Mein Amtsbruder [Reprint 2021 ed.]
 9783112461563, 9783112461556

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QDetlag von GDeit F (Pomp, in £eip)ig, QUarienftraße 18

rSlir (EittfÜbtUnCI Die Sammlung ist bestrebt, die großen und brennenl den Fragen des LlnterrichtS und der Erziehung wie sie zweifellos Deutschlands gegenwärtiges Geschlecht in hohem Maße beschäftigen^ in einzelnen Monographien zu behandeln. Vieles ist auf dem Gebiete der Schule alt und morsch geworden und wird voraussichtlich den Krieg nicht lange überdauern, aber auch das Neue will mit Vorbehalt geprüft und erwogen und manche Frage in ihrem Für und Wider gründlich durchdacht werden. Das künftige Schicksal unseres großen Volkes erfordert Führer auf allen Ge­ bieten, und es ist durchaus nicht gleichgiltig, wie sein Schul- und Erziehungswesen bestimmt und gelenkt wird. Vor allem hat das neue Geschlecht, dem wir den unglück­ seligsten und schreckhaftesten aller Kriege mit seinen schweren Folgen überliefern, ein Anrecht, von uns ernste Beweise und aufrichtigstes Bestreben einer Wiederherstellung vernichteter Werte und Güter zu fordern. Tausend Lücken klaffen, es fehlen Väter und Arbeitskräfte, Alle Gebiete des öffentlichen Lebens in der Landwirtschaft und Industrie, des Handels und Gewerbes verlangen gut geschulte Kräfte. Deutschlands geistiges Leben sehnt sich nach Vertiefung und Verinnerlichung, und die nackte Existenz­ frage erfordert eine materielle Basis. Daher ist ein Doppeltes anzustreben, auf den inneren wie den intellektuellen Menschen, auf Charakterbildung wie Aneignung von fruchtbringenden Kenntnissen hinzuarbeiten. Diese Ziele mit anzustreben, soll Aufgabe unserer Sammlung sein. Lier sollen Männer wie Frauen verschiedener Berufsrichtung zu Worte kommen, nicht etwa ausschließlich der im Fache stehende Schulmann, und es sollen alle größeren Gebiete der körperlichen wie geistigen Erziehung und des Unter­ richts bis hinauf zu den Lochschulen zur Sprache gebracht werden. Auf diese Weise wird nach und nach eine Art Enzyklopädie der Erziehung und deS Unterrichts ent­ stehen, die von den bereits vorhandenen sich dadurch unterscheidet, daß sie zwar keine Stichworte enthält, wohl aber eine möglichst umfassende monographische Behandlung der einzelnen Gegenstände bieten wird. Die Herausgeber.

Aus den bereits unter der Presse bezw. in Vorbereitung sich befindenden Arbeiten seien nachstehende angeführt.

Es sind erschienen:

l)esi 1

Für und wider die allgemeine Volksschule

—von Schulrat Dr. Richard Seqfert und Prof Dr. §. w. Foerster Preis geheftet M. 2.40 Die Frage der allgemeinen Volksschule hat durch den Krieg an Vedelltung und Wucht ge­ wonnen. Es geht nicht länger mehr an, daß man mit vorgeblichen pädagogischen Gründen die Standes­ unterschiede schon in der Beschulung der kleinsten Kinder geltend macht. Der einheitliche Gedanke, der mit unwiderstehlicher Kraft alle Verhältnisse durchdringen wird, muß überall, wo Trennungen überflüssig sind, damit aufräumen und die innere Einheitlichkeit unseres Volkes durchsetzen. Bon gewaltsamer Gleichmacherei ist hier keine Rede. Es wird nicht mehr verlangt, als daß die Grundstufe aller Bildungsgänge gemeinsam sein soll, weil sie es sein kann, ohne daß irgendein erziehlicher Zweck beeinträchtigt wird, weil sie es sein muß, wenn man einen planmäßigen Aufbau des gesamten Bildungs­ wesens erstrebt. Die vorliegende Schrift versucht es, die Kreise, die der Schule fernstehen, für die allgemeine Volksschule zu erwärmen und zu getvinnen. Die Frage der Einheitsschule wird in der Schrift zwar gestreift, aber nicht ausführlich behandelt. Ehe die Einheitsschule kommen kann, muß die allgemeine Volksschule für die Kinder vom 6. bis 10. Lebensjahr da sein. Lediglich um diese handelt es sich und um eine einheitliche Volksschule, neben der die höheren Schulen zu Recht bestehen. R. Seysert.

GesamtteuerungSzuschlag bis auf weiteres 25% (Fortsetzung auf Seite 3 des Umschlages.)

Das neue Deutschland in Erziehung und Unterricht Lerausgegeben

von

Prof. Dr. Bastian Schmid

und

Privatdoz. Dr. Max Brahn in Leipzig-Gohlis

in München

Heft 4

Mein Amtsbruder Von

Dr. phil. August Graf v. Pestalozza Direktor des Königl. Kaiser Wilhelms-Realgymnasiums zu Berlin

Leipzig Verlag von Veit & Cornp.

1918

Mein Amtsbruder Von

Dr. phil. August Graf v. Pestalozza Direktor des Königl. Kaiser Wilhelms-Realgymnasiums zu Berlin

Leipzig Verlag von Veit L Comp. 1918

Alle Rechte, einschließlich des Übersetzungsrechts, Vorbehalten..

Die Überschrift, unter der ich die folgenden Betrachtungen zusammenge­ faßt habe, bedarf einer kurzen Rechtfertigung. Sie läßt keinen Zweifel darüber, daß ich von dem alten lieben „Kollegen" und von seinem Verhältnis zu seinen Amtsgenossen, das in der „Kollegialität" zum Ausdruck kommt, reden will. Was mich bewog, nicht die Kollegialität als Gegenstand meiner Betrachtungen zu bezeichnen, war nicht die Scheu vor dem Fremdwort. Denn niemand wird sich verhehlen, daß trotz der Berechtigung des Kampfes gegen alle Ausländerei im sprachlichen Ausdruck manche alteingesessene Fremdwörter uns lieb und wert geworden sind, die wir nicht vermissen möchten. Auf Worte wie Genie, Talent, Ideal hat deutscher Dichtermund den Bruderkuß gedrückt, und sie adeln unsere Sprache nicht nur, sondern verklären auch deutsches Wesen, wie der Humanis­ mus als Wort und als Inhalt der Kultur unseres Volkes das geistige Gepräge verleiht. Mögen wir auch im Kriege aller Sentimentalität abgeschworen haben, das gefühlvollere, liebtraute „Kollege" wird dem papierenen, zurzeit nur im schriftlichen Verkehr üblichen „Amtsgenossen" trotz der Ächtung aller Fremd­ wörter kaum seinen Platz im Herzen des „Lehrerkollegiums" räumen müssen. Hat doch auch dieses selbst weder vor dem unbeseelten „Lehrkörper" noch vor der begrifflich zu weiten „Lehrerschaft" als lästiger Eindringling abgetan werden können. Sollte also der „Amtsbruder" den Kollegen oder den Amtsgenossen zum Weichen bringen? Für einen mit Sprachgefühl begabten Philologen, der gewöhnt ist, dem Rhythmus unserer Muttersprache feinfühlig zu lauschen, dürfte es nicht schwer sein, unter diesen Drillingen zur Bezeichnung der Ver­ treter einer gleichen Berufstätigkeit den wohllautenderen ausfindig zu machen. Und doch! Ist nicht der Amtsbruder längst in theologischen Kreisen heimisch? Aber ich glaube nicht, daß er sich jemals in Lehrerkreisen Eingang schaffen wird. Wenn er gleichwohl diese Betrachtungen einführen soll, so geschah es, vielleicht un­ bewußt im Hinblick auf die Theologen, daß sich in dem Wort „Amtsbruder" inniger als bei dem steifen Amtsgenossen das Gefühl der Liebe und des Vertrauens offenbaren möchte, das uns Lehrer untereinander beseelen soll, und daß es uns bewußter als das oft gehörte „Kollege" für einen Augenblick aus dem Alltag des Berufs loszureißen und in stiller Betrachtung und Einkehr auf die sonnigen Höhen des Berufsideals zu führen vermag. In diesem Sinne mag der „Amts­ bruder" eines jener heiligen Worte werden, die durch ihren Klang schon die für die Betrachtung reiner Innenwelt nötige Stimmung in uns auslösen: so ver­ standen werde das Wort uns zum Symbol! Als der Gedanke, über die Verhältnisse des Amtsbruders zu schreiben,

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in mir zum Entschlüsse herangereift war, da wurde mir bald klar, daß ich, um in den Kern der Kollegialität dringen zu können, tiefer graben müsse, als bei der ausschließlichen Benutzung von Erziehungsschriften möglich gewesen wäre. Das weite Gebiet der Psychologie und Ethik breitete sich vor meinen Blicken aus; die Verhältnisse der Schule zum Staat und zur geistigen Kultur, wie sie uns Friedrich Paulsen mit dem geübten Auge des Pädagogen und Philosophen in einer in der „Deutschen Rundschau" veröffentlichten Abhandlung (Sonder­ druck bei Vieweg, Braunschweig 1904) dargelegt hatte, die Erbauungsschriften eines Thomas L Kempis und eines Franz von Sales (Introduction ä la vie devote), Dramen und Schauspiele wie Ibsens „Brand" (5. Aufzug), „Rosmersholm" (Kroll und Rosmer), dazu auch, um noch Einzelheiten zu erwähnen, Schummels überkomischen Roman von „Spitzbart", ferner die Erinnerungen an Rochows treuherziges Zusammenarbeiten mit seinem Lehrer Bruns, Pesta­ lozzis bittere Schulzeit mit dem Amtsgenossen der Hintersassenschule zu Burg­ dorf: dies und mehr noch stürmte auf mich ein und wollte bei der Schilderung der Kollegialität nicht übergangen sein. In dies alles aber mischten sich die Akkorde des wirklichen Schullebens; liebgewordene, vorbildliche Kollegen standen mir ungeahnt Modell. So gewann aus Büchern und Erfahrung das Bild der Kollegialität allmählich festere Gestalt. Geformt aus Wahrheit und Dichtung, erwuchs mir die Jdealgestalt des Amtsbruders. Unter Kollegium versteht man schlechthin das wechselseitige Verhältnis, aller Mtglieder einer durch die gleiche Berufstätigkeit verbundenen Arbeits­ gemeinschaft. Kollegialität ist das auf gegenseitiger Achtung beruhende und durch tatkräftige Förderung der Berufsziele den Berufsgenossen bezeugte Wohlwollen. Jeder Stand, der in seiner Geschlossenheit die Förderung einer Kulturaufgabe sich zum Ziele gesteckt hat, und sich eines Ideals bewußt geworden ist, das zu fördern im Interesse, sei es der Menschheit überhaupt oder der Volks­ gemeinschaft im besonderen, ihm daran gelegen ist, stellt daher eine Gesamtheit von Berufsgenossen dar, deren Arbeitsleistung nur durch gegenseitige, wohl­ wollende Förderung auf das allen Berufsgenossen vorschwebende Ziel einge­ stellt werden kann. In diesem Sinne ist es erlaubt, jede Berufsgemeinschaft als Kollegium anzusprechen, ist es aber auch weiterhin geboten, allen Mitgliedern einer Berufsgemeinschaft Kollegialität zur Pflicht zu machen, und zwar zur Pflicht nicht nur um der Förderung der engeren Standesinteressen willen, sondern auch zum Wohle des höheren Ganzen. Wir sind deshalb berechtigt, auch beim Kaufmansstand, bei dem doch die Interessen des einzelnen einander zu widerstreben scheinen, von Kollegialität zu reden. Dieser nämlich wider­ spricht die gerade hier bodenständig gewordene „Konkurrenz". Wenn aber auch dieser Stand ernstlich darauf bedacht sein will, für seinen Teil an der Förderung

der Kulturwerte mitzuschaffen, wenn er sich also in seiner Gesamtheit höhere Ziele gesetzt hat, als der bloße Gelderwerb sie verfolgen kann, dann wird er, nicht bloß um sein Ansehen zu heben, sondern um ein brauchbarer und wert­ voller Teil des allgemeinen Ganzen sein zu können, darauf bedacht sein müssen, daß alle seine Glieder sich der Kulturaufgabe, deren Lösung diesem Stande zu­ fällt, bewußt werden. Dieses Bewußtsein, die Besinnung auf höher gesteckte

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Ziele wird in dem einzelnen ein Gemeinschaftsgefühl auslösen, das ihn dazu treibt, zu seinen Standesgenossen in jenes Verhältnis des Vertrauens und des Wohlwollens zu treten, das zur Errichtung des gemeinsam erstrebten Zieles Vorbedingung und Grundlage ist. Wozu, so mag man mich fragen, dient dieser Spaziergang in weit ent­ legene Gebiete, wo hier doch einzig und allein von der Kollegialität unter Lehrern die Rede sein soll? Weil es gilt, antworte ich, das große Ganze zu erfassen, ehe wir mit einem seiner Teile uns vertraut machen wollen. Schelling sagt in seinen „Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums": „Der besonderen Beziehung zu einem einzelnen Fach muß die Erkenntnis des orga­ nischen Ganzen der Wissenschaften vorangehen. Derjenige, der sich einer be­ stimmten ergibt, muß die Stelle, die sie in diesem Ganzen einnimmt, und den besonderen Geist, der sie beseelt, sowie die Art der Ausbildung kennen lernen, wodurch sie dem harmonischen Bund des Ganzen sich anschließt, die Art also auch, wie er selbst diese Wissenschaft zu nehmen hat, um sie nicht als ein Sklave, sondem als ein Freier und im Geiste des Ganzen zu denken". Unsere Betrach­ tungen über die Kollegialität unter Lehrern sollen uns in gewissem Sinne auch zu einer Wissenschaft führen, wobei dieses Wort Wissenschaft in dem ein­ fachen sokratischen Sinne des Wissens von oder über etwas verstanden sein soll. Wir wollen uns unseres Verhältnisses zu unseren Amtsbrüdem bewußt werden. Auch dieses Wissen soll uns zu einem Tun führen, in die Tat umge­ setzt, als Tüchtigkeit, als Tugend sich äußern, und zwar als Tugend der Kolle­ gialität. Man ist gewohnt, über diesen Ausdruck zu lächeln; nicht mit Unrecht, wo die Tugend sich auf den Gassen breit zu machen sucht. Aber noch immer ist sie „der Namen für das Ganze des pädagogischen Zweckes", noch immer ist sie „die in einer Person zur beharrlichen Wirklichkeit gediehene Idee der inneren Freiheit". (Herbart, Umriß pädagogischer Vorlesungen. § 8.) Wir werden in der Folge noch Gelegenheit haben, das Verhältnis von Kollegialität und innerer Freiheit darzulegen. Doch wollen wir nicht vergessen, daß Tugend und Tat Schwestem von gleichem Blut sind, mag auch diese sich jener gegenüber jetzt als Königin fühlen und der Tugend die Aschenbrödelrolle zugedacht haben. Die wechselnde Stellung beider in der Erziehungsgeschichte zu untersuchen und ihr Verhältnis zum Zeitgeist zu beleuchten, dürfte eine lohnenswerte Auf­ gabe sein. Aus dem Gesagten erhellt, daß auch das Wissen von der Kollegialität sich nicht nur auf das Verhältnis der Amtsgenossen untereinander festlegen darf. Darüber hinaus gilt es, sich der Aufgabe, des Lehrerberufes innerhalb der Kultur­ gemeinschaft der Nation bewußt zu werden. Hier müssen wir uns verankern, hier hinein die Sonde legen, um Wesen und Umfang, aber auch die Grenzen der Kollegialität zu bestimmen. Nicht bloß die Fenster des Schulzimmers, auch die Fenster des Lehrerzimmers müssen weit genug geöffnet sein, daß unser Auge, nicht durch die vier Mauern gefangen gehalten, frei hinausblicken mag in die weite, sonnenbestrahlte Welt. Wir müssen uns dessen bewußt werden, daß die engere Berufsgemeinschaft nur ein Ausschnitt der umfassenderen Gemein­ schaft ist, in deren Schoße wir alle ruhen: das Vaterland, die Menschheit. Aber

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auch der engere Kreis, in dem jeder unserer Amtsbrüder lebt und wirkt, die Familie, hat mit unserm beruflichen Wirkungskreis manche Schnittpunkte ge­ meinsam. An ihnen dürfen wir nicht achtlos vorübergehen. Unser nachempfin­ dendes Verständnis für Familiensorgen kann aus dem Vertrauens- und Zu­ trauensverhältnis zu unserm Kollegen nicht ganz ausgeschaltet werden, wenn wir in ihm nicht bloß den Amtsgenossen achten, sondem auch als Amtsbruder mit ihm fühlen wollen. Der Begriff der Kollegialität wäre nicht vollständig erschöpft, wenn wir ihre Zweckbestimmung außer acht lassen würden, die sich uns als gemeinschaft­ liches Einwirken auf ein allen vorschwebendes Ziel darstellt. Gerade dadurch fügen wir sie in das Ganze der Erziehungsarbeit und des Erziehungswesens ein. Durch diese Einreihung und feste Verknüpfung mit der Erziehungsauf­ gabe wird die Kollegialität ein Erziehungsmittel. Die bloße Eintracht der Lehrer bedeutet noch nicht Kollegialität; diese würde dadurch zu einem, wenn auch immerhin wertvollen Freundschaftsbund von Gleichgesinnten. Die sie verbindende Zielbewußtheit ist ein unbedingtes Erfordernis des „kollektiven Charakters der Erziehung". O. Willmann, dessen „Didaktik als Bildungslehre" ich diesen Ausdruck entlehne, weist nachdrücklich auf die „Kolliktivgestaltung" (I, 20) des Erziehungswesens, auf das „homologe Tun" (ebenda) der Erzieher, hin, mit ihm freilich alle jene, die der Jndividualerziehung gegenüber den sozi­ alen Charakter der Erziehung betonen. Es erübrigt sich hier, auf die Notwendigkeit einheitlichen Verfahrens (einheitlich natürlich in ziemlich weitem Rahmen) sowohl beim Unterricht als auch bei der Erziehung im besonderen hinzuweisen. Die Kollegialität darf nicht bloß ein pium desiderium einer Schule sein, es genügt nicht, sie bloß als Verträglichkeit von Berufsgenossen im schiedlichfriedlichen Amtsverkehr zu bezeichnen; sie gehört hinein in das Geäder, in die Mus­ kulatur des erziehlichen Organismus; sie ist selbst ein Organon der Erziehung. Nicht bloß unsertwillen, der Schüler willen sollen und müssen wir kollegial miteinander verkehren. Denn darüber sind wir uns doch alle eins, daß alles, was im Dienste der Erziehung steht, sich organisch in diese muß einfügen lassen. Insofern bedarf jede Wissenschaft der Architektonik*), und so möchte man im Hinblick auf den methodischen Aufbau der Wissenschaften wohl von einer Ästhetik der einzelnen Wissenschaften reden können. Der Genuß, den uns die lückenlos aufgebaute Darbietung eines Wissenszweiges verschafft, befriedigt unsere Sehnsucht nach dem Schönen und steht in nichts der Befriedigung nach, die die dargebotene Wahrheit in unserer Seele wachruft. So reiht sich die Kollegialität nicht bloß ethisch, sondern auch ästhetisch in das Ganze der Er­ ziehung ein. Es kann nicht meine Absicht sein, den hier angedeuteten Problemen in ihrer ganzen Tiefe und Weite nachzugehen; aber wenigstens darauf hinge­ wiesen zu haben, erscheint als eine Notwendigkeit. Wir befinden uns in der Lage des Wanderers, der Höhen und Täler durchzieht: kann er'auch nicht auf alle Gipfel klimmen noch in alle Tiefen steigen, so freut sich sein Auge doch

1 Schon 1816 schrieb Jäsche eine „Architektonik der Wissenschaften".

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des fernen Anblicks, und die Wegetafeln, an denen er raschen Schrittes vorüber­ zieht, weisen ihm freundliche Ziele, denen er auf einer späteren Wanderfahrt zuzustreben hofft. Beruf und Amt, durch soziale Bedingtheiten äußerlich in der Regel vereint, treten in unserm Innersten nicht selten in unlösbarem Zwiespalt auseinander, indem die sittlichen Grundsätze unserer Berufsauffassung mit den bestehenden Obliegenheiten unseres Amtes in Widerstreit geraten. Freie Menschen, nicht gebunden durch die Fesseln der Sorge um Erwerb und Fort­ kommen, finden, wenn die Stimme der Ehre und des Gewissens nicht von den Lockungen des Ehrgeizes erstickt wird, einen bündigen Ausweg aus diesem Zwiespalt: durch entschlossene Verzichtleistung auf ihr Amt. Andere, und sie sind in der Mehrzahl, die des Lebens Not und Verpflichtungen gegen die Familie an das Amt binden, erliegen in diesem Kampfe zwischen den Anforderungen des Amtes und den idealeren Forderungen des Berufes und finden sich in mürrischer Ergebenheit und Unterwürfigkeit mit dem Mißklang in ihrer Lebens­ arbeit ab. Die Berufsmenschen, nicht die Amtsmenschen, ringen sich zur voll­ endeten Synthese der Amtspflichten und Berufsauffassung durch. Ihre Ideale saugen die einengende, stets bedingende Nüchternheit des wirklichen Lebens in sich auf, ohne an ihrem Feuerglanze zu verlieren oder aus ihrer strahlenden Feme in die Prosa der Alltagsarbeit zu versinken. Nicht auf allen Kulturstufen der Menschheit bestand jene Zweiheit von Amt und Bemf, zu der sie heute unzertrennlich verbunden erscheinen. Die älteste Zeit kannte nur den Bemf, im Kampfe mit den Allgewalten der Natur sich das Leben zu erhalten und zu gestalten. Erst, als der Mensch, heraustretend aus der Urwüchsigkeit der rauhen Lebensart, sich über den Alltag hinaus Ziele setzte und staatliche Gebilde aus dem Grund- und Wurzelstock der Familie und Gemeinde zum Aufkeimen brachte, schuf er mit der Verteilung der Obliegen­ heiten auf die einzelnen der Gemeinde das Amt. Der auf das Praktische gerichtete Sinn der Römer kannte nur den cursus bonorum, die durch den Ablauf einer bestimmten Anzahl von Jahren geregelte Stufenfolge der Ämter. Die Betäti­ gung des einzelnen in der sozialen Gemeinschaft findet ihre Verwirklichung durch das Amt, bei dessen Wahl, von der Berufung durch das Volk abgesehen, schlechthin äußere Faktoren, wie Familienrücksichten, Herkommen im Geschlechts­ verbände oder, in späterer Zeit, auch kaiserliche Gunst, entschieden. Dem Römer wie dem idealer veranlagten Griechen, der seine Bürgerrechte und Bürger­ pflichten ausübte, war, solange die philosophische Aufklärung nicht dasJnnenleben beleuchtete, die Vorstellung von Beruf im Sinne subjektiven, rein indi­ viduellen Betätigungsdranges unbekannt. Und doch ringt auch hier die intuitive Schaffenskraft der Dichtung sich selbstherrlich durch zur Gewißheit innerer Bewertung. Poeta nascitur, non fit! Der vates, Dichter und Seher zugleich, ist von seinem Gotte erfüllt, ein innerer Drang nötigt beide zum Schaffen, „wenn machtvoll des prophetischen Gottes begeisternder Hauch sie fortstürmt". (Eurip. Jphig. A. 750.) In Sophokles' Antigone möchte man, ins Moderne übertragen, in dem Seher Teiresias den Hofgeistlichen wiedererkennen, der die Forderungen des Berufes nicht in den engen Schranken seines Amtes erstickt wissen will. Im Sokratischen Daimonion ist es nicht mehr der Seher, der Dichter

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allem, der auf die innere Stimme hört. Sokrates kann und will sich dem Rufe nicht entziehen, ein Seelenarzt zu sein: er ist Philosoph von „Beruf". In Platons „Kriton" entdecken wir den ersten Keim des Berufes. Freilich ist er hier noch auf die Tätigkeit des Philosophen beschränkt, der aus innerem Drange heraus, aber auch mit selbsteigener Verantwortung seinem Berufe nachgeht. Die Ver­ innerlichung des Berufsbegriffes und seine Herausstellung gegenüber dem des Amtes vollzieht sich erst auf dem Boden des Christentums. Die Theokratie der Alten—in Indien, Ägypten, Persien, bei den Israeliten—stellt den Priester, den Propheten, als einen Gottbegnadeten noch immer außer die Gemeinde. Erst das Christentum kennt nicht bloß einen allgemein menschlichen Beruf, sondern verleiht jedem Stande die eigentliche Berufsweihe. Diese Lehre von der Gleichheit aller Menschen vor Gott ist nicht bloß ein soziales Evangelium; sie hebt das Bewußtsein des einzelnen und nötigt ihn, Eigenwerte in sich zu entdecken. Denn Gottes Stimme ruft auch in ihm. Des Verhältnisses von Beruf und Amt muß sich derjenige bewußt sein, dem es aus dem Innersten seines Herzens ernstlich darum zu tun ist, Kolle­ gialität nicht bloß von seinen Amtsgenossen zu fordern, sondern auch seinerseits sich an kollegiale Pflichten und Rücksichten gebunden zu wissen. Der kollegiale Geist der Lehrergemeinschaft einer Anstalt kann nicht auf die Forderungen eines platten Utilitarismus eingestellt sein, der mit Thomas Hobbes in der gegenseitigen Hilfeleistung nur ein Gebot des recht verstandenen Eigeninteresses erblickt. Um dieser Gefahr vorzubeugen, setzten wir die Kollegialität in enge Beziehung zu den Betätigungen der Erziehung selbst; das mußte uns dazu führen, die bloße Schul­ gemeinschaft der Lehrer mit den anderen Gemeinschaften des Volksganzen durch gemeinsame Kulturziele zu verknüpfen und schließlich auch den aus unserm Wirtschaftsleben sich ergebenden Dualismus von Amt und Beruf durch das Postulat der inneren Freiheit zu beseelen. So schließen sich Kultur und Staat, Volksgemeinschaft und Schulgemeinschaft, Beruf und Amt, die Würde reinen Menschentums und staatsbürgerliche Verpflichtung in konzentrischen Kreisen zusammen, als deren belebender Mittelpunkt sich uns die Kollegialität darstellt. Nicht darauf konnte es abgesehen sein, die Fülle der Gelegenheiten zu erschöpfen und an Einzelvorkommnissen darzulegen, wie die Kollegialität zu betätigen sein möchte. Der echte Geist der Kollegialität läßt sich durch das Seziermesser psychologischer Analyse auch vom sorgsamsten Beobachter nicht zerlegen und in seiner Anwendung auf willkürlich herausgegriffene Vorkommnisse des Schul­ alltags zur Darstellung bringen. „Wenn ihr's nicht fühlt, ihr werdet's nicht erjagen!" Das soll uns aber nicht entmutigen, auf Mittel und Wege zu sinnen, den Geist der Kollegialität durch bewußte Übung zu pflegen und zu nähren. Denn auch die Kollegialität will, wenn ich so sagen darf, erst angelernt sein, auch sie muß.ihre Schule durchmachen. Collega non nascitur, sed fit. Mag es immerhin Temperamente geben, die jedem Menschenkinde aus angeborenem Triebe gut­ gesinnt sind. Aber die Kollegialität, als Pflicht aufgefaßt, wird mit andern Pflichten in Widerspruch geraten und muß daher nach Grundsätzen orientiert sein, die ihr die Wege weisen.

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Die Kinderstube der Kollegialität ist unser eigenes Leben als Schüler. Die Kameradschaftlichkeit unseren Schulkameraden gegenüber ist der erste Keim der Kollegialität. Hier zeigt sich schon der werdende Kollege. Die Jünglingsjahre, um beim Bilde zu bleiben, erlebt die Kollegialität im Universitätssemmar und besonders im pädagogischen Seminarjahre. In diesem sowohl wie in jenem soll der werdende Lehrer lernen, auch demjenigen gegenüber, der ihm seine Abhängigkeit durch fühlbaren Druck beim Examen oder bei der Zulassung zum Lehrerberuf verspüren lassen könnte, seine Über­ zeugungen offen zu bekennen und nicht durch dienerisches Nachgeben über seine vielleicht anders denkenden Kommilitonen sich in den Augen seines Uni­ versitätslehrers oder Seminardirektors zu stellen. Im Seminarjahre besonders ist Gelegenheit, die Kollegialität durch williges sich Ein- und Unterordnen im Hinblick auf höhere Ziele durch die Tat zu bekunden. Dazu hat der Seminar­ kandidat, da er noch nicht ein vollgültiges Mitglied des Lehrerkollegiums ist und sich als solcher klugerweise abseits von Meinungsstreitigkeiten halten wird, vielfach die Möglichkeit, als stiller Zuschauer das kollegiale Verhalten der Lehrer zu beobachten. Zu den Mitteln, die dazu dienen, die Kollegialität auch in späteren Jahren zu stärken und zu heben, rechne ich vor allem die Lektüre von Schriften, die sich mit den Aufgaben des Lehrerstandes befassen. Die Kollegialität beruht auf dem Gefühl der Zusammengehörigkeit, auf dem Bewußtsein der Geschlossenheit des Standes. Meses Bewußtsein bedeutet mehr als ein bloß unbestimmtes Gefühl der Arbeitsgemeinschaft an derselben Schule. Was den Kollegialgeist der Anstaltslehrer in ungetrübter Reinheit erhält und über Mißhelligkeiten des Alltags emporhebt, das ist die Überzeugung von der Wichtigkeit ihrer Auf­ gaben für das Kulturleben des Volkes. Eine Schrift wie Friedrich Paulsens „Die höheren Schulen Deutschlands und ihr Lehrerstand in ihrem Verhältnis zum Staat und zur geistigen Kultur" (Vieweg, Braunschweig. 1904. 31 Seiten) hebt nicht nur unser Standesbewußtsein, sondern vergeistigt und verinnerlicht auch unser Verhältnis zu unsern nächsten Mitarbeitern an der Schule, der wir angehören. Solchen von Begeisterung getragenen Worten gegenüber wirken erbitterte, in Standesblättem oft in aufdringlichen Settent gedruckte Hinweise auf sogenannte Verfehlungen gegen die Standesehre wie Mehltau auf die frisch aufkeimende Blüte unseres von Idealen durchglühten Standesbewußtseins; Aufdeckung von Mißgriffen von Berufsgenossen, wie man sie in der auf dem Zeitungswege erfolgten Bekanntgabe und Anpreisung von Privatstunden, Schülerpensionen usw. erkennt oder zu erkennen glaubt, ist mehr dazu ge­ eignet, den Stand zu schädigen als zu heben. Denn der Gegner hält sich eben daran und sieht darin, anders als wir, keine Ausnahmen, sondem die Regel; der echte Geist der Kollegialität erwächst aus der hellen Freude am Berufe, die nichts trüben kann, und aus einer Berufsauffassung, die die höchsten Ziele in sich schließt. Auch die Kandidaten möchte ich an der Kollegialität teilnehmen lassen, nicht bloß aus rein menschlichem Gefühl, sondern auch, um sie zur Kollegialität heran­ zubilden. Auch das gehört mit in die Vorbereitungszeit, in die praktische Aus­ bildung zum Lehreramt. Ich spreche hier, Gott sei's gedankt, nicht aus eigener

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Erfahrung. Denn ich habe an den beiden Schulen, denen ich als Seminar­ kandidat überwiesen war, ein recht freundliches, gutgesinntes Lehrerkollegium gefunden. Den Dank, den ich ihm seit Jahren im Herzen trage, möchte ich endlich an dieser Stelle abstatten. Aber was weiß ich vom Hörensagen! Mag manches vielleicht im Munde des Berichterstatters infolge augenblicklicher Erregung und verletzten Ehrgefühls in zu düstere Farben gemalt sein, wir Oberlehrer wissen doch alle recht gut, daß die Kollegialität gegenüber den Kandidaten mit der Kameradschaftlichkeit zwischen Offizier und Fahnenjunker keinen Vergleich aushält. Es steckt leider zuviel Amtsdünkel, namentlich in jüngeren Oberlehrem. Nach Jahren des Druckes, auf der Schule, im Universitätsseminar, im Examens­ jahr, im Seminar- und Probejahr fühlt man sich endlich! Niemand könnte sagen, was man sich eigentlich fühlt. Aber wenn unser Gefühl, geläutert, ge­ reinigt und gehoben vom Studium der Psychologie, der Philosophie und nicht zuletzt doch von einer tiefer grabenden Wissenschaft selbst, wirklich veredelt wurde, dann sollte es uns abhalten, Gleiches mit Gleichem zu vergelten. Die Kollegialität, die in den Idealen der Pädagogik verankert ist, schließt auch die Kandidaten mit ein. Das Amt macht hochmütig, der Beruf demütig! Wenn wir auf das sehen, was vor uns liegt, was wir noch zu leisten haben, was wir noch dazu lernen müssen, dann müssen auch wir uns noch als Kandidaten fühlen. Ja, können wir nicht auch noch von dem Kandidaten lernen, von dem noch ungetrübten Idealismus dieser anima candida? Vielleicht könnten gerade wir hier der empfangende Teil sein. Ein Grund mehr zur Kollegialität, deren Wesen Geben und Nehmen ist. Wer endlich die Überzeugung gewonnen hat, daß die Kollegialität mit der Erziehungsaufgabe der Schule organisch verbunden ist, der wird auch in den Vorschul- und Mittelschullehrern seiner Anstalt vollwertige Kollegen erblicken. Oder wollen wir, wie Plato einmal spöttelnd sagt, „nur obenhin des Redens wegen" (Kriton 6) den innersten Kem der Kollegialität aus dem Wesen der Erziehung selbst verstanden haben, dieses alles aber „als müßiges Geschwätz" nicht gelten lassen, wenn unserer Amtseitelkeit zu nahe getreten werden könnte? Man ereifert sich doch sonst so sehr für das „Kollegialsystem" im Verhältnis von Anstaltslehrern und Direktor. Dazu kommt aber noch, daß wir doch in den Augen der Schüler, deren Erziehung auch den Vorschullehrern anvertraut ist, diese nicht als Lehrer zweiter Qualität erscheinen lassen dürfen. Haben doch selbst die Oberlehrer die pädagogische Vorbildung dieser zum Ausgangspunkt ihrer Fordemngen nach gründlicherer pädagogischer Vorbildung des akademischen Lehrerstandes genommen. Wie endlich sollten wir Oberlehrer unsern Schülem von den gerade in den staatsbürgerlichen und sozialen Erziehungsgedanken gepflegten Gmndsätzen der Gleichwertigkeit aller Bemfe durch eigenes Vor­ bild Rede und Antwort stehen, wenn wir schon innerhalb der Schulmauem Unterschiede der sozialen Stellung geflissentlich und offenkundig betonen? Ich glaube nicht, daß wir das dürfen, wenn unsere Gesinnung ehrlich sein soll. Auch der Vorschullehrer ist unser Amtsbruder. Der Hinweis daraus, daß die Vorschule nicht abgeschäfft werden dürfe, weil ihr Unterricht als Vorstufe zum Gymnasialunterricht diesem organisch angegliedert sein müsse, ist eitles Gerede,

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wenn wir das, was wir im Hinblick auf den Unterricht aussprechen, wieder zurücknehmen, sobald es sich um jene handelt, die diesen Unterricht erteilen. Unsere Betrachtungen über die Kollegialität lassen uns auch an die Freund­ schaft denken. Freilich, zwischen beiden mag ein so großer Unterschied walten, wie zwischen Prosa und Lyrik, obwohl auch erstere lyrisch und die letztere recht prosaisch sein kann. Doch möchte ich jedem Kollegen wünschen, er könnte etwas von dem Geiste, der aus Ciceros De amicitia uns anweht, auch auf die Kolle­ gialität übertragen. Ich denke dabei an das Sichhinaufbilden und Höherwerden und Wachsen an dem edlen Vorbilde des Freundes, an die Grenzen insbesondere, die der Freundschaft und damit auch der Kollegialität gesetzt sind. Eine Frage mag in Bezug auf unsere Betrachtungen besonders sich uns aufdrängen. Fördern Freundschaften unter Amtsgenossen die Kollegialität der Gesamtheit oder sind sie ihr ein Hemmnis? Ich glaube den ersteren Teil der Frage vemeinen zu müssen. Freundschaften innerhalb des Lehrerkollegiums führen leicht zur Bildung von Parteigruppen, zu Absonderungen von dem Ganzen. Ich möchte nur eine Ausnahme gelten lassen in Fällen, wo ein wirklicher Charakter- und Herzens­ bund zwei Männer, in wechselseitigem Vertrauen zusammengeschlossen, durch das Leben führt. Harum genus! et quidem omnia praeclara rara. Gar manche jener Kollegenfreundschaften waren und sind nur zu häufig der erste Keim zum Zwiespalt im Lehrerkollegium und enden nicht selten auch in erbitterter Feindschaft. Dort, wo ein Wechsel politischer oder religiöser Anschauungen, zumeist wohl der ersteren, aus befreundeten Männern Feinde macht, mag auch das abseits stehende Lehrerkollegium mit aufrichtigem Bedauem diesen Zwie­ spalt zur Kenntnis nehmen. Kann der Geist der Kollegialität noch rein und lauter erhalten bleiben, wo zwei Lehrer verschworene Feinde geworden sind ? In Ciceros De amicitia (77) entdecken wir das lösende Wort, das nicht nur dem Kollegium die Eintracht bewahren, sondern auch den geschiedenen Kollegen ehrenvollen Frieden'verbürgen und sie vor der Gefahr erretten wird, sich um so mehr mit Haß zu verfolgen, als sie vorher sich Liebe entgegenbrachten. Ciceros Rat bei solchem Zerwürfnis ist dieser: ein tale aliquid obvenerit,utextinctae potius amicitiae quam oppressae videantur. Verglühen sollen die Flammen, damit sie nicht mehr die Herzen verbrennen mögen! Die Freundschaft läßt mich an das Wohlwollen denken, das wir unserm Amtsbruder in Rat und Tat bezeugen sollen. An Stelle der vielfach geübten abfälligen Kritik an den Leistungen unserer Amtsgenossen, die zumeist nur im Hinblick auf den Stand der übemommenen Klasse geübt wird, sollte eine wirkliche Beobachtung des Unterrichtsverfahrens unserer Kollegen treten. Weshalb sollten wir nicht bei den Kollegen unserer eigenen Schule hospitieren? Manche unternehmen Auslandsreisen, um den Unterrichtsbetrieb fremder Staaten kennen zu lernen. Alles recht schön und gut! Aber wozu denn in die Ferne schweifen, sieh, das Gute liegt so nah; ganz abgesehen davon, daß nach dem Kriege solche Auslandsreisen von Staats wegen wohl nicht viel Förderung erfahren werden. Denn erstens wird das Geld dazu nicht mehr da sein, weil es für wirtschaftliche und soziale Bedürfnisse viel dringender benötigt wird, und zweitens soll doch nach dem Kriege vor allem die deutsche Erziehung

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gefördert und ausgebaut werden. Machen wir also unsere Beobachtungsreisen in die Unterrichtsstunden unserer Kollegen, achten wir auf ihren Vortrag, ihre Lehrweise, auf die Teilnahme der Schüler. Wir werden keine Unterrichts­ stunde verlassen, ohne etwas gelernt zu haben, und sollten wir auch nur gelernt haben, wie es nicht zu machen ist—um so besser! Das wechselseitige Hospitieren der Lehrer würde uns auch Gelegenheit geben, die Schüler näher kennen zu lernen, in unserm Urteil über ihren Fleiß, ihre Aufmerksamkeit, ihre Begabung vorsichtiger zu sein, wenn wir sie in den Fachem beobachten, die ihrer Neigung und ihren Anlagen mehr zusagen. Mit dem Hospitieren allein ist allerdings nicht alles getan. Die Lehrer müssen sich auch miteinander über ihre Erfahrungen aussprechen. Dazu gehört freilich eine freundschaftliche, ehrliche, feinfühlende Kollegialität. Jedes hämische Kritisieren und gespreiztes Besserwissenwollen, aber auch jenes bekannte pharisäerhafte Ankomplimentieren sei hier fern. Ein Geist gegenseitigen Wohlwollens muß die von der Liebe zur Jugend erfüllte Lehrer-„gemeinschaft" beseelen. Ich habe diesen Gedanken schon vor Jahren offen ausgesprochen und kenne auch mancherlei Einwände, die man dagegen zu erheben glaubte. Aber ich freute mich, als ich die Entdeckung machen konnte, daß schon von anderer Seite die Anregung zum gegenseitigen Hospitieren auf günstigen Boden gefallen war. Ich verweise auf Band 90 der Direktoren-Versammlungen, Seite 209 und auf Zieglers „Geschichte der Pädagogik", Seite 209. Recht beherzigenswerte Worte sand auch Walther Hauff in Janells „Kriegspädagogik" (S. 308): In den Konferenzen „sollten praktische, für das Schulleben wichtige Fragen mit aller Freimütigkeit behandelt werden, wobei die geringste Verletzung der Amts­ verschwiegenheit als Bmch des Amtseides aufzufassen wäre. Die Lehrer einer Schule bilden sozusagen eine Familie, und unter Brüdem ist es Sitte, daß man sich mit Liebe die Wahrheit sagt. Es wäre traurig, wenn uns der Krieg nicht so weit gebracht hätte, daß wir das ertragen könnten". Die Ursachen, die die Eintracht eines Lehrerkollegiums zu zerstören vermögen, liegen bald in, bald außerhalb der Schule. Eine richtige Zwietrachtsäerin ist vor allem die Politik. Sie hat schon die herzlichsten und dauerhaftesten Freund­ schaften vergiftet und vemichtet. Und doch fällt die Schuld daran nicht der Politik zur Last. Wäre dies der Fall, so müßten wir die Politik aus der syste­ matischen Pädagogik als einen ihr wesensfremden und sie störenden Teil aus­ schalten. Aber schon Kant setzt beide in Beziehung zueinander, wenn er meint: „Zwei Erfindungen der Menschen kann man wohl als die schwersten ansehen, die der Regierungs- und die der ErziehungskiMst". Das innigste Verhältnis gingen beide in der Staatspädagogik des Plato und Aristoteles ein und be­ sonders in den Staatsromanen des 16. und 17. Jahrhunderts, in Thomas Morus' Uwpia, in Gasparus Stiblinus' Commentariolus de Eudaemonensium republica, in Thomas Campanellas Civitas Solis, in Johann Valentin Andreäs Beipublicae chiistianopolitanae descriptio, in Bacons New Atlantis usw. ist das Erziehungsideal vom politischen Ideal mitbestimmt*) Wie sollten gar ideal.

r Joseph Prhk, Der Staatsroman des 16.u. 17. Jahrhunderts und sein Erziehungs­ 1916. Verlag Staudenraus. Würzburg.

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in der Neuzeit mit den Forderungen der staatsbürgerlichen Erziehung, mit dem demokratischen Ideal des allgemeinen Aufstiegs Pädagogik und Politik sich trennen lassen? Sie sind sogar beide aufeinander angewiesen. Die Erziehung hat die Aufgabe, den Zögling nicht bloß zu befähigen, am nationalen Leben teilzunehmen, sondern ihm auch jene Begeisterung einzuhauchen, ohne die alle Betätigung im nationalen Leben ihre Schwungkraft verlieren müßte. Die Politik ihrerseits hat ein Lebensinteresse daran, daß zielbewußte, urteilsfähige mrd starkwollende Männer aus dem jungen Geschlechte heranreifen. Die edelste Aufgabe aber erwächst der allgemeinen Pädagogik in ihrem Verhältnis zur Staats­ pädagogik, eine Aufgabe, die Wilhelm Rein mit folgenden Worten umschrieben hat: „Sie vermag die wirksamsten Antriebe zu geben, daß die Staatspäda­ gogik nicht in Stillstand gerate, daß ihr neue Gedanken und Vorschläge zu­ geführt werden, damit sie nicht im Schreib- und Verwaltungswerk ersticke. Erstere hat also die Rolle der Gebenden, letztere die der Empfangenden zu übernehmen... Der Staatspädagogik liegt überdies die Gefahr nahe, daß sie zu stark von politischen Betrachtungen beeinflußt wird, weil sie die reale Macht zur Durchsetzung ihrer Absichten besitzt." (Wilhelm Rein, Pädagogik in syste­ matischer Darstellung. I, 70). , Wenn die Politik sich von der Pädagogik nicht trennen läßt, so können auch jene, die sich der Erziehung widmen, ihr nicht fremd gegenüberstehen. Nicht die politische Gesinnung als solche, wenn sie nur überzeugungstreu und mannhaft sich äußert, kann Anlaß zu Haß, Zwietracht und Feindschaft im Lehrer­ kollegium werden. Die Ursache zu Mißhelligkeiten infolge politischer Meinungs­ verschiedenheit liegt vielmehr zumeist darin, daß man die Verachtung und Ab­ neigung gegen politische Bestrebungen und Ziele auf die Person überträgt. Man ist nur allzusehr geneigt, den Charakter unserer Mitmenschen und Amts­ genossen durch die Parteibrille unseres politischen Glaubensbekenntnisses zu beurteilen. Parteifanatiker hängen denjenigen, die nicht auf ihre Fahne schwören, den Makel der Gesinnungslosigkeit an und stempeln ihn zum Ehrlosen, der auch als Mensch keiner Achtung wert sei. Nul n’aura de l’esprit hors nous et nos amis. Rektor Kroll bekennt es offen in Ibsens „Rosmersholm": „Wer in den entscheidenden Lebensfragen nicht mit mir geht, den kenne ich nicht mehr. Und dem bin ich keine Rücksicht schuldig" (S. 27); und damit sagt er seinem alten Freunde jede Achtung vor seiner Persönlichkeit auf. Doch gerade in der Politik gehört wahre Charaktergröße dazu, um auch den Gegner zu achten. Wie wenige aber gibt es, die innerlich stark genug sind, um diese Achtung einem Gegner zu zollen, ohne selbst in ihrer politischen Meinung schwankend zu werden. Das ist es gerade, wovor sich die meisten fürchten. In der Entziehung der Wert­ schätzung unseres politischen Gegners versteckt sich zumeist eigene Unsicherheit und Feigheit vor uns selbst, geheime Angst wegen unserer eigenen politischen Überzeugung, da ton uns sagen müssen, daß die Parteirichtung, die ein per­

sönlich ehrenwerter und makelloser Mann vertritt, wohl nicht so ehrenrührig sein kann, wie die Gegner sie hinzustellen belieben. Aber schon befürchte ich, durch das leidige Gebiet der Politik viele meiner Amtsbrüder zu entfremden, wo ich doch gesonnen bin, mir und anderen ihre Sympathien zu erwerben.

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Und deshalb glaube ich, daß die Politik nur selten die Luft des Lehrerzimmers mit ihrem zersetzenden Ozon schwängern soll. Nur freie, ihrer selbst sichere Geister mögen sich auf diesen schwankenden Boden wagen, Männer wie Rudolf Hildebrand, der von ihr sagte: „Sie ist die höchste sittliche Tätigkeit, weil sie mit den höchsten sittlichen Gemeinschaften, Völkern und Menschheit, zu tun, sie zu besorgen hat". (Gedanken über Gott, die Welt und das Ich. S. 383.) Ich aber möchte mit dem unglücklichen, von seiner Politik irregeführten Silvio Pellico lieber ausrufen: „Lascio la politica, ov'ella sta, e parlo d'altro" (Le mie prigioni 6). Lassen wir also die Politik und kommen wir auf ein anderes zu sprechen! Ein weiterer Anlaß zu Mißhelligkeiten im Lehrerkollegium sind Gerüchte und allerlei Gefasel über die FamilienverhältMe von Kollegen. Weniger in Großstädten, wo jede Familie eine von den übrigen meist abgeschlossene Lebens­ weise führt, um so mehr aber gedeiht die Klatschsucht in den kleinen Provinz­ städten. Das ist so recht eme Sumpfpflanze, die dort ihre Wurzeln schlägt, wo das Leben stagniert. Jederman kennt sie; ich brauche mich also nicht darüber auszusprechen. Jeder Lehrer weiß aber auch, wie sehr die Klatschereien über Familienangelegenheiten die innigste Kollegialität wie schleichendes Gift auslöst. Denjenigen, die in Ermangelung eigener Gedanken gar zu gern und recht un­ nötigerweise die Familienangelegenheiten ihrer Amtsgenossen zum Gesprächs­ stoffe auszubauen gewohnt sind, möchte ich die Worte Krolls in Ibsens „Rosmersholm" entgegenhalten: „Sprechen wir nicht davon! In einer Familie gibt es immer etwas, das nicht geht, wie es sollte. Besonders in einer Zeit wie die heutige." „Wir sollten viel häufiger bei uns selbst Einkehr halten und uns fragen,. ob dort alles recht bestellt ist." „Forsche nicht neugierig, was andere tun. Dir sollst du den Frieden bewahren, und jeden treiben lassen, was er will." (Thomas L Kempis. III, 24.) „In Geldsachen hört die Gemütlichkeit auf", sagt der humorvolle Süd­ deutsche, der mehr als der Norddeutsche zu schneller Freundschaft geneigt ist, aber trotz aller Sentimentalität" sich den offenen Blick für die Nüchternheit des Lebens bewahrt hat. Das Borgen und „Pumpen" scheint ja in früherer Zeit, als der Oberlehrerstand noch auf ein kärgliches Gehalt angewiesen war, in Lehrerkreisen recht häufig geübt worden zu sein. Ich schließe das aus einem lateinischen Briefsteller, in dem nicht weniger als acht „Musterbriefe" Anleitung geben, wie man seinem verehrten Amtsbruder das Geld aus der Tasche zieht, aber auch, wie man mit süßem Lächeln unter dem Ausdrucke lebhaften Bei­ leides ablehnt. Man sollte annehmen dürfen, daß „so etwas heutzutage nicht mehr vorkommt". Aber die Erfahrung bestätigt, daß, namentlich in den Provinz­ städten, zumal beim Biertische, Geldgeschäfte unter Kollegen nicht zu den Selten­ heiten gehören. Man mag vielleicht beschwichtigend einwenden, einmal sei keinmal; aber ich fürchte, dieses Einmaleins läuft weiter, und wer einmal das kleine fleißig geübt hat, der versucht sich bald am großen, und die wiederholte Übung läßt ihn schließlich auch Nullen anhängen. Mag die Summe noch so klein oder der Borger noch so sicher sein: Aushilfe in Geldverlegenheiten sind zum mindesten ein Schönheitsfehler der. Kollegialität. Größere Summen,

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besonders in wiederholter Auflage, schädigen das Ansehen des Standes. Daß schwere Heimsuchungen, Krankheiten vor allem, eine Ausnahme rechtfertigen können, soll nicht in Abrede gestellt werden. Aber in besonderen Ausnahme­ fällen springt heute auch Vater Staat, ein sonst gestrenger und geiziger Herr, dem unverschuldet in Not geratenen Kollegen bei. Die Kollegialität wird häufig auch getrübt durch Meinungsverschiedenheiten über pädagogische Fragen. Solange solche Streitigkeiten sich auf Worte be­ schränken, mag es noch hingehen; zu verurteilen aber ist jedes sich Durchsetzen­ wollen in der Ausführung. Ich kann daher Tuiskon Ziller nicht ganz beipflichten, der sich in seiner „Allgemeinen Pädagogik" * (1884; S. 51) bei der Erörterung über das Verhältnis zwischen Theorie und Praxis der Erziehung dahin ausspricht: „Für die Praxis muß die Theorie dem Erzieher oder Lehrer eine Art Gewissen sein, wie es einem jeden andern Künstler seine Theorie ist. Daran gebunden, legt sie ihm Pflichten auf, von denen er nicht abweichen kann, ohne im Innern einen Vorwurf wie von seinem bessern Ich zu erfahren. Die Treue gegen die Theorie wird sich auch hier, wie überall im Leben, im Kampfe mit widerstreitenden Kräften bewähren, und diese werden aus Schwäche und Charakterlosigkeit unterliegen; denn einem redlichen Streben nach den Idealen ist ja, wie wir überzeugt sein dürfen, der Sieg zuletzt immer gewiß. Auch inmitten eines unpädagogischen Schulkreises, in den man etwa hineingestellt ist, muß man sich die Bedingungen und Voraussetzungen, welche die Theorie macht, wenigstens annähernd zu schaffen wissen. Das ist zwar mit mancherlei Jnkonvenienzen verbunden, aber es ist doch immer möglich und unter allen Umständen das Bessere. Selbst die echte Kollegialität, wie der echte Geist der Konferenzen — beides für den Geist einer Schule so durchaus notwendig — erwächst nur aus dem gemeinsamen Gedankenkreise wissenschaftlicher Pädagogik, der dann auch ein zusammenstimmendes Streben und Wirken zur Folge haben kann." Das sind gewiß herrliche Worte, ein wahrhaftes pädagogisches Apostolikum! Und doch glaube ich, daß nur in den allerseltensten Fällen ein Lehrer in die Lage kommen wird, mit der unerschrockenen Überzeugungstreue eines Bekenners von seinem pädagogischen Glauben Zeugnis abzulegen. Denn fürs erste gibt es wohl keine Schule (vonden Reformuntemehmungen abgesehen), wo in erzieherischer Hinsicht ein abgeschlossenes pädagogisches System durchgeführt wird; es handelt sich wohl zumeist nur um die straffe Durchführung unterrichtlicher Grund­ sätze, wie z. B. beim Frankfurter Lehrplan. Es steht aber doch jedem frei, die Schule zu verlassen, wenn die dort verwirklichten Grundsätze ihm nicht be­ hagen. Ferner aber: nicht jeder Beliebige soll sich für ein pädagogisches Genie halten und den Anspruch erheben, daß seine Grundsätze, mögen sie auch dem Zeit­ geist gefallen , in der Schule, deren Lehrer er ist, durchgesührt werden. Durch Hereinbringen von Hader und Zank in die füllen Räume der Schule, vielleicht gar noch durch Anrufung des Elternhauses und der Presse befleckt er sein päda­ gogisches und wissenschaftliches Gewissen weit mehr, als durch eine, wenn auch durch die Umstände gebotene Verleugnung seiner Grundsätze. Wenn die Mehr­ heit des Lehrkörpers einer Anstalt über das dort zu verwirklichende System sich eins ist, hat ein einzelner kein Recht, die Eintracht zu stören und die KolleDas neue Deutschland in Erziehung und Unterricht. Heft 4.

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gialität zu gefährden: denn er zerstört die Grundmauern der Schule. Weder die Kanzel noch das Schulpult sind die Stätten, auf denen Streitigkeiten aus­ gekämpft werden sollen. Für ein einmütiges Zusammenarbeiten der Lehrer ist es nötig, daß jeder nicht nur sich selbst als Fachmann wie als Mensch weiterzubilden bestrebt ist, sondern auch über die Bestrebungen und Regungen auf dem Gebiete der Er­ ziehung und des Unterrichts sich dauernd Kunde verschafft. Nur so wird jeder einzelne verhindern, daß die Gegenwart über ihn hinauswächst, daß er der Jugend — unter den Schülern sowohl wie unter den heranrückenden neuen Lehrkräften — verständnislos gegenübersteht, daß er über Neuerungen murrt und sich ungehalten zeigt. Schiller wamt vor dieser Gleichgültigkeit gegenüber den Fortschritten der Wissenschaft. Was er von dieser in seiner akademischen Antrittsrede sagt, gilt in gleicher Weise von der Erziehungswissenschaft; er geht dort gegen den Brotgelehrten los und meint: „Jede Erweiterung seiner Brotwissenschaft beunruhigt ihn, weil sie ihm immer neue Arbeit zusendet oder die vergangene unnütz macht; jede wichtige Neuerung schreckt ihn auf, denn sie zerbricht die alte Schulform die er sich so mühsam zu eigen machte, sie setzt ihn in Gefahr, die ganze Arbeit seines vorigen Lebens zu verlieren. Wer hat über die Reformatoren mehr geschrien als der Haufe der Brotgelehrten?... Jedes Licht, das durch ein glückliches Genie, in welcher Wissenschaft es sei, angezündet wird, macht ihre Dürftigkeit sichtbar; sie fechten mit Erbitterung, mit Heimtücke, mit Verzweiflung, weil sie bei dem Schulsystem, das sie ver­ teidigen, zugleich für ihr ganzes Dasein kämpfen. Darum kein unversöhnlicherer Feind, kein neidischerer Amtsgehilfe, kein bereitwilligerer Ketzermacher als der Brotgelehrte." Damit deckt uns Schiller auch den Zusammenhang von Kolle­ gialität und Wissenschaft auf. Wer sich nicht weiterbildet, ist nicht nur ein schlechter Lehrer, sondern auch ein schlechter Kollege. Denn er hat für die idealen Be­ strebungenseiner Amtsgenossen kein Verständnis, erblickt in ihnen nur schwärme­ rische Idealisten oder selbstsüchtige Streber. Gänzliche Unbekanntschaft mit der neueren pädagogischen Literatur reißt eine tiefgehende Kluft namentlich zwischen jüngeren und älteren Kollegen. Wem freilich Selbstverwaltung, Arbeits­ schule, experimentelle Pädagogik nur aufleuchtende Gedankenblitze sind, die seinen wetterschwangeren pädagogischen Wolkenhimmel durchzucken, der wird für Fragen des Erziehungsgeschäftes, das mit der fortschreitenden Kultur stets der Änderung und Besserung bedarf, kein Verständnis haben und reformge­

neigten, jüngeren Kollegen als unreifen Schwärmern, die erst die Praxis klug machen müsse, seine Zuneigung versagen. Als Amtsgenossen haben wir die Pflicht, uns über die Wandlung des Begriffes unseres Amtes und unserer Obliegenheiten dauernd auf dem Laufenden zu halten. Nur die Gleichgültig­ keit gegenüber der pädagogischen Literatur läßt den Widerstand und die Er­ bitterung verstehen, die manche, namentlich ältere Lehrer, den Schulreformen von oben her entgegenbringen. So lebt bte ältere und jüngere Generation der Lehrerschaft- zuweilen in ganz verschiedenen Welten. Sie verstehen einander nicht mehr, oder wollen sich nicht mehr verstehen. Die Feindseligkeit, die aus der Verschiedenheit pädagogischer Grundansichten entsteht, findet

schließlich auch an der wissenschaftlichen Vorbildung des Kollegen zu mäkeln, greift hinüber sogar auf die Beurteilung seines Charakters und zerstört die stille Eintracht des Lehrerzimmers. Die philologische Akribie will die Akribie des Naturwissenschaftlers nicht anerkennen, statt sich darüber zu freuen, daß diese erst durch jene geschult wurde, daß in der Erziehungsgeschichte der Mensch­ heit wie der Lehrerschaft die eine nur die Vorstufe der anderen ist und auch sein muß. Zu dieser Weltfremdheit auf erziehlichem Gebiete, die freilich nicht einem spukhaften Reformgeiste Platz machen sollte, kommt weiterhin die Gering­ schätzung der anderen Fakultäten und deren Vertreter. Wer in seiner Wissen­ schaft sich wirklich weiterbildet, nicht in totem Formelkram stecken bleibt und nur, wie ein glücklicher Erbe, von den Erträgnissen seines auf der Uni­ versität zusammengerafften Kapitals zehrt, der weiß, wie jeder Wissenszweig in andere Gebiete sich verästelt und alle zusammen zum Baum der Wissenschaft sich gestalten. Auch der praktische Theolog ist sich dessen wohl bewußt. Hagenbach zittert in seiner „Enzyklopädie und Methodologie der theologischen Wissenschaften" (11. Ausl., S. 497) aus dem „Pastor" Harms dessen Bericht über theologische Vorlesungen: „Verstehen Sie Baurisse? Können Sie einen Pacht­ kontrakt aufsetzen? Wissen Sie, wieviel Kleesamen in einen Morgen Landes gesät wird?" Hagenbach sieht darin „ein Fragezeichen an seinem Orte, als Wegweiser auf der Grenze in ein anderes Gebiet hinüber". Der verstorbene Berliner Stadtschulrat Dr. Michaelis, Altphilologe von Fach, arbeitete eine ganze Bücherserie über Bergbau, Hüttenkunde, Jndusttte usw. durch. Der Begriff der Aristotelischen xad-ägai«;, um bei der lieben Altphilologie zu verweilen, fand eine überraschende Klärung von der medizinischen Wissenschaft der Alten her. Wie sollte der Altphilologe dem Naturwissenschaftler des 20. Jahrhunderts seine wissenschaftliche Qualifikation absprechen? Ähnlich liegen die Verhältnisse zu den Vor- und Mittelschullehrern an derselben Anstalt. Sie sind mit den Oberlehrem dazu berufen, an der harmonischen Ausbildung der ihnen anver­ trauten Jugend zu arbeiten. Ein Stein trage den andern in dem gewaltigen Bau des Erziehungswerkes, das mehr als je auf sozialer Grundlage sich aufttchten soll. Liebe und Vertrauen schließt Interesse an den Arbeiten des andem in sich So gebietet nicht bloß der einheitliche Organismus der Anstalt und die gründ­ liche Durch- und Weiterbildung im eigenen Fach dieses Hinüberschauen zu den andern Fakultäten; der Blick, der an weitere Horizonte gewöhnt ist, ruht auch freundlich auf dem Amtsbruder, der mit mir arbeitet. Nicht die Sprachen allein, nicht Geschichte oder Naturwissenschaften allein bilden den Inhalt unseres Amtes, wir haben nicht bloß einen Lehrauftrag, uns ist auch ein Erziehungsauftrag gegeben, und dieser setzt sich aus verschiedenen Faktoren zu­ sammen, zu deren Verwirklichung zwar jeder einzelne Lehrer einen besonderen Auftrag hat, die aber letzten Endes nur ein Produkt ergeben. Damit soll nicht einer enzyklopädischen Vielwisserei Vorschub geleistet sein, die Kant in seiner Anthropologie (S. 164) geißelt: „Es gibt eine giganttsche Gelehrsamkeit, die doch oft zyklopisch ist, der nämlich ein Auge fehlt, nämlich das der wahren Philo2*

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sophie, um diese Menge des historischen Wissens, die Fracht von hundert Kamelen, durch die Vernunft zweckmäßig zu benutzen." Solch ein „Notizenmagazin" hat freilich keinen Wert; es gehört zu dem „Wissen, das aufbläht". Ebenso­ wenig sollten wir uns aber anderen Interessen gegenüber sperren. Nur aus dieser sachlichen Teilnahme erwächst auch die persönliche Teilnahme, die Sympathie. Die Vertrautheit mit unserm eigenen Wissen wird uns die Mühen auch anderer Wissenszweige ermessen und schätzen lassen. Eine recht bedauernswerte Entfremdung mit den Amtsgenossen tritt ein, wenn einer derselben in den Verdacht des Strebers gerät. Zunächst allerdings liegt wohl in den allermeisten Fällen eine Verwechslung von Streben und Streber vor. Streben, das heißt, uns geistig weiterbilden, unsere Berufstätigkeit vertiefen, veredeln, erweitern, müssen wir wohl alle; wer nicht strebt, versumpft und versauert. Muß er deshalb ein Streber in dem anrüchigen Sinne des Wortes sein? Weiterhin, Hand aufs Herz, meine lieben Kollegen, wollen wir doch offen sein: im Grunde genommen möchte doch jeder von uns auch äußerlich weiter und höher kommen; sehen wir also zu, ob nicht in dem Vorwurf des Strebertums vielleicht blasser Neid versteckt ist. Streben heißt doch rührig sein, schaffen, arbeiten. Ist es unbillig, daß für Mühen auch Lohn geerrrtet wird? Derjenigen, die „nur streben" im schlimmsten Sinne des Wortes, die also nur die Hände ausstrecken und mühelos, durch Gönnertum unterstützt, weiterkommen wollen, sind doch gerade unter den Philologen recht wenige. Wenn ich offen reden darf, so möchte ich sagen, ich wünschte unserm Stande weit mehr Streber, als wir selbst mit den neidvollsten Blicken dort erspähen könnten. Mag unter den Hunderten von Strebem einmal ein räudiges Schaf (diesmal, Verzeihung! im wirklichen Sinne) mitlaufen, das große Ganze der Erziehung kann durch etwas mehr Einschlag von Strebertum im Lehrerstande nur gewinnen. Denn diese sogenannten Streber müssen sich doch in ihrem Fache betätigen, müssen nach neuen Wegen suchen und dürfen vor allem nicht, was leider noch allzu häufig geschieht, die der Schule zu widmende Zeit nach der Elle messen. Sie können sich Schulfeiem, Schulausflügen, Ferienreisen der Schüler, Ruderfahrten, Rodeln, Schüleraufführungen und so fort, nicht so leicht entziehen, wenn sie zur Geltung kommen wollen; sie müssen überall an der Stelle sein, wo der Pulsschlag des Schullebens sich fühlbar macht. Setzen wir nun den ganz seltenen Fall, daß solch ein verhaßter Streber einzig und allein um seiner „Carriere" willen sich so geschäftig zeigt: semper aliquid haeret! Nur bleibt es diesmal nicht an dem enttäuschten Streber hangen, sondern an dem Schüler. Dieser zieht als tertius gaudens den Nutzen aus den Veranstaltungen, die jener vielleicht nur seinetwegen ins Leben rief. Dabei ist ferner noch folgendes in Erwägung zu ziehen: wenn solch ein geschmähter Streber nicht wirklich „das Zeug in sich hat", wenn es ihm also an pädagogischem Geschick fehlt, wird er sicher nicht lange über Wasser bleiben. Wir sollten also im Interesse der Schule und im Interesse des Standes recht viele Streber uns wünschen und uns über ihr Tun nicht ärgern, sondern Gleiches mit Gleichem vergelten; das Losungswort heißt: mitmachen! Schön! höre ich den Herrn Fachgenossen in der Ecke leise räuspern, dann bald lauter knurren. „Wer in seiner Studierstube zu Hause", so denkt er laut,

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„auf jede Schulstunde sich mit gewissenhaftem Fleiße vorbereitet, viele Nach­ schlagewerke wälzt, um besonders in den oberen Klassen auf alle an ihn gerich­ teten Fragen Antwort stehen zu können, wer Tag für Tag mit philologischer Akribie, als ob es sich um die Herausgabe einer editio princeps handelte, die Korrekturen erledigt, wer die physikalischen und chemischen Experimente vor der Vorführung in der Schule gewissenhaft erprobt und ihr Gelingen zum voraus sicherstellt, steht der nicht höher als jener Streber, der nur in der Öffent­ lichkeit und wegen der Öffentlichkeit solchen Tamtam in Szene setzt?" Solche bittere Redensarten mag man mehr oder weniger laut in jedem Lehrerzimmer einmal hören. Und in der Tat haben sie eine gewisse Berechtigung. Es läßt sich nicht leugnen, daß in der bisherigen alten „Lernschule" gar mancher, der seinen Pflichten gewissenhaft nachkam, unbeachtet blieb, weil seine Arbeits­ leistung, unbeachtet von Schülern und Vorgesetzten, sich im stillen Kämmerlein am Schreibtische vollzog. Da mochte wohl gar mancher neidisch und mit ver­ bissenem Zorne auf den Kollegen blicken, der seine Betätigung in einer breiteren Öffentlichkeit zur Schau stellte und sich so zur Geltung brachte. Das war freilich nicht der Boden, auf dem die Kollegialität gedeihen konnte. Aber in Zukunft wird es auch hier anders werden; allerdings nicht in dem Sinne, daß jene in der alten Lernschule für Schüler und Lehrer unumgängliche Nur-Bücherweisheit nunmehr den verdienten Lohn empfange. Die neue Schule rechnet diese nicht mehr ausschließlich zum Verdienst an. Die Erziehungsschule will, daß der Lehrer, unbeschadet all seiner Wissenschaftlichkeit, sich enger mit den Schülern verbunden fühle, daß er ihnen nicht bloß Lehrer, sondern auch Erzieher sei. Was dies heißt, brauche ich nicht auszuführen. Daß aber die Schule diesen Aufstieg machen konnte, ist, wie niemand wird leugnen können, das Verdienst jener Lehrer, die den Mut hatten, in der eben angedeuteten Weise „Streber­ arbeit" zu leisten. Deshalb, noch einmal sei es gesagt, gilt es, nicht zu schmähen, sondem auch in Zukunft mitzutun! Kein Vernünftiger wird leugnen, daß auch dem Strebertum Grenzen gesetzt sind. Die echte Kollegialität wird aber durch edles Streben nur gefördert werden können; denn der Geist, der sie beseelt, ringt nach Vollendung jedes einzelnen von uns. Ein edler Wetteifer sollte uns alle zum Aufwärtsstreben cmfeuern,wie es derApostel seiner Gemeinde empfiehlt: „Ein jeder fei Vorbild des andern." Zu denen, die dem Geist der Kollegialität schaden, gehören vor allem auch die „Drückeberger und die „Reservierten". "Unter ihnen aber gibt es doch auch solche, die ein Recht darauf haben, sich von jeder Nebenarbeit und namentlich von den nur zu häufigen, namentlich in Kleinstädten üppig wuchernden gesellschaftlichen Verpflichtungen frei zu halten. Es sind jene, die neben dem Schulberuf ihre ganze Zeit ernster wissenschaftlicher Arbeit widmen. Sie haben in Friedrich Paulsen (a. a. O. S. 25) einen beredten Anwalt und warmherzigen Fürsprecher gefunden. Ihnen die Liebe ihrer Kollegen erneut zu sichem und, wo sie kein Verständnis für ihre Arbeit fanden, dieses ihnen wiederzugewinnen, dazu mögen Friedrich Paulsens Worte ihnen verhelfen, die ich hier ungekürzt anführe: „Wissenschaftliche Produktion ist für den Lehrer nicht Pflichtarbeit, wie sie es denn auch für den Universitätslehrer nicht eigentlich ist; sie gehört zu

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den opera superrogationis. Wer sie leistet, der erwirbt sich dadurch ein Ver­ dienst, ein Verdienst auch um die Schule und um den Stand der Berufsgenossen; denn es ist hier wie bei den guten Werken der Heiligen: was der einzelne er­ wirbt, wird der Gesamtheit zugerechnet. Das werden auch die Kollegen nicht vergessen, wenn einmal einer etwas vom geselligen Verkehr sich mehr zurückhält, auch nicht zur Übernahme vakanter Schularbeit sich drängt, weil er seine Zeit für wissenschaftliche Arbeit zusammenhält. Vielleicht regt sich einmal eine gewisse Mißstimmung: der glaubt etwas Besonderes zu sein, möchte auf unsere Kosten für seine Liebhabereien oder Allotria Zeit gewinnen. Dann erinnere

man sich: hat der also Gescholtene inneren Beruf zur Sache, ist es nicht bloß persönliche Eitelkeit und dünkelhaftes Meinen, das zum Gedrucktwerden drängt, ist es ihm Ernst um die Sache, so laßt ihn gewähren und denkt: es kommt auch uns, es kommt dem ganzen Stande und seinem Ansehen zu gut. Bliebe solche Arbeit überhaupt ungetan, zöge sich jederman auf die Pflichtarbeit für die Schule zurück, so bedeutete das eine Minderung des Standes." Diese letztere Ansicht möchte ich allerdings nur recht eingeschränkt gelten lassen, wenn wir das Ideal des echten Jugendleiters je verwirklichen sollten; bis jetzt sind nur Ansätze dazu da. Auch besteht noch eine andere Gefahr. Bei den Erörterungen über die Hebung des Oberlehrerstandes pflegt man immer wieder mit Genug­ tuung daraus hinzuweisen, daß derselbe nicht bloß wissenschaftlich, sondern auch sozial ein höheres Ansehen gewann, seit er nicht mehr als Durchgangsposten für Theologen dient. Deshalb ist es recht bedauerlich, wenn auch heute noch manche Oberlehrer Inhaber einer Privatdozentur sind und nur um des lieben Gehaltes willen ihre Schulposten behalten, bis sie endlich ihre ersehnte Professur erhalten. Ich denke dabei natürlich nur an jene, denen die Universitätskarriere einziges Ziel ist und die die Schulmeisterei nur als pekuniären Aushilfs- und Zwischenposten betrachten. Was Schiller von der Wissenschaft sagt, gilt hier auch von der Lehrertätigkeit:

Einem ist sie die hohe, himmlische Göttin, dem andern Eine tüchtige Kuh, die ihn mit Butter .versorgt. Ich habe schon angedeutet, daß die Philosophie uns die Wege weisens kann, das Ideal des Amtsbruders in uns zu verwirklichen. Wir verkehren nicht bloß als Lehrer miteinander, sondern als Menschen. Im Lehrerzimmer zumal will das „Menschliche, allzu Menschliche" in uns zu seinem Rechte kommen. Bei den Schülern erblickt man in der Ausgelassenheit nach der Unterrichtsstunde mit Recht die natürliche Reaktion gegen den Druck der Lernstunde. Sollte es uns wundern, daß auch der Lehrer in der kurzen Pause, die ihm gegönnt ist, von diesem Drucke, dem auch er unterworfen ist, sich freizumachen sucht und aus der Stellung der Autorität, die er den Schülern gegenüber bei aller Freundlichkeit und Heiter­ keit seines Wesens sich wahren muß, nun heraustreten will? Mit Altersgenossen, nicht bloß mit Standesgenossen bringt ihn der Aufenthalt im Lehrerzimmer zusammen. Da redet der Mensch zum Menschen. Die Charaktere vieler treten offener zutage als im Schulzimmer; freilich nicht bei allen, nicht bei denjStillen, die kaum ein paar Worte wechseln; aber diese sind doch in der Minderzahl. In

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dem freien Austausch der Meinungen über Ereignisse der Gegenwart, in der Art ihrer Beurteilung insbesondere und in der Bedächtigkeit der Schluß­ folgerung auf den Charakter und die Lebensanschauung des Sprechenden zeige sich der Amtsbruder als Philosoph, als Lebensphilosoph. Das Zusammen­ leben mit den verschiedensten Charakteren und Temperamenten verbietet eine zu große Empfindlichkeit gegenüber unbedachten Äußerungen der Amtsgenossen. Bei einem offenherzigen Verkehr kann unmöglich „jedes Wort auf die Goldwage gelegt werden". Das Entstehen dieses bezeichnenden, volkstümlichen Ausdrückes sollte uns in unseren Unterhaltungen mit Amtsgenossen Anlaß zum Nachdenken geben. Man legte im Handelsverkehr alter Zeiten doch nur jene Münzen auf die Goldwage, an deren Echtheit berechtigter Zweifel bestand. Solch ein vor­ gefaßtes Mißtrauen sollte aber zwischen Kollegen nicht Oberwasser bekommen. Von Meineke, unter dessen Direktion Wiese am Joachimsthalschen Gymnasium unterrichtete, erzählt er (I, 72, a. a. O.), daß die achtlose Unmittelbarkeit seiner Rede ihm oft übel gedeutet wurde. Wir sollten aber Meinekes Entschuldigung auch unserm Amtsbruder gegenüber gelten lassen: „Venia verbis! etwas übel zu nehmen, ist ungebildet." Die wahre Bildung, das heißt die Herzensbildung, läßt jedem seine Eigenart. Die übertünchte nichtssagende Höflichkeit der Ge­ sellschaftssalons ist kein Parfüm für Lehrerzimmer; frische, ungeschwängerte Naturluft macht Herz und Geist gesund. Zu derbe Bajuwarität wird ein gesunder Gemeinschaftsgeist nicht aufkommen lassen. Wir wollen doch nicht wie Diplomaten miteinander verkehren, denen die Worte nur dazu gut sind, die Gedanken zu verbergen. Der liebe Kollege redet mancherlei, worüber er sich in Augenblicken der Ruhe selbst verwundert. Freilich fehlen unter den Amtsgenossen auch jene Philosophen nicht, die in mehr oder weniger erkünstelter Weise ein abgeklärtes Wesen zur Schau tragen und nur in Augenblicken, wo das Stimmengewirr abflaut, mit orakelhafter Selbstsicherheit ihre Meinung verlautbaren. Daneben finden wir auch jene, denen die Philosophie wirklich Lebensführerin geworden ist. Aber ich fürchte, die Kollegialität würde durch die Nur-Philosphen wenig gefördert werden. Ich pflichte gerne Giacomo Leopardi bei, der in seinen Pensieri (XXVII. Sonzogno. Milano S. 217) meint: Nessun maggior segno d’essere poco filosofo e poco savio ehe volere savia e filosofica tutta la vita. Ein unbedingtes Erfordernis für das Zustandekommen der Kollegialität ist auch die Einfühlung. Ihre Bedeutung in erziehlicher Hinsicht auf den Schüler haben in jüngster Zeit Johann Volkelt im Oktoberheft 1917 der von Wilhelm Rein herausgegebenen „Vierteljahresschrift für Philosophische Päda­ gogik" und Matthias Lechner im Januarheft des „Pharus" nachgewiesen. Ist die Einfühlung, das heißt das verständnisvolle Nachempfinden des Seelen­ lebens anderer, schon im alltäglichen Verkehr mit unserm Nächsten ausschlag­ gebend für ein friedliches Zusammenleben mit unsern Mitmenschen, so bildet sie bei den gemeinsamen Erziehungsmaßnahmen der Lehrerschaft einer Anstalt geradezu die unentbehrliche Grundlage für den erzieherischen Enderfolg. Mangel an Einfühlung ist die erste Ursache zu schlimmen Auseinandersetzungen und er­ stickt jedes harmonische Zusammenwirken der Lehrer im Keime. Wir sollten doch alle ein nachempfindendes Verständnis für manche Eigenheiten, auch

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August Graf v. Pestalozza

Schrullen unserer lieben Kollegen haben, namentlich soweit der Unterricht und die Erziehung keine offenkundige Schädigung erleidet. Da gibt es manchen Kleinigkeitskrämer, der jedem ,i' sein Tüpfchen geben will, an der Fassung der Protokolle stets zu deuteln und zu mäkeln findet. Lassen wir ihm doch die Freude! Ja, warum sollten wir Philologen, denen die Akribie, und wir Naturwissen­ schaftler, denen die Exaktheit zur zweiten Natur geworden und auf die, als einer Eigenart deutschen Wesens, wir beide stolz sind, ihnen es verwehren, solche ausgeprägte Charaktereigenschaften stets und überall zur Geltung zu bringen? Natura expellas furca, tarnen usque recurrit mag nicht bloß tadelnd, auch lobend seine Anwendung finden. Daneben gibt es auch in jedem Lehrer­ kollegium die Zänker, die stets Unzufriedenen. Offen gestanden: mir sind sie nicht die unliebsten. Oder fördert derjenige, der allen Anforderungen und Vor­ fällen gegenüber in gleichgülüger, stummer Ruhe sich verhält, das Anstaltswohl vielleicht in höherem Grade? Mich dünkt, gerade jener, der stets etwas nicht in der Ordnung findet, bekundet mehr als dieser mit seiner unerschütterlichen Gleich­ gültigkeit sein Interesse für die Schule, wenn es sich auch in polternder Weise äußert. Man soll bei Übertreibungen viel eher noch ihn bemitleiden als hassen. Wer weiß es, wieviel Enttäuschungen das Leben ihm bereitet haben mag, wie einsam er sich fühlt, und wie es doch in seinem Innern gärt und sprudelt. Sollten wir nur „unverstandenen Schülern", nicht auch unverstandenen Lehrern im Erziehungsgeschäfte begegnen und nur auf die ersteren die Pädagogik der Ein­ fühlung angewandt wissen wollen? Wie unbedeutend endlich mögen manche dieser Kollegenschrullen uns erscheinen, wenn wir sie mit dem kundigen Blicke des Psychologen, der wir doch sein wollen, betrachten. Jeder muß doch etwas haben, auf das er stolz sein kann. Laßt ihm diesen inneren Halt! Er würde vielleicht innerlich zusammenbrechen, sollte ihm dieses Letzte, worauf er sich etwas zugute tut, genommen werden. Mag er dieser Hohlheit Lebens­ odem einhauchen, wir wollen es ihm nicht verwehren, solange er seine Pflichten erfüllt. Hat er sich selbst nicht erziehen können, wie sollten wir erhoffen können, seinem Leben mehr Gehalt und innere Festigkeit zu geben? Ja, er kann uns selbst Mittel zu eigener Erziehung werden. Die Verträglichkeit sagt Marc Aurel in seinen „Selbstbetrachtungen", ist ein Teil der Gerechtigkeit, die im Sinne der griechischen Philosophie doch Lebensziel bedeutet, für den einzelnen wie für das Gemeinwesen. Die Kunst des Lebens besteht darin, das uns Wider­ wärtige uns zuträglich zu gestalten. Betrachte also alles, was dir unsympathisch ist, als Erziehungsmittel für dich selbst, und du wirst dich noch darüber freuen können. Vielleicht er quillt aus dieser Freude der erste Keim persönlichen Wohl­ wollens und führt dich wieder dahin, deinen Amtsbruder zu lieben. Liebe deinen Nächsten wie dich selbst: beide im Hinblick auf ihre Fehler. Das macht dich nachsichtiger und zufriedener. Befleißigen wir uns also im Verkehr mit unsern Amtsgenossen der echten Philosophie, die da ist: Lebensweisheit. Wir wollen das Schöne, Wahre, Edle und Gute stets im Herzen bewahren, nicht aber in eitler Selbstgefälligkeit zur Schau tragen. Was wir die Schüler in der Thukydidesstunde lehren, sei auch unser Grundsatz: ilo