es bei der Eindämmung von Gewalt und der bewaffneten Auseinandersetzung mit Blockadekräften, wie beispielsweise bei Kampfhandlungen der ISAF in Afghanistan, zur unbeabsichtigten und unerwünschten Verletzung und Tötung von Zivilisten kommen (Stichwort: „Kollateralschäden“), was selbstredend ethisch verwerflich und politisch kontraproduktiv ist. Zum anderen bedarf es, wie beispielsweise im Zusammenhang mit dem Kongo-Einsatz zu beobachten war, einer besonderen Reflektion hinsichtlich des möglichen Zusammentreffens mit Kindersoldaten, die ja als Täter und Opfer zugleich zu betrachten sind. Drittens: Hinsichtlich der Wahrnehmung und des Umgangs mit nichtstaatlichen Gewaltakteuren in asymmetrischen Konflikten sollten keine eindimensionalen „Feindbilder“ und keine ausschließlich negativen Stigmatisierungen von wirklichen oder vermeintlichen Blockadekräften vorherrschen. Vielmehr bedarf es differenzierter Blicke auf sehr unterschiedliche machtpolitische und gesellschaftliche Kräfte und Gruppen in dem jeweiligen Einsatzland, die nach Möglichkeit alle in einen umfassenden Friedensund Wiederaufbauprozess einbezogen werden sollten. Dies erfordert jedoch, wie oben gezeigt wurde, einen gut informierten und reflektierten Umgang mit zum Teil in ethischer und politischer Hinsicht problematischen Gewaltakteuren. Diese Problematik zeigte sich beispielsweise in der kontrovers erörterten Frage nach der Legitimität, dem Sinn und der Erfolgsträchtigkeit eines politischen Dialoges mit Teilen der Taliban in Afghanistan.13 13

Vgl. hierzu den Beitrag von Tomforde in diesem Band.

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Vor allem aber muss die Bundeswehr wie auch andere international entsandte militärische Einsatzkräfte zur Kenntnis nehmen, dass asymmetrische Kriege nicht allein oder vornehmlich im engeren militärischen Sinne zu „gewinnen“ sind, sondern dass es sich hierbei eher um soziale und politische Auseinandersetzungen als um militärische Konfrontationen handelt, die letztendlich nur im Rahmen einer genuin „zivilen“ bzw. „politischen“ Gesamtstrategie konstruktiv zu bewältigen sind. Herfried Münkler zufolge spricht vieles dafür, dass die neuen Kriege „nicht mit militärischen Mitteln beendet werden, weil sie nicht auf eine militärische Entscheidung hin angelegt sind.“14 Mit der Veränderung des Kriegsgeschehens, so Münkler, „hat sich auch das Profil der Fähigkeiten verändert, das Streitkräfte besitzen müssen, die solche Kriege beenden sollen“; inzwischen komme der operativen Führung größerer Verbände erheblich geringere Bedeutung zu „als der Beherrschung und Eingrenzung von Bürgerkriegsökonomien, der Bekämpfung von Marodeuren und Banden und vor allem der Fähigkeit, die Transformation einer Bürgerkriegs- in eine Friedensökonomie in Gang zu setzen und zu begleiten.“15 Doch auch dann macht der militärische Beitrag nur einen Sinn im Kontext eines umfassenderen genuin „zivilen“ Konzeptes zur Krisenprävention und Friedenskonsolidierung. Literatur Bakonyi, Jutta/Hensell, Stephan/Siegelberg, Jens (Hrsg.): Gewaltordnungen bewaffneter Gruppen. Ökonomie und Herrschaft nichtstaatlicher Akteure in den Kriegen der Gegenwart, Baden-Baden: Nomos-Verlagsgesellschaft. Cramer, C. (2002): Homo Economicus Goes to War: Methodological Individualism, Rational Choice and the Political Economy of War, in: World Development, Vol. 30, Heft 11, S. 1. Frech, Siegfried/Trummer, Peter I. (Hrsg.) (2005): Neue Kriege. Akteure, Gewaltmärkte, Ökonomie, Schwalbach/Ts.: Wochenschau-Verlag. Geis, Anna (Hrsg.) (2006): Den Krieg überdenken. Kriegsbegriffe und Kriegstheorien in der Kontroverse, Baden-Baden: Nomos-Verlagsgesellschaft. Grävingholt, Jörn/Hofmann, Claudia/Klingebiel, Stephan (2007): Entwicklungszusammenarbeit im Umgang mit nichtstaatlichen Gewaltakteuren, Deutsches Institut für Entwicklungspolitik, Studien 24, Bonn 2007. Kaldor, Mary (2000): Neue und alte Kriege. Organisierte Gewalt im Zeitalter der Globalisierung, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Kaul, Volker (2007): Diamantenhandel und der Krieg in Kongo/Zaire, in: Afrika Spectrum, Vol. 42, Heft 1, S. 49–71. 14 15

Münkler (2006), S. 300. Münkler (2006), S. 296.

Der Mensch in den „neuen Kriegen“

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Leitenberg, Milton (2006): Deaths in Wars and Conflicts in the 20th Century, Cornell University, Peace Studies Program Occasional Paper 29, 3rd ed. Matthies, Volker (2004): Kriege: Erscheinungsformen, Kriegsverhütung, Kriegsbeendigung, in: Knapp, Manfred und Gert Krell (Hrsg.): Einführung in die Internationale Politik, 4., überarbeitete und erweiterte Auflage, München/Wien: Oldenbourg, S. 398–443. Münkler, Herfried (2006): Der Wandel des Krieges. Von der Symmetrie zur Asymmetrie, Weilerswist: Velbrück. – (2002): Die neuen Kriege, 2. Auflage, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. Newman, Edward/Richmond, Oliver (Eds.) (2006): Challenges to peacebuilding. Managing spoilers during conflict resolution, Tokio: United Nations University Press. Pittwald, Michael (2004): Kindersoldaten, neue Kriege und Gewaltmärkte, Osnabrück: Sozio Publishers. Tull, Denis M. (2005): Stabilisierungsstrategien in „Failing States“. Das Beispiel Nord-Kivu (DR Kongo), Stiftung Wissenschaft und Politik, S 3, Berlin. Waldmann, Peter (2002): Bürgerkriege, in: Heitmeyer, Wilhelm und John Hagan (Hrsg.): Internationales Handbuch der Gewaltforschung, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag, S. 368–389. Zechmeister, David (2007): Die Erosion des humanitären Völkerrechts in den bewaffneten Konflikten der Gegenwart, Baden-Baden: Nomos-Verlagsgesellschaft.

Söldner – Gewalttechnokrat – Bürger in Uniform Historische Bilder vom deutschen Soldaten Von Martin Kutz

I. Was macht aus einem bewaffneten Kämpfer einen Soldaten? In der frühen europäischen „Militärgeschichte“ können wir strukturell ähnliche Verhältnisse finden wie wir sie heute in den Bürgerkriegsregionen der Dritten Welt beobachten. Hauptsächliche Merkmale sind: bandenähnliche Formationen, Kriegermentalität, privat organisierte Gewalthaufen, Soldverhältnisse, Kriegsunternehmer, Brutalität in der Kriegsführung, Fehlen fester formaler Strukturen. Die Antwort auf solche Verhältnisse und ihre Folgen war die Durchsetzung dessen, was wir heute Militär nennen. Es ist eine über dreihundert Jahre dauernde immer prekäre und gefährdete Erfolgsgeschichte. Krieger und Kriegermentalität einerseits und Soldat und Soldatenethos andererseits sind sich fundamental unterscheidende Entwürfe der physischen Gewaltorganisation. Die folgende Gegenüberstellung ist ein Versuch der idealtypischen Systematisierung der Unterscheidungsmerkmale: Der Krieger im Gewalthaufen

Der Soldat im Militär

• kämpft Mann gegen Mann

• Gleichförmigkeit der Kampftechnik

• ist individuell ausgerüstet

• Gleichförmigkeit der Ausrüstung

• kämpft nur, solange er will

• Geschlossene Formation im Kampf

• kennt keine Formation im Gefecht

• Kämpfendes „Individuum“ ist taktische Einheit • gleichmäßige formale Struktur

• kennt nur personale Loyalität

• Disziplin und Gehorsam

• kennt keine formale Struktur oder Hierarchie

• hierarchische (!) Organisation • Befehlende und Gehorchende • Staatsbindung und Rechtsbindung

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Martin Kutz

II. Maschinenteil in der Gewaltmechanik Grundlage aller Entwürfe vom Soldaten und vom Militär sind die Prinzipien der Gewalteinhegung, Gewaltkontrolle und der Verhältnismäßigkeit des Einsatzes der Gewalt. Nur wenn diese Prinzipien durchgesetzt sind und nach ihnen gehandelt wird, kann man mit Fug und Recht von Soldaten und Militär sprechen. Das setzt aber eine enorme Disziplin voraus und Mentalitäten, die in der Zeit der Entstehung des Militärs im 17. und 18. Jahrhundert in keiner europäischen Gesellschaft selbstverständlich waren. Außerdem waren eine genügend entwickelte und ertragreiche Geldwirtschaft sowie eine Staatsorganisation Voraussetzungen, die durch ein Steuersystem dem Staat die wirtschaftlichen Mittel in die Hand gaben, seine Vorstellung von Militär auch wirtschaftlich abzusichern. Erst dann konnten die zwei wichtigsten Voraussetzungen geschaffen werden, damit das Experiment staatlich legitimierter, gesteuerter und kontrollierter Gewalt Formen finden konnte: Die Entwicklung einer moralisch und religiös fundierten rationalen Idee vom Soldaten und vom Militär sowie die Formung der diese Idee verinnerlichenden Personen, die bereit waren, sich diesem neuen System zu unterwerfen. Beide Voraussetzungen sind natürlicherweise dem Zeitalter entsprechend im Geiste dieser Zeit geschaffen worden. Das heißt, dass die religiöse Fundierung des Militärs genauso selbstverständlich war wie die Verankerung der Religiösität in der Gesellschaft und dass die Formprinzipien für Militär dem Zeitgeist unterworfen waren. Der Zeitgeist ist aber neben der christlichen Orientierung von der Aufklärung bestimmt, mit ihrem Bild von der Welt als einer großen, rationalen, nach den Gesetzen der Mechanik organisierten Maschine. Wenn die in diesem Geist geformte Militärmaschine ihre Aufgabe auf dem Schlachtfeld erfüllen sollte, mussten die Menschen wie Maschinenteile reibungslos funktionieren.1 Das Problem bestand vor allem in zwei Dingen. Zunächst musste der einzelne Soldat, gleichgültig ob Musketier oder Offizier, die Bewegungen und sonstigen Tätigkeiten gleichmäßig maschinenmäßig im Drill so einüben, dass die Gewähr bestand, dass ein Befehl auch selbstverständlich die geforderte Aktivität auslöste. Diese taktische Handlungsmechanik musste durch den täglichen Drill sichergestellt werden. Disziplin üben hieß also, mechanisch sicher reagieren. Um den dazu notwendigen unbedingten Gehorsam zu erreichen, wurde die christliche Religion unverzichtbar, denn nur sie bot für nahezu alle Menschen der Zeit diejenigen Normen, die allen selbstverständliches Gemeingut waren. 1 Vgl. zu diesen funktionalen Überlegungen auch die Beiträge von Bayer und kritisch dazu Biehl in diesem Sammelband.

Söldner – Gewalttechnokrat – Bürger in Uniform

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Wie aber sollte man diesen Geist in die Menschen hineinbringen? Verkürzt gesagt: Durch brutalen Drill und täglich eingeübte Rituale. Ein anderer Weg war kaum denkbar bei den Menschen, die damals als Soldaten in Frage kamen. Nach unseren Vorstellungen von heute waren es jugendliche Analphabeten unterster sozialer Schichten, streunende Jugendbanden, beschäftigungslose ehemalige Söldner, Bettler, Gefängnisinsassen, arbeitslose Randgruppen vom Dorf und von der Stadt, die sich mit Gelegenheitsarbeiten, Diebereien und Betteln durchschlugen. Sie waren an keinerlei Regelmäßigkeit, Disziplin, Gehorsam gewöhnt und Gewalttätigkeit untereinander oder zum Zwecks des Broterwerbs war ihnen geläufig. Solche schriftenlose Gesellschaften finden ihren sozialen Zusammenhalt im wesentlichen durch ausgefeilte und allen denkbaren Situationen angepasste Rituale, die, wo nötig, auch täglich praktiziert werden. In einer Zeit, in der bis in Teile der Adelsgesellschaft Schreiben und Lesen unbekannt waren, der schriftkundige Teil der Gesellschaft nur einen geringen Prozentsatz ausmachte, war eine solche Ritualisierung des Alltags selbstverständlich. Diese erstreckte sich auf Kleiderordnung, Sitzordnung in der Kirche, Grußpflichten, Grußformen und andere formale Statuszuweisungen. Das Militär des 17. und 18. Jahrhunderts wurde ein Abbild davon. Der Gruß war eine Unterwerfungsgeste, die täglich vielfach gefordert wurde. Auch das weitere militärische Zeremoniell hatte diese Funktion, musste immer wieder eingeübt werden, nicht nur, damit es im Bedarfsfall fehlerfrei praktiziert werden konnte. Das Üben selber bedeutete die Anerkennung von Disziplin, Gehorsam, Befehlsgewalt und Hierarchien. Für den einfachen Soldaten wurden der Zwang, die Angst vor den brutalen Strafen und die tägliche Prügel im Alltagsdienst das Erziehungsinstrument. Im Gottesdienst morgens, abends und an den Sonn- und Feiertagen wurde ihm die militärische Ordnung zudem als gottgewollt und der göttlichen Weltordnung entsprechend von den Militärgeistlichen dargestellt. Dazu kam, dass wesentliche Strukturmuster der Organisation des Militärs nach einem System heiliger Zahlen konstruiert waren. Auch das ist Zeitgeist, geistern doch durch die Buch- und Pamphletliteratur des 16. bis 17. Jahrhunderts Hunderte von Publikationen über Zahlenmystik. Da es noch keine Trennlinie zwischen Astrologie und Astronomie gab, auch die Mathematik die göttliche Weltordnung erklären sollte, waren solche Zahlensymboliken hoch bedeutsam. Auch in der zivilen Gesellschaft galt der einzelne Mensch nichts. Er war Teil seines Standes, einer Korporation. Nur als Mitglied einer solchen Korporation, die als Individuum, als Korpus (Körper) verstanden wurde, hatte er eine soziale Existenz. Diese Vorstellung vom sozialen Korpus – aus der Corpus Christi Lehre abgeleitet – hieß aufs Militär übertragen, dass nur die

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Martin Kutz

militärische Formation den Status hatte, den man heute einer Person zuschreibt. Diese „Person“ war damals das Regiment, was z. B. hieß, dass es unsterblich war, solange auch nur ein einziges Mitglied desselben die Schlacht überlebt hatte. Dann konnte es wieder aufgefüllt werden und seine alte Identität fortführen. War das Regiment vollständig vernichtet, musste ein neues Regiment begründet werden – auch wieder ein ritueller Akt von besonderer Bedeutung. Um diese Maschinerie in Gang zu halten, brauchte man Offiziere, die deren Bedienung beherrschten. Diese Offiziere mussten aber ebenso wie die Soldaten zu absolutem Gehorsam bereit sein, hatte man doch mit dem „militärischen“ Führer vergangener Jahrhunderte, der zugleich militärischer Unternehmer war, böse Erfahrungen gemacht. So wurde in Frankreich aus der aufgeklärten religiösen Knabenerziehung in den Jesuitenkollegs des 17. Jahrhunderts von Privatunternehmern die Kadettenanstalt entwickelt, die sich bis zum ersten Drittel des 18. Jahrhunderts über ganz Europa ausbreitete, weil sie den gleichen Menschentyp wie das Jesuitenkolleg produzierte. Genau diesen Typ, nur anders fachlich ausgebildet, brauchte die geschilderte Militärmaschine als Offizier: diszipliniert, auf absoluten Gehorsam psychisch abgerichtet, professionell ausgebildet und auf den Monarchen ad personam verpflichtet. Dazu wurden die ca. acht- bis zwölfjährigen Knaben in die Kadettenanstalt gesteckt, einem unmenschlichen Drillsystem unterworfen, von morgens bis abends und selbst in der Nacht in all ihren Regungen kontrolliert und der gleichen religiösen Erziehung unterworfen wie die einfachen Soldaten: Gottesdienste morgens und abends, Religionsunterricht, Gewissenskontrollen, moralische Überwachung. Isoliert von der Umwelt, von Eltern und Geschwistern über Jahre getrennt, in reiner Knabengesellschaft unter der Knute ihrer Erzieher, die selber die Kadettenerziehung genossen und verinnerlicht hatten, waren sie diesem Erziehungssystem hoffnungslos ausgeliefert. Internalisieren oder Zerbrechen waren die Alternativen des Systems. Die hohe Selbstmordrate dieser Kadetten spricht Bände. Die Kadetten erfuhren diese Erziehung in der zweiten formativen Phase ihres Lebens, der Pubertät. In der von christlicher Sexualfeindlichkeit beherrschten Kadettenanstalt, ohne Kontakt zur Außenwelt, zu Frauen und Mädchen, musste sich die erwachende Sexualität dieser Knaben am gleichen Geschlecht orientieren. Es gibt massenweise Indizien und Hinweise auf eine heimliche und unterdrückte homoerotische Subkultur in diesen Anstalten. Das heißt aber, dass die ideologischen Denkmuster und die praktischen Verhaltensmuster dieser jugendlichen Kadetten psychisch im Sexualtrieb verankert, ins Unbewusste abgedrängt wurden und somit als irreversible Prägungen für ihr Erwachsenenleben fixiert waren.

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So geprägte Offiziere waren die Idealtypen des Heeres der absolutistischen Fürsten und, weil unbewusst auf diese Muster festgelegt, auch Transporteure und Verbreiter dieses Erziehungstyps in die zivile Gesellschaft hinein. In Deutschlang wurde dieser Typ prägend fürs Militär. Noch in der Kaiserzeit hatten mehr als vierzig Prozent der Offiziere eine Kadettenerziehung hinter sich. Diese Erziehungspraktiken, militärischen Formen und Rituale hatten alle ihre Entsprechungen im zivilen Bereich. Die Gesellschaft war, gleichgültig, welche Konfession dominierte, einer orthodoxen Religiösität unterworfen. Die religiöse Aufklärung des 16./17. Jahrhunderts hatte diese Erziehungspraktiken erfunden und die späte Aufklärung Ende des 18. Jahrhunderts hat in nur teilweise säkularisierter Form diese Vorstellungen weiterentwickelt. Erst im ausgehenden 18. Jahrhundert kommen über die Rezeption der Ideen Rousseaus oder Pestalozzis neue Vorstellungen in die Debatte über Kinderund Jugenderziehung. Im Militär spielt das aber nur eine marginale und kurze Rolle. Friedrich der Große hat z. B. für kurze Zeit die Prügel und andere Körperstrafen in den Kadettenanstalten abgeschafft und Philosophieunterricht angeordnet. Aber die Lehrer waren intellektuell überfordert und die Kadetten konnten mit der neuen Situation auch nicht umgehen. So wurden die Reformen schnell wieder abgeschafft und die „Fuchtel“ wurde wieder das wichtigste Erziehungsinstrument. Sinn und Zweck aller dieser Praktiken war, ein Instrument zu schaffen, das physische Gewalt für die Zwecke des Staates bereit stellte, zugleich aber so konstruiert war, dass diese Gewalt jederzeit kontrolliert werden konnte. Der Soldat und der Offizier als Bediener dieser mechanischen Anstalt hatte fraglos zu gehorchen, um die Funktionstüchtigkeit der Maschinerie zu gewährleisten. Beide galten nichts als Person, sondern nur als ein Teil des Corpus, konkret des Regiments. Gewalteinhegung nach innen gegen partikulare traditionelle Gewaltakteure, die zu Beginn dieses Prozesses noch die Fürstenherrschaft in Frage stellten, und nach außen im Staatenkrieg war der übergeordnete Zweck.

III. Die Konkurrenz von Bürgersoldat und Bürgerkriegssoldat Diese Maschinerie hat bis zur Französischen Revolution einigermaßen nach den Vorstellungen ihrer Erfinder und Nutzer funktioniert. Mit der neuen Form der Kriegsführung, die dann von Napoleon perfektioniert wurde, zerbrach dieses System. Am spektakulärsten war der Zusammenbruch des preußischen Militärs bei Jena und Auerstädt. Napoleon hatte das Gegenmodell zum stehenden Heer des Absolutismus praktiziert: Die Ge-

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Martin Kutz

waltentgrenzung. Er brauchte und erzog Spezialisten der Gewaltmaximierung und zwang damit alle seine Gegner, das gleiche zu tun, wenn sie nicht untergehen wollten. Die Antwort in Deutschland auf diese Herausforderung war die preußische Militärreform. Erzwungen und angeregt durch das französische Militär entsteht das Bild vom Bürgersoldaten und Bürgermilitär. Als Bürger verstand man jedoch nicht jeden Untertan des preußischen Königs, sondern lediglich die ökonomisch Selbständigen und Gebildeten. Der „Pöbel“, die Unterschichten der preußischen Gesellschaft, wurden wie eh und je zum Militärdienst gezwungen. Der Bürgersoldat aber sollte aus freier Entscheidung Verteidiger seines Landes werden, da dieses ihm, der seine Pflichten gegenüber dem Staat freiwillig erfüllt, die bürgerliche Freiheit garantierte, die zu verteidigen „Bürgerpflicht“ war. Genau da liegt aber auch das Grundproblem für die nächsten hundert Jahre preußisch-deutscher Militärgeschichte. Aus Angst vor dem freien Bürger, letztlich vor einer möglichen Revolution, verweigert der preußische König die Freiheitsgarantien. Das Militär blieb Königsheer, der Offizier war allein auf den Monarchen verpflichtet und wird mehrheitlich nach alten Prinzipien in den Kadettenanstalten psychisch abgerichtet. Da Säkularisierung, Modernisierung von Wirtschaft und Gesellschaft sowie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Industrialisierung zur Revolutionierung der Gesellschaft führten, wurde Militär wegen seiner Anpassungsverweigerung zunehmend Bürgerkriegsmilitär. Seit der Niederschlagung der Revolution von 1848 durch das Militär war auch in Gesetzen und Vorschriften die Bürgerkriegsorientierung festgeschrieben worden. Als Gegenentwurf entsteht die Vorstellung von der Staatsbürgermiliz, d.h. jeder erwachsene Mann, nicht nur der Bürger im Sinne der preußischen Reformer, soll Milizsoldat werden. Er, die Offiziere und der Monarch, sollten auf eine Verfassung vereidigt werden. Weitergetragen wird diese Idee von der Sozialdemokratie des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts. Diese Idee galt dem existierenden Militär als die Gefährdung aller christlichen, sittlichen Staats- und Gesellschaftsordnung. Gemeinsam ist beiden Auffassungen die Vorstellung vom politisierten Soldaten. Dem konservativen Modell ist der Soldat/Offizier Garant bestehender Ordnung und der Prärogative der Monarchie. Das sozialistische Modell wird von zwei Vorstellungen getragen: Zunächst erhofft man sich die Vermeidung des Bürgerkrieges, wenn alle Waffen tragen. Außerdem glaubt man in dieser Zeit, Kriege würden von Monarchen aus dynastischen Gründen geführt. Wenn die Völker ihre militärische Sicherheit selber in Milizsystemen suchten, könnten Kriege vermieden werden, weil Milizsoldaten nur zur Verteidigung ihres Landes bereit seien. So stehen sich zwei Moral-

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konzepte von Militär gegenüber: Der Schutz tradierter Ordnung versus soziale Gerechtigkeit und Frieden.2

IV. Der Technokrat im industrialisierten Menschenschlachthaus Unbemerkt bildeten sich aber neue Mentalitäten in Gesellschaft und Militär heraus. Sie blieben unbemerkt, weil die Aufmerksamkeit auf die große politische Auseinandersetzung gerichtet war. Ursache für die neuen Mentalitäten waren die kulturellen Industrialisierungsfolgen und die zunehmende Säkularisierung. Letztere bewirkte, dass die traditionellen christlichen oder auch aufklärerischen moralisch-ethischen Bindungen verblassten und die Menschen einer neuen Rationalität folgten, die weitgehend naturwissenschaftlich geprägt war und in deren Zentrum technisch beherrschbare Zweck-Mittel-Beziehungen standen. Vernunft verlor ihre ethische Fundierung und wurde instrumentell verstanden. Technische Möglichkeit und Beherrschbarkeit wurden zentrale Entscheidungsgrößen. Die Ziele konnten deshalb voluntaristisch gesetzt werden. Industrialisierung hatte die alte Gesellschaft zerstört. Große neue soziale Klassen waren entstanden. Die Menschen waren politisiert bis in die untersten Schichten. Industrielle Produktionsweise hieß für den Arbeiter aber auch, dass er den unmittelbaren Sinn seiner Arbeit verlor. Sinnentleerte Arbeit wurde jedoch kompensiert durch die Konstruktion eines höheren Sinns – Nation, Sozialismus, Rasse wurden Sinnkonstrukte, die die Leerstellen besetzten, die der Rückzug der Religion freigegeben hatte. Neue Formen gesellschaftlicher Organisation wurden erfunden: Vereine, Gewerkschaften, Interessenverbände, Parteien. Sie alle waren nach dem Prinzip organisiert, dass sich Menschen gleicher Erfahrung , gleicher Gesinnung, gleicher Interessen in Führer-Gefolgschaftsverhältnissen zusammenfanden. Diese Vorstellungen sickerten auch ins Militär ein und trafen dort auf die alten Überzeugungen. Die alte Militärelite weigerte sich, die Industrialisierungsfolgen für das Militär umzusetzen. Für sie blieben die Soldaten Teilchen im militärischen Getriebe. Sie hatten nur Angst, die Sozialisten könnten auch das Militär revolutionieren. Modernere Offiziere sahen allerdings zumindest einen Zwang zur taktischen Modernisierung, d.h. weg von den geschlossenen Formationen hin zu einer modernen Infanterietaktik und zu größerer Selbständigkeit auch des einfachen Soldaten. Im Ersten Weltkrieg zeigte sich dann aber, wie sehr die neuen Entwicklungen das Militärische bestimmten. In den Materialschlachten setzten die 2

Vgl. hierzu auch den Beitrag von Mätzig in diesem Band.

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Generale ihre Soldaten wie Verbrauchsmaterial als „Menschenmaterial“ ein. Sie opferten sinn- und hirnlos Hunderttausende. Im Grabenkrieg zeigte sich aber auch die neue Gesellschaft in militärischer Verkleidung. Frontkameradschaft wurde das genannt. Hier, unter dem Druck der alltäglichen Gefahr entwickelten sich wie im Zivilleben Führer-Gefolgschaftsverhältnisse. Der Offizier führte nicht mehr qua Amt, sondern – je nach Persönlichkeit – als akzeptierter Anführer, sozusagen als Leitwolf, und in den sinnlosen Massenschlachten bekommt nun – wie im Zivilleben – der „höhere“ Sinn seine Bedeutung: Auch die Soldaten kämpfen jetzt für die Nation, sie demonstrieren, dass sie für Ideale einstehen. Erhellendes Beispiel dafür ist der informelle Waffenstillstand Weihnachten 1914. Engländer, Deutsche, Franzosen verlassen gegen den Willen der Führung die Schützengräben, treffen sich im Niemandsland, tauschen Geschenke aus, zeigen sich Familienfotos. Die Deutschen, um die Überlegenheit deutscher Kultur zu demonstrieren, die Engländer und Franzosen, um den unzivilisierten Deutschen zu zeigen was Zivilisiertheit heißt. Anschließend kriecht man in die Gräben zurück und versucht, sich auf jede erdenkliche Weise umzubringen. Der Weltkrieg wird also zu einer Zäsur auch im Militär. Hier entwickeln sich zwei Soldatentypen, die in der weiteren deutschen Geschichte entscheidende Bedeutung bekommen. Das ist zunächst der emotionslose, kalt kalkulierende Gewalttechnokrat, dem alles nur Mittel zum Zweck ist und dessen Zwecke keiner ethischen Begründung bedürfen. Er bedient das industrialisierte Menschenschlachthaus, so lange die Maschinerie intakt und das Verbrauchsmaterial an Menschen und materiellem Nachschub zur Verfügung steht. Der zweite Soldatentyp hat sich aus den politisierten Teilen entwickelt. Er ist völkisch, nationalistisch, rassistisch-antisemitisch geprägter Menschenschlächter. Aus seinen praktischen Erfahrungen im Stoßtrupp und den Sturmbataillonen der zweiten Kriegshälfte bringt er die menschenverachtende Kampfesweise mit und praktiziert sie in den Bürgerkriegskämpfen der Nachkriegszeit in Deutschland und im Baltikum. Dieser Soldatentyp wird 1935 ausdrücklich als der politische Soldat definiert, der Vorbild für die Wehrmacht werden soll. Auf den Entscheidungsebenen und in den dominierenden Verhaltensmustern bestimmt dieser zweitgenannte Soldatentyp den Geist der deutschen Kriegsführung des Zweiten Weltkriegs. Kriegsverbrechen und Völkermord werden „rationale“ Bestandteile deutscher militärischer Praxis. Gleichgültig ob man den „Hungertod von -zig Millionen“, die physische Vernichtung von Millionen Kriegsgefangenen oder die Strategie der verbrannten Erde praktiziert, Maßstab des Tuns ist die „Zweckmäßigkeit“. Da man sich der eigenen Soldaten, der eigenen Zivilbevölkerung nicht sicher ist, werden

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zigtausende Zivilisten und Soldaten zum Tode verurteilt und in der Schlussphase des Krieges das Terrorsystem restlos ins Militär integriert. Der Soldat soll im sinnlos gewordenen Kampf fanatisch bis zur Selbstaufgabe für das Regime einstehen und zum bedenkenlosen Killer mutieren. Von Hitler ausdrücklich als Vorbild gelobt wird die Formation Dirlewanger. Diese Soldaten, zusammengesetzt aus Fanatikern und Kriminellen mordeten, plünderten, vergewaltigten. Sie sind der Exzess dieser Entwicklung. Und ein General, Schörner, erklärt im März 1945, es komme nicht mehr auf Strategie und Taktik an, sondern ausschließlich auf den bedenkenlosen fanatischen Kampf.

V. Bürgersoldat – Staatsbürger in Uniform Das moralische und professionelle Versagen der Militärelite und der restlose Untergang deutschen Militärs war 1945 offenkundig. Die Verwicklung in das Verbrechenssystem führte aber sofort zur verlogenen Entlastungskampagne und zu Verdrängungen, lief doch ein großer Teil vor allem des Offizierkorps Gefahr, vor ein Kriegsverbrechertribunal gestellt zu werden. Mit einem Mal gab es den fanatischen nationalsozialistischen Soldaten nicht mehr. Er mutierte zum unpolitischen, vom System verführten und missbrauchten Nur-Soldaten, zum Gewalttechnokraten, der stolz auf seine militärischen „Leistungen“ sein wollte. Außerdem sei man durch seinen Eid an Hitler persönlich gebunden gewesen und habe im Befehlsnotstand gehandelt. Das militärische Versagen wurde den „unsinnigen“ Eingriffen Hitlers zugeschrieben. Hätte er doch nur die deutschen Generale machen lassen . . . Einige wenige haben schon in der Gefangenschaft oder sofort nach Kriegsende versucht, ihre Erfahrungen und moralischen Einsichten zu prinzipiell neuen Überlegungen zu entwickeln. Schlüsselfigur für die Bundeswehr wurde in dieser Hinsicht Wolf Graf von Baudissin. Er sah im Zusammenbruch 1945 Vergleichbarkeiten mit dem Zusammenbruch Preußens 1806, orientierte sich an den Prinzipien der preußischen Gesellschafts- und Militärreform. Aus diesen historischen Bezügen, der erkannten Notwendigkeit einer demokratischen Staats- und Gesellschaftsordnung und einem rationalen, die Massenvernichtungswaffen berücksichtigenden Kriegsbild entwickelte er ein Gesamtkonzept für demokratiekonforme Streitkräfte. Deren Binnenverhältnisse sollten nach demokratischen Normen gestaltet werden. Innere Führung ist der Schlüsselbegriff dafür geworden.3 Baudissin gelang es, gegen den Widerstand der traditionsorientierten Gewalttechnokraten im Amt Blank die rechtlichen Bestimmungen durchzuset3

Vgl. die Überlegungen bei Franke in diesem Sammelband.

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Martin Kutz

zen, die, von der Wehrverfassung bis zur Wehrbeschwerdeordnung, bis heute den juristischen Rahmen für die Bundeswehr stellen. Nicht gelungen ist es ihm, seine Vorstellungen vom demokratischen Geist der Truppe und von der dazu notwendigen Bildung und Ausbildung zu realisieren. Hier haben erst die Reformen unter Helmut Schmidt 1970–1973 die überfälligen Ergänzungen geschaffen. Die Bundeswehr ist nun selber schon ein halbes Jahrhundert alt. Ihre innere Entwicklung verdient eine eigene Untersuchung. Was das Bild vom Soldaten der Bundeswehr betrifft sollen hier die folgenden Thesen genügen: 1. Bis heute gibt es kein einheitliches Bild vom Soldaten in der Bundeswehr, vielmehr konkurrieren verschiedene Vorstellungen miteinander. 2. Das offizielle Leitbild vom Staatsbürger in Uniform hat sich im Laufe der Zeit mehr und mehr von seinen Ursprüngen entfernt. Was es einmal bedeutete, ist kaum bekannt. 3. Innere Führung ist weitgehend zu einer Motivationstechnologie umformuliert worden. Die politisch-gesellschaftlichen Bezüge sind weitgehend verloren. 4. Wer heute Soldat wird, wird es nicht, weil er vom Konzept Innere Führung oder Staatsbürger in Uniform angezogen wird. Selbst rechtsextremistische Gruppen legen ihren Mitgliedern nahe, den Wehrdienst zu leisten. 5. Die Herausforderungen der Auslandseinsätze werden vielfach benutzt, Innere Führung für ungeeignet zu erklären und sich soweit als möglich von ihr zu verabschieden. 6. Die Konkurrenz der Leitbilder in der Bundeswehr reicht von rechtskonservativ grundiertem reinen Gewalttechnokratismus bis zur Bindung an das baudissinsche Konzept. Dass letzteres außer in offiziellen Verlautbarungen dominant sei, kann reinen Gewissens niemand behaupten. Was prinzipiell neu ist und Verfassungsrang hat, ist die Friedensbindung von Politik und Militär. Das bedeutet nicht nur einen Bruch mit der deutschen Militärgeschichte, das macht die Bundeswehr auch zu einer Armee sui generis: Sie kann und darf nicht das Instrument reiner Macht- und Interessenpolitik sein. Ohne friedensethische und friedenspolitische Begründung ist ihr Einsatz verfassungswidrig.

Söldner – Gewalttechnokrat – Bürger in Uniform

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Literatur Der obige Text ist eine Zusammenfassung bisheriger Arbeiten, Präzisierungen meiner Thesen sind in der nachfolgend aufgeführten Literatur zu finden. Kutz, Martin (2007): Die verspätete Armee, in: Nägler, Frank (Hrsg.) (2007): Die Bundeswehr 1955–2005. Rückblenden – Einsichten – Perspektiven, hrsg. im Auftrag des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes, München: Oldenbourg. – (2006): Deutsche Soldaten. Eine Kultur- und Mentalitätsgeschichte, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. – (2005): Fantasy, Reality, and Modes of Perception in Ludendorff’s and Goebbels’s Concept of Total War, in: Chickering, Roger, Förster, Stig, and Bernd Greiner (Eds.): A World at Total War. Global Conflict and the Politics of Destruction, 1937–1945, Washington D. C.: Cambridge University Press, S. 189–206. – (2001): Realitätsflucht – Krieg – Kriegsverbrechen: soziokulturelle Aspekte der Radikalisierung des Krieges und der Implementierung des Kriegsverbrechens in die deutsche Kriegsführung, in: Wette, Wolfram und Gerd R. Ueberschär (Hrsg.): Kriegsverbrechen im 20. Jahrhundert, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, S. 507–518. – (1997): Militär und Gesellschaft im Deutschland der Nachkriegszeit (1946– 1995), in: Frevert, Ute (Hrsg.): Militär und Gesellschaft im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart: Klett Cotta, S. 277–313. – (1995): Reform als Weg aus der Katastrophe. Über den Vorbildcharakter der Preußischen Reformen 1808–1818 und die Vergleichbarkeit der Situationen von 1806 und 1945 für Arbeit und Denken Baudissins, in: Linnenkamp, Hilmar und Dieter S. Lutz (Hrsg.): Innere Führung – Zum Gedenken an Wolf Graf von Baudissin, Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft, S. 71–94. – (1990): Schlieffen contra Clausewitz: Zur Grundlegung einer Denkschule der Aggression und des Blitzkrieges, in: Kutz, Martin (Hrsg.): Realitätsflucht und Aggression im deutschen Militär, Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft, S. 12–48. – (1987): Historische und psychologische Wurzeln des traditionalistischen militärischen Erziehungsdenkens: geistesgeschichtliche, sozialgeschichtliche und psychologische Vorüberlegungen zur Genese und Entwicklung militärischer Erziehung, 2. Teil: Militärische Erziehung zwischen Bürgerkriegsorientierung und Völkermord (1815–1945), in: S + F. Vierteljahreszeitschrift für Sicherheit und Frieden, Jahrgang 5, 2/87, S. 203–213. – (1986): Historische und psychologische Wurzeln des traditionalistischen militärischen Erziehungsdenkens: geistesgeschichtliche, sozialgeschichtliche und psychologische Vorüberlegungen zur Genese und Entwicklung militärischer Erziehung, 1. Teil: Militärische Erziehung vom 17. Jahrhundert bis zu den Napoleonischen Kriegen, in: S + F. Vierteljahreszeitschrift für Sicherheit und Frieden, Jahrgang 4, 4/86, S. 127–137.

Das Menschenbild der Inneren Führung Von Jürgen Franke

I. Theoretische und historische Grundlagen 1. Soldatenbilder im Wandel „Soldaten sind Kinder ihrer Zeit; Streitkräfte repräsentieren die gesellschaftlich-politischen Herrschaftsformen, deren Instrument sie sind.“1

Diese Aussage von Wolf Graf v. Baudissin, dem geistigen Vater der Konzeption, die bei Gründung der Bundeswehr als Blaupause für die Neukonstruktion von Streitkräften in einer Demokratie maßgeblich Pate stand und bis in die heutige Zeit unter der Bezeichnung Innere Führung als Markenzeichen für die Bundeswehr gesehen werden kann, weist bereits auf die in Abhängigkeit von den jeweiligen Staats- und Gesellschaftsform doch recht unterschiedlichen Vorstellungen über den Soldaten ihrer jeweiligen historischen Epoche hin. Dabei gibt es nicht nur Unterschiede in den typologischen und ideologischen Zuweisungen, zum einen seitens der Gesellschaft als Fremdbild des Soldaten und andererseits durch das Militär als Selbstbild, sondern darin wird gleichsam oft auch das Menschenbild deutlich, welches die jeweilige Gesellschaft oder das Militär bei den Soldaten dieser Zeit zugrunde legt oder gelegt hat. Das Militär, das mit dieser allgemeinen Bezeichnung als übergeordneter Begriff für das Streitkräftewesen eines Staates genommen werden kann (lat. militaris: den Kriegsdienst betreffend),2 aber auch die Gesamtheit der Soldaten eines Landes beschreibt (lat. miles: Soldat), kennzeichnet dabei eine Lebenswelt, die sich in der Regel von der zivilen, bzw. bürgerlichen Welt unterscheidet, in der Vergangenheit noch wesentlich stärker als heute. Symptomatisch und hierbei vor allem den Macht- und Organisationsprinzi1

Baudissin (1969), S. 122. Dies gilt zumindest für die Zeit nach Schaffung einer Europäischen Friedensordnung u. a. zur Beendigung des 30-jährigen Krieges (Westfälischer Friede 1648), die gleichsam die Einhegung der (militärischen) Gewalt und die Verstaatlichung des Krieges zur Folge hatte. 2

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pien des Militärischen geschuldet unterlag der Soldat in der Vergangenheit einem militärspezifischen Wertesystem, welches gewöhnlich die Entindividualisierung des Menschen vorsah und dabei zumeist dessen eigene Persönlichkeit eliminierte. Der Soldat als Mensch hatte schlichtweg als kleines Rädchen unter vielen anderen möglichst reibungslos zu funktionieren (anderenfalls wurde er entsprechend „geschliffen“, bis er es tat), er hatte sich bedingungslos dem Willen seiner Vorgesetzten unterzuordnen und Befehle bis zum selbstverleugnenden Gehorsam „blind“ zu befolgen.3 Diese Entindividualisierung und Entpersönlichung als Prinzip des Militärs, das in der sozialwissenschaftlichen Theorie daher gern als „totale Institution“4 gesehen wird, gilt bzw. galt allerdings nicht für alle Soldaten gleichermaßen, sondern vornehmlich für die unteren Ränge, vor allem für die Rekruten als Neuzugänge beim Militär. Während diese Organisations- und Machtprinzipien beim Militär durchaus noch einen funktionalen Begründungszusammenhang erkennen lassen, können für die vergangenen deutschen Armeen noch andere Ursachen festgemacht werden. Aus einer Jahrhunderte lang währenden Ständegesellschaft resultierend, galt Mitte des 18. Jahrhunderts der „gemeine Mann“, gleich ob als einfacher Soldat z. B. in der königlich-preußischen Armee oder als gemeiner Bürger des unteren Standes, in der gesellschaftlichen Achtung nicht viel und besaß praktisch keinerlei Rechte. Der einfache Soldat war zudem entweder ein gepresster Söldner oder gar Leibeigener seines Herrn, der im hohen Offizierrang beim Militär seinen Dienst versah. Das Offizierkorps dagegen, welches sich nahezu ausschließlich aus Angehörigen des Adels zusammensetzte, galt im Gesellschafts- und Selbstverständnis als ein eigener Stand und besaß entsprechende Privilegien und Vorrechte gegenüber den zivilen Bürgern mittlerer und unterer Stände. Die Kluft zwischen dem Militär(-adel) und der bürgerlichen Gesellschaft fand erst ein – wenn auch nur vorläufiges – Ende mit der preußischen Heeresreform nach 1806. Mit dieser Heeresreform unter Scharnhorst sollte das 3 Die Problematik einer Entindividualisierung durch das Militär findet zum Teil klischeehaft überzeichnet immer wieder Ausdruck in medialen Darstellungen, z. B. in Spielfilmen wie „08/15“ (1952) nach dem gleichnamigen Roman von Hans Hellmut Kirst oder in „Full Metal Jacket“ von Stanley Kubrick (1987), was in der Öffentlichkeit dann leicht als Zerrbild der militärischen Wirklichkeit Eingang findet und von der Bevölkerung gern für das gesamte Militär verallgemeinert wird. 4 Vgl. Goffman (1972). Die Bundeswehr kann heutzutage nicht (mehr) als eine in der Theorie nach Goffmann ausgewiesene „totale Institution“ gezählt werden, da die Soldaten nicht völlig von der Außenwelt abgeschottet werden (können); zwar weist die Bundeswehr noch einige vergleichbare Merkmale auf, die aber eher auf eine „greedy institution“ (Coser 1974), eine „gierige“ Institution hinweisen, indem sie grenzenlose Ansprüche an den Soldaten stellt, die weit bis in sein Privatleben reichen.

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bisherige Söldnerheer in ein Volksheer umgewandelt werden. Die höheren Armeeränge wurden damit – zwar begrenzt – auch für Bürgerliche zugänglich, es galt das Leistungsprinzip statt Privilegien und die allgemeine Wehrpflicht wurde eingeführt, welches eine stärkere Identifikation der bürgerlichen Gesellschaft mit dem Militär bewirken sollte. Das Soldatenbild dieser Zeit wurde geprägt durch erstmals bürgerliche Rechte des (einfachen) Soldaten, die er bis dato nicht hatte. Anstelle einer ursprünglich angestrebten „Verbürgerlichung der Armee“ erfolgte später mit Reichsgründung dann allerdings eine „Militarisierung der Gesellschaft“, mit der Folge, dass der Soldat als Einzelpersönlichkeit in einer zunehmenden Massenarmee keine Rolle mehr spielte und er weitaus mehr Pflichten als Rechte besaß. Die in dieser Zeit entwickelten gesellschaftlichen Werthaltungen allerdings greifen als sogenannte „Preußische Tugenden“ (Ordnungssinn, Fleiß, Disziplin, Pünktlichkeit, Unterordnung, Tapferkeit, Treue etc.) zum Teil noch bis in die heutigen Zeit und finden als soldatische Tugenden in der heutigen Bundeswehr auch noch weitgehend Entsprechung. Für die Reichswehr der Weimarer Republik steht das Bild des „unpolitischen“ Waffenträgers, der als vermeintlicher „Hüter des Staates“ sich in einen demokratiefernen „Staat im Staate“ flüchtet. Fehlendes Wahlrecht für Soldaten und eine restriktive Personalauswahl für ausschließlich „erwünschte Kreise“, die damit den Einzug eines sozialdemokratischen Geistes in die Armee verhinderte, zeugen von einer nicht gelungenen und auch nicht gewollten sozialpolitischen Integration des Militärs in die damalige demokratische Gesellschaftsform. Zusammenfassend lässt sich konstatieren, dass in der Vergangenheit das Menschenbild im Militär weitgehend mit dem der zugehörigen Gesellschaft korrespondierte (wenn auch nicht immer identisch war), sich allerdings infolge des gesellschaftlichen Wandels auch erheblichen Veränderungen ausgesetzt sah. Dieses war aus Sicht des Militärs unkritisch, solange die Veränderungen nicht den Organisations- und Machtprinzipien des Militärs entgegenstanden oder gar deren Funktion in Frage stellten. Als Beleg hierfür kann die Reichswehr angeführt werden, die sich bewusst von den demokratischen Reformen in Politik und Gesellschaft distanzierte und als sich „Staat im Staate“ ihre eigene konservative Wertekultur bewahrte. Allerdings waren bei Beginn der damals jungen Demokratie die Streitkräfte des ehemaligen Kaiserreichs (noch) existent und auf eine Reform und Demokratisierung des Militärs (sowie auch des damaligen Beamtenapparats) wurde verzichtet. Die anschließende Übernahme der Reichswehr und Überführung in eine politisch genutzte und missbrauchte Wehrmacht unter einer totalitären Diktatur nach der Machtübernahme durch Adolf Hitler wurde durch das Militär widerstandslos hingenommen. Eine völlig andere Situation stellte sich nach Gründung der Bundesrepublik Deutschland.

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2. Die Entstehung der Konzeption Innere Führung Mit dem NATO-Beitritt der Bundesrepublik Deutschland zum 5. Mai 1955 erfolgte die grundsätzliche Entscheidung für einen nationalen Wehrbeitrag Westdeutschlands. Damit ergab sich sowohl für die Politiker wie für die Planer der damals noch jungen Bundesrepublik eine historisch einmalige Chance, Streitkräfte in eine freiheitlich-demokratische Gesellschaft und in ein bereits bestehendes Staatswesen quasi nachträglich zu implementieren. Bei der Schaffung demokratietauglicher Streitkräfte war es von Anfang an oberstes Ziel, das Menschenbild unseres Grundgesetzes auch für Soldaten zur verbindlichen Vorgabe zu machen.5 Danach sollte auch der Soldat über alle verfassungsmäßigen Rechte eines Staatsbürgers verfügen. Seine Rechte sollen nur insoweit und nur dort eingeschränkt werden, wie dies für die funktionalen Erfordernisse der Streitkräfte geboten war. Unter diesen Vorgaben entstand damit prinzipiell aber ein Spannungsfeld, welches es in der künftigen Organisationsstruktur und Führungsphilosophie der neuen Streitkräfte zu meistern galt. Im damaligen Amt Blank, welches als Vorläufer des heutigen Verteidigungsministeriums angesehen werden kann, entwickelte man unter der Leitung von Wolf Graf von Baudissin eine Konzeption, mit deren Hilfe die unverzichtbare, weil funktional notwendig, hierarchische Struktur der neu aufzubauenden Streitkräfte mit ihrem Prinzip von Befehl und Gehorsam mit den Grundrechten des Bürgers in Einklang gebracht werden sollte. Ausgehend von den Gedanken des damaligen Major a. D. Graf von Baudissin, der als zuständiger Referent für das „Innere Gefüge“ der künftigen Streitkräfte die Entwicklung maßgeblich gefördert hat, entstand die bis in die heutige Zeit noch gültige Konzeption der Inneren Führung mit dem darin enthaltenen Bild vom „Staatsbürger in Uniform“, welche von ihrem Leitgedanken her den Menschen als Individuum in den Mittelpunkt allen staatlichen Handelns, auch beim Militär, stellt. Um diese anfangs besonders unter den kriegserfahrenen Soldaten in der damals noch jungen Bundeswehr nicht unumstrittene Führungs- und Organisationsphilosophie rankten sich zahlreiche mehr oder minder starke auch in der Öffentlichkeit ausgefochtene Kontroversen. Letztlich hat sich die Innere Führung als Unternehmenskultur und Markenzeichen in der Bundeswehr als staatliche Institution unserer Gesellschaft etabliert, ihre wesentlichen Prinzipien und normativen Vorgaben wurden zudem in zahlreichen Wehrgesetzen und Erlassen manifestiert. Gleiches gilt für das (Leit-)Bild vom Staatsbürger in Uniform, 5 Vgl. hierzu auch die Ausführungen im Beitrag von Stümke in diesem Sammelband.

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welches die individualbezogene Komponente der Inneren Führung beschreibt. Die Konzeption Innere Führung stellt seit 1953 das offizielle Werte- und Normensystem der Bundeswehr dar. Damit lässt sich zunächst konstatieren, dass das Menschenbild der Inneren Führung mit dem Menschenbild des Grundgesetzes auf der normativen Entwurfsebene identisch ist. Man darf an dieser Stelle allerdings nicht verschweigen, dass beim Militär, sogar bei Vorgesetzten aller Führungsebenen, diese Erkenntnis nicht überall gleichermaßen gereift zu sein scheint. Die jährlichen Berichte des Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages mit den darin immer wieder zu lesenden Beispielen von Verstößen gegen die Menschenwürde bei Soldaten mögen als Beleg oder zumindest als Hinweis dafür gelten, dass es bei der militärischen Dienstgestaltung und im Umgang mit Soldaten offensichtlich einen Interpretationsspielraum darüber gibt, was die Menschenwürde im Einzelnen darstellt, wo die Grenzen einer Überschreitung bzw. eines Verstoßes liegen oder was die dienstlich unbedingt notwendigen Erfordernisse anbelangt. Methodisch soll wie folgt verfahren werden: Zunächst soll das Menschenbild des Grundgesetzes danach befragt werden, inwieweit unsere Verfassung hierzu eindeutige Vorgaben macht oder bereits Interpretationsspielräume bietet, um anschließend festzustellen, inwieweit dieses Menschenbild in den Streitkräften in Theorie und Praxis zum Tragen kommt. 3. Das Menschenbild des Grundgesetzes „Die Würde des Menschen ist unantastbar, sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlicher Gewalt.“ (Art. 1 GG, Abs. 1)

Das Menschenbild des Grundgesetzes, welches den Menschen und seine Würde unter den besonderen Schutz des Staates bzw. staatlichen Handelns stellt, ist ein offener Formalbegriff mit einer kulturellen Dimension.6 Allerdings wird darin nicht das Bild eines isolierten autonomen Individuums beschrieben. Vielmehr wird ein Spannungsfeld zwischen Individuum und Gesellschaft beschrieben, indem die Gemeinschaftsbezogenheit und die Gemeinschaftsgebundenheit der Person betont wird, ohne dabei allerdings deren Eigenwert anzutasten. Dieses ergibt sich aus einer Gesamtsicht der Art. 1, 2, 12, 14, 15, 19 und 20 GG,7 die im Wissen um die sie verbindenden, innerlich zusammenhaltenden allgemeinen Grundsätze und Leitideen 6 7

Vgl. Häberle (1988), S. 73 f. Vgl. BVerfGE 4, 7 [15 f.].

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der Verfassungsgesetzgeber zu interpretieren sind – also nicht nur einzelne grundlegende Verfassungsnormen enthalten.8 Das Menschenbild ist danach dual angelegt, indem es eine individualbezogene und eine gesellschaftsbezogene, soziale Komponente beschreibt. Danach ist jeder Mensch zunächst ein freies eigenverantwortliches Individuum mit einer ihm eigenen unantastbaren Würde, die ihn damit zur Einzelpersönlichkeit erhebt und somit vom bloßen Subjekt unterscheidet. Die zweite Seite beschreibt den Menschen als gemeinschaftsbezogene und -gebundene Person, die in gemeinschaftsbezogener Verantwortung fähig zur Freiheit, Selbstentfaltung und Mitbestimmung ist, was in der Feststellung ihrer Mündigkeit zum Ausdruck kommen soll. Der Würde des Menschen kommt damit eine besondere Bedeutung zu. Menschenwürde ist das oberste Prinzip, das Moral und Recht verbindet und die Menschen- oder Grundrechte begründet. Als allgemein anerkanntes Menschenrecht9 steht sie bereits jedem Menschen zu, auch wenn keine Sanktionsmöglichkeit bei Missachtung implementiert worden ist. In der Verfassung der Bundesrepublik Deutschland erhält sie rechtsverbindlichen Charakter und ist als Grundrecht im Artikel 1 manifestiert.10 Die Menschenwürde steht in engem Zusammenhang mit den laut Grundgesetz unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten, die die Grundlage der menschlichen Gemeinschaft darstellen. Die Menschenwürde kann demnach auch nicht erworben werden, denn jeder Mensch erlangt sie bereits mit seiner Geburt und verliert sie sein Leben lang nicht, unabhängig von seiner gesundheitlichen oder gesellschaftlichen Situation, seiner Rasse, seinem Geschlecht oder seinem sozialen Status. Die Würde des Menschen ist somit der zentrale und höchstrangige Wert des Grundgesetzes. Aber auch außerhalb dieser Rechtsnorm bzw. Werteordnung stellt sie im moralischen Empfinden einer liberal-demokratisch orientierten Gesellschaft einen höchsten Wert dar, dem in Verbindung mit einem Freiheitsideal durch die Mehrheit der Bevölkerung eine zentrale Bedeutung zuerkannt und der nicht zur Disposition gestellt wird. Diese Werte (Menschenwürde und Freiheit) sind somit nicht nur kategorischer Imperativ für unsere Verfassung, sondern besit8

Vgl. BVerfGE 2, 403. Die allgemeine Erklärung der Menschenrechte wurde von der Generalversammlung der Vereinten Nationen am 10. November 1948 genehmigt und verkündet. In dieser Menschenrechtsdeklaration werden in Artikel 1 die Freiheit und die Menschenwürde betont: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren.[. . .]“ (Resolution 217 A (III) vom 10.12.1948, Art 1). Vgl. hierzu auch die Ausführungen von Gareis in diesem Band. 10 Das nur wenige Monate später am 23. Mai 1949 verkündete Grundgesetz weist ebenfalls im Artikel 1 auf die Würde des Menschen hin und betont damit deren zentrale Bedeutung für die Verfassung. 9

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zen als kulturelle Kategorie allgemeingültigen Charakter, sie bedürfen dadurch keiner ständig erneuerten Begründung. Obwohl bei der Feststellung einer höchsten Bedeutung der Menschenwürde, als Wert und Postulat an sich, allgemeiner Konsens bestehen dürfte, wird deren konkrete inhaltliche Ausgestaltung je nach weltanschaulicher oder philosophischer Begründungskonzeption unterschiedlich beantwortet. Ausgehend von der Menschenrechtsdeklaration der Vereinten Nationen kann die Menschenwürde im engen Kontext mit der individuellen Freiheit und den Grundrechten des Einzelnen gesehen werden, welches bei einer Gesamtsicht der Grundrechtsartikel im Grundgesetz gleichfalls konstatiert werden kann. Die Eigenständigkeit des Individuums wäre danach normativer Kern, der gewahrt bleiben müsse und dessen Einschränkung begründungspflichtig sei. Das verallgemeinerte individuelle Lebensinteresse wäre der Bezugspunkt, auf den alle moralischen Forderungen zu beziehen wären.11 Die Regeln des Zusammenlebens basierten allein auf einen rationalen Interessensausgleich (Vernunft), wodurch ein freies und gleiches Zusammenleben zwischen selbständigen Individuen geschaffen werden könnte. Doch unsere Verfassungsväter wollten mehr, indem sie – wie bereits aufgezeigt – neben der individualbezogenen auch eine gesellschaftsbezogene, soziale Komponente beschreiben. Sie setzt allerdings eine innere Bindung an die Werteordnung bzw. Verfassung voraus, bei der sich der Mensch neben seinem individualbezogenen Wertebezug (Rechte) nun als „soziales Wesen“ gleichfalls an gemeinschaftsbezogene und gemeinschaftsbildende Werte (Pflichten) gebunden fühlt.12 Dieses Spannungsfeld zwischen Individuum und Gemeinschaft wird im Grundgesetz nicht eindeutig beschrieben und beinhaltet zudem eine sozialontologische Problematik, die z. B. in den philosophischen Debatten über die moralischen Grundlagen moderner Gesellschaften von „Liberalen“ und „Kommunitaristen“13 recht kontrovers diskutiert wird. Das Lager der „Kommunitaristen“ wird nach Honneth durch die Idee gezeichnet, „dass es immer der vorgängigen Rückbesinnung auf einen Horizont gemeinschaftlich geteilter Werte bedarf, wenn über Fragen der gerechten Ordnung einer Gesellschaft sinnvoll entschieden werden soll“14. Das Lager der „Liberalen“ dagegen orientiere sich an der Leitidee, „dass unter den modernen Bedingungen eines Wertpluralismus nur das allgemeine Prinzip gleicher Rechte, 11 Vgl. den Kant’schen kategorischen Imperativ und die Ausführungen bei Schönecker/Wood (2004). 12 Zur sozialpolitischen Rolle des Menschen als homo politicus siehe die Beiträge von Mätzig und Biehl in diesem Band. 13 Vgl. Honneth (1993). 14 Honneth (1993), S. 8.

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Freiheiten und Chancen als ein normativer Maßstab dienen kann, an dem sich die Gerechtigkeit eines Gemeinwesens bemessen darf.“15 Eine Vorgabe oder gar Priorisierung eines der beiden Moralverständnisse (individualistisches vers. kollektivistisches) existiert seitens des Verfassungsgebers nicht, sondern wäre zu interpretieren. Nach einem kommunitaristischen Verständnis stünden somit die Freiheit und die Würde, die jedem Menschen nach dem Grundgesetz zukommen, in wechselseitiger Abhängigkeit zur gesellschaftlichen Bindung des einzelnen Bürgers und seiner Verantwortung gegenüber dem Gemeinwohl. Mit anderen Worten: Nicht der Individualismus wäre das, was seine Würde ausmache und was den Menschen als sittliche Person, als Persönlichkeit und mündigen wie verantwortungsbewussten Bürger auszeichne, sondern seine innerliche Bindung an die Werteordnung der Verfassung und sein Einstehen für die Gemeinschaft.16 Das kann durchaus anders gesehen werden, wobei eine soziale Einbettung menschlichen Handelns auch bei einem liberalen Ansatz außer Frage stünde, hierbei allerdings die Freiheit und die Individualrechte deutlich stärker betont würden. In diesem Sinne kann auch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts verstanden werden, wenn es feststellt, dass der Einzelne sich diejenigen Schranken seiner Handlungsfreiheit gefallen lassen muss, die der Gesetzgeber zur Pflege des sozialen Zusammenlebens in den Grenzen des allgemein Zumutbaren zieht, vorausgesetzt, dass dabei die Eigenständigkeit der Person gewahrt bleibt.17 Trotz dieses in seinen Grenzziehungen somit nicht immer eindeutigen Spannungsverhältnisses zwischen Individuum und Gemeinschaft, wurde mit dem Grundgesetz ein völlig neues Werte- und Normensystem in Kraft gesetzt, welches in seiner freiheitlichen Werteordnung den Menschen als Individuum in den Mittelpunkt allen staatlichen Handelns stellt. Menschenwürde, Menschen- und Grundrechte sind damit die Grundlagen des Menschenbildes und der Werteordnung unseres Grundgesetzes. Die im Art. 1 GG ebenfalls auferlegte Wertebindung des Staates an die Werteordnung unserer Verfassung und dessen darin ausdrücklich betonte Schutzverpflichtung gegenüber seinen Bürgern unterstreichen die fundamentale Bedeutung der Menschenwürde und der Grund- und Menschenrechte in der Werteordnung unserer Gesellschaft.

15 16 17

Honneth (1993), S. 8. Vgl. hierzu auch den Beitrag von Stümke in diesem Band. Vgl. BVerfGE 4, 7 [15 f.]

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4. Der Staatsbürger in Uniform Streitkräfte sind, abgesehen von den Polizeikräften eines Landes, der auch nach außen wohl deutlich sichtbarste Ausdruck staatlicher Gewalt, sowohl für den Bürger des eigenen Landes, wie auch für andere Nationen. Sie sind damit wesentlicher Teil der Schutzfunktion unseres Staates, die Menschenwürde und Freiheit seiner Bürger zu garantieren bzw. zu verteidigen. Wie zuvor aufgezeigt, ist dabei der Staat nicht nur selbst an diese Werteordnung gebunden, sondern dadurch, dass er den Menschen und seine Würde unter seinen besonderen Schutz bzw. seines staatlichen Handelns stellt, wird dieser Grundsatz automatisch auch auf all die Menschen übertragen, die in seinem Auftrag tätig sind, so also auch auf Soldaten. Das zuvor unter dem Menschenbild des Grundgesetzes aufgezeigte Spannungsfeld des Einzelnen zwischen Individualinteresse und Gemeinwohl stellt dabei das geringste Problem dar, letztlich baut der Staat auf die Einsicht seiner Bürger, dass er (der Staat) seiner Schutzfunktion nur nachkommen kann, wenn jeder Bürger dieses Landes bereit ist, persönlich seinen Teil, z. B. durch Ableisten eines Dienstes im Rahmen der Allgemeinen Wehrpflicht, dazu beizutragen. Zur Zeit des Kalten Krieges galt diese staatsbürgerliche Erkenntnis übrigens als wesentlicher Bestandteil der gesellschaftlichen Wehrmotivation und war Legitimationsgrundlage für die Wehrform als Wehrpflichtarmee. Es sind vielmehr die individuellen Rechte des Bürgers einerseits und die diesen vielfach entgegenstehenden militärischen Pflichten andererseits, die das eigentliche Spannungsfeld des Staatsbürgers in Uniform ausmachen. Diese Spannung auszugleichen stellt eine Hauptaufgabe der Inneren Führung dar und beschreibt damit zugleich ihren Wesenskern. Die grundsätzliche Existenz eines solchen Spannungspotentials wurde bereits seit Anbeginn der Bundeswehr in der Anlage dieses Leitbildkonstrukts erkannt. Dessen Sinnfälligkeit wurde insbesondere aus militärfunktionalen Erwägungen heraus von den Kritikern der Inneren Führung wiederholt in Frage gestellt, befürchteten sie damit doch eine Verbürgerlichung des Soldaten und eine Demokratisierung der Armee. Doch darum ging es den Begründern der Inneren Führung, allen voran Wolf Graf von Baudissin, überhaupt nicht. Bei Baudissin sollte dadurch zum einen der Standort des Soldaten in der Gesellschaft angesprochen werden, wobei er hierbei den Kollektivgedanken des Grundgesetzes betont. So könne seiner Auffassung nach nur derjenige Soldat für seine Gemeinschaft eintreten, der in dem politischen und geistigen Leben seiner Gemeinschaft verwurzelt sei. Nur seine Einbürgerung (i. S. einer sozialen Integration) verschaffe ihm das persönliche Erlebnis der Werte, die er zu verteidigen habe

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und die Möglichkeit zum Mitgestalten (i. S. der politischen Betätigung) gebe ihm auch einen Anreiz zur Verantwortung. Darüber hinaus sei er als Staatsbürger an die sittliche Ordnung gebunden, die er repräsentiere. Neben dem Standort des Soldaten kennzeichne nach Baudissin der Begriff vom Staatsbürger in Uniform auch dessen Zuordnung zur Umwelt und zum Menschen, womit er das Menschenbild des Grundgesetzes mit der darin enthaltenen Menschenwürde heraushebt. Danach gebe es unter Staatsbürgern, die zusammen Wehrdienst verrichten, unabhängig vom Alter und Dienstgrad, kein Verhältnis mehr zwischen Unmündigen und Vorgesetzten, sondern sie seien vielmehr Partner in verschiedenen Funktionen aus der gleichen Verantwortung.18 Aus diesem Gedanken heraus entwickelte das Amt Blank dann bereits 1953 konkrete Regelungen über den künftigen Soldatentyp, der freier Mensch, guter Staatsbürger und vollwertiger Soldat zugleich sein sollte. Allerdings wurde dieses konzeptionelle Ziel, welches das Menschenbild des Grundgesetzes zur Grundlage nimmt, erst mit der später eingefügten Wehrverfassung (ab 1956) und den Wehrgesetzen dann auch für den Soldaten zur verbindlichen Richtschnur gemacht, indem sie dessen verfassungsmäßige Rechte als Bürger grundsätzlich garantieren und nur da einschränken, wo es für die Aufrechterhaltung der Funktion der Streitkräfte zwingend erforderlich ist. Diese Konzeption vom Staatsbürger in Uniform hat bis in die heutige Zeit Bestand, wenngleich sich der sprachliche Duktus des aufgezeigten Trials mittlerweile den gesellschaftlichen Veränderungen anpasst hat, ohne aber an den Inhalten etwas zu verändern. So wird in der aktuellen Vorschrift der Bundeswehr zur Konzeption Innere Führung der Staatsbürger in Uniform als Leitbild beschrieben, welches idealtypisch folgende Forderungen an den Soldaten der Bundeswehr stellt:19 • eine freie Persönlichkeit zu sein, • als verantwortungsbewusster Staatsbürger zu handeln, • sich für den Auftrag einsatzbereit zu halten. Es steht für den frei denkenden wehrhaften Demokraten, der sich vorbehaltlos zur freiheitlichen Werte- und Grundordnung bekennt und als einsatzfähiger und -williger Soldat auch bereit ist, sein Land zu verteidigen und dessen Werte, insbesondere Frieden, Freiheit und Menschenrechte, zu sichern. Es steht für den gebildeten, politisch wachen und interessierten, eigenständigen und rational handelnden Menschen als verantwortungsbewuss18 19

Vgl. Baudissin (1969), S. 215 f. Vgl. ZDv 10/1 Nr. 203.

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tem Staatsbürger, der die politischen und gesellschaftlichen Zusammenhänge begreift, hieraus Rückschlüsse auf sein berufsfeldbezogenes Umfeld ziehen kann und sich den Bedingungen und Folgen seines soldatischen Handelns stets bewusst ist. Der Staatsbürger in Uniform ist damit Idealbild und Zielgestalt zugleich für den Sozialisationsprozess des Bürgers in der Gesellschaft und in den Streitkräften. Das Konzept der Innere Führung orientiert sich in seinen Führungs-, Ausbildungs- und Erziehungsprinzipien eben an diesem positiven und idealistischen Menschenbild, baut darauf und erklärt es normativ zum kategorialen Imperativ für die gesamte Bundeswehr.

II. Anspruch und Wirklichkeit 1. Der Staatsbürger in Uniform in der Bewährung des militärischen Alltags Einzelne bekannt gewordene Verfehlungen von Soldaten, vor allem, wenn sie sich gegen die Menschenwürde gleichgestellter oder unterstellter Soldaten richten und durch Medien dann auch öffentlich skandalisiert werden, kontrastieren in regelmäßig wiederkehrenden Abständen beim Staatsbürger in Uniform den Unterschied zwischen Anspruch und gelebter Praxis. Solange es sich hierbei wirklich um die von offizieller Seite der Bundeswehr stets bekundeten Einzelfälle handelt, ist diesen Vorkommnissen außer den gebotenen dienst- und disziplinarrechtlichen Ermittlungen wenig Aufmerksamkeit zu schenken. Besorgniserregender sind eher Bekundungen, die, bis in die höchsten Reihen aktiver oder ehemaliger militärischer Vorgesetzter reichend, das Leitbild des Staatsbürgers in Uniform – und damit das darin enthaltenen Menschenbildes des Grundgesetzes – für das Militär per se oder für deren Auftragserfüllung für wenig hilfreich, untauglich oder gar dysfunktional erachten. Hierbei wurden in der Vergangenheit sowohl ideologische wie auch funktionale Argumentationszusammenhänge aufgezeigt, die zwischen den Vertretern aus den Denklagern der sogenannten Traditionalisten und Reformer immer wieder kontrovers diskutiert wurden. Spätestens mit der Transformation der Bundeswehr von einer nationalen Verteidigungs- zur international operierenden Einsatzarmee werden innerhalb des Militärs, aber auch im bundeswehrnahen sozialwissenschaftlichem Umfeld Stimmen laut, die den Staatsbürger in Uniform mit dem dahinter stehenden Konzept für überholt und unzeitgemäß erachten und von daher auf den Prüfstand gestellt wissen möchten. Die ideologisch geführte Grundsatzdebatte der „ewig Gestrigen“, die sich gegen das Leitbild vom Staatsbürger in Uniform stellen und dem Soldaten angesichts seiner Opferbereitschaft einen positiven Sonderstatus (sui

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generis) zuerkennen wollen, soll an dieser Stelle nicht vertieft werden. Baudissin stellte bereits damals richtig fest, dass eine Betonung „soldatischer Eigengesetzlichkeiten“ und einzigartiger „soldatischer Tugenden“ dem demokratischen Grundsatz der Gleichberechtigung aller widerspräche und damit das Primat der Politik untergraben werde.20 Zudem ist diese Frage eindeutig politisch zugunsten des Konzepts vom Staatsbürgers in Uniform entschieden und damit normativ für Streitkräfte vorgegeben. Nichtsdestotrotz finden sich in der Bundeswehr aber genügend Beispiele aus der militärischen Praxis, in denen dieses Primat der Politik in der Vergangenheit durch Vorgesetzte mehr bewusst als unbewusst unterlaufen wurde.21 Hierbei mag in den Reihen des konservativ-soldatischen Lagers auch deren immer wieder geäußerte Kritik eine Rolle gespielt haben, bei der die idealistische Vorstellung vom Leitbild eines mündigen und politisch interessierten Staatsbürger in Uniform mit dem Realbild der Praxis nicht übereinstimme und daher zu utopisch sei. Kutz hat interessanterweise in Bezug auf den Staatsbürger in Uniform beiden Vorstellungen eine Absage erteilt, sowohl was die Leitbild- wie auch die Realbildgedanken anbelangen. Seiner Auffassung nach ist das von Baudissin entworfene Bild vom Staatsbürger in Uniform der Denkstruktur nach als eine von dem Grundgesetz, insbesondere von der Wehrverfassung abgeleitete „Rechtsfigur“ zu begreifen, nach der jeder Vorgesetzte im Respekt vor den Grundrechten der Einzelpersönlichkeit seinen Untergeben stets so behandeln muss, als wäre er ein allseits gebildeter, politisch wacher und interessierter, eigenständiger und rational handelnder Mensch, auch wenn seine reale Erscheinung eher dem Gegenteil entspräche.22 Seine Auffassung folgt damit am ehesten dem Verständnis vom demokratischen Menschenbild des Grundgesetzes, welches ja gleichfalls den mündigen Bürger zum Funktionieren von Demokratie voraussetzt und alle Menschen ungeachtet ihrer tatsächlichen Entsprechung von Rechts wegen als solchen behandelt. 2. Menschenbild und Organisation Der Soldat befindet sich als Bürger, wie zuvor aufgezeigt, bereits in einem Spannungsfeld mit der Gesellschaft, weil seine individuellen Grundrechte mit dem gesellschaftlichen Gemeinwohl in Beziehung gesetzt werden. Neben dieser gemeinschaftsbezogenen Mitverantwortung als Bürger unterliegt der Soldat der Bundeswehr in seiner Eigenschaft als Soldat zusätzlich weiteren besonderen Pflichten, die ihm der Gesetzgeber auferlegt hat. Diese 20 21 22

Vgl. Baudissin (1982), S. 166. Vgl. Bald (2005). Vgl. Kutz (1989), S. 17 f.

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sind unter anderem: treues Dienen, Tapferkeit, Gehorsam, Kameradschaft, Disziplin. Gleichzeitig gelten für Soldaten einige Einschränkungen seiner Grundrechte, die der Gesetzgeber ebenfalls festgelegt hat: körperliche Unversehrtheit, Freiheit der Person, Freizügigkeit, Petitionsrecht, Meinungsäußerung, Versammlungsfreiheit und freie Entfaltung der Persönlichkeit. Durch diese Einschränkung von Grundrechten der Soldaten besteht allerdings prinzipiell die Gefahr des institutionellen Missbrauchs, indem Organisationsziele durchgesetzt werden, die auf die eingeschränkten Grundrechte explizit keine Rücksicht mehr zu nehmen brauchen. Zur Einhegung struktureller (organisationaler) Gewalt gegen Soldaten und zum Ausgleich für die Einschränkungen hat daher der Gesetzgeber bewusst Regelungen getroffen, mit denen der Organisation und ihren Vorgesetzten konkrete Pflichten und Schranken auferlegt werden, z. B. durch die begrenzte Befehlsbefugnis der Vorgesetzten, eine begrenzte Gehorsamspflicht der Unterstellten, starke Rechtsmittel der Soldaten (Wehrbeschwerdeordnung, Rechtsweg), Kontrolle durch den Wehrbeauftragten und den Verteidigungsausschuss, Beteiligungsrechte der Soldaten, besondere Fürsorge- und Betreuungsverpflichtungen für Soldaten durch Vorgesetzte und seitens des Dienstherrn und nicht zuletzt durch die Kontrolle besonderer Rechtsanwendungen in den Streitkräften (z. B. Freiheitsentzug, Arrest) durch unabhängige Gerichte. Im Konzept der Inneren Führung soll mit dem Leitbild vom Staatsbürger in Uniform diesem Spannungsfeld, welches sich aus den bürgerlichen Rechten einerseits und den militärischen Erfordernissen anderseits ergeben, in Theorie und Praxis wirkungsvoll begegnet werden. Durch das bewusste Aufzeigen dieses Spannungsfeldes sollen einerseits dem Soldaten die Besonderheiten des Militärs deutlich gemacht und dadurch Einsicht in funktionale Notwendigkeit einer Einschränkung seiner bürgerlichen Rechte geweckt werden. Andererseits ist es auch Leitbild und Vorgabe für die Organisation selbst, sich in der Gestaltung ihrer Organisationsstrukturen und -abläufe und in ihrem Handeln durch Vorgesetzte stets darüber im Klaren zu sein, dass es sich bei ihren Soldaten um Einzelpersönlichkeiten und nicht um Menschenmaterial handelt. Diese Doppelorientierung gilt durch das Leitbild Innere Führung ebenso auf der Makro-Ebene23 wie auf der Mikro-Ebene mit dem Leitbild vom Staatsbürger in Uniform. Das Organisationsinteresse deutscher Streitkräfte als Exekutivorgan des Staates richtet sich natürlich zunächst an dem ihm von politischer Seite vorgegebenen Auftrag und Verwendungszweck aus, den es aus Sicht der Organisation verständlicherweise möglichst optimal und effizient zu erfüllen gilt. Die Machtprinzipien als hierarchische 23 Deutsche Streitkräfte haben sich nach ihrem Wesen, Rolle und Funktion zum einen auf Krieg, Einsatz und Gegner einzustellen, andererseits unterliegen sie den Werten und Normen des Grundgesetzes mit dem darin enthaltenen Friedensgebot sowie der politischen Vorgabe ihrer Integration in die Gesellschaft.

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Organisation mit dem Top-Down-Prinzip von Befehl und Gehorsam stehen dabei nicht immer im Einklang mit den demokratischen Prinzipien zur Willensbildung und Entscheidungsfindung ihrer Mitglieder als Staatsbürger. Damit stehen prinzipielle, d.h. strukturelle und funktionell begründete Organisationsinteressen/-ziele des Militärs (Vergemeinschaftung, Vereinheitlichung, Ritualisierung, Entindividualisierung, soldatische Tugenden, etc.) den freiheitlich-demokratischen Bürgerrechten (Menschenwürde, Selbstbestimmung, Selbstverantwortung, Mitbestimmung, Individualisierung, Selbstverwirklichung, Freiheit der Person etc.) nicht nur gegenüber und in Konkurrenz mit ihnen,24 zum Teil sind sie prinzipiell kaum miteinander vereinbar, ja sind sogar konfliktär, was dem Militär im Theoriediskurs der Vergangenheit bisweilen den Ruf einer prinzipiellen politischen und kulturellen Inkompatibilität zur zivilen Gesellschaft einbrachte.25 Neben dieser zweifachen Doppelorientierung seitens der Organisation gibt es auch noch den Staatsbürger in Uniform, der sich schon als Bürger generell in seinem gesellschaftlichen Verhalten zwischen seinen Individualrechten und seinen staatsbürgerlichen Pflichten zu entscheiden hat und als Soldat diese zuvor gewonnene Entscheidung dann nochmals gegenüber seinen militärischen Pflichten abwägen muss. Mit den voranstehenden Ausführungen wurde aufgezeigt, dass das Menschenbild des Grundgesetzes die Innere Führung weitflächig gedanklich durchdringt und prinzipiell unter Berücksichtigung der militärischen Erfordernisse durch die Vorgabe des Leitbilds vom Staatsbürger in Uniform im Konzept verankert worden ist. Gleichzeitig wurden die Spannungsfelder aufgezeigt, die sich hieraus sowohl für den Soldaten als auch für das Militär ergeben. Der Anspruch, der damit an die Organisation sowie an ihre Mitglieder gestellt wird, ist demnach sehr hoch. Setzt er doch voraus, dass beide Seiten ihre jeweilige Situation umfassend reflektiert und anerkannt haben, was angesichts oftmals überzogener Forderungen, wohlbemerkt von beiderlei Seiten, nicht immer der Fall zu sein scheint. Anderseits muss, unabhängig von der gedanklichen Genialität, die in diesem Konstrukt antinomischer Konsolidation steckt, die Frage erlaubt sein, ob die Innere Führung damit ihre Adressaten nicht zuweilen überfordert. Angesichts der immer knapper werdenden finanziellen Ressourcen bei gleichzeitig zunehmender Auftragsfülle und Intensität (z. B. durch Auslandseinsätze) werden auch Systemzwänge größer, wodurch Entscheidungsspielräume abnehmen. Insofern wäre zu prüfen, inwieweit das beschriebene Menschenbild auch im Konzept der aktuellen Bundeswehrreform (Transformation) weiterhin Berücksichtigung findet. 24 25

Vgl. Wiesendahl (1990), S. 28. Vgl. Vogt (1989), S. 198 ff.

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3. Menschenbild und Transformation Die konzeptionelle Neuausrichtung der Bundeswehr war zur Jahrtausendwende eines der wesentlichen Reformvorhaben der rot-grünen Bundesregierung. Das künftige Fähigkeitsprofil deutscher Streitkräfte sollte sich damit an den sicherheitspolitischen Bedingungen, den rechtlichen Vorgaben des Grundgesetzes und den internationalen Verpflichtungen orientieren, die Deutschland bisher eingegangen ist. In den Verteidigungspolitischen Richtlinien (VPR) von 2003 wurden die Grundsätze für die Gestaltung der Verteidigungspolitik und die daraus abgeleiteten Aufgaben der Bundeswehr neu festgelegt. Ihre konzeptionelle Umsetzung erfolgte schließlich 2004 mit der Konzeption der Bundeswehr (KdB) und wird seitdem unter dem Begriff „Transformation“ geführt: „Transformation ist die Gestaltung eines fortlaufenden, vorausschauenden Anpassungsprozesses an das sich verändernde sicherheitspolitische Umfeld, um die Einsatzfähigkeit der Bundeswehr zu erhöhen und auf Dauer zu erhalten.“26 Ziel der Transformation ist dabei die nachhaltige Verbesserung der Einsatzfähigkeit der Bundeswehr in dem Einsatzspektrum, das in den Verteidigungspolitischen Richtlinien vorgegeben wird.27 Nachrangig ist dabei alles, was diesem Ziel nicht dient. Strukturen, Organisationsabläufe und Ausbildung der Bundeswehr werden hieran angepasst, die Material- und Ausrüstungsplanung auf diesen Schwerpunkt hin konzentriert und an den finanziellen Möglichkeiten ausgerichtet.28 Aus diesen Formulierungen könnte vorschnell gefolgert werden, dass sich die Innere Führung an diesen Vorgaben ebenfalls zu messen habe und dann aufgrund ihrer etwas „weicheren“, nicht immer eindeutig operationalisierbaren Ziele gegenüber konkreten Einsatzerfordernissen ins Hintertreffen geraten könnte. Mit der Herausgabe der Verteidigungspolitischen Richtlinien 2003 wurde auch explizit der Hinweis auf den Anpassungs- und Weiterentwicklungsbedarf der Inneren Führung angesichts der paradigmatischen Veränderungen der sicherheits- und verteidigungspolitischen Rahmenbedingungen gegeben29, in der Konzeption der Bundeswehr wird dieser allerdings nicht nochmals aufgegriffen und konkretisiert. Sie nimmt dennoch konkret 26

BMVg (2004a), S. 10. Hierzu zählen unter anderem die Beteiligung an multinational geführten, friedenserhaltenden, stabilisierenden und friedenserzwingenden Operationen im Rahmen des gesamten Einsatzspektrums von Konfliktverhütung und Krisenbewältigung bis hin zu Einsätze im Kampf gegen den internationalen Terrorismus. 28 Vgl. BMVg (2004b), S. 5. 29 Im Kapitel VII „Folgerungen für die Bundeswehr“ steht der Hinweis: „Gleichzeitig entwickelt die Bundeswehr ihr Konzept der Inneren Führung weiter, um es an die neuen Einsatzbedingungen der Streitkräfte anzupassen und die Einbettung der Streitkräfte in die Gesellschaft zu verstärken.“ (BMVg (2003), S. 20). 27

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Bezug auf den Menschen im Transformationsprozess, ihm wird in der KdB unter der Kapitelüberschrift „Der Mensch im Mittelpunkt“ sogar ein eigener Abschnitt eingeräumt. Doch geht es hier weniger um den Menschen an sich, sondern eher um den Menschen als Personalressource zur Steigerung der Einsatzfähigkeit der Streitkräfte: „Die Bundeswehr braucht mitdenkendes, gut ausgebildetes, leistungsfähiges und leistungswilliges Personal, das von seinem Auftrag überzeugt ist. Diese Forderungen stellen die Menschen in den Mittelpunkt der Bundeswehr. Ihre Qualifikation, Motivation und Berufszufriedenheit bestimmen maßgeblich die Einsatzfähigkeit.“30 Der Mensch als Einzelpersönlichkeit und das staatsbürgerliche Motiv des Soldatenberufs, wie es im Konzept der Inneren Führung verankert wird, findet sich in derartigen Formulierungen nicht wieder. Der Bezug zum Menschenbild kann allenfalls aus dem kurzen Verweis der KdB auf die unveränderte Gültigkeit der Inneren Führung abgeleitet werden: „Eine an den Werten des Grundgesetzes ausgerichtete konsequente Anwendung der Grundsätze der Inneren Führung ist weiterhin Grundlage für Selbstverständnis, Moral und Motivation der Soldatinnen und Soldaten“31, die restlichen Ausführungen beschreiben lediglich die sicherlich ebenfalls wichtigen neuen einsatzbedingten Herausforderungen und zusätzlichen Anforderungen sowie die dafür erforderlichen Qualifikationsvoraussetzungen der Soldaten und Soldatinnen. Der mit dieser Formulierung eher floskelhaft und zudem recht pauschal vorgenommene Hinweis auf die Bewährung der Inneren Führung lässt also – zumindest in der KdB – zunächst keinen Handlungsbedarf für deren Weiterentwicklung erkennen. Auch das 2006 von der Bundesregierung herausgegebene Weißbuch konstatiert bereits die Bewährung der Inneren Führung im Einsatz,32 obwohl außer einer derzeitig immer noch nicht abgeschlossenen Überarbeitung der Zentralen Dienstvorschrift hierzu (ZDv 10/1) von einer Anpassung an die veränderten Rahmenbedingungen, geschweige denn von einer konzeptionellen Weiterentwicklung der Inneren Führung nicht ernsthaft die Rede sein kann. Zumindest wird im Weißbuch aber das Leitbild vom Staatsbürger in Uniform als ein zentrales Element der Konzeption der Inneren Führung nochmals bekräftigt33 und damit den Streitkräften angesichts vermehrter Äußerungen aktiver und ehemaliger hoher Offiziere, die eine Tauglichkeit dieses Leitbildes für Einsätze grundsätzlich in Frage gestellt haben,34 als politischer Imperativ vorgegeben.

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BMVg (2004a), S. 18. BMVg (2004a), S. 18. Vgl. BMVg (2006), S. 80. Vgl. BMVg (2006), S. 79. Vgl. hierzu Winkel (2004) sowie Rose (2004).

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III. Fazit Die Innere Führung hat sich bewährt – und abgedankt? Mit diesem knappen Statement von Keller (2002)35 ließe sich die derzeitige Lagefeststellung zur Gültigkeit und Weiterentwicklung der Inneren Führung mit ihrem Menschenbild und dem Leitbild des Staatsbürgers in Uniform etwas zynisch beschreiben. Einerseits mag der politische Impetus, der über die unveränderte Gültigkeit des Staatsbürgers in Uniform und ebenso des Menschenbildes der Inneren Führung auch im Zeitalter der Transformation (zumindest offiziell) keine Zweifel offen lässt, die liberal-demokratischen Geister in Armee und Gesellschaft beruhigen: Der archaische Kämpfer und der rein funktionaltechnokratisch orientierte High-Tech-Soldat werden auch in naher Zukunft den Staatsbürger in Uniform im Auslandeinsatz nicht einfach ersetzen. Andererseits bleiben die Forderungen nach einer intensiv geführten, nachhaltig betriebenen und wissenschaftlich fundierten Auseinandersetzung zur Weiterentwicklung der Inneren Führung und ihres zumindest historisch belegten Leitbilds36 vom Staatsbürgers in Uniform aber weiterhin unerfüllt. Die Bindung der Streitkräfte und des soldatischen Handelns an die Werte und Normen des Grundgesetzes wird vermutlich auch innerhalb der Armee kaum jemand in Frage stellen, diese Werthaltungen dürften im Verlaufe eines über 50-jährigen gesellschaftlichen Sozialisationsprozesses auch vom letzten Soldaten der Nachkriegsgeneration verinnerlicht worden sein. Auch das Menschbild innerhalb des Militärs dürfte sich vermutlich nicht wesentlich von dem des zivilen Bürgers unterscheiden. Das Bild vom Staatsbürger in Uniform kann natürlich (politisch) verordnet werden. Wenn es aber nicht mehr zum kollektiven Selbstverständnis der Armee gerinnt, läuft dieses Leitbild allerdings leicht Gefahr, innerhalb der Streitkräfte zur Symbolfigur und Worthülse zu verkommen. Die eigentlichen Sinngehalte werden dann vermutlich nicht mehr von allen Soldaten erkannt und gelebt. Eine Konzeption wie die KdB, die alles als nachrangig abwertet, was nicht unmittelbar der Steigerung der Einsatzbereitschaft der Streitkräfte dient, öffnet also wenig Denkfreiräume zur Entwicklung neuer Ideen bei der Leitbilddiskussion. Das Leitbild vom Staatsbürger in Uniform könnte nach diesem vornehmlich militärischen Effizienzgedanken in erster Linie auf seine ideologische und funktionale Tauglichkeit hinsichtlich des militärischen Einsatzes überprüft werden.37 In Bezug auf die 35

Vgl. Keller (2002). Dahinter steht die Vorstellung von der untrennbaren Verknüpfung dieses Leitbildes mit dem Notwehr- und Selbstverteidigungsgedanken der Nation zur Zeit des Kalten Krieges, woraus sich für den Soldaten seine Legitimation und Sinnbestimmung ableiten lässt, vgl. Wiesendahl (2005), S. 31 f. 37 Vgl. hierzu auch die Gedanken bei Bayer und relativierend dazu der Beitrag von Biehl in diesem Band. 36

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zunehmenden funktionalen Erfordernisse des Soldaten auch als Kämpfer (neben denen des Helfers, Retters und Beschützers) kommen manchem Soldaten möglicherweise Selbstzweifel, ob dieses Leitbild sich auch im (Kampf-)Einsatz bewährt. In dieser Schieflage, was die Priorisierung von Zielen und Erfordernissen des Militärs anbelangt, könnte eine Ursache für die vermehrt geäußerten Zweifel – insbesondere durch den jüngeren Führernachwuchs – an der Tauglichkeit des Leitbilds und auch der Inneren Führung selbst gesucht werden. Den Zweiflern gilt es daher deutlich zu machen, dass Innere Führung und das Prinzip vom Staatsbürger in Uniform nicht irgendeine Methode zur Erziehung, Führung und Ausbildung von Soldaten darstellen, auch wenn das Militär selbst diese multidimensionale Unternehmenskultur und ihr Konzept immer wieder gern zur bloßen Führungsphilosophie herunterstilisiert, die sich wie alle anderen Faktoren dem einzigen Ziel der Steigerung der Einsatzfähigkeit der Streitkräfte unterzuordnen hat. Die Innere Führung stellt vielmehr durch ihren unmittelbaren Bezug auf die demokratischen Grundwerte (z. B. Freiheit und Gleichheit) und ihre politischen Vorgabe zur Verwirklichung der Grund- und Menschenrechte beim Militär eine eigenständige, unabhängige Kategorie dar, die allenfalls in Konkurrenz zu den militärischen Erfordernissen zu setzen ist, im Zweifelsfall sogar darüber zu stehen hat.38 Unabhängig von diesem moralischen und rechtlichen Präjudiz müsste aber zumindest aus sozialwissenschaftlicher Sicht die Frage nach der künftigen Gewichtung des Staatsbürgerlichen gegenüber dem Soldatischen untersucht werden. Angesichts eines Wertewandels der Gesellschaft, in der Individualisierung und korrespondierend eine Pluralisierung von Werten immer größere Bedeutung erlangen und in zunehmende Konkurrenz zu Grundhaltungen wie staatsbürgerliche Verantwortung und Orientierung am Gemeinschaftswohl treten oder diese gar vollends verdrängen, gilt es auch diese Veränderungen zu hinterfragen, will man nicht riskieren, dass in naher Zukunft beide Seiten, Militär und zivile Gesellschaft, Soldat und Bürger, mit dem Begriff des Staatsbürgers in Uniform nichts mehr anfangen können. Bezogen auf das Menschenbild der Inneren Führung bzw. dem des Grundgesetzes sollte bei einer künftigen Leitbild- und Wertediskussion des Militärs allerdings eines immer deutlich und präsent sein: Hierbei handelt es sich unbestritten um eine Konstante der Inneren Führung, die auch nicht zur Disposition steht. Letztlich ist es das Menschenbild unseres Grundgesetzes mit den darin verankerten Menschenrechten und der Menschenwürde, 38

Vgl. Groß (2007), S. 29 ff.

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welches für deutsche Soldaten weiterhin auch in Einsätzen gilt und für deren Schutz und Sicherheit sie fern der Heimat und auch für andere Menschen dieser Erde eintreten.

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Häberle, Fritz (1988): Das Menschenbild im Verfassungsstaat. Schriften zum Öffentlichen Recht, Band 540, Berlin: Duncker & Humblot. Honneth, Axel (Hrsg.) (1993): Kommunitarismus. Eine Debatte über die moralischen Grundlagen moderner Gesellschaften. Frankfurt a. M./New York: Campus. Keller, Jörg (2002): Die Innere Führung hat sich bewährt – und abgedankt?, in: Bald, Detlef und Andreas Prüfert (Hrsg.): INNERE FÜHRUNG. Ein Plädoyer für eine zweite Militärreform. Baden-Baden: Nomos, S. 67–78. Kister, Kurt/Klein, Paul (Hrsg.) (1989): Staatsbürger in Uniform – Wunschbild oder gelebte Realität? Baden-Baden: Nomos. Kutz, Martin (1989): Historische Wurzeln und historische Funktion des Konzeptes Innere Führung (1951–1961), in: Kister, Kurt und Paul Klein (Hrsg.): Staatsbürger in Uniform – Wunschbild oder gelebte Realität? Baden-Baden: Nomos, S. 11–34. Leonard, Nina/Werkner, Ines-Jacqueline (Hrsg.) (2005): Militärsoziologie – Eine Einführung. Wiesbaden: VS-Verlag. Rose, Jürgen (2004): Hohelied auf den archaischen Kämpfer, in: Freitag – Die OstWest-Wochenzeitung, Beitrag vom 02. April. Schönecker, Dieter/Wood, Allen W. (2004): Immanuel Kant, „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“. Ein einführender Kommentar, zweite Auflage, Paderborn: Schöningh. Vogt, Wolfgang R. (1989): Militär und Risikogesellschaft. Tendenzen ‚struktureller Unvereinbarkeit‘ zwischen bewaffneter Friedenssicherung und industriellem Zivilisationsprozeß, in: S + F. Vierteljahreszeitschrift für Sicherheit und Frieden, Jahrgang 7, 4/89, S. 198–205. Wiesendahl, Elmar (2005): Die Innere Führung auf dem Prüfstand – Zum Anpassungsbedarf eines Leitbildes, in: Wiesendahl, Elmar (Hrsg.): Neue Bundeswehr – Neue Innere Führung? Baden-Baden: Nomos, S. 17–34. – (Hrsg.) (2005): Neue Bundeswehr – Neue Innere Führung? Baden-Baden: Nomos. – (1990): Wertewandel und motivationale Kriegsunfähigkeit, in: S + F. Vierteljahresschrift für Sicherheit und Frieden, Jahrgang 8, 1/90, S. 25–29. Winkel, Wolfgang (2004): Bundeswehr braucht archaische Kämpfer, in: Die Welt am Sonntag, Artikel vom 29. Februar.

Autorenverzeichnis Privatdozent Dr. Stefan Bayer: Volkswirt, Fachbereich Sozialwissenschaften an der Führungsakademie der Bundeswehr und Privatdozent für Volkswirtschaftslehre an der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Eberhard-Karls-Universität Tübingen, Interessenschwerpunkte: angewandte Umweltökonomie und Finanzwissenschaft, wichtige Publikationen: (i) Sustainability gaps in municipal solid waste management: The case of landfills, Environment, Development, and Sustainability, Vol. 10 (2008), forthcoming (zus. mit Jacques Méry); (ii) Comparison of external costs between dry tomb and bioreactor landfills: Taking intergenerational effects seriously, Waste Management & Research, Vol. 23, No. 6 (2005), pp. 514–526 (zus. mit Jacques Méry); (iii) Einführung in die Finanzwissenschaft. Grundfunktionen des Fiskus, München und Wien 2003 (zus. mit D. Cansier). Dr. Heiko Biehl: Sozialwissenschaftler, Fachbereich Sozialwissenschaften an der Führungsakademie der Bundeswehr und Universität Potsdam (Lehrbeauftragter für Politikwissenschaft und Militärsoziologie), Interessenschwerpunkte: Parteienforschung und Militärsoziologie, wichtige Publikationen: (i) Parteimitglieder im Wandel. Partizipation und Repräsentation, Wiesbaden 2005. (ii) Wie viel Bodenhaftung haben die Parteien? Zum Zusammenhang von Parteimitgliedschaft und Herkunftsmilieu, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, Nr. 2, 37. Jg., 2006, S. 277–292. (iii) Zustimmung unter Vorbehalt. Die deutsche Gesellschaft und Ihre Streitkräfte, in: Wiesendahl, Elmar (Hrsg.): Innere Führung im 21. Jahrhundert. Die Bundeswehr und das Erbe Baudissins, Paderborn u. a. 2007, S. 103–116. Dipl-Ing. Michael Dinkhauser: Oberstleutnant a.D. und Elektrotechniker, ehemals Fachbereich Sozialwissenschaften an der Führungsakademie der Bundeswehr und Helmut-Schmidt-Universität, FB Elektrotechnik, Interessenschwerpunkte: Informationskriegführung, Proliferation, Technologiefolgenabschätzung, wichtige Publikationen: (i) Herausforderung 21. Jahrhundert. Hoffnungen und Ängste angesichts des Milleniumwechsels, Bremen (Hrsg. zus. mit Volker Stümke), (ii) Neue Technologien und ihre möglichen Auswirkungen im 21. Jahrhundert, in: Dinkhauser, Michael und Volker Stümke (Hrsg.): Herausforderung 21. Jahrhundert. Hoffnungen und Ängste angesichts des Milleniumwechsels, Bremen, S. 119–134. Dipl.-Päd. Jürgen Franke: Oberstleutnant und Pädagoge, Fachbereich Sozialwissenschaften an der Führungsakademie der Bundeswehr, Interessenschwerpunkte: Analyse des Transformationsprozesses der Bundeswehr auf zivil-militärische Beziehungen sowie der sich aus diesem Veränderungsprozess ergebende Anpassungs- und Weiterentwicklungsbedarf der Inneren Führung, der zur Zeit im Rahmen eines Promotionsprojekts näher untersucht wird. Hierbei helfen ihm seine zuvor in mehreren Führungsverwendungen sowie als Referent im Verteidigungsministerium gesammelten Erfahrungen, die er in seine wissenschaftliche Erforschung der Inneren Führung einbezieht.

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Autorenverzeichnis

Professor Dr. Sven Gareis: Politikwissenschaftler, Fachbereich Sozialwissenschaften an der Führungsakademie der Bundeswehr und Westfälische Wilhelms-Universität Münster, Interessenschwerpunkte: Internationale Friedenssicherung und Sicherheitspolitik, wichtige Publikationen: (i) Deutschlands Außen- und Sicherheitspolitik, Opladen, 2. Auflage 2006; (ii) Die Vereinten Nationen, Opladen, 4. Auflage 2006 (mit Johannes Varwick); (iii) The United Nations, Houndmills und New York 2005 (mit Johannes Varwick). Dr. Matthias Gillner: Katholischer Sozialethiker, Fachbereich Sozialwissenschaften an der Führungsakademie der Bundeswehr, Interessenschwerpunkte: Moralphilosophie und Friedensethik, wichtige Publikationen: (i) Praktische Vernunft und militärische Professionalität. WIFIS-Aktuell Bd. 23, Bremen 2002; (ii) Weltgemeinwohl oder internationale Gerechtigkeit?, in: Justenhoven, Heinz-Gerhard/Schumacher, Rolf (Hrsg.): „Gerechter Friede“ – Weltgemeinschaft in der Verantwortung, Stuttgart: 2003, 154–170; (iii) Imperiale Ordnung und Theorien internationaler Gerechtigkeit, in: Jaberg, Sabine/Schlotter, Peter (Hrsg.): Imperiale Weltordnung – Trend des 21. Jahrhunderts. AFK-Friedensschriften Band 32, Baden-Baden 2005, S. 273–287. Dr. Sabine Jaberg: Politologin, Fachbereich Sozialwissenschaften an der Führungsakademie der Bundeswehr und Institut für Politikwissenschaft an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, Interessenschwerpunkte: Friedensforschung, Weltordnungsmodelle, deutsche Friedens- und Sicherheitspolitik, wichtige Publikationen: (i) Sag mir wo . . .? Auf der Suche nach der grundgesetzlichen Friedensnorm beim Streitkräfteeinsatz. Hamburg 2006 (Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg); (ii) Systeme kollektiver Sicherheit in und für Europa in Theorie, Praxis und Entwurf. Ein systemwissenschaftlicher Versuch. Baden-Baden 1998: Nomos Verlagsgesellschaft; (iii) Realtypen der Friedensforschung. Ein deskriptiv-analytischer Versuch, in: Calließ, Jörg/Weller, Christoph (Hrsg.): Friedenstheorie: Fragen – Ansätze – Möglichkeiten. Rehberg-Loccum 2003: Evangelische Akademie Loccum, S. 49–82. Dipl-Päd. Jörg Keller: Oberstleutnant und Pädagoge, Leiter des Forschungsprojekts Sozialwissenschaftliche Begleitung der Auslandseinsätze der Bundeswehr am Sozialwissenschaftlichen Institut der Bundeswehr in Strausberg, Interessenschwerpunkte: Auslandseinsätze der Bundeswehr, Konstruktion von Männlichkeit und Weiblichkeit in den Streitkräften, Organisationskultur und Organisationslernen, wichtige Publikationen: (i) Küss’ die Hand gnäd’ge Frau . . . – oder: Ist die Soldatin möglich?, in: Seifert, Ruth, Eifler, Christine, Heinrich-Böll-Stiftung (Hrsg.): Gender und Militär, Königstein Taunus 2003; (ii) Soldat und Soldatin – Die Konstruktion von Männlichkeit und Weiblichkeit am Beispiel von Printmedien der Bundeswehr, in: Ahrens, Jens-Rainer, Apelt, Maja und Christiane Bender (Hrsg.): Frauen im Militär. Wiesbaden 2005; (iii) Streitkräfte und ökonomisches Kalkül: Top oder Flop, in: Richter, Gregor (Hrsg.): Die ökonomische Modernisierung der Bundeswehr. Wiesbaden 2007: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Dr. Martin Kutz: Historiker, Wissenschaftlicher Direktor a.D. am Fachbereich Sozialwissenschaften an der Führungsakademie der Bundeswehr, Interessenschwerpunkte: Sozial-, Bildungs- und Kulturgeschichte des Militärs, wichtige Publikationen: (i) Deutsche Soldaten. Eine Kultur- und Mentalitätsgeschichte, Darmstadt 2006;

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(ii) Fantasy, Reality, and Modes of Perception in Ludendorff’s and Goebbels’s Concept of „Total War“, in: Chickering, Roger, Förster, Stig, Greiner, Bernd (Eds.): A World at Total War. Global Conflict and the Politics of Destruction, 1937–1945, Cambridge 2005, S. 189–206; (iii) Kutz, Martin (Hrsg.): Gesellschaft, Militär, Krieg und Frieden im Denken von Wolf Graf von Baudissin, Baden-Baden 2004. Dr. Alexander Mätzig: Oberstleutnant und Politologe, Fachbereich Sozialwissenschaften an der Führungsakademie der Bundeswehr, Interessenschwerpunkte: Ideegeschichtliche Grundlagen von Sicherheit, Regierungslehre, Publikation: Entscheidungsprozesse im Verteidigungsausschuss, Hamburg 2004. Professor Dr. Volker Matthies: Politikwissenschaftler/Friedensforscher, Fachbereich Sozialwissenschaften an der Führungsakademie der Bundeswehr und Universität Hamburg, Fakultät Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, Department Sozialwissenschaften, Institut für Politische Wissenschaft, Interessenschwerpunkte: Friedens- und Konfliktforschung, wichtige Publikationen: (i) Prävention internationaler Krisen im internationalen Rahmen, in: Hoffmann, Hans-Victor (Hrsg.): Netzwerk Kommunikation in Zeiten der Krise, Baden-Baden 2007, S. 199–212; (ii) Eine Welt voller neuer Kriege?, in: Frech, Siegfried/Peter I. Trummer (Hrsg.): Neue Kriege. Akteure, Gewaltmärkte, Ökonomie, Schwalbach/Ts. 2005, S. 33–52; (iii) Kriege am Horn von Afrika. Historischer Befund und friedenswissenschaftliche Analyse, Berlin 2005. Dr. Günter Mohrmann: Ökonom/Politologe, Fachbereich Sozialwissenschaften an der Führungsakademie der Bundeswehr, Interessenschwerpunkte: Weltwirtschaftsund Weltwährungssystem, Europäische Integration, ökonomische Aspekte internationaler Krisenbearbeitung, wichtige Publikationen: (i) Liberale in Bremen. Die FDPFraktion in der Bürgerschaft 1951–1991, Bremen 1991; (ii) Der Kampf um die knappen Wasserressourcen. Krieg und knappes Wasser?, in: Krech, Hans (Hrsg.): Vom II. Golfkrieg zur Golf-Friedenskonferenz, Bremen 1996, S. 367–391; (iii) Europa und der Euro. Stationen und Wirkungen der europäischen Währungsintegration, in: Führungsakademie der Bundeswehr/Fachbereich Sozialwissenschaften (Hrsg.): Europäische Integration. Prozesse, Strukturen, Zusammenhänge, Hamburg 1999, S. 88–125. Dr. Cornelia Schenke: Osteuropahistorikerin/Politologin, Fachbereich Sozialwissenschaften an der Führungsakademie der Bundeswehr, Interessenschwerpunkte: Politische Systeme Osteuropas (Russländische Föderation, Polen, Ukraine), Geschichte und Theorie des Nationalismus in Europa, Krieg und Erinnerung, Publikation: Nationalstaat und nationale Frage: Polen und die Ukrainer in Wolhynien (1921–1939), München und Hamburg 2004. Privatdozent Dr. Volker Stümke: Evangelischer Sozialethiker, Fachbereich Sozialwissenschaften an der Führungsakademie der Bundeswehr und Privatdozent für systematische Theologie an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal, Interessenschwerpunkte: Politische Ethik, Eschatologie, Theologie Luthers, wichtige Veröffentlichungen: (i) Das Friedensverständnis Martin Luthers. Grundlagen und Anwendungsbereiche seiner politischen Ethik, Stuttgart 2007; (ii) Überlegungen zur gegenwärtigen Folterdebatte, Hamburg 2007; (iii) Der Geist, der „in alle Wahrheit (Pflichtbeobachtung) leitet“. Zur Frage einer Pneumatologie bei Immanuel Kant; in: Glauben aus eigener Vernunft? Kants Religionsphilosophie und die Theologie, hrsg. von Werner Thiede, Göttingen 2004, 113–158.

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Dr. Maren Tomforde: Ethnologin, Fachbereich Sozialwissenschaften an der Führungsakademie der Bundeswehr und Institut für Europäische Ethnologie, HumboldtUniversität zu Berlin, Interessenschwerpunkte: Kultur, Identität, Interkulturelle Kompetenz, Religionsethnologie, wichtige Publikationen: (i) Towards Transnational Identities in the Armed Forces? German-Italian Military Cooperation in Kosovo, in: Joseph Soeters/Philippe Manigart (Eds): The Management of Cultural Diversity during Multinational Crisis Response Operations: A Comparative Analysis. Routledge: London, im Druck; (ii) „Einmal muss man schon dabei gewesen sein . . .“ – Auslandseinsätze als Initiation in die „neue“ Bundeswehr, in: Hagen, Ulrich vom (Hrsg.): Armee in der Demokratie: Zum Spannungsverhältnis von zivilen und militärischen Prinzipien. Sozialwissenschaftliche Beiträge. Berlin 2006: Verlag für Sozialwissenschaften; (iii) The Hmong Mountains: Cultural Spatiality of the Hmong in Northern Thailand. Berlin 2006: LIT Verlag. Professor Dr. habil. Elmar Wiesendahl: Soziologe, Leiter des Fachbereichs Sozialwissenschaften an der Führungsakademie der Bundeswehr, lehrte zuvor Politikwissenschaft an der Universität der Bundeswehr München, Interessenschwerpunkte: Parteien, Demokratietheorie, Eliten, Bundeswehr und Gesellschaft, wichtige Publikationen: (i) Elmar Wiesendahl (Hrsg.): Eliten in der Transformation von Gesellschaft und Bundeswehr, Ferdinand Schöningh Verlag, Paderborn etc. 2007; (ii) Elmar Wiesendahl (Hrsg.): Innere Führung für das 21. Jahrhundert. Die Bundeswehr und das Erbe Baudissins, Ferdinand Schöningh Verlag, Paderborn etc. 2007; (iii) Elmar Wiesendahl: Parteien, Fischer TB-Verlag 2006.