Macht und Methode: Kompetenzgrenzen des Bundesverfassungsgerichts im Wandel der Zeit [1 ed.] 9783428588565, 9783428188567

Ausgehend von der gewachsenen politischen Bedeutung des Bundesverfassungsgerichts seit seiner Gründung im Jahre 1951 unt

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German Pages 254 [255] Year 2023

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Macht und Methode: Kompetenzgrenzen des Bundesverfassungsgerichts im Wandel der Zeit [1 ed.]
 9783428588565, 9783428188567

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Schriften zum Öffentlichen Recht Band 1496

Macht und Methode Kompetenzgrenzen des Bundesverfassungsgerichts im Wandel der Zeit Von

David Hirzel

Duncker & Humblot · Berlin

DAVID HIRZEL

Macht und Methode

Schriften zum Öffentlichen Recht Band 1496

Macht und Methode Kompetenzgrenzen des Bundesverfassungsgerichts im Wandel der Zeit

Von

David Hirzel

Duncker & Humblot · Berlin

Die Deutsche Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer hat diese Arbeit im Jahr 2022 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten

© 2023 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: 3w+p GmbH, Rimpar Druck: CPI Books GmbH, Leck Printed in Germany

ISSN 0582-0200 ISBN 978-3-428-18856-7 (Print) ISBN 978-3-428-58856-5 (E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Meinen Eltern

Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Oktober 2022 von der Deutschen Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer als Dissertation angenommen. Mein herzlicher Dank gilt zunächst Herrn Prof. Dr. Dr. h. c. Jan Ziekow und Frau Prof. Dr. Daniela Winkler für die Betreuung und Begutachtung der Arbeit. Ich weiß es sehr zu schätzen, dass ich auf meine Fragen, ob inhaltlicher oder organisatorischer Natur, jederzeit verlässlich und hilfreich Rat erhalten habe. Für die Möglichkeit, dieses Promotionsvorhaben berufsbegleitend in Teilzeit durchführen zu können, danke ich dem Justizministerium Baden-Württemberg und der Gerichtsleitung des Verwaltungsgerichts Stuttgart. Mein persönlicher Dank gilt Herrn Prof. Dr. Malte Graßhof und Herrn Christian Pohl. Den Kollegen der 1., 5. und 16. Kammer des Verwaltungsgerichts Stuttgart danke ich für die uneingeschränkte Unterstützung und das jederzeit entgegengebrachte Verständnis. Die Entstehung der Arbeit wurde durch die interessierte Begleitung und den konstruktiven Zuspruch vieler Freunde und Kollegen wesentlich gefördert. Für viele Anregungen, gute Diskussionen und stete Motivation bin ich sehr dankbar. Herrn Ludwig Ganser danke ich für die gründliche und zügige Korrektur des Manuskripts. Von ganzem Herzen danke ich schließlich meiner Familie, insbesondere meinen Eltern: Ihre Unterstützung, ihr verlässlicher Rat sowie ihr liebevoller Zuspruch und Rückhalt sind das Fundament meines bisherigen Werdegangs und des erfolgreichen Abschlusses meiner Promotion. Ihnen ist diese Arbeit gewidmet. Ganz besonders danke ich schließlich meiner Ehefrau Verena für ihre vielfältige Unterstützung, ihre Geduld und ihre Nachsicht während der Entstehung dieser Arbeit. Stuttgart, im November 2022

David Hirzel

Inhaltsübersicht Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 A. Problemaufriss und Ziel der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 B. Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22

Kapitel 1 Entgrenzte verfassungsgerichtliche Entscheidungsgewalt

24

A. Historische Zunahme des grundrechtlichen Prüfungsumfangs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 I.

Umfassender Grundrechtsschutz durch Art. 2 Abs. 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26

II. Grundrechte als objektive Wertordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 III. Status positivus und Schutzpflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 IV. Erweiterung des Eingriffsbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 V. Verhältnismäßigkeitsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 VI. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 B. Maßstab der verfassungsgerichtlichen Entscheidungskompetenz . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 I. Das Bundesverfassungsgericht als Gericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 II. Das Bundesverfassungsgericht in der Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 III. Das Bundesverfassungsgericht im Rechtsstaat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 IV. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 C. Grenzenlose Entscheidungsgewalt trotz Begrenzung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 I. Richterliche Selbstbeschränkung (judicial self-restraint) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 II. Political-Question-Doktrin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 III. Funktionell-rechtlicher Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 IV. Rechtsdogmatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 D. Ergebnis zu Kapitel 1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90

Kapitel 2 Begrenzung der Entscheidungsfindung mittels Interpretationsmethode

95

A. Normgeberwille in der Methodendiskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 I. Richtigkeitsanspruch der Methodenlehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98

10

Inhaltsübersicht II. Unvollkommenheit der Normbindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 III. Zirkularität der verfassungsrechtlichen Methodenargumentation . . . . . . . . . . . . . . 104 IV. Gesetzescharakter der Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 V. Ziel der Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109

B. „Ewige“ Methodenkontroverse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 I. Subjektive Auslegungstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 II. Objektive Auslegungstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 III. Vereinigungstheorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 C. Exkurs: US-amerikanische verfassungsrechtliche Methodendiskussion . . . . . . . . . . . . 123 I. Die Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 II. Interpretationsansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 III. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 D. Verfassungskonforme Methodenkonzeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 I.

Prämissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131

II. Konkrete Ausgestaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 III. Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 E. Ergebnis zu Kapitel 2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182

Kapitel 3 Anwendungsbeispiel „Ehebegriff in Art. 6 Abs. 1 GG“

184

A. Sozialer Wandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 I. Ehe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 II. Gleichgeschlechtliche Partnerschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 B. Verfassungsentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 I.

Begriff der Ehe in der Rechtsprechung des BVerfG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192

II. Stationen verfassungsgerichtlicher Anpassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 III. Interpretation orientiert am Normgeberwillen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 C. Ergebnis zu Kapitel 3 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224

Kapitel 4 Zusammenfassung in Thesen

228

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232 Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254

Inhaltsverzeichnis Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 A. Problemaufriss und Ziel der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 B. Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22

Kapitel 1 Entgrenzte verfassungsgerichtliche Entscheidungsgewalt

24

A. Historische Zunahme des grundrechtlichen Prüfungsumfangs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 I.

Umfassender Grundrechtsschutz durch Art. 2 Abs. 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26

II. Grundrechte als objektive Wertordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 III. Status positivus und Schutzpflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 IV. Erweiterung des Eingriffsbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 V. Verhältnismäßigkeitsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 VI. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 B. Maßstab der verfassungsgerichtlichen Entscheidungskompetenz . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 I. Das Bundesverfassungsgericht als Gericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 1. Initiativverbot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 2. Sachentscheidungsvoraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 3. Beschränkter Verfahrensgegenstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 4. Nachgelagerte, neutrale Kontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 5. Öffentlichkeitsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 6. Begründungspflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 7. Entscheidungsformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 8. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 II. Das Bundesverfassungsgericht in der Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 1. Demokratische Legitimationsebenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 2. Legitimation des Bundesverfassungsgerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 III. Das Bundesverfassungsgericht im Rechtsstaat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 1. Gewaltenteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 a) Vorgaben des Grundgesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 b) Kontrolle der Judikative . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64

12

Inhaltsverzeichnis 2. Gesetzmäßigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 a) Vorrang des Gesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 b) Vorbehalt des Gesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 aa) Dogmatische Begründung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 bb) Vorbehalt der Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 3. Justizgewährungsanspruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 4. Allgemeiner Gleichheitssatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 5. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 IV. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77

C. Grenzenlose Entscheidungsgewalt trotz Begrenzung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 I. Richterliche Selbstbeschränkung (judicial self-restraint) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 II. Political-Question-Doktrin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 III. Funktionell-rechtlicher Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 IV. Rechtsdogmatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 D. Ergebnis zu Kapitel 1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90

Kapitel 2 Begrenzung der Entscheidungsfindung mittels Interpretationsmethode

95

A. Normgeberwille in der Methodendiskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 I. Richtigkeitsanspruch der Methodenlehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 II. Unvollkommenheit der Normbindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 1. Mehrdeutigkeit der Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 2. Vorverständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 III. Zirkularität der verfassungsrechtlichen Methodenargumentation . . . . . . . . . . . . . . 104 IV. Gesetzescharakter der Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 V. Ziel der Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 B. „Ewige“ Methodenkontroverse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 I.

Subjektive Auslegungstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 1. Begründungsansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 2. Unterschied zur historischen und genetischen Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . 115

II. Objektive Auslegungstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 1. Begründungsansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 2. Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 a) Willkürliche Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 b) Fehlende Legitimationsvermittlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 c) Keine Ergebniskontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 d) Unzureichende Normbindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 e) Historischer Missbrauch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121

Inhaltsverzeichnis

13

III. Vereinigungstheorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 C. Exkurs: US-amerikanische verfassungsrechtliche Methodendiskussion . . . . . . . . . . . . 123 I. Die Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 II. Interpretationsansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 1. Intentionalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 2. Textualismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 3. Dynamic statutory interpretation/Kontextualismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 III. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 D. Verfassungskonforme Methodenkonzeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 I.

Prämissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 1. Beachtung des Normgeberwillens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 2. Fehlende Dialogmöglichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 3. Schranke des Art. 79 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 4. Rationalitätsgarant . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 5. Richterliche Pragmatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136

II. Konkrete Ausgestaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 1. Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 a) Wortlaut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 b) Systematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 c) Historie, Entstehungsgeschichte und Materialien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 d) Telos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 2. Rechtsfortbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 a) Zulässigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 b) Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 c) Grenzen der Rechtsfortbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 aa) Konsens und Akzeptanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 bb) Normgeberwille . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 cc) Alter der Norm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 III. Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 1. Konstruktion des Willens des Verfassungsgebers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 a) Normgeberwille als Mosaik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 aa) Schweigende Materialien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 bb) Wo kein Wille, ist auch ein Weg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 b) Materialien als Fundus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 aa) Kollektiver Wille im arbeitsteiligen Normgebungsprozess . . . . . . . . . . 155 bb) Urtext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 cc) Spätere Verfassungsänderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 c) Blick in die Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159

14

Inhaltsverzeichnis 2. Versteinerung des Grundgesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 a) Sozialer Wandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 aa) Definition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 bb) Beispiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 b) Variationen der Verfassungsentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 aa) Verfassungsänderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 bb) Verfassungswandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 (1) Begründung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 (2) Verfassungsgerichtliche Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 (3) Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 c) Lösung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 aa) Normwidrige Wirklichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 bb) Formelle Verfassungsänderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 cc) Normgestaltung und Verfassungsinterpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179

E. Ergebnis zu Kapitel 2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182

Kapitel 3 Anwendungsbeispiel „Ehebegriff in Art. 6 Abs. 1 GG“

184

A. Sozialer Wandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 I.

Ehe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186

II. Gleichgeschlechtliche Partnerschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 B. Verfassungsentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 I.

Begriff der Ehe in der Rechtsprechung des BVerfG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 1. Verschiedengeschlechtlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 2. Monogamer Charakter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 3. Einvernehmlich-freiwillige Begründung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 4. Grundsätzliche Unauflöslichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 5. Staatlich-hoheitliche Legitimierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194

II. Stationen verfassungsgerichtlicher Anpassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 1. Wandelbares Eheverständnis (Kammerentscheidung 1993) . . . . . . . . . . . . . . . 194 2. Lebenspartnerschaftsgesetz (BVerfGE 105, 313) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 3. Familienzuschlag I und II (BVerfGK 12, 169 und BVerfGK 13, 501) . . . . . . . 196 4. Betriebliche Hinterbliebenenversorgung (BVerfGE 124, 199) . . . . . . . . . . . . . 197 5. Erbschaft- und Schenkungssteuer (BVerfGE 126, 400) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 6. Transsexuellen-Ehe (BVerfGE 128, 109) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 7. Familienzuschlag III (BVerfGE 131, 239) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 8. Grunderwerbsteuer (BVerfGE 132, 179) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 9. Sukzessivadoption (BVerfGE 133, 59) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200

Inhaltsverzeichnis

15

10. Ehegattensplitting (BVerfGE 133, 377) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 11. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 III. Interpretation orientiert am Normgeberwillen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 1. Ehe als Institutsgarantie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 2. Wortlaut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 3. Systematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 a) Bezug zum Familien- und Elternbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 aa) Ehe als Keimzelle der Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208 bb) Moderner Familien- und Elternbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 cc) Fehlende Vergleichbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 b) Verhältnis zum Gleichheitssatz und Persönlichkeitsrecht . . . . . . . . . . . . . . 211 c) Völker- und unionsrechtlicher Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 4. Historie, Entstehungsgeschichte und Materialien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 a) Umfangreiche Befunde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 b) Abweichende Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 5. Analogie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 a) Planwidrige Regelungslücke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 b) Vergleichbare Interessenlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 aa) Ehe als persönlicher Entfaltungsraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 bb) Ehe als Beistands- und Verantwortungsgemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . 221 cc) Ehe als geeignete Basis für eine Familiengründung . . . . . . . . . . . . . . . 221 c) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 C. Ergebnis zu Kapitel 3 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224

Kapitel 4 Zusammenfassung in Thesen

228

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232 Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254

Abkürzungsverzeichnis a. A. Abs. AcP AöR ARSP Art. Aufl. BAGE BayVBl. Bd. Begr. BH Staat BRD BT-Drs. BVerfG BVerfGE BVerfGG BVerfGK BVerwGE bzw. Cardozo L. Rev. CDU ders. dies. DÖV DStR DVBl EGMR Einf. Einl. EL. EMRK EuGH EuGRZ f./ff. FS Geo. L.J. GG GO-BT GRCh Harv. J.L. & Pub. Pol’y

andere Ansicht Absatz Archiv für die civilistische Praxis Archiv des öffentlichen Rechts Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie Artikel Auflage Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts Bayerische Verwaltungsblätter Band Begründer Beihefte zu „Der Staat“ Bundesrepublik Deutschland Drucksache des Deutschen Bundestags Bundesverfassungsgericht Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Bundesverfassungsgerichtsgesetz Kammerentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts beziehungsweise Cardozo Law Review Christlich Demokratische Union Deutschlands derselbe dieselbe Die Öffentliche Verwaltung Deutsches Steuerrecht Deutsches Verwaltungsblatt Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte Einführung Einleitung Ergänzungslieferung Europäische Menschenrechtskonvention Europäischer Gerichtshof Europäische Grundrechte-Zeitschrift folgend Festschrift The Georgetown Law Journal Grundgesetz Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages Charta der Grundrechte der Europäischen Union Harvard Journal of Law and Public Policy

Abkürzungsverzeichnis HGR Hrsg. HStR i. V. m. JA JöR JR JuS JZ Kap. m. w. N. NJ NJOZ NJW Nr. NVwZ Rn. RW S. s. StGB u. u. a. US v. vgl. Vorb. VVDStRL WRV z. B. ZfPW ZJS ZRP ZSE ZZP

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Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa Herausgeber Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland in Verbindung mit Juristische Arbeitsblätter Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart Juristische Rundschau Juristische Schulung Juristenzeitung Kapitel mit weiteren Nachweisen Neue Justiz Neue Juristische Online-Zeitschrift Neue Juristische Wochenschrift Nummer Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht Randnummer Rechtswissenschaft Seite siehe Strafgesetzbuch und und andere United States von vergleiche Vorbemerkung Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer Weimarer Reichsverfassung zum Beispiel Zeitschrift für die gesamte Privatrechtswissenschaft Zeitschrift für das Juristische Studium Zeitschrift für Rechtspolitik Zeitschrift für Staats- und Europawissenschaft Zeitschrift für Zivilprozess

Einführung Macht ist Verändernkönnen.1

Über 70 Jahre Grundgesetz sind nur ein Wimpernschlag der Geschichte. Diese Zeit ist gleichwohl geprägt von beeindruckenden sozialen wie technischen Veränderungen. Dieser Wandel will gestaltet werden. Voraussetzung dafür ist Macht. Das Bundesverfassungsgericht gilt heute als ein entscheidender Akteur bei allen großen politischen Streitfragen. Die Machtfülle des Gerichts hat seit seiner Gründung bedeutend zugenommen. Diese Entwicklung ist nicht selbstverständlich. Sie wirft Fragen auf: Wie lässt sich diese Entwicklung juristisch erklären, und wie gelingt es, dass das Bundesverfassungsgericht mit seinem Wirken die ihm grundgesetzlich vorgegebenen Kompetenzen nicht überschreitet? Darauf möchte diese Arbeit Antworten geben. Sie will dabei den Versuch unternehmen, die häufig politisch motivierte und seit Jahrzehnten andauernde Kritik2 an der Machtfülle des Bundesverfassungsgerichts einer aktualisierten rechtswissenschaftlichen Betrachtung zu unterziehen.

A. Problemaufriss und Ziel der Arbeit Das Bundesverfassungsgericht kann sozialen Wandel durch seine Interpretation des Grundgesetzes gestalten. Das Grundgesetz kann so gesellschaftlichen wie technischen Veränderungen angepasst werden, ohne dass der verfassungsändernde Gesetzgeber tätig werden muss. Die Rolle des Bundesverfassungsgerichts wird dabei häufig unter dem Stichwort Verfassungswandel diskutiert.3 Das Gericht selbst zählt „die Anpassung des geltenden Rechts an veränderte Verhältnisse zu den Aufgaben 1

H. Popitz, Phänomene der Macht (1999), S. 23. Umfangreiche Nachweise bei W.-R. Schenke, NJW 1979, 1321; J. Riecken, Verfassungsgerichtsbarkeit in der Demokratie (2003), S. 282 ff.; A. Voßkuhle, BayVBl. 2020, 577. 3 Vgl. nur E.-W. Böckenförde, Anmerkungen zum Begriff Verfassungswandel, in: B. Guggenberger/T. Würtenberger (Hrsg.), Hüter der Verfassung oder Lenker der Politik? (1998); C. Bumke, Konzepte der Verfassungsentwicklung, in: M. Jestaedt/H. Suzuki (Hrsg.), Verfassungsentwicklung I (2017), S. 39 ff.; B.-O. Bryde, Verfassungsentwicklung (1982); W. Fiedler, Sozialer Wandel, Verfassungswandel, Rechtsprechung (1972); K. Hesse, Grenzen der Verfassungswandlung, in: P. Häberle (Hrsg.), Ausgewählte Schriften (1984), S. 33 ff.; N. Koschmieder, Grundrechtliche Dynamisierungsprozesse (2016); E. Peuker, Verfassungswandel durch Digitalisierung (2020); U. Volkmann, JZ 2018, 265 ff.; A. Voßkuhle, Der Staat 43 (2004), 450 ff.; R. Wahl (Hrsg.), Verfassungsänderung, Verfassungswandel, Verfassungsinterpretation (2008); C. Walter, AöR 125 (2000), 517 ff. 2

20

Einführung

der Dritten Gewalt“4. Verfassungsentwicklung ohne förmliche Verfassungsänderung birgt allerdings Risiken. Unklar ist, wo die Grenzen der Verfassungsentwicklung durch das Verfassungsgericht verlaufen. Diese Grenzen markieren aber zugleich die Grenze der Macht des Bundesverfassungsgerichts. Fragen der Machtverteilung verlangen in einem gewaltengeteilten Staat nach Antworten. Angesichts einer gefühlt schnelllebigen Welt stellt sich regelmäßig neu die Machtfrage, welche Akteure in welchem Umfang dazu berufen sind, das Grundgesetz an sozialen Wandel anzupassen. Der Befund eines mächtigen Bundesverfassungsgerichts verlangt folglich nach einer aktualisierten Betrachtung seiner Kompetenzgrenzen. Dazu thematisiert die Arbeit verschiedene juristische Kontroversen, die seit Jahrzehnten, ja sogar Jahrhunderten intensiv geführt werden. Sie sind unter geänderten Bedingungen nach wie vor aktuell. Sie lassen sich nicht abschließend auflösen, sondern sind regelmäßig angesichts der Umstände der jeweiligen Zeit neu zu führen. Beispielhaft für die Aktualität der nachfolgenden Kontroversen ist die „Klimaschutz“-Entscheidung5 des Bundesverfassungsgerichts, bei der das Gericht seine Argumentation teils mehr, teils weniger offen auf die meisten der hier relevanten Diskurse aufbaut. Zur Erklärung der Machtfülle des Bundesverfassungsgerichts ist eine Analyse seiner Grundrechtsdogmatik unverzichtbar. Dieses Themenfeld ist umfassend aufgearbeitet,6 aber entwickelt sich gleichwohl permanent weiter.7 Gleiches gilt für die Rolle des Bundesverfassungsgerichts in der Machtarchitektur des Grundgesetzes.8 Dabei ist auf umfangreiche Vorarbeiten zur Abgrenzung der Kompetenz des Gerichts im Verhältnis zur Legislative wie Exekutive zurückzugreifen, die demokratietheo-

4

BVerfGE 128, 193, 210; 96, 375, 394; 49, 304, 318. BVerfG, Beschluss vom 24. 03. 2021 – 1 BvR 2656/18 –, juris. 6 Beispielhaft abseits umfangreicher Kommentarliteratur R. Alleweldt, Bundesverfassungsgericht und Fachgerichtsbarkeit (2006), S. 29 ff.; E.-W. Böckenförde, Der Staat 29 (1990), 1 ff.; ders., Der Staat 42 (2003), 165 ff.; H. Dreier, Dimensionen der Grundrechte (1993); W. Heun, Verfassung und Verfassungsgerichtsbarkeit im Vergleich (2014); H. Jarass, Die Grundrechte: Abwehrrechte und objektive Grundsatznormen, in: P. Badura/H. Dreier (Hrsg.), FS 50 Jahre BVerfG (2001); M. Jestaedt, Grundrechtsentfaltung im Gesetz (1999); M. Jestaedt/ O. Lepsius (Hrsg.), Verhältnismäßigkeit (2015); S. Muckel, VVDStRL 79 (2020), 245 ff.; R. Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte (2003), S. 15 ff. 7 Um beim Beispiel der zitierten „Klimaschutz“-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu bleiben, ist nur das Schlagwort „intertemporale Freiheitssicherung“ zu nennen, vgl. BVerfG, Beschluss vom 24. 03. 2021 – 1 BvR 2656/18 –, juris Rn. 142 ff. u. 183. 8 Wiederum lediglich stellvertretend für eine kaum mehr zu überblickende Fülle an Literatur C. Gusy, Parlamentarischer Gesetzgeber und Bundesverfassungsgericht (1985); M. Jestaedt u. a. (Hrsg.), Das entgrenzte Gericht (2011); G. Roellecke, Aufgaben und Stellung des BVerfG im Verfassungsgefüge, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), HStR, Band III, 3. Aufl. 2005, § 67; K. Schlaich/S. Korioth, Das Bundesverfassungsgericht (2021), Rn. 26 ff.; K. Vogel, Das Bundesverfassungsgericht und die übrigen Verfassungsorgane (1988). 5

A. Problemaufriss und Ziel der Arbeit

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retische oder rechtsstaatliche Belange betonen oder die Gerichtsförmigkeit des Bundesverfassungsgerichts bemühen.9 Der hier gewählte Lösungsansatz für das Problem einer wirksamen Begrenzung der verfassungsgerichtlichen Entscheidungsgewalt knüpft an die „ewige“ Methodendiskussion an. Die Frage der Bedeutung des Normgeberwillens für die juristische Interpretation erörtert jede Juristengeneration neu. Auf der Ebene der Verfassungsinterpretation wurde der Diskurs im Vergleich zur „normalen“ Gesetzesinterpretation bisher weniger intensiv geführt.10 Dies dürfte unter anderem einer frühen, vermeintlich klaren Ansage des Bundesverfassungsgerichts zur richtigen Interpretationsmethode geschuldet sein.11 Das Gericht selbst befolgte seine methodischen Grundsätze allerdings nur sehr eingeschränkt, seine Entscheidungspraxis ist vielmehr geprägt von einem auffälligen Methodenpragmatismus. Eine Verknüpfung der einzelnen Kontroversen und eine grundlegende Aufarbeitung in ihrer Zusammenschau fehlen in jüngerer Zeit. Die vorliegende Arbeit soll einen Beitrag dazu leisten, viele Einzeldiskurse unter Berücksichtigung ihrer Wechselwirkung zu einem überzeugenden Ergebnis zusammenzuführen. Sie greift für ihren Lösungsansatz an vielen Stellen auf das Konzentrat tiefgehender rechtswissenschaftlicher Diskussionen zu den unterschiedlichen Themenbereichen zurück. Die teilweise umfangreichen Diskussionsstände der einzelnen Kontroversen 9 Vgl. auszugsweise zu den unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen ohne Kommentarund Aufsatzliteratur u. a. C. Bäcker, Gerechtigkeit im Rechtsstaat (2015); E.-W. Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), HStR, Band II, 3. Aufl. 2004, § 24; U. Di Fabio, Gewaltenteilung, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), HStR, Band II, 3. Aufl. 2004, § 2; M. Jestaedt, Demokratieprinzip und Kondominialverwaltung (1993); E. Klein, Verfahrensgestaltung durch Gesetz und Richterspruch: Das „Prozessrecht“ des Bundesverfassungsgerichts, in: P. Badura/H. Dreier (Hrsg.), FS 50 Jahre BVerfG (2001); P. Lassahn, Rechtsprechung und Parlamentsgesetz (2017); C. Möllers, Gewaltengliederung (2005); ders., Die drei Gewalten (2008); M. Reinhardt, Konsistente Jurisdiktion (1997); J. Riecken, Verfassungsgerichtsbarkeit in der Demokratie (2003); E. Schmidt-Aßmann, Der Rechtsstaat, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), HStR, Band II, 3. Aufl. 2004, § 26; A. Tschentscher, Demokratische Legitimation der dritten Gewalt (2006). 10 Vgl. aber C. Bäcker, Der Staat 60 (2021), 7 ff.; E.-W. Böckenförde, NJW 1976, 2089 ff.; R. Dreier/F. Schwegmann (Hrsg.), Probleme der Verfassungsinterpretation (1976); C. Hillgruber, Verfassungsinterpretation, in: O. Depenheuer/C. Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie (2010); M. Jestaedt, Verfassungsgerichtspositivismus, in: O. Depenheuer u. a. (Hrsg.), FS Isensee (2002); E. G. Mahrenholz, Verfassungsinterpretation aus praktischer Sicht, in: H.-P. Schneider/R. Steinberg (Hrsg.), Verfassungsrecht zwischen Wissenschaft und Richterkunst (1990), S. 53 ff.; F. Ossenbühl, Grundsätze der Grundrechtsinterpretation, in: D. Merten/ H.-J. Papier (Hrsg.), HGR, Band I (2004), § 15 Rn. 7; R. P. Schenke, Methodenlehre und Grundgesetz, in: H. Dreier (Hrsg.), Macht und Ohnmacht des Grundgesetzes (2009), S. 53 ff.; M. Sachs, DVBl 1984, 73 ff.; H.-P. Schneider, Der Wille des Verfassunggebers, in: J. Burmeister u. a. (Hrsg), FS Stern (1997); H. Sendler, Die Methoden der Verfassungsinterpretation, in: B. Ziemske u. a. (Hrsg.), FS Kriele (1997), S. 457 ff.; M. Übelacker, Die genetische Auslegung in der jüngeren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (1993); T. Wischmeyer, Zwecke im Recht des Verfassungsstaates (2015); T. Würtenberger, Auslegung von Verfassungsrecht – realistisch betrachtet, in: J. Bohnert u. a. (Hrsg.), FS Hollerbach (2001). 11 Vgl. BVerfGE 1, 299, 312.

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Einführung

werden auf ihre wesentlichen Argumente zurückgeführt, sodass eine konsistente Lösung für eine raumgreifende Problematik entwickelt werden kann. Nur so sind die für diese Arbeit relevanten Diskursstände im Rahmen einer überschaubaren Monographie zu handhaben. Den aufgeworfenen Fragen soll dabei auf der Grundlage des geltenden Verfassungsrechts nachgegangen werden. Ausgehend von einer positivistisch akzentuierten Verfassungstheorie wird mittels klassischer juristischer Methodik die Thematik abgeschichtet in einzelnen Thesen überprüft. Eine Antwort auf die genannten theoretischen Fragen kann nur überzeugen, wenn sie ihre Praxistauglichkeit an einem konkreten Beispiel unter Beweis gestellt hat. Hierfür drängt sich der Ehebegriff in Art. 6 Abs. 1 GG auf. So ist im Hinblick auf die Ehe „der soziale Wandel und die Änderung der sozialethischen Werturteile augenfällig und der Streit darüber, ob der gesellschaftliche Wandel das Wesen von Ehe und Familie ergriffen hat, an Stärke anschwellend entbrannt“12. Über viele Jahrzehnte herrschte in Rechtsprechung und Literatur ein weitgehend einheitliches Verständnis davon, was strukturbildend für eine Ehe ist. Dazu gehörte, dass die Ehe nur zwischen einem Mann und einer Frau geschlossen werden kann. Dieses Verständnis ist ins Wanken geraten. Die Interpretation des verfassungsrechtlichen Ehebegriffs war nach Einführung der „Ehe für alle“ Gegenstand diverser Ausarbeitungen, die meist aber nur einzelne Aspekte beleuchteten.13 Die Gleichstellung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften war zudem Gegenstand einer umfangreichen Entscheidungspraxis des Bundesverfassungsgerichts.14 Dieses umfassend bearbeitete Themenfeld ermöglicht eine kritische Prüfung der hier verfassungsrechtlich für geboten gehaltenen Interpretationsmethode im Anwendungsfall. So werden beispielhaft die Kompetenzgrenzen des Bundesverfassungsgerichts bei der Verarbeitung sozialen Wandels deutlich. Das Verhältnis von Macht und Methode wird manifest.

B. Gang der Untersuchung Als Ausgangspunkt der Untersuchung soll geklärt werden, ob die Machtfülle des Bundesverfassungsgerichts einen verfassungsrechtlich problematischen Umfang erreicht hat (Kapitel 1). Dazu ist zunächst zu erörtern, wie sich der Machtzuwachs 12

P. Badura, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG (Juli 2021), Art. 6 Rn. 9. Vgl. u. a. C. Bäcker, AöR 143 (2018), 339 ff.; C. Becker, Die gleichgeschlechtliche Ehe in Deutschland (2021); N. Drönner, Das „Homosexuellen-Urteil“ des Bundesverfassungsgerichts aus rechtshistorischer Perspektive (2020); S.-P. Hwang, AöR 145 (2020), 264 ff.; F. Kramer, Über die Wandlungsfähigkeit des GG am Beispiel gleichgeschlechtlich orientierter Personen und Paare (2017); M. Nettesheim, Auf dem Weg zur gleichgeschlechtlichen Ehe, in: M. Jestaedt/H. Suzuki (Hrsg.), Verfassungsentwicklung I (2017); S. Pschorr/F. Spanner, Verfassungswandel messbar machen, in: P. B. Donath u. a. (Hrsg.), Verfassungen – ihre Rolle im Wandel der Zeit (2019); J. P. Schaefer, AöR 143 (2018), 393 ff.; F. Wollenschläger/D. CoesterWaltjen, Ehe für alle (2018). 14 BVerfGE 105, 313; 124, 199; 126, 400; 128, 109; 131, 239; 132, 179; 133, 59; 133, 377. 13

B. Gang der Untersuchung

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des Bundesverfassungsgerichts aus juristischer Sicht erklären lässt. Antworten hierzu soll die Entwicklung der Grundrechtsdogmatik geben (unter A.). Darauf aufbauend ist zu prüfen, welche kompetenziellen Vorgaben das Grundgesetz dem Gericht macht (unter B.) und welche Möglichkeiten bestehen, den verfassungsrechtlichen Kompetenzschranken gerecht zu werden (unter C.). Dabei wird zu zeigen sein, dass die Entscheidungsgewalt des Bundesverfassungsgerichts bei loser Normbindung die ihm verfassungsrechtlich zugewiesene Kompetenz übersteigt. Die in dieser Arbeit vorgeschlagene Lösung zur Wahrung des grundgesetzlichen Kompetenzrahmens wählt daher einen methodischen Ansatz (Kapitel 2). Dazu sind zunächst eine Reihe von theoretischen Vorfragen (Mehrdeutigkeit von Sprache, Vorverständnis, Zirkularität des verfassungsrechtlichen Methodenstreits, Gesetzescharakter des Grundgesetzes) zu klären (unter A.). Es folgt eine kurze Übersicht der „ewigen“ Methodenkontroverse (unter B.). Rechtsvergleichend soll die US-amerikanische Methodendiskussion zumindest auf abstrakter Ebene nach Impulsen untersucht werden (unter C.). Das Ziel ist sodann eine konkret handhabbare verfassungskonforme Interpretationsmethode (unter D.). Diese legt den Fokus auf den Normgeberwillen. Sie soll gegen vielfältige theoretische Einwände abgesichert werden. Auf zwei Kritikpunkte ist dabei besonders einzugehen. Es muss zum einen möglich sein, auf einem in weiten Teilen objektivierbaren Weg den Willen des Verfassungsgebers beziehungsweise verfassungsändernden Gesetzgebers zu ermitteln. Zum anderen müssen die Entwicklungspotentiale der Verfassung auch bei einer am Normgeberwillen orientierten Interpretation ausreichend gegeben sein. Damit die theoretische Diskussion aber nicht (wie teilweise in der einschlägigen Literatur leider zu beobachten) losgelöst von ihrer praktischen Umsetzbarkeit geführt wird, ist der hier vorgeschlagene Lösungsansatz an einem aktuellen verfassungsrechtlichen Beispiel zu erproben (Kapitel 3). Dies soll, wie bereits erwähnt, anhand des Ehebegriffes in Art. 6 Abs. 1 GG geschehen. Dabei wird zunächst der umfassende soziale Wandel, dem die Ehe und gleichgeschlechtliche Partnerschaften unterworfen sind, beschrieben (unter A.), sodann die hierauf reagierende Entscheidungspraxis des Bundesverfassungsgerichts dargestellt und die Anschlussfähigkeit der hier entwickelten Lösung demonstriert (unter B.). Die Arbeit schließt mit einer Zusammenfassung der wesentlichen Ergebnisse in Thesen (Kapitel 4).

Kapitel 1

Entgrenzte verfassungsgerichtliche Entscheidungsgewalt Anstoß der vorliegenden Arbeit ist der wahrgenommene Bedeutungszuwachs des Bundesverfassungsgerichts seit seiner Gründung und damit verbunden die Frage nach den Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit. Zunächst soll daher verifiziert und dargelegt werden, ob sich die Wahrnehmung einer raumgreifenden verfassungsgerichtlichen Entscheidungsgewalt durch eine wachsende Prüfungsdichte mit den dogmatischen Entwicklungen im Bereich der Grundrechte belegen lässt (A.). Sodann ist im nächsten Schritt der normative verfassungsrechtliche Maßstab herauszuarbeiten, an dem sich die Machtfülle des Bundesverfassungsgerichts messen lassen muss (B.). Im dritten Teil dieses Kapitels ist sodann zu überprüfen, ob die derzeitige verfassungsgerichtliche Entscheidungsgewalt, auch unter Zuhilfenahme gängiger Ansätze zur Begrenzung der verfassungsgerichtlichen Machtfülle, dem verfassungsrechtlichen Maßstab gerecht wird (C.). Für die nachfolgenden Ausführungen bezeichnen dabei die Begriffe Prüfungsdichte und Prüfungsumfang den tatsächlich angewandten (materiell-rechtlichen) Prüfungsmaßstab des Bundesverfassungsgerichts. Dieser Maßstab bestimmt den zu prüfenden Umfang und die Intensität der Prüfung auf der Ebene der Begründetheit.1 Er wird vorliegend rein deskriptiv verwendet. Der Begriff Entscheidungsgewalt bezeichnet ebenfalls deskriptiv die tatsächliche Macht des Bundesverfassungsgerichts zu entscheiden.2 Die genaue Unterscheidung zwischen Prüfungsdichte/-umfang und Entscheidungsgewalt ist notwendig, um herauszuarbeiten, dass die Entscheidungsgewalt, sprich die Machtfülle des Bundesverfassungsgerichts, zwar maßgeblich durch seinen Prüfungsumfang beeinflusst wird. Sie beschränkt sich aber nicht darauf, was bei der Suche nach Ansätzen zur Begrenzung deutlich werden wird. Denn die Entscheidungsgewalt wird neben der Prüfungsdichte auch maßgeblich von den Voraussetzungen für den Zugang zum Gericht und den Entscheidungsoptionen des Gerichts beeinflusst. Die Begriffe Entscheidungskompetenz und Entscheidungsbefugnis werden für den grundgesetzlich vorgesehenen Maßstab für die verfassungsgerichtliche Entscheidungsgewalt verwendet. Kompetenz in diesem Sinne ist die „rechtlich defi1

Gleiches Begriffsverständnis so auch bei R. Alleweldt, Bundesverfassungsgericht und Fachgerichtsbarkeit (2006), S. 23 f. und W. Heun, Verfassung und Verfassungsgerichtsbarkeit im Vergleich (2014), S. 134. 2 Ebenso C. Hillgruber, JZ 2011, 861.

A. Historische Zunahme des grundrechtlichen Prüfungsumfangs

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nierte Parzelle der Macht“3. Die Entscheidungskompetenz ist mithin der normative Rahmen, den die Entscheidungsgewalt nicht überschreiten darf.

A. Historische Zunahme des grundrechtlichen Prüfungsumfangs Das Bundesverfassungsgericht entwickelte im Bereich der Grundrechte eine Rechtsprechung, welche den verfassungsgerichtlichen Prüfungsumfang staatlichen Handelns nach und nach erweiterte.4 Wenngleich die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bei der Festlegung des eigenen Prüfungsumfangs nicht frei von Widersprüchen ist,5 lassen sich die Grundzüge ohne Weiteres konturieren. Die nachfolgende deskriptive Darstellung beschränkt sich auf die Entwicklung der heutigen Grundrechtsdogmatik.6 Allein dabei werden bereits die Auswirkungen auf die Gewaltenbalance evident, ohne dass es darüber hinaus einer Auseinandersetzung mit der Rechtsprechungsentwicklung im Bereich des Staatsorganisationsrechts bedarf.7 Denn während Entscheidungen im Staatsorganisationsrecht Verschiebungen der Machtfülle innerhalb oder zwischen Exekutive und Legislative nach sich ziehen, berührt die Interpretation der Grundrechte das Verhältnis der Judikative zu den beiden anderen Gewalten. Ausgangspunkt des heutigen, umfassenden Verständnisses der Grundrechte sind die wenige Jahre nach Gründung des Bundesverfassungsgerichts ergangenen Entscheidungen „Elfes“8 und „Lüth“9 aus den Jahren 1957 und 1958.10 Der Entwicklung 3

J. Isensee, JZ 1996, 1085, 1086. M. Jestaedt, Phänomen Bundesverfassungsgericht, in: M. Jestaedt u. a. (Hrsg.), Das entgrenzte Gericht (2011), S. 120; R. Wahl, Verfassungsstaat, Europäisierung, Internationalisierung (2003), S. 241 f. 5 R. Alleweldt, Bundesverfassungsgericht und Fachgerichtsbarkeit (2006), S. 83. 6 Umfassend dazu m. w. N. R. Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte (2003), S. 15 ff.; R. Alleweldt, Bundesverfassungsgericht und Fachgerichtsbarkeit (2006), S. 29 ff.; C. Bumke, AöR 144 (2019), 1 ff. 7 Die Begrenzung erscheint auch deshalb gerechtfertigt, weil das Bundesverfassungsgericht vor allem ein „Grundrechtsgericht“ ist, vgl. C. Schönberger, Anmerkungen zu Karlsruhe, in: M. Jestaedt u. a. (Hrsg.), Das entgrenzte Gericht (2011), S. 27; M. Jestaedt, Phänomen Bundesverfassungsgericht, in: M. Jestaedt u. a. (Hrsg.), Das entgrenzte Gericht (2011), S. 119; H. Jarass, Die Grundrechte: Abwehrrechte und objektive Grundsatznormen, in: P. Badura/ H. Dreier (Hrsg.), FS 50 Jahre BVerfG (2001), S. 35: „Grundrechte-Gericht“; F. Hufen, NJW 1999, 1504: „Grundrechtsrepublik“; C. Bumke, AöR 144 (2019), 1, 77: „Grundrechtsdemokratie“. Über 95 % der eingegangenen Verfahren sind Verfassungsbeschwerden, vgl. G. LübbeWolff, Wie funktioniert das Bundesverfassungsgericht? (2015), S. 6; konkrete Zahlen bei W. Heun, Verfassung und Verfassungsgerichtsbarkeit im Vergleich (2014), S. 141. 8 BVerfGE 6, 32. 9 BVerfGE 7, 198. 4

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Kap. 1: Entgrenzte verfassungsgerichtliche Entscheidungsgewalt

liegt ein zunächst „klassisches“ abwehrrechtliches Grundrechteverständnis zugrunde, das geprägt ist von den Erfahrungen eines totalitären Staates im Dritten Reich.11

I. Umfassender Grundrechtsschutz durch Art. 2 Abs. 1 GG Nach Art. 2 Abs. 1 GG hat jeder das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit. Die Auslegung des Schutzbereichs von Art. 2 Abs. 1 GG war in den ersten Jahren der Bundesrepublik hoch umstritten.12 Im Elfes-Urteil (1957) judizierte das Bundesverfassungsgericht erstmals, dass in Art. 2 Abs. 1 GG mit der freien Entfaltung der Persönlichkeit die allgemeine Handlungsfreiheit gewährleistet werde.13 Das gesamte Tun und Lassen eines jeden Einzelnen genießt damit grundrechtlichen Schutz.14 Indem das Bundesverfassungsgericht Art. 2 Abs. 1 GG als Auffanggrundrecht anerkennt, sieht es einen „lückenlosen Grundrechtsschutz“ garantiert.15 Jede staatliche Maßnahme, die einen Einzelnen belastet, ist damit durch das Bundesverfassungsgericht justiziabel.16 Das Bundesverfassungsgericht stellte im Elfes-Urteil weiterhin fest, dass das Grundgesetz im Unterschied zur Reichsverfassung von 1919 eine wertgebundene Ordnung aufgerichtet habe, die die öffentliche Gewalt begrenze.17 Die obersten Prinzipien dieser Wertordnung seien gegen Verfassungsänderungen geschützt (Art. 1, 20, 79 Abs. 3 GG).18 Gesetze, die in die allgemeine Handlungsfreiheit eingreifen, müssten nicht nur formell, sondern auch materiell in Einklang mit den 10

M. Jestaedt, Phänomen Bundesverfassungsgericht, in: M. Jestaedt u. a. (Hrsg.), Das entgrenzte Gericht (2011), S. 120; U. Volkmann, Grundzüge einer Verfassungslehre der Bundesrepublik Deutschland (2013), S. 172; W. Heun, Funktionell-rechtliche Schranken der Verfassungsgerichtsbarkeit (1992), S. 9. 11 R. Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte (2003), S. 44. Dieses vermeintlich „klassische“ abwehrrechtliche Grundverständnis bezweifelt aus historischer Perspektive H. Dreier, Dimensionen der Grundrechte (1993), S. 27 ff. 12 U. Di Fabio, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG (Juli 2021), Art. 2 Rn. 12; K. Schlaich/ S. Korioth, Das Bundesverfassungsgericht (2021), Rn. 15. 13 BVerfGE 6, 32, 36 f. Zur Entstehungsgeschichte der Entscheidung vgl. D. Grimm, Verfassungsgerichtsbarkeit (2021), S. 206 ff. 14 U. Di Fabio, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG (Juli 2021), Art. 2 Rn. 12; K. Schlaich/ S. Korioth, Das Bundesverfassungsgericht (2021), Rn. 15; W. Heun, Verfassung und Verfassungsgerichtsbarkeit im Vergleich (2014), S. 135; H. Sodan, NVwZ 2009, 545, 548; D. Grimm, Die Zukunft der Verfassung (1991), S. 380. 15 U. Di Fabio, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG (Juli 2021), Art. 2 Abs. 1 Rn. 12; G. Britz, JURA 2015, 319, 320; E.-W. Böckenförde, Der Staat 42 (2003), 165, 171; H. Bethge, VVDStRL 57 (1998), 7, 20; D. Grimm, Verfassungsgerichtsbarkeit (2021), S. 204 f. 16 W. Heun, Verfassung und Verfassungsgerichtsbarkeit im Vergleich (2014), S. 135; W. Brohm, NJW 2001, 1, 4; D. Grimm, Verfassungsgerichtsbarkeit (2021), S. 205. 17 BVerfGE 6, 32, 40. 18 BVerfGE 6, 32, 40.

A. Historische Zunahme des grundrechtlichen Prüfungsumfangs

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obersten Grundwerten der freiheitlich-demokratischen Grundordnung als der verfassungsrechtlichen Wertordnung stehen.19 Sie müssten zudem auch den ungeschriebenen elementaren Verfassungsgrundsätzen und den Grundentscheidungen des Grundgesetzes entsprechen, vornehmlich dem Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit und dem Sozialstaatsprinzip.20 Diese Lesart erlaubt es dem Bundesverfassungsgericht, im Rahmen der am häufigsten vorkommenden Verfahrensart21, der Individualverfassungsbeschwerde, auch objektives Verfassungsrecht zu prüfen.22

II. Grundrechte als objektive Wertordnung Ein Jahr später folgte mit dem Lüth-Urteil (1958) eine weitere maßgebliche, wahrscheinlich sogar die bedeutsamste Richtungsentscheidung für die Grundrechtsdogmatik.23 Im Lüth-Urteil betonte das Bundesverfassungsgericht die Bedeutung und Tragweite der Grundrechte als Elemente einer objektiven, wertegebundenen Ordnung: Ohne Zweifel sind die Grundrechte in erster Linie dazu bestimmt, die Freiheitssphäre des einzelnen vor Eingriffen der öffentlichen Gewalt zu sichern; sie sind Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat. Das ergibt sich aus der geistesgeschichtlichen Entwicklung der Grundrechtsidee wie aus den geschichtlichen Vorgängen, die zur Aufnahme von Grundrechten in die Verfassungen der einzelnen Staaten geführt haben. Diesen Sinn haben auch die Grundrechte des Grundgesetzes, das mit der Voranstellung des Grundrechtsabschnitts den Vorrang des Menschen und seiner Würde gegenüber der Macht des Staates betonen wollte. […] Ebenso richtig ist aber, daß das Grundgesetz, das keine wertneutrale Ordnung sein will […], in seinem Grundrechtsabschnitt auch eine objektive Wertordnung aufgerichtet hat und daß gerade hierin eine prinzipielle Verstärkung der Geltungskraft der Grundrechte zum Ausdruck kommt […]. Dieses Wertsystem, das seinen Mittelpunkt in der innerhalb der sozialen Gemeinschaft sich frei entfaltenden menschlichen Persönlichkeit und ihrer Würde findet, muß als verfassungsrechtliche Grundentscheidung für alle Bereiche des Rechts gelten;

19

BVerfGE 6, 32, 41. BVerfGE 6, 32, 41. 21 R. Wahl, Verfassungsstaat, Europäisierung, Internationalisierung (2003), S. 230. 22 O. Lepsius, Die maßstabsetzende Gewalt, in: M. Jestaedt u. a. (Hrsg.), Das entgrenzte Gericht (2011), S. 182 f; R. Alleweldt, Bundesverfassungsgericht und Fachgerichtsbarkeit (2006), S. 46; W. Heun, Verfassung und Verfassungsgerichtsbarkeit im Vergleich (2014), S. 136; T. Exner, DÖV 2012, 540, 544; B.-O. Bryde, Verfassungsentwicklung (1982), S. 169; H. Ehmke, VVDStRL 20 (1961), 53, 86 f. 23 H. Dreier, Dimensionen der Grundrechte (1993), S. 10; H. Jarass, Die Grundrechte: Abwehrrechte und objektive Grundsatznormen, in: P. Badura/H. Dreier (Hrsg.), FS 50 Jahre BVerfG (2001), S. 35; R. Alexy, Der Staat 29 (1990), 49; R. Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte (2003), S. 234; C. Bumke, AöR 144 (2019), 1, 3 ff.; O. Lepsius, Die maßstabsetzende Gewalt, in: M. Jestaedt u. a. (Hrsg.), Das entgrenzte Gericht (2011), S. 186. 20

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Kap. 1: Entgrenzte verfassungsgerichtliche Entscheidungsgewalt Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung empfangen von ihm Richtlinien und Impulse.24

Über die klassische subjektiv-abwehrrechtliche Dimension gegenüber der öffentlichen Gewalt hinaus erkannte das Bundesverfassungsgericht damit einen objektivrechtlichen Gehalt der Grundrechte an.25 Damit waren die Grundrechte nicht mehr nur im direkten Verhältnis von Bürger und Staat, sondern auch im Verhältnis von Privaten untereinander zu berücksichtigen.26 Damit folgte das Bundesverfassungsgericht Günter Dürigs Lehre27 von der mittelbaren Drittwirkung.28 Diese Rechtsprechung führte zu einem umfassenden grundrechtlichen Prüfungsumfang,29 der „die gesamte Rechtsordnung mit Verfassungsrecht überwölbt“30. Aufgrund der objektiv-rechtlichen Funktion der Grundrechte obliegt es dem Bundesverfassungsgericht, nicht nur Konstellationen einer klassischen abwehrrechtlichen Dimension auf grundrechtliche Verstöße zu überprüfen, sondern jeden Lebenssachverhalt, in den Grundrechte ausstrahlen können.31 Auch bei der Anwendung und Interpretation des einfachen Rechts sind die Instanzgerichte aller Gerichtszweige seitdem angehalten, die verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen zu berücksichtigen,32 wobei dies nicht auf die Auslegung von Generalklauseln beschränkt ist.33 Konsequenz dieser Rechtsprechung ist eine Horizontalwirkung der Grundrechte zwischen Privaten, die „mittelbare Drittwirkung“.34 Auch wenn sich das Bundesverfassungsgericht im Verhältnis zu den Fachgerichten darauf beschränkt, die Verletzung „spezifischen Verfassungsrechts“ zu 24

BVerfGE 7, 198, 204 f. E.-W. Böckenförde, Der Staat 29 (1990), 1, 3 ff.; H. Dreier, Dimensionen der Grundrechte (1993), S. 12; H. D. Jarass, AöR 110 (1985), 363, 364 ff.; S.-P. Hwang, Verfassungsgerichtlicher Jurisdiktionsstaat? (2005), S. 163; vgl. zu dieser ständigen Rechtsprechung aus jüngerer Zeit: BVerfGE 148, 267, 280. 26 E.-W. Böckenförde, Der Staat 29 (1990), 1, 7; H. D. Jarass, AöR 110 (1985), 363, 376 ff.; M. Jestaedt, Phänomen Bundesverfassungsgericht, in: M. Jestaedt u. a. (Hrsg.), Das entgrenzte Gericht (2011), S. 121. 27 G. Dürig, Grundrechte und Zivilrechtsprechung, in: FS Hans Nawiasky (1956), S. 157 ff. 28 R. Alleweldt, Bundesverfassungsgericht und Fachgerichtsbarkeit (2006), S. 50; R. Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte (2003), S. 238; C. Bumke, AöR 144 (2019), 1, 24 f. 29 M. Jestaedt, Grundrechtsentfaltung im Gesetz (1999), S. 44 ff.; D. Grimm, Die Zukunft der Verfassung (1991), S. 221. 30 S. Korioth, Bundesverfassungsgericht und Rechtsprechung („Fachgerichte“), in: P. Badura/H. Dreier (Hrsg.), FS 50 Jahre BVerfG (2001), S. 73. 31 M. Jestaedt, Phänomen Bundesverfassungsgericht, in: M. Jestaedt u. a. (Hrsg.), Das entgrenzte Gericht (2011), S. 121; B. Reese, Die Verfassung des Grundgesetzes (2013), S. 32. 32 H. Dreier, Dimensionen der Grundrechte (1993), S. 43; B. Reese, Die Verfassung des Grundgesetzes (2013), S. 33. 33 BVerfGE 142, 74, 101. 34 P. Badura, Staatsrecht (2018), S. 138; A. Kulick, NJW 2016, 2236; H. Sodan, NVwZ 2009, 545, 546; H. Jarass, Die Grundrechte: Abwehrrechte und objektive Grundsatznormen, in: P. Badura/H. Dreier (Hrsg.), FS 50 Jahre BVerfG (2001), S. 41. 25

A. Historische Zunahme des grundrechtlichen Prüfungsumfangs

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prüfen,35 waren damit die theoretischen Grundlagen (entgegen allen Beteuerungen) für eine Superrevisionsinstanz und damit eine „umfassende Zugriffsmöglichkeit“36 geschaffen.37 Zwar stellte das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich klar, spezifisches Verfassungsrecht sei „nicht schon dann verletzt, wenn eine Entscheidung, am einfachen Recht gemessen, objektiv fehlerhaft ist; der Fehler muß gerade in der Nichtbeachtung von Grundrechten liegen“38. Eine Nachprüfung durch das Bundesverfassungsgericht setze eine Auslegung des einfachen Rechts durch die Fachgerichte voraus, die auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung eines Grundrechts beruhe, die insbesondere den Umfang des Schutzbereichs verkenne und auch in ihrer materiellen Bedeutung für den konkreten Rechtsfall von einigem Gewicht sei (sogenannte Heck’sche Formel).39 Dieser limitierende Maßstab wurde aber in der Folge erweitert.40 Das Bundesverfassungsgericht erkannte in nachfolgenden Entscheidungen auch für Einzelheiten der Auslegung des einfachen Rechts eine eigene Prüfungskompetenz an, wenn eine besondere Intensität des Grundrechteingriffs erreicht wird.41 Teilweise überprüfte das Bundesverfassungsgericht sogar losgelöst vom einfachen Recht die ausreichende Berücksichtigung von Grundrechten durch die Instanzgerichte.42 Damit ist die theoretische Schwelle, ab der das Bundesverfassungsgericht eine eigene Prüfungskompetenz einer einfachgesetzlichen Frage aus grundrechtlicher Perspektive annimmt, kontinuierlich gesunken.43 Die darauf aufbauende gerichtliche Prüfungspraxis bleibt uneinheitlich und stark an einem einzelfallbezogenen Grundrechtsschutz orientiert.44

35

BVerfGE 18, 85, 92 f. E.-W. Böckenförde, Der Staat 29 (1990), 1, 29. 37 E.-W. Böckenförde, Der Staat 29 (1990), 1, 9; R. Alleweldt, Bundesverfassungsgericht und Fachgerichtsbarkeit (2006), S. 52; B. Reese, Die Verfassung des Grundgesetzes (2013), S. 53; K. Schlaich/S. Korioth, Das Bundesverfassungsgericht (2021), Rn. 17; S. Korioth, Bundesverfassungsgericht und Rechtsprechung („Fachgerichte“), in: P. Badura/H. Dreier (Hrsg.), FS 50 Jahre BVerfG (2001), S. 61 f. 38 BVerfGE 18, 85, 92 f. 39 BVerfGE 18, 85, 93; 134, 204, 234. 40 T. v. Danwitz, JZ 1996, 481, 488. Zu den einzelnen Fallgruppen der „Verletzung spezifischen Verfassungsrechts“: S. Korioth, Bundesverfassungsgericht und Rechtsprechung („Fachgerichte“), in: P. Badura/H. Dreier (Hrsg.), FS 50 Jahre BVerfG (2001), S. 63 ff. 41 BVerfGE 43, 130, 135 f.; 67, 312, 222 f.; 83, 130, 145 f.; 77, 240, 250 f. 42 BVerfGE 119, 1; A. Kulick, NJW 2016, 2236, 2238. 43 E.-W. Böckenförde, Der Staat 29 (1990), 1, 9; W. Heun, Verfassung und Verfassungsgerichtsbarkeit im Vergleich (2014), S. 139. 44 R. Zuck, JZ 2007, 1036, 1042; R. Alleweldt, Bundesverfassungsgericht und Fachgerichtsbarkeit (2006), S. 3 f. Für Ansätze in der Literatur, die versuchen einen limitierenden Maßstab des Prüfungsumfangs zu entwickeln, s. ders., Bundesverfassungsgericht und Fachgerichtsbarkeit (2006), S. 140 ff. 36

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Kap. 1: Entgrenzte verfassungsgerichtliche Entscheidungsgewalt

Das Verständnis der Grundrechte als objektive Wertordnung ist von jeher auf Kritik gestoßen.45 Von Anfang an wurde vor den Folgen eines extensiven Verständnisses der Grundrechte als Wertordnung gewarnt. Insbesondere der Verlust politischer Gestaltungsspielräume wurde befürchtet.46 Die Politik drohe zum Erfüllungsgehilfen der Verfassungsrechtsprechung zu verkommen.47 Die Legislative werde damit „von originärer Rechtsetzung zur Konkretisierung herabgestuft“, die Judikative „von interpretativer Rechtsanwendung zur rechtsschöpferischen Konkretisierung heraufgestuft“.48 Die Gewaltenbalance verlagere sich damit zuungunsten der Legislative hin zur Judikative.49 Zudem sei eine umfassende objektivrechtliche Geltung der Grundrechte nur auf Kosten der subjektiv-grundrechtlichen Freiheit Dritter zu erreichen.50 Als Lösung, die am grundsätzlichen Grundrechtsverständnis ansetzt, wurde ein restriktiveres Verständnis der Verfassung als Rahmenordnung vorgeschlagen.51 Diese Kritik führte jedoch zu keiner grundlegenden Änderung der Verfassungsjudikatur.52

III. Status positivus und Schutzpflichten Die Bedeutung der Grundrechte und damit verbunden der Gestaltungsspielraum des Bundesverfassungsgerichts wurde ein weiteres Mal erweitert, indem das Bundesverfassungsgericht in der „Numerus clausus“-Leitentscheidung von 1972 eine

45

M.w.N. H. Dreier, Dimensionen der Grundrechte (1993), S. 12 ff.; R. Alleweldt, Bundesverfassungsgericht und Fachgerichtsbarkeit (2006), S. 52 f.; W.-R. Schenke, NJW 1979, 1321, 1327 f.; kritisch aus dem Blickwinkel der Gewaltenteilung C. Möllers, Die drei Gewalten (2008), S. 146 f. Zur Kritik an dem Begriff „Wertordnung“ als solchem aufgrund fehlender dogmatischer Begründung: H. Goerlich, Wertordnung und Grundgesetz (1973). 46 R. Wahl, Verfassungsstaat, Europäisierung, Internationalisierung (2003), S. 250. 47 E.-W. Böckenförde, Der Staat 29 (1990), 1, 30. 48 E.-W. Böckenförde, Der Staat 29 (1990), 1, 24. 49 BVerfGE 39, 1, 72 (Sondervotum Rupp-v. Brünneck und Simon); E.-W. Böckenförde, Der Staat 29 (1990), 1, 25. 50 BVerfGE 39, 1, 73 (Sondervotum Rupp-v. Brünneck und Simon); E.-W. Böckenförde, Der Staat 29 (1990), 1, 19. Beispielhaft ist hierfür BVerfG, Einstweilige Anordnung vom 18.07.2015 – 1 BvQ 25/15 –, juris. Darin erkennt das BVerfG bei Vorliegen gewisser Voraussetzungen faktisch eine unmittelbare Grundrechtsbindung von Privaten für den Bereich des Art. 8 Abs. 1 GG an. Relativierend ist allerdings anzumerken, dass es sich lediglich um eine Entscheidung nach § 32 Abs. 1 BVerfGG der 3. Kammer des 1. Senats handelt, die eine dogmatische Begründung für diese fragwürdige „Weiterentwicklung“ vermissen lässt. 51 E.-W. Böckenförde, Der Staat 42 (2003), 165, 186; K. F. Röhl/H. C. Röhl, Allgemeine Rechtslehre (2008), S. 674. 52 R. Wahl, Verfassungsstaat, Europäisierung, Internationalisierung (2003), S. 248 f. Zur Kritik an der Kritik H. Dreier, Dimensionen der Grundrechte (1993), S. 53 ff.

A. Historische Zunahme des grundrechtlichen Prüfungsumfangs

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Teilhabe- und Leistungsfunktion der Grundrechte anerkannte.53 Grundrechten kommt danach neben der abwehrrechtlichen Dimension (status negativus) ein status positivus zu. Die Pluralisierung der Grundrechtsfunktionen soll Folge der „sich ständig weiter ausdifferenzierenden Gesellschaft“ sein.54 Der Wirkungsbereich der Grundrechte wurde darüber hinaus erweitert, indem das Bundesverfassungsgericht ebenfalls ab den 1970ern Schutzpflichten des Staates aus der objektiven Werteordnung der Grundrechte ableitete.55 In tatsächlicher Hinsicht wird diese Entwicklung mit „neue[n] Gefährdungslagen personaler Freiheit“56 und den modifizierten Erwartungen an den Staat begründet. Dieser soll nicht mehr nur klassische Gefahrenabwehr, sondern eine generelle Risikovorsorge betreiben.57 Die Annahme von Schutzpflichten, maßgeblich an Art. 2 Abs. 2 GG entwickelt,58 war die logische Konsequenz der Lüth-Rechtsprechung.59 Diese Rechtsfigur steht dem Verständnis von Grundrechten als klassischen Abwehrrechten diametral entgegen,60 denn sie verlangt vom Staat den Eingriff in die grundrechtlich verbürgte Freiheitssphäre eines Dritten. Grundrechte erzwingen danach staatliches Handeln, bis hin zum Erlass strafrechtlicher Sanktionen.61 Jedoch betont das Bundesverfassungsgericht regelmäßig einschränkend, dass „dem Staat und seinen Organen bei der Erfüllung derartiger Schutzpflichten ein weiter Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsbereich zukommt“62. Es gilt insoweit lediglich ein Untermaßverbot.63 So liegt eine Verletzung einer Schutzpflicht erst vor, „wenn die getroffenen Regelungen und Maßnahmen offensichtlich ungeeignet oder völlig unzulänglich sind, das gebotene Schutzziel zu erreichen, oder wenn sie erheblich hinter dem Schutzziel zurückbleiben“.64 Aufgrund der zurückhaltenden Rechtsprechung65 sind die Auswirkungen auf vergleichsweise wenige Einzelentscheidungen beschränkt. 53 BVerfGE 33, 303; 35, 79; B. Reese, Die Verfassung des Grundgesetzes (2013), S. 35; H. Jarass, Die Grundrechte: Abwehrrechte und objektive Grundsatznormen, in: P. Badura/ H. Dreier (Hrsg.), FS 50 Jahre BVerfG (2001), S. 44 f.; ders., AöR 110 (1985), 363, 385 ff. 54 M.w.N. R. Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte (2003), S. 86. 55 BVerfGE 39, 1; 88, 203; 46, 160; 49, 24; 49, 89; 53, 30; 56, 54; 77, 170; 79, 174. Zu den Vorarbeiten in der Staatsrechtslehre vgl. C. Bumke, AöR 144 (2019), 1, 57 ff. 56 H. Dreier, Dimensionen der Grundrechte (1993), S. 50. 57 D. Grimm, Die Zukunft der Verfassung II (2012), S. 44. 58 G. Hermes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit (1987), S. 43 – 76; H. Sodan, NVwZ 2009, 545, 547; H. Jarass, Die Grundrechte: Abwehrrechte und objektive Grundsatznormen, in: P. Badura/H. Dreier (Hrsg.), FS 50 Jahre BVerfG (2001), S. 39; H. Dreier, Dimensionen der Grundrechte (1993), S. 47. 59 H. Sodan, NVwZ 2009, 545, 546; E.-W. Böckenförde, Der Staat 29 (1990), 1, 12; P. Badura, Staatsrecht (2018), S. 133. 60 U. Di Fabio, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG (Juli 2021), Art. 2 Rn. 61; H. Dreier, Dimensionen der Grundrechte (1993), S. 47; H. D. Jarass, AöR 110 (1985), 363, 379. 61 H. Dreier, Dimensionen der Grundrechte (1993), S. 49. 62 BVerfGE 115, 118, 159; vgl. auch BVerfGE 77, 170, 214; 79, 174, 202. 63 R. Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte (2003), S. 66. 64 BVerfG, Beschluss vom 24. 03. 2021 – 1 BvR 2656/18 –, juris Rn. 152.

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Kap. 1: Entgrenzte verfassungsgerichtliche Entscheidungsgewalt

IV. Erweiterung des Eingriffsbegriffs Auch auf der zweiten Ebene der anerkannten Prüfungsstruktur des Grundrechtsschutzes entwickelte sich der Eingriffsbegriff dergestalt, dass ein möglichst umfassender Grundrechtsschutz durch das Bundesverfassungsgericht gewährleistet wird.66 Dies war notwendig, weil sich staatliches Handeln im modernen Wohlfahrtsstaat nicht allein auf imperativ wirkende Handlungsformen beschränkte.67 Als (kontroverse) Leitentscheidungen sind „Glykol“68 und „Osho“69 aus dem Jahr 2002 zu nennen.70 Damit geht allerdings wiederum auch eine höhere Prüfungsdichte einher. Nach dem „klassischen“ Eingriffsbegriff bedarf es für einen Eingriff eines finalen, unmittelbaren, hoheitlichen Rechtsaktes, der mit Befehl und Zwang durchgesetzt wird.71 Der moderne Eingriffsbegriff lässt hingegen jedes staatliche Handeln genügen, das ein grundrechtlich geschütztes Verhalten unmöglich macht oder wesentlich erschwert.72 Erfasst werden danach auch faktische und mittelbare Beeinträchtigungen.73 Bis heute fehlen aber einheitliche Kriterien, an denen die Eingriffsqualität von faktischen Beeinträchtigungen gemessen werden kann.74 Es bleibt daher meist bei grundrechtsspezifischer Kasuistik75 und dem Bestreben nach Einzelfallgerechtigkeit76. In der Literatur finden sich unterschiedliche Ansätze, den Eingriffsbegriff stärker zu konturieren.77 Für die vorliegende Untersuchung ist die profane Feststellung ausreichend, dass die Fortentwicklung vom klassischen zum modernen Eingriffsbegriff den Wirkungsbereich der Grundrechte und damit des 65

E.-W. Böckenförde, Der Staat 29 (1990), 1, 13; P. Lerche, Stil und Methode der verfassungsrechtlichen Entscheidungspraxis, in: P. Badura/H. Dreier (Hrsg.), FS 50 Jahre BVerfG (2001), S. 346; C. Rau, Selbst entwickelte Grenzen in der Rechtsprechung des United States Supreme Court und des Bundesverfassungsgerichts (1996), S. 160. Dieser Befund wurde zuletzt bestätigt durch BVerfG, Beschluss vom 24. 03. 2021 – 1 BvR 2656/18 –, juris Rn. 143 ff. 66 W. Heun, Verfassung und Verfassungsgerichtsbarkeit im Vergleich (2014), S. 137; C. Bumke, AöR 144 (2019), 1, 52. 67 D. Grimm, Die Zukunft der Verfassung (1991), S. 171. 68 BVerfGE 105, 252. 69 BVerfGE 105, 279. 70 Der moderne Eingriffsbegriff kam gleichwohl auch schon in wesentlich früheren Entscheidungen zum Tragen, vgl. dazu die Nachweise bei H. Dreier, in: Dreier, GG (2013), Vorb. Rn. 125. 71 BVerfGE 105, 279, 299 f.; H. Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG (2020), Vorb. vor Art. 1 Rn. 27. 72 H. Bethge, VVDStRL 57 (1998), 7, 40; H. Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG (2020), Vorb. vor Art. 1 Rn. 29. 73 BVerfGE 116, 202, 222; 105, 279, 303; 110, 177, 191; 113, 63, 76. 74 H. Dreier, in: Dreier, GG (2013), Vorb. Rn. 126 f.; H. Bethge, VVDStRL 57 (1998), 7, 38. 75 U. Ramsauer, Die faktischen Beeinträchtigungen des Eigentums (1979), S. 128 ff. 76 H. Bethge, VVDStRL 57 (1998), 7, 41. 77 H. Bethge, VVDStRL 57 (1998), 7, 42 ff.

A. Historische Zunahme des grundrechtlichen Prüfungsumfangs

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Bundesverfassungsgerichts signifikant vergrößert hat. Dies gilt einmal mehr, soweit das Bundesverfassungsgericht zuletzt zur intertemporalen Freiheitssicherung eine eingriffsähnliche Vorwirkung für ausreichend erachtet.78

V. Verhältnismäßigkeitsprinzip Ein weiterer inhaltlich stark in die Ausübung exekutiven und legislativen Handelns eingreifender Prüfungsmaßstab wurde durch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit auf Verfassungsebene geschaffen.79 Er wurzelt im Rechtsstaatsprinzip80 beziehungsweise ergibt sich „im Grunde schon aus dem Wesen der Grundrechte selbst“81. Das Verhältnismäßigkeitsprinzip erlangte maßgeblich durch das Bundesverfassungsgericht seine heutige Bedeutung.82 Es kam bereits im Lüth-Urteil zur Anwendung und wurde spätestens im Apotheken-Urteil83 (1958) auch auf den Gesetzgeber angewandt und damit omnipräsent.84 Die verfassungsgerichtliche „Rechtsprechung zu den Grundrechten ist durch und durch Verhältnismäßigkeitsrechtsprechung“85. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit findet schon längst nicht mehr nur im öffentlichen Recht,86 sondern auch im Straf- und Zivilrecht sowie im

78

BVerfG, Beschluss vom 24. 03. 2021 – 1 BvR 2656/18 –, juris Rn. 183 ff. M. Jestaedt, Phänomen Bundesverfassungsgericht, in: M. Jestaedt u. a. (Hrsg.), Das entgrenzte Gericht (2011), S. 122; W. Heun, Verfassung und Verfassungsgerichtsbarkeit im Vergleich (2014), S. 137; C. Hillgruber, JZ 2011, 861, 862. 80 BVerfGE 80, 109, 120, 111, 54, 82; 113, 154, 162. 81 BVerfGE 76, 1, 50 f.; 61, 126, 134; C. Bickenbach, Die Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers (2014), S. 297 ff. Zur Diskussion in der Rechtswissenschaft, ob die rechtliche Grundlage des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit im Rechtsstaatsprinzip oder den Grundrechten zu finden ist und welche Folgen damit verbunden sind: m. w. N. B. Schlink, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, in: P. Badura/H. Dreier (Hrsg.), FS 50 Jahre BVerfG (2001), S. 447 f. 82 B. Schlink, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, in: P. Badura/H. Dreier (Hrsg.), FS 50 Jahre BVerfG (2001), S. 445. 83 BVerfGE 7, 377. 84 R. Wahl, Verfassungsstaat, Europäisierung, Internationalisierung (2003), S. 245; P. Badura, Staatsrecht (2018), S. 144; E. Grabitz, AöR 98 (1973), 568, 569 f; A. Lang, AöR 145 (2020), 75, 76; vgl. auch O. Lepsius, Die Chancen und Grenzen des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit, in: M. Jestaedt/O. Lepsius (Hrsg.), Verhältnismäßigkeit (2015), S. 5 ff.; C. Bumke, AöR 144 (2019), 1, 52 ff. 85 B. Schlink, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, in: P. Badura/H. Dreier (Hrsg.), FS 50 Jahre BVerfG (2001), S. 445; A. Lang, AöR 145 (2020), 75, 79. 86 Gleichwohl ist er auch im öffentlichen Recht immer raumgreifender, so z. B. zur Anwendung auf gebundene Entscheidungen T. Barczak, Die entgrenzende Macht des Einzelfalls, in: M. Mülder u. a. (Hrsg.), Richterliche Abhängigkeit – Rechtsfindung im Öffentlichen Recht (2018), S. 333 ff. 79

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Kap. 1: Entgrenzte verfassungsgerichtliche Entscheidungsgewalt

europäischen Gemeinschaftsrecht Anwendung87 und „ist mittlerweile auf dem Weg, ein universales Verfassungsprinzip zu werden“88. Nach dem Verhältnismäßigkeitsprinzip kann ein Eingriff nur dann gerechtfertigt sein, wenn die staatliche Eingriffsmaßnahme einen legitimen Zweck verfolgt und sie zur Erreichung dieses Zwecks geeignet, erforderlich und angemessen ist.89 Noch bis in die Anfangsjahre der Bundesrepublik war der aus dem Verwaltungs- und speziell dem Polizeirecht stammende Grundsatz der Verhältnismäßigkeit auf die Prüfung des legitimen Zwecks, der Geeignetheit und Erforderlichkeit beschränkt.90 Die heutige Anwendung des Verhältnismäßigkeitsprinzips zielt wegen der Angemessenheitsprüfung (Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne) nicht auf den „Schutz eines grundrechtlichen Minimums“, sondern auf die kleinstmögliche Freiheitsbeschränkung.91 Die Kehrseite davon ist die kontinuierlich voranschreitende Beschränkung politischer und fachgerichtlicher Entscheidungsspielräume.92 Problematisch ist zudem, dass es an inhaltlichen Maßstäben für die Verhältnismäßigkeitsprüfung im engeren Sinne (Angemessenheit) fehlt93 beziehungsweise diese defizitär sind94. Bei der Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes wird nicht differenziert, ob 87 BVerfGE 154, 17, 99 ff.; B. Schlink, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, in: P. Badura/H. Dreier (Hrsg.), FS 50 Jahre BVerfG (2001), S. 445; H. Sodan, NVwZ 2009, 545, 548; A. Lang, AöR 145 (2020), 75, 83. 88 M.w.N. O. Lepsius, Die Chancen und Grenzen des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit, in: M. Jestaedt/O. Lepsius (Hrsg.), Verhältnismäßigkeit (2015), S. 2; s. auch H. Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG (2015), Art. 20 (Rechtsstaat) Rn. 179. 89 Vgl. nur BVerfGE 120, 274, 318 f.; P. Badura, Staatsrecht (2018), S. 144; H. Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG (2020), Art. 20 Rn. 116 ff.; G. Britz, JURA 2015, 319, 322; M. Wienbracke, ZJS 2013, 148 ff; E. Grabitz, AöR 98 (1973), 568 ff.; erstmals umfassend aufgearbeitet von P. Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht (1961). 90 L. Hirschberg, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (1981), S. 6 ff.; B. Schlink, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, in: P. Badura/H. Dreier (Hrsg.), FS 50 Jahre BVerfG (2001), S. 445. 91 B. Reese, Die Verfassung des Grundgesetzes (2013), S. 60; D. Grimm, Die Zukunft der Verfassung (1991), S. 381. 92 E.-W. Böckenförde, Der Staat 29 (1990), 1, 29 f; C. Hillgruber, JZ 2011, 861, 863; M. Jestaedt, Phänomen Bundesverfassungsgericht, in: M. Jestaedt u. a. (Hrsg.), Das entgrenzte Gericht (2011), S. 122; O. Lepsius, Die maßstabsetzende Gewalt, in: M. Jestaedt u. a. (Hrsg.), Das entgrenzte Gericht (2011), S. 174; R. Wahl, Verfassungsstaat, Europäisierung, Internationalisierung (2003), S. 245; a. A.: G. Britz, JURA 2015, 319, 322, die eine tendenziell großzügige Angemessenheitsprüfung des Bundesverfassungsgerichts zu erkennen vermag. 93 B. Reese, Die Verfassung des Grundgesetzes (2013), S. 61; R. Wahl, Verfassungsstaat, Europäisierung, Internationalisierung (2003), S. 245: „relativ maßstabarmes allgemeines Prinzip“. 94 P. Lerche, Stil und Methode der verfassungsrechtlichen Entscheidungspraxis, in: P. Badura/H. Dreier (Hrsg.), FS 50 Jahre BVerfG (2001), S. 351; B. Schlink, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, in: P. Badura/H. Dreier (Hrsg.), FS 50 Jahre BVerfG (2001), S. 460. Versuche einer Strukturierung bei H. Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG (2020), Art. 20 Rn. 121 f.

A. Historische Zunahme des grundrechtlichen Prüfungsumfangs

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Maßnahmen der Exekutive oder Legislative kontrolliert werden, obwohl sich eine unterschiedliche Handhabung aufdrängt.95 Auf der dogmatisch nur gering strukturierten Ebene der Angemessenheit entscheidet das Bundesverfassungsgericht meist die grundrechterelevanten Verfahren.96 Die Prüfung bleibt daher häufig nicht hinreichend konkretisiert oder konkretisierbar und ist damit für subjektive Wertungen offen.97 Zutreffend ist die Rede davon, dass immer „stärker das aleatorische Moment in der Güterabwägungsentscheidung zu Tage tritt“98. Am Ende der Prüfung steht nicht das Ergebnis einer rationalen Abwägung, sondern eine wertende verfassungsrechtliche Entscheidung im Einzelfall.99 Die Letztentscheidung über diese Wertung steht wiederum allein dem Bundesverfassungsgericht zu.

VI. Zwischenergebnis Die dargestellte Rechtsprechungsentwicklung100 zeigt deutlich, dass sich die wahrgenommene Zunahme der Machtfülle des Bundesverfassungsgerichts in der Historie der verfassungsgerichtlichen Grundrechtsdogmatik widerspiegelt.101 Auf jeder Ebene der Prüfungsstruktur des Grundrechtsschutzes finden sich Belege, die eine beachtliche Erhöhung der Kontrolldichte erklären. Durch die aufgezeigten dogmatischen Weichenstellungen hat sich das Bundesverfassungsgericht über die 95 O. Lepsius, Die Chancen und Grenzen des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit, in: M. Jestaedt/O. Lepsius (Hrsg.), Verhältnismäßigkeit (2015), S. 10 ff. 96 H. Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG (2020), Art. 20 Rn. 120; O. Lepsius, Die maßstabsetzende Gewalt, in: M. Jestaedt u. a. (Hrsg.), Das entgrenzte Gericht (2011), S. 206; N. Petersen, Verhältnismäßigkeit als Rationalitätskontrolle (2015), S. 164; B.-O. Bryde, Obiter Dicta, in: W. Durner u. a. (Hrsg.), FS Hans-Jürgen Papier (2013), S. 495; ders., Verfassungsinterpretation und verfassungsgerichtliche Praxis, in: F. Reimer (Hrsg.), Juristische Methodenlehre aus dem Geist der Praxis? (2016), S. 109. Statistisch belegt bei A. Lang, AöR 145 (2020), 75, 88 u. 109. 97 C. Hillgruber, JZ 2011, 861, 862; A. Lang, AöR 145 (2020), 75, 110. 98 M.w.N. M. Jestaedt, Grundrechtsentfaltung im Gesetz (1999), S. 53. Kritisch dazu H. Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG (2015), Art. 20 (Rechtsstaat) Rn. 186. 99 BVerfGE 90, 145, 199 ff. (Sondervotum Graßhof); C. Hillgruber, JZ 2011, 861, 862; D. Grimm, Die Zukunft der Verfassung (1991), S. 381; B. Schlink, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, in: P. Badura/H. Dreier (Hrsg.), FS 50 Jahre BVerfG (2001), S. 461. Aus Sorge um dessen institutionelle Akzeptanz meint N. Petersen, Verhältnismäßigkeit als Rationalitätskontrolle (2015), S. 279, einen zurückhaltenden Gebrauch des eröffneten Entscheidungsspielraums beim Bundesverfassungsgericht ausmachen zu können. 100 Weitere Nachweise hierzu auch bei M. Jestaedt, Grundrechtsentfaltung im Gesetz (1999), S. 43. 101 So auch W. Heun, Funktionell-rechtliche Schranken der Verfassungsgerichtsbarkeit (1992), S. 11; H. Schulze-Fielitz, Schattenseiten des Grundgesetzes, in: H. Dreier (Hrsg.), Macht und Ohnmacht des Grundgesetzes (2009), S. 13 f. Dieser Befund übersieht nicht, dass selbstverständlich auch heute noch gesetzgeberische Entscheidungsspielräume bestehen, vgl. nur G. Britz, JURA 2015, 319, 320 ff.

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Kap. 1: Entgrenzte verfassungsgerichtliche Entscheidungsgewalt

Jahre den Zugriff auf nahezu jede beliebige politische Fragestellung ermöglicht. Es hat damit seine Rolle als „Akteur im staatlichen Entscheidungsprozess“ bedeutsam gesteigert.102 Entscheidend hierfür war unabhängig von formellen Zuständigkeitsregeln die Weiterentwicklung und damit verbundene Ausdehnung des materiellen Prüfungsumfangs. Gleichwohl hat die Erweiterung der Zuständigkeiten des Bundesverfassungsgerichts um die Verfassungsbeschwerde durch den Gesetzgeber und später den verfassungsgebenden Gesetzgeber diese Entwicklung nachhaltig beschleunigt.103 Während der Parlamentarische Rat bereits um die Notwendigkeit einer Verfassungsbeschwerde gerungen hatte,104 konnte er die Zunahme der Entscheidungsgewalt des Bundesverfassungsgerichts durch einen stetig wachsenden Prüfungsumfang in dieser Form sicherlich noch nicht voraussehen. Beide Aspekte sind Triebfedern einer umfassenden Konstitutionalisierung der Rechtsordnung.105 Der daraus resultierende heutige Umfang der Entscheidungsgewalt bedarf einer kritischen Überprüfung. Dass die Vergrößerung des Prüfungsumfangs zudem teilweise mit Rationalitätseinbußen einhergeht, verlangt umso mehr danach, die Entscheidungsgewalt anhand der Entscheidungskompetenz zu überprüfen. Die dargestellte Entwicklung der Grundrechtsdogmatik, die heute in den wesentlichen Grundzügen nicht mehr umstritten ist,106 soll durch die nachfolgend noch zu diskutierende Frage einer Begrenzung der Entscheidungsgewalt durch eine bestimmte Interpretationsmethodik nicht grundsätzlich in Frage gestellt werden.107 Denn die Wahl der Interpretationsmethode hat für den Bestand dieser Dogmatik keine Auswirkungen108 oder führt bei Anwendung der vorliegend favorisierten Auslegungstheorie jedenfalls nicht zu einem noch größeren Prüfungsumfang des Bundesverfassungsgerichts. Zudem hilft die heute gefestigte Dogmatik, gerichtliche Macht zu begrenzen. Denn sie schafft ein Korsett, das etwaige Abweichungen ob-

102

W. Heun, Verfassung und Verfassungsgerichtsbarkeit im Vergleich (2014), S. 134. G. Roellecke, Aufgaben und Stellung des BVerfG im Verfassungsgefüge, in: J. Isensee/ P. Kirchhof (Hrsg.), HStR, Band III, 3. Aufl. 2005, § 67 Rn. 12; H. Schulze-Fielitz, Schattenseiten des Grundgesetzes, in: H. Dreier (Hrsg.), Macht und Ohnmacht des Grundgesetzes (2009), S. 14 f. 104 C. Gusy, Die Verfassungsbeschwerde, in: P. Badura/H. Dreier (Hrsg.), FS 50 Jahre BVerfG (2001), S. 641; R. Alleweldt, Bundesverfassungsgericht und Fachgerichtsbarkeit (2006), S. 40. 105 R. P. Schenke, Methodenlehre und Grundgesetz, in: H. Dreier (Hrsg.), Macht und Ohnmacht des Grundgesetzes (2009), S. 53 ff. 106 R. Alleweldt, Bundesverfassungsgericht und Fachgerichtsbarkeit (2006), S. 22. 107 Ein Zurück zu einem rein abwehrrechtlichen Verständnis scheint lebensfremd, vgl. H. Dreier, Dimensionen der Grundrechte (1993), S. 63; U. Volkmann, Grundzüge einer Verfassungslehre der Bundesrepublik Deutschland (2013), S. 147. 108 Für Art. 2 Abs. 1 GG als Auffanggrundrecht: E.-W. Böckenförde, Der Staat 42 (2003), 165, 188 ff. 103

B. Maßstab der verfassungsgerichtlichen Entscheidungskompetenz

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jektiv überprüfbar und begründungspflichtig macht.109 Gleichwohl lässt sich die Wechselbeziehung zwischen Methode und Kompetenzbestimmung nicht leugnen, geschweige denn auflösen.110 Das gilt ebenso für den Einfluss des sozialen Wandels auf die Grundrechte und die damit verbundene stetige Weiterentwicklung der Grundrechtsdogmatik.111

B. Maßstab der verfassungsgerichtlichen Entscheidungskompetenz Die Zunahme des verfassungsgerichtlichen Prüfungsumfangs ist eindrucksvoll. Das allein rechtfertigt aber noch nicht, von einer „entgrenzten“ Entscheidungsgewalt des Bundesverfassungsgerichts zu sprechen. Hierfür muss die verfassungsrechtliche Grenze der Entscheidungskompetenz definiert werden. Der Maßstab, der die verfassungsgerichtliche Entscheidungsbefugnis beschreibt, kann im staatlichen Gewaltengefüge gegenüber zwei Seiten abgegrenzt werden:112 Einerseits gegenüber der gesetzgebenden und vollziehenden Gewalt, andererseits innerhalb der Judikative gegenüber der Fachgerichtsbarkeit. Die entscheidende Abgrenzung vor dem Hintergrund der Gewaltenteilung erfolgt gegenüber der Legislative und Exekutive. Für die Bewertung einer „entgrenzten“ Entscheidungsgewalt des Bundesverfassungsgerichts ist zwar auch die Grenze zwischen Verfassungsgericht und Fachgerichten nicht völlig irrelevant,113 vorliegend soll aber der Fokus auf der Abgrenzung gegenüber den anderen beiden Gewalten liegen.114 Die hier zu untersuchende Grenze gilt es dabei unter Berücksichtigung der historisch gewachsenen Kontrolldichte aus den Vorgaben des Grundgesetzes zu entwickeln.115 109

Vgl. dazu auch unten Kapitel 1 C. IV. Vgl. dazu J. Ipsen, Richterrecht und Verfassung (1975), S. 47 ff. Eine grundgesetzliche Exegese zur Beantwortung der Frage daher ablehnend: C. Bumke, Einführung in das Forschungsgespräch über die richterliche Rechtsarbeit, in: C. Bumke (Hrsg.), Richterrecht zwischen Gesetzesrecht und Rechtsgestaltung (2012), S. 11. 111 S. Muckel, VVDStRL 79 (2020), 245, 248 f. 112 W. Heun, Verfassung und Verfassungsgerichtsbarkeit im Vergleich (2014), S. 139 f.; K. Vogel, Das Bundesverfassungsgericht und die übrigen Verfassungsorgane (1988), S. 6 f.; M. Jestaedt, Verfassungsgerichtspositivismus, in: O. Depenheuer u. a. (Hrsg.), FS Isensee (2002), S. 184. 113 Vgl. zum Verhältnis von Verfassungs- und Fachgerichtsbarkeit: R. Alleweldt, Bundesverfassungsgericht und Fachgerichtsbarkeit (2006); S. Korioth, Bundesverfassungsgericht und Rechtsprechung („Fachgerichte“), in: P. Badura/H. Dreier (Hrsg.), FS 50 Jahre BVerfG (2001), S. 55 ff.; M. Jestaedt, DVBl 2001, 1309 ff. 114 Ähnlicher Ansatz auch bei J. Riecken, Verfassungsgerichtsbarkeit in der Demokratie (2003), S. 272. 115 Anders noch K. Vogel, Das Bundesverfassungsgericht und die übrigen Verfassungsorgane (1988), S. 8 ff., der diese Frage ausklammert und dabei aber die Bedeutung des materiellen Prüfungsmaßstabs für die Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit verkennt. 110

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Kap. 1: Entgrenzte verfassungsgerichtliche Entscheidungsgewalt

Grenzen der Entscheidungsbefugnis des Bundesverfassungsgerichts sind den verfassungsrechtlichen Legitimationsgrundlagen der Rechtsprechung zu entnehmen.116 Denn das Bundesverfassungsgericht als Teil der rechtsprechenden Gewalt ist abgeleitete Staatsgewalt (Art. 20 Abs. 2 GG).117 Maßstabsrelevante Vorgaben lassen sich aus der Eigenschaft des Bundesverfassungsgerichts als Gericht (I.) sowie seiner Eingebundenheit in Demokratie (II.) und Rechtsstaat (III.) entnehmen. Bedingung ist jeweils, dass sich die Aussagen zur Entscheidungskompetenz aus dem Grundgesetz selbst ableiten lassen.118 Denn das Bundesverfassungsgericht steht nicht über der Verfassung, sondern „agiert […] verfassungsakzessorisch und gesetzesdeterminiert“119. Nicht näher berücksichtigt werden Eigenschaften des Bundesverfassungsgerichts, die jedenfalls keine kompetenzielle Wirkung entfalten,120 wie seine Stellung als Verfassungsorgan121 oder Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG122. Der so herausgearbeitete Maßstab, der die Entscheidungskompetenz des Bundesverfassungsgerichts beschreibt, ermöglicht, die Frage zu beantworten, ob sich die gegenwärtige, durch den zunehmenden Prüfungsumfang gewachsene Entscheidungsgewalt in den Grenzen der grundgesetzlich vorgesehenen Kompetenz bewegt.

I. Das Bundesverfassungsgericht als Gericht Nach Art. 92 GG wird die rechtsprechende Gewalt durch das Bundesverfassungsgericht, durch die in diesem Grundgesetz vorgesehenen Bundesgerichte und durch die Gerichte der Länder ausgeübt. Das Grundgesetz statuiert die Gerichtsförmigkeit des Bundesverfassungsgerichts.123 Dies wird deutlich an der Bezeichnung 116

H. Simon, Verfassungsgerichtsbarkeit, in: E. Benda/W. Maihofer/H.-J. Vogel (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts (1994), S. 1639 ff., 1665. 117 H.-J. Strauch, Methodenlehre des gerichtlichen Erkenntnisverfahrens (2017), S. 455; D. Wilke, Die rechtsprechende Gewalt, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), HStR, Band V, 3. Aufl. 2004, § 112 Rn. 2. 118 H. Lechner/R. Zuck, BVerfGG (2019), Einl. Rn. 136; H. Bethge, in: Maunz/SchmidtBleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG (Juli 2020), Vorb. Rn. 158; C. Gusy, Parlamentarischer Gesetzgeber und Bundesverfassungsgericht (1985), S. 88. 119 A. Voßkuhle, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG (2018), Art. 93 Rn. 18. 120 Überzeugend eigenständige Kompetenztitel aus der Verfassungsorganqualität verneinend A. Voßkuhle, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG (2018), Art. 93 Rn. 29. 121 Dazu G. Roellecke, Aufgaben und Stellung des BVerfG im Verfassungsgefüge, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), HStR, Band III, 3. Aufl. 2005, § 67 Rn. 17 ff.; C. Bickenbach, Die Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers (2014), S. 453 ff.; ders., S. 459 ff., ausdrücklich zu den daraus resultierenden Konsequenzen für die Kontrollbefugnisse. 122 Das Recht auf den gesetzlichen Richter beeinflusst die Entscheidungskompetenz des einzelnen Richters zwar durchaus bedeutsam, weil ihm dadurch der Zugriff auf einzelne Verfahren innerhalb des Gerichts verwehrt ist. Für die Betrachtung des Bundesverfassungsgerichts als Ganzes hat Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG aber keine Bedeutung. 123 G. Roellecke, Aufgaben und Stellung des BVerfG im Verfassungsgefüge, in: J. Isensee/ P. Kirchhof (Hrsg.), HStR, Band III, 3. Aufl. 2005, § 67 Rn. 16; C. Gusy, Parlamentarischer

B. Maßstab der verfassungsgerichtlichen Entscheidungskompetenz

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des Bundesverfassungsgerichts als Gericht,124 die im Grundgesetz in allen Abschnitten verwendet wird,125 sowie daran, dass es nach Art. 92 GG mit Richtern besetzt sein muss. Auch das Bundesverfassungsgerichtsgesetz (BVerfGG) erklärt das Bundesverfassungsgericht in § 1 deklaratorisch zu einem selbständigen und unabhängigen Gerichtshof des Bundes. Deutlich wird die Gerichtsförmigkeit des Bundesverfassungsgerichts in seinen Verfahren und Entscheidungsformen. Das Bundesverfassungsgericht teilt folglich bestimmte gerichtliche Eigenheiten.126 So unterliegt das gerichtliche Verfahren eigenständigen, teils zwingenden Regeln.127 Art. 94 Abs. 2 Satz 1 GG bestimmt, dass ein Bundesgesetz die Verfassung und das Verfahren des Bundesverfassungsgerichts regelt. Teils normiert bereits das Grundgesetz selbst einzelne Sachentscheidungsvoraussetzungen (z. B. die Antragsberechtigung).128 Gleichwohl fehlen im Verfassungsprozessrecht vielfach entsprechend anderen Verfahrensordnungen detaillierte Vorgaben; das Verfahren bleibt im Grundgesetz und einfachgesetzlich nur rudimentär geregelt.129 Aufgrund der „Lückenhaftigkeit des gesetzlich normierten Verfassungsprozessrechts“ bleibt dem Bundesverfassungsgericht ein prozessrechtlicher Gestaltungsspielraum.130 Das Bundesverfassungsgericht leitet daraus ab, selbst Verfahrensregeln zu bestimmen131 und sein Verfahren „in weitem Umfang frei gestalten“132 zu dürfen. Die sich öffGesetzgeber und Bundesverfassungsgericht (1985), S. 119 ff. Älteren Stimmen, die die Gerichtsqualität des BVerfG negierten, wird hier nicht nachgegangen (s. dazu K. Vogel, Das Bundesverfassungsgericht und die übrigen Verfassungsorgane (1988), S. 46). 124 A. Voßkuhle, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG (2018), Art. 93 Rn. 19. 125 Art. 18, Art. 21 Abs. 4, Art. 41 Abs. 2, Art. 61 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1, Art. 84 Abs. 4 Satz 2, Art. 92 – 94, Art. 98 Abs. 1 Satz 2, Abs. 5 Satz 2, Art. 99, Art. 100 Abs. 2 u. 3, Art. 115 g Satz 1, Art. 115 Abs. 1 Satz 3, Art. 126, Art. 137 Abs. 3 GG. 126 E.-W. Böckenförde, NJW 1999, 9, 11. 127 E. Klein, Verfahrensgestaltung durch Gesetz und Richterspruch: Das „Prozessrecht“ des Bundesverfassungsgerichts, in: P. Badura/H. Dreier (Hrsg.), FS 50 Jahre BVerfG (2001), S. 507. 128 H. Bethge, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG (Juli 2020), Vorb. Rn. 204; E. Klein, Verfahrensgestaltung durch Gesetz und Richterspruch: Das „Prozessrecht“ des Bundesverfassungsgerichts, in: P. Badura/H. Dreier (Hrsg.), FS 50 Jahre BVerfG (2001), S. 507. 129 E. Klein, Verfahrensgestaltung durch Gesetz und Richterspruch: Das „Prozessrecht“ des Bundesverfassungsgerichts, in: P. Badura/H. Dreier (Hrsg.), FS 50 Jahre BVerfG (2001), S. 521 f.; K. Vogel, Das Bundesverfassungsgericht und die übrigen Verfassungsorgane (1988), S. 68. 130 E. Klein, Verfahrensgestaltung durch Gesetz und Richterspruch: Das „Prozessrecht“ des Bundesverfassungsgerichts, in: P. Badura/H. Dreier (Hrsg.), FS 50 Jahre BVerfG (2001), S. 531. 131 BVerfGE 1, 109, 110 f.; 2, 79, 84 f.; 33, 109, 204; 50, 381, 384; ablehnend A. Voßkuhle, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG (2018), Art. 93 Rn. 29; H. Lechner/R. Zuck, BVerfGG (2019), Einl. Rn. 124 ff.; C. Hillgruber, JZ 2011, 861, 866; zustimmend H. Bethge, in: Maunz/SchmidtBleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG (Juli 2020), Vorb. Rn. 212. 132 BVerfGE 1, 136, 408.

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Kap. 1: Entgrenzte verfassungsgerichtliche Entscheidungsgewalt

nenden Freiräume füllt das Bundesverfassungsgericht regelmäßig auch aus.133 Beispielhaft sei nur die umstrittene Frage der Bindungswirkung von Urteilen genannt, die sich nach dem Bundesverfassungsgericht auch auf die tragenden Gründe seiner Entscheidungen erstreckt.134 Ungeachtet des lückenhaften Verfassungsprozessrechts definiert und beschränkt die Gerichtsförmigkeit die Entscheidungskompetenz des Bundesverfassungsgerichts.135 Das Verfahrensrecht kann die unzureichende Bindungskraft des materiellen Rechts teilweise kompensieren. Die Regeln des Verfahrens stabilisieren die Entscheidungsfindung136 und wirken dadurch beschränkend. Die nachfolgende Aufzählung der kompetenzdefinierenden gerichtlichen Eigenheiten orientiert sich am Gang des Verfahrens. 1. Initiativverbot Gerichte unterliegen einem Initiativverbot.137 Sie können selbst nicht proaktiv tätig werden, sondern nur im Nachgang exekutives oder legislatives Handeln überprüfen.138 Erforderlich ist ein „von außen kommende[r], verfahrenseröffnende[r] Antrag“139, vgl. dazu auch § 23 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG. Demgegenüber hat das Parlament ein freies Zugriffsrecht auf jedes politische Thema.140 Das Gericht hin133

S. 69.

K. Vogel, Das Bundesverfassungsgericht und die übrigen Verfassungsorgane (1988),

134 BVerfGE 1, 14, 37; 20, 56, 87; 36, 1, 36. Zur Kritik vgl. m. w. N. H. Lechner/R. Zuck, BVerfGG (2019), § 31 Rn. 30 ff. 135 K. Schlaich/S. Korioth, Das Bundesverfassungsgericht (2021), Rn. 512; H. Bethge, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG (Juli 2020), Vorb. Rn. 202; H. Simon, Verfassungsgerichtsbarkeit, in: E. Benda/W. Maihofer/H.-J. Vogel (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts (1994), S. 1668; K. Hesse, Funktionelle Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit, in: J. P. Müller (Hrsg.), FS Huber (1981), S. 262; C. Möllers, Funktionen des Verfassungsprozessrechts, in: J. Münch/A. Thiele (Hrsg.), Verfassungsrecht im Widerstreit (2019), S. 163 ff. 136 C. Schönberger, VVDStRL 71 (2012), 296, 302. 137 P. Lassahn, Rechtsprechung und Parlamentsgesetz (2017), S. 226 f.; C. Bickenbach, Die Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers (2014), S. 452; C. Möllers, AöR 132 (2007), 493, 513; R. A. Lorz, Interorganrespekt im Verfassungsrecht (2001), S. 381; J. Isensee, JZ 1996, 1085, 1091; B.-O. Bryde, Verfassungsentwicklung (1982), S. 105. 138 K. Vogel, Das Bundesverfassungsgericht und die übrigen Verfassungsorgane (1988), S. 97 f.; P. Lassahn, Rechtsprechung und Parlamentsgesetz (2017), S. 226. 139 E. Klein, Verfahrensgestaltung durch Gesetz und Richterspruch: Das „Prozessrecht“ des Bundesverfassungsgerichts, in: P. Badura/H. Dreier (Hrsg.), FS 50 Jahre BVerfG (2001), S. 524: A. Voßkuhle, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG (2018), Art. 93 Rn. 21; S. Detterbeck, Streitgegenstand und Entscheidungswirkungen im Öffentlichen Recht (1995), S. 303; C. Gusy, Parlamentarischer Gesetzgeber und Bundesverfassungsgericht (1985), S. 123; A. Gerontas, Die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen (1980), S. 221. 140 C. Gusy, Parlamentarischer Gesetzgeber und Bundesverfassungsgericht (1985), S. 97 ff. u. 124.

B. Maßstab der verfassungsgerichtlichen Entscheidungskompetenz

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gegen ist auf die Initiative eines Dritten angewiesen. Eine Folge des Initiativverbots ist die beschränkte Möglichkeit, die eigenen Entscheidungen zu korrigieren.141 Die fehlende Eigeninitiative schwächt das Bundesverfassungsgericht im Vergleich zu den anderen Verfassungsorganen.142 Eine eigene (politische) Agenda kann nicht proaktiv verfolgt werden. Diese Begrenzung erweist sich aber als schwach. Grundsätzlich findet sich nahezu immer jemand, der bereit ist, eine Sache vor das Bundesverfassungsgericht zu bringen, sodass es letztlich wieder am Gericht selbst liegt, inwieweit es sich dazu äußern will.143 Dazu verhilft auch der umfangreiche Katalog des Art. 93 GG, der zu einer umfassenden Justiziabilität mit dem Bundesverfassungsgericht als „letzter Instanz“ führt.144 Besondere Bedeutung kommt insofern der (Jedermann-)Verfassungsbeschwerde zu, die erst 1969 in Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG im Grundgesetz verankert wurde.145 Der „Gang nach Karlsruhe“ für jedermann bringt dem Bundesverfassungsgericht den passenden Kläger für jede verfassungsrechtliche Frage. Darüber hinaus vertritt das Bundesverfassungsgericht die Ansicht, zumindest für eine einstweilige Anordnung nach § 32 BVerfGG unter bestimmten Voraussetzungen auf einen verfahrenseinleitenden Antrag verzichten zu können.146 Zur Sicherung eines zu erwartenden oder eines bereits anhängigen Verfassungsrechtsstreits könne eine einstweilige Anordnung des Bundesverfassungsgerichts von Amts wegen ergehen.147 Dies lehnt das Schrifttum weitestgehend übereinstimmend ab, zumindest für die Fälle, in denen noch nicht einmal ein Hauptsacheverfahren anhängig gemacht wurde.148 Im Einzelfall läge es damit an den Beteiligten, ob sie einer solch kompetenzübersteigenden Anordnung Folge leisten oder nicht. 141 K. Vogel, Das Bundesverfassungsgericht und die übrigen Verfassungsorgane (1988), S. 104 ff.; C. Gusy, Parlamentarischer Gesetzgeber und Bundesverfassungsgericht (1985), S. 124. 142 W. Heun, Verfassung und Verfassungsgerichtsbarkeit im Vergleich (2014), S. 134 u. 238, sieht darin sogar eine von drei entscheidenden Grenzen des Bundesverfassungsgerichts, ohne sich dabei mit der relativierenden Wirkung der von ihm selbst beschriebenen Verfahrensflut auseinanderzusetzen. Vgl. auch C. Bumke, AöR 144 (2019), 1, 79; A. Voßkuhle, BayVBl. 2020, 577, 578. 143 B.-O. Bryde, Verfassungsentwicklung (1982), S. 106. 144 W. Heun, Verfassung und Verfassungsgerichtsbarkeit im Vergleich (2014), S. 135; ders., Funktionell-rechtliche Schranken der Verfassungsgerichtsbarkeit (1992), S. 9; C. Rau, Selbst entwickelte Grenzen in der Rechtsprechung des United States Supreme Court und des Bundesverfassungsgerichts (1996), S. 158; C. Bickenbach, Die Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers (2014), S. 452. 145 C. Rau, Selbst entwickelte Grenzen in der Rechtsprechung des United States Supreme Court und des Bundesverfassungsgerichts (1996), S. 149. 146 BVerfGE 42, 103, 120; 46, 337, 338; 112, 284, 293. 147 BVerfGE 42, 103, 120. 148 M.w.N. K. Graßhof, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG (Juli 2020), § 32 Rn. 28 ff.; K. Schlaich/S. Korioth, Das Bundesverfassungsgericht (2021), Rn. 463; H. Lechner/R. Zuck, BVerfGG (2019), § 32 Rn. 24 f.; C. Möllers, Gewaltengliederung (2005), S. 151. Einschränkend soll nicht unerwähnt bleiben, dass das Bundesverfassungsgericht selbst

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Kap. 1: Entgrenzte verfassungsgerichtliche Entscheidungsgewalt

Die Wirkung des Initiativverbots ist folglich gering – in Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes schon deshalb, weil das Bundesverfassungsgericht das Initiativverbot nicht uneingeschränkt akzeptiert; im Übrigen, weil sich bei umstrittenen Rechtsfragen meist jemand findet, der die Sache vor das Bundesverfassungsgericht bringt. 2. Sachentscheidungsvoraussetzungen Die Sachentscheidungsvoraussetzungen wirken als bedeutsamer Zugangsfilter und Grenze der verfassungsgerichtlichen Macht.149 Denn die zwingenden Vorgaben, die erfüllt sein müssen, bevor überhaupt eine Entscheidung in der Sache ergehen darf, verkleinern den Kreis entscheidungsrelevanter Verfahren. Das gilt zunächst für den angesprochenen verfahrenseinleitenden Antrag und die Zuständigkeiten des Bundesverfassungsgerichts nach Art. 93 GG. Denn ein Tätigwerden des Bundesverfassungsgerichts ist auf die in Art. 93 GG enumerativen Verfahrensarten begrenzt.150 Eine weitere Einschränkung erfolgt durch die dem Gesetzgeber vom Verfassungsgeber übertragene Befugnis, für Verfassungsbeschwerden die vorherige Erschöpfung des Rechtsweges zur Voraussetzung zu machen und ein besonderes Annahmeverfahren vorzusehen, vgl. Art. 94 Abs. 2 Satz 2 GG. Davon hat der Gesetzgeber in § 90 Abs. 2 und § 93a ff. BVerfGG Gebrauch gemacht. Diese gesetzliche Zugangshürde wurde durch das Bundesverfassungsgericht um den Grundsatz der Subsidiarität erweitert. Die Erschöpfung des Rechtswegs151 ist meist „das höchste Hindernis der Zulässigkeit“152. Ziel der Regelung ist einerseits, dass das Bundesverfassungsgericht den Sachverhalt durch die Fachgerichte bereits umfassend aufbereitet erhält,153 und andererseits die Entlastung des Gerichts.154 Um bereits an dieser Schwelle der Flut der Verfahren Herr zu werden, trieb die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Rechtswegerschöpfung und Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde teils bizarre Blüten. So sollten beispielsweise Gegenvorstellungen gegen unanfechtbare Entscheidungen notwendig sein.155 Das Erfordernis der Erschöpfung des noch nie eine einstweilige Anordnung erlassen hat, ohne dass das Hauptsacheverfahren bereits anhängig war. Es hat diese Möglichkeit lediglich als obiter dictum postuliert. 149 W. Heun, Verfassung und Verfassungsgerichtsbarkeit im Vergleich (2014), S. 120 u. 134 f. 150 K. Vogel, Das Bundesverfassungsgericht und die übrigen Verfassungsorgane (1988), S. 56; G. Britz, JURA 2015, 319. 151 Dazu BVerfGE 63, 45, 58; 69, 122, 125 f.; 70, 180, 185 f. 152 W. Heun, Verfassung und Verfassungsgerichtsbarkeit im Vergleich (2014), S. 125. 153 W. Heun, Verfassung und Verfassungsgerichtsbarkeit im Vergleich (2014), S. 126. 154 H. Lechner/R. Zuck, BVerfGG (2019), § 90 Rn. 146. 155 BVerfGE 68, 376, 381; 70, 180, 185 f.; nunmehr geändert BVerfGE 107, 395, 417 f.; 122, 190, 198 ff.

B. Maßstab der verfassungsgerichtlichen Entscheidungskompetenz

43

Rechtswegs, teilweise durch die überzogenen Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts nochmals verschärft, ist damit ein entscheidender Zugangsfilter. Dieser Zugangsfilter begrenzt die Entscheidungsbefugnis aber nur geringfügig, denn der Gesetzgeber hat dem Bundesverfassungsgericht ausdrücklich in § 90 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG die Möglichkeit eröffnet, in Ausnahmen dennoch in der Sache zu entscheiden. Danach kann das Bundesverfassungsgericht über eine vor der Erschöpfung des Rechtswegs eingelegte Verfassungsbeschwerde sofort entscheiden, wenn sie von allgemeiner Bedeutung ist oder wenn dem Beschwerdeführer ein schwerer und unabwendbarer Nachteil entstünde, falls er zunächst auf den Rechtsweg verwiesen würde. Dies gilt ebenso für Verfahren, in denen die Rechtswegerschöpfung unzumutbar ist.156 Damit bleibt diese Sachentscheidungsvoraussetzung zwar ein wirkungsvolles Instrument zur Entlastung des Bundesverfassungsgerichts, es verhindert aber nicht (mit Ausnahme der abschreckenden Wirkung), dass Verfahren gegen den Willen des Gerichts dieses erreichen. Es wirkt daher nicht kompetenzbegrenzend. Gleiches gilt für das Annahmeverfahren nach den §§ 93a ff. BVerfGG.157 Es dient der Entlastung des Gerichts und wirkt als Zugangsfilter, nicht aber kompetenzbeschränkend. Auch weitere im Bundesverfassungsgerichtsgesetz normierte Voraussetzungen lassen sich direkt auf das Grundgesetz zurückführen und nehmen damit teil am verfassungsrechtlich begründeten Maßstab der Entscheidungskompetenz. Denn indem Art. 94 Abs. 2 Satz 1 GG den Bundesgesetzgeber ermächtigt, das Verfahren des Bundesverfassungsgerichts zu regeln, verleiht er ihm auch die Befugnis, wesentliche Prozessvoraussetzungen festzulegen.158 Die Darstellung und die Bewertung dieser weiteren Zulässigkeitsvoraussetzungen beschränken sich auf die der Verfassungsbeschwerde. Die Verfassungsbeschwerde hat für die hier diskutierte Machtfülle des Bundesverfassungsgerichts durch den Zuwachs des grundrechtlichen Prüfungsumfangs entscheidende Bedeutung. Eine limitierende Wirkung kommt insoweit besonders den Anforderungen der Antragsberechtigung, § 90 Abs. 1 BVerfGG, sowie der Antragsfrist, § 93 BVerfGG, zu. Während die Antragsberechtigung selten an der Beschwerde- oder Verfahrensfähigkeit scheitert,159 stellt die Beschwerdebefugnis eine bedeutsame Hürde dar. Der Beschwerdeführer muss selbst, gegenwärtig und unmittelbar grundrechtsbetroffen 156

BVerfGE 110, 177, 189. Das Annahmeverfahren wird aufgrund der Sachnähe unter den Sachentscheidungsvoraussetzungen behandelt, auch wenn es genau genommen kein Sachentscheidungsverfahren ist, sondern ein Vorschaltverfahren bzw. Gerichts-Zugangsverfahren sui generis, vgl. H. Lechner/R. Zuck, BVerfGG (2019), Vor §§ 93a ff. Rn. 5. 158 BVerfGE 129, 108, 116. 159 H. Lechner/R. Zuck, BVerfGG (2019), § 90 Rn. 28 ff. 157

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Kap. 1: Entgrenzte verfassungsgerichtliche Entscheidungsgewalt

sein.160 Dies schließt Verfassungsbeschwerden gegen Gesetze, sofern nicht ausnahmsweise ein Vollzugsakt entbehrlich oder unzumutbar ist, regelmäßig aus.161 Die Verfassungsbeschwerde soll keine Popularklagen ermöglichen.162 Auf die umfassende und ausdifferenzierte Rechtsprechung zu den verschiedenen Problemkreisen der Antragsberechtigung muss vorliegend nicht näher eingegangen werden. Deutlich wird, dass der Kreis der Antragsberechtigten limitierenden Faktoren unterliegt, die vom Verfassungsgeber zu weiten Teilen vorgegeben werden. Davon abzuweichen, ist das Bundesverfassungsgericht nicht befugt.163 Weiter werden die in Betracht kommenden Verfassungsbeschwerden durch das Fristerfordernis dezimiert. Nach § 93 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG gilt grundsätzlich eine einmonatige Frist. Bei Verfassungsbeschwerden gegen ein Gesetz oder gegen einen sonstigen Hoheitsakt, gegen den ein Rechtsweg nicht offensteht, gilt gemäß § 93 Abs. 3 BVerfGG eine Jahresfrist. Der begrenzende Charakter einer Frist erklärt sich von selbst. Der Rechtsfrieden stiftenden Funktion einer Frist wohnt inne, dass eine inhaltliche Befassung mit dem konkreten Sachverhalt nach Ablauf der Frist ausgeschlossen ist. Durch die Möglichkeit, nach § 93 Abs. 2 BVerfGG die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, werden unverschuldete Härten vermieden. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die bundesverfassungsgerichtliche Kompetenz maßgeblich durch die Sachentscheidungsvoraussetzungen definiert wird. Aufgrund des umfangreichen Zuständigkeitskatalogs des Art. 93 GG wird dem Bundesverfassungsgericht vom Verfassungsgeber eine bemerkenswerte Entscheidungskompetenz verliehen. Die meisten weiteren Sachentscheidungsvoraussetzungen sind wirksame Mechanismen gegen die Verfahrensflut, beschränken aber nur bedingt die Entscheidungskompetenz. 3. Beschränkter Verfahrensgegenstand Auch wenn das Bundesverfassungsgericht erst einmal mit einer Sache befasst ist, kann es über den Verfahrensgegenstand nicht beliebig disponieren. Gerichte sind auf die an sie herangetragene Streitfrage beschränkt164 und dadurch in ihren Entscheidungen begrenzt165. Der Antrag bestimmt den Verfahrensgegenstand abschließend,

160

BVerfGE 40, 141, 156; 97, 67, 76; 102, 197, 211. H. Bethge, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG (Juli 2020), § 90 Rn. 336 ff. 162 H. Bethge, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG (Juli 2020), § 90 Rn. 336; H. Lechner/R. Zuck, BVerfGG (2019), § 90 Rn. 129. 163 So auch für die abstrakte Normenkontrolle BVerfGE 21, 52, 53 f. 164 P. Lassahn, Rechtsprechung und Parlamentsgesetz (2017), S. 227. 165 S. Detterbeck, Streitgegenstand und Entscheidungswirkungen im Öffentlichen Recht (1995), S. 305. 161

B. Maßstab der verfassungsgerichtlichen Entscheidungskompetenz

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wenngleich er der Auslegung zugänglich ist.166 Dieser allgemeine gerichtliche Verfahrensgrundsatz gilt auch für das Bundesverfassungsgericht167, allerdings nur eingeschränkt168. Dies zeigt sich bereits an den gesetzlich geregelten Ausnahmen in § 67 Satz 3, § 78 Satz 2, § 95 Abs. 1 Satz 2 BVerfGG. Erklären lassen sich diese mit der objektiven Kontrollfunktion, die den einzelnen Verfahrensarten (auch) zukommt.169 Gleichwohl bestätigen diese Ausnahmen den Grundsatz des ne ultra petita auch für das Verfassungsprozessrecht.170 Die eigentlich begrenzende Dispositionsmaxime der Beteiligten wird neben den gesetzlich vorgesehenen Ausnahmen durch die Möglichkeit von obiter dicta weiter aufgelöst.171 Auch wenn sie auf der einen Seite Orientierungshilfe sein können und so Rechtssicherheit schaffen, ermöglichen sie dem Bundesverfassungsgericht eine „judikative Verfassungsgesetzgebung“ und führen dadurch zu Machtverschiebungen.172 Verfahrensmäßige Sicherungen wie die Anhörung der Betroffenen und die „Erprobung am Einzelfall“ werden durch obiter dicta ausgehöhlt.173 Da obiter dicta gerichtsinterne Vorlagepflichten nach § 16 Abs. 1 BVerfGG nicht auslösen,174 können sie auch zu divergierenden Entscheidungen und damit Rechtsunsicherheit führen.175 Das Zurückgreifen auf obiter dicta ist daher ein Warnsignal für ein grenzwertiges Mitteilungs- und Entscheidungsbedürfnis des Bundesverfassungsgerichts. Weiter ist der Verfügungsgrundsatz bei der Verfahrensbeendigung von Bedeutung. Grundsätzlich kann der Antragsteller im gerichtlichen Verfahren durch Rücknahme seines Antrags das Verfahren beenden. Dies gilt nach dem Bundes166

BVerfGE 1, 14, 39; 2, 347, 367 f.; 68, 1, 68. C. Hillgruber, JZ 2011, 861, 867; C. Gusy, Parlamentarischer Gesetzgeber und Bundesverfassungsgericht (1985), S. 123 u. 126. 168 S. Detterbeck, Streitgegenstand und Entscheidungswirkungen im Öffentlichen Recht (1995), S. 304. 169 S. Detterbeck, Streitgegenstand und Entscheidungswirkungen im Öffentlichen Recht (1995), S. 305. 170 S. Detterbeck, Streitgegenstand und Entscheidungswirkungen im Öffentlichen Recht (1995), S. 304. 171 Kritisch dazu: m. w. N. A. Voßkuhle, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG (2018), Art. 93 Rn. 21; C. Hillgruber, JZ 2011, 861, 867; R. Lamprecht, NJW 1998, 1039 ff.; B.-O. Bryde, Verfassungsentwicklung (1982), S. 371 ff.; A. Gerontas, EuGRZ 1982, 145, 150 f.; W.-R. Schenke, NJW 1979, 1321, 1328 f.; J. Riecken, Verfassungsgerichtsbarkeit in der Demokratie (2003), S. 435; a. A. M. Kriele, NJW 1976, 777, 779. 172 W.-R. Schenke, NJW 1979, 1321, 1329; A. Gerontas, Die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen (1980), S. 140 ff.; B.-O. Bryde, Obiter Dicta, in: W. Durner u. a. (Hrsg.), FS Hans-Jürgen Papier (2013), S. 499. 173 B.-O. Bryde, Verfassungsentwicklung (1982), S. 371 f. 174 BVerfGE 4, 27; 96, 375, 404; a. A. H. Lechner/R. Zuck, BVerfGG (2019), § 16 Rn. 4. 175 C. Gusy, Parlamentarischer Gesetzgeber und Bundesverfassungsgericht (1985), S. 255 f.; zu weitgehend: W. Schlüter, Das Obiter dictum (1973), S. 39 ff., der obiter dicta u. a. deshalb für verfassungswidrig hält. 167

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Kap. 1: Entgrenzte verfassungsgerichtliche Entscheidungsgewalt

verfassungsgericht bei der an sich Einzelinteressen dienenden Verfassungsbeschwerde nur eingeschränkt. Dem Beschwerdeführer soll es in Fällen eines öffentlichen Interesses am Ausgang des Verfahrens nicht möglich sein, durch Rücknahme seines Antrags das Verfahren jederzeit zu beenden.176 Gleiches gelte für die abstrakte Normenkontrolle und den Organstreit.177 Die Verfügungsbefugnis des Antragstellers wird dadurch deutlich zugunsten des Bundesverfassungsgerichts beschränkt. Zuletzt spiegelt sich die Dispositionsmaxime auch in den Bindungswirkungen des Verfahrensergebnisses. Die das gerichtliche Verfahren abschließende Entscheidung hat grundsätzlich nur eine beschränkte Wirkung inter partes.178 Für das Bundesverfassungsgericht greift aber die prozessuale Besonderheit des § 31 Abs. 1 BVerfGG. Danach binden Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts die Verfassungsorgane des Bundes und der Länder sowie alle Gerichte und Behörden. Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts entfalten mithin über den Einzelfall hinaus Bindungswirkung für alle staatlichen Stellen. Für den Gesetzgeber hat das Bundesverfassungsgericht die Bindungswirkung des § 31 Abs. 1 BVerfGG aber zurückgenommen.179 Eine darüberhinausgehende Erga-omnes-Wirkung kommt den in § 31 Abs. 2 BVerfGG aufgeführten Entscheidungen zu, die Gesetzeskraft haben.180 Umstritten ist bis heute, ob und inwieweit sich die Bindungswirkung auch auf die Entscheidungsgründe bezieht.181 Die vielfachen Einschränkungen machen deutlich, dass das Bundesverfassungsgericht keiner den Fachgerichten vergleichbaren Bindung an den vom Antragsteller definierten Verfahrensgegenstand unterliegt. Das eröffnet dem Gericht Entscheidungsspielräume. Gleichwohl bleibt für eine gerichtsförmige Entscheidung eine möglichst umfassende Fallbezogenheit ein objektives Qualitätsmerkmal.182

176 BVerfGE 98, 218, 242 f.; offen lassend BVerfGE 128, 224, 225; E. Klein, Verfahrensgestaltung durch Gesetz und Richterspruch: Das „Prozessrecht“ des Bundesverfassungsgerichts, in: P. Badura/H. Dreier (Hrsg.), FS 50 Jahre BVerfG (2001), S. 523; kritisch m. w. N. A. Voßkuhle, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG (2018), Art. 93 Rn. 21. 177 BVerfGE 1, 396, 414; 24, 299, 300; verhaltender BVerfGE 83, 175, 181; 85, 164, 165. 178 P. Lassahn, Rechtsprechung und Parlamentsgesetz (2017), S. 230. 179 BVerfGE 77, 84, 103; 96, 260, 263; 98, 265, 320 f. Umstritten, s. dazu: H. SchulzeFielitz, Wirkung und Befolgung verfassungsgerichtlicher Entscheidungen, in: P. Badura/ H. Dreier (Hrsg.), FS 50 Jahre BVerfG (2001), S. 391 ff.; E. Klein, Verfahrensgestaltung durch Gesetz und Richterspruch: Das „Prozessrecht“ des Bundesverfassungsgerichts, in: P. Badura/ H. Dreier (Hrsg.), FS 50 Jahre BVerfG (2001), S. 527 f. 180 H.-G. Dederer, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG (Juli 2021), Art. 100 Rn. 328; R. Gaier, JuS 2011, 961, 964. 181 Eine Bindungswirkung an die tragenden Gründe der Entscheidung stellte das BVerfG bereits in seinem allerersten Urteil fest, vgl. BVerfGE 1, 12, 37. Zur Kritik vgl. m. w. N. H. Lechner/R. Zuck, BVerfGG (2019), § 31 Rn. 30 ff.; H. Schulze-Fielitz, Wirkung und Befolgung verfassungsgerichtlicher Entscheidungen, in: P. Badura/H. Dreier (Hrsg.), FS 50 Jahre BVerfG (2001), S. 390 f. 182 S.-P. Hwang, Verfassungsgerichtlicher Jurisdiktionsstaat? (2005), S. 222.

B. Maßstab der verfassungsgerichtlichen Entscheidungskompetenz

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4. Nachgelagerte, neutrale Kontrolle Rechtsprechende Tätigkeit ist primär retrospektiv.183 Sie überprüft rückblickend die ihr vorgelegten Sachverhalte. Die Überprüfung basiert dabei auf einem „Ist-SollVergleich“.184 Wie bei jeder Kontrolle bedarf es eines Kontrollmaßstabs. Die Objektivität einer Kontrolle leidet, wenn der Kontrolleur zugleich auch die Kontrollparameter festlegt.185 Mit der Gerichtsförmigkeit verbunden ist zudem die Erwartung an eine neutrale Entscheidung, frei von politischer Willkür. Dies setzt voraus, dass Entscheidungen hinreichend determiniert sind.186 Die neutrale Retrospektive des Gerichts verlangt, dass es anhand des Normtextes die ihm vorgelegten Sachverhalte überprüft, ohne weitergehende eigene Kontrollmaßstäbe aufzustellen. Es hat die „Erstzuständigkeit des Gesetzgebers bei der Verfassungsinterpretation“ zu respektieren.187 Die Legislative hat regelmäßig einen zeitlichen Vorsprung.188 Rechtsschöpfung lässt sich mit der kontrollierenden Tätigkeit von Gerichten nur schwer vereinbaren. Davon zu unterscheiden ist, dass die kontrollierende Tätigkeit von Gerichten zukünftige Wirkungen bei den Adressaten entfaltet und entfalten soll.189 Der Fokus auf das Gericht als kontrollierende Instanz macht deutlich, dass es an seine kompetenziellen Grenzen kommt, wenn es unmittelbar gestaltend tätig wird. 5. Öffentlichkeitsprinzip Der verfassungsrechtlich im Rechtsstaatsprinzip verankerte Grundsatz der Öffentlichkeit wird durch das einfache Recht näher ausgeformt.190 Nach § 17 BVerfGG sind hinsichtlich der Öffentlichkeit die §§ 169 – 175 des Gerichtsverfassungsgesetzes entsprechend anzuwenden. Zwingend öffentlich sind die mündliche Verhandlung (§ 25 BVerfGG) und die Verkündung der Entscheidung, sofern eine mündliche Verhandlung stattgefunden hat (§ 30 Abs. 1 Satz 3 BVerfGG). Das Öffentlichkeitsprinzip schafft die Voraussetzung, das Verfahren und die Entscheidung nach den rechtlichen Vorgaben zu kontrollieren.191 Es gewährleistet zugleich präventiv durch 183 C. Bickenbach, Die Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers (2014), S. 451; C. Möllers, Die drei Gewalten (2008), S. 100; G. Husserl, Recht und Zeit (1955), S. 58 ff. 184 C. Bickenbach, Die Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers (2014), S. 450. 185 C. Bickenbach, Die Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers (2014), S. 451. 186 K. Vogel, Das Bundesverfassungsgericht und die übrigen Verfassungsorgane (1988), S. 51. 187 BVerfGE 101, 158, 218. 188 C. Gusy, Parlamentarischer Gesetzgeber und Bundesverfassungsgericht (1985), S. 126. 189 C. Bickenbach, Die Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers (2014), S. 451. 190 BVerfGE 103, 44, 63 f. Zu weiteren Ansätzen, wo der Öffentlichkeitsgrundsatz im Grundgesetz verankert sein soll, vgl. A. Paschke, Digitale Gerichtsöffentlichkeit (2018), S. 74 ff. 191 F. Klein, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG (Juli 2020), § 17 Rn. 3; A. Paschke, Digitale Gerichtsöffentlichkeit (2018), S. 102 ff.

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Kap. 1: Entgrenzte verfassungsgerichtliche Entscheidungsgewalt

seine disziplinierende Wirkung die Einhaltung der Verfahrensstandards.192 Es verhilft damit zu einer ausreichenden Verfassungsbindung des Verfahrens und der Entscheidung.193 Das Erfordernis der Öffentlichkeit hat mithin eine nicht zu unterschätzende mittelbar disziplinierende Wirkung auf das Gericht.194 Grenzen der verfassungsgerichtlichen Entscheidungskompetenz werden dadurch aber nicht definiert. 6. Begründungspflicht Eine Begründungspflicht gerichtlicher Entscheidungen setzte sich erst im 17. und 18. Jahrhundert allgemein durch.195 Sie ist ein „wesentliche[s] Kennzeichen rechtsprechender Tätigkeit“196 und wird aus dem Rechtsstaatsprinzip hergeleitet197. Die Begründung einer richterlichen Entscheidung verlangt dem Gericht inhaltlich eine konsistente Argumentation und Folgerichtigkeit ab.198 Sie dient der „Eigenkontrolle des Richters“199, beugt willkürlichen Entscheidungen vor und fördert die Akzeptanz des Rechts durch die Rechtsunterworfenen.200 So hängt die „normative Kraft“ des Rechts wesentlich von der „Überzeugungskraft“ gerichtlicher Entscheidungsbegründungen ab.201 Einfachgesetzlich ist sie für das Bundesverfassungsgericht in § 30

192 A. Voßkuhle/G. Sydow, JZ 2002, 673, 680; A. Paschke, Digitale Gerichtsöffentlichkeit (2018), S. 75. 193 C. Gusy, Parlamentarischer Gesetzgeber und Bundesverfassungsgericht (1985), S. 137. 194 Zur Wirkung moderner Kommunikationsmedien J. Jahn, Die Dritte Gewalt in der Medienöffentlichkeit, in: M. Mülder u. a. (Hrsg.), Richterliche Abhängigkeit – Rechtsfindung im Öffentlichen Recht (2018), S. 285 ff. 195 G. Roellecke, Sondervoten, in: P. Badura/H. Dreier (Hrsg.), FS 50 Jahre BVerfG (2001), S. 376; J. Lücke, Begründungszwang und Verfassung (1987), S. 1 f. 196 C. Bickenbach, Die Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers (2014), S. 452. 197 BVerwGE 104, 105, 109; J. Brüggemann, Die richterliche Begründungspflicht (1971), S. 161. Vgl. zu weiteren verfassungsrechtlichen Herleitungen: J. Lücke, Begründungszwang und Verfassung (1987), S. 37 ff. 198 H. Goerlich, Wertordnung und Grundgesetz (1973), S. 174; H. Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG (2015), Art. 20 (Rechtsstaat) Rn. 221; C. Bumke, Einführung in das Forschungsgespräch über die richterliche Rechtsarbeit, in: C. Bumke (Hrsg.), Richterrecht zwischen Gesetzesrecht und Rechtsgestaltung (2012), S. 7; H. Weber-Grellet, DStR 1991, 438, 441. 199 C. Starck, VVDStRL 34 (1975), 43, 72; W. Schlüter, Das Obiter dictum (1973), S. 97; J. Hilpert, Begründungspflicht des Bundesverfassungsgerichts? (2019), S. 112 f. 200 T. Möllers, Juristische Methodenlehre (2021), § 1 Rn. 47; W. Schlüter, Das Obiter dictum (1973), S. 95; K. F. Röhl/H. C. Röhl, Allgemeine Rechtslehre (2008), S. 611. 201 C. Bickenbach, Die Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers (2014), S. 453; J. Isensee, JZ 1996, 1085, 1092; T. Würtenberger, Zur Legitimität des Verfassungsrichterrechts, in: B. Guggenberger/T. Würtenberger (Hrsg.), Hüter der Verfassung oder Lenker der Politik? (1998), S. 65.

B. Maßstab der verfassungsgerichtlichen Entscheidungskompetenz

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Abs. 1 Satz 2 BVerfGG geregelt.202 Danach ist die Entscheidung schriftlich abzufassen, zu begründen und von den Richtern, die bei ihr mitgewirkt haben, zu unterzeichnen.203 Zu Recht kritisch zu sehen ist daher die Möglichkeit eines Absehens von einer Begründung bei der Ablehnung der Annahme einer Verfassungsbeschwerde gemäß § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG.204 Die Begründungspflicht ermöglicht bei anschließender Veröffentlichung der Entscheidungen eine kritische Überprüfung durch die Fachöffentlichkeit,205 insbesondere ob die Entscheidung gebunden an die Verfassung ergangen ist206. Der Begründungszwang ist damit Rationalitätsgarant.207 Ohne Begründung und Veröffentlichung ist eine objektive Kontrolle des Richterspruchs nicht möglich. Eindeutige Regeln, selbst auf einfachgesetzlicher Ebene, zur Veröffentlichung der verfassungsgerichtlichen Entscheidungen fehlen jedoch.208 Das Rechtsstaatsprinzip gebietet jedoch zumindest bei bedeutsamen Entscheidungen eine Veröffentlichung.209 Seit 1970 besteht gemäß § 30 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG die Möglichkeit, ein Sondervotum abzugeben. Bereits das Wissen, einzelne Kollegen könnten ein Sondervotum anfertigen, zwingt über die einfache Begründungspflicht hinaus zu einer umfassenden und tiefgehenden Diskussion.210 Es bedarf der Auseinandersetzung mit den Argumenten der Gegenseite. Kritik Einzelner kann zwar überstimmt werden, die Mehrheitsmeinung sähe sich aber Vorwürfen ausgesetzt, ginge sie einfach über Gegenargumente hinweg. Die Möglichkeit von Sondervoten fördert demnach konsensuale Entscheidungen. Sie diszipliniert und begrenzt dadurch Mehrheitsmeinungen innerhalb des Gerichts.211

202 Vgl. zur Begründungspflicht der Fachgerichte und zu verfassungsrechtlichen Mindestanforderungen: J. Brüggemann, Die richterliche Begründungspflicht (1971), S. 91 ff. u. 109 ff. und J. Lücke, Begründungszwang und Verfassung (1987), S. 22 ff. 203 Keine Begründungspflicht gilt gemäß § 93c Abs. 1 Satz 3 BVerfGG für die in der Praxis am häufigsten vorkommenden Nichtannahmebeschlüsse. Insoweit wird das Bundesverfassungsgericht allerdings nicht gestaltend tätig. 204 Vgl. dazu J. Hilpert, Begründungspflicht des Bundesverfassungsgerichts? (2019). 205 A. Voßkuhle/G. Sydow, JZ 2002, 673, 680; R. Zuck, JZ 1974, 361, 368; W. Schlüter, Das Obiter dictum (1973), S. 96; J. Hilpert, Begründungspflicht des Bundesverfassungsgerichts? (2019), S. 113 f. 206 C. Gusy, Parlamentarischer Gesetzgeber und Bundesverfassungsgericht (1985), S. 136 f. 207 C. Starck, VVDStRL 34 (1975), 43, 72; T. Möllers, ZfPW 2019, 94, 99; kritisch J. Hilpert, Begründungspflicht des Bundesverfassungsgerichts? (2019), S. 115 ff. 208 H. Lechner/R. Zuck, BVerfGG (2019), Einl. Rn. 283 ff. 209 BVerwGE 104, 105, 108 ff.; H. Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG (2015), Art. 20 (Rechtsstaat) Rn. 221. 210 A. Voßkuhle, BayVBl. 2020, 577, 579. 211 Keinen Mehrwert in der Zulassung von Sondervoten sehend G. Roellecke, Sondervoten, in: P. Badura/H. Dreier (Hrsg.), FS 50 Jahre BVerfG (2001), S. 378 ff.

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Kap. 1: Entgrenzte verfassungsgerichtliche Entscheidungsgewalt

Die Begründungspflicht zwingt das Bundesverfassungsgericht faktisch zu einer nachvollziehbaren, idealiter methodisch sauberen Begründung seiner Entscheidung und verwirklicht so auch die Verfassungsbindung. Ihre beschränkende Bedeutung für die Entscheidungsgewalt ist nicht zu unterschätzen. 7. Entscheidungsformen Das Bundesverfassungsgericht entscheidet durch Beschluss, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung durch Urteil, § 25 Abs. 2 BVerfGG. Je nach Verfahrensart hat es mehrere Möglichkeiten der Tenorierung. Eine nähere Betrachtung lohnt der Entscheidungsausspruch bei der Normenkontrolle. Je nach Variante hat das Gericht durchaus beträchtliche Gestaltungswirkungen. Neben dem Ausspruch der (vollen oder partiellen) Verfassungswidrigkeit mit Nichtigkeitsfolge erklärt das Bundesverfassungsgericht Normen für unvereinbar mit dem Grundgesetz und gibt dem Gesetzgeber eine Frist zur Änderung, belässt es bei einer reinen Appellentscheidung oder legt die Norm verfassungskonform aus.212 Letztlich kommt dabei eine Art (horizontale) Verhältnismäßigkeitsprüfung des gerichtlichen Eingriffs in den legislativen Gestaltungsspielraum zur Anwendung, die sich das Bundesverfassungsgericht selbst auferlegt hat.213 Diese Vorgehensweise einer abgestuften Tenorierung ist nicht nur auf Zustimmung gestoßen.214 Deutlich wird dies nicht zuletzt bei der an sich den Gesetzgeber maximal schonenden verfassungskonformen Auslegung. Hier besteht nämlich die Gefahr, dass im Wege der Auslegung nicht der gesetzgeberische Wille respektiert wird, sondern dieser durch den Willen des Bundesverfassungsgerichts ersetzt wird.215 Daher betont das Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung: Die verfassungskonforme Auslegung findet ihre Grenze dort, wo sie zum Wortlaut und dem klar erkennbaren Willen des Gesetzgebers in Widerspruch treten würde. Der Respekt vor dem demokratisch legitimierten Gesetzgeber verbietet es, im Wege der Auslegung einem nach Sinn und Wortlaut eindeutigen Gesetz einen entgegengesetzten Sinn beizulegen oder den normativen Gehalt einer Vorschrift grundlegend neu zu bestimmen.216

212

K. Schlaich/S. Korioth, Das Bundesverfassungsgericht (2021), Rn. 378 ff.; G. Britz, JURA 2015, 319 f.; S. Simon, Grenzen des Bundesverfassungsgerichts im europäischen Integrationsprozess (2016), S. 39. 213 So z. B. in BVerfGE 61, 319, 356. 214 C. Möllers, Gewaltengliederung (2005), S. 152 f. Die Appellentscheidung ablehnend, weil einer gesetzlichen Grundlage entbehrend: E. Klein, Verfahrensgestaltung durch Gesetz und Richterspruch: Das „Prozessrecht“ des Bundesverfassungsgerichts, in: P. Badura/H. Dreier (Hrsg.), FS 50 Jahre BVerfG (2001), S. 526 f. 215 W.-R. Schenke, NJW 1979, 1321, 1325; K. Schlaich/S. Korioth, Das Bundesverfassungsgericht (2021), Rn. 450; B.-O. Bryde, Verfassungsentwicklung (1982), S. 392 f.; R. Wank, Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung (1978), S. 104 ff. 216 BVerfGE 138, 296, 350; 90, 263, 275; 54, 277, 299.

B. Maßstab der verfassungsgerichtlichen Entscheidungskompetenz

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Auch wenn das Bundesverfassungsgericht in seinen Entscheidungen diese Vorgaben selbst nicht immer beachtet,217 benennt es hier eine klare Grenze seiner Entscheidungskompetenz. Es handelt sich dabei letztlich um eine methodische Anforderung. Die Entscheidungskompetenz wird weiterhin begrenzt durch die fehlende Möglichkeit, selbst die eigenen Entscheidungen zu vollstrecken.218 Gleichwohl weist § 35 BVerfGG dem Gericht umfassende Regelungsbefugnisse der Vollstreckung zu. Danach kann es in seiner Entscheidung bestimmen, wer sie vollstreckt; es kann auch im Einzelfall die Art und Weise der Vollstreckung regeln. Dem Gericht ist dadurch die für Gerichte einmalige Befugnis zugewiesen, umfassend die Rahmenbedingungen der Vollstreckung zu bestimmen.219 Es hat die „Vollstreckungsherrschaft“.220 Es bleibt aber dennoch immer von der Folgsamkeit des vollstreckenden Organs abhängig.221 8. Zwischenergebnis Die Eigenschaft als Gericht und das damit einhergehende Verfahrensrecht ist an vielen Stellen maßstabsetzend für die Entscheidungsbefugnis des Bundesverfassungsgerichts. Besonders gilt dies für die Sachentscheidungsvoraussetzungen, die Eigenschaft als retrospektive Kontrollinstanz, den Begründungszwang und die Entscheidungsformen. Sie helfen Grenzen der Entscheidungskompetenz des Bundesverfassungsgerichts zu definieren. Während der lange Katalog der Zuständigkeiten und die umfassende Regelungsbefugnis der Vollstreckung dem Gericht eine große Machtfülle zukommen lassen, wirken die Eigenschaft als retrospektive Kontrollinstanz, der Begründungszwang und die definierten Entscheidungsformen beschränkend. Die begrenzende Wirkung des Initiativverbots, der Beschränkung auf den Verfahrensgegenstand und des Öffentlichkeitserfordernisses bleibt hingegen

217 Beispiele hierzu bei K. Schlaich/S. Korioth, Das Bundesverfassungsgericht (2021), Rn. 450. 218 J. Isensee, JZ 1996, 1085, 1086; W. Heun, Verfassung und Verfassungsgerichtsbarkeit im Vergleich (2014), S. 238; ders., AöR 116 (1991), 185, 208. Der Begriff des Vollstreckens ist hier angelehnt an den zivilprozessrechtlichen Vollstreckungsbegriff (Durchsetzen von Leistungsurteilen). Vgl. zum davon deutlich abweichenden Vollstreckungsbegriff des Bundesverfassungsgerichts, von dem die besonderen Tenorierungsvariationen erfasst sein sollen, M. Graßhof, Die Vollstreckung von Normenkontrollentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (2003), S. 42 ff. 219 Zur Kontroverse, wie weit diese Befugnisse im Detail reichen: H. Bethge, in: Maunz/ Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG (Juli 2020), § 35 Rn. 2 ff.; H.-P. Schneider, NJW 1994, 2590, 2592 ff. 220 R. Gaier, JuS 2011, 961, 962. 221 H. Bethge, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG (Juli 2020), § 35 Rn. 22; U. Volkmann, Grundzüge einer Verfassungslehre der Bundesrepublik Deutschland (2013), S. 185 ff.; C. Bumke, AöR 144 (2019), 1, 79.

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Kap. 1: Entgrenzte verfassungsgerichtliche Entscheidungsgewalt

überschaubar. Deutlich wurde, dass das Bundesverfassungsgericht an mehreren Stellen die Schranken der Gerichtsförmigkeit nur bedingt akzeptiert.

II. Das Bundesverfassungsgericht in der Demokratie Die Mütter und Väter des Grundgesetzes haben sich für die freiheitliche, parlamentarische Demokratie als Staatsform entschieden.222 Nach Art. 20 Abs. 1 GG ist die Bundesrepublik Deutschland ein demokratischer Bundesstaat. Alle Staatsgewalt geht vom Volk aus (Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG). Sie wird vom Volk in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt (Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG). Die grundsätzliche Festlegung auf die Demokratie beschränkt sich im Wesentlichen auf diesen kurzen Normtext (vgl. aber auch Art. 21 Abs. 1 und 38 Abs. 1 GG).223 Bei aller Weite und Offenheit und der damit verbundenen Unschärfe224, die dem Demokratiebegriff innewohnt, lassen sich dennoch klare Aussagen treffen, welche Staatsformen mit einer Demokratie unvereinbar sind.225 Die „Herrschaft des Volkes“ und die „Idee der freien Selbstbestimmung aller Bürger“226 sind insbesondere mit Aristokratie oder sonstiger elitärer Minderheitenherrschaft nicht vereinbar.227 Strukturelle Merkmale der freiheitlichen Demokratie sind das Mehrheitsprinzip, „Herrschaft auf Zeit“, ausgeprägte Minderheitenrechte sowie Kritik und Kontrolle durch Opposition.228 Die Willensbildung des Volkes erfolgt von unten nach oben und erfordert daher einen freien und offenen Meinungsbildungsprozess.229 222 Für das Verständnis des Demokratiebegriffs vor dem Hintergrund der damaligen politisch-historischen Situation vgl. M. Jestaedt, Demokratieprinzip und Kondominialverwaltung (1993), S. 152 ff. 223 A. Tschentscher, Demokratische Legitimation der dritten Gewalt (2006), S. 1; M. Jestaedt, Demokratieprinzip und Kondominialverwaltung (1993), S.155; H. Jarass, in: Jarass/ Pieroth, GG (2020), Art. 20 Rn. 1. 224 H. Dreier, in: Dreier, GG (2015), Art. 20 (Demokratie) Rn. 60. 225 M. Jestaedt, Demokratieprinzip und Kondominialverwaltung (1993), S. 146 ff.; Zur Geschichte des Demokratieprinzips siehe A. Tschentscher, Demokratische Legitimation der dritten Gewalt (2006), S. 19 ff.; W. Maihofer, Prinzipien freiheitlicher Demokratie, in E. Benda/ W. Maihofer/H.-J. Vogel (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts (1994), S. 432 ff. 226 BVerfGE 44, 125, 142; 123, 267, 341 ff. 227 H. Dreier, in: Dreier, GG (2015), Art. 20 (Demokratie) Rn. 61; E.-W. Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), HStR, Band II, 3. Aufl. 2004, § 24 Rn. 10. 228 H. Dreier, in: Dreier, GG (2015), Art. 20 (Demokratie) Rn. 66 ff; U. Volkmann, in: Friauf/Höfling, Berliner Kommentar zum GG (Mai 2021), Art. 20 Rn. 3 u. 49; W. Maihofer, Prinzipien freiheitlicher Demokratie, in E. Benda/W. Maihofer/H.-J. Vogel (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts (1994), S. 429. 229 B. Grzeszick, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG (Juli 2021), Art. 20 II Rn. 15; A. Tschentscher, Demokratische Legitimation der dritten Gewalt (2006), S. 35; M. Jestaedt, Demokratieprinzip und Kondominialverwaltung (1993), S. 187 ff.

B. Maßstab der verfassungsgerichtlichen Entscheidungskompetenz

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Das Prinzip der Volkssouveränität230 in Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG verlangt, dass alle staatliche Gewalt auf den Volkswillen zurückzuführen ist.231 „Alle Arten der Ausübung von Staatsgewalt“, so auch die Rechtsprechung, müssen zumindest mittelbar durch das Volk legitimiert werden.232 Die hierzu vom Bundesverfassungsgericht entwickelten normativen Anforderungen für die Ausübung von Staatsgewalt benennt die Lehre von der demokratischen Legitimation.233 1. Demokratische Legitimationsebenen Erforderlich ist danach eine institutionell-funktionelle, personell-organisatorische sowie sachlich-inhaltliche Legitimation.234 Diese wird jeweils über eine lückenlose Legitimationskette vermittelt.235 Ein Mangel auf einer Legitimationsebene erfordert ein Mehr auf den anderen Legitimationsebenen.236 Insgesamt soll ein möglichst hohes Legitimationsniveau erreicht werden, dessen hinreichende Höhe sich aber bereichsspezifisch bemisst.237 Eine vollständige Substitution einzelner

230 Zum Begriff der Volkssouveränität vgl. M. Jestaedt, Demokratieprinzip und Kondominialverwaltung (1993), S. 156 ff.; M. Morlok, Demokratie und Wahlen, in: P. Badura/ H. Dreier (Hrsg.), FS 50 Jahre BVerfG (2001), S. 560 ff. 231 BVerfGE 47, 253, 275; 83, 60, 71 f.; 93, 37, 66; 107, 59, 87; 130, 76, 123 f.; H. Dreier, in: Dreier, GG (2015), Art. 20 (Demokratie) Rn. 82 f.; E.-W. Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), HStR, Band II, 3. Aufl. 2004, § 24 Rn. 12; U. Volkmann, in: Friauf/Höfling, Berliner Kommentar zum GG (Mai 2021), Art. 20 Rn. 42. 232 BVerfGE 83, 60, 71 f.; 93, 37, 66; 107, 59, 87; 130, 76, 123 f.; 131, 152, 205; C. Hillgruber, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG (Juli 2021), Art. 97 Rn. 29; H. Dreier, in: Dreier, GG (2015), Art. 20 (Demokratie) Rn. 83; H. Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG (2020), Art. 20 Rn. 7. 233 H. Dreier, in: Dreier, GG (2015), Art. 20 (Demokratie) Rn. 109; U. Volkmann, in: Friauf/ Höfling, Berliner Kommentar zum GG (Mai 2021), Art. 20 Rn. 45 f. Zur Unterscheidung der Begriffe Legitimation und Legitimität: A. Voßkuhle/G. Sydow, JZ 2002, 673, 674; J. Ipsen, Richterrecht und Verfassung (1975), S. 196. 234 E.-W. Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), HStR, Band II, 3. Aufl. 2004, § 24 Rn. 14; B. Grzeszick, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG (Juli 2021), Art. 20 II Rn. 120; U. Volkmann, in: Friauf/Höfling, Berliner Kommentar zum GG (Mai 2021), Art. 20 Rn. 46; A. Voßkuhle/G. Sydow, JZ 2002, 673, 675. Kritisch zum etablierten Legitimationsmodell: W. Hoffmann-Riem, AöR 130 (2005), 5, 66 ff., dessen eigenes Modell sich aber in vielen einzelnen, nur schwer messbaren Legitimationsfaktoren verliert. 235 BVerfGE 47, 253, 275; 83, 60, 73; 93, 37; 67. 236 P. Lassahn, Rechtsprechung und Parlamentsgesetz (2017), S. 99; A. Tschentscher, Demokratische Legitimation der dritten Gewalt (2006), S. 58. 237 B. Grzeszick, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG (Juli 2021), Art. 20 II Rn. 125; A. Tschentscher, Demokratische Legitimation der dritten Gewalt (2006), S. 58 f; A. Voßkuhle/G. Sydow, JZ 2002, 673, 675; M. Jestaedt, Demokratieprinzip und Kondominialverwaltung (1993), S. 285 ff.

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Kap. 1: Entgrenzte verfassungsgerichtliche Entscheidungsgewalt

Legitimationsstränge ist nach herrschender Meinung auf einzelne begründungspflichtige Ausnahmen begrenzt.238 Die institutionell-funktionelle Legitimation wird den in der Verfassung aufgeführten Institutionen kraft ihrer verfassungsrechtlichen Stellung vermittelt.239 Durch die Verfassung legitimiert das Volk als verfassungsgebende Gewalt die darin vorgesehene Funktionenordnung.240 Die institutionelle Legitimation allein ist jedoch zu unbestimmt und schwach, um ein ausreichendes Legitimationsniveau zu vermitteln.241 Die personell-organisatorische Legitimation ist nur dann gegeben, wenn eine die Staatsgewalt ausübende Person durch direkte Volkswahl oder durch eine auf ihr beruhende ununterbrochene Ernennungskette bestellt wurde.242 Das direkt gewählte Parlament hat danach die höchste „demokratische Dignität“.243 Art. 38 Abs. 1 GG sichert diese Unmittelbarkeit im Grundgesetz ab.244 Der personellen Legitimation kommt relativ gesehen die größte Bedeutung zu, denn über „die Richtigkeit des

238

BVerfGE 93, 37, 66 ff.; E.-W. Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), HStR, Band II, 3. Aufl. 2004, § 24 Rn. 24 f.; A. Tschentscher, Demokratische Legitimation der dritten Gewalt (2006), S. 60; ders. kritisiert die damit verbundene Inflexibilität der Begründung demokratischer Legitimität und schlägt daher ein alternatives Kontrollmodell vor, s. S. 113 ff.; ebenso B. Grzeszick, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG (Juli 2021), Art. 20 II Rn. 130. 239 BVerfGE 49, 89, 125; 68, 1, 88; E.-W. Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), HStR, Band II, 3. Aufl. 2004, § 24 Rn. 15; A. Tschentscher, Demokratische Legitimation der dritten Gewalt (2006), S. 56 f. 240 B. Grzeszick, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG (Juli 2021), Art. 20 II Rn. 123; A. Tschentscher, Demokratische Legitimation der dritten Gewalt (2006), S. 57. 241 B. Grzeszick, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG (Juli 2021), Art. 20 II Rn. 124; A. Tschentscher, Demokratische Legitimation der dritten Gewalt (2006), S. 59; J.-M. Drossel, Das letzte Wort des Bundesverfassungsgerichts – Ein undemokratischer Mechanismus?, in: D. Elser u. a. (Hrsg.), Das letzte Wort – Rechtsetzung und Rechtskontrolle in der Demokratie (2014), S. 261 f. Die institutionelle Legitimation als ausreichend und einzig überzeugenden legitimatorischen Ansatz ansehend: F. Ossenbühl, Bundesverfassungsgericht und Gesetzgebung, in: P. Badura/ H. Dreier (Hrsg.), FS 50 Jahre BVerfG (2001), S. 34 f. Eine eigenständige Bedeutung der funktionellen Legitimation verneinend: M. Jestaedt, Demokratieprinzip und Kondominialverwaltung (1993), S. 276 ff. 242 E.-W. Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), HStR, Band II, 3. Aufl. 2004, § 24 Rn. 16; A. Tschentscher, Demokratische Legitimation der dritten Gewalt (2006), S. 52 ff.; U. Volkmann, in: Friauf/Höfling, Berliner Kommentar zum GG (Mai 2021), Art. 20 Rn. 46; P. Lassahn, Rechtsprechung und Parlamentsgesetz (2017), S. 98. 243 A. Tschentscher, Demokratische Legitimation der dritten Gewalt (2006), S. 53; M. Jestaedt, Demokratieprinzip und Kondominialverwaltung (1993), S. 274; C. Bumke, Einführung in das Forschungsgespräch über die richterliche Rechtsarbeit, in: C. Bumke (Hrsg.), Richterrecht zwischen Gesetzesrecht und Rechtsgestaltung (2012), S. 7. 244 C. Bickenbach, Die Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers (2014), S. 216.

B. Maßstab der verfassungsgerichtlichen Entscheidungskompetenz

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Inhalts staatlicher Herrschaft“ wacht bereits das Rechtsstaatsprinzip.245 Eine regelmäßige zeitliche Bestätigung durch Wahlen erhöht die personelle Legitimation.246 Die sachlich-inhaltliche Legitimation begründet sich auf den inhaltlichen Vorgaben, die das Parlament als Vertreter des Souveräns dem Ausübenden von Hoheitsgewalt durch Gesetz macht.247 Der Vorbehalt und der Vorrang des Gesetzes stellen die sachlich-inhaltliche Legitimation sicher.248 Für wesentliche Entscheidungen liegt die alleinige Legitimation beim Parlament (Wesentlichkeitstheorie).249 Daneben wird die sachlich-inhaltliche Legitimation durch Aufsichts-, Weisungs- und Kontrollbefugnisse gewährleistet.250 2. Legitimation des Bundesverfassungsgerichts Gemessen an diesen Maßstäben steht die durch die Rechtsprechung ausgeübte Staatsgewalt, besonders die der Verfassungsgerichtsbarkeit, unter einem großen Druck, ihre Legitimation zu begründen.251 Hintergrund der Problematik ist der ständige Widerstreit, ja Widerspruch zwischen richterlicher Unabhängigkeit (Art. 97 GG) und gleichzeitiger Rückbindung an den demokratischen Souverän.252 Nicht zuletzt deswegen verzichteten „klassische“ Demokratien wie Frankreich oder Großbritannien auf eine starke Verfassungsgerichtsbarkeit.253 Die institutionell-funktionelle Legitimation des Bundesverfassungsgerichts ist unproblematisch durch die explizite Nennung im Grundgesetz in Art. 92 gegeben.254 245

A. Tschentscher, Demokratische Legitimation der dritten Gewalt (2006), S. 61. M. Morlok, Demokratie und Wahlen, in: P. Badura/H. Dreier (Hrsg.), FS 50 Jahre BVerfG (2001), S. 568 f. 247 E.-W. Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), HStR, Band II, 3. Aufl. 2004, § 24 Rn. 21; B. Grzeszick, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG (Juli 2021), Art. 20 II Rn. 122; M. Jestaedt, Demokratieprinzip und Kondominialverwaltung (1993), S. 272. 248 A. Tschentscher, Demokratische Legitimation der dritten Gewalt (2006), S. 55. 249 BVerfGE 33, 125, 160; 41, 251, 259. 250 E.-W. Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), HStR, Band II, 3. Aufl. 2004, § 24 Rn. 21; B. Grzeszick, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG (Juli 2021), Art. 20 II Rn. 122. 251 Kritisch, ob die rechtsprechende Gewalt überhaupt demokratisch legitimiert werden kann: G. Roellecke, Zur demokratischen Legitimation der rechtsprechenden Gewalt, in: FS Walter Leisner (1999), S. 553 ff. 252 A. Tschentscher, Demokratische Legitimation der dritten Gewalt (2006), S. 2 u. 145; A. Voßkuhle/G. Sydow, JZ 2002, 673, 678 f.; N. Schreier, Demokratische Legitimation von Verfassungsrichtern (2016), S. 28. 253 H. Simon, Verfassungsgerichtsbarkeit, in: E. Benda/W. Maihofer/H.-J. Vogel (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts (1994), S. 1644. 254 U. Kischel, Amt, Unbefangenheit und Wahl der Bundesverfassungsrichter, in: J. Isensee/ P. Kirchhof (Hrsg.), HStR, Band III, 3. Aufl. 2005, § 69 Rn. 5; A. Voßkuhle/G. Sydow, JZ 2002, 673, 676. 246

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Kap. 1: Entgrenzte verfassungsgerichtliche Entscheidungsgewalt

Eine ausreichende Legitimation des einzelnen Richterspruchs ist damit aber noch nicht gewährleistet.255 Die personell-organisatorische Legitimation vermittelt den Richtern des Bundesverfassungsgerichts die Wahl durch den Bundestag und Bundesrat (Art. 94 Abs. 1 Satz 2 GG).256 Diese kurze personelle Legitimationskette ist angesichts des Entscheidungsspielraums der Richter des Bundesverfassungsgerichts notwendig.257 Die nach Neufassung des § 6 Abs. 1 BVerfGG direkte Wahl der Richter durch den Bundestag und nicht durch einen Wahlausschuss hat die personell-organisatorische Legitimation verbessert.258 Die Wahl der Richter durch den Bundesrat leidet hinsichtlich der personell-organisatorischen Legitimation an der deutlich längeren Legitimationskette259 und „dem disproportionalen Repräsentationsschlüssel des Art. 51 GG“260. Grundsätzlich ist die der Rechtsprechung durch Richterwahl vermittelte personelle Legitimation vergleichsweise schwach. Richter werden typischerweise auf Lebenszeit ernannt (Art. 33 Abs. 5, 97 Abs. 2 GG). Der Ernennungsakt ist damit nicht mehr als ein „legitimatorisches Strohfeuer“.261 Der Legitimationseffekt, der dem Ernennungsakt innewohnt, verflüchtigt sich rückblickend immer mehr.262 Es fehlt an einer „periodischen Aktualisierung“.263 Dem Richter am Bundesverfassungsgericht kommt eine Sonderrolle zu, als durch eine zwölfjährige Amtsperiode (§ 4 Abs. 1 BVerfGG) die zeitliche Distanz zum Ernennungsakt begrenzt ist. Vor dem Hintergrund, dass eine zwölfjährige Legislaturperiode des Bundestags undenkbar wäre, zeigt sich gleichwohl der rasch abnehmende legitimatorische Effekt. Die Richter des Bundesverfassungsgerichts sind trotz der großen Entscheidungsgewalt dem Volk nicht in vergleichbarer Form wie die Abgeordneten politisch verantwortlich, was Art. 97 Abs. 1 GG auch entgegenstünde.264 Eine Kompensation einer schwachen personellen Legitimation über die sachlich-inhaltliche Ebene ist daher angezeigt und auch grundsätzlich möglich. So finden sich auch im Bereich der Exekutive Ausnahmen einer lückenlosen personellen Legitimation, wenn diese auf sachlich-inhaltlicher Ebene substituiert wird.265

255

A. Voßkuhle/G. Sydow, JZ 2002, 673, 676; J. Hilpert, Begründungspflicht des Bundesverfassungsgerichts? (2019), S. 261. 256 Ausführlich hierzu N. Schreier, Demokratische Legitimation von Verfassungsrichtern (2016), S. 110 ff. 257 W. Heun, Verfassung und Verfassungsgerichtsbarkeit im Vergleich (2014), S. 108. 258 Dazu und zu dennoch verbleibenden Kritikpunkten J. Hilpert, Begründungspflicht des Bundesverfassungsgerichts? (2019), S. 240 ff. 259 C. Bickenbach, Die Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers (2014), S. 216. 260 J. Hilpert, Begründungspflicht des Bundesverfassungsgerichts? (2019), S. 244. 261 A. Tschentscher, Demokratische Legitimation der dritten Gewalt (2006), S. 146. 262 A. Tschentscher, Demokratische Legitimation der dritten Gewalt (2006), S. 3. 263 A. Tschentscher, Demokratische Legitimation der dritten Gewalt (2006), S. 2 f. 264 W.-R. Schenke, NJW 1979, 1321, 1323. 265 BVerfGE 107, 59, 86 ff.; 89, 155, 184.

B. Maßstab der verfassungsgerichtlichen Entscheidungskompetenz

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Auch die sachlich-inhaltliche Legitimation ist allerdings für die Rechtsprechung mangels Weisungs- oder inhaltlichen Aufsichtsrechts aufgrund der richterlichen Unabhängigkeit (Art. 97 Abs. 1 GG) stark eingeschränkt.266 Kompensiert werden soll dies durch eine strikte Gesetzesbindung.267 „Allein die Verpflichtung gegenüber dem Gesetz“ vermittelt die notwendige demokratische Legitimation.268 Auch die heute allgemein akzeptierte Einsicht, dass eine streng deduktive Gesetzesbindung Wunschdenken ist, schmälert nicht deren legitimierende Kraft.269 Legitimationsvermittelnd wirkt weiterhin die Möglichkeit der Legislative, die Judikative eng zu kontrollieren, indem sie neue Gesetze verabschiedet.270 Gesetzgebung und Rechtsprechung stehen insoweit in einem „dialektischen Prozess“.271 Eine Kontrollmöglichkeit durch reaktive Gesetzgebung ist allerdings auf Verfassungsebene aufgrund der hohen Quoren für den verfassungsändernden Gesetzgeber deutlich eingeschränkt.272 Ebenso fehlt die flankierende Kontrolle eines Instanzenzuges.273 Das in Art. 94 GG gewährleistete Kollegialprinzip kann hier nur bedingt korrigierend wirken.274 Für die Begründung einer sachlich-inhaltlichen Legitimation des Bundesverfassungsgerichts bleibt damit maßgeblich nur die Gesetzesbindung.275 Überlegungen, die eine Gesetzesbindung von vornherein negieren,276 lassen „den Faden zwischen Volk und Gesetz, zwischen Rechtsstaat und Demokratie […] rei-

266 N. Schreier, Demokratische Legitimation von Verfassungsrichtern (2016), S. 101 ff.; J. Hilpert, Begründungspflicht des Bundesverfassungsgerichts? (2019), S. 245 f. 267 BVerfGE 49, 304, 318; C. Hillgruber, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG (Juli 2021), Art. 97 Rn. 27; E.-W. Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), HStR, Band II, 3. Aufl. 2004, § 24 Rn. 22; H. Dreier, in: Dreier, GG (2015), Art. 20 (Demokratie) Rn. 140; ders., JURA 1997, 249, 256; M. Jestaedt, Demokratieprinzip und Kondominialverwaltung (1993), S. 196, 295; W. Heun, Verfassung und Verfassungsgerichtsbarkeit im Vergleich (2014), S. 108. 268 A. Tschentscher, Demokratische Legitimation der dritten Gewalt (2006), S. 3; C. Bickenbach, Die Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers (2014), S. 217; C. Hillgruber, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG (Juli 2021), Art. 97 Rn. 27 ff.; ders., JZ 1996, 118. 269 A. Voßkuhle/G. Sydow, JZ 2002, 673, 678. 270 A. Tschentscher, Demokratische Legitimation der dritten Gewalt (2006), S. 195 ff.; M. Jestaedt, Demokratieprinzip und Kondominialverwaltung (1993), S. 295; a. A. C. D. Classen, JZ 2003, 693, 699. 271 T. Raiser, ZRP 1985, 111, 116; A. Voßkuhle/G. Sydow, JZ 2002, 673, 678. 272 N. Schreier, Demokratische Legitimation von Verfassungsrichtern (2016), S. 104. So auch D. Murswiek, JZ 2017, 53, 59 für dieselbe Problematik beim EuGH. 273 A. Voßkuhle/G. Sydow, JZ 2002, 673, 679; J. Hilpert, Begründungspflicht des Bundesverfassungsgerichts? (2019), S. 249 f. 274 A. Voßkuhle/G. Sydow, JZ 2002, 673, 679. 275 C. Hillgruber, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG (Juli 2021), Art. 97 Rn. 29 f.; J. Isensee, Vom Ethos des Interpreten, in: H. Haller u. a. (Hrsg.), FS Winkler (1997), S. 373. 276 So W. Hassemer, ZRP 2007, 213, 215.

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Kap. 1: Entgrenzte verfassungsgerichtliche Entscheidungsgewalt

ßen“.277 Die herkömmliche Erklärung, wonach der Richter seine Legitimation (zumindest auch) durch das Gesetz erfährt, greift dann nicht mehr. Aber auch Ansätze, die vor dem Hintergrund einer nur unzureichend konstruierbaren Gesetzesbindung der Rechtsprechung zubilligen, durch geordnete Verfahren Recht selbst zu erzeugen,278 sind zu kurz gedacht. Denn hierfür müsste das geordnete Verfahren in irgendeiner Weise normiert werden. Die Normierung eines verbindlichen Verfahrens kann bei Ablehnung einer Gesetzesbindung aber nicht erreicht werden. Gleich ob man neben der herrschenden Lehre noch weitere Legitimationsstränge oder Ausnahmen bemüht,279 kommt der Gesetzesbindung die entscheidende Bedeutung zur Legitimationsvermittlung zu.280 Dies verdeutlicht nicht zuletzt Art. 97 Abs. 1 GG, der neben der richterlichen Unabhängigkeit die Bindung an das Gesetz betont.281 Dies muss umso mehr gelten im Hinblick auf die unstrittige Erkenntnis,282 dass jeder Interpretation auch rechtsschöpferische Elemente innewohnen. Denn trotz „hermeneutischer Relativierungen“ kommt dem Gesetz im besonderen Maße eine Steuerungsfähigkeit zu.283 Eine weitgehende Gesetzesbindung, orientiert am Normgeberwillen, vermag am umfangreichsten demokratisch legitimierend zu wirken.284 Überlegungen, wonach allein die Mehrheitsentscheidungen der beteiligten Richter, abgesichert durch „prozedurale Rationalität“, Ausdruck einer demokratischen Ordnung seien und der rein kognitive Erkenntnisgewinn nicht überbewertet werden dürfe,285 überzeugen nicht. Denn nur eine Mehrheitsentscheidung, die 277 R. Christensen, Die Gesetzesbindung in medientheoretischer Analyse, in: S. Holzwarth u. a. (Hrsg.), Die Unabhängigkeit des Richters (2009), S. 11; C. Hillgruber, in: Dürig/Herzog/ Scholz, GG (Juli 2021), Art. 97 Rn. 29 ff. 278 M.w.N. R. Christensen, Die Gesetzesbindung in medientheoretischer Analyse, in: S. Holzwarth u. a. (Hrsg.), Die Unabhängigkeit des Richters (2009), S. 11 f. 279 M.w.N. B. Grzeszick, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG (Juli 2021), Art. 20 II Rn. 238 ff.; N. Schreier, Demokratische Legitimation von Verfassungsrichtern (2016), S. 264 ff. 280 B. Grzeszick, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG (Juli 2021), Art. 20 II Rn. 247; C. D. Classen, JZ 2003, 693; C. Gusy, Parlamentarischer Gesetzgeber und Bundesverfassungsgericht (1985), S. 135 ff.; T. Möllers, Juristische Methodenlehre (2021), § 1 Rn. 46; O. Depenheuer, Der Wortlaut als Grenze (1988), S. 9 f.; R. Schlothauer, Zur Krise der Verfassungsgerichtsbarkeit (1979), S. 71 ff.; D. Looschelders/W. Roth, Juristische Methodik im Prozess der Rechtsanwendung (1996), S. 8. 281 J. Hilpert, Begründungspflicht des Bundesverfassungsgerichts? (2019), S. 264. 282 A. Voßkuhle, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG (2018), Art. 93 Rn. 31; A. Tschentscher, Demokratische Legitimation der dritten Gewalt (2006), S. 184 f.; J. Ipsen, Richterrecht und Verfassung (1975), S. 24; C. Starck, VVDStRL 34 (1975), 43, 49. 283 A. Tschentscher, Demokratische Legitimation der dritten Gewalt (2006), S. 192 f.; A. Voßkuhle/G. Sydow, JZ 2002, 673, 678; C. Hillgruber, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG (Juli 2021), Art. 97 Rn. 41. 284 K. Eichenberger, Die richterliche Unabhängigkeit als staatsrechtliches Problem (1960), S. 205; C. Hillgruber, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG (Juli 2021), Art. 97 Rn. 30; D. Looschelders/W. Roth, Juristische Methodik im Prozess der Rechtsanwendung (1996), S. 50; vgl. auch BVerfGE 149, 126, 155. 285 So H. Weber-Grellet, DStR 1991, 438, 441.

B. Maßstab der verfassungsgerichtlichen Entscheidungskompetenz

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auf dem Willen des demokratischen Souveräns beruht, genügt den Anforderungen von Art. 20 Abs. 2 GG. Das Demokratieprinzip darf zuletzt auch nicht zugunsten einer überhöhten Rechtsstaatsidee ausgehebelt werden.286 Zu Recht wird darauf hingewiesen, dass das Demokratieprinzip nicht erfordert, einen möglichst umfassenden Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers zu ermöglichen.287 Dem steht ein verfassungsrechtlich ebenso verbürgter Minderheitenschutz entgegen.288 Beide Prinzipien stehen gleichwertig unter dem Schutz des Art. 79 Abs. 3 GG. Die Herrschaft des (teils überzeitlichen) Rechts durch das Grundgesetz und damit „der Bruch mit der Suprematie des Parlaments“289 lässt sich aber nur dann rechtfertigen, wenn das gesprochene Recht an das Grundgesetz objektiv zurückgebunden ist und nicht allein der Weisheit der Rechtsprechenden entspringt. Im Ergebnis bleibt festzuhalten, dass sich aus dem Demokratieprinzip keine quantitativen Grenzen für die Tätigkeit des Bundesverfassungsgerichts ableiten lassen. Eine im Rahmen des Möglichen strikte Normbindung ist aber bei einem „mächtigen“ Bundesverfassungsgericht notwendiger denn je.

III. Das Bundesverfassungsgericht im Rechtsstaat Die ideengeschichtlichen Ursprünge des deutschen Rechtsstaatsdenkens finden sich vor allem bei Immanuel Kant.290 Sein ideales Staatsverständnis verlangt nach Gewaltenteilung und Gesetzlichkeit.291 Im Laufe der letzten beiden Jahrhunderte erfährt der Rechtsstaatsbegriff unterschiedliche Wandlungen.292 Die vorliegende 286

H. Simon, Verfassungsgerichtsbarkeit, in: E. Benda/W. Maihofer/H.-J. Vogel (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts (1994), S. 1670; J. Hilpert, Begründungspflicht des Bundesverfassungsgerichts? (2019), S. 268 ff. 287 H.-P. Schneider, Verfassungsinterpretation aus theoretischer Sicht, in: H.-P. Schneider/ R. Steinberg (Hrsg.), Verfassungsrecht zwischen Wissenschaft und Richterkunst (1990), S. 40. 288 H.-P. Schneider, Verfassungsinterpretation aus theoretischer Sicht, in: H.-P. Schneider/ R. Steinberg (Hrsg.), Verfassungsrecht zwischen Wissenschaft und Richterkunst (1990), S. 41. 289 H. Simon, Verfassungsgerichtsbarkeit, in: E. Benda/W. Maihofer/H.-J. Vogel (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts (1994), S. 1661. 290 K. Stern, Staatsrecht (1984), Band I, S. 769; H. Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG (2015), Art. 20 (Rechtsstaat) Rn. 12; U. Scheuner, Die neuere Entwicklung des Rechtsstaats in Deutschland, in: E. v. Caemmerer u. a. (Hrsg.), Hundert Jahre deutsches Rechtsleben (1960), S. 239; G. Dietze, Kant und Rechtsstaat (1982). Die Wurzeln der einzelnen Elemente reichen weit darüber hinaus bis in die Antike, vgl. H. Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG (2015), Art. 20 (Rechtsstaat) Rn. 2 ff. 291 I. Kant, Die Metaphysik der Sitten (Reclam 1990), § 45, S. 169 f.; C. Bäcker, Gerechtigkeit im Rechtsstaat (2015), S. 134; F. J. Säcker, NJW 2018, 2375. 292 Kompakter historischer Abriss des Rechtsstaatsbegriffs bei C. Bäcker, Gerechtigkeit im Rechtsstaat (2015), S. 130 ff.; vgl. auch A. v. Arnauld, Rechtsstaat, in: O. Depenheuer/ C. Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie (2010), S. 706 ff.

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Kap. 1: Entgrenzte verfassungsgerichtliche Entscheidungsgewalt

Arbeit beschränkt sich auf den Rechtsstaatsbegriff, wie er im Grundgesetz positiv Niederschlag gefunden hat und den Grundzügen nach vom Bundesverfassungsgericht verstanden wird. Das Grundgesetz setzt den Rechtsstaat voraus, ohne ihn detailliert näher normativ auszugestalten.293 Ausdrücklich ist heute im Grundgesetz lediglich an drei Stellen vom Rechtsstaat die Rede (Art. 16 Abs. 2 Satz 2294, Art. 23 Abs. 1 Satz 1295, Art. 28 Abs. 1 Satz 1296 GG). Diese Vorschriften gehen dabei jeweils von einem an anderer Stelle im Grundgesetz konstituierten Rechtsstaat aus.297 Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ergibt sich das Rechtsstaatsprinzip „aus einer Zusammenschau der Bestimmungen des Art. 20 Abs. 3 GG über die Bindung der einzelnen Gewalten und der Art. 1 Abs. 3, Art. 19 Abs. 4, Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GG sowie aus der Gesamtkonzeption des Grundgesetzes“298. Zuvörderst verankert ist das Rechtsstaatsprinzip allerdings in den in Art. 20 Abs. 3 GG ausgesprochenen Bindungen der Staatsgewalt.299 Nach Art. 20 Abs. 3 GG ist die Rechtsprechung an Gesetz und Recht gebunden. Das Rechtsstaatsprinzip, zumindest die Kernelemente, genießt wie das Demokratieprinzip den Schutz des Art. 79 Abs. 3 GG.300 Es hat eine nicht eindeutig bestimmbare Anzahl an einzelnen Ausprägungen.301 Zentrale Bezugspunkte für maßstabsrelevante Vorgaben der verfassungsgerichtlichen Entscheidungskompetenz 293 P. Kunig, Der Rechtsstaat, in: P. Badura/H. Dreier (Hrsg.), FS 50 Jahre BVerfG (2001), S. 422. 294 Art. 16 Abs. 2 Satz 2: „Durch Gesetz kann eine abweichende Regelung für Auslieferungen an einen Mitgliedstaat der Europäischen Union oder an einen internationalen Gerichtshof getroffen werden, soweit rechtsstaatliche Grundsätze gewahrt sind.“ 295 Art. 23 Abs. 1 Satz 1: „Zur Verwirklichung eines vereinten Europas wirkt die Bundesrepublik Deutschland bei der Entwicklung der Europäischen Union mit, die demokratischen, rechtsstaatlichen, sozialen und föderativen Grundsätzen und dem Grundsatz der Subsidiarität verpflichtet ist und einen diesem Grundgesetz im wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutz gewährleistet.“ 296 Art. 28 Abs. 1 Satz 1: „Die verfassungsmäßige Ordnung in den Ländern muss den Grundsätzen des republikanischen, demokratischen und sozialen Rechtsstaates im Sinne dieses Grundgesetzes entsprechen.“ 297 C. Bäcker, Gerechtigkeit im Rechtsstaat (2015), S. 169 u. 172; A. v. Arnauld, Rechtsstaat, in: O. Depenheuer/C. Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie (2010), S. 704. 298 BVerfGE 141, 1, 33. 299 BVerfGE 141, 1, 33 mit Verweis auf BVerfGE 35, 41, 47; 39, 128, 143; 48, 210, 221; 51, 356, 362; 56, 110, 128; 58, 81, 97; 101, 397, 404; 108, 186, 234; 133, 143, 157 f.; 134, 33, 89. 300 H. Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG (2015), Art. 20 (Rechtsstaat) Rn. 40; E. SchmidtAßmann, Der Rechtsstaat, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), HStR, Band II, 3. Aufl. 2004, § 26 Rn. 90. 301 E. Schmidt-Aßmann, Der Rechtsstaat, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), HStR, Band II, 3. Aufl. 2004, § 26 Rn. 2; P. Kunig, Der Rechtsstaat, in: P. Badura/H. Dreier (Hrsg.), FS 50 Jahre BVerfG (2001), S. 432; H. Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG (2015), Art. 20 (Rechtsstaat) Rn. 38 u. 66; A. v. Arnauld, Rechtsstaat, in: O. Depenheuer/C. Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie (2010), S. 705.

B. Maßstab der verfassungsgerichtlichen Entscheidungskompetenz

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sind die bereits bei Immanuel Kant für das Rechtsstaatsdenken prägenden Prinzipien der Gewaltenteilung (1.) und der Gesetzmäßigkeit (2.). Begrenzung erfährt die Macht des Bundesverfassungsgerichts möglicherweise auch durch den Justizgewährungsanspruch (3.) und den allgemeinen Gleichheitssatz (4.). Während die ersten beiden Prinzipien dem klassischen formellen Rechtsstaat zugeordnet werden, handelt es sich bei den beiden letzteren Prinzipien um Ausprägungen des materiellen Rechtsstaats.302 1. Gewaltenteilung Aufgrund ihrer überragenden Bedeutung soll zunächst mit den maßstabsrelevanten Aussagen begonnen werden, die sich aus der Einordnung der richterlichen Kompetenz in die gewaltenteilende Staatsorganisation gewinnen lassen.303 Das Verständnis einer umfassenden richterlichen Unabhängigkeit (Art. 97 Abs. 1 GG304) ist hierbei prägend für die Stellung der Judikative im gewaltenteilenden Gefüge.305 Dabei ist die Stellung der Judikative im Ganzen im Verhältnis zu den anderen Gewalten in den Blick zu nehmen. Das Augenmerk gilt der Rolle des Bundesverfassungsgerichts innerhalb der Judikative. Es steht nicht außerhalb des Gewaltengefüges, sondern ist „in das innerstaatliche Gleichgewicht der Gewalten eingebunden“.306 Der Verfassungsgerichtsbarkeit kommt vor allem deswegen eine besondere Rolle zu, weil sie aufgrund ihrer Kompetenz, Gesetze am Maßstab der Verfassung zu kontrollieren und zu verwerfen, in direktem Konflikt zum demokratisch stärker legitimierten Gesetzgeber steht.307 Die Unabhängigkeit des einzelnen Richters hingegen ist für die Frage einer in Schieflage geratenen Gewaltenbalance nicht per se relevant.308 Die vertikale Gewaltenteilung ist für die vorliegende Untersuchung ebenfalls nicht von Bedeutung. 302 E. Schmidt-Aßmann, Der Rechtsstaat, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), HStR, Band II, 3. Aufl. 2004, § 26 Rn. 18 f.; H. Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG (2015), Art. 20 (Rechtsstaat) Rn. 46 ff. Siehe ders. auch zu dieser historisch bedingten Kategorisierung ohne juristischen Mehrwert. 303 M. Reinhardt, Konsistente Jurisdiktion (1997), S. 3; C. Bickenbach, Die Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers (2014), S. 169; B. Reese, Die Verfassung des Grundgesetzes (2013), S. 33; skeptisch, inwieweit sich daraus Ergebnisse ableiten lassen: U. Haltern, Verfassungsgerichtsbarkeit, Demokratie und Misstrauen (1998), S. 211 f. 304 Art. 97 Abs. 1 GG: „Die Richter sind unabhängig und nur dem Gesetze unterworfen.“ 305 BVerfGE 148, 69, 89; M. Reinhardt, Konsistente Jurisdiktion (1997), S. 166; K. Eichenberger, Die richterliche Unabhängigkeit als staatsrechtliches Problem (1960), S. 64 ff.; F. J. Säcker, NJW 2018, 2375. 306 U. Di Fabio, Gewaltenteilung, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), HStR, Band II, 3. Aufl. 2004, § 2 Rn. 28; C. Möllers, Gewaltengliederung (2005), S. 146. 307 U. Di Fabio, Gewaltenteilung, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), HStR, Band II, 3. Aufl. 2004, § 2 Rn. 29. 308 Ein Einfluss auf die Unabhängigkeit eines einzelnen Richters ist nur dann von Bedeutung, wenn er seitens Exekutive oder Legislative erfolgt und dadurch das Gewaltenteilungsgefüge als solches berührt.

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Kap. 1: Entgrenzte verfassungsgerichtliche Entscheidungsgewalt

Die maßgeblichen Impulse für die institutionelle Teilung der Gewalten in ihrer heutigen Ausprägung werden John Locke309 und Charles de Montesquieu310 zugeschrieben.311 Die Gewaltenteilung ist das „notwendige Korrelat“ des staatlichen Gewaltmonopols.312 Sinn der Gewaltenteilung ist es, ein Gleichgewicht der staatlichen Kräfte zu schaffen, um gegenseitige Kontrolle zu gewährleisten313, Missbrauch vorzubeugen und die staatliche Machtausübung zu mäßigen314. Dahinter steht die Erkenntnis, dass Menschen in ihrer Fehlbarkeit immer wieder neu versucht sind, der Macht zu erliegen und sie zu missbrauchen.315 Das übergeordnete liberale Ziel der Gewaltenteilung ist, die individuelle Freiheit des Einzelnen zu sichern.316 a) Vorgaben des Grundgesetzes In der Verfassung ist Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG „Ausgangspunkt der Gewaltenteilung, der das Teilungsprinzip für das Grundgesetz in höchstem Maße ausfüllungsund konkretisierungsbedürftig, aber gleichwohl verbindlich festlegt“.317 Danach wird die Staatsgewalt vom Volk durch Wahlen und Abstimmungen und durch be309

J. Locke, Two Treatises of Government (1689). C. Montesquieu, De l’esprit des lois (1748), Buch XI 6. Kap. 311 C. Möllers, Gewaltengliederung (2005), S. 66; O. W. Kägi, Zur Entstehung, Wandlung und Problematik des Gewaltenteilungsprinzipes (1937); W. Weber, Die Teilung der Gewalten als Gegenwartsproblem, in: H. Barion u. a. (Hrsg.), FS Schmitt (1959), S. 253; G. Krauss, Die Gewaltengliederung bei Montesquieu, in: H. Barion u. a. (Hrsg.), FS Schmitt (1959), S. 103 ff.; M. Reinhardt, Konsistente Jurisdiktion (1997), S. 24; W. Heun, Verfassung und Verfassungsgerichtsbarkeit im Vergleich (2014), S. 56 ff.; P. Lassahn, Rechtsprechung und Parlamentsgesetz (2017), S. 23. Zu den unterschiedlichen Entwicklungstraditionen der Gewaltenteilung vgl. C. Möllers, Die drei Gewalten (2008), S. 19 ff. 312 E. Schmidt-Aßmann, Der Rechtsstaat, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), HStR, Band II, 3. Aufl. 2004, § 26 Rn. 47; U. Di Fabio, Gewaltenteilung, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), HStR, Band II, 3. Aufl. 2004, § 2 Rn. 3. 313 BVerfGE 7, 183, 188; 95, 1, 15; H. Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG (2015), Art. 20 (Rechtsstaat) Rn. 68; C. Möllers, Gewaltengliederung (2005), S. 76 ff.; K. Stern, Staatsrecht (1984), Band I, S. 792. 314 BVerfGE 3, 225, 247; 9, 268, 279; 124, 78, 120; 139, 321, 362; N. Braun Binder, DVBl 2017, 1066, 1067; D. Wilke, Die rechtsprechende Gewalt, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), HStR, Band V, 3. Aufl. 2004, § 112 Rn. 6; M. Reinhardt, Konsistente Jurisdiktion (1997), S. 21; O. Kimminich, Verfassungsgerichtsbarkeit und das Prinzip der Gewaltenteilung, in: G.-K. Kaltenbrunner (Hrsg.), Auf dem Weg zum Richterstaat (1979), S. 72. 315 M. Reinhardt, Konsistente Jurisdiktion (1997), S. 39. 316 C. Bickenbach, Die Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers (2014), S. 170 f.; C. Möllers, Gewaltengliederung (2005), S. 68; N. Braun Binder, DVBl 2017, 1066, 1067; W. Weber, Die Teilung der Gewalten als Gegenwartsproblem, in: H. Barion u. a. (Hrsg.), FS Schmitt (1959), S. 255; U. Di Fabio, Gewaltenteilung, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), HStR, Band II, 3. Aufl. 2004, § 2 Rn. 1; A. Voßkuhle, NJW 2018, 3154. 317 M. Reinhardt, Konsistente Jurisdiktion (1997), S. 12; C. Bickenbach, Die Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers (2014), S. 174; N. Braun Binder, DVBl 2017, 1066, 1067; E. Schmidt-Aßmann, Der Rechtsstaat, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), HStR, Band II, 3. Aufl. 2004, § 26 Rn. 47. 310

B. Maßstab der verfassungsgerichtlichen Entscheidungskompetenz

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sondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt. Daraus ergibt sich eine funktionale, institutionell-organisatorische und teils personelle Unterscheidung der drei Gewalten.318 So stellt Art. 94 Abs. 1 Satz 2 GG für die Mitglieder des Bundesverfassungsgerichts fest, dass sie weder dem Bundestag, dem Bundesrat, der Bundesregierung noch entsprechenden Organen eines Landes angehören dürfen. Über solche „formale[n] Kompetenz- und Kontrollordnungen“ hinaus trifft das Grundgesetz selbst keine ausdrücklichen Regelungen zu den materiellen Verantwortungsbereichen der drei Gewalten.319 Die Rechtsprechung und große Teile der Literatur beschränken sich vielfach auf eine pragmatische Einordnung des vorgefundenen Zustands in ein flexibles System der Gewaltenteilung.320 Eine klare Grenzziehung zwischen den Gewalten findet meist nicht statt. Die Rede ist vielmehr von Gewaltenverschränkungen und Gewaltengliederung.321 Die drei Gewalten „sind [demnach] aufeinander bezogen und miteinander verschränkt, dürfen aber ihrer jeweiligen Eigenheit und ihrer spezifischen Aufgaben und Zuständigkeiten nicht beraubt werden“322. Das Bundesverfassungsgericht hat mit seiner „Kernbereichslehre“323 vielfach eine Durchbrechung der Gewaltenteilung gerechtfertigt und die Gewaltenteilung so zu einer eher programmatischen Erklärung werden lassen.324 Gleichwohl betont es, dass aufgrund der „funktionsbedingt erforderliche[n] Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der rechtsprechenden Gewalt eine strikte Trennung der Rechtsprechung von den übrigen Gewalten“ notwendig ist.325 Neben der Freiheitssicherung und dem Schutz vor Machtmissbrauch hat das Bundesverfassungsgericht den Gehalt der Gewaltenteilung um das Ziel der effektiven staatlichen Aufgabenerfüllung beziehungsweise Funktionsgerechtigkeit erweitert.326 Diese Erweiterung des Sinn und 318

H. Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG (2015), Art. 20 (Rechtsstaat) Rn. 69. M. Reinhardt, Konsistente Jurisdiktion (1997), S. 20. 320 M. Reinhardt, Konsistente Jurisdiktion (1997), S. 54; U. Di Fabio, Gewaltenteilung, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), HStR, Band II, 3. Aufl. 2004, § 2 Rn. 8; H. Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG (2015), Art. 20 (Rechtsstaat) Rn. 75. 321 E. Schmidt-Aßmann, Der Rechtsstaat, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), HStR, Band II, 3. Aufl. 2004, § 26 Rn. 55; N. Braun Binder, DVBl 2017, 1066, 1068. 322 BVerfGE 124, 78, 120. 323 BVerfGE 9, 268, 279 f.; 30, 1, 27 f.; 95, 1, 15 f.; 106, 51, 60. 324 M.w.N. M. Reinhardt, Konsistente Jurisdiktion (1997), S. 45 f. C. Bickenbach, Die Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers (2014), S. 187 ff., lehnt einen Kernbereichsschutz als verfehlt und nicht zielführend ab und sieht in der Gewaltenverschränkung das grundgesetzliche Spezifikum des Gewaltenteilungsprinzips. 325 BVerfGE 148, 69, 88; ebenso D. Wilke, Die rechtsprechende Gewalt, in: J. Isensee/ P. Kirchhof (Hrsg.), HStR, Band V, 3. Aufl. 2004, § 112 Rn. 23. 326 BVerfGE 68, 1, 86; 124, 78, 120; 137, 185, 233; 139, 321, 362; N. Braun Binder, DVBl 2017, 1066, 1067; W. Heun, Verfassung und Verfassungsgerichtsbarkeit im Vergleich (2014), S. 73; E. Schmidt-Aßmann, Der Rechtsstaat, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), HStR, Band II, 3. Aufl. 2004, § 26 Rn. 50. Zum tendenziellen Widerspruch zum klassischen Ziel der Machtmäßigung: C. Möllers, Gewaltengliederung (2005), S. 68 ff. 319

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Kap. 1: Entgrenzte verfassungsgerichtliche Entscheidungsgewalt

Zwecks der Gewaltenteilung um den Effektivitätsgedanken ist in der Literatur vielfach auf Kritik gestoßen.327 b) Kontrolle der Judikative Durch den mittlerweile umfassenden Grundrechtsschutz über Art. 2 Abs. 1 GG i. V. m. Art. 19 Abs. 4 GG ist die individuelle Freiheitssicherung vor Eingriffen der Legislative und Exekutive als Ziel der Gewaltenteilung weitestgehend obsolet geworden.328 Entsprechendes gilt jedoch nicht für den Schutz vor Machtmissbrauch.329 Weder der Legislative noch der Exekutive steht verfassungsrechtlich eine umfassende Kontrolle der Judikative zu, vgl. Art. 97 Abs. 1 GG.330 Die Einflussnahme der Exekutive wie Legislative ist auf die Richter(aus-)wahl und das mit Beförderungen verbundene Beurteilungswesen beschränkt.331 Abgesehen von der in der Praxis bedeutungslosen Richteranklage gemäß Art. 98 Abs. 2 GG, §§ 13 Nr. 9, 58 ff. BVerfG hat sie daher fast ausschließlich präventiven Charakter.332 Für Richter des Bundesverfassungsgerichts bestehen zudem nochmals einschränkende Besonderheiten. Der Richteranklage vergleichbare Maßnahmen sind gegen sie nur nach § 105 BVerfGG möglich.333 Es besteht lediglich eine Selbstkontrolle unter restriktiven Voraussetzungen. Daneben unterliegen sie noch nicht einmal einer eingeschränkten Dienstaufsicht durch die Exekutive.334 Die Machtfülle wird allerdings durch eine zwölfjährige Amtsperiode und den Ausschluss einer Wiederwahl (§ 4 Abs. 1 u. 2 BVerfGG) zumindest zeitlich begrenzt.335 Und auch über die finanzielle Ausstattung

327

M.w.N. M. Reinhardt, Konsistente Jurisdiktion (1997), S. 48. M. Reinhardt, Konsistente Jurisdiktion (1997), S. 71 f.; a. A.: C. Bickenbach, Die Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers (2014), S. 177 ff., der die Freiheitssicherung als noch immer bleibende Bedeutung der Gewaltenteilung schlechthin sieht; Gefahren für die individuelle Freiheit leitet er gerade auch als direkte Folge von Allmachtsansprüchen ab, sodass im Ergebnis kein wesentlicher Unterschied besteht. 329 M. Reinhardt, Konsistente Jurisdiktion (1997), S. 73 f.; R. Wank, Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung (1978), S. 90 ff. 330 M. Reinhardt, Konsistente Jurisdiktion (1997), S. 80; P. Kunig, Der Rechtsstaat, in: P. Badura/H. Dreier (Hrsg.), FS 50 Jahre BVerfG (2001), S. 4238. 331 M. Reinhardt, Konsistente Jurisdiktion (1997), S. 106 ff; D. Simon, Die Unabhängigkeit des Richters (1975), S. 25 ff. Besonderheiten bei Richtern auf Zeit bleiben aufgrund deren geringer Bedeutung für das gesamte Gewaltenteilungsgefüge außer Betracht, vgl. dazu BVerfGE 148, 69. 332 M. Reinhardt, Konsistente Jurisdiktion (1997), S. 109. Bis heute kam die Richteranklage noch nicht zur Anwendung, H. Lechner/R. Zuck, BVerfGG (2019), Vor §§ 58 ff. Rn. 1. Die Richteranklage ist im Ergebnis zudem auch eine Kontrolle der Rechtsprechung durch die Rechtsprechung. 333 H. Lechner/R. Zuck, BVerfGG (2019), Vor §§ 58 ff. Rn. 3. 334 D. Simon, Die Unabhängigkeit des Richters (1975), S. 22. 335 D. Simon, Die Unabhängigkeit des Richters (1975), S. 22. 328

B. Maßstab der verfassungsgerichtlichen Entscheidungskompetenz

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kann der Gesetzgeber die Ressourcen des Bundesverfassungsgerichts wenigstens bedingt beeinflussen.336 Die nach dem Gewaltenteilungsgrundsatz dennoch unverzichtbare Kontrolle muss daher auf anderem Wege gewährleistet werden.337 Eine effektive Kontrolle ist gerade auch deswegen angezeigt, weil die Rechtsprechung inzwischen weit in klassische Bereiche der anderen Gewalten hineinwirkt.338 Man denke nur an die „Rechtsetzung“ in Form von Richterrecht.339 Teils hat der Gesetzgeber selbst ausdrücklich legislativ wirkende Befugnisse an die Judikative delegiert, vgl. nur Art. 94 Abs. 2 Satz 1 GG, § 31 Abs. 2 BVerfGG.340 Der Gewaltenteilungsgrundsatz monopolisiert die „Rechtsetzung“ allerdings auch keineswegs allein bei der Legislative.341 Das Bundesverfassungsgericht differenziert insoweit vermeintlich strenger und spricht den Gerichten allein die Befugnis zur Rechtsfortbildung, nicht aber zur Normsetzung zu.342 Eine genaue Unterscheidung, welche Art der „Rechtsetzung“ der Legislative exklusiv vorbehalten ist, kann dahinstehen; die Grenzen sind fließend.343 Rechtsanwendung beinhaltet immer auch Rechtsetzung.344 Eingriffe unterschiedlicher Intensität seitens der Judikative in die primär der Legislative zugewiesene Rechtsetzungsbefugnis sind wegen des jederzeitigen „parlamentarischen Zugriffsrechts“ grundsätzlich hinnehmbar.345 Der Gesetzgeber hat das erste, prägende sowie

336

G. Britz, JURA 2015, 319, 324. M. Reinhardt, Konsistente Jurisdiktion (1997), S. 80; a. A.: C. Bickenbach, Die Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers (2014), S. 185, der bereits aufgrund der „fehlenden realen politischen“ Macht die beschriebene Problematik nicht anerkennen möchte. 338 M. Reinhardt, Konsistente Jurisdiktion (1997), S. 85. Nicht überzeugend C. Möllers, Die drei Gewalten (2008), S. 105 f., der keinen Verstoß gegen das Gewaltenteilungsprinzip festzustellen vermag, solange Gerichte gerichtsförmig handeln. Diese Ansicht reduziert das Gewaltenteilungsprinzip auf ein reines Verfahrensprinzip. 339 Zur Kritik an der klassischen Unterscheidung zwischen Rechtsanwendung und Rechtsetzung, s. C. Schönberger, VVDStRL 71 (2012), 296, 300 ff. 340 Die in § 31 Abs. 2 BVerfGG angeordnete Gesetzeskraft bezieht sich nur auf die Bindungswirkung, erhebt das Bundesverfassungsgericht aber nicht in Teilen zur Legislative, vgl. A. Voßkuhle, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG (2018), Art. 93 Rn. 25. 341 M.w.N. H.-J. Strauch, Methodenlehre des gerichtlichen Erkenntnisverfahrens (2017), S. 467; J. Ipsen, Richterrecht und Verfassung (1975), S. 129. 342 BVerfGE 96, 375, 394; 128, 193, 210; N. Braun Binder, DVBl 2017, 1066, 1069. Die (vermeintlich) unterschiedlichen Schlussfolgerungen basieren häufig aber auch schlicht auf einer uneinheitlichen Terminologie. 343 C. Bickenbach, Die Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers (2014), S. 189. 344 M.w.N. C. Bickenbach, Die Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers (2014), S. 449 f.; unter Verwendung anderer Begrifflichkeiten M. Jestaedt, Richterliche Rechtsetzung statt richterliche Rechtsfortbildung, in: C. Bumke (Hrsg.), Richterrecht zwischen Gesetzesrecht und Rechtsgestaltung (2012), S. 63. 345 H.-J. Strauch, Methodenlehre des gerichtlichen Erkenntnisverfahrens (2017), S. 467; P. Kunig, Der Rechtsstaat, in: P. Badura/H. Dreier (Hrsg.), FS 50 Jahre BVerfG (2001), S. 438. 337

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Kap. 1: Entgrenzte verfassungsgerichtliche Entscheidungsgewalt

das reaktive, korrigierende Wort.346 Auf Verfassungsebene besteht das parlamentarische Zugriffsrecht, das der Legislative ein klares Machtwort erlaubt, allerdings nur eingeschränkt oder ist mit hohen Hürden verbunden. Es bleibt häufig beim „letzten Wort“ aus Karlsruhe. Die „Gewaltenbalance“ ist insoweit in Schieflage.347 Das Bundesverfassungsgericht kann aufgrund seiner Gerichtsförmigkeit zwar nicht initiativ tätig werden, es findet sich aber nahezu immer jemand, der den „Gang nach Karlsruhe“ wagt.348 Nicht zuletzt mangels ausreichender konstitutioneller Kontrollmechanismen349 kommt der Rechtsprechung und speziell dem Bundesverfassungsgericht seit Gründung der Bundesrepublik daher ein bedeutsamer Machtzuwachs zu.350 Auch institutionelle Vorkehrungen wie ein disziplinierender Instanzenzug können für das Bundesverfassungsgericht keine korrigierende Wirkung entfalten. Allein die Bindung an die gesetzlichen Vorgaben erlaubt der Legislative gegenüber der Judikative einen bestimmenden Einfluss. Einer wirksamen Gesetzesbindung kommt daher zur Machtbegrenzung der Judikative eine überragende Rolle zu. Denn die in Art. 97 Abs. 1 GG verfassungsrechtlich garantierte sachliche und personelle Unabhängigkeit des einzelnen Richters und die organisatorische Freiheit der Gerichte351 sichert der Judikative eine hohe Eigenständigkeit.352 So hindert Art. 97 Abs. 1 GG die Legislative, abgesehen von der Vorgabe der rechtlichen Maßstäbe, „effektiv kontrollierend, regulierend und korrigierend auf die Ausübung der richterlichen Tätigkeit einzuwirken“.353 Nur die strenge Unterwerfung der Rechtsprechung unter das Gesetz kann deshalb die mit der richterlichen Unabhängigkeit verbundene fehlende Kontrolle durch die anderen Gewalten rechtfertigen.354 Die Bindung der Rechtsprechung an das Gesetz kann aber nur in dem Maße greifen, wie das Gesetz bindungsfähig ist.355 Der allgemein anerkannten umfassenden richterlichen Unabhängigkeit steht jedoch eine nicht im Ansatz ebenfalls klar konturierte, allgemein anerkannte Gesetzesbindung

346 U. Di Fabio, Gewaltenteilung, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), HStR, Band II, 3. Aufl. 2004, § 2 Rn. 26. 347 D. Simon, Die Unabhängigkeit des Richters (1975), S. 9. 348 D. Simon, Die Unabhängigkeit des Richters (1975), S. 169. 349 C. Gusy, Parlamentarischer Gesetzgeber und Bundesverfassungsgericht (1985), S. 134. 350 M. Reinhardt, Konsistente Jurisdiktion (1997), S. 21. 351 BVerfGE 54, 159, 166. 352 BVerfGE 7, 183, 188; 18, 241, 254 ff.; 36, 174, 185; H. Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG (2015), Art. 20 (Rechtsstaat) Rn. 74; H. Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG (2020), Art. 20 Rn. 36. 353 M. Reinhardt, Konsistente Jurisdiktion (1997), S. 111. 354 M. Reinhardt, Konsistente Jurisdiktion (1997), S. 129; C. Bickenbach, Die Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers (2014), S. 449; D. Simon, Unabhängigkeit des Richters (1975), S. 68. 355 D. Grimm, JZ 2009, 596, 597 f.; H. Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG (2015), Art. 20 (Rechtsstaat) Rn. 101.

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gegenüber.356 Eine umfassende richterliche Unabhängigkeit bei gleichzeitiger Lockerung der Rechtsbindung gefährdet so die individuelle Freiheitssicherung durch den Richterspruch.357 Art. 97 Abs. 1 GG ist geprägt von der liberalistischen Vorstellung einer Rechtsprechung, deren Tätigkeit sich weitgehend auf die Subsumtion in Form einer „zwingend logischen Ableitung der richterlichen Schlussfolgerung aus einem gesetzlichen Obersatz“ beschränkt.358 So sollte nach der ursprünglichen Konzeption des Liberalismus nicht der Richter, sondern das allgemeine Gesetz den Schutz vor staatlicher Willkür gewährleisten.359 Die hierfür erforderliche lückenlose Rechtsordnung ist der Positivismus in der Praxis allerdings schuldig geblieben.360 Die Gesetzesbindung bleibt aufgrund der begrenzten semantischen Bindungsfähigkeit des Gesetzes auch immer unvollkommen. Es bleibt also die Möglichkeit, die richterliche Unabhängigkeit als (über-) mächtigen Gegenspieler einer wirksamen Kontrolle der Rechtsprechung neu zu definieren und zurückzufahren.361 Oder man fokussiert sich darauf, die Gesetzesbindung klarer zu konturieren, um die richterliche Unabhängigkeit rechtfertigen zu können. Eine stärkere Konturierung der Gesetzesbindung erscheint vorzugswürdig. Nicht allein weil das dargelegte weite Verständnis der richterlichen Unabhängigkeit von einem breiten Konsens in Rechtsprechung wie Literatur getragen wird, sondern auch weil ein Schleifen der richterlichen Unabhängigkeit der Gewaltenteilung im Ganzen nicht förderlich ist. Schließlich ist die richterliche Unabhängigkeit ein wesentlicher Garant für die Kontrolle der Legislative und Exekutive durch die Judikative. Sie festigt darüber hinaus maßgeblich „das Vertrauen der Rechtssuchenden und der Öffentlichkeit in die Objektivität und Sachlichkeit der Gerichte“362. Diese Schlussfolgerungen entsprechen auch den Überlegungen des Parlamentarischen Rats, der richterlichen Machtmissbrauch durch strikte Gesetzesbindung verhindern wollte.363 356 M. Reinhardt, Konsistente Jurisdiktion (1997), S. 130; C. Hillgruber, in: Dürig/Herzog/ Scholz, GG (Juli 2021), Art. 97 Rn. 40 ff. 357 K. Eichenberger, Die richterliche Unabhängigkeit als staatsrechtliches Problem (1960), S. 69 f.; E. Forsthoff, Rechtsstaat oder Richterstaat?, in: G. Lanzenstiel (Hrsg.), Rechtsstaat oder Richterstaat (1970), S. 7. 358 M. Reinhardt, Konsistente Jurisdiktion (1997), S. 132 f; D. Simon, Die Unabhängigkeit des Richters (1975), S. 5 u. 68; H. Sendler, NJW 1983, 1449, 1456; W. Weber, Die Teilung der Gewalten als Gegenwartsproblem, in: H. Barion u. a. (Hrsg.), FS Schmitt (1959), S. 257. 359 D. Simon, Die Unabhängigkeit des Richters (1975), S. 68. 360 M.w.N. M. Reinhardt, Konsistente Jurisdiktion (1997), S. 133; K. Eichenberger, Die richterliche Unabhängigkeit als staatsrechtliches Problem (1960), S. 194. 361 M. Reinhardt, Konsistente Jurisdiktion (1997), S. 166 ff., 208 ff. 362 BVerfGE 148, 69, 90. 363 Vgl. dazu C. Hillgruber, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG (Juli 2021), Art. 97 Rn. 32 ff.; ders., JZ 2008, 745, 746.

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Kap. 1: Entgrenzte verfassungsgerichtliche Entscheidungsgewalt

Für die Maßstabsbildung bleibt festzuhalten, dass die Ausführungen zum Gewaltenteilungsgrundsatz eine Stärkung der Kontrolle oder vielmehr Kontrollierbarkeit der Rechtsprechung erfordern, die an die Gesetzesunterworfenheit der Judikative anknüpft. Dies ist wahrlich keine vollkommen neue Erkenntnis, wie ein Blick in die anfängliche deutsche Diskussion um die Stellung der Verfassungsgerichtsbarkeit zeigt, die von der Frage nach größtmöglicher Objektivität der Verfassungsinterpretation geprägt war.364 Umso mehr gilt es, die Normbindung der richterlichen Entscheidung einer objektivierbaren Kontrolle zugänglich zu machen. 2. Gesetzmäßigkeit a) Vorrang des Gesetzes Indem der Verfassungsgeber die Rechtsprechung an Gesetz und Recht bindet (Art. 20 Abs. 3 und Art. 97 Abs. 1 GG), wird der Vorrang des Gesetzes verfassungsrechtlich verankert.365 Der Vorrang des Gesetzes gilt nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts uneingeschränkt auch für die rechtsprechende Gewalt.366 Danach ist ein Judizieren „gegen“ das Gesetz (contra legem) verfassungswidrig. Die Rechtsprechung muss vorhandene Gesetze berücksichtigen (Anwendungsgebot) und darf nicht von ihrem Inhalt abweichen (Abweichungsverbot).367 Der Vorrang des Gesetzes ist „primär Ausdruck der demokratischen Staatsform“368. Er sichert die sachlich-inhaltliche Legitimation der Exekutive und Judikative.369 Art. 20 Abs. 3 GG bindet die Rechtsprechung zudem unmittelbar an die Verfassung und gewährleistet damit zugleich den Vorrang der Verfassung.370 Der Vorrang des Gesetzes setzt der Rechtsprechung, insbesondere auch der richterlichen Rechtsfortbildung,371 klare Grenzen.372 Er kann aber nur dort begrenzende Wirkung entfalten, wo Normen bestehen und diese keine zu großen Anwendungsspielräume lassen. Die begrenzende Wirkung des Vorrangs des Gesetzes 364

S.-P. Hwang, Verfassungsgerichtlicher Jurisdiktionsstaat? (2005), S. 23, 148. B. Grzeszick, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG (Juli 2021), Art. 20 VI Rn. 72; H. SchulzeFielitz, in: Dreier, GG (2015), Art. 20 (Rechtsstaat) Rn. 92; C. Gusy, JuS 1983, 189. 366 BVerfGE 128, 193, 209 ff. 367 H. Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG (2015), Art. 20 (Rechtsstaat) Rn. 92; F. Ossenbühl, Vorrang und Vorbehalt des Gesetzes, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), HStR, Band V, 3. Aufl. 2004, § 101 Rn. 4 ff.; C. Gusy, JuS 1983, 189, 191. 368 C. Gusy, JuS 1983, 189, 190; ders., DÖV 1992, 461, 464. 369 Siehe unter B. II. 2. 370 B. Grzeszick, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG (Juli 2021), Art. 20 VI Rn. 19; H. Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG (2020), Art. 20 Rn. 53; T. Kingreen, Vorrang und Vorbehalt der Verfassung, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), HStR, Band XII, 3. Aufl. 2014, § 263 Rn. 6 ff. 371 H. Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG (2015), Art. 20 (Rechtsstaat) Rn. 103 f.; C. Hillgruber, JZ 1996, 118, 119. 372 C. Gusy, DÖV 1992, 461, 466. 365

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ist wiederum maßgeblich von der determinierenden Wirkung der Gesetzesbindung abhängig. Je umfassender die Gesetzesbindung konstruiert wird, desto stärker entfaltet der Vorrang des Gesetzes seine limitierende Wirkung. Auf Verfassungsebene kann der Vorrang des positiven Rechts angesichts der Offenheit der Regelungen niemals in gleicher Weise wie auf der einfachen Gesetzesebene wirken. b) Vorbehalt des Gesetzes Vom Vorrang des Gesetzes zu unterscheiden sind die Konstellationen, bei denen eine Entscheidung das Ergebnis einer Gesetzesauslegung ist oder eine Entscheidung in einem Bereich ohne Gesetzesgrundlage gefällt wird. Ist eine Entscheidung das Ergebnis einer (de lege artis vorgenommenen) Gesetzesauslegung, verstößt diese weder gegen den Vorrang noch gegen den Vorbehalt des Gesetzes. Fehlt hingegen jegliche gesetzliche Regelung (extra legem), wie beispielsweise in weiten Teilen des Arbeitskampfrechts oder Staatshaftungsrechts, wird der Vorbehalt des Gesetzes berührt.373 aa) Dogmatische Begründung Der Vorbehalt des Gesetzes ist nicht ausdrücklich im Grundgesetz geregelt.374 Historisch ging man zunächst von einem lediglich bereichsspezifischen Vorbehalt des Gesetzes aus.375 Die dogmatische Begründung des Vorbehaltes des Gesetzes war ursprünglich geprägt von einem liberalen Verständnis, nach dem jeder Eingriff in Eigentum und Freiheit einer gesetzlichen Grundlage bedarf.376 Er beschränkte die Kompetenz der Verwaltung.377 Erstmals 1972378 verankerte das Bundesverfassungsgericht den Vorbehalt des Gesetzes im Rechtsstaats- und Demokratieprinzip und begründete dies mit der

373 Zur terminologischen Abgrenzung des Vorbehalts des Gesetzes vom Gesetzesvorbehalt, s. P. Lassahn, Rechtsprechung und Parlamentsgesetz (2017), S. 14 f.; H. Jarass, in: Jarass/ Pieroth, GG (2020), Art. 20 Rn. 70. 374 B. Grzeszick, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG (Juli 2021), Art. 20 VI Rn. 80; H. SchulzeFielitz, in: Dreier, GG (2015), Art. 20 (Rechtsstaat) Rn. 105; P. Lassahn, Rechtsprechung und Parlamentsgesetz (2017), S. 34; P. Kunig, Der Rechtsstaat, in: P. Badura/H. Dreier (Hrsg.), FS 50 Jahre BVerfG (2001), S. 436; C. Gusy, JuS 1983, 189, 191. 375 H.-J. Strauch, Methodenlehre des gerichtlichen Erkenntnisverfahrens (2017), S. 466; S. Pitzen, Der Vorbehalt der Verfassung (2013), S. 22. 376 B. Grzeszick, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG (Juli 2021), Art. 20 VI Rn. 77; P. Lassahn, Rechtsprechung und Parlamentsgesetz (2017), S. 42; C. D. Classen, JZ 2003, 693, 695; M. Kloepfer, JZ 1984, 685, 686. 377 P. Lassahn, Rechtsprechung und Parlamentsgesetz (2017), S. 5; C. D. Classen, JZ 2003, 693, 695. 378 BVerfGE 33, 125.

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Kap. 1: Entgrenzte verfassungsgerichtliche Entscheidungsgewalt

Wesentlichkeitstheorie.379 Durch die Wesentlichkeitstheorie wurde der Vorbehalt des Gesetzes zu einem umfassenden Vorbehalt erweitert.380 Nach der Wesentlichkeitstheorie müssen alle wesentlichen Fragen vom Parlament entschieden werden.381 Es handelt sich damit letztlich um einen Parlamentsvorbehalt.382 Die Pflicht, alle wesentlichen Entscheidungen selbst zu treffen, gilt für den Gesetzgeber vor allem im Bereich der Grundrechtsausübung.383 Unter dem Grundgesetz mit seiner „demokratisch-parlamentarischen Staatsverfassung“ stützt sich der Vorbehalt des Gesetzes folglich neben dem Rechtsstaatsprinzip primär auf einen demokratietheoretischen Ansatz, wonach alle grundsätzlichen Fragen durch das Parlament als Vertreter des Souveräns zu entscheiden sind.384 Das Bundesverfassungsgericht hebt dabei hervor, dass bei einer Entscheidung der Legislative im Gesetzgebungsverfahren die Gelegenheit einer breiten öffentlichen Debatte besser gewährleistet ist.385 Der Vorbehalt des Gesetzes hat sich folglich unter dem Grundgesetz (auch durch die umfassende Grundrechtsgewährleistung) von einem rein rechtsstaatlichen Eingriffsvorbehalt zu einem demokratischen „Bestimmungsrecht des Gesetzgebers“ gewandelt.386 Treffend ist die Rede von einer Entwicklung des Vorbehalts des Gesetzes „von einer ausschließlich verwaltungsaversen Kompetenzschranke in Richtung einer umfassend parlamentsaffinen Grundregel“387. Umstritten ist bis heute, ob und wie der Vorbehalt des Gesetzes auch im Verhältnis zur Judikative gilt.388 Für eine umfassende Anwendung des Vorbehalts des Gesetzes spricht die „funktionswidrige Dominanz der Rechtsprechung“389. Dagegen wird 379 BVerfGE 40, 237, 249 f.; 45, 400, 418; aus jüngerer Zeit: BVerfGE 108, 282, 311 f.; 134, 141, 148; zuletzt: BVerfG, Urteil vom 19. 11. 2018 – 2 BvF 1/15 –, juris, Rn. 190 ff. 380 H.-J. Strauch, Methodenlehre des gerichtlichen Erkenntnisverfahrens (2017), S. 466. 381 BVerGE 33, 125, 159; 40, 237, 249 f.; 98, 218, 251; 101, 1, 34; 123, 39, 78; zuletzt BVerfG, Urteil vom 19. 09. 2018 – 2 BvF 1/15 –, juris, Rn. 191 ff. 382 H. Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG (2020), Art. 20 Rn. 69; F. Ossenbühl, Vorrang und Vorbehalt des Gesetzes, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), HStR, Band V, 3. Aufl. 2004, § 101 Rn. 46 ff.; S. Pitzen, Der Vorbehalt der Verfassung (2013), S. 24; M. Kloepfer, JZ 1984, 685, 690. 383 Vgl. BVerfGE 49, 89, 126 f.; H. Sodan, NVwZ 2009, 545, 547; H. Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG (2015), Art. 20 (Rechtsstaat) Rn. 113. 384 BVerfGE 40, 237 (249). Wenngleich diese Begründung schon weit vor der Zeit des Grundgesetzes bemüht wurde, wie P. Lassahn, Rechtsprechung und Parlamentsgesetz (2017), S. 42 ff., aufzeigt. 385 BVerfGE 108, 282 (312); BVerfG, Urteil vom 19. 11. 2018 – 2 BvF 1/15 –, juris, Rn. 192; vgl. auch W. Hoffmann-Riem, AöR 130 (2005), 5, 10. 386 BVerfGE 49, 89, 126; F. Ossenbühl, Vorrang und Vorbehalt des Gesetzes, in: J. Isensee/ P. Kirchhof (Hrsg.), HStR, Band V, 3. Aufl. 2004, § 101 Rn. 21. 387 P. Lassahn, Rechtsprechung und Parlamentsgesetz (2017), S. 5. 388 Ausführlich dazu P. Lassahn, Rechtsprechung und Parlamentsgesetz (2017), S. 193 ff., der eine Anwendung des Vorbehalts des Gesetzes auf die Rechtsprechung ablehnt, weil er den Vorbehalt des Gesetzes nicht im Demokratieprinzip verankert sieht. 389 G. Hermes, VVDStRL 61 (2002), 119, 131.

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angeführt, dies würde den Gesetzgeber überfordern.390 Er profitiere vielmehr von den anhand von Einzelfällen entwickelten Lösungen.391 Folgt man dem demokratietheoretischen Begründungsansatz des Bundesverfassungsgerichts, ist naheliegend, den Vorbehalt des Gesetzes auch auf die Judikative anzuwenden.392 Denn die Judikative ist verglichen mit der Exekutive, wie bereits dargelegt, regelmäßig schwächer demokratisch legitimiert. Einer unbeschränkten Anwendung des Vorbehalts des Gesetzes wird weiterhin entgegengehalten, dem stünde der Justizgewährungsanspruch entgegen.393 Anders als die Verwaltung könne die Rechtsprechung beim Fehlen einer gesetzlichen Norm nicht einfach untätig bleiben.394 Es ist zwar richtig, dass Gerichte sich einer Entscheidung nicht verweigern dürfen. Falsch ist jedoch die Annahme, bei fehlender rechtlicher Grundlage sei keine Entscheidung möglich. Vielmehr kann selbst bei einer vergleichsweise geringen Regelungsdichte jeder Streit einer Entscheidung zugeführt werden. Denn im Zweifel muss derjenige, der einen Anspruch oder eine Rechtsverletzung geltend macht, den geltend gemachten Anspruch oder das verletzte Recht darlegen.395 Gelingt ihm dies nicht, hat sein Antrag keinen Erfolg. Ob dabei immer das richtige Ergebnis herauskommt, ist eine rechtspolitische Frage und zunächst für das Gericht unerheblich.396 Die Anwendung des Vorbehalts des Gesetzes auf die Rechtsprechung bedeutet nicht, dass keinerlei Rechtsfortbildung durch die Gerichte möglich ist. Der Vorbehalt des Gesetzes ist kein „Totalvorbehalt“ der Legislative.397 Er beschränkt aber jede Rechtsfortbildung dergestalt, dass der einer Entscheidung zugrunde gelegte Maßstab einer Rückbindung an geschriebenes Recht bedarf. Der Maßstab muss sich, wenn auch lose, aber dennoch methodisch nachvollziehbar aus dem auf das Parlament zurückzuführenden Normtext ableiten lassen.398 Es gilt dabei, die „Wertungen auf390 C. Bumke, Verfassungsrechtliche Grenzen fachrichterlicher Rechtserzeugung, in: C. Bumke (Hrsg.), Richterrecht zwischen Gesetzesrecht und Rechtsgestaltung (2012), S. 44. 391 C. Bumke, Verfassungsrechtliche Grenzen fachrichterlicher Rechtserzeugung, in: C. Bumke (Hrsg.), Richterrecht zwischen Gesetzesrecht und Rechtsgestaltung (2012), S. 45. 392 H. Bethge, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG (Juli 2020), Vorb. Rn. 172; F. Ossenbühl, Vorrang und Vorbehalt des Gesetzes, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), HStR, Band V, 3. Aufl. 2004, § 101 Rn. 60; C. D. Classen, JZ 2003, 693, 695; C. Hillgruber, JZ 1996, 118, 123 f.; C. Gusy, DÖV 1992, 461, 464; H. Weber-Grellet, DStR 1991, 438, 442. Ablehnend U. R. Haltern/F. C. Mayer/C. Möllers, Die Verwaltung 1997, 51, 62 ff., die der Wesentlichkeitstheorie aber grundsätzlich ablehnend gegenüberstehen. 393 C. D. Classen, JZ 2003, 693, 696. Zum Justizgewährungsanspruch siehe unten B. II. 3. c). 394 C. D. Classen, JZ 2003, 693, 697. 395 T. Möllers, Juristische Methodenlehre (2021), § 6 Rn. 73. A. A. J. Neuner, Die Rechtsfindung contra legem (1992), S. 67 ff. 396 J. Rückert, JZ 2017, 965, 969; C. Hillgruber, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG (Juli 2021), Art. 97 Rn. 70. 397 T. Kingreen, Vorrang und Vorbehalt der Verfassung, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), HStR, Band XII, 3. Aufl. 2014, § 263 Rn. 3. 398 C. D. Classen, JZ 2003, 693, 701.

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Kap. 1: Entgrenzte verfassungsgerichtliche Entscheidungsgewalt

zugreifen, die bereits Bestandteil der geltenden Rechtsordnung“ sind.399 Die in Art. 20 Abs. 3 GG verwendete Formulierung „Recht und Gesetz“ kann eine „gesetzesübersteigende Rechtsfortbildung“ im Hinblick auf die Entstehungsgeschichte nicht begründen.400 Dagegen spricht auch, dass der Richter als Person nach Art. 97 Abs. 1 GG anderen Bindungen als die Rechtsprechung im Ganzen unterworfen wäre.401 Denn Art. 97 Abs. 1 GG unterwirft den Richter nur dem Gesetz, nicht aber auch dem Recht. Die geführte Diskussion blendet meist bewusst die Frage aus, ob auch das Bundesverfassungsgericht selbst dem Vorbehalt des Gesetzes unterliegt, und beschränkt sich auf die Fachgerichtsbarkeit.402 Begründet wird dies mit der Besonderheit der Verfassungsorganstellung des Bundesverfassungsgerichts.403 Dies greift zu kurz. Allein die Verfassungsorganstellung des Bundesverfassungsgerichts begründet keinen fundamentalen Unterschied zur Fachgerichtsbarkeit im Hinblick auf den Vorbehalt des Gesetzes. Schließlich befreit auch die Verfassungsorganstellung der Bundesregierung ebenjene nicht von der Einhaltung des Vorbehalts des Gesetzes. Anders hingegen verhält es sich mit dem Einwand, der Prüfungsmaßstab des Bundesverfassungsgerichts sei auf das Verfassungsrecht beschränkt. Denn das einfache Gesetz ist für das Bundesverfassungsgericht vielfach Prüfungsgegenstand, nicht aber Maßstab. bb) Vorbehalt der Verfassung Anders verhielte es sich hingegen mit einem Vorbehalt der Verfassung. Ein solcher erscheint zunächst naheliegend, wenn man den Gesetzescharakter der Verfassung404 anerkennt. Die demokratietheoretische Begründung für den Vorbehalt des Gesetzes lässt sich auf einen Verfassungsvorbehalt grundsätzlich übertragen.405 Danach hätte der verfassungsändernde Gesetzgeber die Regelungskompetenz für besonders wesentliche Rechtsmaterien. Denn ihm käme im Verhältnis zum einfachen Gesetzgeber aufgrund des höheren Mehrheitsquorums eine umfassendere demo399

C. D. Classen, JZ 2003, 693, 700. C. Hillgruber, JZ 2008, 745, 747; C. D. Classen, JZ 2003, 693, 699; so aber BVerfGE 34, 269, 286 ff. 401 C. Hillgruber, JZ 2008, 745, 747. A. A. J. Neuner, Die Rechtsfindung contra legem (1992), S. 8 ff. 402 P. Lassahn, Rechtsprechung und Parlamentsgesetz (2017), S. 7 f. 403 P. Lassahn, Rechtsprechung und Parlamentsgesetz (2017), S. 7. 404 So bereits das Verständnis des Parlamentarischen Rats, vgl. Nachweis bei C. Hillgruber, JZ 2008, 745, 746. 405 A. A. S. Pitzen, Der Vorbehalt der Verfassung (2013), S. 267 ff., der sich mit der Legitimationswirkung einer einfachen Mehrheitsentscheidung im Vergleich zu einer qualifizierten Mehrheitsentscheidung nicht hinreichend auseinandersetzt. Ders., Der Vorbehalt der Verfassung (2013), S. 41 ff., ausführlich zu den verschiedenen Argumenten pro und contra Verfassungsvorbehalt. 400

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kratische Dignität zu.406 Auch der einfache Gesetzgeber stünde unter dem Vorbehalt der Verfassung.407 Souverän wäre neben dem Volk allein der verfassungsändernde Gesetzgeber innerhalb der Vorgaben des Art. 79 GG.408 Fast alle Bereiche dürften nunmehr aber im Grundgesetz so weit geregelt sein, dass in den wesentlichen Fragen ein Sachverhalt extra constitutionem nicht denkbar ist. Ein solcher wäre nur dann denkbar, wenn man die Schwelle der Wesentlichkeit sehr niedrig ansetzt, was aber zur Funktionsunfähigkeit des Staates führen würde.409 Ein funktionsunfähiger Staat ist nicht Ziel des Grundgesetzes. Daher bedarf es unter dem Grundgesetz neben des Vorrangs der Verfassung keines Vorbehalts der Verfassung410 beziehungsweise ist ein allgemeiner Vorbehalt der Verfassung neben den ausdrücklich geregelten Vorbehalten überflüssig411. Gleich mit welcher Begründung man einen Vorbehalt der Verfassung ablehnt, ist daher mit dem Bundesverfassungsgericht von einer „generellen Befugnis des Staates zum Handeln“ auszugehen, sofern diese nicht verfassungsrechtlich beschränkt ist.412 Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass der Vorbehalt des Gesetzes die Rechtsprechung nur in Bereichen ohne jegliche gesetzliche Regelung beschränken kann. Er kann dementsprechend nur eine geringe begrenzende Wirkung entfalten. Denn angesichts der Kodifikation nahezu jeglichen Lebensbereichs sind Entscheidungen, die auf Gesetzesauslegung beruhen, der maßgebliche Wirkungsbereich der Rechtsprechung. Insoweit kann jedoch nur die Methodenlehre Grenzen formulieren. Da für das Bundesverfassungsgericht das einfache Gesetz nicht Maßstab, sondern Prüfungsgegenstand ist, wäre es unmittelbar zudem nur von einem Vorbehalt der Verfassung beschränkt. Ein solcher ist angesichts des hinreichend ausdifferenzierten Grundgesetzes abzulehnen. Daher wird das Bundesverfassungsgericht nur durch den Vorrang der Verfassung beschränkt. Die begrenzende Wirkung wird dabei wiederum maßgeblich von der Intensität der Normbindung beeinflusst. Sie bleibt angesichts der Offenheit des Verfassungstexts aber immer auf einem niedrigen Niveau. 3. Justizgewährungsanspruch Der Justizgewährungsanspruch formuliert eine Grenze im Hinblick auf die Untätigkeit von Gerichten. Im Kontext einer entgrenzten Entscheidungsgewalt ist er 406

A. A. A. Bleckmann, JR 1978, 221, 224. T. Kingreen, Vorrang und Vorbehalt der Verfassung, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), HStR, Band XII, 3. Aufl. 2014, § 263 Rn. 4. 408 T. Kingreen, Vorrang und Vorbehalt der Verfassung, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), HStR, Band XII, 3. Aufl. 2014, § 263 Rn. 26. 409 A. Bleckmann, JR 1978, 221, 227. 410 J. Isensee, Vorbehalt der Verfassung, in: FS Walter Leisner (1999), S. 366. 411 T. Kingreen, Vorrang und Vorbehalt der Verfassung, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), HStR, Band XII, 3. Aufl. 2014, § 263 Rn. 41 ff.; J. Isensee, Vorbehalt der Verfassung, in: FS Walter Leisner (1999), S. 397. 412 BVerfGE 98, 218, 246. 407

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Kap. 1: Entgrenzte verfassungsgerichtliche Entscheidungsgewalt

kein limitierender Faktor. Er kann vielmehr möglicherweise an einzelnen Stellen die Grenzen der Entscheidungskompetenz zu Gunsten des Bundesverfassungsgerichts ausdehnen. Aus dem Rechtsstaatsprinzip ergibt sich ein Anspruch auf wirkungsvollen Rechtsschutz.413 Dieser umfasst auch die richterliche Entscheidungspflicht.414 Der Justizgewährungsanspruch ist der „Ausgleich für das staatliche Gewaltmonopol“.415 Die Pflicht zu entscheiden beschränkte sich historisch zunächst auf die rein formale Vorgabe, eine richterliche Entscheidung nicht zu verweigern.416 Dem heutigen Verständnis nach garantiert der Justizgewährungsanspruch darüber hinaus auch, „dass der Streitgegenstand einer umfassenden tatsächlichen und rechtlichen Prüfung durch den Richter zugänglich ist“.417 Aufgrund Art. 19 Abs. 4 GG beschränkt sich die eigenständige Bedeutung des Justizgewährungsanspruchs heute nahezu ausschließlich auf zivilrechtliche Streitigkeiten.418 Dem Bundesverfassungsgericht steht es demnach nicht frei, eine Sache trotz Vorliegen der Sachentscheidungsvoraussetzungen nicht zu entscheiden.419 Genauso wenig wie es selbst in einer Sache proaktiv tätig werden kann (Initiativverbot), darf es nach Anrufung ein Tätigwerden verweigern. Es kann sich ihm missliebiger Entscheidungen nicht enthalten. Ob die richterliche Entscheidungspflicht unter dem Grundgesetz materiell dergestalt aufgeladen wurde, dass der Richter notfalls auch rechtsschöpferisch tätig werden muss, ist umstritten.420 Der Streit ist teils wenig ergiebig, weil das Verständnis und die Definitionen von Rechtsschöpfung und Richterrecht erheblich voneinander abweichen.421 Im Ergebnis kann der Justizgewährungsanspruch die 413

BVerfGE 54, 277, 291; 101, 275, 294 f.; 107, 395, 401. BVerfGE 107, 395, 402. 415 H.-J. Papier, Justizgewähranspruch, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), HStR, Band VIII, 3. Aufl. 2004, § 176 Rn. 1; A. Voßkuhle/A.-B. Kaiser, JuS 2014, 312; S. Detterbeck, AcP 192 (1992), 325, 327. 416 P. Lassahn, Rechtsprechung und Parlamentsgesetz (2017), S. 106. 417 H.-J. Papier, Justizgewähranspruch, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), HStR, Band VIII, 3. Aufl. 2004, § 176 Rn. 18; BVerfGE 54, 277, 291; H. Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG (2020), Art. 20 Rn. 128; S. Detterbeck, AcP 192 (1992), 325, 328. 418 H.-J. Papier, Justizgewähranspruch, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), HStR, Band VIII, 3. Aufl. 2004, § 176 Rn. 1; H. Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG (2020), Art. 20 Rn. 129. 419 A. Voßkuhle, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG (2018), Art. 93 Rn. 22. 420 M.w.N. P. Lassahn, Rechtsprechung und Parlamentsgesetz (2017), S. 108; bejahend: H.-J. Papier, Justizgewähranspruch, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), HStR, Band VIII, 3. Aufl. 2004, § 176 Rn. 19. E. Schuhmann, ZZP 81 (1968), 79 ff., trennt streng zwischen dem Recht auf Justizgewährung und dem Rechtsverweigerungsverbot, das insoweit einschlägig sei. Zur Abgrenzung des teilweise verwendeten Begriffs des Rechtschutzanspruchs vgl. S. Detterbeck, AcP 192 (1992), 325, 337 f. 421 Vgl. dazu F. Ossenbühl, Gesetz und Recht – Die Rechtsquellen im demokratischen Rechtsstaat, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), HStR, Band V, 3. Aufl. 2004, § 100 Rn. 50. 414

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Gewaltenteilung und das Demokratieprinzip jedenfalls nicht aushebeln.422 Denn das Recht auf eine gerichtliche Entscheidung beinhaltet nicht auch das Recht auf eine „gerechte“ Entscheidung.423 Maßgebend kann immer nur das vom Grundgesetz verfolgte spezifische Gerechtigkeitskonzept sein, nicht aber ein überpositives Gerechtigkeitsempfinden.424 Nur dort, wo sich im Normtext ungewollte Regelungslücken finden, kann der Justizgewährungsanspruch den Richter zu lückenfüllender „Rechtsprechung“ oder selbstständiger Rechtsetzung verpflichten.425 Die bereits herausgearbeiteten Grenzen der Entscheidungsgewalt werden mithin durch den Justizgewährungsanspruch nicht aufgehoben oder verschoben. 4. Allgemeiner Gleichheitssatz Zuletzt ist zu diskutieren, ob der allgemeine Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidungsfreiheit bindet und damit begrenzt.426 Eine Selbstbindung der Judikative durch den allgemeinen Gleichheitssatz ist zunächst nur dann denkbar, wenn man (richtigerweise) anerkennt, dass jede rechtsprechende Gesetzesanwendung auch rechtssetzende Anteile beinhaltet. Denn ohne Entscheidungsspielräume wäre das Ergebnis jeder rechtsprechenden Tätigkeit bereits determiniert.427 Dies wird allerdings heute auch nicht mehr bestritten. Vorweg ist zudem klarzustellen, dass die Diskussion darüber, wann ein Gleichheitsverstoß besteht, der durch willkürliche Auslegung der Fachgerichte begangen wird,428 meist ein anderes Ziel verfolgt. Denn dies betrifft letztlich die Frage, ob und inwieweit das Bundesverfassungsgericht die Auslegung und Anwendung des einfachen Rechts durch die Fachgerichte nachprüfen kann.429 Dass das Bundesverfas-

422

H. Dreier, JURA 1997, 249, 256. T. Mayer-Maly, JZ 1986, 557, 560; P. Lassahn, Rechtsprechung und Parlamentsgesetz (2017), S. 109; F. Kruse, Die verfassungsrechtlichen Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung (2019), S. 122 ff. 424 F. Kruse, Die verfassungsrechtlichen Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung (2019), S. 126. 425 F. Ossenbühl, Gesetz und Recht – Die Rechtsquellen im demokratischen Rechtsstaat, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), HStR, Band V, 3. Aufl. 2004, § 100 Rn. 52 ff. 426 Nicht näher eingegangen wird vorliegend auf eine mögliche Selbstbindung des Bundesverfassungsgerichts durch das einfache Recht, § 31 Abs. 1 BVerfGG (vgl. dazu H. Lechner/ R. Zuck, BVerfGG (2019), § 31 Rn. 29). 427 R. Riggert, Die Selbstbindung der Rechtsprechung durch den allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 I GG) (1993), S. 18 u. 46. 428 Vgl. dazu nur BVerfGE 87, 273, 278 f. 429 Damit verbunden ist die Problematik „Bundesverfassungsgericht als Superrevisionsinstanz“, vgl. m. w. N. M. Reinhardt, Konsistente Jurisdiktion (1997), S. 203. 423

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Kap. 1: Entgrenzte verfassungsgerichtliche Entscheidungsgewalt

sungsgericht selbst nicht befugt ist, in rechtlich unvertretbarer Weise die Verfassung auszulegen, ergibt sich bereits aus der Gesetzesbindung nach Art. 20 Abs. 3 GG.430 Es stellt sich somit die Frage, inwieweit der allgemeine Gleichheitssatz eine Selbstbindung (der Senate) des Bundesverfassungsgerichts bei von der bisherigen Rechtsprechungspraxis abweichenden Entscheidungsoptionen erzwingen kann, die auf unterschiedlichen vertretbaren Auslegungen des Normtextes beruhen. Die Gleichheit vor dem Recht knüpft an das allgemeine Rechtsstaatsverständnis an.431 Der allgemeine Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG spricht jedem Rechtsuchenden eine willkürfreie Behandlung durch den Staat zu. Auch die Rechtsprechung ist danach zu einer gleichen Beurteilung gleichartiger Sachverhalte verpflichtet.432 „Die Gewissheit um die Gleichheit und Konsistenz der Ausübung rechtsprechender Gewalt“ ist folglich grundrechtlich in Art. 3 Abs. 1 GG verbürgt.433 Die richterliche Unabhängigkeit, Art. 97 Abs. 1 GG, allein ist kein ausreichender materieller Rechtfertigungsgrund für eine mögliche Ungleichbehandlung durch den Richter.434 „Sie besteht nämlich nur im Rahmen und nach Maßgabe der Gesetze“ einschließlich Art. 3 Abs. 1 GG.435 Gerichten ist es danach untersagt, in der gleichen Auslegungssituation die gleiche Rechtsnorm ohne nachvollziehbaren Grund beliebig auszulegen.436 Das ist der Fall, „wenn einzelne Entscheidungen so sehr die Bahnen organischer Fortentwicklung der Rechtsprechung verließen, dass sie als willkürlich bezeichnet werden müssten“437. Willkür in diesem Sinne liegt vor, wenn jede auf den Einzelfall bezogene Begründung fehlt.438 So sind gleichwohl Rechtsprechungsänderungen und -entwicklungen selbstverständlich möglich, sie müssen nur begründet sein.439 Wenig überzeugend ist es, wenn man der Rechtsprechung zudem zubilligt, von der bisherigen Praxis abzuweichen, wenn das neue Ergebnis dem Gesetz besser entspricht.440 Denn in den Fällen, in denen Art. 3 Abs. 1 GG zur Anwendung kommen könnte, fehlt es gerade an einer eindeutig „richtigeren“Auslegungsvariante. Vielmehr ist gerade die Frage, ob bei mehreren gleich vertretbaren Auslegungsva430 R. Riggert, Die Selbstbindung der Rechtsprechung durch den allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 I GG) (1993), S. 60. 431 BVerfGE 23, 12, 24; 38, 225, 228; 49, 168, 184; K. Stern, Staatsrecht (1984), Band I, S. 790. 432 M. Reinhardt, Konsistente Jurisdiktion (1997), S. 196; C. Gusy, DÖV 1992, 461, 467; R. Riggert, Die Selbstbindung der Rechtsprechung durch den allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 I GG) (1993), S. 45 ff.; A. Nußberger, in: Sachs, GG (2021), Art. 3 Rn. 75. 433 M. Reinhardt, Konsistente Jurisdiktion (1997), S. 197. 434 M. Reinhardt, Konsistente Jurisdiktion (1997), S. 198; C. Gusy, DÖV 1992, 461, 468. 435 C. Gusy, DÖV 1992, 461, 468. 436 C. Gusy, DÖV 1992, 461, 468. 437 BVerfGE 18, 224, 240. 438 A. Nußberger, in: Sachs, GG (2021), Art. 3 Rn. 129. 439 C. Gusy, DÖV 1992, 461, 469; L. Brocker, NJW 2012, 2996, 2997. 440 So aber R. Riggert, Die Selbstbindung der Rechtsprechung durch den allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 I GG) (1993), S. 60 ff.; L. Brocker, NJW 2012, 2996, 2998.

B. Maßstab der verfassungsgerichtlichen Entscheidungskompetenz

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rianten von der bisherigen Rechtsprechungspraxis abgewichen werden kann. Ausreichend bleibt insoweit eine nachvollziehbare, fallbezogene Begründung.441 Strengere Vorgaben als dieser Willkürmaßstab lassen sich auch für die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts aus Art. 3 Abs. 1 GG nicht ableiten.442 Dies macht deutlich, wie schwach die Selbstbindung durch Art. 3 Abs. 1 GG ausfällt. Eine ernstzunehmende kompetenzielle Begrenzung stellt der allgemeine Gleichheitssatz mithin nicht dar, weswegen ihm in der Literatur und verfassungsgerichtlichen Spruchpraxis „nur eine randständige Rolle“ zukommt.443 Der Weg der Ergebnisfindung der Rechtsprechung muss daher eine „hinreichend abgesicherte allgemeine Verbindlichkeit“ beanspruchen, sodass er „prinzipiell und typischerweise geeignet ist“, ungleiche Behandlungen vergleichbarer Sachverhalte zu vermeiden.444 Dies gelingt durch eine möglichst objektivierbare Methode bei der Entscheidungsfindung. 5. Zwischenergebnis Die Entscheidungskompetenz des Bundesverfassungsgerichts wird maßgeblich durch seine Eingebundenheit in den grundgesetzlichen Rechtsstaat definiert. Überragende Bedeutung für die Maßstabsbildung kommt dabei dem Gewaltenteilungsprinzip zu. Danach bedarf es einer ausreichenden, objektivierbaren Kontrolle des Bundesverfassungsgerichts, die an die Normunterworfenheit der Judikative anknüpft. Auch der Vorrang der Verfassung entfaltet in Abhängigkeit von der Intensität der Normbindung determinierende Wirkung. Er lässt angesichts der Offenheit des grundgesetzlichen Normtextes aber viel Entscheidungsspielraum. Vom Vorbehalt des Gesetzes oder vielmehr der Verfassung wird die Entscheidungskompetenz des Bundesverfassungsgerichts nicht berührt. Der Justizgewährungsanspruch und der allgemeine Gleichheitssatz sind bei der Bestimmung der Entscheidungskompetenz ebenfalls zu vernachlässigen.

IV. Zwischenergebnis Abseits tatsächlicher Grenzen – wie Arbeitslast oder (sozialer) Kontrolle im Kollegium, durch wissenschaftliche Mitarbeiter, durch Austausch mit anderen europäischen Verfassungs- beziehungsweise Höchstgerichten oder der Rechtswis-

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BVerfGK 4, 12, 14 f.; A. Nußberger, in: Sachs, GG (2021), Art. 3 Rn. 129. L. Brocker, NJW 2012, 2996, 2998 ff.; T. Möllers, Juristische Methodenlehre (2021), § 1 Rn. 42. 443 S. Boysen, in: v. Münch/Kunig, GG (2021), Art. 3 Rn. 47. 444 Vgl. für die materiellen Maßstäbe der Rechtsprechung: M. Reinhardt, Konsistente Jurisdiktion (1997), S. 197. 442

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Kap. 1: Entgrenzte verfassungsgerichtliche Entscheidungsgewalt

senschaft445 – lassen sich dem Grundgesetz durchaus klare normative Aussagen zur Stellung des Bundesverfassungsgerichts im staatlichen Machtgefüge entnehmen. Gleichwohl wäre es vermessen, eine unverrückbare Grenzlinie der Entscheidungsbefugnis aufzeigen zu wollen. Denn die Grenzen der Entscheidungskompetenz des Bundesverfassungsgerichts sind überwiegend nicht starr, sondern bedingen sich teils gegenseitig. Beispielhaft für vorhandene Interdependenzen sind die Grenzen, die sich aus der Eigenschaft des Bundesverfassungsgerichts als Gericht beschreiben lassen. So intensiviert sich beispielsweise die Pflicht, die eigenen Entscheidungen zu begründen, in quantitativer wie qualitativer Hinsicht, wenn das Gericht in grenzwertiger Weise nicht auf rechtliche Ausführungen verzichtet, auf denen die Entscheidung nicht beruht. Unabhängig von diesen gegenseitig bedingten Grenzziehungen lässt sich feststellen, dass die Ausgestaltung der Normbindung eine zentrale Rolle spielt, wenn es darum geht, den verfassungsrechtlichen Anforderungen, speziell dem Gewaltenteilungs- und Demokratieprinzip Rechnung zu tragen. Die Normbindung des Bundesverfassungsgerichts rechtfertigt seine starke Stellung und seinen umfassenden Prüfungsumfang. Sie statuiert eine entscheidende Grenze der Macht des Bundesverfassungsgerichts.446 Die Verfassungsinterpretation durch das Bundesverfassungsgericht beinhaltet aufgrund der einer Verfassung innewohnenden Unschärfe und Offenheit immer auch maßstabsetzende Konkretisierung. Diese Konkretisierung sollte aber orientiert am Normgeberwillen erfolgen. Erforderlich ist eine ausreichende rechtliche Determiniertheit. Das gilt ganz besonders vor dem Hintergrund, dass Gerichte „wie alle staatlichen und gesellschaftlichen Machtzentren die Tendenz [haben], ihre Aufgaben und Befugnisse auszuweiten“.447 Dass auch das Bundesverfassungsgericht davor nicht gefeit ist, zeigt die starke Ausdehnung des Prüfungsumfangs in seiner Grundrechtsrechtsprechung.448 Der damit einhergehende Machtzuwachs wurde bisher nicht durch eine stärker konturierte Normbindung kompensiert. Die Entscheidungsgewalt des Bundesverfassungsgerichts übersteigt bei loser Normbindung jedoch die ihm verfassungsrechtlich zugewiesene Kompetenz. Ohne weitere Beschränkungen wäre der heutige Prüfungsumfang zu weitgehend.449

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Zum Ganzen ausführlich A. Voßkuhle, BayVBl. 2020, 577, 578 ff. W. Heun, Verfassung und Verfassungsgerichtsbarkeit im Vergleich (2014), S. 134 f. 447 B. Schlink, JZ 2007, 157, 160, 161; F. Ossenbühl, Grundsätze der Grundrechtsinterpretation, in: D. Merten/H.-J. Papier (Hrsg.), HGR, Band I (2004), § 15 Rn. 15. 448 S. oben B. I. Vgl. auch H. Schulze-Fielitz, Schattenseiten des Grundgesetzes, in: H. Dreier (Hrsg.), Macht und Ohnmacht des Grundgesetzes (2009), S. 22. 449 W. Heun, Verfassung und Verfassungsgerichtsbarkeit im Vergleich (2014), S. 137. 446

C. Grenzenlose Entscheidungsgewalt trotz Begrenzung?

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C. Grenzenlose Entscheidungsgewalt trotz Begrenzung? Es wurde deutlich, dass sich die vom Bundesverfassungsgericht in Anspruch genommene Entscheidungsgewalt nur bei wohlwollender Betrachtung noch in den Grenzen der im Grundgesetz vorgesehenen Entscheidungskompetenz bewegt. Es bedarf daher eines begrenzenden Lösungsansatzes.450 Auch wenn sich im vorangegangenen Kapitel eine Lösung aufdrängt, die in der stärkeren Konturierung der Normbindung zu suchen ist, soll zunächst dargestellt werden, warum die in der Vergangenheit diskutierten Ansätze zur Begrenzung verfassungsgerichtlicher Macht nicht (ausreichend) weiterhelfen. In der Diskussion um die Kompetenzgrenzen des Bundesverfassungsgerichts fallen regelmäßig die Schlagworte „judicial self-restraint“ (I.), „Political-QuestionDoktrin“ (II.) sowie „funktionell-rechtliche Grenzen“ (III.). Darüber hinaus wird auch die Rechtsdogmatik als limitierender Faktor ins Spiel gebracht (IV.). Die unterschiedlichen Konzepte und die ihnen innewohnenden Unzulänglichkeiten werden im Folgenden erläutert.

I. Richterliche Selbstbeschränkung (judicial self-restraint) Das Konzept der richterlichen Selbstbeschränkung versteht sich als Antwort auf das Spannungsverhältnis zwischen den konfligierenden Aufgaben der Judikative auf der einen Seite und der Legislative und Exekutive auf der anderen Seite. Eine umfassende Rechtskontrolle und das Verbleiben demokratischer Entscheidungsspielräume sollen dadurch in Ausgleich gebracht werden. Das angerufene Gericht nimmt sich selbst bei bestimmten Entscheidungen im Bewusstsein seines demokratischen Defizits zurück.451 Neben dem Ziel, überschießende richterliche Macht zu begrenzen, soll richterliche Selbstbeschränkung helfen, die „Flexibilität und Wandelbarkeit“ der Verfassung zu bewahren.452 Indem Auslegungsvarianten bewusst offengehalten werden, soll die Gefahr einer zeitgebundenen Interpretation vermieden und damit die normative Langlebigkeit der Verfassung gestärkt werden.453 Teilweise wird judicial self-restraint auch als Antwort auf eine nur eingeschränkt verwirklichte Gesetzesbindung der Rechtsprechung verstanden. So soll eine selbst auferlegte

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Ebenso W. Heun, Funktionell-rechtliche Schranken der Verfassungsgerichtsbarkeit (1992), S. 11. 451 M. Spielmann/E. Röper, DÖV 2018, 928, 935. 452 M. Spielmann/E. Röper, DÖV 2018, 928, 935; H.-P. Schneider, Verfassungsinterpretation aus theoretischer Sicht, in: H.-P. Schneider/R. Steinberg (Hrsg.), Verfassungsrecht zwischen Wissenschaft und Richterkunst (1990), S. 44. 453 H.-P. Schneider, Verfassungsinterpretation aus theoretischer Sicht, in: H.-P. Schneider/ R. Steinberg (Hrsg.), Verfassungsrecht zwischen Wissenschaft und Richterkunst (1990), S. 44; W.-R. Schenke, NJW 1979, 1321, 1324.

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Kap. 1: Entgrenzte verfassungsgerichtliche Entscheidungsgewalt

Beschränkung verhindern, dass die richterliche Neutralität in Frage gestellt wird.454 Nur dadurch könne das „Spannungsverhältnis zwischen Unabhängigkeit und Gesetzesbindung […] einigermaßen erträglich“ gelöst werden.455 Die aus der Rechtsprechung des US Supreme Court stammende Idee des judicial self-restraint fand erstmals 1973 ausdrücklich Eingang in die bundesverfassungsgerichtliche Rechtsprechung.456 Das Bundesverfassungsgericht äußerte einmalig sein Verständnis wie folgt: Der Grundsatz des judicial self-restraint, den sich das Bundesverfassungsgericht auferlegt, bedeutet nicht eine Verkürzung oder Abschwächung seiner eben dargelegten Kompetenz, sondern den Verzicht, „Politik zu treiben“, d. h., in den von der Verfassung geschaffenen und begrenzten Raum freier politischer Gestaltung einzugreifen. Er zielt also darauf ab, den von der Verfassung für die anderen Verfassungsorgane garantierten Raum freier politischer Gestaltung offenzuhalten.457

Das Konzept wurde sodann in der Folge jedoch nur noch von abweichenden Voten bemüht.458 Es setzte sich damit auch beim Bundesverfassungsgericht die weit verbreitete Kritik459 an dieser Rechtsfigur durch. Die Rechtsfigur des judicial self-restraint bleibt weitgehend konturlos und daher recht wirkungslos.460 Es fehlt an allgemein gültigen Maßstäben, nach denen die 454

H. Sendler, NJW 1983, 1449, 1457. H. Sendler, NJW 1983, 1449, 1457. 456 BVerfGE 35, 257, 262. Davor wurde die Thematik unter dem Stichwort „Selbstbeschränkung“ im Bericht des Berichterstatters an das Plenum des Bundesverfassungsgerichts zur „Status“-Frage bereits behandelt, vgl. U. Haltern, Verfassungsgerichtsbarkeit, Demokratie und Misstrauen (1998), S. 215. Zur historischen Entwicklung: M. Spielmann/E. Röper, DÖV 2018, 928, 929 ff. Zum Diskurs in den Vereinigten Staaten von Amerika: C. Rau, Selbst entwickelte Grenzen in der Rechtsprechung des United States Supreme Court und des Bundesverfassungsgerichts (1996), S. 125 ff.; M. Spielmann/E. Röper, DÖV 2018, 928, 929. 457 BVerfGE 36, 1, 14 f. 458 BVerfGE 39, 1, 69; BVerfG, Beschluss vom 22. 06. 1995 – 2 BvL 37/91 –, juris Rn. 86; Beschluss vom 04. 04. 2006 – 1 BvR 518/02 –, juris, Rn. 185; Urteil vom 02. 03. 2010 – 1 BvR 256/08 –, juris Rn. 326. 459 K. Hesse, Funktionelle Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit, in: J. P. Müller (Hrsg.), FS Huber (1981), S. 264; U. Haltern, Verfassungsgerichtsbarkeit, Demokratie und Misstrauen (1998), S. 215 f.; C. Starck, Das Bundesverfassungsgericht in der Verfassungsordnung und im politischen Prozess, in: P. Badura/H. Dreier (Hrsg.), FS 50 Jahre BVerfG (2001), S. 9; H. Bethge, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG (Juli 2020), Vorb. Rn. 159; W. Heun, Funktionell-rechtliche Schranken der Verfassungsgerichtsbarkeit (1992), S. 12; B.-O. Bryde, Verfassungsentwicklung (1982), S. 308 f. 460 K. Schlaich/S. Korioth, Das Bundesverfassungsgericht (2021), Rn. 505; E.-W. Böckenförde, Der Staat 29 (1990), 1, 26; S.-P. Hwang, Verfassungsgerichtlicher Jurisdiktionsstaat? (2005), S. 173; H. Simon, Verfassungsgerichtsbarkeit, in: E. Benda/W. Maihofer/H.-J. Vogel (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts (1994), S. 1665; a. A. J.-M. Drossel, Das letzte Wort des Bundesverfassungsgerichts – Ein undemokratischer Mechanismus?, in: D. Elser u. a. (Hrsg.), Das letzte Wort – Rechtsetzung und Rechtskontrolle in der Demokratie (2014), S. 270 ff., der judicial self-restraint dennoch für sinnvoll und geboten hält. 455

C. Grenzenlose Entscheidungsgewalt trotz Begrenzung?

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Grenze des Raums freier politischer Gestaltung bestimmt werden kann, der den anderen Verfassungsorganen garantiert ist.461 Die Abgrenzung zwischen Recht und Politik ist bisher ohne Erfolg verlaufen; wohl auch deswegen, weil verfassungsgerichtliche Entscheidungen immer eine politische Komponente beinhalten.462 Recht und Politik lassen sich „angesichts der Synthese, die diese in der Verfassung eingegangen sind“, nicht klar trennen.463 Aus der Abgrenzung von Recht und Politik lassen sich folglich keine brauchbaren Maßstäbe ableiten.464 Es darf bezweifelt werden, dass diese Maßstäbe überhaupt zu finden sind. Zudem wäre unklar, woher diese Maßstäbe ihre Rechtfertigung beziehen, wenn sie sich nicht aus dem Grundgesetz entwickeln lassen. Es bliebe bei einer Selbstermächtigung der Gerichte, nach richterlichem Ethos zu bestimmen, ab welcher Schwelle ihre Entscheidungen in den unzulässigen Bereich der Politik reichen würden.465 Es steht aber „nicht im Belieben des Verfassungsrichters“, sondern ergibt sich aus der Verfassung, wann das Gericht zurückhaltend sein muss.466 Beschreibt judicial self-restraint hingegen lediglich genau die aus dem Grundgesetz abgeleiteten Grenzen, bietet es gerade keinen selbstständigen Ansatz zur Begrenzung.467 Das Konzept der richterlichen Selbstbeschränkung kann die richterliche Entscheidungsgewalt mithin nicht wirksam begrenzen.

461 E.-W. Böckenförde, Der Staat 29 (1990), 1, 26; U. Haltern, Verfassungsgerichtsbarkeit, Demokratie und Misstrauen (1998), S. 216. 462 H. Simon, Verfassungsgerichtsbarkeit, in: E. Benda/W. Maihofer/H.-J. Vogel (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts (1994), S. 1664; D. Winkler, ZSE 2006, 103, 109; O. Kimminich, Verfassungsgerichtsbarkeit und das Prinzip der Gewaltenteilung, in: G.-K. Kaltenbrunner (Hrsg.), Auf dem Weg zum Richterstaat (1979), S. 79 f.; W.-R. Schenke, NJW 1979, 1321, 1322. 463 W.-R. Schenke, NJW 1979, 1321, 1322; H. Schulze-Fielitz, AöR 122 (1997), 1, 14 f.; J. Burmeister, Stellung und Funktion des Bundesverfassungsgerichts im System der Gewaltengliederung, in: P. König/W. Rüfner (Hrsg.), Die Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit in Frankreich und der BRD (1985), S. 42; T. v. Danwitz, JZ 1996, 481, 483. 464 J. Riecken, Verfassungsgerichtsbarkeit in der Demokratie (2003), S. 432. 465 E.-W. Böckenförde, Der Staat 29 (1990), 1, 26; U. Haltern, Verfassungsgerichtsbarkeit, Demokratie und Misstrauen (1998), S. 216; W. Heun, Funktionell-rechtliche Schranken der Verfassungsgerichtsbarkeit (1992), S. 12; J. Riecken, Verfassungsgerichtsbarkeit in der Demokratie (2003), S. 434. 466 A. Voßkuhle, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG (2018), Art. 93 Rn. 36; K. Schlaich/ S. Korioth, Das Bundesverfassungsgericht (2021), Rn. 505; T. Exner, DÖV 2012, 540, 543; K. Hesse, Funktionelle Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit, in: J. P. Müller (Hrsg.), FS Huber (1981), S. 264. 467 M. Kment, in: Jarass/Pieroth, GG (2020), Art. 93 Rn. 5; C. Rau, Selbst entwickelte Grenzen in der Rechtsprechung des United States Supreme Court und des Bundesverfassungsgerichts (1996), S. 227.

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Kap. 1: Entgrenzte verfassungsgerichtliche Entscheidungsgewalt

II. Political-Question-Doktrin Die Political-Question-Doktrin hat nicht zu übersehende Überschneidungen mit dem Konzept der richterlichen Selbstbeschränkung.468 Es handelt sich dabei um eine Lehre aus dem amerikanischen Verfassungsrecht, die es dem US Supreme Court erlaubt, Entscheidungen über Fragen politischer Natur abzulehnen.469 Die konkreten Aussagen der Political-Question-Doktrin lassen sich nur schwer fassen, denn die darunter firmierende Rechtsprechung ist vielfach unklar und widersprüchlich.470 Gemein ist den unterschiedlichen Ausdifferenzierungen der Political-QuestionDoktrin, dass sie „Aspekte der Aufgabenverteilung zwischen den verschiedenen Gewalten“ berücksichtigen.471 So sind beispielhaft außenpolitische Entscheidungen einer gerichtlichen Überprüfung entzogen, unter anderem deswegen, weil die Erkenntnismöglichkeiten der Judikative im Vergleich zur Exekutive massiv eingeschränkt sind.472 Anders als das Konzept der richterlichen Selbstbeschränkung verneint die Political-Question-Doktrin allerdings bereits die Justiziabilität bestimmter Sachfragen.473 Nach allgemeiner Meinung ist die Political-Question-Doktrin nicht auf das deutsche Verfassungsrecht übertragbar.474 Die unterschiedlichen Verfassungsordnungen und besonders die nicht zu vergleichende Stellung des Supreme Court und 468

G. F. Schuppert, DVBl 1988, 1190. M.w.N. K. Schlaich/S. Korioth, Das Bundesverfassungsgericht (2021), Rn. 505; F. W. Scharpf, Grenzen der richterlichen Verantwortung (1965); M. Piazolo, Verfassungsgerichtsbarkeit und politische Fragen (1994), S. 27 ff. 470 R. Zuck, JZ 1974, 361, 364; M. Piazolo, Verfassungsgerichtsbarkeit und politische Fragen (1994), S. 22 u. 32; Ansätze einer Systematisierung bei ders., Verfassungsgerichtsbarkeit und politische Fragen (1994), S. 29 f.; B.-O. Bryde, Verfassungsentwicklung (1982), S. 310. 471 U. Haltern, Verfassungsgerichtsbarkeit, Demokratie und Misstrauen (1998), S. 214. 472 W.-R. Schenke, NJW 1979, 1321,1325; F. W. Scharpf, Grenzen der richterlichen Verantwortung (1965), S. 15 ff.; M. Piazolo, Verfassungsgerichtsbarkeit und politische Fragen (1994), S. 33 ff. 473 C. Gusy, Parlamentarischer Gesetzgeber und Bundesverfassungsgericht (1985), S. 57; J. Riecken, Verfassungsgerichtsbarkeit in der Demokratie (2003), S. 429. 474 K. Schlaich/S. Korioth, Das Bundesverfassungsgericht (2021), Rn. 505; A. Voßkuhle, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG (2018), Art. 93 Rn. 22; H. Lechner/R. Zuck, BVerfGG (2019), Einl. Rn. 223; K. Stern/M. Sachs, Staatsrecht III/2 (1994), S. 1710 f.; U. Haltern, Verfassungsgerichtsbarkeit, Demokratie und Misstrauen (1998), S. 214; C. Rau, Selbst entwickelte Grenzen in der Rechtsprechung des United States Supreme Court und des Bundesverfassungsgerichts (1996), S. 229 f.; M. Piazolo, Verfassungsgerichtsbarkeit und politische Fragen (1994), S. 76; H.-P. Schneider, NJW 1980, 2103, 2104; W.-R. Schenke, NJW 1979, 1321, 1325; A. Gerontas, Die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen (1980), S. 158; R. Zuck, JZ 1974, 361, 368; anders noch: H. Ehmke, VVDStRL 20 (1961), 53, 75 f. und R. Dolzer, Verfassungskonkretisierung durch das BVerfG und durch politische Verfassungsorgane (1982), S. 29 ff., der meint, das BVerfG habe insbesondere im Kalkar-Beschluss der Sache nach im Sinne der Political-Question-Doktrin geurteilt; er verkennt dabei aber, dass die PoliticalQuestion-Doktrin bereits die Justiziabilität verneint. 469

C. Grenzenlose Entscheidungsgewalt trotz Begrenzung?

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des Bundesverfassungsgerichts im jeweiligen Verfassungsgefüge sprechen gegen eine Übertragbarkeit.475 Einzelne Fallgruppen, die es zur Political-Question-Doktrin in der amerikanischen Verfassungsrechtsprechung gibt (z. B. Entscheidungen zu Indianerangelegenheiten476), lassen sich von vornherein nicht auf das deutsche Verfassungsrecht übertragen.477 Unabhängig davon kennt das Verfassungsprozessrecht in Deutschland aber auch keine Möglichkeit, ein Verfahren auf der Ebene der Zulässigkeit abzulehnen, weil die zu behandelnden Fragen „zu politisch“ sind.478 Vielmehr weist das Grundgesetz dem Bundesverfassungsgericht ausdrücklich Verfahren mit Politikbezug zu.479 Verfassungsrechtliche Fragen haben immer auch einen politischen Gehalt.480 Eine Ablehnung aufgrund politischer Natur der Sache wäre mit der Rechtsbindung aller Gewalten nach Art. 20 Abs. 3 GG nicht zu vereinbaren481 und würde gegen das Verbot der Justizverweigerung verstoßen482. „Justizlose Hoheitsakte“ kennt das Grundgesetz nicht.483 Auch die Political-Question-Doktrin erweist sich daher aus im Ergebnis ähnlichen Gründen wie das Konzept des judicial self-restraint als wenig hilfreich. Beiden Ansätzen fehlt es an einer normativen Anbindung im Grundgesetz.

475 K. Vogel, Das Bundesverfassungsgericht und die übrigen Verfassungsorgane (1988), S. 27 ff.; R. Zuck, JZ 1974, 361, 364. 476 Dazu F. W. Scharpf, Grenzen der richterlichen Verantwortung (1965), S. 225 ff. 477 R. Zuck, JZ 1974, 361, 363. 478 C. Rau, Selbst entwickelte Grenzen in der Rechtsprechung des United States Supreme Court und des Bundesverfassungsgerichts (1996), S. 230; B.-O. Bryde, Verfassungsentwicklung (1982), S. 311; J. Riecken, Verfassungsgerichtsbarkeit in der Demokratie (2003), S. 431; a. A. M. Piazolo, Verfassungsgerichtsbarkeit und politische Fragen (1994), S. 70 ff., der allerdings die Political-Question-Doktrin so verstanden wissen will, dass sie im Rahmen der Begründetheit zum Tragen kommt. Er zieht den unzutreffenden Vergleich mit Beurteilungsspielräumen, die das Bundesverfassungsgericht der Legislative und Exekutive zubilligt. Dies überzeugt nicht, denn die Besonderheit der Political-Question-Doktrin ist gerade, dass bestimmte Fragen nicht justiziabel sind, das Gericht daher keine materiell-rechtliche Prüfung durchführt. Ders., Verfassungsgerichtsbarkeit und politische Fragen (1994), S. 76, lehnt zu Recht mit dieser Argumentation (widersprüchlich zu seiner eigenen Annahme) eine Übertragung der Political-Question-Doktrin in das deutsche Verfassungsprozessrecht ab. 479 C. Möllers, Gewaltengliederung (2005), S. 148. 480 K. Eichenberger, Die richterliche Unabhängigkeit als staatsrechtliches Problem (1960), S. 127 f.; K. F. Röhl/H. C. Röhl, Allgemeine Rechtslehre (2008), S. 574; M. Piazolo, Verfassungsgerichtsbarkeit und politische Fragen (1994), S. 16; D. Grimm, Verfassungsgerichtsbarkeit (2021), S. 161. 481 R. Zuck, JZ 1974, 361, 364; J. Burmeister, Stellung und Funktion des Bundesverfassungsgerichts im System der Gewaltengliederung, in: P. König/W. Rüfner (Hrsg.), Die Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit in Frankreich und der BRD (1985), S. 44 f. A. A. E. Kaufmann, VVDStRL 9 (1952), 1, 4 ff. 482 U. Haltern, Verfassungsgerichtsbarkeit, Demokratie und Misstrauen (1998), S. 214; A. Voßkuhle, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG (2018), Art. 93 Rn. 22. 483 W.-R. Schenke, NJW 1979, 1321, 1325.

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Kap. 1: Entgrenzte verfassungsgerichtliche Entscheidungsgewalt

III. Funktionell-rechtlicher Ansatz Es gibt keinen allgemein anerkannten funktionell-rechtlichen Ansatz. Populär wurde die funktionell-rechtliche Betrachtungsweise ab den 1970ern.484 Maßgeblich beeinflusst haben die Diskussion Horst Ehmke485, Hans-Peter Schneider486, Gunnar Folke Schuppert487 und Konrad Hesse488. Gemeinsam ist den unter dem Namen „funktionell-rechtlich“ firmierenden Herangehensweisen, dass die Grenzen des Bundesverfassungsgerichts danach bestimmt werden, ob es für die jeweilige Entscheidung funktions- und aufgabengerecht aufgestellt ist.489 Die funktionelle Theorie will den Entscheidungsspielraum über die sachgemäße Rollenverteilung zwischen den Staatsorganen klären und begrenzen.490 Eine funktionell-rechtliche Betrachtungsweise leitet die Grenzen des Bundesverfassungsgerichts folglich aus dessen Stellung im Staatsgefüge ab und fragt danach, ob es für die jeweilige Entscheidung „von seiner Organisation und Arbeitsweise her am besten geeignet ist“.491 Die wohl bedeutsamsten Beispiele, welche Schlussfolgerungen daraus im Einzelnen zu ziehen sind, lassen sich bei der Kontrolldichte bzw. dem Kontrollmaßstab und den Entscheidungsvarianten des Bundesverfassungsgerichts ausmachen. So gilt als funktionell-rechtliches Beispiel aus der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung der Ansatz, dass je nach Thematik (z. B. beim Gleichheitssatz492) eine unterschiedliche Kontrolldichte bzw. unterschiedliche Kontrollmaßstäbe zur Anwendung kämen.493 Die unterschiedlichen Abstufungen (Inhaltskontrolle, Vertretbarkeitskontrolle, Evidenzkontrolle) seien Folge „der funktionsspezifischen Eigenart des jeweils kontrollierten Staatsorgans“.494 Dies werde auch deutlich beim Nach484

H.-P. Schneider, NJW 1980, 2103, 2104; A. Voßkuhle, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG (2018), Art. 93 Rn. 40. 485 H. Ehmke, VVDStRL 20 (1961), 53 ff. 486 H.-P. Schneider, Richterrecht, Gesetzesrecht und Verfassungsrecht (1969); ders., DÖV 1975, 443 ff. 487 G. F. Schuppert, Funktionell-rechtliche Grenzen der Verfassungsinterpretation (1980). 488 K. Hesse, Funktionelle Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit, in: J. P. Müller (Hrsg.), FS Huber (1981), S. 261 ff. 489 A. Voßkuhle, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG (2018), Art. 93 Rn. 40; S.-P. Hwang, Verfassungsgerichtlicher Jurisdiktionsstaat? (2005), S. 174; W. Heun, Funktionell-rechtliche Schranken der Verfassungsgerichtsbarkeit (1992), S. 13. 490 K. Schlaich/S. Korioth, Das Bundesverfassungsgericht (2021), Rn. 507 f. 491 A. Voßkuhle, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG (2018), Art. 93 Rn. 40; S. Korioth, Bundesverfassungsgericht und Rechtsprechung („Fachgerichte“), in: P. Badura/H. Dreier (Hrsg.), FS 50 Jahre BVerfG (2001), S. 76. 492 K. Hesse, Funktionelle Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit, in: J. P. Müller (Hrsg.), FS Huber (1981), S. 269. 493 K. Hesse, Funktionelle Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit, in: J. P. Müller (Hrsg.), FS Huber (1981), S. 268; S.-P. Hwang, Verfassungsgerichtlicher Jurisdiktionsstaat? (2005), S. 176 ff. 494 H.-P. Schneider, NJW 1980, 2103, 2105; G. F. Schuppert, Funktionell-rechtliche Grenzen der Verfassungsinterpretation (1980), S. 3. Zu Recht wird entgegnet, dass sich die

C. Grenzenlose Entscheidungsgewalt trotz Begrenzung?

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prüfungsspielraum des Bundesverfassungsgerichts von ein- und mehrdimensionalen Freiheitsproblemen.495 Aufgrund der Vielzahl der möglichen Abwägungsergebnisse bei multidimensionalen Freiheitsproblemen sei funktionell der politische Prozess besser geeignet, eine ausgewogene Lösung zu finden, und das Bundesverfassungsgericht daher in seiner Entscheidungskompetenz beschränkt.496 Weiterhin beruhe auch die Abschätzung der Wirkung der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts und die darauf aufbauende abgestufte Tenorierung auf einer funktionellrechtlichen Sichtweise.497 Die Beispiele lassen erkennen, dass es dem funktionell-rechtlichen Ansatz überwiegend an einem eigenständigen dogmatischen Mehrwert fehlt. Denn soweit im Wesentlichen Argumente aus der Gerichtsförmigkeit des Bundesverfassungsgerichts gewonnen werden,498 decken sich diese vielfach mit den vorangegangenen Ausführungen. Der Verweis auf die obigen Ausführungen, nunmehr die Stellung des Bundesverfassungsgerichts in der Demokratie und im Rechtsstaat betreffend, gilt weiter für die Argumente, die aus der demokratiefördernden Funktion des Parlaments499 und einer Aufgabenverteilung, die die Gewaltenteilung verwirklicht,500 gewonnen werden. Dies macht deutlich, dass die funktionell-rechtlichen Überlegungen nicht falsch sind, die Ideen aber letztlich nur unter anderem Namen ausgeführt werden. Daran setzt auch die berechtigte Kritik am funktionell-rechtlichen Ansatz an. Unklar bleibt meist, woraus die Maßstäbe gewonnen werden sollen, was „funktionsgerecht“ sein soll.501 Letztlich kann dies wiederum nur das materielle Recht unterschiedlichen Kontrolldichten vielmehr nach materiell-rechtlichen Kriterien bestimmen. Entscheidend für die Kontrolldichte sind die Eingriffsintensität und die Bedeutung des Grundrechts (vgl. W. Heun, Funktionell-rechtliche Schranken der Verfassungsgerichtsbarkeit (1992), S. 35 ff.; C. Möllers, AöR 132 (2007), 493, 534). 495 G. F. Schuppert, Funktionell-rechtliche Grenzen der Verfassungsinterpretation (1980), S. 52 ff. 496 G. F. Schuppert, Funktionell-rechtliche Grenzen der Verfassungsinterpretation (1980), S. 56. 497 K. Hesse, Funktionelle Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit, in: J. P. Müller (Hrsg.), FS Huber (1981), S. 269; A. Voßkuhle, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG (2018), Art. 93 Rn. 40; W. Heun, Funktionell-rechtliche Schranken der Verfassungsgerichtsbarkeit (1992), S. 19 ff. 498 Die Stellung und Ausgestaltung als Gericht soll Ausgangspunkt aller funktionellrechtlichen Überlegungen sein, vgl. S. Korioth, Bundesverfassungsgericht und Rechtsprechung („Fachgerichte“), in: P. Badura/H. Dreier (Hrsg.), FS 50 Jahre BVerfG (2001), S. 77; W. Heun, Funktionell-rechtliche Schranken der Verfassungsgerichtsbarkeit (1992), S. 13. 499 So bei K. Hesse, Funktionelle Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit, in: J. P. Müller (Hrsg.), FS Huber (1981), S. 270; G. F. Schuppert, Funktionell-rechtliche Grenzen der Verfassungsinterpretation (1980), S. 27 f. 500 S. dazu K. Hesse, Funktionelle Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit, in: J. P. Müller (Hrsg.), FS Huber (1981), S. 265; J. Riecken, Verfassungsgerichtsbarkeit in der Demokratie (2003), S. 444 f. 501 S.-P. Hwang, Verfassungsgerichtlicher Jurisdiktionsstaat? (2005), S. 182.

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Kap. 1: Entgrenzte verfassungsgerichtliche Entscheidungsgewalt

sein.502 Sonst wäre die Maßstabsbildung beliebig.503 Wenn sich der funktionellrechtliche Ansatz aber letztlich aus dem materiellen Recht erklärt, bleibt die Frage, inwieweit hierin ein Erkenntnisfortschritt liegt.504 Es bleibt dann bei dem Zirkelschluss, dass aus der Funktionenbeschreibung materiell-rechtliche Schlussfolgerungen gezogen werden sollen, wobei das materielle Recht Grundlage der Funktionenbeschreibung des Bundesverfassungsgerichts ist.505 Richtigerweise wird daher die Funktion des Bundesverfassungsgerichts aus dessen Kompetenz bestimmt und nicht umgekehrt.506 Kann das Bundesverfassungsgericht die ihm im Grundgesetz zugedachte Kompetenz funktionell nicht ausfüllen, ist es funktionsgerecht auszustatten.507 Das „Gebot optimaler Funktionsteilung“ bleibt hingegen eine verfassungspolitische Maxime, soweit es aber keine Stütze im Grundgesetz hat, können daraus keine normativen Schlüsse gezogen werden.508 Denn zum einen lässt sich häufig die Frage nach der optimalen Funktionsteilung nicht eindeutig beantworten, zum anderen kann der Verfassungsgeber bewusst aufgrund gegenläufiger Zielsetzungen suboptimale Aufgabenverteilungen in Kauf genommen haben.509 Der funktionell-rechtliche Ansatz beschreibt folglich durchaus zutreffend die tatsächliche Situation.510 Soweit er die Grenzen benennt, die aus der verfassungsrechtlich statuierten Gerichtsförmigkeit, der Verwirklichung des Demokratieprinzips oder der Gewaltenteilung resultieren, liefert er kein weitergehendes Erklärungspotential. Dort, wo er nicht mehr direkt an die materiell-rechtlichen Grundlagen des Grundgesetzes anknüpft, bleiben Aussagen zu „Reichweite und Grenze der Verfassungsgerichtsbarkeit“ hingegen vage.511 Er hilft nicht, „verbindliche Maßstäbe für die Abgrenzung der Aufgaben der Verfassungsgerichtsbarkeit von denen anderer 502

498.

H. Lechner/R. Zuck, BVerfGG (2019), Einl. Rn. 136; C. Möllers, AöR 132 (2007), 493,

503 Kritisch zu diesem Vorwurf der Beliebigkeit: U. Haltern, Verfassungsgerichtsbarkeit, Demokratie und Misstrauen (1998), S. 223 f., der auf die teils geringe Determinierungskraft des materiellen Rechts verweist. 504 R. Alleweldt, Bundesverfassungsgericht und Fachgerichtsbarkeit (2006), S. 220; S.-P. Hwang, Verfassungsgerichtlicher Jurisdiktionsstaat? (2005), S. 184. 505 R. Alleweldt, Bundesverfassungsgericht und Fachgerichtsbarkeit (2006), S. 220; M. Jestaedt, DVBl 2001, 1309, 1314. 506 E.-W. Böckenförde, Der Staat 29 (1990), 1, 26; R. Alleweldt, Bundesverfassungsgericht und Fachgerichtsbarkeit (2006), S. 222; K. Stern, Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgebung, in: B. Ziemske u. a. (Hrsg.), FS Kriele (1997), S. 416. 507 R. Alleweldt, Bundesverfassungsgericht und Fachgerichtsbarkeit (2006), S. 222 f. 508 R. Alleweldt, Bundesverfassungsgericht und Fachgerichtsbarkeit (2006), S. 225. 509 R. Alleweldt, Bundesverfassungsgericht und Fachgerichtsbarkeit (2006), S. 225. 510 K. Schlaich/S. Korioth, Das Bundesverfassungsgericht (2021), Rn. 525. 511 K. Schlaich/S. Korioth, Das Bundesverfassungsgericht (2021), Rn. 525 f.; A. Voßkuhle, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, 7 (2018), Art. 93 Rn. 41; W. Heun, Funktionell-rechtliche Schranken der Verfassungsgerichtsbarkeit (1992), S. 14. Beispiele bei K. Vogel, Das Bundesverfassungsgericht und die übrigen Verfassungsorgane (1988), S. 42 f.

C. Grenzenlose Entscheidungsgewalt trotz Begrenzung?

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Hoheitsträger“ zu definieren.512 Gleichwohl vermag der funktionell-rechtliche Ansatz als Ergänzung eine „handlungsanleitende Kraft“ zu entwickeln.513

IV. Rechtsdogmatik In jüngerer Zeit werden vermehrt Grenzen gerichtlicher Macht durch die Rechtsdogmatik diskutiert.514 Die Rechtsdogmatik ordnet und systematisiert das geltende Recht.515 Gute Rechtsdogmatik muss konsistent und kohärent sein sowie erklärungsmächtig und trotzdem einfach.516 Die Rechtsdogmatik erzeugt in Form von Maßstäben, die die einzelnen Normen als „eine Art Zwischenschicht (zwischen Text und konkreter Anwendung)“517 überformen, objektiv nachvollziehbare Prüfungsschritte. Sie bietet „aus Erfahrung gewachsene juristische Problemlösungsmuster“518 und „leistet einen Beitrag zur Rationalisierung und Legitimierung des Rechts“519. „Der Richter […] wird durch Dogmatik in seiner Erkenntnissuche geleitet und in seinem Urteil diszipliniert“520. Entscheidungen werden dadurch vor-

512

A. Voßkuhle, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG (2018), Art. 93 Rn. 41. A. Voßkuhle, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG (2018), Art. 93 Rn. 41; D. Winkler, ZSE 2006, 103, 113. 514 B. Rüthers, JöR 2016, 309 ff.; B. Rüthers/C. Fischer/A. Birk, Rechtstheorie (2020), Rn. 322; G. Kirchhof/S. Magen/K. Schneider (Hrsg.), Was weiß Dogmatik? (2012); J. Wenzel, NJW 2008, 345, 348; W. Hassemer, ZRP 2007, 213, 217; ders., Juristische Methodenlehre und richterliche Pragmatik, in: F. Reimer (Hrsg.), Juristische Methodenlehre aus dem Geist der Praxis? (2016), S. 68 ff.; S.-P. Hwang, Verfassungsgerichtlicher Jurisdiktionsstaat? (2005), S. 186 ff.; vgl. aber auch bereits: N. Luhmann, Rechtssystem und Rechtsdogmatik (1974); G. Roellecke, VVDStRL 34 (1975), 7, 18 f., diskutiert einen ähnlichen Ansatz unter dem Stichwort „Paradigma“. 515 C. Bumke, Rechtsdogmatik (2017), S. 45 ff.; B. Rüthers, JöR 2016, 309, 333 f.; Begriffsumschreibung bei C. Waldhoff, Kritik und Lob der Dogmatik, in: G. Kirchhof/S. Magen/ K. Schneider (Hrsg.), Was weiß Dogmatik? (2012), S. 21 ff.; zur historischen Entwicklung vgl. C. Bumke, Rechtsdogmatik (2017), S. 16 ff.; zur Begriffsgeschichte P. Lassahn/T. Steenbreker, JR 2015, 553 ff. 516 P. Lassahn, Rechtsprechung und Parlamentsgesetz (2017), S. 12 f. 517 P. Lerche, Stil und Methode der verfassungsrechtlichen Entscheidungspraxis, in: P. Badura/H. Dreier (Hrsg.), FS 50 Jahre BVerfG (2001), S. 343; W. Hassemer, Dogmatik zwischen Wissenschaft und richterlicher Pragmatik, in: G. Kirchhof/S. Magen/K. Schneider (Hrsg.), Was weiß Dogmatik? (2012), S. 7. 518 B. Rüthers/C. Fischer/A. Birk, Rechtstheorie (2020), Rn. 331. 519 M.w.N. C. Bumke, JZ 2014, 641; ders., Rechtsdogmatik (2017), S. 2; M. Jestaedt, Wissenschaftliches Recht, in: G. Kirchhof/S. Magen/K. Schneider (Hrsg.), Was weiß Dogmatik? (2012), S. 130. 520 E. Picker, Richterrecht und Rechtsdogmatik, in: C. Bumke (Hrsg.), Richterrecht zwischen Gesetzesrecht und Rechtsgestaltung (2012), S. 110. 513

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Kap. 1: Entgrenzte verfassungsgerichtliche Entscheidungsgewalt

hersehbar(er).521 Exemplarisch für ein bewährtes dogmatisches Modell ist die dreistufige Grundrechtsprüfung.522 Rechtsdogmatik erleichtert die Kontrolle gerichtlicher Entscheidungen.523 Denn von der bisherigen Rechtsdogmatik abweichende Lösungsansätze bedürfen der Rechtfertigung.524 Eine Abweichung birgt daher immer eine „beträchtliche Argumentationslast“.525 Diese Funktion der Rechtsdogmatik schränkt die Interpretationsvariationen und damit die Entscheidungsoptionen eines Gerichts ein.526 Dies gilt allerdings nur, solange sich ein Gericht bei seiner Entscheidungsfindung der Einordnung in die vorgefundenen dogmatischen Strukturen nicht verschließt.527 Eine (verfassungs-)rechtliche Pflicht hierzu besteht nicht.528 Es bleibt bei „einer Selbstverpflichtung professionell arbeitender Juristen“.529 Gleichwohl delegitimiert sich eine Entscheidung, die ohne Begründung von der anerkannten Rechtsdogmatik abweicht.530 Neben dieser disziplinierenden Wirkung kann die Rechtsdogmatik Gerichten allerdings auch zur Selbstermächtigung verhelfen. Denn prägend für die Entwicklung der Rechtsdogmatik sind neben der Rechtswissenschaft die letztinstanzlichen Gerichte und im Verfassungsrecht besonders das Bundesverfassungsgericht.531 Dies zeigt sich auch nicht zuletzt eindrucksvoll an der Besetzung des Bundesverfas521

B. Rüthers/C. Fischer/A. Birk, Rechtstheorie (2020), Rn. 322; B. Rüthers, JöR 2016, 309, 334; M. Eifert, Zum Verhältnis von Dogmatik und pluralisierter Rechtswissenschaft, in: G. Kirchhof/S. Magen/K. Schneider (Hrsg.), Was weiß Dogmatik? (2012), S. 85. 522 S.-P. Hwang, Verfassungsgerichtlicher Jurisdiktionsstaat? (2005), S. 187. Weitere Beispiele bei P. Lerche, Stil und Methode der verfassungsrechtlichen Entscheidungspraxis, in: P. Badura/H. Dreier (Hrsg.), FS 50 Jahre BVerfG (2001), S. 343 ff. und bei U. Volkmann, Grundzüge einer Verfassungslehre der Bundesrepublik Deutschland (2013), S. 152. 523 B. Rüthers/C. Fischer/A. Birk, Rechtstheorie (2020), Rn. 326 f.; R. Stürner, JZ 2012, 10, 11; W. Hassemer, Dogmatik zwischen Wissenschaft und richterlicher Pragmatik, in: G. Kirchhof/S. Magen/K. Schneider (Hrsg.), Was weiß Dogmatik? (2012), S. 14; R. Wank, Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung (1978), S. 40. 524 B. Rüthers, JöR 2016, 309, 334; ders., Rechtsdogmatik und Rechtspolitik unter dem Einfluss des Richterrechts (2011), S. 28; P. Lassahn/T. Steenbreker, JR 2015, 553, 555. 525 B. Rüthers, JöR 2016, 309, 334. 526 N. Luhmann, Rechtssystem und Rechtsdogmatik (1974), S. 18; B. Rüthers, JöR 2016, 309, 334 f.; B. Schlink, JZ 2007, 157, 160; M. Germann, VVDStRL 73 (2014), 257, 262 f. 527 B. Schlink, JZ 2007, 157, 160 f., ist der Meinung, das Bundesverfassungsgericht lasse eine dogmatische Kontextualisierung immer häufiger vermissen. 528 B. Schlink, JZ 2007, 157, 161. 529 O. Lepsius, Kritik der Dogmatik, in: G. Kirchhof/S. Magen/K. Schneider (Hrsg.), Was weiß Dogmatik? (2012), S. 41. 530 E. Picker, Richterrecht und Rechtsdogmatik, in: C. Bumke (Hrsg.), Richterrecht zwischen Gesetzesrecht und Rechtsgestaltung (2012), S. 114. 531 M. Jestaedt, Wissenschaftliches Recht, in: G. Kirchhof/S. Magen/K. Schneider (Hrsg.), Was weiß Dogmatik? (2012), S. 129; B. Rüthers/C. Fischer/A. Birk, Rechtstheorie (2020), Rn. 317 f.; B. Rüthers, JöR 2016, 309, 325; ders., Rechtsdogmatik und Rechtspolitik unter dem Einfluss des Richterrechts (2011), S. 18.

C. Grenzenlose Entscheidungsgewalt trotz Begrenzung?

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sungsgerichts, das zu mehr als der Hälfte aus Rechtswissenschaftlern besteht.532 Sie verwirklichen die für die Rechtsdogmatik charakteristische Synthese von juridischer Praxis und Wissenschaft in ihrer Person. Streiten lässt sich darüber, wie groß der Einfluss der Rechtsprechung auf die Entwicklung der Rechtsdogmatik ist.533 Idealerweise zwingen gerade kritische Stimmen in der Rechtswissenschaft die Rechtsprechung zu einer Auseinandersetzung mit der hergebrachten Rechtsdogmatik.534 Unstrittig dürfte allerdings sein, dass Gerichte gleichwohl mittels der Entwicklung von dogmatischen Strukturen weit über die entscheidungserheblichen Fragen eines ihnen vorliegenden Rechtsstreits hinaus Einfluss nehmen können.535 Denn Rechtsdogmatik, mit der ihr eigenen Forderung nach Systembildung, formt und gestaltet das Recht inhaltlich.536 Das Berufen auf dogmatische Strukturen birgt damit immer die Gefahr, die Unterschiede zwischen Rechtserkenntnis und Rechtserzeugung verschwimmen zu lassen.537 Dies führt zu einer unzulässigen „Vermengung von Methode und Kompetenz“.538 Rechtsdogmatik kann Gerichten folglich auch dazu verhelfen, „kompetenzielle Grenzen zu überwinden“.539 Gerade das Bundesverfassungsgericht ist für die verfassungsrechtliche Dogmatik vielfach prägend. Nicht umsonst wird der Verfassungsrechtsdogmatik vorgeworfen, „sie beschränke sich allein auf die Systematisierung der Rechtsprechung der Verfassungsgerichtsbarkeit“.540

532 M. Jestaedt, Wissenschaftliches Recht, in: G. Kirchhof/S. Magen/K. Schneider (Hrsg.), Was weiß Dogmatik? (2012), S. 129. 533 B. Rüthers, JöR 2016, 309, 329, meint, eine kritikarme Folgsamkeit der deutschen Rechtslehre feststellen zu können. Zur österreichischen Perspektive K. Weiser, Zum Stellenwert höchstgerichtlicher Auslegung im rechtswissenschaftlichen Diskurs, in: M. Mülder u. a. (Hrsg.), Richterliche Abhängigkeit – Rechtsfindung im Öffentlichen Recht (2018), S. 363 ff. 534 C. Waldhoff, Kritik und Lob der Dogmatik, in: G. Kirchhof/S. Magen/K. Schneider (Hrsg.), Was weiß Dogmatik? (2012), S. 31. 535 O. Lepsius, Kritik der Dogmatik, in: G. Kirchhof/S. Magen/K. Schneider (Hrsg.), Was weiß Dogmatik? (2012), S. 43 f. 536 F. Schorkopf, Dogmatik und Kohärenz, in: G. Kirchhof/S. Magen/K. Schneider (Hrsg.), Was weiß Dogmatik? (2012), S. 146; T. Würtenberger, Grundlagenforschung und Dogmatik aus deutscher Sicht, in: R. Stürner (Hrsg.), Die Bedeutung der Rechtsdogmatik für die Rechtsentwicklung (2010), S. 9. 537 M. Jestaedt, Wissenschaftliches Recht, in: G. Kirchhof/S. Magen/K. Schneider (Hrsg.), Was weiß Dogmatik? (2012), S. 135; P. Lassahn/T. Steenbreker, JR 2015, 553, 557. 538 M. Jestaedt, Wissenschaftliches Recht, in: G. Kirchhof/S. Magen/K. Schneider (Hrsg.), Was weiß Dogmatik? (2012), S. 135. 539 O. Lepsius, Kritik der Dogmatik, in: G. Kirchhof/S. Magen/K. Schneider (Hrsg.), Was weiß Dogmatik? (2012), S. 44. 540 T. Würtenberger, Grundlagenforschung und Dogmatik aus deutscher Sicht, in: R. Stürner (Hrsg.), Die Bedeutung der Rechtsdogmatik für die Rechtsentwicklung (2010), S. 11, mit Verweis auf B. Schlink, Der Staat 28 (1989), 161, 162 f.; M. Jestaedt, Verfassungsgerichtspositivismus, in: O. Depenheuer u. a. (Hrsg.), FS Isensee (2002), S. 183 ff.; B. Rüthers, Rechtsdogmatik und Rechtspolitik unter dem Einfluss des Richterrechts (2011), S. 23.

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Kap. 1: Entgrenzte verfassungsgerichtliche Entscheidungsgewalt

Die Wirkung der Rechtsdogmatik auf die Entscheidungsgewalt des Bundesverfassungsgerichts ist daher ambivalent. Die Übergänge zwischen kompetenzieller Grenzüberschreitung und disziplinierender Wirkung durch die gewachsene verfassungsrechtliche (durch das Gericht selbst geprägte) Dogmatik sind fließend. Der Gefahr der Selbstermächtigung kann vorgebeugt werden, wenn dem Demokratieprinzip ausreichend Rechnung getragen wird.541 Auch die Rechtsdogmatik muss den Willen des Souveräns respektieren.542 Voraussetzung eines guten dogmatischen Modells ist daher, dass es „auf den normativen Grundlagen der Verfassung beruht“.543 Die Rechtsdogmatik aus sich heraus wirkt nur bedingt begrenzend, sie bedarf der ausreichenden Verankerung im Normtext.

D. Ergebnis zu Kapitel 1 Das Bundesverfassungsgericht hat durch die Fortentwicklung seiner Grundrechtsdogmatik die eigene Entscheidungsgewalt massiv ausgebaut. Die verfassungsrechtlich vorgegebenen Kompetenzgrenzen werden bei nur loser Normbindung aufgrund des großen Prüfungsumfangs überschritten. Die dargestellten Ansätze zur Begrenzung verfassungsgerichtlicher Macht vermögen diesem verfassungsrechtlich nicht hinnehmbaren Zustand nicht abzuhelfen. Es bedarf daher eines weitergehenden Lösungsansatzes. Gerichtliche Entscheidungsgewalt kann rechtlich unmittelbar im Wesentlichen auf drei unterschiedlichen Ebenen begrenzt werden. Auf der ersten Ebene klärt sich, ob der Zugang zum Gericht eröffnet ist und das Gericht überhaupt in eine sachliche Prüfung einsteigen darf. Darf das Gericht in der Sache entscheiden, ist auf der zweiten Ebene der Prüfungsumfang maßgeblich, wie intensiv der gerichtliche Zugriff ist. Die dritte Ebene, die eine Beschränkung erlaubt, ist, die Entscheidungsmöglichkeiten des Gerichts zu begrenzen. Die einzelnen Ebenen können nicht trennscharf voneinander abgegrenzt werden. Es gibt vielmehr Verschränkungen und gegenseitige Abhängigkeiten. So spielt beispielsweise im Rahmen der Zulässigkeit bei der Frage der Grundrechtsbetroffenheit der Prüfungsumfang eine entscheidende Rolle.544 Ebenfalls wird die Anzahl vertretbarer Entscheidungsoptionen durch den Prüfungsumfang maßgeblich beeinflusst. Diese Interdependenzen müssen berücksichtigt werden, schließen eine Korrektur auf einzelnen Ebenen aber nicht aus. 541

T. Würtenberger, Grundlagenforschung und Dogmatik aus deutscher Sicht, in: R. Stürner (Hrsg.), Die Bedeutung der Rechtsdogmatik für die Rechtsentwicklung (2010), S. 9. 542 E. Picker, Richterrecht und Rechtsdogmatik, in: C. Bumke (Hrsg.), Richterrecht zwischen Gesetzesrecht und Rechtsgestaltung (2012), S. 111. 543 R. Alleweldt, Bundesverfassungsgericht und Fachgerichtsbarkeit (2006), S. 13; P. Lassahn, Rechtsprechung und Parlamentsgesetz (2017), S. 13; B. Rüthers, Rechtsdogmatik und Rechtspolitik unter dem Einfluss des Richterrechts (2011), S. 33 ff.; U. Volkmann, Grundzüge einer Verfassungslehre der Bundesrepublik Deutschland (2013), S. 152. 544 W. Heun, Verfassung und Verfassungsgerichtsbarkeit im Vergleich (2014), S. 134.

D. Ergebnis zu Kapitel 1

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Auf der Ebene der Voraussetzungen für den Zugang zum Bundesverfassungsgericht wirken beispielsweise die Regelungen des Annahmeverfahrens und die Zulässigkeitsvoraussetzungen. Einschränkungen auf dieser Ebene zielten seit Einführung der Verfassungsbeschwerde vor allem darauf ab, das Bundesverfassungsgericht zu entlasten und dessen Funktionsfähigkeit sicherzustellen. Weitere Einschränkungen speziell auch der Verfassungsbeschwerde, deren Bedeutung, wie sich gezeigt hat, für die Machtfülle des Bundesverfassungsgerichts nicht zu unterschätzen ist, wären trotz der Rechtswegegarantie des Art. 19 Abs. 4 GG möglich.545 Das Ziel einer ausgeglichenen Gewaltenbalance, die demokratischen Legitimationsanforderungen gerecht wird, sollte aber nicht zulasten eines Weniger an Rechtschutzmöglichkeiten erreicht werden. Dies wäre rechtspolitisch schwer zu vermitteln und die Stärkung von Art. 20 Abs. 3 GG ginge zugleich mit dem Abbau desgleichen an anderer Stelle einher. Auf Ebene des Prüfungsumfangs wird das Bundesverfassungsgericht auch weiterhin ein nicht zu unterschätzendes Eigeninteresse haben, grundsätzlich großzügig im Sinne der eigenen Kompetenzen zu verfahren.546 Zudem erscheint es auch wenig erfolgversprechend, die gewachsene Dogmatik umstoßen zu wollen. Es wäre kaum möglich, die Stellen des Prüfungsumfangs zu identifizieren, die zugunsten einer reduzierten Entscheidungsgewalt zurückgefahren werden müssten.547 Zuletzt ginge auf diesem Wege mit der Aufgabe der allgemein akzeptierten verfassungsrechtlichen Dogmatik ein erheblicher Rationalitätsverlust einher.548 Die Lösung ist daher nicht in der Einführung höherer Zugangshürden oder im Zurückdrängen des verfassungsgerichtlichen Prüfungsumfangs zu suchen,549 sondern in der Beschränkung der Entscheidungsmöglichkeiten. Die Beschränkung der Entscheidungsmöglichkeiten lässt sich wiederum auf unterschiedlichen Wegen erreichen. So bestünde beispielsweise verfahrensrechtlich die Möglichkeit, die normverwerfende Kompetenz durch das Erfordernis einer Zweidrittelmehrheit zu beschränken.550 Die Gewaltenbalance könnte weiterhin durch eine maximal schonende Tenorierung gewahrt werden, wie es das Bundesverfassungsgericht schon heute mit seiner abgestuften Folgenentscheidung mit ambivalenter Wirkung praktiziert.551 Aufgedrängt hat sich nach dem Vorangegangenen jedoch ein anderer 545

Denn die Anforderungen des Art. 19 Abs. 4 GG lassen sich nicht ohne Weiteres auf die Verfassungsbeschwerde übertragen, vgl. nur BVerfGE 94, 166, 213 f. 546 B.-O. Bryde, Verfassungsentwicklung (1982), S. 167 ff.; W. Heun, Verfassung und Verfassungsgerichtsbarkeit im Vergleich (2014), S. 134. 547 Ablehnend zu einer Beschränkung auf ein formelles Prüfungsrecht J.-M. Drossel, Das letzte Wort des Bundesverfassungsgerichts – Ein undemokratischer Mechanismus?, in: D. Elser u. a. (Hrsg.), Das letzte Wort – Rechtsetzung und Rechtskontrolle in der Demokratie (2014), S. 265 f. 548 Vgl. oben Kapitel 1 C. IV. 549 So auch M. Jestaedt, Grundrechtsentfaltung im Gesetz (1999), S. 260. 550 Ausführlich diskutiert und mit guten Gründen ablehnend T. v. Danwitz, JZ 1996, 481. 551 Vgl. dazu oben auch zur Kritik unter Kapitel B. I. 7.

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Kap. 1: Entgrenzte verfassungsgerichtliche Entscheidungsgewalt

Lösungsansatz: eine Beschränkung durch stärkere Akzentuierung der Normbindung. Den Ausführungen zur Rolle des Bundesverfassungsgerichts als Gericht, in der Demokratie und im Rechtsstaat ist gemein, dass sich die Grenze der Entscheidungsgewalt bei funktionierender Normbindung in dem durch das Grundgesetz vorgegebenen Rahmen bewegt. Dieses Ergebnis mag vor dem Hintergrund, dass heute nahezu niemand mehr eine vollständige Determiniertheit des Rechtsanwenders durch Normtexte annimmt,552 überraschen. Das Bild der Gerichte als reine Subsumtionsautomaten ist schon lange tot. Dass der Grad der Determiniertheit gleichwohl von der Methodenwahl abhängt, dürfte allerdings ebenfalls allgemeine Zustimmung finden. Dass zudem die Wahl der Methode auch den Prüfungsumfang beeinflusst und sich damit wiederum auch auf den Zugang zum Gericht auswirkt, verdeutlicht deren Bedeutung.553 Die Festlegung auf ein noch zu bestimmendes Methodenverständnis ist der Schlüssel zu einer stärkeren Normbindung. Ohne eine verbindliche Interpretationsmethode verbleibt dem Bundesverfassungsgericht ein großer Entscheidungsspielraum.554 Bei freier Methodenwahl bestehen faktisch keine Grenzen, ein gewünschtes Ergebnis rechtlich zu begründen.555 Das Bundesverfassungsgericht würde dann die Grenzen seiner gesetzlichen Bindung selbst bestimmen.556 Eine verbindliche Methode minimiert den Anteil einer Entscheidung, der vom Vorverständnis des Richters und seinen individuellen Einstellungen abhängig ist. Die „disziplinierende und rationalisierende Funktion“ der Methode sollte nicht geringgeschätzt werden.557 552 N. Petersen, Verhältnismäßigkeit als Rationalitätskontrolle (2015), S. 12; D. Grimm, Verfassungsgerichtsbarkeit (2021), S. 162. 553 K. Schlaich/S. Korioth, Das Bundesverfassungsgericht (2021), Rn. 14 ff. 554 H. Sendler, Die Methoden der Verfassungsinterpretation, in: B. Ziemske u. a. (Hrsg.), FS Kriele (1997), S. 457, 470; H. Schulze-Fielitz, Wirkung und Befolgung verfassungsgerichtlicher Entscheidungen, in: P. Badura/H. Dreier (Hrsg.), FS 50 Jahre BVerfG (2001), S. 385; M. Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung (1976), S. 25 f.; G. Roellecke, Prinzipien der Verfassungsinterpretation, in: C. Starck (Hrsg.), Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz II (1976), S. 26; W. Heun, Verfassung und Verfassungsgerichtsbarkeit im Vergleich (2014), S. 213; G. F. Schuppert, AöR 120 (1995), 32, 71. 555 M. Brenner, AöR 120 (1995), 248, 257; G. Roellecke, Aufgaben und Stellung des BVerfG im Verfassungsgefüge, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), HStR, Band III, 3. Aufl. 2005, § 67 Rn. 33; K. Schlaich/S. Korioth, Das Bundesverfassungsgericht (2021), Rn. 506; T. Möllers, ZfPW 2019, 94, 98; W. Heun, AöR 116 (1991), 185, 207; davon zu unterscheiden ist, dass faktisch die Richterpersönlichkeit maßgeblichen Einfluss auf die Entscheidung hat, wie u. a. durch J. Schmid/T. Drosdeck/D. Koch, Der Rechtsfall – ein richterliches Konstrukt (1997), empirisch nachgewiesen wurde; dazu auch m. w. N. T. Würtenberger, Zeitgeist und Recht (1991), S. 167 f. 556 K. Schlaich/S. Korioth, Das Bundesverfassungsgericht (2021), Rn. 506; U. Schneider, Richterliche Ethik im Spannungsfeld zwischen richterlicher Unabhängigkeit und Gesetzesbindung (2017), S. 340; T. Exner, DÖV 2012, 540, 541. Diese Problematik kennzeichnet jedes Verfassungsgericht, vgl. nur C. E. Hughes, Gouverneur des Staates New York, in einer Rede am 03. 05. 1907: „We are under the Constitution, but the Constitution is what the judges say it is.“ 557 P. Lerche, Stil und Methode der verfassungsrechtlichen Entscheidungspraxis, in: P. Badura/H. Dreier (Hrsg.), FS 50 Jahre BVerfG (2001), S. 357.

D. Ergebnis zu Kapitel 1

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Für die Wirksamkeit der Begrenzung der Entscheidungsfindung durch Methode sind „Methodenehrlichkeit und Methodenstrenge“ gleichermaßen bedeutsam.558 Methodenehrlichkeit meint, das angewandte Methodenverständnis offenzulegen.559 Erst die Offenlegung der Methodenwahl erlaubt eine objektive Kontrolle.560 Sie ermöglicht, die „Erkenntnis- und Rechtsetzungsanteile an der rechtsprechenden Tätigkeit des Richters“ abzuschichten561 und zu überprüfen, ob ein Gericht den gesteigerten Begründungspflichten bei der Rechtsschöpfung im Vergleich zur bloßen Rechtsfindung nachkommt562. Eine methodisch nachvollziehbare Entscheidungsbegründung erlaubt auch dem erkennenden Gericht selbst, festzustellen, ob es sich noch im Bereich der Auslegung oder Rechtsfortbildung bewegt.563 Klarheit über die Methode ist die Grundlage für eine rationale Überprüfung.564 Die Methode ist folglich „eine Zentralfrage der verfassungsgerichtlichen Kompetenzbegrenzung“.565 Die Grenze der Verfassungsinterpretation, die von der Methode beeinflusst wird, markiert immer auch die Grenze der Verfassungsgerichtsbarkeit.566 Trotz willkürlicher Elemente grenzt sich die gerichtliche von der politischen Entscheidung dadurch ab, dass sie sich aus dem Normtext ableiten und rekonstruieren lässt. Im folgenden Kapitel ist daher anhand der umfangreichen, ja zwischenzeitlich fast unüberschaubaren Methodendiskussion das Methodenverständnis herauszuarbeiten, das die Entscheidungsoptionen des Gerichts möglichst umfassend begrenzt. Dieses aus dem Grundgesetz abgeleitete Methodenverständnis ist normativ. Die Einhaltung der so gefundenen weiterhin dynamischen Grenzen der Entscheidungskompetenz des Bundesverfassungsgerichts ist in seinem eigenen Interesse, 558

B. Rüthers, NJW 2011, 434. E. A. Kramer, Juristische Methodenlehre (1998), S. 182; J. Brüggemann, Die richterliche Begründungspflicht (1971), S. 72; C. Bäcker, Der Staat 60 (2021), 7, 40. 560 T. Möllers, Juristische Methodenlehre (2021), § 1 Rn. 47; H. Goerlich, Wertordnung und Grundgesetz (1973), S. 174; H. Sendler, Die Methoden der Verfassungsinterpretation, in: B. Ziemske u. a. (Hrsg.), FS Kriele (1997), S. 457, 480; B. Rüthers/C. Fischer/A. Birk, Rechtstheorie (2020), Rn. 653. 561 C. Hillgruber, JZ 2008, 745. 562 B. Rüthers, NJW 2011, 434; T. Möllers, Juristische Methodenlehre (2021), § 13 Rn. 9 ff. Dabei wird nicht verkannt, dass „der Übergang von der Rechtsfindung zur Rechtsschöpfung […] fließend [ist]“, P. Kirchhof, NJW 1986, 2275. 563 C. Hillgruber, JZ 1996, 118, 119; vgl. auch T. Möllers, ZfPW 2019, 94, 99. 564 E.-W. Böckenförde, NJW 1999, 9, 11. 565 J. Burmeister, Stellung und Funktion des Bundesverfassungsgerichts im System der Gewaltengliederung, in: P. König/W. Rüfner (Hrsg.), Die Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit in Frankreich und der BRD (1985), S. 49; K. Schlaich, VVDStRL 39 (1981), 99, 105. 566 K. Schlaich/S. Korioth, Das Bundesverfassungsgericht (2021), Rn. 14; H.-P. Schneider, NJW 1980, 2103, 2104; P. Badura, Wieviel Interpretation verträgt die Verfassung?, in: P. Eisenmann/B. Rill (Hrsg.), Jurist und Staatsbewusstsein (1987), S. 7; G. F. Schuppert, AöR 120 (1995), 32, 69; F. Kruse, Die verfassungsrechtlichen Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung (2019), S. 58; C. Gusy, JöR 1984, 105, 109; D. Grimm, Verfassungsgerichtsbarkeit (2021), S. 382 ff. 559

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Kap. 1: Entgrenzte verfassungsgerichtliche Entscheidungsgewalt

denn „nicht zuletzt seine faktische Autorität“ beruht auf der Einhaltung dieser grundgesetzlich vorgegebenen Grenzen.567

567

H.-P. Schneider, NJW 1980, 2103, 2104; T. Ellerbrok, Der Staat 60 (2021), 243, 268 f.

Kapitel 2

Begrenzung der Entscheidungsfindung mittels Interpretationsmethode Der Auftrag zur Lösung des Problems der verfassungsrechtlich bedenklich angewachsenen Machtfülle des Bundesverfassungsgerichts ist klar. Das Ziel ist ein Methodenverständnis, das die Normbindung des Bundesverfassungsgerichts, orientiert am Normgeberwillen, gewährleistet. Der erste Blick hierzu in die vergangene und gegenwärtige Methodendiskussion ist ernüchternd. Eine „verbindliche juristische Methodenlehre“ als Sicherungsinstrument der Gewaltenteilung sei bisher noch nicht konzipiert worden und dürfte kaum zu leisten sein.1 Dieser „Traum von einer streng regelgeleiteten juristischen Methodenlehre“, die die Normbindung verwirklicht, sei „so alt wie das Gesetz und nicht sehr originell“.2 Dass ein Konsens über die richtige juristische Methodenlehre ausgerechnet im Verfassungsrecht erzielt werde, brauche „schon einiges an Zuversicht“.3 Neben diesen skeptischen, theoretischen Stimmen lässt sich in der Praxis eine vielfach beliebige Berücksichtigung der Methodenlehre konstatieren;4 auch in der des Bundesverfassungsgerichts.5 Dies allerdings verwundert auch wenig, wenn selbst ehemalige Vizepräsidenten des Bundesverfassungsgerichts die Verbindlichkeit und Leistungskraft der juristischen Methodenlehre infrage stellen6 oder meinen, dass methodische Regeln dem Gericht, wenn überhaupt, als mahnende Hilfestellungen dienen, es „in Wahrheit [aber] auf das ihm richtig erscheinende Ergebnis aus“

1 U. Schneider, Richterliche Ethik im Spannungsfeld zwischen richterlicher Unabhängigkeit und Gesetzesbindung (2017), S. 347. 2 W. Hassemer, ZRP 2007, 213, 214. 3 U. Volkmann, Grundzüge einer Verfassungslehre der Bundesrepublik Deutschland (2013), S. 159. 4 H. Fleischer, Gesetzesmaterialien im Spiegel der Rechtsvergleichung, in: H. Fleischer (Hrsg.), Mysterium „Gesetzesmaterialien“ (2013), S. 2; R. Dreier, Zur Problematik und Situation der Verfassungsinterpretation, in: R. Dreier/F. Schwegmann (Hrsg.), Probleme der Verfassungsinterpretation (1976), S. 17. 5 H. Simon, Verfassungsgerichtsbarkeit, in: E. Benda/W. Maihofer/H.-J. Vogel (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts (1994), S. 1671; T. Wischmeyer, Zwecke im Recht des Verfassungsstaates (2015), S. 341; E.-W. Böckenförde, NJW 1976, 2089, 2090. 6 So W. Hassemer, ZRP 2007, 213, 214; ders., Rechtstheorie 39 (2008), 1, 3. Er ist aber auch der Ansicht, dass die „richterliche Rechtsfindung der wissenschaftlichen Zurückhaltung verdient“ (ZRP 2007, 213, 214).

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Kap. 2: Begrenzung der Entscheidungsfindung mittels Interpretationsmethode

ist7. So war und ist nicht nur für Richter des Bundesverfassungsgerichts die Wahl der Methode in der Praxis und der gesamten Rechtswissenschaft häufig mehr oder weniger bewusst dem gewünschten Ergebnis geschuldet. „Methodische Postulate“ und konkrete Handhabung weichen dabei häufig voneinander ab.8 Die Rede vom „methodischen Blindflug“ in Ausbildung wie Praxis scheint daher nicht ganz unberechtigt.9 Vielfach wird behauptet, es gäbe keine verbindliche Methode zur Entscheidungsfindung.10 Letztlich wird damit aber nur verschleiert, dass es bei dem Streit über die richtige Interpretationsmethode um „das geheime Zentrum des Streits um das Recht“ handelt.11 Denn „die Meinungsführerschaft über die Methode der Interpretation ist gleichbedeutend mit der Meinungsführerschaft über die Verfassung und ihre Bedeutung“.12 Methodenfragen sind daher immer auch Machtfragen sowie Fragen der Machtverschiebung.13 Es erscheint angesichts dieser Tragweite der Methodenwahl fast schon naiv, die Diskussion über die richtige Methode nicht regelmäßig neu zu führen.14 Sichtet man die Literatur zur juristischen Methodenlehre, beschleicht einen schnell das Gefühl, einer uferlosen Materie gegenüberzustehen, die in ihren Verästelungen mehr Fragen aufwirft als beantwortet. Um sich darin nicht zu verlieren, darf man die Zielsetzung nicht aus den Augen verlieren. Zunächst gilt es, die Rolle des Normgeberwillens in der Methodendiskussion herauszuarbeiten (A.). Dies führt zur „ewigen“ Methodenkontroverse über die subjektive und objektive Auslegungstheorie (B.). Nach einem kurzen Exkurs zur US-amerikanischen verfas7 E. G. Mahrenholz, Verfassungsinterpretation aus praktischer Sicht, in: H.-P. Schneider/ R. Steinberg (Hrsg.), Verfassungsrecht zwischen Wissenschaft und Richterkunst (1990), S. 60. 8 M. Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung (1976), S. 23; T. Frieling, Gesetzesmaterialien und Wille des Gesetzgebers (2017), S. 13 ff.; M. Übelacker, Die genetische Auslegung in der jüngeren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (1993), S. 198 f. 9 B. Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung (2017), S. 500; ders., NJW 1996, 1249 ff.; E. A. Kramer, Juristische Methodenlehre (1998), S. 33 f. 10 Vgl. nur K. Stock, Verfassungswandel in der Außenverfassung (2017), S. 152; E.-W. Böckenförde, NJW 1999, 9, 13. So auch BVerfGE 88, 145, 166 f.: „Eine bestimmte Auslegungsmethode (oder gar eine reine Wortinterpretation) schreibt die Verfassung nicht vor.“ 11 R. Wahl, Verfassungsgebung – Verfassungsänderung – Verfassungswandel I, in: R. Wahl (Hrsg.), Verfassungsänderung, Verfassungswandel, Verfassungsinterpretation (2008), S. 45. 12 R. Wahl, Verfassungsgebung – Verfassungsänderung – Verfassungswandel I, in: R. Wahl (Hrsg.), Verfassungsänderung, Verfassungswandel, Verfassungsinterpretation (2008), S. 45; M. Jestaedt, Und er bewegt sie doch!, in: H.-D. Horn (Hrsg.), FS Schmitt Glaeser (2003), S. 270 f.; C. Starck, Konstitutionalismus, Demokratie und Verfassungsgerichtsbarkeit, in: J. Münch/A. Thiele (Hrsg.), Verfassungsrecht im Widerstreit (2019), S. 87. 13 B. Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung (2017), S. 487; D. Grimm, Methode als Machtfaktor, in: N. Horn (Hrsg.), FS Coing (1982), S. 469 ff.; R. P. Schenke, Methodenlehre und Grundgesetz, in: H. Dreier (Hrsg.), Macht und Ohnmacht des Grundgesetzes (2009), S. 67; K. Stern/M. Sachs, Staatsrecht III/2 (1994), S. 1636; O. Depenheuer, Der Wortlaut als Grenze (1988), S. 2; N. Koschmieder, Grundrechtliche Dynamisierungsprozesse (2016), S. 150. 14 K. Stern/M. Sachs, Staatsrecht III/2 (1994), S. 1637.

A. Normgeberwille in der Methodendiskussion

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sungsrechtlichen Methodendiskussion (C.) werden dann die Grundzüge einer verfassungskonformen Methodenkonzeption (D.) vorgestellt, die die Einhaltung der Grenzen der verfassungsgerichtlichen Entscheidungskompetenz gewährleistet.

A. Normgeberwille in der Methodendiskussion Die Rolle des Normgeberwillens in der Methodendiskussion zu ergründen zwingt dazu, sich mit der Frage nach dem Ziel der Auslegung (V.) auseinanderzusetzen. Will man aus der Methodendiskussion gewinnbringende Schlüsse ziehen, ist es jedoch notwendig, mehrere Vorfragen zu klären. So wären weitere Ausführungen hinfällig, wenn mittels einer Interpretationsmethode das Auffinden einer richtigen oder zumindest vertretbaren Entscheidung nicht zu leisten ist (I.). Weiterhin ist zu klären, ob und inwieweit eine determinierende Normbindung aus hermeneutischer Sicht überhaupt gelingen kann (II.). Sodann ist der Vorwurf, die verfassungsrechtliche Methodendiskussion sei zirkulär, zu entkräften (III.) und zum Gesetzescharakter der Verfassung Stellung zu beziehen (IV.). Neben den inhaltlichen Vorfragen bedarf es eingangs der Begriffsklärung. Ein fehlendes einheitliches Begriffsverständnis in der Methodendiskussion wirkt sich erschwerend auf das Verständnis der unterschiedlichsten Beiträge aus.15 Gerade angesichts der umfassenden Literatur und vielfach uneinheitlichen Begriffsverwendung sollen vorab die Begriffe Interpretation, Auslegung und Rechtsfortbildung in dem hier verwendeten Verständnis erläutert werden. Interpretation nach dem hiesigen Verständnis umfasst als Oberbegriff sowohl Auslegung als auch Rechtsfortbildung.16 Auslegung bezeichnet den (primär) deduktiven Vorgang, auf Grundlage des Normtextes für einen Sachverhalt einen subsumtionsfähigen Obersatz zu ermitteln. Auslegung nach dem hier zugrunde gelegten Verständnis umfasst dabei auch die Konkretisierung.17 Es ist der Auslegung geradezu immanent, das Normprogramm so 15

T. Wischmeyer, Zwecke im Recht des Verfassungsstaates (2015), S. 340. So bereits das Verständnis von „interpretatio“ im römischen Recht, vgl. M. Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung (1976), S. 71 f. 17 Ähnlich F. Reimer, Juristische Methodenlehre (2020), Rn. 475 ff.; J. Lege, Was leistet „die“ Juristische Methode (und Methodenlehre)?, in: S. Hähnchen (Hrsg.), Eine Methodenlehre oder viele Methoden? (2020), S. 40 f. Im Schrifttum kommt der Konkretisierung vielfach eine eigenständige Bedeutung zu. Darunter verstanden wird, „dass die einzelnen Aussagen und Sätze der Verfassung in ihrer Anwendung mit einem Sinn gefüllt werden, den sie aus sich heraus nicht haben, und zwar unter Einbeziehung der je vorhandenen Ordnungs- und Gerechtigkeitsüberzeugungen einerseits und der zu ordnenden Wirklichkeit andererseits.“ Vgl. U. Volkmann, Grundzüge einer Verfassungslehre der Bundesrepublik Deutschland (2013), S. 140; K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland (1999), Rn. 60 ff.; T. Möllers, Juristische Methodenlehre (2021), § 7 Rn. 1 ff.; E.-W. Böckenförde, NJW 1974, 1529; K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland 16

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Kap. 2: Begrenzung der Entscheidungsfindung mittels Interpretationsmethode

weit zu „konkretisieren“, dass eine Subsumtion des Lebenssachverhalts möglich ist. Die Konkretisierung unterliegt keinen im Vergleich zur Auslegung besonderen Regeln. In Abgrenzung zur Auslegung handelt es sich um Rechtsfortbildung, wenn die Wortlautgrenze überschritten wird.18 Der Übergang ist teils fließend und die Unterscheidung sagt nicht zwingend etwas über den schöpferischen Anteil des Interpreten aus. Beispielhaft wird dies bei der Auslegung von Generalklauseln und unbestimmten Rechtsbegriffen deutlich, wo der Interpret vielfach gestaltend wirkt.19

I. Richtigkeitsanspruch der Methodenlehre Damit die Methodenlehre begrenzend auf die Entscheidungsfindung einwirken kann, muss sie ermöglichen, (zumindest eingeschränkt) die richtige Entscheidung aufzufinden. Verneint man die Möglichkeit, zwischen richtigen und falschen oder vertretbaren und unvertretbaren Entscheidungen zu differenzieren, ist eine rationale Kontrolle nicht möglich.20 Vorliegend soll diese Thematik mit einigen knappen Feststellungen abgehandelt werden. Eine vertiefte Auseinandersetzung mit den verschiedenen rechtstheoretischen Ansätzen für oder wider die These von der einzig richtigen Antwort ist im Rahmen dieser Abhandlung nicht zu leisten.21 Eine Methodenlehre, die das „volitive“ Element für maßgeblich ansieht (so z. B. die Freirechtsschule), kann keine objektiv richtigen Entscheidungen hervorbringen.22 Gegen diese Annahme und das daraus folgende „anything goes“ spricht be(1999), Rn. 60 ff.; K. Stern/M. Sachs, Staatsrecht III/2 (1994), S. 1712 ff.; C. Bumke, AöR 144 (2019), 1, 43. Kritisch dazu M. Sachs, in: Sachs, GG (2021), Einf. Rn. 48. 18 BVerfGE 71, 108, 115; 105, 135, 157; J. Riecken, Verfassungsgerichtsbarkeit in der Demokratie (2003), S. 379; K. Larenz/C.-W. Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft (1995), S. 187; H.-J. Koch/H. Rüßmann, Juristische Begründungslehre (1982), S. 215; F. Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff (1991), S. 467 ff.; O. Depenheuer, Der Wortlaut als Grenze (1988), S. 10; D. Looschelders/W. Roth, Juristische Methodik im Prozess der Rechtsanwendung (1996), S. 67; J. Neuner, Die Rechtsfindung contra legem (1992), S. 102; M. Jestaedt, Und er bewegt sie doch!, in: H.-D. Horn (Hrsg.), FS Schmitt Glaeser (2003), S. 292; C. Gröpl/Y. Georg, AöR 139 (2014), 125, 135. Deutlich differenziertes und eingeschränktes Verständnis bei T. Möllers, Juristische Methodenlehre (2021), § 13 Rn. 20 ff., das aber einen dogmatischen Mehrwert vermissen lässt. Ablehnend, weil in der Praxis vermeintlich von keiner Relevanz, M. Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung (1976), S. 223; H. H. v. Arnim/S. Brink, Methodik der Rechtsbildung unter dem Grundgesetz (2001), S. 214 f. 19 T. Möllers, Juristische Methodenlehre (2021), § 4 Rn. 37; P. Lassahn, Rechtsprechung und Parlamentsgesetz (2017), S. 208; T. Frieling, Gesetzesmaterialien und Wille des Gesetzgebers (2017), S. 79. 20 M. Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung (1976), S. 54. 21 Vgl. dazu R. Poscher, JZ 2013, 1 ff. 22 M. Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung (1976), S. 65; K. F. Röhl/H. C. Röhl, Allgemeine Rechtslehre (2008), S. 607; T. Möllers, Juristische Methodenlehre (2021), § 1 Rn. 70.

A. Normgeberwille in der Methodendiskussion

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reits, dass faktisch durchaus eine Übereinkunft über rechtlich richtige Ergebnisse erzielt wird.23 Die Gegenansicht geht davon aus, dass ein unter Idealbedingungen arbeitender Richter Herkules in jedem Rechtsstreit die einzig richtige Entscheidung herausfinden würde.24 Einem solchen Idealrichter wäre es möglich, aus dem geschriebenen Recht eine Rechtstheorie zu entwickeln, in die sich nur eine Entscheidung kohärent einfügen ließe. Diese one-right-answer-thesis kann in der Praxis nicht bestehen, da es den erforderlichen Idealrichter nicht gibt. In der Rechtspraxis geht daher niemand davon aus, dass sich für jeden konkreten Fall eine einzig richtige Entscheidung ermitteln lässt.25 Auch wenn die Suche nach der richtigen Lösung folglich häufig nur eine Annäherung bleibt, spricht dies nicht gegen die Idee der Richtigkeit als solche.26 Vielmehr ist der „Wettstreit der Interpretationen nach möglichst großer Annäherung“ wesentliches Elixier des rechtswissenschaftlichen Diskurses.27 So wird es zwar vielfach das objektiv einzig richtige Ergebnis nicht geben,28 falsche Entscheidungen lassen sich aber dennoch als solche qualifizieren. Dies gilt umso mehr, wenn bei der Rechtsanwendung deutlicher zwischen Rechtserkenntnis und Rechtsetzung unterschieden wird. Allein für den rechtserkennenden Teil kann und muss eine objektiv richtige Auslegung angestrebt werden.29 Die Gründe, die in tatsächlicher Hinsicht einer objektiv einzig richtigen Erkenntnis entgegenstehen, decken sich mit denen, die eine umfassende Normbindung ausschließen.

II. Unvollkommenheit der Normbindung Eine determinierende Normbindung kann unabhängig vom konkreten Methodenverständnis aus zwei Gründen niemals vollständig gelingen. Dies ist zunächst dem Medium Sprache geschuldet, das selten eindeutig ist. Darauf beruht zum an-

23 S. Mayr, Richterliche Rechtserzeugung und die Grenzen der „Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung der Verträge“ durch den EuGH, in: D. Elser u. a. (Hrsg.), Das letzte Wort – Rechtsetzung und Rechtskontrolle in der Demokratie (2014), S. 102. 24 R. Dworkin, Bürgerrechte ernstgenommen (1984), S. 181 ff., 469 ff. 25 T. Herbst, JZ 2012, 891. 26 J. Isensee, Vom Ethos des Interpreten, in: H. Haller u. a. (Hrsg.), FS Winkler (1997), S. 370; a. A. M. Staake, JURA 2011, 177, 183. 27 J. Isensee, Vom Ethos des Interpreten, in: H. Haller u. a. (Hrsg.), FS Winkler (1997), S. 370; B.-O. Bryde, Verfassungsentwicklung (1982), S. 257. 28 R. Schlothauer, Zur Krise der Verfassungsgerichtsbarkeit (1979), S. 57; T. Frieling, Gesetzesmaterialien und Wille des Gesetzgebers (2017), S. 18. 29 C. Hillgruber, Verfassungsinterpretation, in: O. Depenheuer/C. Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie (2010), S. 521 f.; a. A. C. Walter, AöR 125 (2000), 517, 537 ff., der das Judiz eines jeden Richter zur maßgeblichen Richtschnur erklärt.

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Kap. 2: Begrenzung der Entscheidungsfindung mittels Interpretationsmethode

deren die Erkenntnis der Hermeneutik, dass Interpretation vom Vorverständnis des Interpreten bedingt ist. 1. Mehrdeutigkeit der Sprache Recht bedarf der Sprache.30 Diese ist allerdings ein „prekäres Instrument“ zur eindeutigen Vermittlung von Inhalten.31 Sprache ist fast immer mehrdeutig.32 Sie ist nahezu nie präzise und klar. Regelmäßig lässt der Wortlaut verschiedene Bedeutungen zu.33 (Norm-)Texte bedürfen daher der Interpretation.34 Dem Normtext lassen sich im Rahmen der Auslegung positive wie negative Kandidaten zuordnen.35 Dazwischen verbleiben (häufig) viele neutrale Kandidaten, der sog. Bedeutungs-/Begriffshof.36 So dürfte nach heutigem Begriffsverständnis ein erwachsener Mann unzweifelhaft ein Mensch im Sinne von Art. 1 Abs. 1 Satz 1 GG37 sein, eine Ratte hingegen nicht. Ob hingegen eine befruchtete Eizelle Mensch im Sinne dieser Vorschrift ist, lässt sich nicht ohne Weiteres beantworten.38 Auf verfassungsrechtlicher Ebene ist die Grenzfunktion des Wortlautes aufgrund der vielfach offenen und unbestimmten Begriffe zusätzlich deutlich eingeschränkt.39 Gerade „die grundlegenden und fundamentalen Bestimmungen der Verfassung“ sind „in hohem Maße deutungs- und anreicherungsoffen“.40 Zugleich sind „die verwendeten 30 B. Rüthers/C. Fischer/A. Birk, Rechtstheorie (2020), Rn. 150; M. Staake, JURA 2011, 177, 179. 31 T. Wischmeyer, Zwecke im Recht des Verfassungsstaates (2015), S. 325. 32 T. Wischmeyer, Zwecke im Recht des Verfassungsstaates (2015), S. 325; B. Rüthers/ C. Fischer/A. Birk, Rechtstheorie (2020), Rn. 164 ff.; O. Depenheuer, Der Wortlaut als Grenze (1988), S. 3. 33 J. Riecken, Verfassungsgerichtsbarkeit in der Demokratie (2003), S. 328. 34 K. Larenz/C.-W. Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft (1995), S. 26; T. Wischmeyer, Zwecke im Recht des Verfassungsstaates (2015), S. 325; O. Depenheuer, Der Wortlaut als Grenze (1988), S. 1; C. Hillgruber, Verfassungsinterpretation, in: O. Depenheuer/ C. Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie (2010), S. 506. 35 H.-J. Koch, ARSP 61 (1975), 27, 35; R. Poscher, Geteilte Missverständnisse, in: I. Appel u. a. (Hrsg.), FS Wahl (2011), S. 528; B. Rüthers/C. Fischer/A. Birk, Rechtstheorie (2020), Rn. 167. 36 P. Heck, AcP 112 (1914), 1, 173; K. F. Röhl/H. C. Röhl, Allgemeine Rechtslehre (2008), S. 34 f. Aus semantischer Perspektive H.-J. Koch, ARSP 61 (1975), 27, 28 ff.; ders., Seminar: Die juristische Methode im Staatsrecht (1977), S. 29 ff. 37 „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ 38 Nach der Rechtsprechung des BVerfG kommt ihr jedenfalls ab Nidation der Schutz des Art. 1 Abs. 1 GG zu, vgl. BVerfGE 39, 1, 41 f.; 88, 203, 251 f. 39 J. Riecken, Verfassungsgerichtsbarkeit in der Demokratie (2003), S. 361; U. Volkmann, Grundzüge einer Verfassungslehre der Bundesrepublik Deutschland (2013), S. 138; O. Depenheuer, Der Wortlaut als Grenze (1988), S. 5. 40 U. Volkmann, Grundzüge einer Verfassungslehre der Bundesrepublik Deutschland (2013), S. 107; O. Depenheuer, Der Wortlaut als Grenze (1988), S. 41; H.-P. Schneider, Der

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Begriffe hochgradig verdichtet“, wie das Beispiel „Eigentum verpflichtet“ (Art. 14 Abs. 2 Satz 1 GG) zeigt.41 Trotz der Unzulänglichkeiten, die der Einsatz von Sprache mit sich bringt, kann Sprache eine determinierende Kraft entfalten.42 Bei aller Unsicherheit, die Sprache beinhaltet, lassen sich eindeutige Fälle, die nicht vom Wortlaut gedeckt sind, feststellen.43 Die Bedeutung von einzelnen Wörtern ist nicht grenzenlos beliebig.44 Dies gilt zumindest dann, wenn auf ein zeitgebundenes Verständnis abgestellt wird. Losgelöst von einem zeitlichen Begriffsverständnis ist das Bedeutungspotential grundsätzlich beliebig veränderbar.45 Aufgrund dieser „Relativität sprachlicher Bedeutungen“ kann nur ein zeitgebundenes Verständnis eine limitierende Wirkung entfalten.46 Erst ein definierter Kontext kann die Bedeutungen eines Wortes objektiv begrenzen.47 Die Kontextabhängigkeit begründet auch, warum ein juristisches Sprachverständnis grundsätzlich Vorrang vor einem allgemeinen Sprachverständnis hat.48 Denn der juristische Kontext lässt sich objektiv deutlich präziser erfassen und erlaubt damit eher eindeutige Rückschlüsse. Diese Grenzfunktion von Sprache wird bestritten.49 Auf die umfangreichen sprachtheoretischen Argumente kann vorliegend nicht eingegangen werden.50 Für Wille des Verfassunggebers, in: J. Burmeister u. a. (Hrsg), FS Stern (1997), S. 904 ff.; ebenso BVerfGE 62, 1, 45; 74, 51, 57. 41 U. Volkmann, Grundzüge einer Verfassungslehre der Bundesrepublik Deutschland (2013), S. 107; R. Schlothauer, Zur Krise der Verfassungsgerichtsbarkeit (1979), S. 124. 42 T. Wischmeyer, Zwecke im Recht des Verfassungsstaates (2015), S. 325; A. Tschentscher, Demokratische Legitimation der dritten Gewalt (2006), S. 192. 43 BVerfGE 93, 37, 81; J. Riecken, Verfassungsgerichtsbarkeit in der Demokratie (2003), S. 342; U. Volkmann, Grundzüge einer Verfassungslehre der Bundesrepublik Deutschland (2013), S. 110; B.-O. Bryde, Verfassungsentwicklung (1982), S. 80; T. Frieling, Gesetzesmaterialien und Wille des Gesetzgebers (2017), S. 74; K. F. Röhl/H. C. Röhl, Allgemeine Rechtslehre (2008), S. 614; M. Hochhuth, Rechtstheorie 32 (2001), 227, 229 f. 44 U. Volkmann, Grundzüge einer Verfassungslehre der Bundesrepublik Deutschland (2013), S. 138; O. Depenheuer, Der Wortlaut als Grenze (1988), S. 5; ders., DVBl 1987, 809, 812. 45 O. Depenheuer, Der Wortlaut als Grenze (1988), S. 38 ff. 46 O. Depenheuer, Der Wortlaut als Grenze (1988), S. 39; W. Heun, AöR 116 (1991), 185, 198 f. 47 O. Depenheuer, Der Wortlaut als Grenze (1988), S. 40; C. Hillgruber, Verfassungsinterpretation, in: O. Depenheuer/C. Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie (2010), S. 522; C. Möllers, JZ 2009, 668, 669. 48 T. Möllers, Juristische Methodenlehre (2021), § 4 Rn. 56 ff.; W. Brugger, AöR 119 (1994), 1, 23; J. Neuner, Die Rechtsfindung contra legem (1992), S. 121. 49 R. Christensen, Was heißt Gesetzesbindung? (1989), S. 77 ff.; F. Müller/R. Christensen, Juristische Methodik I (2013), S. 560 ff.; A. Mennicken, Das Ziel der Gesetzesauslegung (1970), S. 15 u. 45 ff.; D. Busse, Semantische Regeln und Rechtsnormen, in: R. Mellinghoff/ H.-H. Trute (Hrsg.), Die Leistungsfähigkeit des Rechts (1988), S. 23; R. P. Schenke, Methodenlehre und Grundgesetz, in: H. Dreier (Hrsg.), Macht und Ohnmacht des Grundgesetzes (2009), S. 68 f.

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die nachfolgende Diskussion über die richtige Methode wird vorausgesetzt, dass sich dem Wortlaut eines Gesetzes Grenzen für die Auslegung entnehmen lassen.51 Bei gegenteiliger Annahme müsste man die Diskussion über eine funktionierende Normbindung nicht führen. Denn eine semantische Grenze ist die Bedingung, um die Bindung an das Gesetz überhaupt zu konturieren.52 Selbst wenn dies tatsächlich nicht möglich sein sollte, müsste man die Möglichkeit einer Wortlautgrenze normativ fingieren, denn sie wird verfassungsrechtlich vorausgesetzt.53 2. Vorverständnis Die Interpretationsbedürftigkeit von Texten führt zur Frage, welche Rolle der Interpret bei der Rechtsanwendung spielt. Wenn das Erkenntnisverfahren trotz Methodik maßgeblich von subjektiven Einstellungen des Interpreten geprägt wäre, könnte die Interpretationsmethode richterliche Entscheidungsgewalt nicht begrenzen. Aus der Hermeneutik ist bekannt, dass jedes Verstehen vom individuellen Vorverständnis des Interpreten geprägt ist.54 Jedes Verstehen eines Textes führt zu einem veränderten Vorverständnis, das wiederum die Deutung des Textes beeinflusst.55 Daraus folgt, dass dieser Prozess nie nur rein reproduktiv ist.56 Dies führt aber zu keiner „Ohnmacht der juristischen Methode“.57 Denn dieser Zirkel des Verstehens bringt nicht ständig fundamental neue Erkenntnisse hervor.58 Vielmehr bestätigt sich der Erkenntniskern regelmäßig mit jedem erneuten „Verstehensdurchgang“. Es gilt uneingeschränkt, „dass die Auslegung eines Rechtssatzes wertende, volitive, voluntative, dezisionäre, rechtsschöpferische Elemente enthält und sich kei50

Vgl. dazu M. Klatt, Theorie der Wortlautgrenze (2004). Dazu ausführlich m. w. N. H.-J. Strauch, Methodenlehre des gerichtlichen Erkenntnisverfahrens (2017), S. 365 ff.; J. Neuner, Die Rechtsfindung contra legem (1992), S. 90 ff.; H. Honsell, ZfPW 2016, 106, 107; ebenso BVerfGE 92, 1, 12. 52 H.-J. Strauch, Methodenlehre des gerichtlichen Erkenntnisverfahrens (2017), S. 367, 376 f. 53 M. Jestaedt, Grundrechtsentfaltung im Gesetz (1999), S. 305; M. Klatt, Theorie der Wortlautgrenze (2004), S. 110; T. Frieling, Gesetzesmaterialien und Wille des Gesetzgebers (2017), S. 73; C. Hillgruber, JZ 2008, 745. 54 H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode (1990), S. 281 ff., 296 ff.; F. Müller/R. Christensen, Juristische Methodik I (2013), S. 277; T. Möllers, Juristische Methodenlehre (2021), § 1 Rn. 72; D. Looschelders/W. Roth, Juristische Methodik im Prozess der Rechtsanwendung (1996), S. 73. 55 K. F. Röhl/H. C. Röhl, Allgemeine Rechtslehre (2008), S. 116; T. Möllers, Juristische Methodenlehre (2021), § 1 Rn. 70 ff.; K. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft (1991), S. 206 f. 56 B. Rüthers/C. Fischer/A. Birk, Rechtstheorie (2020), Rn. 159. 57 K. F. Röhl/H. C. Röhl, Allgemeine Rechtslehre (2008), S. 121. 58 K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland (1999), Rn. 62. 51

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neswegs auf die Reproduktion eines Vorgedachten beschränkt“.59 Die Entscheidung des Rechtsanwenders zugunsten eines von mehreren vertretbaren Ergebnissen ist immer auch geprägt von seinem subjektiven Vorverständnis.60 Im Verfassungsrecht ist das Vorverständnis dabei stark geprägt von der für richtig gehaltenen Verfassungstheorie.61 Das Ergebnis ist dennoch nicht allein diesem Vorverständnis geschuldet.62 Die subjektiv determinierende Kraft des Vorverständnisses kann mittels juristischer Methodenlehre teils gelockert, teils gelöst werden.63 Unterschiedliche Vorverständnisse führen bei einer methodengerechten Interpretation nicht zwingend zu unterschiedlichen Ergebnissen.64 Ist der Interpret sich seines Vorverständnisses bewusst, lässt sich durch Methodenstrenge und -ehrlichkeit ein möglichst hohes Maß an Objektivität erreichen.65 Ein Gewinn an Objektivität und Rationalität ist nicht allein dadurch erreicht, dass subjektive Wertungen gänzlich ausgeschlossen werden, sondern bereits dadurch, dass diese offengelegt werden.66 Dies gelingt nicht zuletzt dadurch, dass Vorverständnisse durch juristische Schulung angeglichen werden.67 In der Praxis werden Vorverständnisse durch Recherche in juristischen Datenbanken, Fortbildungen, kollegialen Austausch etc. abund angeglichen. Ebenso hilft die Dogmatik als geronnenes, objektiviertes Vorverständnis.68

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J. Ipsen, Richterrecht und Verfassung (1975), S. 24. J. Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung (1972), S. 136 ff.; C. Hillgruber, Verfassungsinterpretation, in: O. Depenheuer/C. Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie (2010), S. 510. 61 J. Riecken, Verfassungsgerichtsbarkeit in der Demokratie (2003), S. 326; F. Müller/ R. Christensen, Juristische Methodik I (2013), S. 278; K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland (1999), Rn. 63; U. Volkmann, Der Staat 54 (2015), 35, 37 ff. 62 So aber J. Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung (1972), S. 139 ff. Wie hier T. Frieling, Gesetzesmaterialien und Wille des Gesetzgebers (2017), S. 18; A. v. Arnauld, Rechtstheorie 32 (2001), 465, 478; K. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft (1991), S. 210 f. 63 T. Möllers, Juristische Methodenlehre (2021), § 1 Rn. 72. 64 R. Wank, Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung (1978), S. 22. 65 F. Müller/R. Christensen, Juristische Methodik I (2013), S. 276. 66 F. Müller/R. Christensen, Juristische Methodik I (2013), S. 275; K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland (1999), Rn. 63. 67 J. Isensee, Vom Ethos des Interpreten, in: H. Haller u. a. (Hrsg.), FS Winkler (1997), S. 375 f.; F. Müller/R. Christensen, Juristische Methodik I (2013), S. 278; K. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft (1991), S. 208 f.; R. Wank, Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung (1978), S. 20 f. 68 J. Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung (1972), S. 90 ff.; K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland (1999), Rn. 68. 60

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Interpretation ist, wie bereits mehrfach betont, kein vollständig rationaler Prozess. Damit würde der „Entscheidungs- und Wertungscharakter von Recht“ verkannt.69 Die Fokussierung auf ein objektiv einzig richtiges Ergebnis verdrängt in der Diskussion um die Leistungsfähigkeit methodischer Vorgaben jedoch die Feststellung, dass jedenfalls sehr viele unvertretbare Ergebnisse objektiv durchaus zu bestimmen sind.70 So ist „in der großen Mehrzahl der rechtlich relevanten Lebensvorgänge […] die Gesetzesanwendung unproblematisch“.71 Festzuhalten bleibt, dass im Bewusstsein der Begrenztheit juristischer Methodik Normbindung besser oder schlechter verwirklicht werden kann.72 Die juristische Methode kann trotz aller Unzulänglichkeiten unvertretbare Entscheidungen bestimmen und im Idealfall aus den vertretbaren Entscheidungen die überzeugendste identifizieren.73

III. Zirkularität der verfassungsrechtlichen Methodenargumentation Dem verfassungsrechtlichen Methodenstreit wird ein Zirkelschluss vorgeworfen. Um die richtige Interpretationsmethodik verfassungsrechtlich zu ergründen, müsse zunächst die Verfassung ausgelegt werden. Mit der erst noch auszulegenden Verfassung die Interpretationsmethode bestimmen zu wollen, sei zirkulär.74 „Die verfassungsimmanente Suche nach der einen, allein verfassungsgemäßen Auslegungsmethode [müsse] erfolglos bleiben.“75 Dieser Vorwurf lässt sich einerseits durch Rückgriff auf eine tradierte, vorrechtliche Verfassungsmethodik entkräften.76 Andererseits lässt sich darauf ver69

F. Müller/R. Christensen, Juristische Methodik I (2013), S. 277. E. A. Kramer, Juristische Methodenlehre (1998), S. 227; T. Möllers, Juristische Methodenlehre (2021), § 1 Rn. 74 ff.; F. Kruse, Die verfassungsrechtlichen Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung (2019), S. 51. 71 K. F. Röhl/H. C. Röhl, Allgemeine Rechtslehre (2008), S. 607; M. Hochhuth, Rechtstheorie 32 (2001), 227, 228; P. S. d. M. Alexio, Verantwortbares Richterrecht (2014), S. 193. 72 F. Müller/R. Christensen, Juristische Methodik I (2013), S. 277; D. Looschelders/ W. Roth, Juristische Methodik im Prozess der Rechtsanwendung (1996), S. 81. 73 T. Möllers, Juristische Methodenlehre (2021), § 1 Rn. 78. 74 H.-J. Strauch, Methodenlehre des gerichtlichen Erkenntnisverfahrens (2017), S. 456; M. Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung (1976), S. 35; J. Isensee, Vom Ethos des Interpreten, in: H. Haller u. a. (Hrsg.), FS Winkler (1997), S. 374; J. Neuner, Die Rechtsfindung contra legem (1992), S. 3. 75 C. Hillgruber, Verfassungsinterpretation, in: O. Depenheuer/C. Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie (2010), S. 507. 76 P. Lassahn, Rechtsprechung und Parlamentsgesetz (2017), S. 31; P. Lassahn/T. Steenbreker, JR 2015, 553, 559; R. Christensen, Was heißt Gesetzesbindung? (1989), S. 222; C. Waldhoff, Gesetzesmaterialien aus verfassungsrechtlicher Perspektive, in: H. Fleischer 70

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weisen, dass die wesentlichen verfassungsrechtlichen Argumente in der Diskussion nicht von den im Streit stehenden Auslegungstheorien maßgeblich beeinflusst werden.77 Schon die bisher erfolgten Überlegungen, insbesondere zum Maßstab der Entscheidungskompetenz, erfolgten nach den tradierten Interpretationstechniken, ohne dass der Methodenstreit offen virulent wurde. Für die Grundaussagen des Grundgesetzes zur Stellung des Bundesverfassungsgerichts als Gericht, in der Demokratie und im Rechtsstaat kommt es auf den Methodenstreit im Ergebnis nicht an. Zudem ist nochmals auf die „Zirkelnatur allen Verstehens“ hinzuweisen.78 Verstehen ist ein Prozess, der vom Vorverständnis bedingt ist und daher mit jedem Erkenntnisgewinn das Verständnis weiterentwickelt.79 Er ist mithin der Sache nach zirkulär. Dies gilt auch für das Verständnis der richtigen Interpretationsmethode,80 gerade auch aus verfassungsrechtlicher Perspektive.81 Der Zirkelschluss des verfassungsrechtlichen Methodenstreits ist mithin einerseits in der Theorie der Diskussion als Verstehensprozess immanent, andererseits in der Praxis nicht von besonderer Relevanz.

IV. Gesetzescharakter der Verfassung Der normative Anspruch des Grundgesetzes ist allgemein anerkannt.82 Die Verfassung ist rechtlich bindend. Mit diesem normativen Anspruch verbunden ist der Gesetzescharakter des Grundgesetzes.83 Den Gesetzescharakter der Verfassung setzt

(Hrsg.), Mysterium „Gesetzesmaterialien“ (2013), S. 85; R. Christensen/H. Kudlich, Gesetzesbindung (2010), S. 20. 77 T. Frieling, Gesetzesmaterialien und Wille des Gesetzgebers (2017), S. 20; K. F. Röhl/ H. C. Röhl, Allgemeine Rechtslehre (2008), S. 603, sprechen daher zu Recht davon, dass es sich „nicht um einen logischen, sondern allenfalls um einen hermeneutischen Zirkel“ handelt; vgl. dazu auch R. Christensen, Was heißt Gesetzesbindung? (1989), S. 222. 78 B.-O. Bryde, Verfassungsentwicklung (1982), S. 254; J. Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung (1972), S. 136 ff. 79 Vgl. Kapitel 2 A. II. 2. 80 Nicht zielführend wäre es daher, die Methode explizit rechtlich regeln zu wollen, vgl. T. Wischmeyer, Zwecke im Recht des Verfassungsstaates (2015), S. 328 f. 81 J. Riecken, Verfassungsgerichtsbarkeit in der Demokratie (2003), S. 326; M. Fallmann, Sekundäre Lücken im Recht (2021), S. 30 ff. 82 C. Starck, Maximen der Verfassungsauslegung, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), HStR, Band XII, 3. Aufl. 2014, § 271 Rn. 1; F. Ossenbühl, Grundsätze der Grundrechtsinterpretation, in: D. Merten/H.-J. Papier (Hrsg.), HGR, Band I (2004), § 15 Rn. 6; B.-O. Bryde, Verfassungsentwicklung (1982), S. 37 ff.; C. Hillgruber, VVDStRL 67 (2008), 7, 14. 83 C. Hillgruber, Verfassungsinterpretation, in: O. Depenheuer/C. Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie (2010), S. 508; F. Ossenbühl, Grundsätze der Grundrechtsinterpretation, in: D. Merten/H.-J. Papier (Hrsg.), HGR, Band I (2004), § 15 Rn. 6; K. Schlaich, VVDStRL 39 (1981), 99, 106.

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auch das Bundesverfassungsgericht in seiner Judikatur voraus.84 Das Grundgesetz ist aufgrund seiner Gesetzesform der Interpretation zugänglich und bedarf daher einer Interpretationsmethode.85 Verfassungsinterpretation ist Gesetzesinterpretation.86 Das Grundgesetz unterscheidet sich von einfachgesetzlichen Normen nur graduell und nicht prinzipiell.87 So verwendet es zwar besonders häufig unbestimmte Rechtsbegriffe. Das allein aber negiert nicht seinen Gesetzescharakter, zumal auch das einfache Recht vielfach unbestimmte Normen enthält.88 Die an vielen Stellen fehlende Detailliertheit ist hingegen der Verfassung als Grundordnung immanent.89 Aufgrund des Gesetzescharakters der Verfassung gelten dem Grunde nach die Auslegungsregeln des klassischen Methodenkanons nach Savigny.90 Wesentlich umstrittener ist, inwieweit ergänzende Auslegungsregeln zur Anwendung kommen. Die nach verfassungsrechtlichen Grundsätzen entwickelte juristische Methode gilt

84 P. Lerche, Stil und Methode der verfassungsrechtlichen Entscheidungspraxis, in: P. Badura/H. Dreier (Hrsg.), FS 50 Jahre BVerfG (2001), S. 336. 85 E. Forsthoff, Die Umbildung des Verfassungsgesetzes, in: H. Barion u. a. (Hrsg.), FS Schmitt (1959), S. 36; P. Lerche, Stil und Methode der verfassungsrechtlichen Entscheidungspraxis, in: P. Badura/H. Dreier (Hrsg.), FS 50 Jahre BVerfG (2001), S. 356; K. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft (1991), S. 363. 86 R. Dreier, Zur Problematik und Situation der Verfassungsinterpretation, in: R. Dreier/ F. Schwegmann (Hrsg.), Probleme der Verfassungsinterpretation (1976), S. 13; C. Gröpl/ Y. Georg, AöR 139 (2014), 125, 139. 87 R. Dreier, Zur Problematik und Situation der Verfassungsinterpretation, in: R. Dreier/ F. Schwegmann (Hrsg.), Probleme der Verfassungsinterpretation (1976), S. 14; F. Ossenbühl, Grundsätze der Grundrechtsinterpretation, in: D. Merten/H.-J. Papier (Hrsg.), HGR, Band I (2004), § 15 Rn. 10 ff.; H. H. v. Arnim/S. Brink, Methodik der Rechtsbildung unter dem Grundgesetz (2001), S. 256; M. Sachs, in: Sachs, GG (2021), Einf. Rn. 46. 88 C. Starck, Maximen der Verfassungsauslegung, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), HStR, Band XII, 3. Aufl. 2014, § 271 Rn. 5; D. Looschelders/W. Roth, Juristische Methodik im Prozess der Rechtsanwendung (1996), S. 206 f.; J. Lege, Was leistet „die“ Juristische Methode (und Methodenlehre)?, in: S. Hähnchen (Hrsg.), Eine Methodenlehre oder viele Methoden? (2020), S. 40. 89 C. Starck, Maximen der Verfassungsauslegung, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), HStR, Band XII, 3. Aufl. 2014, § 271 Rn. 6. 90 E. Forsthoff, Zur Problematik der Verfassungsauslegung (1959), S. 36 f.; M. Sachs, in: Sachs, GG (2021), Einf. Rn. 37; K. Stern/M. Sachs, Staatsrecht III/2 (1994), S. 1694; T. Würtenberger, Auslegung von Verfassungsrecht – realistisch betrachtet, in: J. Bohnert u. a. (Hrsg.), FS Hollerbach (2001), S. 224; F. Ossenbühl, Grundsätze der Grundrechtsinterpretation, in: D. Merten/H.-J. Papier (Hrsg.), HGR, Band I (2004), § 15 Rn. 10 ff.; C. Gröpl/Y. Georg, AöR 139 (2014), 125, 139; K. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft (1991), S. 363; D. Looschelders/W. Roth, Juristische Methodik im Prozess der Rechtsanwendung (1996), S. 204 ff. Eingeschränkt zustimmend: J. Riecken, Verfassungsgerichtsbarkeit in der Demokratie (2003), S. 301. Kritisch: F. Müller/R. Christensen, Juristische Methodik I (2013), S. 132; C. Hillgruber, Verfassungsinterpretation, in: O. Depenheuer/C. Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie (2010), S. 523; C. Starck, Maximen der Verfassungsauslegung, in: J. Isensee/ P. Kirchhof (Hrsg.), HStR, Band XII, 3. Aufl. 2014, § 271 Rn. 17; offen lassend: BVerfGE 62, 1, 45.

A. Normgeberwille in der Methodendiskussion

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grundsätzlich für das gesamte Recht.91 Es gibt keine spezielle Methodenlehre für jedes Rechtsgebiet.92 Das schließt aber nicht aus, dass das materielle Recht für einzelne Rechtsgebiete Sonderregelungen trifft.93 Diesen Grundannahmen wird mit verschiedenen Gegenentwürfen widersprochen. Die Vielzahl an Vorschlägen der Verfassungsinterpretation,94 die überspitzt das Etikett „radikal normauflösend“95 versehen bekommen haben, kann außer Betracht bleiben, da sie offensichtlich den hier herausgearbeiteten verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht gerecht wird. Beispielhaft sollen zwei Interpretationsansätze kurz angerissen werden, die nicht die genannten Grundannahmen teilen. So sei die Verfassung aufgrund ihres fragmentarischen Charakters qualitativ etwas anderes als das einfache Gesetz.96 Die klassische Auslegung stoße daher schnell an ihre Erkenntnisgrenzen.97 Notwendig sei daher eine Verfassungstheorie, mit deren Hilfe die Lücken geschlossen werden könnten.98 Dabei bleibt dieser Ansatz aber eine Antwort schuldig, auf welchem objektiven Wege (wenn nicht wiederum durch Interpretation der Verfassung99) diese Verfassungstheorie entwickelt werden kann. So wird auch tatsächlich die als verfassungsgemäß angesehene Grundrechtstheorie durch Interpretation des Grundgesetzes zu begründen versucht.100 Der Mehrwert dieses Ansatzes bleibt jedoch gering, wenn er es im Ergebnis dabei belässt, den dogmatisch anspruchsvollen Teil der Interpretation lediglich als Verfassungstheorie von gemeiner Interpretation zu unterscheiden.101 91 K. F. Röhl/H. C. Röhl, Allgemeine Rechtslehre (2008), S. 604; H. Maurer, Staatsrecht I (2010), S. 23. 92 M. Jestaedt, Grundrechtsentfaltung im Gesetz (1999), S. 328; ders., in: M. Jestaedt u. a. (Hrsg.), Das entgrenzte Gericht (2011), S. 141 ff.; M. Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung (1976), S. 338; C. Starck, Maximen der Verfassungsauslegung, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), HStR, Band XII, 3. Aufl. 2014, § 271 Rn. 18 f.; D. Looschelders/W. Roth, Juristische Methodik im Prozess der Rechtsanwendung (1996), S. 3; J. Lege, Was leistet „die“ Juristische Methode (und Methodenlehre)?, in: S. Hähnchen (Hrsg.), Eine Methodenlehre oder viele Methoden? (2020), S. 41 ff.; T. Frieling, Gesetzesmaterialien und Wille des Gesetzgebers (2017), S. 21. 93 T. Frieling, Gesetzesmaterialien und Wille des Gesetzgebers (2017), S. 21. Auf verfassungsrechtlicher Ebene Beispiele bei C. Starck, Maximen der Verfassungsauslegung, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), HStR, Band XII, 3. Aufl. 2014, § 271 Rn. 20. 94 Vgl. zu diesen Interpretationsvorschlägen m. w. N. R. Alleweldt, Bundesverfassungsgericht und Fachgerichtsbarkeit (2006), S. 16; J. Riecken, Verfassungsgerichtsbarkeit in der Demokratie (2003), S. 295 ff.; K. Stern/M. Sachs, Staatsrecht III/2 (1994), S. 1672 ff. 95 E. Böckenförde, NJW 1976, 2089, 2093 f.; A. v. Arnauld, Rechtstheorie 32 (2001), 465, 489 ff.; B. Schlink, Der Staat 19 (1980), 73, 82 ff. So z. B. P. Häberles „Offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten“, JZ 1975, 297 ff. 96 E.-W. Böckenförde, NJW 1976, 2089, 2091. 97 E.-W. Böckenförde, NJW 1976, 2089, 2090 ff.; ders., NJW 1974, 1529. 98 E.-W. Böckenförde, NJW 1974, 1529 ff.; ders., NJW 1976, 2089, 2098. 99 So auch M. Jestaedt, Grundrechtsentfaltung im Gesetz (1999), S. 124 u. 129 f. 100 E.-W. Böckenförde, NJW 1974, 1529, 1536 ff. 101 Kritisch auch K. Stern/M. Sachs, Staatsrecht III/2 (1994), S. 1690 ff.

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Kap. 2: Begrenzung der Entscheidungsfindung mittels Interpretationsmethode

Abhilfe angesichts einer als unzureichend empfundenen tradierten Auslegungsmethode will auch die topisch-problemorientierte Interpretationsmethode bieten.102 Auch das Bundesverfassungsgericht neigt bisweilen zu topischer Argumentation.103 Topische Argumentation hilft insbesondere in der Praxis, einen Fall vollumfänglich zu erschließen und juristische Argumente zu gewinnen.104 Sie hat insoweit auch ihre Berechtigung. Die Offenheit für Topoi unterschiedlichster Art kann aber keine berechenbaren Interpretationsergebnisse garantieren.105 Prägnant zusammengefasst bestimmt sich die richtige Interpretation danach im Ergebnis allein nach dem „Konsens aller ,Vernünftig- und Gerecht-Denkenden‘“.106 Das kann nicht überzeugen.107 Denn dies hieße, den Rat der Weisen dem Rechtsstaat und der Demokratie vorzuziehen. Abgesehen davon bleibt unklar, auf welche Weise dieser Konsens überhaupt festgestellt werden kann. Ein konsensualer Ansatz kann zudem bei Grundrechten, die häufig dem Minderheitenschutz dienen, diesen Schutz nur unzureichend verwirklichen.108 Ohne rechtliche Übersetzung sind topische Argumente nicht berücksichtigungsfähig. Dieser nur äußert kurze Abriss alternativer Interpretationsansätze109 macht deutlich, dass der Problematik auf anderem Wege noch viel unzureichender abzuhelfen ist. Auch wenn die klassische Interpretationsmethode unbestritten an ihre Grenzen stößt, sind die mit ihrer Hilfe erzielten Ergebnisse zu beachten und fehlende konkrete Regeln sind im Sinne der Verfassung. Sie spiegeln die verfassungsrechtlich gewollten offenen Handlungsspielräume der Verfassungsorgane wider.110

102 H. Ehmke, VVDStRL 20 (1961), 53, 61 ff.; K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland (1999), Rn. 66 ff.; T. Viehweg, Topik und Jurisprudenz (1974), S. 95 ff. Dazu E.-W. Böckenförde, NJW 1976, 2089, 2091 ff.; B. Rüthers/C. Fischer/A. Birk, Rechtstheorie (2020), Rn. 611 ff.; N. Koschmieder, Grundrechtliche Dynamisierungsprozesse (2016), S. 65 ff.; K. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft (1991), S. 145 ff.; C. Starck, Maximen der Verfassungsauslegung, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), HStR, Band XII, 3. Aufl. 2014, § 271 Rn. 26 ff.; R. Schlothauer, Zur Krise der Verfassungsgerichtsbarkeit (1979), S. 127 ff. 103 F. Ossenbühl, Grundsätze der Grundrechtsinterpretation, in: D. Merten/H.-J. Papier (Hrsg.), HGR, Band I (2004), § 15 Rn. 14; N. Koschmieder, Grundrechtliche Dynamisierungsprozesse (2016), S. 157. 104 R. Wank, Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung (1978), S. 50 ff. 105 K. Stern/M. Sachs, Staatsrecht III/2 (1994), S. 1675; N. Koschmieder, Grundrechtliche Dynamisierungsprozesse (2016), S. 66. 106 So H. Ehmke, VVDStRL 20 (1961), 53, 71; B. Schlink, Der Staat 19 (1980), 73, 85 ff. 107 D. Looschelders/W. Roth, Juristische Methodik im Prozess der Rechtsanwendung (1996), S. 81 ff. 108 B. Schlink, Der Staat 19 (1980), 73, 85 f. 109 Zu weiteren Ansätzen und deren Schwächen siehe C. Starck, Maximen der Verfassungsauslegung, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), HStR, Band XII, 3. Aufl. 2014, § 271 Rn. 29 ff.; J. Riecken, Verfassungsgerichtsbarkeit in der Demokratie (2003), S. 295 ff. 110 C. Starck, Maximen der Verfassungsauslegung, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), HStR, Band XII, 3. Aufl. 2014, § 271 Rn. 7 ff.; R. Wahl, Der Staat 20 (1981), 485, 507.

A. Normgeberwille in der Methodendiskussion

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V. Ziel der Auslegung Die Vorfragen können nach alledem für die weitere Ausarbeitung eines methodenbasierten Begrenzungsansatzes als geklärt gelten. Mittels Methodenlehre können vertretbare von unvertretbaren Ergebnissen objektiv überprüfbar unterschieden werden. Diese Feststellung ist weiterhin nicht aus hermeneutischer Sicht überholt, wenngleich die determinierende Kraft von Sprache eingeschränkt ist. Dies gilt nicht zuletzt aufgrund des individuellen Vorverständnisses des Interpreten. Auch die Zirkularität eines jeden Verstehensprozesses schließt eine objektiv überprüfbare Normbindung nicht aus. Zuletzt bleibt festzuhalten, dass das Grundgesetz aufgrund seines Gesetzescharakters der klassischen Auslegung zugänglich ist. Zu untersuchen ist nun daher, wo der Normgeberwillen in der Diskussion verortet ist. Dazu muss der Auslegungsvorgang nach seinem Ziel und seinen Mitteln unterschieden werden. Unter die Auslegungsmittel fällt der klassische Methodenkanon (Wortlaut, Systematik, Genetik, Historie …111). Diese Werkzeuge dürften dem Juristen zunächst in den Sinn kommen, wenn er an Auslegung denkt. Mittels dieser Werkzeuge legt der Jurist die ihm vorliegende Norm aus. Sie sind aber nur Mittel zum Zweck.112 Die Auslegungsmittel dienen dazu, das Auslegungsziel zu ermitteln.113 Häufig wird das Auslegungsziel selbst aber nicht explizit benannt.114 Das Auslegungsziel ist durch die Frage des „Woraufhin der Interpretation“ beschrieben.115 Der Rechtsanwender legt Normtexte aus, um einen subsumtionsfähigen Obersatz zu erhalten. Dafür ist der Inhalt der einschlägigen Norm zu ermitteln. Inhalt meint wiederum den Sinn des Normtextes.116 Dieser Sinn ist vom Ziel der Auslegung abhängig.117 So ist im Rahmen der Anwendung der klassischen Kanones die juris111 Zur schwierigen Einordnung des Telos als Auslegungsmittel vgl. T. Möllers, Juristische Methodenlehre (2021), § 1 Rn. 6 ff.; B. Rüthers/C. Fischer/A. Birk, Rechtstheorie (2020), Rn. 725 ff. 112 T. Möllers, Juristische Methodenlehre (2021), § 1 Rn. 95; B. Rüthers/C. Fischer/A. Birk, Rechtstheorie (2020), Rn. 725. 113 BVerfG 11, 126, 130; C. Hillgruber, Verfassungsinterpretation, in: O. Depenheuer/ C. Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie (2010), S. 523; W. Brugger, AöR 119 (1994), 1, 20. 114 R. Wank, Die Auslegung von Gesetzen (2015), S. 29. 115 M. Jestaedt, Und er bewegt sie doch!, in: H.-D. Horn (Hrsg.), FS Schmitt Glaeser (2003), S. 276. 116 A. Mennicken, Das Ziel der Gesetzesauslegung (1970), S. 10; M. Übelacker, Die genetische Auslegung in der jüngeren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (1993), S. 3 f.; T. Frieling, Gesetzesmaterialien und Wille des Gesetzgebers (2017), S. 10. 117 Einschränkend ist festzuhalten, dass es selbstverständlich viele Fälle gibt, in denen die unterschiedlichen Auslegungstheorien zu den gleichen Ergebnissen führen. Dies deshalb, weil der Normgeberwille nicht rekonstruiert werden kann oder der „ermittelte“ objektive Gesetzeszweck sich mit dem Normgeberwillen deckt, vgl. T. Frieling, Gesetzesmaterialien und Wille des Gesetzgebers (2017), S. 4. Gleichwohl verbietet es sich aus verfassungsrechtlicher Sicht, das Ziel der Interpretation dahinstehen zu lassen, vgl. aber M. Sehl, Was will der Gesetzgeber? (2019), S. 66 ff.

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Kap. 2: Begrenzung der Entscheidungsfindung mittels Interpretationsmethode

tische Gretchenfrage, was Ziel der Auslegungsmittel ist.118 Ist es die Suche nach dem Willen des Normgebers oder einem davon losgelösten dem Gesetz innewohnenden Willen? Muss der Rechtsanwender den einmaligen Willen des historischen Normgebers erkunden, oder gibt es in den Worten des Gesetzes einen „objektiven“ Sinn, der sich vom „subjektiven“ Willen des Normgebers entwickeln kann?119 Diese Fragen führen zur „ewigen“ Methodenkontroverse, die im folgenden Kapitel behandelt wird.

B. „Ewige“ Methodenkontroverse Die Diskussion um die subjektive oder objektive Auslegungstheorie führt jede Juristengeneration neu.120 Seit dem 19. Jahrhundert wird dieser Streit um die richtige Auslegungstheorie ausgefochten.121 Die seit 200 Jahren währende Methodendiskussion wurde mit unterschiedlichen Schwerpunkten geführt. Sie stand jeweils unter den besonderen Vorzeichen ihrer Zeit.122 Ein weiterer historischer Abriss ist hier nicht erforderlich.123 Eine umfassende Auseinandersetzung aller ausgetauschten Argumente wäre kaum zu leisten und brächte auch nicht den gewünschten Mehrwert für die vorliegende Untersuchung. Weiterhin wird darauf verzichtet, explizit prominente Vertreter der einzelnen Theorien zu benennen.124 Vielfach ist diese Zuordnung selbst umstritten125 und nicht weiterführend. Schließlich begründet sich die argumentative Überzeugungskraft einer Theorie nicht durch deren Urheber. Daher sollen zunächst die Auslegungstheorien näher beschrieben und ihre wesentlichen Begründungsansätze nachgezeichnet werden, um sodann die Diskussion auf ver118 H. Fleischer, Gesetzesmaterialien im Spiegel der Rechtsvergleichung, in: H. Fleischer (Hrsg.), Mysterium „Gesetzesmaterialien“ (2013), S. 5; H.-J. Strauch, Methodenlehre des gerichtlichen Erkenntnisverfahrens (2017), S. 457; T. Würtenberger, Zeitgeist und Recht (1991), S. 164 f.; F. Reimer, Juristische Methodenlehre (2020), Rn. 247. 119 K. Engisch, Einführung in das juristische Denken (2018), S. 133. 120 H. Fleischer, Gesetzesmaterialien im Spiegel der Rechtsvergleichung, in: H. Fleischer (Hrsg.), Mysterium „Gesetzesmaterialien“ (2013), S. 5. 121 H.-J. Strauch, Methodenlehre des gerichtlichen Erkenntnisverfahrens (2017), S. 458; P. Lassahn, Rechtsprechung und Parlamentsgesetz (2017), S. 198. 122 H.-J. Strauch, Methodenlehre des gerichtlichen Erkenntnisverfahrens (2017), S. 460; T. Frieling, Gesetzesmaterialien und Wille des Gesetzgebers (2017), S. 41. 123 Siehe dazu T. Frieling, Gesetzesmaterialien und Wille des Gesetzgebers (2017), S. 42 ff.; R. Ogorek, Richterkönig oder Subsumtionsautomat (1986), S. 158 ff.; S. Korioth, AöR 117 (1992), 212 ff. 124 Umfangreiche Auflistung einzelner Vertreter bei G. Hassold, ZZP 94 (1981), 192, 193 f. 125 Vgl. nur für Friedrich Carl v. Savigny als Vertreter der subjektiven Theorie: A. Mennicken, Das Ziel der Gesetzesauslegung (1970), S. 10; ablehnend H. Fleischer, Gesetzesmaterialien im Spiegel der Rechtsvergleichung, in: H. Fleischer (Hrsg.), Mysterium „Gesetzesmaterialien“ (2013), S. 6; H.-J. Strauch, Methodenlehre des gerichtlichen Erkenntnisverfahrens (2017), S. 478.

B. „Ewige“ Methodenkontroverse

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fassungsrechtlicher Ebene (siehe IV. Verfassungskonforme Methodenkonzeption) einem Ergebnis zuzuführen. Für die weitere Abhandlung wird für die Bezeichnung der konkurrierenden Auslegungstheorien an der gängigen Terminologie festgehalten. Dies geschieht, obwohl zu Recht verschiedentlich auf die verwirrende, inhaltlich an sich unzutreffende Bezeichnung hingewiesen wird.126 Denn während die subjektive Auslegungstheorie empirisch-analytisch geprägt ist und damit den Auslegungsvorgang objektiviert, ermöglicht die objektive Auslegungstheorie dem Interpreten erheblichen Raum für subjektive Wertungen.127 Naheliegend wäre daher durchaus auch eine umgekehrte Bezeichnung. Die Überwindung der tradierten Begriffe stiftet aber mehr Verwirrung, als dass sie hilft.128 Die Einleitung abschließen soll eine kurze Übersicht der Praxis des Bundesverfassungsgerichts. Auch wenn diese Praxis nur das Sein und nicht das Sollen beschreibt, lohnt sich ein Blick auf selbige.129 Denn für die Anschlussfähigkeit der Argumente ist die Praxis zweifelsohne von Bedeutung. Grundsätzlich reflektiert das Bundesverfassungsgericht seine Methode nur eingeschränkt;130 frei nach dem Motto: „Methode hat man, über Methode spricht man nicht.“131 Dennoch gab das Bundesverfassungsgericht schon früh vor, sich eindeutig auf eine (gemäßigt) objektive Auslegungstheorie festzulegen:132 Maßgebend für die Auslegung einer Gesetzesbestimmung ist der in dieser zum Ausdruck kommende objektivierte Wille des Gesetzgebers, so wie er sich aus dem Wortlaut der Gesetzesbestimmung und dem Sinnzusammenhang ergibt, in den diese hineingestellt ist. Nicht entscheidend ist dagegen die subjektive Vorstellung der am Gesetzgebungsverfahren 126

B. Rüthers/C. Fischer/A. Birk, Rechtstheorie (2020), Rn. 796; K. F. Röhl/H. C. Röhl, Allgemeine Rechtslehre (2008), S. 631; E. A. Kramer, Juristische Methodenlehre (1998), S. 88; T. Frieling, Gesetzesmaterialien und Wille des Gesetzgebers (2017), S. 81, H. Fleischer, AcP 211 (2011), 317, 321. 127 E. A. Kramer, Juristische Methodenlehre (1998), S. 88; G. Hassold, ZZP 94 (1981), 192, 202. 128 So auch T. Frieling, Gesetzesmaterialien und Wille des Gesetzgebers (2017), S. 81. 129 Ausführlich mit Nachweisen zu einzelnen Judikaten M. Jestaedt, Und er bewegt sie doch!, in: H.-D. Horn (Hrsg.), FS Schmitt Glaeser (2003), S. 273 ff. 130 M. Jestaedt, Und er bewegt sie doch!, in: H.-D. Horn (Hrsg.), FS Schmitt Glaeser (2003), S. 275; D. Grimm, Verfassungsgerichtsbarkeit (2021), S. 167 f. 131 A. Voßkuhle, Methode und Pragmatik im Öffentlichen Recht, in: H. Bauer u. a. (Hrsg.), Umwelt, Wirtschaft und Recht (2002), S. 175 f.; D. Grimm, Verfassungsgerichtsbarkeit (2021), S. 168. 132 F. Müller/R. Christensen, Juristische Methodik I (2013), S. 48; W. Heun, AöR 116 (1991), 185, 196; P. Lerche, Stil und Methode der verfassungsrechtlichen Entscheidungspraxis, in: P. Badura/H. Dreier (Hrsg.), FS 50 Jahre BVerfG (2001), S. 356; H. Fleischer, Gesetzesmaterialien im Spiegel der Rechtsvergleichung, in: H. Fleischer (Hrsg.), Mysterium „Gesetzesmaterialien“ (2013), S. 11; R. Schlothauer, Zur Krise der Verfassungsgerichtsbarkeit (1979), S. 47. Kritisch zu dieser Schlussfolgerung M. Übelacker, Die genetische Auslegung in der jüngeren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (1993), S. 34 ff.; A. Bleckmann, JuS 2002, 942, 943; P. Schneider, VVDStRL 20 (1961), 1, 12 ff.

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Kap. 2: Begrenzung der Entscheidungsfindung mittels Interpretationsmethode

beteiligten Organe oder einzelner ihrer Mitglieder über die Bedeutung der Bestimmung. Der Entstehungsgeschichte einer Vorschrift kommt für deren Auslegung nur insofern Bedeutung zu, als sie die Richtigkeit einer nach den angegebenen Grundsätzen erhaltenen Auslegung bestätigt oder Zweifel behebt, die auf dem angegebenen Weg allein nicht ausgeräumt werden können.133

Mögliche Erklärung für die Entscheidung zugunsten der objektiven Theorie ist, dass diese es dem Bundesverfassungsgericht vergleichsweise einfach ermöglichte, die Rechtsordnung nach der nationalsozialistischen Unrechtsordnung wiederum umzuwälzen.134 Der Streit über das richtige Ziel der Auslegung wurde aufgrund dieses frühen Machtworts sodann in der Rechtsprechung der Nachkriegszeit auch nicht geführt. Das hinderte die einzelnen Gerichte, einschließlich des Bundesverfassungsgerichts,135 aber nicht, dem Willen des (verfassungsgebenden) Gesetzgebers immer wieder maßgebliche Bedeutung zukommen zu lassen.136 Die Entscheidungspraxis des Bundesverfassungsgerichts ist deshalb geprägt von einem „Methodenpragmatismus“.137 Zutreffend ist die Rede davon, dass sich das Bundesverfassungsgericht „das Feinspiel der Methoden jeweils zurechtlegt“.138 In jüngerer Zeit rückte das Bundesverfassungsgericht nicht nur in der gelebten Praxis, sondern auch in seinen Obersätzen von seinem ehemaligen eindeutigen Bekenntnis zur objektiven Auslegungstheorie ab.139 Es rekurriert zwar immer noch regelmäßig einleitend auf den „objektivierten Willen des Gesetzgebers“. Es benennt 133 BVerfGE 1, 299, 312; stRspr vgl. nur BVerfGE 10, 234, 244; 11, 126, 129 f.; 105, 135, 157; 110, 226, 248; 144, 20, 213. Diese Festlegung für die einfache Gesetzesauslegung wurde unausgesprochen für die Verfassungsauslegung übernommen, vgl. M. Jestaedt, Und er bewegt sie doch!, in: H.-D. Horn (Hrsg.), FS Schmitt Glaeser (2003), S. 275 f. 134 C. Schönberger, Anmerkungen zu Karlsruhe, in: M. Jestaedt u. a. (Hrsg.), Das entgrenzte Gericht (2011), S. 43. 135 Bereits in frühen Entscheidungen betont das Bundesverfassungsgericht den Willen des Verfassungsgebers: BVerfGE 2, 266, 276; 4, 299, 304 f.; 6, 32, 38 ff. Vgl. dazu auch H. Ehmke, VVDStRL 20 (1961), 53, 57 f., der darin eine Antwort auf die Gewaltenteilungsproblematik vermutet. Diese Praxis wird auch in späteren Entscheidungen fortgeführt, vgl. BVerfGE 74, 51, 57; 74, 102, 116; 79, 127, 143 f. 136 M. Übelacker, Die genetische Auslegung in der jüngeren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (1993), S. 62 ff. u. 198; F. Müller/R. Christensen, Juristische Methodik I (2013), S. 50; M. Sachs, DVBl 1984, 73, 76 ff.; H. Fleischer, Gesetzesmaterialien im Spiegel der Rechtsvergleichung, in: H. Fleischer (Hrsg.), Mysterium „Gesetzesmaterialien“ (2013), S. 11; K. F. Röhl/H. C. Röhl, Allgemeine Rechtslehre (2008), S. 630; R. Christensen, Was heißt Gesetzesbindung? (1989), S. 49 ff.; T. Frieling, Gesetzesmaterialien und Wille des Gesetzgebers (2017), S. 13 ff. 137 M. Jestaedt, Phänomen Bundesverfassungsgericht, in: M. Jestaedt u. a. (Hrsg.), Das entgrenzte Gericht (2011), S. 142; F. Müller/R. Christensen, Juristische Methodik I (2013), S. 50; H. Ehmke, VVDStRL 20 (1961), 53, 59; M. Herdegen, JZ 2004, 873; R. Schlothauer, Zur Krise der Verfassungsgerichtsbarkeit (1979), S. 62 ff. 138 P. Lerche, Stil und Methode der verfassungsrechtlichen Entscheidungspraxis, in: P. Badura/H. Dreier (Hrsg.), FS 50 Jahre BVerfG (2001), S. 334; M. Jestaedt, Und er bewegt sie doch!, in: H.-D. Horn (Hrsg.), FS Schmitt Glaeser (2003), S. 273 ff. 139 BVerfGE 118, 212, 243; 122, 248, 268 f.; 128, 193, 209 ff.; 132, 99, 127 f.; 133, 168, 205.

B. „Ewige“ Methodenkontroverse

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und betont dann aber erstaunlich deutlich auch den Willen des Gesetzgebers. So darf „in keinem Fall […] richterliche Rechtsfindung das gesetzgeberische Ziel der Norm in einem wesentlichen Punkt verfehlen oder verfälschen oder an die Stelle der Regelungskonzeption des Gesetzgebers gar eine eigene treten lassen“140. Eine Interpretation, die als richterliche Rechtsfortbildung den klaren Wortlaut des Gesetzes hintanstelle, keinen Widerhall im Gesetz finde und vom Gesetzgeber nicht ausdrücklich oder – bei Vorliegen einer erkennbar planwidrigen Gesetzeslücke – stillschweigend gebilligt werde, greife unzulässig in die Kompetenzen des demokratisch legitimierten Gesetzgebers ein.141 Das Bundesverfassungsgericht begründet die stärkere Berücksichtigung des Normgeberwillens mit dem Demokratie- und Gewaltenteilungsprinzip: Die Beachtung des klar erkennbaren Willens des Gesetzgebers ist Ausdruck demokratischer Verfassungsstaatlichkeit. Dies trägt dem Grundsatz der Gewaltenteilung (Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG) Rechnung. Das Gesetz bezieht seine Geltungskraft aus der demokratischen Legitimation des Gesetzgebers, dessen artikulierter Wille den Inhalt des Gesetzes daher mit bestimmt. Jedenfalls darf der klar erkennbare Wille des Gesetzgebers nicht übergangen oder verfälscht werden […]. So verwirklicht sich auch die in Art. 20 Abs. 3 und Art. 97 Abs. 1 GG vorgegebene Bindung der Gerichte an das ”Gesetz”, denn dies ist eine Bindung an die im Normtext zum Ausdruck gebrachte demokratische Entscheidung des Gesetzgebers, dessen Erwägungen zumindest teilweise in den Materialien dokumentiert sind.142

Gleichwohl finden sich auch heute noch regelmäßig Entscheidungen, die auf die anfangs vertretenen Auslegungsgrundsätze Bezug nehmen.143 Das Bundesverfassungsgericht vertritt mithin seinen Maßstäben nach zu urteilen derzeit im Methodenstreit eine offene, pragmatische Grundhaltung. Danach sind grundsätzlich beide Auslegungstheorien anschlussfähig.

I. Subjektive Auslegungstheorie Die subjektive Auslegungstheorie zielt darauf ab, den Willen des Normgebers zu ergründen und zur Geltung zu bringen.144 Sie ist typischerweise parlamentszentriert.145 Sie fragt in ihrer geläufigsten Variante nach dem entstehungszeitlichen 140

BVerfGE 133, 168, 205 mit Verweis auf BVerfGE 78, 20, 24. BVerfGE 118, 212, 243; 128, 193, 210; 132, 99, 128. 142 BVerfGE 149, 126, 155. 143 Vgl. nur BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 31. 03. 2016 – 2 BvR 1576/13 –, juris Rn. 63. 144 P. Heck, AcP 112 (1914), 1, 4; A. Mennicken, Das Ziel der Gesetzesauslegung (1970), S. 19; G. Hassold, ZZP 94 (1981), 192, 193; F. Reimer, Juristische Methodenlehre (2020), Rn. 247; P. Melin, Gesetzesauslegung in den USA und in Deutschland (2005), S. 234. 145 T. Wischmeyer, Zwecke im Recht des Verfassungsstaates (2015), S. 349; C. Bumke, Einführung in das Forschungsgespräch über die richterliche Rechtsarbeit, in: C. Bumke (Hrsg.), Richterrecht zwischen Gesetzesrecht und Rechtsgestaltung (2012), S. 9 ff. 141

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Kap. 2: Begrenzung der Entscheidungsfindung mittels Interpretationsmethode

Willen des Normgebers.146 Im Gegensatz zu einem geltungszeitlichen Ansatz ist danach der Wille des Normgebers zum Zeitpunkt des Erlasses der Norm maßgeblich. Dabei wird heutzutage von den Vertretern dieser Theorie selbstverständlich nicht davon ausgegangen, der Normgeber habe einen eigenen realpsychischen Willen.147 Vielmehr werden die unterschiedlichen Willensbekundungen der am Gesetzgebungsprozess Beteiligten dem Normgeber als „juristische[m] Artefakt“ normativ zugerechnet.148 Normgeber im Verfassungskontext ist der historische Verfassungsgeber oder verfassungsändernde Gesetzgeber.149 1. Begründungsansätze Prägend für die subjektive Auslegungstheorie ist die Vorstellung einer Rechtsordnung als einer vom Normgeber willentlich geschaffenen Ordnung.150 Aus diesem Grund seien die vom Normgeber intendierten Regelungsziele vom Rechtsanwender zu beachten. Die vom Normgeber planvoll geschaffene Ordnung lasse sich nur mit dem Blick des Normgebers richtig verstehen und in der Interpretation sodann nachvollziehen.151 Für die subjektive Auslegungstheorie sollen vor allem verfassungsrechtliche Gründe sprechen. So werden das Demokratieprinzip und das Gewaltenteilungsprinzip angeführt, die eine starke Berücksichtigung des Normgeberwillens erfordern.152 Die subjektive Auslegungstheorie sichere die Gewaltenteilung.153 Sie stärke 146 T. Möllers, Juristische Methodenlehre (2021), § 4 Rn. 148; G. Hassold, ZZP 94 (1981), 192, 199. 147 M. Jestaedt, Verfassungsgerichtspositivismus, in: O. Depenheuer u. a. (Hrsg.), FS Isensee (2002), S. 192; ders., Grundrechtsentfaltung im Gesetz (1999), S. 354 f.; B. Rüthers/ C. Fischer/A. Birk, Rechtstheorie (2020), Rn. 790; K. F. Röhl/H. C. Röhl, Allgemeine Rechtslehre (2008), S. 627 f.; H. Fleischer, NJW 2012, 2087, 2089; F. Reimer, Juristische Methodenlehre (2020), Rn. 252; T. Frieling, Gesetzesmaterialien und Wille des Gesetzgebers (2017), S. 131 f. Ebenso bereits P. Heck, AcP 112 (1914), 1, 50 ff. 148 M. Jestaedt, Verfassungsgerichtspositivismus, in: O. Depenheuer u. a. (Hrsg.), FS Isensee (2002), S. 192; ders., Grundrechtsentfaltung im Gesetz (1999), S. 355; C. Hillgruber, Verfassungsinterpretation, in: O. Depenheuer/C. Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie (2010), S. 511; Christensen, Was heißt Gesetzesbindung (1989), S. 56; G. Hassold, ZZP 94 (1981), 192, 198 f.; H. Fleischer, AcP 211 (2011), 317, 323 f. 149 C. Hillgruber, Verfassungsinterpretation, in: O. Depenheuer/C. Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie (2010), S. 533; H. Krüger, DVBl 1961, 685. 150 H.-J. Strauch, Methodenlehre des gerichtlichen Erkenntnisverfahrens (2017), S. 480; A. Mennicken, Das Ziel der Gesetzesauslegung (1970), S. 21; A. v. Arnauld, Rechtstheorie 32 (2001), 465, 471 f.; K. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft (1991), S. 316. 151 P. Melin, Gesetzesauslegung in den USA und in Deutschland (2005), S. 267; A. Mennicken, Das Ziel der Gesetzesauslegung (1970), S. 21. 152 Vgl. oben Kapitel 1 B.; F. Reimer, Juristische Methodenlehre (2020), Rn. 255; W. Heun, AöR 116 (1991), 185, 198; C. Hillgruber, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG (Juli 2021), Art. 97 Rn. 27 ff.; M. Übelacker, Die genetische Auslegung in der jüngeren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (1993), S. 43 f.

B. „Ewige“ Methodenkontroverse

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den demokratisch höher legitimierten Normgeber.154 Sie zwinge zur klaren Trennung zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung und den damit verbundenen Begründungspflichten.155 Sie lege gegebenenfalls vorhandene Wertungswidersprüche und Anpassungsbedarf offen, der sodann durch den Normgeber oder durch begründungsbedürftige Rechtsfortbildung geschlossen werden müsse.156 Sie ermögliche damit eine rationale Kontrolle und verhindere dadurch richterliche Willkür.157 Weiterhin fördere sie die Rechtssicherheit.158 Denn der Wille des Normgebers sei ein „historisches Faktum“, das sich objektiv ermitteln lasse.159 Für die Gründe, weshalb nicht auf den geltungszeitlichen, sondern den entstehungszeitlichen Normgeberwillen abzustellen sei, wird auf die bereits beschriebenen sprachtheoretischen Erkenntnisse verwiesen. Da Sprache wandelbar ist, kann der Wortlaut des Normtextes nur dann seine begrenzende Funktion erfüllen, wenn auf einen bestimmten Zeitpunkt des Sprachverständnisses abgestellt wird.160 Indem auf den Entstehungszeitpunkt abgestellt werde, erhöhe man die Vorhersehbarkeit und damit Rechtssicherheit.161 2. Unterschied zur historischen und genetischen Auslegung Die subjektive Auslegungstheorie, die Suche nach dem Willen des Normgebers, ist nicht gleichzusetzen mit der historischen oder der genetischen Auslegung.162 153

S. 22.

B. Rüthers, JZ 2006, 53 u. 60; A. Mennicken, Das Ziel der Gesetzesauslegung (1970),

154 R. P. Schenke, Methodenlehre und Grundgesetz, in: H. Dreier (Hrsg.), Macht und Ohnmacht des Grundgesetzes (2009), S. 64 f.; H. H. v. Arnim/S. Brink, Methodik der Rechtsbildung unter dem Grundgesetz (2001), S. 232 f. 155 B. Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung (2017), S. 513; H. Fleischer, Gesetzesmaterialien im Spiegel der Rechtsvergleichung, in: H. Fleischer (Hrsg.), Mysterium „Gesetzesmaterialien“ (2013), S. 9; G. Hassold, ZZP 94 (1981), 192, 207. 156 E. A. Kramer, Juristische Methodenlehre (1998), S. 100 f.; B. Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung (2017), S. 182. 157 B. Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung (2017), S. 507; H. Fleischer, Gesetzesmaterialien im Spiegel der Rechtsvergleichung, in: H. Fleischer (Hrsg.), Mysterium „Gesetzesmaterialien“ (2013), S. 6; G. Hassold, ZZP 94 (1981), 192, 207; F. Reimer, Juristische Methodenlehre (2020), Rn. 255; M. Übelacker, Die genetische Auslegung in der jüngeren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (1993), S. 42 f. 158 A. Mennicken, Das Ziel der Gesetzesauslegung (1970), S. 22; M. Übelacker, Die genetische Auslegung in der jüngeren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (1993), S. 44 f. 159 A. Mennicken, Das Ziel der Gesetzesauslegung (1970), S. 22. 160 Vgl. oben Kapitel 2 A. II. 1. 161 G. Hassold, ZZP 94 (1981), 192, 206; P. Melin, Gesetzesauslegung in den USA und in Deutschland (2005), S. 240. 162 M. Jestaedt, Und er bewegt sie doch!, in: H.-D. Horn (Hrsg.), FS Schmitt Glaeser (2003), S. 289; A. v. Arnauld, Rechtstheorie 32 (2001), 465, 476. Diese Gleichsetzung lässt sich vielfach (unreflektiert) beobachten, beispielhaft H.-P. Schneider, Der Wille des Verfassunggebers, in:

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Kap. 2: Begrenzung der Entscheidungsfindung mittels Interpretationsmethode

Sowohl die historische als auch die genetische Auslegung können aber als Auslegungsmittel maßgeblich helfen, den Willen des Normgebers zu ergründen. Es gibt keine einheitlichen Definitionen und damit keine Abgrenzung von historischer und genetischer Auslegung.163 Eine exakte Abgrenzung ist an dieser Stelle für die vorliegende Untersuchung auch nicht erforderlich. Deutlich werden sollen die unterschiedlichen Fokusse dieser Auslegungsmittel. Die historische Auslegung untersucht die chronologische Entwicklung der Norm. Dazu vergleicht sie den aktuellen Normtext mit älteren Normfassungen oder Entwurfsfassungen.164 Savigny verstand die historische Auslegung schlicht als Vergleich der jetzigen mit der früheren Rechtslage.165 Umfassender ist der Versuch, mittels historischer Auslegung „den Inhalt einer Norm aus deren entwicklungsgeschichtlichen Zusammenhängen zu erschließen“.166 Untersucht wird dann der historische Kontext, „vor dessen Hintergrund die Norm erlassen wurde“.167 Nicht auf die Regelungstradition, sondern auf die „Regelungsintention des historischen Normsetzer[s]“ zielt die genetische Auslegung.168 Diese forscht „nach Auslegungshilfen aus der Entstehungsgeschichte der Norm (Gesetzesmaterialien)“.169 In den Blick genommen wird dabei der Gesetzgebungsprozess der konkreten Norm.170 Mittels der Gesetzgebungsmaterialien soll der Wille des Normgebers erforscht werden. Teils wird die genetische Auslegung auch als Synonym für die

J. Burmeister u. a. (Hrsg), FS Stern (1997), S. 903 ff.; F. Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff (1991), S. 428; B. Rüthers/C. Höpfner, JZ 2005, 21. 163 T. Frieling, Gesetzesmaterialien und Wille des Gesetzgebers (2017), S. 39. 164 T. Möllers, Juristische Methodenlehre (2021), § 4 Rn. 149; T. Frieling, Gesetzesmaterialien und Wille des Gesetzgebers (2017), S. 39; M. Sehl, Was will der Gesetzgeber? (2019), S. 77. 165 H.-J. Strauch, Methodenlehre des gerichtlichen Erkenntnisverfahrens (2017), S. 487; T. Frieling, Gesetzesmaterialien und Wille des Gesetzgebers (2017), S. 10; M. Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung (1976), S. 83. 166 F. Ossenbühl, Grundsätze der Grundrechtsinterpretation, in: D. Merten/H.-J. Papier (Hrsg.), HGR, Band I (2004), § 15 Rn. 7; T. Würtenberger, Auslegung von Verfassungsrecht – realistisch betrachtet, in: J. Bohnert u. a. (Hrsg.), FS Hollerbach (2001), S. 225 ff. 167 P. Melin, Gesetzesauslegung in den USA und in Deutschland (2005), S. 263. 168 M. Jestaedt, Und er bewegt sie doch!, in: H.-D. Horn (Hrsg.), FS Schmitt Glaeser (2003), S. 272; C. Waldhoff, Gesetzesmaterialien aus verfassungsrechtlicher Perspektive, in: H. Fleischer (Hrsg.), Mysterium „Gesetzesmaterialien“ (2013), S. 86. 169 F. Ossenbühl, Grundsätze der Grundrechtsinterpretation, in: D. Merten/H.-J. Papier (Hrsg.), HGR, Band I (2004), § 15 Rn. 7; R. Christensen, Was heißt Gesetzesbindung? (1989), S. 44; H.-P. Schneider, Der Wille des Verfassunggebers, in: J. Burmeister u. a. (Hrsg), FS Stern (1997), S. 905. Häufig wird vertreten, die genetische Auslegung ziele auf den Normgeberwillen ab, z. B. W. Brugger, AöR 119 (1994), 1, 26; T. Möllers, Juristische Methodenlehre (2021), § 4 Rn. 156. Dies überzeugt nicht, denn dadurch werden Auslegungsziel und Auslegungsmittel vermengt. 170 T. Möllers, Juristische Methodenlehre (2021), § 4 Rn. 157 ff.

B. „Ewige“ Methodenkontroverse

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subjektive Auslegungstheorie verwandt.171 Dadurch wird allerdings der Unterschied zwischen Auslegungsziel und -mittel verwischt.

II. Objektive Auslegungstheorie Die objektive Auslegungstheorie sucht nach dem der Norm innewohnenden Willen („Wille des Gesetzes“).172 Es gelte festzustellen, was dem Normtext objektiv als vernünftig und gerecht zu entnehmen sei.173 Bildhaft ist die Sprache von der Suche nach dem „Aufgegebenen“, nicht „Gegebenen“.174 Die Norm löse sich nach Erlass vom Normgeber los.175 Daher sei der Rechtsanwender nicht an den Willen des Normgebers gebunden. Der Gesetzgeber schulde nur das Gesetz. In welchem Sinne es gelten solle, sei Aufgabe des Interpreten. Bezugspunkt der Interpretation ist danach das „Verständnis der Rezipienten“.176 Die objektive Auslegungstheorie tendiert zu einer gerichtszentrierten Rechtsanwendung.177 Das Gesetz könne „klüger sein als seine Verfasser – es [müsse] sogar klüger sein als seine Verfasser“.178 Dahinter steht ein Denken, wonach selbst schlecht gemachte Gesetze durch „interpretatorische Aufbereitung“ an Rationalität gewinnen.179 Der „dem Gesetz immanente Sinn“ könne sich zudem im Laufe der Zeit wandeln.180 Maßgeblich sei nicht der Zeitpunkt des Erlasses einer Norm, sondern der seiner Anwendung.181 171

M. Übelacker, Die genetische Auslegung in der jüngeren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (1993), S. 1. 172 G. Hassold, ZZP 94 (1981), 192, 200; R. P. Schenke, Methodenlehre und Grundgesetz, in: H. Dreier (Hrsg.), Macht und Ohnmacht des Grundgesetzes (2009), S. 57. 173 K. Engisch, Einführung in das juristische Denken (2018), S. 136; G. Hassold, ZZP 94 (1981), 192, 200; F. Reimer, Juristische Methodenlehre (2020), Rn. 247. 174 R. Wahl, Verfassungsgebung – Verfassungsänderung – Verfassungswandel I, in: R. Wahl (Hrsg.), Verfassungsänderung, Verfassungswandel, Verfassungsinterpretation (2008), S. 45. 175 A. Mennicken, Das Ziel der Gesetzesauslegung (1970), S. 25; K. Engisch, Einführung in das juristische Denken (2018), S. 135. 176 A. v. Arnauld, Rechtstheorie 32 (2001), 465, 466. 177 T. Wischmeyer, Zwecke im Recht des Verfassungsstaates (2015), S. 349; C. Bumke, Einführung in das Forschungsgespräch über die richterliche Rechtsarbeit, in: C. Bumke (Hrsg.), Richterrecht zwischen Gesetzesrecht und Rechtsgestaltung (2012), S. 6 ff. 178 G. Radbruch, Rechtsphilosophie (1973), S. 207; J. Isensee, Vom Ethos des Interpreten, in: H. Haller u. a. (Hrsg.), FS Winkler (1997), S. 377; O. Depenheuer, Der Wortlaut als Grenze (1988), S. 27. So auch BVerfGE 36, 342, 362; G. Hirsch, JZ 2007, 853, 855; P. Schneider, VVDStRL 20 (1961), 1, 8. 179 J. Isensee, Vom Ethos des Interpreten, in: H. Haller u. a. (Hrsg.), FS Winkler (1997), S. 378. 180 P. Melin, Gesetzesauslegung in den USA und in Deutschland (2005), S. 235; H. Fleischer, Gesetzesmaterialien im Spiegel der Rechtsvergleichung, in: H. Fleischer (Hrsg.), Mysterium „Gesetzesmaterialien“ (2013), S. 7.

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Kap. 2: Begrenzung der Entscheidungsfindung mittels Interpretationsmethode

1. Begründungsansätze Hinter der objektiven Auslegungstheorie steht der Gedanke von Recht als einer „vernünftige[n]“ Ordnung.182 Ziel der Auslegung ist der vernünftige Sinn des Gesetzes.183 Auslegung sei „nicht das Nachdenken eines Vorgedachten, sondern Zuendedenken eines Gedachten“.184 Die objektive Theorie nimmt für sich in Anspruch, „gerechtere“ Auslegungsergebnisse zu garantieren.185 Sie verwirkliche damit nicht nur die Bindung an das Gesetz, sondern auch an das in Art. 20 Abs. 3 GG ebenso benannte Recht.186 „Gerechtere“ Auslegungsergebnisse können aus verschiedenen Gründen einfacher erzielt werden. Zunächst ermöglicht die objektive Auslegungstheorie, Normen einfacher an technischen Fortschritt und veränderte Wertvorstellungen anzupassen.187 Die hohe Anpassungsfähigkeit komme insbesondere bei Änderungen der einer Rechtsordnung zugrunde liegenden materialen Werteordnung zum Tragen.188 Ist eine Norm unvollkommen oder gemessen an neuen Wertvorstellungen überholt, kann und soll durch Auslegung und nicht erst durch den Normgeber eine Anpassung vorgenommen werden.189 Betone man hingegen die Rechtssicherheit zu sehr, werde dadurch sozialer Wandel verhindert.190 Dies führe zu einer unzureichenden Gegenwartsverbundenheit, was den Zuspruch der öffentlichen Meinung gefährde.191

181 G. Hassold, ZZP 94 (1981), 192, 193; P. Melin, Gesetzesauslegung in den USA und in Deutschland (2005), S. 235. 182 H.-J. Strauch, Methodenlehre des gerichtlichen Erkenntnisverfahrens (2017), S. 480; A. Mennicken, Das Ziel der Gesetzesauslegung (1970), S. 26. 183 R. Dreier, Zur Problematik und Situation der Verfassungsinterpretation, in: R. Dreier/ F. Schwegmann (Hrsg.), Probleme der Verfassungsinterpretation (1976), S. 24; A. Mennicken, Das Ziel der Gesetzesauslegung (1970), S. 25; H. H. v. Arnim/S. Brink, Methodik der Rechtsbildung unter dem Grundgesetz (2001), S. 233. 184 G. Radbruch, Rechtsphilosophie (1973), S. 207. 185 G. Hassold, ZZP 94 (1981), 192, 197; G. Hirsch, JZ 2007, 853, 856. 186 Vgl. BVerfGE 34, 269, 286. 187 R. P. Schenke, Methodenlehre und Grundgesetz, in: H. Dreier (Hrsg.), Macht und Ohnmacht des Grundgesetzes (2009), S. 58; P. Melin, Gesetzesauslegung in den USA und in Deutschland (2005), S. 235; A. Mennicken, Das Ziel der Gesetzesauslegung (1970), S. 27; O. Depenheuer, Der Wortlaut als Grenze (1988), S. 22; G. Hirsch, JZ 2007, 853, 856. 188 B. Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung (2017), S. 182; T. Würtenberger, Zeitgeist und Recht (1991), S. 198; A. Mennicken, Das Ziel der Gesetzesauslegung (1970), S. 27. 189 BVerfGE 34, 269, 288 f.; G. Hassold, ZZP 94 (1981), 192, 203; A. Mennicken, Das Ziel der Gesetzesauslegung (1970), S. 53. 190 J. Wege, Positives Recht und sozialer Wandel im demokratischen und sozialen Rechtsstaat (1977), S. 83. 191 K. Eichenberger, Die richterliche Unabhängigkeit als staatsrechtliches Problem (1960), S. 205 f.

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Weiterhin bietet die objektive Auslegungstheorie mehr Raum für Billigkeit. Sie erlaubt dem Interpreten mehr eigene „Mitsprache bei der Inhaltsbestimmung“.192 Erst dieser Billigkeitsspielraum ermögliche bei abstrahierten Rechtsnormen eine gerechte Entscheidung.193 Die so ermöglichte höhere (subjektive) Einzelfallgerechtigkeit trage zur Legitimität des Rechts in der Bevölkerung bei. Auch könne eine Auslegungstheorie, die sozialen Wandel unmittelbar verarbeiten können, eine hohe demokratische Legitimität beanspruchen, vorausgesetzt, der Rechtsanwender erkenne den Wandel richtig.194 2. Kritik Die objektive Auslegungstheorie begegnet verschiedenen berechtigten Kritikpunkten. a) Willkürliche Gerechtigkeit Sofern die objektive Auslegungstheorie in Anspruch nimmt, gerechtere, vernünftigere und klügere Ergebnisse zu ermöglichen, kann sie diesen Anspruch primär nur in subjektiver Hinsicht erfüllen. Klüger kann selbstverständlich immer nur der normanwendende Interpret und nicht das Gesetz selbst sein.195 Die Konstruktion eines objektiven Willens des Gesetzes ist nicht möglich; das Gesetz hat keinen eigenen Willen.196 Es bleibt dem individuellen Normanwender überlassen, im Normtext ein abweichend vom Normgeberwillen besseres Ergebnis zu erkennen.197 Dieses „richtige“ Erkennen bleibt damit sehr subjektiv geprägt.198 So bleibt der Gerechtigkeitsgewinn von individuellen Maßstäben abhängig. Was der eine als billiges Ergebnis ansieht, ist für den anderen Willkür. Unabhängig davon wird die Rechtssicherheit als ein Element von Gerechtigkeit durch große Ent192

S. 6.

G. F. Schuppert, Funktionell-rechtliche Grenzen der Verfassungsinterpretation (1980),

193 J. Wege, Positives Recht und sozialer Wandel im demokratischen und sozialen Rechtsstaat (1977), S. 82. 194 T. Würtenberger, Zeitgeist und Recht (1991), S. 192. 195 M. Jestaedt, Verfassungsgerichtspositivismus, in: O. Depenheuer u. a. (Hrsg.), FS Isensee (2002), S. 193; C. Hillgruber, Verfassungsinterpretation, in: O. Depenheuer/ C. Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie (2010), S. 525; G. Hassold, ZZP 94 (1981), 192, 200; A. v. Arnauld, Rechtstheorie 32 (2001), 465, 469; C. Gröpl/Y. Georg, AöR 139 (2014), 125, 134. 196 B. Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung (2017), S. 516 f.; A. v. Arnauld, Rechtstheorie 32 (2001), 465, 469; K. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft (1991), S. 319. 197 A. v. Arnauld, Rechtstheorie 32 (2001), 465, 469; D. Looschelders/W. Roth, Juristische Methodik im Prozess der Rechtsanwendung (1996), S. 38 f. 198 T. Würtenberger, Zeitgeist und Recht (1991), S. 213; A. Mennicken, Das Ziel der Gesetzesauslegung (1970), S. 29.

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Kap. 2: Begrenzung der Entscheidungsfindung mittels Interpretationsmethode

scheidungsspielräume bei der Urteilsfindung gefährdet.199 Eine strikte richterliche Normbindung wurde gerade in Zeiten erster Rechtsstaatlichkeit als wirksames Mittel gegen Willkür erkannt.200 Die früh-rechtsstaatlichen Ideen akzeptierten, dass das Gesetz im Einzelfall ungerecht hart ist.201 „Ungerechte“ Ergebnisse sind keine Einladung an den Richter, eigenes Recht zu schaffen, sondern Aufforderung an den verfassungsgebenden Normgeber, das Recht anzupassen.202 b) Fehlende Legitimationsvermittlung Unklar bleibt weiterhin, mit welcher Legitimation der einzelne Richter sozialen Wandel in der geltenden Rechtsordnung entgegen dem Normgeberwillen in rechtlichen Wandel umsetzen darf. Das Grundgesetz hat die Entscheidung grundsätzlicher Fragen zuvörderst der Legislative übertragen, die anders als Richter durch Wahlen eine regelmäßige Rückbindung zum Volk erfährt. Der einzelne Richter ist nicht befugt, seine subjektiv als besser empfundenen Lösungen dem Normtext durch objektive Auslegung „einzulegen“. Ihn legitimiert häufig noch nicht einmal besondere Sachkenntnis. Auf empirische Feststellungen, welches Ergebnis als gerecht empfunden wird, verzichten die auf die objektive Auslegungstheorie aufbauenden Methodiken nahezu komplett.203 Dies wäre auch nicht zielführend, denn die repräsentative Demokratie sieht bewusst nicht Volkes unmittelbaren Willen als Gerechtigkeitsmaßstab an.204 Je individualisierter und pluralisierter die Gesellschaft ist, desto vermessener erscheint es, einer kleinen Anzahl von Richtern die Feststellung von rechtsänderndem Wandel zuzugestehen. Sofern gewollt, kann der Normgeber durch ausdrücklich zukunftsoffene Begriffe präventiv eine zukünftig erwartete Anpassung ermöglichen. c) Keine Ergebniskontrolle Weiterhin ist problematisch, dass die objektive Auslegungstheorie an Rationalitätseinbußen leidet. Sie verwischt die Grenze zwischen Auslegung und Lückenfüllung, d. h. Rechtsfortbildung, und überspielt die damit verbundenen höheren

199

A. Mennicken, Das Ziel der Gesetzesauslegung (1970), S. 29 u. 57; K. Pfyffer, Erläuterung des bürgerlichen Gesetzbuches des Kantons Luzern (1832), S. 12. 200 C. Schott, „Rechtsgrundsätze“ und Gesetzeskorrektur (1975), S. 84. 201 C. Schott, „Rechtsgrundsätze“ und Gesetzeskorrektur (1975), S. 81. 202 So bereits N. T. v. Gönner, Handbuch des gemeinen deutschen Prozessrechts I (1804), S. 202. 203 T. Würtenberger, Zeitgeist und Recht (1991), S. 196, 214 f. 204 Dazu ausführlicher T. Würtenberger, Zeitgeist und Recht (1991), S. 200 f.; ders., Zur Legitimität des Verfassungsrichterrechts, in: B. Guggenberger/T. Würtenberger (Hrsg.), Hüter der Verfassung oder Lenker der Politik? (1998), S. 74; A. v. Arnauld, Rechtstheorie 32 (2001), 465, 490.

B. „Ewige“ Methodenkontroverse

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Begründungspflichten.205 Sie macht damit eine „Ergebniskontrolle unmöglich“ und „entzieht ihre Ergebnisse jeglicher Möglichkeit der Falsifizierung“.206 Das jeweils gewünschte Ergebnis wird so lediglich scheinrational und scheinobjektiv begründet.207 Dies liegt vor allem an der fehlenden Reproduzierbarkeit und mangelnden Vorhersehbarkeit der Auslegung.208 d) Unzureichende Normbindung Verfassungsrechtlich nicht tragbar ist zudem, dass die objektive Auslegungstheorie die Normbindung überspielt.209 In ihrer „Extremform“ gibt sie faktisch jegliche Normbindung auf. So wird vertreten, dass der Normtext für den Richter bloße „Inspirationsquelle“ sei.210 Eine vergleichsweise wenig normgebundene, objektive Auslegungstheorie ermöglicht es der Justiz so, „dem Gesetz manipulativ neue Inhalte zu verpassen“.211 Von einer Normbindung zu sprechen, wenn letztlich der „,objektive‘ Sinn des Richters für verbindlich gehalten wird“, ist nichts anderes als „verbales Zauberspiel“.212 Dies führt zur absurden Situation, dass der Normgeber die Interpreten nach dem Verständnis „seiner“ beabsichtigten Normen befragen muss, um sicherzugehen, dass sein Wille nicht von Beginn an überspielt wird.213 e) Historischer Missbrauch Zuletzt bestätigt auch der Blick in die Vergangenheit die Gefahren der objektiven Auslegungstheorie. Zur Zeit des Nationalsozialismus wurde ein Methodendualismus propagiert.214 Für Gesetze vor der Machtergreifung 1933 sollte eine geltungszeitliche Auslegung orientiert am Volkswillen die gewünschte Anpassung ermöglichen. Gesetze nach der Machtergreifung hingegen sollten streng nach dem gesetzgeberischen Willen ausgelegt werden.215 So ermöglichte die objektive Auslegungstheorie im Dritten Reich die schnelle Anpassung des bisherigen Rechts an die nationalso205 A. Mennicken, Das Ziel der Gesetzesauslegung (1970), S. 29 u. 102; G. Hassold, ZZP 94 (1981), 192, 205. 206 W. Hassemer, ZRP 2007, 213, 216. 207 U. Seibert, „Gesetzesmaterialien“ in der Gesetzgebungspraxis, in: H. Fleischer (Hrsg.), Mysterium „Gesetzesmaterialien“ (2013), S. 118. 208 B. Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung (2017), S. 520. 209 A. Mennicken, Das Ziel der Gesetzesauslegung (1970), S. 28. 210 K. Schmidt, zitiert bei B. Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung (2017), S. 508. 211 W. Hassemer, ZRP 2007, 213, 215; M. Übelacker, Die genetische Auslegung in der jüngeren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (1993), S. 28. 212 D. Simon, Die Unabhängigkeit des Richters (1975), S. 74 f. 213 O. Depenheuer, DVBl 1987, 809, 812. 214 B. Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung (2017), S. 177 ff., 181; G. F. Schuppert, AöR 120 (1995), 32, 75. 215 B. Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung (2017), S. 177 ff., 181.

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Kap. 2: Begrenzung der Entscheidungsfindung mittels Interpretationsmethode

zialistische Lehre.216 Gerade in der Anfangszeit ermöglichten primär nicht positive Gesetzesänderungen, sondern eine grenzenlose Auslegungstheorie die schnelle „Entwicklung vom demokratischen Rechtsstaat der Weimarer Verfassung zum totalitären NS-Regime“.217 Teils wird dieser Befund noch immer bestritten und die subjektive Auslegungstheorie und blinder Gesetzesgehorsam werden für das Abgleiten in den Unrechtsstaat verantwortlich gemacht.218 Das Führerprinzip habe so besser umgesetzt werden können.219 Diese Analyse überzeugt für die Anfangsjahre der Unrechtsherrschaft nicht. Gerade zu Beginn des Nationalsozialismus galt noch überwiegend altes Recht, das vielmehr mittels objektiver Auslegungstheorie den neuen Herren angepasst wurde.220 Das weitgehend unveränderte Bürgerliche Gesetzbuch zur Zeit des Nationalsozialismus verdeutlicht beispielhaft, dass nicht neue Gesetze, sondern eine geänderte Auslegung unzählige Urteilssprüche ermöglichte, durch die Juden entrechtet wurden.221 Es handelt sich um eine „zentrale Lebenslüge der deutschen Juristen nach 1945“, dass der Positivismus maßgeblich schuld am Naziunrecht sei, statt die objektive Auslegungstheorie als Werkzeug für die Erosion des Rechtsstaats anzuerkennen.222 Damit versuchte eine ganze Juristengeneration, ihre eigene Verantwortung für das praktizierte Unrecht zu leugnen.223 Jede noch so gute oder falsche juristische Methode kann am Ende nicht gegen Unrecht durch Juristen schützen.224 Und die objektive Auslegungstheorie ist dabei das Mittel der Wahl für gelingende politische Systemwechsel, unabhängig davon welcher neuen Weltanschauung der Weg bereitet werden soll.225 216

B. Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung (2017), S. 183. B. Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung (2017), S. 502; C. Hillgruber, JZ 2008, 745, 754; C. Schott, „Rechtsgrundsätze“ und Gesetzeskorrektur (1975), S. 96. 218 H.-J. Strauch, Methodenlehre des gerichtlichen Erkenntnisverfahrens (2017), S. 465; H. Kramer, Zum Gebrauch und Missbrauch der juristischen Methode, in: S. Holzwarth u. a. (Hrsg.), Die Unabhängigkeit des Richters (2009), S. 34 f.; B. Rüthers, JZ 2002, 365, 369. Vgl. beispielhaft I. Mittenzwei, Teleologisches Rechtsverständnis (1988), S. 265. 219 K. Engisch, Einführung in das juristische Denken (2018), S. 134; H.-J. Strauch, Methodenlehre des gerichtlichen Erkenntnisverfahrens (2017), S. 465. 220 H. Kramer, Zum Gebrauch und Missbrauch der juristischen Methode, in: S. Holzwarth u. a. (Hrsg.), Die Unabhängigkeit des Richters (2009), S. 34 f.; J. Neuner, Die Rechtsfindung contra legem (1992), S. 113; P. Melin, Gesetzesauslegung in den USA und in Deutschland (2005), S. 230. 221 B. Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung (2017), S. 175 ff.; H. Kramer, Zum Gebrauch und Missbrauch der juristischen Methode, in: S. Holzwarth u. a. (Hrsg.), Die Unabhängigkeit des Richters (2009), S. 35 f.; P. Melin, Gesetzesauslegung in den USA und in Deutschland (2005), S. 230. 222 J. Wenzel, NJW 2008, 345, 346. 223 H. Kramer, Zum Gebrauch und Missbrauch der juristischen Methode, in: S. Holzwarth u. a. (Hrsg.), Die Unabhängigkeit des Richters (2009), S. 35. Vgl. auch B. Rüthers, NJW 1996, 1249 ff. 224 J. Rückert, JZ 2017, 965, 973 f. 225 B. Rüthers, JZ 2002, 365, 366 ff. 217

C. Exkurs: US-amerikanische verfassungsrechtliche Methodendiskussion

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III. Vereinigungstheorien Neben der reinen Lehre einer der beiden Theorien werden vielfach beide Theorien mit unterschiedlicher Akzentuierung vereinigt beziehungsweise kombiniert.226 Insbesondere die objektive Auslegungstheorie wird heute nur noch in abgeschwächter Form vertreten.227 Vermittelnd wird zum Beispiel vorgeschlagen, dass der Wille des Normgebers zwar nicht strikt befolgt, aber jedenfalls konsultiert werden muss.228 Andere propagieren eine auch in der Praxis häufig zu beobachtende Handhabung, wonach bei jüngeren Gesetzen dem Normgeberwillen eine größere Bedeutung zukommen soll.229 Wenn anfangs eine umfangreiche Kommentierung oder Rechtsprechung noch nicht vorhanden ist, dienen Gesetzesmaterialien als willkommene erste zitierfähige Quelle.230 Ziel aller Vereinigungs- bzw. Kombinationstheorien ist es, einen Ausgleich zwischen der „Legitimation der richterlichen Entscheidung durch Rückkopplung an den historischen Gesetzgeber“ einerseits und der „Möglichkeit der Anpassung des Gesetzes an gewandelte Verhältnisse“ andererseits zu erreichen.

C. Exkurs: US-amerikanische verfassungsrechtliche Methodendiskussion Der rechtsvergleichende Blick in die US-amerikanische Rechtskultur und Auslegungstradition erhebt keinen repräsentativen Anspruch. Er soll einzelne Impulse geben, im Kern begründet sich die juristische Methodenlehre aber aus der nationalen Rechtsordnung.231 Ein Vergleich mit anderen Rechtskulturen hinkt regelmäßig und 226 A. Mennicken, Das Ziel der Gesetzesauslegung (1970), S. 29 f.; P. Melin, Gesetzesauslegung in den USA und in Deutschland (2005), S. 251; E. A. Kramer, Juristische Methodenlehre (1998), S. 90 ff. 227 H.-J. Strauch, Methodenlehre des gerichtlichen Erkenntnisverfahrens (2017), S. 483; H. Fleischer, Gesetzesmaterialien im Spiegel der Rechtsvergleichung, in: H. Fleischer (Hrsg.), Mysterium „Gesetzesmaterialien“ (2013), S. 10; G. Hassold, ZZP 94 (1981), 192, 202. T. Wischmeyer, Zwecke im Recht des Verfassungsstaates (2015), S. 346 ff., meint die heute vertretenen objektiven Ansätze setzen erst dann an, „wo die Determinationskraft des Gesetzes an den Grenzen sprachlicher Bindung scheitert“ und damit die Ebene des Rechts verlassen wird. Allerdings stellt er selbst fest, dass die so gewonnenen Argumente entgegen seiner Erwartung dennoch bereits „als legitimes Argument im juristischen Diskurs“ verwendet werden. 228 E. A. Kramer, Juristische Methodenlehre (1998), S. 104; M. Sachs, DVBl 1984, 73, 74; C. Waldhoff, Gesetzesmaterialien aus verfassungsrechtlicher Perspektive, in: H. Fleischer (Hrsg.), Mysterium „Gesetzesmaterialien“ (2013), S. 92. 229 BVerfGE 54, 277, 297; E. A. Kramer, Juristische Methodenlehre (1998), S. 103; I. Mittenzwei, Teleologisches Rechtsverständnis (1988), S. 268. 230 U. Seibert, „Gesetzesmaterialien“ in der Gesetzgebungspraxis, in: H. Fleischer (Hrsg.), Mysterium „Gesetzesmaterialien“ (2013), S. 117. 231 H. Fleischer, Gesetzesmaterialien im Spiegel der Rechtsvergleichung, in: H. Fleischer (Hrsg.), Mysterium „Gesetzesmaterialien“ (2013), S. 3; ders., AcP 211 (2011), 317, 318;

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Kap. 2: Begrenzung der Entscheidungsfindung mittels Interpretationsmethode

kann bestenfalls impulsgebend sein, weil selbst bei vermeintlichen Grundprinzipien (wie beispielsweise dem Demokratieprinzip) kein einheitliches Verständnis vorzufinden ist.232 Die Übernahme einzelner Argumente bedarf weiterhin auch besonderer Vorsicht, weil es keinen einheitlichen westlichen Verfassungstypus gibt. Historisch begründete Unterschiede einzelner Rechtskreise sind nicht zu unterschätzen. So kann beispielsweise bei der Auslegung der „englische[n] Verfassung als historisch gewachsene[r], ,gewordene[r]‘ Verfassung […] mangels eines eindeutig identifizierbaren Verfassung[s]gebers“ nicht primär auf den Willen eines Verfassungsgebers abgestellt werden.233 Auch der rechtsvergleichende Blick in die US-amerikanische verfassungsrechtliche Methodendiskussion sollte daher keine zu großen Erwartungen wecken.

I. Die Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika Die Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika wurde am 17. 11. 1787 verabschiedet und im Laufe des folgenden Jahres ratifiziert. Sie bestand ursprünglich aus gerade einmal sieben Artikeln. Zehn erste Zusatzartikel wurden noch im 18. Jahrhundert ergänzt. Eine Änderung der Verfassung ist in Art. 5 der US-Verfassung geregelt. Das Erfordernis einer Zweidrittelmehrheit im Repräsentantenhaus und im Senat sowie der anschließenden Ratifikation durch drei Viertel der Bundesstaaten erschwert förmliche Verfassungsänderungen enorm.234 Diese hohen formellen Hürden erklären auch die gerade einmal 27 Zusatzartikel (amendments) in über 200 Jahren.235 Das hohe Alter der Verfassung spricht dennoch für eine hohe Erneuerungsfähigkeit.236 Sie ist aber auch dem überschaubaren Inhalt geschuldet.237

E. A. Kramer, Juristische Methodenlehre (1998), S. 31; K. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft (1991), S. 245; D. Looschelders/W. Roth, Juristische Methodik im Prozess der Rechtsanwendung (1996), S. 2 f. 232 A. Tschentscher, Demokratische Legitimation der dritten Gewalt (2006), S. 13; S. Simon, Grenzen des Bundesverfassungsgerichts im europäischen Integrationsprozess (2016), S. 8; C. Hillgruber, Verfassungsinterpretation, in: O. Depenheuer/C. Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie (2010), S. 529; U. Fülbier, Die Religionsfreiheit in der BRD und den Vereinigten Staaten von Amerika (2003), S. 24. 233 C. Hillgruber, Verfassungsinterpretation, in: O. Depenheuer/C. Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie (2010), S. 513. 234 J. Masing, Zwischen Kontinuität und Diskontinuität: Die Verfassungsänderung, in: R. Wahl (Hrsg.), Verfassungsänderung, Verfassungswandel, Verfassungsinterpretation (2008), S. 136. 235 R. Wahl, Verfassungsgebung – Verfassungsänderung – Verfassungswandel I, in: R. Wahl (Hrsg.), Verfassungsänderung, Verfassungswandel, Verfassungsinterpretation (2008), S. 37; B.-O. Bryde, Verfassungsentwicklung (1982), S. 56. 236 P. Häberle, ZfP 21 (1974), 111, 116. 237 B.-O. Bryde, Verfassungsentwicklung (1982), S. 88.

C. Exkurs: US-amerikanische verfassungsrechtliche Methodendiskussion

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II. Interpretationsansätze Die US-amerikanische Methodik ist in der Praxis geprägt vom Common Law.238 Das Gesetzesrecht (statutes) hat grundsätzlich nur eine Ersatzfunktion.239 Primäre Rechtsquelle ist hingegen „das durch richterliche Präjudizien geschaffene Recht“.240 Eine starke Fokussierung auf die Gesetzesbindung ist im Common Law schon denklogisch geringer angelegt und spiegelt sich so auch in der Praxis.241 Es fehlen von vorneherein vom Normgeber vorgegebene materiell-rechtliche Maßstäbe, die eine vergleichbar in Deutschland diskutierte Normbindung erlauben würde.242 Vielmehr wird das Recht durch gerichtliche Präjudizien geprägt.243 In der Rechtsprechung gibt es bis heute keine verbindliche einheitliche Methodenlehre für die Auslegung von Gesetzesrecht (statutory interpretation).244 Dies liegt auch daran, dass methodologische Aussagen der Gerichte nicht verbindlich sind.245 Aussagen zu Methodenfragen haben keine Präjudizwirkung.246 Rechtsfortbildung wird außerhalb des Common Law sehr kritisch gesehen.247 Die Diskussion über die richtige Methodik der Verfassungsinterpretation nimmt eine gewisse Sonderstellung ein, da die Verfassungsinterpretation primär Normtextinterpretation ist. Innerhalb der US-amerikanischen Rechtswissenschaft „konkurrieren eine Vielzahl von [Interpretations-]Strömungen miteinander“.248 Fast noch mehr als in der deutschen Diskussion leidet der Diskurs unter uneinheitlichen Terminologien und einer nicht mehr zu überblickenden Anzahl an unterschiedlichen

238 Vgl. dazu A. Schmitt Glaeser, Vorverständnis als Methode (2004), S. 43 ff.; U. Fülbier, Die Religionsfreiheit in der BRD und den Vereinigten Staaten von Amerika (2003), S. 24 f. 239 P. Melin, Gesetzesauslegung in den USA und in Deutschland (2005), S. 6 f. u. 50. 240 P. Melin, Gesetzesauslegung in den USA und in Deutschland (2005), S. 6. 241 S.-P. Hwang, Verfassungsgerichtlicher Jurisdiktionsstaat? (2005), S. 149. 242 S.-P. Hwang, Verfassungsgerichtlicher Jurisdiktionsstaat? (2005), S. 197 f. 243 C. D. Classen, JZ 2003, 693, 695; U. Fülbier, Die Religionsfreiheit in der BRD und den Vereinigten Staaten von Amerika (2003), S. 24 f. 244 H. Fleischer, Gesetzesmaterialien im Spiegel der Rechtsvergleichung, in: H. Fleischer (Hrsg.), Mysterium „Gesetzesmaterialien“ (2013), S. 33; A. Scalia, A Matter of Interpretation (1998), S. 14. 245 S. Foster, 96 Geo. L.J. (2008), 1863, 1872. 246 H. Fleischer, Gesetzesmaterialien im Spiegel der Rechtsvergleichung, in: H. Fleischer (Hrsg.), Mysterium „Gesetzesmaterialien“ (2013), S. 33. 247 P. Melin, Gesetzesauslegung in den USA und in Deutschland (2005), S. 310 ff.; W. Heun, AöR 116 (1991), 185, 194. 248 J. Riecken, Verfassungsgerichtsbarkeit in der Demokratie (2003), S. 35; W. Brugger, Grundrechte und Verfassungsgerichtsbarkeit in den Vereinigten Staaten von Amerika (1987), S. 345; U. Fülbier, Die Religionsfreiheit in der BRD und den Vereinigten Staaten von Amerika (2003), S. 46 ff. Vgl. zu den wesentlichen Ansätzen aus politikwissenschaftlicher Perspektive S. Dregger, Die Verfassungsinterpretation am US-Supreme Court (2019). S. 22 ff.

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Kap. 2: Begrenzung der Entscheidungsfindung mittels Interpretationsmethode

Schattierungen einzelner Theorien.249 Die verfassungsrechtliche Methodendiskussion ist zudem stark politisch aufgeladen.250 Die Vorstellung einzelner Ansätze bleibt dementsprechend auch angesichts der Kürze bruchstückhaft und holzschnittartig. Gemeinsamkeiten und Unterschiede zur deutschen Diskussion werden gleichwohl an mehreren Stellen sichtbar. 1. Intentionalismus Der Intentionalismus versucht „den Willen des historischen Gesetzgebers zu ermitteln“.251 Maßgebende Bedeutung bei der Interpretation soll danach der original intent haben.252 Dem kann auch der Wortlaut untergeordnet werden.253 Dem Normtext könnten unterschiedlichste Verständnisse zugeschrieben werden; erst der Wille des Normgebers verleihe dem Text eine Bedeutung.254 Ziel der „Jurisprudence of Original Intention“ ist es, die Auslegungsmöglichkeiten des Verfassungsgerichts zu begrenzen.255 Dem Normgeber als demokratisch legitimierter Gewalt und nicht den Gerichten soll die Entscheidungsgewalt zukommen.256 Insbesondere die moralischen Wertentscheidungen habe die Legislative zu treffen, sofern sich nicht die Verfassung selbst eindeutig äußere.257 Der Intentionalismus lässt sich von seiner Zielrichtung her mit der subjektiven Auslegungstheorie vergleichen.258 Auf verfas-

249

W. Brugger, Grundrechte und Verfassungsgerichtsbarkeit in den Vereinigten Staaten von Amerika (1987), S. 345. 250 P. Melin, Gesetzesauslegung in den USA und in Deutschland (2005), S. 314 ff.; H. Fleischer, Gesetzesmaterialien im Spiegel der Rechtsvergleichung, in: H. Fleischer (Hrsg.), Mysterium „Gesetzesmaterialien“ (2013), S. 38 f.; F. Reimer, Juristische Methodenlehre (2020), Rn. 249; U. Fülbier, Die Religionsfreiheit in der BRD und den Vereinigten Staaten von Amerika (2003), S. 45. 251 H. Fleischer, Gesetzesmaterialien im Spiegel der Rechtsvergleichung, in: H. Fleischer (Hrsg.), Mysterium „Gesetzesmaterialien“ (2013), S. 27; J. Riecken, Verfassungsgerichtsbarkeit in der Demokratie (2003), S. 34; P. Melin, Gesetzesauslegung in den USA und in Deutschland (2005), S. 116. 252 W. Heun, Verfassung und Verfassungsgerichtsbarkeit im Vergleich (2014), S. 213; J. Riecken, Verfassungsgerichtsbarkeit in der Demokratie (2003), S. 208 f.; F. Easterbrook, 11 Harv. J.L. & Pub. Pol’y (1988), 59, 60. 253 P. Melin, Gesetzesauslegung in den USA und in Deutschland (2005), S. 117. 254 S. Fish, 29 Cardozo L. Rev. (2008), 1109, 1111 ff. 255 W. Heun, AöR 116 (1991), 185, 186. 256 P. Melin, Gesetzesauslegung in den USA und in Deutschland (2005), S. 117; J. Riecken, Verfassungsgerichtsbarkeit in der Demokratie (2003), S. 226. 257 W. Heun, AöR 116 (1991), 185, 188. 258 T. Möllers, Juristische Methodenlehre (2021), § 4 Rn. 147; P. Melin, Gesetzesauslegung in den USA und in Deutschland (2005), S. 118; W. Heun, Verfassung und Verfassungsgerichtsbarkeit im Vergleich (2014), S. 224; K. Stern/M. Sachs, Staatsrecht III/2 (1994), S. 1642.

C. Exkurs: US-amerikanische verfassungsrechtliche Methodendiskussion

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sungsrechtlicher Ebene wird die Interpretationstheorie mit vergleichbarer Zielsetzung als Originalismus bezeichnet.259 Die Argumente, die gegen den Intentionalismus vorgebracht werden, sind der deutschen Methodendiskussion nicht fremd.260 Ein einheitlicher Wille des Normgebers könne nicht festgestellt werden.261 Es sei unmöglich, ihn zu (re-)konstruieren.262 Auf verfassungsrechtlicher Ebene gebe es insbesondere kaum Unterlagen der verfassungserstellenden Versammlung (convention in Philadelphia).263 Der Normtext und nicht der Normgeberwille sei verabschiedet worden und damit maßgeblich.264 Zudem könnten veränderte Verhältnisse nicht ausreichend berücksichtigt werden.265 2. Textualismus Nach der Lesart des Textualismus soll die Interpretation möglichst wortlautgetreu sein.266 Die grammatische Auslegung wird besonders betont.267 Vom Normgeber beabsichtigte Zwecke sind hingegen zu vernachlässigen. Allein eine strenge Wortlautauslegung sei verfassungskonform.268 Gesetzesmaterialien und sonstige externe Quellen hingegen teilten nicht die Form und das Verfahren des Gesetzestextes und

259 W. Heun, Verfassung und Verfassungsgerichtsbarkeit im Vergleich (2014), S. 213 ff.; P. Melin, Gesetzesauslegung in den USA und in Deutschland (2005), S. 102. Auf verfassungsrechtlicher Ebene fällt unter den Originalismus auch der Textualismus, vgl. J. Riecken, Verfassungsgerichtsbarkeit in der Demokratie (2003), S. 34; J. Reich, JöR 2017, 713, 715 ff. 260 H. Fleischer, Gesetzesmaterialien im Spiegel der Rechtsvergleichung, in: H. Fleischer (Hrsg.), Mysterium „Gesetzesmaterialien“ (2013), S. 27 ff.; P. Melin, Gesetzesauslegung in den USA und in Deutschland (2005), S. 119 ff. 261 P. Melin, Gesetzesauslegung in den USA und in Deutschland (2005), S. 119 ff.; J. Riecken, Verfassungsgerichtsbarkeit in der Demokratie (2003), S. 209 u. 218 ff. 262 J. Riecken, Verfassungsgerichtsbarkeit in der Demokratie (2003), S. 210; W. Brugger, Grundrechte und Verfassungsgerichtsbarkeit in den Vereinigten Staaten von Amerika (1987), S. 356 f. 263 W. Heun, AöR 116 (1991), 185, 189 ff.; ders., Verfassung und Verfassungsgerichtsbarkeit im Vergleich (2014), S. 218 f. 264 F. Easterbrook, 11 Harv. J.L. & Pub. Pol’y (1988), 59, 64; P. Melin, Gesetzesauslegung in den USA und in Deutschland (2005), S. 122 ff. 265 P. Melin, Gesetzesauslegung in den USA und in Deutschland (2005), S. 122. 266 H. Fleischer, Gesetzesmaterialien im Spiegel der Rechtsvergleichung, in: H. Fleischer (Hrsg.), Mysterium „Gesetzesmaterialien“ (2013), S. 29; T. Frieling, Gesetzesmaterialien und Wille des Gesetzgebers (2017), S. 98; P. Melin, Gesetzesauslegung in den USA und in Deutschland (2005), S. 134. 267 J. Riecken, Verfassungsgerichtsbarkeit in der Demokratie (2003), S. 34. 268 H. Fleischer, Gesetzesmaterialien im Spiegel der Rechtsvergleichung, in: H. Fleischer (Hrsg.), Mysterium „Gesetzesmaterialien“ (2013), S. 29 f.

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Kap. 2: Begrenzung der Entscheidungsfindung mittels Interpretationsmethode

dürften daher nicht herangezogen werden.269 Über die Materialien stimme der Normgeber nicht ab.270 Sie seien zudem anfällig für Manipulationen;271 durch die Hintertür könne die demokratische Kompromissentscheidung im Gesetz ausgehebelt werden.272 Auch aus Kosten-Nutzen-Erwägungen sei die zeitraubende Suche nach dem Willen des Normgebers bei eindeutigem Wortlaut wenig überzeugend.273 Der Textualismus führt zu einer tendenziell begrenzten Anwendung von Gesetzesrecht.274 Überwiegend wird ein entstehungszeitliches Begriffsverständnis für vorzugswürdig gehalten, was die Verarbeitung sozialen Wandels durch die Judikative stark einschränkt.275 Zur Bewältigung des sozialen Wandels soll mit Hinweis auf das Gewaltenteilungs- und Demokratieprinzip die Legislative legitimiert sein.276 Insoweit berufen sich Textualismus und Intentionalismus auf die gleichen verfassungsrechtlichen Grundsätze.277 Nicht von ungefähr firmieren daher auch die Vertreter des Textualismus in der verfassungsrechtlichen Methodendiskussion unter dem Stichwort „Originalismus“.278 Sie stellen dabei jedoch auf original meaning und nicht original intent ab.279 Kritisch wird dem Textualismus entgegengehalten, dass allein der Wortlaut häufig keine eindeutige Auslegung definiere.280 Vielmehr ist auch das historische Wort- und Textverständnis häufig mehrdeutig.281 Der Textualismus führe zudem nicht zu einer

269 A. Scalia, A Matter of Interpretation (1998), S. 29 ff.; H. Fleischer, Gesetzesmaterialien im Spiegel der Rechtsvergleichung, in: H. Fleischer (Hrsg.), Mysterium „Gesetzesmaterialien“ (2013), S. 30; P. Melin, Gesetzesauslegung in den USA und in Deutschland (2005), S. 135. 270 H. Fleischer, AcP 211 (2011), 317, 342; F. Easterbrook, 11 Harv. J.L. & Pub. Pol’y (1988), 59, 60; S. Fish, 29 Cardozo L. Rev. (2008), 1109, 1110. 271 S. Fish, 29 Cardozo L. Rev. (2008), 1109, 1110. 272 F. Easterbrook, 11 Harv. J.L. & Pub. Pol’y (1988), 59, 63; H. Fleischer, Gesetzesmaterialien im Spiegel der Rechtsvergleichung, in: H. Fleischer (Hrsg.), Mysterium „Gesetzesmaterialien“ (2013), S. 31; P. Melin, Gesetzesauslegung in den USA und in Deutschland (2005), S. 124 f. 273 A. Vermeule, Judging under Uncertainty (2006), S. 183 ff.; H. Fleischer, AcP 211 (2011), 317, 344. 274 P. Melin, Gesetzesauslegung in den USA und in Deutschland (2005), S. 137 f. 275 P. Melin, Gesetzesauslegung in den USA und in Deutschland (2005), S. 138 f.; J. Riecken, Verfassungsgerichtsbarkeit in der Demokratie (2003), S. 205 ff. 276 A. Scalia, A Matter of Interpretation (1998), S. 22; P. Melin, Gesetzesauslegung in den USA und in Deutschland (2005), S. 139. 277 P. Melin, Gesetzesauslegung in den USA und in Deutschland (2005), S. 139. 278 J. Riecken, Verfassungsgerichtsbarkeit in der Demokratie (2003), S. 34; S. Fish, 29 Cardozo L. Rev. (2008), 1109, 1110. 279 A. Scalia, A Matter of Interpretation (1998), S. 38; S. Fish, 29 Cardozo L. Rev. (2008), 1109, 1110. 280 P. Melin, Gesetzesauslegung in den USA und in Deutschland (2005), S. 142 f.; J. Riecken, Verfassungsgerichtsbarkeit in der Demokratie (2003), S. 207. 281 J. Riecken, Verfassungsgerichtsbarkeit in der Demokratie (2003), S. 207.

C. Exkurs: US-amerikanische verfassungsrechtliche Methodendiskussion

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besseren Gesetzgebung, sondern verleite „den Gesetzgeber zu einer übertriebenen Kasuistik“.282 3. Dynamic statutory interpretation/Kontextualismus Der letzte hier zu erwähnende Auslegungsansatz berücksichtigt den Willen der Verfassungsväter, allerdings eingebettet in den gegenwärtigen Kontext. Die Bedeutung eines Normtextes kann sich danach mit veränderten Verhältnissen wandeln.283 Aktuelle Bedürfnisse können dabei berücksichtigt werden.284 Dadurch soll eine zeitgerechte Auslegung ermöglicht werden.285 Durch eine solche dynamische Auslegung kann die Judikative Mängel der Gesetzgebung ausgleichen.286 Sehr unterschiedlich beurteilt wird, wie veränderte Verhältnisse festzustellen sind und nach welchen Maßstäben die konkreten Anpassungen vorzunehmen sind.287 In der verfassungsrechtlichen Diskussion wird diese Auslegungstheorie häufig unter dem Stichwort „Living Constitution“ thematisiert.288 Dieser Ansatz ist der objektiven Auslegungstheorie ähnlich. Nicht verwunderlich ist daher, dass ähnliche Kritikpunkte, insbesondere die Missachtung des Gewaltenteilungs- und Demokratieprinzips, vorgebracht werden.289 Es werde judicial activism betrieben und individuelle richterliche Wertvorstellungen umgesetzt.290 Es werde eine Bindung an die Verfassung suggeriert, obwohl vielmehr dem Willen des Interpreten maßgeblich Bedeutung zukommt.291

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P. Melin, Gesetzesauslegung in den USA und in Deutschland (2005), S. 146 f. P. Melin, Gesetzesauslegung in den USA und in Deutschland (2005), S. 148. 284 A. Scalia, A Matter of Interpretation (1998), S. 22. 285 T. Frieling, Gesetzesmaterialien und Wille des Gesetzgebers (2017), S. 100. 286 H. Fleischer, Gesetzesmaterialien im Spiegel der Rechtsvergleichung, in: H. Fleischer (Hrsg.), Mysterium „Gesetzesmaterialien“ (2013), S. 32; P. Melin, Gesetzesauslegung in den USA und in Deutschland (2005), S. 148. 287 Dazu m. w. N. P. Melin, Gesetzesauslegung in den USA und in Deutschland (2005), S. 153 ff. 288 F. Reimer, Juristische Methodenlehre (2020), Rn. 249; P. Melin, Gesetzesauslegung in den USA und in Deutschland (2005), S. 99; S. Dregger, Die Verfassungsinterpretation am USSupreme Court (2019). S. 97 ff. 289 P. Melin, Gesetzesauslegung in den USA und in Deutschland (2005), S. 159 ff.; W. Heun, Verfassung und Verfassungsgerichtsbarkeit im Vergleich (2014), S. 216 f.; A. Scalia, A Matter of Interpretation (1998), S. 22. 290 W. Heun, Verfassung und Verfassungsgerichtsbarkeit im Vergleich (2014), S. 216. 291 S. Fish, 29 Cardozo L. Rev. (2008), 1109, 1115. 283

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Kap. 2: Begrenzung der Entscheidungsfindung mittels Interpretationsmethode

III. Zwischenergebnis Eine zielführende vertiefte Auseinandersetzung mit der US-amerikanischen Methodendiskussion ist hier nicht zu leisten. Eine simple Übertragung dort gewonnener Erkenntnisse verbietet sich, da „die verfassungstheoretischen Prämissen und Positionen“ zu unterschiedlich sind und „die methodentheoretische Auseinandersetzung zu sehr durch politische Präferenzen überlagert“ wird.292 Speziell die Quellenlage und damit die Möglichkeit, den Willen des Verfassungsgebers zu rekonstruieren, unterscheidet sich grundlegend.293 Auch ist die in den Vereinigten Staaten äußerst eingeschränkte Möglichkeit der Verfassungsänderung nicht mit den Voraussetzungen des Grundgesetzes vergleichbar.294 Eine Verfassung, die hohe Hürden für eine textliche Änderung festschreibt, verlagert Verfassungsentwicklung maßgeblich in den Bereich der Interpretation.295 Unübersehbar sind gleichwohl wenig verwunderlich grundsätzliche Parallelen. So betonen Demokratie und Gewaltenteilung fördernde Ansätze den Normgeberwillen oder den Wortlaut. Auch die US-amerikanische Diskussion ist geprägt von der Frage, wie viel Interpretationsspielraum dem Rechtsanwender (zwangsläufig) einzuräumen ist. Nicht erstrebenswert wäre es, die deutsche Diskussion der US-amerikanischen vergleichbar politisch aufzuladen. Dies führt nur zu unnötiger Polemik und Schärfe,296 fördert aber nicht den rechtswissenschaftlichen Diskurs.

D. Verfassungskonforme Methodenkonzeption Der unendliche Methodenstreit soll nicht um ein langatmiges Kapitel auf verfassungsrechtlicher Ebene mit vielen Wiederholungen ergänzt werden. Vielmehr sollen auf Grundlage der bisherigen Ausführungen prägnant die Prämissen zusammengefasst werden, denen die verfassungsgerichtliche Interpretation gerecht werden muss (I.). Darauf aufbauend wird die Grundstruktur einer verfassungskonformen Methode herausgearbeitet, die eine Begrenzung der Entscheidungsgewalt des Bundesverfassungsgerichts am besten zu leisten vermag (II.). Anschließend sollen die gewichtigsten Einwände entkräftet werden (III.). Da sich die Methodenkon292 T. Wischmeyer, Zwecke im Recht des Verfassungsstaates (2015), S. 378; F. Reimer, Juristische Methodenlehre (2020), Rn. 249. 293 F. Reimer, Juristische Methodenlehre (2020), Rn. 249. 294 W. Heun, AöR 116 (1991), 185, 194 f.; ders., Verfassung und Verfassungsgerichtsbarkeit im Vergleich (2014), S. 236; C. Bäcker, AöR 143 (2018), 339, 367. 295 H. Ehmke, Grenzen der Verfassungsänderung (1953), S. 135; D. Grimm, Die Zukunft der Verfassung (1991), S. 22 ff; F. Hufen, NJW 1999, 1504, 1507; W.-R. Schenke, NJW 1979, 1321, 1322. 296 C. Hillgruber, Verfassungsinterpretation, in: O. Depenheuer/C. Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie (2010), S. 515; U. Fülbier, Die Religionsfreiheit in der BRD und den Vereinigten Staaten von Amerika (2003), S. 46.

D. Verfassungskonforme Methodenkonzeption

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zeption vor allem an ihrer Konkretheit und praktischen Handhabbarkeit messen lassen soll, wird auf Ausführungen zu einem theoretischen Überbau verzichtet. Dem Verständnis dieser Arbeit nach müssen sich auch verfassungstheoretische Aussagen interpretativ auf die Verfassung zurückführen lassen.297

I. Prämissen 1. Beachtung des Normgeberwillens Ausgangspunkt der Überlegungen dieses Kapitels war es, mittels juristischer Methode die Normbindung des Bundesverfassungsgerichts orientiert am Normgeberwillen zu gewährleisten. Naheliegend nach den bisherigen Ausführungen ist daher, die konkrete Ausgestaltung einer verfassungskonformen Interpretationslehre eng an der subjektiven Auslegungstheorie zu orientieren.298 Danach ist die Interpretation am Normgeberwillen auszurichten. Die rechtliche Notwendigkeit für die stärkere Betonung des Normgeberwillens ergibt sich, wie bereits an mehreren Stellen ausgeführt,299 zuvörderst aus dem Gewaltenteilungs- und Demokratieprinzip.300 Hierzu ist zusammenfassend nochmals auf die überzeugende Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in den letzten Jahren zu verweisen:301 Die Beachtung des klar erkennbaren Willens des Gesetzgebers ist Ausdruck demokratischer Verfassungsstaatlichkeit. Dies trägt dem Grundsatz der Gewaltenteilung (Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG) Rechnung. Das Gesetz bezieht seine Geltungskraft aus der demokratischen Legitimation des Gesetzgebers, dessen artikulierter Wille den Inhalt des Gesetzes daher mit bestimmt. Jedenfalls darf der klar erkennbare Wille des Gesetzgebers nicht übergangen oder verfälscht werden […].302 Der Richter darf sich nicht dem vom Gesetzgeber festgelegten Sinn und Zweck des Gesetzes entziehen. Er muss die gesetzgeberische Grundentscheidung respektieren und den Willen des Gesetzgebers unter gewandelten Bedingungen möglichst zuverlässig zur Geltung bringen. […] Eine Interpretation, die als richterliche Rechtsfortbildung den klaren Wortlaut 297 Die hier zugrunde gelegte Verfassungstheorie dürfte daher eine stark positivistische Akzentuierung haben, vgl. U. Volkmann, Der Staat 54 (2015), 35, 45 ff. 298 So auch C. Hillgruber, Verfassungsinterpretation, in: O. Depenheuer/C. Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie (2010), S. 513; D. Looschelders/W. Roth, Juristische Methodik im Prozess der Rechtsanwendung (1996), S. 31. 299 Vgl. insbesondere Kapitel 1 B. II. und III. 300 O. Depenheuer, Der Wortlaut als Grenze (1988), S. 55; C. Hillgruber, Verfassungsinterpretation, in: O. Depenheuer/C. Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie (2010), S. 522; A. v. Arnauld, Rechtstheorie 32 (2001), 465, 471; G. Hassold, ZZP 94 (1981), 192, 210; T. Frieling, Gesetzesmaterialien und Wille des Gesetzgebers (2017), S. 164. 301 Klarstellend ist anzumerken, dass die Rechtsprechung zur Interpretation des einfachen Rechts ergangen ist. S. auch C. Gröpl/Y. Georg, AöR 139 (2014), 125, 137. 302 BVerfGE 149, 126, 155.

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Kap. 2: Begrenzung der Entscheidungsfindung mittels Interpretationsmethode

des Gesetzes hintanstellt, keinen Widerhall im Gesetz findet und vom Gesetzgeber nicht ausdrücklich oder – bei Vorliegen einer erkennbar planwidrigen Gesetzeslücke – stillschweigend gebilligt wird, greift unzulässig in die Kompetenzen des demokratisch legitimierten Gesetzgebers ein.303 Der Respekt vor dem demokratisch legitimierten Gesetzgeber verbietet es, im Wege der Auslegung einem nach Sinn und Wortlaut eindeutigen Gesetz einen entgegengesetzten Sinn beizulegen oder den normativen Gehalt einer Vorschrift grundlegend neu zu bestimmen.304

2. Fehlende Dialogmöglichkeit Auf verfassungsrechtlicher Ebene ist weiterhin ein struktureller Unterschied im Verhältnis von Judikative und Legislative besonders relevant. Das Verhältnis der Obergerichte zum Gesetzgeber ist von einem ständigen „Dialog“ geprägt. Der Gesetzgeber kann regelmäßig kurzfristig korrigierend auf obergerichtliche Rechtsprechung reagieren, die nicht seinen Vorstellungen entspricht.305 Treffend ist vom jederzeitigen parlamentarischen Zugriffsrecht die Rede.306 Allein diese Möglichkeit zwingt die Gerichte, den Willen des Gesetzgebers ausreichend zu beachten. Denn der Gesetzgeber kann mittels einfacher Mehrheit jederzeit die von ihm gewünschte Art der Interpretation den Gerichten vorgeben. Er hat im Streitfall das letzte Wort. Anders hingegen gestaltet sich das Verhältnis des Bundesverfassungsgerichts zum Verfassungsgeber. Hier besteht durch die hohen Hürden für eine Änderung des Grundgesetzes ein umgekehrtes Machtgefälle.307 Entscheidet sich das Bundesverfassungsgericht für eine vom Willen des Verfassungsgebers losgelöste Interpretation, bürdet es dem Verfassungsgeber eine Zweidrittelmehrheit auf, wenn er die bisherige Interpretation beibehalten will. Diese hohe Hürde ist gerade bei politisch umstrittenen Themen vielfach kaum zu überwinden.308 Eine Besonderheit besteht zusätzlich darin, dass eine Interpretation des Bundesverfassungsgerichts, die den Schutz von Art. 79 Abs. 3 GG bemüht, auch durch den verfassungsändernden Gesetzgeber nicht

303

BVerfGE 128, 193, 210. BVerfGE 138, 296, 350. 305 O. Depenheuer, Der Wortlaut als Grenze (1988), S. 12; N. Schreier, Demokratische Legitimation von Verfassungsrichtern (2016), S. 72; G. Hirsch, JZ 2007, 853, 857. 306 H.-J. Strauch, Methodenlehre des gerichtlichen Erkenntnisverfahrens (2017), S. 467. 307 T. Würtenberger, Zur Legitimität des Verfassungsrichterrechts, in: B. Guggenberger/ T. Würtenberger (Hrsg.), Hüter der Verfassung oder Lenker der Politik? (1998), S. 58; O. Depenheuer, Der Wortlaut als Grenze (1988), S. 12 f.; D. Grimm, Verfassungsgerichtsbarkeit (2021), S. 171. 308 J. Riecken, Verfassungsgerichtsbarkeit in der Demokratie (2003), S. 378; B.-O. Bryde, Verfassungsentwicklung (1982), S. 137. 304

D. Verfassungskonforme Methodenkonzeption

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mehr angetastet werden kann.309 Diese Problematik ist immerhin dadurch ein wenig entschärft, dass das Bundesverfassungsgericht den Anwendungsbereich des Art. 79 Abs. 3 GG restriktiv auslegt.310 Strukturell hat das Bundesverfassungsgericht damit eine deutlich stärkere Stellung als die restliche Judikative, weil es an einer einfachen Korrekturmöglichkeit durch die Legislative fehlt. Die fehlende Möglichkeit zu Dialog und Korrektur macht es nötig, den Willen des Verfassungsgebers bei der Interpretation besonders zu berücksichtigen.311 Auch wenn dem Bundesverfassungsgericht das Recht zur Letztinterpretation der Verfassung zukommt, folgt daraus nicht, dass das Bundesverfassungsgericht in der Methode der Interpretation frei ist.312 3. Schranke des Art. 79 GG Art. 79 GG regelt ausdrücklich die Voraussetzungen einer textlichen Änderung des Grundgesetzes. Er sieht für eine Änderung des Grundgesetzes gemäß Absatz 1 Satz 1 vor, dass der Wortlaut ausdrücklich durch ein den formellen Anforderungen genügendes Gesetz geändert oder ergänzt werden muss. Dadurch soll im Gegensatz zur Verfassung des Deutschen Reiches von 1871 und zur Weimarer Reichsverfassung der Grundsatz der „Verfassungsklarheit“ gewährleistet und Verfassungstextdurchbrechungen verhindert werden.313 Nach der in Art. 79 Abs. 3 GG normierten Ewigkeitsgarantie ist eine Änderung des Grundgesetzes, durch welche die Gliederung des Bundes in Länder, die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung oder die in den Artikeln 1 und 20 niedergelegten Grundsätze berührt werden, unzulässig. Diese Regelungen dienen als Sicherung vor den leidvollen Erfahrungen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.314

309

B.-O. Bryde, Verfassungsentwicklung (1982), S. 107; T. Würtenberger, Zur Legitimität des Verfassungsrichterrechts, in: B. Guggenberger/T. Würtenberger (Hrsg.), Hüter der Verfassung oder Lenker der Politik? (1998), S. 58; ders., BH Staat 20 (2012), 287, 297. 310 BVerfGE 109, 279, 310; B.-O. Bryde, Verfassungsentwicklung (1982), S. 239 f.; J. Rozek, Verfassungsrevision, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), HStR, Band XII, 3. Aufl. 2014, § 257 Rn. 29. 311 A. A. N. Koschmieder, Grundrechtliche Dynamisierungsprozesse (2016), S. 153, der die hohen Hürden einer Korrektur verkennt. 312 C. Starck, Das Bundesverfassungsgericht in der Verfassungsordnung und im politischen Prozess, in: P. Badura/H. Dreier (Hrsg.), FS 50 Jahre BVerfG (2001), S. 18; relativierend: H. Dreier, in: Dreier, GG (2015), Art. 79 I Rn. 40. 313 M. Herdegen, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG (Juli 2021), Art. 79 Rn. 21 ff.; H. Dreier, in: Dreier, GG (2015), Art. 79 I Rn. 19. 314 J. Rozek, Verfassungsrevision, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), HStR, Band XII, 3. Aufl. 2014, § 257 Rn. 7 ff.; B. Schöbener, in: Friauf/Höfling, Berliner Kommentar zum GG (Mai 2021), Art. 79 Rn. 58 ff.

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Kap. 2: Begrenzung der Entscheidungsfindung mittels Interpretationsmethode

Art. 79 GG stellt damit argumentum a fortiori Grenzen für die Interpretation der Verfassung auf.315 Denn wenn die Grenzen zwischen Verfassungsinterpretation und Verfassungsgebung verwischen, werden die formellen und materiellen Änderungsvoraussetzungen von Art. 79 GG übergangen.316 Inhaltliche Änderungen des Grundgesetzes sind demokratietheoretisch legitimationsbedürftig.317 Es obliegt dem demokratisch am stärksten legitimierten Bundestag und Bundesrat, wahrgenommenen Änderungsbedarf nach dem qualifizierten Mehrheitsprinzip und öffentlicher Debatte im Grundgesetz umzusetzen.318 Nicht überzeugend ist es, qualifizierten Mehrheitserfordernissen, „weil sie Sperrminoritäten begünstigen“, ein Mehr an demokratischer Legitimation abzusprechen.319 Die demokratische Legitimation wächst mit dem Zustimmungsquorum des Demos; in der repräsentativen Demokratie mit der Zustimmung seiner Repräsentanten. Davon zu trennen ist die Frage, ob und wie die originäre verfassunggebende Gewalt (pouvoir constituant originaire) die abgeleitete verfassungsändernde Gewalt (pouvoir constituant dérivé) binden kann. Nach der ausdrücklichen Regelung des Grundgesetzes in Artikel 79 handelt es sich bei der Verfassungsänderung um eine „verfassungsrechtlich geordnete und gebundene Befugnis, die Verfassung durch Änderung oder Ergänzung ihres Textes an gewandelte Verhältnisse, Bedürfnisse und Einsichten anzupassen“.320 Weiter ginge die Warn- und Besinnungsfunktion des Art. 79 Abs. 1 Satz 1 GG ins Leere, wenn inhaltliche Verfassungsänderungen von einigem Gewicht jenseits von Textänderungen möglich wären.321 Auch die Verfassungsklarheit und damit die Informationsfunktion wäre gefährdet, wenn Inhalt und Text der Verfassung nicht mehr ohne Weiteres kongruent nachvollziehbar wären.322

315 H. Dreier, in: Dreier, GG (2015), Art. 79 I Rn. 39; N. Koschmieder, Grundrechtliche Dynamisierungsprozesse (2016), S. 121; a. A. L. Michael, RW 5 (2014), 426, 443, der hierfür verfassungstheoretische Gründe anführt, die aber normativ im Grundgesetz keine Stütze finden. 316 H. Simon, Verfassungsgerichtsbarkeit, in: E. Benda/W. Maihofer/H.-J. Vogel (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts (1994), S. 1670; R. Wahl, Verfassungsgebung – Verfassungsänderung – Verfassungswandel I, in: R. Wahl (Hrsg.), Verfassungsänderung, Verfassungswandel, Verfassungsinterpretation (2008), S. 44. 317 E. Peuker, Verfassungswandel durch Digitalisierung (2020), S. 89. 318 BVerfGE 33, 125, 159; 76, 171, 184; A. v. Arnauld, Rechtstheorie 32 (2001), 465, 470. 319 So aber m. w. N. E. Peuker, Verfassungswandel durch Digitalisierung (2020), S. 114 f.; L. Michael, RW 5 (2014), 426, 444. 320 J. Rozek, Verfassungsrevision, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), HStR, Band XII, 3. Aufl. 2014, § 257 Rn. 3; M. Herdegen, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG (Juli 2021), Art. 79 Rn. 7. 321 A. A. B. Schöbener, in: Friauf/Höfling, Berliner Kommentar zum GG (Mai 2021), Art. 79 Rn. 75, wonach die Warn- und Besinnungsfunktion nur für den verfassungsändernden Gesetzgeber gelte. 322 B. Schöbener, in: Friauf/Höfling, Berliner Kommentar zum GG (Mai 2021), Art. 79 Rn. 75.

D. Verfassungskonforme Methodenkonzeption

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Man mag dem Grundgesetz aufgrund der hohen Anforderungen an eine textliche Verfassungsänderung eine „konservative Tendenz“ attestieren.323 Das hier ausgeführte Verständnis von Art. 79 GG soll jedoch auch nicht dazu führen, „die Bedeutung des Grundgesetzes als im Zeitpunkt seines Inkrafttretens bis ins Detail fixiert zu begreifen“.324 Die Mütter und Väter des Grundgesetzes haben die Verfassung an vielen Stellen bewusst offen und zukunftsgerichtet gestaltet.325 Meist bietet der Normtext „lediglich Anfang, Richtung und Begrenzung der Interpretation“.326 Sofern der Normgeberwillen aber hinreichend deutlich bestimmbar ist, kommt ihm eine primäre Rolle bei der Interpretation zu.327 Diese Ankerfunktion muss ernst genommen werden. 4. Rationalitätsgarant Ureigene Aufgabe der juristischen Methode ist es, eine nachvollziehbare Begründung rechtlicher Entscheidungen zu gewährleisten.328 Gerade weil „eine Objektivität im absoluten Sinne“ nicht zu erreichen ist, gilt es, „den Rechtsfindungsprozess so rational wie möglich zu gestalten“.329 Sofern möglich, wie bei der Berücksichtigung der Materialien, soll ein empirischer Ansatz gewählt werden.330 Eine einheitliche, allgemein für richtig erkannte Methodik garantiert idealerweise eine voraussehbare und überprüfbare Rechtsfindung und Rechtsanwendung.331 Da der Methodik neben der Begründungsfunktion auch eine Begrenzungsfunktion zukommen soll, gilt für sie im besonderen Maße, dass sie rational nachvollziehbar sein muss.332 Das erfordert, dass im Streitfall die angewandte Methodik benannt und 323

E. Tosch, Die Bindung des verfassungsändernden Gesetzgebers an den Willen des historischen Verfassungsgebers (1979), S. 137. 324 P. Lassahn, Rechtsprechung und Parlamentsgesetz (2017), S. 10. 325 P. Lassahn, Rechtsprechung und Parlamentsgesetz (2017), S. 10. 326 P. Lassahn, Rechtsprechung und Parlamentsgesetz (2017), S. 10. 327 C. Starck, VVDStRL 34 (1975), 43, 72. 328 W. Fiedler, Sozialer Wandel, Verfassungswandel, Rechtsprechung (1972), S. 58; R. A. Rhinow, Rechtsetzung und Methodik (1979), S. 2. Zu differenzierenden Rationalitätsstandards vgl. C. Bumke, Konzepte der Verfassungsentwicklung, in: M. Jestaedt/H. Suzuki (Hrsg.), Verfassungsentwicklung I (2017), S. 49 ff.; D. Looschelders/W. Roth, Juristische Methodik im Prozess der Rechtsanwendung (1996), S. 21; M. Sehl, Was will der Gesetzgeber? (2019), S. 90 ff. 329 R. Schlothauer, Zur Krise der Verfassungsgerichtsbarkeit (1979), S. 57; M. Kloepfer, Verfassungsrecht I (2011), S. 27. 330 M. v. Landenberg-Roberg/M. Sehl, RW 6 (2015), 135, 139. 331 H.-J. Strauch, Methodenlehre des gerichtlichen Erkenntnisverfahrens (2017), S. 24; B. Pieroth/T. Aubel, JZ 2003, 504; K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland (1999), Rn. 51; M. Kloepfer, Verfassungsrecht I (2011), S. 27. Dass diese Prämisse durchaus auch angezweifelt wird, soll hier nicht vertieft werden. Dazu m. w. N. H.-J. Strauch, Methodenlehre des gerichtlichen Erkenntnisverfahrens (2017), S. 24 f. 332 T. Frieling, Gesetzesmaterialien und Wille des Gesetzgebers (2017), S. 18 f.

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Kap. 2: Begrenzung der Entscheidungsfindung mittels Interpretationsmethode

entsprechend befolgt wird. „Ziel juristischer Objektivität“ ist daher „Transparenz, Kontrollierbarkeit und größtmögliche Diskutierbarkeit des Rechtsfindungsprozesses“.333 Eine „Pflicht zu größerer Methodenstrenge und Methodenehrlichkeit“ ist damit Voraussetzung einer wirksamen Begrenzung der Interpretationsprärogative des Bundesverfassungsgerichts.334 5. Richterliche Pragmatik Eine praxisorientierte juristische Methodenlehre muss zuletzt auch richterliche Pragmatik berücksichtigen.335 So müssen methodische Postulate, die zur Begründung von Entscheidungen herangezogen werden, noch nicht zwingend immer auch bei Rechtsfindung Berücksichtigung gefunden haben. In der Praxis läuft (auch zukünftig) die Rechtsfindung häufig nicht streng an einer juristischen Methodenlehre orientiert ab.336 Dennoch hat die Pflicht zur methodischen Begründung Auswirkung auf die Rechtsfindung. Einerseits weil der methodische Maßstab mit der Zeit verinnerlicht wird, andererseits weil nicht jedes Ergebnis bei streng regelgeleiteter Methodik nachträglich beliebig gerechtfertigt werden kann.337 Je kontroverser die Suche nach dem richtigen Ergebnis verläuft, desto eher neigen Richter dazu, sich auf originär „juristische“, methodische Argumente zurückzuziehen.338 So wird auch weiterhin gelten, dass die Entscheidungsfindung im konkreten Fall von einer Vielzahl von Faktoren, insbesondere der jeweiligen Richterpersönlichkeit, abhängig ist.339 So ist die Qualität richterlicher Arbeit immer auch von einer ausreichenden Reflexion des persönlichen und politischen Vorverständnisses geprägt. Gleichwohl soll die juristische Methode ihren Beitrag dazu leisten, die Bedeutung der „zufälligen“ Faktoren so gering wie möglich zu halten.340 Es geht darum, die Interpretationsmethode so rational wie möglich zu konstruieren. Sie muss eine gewisse Wiederholbarkeit garantieren. Auch wenn Anspruch und Wirklichkeit teils auseinanderklaffen, soll dem Bundesverfassungsgericht die juristische Methode 333

R. Schlothauer, Zur Krise der Verfassungsgerichtsbarkeit (1979), S. 57. B. Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung (2017), S. 503; B. Rüthers/C. Fischer/A. Birk, Rechtstheorie (2020), Rn. 794 u. 813; H. Fleischer, Gesetzesmaterialien im Spiegel der Rechtsvergleichung, in: H. Fleischer (Hrsg.), Mysterium „Gesetzesmaterialien“ (2013), S. 9. 335 W. Hassemer, ZRP 2007, 213, 217. 336 W. Hassemer, ZRP 2007, 213, 218; R. Lautmann, Justiz – die stille Gewalt (2011) S. 101 ff.; B. Schlink, Der Staat 19 (1980), 73, 87; R. A. Rhinow, Rechtsetzung und Methodik (1979), S. 4. 337 B. Schlink, Der Staat 19 (1980), 73, 88; R. Wank, Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung (1978), S. 28. 338 R. Lautmann, Justiz – die stille Gewalt (2011) S. 104. 339 Vgl. dazu nur J. Schmid/T. Drosdeck/D. Koch, Der Rechtsfall – ein richterliches Konstrukt (1997); A. v. Arnauld, Rechtstheorie 32 (2001), 465, 478; R. Lautmann, Justiz – die stille Gewalt (2011) S. 101 ff. 340 C. Starck, VVDStRL 34 (1975), 43, 73. 334

D. Verfassungskonforme Methodenkonzeption

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dazu dienen, die richtige Entscheidung zu finden und nicht nachträglich für das vorab als richtig empfundene Ergebnis eine Begründung lege artis zu liefern.341

II. Konkrete Ausgestaltung Das Grundgesetz schreibt (ausdrücklich) keine bestimmte Interpretationsmethode vor.342 Doch auch wenn das Grundgesetz keine ausdrücklichen Regelungen zur Interpretationsmethode enthält, ist die Bestimmung einer Methode, „die mit den Wert- und Strukturentscheidungen des Grundgesetzes am besten in Einklang steht“, durchaus möglich.343 Nimmt man die Wert- und Strukturentscheidungen ernst, müssen sie auch bei der Wahl der Interpretationsmethode Berücksichtigung finden.344 Es gibt keine freie Wahl der Interpretationsmethode.345 Zu Recht wird aber auf die Begrenztheit eines solchen Ansatzes verwiesen. Weder lässt sich aus dem Grundgesetz eine bis ins Detail fixierte Methodenlehre entnehmen,346 noch wird diese verfassungskonforme Methodenkonzeption häufig nur zu einem einzigen Interpretationsergebnis führen. „Die klassischen juristischen Denkformen“ geben gerade bei der Lösung von Grundrechtskollisionen selten eindeutige Antworten.347 Dort, wo sich solche Grenzen aber ermitteln lassen, sind diese auch zu beachten. Die Methode muss eine zumindest „– begrenzte – Rechtsgewissheit“ leisten können.348 Sie vermag nicht zwingend einzelne Entscheidungen zu determinieren, wohl aber Entscheidungsspielräume. Die Interpretationsmethode begrenzt das Bundesverfassungsgericht folglich primär durch seine falsifizierende Form.349 Sie ermöglicht festzustellen, welche Interpretationsergebnisse nicht mehr

341

J. Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung (1972), S. 7 f. BVerfGE 88, 145, 166 f.; R. P. Schenke, Methodenlehre und Grundgesetz, in: H. Dreier (Hrsg.), Macht und Ohnmacht des Grundgesetzes (2009), S. 72; F. Reimer, Verfassungsprinzipien (2001), S. 129. 343 Kritisch J. Riecken, Verfassungsgerichtsbarkeit in der Demokratie (2003), S. 325. 344 H. H. v. Arnim/S. Brink, Methodik der Rechtsbildung unter dem Grundgesetz (2001), S. 246; C. Hillgruber, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG (Juli 2021), Art. 97 Rn. 56; D. Looschelders/W. Roth, Juristische Methodik im Prozess der Rechtsanwendung (1996), S. 31. 345 C. Starck, Maximen der Verfassungsauslegung, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), HStR, Band XII, 3. Aufl. 2014, § 271 Rn. 34. 346 F. Kruse, Die verfassungsrechtlichen Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung (2019), S. 57 f. 347 U. Volkmann, Grundzüge einer Verfassungslehre der Bundesrepublik Deutschland (2013), S. 134. 348 K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland (1999), Rn. 76. 349 B. Schlink, Der Staat 19 (1980), 73, 101; R. Alexy, Theorie der Grundrechte (1985), S. 502 ff.; C. Gusy, JöR 1984, 105, 122. 342

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Kap. 2: Begrenzung der Entscheidungsfindung mittels Interpretationsmethode

vertretbar sind. Dort, wo der Normgeber Freiräume gelassen hat, besteht ein Gestaltungs- und Entscheidungsspielraum des Rechtsanwenders.350 Die hier vorgeschlagene Methodenkonzeption unterscheidet dabei zwischen Auslegung (1) und Rechtsfortbildung (2). Die Methodik soll, wie dies in der deutschen Rechtswissenschaft traditionell vertreten wird,351 den Normtext als Ausgangsund Mittelpunkt der Rechtsanwendung berücksichtigen.352 Der Umgang mit Lücken in der kodifizierten Rechtsordnung unterliegt als Ausnahme besonderen Regeln.353 1. Auslegung Ausgangspunkt für die Auslegung des Grundgesetzes ist die herkömmliche juristische Methodenlehre.354 Die anerkannten Auslegungsmethoden sind auch nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts maßgeblich für die Auslegung der Verfassung.355 Vor ihrem Hintergrund entstand das Grundgesetz.356 Ziel der Auslegung ist die „Vergegenwärtigung“ des historisch entrückten Willens des Verfassungsgebers oder verfassungsändernden Gesetzgebers als Normsetzer (als „innerer“ Tatsache), „den es durch Ermittlung indizieller („äußerer“) Hilfstatsachen (wie Wortlaut, systematischer Kontext und Gesetzesmaterialien) festzustellen

350 C. Hillgruber, Verfassungsinterpretation, in: O. Depenheuer/C. Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie (2010), S. 519; C. Starck, Maximen der Verfassungsauslegung, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), HStR, Band XII, 3. Aufl. 2014, § 271 Rn. 22. 351 K. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft (1991), S. 320 ff.; B. Rüthers/ C. Fischer/A. Birk, Rechtstheorie (2020), Rn. 697; F. Reimer, Juristische Methodenlehre (2020), Rn. 260. 352 P. Lassahn, Rechtsprechung und Parlamentsgesetz (2017), S. 10; H. Honsell, ZfPW 2016, 106, 120. 353 P. Lassahn, Rechtsprechung und Parlamentsgesetz (2017), S. 19. 354 M. Sachs, in: Sachs, GG (2021), Einf. Rn. 37; C. Starck, Das Bundesverfassungsgericht in der Verfassungsordnung und im politischen Prozess, in: P. Badura/H. Dreier (Hrsg.), FS 50 Jahre BVerfG (2001), S. 19; P. Lerche, Stil und Methode der verfassungsrechtlichen Entscheidungspraxis, in: P. Badura/H. Dreier (Hrsg.), FS 50 Jahre BVerfG (2001), S. 356; R. Alleweldt, Bundesverfassungsgericht und Fachgerichtsbarkeit (2006), S. 17; K. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft (1991), S. 363; H. Maurer, Staatsrecht I (2010), S. 18; R. Zippelius/T. Würtenberger, Deutsches Staatsrecht (2018), S. 58 f.; M. Kloepfer, Verfassungsrecht I (2011), S. 27; P. Badura, Staatsrecht (2018), S. 26; M. Herdegen, JZ 2004, 873, 875. Dies gilt auch heute noch, auch wenn bereits in den Anfangsjahren des Grundgesetzes die Aufgabe der traditionellen Auslegungsmethoden bei der Verfassungsauslegung im Bereich der Grundrechte beklagt wurde, vgl. E. Forsthoff, Die Umbildung des Verfassungsgesetzes, in: H. Barion u. a. (Hrsg.), FS Schmitt (1959), S. 51. 355 BVerfGE 136, 69, 103; H. Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG (2020), Einl. Rn. 5; ders., DÖV 2019, 457, 460; N. Schreier, Demokratische Legitimation von Verfassungsrichtern (2016), S. 71; K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland (1999), Rn. 54; A. Bleckmann, JuS 2002, 942. 356 P. Häberle, in: Neuausgabe des JöR Band 1 (2010), S. XVI f.

D. Verfassungskonforme Methodenkonzeption

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gilt“.357 Maßgebliche Bedeutung zur Ermittlung des Normgeberwillens kommen mithin den Auslegungsmitteln Wortlaut, Systematik und Entstehungsgeschichte zu. Denn das, was der Normgeber „mit seinem Text (dem Wortlaut) anordnet, ist [regelmäßig] auch das, was [… er] gemeint und gewollt hat, und wenn sich das Gesagte und das Gemeinte widerspruchsfrei in den Zusammenhang der anderen Regelungen […] einfügt“ und durch die Entstehungsgeschichte bestätigt wird, ist der Rechtsanwender daran gebunden.358 Es gilt allerdings lediglich ein Vorrang und kein Vorbehalt des Normgeberwillens.359 Ist kein Normgeberwille (mit relativer Gewissheit) festzustellen, steht das einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts nicht entgegen. a) Wortlaut Ausgangspunkt jeder Auslegung ist der Wortlaut.360 Dies gilt auch für die Auslegung des Grundgesetzes.361 Der Verfassungstext ist das Medium des Willens des Verfassungsgebers; er verkörpert ihn, ist aber nicht eins zu eins mit ihm gleichzusetzen.362 Im Normtext artikuliert der Normgeber seine demokratische Entscheidung.363 Das Gesagte ist ein entscheidendes Indiz für die Ermittlung des Gewollten.364 Ihm kommt eine zentrale Rolle zu.365 Angesichts der offenen Begriffe des Verfassungstextes wird das Gesagte allein ohne weitere Auslegungsmittel allerdings äußerst selten eindeutige Hinweise auf den Normgeberwillen geben können. Die grammatische Auslegung geht bei der Suche nach dem Normgeberwillen der sprachlichen Bedeutung des Normtextes nach. Dabei geht fachliches Begriffsver357

C. Hillgruber, VVDStRL 67 (2008), 7, 43 f. H.-J. Strauch, Methodenlehre des gerichtlichen Erkenntnisverfahrens (2017), S. 514; C. Bäcker, AöR 143 (2018), 339, 369. 359 So treffend F. Reimer, Juristische Methodenlehre (2020), Rn. 251 ff.; ders., Verfassungsprinzipien (2001), S. 140. 360 BVerfGE 122, 248, 283; 133, 168, 205; K. F. Röhl/H. C. Röhl, Allgemeine Rechtslehre (2008), S. 613; K. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft (1991), S. 320; O. Depenheuer, Der Wortlaut als Grenze (1988), S. 15; P. Badura, Staatsrecht (2018), S. 27; A. Mennicken, Das Ziel der Gesetzesauslegung (1970), S. 14; H.-J. Strauch, Methodenlehre des gerichtlichen Erkenntnisverfahrens (2017), S. 515; T. Möllers, Juristische Methodenlehre (2021), § 4 Rn. 39; M. Staake, JURA 2011, 177, 179; I. Mittenzwei, Teleologisches Rechtsverständnis (1988), S. 230; H. D. Jarass, DÖV 2019, 457, 460. 361 H. D. Jarass, DÖV 2019, 457, 460; P. Badura, Wieviel Interpretation verträgt die Verfassung?, in: P. Eisenmann/B. Rill (Hrsg.), Jurist und Staatsbewusstsein (1987), S. 7; H. Maurer, Staatsrecht I (2010), S. 19; R. Zippelius/T. Würtenberger, Deutsches Staatsrecht (2018), S. 59; M. Kloepfer, Verfassungsrecht I (2011), S. 28. Beispielhaft BVerfGE 102, 26, 39; 121, 205, 232; 139, 245, 269. 362 M. Jestaedt, Grundrechtsentfaltung im Gesetz (1999), S. 229 f. 363 BVerfGE 149, 126, 155. 364 H.-J. Strauch, Methodenlehre des gerichtlichen Erkenntnisverfahrens (2017), S. 514 f. 365 P. Lassahn, Rechtsprechung und Parlamentsgesetz (2017), S. 10. 358

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Kap. 2: Begrenzung der Entscheidungsfindung mittels Interpretationsmethode

ständnis dem alltagsprachlichen vor.366 Mehrfach verwendete Begriffe haben nicht zwingend immer die gleiche Bedeutung,367 wie das Beispiel der „verfassungsmäßigen Ordnung“ in Art. 2 Abs. 1 GG (verfassungsmäßige Rechtsordnung), in Art. 9 Abs. 2 GG (freiheitlich-demokratische Grundordnung) und in Art. 20 Abs. 3 GG (die Gesamtheit der Verfassungsbestimmungen) zeigt.368 Begriffe des einfachen Rechts sind nicht zwingend mit der Terminologie des Grundgesetzes identisch, vergleiche nur „Eigentum“ in Art. 14 GG.369 Damit der Wortlaut eine begrenzende Wirkung entfalten kann, ist er nach seiner zeitgebundenen Bedeutung zu befragen.370 Ein „relevante[r] Sprachwandel seit der Verfassungsgebung“ ist daher aufzuklären.371 In Einzelfällen kann das Gewollte auch über das Gesagte hinausgehen. Daher ist die Überschreitung eines eindeutigen Wortlauts möglich.372 Es handelt sich dann aber nicht mehr um Auslegung, sondern um Rechtsfortbildung.373 Eine Interpretation, die allein das Medium für bedeutsam ansähe, verwechselte Inhalt und Form der Normgebung.374 b) Systematik Die systematische Auslegung sucht nach dem „Sinnzusammenhang im Regelungsgefüge“ der Norm.375 Bezugspunkte können dabei der konkrete Artikel des Grundgesetzes, verwandte Regelungsbereiche oder das Grundgesetz in seiner Gesamtheit sein.376 Die systematische Auslegung überprüft Auslegungsalternativen auf 366 H. H. v. Arnim/S. Brink, Methodik der Rechtsbildung unter dem Grundgesetz (2001), S. 237; K. Stern/M. Sachs, Staatsrecht III/2 (1994), S. 1660; H. Maurer, Staatsrecht I (2010), S. 19; B. Rüthers/C. Fischer/A. Birk, Rechtstheorie (2020), Rn. 741; F. Reimer, Juristische Methodenlehre (2020), Rn. 299 f.; J. Neuner, Die Rechtsfindung contra legem (1992), S. 121 f. 367 BVerfGE 6, 32, 38. 368 H. Maurer, Staatsrecht I (2010), S. 19; R. Zippelius/T. Würtenberger, Deutsches Staatsrecht (2018), S. 59. 369 H. Maurer, Staatsrecht I (2010), S. 19; R. Zippelius/T. Würtenberger, Deutsches Staatsrecht (2018), S. 59. 370 Vgl. Kapitel 2 A. II. 1.; ebenso J. Neuner, Die Rechtsfindung contra legem (1992), S. 121; D. Looschelders/W. Roth, Juristische Methodik im Prozess der Rechtsanwendung (1996), S. 62 u. 139. 371 F. Reimer, Verfassungsprinzipien (2001), S. 137. 372 B. Rüthers/C. Höpfner, JZ 2005, 21; J. Neuner, Die Rechtsfindung contra legem (1992), S. 114. 373 R. Zippelius/T. Würtenberger, Deutsches Staatsrecht (2018), S. 59. 374 H. H. v. Arnim/S. Brink, Methodik der Rechtsbildung unter dem Grundgesetz (2001), S. 260. 375 H. H. v. Arnim/S. Brink, Methodik der Rechtsbildung unter dem Grundgesetz (2001), S. 262; K. Stern/M. Sachs, Staatsrecht III/2 (1994), S. 1661; M. Kloepfer, Verfassungsrecht I (2011), S. 29; T. Möllers, Juristische Methodenlehre (2021), § 4 Rn. 92. 376 BVerfGE 109, 279, 316; 132, 1, 30 ff.; 137, 108, 142 f. u. 153; M. Sachs, in: Sachs, GG (2021), Einf. Rn. 42; H. D. Jarass, DÖV 2019, 457, 460.

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Kohärenz.377 Dem liegt der Gedanke zugrunde, dass der Normgeber Sachverhalte in einem in sich stimmigen System geregelt wissen will.378 Systematische Argumente ohne Bezug zu einer „sachlich-ordnende[n] Hand“ des Normgebers würden allein der zufälligen Anordnung der Normen einen Bedeutungsgehalt zuschreiben.379 Die Systematik lässt folglich vielfach auf den Normgeberwillen schließen.380 Ihr kommt daher „eine nicht unerhebliche Indizwirkung zu“.381 Der systematischen Auslegung können die Auslegungsgrundsätze „lex specialis derogat legi generali“ und „lex posterior derogat legi priori“ zugeordnet werden.382 Die systematische Auslegung wahrt weiterhin die Einheit der Verfassung, indem sie das Gesamtgefüge der Verfassung berücksichtigt.383 Dem Verfassungsgeber wird unterstellt, dass er grundsätzlich ein konsistentes, widerspruchsfreies Sinngebilde erschaffen wollte, „weil das Wesen der Verfassung darin besteht, eine einheitliche Ordnung des politischen und gesellschaftlichen Lebens der staatlichen Gemeinschaft zu sein“384. Dies rechtfertigt es beispielsweise, „die unbeschränkt gewährleisteten Grundrechte durch verfassungsimmanente Schranken, nämlich durch Grundrechte Dritter oder durch Staatsstrukturprinzipien, zu begrenzen“.385 Ausdruck einer systematischen Auslegung ist auch das Prinzip der praktischen Konkordanz, das bei kollidierenden Verfassungsnormen beide Normen zur optimalen Entfaltung bringt und schonend ausgleicht.386 377

H.-J. Strauch, Methodenlehre des gerichtlichen Erkenntnisverfahrens (2017), S. 516. BVerfGE 124, 25, 40 f.; H.-J. Strauch, Methodenlehre des gerichtlichen Erkenntnisverfahrens (2017), S. 516; D. Looschelders/W. Roth, Juristische Methodik im Prozess der Rechtsanwendung (1996), S. 149 f. 379 C. Hillgruber, Verfassungsinterpretation, in: O. Depenheuer/C. Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie (2010), S. 525. 380 BVerfGE 124, 25, 39; C. Hillgruber, Verfassungsinterpretation, in: O. Depenheuer/ C. Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie (2010), S. 514. 381 BVerfGE 133, 168, 205; 122, 248, 283 f. 382 H. D. Jarass, DÖV 2019, 457, 460; B. Rüthers/C. Fischer/A. Birk, Rechtstheorie (2020), Rn. 771 ff. 383 BVerfGE 55, 274, 300; H. Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG (2020), Einl. Rn. 7; H. H. v. Arnim/S. Brink, Methodik der Rechtsbildung unter dem Grundgesetz (2001), S. 238; C. Starck, Maximen der Verfassungsauslegung, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), HStR, Band XII, 3. Aufl. 2014, § 271 Rn. 20; M. Herdegen, JZ 2004, 873, 876; B. Schlink, Der Staat 19 (1980), 73, 92; H. Maurer, Staatsrecht I (2010), S. 23 f.; R. Zippelius/T. Würtenberger, Deutsches Staatsrecht (2018), S. 62; T. Möllers, Juristische Methodenlehre (2021), § 4 Rn. 128; F. Reimer, Juristische Methodenlehre (2020), Rn. 330. 384 BVerfGE 19, 206, 220. 385 R. Zippelius/T. Würtenberger, Deutsches Staatsrecht (2018), S. 62. 386 BVerfGE 140, 240, 294; H. D. Jarass, DÖV 2019, 457, 460 f.; C. Starck, Maximen der Verfassungsauslegung, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), HStR, Band XII, 3. Aufl. 2014, § 271 Rn. 20; M. Herdegen, JZ 2004, 873, 876; B. Rüthers/C. Fischer/A. Birk, Rechtstheorie (2020), Rn. 776; D. Looschelders/W. Roth, Juristische Methodik im Prozess der Rechtsanwendung (1996), S. 205 f.; J. Lege, Was leistet „die“ Juristische Methode (und Methodenlehre)?, in: S. Hähnchen (Hrsg.), Eine Methodenlehre oder viele Methoden? (2020), S. 40. 378

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Kap. 2: Begrenzung der Entscheidungsfindung mittels Interpretationsmethode

c) Historie, Entstehungsgeschichte und Materialien Die Begriffe der „historischen“ und „genetischen“ Auslegung werden, wie bereits erwähnt,387 nicht einheitlich definiert, geschweige denn einheitlich verwendet. Entscheidend ist aber auch vielmehr, auf welche Weise die Entstehungsgeschichte und die Materialien zur Ermittlung des Normgeberwillens fruchtbar gemacht werden können. Die historische Auslegung beschäftigt sich mit der Entstehungsgeschichte des jeweiligen Artikels.388 Die Väter und Mütter des Grundgesetzes haben die Verfassung auch im Hinblick auf die Erfahrungen mit der Weimarer Reichsverfassung, der Reichsverfassung von 1871 und der Frankfurter Reichsverfassung von 1849 gestaltet.389 Es gilt das geflügelte Wort „Weimar als Argument“.390 Von besonderer Bedeutung bei der Untersuchung der Entstehungsgeschichte ist auch der Verfassungsentwurf von Herrenchiemsee, aber auch die jungen süddeutschen Landesverfassungen.391 Im Rahmen der historischen Argumentation ist danach zu fragen, inwieweit der Verfassungsgeber an vorangegangene Verfassungstradition anknüpfen oder vielmehr damit brechen wollte.392 Es handelt sich exakter bezeichnet um historisch-rechtsvergleichende Auslegung.393 Denn sie vergleicht den aktuellen Normtext mit älteren Normfassungen oder Entwurfsfassungen.394 Dabei sollte in schwierigen Fällen auch „die seinerzeitige Verwaltungs- und Rechtsprechungspraxis“ als Hilfestellung herangezogen werden.395 Der historische Sachzusammenhang hilft weiterhin, die „Sprache und Begriffswelt des Verfassungsrechts“ aufzuklären.396 Von Bedeutung sind dabei „die sozialen, wirtschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen“.397 Untersucht wird der ob387

Vgl. Kapitel 2 B. I. 2. BVerfGE 88, 40, 56; H. Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG (2020), Einl. Rn. 9. 389 H. Maurer, Staatsrecht I (2010), S. 20; M. Kloepfer, Verfassungsrecht I (2011), S. 29; K. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft (1991), S. 363; F. Reimer, Juristische Methodenlehre (2020), Rn. 348; P. Häberle, in: Neuausgabe des JöR Band 1 (2010), S. VII. 390 P. Häberle, in: Neuausgabe des JöR Band 1 (2010), S. VII. 391 P. Häberle, in: Neuausgabe des JöR Band 1 (2010), S. VII. 392 C. Hillgruber, Verfassungsinterpretation, in: O. Depenheuer/C. Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie (2010), S. 524; C. Starck, Maximen der Verfassungsauslegung, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), HStR, Band XII, 3. Aufl. 2014, § 271 Rn. 21; P. Badura, Staatsrecht (2018), S. 27; M. Kloepfer, Verfassungsrecht I (2011), S. 29; M. Sachs, in: Sachs, GG (2021), Einf. Rn. 41; T. Möllers, Juristische Methodenlehre (2021), § 4 Rn. 155. 393 H. H. v. Arnim/S. Brink, Methodik der Rechtsbildung unter dem Grundgesetz (2001), S. 238. 394 T. Möllers, Juristische Methodenlehre (2021), § 4 Rn. 149; T. Frieling, Gesetzesmaterialien und Wille des Gesetzgebers (2017), S. 39. 395 F. Reimer, Juristische Methodenlehre (2020), Rn. 348. 396 P. Badura, Wieviel Interpretation verträgt die Verfassung?, in: P. Eisenmann/B. Rill (Hrsg.), Jurist und Staatsbewusstsein (1987), S. 8. 397 K. Stern/M. Sachs, Staatsrecht III/2 (1994), S. 1665. 388

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jektive historische Kontext, „vor dessen Hintergrund die Norm erlassen wurde“.398 Nur wer die zeitgebundene Sprache des Normgebers und die entwicklungsgeschichtlichen Zusammenhänge versteht, kann auch den beabsichtigten Inhalt erfassen.399 Das gilt besonders für Begriffe mit langer historischer Tradition wie Rechtsstaat, Demokratie oder Bundesstaat.400 So kann über die Ermittlung des historisch tatsächlich Gesagten auf das Gewollte geschlossen werden. Will man den Normgeberwillen erforschen, müssen zudem die Verfassungsmaterialien konsultiert werden.401 Die Auslegung beschränkt sich damit aber nicht auf die Auswertung entstehungsgeschichtlicher Dokumente.402 Die Auswertung entstehungsgeschichtlicher Dokumente hat „schon ihrer Natur nach nur eine komplementäre und ergänzende Funktion“.403 Ihnen kann aber in Einzelfällen gleichwohl ausschlaggebende Bedeutung zukommen.404 d) Telos Bereits Savigny sah die Berücksichtigung teleologischer Argumente kritisch.405 Das klassische Verständnis einer teleologischen Auslegung einer Norm nach ihrem Sinn und Zweck ist irreführend.406 Denn unklar ist, wie über die bereits benannten Auslegungsmittel hinaus der Sinn einer Norm mit Hilfe teleologischer Auslegung zu ermitteln ist.407 Jedes der bisher genannten Auslegungsmittel dient dazu, den Sinn der Norm zu ergründen. Zu Recht wird festgestellt, „die an Sinn und Zweck orientierte teleologische Auslegung hat keinen selbstständigen originären Anknüpfungspunkt“.408 Es wäre zirkulär, würde man mit Hilfe eines darüber hinausgehenden

398 P. Melin, Gesetzesauslegung in den USA und in Deutschland (2005), S. 263; H. Maurer, Staatsrecht I (2010), S. 20. 399 BVerfGE 79, 127, 143 f.; B. Rüthers/C. Fischer/A. Birk, Rechtstheorie (2020), Rn. 782; F. Ossenbühl, Grundsätze der Grundrechtsinterpretation, in: D. Merten/H.-J. Papier (Hrsg.), HGR, Band I (2004), § 15 Rn. 7; T. Würtenberger, Auslegung von Verfassungsrecht – realistisch betrachtet, in: J. Bohnert u. a. (Hrsg.), FS Hollerbach (2001), S. 225 ff. 400 R. Zippelius/T. Würtenberger, Deutsches Staatsrecht (2018), S. 60. 401 BVerfGE 79, 127, 145; 133, 168, 205. 402 C. Hillgruber, Verfassungsinterpretation, in: O. Depenheuer/C. Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie (2010), S. 514. 403 H.-P. Schneider, Der Wille des Verfassunggebers, in: J. Burmeister u. a. (Hrsg), FS Stern (1997), S. 914. 404 BVerfGE 33, 125, 152 ff.; 61, 149, 175; 122, 248, 283 f. 405 R. Schlothauer, Zur Krise der Verfassungsgerichtsbarkeit (1979), S. 51. 406 F. Reimer, Verfassungsprinzipien (2001), S. 138. 407 R. Schlothauer, Zur Krise der Verfassungsgerichtsbarkeit (1979), S. 51. Dies räumen selbst Befürworter einer teleologischen Auslegung ein, vgl. M. Kloepfer, Verfassungsrecht I (2011), S. 30. 408 M. Sachs, in: Sachs, GG (2021), Einf. Rn. 43.

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Kap. 2: Begrenzung der Entscheidungsfindung mittels Interpretationsmethode

behaupteten Sinns einer Norm ebenjenen Sinn der Norm ermitteln wollen.409 Dadurch würde der Unterschied zwischen Auslegungsmittel und Auslegungsziel verkannt.410 Abstrakte teleologische Kriterien, „die sich aus den objektiven Zwecken des Rechts, vornehmlich aus dem Gedanken der Gerechtigkeit, ergeben“411 sollen, können den Willen des Normgebers nicht aushebeln.412 Der Verfassungsgeber selbst hat mit dem Grundgesetz seine Gerechtigkeitsvorstellungen normiert, die nicht durch individuelle Gerechtigkeitsvorstellungen des Rechtsanwenders ersetzt werden dürfen. Etwas anderes gilt nur dann, wenn der Normgeberwille nicht (eindeutig) festgestellt werden kann. Führen die anderen Auslegungsmittel nicht zu einem Ergebnis, darf (und gegebenenfalls muss) der Interpret eigene Überlegungen zu einer sachgerechten Lösung des Rechtsproblems anstellen.413 Bei eindeutigem und schlüssigem Normverständnis dürfen hingegen keine subjektiven teleologischen Erwägungen im Rahmen der Interpretation einfließen.414 2. Rechtsfortbildung Auch im Verfassungsrecht kommt der Wortlautgrenze eine Grenzfunktion für die Auslegung zu.415 Wie bereits eingangs des Kapitels definiert,416 beginnt jenseits der Wortlautgrenze die Rechtsfortbildung. Eine verfassungsrechtliche Methodenkonzeption muss sich daher auch mit der Zulässigkeit und den Grenzen der Rechtsfortbildung auseinandersetzen. Die Diskussion darüber leidet unter einem fehlenden einheitlichen Begriffsverständnis.417 Vielfach ist alternativ von Richterrecht die Rede. Vorliegend sollen entsprechend dem Ziel dieser Arbeit die wesentlichen 409 C. Fischer, Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen im Zivilrecht (2007), S. 559; D. Looschelders/W. Roth, Juristische Methodik im Prozess der Rechtsanwendung (1996), S. 40. Das stellt auch A. Bleckmann, JuS 2002, 942, 945, fest, der gleichwohl an der teleologischen Auslegung festhält. 410 C. Fischer, Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen im Zivilrecht (2007), S. 559. 411 K. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft (1991), S. 334. 412 F. Reimer, Juristische Methodenlehre (2020), Rn. 362; D. Looschelders/W. Roth, Juristische Methodik im Prozess der Rechtsanwendung (1996), S. 35 ff.; J. Risse, Der verfassungsrechtliche Schutz der Homosexualität (1998), S. 206. 413 F. Reimer, Juristische Methodenlehre (2020), Rn. 362. 414 H.-J. Strauch, Methodenlehre des gerichtlichen Erkenntnisverfahrens (2017), S. 524; H. H. v. Arnim/S. Brink, Methodik der Rechtsbildung unter dem Grundgesetz (2001), S. 245; C. Gröpl/Y. Georg, AöR 139 (2014), 125, 133. 415 J. Riecken, Verfassungsgerichtsbarkeit in der Demokratie (2003), S. 345 ff.; R. Zippelius/T. Würtenberger, Deutsches Staatsrecht (2018), S. 59. 416 Vgl. Kapitel 2 A. 417 C. Fischer, Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen im Zivilrecht (2007), S. 34 ff.; F. Kruse, Die verfassungsrechtlichen Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung (2019), S. 7 ff.

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Voraussetzungen und Grenzen der Rechtsfortbildung skizziert werden, die für eine verfassungskonforme Methodenkonzeption orientiert am Normgeberwillen von Bedeutung sind. Verzichtet wird auf eine detaillierte Kategorisierung unterschiedlicher Arten von Rechtsfortbildung. Im Rahmen dieser Arbeit kann darauf angesichts der untergeordneten Bedeutung von Rechtsfortbildung für das Verfassungsrecht verzichtet werden. Die zwei gängigsten Argumentationsfiguren418 der Rechtsfortbildung sollen vorliegend gleichwohl eingeordnet werden. Unter Rechtsfortbildung werden typischerweise die Analogie mit ausdehnender Wirkung sowie die teleologische Reduktion mit beschränkender Wirkung behandelt.419 Dabei ist die Analogie als wortlautübersteigende Interpretation im vorliegenden Kontext der verfassungsgerichtlichen Grenzen von primärer Bedeutung.420 Hingegen bewegt sich die teleologische Reduktion innerhalb der Wortlautgrenze und ist daher per definitionem keine Rechtsfortbildung. Treffender ist daher von einschränkender Auslegung zu sprechen.421 Denn der Auslegung ist es immanent, dass nicht alle sprachlich möglichen Auslegungsvarianten auch vertretbare Auslegungsalternativen sind. a) Zulässigkeit Es ist umstritten, ob das Verfassungsrecht Rechtsfortbildung erlaubt.422 Das Grundgesetz selbst verhält sich hierzu – wie zu methodischen Fragen allgemein – nicht ausdrücklich.423 Auch den Materialien nach zu urteilen, gab es hierfür kein Problembewusstsein des Verfassungsgebers.424 Ablehnend wird vertreten, der Wortlaut markiere im Verfassungsrecht zugleich auch die Grenze jeder Interpretation.425 Dies begründe sich mit der Besonderheit, dass der Verfassungsgesetzgeber nur sehr eingeschränkt auf Rechtsfortbildung reagieren könne.426 Zudem werde aufgrund der offenen und weiten Begriffe im Verfassungstext selten die Wortlautgrenze überschritten und damit der Bereich der 418

C. Fischer, Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen im Zivilrecht (2007), S. 49. So bereits F. C. v. Savigny, System des heutigen Römischen Rechts Bd. 1 (1840), S. 290 ff.; J. Riecken, Verfassungsgerichtsbarkeit in der Demokratie (2003), S. 345 u. 377. 420 J. Riecken, Verfassungsgerichtsbarkeit in der Demokratie (2003), S. 377. 421 C. Fischer, Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen im Zivilrecht (2007), S. 51 f. A. A. D. Looschelders/W. Roth, Juristische Methodik im Prozess der Rechtsanwendung (1996), S. 262. 422 W. Heun, AöR 116 (1991), 185, 206. 423 F. Kruse, Die verfassungsrechtlichen Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung (2019), S. 13. 424 F. Kruse, Die verfassungsrechtlichen Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung (2019), S. 13. 425 O. Depenheuer, Der Wortlaut als Grenze (1988), S. 11 ff. 426 O. Depenheuer, Der Wortlaut als Grenze (1988), S. 12 f. 419

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Kap. 2: Begrenzung der Entscheidungsfindung mittels Interpretationsmethode

Rechtsfortbildung erreicht.427 Dieser Ansicht eingeschränkt folgend wird vertreten, zumindest bei einer eindeutigen Wortbedeutung sei eine Analogie unzulässig.428 Eine Beschränkung auf die Wortlautbedeutung und damit faktisch der Ausschluss jeglicher Rechtsfortbildung überzeugt nicht. Dies zeigt schon ein Blick auf Art. 103 Abs. 2 GG.429 Bei Art. 103 Abs. 2 GG ist der Wille des Gesetzgebers nur bindend, wenn er auch im Gesetzestext Niederschlag gefunden hat.430 Das „Gemeinte“ muss auch gesagt worden sein.431 Dadurch werden teleologische Interpretationsansätze prinzipiell begrenzt. Dem Wortlaut kommt eine absolute Grenzfunktion zu. Argumentum e contrario sieht das Verfassungsrecht im Übrigen von vornherein keine umfassende Begrenzung teleologischer Interpretationsansätze vor.432 Dies gilt selbst dann, wenn der Wortlaut eindeutig ist. Denn wenn der Normgeberwille maßgeblich sein soll, ist im Einzelfall das Gewollte dem Erklärten vorzuziehen.433 Gleichwohl ist ein eindeutiger Wortlaut ein starkes Indiz, dass das Erklärte dem Gewollten entspricht. Das Bundesverfassungsgericht hatte für das einfache Recht mit seiner SorayaEntscheidung434 1973 zunächst eine sehr rechtsfortbildungsfreundliche Linie vertreten, die seit dem Sondervotum zur Rügeverkümmerung435 2009 immer kritischer hinterfragt wurde. Diese kritische Linie wurde 2011 von der Senatsmehrheit des 1. Senats übernommen436. Für sein eigenes methodisches Vorgehen im Rahmen der Interpretation der Verfassung unterlässt es das Gericht aber, von Rechtsfortbildung zu sprechen,437 sondern sieht es als seine Aufgabe, „das Verfassungsrecht durch 427 J. Riecken, Verfassungsgerichtsbarkeit in der Demokratie (2003), S. 379; O. Depenheuer, Der Wortlaut als Grenze (1988), S. 13. 428 J. Riecken, Verfassungsgerichtsbarkeit in der Demokratie (2003), S. 384. 429 „Eine Tat kann nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde“ (Art. 103 Abs. 2 GG). 430 BVerfGE 105, 135, 157; H.-J. Strauch, Methodenlehre des gerichtlichen Erkenntnisverfahrens (2017), S. 464; F. Kruse, Die verfassungsrechtlichen Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung (2019), S. 19. 431 H.-J. Strauch, Methodenlehre des gerichtlichen Erkenntnisverfahrens (2017), S. 464. 432 H.-J. Strauch, Methodenlehre des gerichtlichen Erkenntnisverfahrens (2017), S. 464; H. D. Jarass, DÖV 2019, 457, 460; M. Hensche, ARSP 87 (2001), 373, 397; kritisch C. Bäcker, Der Staat 60 (2021), 7, 33 f. Beispielhaft hierfür BVerfGE 74, 102, 116; 83, 119, 126. 433 C. Hillgruber, Verfassungsinterpretation, in: O. Depenheuer/C. Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie (2010), S. 524; M. Jestaedt, Grundrechtsentfaltung im Gesetz (1999), S. 341; M. Hensche, ARSP 87 (2001), 373, 397. 434 BVerfGE 34, 269; dazu C. Fischer, Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen im Zivilrecht (2007), S. 214 ff. 435 BVerfGE 122, 248, 282 ff.; dazu C. Möllers, JZ 2009, 668 ff.; B. Rüthers, NJW 2009, 1461 f. 436 BVerfGE 128, 193. 437 W. Heun, Verfassung und Verfassungsgerichtsbarkeit im Vergleich (2014), S. 235; J. Riecken, Verfassungsgerichtsbarkeit in der Demokratie (2003), S. 284 u. 378. Wohl einzige Ausnahme in BVerfGE 42, 312, 340.

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Entscheidungen zu entwickeln“438. In der Sache hat es schon mehrfach entgegen dem eindeutigen Wortlaut des Grundgesetzes judiziert.439 Nach herrschender Lehre ist Rechtsfortbildung in der Verfassungsrechtsinterpretation grundsätzlich möglich.440 Sie wird vielfach aber nicht notwendig sein, weil die offenen Begriffe im Grundgesetz viele Auslegungsmöglichkeiten bieten.441 Notwendige Spielräume eröffnet die Rechtsfortbildung allerdings bei logischen Normwidersprüchen und kollidierendem Verfassungsrecht.442 Insoweit wäre eine auf den Wortlaut begrenzte Interpretation mit nicht auflösbaren Widersprüchen konfrontiert. b) Voraussetzungen Da die Wortlautgrenze in den seltensten Fällen eindeutig zu bestimmen ist, ist auch die genaue Abgrenzung von Auslegung und Rechtsfortbildung schwierig. Die Übergänge zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung sind meist fließend.443 Fließende Übergänge stehen einer Differenzierung gleichwohl nicht entgegen.444 Die aus einer rechtsfortbildenden Rechtsprechung resultierenden Pflichten sind vielmehr je nach Intensität besonders zu beachten. Rechtsfortbildung unterscheidet sich nicht fundamental von Auslegung. Der fließende Übergang zwischen Rechtsfortbildung und Auslegung ist daher kein unüberwindbares Problem, sondern spiegelt vielmehr die Gemeinsamkeiten von Rechtsfortbildung und Auslegung wider. Rechtsfortbildung und Auslegung sind beides Vorgänge der Interpretation. Rechtsfortbildung ist dabei der Teil der Interpretation, der über die Grenze des Wortlauts hinaus einen Inhalt der zu interpretierenden Norm behauptet, der dem Normgeberwillen besser entsprechen soll. Da, 438

So bereits BVerfGE 1, 351, 359. BVerfGE 2, 347, 374; 32, 54, 72 u. 76; J. Riecken, Verfassungsgerichtsbarkeit in der Demokratie (2003), S. 350; C. Bäcker, Der Staat 60 (2021), 7, 13 ff. 440 J. Riecken, Verfassungsgerichtsbarkeit in der Demokratie (2003), S. 351; B.-O. Bryde, Verfassungsentwicklung (1982), S. 270; C. Starck, Maximen der Verfassungsauslegung, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), HStR, Band XII, 3. Aufl. 2014, § 271 Rn. 35 ff.; R. Zippelius/ T. Würtenberger, Deutsches Staatsrecht (2018), S. 59; M. Sachs, in: Sachs, GG (2021), Einf. Rn. 45; W. Hoffmann-Riem, Innovation und Recht – Recht und Innovation (2016), S. 526; C. Bäcker, AöR 143 (2018), 339, 386 ff.; T. Ellerbrok, Der Staat 60 (2021), 243, 262. 441 B.-O. Bryde, Verfassungsentwicklung (1982), S. 268; C. Starck, Maximen der Verfassungsauslegung, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), HStR, Band XII, 3. Aufl. 2014, § 271 Rn. 35. 442 Beispiel bei B.-O. Bryde, Verfassungsentwicklung (1982), S. 269 f. Weitgehend zustimmend, dass lediglich für diese Fallgruppen Rechtsfortbildung auf verfassungsrechtlicher Ebene ermöglicht werden soll: J. Riecken, Verfassungsgerichtsbarkeit in der Demokratie (2003), S. 352 ff. 443 H.-P. Schneider, NJW 1980, 2103, 2104; R. Wank, Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung (1978), S. 78; M. Hensche, ARSP 87 (2001), 373, 400. 444 A. v. Arnauld, Rechtstheorie 32 (2001), 465, 480 f.; C. Bäcker, Der Staat 60 (2021), 7, 12. 439

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Kap. 2: Begrenzung der Entscheidungsfindung mittels Interpretationsmethode

wie bereits oben dargelegt, dem Wortlaut ein gewichtiges Indiz für den Normgeberwillen zukommt, muss derjenige, der einen Normgeberwillen abweichend vom Wortlaut behauptet, dies besonders gut begründen. Rechtsfortbildung ist daher immer mit einem höheren Begründungsaufwand und einer Argumentationslast verbunden.445 Damit deutlich wird, dass ein solch gesteigerter Begründungsaufwand besteht, muss Rechtsfortbildung auch als solche kenntlich gemacht werden. Der „legitimationstheoretische erhöhte Rechtfertigungsdruck“ kann nur wirken, wenn gerichtliche Rechtsfortbildung als solche auch offengelegt wird.446 Überzeugend durchgeführte Rechtsfortbildung begegnet keinen verfassungsrechtlichen Bedenken. Sie komplettiert vielmehr eine am Normgeberwillen orientierte Normbindung, denn sie verhilft gerade dem Normgeberwillen zur Geltung. Die gängigen Voraussetzungen der Analogie strukturieren den Prozess der Rechtsfortbildung.447 Beim Erfordernis der planwidrigen Regelungslücke kommt der Planwidrigkeit entscheidende Bedeutung zu. Entscheidend ist, ob nach dem Verständnis des Normgebers seine Regelungen für den zu entscheidenden Sachverhalt unvollständig geblieben sind. Auch bei der im zweiten Schritt erforderlichen vergleichbaren Interessenlage hat die vorzunehmende Abwägung vor dem Hintergrund der Wertungen des Normgebers zu erfolgen. c) Grenzen der Rechtsfortbildung Uneinheitlich wird beurteilt, wie die Grenzen der Rechtsfortbildung bei der Interpretation der Verfassung zu bestimmen sind. aa) Konsens und Akzeptanz So wird vertreten, Rechtsfortbildung vom Konsens und der Akzeptanz abhängig zu machen.448 Zunächst erscheint es schwierig, plausible Maßstäbe zu finden, wann von einem gefestigten Konsens die Rede sein kann, der eine Rechtsfortbildung rechtfertigt, und wie dieser Konsens festgestellt werden könnte. Demoskopische Umfragen dürften hierzu nicht tauglich sein, denn das liefe auf einen „psychologi445 BVerfGE 88, 145, 167; J. Riecken, Verfassungsgerichtsbarkeit in der Demokratie (2003), S. 351; T. Frieling, Gesetzesmaterialien und Wille des Gesetzgebers (2017), S. 78; R. Alexy, Theorie der Grundrechte (1985), S. 503; H. Fleischer, AcP 211 (2011), 317, 325; R. Wank, Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung (1978), S. 67. 446 A. v. Arnauld, Rechtstheorie 32 (2001), 465, 481; T. Frieling, Gesetzesmaterialien und Wille des Gesetzgebers (2017), S. 183; J. Risse, Der verfassungsrechtliche Schutz der Homosexualität (1998), S. 145; M. Fallmann, Sekundäre Lücken im Recht (2021), S. 29 f. 447 Zu den Voraussetzungen vertiefend C. Bäcker, Der Staat 60 (2021), 7, 9 ff. 448 T. Würtenberger, Zur Legitimität des Verfassungsrichterrechts, in: B. Guggenberger/ T. Würtenberger (Hrsg.), Hüter der Verfassung oder Lenker der Politik? (1998), S. 72 ff.

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sche[n] Positivismus“ oder vielmehr auf einen „blinde[n] Populismus“ hinaus.449 Sie sind zudem „keine nach dem Grundgesetz vorgesehene Äußerungsform der souveränen Gewalt“.450 Wie aber dann der Grundkonsens der maßgeblichen Wert- und Gerechtigkeitsvorstellungen festgestellt werden soll, bleibt unklar. Gewichtiger gegen diesen Ansatz spricht jedoch, dass Grundrechte auch dem Minderheitenschutz dienen. Ein Konsens innerhalb der Mehrheitsgesellschaft kann diese Funktion nicht aushebeln.451 Der Mehrheitswillen kann sich nur innerhalb der mäßigenden und regulierenden Verfassungsordnung durchsetzen.452 Die „vom Grundgesetz konstituierte repräsentative Demokratie“ unterscheidet zwischen Volkes Willen und Normgeberwillen.453 Diese Unterscheidung darf nicht durch die Hintertür der Rechtsfortbildung aufgelöst werden. bb) Normgeberwille Für die Grenze der Rechtsfortbildung ist vielmehr entscheidend auf den Normgeberwillen abzustellen.454 Die Rechtsfortbildung muss ebenfalls das Ziel haben, den Willen des Verfassungsgebers unter veränderten Rahmenbedingungen umfassend zur Geltung zu bringen.455 Anders ausgedrückt soll sie „den präskriptiven Prämissen der Norm […] auch angesichts veränderter sozio-ökonomischer oder technologischer Rahmenbedingungen zu Orientierungspunkten für Problemlösungen verhelfen“456. Eine wesentliche Korrektur des Normgeberwillens obliegt hingegen dem verfassungsändernden Gesetzgeber beziehungsweise dem Volk als Träger der Staatsgewalt.457 Andernfalls würde Art. 79 GG unterlaufen.458 Der Wille des Verfassungsgebers markiert damit zugleich die Grenze der Rechtsfortbildung. Das Bundesverfassungsgericht stellt für das einfache Recht klar:

449

T. Würtenberger, Zur Legitimität des Verfassungsrichterrechts, in: B. Guggenberger/ T. Würtenberger (Hrsg.), Hüter der Verfassung oder Lenker der Politik? (1998), S. 74; C. Bäcker, AöR 143 (2018), 339, 368. 450 D. Looschelders/W. Roth, Juristische Methodik im Prozess der Rechtsanwendung (1996), S. 42. 451 J. Riecken, Verfassungsgerichtsbarkeit in der Demokratie (2003), S. 386; T. Möllers, Juristische Methodenlehre (2021), § 13 Rn. 60; C. Bäcker, AöR 143 (2018), 339, 368; K. Möller, DÖV 2005, 64, 66. 452 D. Looschelders/W. Roth, Juristische Methodik im Prozess der Rechtsanwendung (1996), S. 42 f. 453 D. Looschelders/W. Roth, Juristische Methodik im Prozess der Rechtsanwendung (1996), S. 44 f. 454 B. Rüthers/C. Höpfner, JZ 2005, 21; D. Looschelders/W. Roth, Juristische Methodik im Prozess der Rechtsanwendung (1996), S. 226 ff. 455 M. Bullinger, JZ 2004, 209, 212. 456 W. Hoffmann-Riem, Innovation und Recht – Recht und Innovation (2016), S. 526. 457 M. Bullinger, JZ 2004, 209, 212. 458 M. Sachs, in: Sachs, GG (2021), Einf. Rn. 45.

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Kap. 2: Begrenzung der Entscheidungsfindung mittels Interpretationsmethode

Eine Interpretation, die als richterliche Rechtsfortbildung den klaren Wortlaut des Gesetzes hintanstellt, keinen Widerhall im Gesetz findet und vom Gesetzgeber nicht ausdrücklich oder – bei Vorliegen einer erkennbar planwidrigen Gesetzeslücke – stillschweigend gebilligt wird, greift unzulässig in die Kompetenzen des demokratisch legitimierten Gesetzgebers ein.459

Die Grenze zulässiger Rechtsfortbildung wird folglich jedenfalls dann überschritten, „wo der Richter die klare Grundkonzeption des Gesetzgebers ignoriert und beseitigen würde“.460 Ein klar entgegenstehender Wille des Normgebers ist damit äußerste Grenze der Rechtsfortbildung.461 cc) Alter der Norm Zu kurz greift folglich die Behauptung, mit zunehmendem Alter einer Norm werde die Freiheit zur Rechtsfortbildung immer größer.462 Gemeint ist dabei mit Rechtsfortbildung häufig der richterliche Entscheidungsspielraum. Diese Gleichsetzung von Rechtsfortbildung und richterlichem Entscheidungsspielraum ist unzutreffend. Die Zulässigkeit verfassungskonformer Rechtsfortbildung ist allein vom Normgeberwillen abhängig. Je länger der Zeitpunkt des Erlasses einer Norm zurückliegt, desto schwieriger ist es aber häufig, einen eindeutigen Normgeberwillen festzustellen. Dies gilt insbesondere dann, wenn der Norminhalt bezogen auf völlig neue, vom Normgeber nicht vorstellbare tatsächliche Umstände ermittelt werden muss.463 Bleibt der Normgeberwille unklar, vergrößert sich der richterliche Entscheidungsspielraum.464 Insofern besteht bei älteren Normen, die mit neuen Entwicklungen konfrontiert werden, manchmal ein durchaus größerer richterlicher Entscheidungsspielraum. Die Bindungskraft der Norm nimmt folglich ab.465 Das Alter einer Norm allein ist für Rechtsfortbildung aber keine ausreichende Rechtfertigung.466 Bei seit Inkrafttreten des Grundgesetzes unveränderten Artikeln ist eine vom Normgeberwillen losgelöste Rechtsfortbildung ausgeschlossen, wenn sich der Normgeberwille eindeutig bestimmen lässt. Vom Normgeberwillen abweichende Wertvorstellungen allein rechtfertigen daher auch mit zunehmendem Zeitablauf keine Rechtsfortbildungskompetenz.467

459

BVerfGE 128, 193, 210. T. Möllers, ZfPW 2019, 94, 110. 461 Für das einfache Recht: BVerfGE 132, 99, 127 f.; BAGE 134, 233, Rn. 26. 462 BVerfGE 34, 269, 288; R. Zippelius, DÖV 1986, 805, 807. 463 T. Frieling, Gesetzesmaterialien und Wille des Gesetzgebers (2017), S. 179; R. Wank, Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung (1978), S. 66. 464 D. Looschelders/W. Roth, Juristische Methodik im Prozess der Rechtsanwendung (1996), S. 65. 465 T. Frieling, Gesetzesmaterialien und Wille des Gesetzgebers (2017), S. 179. 466 R. Wank, Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung (1978), S. 66. 467 T. Frieling, Gesetzesmaterialien und Wille des Gesetzgebers (2017), S. 179. 460

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III. Kritik Der vorliegenden Methodenkonzeption auf Grundlage der subjektiven Auslegungstheorie können verschiedene Argumente entgegengehalten werden. Die zwei bedeutendsten Einwände sind, dass der Wille des Normgebers nicht zuverlässig konstruierbar sei (1) und das Abstellen auf den historischen Normgeberwillen zu einer Versteinerung des Rechts führe (2). Der klassischen historischen Einteilung468 (Willens-, Form-, Vertrauens- und Ergänzungsargument) der Kritik an der subjektiven Auslegungstheorie wird im Detail nicht näher nachgegangen. Die wesentlichen Aspekte dieser Argumente wurden bereits oder werden nachfolgend thematisiert beziehungsweise sind heute nicht mehr von Belang. 1. Konstruktion des Willens des Verfassungsgebers Bereits angesprochen wurde, dass mit dem Normgeberwillen kein natürlicher Wille gemeint ist.469 Das sagt jedoch noch nichts darüber aus, wie dieser dann zu bestimmen ist. Zu Recht wird kritisch darauf hingewiesen, dass eine Interpretationslehre, die den Normgeberwillen betone, auch erklären müsse, wie dieser zu ermitteln sei.470 Der Diskussion über die Verbindlichkeit des gesetzgeberischen Willens geht die Frage der Konstruierbarkeit voraus.471 Es wäre müßig, sich damit auseinanderzusetzen, welchen Wert wir dem Normgeberwillen im Rahmen der Auslegung zubilligen, wenn sich dieser nicht konstruieren ließe. Wenn sich die Wertentscheidung des Verfassungsgebers nicht hinreichend eindeutig ermitteln ließe, wäre die Reichweite einer darauf aufbauenden Auslegungsmethodik sehr begrenzt.472 Den Willen des Verfassungsgebers zu ergründen, sei aber vielfach „erkenntnispraktisch ein Wagestück“.473 Die Diskussion, wie der Wille des Normgebers zu konstruieren ist, führt regelmäßig zur „Materialienfrage“. Auch vorliegend soll, speziell für die Interpretation des Grundgesetzes, untersucht werden, auf welche Materialien für die Ermittlung des Willens des Verfassungsgebers zurückgegriffen werden kann (b). Die „Materialienfrage“ verführt allerdings zur Annahme, der Normgeberwille lasse sich allein in 468

Diese Einteilung geht zurück auf P. Heck, AcP 112 (1914), 1, 67 ff. Darauf aufbauend A. Mennicken, Das Ziel der Gesetzesauslegung (1970), S. 23 ff.; E. A. Kramer, Juristische Methodenlehre (1998), S. 96 ff. 469 Vgl. Kapitel 2 B. I. Wenig überzeugend daher die Kritik bei S.-P. Hwang, AöR 145 (2020), 264, 268 ff. 470 Vgl. dazu Nachweise bei M. Jestaedt, Grundrechtsentfaltung im Gesetz (1999), S. 350. 471 M. v. Landenberg-Roberg/M. Sehl, RW 6 (2015), 135, 136. 472 D. Simon, Die Unabhängigkeit des Richters (1975), S. 79. 473 E. G. Mahrenholz, Verfassungsinterpretation aus praktischer Sicht, in: H.-P. Schneider/ R. Steinberg (Hrsg.), Verfassungsrecht zwischen Wissenschaft und Richterkunst (1990), S. 57; A. Voßkuhle, JuS 2019, 417, 422; D. Grimm, Verfassungsgerichtsbarkeit (2021), S. 165.

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Kap. 2: Begrenzung der Entscheidungsfindung mittels Interpretationsmethode

den Materialien ergründen. Dem ist entschieden entgegenzutreten.474 Der Blick in die Materialien kann ein wesentliches Element zur Ermittlung des Normgeberwillens sein, er hat aber Grenzen.475 Die Suche nach dem Normgeberwillen ist vielmehr vergleichbar mit der Freilegung eines Mosaiks (a). Dass die Konstruktion eines Willens des Verfassungsgebers mit Hilfe der Materialien gelingen kann, bestätigt ein abschließender Blick in die Praxis des Bundesverfassungsgerichts (c). a) Normgeberwille als Mosaik Der Normgeberwille ist bei der Interpretation einer Norm meist nicht auf den ersten Blick in Gänze ersichtlich. Er ist, wie bereits dargelegt, mit Hilfe der Gesamtheit der gängigen Auslegungsmittel nach und nach freizulegen. Es handelt sich um ein normatives Konstrukt.476 Ein festes Rangverhältnis zwischen den Auslegungsmitteln gibt es dabei nicht.477 Der Normtext selbst ist regelmäßig am ertragreichsten, will man den Willen des Normgebers ergründen.478 Die Erforschung der Materialien hingegen legt nur einen Teil der Steine des gesamten Mosaiks frei. Zwei Punkte gilt es daher insbesondere nochmals zu vertiefen. Wie ist damit umzugehen, wenn sich die Materialien zum Normgeberwillen ausschweigen (aa) oder wenn sich ein Normgeberwille auch unter Heranziehung sämtlicher Auslegungsmittel nicht seriös feststellen lässt (bb)? aa) Schweigende Materialien Auch wenn die Materialien eine wichtige Quelle sein können, um den Normgeberwillen zu erforschen, darf ihre Heranziehung nicht überhöht werden. Die Materialien sind „nicht Rechtsquelle, sondern Rechtserkenntnisquelle“.479 Sie sind „als solche nicht verbindlich, sondern Indizien für die Regelungsabsicht des Normgebers“.480 Lassen sich den Materialien keine näheren Auskünfte zum Normgeberwillen entnehmen, verbleiben die übrigen Auslegungsmittel, damit man das Auslegungsziel erreicht.481 Die Materialien sind keineswegs singuläre Quelle des Normgeberwillens. Sie sind vielmehr einige Steine eines großen Mosaiks. Sie 474 Ebenso M. Jestaedt, Grundrechtsentfaltung im Gesetz (1999), S. 356; O. Depenheuer, DVBl 1987, 809, 813. 475 H.-J. Strauch, Methodenlehre des gerichtlichen Erkenntnisverfahrens (2017), S. 499. 476 F. Reimer, Juristische Methodenlehre (2020), Rn. 251; D. Looschelders/W. Roth, Juristische Methodik im Prozess der Rechtsanwendung (1996), S. 46 f.; T. Frieling, Gesetzesmaterialien und Wille des Gesetzgebers (2017), S. 132. 477 BVerfGE 105, 135, 157; M. Hensche, ARSP 87 (2001), 373, 395. 478 M. Jestaedt, Grundrechtsentfaltung im Gesetz (1999), S. 356. 479 F. Reimer, Juristische Methodenlehre (2020), Rn. 354; R. Wank, Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung (1978), S. 63; T. Wischmeyer, JZ 2015, 957, 963 f. 480 F. Reimer, Juristische Methodenlehre (2020), Rn. 354; T. Wischmeyer, JZ 2015, 957. 481 A. v. Arnauld, Rechtstheorie 32 (2001), 465, 475.

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können, um im Bild zu bleiben, manchmal dem Mosaik die entscheidende Kontur geben.482 Häufig vervollständigen und bestätigen sie aber auch nur die bereits zu Tage gebrachten, bisherigen Interpretationsbefunde. Schweigen sie sich in anderen Fällen hingegen aus, kann regelmäßig gleichwohl ein aussagekräftiges Mosaikbild am Ende des Interpretationsvorgangs feststehen. bb) Wo kein Wille, ist auch ein Weg Doch sollte in bestimmten Fällen auch einmal kein eindeutiger Normgeberwille zu konstruieren sein, spricht das nicht gegen die ansonsten verfassungsrechtlich gebotene Berücksichtigung des Normgeberwillens. Der Wille des Normgebers muss sich nicht immer „vollständig und zweifelsfrei erforschen“ lassen.483 Zunächst „gefordert ist allein eine möglichst gute Annäherung an das vom Normgeber Gemeinte“.484 Regelmäßig dürfte es „einige relativ klare, konsensfähige Inhalte geben“ und im Übrigen seien keine genauen Absichten feststellbar.485 Nur weil teilweise der Wille des Normgebers nicht ermittelt werden kann, überzeugt es nicht, ihn gänzlich zu ignorieren, selbst wenn Materialien vorhanden sind oder sich der Wille mit Hilfe der übrigen Auslegungsmittel bestimmen lässt.486 Denn es gilt lediglich ein Vorrang und kein Vorbehalt des Normgeberwillens.487 b) Materialien als Fundus Wie überzeugend sich ein Normgeberwille feststellen lässt, bestimmt sich mithin auch danach, wie ergiebig die (Gesetzes-)Materialien sind. Nicht mehr umstritten ist, dass grundsätzlich auf die Materialien zurückgegriffen werden darf.488 Denn die Materialien können Auskunft über das kollektive Sinnverständnis während des Entstehungsprozesses geben.489 Die Ergiebigkeit der heranzuziehenden Materialien gilt es jedoch nicht nur zu behaupten, sondern auch zu begründen.490 Vielfach werden daran große Zweifel laut. Es bestehe die Gefahr, dass der Wille des historischen 482

T. Wischmeyer, JZ 2015, 957, 964. A. v. Arnauld, Rechtstheorie 32 (2001), 465, 476. 484 A. v. Arnauld, Rechtstheorie 32 (2001), 465, 476. 485 P. Lassahn, Rechtsprechung und Parlamentsgesetz (2017), S. 202 f. 486 H. Fleischer, Gesetzesmaterialien im Spiegel der Rechtsvergleichung, in: H. Fleischer (Hrsg.), Mysterium „Gesetzesmaterialien“ (2013), S. 8; B. Rüthers/C. Fischer/A. Birk, Rechtstheorie (2020), Rn. 791; F. Reimer, Verfassungsprinzipien (2001), S. 140; T. Frieling, Gesetzesmaterialien und Wille des Gesetzgebers (2017), S. 149 f. 487 Vgl. Kapitel 2 D. II. 1. 488 T. Wischmeyer, Zwecke im Recht des Verfassungsstaates (2015), S. 378; ders., JZ 2015, 957. Zögerlich noch BVerfGE 62, 1, 45 („mit Vorsicht, nur unterstützend“). 489 BVerfGE 149, 126, 155; A. von Arnauld, Rechtstheorie 32 (2001), 465, 473; T. Wischmeyer, JZ 2015, 957, 963. 490 H.-J. Strauch, Methodenlehre des gerichtlichen Erkenntnisverfahrens (2017), S. 495. 483

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Kap. 2: Begrenzung der Entscheidungsfindung mittels Interpretationsmethode

Verfassungsgebers instrumentalisiert werde.491 Er sei zudem in kontroversen Fällen ähnlich umstritten wie der Wortlaut.492 Nicht überzeugend ist in diesem Zusammenhang der Einwand, allein der formal veröffentlichte Normtext könne den Einzelnen binden.493 Nach diesem Formargument würde die Rechtsunsicherheit befördert, sofern einem Normgeberwillen, der mittels teils nur schwer zugänglicher Entstehungsmaterialien ermittelt werden soll, maßgebliche Bedeutung zukäme. Dem ist aus zwei Gründen zu widersprechen. Zum einen sind die Materialien gut dokumentiert und der Zugang zu den Materialien durch die voranschreitende Digitalisierung heute sehr viel einfacher als früher möglich.494 Zum anderen verkennt dieser Einwand, dass auch im Rahmen einer an die subjektive Auslegungstheorie angelehnten Interpretationslehre dem Normtext eine maßgebliche Rolle zukommt und sich diese keineswegs auf historische Nachforschungen in den Materialien beschränkt.495 Die Materialien treten nicht an die Stelle des förmlich verabschiedeten Normtextes. Dessen Bedeutung gilt es vielmehr auf möglichst objektivem Wege zu ermitteln, um den individuellen Einfluss des Interpreten auf das Interpretationsergebnis so gut es geht zu reduzieren und dadurch die Klarheit und Vorhersehbarkeit der Rechtsprechung zu stärken. Nicht durchdringen kann auch das Überlastungsargument, wonach die Richter des Bundesverfassungsgerichts durch diese historische Spurensuche auf Dauer überfordert und dazu auch nicht befähigt seien.496 Zunächst ist dies heutzutage wiederum angesichts der einfachen elektronischen Verfügbarkeit und Dokumentation der unterschiedlichen Materialien kein starkes Argument.497 Darüber hinaus würde die Arbeit mit den Materialien zur Erforschung des Normgeberwillens überbetont, folgte daraus die verpflichtende Erstellung umfassender historischer Gutachten. Jegliche juristische Interpretationsarbeit muss in der Praxis einer individuell gewichteten Aufwand-Ertrag-Relation genügen. Im Rahmen der umfassenden Vorarbeiten einer Senatsentscheidung des Bundesverfassungsgerichts ist die Konsultation der Materialien problemlos zu leisten und wird seit langem auch praktiziert. 491

W. Heun, Verfassung und Verfassungsgerichtsbarkeit im Vergleich (2014), S. 229; A. v. Arnauld, Rechtstheorie 32 (2001), 465, 477. 492 W. Heun, Verfassung und Verfassungsgerichtsbarkeit im Vergleich (2014), S. 230; R. Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte (2003), S. 12. 493 So z. B. W. Heun, Verfassung und Verfassungsgerichtsbarkeit im Vergleich (2014), S. 234 f.; P. Schneider, VVDStRL 20 (1961), 1, 8. 494 F. Reimer, Verfassungsprinzipien (2001), S. 139; M. v. Landenberg-Roberg/M. Sehl, RW 6 (2015), 135, 162; H. Fleischer, Gesetzesmaterialien im Spiegel der Rechtsvergleichung, in: H. Fleischer (Hrsg.), Mysterium „Gesetzesmaterialien“ (2013), S. 36; A. v. Arnauld, Rechtstheorie 32 (2001), 465, 475; T. Frieling, Gesetzesmaterialien und Wille des Gesetzgebers (2017), S. 149. 495 J. Neuner, Die Rechtsfindung contra legem (1992), S. 114 f. 496 W. Heun, AöR 116 (1991), 185, 200. 497 H. Fleischer, AcP 211 (2011), 317, 324; F. Reimer, Verfassungsprinzipien (2001), S. 139; M. v. Landenberg-Roberg/M. Sehl, RW 6 (2015), 135, 162.

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Welche Materialien konsultiert werden müssen, bestimmt sich auf verfassungsrechtlicher Ebene danach, ob Auslegungsgrundlage der Urtext (bb) oder eine spätere Verfassungsänderung (cc) ist. Dabei ist vorweg zu begründen, warum grundsätzlich von den Materialien auf den Normgeberwillen wertend zurückgeschlossen werden kann (aa). Irrelevant ist hingegen, wie dieser normative kollektive Wille rechtstheoretisch begründet wird, sofern dies einer wertenden Zuschreibung nicht entgegensteht.498 aa) Kollektiver Wille im arbeitsteiligen Normgebungsprozess Maßgeblich für die Berücksichtigung der Materialien bei der Konstruktion des Normgeberwillens sind die grundsätzlichen Aussagen der sogenannten Paktentheorie. Nach der Paktentheorie „billigt das Parlament, das bei der Beratung und Beschlussfassung eines neuen Gesetzes keine eigenen Vorstellungen entwickelt, denjenigen Sinn, den die Verfasser des Entwurfs in der (Regierungs-)Begründung kundgetan haben“.499 „Das Gesetzgebungsverfahren ist als arbeitsteiliger Prozess gerade darauf angelegt“, dass aus einzelnen Beiträgen ein kollektives Werk entsteht, ohne dass alle Beteiligten zwingend von identischen Vorstellungen geleitet werden.500 Mit seiner Zustimmung billigt der einzelne Abgeordnete (und bei Zustandekommen der erforderlichen Mehrheit damit der Gesetzgeber) den Gesetzgebungsprozess und das dabei arbeitsteilig entwickelte Sinnverständnis des verabschiedeten Normtextes.501 Im gesamten Gesetzgebungsprozess aktualisiert sich „das Verantwortungs- und Legitimationsmoment der parlamentarischen Willensbildung“, weswegen die Materialien des vorbereitenden Verfahrens über diese Willensbildung Auskunft geben können.502 Nicht entscheidend ist hingegen, dass sich der einzelne Abgeordnete dieses Sinnverständnisses bei der Abstimmung in seinen Einzelheiten bewusst ist.503 Ebenso nicht von Bedeutung ist, ob einzelne Abgeordnete geheime Vorbehalte haben.504 Denn es handelt sich beim Normgeberwillen gerade nicht um einen psychologischen, sondern um einen normativen Willen. Die mit der Norm-

498 Zu den unterschiedlichen Ansätzen: T. Frieling, Gesetzesmaterialien und Wille des Gesetzgebers (2017), S. 133 ff. 499 H. Fleischer, AcP 211 (2011), 317, 330; F. Reimer, Juristische Methodenlehre (2020), Rn. 352; J. Neuner, Die Rechtsfindung contra legem (1992), S. 104; T. Frieling, Gesetzesmaterialien und Wille des Gesetzgebers (2017), S. 140 ff. 500 T. Frieling, Gesetzesmaterialien und Wille des Gesetzgebers (2017), S. 144 f. 501 T. Frieling, Gesetzesmaterialien und Wille des Gesetzgebers (2017), S. 147. A. A. E. Kaufmann, VVDStRL 9 (1952), 1, 13, der unzutreffend auf den psychologischen Willen aller Abgeordneten abstellt und diesen nicht für feststellbar erachtet. 502 T. Wischmeyer, JZ 2015, 957, 963. 503 M. Hensche, ARSP 87 (2001), 373, 381; T. Frieling, Gesetzesmaterialien und Wille des Gesetzgebers (2017), S. 146 f.; J. Neuner, Die Rechtsfindung contra legem (1992), S. 104. 504 M. Hensche, ARSP 87 (2001), 373, 380 ff.; T. Wischmeyer, JZ 2015, 957, 964.

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Kap. 2: Begrenzung der Entscheidungsfindung mittels Interpretationsmethode

setzung verbundene Absicht des Normgebers ist nicht real, sondern rechtlich fiktiv konstruiert.505 Diese Überlegungen lassen sich auf jeden arbeitsteiligen Normgebungsprozess übertragen.506 Für die einzelnen Materialien ist jeweils im Rahmen einer wertenden Betrachtung zu prüfen, inwieweit sie das „Mosaik“ Normgeberwille konturieren können. Dies bedarf immer einer sorgfältigen und kritischen Prüfung der jeweiligen Materialien. Ein gewisser „Erkenntnisoptimismus“ schadet hierbei jedoch nicht.507 Denn die Erforschung des Normgeberwillens in den Materialien ist wie die gesamte Auslegung ein wertender Vorgang, der maßgeblich die Kriterien der Repräsentativität, Schlüsselstellung, Transparenz und Konsistenz bei den zu untersuchenden Materialien berücksichtigen muss.508 Eine streng logische Ableitung ist nicht möglich. bb) Urtext Für die Ausgangsfassung des Grundgesetzes ist primär auf die Materialien der Beratungen des Grundgesetzes im Parlamentarischen Rat abzustellen.509 Der Parlamentarische Rat ist formell der Normsetzer des Grundgesetzes.510 Nicht näher erforscht werden muss der Wille aller Landtage, die das Grundgesetz ratifiziert haben.511 Das wäre zum einen kaum möglich,512 ist zum anderen aber auch nicht zielführend. Denn den Landtagen verblieb nur die Möglichkeit, dem Normtext, so wie er vom Parlamentarischen Rat verstanden wurde, zuzustimmen oder ihn abzulehnen.513 Aus dieser bloßen Verwerfungskompetenz der Landtage, ohne Möglichkeit eigene Änderungswünsche umzusetzen, können daher keine weitergehenden Schlüsse gezogen werden. Die Protokolle der Beratungen des Parlamentarischen Rats sind leicht verfügbar514 und durchaus ergiebig515. Inhaltlich problematisch ist bei protokollierten 505 C. Hillgruber, Verfassungsinterpretation, in: O. Depenheuer/C. Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie (2010), S. 511. 506 T. Wischmeyer, JZ 2015, 957, 966. 507 M. Hensche, ARSP 87 (2001), 373, 385. 508 Dazu vertiefend T. Wischmeyer, JZ 2015, 957, 964 f. 509 W. Heun, Verfassung und Verfassungsgerichtsbarkeit im Vergleich (2014), S. 229; F. Reimer, Juristische Methodenlehre (2020), Rn. 350; M. Übelacker, Die genetische Auslegung in der jüngeren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (1993), S. 55; J. Neuner, Die Rechtsfindung contra legem (1992), S. 103. 510 F. Reimer, Juristische Methodenlehre (2020), Rn. 251. 511 A. A. W. Heun, AöR 116 (1991), 185, 201. 512 W. Heun, Verfassung und Verfassungsgerichtsbarkeit im Vergleich (2014), S. 230. 513 M. v. Landenberg-Roberg/M. Sehl, RW 6 (2015), 135, 152; auch W. Heun, Verfassung und Verfassungsgerichtsbarkeit im Vergleich (2014), S. 230. 514 Abgedruckt in P. Häberle, in: Neuausgabe des JöR Band 1 (2010). 515 W. Heun, AöR 116 (1991), 185, 200; C. Bumke, AöR 144 (2019), 1, 14.

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Aussagen einzelner Mitglieder des Parlamentarischen Rats jedoch, dass diese nur deren individuelle Ansichten wiedergeben.516 Deswegen „dürfen in der Tat nicht Einzelstimmen vorschnell zum Willen „des“ Verfassung[s]gebers erhoben werden“.517 Notwendig ist nicht weniger als eine „historische Gesamtschau“, die sich nicht auf „eine punktuelle oder fragmentarische Auswahl von Einzeläußerungen“ beschränkt.518 Dabei sind die gesamten Drucksachen des Parlamentarischen Rats zu berücksichtigen. Neben den Materialien des Parlamentarischen Rats kann eingeschränkt auch auf die des Verfassungskonventes in Herrenchiemsee zurückgegriffen werden.519 So diente der Herrenchiemsee-Entwurf als prägende Vorlage für die Ausarbeitungen des Grundgesetzes mit teils wortwörtlichen Übernahmen und kann deswegen im Hinblick auf Änderungen aufschlussreich sein.520 Die dort diskutierten Formulierungen berücksichtigt daher auch das Bundesverfassungsgericht.521 Ein Blick auf die Verhandlungen mit den Militärregierungen der drei westlichen Besatzungszonen, die teils intervenierten und deren Genehmigung notwendig war,522 kann das historische Bild abrunden. Ähnlich wie ein „Rückgriff […] auf zeitgenössische verfassungspolitische Diskussionen und Zielsetzungen“ erlauben sie aber (überwiegend) keine einheitliche Deutung.523 cc) Spätere Verfassungsänderungen Für spätere Verfassungsänderungen ist anders als beim Urtext auf den verfassungsändernden Gesetzgeber abzustellen.524 Verfassungsändernder Gesetzgeber sind der Bundestag und der Bundesrat, Art. 79 Abs. 2 GG. Dem Bundesrat kommt dabei nur insoweit eine Bedeutung zu, als vom Bundesrat „eingebrachte Gesichtspunkte 516 T. Würtenberger, Auslegung von Verfassungsrecht – realistisch betrachtet, in: J. Bohnert u. a. (Hrsg.), FS Hollerbach (2001), S. 227. 517 C. Hillgruber, Verfassungsinterpretation, in: O. Depenheuer/C. Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie (2010), S. 511; P. Badura, Staatsrecht (2018), S. 28. Nach BVerfGE 6, 55, 75 für die Auslegung daher nicht maßgebend. 518 H.-P. Schneider, Der Wille des Verfassunggebers, in: J. Burmeister u. a. (Hrsg.), FS Stern (1997), S. 916. 519 M. Übelacker, Die genetische Auslegung in der jüngeren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (1993), S. 55; M. Kloepfer, Verfassungsrecht I (2011), S. 29; F. Reimer, Juristische Methodenlehre (2020), Rn. 350. 520 A. Bauer-Kirsch, Wer formuliert, hat die Macht, in: O. Depenheuer (Hrsg.), FS Isensee (2002), S. 256; P. Häberle, in: Neuausgabe des JöR Band 1 (2010), S. VII; J. Ziekow, JuS 1999, 417, 419 f. 521 Vgl. beispielhaft BVerfGE 4, 299, 304 f. 522 P. Häberle, in: Neuausgabe des JöR Band 1 (2010), S. XV; J. Ziekow, JuS 1999, 417, 422. 523 T. Würtenberger, Auslegung von Verfassungsrecht – realistisch betrachtet, in: J. Bohnert u. a. (Hrsg.), FS Hollerbach (2001), S. 227. 524 Vgl. beispielhaft BVerfGE 106, 62, 142.

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Kap. 2: Begrenzung der Entscheidungsfindung mittels Interpretationsmethode

vom Bundestag aufgegriffen und verarbeitet werden“.525 Als natürliche Personen abstimmungsberechtigt sind die Abgeordneten des Bundestags und die Mitglieder des Bundesrats. Hingegen sind die Gesetzesverfasser meist Ministerialbeamte des Bundes und der Länder, seltener auch Mitarbeiter der Fraktionen, externe Gutachter oder beauftragte Kanzleien.526 Bei den Materialien ist zuvörderst auf die Gesetzesbegründung abzustellen. Die Begründung wird mit Verabschiedung durch den verfassungsändernden Gesetzgeber gebilligt.527 Während Redebeiträge von Parlamentariern häufig aufgrund ihres politischen Charakters nur eine allgemeine „Stoßrichtung“ eines Änderungsvorhabens erkennen lassen, bedient sich die Gesetzesbegründung auch originär juristischer Argumente.528 Auch hier dürfen einzelne Passagen der Begründung aber nicht überbetont werden. Der Normgeberwille ergibt sich aus einer Gesamtschau, niemals allein aus einer einzelnen Aussage der Gesetzesbegründung. Die Materialien bleiben immer nur ein Hilfsmittel.529 Wie bei anderen parlamentarischen Gesetzen sind „wissenschaftliche Vorarbeiten, Vorentwürfe, fachliche und parlamentarische Beratungen, Motivberichte zu Regierungsvorlagen und Ausschussberichte“ sowie der Gesetzentwurf selbst weitere mögliche Erkenntnisquellen.530 Namentlich der Referentenentwurf, öffentliche Anhörungen nach § 70 GO-BT und die Beschlussempfehlung des federführenden Bundestagsausschusses sind gut dokumentierte Materialien. Insbesondere Ausschussberichte erlauben einen Einblick in die Keimzelle der parlamentarischen Willensbildung und sind daher neben der Gesetzesbegründung am bedeutsamsten.531 Äußerungen einzelner Abgeordneter im Rahmen der Lesungen sind hingegen mit Vorsicht dem Normgeber zuzuordnen.532 Denn Voraussetzung hierfür wäre, dass sich der Normgeber als solcher diese Äußerung mit der Beschlussfassung zu eigen gemacht hat. Eine solch eindeutige Schlussfolgerung dürfte regelmäßig nicht möglich sein.533 Denn diese Äußerungen sind zunächst die Kundgabe individueller Ansich525

F. Reimer, Juristische Methodenlehre (2020), Rn. 251; BVerfGE 37, 363, 380. T. Frieling, Gesetzesmaterialien und Wille des Gesetzgebers (2017), S. 25. 527 H. Fleischer, Gesetzesmaterialien im Spiegel der Rechtsvergleichung, in: H. Fleischer (Hrsg.), Mysterium „Gesetzesmaterialien“ (2013), S. 15; T. Wischmeyer, Zwecke im Recht des Verfassungsstaates (2015), S. 390; T. Frieling, Gesetzesmaterialien und Wille des Gesetzgebers (2017), S. 205 f.; A. Bleckmann, JuS 2002, 942, 945. 528 H. Fleischer, AcP 211 (2011), 317, 330. 529 H. Fleischer, AcP 211 (2011), 317, 333. 530 K. Stern/M. Sachs, Staatsrecht III/2 (1994), S. 1665; F. Reimer, Juristische Methodenlehre (2020), Rn. 350; A. Bleckmann, JuS 2002, 942, 945. 531 T. Frieling, Gesetzesmaterialien und Wille des Gesetzgebers (2017), S. 206 f.; R. Wank, Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung (1978), S. 62 f.; T. Wischmeyer, JZ 2015, 957, 965; M. Sehl, Was will der Gesetzgeber? (2019), S. 177 ff. 532 H. Maurer, Staatsrecht I (2010), S. 19; T. Wischmeyer, JZ 2015, 957, 965; M. Sehl, Was will der Gesetzgeber? (2019), S. 141. 533 R. Zippelius/T. Würtenberger, Deutsches Staatsrecht (2018), S. 61. 526

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ten.534 Anders zu beurteilen sind Begründungen von Änderungsanträgen durch einzelne Abgeordnete, die von der Mehrheit angenommen werden.535 Es ist daher wiederum eine Gesamtbetrachtung vorzunehmen, im Rahmen derer die einzelnen Erklärungen zu würdigen sind.536 Dokumentiert sind die einzelnen Äußerungen in den Plenarprotokollen, § 116 Abs. 1 GO-BT. Weitere mündliche Auskünfte, möglicherweise durch Zeugenvernehmungen von Parlamentariern oder Ministerialbeamten, im Nachgang zur parlamentarischen Beschlussfassung sind nicht zielführend.537 Ein solches Vorgehen wäre mit großen Unsicherheiten belastet, schon allein deswegen, weil der Zeugenbeweis per se recht unbeständig ist.538 Es hätte zudem unter Umständen zur Folge, dass nachträglich den eigenen politischen Vorstellungen entsprechend Korrekturen vorgenommen würden.539 Entscheidend gegen die Berücksichtigung solch mündlicher Auskünfte spricht aber, neben den Unsicherheiten in der tatsächlichen Handhabung, folgendes theoretische Argument: Da es sich beim Normgeberwillen um ein normatives Konstrukt handelt, kann die Intention Einzelner, auch wenn sie maßgeblichen Einfluss auf den Gesetzgebungsprozess haben, nur im Rahmen der „kollektiven intentionalen Aktivität“ berücksichtigt werden.540 Erforderlich hierfür ist, dass einzelne in den Materialien festgehaltene Aussagen zum Zeitpunkt der Abstimmung zur Summe der geteilten Absichten gehörten.541 Nachträglich geäußerte Absichten können daher per se nicht berücksichtigt werden. c) Blick in die Praxis Abschließend soll der Blick in die Praxis des Bundesverfassungsgerichts zeigen, dass ein Wille des Verfassungsgebers mittels der Materialien konstruierbar ist.542 Das Bundesverfassungsgericht rekurriert seit längerem regelmäßig in seinen Entscheidungen auf den Willen des Verfassungsgebers beziehungsweise verfassungsän534

R. Zippelius/T. Würtenberger, Deutsches Staatsrecht (2018), S. 61; T. Frieling, Gesetzesmaterialien und Wille des Gesetzgebers (2017), S. 207 f. 535 A. Bleckmann, JuS 2002, 942, 945; T. Frieling, Gesetzesmaterialien und Wille des Gesetzgebers (2017), S. 208. 536 F. Reimer, Verfassungsprinzipien (2001), S. 139. 537 F. Reimer, Juristische Methodenlehre (2020), Rn. 350; T. Frieling, Gesetzesmaterialien und Wille des Gesetzgebers (2017), S. 204 f.; M. Sehl, Was will der Gesetzgeber? (2019), S. 171 f. 538 T. Frieling, Gesetzesmaterialien und Wille des Gesetzgebers (2017), S. 204 f. 539 H. Fleischer, AcP 211 (2011), 317, 332; ders., Gesetzesmaterialien im Spiegel der Rechtsvergleichung, in: H. Fleischer (Hrsg.), Mysterium „Gesetzesmaterialien“ (2013), S. 18. 540 T. Wischmeyer, Zwecke im Recht des Verfassungsstaates (2015), S. 225 f.; F. Reimer, Juristische Methodenlehre (2020), Rn. 252; mit sozialontologischer Begründung M. v. Landenberg-Roberg/M. Sehl, RW 6 (2015), 135, 150 ff. 541 M. v. Landenberg-Roberg/M. Sehl, RW 6 (2015), 135, 162. 542 M. Jestaedt, Und er bewegt sie doch!, in: H.-D. Horn (Hrsg.), FS Schmitt Glaeser (2003), S. 293.

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dernden Gesetzgebers und ermittelt ihn mit Hilfe der Materialien. Dies war nicht immer so, wie die anfangs zurückhaltenden methodischen Obersätze zeigen.543 Inzwischen gibt es allerdings eine Fülle von Entscheidungen, die das Vorgehen des Bundesverfassungsgerichts zur Konstruktion des Willens des Verfassungsgebers unter Heranziehung der Materialien deutlich machen. So bezieht sich das Bundesverfassungsgericht zur Interpretation des Art. 6 Abs. 1 GG neben dem Herrenchiemsee-Entwurf auch ausführlich auf eine Stellungnahme des Allgemeinen Redaktionsausschusses des Parlamentarischen Rats.544 Bei der Interpretation von Art. 38 GG stellt das Bundesverfassungsgericht fest, dass der Verfassungsgeber bewusst darauf verzichtet hat, „ein Wahlsystem und dessen Durchführung verfassungsrechtlich vorzuschreiben“, und verweist hierzu auf die Protokolle des Parlamentarischen Rats.545 Gleiches gilt für die ausführlich geschilderte Entstehungsgeschichte des Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG mit Hinweisen auf die diskutierten Formulierungsvorschläge im Ausschuss für Grundsatzfragen und die darauf folgende Behandlung durch den Hauptausschuss.546 Auch zur Ermittlung des „Willen[s] der Schöpfer des Grundgesetzes“ bezüglich der Ausgestaltung des Verfahrens nach Art. 100 Abs. 1 GG greift das Gericht auf die Materialien zurück und stellt dabei insbesondere auf die unterschiedlichen Entwurfsfassungen im Hauptausschuss des Parlamentarischen Rats ab.547 Dabei werden auch die Äußerungen zweier Abgeordneter, die als Berichterstatter des Parlamentarischen Rats tätig waren, gewürdigt.548 Ebenso stellt das Bundesverfassungsgericht für die Auslegung des Art. 16 Abs. 1 Satz 2 GG auf den Willen des Verfassungsgebers ab, den es wiederum mit Hilfe von Äußerungen eines Abgeordneten im Grundsatzausschuss rekonstruiert.549 Auch die Konstruktion des Willens des verfassungsändernden Gesetzgebers mittels Materialien ist in der Praxis des Bundesverfassungsgerichts erprobt. Beispielhaft zeigt dies die Auslegung des Art. 13 Abs. 3 GG.550 Das Bundesverfassungsgericht geht dabei auf die Berichte des Rechtsausschusses des Bundestages, die Ablehnung von Anträgen im Rahmen der parlamentarischen Beratung sowie die Ausführungen eines einzelnen Abgeordneten in den entsprechenden Sitzungen des Bundestags ein.551 Die verfassungsgerichtliche Praxis bestätigt mithin einen seit langem erprobten Umgang mit den Materialien zur Interpretation des Grundgesetzes. 543 544 545 546 547 548 549 550 551

Vgl. nur BVerfGE 1, 299, 312; 11, 126, 130. BVerfGE 6, 55, 73 ff. BVerfGE 95, 335, 349. BVerfGE 79, 127, 88 f. BVerfGE 2, 124, 134. BVerfGE 2, 124, 134 f. BVerfGE 116, 24, 46 f. BVerfGE 109, 279, 317 ff. BVerfGE 109, 279, 317 ff.

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2. Versteinerung des Grundgesetzes Jede Gesellschaft unterliegt ständiger grundlegender Veränderung. Eine Interpretationslehre muss sich daher mit der Frage auseinandersetzen, wie „mögliche Veränderungen der gesetzlich geregelten Lebenssachverhalte zwischen dem Erlass und dem Anwendungszeitpunkt von Gesetzen bedacht und berücksichtigt werden müssen“.552 Denn Normen unterliegen in zweifacher Hinsicht einem „Veralterungsprozess“: Es können sich sowohl die Tatsachen als auch die Wertmaßstäbe ändern.553 Recht kann als unzureichend empfunden werden, weil sich objektiv die Tatsachengrundlage geändert hat. Es kann jedoch auch ohne Änderung der Tatsachen als unzureichend empfunden werden, weil sich subjektive moralische Bewertungen gewandelt haben. Solche umfassenden Veränderungen im Rechtsbewusstsein der gesellschaftlichen Mehrheit lassen sich nur in größeren Zeitabschnitten feststellen.554 In einem ganz besonderen Spannungsverhältnis stehen sozialer Wandel und das Grundgesetz.555 Eine Verfassung manifestiert grundlegende Wertentscheidungen,556 die durch sozialen Wandel überholt oder zumindest in Frage gestellt werden können. Eine Verfassung, die den rechtlichen Rahmen für viele Jahrzehnte, wenn nicht sogar für Jahrhunderte prägen soll, ist daher regelmäßig mit sozialem Wandel konfrontiert.557 Sie steht unter einem kontinuierlichen Anpassungsdruck.558 Die auf Dauer und Stabilität angelegte Verfassung kann sich sozialem Wandel nicht entziehen.559

552 B. Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung (2017), S. 513; N. Koschmieder, Grundrechtliche Dynamisierungsprozesse (2016), S. 58. 553 B. Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung (2017), S. 517 f. 554 T. Würtenberger, Zeitgeist und Recht (1991), S. 143. 555 B.-O. Bryde, Verfassungsentwicklung (1982), S. 19; H. Schulze-Fielitz, Verfassung als Prozess von Verfassungsänderungen ohne Verfassungstextänderungen, in: R. Wahl (Hrsg.), Verfassungsänderung, Verfassungswandel, Verfassungsinterpretation (2008), S. 219 f.; B. Rüthers, Zeitgeist und Recht (1997), S. 9; C. Schönberger, Die Verfassungsänderung und ihre Grenzen, in: M. Jestaedt/H. Suzuki (Hrsg.), Verfassungsentwicklung I (2017), S. 89 f. 556 D. Grimm, Die Zukunft der Verfassung (1991), S. 15 ff.; U. Volkmann, JZ 2018, 265; R. Wahl, Verfassungsgebung – Verfassungsänderung – Verfassungswandel I, in: R. Wahl (Hrsg.), Verfassungsänderung, Verfassungswandel, Verfassungsinterpretation (2008), S. 29; J. Masing, Der Staat 44 (2005), 1, 3. 557 E. Peuker, Verfassungswandel durch Digitalisierung (2020), S. 68 ff.; M. Kenntner, DÖV 1997, 450, 452. 558 N. Koschmieder, Grundrechtliche Dynamisierungsprozesse (2016), S. 21; K. Hesse, JZ 1995, 265. 559 P. Lerche, Stil und Methode der verfassungsrechtlichen Entscheidungspraxis, in: P. Badura/H. Dreier (Hrsg.), FS 50 Jahre BVerfG (2001), S. 347 f.; U. Volkmann, JZ 2018, 265; R. Wahl, Verfassungsgebung – Verfassungsänderung – Verfassungswandel I, in: R. Wahl (Hrsg.), Verfassungsänderung, Verfassungswandel, Verfassungsinterpretation (2008), S. 30; W. Fiedler, Sozialer Wandel, Verfassungswandel, Rechtsprechung (1972), S. 9 f.

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Recht kann seine stabilisierende Funktion nur erfüllen, wenn es „in der Lage ist, Wandel zu verarbeiten“.560 Unabänderliches, starres Recht verliert langfristig seine Steuerungs- und Bewahrungsfunktion.561 Eine Verfassung kann dauerhaft nichts bewahren oder prägen, was in der Gesellschaft längst als überholt gilt.562 Kein Recht kann sich der „normativen Kraft des Faktischen“ entziehen.563 Auch das Grundgesetz bedarf daher regelmäßiger Anpassung. Die Besonderheit einer Verfassung ist insofern, dass sie ihrer „Idee nach gewisse grundsätzliche politische Entscheidungen aus dem [täglichen politischen Diskurs herausnehmen will] und insoweit in der pluralistischen Demokratie eine Integrationsbasis“ schafft.564 Die besondere Schwierigkeit besteht mithin darin, den sozialen Wandel zu verarbeiten, gleichzeitig aber die „normative Grundidee und [die] Grundprinzipien“ der Verfassung zu bewahren.565 Kritiker einer am Normgeberwillen orientierten Interpretation befürchten, veränderte Tatsachen und Wertmaßstäbe könnten durch das Bundesverfassungsgericht nicht mehr ausreichend berücksichtigt werden.566 Eine Beschränkung auf formelle Verfassungsänderungen nach Art. 79 GG untergrabe die Legitimation der Verfassung.567 Anschaulich ist die Rede von der „Versteinerung des Grundgesetzes“568. Die Anpassung an sozialen Wandel werde durch eine am Normgeberwillen orientierte

560 R. Wahl, Verfassungsgebung – Verfassungsänderung – Verfassungswandel I, in: R. Wahl (Hrsg.), Verfassungsänderung, Verfassungswandel, Verfassungsinterpretation (2008), S. 30; J. Wege, Positives Recht und sozialer Wandel im demokratischen und sozialen Rechtsstaat (1977), S. 45; A. Mennicken, Das Ziel der Gesetzesauslegung (1970), S. 79. 561 M.w.N. R. Wahl, Verfassungsgebung – Verfassungsänderung – Verfassungswandel I, in: R. Wahl (Hrsg.), Verfassungsänderung, Verfassungswandel, Verfassungsinterpretation (2008), S. 30; B. Pieroth, Geschichte des Grundgesetzes, in: B. Pieroth, Verfassungsrecht und soziale Wirklichkeit in Wechselwirkung (2000), S. 15; J. Wege, Positives Recht und sozialer Wandel im demokratischen und sozialen Rechtsstaat (1977), S. 106. 562 T. Würtenberger, Zu den Determinanten des Wandels von Ehe und Familie (Statement), in: R. Wahl (Hrsg.), Verfassungsänderung, Verfassungswandel, Verfassungsinterpretation (2008), S. 451. 563 G. Jellinek, Allgemeine Staatsrechtslehre (1960), S. 338 ff. 564 W.-R. Schenke, NJW 1979, 1321, 1324. 565 W. Fiedler, Sozialer Wandel, Verfassungswandel, Rechtsprechung (1972), S. 100; B.-O. Bryde, Verfassungsentwicklung (1982), S. 18; M. Jestaedt, Grundrechtsentfaltung im Gesetz (1999), S. 67; B. Pieroth, Geschichte des Grundgesetzes, in: B. Pieroth, Verfassungsrecht und soziale Wirklichkeit in Wechselwirkung (2000), S. 24; P. Häberle, ZfP 21 (1974), 111, 113; J. Masing, Der Staat 44 (2005), 1, 12. 566 A. Voßkuhle, JuS 2019, 417, 423. 567 B.-O. Bryde, Verfassungsentwicklung (1982), S. 222. 568 W.-R. Schenke, AöR 103 (1978), 566, 584; E. A. Kramer, Juristische Methodenlehre (1998), S. 99; K. Stern/M. Sachs, Staatsrecht III/2 (1994), 1677; J. P. Schaefer, AöR 143 (2018), 393, 422; S.-P. Hwang, AöR 145 (2020), 264, 271.

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Interpretation erschwert. Die subjektive Auslegungstheorie begründe die Herrschaft der Toten über die Lebenden.569 Diese Kritik soll in drei Schritten aufgearbeitet werden. Zunächst soll geklärt werden, was überhaupt unter einem sozialen Wandel zu verstehen ist, dem das Recht angepasst werden soll (a). Darauf aufbauend werden die gängigen Wege diskutiert, wie die Verfassung entwickelt werden kann, damit sie mit dem sozialen Wandel Schritt hält (b). Abschließend wird aufzuzeigen sein, wie auch eine am Normgeberwillen orientierte Interpretation eine ausreichende Anpassung an sozialen Wandel gewährleisten kann (c). a) Sozialer Wandel aa) Definition Der Begriff des sozialen Wandels ist nicht einheitlich definiert.570 Vielfach fehlt es an einer näheren Erläuterung, was darunter zu verstehen ist. Dies ist auch der Verwendung des Begriffes in unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen geschuldet. Vor allem die Soziologie und Ethnologie haben sich mit dem Phänomen des sozialen Wandels eingehend beschäftigt.571 Dabei helfen die dort vorzufindenden unterschiedlichsten Definitionen für die vorliegende Fragestellung kaum weiter.572 Nach dem hier zugrunde gelegten Verständnis umfasst sozialer Wandel die strukturellen Veränderungen einer Gesellschaft. In Abgrenzung zu bloßen Trends handelt es sich um verfestigte, auf Dauer angelegte Veränderungen.573 Welche Intensität diese Veränderungen haben müssen und über welchen Zeitraum sie auftreten müssen, damit von sozialem Wandel gesprochen werden kann, wird nicht einheitlich beurteilt.574 Die Ursachen für sozialen Wandel sind vielschichtig und komplex. Globalisierung und Digitalisierung gelten als zwei wesentliche Treiber sozialen Wandels unserer Zeit.575 Die Feststellung des aktuell vollzogenen Wandels gestaltet sich trotz Zuhilfenahme von Experten häufig schwer.576 569 G. Hirsch, JZ 2007, 853, 856; L. Michael, RW 5 (2014), 426, 436; der Ausspruch von der „Herrschaft der Toten über die Lebenden“ geht zurück auf Herbert Spencer, vgl. nur E. Ehrlich, Die juristische Logik (1925), S. 160. 570 J. Wege, Positives Recht und sozialer Wandel im demokratischen und sozialen Rechtsstaat (1977), S. 60; H. Steiger, VVDStRL 45 (1987), 55, 71. 571 W. Fiedler, Sozialer Wandel, Verfassungswandel, Rechtsprechung (1972), S. 65 ff.; N. Koschmieder, Grundrechtliche Dynamisierungsprozesse (2016), S. 23. 572 W. Fiedler, Sozialer Wandel, Verfassungswandel, Rechtsprechung (1972), S. 68 ff. 573 N. Koschmieder, Grundrechtliche Dynamisierungsprozesse (2016), S. 22. 574 J. Wege, Positives Recht und sozialer Wandel im demokratischen und sozialen Rechtsstaat (1977), S. 60; W. Fiedler, Sozialer Wandel, Verfassungswandel, Rechtsprechung (1972), S. 71. 575 BVerfGE 128, 193, 210; S. Muckel, VVDStRL 79 (2020), 245, 246 f. Weitere Treiber sozialen Wandels bei W. Hoffmann-Riem, Innovation und Recht – Recht und Innovation (2016),

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Kap. 2: Begrenzung der Entscheidungsfindung mittels Interpretationsmethode

Sozialer Wandel kann durch gesellschaftliche oder wissenschaftlich-technische Veränderungen geprägt sein.577 Gesellschaftlicher Wandel beschreibt sich ändernde Werturteile.578 Wissenschaftlich-technischer Wandel umfasst objektive wissenschaftliche Erkenntnisgewinne. Eine Unterscheidung ist nur bedingt möglich.579 Vielfach lässt sich der gesellschaftliche vom wissenschaftlich-technischen Wandel nicht trennscharf abgrenzen.580 Der Übergang ist häufig fließend, wenn nicht sogar sich gegenseitig bedingend.581 Häufig war und ist die Sichtweise auf sozialen Wandel überwiegend positiv, was sich auch an den Umschreibungen wie „Fortschritt“ oder „Entwicklung“ zeigt.582 Seit einigen Jahrzehnten tritt dem aber auch ein weit verbreiteter Skeptizismus entgegen.583 Überholt gilt heute die These, die wissenschaftlich-technische Entwicklung allein sei maßgeblicher Schrittmacher des sozialen Wandels.584 Umstritten ist bis heute, inwieweit sich sozialer Wandel (insbesondere auch durch Recht) gestalten lässt.585 Für die weitere Untersuchung wird vorausgesetzt, dass sozialer Wandel gestaltet werden kann, auch wenn sich das Gestaltungspotential des Rechts möglicherweise auf kleine Korrekturen, eine Beschleunigung oder Verlangsamung des im Kern unabänderlichen Wandels beschränkt.586 Andernfalls würde S. 14 ff. Einen beschleunigten Wandel bereits früher feststellend: J. Wege, Positives Recht und sozialer Wandel im demokratischen und sozialen Rechtsstaat (1977), S. 17; D. Simon, Die Unabhängigkeit des Richters (1975), S. 80; W.-R. Schenke, AöR 103 (1978), 566, 589. W. Fiedler, Sozialer Wandel, Verfassungswandel, Rechtsprechung (1972), S. 15 ff. stellt zu Recht die Frage, „ob nicht zu jeder Zeit der Stand der technischen und sozialen Entwicklung als Ergebnis besonders rapider Entwicklungen empfunden wurde“. 576 E. Benda, Die Verfassung vor den Herausforderungen moderner Technologien (am Beispiel der Rundfunkfreiheit), in: H.-P. Schneider/R. Steinberg (Hrsg.), Verfassungsrecht zwischen Wissenschaft und Richterkunst (1990), S. 10; W. Fiedler, Sozialer Wandel, Verfassungswandel, Rechtsprechung (1972), S. 76. 577 W. Fiedler, Sozialer Wandel, Verfassungswandel, Rechtsprechung (1972), S. 54 ff.; N. Koschmieder, Grundrechtliche Dynamisierungsprozesse (2016), S. 22; B. Klose, NJ 2020, 521 ff. 578 N. Koschmieder, Grundrechtliche Dynamisierungsprozesse (2016), S. 22; L. Michael, RW 5 (2014), 426, 462. 579 N. Koschmieder, Grundrechtliche Dynamisierungsprozesse (2016), S. 22. 580 W. Fiedler, Sozialer Wandel, Verfassungswandel, Rechtsprechung (1972), S. 55. 581 H. Holzhauer, Ehe und Familie, in: B. Pieroth, Verfassungsrecht und soziale Wirklichkeit in Wechselwirkung (2000), S. 73; L. Michael, RW 5 (2014), 426, 462. 582 J. Wege, Positives Recht und sozialer Wandel im demokratischen und sozialen Rechtsstaat (1977), S. 57. Beispielhaft: N. Koschmieder, Grundrechtliche Dynamisierungsprozesse (2016), S. 22 ff., der „Wandel“ und „Fortschritt“ meist synonym verwendet. 583 J. Wege, Positives Recht und sozialer Wandel im demokratischen und sozialen Rechtsstaat (1977), S. 57 ff. 584 J. Wege, Positives Recht und sozialer Wandel im demokratischen und sozialen Rechtsstaat (1977), S. 62 f. 585 W. Friedmann, Recht und sozialer Wandel (1969), S. 13. 586 So auch H. Steiger, VVDStRL 45 (1987), 55, 74.

D. Verfassungskonforme Methodenkonzeption

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man dem Recht eine bloße Abbildfunktion der veränderten Wirklichkeit zuschreiben. Recht steht in einem permanenten Austauschverhältnis zu der ihm unterworfenen Rechtsgemeinschaft.587 So zeigt sich sozialer Wandel nicht zuletzt in den regelmäßigen Änderungen des positiven Rechts.588 Gesetzesänderungen sind zugleich Zeugnis und Ursache sozialen Wandels.589 bb) Beispiele Beispiele sollen helfen, ein Gefühl für den sozialen Wandel zu entwickeln, der sich seit Geltung des Grundgesetzes vollzogen hat. Das weite Feld des Familienrechts eignet sich hierfür besonders gut. Es gibt nur wenige Bereiche, die ähnlich umfassende Veränderungen erlebt haben, die durch sozialen Wandel herbeigeführt wurden.590 Im wissenschaftlich-technischen Bereich gab es in der Medizin einschneidende Erkenntnisgewinne, die das familiäre Zusammenleben unmittelbar und mittelbar betreffen. Dazu zählt bei der Empfängnisverhütung die Zulassung der Antibabypille in den 1960er Jahren, die Frauen eine vergleichsweise zuverlässige Geburtenkontrolle ermöglichte und dadurch zu mehr Unabhängigkeit und Selbstbestimmung verhalf. Ähnlich bahnbrechend waren auch Fortschritte im Bereich der Reproduktionsmedizin. Erst Ende des letzten Jahrhunderts entwickelte sich zudem ein immer breiterer wissenschaftlicher Konsens gegen die Einstufung von Homosexualität als Krankheit.591 Auf gesellschaftlicher Ebene ist ein tiefgreifender normativer Wandel des familiären Zusammenlebens festzustellen.592 Es vollzog sich eine Pluralisierung von gesellschaftlich akzeptierten Familienformen, die bis heute anhält. So werden beispielsweise nichteheliche Lebensgemeinschaften und Patchworkfamilien heute weitgehend gesellschaftlich akzeptiert. Parallel dazu führte die „sexuelle Revolu-

587 K. Hesse, Die normative Kraft der Verfassung, in: M. Friedrich (Hrsg.), Verfassung (1978), S. 80 ff.; T. Würtenberger, Zeitgeist und Recht (1991), S. 15; B. Pieroth, in: B. Pieroth, Verfassungsrecht und soziale Wirklichkeit in Wechselwirkung (2000), S. 9; B.-O. Bryde, Verfassungsentwicklung (1982), S. 25; W.-R. Schenke, AöR 103 (1978), 566, 577; N. Koschmieder, Grundrechtliche Dynamisierungsprozesse (2016), S. 31. 588 T. Würtenberger, Zeitgeist und Recht (1991), S. 9; zum Begriff des „positiven Rechts“ als Summe der geltenden Rechtsnormen s. J. Wege, Positives Recht und sozialer Wandel im demokratischen und sozialen Rechtsstaat (1977), S. 20 ff. 589 Vgl. dazu zahlreiche Beispiele bei T. Würtenberger, Zeitgeist und Recht (1991), S. 148 ff; J. Wege, Positives Recht und sozialer Wandel im demokratischen und sozialen Rechtsstaat (1977), S. 89, 117 ff; P. Häberle, ZfP 21 (1974), 111, 136; W.-R. Schenke, AöR 103 (1978), 566, 577. 590 W. Fiedler, Sozialer Wandel, Verfassungswandel, Rechtsprechung (1972), S. 90. 591 N. Koschmieder, Grundrechtliche Dynamisierungsprozesse (2016), S. 178. 592 R. Zippelius, DÖV 1986, 805.

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Kap. 2: Begrenzung der Entscheidungsfindung mittels Interpretationsmethode

tion“ zu einer umfassenden Liberalisierung der öffentlichen Sexualmoral.593 Damit ging unter anderem eine steigende Toleranz gegenüber Homosexuellen einher.594 Diese Beispiele zeigen die Interdependenz von wissenschaftlich-technischem und gesellschaftlichem Wandel. Aufgrund der Vielschichtigkeit der Entwicklungen lassen sich Kausalitäten nur schwer bestimmen. b) Variationen der Verfassungsentwicklung Die Diskussion, wie Recht an sozialen Wandel angepasst werden kann, wird auf verfassungsrechtlicher Ebene unter dem Stichwort „Verfassungsentwicklung“ geführt.595 Verfassungsentwicklung beschreibt die unterschiedlichen Möglichkeiten, die Verfassung an Veränderungen anzupassen.596 Verfassungsentwicklung kann formell wie informell verlaufen.597 Die wesentlichen Institute der Verfassungsentwicklung sind neben der Verfassungsinterpretation die Verfassungsänderung (aa) und der Verfassungswandel (bb). Hingegen ist die Verfassungsablösung zwar auch eine Möglichkeit der Verfassungsanpassung (vgl. Art. 146 GG),598 jedoch in solch absoluter Form, dass nicht mehr von Entwicklung die Rede sein kann. aa) Verfassungsänderung Die offensichtlichste Form einer Verfassungsentwicklung ist die ausdrückliche Textänderung. Verfassungsänderung beschreibt Textänderungen des Grundgesetzes, bei denen die formellen Vorgaben des Grundgesetzes eingehalten werden.599 Sie ist im Grundgesetz ausdrücklich in Artikel 79 geregelt. Gemäß Art. 79 Abs. 1 GG kann das Grundgesetz nur durch ein Gesetz geändert werden, das den Wortlaut des 593

T. Würtenberger, Zeitgeist und Recht (1991), S. 117 f. T. Würtenberger, Zeitgeist und Recht (1991), S. 117; J. Benedict, JZ 2013, 477, 481; N. Koschmieder, Grundrechtliche Dynamisierungsprozesse (2016), S. 179 f. 595 Vgl. dazu B.-O. Bryde, Verfassungsentwicklung (1982), S. 17 ff.; R. Wahl, Verfassungsgebung – Verfassungsänderung – Verfassungswandel I, in: R. Wahl (Hrsg.), Verfassungsänderung, Verfassungswandel, Verfassungsinterpretation (2008), S. 32; C. Bumke, Konzepte der Verfassungsentwicklung, in: M. Jestaedt/H. Suzuki (Hrsg.), Verfassungsentwicklung I (2017), S. 39 ff. 596 B.-O. Bryde, Verfassungsentwicklung (1982); B. Pieroth, Geschichte des Grundgesetzes, in: B. Pieroth, Verfassungsrecht und soziale Wirklichkeit in Wechselwirkung (2000), S. 24; R. Wahl, Verfassungsgebung – Verfassungsänderung – Verfassungswandel I, in: R. Wahl (Hrsg.), Verfassungsänderung, Verfassungswandel, Verfassungsinterpretation (2008), S. 31 f. 597 C. Walter, AöR 125 (2000), S. 517, 519. 598 L. Michael, RW 5 (2014), 426, 436. 599 B.-O. Bryde, Verfassungsentwicklung (1982), S. 20; R. Wahl, Verfassungsgebung – Verfassungsänderung – Verfassungswandel I, in: R. Wahl (Hrsg.), Verfassungsänderung, Verfassungswandel, Verfassungsinterpretation (2008), S. 36; H. Hofmann, Lehren aus den Verfassungsänderungen eines halben Jahrhunderts?, in: R. Wahl (Hrsg.), Verfassungsänderung, Verfassungswandel, Verfassungsinterpretation (2008), S. 123. 594

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Grundgesetzes ausdrücklich ändert oder ergänzt. Erforderlich ist hierfür nach Art. 79 Abs. 2 GG eine Zweidrittelmehrheit von Bundestag und Bundesrat. Die Verfassungsänderung ist damit den Trägern der Legislative vorbehalten.600 Sie „ist lediglich eine besondere Form der Gesetzgebung“.601 Für einen gewissen Kernbereich seiner Regelungen beansprucht das Grundgesetz ewige Geltung, vgl. Art. 79 Abs. 3 GG.602 Verfassungsänderungen sind angesichts des in der Bundesrepublik geltenden Verhältniswahlrechts auf eine breite politische Zustimmung angewiesen.603 Die Folge davon sind teils kompromisshafte, detailliert ausformulierte Regelungen bei Verfassungsänderungen, wie z. B. Art. 12a, 13, 16a, 23, 29, 104a ff. GG.604 Diese „Kleinteiligkeit und Detailfreudigkeit“ wäre „auf der Ebene des einfachen Rechts besser aufgehoben“, da sie die neuen Regelungen unflexibel und damit in regelmäßigen Abständen anpassungsbedürftig macht.605 Verfassungsänderungen sind seit Bestehen des Grundgesetzes keine Seltenheit.606 Sie betreffen häufig das bundesstaatliche Kompetenzgefüge, speziell die Finanzbeziehungen und Kooperationsmöglichkeiten zwischen Bund und Ländern.607 Ebenfalls zahlreich sind Verfassungsänderungen als Reaktion auf internationale Veränderungen; häufig sind sie der Tatsache geschuldet, dass Deutschland besatzungsrechtlichen Beschränkungen unterlag.608 Es handelt sich dabei um „nachge600 R. Wahl, Verfassungsgebung – Verfassungsänderung – Verfassungswandel I, in: R. Wahl (Hrsg.), Verfassungsänderung, Verfassungswandel, Verfassungsinterpretation (2008), S. 37. 601 C. Schönberger, Die Verfassungsänderung und ihre Grenzen, in: M. Jestaedt/H. Suzuki (Hrsg.), Verfassungsentwicklung I (2017), S. 94. 602 Der rechtsphilosophischen Frage, ob diese Grundsatzentscheidung für ein im Kern überzeitliches, unwandelbares Recht „richtig“ ist, soll hier nicht nachgegangen werden. Vgl. dazu den historischen Abriss bei J. Wege, Positives Recht und sozialer Wandel im demokratischen und sozialen Rechtsstaat (1977), S. 23 ff. 603 B.-O. Bryde, Verfassungsentwicklung (1982), S. 362 f. 604 H. Hofmann, Lehren aus den Verfassungsänderungen eines halben Jahrhunderts?, in: R. Wahl (Hrsg.), Verfassungsänderung, Verfassungswandel, Verfassungsinterpretation (2008), S. 127; C. Schönberger, Die Verfassungsänderung und ihre Grenzen, in: M. Jestaedt/H. Suzuki (Hrsg.), Verfassungsentwicklung I (2017), S. 94 u. 170 f. 605 U. Volkmann, JZ 2018, 265, 268; J. Rozek, Verfassungsrevision, in: J. Isensee/ P. Kirchhof (Hrsg.), HStR, Band XII, 3. Aufl. 2014, § 257 Rn. 30; E. Peuker, Verfassungswandel durch Digitalisierung (2020), S. 86. 606 U. Volkmann, JZ 2018, 265, 266; C. Hillgruber, Notwendigkeit und Bedeutung einer Verfassungsänderung am Beispiel von Art. 10, 13 und 16 GG, in: M. Jestaedt/H. Suzuki (Hrsg.), Verfassungsentwicklung I (2017), S. 149; E. Peuker, Verfassungswandel durch Digitalisierung (2020), S. 86. 607 R. Wahl, Verfassungsgebung – Verfassungsänderung – Verfassungswandel I, in: R. Wahl (Hrsg.), Verfassungsänderung, Verfassungswandel, Verfassungsinterpretation (2008), S. 37; T. Würtenberger, Verfassungsänderung und Verfassungswandel, in: R. Wahl (Hrsg.), Verfassungsänderung, Verfassungswandel, Verfassungsinterpretation (2008), S. 50 f.; U. Volkmann, JZ 2018, 265, 267 f.; C. Schönberger, Die Verfassungsänderung und ihre Grenzen, in: M. Jestaedt/H. Suzuki (Hrsg.), Verfassungsentwicklung I (2017), S. 93. 608 T. Würtenberger, Verfassungsänderung und Verfassungswandel, in: R. Wahl (Hrsg.), Verfassungsänderung, Verfassungswandel, Verfassungsinterpretation (2008), S. 52 f.; ders.,

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Kap. 2: Begrenzung der Entscheidungsfindung mittels Interpretationsmethode

holte Verfassungsgebung“.609 Dazu zählen die Wehrverfassung610, die Notstandsverfassung, die unionsrechtliche Integration sowie die „Einführung von Wettbewerb im Bereich der Bahn, Post und Telekommunikation“ als Folge der Globalisierung.611 Lediglich ausgewählte Grundgesetzänderungen sind neuen kollektiven Wertvorstellungen geschuldet, wie beispielsweise die neuen Staatsziele Umwelt- und Tierschutz in Art. 20a GG.612 Im Grundrechtsteil blieb es bei vergleichsweise wenigen punktuellen Eingriffen.613 Zu nennen sind „die Einschränkung des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses (Art. 10 GG), die Zulassung des sog. großen Lauschangriffs (Art. 13 Abs. 3 GG) und die Einschränkungen des Asylrechts (Art.16a GG)“.614 Neben diesen Verkürzungen von Grundrechten kam es nur zu einer wesentlichen Erweiterung in Art. 3 GG,615 wonach der Staat die Gleichberechtigung von Mann und Frau zu fördern hat (Abs. 2 Satz 2) und Behinderte nicht benachteiligt werden dürfen (Abs. 3 Satz 2). Die allermeisten Grundrechte sind demgegenüber seit Inkrafttreten des Grundgesetzes im Jahr 1949 unverändert geblieben.616

BH Staat 20 (2012), 287, 292; H. Hofmann, Lehren aus den Verfassungsänderungen eines halben Jahrhunderts?, in: R. Wahl (Hrsg.), Verfassungsänderung, Verfassungswandel, Verfassungsinterpretation (2008), S. 122. 609 U. Volkmann, JZ 2018, 265, 267; C. Hillgruber, Notwendigkeit und Bedeutung einer Verfassungsänderung am Beispiel von Art. 10, 13 und 16 GG, in: M. Jestaedt/H. Suzuki (Hrsg.), Verfassungsentwicklung I (2017), S. 156; M. Kenntner, DÖV 1997, 450, 453 f.; A. Busch, Das oft geänderte Grundgesetz, in: W. Merkel/A. Busch (Hrsg.), FS Klaus v. Beyme (1999), S. 557 ff. 610 Ausführlich dazu J. Wieland, Die Entwicklung der Wehrverfassung, in: R. Wahl (Hrsg.), Verfassungsänderung, Verfassungswandel, Verfassungsinterpretation (2008), S. 165 ff. 611 T. Würtenberger, Verfassungsänderung und Verfassungswandel, in: R. Wahl (Hrsg.), Verfassungsänderung, Verfassungswandel, Verfassungsinterpretation (2008), S. 52 f.; ders., BH Staat 20 (2012), 287, 293; U. Volkmann, JZ 2018, 265, 267. 612 T. Würtenberger, Verfassungsänderung und Verfassungswandel, in: R. Wahl (Hrsg.), Verfassungsänderung, Verfassungswandel, Verfassungsinterpretation (2008), S. 50; ders., BH Staat 20 (2012), 287, 290. 613 U. Volkmann, JZ 2018, 265, 266; C. Hillgruber, Notwendigkeit und Bedeutung einer Verfassungsänderung am Beispiel von Art. 10, 13 und 16 GG, in: M. Jestaedt/H. Suzuki (Hrsg.), Verfassungsentwicklung I (2017), S. 150. 614 H. Hofmann, Lehren aus den Verfassungsänderungen eines halben Jahrhunderts?, in: R. Wahl (Hrsg.), Verfassungsänderung, Verfassungswandel, Verfassungsinterpretation (2008), S. 124; C. Hillgruber, Notwendigkeit und Bedeutung einer Verfassungsänderung am Beispiel von Art. 10, 13 und 16 GG, in: M. Jestaedt/H. Suzuki (Hrsg.), Verfassungsentwicklung I (2017), S. 152 ff.; U. Volkmann, JZ 2018, 265, 267. 615 U. Volkmann, JZ 2018, 265, 267; C. Hillgruber, Notwendigkeit und Bedeutung einer Verfassungsänderung am Beispiel von Art. 10, 13 und 16 GG, in: M. Jestaedt/H. Suzuki (Hrsg.), Verfassungsentwicklung I (2017), S. 150 f. 616 U. Volkmann, JZ 2018, 265, 268.

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bb) Verfassungswandel Neben der formellen Verfassungsänderung gilt der Verfassungswandel als wichtiges Werkzeug der Verfassungsentwicklung. Seine Begriffsgeschichte reicht zurück bis in die Staatsrechtslehre des späten 19. Jahrhunderts beziehungsweise frühen 20. Jahrhunderts.617 Für die vorliegende Arbeit ist jedoch nur seine Rezeption im Lichte des Grundgesetzes von Bedeutung, da die damaligen Verfassungen nicht mit dem „demokratischen Verfassungsstaat des Grundgesetzes“ vergleichbar sind.618 Der Begriff des Verfassungswandels wird sehr unterschiedlich verwendet.619 Die Literatur definiert Verfassungswandel überwiegend als „Sinnänderung ohne Textänderung“.620 Er liegt demnach vor, wenn sich der Sinn einer Norm inhaltlich geändert hat, ohne dass der Normtext geändert wurde.621 Rechtsfortbildung ist danach kein Fall eines Verfassungswandels.622 Kein Verfassungswandel ist ferner gegeben,

617 W. Fiedler, Sozialer Wandel, Verfassungswandel, Rechtsprechung (1972), S. 26 ff.; A. Voßkuhle, Gibt es und wozu nutzt eine Lehre vom Verfassungswandel?, in: R. Wahl (Hrsg.), Verfassungsänderung, Verfassungswandel, Verfassungsinterpretation (2008), S. 202 ff.; K. Hesse, Grenzen der Verfassungswandlung, in: P. Häberle (Hrsg.), Ausgewählte Schriften (1984), S. 33 ff.; E. Peuker, Verfassungswandel durch Digitalisierung (2020), S. 92 ff.; N. Koschmieder, Grundrechtliche Dynamisierungsprozesse (2016), S. 40 ff. Vgl. dazu z. B. R. Smend, Verfassung und Verfassungsrecht (1928), S. 137 f. 618 A. Voßkuhle, Gibt es und wozu nutzt eine Lehre vom Verfassungswandel?, in: R. Wahl (Hrsg.), Verfassungsänderung, Verfassungswandel, Verfassungsinterpretation (2008), S. 202. 619 Zur Begrifflichkeit und der historischen Diskussion ausführlich K. Stock, Verfassungswandel in der Außenverfassung (2017), S. 159 ff.; N. Koschmieder, Grundrechtliche Dynamisierungsprozesse (2016), S. 40 ff.; vgl. auch B.-O. Bryde, Verfassungsentwicklung (1982), S. 21 f.; W. Fiedler, Sozialer Wandel, Verfassungswandel, Rechtsprechung (1972), S. 22 ff. 620 B.-O. Bryde, Verfassungsentwicklung (1982), S. 21; A. Voßkuhle, Der Staat 43 (2004), 450, 451 f.; W. Fiedler, Sozialer Wandel, Verfassungswandel, Rechtsprechung (1972), S. 23; B. Pieroth, Geschichte des Grundgesetzes, in: B. Pieroth, Verfassungsrecht und soziale Wirklichkeit in Wechselwirkung (2000), S. 24; R. Wahl, Verfassungsgebung – Verfassungsänderung – Verfassungswandel I, in: R. Wahl (Hrsg.), Verfassungsänderung, Verfassungswandel, Verfassungsinterpretation (2008), S. 43; U. Becker/J. Kersten, AöR 141 (2016), 1, 2. So auch bereits G. Jellinek, Verfassungsänderung und Verfassungswandlung (1906), S. 3. 621 B.-O. Bryde, Verfassungsentwicklung (1982), S. 21; A. Voßkuhle, Gibt es und wozu nutzt eine Lehre vom Verfassungswandel?, in: R. Wahl (Hrsg.), Verfassungsänderung, Verfassungswandel, Verfassungsinterpretation (2008), S. 203; E.-W. Böckenförde, Anmerkungen zum Begriff Verfassungswandel, in: B. Guggenberger/T. Würtenberger (Hrsg.), Hüter der Verfassung oder Lenker der Politik? (1998), S. 45; K. Hesse, Grenzen der Verfassungswandlung, in: P. Häberle (Hrsg.), Ausgewählte Schriften (1984), S. 31 f.; L. Michael, RW 5 (2014), 426, 433; K. Stock, Verfassungswandel in der Außenverfassung (2017), S. 165; N. Koschmieder, Grundrechtliche Dynamisierungsprozesse (2016), S. 38 f. 622 R. Poscher, Verfassungswandel – Eine sprachtheoretische Erläuterung, in: M. Jestaedt/ H. Suzuki (Hrsg.), Verfassungsentwicklung I (2017), S. 203 f.; E.-W. Böckenförde, Anmerkungen zum Begriff Verfassungswandel, in: B. Guggenberger/T. Würtenberger (Hrsg.), Hüter der Verfassung oder Lenker der Politik? (1998), S. 51 f.

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Kap. 2: Begrenzung der Entscheidungsfindung mittels Interpretationsmethode

wenn sich die Relevanz einer Norm aufgrund neuer Tatsachen ändert, dies den Norminhalt aber nicht berührt.623 (1) Begründung Während hinsichtlich der Definition noch weitestgehend Einigkeit herrscht, lässt sich eine Lehre des Verfassungswandels nur schwer ausmachen.624 Seine „inhaltlichen Entstehungs- und Anwendungsvoraussetzungen oder seine Kontrollmöglichkeiten“ bleiben meist ungewiss.625 Verfassungswandel wird vielfach als Teil der Verfassungsinterpretation angesehen.626 Andere befürworten einen rechtsphänomenologischen Ansatz.627 Als Begründung wird angeführt, dass Verfassungswandel möglich sein müsse, weil ansonsten eine dynamische Anpassung des Verfassungsrechts nicht möglich sei.628 Es bedürfe neben der formellen Textänderung eines flexiblen Instruments der Verfassungsanpassung.629 Selbst die vergleichsweise niedrigen formellen Änderungsvoraussetzungen des Grundgesetzes bildeten eine zu hohe Hürde.630 Eine verfassungsgerichtliche Anpassung bleibe demgegenüber weiterer Fortentwicklung zugänglich.631 Das Bundesverfassungsgericht könne seine Legitimation als verfassungswandelnde Gewalt auf verfassungstheoretische Gründe stützen.632 Ihm komme auch institutionell diese Befugnis zu.633 Dies führe nicht zu einer Machtkonzentration zugunsten des Bundesverfassungsgerichts, sondern sei nicht mehr als ein Gegengewicht zum „Gesetzgeber, dem sowohl die Legislative als auch die verfassungsändernde Gewalt anvertraut werde“.634 Art. 79 Abs. 1 GG hingegen sage nichts über 623

A. Voßkuhle, Der Staat 43 (2004), 450, 452. A. Voßkuhle, Gibt es und wozu nutzt eine Lehre vom Verfassungswandel?, in: R. Wahl (Hrsg.), Verfassungsänderung, Verfassungswandel, Verfassungsinterpretation (2008), S. 202; N. Koschmieder, Grundrechtliche Dynamisierungsprozesse (2016), S. 39. 625 N. Koschmieder, Grundrechtliche Dynamisierungsprozesse (2016), S. 39. 626 U. Volkmann, JZ 2018, 265, 268 ff.; J. Rozek, Verfassungsrevision, in: J. Isensee/ P. Kirchhof (Hrsg.), HStR, Band XII, 3. Aufl. 2014, § 257 Rn. 4; C. Walter, AöR 125 (2000), 517, 523; G. F. Schuppert, AöR 120 (1995), 32, 68. 627 U. Becker/J. Kersten, AöR 141 (2016), 1, 12 ff. 628 B.-O. Bryde, Verfassungsentwicklung (1982), S. 226 f.; W.-R. Schenke, AöR 103 (1978), 566, 585. 629 N. Koschmieder, Grundrechtliche Dynamisierungsprozesse (2016), S. 38; W.-R. Schenke, AöR 103 (1978), 566, 585; R. Schlothauer, Zur Krise der Verfassungsgerichtsbarkeit (1979), S. 105. 630 C. Walter, AöR 125 (2000), 517, 545. 631 C. Walter, AöR 125 (2000), 517, 545. 632 L. Michael, RW 5 (2014), 426, 435 ff. 633 L. Michael, RW 5 (2014), 426, 448 ff. 634 L. Michael, RW 5 (2014), 426, 455 f. 624

D. Verfassungskonforme Methodenkonzeption

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die Interpretation des Grundgesetzes aus. Er regele einen Spezialfall der Verfassungsänderung allein für den Gesetzgeber.635 Wenn es darum geht, die Grenzen zulässigen, verfassungsgerichtlichen Verfassungswandels aufzuzeigen, bleiben die Ausführungen vielfach unkonkret. Man könne insoweit die Political-Question-Diskussion (bzw. judicial self-restraint636) „fruchtbar“ machen.637 Im Verhältnis zum Gesetzgeber sollen neben funktionellrechtlichen Argumenten insbesondere das Gewaltenteilungs- und das Demokratieprinzip maßstabsbildend sein.638 Ein zu umfassender Einfluss des Bundesverfassungsgerichts werde durch das Verfassungsprozessrecht verhindert, indem das Bundesverfassungsgericht erst aktiviert werde, wenn die anderen Organe, insbesondere der Gesetzgeber, verfassungskonkretisierend tätig werden konnten.639 Wandlungsverbote werden teilweise normativ Art. 79 Abs. 3 GG und Art. 19 Abs. 2 GG entnommen.640 Teils wird auch auf den (eindeutigen) Wortlaut als taugliche Grenze verwiesen, dies dann aber wieder relativiert.641 Auch dürfe Verfassungswandel nicht „ruck- oder schubartig“, sondern nur „kontinuierlich“ verlaufen.642 Unklar bleibt dabei, wie dies juristisch zu fassen ist und wie mit wissenschaftlichen Erkenntnissprüngen umzugehen ist, die durchaus „bahnbrechend“ verlaufen können. Es gibt zudem genügend als Verfassungswandel deklarierte Beispiele, die eine „radikale Kehrtwendung“ darstellten.643 Ein ähnliches Problem besteht auch, wenn postuliert wird, dass historische Absichten des Verfassungsgebers nur dann überwunden werden dürfen, wenn sich ein Wandel festmachen lasse.644 Nach welchen Maßstäben sich ein solcher Wandel festmachen lässt, bleibt aber offen. Verfassungswandel sei weiterhin regelmäßig dann unproblematisch, wenn es um Grundrechtserweiterungen gehe.645 Im Staatsorganisationsrecht solle hingegen eine 635

L. Michael, RW 5 (2014), 426, 444. W.-R. Schenke, AöR 103 (1978), 566, 586 f. 637 B.-O. Bryde, Verfassungsentwicklung (1982), S. 312. 638 B.-O. Bryde, Verfassungsentwicklung (1982), S. 333 ff. 639 B.-O. Bryde, Verfassungsentwicklung (1982), S. 386 f.; W.-R. Schenke, AöR 103 (1978), 566, 586. 640 E. Peuker, Verfassungswandel durch Digitalisierung (2020), S. 119 f. 641 W.-R. Schenke, AöR 103 (1978), 566, 589; E. Peuker, Verfassungswandel durch Digitalisierung (2020), S. 117 f.; H. Dreier, in: Dreier, GG (2015), Art. 79 I Rn. 39; F. Kramer, Über die Wandlungsfähigkeit des GG am Beispiel gleichgeschlechtlich orientierter Personen und Paare (2017), S. 87 ff. 642 W.-R. Schenke, AöR 103 (1978), 566, 589; E. Peuker, Verfassungswandel durch Digitalisierung (2020), S. 118. 643 A. Voßkuhle, Gibt es und wozu nutzt eine Lehre vom Verfassungswandel?, in: R. Wahl (Hrsg.), Verfassungsänderung, Verfassungswandel, Verfassungsinterpretation (2008), S. 207; ders., Der Staat 43 (2004), 450, 456. 644 L. Michael, RW 5 (2014), 426, 476. 645 U. Volkmann, JZ 2018, 265, 271. 636

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Kap. 2: Begrenzung der Entscheidungsfindung mittels Interpretationsmethode

am Willen des Verfassungsgebers orientierte Auslegung vorzugswürdig sein, die Verfassungswandel erschwert.646 Hier sei die „Rechtssicherheit“ höher zu gewichten.647 Etwas hilflos wirkt der Versuch, darauf zu verweisen, dass das Beharren auf methodischen und materiell-rechtlichen Grenzen in der Praxis nicht durchzusetzen sei.648 Als maßgebliche Grenze sollten das Kollegialprinzip innerhalb der Senate und eine Präjudizienwirkung genügen.649 Eine Anpassung sei nur dann nicht möglich, wenn mit den verschiedenen Auslegungsmöglichkeiten kein vertretbares Ergebnis mehr erreicht werden könne.650 (2) Verfassungsgerichtliche Praxis Auch das Bundesverfassungsgericht verwendet vereinzelt den Begriff des Verfassungswandels in seiner Rechtsprechung, ohne ihn näher zu definieren.651 Es hat zuletzt offengelassen, ob der Verfassungswandel nur als spezielles Problem der Verfassungsinterpretation aufzufassen ist oder ihm ein eigenständiger dogmatischer Gehalt zukommt.652 Geläufiger ist in der Praxis des Bundesverfassungsgerichts die Rede von einem Bedeutungswandel: Eine Verfassungsbestimmung [kann] einen Bedeutungswandel erfahren, wenn in ihrem Bereich neue, nicht vorausgesehene Tatbestände auftauchen oder bekannte Tatbestände durch ihre Einordnung in den Gesamtablauf einer Entwicklung in neuer Beziehung oder Bedeutung erscheinen.653

Auch hinsichtlich des Bedeutungswandels ist aber unklar, ob es sich dabei um eine dogmatische Begründung handelt, die eine Verfassungsentwicklung jenseits gängiger Verfassungsinterpretation ermöglichen soll. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bleibt daher ebenso klare Antworten schuldig.654 (3) Kritik Die Lehre vom Verfassungswandel begegnet umfangreicher, berechtigter Kritik. Die Abgrenzung der Rechtsfigur des Verfassungswandels zur Verfassungsinterpre-

646 B.-O. Bryde, Verfassungsentwicklung (1982), S. 281 f.; B. Schöbener, in: Friauf/Höfling, Berliner Kommentar zum GG (Mai 2021), Art. 79 Rn. 77. 647 B.-O. Bryde, Verfassungsentwicklung (1982), S. 280. 648 C. Walter, AöR 125 (2000), 517, 536 ff. 649 C. Walter, AöR 125 (2000), 517, 542 f. 650 C. Walter, AöR 125 (2000), 517, 538 ff. 651 BVerfGE 45, 1, 33; 62, 1, 49; BVerfGE 142, 25, 65. S. dazu K. Stock, Verfassungswandel in der Außenverfassung (2017), S. 162. 652 BVerfGE 142, 25, 65. 653 Vgl. nur BVerfGE 2, 380, 401; 3, 407, 422; 33, 199, 203 f.; 62, 1, 67 f. 654 W. Fiedler, Sozialer Wandel, Verfassungswandel, Rechtsprechung (1972), S. 78.

D. Verfassungskonforme Methodenkonzeption

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tation fällt schwer beziehungsweise ist nicht nachvollziehbar.655 Die Rechtsfigur des Verfassungswandels lässt sich formal häufig kaum von „normaler“ Auslegung unterscheiden.656 In der Praxis erweisen sich Verfassungswandel und Verfassungsinterpretation „vielmehr teilweise als funktional äquivalent“.657 Die Diskussion über die Lehre vom Verfassungswandel bringt folglich keinen eigenständigen Mehrwert hervor, sondern erschöpft sich in den allgemeinen Fragen der Auslegung.658 Das Etikett „Verfassungswandel“ hat keinen dogmatischen Mehrwert.659 Es „verdeckt […] mehr, als dass [es] aufklärt“.660 Allein die Einrichtung einer Verfassungsgerichtsbarkeit ermächtigt dieselbe noch nicht, maßgebliche Anpassungen selbst vorzunehmen.661 Erlaubt Verfassungswandel hingegen letztlich doch eine Verfassungsänderung jenseits der Verfassungsinterpretation, werden die Grenzen des Art. 79 GG aufgelöst.662 Nicht nur das besondere Quorum des Art. 79 Abs. 2 GG, sondern auch die Ewigkeitsklausel des Art. 79 Abs. 3 GG ginge dadurch ins Leere. Auch könnte der verfassungsändernde Gesetzgeber aufgrund der Hürden des Art. 79 Abs. 2 GG nicht ohne Weiteres korrigierend eingreifen.663 Ein solcher Verfassungswandel würde die Kompetenzordnung des Grundgesetzes missachten und wäre

655 R. Wahl, Verfassungsgebung – Verfassungsänderung – Verfassungswandel I, in: R. Wahl (Hrsg.), Verfassungsänderung, Verfassungswandel, Verfassungsinterpretation (2008), S. 43; A. Voßkuhle, Der Staat 43 (2004), 450, 454; U. Volkmann, Grundzüge einer Verfassungslehre der Bundesrepublik Deutschland (2013), S. 141. 656 K. Stock, Verfassungswandel in der Außenverfassung (2017), S. 258. 657 A. Voßkuhle, Gibt es und wozu nutzt eine Lehre vom Verfassungswandel?, in: R. Wahl (Hrsg.), Verfassungsänderung, Verfassungswandel, Verfassungsinterpretation (2008), S. 208. 658 A. Voßkuhle, Der Staat 43 (2004), 450, 454 ff.; K. Hesse, Grenzen der Verfassungswandlung, in: P. Häberle (Hrsg.), Ausgewählte Schriften (1984), S. 42; K. Stock, Verfassungswandel in der Außenverfassung (2017), S. 254; N. Koschmieder, Grundrechtliche Dynamisierungsprozesse (2016), S. 55 f. 659 W. Fiedler, Sozialer Wandel, Verfassungswandel, Rechtsprechung (1972), S. 102 f.; A. Voßkuhle, Der Staat 43 (2004), 450, 457; U. Volkmann, Grundzüge einer Verfassungslehre der Bundesrepublik Deutschland (2013), S. 141. Teils wird vertreten, die Lehre vom Verfassungswandel sei letztlich schlicht der „verfassungsrechtspezifische Ableger“ der objektiven Auslegung, vgl. M. Jestaedt, Verfassungsgerichtspositivismus, in: O. Depenheuer u. a. (Hrsg.), FS Isensee (2002), S. 194. 660 A. Voßkuhle, Gibt es und wozu nutzt eine Lehre vom Verfassungswandel?, in: R. Wahl (Hrsg.), Verfassungsänderung, Verfassungswandel, Verfassungsinterpretation (2008), S. 210. 661 C. Hillgruber, Verfassungsinterpretation, in: O. Depenheuer/C. Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie (2010), S. 517; F. Reimer, Verfassungsprinzipien (2001), S. 114. 662 M. Jestaedt, Verfassungsgerichtspositivismus, in: O. Depenheuer u. a. (Hrsg.), FS Isensee (2002), S. 196 f.; ders., Selbstand und Offenheit der Verfassung, in: J. Isensee/ P. Kirchhof (Hrsg.), HStR, Band XII, 3. Aufl. 2014, § 264 Rn. 70; W. Fiedler, Sozialer Wandel, Verfassungswandel, Rechtsprechung (1972), S. 100; E.-W. Böckenförde, Anmerkungen zum Begriff Verfassungswandel, in: B. Guggenberger/T. Würtenberger (Hrsg.), Hüter der Verfassung oder Lenker der Politik? (1998), S. 54; K. Hesse, Grenzen der Verfassungswandlung, in: P. Häberle (Hrsg.), Ausgewählte Schriften (1984), S. 43. 663 Vgl. Kapitel 2 D. I. 2. Dies verkennt T. Würtenberger, BH Staat 20 (2012), 287, 296.

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Kap. 2: Begrenzung der Entscheidungsfindung mittels Interpretationsmethode

daher verfassungswidrig.664 Verfassungsbruch darf nicht als Verfassungswandel „legalisiert“ werden.665 Verfassungswandel ist wie jede Verfassungsinterpretation begrenzt durch den Willen des Verfassungsgebers.666 Die Anpassungsfähigkeit des Grundgesetzes ist auch ohne Verfassungswandel gewährleistet.667 Beispielhaft kann auf den Grundrechtsschutz von Unionsbürgern verwiesen werden.668 Hierzu bedarf es keines Verfassungswandels, wonach bei den „Deutschen“-Grundrechten unter Deutscher durch die zwischenzeitliche europäische Integration auch jeder Unionsbürger zu verstehen ist.669 Dogmatisch lässt sich ein gleichwertiger Grundrechtsschutz für Unionsbürger auch über eine Verfassungsinterpretation erreichen, bei der im Rahmen der Auslegung des Art. 2 Abs. 1 GG die Europarechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes besonders berücksichtigt wird und so ein gleichwertiges Schutzniveau gewährleistet wird. Dieser Ansatz sperrt sich nicht den europarechtlichen Erfordernissen, respektiert aber zugleich die grundgesetzlichen Vorgaben.670 Ähnliches gilt auch für das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung. Auch diese Entwicklung ist nicht zwingend als verfassungsändernder Verfassungswandel zu klassifizieren,671 sondern kann ebenso gut mit den klassischen Methoden der Verfassungsinterpretation begründet werden. Es handelt sich deshalb dabei um „keine Usurpation, sondern eine konsequente Fortschreibung alter Gewährleistungen“.672 Es bedarf daher nicht des Instituts „Verfassungswandel“.673 Interpretation und Verfassungsänderung können Verfassungsanpassung ausreichend gewährleisten. Dies bestätigt auch eine Rückschau. Ohne den Einsatz des Instrumentariums „Verfassungswandel“ konnte die Verfassungsjudikatur den bisherigen Wandel recht

664

C. Hillgruber, VVDStRL 67 (2008), 7, 45 f.; E.-W. Böckenförde, Anmerkungen zum Begriff Verfassungswandel, in: B. Guggenberger/T. Würtenberger (Hrsg.), Hüter der Verfassung oder Lenker der Politik? (1998), S. 54. 665 K. Hesse, Grenzen der Verfassungswandlung, in: P. Häberle (Hrsg.), Ausgewählte Schriften (1984), S. 44; C. Bäcker, AöR 143 (2018), 339, 370. 666 C. Bäcker, AöR 143 (2018), 339, 340. 667 K. Hesse, Grenzen der Verfassungswandlung, in: P. Häberle (Hrsg.), Ausgewählte Schriften (1984), S. 43. 668 T. Würtenberger, Verfassungsänderung und Verfassungswandel, in: R. Wahl (Hrsg.), Verfassungsänderung, Verfassungswandel, Verfassungsinterpretation (2008), S. 57 f. 669 H. Bauer/W. Kahl, JZ 1995, 1077, 1081 ff. 670 H. Bauer/W. Kahl, JZ 1995, 1077, 1085; T. Mann, in: Sachs, GG (2021), Art. 12 Rn. 34 f. 671 So aber H. Schulze-Fielitz, Verfassung als Prozess von Verfassungsänderungen ohne Verfassungstextänderungen, in: R. Wahl (Hrsg.), Verfassungsänderung, Verfassungswandel, Verfassungsinterpretation (2008), S. 226; F. Kramer, Über die Wandlungsfähigkeit des GG am Beispiel gleichgeschlechtlich orientierter Personen und Paare (2017), S. 80. 672 J. Masing, Der Staat 44 (2005), 1, 14. 673 A. A. E. Peuker, Verfassungswandel durch Digitalisierung (2020), S. 137 ff.

D. Verfassungskonforme Methodenkonzeption

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gut verarbeiten.674 Es gibt keine Verfassungsentwicklung, die ausschließlich mit Verfassungswandel möglich oder erklärbar gewesen wäre. Dass das Grundgesetz dennoch nicht veraltet ist, wird deutlich, wenn man als Indiz hierfür die Zustimmung zum Grundgesetz und zum Bundesverfassungsgericht heranzieht. Dieser Verfassungskonsens kann über einen inzwischen beachtlichen Zeitraum stabile Zustimmungswerte vorweisen.675 Er würde gefährdet, verkäme das Bundesverfassungsgericht mittels Verfassungswandel zu einem Akteur mit eigener Agenda und damit immer mehr zu einem politischen Gericht.676 c) Lösung Nachdem sich der Verfassungswandel als keine taugliche dogmatische Figur erwiesen hat, soll im Folgenden dargelegt werden, warum dennoch keine (unabänderliche) Herrschaft der Toten über die Lebenden droht. Mit Hilfe der formellen Verfassungsänderung und der Verfassungsinterpretation kann die notwendige Anpassung des Grundgesetzes an sozialen Wandel gewährleistet werden. aa) Normwidrige Wirklichkeit Bevor auf die methodisch verfassungskonformen Anpassungsmöglichkeiten des Grundgesetzes eingegangen wird, soll zunächst jedoch darauf hingewiesen werden, dass positives Recht in seiner Anwendung in Teilbereichen bewusst der „normwidrigen Wirklichkeit“ entgegenstehen soll.677 Nicht jeder soziale Wandel zieht einen Anpassungsbedarf nach sich. So wäre das Strafrecht obsolet, wenn die zahlreichen Verstöße dagegen bereits ein Indiz für seine „Veralterung“ wären. Es wäre daher verfehlt zu glauben, Recht müsse immerzu den tatsächlichen Verhältnissen angepasst werden.678 Jeglicher politische Gestaltungswille des Rechts würde dadurch negiert.679 Dies gilt auch für das Grundgesetz als „anspruchsvolle“ Verfassung, weil es die tatsächlichen Verhältnisse nicht nur beschreibt, sondern kontrafaktische Er-

674 K. Hesse, Grenzen der Verfassungswandlung, in: P. Häberle (Hrsg.), Ausgewählte Schriften (1984), S. 29. 675 T. Würtenberger, Zeitgeist und Recht (1991), S. 143 ff. 676 L. Michael, RW 5 (2014), 426, 473 f., sieht diese Gefahr auch, meint aber, dieser Gefahr allein mit Optimierungsvorschlägen zu Richterwahl und gerichtlichem Verfahren begegnen zu können. 677 J. Wege, Positives Recht und sozialer Wandel im demokratischen und sozialen Rechtsstaat (1977), S. 74; C. Hillgruber, VVDStRL 67 (2008), 7, 17. 678 J. Wege, Positives Recht und sozialer Wandel im demokratischen und sozialen Rechtsstaat (1977), S. 75; C. Hillgruber, VVDStRL 67 (2008), 7, 20; D. Schindler, Verfassungsrecht und soziale Struktur (1944), S. 32. 679 J. Wege, Positives Recht und sozialer Wandel im demokratischen und sozialen Rechtsstaat (1977), S. 76.

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Kap. 2: Begrenzung der Entscheidungsfindung mittels Interpretationsmethode

wartungen formuliert.680 Weicht die Wirklichkeit von den verfassungsrechtlichen Vorgaben ab, indiziert dies nicht zwingend einen Änderungsbedarf des Grundgesetzes, sondern möglicherweise die Notwendigkeit eines verfassungstreueren Handelns staatlicher Akteure. Diese dauerhafte „Spannungslage“ ist dem Grundgesetz immanent.681 Gleichwohl unterliegt „der kontrafaktische Anspruch des juristischen Verfassungstextes […] tatsächlichen Grenzen, deren Bestimmung auf den Inhalt der normativen Verfassung zurückwirkt, gerade auch um seiner normativen Kraft willen“.682 Die Schwelle, wann sich eine Interpretation des Grundgesetzes den tatsächlichen Verhältnissen beugen muss oder aber gerade auf die kontrafaktische Erwartung bestehen muss, ist freilich nur für den Einzelfall zu bestimmen.683 bb) Formelle Verfassungsänderung So bildlich und drastisch der Vorwurf einer Herrschaft der Toten über die Lebenden auch ist, er dringt offensichtlich nicht durch. Zu behaupten, die Vorstellungen des historischen Verfassungsgebers seien für die Ewigkeit zementiert,684 ist haltlos. Die „Herrschaft der Toten“ kann durch Verfassungsänderung und Verfassungsneuschöpfung grundsätzlich jederzeit beendet werden.685 Es ist vielmehr die Weisheit der Lebenden, den zur Verfassung geronnenen Erfahrungsschatz von Generationen nicht ohne Not zu revidieren. Eine Minderheit ist hingegen zu Recht darauf zu verweisen, ihre Vorstellungen einer besseren Verfassung zunächst mehrheitsfähig zu machen. Denn für bedeutenden sozialen Wandel ist der Weg der formellen Textänderung des Grundgesetzes der richtige. Dadurch wird mittels eines institutionalisierten Verfahrens öffentlichwirksam der mit dem Wandel häufig einhergehende soziale Konflikt meist besser verarbeitet und gelöst.686 Auf diesem Wege kann ein „stabiler sozialer Wandel“ gewährleistet werden.687 Sich ändernde soziale Anschauungen 680 B.-O. Bryde, Verfassungsentwicklung (1982), S. 33 ff.; R. Wahl, Verfassungsgebung – Verfassungsänderung – Verfassungswandel I, in: R. Wahl (Hrsg.), Verfassungsänderung, Verfassungswandel, Verfassungsinterpretation (2008), S. 30; C. Hillgruber, VVDStRL 67 (2008), 7, 21. 681 B.-O. Bryde, Verfassungsentwicklung (1982), S. 35 f. 682 H. Schulze-Fielitz, Verfassung als Prozess von Verfassungsänderungen ohne Verfassungstextänderungen, in: R. Wahl (Hrsg.), Verfassungsänderung, Verfassungswandel, Verfassungsinterpretation (2008), S. 219. 683 Kontroverse Beispiele hierzu bei C. Hillgruber, VVDStRL 67 (2008), 7, 24 ff. 684 N. Koschmieder, Grundrechtliche Dynamisierungsprozesse (2016), S. 33. 685 C. Hillgruber, Verfassungsinterpretation, in: O. Depenheuer/C. Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie (2010), S. 513; ders., VVDStRL 67 (2008), 7, 45. 686 J. Wege, Positives Recht und sozialer Wandel im demokratischen und sozialen Rechtsstaat (1977), S. 127 f.; C. Hillgruber, Verfassungsinterpretation, in: O. Depenheuer/ C. Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie (2010), S. 515 f.; J. Benedict, JZ 2013, 477, 487. 687 H. Schelsky, Die Soziologen und das Recht (1980), S. 184; J. Wege, Positives Recht und sozialer Wandel im demokratischen und sozialen Rechtsstaat (1977), S. 128.

D. Verfassungskonforme Methodenkonzeption

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müssen sich im Rahmen des parlamentarischen Prozesses durchsetzen.688 Die Demokratie löst Interessenskonflikte im demokratischen Prozess.689 Die Verfassung ist kein Projekt einer politischen Avantgarde. Ob bedeutender sozialer Wandel auch Änderungen des Grundgesetzes nach sich ziehen soll, hat der verfassungsändernde Gesetzgeber zu beurteilen.690 Auch nach dem Bundesverfassungsgericht entspricht „diese Beurteilung […] der besonderen Verantwortung des demokratisch legitimierten Gesetzgebers für die Anpassung der Rechtsordnung an wechselnde soziale Anforderungen und veränderte Ordnungsvorstellungen.“691 Dieser Prozess der „Suche nach der gemeinverträglichsten Lösung“ kann jedoch nur in Gang gesetzt werden, wenn er nicht bereits vorher durch eine Verfassungsinterpretation unterlaufen wurde.692 Dieser Auffassung stehen auch keine unüberwindbaren formellen Hürden entgegen.693 Verfassungsänderungen sind in Deutschland vergleichsweise einfach.694 Die in Art. 79 GG geregelten Voraussetzungen verhindern einen direkten Zugriff des einfachen Gesetzgebers auf Verfassungsinhalte. Es bestehen im internationalen Vergleich aber mit Ausnahme der Sonderregel des Art. 79 Abs. 3 GG keine unüberwindbaren Hürden.695 Das wird auch durch einen Blick in die Praxis696 und die bisherige Geschichte der Verfassungsänderungen bestätigt. Das Grundgesetz ist eine der Verfassungen weltweit mit den meisten Änderungen.697 Die weit überwiegende Anzahl der Änderungen war in der Öffentlichkeit nicht umstritten.698 Der Streit beschränkte sich vielmehr auf die Akteure im politischen System.699 688 W. Fiedler, Sozialer Wandel, Verfassungswandel, Rechtsprechung (1972), S. 86; J. Benedict, JZ 2013, 477, 487; J. Risse, Der verfassungsrechtliche Schutz der Homosexualität (1998), S. 230. 689 M. Herdegen, JZ 2004, 873, 874. 690 J. Ipsen, NVwZ 2017, 1096, 1098; D. Looschelders/W. Roth, Juristische Methodik im Prozess der Rechtsanwendung (1996), S. 208. 691 BVerfGE 77, 84, 104. 692 J. Masing, Zwischen Kontinuität und Diskontinuität: Die Verfassungsänderung, in: R. Wahl (Hrsg.), Verfassungsänderung, Verfassungswandel, Verfassungsinterpretation (2008), S. 146. 693 C. Hillgruber, JZ 2011, 861, 864; J. Rozek, Verfassungsrevision, in: J. Isensee/ P. Kirchhof (Hrsg.), HStR, Band XII, 3. Aufl. 2014, § 257 Rn. 28 f. 694 B.-O. Bryde, Verfassungsentwicklung (1982), S. 57; U. Volkmann, JZ 2018, 265, 266; A. Busch, Das oft geänderte Grundgesetz, in: W. Merkel/A. Busch (Hrsg.), FS Klaus v. Beyme (1999), S. 563. 695 B.-O. Bryde, Verfassungsentwicklung (1982), S. 57 f.; U. Volkmann, JZ 2018, 265, 266. 696 H. Schulze-Fielitz, Verfassung als Prozess von Verfassungsänderungen ohne Verfassungstextänderungen, in: R. Wahl (Hrsg.), Verfassungsänderung, Verfassungswandel, Verfassungsinterpretation (2008), S. 229. 697 H. Schulze-Fielitz, Schattenseiten des Grundgesetzes, in: H. Dreier (Hrsg.), Macht und Ohnmacht des Grundgesetzes (2009), S. 26; B.-O. Bryde, Verfassungsentwicklung (1982), S. 117; M. Kenntner, DÖV 1997, 450, 453. 698 B.-O. Bryde, Verfassungsentwicklung (1982), S. 122 ff. 699 B.-O. Bryde, Verfassungsentwicklung (1982), S. 132.

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Kap. 2: Begrenzung der Entscheidungsfindung mittels Interpretationsmethode

Die Schlagzahl der formellen Verfassungsänderungen ist nicht so hoch, dass sie den verfassungsändernden Gesetzgeber überfordern würde. Dass sich der Bedarf an Textänderungen in Grenzen hält, gilt besonders für die Grundrechte. Der Grundrechteteil des Grundgesetzes hat verglichen mit der Finanzverfassung oder der Kompetenzabgrenzung zwischen Bund und Ländern nur äußert geringe Änderungen erfahren.700 Der Verzicht auf eine kleinteilige Kasuistik sowie offene Formulierungen ermöglichen hier relativ problemlos eine Anpassung an sozialen Wandel. Eine Wortlautänderung ist für eine Verfassungsentwicklung aufgrund des abstrakten Inhalts vielfach nicht notwendig.701 Anderes gilt hingegen für den Kompetenzkatalog der Art. 73 und 74 GG, wo Anpassungen aber durch formelle Textänderungen bisher problemlos bewerkstelligt werden konnten.702 Nicht überzeugend ist daher die Kritik, mittels Verfassungs(text)änderungen könnten neue strukturelle Herausforderungen wie beispielsweise die Europäisierung oder Digitalisierung nicht bewältigt werden.703 Vielmehr konnte die über die Jahrzehnte immer tiefgreifendere europäische Integration durch Verfassungstextanpassung und europarechtsfreundliche Interpretation nachvollzogen werden. Ebenso wenig überzeugend ist es, einerseits die vergleichsweise praktikable Änderungsmöglichkeit des Grundgesetzes zu bestätigen, zugleich aber zu behaupten, „dass die Hürden des Art. 79 Abs. 2 GG andere – vielleicht dringlichere – Änderungen des Grundgesetzes verhindern, so dass offenbar ein erheblicher Bedarf zurückbleibt für Verfassungswandel“704. Eine solche Behauptung bedarf einer rechtlichen Begründung. Allein umstrittene politische Forderungen zu benennen, die noch keinen Eingang in den Verfassungstext gefunden haben, genügt nicht. Diese Haltung bestätigt vielmehr die Kritik, dass mittels Verfassungswandel nicht mehrheitsfähiger, subjektiv empfundener Änderungsbedarf durchgesetzt werden soll. Formelle Verfassungsänderungen sind mithin ein praktikabler Baustein der Verfassungsentwicklung. Sie werden „nicht nur als Reserveinstrument in tiefgreifenden Krisen, sondern auch als Instrument der Anpassung gebraucht“.705 Sie gewährleisten die stabile Umsetzung sozialen Wandels, soweit nicht dem Bundesverfassungsgericht durch Verfassungsinterpretation die vielmals kleinteiligere Anpassung eröffnet ist.

700

453. 701

455.

B.-O. Bryde, Verfassungsentwicklung (1982), S. 121; M. Kenntner, DÖV 1997, 450, B.-O. Bryde, Verfassungsentwicklung (1982), S. 137; M. Kenntner, DÖV 1997, 450,

702 M. Kenntner, DÖV 1997, 450, 455; A. Busch, Das oft geänderte Grundgesetz, in: W. Merkel/A. Busch (Hrsg.), FS Klaus v. Beyme (1999), S. 566 f. 703 E. Peuker, Verfassungswandel durch Digitalisierung (2020), S. 84. 704 L. Michael, RW 5 (2014), 426, 442. 705 J. Masing, Der Staat 44 (2005), 1, 15; M. Sachs, in: Sachs, GG (2021), Einf. Rn. 49.

D. Verfassungskonforme Methodenkonzeption

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cc) Normgestaltung und Verfassungsinterpretation Die Väter und Mütter des Grundgesetzes haben durch eine zukunftsoffene Normgestaltung Sorge dafür getragen, dass das Grundgesetz sozialen Wandel im Rahmen der Verfassungsinterpretation verarbeiten kann. Es ist ein Merkmal einer guten Verfassung, dass sie „ihre Gewährleistungen – in bewusster demokratischer Entscheidung – so allgemein [verbrieft], dass sie in der Geschichte wachsen können“.706 Tatsächliche Veränderungen führen ohne Änderung des Normtextes zu anderen Auslegungsergebnissen, „wenn und soweit [das Grundgesetz] dies selbst vorsieht und anordnet“.707 Entscheidend ist wiederum der Wille des Normgebers, der Änderungen der Verfassungsinterpretation als Folge von sozialem Wandel im Normprogramm vorsehen kann. Der Wille des Verfassungsgebers kann bewusst „auf einen dynamischen Normgehalt gerichtet sein“.708 Mit Hilfe sogenannter Schleusenbegriffe kann der Normgeber „die notwendige Bezogenheit von Recht und sozialer Wirklichkeit aufrecht [erhalten]“.709 Sozialer Wandel lässt sich unabhängig von der Methode besonders dann leicht verarbeiten, wenn der Gesetz- oder Verfassungsgeber durch den Einsatz von Generalklauseln bewusst eine Auslegung unter Berücksichtigung aktueller Wertvorstellungen ermöglicht.710 Sie stellen eine bewusste Übertragung von Entscheidungskompetenzen dar.711 Verfassungsrecht ist vielfach generalklauselartig formuliert.712 Dies gilt insbesondere im Bereich der Grundrechte, deren Regelungen abstrakt und elastisch formuliert sind.713 Dieser Normierungsstil erleichtert Verfassungsentwicklung ohne 706 J. Masing, Der Staat 44 (2005), 1, 13; ders., Zwischen Kontinuität und Diskontinuität: Die Verfassungsänderung, in: R. Wahl (Hrsg.), Verfassungsänderung, Verfassungswandel, Verfassungsinterpretation (2008), S. 142; R. Zippelius/T. Würtenberger, Deutsches Staatsrecht (2018), S. 64. 707 C. Hillgruber, Verfassungsinterpretation, in: O. Depenheuer/C. Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie (2010), S. 515; ders., in: Dürig/Herzog/Scholz, GG (Juli 2021), Art. 97 Rn. 61; B.-O. Bryde, Verfassungsentwicklung (1982), S. 284 ff.; C. Bäcker, AöR 143 (2018), 339, 370. 708 A. v. Arnauld, Rechtstheorie 32 (2001), 465, 482. 709 E.-W. Böckenförde, Anmerkungen zum Begriff Verfassungswandel, in: B. Guggenberger/T. Würtenberger (Hrsg.), Hüter der Verfassung oder Lenker der Politik? (1998), S. 51. 710 H.-J. Strauch, Methodenlehre des gerichtlichen Erkenntnisverfahrens (2017), S. 316; T. Würtenberger, Zeitgeist und Recht (1991), S. 161; J. Wege, Positives Recht und sozialer Wandel im demokratischen und sozialen Rechtsstaat (1977), S. 294 ff.; A. v. Arnauld, Rechtstheorie 32 (2001), 465, 484 ff.; D. Simon, Die Unabhängigkeit des Richters (1975), S. 79; F. Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff (1991), S. 582 ff.; B. Rüthers, JZ 2002, 365. 711 F. Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff (1991), S. 583; T. MayerMaly, JZ 1986, 557, 560; F. Reimer, Juristische Methodenlehre (2020), Rn. 254. 712 W. Fiedler, Sozialer Wandel, Verfassungswandel, Rechtsprechung (1972), S. 59. 713 B.-O. Bryde, Verfassungsentwicklung (1982), S. 89 ff.; N. Koschmieder, Grundrechtliche Dynamisierungsprozesse (2016), S. 32; U. Volkmann, JZ 2018, 265, 269; E.-W. Böckenförde, NJW 1974, 1529; R. Zippelius/T. Würtenberger, Deutsches Staatsrecht (2018), S. 64.

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Kap. 2: Begrenzung der Entscheidungsfindung mittels Interpretationsmethode

formelle Verfassungsänderung.714 Allgemeine Regeln, wonach das Organisationsrecht konkret, das materielle Recht tendenziell offen formuliert ist, gelten nicht absolut.715 Vielmehr muss jede Norm individuell auf ihre Offenheit abgeprüft werden.716 Für das einfache Recht sei beispielhaft nur auf den Begriff der „öffentlichen Ordnung“ im Polizeirecht hingewiesen.717 Dieser Begriff, verstanden als die Gesamtheit der ungeschriebenen Regeln, deren Befolgung nach den jeweils herrschenden sozialen und ethischen Anschauungen als unerlässliche Voraussetzung für ein gedeihliches Zusammenleben innerhalb eines bestimmten Gebietes angesehen wird,718 verlangt nach einer gegenwartsbezogenen Subsumtion. Gleiches gilt für den Begriff „Sittengesetz“ in Art. 2 Abs. 2 Halbsatz 2 GG. Es handelt sich hierbei um ein kontingentes Merkmal, das vom Normgeber gewollt einen kontinuierlichen inhaltlichen Wandel berücksichtigt.719 Teilweise ist diesbezüglich auch von indexikalischen Rechtsbegriffen die Rede.720 Solche zukunftsoffen angelegten Begriffe ermöglichen es, veränderte Wertvorstellungen unmittelbar zu berücksichtigen.721 Denn der Normgeber selbst hat als Bezugsrahmen die „aktuelle gesellschaftliche Wirklichkeit“ angeordnet.722 Diese Normgestaltung erlaubt eine Anpassung „in kleinen Schritten“, sodass sich der Wandel des Rechts häufig ähnlich leise vollzieht wie der zugrundeliegende gesellschaftliche Wandel und erst in der Rückschau richtig bemerkbar wird.723 So verstößt das Küssen eines unverheirateten Paares auf offener Straße heute – anders als in den frühen 1950ern – nicht gegen das Sittengesetz.724

714 B.-O. Bryde, Verfassungsentwicklung (1982), S. 89 ff.; H. Schulze-Fielitz, Verfassung als Prozess von Verfassungsänderungen ohne Verfassungstextänderungen, in: R. Wahl (Hrsg.), Verfassungsänderung, Verfassungswandel, Verfassungsinterpretation (2008), S. 228; K. Stern/ M. Sachs, Staatsrecht III/2 (1994), S. 1696. 715 C. Gusy, JöR 1984, 105. 716 C. Gusy, JöR 1984, 105. 717 H.-J. Strauch, Methodenlehre des gerichtlichen Erkenntnisverfahrens (2017), S. 319; T. Würtenberger, Zeitgeist und Recht (1991), S. 179 f.; E.-W. Böckenförde, Anmerkungen zum Begriff Verfassungswandel, in: B. Guggenberger/T. Würtenberger (Hrsg.), Hüter der Verfassung oder Lenker der Politik? (1998), S. 51. 718 G. Erbel, DVBl 2001, 1714, 1717. 719 C. Gröpl/Y. Georg, AöR 139 (2014), 125, 144 f.; E.-W. Böckenförde, Anmerkungen zum Begriff Verfassungswandel, in: B. Guggenberger/T. Würtenberger (Hrsg.), Hüter der Verfassung oder Lenker der Politik? (1998), S. 51. 720 R. Poscher, Verfassungswandel – Eine sprachtheoretische Erläuterung, in: M. Jestaedt/ H. Suzuki (Hrsg.), Verfassungsentwicklung I (2017), S. 208 ff. 721 H.-J. Strauch, Methodenlehre des gerichtlichen Erkenntnisverfahrens (2017), S. 323; T. Würtenberger, Zeitgeist und Recht (1991), S. 179. 722 A. v. Arnauld, Rechtstheorie 32 (2001), 465, 485. 723 H.-J. Strauch, Methodenlehre des gerichtlichen Erkenntnisverfahrens (2017), S. 323. 724 Beispiel bei C. Gröpl/Y. Georg, AöR 139 (2014), 125, 144 f.

D. Verfassungskonforme Methodenkonzeption

181

Sozialethischer Wandel ist innerhalb des vom Normgeber eröffneten Bedeutungsspielraums ohne Weiteres verfassungsrechtlich nachzuvollziehen.725 Ein weiteres Beispiel ist die in Art. 12 Abs. 1 GG geschützte Berufsfreiheit. Beruf im Sinne dieses Artikels ist jede auf Dauer angelegte Tätigkeit zur Schaffung und Erhaltung einer Lebensgrundlage.726 Die danach vom Schutzbereich der Berufsfreiheit erfassten Berufe beschränken sich auch bei einer Auslegung orientiert am Normgeberwillen nicht auf die 1949 bekannten Berufsbilder. Es handelt sich vielmehr um einen „aufgrund der fortschreitenden technischen, sozialen oder wirtschaftlichen Entwicklung prinzipiell offene[n] Begriff“.727 Denn auch der Verfassungsgeber ist von einem abstrakten Berufsverständnis ausgegangen, sodass neuen Berufsbildern der Schutz von Art. 12 Abs. 1 GG nicht vorenthalten wird. Weitere Beispiele ließen sich für die meisten Grundrechte finden.728 Sie „haben sich in den letzten 70 Jahren als entwicklungsfähig erwiesen“.729 Unrühmliche Ausnahmen bilden lediglich später eingefügte Änderungen wie beispielsweise Art. 16a GG. Diese mögen durch ihren detaillierten Regelungscharakter kurzfristig klare verfassungsrechtliche Antworten geben,730 sie sehen sich langfristig aber erheblichem Anpassungsbedarf ausgesetzt. Dem Bundesverfassungsgericht als maßgeblichem Akteur der Verfassungsinterpretation kommt nach alledem eine besondere Verantwortung für die Anpassung des Grundgesetzes an sozialen Wandel zu. Zutreffend hält es für seine eigene Rolle fest: Angesichts des beschleunigten Wandels der gesellschaftlichen Verhältnisse und der begrenzten Reaktionsmöglichkeiten des Gesetzgebers sowie der offenen Formulierung zahlreicher Normen gehört die Anpassung des geltenden Rechts an veränderte Verhältnisse im Gegenteil zu den Aufgaben der Dritten Gewalt. […] Der Richter darf sich dabei allerdings nicht dem vom Gesetzgeber festgelegten Sinn und Zweck des Gesetzes entziehen. Seine Aufgabe beschränkt sich darauf, diesen unter gewandelten Bedingungen möglichst zuverlässig zur Geltung zu bringen. Handelt es sich bei den veränderten Bedingungen um neuartige, durch den wissenschaftlich-technischen 725

R. Zippelius, DÖV 1986, 805, 807. BVerfGE 7, 377, 397; 105, 252, 265; 119, 59, 78; D. Winkler, in: Friauf/Höfling, Berliner Kommentar zum GG (Mai 2021), Art. 12 Rn. 16; T. Mann, in: Sachs, GG (2021), Art. 12 Rn. 45. 727 T. Mann, in: Sachs, GG (2021), Art. 12 Rn. 43; D. Winkler, in: Friauf/Höfling, Berliner Kommentar zum GG (Mai 2021), Art. 12 Rn. 21 ff.; K. H. Friauf, NJW 1986, 2595, 2599. 728 Vgl. nur zu Art. 1 GG die „Hartz IV“-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, wonach „die zu erbringenden Leistungen an dem jeweiligen Entwicklungsstand des Gemeinwesens und den bestehenden Lebensbedingungen auszurichten“ sind, BVerfGE 125, 175, 222. Der gleiche Normtext verpflichtet zu fortlaufend zu aktualisierenden Leistungsansprüchen. Dazu auch W. Hoffmann-Riem, Innovation und Recht – Recht und Innovation (2016), S. 528 f. 729 S. Muckel, VVDStRL 79 (2020), 245, 286. 730 M. Kenntner, DÖV 1997, 450, 456. 726

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Kap. 2: Begrenzung der Entscheidungsfindung mittels Interpretationsmethode

Fortschritt geschaffene Handlungs- oder Einwirkungsmöglichkeiten, so wird die Rechtsfindung in der Regel in einer Ausweitung des Anwendungsfeldes einer bereits geläufigen Auslegung bestehen. Die Zwecksetzungsprärogative des Gesetzgebers wird dadurch regelmäßig nicht berührt.731

E. Ergebnis zu Kapitel 2 So undurchsichtig die Methodendiskussion in all ihren Facetten teils nicht nur erscheint, sondern auch ist, so lässt sich dennoch eine methodisch stärkere Fokussierung des Bundesverfassungsgerichts auf den Willen des Verfassungsgebers beziehungsweise des verfassungsändernden Gesetzgebers beschreiben und begründen. Die determinierende Kraft der juristischen Methode ist niemals absolut, sie trägt mit der hier vertretenen Fokussierung auf den Normgeberwillen aber zu der verfassungsrechtlich gebotenen Begrenzung der Entscheidungsgewalt des Bundesverfassungsgerichts bei. Die methodische Begrenzung der Entscheidungsfindung ist auch nach dem hier herausgearbeiteten Ansatz bei weitem nicht total. Sie kann aber ihren Teil dazu beitragen, die gerichtliche Entscheidungsgewalt im Rahmen der verfassungsrechtlich zugewiesenen Entscheidungskompetenz zu halten. Auch nach 200 Jahren Methodenkontroverse lohnt eine regelmäßig aktualisierende Betrachtung. Dem entspricht auch die durchaus wechselhafte Handhabung einer verfassungsgerichtlichen Interpretationsmethode in Theorie wie Praxis. Eine rechtsvergleichende Perspektive kann hingegen nur auf sehr abstrakter Ebene impulsgebend sein. Denn der hier gewählte Weg einer normativ verankerten Interpretationslehre begründet sich zuvörderst im nationalen Verfassungsrecht. Die daraus abzuleitende Interpretationsmethode bedient sich im Grundsatz der anerkannten juristischen Methode, ist dabei aber in besonderem Maße bestrebt, den Normgeberwillen herauszuarbeiten und zu berücksichtigen. Dies gelingt, sofern deutlich zwischen Auslegungsziel und Auslegungsmitteln unterschieden wird. Dem Ziel der Auslegung, der Ermittlung des Normgeberwillens, stehen keine unüberwindbaren konstruktiven Hindernisse entgegen. Die Auslegungsmittel ermöglichen in der weit überwiegenden Anzahl von Fällen auf einem in weiten Teilen objektivierbaren Weg, den Willen des Verfassungsgebers beziehungsweise verfassungsändernden Gesetzgebers zu ermitteln. Dieses Vorgehen endet nicht in einer Versteinerung des Grundgesetzes. Die Entwicklungspotentiale der Verfassung durch Verfassungsinterpretation und formelle Verfassungsänderungen sind ausreichend gegeben, ohne dass man die Normativität des Grundgesetzes, die Gewaltenteilung und die Demokratie schleifen müsste. Die positiven Signale in der jüngeren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hin zu der hier vertretenen, verfassungskonformen Methodenkonzeption 731

BVerfGE 96, 375, 394 f.

E. Ergebnis zu Kapitel 2

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machen Hoffnung, dass Methodenbewusstsein und -sensibilität nicht als lästige Theorie, sondern als wirksame Grenze der dem Gericht übertragenen Macht angesehen werden. Diese Entwicklung sollte behutsam fortgeführt werden. Denn eine „Beliebigkeit in Dingen des Stils und der Methode“ schadet letztlich auch der Autorität des Bundesverfassungsgerichts.732

732 P. Lerche, Stil und Methode der verfassungsrechtlichen Entscheidungspraxis, in: P. Badura/H. Dreier (Hrsg.), FS 50 Jahre BVerfG (2001), S. 335.

Kapitel 3

Anwendungsbeispiel „Ehebegriff in Art. 6 Abs. 1 GG“ Im letzten Kapitel soll die theoretisch erarbeitete Methodenkonzeption und damit das Verhältnis von Methode und Kompetenzgrenze des Bundesverfassungsgerichts an einem konkreten Beispiel erprobt werden. Besonders gut eignet sich hierfür „in beispielhafter Klarheit“ der Ehebegriff in Art. 6 Abs. 1 GG.1 Dies liegt einerseits daran, dass sich die gesellschaftlichen Einstellungen zu Ehe und Familie in den letzten 70 Jahren teils tiefgreifend verändert haben. Das Spannungsverhältnis zwischen Normverständnis und gelebter Realität tritt mithin deutlich hervor. Zum anderen ist die verfassungsrechtliche Diskussion zu den Strukturmerkmalen der Ehe im Sinne von Art. 6 Abs. 1 GG nach der zivilrechtlichen Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare umfassend aufgearbeitet. Dies erlaubt eine kritische Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Interpretationsvorschlägen. Nach Art. 6 Abs. 1 GG stehen Ehe und Familie unter dem besonderen Schutz der staatlichen Ordnung. Die nachfolgende Diskussion beschränkt sich, soweit möglich, auf eine isolierte Betrachtung des Ehebegriffes. Das verfassungsrechtliche Verständnis der Ehe soll herausgearbeitet und auf mögliche (verfassungskonforme) Veränderungen im Wandel der Zeit untersucht werden. Die Untersuchung fokussiert sich dabei auf das Merkmal der Verschiedengeschlechtlichkeit der Ehepartner, da dieses durch die schrittweise erfolgte Anerkennung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften vermehrt in Frage gestellt wird.2 Dazu soll zunächst der soziale Wandel in diesem Bereich nachvollzogen werden (A.) und sodann geprüft werden, wie dieser Wandel im Rahmen der Verfassungsentwicklung berücksichtigt werden kann (B.). Die nachfolgenden Ausführungen zielen nicht darauf, die Verfassungskonformität der zivilrechtlichen Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare zu überprüfen.3 Die Vereinbarkeit der nach und nach erfolgten einfachgesetzlichen 1 C. Bäcker, AöR 143 (2018), 339, 390; N. Koschmieder, Grundrechtliche Dynamisierungsprozesse (2016), S. 174 f.; M. Germann, VVDStRL 73 (2014), 257, 260. 2 F. Wollenschläger/D. Coester-Waltjen, Ehe für alle (2018), S. 110 ff.; S. Pschorr/ F. Spanner, Verfassungswandel messbar machen, in: P. B. Donath u. a. (Hrsg.), Verfassungen – ihre Rolle im Wandel der Zeit (2019), S. 137 ff.; T. Blome, NVwZ 2017, 1658, 1660 ff. Erste Stimmen in diese Richtung kamen in den 90er-Jahren auf, vgl. Nachweise bei K. Stern, in: K. Stern/M. Sachs/J. Dietlein (Hrsg.), Staatsrecht IV/1 (2006), S. 100 f. 3 Ausführlich und mit umfangreichen Nachweisen dazu F. Wollenschläger/D. CoesterWaltjen, Ehe für alle (2018), S. 1 ff.

A. Sozialer Wandel

185

Anerkennung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften mit Art. 6 Abs. 1 GG lässt sich nicht allein durch die Interpretation des verfassungsrechtlichen Ehebegriffes beurteilen. Auch eine verschiedengeschlechtliche Definition der Ehe auf Verfassungsebene führt nicht zwingend zur Verfassungswidrigkeit einer einfachgesetzlichen gleichgeschlechtlichen Definition.4 Von entscheidender Bedeutung ist vielmehr auch, wie der „besondere Schutz der staatlichen Ordnung“ zu verstehen ist und welche verfassungsrechtlichen Konsequenzen daraus abzuleiten sind.5 Zudem spielt das Verhältnis zu beziehungsweise das Zusammenspiel mit Art. 3 GG eine entscheidende Rolle. Hier sollen aber nicht einzelne Aspekte der einfachgesetzlichen Gleichstellung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften auf ihre Verfassungsmäßigkeit überprüft werden, sondern soll der Frage nachgegangen werden, ob unter Ehe im Sinne von Art. 6 Abs. 1 GG auch gleichgeschlechtliche Partnerschaften zu subsumieren sind. Die Antwort auf diese Frage hat konkrete Folgen für den verfassungsrechtlichen Schutz gleichgeschlechtlicher einfachgesetzlicher Ehen. Fallen sie nicht in den Schutzbereich des Art. 6 Abs. 1 GG, wäre eine zukünftige Abschaffung bei Berücksichtigung geschaffener Vertrauenstatbestände zumindest theoretisch denkbar.6 Diese möglicherweise bestehenden verfassungsrechtlichen Grenzen einer vollständigen Gleichstellung von gleichgeschlechtlichen Partnerschaften de constitutione lata sollen nur knapp aufgezeigt werden, um die andauernde Aktualität der Diskussion zu verdeutlichen. Ebenso ist die rechtspolitische Dimension des sensiblen und umstrittenen Themas der „Ehe für alle“ nicht weiter zu vertiefen, soweit sie nicht beispielhaft für den vorgefundenen sozialen Wandel steht.

A. Sozialer Wandel Seit Inkrafttreten des Grundgesetzes unterliegen Ehe und Familie einem umfassenden sozialen Wandel „wie kaum ein [anderer] gesellschaftlicher Bereich“.7 Das Bild einer idealen Ehe ist genauso wie die Einstellungen zu gleichgeschlecht4 H. D. Jarass, DÖV 2019, 457, 458; C. v. Coelln, NJ 2018, 1, 5 ff.; C. Bäcker, AöR 143 (2018), 339, 377; J. Froese, DVBl 2017, 1152, 1154. Dies wird vielfach verkannt, z. B. T. Blome, NVwZ 2017, 1658, 1660. 5 Entscheidend dabei ist, ob neben dem Eingriffs- und Diskriminierungsverbot des Art. 6 Abs. 1 GG ein Schutzgebot besteht und wie dieses ausgestaltet ist. Vgl. dazu C. Gusy, JA 1986, 186 ff.; C. Bäcker, AöR 143 (2018), 339, 377 ff. 6 Ablehnend mit Verweis auf Art. 2 Abs. 1 GG S. Berning, Eingetragene Lebenspartnerschaft = Ehe?, in: Y. Becker/F. Lange (Hrsg.), Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (2014), S. 173 f. 7 A. Voßkuhle, JuS 2019, 417, 418; F. Brosius-Gersdorf, in: Dreier, GG, Band I, 3. Aufl. 2013, Art. 6 Rn. 22; T. Würtenberger, Zu den Determinanten des Wandels von Ehe und Familie (Statement), in: R. Wahl (Hrsg.), Verfassungsänderung, Verfassungswandel, Verfassungsinterpretation (2008), S. 450; R. Zippelius, DÖV 1986, 805 f.; N. Koschmieder, Grundrechtliche Dynamisierungsprozesse (2016), S. 173; J. Risse, Der verfassungsrechtliche Schutz der Homosexualität (1998), S. 229.

186

Kap. 3: Anwendungsbeispiel „Ehebegriff in Art. 6 Abs. 1 GG“

lichen Partnerschaften bedingt durch sich wandelnde gesellschaftliche Bewertungen. Nachfolgend soll allein der seit Erlass des Grundgesetzes festzustellende Wandel näher nachvollzogen werden.8

I. Ehe Die Einstellungen zur Ehe (und Familie) sind von jeher im Wandel. Es gab nie einen gesellschaftlichen Ur- oder Idealzustand.9 Die Ehe als gesellschaftliches Konstrukt unterliegt dem fortwährenden Einfluss gesellschaftlicher Konventionen. Sie ist nicht allein ein rechtliches Institut.10 Das schließt nicht aus, dass der Verfassungsgeber ein Ideal normiert. Es kann sich aber immer nur um ein rechtliches Ideal und nicht um ein gesellschaftliches Abbild handeln. Die Ehe erfährt erst in jüngerer Zeit wieder mehr Zuspruch. Über einen langen Zeitraum nahmen die Akzeptanz oder vielmehr die Notwendigkeit der Ehe immer mehr ab.11 Gab es 1949 in Deutschland knapp 700.000 Eheschließungen, sank die Zahl an Eheschließungen bis zum Jahr 2007 auf unter 370.000, ehe sie die letzten Jahre wieder bei deutlich über 400.000 lag.12 Unter Berücksichtigung der Einwohnerzahl ist der Rückgang noch deutlicher festzustellen. Die Anzahl von Eheschließungen je 1.000 Einwohner und Jahr halbierte sich von etwas über 10 auf rund 5.13 Seit geraumer Zeit ist die Ehe mithin nicht mehr die einzige „legitime Form des Zusammenlebens zweier erwachsener Menschen“.14 Zugleich bröckelte auch das Bild der grundsätzlichen Unauflöslichkeit der Ehe. Diese führte nicht zuletzt zu bedeutsamen Änderungen im Scheidungsrecht, so zum Beispiel der Wechsel vom Verschuldensprinzip zum Zerrüttungsprinzip.15 Die Zahl der Ehescheidungen je Jahr stieg von deutlich unter 100.000 in den 50er Jahren auf über 200.000 in den Nullerjahren, um zuletzt (2016) wieder deutlich abzusinken 8 Zu einem geschichtlichen Abriss weit darüber hinaus vgl. C. Becker, Die gleichgeschlechtliche Ehe in Deutschland (2021), S. 7 ff. 9 A. Frhr. v. Campenhausen, VVDStRL 45 (1987), 7, 10; C. Bäcker, AöR 143 (2018), 339, 355. 10 M. Cornils, Die Ausgestaltung der Grundrechte (2005), S. 355 f. 11 T. Würtenberger, Zeitgeist und Recht (1991), S. 118; M. Böhm, VVDStRL 73 (2014), 211, 214; C. Hillgruber, Ehe und Familie – vom „Verfassungswandel“ bedrohte Rechtswerte, in: M. Pulte/M. Klekamp (Hrsg.), FS Manfred Spieker (2013), S. 47. 12 Statistisches Bundesamt (Destatis), Bevölkerung und Erwerbstätigkeit – Eheschließungen, Geborene und Gestorbene (2021), S. 2. Im Jahr 2020 lag die Zahl der Eheschließungen coronabedingt erstmals seit fünf Jahren wieder unter 400.000. 13 Statistisches Bundesamt (Destatis), Bevölkerung und Erwerbstätigkeit – Eheschließungen, Geborene und Gestorbene (2021), S. 5. 14 M. Nettesheim, Auf dem Weg zur gleichgeschlechtlichen Ehe, in: M. Jestaedt/H. Suzuki (Hrsg.), Verfassungsentwicklung I (2017), S. 222. 15 B. Beutler, Verfassungsinterpretation bei Schutz von Ehe und Familie, in: R. Wahl (Hrsg.), Verfassungsänderung, Verfassungswandel, Verfassungsinterpretation (2008), S. 442.

A. Sozialer Wandel

187

(knapp über 160.000).16 Die bis zum Tod eines der Ehegatten geschlossene Ehe ist zwar immer noch das am häufigsten gelebte Modell, jedoch bei weitem nicht absolut. Diese Entwicklungen haben dazu geführt, dass heute nur noch knapp die Hälfte aller Einwohner in Deutschland in einer Ehe leben. In absoluten Zahlen waren am 31. 12. 2015 von 82.175.684 Einwohnern der Bundesrepublik etwas weniger als die Hälfte (35.993.843) verheiratet, eine ähnliche Größenordnung ledig, etwas über sechs Millionen geschieden, etwas unter sechs Millionen verwitwet und 116.883 in einer eingetragenen Lebenspartnerschaft.17 Für die beschriebenen Fakten gibt es eine ganze Bandbreite an Erklärungsansätzen, die häufig mehrdimensional und interdependent sind. Ein wesentlicher Anlass für die neue gesellschaftliche Bewertung der Ehe war eine Veränderung der objektiven Rahmenbedingungen. Dazu zählen Fortschritte in der Medizin wie Geburtenkontrolle und künstliche Befruchtung sowie ein „tiefgreifender Wandel“ der Arbeitswelt.18 Damit einher ging eine grundlegende Veränderung der Sexualmoral.19 Die Änderung der objektiven Rahmenbedingungen hat dazu geführt, dass viele Funktionen der Ehe obsolet wurden. Zunächst ist der Versorgungsgedanke durch eine inzwischen ähnlich umfassende Akademisierung und berufliche Betätigung von Frauen nur noch ein sehr eingeschränktes Motiv für eine Ehe.20 Eine Ehe ist weiterhin schon lange nicht mehr zwingende Voraussetzung für ein gesellschaftlich akzeptiertes Aufziehen von Kindern, wenngleich immer noch knapp drei Viertel aller Kinder bei Ehepaaren aufwachsen.21 Eine historisch wesentliche Funktion der Ehe, dem Mann Sicherheit über die Nachkommenschaft der gemeinsamen Kinder zu geben, hat sich inzwischen weitgehend überholt, weil die Vaterschaft problemlos durch ein Abstammungsgutachten festgestellt werden kann.22 Auf der anderen Seite ist eine Ehe auch nicht mehr

16

Statistisches Bundesamt (Destatis), Bevölkerung und Erwerbstätigkeit – Scheidungsstatistik (2018), S. 10. 17 Statistisches Bundesamt (Destatis), Bevölkerung und Erwerbstätigkeit – Scheidungsstatistik (2018), S. 8. 18 W. Friedmann, Recht und sozialer Wandel (1969), S. 214; A. Frhr. v. Campenhausen, VVDStRL 45 (1987), 7, 10; C. Hillgruber, Ehe und Familie – vom „Verfassungswandel“ bedrohte Rechtswerte, in: M. Pulte/M. Klekamp (Hrsg.), FS Manfred Spieker (2013), S. 48; M. Burgi, Der Staat 39 (2000), 487. 19 J. Benedict, JZ 2013, 477, 481 ff. 20 J. Risse, Der verfassungsrechtliche Schutz der Homosexualität (1998), S. 211; F. Brosius-Gersdorf, in: Dreier, GG, Band I, 3. Aufl. 2013, Art. 6 Rn. 22; F. Kramer, Über die Wandlungsfähigkeit des GG am Beispiel gleichgeschlechtlich orientierter Personen und Paare (2017), S. 164; F. Wapler, RW 5 (2014), 57, 65; M. Nettesheim, Auf dem Weg zur gleichgeschlechtlichen Ehe, in: M. Jestaedt/H. Suzuki (Hrsg.), Verfassungsentwicklung I (2017), S. 222. 21 BVerfGE 151, 101, 139. 22 H. Holzhauer, Ehe und Familie, in: B. Pieroth, Verfassungsrecht und soziale Wirklichkeit in Wechselwirkung (2000), S. 82.

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Kap. 3: Anwendungsbeispiel „Ehebegriff in Art. 6 Abs. 1 GG“

zwingend mit dem Wunsch nach eigenen Kindern verbunden.23 Bereits in den 80er Jahren blieb Schätzungen zufolge jede dritte Ehe kinderlos.24 Wesentlicher Treiber der Entwicklungen ist weiterhin eine immer selbstbewusster gelebte Selbstverwirklichung, die institutionell vorhandene Elemente nicht (ohne Weiteres) als Einschränkung der subjektiven Selbstbestimmung akzeptiert.25 Diese Individualisierung spiegelt sich auch in gesellschaftlichen Werteeinstellungen und „im Pluralismus der Lebensformen“ wider.26 Ein Zusammenleben ohne Trauschein wird schon seit weit in das vergangene Jahrhundert hinein von einer breiten Bevölkerungsmehrheit nicht mehr als anstößig empfunden.27 Kuppelei als Straftatbestand klingt für die heutige Juristengeneration wie aus einer anderen Welt.28 Die Ehe als einzig moralisch und rechtlich legitimer Raum für die Ausübung von Sexualität ist heute, anders als Mitte des vergangenen Jahrhunderts, für die ganz überwiegende Mehrheit der Gesellschaft nicht mehr denkbar.29

II. Gleichgeschlechtliche Partnerschaften Neben veränderten Einstellungen zu Ehe und Familie generell hat sich insbesondere die Wahrnehmung und Bewertung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften „radikal“ gewandelt.30 Innerhalb relativ kurzer Zeit hat sich eine Entwicklung von einem für strafwürdig erachteten hin zu einem allgemein akzeptierten Verhalten vollzogen.31 Zum Zeitpunkt der Entstehung des Grundgesetzes 1949 hielt einer demoskopischen Umfrage des Allensbach-Instituts zufolge eine überragende Mehrheit Ho-

23 F. Kramer, Über die Wandlungsfähigkeit des GG am Beispiel gleichgeschlechtlich orientierter Personen und Paare (2017), S. 165; S. Berning, Eingetragene Lebenspartnerschaft = Ehe?, in: Y. Becker/F. Lange (Hrsg.), Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (2014), S. 194; J. Risse, Der verfassungsrechtliche Schutz der Homosexualität (1998), S. 210 f. 24 A. Frhr. v. Campenhausen, VVDStRL 45 (1987), 7, 9. 25 H. Steiger, VVDStRL 45 (1987), 55, 65; C. Hillgruber, Ehe und Familie – vom „Verfassungswandel“ bedrohte Rechtswerte, in: M. Pulte/M. Klekamp (Hrsg.), FS Manfred Spieker (2013), S. 48 f.; K. H. Friauf, NJW 1986, 2595, 2598. 26 J. Benedict, JZ 2013, 477, 482; M. Nettesheim, Auf dem Weg zur gleichgeschlechtlichen Ehe, in: M. Jestaedt/H. Suzuki (Hrsg.), Verfassungsentwicklung I (2017), S. 222. 27 A. Frhr. v. Campenhausen, VVDStRL 45 (1987), 7, 10; J. Benedict, JZ 2013, 477, 482. 28 Vgl. nur BGHSt 6, 46; 17, 230. 29 J. Risse, Der verfassungsrechtliche Schutz der Homosexualität (1998), S. 224. 30 A. Voßkuhle, JuS 2019, 417, 418. 31 Für einen historischen Abriss der Bewertung (männlicher) Homosexualität seit der Antike, s. F. Kramer, Über die Wandlungsfähigkeit des GG am Beispiel gleichgeschlechtlich orientierter Personen und Paare (2017), S. 125 ff.

A. Sozialer Wandel

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mosexualität für ein Laster oder eine Krankheit.32 Homosexualität galt als unsittlich oder krankhaft andersartig.33 Diese Werteinstellung zeigte sich auch im strafrechtlichen Verbot des §§ 175 f. StGB von homosexuellen Handlungen unter Männern.34 Diese Strafvorschriften (in ihrer durch die Nationalsozialisten verschärften Fassung) bestätigte 1957 das Bundesverfassungsgericht und erklärte sie ausdrücklich für verfassungsgemäß.35 Dabei stützte es sich auf eine Reihe gutachtlicher Äußerungen von Sachverständigen und hörte diese auch ausführlich in der mündlichen Verhandlung an.36 Dass der Inhalt der Entscheidung die damalige Stimmung in der Gesellschaft widerspiegelte, zeigt sich auch daran, dass die Entscheidung kaum kritische Stimmen hervorrief.37 Auf Grundlage der §§ 175 f. StGB wurden in der Bundesrepublik insgesamt um die 44.000 Männer verurteilt.38 Erst ab 1969 wurde männliche Homosexualität nach und nach entkriminalisiert.39 Die sexuelle Revolution ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts beeinflusste auch die gesellschaftliche Bewertung von Homosexualität.40 Es setzte sich die Erkenntnis durch, dass das Strafrecht in einer pluralistischen Gesellschaft nicht zur Durchsetzung eines partiellen Sittenverständnisses

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S. Pschorr/F. Spanner, Verfassungswandel messbar machen, in: P. B. Donath u. a. (Hrsg.), Verfassungen – ihre Rolle im Wandel der Zeit (2019), S. 147. 33 F. Kramer, Über die Wandlungsfähigkeit des GG am Beispiel gleichgeschlechtlich orientierter Personen und Paare (2017), S. 2; B. Klose, NJ 2020, 521, 527. 34 BVerfGE 133, 59, 80; BT-Drs. 18/6665, S. 7; S. Berning, Eingetragene Lebenspartnerschaft = Ehe?, in: Y. Becker/F. Lange (Hrsg.), Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (2014), S. 194 f.; F. Kramer, Über die Wandlungsfähigkeit des GG am Beispiel gleichgeschlechtlich orientierter Personen und Paare (2017), S. 136; N. Koschmieder, Grundrechtliche Dynamisierungsprozesse (2016), S. 176 f. 35 BVerfGE 6, 389; ausführlich dazu J. Risse, Der verfassungsrechtliche Schutz der Homosexualität (1998), S. 39 ff. Zum rechtshistorischen Hintergrund N. Drönner, Das „Homosexuellen-Urteil“ des Bundesverfassungsgerichts aus rechtshistorischer Perspektive (2020), S. 24 ff. 36 BVerfGE 6, 389, 399 ff. 37 N. Drönner, Das „Homosexuellen-Urteil“ des Bundesverfassungsgerichts aus rechtshistorischer Perspektive (2020), S. 212 ff. 38 F. Kramer, Über die Wandlungsfähigkeit des GG am Beispiel gleichgeschlechtlich orientierter Personen und Paare (2017), S. 141; J. Risse, Der verfassungsrechtliche Schutz der Homosexualität (1998), S. 27 f. Teils werden auch höhere Zahlen genannt (über 50.000), vgl. J. Wasmuth, NJ 2017, 353, 354. 39 S. Pschorr/F. Spanner, Verfassungswandel messbar machen, in: P. B. Donath u. a. (Hrsg.), Verfassungen – ihre Rolle im Wandel der Zeit (2019), S. 148; F. Kramer, Über die Wandlungsfähigkeit des GG am Beispiel gleichgeschlechtlich orientierter Personen und Paare (2017), S. 142 ff.; J. Risse, Der verfassungsrechtliche Schutz der Homosexualität (1998), S. 28; M. Bäumerich, DVBl 2017, 1457, 1459. 40 N. Koschmieder, Grundrechtliche Dynamisierungsprozesse (2016), S. 179; R. Schimmel, Eheschließungen gleichgeschlechtlicher Paare? (1996), S. 125.

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Kap. 3: Anwendungsbeispiel „Ehebegriff in Art. 6 Abs. 1 GG“

eingesetzt werden darf.41 In der Folge „nahm schrittweise die gesellschaftliche Stigmatisierung ab“.42 1990 beurteilte nur noch ein Viertel im Rahmen der Allgemeinen Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften (ALLBUS) Homosexualität als schlimm oder sehr schlimm.43 Nach und nach schwand auch die Pathologisierung homosexuellen Verhaltens. So wurde Homosexualität 1992 von der WHO nicht mehr als psychische Krankheit klassifiziert.44 Die sexuelle Orientierung wurde aus medizinischer Sicht deutlich differenzierter wahrgenommen.45 Bis heute sind die genauen Ursachen für die Ausbildung der sexuellen Orientierung allerdings ungeklärt.46 Es setzte sich aber immer mehr der bis heute geltende gesellschaftliche Konsens durch, dass die sexuelle Orientierung nicht von einer bewussten Entscheidung abhängig ist.47 1994 wurde die verbliebene Strafbarkeit homosexuellen Verhaltens im Bereich des Jugendschutzes endgültig beseitigt.48 Der nach und nach zunehmenden gesellschaftlichen Akzeptanz folgte die rechtliche Anerkennung homosexueller Partnerschaften.49 Die gewandelten Einstellungen in immer größeren Bevölkerungsteilen führten 2001 nach skandinavischem Vorbild zum Rechtsinstitut der eingetragenen Lebenspartnerschaft und der weitgehenden Gleichstellung von homo- und heterosexuellen Menschen durch den Gesetzgeber.50 Mit der eingetragenen Lebenspartnerschaft eröffnete sich für homosexuelle Paare erstmals die Möglichkeit, ihrer Partnerschaft offiziell einen 41 F. Kramer, Über die Wandlungsfähigkeit des GG am Beispiel gleichgeschlechtlich orientierter Personen und Paare (2017), S. 142 f.; N. Drönner, Das „Homosexuellen-Urteil“ des Bundesverfassungsgerichts aus rechtshistorischer Perspektive (2020), S. 240 ff. 42 BT-Drs. 18/6665, S. 7. 43 S. Pschorr/F. Spanner, Verfassungswandel messbar machen, in: P. B. Donath u. a. (Hrsg.), Verfassungen – ihre Rolle im Wandel der Zeit (2019), S. 149 f. 44 F. Kramer, Über die Wandlungsfähigkeit des GG am Beispiel gleichgeschlechtlich orientierter Personen und Paare (2017), S. 145. 45 N. Koschmieder, Grundrechtliche Dynamisierungsprozesse (2016), S. 178. 46 S. Müller, Biologische Faktoren der (homo-)sexuellen Orientierung – Ethische Implikationen, in: D. Groß u. a. (Hrsg.), Normal – anders – krank? (2015), S. 120 ff.; J. Risse, Der verfassungsrechtliche Schutz der Homosexualität (1998), S. 21 f. Dies wird teils in juristischen Abhandlungen verkannt, z. B. N. Koschmieder, Grundrechtliche Dynamisierungsprozesse (2016), S. 178 f. 47 J. Risse, Der verfassungsrechtliche Schutz der Homosexualität (1998), S. 22 f. 48 J. Risse, Der verfassungsrechtliche Schutz der Homosexualität (1998), S. 28; M. Bäumerich, DVBl 2017, 1457, 1459; M. Böhm, VVDStRL 73 (2014), 211, 212; R. Schimmel, Eheschließungen gleichgeschlechtlicher Paare? (1996), S. 15; S. Berning, Eingetragene Lebenspartnerschaft = Ehe?, in: Y. Becker/F. Lange (Hrsg.), Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (2014), S. 195. 49 F. Wollenschläger/D. Coester-Waltjen, Ehe für alle (2018), S. 64. 50 BVerfGE 133, 59, 80; N. Koschmieder, Grundrechtliche Dynamisierungsprozesse (2016), S. 177. Zur damaligen verfassungsrechtlichen Kritik vgl. R. Scholz/A. Uhle, NJW 2001, 393 ff.

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rechtlichen Rahmen zu geben.51 Dieses Institut wurde nach und nach fast vollständig mit Ausnahme der gemeinschaftlichen Adoption entsprechend der zivilrechtlichen (verschiedengeschlechtlichen) Ehe ausgestaltet.52 Die letzten Jahre hat sich der Wandel auch sprachlich niedergeschlagen. So beschränken weite Teile der Gesellschaft die Begriffe „Ehe“ und „heiraten“ nicht mehr zwingend auf heterosexuelle Paare.53 Diese sprachliche Entwicklung förderte der Gesetzgeber nicht zuletzt durch die überraschend schnell vollzogene Öffnung54 der Zivilehe für homosexuelle Partnerschaften im Jahr 2017. Der Gesetzgeber änderte § 1353 Abs. 1 BGB, sodass dieser nunmehr lautet: Die Ehe wird von zwei Personen verschiedenen oder gleichen Geschlechts auf Lebenszeit geschlossen. Die „Ehe für alle“ war der vorläufige Schlusspunkt der gesetzlichen Gleichstellung von homosexuellen Partnerschaften.55

B. Verfassungsentwicklung Nachdem der beträchtliche Umfang des sozialen Wandels deutlich wurde, stellt sich im Folgenden die Frage, wie dieser im Rahmen der Verfassungsentwicklung rezipiert wurde oder werden kann.56 Dazu soll in einem ersten Schritt die ständige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Ehebegriff des Art. 6 Abs. 1 GG vorgestellt werden (I.). Aufbauend darauf soll nachvollzogen werden, wie das Bundesverfassungsgericht den gesellschaftlichen Wandel im Rahmen seiner Entscheidungen berücksichtigt hat (II.). Dabei gilt dem Merkmal der Verschiedengeschlechtlichkeit des verfassungsrechtlichen Ehebegriffes besondere Beobachtung. Abschließend soll auf Grundlage der oben herausgearbeiteten, theoretischen Methodenkonzeption der Ehebegriff in Art. 6 Abs. 1 GG interpretiert werden und untersucht werden, ob dieser weiter durch die Verschiedengeschlechtlichkeit der Ehepartner definiert wird (III.).

51

N. Koschmieder, Grundrechtliche Dynamisierungsprozesse (2016), S. 177. F. Wollenschläger/D. Coester-Waltjen, Ehe für alle (2018), S. 7 f. 53 Eine unterschiedslose Verwendung in der gesamten Bevölkerung anzunehmen, geht wohl zu weit. So aber BT-Drs. 18/6665, S. 7 f. 54 Zum Hintergrund vgl. C. Becker, Die gleichgeschlechtliche Ehe in Deutschland (2021), S. 23 f. 55 J. P. Schaefer, AöR 143 (2018), 393, 395; J. Wasmuth, NJ 2017, 353. 56 Für eine rechtsvergleichende Perspektive siehe F. Wollenschläger/D. Coester-Waltjen, Ehe für alle (2018), S. 133 ff.; J. P. Schaefer, AöR 143 (2018), 393, 420 f.; S. Rixen, JZ 2013, 864 ff.; M. Böhm, VVDStRL 73 (2014), 211, 239 ff.; C. Görisch, Der Staat 54 (2015), 591, 595 ff.; C. Becker, Die gleichgeschlechtliche Ehe in Deutschland (2021), S. 88 ff.; N. Markard, JöR 2016, 767 ff.; V. Beck/C. Tometten, DÖV 2016, 581, 582; W. Hecker, NVwZ 2018, 621 ff.; M. Bäumerich, DVBl 2017, 1457, 1458 f. 52

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I. Begriff der Ehe in der Rechtsprechung des BVerfG Das Bundesverfassungsgericht hat sich mit dem Ehegrundrecht schon früh eingehend beschäftigt und den verfassungsrechtlichen Ehebegriff in jahrzehntelanger Rechtsprechung geprägt. Es hat dabei fortwährend betont, dass der Gesetzgeber bei der Ausformung der Ehe einen erheblichen Gestaltungsspielraum habe.57 Er müsse aber die wesentlichen Strukturprinzipien beachten, „die der Verfügungsgewalt des Gesetzgebers entzogen sind“.58 Der Inhalt der Institutsgarantie könne nicht allein aus dem einfachen Recht erschlossen werden.59 Die konstitutiven Begriffsmerkmale des verfassungsrechtlichen Ehebegriffes hat das Bundesverfassungsgericht bisher trotz allen gesellschaftlichen Wandels ausnahmslos immer wieder bestätigt. Das Bundesverfassungsgericht definiert in ständiger Rechtsprechung die Ehe in Art. 6 Abs. 1 GG als „Vereinigung eines Mannes mit einer Frau zu einer auf Dauer angelegten Lebensgemeinschaft […], begründet auf freiem Entschluss unter Mitwirkung des Staates“60. Neben der Verschiedengeschlechtlichkeit (1.), dem monogamen Charakter (2.), der einvernehmlich-freiwilligen Begründung (3.) und ihrer grundsätzlichen Unauflöslichkeit (4.) zählt die staatlich-hoheitliche Legitimierung (5.) zu den von Beginn an prägenden Strukturprinzipien. 1. Verschiedengeschlechtlichkeit Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts „kann die Ehe nur mit einem Partner des jeweils anderen Geschlechts geschlossen werden“61. Wesensmerkmal des verfassungsrechtlichen Begriffs der Ehe sei die Verschiedengeschlechtlichkeit der Partner.62 Die Ehe sei daher ein „allein der Verbindung von Mann und Frau vorbehaltenes Institut“63. Erstmals 195964 benannte das Bundesverfassungsgericht dieses Strukturprinzip und hielt daran auch in seinen jüngeren Entscheidungen „ungeachtet des gesellschaftlichen Wandels“ fest.65 So sei die eingetragene Lebenspartnerschaft aufgrund der Gleichgeschlechtlichkeit der Partner keine Ehe im Sinne von Art. 6 Abs. 1 GG.66 57

BVerfGE 36, 146, 162; 105, 313, 345. BVerfGE 53, 224, 245; 105, 313, 345. 59 BVerfGE 36, 146, 162. 60 BVerfGE 105, 313, 345; 10, 59, 66; 62, 323, 330. Ebenso lange unbestritten die ganz herrschende Meinung im Schrifttum, vgl. nur m. w. N. K. Stern, in: K. Stern/M. Sachs/J. Dietlein (Hrsg.), Staatsrecht IV/1 (2006), S. 370. 61 BVerfGE 105, 313, 342; 128, 109, 125. 62 BVerfGE 105, 313, 342. 63 BVerfGE 131, 239, 259; 133, 377, 409. 64 BVerfGE 10, 59, 66. 65 BVerfGE 137, 273, 342; 115, 1, 19; 105, 313, 345. 66 BVerfGE 105, 313, 345. 58

B. Verfassungsentwicklung

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2. Monogamer Charakter Wesentliches Strukturprinzip der Ehe in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist ferner ihr monogamer Charakter. Allein die monogame Ehe ist nach der Definition des Bundesverfassungsgerichts vom Ehebegriff des Art. 6 Abs. 1 GG erfasst.67 Nur die Vereinigung eines Mannes und einer Frau entspreche dem Ehebild des Grundgesetzes.68 3. Einvernehmlich-freiwillige Begründung Konstitutiv prägend sei darüber hinaus die einvernehmlich-freiwillige Begründung der Ehe. Die Freiheit der Eheschließung garantiere, „mit dem selbst gewählten Partner die Ehe einzugehen“69. Dem Staat sei es untersagt, ohne einleuchtende Sachgründe Ehehindernisse festzulegen.70 Die Freiwilligkeit bei der Eingehung der Ehe wirke über die gesamte Dauer fort. Dies gelte zum einen für die konkrete Ausgestaltung der Beziehung. Der Staat müsse vermeiden, in „die freie Entscheidung der Ehegatten über ihre Aufgabenverteilung in der Ehe einzugreifen“71. Die Freiwilligkeit komme zum anderen aber auch bei der Beendigung der Ehe zum Tragen. Die auf Konsens beruhende Lebensgemeinschaft bringe es mit sich, dass entgegen der nachhaltigen Ablehnung eines der beiden Ehepartner nicht die Fortführung einer „gescheiterte[n] Ehe als Zwangsgemeinschaft“ verlangt werden könne.72 4. Grundsätzliche Unauflöslichkeit Gleichwohl sei die Ehe grundsätzlich „eine auf Lebenszeit geschlossene Gemeinschaft“, die allerdings nicht „absolut unauflöslich“ sei.73 Nach der Verfassung sei eine Scheidung nach den einfachgesetzlich normierten Voraussetzungen möglich.74 „Der Grundsatz der Lebenslänglichkeit der Ehe“ bedeute, „dass die Ehe von beiden Parteien als dauernde Gemeinschaft beabsichtigt und versprochen wird und dass sie auch nach ihrem Inhalt auf Lebenszeit angelegt ist“.75 Weil Ehepartner „an der Aufgabe, die lebenslange personale Gemeinschaft zu verwirklichen“, scheitern können und in der Folge Ehen zerbrechen, ohne dass der Staat durch Gesetze daran 67 68 69 70 71 72 73 74 75

BVerfGE 62, 323, 330. BVerfGE 10, 59, 66; 31, 58, 69; 105, 313, 342 f. BVerfGE 36, 146, 162. BVerfGE 36, 146, 163. BVerfGE 87, 234, 259. BVerfGE 53, 224, 250. BVerfGE 31, 58, 82. BVerfGE 31, 58, 83. BVerfGE 53, 224, 245.

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etwas ändern könnte, verstoße die einfachgesetzliche Möglichkeit einer Scheidung nicht gegen Art. 6 Abs. 1 GG, sofern diese Möglichkeit als Ausnahme ausgestaltet werde.76 5. Staatlich-hoheitliche Legitimierung Zuletzt benötige die Ehe als formelle Voraussetzung die staatlich-hoheitliche Legitimierung. Eine Ehe bedürfe der staatlichen Mitwirkung, typischerweise in Gestalt des Standesbeamten.77 Dieses Ordnungselement gewährleiste die „Prüfung der Ehevoraussetzungen und Ehehindernisse“, garantiere die „Offenkundigkeit der Eheschließung“ und sichere dadurch die „Klarheit der Rechtsverhältnisse“.78

II. Stationen verfassungsgerichtlicher Anpassung Das Erfordernis verschiedengeschlechtlicher Partner als konstitutives Merkmal der Ehe ist in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts mit Ausnahme einer Kammerentscheidung bisher nicht in Frage gestellt worden. Der mannigfaltige soziale Wandel im Bereich der Ehe und der gleichgeschlechtlichen Partnerschaft ist in der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung gleichwohl nicht unberücksichtigt geblieben. Das Gericht hatte sich in mehreren Entscheidungen der letzten Jahrzehnte intensiv mit der Änderung der gesellschaftlichen Werteeinstellungen auseinanderzusetzen. Die Senatsrechtsprechung passte ihre Interpretation nach und nach den gesellschaftlichen Realitäten an, wählte dabei aber jeweils rechtliche Begründungen, ohne die gefestigte Definition des verfassungsrechtlichen Ehebegriffs aufzugeben. 1. Wandelbares Eheverständnis (Kammerentscheidung 1993) Ein erstes Ausrufezeichen, das in der Rechtsprechung des Gerichts (bisher) aber keine Fortsetzung fand, setzte eine Kammerentscheidung79 im Jahr 1993. Diese sorgte für Diskussionen, inwiefern die Strukturprinzipien des verfassungsrechtlichen Ehebegriffs, speziell die Geschlechtsverschiedenheit, einer inhaltlichen Änderung aufgrund moderner gesellschaftlicher Einstellungen offenstehen. Die Beschwerdeführer wandten sich mit der Verfassungsbeschwerde gegen die standesamtliche Ablehnung, sie als gleichgeschlechtliches Paar zu ehelichen. Die dritte Kammer des ersten Senats hielt es grundsätzlich für möglich, dass der Geschlechtsverschiedenheit keine prägende Bedeutung mehr zukommt, wenn hinreichende Anhaltspunkte für 76 77 78 79

BVerfGE 53, 224, 245 f. BVerfGE 29, 166, 176. BVerfGE 29, 166, 176. BVerfG, Kammerbeschluss vom 04. 10. 1993 – 1 BvR 640/93 –, juris.

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einen grundlegenden Wandel des Eheverständnisses vorliegen.80 Einen solch grundlegenden Wandel des Eheverständnisses vermochte die Kammer zum damaligen Zeitpunkt allerdings nicht festzustellen.81 Diese Rechtsprechung wurde von beiden Senaten nicht weiterverfolgt. Die Kammerentscheidung wurde später dennoch bei der einfachgesetzlichen Gleichstellung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften in der Gesetzesbegründung als Argument für die Möglichkeit eines grundsätzlichen Wandels angeführt.82 2. Lebenspartnerschaftsgesetz (BVerfGE 105, 313) Nach Einführung des Lebenspartnerschaftsgesetzes hatte das Bundesverfassungsgericht im Jahr 2002 dessen Verfassungskonformität zu überprüfen. Dabei setzte es sich vertieft mit den Strukturprinzipien des verfassungsrechtlichen Ehebegriffes, der Institutsgarantie und dem Schutzauftrag des Art. 6 Abs. 1 GG auseinander. Im Ergebnis kam die Senatsmehrheit zur Vereinbarkeit des Lebenspartnerschaftsgesetzes mit Art. 6 Abs. 1 GG. In seiner Entscheidung bestätigte das Bundesverfassungsgericht seine ständige Rechtsprechung, wonach das Grundgesetz selbst keine Definition der Ehe enthalte.83 Der Gesetzgeber habe einen erheblichen Gestaltungsspielraum, Form und Inhalt der Ehe zu bestimmen.84 Dabei müsse er allerdings die wesentlichen Strukturprinzipien beachten.85 So gehöre es „zum Gehalt der Ehe, wie er sich ungeachtet des gesellschaftlichen Wandels und der damit einhergehenden Änderungen ihrer rechtlichen Gestaltung bewahrt und durch das Grundgesetz seine Prägung bekommen hat, […] dass sie die Vereinigung eines Mannes mit einer Frau zu einer auf Dauer angelegten Lebensgemeinschaft ist, begründet auf freiem Entschluss unter Mitwirkung des Staates, in der Mann und Frau in gleichberechtigter Partnerschaft zueinander stehen“86. Das Gericht betonte den monogamen Charakter der Ehe und bezeichnete sie „als Form einer engen Zweierbeziehung zwischen Mann und Frau“, die sich durch eine „personelle Exklusivität auszeichnet“.87 Art. 6 Abs. 1 GG enthalte eine Institutsgarantie, wonach „die Ehe als Lebensform anzubieten und zu schützen ist“88. Neben der Institutsgarantie beinhalte Art. 6 Abs. 1 GG einen Schutzauftrag, wonach dem Staat die Aufgabe zukomme, „einerseits alles zu unterlassen, was die Ehe schädigt oder sonst beeinträchtigt, und sie andererseits 80 81 82 83 84 85 86 87 88

BVerfG, Kammerbeschluss vom 04. 10. 1993 – 1 BvR 640/93 –, juris Rn. 5. BVerfG, Kammerbeschluss vom 04. 10. 1993 – 1 BvR 640/93 –, juris Rn. 5. BT-Drs. 18/6665, S. 7. BVerfGE 105, 313, 345. BVerfGE 105, 313, 345. BVerfGE 105, 313, 345. BVerfGE 105, 313, 345. BVerfGE 105, 313, 343. BVerfGE 105, 313, 344.

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Kap. 3: Anwendungsbeispiel „Ehebegriff in Art. 6 Abs. 1 GG“

durch geeignete Maßnahmen zu fördern“89. Mit diesem besonderen Schutz wäre es unvereinbar, die Ehe „insgesamt gegenüber anderen Lebensformen schlechter zu stellen“90. Art. 6 Abs. 1 GG statuiere ein „Benachteiligungsverbot“91. Daraus folge aber kein Abstandsgebot oder „Benachteiligungsgebot für andere Lebensformen als die Ehe“92. Es sei dem Gesetzgeber aber auch nicht verwehrt, „diese gegenüber anderen Lebensformen zu begünstigen“93. Die Absage an ein Abstandsgebot werde auch durch eine intensive Auseinandersetzung mit der Entstehungsgeschichte des Art. 6 GG bestätigt.94 Gleichwohl erfahre allein die Ehe, nicht dagegen eine andere Lebensform, durch Art. 6 Abs. 1 GG einen besonderen verfassungsrechtlichen Schutz und nur für sie bestehe ein verfassungsrechtlicher Auftrag zur Förderung.95 Ohne Verfassungsänderung könne die Ehe weder abgeschafft noch in ihren wesentlichen Strukturprinzipien geändert werden.96 3. Familienzuschlag I und II (BVerfGK 12, 169 und BVerfGK 13, 501) Nachdem die eingetragene Lebenspartnerschaft etabliert war, erreichten das Bundesverfassungsgericht Verfassungsbeschwerden, die sich gegen eine Ungleichbehandlung von Lebenspartnern und Ehegatten richteten.97 Die Verfassungsbeschwerden wurden nicht zur Entscheidung angenommen. Die erste Kammer des zweiten Senats entschied, dass die Verfassungsbeschwerden unbegründet seien.98 Der im Streit stehende Familienzuschlag nur für Eheleute sei mit dem allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar.99 Art. 6 Abs. 1 GG, der lex specialis zu Art. 3 Abs. 1 GG sei, beinhalte ein Differenzierungsgebot.100 Dieser rechtfertige die Begünstigung verheirateter Beamter.101 Mit Verweis auf die Entscheidung zum Lebenspartnerschaftsgesetz führte die zuständige Kammer aus, der verfassungsrechtliche Förderauftrag des Art. 6 Abs. 1 GG berechtige „den Gesetzgeber, die Ehe 89 90 91

19 ff. 92

BVerfGE 105, 313, 346. BVerfGE 105, 313, 346. BVerfGE 105, 313, 347. Kritisch dazu A. Frhr. v. Campenhausen, VVDStRL 45 (1987), 7,

BVerfGE 105, 313, 348. BVerfGE 105, 313, 348. 94 BVerfGE 105, 313, 349 f. 95 BVerfGE 105, 313, 348. 96 BVerfGE 105, 313, 348. 97 BVerfGK 12, 169 und BVerfGK 13, 501. 98 BVerfGK 12, 169, 173; 13, 501, 502. 99 BVerfGK 12, 169, 174 ff.; 13, 501, 502. 100 BVerfGK 12, 169, 174 f. 101 BVerfGK 12, 169, 176 f. 93

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als die förmlich eingegangene Lebensgemeinschaft von Frau und Mann gegenüber anderen Lebensformen herauszuheben und zu begünstigen“102. Die Verfassung selbst beinhalte mithin den sachlichen Differenzierungsgrund.103 4. Betriebliche Hinterbliebenenversorgung (BVerfGE 124, 199) Entgegen dieser Kammerrechtsprechung folgten ab 2009 eine ganze Reihe von (Senats-)Entscheidungen, in denen das Bundesverfassungsgericht für die unterschiedliche einfachgesetzliche Ausgestaltung der Ehe und der eingetragenen Lebenspartnerschaft eine verfassungswidrige Ungleichbehandlung annahm. Den Anfang machte eine Entscheidung zur betrieblichen Hinterbliebenenversorgung für Arbeitnehmer im öffentlichen Dienst. Das Bundesverfassungsgericht entschied, dass Versicherte, die verheiratet sind, und solche, die verpartnert sind, bei der Hinterbliebenenversorgung nicht unterschiedlich behandelt werden dürften. Diese Ungleichbehandlung könne nicht gerechtfertigt werden und verstoße daher gegen Art. 3 Abs. 1 GG.104 Der bloße Verweis auf Art. 6 Abs. 1 GG reiche hierfür nicht aus.105 Der Gesetzgeber dürfe die Ehe zwar grundsätzlich gegenüber anderen Lebensformen begünstigen, das gelte allerdings nicht im Verhältnis zu rechtlich gleich verbindlichen und auf Dauer angelegten Paarbeziehungen.106 Ein sachgrundloses Abstandsgebot lasse sich der verfassungsrechtlichen Privilegierung der Ehe nicht entnehmen.107 Ein besonderer sachlicher Rechtfertigungsgrund sei für die vorliegende Ungleichbehandlung nicht gegeben.108 Es könne nicht darauf abgestellt werden, „dass typischerweise bei Eheleuten wegen Lücken in der Erwerbsbiographie aufgrund von Kindererziehung ein anderer Versorgungsbedarf bestünde als bei Lebenspartnern“109. Denn es gebe weder in jeder Ehe Kinder, noch sei jede Ehe auf Kinder ausgerichtet.110 Zudem lebten auch in zahlreichen eingetragenen Lebenspartnerschaften Kinder.111 Ein daraus resultierender erhöhter Versorgungsbedarf könne „unabhängig vom Familienstand [auf andere Weise wesentlich] konkreter berücksichtigt werden“112.

102 103 104 105 106 107 108 109 110 111 112

BVerfGK 12, 169, 177. BVerfGK 12, 169, 177. BVerfGE 124, 199, 217 ff. BVerfGE 124, 199, 224. BVerfGE 124, 199, 225. BVerfGE 124, 199, 226. BVerfGE 124, 199, 226 ff. BVerfGE 124, 199, 229. BVerfGE 124, 199, 229. BVerfGE 124, 199, 229. BVerfGE 124, 199, 230.

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Kap. 3: Anwendungsbeispiel „Ehebegriff in Art. 6 Abs. 1 GG“

5. Erbschaft- und Schenkungssteuer (BVerfGE 126, 400) Mit vergleichbaren Gründen lehnte das Bundesverfassungsgericht ein Jahr später eine Schlechterstellung von eingetragenen Lebenspartnern gegenüber Ehegatten im Erbschaftssteuer- und Schenkungssteuergesetz als verfassungswidrig ab. Zwar habe der Gesetzgeber im Bereich des Steuerrechts einen weitreichenden Entscheidungsspielraum, dieser werde aber durch das Gebot der Folgerichtigkeit begrenzt.113 Es gebe für die steuerliche Ungleichbehandlung keine ausreichenden Rechtfertigungsgründe.114 Art. 6 Abs. 1 GG könne generell im Rahmen der Prüfung einer Ungleichbehandlung nach Art. 3 Abs. 1 GG keine unterschiedliche Behandlung rechtfertigen.115 Ein besonderer Rechtfertigungsgrund sei insbesondere auch nicht darin zu sehen, „dass grundsätzlich nur aus einer Ehe gemeinsame Kinder hervorgehen können“116. Denn auch bei Ehegatten werde „nicht zwischen kinderlosen Ehen und solchen, aus denen Kinder hervorgegangen sind“, unterschieden.117 6. Transsexuellen-Ehe (BVerfGE 128, 109) Die Entscheidung zur Transsexuellen-Ehe hatte eine andere Stoßrichtung. Auch darin rüttelte das Bundesverfassungsgericht aber nicht an den Grundfesten des Ehebegriffs in Art. 6 Abs. 1 GG. Im Beschluss vom 11. 01. 2011 setzte es sich primär mit dem Recht auf sexuelle Selbstbestimmung aus Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG auseinander. Es stellte klar, dass ein Mann-zu-Frau-Transsexueller, dem die Eingehung einer Lebenspartnerschaft mit einer Frau verwehrt werde, weil er keine geschlechtsangleichende Operation durchführen lasse und er deshalb personenstandsrechtlich nicht als Frau geführt werden könne, in seinem Recht auf sexuelle Selbstbestimmung verletzt werde. Das Gericht begründete dies mit der Ausgestaltung der Ehe allein für verschiedengeschlechtliche Ehegatten. Die Ehe der personenstandsrechtlich als Mann geführten Beschwerdeführerin und ihrer Partnerin entspräche nicht ihrer geschlechtlichen Identität.118 Sie erschienen als Paar, „das eigentlich in der Ehe fehl am Platz ist“119. Das Bundesverfassungsgericht setzte sich nicht näher mit den Strukturmerkmalen des verfassungsrechtlichen Ehebegriffs in Art. 6 Abs. 1 GG auseinander, sondern bestätigte für das einfache Recht, dass der Gesetzgeber grundsätzlich ein legitimes Ziel verfolge, wenn er Sorge dafür trage, dass die eingetragene Lebenspartnerschaft nur Partnern offenstehe, die rechtlich als gleichgeschlechtlich anerkannt seien.120 Die Problematik der Beschwerdeführerin 113 114 115 116 117 118 119 120

BVerfGE 126, 400, 416 f. BVerfGE 126, 400, 419 ff. BVerfGE 126, 400, 421. BVerfGE 126, 400, 426. BVerfGE 126, 400, 428. BVerfGE 128, 109, 127 f. BVerfGE 128, 109, 128. BVerfGE 128, 109, 129.

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löste das Bundesverfassungsgericht über das Personenstandsrecht, das in verfassungswidriger Weise zu hohe Hürden für einen Wechsel des Geschlechts vorsehe und daher der Änderung bedürfe. 7. Familienzuschlag III (BVerfGE 131, 239) Im Jahr 2012 folgte eine weitere Entscheidung, in der das Bundesverfassungsgericht eine verfassungswidrige Ungleichbehandlung von Ehegatten und Lebenspartnern feststellte. So verstoße eine unterschiedliche Besoldung von Ehe- und von Lebenspartnern gegen Art. 3 Abs. 1 GG.121 Diese Ungleichbehandlung sei auch nicht durch den in Art. 6 Abs. 1 GG verankerten besonderen Schutz der Ehe zu rechtfertigen.122 Eine Besserstellung der Ehe könne allein „gegenüber anderen, durch ein geringeres Maß an wechselseitiger Pflichtbindung geprägten Lebensgemeinschaften“ durch die verfassungsrechtliche Wertentscheidung gerechtfertigt werden.123 Gegenüber der eingetragenen Lebenspartnerschaft bedürfe es hingegen eines darüber hinausgehenden, hinreichend gewichtigen Sachgrundes.124 Da die eingetragene Lebenspartnerschaft sich von der Ehe durch die Gleichgeschlechtlichkeit der Partner unterscheide, konkurriere sie nicht mit der Ehe und könne „dem Institut der Ehe daher auch nicht abträglich sein“125. Gewichtige sachliche Gründe für die Ungleichbehandlung konnte das Bundesverfassungsgericht nicht feststellen. Diese würden sich insbesondere nicht aus der Kindererziehung innerhalb von Ehen ergeben. Das Gericht wiederholte, dass es weder in jeder Ehe Kinder gebe, noch sei jede Ehe darauf ausgerichtet.126 Zum anderen würden zunehmend auch in Lebenspartnerschaften Kinder großgezogen.127 8. Grunderwerbsteuer (BVerfGE 132, 179) Wiederum ein Jahr später erneuerte das Bundesverfassungsgericht das Verbot einer steuerrechtlichen Ungleichbehandlung von Ehegatten und Lebenspartnern in seinem Beschluss zur Grunderwerbsteuer. Abermals konnte es keine hinreichenden Rechtfertigungsgründe erkennen und wiederholte seine nunmehr ständige Rechtsprechung, dass der bloße Verweis auf das Schutzgebot der Ehe eine Differenzierung nicht verfassungsrechtlich rechtfertigen könne.128

121 122 123 124 125 126 127 128

BVerfGE 131, 239, 255 ff. BVerfGE 131, 239, 259. BVerfGE 131, 239, 259 f. BVerfGE 131, 239, 260. BVerfGE 131, 239, 260 f. BVerfGE 131, 239, 263. BVerfGE 131, 239, 263. BVerfGE 132, 179, 190 ff.

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9. Sukzessivadoption (BVerfGE 133, 59) Die Entscheidung zur Sukzessivadoption im Jahr 2013 ist zuvörderst für die Interpretation des Elternbegriffs in Art. 6 Abs. 2 GG von Bedeutung. Das Bundesverfassungsgericht hatte die Frage zu klären, ob es eingetragenen Lebenspartnern verwehrt werden konnte, ein adoptiertes Kind ihres Partners ebenfalls anzunehmen (Sukzessivadoption), obwohl dies Ehepartnern erlaubt war und auch eingetragene Lebenspartner das leibliche Kind ihres Partners adoptieren konnten (Stiefkindadoption). Es entschied, dass die Gleichgeschlechtlichkeit zweier Personen nicht ausschließe, „beide als Elternteile im Sinne des Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG anzusehen“129. Entscheidend sei, ob „das einfache Recht die rechtliche Elternschaft zweier gleichgeschlechtlicher Partner begründet“130. Diese Auslegung folge aus der „Kindeswohlfunktion des Elterngrundrechts“131. Der Wortlaut könne dem nicht entgegengehalten werden.132 Allein aus einem sozialen Elternverhältnis begründe sich aber noch keine verfassungsrechtliche Elternschaft.133 Das in der Verfassung verbürgte Elternrecht sei daher nicht durch das Verbot der Sukzessivadoption verletzt, da gerade die rechtliche Elternschaft begehrt werde und bisher nur ein soziales Elternverhältnis bestehe. Ein Verbot „der sukzessiven Adoption angenommener Kinder eingetragener Lebenspartner durch den anderen Lebenspartner“ verletze die betroffenen Kinder aber in Art. 3 Abs. 1 GG.134 Die Ungleichbehandlung im Verhältnis zu Kindern von Ehepartnern könne auch nicht durch Art. 6 Abs. 1 GG gerechtfertigt werden.135 Der besondere Schutz der Ehe erlaube keine Privilegierung gegenüber vergleichbaren Lebensgemeinschaften ohne hinreichend gewichtige Sachgründe, die vorliegend nicht gegeben seien.136 10. Ehegattensplitting (BVerfGE 133, 377) Noch im gleichen Jahr folgte eine weitere und vorläufig letzte Entscheidung, in der das Bundesverfassungsgericht einen Gleichheitsverstoß bei Verheirateten und eingetragenen Lebenspartnern feststellte. Demnach sei der Ausschluss eingetragener Lebenspartner vom Ehegattensplitting nicht mit dem allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar. Denn die eingetragene Lebenspartnerschaft sei „in ihren für die steuerrechtliche Anknüpfung wesentlichen Grundzügen mit der Ehe vergleichbar“137. Allein der Gedanke der Familienförderung sei kein ausreichender 129 130 131 132 133 134 135 136 137

BVerfGE 133, 59, 77. BVerfGE 133, 59, 77. BVerfGE 133, 59, 77 f. BVerfGE 133, 59, 78 ff. BVerfGE 133, 59, 81. BVerfGE 133, 59, 86 ff. BVerfGE 133, 59, 88 ff. BVerfGE 133, 59, 96. BVerfGE 133, 377, 417 f.

B. Verfassungsentwicklung

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rechtfertigender Grund für eine Schlechterstellung.138 Auch in Lebenspartnerschaften wüchsen Kinder auf.139 Dem Gesetzgeber könne auch keine Typisierungsbefugnis zugebilligt werden, weil ihm dies Spielräume eröffnen würde, „die die Verfassung zum Schutz von Minderheiten gerade verbietet“140. 11. Zwischenergebnis Der Abriss der verfassungsgerichtlichen Entscheidungen macht deutlich, dass der gesellschaftliche Wandel auch in der Interpretation des Bundesverfassungsgerichts seine Spuren hinterlassen hat. Ausgehend von der im Jahr 1957 festgestellten Sittenwidrigkeit homosexueller Betätigung141 hat das Bundesverfassungsgericht in den letzten Jahrzehnten die Gleichstellung von gleichgeschlechtlichen Partnerschaften anfangs ermöglicht und sodann immer mehr eingefordert. Der erste Meilenstein war die Entscheidung zum Lebenspartnerschaftsgesetz im Jahr 2002. Diese war vor allem dahingehend wegweisend, dass das Gericht einem aus Art. 6 Abs. 1 GG abgeleiteten Abstandsgebot oder Besserstellungsauftrag eine klare Absage erteilte.142 Es gestand aufgrund Art. 6 Abs. 1 GG dem Gesetzgeber aber ausdrücklich die Erlaubnis zu, die Ehe gegenüber anderen Lebensformen besserzustellen.143 Es eröffnete so dem einfachen Gesetzgeber einen „erheblichen Ausgestaltungsspielraum“ und überließ das Feld der gleichgeschlechtlichen Partnerschaften der „politischen Dynamik“.144 In der Folge respektierte das Bundesverfassungsgericht aber nicht die politische Ausgestaltung, sondern stellte in mehreren Entscheidungen mit Verweis auf Art. 3 GG verfassungswidrige Gleichheitsverstöße zu Lasten homosexueller Partnerschaften fest.145 Maßgebliche Anpassungsschritte nach Einführung des Instituts der Lebenspartnerschaft setzte der Gesetzgeber nunmehr auf Drängen des Bundesverfassungsgerichts um.146 Die 2002 noch in Art. 6 Abs. 1 GG erkannte Begünsti138

BVerfGE 133, 377, 419 f. BVerfGE 133, 377, 422. 140 BVerfGE 133, 377, 422. 141 BVerfGE 6, 389. 142 L. Michael, RW 5 (2014), 426, 468; C. v. Coelln, NJ 2018, 1, 5; S. Berning, Eingetragene Lebenspartnerschaft = Ehe?, in: Y. Becker/F. Lange (Hrsg.), Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (2014), S. 173; J. Benedict, JZ 2013, 477, 485; F. Wollenschläger/ D. Coester-Waltjen, Ehe für alle (2018), S. 31 ff.; P. Reimer/M. Jestaedt, JZ 2013, 468, 469. 143 C. Bäcker, AöR 143 (2018), 339, 347. 144 L. Michael, RW 5 (2014), 426, 468; ders., NJW 2010, 3537, 3538. 145 L. Michael, RW 5 (2014), 426, 468 f.; C. Bäcker, AöR 143 (2018), 339, 348; J. P. Schaefer, AöR 143 (2018), 393, 397. 146 F. Kramer, Über die Wandlungsfähigkeit des GG am Beispiel gleichgeschlechtlich orientierter Personen und Paare (2017), S. 159; C. Gröpl/Y. Georg, AöR 139 (2014), 125, 126; F. Wollenschläger/D. Coester-Waltjen, Ehe für alle (2018), S. 45; J. P. Schaefer, AöR 143 (2018), 393, 397; K. F. Gärditz, Verfassungsgebot Gleichstellung?, in: A. Uhle (Hrsg.), Zur 139

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Kap. 3: Anwendungsbeispiel „Ehebegriff in Art. 6 Abs. 1 GG“

gungserlaubnis der Ehe gegenüber anderen Lebensformen verkümmerte zunehmend und mit ihr die Spielräume des Gesetzgebers.147 Das von Anfang an148 praktizierte Verständnis von Art. 6 Abs. 1 GG als lex specialis gegenüber dem Gleichheitssatz mit der Möglichkeit der positiven Diskriminierung der Ehe wurde aufgegeben.149 Nach der verfassungsgerichtlichen Judikatur gilt nunmehr ein „Besserstellungsverbot“, verbunden mit einer Gleichstellungspflicht.150 Nach den Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts „lässt sich gar kein ,sachlicher Grund‘ mehr denken, die (verschiedengeschlechtliche) Ehe noch in irgendeiner Weise gegenüber homosexuellen Partnerschaften zu privilegieren“.151 Die Stationen der verfassungsgerichtlichen Anpassung zeigen deutlich, dass das Bundesverfassungsgericht weniger einer juristischen als einer politischen Logik folgte.152 Freundlich ausgedrückt kann man dies als „ambivalente Rechtsprechung“ beschreiben.153 Die rechtliche Begründung ließ ein überzeugendes dogmatisches Konzept vermissen. „Der Weg in die gleichgeschlechtliche Ehe“ war vorauszusehen154. Die jeweilige juristische Argumentation besticht nicht durch innere Widerspruchsfreiheit, sondern war geprägt davon, die jeweiligen Entwicklungsschritte einzuleiten, sofern die Gesellschaft hierfür weit genug war.155 Bezeichnend ist, dass die Entwicklung entlang Art. 3 Abs. 1 GG vorangetrieben wurde.156 Denn „der allg[emeine] Gleichheitssatz, als isolierter Satz gelesen, [ist] semantisch ,leer‘“.157 Durch die flexible Bildung von Vergleichsgruppen lässt sich gesellschaftlicher

Disposition gestellt? (2014), S. 128; S. Berning, Eingetragene Lebenspartnerschaft = Ehe?, in: Y. Becker/F. Lange (Hrsg.), Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (2014), S. 174. 147 L. Michael, RW 5 (2014), 426, 469. 148 Vgl. BVerfGE 9, 237, 248 f. 149 J. Benedict, JZ 2013, 477, 481; C. Bäcker, AöR 143 (2018), 339, 350 f.; M. Germann, VVDStRL 73 (2014), 257, 283. 150 C. Bäcker, AöR 143 (2018), 339, 348 ff.; J. P. Schaefer, AöR 143 (2018), 393, 398; C. Hillgruber, JZ 2010, 41, 42; K. F. Gärditz, Verfassungsgebot Gleichstellung?, in: A. Uhle (Hrsg.), Zur Disposition gestellt? (2014), S. 98; L. Michael, NJW 2010, 3537. 151 J. Benedict, JZ 2013, 477, 486; J. P. Schaefer, AöR 143 (2018), 393, 397; K. F. Gärditz, JZ 2011, 930, 934; C. Seiler, Ehe und Familie – noch besonders geschützt?, in: A. Uhle (Hrsg.), Zur Disposition gestellt? (2014), S. 56; G. Krings, NVwZ 2011, 26, 27. 152 J. Benedict, JZ 2013, 477, 484. 153 So F. Wollenschläger/D. Coester-Waltjen, Ehe für alle (2018), S. 44 ff. 154 M. Nettesheim, Auf dem Weg zur gleichgeschlechtlichen Ehe, in: M. Jestaedt/H. Suzuki (Hrsg.), Verfassungsentwicklung I (2017), S. 234; R. Bömelburg, NJW 2012, 2753, 2758. 155 L. Michael, RW 5 (2014), 426, 471 f.; C. Hillgruber, JZ 2010, 41, 42: „taktischwechselhaft“. 156 C. Gröpl/Y. Georg, AöR 139 (2014), 125, 126. 157 A. Nußberger, in: Sachs, GG (2021), Art. 3 Rn. 5.

B. Verfassungsentwicklung

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Wandel sehr einfach in das Verfassungsrecht übersetzen. Dieses Verständnis von Art. 3 GG „erweist sich […] als verfassungsrechtlicher Dynamo“.158 Die seit Beginn in ihren Strukturmerkmalen unveränderte Definition der Ehe in Art. 6 Abs. 1 GG stellte die Senatsrechtsprechung in all ihren Entscheidungen allerdings nicht in Frage, sondern hielt an ihr bisher ausnahmslos fest. Das Merkmal der Verschiedengeschlechtlichkeit als konstitutiv für den verfassungsrechtlichen Begriff der Ehe blieb unangetastet, ungeachtet aller verfassungsgerichtlich angemahnten Gleichstellung.159 Den sozialen Wandel bewältigte das Gericht allein durch eine Anpassung der Maßstäbe der Gleichheitsprüfung des Art. 3 Abs. 1 GG. Die Einebnung aller Unterschiede zwischen Ehe und eingetragener Lebenspartnerschaft und das gleichzeitige Festhalten am verschiedengeschlechtlichen Ehebegriff in Art. 6 Abs. 1 GG sind dogmatisch kaum in Einklang zu bringen.160

III. Interpretation orientiert am Normgeberwillen Abschließend soll nun untersucht werden, ob das Festhalten des Bundesverfassungsgerichts an der verschiedengeschlechtlichen Definition im Einklang mit der hier herausgearbeiteten Methodenkonzeption steht. Dabei soll soweit möglich zwischen auslegungsbezogenen und rechtsfortbildenden Argumenten unterschieden werden. Dies erlaubt das umfangreiche juristische Schrifttum161 zu strukturieren und an geeigneter Stelle abzuhandeln. Dabei wird deutlich werden, dass viele Argumente für die Öffnung des Ehebegriffs in Art. 6 Abs. 1 GG im Kern auf eine Rechtsfortbildung hinauslaufen, ohne aber die strengen Voraussetzungen hierfür zu beachten. Der Begriff der Ehe ist im Grundgesetz nicht näher definiert, er bedarf der Interpretation.162 Der Normtext ist in einem ersten Schritt mit Hilfe der anerkannten Methoden nach Wortlaut (2.), Systematik (3.) sowie Historie, Entstehungsgeschichte und Materialien (4.) auszulegen, um den Willen des Normgebers zu ermitteln. Dabei ist auf den Willen des Verfassungsgebers abzustellen, weil der Ehebegriff in Art. 6 Abs. 1 GG durch den verfassungsändernden Gesetzgeber bisher nicht angetastet worden ist.163 Im Anschluss sind die Möglichkeiten eines rechtsfortbildenden 158

A. Voßkuhle, JuS 2019, 417, 419; J. P. Schaefer, AöR 143 (2018), 393, 432 f.; M. Böhm, VVDStRL 73 (2014), 211, 229; K. F. Gärditz, JZ 2011, 930, 934. 159 F. Wollenschläger/D. Coester-Waltjen, Ehe für alle (2018), S. 22. 160 S. Rixen, JZ 2013, 864, 871; C. Hillgruber, JZ 2010, 41, 43 f.; G. D. Gade/C. Thiele, DÖV 2013, 142, 149 ff. Zweifelnder Erklärungsansatz bei F. Wollenschläger/D. CoesterWaltjen, Ehe für alle (2018), S. 46 f. 161 Hier soll der Fokus auf der jüngeren Literatur nach Einführung der „Ehe für alle“ liegen. 162 F. Brosius-Gersdorf, NJW 2015, 3557, 3559: F. Wollenschläger/D. Coester-Waltjen, Ehe für alle (2018), S. 50; S. Haydn-Quindeau, NJOZ 2018, 201, 205; J. Benedict, JZ 2013, 477, 478; J. Froese, DVBl 2017, 1152, 1153. 163 C. Gröpl/Y. Georg, AöR 139 (2014), 125, 140.

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Kap. 3: Anwendungsbeispiel „Ehebegriff in Art. 6 Abs. 1 GG“

Wandels zu erörtern (5.). Vorab ist zu klären, welche Bedeutung die Besonderheit des Ehegrundrechts als Institutsgarantie (1.) für die Auslegung hat. 1. Ehe als Institutsgarantie Bevor durch Auslegung des originären Verfassungstextes untersucht werden kann, ob der verfassungsrechtliche Ehebegriff eine Verbindung zwischen Mann und Frau voraussetzt, ist vorab auf die in Art. 6 Abs. 1 GG verbürgte Institutsgarantie einzugehen. Nur wenn Art. 6 Abs. 1 GG neben der klassischen abwehrrechtlichen Dimension den Bestand und die wesentlichen Strukturen der Ehe gewährleistet (sog. Institutsgarantie), ist danach zu fragen, ob die Verschiedengeschlechtlichkeit heute noch ein wesentliches Strukturmerkmal ist. Billigt man dem einfachen Gesetzgeber hingegen die freie rechtliche Ausgestaltung der Ehe zu, beschränkt sich der verfassungsrechtliche Schutz auf die konkret vorgefundene Ausgestaltung der einfachgesetzlichen Ehe. Anders als bei den meisten anderen Grundrechten lässt sich der Schutzbereich nicht vorrechtlich bestimmen, weil die Ehe als rechtliches Institut der Ausgestaltung durch den Gesetzgeber bedarf. Es besteht weitestgehend Einigkeit, dass Art. 6 Abs. 1 GG die Ehe „nicht nur in ihrem abstrakten Bestand, sondern auch hinsichtlich ihrer wesentlichen Strukturmerkmale“ gewährleistet.164 Diese Institutsgarantie ist ständige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts.165 Der einfache Gesetzgeber darf und kann danach weder die Ehe als solche abschaffen noch die wesentlichen Strukturprinzipien verändern.166 Dieser konstitutive Kernbereich ist allein dem verfassungsändernden Gesetzgeber vorbehalten.167 „Art. 6 Abs. 1 GG ist [dennoch] durch besondere Offenheit zur sozialen Wirklichkeit“ gekennzeichnet.168 Unstreitig ist, dass der einfache Gesetzgeber im Rahmen der wesentlichen Strukturmerkmale umfangreiche Möglichkeiten hat, auf gesellschaftlichen Wandel zu reagieren. Er kann dadurch in gewissem Umfang verhindern, dass die Ehe gegenüber neueren gesellschaftlichen 164 F. Wollenschläger/D. Coester-Waltjen, Ehe für alle (2018), S. 17 f.; P. Badura, in: Dürig/ Herzog/Scholz, GG (Juli 2021), Art. 6 Rn. 8 f.; C. v. Coelln, in: Sachs, GG (2021), Art. 6 Rn. 31; J. P. Schaefer, AöR 143 (2018), 393, 402; M. Germann, VVDStRL 73 (2014), 257, 266 f.; C. Görisch, Der Staat 54 (2015), 591, 595; W. Pauly, NJW 1997, 1955; J. Froese, DVBl 2017, 1152, 1153; C. Schmidt, NVwZ 2017, 2225, 2226 f.; F. Brosius-Gersdorf, in: Dreier, GG, Band I, 3. Aufl. 2013, Art. 6 Rn. 76; R. Scholz/A. Uhle, NJW 2001, 393, 396 f.; G. D. Gade/C. Thiele, DÖV 2013, 142, 148; relativierend M. Bäumerich, DVBl 2017, 1457, 1462 f., der das Ehegrundrecht faktisch auf seinen abwehrrechtlichen Gehalt verkürzt. Ablehnend R. Schimmel, Eheschließungen gleichgeschlechtlicher Paare? (1996), S. 133 ff., 158 ff.; H. Steiger, VVDStRL 45 (1987), 55, 65. 165 Vgl. nur BVerfGE 6, 55, 72; 31, 58, 69 f.; 80, 81, 92; 105, 313, 344. 166 F. Wollenschläger/D. Coester-Waltjen, Ehe für alle (2018), S. 18; J. P. Schaefer, AöR 143 (2018), 393, 402. 167 BVerfGE 105, 313, 348; A. Frhr. v. Campenhausen, VVDStRL 45 (1987), 7, 48. 168 A. Frhr. v. Campenhausen, VVDStRL 45 (1987), 7, 48; M. Böhm, VVDStRL 73 (2014), 211, 223.

B. Verfassungsentwicklung

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Entwicklungen „versteinert“.169 Dies hat er auch vielfach getan, wie nur beispielhaft die Änderung vom Schuld- zum Zerrüttungsprinzip im Scheidungsrecht belegt.170 Für die konstitutiven Begriffsmerkmale, die mittels Auslegung der Verfassung herauszuarbeiten sind, bleibt hingegen allein die Möglichkeit der Verfassungsänderung, sofern nicht rechtsfortbildend Anpassungen eröffnet sind. Diese Merkmale sind eine verfassungsrechtliche Wertentscheidung.171 Der verfassungsrechtliche Ehebegriff ist folglich eigenständig zu interpretieren und wird nicht durch das einfache Recht konstituiert.172 Dies gilt „ungeachtet eines anzuerkennenden Gestaltungsspielraums des Gesetzgebers“.173 Dieser wird durch die verfassungsrechtlichen Vorgaben des Art. 6 Abs. 1 GG determiniert, und „nicht umgekehrt [bestimmen] die gesetzlichen Vorschriften den verfassungsrechtlichen Begriff“.174 Andernfalls liefe der verfassungsrechtliche Schutz gegenüber dem einfachen Gesetzgeber ins Leere.175 Dieser müsste allein ein rechtliches Institut namens „Ehe“ schaffen, das bis auf die Bezeichnung keinerlei verfassungsrechtlichen Vorgaben entsprechen müsste. Der Schutz der aktuellen mehrheitlichen Anschauungen der Ehe wäre (weitestgehend) überflüssig, da die Mehrheit dies jederzeit einfachgesetzlich regeln könnte, ohne dass es eines besonderen verfassungsrechtlichen Schutzes bedürfte. Nicht der verfassungsrechtliche Begriff der Ehe, sondern allein das Rechtsinstitut der Ehe im Rahmen der verfassungsrechtlichen Strukturvorgaben ist aber ausgestaltungsbedürftig.176 Die einfachgesetzliche Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare ist daher für die verfassungsrechtliche Auslegung irrelevant.177 Sofern die Verschiedengeschlechtlichkeit konstitutiv für den verfassungsrechtlichen Ehebegriff ist, kann es keine „Spielräume der Konkretisierung und ,Ausgestaltung‘“ durch den Gesetzgeber geben.178

169

W. Pauly, NJW 1997, 1955. C. v. Coelln, in: Sachs, GG (2021), Art. 6 Rn. 32. 171 A. Frhr. v. Campenhausen, VVDStRL 45 (1987), 7, 48. 172 K. Stern, in: K. Stern/M. Sachs/J. Dietlein (Hrsg.), Staatsrecht IV/1 (2006), S. 369; J. Ipsen, Ehe und Familie, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), HStR, Band VII, 3. Aufl. 2009, § 154 Rn. 8; C. Gröpl/Y. Georg, AöR 139 (2014), 125, 147; C. Gusy, JA 1986, 183, 184; C. Bäcker, AöR 143 (2018), 339, 374 f. 173 BVerfGE 105, 357, 358 (Sondervotum Papier).; C. v. Coelln, NJ 2018, 1. 174 K. Stern, in: K. Stern/M. Sachs/J. Dietlein (Hrsg.), Staatsrecht IV/1 (2006), S. 369 f.; K. Möller, DÖV 2005, 64, 65; M. Cornils, Die Ausgestaltung der Grundrechte (2005), S. 340 f. 175 C. Bäcker, AöR 143 (2018), 339, 374 f.; C. Gröpl/Y. Georg, AöR 139 (2014), 125, 147; J. Froese, DVBl 2017, 1152, 1153; C. Görisch, Der Staat 54 (2015), 591, 595. 176 M. Cornils, Die Ausgestaltung der Grundrechte (2005), S. 338. 177 C. v. Coelln, NJ 2018, 1, 4. A. A. N. Koschmieder, Grundrechtliche Dynamisierungsprozesse (2016), S. 254 f., der damit allerdings das Verfassungsrecht jeglicher determinierenden Kraft gegenüber dem einfachen Gesetzgeber beraubt. 178 M. Cornils, Die Ausgestaltung der Grundrechte (2005), S. 390. 170

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Kap. 3: Anwendungsbeispiel „Ehebegriff in Art. 6 Abs. 1 GG“

2. Wortlaut Art. 6 Abs. 1 GG enthält keine Legaldefinition der Ehe. Der Wortlaut verzichtet auf jegliche nähere Konkretisierung des Ehebegriffs.179 Er enthält keines der allgemein anerkannten Wesensmerkmale.180 Er erwähnt insbesondere nicht explizit Mann und Frau und damit verschiedengeschlechtliche Ehepartner.181 Der Verfassungsgeber spricht allein von der „Ehe“. Nach den bisherigen Ausführungen182 ist der Ehebegriff nach seiner zeitgebundenen Bedeutung zu untersuchen und ein möglicher Sprachwandel aufzuklären.183 Nur auf diese Weise kann der im Wortlaut zum Ausdruck kommende Wille des Verfassungsgebers erforscht werden.184 Insoweit ist der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zuzustimmen, die eine „Anknüpfung des Art. 6 Abs. 1 GG an vorgefundene, überkommene Lebensformen“ bemüht.185 Bis mindestens zum Ende des vergangenen Jahrhunderts beschränkte sich die sprachliche Bedeutung der Ehe allein auf die Beziehung zwischen einem Mann und einer Frau.186 Im europäischen Kulturkreis ist das traditionelle Verständnis der Ehe eine „rechtsverbindlich eingegangene Lebensgemeinschaft zwischen Mann und Frau“.187 Selbst in Gesellschaften und zu Zeiten, in denen homosexuelle Beziehungen toleriert oder akzeptiert waren, war die Ehe eine exklusiv Heterosexuellen vorbehaltene Verbindung.188 Auch der juristische Sprachgebrauch verstand bis zum 21. Jahrhundert nahezu ausnahmslos die Ehe als Gemeinschaft von Mann und Frau.189

179 K. Stern, in: K. Stern/M. Sachs/J. Dietlein (Hrsg.), Staatsrecht IV/1 (2006), S. 368; C. v. Coelln, in: Sachs, GG (2021), Art. 6 Rn. 2; T. Blome, NVwZ 2017, 1658, 1660; M. Böhm, VVDStRL 73 (2014), 211, 225. 180 J. Ipsen, NVwZ 2017, 1096, 1097. 181 F. Wollenschläger/D. Coester-Waltjen, Ehe für alle (2018), S. 68. 182 Siehe C. IV. 2. a) aa). 183 J. Froese, DVBl 2017, 1152, 1153; C. v. Coelln, in: Sachs, GG (2021), Art. 6 Rn. 3. 184 Dies verkennt J. P. Schaefer, AöR 143 (2018), 393, 417, der blumig die freiheitsermöglichende Funktion der Grundrechte bemüht und deshalb den „aktuellen Sinngehalt eines Rechtsbegriffs“ für bedeutsamer erachtet. Er bleibt aber eine Begründung schuldig, weshalb ein aktualisiertes Verständnis per se auch freiheitsermöglichender ist. 185 BVerfGE 31, 58, 69; 62, 323, 330; 105, 313, 345; 121, 175, 193; F. Wollenschläger/ D. Coester-Waltjen, Ehe für alle (2018), S. 63; J. Froese, DVBl 2017, 1152, 1153. 186 J. Risse, Der verfassungsrechtliche Schutz der Homosexualität (1998), S. 203 f.; J. P. Schaefer, AöR 143 (2018), 393, 423; R. Schimmel, Eheschließungen gleichgeschlechtlicher Paare? (1996), S. 75. 187 R. Zippelius, DÖV 1986, 805, 806; J. Risse, Der verfassungsrechtliche Schutz der Homosexualität (1998), S. 203. 188 R. Schimmel, Eheschließungen gleichgeschlechtlicher Paare? (1996), S. 38. 189 Umfangreiche Nachweise bei R. Schimmel, Eheschließungen gleichgeschlechtlicher Paare? (1996), S. 72 ff.

B. Verfassungsentwicklung

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Rechtlich unerheblich ist, dass heutzutage im Sprachgebrauch von „Homo-Ehe“ und „heiraten“ hinsichtlich gleichgeschlechtlicher Partnerschaften die Rede ist.190 Das heutige Verständnis erlaubt keine Rückschlüsse auf den Willen des Normgebers. Es ist lediglich ein Indiz für einen rechtfortbildenden oder rechtspolitischen Anpassungsbedarf. Treffend ist die Rede von „Verfassungserwartungen“, die „aber keinen unmittelbaren Einfluss auf das verfassungsrechtlich indizierte Schutzniveau“ haben.191 Der Wortlaut ist demnach in seiner zeitgebundenen Bedeutung eindeutig.192 Darüber hinaus spricht die Bezeichnung gleichgeschlechtlicher Lebenspartnerschaften als „Homo-Ehe“ eher gegen ein vollständig gewandeltes Begriffsverständnis in der Allgemeinheit, da die Beschreibung der Besonderheit dieser gleichgeschlechtlichen Ehe gerade für notwendig erachtet wird.193 So werden auch eheähnliche Lebensgemeinschaften schon lange als „freie Ehe“, „wilde Ehe“ oder „Ehe ohne Trauschein“ bezeichnet,194 fallen aber gerade nicht in den Schutzbereich des Art. 6 Abs. 1 GG.195 Wie die „Homo-Ehe“ definieren sie sich gerade in Abgrenzung zur herkömmlichen Ehe. 3. Systematik Systematisch wird neben dem offensichtlichen Bezug zum Familien- und Elternbegriff in Art. 6 GG (a) das Verhältnis zum Gleichheitssatz und allgemeinen Persönlichkeitsrecht (b) zur Auslegung bemüht. Auch auf den völker- und unionsrechtlichen Kontext ist kurz einzugehen (c). a) Bezug zum Familien- und Elternbegriff Art. 6 Abs. 1 GG erwähnt und schützt neben der Ehe ausdrücklich die Familie. Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG regelt darüber hinaus die natürlichen Rechte der Eltern. Die enge wörtliche Aufführung von Ehe und Familie sowie der unmittelbare Regelungskontext zu den Elternrechten verlangt nach systematischer Aufklärung. 190 F. Kramer, Über die Wandlungsfähigkeit des GG am Beispiel gleichgeschlechtlich orientierter Personen und Paare (2017), S. 169. Vgl. aber BT-Drs. 18/6665, S. 7 f.; L. Michael, RW 5 (2014), 426, 469. 191 J. P. Schaefer, AöR 143 (2018), 393, 419. 192 J. Risse, Der verfassungsrechtliche Schutz der Homosexualität (1998), S. 204. Die zeitliche Komponente verkennt F. Wollenschläger/D. Coester-Waltjen, Ehe für alle (2018), S. 111, und hält das Wortlautargument folgerichtig für ambivalent. 193 J. P. Schaefer, AöR 143 (2018), 393, 419; F. Kramer, Über die Wandlungsfähigkeit des GG am Beispiel gleichgeschlechtlich orientierter Personen und Paare (2017), S. 169; J. Risse, Der verfassungsrechtliche Schutz der Homosexualität (1998), S. 203. 194 A. Frhr. v. Campenhausen, VVDStRL 45 (1987), 7, 17. 195 H. Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG (2020), Art. 6 Rn. 5; P. Badura, in: Dürig/Herzog/ Scholz, GG (Juli 2021), Art. 6 Rn. 55; D. Looschelders/W. Roth, Juristische Methodik im Prozess der Rechtsanwendung (1996), S. 208.

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Kap. 3: Anwendungsbeispiel „Ehebegriff in Art. 6 Abs. 1 GG“

aa) Ehe als Keimzelle der Gesellschaft Stimmen in der Literatur schließen aus der textlichen Nähe, dass der Verfassungsgeber zum Ausdruck bringen wollte, dass die Ehe als Vorstufe zur Familie anzusehen sei. Aus der Ehe solle danach typischerweise eine Familie hervorgehen. Sie sei von ihrem abstrakten Potential final auf Reproduktion ausgerichtet.196 Ihr komme deshalb eine Leitbildfunktion zu.197 Der Verfassungsgeber habe sie aus diesem Grund „neben ihrer Solidarfunktion“ unter den besonderen Schutz der staatlichen Ordnung gestellt.198 Dies komme allerdings aufgrund des notwendigen (abstrakten) Fortpflanzungspotentials nur bei heterosexuellen Paaren in Betracht.199 Auch das Bundesverfassungsgericht betonte in der Vergangenheit, dass die Ehe „die Keimzelle jeder menschlichen Gemeinschaft“ sei.200 Dagegen wird zunächst eingewandt, der kinderlosen Ehe sollte von Anfang an genauso der Schutz des Art. 6 Abs. 1 GG zugutekommen.201 Die kinderlose Ehe genieße als „Verantwortungsgemeinschaft durch freien Willensentschluss“ keinen geringeren Schutz.202 Der Schutz der Ehe bedürfe keiner Fortpflanzungsfähigkeit, sondern gründe allein „auf die partnerschaftliche Beistands- und Verantwortungsfunktion der Eheleute“.203 Die Ehe sei ausdrücklich neben der Familie genannt, was deutlich mache, dass es sich dabei um ein „grammatikalisch und systematisch […] eigenständiges, von der Familie unabhängiges Institut“ handle.204 Die Ehe möge auch aus Sicht des Verfassungsgebers ein geeigneter Ort für eine Familiengründung sein.205 Dies sei aber nicht Grund für ihren besonderen verfassungsrechtlichen Schutz. Denn sie genieße gerade nicht nur dann den verfassungsrechtlichen Schutz, wenn sie eine Familie hervorgebracht habe.206 Zudem führe auch bei verschiedengeschlechtlichen Paaren ein fehlendes Fortpflanzungspotential (z. B. Frauen nach der 196 W. Pauly, NJW 1997, 1955; C. v. Coelln, NJ 2018, 1, 4; A. Uhle, in: BeckOK, GG (47. Edition 2021), Art. 6 Rn. 4; C. Seiler, Ehe und Familie – noch besonders geschützt?, in: A. Uhle (Hrsg.), Zur Disposition gestellt? (2014), S. 56. 197 M. Germann, VVDStRL 73 (2014), 257, 271 ff. 198 F. Kramer, Über die Wandlungsfähigkeit des GG am Beispiel gleichgeschlechtlich orientierter Personen und Paare (2017), S. 166. 199 J. Ipsen, NVwZ 2017, 1096, 1098; C. Seiler, Ehe und Familie – noch besonders geschützt?, in: A. Uhle (Hrsg.), Zur Disposition gestellt? (2014), S. 56 f. 200 BVerfGE 137, 273, 342; R. Zippelius, DÖV 1986, 805, 807. 201 N. Koschmieder, Grundrechtliche Dynamisierungsprozesse (2016), S. 204 f. 202 T. Blome, NVwZ 2017, 1658, 1662. 203 F. Brosius-Gersdorf, NJW 2015, 3557, 3559; V. Beck/C. Tometten, DÖV 2016, 581, 586; F. Kramer, Über die Wandlungsfähigkeit des GG am Beispiel gleichgeschlechtlich orientierter Personen und Paare (2017), S. 167; S.-P. Hwang, AöR 145 (2020), 264, 288. 204 F. Brosius-Gersdorf, NJW 2015, 3557, 3559; R. Schimmel, Eheschließungen gleichgeschlechtlicher Paare? (1996), S. 101. 205 N. Koschmieder, Grundrechtliche Dynamisierungsprozesse (2016), S. 206. 206 N. Koschmieder, Grundrechtliche Dynamisierungsprozesse (2016), S. 206; M. Bäumerich, DVBl 2017, 1457, 1462.

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Menopause) nicht zu einem Ehehindernis.207 Die enge Verknüpfung zwischen Ehe und Familie, und damit der Reproduktionsgedanke, sei zudem in der Realität längst relativiert.208 Aus der unmittelbaren Verbindung zur Familie ließen sich heute daher keine Schlussfolgerungen mehr ableiten.209 Unstreitig dürfte sein, dass eine Beschränkung auf die „individuelle[…] Fortpflanzungsbereitschaft und -fähigkeit“ der Ehepartner bereits deshalb nicht in Betracht kommt, weil dies einen Eingriff in die Intimsphäre der Ehepartner bedeuten würde.210 Eine generalisierende Betrachtung ist dadurch aber noch nicht grundsätzlich ausgeschlossen. Stellt man auf die abstrakte Fortpflanzungsfähigkeit ab, ist diese jedenfalls nur bei verschiedengeschlechtlichen, nicht aber bei gleichgeschlechtlichen Paaren gegeben.211 Daran ändert auch die heutige Reproduktionsmedizin nichts. Sie eröffnet homosexuellen Paaren diverse Möglichkeiten, Kinder zu bekommen, deren biologischer Elternteil einer der Partner ist. Nachwuchs, bei dem beide Partner biologische Eltern sind, ist bis auf weiteres jedoch nicht möglich. Vor dem Hintergrund eines Verständnisses der Ehe als eine grundsätzlich monogame Paarbeziehung ist die Annahme biologischer Elternschaft als Regelfall zunächst naheliegend. bb) Moderner Familien- und Elternbegriff Die textliche wie inhaltliche Nähe zwischen Ehe einerseits und Familien- und Elternbegriff andererseits wird allerdings immer häufiger im Hinblick auf die neuere Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gerade als Beleg für ein geschlechtsunabhängiges Verständnis der Ehe angeführt. Denn der Familien- und Elternbegriff beschränke sich nicht allein auf heterosexuelle Paare.212 So habe das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung zur Sukzessivadoption klarge207 T. Blome, NVwZ 2017, 1658, 1662; R. Schimmel, Eheschließungen gleichgeschlechtlicher Paare? (1996), S. 102 f.; A. Sanders, Das Ehebild des Bundesverfassungsgerichts zwischen Gleichberechtigung, nichtehelicher Lebensgemeinschaft und Lebenspartnerschaft, in: S. Emmenegger/A. Wiedmann (Hrsg.), Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (2011), S. 369. 208 F. Kramer, Über die Wandlungsfähigkeit des GG am Beispiel gleichgeschlechtlich orientierter Personen und Paare (2017), S. 166; A. Sanders, Das Ehebild des Bundesverfassungsgerichts zwischen Gleichberechtigung, nichtehelicher Lebensgemeinschaft und Lebenspartnerschaft, in: S. Emmenegger/A. Wiedmann (Hrsg.), Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (2011), S. 369. 209 F. Kramer, Über die Wandlungsfähigkeit des GG am Beispiel gleichgeschlechtlich orientierter Personen und Paare (2017), S. 167. 210 BVerfGE 49, 286, 300; C. v. Coelln, NJ 2018, 1, 4; J. Ipsen, Ehe und Familie, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), HStR, Band VII, 3. Aufl. 2009, § 154 Rn. 17; N. Koschmieder, Grundrechtliche Dynamisierungsprozesse (2016), S. 205; J. Risse, Der verfassungsrechtliche Schutz der Homosexualität (1998), S. 210. 211 C. v. Coelln, NJ 2018, 1, 4; G. Krings, NVwZ 2011, 26, 27. 212 F. Brosius-Gersdorf, NJW 2015, 3557, 3561.

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Kap. 3: Anwendungsbeispiel „Ehebegriff in Art. 6 Abs. 1 GG“

stellt, dass die Gleichgeschlechtlichkeit zweier Personen nicht ausschließe, „beide als Elternteile im Sinne des Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG anzusehen“213. Aus dem Familien- und Elternbegriff könnten folglich keine Restriktionen für das verfassungsrechtliche Eheverständnis abgeleitet werden, die noch nicht einmal mehr den Begriff der Familie oder der Eltern prägen.214 Die biologische Herkunft der Kinder sei für das Vorliegen einer Familie gerade nicht entscheidend.215 Diese Argumentation greift zu kurz. So gibt es zweifellos (verfassungsrechtlich geschützte) Familien- und Elternkonstellationen ohne Ehe. Wenn aus der Ehe aber im Wege der Fortpflanzung eine Familie entstehen und dabei der monogame Charakter der Ehe bewahrt bleiben soll, bedarf es biologisch verschiedengeschlechtlicher Partner. Sieht man die Ehe (auch) als schützenswert an, weil sie als stabile Lebensform besonders für eine Familiengründung biologisch eigener Kinder geeignet ist, könnten gleichgeschlechtliche Partnerschaften diese Funktion unter keinen Umständen erfüllen. Dem steht nicht entgegen, dass durch bereits vorhandene Kinder gleichgeschlechtliche Partnerschaften eine Familie bilden. Entscheidend für das Verständnis der Ehe ist mithin, welchen funktionalen Schutz man dem Ehegrundrecht zuschreibt. cc) Fehlende Vergleichbarkeit Konkrete Schlussfolgerungen aus der textlichen und inhaltlichen Nähe zum Familien- und Elterngrundrecht scheitern letztlich aber an der fehlenden Vergleichbarkeit der Grundrechte. Denn der Eltern- und Familienbegriff ist nicht wie der Eheschutz als Institutsgarantie ausgestaltet.216 Während Eltern und Familie auch als soziale Phänomene unabhängig von jeglicher rechtlichen Regelung bestehen, ist die Ehe erst durch die rechtliche Anerkennung denkbar und daher durch konstitutive rechtliche Strukturmerkmale bedingt.217 Ehe und Familie „hängen zwar thematisch eng zusammen, sind aber rechtlich vollständig voneinander entkoppelt“.218 Ein Grundrecht, das eine Institutsgarantie enthält, sichert einen Normenkern verfassungsrechtlich ab und richtet sich daher „strukturell“ gegen „sich wandelnde Vorstellungen“.219 Der verfassungsrechtliche Schutz gilt bestimmten Wertvorstellungen, um sie gegebenenfalls auch kontrafaktisch zu behaupten.220 Der verfassungsrechtliche Schutz sozialer Gegebenheiten ist hingegen seiner Natur nach schon wesentlich 213

BVerfGE 133, 59, 77. F. Brosius-Gersdorf, NJW 2015, 3557, 3561. 215 M. Böhm, VVDStRL 73 (2014), 211, 227. 216 F. Wollenschläger/D. Coester-Waltjen, Ehe für alle (2018), S. 68. 217 C. Hillgruber, JZ 2011, 861, 866; H. Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG (2020), Art. 6 Rn. 2. 218 F. Brosius-Gersdorf, NJW 2015, 3557, 3560; dies., in: Dreier, GG, Band I, 3. Aufl. 2013, Art. 6 Rn. 43. 219 C. v. Coelln, NJ 2018, 1, 3. 220 M. Burgi, Der Staat 39 (2000), 487, 508. 214

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offener gegenüber Veränderungen ausgestaltet. Der Schutz sozialer Wirklichkeit schließt regelmäßig geänderte Umstände ein. Familie und Eltern bedürfen für ihre Existenz anders als die Ehe nicht der rechtlichen Anerkennung. Die tatsächlichen Verhältnisse sind daher für das Verständnis der verfassungsrechtlichen Begriffe ungleich bedeutsamer.221 Eine Öffnung des Familienbegriffs hin zur sozialen Wirklichkeit „ist in seinen Merkmalen seit jeher angelegt“.222 Die Elternschaft war grundgesetzlich von Anfang an stark durch die „einfachgesetzliche[…] Zuordnung“ geprägt.223 Das Institut der Ehe hingegen ist „in seinen Grundstrukturen von der Rechtsordnung vorgeformt“ und „weniger ,sachgeprägt‘“.224 Für dieses unterschiedliche Verständnis von Ehe und Familie streitet auch die Entstehungsgeschichte.225 Festzuhalten bleibt daher, dass die textliche Nähe zum Familien- und Elternbegriff ambivalente Rückschlüsse erlaubt. Eine direkte Parallele verbietet sich jedoch, weil die verfassungsrechtliche Ausgestaltung der Grundrechte fundamental divergiert. b) Verhältnis zum Gleichheitssatz und Persönlichkeitsrecht Art. 6 Abs. 1 GG ist grundsätzlich auch im Hinblick auf sein Verhältnis zu anderen Verfassungsnormen auszulegen.226 Nicht überzeugen kann allerdings der Versuch, mittels einer systematischen Interpretation unter Heranziehung von Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1 sowie Art. 3 Abs. 1 GG den Begriff der Ehe im Sinne des Art. 6 Abs. 1 GG auch für gleichgeschlechtliche Partnerschaften zu öffnen, weil eine andere Auslegung diskriminierend sei.227 Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1 sowie Art. 3 Abs. 1 GG verhalten sich sprachlich nicht zum Begriff der Ehe. Das Argument zielt darauf ab, einen Vorrang der Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1 sowie Art. 3 Abs. 1 GG und eines daraus abgeleiteten Diskriminierungsverbots gegenüber Art. 6 Abs. 1 GG zu behaupten. Dies zwinge dann zu einer intraverfassungskonformen Auslegung des Ehebegriffs von Art. 6 Abs. 1 GG. Dies hieße aber, der Verfassungsgeber hätte mit Blick auf ein in den Materialien dokumentiertes Verständnis der (verschiedengeschlechtlichen) Ehe von Beginn an in Art. 6 Abs. 1 GG verfassungswidriges Recht geschaffen. Diese Annahme ist wenig überzeugend. Ein solches Rangverhältnis zwischen den Grundrechten ist systematisch abzulehnen. Art. 6 Abs. 1 GG als 221

C. Bäcker, AöR 143 (2018), 339, 373; M. Germann, VVDStRL 73 (2014), 257, 274. M. Germann, VVDStRL 73 (2014), 257, 274 f.; K. H. Friauf, NJW 1986, 2595, 2601 f. 223 M. Germann, VVDStRL 73 (2014), 257, 275. 224 K. H. Friauf, NJW 1986, 2595, 2601. 225 Vgl. dazu F. Wapler, RW 5 (2014), 57, 68. 226 BVerfGE 10, 59, 66 f.; 105, 313, 345. 227 So aber K. Möller, DÖV 2005, 64, 67 ff.; A. Sanders, Das Ehebild des Bundesverfassungsgerichts zwischen Gleichberechtigung, nichtehelicher Lebensgemeinschaft und Lebenspartnerschaft, in: S. Emmenegger/A. Wiedmann (Hrsg.), Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (2011), S. 365 ff. 222

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sachnächstes Grundrecht kann nicht durch sachfremdere allgemeinere Grundrechte mit relativen Gerechtigkeitsvorstellungen überlagert werden.228 Auch eine Berufung auf Art. 3 GG isoliert führt zu keinen anderen Schlussfolgerungen. Vorausgesetzt, gegen die oben dargestellte Gleichheitsrechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu gleichgeschlechtlichen Partnerschaften wäre methodisch wie inhaltlich nichts zu erinnern, könnte daraus dennoch nichts für einen gleichgeschlechtlichen Ehebegriff abgeleitet werden. Denn die „Gleichstellung [wurde] nicht isoliert aus dem Grundgesetz abgeleitet“, sondern war Folge einer aus Sicht des Gerichts unzureichenden, weil nicht konsequenten einfachgesetzlichen Gleichstellung.229 Dies betrifft die einfachgesetzliche Ausgestaltung der Ehe, nicht aber den verfassungsrechtlichen Begriff der Ehe in Art. 6 Abs. 1 GG. Die Verfassung selbst gibt die unterschiedliche Bewertung vor, weshalb Art. 6 Abs. 1 GG nicht an Art. 3 Abs. 1 GG zu messen ist.230 Der Bezug auf Art. 3 Abs. 1 GG verkennt, dass der Gleichheitssatz der „Ergebniskontrolle“ und nicht der „Maßstabsbildung“ dient, mithin nicht begriffsprägend sein kann.231 Art. 3 GG ist in der Folge für die Auslegung des verfassungsrechtlichen Ehebegriffes nicht völlig irrelevant. Art. 3 Abs. 2 GG determiniert aber allein das Verhältnis verschiedengeschlechtlicher Partner einer Ehe und bekräftigt deren Gleichberechtigung.232 c) Völker- und unionsrechtlicher Kontext Zuletzt verlangt die systematische Auslegung, den völker- und unionsrechtlichen Kontext zu berücksichtigen. Die Europäische Menschenrechtskonvention und die Charta der Grundrechte der Europäischen Union streiten, unabhängig von der konkreten Wirkungsweise auf das nationale Verfassungsrecht, nicht für einen gleichgeschlechtlichen Ehebegriff in Art. 6 Abs. 1 GG.233 Den internationalen Regelungen (Art. 12 und 8 EMRK, Art. 9 GRCh) lässt sich genauso wie der hierzu ergangenen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und des Europäischen Gerichtshofs keine Pflicht entnehmen, eine gleichgeschlechtliche Ehe einzuführen, geschweige denn verfassungsrechtlich abzusichern.234 Vielmehr „geben außerstaatliche Grundrechtsordnungen die Frage nach der Inklusion

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F. Wollenschläger/D. Coester-Waltjen, Ehe für alle (2018), S. 100; J. P. Schaefer, AöR 143 (2018), 393, 425; W. Pauly, NJW 1997, 1955. 229 F. Wollenschläger/D. Coester-Waltjen, Ehe für alle (2018), S. 99. 230 BVerfG, Kammerbeschluss vom 04. 10. 1993 – 1 BvR 640/93 –, juris Rn. 6; C. v. Coelln, NJ 2018, 1, 5; F. Wollenschläger/D. Coester-Waltjen, Ehe für alle (2018), S. 100. 231 J. P. Schaefer, AöR 143 (2018), 393, 434. 232 W. Pauly, NJW 1997, 1955, 1956. 233 F. Wollenschläger/D. Coester-Waltjen, Ehe für alle (2018), S. 100 ff. 234 Vertiefende Hinweise bei J. P. Schaefer, AöR 143 (2018), 393, 425 ff.; F. Wollenschläger/D. Coester-Waltjen, Ehe für alle (2018), S. 100 ff.

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gleichgeschlechtlicher Partnerschaften in den Ehebegriff an das Grundgesetz zurück“235. 4. Historie, Entstehungsgeschichte und Materialien Ergiebig und verhältnismäßig eindeutig ist der Blick in die Historie, die Entstehungsgeschichte und die Materialien. Auch das Bundesverfassungsgericht griff schon früh auf die Materialien zu Art. 6 GG zurück, um den Willen des Verfassungsgebers zu ergründen.236 a) Umfangreiche Befunde Historisch reicht der verfassungsrechtliche Schutz der Ehe nicht allzu weit zurück; er beginnt mit der Weimarer Reichsverfassung (WRV).237 Die Paulskirchenverfassung und die Preußische Verfassung beließen es bei einem Bekenntnis zur Zivilehe.238 Art. 119 Abs. 1 WRV als verfassungsgeschichtlicher Vorgänger hingegen erwähnte ausdrücklich beide Geschlechter. Dieser normierte: Die Ehe steht als Grundlage des Familienlebens und der Erhaltung und Vermehrung der Nation unter dem besonderen Schutz der Verfassung. Sie beruht auf der Gleichberechtigung der beiden Geschlechter.

Der Hinweis auf die Gleichberechtigung der beiden Geschlechter macht deutlich, dass dem Ehebegriff ein Verständnis einer verschiedengeschlechtlichen Partnerschaft zugrunde lag.239 Der Wortlaut betonte zudem explizit die Reproduktionsfunktion des verfassungsrechtlichen Eheschutzes. Der Herrenchiemsee-Entwurf enthielt keine Bestimmung über die Ehe.240 Anders hingegen diskutierte der Parlamentarische Rat unterschiedliche Formulierungen. Der heutige Art. 6 Abs. 1 GG wurde erstmals von Mitgliedern der CDU-Fraktion in nachfolgender Fassung in den Grundsatzausschuss eingebracht:241

235 J. P. Schaefer, AöR 143 (2018), 393, 426 f.; F. Brosius-Gersdorf, NJW 2015, 3557, 3559; C. Becker, Die gleichgeschlechtliche Ehe in Deutschland (2021), S. 132. 236 BVerfGE 6, 55, 72 ff. Mit ausdrücklichem Bezug auf den Willen des Verfassungsgebers BVerfGE 6, 55, 75. 237 A. Sanders, Das Ehebild des Bundesverfassungsgerichts zwischen Gleichberechtigung, nichtehelicher Lebensgemeinschaft und Lebenspartnerschaft, in: S. Emmenegger/A. Wiedmann (Hrsg.), Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (2011), S. 353; F. Brosius-Gersdorf, in: Dreier, GG, Band I, 3. Aufl. 2013, Art. 6 Rn. 4. 238 F. Brosius-Gersdorf, in: Dreier, GG, Band I, 3. Aufl. 2013, Art. 6 Rn. 1. 239 C. v. Coelln, NJ 2018, 1, 2. 240 J. Ipsen, NVwZ 2017, 1096; F. Wollenschläger/D. Coester-Waltjen, Ehe für alle (2018), S. 56. 241 P. Häberle, in: Neuausgabe des JöR Band 1 (2010), S. 93.

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Die Ehe als die rechtmäßige Form der dauernden Lebensgemeinschaft von Mann und Frau und die aus ihr wachsende Familie sowie die aus der Ehe und der Zugehörigkeit zur Familie fließenden Rechte und Pflichten stehen unter dem besonderen Schutz der Verfassung.

Zur Begründung wurde auf den Artikel zur Ehe im Kommissionsentwurf der Vereinten Nationen zu den Menschenrechten hingewiesen, in dem es unter anderem hieß: Der Mann und die Frau im heiratsfähigen Alter haben das Recht, sich zu vermählen und eine Familie zu gründen. Die Aufnahme einer Bestimmung zum Schutz der Ehe sollte dazu dienen, „dass Gesetze, welche diese Grundsätze abändern wollten, wie unter der Reichsverfassung nur unter erschwerenden Bedingungen der Verfassungsänderung zustande kommen könnten“242. In der Diskussion war man sich einig, dass diese Formulierung die Rechtsfolge beinhaltete, „dass, wenn etwa der Bundestag mit Mehrheit die jetzige Institution der Ehe aufheben wollte, dann dieses Gesetz eine Verfassungsänderung bedeutete“243. Nicht vom Schutz dieser Fassung erfasst sein sollte das Konkubinat, also nichteheliche Partnerschaften zwischen Mann und Frau.244 Ausdrücklich sollte auch die kinderlose Ehe vom Schutz erfasst sein, weshalb der Grundsatzausschuss die Formulierung „und die mit ihr gegebene Familie“ statt „und die aus ihr (der Ehe) wachsende Familie“ bevorzugte.245 Aufgrund redaktioneller Verbesserungsvorschläge des Deutschen Sprachvereins einigte sich der Grundsatzausschuss auf folgenden Wortlaut: Die Ehe ist die rechtmäßige Form der Lebensgemeinschaft von Mann und Frau. Sie bildet die Grundlage der Familie. Ehe und Familie und die damit verbundenen Rechte und Pflichten stehen unter dem Schutze der Verfassung.

Der Allgemeine Redaktionsausschuss schlug hingegen die aus Art. 6 Abs. 1 GG bekannte Fassung vor, die später durch den Hauptausschuss angenommen wurde: Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung.

Zur Begründung wurde ausgeführt, „es bedürfe keines Hinweises auf die ,rechtmäßige Form der fortdauernden Lebensgemeinschaft von Mann und Frau‘, wenn die Ehe als solche unter den besonderen Schutz des Staates gestellt werde“246. Ziel war es, die Norm kürzer zu fassen.247 Die ausdrückliche Benennung der Verschiedengeschlechtlichkeit der Partner hielt man schlicht für überflüssig.248 Im Ergebnis lässt sich eindeutig feststellen, dass der Parlamentarische Rat als Wesensmerkmal der Ehe von der Verschiedengeschlechtlichkeit der Eheleute aus242

P. Häberle, in: Neuausgabe des JöR Band 1 (2010), S. 93. P. Häberle, in: Neuausgabe des JöR Band 1 (2010), S. 94. 244 P. Häberle, in: Neuausgabe des JöR Band 1 (2010), S. 94. 245 P. Häberle, in: Neuausgabe des JöR Band 1 (2010), S. 95. 246 P. Häberle, in: Neuausgabe des JöR Band 1 (2010), S. 97. 247 F. Brosius-Gersdorf, in: Dreier, GG, Band I, 3. Aufl. 2013, Art. 6 Rn. 11. 248 K. Stern, in: K. Stern/M. Sachs/J. Dietlein (Hrsg.), Staatsrecht IV/1 (2006), S. 373; C. v. Coelln, NJ 2018, 1, 2; J. Risse, Der verfassungsrechtliche Schutz der Homosexualität (1998), S. 204. 243

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ging.249 Dass sich in den Materialien des Parlamentarischen Rats vergleichsweise wenig Ausführungen dazu finden lassen, was unter der Ehe im Sinne des Art. 6 Abs. 1 GG zu verstehen sein sollte, dürfte dem überparteilichen, einheitlichen Verständnis der bürgerlichen Ehe geschuldet sein.250 Anders als beispielsweise die Rechtsstellung eines unehelichen Kindes waren deshalb hierzu keine Kontroversen erforderlich.251 b) Abweichende Bewertung Ein kleiner Teil der Literatur teilt diese Schlussfolgerungen nicht. Aufgrund der abgeänderten Formulierung habe der Verfassungsgeber gerade nicht an die bisherige Regelungstradition angeknüpft.252 Aus den Materialien gehe nicht eindeutig hervor, „welche Gründe im Parlamentarischen Rat ausschlaggebend waren für die Verabschiedung des noch heute gültigen Normtextes des Art. 6 Abs. 1 GG“.253 Dies spreche für eine große Offenheit des Ehebegriffes, die auch einen inhaltlichen Wandel erlaube.254 Diese Argumentation lässt sich angesichts des historischen Umfelds, in dem das Grundgesetz verabschiedet wurde, nicht aufrechterhalten.255 (Männliche) Homosexualität war keine Unbekannte, aber geächtet und strafbewehrt.256 Noch 1957 urteilte das Bundesverfassungsgericht, dass die damaligen Strafvorschriften der §§ 175 f. StGB gegen gleichgeschlechtliche Handlungen von Männern nicht verfassungswidrig seien.257 In der gerichtlichen Begründung kommt die damalige Bewertung der Homosexualität deutlich zur Sprache. Homosexuelle Betätigung verstoße gegen das Sittengesetz, und es könne „nicht eindeutig festgestellt werden […], dass jedes öf-

249 J. Ipsen, NVwZ 2017, 1096, 1097; C. Bäcker, AöR 143 (2018), 339, 382; C. Schmidt, NVwZ 2017, 2225, 2227; C. Gröpl/Y. Georg, AöR 139 (2014), 125, 141; F. Wollenschläger/ D. Coester-Waltjen, Ehe für alle (2018), S. 57; A. Uhle, in: BeckOK, GG (47. Edition 2021), Art. 6 Rn. 4; S. Haydn-Quindeau, NJOZ 2018, 201, 205; T. Blome, NVwZ 2017, 1658, 1660; J. Risse, Der verfassungsrechtliche Schutz der Homosexualität (1998), S. 204 f.; C. Hillgruber, JZ 2011, 861, 865; J. Wasmuth, NJ 2017, 353, 357. 250 A. Frhr. v. Campenhausen, VVDStRL 45 (1987), 7, 13; J. Ipsen, Ehe und Familie, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), HStR, Band VII, 3. Aufl. 2009, § 154 Rn. 9; F. Kramer, Über die Wandlungsfähigkeit des GG am Beispiel gleichgeschlechtlich orientierter Personen und Paare (2017), S. 163. 251 A. Frhr. v. Campenhausen, VVDStRL 45 (1987), 7, 13. 252 F. Brosius-Gersdorf, NJW 2015, 3557, 3559; W. Hecker, NVwZ 2018, 621, 623. 253 F. Brosius-Gersdorf, NJW 2015, 3557, 3560. 254 V. Beck/C. Tometten, DÖV 2016, 581, 587. 255 J. Ipsen, NVwZ 2017, 1096, 1097; J. Risse, Der verfassungsrechtliche Schutz der Homosexualität (1998), S. 205; F. Wollenschläger/D. Coester-Waltjen, Ehe für alle (2018), S. 57; J. P. Schaefer, AöR 143 (2018), 393, 423. 256 F. Brosius-Gersdorf, NJW 2015, 3557, 3560; J. P. Schaefer, AöR 143 (2018), 393, 423. 257 BVerfGE 6, 389.

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Kap. 3: Anwendungsbeispiel „Ehebegriff in Art. 6 Abs. 1 GG“

fentliche Interesse an ihrer Bestrafung fehl[e]“258. Es gibt daher keine Zweifel, dass für den kompakten Normtext ohne ausdrücklichen Bezug auf das Geschlecht der Ehepartner allein sprachlich-redaktionelle Gründe sprechen.259 Die Entstehungsgeschichte lässt auch keinen Raum für einen entwicklungsfähigen Ehebegriff.260 Denn anders als beispielsweise bei der Religionsfreiheit lassen sich den Materialien keine Anhaltspunkte entnehmen, dass der Verfassungsgeber „prospektiv“ auch andere Inhalte bei gleicher Funktion vom Schutzbereich erfasst sehen wollte.261 Es handelt sich bei dem Ehebegriff des Art. 6 Abs. 1 GG daher nicht um einen „entwicklungsoffen intendierte[n]“ Schutzgegenstand.262 Während zukünftig aufkommende Religionen und Religionsformen vom Verfassungsgeber bei der Ausgestaltung von Art. 4 Abs. 1 und 2 GG mitgedacht wurden, spricht die entstehungsgeschichtliche Auslegung nicht dafür, dass der Verfassungsgeber durch die Schaffung des Art. 6 Abs. 1 GG der Sache nach allein stabile Beistands- und Verantwortungsgemeinschaften schützen wollte.263 Homosexualität war nichts jenseits des damaligen Vorstellungshorizonts, sondern wurde gesellschaftlich schlicht diametral anders bewertet.264 5. Analogie Nachdem die Auslegung ein eindeutiges Bild zeichnet, ist danach zu fragen, ob nicht mittels Verfassungsfortbildung zwischenzeitlich eine Öffnung des verfassungsrechtlichen Ehebegriffs zu konstatieren ist. So könnte durch eine rechtsfortbildende Interpretation des Ehebegriffs in Art. 6 Abs. 1 GG der gesellschaftliche Wandel aufgegriffen werden mit der Folge, dass der besondere verfassungsrechtliche Schutz des Art. 6 Abs. 1 GG auch gleichgeschlechtlichen Partnerschaften zukäme. Dabei fließen die vielfältigen teleologischen Erwägungen ein, die in der vielstimmigen Diskussion meist bereits zur Auslegung vorgebracht werden. Voraussetzung einer analogen Anwendung des Ehebegriffes des Art. 6 Abs. 1 GG auf eheähnliche gleichgeschlechtliche Partnerschaften wären eine planwidrige Regelungslücke (a) sowie eine vergleichbare Interessenlage (b).

258

BVerfGE 6, 389. BVerfGE 105, 313, 349; C. Hillgruber, JZ 2011, 861, 865; M. Böhm, VVDStRL 73 (2014), 211, 217; S. Haydn-Quindeau, NJOZ 2018, 201, 205. Einschränkend auch F. BrosiusGersdorf, NJW 2015, 3557, 3560. 260 So aber F. Brosius-Gersdorf, NJW 2015, 3557, 3560. 261 C. Bäcker, AöR 143 (2018), 339, 372. 262 C. Bäcker, AöR 143 (2018), 339, 372. 263 C. Bäcker, AöR 143 (2018), 339, 372 f. 264 A. A. F. Brosius-Gersdorf, NJW 2015, 3557, 3560. 259

B. Verfassungsentwicklung

217

a) Planwidrige Regelungslücke Als Regelungslücke lässt sich unschwer bestimmen, dass es für gleichgeschlechtliche Paarbeziehungen anders als für verschiedengeschlechtliche an einer speziellen Schutzbestimmung im Grundgesetz fehlt. Fraglich ist hingegen, ob von einer planwidrigen Lücke, das heißt unbewussten Nichtregelung die Rede sein kann. Die Homosexualität als solche war zur Entstehungszeit des Grundgesetzes keine Unbekannte. Dementsprechend nahe liegt die Schlussfolgerung, der Verfassungsgeber habe bewusst homosexuellen Partnerschaften keinen besonderen verfassungsrechtlichen Schutz zukommen lassen wollen. Dagegen wird eingewandt, „der Verfassungsgeber konnte […] schlicht keine Vorstellung von gleichgeschlechtlichen Partnerschaften haben, wie sie heute im wesentlichen ehegleich ausgestaltet und als solche gesellschaftlich akzeptiert und einfachrechtlich normiert sind“.265 Dies rechtfertige, eine nachträgliche planwidrige Regelungslücke anzunehmen.266 Diese Annahme lässt sich nur bei der Vorstellung eines sehr einfältigen Verfassungsgebers aufrechterhalten. Homosexuelle Paarbeziehungen waren dem Normgeber sehr wohl bekannt, diese wollte er aber gerade nicht unter den besonderen verfassungsrechtlichen Schutz stellen.267 Es scheint fernliegend, dass der Verfassungsgeber Homosexualität als reine Spielart sexuellen Verhaltens angesehen hat. Vielmehr ist davon auszugehen, dass er sich auch homosexueller Liebe und homosexueller Beziehungen bewusst war, die seit jeher Teil abendländischer Kultur sind,268 nicht zuletzt auch der Literatur im 19. und 20. Jahrhundert. Davon zeugen auch die Liberalisierungsforderungen in den 1920ern,269 wenngleich in der öffentlichen Debatte jener Zeit homosexuelle Beziehungen aufgrund sozialer Missbilligung regelmäßig nicht als solche oder abwertend bezeichnet wurden. Der Verfassungsgeber hat sich daher nicht keine Gedanken über homosexuelle Partnerschaften gemacht, sondern Homosexualität entsprechend dem Zeitgeist für etwas Strafwürdiges und nicht durch die Verfassung zu Schützendes gehalten.270 Die heutige vollwertige rechtliche und soziale Anerkennung homosexueller Partnerschaften hat der Verfassungsgeber nicht vorausgesehen.271 Jenseits seiner Vorstellungskraft war sie aber sicherlich nicht. Vielmehr dürfte damals gerade ein recht breiter Konsens vorgeherrscht haben, solchen Entwicklungen vorzubeugen.

265

C. Bäcker, AöR 143 (2018), 339, 384 f. C. Bäcker, AöR 143 (2018), 339, 385. 267 C. v. Coelln, NJ 2018, 1, 2; J. Risse, Der verfassungsrechtliche Schutz der Homosexualität (1998), S. 240. 268 R. Schimmel, Eheschließungen gleichgeschlechtlicher Paare? (1996), S. 38 f. 269 C. Becker, Die gleichgeschlechtliche Ehe in Deutschland (2021), S. 44. 270 J. P. Schaefer, AöR 143 (2018), 393, 423. 271 S. Berning, Eingetragene Lebenspartnerschaft = Ehe?, in: Y. Becker/F. Lange (Hrsg.), Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (2014), S. 196. 266

218

Kap. 3: Anwendungsbeispiel „Ehebegriff in Art. 6 Abs. 1 GG“

Vor dem Hintergrund der heutigen Bewertung homosexueller Partnerschaften mag die Beschränkung des Ehebegriffes auf verschiedengeschlechtliche Paare anachronistisch anmuten. Der Verfassungsgeber beabsichtigte aber mit Art. 6 Abs. 1 GG genau den Schutz dieses tradierten Ehecharakters.272 Der verfassungsrechtliche Schutz von Wertvorstellungen ist notwendigerweise nicht allein rational erklärbar, sondern gründet „auf kulturellen, historischen und intuitiv-emotionalen Motiven“.273 Wertvorstellungen sind subjektiv bedingt und unterliegen rückblickend häufig einem beeindruckenden, teils rapiden Wandel. Einem solchen Wandel will eine verfassungsrechtliche Institutsgarantie gerade vorbeugen.274 Der klare Wille des Verfassungsgebers lässt sich daher auch nicht durch eine Analogie derogieren. Würde man für das Merkmal der Verschiedengeschlechtlichkeit hingegen anerkennen, dass man sich über den Willen des Verfassungsgebers rechtsfortbildend hinwegsetzen könnte, stünden auch die übrigen Strukturmerkmale einem Wandel und einer Änderung durch den einfachen Gesetzgeber offen. Es überzeugt nicht, einer Einführung der Vielehe oder einer Ehe auf Zeit „das Verständnis der Ehe als dauerhafte, umfassende und rechtlich verbindliche Lebens- und Verantwortungsgemeinschaft sowie ihren Familienbezug“ entgegenzuhalten.275 Dieses Verständnis mag heute noch mehrheitsfähig sein, ähnlich wie es das Merkmal der Verschiedengeschlechtlichkeit lange war. Erodiert dieses Verständnis aber nach und nach, ist nicht einzusehen, warum diesem gesellschaftlichen Wandel, sollte er ähnlich weit vorangeschritten sein wie im Fall homosexueller Partnerschaften, nicht ebenso Rechnung getragen werden sollte, indem die entsprechenden Strukturmerkmale aufgehoben werden.276 Konsequent zu Ende gedacht überließe dieses Verständnis die Interpretation des verfassungsrechtlichen Ehebegriffes dem mehrheitlichen Zeitgeist.277 Nicht überzeugen kann der Vorschlag, Rechtsfortbildung beschränke sich allein auf die Fälle, in denen sie entgegen dem Willen des Verfassungsgebers, aber zu272 J. Risse, Der verfassungsrechtliche Schutz der Homosexualität (1998), S. 226; M. Fallmann, Sekundäre Lücken im Recht (2021), S. 260. 273 K. F. Gärditz, JZ 2011, 930, 934; ders., Verfassungsgebot Gleichstellung?, in: A. Uhle (Hrsg.), Zur Disposition gestellt? (2014), S. 105; M. Kloepfer, Einrichtungsgarantien, in: D. Merten/H.-J. Papier (Hrsg.), HGR, Band II (2006), § 43 Rn. 33.; J. Risse, Der verfassungsrechtliche Schutz der Homosexualität (1998), S. 214 ff. Dies verkennt J. Wasmuth, NJ 2017, 353, 359 ff. 274 P. Badura, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG (Juli 2021), Art. 6 Rn. 38. 275 So aber F. Wollenschläger/D. Coester-Waltjen, Ehe für alle (2018), S. 121 f. Bei einem Anschauungswandel die Vielehe für möglich haltend C. Becker, Die gleichgeschlechtliche Ehe in Deutschland (2021), S. 185 f. Ebenso in ihrem Sinne folgerichtig das Prinzip der Einehe als Strukturprinzip verneinend F. Brosius-Gersdorf, in: Dreier, GG, Band I, 3. Aufl. 2013, Art. 6 Rn. 79. 276 M. Nettesheim, Auf dem Weg zur gleichgeschlechtlichen Ehe, in: M. Jestaedt/H. Suzuki (Hrsg.), Verfassungsentwicklung I (2017), S. 224 f.; relativierend N. Markard, JöR 2016, 767, 790 ff. 277 C. Schmidt, NVwZ 2017, 2225, 2227.

B. Verfassungsentwicklung

219

gunsten von Minderheiten erfolge.278 Begründet wird dies damit, dass dadurch verhindert werde, dass die Mehrheitsmeinung den Minderheitenschutz aushöhle.279 So führe gesellschaftlicher Wandel, der sich in die „falsche“ Richtung entwickle, nicht entgegen verfassungsrechtlichen Schutzgarantien zur Aufweichung von Minderheitenrechten. Der Minderheitenschutz sei so entscheidender Treiber für zulässigen verfassungsrechtlichen Wandel.280 Einmal erreichte verfassungsrechtliche Schutzstandards blieben mit Ausnahme einer Verfassungsänderung gewahrt. In eine ähnliche Richtung geht die Argumentation, wonach dem einfachen Gesetzgeber jedenfalls dann Spielräume eröffnet sein müssten, wenn Freiheiten erweitert werden.281 Diese Ansätze verkennen den Charakter einer Verfassung und die Folgen von Freiheitserweiterungen. Das Grundgesetz ist ein Kompromiss zwischen Mehrheitswillen und Minderheitenschutz. Dauerhafter Minderheitenschutz bedarf der richtigen Balance. Dass der Minderheitenschutz mit jeder progressiven Welle ausgeweitet werden soll, führt zu einer Überbetonung des Minderheitenschutzes, dem langfristig die Akzeptanz verlorengeht. Denn auch das Verfassungsrecht kann auf Dauer nur schützen, was die Mehrheit, und sei es nur aufgrund tradierten Rechtsempfindens, für schützenswert erachtet. Der Verfassungskonsens bietet Schutz gegen (populistische) Stimmungen, er bedarf aber regelmäßig der Vergewisserung der Mehrheit. Weiterhin schützt die Verfassung Minderheiten nicht aufgrund eines kollektiven Minderheitenstatus, sondern den Einzelnen aufgrund seiner Eigenschaft als Grundrechtsträger.282 Darüber hinaus ignoriert der Ansatz, dass Freiheitserweiterungen fast immer mit Freiheitsverkürzungen für andere einhergehen. Dass kann im Einzelfall auch nur die Inanspruchnahme von staatlichen Leistungen sein. Aber da die Mittel des Staates niemals unbegrenzt sind, berühren Freiheitserweiterungen meist zumindest auch Fragen der Verteilungsgerechtigkeit.283 Betrachtet man zudem noch eine intertemporale Perspektive,284 ist der Freiheitsgewinn von heute nicht selten mit Freiheitsverlusten von morgen verbunden. b) Vergleichbare Interessenlage Auch wenn hier eine planwidrige Regelungslücke verneint wird, soll zumindest kurz auf die vergleichbare Interessenlage von dauerhaften homo- wie heterosexu278

So S. Pschorr/F. Spanner, Verfassungswandel messbar machen, in: P. B. Donath u. a. (Hrsg.), Verfassungen – ihre Rolle im Wandel der Zeit (2019), S. 158 ff. 279 S. Pschorr/F. Spanner, Verfassungswandel messbar machen, in: P. B. Donath u. a. (Hrsg.), Verfassungen – ihre Rolle im Wandel der Zeit (2019), S. 158 f. 280 N. Koschmieder, Grundrechtliche Dynamisierungsprozesse (2016), S. 75 f. 281 S. Rixen, JZ 2013, 864, 873. 282 K. F. Gärditz, Verfassungsgebot Gleichstellung?, in: A. Uhle (Hrsg.), Zur Disposition gestellt? (2014), S. 114 ff. 283 R. Schimmel, Eheschließungen gleichgeschlechtlicher Paare? (1996), S. 137. 284 Vgl. BVerfG, Beschluss vom 24. 03. 2021 – 1 BvR 2656/18 –, juris.

220

Kap. 3: Anwendungsbeispiel „Ehebegriff in Art. 6 Abs. 1 GG“

ellen Partnerschaften eingegangen werden. Sprechen gute Gründe für eine vergleichbare Interessenlage, ist dies ein starkes Indiz für verfassungspolitischen Reformbedarf. An dieser Stelle kommen teleologische Überlegungen zum Tragen. Befürworter der Anpassung des verfassungsrechtlichen Ehebegriffes verweisen regelmäßig primär auf die Funktionen des Eheschutzes und erkennen bei hetero- und homosexuellen Partnerschaften keine wesentlichen Unterschiede.285 Als rationale Gründe286 für den besonderen Schutz der Ehe werden regelmäßig nachfolgende Funktionen genannt: aa) Ehe als persönlicher Entfaltungsraum In seiner individualistischen, abwehrrechtlichen Dimension schütze das Ehegrundrecht die besondere Lebensgemeinschaft zweier Partner.287 Der Schutz der ehelichen Privatsphäre zeige schon begrifflich eine große Nähe zum allgemeinen Persönlichkeitsrecht, Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG.288 Art. 6 Abs. 1 GG schütze die besondere Gemeinschaft, die sich aus der rechtlich verbindlichen Paarbeziehung ergibt, und sichere ihr entsprechende Freiräume, namentlich eine „Sphäre privater Lebensgestaltung“.289 Die Verfassung anerkenne damit, dass „der Mensch als soziales Wesen die enge Gemeinschaft mit einem Partner sucht, um seine Individualität, von der geistigen Auseinandersetzung bis hin zur Sexualität, ausleben zu können“.290 Das Bedürfnis nach einer verfassungsrechtlich geschützten Privatsphäre zum Ausleben der Partnerschaft ist nicht vom Geschlecht der Partner abhängig.291 Homosexuelle Partnerschaften können genauso wie heterosexuelle für sich in Anspruch nehmen, vom Staat bei der Ausgestaltung und beim Ausleben ihrer Gemeinschaft in Ruhe gelassen zu werden.

285

F. Wollenschläger/D. Coester-Waltjen, Ehe für alle (2018), S. 70 ff. Sieht man in der durch das Grundgesetz geschützten Ehe primär einen verrechtlichten moralischen Wert, erübrigen sich Ausführungen zu einer vergleichbaren (rechtlichen) Interessenlage, vgl. dazu J. Risse, Der verfassungsrechtliche Schutz der Homosexualität (1998), S. 214 ff. 287 J. Risse, Der verfassungsrechtliche Schutz der Homosexualität (1998), S. 207; M. Burgi, Der Staat 39 (2000), 487, 495; F. Brosius-Gersdorf, in: Dreier, GG, Band I, 3. Aufl. 2013, Art. 6 Rn. 48. 288 U. Di Fabio, NJW 2003, 993, 994; J. Risse, Der verfassungsrechtliche Schutz der Homosexualität (1998), S. 207. 289 BVerfGE 107, 27, 53; U. Di Fabio, NJW 2003, 993, 994. 290 J. Risse, Der verfassungsrechtliche Schutz der Homosexualität (1998), S. 207; C. Becker, Die gleichgeschlechtliche Ehe in Deutschland (2021), S. 153. 291 J. Risse, Der verfassungsrechtliche Schutz der Homosexualität (1998), S. 208; C. Becker, Die gleichgeschlechtliche Ehe in Deutschland (2021), S. 154. 286

B. Verfassungsentwicklung

221

bb) Ehe als Beistands- und Verantwortungsgemeinschaft Der Ehe soll der besondere verfassungsrechtliche Schutz weiter aufgrund der mit ihr einhergehenden rechtlich verbindlichen gegenseitigen Verantwortungsübernahme zukommen.292 Sie wirke durch ihre verfestigte Bindung „übersteigertem Individualismus und Desozialisation“ entgegen und sei dadurch ein „gesellschaftlicher Stabilitätsfaktor“.293 Darin liege der entscheidende Unterschied der Ehe zu rechtlich weniger verbindlichen Lebensgemeinschaften.294 Sie verdiene zudem den besonderen verfassungsrechtlichen Schutz, weil sie „durch die eheliche Solidarität und Verantwortungsübernahme“ das Gemeinwesen entlaste.295 Auch diesbezüglich sei die Bezeichnung der Ehe als „Keimzelle jeder menschlichen Gemeinschaft“ berechtigt.296 Diese Funktion können Partnerschaften unabhängig von ihrer sexuellen Orientierung erfüllen. Entscheidend ist, dass es sich um eine dauerhafte und rechtlich verbindliche Verantwortungsgemeinschaft handelt. Hetero- wie homosexuelle Partnerschaften können dieser Ehefunktion entsprechend gelebt werden.297 Stellt man allein auf die Solidarfunktion der Ehe ab, sind gesellschaftlicher und individueller Mehrwert einer solchen verbindlichen Partnerschaft unabhängig vom Geschlecht der Eheleute.298 cc) Ehe als geeignete Basis für eine Familiengründung Neben der allgemein akzeptierten Funktion der Ehe als Beistands- und Verantwortungsgemeinschaft und ihrer abwehrrechtlichen Konzeption ist umstritten, inwieweit „eine Privilegierung der Ehe darauf beruht, dass aus ihr Kinder hervorgehen“299. Sehr uneinheitlich wird beurteilt, ob die Ehe auf Familiengründung angelegt ist und ob dies zwingend für die Geschlechtsverschiedenheit der Ehepartner spricht.

292 BVerfGE 124, 199, 225; C. v. Coelln, in: Sachs, GG (2021), Art. 6 Rn. 6; F. BrosiusGersdorf, in: Dreier, GG, Band I, 3. Aufl. 2013, Art. 6 Rn. 78. 293 J. Risse, Der verfassungsrechtliche Schutz der Homosexualität (1998), S. 212; L. Michael, NJW 2010, 3537, 3538. 294 F. Wollenschläger/D. Coester-Waltjen, Ehe für alle (2018), S. 71; J. Risse, Der verfassungsrechtliche Schutz der Homosexualität (1998), S. 212. 295 F. Wollenschläger/D. Coester-Waltjen, Ehe für alle (2018), S. 71; J. Risse, Der verfassungsrechtliche Schutz der Homosexualität (1998), S. 212 f. 296 M. Burgi, Der Staat 39 (2000), 487, 499. 297 BVerfGE 124, 199, 225; 131, 239, 261; F. Wollenschläger/D. Coester-Waltjen, Ehe für alle (2018), S. 71 f.; J. Risse, Der verfassungsrechtliche Schutz der Homosexualität (1998), S. 214. 298 K. F. Gärditz, Verfassungsgebot Gleichstellung?, in: A. Uhle (Hrsg.), Zur Disposition gestellt? (2014), S. 122 f.; L. Michael, NJW 2010, 3537, 3538. 299 BVerfGE 124, 199, 225.

222

Kap. 3: Anwendungsbeispiel „Ehebegriff in Art. 6 Abs. 1 GG“

In Anlehnung an systematische Erwägungen300 und die Vorgängervorschrift des Art. 119 Abs. 1 Satz 1 WRV wird der Familienbezug der Ehe betont. Die Ehe sei „möglicher Ursprung einer eigenen Generationenfolge“301 und „Keimzelle jeder menschlichen Gemeinschaft“302. Sie garantiere „nach wie vor in signifikantem Umfang […] ein ,behütetes‘ Aufwachsen von Kindern“303. Daraus leite sich ab, dass der Verfassungsgeber die Ehe als geeignete Basis für eine Familiengründung gesehen habe und sie aufgrund dieses Potentials zur Reproduktion privilegieren wollen habe.304 Die Ehe sei in ihrer Entwicklung auf Familie hin angelegt.305 Dieses Potential nicht nur zur Erziehung, sondern auch zur Erzeugung gemeinsamer Kinder verdiene den besonderen Schutz der Verfassung.306 Für das Verständnis der Ehe als Vereinigung eines Mannes und einer Frau ist nicht von Bedeutung, dass in Ehe lebende Paare und ihre Kinder rechtlich besser abgesichert sind und sich deshalb für die Familiengründung besonders eignen. Denn dies gilt für alle Familienkonstellationen, unabhängig von der Geschlechtsverschiedenheit der Ehegatten.307 Gleiches gilt nach dem Bundesverfassungsgericht für das Kindeswohl. Denn „es ist davon auszugehen, dass die behüteten Verhältnisse einer eingetragenen Lebenspartnerschaft das Aufwachsen von Kindern ebenso fördern können wie die einer Ehe“.308 Von Bedeutung kann daher allein ein teleologisches Verständnis sein, wonach der Verfassungsgeber auch auf die (natürliche) Fortpflanzungspotentialität der Ehe abgestellt habe. Die Argumente hiergegen entsprechen weitestgehend denen, die bereits im Rahmen der systematischen Auslegung diskutiert wurden.309 Am nachdrücklichsten wird aus teleologischer Sicht der Annahme einer Fortpflanzungspotentialität der Ehe entgegengehalten, dass nach dem Willen des Verfassungsgebers auch kinderlose Ehen vom Eheschutz erfasst sein sollen.310 300 301 302 303 304

Rn. 6.

Vgl. Kapitel 3 B. III. 3. a) aa). BVerfGE 126, 400, 427. BVerfGE 137, 273, 342. BVerfGE 131, 239, 260; 133, 377, 411. G. D. Gade/C. Thiele, DÖV 2013, 142, 143 f.; C. v. Coelln, in: Sachs, GG (2021), Art. 6

305 F. Wollenschläger/D. Coester-Waltjen, Ehe für alle (2018), S. 78; J. Ipsen, Ehe und Familie, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), HStR, Band VII, 3. Aufl. 2009, § 154 Rn. 15. 306 J. Ipsen, Ehe und Familie, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), HStR, Band VII, 3. Aufl. 2009, § 154 Rn. 21; C. v. Coelln, in: Sachs, GG (2021), Art. 6 Rn. 6. 307 F. Wollenschläger/D. Coester-Waltjen, Ehe für alle (2018), S. 81; K. F. Gärditz, JZ 2011, 930, 932 f.; S. Berning, Eingetragene Lebenspartnerschaft = Ehe?, in: Y. Becker/F. Lange (Hrsg.), Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (2014), S. 197. 308 BVerfGE 133, 59, 89. 309 Vgl. Kapitel 3 B. III. 3. a) aa). 310 F. Brosius-Gersdorf, NJW 2015, 3557, 3560; J. Risse, Der verfassungsrechtliche Schutz der Homosexualität (1998), S. 209 ff.; L. Michael, NJW 2010, 3537, 3538; J. Wasmuth, NJ 2017, 353, 357; K. Möller, DÖV 2005, 64, 69.

B. Verfassungsentwicklung

223

Dies verkennt allerdings die Bedeutung von Potentialität. Sieht man die Ehe als geeignete Partnerschaft an, um Nachkommen hervorzubringen, bedeutet dies nicht, dass jedes Ehepaar fortpflanzungsfähig sein muss. Anders als bei einer individuellen Überprüfung der Fortpflanzungsfähigkeit und -bereitschaft ist bei homosexuellen Paarbeziehungen abstrakt ausgeschlossen, dass aus ihnen auf natürlichem Wege Kinder hervorgehen.311 Stellt man darauf ab, dass der Verfassungsgeber eine abstrakte Reproduktionsfähigkeit vor Augen hatte, „die nicht in jedem Einzelfall vorliegen musste, die sich aber in der Verschiedengeschlechtlichkeit der Eheleute ausdrückte“312, rechtfertigt dies eine Beschränkung des Eheschutzes auf heterosexuelle Verbindungen. Voraussetzung hierfür ist, dass man dem Verfassungsgeber diese Typisierungsbefugnis zubilligt.313 Zumindest hinsichtlich der anderen Ehefunktion ist eine Typisierungsbefugnis allgemein akzeptiert. Der verfassungsrechtliche Eheschutz erlischt nicht, wenn „Ehegatten sich weder zur Freiheitsausübung befähigen noch emotionale Wärme ausströmen“.314 c) Zwischenergebnis Mangels einer planwidrigen Regelungslücke ist eine rechtsfortbildende Interpretation des Ehebegriffs ausgeschlossen. Eine „für wünschenswert gehaltene Gleichbehandlung“ begründet grundsätzlich noch keine Analogie, sondern stellt zunächst allein eine rechtspolitische Forderung dar.315 Entscheidend für eine verfassungspolitische Rechtfertigung des besonderen Schutzes für verschiedengeschlechtliche Ehegatten ist ihre natürliche Fortpflanzungsfähigkeit. Erachtet man eine natürliche Fortpflanzungspotentialität nicht (mehr) für erforderlich, verbleibt kein valider Grund, weshalb eheähnlichen homosexuellen Partnerschaften nicht derselbe verfassungsrechtliche Schutz zukommen sollte.316 Bei dieser verfassungspolitischen Entscheidung darf nicht verkannt werden, dass die Ehe nicht allein der „Verwirklichung individueller Freiheit“ dient.317 Vielmehr geht es auch um das staatliche und gesellschaftliche Bedürfnis, hinreichend funktionierende Sozialstrukturen zu schaffen und zu erhalten, die eine Gesellschaft zukunftsfähig ma-

311

F. Wollenschläger/D. Coester-Waltjen, Ehe für alle (2018), S. 83. S. Haydn-Quindeau, NJOZ 2018, 201, 205. 313 Diese Typisierungsbefugnis ablehnend J. Risse, Der verfassungsrechtliche Schutz der Homosexualität (1998), S. 210. Das Bundesverfassungsgericht hat eine Typisierungsbefugnis des einfachen Gesetzgebers verneint, vgl. BVerfGE 133, 377, 422. 314 M. Burgi, Der Staat 39 (2000), 487, 499. 315 R. Zippelius, DÖV 1986, 805, 808. 316 C. Bäcker, AöR 143 (2018), 339, 385. 317 M. Nettesheim, Auf dem Weg zur gleichgeschlechtlichen Ehe, in: M. Jestaedt/H. Suzuki (Hrsg.), Verfassungsentwicklung I (2017), S. 220. 312

224

Kap. 3: Anwendungsbeispiel „Ehebegriff in Art. 6 Abs. 1 GG“

chen.318 Die Antwort, wie die Ausgestaltung der Ehe hierzu beitragen kann, bleibt eine originär politische.

C. Ergebnis zu Kapitel 3 Der verfassungsrechtliche Begriff der Ehe in Art. 6 Abs. 1 GG wird auch nach vollständiger einfachgesetzlicher Gleichstellung von gleichgeschlechtlichen Paaren durch die Verschiedengeschlechtlichkeit der Partner konstituiert.319 Der „Ordnungskern“ der Ehe, zu dem auch die Geschlechtsverschiedenheit der Partner zählt, kann nicht durch bloßen gesellschaftlichen Wandel geändert werden.320 Der Normgeber hat dieses Merkmal, anders als beispielsweise den Familienbegriff des Art. 6 Abs. 1 GG,321 nicht für einen Wandel eröffnet.322 Er hat auf eine Definition des Ehebegriffs nicht verzichtet, „um Raum für die Rezeption sozialer Veränderungen zu schaffen, sondern weil die Verschiedengeschlechtlichkeit so selbstverständlich war, dass sie keiner expliziten Regelung bedurfte“.323 Abhilfe könnte allein eine Verfassungsänderung nach Art. 79 GG schaffen.324 Diese wäre ohne Weiteres zulässig.325 Bis dahin ist ein verfassungsrechtlicher Schutz gleichgeschlechtlicher Partnerschaften allein über die allgemeine Handlungsfreiheit in Art. 2 Abs. 1 GG und das 318 M. Nettesheim, Auf dem Weg zur gleichgeschlechtlichen Ehe, in: M. Jestaedt/H. Suzuki (Hrsg.), Verfassungsentwicklung I (2017), S. 220 f.; U. Di Fabio, NJW 2003, 993, 994; C. Seiler, Ehe und Familie – noch besonders geschützt?, in: A. Uhle (Hrsg.), Zur Disposition gestellt? (2014), S. 38 f.; J. Risse, Der verfassungsrechtliche Schutz der Homosexualität (1998), S. 209. 319 C. Bäcker, AöR 143 (2018), 339, 381 f.; C. v. Coelln, in: Sachs, GG (2021), Art. 6 Rn. 6b; F. Kramer, Über die Wandlungsfähigkeit des GG am Beispiel gleichgeschlechtlich orientierter Personen und Paare (2017), S. 177. 320 T. Würtenberger, Zeitgeist und Recht (1991), S. 228; P. Badura, in: Dürig/Herzog/ Scholz, GG (Juli 2021), Art. 6 Rn. 37; F. Kramer, Über die Wandlungsfähigkeit des GG am Beispiel gleichgeschlechtlich orientierter Personen und Paare (2017), S. 176; C. v. Coelln, NJ 2018, 1, 7. 321 Dazu F. Kramer, Über die Wandlungsfähigkeit des GG am Beispiel gleichgeschlechtlich orientierter Personen und Paare (2017), S. 178 ff. A. A. C. Gröpl/Y. Georg, AöR 139 (2014), 125, 138 ff. 322 J. Risse, Der verfassungsrechtliche Schutz der Homosexualität (1998), S. 231. 323 C. v. Coelln, NJ 2018, 1, 3. 324 C. Gröpl/Y. Georg, AöR 139 (2014), 125, 149; P. Badura, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG (Juli 2021), Art. 6 Rn. 37; C. v. Coelln, NJ 2018, 1, 3 ff.; F. Kramer, Über die Wandlungsfähigkeit des GG am Beispiel gleichgeschlechtlich orientierter Personen und Paare (2017), S. 177; J. Froese, DVBl 2017, 1152, 1154; W. Pauly, NJW 1997, 1955, 1957; K. F. Gärditz, JZ 2011, 930, 934; ders., Verfassungsgebot Gleichstellung?, in: A. Uhle (Hrsg.), Zur Disposition gestellt? (2014), S. 104; G. D. Gade/C. Thiele, DÖV 2013, 142, 151. 325 J. P. Schaefer, AöR 143 (2018), 393, 407; P. Badura, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG (Juli 2021), Art. 6 Rn. 35.

C. Ergebnis zu Kapitel 3

225

allgemeine Persönlichkeitsrecht in Art. 2 Abs. 1 GG i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG gewährleistet.326 Art. 2 Abs. 1 GG kommt damit eine „Inklusions- und Schlichtungsfunktion“ zu.327 Diesem verfassungsrechtlichen Schutz steht auch nicht die Schranke des Sittengesetzes des Art. 2 Abs. 1 GG entgegen, sofern man sie nicht ohnehin für funktionslos hält.328 Denn der entwicklungsoffen angelegte Begriff des Sittengesetzes kann die veränderte gesellschaftliche Bewertung der Homosexualität rezipieren.329 Das Leben in einer gleichgeschlechtlichen Partnerschaft ist heute kein gesellschaftlicher Sittenverstoß mehr.330 Erst eine Verfassungsänderung würde ein rechtliches Institut für gleichgeschlechtliche Partnerschaften dauerhaft absichern. Ansonsten wäre theoretisch jederzeit sogar eine vollständige Abschaffung der einfachgesetzlichen gleichgeschlechtlichen Ehe denkbar.331 Diese de constitutione lata unterschiedliche Behandlung von gleich- und verschiedengeschlechtlichen Partnerschaften kann nicht durch eine rechtsfortbildende Interpretation des Art. 6 Abs. 1 GG überwunden werden. Im „Zwischenbereich von normativer Kraft des gesellschaftlichen Wandels und normativer Kraft verfassungsrechtlicher Garantien“ ist der verfassungsändernde Gesetzgeber zuständig.332 Wahrgenommene verfassungspolitische Schwächen hat der verfassungsändernde Gesetzgeber, nicht das Bundesverfassungsgericht zu beheben.333 Der „informelle Prozess der gesellschaftlichen Meinungsbildung“ kann nicht gegen den Willen des Verfassungsgebers eine Veränderung des Grundgesetzes erzwingen, sondern ledig326 P. Badura, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG (Juli 2021), Art. 6 Rn. 55; A. Uhle, in: BeckOK, GG (47. Edition 2021), Art. 6 Rn. 4.5; R. Scholz/A. Uhle, NJW 2001, 393, 389; G. D. Gade/C. Thiele, DÖV 2013, 142, 143. Im Ergebnis auch J. P. Schaefer, AöR 143 (2018), 393, 431, der allerdings dem Bundesverfassungsgericht die Möglichkeit einräumt, dies jederzeit zu ändern und auch gleichgeschlechtliche Ehen in den verfassungsgerichtlichen Ehebegriff aufzunehmen. Es ist nicht nachvollziehbar und vor einer wie auch immer gearteten Verfassungsbindung äußerst bedenklich, dass diese Entscheidung in der Laune des Gerichts liegen soll. 327 J. P. Schaefer, AöR 143 (2018), 393, 430. 328 N. Koschmieder, Grundrechtliche Dynamisierungsprozesse (2016), S. 183; J. Risse, Der verfassungsrechtliche Schutz der Homosexualität (1998), S. 77 ff.; R. Schimmel, Eheschließungen gleichgeschlechtlicher Paare? (1996), S. 165 ff. 329 Vgl. C. Hillgruber, Ehe und Familie – vom „Verfassungswandel“ bedrohte Rechtswerte, in: M. Pulte/M. Klekamp (Hrsg.), FS Manfred Spieker (2013), S. 54. 330 N. Koschmieder, Grundrechtliche Dynamisierungsprozesse (2016), S. 183. 331 C. Görisch, Der Staat 54 (2015), 591, 601; C. Seiler, Ehe und Familie – noch besonders geschützt?, in: A. Uhle (Hrsg.), Zur Disposition gestellt? (2014), S. 56. 332 T. Würtenberger, Zu den Determinanten des Wandels von Ehe und Familie (Statement), in: R. Wahl (Hrsg.), Verfassungsänderung, Verfassungswandel, Verfassungsinterpretation (2008), S. 451; K. F. Gärditz, Verfassungsgebot Gleichstellung?, in: A. Uhle (Hrsg.), Zur Disposition gestellt? (2014), S. 113. 333 P. Lerche, Stil und Methode der verfassungsrechtlichen Entscheidungspraxis, in: P. Badura/H. Dreier (Hrsg.), FS 50 Jahre BVerfG (2001), S. 338 f.; C. Gröpl/Y. Georg, AöR 139 (2014), 125, 149. A. A. S. Berning, Eingetragene Lebenspartnerschaft = Ehe?, in: Y. Becker/ F. Lange (Hrsg.), Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (2014), S. 173 f.

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Kap. 3: Anwendungsbeispiel „Ehebegriff in Art. 6 Abs. 1 GG“

lich anstoßen.334 Denn „die Abhilfe im Fall unbefriedigender Regelungen liegt in der Änderung des Rechts für die Zukunft, nicht in seiner Außerachtlassung“.335 „Argumente de lege ferenda [dürfen nicht] als Argumente de lege lata gehandelt werden.“336 Die Verfassung ist nicht nur Abbild tatsächlicher Entwicklungen, sondern soll diese gestalten und damit Einfluss auf die Wirklichkeit nehmen.337 Andernfalls büßt sie ihre normative Wirkung ein.338 So kann gesellschaftlicher Wandel lediglich Anstoß oder Motiv für Änderungen der Verfassung sein, sie aber nicht selbst ändern.339 Dies gilt besonders in einer immer stärker pluralistischen Gesellschaft. Ein staatliches Gemeinwesen, das „eine Pluralität von Wahrheitsansprüchen“ anerkennt, lebt davon, dass nur derjenige Konsens Geltung beanspruchen kann, der in den verfassungsrechtlich vorgesehenen Verfahren zustande gekommen ist.340 Dies ist „der für eine lebendige Demokratie sehr viel fruchtbarere Weg“.341 Das Beispiel spricht auch gegen die Gefahr einer Versteinerung des Grundgesetzes. Verfassungsändernde politische Mehrheiten waren in den letzten Jahren jedenfalls nicht in aussichtsloser Ferne. Erforderlich wäre gleichwohl eine deutlich umfangreichere Überzeugungsarbeit der Befürworter der „Ehe für alle“ gewesen, die aber der grundgesetzlich für notwendig erachteten breiten demokratischen Legitimation für diesen Wertewandel zuträglich gewesen wäre. Die dabei aufgetretenen Grenzen des Anpassungsvermögens lassen keine „Versteinerung“ des Grundgesetzes (für den Bereich der Grundrechte) befürchten, sondern verwirklichen die dem Grundgesetz als Verfassung zugedachte Stabilisierungsfunktion. Das Grundgesetz mag aus Sicht progressiver Kräfte häufig zu träge sozialen Wandel aufgreifen. Ein gemeinsamer Wertekanon, eine materiale Werteordnung ist aber auch in einer auf Pluralität angelegten Demokratie für eine dauerhafte Systemstabilität unerlässlich.342

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J. Risse, Der verfassungsrechtliche Schutz der Homosexualität (1998), S. 231. D. Grimm, JZ 2009, 596, 597. 336 C. Bäcker, AöR 143 (2018), 339, 370. 337 O. Kimminich, Verfassungsgerichtsbarkeit und das Prinzip der Gewaltenteilung, in: G.-K. Kaltenbrunner (Hrsg.), Auf dem Weg zum Richterstaat (1979), S. 76; E. Benda, Die Verfassung vor den Herausforderungen moderner Technologien (am Beispiel der Rundfunkfreiheit), in: H.-P. Schneider/R. Steinberg (Hrsg.), Verfassungsrecht zwischen Wissenschaft und Richterkunst (1990), S. 5. 338 O. Kimminich, Verfassungsgerichtsbarkeit und das Prinzip der Gewaltenteilung, in: G.-K. Kaltenbrunner (Hrsg.), Auf dem Weg zum Richterstaat (1979), S. 76. 339 C. Hillgruber, Verfassungsinterpretation, in: O. Depenheuer/C. Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie (2010), S. 515, 518; K. F. Gärditz, JZ 2011, 930, 934; J. Masing, Der Staat 44 (2005), 1, 16. 340 D. Grimm, JZ 2009, 596, 597; F. Kramer, Über die Wandlungsfähigkeit des GG am Beispiel gleichgeschlechtlich orientierter Personen und Paare (2017), S. 176. 341 J. Benedict, JZ 2013, 477, 487. 342 G. Leibholz, Die Auflösung der liberalen Demokratie in Deutschland und das autoritäre Staatsbild (1933), S. 9; B. Rüthers, Rechtsordnung und Werteordnung (1986), S. 42 ff.; ders., Die unbegrenzte Auslegung (2017), S. 525. 335

C. Ergebnis zu Kapitel 3

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Ein manchmal etwas langsamer, dann aber weite Teile der Gesellschaft umfassender Wandel ist daher der Systemstabilität zuträglicher als ein von Minderheiten forcierter Wandel, gefördert durch das Bundesverfassungsgericht.

Kapitel 4

Zusammenfassung in Thesen Kapitel 1: Entgrenzte verfassungsgerichtliche Entscheidungsgewalt

(1) Die über die Zeit gewachsene, raumgreifende Machtfülle des Bundesverfassungsgerichts spiegelt sich in der Historie der verfassungsgerichtlichen Grundrechtsdogmatik wider. (2) Das Bundesverfassungsgericht hat mittels der eigenen Rechtsprechung seinen Einfluss auf den staatlichen Entscheidungsprozess bedeutend gesteigert. Dies hat unübersehbare Auswirkungen auf das Machtgefüge der Verfassungsorgane. (3) Der daraus resultierende heutige Umfang der Entscheidungsgewalt des Bundesverfassungsgerichts bedarf einer kritischen Überprüfung anhand der normativ vorgesehenen Entscheidungskompetenz. (4) Der normative verfassungsrechtliche Maßstab, an dem sich die Machtfülle des Bundesverfassungsgerichts messen lassen muss, lässt sich primär der Eigenschaft des Bundesverfassungsgerichts als Gericht sowie seiner Eingebundenheit in Demokratie und Rechtsstaat entnehmen. (5) Diese normativen Grenzen der Entscheidungskompetenz des Bundesverfassungsgerichts sind überwiegend nicht starr, sondern bedingen sich teils gegenseitig und unterliegen daher einer gewissen Dynamik. (6) Unabhängig von diesen interdependenten Grenzziehungen lässt sich feststellen, dass die Ausgestaltung der Normbindung eine zentrale Rolle spielt, wenn es darum geht, den verfassungsrechtlichen Anforderungen, speziell dem Gewaltenteilungs- und Demokratieprinzip, Rechnung zu tragen. (7) Die Normbindung statuiert eine entscheidende Grenze der Macht des Bundesverfassungsgerichts und rechtfertigt seine starke Stellung und seinen umfassenden Prüfungsumfang. (8) Der mit der starken Ausdehnung des Prüfungsumfangs in der Grundrechtsrechtsprechung einhergehende Machtzuwachs wurde bisher nicht durch eine stärker konturierte Normbindung kompensiert. (9) Die Entscheidungsgewalt des Bundesverfassungsgerichts übersteigt bei loser Normbindung die ihm verfassungsrechtlich zugewiesene Kompetenz.

Kap. 4: Zusammenfassung in Thesen

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(10) Die wiederkehrend diskutierten Konzepte zur Begrenzung der verfassungsgerichtlichen Entscheidungsgewalt wie „judicial self-restraint“, „PoliticalQuestion-Doktrin“, „funktionell-rechtliche Grenzen“ sowie die „Rechtsdogmatik“ können die Einhaltung des normativen kompetenziellen Maßstabs nicht gewährleisten. (11) Die Lösung ist nicht in der Einführung höherer Zugangshürden oder im Zurückdrängen des verfassungsgerichtlichen Prüfungsumfangs zu suchen, sondern in der Beschränkung der verfassungsgerichtlichen Entscheidungsmöglichkeiten. (12) Entscheidungsspielräume des Bundesverfassungsgerichts werden durch eine stärkere Akzentuierung der Normbindung limitiert. (13) Die Festlegung auf ein verbindliches Interpretationsverständnis ist der Schlüssel zu einer stärkeren Normbindung. Sonst bestehen faktisch keine Grenzen, ein gewünschtes Ergebnis rechtlich zu begründen. (14) Die Grenze der Verfassungsinterpretation markiert immer auch die Kompetenzgrenze der Verfassungsgerichtsbarkeit. Kapitel 2 Begrenzung der Entscheidungsfindung mittels Interpretationsmethode

(15) Theoretische Vorfragen (Mehrdeutigkeit von Sprache, Vorverständnis, Zirkularität des verfassungsrechtlichen Methodenstreits, Gesetzescharakter des Grundgesetzes) stehen einem methodenbasierten Begrenzungsansatz nicht grundsätzlich entgegen. (16) Der Auslegungsvorgang muss nach seinem Ziel und seinen Mitteln unterschieden werden, um die Bedeutung des Normgeberwillens für die Methodendiskussion fruchtbar zu machen. (17) Die juristische Gretchenfrage im Rahmen der Anwendung der klassischen Kanones ist, ob Ziel der Auslegungsmittel die Suche nach dem Willen des Normgebers (subjektive Auslegungstheorie) oder einem davon losgelösten, dem Gesetz innewohnenden Willen (objektive Auslegungstheorie) ist. (18) Das Bundesverfassungsgericht vertritt, seinen Obersätzen und seiner konkreten Handhabung nach zu urteilen, derzeit im Methodenstreit eine offene, pragmatische Grundhaltung. (19) Die objektive Auslegungstheorie ist berechtigter Kritik ausgesetzt: willkürliche Gerechtigkeit, fehlende Legitimationsvermittlung, keine Ergebniskontrolle, unzureichende Normbindung, historischer Missbrauch. (20) Eine rechtsvergleichende Perspektive kann nur auf sehr abstrakter Ebene impulsgebend sein, da die verfassungstheoretischen Prämissen und Positionen zu unterschiedlich sind und die US-amerikanische Methodendiskussion zu sehr von politischen Präferenzen überlagert wird.

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Kap. 4: Zusammenfassung in Thesen

(21) Eine verfassungskonforme Methodenkonzeption muss zuvörderst den Normgeberwillen zur Geltung bringen und insbesondere die fehlende Dialogmöglichkeit zwischen verfassungsänderndem Gesetzgeber und Bundesverfassungsgericht sowie die Schranken des Art. 79 GG berücksichtigen. (22) So undurchsichtig die Methodendiskussion in all ihren Facetten teils nicht nur erscheint, sondern auch ist, so lässt sich dennoch eine methodisch stärkere Fokussierung des Bundesverfassungsgerichts auf den Willen des Verfassungsgebers beziehungsweise des verfassungsändernden Gesetzgebers beschreiben und begründen. (23) Die determinierende Kraft der juristischen Methode ist niemals absolut, sie trägt mit der hier vertretenen Fokussierung auf den Normgeberwillen aber zu der verfassungsrechtlich gebotenen Begrenzung der Entscheidungsgewalt des Bundesverfassungsgerichts bei. (24) Einer verfassungskonformen Interpretationsmethode mit dem Ziel, den Normgeberwillen herauszuarbeiten und zu beachten, stehen keine unüberwindbaren konstruktiven Hindernisse entgegen. (25) Die Auslegungsmittel ermöglichen in der weit überwiegenden Anzahl von Fällen auf einem in weiten Teilen objektivierbaren Weg, den Willen des Verfassungsgebers beziehungsweise verfassungsändernden Gesetzgebers zu ermitteln. (26) Die Entwicklungspotentiale der Verfassung durch Verfassungsinterpretation und formelle Verfassungsänderungen sind auch bei einer am Normgeberwillen orientierten Interpretation ausreichend gegeben. (27) Die positiven Signale in der jüngeren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hin zu der hier vertretenen verfassungskonformen Methodenkonzeption machen Hoffnung, dass Methodenbewusstsein und -sensibilität nicht als lästige Theorie, sondern als wirksame Grenze der dem Gericht übertragenen Macht angesehen werden. Kapitel 3: Anwendungsbeispiel „Ehebegriff in Art. 6 Abs. 1 GG“

(28) Die theoretisch erarbeitete Methodenkonzeption und damit das Verhältnis von Methode und Kompetenzgrenze des Bundesverfassungsgerichts bedarf der Erprobung an einem konkreten Beispiel. (29) Besonders gut eignet sich hierfür der Ehebegriff in Art. 6 Abs. 1 GG, weil sich die gesellschaftlichen Einstellungen zu Ehe und Familie in den letzten 70 Jahren tiefgreifend verändert haben und die verfassungsrechtliche Diskussion zu den Strukturmerkmalen der Ehe im Sinne von Art. 6 Abs. 1 GG nach der zivilrechtlichen Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare umfassend aufgearbeitet ist. (30) Die Charakterisierung der Ehe als einzig legitime Lebensgemeinschaft von Mann und Frau hat sich genauso wie die gesellschaftliche Bewertung homosexuellen Verhaltens fundamental geändert. Die Anerkennung gleichgeschlechtlicher Le-

Kap. 4: Zusammenfassung in Thesen

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benspartnerschaften hat nach der strafrechtlichen Verfolgung und Stigmatisierung bis zum Ende des letzten Jahrhunderts ihren vorläufigen Schlusspunkt in der einfachgesetzlichen Einführung der „Ehe für alle“ gefunden. (31) Das Bundesverfassungsgericht hat bisher in ständiger Rechtsprechung die von Anfang an benannten Strukturmerkmale der Ehe im Sinne des Art. 6 Abs. 1 GG trotz allen gesellschaftlichen Wandels bestätigt. Zu diesen konstitutiven Strukturmerkmalen zählt es auch die Verschiedengeschlechtlichkeit der Ehepartner. (32) Die Senatsrechtsprechung stellte sich der einfachgesetzlichen Aufwertung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften nicht entgegen, sondern forderte sie nach Einführung der eingetragenen Lebenspartnerschaft bis zur nahezu vollständigen Angleichung ein. Den sozialen Wandel bewältigte das Gericht allein durch eine Anpassung der Maßstäbe der Gleichheitsprüfung des Art. 3 Abs. 1 GG. (33) Die Besonderheit des Ehegrundrechts als Institutsgarantie bringt es mit sich, dass der verfassungsrechtliche Begriff der Ehe autonom von der einfachgesetzlichen Ausgestaltung zu interpretieren ist. (34) Wortlaut sowie Historie, Entstehungsgeschichte und Materialien streiten dafür, dass der Verfassungsgeber die Ehe allein als Verbindung von Mann und Frau verstanden hat. Systematische Erwägungen lassen demgegenüber keine eindeutigen Rückschlüsse auf den Willen des Verfassungsgebers zu. (35) Einer rechtsfortbildenden Interpretation des verfassungsrechtlichen Ehebegriffs steht der klare Wille des Verfassungsgebers entgegen. Verfassungspolitischer Reformbedarf besteht, sofern man die (potentielle) natürliche Fortpflanzungsfähigkeit der Ehepartner für nicht (mehr) notwendig erachtet. Dies ist eine originär politische Entscheidung. (36) Bis zu einer ohne Weiteres zulässigen Verfassungsänderung nach Art. 79 GG setzt der Ehebegriff in Art. 6 Abs. 1 GG die Verschiedengeschlechtlichkeit der Ehepartner voraus. Ein wie auch immer beschaffener sozialer Wandel kann diese Definition auch zukünftig nicht ändern, sondern nur Anstoß und Begründung einer Reform des Grundgesetzes sein. (37) Das herausgearbeitete Methodenverständnis verwirklicht die dem Grundgesetz als Verfassung zugedachte Stabilisierungsfunktion, lässt aber keine versteinerte Werteordnung befürchten. Es ist damit Basis für eine gelingende pluralistische Gesellschaft.

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Sachwortverzeichnis Analogie 144 ff., 216 Auslegung 97 Auslegungstheorie 113 ff. Auslegungsziel 109 f. Demokratieprinzip 52 ff., 131 Dialogmöglichkeit 132 f. Ehe 186 f., 204 ff. Entscheidungskompetenz 24 f., 90 f. Familienbegriff 200, 207, 209 Gerichtsförmigkeit 38 ff., 86 Gewaltenteilung 61 ff. Grundrechte 25 ff. Homosexualität 165, 188 f. Interpretation 97 Judicial self-restraint 79 ff., 171 Konkretisierung 97

Materialien 142, 153 ff., 213 ff. Methode 95 ff., 137 ff. Methodenstreit 110 ff. Normgeberwille 78, 90 f., 97 ff., 131, 149, 152 ff. Political-Question-Doktrin 81 ff., 171 Rechtsfortbildung 98 Rechtsstaatsprinzip 59 ff. Sozialer Wandel 163 ff., 185 USA 79 f., 81, 123 ff. Verfassungsänderung 133 f.,166 ff., 176 ff. Verfassungsentwicklung 166 ff. Verfassungstheorie 22 Verfassungswandel 169 ff. Verhältnismäßigkeitsprinzip 33 f. Werteordnung 26 ff. Wortlaut 139 f., 206