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German Pages [500] Year 2015
Jugendbewegung und Jugendkulturen Jahrbuch
herausgegeben von Meike Sophia Baader, Karl Braun, Wolfgang Braungart, Eckart Conze, Gudrun Fiedler, Alfons Kenkmann, Rolf Koerber, Dirk Schumann, Detlef Siegfried, Barbara Stambolis für die »Stiftung Jugendburg Ludwigstein und Archiv der deutschen Jugendbewegung«
Jahrbuch 11 j 2015
»Jugendbewegung und Jugendkulturen. Jahrbuch« ist die Fortsetzung der Reihe »Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung«. Die Bandzählung wird fortgeführt.
Eckart Conze / Susanne Rappe-Weber (Hg.)
Ludwigstein Annäherungen an die Geschichte der Burg
Mit zahlreichen Abbildungen
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-8471-0470-4 ISBN 978-3-8470-0470-7 (E-Book) ISBN 978-3-7370-0470-1 (V& R eLibrary) Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de Ó 2015, V& R unipress GmbH, Robert-Bosch-Breite 6, 37079 Göttingen / www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Titelbild: Unter Verwendung eines Entwurfs von Andreas Bohn, Neue Linie, Frankfurt a. M. Druck und Bindung: CPI buchbuecher.de GmbH, Zum Alten Berg 24, 96158 Birkach Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.
Inhalt
Eckart Conze, Susanne Rappe-Weber Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Herrschaft – Arbeit und Leben – Region (15.–19. Jahrhundert) G. Ulrich Großmann Die Burg Ludwigstein aus der Perspektive der Burgenforschung
. . . . .
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. . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Sven Bindczeck Die Konduktoren auf Burg Ludwigstein . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Sven Bindczeck Die Bewohner und Lebensbedingungen in der frühneuzeitlichen Burg Ludwigstein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Susanne Rappe-Weber Nahaufnahme – Arbeit und Leben im Tagebuch des Ludwigsteiner Domänenpächters Johan Adam Schönewald (1807–1811) . . . . . . . . .
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Jochen Ebert Vom fürstlichen Amtsgut zum landwirtschaftlichen Pachtbetrieb. Das Domänengut Ludwigstein-Wendershausen (1574–1866) . . . . . . . . . .
67
Karl Kollmann Die Wahrnehmung der Burg Ludwigstein aus Eschweger Sicht
97
Sven Bindczeck, Dieter Wunder Die Amtmänner auf Burg Ludwigstein
. . . . . .
6
Inhalt
Dieter Wunder Der Adel an der Werra 1500–1800 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 Alexander Jendorff Reformation und Konfessionalisierung im Werra-Weser-Gebiet: drei Miniaturen zu einem Adelsereignis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 Karl Murk Herrschaftsvermittlung am »Werrastrom«. Die Landesvisitationen von 1667 und 1746 im Amt Ludwigstein, in Witzenhausen und den adligen Gerichtsbezirken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 Abbildungen
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189
Die Jugendburg (20. Jahrhundert) Eckart Conze Der Ludwigstein – Annäherungen an die Geschichte der Burg im 20. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 Werner Troßbach Der Überfall auf den Brith Ha’olim / Jungjüdischer Wanderbund in Wendershausen am 4./5. August 1931 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 Claudia Selheim Erich Kulke (1908–1997): Wandervogel, Volkskundler, Siedlungsplaner und VJL-Vorsitzender . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 Jürgen Reulecke »Wo stehen wir?« – Der Freideutsche Kreis 1947/1948: Von Altenberg zum Ludwigstein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 Lukas Möller »Komm und reihe Dich ein!« – Die Jugendburg Ludwigstein von 1945 bis 1956 aus der Perspektive Hermann Schaffts . . . . . . . . . . . . . . . . 289 Wolfgang Hertle Friedensinitiativen auf Burg Ludwigstein – Grenzüberschreitungen und das internationale Grenztreffen der War Resisters’ International 1951 . . 301
Inhalt
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Ullrich Kockel Die Deutsche Jugend des Ostens und die Burg Ludwigstein (1951–1975) . 313
Weitere Beiträge Tomsˇ Kasper Lebenserneuerung – Karl Metzners Erziehungsprogramm für den Deutschböhmischen Wandervogel und die Freie Schulgemeinde Leitmeritz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337 Ulrich Linse Walther G. Oschilewski (1904–1987) als sozialistischer Historiker der Jugendbewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361 Günter C. Behrmann »Sie betreiben Trockenübungen«. Ein offener Brief an Christian Niemeyer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 389
Werkstatt Maria Daldrup, Elija Horn Jugendbewegungsforschung im Archiv der deutschen Jugendbewegung . 407 Elija Horn Orientalismus und Exotisierung in Texten zur Indienfahrt des Nerother Wandervogel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 413
Rezensionen Christian Niemeyer : Die dunklen Seiten der Jugendbewegung. Vom Wandervogel zur Hitlerjugend, Tübingen 2013 (Dirk Schumann) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 421 Gideon Botsch, Josef Haverkamp (Hg.): Jugendbewegung, Antisemitismus und rechtsradikale Politik. Vom »Freideutschen Jugendtag« bis zur Gegenwart (Europäisch-Jüdische Studien. Beiträge 13), Berlin, Boston 2014 (Justus H. Ulbricht) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 425
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Inhalt
Wolfgang Keim, Ulrich Schwerdt (Hg.): Handbuch der Reformpädagogik in Deutschland (1890–1933), Teil 1: Gesellschaftliche Kontexte, Leitideen und Diskurse, Teil 2: Praxisfelder und pädagogische Handlungssituationen, Frankfurt a. M. 2013 (Paul Ciupke) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 429 Benno Hafeneger : Beschimpfen, bloßstellen, erniedrigen: Beschämung in der Pädagogik, Frankfurt a. M. 2013 (Rolf Koerber) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 433 Peter Dudek: »Wir wollen Krieger sein im Heere des Lichts«. Reformpädagogische Landerziehungsheime im hessischen Hochwaldhausen 1912–1927, Bad Heilbrunn 2013 (John Khairi-Taraki) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 437 Karin Stoverock: Musik in der Hitlerjugend. Organisation, Entwicklung, Uelvesbüll 2013 (Matthias Kruse) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 441 Günter Brakelmann: Kreuz und Hakenkreuz. Christliche Pfadfinderschaft und Nationalsozialismus in den Jahren 1933/1934, Kamen 2013 (Barbara Stambolis) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 445 Jonas Kleindienst: Die Wilden Cliquen Berlins. »Wild und frei« trotz Krieg und Krise. Geschichte einer Jugendkultur, Frankfurt a. M. 2011 (Kurt Schilde) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 449 Martin Schaad: Die fabelhaften Bekenntnisse des Genossen Alfred Kurella. Eine biografische Spurensuche, Hamburg (Hans-Ulrich Thamer) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 453 Helmut König (Hg.): Pitters Lieder. Die Lieder von Peter Rohland. Im Auftrag der Peter Rohland Stiftung herausgegeben, Baunach 2014 (Rolf Koerber) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 457 Doris Werheid: »glaubt nicht, was ihr nicht selbst erkannt«. Eine autonome rheinische Jugendszene in den 1950/60er Jahren, Stuttgart 2014 (Barbara Stambolis) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 459
Inhalt
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Traugott Jähnichen, Uwe Kaminsky, Dimitrij Owetschkin (Hg.): Religiöse Jugendkulturen in den 1970er und 1980er Jahren. Entwicklungen – Wirkungen – Deutungen (Veröffentlichungen des Instituts für soziale Bewegungen, Schriftenreihe A: Darstellungen 58), Essen 2014 (Barbara Stambolis) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 463
Rückblicke Barbara Stambolis Jugendbewegt geprägt »gegen den Strom der Zeit …« In memoriam Arno Klönne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 469 Susanne Rappe-Weber Aus der Arbeit des Archivs. Tätigkeitsbericht für das Jahr 2014 . . . . . . 479 Im Archiv eingegangene Bücher des Erscheinungsjahres 2014 und Nachträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 485 Wissenschaftliche Archivnutzung 2014 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 489
Anhang Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 493 Abbildungsnachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 499
Eckart Conze, Susanne Rappe-Weber
Einführung
Ludwigstein – das mittelalterliche Bauwerk in exponierter Lage über der Werra zieht seit seiner Gründung vor 600 Jahren die Blicke der Reisenden auf sich. Wurden in den ersten Jahrhunderten Macht und Herrschaft mit dem Gebäude verbunden, so änderte sich das seit dem 19. Jahrhundert zugunsten des Empfindens von altertümlicher Aura und Schönheit. Diese allgemein positive Wahrnehmung schlug sich im aufkommenden Wander-Tourismus auch im Werratal nieder und ließ sich seit 1920 für den Ausbau zu einer Jugendburg nutzen, die seitdem eine Vielzahl von Besuchern und Gästen anzieht. An einer Beschäftigung mit der Geschichte des Ortes hat es nicht gefehlt; einzelne Texte liegen dazu vor, überwiegend in knapper Form. Das Hauptinteresse galt aber über lange Zeit – gefördert durch das 1922 gegründete Archiv der deutschen Jugendbewegung – der Rolle der Burg in der Geschichte der deutschen Jugendbewegung im 20. Jahrhundert, ihrer Ideen- und Organisationsgeschichte sowie, in direkter Nachbarschaft, der Geschichte von Reformbewegungen und Reformpädagogik. Dazu wurden Quellen gesammelt und erforscht, Tagungen, Ausstellungen und Publikationen erarbeitet. Dagegen mangelt es bislang an einer gründlichen Auseinandersetzung mit der Entwicklung und Nutzung der Burg Ludwigstein in der Frühen Neuzeit in ihrem regionalen und territorialen Umfeld ebenso wie auch an einem Ansatz, um die spezielle Burggeschichte in die allgemeinere Geschichte der Jugendbewegung zu integrieren bzw. für diese fruchtbar zu machen. Zu beiden Aspekten, der älteren wie der jüngeren Burggeschichte, werden in diesem Band neue Forschungen aus unterschiedlichen Disziplinen vorgestellt, die das bisherige Wissen auf dem Weg einer »Annäherung« erweitern, vertiefen oder auch korrigieren können. Das 600-jährige Jubiläum der Ersterwähnung des »ludwygesteyn« in einer Schultheißenrechnung vom 4. Juli 1415 bot im März 2014 den Anlass für ein Symposium, um die bisher meist lineare Deutung der älteren Burggeschichte als Verfallsgeschichte zu diskutieren und in Frage zu stellen.1 Gemeint ist die gän1 An der Diskussion am 12. März 2014 im Archiv der deutschen Jugendbewegung beteiligten
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Eckart Conze, Susanne Rappe-Weber
gige Erzählung, derzufolge die Burg Ludwigstein bereits zum Zeitpunkt ihrer Errichtung auf dem Zenit ihrer Bedeutung gestanden habe: vom hessischen Landgrafen gewollt, strategisch in die territorialen Machtkonflikte innerhalb des Reiches eingebunden, für eine Weile bewohnt von honorigen Familien, die mit der Landesherrschaft eng verbunden waren und inmitten der politischen Entwicklungen im Werraraum standen. Wegen ihrer ungünstigen Lage abseits von Dorf und Stadt sei die Burg aber bald kaum noch genutzt worden, Amtssitz und Domänenbetrieb seien nach und nach verlagert worden; die Burg sei dann in eine Art Dornröschenschlaf verfallen, aus dem sie erst der Wandervogel wieder zum Leben erweckt habe. So zutreffend damit einige historische Ereignisse in groben Zügen in einen kausalen Zusammenhang gebracht werden, vermittelt doch die Vielfalt der überlieferten Quellen ein differenzierteres Bild, wenn diese für die Jahrhunderte zwischen 1400 und 1900 aus den Perspektiven der Burgenforschung, der Adels-, Agrar- oder Regionalgeschichte analysiert werden. Schon eine Autopsie des erhaltenen Baubestandes in Verknüpfung mit den Ergebnissen der zu Beginn des 17. Jahrhunderts einsetzenden Burgenforschung, wie sie G. Ulrich Großmann vornimmt, klärt über das frühe Interesse an der Burg und deren mindestens 200 Jahre andauernden Ausbau auf. Als Amtssitz an der Grenze bot sie den hessischen Landgrafen die Möglichkeit, gegenüber konkurrierenden Herrschaften innerhalb und außerhalb des eigenen Territoriums Präsenz zu zeigen und Ansprüche durchzusetzen. Eine Voraussetzung dafür war aber, dass niemandem ein erblicher, dauerhafter Besitz an Burg, Amt und dem damit verbundenen Wirtschaftsbetrieb zugestanden wurde. Insgesamt 22 adlige und nichtadlige Amtmänner versahen zwischen 1416 und 1663 im Auftrag der Landgrafen das Amt. Ihre regionale Herkunft, die Art des Erwerbs und ihre sonstigen Dienste rückten die Burg von der Grenze aus unterschiedlich nah an die Zentren der Landgrafschaft, wie die von Sven Bindczeck und Dieter Wunder unter Berücksichtigung aller erreichbaren Quellen angefertigte Übersicht zu den Ludwigsteiner Amtmännern nachweist. Abgestimmt auf die Bedürfnisse der häufig wechselnden, zunächst adligen Besitzer kam es in diesem Zeitraum ständig zu Erweiterungen und Renovierungen. Wie intensiv diese ausfielen, hing insbesondere davon ab, ob und für wie lange Zeit sich das jeweilige Herrschaftspaar mit seiner Familie und Gesinde tatsächlich auf der Burg ansiedelte oder seinen Wohnsitz außerhalb der Burg beibehielt. Im Beitrag von Sven Bindczeck werden diese Phasen anhand der Amtsrechnungen genau nachgezeichnet. Noch am Ende des 18. Jahrhunderts war die Burg voller Menschen, die dort lebten und ihr Auskommen überwiegend in den Diensten der Domäne fanden. Aus der Zeit des Pächters Johann Adam Schönewald hat sich sich neben den Autoren dieses Bandes, mit Ausnahme von Herrn Dr. Karl Murk, auch Frau Prof. Dr. Heide Wunder, Frau Dr. Uta Löwenstein sowie Herr Prof. Dr. Holger Gräf.
Einführung
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ein Tagebuch (1807–1811) erhalten, das – aus der Feder des »Conductors« – ein ungewöhnlich dichtes Bild seiner auf engen familiären, kollegialen und freundschaftlichen Verbindungen basierenden Tätigkeit in Haus- und Landwirtschaft zeichnet, so die Perspektive von Susanne Rappe-Weber. In Schönewalds Zeit hatte sich der Pachtbetrieb bereits weitgehend aus der Eigenwirtschaft des Amtes herausgelöst. Den Übergang zwischen beiden Bewirtschaftungsformen, aber auch die verbleibenden Bindungen etwa in der Beibehaltung der Dienste, analysiert Jochen Ebert in seinem Beitrag. Dabei werden durch den Vergleich mit anderen Amts- bzw. Domänenwirtschaften die Charakteristika des Betriebes Ludwigstein-Wendershausen, der 1585 zu den zehn größten der Landgrafschaft zählte, verdeutlicht. Während sich die Einbindung von Burg, Amt und Domänenwirtschaft Ludwigstein in das regionale Umfeld von Witzenhausen und Allendorf unmittelbar erschließt, zeigt die Perspektive aus der knapp 20 Kilometer entfernten Stadt Eschwege deren Grenzen. Karl Kollmann stellt die nur sporadischen Kontakte dar, die sich erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts durch die Umwidmung zu einer Jugendburg intensivierten. Während die Burg für die Landesherrschaft die territoriale Grenze Richtung Osten und Norden markierte, stellte sie in den Familien des regionalen Adels des Werraraums über Jahrhunderte vor allem eine Option für eine standesgemäße Lebensführung dar. Ausgehend von dem Fall Ludwigstein setzt sich Dieter Wunder mit den strategischen Überlegungen auseinander, die bei der Vergabe bzw. Annahme eines finanziell attraktiven Amtes seitens der landadligen Geschlechter einerseits und der Landgrafen andererseits zur Geltung kamen. Sein weitergehendes Interesse richtet sich auf die Gemeinsamkeiten des Werraadels, die er anhand fünf verschiedener Adelsfamilien im Hinblick auf deren ausgeprägte Mobilität und weitere Merkmale überprüft. Gerade in der Reformationszeit boten sich für den ländlichen Adel Chancen, seine Eigenständigkeit von den Landesherrschaften gegenüber den eigenen Untertanen zu demonstrieren. Wie das im Umfeld der Burg Ludwigstein in der Werra-Weser-Region die adligen Geschlechter Boyneburg in der Landgrafschaft Hessen, Hanstein im Erzbistum Mainz und Adelebsen im Fürstentum Calenberg genutzt haben, zeigt Alexander Jendorff auf. Dagegen fragt Karl Murk nach der Praxis der Herrschaftsausübung im Amt Ludwigstein-Witzenhausen, das seit 1627 zur Rotenburger Quart gehörte und damit neben der Kasseler Oberhoheit den Landgrafen von HessenRheinfels-Rotenburg als unmittelbaren Herrschaftsträgern verpflichtet war. In der Zusammenschau der Aufsätze tun sich weitere Fragen zur historischen Wirklichkeit der Burg, ihrer Bewohner und ihres Umfeldes auf; längst nicht alle aufgefundenen Quellen konnten abschließend ausgewertet werden. Vielmehr eröffnen sie ganz neue Wege zur weiteren Annäherung an die alte Geschichte der Burg Ludwigstein. Das gilt in anderer Weise auch für ihre jüngere Geschichte, die, in ersten
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Eckart Conze, Susanne Rappe-Weber
Annäherungen, Gegenstand der Jahrestagung des Archivs der deutschen Jugendbewegung im Oktober 2014 war. Die Gründung der Jugendburg und die zwölf Jahre ihrer Nutzung in der Weimarer Republik, die auf das engste mit der sich weiter ausbreitenden Jugendbewegung verknüpft waren, sind vorwiegend im Zuge der Selbsthistorisierung der Jugendbewegung in zahlreichen Publikationen beschrieben und gedeutet worden. Diese Perspektive müsse aber erweitert werden und die Jahrzehnte seit 1933 bzw. 1945 bedürften zudem weiterer, quellengestützter Untersuchung, wie Eckart Conze in seinem einführenden Text zu den Konturen einer Burggeschichte im 20. Jahrhundert ausführt. So wurde das regionale Umfeld der Jugendburg, die sich in den 1920er-Jahren als überbündischer Begegnungsort zu etablieren begonnen hatte, schon vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten von einem sich verstärkenden, offen militanten und gewaltbereiten Antisemitismus geprägt. Das verdeutlicht die Untersuchung von Werner Trossbach zu einem maßgeblich von Schülern der Deutschen Kolonialschule in Witzenhausen begangenen brutalen Überfall auf ein jüdisches Jugendlager, das 1931 in Wendershausen an der Werra stattfand. Einen biographischen Blick, der nur einen Anfang macht und dem viele weitere biographisch-lebensgeschichtliche Studien folgen müssten, auf die zum Teil große Nähe der mit der Burg verbundenen Wandervögel, Freideutschen und Bündischen zum Nationalsozialismus, unternimmt Claudia Selheim am Beispiel des Wandervogels und Siedlungsplaners Erich Kulke (1908–1997), der seine »deutschbetonten« Überzeugungen nahezu bruchlos im NS-Regime wie auch in der Nachkriegszeit beruflich und als Vorsitzender der Vereinigung Jugendburg Ludwigstein einbringen konnte. In welcher Weise sich der generationell und über die Jugendbewegung verbundene sogenannte Freideutsche Kreis unmittelbar nach dem Krieg erschüttert und beschämt über die Rolle vieler Angehöriger der Jugendbewegung in der Zeit des Nationalsozialismus zeigte, stellt Jürgen Reulecke heraus, wobei sich die Aktivitäten der Freideutschen Kreise dann zunehmend auf eine Teilhabe am demokratischen Aufbau richteten. Einer der aus der NS-Zeit »unbelastet« hervorgegangenen Freideutschen war der Kasseler Theologe Hermann Schafft (1883–1959). Der überzeugte Demokrat verurteilte das Auftreten nationalistischer und völkischer Gruppierungen auf der Jugendburg in den 1950er-Jahren sehr klar, sprach sich aber dennoch als Vorsitzender der Vereinigung Jugendburg Ludwigstein für einen toleranten Umgang miteinander aus, wie Lukas Möller hervorhebt. Anlass dazu mögen auch Kontakte der Jugendburg zu pazifistischen Kreisen gegeben haben, die als Kriegs- und Kriegsdienstgegner 1951 einen großen Kongress unter internationaler Beteiligung auf dem Ludwigstein veranstalteten; die Haupt-Organisatoren waren vor 1933 Angehörige der bündischen Jugend und fühlten sich nach 1945 weiterhin mit der Jugendburg verbunden, wie die Recherchen von Wolfgang Hertle belegen. Die Verwurzelung der
Einführung
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Erwachsenengeneration in der Jugendbewegung war für die Verbände der Vertriebenenjugend der Hauptgrund, nach NS-Zeit, Krieg und Vertreibung die Burg Ludwigstein räumlich in den Mittelpunkt ihrer Arbeit zu stellen und schließlich 1951 als Gründungsort für den Gesamtverband DJO (Deutsche Jugend des Ostens) zu wählen. Gerade die Untersuchung dieses heterogenen Verbandes, so Ullrich Kockel, eigne sich in besonderer Weise, um die gesellschaftliche Entwicklung in der Bundesrepublik besser zu verstehen. Diese spiegelt sich in vielen Facetten und mehr als nur anekdotenhaft auch in der Geschichte der Burg Ludwigstein. Das unterstützt Conzes Forderung nach einer »Burggeschichte in der Erweiterung«, welche die den Ort nutzenden und prägenden Personen und Gruppen stärker in die historische Erforschung einbeziehen müsste. Auch deshalb verstehen sich die »Annäherungen« insbesondere für die Zeit nach 1945 als Anstoß für künftige Untersuchungen. Weitere Beiträge, Werkstattberichte, Rezensionen und Rückblicke auf die Archivarbeit im Jahr 2014 runden den Band in bewährter Weise ab.
Herrschaft – Arbeit und Leben – Region (15.–19. Jahrhundert)
G. Ulrich Großmann
Die Burg Ludwigstein aus der Perspektive der Burgenforschung
Forschungsgeschichte Die Geschichte der intensiveren Erforschung der Burg Ludwigstein setzte spätestens im frühen 19. Jahrhundert ein, als Georg Landau 1839 die Burg beschrieb und ihre historische Entwicklung darstellte. Die erste literarische Erwähnung erfolgte aber bereits in der »Hessischen Chronica« von Wilhelm Dilich (1605).1 Den von ihm abgebildeten Kupferstich kopierte Matthäus Merian in der »Topographia Hassiae« 1646.2 Der Text dazu ist deutlich ausführlicher als bei Dilich, schildert Lage und Funktion der Burg als Grenzfeste gegen den Hanstein und als Wirtschaftszentrum. Bemerkenswert ist der Hinweis auf die Gründungssage – zur Zeit Ludwigs sei die Burg »durch hülffe deß Teuffels und der schwarzen Kunst in einer Nacht auffgebauet worden«. Und an einer äußeren Ecke sehe man noch »gegen dem Hause Hanstein / einen grossen Monstrosischen abscheulichen Kopff, und seltsames Gesichte, in Stein gehauen, welches deß geschwinden Baumeisters Ebenbild seyn solle«. Der Hinweis auf die Sage der schnellen Erbauung fehlt in der Folge in keiner Publikation, weder in Winkelmanns Beschreibung von Hessen3, noch bei Landau, noch in den rezenten Führern, aber immer mit dem Hinweis darauf, dass es sich um eine Legende handele. Teuthorn diskutiert in der »Geschichte der Hessen« eine Entstehung der nach Ludwig benannten Burgen im Jahre 1456 statt bereits 1415.4 Regnerus Engelhard liefert in der »Erdbeschreibung der Hessischen Lande Casselischen Antheiles« 1 Wilhelm Scheffer gen. Dilich: Hessische Chronica, Cassel 1605, S. 140 (und Tafel nach S. 140); vgl. auch Faksimile, hg. von Wilhelm Niemeyer, Kassel und Basel 1961. 2 [Matthäus Merian]: Topographia Hassiae et Regionum vicinarum, Frankfurt 1646, 2. vermehrte Auflage 1655, S. 100, hier Tafel nach S. 150. Vgl. auch Faksimile der 2. Auflage, hg. von Wilhelm Niemeyer, Kassel 1966. 3 Johann Just Winkelmann: Gründliche und warhafte Beschreibung der Fürstenthümer Hessen und Hersfeld, Bremen 1607, S. 307f. 4 Georg Friedrich Teuthorn: Ausführliche Geschichte der Hessen, 7. Bd., Biedenkopf 1776, S. 275–278.
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G. Ulrich Großmann
von 1778 eine Beschreibung von »Schloß Ludewigstein«, bei der er alle Daten und Aussagen durch Literaturhinweise nachweist.5 Zu den frühen Chronisten gehört auch Johann Philipp Kuchenbecker, der für das Jahr 1404 die Behauptung aufstellt, Landgraf Ludwig habe im Wald ein Haus zimmern und bei Nacht auf dem Berg unweit Witzenhausens aufschlagen lassen und zwar als Gegengründung gegen den Hanstein.6 Der Ludwigstein ist somit in der barocken Literatur weit häufiger erwähnt als die meisten anderen Burgen Hessens und damit ein Beispiel für die frühe Burgenforschung generell. Thema romantischer Darstellungen war der Ludwigstein schon um 1800. Ein Aquarell in der Sammlung von Botho Graf zu Stolberg-Wernigerode zeigt das Werratal und die Burgen Ludwigstein und Hanstein vermutlich um 1800. Die Burg ist noch mit den 1862 abgebrochenen Nebengebäuden dargestellt; Kutsche und Reisende tragen Kleidung, wie sie für das 18. oder beginnende 19. Jahrhundert typisch war.7 Das großformatige Blatt gehört zu den bedeutendsten frühromantischen Burgendarstellungen, die wir außerhalb des Rheintals kennen (vgl. Abb. 12). Georg Landau beschreibt 1839 in den »hessischen Ritterburgen« die Burganlage nur kurz und stellt anschließend ihre Geschichte vor, wobei er einige Daten anhand der Quellen überprüft hat. Die stärker quellenbezogene Arbeit ist für ihn wie generell für die historische Forschung im 19. Jahrhundert im Vergleich zur vorausgegangenen Epoche charakteristisch. Er stellt die Burg übrigens nicht nur 1839 vor, sondern nochmals in den »Malerischen Ansichten von Hessen«, die in zwölf Lieferungen von 1839 bis 1842 in zwei variierenden Ausgaben, jedoch mit identischer Titelseite von 1842, erschienen.8 Die ältere Ausgabe beginnt mit der Martinskirche in Kassel, die komplette Neuausgabe von 1842 mit einem allgemeinen Artikel zu Kassel; letztere wurde 1982 als Reprint vorgelegt. Ein auffälliger Unterschied besteht darin, dass Landau in den »Ritterburgen« 1839 vom Schloss, in den »Malerischen Ansichten« aber von der Burg spricht. 5 Regnerus Engelhard: Erdbeschreibung der Hessischen Lande Casselischen Antheiles, Cassel 1778, S. 274f. (§ 216). 6 Johann Philipp Kuchenbecker : Analecta Hassiaca Collectio I, Marburg 1728, S. 14; die Analecta Hassiaca stehen digital als Online-Angebot der Bayerischen Staatsbibliothek zur Verfügung; vgl. http://vd18.de/de-bsb-vd18/content/titleinfo/24137530 [16. 12. 2014]. 7 Germanisches Nationalmuseum Nürnberg, Inv. Nr. SP 45 302. – Nina Günster : Blicke auf die Burg. Zeichnungen und Aquarelle des 19. Jahrhunderts aus den Beständen Karl August von Cohausen und Botho Graf zu Stolberg-Wernigerode im Germanischen Nationalmuseum, Nürnberg 2010, S. 134f. 8 Georg Landau: Malerische Ansichten von Hessen, Kassel 1839–1842, S. 192f. und Tafel nach S. 12. Neuausgabe: Georg Landau: Malerische Ansichten von Hessen, Kassel 1842, S. 99f. und Tafel nach S. 92. (Faksimile Kassel 1982); eine weitere Druckvariante ist die Titelseite der 1. Lieferung mit der Angabe: »Das malerische und romantische Deutschland. Supplement. Malerische Ansichten von Hessen. Von G. Landau. 1. Lieferung« [ohne Jahresangabe].
Die Burg Ludwigstein aus der Perspektive der Burgenforschung
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Die Sage von der teuflischen Hilfe für den Landgrafen übernimmt Landau vom »Verfasser der hessischen Zeitrechnung, 34. Fortsetzung«;9 auf dieser Fabel beruhe angeblich die Anbringung des monströsen Kopfes.10 In beiden Publikationen verweist er auch darauf, dass es am Hanstein einen ähnlichen, sogar noch größeren Kopf gibt.11 Der heute dort zu sehende trägt aber erst die Jahreszahl »1908«. Eine Postkarte von etwa 1910 zeigt ihn und berichtet, dass der frühere Kopf 1845 heruntergefallen sei (vgl. Abb. 4 und 5).12 Mit der Burg als Bauwerk beschäftigte man sich ab dem späten 19. Jahrhundert intensiver. Einen grundlegenden Beitrag zu diesem Thema liefert Otto Piper mit seiner 1895 erstmals erschienen »Burgenkunde«, der 1905 eine zweite und 1912 eine dritte, jeweils stark veränderte Auflage folgten.13 Den wichtigsten Impuls erhielt die Forschung durch den Aufsatz des Kieler Stadtbauinspektors Dr.-Ing. (Eugen) Michel,14 der die Burg wohl auf Wanderungen kennenlernte, anschließend aufmaß und veröffentlichte.15 Er dokumentiert den Bauzustand hinsichtlich der Raumstruktur und vieler Details vor den Baumaßnahmen der 1920er-Jahre. Auf seine Pläne gehen auch die weiteren Forschungen zurück (vgl. Abb. 15). Als Gegenspieler Pipers wird häufig Bodo Ebhardt betrachtet, zumindest war Piper ein scharfer Kritiker von Ebhardts Baumaßnahmen auf der Hohkönigsburg.16 Ebhardt erwähnt in seinem durch völkische Auffassungen und deutlich auch durch die nationalsozialistische Eroberungspolitik bestimmten Werk »Der Wehrbau Europas im Mittelalter« Ludwigstein kurz und liefert mehrere Abbildungen.17 Mit Erstaunen stellt man dabei fest, dass er die Ansichts- und 9 Matthias Weete (Hg.): Hessischer Schreib, Märckte- und Chroniken-Calender. Kassel 1688 bis 1754, darin: Hessische Zeit-Rechnung. Der Kalender ist derzeit bibliographisch nicht vollständig recherchierbar, sondern nur über einzelne Zitate in anderen historischen Werken. Die 37. Ausgabe erschien beispielsweise 1712 (laut Topographisch-statistische Nachrichten von Niederhessen, 3. Band, 1. Heft, Kassel 1796). 10 Georg Landau: Ludwigstein, in: ders.: Die hessischen Ritterburgen und ihre Besitzer, 4 Bde., Kassel 1832–1839, hier Bd. 4, 1839, S. 201–207, bes. S. 203f. 11 Landau: Ansichten (Anm. 8), S. 193. 12 Die Postkarte wurde vom Verlag Lange, Göttingen vertrieben. 13 Otto Piper : Burgenkunde, München 1895, hier 2. Auflage, 2 Bde., München 1905 und 1906, S. 667 sowie 3. Aufl. München 1912, S. 208 (zum Bergfried). 14 Vermutlich handelt es sich um Dr. Ing. Eugen Michel, geb. am 22. 02. 1873 in Frankenthal, tätig in Wiesbaden, Kiel und Hannover. Angaben nach Ulrich Bücholdt: Architektenregister : http://www.archthek.de [24. 12. 2014]. 15 [Eugen] Michel: Burg Ludwigstein, in: Zeitschrift für Bauwesen, 1907, 57. Jg., Sp. 147–164 und Tafel 23–25. 16 Joachim Zeune: Die Kontroverse Piper – Ebhardt, in: Burgenromantik und Burgenrestaurierung um 1900. (Veröffentlichungen der Deutschen Burgenvereinigung, Reihe B, Schriften 7), Braubach 1999, S. 68–71. 17 Bodo Ebhardt: Der Wehrbau Europas im Mittelalter, Bd. 1, Berlin 1939, S. 401 (Text), 403 (Pläne) und 408 (Zeichnung).
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Schnittzeichnungen von Michel (1908) zwar kopiert, jedoch mit seinem eigenen Namenskürzel versieht (den Grundriss dagegen hat er vereinfachend umgezeichnet), also eindeutig plagiiert. Die weiteren Erwähnungen beschränken sich auf Wiederholungen der Hauptdaten der Baugeschichte und erfolgten zumeist aus Anlass des fortschreitenden Ausbaues zur Jugendburg. Dies gilt etwa für das Büchlein des konservativen Marineoffiziers und Dichters Hugo v. Waldeyer-Hartz (1876–1942) von 1924,18 aber auch einen Bericht des Historikers Paul Heidelbach (1870–1954) mit einer Illustration von Otto Ubbelohde (1867–1922),19 der sich aber nur nachrichtlich zum Umbau äußert und erwähnt, dass Bergfried, rechter Flügel und Wohnung über dem Tor ausgebaut wurden. 1960 legte Hinrich Jantzen eine Geschichte des Ludwigsteins vor,20 mit einem Vorwort des Vereinsvorsitzenden Erich Kulke, der als Bauernhausforscher und Siedlungsplaner in NS-Organisationen reüssiert hatte.21 Jantzen beschränkt sich allerdings auf eine Geschichte der Besitzer, also vor allem der landgräflichen Verwalter, zum Bau äußerte er sich nicht, die Schrifttumsangaben zeugen von Naivität. Eine Beschreibung liefert Gottfried Ganßauge 1971, jedoch ohne wesentliche neue Erkenntnisse.22 In den 1980er-Jahren erschienen zwei Beiträge von Winfried Mogge, die sich besonders mit der Gründung und Frühgeschichte der Burg auseinandersetzen; 1984 wurde zudem ein Führer in der Reihe der »SchnellKunstführer« aus der Feder von Winfried Mogge publiziert.23 Die dritte Auflage wurde von Karl Kollmann verfasst, unter teilweiser Übernahme von Formulierungen des alten Führers (2006); in einer künftigen Auflage sollte man hier noch einige Textnachweise hinzufügen.24
18 Hugo von Waldeyer-Hartz: Burg Ludwigstein im Werratal, Berlin 1924. 19 Paul Heidelbach: Der Ludwigstein, in: Hessenland, 1921, Dezember, S. 187 (mit einer Illustration von Otto Ubbelohde aus dem Kalender Hessenkunst für 1922). 20 Hinrich Jantzen: Geschichte des Ludwigsteins 1415–1960, Ludwigstein 1960. 21 Vgl. zur Person Kulkes den Beitrag von Claudia Selheim in diesem Band. 22 Waldemar Küther (Historische Angaben) und Gottfried Ganßauge: Wendershausen, Ludwigstein, in: Friedrich Bleibaum (Hrsg.): Kreis Witzenhausen. Handbuch des Hessischen Heimatbundes IV, Marburg 1971, S. 188–190. 23 Winfried Mogge: »…du zcoch men uß zu buwende den ludewygesteyn« Zur Gründungsgeschichte der Burg Ludwigstein, in: Festschrift zum 100-jährigen Jubiläum des Bestehens des Werratalvereins Witzenhausen, Witzenhausen 1983, S. 58–64; Winfried Mogge: Burg Ludwigstein (Schnell Kunstführer 1496), Regensburg 1984. 24 Karl Kollmann: Burg Ludwigstein (Schnell Kunstführer 1496), 3. neubearb. Aufl., Regensburg 2006.
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Geschichte des Ludwigstein Als »Geburtsstunde« der Burg Ludwigstein gilt seit den Forschungen Georg Landaus das Jahr 1415. Gründer ist Landgraf Ludwig I., wie dies die im Staatsarchiv Marburg erhaltenen Rechnungen belegen. Drei Funktionen spielen die Hauptrolle für die Gründung und in der frühen Geschichte der Burg. 1. Die Burg diente als Grenzsicherung gegenüber dem Mainzischen Eichsfeld auf der anderen Werraseite. Dabei darf man sich eine solche Grenzsicherung gewiss nicht im Sinne eines Stacheldrahtverhaus wie 1961 bis 1989 oder eines Atlantikwalls wie im Zweiten Weltkrieg vorstellen, sondern als eine Kombination aus realer und zeichenhafter Präsenz des Landgrafen nahe dem Grenzfluss, der ja zugleich eine Wirtschaftsader war. 2. Die Burg diente ab 1416 als Mittelpunkt eines eigenen Amtes, verfügte also über eigene Verwaltungs-, Herrschafts- und Wirtschaftsfunktionen, die es dem Landgrafen ersparten, die Kosten für die Burg aus der Landeskasse zu bestreiten. Eine für den Bauhistoriker nicht zu klärende Frage ist dabei, ob der unmittelbare Amtssitz die Einnahmen soweit erhöhte, dass sich die Burg, modern gesprochen, vollständig selber »trug«. 3. Die Burg diente schließlich als Kapitalanlage, denn sie konnte verpfändet werden, um im Bedarfsfall Bareinnahmen kurzfristig zu erhöhen. Diese letztgenannte Möglichkeit wurde hinsichtlich des Ludwigsteins vielfach genutzt. Unter den Verpfändungen und Nachnutzungen fällt eine besonders auf, nämlich 1545 die Verlehnung als Mitgift an die Schwester der Nebenfrau Landgraf Philipps, Barbara, bzw. deren Mann Hülsing. Zur Bedienung von Erbansprüchen wurden Burg und Amt durch die Zuschlagung zur Rotenburger Quart 1627 genutzt.25
Beschreibung, Typ Die heutige Burg ist eine kompakte Anlage, deren Ringmauer zugleich die Außenmauern der Wohn- und Wirtschaftsgebäude der Kernburg sind. Vor der Burg lag ein Vorwerk, so bereits im 17. Jahrhundert bezeichnet, vermutlich also ein Wirtschaftshof. Michel unterscheidet sogar eine Vorburg und ein separates Vorwerk.26 Die Kernburg selbst ist eine annähernd rechteckige Baugruppe mit einem Bergfried neben dem Tor an der (süd-) westlichen Schmalseite. Die (nord-)östliche Schmalseite wird von einem breiten Wohnbau mit steilem Dach 25 Uta Krüger-Löwenstein: Die Rotenburger Quart (Marburger Reihe 12), Marburg 1979, bes. S. 24f. 26 Michel: Ludwigstein (Anm. 15), Sp. 148.
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eingenommen, an den Längsseiten im Norden und Süden (eigentlich im Nordwesten und Südosten) stehen schmalere Bauten. Die Flügel sind heute durchweg zweistöckig. Die Hofbebauung besteht aus Fachwerk, wahrscheinlich gilt dies auch schon für den nicht erhaltenen Ursprungszustand, denn Steinfassaden hätte man im 16. Jahrhundert kaum restlos entfernt (vgl. Abb. 7). Die Innenräume dokumentiert Michel in seinen Aufmaßzeichnungen vor den Umbauten zur Jugendburg. Die drei Flügel sind baulich deutlich voneinander getrennt. Im Erdgeschoss dient der nördliche Bau als Stall, das in mehrere Räume aufgeteilte Obergeschoss war ursprünglich vermutlich ein großer Saal. Der hintere, östliche Flügel enthielt im Erdgeschoss die Küche und vermutlich eine Hofstube, im Obergeschoss Wohnräume, wofür u. a. der Abtritt spricht. Wohnräume gab es auch im südlichen Flügel, der neben dem Bergfried einen weiteren Abtritt hat. Diese Aufteilung ist aus dem 16. Jahrhundert erhalten, wird aber bereits in der ursprünglichen Burganlage nicht wesentlich anders ausgesehen haben, was insbesondere die Stellung der Kamine und die Anbringung der Abtritterker belegt. Von außen ist die Verteilung der ursprünglichen Wohnbauten bzw. -räume schwer zu beurteilen. Abgesehen vom Bergfried zeigen sämtliche Fenster Spuren eines nachträglichen Einbaues. Insbesondere die gestäbten Vorhangbogenfenster sind nachträglich, obwohl es sich um die ältesten Fenster an den Wohnflügeln handelt. Die Fenster können mit ihrem Stabwerk nicht aus der Bauzeit der Burg im frühen 15. Jahrhundert stammen, im Vergleich zu den Schlossbauten der Renaissance in Hessen27 lassen sie sich nur in die Zeit zwischen etwa um 1500 und dem 3. Viertel des 16. Jahrhunderts datieren. Für die Zeit vor 1500 lässt sich aus diesem Aspekt daher keine Gewissheit gewinnen. Andererseits wissen wir, dass Wohn- und Arbeitsräume im 15. Jahrhundert bereits in Appartement-Struktur gegliedert waren, es also in aller Regel Raumgruppen aus einer Stube und einer Kammer gab, die zum täglichen Aufenthalt einschließlich des Arbeitens dienten.28 Das Tor hat eine einfache spitzbogige Öffnung, durch Drehflügel geschlossen, ohne nennenswerte weitere Sicherung. Im weiteren 16. Jahrhundert hätte man auf eine Zugbrücke Wert gelegt; trotz der angeblichen Bedrohung durch den Hanstein hat man darauf im frühen 15. Jahrhundert (noch) verzichtet. Der Bergfried weist zwei gewölbte Stockwerke auf, über denen drei flachgedeckte Geschosse sitzen. Dies ist insoweit ungewöhnlich, als ein oberes ge27 Vgl. Ulrich Großmann: Schlossbau der Renaissance in Hessen, Regensburg 2010 (Neubearbeitung der Diss. von 1979) sowie Katalog der Bauten im Internet: http://schloesser.gnm. de/wiki/Hauptseite [18. 12. 2014]. 28 Erstmals umfassend hierzu: Stefan Hoppe: Die funktionale und räumliche Struktur des frühen Schloßbaus in Mitteldeutschland (Veröffentlichung der Abteilung Architekturgeschichte der Universität Köln 62), Köln 1996.
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wölbtes Geschoss häufig im Burgenbau zur Sicherung gegen Beschuss genutzt wird, während ein mittleres gewölbtes Geschoss wenig Sinn macht. Entweder haben sich die Bauherren an diese Regel nicht gehalten, oder aber wenigstens die beiden oberen Stockwerke entstanden nachträglich – oder wurden während des Bauens entgegen dem ursprünglichen Konzept aufgesetzt – und das untere flachgedeckte Stockwerk müsste dann zumindest in der ursprünglichen Planung die Stelle einer ersten Wehrplattform einnehmen. Doch trotz einiger Unregelmäßigkeiten im Mauerwerk gibt es keine Baufuge oder einen anderen eindeutigen Hinweis auf eine nachträgliche Aufstockung. Der Zugang zum oberen Turmteil führt aus einer Tür im Gewölbe über eine Mauertreppe. In mehreren Geschossen sind die kleinen Fenster zusätzlich mit Schlüssellochschießscharten versehen. Hinweise auf eine nachträgliche Entstehung lassen sich nicht erkennen, es scheint sich also um ursprüngliche und damit ausgesprochen frühe Scharten dieser Art zu handeln. Der heutige Helm des Bergfrieds stammt von Zimmermeister Scharff aus Allendorf und wurde erst 1857 aufgesetzt.29 Im Bereich des nördlichen Stalles nennt Michel Spuren einer früheren freitragenden Steintreppe, in den Flügel führt ein spitzbogiges Portal. Der »jetzige« Treppenaufgang ist jünger, steingefasst, und führt zu einer »1702« datierten Holzgalerie. Von dieser gelangt man durch eine spitzbogige Tür in das Obergeschoss des Stallbaues; diese Tür dürfte dem 16. Jahrhundert angehören. Die Innenräume, Michel traf deren fünf sowie einen Flur an, werden durch Vorhangbogenfenster mit Sitznischen erhellt, eine repräsentative Fensterform für spätgotische Bauwerke, hier ins spätere 15. oder (der Fenster wegen) auch noch in das 16. Jahrhundert zu datieren. Ein Abbruchfoto von etwa 1921 zeigt die Baumaßnahmen am Dachwerk.30 Bis dahin hatte der Nordflügel ein Sparrendach mit angeblatteten Kehlbalken sowie einer »Spitzsäule« im Ostgiebel. Möglicherweise ist diese Konstruktion noch bauzeitlich, spätestens stammt sie aus dem 16. Jahrhundert. In der Außenmauer des »Nebengelasses« – das ist der Vorraum zur »Alten Kanzlei« – sowie im übernächsten Raum, dem Flur, beobachtet Michel zwei vermauerte Abtrittnischen. Wir haben es hier also in jedem Fall mit Wohnräumen zu tun, die vermutlich bis auf die Bauzeit der Burg zurückgehen, aber nicht mit den von Michel dokumentierten Zwischenwänden korrespondieren müssen. Spuren einer Öffnung sind im Nordflügel auch außen zu erkennen. Dieser Abtritt im Flurbereich dürfte zu einem Vorraum des vermuteten Saales gehört haben. Dazu spricht auch der spätgotische Kamin im Obergeschoss des Nordflügels. Der Abtritterker neben dem Bergfried an der Westseite der Burg im Ober29 Michel: Ludwigstein (Anm. 15), Sp. 156. 30 Jantzen: Geschichte (Anm. 17), Abb. nach S. 25.
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geschoss ist offenbar ursprünglich und zeigt für diesen Bereich einen früheren Wohnraum an. Ein weiterer Abtritterker befand sich an der Ostseite, gleichfalls im Obergeschoss, etwa gebäudemittig. Beide kragen auf gerundeten Konsolplatten vor und sind aus wenigen Quadern zusammengesetzt. Im Ostflügel, dem sogenannten Wirtschaftsflügel, fand Michel im Erdgeschoss drei Räume sowie einen Flur vor. M. E. haben Flur, Gesindekammer und Küche ursprünglich einen großen Küchenraum gebildet, neben dem sich die unterkellerte Hofstube befunden haben dürfte. Das heute in vier Räume aufgeteilte Obergeschoss bestand ursprünglich wohl nur aus einem oder zwei Räumen, für letzteres spricht der Abtritt, der zu einer Kammer gehört haben muss. Der Südflügel enthält vom Hof aus zugängliche Wohnräume. Die von Michel dokumentierten Details, Fachwerk mit Fächerrosetten an der Hoffassade, Haupteingang sowie Kaminaufhängung im Erdgeschoss, weisen auf eine Entstehung im 16. Jahrhundert hin. Der südöstliche Eckraum ist als einziger Bauteil mit einer massiven Hofmauer versehen und gewölbt, Michel vermutet hier einen Archivraum.31 Am gut erhaltenen Fachwerk lassen sich noch die Abbundzeichen feststellen, es handelt sich also um Originalhölzer des 16. Jahrhunderts, und »Kritzelei«, eine davon entstand bei einer Erneuerung um 1921. Das Obergeschoss wird heute durch eine Freitreppe erschlossen, deren Antrittspfosten »1735« datiert ist, die ursprüngliche Treppe saß östlich im Südflügel. Im Obergeschoss gibt es seitlich eines Vorraums einen Renaissancesaal mit weitgehend rekonstruierbarer Wandvertäfelung. Insgesamt haben wir es beim Ludwigstein mit einer Burg zu tun, die aus einer spätmittelalterlichen Außenmauer besteht, in die man im 16. Jahrhundert ein neues weitgehend aus Fachwerk konstruiertes Bauwerk, wahrscheinlich in Anlehnung an den Vorgängerbau, eingefügt hat.
Blecker und Zanner. Monster oder Dämonenabwehr? Bemerkenswert sind zwei kleine Steinbildwerke an der äußeren Südostecke, die schon seit dem 17. Jahrhundert von allen Bearbeitern bemerkt werden (vgl. Abb. 4 und 5). Matthäus Merian erwähnt »einen großen Monstrosischen abscheulichen Kopff, und seltzames Gesichte, in Stein gehauen, welches deß geschwinden Baumeisters Ebenbild sein soll«;32 Landau folgt dem mit dem Hinweis auf einen 31 Michel: Ludwigstein (Anm. 15), Sp. 152. 32 Merian: Topographia Hassiae (Anm 2), S. 100; auch zitiert bei Michel: Ludwigstein (Anm. 14), Sp. 157.
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»in Stein ausgehauenen monströsen Kopf« an der dem Hanstein zugewandten Außenfassade,33 die neuere Literatur nennt an der Südostseite »Neidkopf und Rufer« (Dehio-Handbuch)34. Dabei handelt es sich um einen »Blecker«, der sich mit beiden Händen den Mund aufreißt, und zu dem meist eine zweite Figur gehört, ein »Zanner«. Tatsächlich sitzt wenig tiefer zur anderen Eckseite die Figur eines »Zanners«, also einer Figur, die dem Vorübergehenden die Zunge herausstreckt. Diese zusammengehörenden Bildwerke sind in der Architektur, aber auch der bildenden Kunst des Spätmittelalters einzeln und als Paar vollkommen geläufig. Sie haben nichts mit Abwehrzauber zu tun, sondern dienen dazu, sich über den Betrachter lustig zu machen bzw. ihn zu amüsieren.
Zusammenfassung – Die Einbindung in den hessischen Burgenbau und in die Burgenforschung Wie eingangs festgestellt, setzen Beschreibungen und Veröffentlichungen zu geschichtlichen Nachrichten über Burg Ludwigstein bereits im 17. Jahrhundert ein. Dies ist mehr als 200 Jahre früher als man bisher den Beginn der Burgenforschung datiert hat. Burg Ludwigstein gehört somit zu den Beispielen dafür, dass die Erforschung von Burgen tatsächlich bereits im 17. Jahrhundert begann. Burg Ludwigstein ist eine kompakte spätmittelalterliche Burganlage mit drei Wohn- und Wirtschaftsflügeln, die annähernd regelmäßig um einen länglichen Hof angeordnet sind und von der Schmalseite her erschlossen werden; das Tor ist durch einen Bergfried gesichert. Gebäudeecken und Öffnungen sind durch Quader eingefasst, letztere bis auf den Bergfried aber weitgehend erneuert. Das übrige Material ist Bruchstein, der ursprünglich wahrscheinlich dünn überschlemmt war. Das äußere Mauerwerk lässt sich gut mit der historisch gewonnenen Datierung der Burg in die Jahre um 1415 in Übereinstimmung bringen, die Schießscharten am Bergfried dürften derzeit zu den frühesten zeitlich fixierbaren ihrer Art gehören (vgl. Abb. 6). Die Innenbebauung aus Fachwerk stammt nicht mehr aus der Gründungszeit der Burg. Hinsichtlich dieses Fachwerks bemüht sich Michel um eine Konkretisierung der Datierung.35 Allerdings war seinerzeit die Fachwerkforschung noch nicht sehr weit gediehen. Seine Vermutung, die Fassade mit den Fächerrosetten könne nicht in die Zeit vor 1530 zurückgehen, ist zwar richtig, muss aber noch ergänzt werden. Fächerrosetten sind erst zwischen etwa 1540 und 33 Landau: Ritterburgen (Fn. 10), S. 203. 34 Folkhard Cremer u. a. (Bearb.): Dehio-Handbuch der Kunstdenkmale. Hessen I, Reg.-Bez. Kassel und Gießen, München u. a. 2008, S. 938. 35 Michel: Ludwigstein (Anm. 10), Sp. 160f.
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1600 nachgewiesen, eine Datierung des Fachwerkflügels in die zweite Hälfte, eher in das 3. Viertel des 16. Jahrhunderts ist daher wahrscheinlich; Michel gibt als Vergleichsbau ein 1579 datiertes Fachwerk aus Witzenhausen an, womit das Haus Ermschwerder Str. 4 gemeint sein muss, doch sind die Felder der Fächerrosetten dort nicht dreieckig, sondern leicht gebogen. Bereits Reinhard Gutbier wies darauf hin, dass es in Hessen im 14. und 15. Jahrhundert eine größere Zahl kompakter Burganlagen gibt.36 Den Typ eines länglichen Innenhofs, dessen Zugang an der Schmalseite durch einen Turm gesichert wird, gab es sogar bereits in der hessischen Hauptresidenz, in Marburg, und zwar in ihrem Ausbauzustand um 1300. Die Besonderheit einiger spätmittelalterlicher Burgen in Nordhessen besteht demgegenüber in der noch regelmäßigeren Anlage zweiter Parallelflügel, deren Außenmauern zugleich die Ringmauer der Kernburg bilden; gelegentlich kommt ein den Hof gegenüber dem Eingang abschließender 3. Flügel hinzu. Zwei frühe Beispiele sind die Burgen Hessenstein sowie Tannenberg bei Nentershausen.37 Hessenstein geht auf das frühe 14. Jahrhundert zurück, während Burg Tannenberg im 2. Viertel des 14. Jahrhunderts errichtet worden sein dürfte.38 Die Kernburg von Hessenstein, 1970 vom Deutschen Jugendherbergswerk brachial zugrunde gerichtet, ist eine besonders regelmäßige, fast quadratische Anlage, allerdings ohne den markanten Bergfried, der Ludwigstein auszeichnet. In Tannenberg ist die Hofbebauung nicht mehr so geschlossen wie in Marburg oder auf dem Ludwigstein, denn ein Gebäude fehlt völlig, ein anderes ist nur als Ruine erhalten; ursprünglich war hier der Hof aber noch enger als auf dem Ludwigstein. Als weiteres Beispiel ist Ludwigseck zu nennen, das in die Gruppe der unter Landgraf Ludwig errichteten Burgen gehört, also aus dem frühen 15. Jahrhundert stammt. Gutbier führt zum Vergleich noch weitere regelmäßige Bauten an, namentlich Wolkersdorf und Stedebach, beide nördlich von Marburg gelegen. Der kompakte Bautyp der Kernburg, den der Ludwigstein zeigt, ist also in Hessen ausgesprochen geläufig gewesen. Allerdings muss man immer mit einer mehr oder weniger ausgedehnten Vorburg für die Wirtschaftsgebäude rechnen, wie dies in Marburg noch erhalten, auf dem Ludwigstein nur durch alte Berichte und Darstellungen überliefert ist. Erst sie geben der Burg als Wirtschafts36 Reinhard Gutbier : Zwinger und Mauerturm, in: Burgen und Schlösser, 1976, Heft 1, S. 21–29. 37 Reinhard Gutbier : Die Burg Hessenstein und ihre bauliche Entwicklung bis etwa 1800, in: Zeitschrift des Vereins für hessische Geschichte und Landeskunde, 1970, 81. Jg., S. 89–118. Ein von Gutbier angekündigter ausführlicherer Beitrag über diesen Bautyp ist leider nie erschienen. 38 Gerhard Seib: Burg Tannenberg bei Nentershausen – Kr. Rotenburg, Nentershausen 1961. – Georg Landau: Die hessischen Ritterburgen und ihre Besitzer, Kassel, 4 Bde. 1832–39, hier Bd. 3, Kassel 1836, S. 101–186.
Die Burg Ludwigstein aus der Perspektive der Burgenforschung
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standort und Verwaltungsmittelpunkt den Sinn, den der Ludwigstein hatte und der seine Hauptaufgabe darstellte, nicht der einer Grenzsicherung gegen den Hanstein.
Sven Bindczeck, Dieter Wunder
Die Amtmänner auf Burg Ludwigstein*
Adlige Amtmänner Nr. I Amtszeit1
II Name und Lebenszeit
III Herkunft
1
28. 04. 1416– Hans von Dörn28. 10. 1419 berg, Junghans2 1380/1438
Unterwerra
2
03. 03. 1430– Hermann Diede 28. 09. 1437 zum Fürstenstein d. Ä.3 (+1471)
Oberwerra
IV Bestallung oder Verpfändung / sonstige fürstliche Dienste in Auswahl / Bemerkung Bestallung / 1403/37 im Dienst, 1403 Amtmann Homberg/Efze, 1421 Amtmann Allerburg Bestallung / seit 1402 im Dienst, 1421 bis 1429 und 1445 Amtmann Eschwege / Amtmann auf dem Ludwigstein vielleicht noch bis 1443
* Die Anmerkungen führen die Belege zu den einzelnen Spalten nach folgendem Schema an: I Amtszeit mit Anfangsdatum (AD), erster Erwähnung (EE), Enddatum (ED), letzter Erwähnung (LE), II Namen, Lebenszeit, III Herkunft (Hessen wurde in Ströme gegliedert), IV Bestallung (B), Pfand (P) / sonstige fürstliche Dienste in Auswahl (SD) / Bemerkung (Bem.). 1 Vermutlich übte bei einer Verpfändung des Amtes Ludwigstein an zwei Personen nur eine Person das Amt aus; manchmal kann man vermuten, wer von beiden es war (Nr. 4, 9 und 11). 2 I: AD: HStAM, Best. Urk. 13 Nr. 3115; LE: Albert Huyskens: Die Klöster der Landschaft an der Werra, Marburg 1916, S. 601, Nr. 1499. – II: Rudolf v. Buttlar-Elberberg: Stammbuch der Althessischen Ritterschaft, Kassel 1888, S. 80. – IV: B: HStAM, Best. Urk. 13 Nr. 3115; SD: Karl E. Demandt: Der Personenstaat der Landgrafschaft Hessen im Mittelalter. Ein »Staatshandbuch« Hessens vom Ende des 12. bis zum Anfang des 16. Jahrhunderts, 2 Teile (VH KH 42, 2), Marburg 1981, S. 150 Nr. 500. 3 I: AD: HStAM, Best. Urk. 13 Nr. 3116; LE: Huyskens: Klöster (Anm. 2), S. 232 Nr. 620. – II: Wolf Erich Keller : Ein unbekanntes Kopiar der Diede zum Fürstenstein, in: Otto Perst (Hg.): Festschrift zum 60. Geburtstag von Karl August Eckhardt, Marburg/Witzenhausen 1961, S. 183–201, Stammbaum. – IV: B: HStAM, Best. Urk. 13 Nr. 3116; SD: Demandt: Personenstaat (Anm. 2), S. 139f. Nr. 456; Bem.: Karl August Eckhardt: Eschwege als Brennpunkt thüringisch-hessischer Geschichte (Beiträge zur hessischen Geschichte 1), Marburg 1964,
32
Sven Bindczeck, Dieter Wunder
(Fortsetzung) Nr. I Amtszeit1
3 4
II Name und Lebenszeit
13. 01. 1445– Hermann Meisen25. 07. 1455 bug4 (+vor 03. 09. 1466) 25. 07. 1455– Wilhelm Meisen27. 04. 1460 bug5 und sein Sohn Hermann Meisenbug d. J.
III Herkunft Fuldastrom Fuldastrom
5
27. 04. 1460– Hans von Dörnberg Unter11. 07. 1464 d. Ä. werra (*23. 07. 1427 +1506)6
6
11. 07. 1464– Georg von Buttlar 16. 08. 1486 d. Ä.7 (*1408 +1489)
4
5
6 7
Unterwerra
IV Bestallung oder Verpfändung / sonstige fürstliche Dienste in Auswahl / Bemerkung Verpfändung für 1741 Gulden / 1423/66 Dienst, Hofmeister, Heimlicher Verpfändung für 1741 Gulden / Hermann: Diener ab 1461 / Neffe bzw. Großneffe von Nr. 3 Verpfändung für 1741 Gulden und 60 Gulden Baugeld / seit ca. 1445 im Dienst, 1456 bis 1462 Amtmann Ziegenhain, seit ca. 1465 »eigentlicher Herr Hessens«, 1501 abgesetzt / Sohn von Nr. 1 Verpfändung für 1800 Gulden, Ablöse 2845 Gulden / seit 1445 im Dienst, Amtmann Ziegenberg 1456
S. 280, gibt als Dienstzeit an: 1430–1443; er gibt keinen spezifischen Beleg, da er aber sehr sorgfältig arbeitet, kann man seine Angabe nicht einfach übersehen. I: EE: LAGIS: Regesten der Landgrafen von Hessen, Nr. 9173, verfügbar unter : http:// www.lagis-hessen.de/de/subjects/gsrec/current/1/sn/lgr?q=9173 [03. 10. 2014]; ED: HStAM, Best. Urk. 13 Nr. 3117. – II: Franz Gundlach: Die Hessischen Zentralbehörden von 1247 bis 1604, Band III Dienerbuch (VHKH 16), Marburg 1930, S. 170. – IV: P: HStAM, Best. Urk. 13 Nr. 3117; SD: Demandt: Personenstaat (Anm. 2), S. 559f. Nr. 2006. I: AD: HStAM, Best. Urk. 13 Nr. 3117; ED: HStAM, Best. Urk. 13 Nr. 3118; wahrscheinlich übte Wilhelm Meisenbug die Tätigkeit eines Amtmannes aus und nicht Hermann Meisenbug d. J., denn für diesen erwähnt Demandt: Personenstaat (Anm. 2), S. 560f. Nr. 2007, keine Tätigkeit als Amtmann auf dem Ludwigstein. – IV: P: HStAM, Best. Urk. 13 Nr. 3117; SD: Demandt: Personenstaat (Anm. 3), S. 560f. Nr. 2007; Bem.: Fritz Fischer: Ahnenreihenwerk Geschwister Fischer, Bd. 7: Ahnenreihen niedersächsischer Uradelsgeschlechter, BietigheimBissingen 1986, Tafel 1 und 2. I: AD: HStAM, Best. Urk. 13 Nr. 3118; ED: HStAM, Best. Urk. 13 Nr. 3119. – II: Demandt: Personenstaat (Anm. 2), S. 151ff. Nr. 501; Buttlar-Elberberg: Stammbuch (Anm. 2), S. 80. – IV: P: HStAM, Best. Urk. 13 Nr. 3118; SD: Demandt s. II. I: AD: HStAM, Best. Urk. 13 Nr. 3119; ED: HStAM, Best. Urk. 11 Nr. 2240.– II: Buttlar-Elberberg: Stammbuch (Anm. 3), S. 58. – IV: P: HStAM, Best. Urk. 11 Nr. 2240, 1800 Gulden als Anfangswert von Georg von Buttlar (1464) + 300 Gulden für einen gegebenen Kredit (1466) + 325 Gulden für das in Wendershausen gekaufte Vorwerk (1477) + 420 Gulden Baugeld für ein Haus und einen Keller ; SD: Demandt: Personenstaat (Anm. 3), S. 125 Nr. 407.
33
Die Amtmänner auf Burg Ludwigstein
(Fortsetzung) Nr. I Amtszeit1
7
II Name und Lebenszeit
16. 08. 1486– Kaspar von 04. 03. 1488 Berlepsch8 (+vor 14. 04. 1519)
III Herkunft Unterwerra
und sein Onkel Sittich von Berlepsch d. Ä. (+1513)
8
1490– 1492
[Junker Rabe = Rabe von Boyneburg gen. Honstein?]9
Oberwerra
IV Bestallung oder Verpfändung / sonstige fürstliche Dienste in Auswahl / Bemerkung Verpfändung für 2845 Gulden, Ablöse 2900 Gulden / Kaspar : seit 1480 im Dienst, Rat, 1497/1501 Amtmann Nidda, 1501 Amtmann Schönstein, 1507 Pfandbesitz Homberg/O., 1509 Regent, Gegner Landgräfin Annas, 1513/14 Hofmeister; Sittich: seit 1479 im Dienst, noch unter Philipp tätig; 1487/ 88 Rat, 1492/97 Kanzleigericht Marburg, 1494 Rat und Diener von Haus, 1497 Pfandinhaber Staufenberg (2000 fl.), 1500/09 Beisitzer Hofgericht, 1501/02 Amtmann Niedergrafschaft, 1510/11 Hofmeister Bestallung / Landau nennt als Amtmann Rabe von Herda (1488 bis 1501)
8 I: AD: HStAM, Best. Urk. 11 Nr. 2240; ED: HStAM, Best. 2 Nr. 414 Bl. 3v. Christian Hesse: Amtsträger der Fürsten im spätmittelalterlichen Reich. Die Funktionseliten der lokalen Verwaltung in Bayern-Landshut, Hessen, Sachsen und Württemberg (1350–1515) (Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 70), Göttingen 2005, S. 496: Kaspar 1487–1488 Amtmann Ludwigstein, S. 591: Sittich 1486–1504. Dies ist offensichtlich eine unrichtige Interpretation Demandts. – II: Kaspar von Berlepsch: Demandt: Personenstaat (Anm. 2), S. 41f. Nr. 153; Sittich von Berlepsch d. Ä.: Buttlar-Elberberg: Stammbuch (Anm. 2), S. 22 – IV: P: HStAM, Best. Urk. 11 Nr. 2240, Ulrich Friedrich Kopp: Beytrag zur Geschichte des Salzwerks in den Soden bey Allendorf an der Werra, Marburg 1788, S. 41 und 76; SD: Kaspar von Berlepsch s. Demandt: Personenstaat (Anm. 2), S. 41f. Nr. 153; Sittich von Berlepsch d. Ä.: s. Demandt: Personenstaat (Anm. 2), S. 45f. Nr. 157. 9 I HStAM, Best. Rechn. I Nr. 72/12 bis 72/18. – II Demandt stützt sich bei der Zuordnung von Junker Rabe zu Rabe von Boyneburg gen. Honstein auf HStAM, Best. Rechn. I. Nr. 28/12 Bl. 12v, 30v und 53v (Demandt: Personenstaat (Anm. 2), S. 89 Nr. 302). Eckige Klammer, da eine Nennung als Amtmann nicht nachweisbar ist, aber der Junker Rabe hielt sich zwischen 1490 und 1492 häufiger als andere erwähnte Adelige auf dem Ludwigstein auf und führte dort zusammen mit einem Eberhard das Stürzen der Früchte (HStAM, Best. Rechn. I Nr. 72/13 Bl. 2v) durch. – IV: B: Die Hypothese gründet sich darauf, dass sich Landgraf Wilhelm II Geld von den Pfännern aus Sooden für die Ablöse des Ludwigsteins lieh, welches er 1489 quittierte (Kopp: Beytrag (Anm. 8), S. 41 und 76) und auf der Existenz von HStAM, Best. Rechn. I Nr. 72/12 bis 72/18. Bem.: Einzig Landau nennt Rabe von Herda ohne Quellenangabe (Gustav Landau: Die hessischen Ritterburgen und ihre Besitzer, Bd. 4, Kassel, S. 204f.). Unter der Voraussetzung, dass die Ausgaben der Rechnungsbücher von 1490 bis 1492 immer das ak-
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Sven Bindczeck, Dieter Wunder
(Fortsetzung) Nr. I Amtszeit1
II Name und Lebenszeit
9
1501– 22. 02. 1503
10
21. 04. 1504– Sittich von Ber1513 lepsch d. Ä.11 (+1513)
11
1513– 30. 03. 1515
III Herkunft
Hermann von Boy- Stift Fulda neburg zu Lengsfeld10 und sein Bruder Ludwig von Boyneburg zu Lengsfeld (*1466 +1537) Unterwerra
Jost von Berlepsch12 Unter(+1548) werra und sein Bruder Hans von Berlepsch (*um 1480 +09. 02. 1533)
IV Bestallung oder Verpfändung / sonstige fürstliche Dienste in Auswahl / Bemerkung Verpfändung für 3500 Gulden / Hermann: seit 1468 im Dienst, noch 1509; Ludwig: seit 1491 im Dienst, Statthalter a. d. Lahn 1501 bis 1508, Landhofmeister u. Regent 1509 bis 1514, Gegner der Landgräfin Anna, Statthalter a. d. Lahn 1529/33 Verpfändung für 3500 Gulden / s. Nr. 7 Verpfändung für 3500 Gulden / Hans: spätestens 1509 im Dienst, 1514 sächs. Rat, 1521 Schutzherr Luthers auf der Wartburg Söhne von Nr. 7 bzw. 10
tuelle und folgende Jahr auflisten, war der Junker Rabe im Sommer 1491 mehrmals auf dem Ludwigstein; nach Demandt reiste Rabe von Herda aber am 10. 04. 1491 ins Heilige Land und war erst wieder am 08. 11. 1491 im Land (Demandt: Personenstaat (Anm. 2), S. 338 Nr. 1186). 10 I EE: HStAM, Best. Kopiar 131a Bd. 2; ED: HStAM, Best. Urk. 13 Nr. 3122. Wahrscheinlich übte Hermann von Boyneburg zu Lengsfeld die Tätigkeit eines Amtmannes aus, nicht aber sein Bruder Ludwig. Diese Hypothese gründet sich auf HStAM, Best. Kopiar 131 a Bd 2, gestützt auch auf Demandt: Personenstaat (Anm. 2), S. 84 Nr. 292 und S. 86–88 Nr. 298. Es erscheint plausibel anzunehmen, dass die Brüder die Pfandschaft übernahmen, Hermann aber die Amtsausübung, da Ludwig mit seinen politischen Aufgaben in der Landgrafschaft ausgelastet war ; die Einlösung erfolgte wiederum durch die Brüder. – II: Buttlar-Elberberg: Stammbuch (Anm. 2), S. 50; Brüder : HStAM Best. Urk. 13 Nr. 3122. – IV: P: HStAM, Best. Urk. 13 Nr. 3122; in der Urkunde stehen an zwei Stellen 4500 Gulden, aber die Summe der erhaltenen Beträge mit 2000 und 1500 Gulden ergibt nur 3500 Gulden. SD: Demandt: Personenstaat (Anm. 3), S. 84 Nr. 292 und S. 86–88 Nr. 298. 11 I: AD: Karl Ernst Demandt: Regesten der Landgräflichen Kopiare, Bd. 2, Marburg 1990, S. 956 Nr. 2456; ED: Todesdatum nach Buttlar-Elberberg: Stammbuch (Anm. 2), S. 22 und 26. 12 I Demandt: Regesten (Anm. 11), S. 956 Nr. 2456. Wahrscheinlich übte Jost von Berlepsch die Tätigkeit eines Amtmannes aus, nicht aber der Bruder Hans von Berlepsch. Die Hypothese gründet sich auf Buttlar-Elberberg: Stammbuch (Anm. 2), S. 26, wo nur Jost von Berlepsch als Amtmann genannt wird; sie wird dadurch gestützt, dass Hans offensichtlich früh politisch tätig war und 1514 in sächsische Dienste wechselte. – II: Buttlar-Elberberg: Stammbuch (Anm. 2), S. 26; ein zweiter Vorname Sittich, so Homepage der Familie von Berlepsch, verfügbar unter : http://www.v.berlepsch.de/_private/Hans-Lebenslauf.htm [21. 10. 2014], ist
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Die Amtmänner auf Burg Ludwigstein
(Fortsetzung) Nr. I Amtszeit1
II Name und Lebenszeit
III Herkunft
12
30. 03. 1515– Christian von Hanstein13 vor 21. 11. (+vor 21. 11. 1532) 1532
Eichsfeld
13
Vor 21. 11. Christian von 1532–22. 02. Hanstein14 1533 (+vor 1548)
Eichsfeld
14
22. 02. 1533– Kurt Rommel15 08. 02. 1534 (*um 1470 +09. 01. 1538)
15
27. 09. 1534– Christoph von 26. 10. 1538 Steinberg16 (+16. 01. 1570)
Grafschaft Hoya (Drakenburg) Stift Hildesheim
13
14
15 16
IV Bestallung oder Verpfändung / sonstige fürstliche Dienste in Auswahl / Bemerkung Verpfändung für 3500 oder 4500 Gulden / seit 1487 im Dienst, 1509 Amtmann Eichsfeld, 1518 bis 1529 Statthalter in Kassel Ablöse 5500 Gulden und 100 Gulden Baugeld / Sohn von Nr. 12 Hofdiener 1522 (»einspanniger Edelmann«), 1527 (»drei gerüst«) Verpfändung für 4900 Gulden / seit 1524 im Dienst (Oberst), 1534 Reisiger Diener von Haus, 1538 Rat und Diener von Haus aus, 1542/44 hessischer Statthalter in Wolfenbüttel
wohl ein Irrtum. – IV: P: Demandt: Regesten (Anm. 11), S. 956 Nr. 2456; SD: Demandt: Personenstaat (Anm. 2), S. 41 Nr. 151. I: AD: Demandt: Regesten (Anm. 11), S. 955 Nr. 2455; ED: HStAM, Best. 17 d Hülsing 3. – II: 1532 könnte das Todesjahr sein, denn die Aufforderung an den Sohn, das Amt einzulösen, erging am 21. 11. 1532 (HStAM, Best. 17 d Hülsing 3). – IV: P: 3500 Gulden nach Demandt: Regesten (Anm. 11), S. 955 Nr. 2455; 4500 Gulden nach HStAM, Best. 17 e Ludwigstein 3 Bl. 13v und Best. 70 Nr. 1205; SD: Demandt: Personenstaat (Anm. 2), S. 296 Nr. 1000; Karl Frhr. von Hanstein: Urkundliche Geschichte des Geschlechts der von Hanstein in dem Eichsfeld in Preußen (Provinz Sachen) nebst Urkundenbuch und Geschlechts-Tafeln, 2 Teile, Kassel 1856/5 (Neuaufl. 2007), Bd. 2, S. 301–304. I AD und ED: HStAM, Best. 17 d Hülsing 3. – II: Hanstein: Geschichte (Anm. 13), Tafel 9. – IV: P: HStAM, Best. 17 d Hülsing 3; die Erhöhung des Pfandgeldes geschah 1525 (HStAM, Best. 17 e Ludwigstein 3Bl. 16v und Best. 70 Nr. 1205), gleichzeitig wurde das Baugeld bewilligt; die Angabe bei Landau von einer Erhöhung des Pfandgeldes auf 5000 Gulden dürfte ein Irrtum sein (Landau: Ritterburgen (Anm. 9), S. 204). I: AD und LE: HStAM, Best. 17 d Hülsing 3. – II und III: Lothar Rommel: Die Rommels. Eine genealogische Bearbeitung, Nieste 1998, S. 4–5. – IV: SD: HStAM, Best. 3 Nr. 2004, Nr. 1613; HStAD, Best. D 8 Nr. 4/1. I: EE: HStAM, Best. 17 e Ludwigstein 4; LE: HStAM, Best. 40 e Nr. 933. Gundlach: Dienerbuch (Anm. 4), S. 261, gibt 1524 als erste Erwähnung Christophs von Steinberg Als amtmann an, was auf der falschen zeitlichen Zuordnung von HStAM, Best. 17 I Nr. 3250 beruht. Dieses Blatt ist ein Entwurf eines Protokolls als Amtmann von 1534 (HStAM Best. 17 e Ludwigstein 4). – III: Conrad Barthold Behrens: Genealogische und zum Theil historische Vorstellung des Uhrsprungs und Fortstammung Einiger Uhralter, Wohlgeborener Hochadelichen Häuser […] sonderlich derer von Steinberg, Hannover1703, S. 12f., verfügbar unter : http://
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Sven Bindczeck, Dieter Wunder
Nicht-adlige Amtmänner 16 08. 09. 1539– 05. 01. 1542 17 23. 02. 1545–03. 09. 1567
Johann Nordeck17 Hessen (*1500 +11. 07. 1580) [Christoph Hülsing]18 (+03. 09. 1567)
Lüneburg
18 03. 09. 1567– 29. 01. 1574 19 24. 04. 1574– 24. 06. 1613
[Barbara von der Saale]19
Adelig, Sachsen
Belehnt (!)/ Witwe und Erbin von Nr. 17
Hans Holle20 (*1540 +02. 01. 1617)
Hessen
Bestallung / 1570 Diener, 1573 Kanzleischreiber / er wurde zuerst Vogt genannt; zeitweise war Wolf (von) Hesberg sein Amtsverweser
17
18
19 20
Bestallung / seit 1522 im Dienst (zuerst Kanzleischreiber), 1567 Rat und Diener Belehnt (!) / seit 1542 im Dienst, Kammerdiener
gdz.sub.uni-goettingen.de/dms/load/img/?PPN=PPN517940779& IDDOC=297551 [01. 11. 2014]. – IV: P: Landau: Ritterburgen (Anm. 9), S. 205; SD: Gundlach: Dienerbuch (Anm. 4), S. 261 und HStAM, Best. 3 (über www.arcinsys.hessen.de zu recherchieren). I: EE: HStAM, Best. 23 c Ludwigstein 1; LE: HStAM, Best. 3 Nr. 1607. – II: Wilhelm Henry Sturt: Rat Johann Nordeck ist kein Landgrafensohn, in: Hessische Familienkunde, 1998, Bd. 24, Heft 4, S. 231. – IV: B: Diese Hypothese gründet sich darauf, das Landgraf Philipp seinem Kammermeister am 26. 10. 1538 anwies, die Ämter Ludwigstein und Germerode zu lösen; einen Wechsel auf einen anderen Pfandnehmer scheint es also nicht gegeben zu haben (HStAM, Best. 40 e Nr. 933); SD Gundlach: Dienerbuch (Anm. 4), S. 182. I AD: HStAM, Best. 17e Ludwigstein Nr. 3 Bl. 23v. Alfred Eckhardt: Zur Geschichte der Ämter Ziegenberg und Ludwigstein, in: Perst: Festschrift (Anm. 3), S. 111–144, hier : S. 140 u. Anm. 164, belegt entgegen Grundlach: Zentralbehörden (Anm. 4), S. 111, dass die Belehnung 1545 erfolgte. – II: Hans-Dieter Nahme: Zwischen den Werra-Burgen. Eine Familie in der Geschichte einer deutschen Grenze, Goslar 1983, S. 24, nennt als Quelle eine Chronik des Pfarrers von Oberrieden, in dessen Kirche Hülsing begraben war. In der Literatur wird als Todesmonat für Christoph Hülsing auch November angegeben (Susanne Rappe-Weber : Barbara von der Saale und Christoph Hülsing – Landgraf Philipps Amtsehepaar auf Burg Ludwigstein, in: Hessische Heimat, 2004, Bd. 54, S. 3; Georg Landau: Die hessischen Ritterburgen und ihre Besitzer, Kassel 1839, S. 206; Ulrich Friedrich Kopp: Beiträge zur Geschichte des Schloss’ und Amts Ludwigstein, in: Hessische Beiträge zur Gelehrsamkeit, Bd. 2, Frankfurt a. M. 1787, S. 399–403). – III: Kopp: Beiträge, S. 392. – IV: Hülsing war nicht Amtmann, sondern Inhaber eines Mannlehens. SD: Gundlach: Dienerbuch (Anm. 4), S.111. I AD: Nahme: Werra-Burgen (Anm. 18), S. 24; ED: Kopp: Beiträge (Anm. 18), S. 399–403: die Nennung des Jahres 1573 beruht wohl auf einem Schreibfehler. I EE: HStAM, Best. Salbücher Nr. 467; LE: Karl August Eckhardt: Witzenhäuser Hauschronik, in: Beiträge zur Geschichte der Werralandschaft, 1929, Heft 2, Marburg 1929, S. 27. – II: Wolfgang Metz: Dr. Laurentius Lucanus – Amtmann zu Witzenhausen, in: Das Werraland, 1975, Bd. 27, S. 19–21, – IV: SD: Gundlach: Dienerbuch (Anm. 4), S. 106, auch Band 1, S. 335; Bem.: Vogt nach HStAM, Best. Salbücher Nr. 467; Vertretung nach HStAM,
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Die Amtmänner auf Burg Ludwigstein
(Fortsetzung) 20 10. 06. 1615– um 1624 21 04. 01. 1627–Mai 1627 22 16. 06. 1629– 28. 10. 1663
Werner Ungefug21 wohl Kassel, aus Bestallung / (+um 1636) hess. Beamtenfa- 1609 und 1616 Kapitän, 1625 Obristleutnant milie Laurentius Lucan22 (*wahrscheinlich 1582 +30. 01. 1648) Franz Ulrich Wasserhuhn23 (*1589 +28. 10. 1663)
Rauschenberg, wohl aus hess. Beamtenfamilie
Bestallung / 1621 Rat von Haus aus
Basel / Hessen
Bestallung / 1609 im Kammersekretariat tätig, 1619 Gesandter, 1621 Kammersekretär, nach 1625 entlassen, vor 1628 wieder Sekretär, 1630 bis 1655 außerordentlicher Rat
Best. 17 e Ludwigstein 7 durch Wolf Hesberg (Adel 1602), der bei Buttlar-Elberberg: Stammbuch (Anm. 2), Bl. 47, als Amtmann Witzenhausen, bei Nahme: Werra-Burgen (Anm. 18), S. 25, sogar als Amtmann vom Ludwigstein erwähnt wird. 21 I: EE: Uta Mühlberg: Ahnenforschung, Werner Ungefug I23756, verfügbar unter : http:// www.uta-muehlberg.de [03. 10. 2014]; LE: HStAM, Best. 4 d Nr. 340. – II: Landeskirchliches Archiv Kassel (LAK) Kirchenbuch (KB) Kassel Freiheiter Gemeinde 1600–1740 Trauungen 22. 05. 1609; Julius Ludwig Christian Schmincke: Geschichte der Stadt Eschwege, Bd. 1, Eschwege 1922, S. 243; HStAM, Best. 17 I Nr. 2596. – III: s. II, vgl. auch Gundlach: Dienerbuch (Anm. 4), S. 276f. – IV: SD: HStAM, Best. 17 e Witzenhausen 38; HStAM Best. 4 d Nr. 326. 22 I: AD: HStAM, Best. 4 d Nr. 231 S. 2; ED: HStAM, Best. Rechn. II, Ludwigstein Nr. 3 Jg. 1727. – II: Metz: Lucanus (Anm. 20), S. 19. – III: Metz: Lucanus (Anm. 20), S. 19, Gundlach: Dienerbuch (Anm. 4), S. 158f. IV: SD: HStAM, Best. 40 a Rubr. 04 Nr. 84; von 1624 bis 1628 wird in den Rechnungsbüchern Alexander Kellner als Vogt genannt. Bei den Ausgaben für Dienstbesoldung wird mit Ausnahme von zwanzig Wochen im Jahr 1627 nur ein Vogt und kein Amtmann angegeben, vgl. HStAM, Best Rechn. II, Ludwigstein Nr. 3 Jg. 1724 bis 1728. 23 I: HStAM, Best. 17 I Nr. 3196; LAK KB Witzenhausen 1663–1721 Todesfälle 29. 10. 1663. – II: Wilhelm Richard Staehelin: Wappenbuch der Stadt Basel, um 1924, Stammbaum; LAK KB Witzenhausen 1663–1721 Todesfälle 29. 10. 1663. – IV: SD: Wolfgang Metz: Die Familie Wasserhuhn, in: Das Werraland, 1967, Bd. 19, S. 37f.; Holger Thomas Gräf: Konfession und internationales System (Quellen und Forschungen zur hessischen Geschichte 94), Darmstadt 1993, S. 250 und 404; Gregor Horstkemper : Zwischen Bündniszielen und Eigeninteressen. Grenzen konfessioneller Solidarität in der protestantischen Union, in: Friedrich Beiderbeck (Hg.): Dimensionen der europäischen Außenpolitik zur Zeit der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert, Berlin 2003, S. 223–246, hier: S. 234; HStAM, Best. 17 I Nr. 3196, HStAM, Best. 4 d Nr. 276; Johann Christoph Kalckhoff: Historia Cancellariae Rotenbergensis. Geschichte der Rotenburger Quart-Kanzlei – 1627 bis 1743, Rotenburg 2002, S. 7ff.
Sven Bindczeck
Die Konduktoren auf Burg Ludwigstein*
Nr. I Pachtzeit 1 25. 07. 1596 um 1608
II Name und Lebenszeit Hans Holle1 (*1540 +02. 01. 1617)
III Herkunft
2
22. 02. 1680– 22. 02. 1692
Franz Ulrich Laubinger2 (*29. 03. 1649, +30. 03. 1712)
Witzenhausen
3
22. 02. 1692– 25. 03. 1702
Otto Quentin3 (~08. 05. 1642, +25. 03. 1702)
Göttingen
Hessen
IV Pachtsumme / sonstige Dienste in Auswahl / Bemerkung 1320 Gulden / 1570 Diener, 1573 Kanzleischreiber, 1574–1613 Amtmann Ludwigstein 900 Reichstaler (1680–1686), 950 Reichstaler (1686–1692) / 1680–1712 Oberschultheiß Witzenhausen 1080 Reichstaler /1675 Verwalter in Groß Schneen, 1682–1688 Amtmann in Groß Schneen
* Die Anmerkungen führen die Belege zu den einzelnen Spalten nach folgendem Schema an: I Pachtzeit mit Anfangsdatum (AD), erster Erwähnung (EE), Enddatum (ED), letzter Erwähnung (LE); II: Name, Lebenszeit; III: Herkunft; IV: Pachtsumme (P) / sonstige Dienste in Auswahl (SD) / Bemerkung (Bem.). 1 I: AD: HStAM, Best. Urk. 13 Nr. 3133; LE: HStAM, Best. Kopiar, Nr. 151 – II: Wolfgang Metz: Dr. Laurentius Lucanus – Amtmann zu Witzenhausen, in: Das Werraland, 1975, Bd. 27, S. 19–21 – IV: P: HStAM, Best. Urk. 13 Nr. 3133; SD: Franz Gundlach: Die Hessischen Zentralbehörden von 1247 bis 1604, Bd. III Dienerbuch (VHKH 16), Marburg 1930, S. 106. 2 I: AD: HStAM, Best. Rechn. II Ludwigstein Nr. 3 Jg.1680 Bl. 24 h; ED HStAM, Best. 23d Nr. 12 – II: Landeskirchliches Archiv Kassel (LAK), Kirchenbuch (KB) Witzenhausen 1625–1666, Eintrag 29. 03. 1649; LAK, KB Witzenhausen 1663–1721, Eintrag 08. 04. 1712 – III: LAK, KB Witzenhausen 1625–1666, Eintrag 29. 03. 1649 – IV: P: HStAM, Best. Rechn. II Ludwigstein Nr. 3 Jg. 1680 und Jg. 1690; SD: Karl August Eckhardt: Quellen zur Rechtsgeschichte der Stadt Witzenhausen, Marburg 1954, S. CXII. 3 I: AD: HStAM, Best. 23d Nr. 12; ED: LAK, KB Oberrieden 1669–1774, Todesfälle 25. 03. 1702 – II: Kirchliches Archiv Göttingen (KAG), KB Göttingen St. Johannis, Getaufte 1642/159/16; LAK, KB Oberrieden 1669–1774, Todesfälle 25. 03. 1702 – III: KAG, KB Göttingen St. Johannis, Getaufte 1642/159/16 – IV: P: HStAM, Best. Rechn. II Ludwigstein Nr. 3 Jg.1692, SD: KAG, KB Groß Schneen, Getaufte 1675/[47]/6, Getaufte 1682/[51]/5 und 1688/[52]/5.
40
Sven Bindczeck
(Fortsetzung) Nr. I Pachtzeit 4 25. 03. 1702– 22. 02. 1704 5 22. 02. 1704– 03. 04. 1744 6
7
8
II Name und Lebenszeit Erben von Otto Quentin4
III Herkunft
IV Pachtsumme / sonstige Dienste in Auswahl / Bemerkung 1080 Reichstaler / wahrscheinlich bereits Johann Georg Spatz
Johann Georg Spatz5 (*um 1672, +03. 04. 1744)
Regensburg
1095 Reichstaler 31 Albus 4 Heller / 1704 Satrap, 1726 hessisch-rheinfelsischer Sekretär, 1738 Kammerrat / Schwiegersohn von Nr. 3
03. 04. 1744– 22. 02. 1755 22. 02. 1755– 28. 04. 1768
Justus Basilius Spatz6 (*12. 11. 1710)
Oberrieden
1095 Reichstaler 31 Albus 4 Heller / 1736 Quartiermeister / Sohn von Nr. 5 1200 Reichstaler (1755–1766), 1500 Reichstaler (1766–1768) / vor 1748 Quartiermeister, 1759 hessischer Fähnrich
28. 04. 1768– 08. 11. 1771
Dorothea Magdalena Schmalhaus8 (*10. 04. 1742, +16. 03. 1800)
Johann Zacharias Fürstenstein Finck7 (*01. 02. 1725, +28. 04. 1768) Germerode
1500 Reichstaler / Witwe von Nr. 7
4 I: AD: LAK, KB Oberrieden 1669–1774, Todesfälle 25. 03. 1702 und HStAM, Best. Rechn. II Ludwigstein Nr. 3 Jg. 1703 Bl. 30v ; ED: HStAM, Best. Rechn. II Ludwigstein Nr. 3 Jg. 1704 Bl. 30v – IV: P: HStAM, Best. Rechn. II Ludwigstein Nr. 3 Jg. 1703 Bl. 30v ; Bem.: HStAM, Best. 70 Nr. 1239 Bl. 7v. 5 I: AD: HStAM, Best. Rechn. II Ludwigstein Nr. 3 Jg. 1704 Bl. 30v ; ED: LAK, KB Oberrieden 1669–1774, Todesfälle 03. 04. 1744 – II: LAK, KB Oberrieden 1669–1774, Todesfälle 03. 04. 1744 – III: LAK, KB Oberrieden 1669–1774 Trauungen 11. 06. 1702 – IV: P: HStAM, Best. Rechn. II Ludwigstein 3, Jg 1704ff und Rechn. II Witzenhausen 10, Jg. 1727ff; SD: LAK, KB Oberrieden 1669–1774 Geburten 18. 11. 1704, LAK, KB Oberrieden 1669–1774 Geburten 12. 11. 1712, HStAM, Best. 47 Nr. 15; Bem.: LAK, KB Oberrieden 1669–1774 Trauungen 11. 06. 1702. 6 I: AD: LAK, KB Oberrieden, 1669–1774, Todesfälle 03. 04. 1744; ED: HStAM, Best. 70 Nr. 1239 – II und III: LAK, KB Oberrieden 1669–1774 Geburten 12. 11. 1710 – IV: P: HStAM, Best. Rechn. II Witzenhausen 10, Jg. 1745, Bl. 216v ; SD: Wolfgang Metz: Aus der Geschichte der hessischen Burg Ludwigstein, in: Hessenland, 1941, Bd. 52, S. 58–60; Bem.: LAK, KB Oberrieden 1669–1774 Geburten 12. 11. 1710. 7 I: AD: HStAM, Best. 70 Nr. 1239 und Best. Rechn. II Witzenhausen 10 Jg. 1755, Bl. 226; ED: LAK, KB Oberrieden 1669–1774, Todesfälle 28. 04. 1768 – II: LAK, KB Albungen 1635–1770 Geburten 04. 02. 1725, LAK, KB Oberrieden 1669–1774 Todesfälle 28. 04. 1768 – III: LAK, KB Albungen 1635–1770 Geburten 04. 02. 1725 – IV: P: HStAM, Best. Rechn. II Witzenhausen 10 Jg. 1755, Bl. 226 und Jg. 1767, Bl. 215; SD: LAK, KB Hundelshausen 1717–1763 Trauungen 06. 08. 1748, LAK, KB Oberrieden 1669–1774 Geburten 14. 04. 1759. 8 I: AD: LAK, KB Oberrieden 1669–1774 Todesfälle 28. 04. 1768; ED: LAK, KB Oberrieden 1669–1774 Trauungen 08. 11. 1771– II: LAK, KB Germerode 1723–1760 Geburten 10. 04. 1742,
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Die Konduktoren auf Burg Ludwigstein
(Fortsetzung) Nr. I Pachtzeit 9 08. 11. 1771– 11. 10. 1786 10 11. 10. 1786– 29. 07. 1788 11
12
13
9
10 11
12
13
29. 07. 1788– 16. 11. 1811 1812– 26. 07. 1815 1815– 13. 11. 1829
II Name und Lebenszeit Johann Ludwig Billep9 (*09. 11. 1732; +11. 10. 1786) Dorothea Magdalena Schmalhaus10 (*10. 04. 1742, +16. 03. 1800) Johann Adam Schönewald11 (*21. 09. 1748, + 16. 11. 1811) Johann Heinrich Wilhelm Siebert12 (*22. 10. 1771, + 26. 07. 1815)
III Herkunft
IV Pachtsumme / sonstige Dienste in Auswahl / Bemerkung Hohengandern 1500 Reichstaler (1771–1778) / vor 1771 Cornett in BraunschweigLüneburgischen Diensten Ehemann von Nr. 8 Germerode Witwe von Nr. 9
Georg Wilhelm Ehrbeck13 (*25. 03. 1770, +13. 11. 1829)
Zierenberg
Binsförth
1779 Rentereischreiber, Kammersekretär / Ehemann von Nr. 10
Unterrieden
1788 Lehrer in Oberrieden / Schwiegervater von Nr. 12
LAK, KB Oberrieden 1770–1830 Todesfälle 19. 03. 1800 – III: LAK, KB Germerode 1723–1760 Geburten 10. 04. 1742 – IV: P: HStAM, Best. Rechn. II Witzenhausen 10 Jg. 1767, Bl. 215; Bem.: Wilm Sippel: Daten zur Nordhessischen Führungsschicht, Bd. 15, Eschwege 1998, Stichwort: Finck, Zacharias. I: AD: LAK, KB Oberrieden 1669–1774 Trauungen 08. 11. 1771; ED: LAK, KB Oberrieden 1770–1830 Todesfälle 14. 10. 1786 – II: LAK, KB Oberrieden 1770–1830 Todesfälle 14. 10. 1786 – III: LAK, KB Oberrieden 1669–1774 Trauungen 8. 11. 1771 – IV: P: HStAM, Best. Rechn. II Witzenhausen 10 Jg. 1767, Bl. 215; SD: LAK, KB Oberrieden 1669–1774 Trauungen 08. 11. 1771 und 1770–1830 Geburten 03. 09. 1773; Bem.: LAK, KB Oberrieden 1669–1774 Trauungen 08. 11. 1771. I: AD: LAK, KB Oberrieden 1770–1830 Todesfälle 14. 10. 1786; ED: LAK, KB Oberrieden 1770–1830 Trauungen 29. 07. 1788 – II und III: s. Anm. 9 – IV: Bem. (Anm. 10). I: AD: LAK, KB Oberrieden 1770–1830 Trauungen 29. 07. 1788; ED: LAK KB Oberrieden 1770–1830 Todesfälle 16. 11. 1811 – II: LAK, KB Oberrieden 1770–1830 Trauungen 02. 09. 1801, LAK, KB Oberrieden 1770–1830 Todesfälle 16. 11. 1811 – III: LAK, KB Oberrieden 1770–1830 Trauungen 29. 07. 1788 – IV: SD: LAK, KB Germerode 1760–1795 Trauungen 06. 10. 1779, LAK, KB Oberrieden 1770–1830 Trauungen 29. 07. 1788; Bem.: LAK, KB Oberrieden 1770–1830 Trauungen 29. 07. 1788. I: EE: Hans-Dieter Nahme: Zwischen den Werra-Burgen. Eine Familie in der Geschichte einer deutschen Grenze, Goslar 1983, S. 36; ED: LAK, KB Oberrieden 1770–1830 Todesfälle 26. 03. 1815 – II: LAK, KB Unterrieden UR 1761–1830 Geburten 26. 10. 1771, LAK, KB Oberrieden 1770–1830 Todesfälle 26. 03. 1815 – III: LAK, KB Unterrieden UR 1761–1830 Geburten 26. 10. 1771. I: EE: Nahme: Werra-Burgen (Anm. 12), S. 38; ED: Nahme: Werra-Burgen (Anm. 12), S. 40 –
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(Fortsetzung) Nr. I Pachtzeit 14 13. 11. 1829– 19. 03. 1831 15 19. 03. 1831– 13. 02. 1861 16
13. 02. 1861– 20. 07. 1877
17
20. 07. 1877– 1890
14 15 16
17
II Name und III Herkunft Lebenszeit Erben von Georg Wilhelm Ehrbeck14
IV Pachtsumme / sonstige Dienste in Auswahl / Bemerkung
Johann Heinrich Ehrbeck15 (*04. 01. 1804, +13. 02. 1861)
Sohn von Nr. 13
Wilhelm Heinrich Ehrbeck16 (*13. 02. 1834, +17. 04. 1919) und sein Bruder Johannes Heinrich Ehrbeck (*7.1836, +1879) Wilhelm Heinrich Ehrbeck17 (*13. 02. 1834, +17. 04. 1919
Oberrieden
3670 Taler (ab 1871) / Söhne von Nr. 15
3670 Taler
II: LAK, KB Zierenberg 1760–1819 Geburten 25. 03. 1770, Nahme: Werra-Burgen (Anm. 12), S. 40 – III: LAK, KB Zierenberg 1760–1819 Geburten 25. 03. 1770 – IV: SD: Nahme: WerraBurgen (Anm. 12), S. 34; Bem.: LAK, KB Oberrieden 1770–1830 Trauungen 04. 06. 1809. I: AD: Nahme: Werra-Burgen (Anm. 12), S. 40; ED: Nahme: Werra-Burgen (Anm. 12), S. 44. I: AD: Nahme: Werra-Burgen (Anm. 12), S. 44; ED: LAK, KB Wendershausen 1830–1993, Todesfälle 13. 02. 1861 – II und III: LAK, KB Wendershausen 1830–1993, Todesfälle 13. 02. 1861 – IV: Bem.: Nahme: Werra-Burgen (Anm. 12), S. 44. I: AD: LAK, KB Wendershausen 1830–1993, Todesfälle 13. 02. 1861; ED: HStAM, Best. 185 Nr. 205 – II: Wilhelm: Nahme: Werra-Burgen (Anm. 12), S. 61 und 76, Johannes: Nahme: Werra-Burgen (Anm. 12), S. 61 und 85 – IV: P: HStAM, Best. 185 Nr. 205; Bem.: Nahme: Werra-Burgen (Anm. 12), S. 63. I: AD: HStAM, Best. 185 Nr. 205; ED: Nahme: Werra-Burgen (Anm. 12), S. 68 – II und III: s. Anm. 17 – IV: P: HStAM, Best. 185 Nr. 205.
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Die Bewohner und Lebensbedingungen in der frühneuzeitlichen Burg Ludwigstein
Ein Aufenthalt in der mittelalterlich anmutenden Burg Ludwigstein führt Besucher schnell zu der Frage, wer denn in früheren Jahrhunderten die Bewohner waren und wie ihre Lebensbedingungen aussahen. Das Aussehen und die Ausstattung der heutigen Burg geben auf diese einfache Frage kaum Hinweise. Zwar stammen die Mauern und einige Kamine aus früheren Jahrhunderten, aber das ist auch schon alles. Das heutige Inventar und der Raumschmuck stammen überwiegend aus dem 20. Jahrhundert, und selbst die Raumaufteilung wurde im letzten Jahrhundert durchgreifend verändert, um den Erfordernissen eines Jugendherbergsbetriebes gerecht zu werden. Es sind neue Gebäude und Gebäudeteile hinzugekommen, viele ältere Bauwerke sind verschwunden. Auch die schriftlichen Quellen bieten nur bedingt Auskunft; erst die Zusammenstellung vieler Einzelinformationen vermittelt eine gewisse Vorstellung davon, wie sich das Leben am Amtssitz und auf der Domäne abgespielt haben könnte.1 Beginnend mit den ersten Quellen, die die Einrichtung der Burg zu Beginn des 15. Jahrhunderts beschreiben, bis zu den Nachrichten über den Rückbau am Ende des 19. Jahrhunderts, sollen daher hier die Angaben zur Ausstattung der Burg und der jeweiligen Bewohnerschaft zusammen gestellt werden.2
Die Zeit der Erbauung und der ersten Amtmänner (1415–1437) Die ersten beiden namentlich bekannten Amtmänner waren Hans von Dörnberg, genannt Junghans, und Hermann Diede zum Fürstenstein des Älteren. Hans von Dörnberg erhielt eine feste Besoldung seines Landesherrn von 13 1 Für Hinweise, Korrekturen und Anmerkungen zu diesem Artikel möchte ich mich herzlich bei Dr. Jochen Ebert, Dr. Karl Kollmann, Dr. Susanne Rappe-Weber, Dr. Mechthild Weß und Dr. Dieter Wunder bedanken. 2 Eine Ausnahme stellt das Tagebuch des Verwalters Johan Adam Schönewald dar, das für die Jahre 1807 bis 1811 sehr genaue Angaben enthält; Johan Adam Schönewald: Tagebuch (1807–1811), Pfälzische Landesbibliothek Speyer Hs. 661.
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Malter Roggen (Korn), 20 Malter Hafer, 7 Fuder Bier und 16 Seiten Fleisch.3 Dazu bekam er ein Stück Land unterhalb des Ludwigsteins, welches er beackern durfte und dessen Ertrag ihm zustand. Dagegen war die Besoldung seines Nachfolgers, Hermann Diede zum Fürstenstein des Älteren, so geregelt, dass er die Überschüsse aus dem Amt, also das, was nach den Zahlungen an den Kasseler Landgrafen übrig blieb, behalten sollte.4 Beiden Amtmännern wurde auferlegt, dass sie mit ihrer Familie und ihrem Gesinde auf der Burg ansässig sein sollten. Dementsprechend muss die 1415 errichtete Burg bis zum Amtsantritt des Hans von Dörnberg 1416 schon erheblich ausgebaut worden sein. Aus dieser Zeit stammen im Wesentlichen die Ringmauer mit dem Eingangstor und dem Turm. Insbesondere hinsichtlich der Technik und Sorgfalt des Mauerwerks weisen diese Teile sehr viele Ähnlichkeiten mit der 1419 errichteten, ebenfalls auf Landgraf Ludwig I. zurück gehenden Burg Ludwigseck auf.5 Auch der hohe, in die Mauer integrierte Schornstein der Küche, der zusammen mit dem Rauchfang auf schweren, heute noch sichtbaren Eichenbalken lastet, entstand schon in der ersten Bauphase (vgl. Abb. 2). Die Ausstattung der Burg musste den Ansprüchen eines landadligen Haushaltes genügen; dazu zählten nachweislich nicht nur Küchengerät und Bettstellen mit Decken und Tischwäsche, sondern auch Waffen und Esel für den täglichen Wassertransport, sowie einige wenige Lebensmittelvorräte.6 Gestellt wurde diese Grundausstattung vom Landgrafen; sie verblieb auch dann auf der Burg, wenn es zu einem Wechsel der Amtmänner kam. Hermann Diede zum Fürstenstein der Ältere startete 1430 mit einer deutlich umfassenderen Einrichtung, wie das entsprechende Inventar ausweist. Mehr Betten, Bett- und Tischwäsche, Küchen- und Haushaltsgeräte sowie größere Vorräte an Getreide, Würsten, Käse und Vieh gehörten dazu. Zudem konnte Diede bei seinem Amtsantritt eine Reihe von Ackergeräten übernehmen.7 Neben der Familie des Amtmannes haben wahrscheinlich auch weitere Bedienstete, Mägde, Knechte usw. auf der Burg gewohnt. Zwei Personen werden genannt, wobei nicht sicher ist, wo ihr tatsächlicher Wohnsitz war : 1419 wird ein Vogt vom Ludwigstein8 und 1429 wird Johann Rasche als Knecht auf dem Ludwigstein erwähnt. Johann Rasche war bereits Ende 1426 als landgräflicher Diener in Erscheinung getreten. 1436 wurde er mit dem Steingrubenland bei 3 Zur Orientierung: ein Malter entsprach in dieser Zeit etwa 188 Liter, ein Fuder 953 Liter Inhalt. 4 Hessisches Staatsarchiv Marburg (HStAM), Best. Urk. 13 Nr. 3115 und 3116 sowie HStAM, Best. Kopiar 4 Nr. 339. 5 Eugen Michel: Burg Ludwigstein, in: Zeitschrift für Bauwesen, 1907, 57. Jg., Sp. 160. 6 HStAM, Best. Kopiar 4 Nr. 339. 7 HStAM, Best. Urk. 13 Nr. 3116. 8 LAGIS: Regesten der Landgrafen von Hessen, Nr. 8830, verfügbar unter : http://www.lagishessen.de/de/subjects/gsrec/current/1/sn/lgr?q=8830 [03. 10. 2014].
Die Bewohner und Lebensbedingungen in der frühneuzeitlichen Burg Ludwigstein
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Witzenhausen belehnt, war von 1436 bis 1449 Schultheiß und 1456/57 bzw. 1458/ 59 Ratsherr in Witzenhausen.9
Die Zeit der adeligen Amtmänner (1445–1567) Hermann Meisenbug wird 1445 als Amtmann erwähnt. Soweit bekannt, ist er der erste Pfandnehmer des Amtes Ludwigstein.10 Er dürfte sich nicht sehr oft auf dem Ludwigstein aufgehalten haben, da er zugleich als Hofmeister am Hof des Landgrafen wirkte. Dagegen ist es wahrscheinlich, dass sein Neffe, Wilhelm Meisenbug, und dessen Sohn Hermann Meisenbug der Jüngere, die das Amt Ludwigstein 1455 als Pfand übernahmen, sehr wohl auf der Burg einzogen, denn sie bekleideten keine weiteren Ämter. Erst später, 1474, wurde Hermann Meisenbug der Jüngere Amtmann in Wolfhagen.11 Hans von Dörnberg wiederum, Sohn des allerersten Ludwigsteiner Amtmannes, der 1460 in das Amt eintrat, war zu dieser Zeit noch für die Gräfin Elisabeth von Ziegenhain tätig. 1461 war er für Eberhard von Eppstein-Königstein und ab Mitte 1462 am landgräflichen Hof als Hofmeister tätig.12 In den vier Jahren seiner Amtszeit hat somit wohl kein Amtmann auf der Burg gelebt. Geplante Burgausbauten wurden in dieser Zeit nicht realisiert.13 Georg von Buttlar, der das Amt 1464 pfandweise übernahm, war Hofdiener, aber bekleidete keine weiteren Ämter. 1467 war er einer der Schiedsmänner, die die Verhandlungen über Landesteilungen zwischen Ludwig II. und Heinrich III. führten.14 Dass er sich längere Zeit auf der Burg aufhielt, ist auch dadurch belegt, dass 1479 ein Brief aus Eschwege an ihn direkt auf den Ludwigstein ging.15 In seiner 22-jährigen Amtszeit wurden insgesamt 420 Gulden für Neubauten aufgewandt, darunter ein Haus sowie Keller.16 Mit der Verpfändung des Amtes an Sittich den Älteren und Kaspar von Berlepsch wurde eine niederadlige Familie, die schon in landgräflichen Diensten 9 Christian Hesse: Amtsträger der Fürsten im spätmittelalterlichen Reich, Göttingen 2005, S. 568; Karl August Eckhardt: Quellen zur Rechtsgeschichte der Stadt Witzenhausen, Marburg 1954, S. CXI; Karl Ernst Demandt: Der Personenstaat der Landgrafschaft Hessen im Mittelalter, Marburg 1981, S. 651. 10 LAGIS: Regesten (Anm. 8), Nr. 9173. 11 HStAM, Best. Urk. 13, Nr. 3117; Hesse: Amtsträger (Anm. 9), S. 543; Fritz Fischer : Ahnenreihenwerk Geschwister Fischer, Bd. 7, Bieitigheim-Bissingen 1986. 12 HStAM, Best. Urk. 13, Nr. 3118; Demandt: Personenstaat (Anm. 9), S. 150f. 13 HStAM, Best. Urk 13 Nr. 3118 und 3119. 14 HStAM, Best. Urk. 13, Nr. 3119; Rudolf Buttlar-Elbersberg: Stammbuch der Althessischen Ritterschaft, Kassel 1888, S. 57; Demandt: Personenstaat (Anm. 9), S. 125. 15 HStAM, Best. Rechn. I Eschwege Nr. 44/14. 16 HStAM, Best. Urk. 11 Nr. 2240.
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stand, bedacht. Während Sittich diese Aufgaben weiterführte und 1487 Rat bei Wilhelm III. wurde, führte wahrscheinlich Kaspar die Amtsgeschäfte auf Burg Ludwigstein.17 Kaspar von Berlepsch wird 1487 mehrfach in der Vogtrechnung des Amtes Bilstein im Zusammenhang mit Getreidelieferungen für die Burg Ludwigstein erwähnt.18 Der Landgraf musste für Erhaltungsmaßnahmen aufkommen, während sich Sittich der Ältere und Kaspar von Berlepsch verpflichteten, einen Pferdestall und einen Fruchtboden auf einem Stall zu errichten.19 Wahrscheinlich wurde dieses Vorhaben auch umgesetzt, denn nach nur drei Jahren wurde der Ludwigstein für 55 Gulden mehr ausgelöst als er vorher verpfändet worden war ; der Wert war also gestiegen.20 Der landwirtschaftlichen Ausbauten wurden notwendig, weil sich das Amt vergrößerte und die Abgaben der Untertanen hier gesammelt wurden. So lieferte ab 1446 das Witzenhäuser Wilhelmitenkloster seine Abgaben für einen Acker, der ihm geschenkt worden war, auf den Ludwigstein.21 Auf der Burg entwickelt sich eine Eigenwirtschaft, ausgehend von einigen Äckern der Burg und vier Wiesen (1466), die Grundlage der späteren Domäne.22 Zu dieser Zeit gehörte auch bereits ein Vorwerk in Wendershausen dazu, das Georg von Buttlar 1477 für 325 Gulden kaufte und das bei der Auslösung der Pfandschaft durch den Landgrafen dem Amt zugeschlagen wurde.23 Um diese Felder und Wiesen zu bestellen zu können, wurden Knechte und Mägde beschäftigt, die auf der Burg lebten. Dies ist durch die Vogtrechnungsbücher des Amtes Ludwigstein vom Ende des 15. Jahrhunderts belegt.24 Entlohnt wurden demnach neben einigen Schäfermeistern, Schäfern und Schafsknechten mehrere Personen, die entweder auf der Burg oder im Vorwerk in Wendershausen gearbeitet haben: der Kuhhirte Celioxe, der Schweinehirte Hans, die Mägde Katharina und Osanne, dazu der Eselstreiber Hermann Backe, der wohl die Wassertransporte auf die Burg besorgte. Ihr Lohn bestand außer in Geld auch aus Kleidung und Schuhen. Die Vögte selbst, Kurt Heidenreich und Heinrich Scherer, erhielten jedes Jahr 12 Malter Hafer für ihr Pferd und auch der
17 HStAM, Best. Urk. 11 Nr. 2240; HStAM Best. 2 Nr. 414 Bl. 11v ; Demandt: Personenstaat (Anm. 9), S. 41 und 45. 18 HStAM, Best. Rechn. I Nr. 28/6 Bl. 32v und 41v. 19 HStAM, Best. Urk. 11 Nr. 2240. 20 Ulrich Friedrich Kopp: Beytrag zur Geschichte des Salzwerks in den Soden bey Allendorf an der Werra, Marburg 1788, S. 40f. 21 Albert Huyskens: Die Klöster der Landschaft an der Werra, Marburg 1916, S. 610. 22 HStAM, Best. Salbücher Nr. 9, Bl. 56v. 23 LAGIS, Historisches Ortslexikon, Wendershausen, verfügbar unter : http://www.lagis-hessen.de/de/subjects/gsrec/current/2/sn/ol?q=wendershausen [03. 10. 2014] und HStAM, Best. Urk. 11 Nr. 2240. 24 HStAM, Best. Rechn I. 72/12 bis 72/18.
Die Bewohner und Lebensbedingungen in der frühneuzeitlichen Burg Ludwigstein
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Hufbeschlag wurde ihnen vergütet. Auch die Schuhe der »Vögtin«, also der Frau von Kurt Heidenreich, wurden bezahlt. Aus den Einnahmen des Amtes mussten die Aufwendungen der Landgrafschaft bezahlt werden, manchmal ganz unmittelbar wenn sich der Landgraf Wilhelm II. von Hessen auf der Burg oder in der Umgebung z. B. aus Anlass einer Wolfsjagd aufhielt. Aber auch ohne Beteiligung des Landgrafen wurden in der Umgebung des Ludwigsteins Jagden, z. B. eine Rehjagd, durchgeführt. Bezahlt und verköstigt wurden bei diesen Anlässen auch die landgräflichen Knechte und Pferde, die Jäger und deren Hunde usw. Amtmann war zu dieser Zeit wohl Rabe von Boyneburg-Hohenstein der Jüngere, genannt »Junker Rabe«;25 über seine Amtstätigkeit und auch die Tätigkeit seiner Frau sind einige Details bekannt: mal erhielt er Geld, nahm Getreideabgaben entgegen oder kümmerte sich um Streitigkeiten mit den Fischern des Amtes. Häufiger Partner bei diesen Geschäften war Asmus von Keudell. – Auf der Burg gab es zu dieser Zeit ein Pförtnerhaus, ein Stallgebäude und auch eine Kapelle, wie die Amtsausgaben für Messwein belegen; dagegen wurden einige ältere Bauteile bereits wieder abgerissen. Mit der Beschaffung eines Kachelofens zum Beheizen der Wohnräume erhöhte sich allmählich der Wohnkomfort. Für den nächsten Amtmann und Pfandnehmer, Hermann von BoyneburgLengsfeld (1501–1503), arbeiteten u. a. drei Amtsknechte; er selbst hielt sich nicht ständig am Hof des Landgrafen auf.26 Sein Nachfolger wurde noch einmal Sittich der Ältere von Berlepsch, der aber weiterhin vorwiegend für den Landgrafen tätig war, seit 1507 als Erbkämmerer, später auch als Hofmeister und Statthalter zu Kassel.27 Als er 1513 starb, übernahmen seine Söhne kurzzeitig das Pfand, aber schon 1515 wurde es für 17 Jahre an Christian von Hanstein vergeben. Erst jetzt setzte wieder eine nachweisbare Bautätigkeit ein: zum Auftakt dieser Pfandschaft wurde eine Besichtigung vorgenommen und daraufhin eine Instandsetzung auf Kosten der Landgrafschaft vereinbart.28 Später wurden Christian von Hanstein noch einmal 100 Gulden Baugeld bewilligt.29 Nach seinem Tode um 1532 verwaltete sein Sohn die Pfandschaft noch kurze Zeit und
25 Rabe von Boyneburg-Hohenstein d. J. nach Demandt: Personenstaat (Anm. 9), S. 451f.; Landau nennt Rabe von Herda zwischen 1488 und 1501 als Amtmann vom Ludwigstein, vgl. Georg Landau: Die hessischen Ritterburgen und ihre Besitzer, Kassel 1839, S. 204. 26 HStAM, Best. Kopiar 131a Bd. 2 Bl. 27, 39v und 53: Zur Verpfändung vgl. HStAM, Best. Urk. 13 Nr. 3122 und Demandt: Personenstaat (Anm. 9), S. 86. 27 Karl Ernst Demandt: Regesten der Landgräflichen Kopiare, Bd. 2, Marburg 1990 und Demandt: Personenstaat (Anm. 9), S. 45f.; Sittich nahm demnach als landgräflicher Erbkämmerer 1507 am Reichstag zu Konstanz teil, vgl. ebd. 28 HStAM, Best. 17 e Ludwigstein 3 Bl. 14vf. 29 HStAM, Best. 17 e Ludwigstein 3.
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übergab sie 1533 für ein Jahr an Kurt Rommel, von dem ein Abbild auf einer Grabplatte überliefert ist.30 Rommels Nachfolger wurde Christoph von Steinberg, der wie seine Vorgänger noch weitere Aufgaben und Ämter ausfüllte: so begleitete er im Zuge der Reformationsstreitigkeiten Landgraf Philipp I. 1534 bei einem Feldzug, um die Wiedereinsetzung Ulrichs von Württemberg durchzusetzen.31 Seine Zuständigkeit für die Burg nahm er aber durchaus ernst, wie ein Bericht über seine »Wiederheimkunft« belegt, als er die Vorwerke und Ländereien inspizierte. Zudem kümmerte er sich um die bauliche Erhaltung: 1534 kaufte er Dielen in Duderstadt, 1537 ließ er umfangreiche Bauarbeiten durchführen, für die ihm der Landgraf eine Versicherung über 300 Goldgulden ausstellte.32 Der nächste Amtmann war dann ab 1439 Johann Rau von Nordeck,33 der häufige Reisen im Auftrag des Landgrafen unternahm, z. B. im Januar 1542, als er die Nachricht vom Tod des Wilke von Münchhausen an den Hof von Herzogin Elisabeth von Brandenburg, der Gattin von Erich von Braunschweig, überbrachte.34 In dieser Phase wirkte der Amtsvogt Johann Löber auf der Burg, der später Schultheiß in Witzenhausen wurde.35 Der nächste Amtsinhaber, Christoph Hülsing, stand dem Landgrafen Philipp I. besonders nahe und heiratete die Schwester der Nebenfrau, Barbara von der Saale. Während er häufig seinen Herrn begleitete, u. a. in den Schmalkaldischen Krieges und in die Gefangenschaft 1546, aus der sie erst 1552 zurückkehrten, lebte die Familie auf der Burg.36 In dieser Zeit wurde die Burg wohnlich stark verbessert, wie die Bewilligung von 1000 Gulden Baugeld belegt.37 Spuren dieser 30 HStAM, Best. 17 d Hülsing 3. – Lothar Rommel: Die Rommels, Nieste 1996. – Kurt Rommel klärte in seiner Amtszeit den Grenzverlauf beim »Sensenstein«, heute in der Gemeinde Nieste, vgl. HStAM, Best. 3 Nr. 1628. 31 Christoph von Rommel: Philipp der Großmüthige, Landgraf von Hessen, Bd. 2, Gießen 1830, S. 350 und Wilhelm Havemann: Geschichte der Lande Braunschweig und Lüneburg, Bd. 2, Göttingen 1855, S. 223f; Christoph von Steinberg wurde am 09. 12. 1537 als Rat genannt und am 31. 03. 1538 zum Rat und Diener von Haus aus bestellt, nach Franz Gundlach: Die hessischen Zentralbehörden von 1247 bis 1604, Bd. 3, Marburg 1930, S. 261. 32 HStAM, Best. 17 e Ludwigstein 4; Michel: Ludwigstein (Anm. 5), Sp. 160ff. 33 HStAM, Best. 23 c Ludwigstein 1; Johann Rau von Nordeck sollte demnach für Siegmund von Boyneburg Nachforschungen im Zusammenhang mit einer Eheschließung in Hundelshausen anstellen. 34 HStAM, Best. 3 Nr. 1607. 35 Eckhardt: Quellen (Anm. 9), S. 214. 36 Susanne Rappe-Weber : Barbara von der Saale und Christoph Hülsing – Landgraf Philipps Amtsehepaar auf der Burg Ludwigstein, in: Hessische Heimat, 2004, Bd. 54, S. 71–73; beispielsweise besuchte Margarethe von der Saale, die in Spangenberg lebende zweite Frau des Landgrafen, 1559 ihre Schwester Barbara anlässlich einer Kindstaufe, vgl. HStAM, Best. 3 Nr. 27 Bl. 61v. 37 Aus einem Bericht des Amtmannes Hans Holle (1605), vgl. HStAM, Best. 17 e Ludwigstein 6; HStAM, Best. 17 e Ludwigstein 3, Bl. 24r und 20v.
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Bautätigkeiten fanden sich noch an der Wende vom 19. zum 20. Jh. Die umfassende Ausstattung der Burg zeigt sich in dem Inventar, das Barbara von der 1574 erstellte, um Teile davon zu verkaufen, als sie die Burg verließ. Es umfasste u. a. dreizehn Tische, dreizehn Betten (darunter zehn Himmelbetten), sechs Bänke, einen Tresor, einen großen Schrank und sechs lange Feuerleitern.38
Die Zeit der nichtadeligen Amtmänner (1574–1664) Nachdem Wilhelm IV. das Lehen zurückgekauft hatte, setzte er nur noch nichtadelige Amtmänner ein. Der erste in dieser Reihe war Hans Holle mit seiner Frau, die in einem Kasseler Kirchenbuch als »Hausfrau vom Ludwigstein« bezeichnet wird.39 Holle unterhielt auch Amts- und Wohnräume in Witzenhausen im 1584 erbauten Steinernen Haus, das er 1611 kaufte.40 Dieses Haus beherbergte bis in die 1830er-Jahre das landgräfliche Amt. Hans Holles Schwiegersohn, Wolf von Hesberg, vertrat ihn 1601 als »Amtsverweser« auf der Burg. Später wurde Wolf von Hesberg als Rentmeister des Ludwigsteins geführt. Auch er lebte mit seiner Familie auf der Burg Ludwigstein, wo 1601 ein Sohn geboren wurde.41 In dieser Phase wurden erhebliche Beträge für Baumaßnahmen aufgewendet: 1611 mehr als 200 Gulden, 1612 und 1613 jeweils 115 Gulden, in den folgenden Jahren aber nur noch 37 Gulden.42 Noch 1907 fand sich im Kamin des Landgrafenzimmers ein mit der Jahreszahl 1607 versehener Stein eingemauert.43 Der Nachfolger Holles, Werner Ungefug, führte die Amtsgeschäfte vom Ludwigstein aus, wie ein Vorfall belegt, als er im Dezember 1616 dort befragt wurde.44 Zudem wirkte er zeitweise als Offizier im hessischen Heer und erledigte weitere landgräflichen Angelegenheiten, beispielsweise 1615 mit einer Reise nach Bremen; 1621 führte er – mittlerweile Hauptmann geworden – eine Abteilung, die die Stadt Lichtenau »berührte«.45 1624 führte an seiner Stelle der Vogt Alexander Kellner das Amt. Während des Krieges kam es zu einigen Zer38 HStAM, Best. 17 d Hülsing 6. 39 Edith Schlieper : Das früheste Kirchenbuch der Altstadt Kassel 1565–1598, Kassel 1988, S. 61. 40 Karl August Eckhardt: Witzenhäuser Hauschronik (Beiträge zur Geschichte der Werralandschaft 2), Marburg 1929, S. 26f. 41 HStAM, Best. 17 e Ludwigstein 7, HStAM, Best. Kopiare Nr. 151a und Wolfgang Metz: Aus der Geschichte der hessischen Burg Ludwigstein, in: Hessenland, 1941, Bd. 52, S. 58–60. – Weil Wolf von Hesberg als Amtsverweser bzw. als Rentmeister fungierte, wird er in einigen Übersichten als Amtmann vom Ludwigstein aufgeführt. 42 HStAM, Best. Salbücher Nr. 76. 43 Michel: Burg Ludwigstein (Anm. 5), Sp. 162. 44 HStAM, Best. 17 e Witzenhausen 38. 45 HStAM, Best. 4d Nr. 224; HStAM, Best. 17 e Witzenhausen 38, G. Siegel: Geschichte der Stadt Lichtenau in Hessen und ihrer Umgebung, in: Zeitschrift für Hessische Geschichte, 1897, Bd. 32, S. 198.
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störungen auf der Burg, u. a. 1623 als kaiserliche Truppen unter Tilly, Schlösser, Türen und weiteres Inventar beschädigten und die beiden Esel mitnahmen. Die auf der Burg verbliebenen Wachen waren den Soldaten nicht gewachsen. 1627 war man gezwungen Rindvieh, das sonst in der Burg untergebracht war, nach Witzenhausen zu bringen.46 Zu Beginn dieses Jahres übernahm Laurentius Lucan die Position des Amtmannes. Seine Frau war eine Enkelin des Hans Holle und hatte in Witzenhausen erheblichen Besitz geerbt.47 Auf der Burg war Lucan nur für zwanzig Wochen als Amtmann, nahm aber viele Aufgaben am landgräflichen Hof wahr. So war er Mitglied der fünfköpfigen Kommission, die im März 1627 die Abdankung von Landgraf Moritz vollzog.48 Lorenz Lucan kann als Vertreter des neuen Typus akademisch gebildeter höherer Beamter gelten. Er war der Sohn des Bürgermeisters von Rauschenberg (Marburg-Biedenkopf) und Enkel des Bürgermeisters von Frankenberg (Waldeck-Frankenberg). Studiert hat er zunächst von 1592 bis 1600 an der Landesuniversität in Marburg, dann weitere sechs Jahre in Jena. Ein vierjähriger Aufenthalt in Italien und Frankreich als Hofmeisters des Marschalls Georg Philipp von Ostheim schloss sich an, und schließlich promovierte er 1612 in Basel.49 Aus der Zeit des Amtmannes Lucan ist ein Inventarverzeichnis überliefert, das über die Aufteilung und Ausstattung der Wohn- und Wirtschaftsräume informiert. Es gab drei Raumgruppen, beginnend mit dem Saal, das heutige sog. Landgrafenzimmer, mit zwei Schränken, einer Stube mit Ofen, Tisch und Bänken und einer Kammer mit einem Bett. Die zweite Gruppe war eine Vierbettkammer – wahrscheinlich im Obergeschoss des heutigen Seitenbaus – mit zwei Betten, einer Stube mit Ofen, Tisch und Bank sowie einer Kammer mit zwei Betten. Die dritte Gruppe bestand aus dem fürstlichen Gemach mit Ofen, zwei Tischen und Bänken und zwei Kammern, mit jeweils einem Bett. Daneben gab es weitere neun mit Inventar der Rentkammer ausgestattete Räume: die Hofstube, die kleine Stube, die Backkammer, die Burgküche, die Speisekammer, die alte Stube, die Rollkammer, der Pferdestall und die Kanzlei; anderweitig möblierte Räume wie die bereits 1625 erwähnte Schulstube kommen hinzu.50 Insgesamt zehn dieser Räume waren beheizbar.51 Das Amtsinhaberpaar, seine Familie, das 46 HStAM, Best. Rechn. II Ludwigstein Nr. 3 Jg. 1624 und 1627; HStAM, Best. 4 h Nr. 375. 47 Eckhardt: Hauschronik (Anm. 43), S. 28. 48 HStAM Best. Rechn. II Ludwigstein Nr. 3 Jg. 1627; Carl Eduard Vehse: Geschichte der deutschen Höfe seit der Reformation, Hamburg 1853, S. 76. 49 Johannes Friedrich Jacobs: Eine Aufzeichnung von 1654 zur Geschichte der Familie Lucan (us), o. O. 1976, S. 6ff; Wolfgang Metz: Dr. Laurentius Lucanus – Amtmann zu Witzenhausen, in: Das Werraland, 1975, Bd. 27, S. 19–21; Wilhelm Lucan: Nachrichten über die Familie Lucan, Witzenhausen 1872. 50 HStAM, Best. Rechn. II Ludwigstein Nr. 3, Jg. 1625; Hans-Dieter Nahme: Zwischen den Werra-Burgen. Eine Familie in der Geschichte einer deutschen Grenze, Goslar 1991, S. 30. 51 HStAM, Best. Rechn. II Ludwigstein Nr. 3, Jg. 1626.
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Gesinde, Besucher und Gäste nutzten – mehr oder minder regelmäßig – diese Wohnbereiche in der alten Burg (vgl. Abb. 8). Die Investitionen in den Ausbau der Burg im Lauf der Jahrhunderte betrafen nicht nur den Wohnkomfort im Inneren, sondern schlugen sich auch in zahlreichen An- und Umbauten nieder, wie zwei Darstellungen von 1583 und 1605, das Inventarverzeichnis von 1626 sowie die Einträge in den Amtsrechnungsbüchern und einer Karte von 1724/26 zeigen. Nimmt man alle Informationen zusammen, so ergibt sich das in Abb. 8 dargestellte Bild. Danach hat es insgesamt sieben zusätzliche Gebäude gegeben. Davon sind drei Gebäude wahrscheinlich der Vorburg zuzuordnen: das Meierhaus, das durch eine Verbindungsmauer mit der Hauptburg verbunden war,52 der Gaststall sowie das bereits 1490 erstmals erwähnte Pförtnerhaus. Südlich der Burg befanden sich das Backhaus, der Kuhstall, der Schweinestall und die Scheune, wobei in einem der Gebäude auch der Eselstall untergebracht war.53 Auch eine Burgkapelle gehörte vorübergehend zum Ludwigsteiner Gebäudeensemble.54 Nach einem mittlerweile verschollenen Realbuch der Pfarrei Oberrieden sollen noch bis 1672 Taufen in der Kapelle stattgefunden haben, während Konfirmationen, Trauungen und Begräbnisse in der Kirche von Oberrieden durchgeführt wurden, etwa nach folgendem Muster : »Ist eine Leiche auf dem Ludwigstein, so gehet der Schulmeister mit den Knaben ums seinen Lohn hinauff, und singt vom Hause bis mitten auff den Rasen, wo die Wege sich scheiden nahr Rieden und dem Bornhausze, dann höret er mit Singen auf und gehet sines Weges nahr Rieder bis auf die Holl Wege an den Rasen, da erwartet der Pfarrer sambt der gemeine die Leiche und fängt dann der Schulmeister wieder an zu singen bisz uff den Kirchehoff oder gottes Acker.«55 Während die Amtmänner als landgräfliche Vertraute oder Beamte häufig auf Reisen waren, wurden die Amtsgeschäfte, aber auch die inzwischen ausgedehnte Domänenbewirtschaftung auf dem Vorwerk und in der Schäferei von vielen Amtsbediensteten erledigt. Im 16. und 17. Jahrhundert arbeiteten für das Amt u. a. ein Förster und ein Pförtner, ein Eseltreiber und ein Pfleger für die Forellenbäche. Daneben waren für das Amt immer wieder Boten, Fuhrmänner, Zehntsammler, Gerichtsschöffen und die sieben Schultheißen in den zum Amt 52 Möglicherweise schloss sich das Meierhaus an der Stelle an die Hauptburg an, wo noch heute eine vermauerte Türöffnung im Bereich des heutigen Musikzimmers sichtbar ist. 53 HStAM, Best. Rechn. II Ludwigstein Nr. 3, Jg. 1626, 1627. 54 1517 wurde eine Wiese, die der Kapelle gehörte, erwähnt und 1588 wurden Abgaben für einen gepachteten Acker und zwei Wiesen an die Kapelle auf dem Ludwigstein entrichtet. Später wurden diese Abgaben an den Pfarrer von Oberrieden gezahlt. – Huyskens: Klöster (Anm. 21), S. 665 Nr. 1646; Eckhardt: Rechtsgeschichte (Anm. 9), S. 185f; HStAM, Best. Rechn. II Ludwigstein Nr. 3.1726 Bl. 4v. 55 Metz: Ludwigstein (Anm. 44), S. 59.
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gehörenden Dörfern tätig. Dem Vorwerk stand ein Hofmann vor, der teilweise zugleich auch Tätigkeiten als Landsknecht versah. Er beaufsichtigte einen Kuh-, einen Schweine- und einen Rinderhirten, zwei bis drei Viehmägde, und mehrere Drescher. Dazu kamen zeitweise eine Meierin, die die anfallende Milch verarbeitete, ein Fruchtschneider, der im Winter das Futter für das Vieh zuschnitt, ein Wildhüter, der nachts die Äcker vor dem Ludwigstein bewachte und ein Bender. Ein Schäfermeister betrieb die Schäferei und konnte auf Schäfer- bzw. Hammelknechte, Lämmerknechte und zur Schafschur auf einen Wollwieger zurückgreifen.56 Sicher auf der Burg lebten der Pförtner und der Eseltreiber. Bei den anderen Bediensteten ist das nicht sicher nachweisbar, einige sind klar anderen Orten zuzuordnen, etwa der Hammelknecht »zu Hundelshausen«.57 Laurentius Lucan wurde nach der Gründung der Rotenburger Quart 1627 als Amtmann entlassen. Während der Vakanz, die bis Anfang 1629 dauerte, führte wieder der Vogt Alexander Kellner die Geschäfte und organisierte zwei Fürstenlager für den neuen Landgrafen Hermann von Hessen-Rotenburg.58 Amtmann Franz Ulrich Wasserhuhn führte das Amt von 1629 bis zu seinem Tode 1663 nun konsequent von Witzenhausen aus. So wurden die Amtsrechnungsbücher dort zwischen 1647 und 1662 vom Amtsschreiber Siegmund Laubinger geführt, der zugleich Schultheiß von Witzenhausen war.59 Wasserhuhn wurde anlässlich der Huldigung für Landgraf Hermann von Hessen-Rotenburg 1656 als Bürger in Witzenhausen mit dem Zusatz »Amtmann« bezeichnet.60 Auch während der Amtszeit von Wasserhuhn kam es zu Zerstörungen auf der Burg: 1631 drangen erneut kaiserliche Truppen dort ein; 1636 ware es schwedische Truppen, die u. a. Bänke, Tische und Teile der Himmelbetten verbrannten. Härter wurde aber das Vorwerk in Wendershausen getroffen, wo der Schweinstall abbrannte und die Schäferei zerstört wurde. Betroffen war auch die Grubenmühle in Oberrieden. Noch einmal zogen 1640 schwedische Truppen durch Wendershausen, dann 1641 wieder kaiserliche.61 Ein Vergleich der Einrichtungen 1626 und 1648 lässt den materiellen Schaden des Krieges auf der Burg erahnen: nur noch 11 von vorher 20 Räumen verfügten überhaupt über Inventar, drei Öfen waren abhanden gekommen, sowie fast alle Schränke, Tische und Betten. 56 Diese Angaben sind folgenden Quellen entnommen: Landbuch von 1583, vgl. HStAM, Best. Salbuch Nr. 4 Bl. 170v, zwei Accidentalienbücher von 1593 und 1608, vgl. HStAM, Best. Kopiar Nr. 149 und 151; Amtsrechnungen ab 1624, vgl. HStAM, Best. Rechn. II Ludwigstein 3 Jg. 1624. 57 HStAM, Best. Rechn. II Ludwigstein 3, Jg. 1624 Bl. 39r; HStAM, Best. Kopiar Nr. 149. 58 HStAM, Best. Rechn. II Ludwigstein 3, Jg. 1627 und 1628. 59 HStAM, Best. Rechn. II Ludwigstein 3, Jg. 1726 Bl. 138 h; HStAM, Best. 17 I Nr. 2471. 60 Herbert Lamprecht: Die Huldigung von 1656 in der Rotenburger Quart (Forschungen zur hessischen Familien- und Heimatkunde 63), Frankfurt a. M. 1985, S. 75. 61 Angaben zu zerstörtem Inventar finden sich in den Rechnungsbüchern: HStAM, Best. Rechn. II Ludwigstein Nr. 3, Jahrgänge 1623–1648, insbesondere Jg. 1645 Bl. 127 h.
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Trotz aller Zerstörungen bot die Burg aber doch größeren Schutz vor Kriegshandlungen als die unbefestigten Dörfer : so wurde 1646 Vieh aus dem Amt Germerode vorübergehend auf der Burg Ludwigstein untergebracht.62
Burg ohne Amt, aber voller Bewohner Der Dreißigjährige Krieg und die Verlagerung der Amtsausübung führten dazu, dass der Ludwigstein nicht mehr erweitert wurde. Im Gegenteil: der ehemals dreigeschossige Querbau wurde wahrscheinlich im 17. Jahrhundert zurückgebaut. Im Bauregister von 1660 findet sich ein Betrag von mehr als 300 Gulden, der wohl dafür eingesetzt wurde.63 Mit der an der Galerie überlieferten Jahreszahl »1702« steht dieser Rückbau zeitlich nicht im Zusammenhang. Zuletzt wurde 1668 ein Großteil der Dächer repariert. Als 1692 ein neuer Pächter auf die Burg zog, erklärte der Vorgänger, Franz Ulrich Laubinger, dass »das Haus Ludwigstein sehr ruiniert und fast unbrauchbar gemacht worden« sei.64 Trotzdem war die Burg keineswegs unbewohnt, so diente sie z. B. sie seit dem Ende des 17. Jahrhunderts dem Jäger Hans Heinrich Jäckell und seiner Familie als Wohnort: drei ihrer Kinder wurden hier zwischen 1676 und 1682 geboren. Auch sein Bruder Klaus Jäckell und dessen Familie lebten auf der Burg: zwischen 1694 und 1706 wurden fünf ihrer Kinder hier geboren, die Frau starb hier 1717, zwischen 1735 und 1745 wurden drei Enkel geboren; Hans Heinrich Jäckell selbst starb am 08. 10. 1750 auf Burg Ludwigstein.65 Ab 1792 belebten die Pächter und Verwalter der Domäne die Burg noch einmal als Wohnsitz. Mit Otto Quentin zog der erste »Konduktor« auf den Ludwigstein; es folgten sein Schwiegersohn Johan Georg Spatz sowie dessen Sohn Justus Basilius Spatz, dem 1746 ein Kind auf der Burg geboren wurde.66 Ähnliches gilt für den 1755 auf ihn folgenden Johann Zacharias Finck, der aber mindestens zeitweise mit seiner Familie in Germerode lebte. Die Burg als durch Bewohner und Gäste belebter Ort kommt noch in anderen Quellen zum Ausdruck, so in den Prozessakten von 1768 wegen unversteuerten Bierverkaufs gegen die Pächterin Dorothea Magdalena Schmalhaus. Darin wird deutlich, dass sich an Sonntagen regelmäßig Gäste auf der Burg einfanden, unter anderem »Kirmesburschen« aus Oberrieden, um dort Bier zu trinken. Es seien 62 63 64 65
Johannes Schilling: Kloster Germerode, Kassel 1994, S. 94. HStAM, Best. Rechn. II Ludwigstein Nr. 4. HStAM, Best. Rechn. II Ludwigstein Nr. 3 Jg. 1668; HStAM, Best. 23d Nr. 12. Landeskirchliches Archiv Kassel (LAK), Kirchenbuch (KB) Oberrieden 1669–1774, diverse Einträge. 66 LAK, KB Oberrieden 1669–1774, Todesfälle, 25. 03. 1702; LAK, KB Oberrieden 1669–1774, Geburten, 13. 10. 1746.
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»droben wieder ganze Tische voll gewesen«.67 Die Umwidmung des herrschaftlichen Gebäudes zu einem geselligen Wohnort brachte Dorothea Schmalhaus auch klar zum Ausdruck, als sie 1770 Umbauarbeiten zustimmte: bei Reparaturarbeiten in der Kanzlei war eine Stütze schadhaft geworden und musste konstruktiv durch den Einbau einer neuen Wand unterstützt werden. Dorothea Magdalena Schmalhaus hatte nichts dagegen. Bei einer Anhörung bezüglich der Reparaturarbeiten klagte sie nämlich, dass dieses Gemach für eine Kinderstube ohnehin zu groß sei.68 Aus dieser Zeit stammen erste, sonst kaum überlieferte Nachrichten über das Gesinde auf der Burg, etwa die Dienstmagd Anna Elisabeth Pflüger (1789–1819), die 1808 einen Weißbinder aus Werleshausen heiratete. Der Bräutigam holte »Annlischens Sachen« von der Burg ins Dorf und dort feierte man so ausgelassen, dass die Knechte erst am nächsten Tag betrunken auf die Burg zurückkehrten.69 1812 lebten noch zehn Personen auf der Burg.70 Allerdings setzte sich nun der Pächter und Verwalter erfolgreich dafür ein, nach Wendershausen, wo sich längst der Mittelpunkt der Landwirtschaft befand, umziehen zu dürfen. Georg Wilhelm Ehrbeck verlagerte daher ab den 1820er-Jahren den Wohnsitz der Familie allmählich auf die Domäne.71 Zu diesem Zeitpunkt standen von der Vorburg nur noch die Grundmauern und einige Keller ; auf dem Vorwerk standen noch fünf Gebäude.72 In einem Zusatz zum Pachtvertrag wurde der Ludwigstein 1882 als »für wirtschaftliche Zwecke entbehrlich« aus der Unterhaltungsverpflichtung der Domäne herausgenommen.73 Erst 1920 kehrte mit dem Aufbau des Ludwigsteins als Jugendburg wieder neues Leben zurück auf die Burg (vgl. Abb. 14 und 17).
67 HStAM, Best. 40a Rubr. 02 Nr. 3341. 68 HStAM, Best. 47 Nr. 15. 69 Pfälzische Landesbibliothek Speyer Hs. 661, Einträge 29. 06. 1808, 03. 07. 1808 und 04. 07. 1808; LAK, KB Oberrieden 1804–1832, Trauungen 03. 07. 1808, Geburten 04. 05. 1809 und 10. 05. 1811 und Todesfälle 26. 08. 1819. 70 Art. Ludwigstein, in: Georg Hassel: Statistisches Repertorium über das Königreich Westphalen, 2. Teil, Braunschweig 1813, S. 69. 71 Die in den 1830er- und 1840er-Jahren geborenen Enkel des Georg Wilhelm Ehrbeck kannten die Burg als Wohnort noch gut; vgl. Nahme: Werra-Burgen (Anm. 50), S. 38 und 61. 72 Landau: Ritterburgen (Anm. 25), S. 202. – Vgl. Inventarverzeichnis von 1837: HStAM, Best. 190a, Nr. 64; HStAM Karten, Pläne, Zeichnungen A II 993 Bl. 2. 73 Nahme: Werra-Burgen (Anm. 50), S. 68.
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Nahaufnahme – Arbeit und Leben im Tagebuch des Ludwigsteiner Domänenpächters Johan Adam Schönewald (1807–1811)
Annäherungen an die Geschichte setzen historische Quellen voraus und je weiter man in der Zeit zurückgeht, desto spärlicher wird die Überlieferung, so auch im Fall der Burg Ludwigstein. Die Ersterwähnung der Burggründung in der Homberger Schultheißenrechnung aus dem Jahr 1415 geschah eher zufällig, galt der Eintrag des Schultheißen doch nicht dem Ludwigstein selbst, sondern den Kosten für die Verköstigung der zum Burgenbau bestellten Dienstleute.1 Danach setzen punktuell landesherrschaftliche Nachrichten über die Bestallung und Ausstattung der Amtmänner ein, beginnend mit Hans von Dörnberg 1416; es folgen einzelne Abrechnungen für das Amt, die nach und nach in Serien von Protokollen, Rechnungen und Gerichtsakten übergehen.2 Dabei sind die Überlieferungslücken beträchtlich, insbesondere für die Ära der Rotenburger Quart, in der Burg und Amt Ludwigstein Teil der landgräflichen Nebenlinie mit Sitz in Rotenburg an der Fulda waren (1627–1837). Im Familienzusammenhang der Amtsinhaber finden sich weitere, den Ludwigstein betreffende Überlieferungen in den entsprechenden Adels- und Familienarchiven. Insbesondere in der Zeit, als der Kammerdiener des hessischen Landgrafen Philipp, Christoph Hülsing, die Burg als Lehen innehatte (1545–1567), rückten die Burg Ludwigstein und die Landesherrschaft in Kassel dicht zusammen, so dass manche Nachrichten über die Tätigkeit des Christoph Hülsing und seiner Frau Barbara geb. von der Saale aktenkundig wurden.3 Nicht zuletzt lassen sich die umfangreichen schriftlichen Unterlagen, die hier und in anderen Fällen aufgrund von Gerichtsverfahren entstanden, für eine Rekonstruktion der Verhältnisse auf der Burg nutzen.4 Die 1 Hessisches Staatsarchiv Marburg (HStAM), Best. Rechnungen. 2 Vgl. dazu bes. HStAM, Best. Rechnungen I und II. 3 Susanne Rappe-Weber : Barbara von der Saale und Christoph Hülsing – Landgraf Philipps Amtsehepaar auf Burg Ludwigstein, in: Hessische Heimat, 2004, Bd. 54, S. 71–73. 4 Vgl. grundlegend zur Verwendung von Gerichtsakten für die ländliche Sozialgeschichte der Frühen Neuzeit Heinrich Kaak: Eigenwillige Bauern, ehrgeizige Amtmänner, distanzierte fürstliche Dorfherren. Vermittelte Herrschaft im brandenburgischen Alt-Quilitz im 17. und 18. Jahrhundert, Berlin 2010, S. 33f.
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in diesem Band versammelten Beiträge zeugen von den Erträgen entsprechender Quellenauswertungen zur frühneuzeitlichen Burggeschichte. Vor dem Hintergrund dieser Spurensuche stellt die Überlieferung eines fast 300-seitigen Tagebuches aus der Feder des Ludwigsteiner Domänenpächters Johan Adam Schönewald (1748–1811) vom Beginn des 19. Jahrhunderts einen besonderen Glücksfall dar.5 Wie in einem Brennglas treten darin zuvor nur in Umrissen erkennbare Zusammenhänge in großer Klarheit hervor, allerdings – auch das macht eine Nahaufnahme aus – bleibt der Bildausschnitt selbst begrenzt. Diese von Schönewald gewählte Perspektive soll im Folgenden vorgestellt und erläutert werden; dabei wird das Tagebuch als von Schönewald verfasstes Ego-Dokument verstanden, das bestimmten Regeln des Genres »Diensttagebuch« unterlag und zugleich in einzigartiger Weise individuell gestaltet worden ist, so dass es Rückschlüsse auf die Person des Schreibers und seine Selbstwahrnehmung zulässt.6
Das Buch Mit sauberer Kurrentschrift in dichten Zeilen auf großen Foliobögen vermerkte der Schreiber Johan Adam Schönewald täglich in etwa drei bis acht Zeilen, was auf der Domäne vorgefallen war (vgl. Abb. 13). Die Bögen sind zweispaltig eingerichtet, wobei sich auf der linken Seite für jeden Tag eine Beschreibung des Wetters findet: Wind und Windrichtung, Bewölkung und Niederschlag, Temperatur und Temperaturempfindung. Auf der rechten Seite sind Nachrichten zu den Domänengeschäften, zu den Arbeiten des Gesindes und der dienstpflichtigen Untertanen sowie zu Gästen und besonderen Ereignissen fest gehalten. Diese Eintragungen stehen ohne ausdrückliche Wertung oder Hierarchie nebeneinander. Alle Seiten sind zu einem Buch gebunden. Der Band beginnt unvermittelt mit der Jahreszahl 1807 am 18. Oktober. Es gibt verschiedene Hinweise darauf, dass die Handschrift umfangreicher war und nur ein Teil erhalten geblieben ist. Nach 293 Seiten enden die Eintragungen am 15. November 1811; am darauffolgenden Tag starb der Verfasser im Alter von 63 Jahren. Regelmäßig 5 Das Tagebuch wird in der Pfälzischen Landesbibliothek Speyer, Nr. F 388 verwahrt. 6 Zur Lesart des überwiegend Ereignisse festhaltenden Tagebuchs als Selbstzeugnis vgl. Benigna von Krusenstjern: Was sind Selbstzeugnisse? Begriffskritische und quellenkundliche Überlegungen anhand von Beispielen aus dem 17. Jahrhundert, in: Historische Anthropologie, 1994, Bd. 2, S. 462–471. – Vgl. zu den Auswertungsmöglichkeiten des Tagebuchs im Hinblick auf seinen Entstehungszeitraum während der napoleonischen Herrschaft und auf das regionale Milieu ländlicher Amtsträgerfamilien vgl. Susanne Rappe-Weber : Landwirtschaft und Geselligkeit im Tagebuch des Verwalters Schönewald auf der Burg Ludwigstein (1808–1811), in: Alexander Jendorff, Andrea Pühringer (Hg.): Pars pro toto. Historische Miniaturen zum 75. Geburtstag von Heide Wunder, Neustadt a. d. Aisch 2014, S. 457–467.
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trug Schönewald im Rückblick auf den Tag das aus seiner Sicht Wesentliche ein; manchmal korrigierte er sich im Nachhinein (»die vorstehende Bemerckung ist irrig« (17.02.09); »die gestrige Nota gehöret auf den heutigen Tag« (15.03.09)) oder machte innerhalb eines Tages mehrmals Notizen. Diese richteten sich fast ausschließlich auf besondere Tätigkeiten und Ereignisse, weniger auf die täglich wiederkehrenden Abläufe. Daher gibt es auch einige Tage, an denen »nichts zu notiren vorgefallen« (16.02.08), da »es bey der gewöhnlichen Arbeit geblieben« (22.12.09) oder weil »heute nur die ordinairen Geschäfte wie jeden Tag betrieben, nemlich Futterschneiden, füttern und Holzhauen« (16.02.08). Die allgemeinen Voraussetzungen der Haus- und Landwirtschaft wie etwa summarische Angaben zu den Ländereien, zum Gesinde oder zum Vieh kommen in dem Buch ebenfalls nicht vor. Insofern zählt das Buch zu den »Diensttagebüchern«: protokollarisch angelegte, chronologische Bücher, die Amtsträger führten, um jederzeit Rechenschaft über ihr Tun geben zu können. Diese Gepflogenheit wurde den Amtsträgern mitunter von der jeweiligen Herrschaft explizit aufgetragen.7 Aber auch wenn keine ausdrückliche Anweisung vorlag, gehörte das Führen eines Protokollbuches zur Arbeitstechnik eines Amtmannes, Pfarrers oder eben Verwalters bzw. latinisiert »Conductors«.8 Es erfüllte im Rahmen der Diensttätigkeit verschiedene Funktionen, als Erinnerungsstütze etwa (1811 z. B. verglich Schönewald den aktuellen Salzpreis mit den Preisen von 1789 und 1808)9 oder wenn es bei Konflikten bzw. nach längerer Zeit darauf ankam zu rekonstruieren, wer was wann getan hatte, beispielsweise welche Dienste von einem Dorf geleistet worden waren, welche hingegen vom eigenen Gesinde (»Die hiesigen Knechte akkern das Kohlland, die Wendershäuser eggen noch nach«, 27.10.07). Weiterhin konnte sich der Inhaber der Domänenwirtschaft auf seine Notizen berufen, um seine Leistungen darzustellen oder Ernteausfälle aufgrund des Wetters zu erklären und so die Minderung der Pacht zu erwirken. Das erbat Schönewald im Juli 1809, nachdem das vorangegangene Jahr wegen Hagelschäden und mehrfachen Hochwassers der Werra »für mich das Schlimmste seit den 20 Jahren meines Hierseyns« (31.12.08).10 In diesem Sinne war das Tagebuch eng ver7 Vgl. für die Frühe Neuzeit Susanne Rappe-Weber : Verhöre, Handlungen und Bescheide. Das Diensttagebuch als Instrument der kirchlichen Amtsführung, in: Martin Arnold, Karl Kollmann (Hg.): Alltag reformierter Kirchenleitung. Das Diensttagebuch des Eschweger Superintendenten Johannes Hütterodt (1599–1672) (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen 46,9), Marburg 2009, S. 77–87. 8 Der Handschrift ist ein Titelblatt beigegeben: »Tagebuch des Adam Schönewald, Kammersecretair und Conductor auf Burg Ludwigstein 1807/11«. 9 Dieser Eintrag ist zugleich ein Hinweis darauf, dass das erhalten gebliebene Buch nur Teil einer ursprünglich längeren Serie ist. 10 Zur Argumentation bei Anträgen auf Pachtminderung oder -erlass vgl. Jochen Ebert: Anarbeiten gegen Natur und Domänenverwaltung. Abhängigkeiten und Handlungsräume der
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knüpft mit der sonstigen schriftlichen Amtsführung auf der Domäne wie einund ausgehender Korrespondenz, Rechtsangelegenheiten, Bestellungen, Rechnungen und Belegen; ausdrücklich erwähnt Schönewald Urkunden wie seinen »Pachtbrief« und ein »Mem[orial]buch dieses Jahrs« (15.08.08). Das Tagebuch fungierte somit als strukturiertes Merkbuch, das aber im Unterschied zu vergleichbaren Handschriften ausdrücklich auch Ereignisse des gesellschaftlichen Lebens und der Familie thematisierte.
Der Schreiber Johan Adam Schönewald war seit 1788 Pächter der landgräflich-rotenburgischen Domäne Ludwigstein-Wendershausen.11 Er stammte aus Binsförth bei Melsungen und war der älteste Sohn des dortigen Schultheißen. Über seinen Bildungsweg ist nichts bekannt; allerdings spricht seine sichere Schriftsprache mit nur wenigen latinisierten Begriffen für eine solide Schulbildung ohne weitere akademische Stationen. Seine erste bekannte berufliche Position war im Alter von 30 Jahren die eines Rentereischreibers im hessisch-rotenburgischen Germerode. Dort heiratete er 1779, wobei seine Frau zwei Monate nach der Hochzeit verstarb. Neun Jahre später ging er als hessisch-rotenburgischer Kammersekretär eine zweite Ehe mit der Witwe Dorothea Magdalena Schmalhaus ein, verwitwete Pächterin der Domäne Ludwigstein, und wurde dort selbst »Conductor«. Diese Ehe währte zwölf Jahre, dann verstarb die Frau im Alter von 58 Jahren. Eineinhalb Jahre später heiratete Schönewald zum dritten Mal: die aus Elliehausen bei Göttingen stammende, zwanzig Jahre jüngere Charlotte Christine Hagenberg. Aus der Ehe gingen fünf Töchter hervor, die zwischen 1802 und 1809 auf der Burg geboren wurden und alle das Erwachsenenalter erreichten: Henriette Charlotte, Christine Amalia, Christiane Antoinette, Friederike Charlotte und Charlotte Wilhelmina. Diese Ehe bestand zehn Jahre lang bis zu Schönewalds Tod 1811.12 Zur Zeit des Tagebuchs konnte Schönewald auf ein erfülltes Leben zurück blicken; er hatte es bei leidlicher Gesundheit in unruhigen Zeiten vom BauPächterfamilie Schlüter auf den hessisch-kasselischen Vorwerken Frankenhausen und Amelienthal, in: Jens Femming: Lesarten der Geschichte. Ländliche Ordnungen und Geschlechterverhältnisse, Kassel 2004, S. 68–88, S. 533–565, hier S. 554ff. 11 Für die Überlassung seiner Materialsammlung mit allen relevanten Quellen zur Person und Familie Schönewalds danke ich Sven Bindczeck herzlich; Sven Bindczeck: Die Geschichte der Burg Ludwigstein. Ein Kompendium, unveröff. Manuskript (2014). 12 Die Witwe Charlotte Christine überlebte ihren Mann um drei Jahre. Danach wurde die Domäne 1814 an die Oberriedener Familie Ehrbeck verpachtet; vgl. Hans-Dieter Nahme: Zwischen den Werra-Burgen. Eine Familie in der Geschichte einer deutschen Grenze, Goslar 1991, S. 36f.
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ernsohn zum Pächter einer ansehnlichen landgräflichen Domäne gebracht und lebte inmitten seiner Kinder und Stiefkinder einigermaßen behaglich in einem herrschaftlichen Haus. Indirekt vermitteln die Formulierungen im Tagebuch etwas vom Lebensgefühl des angesehenen Landmannes, der die Früchte seiner Lebensarbeit genoss, dabei aber weiterhin aktiv als Herr im Haus alle Geschäfte beaufsichtigte. Als männlichem Familienoberhaupt stand ihm ein erheblicher Freiraum zur Verfügung, den er vorwiegend mit Besuchen und geselligen Zusammenkünften ausfüllte. Schönewalds Wohlstand lässt sich unter anderem an seinem Umgang mit Krankheiten ablesen, denn er konnte es sich leisten, für seine Frau, seinen Schwiegervater, die Kinder und sich selbst regelmäßig medizinische Hilfe in Anspruch zu nehmen; von Arztbesuchen, einem stationären Aufenthalt, Medizin, Zahnbehandlung, aber auch vom Brunnentrinken ist die Rede. Mit den Witzenhäuser Ärzten, dem Stadt- und Amtschirurgen Johann Peter Weyler und Doktor Christoph Moritz Stracke, sowie dem Landphysikus Friedrich Ludwig Bauer aus Allendorf stand er zudem auf gesellschaftlichem Fuß. Die Mahlzeiten der Familie waren abwechslungsreich, beinhalteten Kaffee am Morgen und am Nachmittag, Würste, Schmalz, Speck und Fleisch, teilweise geräuchert, vom Schlachten im Herbst und im Frühjahr, verschiedenste Gemüse, Kohl und Most, Bier, Wein und Früchte, insbesondere Kirschen. Schönewald hielt die Casselische Zeitung im Abonnement (07.12.07, 30.11.08) und äußerte an manchen Stellen sein Interesse an weitergehender Bildung: ein Schulmeister »beehrte uns mit seiner angenehmen Gegenwart« (03.07.08), ein berühmter junger Gelehrter (19.10.11), aber auch Doktoren und Studenten aus Göttingen wurden als willkommene Gäste registriert. Dass er Bildung und Aufklärung nicht nur bei Anderen schätzte, sondern selbst daran Anteil haben wollte, wird an seinem ausgeprägten Interesse am Wettergeschehen deutlich, das er intensiv beobachtete und im Rahmen des Tagebuches schriftlich festhielt.
Die Wetterbeobachtung Mit seinen sorgfältigen Wetterbeobachtungen gab sich Schönewald als gebildeter Landwirt zu erkennen. Diese nahmen in seinem Tagebuch ebenso viel Platz ein wie die übrigen Nachrichten des jeweiligen Tages. Er registrierte, was sinnlich unmittelbar zu erfassen war (Bewölkung, Niederschlag, Wind) und benannte auch das Wetterempfinden als angenehm, heiter, freundlich, schwül, drückend, kalt usw.; sommerliche Werte von 248 C oder 258 C galten als »sehr heiß«. Zur objektiven Ermittlung der Temperatur nutzte er ein Thermometer. Zudem erwarb er 1808 ein neues Baro- und Hygrometer und hielt zeitweise auch diese Messungen fest: »Des Morgens Nordwind, heiterer Himmel, nachmittags Ostwind, dunkler Himmel, es hatte wieder hart gefroren, der Thermometer
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stand wieder 2 Grad unter 0, der Barometer stand wie gestern« (13.10.09). Während die Baro- und Hygrometerangaben nur gelegentlich festgehalten wurden, findet sich die tägliche, zuweilen sogar an einem Tag mehrfache Temperaturmessung durchgehend. Manchmal schloss Schönewald Überlegungen an, wie sich das Wetter auswirken könnte: »… noch immer hält der fatale Ostwind an, der vermuthlich der Saat, wo sie von Schnee entblöset ist, viel Schaden zufügen wird« (22.03.08). Weitere Verknüpfungen zwischen den Wetterbeobachtungen und der Landwirtschaft, etwa Prognosen als Ableitung aus Beobachtungsreihen, gibt es darüber hinaus aber nicht. Schönewald folgte damit den Empfehlungen, die von zeitgenössischen Meteorologen publiziert wurden, um die wissenschaftliche Grundlagen für die Konstitution ihres Faches zu verbessern: »Es wird durchaus nöthig, daß für jeden Ort eine Witterungs-Chronik niederzuschreiben angefangen werde; auf dem Lande entweder von Amtleuten, Amtschreibern … oder sonst von einem zuverlässigen überlegsamen Manne«.13 Ob aus diesen Erhebungen einmal Prognosen gewonnen werden könnten, war zu dieser Zeit innerhalb des Faches umstritten. Schönewalds Wetter-Notizen enthalten jedenfalls nahezu alle von dem Meteorologen Haberle geforderten Angaben hinsichtlich der Kategorien und der täglichen Durchführung, allerdings unter Verzicht auf astronomische Beobachtungen zu den Gestirnen.
Die Arbeit auf der Domäne Durch seine Stellung als Domänenpächter war Schönewald zu Steuern, Abgaben und Diensten, insbesondere aber gegenüber der landgräflichen Rentkammer in Rotenburg zu einer jährlichen Pachtzahlung in Höhe von etwa 1600 Reichtalern verpflichtet, ein Betrag der über Jahrhunderte nur mäßig erhöht worden war und Rückschlüsse auf die begrenzte Rentabilität des Gutes zulässt.14 Um diesen Betrag zu erwirtschaften, standen der landwirtschaftliche Betrieb auf der Burg, ein Vorwerk in Wendershausen sowie eine Schäferei in Hundelshausen zur Verfügung. Darüber hinaus mussten aus der Tätigkeit in Haus, Garten, Ställen, Scheunen, auf Äckern und Wiesen der Lebensunterhalt und die Ansprüche der vielköpfigen Familie bestritten werden. Schönewald als Pächter oblag die Aufsicht über die Land- und Hauswirtschaft. Er verfügte über gründliche Kenntnisse aller Arbeitsbereiche und kontrollierte auf dieser Basis die Abläufe, überwachte die Erträge und organisierte Ankäufe, Verkäufe und Geldgeschäfte. 13 Carl Constantin Haberle: Kleine Witterungsanzeigen für den Bürger, Landmann und jede Haushaltung, für das Jahr 1810, Weimar 1810. 88; ders.: Ueber Witterungs-Beurtheilung und Erspähung oder : Ausführliche Übersicht dessen, was bisher zur wissenschaftlichen Begründung der Meteorologie geschahe, und noch dafür zu thun ist, Weimar 1811, S. 21. 14 Vgl. zur Einordnung der Domäne Ludwigstein den Beitrag von J. Ebert in diesem Band.
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In allen Bereichen arbeiteten ihm Bedienstete zu, die in seinem Auftrag tätig waren. Besonders umfassend war die Mitwirkung seines Schwagers Johan Wilhelm Hagenberg, der viele Transporte und Fahrten, aber auch Rechtsgeschäfte für ihn übernahm. In einem Geflecht von Amtspersonen, engeren und entfernteren Verwandten und langjährigen Geschäftspartnern agierte Schönewald als Pächter. Als »mein alter Handelsmann« (09.03.09) bezeichnete er beispielsweise den jüdischen Händler und Finanzier Gumpert Kugelmann aus Abterode, der für ihn das Pachtgeld von der Burg nach Rotenburg transferierte und für Übergangsfinanzierungen sorgte. Nach dessen Tod ging das Geschäft an Kugelmanns Söhne über. Besonders gefordert zeigte sich Schönewald, wenn es zu Störungen der täglichen Abläufe kam. So zerstörte im Juni 1811 ein schwerer Sturm die große Scheune der Burg, die bis zum Einbringen der Ernte im September wiederhergestellt werden musste (02.06.11). Schönewald verhandelte mit dem angereisten, landgräflich-rotenburgischen Baudirektor über Kosten und Durchführung der Reparaturen und kümmerte sich über mehrere Wochen um den Schutz und die Zwischenlagerung des geernteten Getreides, bis schließlich Anfang September die Scheune einschließlich neuer Tore fertig gestellt war. Die tägliche Arbeit mit den kleinen Kindern, in der Hauswirtschaft und im Gemüsegarten, soweit es nicht das größere Kartoffel- oder Kohlland war, gehörte offensichtlich nicht in Schönewalds Zuständigkeitsbereich und fand darum kaum Erwähnung im Tagebuch. Er nahm Anteil an den Schlachtungen und am Bierbrauen, an besonderen Ereignissen und verfügte größere Reparaturen z. B. an den Zäunen. Zu den Ereignissen zählte zweimal jährlich im Mai und im September die große Wäsche, die mit dem Heranfahren des Waschwassers aus dem Tal auf den Burgberg begann, wobei das Trocknen, Bleichen und Rollen nach der eigentlichen Wäsche stark witterungsabhängig war und den ganzen Vorgang tagelang verzögern konnte. In ähnlicher Weise setzte auch das regelmäßige Bierbrauen zunächst das »Brauwasser fahren« voraus. Als Dauerthema tangierten die neuen politischen Verhältnisse den Domänenpächter Schönewald. Der Einrichtung des Königreichs Westphalen mit der Hauptstadt Kassel waren in den Jahren 1806/1807 kämpferische Auseinandersetzungen auch im Werraraum voraus gegangen. Danach kam es in Hessen immer wieder zu vereinzelten Widerstandshandlungen; auf der Burg waren häufig durchreisende oder einquartierte Soldaten zu beherbergen. Grundsätzlich akzeptierte Schönewald die neue Ordnung. Das zeigte sich schon bei der Einsetzung der königlichen Herrschaft, als in der Oberriedener Kirche für den König und die Königin gebetet (25.10.07) und als später in Witzenhausen der neuen Obrigkeit gehuldigt wurde (05.03.08). Weiterhin beteiligte sich Schönewald alljährlich an der Feier zum Geburtstag J¦rúmes am 15. November, zum ersten Mal 1808: »Heute ist des Königs Geburtstag im ganzen Königreich ge-
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feiert, alle Arbeit eingestellt und Gottesdienst gehalten worden«. Schönewald nahm in dem neu eingerichteten »Municipalrath« in Oberrieden einen Sitz ein und »deliberirte« in diesem Kreis über das »Budjet« (21.11.09). Pragmatisch akzeptierte er die neue Ordnung, profitierte als Angehöriger der ländlichen Oberschicht von der erweiterten Herrschaftsbeteiligung und ging im Übrigen ohne erkennbare Beeinträchtigung seinen Geschäften und Vergnügungen nach.15 Allerdings boten die neuen Gesetze auch Handlungsoptionen für die Untertanen, die sich unmittelbar auf die Domänenwirtschaft auswirkten. 1808 war das Gesetz zur Aufhebung der Leibeigenschaft verkündet worden, mit dem alle Dienste aufgehoben wurden, die »in Rücksicht des Besitzes eines Grundstückes obliegen, oder unbestimmt, und von der Willkühr dessen, der sie zu fordern hat, abhängig sind«.16 Die zum Dienst auf dem Ludwigstein verpflichteten Untertanen aus den umliegenden Ortschaften ergriffen sofort die Gelegenheit und verweigerten viele Tätigkeiten. Pächter Schönewald hatte aber ein erhebliches Interesse an der Beibehaltung insbesondere der Pflug- und Erntedienste, für die er ausdauernd bei den neu geschaffenen Instanzen kämpfte und prozessierte: »Für Hundelshausen habe ich heute von Wendershausen Lohnschnittern auf dem Hain Hafer schneiden lassen […] Die Wiederspenstigen [!] wollen ungeachtet aller vom Friedensgericht ertheilten Bescheide und gedroheten Strafen dennoch nicht schneiden« (01.09.08). Häufige Reisen zu den Friedensgerichten in Witzenhausen, in Sooden und in Bornhagen belegen sein Engagement, bei dem er regelmäßig von dem Amtmann aus Germerode unterstützt wurde. Die Gemeinden reichten auch ihrerseits Klagen ein und nutzten die Konkurrenz zwischen der rotenburgischen Rentkammer, der Schönewald verpflichtet war, und den königlich-napoleonischen Instanzen, die ihrerseits an der Leistungsfähigkeit der Bauern interessiert waren und diese für sich abschöpfen wollten. Die Lösung des grundlegenden Konfliktes um die Zwangsdienste gelang erst Jahrzehnte später im Zuge der Ablösung in Geldzahlungen und der entsprechenden Umstellung der Domänenwirtschaft.17
15 Die neuere Forschungen betont die Errungenschaften der napoleonischen Herrschaft; vgl. Andreas Hedwig u. a. (Hg.): Napoleon und das Königreich Westphalen. Herrschaftssystem und Modellstaatspolitik, Marburg 2008 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen 69); Jens Flemming, Dietfrid Krause-Vilmar (Hg.): Fremdherrschaft und Freiheit. Das Königreich als napoleonischer Modellstaat, Kassel 2009. 16 Königliches Decret, welches eine Erläuterung des 13ten Artikels der Constitution [Verfassung des Königreichs Westfalen vom 15. 11. 1807], der die Leibeigenschaft aufhebt, enthält vom 23. 01. 1808, in: http://www.westfaelische-geschichte.de/que1079 [13. 06. 2015]. 17 Vgl. Jochen Ebert: Domänengüter im Fürstenstaat. Die Landgüter der Landgrafen und Kurfürsten von Hessen (16.–19. Jahrhundert). Bestand – Typen – Funktionen, Darmstadt und Marburg 2013 (Quellen und Forschungen zur hessischen Geschichte 166), S. 180–182.
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Das Familienleben Ereignisse und Beschäftigungen aus dem Familienleben finden sich im Tagebuch in ungewöhnlicher Dichte. Die Beziehungen zu seiner Ehefrau, den Kindern und weiteren Verwandten waren Schönewald zweifellos besonders wichtig; gerade hier werden über die Handlungen seine Gefühle und Einstellungen deutlich. Viele Aktivitäten teilte Schönewald mit seiner Ehefrau Charlotte Christine, der er auch eigene Unternehmungen gönnte; gemeinsam empfingen sie Gäste oder besuchten ihrerseits als Ehepaar oder Familie den Pfarrer, den Förster, weitere Bekannte oder einen Gasthof. Als sie 1807 schwer erkrankte, ließ er mehrfach einen Arzt kommen, ging auch einmal mit ihr spazieren, was »ihr sehr gut bekam« (22.12.07). Später besuchte er sie während ihres Genesungsaufenthalts in Allendorf und schrieb ihr Briefe. Hier zeigen ihn die gemeinsamen Unternehmungen wie auch die tätige Sorge um die Gesundheit seiner Frau als zugewandten Ehemann, der seine Frau respektierte und ihr zugetan war. Auch die Töchter hatten einen festen Platz in Schönewalds Alltag, wurden besonders sonntags zu Besuchen, Ausflügen und Festen mitgenommen: »Bin ich mit meiner Frau und Kindern zu Werleshausen zur Kirmes gewesen« (24.09.10). Die Mädchen empfingen auch ihrerseits Besuch aus der Nachbarschaft. Für die Säuglinge war eine Amme angestellt, dazu eine Kindermagd. Ein Lehrer unterrichtete die älteren Kinder dreimal in der Woche und sie erhielten Tanzunterricht. Als es kalt wurde, nähte ein Schneider »Winterröckchen« für die Kinder. Über die engere Familie hinaus engagierte sich Schönewald in einem komplizierten Nachlassfall im »Bocloschen Familienrat« für die verwaisten Stiefenkelkinder. Hier scheint in der fürsorglichen Behandlung das Bild eines rührigen Familienvaters auf, dem das Wohlergehen und das Vergnügen der Kinder ein Anliegen war. Das behagliche Zusammenleben miteinander im Kreis von Verwandten und Bekannten bildete den Kern des Ehe- und Familienlebens, dem die Tätigkeiten in Haus- und Landwirtschaft dienten, so Schönewalds deutliche Akzentuierung.
Das gesellschaftliche Miteinander Die Gesellschaften, Besuche und geselligen Feste, die Schönewald und seine Familie in der Burg veranstalteten oder in den Dörfern der Umgebung erlebten, bilden den durchgehenden roten Faden des Tagebuches. In der Beschreibung dieser Ereignisse drückte Schönewald aus, wen er zu seiner Gesellschaft zählte und wer ihn dazu zählte. In der dichten Verknüpfung familiärer, verwandtschaftlicher und geschäftlicher Beziehungen bestand für ihn, der zwanzig Jahre zuvor von außen kommend in die Domäne eingeheiratet hatte, ein besonders
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wichtiges soziales Kapital, das es zu taxieren, zu nutzen und zu erhalten galt. Dass damit auch freundschaftliche Gefühle einhergehen konnten, steht nicht im Widerspruch dazu. Sein Haus hatte er als Patriarch über »meine Leute«, »alle die Meinigen« oder »meine … Hausgenossen« wohl bestellt. Die Namen der Mägde und Knechte, sofern er diese zu seinen Hausgenossen zählte, erfährt man allerdings nicht. Eine Ausnahme ist die »Schoganin«, die offensichtlich eine besondere Vertrauensstellung genoss (19.06.08, 30.07.09, 15.11.10). Dabei gönnte Schönewald seinen Hausgenossen ihre Vergnügungen auf der Kirmes oder bei Festen. Auch in den alljährlichen Empfang von Neujahrssängern, die »uns morgen den Anfang des neuen Jahrs machen helfen« (31.12.07), aus Wendershausen, Oberrieden und Werleshausen war sein Haus einbezogen. Gleichzeitig blieben aber das Gesinde und die einfachen Menschen aus den Dörfern insgesamt namenlos und als plurale »Leute« (»Dienstleute«, »Lohnleute«, »Deputatenleute«, »Schuldleute«) immer im Hintergrund; als gesellschaftlich relevantes Umfeld spielten sie in Schönewalds Wahrnehmung keine Rolle. Ihm kam es vielmehr auf die Anerkennung innerhalb seiner Schicht ländlicher Amtsträger an, in deren Besuchen sich sein eigenes Ansehen widerspiegelte. Durchgängig benannte er diese Gäste mit ihren Amtsbezeichnungen und Nachnamen; auch die Ehefrauen wurden als »Frau Amtmännin«, »Frau Schulmeisterin«, »Frau Postmeisterin« usw. tituliert. Wenn sich eine besonders hochrangige Gesellschaft in seinem Haus zusammenfand, wurde das sachlich, aber durch die Nennung der Titulatur erkennbar nicht ohne Stolz vermerkt: »Der königliche Herr Procurator und Herr Procurator Francke nebst dem Herrn Pfarrer Francke frühstückten heutmorgen bey mir« (16.09.11). Entsprechend penibel registrierte er Sonntage ohne Besuch mit einem deutlichen Zug des Bedauerns: »Den gantzen Tag waren wir heut allein und gantz ohne Besuch« (17.01.08). Ein Ort, an dem die gesellschaftliche Anerkennung ausgehandelt wurde, war die Kirche. Schönewald besuchte in Begleitung von Familie und Gesinde regelmäßig den Gottesdienst in Oberrieden und hielt guten Kontakt zu verschiedenen Pfarrern der Region. Anlässlich eines neuen Pfarrers für Oberrieden und Wendershausen, dessen Predigt »allgemein Beyfall gefunden« hatte, »kam Herr Zimmermann und Herr Secretair Rudolph von Wahlhausen zu mir in meinen Kirchenstand« (27.08.09). Ähnlich wie die Burg konnte der eigene Kirchenstand zum Empfang honoriger Bekannter dienen. Schönewalds Besucher standen in vielfältigen verwandtschaftlichen und kollegialen Beziehungen zueinander ; die prosopographischen Studien von Bindczeck zu den im Tagebuch genannten Personen weisen die Kinder und Stiefkinder aus den Ehen von Schönewalds zweiter Ehefrau Dorothea Schmalhaus nach, dazu die Familienangehörigen der Ehefrau Hagenberg aus dem Göttinger Raum, seine eigenen Verbindungen nach Germerode sowie seine
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Patenschaften für Kinder im Umfeld des Ludwigstein.18 Viele dieser Personen hatten Ämter in herrschaftlichen Diensten inne: als Schreiber, Inspektoren, dörfliche Pfarrer, Förster, Pächter, Schulmeister, Verwalter, manche waren auch Handwerksmeister oder Kaufleute. Darin wird das Netzwerk einer in der Forschung bislang wenig beachteten ländlichen Führungsschicht sichtbar, deren Angehörige sich von den besser untersuchten »Ortsbeamten« durch einen geringeren formalen Bildungsweg unterschieden und als subalterne Bedienstete häufiger als die hochstehenden Amtsträger, die meist von außerhalb kamen, aus den Dörfern der Region selbst stammten.19
Das Reisen Schönewalds Darstellung lässt die vielfältige Mobilität rings um die Burg sichtbar werden: Dienstleute, die aus ihren Dörfern zu den herrschaftlichen Ländereien gingen; Gesinde auf dem Weg zu Gärten, Wiesen, Äckern; Eseltreiber mit ihren Tieren, die das Wasser aus dem Tal holten; Handwerker mit Aufträgen auf der Domäne; Händler und Hausierer. Dazwischen kamen und gingen die Burgbesucher gehobener Stände zu Fuß, zu Pferd oder mit Kutschen (»Chaisen«). Immer mittwochs begab sich die Pächtersfrau in Gesellschaft weiterer Burgbewohner zum Markt nach Witzenhausen. Der Sonntag wurde außer in der Erntezeit im August meist für größere Gesellschaften, an Feiertagen häufig etwas üppiger und ausgedehnter, genutzt: »Den 24. July, wir hatten heute Kirschenbesuch von Allendorf, Frau Dr. Baurn mit 3 Töchtern 2 Söhnen und Schwiegersohn, Herr Richter Lappe nebst Frau und 3 Söhnen, Mademoiselle Laubinger, Madmoiselle Schaub, Herr Zimmermann und Herr Rudolphs von Wahlhausen, Herr Pfarr Wagner von Assbach, der vor dem Herrn Pfarr Kulenkamp gepredigt hatte, kam auch noch hierher, als wir noch an Tisch sassen, die ersten kämen um 11 Uhr mittags hierher und giengen nebst den lezteren abends um 612 Uhr wieder von hier ab« (24.07.07). Gewöhnlich kamen die Besucher aus den umliegenden Orten, brachen morgens auf und kehrten am Abend zurück nach Hause. Wechselseitig intensive Besuchsbeziehungen, die auch innerhalb eines halben Tages wahrgenommen werden konnten, bestanden nach Oberrieden zum Pfarrer, zum Rittergutsbesitzer Lucan sowie zum Schulmeister und Gastwirt Ehrbeck. Schönewald selbst bevorzugte ein-, höchstens zweitägige Reisen in die nähere Umgebung und 18 Vgl. Anm. 11. 19 Vgl. Stefan Brakensiek: Fürstendiener – Staatsbeamte – Bürger. Amtsführung und Lebenswelt der Ortsbeamten in niederhessischen Kleinstädten (1750–1830) (Bürgertum. Beiträge zur europäischen Gesellschaftsgeschichte 12), Göttingen 1999.
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vermied im Unterschied zu seiner Frau längere Abwesenheiten. Wenn jemand von weither kam, war es üblich die Burg als Zwischenstation einzuplanen und dort zu übernachten. Einmal kam z. B. der Wollhändler Vogeley aus dem 20 Kilometer entfernten Eschwege um die Mittagszeit auf der Burg an, lieh sich dort ein Pferd, um damit nach Witzenhausen weiterzureiten. Abends kehrte er zurück, blieb über Nacht und tätigte seine Geschäfte mit Schönewald am nächsten Tag (22.7.08). In ähnlicher Weise organisierten Bekannte und Verwandte Schönewalds aus dem Meißnerland, dem Eichsfeld, dem Rotenburgischen, weiteren hessischen Regionen oder aus dem Göttinger Land ihre Reisen. Sich gegenseitig ein Quartier für die Nacht oder auch für mehrere Tage zu gewähren, war eine wichtige Voraussetzung für das Funktionieren des im vorigen Abschnitt skizzierten regionalen Netzwerkes der niederen Amtsträger und ihrer Familien, die einander damit persönlich und bei der Abwicklung von Geschäften unterstützten. Darüber hinaus klingt an einigen Stellen schon das aufkommende Bewusstsein für die Schönheit des Werratals und seiner Burgen an, am deutlichsten zu Himmelfahrt 1809 als »8 Studenten von Göttingen kamen […] um sich hier umzusehen« (11.05.09).20 Möglicherweise teilte Schönewald, der Verwalter dieses exponierten Ortes, der seiner grenzsichernden, amtlichen Funktionen längst enthoben war und hinsichtlich der Domänenwirtschaft nur noch begrenzt den Anforderungen der Zeit entsprach, mit seiner ausgeprägten Bereitschaft zur Aufnahme und Bewirtung von Gästen, bereits die romantische Sicht auf die Burg.
20 Zur Burgenromantik, die um diese Zeit auch das Werratal erfasste und die Vorgeschichte zur »Entdeckung« der Burg Ludwigstein durch den Wandervogel darstellt, vgl. Peter Aufgebauer : Die Zeit der Burgenromantik. Errichtung des heutigen Rittersaals 1838/40, in: HansDieter von Hanstein (Hg.): Burg Hanstein. Zur 700-jährigen Geschichte einer eichsfeldischen Grenzfeste, Duderstadt 2008, S. 188–193. Siehe auch Abb. 12.
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Vom fürstlichen Amtsgut zum landwirtschaftlichen Pachtbetrieb. Das Domänengut Ludwigstein-Wendershausen (1574–1866)*
Wie die meisten herrschaftlichen Häuser war auch die Burg Ludwigstein mit einem landwirtschaftlichen Großbetrieb versehen. Solche Gutsbetriebe waren bis in das 19. Jahrhundert hinein unabdingbar für die Belieferung des herrschaftlichen Haushaltes mit Lebensmitteln, für die Verköstigung und Besoldung der herrschaftlichen Beamten und Bediensteten, für die Versorgung der herrschaftlichen Pferde mit Hafer, Heu und Stroh sowie für die Ausstattung der Herrschaft mit Barmitteln, die aus dem Verkauf der Erzeugnisse der Gutswirtschaft erzielt wurden. In der Literatur hat der mit dem Haus Ludwigstein verbundene landwirtschaftliche Großbetrieb bislang meist nur beiläufige Erwähnung gefunden. In der Regel beschränken sich die Ausführungen auf die Nennung einiger zentraler Ereignisse wie den Übergang zur Verpachtung und die Aufgabe der Burg als Standort der Gutswirtschaft.1 Dies dürfte nicht zuletzt auf die ambivalente Quellenlage zurückzuführen sein. Da der Gutsbetrieb bis Ende des 17. Jahrhunderts von dem Amtmann des Amtes Ludwigstein verwaltet wurde, finden sich in den Amtsakten zwar Informationen über die Gutswirtschaft; allerdings sind der Amtshaushalt und der Gutshaushalt nicht immer scharf getrennt. Für die Zeit nach dem Übergang zur Verpachtung der Gutswirtschaft ist die Quellenlage kaum besser. Während für die von der Kasseler Rentkammer verwalteten Domänengüter umfangreiche Pachtakten überliefert sind, trifft dies für die Güter der Rotenburger Quart nicht zu.2 Zur lückenhaften
* Ich danke Susanne Rappe-Weber und Sven Bindczeck für die großzügige Überlassung ihrer Materialsammlungen. 1 Vgl. Karl Kollmann: Witzenhausen, Burg Ludwigstein, Regensburg, 3., neu bearb. Aufl. 2006, S. 4 u. 6. Gerhard Ziemer : Nordhessen und die deutsche Jugendbewegung, in: Hessisches Jahrbuch für Landesgeschichte, 1969, 19. Jg., S. 337–365. 2 Die Rotenburger Quart war 1627 von Landgraf Moritz zur Versorgung der Kinder seiner zweiten Ehefrau, Juliane von Nassau-Dillenburg, von der Landgrafschaft abgetrennt worden und bestand bis 1834 als teilsouveränes Fürstentum unter der Oberhoheit Hessen-Kassels bzw. Kurhessens. Vgl. Hans-Günter Kittelmann: Kleiner Führer durch die Rotenburger Quart 1627–1834 und das Fürstenhaus Hessen-Rotenburg. Mit genealogischen Tafeln, Rotenburg an
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Überlieferungssituation dürfte maßgeblich beigetragen haben, dass die Rotenburger Rentkammer seit Ende des 17. Jahrhunderts als Gesamtbehörde des in mehrere Linien aufgeteilten Hauses Hessen-Rotenburg tätig war, was eine kontinuierliche, gutsbezogene Registratur erheblich erschwerte, da Schriftstücke wie Gesuche, Abrechnungen und Berichte zur Kenntnisnahme und Entscheidung an die einzelnen Häuser verschickt werden mussten. Einen Glücksfall stellt hingegen das Tagebuch des Ludwigsteiner Pächters Johann Adam Schönewald aus den Jahren 1808 bis 1811 dar, das detaillierte Einblicke in die sozialen, wirtschaftlichen und landwirtschaftlichen Verhältnisse der Pachtwirtschaft bietet.3 In den Pachtakten sind solche Angaben nur im Zusammenhang mit Zwangsverwaltungen und Gutsentsetzungen zu finden. Im Zentrum der folgenden Darstellung steht die Frage, in welchen Schritten sich der Übergang vom Amtsgut zum Pachtbetrieb vollzog und welche Folgen diese für die Gutswirtschaft hatten. Hiermit korrespondierend gliedert sich der Text in zwei Teile. Zunächst wird die landesherrliche Eigenwirtschaft in den Blick genommen. Hierauf folgt die Darstellung und Analyse des Übergangs zu Verpachtung Ende des 17. Jahrhunderts sowie der Pächter und Pachtzinsen im 18. Jahrhundert. Ausgangspunkt für die Untersuchung sind die Angaben im »Ökonomischen Staat« Landgraf Wilhelms IV. vom Ende des 16. Jahrhunderts. Den Endpunkt markiert eine für das Ministerium für Landwirtschaft, Domänen und Forsten in Berlin erstelltes Verzeichnis der Kasseler Oberfinanzkammer von 1866, in dem sämtliche kurhessischen Domänengüter samt Angaben zur Landausstattung und zur Höhe Pachtgeldes aufgelistet sind.
Landesherrliche Eigenwirtschaft Einen ersten Eindruck von der Betriebsgröße und den Einkünften der Ludwigsteiner Gutswirtschaft vermittelt der im Auftrag Landgraf Wilhelms IV. erstellte »Ökonomische Staat«.4 Das mehr als 400 Seiten umfassende Verzeichnis aller Besitzungen und Einkünfte des hessen-kasselischen Fürstenhauses beinhaltet u. a. eine als »Wirtschaftsplan für die Domänenländereien«5 bezeichnete der Fulda 2002. Uta Krüger-Löwenstein: Die Rotenburger Quart (Marburger Reihe 12), Marburg u. a. 1979. 3 Pfälzische Landesbibliothek Speyer, Nr. F 388. 4 Vgl. Kersten Krüger : Der Ökonomische Staat Landgraf Wilhelms IV., in: Landgraf Philipp der Großmütige 1504–1567. Hessen im Zentrum der Reform. Begleitband zu einer Ausstellung des Landes Hessen, hrsg. von Ursula Braasch-Schwersmann, Hans Schneider und Wilhelm Ernst Winterhager in Zusammenarbeit mit der Historischen Kommission für Hessen, Marburg u. a. 2004, S. 286–287. 5 Ludwig Zimmermann (Bearb.): Der Ökonomische Staat Landgraf Wilhelms IV. Nach den
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Aufstellung des landesherrlichen Grundbesitzes, der nicht an den Adel verlehnt oder an die Bauern verliehen war, sondern in Eigenregie bewirtschaftet wurde. Hierbei handelte es sich einerseits um die mit landherrlichen Schlössern, Burgen und Amtssitzen verbundenen Landgüter wie Sababurg, Trendelburg oder Friedewald, andererseits um säkularisierte Klostergüter wie Heydau, Mittelhof oder Breitenau. Bewirtschaftet wurden die Ländereien von einem Meierhof, der in der Regel auf dem Areal oder in der Nähe des herrschaftlichen Hauses oder ehemaligen Klostergebäudes lag, diesem quasi vorgelagert war, weshalb der aus Wohn- und Wirtschaftsgebäuden bestehende Gebäudekomplex auch als »Vorwerk« bezeichnet wurde. Die Bezeichnung der fürstlichen Landgüter als »Domänen« wurde in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts üblich, wobei im Folgenden zur besseren Unterscheidung der mit Gebäuden zur Bewirtschaftung versehenen Landgüter vom domanialen Streubesitz der Begriff »Domänengut« vorgezogen werden soll.6 Im auf das Jahr 1585 zu datierenden »Wirtschaftsplan« sind 56 Domänengüter aufgelistet. Für jedes Gut werden die Landausstattung mit Ackerland und Wiesen, der Umfang der Rinder- und Schafhaltung sowie die Erträge des Ackerbaus und der Viehhaltung angegeben. Mit 455 Acker Land und 87 Acker Wiese – zusammengerechnet 542 Acker bzw. 129 Hektar (= ha) – gehörte die Ludwigsteiner Gutswirtschaft zu den größten fürstlichen Landgütern, deren mittlere Betriebsgröße bei 79 Hektar lag. Lediglich das Burg- und Amtsgut Trendelburg (274 ha), die mit dem Kasseler Stadtschloss verbundene Meierei (263 ha), der Schafhof in Ziegenhain (203 ha), das in der Herrschaft Plesse gelegene Gut Eddigehausen (186 ha), der Schafhof in Rotenburg (148 ha), das säkularisierte Klostergut Lippoldsberg (145 ha) sowie das Borkener Amtsgut (142 ha) waren mit mehr Land ausgestattet (vgl. Abb. 9).7 Im »Wirtschaftsplan« fehlen jedoch die Garten-, Trisch- und Waldflächen der Güter. Wesentlich genauere Angaben über die Landausstattung der Ludwigsteiner Gutswirtschaft liefert eine Messung von 1575, die nach Wiedererwerb der Burg und des Amtes durch Landgraf Wilhelm IV. von dem Landmesser Lorenz Holstein vorgenommen worden war.8 Aus ihr wird ersichtlich, dass die mit der Burg Ludwigstein verbundene Gutswirtschaft zwei Vorwerke umfasste: eines bei der Burg und eines in Tallage im Dorf Wendershausen. Handschriften, Marburg 1934 (Veröffentlichungen der historischen Kommission für Hessen 17,2), S. 130–136. 6 Vgl. Jochen Ebert: Art. »Domäne«, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 2: Beobachtung – Dürre (2005), Sp. 1083–1087. 7 Vgl. Jochen Ebert: Domänengüter im Fürstenstaat. Die Landgüter der Landgrafen und Kurfürsten von Hessen (16.–19. Jahrhundert). Bestand – Typen – Funktionen, Darmstadt und Marburg 2013 (Quellen und Forschungen zur hessischen Geschichte 166), S. 180–182. 8 Hessisches Staatsarchiv Marburg (= HStAM), Best. S Nr. 470.
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Jochen Ebert
Tabelle 1: Landausstattung des Domänengutes Ludwigstein-Wendershausen 1575
Ackerland Wiese
Ludwigstein 118,3 Acker (= 28,2 ha) 82 Acker (= 19,6 ha)
Wendershausen 424 Acker (= 101,2 ha) 5,9 Acker (= 1,4 ha)
Garten Summe
6,7 Acker (= 1,6 ha) 207 Acker (= 49,4 ha)
– 429,9 Acker (= 102,6 ha)
Auffällig ist, dass das Ludwigsteiner Vorwerk nur etwa halb so groß wie das Wendershäuser Vorwerk war und ein anderes Acker-Grünland-Verhältnis aufwies. Der vergleichsweise große Wiesenanteil des Ludwigsteiner Vorwerks verweist auf ein strukturelles Problem der meisten Burggüter. Die um die Burg herum gelegenen Ländereien waren häufig zu abschüssig und steinig, um sie als Ackerland nutzen zu können. Dieses Manko wurde entweder durch die Verbindung mit einem zweiten Vorwerk in Tallage ausgeglichen oder durch die Verlegung des Gutsbetriebs auf tiefergelegeneres und ebeneres Terrain. Die spezifische Konstellation erklärt auch, warum das Vorwerk in Wenderhausen fast nur mit Ackerland ausgestattet war. Darüber hinaus weist die verhältnismäßig umfangreiche Gartenfläche das Ludwigsteiner Vorwerk gegengenüber dem Wendershäuser Vorwerk, dass überhaupt kein Gartenland besaß, als Haupthof aus. Dies wird durch ein Gebäudeinventar von 1645 bestätigt, das für die Burg Ludwigstein mehrere separate Gebäude aufführt, darunter ein Meierhaus, ein Backhaus, ein Brauhaus, zwei Pferdeställe – von denen einer zum Einstellen von Gästepferden genutzt wurde –, ein Kuhstall, ein Schweinestall sowie eine Scheune mit Fruchtboden. Das Domänengut in Wendershausen umfasste ein Wohnhaus, einen Kuhstall, eine Scheune und ein Schäfereigebäude. An der Landausstattung der beiden Vorwerke von zusammen 636,9 Acker (= 152 ha) änderte sich bis Mitte des 17. Jahrhunderts nichts. So wurde die Messung von 1575 noch 1750 von der Rotenburger Rentkammer benutzt, um zu ermitteln, wie hoch das Pachtgeld bei dem nächsten Pachtwechsel angesetzt werden müsste.9 Der »Ökonomischer Staat« entstand in einer Phase der wirtschaftlichen Konsolidierung der Landgrafschaft Hessen-Kassel, die Landgraf Wilhelm IV. insbesondere durch eine Steigerung der domänenstaatlichen Einkünfte zu erreichen suchte, indem er verpfändete, verkaufte und verlehnte Vorwerke, Ämter und Herrschaften auslöste und zurückkaufte. Ein Resultat dieser Politik ist das Ende der wechselvollen Besitzgeschichte, die das Amt Ludwigstein seit der Errichtung der Burg zu Beginn des 15. Jahrhunderts erlebt hatte und die geprägt war durch wiederholte Verpfändungen und Wiedereinlösungen. Als Pfandbe9 HStAM, Best. 70 Nr. 1239.
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sitzer sind u. a. Mitglieder der Adelsfamilien von Dörnberg, von Buttlar, von Berlepsch und von Hanstein überliefert. Einen letzten Höhepunkt stellte die Belehnung Christoph Hülsings mit der Burg und dem Amt Ludwigstein durch Landgraf Philipp im Jahr 1545 dar. Hülsing war Kammerdiener des Landgrafen und mit Barbara von der Saale, einer Schwester Margarethe von der Saales, Landgraf Philipps zweiter Ehefrau, verheiratet.10 Da das Ehepaar ohne männliche Erben blieb, forderte Landgraf Wilhelm IV. das Mannlehen nach dem Tod Hülsings Ende des Jahres 1567 von der Witwe zurück.11 Nach langwierigen Verhandlungen verzichtete die Witwe schließlich 1574 gegen die Zahlung einer Abfindung von 20.000 Gulden (= fl.) auf die weitere Nutzung des Lehens, die ihr noch bis zu ihrem Tod zugestanden hätte.12 Seit dem Rückkauf der Burg und des Amtes war die Gutswirtschaft als landesherrliche Eigenwirtschaft organisiert. Verwaltet wurde der Betrieb durch den Ludwigsteiner Amtmann. Die Wirtschaftsführung lag in den Händen eines Hofmannes, der dem Amtmann unterstellt war. Von dieser Bewirtschaftungsform wurde bis in die zweite Hälfte des 17. Jahrhunderts nicht abgewichen, abgesehen von einer relativ frühen kurzen Phase der Verpachtung. 1596 ließ Landgraf Moritz die Vorwerke Ludwigstein und Wendershausen mit der Schäferei sowie den Acker- und Handdiensten für eine jährliche Pacht von 1320 Gulden an Johann Holle13, den Amtmann des Amtes Ludwigstein, verpachten. Allein der überlieferte Viehbestand hatte einen Wert von 740 Gulden. Davon entfielen auf die Schäferei mit knapp 600 Tieren 550 Gulden, was deren hohen Stellenwert für die Gutswirtschaft erkennen lässt. Die Rinderherde bestand aus 40 Tieren mit einem Geldwert von 164 Gulden. Nur eine untergeordnete Bedeutung hatte die Schweinehaltung. Der Geldwert der 13 Tiere wurde auf 27 Gulden angeschlagen.14 Der Pächter musste also kein eigenes Vieh anschaffen, was den Eintritt in die Pacht deutlich erleichterte. Allerdings war das Viehinventar bei Pachtende gleichwertig zurückzuliefern. Zur Absicherung gegen eventuelle Pachtausfälle, Viehverluste und andere Wertminderungen des Pachtobjekts, dessen Bestandswert bei der damals üblichen fünfprozentigen Kapitalverzinsung auf 26.400 Gulden angeschlagen werden kann, hatte Johann
10 Vgl. Susanne Rappe-Weber : Barbara von der Saale und Christoph Hülsing – Landgraf Philipps Amtsehepaar auf Burg Ludwigstein in: Hessische Heimat, 2004, 54. Jg., S. 71–73. 11 HStAM, Best. 17 d Hülsing Nr. 1 u. 6. 12 Nach Abschluss des Vergleichs zog die Witwe auf das Vorwerk Vogelsburg bei Eschwege. Vgl. Georg Landau: Die hessischen Ritterburgen und ihre Besitzer, Bd. 4, Cassel 1839, S. 206. 13 Johann Holle war von 1574 bis 1620 Ludwigsteiner Amtmann. Vgl. Karl August Eckhardt: Quellen zur Rechtsgeschichte der Stadt Witzenhausen (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen und Waldeck, Bd. 13,4), Marburg 1954, S. CXII. 14 HStAM, Urk. 13 Nr. 3133.
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Holle sein Haus, seinen Hof und seine Ländereien in Oberrieden sowie weitere Güter im Amt Ludwigstein an den Landgrafen überschreiben müssen. Der Übergang zur Verpachtung war eine von mehreren Maßnahmen, die Landgraf Moritz, der weniger als sparsamer Haushälter bekannt ist, in die Wege leitete, um die aufgrund sinkender Einnahmen und wachsender Ausgaben zusehends schwierigere Situation der fürstlichen Kassen in den Griff zu bekommen. Die 1595 eingeleiteten Sparmaßnahmen sahen eine Reduzierung der Ausgaben für das Hofpersonal, die Hofspeisung und die Vorratshaltung sowie die Umwandlung der teils in Naturalien verabfolgten Besoldungen und Dienstgebühren in Geldleistungen vor. Die hierfür nötigen Finanzmittel waren aber nur zu erlangen, wenn die Naturaleinnahmen, u. a. von den Domänengütern, monetarisiert wurden.15 Letztlich scheiterten die Bemühungen. Ob der Pachtvertrag Holles, der bis Jakobi (= 25. Juli) 1608 lief, verlängert wurde, ist nicht überliefert. Der Versuch mit der Verpachtung endete jedoch nach 1608 wieder, wie die von dem Vogt Alexander Kellner erstellte Amtsrechnung für das Jahr 1624 belegt.16 Unter dem Nachfolger Holles wurde das Domänengut Ludwigstein-Wendershausen wieder als Regiebetrieb auf Kosten der Landesherrschaft bewirtschaftet. Die Amtsrechnungen, die in weitgehend lückenloser Folge für die Jahre 1624 bis 1761 überliefert sind,17 gewähren aufschlussreiche Einblicke in die Organisation und den Ertrag der Gutswirtschaft. Die Amtsrechnung für das Jahr 1624 gliedert sich in eine Geld-, eine Frucht-, eine Vorrats- und eine Viehrechnung. In den Rechnungen werden zunächst die Einnahmen aufgeführt. Im Anschluss folgen die Ausgaben. Die Einnahmen werden unterschieden in Amtsgefälle und Einnahmen, die nicht zu den Amtsgefällen gehörten und überwiegend der Eigenwirtschaft zugeordnet werden können. Mit rund 70 Prozent resultierte ein Großteil der Geldeinnahmen aus dem Getreideverkauf. Die Früchte stammten sowohl aus Amtsgefällen als auch aus der Eigenwirtschaft. Der jeweilige Anteil lässt sich anhand der Fruchtrechnung bestimmen. Laut dieser kamen 280 Malter aus Amtsgefällen (= 30 %) und 662,5 Malter aus der Eigenwirtschaft (= 70 %). Letzterer sind darüber hinaus die aus dem Verkauf von Schaffellen, Butter und Käse, aus der Betreibung der Vorwerksweiden mit fremdem Vieh und aus der Verpachtung eines zum Vorwerk Ludwigstein gehörenden Gartens erzielten Einnahmen zuzurechnen. Zu den Amtseinnahmen hingegen zählten sämtliche 15 Vgl. Uta Löwenstein: Nervus Pecuniae. Versuche zur dispositio oder reformation der Kasseler Hofhaltung, in: Gerhard Menk (Hg.): Landgraf Moritz der Gelehrte. Ein Kalvinist zwischen Politik und Wissenschaft (Beiträge zur hessischen Geschichte 15), Marburg 2000, S. 79–94, hier S. 84. 16 HStAM, Rechnungen II Ludwigstein Nr. 3 1624. 17 HStAM, Rechnungen II Ludwigstein Nr. 3: Amtsrechnungen 1624–1626. HStAM, Rechnungen II Ludwigstein Nr. 2: Amtsrechnungen 1727–1761.
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aus der Grund- und Gerichtsherrschaft resultierenden Geld- und Naturalgefälle der Amtsuntertanen sowie das Judenschutzgeld. Tabelle 2: Geldeinnahmen des Amtes Ludwigstein 1624 fl.
%
147,2
10,0
162,4
11,0
72,4
4,9
11,7 309,0
0,8 21,0
702,7
47,7
Weidegeld Verkauf Schaffelle
27,3 2,7
1,9 0,2
Verkauf Butter (142 Pfund) Verkauf Handkäse (2 12 Schock)
16,4 0,5
1,1 0,1
1,5 721,1
0,1 48,9
769,5 1472,2
52,3 100,0
Amt ständige Gefälle (Erbzinsen) unständige Gefälle (Weinkaufgelder, Zapfengeld, Bußen, Triftgeld, Käsegeld, Forstgeld) Verkauf Eier und Geflügel (Gänse, Hühner, Hähne) Judenschutzgeld Verkauf Früchte (Korn, Hafer) Eigenwirtschaft
Pacht vom Obstgarten Verkauf Früchte (Korn, Weizen, Hafer, Erbsen) Summe Einnahmen
Mit 770 Gulden übertrafen die Geldeinnahmen aus der Eigenwirtschaft die Amtseinnahmen um 70 Gulden. Die Geldausgaben für die Eigenwirtschaft beliefen sich auf rund 113 Gulden, so dass ein Überschuss von 657 Gulden blieb. Etwas höher fielen die Amtsausgaben mit 126 Gulden aus. Der Amtsüberschuss lag mit 576 Gulden deutlich unter dem der Eigenwirtschaft. Mit 1150 Gulden wurde der überwiegende Teil der Geldeinnahmen aus den Amtsgefällen und der Eigenwirtschaft nach Kassel an die Rentkammer abgeführt. Mit der Geldrechnung ist der Ertrag der Eigenwirtschaft jedoch nur unzureichend erfasst, wie aus der Fruchtrechnung ersichtlich wird. So wurde 1624 von der auf den Vorwerken Ludwigstein und Wendershausen angebauten Gerste nicht ein einziger Malter verkauft, sondern das Gros der Früchte direkt an die fürstliche Fruchtschreiberei in Kassel geliefert. Die Fruchtrechnung, in der sowohl die an Naturalien eingegangenen Amtsgefälle als auch die Eigengewächse der Gutswirtschaft verzeichnet sind, lässt – mehr noch als die Geldrechnung – die enge Verknüpfung von Amtshaushalt und Gutshaushalt erkennen. So wurden einerseits Amtsgefälle in der Gutswirtschaft verwendet, z. B. die Gutsschäferei mit Triftschafen aufgestockt oder der Meierin,
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Tabelle 3: Geldausgaben des Amtes Ludwigstein im Jahr 1624 fl.
%
54,0
3,7
8,0 3,5
0,5 0,2
Baukosten Erbzinsen
31,4 9,0
2,1 0,6
allgemeine Ausgaben Wildhüterlohn
18,9 1,2
1,3 0,1
126,0
8,6
88,7 24,7
6,0 1,7
113,4
7,7
89,7 27,7
6,1 1,9
1030,2 1147,5
70,0 77,9
3,0
0,2
Amt Besoldung Amtspersonal Zehrungskosten (z. B. bei Hoflieferungen) Zehntsammler- und Fuhrlohn
Eigenwirtschaft Gutshaushalt (Besoldung, Notdurft Haushalt) Schäferei (Besoldung, Notdurft Haushalt) Rentkammer Forstgeld (wie eingenommen) Mastgeld (wie eingenommen) Fruchtgeld (wie eingenommen) auf fürstliche Anweisung an Pfarrer in Rieden (jährlich) Rezess (Überschuss) Summe Ausgaben
82,2
5,6
1472,2
100,0
in deren Händen die Milchwirtschaft lag, der vom Amt eingenommene Leinsamen zum »Leuchten beym Vieh im Viehhause«18 ausgehändigt. Andererseits dienten Erbsen, Heu, Grummet und Stroh aus der Gutswirtschaft als Naturalbesoldung des Amtspersonals. Allerdings fand nur der geringste Teil der Naturaleinnahmen Verwendung im Amts- und den Gutshaushalt. Der größte Teil dessen, was nicht für die Besoldung des Amts- und Gutspersonals, für Naturallöhne und Dienstgebühren, für Viehfutter und Saatgut benötigt wurde, ging nach Kassel an die fürstliche Fruchtschreiberei, an die Lichtkammer und an die Küchenschreiberei. So erhielt die Küchenschreiberei laut Vorratsrechnung 872 Pfund Butter und 185 12 Schock Handkäse geliefert, wobei zwei weitere Schock bei der »Vberbrinunge der Keese«19 verzehrt wurden. Zwei Schock Handkäse 18 HStAM, Rechnungen II Ludwigstein Nr. 3 1624. 19 Ebd.
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erhielten darüber hinaus die Schafscherer bei der Schafschur und 2 12 Schock wurden verkauft. Tabelle 4: Naturaleinnahmen und -ausgaben des Amtes Ludwigstein 1624
Korn
Mtr
Weizen
Mtr
Gerste
Mtr
Bohnen
Mtr
Hafer
Mtr
Erbsen
Mtr
Trespen
Mtr
Leinsamen Mtr
66,7 238,0 160,4 465,1
68,0
3,0
47,0 104,0
42,0
0,6
2,3
10,3 158,8 119,8 288,9
0,0
4,5
12,0
8,7
48,3
0,8
0,5 2,3
4,6
6,9
6,0
8,3
14,3
1,5
3,9
2,4
10,9
9,9
2,5
0,9 0,2
Pf
0,8
Gänse
St
230,5
230,5 166,5
Hühner
St
305,0
305,0
12
Hähne
St
162,5
162,5
0,5
Eier
St
1650
1650
1260
Schafe
St
54,0
Wolle
Kl
Hopfen
Mtr
8,0
Heu
Fud
71,0
72,0 143,0
Grummet
Fud
Stroh
Sch
65,3
85,3 150,7
0,8
Butter
Pf
1014
1014
142
Käse
Sch
192
192
2,5
Salz
Ach tel
6,4
6,5
7,8
0,2
0,3
3,6
0,8 0,8
2,0
31,0 230,5
5
135,0 305,0
46,0
114,0 162,5
180
210,0 1650 8,0
13,0
15,2
46,0 54,0 51,7 51,7
51,7
3,0
Rezess
1,6
3,0
4,0
4,0
9,0
73,0
76,0
67,0
2,0
-2,0
63,5
1,0 68,7
2,0
12,2
0,6
5,3
33,0
54,0 5,0
0,7
1,9
0,8
51,7
4,1
37,6 106,3 405,4 651,2 141,4
0,1
Wachs
44,1 99,9
37,0 185,1 238,6 50,3 0,7
92,0
Summe
30,1 116,3 177,2 394,6 70,5
1,3
194,0 217,3 381,3 792,6
Ablieferungen u. Anweisungen
Eigenwirtschaft
Amtsausgaben
Verlust durch Eintrocknung
Verkauf
Summe
Rezess vom Vorjahr
Ausgabe
Eigenwirtschaft
Amtsgefälle
Einnahme
3,3
82,0
872 1014 4 185,5 192 0,9
8,3
9,2
6,0
Den Geldwert des sich aus der Fruchtrechnung ergebenden Überschusses der Gutswirtschaft, definiert als Einnahme abzüglich Verkauf, Verlust, Amtsausgabe und Bedarf der Eigenwirtschaft, zu beziffern, ist nur annäherungsweise möglich.
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In der Geldrechnung sind für Korn 5 Rtl. pro Malter, für Weizen 6 Rtl., für Hafer 2 12 Rtl. und für Erbsen 6 Rtl. als Verkaufspreis angegeben. Da der Preis für Gerste in der Regel zwischen dem von Korn und Hafer lag, können hierfür 3 12 Rtl. angesetzt werden. Zum Getreide kam der Ertrag der Gutsschäferei mit fast 52 Kleuder Wolle, wobei pro Kleuder 2 Rtl. gerechnet werden können.20 Der Ertrag der Milchwirtschaft wird in der Fruchtrechnung mit 1014 Pfund Butter und 192 Schock Handkäse angegeben, was deutlich unter den Zahlen im »Ökonomischen Staat« lag. Dort wird der mittlere Ertrag der Milchwirtschaft auf 1600 Pfund Butter und 400 Schock Käse beziffert. Werden für die Butter 2 12 Albus (= Alb.) pro Pfund und für den Handkäse 5 Alb. pro Schock gerechnet, so kann der Geldwert des Überschusses der Eigenwirtschaft aus Ackerbau, Schäferei und Milchwirtschaft auf rund 2175 fl. beziffert werden. Der Überschuss des Amtshaushalts aus der Fruchtrechnung belief sich hingegen nur auf rund 872 fl. Hinzu kamen die Einnahmen aus der Viehhaltung der Eigenwirtschaft. Die Rinder und Schweine wurden laut eines Vermerks zu Beginn der Viehrechnung während der »Sommerszeit auff dem Hause vndt Wintterszeit im Vorwergk Wendershausen gehalten«21. Die Schäferei hingegen war ganzjährig in Wendershausen, was notwendig war, um die dortigen Gutsländereien mit Dung zu versorgen. Ende des Jahres 1623 umfasste der Tierbestand 484 Schafe und 34 Rinder. Der Schweinebestand allerdings war auf ein Tier dezimiert, »nachdeme vorm Jahre die Schweine vom Kriegsvolck im Vorrath alhir gantz undt gahr umb [ge]kommen«22 waren. 1624 wurden daher 23 Ferkel angekauft. Außerdem konnte der Bestand um zehn Ferkel aus eigener Zucht vergrößert werden. Ferner wurden 22 Kälber und 147 Lämmer geboren. Die Schafherde erfuhr zudem eine Aufstockung durch die Übernahme von acht Triftschafen aus den Amtseinnahmen. Durch Diebstahl verlor die Gutswirtschaft einen dreijährigen Bullen, der »Christ Sonnabendt zu Nacht«23 auf dem Vorwerk Wenderhausen aus dem Stall gestohlen wurde, sowie 15 Schafe. Weitere neun Rinder, ein Schwein und 45 Schafe – vor allem Jungtiere – verendeten im Verlauf des Jahres. Für die Besoldung des Amts- und Gutspersonals wurden 18 Schafe (Amtsbestallung Vogt und Förster je drei Tiere, Gutshaushalt acht Tiere, Schafmeister vier Tiere) benötigt. Die größte Abnahme erfuhr der Viehbestand aber durch die Hoflieferungen. Insgesamt wurden neun Rinder, ein Schwein und 44 Schafe an die Hofküche in Kassel geliefert. Zu- und Abgänge miteinander verrechnet belief sich der Viehbestand Ende 1624 auf 37 Rinder, darunter 22 milchtragende Kühe, 32 20 Der Ansatz entspricht dem Kammerpreis im Zeitraum 1555 bis 1585. Vgl. Kersten Krüger (Hg.): Der Ökonomische Staat Landgraf Wilhelms IV., 3. Bd.: Landbuch und Ämterbuch (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen 17,3), Marburg 1977, S. 31. 21 HStAM, Rechnungen II Ludwigstein Nr. 3 1624. 22 Ebd. 23 Ebd.
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Schweine und 517 Schafe. Während die Schafherde die im »Ökonomischen Staat« genannte Größe hatte, erreichte der Milchviehbestand lange nicht die dort angegebene Zahl von 40 Kühen. Der Geldwert der Hoflieferungen lässt sich auf circa 70 fl. (pro Rind 5 fl., pro Schwein 2 fl. und pro Schaf 12 fl.) angeben. Werden die Zahlen aus der Geld-, der Frucht- und der Viehrechnung addiert, so übertraf der Überschuss der Gutswirtschaft mit 2902 fl. den des Amtes, der sich auf 1448 Gulden belief, um rund das Doppelte. Bei der Vorratsrechnung handelt es sich um eine Aufstellung der Geldausgaben der Gutswirtschaft, deren Summe in der Geldrechnung als Ausgabe unter der Rubrik »Auff den Vorrath« verbucht wurde. Das Gros der Ausgaben entfiel auf Besoldungen und Löhne. Damit gibt die Vorratsrechnung zugleich Auskunft über die Größe und Zusammensetzung des Gutshaushaltes. So waren auf den beiden Vorwerken 1624 ein Hofmann und dessen Ehefrau, die Meierin24 beschäftigt, die eine Besoldung von 16 fl. (inkl. Kostgeld) erhielten. Hinzu kamen ein Kuhhirte (8 fl. Besoldung), drei Viehmägde (je 7 fl. 3 Alb. Besoldung), ein Schweinehirte (4 fl. Besoldung), letzterer allerdings nur für ein halbes Jahr, da zunächst keine Schweine zu versorgen waren. Hinzu kamen saisonal beschäftigte Arbeitskräfte wie Schnitter und Binder während der Getreideernte. Unter »Ausgaben insgemein« finden sich vor allem Anschaffungen für die Milchwirtschaft und die Viehhaltung sowie die Ausgaben für den Ankauf der bereits erwähnten 23 Ferkel. Im Anschluss an die Geldausgaben sind die u. a. als Besoldungsbestandteil verausgabten Naturalien verzeichnet. Geld, Feldfrüchte (Korn, Weizen, Gerste, Hafer und Erbsen) und Schlachtvieh zusammengerechnet kamen der Hofmann und seine Ehefrau auf jährlich 62 fl., der Kuhhirte und die Mägde auf je 43 fl. und der Schweinehirte für das halbe Jahr auf 23 fl. An das Vieh verfüttert wurde nur wenig Getreide. Drei Malter Hafer gingen an die Ochsen und Kälber sowie zehn Metzen Korn an die Schweine. Weitere 8 12 Malter Hafer erhielt der Eseltreiber, der zum Amtspersonal zählte und für die Versorgung der Burg mit Wasser zuständig war, für die Esel, die zum Amtsinventar gehörten. Als Viehfutter dienten vor allem Trespen, Heu – auch hier gingen drei Fuder an die Esel – und Stroh, Letzteres als Futter und Einstreu. Ein weiterer Posten in der Vorratsrechnung waren die Ausgaben für Salz, das als Teil der Besoldung an das Gutspersonal ging, für die Butter- und Käseherstellung benötigt wurde und als Viehsalz diente. Mit den Schafen, die der Hofmann und die Mägde als Besoldungsvieh erhielten schließt die Vorratsrechnung. Die Ausgaben der Schäferei wurden indessen nicht in der Vorratsrechnung sondern unter den Amtsausgaben in der Geld- und der Fruchtrechnung verzeichnet. Nach diesen waren in der Wenderhäuser Schäferei ein Schafmeister, zwei Lämmerknechte und ein Lämmerjunge beschäftigt, deren Geld- und Naturalbesoldung auf 162 fl. 24 HStAM, Rechnungen II Ludwigstein Nr. 3 1625, Vorratsrechnung, Ausgaben Insgemein.
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anzuschlagen ist. Hinzu kamen 53 fl. für einen weiteren Lämmerknecht in Hundelshausen. Der Gutshaushalt bestand somit aus lediglich elf Personen.25 Die Zahl der Amtsbediensteten war mit 4 Personen noch kleiner.26 Sie bestand aus dem Amtmann (Besoldung 262 fl. plus Lein, Heu, Grummet und Stroh), einen Förster (Besoldung 44 fl. plus Salz), einen Pförtner und einem Eseltreiber (Besoldung je 41 fl. plus Salz). Der »Ökonomische Staat« und die Amtsrechnungen lassen eine starke Orientierung des Amtes und der Gutswirtschaft Ludwigstein um 1600 Richtung Kassel erkennen. Doch es waren nicht nur die Geld-, Natural- und Viehlieferungen, die den Amtsvogt und den Hofmann regelmäßig in Verbindung mit der Residenzstadt brachten. Insbesondere die auf dem Ludwigstein eingesetzten Amtmänner besaßen schon vor Amtsantritt enge Verbindungen zum Kasseler Hof. Amtmann Johann Nordeck (†1780) war zuvor Kanzleischreiber und Kammersekretär Landgraf Philipps gewesen.27 Christoph Hülsing war zunächst Kammerdiener und später Schwager Landgraf Philipps. Johann Holle war vor seiner Tätigkeit als Ludwigsteiner Amtmann Schreiber in der Regierungskanzlei Landgraf Wilhelms IV.28 Matthias von Craesbeke, der sich nach dem Tod Holles wohl vergeblich um das Amt Ludwigstein bemühte, war Direktor der Kasseler Rentkammer und hatte als Berghauptmann die Oberaufsicht über die landgräflichen Hütten-, Berg- und Salzwerke inne.29 Die Orientierung des Amtes Ludwigstein nach Kassel hörte mit der Einrichtung der Rotenburger Quart 1627 schlagartig auf. Die Amtmänner wurden 25 In der landesherrlichen Eigenwirtschaft in Trendelburg waren 1567 insgesamt 19 Personen beschäftigt: 1 Hofmann, 1 Meierin, 2 Kuhhirten, 4 Mägde, 1 Schweinemeister, 1 Schweineknecht, 1 Schweinejunge, 1 Schafmeister, 4 Schafknechte, 1 Eseltreiber, 1 Müller und 1 Mühlenknecht. Vgl. Kersten Krüger: Frühabsolutismus und Amtsverwaltung. Landgraf Wilhelm IV. inspiziert 1567 Amt und Eigenwirtschaft Trendelburg, in: Hessisches Jahrbuch für Landesgeschichte, 1975, 25. Jg., S. 117–147, hier S. 126f. 26 1726 bestand das Amtspersonal nur noch aus dem Oberschultheiß in Witzenhausen und dem Förster in Oberrieden sowie dem Hofmann des Domänengutes Ludwigstein-Wendershausen. Die Beschäftigung eines Pförtners und eines Eseltreibers war infolge der Verlegung des Amtssitzes nach Witzenhausen nicht mehr erforderlich. HStAM, Rechnungen II Ludwigstein Nr. 3 1726. 1745 standen am Amtssitz in Witzenhausen sechs Personen in hessen-rotenburgischen und hessen-eschwegischen Diensten: der Oberschultheiß sowie 1 Schreiber, 1 Knecht, 2 Mägde und 1 Amtsdiener. Vgl. Albrecht Eckhardt (Bearb.): Witzenhausen 1745 (Hessische Ortsbeschreibungen 2), Marburg 1965, S. 22. 27 Vgl. Franz Gundlach: Die hessischen Zentralbehörden von 1247 bis 1604, Bd. 3, Marburg 1932, S. 182. 28 Johann Holle wurde 1570 von Landgraf Wilhelm zum Kanzleischreiber bestellt. Vgl. Gundlach: Zentralbehörden (Anm. 27), S. 106 u. 377. 29 Matthias Caesar Martius von Craesbeke stammte aus Wernigerode und war von mindestens 1622 bis zu seiner Verhaftung 1627, offenbar wegen fehlerhafter Rechnungen und rückständiger Gelder – Kammerdirektor und Berghauptmann. HStAM, Best. 55 a Nr. 738, 672, 1050, 1900; HStAM, Best. 4 d Nr. 340.
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nun nicht mehr von den hessen-kasselischen sondern von den hessen-rotenburgischen Landgrafen bestellt und waren auch nicht mehr der Kasseler Rentkammer sondern der Rotenburger Gesamtrentkammer30 untergeordnet. So heißt es in der von Amtmann Franz Ulrich Wasserhuhn31 (†1663) erstellten Amtsrechnung für 1645 unter der Rubrik »Zehrungskosten«: »Alß die Rechnungen von Jahren [1]642, [1]643 undt [1]644 abgelegt worden, darbey der Schaffmeister undt Hoffmann gewesen undt vom 21. biß uff den 25ten Feb[ruar] zu Rotenbergk verpleiben müßen, haben dieselbige neben einem Knechte, so meine Pferdte gewartet, auch Ich neben meinem Diener an Hin- undt Herreisen verzehret 4 fl. 12 alb.«32. Die Wolle wurde vom Schafmeister nicht mehr nach Kassel sondern nach Eschwege geliefert, wo sie ein Kaufmann aus Göttingen übernahm. Korn und Weizen gingen an den Fruchtschreiber Michael Koch nach Rotenburg, Gerste und Hafer aber an den Fruchtboden in Kassel sowie an Werner Kellner, den Vogt des benachbarten hessen-kasselischen Domänengutes Rückerode. Eine Erklärung für die Lieferungen nach Kassel könnte sein, dass der Rotenburger Hof vor den Kriegsereignissen nach Kassel, dessen Festungen einen besseren Schutz boten, geflohen war.33 An welchen Ort die eingenommen Gelder gezahlt wurden, ist aus der Amtsrechnung nicht ersichtlich. Andere in der Amtsrechnung aufscheinende Ereignisse belegen aber die weitgehende Einbindung in die Rotenburger Quart. So wurden die Baugebrechen des Hauses Ludwigstein durch den Vogt des Domänengutes Heydau und die Schäferei durch den Vogt des Domänengutes Cornberg visitiert, beides säkularisierte Klostergüter, die der Rotenburger Quart zugesprochen worden waren. Außerdem wurde der herrschaftliche Sattelknecht auf seiner Reise zum Wittmarshof, der in der ebenfalls zur Rotenburger Quart gehörenden Herrschaft Gleichen lag, zwei Tage auf Amtskosten in Witzenhausen beherbergt und als am 20. November ein auf dem Wittmarshof gemästetes Rind, das »zur Hoffhaltung getrieben worden«34, über Nacht in Witzenhausen eingestellt werden musste, wurden zu dessen Fütterung zwei Metzen Hafer aus den Amtsvorräten bereitgestellt. Einen verwaltungstechnischen und finanzwirtschaftlichen Unterschied zur Amtsrechnung von 1624 markiert die Monetarisierung eines Teils der zuvor in 30 Inwieweit sich die beiden Rentkammern in ihrer Struktur und in ihrem Verwaltungshandeln unterschieden, lässt sich nicht sagen, da Forschungen zu beiden Behörden fehlen. 31 Franz Ulrich Wasserhuhn war am 1. September 1629 von der Rotenburger Kanzlei zum »Rat und Amtmann zu Ludwigstein und Witzenhausen auf- und angenommen« worden. Johann Christoph Kalckhoff: Historia Cancellariae Rotenbergensis. Geschichte der Rotenburger Quart-Kanzlei. 1627 bis 1743, Rotenburg 2002, S. 6. 32 HStAM, Rechnungen II Ludwigstein Nr. 3 1645. 33 Vgl. Margret Lemberg: Juliane Landgräfin zu Hessen (1587–1643). Eine Kasseler und Rotenburger Fürstin aus dem Hause Nassau-Dillenburg in ihrer Zeit (Quellen und Forschungen zur hessischen Geschichte 90), Darmstadt, Marburg 1994, S. 387ff. 34 HStAM, Rechnungen II Ludwigstein Nr. 3 1645.
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Naturalien geleisteten Amtsgefälle. So waren die von den Amtsuntertanen zu liefernden Gänse, Hühner, Hähne und Eier in Geldzahlungen umgewandelt worden. Gleiches galt für die Triftkäse und Trifthammel, wenn auch nur vorläufig, da die Schäfer wie 1643 und 1644 nur »erborgtes Viehe«35 von den Allendörfer Metzgern in Hute hatten. Selbst die Schafttrift in Hundelshausen konnte in Ermangelung des Viehs nicht betrieben werden und war daher vom Amtmann gepachtet worden. Überhaupt stand es schlecht um die Gutswirtschaft. Wie die Besoldungen belegen, gab es kein Gesinde mehr auf den Vorwerken Ludwigstein und Wendershausen. Die Milchwirtschaft ruhte und auch sonst wurden keine Einkünfte aus der Viehhaltung erzielt. Grund für die katastrophale Bilanz war, dass die gesamte Rinderherde im Jahr 1641 von Räubern gestohlen und im selben Jahr der Schweinestall in Wendershausen von den kaiserlichen Truppen während der Belagerung der Stadt Göttingen niedergebrannt und die Schweine sowie das Futter requiriert worden waren.36 Laut Viehinventar standen Ende des Jahres 1645 in Wendershausen 407 Schafe und auf dem Ludwigstein zwei Pferde in den Stallungen.
Übergang zur Verpachtung – Pächter und Pachtzinsen Die sukzessive Entflechtung von Amtshaushalt und Gutswirtschaft begann 1664 mit dem Amtsantritt Sigmund Laubingers37 als Ludwigsteiner Amtmann und der Verlegung des Amtssitzes von der Burg in die Stadt Witzenhausen. Trotz der räumlichen Trennung von Amtsverwaltung und Gutswirtschaft erfolgte die Administration beider Bereiche aber weiterhin in Personalunion durch den Amtmann, der nach der Vereinigung des Amtssitzes mit dem Stadtschultheißenamt in Witzenhausen 1665 den Titel eines Oberschultheißen trug. Mit dem Amtsantritt seines Nachfolgers Franz Ulrich Laubinger38 im Jahr 1680 wurde mit dem Wechsel der Bewirtschaftungsform von der Administration zur Verpachtung ein weiterer Schritt zur Trennung von Amt und Gut gemacht. Noch aber blieben Amtsverwaltung und Gutswirtschaft in einer Hand vereint, da Ober35 Ebd. 36 Göttingen lag ab Oktober 1641 unter Beschuss durch die Truppen Leopold Wilhelm von Österreichs und Octavio Piccolominis, die die Belagerung jedoch im November aufgrund des herannahenden Winters erfolglos abbrechen mussten. Vgl. Dietrich Denecke, HelgaMaria Kühn (Hg.): Göttingen: Geschichte einer Universitätsstadt. Bd. 1: Von den Anfängen bis zum Ende des Dreißigjährigen Krieges, Göttingen 1987, S. 663f. 37 Sigmund Laubinger (1617–1680) wurde 1648 zum Schultheiß in Eschwege, 1664 zum Ludwigsteiner Amtsschultheiß und 1665 zum Oberschultheiß in Witzenhausen bestallt. Vgl. Eckhardt: Quellen (Anm. 13), S. CXII. 38 Franz Ulrich Laubinger war von 1680 bis 1711 Oberschultheiß in Witzenhausen. Vgl. Eckhardt: Quellen (Anm. 13), S. CXII.
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schultheiß Laubinger zugleich Pächter der Vorwerke Ludwigstein und Wendershausen war. Seine erste Pachtperiode lief von Petri (= 22. Februar) 1680 bis 1686. Der jährliche Pachtzins betrug 900 Rtl. bzw. umgerechnet 1107 fl. 18 Alb., also gut 200 fl. weniger als die Pacht Johannes Holles fast hundert Jahre zuvor. Zahlbar war der Betrag in zwei Raten, die erste an Weihnachten und die zweite an Pfingsten. Während seiner zweiten Pachtperiode von Petri 1686 bis 1692 betrug der Pachtzins 950 Rtl. Der Wechsel der Bewirtschaftungsform schlug sich auch in den Amtsrechnungen nieder, wobei der Amtsrechnung von 1680 Übergangscharakter zukommt. Einnahmen aus dem Verkauf von Butter und Käse, Rindern und Schweinen sowie Heu und Stroh finden sich darin bereits nicht mehr. Einzige Einnahme bildet der Verkauf von 30 Schafen an den Schafmeister Urban aus dem nahegelegenen Dorf Abterode, der vermutlich noch vor Beginn der Pachtzeit getätigt worden war. Unter der Rubrik »Innahm Pfachtgeldt« entfielen die Pachtzinsen von der bis dahin an die Gemeinde Wendershausen verpachteten Stoppelhute auf einem »Kampfwerder« genannten Flurstück sowie von einem an den Oberschulheißen verpachteten Baumgarten an der Burg Ludwigstein, da beide Parzellen nunmehr zusammen mit dem Domänengut verpachtet wurden. Dafür findet sich in der Rechnung – hier noch als Nachtrag von anderer Hand – zum ersten Mal der vom Pächter des Domänengutes zu zahlende Pachtzins vereinnahmt. Unter den Ausgaben entfielen die Besoldung des Schafmeisters sowie die Aufwendungen für die Schäferei. Mit der Verpachtung ging eine weitere Monetarisierung der Amtswirtschaft einher. So hatte der Amtmann zur Besoldung bislang jährlich drei Fuder Heu erhalten, »so ietzo, weil das Vorwerck vermeyert, bezahlet worden«39. Gleiches galt für die Besoldungsländereien des Amtmannes. Alle Naturalleistungen, die aus den Amtseinnahmen bestritten werden konnten wie Korn, Gerste und Hafer sowie Federvieh, wurden beibehalten. In der Fruchtrechnung entfielen die als »Eigengewächs« bezeichneten Erträge der Gutswirtschaft sowie die Ausgaben für Saatgut, Naturalbesoldung der Vorwerksbediensteten und Viehfutter. Der mit den Amtsgefällen einkommende Hafer wurde zum Teil an die Vorwerksschäferei verkauft, so 1726 gut 170 Malter.40 Die Ablieferungen an die Rotenburger Rentkammer reduzierten sich auf Geld, Korn, Weizen, Gerste und Trifthammel. Nicht in die strikte Trennung von Amtshaushalt und Gutshaushalt passt, dass die Besoldung des Hofmanns weiterhin aus den Amtsgefällen bestritten wurde, vermutlich weil er weiterhin mit Amtsgeschäften wie etwa der Erhebung der Triftschafe beauftrag war.41 Alle 39 HStAM, Rechnungen II Ludwigstein Nr. 3 1680. 40 HStAM, Rechnungen II Ludwigstein Nr. 3 1726. 41 Die Besoldung des Hofmanns findet sich nicht unter den Amtsbesoldungen in den Geldrechnungen sondern zunächst in den Vorratsrechnungen. Nach dem Übergang zur Ver-
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anderen Posten der Vorratsrechnung aber entfielen mit dem Übergang zu Verpachtung. Daher bieten die Amtsrechnung ab dem Jahr 1680 keine Informationen mehr über die Gutswirtschaft. Trotz der weitgehenden finanziellen Trennung von Amts- und Gutshaushalt waren beide Bereiche weiterhin in einer Person, wenn auch in strukturell unterschiedlicher Funktion, vereint. Als landgräflicher Beamter versah Oberschultheiß Franz Ulrich Laubinger die Amtsverwaltung auf Kosten und Risiko seines Dienstherrn, als Pächter aber wirtschaftete er auf eigene Kosten und Risiko. Erst mit der Verpachtung der beiden Vorwerke an Otto Quentin 1692 wurde auch die personelle Trennung von Amtsverwaltung und Gutswirtschaft vollzogen. Über die Dienste der Amtsuntertanen blieb die Gutswirtschaft aber weiterhin ins Amt eingebunden. Der gesamte Ackerbau des Domänengutes beruhte auf den Ackerdiensten der dienstpflichtigen Bauern aus den Dörfern Wendershausen, Oberrieden, Hilgershausen, Weißenbach, Hundelshausen, Roßbach und Ellingerode sowie etlicher Bauern aus Unterrieden und Bischofshausen. Sie mussten das Land düngen, ackern und eggen, das Getreide säen, schneiden und binden, Heu und Grummet machen, Mist, Früchte, Holz und Baumaterialien fahren sowie Botengänge leisten.42 Landgraf Ernst von Hessen-Rheinfels-Rotenburg hatte die Beamten der Domänenverwaltung im Oktober 1691 angewiesen, die Vorwerke in der Rotenburger Quart zukünftig an den Meistbietenden zu verpachten. Zumindest im Fall des Domänengutes Ludwigstein-Wendershausen erfolgte die Verpachtung jedoch nicht auf dem Weg der öffentlichen Versteigerung sondern durch Befragung. Anlässlich einer solchen Befragung erklärte Oberschultheiß Laubinger, er könne kein höheres Pachtgeld geben, als er bislang bezahlt habe. Andernfalls wolle er sich der Pacht »lieber begeben und darvon abstehen«43 Mit Otto Quentin, der bislang braunschweigisch-lüneburgischer Amtsverwalter in Groß Schneen und Pächter des dortigen Amtsvorwerkes gewesen war,44 hatte sich jedoch ein Pachtinteressent gemeldet, der bereit war, statt der bisherigen Pacht von 950 Rtl. jährlich 1050 Rtl. zu zahlen. Die Überlieferung des Domänengutes verlief nicht reibungslos, wie ein Schreiben der landgräflichen Kanzlei in St. Goar vom 28. Februar 1692 erkennen pachtung ist sie in den Geldrechnungen unter der Rubrik »Auf den Vorrath« vermerkt. An der Höhe der Besoldung – 16 fl. jährlich – änderte sich zwischen 1624 und 1726 nichts. 42 HStAM, Best. S Nr. 470: Dienstregister des Amtes Ludwigstein mit Einschüben älterer Dienstvergleiche des 16. und 17. Jhs., 1762–1767. 43 HStAM, Best. 23 d Witzenhausen Nr. 12. 44 Vgl. Hellmuth Feilke: Schäfer und Schafhaltung im Fürstentum Göttingen zwischen 1616 und 1721 anhand der Schatzregister. Quantitative Analyse bis 1805, Norderstedt 2012, S. 69 u. 149. Max Burchard, Herbert Mundhenke (Bearb.): Die Kopfsteuerbeschreibung der Fürstentümer Calenberg-Göttingen und Grubenhagen von 1689, Teil 8 (Veröffentlichungen der Historischen Kommision für Niedersachsen und Bremen 27,8), Hildesheim 1965, S. 10.
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lässt. Darin wurde Laubinger vorgeworfen, vor der Übergabe noch sämtliche Strohvorräte verkauft zu haben, was gegen die Pachtbedingungen verstieß, sowie generell bestrebt zu sein, Quentin die Pacht »schwer oder verdrießlich zu machen«45. In seinem Antwortschreiben bezichtigte Laubinger den neuen Pächter des »ohnwahrhaften Bericht[s]«. Dieser beschwerte sich am 22. Juli erneut über den Oberschultheißen. Ihm war mit dem Pachtvertrag zugesichert worden, dass er das für den Haushalt, die Viehhaltung und die Milchwirtschaft nötige Brennholz frei Hof geliefert bekommen sollte. Da 40 Klafter Burgholz im Forst parat lagen, hatte er bereits mehrmals die Amtsuntertanen durch den Hofmann Immicke46 zur Anfahrt bestellen lassen. Der Oberschultheiß hintertreibe jedoch seine Bemühungen, da er das Holz für seinen Amtssitz in Witzenhausen beanspruche. Daher hatte Quentin in den 16 Wochen, die er bereits auf der Burg war, nicht eine Holzlieferung erhalten. Stattdessen war er gezwungen gewesen, das Brennholz auf eigene Kosten zu kaufen und auf den Ludwigstein transportieren zu lassen. Zu Auseinandersetzungen war es auch um das Brauwasser gekommen, dessen Anfahrt die Bauern des Dorfes Hundelshausen verweigern würden. Quentin vermutete, dass die Dienstpflichtigen von dem Oberschultheiß zu solcher »Widerspenstigkait« angestiftet worden waren, da sie von ihm nicht zur Rechenschaft gezogen würden. Auch die geplanten Gartenmeliorationen hatten bislang unterbleiben müssen. So wollte Quentin »unten am Rasen und Weg« einen kleinen Garten anlegen, den nur noch mit Hafer bestellten Weinberg »wiederumb in effe bringen, damit man sich nicht vor aller Weldt schemen muß, daß nichts mehr im Garthen aldar wovon das geringste zu Nutzen seye«, sowie im Garten an der Burg, in dem jeder zwanzigste Baum entweder gefällt oder abgestorben sei, hundert junge Obstbäume setzen lassen. Die frondienstpflichtigen Bauern weigerten sich aber halsstarrig, »solches zu Werck zu richten« (vgl. Abb. 11). Auch hierfür machte Quentin den Oberschultheiß verantwoRtl.ich und überaupt schien es ihm, »alß wenn mancher Beambter mehr Lust zue Ruin alß Conservation und Uffnahme habe«. Dies zeige sich auch darin, dass das Pflaster im Marstall, im Brauhaus, im Kuhstall und in der Milchkammer sowie in den meisten anderen Räumen dringend repariert werden müsste, wie er dem Rat Körner47, als dieser sich zuletzt auf dem Ludwigstein aufgehalten hatte, 45 HStAM, Best. 23 d Witzenhausen Nr. 12. 46 Christoph Immicke ist zwischen 1692 und 1702 als Hofmann nachweisbar. Trotz der Streitigkeiten zwischen Pächter und Hofmeister übernahm eine Katharina Dorothea Quentin 1702 die Patenschaft für eine Tochter des Hofmeisters. Landeskirchliches Archiv der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck, Kirchenbuch Wendershausen 1668–1774, Geburten, 05. 10. 1702. In welchem verwandtschaftlichen Verhältnis Katharina Dorothea Quentin zu Otto Quentin stand, ließ sich nicht ermitteln. 47 Der Hofrat Ernst Wilhelm Körner war seit 1690 als Agent Landgraf Ernsts in Kassel tätig. HStAM, Best. 4 c Hessen-Rheinfels und -Rotenburg Nr. 101.
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bereits angezeigt habe. Auch müssten fast alle Türen erneuert werden, da sie entweder ganz fehlten oder aufgrund fehlender Schlösser und Beschläge nicht mehr zu gebrauchen waren. Er selbst könne jedoch nur »erlangen, bawen oder repariren«, was die absolute Notdurft erfordere, »weilen jetzt böße beschwerliche Zeiten seyn«48. Die Beschwerde kam zu einem ungünstigen Zeitpunkt, wie Rat Körner Quentin im Antwortschreiben vom 12. September 1692 klarzumachen versuchte: »Weilen es itzo zu Rheinfels nicht zum besten steht, sondern die Frantzosen die fürstl[iche] Residentz u[nd] Vestung gäntzlich inuntiret haben sollen, alß ist es die Zeit nicht Ihro Hochfürstl[iche] Durch[laucht] unsern gnadigst[en] fürstl[ichen] Herrn mit vielen Klagen zu incommodiren«49. Nachdem bekannt geworden war, dass Landgraf Ernst, der beständig in finanziellen Schwierigkeiten steckte, dem französischen König angeboten hatte, ihm die Burgen Rheinfels und Katz gegen Zahlung von 100.000 Rtl. zu überlassen, hatte Landgraf Karl von Hessen-Kassel die Burg Rheinfels besetzen lassen. Die nachfolgende Belagerung durch die Franzosen von Dezember 1692 bis Januar 1693 scheiterte am Widerstand der Verteidiger.50 Die Auseinandersetzungen zwischen Quentin und Laubinger gingen unterdessen weiter. Dies belegt ein Schreiben Quentins, das Mitte des Jahres 1694 bei der Rotenburger Gesamtrentkammer einging und in dem sich der Pächter mehr noch als über den Oberschultheißen über »den wiedrigen Hohmann zue Wenderhausen, so der rechte Author aller Wiederwilligkeit undt meines großen Schadens ist« beschwerte. Unmittelbarer Anlass für das Beschwerdeschreiben war, dass der Oberschulheiß ein Stück Land, das mit Kohl bepflanzt war, hatte räumen lassen. Das Landstück gehörte zu Besoldungsländereien des Oberschultheißen. Ein Kennzeichen des Besoldungslandes war, dass der Pächter sämtliche Feldarbeiten zu leisten hatte, die Ernte aber dem Oberschultheiß zustand. Anstatt das Landstück turnusgemäß brach liegen zu lassen, hatte Quentin es als Kohlland benutzt, wobei er zu seiner Rechtfertigung darauf verwies, das Laubinger selbst das Land vor drei Jahren mit Rüben hatte bestellen lassen. Es ist zu vermuten, dass die Gesamtrentkammer der verharmlosenden Darstellung nicht gefolgt ist. Da die Brachnutzung zu Lasten der nachfolgenden Getreideernte ging, bedeutete die zwischenzeitliche Besömmerung der Brache durch den Pächter eine Schädigung des Oberschultheißen. Drei Jahre zuvor hingegen wurden die Einbußen an Getreide durch den Nutzen, den Laubinger von den Rüben hatte, mehr als aufgewogen. Eine Resolution der Gesamtrentkammer ist 48 HStAM, Best. 23 d Witzenhausen Nr. 12. 49 Ebd. 50 Vgl. Carl Eduard Vehse: Die Höfe zu Hessen. Mit achtzehn zeitgenössischen Abbildungen, ausgewählt, bearbeitet und herausgegeben von Wolfgang Schneider, Leipzig u. a. 1991, S. 118f.
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aber ebenso wenig überliefert wie eine Stellungnahme Laubingers zu den Vorwürfen. Daher lässt sich nicht sagen, ob Quentins Vorschlag, dem Oberschultheißen für die vier Acker Besoldungsland ein angemessenes Geldäquivalent zu zahlen, um zukünftigen Streit zu vermeiden, Gehör fand. Quentins nächster Beschwerdepunkt betraf ein Ereignis, das bereits vierzehn Tage zurücklag. Der Pächter hatte durch den Hofmann 15 Bauern aus Hilgershausen zum Stürzen der Brachfelder bestellen lassen. Dieser hatte, so die Vermutung des Pächters, zugleich den Oberschultheißen hierüber informiert, der die Bauern noch in der Nacht durch den Gerichtsknecht zum Flachsbrechen nach Witzenhausen bestellen ließ. Darüber hinaus war Quentin weiterhin gezwungen, sein Brennholz zu kaufen und mit seinem eigenen Geschirr auf den Ludwigstein transportieren zu lassen. Gleiches galt für die Wasserfuhren und andere Dienste, die ihm »alle weggenommen« würden, obwohl sie ihm mit dem Gut verpachtet seien. So würden die Dienstleute auch das Kohlsetzen und den Flachs, den sie an ihn abzuliefern hatten, verweigern. Der größte Schaden aber würde ihm durch den Hofmann zugefügt. So hatte dieser im vergangenen Herbst »aus Muthwillen« das meiste Grummet faul werden, die Sommer- und Winterrübsamen »aus Frech- undt Boßheit« umackern und die Ludwigsteiner Feldern viel zu dicht mit Wintergetreide besäen lassen. Nicht nur, dass sechs bis acht Malter Saatgut hätten eingespart werden können, es waren auch große Einbußen bei Ernte zu erwarten, da die Pflanzen viel zu dicht ständen. Auch würde ihn der Hofmann mit einer übermäßigen Viehhaltung mehr schaden als nutzen. Überhaupt sei von dem Hofmann »nichts als Wiederwillen undt Schaden« zu erwarten. Das Problem war, dass Quentin den Hofmann, diesen »Kerle«, wie er an anderer Stelle seines Beschwerdebriefes schreibt, der nur »meinen Schaden undt nicht den Vortheill suchet, auch alles nach seinem Kopfe machen will« nicht einfach entlassen konnte, da er in herrschaftlichem Dienst stand und aus den Amtseinnahmen besoldet wurde. Die einzige Möglichkeit, die Quentin sah, war, die Rotenburger Rentkammer um die Zusendung einer Kopie seines Bestallungsbriefs zu bitten, um dem Hofmann seine Aufgaben und Pflichten vorhalten zu können. An dem recht ungewöhnlichen Konstrukt, dass der Hofmann, der für den Pächter die Gutswirtschaft führte, dessen Weisungsbefugnis nur indirekt unterstand, änderte sich zumindest bis 1766 nichts.51 Quentin ließ sich durch die verschiedenen Schwierigkeiten jedoch keines51 1750 suchte Johann Heinrich Mühlhausen bei der Rotenburger Hofkanzlei um die Bestätigung in seinem Amt als herrschaftlicher Hofmann des Domänengutes Ludwigstein-Wendershausen nach. HStAM, Best. 70 Nr. 1190. In drei von Oberschultheiß Grau ausgestellten Strafbescheiden aus dem Jahr 1766 betreffend verweigerter Fuhrdienste trat jeweils der herrschaftliche Hofmann Johann Heinrich Mühlhausen als Kläger auf. HStAM, Best. S Nr. 470.
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wegs entmutigen. Als sein Pachtvertrag 1698 auslief, gelang es ihm, eine Pachtverlängerung um weitere sechs Jahre bis 1704 zu erreichen. Sein Pachtzins betrug während beider Pachtperioden 1050 Rtl. 26 alb zuzüglich 30 Rtl. Ablösegeld für verschiedene Landstücke, deren Nutzung dem Oberschultheißen als Teil seiner Besoldung zustand.52 Allerdings hätte Quentin für die zweite Pachtzeit ein höheres Pachtgeld bezahlen sollen, wie aus einem Bericht der Rotenburger Rentkammer von Anfang des Jahres 1704 hervorgeht. Darin wird ausgeführt, dass die Kammerbeamten auf Befehl der Witwe53 des 1693 verstorbenen Landgrafen für die zweite Pachtperiode einen Pachtaufschlag von 100 Rtl. von dem Pächter fordern sollten. Dieser hatte dies zunächst vehement abgelehnt, da der geforderte Pachtzins seiner Ansicht nach unmöglich von dem Gut zu erwirtschaften war, sich dann aber doch, aus Angst, keine Pachtverlängerung zu erhalten, bereit erklärt, den höheren Pachtzins zu zahlen. Es war aber nur bei der Erklärung geblieben. Ebenso wenig wie den höheren Pachtzins hatte Quentin die Pachtkaution »beibringen« können. Obwohl ihn die Kammerbeamten deswegen mehrfach vor die Gesamtrentkammer zitiert hatten, war er – »unterm Vorwandt, als ob ihm von Wanfried54 aus der Umgang mit der Gesambt RenthCammer untersaget worden« – nicht ein einziges Mal erschienen. Aktueller Anlass für das Schreiben war aber die 1704 anstehende Neuverpachtung des Domänengutes sowie die Schlussabrechnung mit den Erben Quentins, die sich weigerten, den Pachtaufsatz von jährlich 100 Rtl. für die sechs Pachtjahre nachzuzahlen.55 Otto Quentin war vor Ende seiner zweiten Pachtzeit am 25. März 1702 verstorben. Sein Nachfolger als Pächter war Johann Georg Spatz (* um 1672) aus Regensburg, der knapp drei Monate nach dem Tod Quentins dessen Tochter Katharina Hedwig (1676–1717) geheiratet hatte.56 Eine Erhöhung des Pachtzinses war mit dem Pächterwechsel nicht einhergegangen. Spatz bezahlte während seiner ersten Pachtperiode von Petri 1704 bis 1707 den bisherigen Pachtzins von 1050 Rtl. 26 Alb.57 Mit der Wiederverpachtung 1707, wiederum für nur drei Jahre, kam es zwar doch zu einer Erhöhung der Pacht auf 1095 Rtl. 31 Alb. 4 52 HStAM, Rechnungen II Ludwigstein Nr. 3 1696; HStAM, Rechnungen II Ludwigstein Nr. 3 1702. 53 Landgraf Ernst von Hessen-Rheinfels-Rotenburg hatte nach dem Tod seiner ersten Ehefrau, der Gräfin Maria Eleonore von Solms-Lich, im Jahr 1689 erneut geheiratet. Seine zweite Ehefrau war Alexandrine von Durnitzel (†1754) aus Straubingen. Vgl. Christoph von Rommel: Landgraf Carl von Hessen. Deutsche Regentengeschichte aus dem siebenzehnten und achtzehnten Jahrhundert (1677–1730), Cassel 1858, S. 89. 54 Wanfried war die Residenz von Landgraf Karl von Hessen-Wanfried (1649–1711), dem zweiten Sohn von Landgraf Ernst von Hessen-Rheinfels-Rotenburg. Vgl. Reinhold Strauß: Chronik der Stadt Wanfried, Wanfried 1908, S. 87 u. 104. 55 Vgl. HStAM, Best. 70 Nr. 1239. 56 Die Eheschließung fand am 11. Juni 1702 statt. 57 HStAM, Rechnungen II Ludwigstein Nr. 3 1704.
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Heller,58 diese fiel jedoch sehr moderat aus und blieb bis zumindest 1755 die einzige Pachterhöhung.59 Der Pachtvertrag von Spatz wurde achtmal verlängert.60 Seine ersten vier Pachtverträge liefen jeweils nur über drei Jahre, was darauf hindeutet, dass die Beamten der Rotenburger Rentkammer zunächst skeptisch waren, ob es dem jungen Pächterehepaar gelingen würde, dem Gutsbetrieb erfolgreich vorzustehen. Die Länge der Pachtperioden orientierte sich am Zyklus der Dreifelderwirtschaft und dauerte mindestens ein vollen Umlauf von drei Jahren. Die Regel waren jedoch bis in die Zeit nach dem Siebenjährigen Krieg Pachtverträge mit einer Laufzeit von sechs Jahren, längstens aber neun Jahren. Einen Pachtvertrag mit einer Laufzeit von sechs Jahren erhielt Spatz erstmals 1719. Die folgenden fünf Pachtverlängerungen hatten jeweils den gleichen Intervall. Sein letzter Pachtvertrag lief bis 1749, doch konnte Spatz ihn aufgrund seines Todes am 3. April 1744 nicht mehr erfüllen. Verstarb ein Pächter vorzeitig, schrieb die Domänenverwaltung die Pachtung nicht sofort wieder zur Neuverpachtung aus. In der Regel durften die Ehefrau und die Kinder des verstorbenen Pächters die Wirtschaft bis zum Ende des laufenden Pachtvertrages weiterführen. Daher kam es im 18. Jahrhundert häufig vor, dass große Gutswirtschaften von Witwen geleitet wurden. Um der Familie die Pacht über das Ende des laufenden Pachtvertrags hinaus zu sichern, waren sie allerdings gezwungen, erneut zu heiraten, vor allem, wenn ihre Kinder noch minderjährig waren. War eines der Kinder bereits verheiratet oder beabsichtigte in absehbarer Zeit zu heiraten, bestand auch die Möglichkeit, dass sich der Sohn oder der Schwiegersohn um die Fortführung der Pacht bewarben. Pachtverlängerungen oder gar Neuverpachtungen an ledige Pächter und Pächterwitwen blieben eine Ausnahme, da ein großer Gutshaushalt nach Ansicht der Domänenverwaltung idealerweise von einem Ehepaar, verstanden als Arbeitspaar, zu leiten war.61 Keiner der Pachtverträge von Johann Georg Spatz ist überliefert. Einen Einblick in die Pachtbedingungen bieten die Verhandlungen um die 1743 anstehende Neuverpachtung. Im Zusammenhang mit seinem Gesuch um Pachtverlängerung forderte Spatz Mitte 1742 eine Änderung seines Pachtvertrags. Wie er ausführte, hätte er bislang alle »Casum fortuitorum« alleine tragen müssen und »in denen letztern Jahren wegen des großen Mißwuchßes und Waßerschadens viele hundert R[eich]th[a[l[e]r Verlust gehabt«62. Seine Forderung war, dass der 58 HStAM, Rechnungen II Ludwigstein Nr. 3 1707. 59 Vgl. HStAM, Best. 70 Nr. 1239. 60 Johann Georg Spatz’ insgesamt neun Pachtperioden liefen von 1704–1707, 1707–1710, 1710–1713, 1713–1719, 1719–1725, 1725–1731, 1731–1737, 1737–1743 und von 1743–1749. 61 Zum Arbeitspaar vgl. Heide Wunder: »Er ist die Sonn’, sie ist der Mond«. Frauen in der Frühen Neuzeit, München 1992, S. 98. 62 HStAM, Best. 70 Nr. 1239.
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Schaden bei dergleichen Unglücksfällen in Zukunft besichtigt und ihm ein »billigmäßiger Erlaß« gewährt werden sollte, da Ertragseinbußen durch Kriegszüge, Hagelschlag und Überschwemmungen »bey allen hohen Herrschaften, auch adelichen Pfachtungen« pachtmindernde Wirkung hätten.63 Die Beamten der Rotenburger Gesamtrentkammer sahen die Forderung als gerechtfertigt an und leiteten das Gesuch an Landgraf Christian weiter. Dieser verwies zwar darauf, dass er Spatz 1738, 1739 und 1740 jeweils 150 Rtl. Pacht aus Gnaden erlassen hatte. Gleichwohl bewilligte er die Weiterverpachtung sowie die Änderung des Pachtbriefs, damit »selbiger in diesem Stuck wie bey anderen Pachtungen der Quart gewöhn[lich] verfertiget werde«64. Auf die Gemengelage sich überlagernder Besitz- und Nutzungsrechte in der Rotenburger Quart sowie das sich hieraus ergebende Nebeneinander unterschiedlicher Interessen konkurrierender Obrigkeiten, mit denen sich die Pächter des Domänengutes Ludwigstein-Wendershausen auseinandersetzen mussten, verweist ein Konflikt aus den Jahren 1736 bis 1738. Laut Dienstregister waren die Gemeinde Wendershausen sowie zwei Dienstleute aus Oberrieden dazu verpflichtet, die Bandweiden, die zur Bindung der Früchte des Domänengutes nötig waren, in ihrem Gemeindewald zu hauen und zum Vorwerk Wendershausen zu liefern. Um 1730 herum hatte die Gemeinde Wendershausen der Gesamtrentkammer angezeigt, dass im Gemeindewald keine Bandweiden mehr wüchsen. Daraufhin war dem Förster befohlen worden, ihnen Bandweiden im herrschaftlichen Wald anzuweisen. Die Gemeinde musste die Weiden aber weiterhin selbst hauen und zum Vorwerk Wendershausen fahren. Nachdem ihnen der Förster 1736 Bandweiden im Soodholz angewiesen hatte, verweigerte die Gemeinde den Dienst. Hintergrund war, dass ihnen das Hauen der Bandweiden von den Salzbeamten »bey Straf des Zuchthauses«65 mit der Begründung, dass hierdurch die der Allendorfer Saline übertragene Holznutzung geschmälert würde, verboten worden war. Dass hier sowohl kasselische als auch rotenburgische Beamte weisungsbefugt waren, resultierte aus dem besonderen Konstrukt der Rotenburger Quart, die kein geschlossenes Territorium darstellte, sondern eine Geflecht von Besitz- und Nutzungsrechten. Dies zeigt sich u. a. am Amt Allendorf mit der Saline, das nicht wie die umliegenden Ämter an die Quart 63 Zu den komplizierten und langwierigen Verhandlungen, auf die sich ein Pächter bei der Beantragung eines Pachtnachlasses nach einer Missernte einstellen mussten, vgl. Jochen Ebert: Anarbeiten gegen Natur und Domänenverwaltung. Abhängigkeiten und Handlungsmöglichkeiten der Pächterfamilie Schlüter auf den hessen-kasselischen Vorwerken Frankenhausen und Amelienthal in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, in: Jens Flemming, Pauline Puppel, Werner Troßbach, Christina Vanja und Ortrud Wörner-Heil (Hg.): Lesarten der Geschichte. Ländliche Ordnungen und Geschlechterverhältnisse. Festschrift für Heide Wunder zum 65. Geburtstag, Kassel 2004, S. 533–565. 64 HStAM, Best. 70 Nr. 1239. 65 HStAM, Best. 17 II Nr. 740.
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abgetreten worden war. Die Holzbezirke der Pfänner, die sogenannten Soodwälder, aber lagen teilweise in den benachbarten Ämtern. Dies führte zu einer für beide Seiten eingeschränkten Nutzung: das Holz war der Saline vorbehalten, die Hute und Mast stand der Quart zu.66 Um die Ernte nicht zu gefährden, ließ Spatz die Bandweiden 1736, 1737 und 1738 von Tagelöhnern hauen. Die zusätzlichen Ausgaben für Hauer- und Fuhrlohn sowie alle anderen Unkosten für 199 Schock Bandweiden bezifferte er auf 7 Rtl. 29 Alb. pro Jahr. Gleichzeitig hatte er den Oberschultheiß zum Handeln aufgefordert. Zum einen wollte Spatz seine Auslagen von der Gemeinde ersetzt haben, zum andern sollte der Gemeinde mit Nachdruck bedeutet werden, dass sie den Dienst in Zukunft unweigerlich verrichten müsse. Oberschultheiß Georg Wilhelm Reiter hatte die Gemeinde daraufhin mit einer Strafe von zehn Reichstalern belegt und angewiesen, Spatz den verauslagten Geldbetrag innerhalb von acht Tagen zu ersetzen. Die Gemeinde, die sich ins Unrecht gesetzt sah, wand sich in der Folge an Landgraf Friedrich I. und bat um die Aufhebung des Strafbefehls. Mit Erfolg, wie ein Schreiben der Kasseler Regierung an Oberschultheiß Reiter belegt, in dem dieser aufgefordert wurde, den Strafbefehl zurückzunehmen, da das die Wälder ruinierende Bandweidenschneiden durch die hessische Forstordnung ohne Ausnahme verboten sei.67 Spatz reagierte umgehend auf das Urteil des Appellationsgerichts. In einem Schreiben an die Kasseler Regierung erklärte er zum einen, dass den »Soodtwäldern« durch das Bandweidenhauen kein Schaden entstünde. Zum anderen wies er auf die negativen Folgen des Urteils hin. Sollte er gezwungen sein, zukünftig mit Stroh binden zu lassen, würden die »mehresten Früchte auff dem Landt zu Grundt gehen«, da den Dienstleuten diese Art des Getreidebindens unbekannt sei. Daher wäre er gezwungen, die Bandweiden auf eigene Kosten anzuschaffen, was aber zu Folge hätte, dass »meiner gest[rengen] Herschaft die Pachtrevenuen gewiß vermindert« würden, da er dann gezwungen sei, die Ausgaben für Bandweiden vom Pachtgeld abzuziehen. Das Beste war seiner Ansicht nach, die Sache wieder an den Oberschultheiß Reiter zu remittieren, damit dieser alle Parteien zu einem gemeinsamen Termin einbestellen konnte, um zu einem Vergleich zu kommen. Ob Spatz mit seinem Vorschlag Erfolg hatte, ist nicht überliefert. Die folgenden Jahre brachten jedoch eine Reihe schwerer Missernten68 und 1744 den Tod des 66 Vgl. Georg Wagner : Geschichte der Stadt Allendorf an der Werra und der Saline Sooden mit einer Vignette, Marburg 1865, S. 32. 67 Die Beamten der Regierung bezogen sich auf die mit Ausschreiben vom 1. Juni 1698 und vom 1. Juni 1721 jeweils erneuerte Forst- und Holzordnung vom 1. Dezember 1682. Vgl. Sammlung Fürstlich Hessischer Landes-Ordnungen und Ausschreiben, Dritter Theil, Cassel 1777, S. 216–235, hier S. 231. 68 Vgl. die Einträge zu den Jahren 1738 bis 1742 in der Onlinedatenbank von Wettergeschichte Hessen unter http://www.wettergeschichte-hessen.de [30. 05. 2015].
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Pächters, so dass anzunehmen ist, das der Konflikt um die Bandweiden von schwerwiegenderen Probleme überlagert wurde. Nach dem Tod von Johann Georg Spatz führte dessen Sohn Justus Basilus (*1710) die Pacht weiter. Da weder ein Gesuch des Sohnes um Verlängerung der Pacht nach 1749 noch ein neuer Pachtvertrag überliefert sind und sich am Pachtzins nichts änderte, ist denkbar, dass der Pachtvertrag, von den Beamten der Gesamtrentkammer unbemerkt oder stillschweigend geduldet, eine automatische Verlängerung erfahren hatte. Möglich ist auch eine freihändige, das heißt ohne vorherige Ausschreibung, nur mündlich erfolgte Verlängerung um weitere sechs Jahre. Offensichtlich ist aber, dass ein Gesuch des Ratsverwandten Johann Georg Nössel aus Witzenhausen von Mitte des Jahres 1750, bei den Beamten der Gesamtrentkammer für Aufmerken sorgte. In seinem Schreiben bat Nössel um die Verpachtung der Vorwerke Ludwigstein und Wendershausen ab Petri 1755 für zwölf Jahre. Im Gegenzug erklärte er sich bereit, ein Pachtgeld von 1100 Rtl. zu bezahlen, sofort 1000 Rtl. aus eigenen Mitteln in die Errichtung eines neuen Hirtenhauses und Fruchtbodens auf dem Vorwerk Wendershausen zu investieren, den bisherigen Pächter mit 2000 Rtl. abzufinden und die in Abgang geratene Brauerei auf dem Ludwigstein wiederzubeleben. Um seinem Gesuch Nachdruck zu verleihen, versäumte er nicht, darauf hinzuweisen, dass die Vorwerke durch den gegenwärtigen Pächter zusehends ruiniert würden. So würde dieser nichts gegen die Landabspülungen durch die Werra und die Verbuschung der Waldwiesen unternehmen. Da Justus Basilius Spatz keinen Pachtbrief besaß, überlegten die Beamten einerseits, den Pächterwechsel bereits 1752 zu vollziehen. Andererseits mussten sie feststellen, dass ihnen das nötige Wissen über die lokalen Verhältnisse, über die Größe der Ländereien sowie deren Ertrag, fehlte, um einen aktuellen Pachtanschlag aufstellen zu können. Daher entschied man zunächst: »In Betracht nun, daß sich nichts Positives determiniren läßet, sollte davor halten, daß ohngefähr 1300 R[eichs]th[a]l[e]r ein billiges Locarium wäre, wobey auch ein Pachter noch ein Stuck Brodt haben könnte.«69 Hierauf meldete sich Justus Basilius Spatz zu Wort und wies darauf hin, dass sein verstorbener Vater 49 Jahre treu in herrschaftlichem Dienst gestanden habe. Dann kam er auf seine Person zu sprechen. Er sei auf dem Ludwigstein geboren und von Jugend an mit der Ökonomie der beiden Vorwerke vertraut. Daher sei er »andren Competenen, welche bey der Wirthschaft nicht herkommen, sondern nature von Profession Becker, Scribenten und Brandteweinsbrenner seyn«70 vorzuziehen. Sodann erklärte er sich bereit, zukünftig 1115 Rtl. Pacht zu zahlen. Von einer Wiederbelebung der Brauerei auf dem Ludwigstein riet er allerdings 69 HStAM, Best. 70 Nr. 1239. 70 Ebd.
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ab, da die Burg hierfür »gantz unnutzbar« sei und derselben »bey entstehender Feuersbrunst« sogar höchst schädlich werden könnte. Sein Vorschlag war daher, die Brauerei bis auf Weiteres an die Gemeinde Oberrieden oder Hundelshausen zu übertragen. Den Vorwerksbau in Wenderhausen betreffend schlug er vor, dass die Gesamtrentkammer die 1000 Rtl. für Baumaterial und Arbeitslohn der neu zu errichtenden Gebäude zunächst vorfinanzierte und er das Geld nach und nach zurückzahlte. Zwar kam es 1752 nicht zum Pächterwechsel doch Anfang Oktober 1753 meldete sich mit Johann Zacharias Finck bereits der nächste Pachtinteressent bei der Rotenburger Rentkammer und bot eine 50 Rtl. höhere Pacht als der bisherige Pächter, wenn ihm das Domänengut Ludwigstein-Wendershausen für 12 oder 15 Jahre verpachtet würde71. Die Kammerbeamten nahmen Fincks Gesuch zum Anlass, den Oberschultheißen in Witzenhausen mit Schreiben vom 25. Oktober 1753 daran zu erinnern, »daß derley sich baldt erledigende Meyereyen jedesmahl ein Viertel Jahr zuvor denen Zeitungsblättern einverleibt und sonst bekanndt gemacht, und in einem anzunehmenden Termino öffentlich versteigert werden sollen«72 Erste Adresse für eine solche Ausschreibung wäre die wöchentlich erscheinende »Casselische Policey- und Commercien-Zeitung«73 gewesen. Im Zeitraum von Ende Oktober 1753 bis Ende Februar 1755 finden sich darin unter der Rubrik »Sachen, so in- und ausserhalb Cassel zu verpfachten seynd« zahlreiche Güter zur Neuverpachtung ausgeschrieben, überwiegend von der Kasseler Rentkammer oder von lokalen Amtmännern auf Befehl der Kasseler Rentkammer, aber auch Güter des Prinzen Georg von Hessen-Kassel, des Landgrafen Wilhelm von Hessen-Barchfeld, der Reichsgräfin Christine von Bernhold und des Gesamtgerichts der von Eschwege und der von Dalwigk. Selbst die Waldeckische Rentkammer annoncierte anstehende Neuverpachtungen in der »Policey- und Commercien-Zeitung«. Nur eine Anzeige des Witzenhäuser Oberschultheißen ist nicht zu finden, so dass anzunehmen ist, dass es keine öffentliche Versteigerung der Pacht zur Ermittlung des Meistbietenden gegeben hat. Möglicherweise verzichtete Oberschultheiß König auf einen Lizitationstermin, da Anfang Dezember 1753 ein Pachtgebot von Johann Wilhelm Nössel, einem Sohn von Johann Georg Nössel, eingegangen war. Die Beamten der Rotenburger Rentkammer hielten das Angebot des Sohnes, der das Domänengut Ludwigstein-Wendershausen im Falle des Zuschlags seinem Vater übertragen wollte, für »gantz anständig«. Außerdem hatte er »eine gute Heyrath gethan« 71 HStAM, Best. 23 d Witzenhausen Nr. 12. 72 Ebd. 73 Die »Casselische Polizey- und Commerzien-Zeitung« kann als Digitalisat unter http:// orka.bibliothek.uni-kassel.de [30. 05. 2015] abgerufen werden.
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und stand im Ruf, ein »guter Haushalter«74 zu sein. Daher war man der Ansicht, dass »dieser vor allen anderen Competenten den ohnzweiffentlichen Vorzug« habe. Gleichwohl hatte man Bedenken, weil die Ludwigsteiner Ländereien und Triften an die des Domänengutes Rückerode, dessen Pächter Johann Wilhelm Nössel bereits war, angrenzten. Rückerode aber war im Besitz des Kasseler Hauses. Außerdem gab es schon länger zwischen beiden Gütern Streit um eine Wiese. Die Wiese gehörte zum Vorwerk Ludwigstein, war 40 Acker groß und lag in der Rückeroder Terminei. Nachdem das Gras abgemäht war, stand die Hude beiden Gütern zu. Der Rückeröder Pächter aber beanspruchte die Hude für sich allein. Daher befürchteten die Beamten, durch eine Verpachtung an Nössel könnte die Wiese der Rotenburger Linie auf Dauer entfremdet werden. Zur Bierbrauerei auf dem Ludwigstein, die Vater und Sohn Nössel wiederbeleben wollten, schreibt Oberschulheiß König an die Gesamtrentkammer, die mit dem Domänengut verbundene Braugerechtigkeit wäre »ein schönes Recht«, da das ganze Amt schuldig und gehalten sei, das Bier auf dem Ludwigstein zu holen. Allerdings hätte der Pächter Spatz von dem Recht keinen Gebrauch gemacht und kein Bier gebraut. Deswegen hätten der Bürgermeister und der Rat der Stadt Witzenhausen bei der Rentkammer um die Konzession nachgesucht, das Amt mit Bier versorgen zu dürfen. Das Vorrecht sei der Stadt daraufhin erteilt worden und könne ihr ohne Weiteres nicht wieder entzogen werden. Einen Pachtzuschlag erhielten zunächst weder Nössel noch Finck. Stattdessen informierte die Rotenburger Rentkammer Oberschultheiß König Anfang Oktober 1754 darüber, dass die Landgrafen Christian und Konstantin entschieden hatten, Spatz die Pachtung für ein weiteres Jahr bis Petri 1756 zu den bisherigen Konditionen zu überlassen, um ihm genügend Zeit zu geben, sein Inventar sukzessive verkaufen zu können.75 Bereits einen Monat später aber erging ein Bescheid an König, dass die Landgrafen Christian und Constantin nunmehr entschieden hatten, das Domänengut Ludwigstein-Wendershausen von Petri 1755 an für zwölf Jahre und einen jährlichen Pachtzins von 1200 Rtl. an Johann Zacharias Finck76 zu verpachten.77 74 HStAM, Best. 23 d Witzenhausen Nr. 12. 75 Ebd. 76 Der Vater von Johann Zacharias Finck (1724–1768), Nikolaus Wilhelm Finck (um 1695–1739), war Pächter oder Verwalter des Burgguts der Diede zum Fürstenstein bei Albungen. Vor der Pacht des Domänengutes Ludwigstein-Wendershausen hatte Johann Zacharias Finck ein Gut in Frielingen im Amt Niederaula gepachtet, das ebenfalls in Besitz der Diede zum Fürstenstein war. Von 1762 bis zu seinem Tod war er außerdem Pächter des Domänengutes Germerode, dessen Bewirtschaftung er George Ludwig Siebert als Afterpächter übertragen hatte. Vgl. Karl Kollmann: Vom Klostergut zur preußischen Staatsdomäne (1527–1930), in: Johannes Schilling (Hg.): Kloster Germerode. Geschichte – Baugeschichte – Gegenwart (Monographia Hassiae 16), Kassel 1994, S. 86–110, hier S. 89. 77 HStAM, Best. 23 d Witzenhausen Nr. 12.
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Fincks erste Pachtperiode fiel in die Zeit des Siebenjährigen Kriegs (1756–1763). Zu größere Beeinträchtigungen der Gutswirtschaft durch Einquartierungen, Fouragierungen oder die Verwüstung der Felder und Zerstörung der Gebäude wie auf anderen Domänengütern kam es jedoch nicht.78 Zumindest sind keine Schadenstabellen und Pachtminderungsgesuche des Pächters überliefert, möglicherweise da Finck noch vor Ende des Siebenjährigen Kriegs verstarb. Seine Ehefrau Dorothea Magdalena Finck, geb. Schmalhaus, führte die Gutswirtschaft wie schon die Pächterwitwen vor ihr bis zum Ende des Pachtvertrags fort und erreichte 1767 sogar eine Pachtverlängerung um weitere sechs Jahre bis 1773. Allerdings betrug ihr Pachtzins ab 1767 1500 Rtl. Wahrscheinlich hatte sie deswegen die Bierbrauerei auf dem Ludwigstein wiederbelebt, wie ein Prozess aus den Jahren 1768/69 belegt. Laut eines Berichtes des Reservatenkommissars Ludwig Justin Motz hatte die Pächterin damit begonnen, »Bier zum feilen Verkauff zu brauen, Gäste zu setzen und das Bier im eintzelen zu verschencken, ohne solches der Gebühre veracciset zu haben«. Nach Aussage ihres Hofmannes Andreas Klinkermann waren an vier Sonntagen Gäste auf dem Ludwigstein bewirtet worden, unter anderem die Kirmesburschen aus Oberrieden. Dass das Bier hätte versteuert werden müssen, wäre seiner »Principalin« nicht bewusst gewesen, da ihr die akzisefreie Brauerei auf dem Ludwigstein laut Pachtkontrakt mitverpachtet sei.79 Im Übrigen könnten mit der Brauerei nicht mehr als 712 Zuber – immerhin knapp 600 Liter – pro Braugang hergestellt werden. Reservatenkommissar Motz ließ der Pächterin daraufhin ausrichten, sollte sie weiter unversteuertes Bier verkaufen, würde ihr die Braugerechtigkeit entzogen. Doch schon einen Monat später ging eine erneute Anzeige des Zollbereiters beim Reservatenkommissar ein, dass am Sonntag »wieder gantze Tische voll Leute droben gewesen seyn sollen«80. Hierauf wurde die Pächterin Anfang März 1869 zur Zahlung von fünf Reichstalern Strafe verurteilt. 1771 heiratete Dorothea Magdalena Finck erneut. Ihr zweiter Ehemann wurde Johann Ludwig Billep (1732–1786) aus Hohengandern. Im Zusammenhang mit den Verhandlungen um die Weiterverpachtung 1779 erklärte Billep bereits Anfang des Jahres 1778 gegenüber Oberschultheiß Grau, dass das Domänengut keine 1500 Rtl. Pachtgeld einbringe, »wann ein Pachter ein ehrl. Mann bleiben wollte«81. Mehr als höchstens 1300 Rtl. könne er für die Pacht nicht bezahlen und dies auch nur, wenn die Rentkammer alle erforderlichen Reparaturen an den 78 Vgl. Ebert: Domänengüter (Anm. 7), S. 51f. 79 Von der Tranksteuer ausgenommen war vermutlich wie auf anderen Domänengütern nur der sog. Hausdrunk, das heißt das Schwachbier, was für den Bedarf des Gutshaushaltes und als Dienstgebühr für die Dienstleute gebraut wurde, nicht aber das Kaufbier, also das zum Verkauf gebraute Starkbier. Vgl. Ebert: Domänengüter (Anm. 7), S. 253f. 80 HStAM, Best. 40 a Rubr. 02 Nr. 3341. 81 HStAM, Best. 23 d Witzenhausen Nr. 12.
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Gebäuden ausführen lasse. Die Weiterverpachtung erfolgte schlussendlich zu den bisherigen Konditionen auf zwölf Jahre bis Petri 1791. Nach dem Tod Billeps 1786 bewirtschaftete Dorothea Magdalena das Domänengut abermals für eineinhalb Jahre als Witwe, bevor sie Mitte 1788 in dritter Ehe Johann Adam Schönewald82 heiratete. Die Pachtzeit Johann Adam Schönewalds, die mit seinem Tod 1811 endete, und die der Pächterfamilie Ehrbeck, die das Domänengut von 1815 bis 1942 gepachtet hatte und in deren Zeit die Verlegung des Pächterwohnsitzes von der Burg Ludwigstein nach Wendershausen im Jahr 1821 fiel, haben in der Vergangenheit bereits eingehende Darstellung erfahren und können hier übersprungen werden.83 Nach dem Tod des letzten Landgrafen von Hessen-Rotenburg, Victor Amadeus, im Jahr 1834 beanspruchte Prinzregent Friedrich Wilhelm I. (1802–1875) den Domanialbesitz der Rotenburger Quart, der der Rotenburger Rentkammer jährlich Einnahmen in Höhe von rund 45.000 Taler eingebracht hatte, für das kurfürstliche Haus. Letztlich konnte sich jedoch der Landtag gegen den Prinzregenten durchsetzen, so dass der Besitz der Rotenburger Quart – und damit auch das Domänengut Ludwigstein-Wendershausen – dem Staatsvermögen eingegliedert wurde.84 Das Domänengut war damit vom fürstlichen Kammergut zur kurhessischen Staatsdomäne geworden. Aber erst mit der Ablösung der Dienste im 19. Jahrhundert, dem letzten Relikt der früheren Eigenbewirtschaftung, wurde die endgültige Trennung von Gutswirtschaft und Amt vollzogen.85 Bis 1866 stieg die Betriebsfläche des Gutes zwar geringfügig auf 662,42 Acker (= 158,1 ha), unter den kurhessischen Domänengütern, die nach der Annexion Kurhessens in den Besitz des preußischen Staates übergingen, gehörte das Domänengut Ludwigstein-Wendershausen aber 82 Johann Adam Schönewald (1758–1811) war der älteste Sohn des Schultheißen Christoph Schönewald (1722–1782) aus Binsförth bei Melsungen. Vor seiner Zeit auf dem Domänengut Ludwigstein-Wendershausen stand er als Schreiber der Rentrerei Gemerode und als Kammersekretär in hessen-rotenburgischen Diensten. 83 Zu Schönewald vgl. Susanne Rappe-Weber : Landwirtschaft und Geselligkeit im Tagebuch des Verwalters Schönewald auf der Burg Ludwigstein (1808–1811), in: Alexander Jendorff und Andrea Pühringer (Hg.): Pars pro toto. Historische Miniaturen zum 75. Geburtstag von Heide Wunder, Neustadt a. d. Aisch 2014, S. 457–467, sowie den Beitrag Rappe-Weber : Nahaufnahme, S. 55–66. Zur Pächterfamilie Ehrbeck vgl. Hans-Dieter Nahme: Zwischen den Werra-Burgen. Eine Familie in der Geschichte einer deutschen Grenze, Goslar am Harz, 2. Aufl. 1991. Die Burg blieb nach der Verlegung des Pächterwohnsitzes nach Wendershausen noch bis 1882 im Zubehör des Domänengutes und musste durch den Pächter in Stand gehalten werden. Vgl. Kollmann: Ludwigstein (Anm. 1), S. 6. 84 Vgl. Ewald Grothe: Verfassungsgebung und Verfassungskonflikt das Kurfürstentum Hessen in der ersten Ära Hassenpflug 1830–1837 (Schriften zur Verfassungsgeschichte 48), Berlin 1996, S. 492–502. 85 Zur Bedeutung der Dienste für die Domänengüter und ihre Ablösung im 19. Jahrhundert vgl. Ebert: Domänengüter (Anm. 7), S. 200ff.
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nur noch zu den mittelgroßen Gütern (vgl. Abb. 10).86 Die weitgehende Stagnation des Gutes im Zeitraum von Ende des Siebenjährigen Krieges bis zum Anschluss Kurhessens an Preußen, die ja zugleich eine Phase tiefreifender landwirtschaftlicher Reformen und bedeutender Ertragssteigerungen war, verdeutlicht die geringe Steigerung des Pachtgeldes in diesem Zeitraum. Während die Pacht des Domänengutes Frankenhausen von 700 Rtl. im Jahr 1770 auf 3.394 Taler im Jahr 1866 anstieg (= 485 %), erfuhr die Pacht des Domänengutes Ludwigstein-Wendershausen lediglich eine Steigerung von 1.500 Rtl. auf 2.200 Taler (= 147 %).
Fazit Die Trennung des landwirtschaftlichen Großbetriebs vom Amtshaushalt vollzog sich sukzessive und dauerte von 1664 bis 1882. Zentrale Schritte waren 1.) die räumlichen Trennung von Amtsverwaltung und Gutswirtschaft durch Verlegung des Amtssitzes nach Witzenhausen 1664, 2.) der Wechsel der Bewirtschaftungsform von der Administration zur Verpachtung und Monetarisierung der mit der Gutswirtschaft in Verbindung stehenden Amtseinnahmen und -ausgaben 1680, 3.) die personelle Trennung von Amtsverwaltung und Gutswirtschaft durch Beendung der Verpachtung an den Oberschultheißen 1692, 4.) die Entbindung des Hofmanns von Amtsaufgaben und dessen Besoldung durch den Pächter nach 1750, 5.) die Verlegung des Pächterwohnsitzes von der Burg Ludwigstein nach Wendershausen 1821, 6.) die Ablösung der Dienste im Verlauf des 19. Jahrhunderts sowie 7.) die Ausgliederung der Burg aus dem Zubehör des Domänengutes 1882. Die Geschichte der Burg Ludwigstein erweist sich in diesem Zusammenhang als eine Geschichte des zunehmenden Funktionsverlustes. Zunächst verlor die Burg ihre Funktion als fürstlicher bzw. adeliger Wohnsitz, dann ihre Funktion als Amtssitz und schließlich ihre Funktion als Sitz des Domänenpächters. Trotz der kurzen Pachtverträge, in der Regel mit einer Laufzeit von nur sechs Jahren, wechselten die Pächter weniger häufig wie auf anderen Domänengütern.87 Auch zur Insolvenz und Absetzung von Pächtern kam es nicht. Bis Anfang 86 Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, I. HA Rep. 87 Nr. 1051. 87 Auf dem Domänengut Gronauer Hof wechselten im Verlauf des 18. Jahrhunderts achtmal die Pächter. Vgl. Jochen Ebert: Der Gronauer Hof in der Wetterau – eine Gutswirtschaft im Spiegel der Interaktion von Pächtern und Domänenverwaltung (1638–1866) (Bad Vilbeler Heimatblätter 55), Bad Vilbel 2015 (im Druck).
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des 19. Jahrhunderts war das Domänengut in der Hand von nur zwei Pächterfamilien – Quentin-Spatz (1692–1755) und Finck-Billip-Schönewald (1755– 1811) –, deren Pachtverträge immer wieder verlängert wurden. Die Kontinuität der Pachtverhältnisse korrespondierte mit einem vergleichsweise geringen Anstieg der Pacht, die sich von 1680 bis 1866 kaum mehr als verdoppelte. Ein Grund hierfür war, dass die Vergabe der Pacht nicht auf dem Wege der öffentlichen Versteigerung an den Meistbietenden, sondern durch freihändige Vergabe erfolgte. Weder die Oberschultheißen noch die Beamten der Rotenburger Gesamtrentkammer zeigten ein gesteigertes Interesse an einer Vermehrung der Pachteinnahmen. Inwieweit die regionale Herkunft der Pächterfamilien, verwandtschaftliche Verflechtungen zwischen Pächtern und Beamten, die Zugehörigkeit beider Personenkreise zur lokalen Elite sowie die strukturelle Ähnlichkeit der Tätigkeit von Beamten und Pächtern, die dazu führte, dass Pächter obrigkeitliche Aufgaben übernahmen und Beamte Güter pachteten, hierbei eine Rolle spielten, bedarf der weiteren Untersuchung. Die Kehrseite der Kontinuität und des Erfolgs der Pächterfamilien war in gewisser Weise, dass weder die Domänenverwaltung noch die Pächter gezwungen waren, die Rentabilität des Domänenguts durch strukturelle Maßnahmen wie etwa die Vergrößerung der Betriebsfläche zu verbessern. Hierzu passt, dass das Gut noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts mit Diensten bewirtschaftet wurde, während die Dienste auf vielen hessen-kasselischen Domänengütern bereits in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts abgelöst worden waren. Auch scheint die Pächterfamilie Ehrbeck im 19. Jahrhundert nicht den Ehrgeiz besessen zu haben, das Domänengut zum landwirtschaftlichen Musterbetrieb auszubauen. Zumindest fehlen Hinweise auf Bestrebungen, das Gut durch die Einführung neuer Anbaufrüchte, Viehrassen, Agrartechnik und Veredelungsgewerbe zu verbessern und die Verbesserungen durch aktive Mitwirkung im »Landwirtschaftlicher Zentralverein für Kurhessen« unter der Landbevölkerung zu verbreiten.
Karl Kollmann
Die Wahrnehmung der Burg Ludwigstein aus Eschweger Sicht
Die Kreisstadt Eschwege liegt in der Luftlinie nur 18 Kilometer von der Burg Ludwigstein entfernt, aber der direkte Sichtkontakt ist durch Berge verstellt. Beide Orte sind durch den Lauf der Werra miteinander verbunden, auf der bis zum Bau der Eisenbahn in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und dem noch später erfolgten Ausbau der Landstraßen ein reger Schiffsverkehr stattfand. Ferner bestand seit Jahrhunderten eine alte Straßenverbindung von Süden nach Norden, die heute in etwa durch den Verlauf der Bundesstraße 27 gekennzeichnet ist. Die geologischen und morphologischen Rahmenbedingungen haben zu einer ausgesprochenen Kleinkammerung der Landschaft geführt; so werden das Eschweger Becken und die Talerweiterung von Bad Sooden-Allendorf durch Höhenzüge begrenzt, die das Tal der Werra streckenweise stark einengen und den Fluss zu engen Kehren zwingen. Es wird behauptet, dass diese Kleinräumigkeit sich auch auf das Denken der Bewohner auswirkt, was dazu führt, dass man sich z. B. in Eschwege kaum dafür interessiert, was »hinter dem Meißner« (also westlich davon) geschieht, und dies dürfte sich umgekehrt genau so verhalten. Bis in die jüngste Zeit wurde diese »Kirchturmsicht« durch die regionale Presse noch verstärkt. Die Region um den Meißner gehörte im hohen Mittelalter weitgehend zum Einflussbereich der Grafen von Bilstein und deren Vasallen, die nach dem Aussterben der Bilsteiner um 1300 und dem Verkauf ihres Besitzes an den hessischen Landgrafen auch größtenteils zu diesem überwechselten. Ferner gab es umfangreichen Streubesitz kirchlicher Grundherren, wie z. B. des Klosters Fulda. Die hessischen Landgrafen setzten sich nur langsam gegen den ansässigen Adel durch, z. B. gegen die Herren von Treffurt, die sich auf dem Bilstein festgesetzt hatten. Allendorf und Eschwege waren schon 1264 hessisch geworden. Der Einfluss Hessens wurde ferner durch die Nachbarn im Osten und Norden begrenzt: Auf dem Eichsfeld fasste das Erzbistum Mainz immer mehr Fuß, und im Norden lag das braunschweigische Territorium nicht weit entfernt. Eschwege hatte nur während der Auseinandersetzungen Ende des 14. Jahrhunderts zeitweise die hessische Oberhoheit abgelegt; 1433/36 wurden die Stadt und
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ihr Umland dann aber endgültig hessisch. Die Burg Ludwigstein entstand zu Beginn des 15. Jahrhunderts (1415) zur Festigung des hessischen Einflusses an der Werra in diesem Abschnitt und gegenüber der Burg Hanstein auf dem Eichsfeld. Im frühen 15. Jahrhundert begann so die gemeinsame hessische Oberhoheit über die Burg Ludwigstein und die Stadt Eschwege. Dennoch blieben die Kontakte zunächst eher sporadisch. So war Eschwege am 27. 04. 1460 Ausstellungsort der Verpfändung des Ludwigsteins an Hans von Dörnberg1 sowie am 11. 07. 1464 an Georg von Buttlar.2 Dass zumindest im zweiten Fall der Ausstellungsort nicht zufällig war, wird durch die Klausel bei den Bezahlungsmodalitäten deutlich, denn diese sollte »zcu Eschewege oder eine mylen weges darum« erfolgen. 1479 richtete der Eschweger Amtmann wegen der Schwarzburgischen Händel einen Brief an Georg v. Buttlar auf dem Ludwigstein, und 1492 wurden Eschweger Bürger zur Wolfsjagd im Amt Ludwigstein herangezogen.3 Aus dem Ende des 15. Jahrhunderts liegen auch aus den Rechnungen des Amtes Ludwigstein Hinweise auf Eschwege vor.4 Dorthin, aber ebenso nach Kassel, wurden Naturalien wie Getreide, Käse und Schweine, aber auch Geld abgegeben.5 Ferner wurde z. B. 1490 und 1491 jeweils 1 Malter, entsprechend etwa 1,6 Hektoliter, Mohn nach Eschwege geliefert, wobei sich die Frage stellt, warum der im Amt Ludwigstein geerntete Mohn ausgerechnet nach Eschwege ging. Aus den Mohnkapseln wurde vor allem Mohnöl ausgepresst, außerdem hat man schon damals Mohn als Backzutat verwendet. Nicht zuletzt war Mohn als medizinisches Mittel von großer Bedeutung. In diesem Zusammenhang darf darauf hingewiesen werden, dass während der Bauarbeiten auf dem Eschweger Marktplatz in den 1980er-Jahren auf dem mittelalterlichen Erdaushub zahlreiche Mohnpflanzen aufwuchsen; der Mohn ist demnach auf dem Markt gehandelt worden. Es dürfte weithin bekannt sein, dass der hessische Landgraf Philipp der Großmütige (1504–1567) seit 1540 eine Doppelehe mit Margarethe von der Saale führte. Deren Schwester Barbara verheiratete er 1545 mit seinem Kammerdiener Christoph Hülsing und vermachte diesem das Amt Ludwigstein als erbliches Lehen.6 Beide Eheleute verwalteten das Amt mehr als zwei Jahrzehnte. Nach 1 2 3 4 5
Hessisches Staatsarchiv Marburg (HStAM), Urkunden 13, Nr. 3118. Ebd., Nr. 3119. – Für beide Hinweise danke ich Herrn Sven Bindczeck. HStAM, Rechnungen I, Eschwege Nr. 2: Schultheißenrechnungen zu den betr. Jahren. HStAM, Rechnungen I, Nr. 72/13. HStAM, Rechnungen I, Nr. 72/13, 72/15 und 72/16. Auch hier gilt mein Dank Herrn Sven Bindczeck. 6 Siehe dazu Susanne Rappe-Weber : Barbara von der Saale und Christoph Hülsing – Landgraf Philipps Amtsehepaar auf Burg Ludwigstein, in: Hessische Heimat, 2004, 54. Jg., H. 2, S. 71–73.
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Hülsings Tod 1568 verweigerte Landgraf Wilhelm IV., der 1567 auf Philipp gefolgt war, die Erneuerung des Lehens. Es kam zu einem Rechtsstreit, der 1573 mit einem Vergleich endete: Barbara Hülsing erhielt eine Entschädigung von 20 000 Gulden, ihre beiden Söhne eine jährliche Leibrente. Sie war nun bemüht, für sich eine dauerhafte Bleibe zu finden, und sie wurde fündig bei dem Gut Vogelsburg nahe Eschwege. Die Vogelsburg war hessisches Lehen der Familie von Boyneburg-Honstein. Philipp von Boyneburg-Honstein scheint an permanenter Geldnot gelitten zu haben, und er schreckte nicht vor geradezu betrügerischen Machenschaften zurück, um diesen Zustand zu beheben. So verpfändete er die »Vegelßburk sambt derselben Uffkommen« an Barbara Hülsing für die Dauer von sechs Jahren, wozu Landgraf Wilhelm am 20. 09. 1579 seine Zustimmung gab.7 Die Verpfändung wurde im Jahr 1580 wirksam, nachdem Barbara an den Boyneburger 3000 »guter hardter angemesner Reichstaler, deren einer zwei Loht reines Silbers helt«, gezahlt hatte. Das ist schon ein recht hoher Betrag, der Rückschlüsse auf die finanziellen Verhältnisse der Hülsings erlaubt. Es kam aber bald zu Problemen, als bekannt wurde, dass Philipp von Boyneburg-Honstein wegen 1000 Taler Schulden bei der Stadt Eschwege schon 1572 und 1574 Einkünfte aus der Vogelsburg der Stadt zu Pfand gesetzt hatte! Weitere Geldbeträge hatte er von Hermann von Trott geborgt und diesem dafür ebenfalls Einkünfte aus der Vogelsburg versprochen. Die Hülsing’sche Witwe blieb jedoch hartnäckig und setzte sich auf der Vogelsburg fest, auf ihr Recht pochend.8 1585 plante sie eine Verlängerung der Verpfändung9 und erreichte offenbar ihr Ziel, denn noch 1594 wird sie als auf der Vogelsburg wohnhaft bezeichnet.10 Sie war immer noch sehr wohlhabend und stattete ihre beiden Töchter Barbara (heiratete Hans Curt Keudel) und Martha (heiratete Wilhelm Harstall) mit jeweils 5000 Talern Mitgift aus.11 Von 1627 bis 1834 bestand als weitgehend selbständige Herrschaft innerhalb der Landgrafschaft Hessen die sogenannte Rotenburger Quart. Ein Viertel von Hessen-Kassel wurde für Landgraf Moritz’ zweite Ehefrau Juliane und deren neun Kinder abgetrennt. Hessen-Kassel behielt die Landeshoheit nach außen, Verteidigung, Zoll und Münze sowie die Kirchenaufsicht. Eine endgültige Festlegung der zur Quart gehörigen Ämter und Städte erfolgte 1628: Schloss, Stadt und Amt Rotenburg Stadt und Amt Sontra Schloss, Stadt und Amt Eschwege 7 8 9 10 11
HStAM, 17 d v. Boyneburg, Nr. 153. Ebd. HStAM, 17 d v. Boyneburg, Nr. 240. HStAM, 17 d Hülsing, Nr. 7. Wie vor.
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Schloss, Stadt und Amt Wanfried Hessisches Drittel der Ganerbschaft Treffurt Gerichte Bilstein und Germerode Schloss und Amt Ludwigstein mit der Stadt Witzenhausen Herrschaft Plesse mit dem Amt Gleichen (1816 an Königreich Hannover) Somit gehörten fortan Eschwege und der Ludwigstein gleichermaßen zur Rotenburger Quart, was gelegentliche Verbindungen in personeller Hinsicht zur Folge hatte. In der Anfangsphase (1630) saßen in der Hessisch-Rotenburgischen Kanzlei z. B. der Ludwigsteiner Amtmann Franz Ulrich Wasserhuhn und der Eschweger Amtmann Johann Geyso. Bei der Teilung der Quart 1676 unter Landgraf Ernsts Söhne erhielt Carl die Anteile von Sontra bis zur Plesse mit Sitz in Wanfried; Wilhelm erhielt Rotenburg, Rheinfels, Katzenelnbogen usw. Eschwege und Ludwigstein zählten demnach zu Carls Anteil, anschließend zu dessen Sohn Christian (gest. 1755). Da die Bürger der Stadt Eschwege in dieser Zeit (fast) dienstfrei waren, kam es praktisch nicht zum Einsatz von Eschwegern im Amt Ludwigstein. Dörfer wie z. B. der spätere Stadtteil Niederhone waren hingegen mit zahlreichen Diensten an die Landesherrschaft belastet, die sich aber auf die Ämter Eschwege und Bilstein beschränkten. 1821 wurde der Quart-Verwaltung ein neues kurhessisches Verwaltungsnetz quasi übergestülpt, und bis zum Ende der Quart 1834 existierte eine verwirrende Doppelung der Verwaltungsaufgaben. Die Reform von 1821 führte zur Bildung der beiden Kreise Eschwege und Witzenhausen, mit der Folge einer verstärkten Trennung auf Verwaltungsebene. Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts wurde diese Situation durch die verschiedenen Lokalzeitungen noch verstärkt; so bestanden in Eschwege, Allendorf und Witzenhausen regionale Blätter. Das »Eschweger Tageblatt« gab es ab 1873, doch bis kurz vor dem Ersten Weltkrieg kommt der Ludwigstein darin nicht vor. Um 1895 besuchte der später (ab 1903) in Eschwege tätige Lehrer Wilhelm Ulrich (1870–1950) den Ludwigstein und veröffentlichte seine damaligen Erlebnisse erst 30 Jahre später in der Zeitschrift des Werratal-Vereins, dem »Werratal«.12 Aus seinem Bericht sei hier auszugsweise zitiert: »Als ich vor über 30 Jahren auf einer Pfingstfahrt mit Freunden als Göttinger Student vom hohen Turm des Hansteins auf die kleine Burg dort drüben zum ersten Male niederschaute, da lockte uns die Entdeckerfreude, diese Burg, die noch so stattlich unter Dach und Fach stand, mal in der Nähe und von innen zu schauen. In Werleshausen erfuhren wir, daß man sich den Schlüssel von der Domäne Wendershausen holen müsse. Was tat’s? Während die andern behaglich den Burgberg hinaufstiegen, 12 Das Werratal, 1925, 2. Jg. H. 6, S. 82–85.
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brachte ich im gewohnten Gewindschritt den mächtigen Schlüssel zum eisenbeschlagenen, rostigen Burgtore. Blühende Rosenranken drängen sich wehrend vor das gotische Tor. Und als es sich knarrend öffnet, da steht das Bild eines verzauberten Schlosses vor uns. Grün sproßt überall zwischen den Steinen des Hofes, Gras, Blumen, Disteln; in den Ecken breiten sich alte Holunderbüsche. Ackergeräte, verrostet und altersschwach, Stroh hier und da in den unteren Räumen vertiefen nur den Eindruck der Verlassenheit. Wir steigen die breite Steintreppe hinan, treten in den ›Saal‹; sein Estrich bebt etwas unter unsern Schritten. Vorsicht! Seht dort über dem Turm die stattlichen Reste von Renaissance-Schnitzereien in gebräuntem Eichenholz! Wie schön die Täfelung und Bemalung einst gewesen sein muß, davon melden noch ihre Trümmer. Durch die steinernen Fensterhöhlen, welche Blicke aus all den verfallenen, zur Not immer noch bewohnbaren Räumen! Ob wir auch auf den Turm können? Hurra, hier ist die Tür! Aber rabenschwarze Nacht umfängt den Eintretenden. Ein mächtiger Fidibus aus Butterbrotspapier wird angezündet. Ei sieh da in der Mitte des steinernen Fußbodens das viereckige Loch! Da geht’s ins Verlies hinunter! Beim letzten Glimmen der schnell verlöschenden Fackel tasten wir die Steintreppe hinan, entdecken, während der Schädel Bekanntschaft mit der Steinkante macht, den Treppengang in der Wand, endlich winkt ein Lichtschimmer! Ja, jetzt wird’s hell! Eine steile Leiter führt weiter hinauf. Zwar die Fußböden sind eingestürzt, nur ihre Tragbalken liegen noch, etwas morsch sind sie freilich; doch kommen wir langsam nacheinander glücklich oben unter dem Turmdach an …«
Erstmals im Juli 1913 berichtete das »Eschweger Tageblatt« vom Ludwigstein,13 und zwar mit einem Zitat aus einem Leserbrief an die Göttinger Zeitung vom 15. Juli: »Kürzlich ging durch die Presse die Nachricht, daß man von Seiten des Wandervogels die königliche Regierung um Ablassung der Burg zu Unterkunftszwecken bitten wolle. Die Burg gehört zur Domäne Wendershausen und kann zu nichts mehr verwandt werden, weil sie im Inneren völlig zerfallen ist. Schreiber dieses ist einmal auf Händen und Füßen durch das besterhaltene Zimmer gekrochen, dabei bemerkte er, wie alles schwankte und schwebte. Die Burg ist ursprünglich schnell als Notbehelf und Stützpunkt gegen die räuberischen Hansteiner vom Landgrafen Ludwig von Thüringen(!) aufgebaut worden. Das festeste davon ist ein gewaltiger Schornstein, an den man vor Jahren acht Pferde an eine Kette spannte, um ihn umzureißen, aber ohne Erfolg. Besser wäre es schon, wenn man von Seiten des Wandervogels den inneren Burghof mittelst Bretter in ein Barackenlager verwandelte.«
Ende 1915 bemühten sich Wilhelm Heise und seine Frau Lisa, die ihre Kindheit in Eschwege verbracht hatte, um den Erwerb der Burg, doch zerschlugen sich diese Pläne Anfang 1916.14 Zur selben Zeit gab es erste Aktivitäten des (Alt-) Wandervogels in Eschwege. Dieser ist untrennbar verbunden mit der Person von 13 Eschweger Tageblatt, 16. 07. 1913. 14 York-Egbert König: Rilkes »junge Frau« auf dem Ludwigstein, in: Ludwigsteiner Blätter, 2012, 62. Jg., H. 254, S. 43–45.
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Walter Holzapfel (1898–1921), der schon seit 1913 Wanderungen – damals »Fahrten« genannt – in die nähere und weitere Umgebung Eschweges organisiert hatte, so auch zum Ludwigstein.15 In diesen Zusammenhang gehört eine Fahrt der Eschweger WandervogelGruppe zum Ludwigstein am Pfingstsonntag, dem 19. Mai 1918, also noch während des Ersten Weltkrieges:16 »Das prächtige Pfingstwetter lockte die hiesigen Wandervögel hinaus in Gottes freie Natur. Am ersten Pfingsttag frühmorgens brachen sie mit Sang und Klang nach dem Ludwigstein auf, um sich hier mit den Wandervögeln aus Göttingen, Hofgeismar und Duderstadt zu treffen. Es wurde Wettkochen und Wettsingen veranstaltet, und Volkstänze wurden aufgeführt. Beim Wettkochen errangen die Eschweger Mädels den 1. Preis, bestehend in einer Wurst von Friedensmaß und Friedensgüte. Natürlich werden die Eschweger Mädels, die auf Ludwigstein so gut zu kochen verstanden, auch einmal als Hausfrauen die Eschweger Küche zu hohem Ansehen bringen.«
Als es 1920 um den Erwerb der Burg ging, berichtete auch das Eschweger Tageblatt über die Bemühungen. So am 21. Februar 1920: »Eine Vereinigung von Heimat-, Wandervogel- und anderen Wandererverbänden beabsichtigt den Erwerb der Burg Ludwigstein im Werratal bei Witzenhausen. Als Kaufpreis werden von der Regierung 20 000 Mark gefordert; die Kosten der Gesamtwiederherstellung, zu der sich die Käufer verpflichten müssen, werden auf insgesamt 165 000 Mark veranschlagt. Es ist geplant, zunächst einen Flügel, der Schlafsäle, Versammlungsräume und die Wohnung für den Wärter umfassen soll, auszubauen; für diesen Zweck sind – einschließlich der Kaufsumme – etwa 50 000 Mark erforderlich, die durch freiwillige Spenden aufgebracht werden sollen.«17
Am 5. Mai 1920 veröffentlichte das Eschweger Tageblatt einen Aufruf der »Vereinigung zum Erwerb und zur Erhaltung der Burg Ludwigstein«, der mit den Sätzen schließt: »Wir Bewohner des Werratales sind die nächsten, da einzutreten. Der Werratalverein hat es erfreulicherweise schon getan. Die Vereinigung hat bei Herrn Buchhändler Vollprecht eine Sammelstelle eingerichtet, wo Beiträge in jeder Höhe gern entgegengenommen werden.«18 Kurz darauf erschien ein Bericht über die Gründung der Vereinigung Jugendburg Ludwigstein.19 Am 1. Dezember 1920 findet sich im Eschweger Tageblatt ein Leserbrief des Kreisjugendpflegers Bernhard Engelhardt (1865–1956), damals Lehrer an der Friedrich-Wilhelm-Schule, Stuhlmeister der Eschweger Freimaurerloge »Ein15 Karl Kollmann: Zum 60. Todesjahr von Walter Holzapfel, in: Das Werraland, 1981, 33. Jg., H. 4, S. 52–54. 16 Eschweger Tageblatt, 21. 05. 1918. 17 Eschweger Tageblatt, 21. 02. 1920. 18 Eschweger Tageblatt, 05. 05. 1920. 19 Eschweger Tageblatt, 21. 05. 1920.
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tracht zur Akazie« und Eschweger »Turnvater«, parteipolitisch aktiv in der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP). Er berichtet über die Anfänge der Wiederherstellung der Burg und schließt mit den Worten: »Wer daher ein Herz für die heranwachsende Jugend und Sinn für die Erhaltung des so romantisch gelegenen Ludwigsteins hat, der möge nach seinen Kräften den edlen Zweck der Vereinigung zu Erhaltung der Burg Ludwigstein unterstützen. Beiträge, die der Unterzeichnete zu sammeln sich bereit erklärt hat und über welche in jedem Falle eine Empfangsbescheinigung ausgestellt werden wird, nimmt gern entgegen B. Engelhardt, Kreisjugendpfleger.«20
Walter Holzapfel rief im April 1921 den ersten Eschweger Jugendring ins Leben, dessen Zeitschrift »Der Düdemann« leider nur in einer einzigen Ausgabe erschien. Holzapfel war auch bei den Aufbauarbeiten der Burg Ludwigstein aktiv und widmete diesem Vorhaben einen großen Teil seiner Kraft, bis ihn mit nur 23 Jahren der Tod ereilte. In den folgenden Jahren des Aufbaus der Jugendburg verstärkte sich jedoch auch ohne ihn der Kontakt zwischen dem Ludwigstein und Eschwege; vgl. dazu Abb. 16, eine Zeichnung der Burg Ludwigstein, die 1925 in der Zeitschrift »Werraland« erschien. Zusammenfassend kann man feststellen, dass der Ludwigstein über lange Zeit für Eschwege außerhalb des Blickfeldes lag und nur gelegentlich Kontakte entstanden, die sich meist auf Verwaltungsebene bewegten. Erst seitdem sich die Jugendbewegung für die Burg zu interessieren begann, kann man auch in der Stadt eine gewisse Aufmerksamkeit verzeichnen.
20 Eschweger Tageblatt, 01. 12. 1920.
Dieter Wunder
Der Adel an der Werra 1500–1800*
Das Amt Ludwigstein wurde seit der Begründung 1416 fast 120 Jahre lang fast ausschließlich von Adligen aus der unmittelbaren Umgebung des Ludwigsteins ausgeübt; dieser Werraadel wird hier näher untersucht. Die seit dem 17. Jahrhundert übliche Untergliederung der hessischen Ritterschaft nach den Strömen Diemel, Fulda, Werra, Schwalm und Lahn folgte der Aufteilung der Landgrafschaft in nach diesen Flüssen benannten Regionen, denen bis ins 17. Jahrhundert Landvögte vorstanden.1 Die ritterschaftlichen »Ströme« handelten innerhalb des Rahmens der gesamten Ritterschaft, nicht eigenständig.2 Die politisch-geographische Kennzeichnung des Werraadels legt es aber nahe, nach möglichen Gemeinsamkeiten aufgrund der nordöstlichen Grenzlage von Landgrafschaft Hessen, Erzstift Mainz im Eichsfeld und Herzogtum Braunschweig im Vergleich zu anderen hessischen oder eichsfeldischen Geschlechtern zu fragen. Das Beispiel des Geschlechtes Berlepsch mag einleitend Hinweise zu solchen Gemeinsamkeiten geben. Die landgräflichen »Diener« Sittich v. Berlepsch auf der Burg Berlepsch (nördlich Witzenhausen) und sein Neffe Kaspar besaßen von Landgraf Wilhelm I. d. Ä. von Hessen 1486 bis 1488 die nahegelegene Burg und das Gericht Ludwigstein als Pfand gegen ein Darlehen von 2.845 fl. Gegen ein
* Begriffserläuterungen: Mit Adel ist der Niederadel gemeint, denn in Hessen wie im Eichsfeld gab es in der Frühen Neuzeit nur diesen Adel. – Mit Region »an der Werra« ist das Gebiet an der Werra nordwestlich Treffurt bis zur Grenze Hessens und des Eichsfeldes zu Niedersachsen gemeint. – Unter Hessen wird Nieder- und Oberhessen im Verständnis des 18. Jahrhunderts verstanden, also ohne die Grafschaft Hanau und die 1803/15 erfolgte Säkularisierung (Bistum Fulda) und Mediatisierungen in der Wetterau und im Vogelsberg. 1 Kurt Dülfer : Fürst und Verwaltung. Grundzüge der hessischen Verwaltungsgeschichte im 16.–19. Jahrhundert, in: Hessisches Jahrbuch für Landesgeschichte (HJLG), 1953, 3. Jg., S. 150–223, hier S. 155f., 176, 218. Die letzten Landvögte gab es in den 1620er-Jahren (www.arcinsys.hessen.de). Die Schwalm besaß nie einen Landvogt, der Hauptmann von Ziegenhain war in gewisser Weise das Pendant zum Landvogt. 2 Dieter Wunder : Adel im Hessen des 18. Jahrhunderts, Marburg 2016, Vierter Teil, Kap. I.
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erhöhtes Darlehen von 3.500 fl. an Landgraf Wilhelm II.3 hatte Sittich v. Berlepsch (+1513) das Amt seit 1504 nochmals inne, dann seine Söhne Jost und Hans bis 1515. Sittich war einer der drei Söhne des Stammvaters Sittich v. Berlepsch (tot 1481), die unterschiedliche Linien begründeten und sich dank Diensten bei hessischen und sächsischen Fürsten in der Werraregion, anderen Regionen Hessens, vor allem aber im kursächsische Thüringen ausbreiteten.4 (Anhang 1) Ungeachtet ihrer Landsässigkeit in verschiedenen Territorien bildeten die Berlepsch bis ins 19. Jahrhundert einen einzigen Lehnsverband für ihre hessischen Lehen einschließlich des Titels eines hessischen Erbkämmerers.5 Die Berlepsch sind unter den dreizehn im 16. Jahrhundert in der Werraregion ansässigen hessischen und eichsfeldischen Adelsgeschlechtern (Anhang 2) keine Ausnahme, denn fast jedes Geschlecht war mit Zweigen außerhalb der Werraregion, oft im »Ausland«, anzutreffen. Die Berlepsch waren eines der fünf werraadligen Geschlechter, die von Beginn des Amtes Ludwigstein 14166 an bis 1533 fast alle Amtleute, besoldet oder als Pfandinhaber, stellten; Ludwigstein war fast 120 Jahre Burg und Amt des Werraadels.7 Diese Tatsache sowie die Grenzlage führen zu drei Untersuchungsaspekten: – die Bedeutung von Burg und Amt Ludwigstein für den Werraadel, – das Verhältnis des Werraadels zu den Fürsten und der sich ausbildenden Landeshoheit, – Kennzeichen der Adelsgeschlechter an der Werra.
3 Die Angaben zu den Personen sind entnommen: Karl E. Demandt: Der Personenstaat der Landgrafschaft Hessen im Mittelalter. Ein »Staatshandbuch« Hessens vom Ende des 12. bis zum Anfang des 16. Jahrhunderts, 2 Teile (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen 42, 2), Marburg 1981; Franz Gundlach: Die Hessischen Zentralbehörden von 1247 bis 1604, Band III Dienerbuch (VHKH 16), Marburg 1930; Christian Hesse: Amtsträger der Fürsten im spätmittelalterlichen Reich. Die Funktionseliten der lokalen Verwaltung in Bayern-Landshut, Hessen, Sachsen und Württemberg, 1350–1515, Göttingen 2005 (Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 70). Bei Abweichungen dieser Autoren voneinander wurde jeweils die Version Demandts als des gründlichsten Erforschers von Personen gewählt. Rudolf v. Buttlar-Elberberg: Stammbuch der Althessischen Ritterschaft, Kassel 1888, liefert die genealogischen Daten, sie sind nicht immer zuverlässig und oft unvollständig, andere vergleichbare Werke fehlen aber. 4 Buttlar : Stammbuch (Anm. 3); Wunder : Adel (Anm. 2), Sechster Teil Kap. V 2. 5 Allein Carl Ludwig Gottlob v. Berlepsch in Sachsen lehnte das Amt 1831 ab (Buttlar : Stammbuch (Anm. 3). 6 Bindczecks Überlegungen zur Fertigstellung der Burg gehen von der Anstellung Dörnbergs 1416 aus (vgl. in diesem Band S. 43f.). 7 Untersucht man die Besetzung der Ludwigstein überordneten Position des Landvogts an der Werra (im Mittelalter auch Amtmann oder Hauptmann an der Werra, auch Amtmann zu Eschwege oder Bilstein), die immer in adligen Händen war, so kann man feststellen, dass etwa die Hälfte der 32 Personen von 1283 bis 1626 dem Werraadel entstammten, im 16. Jahrhundert allein allerdings nicht mehr (evtl. Boyneburg zu Wichmannshausen, Harstall) (eigene Auszählung nach Gundlach: Dienerbuch (Anm. 3), insbes. S. 323, 333, 341, 360f., 380).
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Die Bedeutung von Burg und Amt Ludwigstein für den Werraadel Die Burg Ludwigstein war die erste der vier Burgen, die Landgraf Ludwigs I. Vormund Herzog Heinrich von Braunschweig und der Landgraf selbst bis ca. 1430 an der Grenze Hessens zu Hersfeld, Mainz und Braunschweig errichteten.8 Sie waren die letzten traditionellen Burgenbauten in Hessen, an deren Stelle Festungen traten, abgesehen von Herzberg9 aber nur in Städten. Die Erfolge des Landgrafen gegen Mainz (Frankfurter Friede 1427) sowie die Veränderungen im Militärwesen machten die militärische Funktion von Burgen überflüssig;10 für Ludwigstein sind keine militärischen Auseinandersetzungen bekannt, auch seine Ausstattung spricht – entgegen der älteren Literatur11 – nicht für die Vorbereitung möglicher Kämpfe.12 Die neuere Burgenforschung tendiert sogar dazu, Burgen nicht mehr primär als Verteidigungsanlagen zu verstehen, sondern als Herrschaftszeichen.13 »Die Regel ist, daß über die Ämter die Grenze 8 Auszählung nach Rudolf Knappe: Mittelalterliche Burgen in Hessen. 800 Burgen, Burgruinen und Burgstätten, 3. Aufl. Gudensberg-Gleichen 2000, in der zeitlichen Folge der Erbauung: S. 53f., 185, 172f., 21. Drei Burgen wurden nach Ludwig benannt: nach Ludwigstein wurde 1416 Ludwigsau (zwischen Bad Hersfeld und Bebra) errichtet und als Lehen an die Nied vergeben, 1419 Ludwigseck (zwischen Rotenburg und Bad Hersfeld), verlehnt an die Erbauer, den Rat Holzheim und den Erbmarschall Röhrenfurth. Die vierte Burg um 1430/31 war der Ausbau von Veckerhagen an der Weser, das 1428 von denen von Schöneberg (+1428) heimgefallen war (1687 baufällig, Amtleute im 15. Jh. waren nur die zum Diemeladel gehörenden Stockhausen: Hans d. Ä. 1430, Hans 1471, 1500, Heinrich 1484; andere Amtleute sind nach Gundlach: Dienerbuch (Anm. 3) für das 15. Jahrhundert nicht bekannt). 9 Ausbau der Burg Herzberg zur Festung unter Wilhelm II. 1483 bis 1497. – Knappe: Burgen (Anm. 8), S. 158f.; Dehio: Hessen I, München 2008, S. 303. 10 Vgl. Winfried Mogge: »..du czoch men uß zu buwende den ludewygesteyn«. Zur Gründungsgeschichte der Burg Ludwigstein, in: Artur Künzel (Hg.): Witzenhausen und Umgebung – Beiträge zur Geschichte und Naturkunde (Schriften des Werratalvereins Witzenhausen 7), Witzenhausen 1983, S. 58–64. Christian Hesse: Amtsträger (Anm. 3), S. 115: In der 2. Hälfte des 15. Jahrhunderts verloren die Burgen als militärisch-administrative Stützpunkte ihre Bedeutung zugunsten nahegelegener Städte. Hesse beruft sich auch auf Ernst Schubert: Einführung in die Grundprobleme der deutschen Geschichte im Spätmittelalter, Darmstadt 1992, S. 203, der einen säkularen Wandel in der Ersetzung des Argumentes Schwert durch das Argument Schrift sieht. –Ernst Schubert: Die Umformung spätmittelalterlicher Fürstenherrschaft im 16. Jahrhundert, in: Rheinische Vierteljahresblätter 1999, S. 204–226, S. 213, fasst zusammen: »Selbst dort, wo die administrative Funktion der Burg erhalten bliebt, ist ihre militärische Funktion im 15. Jahrhundert weitgehend obsolet geworden – und damit auch ihre Bedeutung für die Herrschaftsmanifestation im Schwinden begriffen.« 11 Z. B. Christoph v. Rommel: Geschichte von Hessen, Bd. 2, Marburg/Kassel 1823, S. 323f.: Bau gegen die Hanstein. Die ältere Meinung zur militärischen Funktion vertritt selbst noch für den Anfang des 16. Jahrhunderts Hesse: Amtsträger (Anm. 3), S. 115, mit unklarer Beweisführung. 12 Mogge: Gründungsgeschichte (Anm. 10), S. 62: 4 Armbrüste mit 1030 Pfeilen, 2 Handbüchsen (eine hatte 5 Schuss), ein Beutel Pulver. 13 G. Ulrich Großmann: Die Welt der Burgen. Geschichte, Architektur, Kultur, München 2013,
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einer Herrschaft festgelegt wird«, betont Schubert für das 16. Jahrhundert;14 diese Funktion erfüllte von Anfang an der neue Amtssitz Ludwigstein, der an Stelle des bisherigen Amtes Witzenhausen trat.15 Im neuen Amt wurden wie bei anderen Ämtern im Hessen des 15. und beginnenden 16. Jahrhunderts Adlige als Amtleute eingesetzt,16 die teilweise schon länger bei den Landgrafen in Diensten standen,17 sie hatten gleichzeitig andere Ämter, vor allem Ratsstellungen, inne und übernahmen landgräfliche Aufträge.18 Der Pfandinhaber Christoph v. Steinberg 1534 war Oberst. Nur anfangs wurde das Amt mit Besoldung vergeben, dann durch Verpfändung.19 Derart konnten der fürstliche Finanzbedarf gedeckt, aber auch ausstehende Besoldungen abgegolten werden. Das Amt Ludwigstein war finanziell attraktiv, denn die Summen, die die Landgrafen erhielten, bewegten sich in beachtlicher und wachsender Höhe, 1.800 fl. 1460, 2.845 fl. 1486, 3.500 fl. 1504
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S. 43, 75–79. Bezeichnenderweise wird in G. Ulrich Großmann, Hans Ottomeyer (Hg,): Die Burg. Wissenschaftlicher Begleitband zur den Ausstellungen ›Burg und Herrschaft‹ und ›Mythos Burg‹, Dresden 2010, die militärische Funktion der Burg als Verteidigungsanlage kaum thematisiert. Schubert: Umformung (Anm. 10), hier: S. 210. Albrecht Eckhardt: Zur Geschichte der Ämter Ziegenberg und Ludwigstein, in: Otto Perst (Hg.): Festschrift zum 60. Geburtstag von Karl August Eckhardt, Marburg 1961, S. 140: das Amt Witzenhausen wird bereits 1361 genannt. Im Ökonomischen Staat (1585) heißt das Amt Ludwigstein und schließt Witzenhausen ein. – Ludwig Zimmermann: Der ökonomische Staat Landgraf Wilhelms IV. 2 (VHKH 17, 2), Marburg 1934, S 895f. In den Hof- und Staatskalendern (Hochfürstlich Hessen-Casselischer Staats und Adreß-Calender, Kassel) seit 1764 heißt das Amt Witzenhausen und schließt das Amt Ludwigstein ein. Siehe Bindczeck, Wunder: Amtmänner, S. 31–37. Schubert: Umformung (Anm. 10), S. 223f., weist auf die systematische Verbindung von Hofdienst und Amtmannschaft für die Kurpfalz hin, er erwähnt knapp auch Hessen. Eine eigene Untersuchung müsste der Frage gelten, ob und wie lange adlige Amtleute tatsächlich auf Ludwigstein verweilten, vor allem, wenn sie längere Zeiten sei es anderweitig in landgräflichen oder sogar anderen Diensten, sei es im eigenen Interesse unterwegs waren; möglicherweise saßen sie sogar auf ihren Burgsitzen und suchten nur sporadisch den Amtssitz auf. Allein für Hans v. Dörnberg (Amtmann 1416 bis 1419) verlangte die Einsetzungsurkunde den Wohnsitz dort; Mogge: Gründungsgeschichte (Anm. 10), S. 61. Wieweit dies dann tatsächlich der Fall war, müsste im Einzelnen nachgewiesen werden. Man kann vermuten, dass Adlige weniger an das Amt gebunden waren als später die »nicht-adligen« Amtleute, da sie auch anderweitige Interessen (den eigenen Besitz, Ämter oder Aufträge des Landgrafen) hatten. Das Studium der Demandtschen Personaldaten (Demandt: Personenstaat (Anm. 3)), der Beitrag Bindczecks sowie die Übersicht von Bindczeck, Wunder in diesem Band führen zur Annahme, dass die Kombination verschiedener fürstlicher Aufgaben im 15./ 16. Jahrhundert gang und gäbe war. Zu diesem Problemkreis passt auch die Beobachtung von Heinzjürgen N. Reuschling: Die Regierung des Hochstifts Würzburg 1495–1642, Würzburg 1984, S. 23: »In seinen Anfängen [gemeint ist das 16. Jahrhundert, DW] besaß dieses Beamtentum als ›interterritoriales Element‹ noch überaus fluktuierende Züge, standen die überwiegend landfremden Räte und Doktoren doch häufig an verschiedenen Höfen in Diensten.« Dieser Problemkreis bedarf genauerer Erforschung. Dazu grundsätzlich Schubert: Umformung (Anm. 10), S. 223–226.
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und 1515.20 Ursache der Steigerung war wohl der Ausbau der Burg, vor allem aber der Erwerb des Vorwerks Wendershausen durch den Amtmann Georg v. Buttlar.21 Einem Gläubiger boten die Amtseinnahmen Sicherheit und zusätzliche Einkünfte. In der Besetzung des Amtes zeichnen sich vier Phasen ab. (1) Lange wählten die Landgrafen fast ausschließlich hessische Adlige des Werrastroms aus der näheren Umgebung der Burg; nur Hermann Meysenbug kam vom benachbarten Fuldastrom. Gründe für diese Auswahl könnten die Vertrautheit dieser Nachbarn mit den Umständen des Amtes sein, aber auch die Absicht der Landgrafen, Adligen, die ihr Vertrauen hatten, ein Amt nahe ihrem eigenen Wohnsitz zu geben, so dass die Amtsaufgaben und die Aufgaben der eigenen Herrschaft leicht zu vereinbaren waren. Es war zugleich eine Strategie, den Adel im Grenzbereich verbindlich in das hessische Herrschaftssystem einzubeziehen. (2) 1501 übertrug Landgraf Wilhelm II. das Amt für zwei Jahre pfandweise an »Ausländer«, die landgräflichen »Diener« Ludwig v. Boyneburg zu Lengsfeld und seinen Bruder Hermann,22 zwei Jahre später ging das Amt wiederum an Sittich von Berlepsch, dieses Mal einschließlich der Söhne bis 1515. Seither besetzten nur »Ausländer« das Amt. Landgräfin Anna v. Mecklenburg (Regentin 1509–1518) gab es dem Eichsfelder Werraadligen Christian v. Hanstein, einem langjährigen landgräflichen »Diener«, der schon mainzischer Amtmann des Eichsfeldes (1509–1517) war und 1519 Statthalter zu Kassel wurde;23 1533 20 Zum Vergleich: Die Einnahmen des ritterschaftlichen Stiftes Kaufungen beliefen sich 1541 auf 1.255 fl., 1551 2.169 fl., 1560 1.994 fl. und 1580 2.826 fl. – Hessisches Staatsarchiv Marburg (HStAM) Best. 304 Kaufungen, Rechnungen A 1 1541, 1551, 1560, 1580. 21 1477: Heimbrad von Rengelrode verkauft dem Jörg von Buttlar sein Vorwerk zu Wendershausen und die Wüstung Elkerode, beides hessische Lehen; 1478: Landgraf Ludwig belehnt Georg von Buttlar mit dem Vorwerk zu Wendershausen; 1478: Heimbrad von Rengelrode hat 7 Hufen zu Wendershausen an Georg von Buttlar verkauft – LAGIS Ortslexikon zu Wendershausen; http://www.lagis.hessen.de [12. 09. 2014]. 22 1488 wurde nach Landau Raban v. Herda eingesetzt. – Gustav Landau: Die hessischen Ritterburgen und ihre Besitzer 4, Kassel 1839, S. 204f. Da für diese Nachricht kein Beleg zu finden ist – Herda war in dieser Zeit Amtmann in Sontra, es könnte also eine Verwechslung vorliegen –, sind 1501 die Boyneburg zu Lengsfeld die ersten sicheren »fremden« adligen Amtleute, die aber schon 1503 wieder durch die einheimischen Berlepsch abgelöst wurden. Vgl. auch Bindczeck,Wunder : Amtmänner. 23 Christian v. Hanstein seit 1491 hessischer Diener, 1509 Ritter, 1530 ständig bei Hofe, 1532 verstorben. – Gundlach: Dienerbuch (Anm. 3), S. 85; Karl Frhr. von Hanstein: Urkundliche Geschichte des Geschlechts der von Hanstein in dem Eichsfeld in Preußen (Provinz Sachen) nebst Urkundenbuch und Geschlechts-Tafeln, 2 Teile, Kassel 1856/57, hier : Bd. 2, S. 301–304. 1517 war er auch auf fünf Jahre von Mainz zum Diener und Rat von Haus aus bestellt worden. – Alexander Jendorff: Verwandte, Teilhaber und Dienstleute. Herrschaftliche Funktionsträger im Erzstift Mainz 1514 bis 1647 (Untersuchungen und Materialien zur Verfassungsund Landesgeschichte 18), Marburg 2003, S. 202f.
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musste sein Sohn Christian die Pfandschaft, die er vom Vater ererbte hatte, einlösen.24 Die Phase besonderer Beziehungen des Werraadels zu den Landgrafen ging damit zu Ende.25 Es folgten kurzzeitig Kurt Rommel aus der Grafschaft Hoya und Christoph v. Steinberg aus dem Stift Hildesheim. Bei »Ausländern« gingen die Landgrafen wohl davon aus, dass diese keine allzu großen Eigeninteressen in Hessen hatten26 und das Amt schwerer für eine Verbesserung eigener Rechte nutzen konnten. (3) 1539 wurde mit Johann Nordeck erstmals ein »nicht-adliger« Amtmann eingesetzt. (4) Dann allerdings wurde Ludwigstein 1545 in ein Mannlehen für den »nichtadligen« Christoph Hülsing verwandelt, der als Ehemann der Barbara v. d. Saale, der Schwester der zweiten Ehefrau Philipps, wie ein Adliger ausgestattet werden musste. Philipps Sohn Wilhelm IV. machte dieser Lehnsherrschaft 1574 ein Ende. Seither amtierten in der Lokalverwaltung wie in anderen Territorien nur »nicht-adlige« Beamte.27 Die Phase der adligen Amtleute ist den spätmittelalterlichen Herrschaftsformen zuzurechnen. Dass die Burg Ludwigstein mit dem Amt Witzenhausen schon 1539 nicht mehr mit Adligen besetzt wurde, entsprach der generellen Politik Landgraf Philipps und seiner Söhne: Mit der planmäßigen Ablösung verpfändeter Ämter durch Philipp entfiel die das mittelalterliche Amt kennzeichnende Belehnung mit Grundbesitz,28 an ihre Stelle trat die Besoldung. Wilhelm IV. ging so weit, seinem Sohn von jeglicher Indienstnahme Adliger in den Verwaltungsdienst abzuraten.29 Auch in anderen Territorien wurde die Lokalverwaltung oft »Nicht-Adligen« übertragen.30 Eine solche Distanzierung 24 HStAM, Best. 17 d Hülsing Nr. 3. 25 Welche Bedeutung die »nicht-adligen« Amtleute für den hessischen Adel hatten – ob sie eher gute Nachbarn und »Standesgenossen« oder ob sie eher den Einfluss des Adels zurückdrängende Beamte waren – ist bisher nicht untersucht worden. 26 Dies trifft für Christian v. Hanstein nur begrenzt zu, denn er erhielt von Philipp einige Rechte in der hessischen Werraregion. 1527 erlaubte ihm Philipp, eine Mühle bei Elligerode anzulegen, 1528/30 erhielt er von Landgraf Philipp auf Widerruf den Zehnten vor Witzenhausen und mehrere Vorwerke. – Hanstein: Geschichte, Bd. 2 (Anm. 23), S. 280–282. Vgl. auch. Anm. 45, 46, 47. 27 Der Ausdruck »nicht-adlig«, angelehnt an den Quellenbegriff des 18. Jahrhunderts für fürstliche Diener in Hessen-Kassel »nicht von Adel«, soll darauf hinweisen, dass die betroffenen Personen zur fürstlichen Dienerschaft gehörten, also nicht zur Bürgerschaft einer Stadt. Diese Beamten kamen zwar ursprünglich meist aus stadtbürgerlichen Familien, dann aber oft aus Beamtenfamilien, die mit Bürgern weniger gemeinsam hatten als mit Adligen, denn wie diese unterstanden sie direkt der landesherrlichen Gerichtsbarkeit. Der übliche Ausdruck »bürgerlich« ist daher falsch. Näheres zu dieser Problematik siehe Wunder : Adel (Anm. 2), Erster Teil Kap. II. 28 Zimmermann: Staat, Bd. 1 (Anm. 15), S. 40f. 29 Ebd., S. 33. 30 Adlige (Ober)Amtmannsstellen wurden mit der Zeit vielfach zu einer Pfründe ohne wirk-
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vom Adel hing mit der Absicht der Fürsten zusammen, die Beamten in ihre unmittelbare Abhängigkeit zu bringen,31 deren Besoldung zwar weiterhin aus dem Amt kam, aber doch genau definiert war. Ein Amt sollte nicht mehr der Bereicherung eines Adligen dienen, der als Grundbesitzer oft mit weiteren Ämtern ausgestattet und manchmal zugleich »Diener« ausländischer Fürsten war,32 somit eine vom Fürsten unabhängige Position besaß. Dieses fürstliche Verhalten war ebenso wie der Verlust von Kloster-, Stifts- und Pfarrstellen33 durch die Reformation ein harter Schlag für den Adel. Die Landgrafen kompensierten diese Verluste im Einzelfall durch die Übergabe säkularisierten Besitzes an Adlige34 – z. B. erhielten die Keudell und Boyneburg gen. Hohnstein Besitz des Eschweger Cyriakusstiftes in Schwebda, die Diede die Hälfte des Klosters Immichenhain nö. Alsfeld35 –, aber auch durch die Übertragung der Stifte Kaufungen und Wetter an die gesamte hessische Ritterschaft zur Versorgung der heiratenden Töchter.36
Das Verhältnis des Werraadels zu den Fürsten und der sich ausbildende Landeshoheit Sieht man sich Genealogien der Werrageschlechter an, so fällt ins Auge, dass ihre Mobilität ausgeprägt war : sie leisteten Dienste, wo es ihnen lohnend erschien; sie hatten Lehnsbeziehungen vor allem zu Mainz, Hessen, Fulda und Sachsen, ihr Konnubium war nicht an das Territorium eines Fürsten gebunden. An fünf
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liche Befugnisse. –Vgl. Barthold Witte: Herrschaft und Land im Rheingau, Meisenheim 1959, S. 193f. betr. Vitztum im Rheingau; Jendorff: Verwandte (Anm. 24), S. 120f., S. 134f. Zu Oberamtmannstellen in Hessen-Kassel siehe Dülfer : Fürst (Anm. 1), S. 150–223, hier S. 218. Zimmermann: Staat, Bd. 1 (Anm. 15), S. 32. – Kersten Krüger: Finanzstaat Hessen 1500–1567 (VHKH 24, 5), Marburg 1981, S. 106–110, beschreibt die Möglichkeiten von Lokalbeamten, Einkünfte zu erwerben, ob legal oder durch Korruption. Wie Anm. 18. Z. B. war der dritte Sohn Sittichs v. Berlepsch (+1513), Sittich 1497/1512, Pfarrer von Großen-Linden. Wilhelm Wolff: Die Säkularisierung und Verwendung der Stifts- und Klostergüter in HessenKassel unter Philipp dem Grossmütigen und Wilhelm IV. Ein Beitrag zur deutschen Reformationsgeschichte, Gotha 1913, S. 375, 377. Im Landtagsabschied von 1527 wird die Zahl von 30 Adligen genannt, die Klostergut erhalten sollten; tatsächlich waren es sehr viel weniger. – Günter Hollenberg (Hg.): Hessische Landtagsabschiede 1526–1603 (VHKH 48, 5; Vorgeschichte und Geschichte des Parlamentarismus in Hessen 9), Marburg 1994, S. 67 und Anm. 11. Wolff: Säkularisierung (Anm. 34), S. 22, 32. Dieter Wunder: Das ritterschaftliche Stift Kaufungen 1532–1810, in: Gemeindevorstand der Gemeinde Kaufungen und Sparkassenstiftung Landkreis Kassel-Kultur (Hg.): 1000 Jahre Kaufungen. Arbeit Alltag Zusammenleben, Kaufungen 2011, S. 28–37, 596f.; Wunder : Adel (Anm. 2), Vierter Teil Kap. I.
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Geschlechtern, drei des Werraadels in Hessen und im Eichsfeld – Keudell, Bodenhausen und Hanstein – sowie zwei des sonstigen Eichsfeldes – Harstall und Linsingen –, sollen die jeweiligen Beziehungen zum Eichsfeld bzw. Hessen sowie die generelle Mobilität über die Grenzen hinweg geprüft werden. Friedrich von Linsingen, den Statthalter Kurfürsts Friedrich I. von der Pfalz (1449–1476), nahm der mainzische Kurfürst Adolf v. Nassau, nicht gerade ein Freund des Pfälzers, als Statthalter auf dem Eichsfeld in seine Dienste; dass er mit den Lehen der ausgestorbenen Familie von Ringelrode (+1459) samt deren Zentren Rengelrode (westl. Heiligenstadt) und Birkenfelde (sw. Rengelrode) ausgestattet wurde, war evtl. dafür entscheidend.37 Mit Friedrich etablierte sich noch im Spätmittelalter als einziges hessisches Geschlecht eine Linie der Linsingen zu Jesberg (Region Schwalm) dauerhaft im Eichsfeld, bezeichnenderweise in Verbindung mit einer Amtstätigkeit.38 Die Keudell und Bodenhausen waren in der Nachbarschaft ihrer hessischen Sitze sehr früh mit dem Eichsfeld verbunden. Der erste Keudell zu Cubstein (später Keudelstein genannt) im Eichsfeld ist nach Buttlar für 1271 nachgewiesen; für Hessen sind die Keudell vorher nur einmal, 1227, belegt.39 Seit wann sie Besitz im Eichsfeld hatten, ist unbekannt. – Die Bodenhausen, wohl aus der braunschweigischen Gegend um Göttingen stammend, sind für das Eichsfeld 1292/98 mit Ordemar von Bodenhausen auf Rusteberg belegt, vorherige Nennungen (seit 1135) bezogen sich nicht auf einen bestimmten Ort. Ende des 14. Jahrhunderts werden drei Brüder als Burgleute zu Gleichenstein (Eichsfeld) erwähnt, Anfang des 15. Jahrhunderts ein Vetter. Lehnsbeziehungen des Geschlechts zu Hessen sind mindestens seit 1378 bezeugt.40 Die in Thüringen um Mihla/Creuzburg ansässigen Harstall stellten seit 1455 hessische und sächsische Burgleute zu Treffurt. Bald erlangten sie mainzische Lehen im Eichsfeld: um 1500 Diedorf, 1525 Katharinenberg.41 Die Brüder Hans 37 Ob auch politische Gründe eine Rolle spielten, ein ähnliches Amt, wie es bereits sein mütterlicher Großvater Hans v. Falkenberg als oberster mainzischer Beamter aller nördlich des Main gelegenen Besitzungen innegehabt hatte, zu übernehmen, ist unklar. – Zu Falkenberg siehe Detlev Frhr. v. Linsingen: Zur Geschichte der Herren, Freiherren und Grafen von Linsingen (Schriftenreihe des Heimat- und Geschichtsvereins Jesberg e. V. 1), Augsburg 2004, S. 58. 38 Sie »blühen« noch heute, während der hessische Zweig 1721 ausstarb. – Linsingen: Geschichte (Anm. 38), insbesondere S. 57, 57a und 58. 39 Neben Buttlar : Stammbuch (Anm. 4) s. a. Aloys Höppner (+1955): Der Keudelstein. Schwebdaer Archivstudien (in: http://keudelstein.de/hauptseite/textarchiv/aloys_hoepp ner/ [19. 07. 2014]). Höppner sieht einen sprachlichen Zusammenhang zwischen Kubsdorf und Keudell. 40 HStAM, Urkunden 14, Nr. 2567: Lehen in Witzenhausen. 41 Mit dem Erlöschen der Diedorfer Linie der Harstall 1865 wurden die Güter an Bauern verkauft. – Rainer Lämmerhirt: Die Geschichte der Familie von Harstall. Herkunft, Entwicklung und Bedeutung dieser adligen Familie in den Orten Mihla, Creuzburg, Diedorf,
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Ludwig und Hermann aus der Mihlaer Linie zu Treffurt erwarben durch Heirat und Kauf in den 1590er-Jahren ein Gut in Schrecksbach (Strom Schwalm).42 Das Geschlecht war also thüringisch mit Zweigen im Eichsfeld und Hessen. Vom eichsfeldischen Adel hatten allein die Hanstein, die mit 19 Dörfern das westliche Eichsfeld beherrschten, zeitweise enge Beziehungen zu Hessen.43 Nach Reinles Deutung gehörten sie zu den wichtigen Adligen im Hessen des 14. Jahrhunderts, die die Landgrafen mit Gütern im Eichsfeld wie in Hessen durch Lehnsauftragung (1357/78)44 und Pfandbeziehungen (1374/1403)45 an sich banden. Für die behauptete Feindschaft zwischen den Landgrafen und den Hanstein, etwa zur Zeit der Erbauung des Ludwigstein, findet sich, wie schon
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Berteroda, und Treffurt vom 13. Jahrhundert bis zur Zeit nach dem II. Weltkrieg, Mihla 1990, S. 41. Lämmerhirt: Harstall (Anm. 41); Wunder : Adel (Anm. 2), Zweiter Teil Kap. I 2. Der hessische Zweig hatte Schrecksbach mit Unterbrechungen bis 1714 inne. Andere Eichsfelder Geschlechter orientierten sich an ihren Nachbarn Braunschweig oder Sachsen/Thüringen. Die Westernhagen besaßen im Braunschweigischen ein hessisches Lehen (Zehnt zu Herboldshausen (wohl Hilwartshausen n. Hann. Münden), das schon 1593 die Bodenhausen innehatten (HStAM, Bestand Urkunden 14 Nr. 2541); die Bodungen besaßen 1593/95 in Martinsfeld (Eichsfeld) ein hessisches Lehen (HStAM, Bestand 17 c Nr. 6347). Ohne Beispiel ist das Geschlecht der Minnigerode, aus dem Angehörige leitend im Forstwesen Hessen-Darmstadts von den 1620er-Jahren bis 1749 tätig waren, ohne in Hessen ansässig zu werden; sie behielten ihre Sitze im nördlichen Eichsfeld bei (Genealogisches Handbuch der Freiherrlichen Häuser (Genealogisches Handbuch des Adels 12), Freiherrliche Häuser A Band IV, Limburg/Lahn 1962). Immer gab es einzelne Eichsfelder Adlige in hessischen Diensten, so Georg Ernst Levin v. Wintzingerode, der 1788 Oberhofmeister der verwitweten Landgräfin Philippine von Brandenburg-Schwedt wurde und sie 1796 überraschend heiratete (Wunder : Adel (Anm. 2), Dritter Teil Kap. III). Georg Ernst Levin wurde später württembergischer Außenminister. Christine Reinle: Die mühsame Etablierung einer »neuen« Herrschaft. Die Landgrafen von Hessen im Ringen mit dem hessischen Adel, in: Julia Eulenstein, Christine Reinle, Michael Rothmann (Hg.): Fehdeführung im spätmittelalterlichen Reich. Zwischen adeliger Handlungslogik und territorialer Verdichtung (Studien und Texte zur Geistes- und Sozialgeschichte des Mittelalters 7), Affalterbach 2013, S. 103–144, hier S. 119, 131; vgl. a. dies., Zur sozialen und politischen Lage des Niederadels in der Landgrafschaft Hessen im 15. Jahrhundert, in: Eckart Conze, Alexander Jendorff, Heide Wunder (Hg.): Adel in Hessen (VHKH 70), Marburg 2010, S. 57–86, hier S. 75, 78. Die von Reinle analysierten Vorgänge von 1357 bis 1378 zeigen, wie die Hanstein Lehen in Ziegenberg (nw. Witzenhausen) erhielten, aber auch im Eichsfeld (1362 ein Dorf, zwei Wüstungen und das Gut Besenhausen, Neubelehnung 1546), die sie den Landgrafen aufgetragen hatten. Reichenbach und Lichtenau waren bis 1403 an Hanstein verpfändet, 1374 der Zoll in Sooden, 1375 halb Grebenstein, 1378 Laudenbach und Hundelshausen. – Horst Bitsch: Die Verpfändungen der Landgrafen von Hessen während des späten Mittelalters (Göttinger Bausteine zur Geschichtswissenschaft 47), Göttingen 1974, S. 57, 95, 100f., 103, 149 betr. Reichenbach und Lichtenau, 122 und 149 betr. den Zoll, 139 Grebenstein, Laudenbach und Hundelshausen. – Die Hanstein besaßen auch plessische Lehen im Eichsfeld, in Braunschweig und in Hessen, auch hennebergische im Gebiet Schmalkalden. Die wichtigsten Lehnsherren der Hanstein waren Mainz und Fulda. – Hanstein: Geschichte 1 (Anm. 26), Dritter Abschn. I–V.
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erwähnt, kein Beleg. Ende des 15. Jahrhunderts zahlte sich für die Hanstein die Kooperation mit den Landgrafen aus.46 Seit 1491 war der schon erwähnte Amtmann zu Ludwigstein Christian v. Hanstein ein wichtiger hessischer »Diener«. Die politischen Veränderungen des 16. Jahrhunderts schufen für den Adel neue Rahmenbedingungen. Die maßgeblichen Fürsten in der Region Werra waren im Spätmittelalter die eher verfeindeten als verbündeten Kurfürsten von Mainz und Landgrafen von Hessen, die ihre jeweiligen Rechte zu behaupten und auszuweiten versuchten. Auch der Herzog von Braunschweig wirkte in das Gebiet hinein, zeitweise beherrschten zudem die wettinischen Landgrafen von Thüringen das Gebiet an der Oberwerra um Eschwege (1385–1433). Trotz der machtpolitischen Beruhigung seit Landgraf Ludwig I. schwelten viele Konflikte zwischen Hessen und Mainz weiter, die durch Reformation, Gegenreformation sowie die Mainzer Herrschaftszentralisierung im Eichsfeld seit den 1570er Jahren neu entfacht wurden. Landgraf Wilhelm IV. sah sich, nicht uneigennützig, als Schirmherr des protestantischen Adels im Eichsfeld47 und suchte zu dessen Gunsten zu intervenieren. In dem Merlauer Vertrag und seinen Folgeverträgen 1582/83 zwischen Hessen-Kassel und Mainz,48 mit denen die Grenze von beiden
46 Hanstein: Geschichte 2 (Anm. 23), S. 123, 283: 1498 liehen sich die Hanstein von Landgraf Wilhelm Waffen aus (Hakenbüchsen, Pulver, Kugeln, Mehl), 1537 mahnte Landgraf Philipp zur Rückgabe. Die Hanstein traten auch in den Auseinandersetzungen um Landgräfin Anna auf. Auf dem Landtag 1514 waren die Hanstein mit acht Personen vertreten, später allerdings auf keinem Landtag mehr und auch nicht bei der Huldigung 1567 (HStAM, Best. 17 d Generalia Nr. 30; HStAM, Best. 19 a Nr. 71; HStAM, Best. 19 b Nr. 115). Allerdings gewährte 1542 Kurt v. Hanstein, ein Offizier Karls V., Landgraf Philipp für seine Kriegsrüstungen ein Darlehen von 4500 fl., für deren Rückzahlung sich eine große Zahl hessischer Adliger verbürgte. – Hanstein, ebd., S. 284f. 47 Der Eichsfeldadel war nicht nur weitgehend lutherisch geblieben, sondern erhielt Ende des 16./Anfang des 17. Jahrhunderts das jus capellae, das Recht zur privaten, manchmal öffentlichen Ausübung der Religion. – Christophe Duhamelle: Territoriale Grenze, konfessionelle Differenz und soziale Abgrenzung. Das Eichsfeld im 17. und 18. Jahrhundert, in: Etienne FranÅois, Jörg Seifrath, Bernhard Struck (Hg.): Die Grenze als Raum, Erfahrung und Konstruktion. Deutschland, Frankreich und vom 17. bis zum 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 2007, S. 33–51, hier: S. 39. 48 Friedrich P. Kahlenberg: Konsolidierung und Arrondierung des Territorialstaates in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts. Der Merlauer Vertrag von 1582 zwischen Hessen und Mainz, in: HJLG 1964, 14. Jg., S. 123–198; Alexander Jendorff: Reformatio catholica. Gesellschaftliche Handlungsspielräume kirchlichen Wandels im Erzstift Mainz 1514–1630 (Reformationsgeschichtliche Studien und Texte 142), Münster 2000, S. 101–107, 482–493. Zur Lage Hessens im Spätmittelalter siehe den Überblick in Karl E. Demandt: Geschichte des Landes Hessen, 2. Aufl. Kassel 1980 (Nachdruck), S. 191–198, zum Merlauer Vertrag S. 242, 326f.
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Seiten anerkannt wurde,49 »konsolidierte« sich das Verhältnis beider Territorialstaaten.50 Im Gegensatz zum Adel südlich und westlich von Hessen, der im 16. Jahrhundert in der Reichritterschaft aufging,51 war die Landsässigkeit des Adels an der Werra unstrittig. Gegenüber dem protestantisch gewordenen eichsfeldischen Adel konnte das Erzstift die nachtridentinische Konfession aber nicht durchsetzen, wohl aber gegenüber der Mehrheit der Bevölkerung des Eichsfeldes.52 Sieht man die größeren Zusammenhänge der Entstehung des frühneuzeitlichen Staates,53 so zeigt das Verhalten der Adelsgeschlechter, dass die territoriale »Konsolidierung« zwar dem Adel im jeweiligen Territorium deutliche Grenzen aufzeigte, aber keineswegs die traditionelle Mobilität antastete, und selbst in der Konfessionsfrage sich dank der besonderen Lage im Eichsfeld nicht auswirkte. Dessen Adel befand sich gegenüber seinem Landesherrn, dem Kurfürsten von Mainz, in einer ungewöhnlichen Situation, denn das Kurfürstentum war zwar faktisch eine Adelsrepublik, aber das Kurfürstenamt, die Domherrenstellen sowie die Ämter im Unter- und Oberstift übernahmen allein die reichsritterschaftlich werdenden Geschlechter am Rhein und in Franken, im Eichsfeld allerdings konnte der Kurfürst die wenigen Ämter besetzen. Der eichsfeldische Adel musste sich somit von jeher Dienste in den größeren und kleineren Fürstentümern Braunschweig, Hessen und Sachsen/Thüringen u. a. suchen.54 Da diese Nachbarn alle protestantisch wurden, war eine katholische Option nicht mehr vorhanden.55 Als Nachwirkung der Rekatholisierung bot Mainz dem
49 Bezeichnenderweise gab es erst südlich des Hansteiner Gebietes mainzische Gerichtsorte an der Grenze zu Hessen; an der Unterwerra grenzten nur Hansteinsche Orte an Hessen. 50 Schubert: Umformung (Anm. 10), insbesondere S. 210f. 51 Der buchische Adel kam erst 1656 zur Reichsritterschaft Franken. – Hans Körner : Der Kanton Rhön-Werra der Fränkischen Reichsritterschaft, in: Joseph-Hans Sauer (Hg.): Land der offenen Fernen. Die Rhön im Wandel der Zeiten, Fulda 1976, S. 53–11; Berthold Jäger : Das geistliche Fürstentum Fulda in der Frühen Neuzeit: Landesherrschaft, Landstände und fürstliche Verwaltung. Ein Beitrag zur Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte kleiner Territorien des Alten Reiches (Schriften des Hessischen Landesamtes für geschichtliche Landeskunde 39), Marburg 1986, Erstes Kapitel I C. S. 23–114. 52 Die Gründe für den Übertritt des eichsfeldischen Adels zum Protestantismus sind m. W. bisher nicht erforscht worden, auch nicht die Zusammenhänge mit dem Verhalten der benachbarten Fürstenstaaten. Zu Hanstein vgl. Hans Körner : Die Familie von Hanstein auf dem Eichsfeld im Zeitalter der Reformation und Gegenreformation, in: Helmhart KanusCred¦ (Hg.): Der Hanstein und seine Geschichte, Allendorf 2008, S. 15–56. 53 Schubert: Einführung (Anm. 10), S. 196–204. 54 Jendorff: Reformatio (Anm. 48), S. 282f. sowie Anm. 401 und 402. Die Durchsicht des »Systematischen Ämter- und Dienerverzeichnisses« für das Kurfürstentum 1514–1647 (Jendorff: Verwandte (Anm. 23) belegt diese Aussagen. 55 Die katholische Option öffnete sich in Münster, weil dem protestantischen Adel nach einer
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Eichsfelder Adel auch keines der wenigen kurfürstlichen Ämter im Eichsfeld.56 Die anhaltende die Ämter monopolisierende Herrschaft katholischer Adliger über das Erzstift57 verhinderte wie im Fürstbistum Münster58 zudem ein Verhalten wie in den Stiften Köln, Paderborn, Corvey und Fulda, die durchaus »ausländischem« Adel eine Chance gaben, der dann, wenn auch nicht zwangsläufig, konvertierte. Ausnahmen machte Mainz bezeichnenderweise in den Enklaven Hessens und Thüringens.59
Kennzeichen der Adelsgeschlechter an der Werra60 Abschließend sei die Ausgangsfrage des Aufsatzes nach gemeinsamen Merkmalen der Werrageschlechter (Anhang 2) erörtert. Beim ersten Blick fallen, wie erwähnt, die Grenzlage und die Nachbarschaft zum lutherischen Braunschweig und Thüringen sowie dem gemischtkonfessionellen Eichsfeld (im Wesentlichen rekatholisierte Bevölkerung und protestantischer Adel) auf. Dem vergleichbar und doch verschieden war nur der Diemeladel in seiner gemeinsamen Grenze
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Konversion der Zugang zu Domherrenstellen sowie zu den Regierungsämtern wieder möglich war. Mainzische Offiziersstellen konnten auch im Dreißigjährigen Krieg protestantische Adlige aus dem Eichsfeld innehaben wie Gottlob Alexander v. Hanstein (1691–1749, Major) oder mehrere Westernhagen: Hans Albrecht (+1671, Oberst, Kommandant Eichsfeld), Arnold Ludwig (+1751/55, Rittmeister), Albrecht Moritz (1620–1687, Rittmeister), Georg Wilhelm (+1695, Rittmeister) (Hanstein: Geschichte 2 (Anm. 23)), S. 789. – Max v. Westernhagen: Geschichte der Familie von Westernhagen auf dem Eichsfeld, Erfurt 1913, Stammtafeln. Jendorff: Reformatio (Anm. 48), S. 281–283. Vgl. Bastian Gillner : Freie Herren – freie Religion. Der Adel des Oberstifts Münster zwischen konfessionellem Konflikt und staatlicher Verdichtung 1500 bis 1700 (Westfalen in der Vormoderne 8), Münster 2011. Die Harstall der Diedorfer Linie wurden katholisch: Wilhelm v. Harstall als Erfurter Vizedom konvertierte 1602 (er amtierte dort 1598–1602, dann im Eichsfeld (+1605?). Die Nachkommen Wilhelms, unter ihnen Franz Christian (+1712, letzter Harstall als Vizedom), wie die seines Bruders Melchior waren katholisch. Aus Melchiors Linie stammte der letzte Fürstbischof von Fulda Adalbert III. – Jendorff: Verwandte (Anm. 23), S. 155, 232, sowie Lämmerhirt: Harstall (Anm. 41), S. 35–44. In Fulda konvertierten etwa die Weitershausen aus der Schwalm, die das mainzische Amt Fritzlar erhielten. Ein Zweig der Nordeck zu Rabenau übernahm das Amt Neustadt. Vgl. dazu Wunder: Adel (Anm. 2), Vierter Teil Kap. III. Die Aussagen über die meisten Geschlechter wurden Buttlars Stammbuch entnommen (Anm. 3). Zu Diede und Hanstein liegen Einzeluntersuchungen vor. – Wolf Erich Kellner : Ein unbekanntes Kopiar der Diede zum Fürstenstein, in: Otto Perst (Hg.): Festschrift zum 60. Geburtstag von Karl August Eckhardt (Beiträge zur Geschichte der Werralandschaft und ihrer Nachbargebiete 12), Marburg 1961, S. 183–201, sowie Hanstein: Geschichte 2 (Anm. 23).
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mit dem katholischen Stift Paderborn und dessen konfessionell gemischtem Adel. Die spezifische Grenzlage des Werraadels hat sicherlich seine Mobilität (vgl. Anhang 3) befördert. Von fast jedem Geschlecht gab es ein oder mehrere Zweige im »Ausland«, manchmal überwogen die »ausländischen« Zweige, so dass sogar ihr Schwerpunkt eher dort als in Hessen zu suchen ist (Berlepsch). Wer im »ausländischen« Dienst erfolgreich war und Güter erwarb, verließ Hessen bzw. das Eichsfeld und etablierte sich im »Ausland«, wie besonders bei den Berlepsch und Bodenhausen zu beobachten ist. Der Erwerb neuer Sitze im Territorium des Landesherrn oder im »Ausland«, auch die Aufgabe eines Sitzes, sind schon im Spätmittelalter festzustellen, waren also selbstverständlicher Teil adligen Lebens. Die wechselnden Machtverhältnisse im Spätmittelalter wie die Stabilität der Frühen Neuzeit scheinen ohne Rückwirkungen auf die Sitze des Adels in der Werraregion wie auf ihre Mobilität gewesen zu sein. Im Einzelnen zeigt sich: – Nur die Bischofshausen haben außerhalb der Werraregion keinen neuen Sitz gewonnen.61 – Die Keudell und Eschwege expandierten nicht in Hessen. Erstere behielten ihren Sitz Keudelstein im Eichsfeld, erwarben Falken in der dreiherrigen Ganerbschaft Treffurt sowie im 18. Jahrhundert für kürzere Zeit in Thüringen das Gut Klein-Ballhausen.62 Die Eschwege waren schon im 15. Jahrhundert im hennebergischen Rossdorf und in Döllstadt ansässig, später auch in Kammerforst, alles Güter in Thüringen. – Die verbleibenden acht hessischen Geschlechter gewannen sowohl neue Güter in Hessen wie im meist der Landgrafschaft nahen »Ausland«. – Die Wehren auf dem fuldischen Weiberlehen Völkershausen sind das einzige Geschlecht, das seinen hessischen Sitz gänzlich aufgab und nach Franken ging.63
61 Da der kaiserliche Oberst Johann Esaias v. Bischofshausen dank militärischer Leistungen gegen die Türken 1687 das ungarische Indigenat erhielt, hätte dort ein Zweig entstehen können; er starb allerdings unverheiratet. Im 19. Jahrhundert wanderten zwei Zweige nach Chile und Texas aus. 62 Der Obervorsteher Bernd Wallrab v. Keudell erwarb 1722 Kleinballhausen (ö. Bad Tennstedt in Thüringen), sein Sohn Wilhelm Ludwig ließ sich dort nieder und war als schwarzburgsondershäusischer Oberforstmeister tätig, er verstarb kinderlos. 63 Die Wehren, Erben des großen eschwegischen Gutes Völkershausen, gingen nach PfalzNeuburg: der ältere Bruder Friedrich war im Hugenottenkrieg 1587 gestorben, der jüngere Bruder Wilhelm war 1585 pfalz-neuburgischer Amtmannt in Heideck (Mittelfranken) geworden, dessen Sohn Wolfgang wurde bambergischer Amtmann in Wachenrod (bei Höchstadt) und gewann einen Sitz in Untermelsendorf (bei Schlüsselfeld). Das Geschlecht starb im Mannesstamm schon 1626 aus. – Dieter Wunder : Ermgardt v. Wehren (unveröff. Ms).
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Dieter Wunder
– Die Hanstein blieben zwar mit acht Zweigen im Eichsfeld, aber zwei Zweige sind in Hessen ansässig geworden, vier in sächsischen Herzogtümern.64 Es gab keine Wanderungsbewegung des hessischen Werraadels ins Eichsfeld, wohl bedingt durch die katholische Landeshoheit; Wanderungen nach Norden waren selten (Ausnahme Boyneburg gen. Honstein nach Majgadessen im Stift Corvey). Innerhalb Hessens ging man territorial bedingt nach Süden (besonders auffällig die Dörnberg). Drei Geschlechter – Buttlar, Boyneburg und Wehren – finden sich in entfernterem »Ausland«, im südlichen Ostseeraum, in Oberschwaben und in Franken. Der ›normale‹ Zielort für Wanderungen aber war Thüringen und Sachsen. Konnubium und Dienste waren mit der Mobilität aufs engste verknüpft: ohne dies statistisch belegen zu wollen, wird man die Dienste meist als Grund für den Erwerb eines neuen Sitzes nennen können, dem das Konnubium im neuen Umfeld folgte. Als zweites Kennzeichen des Werraadels sei die große Zahl und Dichte der adligen Gerichtsbezirke genannt (Anhang 4 und 5 sowie Karte der Adelsdörfer),65 so dass der Einfluss der Fürsten in diesem Teil der Landgrafschaft gering war. Im gesamten Hessen unterstanden Ende des 18. Jahrhunderts etwa 25 % aller Dörfer einem Adelsgericht, in der Werraregion jedoch 54 % aller Dörfer, 64 Hanstein: Geschichte 2 (Anm. 23). 65 Die Tatsache, dass ein Adliger die zivile Gerichtsbarkeit besaß, ist nur ein Indiz für seinen möglichen Einfluss. Erst eine detaillierte Bestandsaufnahme von Adelsrechten in allen Dörfern kann das Ausmaß des adligen Einflusses zeigen. Z. B. hatten die Dörnberg in Frankershausen 1781 die Ziviljurisdiktion über etwa zwei Drittel der Familien, sie stellten einen Schultheißen (der Landgraf von Hessen-Rheinfels unerklärlicherweise drei), den Conductor für ihr Gut und einen Amtsdiener. Das Gut umfasste 1667 Acker (also etwa 165 ha) und damit fast 60 % der Feldmark (neben ihnen hatten die Meysenbug ein kleineres Gut von 139 Acker). Zwei der drei Wirtschaften gehörten den Dörnberg, eine Mühle von vier den Meysenbug. Der entfernt liegende Wald der Dörnberg lieferte Bauholz, das Brennholz kam von zwei anderen adligen Dörfern, während die Schafgerechtigkeit beim Dorf lag. Die Ländereien des Dorfes waren teils den Dörnberg, teils den Meysenbug, den Eschwege und den Landgrafen zinsbar, einige auch dienstbar, die Häuser ihnen und den Landgrafen zinsund dienstbar ; Zehnte gab es nicht. Von den Zinsen empfingen die Landgrafen den größeren Teil (14 12 Rtl.), die Dörnberg den kleineren Teil (8 Rtl.), bei Korn und Hafer wurde den Dörnberg mehr geliefert (18 bzw. 17 Malter), den Landgrafen weniger (13 bzw. 15 Malter). Die am Herzberg lebenden Dörnberg hatten also ziemlichen Einfluss im Dorf, wenn auch die Landgrafen und die Meysenbug nicht bedeutungslos waren. – HStAM, Kataster I Frankershausen B 3 1781. Buttlar : Stammbuch (Anm. 3) nennt den Ort fälschlicherweise Frankenhausen. Ellershausen, weiter nördlich an der Werra gelegen, mit 27 Häusern, unterstand hingegen gänzlich der dörnbergischen Gerichtsbarkeit, also auch der Kriminalgerichtsbarkeit, es gab allerdings kein dörnbergisches Gut. Brennholz kam aus dem dörnbergischen Wald, das Bier aus der dörnbergischen Brauerei, für die Schafgerechtigkeit war eine Abgabe an die Dörnberg zu leisten, diese erhielten die meisten Zinsen und alle Dienste; Zehnte gab es nicht. Die Dörnberg teilten sich die Jagd mit der Stadt Allendorf. – HStAM, Kataster I Ellershausen Amt Allendorf B 2 1744.
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insbesondere im Amt Ludwigstein/Witzenhausen.66 Zu Zeiten Landgraf Wilhelms IV. zeigte sich der adlige Einfluss besonders stark in der Kriminalgerichtsbarkeit, die der Adel über etwa 42 Dörfer und 12 Höfe hatte (Ende des 18. Jahrhunderts nur noch etwa 5 Dörfer), während der Landgraf sie damals nur in 14 Adelsdörfern und 2 Höfen besaß.67 Im Eichsfeld waren 43 % aller Dörfer adlig, im westlichen Eichsfeld unterstanden sogar alle einem Adelsgeschlecht, den Hanstein, welche bis 1806 auch die Kriminalgerichtsbarkeit besaßen.68 Eine vergleichbare Dichte von Adelsgerichten findet sich nur in wenigen Teilen Hessens, z. B. im Löwensteiner Grund (16 der 26 Dörfer unterstanden adligen Gerichtsherren)69 oder bei den Riedesel zu Eisenbach im Vogelsberg, deren Besitz jedoch teilweise zur Reichsritterschaft gehörte.70 Nahe Ludwigstein waren wenige Orte landgräflich (im Norden Wendershausen und Witzenhausen, im Süden Oberrieden), kein Ort mainzisch.71 Im weiteren Umfeld beherrschte der Adel die Dörfer, oft hatte er auch in den landesherrlichen Dörfern, auch in den Städten, größeren Besitz, Anspruch auf Abgaben, Wasser- oder Wirtshausrechte,72 was ihm lokale Einflussmöglichkeiten sicherte. Die Stärke des Adels in der Werragegend hängt wohl eng mit der Grenzlage zusammen. Auf der mainzischen Seite der Werra, im Eichsfeld, weitab von den Kerngebieten des Erzstiftes, konnte der Adel seine Herrschaftsmöglichkeiten nutzen.73 Auch für die Ludowinger, die thüringischen Landgrafen, lag Hessen im 66 Wunder : Adel (Anm. 2), Anhang 4 b. 67 Eigene Zählung nach Zimmermann: Ökonomie (Anm. 15), S. 74, 78f., 85f. 68 Die Hanstein hatten meist Samtlehen, daher konnte keine Vererbung an andere Geschlechter greifen. – Hanstein: Geschichte 1 (Anm. 23), Dritter Abschnitt. Kein anderes Geschlecht konnte sich in der Zahl der Gerichtsorte mit Hanstein messen; den Westernhagen, dem nächst großen Geschlecht, unterstanden 6 1/2 Dörfer. Zur Gerichtsherrschaft der Hanstein siehe ebd., S. 259–298.– Zum Eichsfeld insgesamt siehe Werner Riese: Das Eichsfeld. Entwicklungsprobleme einer Landschaft. Beiträge zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte eines geistlichen Territoriums (von den Anfängen bis 1802), Heidelberg 1980, S. 36–38. Bei der Zählung der Dörfer wurden neben den Städten Heiligenstadt, Worbis und Duderstadt mit Dörfern das mehrherrige Amt Treffurt sowie die 14 Klostergerichte ausgelassen. Bezieht man die Klosterdörfer mit ein, so sind es 38 adlige Dörfer. 69 Staats- und Adresskalender Kurfürstentum Kassel 1806, S. 131–139. 70 Die Riedesel besaßen Ende des 18. Jahrhunderts 29 Dörfer und 16 Höfe in Hessen, 27 Ortschaften und eine Stadt in der Reichsritterschaft. – Staats- und Adresskalender HessenKassel 1806; Staats- und Adresskalender Hessen-Darmstadt 1796; Ludwig Ewald: Historische Uebersicht der Territorial-Veränderungen der Landgrafschaft Hessen-Darmstadt und des Grossherzogthums Hessen, 2. Aufl. Darmstadt 1866, S. 18. 71 Dörfer mit mainzischer Gerichtsherrschaft lagen östlich des Hansteiner Gebietes, etwa Schloss Rusteberg und Umgebung, vgl. Riese: Eichsfeld (Anm. 68), S. 36–38. Erst die weiter südlich gelegenen Mainzer Orte Rüstungen, Sickerode, Pfaffenschwenda und Kella lagen an der Grenze zu Hessen. 72 In Oberrieden z. B. hatten die Dörnberg Einfluss bei der Einsetzung des Pfarrers, sie hatten Besitz und Zinsen. – HStAM, Kataster I Oberrieden B 1 1746. 73 Jendorff: Reformatio (Anm. 48), S. 92ff., schreibt von der »Peripherie«. Der Rheingauer
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hohen Mittelalter (12. Jahrhundert und bis 1247) am Rande ihres Kerngebietes, so dass sie es weniger intensiv als Thüringen beherrschten.74 Der Zugriff der hessischen Landgrafen war in dieser Grenzregion – von 1385 bis 1433 gehörte die Oberwerra mit Eschwege sogar zu Thüringen – schwieriger als in der direkten Umgebung Kassels durchzusetzen, so dass der Adel seine Stärke wahren konnte.75 Braunschweig, Sachsen und Fulda waren zudem die Lehnsherren für viele Lehen an der Oberwerra wie Aue (sächsisch), Jestädt und Reichensachsen (braunschweigisch) und Völkershausen (fuldisch).76 Als drittes Kennzeichen sei die hohe Besitzkontinuität der Adelsgeschlechter der Werraregion genannt, die sich aber nicht grundsätzlich von anderen Adelsregionen Hessens unterscheidet. Die große Mehrheit (neun Geschlechter) saß schon seit dem 13. Jahrhundert in der Region, sei es im Bereich Göttingen/ Witzenhausen/Heiligenstadt (Berge, Berlepsch, Bisch(ofs)hausen, Bodenhausen, Hanstein), wo Braunschweig, Hessen und Mainz aufeinandertrafen, oder im Umkreis der Boyneburg und von Eschwege (Boyneburg gen. Honstein, Keudell, Eschwege, Boyneburg, Diede77). Neu in die Werraregion kamen etwa um 1300 die Dörnberg78 aus dem westlichen Niederhessen. Zuletzt erschienen um 1450 die Buttlar : Georg v. Buttlar aus dem Fuldischen79 erwarb 1451 Ziegenberg als Pfand
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Adel in einem Kernland des Kurfürstentums war trotz Zugehörigkeit zur Reichsritterschaft in seinen Gerichtsrechten auf seinen Hof beschränkt. – Barthold C. Witte: Herrschaft und Land im Rheingau, Meisenheim 1959, S. 126, 214f. Hans Patze: Die Entstehung der Landesherrschaft in Thüringen, I. Teil (Mitteldeutsche Forschungen 22), Köln 1962, S. 365: »Es ergibt sich in Thüringen eine unvergleichlich größere Dichte der Ministerialensitze als in Hessen. Die Ludowinger haben das Erbe der Gisonen [Herrscher im westlichen Hessen, 11. Jahrhundert bis 1122/37, nach Demandt: Geschichte (Anm. 48), S. 169f., DW] nicht annähernd so durchdringen können wie ihr thüringisches Stammland«. – Dieser Hinweis findet sich bei Reinle: Etablierung (Anm. 44), S. 105 und Anm. 11. Für die Region nordwestlich von Kassel zeigt dies Jochen Ebert: Domänengüter im Fürstenstaat. Die Landgüter der Landgrafen und Kurfürsten von Hessen (16.–19. Jahrhundert). Bestand–Typen–Funktionen, Darmstadt 2013 (Quellen und Forschungen zur hessischen Geschichte 166), Abschnitt 2.4. Wunder : Adel (Anm. 2), Zweiter Teil Kap. I 3. Kellner: Kopiar (Anm. 60), S.183–186; Karl August Eckhardt: Eschwege als Brennpunkt thüringisch-hessischer Geschichte (Beiträge zur hessischen Geschichte 1), Marburg 1964, S. 159–164. Die Dörnberg aus dem westlichen Niederhessen hatten seit etwa 1300 ihren Schwerpunkt in der Werraregion (nach: Buttlar : Stammbuch (Anm. 3), angeblich sogar schon Anfang des 13. Jahrhunderts, wofür es keinen Beleg gibt): diese Güter behielten sie zwar bis ins 19. Jahrhundert, seit dem Erwerb von Herzberg 1463/77 durch Hans v. Dörnberg lag ihr Sitz im Süden des Knüllgebirges (Aus Buttlar ist kein Hinweis auf spätere Sesshaftigkeit in der Werraregion zu entnehmen). Sein Vater wie sein Großvater waren Burgmannen zu Rotenburg, der Vater auch Amtmann in Sontra. Georg Buttlar war vermutlich in die untere Werraregion gekommen, da seine Mutter Bischofferode von ihrer Mutter Ruland einen Pfannenanteil in Allendorf geerbt hatte. Georg heiratete in erster Ehe 1448 eine Bischofshausen, seine Schwester Hermann Diede, einen
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vom Landgrafen, 1486 konnte er es kaufen. Er begründete das hessische Geschlecht der Buttlar an der unteren Werra.80 Alle genannten Geschlechter außer den um etwa 1630 ausgestorbenen Berge81 und den in den 1590er-Jahren nach Franken gezogenen Wehren zu Völkershausen hatten noch im 18. Jahrhundert die Sitze in der Werraregion inne, die sie spätestens im 16. Jahrhundert erworben hatten; im 18. Jahrhundert saßen dort meist zwei bis drei Familien eines Geschlechts, außer bei den Dörnberg, die zwar ihren Besitz behielten, aber ihre Sitze in den Süden der Schwalm verlagert hatten. Im Ganzen hatten sich die Verhältnisse aus der Zeit Wilhelms IV., dessen »Ökonomischer Staat« (1585) die erste umfassende Bestandsaufnahme HessenKassels darstellt (Anhang 5),82 kaum geändert. Die auffallend hohe Kontinuität im Besitz von Rittergütern ist vermutlich auch der Existenz mehrerer Zweige eines Geschlechtes zu danken, so dass eine Gutsaufgabe wegen Dienst und Gutserwerb in anderen Regionen Hessens oder im »Ausland« nicht nötig wurde.83 Das Gut Völkershausen fällt aus dem Muster der Besitzkontinuität heraus. Die Appe und Natz verkauften das Gut, ein fuldisches Weiberlehen, an Johann v. Eschwege (+ 1438).84 Erben seiner Nachkommen waren 1568 zwei Brüder Wehren aus der Schwalm (Sitz wohl Lembach bei Homberg/Efze85), damals die einzigen Mitglieder dieses Geschlechts. Vom 15. Jahrhundert bis 1804 befand sich Völkershausen nacheinander in der Hand von neun meist nicht verwandten
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Sohn des zweiten Amtmanns zu Ludwigstein. In der älteren Familiengeschichte wurden, unbewiesen, frühe Verbindungen zum Werragebiet angegeben. – Gothaisches Genealogisches Taschenbuch der freiherrlichen Häuser auf das Jahr 1861, Gotha 1861, S. 86: ein Johann habe sich im 13. Jahrhundert unweit Hannöversch-Münden niedergelassen, wovon Buttlar : Stammbuch (Anm. 3) nichts weiß. Noch im Gothaischen Genealogischen Taschenbuch der Adeligen Häuser 1900, Gotha 1900, wird in Nachfolge des buttlarschen Stammbuches Burchard, der Sohn des ersten Buttlar Hartnidus, als Erbauer der Burg Nordmannstein (Treffurt) 1203 angeführt, eine »Tatsache«, die nach Jendorff der Geschichtsforschung unbekannt ist. Zu Ziegenberg gehörten oder kamen mehrere Dörfer/Burgen aus der Umgegend hinzu; möglicherweise hatte Georg v. Buttlar auch vor, Ludwigstein zu erwerben, war er doch wohl 22 Jahre ihr Pfandherr. Ziegenberg selbst wurde als Sitz schon im 16. Jahrhundert zugunsten des Dorfes Ziegenhagen am Fuße des Bergs Ziegenberg aufgegeben. Georgs Enkel Erasmus (+1541), soll der letzte Bewohner gewesen sein. – Knappe: Burgen (Anm. 8), S. 57. Die Berge starben um 1630 aus. – Wunder : Adel (Anm. 2), Anhang 17. Das Gericht Altenstein der Bischofshausen (östlich Bad Sooden-Allendorf, seit 1945 Thüringen) war 1753 in die Hand des Landgrafen übergegangen (Wunder : Adel (Anm. 2), Zweiter Teil, Kap. II. Zur Erhärtung dieser These bedarf es vergleichender Untersuchungen. Dieter Wunder : Die Geschichte des Marienhofs (unveröff. Ms.). HStAM, Best. S. 388, Bl. 199. Bernhard Helbig: Das Amt Homberg an der Efze, Ursprung und Entwicklung, Marburg 1938, S. 75, gibt ohne Beleg an, der Hof gehöre der Familie seit dem 15. Jahrhundert. Nach den Buttlarschen Kollektaneen (Murhardsche Universitäts- und Landesbibliothek Kassel (MULB), 28 Ms. Hass. 450 Buttlarsche Kollektaneen, zu Wehren) geht aus einer Urkunde von 1445 hervor, dass Henne v. Wehren einen Hof zu Lembach besaß.
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Geschlechtern; 1804 hatte es sogar ein Kaufmann, Carl Gottfried Huschke aus Hannoversch Münden, übernommen.86
Fazit Die Ausgangsfrage nach den Gemeinsamkeiten des Werraadels an der nordöstlichen Grenze Hessens kann mit Hinweis auf die regionale und lokale Stärke dieses Adels87 sowie auf eine starke Orientierung nach Osten, Thüringen und Sachsen beantwortet werden.88 Diese strukturelle Gemeinsamkeit führte, anders als bei anderen Strömen, einmal zu einem gemeinsamen politischen Handeln, als der Werraadel 1607 die Einführung der reformierten Religion – die »Verbesserungspunkte« Landgraf Moritz’ – ablehnte und sich geschlossen zum Luthertum bekannte.89 Dieses Verhalten scheint für ein spezifisches Selbstver86 Seit den Wehren bis 1798 wechselte der Besitz von Völkershausen viermal. Die Wehren verkauften es 1590/1612 an die Eschwege zu Aue, diese wiederum verkauften es 1650 an den Generalleutnant Geyso (1658 geadelt). Dessen Enkel verkaufte es 1722 an Wolf Dietrich Frhr. v. Verschuer, den Oberhofmeister der hessischen Prinzessin Marie Luise in Leeuwarden, dessen Sohn es an die Hattorf veräußerte. – Dieter Wunder : Die Adelsherrschaft Völkershausen im Amt Eschwege. Gut und Gemeinde 1650–1810, in: Jochen Ebert, Ingrid Rogmann, Peter Wiedersich, Heide Wunder (Hg.): Schwebda – ein Adelsdorf im 17. und 18. Jahrhundert. Mit einem Beitrag zu Herrschaft und Dorf Völkershausen (Hessische Forschungen zur geschichtlichen Landes- und Volkskunde 46), Kassel 2006, S. 287–364. 87 Regional ist besonders die große Herrschaft der Boyneburg auffällig (»Gericht Boyneburg« der Boyneburg-Bischhausen, Boyneburg gen. Honstein, Boyneburg-Stedfeld: 10 Dörfer, 8 »Mengedörfer« zusammen mit den Landgrafen), die Thomas Diehl: Adelsherrschaft im Werraraum. Das Gericht Boyneburg im Prozess der Grundlegung frühmoderner Staatlichkeit (Ende des 16. bis Anfang des 18. Jahrhunderts) (Quellen und Forschungen zur Geschichte Hessens 59), Darmstadt 2010, erforscht hat. 88 Keine spezifische Gemeinsamkeit ist allerdings die Bindung der »ausländischen« Zweige eines Geschlechts an die Werragüter über eine Gesamtbelehnung. Sie darf auch nicht als ein adelspezifisches Verwachsensein mit diesen Gütern interpretiert werden, sondern ist aus den Vorteilen zu verstehen, die eine mögliche Erbschaft mit sich brachte, wie das Beispiel der Reichsritter Bemmelburg (Boyneburg) in Oberschwaben zeigt, die 1768 das Erbe Boyneburg-Bischhausen antraten und, obwohl in Oberschwaben verbleibend, zur hessischen Ritterschaft gerechnet wurden. – Menning setzt sich als Neuzeithistoriker kritisch mit diesem agrarromantischen Argument des 19. Jahrhunderts auseinander. – Daniel Menning: Standesgemäße Ordnung in der Moderne. Adlige Familienstrategien und Gesellschaftsentwürfe in Deutschland 1840–1945 (Ordnungssysteme. Studien zur Ideengeschichte der Neuzeit 42), München 2014, S. 270f. 89 Stellungnahme: MULB 48 Ms. Hass. 52 Hermann Fabronius Religions Handelung in Hessen 1623, Bl. 464–467. Zu den Unterzeichnern des Werraadel kamen damals die Treusch von Buttlar (Haus Brandenfels) hinzu, die ihre Sitze südlich der Boyneburg hatten und meist zum Fuldaadel gerechnet werden. Die Dörnberg fehlten, weil sie in der Schwalm saßen. Noch um 1730 zählte man am Werrastrom etwa 24 lutherische Adelsfamilien, aber nur 5 reformierte, keine katholische. Den reformierten Familien standen innerhalb der Geschlechter jeweils mehrheitlich lutherische gegenüber, nur bei den Keudell gab es zwei reformierte und eine
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ständnis zu sprechen, das von anderen »Strömen« bisher nicht bekannt ist und das zu einem dem Adel bis dahin ungewohnten regionalen Forum der Meinungsund Willensbildung führte. Bald aber wurden die Stromversammlungen des Adels, zum ersten Mal 1620 bezeugt, üblich, insbesondere um auf ihnen den Landtag vorzubereiten, später auch die Deputierten zum Landtag zu wählen und Positionen zu entwickeln, meist aufgrund von Anfragen des Erbmarschalls und/ oder der Obervorsteher des ritterschaftlichen Stiftes Kaufungen.90 Eine Sonderrolle des Werraadels ist nicht erkennbar.91 Der Ausdruck Werraadel ruft leicht das Missverständnis hervor, als ob die Geschlechter des Werraadels, deren einzelne Familien Sitze im Werragebiet, im sonstigen Hessen und im »Ausland« hatten, handelnde Einheiten gewesen seien; tatsächlich waren allein die jeweiligen Familien in der Werraregion mit ihren spezifischen Interessen Akteure.92 Eine besondere Beziehung zur Werragegend, zu den hessischen Landgrafen oder zum mainzischen Kurfürsten ist in der Frühen Neuzeit nicht festzustellen. Vielmehr definierten sich diese Adligen, wie andere hessische oder eichsfeldische Adlige, aber auch wie die Reichsritter, als freie Adlige, die allein Gott und sich selbst verantwortlich waren, keine Landesgrenzen kannten,93 Wohnsitz und Dienst frei wählen konnten und keine Verpflichtung gegenüber einem Fürsten und seinem Staat kannten. Dies belegen Dokumente aus dem Verfassungsstreit in Kurhessen 1815.94 Diesem Selbstver-
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lutherische Familie. – Johann Georg Estor : Nahmen und Wohnsitze der in den beyden Fürstenthümer Hessen befindl. adlichen Geschlechte in: Auserlesene Kleine Schrifften, 3. Band, Gießen 1736, in: Johann Georg Estor : Auserlesene Kleine Schrifften, Gießen 1739, IX, S. 162–170. Vgl. Anm. 2. Eine systematische Untersuchung der Stromversammlungen, deren Beratungsergebnisse und Briefe im 17. Jahrhundert nur selten, im 18. Jahrhundert öfters in Adelsarchiven aufzufinden sind, könnte ergeben, ob sich spezifische Interessen einzelner Ströme herausarbeiten lassen. Jedenfalls fällt etwa bei der Lektüre von Tim Neu: Die Erschaffung der landständischen Verfassung. Kreativität, Heuchelei und Repräsentation in Hessen (1509–1655) (Symbolische Kommunikation in der Vormoderne 3), Köln 2013, auf, wie oft die Ströme als Verfasser von Resolutionen und Adressaten von Schreiben im Streit des Adels mit der Regentin genannt werden. Ob dies dem Zufall der Überlieferung geschuldet ist, bleibe dahin gestellt. Der Werraadel wurde im 18. Jahrhundert dem Erbmarschall unangenehm, als er 1740 seinen Kandidaten für die Position des Obereinnehmers, Georg Wilhelm Spiegel zum Desenberg, nicht unterstützte, weil Zweifel an seiner Zugehörigkeit zur althessischen Ritterschaft bestanden. – Wunder : Adel (Anm. 2), Vierter Teil, Kap. I 3. Zum Unterschied Familie/Geschlecht s. Wunder : Adel (Anm. 2), Einleitung 2 sowie erster Teil Kap. I 2. Geschlechter sind nur dann wichtig, wenn es um Fragen der Lehnsgemeinschaften ging. Duhamelle: Grenze (Anm. 47), S. 39, scheint die geringe Bedeutung der Grenze für den Eichsfelder Adel auf dessen spezifische Situation zu beziehen, obwohl dies für den Adel im gesamten Reich zutraf. Hellmut Seier (Hg.): Akten zur Entstehung und Bedeutung des kurhessischen Verfassungsentwurfs von 1815/16, bearbeitet von Winfried Speitkamp, Hellmut Seier (Vorge-
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ständnis entsprach allerdings nicht die soziale Realität des 19. Jahrhunderts. Wer von seinem Gut leben wollte, musste sich intensiver als früher auf dessen lohnende Bewirtschaftung spezialisieren. Wer wie die meisten in Staatsdiensten war, musste sich unabhängig von seinem Standesverständnis als Individuum dem Willen des jeweiligen Fürsten und des Staates, also seinen Beamten, beugen.95 Den Adligen, der sich frei von Staat und Broterwerb verstand, gab es nicht mehr.
Anhang 1 Das Geschlecht Berlepsch in der 2. Hälfte des 15. Jahrhunderts und im 16. Jahrhundert96 Auszug mit Ämtern in Hessen und im »Ausland«, mit Sitzen im »Ausland« EK = Erbkämmerer; N = Gründer von Zweigen; fett gedruckt = im Text erwähnt
schichte und Geschichte des Parlamentarismus in Hessen 2), Marburg 1985, S. 8–42, bes. S. 25–27; dazu Wunder: Adel (Anm. 2), Erster Teil Kap. I 1. 95 Als Karl Frhr. v. Hanstein mit dem Kurfürsten nicht mehr einverstanden war, blieb ihm nichts übrig, als sein Amt als Minister aufzugeben. Vgl. Helmut Seier : Kurfürstentum Hessen 1803–1866, in: Walter Heinemeyer (Hg.): Handbuch der hessischen Geschichte, Bd. 4.: Hessen im deutschen Bund und im neuen Deutschen Reich (1806) 1815 bis 1945, 2. Teilbd.: Die hessischen Staaten bis 1945, S. 1–183, hier S. 85–89. Hanstein wurde dann der Verfasser der Hansteinschen Familiengeschichte (Anm. 23). 96 Grundlage ist Buttlar: Stammbuch (Anm. 3); Korrekturen nach Demandt: Personenstaat (Anm. 3).
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Der Adel an der Werra 1500–1800 Sittich von Berlepsch tot 1481, 3. EK 1423/78 hessischer Rat
Günther +1462 hessischer Rat
Philipp +nach 1494, 4. EK hessischer Rat
Caspar tot 1519 hess. Amtm. Ludwigstein
Hans +1516/21 hess. Haushofmeister
Caspar Sittich +1539 hess. Amtm.
Caspar Adolf a. Quetz +1589 brandenb. Hofm.
Sittich +1513,* 5. EK hessischer Rat, Amtmann Ludwigstein
Sittich, +1564, 7. EK sächs. Amtm. Thomasbrück N
Sittich + 1573, 9. EK pfälz. Amtm., württemb. Hofmarschall, Kinder nach Sachsen N
Jost +1548 hess. Amtm. Ludwigstein
Apel +1570 hess. Oberamtm. Katzenelnbogen N
Hans zu Seebach +1535 sächs. Amtm.
Caspar zu Seebach +1573 mainz. Oberamtm. Eichsfeld N
Hans, zu Großbodungen +1593 hess. Rat N
Eitel+1602, 12. EK hess. Geheimer Rat, Amtmann N
* Dieses Datum bei Buttlar : Stammbuch (Anm. 3) erscheint glaubwürdig, denn 1515 wird er als selig bezeichnet. – HStAM, Best. 17 e Ludwigstein Nr. 3: Urkunde zur Verleihung des Amtes an Christian v. Hanstein. Gundlach: Dienerbuch (Anm. 3), S. 18, nimmt fälschlicherweise an, dass dieser Sittich 1534/42 Rat und Diener von Haus aus war ; dies muss sein Neffe, der (spätere?) sächsische Amtmann zu Thomasbrück sein. Der letzte Beleg zu dem älteren Sittich stammt vom 09. 12. 1510. – Demandt: Personenstaat (Anm. 3), S. 46.
2 Die Adelsgeschlechter in der Werraregion 158597 + im Mannesstamm ausgestorben Territorium mainz. Eichsfeld (Westen) hess. Werrastrom (Unterwerra98)
Geschlecht Hanstein
spätere Entwicklung
Berge
+ um 1630
Buttlar 97 Nach Zimmermann: Staat 2 (Anm. 15), S. 78f., 85f. 98 Der ritterschaftliche Strom Werra wurde im 18. Jahrhundert zeitweise nach Unter- und Oberwerra aufgeteilt. – Wunder : Adel (Anm. 2), Vierter Teil Kap. I 4.
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Dieter Wunder
(Fortsetzung) Territorium
Geschlecht Berlepsch Bisch(ofs)hausen Bodenhausen Dörnberg
hess. Werrastrom (Oberwerra)99
spätere Entwicklung
seit Ende 15. Jh. Sitz Herzberg, aber Beibehaltung des Werrabesitzes
Diede Boyneburg gen. Honstein
+1792
Keudell Eschwege Wehren (Erben der Eschwege zu Völkershausen) Boyneburg-Bischhausen und -Stedtfeld100
1592/1612 Verkauf des Gutes an Eschwege; + 1626
3 Wichtigere Sitze der Werrageschlechter seit dem 15. Jahrhundert Name des Geschlechts
Sitze Werraregion
weitere Sitze in Hessen
wichtigere Sitze im »Ausland«
Elberberg, Kirchberg (Schwalm), Friemen (Fulda)
Livland, Preußen, Wildprechtroda (Henneberg), Kurland/Polen
Unterwerra Buttlar101
Ziegenberg (Kauf 1486)
99 Nach K. A. Eckhardt: Eschwege (Anm. 77) sind die Boyneburg Reichsministerialen der Burg Boyneburg gewesen, die Boyneburg gen. Honstein und Diede hersfeldische Ministerialen der Burg Boyneburg. Die Eschwege waren Burgmänner in Eschwege, die Keudell Burgmänner in Eschwege und Fürstenstein; nach Buttlar : Stammbuch (Anm. 3). 100 Die Boyneburg-Stedtfeld hatten Anteil an Wichmannshausen sowie an Wüstungen. Sie werden hier mit den Boyneburg-Stedtfeld zusammen betrachtet wegen des je anteiligen Besitzes Wichmannshausen. 101 Der fuldische Zweig der Buttlar starb 1561 aus, zwei Zweige waren im 13. und 14. Jahrhundert nach Livland und Preußen gegangen, ein Vetter Georgs gründete im Hennebergischen einen neuen Zweig Wildprechtroda. Georg von Buttlar löste 1464 von Hans v. Dörnberg das Schloss Ludwigstein mit 1800 fl. für 20 Jahre, wurde 1467 dort auch Amtmann, 1451 hatte er Ziegenberg als Pfand erworben, 1456 wurde er dort Amtmann, kaufte dieses dann 1486. Er war Diener der Landgrafen seit 1445, Sohn eines Burgmannes zu Rotenburg und Amtmannes von Sontra.
127
Der Adel an der Werra 1500–1800
(Fortsetzung) Name des Geschlechts
Sitze Werraregion
Berlepsch
Berlepsch
Bodenhausen
Arnstein, NiederGandern103
weitere Sitze in Hessen Dittershausen/Wickershof (Schwalm)
wichtigere Sitze im »Ausland« Eichenzell (Fulda),102 Uhrleben, Thomasbrück, Welsbach, Seebach (KursachsenThüringen), Großbodungen (Schwarzburg)
Amönau (Lahn)
Bischofshausen Altenstein
–
Mühltreff (VogtlandKursachsen), Burgkemnitz (Kursachsen) (Ungarn)
Dörnberg
Herzberg, Hausen (südl. Schwalm)
Fauerbach, Echzell (Wetterau)
Frielingen (Fulda), Oberurff (Schwalm)
Einberg (Sachsen-Coburg), Henfstädt (Henneberg), Ober-Ellen, Rotenbach (SachsenEisenach)
Frankenhausen Eichsfeld
104
Hanstein
westl. Eichsfeld
Oberwerra Diede105
Fürstenstein
Wellingerode, Frielin- Madelungen (Sachsengen (Fulda), ImmiEisenach) chenhain (Schwalm), Ziegenberg (Wetterau)
102 Ein Zweig ließ sich in Eichenzell bei Fulda nieder und stieg Ende des 17. Jahrhunderts zu reichsgräflichen Würden (Herrschaft Mylendonk) auf. 103 Zwei Sammellehenurkunden als Beispiele: Arnstein mit zugehörigen Rechten sowie Hermannrode mit zugehörigen Rechten, z. B. HStAM, Urk. 14 Nr. 2510 1593 Mai 2 sowie HStAM, Urk. 14 Nr. 2541 bzw. HStAM, Urk. 14 Nr. 2517 1690 März 4 sowie HStAM, Urk. 14 Nr. 2548 1690 März 4. 104 Im ersten hessischen Fall hatte der Fritzlarer Kanoniker Burkhard v. Hanstein (+1585), zuerst 1534 als Kanoniker erwähnt, 1584 sein Testament gemacht und seine »eheleiblichen« Söhne Klaus und Kurt als Erben eingesetzt. Klaus heiratete Christine Spede/Speth zu Frielingen, beide Brüder kauften die Lehngüter der Spede und wurden 1587 damit belehnt; dieser Zweig starb Ende des 17. Jahrhunderts aus. Der andere Zweig stammte von Adolf Ernst ab, der (hessischer?) Leutnant war und durch seine Frau Anne Christine v. Löwenstein (Heirat 1635) ein Gut zu Oberurff erwarb. Dieser Zweig starb dort im Mannesstamm 1815 aus, Nachweise: Hanstein: Geschichte 2 (Anm. 23), S. 317–328, 632, 637–640. 105 Dass sich an den verschiedenen Sitzen keine selbstständigen Zweige mit Ausnahme des um 1576 ausgestorbenen Wellingeroder Zweigs bildeten, ist wohl nur demographischen Zufällen zuzuschreiben. Die bis 1807 existierende Linie der Diede hatte seit dem 15. Jahrhundert nur zweimal mehr als einen Sohn mit Kindern. Georgs (+1610) Sohn Georg
128 (Fortsetzung) Name des Geschlechts
Dieter Wunder
Sitze Werraregion
Keudell106
Schwebda
weitere Sitze in Hessen –
Boyneburg gen. Honstein +1792 Eschwege
Jestädt, Reichensachsen
Netra (Fulda), Elberberg (Diemel)
Majgadessen (Abtei Corvey), Niederlande
Aue, Reichensachsen, Völkershausen
–
Rossdorf (Henneberg), Döllstadt (SachsenGotha), Kammerforst (Kursachsen-Thüringen)
Völkershausen 1568–1592/1612
Lembach bis 1580er Jahre (Schwalm)
Untermelsendorf (Mittelfranken, Reichsritter) Erolzheim (Oberschwaben, Reichsritter),108 Stedtfeld (SachsenEisenach)
Wehren 1568–1592/ 1612107 Boyneburg/ Bemmelberg u. BoyneburgStedtfeld
Wichmannshausen, Bischhausen (Fulda) Röhrda Anteil, Harmershausen (Harmuthshausen)
wichtigere Sitze im »Ausland« Keudelstein (Eichsfeld), Falken (Ganerbschaft Treffurt Thüringen/ Hessen), KleinBallhausen (Schwarzburg)
Christoph (+1653) hatte nur einen Sohn, der als Student starb. Georgs Bruder Hans hatte drei Söhne: Jost Diede (+1640) war in eisenachischen Diensten (Hofrat) und heiratete die Tochter des letzten v. Madelungen, des Hofmarschalls und Kammerrats Kraft Melchior ; sein Sohn Philipp Melchior fiel auf Fünen 1659. Der zweite Sohn Hans, der bekannte Obervorsteher aus der Zeit der Landgräfin Amalie Elisabeth, hatte zwar einen Sohn Wilhelm, Obervorsteher, der allerdings nur einen Sohn hatte, der 1710 ohne Kinder starb. Der dritte Sohn Christoph Wilhelm hatte nur den Sohn Hans Eitel, von dessen Nachkommen immer nur ein Diede pro Generation Kinder hatte. – Kellner : Kopiar (Anm. 60). 106 Die ostpreußischen Keudell gehören nicht zum hessischen Geschlecht. Siehe Adelslexikon, Bearb. Walter von Hueck, 6, 1987, Limburg, S. 203: »Das Geschlecht führt seine Abstammung auf die hessischen uralten v. Keudell auf Schwebda zurück und beginnt die Stammreihe im Harz mit Martin Kaydel«, der um 1550 lebte. Die Distanzierung von der uradeligen Abstammung ist klar. Näheres vgl. a. D. Wunder : Adel (Anm. 2), Sechster Teil Kap. V 2. 107 Wunder : Ermgardt (Anm. 63). 108 S. Anm. 88.
129
Der Adel an der Werra 1500–1800
4 Adlige und landgräfliche Dörfer in der Werraregion Statistische Übersicht 1585,109 1740,110 1778111 Werraregion Hessen 1585
Amt
Landgraf
Unter- Adel tanen
Amt Ludwigstein Amt Allendorf
8 Dörfer 1 Stadt 2 Dörfer 2 Städte
339 334 31 613
23 Dörfer, 3 Höfe
640
8 Dörfer, 3 Höfe
149
Amt Eschwege
22 Dörfer, 3 Höfe 1060 1 Stadt 733 42 Dörfer, 3 Höfe 1430 4 Städte 1680
26 Dörfer, 4 Höfe
1161
57 Dörfer, 10 Höfe
1850
Summe
1778
44 Dörfer, 5 Höfe
Hintersassen
48 Dörfer, 14 Höfe 19 Dörfer (Hanstein)
Eichsfeld 1740
5 Adlige Gerichte in der Werraregion H. = Hof a) Ökonomischer Staat 1585 (Hessen)112 Name Unterwerra Buttlar Berlepsch
1585
Amtszugehörigkeit, Lage zum Amtssitz
Ziegenberg, Blickershausen, Ermschwerd, Hubenrode (tw. = teilweise), Laubach, H. Striederodt
Amt Ludwigstein, im NW
Gertenbach, Albertshausen, Ungeriede, Amt Ludwigstein, N Marzhausen (tw.), Moldenfelde (tw.), Dorenbach (teilw.)
109 Zimmermann: Staat 2 (Anm. 15), S. 74, 78f., 85f. Die Ämter Wanfried und Treffurt übergehe ich. 110 Riese: Eichsfeld (Anm. 68), S. 36–38. 111 Regnerus Engelhard: Erdbeschreibung der Hessischen Lande Casselischen Antheiles, Kassel 1778. 112 Zimmermann: Staat 2 (Anm. 15), S. 75–102.
130
Dieter Wunder
a) Ökonomischer Staat 1585 (Hessen) (Fortsetzung) Amtszugehörigkeit, Lage zum Amtssitz Amt Ludwigstein, N
Name
1585
Bischofshausen
Berge, Bischhausen,Hebenshausen, Hubenrode (tw.), Marzhausen (tw.), H. Neuenrod Altenstein, Asbach, Sickenberg, WeiAmt Allendorf, NO denbach, Hennigerode Uengsterode, Eichenberg, Reckershau- Amt Ludwigstein, N sen, Hermannrode, Niedergandern
Bodenhausen Berge um 1630 im Mannesstamm ausgestorben Eichsfeld
Trubenhausen (bei Großalmerode)
Amt Ludwigstein, im S(W)
Hanstein (auf dem Eichsfeld, mainzisch) Oberwerra
Wahlhausen, Dietzenrode
Amt Allendorf, im N
Dörnberg
Ellershausen, H. Arnberg Frankershausen
Diede
Albungen (tw.), Fürstenstein, Niddawitzhausen
Amt Allendorf, im NW, SW Amt Eschwege, im NW, Amt Eschwege, im N NW W
Boyneburg gen. Honstein
Jestädt, Reichensachsen Netra, Neuerode, Motzerode, Oetmannshausen, Rittmannshausen Aue, Hitzelrode (tw.) H. Hessell (westl. Wiesenfeld Eichsfeld)
Eschwege
Wehren (Zuwanderung Völkershausen, Wipperode aus der Gegend von Fritzlar) Keudell Schwebda BoyneburgBischhausen und -Stedtfeld
Amt Eschwege, im N, SW Amt Eschwege, im O, N Amt Allendorf, im O Amt Eschwege, im O, SW Amt Eschwege, im O
Amt Eschwege, im S, N, O Dünzebach, Langenhain, SO, SW Albungen (tw.), H. Vogelsburg Gericht Boyneburg: Netra, Hoheneiche, Oetmannshausen, Jestädt, Neuerode, Motzenrode, Reichensachsen, Röhrda, Bischhausen, Rittmannshausen, Kirchhosbach, Grandenborn, Wichmannshausen, Rechtebach, Thurnhosbach H. Harmuthshausen, H. Datterpfeiffe, H. Laudenbach
Der Adel an der Werra 1500–1800
131
b) Eichsfeld 1740113 Hanstein Arenshausen, Dietzenrode, Eichstruth, Gerbershausen, Hohengandern, Lehna, Lindewerra, Mackenrode, Neuseesen, Rimbach, Röhrig, Schönhagen, Schwobfeld, Thalwenden, Großtöpfer, Wahlhausen,Werleshausen, Wiesenfeld, Wüstheuterode c) Hof- und Staatskalender Hessen-Kassel 1806114 Buttlar
Ziegenberg, Ziegenhagen, Blickershausen, Ermschwerd, Hubenrode (tw.), Laubach, H. Stiedenrode
Berlepsch Berlepsch, Hübenthal, Fahrenbach Bischofshausen Berge, Hebenhausen, Bischhausen, H. Neuenrode Bodenhausen Dörnberg
Arnstein Burg, Uengsterode, Eichenberg, Hermannrode Ellershausen, H. Arnberg, Frankershausen
Homberg Diede
Kleinvach Albungen, Fürstenstein, Hitzelrode, Wellingerode, Niddawitzhausen, Mitterode, H. Urlettig
Eschwege Kaufmann Huschke
Aue, Reichensachsen, Wipperode, Jestädt, Neuerode, Motzerode Völkershausen
Keudell Boyneburg
Schwebda Reichensachsen, Röhrda, H. Harmuthhausen, H. Vogelsburg, Bischhausen, Wichmannshausen, Rechtebach, Thurnhosbach, Kirchhosbach, Laudenbach
113 Riese: Eichsfeld (Anm. 68), S. 36–38. 114 Hessen-kasselischer Staats- u Adresskalender, Kassel 1806, S. 131–139.
Alexander Jendorff
Reformation und Konfessionalisierung im Werra-Weser-Gebiet: drei Miniaturen zu einem Adelsereignis
Angesichts des bevorstehenden Reformationsjubiläums und des derzeitig gewachsenen Interesses an der Adelsforschung drängt sich das Thema ›Adel und Reformation’ für eine eingehende Problematisierung auf, zumal es sich um ein klassisches Thema der Frühneuzeitforschung handelt. Doch gerade deshalb ist Vorsicht geboten; zu schnell wird aus Klassikern ein Klassizismus. Genau darum handelt es sich hier in doppelter Weise: um einen Themen- und einen Interpretationsklassizismus. Zu verlockend erscheint es nämlich, auf der Basis der doch umfangreichen jüngeren wie älteren Forschungsliteratur1 einmal mehr die Frage nach dem »Beitrag des Adels zur Reformation« zu stellen. Spätestens an dieser Stelle gilt es innezuhalten und sich der eigentlichen thematischen Intention zu versichern: Zielt sie auf eine Beschäftigung mit der Adelsgeschichte oder mit der Reformationsgeschichte? Welcher Adel interessiert in ständischer und in geographischer Hinsicht? Die Reformationsforschung hat sich bis in unsere Tage hinein damit be-
1 Vgl. u. a. Erwin Riedenauer: Reichsritterschaft und Konfession. Ein Diskussionsbeitrag zum Thema »Adel und Konfession«, in: Hellmuth Rößler (Hg.): Deutscher Adel 1555–1740. Büdinger Vorträge 1964 (Schriften zur Problematik der deutschen Führungsschichten in der Neuzeit 2), Darmstadt 1965, S. 1–63; Hellmuth Rößler : Adel und Konfession. Ein Rundgespräch, in: ders. (Hg.): Deutscher Adel 1555–1740. Büdinger Vorträge 1964 (Schriften zur Problematik der deutschen Führungsschichten in der Neuzeit 2), Darmstadt 1965, S. 64–146; Martin Brecht: Die deutsche Ritterschaft und die Reformation, in: Ebernburg-Hefte, 1969, 3. Folge, S. 27–37; Volker Press: Adel, Reich und Reformation, in: Wolfgang J. Mommsen, Peter Alter, Robert W. Scribner (Hg.): Stadtbürgertum und Adel in der Reformation. Studien zur Sozialgeschichte der Reformation in England und Deutschland (Veröffentlichungen des DHI London 5), Stuttgart 1979, S. 330–383; H.C. Erik Midelfort: The Reformation and the German Nobility, in: Hans R. Guggisberg, Gottfried G. Krodel (Hg.): Die Reformation in Deutschland und Europa: Interpretationen und Debatten. Beiträge zur gemeinsamen Konferenz der Society for Reformation Research und des Vereins für Reformationsgeschichte (Archiv für Reformationsgeschichte. Sonderband), Gütersloh 1993, S. 344–360; Bastian Gillner : Freie Herren – freie Religion. Der Adel des Oberstifts Münster zwischen konfessionellem Konflikt und staatlicher Verdichtung 1500–1700 (Westfalen in der Vormoderne 8), Münster 2011.
134
Alexander Jendorff
schäftigt, die »Bedeutung des Adels für die Reformation«2 zu analysieren, also aufzuzeigen, wer von adeligem Stande die Reformation befördert hat. Sie stand damit in der Tradition des Adelsspiegel des Cyriakus Spangenberg aus dem Jahr 1591/94, mit dem er den Zeitgenossen den Olymp der protestantischen Glaubensheroen adeligen Geblüts – auch und gerade aus dem Untersuchungsraum – eröffnete.3 Im 19. Jahrhundert wurde dieser Zugriff auf das reformationshistorische Gedächtnis konfessionsübergreifend fortgeführt.4 Im 20. Jahrhundert richtete die deutsche Historiographie ihre Interpretationen – wenn auch nicht unwidersprochen – vorübergehend an nationalstaatlichen Perspektiven aus.5 Erst in den letzten Jahrzehnten hat man sich stärker um das theologisch-konfessionelle Rezeptionsverhalten, die ökonomisch-politischen Interessen und sozialen Motive des Niederadels bemüht,6 nicht ohne jedoch den liebgewonnenen Blick aufzugeben. In diesem Beitrag wird die Blickrichtung umgekehrt. Vor dem Hintergrund eines akteursorientierten Zugriffs rückt der Adel und seine Entwicklung im Reformations- und Konfessionszeitalter in den Fokus, während das Reformationsgeschehen und die Konfessionsbildung gleichsam (nur noch) als Kontext oder Matrix verstanden werden. Mit der aufgerissenen Problemstellung ist eine sozial-ständische Definition verbunden. In den Fokus rückt der Niederadel landsässiger, nicht reichsun2 Vgl. Brecht: Ritterschaft (Anm. 1), S. 34. 3 Vgl. Cyriacus Spangenberg: Adels-Spiegel. Historischer Ausfuehrlicher Bericht: Was Adel sey vnd heisse / Woher er komme / Wie mancherley er sey / Vnd Was denselben ziere vnd erhalte / auch hingegen verstelle vnd schwaeche […], 2 Bde., Schmalkalden: Michel Schmueck 1591/ 1594, hier Bd. 2, Buch 6, Cap. 40 und 52. 4 Vgl. Olaf Blaschke: Das 19. Jahrhundert: Ein Zweites Konfessionelles Zeitalter?, in: Geschichte und Gesellschaft, 2000, 26. Jg., S. 38–75; ders.: Konfessionen im Konflikt. Deutschland zwischen 1800 und 1970: ein zweites konfessionelles Zeitalter, Göttingen 2002; Heinz Reif: Westfälischer Adel 1770–1860. Vom Herrschaftsstand zur regionalen Elite (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 35), Göttingen 1979, S. 400–431; Barbara Stambolis, Konfessionelle Kulturen in Westfalen, in: Westfälische Forschungen, 2006, 56. Jg., S. 1–22; Gillner : Herren (Anm. 1), S. 28f.; Alexander Jendorff: Der Tod des Tyrannen. Geschichte und Rezeption der Causa Wintzingerode (bibliothek altes Reich 9), München 2012, S. 205–253. Entsprechend kritisch, wenn auch im Urteil angesichts der jüngeren Forschung überzeichnend: Kurt Andermann: Ritterschaft und Konfession – Beobachtungen zu einem alten Thema, in: ders., Sönke Lorenz (Hg.): Zwischen Stagnation und Innovation. Landsässiger Adel und Reichsritterschaft im 17. und 18. Jahrhundert (Schriften zur südwestdeutschen Landeskunde 56), Ostfildern 2005, S. 96: »So muss das Thema Ritterschaft und Konfession […] auf weite Strecken noch immer als terra incognita gelten«. 5 Symptomatisch vgl. Walter Friedensburg: Franz von Sickingen, in: Julius von Pflugk-Harttung (Hg.): Im Morgenrot der Reformation, 3. Aufl. Hersfeld 1921, S. 555–666; Georg von Below: Die Reichsreform, in: Pflugk-Harttung: Morgenrot, S. 119–162, hier besonders S. 162; Paul Schreckenbach, Franz Neubert: Martin Luther. Ein Bild seines Lebens und Wirkens, Leipzig 1916, S. 21f. 6 Neben den bereits in Anm. 1 angeführten Titeln vgl. Peter Blickle: Die Reformation im Reich, Stuttgart 1982, S. 66–72.
Reformation und Konfessionalisierung im Werra-Weser-Gebiet
135
mittelbarer Prägung, über dessen Handlungshorizonte, -räume und -möglichkeiten und -zwänge immer noch zu wenig bekannt ist. Niederadel kann jedenfalls nicht von vorneherein mit völliger Untertänigkeit gleichgesetzt werden, weil Untertänigkeit sehr verschiedene Facetten, Dimensionen und Ausmaße besaß. Zugleich erweist sich ein geographischer Definitionszwang. In den Fokus rückt das Werra-Weser-Gebiet und damit ein Raumbegriff, der etwas Künstliches, konzeptionell höchst Unscharfes an sich hat. Er muss als ein analytischinstrumentelles Konstrukt begriffen werden, insofern er kein scharf profiliertes, schon gar nicht staatsrechtlich vergrenztes Ganzes darstellte, sondern eine historische Übergangszone von erstaunlicher adelsherrschaftlicher Dichte. Entsprechend agierten die Adelsformationen als Meister der Uneindeutigkeit, der Mehrdeutigkeit und Ambivalenz, wie Dieter Wunder dies in seinem Beitrag zu diesem Tagungsband eindrucksvoll belegt und damit einmal mehr den Niederadel als überterritoriales Phänomen charakterisiert. Förderlich war dabei neben der geologischen die herrschaftliche Zerklüftung des Raumes, der durch die Ausbildung mehrerer territorial-fürstlicher Bezugssysteme unterschiedlicher Art geprägt war. In ihnen wirkte der Niederadel auf unterschiedlich intensive Weise mit und übersprang sie regelmäßig. So lassen sich Phänomene des Übergangs, der Nachbarschaft, der Verbundenheit oder Rivalität beobachten, die der Niederadel generierte, die aber auch von den fürstlichen Regierungen genutzt wurden.7 Dies eröffnet die Möglichkeit eines doppelten komparatistischen Zugriffs, nämlich a) eine vergleichende Analyse dreier Niederadelsfamilien –der Boyneburg, Hanstein, Adelebsen – im Werra-Weser-Gebiet und b) die synoptische Analyse dreier Fragen, nämlich wie der Niederadel auf das Aufkommen und die Verbreitung der lutherischen Lehre reagierte, wie sich fortan das Verhältnis zwischen ihm und den Fürsten unter den Bedingungen der Genese konfessioneller Bekenntnisse und Identitäten entwickelte und welche Effekte die Reformation und die Konfessionalisierung auf das Selbstverständnis des Niederadels besaßen. Hierzu werden die entsprechenden Vorgänge in Hessen(-Kassel), auf dem kurmainzischen Eichsfeld sowie in den braunschweigischen Fürstentümern untersucht.
7 Vgl. Alexander Jendorff: Das Eichsfeld im Augenschein. Altkarten als Instrumente und Manifestationen von herrschaftlicher Kommunikation, Kooperation und Selbstbehauptungskonflikten im 16. und 17. Jahrhundert, in: Eschweger Geschichtsblätter, 2011, 22. Jg., S. 16–35.
136
Alexander Jendorff
Die Boyneburg an der Werra: Reformation und Konfessionalisierung als herrschaftliche Chance in Zeiten kirchlich-konfessionellen Umbruchs Das an der Werra in der Landgrafschaft Hessen8 gelegene Samtgericht der Herren von Boyneburg (der »weißen Fahne«) mit ihren Zweigen Hohenstein, Bischhausen und Laudenbach sowie Stedtfeld umfasste 19 Gerichtsdörfer mit ca. 3700 Einwohnern, die zum weit überwiegenden Teil den Boyneburg direkt untertänig waren.9 Die Gerichtsherrschaft umfasste die Hoch-, Nieder- und Peinliche Gerichtsbarkeit, also Kernstücke landeshoheitlicher Kompetenz.10 Gerade wegen der niederadeligen Hochgerichtsbarkeit, die der landgräflichen Regierung ein besonderer Dorn im Auge sein musste, kam es im 16. Jahrhundert zu Konflikten. Im Grundlagenvertrag von 1602 wurde diese Konfliktlage durch gegenseitige Abgrenzung der Kompetenzen entschärft. Fortan übten die Nie8 Vgl. Heinrich Heppe: Kirchengeschichte beider Hessen, 2 Bde., Marburg 1876; Ludwig Zimmermann: Der hessische Territorialstaat im Jahrhundert der Reformation (VHKH 17), Marburg 1933; Walter Sohm: Territorium und Reformation in der hessischen Geschichte 1526–1555 (Urkundliche Quellen zur hessischen Reformationsgeschichte 1; Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen und Waldeck 11), 2. Aufl. Marburg 1957; Karl G. Bruchmann: Der Kreis Eschwege. Territorialgeschichte der Landschaft an der mittleren Werra (Schriften des Instituts für geschichtliche Landeskunde von Hessen und Nassau 9), Marburg 1931; Franz Gundlach: Die hessischen Zentralbehörden von 1247 bis 1604. 3 Bde. (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen und Waldeck 12), Marburg 1930–32, hier Bd. 3, hier S. 48 und 243; Karl E. Demandt: Der Personenstaat der Landgrafschaft Hessen im Mittelalter. Ein »Staatshandbuch« Hessens vom Ende des 12. bis zum Anfang des 16. Jahrhunderts (VHKH 42), Marburg 1981; Alexander Jendorff: Niederadel und Reformation in Hessen: eine Konflikt- oder eine Konsensgeschichte?, in: Jahrbuch der Hessischen Kirchengeschichtlichen Vereinigung, 2013, 64. Jg., S. 17–65; Gerhard Menk: Die »Zweite Reformation« in Hessen-Kassel. Landgraf Moritz und die Einführung der Verbesserungspunkte, in: Heinz Schilling (Hg.): Die reformierte Konfessionalisierung in Deutschland – Das Problem der »Zweiten Reformation«. Wissenschaftliches Symposion des Vereins für Reformationsgeschichte 1985 (SVRG 195), Gütersloh 1986, S. 154–183; Luise Schorn-Schütte: Evangelische Geistlichkeit in der Frühneuzeit. Deren Anteil an der Entfaltung frühmoderner Staatlichkeit und Gesellschaft. Dargestellt am Beispiel des Fürstentums Braunschweig-Wolfenbüttel, der Landgrafschaft Hessen-Kassel und der Stadt Braunschweig (Quellen und Forschungen zur Reformationsgeschichte 62), Heidelberg 1996; Emil Sehling (Hg.): Die evangelischen Kirchenordnungen des XVI. Jahrhunderts, Bd. VIII (Hessen: Die gemeinsamen Ordnungen), ND Tübingen 1965. 9 Vgl. Thomas Diehl: Adelsherrschaft im Werraraum. Das Gericht Boyneburg im Prozess der Grundlegung frühmoderner Staatlichkeit (Ende des 16. bis Anfang des 18. Jahrhunderts) (Quellen und Forschungen zur hessischen Geschichte 159), Darmstadt und Marburg 2010. 10 Soweit nicht anders angegeben vgl. Diehl: Adelsherrschaft (Anm. 9), S. 83–111, 256–261, 294–320; Bruchmann: Kreis (Anm. 8), S. 57–68. Bei den Gerichtsdörfern handelte es sich um Reichensachsen, Oetmannshausen, Jestädt, Bischhausen, Röhrda, Wichmannshausen, Hoheneiche, Frieda, Kirchhosbach, Thurnhosbach, Rechtebach, Langenhain, Grandenborn, Datterode, Netra, Motzenrode, Neuerode sowie Ober- und Niederdünzebach.
Reformation und Konfessionalisierung im Werra-Weser-Gebiet
137
deradeligen ihre Gerichtsherrschaft aus eigener Gewalt, wenn auch nach Akzeptanz durch die Landesherrschaft und in deren Ableitung aus.11 Daneben beanspruchten sie aus zahlreichen Stiftungen oder Gewohnheitsrecht umfängliche Patronatsrechte in den Kirchen ihres Gerichtssprengels, die teilweise zum Kurmainzer Archidiakonat Heiligenstadt zählten. Nach der Reformation wurden diese Pfarreien dem Rotenburger Superintendenten zugeordnet. Das Patronatsrecht verstanden die Boyneburg als Besetzungskompetenz nebst Visitation und Rechnungskontrolle.12 Ausgestattet mit zahlreichen Epitaphien, Familienwappen und anderen Merkmalen – so fand beim Tode eines Boyneburgers regelmäßig auch Trauergeläut statt –, interpretierte die Familie das Kirchenwesen ihres Gerichtssprengels vor und nach der Einführung der Reformation uneingeschränkt als Eigenkirchenwesen. Diese Annahme wurde selbstverständlich von den Landgrafen bestritten. Sie stand synonym für ein spannungsreiches Verhältnis zwischen der Samtfamilie der »Weißen Fahne« und den Landgrafen. Dies hatte schon für das Verhältnis zur Familie der »Schwarzen Fahne« gegolten: Ludwig von Boyneburg – Mitglied des thüringischen Familienzweigs mit den Linien Lengsfeld und Altenburg – war zwischen 1508 und 1514 zum Haupt des Ständeregiments und damit zum ärgsten Gegenspieler der Landgräfin Anna avanciert, überdies im Unterschied zu manchen Familienmitgliedern der nordhessischen Zweige. Zunächst abgesetzt und verdrängt, wurde er schließlich zusammen mit anderen Oppositionellen aus den Reihen des Niederadels im Zuge der Einführung der Reformation und der Transformation des landgräflichen Kirchenwesens 1526/27 wieder politisch eingebunden und gleichsam rehabilitiert.13 Die Protestantisierung der Landgrafschaft kann insofern als landespolitischer Wurf des Landgrafen und der Adelselite, mithin als Vorgang neuer Konsensgewinnung innerhalb der Landeseliten gesehen werden. Gleichwohl eröffnete die Reformation auch im Falle der nordhessischen Boyneburg durchaus neue Konfliktfelder. Die Landgrafen waren seit 1526/27 durch die Säkularisierung der Klöster Eschwege und Germerode in den boyneburgischen Gerichtsdörfern Röhrda und Wichmannshausen Patronatsherren geworden. Landgraf Wilhelm IV. (reg. 1567–1592) wies die Boyneburger 1573 darauf hin, dass die Kirchenjurisdiktion nach ihrer Übertragung durch Kurmainz nun bei der Landesherrschaft liege, die Niederadeligen also nicht über eine Eigenkirche verfügten. Gleichzeitig definierte er das Patronatsrecht als Präsentations- und Collaturkompetenz, nicht als Recht auf Ein- und Absetzung von Geistlichen, zumal Letzteres nur nach einem geordneten Verfahren durch 11 Vgl. Diehl: Adelsherrschaft (Anm. 9), S. 252–256, 277–293. 12 Ebd., S. 95ff. 13 Vgl. Jendorff: Niederadel (Anm. 8), S. 49–56.
138
Alexander Jendorff
den als fürstlichem Funktionär verstandenen Superintendenten vorgenommen werden könne.14 Dagegen betrachteten die Boyneburg ihre Gerichtspfarreien weiterhin als Eigengut, in dem sie ein umfassendes Besetzungsrecht ausübten – zumeist gegen den Willen der Rotenburger Superintendenten, die es auch hinnehmen mussten, dass die Patrone am Ende des 16. und Beginn des 17. Jahrhunderts Pfarrer nach Gutdünken absetzten, neue unter Konsens der Gemeinde einsetzten, um sie kurze Zeit später wieder zu vertreiben.15 Die von ihnen eingesetzten Pfarrer fungierten zugleich als Repräsentanten ihrer Herrschaft.16 Entsprechend extensiv legten sie ihre Rechte teilweise gegen geltendes Reichsund Landesrecht aus, das missachtet und/oder unterlaufen wurde, und erließen 1591 und 1604 eigene Policeyordnungen. Sie besetzten demnach das Feld der gemeindlichen Kirchen- und Sozialdisziplinierung und unternahmen so parallel zur gleichen Entwicklung in der landesherrlichen Sphäre wichtige Schritte zur Selbstdefinition christlichen Lebens in ihrer Gerichtsherrschaft. Landesherrliche Kirchenordnungen wurden ignoriert, Einwendungen der Landgrafen übergangen. Durch Übergehen, Abmilderung oder explizite Zuwiderhandlung gegenüber landesherrlichen Verordnungen demonstrierten die Boyneburg ihre Souveränität gleichermaßen gegenüber der fürstlichen Obrigkeit wie auch gegenüber den Untertanen: Branntweingenuss vor den Predigten war gestattet, auf eine Strafverschärfung bei wiederholtem Fluchen wurde ebenso verzichtet wie auf die scharfe Reglementierung der lokalen Festkultur, während gleichzeitig die Sonntagsarbeit erlaubt wurde.17 Letzteres mochte selbstverständlich auch den ökonomischen Bedürfnissen der niederadeligen Grundherrschaft geschuldet gewesen sein.18 Doch beweist diese niederadelige Sozialnormierungspraxis insbesondere, dass und wie sehr die Boyneburg bemüht waren, sich als die bessere, verträglichere Obrigkeit und quasi als Schutzherren ihrer Untertanen, mit denen sie in stetem direkten Kontakt standen, gegenüber einer wesentlich strengeren landesherrlichen Obrigkeit zu präsentieren, ohne dabei ihren Anspruch auf Gestaltung ihres weltlichen und kirchlichen Herrschaftsraums aufzugeben, sondern vielmehr diesen dadurch noch zu untermauern. Der Einführung der mauritianischen Verbesserungspunkte 1605 setzen sie mit anderen Niederadeligen des Werra-Raums entschiedenen, hartnäckigen und erfolgreichen Widerstand entgegen, der von den Untertanen ihrer Patronatspfarreien mitgetragen wurde. Landgraf Moritz setzte sich zwar 1608 formal durch, festigte mit diesem formaljuristischen Sieg jedoch nur die Adelsoppo14 15 16 17 18
Vgl. Diehl: Adelsherrschaft (Anm. 9), S. 258f. Ebd., S. 259. Ebd., S. 163f. Ebd., S. 260ff. Wiewohl es sich keinesfalls um einen Einzelfall handelte, wie ähnliche Beispiele aus der niederadeligen Herrschaft Gilsa beweisen; vgl. Jendorff: Niederadel (Anm. 8), S. 61f.
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sition und verschärfte sie auf anderen Politikfeldern, während er mitansehen musste, dass viele Gläubige der Konfession ihrer adeligen Patronatsherrn anhingen.19 Die Gerichtsuntertanen verweigerten den Gehorsam durch passiven Widerstand; aufgrund dieses Verhaltens widersetzten sich fünf von neun Pfarrern der boyneburgischen Gerichtsherrschaft 1605/06 den landgräflichen Visitatoren, hielten am lutherischen Bekenntnis aus Gewissensgründen fest und bezeichneten sich selbst als »boyneburgische Pfarrer«.20 Angeführt von den Boyneburg erklärte sich die Werra-Ritterschaft am 24. Juni 1607 nach theologischer Beratung durch Wittenberger, Leipziger und Gießener Professoren in ihrer Confessio nostrae fidei gegen den Landgrafen, forderte eine Assekurationsakte und legte eine Bekenntnisschrift bei, mit der sie das landgräfliche Abendmahlsverständnis – also dessen Symbolverständnis – ebenso ablehnte wie die Prädestinationslehre.21 Virtuos verstand sie es, die Schlüsselvokabeln – Gewissen, Vaterland und Freiheit – für die eigenen Interessen und in Koalition mit Teilen der Geistlichkeit aus dem lutherischen Lager einzusetzen. Bis 1608 konnte keine Einigung erzielt werden. Zwar legte der Landgraf einen Kompromissvorschlag vor, die Boyneburger jedoch lehnten ihn ab. Daraufhin setzten die Landgräflichen die alten Pfarrer ab, setzten junge ein, inhaftierten die adelsloyalen Pfarrer, ließen sie Urfehde schwören und verhörten die Boyneburger Herren persönlich.22 Juristisch obsiegte der Landgraf, sozial scheiterte er : Die Untertanen verweigerten sich den neuen Pfarrern; diese amtierten sozial desintegriert und litten manche materielle Not; die Boyneburger wanden sich, schienen 1608 zum Einlenken bereit und spielten doch mancherorts – wie bspw. in Jestädt, einem braunschweigischen Lehen – mit der Lehenskarte. So erwies sich in jenen Jahren, dass die Einführung und Internalisierung des Luthertums in der Herrschaft Boyneburg einen tiefgehenden Prozess darstellte, der sich mit dem Adelsgeschlecht, nicht mit der Fürstendynastie verbunden hatte, weshalb die Zweite Reformation nur als fürstlicher Gewaltakt des Landgrafen Moritz verstanden werden konnte.
19 Vgl. Jochen Ebert, Thomas Diehl, Ingrid Rogmann: Konkurrierende Obrigkeiten. Kirchliche Amtsträger und adelige Herren zwischen Kooperation und Konflikt, in: Martin Arnold, Karl Kollmann (Hg.): Alltag reformierter Kirchenleitung. Das Diensttagebuch des Eschweger Superintendenten Johannes Hütterodt (1599–1672) (VHKH 46/10), Marburg 2009, S. 89–129, hier S. 120–127; Heinrich Heppe: Die Einführung der Verbeßerungspunkte in Hessen von 1604–1610 und die Entstehung der hessischen Kirchenordnung von 1657 als Beitrag zur Geschichte der deutsch-reformierten Kirche, Kassel 1849, S. 99–106. 20 Vgl. Diehl: Adelsherrschaft (Anm. 9), S. 297ff. 21 Ebd., S. 300–303. 22 Ebd., S. 307–320.
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Die Hanstein auf dem kurmainzischen Eichsfeld: niederadeliger Selbstbehauptungsprotestantismus versus kurfürstlicher Reformkatholizismus Mit den im kurmainzischen Eichsfeld23 situierten und seit dem 14. Jahrhundert in die Dittmars- und die Lippoldslinie geteilten Hanstein wird eine für das engere Werra-Weser-Gebiet besonders prominente und typische Adelsfamilie untersucht.24 Die Hanstein hatten im Spätmittelalter mehrere Klostervorsteher/ innen gestellt und waren auch in den Stiften Heiligenstadt und Fritzlar präsent. Landes- und regionalpolitisch hatten sie vordergründig die kurfürstlichen Interessen auf dem Eichsfeld in Abgrenzung zu den Begehrlichkeiten der Landgrafen und anderer verteidigt, wie jener Werner von Hanstein, der gegen den tyrannischen Amtmann Heinrich von Schwarzburg agierte und 1479 die Schaffung des eichsfeldischen Landtags erstritt. Mit den hessischen Landgrafen standen sie in harter Konkurrenz – manifestiert an Burg Ludwigstein – und doch seit dem 14. Jahrhundert, in deren teilweise hochrangigen Diensten, wie etwa das Marschallsamt des Werner von Hanstein 1471 unter Landgraf Ludwig II. belegt. Die Hanstein legten sich demnach nie eindeutig fest. Erst 1515 nahmen sie einen Strategiewechsel vor : Christian von Hanstein (Dittmarslinie) – 1487 bereits Rat Landgraf Wilhelms I. – erwarb Burg und Amt Ludwigstein – jenen 1415 erbauten landgräflichen »Gegenhanstein« – pfandweise, legte 1517 seine 23 Vgl. Jendorff: Tod (Anm. 4); ders.: Reformatio Catholica. Gesellschaftliche Handlungsspielräume kirchlichen Wandels im Erzstift Mainz 1514–1630 (Reformationsgeschichtliche Studien und Texte 142), Münster 2000; ders.: Verwandte, Teilhaber und Dienstleute. Herrschaftliche Funktionsträger im Erzstift Mainz 1514 bis 1647 (Untersuchungen und Materialien zur Verfassungs- und Landesgeschichte 18), Marburg 2003; ders.: Regierung und Verwaltung auf dem Eichsfeld in der Kurmainzer Zeit zwischen 1540 und 1802, in: EichsfeldJahrbuch, 2011, 19. Jg., S. 5–46; ders.: Adeliges Selbstverständnis, politische Teilhabe und protestantische Konfession im katholischen Territorium: die Familie von Wintzingerode, der landsässige Adel und die kurfürstlich-mainzische Herrschaft auf dem Eichsfeld, in: Enno Bünz, Ulrike Höroldt, Christoph Volkmar (Hg.): Adelslandschaft Mitteldeutschland. Die Rolle des landsässigen Adels in der mitteldeutschen Geschichte (15.–18. Jahrhundert) (Schriften zur sächsischen Geschichte und Volkskunde), Leipzig 2016 (in Vorbereitung); Philipp Knieb: Geschichte der Reformation und Gegenreformation auf dem Eichsfelde, 2. Aufl. Heiligenstadt 1909; Arno Wand: Reformation, Katholische Reform und Gegenreformation im kurmainzischen Eichsfeld (1520–1648), Heiligenstadt 1998; Levin Freiherr v. Wintzingerode-Knorr : Die Wüstungen des Eichsfeldes (Geschichtsquellen der Provinz Sachsen und angrenzender Gebiete 40), Halle 1903 (ND Duderstadt 1995). 24 Vgl. Hans-Dieter von Hanstein: Überblick über die Geschichte der Familie von Hanstein, in: Burg Hanstein. Zur 700-jährigen Geschichte einer eichsfeldischen Grenzfeste, hg. im Auftrag des Familienverbandes der von Hanstein von Hans-Dieter von Hanstein, Duderstadt 2008, S. 13–52; Carl E.Ph. von Hanstein: Urkundliche Geschichte des Geschlechts der von Hanstein in dem Eichsfeld in Preußen (Provinz Sachsen) nebst Urkundenbuch und GeschlechtsTafeln, 2 Teile, Kassel 1856/57 (ND Duderstadt 2007).
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seit 1509 bezeugte kurfürstliche Oberamtmannschaft auf dem Rusteberg nieder und avancierte 1518 zum Gießener Verweser, im gleichen Jahr sogar zum landgräflichen Statthalter zu Kassel neben Craft von Bodenhausen, kurz danach allein. In den nächsten Jahren begleitete er den jungen Landgrafen bei allen wichtigen politischen Anlässen.25 Diese Neuorientierung wirkte stilprägend. Sie stellte ein gelungenes Beispiel für das Gespür von großen Teilen des eichsfeldischen Adels für die Notwendigkeit einer intensiveren Vernetzung insbesondere mit den regionalpolitisch dynamischen Landgrafen von Hessen und für die partielle Abwendung von der seit dem 15. Jahrhundert in der Region deutlich schwächelnden Mainzer Macht dar, die zu wenig zu bieten schien. In der Hansteiner Lippoldslinie entsprach diese Entwicklung dem Engagement des Familienseniors Caspar von Hanstein (gest. 1535) als Lüneburger Drost, mehr noch der Anstellung seines Sohnes Lippold (1505–1575) als braunschweigischer Rat zu Münden. Als Hofmeister der Herzogin Elisabeth von Braunschweig-Calenberg war er für den – am Ende auch wegen des Widerstands im Niederadel gescheiterten – Versuch, in den 1540 Jahren die Reformation im Herzogtum per fürstlichem Oktroy einzuführen, mitverantwortlich.26 Zahlreiche Familienvertreter dieser Generation dürfen als durchaus intellektuell profilierte Adelige begriffen werden, die vornehmlich an der Universität Erfurt studiert hatten.27 Wie andere Adelsgeschlechter des Eichsfeldes auch stabilisierten sie angesichts der faden Herrschaftspräsenz der Mainzer und ihrer Funktionsträger die eigene Herrschaftsposition im Land. Nachdem sie noch in den 1520erJahren mit den kurfürstlichen Vertretern und den Klöstern während der Bauernunruhen koaliert hatten, diese nur nach schweren Auseinandersetzungen hart unterdrücken konnten und teilweise hohe finanzielle Entschädigungen hatten durchsetzen können,28 nutzten sie ihre Patronats- und Gerichtsrechte, um Prediger – teilweise aus dem Hessisch-Landgräflichen kommend – nach Gusto einzusetzen. Am Ende der 1540er-Jahre gingen sie dazu über, auch ohne Patronatsrechte in ihren Gerichtsdörfern Prediger zu installieren. Gleichzeitig machten sie Stiftungen zur Errichtung eines Hospitals in ihrem Gerichtsbezirk, für die Unterstützung bedürftiger Prediger, für Studierende und für die Alimentierung armer, ehrlich geborener, fromm lebender 25 Vgl. Gundlach: Zentralbehörden (Anm. 8), S. 85; Demandt: Personenstaat (Anm. 8), Nr. 1000; Jendorff, Verwandte (Anm. 23), S. 338f., Nr. 102 und 107; Peter Aufgebauer : »Grundsteinlegung« 1308 und Bau der heutigen Burg, in: Burg Hanstein. Zur 700-jährigen Geschichte einer eichsfeldischen Grenzfeste, hg. im Auftrag des Familienverbandes der von Hanstein von Hans-Dieter von Hanstein, Duderstadt 2008, S. 60–66; ders.: Errichtung der Burg Ludwigstein 1415 als »Gegenhanstein«, in: ebd.: S. 87–90; ders.: Zeit der Fehden im 14. und 15. Jahrhundert, in: ebd.: S. 91–93. 26 Vgl. Hanstein: Geschichte II (Anm. 24), S. 233–245, 316f., 379–389. 27 Vgl. Knieb: Geschichte (Anm. 23), S. 15, 49. 28 Ebd., S. 30–35.
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Mägde.29 1565 eröffneten sie in Gerbershausen sogar eine protestantische Schule. Solche Maßnahmen waren allerdings (noch) nicht gleichbedeutend mit einer völligen Abwendung von den Institutionen des alten Bekenntnisses.30 Eher nutzte man sie, um die Position der Familie zu stärken. Herausragend hierfür war Burghard von Hanstein, ein bekennender Protestant, Propst des Stifts Heiligenstadt und Stiftskanoniker zu Fritzlar : Der wohlhabende Konkubinarier mit vier Töchtern und zwei Söhnen vergab in seiner Funktion als Heiligenstädter Propst Patronatslehen an seine Brüder, die dort anschließend das neue Bekenntnis einführten. Zur Resignation wurde er schließlich in Heiligenstadt 1565, in Fritzlar erst 1583 gezwungen.31 Dies tat der Bedeutung der Hanstein auf dem Eichsfeld und innerhalb des eichsfeldischen Protestantismus allerdings keinen Abbruch, im Gegenteil. Der Familienverband avancierte zu einer der herausragenden konfessionellen und landespolitischen Führungsgruppen. Die zunehmende Identifikation mit dem Protestantismus und die damit verbundene Abgrenzung gegenüber dem Landesherrn und seinen gegenreformatorischen Maßnahmen manifestierten sich im Hausvertrag der Lippoldslinie von 1579 – dem Fritzlarer Teilungsvertrag zwischen Caspar, Melchior, Lippold und Heinrich von Hanstein –, durch den der Protestantismus als Familienbekenntnis festgeschrieben wurde.32 Die Verfestigung des protestantischen Kirchenwesens der Hansteiner drückte sich schließlich darin aus, dass der Prediger von Gerbershausen – ein Zentralort der
29 Vgl. Hanstein: Geschichte (Anm. 24), S. 215–218, 232f. 30 Symptomatisch hierfür wie jedoch auch für die Tatsache, dass die kurfürstlichen Vertreter den Ernst der konfessionellen Lage offenkundig noch nicht vollständig realisiert hatten oder aber noch glaubten, die Situation steuern zu können, steht folgende Szene: Im November 1549 – zu einem Zeitpunkt, da sich der deutsche Protestantismus in einer tiefen Krise befand und der Calenberger Reformationsversuch der Herzogin-Witwe faktisch gescheitert war – ermahnte der kurfürstliche Oberamtmann Melchior von Graenrodt den Hofmeister Lippold von Hanstein, der bis dahin keinerlei Anzeichen für eine Änderung seiner Einstellungen und Verhältnisse gegeben hatte, er möge bedenken, sich rechtzeitig »zum rechten Schaffstall auch begeben, der echten Hirten Stimme hören«. Eine Antwort erhielt der Oberamtmann nie, der Hofmeister blieb noch weitere fünf Jahre an der Seite der Herzogin; vgl. Hanstein: Geschichte II (Anm. 24), S. 242. Dass die familiäre Protestantisierung keinesfalls gleichzusetzen war mit der Aufgabe von (Lehen-) Rechten an den alten Instituten, beweist auch der Streit der Hanstein mit dem Landgrafen Philipp über die Rechte am Stift – späteren Hospital – zu Hofgeismar seit den 1530er-Jahren; vgl. ebd., S. 287–295. 31 Vgl. Knieb: Geschichte (Anm. 23), S. 49ff.; Opfermann: Klöster (Anm. 22), S. 28f.; Wand: Reformation (Anm. 23), S. 60f., 75f.; Theodor Niederquell: Die Kanoniker des Petersstifts in Fritzlar 1519–1803 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen 41), Marburg 1980, S. 11f. Nr. 94. 32 Vgl. Thomas T. Müller: Der Abschied von den Heiligen. Die Hansteiner und die Reformation, in: Burg Hanstein. Zur 700-jährigen Geschichte einer eichsfeldischen Grenzfeste, hg. im Auftrag des Familienverbandes der von Hanstein von Hans-Dieter von Hanstein, Duderstadt 2008, S. 123–128, hier S. 127f.
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Hansteiner Herrschaft – 1592 als Superintendent bezeichnet wurde.33 Der innerfamiliäre Konfessionskonsens bedeutete keineswegs familiäre Harmonie: Man stritt zuweilen – wie schon in der Vergangenheit – um die Wahrnehmung der (protestantischen) Patronatsrechte.34 Zugleich engagierten sich die Hanstein prominent in den sich seit 1575 über zwei Jahrzehnte hinweg hinziehenden Auseinandersetzungen mit dem kurfürstlichen Oberamtmann Lippold von Stralendorff, der gezielt die Patronatsrechte des Niederadels bedrohte, teilweise auch gegen dessen Gerichtsrechte vorging35 sowie die Beschwerden der Bauern gegen ihre Grundherren nicht etwa abwies, sondern anhörte und ggf. an die kurfürstliche Regierung nach Mainz verwies. Erfolglos versuchte der Niederadel, dagegen die benachbarten protestantischen Fürsten zu involvieren. Am Ende stand immerhin Stralendorffs Entlassung 1599, nachdem ihn die eichsfeldische Ritterschaft in den öffentlichen Auseinandersetzungen auf dem Landtag der Friedensgefährdung beschuldigt, sogar in die Nähe eines Tyrannen gerückt und für sich die Vertretung des Landes beansprucht hatte; auch hier erwies sich die niederadelige Sicherheit in der Verwendung des politischen Vokabulars. Zwar hielt dies die Kurfürsten nicht von weiteren Rekatholisierungsmaßnahmen ab, doch blieb dem Niederadel die konfessionelle Überwältigung erspart. Die Hanstein vermochten erfolgreich bis 1802 sowohl ihre Gerichtsdörfer als auch sich selbst konfessionell abzuschirmen. Gleichzeitig akzeptierten sie den damit einhergehenden Verzicht auf die Möglichkeit, im kurerzstiftischen Pfründen- und Ämtersystem berücksichtigt zu werden. Denn die mittelrheinische Reichsritterschaft, die den Kurmainzer Stiftsadel stellte und in deren Reihen sich zahlreiche Protestanten fanden, anerkannte die eichsfeldischen Standesgenossen nicht als gleichwertig und schloss sie aus dem Pfründenreservoir komplett aus. So suchten die Hanstein einträgliche Erwerbsquellen erfolgreich in ausländischen Diensten und beschränkten sich auf die politische Partizipation auf den Landtagen und deren Ausschüssen. Dies taten sie allerdings nachhaltig.36
33 Vgl. Hanstein: Geschichte II (Anm. 24), S. 227 Nr. 7. 34 Vgl. Hanstein: Geschichte II (Anm. 24), S. 715–725. 35 So sprengte er bspw. 1594 die Gerichtssitzungen der von Tastungen mithilfe von Schützen; vgl. Wintzingerode-Knorr : Wüstungen (Anm. 23), S. 395f. Zu weiteren u. a. durch Stralendorff ausgetragenen Konflikten um adelige Gerichtsrechte, die nicht zuletzt auch zu Konflikten mit den Braunschweiger Herzögen führten vgl. Gertrud Wolters: Das Amt Friedland und das Gericht Leineberg. Beiträge zur Geschichte der Lokalverwaltung und des welfischen territorialstaates in Südhannover (Studien und Vorarbeiten zum Historischen Atlas von Niedersachsen 10), Göttingen 1927, S. 27–37. 36 Vgl. Jendorff: Selbstverständnis (Anm. 23).
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Die Adelebsen im welfischen Südniedersachsen: Traditionalisierung religiös-konfessioneller Selbstbestimmung in Zeiten fürstlicher Unbestimmtheit Seit dem 12. Jahrhundert waren die Herren zu Wibbecke,37 die sich nach ihrem Umzug nach Adelebsen und dem Bau der dortigen Burg nach ihrem neuen Herrschaftssitz benannten, in der Nähe von Göttingen im Fürstentum Calenberg38 begütert. Der Bau der Burg Adelebsen erfolgte 1232/33 ohne fürstlichen Einspruch eigenmächtig, weil sich die Welfen, Ludowinger und Mainzer in diesem Raum gegenseitig paralysierten. So maßten sich die Herren von Adelebsen das Wege- und Pflastergeld an, bauten die Burg weiter aus und nahmen bis 1347 eine nahezu unabhängige Stellung – allerdings noch »in einem politisch toten Winkel«39 – ein, die sich unter anderem in der Verlehnung des Gerichts 37 Vgl. Rudolf Eckart: Geschichte von Adelebsen nach archivalischen Quellen (Geschichte südhannoverscher Burgen und Schlösser 5), Leipzig [1905]; Herbert Mundhenke: Das Patrimonialgericht Adelebsen. Ein Beitrag zur historischen Geographie des Fürstentums Göttingen (Studien und Vorarbeiten zum Historischen Atlas Niedersachsen 18), Göttingen 1941, hier S. 27–32; Cord Alphei: Geschichte Adelebsens und Lödingsens, Göttingen 1990. 38 Neben Schorn-Schütte: Geistlichkeit (Anm. 8) vgl. Albert Neukirch: Niedersächsische Adelskultur der Renaissance (Renaissanceschlösser Niedersachsens. Textband, zweite Hälfte), Hannover 1939; Helmut Samse: Die Zentralverwaltung in den südwelfischen Landen vom 15. bis zum 17. Jahrhundert. Ein Beitrag zur Verfassungs- und Sozialgeschichte Niedersachsens (Quellen und Darstellungen zur Geschichte Niedersachsens 49), Hildesheim, Leipzig 1940; Emil Sehling (Hg.): Die evangelischen Kirchenordnungen des XVI. Jahrhunderts, Bd. VI/1 (Niedersachsen), ND Tübingen 1955; Ulrich Lange: Landtag und Ausschuß. Zum Problem der Handlungsfähigkeit landständischer Versammlungen im Zeitalter der Entstehung des frühmodernen Staates. Die welfischen Territorien als Beispiel (1500–1629) (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen XXIV; Untersuchungen zur Ständegeschichte Niedersachsens 6), Hildesheim 1986; Walter Ziegler : Braunschweig-Lüneburg, Hildesheim, in: Anton Schindling, Walter Ziegler (Hg.): Die Territorien des Reichs im Zeitalter der Reformation und Konfessionalisierung. Land und Konfession 1500–1650 (KLK 51), Bd. 3: Der Nordosten, Münster 1991, S. 8–43; Luise SchornSchütte: Lutherische Konfessionalisierung? Das Beispiel Braunschweig-Wolfenbüttel (1589–1613), in: Hans-Christoph Rublack (Hg.): Die lutherische Konfessionalisierung. Wissenschaftliches Symposion des Vereins für Reformationsgeschichte (SVRG 197), Heidelberg 1992, S. 163–194; Brage Bei der Wieden: Zur Konfessionalisierung des landsässigen Adels zwischen Weser, Harz und Elbe, in: Archiv für Reformationsgeschichte, 1998, 89. Jg., S. 310–319; Manfred von Boetticher : Niedersachsen im 16. Jahrhundert (1500–1618), in: Geschichte Niedersachsens, begründet von Hans Patze, hg. von Christine van den Heuvel und Manfred von Boetticher, Bd. 3/1 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen 36), Hannover 1998, S. 19–116; Michael Streetz: Das Fürstentum Calenberg–Göttingen (1495/1512–1584), in: Niedersächsisches Jahrbuch für Landesgeschichte, 1998, 70. Jg., S. 191–235; Hans-Walter Krumwiede: Kirchengeschichte. Geschichte der evangelischen Kirche von der Reformation bis 1803, in: Hans Patze (Hg.): Geschichte Niedersachsens, Bd. 3/2 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen 36), Hildesheim 1983, S. 1–216. 39 So Mundhenke: Patrimonialgericht (Anm. 37), S. 42.
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zum Asche durch Herzog Ernst von Braunschweig-Göttingen an Bodo und Berthold von Adelebsen, in der Ausübung der Hochgerichtsbarkeit bei Dransfeld und in der Vogtei über die Güter der Abteien Bursfeld und Hilwartshausen in den Gerichtsdörfern ausdrückte. Gleichzeitig erwarben die Adelebsen von anderen Adelsfamilien wie 1358 von den Uslar und 1352 von den Stockhausen weitere Güter käuflich, rundeten neben zahlreichem Lehensbesitz40 ihren Eigenbesitz auf diese Weise ab und bauten ihn als Handelsplatz mit von ihnen strikt kontrollierten Selbstverwaltungsrechten aus.41 Zu einem geschlossenen Besitz- und Herrschaftskomplex kamen sie allerdings nicht. Ein Jahrhundert später versuchten sie mittels des Lavierens in einem von den Landgrafen von Hessen, den Welfen und den auch den Mainzer Kur-Erzbischöfen mittlerweile hart umkämpften, weil strategisch wichtigen Raum eine Mittlerstellung einzunehmen und so die eigene starke Position zu erhalten. Zunächst sahen sie sich allerdings herzoglich-braunschweigischen Domestizierungsversuchen ausgesetzt. 1435 erzwangen Otto der Einäugige von Braunschweig-Göttingen und die Stadt Göttingen den Eintritt der Adelebsen in die Friedenseinung zwischen Rittern und Städten. Den herzoglichen Versuch, auch das Allod der Familie zu fürstlichem Lehen zu machen, wehrten sie zunächst ab, indem sie dem Landgraf Wilhelm dem Mittleren von Hessen 1449 ihr Eigengut zum Lehen auftrugen. Dieser Winkelzug, durch die Involvierung eines benachbarten Fürsten als neuem Schutzherr die eigene Positionsgefährdung abzumildern, den eigenen Handlungsspielraum zu erhalten und gar als Vermittler auftreten zu können, scheiterte jedoch, weil die Herren von Adelebsen auch mit den Landgrafen und untereinander über die geeignete Strategie42 in Konflikt gerieten. Am Ende mussten sie Herzog Erich I. von Calenberg-Göttingen (reg. 1495–1540) zu Hilfe rufen, der sich seine Unterstützung im Vertrag von 1512 mit der Verlehnung des gesamten bisherigen Adelebser Allods entschädigen ließ. Fortan figurierten die Adelebsen uneingeschränkt und zweifellos als Calenberger Lehensleute, die allerdings weiterhin sämtliche ihrer angestammen Herrschaftsrechte unangefochten ausüben konnten und auf diese Weise ihre selbstständige Stellung innerhalb des herzoglichen Lehensverbandes bewahrten.43 40 Neben Reichslehen erwarben die Adelebsen mainzische Lehen, im 16. Jahrhundert zudem grubenhagensche und plessische Lehen; vgl. Mundhenke: Patrimonialgericht (Anm. 37), S. 48f., 51f. 41 Vgl. Alphei: Geschichte (Anm. 37), S. 20–27, 30ff.; Mundhenke: Patrimonialgericht (Anm. 37), S. 36–57, mit einer bemerkenswerten Kritik an den rechtshistorischen Interpretationsansätzen seiner Zeit. 42 Bereits 1499 hatte ein Teil der Familie sein Allod dem Braunschweiger Herzog zum Lehen aufgetragen; vgl. Mundhenke: Patrimonialgericht (Anm. 37), S. 50. 43 Vgl. Alphei: Geschichte (Anm. 37), S. 41–46; Mundhenke: Patrimonialgericht (Anm. 37), S. 30f.
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Diese unabhängige Stellung spiegelt sich auch in den kirchlichen Verhältnissen wider.44 Für 1262/67 lässt sich erstmals ein Beleg für einen Pleban an der Martinskirche in Adelebsen geben, die wohl ein von den Herren von Wibbecke mitgebrachtes Patrozinium darstellte. Diese Eigenkirche wurde in den nächsten Jahrhunderten zur großzügig begüterten Grablege der Stifter ausgebaut.45 Nach dem Kauf des Ortes Lödingsen von den Herren von Uslar 1358 wurden die Adelebsen zu Lehnsherren auch der dortigen Petruskapelle. Im 15. Jahrhundert erfolgte die Vermehrung des kirchlichen Personals, des Vermögens und der Ausstattung der Kirche zu Adelebsen durch Angehörige der Familie wie etwa Albrecht von Bernsen, was einem Ausbau der Patronatsrechte gleichkam. Schließlich wirkten am Ort sechs Priester an fünf Altären. Hinzu kam der Erwerb des herzoglichen Kirchenlehens über die Liebfrauen-Kapelle zu Reinshagen 1427, deren Güter vermehrt wurden,46 die Gründung der Kapelle zu Eberhausen zusammen mit der reformbenediktinischen Abtei Bursfeld 1437 und die Unterstützung des Adelebser Kalands. Ihm gehörten jedenfalls die Geistlichen der Adelsherrschaft an, die auf diese Weise – wie in anderen niederadeligen Herrschaften des südniedersächsisch-nordeichsfeldischen Raumes47 – eine noch 44 Zum Folgenden, sofern nicht anders angegeben, vgl. Philipp Meyer : Mittelalterliche Urkunden zur Geschichte der Kirchengemeinde Adelebsen, in: Zeitschrift der Gesellschaft für Niedersächsische Kirchengeschichte, 1940, 45. Jg., S. 124–140; Alphei: Geschichte (Anm. 37), S. 29, 34–41; Mundhenke: Patrimonialgericht (Anm. 37), S. 60f.; Malte Prietzel: Die Kalande im südlichen Niedersachsen. Zur Entstehung und Entwicklung von Priesterbruderschaften im Spätmittelalter (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 117), Göttingen 1995, S. 90–93. 45 Dies obwohl die Patronatsverhältnisse nicht abschließend im Sinne der Adelebsen geregelt war, insofern der Nörtener Archidiakon das Investiturrecht beanspruchte; vgl. Mundhenke: Patrimonialgericht (wie Anm. 37), S. 60f. Zum Nörtener Archidiakonat vgl. Bruno Krusch, Studie zur Geschichte der geistlichen Jurisdiktion und Verwaltung des Erzstifts Mainz. Commissar Johann Bruns und die kirchliche Eintheilung der Archidiaconate Nörten, Einbeck und Heiligenstadt, in: Zeitschrift des Historischen Vereins für Niedersachsen, 1897, S. 112–277; Alfred Bruns, Der Archidiakonat Nörten (Veröffentlichungen des Max-PlanckInstituts für Geschichte 17, Studien zur Germania Sacra 17), Göttingen 1967. 46 Zur Frage, ob diese Kapelle wirklich in ein Stift hätte umgewandelt werden sollen, vgl. Alphei: Geschichte (Anm. 37), S. 36ff.; dagegen: Prietzel: Kalande (Anm. 44), S. 90 Anm. 7. 47 Zu nennen wären in diesem Zusammenhang die von den Herren von Plesse, (Wüsten-) Kerstlingerode, Uslar und Hagen/Westernhagen gestifteten oder wenigstens initiierten Kalande, die ganz offensichtlich nicht einfach nur dem Totengedenken für die jeweilige adelige Familie galten, sondern auch der Vergemeinschaftung der Priester der jeweiligen adeligen Herrschaft und der Identitätsbildung unter ihnen in Anbindung an die adelige Herrschaft, die auf diese Weise landeskirchliche Strukturen jenseits vorgegebener episkopaler Strukturen zu substituieren versuchte; vgl. Prietzel: Kalande (Anm. 44), S. 83f., 85–93, 94, 191–269, 287–291; zu den unter Beteiligung Niederadeliger gegründeten Priesterbruderschaften Frankens vgl. Ludwig Remling: Bruderschaften in Franken. Kirchen- und sozialgeschichtliche Untersuchungen zum spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Bruderschaftswesen (Quellen und Forschungen zr Geschichte des Bistums und Hochstifts Würzburg 35), Würzburg 1986, S. 132–210, besonders S. 186–210.
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engere genossenschaftliche und spirituelle Verbindung zur Obrigkeit erhielt, die erst mit der Reformation aufgehoben wurde.48 Die Herren von Adelebsen stimulierten demnach das Kirchenwesen ihres unmittelbaren Herrschaftsbereiches nachhaltig. Als Anhänger Erichs I. und seines Sohnes blieben die Adelebsen in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts eindeutig altgläubig.49 Den von der seit 1540 vormundschaftlich regierenden Herzogin-Witwe Elisabeth mit landgräflich-hessischer Hilfe unternommenen Protestantisierungsversuch von 1542/44 ließen sie in ihren Patronaten versanden;50 eventuell gewährten sie den Visitatoren erst gar keinen Zutritt. Dies resultierte zweifellos nicht allein aus konfessionellen Aspekten, sondern auch aus der selbstverständlichen Abwehr landesherrlich begründeter, theologisch fundierter Ansprüche an dem lokal organisierten und als eigentümlich begriffenen Kirchenwesen des Adelebser Herrschaftsraums. Geschickt wusste Hans von Adelebsen seine ambivalente Position als bekannter Gefolgsmann Herzog Heinrichs des Jüngeren von Braunschweig-Wolfenbüttel (reg. 1514–1568) – jenes innerdynastischen Gegenspielers der Herzogin-Witwe – zu nutzen: Er entzog sich den Wünschen seines herzoglichen Patrons und erschien nicht auf dem Januar-Landtag zu Pattensen 1542. Er wahrte demnach Distanz, um sich alle Optionen in dem Machtspiel offen zu halten und auf den nachfolgenden Ständeversammlungen umso mehr Einfluss nehmen zu können. So wurde er auf dem dritten Landtag vom März 1542 ausdrücklich als Gefolgsmann des Wolfenbütteler Herzogs in jenes Gremium gewählt, das als eigenständig handelnde Schiedskommission den Landfrieden wiederherstellen sollte und mit dem die fürstliche Regierungsgewalt eingeschränkt wurde. Ungelöst blieb bei diesen Verhandlungen, die insbesondere auch die Schuldenproblematik thematisierten, zunächst die Religionsfrage, was aber insbesondere im Interesse der Stände – also auch der Adelebsen – sein musste. Denn auf diese Weise mussten sich die Adeligen untereinander nicht die konfessionelle Gretchenfrage stellen und mussten gar nicht erst in einen offenen Standeskonflikt 48 Vgl. Prietzel: Kalande (Anm. 44), S. 91ff. 49 Zum Folgenden, sofern nicht anders angegeben, vgl. Alphei: Geschichte (Anm. 37), S. 47–68. 50 Vgl. Karl Kayser (Hg.): Die reformatorischen Kirchenvisitationen in den welfischen Landen 1542–1544. Instruktionen, Protokolle, Abschiede und Berichte der Reformatoren, Göttingen 1897, S. 246, 249; Andrea Lilienthal: Die Fürstin und die Macht. Welfische Herzoginnen im 16. Jahrhundert: Elisabeth, Sidonia, Sophia (Quellen und Darstellungen zur Geschichte Niedersachsens 127), Hannover 2007, S. 70–150; Eva Schlotheuber, Birgit Emich, Wolfgang Brandis, Manfred von Boetticher (Bearb.): Herzogin Elisabeth von Braunschweig-Lüneburg (1519–1558). Herrschaft – Konfession – Kultur. Beiträge des wissenschaftlichen Symposiums der Klosterkammer Hannover vom 24.–26. Februar 2010 im Historischen Museum Hannover (Quellen und Darstellungen zur Geschichte Niedersachsens 132), Hannover 2011, hier insbesondere die Beiträge von Gabriele Haug-Moritz, Luise Schorn-Schütte und Thomas Klingebiel.
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mit der Herzogin-Witwe kommen.51 Solche von Ausschweigen geprägte Offenheit bot Chancen für alle Akteure und beließ ihnen hinreichende Handlungsspielräume. Die parallel zu bzw. kurze Zeit nach den religionspolitischen Änderungsversuchen der Jahre 1542–1544 erlassenen Ordnungen spiegelten diese Konfliktlage symptomatisch wider. Sowohl die 1543 erlassene Gerichtsordnung als auch die 1550 erlassene Policeyordnung wiesen aus, dass die Herren zu Adelebsen gewillt waren, das Verhalten ihrer ca. 500 Untertanen stärker zu kontrollieren. Dabei vereinfachten und effektivierten sie die Herrschaftsstrukturen einerseits, andererseits revolutionierten sie die lokalen Gerichtsverhältnisse nicht. Sie schafften die Schöffenstruktur nicht zugunsten einer Gelehrtendominanz ab, sondern banden die Schöffen weiter ein; und doch zentralisierten sie das Gerichtswesen auf Adelebsen als zentralem Justizort, indem sie das Gericht zu dem Asche dorthin verlagerten. Substantiell jedoch ließen jene Artikel der Policeyordnung, mit denen die Pastoren zur Einhaltung ihrer Amtspflichten – das meinte: Messe und Predigt – angehalten wurden, während man den Untertanen den Messbesuch, ruhiges Verhalten während des Gottesdienstes und anderes vorschrieb, keine eindeutige konfessionelle Ausrichtung erkennen.52 Zwanglos und selbstverständlich ergänzten sich die Elemente des alten und des neuen Glaubens. Gleichzeitig fand sich Bodo von Adelebsen im engstens Kreis des Herzogs Erich II. von CalenbergGöttingen (reg. 1540/46–1584), der die Protestantisierung des Calenberger Kirchenwesens zwar aufhielt, nicht aber nachhaltig rekatholisierte. Insofern entsprachen sich die herzogliche und die Adelebser Kirchenpolitik mit dem Unterschied, dass sich das niederadelige Kirchenwesen offenkundig nicht in einem Verfallsprozess befand. Nachweislich erst im Jahr 1564 gingen die Adelebser Herren mit der Bestallung des Predigers Jeremias Meyer zum Protestantismus über. Nach dem Hauptort wurden sukzessive auch die übrigen Patronate mit Predigern besetzt und demnach eine unübersehbare Adelsreformation eingeleitet.53 Die Beweg-
51 Vgl. Lilienthal: Fürstin (Anm. 50), S. 120–128. 52 Der Text der Gerichtsordnung von 1543 und der Policeyordnung von 1550 bei C. F. Walch: Vermischte Beyträge zu dem deutschen Rechte, Achter Theil, Jena 1793, S. 1–21, 22–42; die Wiedergabe der Policeyordnung bei Wilhelm Ebel: Ein Jahrtausend Gerichtswesen im Lande Göttingen, in: Göttinger Jahrbuch, 1953, S. 10–20, hier S. 16f.; ders.: Der Herren von Adelebsen Gerichtsordnung vom Jahre 1543, in: Göttinger Jahrbuch, 1954, S. 29–37 (auch: Ein Jahrtausend Göttinger Gerichtswesen: zur Hundertjahrfeier der Amtsgerichte Göttingen und Reinhausen, Göttingen 1953), hier S. 29f., mit einer durchaus kritischen Einschätzung der Auffassung Mundhenkes, die Schöffengerichtsbarkeit sei im 16. Jahrhundert im Gericht Adelebsen von einer professionellen »Amtsstubenjudikatur« (S. 30) abgelöst worden. 53 Vgl. Alphei: Geschichte (Anm. 37), S. 52ff. Begünstigt wurde der Vorgang dadurch, dass
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gründe hierfür sind unklar. Diese Protestantisierung des Adelsgeschlechts und ihrer Lehensherrschaft noch zu Zeiten des altgläubigen Herzogs hielt die Niederadeligen allerdings nicht davon ab, die nach der Übernahme der Lehens- und Territorialherrschaft durch den lutherischen Herzog Julius von BraunschweigWolfenbüttel (reg. 1568–1589) 1584 bald darauf angeordnete Generalvisitation des Jahres 1588 zu gestatten und gleichzeitig zu behindern.54 Auf Kosten der Patrone sollten die Pfarrer der Herren von Adelebsen in Uslar verhört und visitiert werden. Die Pfarrer bekamen vom Superintendenten theologisch ein exzellentes Zeugnis ausgestellt, während sich die Amtleute der Adelebser Herren gegenüber der Visitationskommission weigerten, die Kirchenrechnung überprüfen zu lassen. Damit war ein Konflikt zwischen den Niederadeligen und dem Herzog entstanden, der die Frage der Untertänigkeit bzw. ihres Ausmaßes neu aufwarf und der in den nächsten Jahren zäh ausgefochten wurde. 1590 visitierten die adeligen Gerichtsherren ihre Pfarrer selbst. Dagegen protestierte der Pfarrer zu Adelebsen, so dass es zum Prozess vor der landesherrlichen Oberbehörde kam.55 1592 verweigerten die Herren von Adelebsen dem zuständigen Superintendenten mehrfach, eine Spezialvisitation durchzuführen. Bodo und Crain von Adelebsen reichten deshalb sogar vor dem Reichskammergericht eine Klage ein, bevor es 1594 zu einer Einigung kam. Demnach ließen sie zukünftig eine Visitation durch die kirchlichen Obrigkeiten zu, die jedoch auf die Kontrolle der Kirchenrechnungen verzichten mussten. Gleichzeitig konzedierte Herzog Heinrich Julius dem Adelsgeschlecht das Patronatsrecht über sämtliche Kirchen der Gerichtsherrschaft. Nicht nur diese Einigung erwies, dass die Adelebsen zu keinem Zeitpunkt auf den Erhalt ihrer Kirchenrechte als Teil ihrer Eigenmacht zu verzichten bereit waren, sondern sich gleichermaßen als weltliche und geistliche Obrigkeit in einem verstanden; auch ihre Policeyordnung von 1588, deren Publikation jedoch ungewiss ist, spiegelte dieses Verständnis ebenso wider wie die seit den 1540er-Jahren erfolgreich unternommenen Versuche, die lokale Wirtschaft – erwähnt seien die Bierbrauerei, die Forstnutzung, die Schweinemästung – straffer zu organisieren, effektiver zu gestalten und die Arbeitsdienste der Untertanen zu erhöhen.56 Gleichwohl ließen sie es dabei niemals zu einer unüberbrückbaren Totalkonfrontation mit dem Landesherrn kommen. Damit unterschieden sie sich von der generationell älteren Saldern-Fraktion neben der Landesherrschaft auch die kirchliche Oberkontrolle durch den Nörtener Archidiakon faktisch nicht vorhanden war. 54 Vgl. Karl Kayser : Die General–Kirchenvisitation von 1588 im Lande Göttingen-Kalenberg, in: Zeitschrift der Gesellschaft für Niedersächsische Kirchengeschichte, 1904, Nr. 8, S. 93–238, und Nr. 9, S. 22–72, hier 8, S. 179ff.; Alphei: Geschichte (Anm. 37), S. 64f. 55 Vgl. Mundhenke: Patrimonialgericht (Anm. 37), S. 60f. 56 Alphei: Geschichte (Anm. 37), S. 55–58; Mundhenke: Patrimonialgericht (Anm. 37), S. 54f.
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im südniedersächsischen Niederadel, die seit 1594 ein Jahrzehnt lang mit dem Wolfenbütteler Herzog unversöhnlich über Steuer- und Religionsfragen sowie über den Bauernschutz und die Anwendung des römischen Rechts durch die Landesherrschaft, letzthin also über Fragen der ständischen Partizipation stritt, den Landesherrn und die Landesinstitutionen zu blockieren suchte, für sich eine theologisch fundierte Garantenrolle der Landestradition schlechthin reklamierte und hierfür mit der lutherisch-orthodoxen Geistlichkeit koalierte. Die Adelebsen standen dagegen für jenen Teil des gespaltenen Calenberger und Wolfenbütteler Adels, der am Ende des Jahrhunderts eher auf die Kontrolle landesherrlicher Macht durch Mitarbeit auf dem Landtag und durch Steuerung der landesherrlichen Wünsche in den Ausschüssen setzte. Entsprechend engagierte sich Bodo von Adelebsen – wie schon sein Vater, der zudem als Rat und Statthalter Herzog Erichs II. gewirkt hatte – zwischen 1593 und 1619 in den Landtagsausschüssen und erhielt schon 1589 die Stellung eines Rats von Haus aus, während sein Bruder Jobst im zweiten Jahrzehnt des 17. Jahrhunderts als Landdrost wirkte.57 Gleichermaßen zahlte sich die kritisch-vermittelnde Haltung der Familie gegenüber der Landesherrschaft schon 1573 aus, als sich die herzoglichen Räte in Münden mit den Beschwerden der Adelebser Gemeindevorsteher über die Steigerung der Dienste und Forstbeschränkungen auseinandersetzten: Sämtliche Klagen wurde abgelehnt, die adeligen Herren obsiegten auf ganzer Linie.58
Fazit: Kirchenspaltung als Chance des Niederadels zur Neuqualifikation des Eigenkirchenwesens im Sinne der Stabilisierung seiner Eigenmacht Aus der Sicht des Niederadels handelte es sich beim Werra-Weser-Gebiet um einen Raum, der sich im 16. Jahrhundert zunehmend nach den Vorstellungen der Fürsten herrschaftlich verdichtete, aber weiterhin von offener Kommunikation, vielfacher personeller Verflechtung und Konkurrenz unter allen Akteuren geprägt war. Der Niederadel mochte dabei untertänig sein; dennoch war er äußerst aktiv, selbstständig, selbst- und herrschaftsbewusst, allein weil er über erstaunliche herrschaftliche Ressourcen verfügte. Allerdings koordinierte er 57 So erscheint bspw. Bodo von Adelebsen 1595 als Mitglied des Landtagsausschusses von Gandersheim, nachdem er schon 1591 am Landtag hatte teilnehmen wollen, aber verhindert war. Auch 1619 erscheint er noch als Mitglied eines Ausschusses. Bereits sein gleichnamiger Vater hatte als Vertreter des Landes Oberwald im Schatzrat des Fürstentums CalenbergGöttingen amtiert; vgl. Lange: Landtag (Anm. 38), S. 109 Anm. 340, 118 Anm. 374, 159 Anm. 474, 172, 180 Anm. 560f.; Samse: Zentralverwaltung (Anm. 38), S. 291. 58 Vgl. Alphei: Geschichte (Anm. 37), S. 57ff.
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sein Handeln gegen die Fürsten nicht supraterritorial und auch intraterritorial nur bedingt bzw. temporär, weil die innerständischen und innerfamiliären Konfliktpotentiale und Konkurrenzen allen Gemeinsamkeiten zum Trotz zu groß waren. Dabei handelte es sich um Konstanten, selbst wenn im Zuge der Konfessionalisierung der jeweiligen Politiksysteme massive Konflikte mit den Landesherren ausbrachen, die beinahe zeitgleich zwischen 1590 und 1610 ausgetragen und dabei ähnliche rhetorisch-argumentative Strategien mit identischen Zielen verwendet wurden. Aus ähnlichen Interessenlagen und Herrschaftspositionen ergaben sich ähnliche Problemlagen und Verhaltensweisen. Sie waren schon durch ähnliche vorreformatorische Ausgangssituationen bedingt: Die niederadeligen Familien hatten ihre Patronatspfarreien zu Eigenkirchen geformt; von den fürstlichen Reformen des Spätmittelalters waren sie zumeist nicht tangiert gewesen. Die Einführung der Reformation vollzog sich vor diesem Hintergrund entweder im politischen Konsens mit dem Fürsten – wie in der Landgrafschaft Hessen 1526/ 27 gleichsam als landespolitischer Wurf der Territorialeliten bzw. wie in Braunschweig-Wolfenbüttel 1568/69 als Kenntnisnahme eines fürstlichen Beschlusses, nachdem man selbst schon längst die Wendung vollzogen hatte – oder schleichend wie auf dem Eichsfeld oder in Braunschweig-Calenberg, weil sich die altgläubigen Adeligen zunächst nicht um die neue Lehre kümmerten bzw. sie gar bekämpften oder aber sie früher oder später annahmen und in ihren Patronatspfarreien umsetzten. Im Untersuchungsraum etablierte sich die Reformation jedenfalls nicht im offenen Konflikt zwischen Fürsten und Niederadel. Sie war auch nicht das (alleinige) Werk der Fürsten, sondern das Produkt des bewussten Willens der niederadeligen Patronatsherren, ihre Kirchengemeinden dem neuesten theologischen Angebot – vielleicht auch Trend – entsprechend zu formen. Dabei verzichtete man nicht auf alte Traditionen und lebte gerne in einem theologischen Synkretismus alter und neuer Lehre. In ambivalenter Weise galt dies auch für die niederadeligen Familien selbst: Sie verzichteten mit der Einführung der Reformation auf das alte Kloster- und Stiftspfründensystem, das sie allerdings im hier untersuchten Raum zuvor wohl nur noch eingeschränkt genutzt hatten, und sicherten sich die materiellen Substrate auf dem Wege des politischen Ausgleichs mit den (protestantisierenden) Landesherren, die ihnen zunächst auch relativ freie Hand bei der Ausgestaltung der Verhältnisse in ihren Patronatspfarreien ließen. In der Summe lässt sich demnach festhalten, dass es der Niederadel im gesamten Untersuchungsraum vermochte, seine Stellung als lokaler Kirchenherr unter gewandelten kirchlichen Bedingungen zu erhalten und auszubauen. Unterstützend wirkte dabei entweder das fürstliche Bestreben nach Einführung und Implementierung der Reformation oder die landesherrliche Vernachlässigung dieses Bereiches infolge von Desinteresse oder herrschaftlicher Ohnmacht. Dogmatisch resultierte daraus, dass sich in den nie-
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deradeligen Patronatsgemeinden ein urtümlich-bibliozentrisches Luthertum etablierte, das sich später als orthodox bezeichnen konnte. Angesichts dieser Ausgangslage entfaltete sich während des 16. Jahrhunderts im Werra-Weser-Gebiet sukzessive ein spezifisch niederadeliger EigenkirchenProtestantismus. Mit ihm verband sich eine auf der Basis der Konfession ausgedrückte Familienidentität ebenso wie ein Verantwortungsgefühl für die Gemeinde, die säkular-herrschaftlich wie auch religiös-transzendent ausgerichtet war. Vor dem Hintergrund der lutherischen Rechtfertigungslehre begriffen die vorgestellten Niederadeligen und ihre Familien ihre religiös-konfessionelle Entscheidung und Haltung in unterschiedlichen Situationen als Moment der Existenzbewährung sowie als Teil einer religiösen und sozialen Verpflichtung gegenüber Gott und der ihnen anvertrauten Gemeinde. Der Christus-Zentrierung dieser religiösen Haltung musste dabei nicht eine prinzipielle Abwendung von der Werkgerechtigkeit entsprechen, sondern sie qualifizierte diese auf konfessionalistisch-protestantischer Basis neu. Das spezifisch Neue dieser Werkegerechtigkeit schlug sich demnach in der Wahrnehmung seiner Schutzfunktion für die Kirchengemeinde nieder. Die Akzeptanz der lutherischen Lehre und ihre Adaption im Rahmen der ständisch-herrschaftlichen Selbstinterpretation des Niederadels stellte demnach keinen Bruch mit der Tradition dar, sondern vielmehr das Anknüpfen an die kirchlich-religiöse Tradition vor Ort, die sich auf den Patron konzentrierte, und deren Neubegründung im alten Erfahrungsraum. Im Unterschied zu früheren Zeiten beanspruchten nun allerdings die niederadeligen Patronatsherren ausgehend von der lutherischen Lehre, auch diesen traditionellen Herrschafts- und Erfahrungsraum stärker und tiefer als zuvor auszugestalten, indem sie durch entsprechende Kirchen- und Policeyordnungen sozialdisziplinarisch wirkten. Sie taten dies konfessionsübergreifend, nicht selten konfessionell ungebunden, weil es ihnen nicht um die Implementierung der Konfession des Landesherrn, sondern um die Gestaltung ihres kirchlich-religiösen Selbstverständnisses bzw. »ihres« Erfahrungsraumes ging. Ein solcher Gemeindebegriff meinte deshalb nicht ein von der Welt geschiedenes Moment, sondern gerade die Gesamtheit aller Aspekte des lokalen Lebens, dem der adelige Patron und seine Familie vorbildhaft – wenn auch nicht immer idealiter – vorstand. Insofern traten adelige Herren und nicht-adelige Untertanen einander nun als Mitglieder derselben Gemeinde nicht (mehr) oppositionell-antagonistisch gegenüber, sondern als Brüder und Schwestern, jedenfalls als Glieder der einen Gemeinde, wenn auch mit unterschiedlichen Funktionen. Wenn man daraus schon nicht den Schluss ziehen will, die niederadeligen Grundherren hätten ihre Lektion aus dem Bauernkrieg gelernt, so muss man jedenfalls konstatieren, dass die Rezeption der lutherischen Obrigkeitslehre offenkundig tiefe Wurzeln im Selbstverständnis des Niederadels geschlagen hatte. Die lutherische Lehre bereicherte die bis
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dahin bekannte Welt der niederadeligen Herrschaft sinnhaft neu und vermittelte den niederadeligen Herrschaftsansprüchen neue Horizonte. So agierten die niederadeligen Patronatsherren von sich aus nicht anders als ihre Landesherren. Dem entsprach zugleich ein niederadeliger Selbstbehauptungsprotestantismus, der sich unabhängig von der konfessionellen Option des Landesherrn gegen ein fürstlich-zentristisches Kirchen- und Herrschaftsverständnis wandte, das den niederadeligen Anspruch sowohl auf Selbstregulierung des Kirchlich-Spirituellen als auch anderer Gestaltungsbereiche bedrohte. Gewissen und Freiheit figurierten daher auch als selbstverständliche Vokabeln, die gleichermaßen nicht nur den religiösen Raum, sondern auch den weltlichen Raum tangierten. Ein dezidiertes, dogmatisch fundiertes Konfessionsverständnis bildete sich – in der Landgrafschaft und in Braunschweig besser nachweisbar als auf dem Eichsfeld – erst im Konfliktfall aus, also durch extrinsischen Druck durch die Fürsten und Teile ihrer Geistlichkeit. Es war symptomatisch, dass sich die opponierenden Adelsfraktionen dabei überwiegend im Sinne des orthodoxen Luthertums und damit als Garanten der evangelischen Tradition positionierten und daraus auch die Schlagkraft ihres Widerstands resultierte; und ebenso symptomatisch war es, dass als Instrumente und Foren des niederadeligen Widerstands und der Inszenierung niederadeligen Konfessionsverständnisses drei miteinander eng korrespondierende Elemente erschienen: die Patronatsgemeinden als soziale Aktionsräume vor Ort, die Patronatsrechte als juristische Werkzeuge und die Landtage als politische Aktionsforen. Die Auseinandersetzung über die Religionsfrage zwischen niederadeligen Patronatsherren und fürstlichen Landesherren war dabei stets Teil eines ganzen Bündels von Herrschaftsproblemen zwischen den Konfliktakteuren, nicht deren genuiner Gegenstand. Ebenso wenig trug sie zum Entstehen der jeweiligen Ständesysteme bei, sondern reicherte sie inhaltlich lediglich, wenn auch nicht selten spektakulär-explosiv an. Hierbei dynamisierte sie allerdings – wie der eichsfeldische Fall bewies – die Bedeutung des Landtags als Ort der niederadelig-ständischen Gruppenbildung. Das Beispiel des Niederadels im Werra-Weser-Gebiet während des Reformations- und Konfessionalisierungszeitalters erweist sich keinesfalls als singulärer Befund. Er spiegelt vielmehr die offenkundig übliche Religions- und Herrschaftspraxis im Niederadel dieser Epoche wider, die sich auch in anderen Regionen des Reiches in der gesamten Frühen Neuzeit beobachten lassen.59 Sie weisen darauf hin, dass die Kraft des Niederadels im 16. Jahrhundert keineswegs 59 Für Hessen bzw. Fulda vgl. Alexander Jendorff: »Dem Eisenhut dienen, aber unter dem Bischofshut wohnen«. Niederadel und Landesherrschaft im Hochstift Fulda und im Hessen der Frühen Neuzeit, in: Hessisches Jahrbuch für Landesgeschichte, 2012, 62. Jg., S. 83–124; für das Hochstift Münster : Gillner : Herren (Anm. 1), S. 453–467.
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Alexander Jendorff
generell erschöpft, sondern dieser vielmehr fähig und willens war, sich neue Ressourcen zu erschließen bzw. alte Selbstbehauptungspotentiale unter – selbst oder extrinsisch – gewandelten Bedingungen neu zu qualifizieren bzw. zu regenerieren. Dass davon nicht alle Standesvertreter gleichermaßen profitierten, war kein Ausweis eines allgemeinen Niedergangs, sondern lag vielmehr in der weiterhin bestehenden und sogar teilweise verschärften Konkurrenzsituation innerhalb dieser Standesgruppe.
Karl Murk
Herrschaftsvermittlung am »Werrastrom«. Die Landesvisitationen von 1667 und 1746 im Amt Ludwigstein, in Witzenhausen und den adligen Gerichtsbezirken
Als Ort der Herrschaft hatte Burg Ludwigstein spätestens 1664 ausgedient. Damals wurde der Verwaltungssitz des nach der Burg benannten Amtes nach Witzenhausen verlegt. Fast zweieinhalb Jahrhunderte nach ihrer Errichtung im Jahr 1415 büßte die Anlage damit ihre Funktion als administratives Zentrum am »Werrastrom« endgültig ein. Fortan prägte allein der landwirtschaftliche Domänenbetrieb das Leben auf dem Ludwigstein. Da diese Thematik in einem anderen Beitrag behandelt wird, kann die Burggeschichte im engeren Sinne im Rahmen einer Untersuchung der komplexen Herrschaftsverhältnisse und der Herrschaftsausübung in der Werraregion im 17. und 18. Jahrhundert ausgeblendet werden. Die hier im Mittelpunkt stehenden hessen-kasselschen Landesvisitationen im hessen-rheinfelsischen Amt Ludwigstein/Witzenhausen ließen die Domäne Ludwigstein unberührt. Die spezifischen Ausprägungen bzw. Funktionsweisen der fürstlichen Herrschaftsausübung »nach innen« suchten Frühneuzeithistoriker lange Zeit mit den Begriffen »Absolutismus« und »Sozialdisziplinierung« zu erfassen. Inzwischen – so hat es den Anschein – sind diese Deutungsmodelle nur noch von forschungsgeschichtlicher Relevanz. Ihr Erkenntniswert und ihre Aussagekraft werden in Frage gestellt, hier und da auch gänzlich verworfen.1 Als Resultat dieses Forschungstrends erscheint der »absolutistische« Territorialstaat heute oftmals nur noch wie ein durchsetzungsschwacher »Papiertiger«.2 Neuere ein-
1 Vgl. Andrea Iseli: Gute Policey. Öffentliche Ordnung in der Frühen Neuzeit, Stuttgart 2009, S. 115–121; Markus Meumann, Ralf Pröve: Die Faszination des Staates und die historische Praxis. Zur Beschreibung von Herrschaftsbeziehungen jenseits teleologischer und dualistischer Begriffsbildungen, in: dies. (Hg.): Herrschaft in der Frühen Neuzeit. Umrisse eines dynamisch-kommunikativen Prozesses (Herrschaft und soziale Systeme in der Frühen Neuzeit 2), Münster 2004, S. 11–49; Heinz Duchhardt: Absolutismus – Abschied von einem Epochenbegriff, in: Historische Zeitschrift, 1994, 258. Jg., S. 113–123; Ronald G. Asch, Heinz Duchhardt (Hg.): Der Absolutismus – ein Mythos? Strukturwandel monarchischer Herrschaft, Köln 1996. 2 Stefan Brakensiek: Herrschaftsvermittlung als kultureller Austausch, in: Michael North (Hg.):
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Karl Murk
schlägige Untersuchungen beleuchten die obrigkeitlichen Aufsichts- und Reglementierungsbemühungen primär unter kommunikationstheoretischen Aspekten. Auf dem Konzept der sogenannten. »Herrschaftsvermittlung« basierend, richten sie ihr Augenmerk auf soziale Praktiken, Austausch- und Lernprozesse in Räumen mit asymmetrischen Machtbeziehungen – soll heißen: auf die interessengeleitete Kommunikation und Interaktion zwischen den Inhabern von Herrschaftsrechten, den regionalen und lokalen Eliten und der breiten Bevölkerung. Als »institutionalisierte Formen hierarchischer Kommunikation« bzw. als politisch-administrative Techniken und Instrumente zur Umsetzung, Festigung und Legitimation der fürstlichen Herrschaft auf der lokalen Ebene sind in jüngster Zeit auch Landesvisitationen in den Blickpunkt der Forschung geraten.3 Dabei handelte es sich um schematisierte Verfahren der Kontaktaufnahme und des Austauschs zwischen Regierenden und Regierten, die das Informationsund Kontrollbedürfnis der Obrigkeit befriedigten, den Untertanen die Möglichkeit zur Interessenartikulation und Beschwerdeführung einräumten und im Gegensatz zu Spezialvisitationen alle Bereiche des obrigkeitlichen Verwaltungshandelns auf der lokalen Ebene erfassten. Das landesherrliche Interesse zielte auf das weltliche und kirchliche Regiment vor Ort und – soweit vorhanden – auf die Domänen. Eigens zu diesem Zweck bestellte Visitationskommissionen bereisten das Land, verteilten Fragenkataloge an die lokalen Amtsträger, sammelten nach Ablauf bestimmter Fristen die Antworten und die gegebenenfalls erhobenen Beschwerden der Stadt- und Landbewohner, erörterten und regelten kleinere Streitfälle mit den Konfliktparteien vor Ort und leiteten gravierendere Probleme zur Entscheidung an die zuständigen Zentralbehörden bzw. den Landesherrn weiter. Der dabei angefallene Schriftverkehr spiegelt den komplexen Herrschaftsalltag in Stadt und Land umfassend wider. Als unterste Justiz- und Verwaltungsebenen des frühneuzeitlichen Fürstenstaats bildeten Ämter, Gerichtsbezirke und Städte geeignete Ansatzpunkte für Landesvisitationen, deren Rahmenbedingungen, Anlässe, Abläufe und Auswirkungen im Folgenden am Beispiel des aus sieben Dörfern (Hundelshausen, Weißenbach, Roßbach, Ellingerode, Hilgershausen, Oberrieden und Wendershausen) bestehenden Amtes Ludwigstein4, der Stadt Witzenhausen und der bei WitzenKultureller Austausch. Bilanz und Perspektiven der Frühneuzeitforschung, Köln u. a. 2009, S. 163–173, hier S. 163. 3 Vgl. Nicols Brochhagen: Die landesherrliche Visitation in Grebenstein 1668. Eine Fallstudie zur Herrschaftsvermittlung durch Visitationsverfahren in der Landgrafschaft Hessen-Kassel (Quellen und Forschungen zur hessischen Geschichte 165), Darmstadt, Marburg 2012, hier S. 9. 4 Im 17. und frühen 18. Jahrhundert ist mal vom Amt Ludwigstein, mal vom Amt Witzenhausen, danach fast nur noch vom Amt Witzenhausen die Rede. Der Amtsbezirk blieb jedoch
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hausen gelegenen vier adligen Gerichtsbezirke untersucht werden sollen. Angesichts der Vielzahl der dort begüterten und mit hierarchisch abgestuften Hoheitsrechten ausgestatteten Herrschaftsträger und der geographischen Lage im nordöstlichen Zipfel der Landgrafschaft Hessen-Kassel an der Grenze zu Kurbraunschweig und zum kurmainzischen Eichsfeld scheint die Region besonders gut geeignet, um die komplexen Kommunikations- und Interaktionsprozesse zwischen den an einem Visitationsverfahren beteiligten Personenkreisen zu verdeutlichen. Unablässige Grenzstreitigkeiten mit den Anrainerstaaten, komplizierte Herrschaftsstrukturen und gravierende wirtschaftliche Probleme prägten die Lebensverhältnisse der Menschen am Werrastrom, die im Dreißigjährigen Krieg arg gelitten hatten5, und bewogen die Landgrafen von Hessen-Kassel 1667 und 1746 dazu, auch in dieser Gegend Landesvisitationen durchzuführen.6 Neben den Landgrafen von Hessen-Kassel als Landesherren begegnen als Inhaber von Besitz- und Hoheitsrechten in der herrschaftlich stark durchmischten Grenzregion seit der Abteilung der sogenannten Quart im Jahre 1627 die Landgrafen von Hessen-Rheinfels-Rotenburg als Nebenlinie des regierenden Hauses sowie die Adelsgeschlechter v. Berlepsch, v. Bischhausen, v. Bodenhausen und v. Buttlar. Einen Eindruck von der Unübersichtlichkeit der örtlichen Verhältnisse vermittelt der Blick auf die erstinstanzlichen Jurisdiktionsbefugnisse, die in Witzenhausen beim Stadtgericht, im Amt Ludwigstein bei der Rotenburger Nebenlinie und in den Adelsdörfern bei einem, zwei, mitunter sogar drei verschiedenen Gerichtsherren lagen.7 Noch buntscheckiger wird der Fliimmer identisch. Die uneinheitliche Benennung rührt daher, dass der Amtssitz 1664 von der Burg Ludwigstein in die Stadt Witzenhausen verlegt wurde. 5 Zu den verheerenden Auswirkungen des Dreißigjährigen Krieges im hessischen Raum allgemein vgl. Klaus Malettke: Der Dreißigjährige Krieg in Hessen und seine Folgen, in: Hessisches Jahrbuch für Landesgeschichte, 2001, 51. Jg., S. 83–102; zu den finanziellen und ökonomischen Schäden sowie den demographischen Verlusten in der Werraregion vgl. John Theibault: German Villages in Crisis. Rural Life in Hesse-Kassel and the Thirty Years’ War, 1580–1720 (Studies in German History 6), New Jersey 1995, S. 165–192. 6 Noch 1857 wurde der Kreis Witzenhausen zu den »verwahrlosesten des Landes überhaupt gezählt«, dessen Grenzlage, Armut und administrative Mängel das besondere Augenmerk der Kasseler Zentrale erforderten. – Vgl. Bericht der Regierung Kassel an das Innenministerium (Kassel 1857 Dez. 11), Hessisches Staatsarchiv Marburg (HStAM), Best. 18 Nr. 3363. 7 Im 18. Jahrhundert waren die v. Berlepsch alleinige Gerichtsherren in Gertenbach, Albshausen und Unterrieden. In vier weiteren Dörfern übten sie die Gerichtsbarkeit gemeinsam mit Hessen (Kleinalmerode), den v. Bischhausen (Bischhausen), den v. Bodenhausen (Marzhausen) sowie mit Braunschweig (Moldenfeld) aus. Der Familie v. Bischhausen stand die Gerichtsbarkeit in Berge und Hebenshausen komplett, in Bischhausen gemeinsam mit Hessen und den v. Berlepsch zu. Zum Gerichtsbezirk der v. Bodenhausen zählten dreieinhalb (Uengsterode, Eichenberg, Reckershausen, Marzhausen zur Hälfte), zu demjenigen der Familie v. Buttlar fünf Dörfer (Ziegenberg, Blickershausen, Ermschwerd, Hubenrode, Laudenbach). – Vgl. den Extrakt aus dem Stadt-, Amts-, Wald- und Dorfbuch des Ober- und Niederfürstentums Hessen (18. Jahrhundert), HStAM Best. S 97 sowie die Eintragungen in einem
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Karl Murk
ckenteppich, wenn die Abgaben- und Dienstverpflichtungen der Untertanen in die Betrachtung mit einbezogen werden.8 Hessen-Kassel bestellte seit 1655 einen sogenannten Reservatenkommissar zur Wahrung und Geltendmachung seiner landesherrlichen Hoheitsrechte in der Rotenburger Quart, zu dessen Amtssprengel auch die Stadt Witzenhausen und das Amt Ludwigstein gehörten. Die der Nebenlinie in Stadt und Amt zustehenden Verwaltungs- und Jurisdiktionsbefugnisse wurden von einem Oberschultheißen wahrgenommen, der in seiner Person die Funktionen eines »Policeyadministrators« und erstinstanzlichen Gerichts für die Landbevölkerung vereinte. Umfang und Abgrenzung der jeweiligen Rechte und Zuständigkeiten waren umstritten, Kompetenzkonflikte zwischen dem Reservatenkommissar und dem Oberschultheißen daher an der Tagesordnung. Die Adelsfamilien beschäftigten in ihren Gerichtsbezirken eigene Justiziare und Verwalter. In Witzenhausen bildeten der amtsführende Bürgermeister, der Prokonsul und zehn Ratsherren die städtische Obrigkeit. Gemeinsam mit dem Schultheißen fungierten sie als erstinstanzliches Gericht für die Bürgerschaft. Bürgermeister und Ratsmitglieder wurden auf Lebenszeit gewählt bzw. bestellt und bei Bedarf mit landesherrlicher Genehmigung aus dem Kreis der Ratsmitglieder bzw. durch Kooptation aus den Reihen der sogenannten »Freunde der Gemeinde« ersetzt. Letztere bildeten den äußeren Rat und wurden bei grundlegenden Entscheidungen als Beratungsinstanz konsultiert. Für die Umsetzung der Ratsbeschlüsse und der landesherrlichen Erlasse in Witzenhausen sorgten Mitte des 18. Jahrhunderts über 30 städtische Bedienstete.9 In den Dörfern des Amts Ludwigstein und der adligen Gerichte amtierten Schultheißen und Gemeindevorsteher, die zumeist der bäuerlichen Oberschicht entstammten und von den Ortsherren in der Regel auf Lebenszeit eingesetzt wurden.10 Als Vollzugsorgane und Interessenvertreter ihrer jeweiligen Herrschaft waren die Lokalbeamten, die städtischen und dörflichen Amts- und vermutlich im späten 18. Jahrhundert angelegten Dorfbuch von Hessen, HStAM, Best. S 112 I; vgl. ferner Landvisitationsprotokoll von 1667, HStAM Best. 5 Nr. 19043. 8 So dienten beispielsweise die im berlepschen Gerichtsdorf Unterrieden lebenden elf Familien 1746 vier verschiedenen Herren. – Vgl. Ludwigsteiner Landvisitationsprotokoll vom 3. März 1746, HStAM, Best. 5 Nr. 16540. 9 Neben dem Stadtschreiber und dem Kämmerer u. a. ein Kelleradministrator, zwei Stadtvormünder mit Kontrollfunktionen, ein Steuer- und ein Kontributionserheber, ein Förster, ein Brauverwalter, ein Braumeister und seine Knechte, ein Marktmeister, ein Baumeister, ein Schornsteinfeger, zwei Stadtdiener, ein Feldhüter, ein Türmer und zwei Nachtwächter. – Vgl. HStAM, Best. 5 Nr. 16529: Designation der städtischen Amtsträger und ihrer Besoldung.. 10 Vgl. Stefan Brakensiek: Rekrutierung lokaler Herrschaftsvermittler unter wechselnden Vorzeichen. Die böhmische Herrschaft Neuhaus, das ungarische Komitat Szatmr und die Landgrafschaft Hessen-Kassel im Vergleich, in: ders., Heide Wunder (Hg.): Ergebene Diener ihrer Herren? Herrschaftsvermittlung im alten Europa, Köln u. a. 2005, S. 97–122, hier S. 112–116; zur lokalen Amtsträgerschaft in der Werraregion vgl. ferner Theibault: Villages (Anm. 5), S. 21–24.
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Würdenträger zugleich auch die wichtigsten direkten Ansprechpartner für die Visitationskommissionen. Die Durchleuchtung der unübersichtlichen und vielfältige Reibungsflächen darbietenden Herrschafts- und Verwaltungsstrukturen stellte die landgräflichen Kommissare vor nicht geringe Herausforderungen. Anhand der beiden großen Landesvisitationen, die von 1666 bis 1668 sowie 1746 im Niederfürstentum Hessen, in der Grafschaft Schaumburg und der Herrschaft Schmalkalden durchgeführt wurden und 1667 bzw. 1746 auch die niederhessischen Quartämter und die adligen Gerichtsbezirke am Werrastrom berührten, sollen in drei Schritten die Ziele und Strategien der an den Verfahren aktiv und reaktiv beteiligten Personenkreise untersucht werden. Was bezweckten die Landgrafen von Hessen-Kassel mit den Visitationen? Wie liefen die Verfahren ab, und welchen Wandlungen waren sie unterworfen? Wie reagierten die lokalen Herrschaftsträger – die Landgrafen von Hessen-Rheinfels-Rotenburg und die hessischen Ritter – auf die Landesvisitationen? Was trieb die Amtsträger vor Ort um? Was erhofften und erwarteten die Untertanen von den Untersuchungen? Wurden Landesvisitationen eher als Kontroll- und Disziplinierungsinstrumente oder als Chancen zur Artikulation und Durchsetzung eigener Interessen wahrgenommen? Was erfahren wir über das Herrschaftsverständnis und die Selbstwahrnehmung der Obrigkeiten und ihrer Amtsträger, über die Funktionsweise des fürstlichen, adligen und städtischen Regiments aus Sicht der Beherrschten sowie über die Akzeptanz und Durchsetzung bzw. die Vollzugsdefizite bei der Umsetzung obrigkeitlicher Regelungen vor Ort? Wie breit war die »Kluft zwischen Ordnungsanspruch und Ordnungswirklichkeit«11?
Die Perspektive der Landesherrschaft Aus Sicht der Landgrafen von Hessen (-Kassel) dienten die seit dem 16. Jahrhundert im Zuge der institutionell-administrativen Herrschaftsverdichtung durchgeführten Untersuchungsverfahren zunächst und vor allem der möglichst umfassenden Informationsbeschaffung und Wissensvermehrung über die lokalen Lebenswelten. Visitationen erwiesen sich als ein »erstrangiger Informationskanal für einen Staat, dem die herrschaftlich-administrative Durchdringung und Kontrolle des Lokalen […] noch nicht gelungen war.«12 Die in die 11 Thomas Fuchs: Anspruch und Wirklichkeit fürstlich-staatlichen Wirkens in der Provinz. Die Befragung von Beamten und Untertanen zur Landesverbesserung in Hessen-Kassel 1731, in: Meumann, Pröve: Herrschaft (Anm. 1), S. 143–159, hier S. 155. 12 Rosi Fuhrmann, Beat Kümin, Andreas Würgler : Supplizierende Gemeinden. Aspekte einer vergleichenden Quellenbetrachtung, in: Peter Blickle (Hg.): Gemeinde und Staat im Alten
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Ämter entsandten Kommissare inspizierten die administrativen Abläufe, die Justizpflege und die Kirchenzucht vor Ort, achteten auf die Umsetzung landesherrlicher Vorschriften und Erlasse in weltlichen und kirchlichen Angelegenheiten, untersuchten die Rechnungs- und Aktenführung sowie das dienstliche und außerdienstliche Verhalten der Amtsträger und die Bewirtschaftung der in Eigenregie oder durch Pächter verwalteten Domänen. Neben der Festigung der Herrschafts- und Hoheitsrechte zielten die systematischen und umfassenden Inspektionsmaßnahmen, bei denen die gesamte innere Ordnung der Ämter auf den Prüfstand gestellt wurde, auf die Disziplinierung der Beamtenschaft, den Untertanenschutz und die ökonomisch-fiskalische Einnahme-Optimierung. Die bereits unter Landgraf Philipp von Hessen angestoßene, unter seinem ältesten Sohn Wilhelm IV. im Teilfürstentum Hessen-Kassel perfektionierte Durchdringung und Kontrolle des Herrschaftsapparats kulminierte in der Visitationsordnung von 1577/78. Darin verfügte der Landgraf, eingedenk seiner Pflichten als guter Haushalter, dass alljährlich drei Beamte der Zentralverwaltung jeweils im Mai und im September Visitationen in allen hessen-kasselschen Ämtern durchführen sollten.13 Die beiden Visitationstermine waren durch den Erntezyklus vorgegeben. Im Mai sollte die allgemeine Kontrolle der Amtsverwaltungen und die Besichtigung der Felder im Vordergrund stehen, bei der Herbstvisitation das Hauptaugenmerk auf die Erfassung der Ernteerträge gerichtet werden. Kleinere Mängel durften die Kommissare durch Verfügungen und Strafmaßnahmen vor Ort beseitigen; größere Missstände hatten sie nach Kassel zu melden. Dass die zunächst rege Untersuchungstätigkeit – von 1578 bis 1589 liegen Belege für sieben Visitationsverfahren vor – in der Folgezeit merklich ins Stocken geriet, dürfte vor allem auf den damit verbundenen enormen Zeit- und Arbeitsaufwand zurückzuführen sein. Darüber hinaus verhinderten möglicherweise auch widrige politische Rahmenbedingungen und das mangelnde Interesse der Regierungsnachfolger, die andere Prioritäten setzen, die regelmäßige Durchführung der ambitionierten Prüf- und Kontrollverfahren.
Europa (Historische Zeitschrift. Beihefte, Neue Folge 25), München 1998, S. 304–321, hier S. 320. 13 Vgl. Kersten Krüger : Politische Ämtervisitation unter Landgraf Wilhelm IV., in: Hessisches Jahrbuch für Landesgeschichte, 1977, 27. Jg., S. 1–36, hier S. 7f., Abdruck in: ebd., S. 21–28; zur Durchführung einer Amtsvisitation vgl. Kersten Krüger : Frühabsolutismus und Ämterverwaltung: Landgraf Wilhelm IV. inspiziert 1567 Amt und Eigenwirtschaft Trendelburg, in: Hessisches Jahrbuch für Landesgeschichte, 1975, 25. Jg., S. 117–147; vgl. ferner Stefan Brakensiek: Amtsträgerschaft und landgräfliches Regiment – Versuch einer Figurationsanalyse, in: Heide Wunder, Christina Vanja, Berthold Hinz (Hg.): Landgraf Philipp der Großmütige von Hessen und seine Residenz Kassel (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen 24/8), Marburg 2004, S. 137–150.
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Im 17. und 18. Jahrhundert blieben Landesvisitationen durch speziell dazu ermächtigte Kommissionen außerordentliche Maßnahmen, die nur dreimal angeordnet und durchgeführt wurden – 1615 während der Regierungszeit des Landgrafen Moritz14, 1666 bis 1668 unter der Regentschaft der Landgräfin Hedwig Sophie sowie 1746 unter König Friedrich I. bzw. dessen Statthalter und Bruder Wilhelm (VIII.). Vorbereitung und Durchführung der beiden zuletzt genannten Verfahren, die u. a. auch die Quartämter und adligen Gerichtsbezirke an der Werra erfassten, kosteten viel Zeit und Mühe. Mit dem vierzehn- (1667) bzw. zwölftägigen (1746) Aufenthalt der Visitationskommissionen in Witzenhausen war es nicht getan. Lange vor Beginn der Rundreisen, die unseren Untersuchungsraum 1667 und 1746 jeweils Ende Februar/Anfang März erfassten, wurden Akten studiert, Fragenkataloge und Instruktionen entworfen, Routen und Verfahrensabläufe festgelegt. Bei der Planung und Organisation orientierte man sich an früheren Landesvisitationen, deren Unterlagen intensiv zu Rate gezogen wurden.15 Der zeitliche Vorlauf war wegen der jahrzehntelangen Visitationsunterbrechungen beträchtlich, da sich die landgräflichen Räte die verschütteten Wissensbestände immer wieder erst mühsam aneignen mussten. So setzten beispielsweise die Vorbereitungen für das Visitationsverfahren von 1746 bereits in den späten 1730er-Jahren ein.16 1743 gerieten sie wegen anderer dringender Amtsgeschäfte vorübergehend ins Stocken, ab Juli 1745 wurden sie wieder aufgenommen und zügig zum Abschluss gebracht.17 Auch die Fixierung der Visitationsergebnisse ließ mitunter zu wünschen übrig. Auf die Abschlussberichte musste der Landgraf 1746 monatelang warten. Mitte April entschuldigten die Kommissare die noch nicht erfolgte Berichterstattung über die Quartämter mit der »Vielfältigkeit derer Materien«. Die komplexen Rechtsverhältnisse hätten das Geschäft »dermaßen beschwerlich und gegen alle Intention weitläufig gemacht«, dass ein Ende noch nicht absehbar sei.18 Was bewog die Landgrafen 1667 und 1746 dazu, Landesvisitationen durchzuführen? In beiden Fällen ging es der Obrigkeit vor allem darum, Problemstaus aufzulösen und in kritischen Übergangsphasen Handlungsbereitschaft zu demonstrieren. 1667 erfolgte das Verfahren während einer vormundschaftlichen Regentschaft, 1746 während einer Statthalterschaft. Landgräfin Hedwig Sophie 14 Vgl. die Visitationsakten in: HStAM, Best. 17 I Nr. 751, Best. 17 II Nr. 752. 15 Vgl. Bericht Münchers und Bourdons an Landgräfin Hedwig Sophie (Kassel 1666 Januar 23) und Beglaubigungsschreiben der Landgräfin Hedwig Sophie (Kassel 1666 Februar 24), HStAM Best. 5 Nr. 16532. 16 Die ersten Fragebogenentwürfe datieren von 1739. – Vgl. die Materialien und Entwürfe in: HStAM, Best. 17 II Nr. 1295. 17 Vgl. Thalmann an Dehn-Rothfelser (1743 Mai 21), HStAM, Best. 17 II Nr. 1297; Bericht Laers, Heppes und Thalmanns an König bzw. Landgraf Friedrich I. (Kassel 1745 Juli 1), HStAM, Best. 17 II Nr. 1296. 18 Bericht Laers und Heppes (Kassel 1746 April 12), HStAM, Best. 4c Rotenburg Nr. 2409.
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ergriff 1666 die Initiative wegen der »in unserm und unsers geliebten Sohns Fürstenthumben, Graf-, Herrschaften und Landen« herrschenden »ohnverantwortliche(n) Unordnungen, […] dadurch der Allerhöchste zum Zorn gereizet und die arme Unterthanen gedrückt und ausgezogen werden«, und woraus, wenn nicht energisch gegengesteuert werde, »der total ruin des Landes« entstehen müsse.19 Im darauf folgenden Frühjahr verwiesen ihre Kommissare bei der Verlesung der landgräflichen Proposition im Rathaus zu Witzenhausen auf die in großer Zahl eingegangenen Klagen und Beschwerden, die die Regentin dazu bewogen hätten, eine Landesvisitation durchzuführen, »damit nuhn allen insolentien, Sünd, Schandt undt Lastern gesteuert werden möchte«.20 Ende Januar 1746 hieß es in der landgräflichen Visitationsankündigung, König bzw. Landgraf Friedrich I. habe die außerordentliche Maßnahme angeordnet »sowohl zu Aufrechthaltung dero höchsten landesherrlichen Gerechtsahme als zu Abhelfung derer in Ansehung der Justitz, Policey und sonst seithero eingerissenen Mißbräuche und Unordnungen, auch um zu wissen, wie die von Zeit zu Zeit zum Besten und Aufnahm derer Unterthanen ergangenen Verordtnungen von denen Beambten und jedermänniglich, den es angeht, obliegendermaßen beobachtet und befolget werden.«21 Die Durchführung der Landesvisitationen oblag 1667 der Regierung in Kassel, 1746 der Regierung und der für die Steuererhebung und Domänenverwaltung zuständigen Rentkammer. Aus diesen Kollegien wurden Kommissare ernannt, die das Land bereisten und die Befragungen vor Ort vornahmen.22 Ritualisierte Abläufe unterstrichen die Bedeutung der Verfahren als Hoheitsakte und Instrumente der Herrschaftsausübung: Zunächst erfolgte die Kontaktaufnahme zur lokalen Amtsträgerschaft und zu den Untertanen durch öffentliche Bekanntmachungen in den Ämtern. In den diesbezüglichen Ausschreiben wurden die Ankunftstermine der Kommissare und die Tage bestimmt, an denen die zu befragenden Personengruppen vor der Kommission zu erscheinen hatten, um Rechenschaft über ihre Amtsführung abzulegen und/oder Beschwerden vorzubringen. Um keinen Zweifel an ihrer Unparteilichkeit aufkommen zu lassen, durften die landgräflichen Emissäre an ihren Zielorten bei keinem Bürgermeister, Ratsmitglied, Pfarrer oder Beamten einkehren, sondern mussten 19 Instruktion der Landgräfin Hedwig Sophie (Kopie, 1666 Februar 24), HStAM, Best. 17 II Nr. 1296. 20 Bericht des Oberschultheißen Laubinger an die rheinfelsische Kanzlei zu St. Goar (Witzenhausen 1667 März 1/11), HStAM, Best. 70 Nr. 599. 21 Schreiben der Kommissare Laers und Heppe an die Beamten zu Eschwege und Oberschultheiß Reuter zu Witzenhausen (Kassel 1746 Januar 24), HStAM, Best. 70 Nr. 602. 22 1667 wurden Regierungsvizekanzler Johann Heinrich v. Dauber und Regierungsrat Nicolaus Müncher zu Kommissaren ernannt; 1746 bereisten Regierungsrat Carl Laers und Kammerrat Christoph Philipp Heppe das Land.
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»ihr losament in der Herberg oder einem andern ohninteressirten Hause nehmen und daselbst allein speisen, sich auch von niemandem tractiren oder zu Gast bitten lassen.«23 Den Ausgangspunkt der eigentlichen Kommissionstätigkeit bildete der nach einem festgelegten Zeremoniell erfolgende öffentliche Auftritt der Kommissare an einem zentralen Ort, wo die landgräfliche Proposition verlesen wurde. Hier wurden anschließend auch die Fragenkataloge überreicht bzw. wieder entgegen genommen. In Witzenhausen versammelten sich auf Anordnung der Kommissare am 26. Februar 1667 zum Glockenschlag mittags um zwei Uhr der hessenrheinfels-rotenburgische Oberschultheiß, der Zollverwalter und Akziseschreiber, die Vertreter der Geistlichkeit, Bürgermeister und Rat, Stadtvormünder und Zunftvorsteher sowie die Schultheißen, Vorsteher und je zwei Einwohner aus jedem Dorf des Amts Ludwigstein im großen Saal des Rathauses, um der Eröffnungszeremonie beizuwohnen und die »Fragstücke« entgegenzunehmen.24 Am nächsten Tag wurden die angereisten Adligen25 und ihre Hintersassen mit dem Prozedere vertraut gemacht. Die Kommissare ermahnten alle Anwesenden zur pflichtgemäßen Beantwortung der vorgelegten Fragen und ermunterten die Untertanen, etwaige Beschwerden »kühnlich« vorzubringen. Damit sich niemand scheute, Mängel und pflichtvergessene Amtsträger anzuzeigen, wurde den Beschwerdeführern der landesherrliche Schutz ausdrücklich zugesichert und die Beamtenschaft des Ratssaals verwiesen. Wer seine Anliegen dennoch verschwieg, sollte damit künftig kein Gehör mehr finden.26 Für die Beantwortung der Fragenkataloge und die Beschwerdeführung wurde eine Frist bis zum 4. bzw. 5. März 1667 eingeräumt. Bis dahin reisten die Kommissare, die die Wartezeit nicht nutzlos verstreichen lassen wollten, ins Amt Wittmarshof und in die Herrschaft Plesse, um die dortigen Untersuchungen vorzubereiten.27 Am 4. März nahmen sie morgens ab 7 Uhr im Rathaus zu Witzenhausen die Antworten und Berichte des Oberschultheißen, des Magistrats, der Korporationen, 23 Instruktion der Landgräfin Hedwig Sophie (Kopie, 1666 Februar 24), HStAM, Best. 17 II Nr. 1296; vgl. ferner Dr. Franz Gärtner : Versuch über die im Hessen-Kasselischen angeordneten Land-Visitationen; vorzüglich in Beziehung auf das Ober-Fürstenthum, in: Karl Wilhelm Justi (Hg.): Hessische Denkwürdigkeiten, 3. Teil, Marburg 1802, S. 160–229, hier S. 192f. 24 Vgl. Bericht des Oberschultheißen Laubinger (Witzenhausen 1667 März 1/11), HStAM, Best. 70 Nr. 599; Visitationsprotokoll, HStAM, Best. 5 Nr. 19043. 25 Von der Visitation betroffen waren 1667 Hans Christoph v. Berlepsch zu Berlepsch, Jost Mordian v. Berlepsch zu Fahrenbach, Burckhard v. Berlepsch zu Hübenthal, Hans Philipp v. Bischoffshausen zu Nienrode, Carl v. Buttlar zu Ermschwerd sowie sämtliche v. Bodenhausen zu Arnstein und Niedergandern. – Vgl. die Auflistung in: HStAM, Best. 5 Nr. 19043. 26 Instruktion der Landgräfin Hedwig Sophie (Kopie, 1666 Februar 24), HStAM, Best. 17 II Nr. 1296. 27 Vgl. Bericht des Oberschultheißen Laubinger (Witzenhausen 1667 März 1/11), HStAM, Best. 70 Nr. 599.
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der Zoll- und Akzisebediensteten sowie die Beschwerden der Gilden und Zünfte, der Bürgerschaft und einzelner Einwohner entgegen.28 Die Anhörung der städtischen »Querelen« dauerte anderthalb Tage, ehe am Nachmittag des 5. März der Oberschultheiß und die Untertanen des Amtes Ludwigstein vernommen werden konnten. Am 6. März wurden die Vertreter der Judenschaft, am 7. März zunächst die Adligen und ihre Hintersassen und anschließend sämtliche Pfarrer und Schulbediensteten der Klasse Witzenhausen vorgeladen.29 Am darauf folgenden Tag verhandelten die Kommissare vormittags erneut mit den Adligen und ihren Hintersassen, nachmittags zogen sie Erkundigungen über Missstände in Witzenhausen ein. Am 10. März 1667 beendeten sie die Untersuchung und reisten nach Eschwege ab. Das 1667 praktizierte Verfahren diente der 1746 tätigen Visitationskommission »überall zur Richtschnur«.30 Aus Gründen der Zeitersparnis wurden die Fragenkataloge diesmal jedoch bereits Ende Januar zusammen mit der Visitationsankündigung verschickt; die Antworten und Beschwerden sollten unmittelbar nach der Ankunft der Kommissare in Witzenhausen vorgelegt werden. Am 2. März 1746, um 9 Uhr in der Früh, wurden die Kommissare unter Glockengeläut vom Oberschultheißen und vom amtsführenden Bürgermeister vor dem Rathaus feierlich empfangen und in die große Ratsstube geführt, wo sich Ratsmitglieder und städtische Bedienstete versammelt hatten. Dort erfolgte zunächst einmal die Übergabe der schriftlich abgefassten Antworten des Magistrats. Anschließend wurden der Schultheiß, die Vertreter der Gilden und Zünfte und die gemeine Bürgerschaft vorgelassen, um ihre Antworten und Beschwerden zu überreichen. Gegen 4 Uhr Nachmittags endete die Session. Nach demselben Schema erfolgte am darauf folgenden Tag die Visitation des Amts Ludwigstein, diesmal allerdings im ehemaligen Wilhelmitenkloster, wo sich die Kommissare einquartiert hatten. Zwischen 10 Uhr morgens und 4 Uhr nachmittags übergaben der Reservatenkommissar, der hessen-rheinfels-rotenburgische Oberschultheiß, die Amtsschultheißen und Gemeindevorsteher sowie der rotenburgische Förster und Wasserheger ihre schriftlichen Antworten; anschließend brachten die Amtsuntertanen ihre Beschwerden vor. An den folgenden Tagen kontrollierten die Kommissare die Akten- und Protokollführung des Stadtgerichts und die rotenburgische Amtsrepositur, nahmen Privatbeschwerden und Stellungnahmen entgegen und untersuchten die adligen Ge-
28 Vgl. Bericht v. Daubers und Münchs (Witzenhausen 1667 März 4), HStAM, Best. 5 Nr. 16532. 29 Vgl. Berichte v. Daubers und Münchs (Witzenhausen 1667 März 7, Eschwege 1667 März 13), HStAM, Best. 5 Nr. 16532. 30 Bemerkungen der Kommission (1746), HStAM, Best. 4c Rotenburg Nr. 2360.
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richtsbezirke. Nach Beendigung der Visitation reisten sie am 9. März weiter nach Germerode.31 Soweit die Verfahrensabläufe, nun zu den Untersuchungsgegenständen: Welche Verwaltungsbereiche wurden durchleuchtet, welche Informationen eingeholt? Der obrigkeitliche Wissensbedarf spiegelt sich in den Fragenkatalogen wider, deren kontinuierlich wachsender Umfang zugleich als Indiz für die zunehmende Verdichtung und Ausweitung der Staatstätigkeit anzusehen ist.32 In Anlehnung an die Kataloge von 161533 wurden die Untersuchungsgegenstände 1667 in drei »Fragstücken« (»Geistliches Regiment«, »Weltliches Regiment«, »Ökonomische und Haushaltungssachen«) zusammengefasst. Insgesamt waren 59 Fragen zu beantworten, 16 Fragen zum weltlichen und 24 Fragen zum geistlichen Regiment. Dort, wo fürstliche Vorwerke und Meiereien vorhanden waren, mussten 19 Fragen zur Domänenbewirtschaftung beantwortet werden.34 Die Obrigkeit suchte ein möglichst umfassendes und kohärentes Bild von allen wesentlichen Bereichen der Staatstätigkeit auf Amtsebene zu erlangen. Im weltlichen Regiment richtete sich das Interesse vor allem auf policeylich neuralgische Bereiche wie z. B. die Landesgrenzen, deren Beaufsichtigung in der Werraregion angesichts der unablässigen Grenzstreitigkeiten mit den Nachbarterritorien eine besondere Bedeutung zukam. Darüber hinaus wurde nach Salbüchern, Zoll- und Akziseangelegenheiten, Zunftprivilegien, gemeinschädlichen und abergläubischen Praktiken, Judensachen, Berufungsmöglichkeiten an die Regierung in Kassel sowie der Kontributions- und Steuererhebung gefragt. Die Fragen zum geistlichen Regiment betrafen u. a. die Amtsführung und Lebensweise der Pfarrer und Präzeptoren, die Höhe ihrer Akzidenzien, möglicherweise vorhandene Gotteslästerer, Atheisten, Segensprecher und Wahrsager, die Verhängung der Kirchenbußen, die Abhaltung kirchlicher Konvente, das Verhalten der Gemeindemitglieder im Gottesdienst und der Schulkinder im
31 Vgl. Hessen-Rotenburgisches Visitationsprotokoll vom 24. Januar bis 10. März 1746, HStAM, Best. 70 Nr. 602; vgl. ferner Landvisitationsprotokoll der Stadt Witzenhausen vom 2. März 1746, HStAM Best. 5 Nr. 16529; Ludwigsteiner Landvisitationsprotokoll vom 3. März 1746, HStAM, Best. 5 Nr. 16540. 32 1667 wurden insgesamt 59 Fragen, 1746 77 Fragen gestellt. 1820 präsentierte der Hofgerichtsrat und Fiskaladvokat Pfeiffer der kurfürstlichen Regierung in Kassel einen neuen, nunmehr in sieben Themenkomplexe untergliederten Fragenkatalog. Obwohl Pfeiffer nachdrücklich betonte, dass er bei der Neukonzeption großen Wert auf eine übersichtlichere und stringentere Anordnung der Untersuchungsgegenstände gelegt und alle Fragen weggelassen habe, die die Lokalbeamten und Untertanen ohnehin nicht beantworten könnten bzw. die sich auf häufig geänderte Einzelverordnungen bezögen, umfasste der Katalog am Ende 132 Fragen. Vgl. Bericht Pfeiffers an Regierung Kassel (Kassel 1820 März 25), HStAM, Best. 17 II Nr. 1291. 33 Vgl. Fragekataloge von 1615 in: HStAM, Best. 17 I Nr. 751. 34 Vgl. Fragenkataloge in: HStAM, Best. 70 Nr. 599.
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Unterricht sowie die Führung und Abhörung der Schul- und Kastenrechnungen.35 Im Vergleich dazu waren die in fünf Themenfelder untergliederten Kataloge von 1746 nicht nur umfangreicher, sondern auch differenzierter. Explizit wurde beispielsweise nach bestimmten Regelwerken und Einzelverordnungen gefragt, wobei die administrativ-ökonomischen Aspekte im Vergleich zum »geistlichen Regiment« eindeutig im Vordergrund standen. Allein 48 von insgesamt 77 Fragen betrafen Policeyangelegenheiten, wie z. B. die Beachtung der Zunftreglements und den Privilegienmissbrauch, gemeindliche Wald-, Wiesen- und Gewässernutzungen, das städtische und dörfliche Rechnungswesen, die Ausund Zuwanderung, Anzahl und Betrieb von Bierschenken, Garküchen und Wirtshäusern, das Medizinalwesen, die Kontrolle der Maße und Gewichte, die Mühlenaufsicht, Feuerschutzmaßnahmen, den Wegebau, die Viehhaltung und das Hutewesen, die Schädlingsbekämpfung, die forstgemäße Waldbewirtschaftung, die Anweisung und den Verkauf des Brenn- und Bauholzes, die Ahndung asozialer Verhaltensweisen, das Münzwesen, die Aufsicht über Zigeuner, Bettler und Vaganten, die Verwaltung der Armenanstalten, den Salzhandel, die Einhaltung der Judenordnungen, Judenaufnahmen und die Erhebung der Judenabgaben. Daneben ging es um allgemeine Land-, Regierungs- und Konsistorialsachen (7 Fragen)36, um die Justizadministration (14 Fragen), das Zoll-, Tranksteuer- und Lizentwesen (5 Fragen) sowie Kontributions- und Steuersachen (3 Fragen).37 Den Kommissaren oblag die Austeilung und Einsammlung der Kataloge, die Führung eines Verlaufsprotokolls und die Zusammenfassung der eingereichten Schriftstücke in sachthematisch gegliederten Verzeichnissen. Dabei konzentrierten sie sich auf bestimmte Sachverhalte bzw. besonders auffällige Missstände. Möglichst übersichtlich angelegte und mit kurzen Kommentaren versehene »Mängellisten« sollten der Obrigkeit einen raschen Überblick über lokale Problemlagen verschaffen, die politische Entscheidungsfindung erleichtern und beschleunigen. Was die Kooperation zwischen Fragestellern und Befragten betrifft, so war die Mission am Werrastrom für die Emissäre aus Kassel schwierig und heikel. So sollten sie beispielsweise ein besonderes Augenmerk auf die Amtsführung der hessen-rheinfels-rotenburgischen Beamten richten, ggf. auch
35 Vgl. »Fragstücke« vom 15. März 1667, HStAM, Best. 70 Nr. 599. 36 In diesem Abschnitt wurde beispielsweise nach der Besichtigung der Grenzen, der Amtsführung der Lokalbeamten, der ordnungsgemäßen Publikation und Beachtung landesherrlicher Edikte und Verordnungen gefragt. Den kirchlichen Bereich berührte die Frage nach der Einhaltung der Sabbats- und Katechisationsordnung. Vgl. den gedruckten Katalog in: HStAM, Best. 4c Nr. 2409. 37 Ebd.
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heimliche Erkundigungen bei den Untertanen einziehen,38 dabei jedoch behutsam vorgehen und offene Streitigkeiten mit der Nebenlinie vermeiden.39 Bereits im Vorfeld der Visitation bemühten sich die Kommissare, Besorgnisse und Befürchtungen der Rotenburger Landgrafen über mögliche Beeinträchtigungen ihrer hoheitlichen Befugnisse zu zerstreuen. 1667 versicherten sie dem Rat und Oberschultheißen Sigmund Laubinger, dass formell zwar alle Beschwerden der Untertanen entgegengenommen werden müssten, »um die Leute nicht irre zu machen«, die Vielzahl der zu erledigenden Geschäfte werde ihnen jedoch kaum gestatten, alle Gravamina und Suppliken zu lesen. Querulanten, die unverschämte Forderungen erhoben, offensichtlich unbegründete Beschwerden vorbrachten oder Falschaussagen machten, sollten sofort abgewiesen und bestraft werden. Am Ende, so die Kommissare, werde niemand Grund haben, sich über die Landesvisitation zu beschweren.40 Als Oberschultheiß Georg Wilhelm Reuter am 6. März 1746 Bedenken gegen die bevorstehende Durchsicht der rotenburgischen Amtsrepositur in Witzenhausen äußerte, entgegnete der landgräfliche Kommissar : »Es wäre also gar die Intention nicht, daß man von seiten des regierenden Hauses dem Hochfürstlichen Haus Rheinfels praejudiciren oder bey Durchgehung der Repositur dero Revenüen und Gefälle auskundtschaften wolle.«41 Während ihres Aufenthalts in Witzenhausen beschränkten sich die Kommissare keineswegs auf die Entgegennahme und Auswertung von Berichten und Beschwerden; sie stellten auch Nachfragen, nahmen Akteneinsicht, forderten amtliche Gutachten und Stellungnahmen an, baten Beschwerdeführer um nähere Spezifikation und Beibringung von Belegen, luden Untertanen, deren Lebenswandel Anstoß erregte, vor und ermahnten diese zur Besserung. Sie verhörten Streitparteien, unterbreiteten hier und da Vergleichsvorschläge und regelten kleinere Konflikte, die aufgrund der »Gesetzeslage« eindeutig gelöst werden konnten, »zu Ersparung weiterer Kosten, Menge und Versäumnis« per Kommissionsdekret an Ort und Stelle.42 Über komplexere Materien fertigten sie Berichte an, die gemeinsam mit dem Visitationsprotokoll zur weiteren Veranlassung an die Regierung in Kassel, den Landgrafen oder die jeweils zuständige Zentralbehörde übersandt wurden. Die Frage, ob und wieweit die Ergebnisse der »Vor-Ort-Befragungen«, die zugleich auch das politische Wissen der lokalen Amtsträger widerspiegeln, »eine zentrale Rolle bei der informationellen Vor-
38 Vgl. Nota (1741 April 17), HStAM, Best. 17 II Nr. 1297. 39 Vgl. Rotenburgisches Protokoll der Landesvisitation vom 24. Januar bis 10. März 1746, HStAM, Best. 70 Nr. 602. 40 Bericht v. Daubers und Münchs (Rotenburg 1667 März 20), HStAM, Best. 5 Nr. 16532. 41 Ebd. 42 Bemerkungen der Kommission (1746), HStAM, Best. 4c Rotenburg Nr. 2360.
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bereitung der obrigkeitlichen Gesetzgebung in Policeysachen« spielten43, lässt sich pauschal nicht beantworten. Kamen die Entscheidungsträger in Kassel nach Prüfung der Sachverhalte zu dem Ergebnis, dass ein Missstand oder eine Beschwerde schleuniger Abhilfe bedurfte, ergingen entsprechende Erlasse und Verordnungen.44 Schwierigere Probleme konnten mitunter aber auch jahrelang unerledigt liegen bleiben. So ergibt sich aus einer undatierten, vermutlich in den späten 1740er- oder frühen 1750er-Jahren angelegten Aufstellung der »Expedita et respective expedienda in der Landvisitations-Sache« von 1746, dass zwar in vielen Fällen Kommissionsaufträge an den Reservatenkommissar und andere Amtsträger erteilt worden waren, die Untersuchungen aber wegen fehlender Gutachten und Berichte größtenteils noch nicht abgeschlossen waren. Etliche Aufträge waren gar nicht befolgt worden und mussten durch neue Mandate in Erinnerung gerufen werden.45
Die Perspektive der intermediären Herrschaftsträger und ihrer Beamten Wie reagierten die intermediären Herrschaftsträger und deren Beamte auf die Landesvisitationen? Welche Strategien entwickelten und nutzten sie im Umgang mit den Kommissaren? Auch wenn die Visitationsbefugnis der Landgrafen von Hessen-Kassel in den Quartämtern und adligen Gerichtsbezirken an der Werra »vi potestatis legislatoriae, sublimis politiae et iurisdictionis supremae«46 sowie aufgrund der vertraglichen Bestimmungen von 162747 außer Frage stand und die Regenten in Kassel ihren Rotenburger Vettern bereits im Vorfeld versicherten, »daß der Endtzweck dieser Landesvisitation […] gar nicht dahin gehe, denenselben an denen durch die bisherige Verträge wohl hergebrachten et notorie 43 Andr¦ Holenstein, Frank Konersmann, Josef Pauser, Gerhard Sälter : Der Arm des Gesetzes. Ordnungskräfte und gesellschaftliche Ordnung in der Vormoderne als Forschungsfeld (Einleitung), in: dies. (Hg.): Policey in lokalen Räumen. Ordnungskräfte und Sicherheitspersonal in Gemeinden und Territorien vom Spätmittelalter bis zum frühen 19. Jahrhundert (Studien zu Policey und Policeywissenschaft), Frankfurt a. M. 2002, S. 1–54, hier S. 7. 44 Ende August 1668 verfügte Landgräfin Hedwig Sophie beispielsweise die Amtsenthebung und die Verhängung von Geldstrafen gegen vier Beamte, denen im Zuge der Visitation grobe Exzesse hatten nachgewiesen werden können. Vgl. Erlass der Landgräfin Hedwig Sophie (Kassel 1667 August 31), HStAM, Best. 5 Nr. 16532. 45 Vgl. die Aufstellung in: HStAM, Best. 4c Rotenburg Nr. 2360. 46 Gärtner : Versuch (Anm. 23), S. 161. Die Visitationsbefugnis in ihrem Herrschaftsbereich stand übrigens auch der Nebenlinie zu, wovon diese u. a. 1692/93 nach demselben Schema Gebrauch machte. – Vgl. HStAM, Best. 70 Nr. 601. 47 Vgl. § 7 des Familienvertrags vom 12. Februar 1627, HStAM, Best. Urk. 5 Nr. 202.
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zukommenden juribus den geringsten Eintrag zu veruhrsachen«48, sorgten die diesbezüglichen Ankündigungen regelmäßig für Unruhe. Die Betroffenen wussten, dass sie keine Chance hatten, das Verfahren zu hintertreiben49, und dass Kassel keinen Spaß verstand, wenn es um die Wahrung der landesherrlichen Prärogativen ging. Das Machtgefälle war groß und der Superioritätsanspruch des Landesherrn gegenüber den Mediatgewalten wurde in Konfliktfällen immer wieder mit Nachdruck zur Geltung gebracht. Besorgt zeigten sich zunächst und vor allem die Vertreter der Nebenlinie, die Landgrafen Ernst (1667) und Christian von Hessen-Rheinfels-Rotenburg (1746), die eifersüchtig auf die uneingeschränkte Wahrung ihrer familienvertraglich abgesicherten Herrschaftsrechte achteten und sich gegen vermeintliche oder tatsächliche Übergriffe der Kasseler Hauptlinie vehement zur Wehr setzten. Nach Eingang der Visitationsankündigungen im August 166650 bzw. Ende Januar 1746 begann in der Rotenburger Kanzlei die hektische Suche nach Unterlagen über frühere Verfahren. Vor allem 1746 bereitete die Informationsbeschaffung den Kanzleiräten große Probleme, »da nun bey unser aller Leben in der Quart keine Casselische Landvisitation gewesen.« Nachrichten über das mittlerweile 79 Jahre zurückliegende Verfahren von 1667 waren weder in Rotenburg noch in Sankt Goar auffindbar.51 Während man sich intern so gut es ging zu wappnen suchte, bekundete man gegenüber Kassel Kooperationsbereitschaft. Selbst Landgraf Ernst, der ansonsten einen kompromisslosen Konfrontationskurs steuerte52, betonte 1666 in seinem Antwortschreiben an Landgräfin Hedwig Sophie, dass er sich die auf das Wohl der Untertanen abzielende »gemeinnützige Anstaldt« »wohl gefallen« lasse und seinen Beamten befohlen habe, »Ew. Liebden deputirten Räthen und Commissarien mit allen befordersamen Willen und pflichtmäßiger Nachricht auff Erfordern der Gebühr an Hand zu gehen.«53 Er bestand jedoch darauf, dass die Visitation »ohne Einmischung unserer Erb48 Konzept eines auf Anordnung des Statthalters Wilhelm (VIII.) verfassten Schreibens (Kassel 1740 August 30), HStAM, Best. 17 II Nr. 1295. 49 Vgl. Bericht der Kanzleiräte an Landgraf Christian (Rotenburg 1746 Februar 12), HStAM, Best. 70 Nr. 602. 50 Vgl. Landgräfin Hedwig Sophie an Landgraf Ernst (Kassel 1666 August 3), HStAM, Best. 5 Nr. 16532. 51 Bericht der Kanzleiräte an Landgraf Christian (Rotenburg 1746 Februar 12), HStAM, Best. 70 Nr. 602. 52 1652 war Landgraf Ernst zum Katholizismus konvertiert. 1661 hatte er seine Regierungskanzlei aus Rotenburg in die ferne Niedergrafschaft Katzenelnbogen verlegt und seinen Räten »bey höchster Strafe« verboten, Vorladungen nach Kassel zu befolgen, dort Anweisungen entgegenzunehmen oder Rechenschaft über ihre Amtsführung abzulegen. Vgl. Bericht des Oberschultheißen Laubinger an Kanzlei zu Rotenburg (Witzenhausen 1697 Dezember 29), HStAM, Best. 70 Nr. 1223. 53 Landgraf Ernst an Landgräfin Hedwig Sophie (Rheinfels 1666 August 18), HStAM, Best. 5 Nr. 16532.
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fürstlichen Jurium« durchgeführt werde.54 In dasselbe Horn stießen die hessenrotenburgischen Beamten bei der Eröffnung der Landesvisitation von 1746 in Witzenhausen. Instruktionsgemäß erklärten sie im Anschluss an die Verlesung der landesherrlichen Proposition, »daß zwar Unsere […] Gnädigste Herrschafften die vorhabende Landes Visitation, so viel die Jura Superioritatis betrift, und da hineinschläget, geschehen lassen müßten, es wollten aber dieselbe der Hoffnung leben, daß man gegen die bekanndte Fürstliche Haus-Verträge, und die darinnen höchst denenselben zugestandenen, und weit ultra seculum hergebrachte Herrlichkeiten, sodann gegen die zu getheilte, und in denen Anschlägen specificirte utilia dominia in keinem Stück angehen würde, wiedrigenfals wollten Höchstdieselbe dargegen protestiret, und sich quaevis competentia Juris remedia reserviret haben.«55 Auch im Zuge des Verfahrens wiesen sie bei jeder sich bietenden Gelegenheit darauf hin, dass ihr Herr kein Untertan sei. Als Anfechtung des eigenberechtigten Hoheitsanspruchs wurde insbesondere die Tätigkeit des hessen-kasselschen Reservatenkommissars wahrgenommen, dessen Interventionen keinen Bereich der Herrschaftsausübung unberührt ließen und von dessen Instruktionen »niemand etwas zu sehen bekombt.«56 Das »Sündenregister« war lang: Ohne Vorwissen der Rotenburger Landgrafen und ihrer Beamten hatte er im Amt Ludwigstein Bußen verhängt, Einquartierungen und Dienstfuhren angeordnet, Zunftstrafen und Jahrmarktsvergütungen eingezogen, sich die Direktion des Akzise- und Zollwesens sowie des Landwegebaus angemaßt, Zivil- und Kriminalsachen rezesswidrig vor das Reservatenamt gezogen, Strafbefehle und policeyliche Anordnungen der rotenburgischen Beamten nachträglich außer Kraft gesetzt und dadurch dem Ansehen der Nebenlinie bei den Amtsuntertanen schweren Schaden zugefügt. Wortreich beklagte der Oberschultheiß 1746 darüber hinaus den Entzug bestimmter Abgaben, auf die die Nebenlinie unzweifelhafte Rechtsansprüche glaubte geltend machen zu können, wie z. B. auf die Abzugsgelder, den Drittelanteil an den Sabbatsbußen, die Hälfte der Helfegelder oder die Branntweinkonzessionsgebühren.57 Wortkarger zeigte er sich, wenn es um Fragen ging, die Besitz- und Hoheitsrechte der Nebenlinie, wie z. B. die Waldbewirtschaftung oder die Disziplinierung der eigenen Beamten, berührten, deren Beantwortung einer Anerkennung der lan54 Ebd. 55 »Instruction, wornach sich sämtliche Beambte in der Fürstlich Nieder Hessischen Quarte bey der bevorstehenden Landes Visitation […] zu richten haben« (Rotenburg 1746 Februar 12), HStAM, Best. 70 Nr. 602. 56 Vgl. »Specification von Eingriffen hiesigen Reservat Commissarii« (Witzenhausen 1749 August 21), HStAM, Best. 70 Nr. 1223. 57 Vgl. Bemerkungen der Kommissare zu den Antworten auf den Fragenkatalog, HStAM, Best. 4c Rotenburg Nr. 2360; vgl. ferner die Anlage zum Ludwigsteiner Landvisitationsprotokoll vom 3. März 1746, HStAM, Best. 5 Nr. 16540; Bemerkungen der Rotenburger Kanzleiräte zu den Fragstücken, HStAM, Best. 70 Nr. 602.
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desherrlichen Aufsichts- und Kontrollbefugnis gleichgekommen wäre. 1746 quittierte er die Frage nach der forstgemäßen Behandlung der herrschaftlichen Wälder in der Quart mit der lapidaren Bemerkung, sein Dienstherr sei auf den Erhalt seiner Wälder bedacht und könne sich bei deren Hege, Pflege und Nutzung »keine Regel setzen lassen.«58 Dagegen bestanden die Kommissare rigoros auf der pflichtgemäßen Beantwortung aller vorgelegten Fragen und bezeichneten den vom Oberschultheißen vorsorglich angekündigten Protest und Klagevorbehalt gegen mögliche Eingriffe in die der Nebenlinie familienvertraglich zugesicherten Rechte als eine strafwürdige »ungeziemende Contradiction.«59 Befürchtungen weckten jedoch nicht nur die Machtambitionen der Kasseler Landgrafen und ihrer Vertreter vor Ort, sondern auch das im eigenen Herrschaftsbereich schlummernde Protestpotential. So unterstellte man den eigenen Untertanen, mit Hilfe der Visitationskommission ungünstige Gerichtsurteile oder Strafen zurücknehmen sowie Abgaben- und Diensterleichterungen durchsetzen zu wollen. Schon vor Beginn der eigentlichen Visitation berichtete Oberschultheiß Sigmund Laubinger Anfang März 1667 besorgt nach Sankt Goar, »daß gar viele Underthanen im Sinn haben sollen, nicht allein wegen denen ihnen dabevor andictirten undt berechneten Straffen, sondern auch ihren undter sich habenden Privatstreitigkeiten halben mit Vorbeygehunge dieses Undergerichts undt Abwartung der Sentenz in prima instantia […] sich beschweren zu wollen.«60 Auf die dringende Bitte des Landgrafen Ernst, keine Hoheitsrechte berührenden Klagen und Beschwerden entgegenzunehmen, reagierte Hedwig Sophie zunächst gar nicht. Erst nach Beendigung der Landesvisitation teilte sie ihrem Vetter mit, dass die Kommissare alle strittigen Punkte offen gelassen und ihrer höchsten Entscheidung anheim gestellt hätten. Diese Befugnis müsse sie sich und ihrem Sohn ausdrücklich vorbehalten.61 Wenig Vertrauen erweckend wirkte auch die Tatsache, dass man nicht genau wusste, worüber sich die Untertanen beschwert hatten. So sah sich der Oberschultheiß 1746 zunächst außerstande, einen Abschlussbericht über die Kommissionstätigkeit nach Rotenburg zu schicken, da er von der Anhörung der Beschwerdeführer ausgeschlossen worden war. Drei Tage nach der Abreise der Kommissare waren ihm die vorgebrachten Gravamina noch nicht zur Kenntnisnahme zu58 Dagegen vertrat der Reservatenkommissar die Auffassung, »daß dem Regierenden Fürstlichen Hause allerdings zukäme auf Conservation sämbtlicher Waldungen im Lande, sie mögen auch gehören wem sie wollen, zu sehen.« Ludwigsteiner Landvisitationsprotokoll vom 3. März 1746, HStAM, Best. 5 Nr. 16540. 59 Bemerkungen der Kommissare zu den Antworten auf den Fragenkatalog, HStAM, Best. 4c Rotenburg Nr. 2360. 60 Bericht des Oberschultheißen Laubinger an Kanzlei zu St. Goar (Witzenhausen 1667 März 1/ 11), HStAM, Best. 70 Nr. 599. 61 Vgl. Landgräfin Hedwig Sophie an Landgraf Ernst (Kassel 1667 Mai 21), HStAM, Best. 70 Nr. 599.
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geleitet worden. Immerhin wusste er zu vermelden, dass etliche Beschwerden abgewiesen und die Eingriffe des Reservatenkommissars in das Policeywesen missbilligt worden waren. Am Ende blieb nichts anderes übrig, als die allerhöchsten Entscheidungen aus Kassel abzuwarten.62 Manchmal redeten die landgräflichen Emissäre jedoch Tacheles. Als Oberschultheiß Laubinger 1667 die seiner Ansicht nach unbegründeten Beschwerden über eine Behinderung der Appellationen nach Kassel zurückwies, fiel ihm Vizekanzler v. Dauber barsch ins Wort und bezeichnete die Verlegung der Rotenburger Kanzlei nach Sankt Goar als Wurzel allen Übels. Den Einwohnern der niederhessischen Quart könne nicht zugemutet werden, ihr Recht bei einer Instanz in der weit entfernten Niedergrafschaft Katzenelnbogen zu suchen. Dauber schreckte auch nicht davor zurück, den Oberschultheißen in Gegenwart des Magistrats und der Zunftvorsteher wegen der Duldung einiger nicht mit Schutzbriefen versehener Juden in Witzenhausen zu rügen.63 Der Gemaßregelte beklagte sich umgehend über die respektlose Behandlung, die seiner Ansicht nach vor allem dem Zweck diente, seine Autorität und damit zugleich auch das Ansehen und den Herrschaftsanspruch der Nebenlinie zu untergraben. Der Bauer und Bürger werde dadurch »so weit gebracht, daß er weder an Recesse noch an Pflichte sonderlich mehr denket.«64 Ähnliche Erfahrungen machte die hessische Ritterschaft. In Kassel standen die adligen Gerichtsbezirke an der Werra in keinem sonderlich guten Ruf. Sie galten als Notstandsgebiete und Unruheherde, in denen administratives Chaos herrschte und die Ordnung immer wieder durch »gefährliche und recht feindselige, auch desperate Oppositiones« erschüttert wurde.65 Der landsässige Adel kannte diese Vorbehalte und bekam sie bei verschiedenen Untersuchungen deutlich zu spüren. Dabei gingen beide Seiten nicht gerade zimperlich miteinander um.66 Auch 1667 und 1746 hatten sich die Adligen heftiger Vorwürfe zu 62 Bericht des Oberschultheißen Reuter an Landgraf Christian (Witzenhausen 1746 März 12), HStAM, Best. 70 Nr. 602. 63 Vgl. Bericht des Oberschultheißen Laubinger an Kanzlei zu St. Goar (Witzenhausen 1667 März 21/31), HStAM, Best. 70 Nr. 599; vgl. ferner Bericht v. Daubers und Münchs (Witzenhausen 1667 März 7) sowie Erlass des Landgrafen Ernst an Bürgermeister und Rat der Stadt Witzenhausen (Kopie/Rheinfels 1663 Dezember 10), HStAM, Best. 5 Nr. 16532. 64 Vgl. »Specification von Eingriffen hiesigen Reservat Commissarii« und Bericht des Oberschultheißen Reiter an die Kanzlei zu Rotenburg (Witzenhausen 1749 August 21), HStAM, Best. 70 Nr. 1223. 65 Schuchhard an Haberstroh (Witzenhausen 1733 März 27), HStAM, Best. 17 II Nr. 2133. 66 1733 beispielsweise eskalierte eine Untersuchung der in den adligen Gerichtsbezirken aufgelaufenen Kontributionsrückstände in einem offenen Aufruhr, nachdem der landgräfliche Kommissar Haftbefehle gegen vermeintlich säumige und renitente Schultheißen und ihre Angehörigen verhängt und Militär zur Vollstreckung in die Adelsdörfer geschickt hatte. Die Edelleute beließen es nicht beim Protest gegen ein so »hitziges« Verfahren, das nicht einmal »zu Goa bey der Spanischen Inquisition üblich« sei, sondern stachelten die Dorfbewohner zu
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erwehren, wobei sie ihr vorrangiges Ziel, die uneingeschränkte Wahrung der hergebrachten Rechte und Befugnisse, stets fest im Auge behielten. In doppelter Frontstellung gegen den Landesherrn, dessen Kommissare fehlende Steuerkataster und Quittungen sowie ungeprüfte Rechnungen monierten, und die Hintersassen, denen vor allem die vielfältigen Dienste und hohen Abgaben ein Dorn im Auge waren, verwahrten sie sich unter Berufung auf das alte Herkommen energisch gegen den ehrverletzenden Vorwurf der Misswirtschaft, der Willkür und des Privilegienmissbrauchs auf Kosten der Allgemeinheit.67 In der Regel erschienen sie persönlich in Begleitung ihrer Justiziare in Witzenhausen, um ihre Antworten auf die vorgelegten Fragen zu übergeben und ihre Interessen gegenüber den Kommissaren zu vertreten. Dass Carl v. Buttlar, in dessen Gerichtsbezirk 1667 besonders große Unzufriedenheit herrschte, nicht nach Witzenhausen reiste, sondern stattdessen einen schlecht informierten Schreiber schickte, der keine Nachfrage beantworten konnte, erregte Missmut und Ärger.68 1746 stand die Familie erneut im Zentrum der Kritik. Da die Buttlar u. a. allen Dorfschultheißen ihres Gerichtsbezirks untersagt hatten, ohne vorherige Genehmigung landgräflichen Zolluntersuchungen beizuwohnen oder Vorladungen des Reservatenkommissars an ihre Hintersassen entgegenzunehmen, sollte ihnen auf Empfehlung der Visitationskommission ein nachdrücklicher Verweis erteilt werden. Gegebenenfalls wollte man sogar Straf- und Zwangsmaßnahmen einleiten.69 Landesvisitationen stellten jedoch nicht nur die Herrschaftsträger, sondern insbesondere auch deren Beamte vor große Herausforderungen. An der Nahtstelle zwischen Obrigkeit und Untertanen standen sie gleichsam unter doppelter Beobachtung und waren gezwungen, die mitunter konvergierenden Interessen unterschiedlicher Referenzsysteme unter einen Hut zu bringen.70 Die am Wer-
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handgreiflichem Widerstand gegen das Truppenkommando auf. Beschwerde sämtlicher v. Berlepsch, v. Bischhausen und v. Buttlar (praes. Kassel 1733 März 3), HStAM, Best. 17 II Nr. 2133; vgl. ferner Regierung an Kommissar Schuchhard sowie an sämtliche v. Berlepsch, v. Bischhausen und v. Buttlar (Kassel 1733 März 19); Schuchhard an den berlepischen Amtmann Haberstroh (Witzenhausen 1733 März 27), HStAM, Best. 17 II Nr. 2133. Vgl. Protokoll der Visitationskommission betr. Adel (Witzenhausen 1667 März 7), HStAM, Best. 17 I Nr. 828. Vgl. Bericht v. Daubers und Münchs (Eschwege 1667 März 13), HStAM, Best. 5 Nr. 16532. Vgl. Bemerkungen der Kommission (1746), HStAM, Best. 4c Rotenburg Nr. 2360. Vgl. allgemein: Stefan Brakensiek: Lokale Amtsträger in deutschen Territorien der Frühen Neuzeit. Institutionelle Grundlagen, akzeptanzorientierte Herrschaftspraxis und obrigkeitliche Identität, in: Ronald G. Asch, Dagmar Freist (Hg.): Staatsbildung als kultureller Prozess. Strukturwandel und Legitimation von Herrschaft in der Frühen Neuzeit, Köln 2005, S. 49–67; Holenstein u. a.: Arm (Anm. 43), S. 24ff.; zur Verwaltungsstruktur und -kultur in der Landgrafschaft Hessen-Kassel bzw. zum Zusammenspiel zwischen der Zentrale und den Ortsbeamten vgl. Stefan Brakensiek: Fürstendiener – Staatsbeamte – Bürger : Amtsführung und Lebenswelt der Ortsbeamten in niederhessischen Kleinstädten (1750–1830) (Bürger-
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rastrom besonders stark ausgeprägte Gemengelage von Zuständigkeiten und Abhängigkeiten »in einem von Kompetenzkonflikten geprägten Geflecht verschiedener Obrigkeiten«71 erforderte Fingerspitzengefühl. Loyalität und Gehorsam schuldeten die Amtsträger zunächst und vor allem ihrem unmittelbaren Dienstherrn, von dem sie mit detaillierten Instruktionen versehen worden waren. Weisungsgemäß sollten sie einerseits mit den landgräflichen Kommissaren kooperieren, andererseits aber auch die hergebrachten Gerechtsame ihrer jeweiligen Obrigkeit nachdrücklich wahren und deren eigenberechtigte Herrschaftsbereiche sorgfältig abschirmen. Nach Auffassung der Kommissare, die möglichst umfassend informiert werden wollten, waren sie dagegen als erste Kontakt- und Ansprechpartner vor Ort in weit höherem Maße als die gewöhnlichen Untertanen auskunfts- und rechenschaftspflichtig. Den Mittelweg zwischen mangelnder und zu großer Kooperationsbereitschaft gegenüber der Visitationskommission zu finden, dürfte nicht immer leicht gefallen sein. Für die Amtsträger, die den unterschiedlichen Anforderungen so gut es ging gerecht werden mussten, war das Verfahren eine schwierige Gratwanderung, in deren Verlauf nach beiden Seiten Absturzgefahr drohte. Hinzu kam, dass die kritische Durchleuchtung ihrer Amtstätigkeit und die ausdrückliche Ermunterung der Untertanen zur Beschwerdeführung ihr Ansehen und ihre Autorität im örtlichen Umfeld beeinträchtigen konnten. Wie gingen die Beamten mit diesen Herausforderungen um? Hier ist zunächst und vor allem die Bearbeitung der vorgelegten Fragenkataloge ins Auge zu fassen. Während sich die Einen penibel am vorgegebenen Frageschema orientierten, konzentrierten sich andere auf bestimmte Sachverhalte und handelten ganze Themenbereiche unter Berufung auf ihre Nichtzuständigkeit und fehlende Informationen nur summarisch oder gar nicht ab. In der Regel konzentrierten sich die Amtsträger auf ihre unmittelbaren Aufgabenbereiche und verwiesen bei anderen Sachverhalten auf die jeweils zuständigen Akteure, wie z. B. 1746 der Oberschultheiß und der Reservatenkommissar, die bei den Fragen nach Müßiggängern, Säufern und Verschwendern sowie nach der Verwaltung des ländtum. Beiträge zur europäischen Gesellschaftsgeschichte 12), Göttingen 1999; ders.: Neuere Forschungen zur Geschichte der Verwaltung und ihres Personals in den deutschen Staaten 1648–1848, in: Erk Volkmar Heyen (Hg.): Verwaltungseliten in Westeuropa (19./ 20. Jahrhundert) (Jahrbuch für europäische Verwaltungsgeschichte 17), Baden-Baden 2005, S. 297–326, hier S. 315–321; Karin Gottschalk: Herrschaftsvermittlung als kultureller Transfer? Lokalverwaltung und Verwaltungskultur in der Landgrafschaft Hessen-Kassel im 18. Jahrhundert, in: North: Austausch (Anm. 2), S. 175–191; weitere Fallbeispiele: Achim Landwehr : Zwischen allen Stühlen. Lokale Amtsträger im frühneuzeitlichen Leonberg, in: ebd., S. 95–109; Robert von Friedeburg: Landgemeinde, adlige Herrschaft und frühmoderner Staat in Hessen-Kassel nach dem Dreißigjährigen Krieg: Merzhausen 1646–1672, in: Hessisches Jahrbuch für Landesgeschichte, 1991, 41.Jg., S. 153–176. 71 Holenstein u. a. : Arm (Anm. 43), S. 24f.
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lichen Armenwesens im Amt Ludwigstein Wissenslücken offenbarten und empfahlen, die mit den lokalen Verhältnissen besser vertrauten Pfarrer zu Rate zu ziehen.72 Umgekehrt mussten die örtlichen Amtsträger die Klärung allgemeiner Fragen oft »höherer Beantwortung« überlassen.73 Frageartikel, die Konfliktkonstellationen oder drängende Probleme aus dem eigenen Umfeld berührten, wurden dagegen gezielt herausgegriffen, ausführlich dargelegt und mitunter auch durch die Beifügung zusätzlicher Gutachten unterfüttert. Die Lückenhaftigkeit vieler Berichte spiegelt zugleich auch die Defizite des lokalen Verwaltungshandelns wider. Mancherorts erschwerten die Vielzahl der Herrschaftsträger und die dadurch bedingte unübersichtliche Kompetenzverteilung den Überblick. Vor allem in gemischtherrlichen Dörfern, wie z. B. in Unterrieden, wo 1746 acht rotenburgische, über sechzig berlepische und zwei bodenhausensche Hintersassen lebten, fiel es den Lokalbeamten schwer, verlässliche Daten zu ermitteln.74 Immer wieder beklagten sie die Schwierigkeiten bei der Informationsbeschaffung, verwiesen auf fehlende Salbücher, schlecht geführte Akten oder jahrzehntelang unterbliebene Grenzgänge. Die Dorfschultheißen und Gemeindevorsteher im Amt Ludwigstein wussten 1746 nicht, ob die örtlichen Branntweinbrenner, Wirte, Herbergsbetreiber oder Salzverkäufer Konzessionen besaßen bzw. wer diese erteilt hatte, da sowohl die Kasseler als auch die Rotenburger Rentkammer Pachtbriefe in den Amtsdörfern ausstellte. Mancher zahlte zwar eine Gebühr, hatte jedoch nie eine Konzession beantragt, »weil es der Müh nicht verlohnt.«75 Angesichts fehlender Unterlagen war man oft genötigt, ältere Männer, die mit den örtlichen Gepflogenheiten vertraut waren, zu befragen. Mitunter ordnete die Obrigkeit sogar deren gezielte Vernehmung an, wenn zu befürchten stand, dass ein »lebendiges Inventarium« wegen seines fortgeschrittenen Alters und seiner Gebrechlichkeit »ohne Zurücklassung höchst nöthiger Dienstnachrichten« sterben könnte.76 Dass die Auskunftstätigkeit der Beamten, die durch freundschaftliche, verwandtschaftliche und ökonomische Beziehungen mehr oder weniger stark in die lokalen Netzwerke eingebunden waren, auch von persönlichen Interessen und Rücksichtnahmen bestimmt wurde, erscheint durchaus plausibel. Dorfschultheißen und -vorsteher agierten im Rahmen der Visitationen nicht nur als Erfüllungsgehilfen der Obrigkeit, sondern zugleich auch als Fürsprecher gemeindlicher Interessen bzw. als »Makler« zwischen der normierenden Obrigkeit
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Vgl. Ludwigsteiner Landvisitationsprotokoll vom 3. März 1746, HStAM, Best. 5 Nr. 16540. Ebd. Ebd. Ebd. Bericht Frickes an die Rentkammer zu Rotenburg (Ludwigstein 1761 April 28), HStAM, Best. 47 Witzenhausen II Nr. 22.
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und den Untertanen.77 Mit gewissen Einschränkungen dürfte dies sogar für die Pfarrer gelten, die als Seelsorger und »Sittenwächter« zwar in besonderem Maße aus der ländlichen Bevölkerung herausragten, andererseits aber auch durch ihre Amtspflichten mit den Gemeindemitgliedern eng verbunden waren, in den Dörfern lebten und administrative Funktionen wahrnahmen.78 Ihre Vertrautheit mit den Verhältnissen vor Ort verschaffte den territorialstaatlichen Obrigkeiten ungeschminkte Einblicke in die lokalen Lebenswelten und den Anliegen der Untertanen zumindest Gehör in der Zentrale. Wie auch immer man die konkreten Ergebnisse dieses Informationsflusses einschätzen mag, so zeigen die Verfahrensabläufe doch eindrücklich, dass Herrschaft nicht nur einseitig, widerspruchsfrei und ohne Rücksicht auf örtliche Belange von oben nach unten funktionierte. Die Steuerbarkeit des politischen Systems beruhte auf der Kooperationsbereitschaft der Regierten bzw. sollte durch den direkten Kontakt zwischen den obrigkeitlichen Emissären, den lokalen Herrschaftsträgern, deren Bediensteten und der breiten Bevölkerung verbessert werden.
Die Perspektive der Untertanen Landesvisitationen schufen einen Verständigungsrahmen und ermöglichten den diskursiven Austausch zwischen Herrschenden und Beherrschten, »Befehlsgebern« und »Befehlsempfängern«.79 Als Kontrollinstrumente der Zentrale entfalteten sie ihre Wirksamkeit vor allem auch durch die Einbeziehung der Untertanen. Ganz bewusst setzten die Obrigkeiten auf die Mitwirkung breiter Bevölkerungskreise, indem sie Korporationen und Einzelpersonen zur Stellungnahme aufforderten bzw. Beschwerdemöglichkeiten einräumten. Obwohl es sich bei den Landesvisitationen um Pflichtveranstaltungen handelte, die Teilnahme oder Nichtteilnahme an den Befragungen mithin keineswegs dem freien Ermessen anheim gestellt wurde, erscheinen die in das Verfahren eingebundenen Untertanen nicht nur als folgsame Adressaten obrigkeitlicher Verfügungen. Die Beteiligung eröffnete ihnen vielmehr Möglichkeiten und Chancen der aktiven Interessenvertretung, die weidlich genutzt wurden, um den Landesherrn unter Umgehung der lokalen Herrschaftsträger auf lokale Probleme aufmerksam zu machen und seinen Beistand gegen pflichtvergessene Obrigkeiten oder korrupte Beamte zu erbitten. Durch die Zusicherung des landesherrlichen Bei77 Stefan Brakensiek: Herrschaftsvermittlung im alten Europa. Praktiken lokaler Justiz, Politik und Verwaltung im internationalen Vergleich, in: ders., Wunder : Diener (Anm. 10), S. 1–21, hier S. 4; ders.: Fürstendiener (Anm. 70), S. 387. 78 Zu den kirchlichen Verhältnissen in der Werraregion sowie zur Stellung und den Befugnissen der Pfarrer vgl. Theibault: Villages (Anm. 5), S. 30–40. 79 Meumann, Pröve: Faszination (Anm. 1), S. 46.
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stands wurde die Bevölkerung zur Beschwerdeführung sogar ausdrücklich ermuntert. Indem sie den Untertanen einen direkten Zugang zum Landesherrn eröffneten, fungierten Landesvisitationen als Sicherheitsventile, mit deren Hilfe Wünsche und Forderungen artikuliert und gelegentlich auch durchgesetzt werden konnten. In herrschaftlich stark durchmischten Regionen wie der Gegend um Witzenhausen witterten und nutzten etliche Gemeinden die Chance, den einen Herrn gegen den anderen auszuspielen, indem sie seine Strafkompetenz oder Weisungsbefugnis bestritten, an ein anderes Gericht appellierten oder eine andere Behörde für zuständig erklärten.80 Eingedenk der obrigkeitlichen Ermutigungen und Schutzzusagen stellten Stadtväter, Gildenmeister und Dorfvorsteher nach vorheriger Beratung in den Ratsgremien bzw. mit ihren Zunftgenossen und Gemeindemitgliedern Mängellisten zusammen, die den landgräflichen Kommissaren an den dafür festgesetzten Terminen übergeben wurden. Auch Einzelpersonen ergriffen die Gelegenheit beim Schopf, um private Anliegen und Alltagsprobleme an die dynastische und administrative Spitze des Herrschaftsapparats heranzutragen, Gnadengesuche zu unterbreiten und Beistand in Besitz- und Erbstreitigkeiten zu erbitten.81 Dabei holten sie mitunter weit aus, schilderten ihre Nöte und Bedrängnisse z. T. in drastischen Wendungen, verwendeten religiöse Metaphern, zunehmend aber auch juristische oder pseudojuristische Termini, um ihrem jeweiligen Standpunkt Nachdruck zu verleihen.82 Hinter den Beschwerden und Eingaben, deren Zahl und Umfang den lokalen Problemstau reflektierte, stand die auf einem ethisch-religiösen Herrschaftsverständnis beruhende Erwartungshaltung, wonach der Fürst als gütiger Landesvater und Streitschlichter die öffentliche Ordnung, das Wohlergehen und die materiellen Existenzgrundlagen der Untertanen zu gewährleisten habe. Regulierende Eingriffe in Konflikte, die auf lokaler Ebene nicht lösbar waren, erbaten die Untertanen vom Landesherrn bzw. seinen bevollmächtigten Kommissaren, die in den Suppliken und Beschwerdeschriften als autoritative Entscheidungsinstanzen und Medien des geregelten Konfliktaustrags ausdrücklich angesprochen wurden und deren übergreifende Herrschafts- und Regelungskompetenz außer Frage stand. An der Erfüllung des Auftrags, für den gemeinen Nutzen zu sorgen, wurde der Lan80 Vgl. Beschwerdekataloge in: HStAM, Best. 17 II Nr. 2437. 81 Zum Supplikationswesen vgl. Helmut Neuhaus: Supplikationen als landesgeschichtliche Quellen – Das Beispiel der Landgrafschaft Hessen im 16. Jahrhundert, in: Hessisches Jahrbuch für Landesgeschichte, 1978, 28. Jg., S. 110–190; Fuhrmann u. a.: Gemeinden (Anm. 12), S. 307–310. 82 Ein Übelwollender bezeichnete die immer elaborierter werdenden Schriftsätze juristisch geschulter Schreiber als mit »spitzige(n) Feder(n)« verfasste Machwerke »überwitzige(r) Schriftsteller«. Bericht des Oberschultheißen an Landgraf von Hessen-Rheinfels (Witzenhausen 1687 Juni 27), HStAM, Best. 47 Witzenhausen II Nr. 22.
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desherr gemessen. Argumentativ beriefen und stützten sich die Beschwerdeführer vor allem auf das Herkommen, die altbewährten Zustände, denen normative Geltung auch für die Gegenwart zugeschrieben wurde, sowie auf eine bestimmte Vorstellung von Gleichheit und Gerechtigkeit. Stadt- und Landbewohner verlangten nicht nur Steuer- und Abgabenermäßigungen und/oder Diensterleichterungen, sondern immer auch Steuergerechtigkeit bzw. eine gerechte Verteilung der Dienste. Als zentrale Referenzpunkte einer guten und gerechten sozialen Ordnung wurden die tradierten Vorstellungen vom »gemeinen Nutzen«, von »gerechter Nahrung« und »gerechtem Preis« bemüht. Art und Umfang der Beschwerden zeigen, dass in Witzenhausen 1667 ein wesentlich größerer Problemdruck als 1746 bestand. In der Stadt waren die Wunden, die der Dreißigjährige Krieg geschlagen hatte, noch deutlich sicht- und spürbar. Für den allgemeinen Niedergang, der in der Abschaffung des Bartholomäimarkts83, den zerfallenen Stadttürmen, im Abriss zahlreicher Wohnhäuser, deren Baumaterial in den umliegenden Dörfern verkauft oder im städtischen Brauhaus verfeuert worden war84, und einer explodierenden Schuldenlast seinen sinnfälligen Niederschlag fand, wurden in weiten Kreisen der Bevölkerung vor allem die Stadtväter verantwortlich gemacht. Nach Auffassung der Zünfte, deren Vertreter sich zum Sprachrohr des bürgerschaftlichen Protests aufschwangen, hatten Bürgermeister und Rat, Stadtkämmerer und Steuererheber dem gemeinen Wesen großen Schaden zugefügt, indem sie trotz mehrfacher Einsprüche der Gildenmeister höhere Steuern und Kontributionen eingefordert hatten als ausgeschrieben worden waren. Da sie seit fast vierzig Jahren auch keine Rechnung mehr abgelegt hatten, wusste niemand, wofür die überschüssigen Gelder verwendet worden waren.85 Nachlässigkeiten bei der Restanteneintreibung, die auch vom Oberschultheißen immer wieder beklagt worden waren86, hatten den städtischen Schuldenberg stark anwachsen lassen und in der Bürgerschaft den Eindruck verstärkt, dass »dem gemeinen Nutzen übel vorgestanden undt Schaden zugefüget« werde.87 In diesem Kontext wurden auch die hohen Gehälter der städtischen Bediensteten88 sowie der im Stadtregiment herrschende Filz, die verwandtschaftliche und freundschaftliche Vernetzung der Amts- und Wür83 Vgl. Gravamina der Stadt Witzenhausen (Witzenhausen 1667 März 2), HStAM, Best. 17 I Nr. 828. 84 Vgl. Supplik der Bäckerzunft und der Wollweberzunft (Witzenhausen 1667 März 2), HStAM, Best. 17 I Nr. 828. 85 Vgl. u. a. Supplik der Wollweberzunft (Witzenhausen 1667 März 2); Gravamina der Stadt Witzenhausen (Witzenhausen 1667 März 2), HStAM, Best. 17 I Nr. 828. 86 Vgl. Bericht des Oberschultheißen Laubinger (Witzenhausen 1667 März 1), HStAM, Best. 17 I Nr. 828. 87 Supplik der Schmiedegilde (Witzenhausen 1667 März 2), vgl. ferner Supplik der Gemeindevormünder (Witzenhausen 1667 März 2), HStAM, Best. 17 I Nr. 828. 88 Vgl. Gravamina der Stadt Witzenhausen (1667 März 2), HStAM, Best. 17 I Nr. 828.
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denträger, angeprangert, »in deme der Vatter Bürgermeister undt der Sohn Stadtschreiber, welches dan großen Verdacht midt sich führet«.89 Die von der Visitationskommission zur Stellungnahme aufgeforderten Stadtväter stellten die gravierenden Mängel in der Verwaltung zwar nicht in Abrede, machten jedoch vor allem »das leidige Kriegswesen« für die Misere verantwortlich. So sei die Erstellung und Abhörung der verschiedenen Rechnungen durch den Tod des Stadtschreibers und die im Dreißigjährigen Krieg aufgelaufenen Steuerrückstände ins Stocken geraten. Dass die Abarbeitung des unerledigt liegen Gebliebenen nur schleppend vorangehe, liege vor allem an den Gilden, die früher regelmäßig an der Rechnungsabhörung teilgenommen hätten, inzwischen von einer diesbezüglichen Verpflichtung aber nichts mehr wissen wollten. Auch den Vorwurf, mehr Steuern zu erheben, als ausgeschrieben worden waren, ließen Bürgermeister und Rat nicht auf sich sitzen. Das durch den Krieg verursachte Elend habe dazu geführt, dass viele Abgaben nicht hätten erhoben werden können und große Rückstände aufgelaufen seien, die nunmehr sukzessive abgetragen werden müssten. Nicht eigene Versäumnisse, sondern ungehorsame und säumige Steuerzahler trügen die Hauptschuld an den Missständen. Von Kassenüberschüssen könne keine Rede sein.90 Im Bereich der Rechtsprechung und des Strafvollzugs zielte die Kritik gegen das Stadtgericht und den Oberschultheißen. Letzterem wurde 1667 vorgeworfen, Appellationen an die Regierung in Kassel zu behindern.91 Dagegen unterstellte der Oberschultheiß den Beschwerdeführern, die erste Gerichtsinstanz auf dem Beschwerdeweg umgehen zu wollen, weil sie in Kassel günstigere Urteile erhofften.92 1746 beschwerte sich die Bürgerschaft vor allem über die mangelhafte Protokollierung der Vorgänge beim Stadtgericht, über die von demselben – oft aus geringfügigen Anlässen – verhängten Haftstrafen und die Tatsache, dass Bürger gemeinsam mit Schelmen und Dieben ins Gefängnis gesteckt wurden, statt sie im Rathaus in bürgerlichen Gewahrsam zu nehmen. Die Mitglieder des Stadtgerichts rechtfertigten ihre Vorgehensweise im Gegenzug »mit der Halsstarrigkeit vieler Bürger« sowie der weit verbreiteten Renitenz gegenüber der städtischen Obrigkeit, und verwiesen bezüglich der Protokollführung »auf das confuse An- und Vorbringen« der Streitparteien.93 Schon der kurze Blick auf den Wust gegenseitiger Schuldzuweisungen und Rechtfertigungen vermittelt einen Eindruck von den kniffligen und unübersichtlichen lokalen Problemlagen, mit Supplik der Schustergilde (Witzenhausen 1667 März 2), HStAM, Best. 17 I Nr. 828. Bericht von Bürgermeister und Rat (Witzenhausen 1667 März 2), HStAM, Best. 17 I Nr. 828. Gravamina der Stadt Witzenhausen (Witzenhausen 1667 März 2), HStAM, Best. 17 I Nr. 828. Vgl. Bericht des Oberschultheißen Laubinger (Witzenhausen 1667 März 1), HStAM, Best. 17 I Nr. 828. 93 Protokoll über die Landvisitation der Stadt Witzenhausen vom 2. März 1746, HStAM, Best. 5 Nr. 16529.
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denen die Visitationskommissionen konfrontiert wurden und die eine rasche Entscheidungsfindung unmöglich machten. Hinzu kam, dass viele Beschwerden diffus blieben, so dass immer wieder Belege für angeprangerte Missstände nachgefordert werden mussten. 1746 monierten beispielsweise zahlreiche Bürger die Vorenthaltung des Brenn- und Bauholzes aus dem Stadtwald, andere dessen ungleiche Verteilung, vermochten ihre Vorwürfe in der Vernehmung durch die Kommissare jedoch nicht durch Fakten zu erhärten.94 Ökonomische Argumentationsmuster verwendeten vor allem die Gilden und Zünfte, die ihre Existenzgrundlagen gefährdet sahen und ihre Produktionsprivilegien hartnäckig gegen das dörfliche Handwerk und den jüdischen Handel verteidigten.95 Die Vorwürfe gegen die »heillosen Juden«96, die »jederman Abbruch undt Schaden zufuegen«97, waren indes nicht nur ökonomisch motiviert, sondern wurden auch immer wieder mit religiös-kulturellen Vorbehalten verquickt und gerechtfertigt. Infolge der großzügigen Schutzgewährung durch die Rotenburger Landgrafen, so die Schmiedegilde im Jahr 1667, gebe es in der Stadt viel zu viele Juden, »welche den Christen ihre Nahrunge abnehmen, Handel und Wandel verderben«, übermäßig schlachteten und »ungeheuerliche, wucherliche« Wechselgeschäfte betrieben.98 Dem Oberschultheißen wurde vorgeworfen, dass er Juden sogar ohne Schutzbrief in Witzenhausen dulde99, obwohl Landgräfin Hedwig Sophie bereits vor Jahren ausdrücklich und ultimativ deren Ausweisung verlangt hatte.100 Nahezu gleich lautende Beschwerden wurden 1746 von den Zunftvertretern und den städtischen Obrigkeiten erhoben, obwohl die 94 Ebd. 95 In Witzenhausen gab es eine Schuhmacher-, eine Bäcker-, eine Schneider-, eine Leinweberund eine Metzgergilde sowie eine Schreiner-, Glaser- und Benderzunft und eine Schlosser-, Huf- und Nagelschmiedezunft. 96 Supplik der Wollweberzunft (praes. Witzenhausen 1667 März 2), HStAM, Best. 17 I Nr. 828. 97 Supplik der Schustergilde (Witzenhausen 1667 März 2), HStAM, Best. 17 I Nr. 828. 98 Supplik der Schmiedegilde (Witzenhausen 1667 März 2), HStAM, Best. 17 I Nr. 828. In Witzenhausen lebten 1667 18 jüdische Familien mit insgesamt 88 Personen, von denen fünf noch keinen Schutzbrief besaßen. Das Recht zur Aufnahme der Juden in den Quartämtern stand den Landgrafen von Hessen-Rheinfels-Rotenburg zu, doch mussten sich die von diesen aufgenommenen Juden bei der Rentkammer in Kassel einen Schutzbrief ausstellen lassen und dorthin auch ihr Silbergeld entrichten. Vgl. Bericht des Oberschultheißen Laubinger (Witzenhausen 1667 März 1), HStAM, Best. 17 I Nr. 828; Rheinfelsische Kanzlei an Oberschultheiß Laubinger (Kopie/St. Goar 1665 Juli 16), HStAM, Best. 5 Nr. 16532. 1746 lebten nur noch 26 Schutzjuden in Witzenhausen. Die Rotenburger Landgrafen stellten die Schutzbriefe aus und bezogen auch die Schutzgelder, während ihre Kasseler Vettern der Tolerierung zuzustimmen hatten und die Schutzbezirke zuwiesen. Vgl. Bemerkungen der Kommission (1746), HStAM, Best. 4c Rotenburg Nr. 2360. 99 Vgl. Protokoll der Visitationskommission (Witzenhausen 1667 März 5), HStAM, Best. 17 I Nr. 828. 100 Vgl. Erlass der Landgräfin Hedwig Sophie an den Oberschultheißen sowie Bürgermeister und Rat der Stadt Witzenhausen (Kassel 1665 Juni 24), HStAM, Best. 5 Nr. 16532.
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Zahl der in Witzenhausen ansässigen Juden mittlerweile stark zurückgegangen war. Nicht nur Schutzjuden, so hieß es in einer Eingabe von Bürgermeister und Rat, würden »mit allem« handeln101, auch deren Söhne und fremde Juden würden in Witzenhausen und den umliegenden Dörfern hausieren gehen und Stände auf den Jahrmärkten okkupieren, so »daß Christliche Handelsleute fast nichts mehr zu lösen bekommen, die Märkte aber in ziemlichen Abgang gerathen.«102 Die von der Visitationskommission zur Stellungnahme aufgeforderten Schutzjuden wiesen die gegen sie erhobenen Anschuldigungen durch schriftliche Eingaben und in mündlichen Anhörungen zurück, bemühten dabei gleichfalls das alte Herkommen und beklagten sich ihrerseits über zahlreiche Benachteiligungen und Anfeindungen seitens des Magistrats, der Geistlichen und der christlichen Bevölkerung. 1667 hatten sie in Witzenhausen beispielsweise das doppelte Geschoss zu zahlen und durften keine mit der Braugerechtigkeit versehenen Häuser anmieten. Die antijüdischen Predigten der örtlichen Pfarrer hatten etliche Einwohner dazu veranlasst, Juden am Sabbat keine Dienste und Handreichungen mehr zu leisten.103 Die Forderung nach »gerechter Nahrung« richtete sich nicht nur gegen jüdische Händler, sondern auch gegen die in den Dörfern ansässigen »Pfuscher«, die von den Gilden und Zünften als unlautere Konkurrenten angesehen wurden. 1667 und 1746 klagte die Metzgerzunft über Schlachtungen und öffentliche Fleischverkäufe auf dem Land. Statt in Witzenhausen einzukaufen, würden die Bauern den Weg meiden und ihr Fleisch sowie Gewürze und Messewaren aus Bremen zu einem »nichtswürdigen Preis« in Hebenshausen, einem im Gerichtsbezirk der Familie v. Bischoffshausen gelegenen Dorf, beziehen.104 Die Leinweberzunft hatte 1746 nicht nur die Dorfbewohner und Gutspächter, sondern auch die eigenen Mitbürger im Visier, wenn sie sich darüber beschwerte, dass den Zunftgenossen durch die in Stadt und Land weit verbreitete Garnspinnerei die Nahrung entzogen werde. Jeder solle »bey seiner Function bleiben« und den Mitgliedern der Leinweberzunft »den Verdienst auch gönnen.«105 In 101 Protokoll der Landvisitation in der Stadt Witzenhausen vom 2. März 1746, HStAM, Best. 5 Nr. 16529. 102 Ebd. 103 Vgl. Supplik der Schutzjuden (praes. Witzenhausen 1667 März 6), Protokolle der Visitationskommission betr. Juden (Witzenhausen 1667 März 6), HStAM, Best. 17 I Nr. 828. Der schier unausrottbare Vorwurf, gotteslästerliche Versammlungen durchzuführen, hatte die Landgräfin bereits 1665 dazu bewogen, den Juden vorzuschreiben, ihre Gottesdienste nur an »einem abgelegenen Ort vor sich und mit ihren Hausgenossen alleine […] in der Stille ohne einigen Mißbrauch, Ärgernus oder Lästerung des Nahmens Unsers Herrn und Heylandt Jesu Christi Lehr« abzuhalten. Erlass der Landgräfin Hedwig Sophie (Kassel 1665 Juni 24), HStAM, Best. 5 Nr. 16532. 104 Eingabe der Metzgerzunft, HStAM, Best. 5 Nr. 16529; vgl. ferner Protokoll der Landvisitation in Witzenhausen vom 2. März 1746, HStAM, Best. 5 Nr. 16529. 105 Eingabe der Leinweberzunft (Witzenhausen 1746 März 1), HStAM, Best. 5 Nr. 16529.
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ihrer Not hatten sich damals etliche Leinweber aufs Brotbacken verlegt, was wiederum die Bäckerzunft enragierte, deren Vorsteher nachdrücklich darauf drängte, den ungelernten »Heimbäcker(n)«das Handwerk zu legen. Zugleich sollte auch der Brot- und Weckenverkauf durch ortsfremde Bäcker in Witzenhausen und den Amtsdörfern verboten werden.106 Ähnliche Klagen waren 1746 auch von der Schneiderzunft und der überbesetzten Schreinergilde zu vernehmen.107 Unvereinbare ökonomische Interessen, Ordnungsvorstellungen und Kompetenzansprüche prallten auch im Brauwesen aufeinander. 1667 steckten die Produktion, der Vertrieb, Verbrauch und die Besteuerung des städtischen Biers in einer tiefen Krise.108 Bürgermeister, Rat und Zünfte machten diesmal nicht allein die Dorfbrauer, sondern in erster Linie die Adligen und die Beamten für die Misere verantwortlich.109 Scharf attackiert wurden Edelleute wie Jost Mordian v. Berlepsch, Johann Philipp v. Bischoffshausen oder die v. Bodenhausen zu Arnstein, die große Mengen Bier brauten und bei Hochzeiten, Kindtaufen und anderen Feiern in den Amts- und Gerichtsdörfern verkauften, ohne Abgaben zu entrichten.110 Anstoß erregten darüber hinaus die Freigebräue der weltlichen und geistlichen Amtsträger, die das über den eigenen Bedarf hinaus Gebraute in Stadt und Land veräußerten und dadurch den Absatz der städtischen Brauer und den Ertrag der Akzise schmälerten.111 Während die Stadt Witzenhausen die Bierbrauerei als einen wesentlichen Bestandteil der »bürgerlichen Nahrung« zu schützen suchte, beriefen sich die Adligen und die Beamten auf ihre hergebrachten Freiheiten und Privilegien und die Interessen der Dorfbewohner, die über Biermangel, schlechte Bierqualität und weite Transportwege von bzw. nach Witzenhausen klagten. Auch in den adligen Gerichtsbezirken wurden die Landesvisitationen rege zur Artikulation und Wahrung der eigenen Interessen genutzt. Die Beschwerden der bäuerlichen Bevölkerung kreisten 1667 und 1746 im Wesentlichen um Abgaben, Dienste und gemeindliche Nutzungsrechte, wobei es ihr vornehmlich darum 106 Vgl. Eingabe der Bäckerzunft, HStAM, Best. 5 Nr. 16529. 107 Eingabe der Schreinerzunft, HStAM, Best. 5 Nr. 16529. 108 Tranksteuer, Akzise und Lizent standen als Hoheitsrevenüen den Landgrafen von HessenKassel, das Zapfengeld vom Weinschank den Landgrafen von Hessen-Rotenburg zu. Vgl. Bemerkungen der Kommission (1746), HStAM, Best. 4c Rotenburg Nr. 2360. 109 Vgl. auch Karin Gottschalk: Alkoholische Gärung. Herrschaftskompetenz und Eigennutz in der frühneuzeitlichen Lokalverwaltung Hessen-Kassels, in: Brakensiek, Wunder : Diener (Anm. 10), S. 233–259. 110 Bericht des Sohns des Akziseuntereinnehmers Martin (Witzenhausen 1667 März 4), HStAM, Best. 17 I Nr. 828. 111 Vgl. u. a. Supplik der Wollweberzunft (Witzenhausen 1667 März 2); Supplik der Schneidergilde (Witzenhausen 1667 März 2); Gravamina der Stadt Witzenhausen (Witzenhausen 1667 März 2); Bericht von Bürgermeister und Rat (Witzenhausen 1667 März 2), HStAM, Best. 17 I Nr. 828.
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ging, alles so zu belassen bzw. so wieder herzustellen, »wie es vor langer Zeit gewest.«112 »Wider die Gebühr undt altes Herkommen« aufgebürdete Auflagen und Dienstverpflichtungen sollten möglichst aufgehoben, mindestens jedoch gerecht verteilt werden. So echauffierten sich die Hintersassen im Adelsdorf Ziegenberg 1667 darüber, dass ein Teil der Bauern »gedoppelte Dienste« zu leisten hatte, während ein anderer Teil sich durch Geldzahlungen freikaufen durfte und der Dorfschultheiß ganz befreit war. Entweder sollte dem Junker die Dienstgelderhebung untersagt oder dafür gesorgt werden, dass er diejenigen Dienste, für die er Geld empfangen hatte, auch selbst verrichtete. Statt ständig neue Dienste einzuführen, müssten die Bestehenden verringert werden, »damit wir arme Leutte das unsrige auch verrichten können«.113 Auch die Arbeitsbedingungen ließen zu wünschen übrig. Mensch und Vieh, so die Ziegenberger, würden durch beschwerliche, teilweise bis in die tiefe Nacht andauernde Ernteeinsätze ermattet, dabei nur unzureichend verköstigt und gelegentlich sogar mit Stockschlägen traktiert.114 Anstoß erregten ferner die Einschränkung von Waldnutzungsrechten durch adlige Gerichtsherren, die Leseholztage einführten, Huteberechtigungen bestritten115 oder Hutefrevel mit höheren Strafgeldern als den in der landgräflichen Forstordnung vorgeschriebenen Sätzen ahndeten116, oder Übergriffe und Nachlässigkeiten ihrer Bediensteten, die herrschaftliches Vieh auf noch nicht abgeerntete Felder trieben, unbefugt Einquartierungen anordneten, keine Steuerquittungen ausstellten oder auf Beschwerden nicht reagierten.117 Als schreiende Ungerechtigkeit empfand man die ungleiche Verteilung der Gemeindeabgaben und Steuern innerhalb der gemischtherrschaftlichen Dörfer. Der eine zahlte seine Kontribution hierhin, der andere dorthin, der eine zinste und diente mehr, der andere weniger, der eine beteiligte sich an der Unterhaltung von Kirche und Pfarrhaus sowie der Tilgung der Gemeindeschulden, der andere kaum oder gar nicht.118 Auch zwischen den Dörfern ein und desselben Gerichtsbezirks wurde über ungleiche Abgaben und Dienste gestritten. In Ziegenhagen beispielsweise entrichteten die Bauern 1667 noch immer höhere Steuern und Abgaben als in den umliegenden Gemeinden, weil ihr Dorf 112 Beschwerdeprotokoll der Hintersassen zu Ermschwerd über den buttlarschen Amtmann (Witzenhausen 1667 März 8), HStAM, Best. 17e Witzenhausen Nr. 74. 113 Beschwerden der Hintersassen zu Ziegenberg (praes. Witzenhausen 1667 März 2), HStAM, Best. 17e Witzenhausen Nr. 74; vgl. ferner Beschwerdeprotokoll der Gemeinde Ziegenberg (Witzenhausen 1667 März 8), HStAM, Best. 17e Witzenhausen Nr. 74. 114 Ebd. 115 Vgl. Beschwerdeprotokoll der buttlarschen Untertanen zu Ermschwerd und Ziegenberg (Witzenhausen 1667 März 8), HStAM, Best. 17e Witzenhausen Nr. 74. 116 Vgl. Bemerkungen der Kommission (1746), HStAM, Best. 4c Rotenburg Nr. 2360. 117 Ebd. 118 Vgl. Beschwerdeprotokoll der buttlarschen Untertanen zu Ermschwerd und Ziegenberg (Witzenhausen 1667 März 8), HStAM, Best. 17e Witzenhausen Nr. 74.
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von den Zerstörungen des Dreißigjährigen Krieges verschont geblieben war. Inzwischen aber, so die erbosten Einwohner, sei Ziegenhagen »im gantzen Butlarischen Gerichte das Geringste und in der Nahrung undt Gewerbe das schlimmste«.119 Ähnliche Probleme bedrückten 1667 und 1746 die Untertanen im Amt Ludwigstein. Auch dort beschwerte sich die Landbevölkerung über den Umfang und die ungerechte Verteilung der Abgaben und Dienste, die nach ihrem Empfinden stetig erhöht worden waren und letztlich darauf abzielten, ihr »das Fell über die Hörner« zu ziehen.120 In fast jedem Dorf gab es Begünstigte, die gering oder gar nicht belastet waren und den diesbezüglichen Nöten und Sorgen ihrer Mitbewohner kein Gehör schenkten. 1667 wandten sich die Amtsuntertanen Hilfe suchend an die Visitationskommission, weil die von den Landgrafen von Hessen-Rheinfels-Rotenburg mehrfach genährten Hoffnungen auf einen neuen Steuerstock und einen damit einhergehenden gerechteren Lastenausgleich enttäuscht worden waren. Angesichts des offenkundigen Versagens der Nebenlinie sollte Hessen-Kassel für eine ihrem beschränkten Leistungsvermögen angemessene Steuerzuteilung sorgen.121 Darüber hinaus monierte man im Rahmen beider Landesvisitationen vor allem Holz-, Hute- und Mastbeeinträchtigungen, das Fehlen von Salbüchern, anhand derer die hergebrachten Gerechtsame nachgewiesen werden konnten, die Schädigung von Gemeindewäldern und Gehegen durch Vorwerksvieh, die Verteuerung des Holzes durch die Edelleute, ungerechtfertigte Strafen oder den Zwang, das Bier in Witzenhausen abholen zu müssen, das andernorts in besserer Qualität und kostengünstiger bezogen werden konnte.122 An der Amtsführung und am Lebenswandel der Pfarrer und Lokalbeamten hatten die Untertanen 1667 und 1746 nichts Nennenswertes auszusetzen,123 die den Dorfschultheißen und Gemein119 Beschwerdeprotokoll der buttlarschen Untertanen zu Ziegenhagen (Witzenhausen 1667 März 8), HStAM, Best. 17c Witzenhausen Nr. 74. 120 Eingabe der Schulzen und Vormünder der Gemeinde Hilgershausen (praes. Witzenhausen 1686 Oktober 25), HStAM, Best. 47 Witzenhausen II Nr. 22; vgl. ferner Antworten des Schultheißen, der Seniores und Vorsteher zu Rieden auf die Fragepunkte (1667 Februar 27), Antworten der Gemeinde Hundelshausen auf den Fragenkatalog, HStAM, Best. 17 I Nr. 828; Anlage zum Ludwigsteiner Landvisitationsprotokoll vom 3. März 1746, HStAM, Best. 5 Nr. 16540. 121 Vgl. Protokoll der Landvisitation des Amts Ludwigstein (Witzenhausen 1667 März 9), HStAM, Best. 17 I Nr. 828. 122 Vgl. Antworten des Schultheißen, der Seniores und Vorsteher zu Rieden (1667 Februar 27), HStAM, Best. 17 I Nr. 828; vgl. ferner die Beschwerdekataloge der Gemeinden in: HStAM, Best. 17 II Nr. 2437. 123 »Des Predigers fleißiges Studiren«, so eine häufig verwendete Formulierung, »spüren wir in seinen Predigten unndt ist an Lehren, Vermahnen unndt Strafen kein Mangell.« Mancherorts gab es jedoch auch »schwarze Schafe«, wie z. B. in Ziegenhagen, wo dem Dorfpfarrer 1667 vorgeworfen wurde, ein »gottlos ärgerlich Leben« zu führen. Sein Amtskollege
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devorstehern gewährten Dienst- und Abgabenbefreiungen, die Brennholzberechtigungen und Nutzungsrechte an Äckern, Gärten und Wiesen sowie die Höhe der Pfarrakzidenzien und Sporteln wurden jedoch fast überall beklagt.124 Soweit die Beschwerdekataloge der Stadt- und Landbewohner, die von den Kommissaren entgegen genommen und begutachtet wurden. Fanden die Untertanen mit ihren Anliegen Gehör? Kein Beschwerdeführer wurde von vornherein abgewiesen. Ablehnende Bescheide erhielten nur diejenigen, die ihre Behauptungen nicht belegen konnten oder offensichtliche Unwahrheiten verbreiteten, was eher selten der Fall gewesen zu sein scheint. Ansonsten waren die Kommissare im Rahmen ihrer Möglichkeiten bestrebt, berechtigten Beschwerden der Untertanen an Ort und Stelle abzuhelfen. Da die Rechtslage häufig alles andere als eindeutig war und jede Streitpartei plausible Argumente für ihr Anliegen ins Feld zu führen vermochte, wurden Problemfälle zur Entscheidung nach Kassel weitergeleitet. Hat sich die Mühe und Arbeit, die Regierende und Regierte in die Landesvisitationen investierten, am Ende gelohnt? Standen Aufwand und Ertrag in einem angemessenen Verhältnis? Angesichts der Tatsache, dass es nach der Landesvisitation von 1667 79 Jahre dauerte, ehe ein weiteres Verfahren in der Landgrafschaft Hessen-Kassel durchgeführt wurde, und dass nach 1746 gar keine Landesvisitation mehr stattfand,125 scheint Skepsis durchaus angebracht. in Rieden traktierte seine Frau übel und verrichtete seit drei Jahren keine Hausbesuche mehr. Drei lutherische Prediger hetzten angeblich gegen die Reformierten, während der Pfarrer zu Kleinalmerode nur gegen besondere Bezahlung monatliche Bettage, Wochenpredigten und Krankenbesuche in den Nachbargemeinden durchführen wollte. Vgl. Protokoll der Visitationskommission betr. Pfarrer (Witzenhausen 1667 März 7), Antworten des Dorfes Wendershausen auf den Fragekatalog das geistliche Regiment betr. (1667 Februar 28), HStAM, Best. 17 I Nr. 828. 124 Vgl. Beschwerdekataloge der Gemeinden, HStAM, Best. 17 II Nr. 2437; vgl. ferner Brakensiek: Fürstendiener (Anm. 70), S. 378. 125 1802 erwog man in Kassel die Durchführung einer weiteren Landesvisitation. Landgraf Emanuel von Hessen-Rheinfels-Rotenburg und seine Kanzleiräte reagierten auf die entsprechende Ankündigung so wie ihre Vorgänger, indem sie darauf hinwiesen, dass das Verfahren »nur in einer sehr nach den Verträgen, den Beyspielen von den Jahren 1666, 1667 und 1746 modificirten, nur auf die reservirte ohnstrittige Hoheitsgerechtsame des fürstlich regierenden Hauses sich erstreckenden Form stattfinden« dürfe (Votum der Justizkanzlei, HStAM, Best. 300 G 2/36). Hinter vorgehaltener Hand hielt man den Zeitpunkt für denkbar ungünstig, fürchtete ein Scheitern der zwischen beiden Linien geplanten Vergleichsverhandlungen und eine Gefährdung der öffentlichen Ruhe. Wegen der allgemeinen Teuerung und des hier und da schon eingetretenen Getreidemangels sei es ratsam, den Beschwerden »ehender im Stillen abzuhelfen, als durch solche Veranlassung [einer Landesvisitation – K. M.] die Unterthanen zu lauten Klagen aufzufordern (Justizrat König an Staatsminister Waitz v. Eschen, Konzept, Rotenburg 1802 Mai 26, HStAM, Best. 300 G 2/36). In Kassel war man erwartungsgemäß nicht bereit, solch gut gemeinte Ratschläge anzunehmen. Landgraf Wilhelm IX. wies alle Einwendungen und Vorbehalte brüsk zurück und verwies auf die Oberaufsicht »des allein regierenden Landesherren« (Landgraf Wilhelm IX. an Landgraf
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Die zeitraubenden organisatorischen Vorbereitungen, die vielerorts umständliche Informationsbeschaffung, die oft mühsame Suche nach einem Interessenausgleich vor Ort und die mitunter schleppenden Entscheidungsfindungsprozesse in der Zentrale dürften eher abschreckend gewirkt haben. Im administrativen »System der Information und Inspektion«126 verfügte die Obrigkeit auch über weniger zeit- und arbeitsaufwendige bzw. kostengünstigere Instrumente, wie z. B. Spezialuntersuchungen, um den Vollzug von Ordnungen und Erlassen sowie die Amtsführung der lokalen Beamtenschaft zu kontrollieren und die Volksstimmung zu erforschen.127
Fazit Erstens: Im Gegensatz zu den nur Teilbereiche der Verwaltung oder einzelne Amtssprengel erfassenden Spezialvisitationen gewähren Landesvisitationen umfassende Einblicke in den Maschinenraum des frühneuzeitlichen Territorialstaats, dessen Herrschaftstätigkeit sich auf der lokalen Ebene in einem variablen, multipolaren Sozialsystem mit unterschiedlichen Akteuren vollzog. Sie schufen einen institutionalisierten Kommunikationsraum, in dem ein Austausch zwischen dem Fürstenstaat (Landgraf, Regierung und Visitationskommission), den adligen Zwischengewalten (im Untersuchungsraum die Landgrafen von Hessen-Rheinfels-Rotenburg und vier Familien der hessischen Ritterschaft) bzw. deren Amtsträgern und den Untertanen möglich war. Auf diese Weise war gewährleistet, dass wichtige Informationen über lokale Problemlagen unmittelbar an die Herrschaft oder die zuständigen Zentralbehörden gelangten. Durch die systematischen Befragungen wurden lokale Wissensbestände angezapft und für die politisch-administrativen Ziele und Zwecke der Obrigkeit nutzbar gemacht. Zweitens: Aus obrigkeitlicher Perspektive dienten Landesvisitationen sowohl der Informationsbeschaffung als auch der Kontrolle. Fürst und Regierung benötigten umfassendes Herrschaftswissen, um ihre Aufgaben und Pflichten erfüllen, das »bonum commune« bzw. die »salus publica« fördern und den Vollzug Emanuel, Kassel 1802 August 31, HStAM, Best. 300 G 2/36). Letztlich zerstreuten sich alle Ängste und Sorgen. Ab November 1802 war von der Landesvisitation keine Rede mehr. Vermutlich absorbierten die zum Reichsdeputationshauptschluss führenden Verhandlungen, das Ringen um territoriale Entschädigungen und die Kurwürde, die Aufmerksamkeit und Arbeitskraft Wilhelms IX. 126 Andr¦ Holenstein: Kommunikatives Handeln im Umgang mit Policeyordnungen. Die Markgrafschaft Baden im 18. Jahrhundert, in: Asch, Freist: Staatsbildung (Anm. 70), S. 191–208, hier S. 194. 127 Vgl. Fuchs: Anspruch (Anm. 11).
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der zu diesem Zweck ergangenen Erlasse und Verordnungen überwachen zu können.128 Landesvisitationen sollten belastbare Daten über die verfügbaren Ressourcen und verlässliche Informationen über alle politisch relevanten Vorgänge liefern. Dabei ging es den Landgrafen nicht nur um die nachdrückliche Wahrung und Geltendmachung ihrer Hoheits- und Kontrollrechte gegenüber den intermediären Gewalten und die Disziplinierung der Beamten, sondern immer auch um eine umfassende »Landesverbesserung«, um die Beförderung des materiellen und geistig-moralischen Wohlstands von Land und Leuten durch »gute Policey«.129 Drittens: Landesvisitationen waren wichtige Wegmarken im Ringen um die Durchsetzung des Kasseler Superioritätsanspruchs gegenüber den intermediären Herrschaftsträgern. Was den Landgrafen als legitime Manifestation ihrer Oberhoheit erschien, schürte bei der Rotenburger Nebenlinie und im landsässigen Adel Angst und Misstrauen. Auch wenn keine Seite an einer Eskalation interessiert war, barg doch jede Landesvisitation das Risiko, dass sich Herrschaftsstreitigkeiten krisenhaft verschärften oder bereits vernarbte Konfliktlinien wieder aufbrachen. Dabei drohte den adligen Zwischengewalten Gefahr aus zwei Richtungen. In doppelter Frontstellung gegen den Landesherrn und die von diesem zur Beschwerdeführung ausdrücklich ermunterten eigenen Hintersassen stehend, suchten sie ihre hergebrachten Hoheits- und Besitzansprüche, Privilegien und Freiheiten möglichst uneingeschränkt zu bewahren. Ohne die Kooperationsbereitschaft und Stressresistenz ihrer Beamten vor Ort wäre dies kaum möglich gewesen. Viertens: Landesvisitationen förderten die Akzeptanz der fürstlichen Herrschaft auf lokaler Ebene, indem sie den Untertanen die Möglichkeit zur Interessenartikulation und Beschwerdeführung einräumten. Die an den Landesherrn gerichteten Forderungen nach Ermäßigung und gerechter Verteilung von Steuern, Abgaben und Diensten, einem gesicherten Zugang zu begrenzten Ressourcen wie Land, Wald und Wasser und einer effizienten Lokalverwaltung deckten sich durchaus mit den Anliegen einer Obrigkeit, welche die Wahrung bzw. Wiederherstellung des Wohlergehens und der ökonomischen Leistungsfähigkeit der Stadt- und Landbevölkerung auf ihre Fahnen geschrieben hatte. Wer auf die Schädigung »des gemeinen Nutzens und der Nahrung« verwies, fand bei den landgräflichen Kommissaren und in der Zentrale Gehör und durfte 128 Vgl. Heinz Duchhardt: Das protestantische Herrscherbild des 17. Jahrhunderts im Reich, in: Konrad Repgen (Hg.): Das Herrscherbild im 17. Jahrhundert (Schriftenreihe der Vereinigung zur Erforschung der neueren Geschichte 19), Münster 1991, S. 26–42. 129 Seit dem Spätmittelalter entwickelte sich die »gute Policey« zur Leitnorm für nahezu alle Bereiche der Verwaltung. Vgl. Thomas Simon: »Gute Policey«. Ordnungsleitbilder und Zielvorstellungen politischen Handelns in der Frühen Neuzeit (Studien zur europäischen Rechtsgeschichte 170), Frankfurt a. M. 2004.
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zumindest auf eine wohlwollende Prüfung seines Anliegens rechnen. Die Sicherung der Nahrungsgrundlagen und Besitzstände, die Gewährleistung einer sittlichen Ordnung und des nachbarlichen Friedens in den Gemeinden kam beiden Seiten gelegen.
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Abb. 1: »Item uffen dornstag noch sente peters und pauls tag, du zcoch men uß zu buwende de ludewygesteyn« – Ersterwähnung in der Homberger Schultheißenrechnung von 1415.
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Abb. 2: Heute noch erhaltene Bauten des Jahres 1415.
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Abb. 3: Die Burg mit Tor und Bergfried.
Abb. 4 und 5: Spätmittelalterliche Steinbildwerke zum Lachen: der »Blecker« genannt »Rufer« und der »Zanner« genannt »Neidkopf« an der Südostecke der Burg.
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Abb. 6: Bergfried mit Schießscharten für Feuerwaffen (»Hakenbüchsen«).
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Abb. 7: Der Burghof.
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Abb. 8: Baugeschichtliche Rekonstruktion für das Jahr 1605.
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Abb. 9: Flächengröße der Domäne Ludwigstein und Wendershausen im landesherrschaftlichen Vergleich 1585.
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Abb. 10: Flächengröße der Domäne Wendershausen und Ludwigstein im landesherrschaftlichen Vergleich 1866.
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Abb. 11: Situationsplan des Ludwigsteiner Burgbergs von Landmesser Johann Paul Schill 1740.
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Abb. 12: Das Werratal mit dem Ludwigstein und dem Hanstein. Aquarell eines unbekannten Künstlers, um 1800.
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Abb. 13: Chronik des Domänenpächters Johan Adam Schönewald 1807–1811.
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Abb. 14: Baugeschichtliche Rekonstruktion für das Jahr 1900.
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Abb. 15: Bauaufnahme von Eugen Michel 1907, hier Ansicht von Westen und Grundrisse.
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Abb. 16: Zeichnung des Burgtors, 1925.
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Abb. 17: Baugeschichtliche Rekonstruktion für das Jahr 1963.
Die Jugendburg (20. Jahrhundert)
Eckart Conze
Der Ludwigstein – Annäherungen an die Geschichte der Burg im 20. Jahrhundert
An der deutschen Märchenstraße gelegen, trägt die Burg Ludwigstein Züge eines Dornröschenschlosses. Nicht dass die Burg sich in tiefem Schlaf befände. Das Gegenteil ist der Fall, seit der Wandervogel den verfallenden Bau vor mehr als einhundert Jahren entdeckte und ihn wenige Jahre später als »Jugendburg« zu einem neuen Leben erweckte, das den Ludwigstein bis heute erfüllt. Aber wie ein Dornröschenschloss ist der Ludwigstein, so hat es zuweilen den Anschein, von einem Dickicht umgeben, das den Blick auf die Burg selbst nur schwer frei gibt. Denn wer auch immer sich mit der Geschichte des Ludwigstein im 20. Jahrhundert beschäftigt, der stößt gerade in den Worten derer, die sich der Burg in besonderer Weise verbunden fühlten und noch fühlen, die sich für die Burg eingesetzt haben und noch einsetzen, auf ein uns heute fremd gewordenes Pathos, auf Ausformungen verklärender Erinnerung und idealisierender Geschichtskonstruktion. Das begegnet uns in in vielen Quellen, in denen wir die Burggeschichte fassen können und es macht eine Annäherung an diese Geschichte nicht immer einfach, aber, gerade deshalb, umso wichtiger.1
Burggeschichte in der Erweiterung Es beginnt schon mit der Geschichte der Übernahme der Burg durch den Wandervogel, es beginnt mit Enno Narten, der 1908 von der anderen Seite der Werra, vom Hanstein aus, das »wuchtige, noch fast fensterlose Mauerviereck« jenseits des Flusses »entdeckte«, bei dessen Anblick sich Manche, romantisch verklärend, »an staufische Burgen im fernen Apulien« erinnert fühlten, die sie 1 Bei diesem Beitrag handelt es sich um die überarbeitete und punktuell ergänzte Fassung meines Eröffnungsvortrags bei der Archivtagung 2014. Der Vortragsstil wurde weitgehend beibehalten. Quellengrundlage für das Folgende ist vor allem: Das Nachrichtenblatt (der Vereinigung Burg Ludwigstein und der Freideutschen Kreise), das ab Heft 61 unter dem Titel Ludwigsteiner Blätter der Ludwigstein-Vereinigung in den Nachkriegsjahrzehnten (LB) erschien.
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vielleicht nie gesehen hatten;2 der 1913 nach dem Meißner-Treffen mit seiner Wandervogelgruppe noch einige Tage auf der Burg verbrachte; und der dann, im Krieg, Weihnachten 1914, zusammen mit vier anderen Feld-Wandervögeln den Entschluss fasste, »den Ludwigstein nach vermeintlich baldigem Kriegsende zu erwerben, auszubauen und zu weihen als Erinnerungsmal an unsere gefallenen Kameraden«.3 Und weiter heißt es dann in Enno Nartens Erinnerungen: »Die Jahre vergingen, der Krieg schien kein Ende zu nehmen. Schnitter Tod hielt grausame Ernte in unseren jungen Reihen. Der Ruf nach dem Ludwigstein verhallte, die Schwere der Zeit schnürte uns die Kehle zu. Wer sollte noch an den Frieden glauben, an ein Wiedersehen mit der Heimat, den Eltern, Geschwistern, Freunden und Kameraden? (…) Dumpf, mutlos zogen wir durch die winterlichen Ardennen heim. Sprang mir in Münster ein Pennäler fast unter das Pferd. ›Bist Du der Enno Narten?‹ und auf meinen fragenden Blick: ›Weißt Du nicht noch, ich war doch 1913 als Jüngster mit Euch auf dem Ludwigstein?‹ Das Zauberwort war gefallen. Nun kannte ich meine Aufgabe.«4 In der dürren Sprache der Satzung, die sich die von Enno Narten initiierte »Vereinigung zur Erhaltung der Burg Ludwigstein« 1922 gab – wenige Wochen, bevor diese Vereinigung die Burg als Eigentum übernahm – hieß es dann schlicht: »Die Vereinigung verfolgt den Zweck, die Mittel zu beschaffen für eine sachgemäße Wiederherstellung, den Aufbau und die Unterhaltung der Burg. Die Burg soll als Erinnerungsmal an die im Weltkrieg gefallenen Angehörigen der Jugendverbände (sic!) zu einer Jugendherberge, einem Tagungsort und einem Archiv der Jugendbewegung (sic!) ausgebaut werden.«5 Dass der Kreis um Narten die Burg als Eigentum übertragen bekam, war nach 1918 alles andere als selbstverständlich. Es gab auch andere Interessenten, darunter die Kolonialschule Witzenhausen, ein Restaurantbetrieb sowie Bodo Ebhardt, Architekt, Architekturhistoriker und Burgenforscher (»Burgprofessor«) und Gründer der 1899 errichteten Deutschen Burgenvereinigung.6 Von den Imperativen der Satzung von 1922, die im Laufe der Jahrzehnte 2 Hans Wolf: Burg Ludwigstein. Trutzfeste und Jugendberg (Teil II), in: LB Nr. 87 (Juli 1970), S. 17–20, hier S. 18. 3 Erinnerungen Enno Nartens, zit. nach: Hans Wolf: Burg Ludwigstein. Trutzfeste und Jugendburg (Teil I), in: LB Nr. 86 (März 1970), S. 8–6, hier S. 15. 4 Ebd. 5 Paragraph 1 der Satzung der »Vereinigung zur Erhaltung der Burg Ludwigstein« vom 8. 4. 1922, zit. nach: Hans Wolf: Burg Ludwigstein. Trutzfeste und Jugendburg (Teil I), in: LB Nr. 86 (März 1970), S. 8–16, hier S. 16. Auf das Nebeneinander der Begriffe »Jugendverbände« (nicht etwa »Jugendbünde«) und »Jugendbewegung« sei hier nur am Rande verwiesen. Zur Geschichte der Vereinigung s. aus der Sicht eines Beteiligten Hermann Kanow: Der Burg verbunden. Sechzig Jahre Vereinigung Jugendburg Ludwigstein im Rückblick, in: LB Nr. 127 (Juni 1980), S. 11–20. 6 S. Hans Wolf: Burg Ludwigstein. Trutzfeste und Jugendburg (Teil II), in: LB Nr. 87 (Juli 1970), S. 17–20, hier S. 18.
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sprachlich angepasst wurden, in ihrem Kern aber erhalten geblieben sind, ist die Entwicklung der Burg – und damit ihre Geschichte im 20. Jahrhundert – bis heute geprägt. Aber wo finden wir die Geschichte des Ludwigstein? In Satzungen und Verfassungen? In der nie endenden Korrespondenz mit den unterschiedlichsten Behörden und Institutionen preußischer, nationalsozialistischer und später bundesrepublikanischer Zeit? In den Jahresübersichten und den Berichten der Gruppen, die sich auf der Burg aufhielten? Oder in den Äußerungen derjenigen Menschen, die mit dem Ludwigstein untrennbar verbunden sind. Neben Enno Narten war das beispielsweise auch Burkhart Schomburg, AltWandervogel, nach 1945 Mitglied des Sternberg-Kreises und führend in der Ludwigstein-Vereinigung aktiv, der 1956 seine Idee des Ludwigstein, eine historische Mission gleichsam, beschrieb: »Der Ludwigstein ist für mich der Inbegriff der Jugendbewegung in ihrer umfassenden Bedeutung. Er ist der Brennpunkt, in dem sich die gesunden Kräfte sammeln, die einst den Wandervogel zur Fahrt ins Neuland trieben, die aber auch von dort wieder ausstrahlen. Die Burg ist für mich Erlebnis, ohne das ein besonderer Klang in meinem Werdegang fehlte, und ist zugleich eine ernste, verpflichtende Aufgabe, die in die Zukunft weist. Diese Aufgabe aber ist der Bund der gesamten Jugendbewegung, der aufbaut auf der Überlieferung von fünf Jahrzehnten des Kämpfens, Suchens und Irrens, der mit beiden Füßen in der harten Wirklichkeit unsrer Tage steht, aber den Blick in die Zukunft richte. So und nur so in diesem Bunde kann die Burg einen bescheidenen und doch wesentlichen Beitrag leisten zu einer Neuordnung des Lebens, die wir alle ahnen.«7 Der Unterschied der Sprachen – hier Enno Nartens oder Burkhart Schomburgs Pathos, dort das nüchterne Deutsch der Satzungen – verweist auf zwei Pole, zwischen denen sich die Erforschung der Burggeschichte bewegen muss: die Burggeschichte zum einen als Teil der Geschichte der deutschen Jugendbewegung, für die Zeit nach 1945 wohl präziser : als Teil der Wirkungsgeschichte der historischen, historisch gewordenen deutschen Jugendbewegung der ersten Jahrhunderthälfte, einer Geschichte, die fassbar wird sowohl in der Geschichte ihrer Gruppen und Bünde als auch im Denken und Handeln Einzelner ; die Burggeschichte zum anderen aber als Baugeschichte, als Organisations- und Verwaltungsgeschichte, auch als Wirtschaftsgeschichte einer »bildungs- und gesellschaftspolitischen Einrichtung von unverwechselbarem Charakter«, wie es in einer 1987 beschlossenen »Selbstdefinition und Standortbestimmung« der »Stiftung Jugendburg Ludwigstein und Archiv der deutschen Jugendbewegung« einmal formuliert wurde.8 Beides wirkt aufeinander ein – bis heute – und in dem 7 Burkhart Schomburg: Bund um den Ludwigstein, in: Das Nachrichtenblatt Nr. 37 (Juni 1956), S. 1. 8 Stiftung Jugendburg Ludwigstein und Archiv der deutschen Jugendbewegung: Selbstdefini-
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weiten Feld zwischen den beiden Polen entwickelten sich das Leben und die Arbeit auf der Burg in ihren vielen Dimensionen: von der wissenschaftlichen Tätigkeit des Archivs über den Jugendherbergsbetrieb bis hin zu den Begegnungen und Treffen bündischer Gruppen, für die die Attraktivität des Ludwigstein bis heute ungebrochen ist. Eine »Burggeschichte in der Erweiterung«, wie man es nennen könnte, hätte die Aufgabe, diese verschiedenen Dimensionen zu fassen, zueinander in Beziehung zu setzen, um auf diese Weise sukzessive zu einer integrierenden Perspektive zu gelangen, einer integrierenden Darstellung womöglich sogar, von der wir heute freilich noch weit entfernt sind. Aber der Weg, den die Archivtagung 2014 eingeschlagen hat und der mit Blick auf die Forschungslage auch nicht völlig voraussetzungslos ist, führt in eine solche Richtung. Die in diesem Band versammelten Beiträge sind Mosaiksteine in einem Gesamtbild, das erst allmählich Gestalt annehmen kann. Für dieses Gesamtbild sind wissenschaftliche Studien mit ihrer Fähigkeit zu kritischer Distanz ebenso wichtig wie die Wahrnehmungen und Erfahrungen derer, die den Ludwigstein aus eigenem Erleben kennen und für die die Burg zum Teil zu einem wichtigen Teil ihrer Biographie geworden ist. Aber die Geschichte des Ludwigstein geht nicht in individuellen Erinnerungen auf, auch nicht in der Summe individueller Erinnerungen, so unterschiedlich, ja widersprüchlich diese auch sein mögen. Wichtig ist es in diesem Zusammenhang allerdings auch, den Ludwigstein nicht auf einen Erinnerungs- oder Gedächtnisort zu reduzieren, der er zweifellos auch ist und als welcher die Burg in jüngerer Zeit verschiedentlich – bis hin zu der großen Sammlung »Deutscher Erinnerungsorte« (2001) – dargestellt worden ist.9 2008 hat sich die Ludwigsteiner Archivtagung der Jugendbewegung und ihrer Gedächtnisorte angenommen.10 Einen eigenen Beitrag zum Ludwigstein selbst gibt es in dem Tagungsband nicht, wenn natürlich auch vielfältige Bezugnahmen und Berührungspunkte. Für die Lücke gibt es gute Gründe: Der Ludwigstein existiert ja nicht nur als Erinnerungsort, ihn gibt es nicht nur in der Erinnerung. Außerdem müsste man vermutlich erst einmal die »Realgeschichte« der Burg schreiben, sie in ihren vielen Schichten frei legen, bevor man sie dem Erinnerungsparadigma unterwirft. Dazu gibt es bereits wichtige Vorarbeiten, tion und Standortbestimmung (beschlossen in den Kuratoriumssitzungen vom 09. 11. 1986 und 04. 04. 1987), in: LB Nr. 157 (IV/1987), S. 5–8, hier S. 5. 9 Ulrich Linse: Wandervogel, in: Etienne FranÅois, Hagen Schulze (Hg.): Deutsche Erinnerungsorte (Bd. 3), München 2001, S. 531–548, zum Ludwigstein vor allem S. 544–547. 10 Historische Jugendforschung. Jahrbuch des Archivs (HJJA), 2008, NF 5, Themenschwerpunkt: Barbara Stambolis, Rolf Koerber (Hg.): Erlebnisgenerationen – Erinnerungsgemeinschaften. Die Jugendbewegung und ihre Gedächtnisorte. Das Defizit wird in der Einleitung des Bandes auch nicht weiter reflektiert. Diese Lücke schließt nun in gewisser Weise der vorliegende Band.
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nicht zuletzt im Nachrichtenblatt bzw. den Ludwigsteiner Blättern (der Vereinigung Burg Ludwigstein) oder im Jahrbuch des Archivs, wo sich immer wieder Beiträge zur Burggeschichte finden.11
Denkmalsgeschichte – Erinnerungsgeschichte – Gedächtnisgeschichte Aber ein Gedenkort ist die Burg stets gewesen. Wir können die Burggeschichte als Denkmalsgeschichte schreiben und die Geschichte der Denkmäler und des Gedenkens auf der Burg thematisieren. Als Ort des Gedenkens an die im Weltkrieg gefallenen Wandervögel sollte der Ludwigstein zuallererst dienen. Das war die Idee Enno Nartens, die in den Kriegsjahren entstand und nach 1918 in die Tat umgesetzt wurde. Aber Form und Inhalt des Gedenkens änderten sich im Laufe der Zeit. Verschiedene Zeit- und Deutungsschichten überlagerten – und überlagern sich bis heute – in der Gedenkgeschichte des Ludwigstein. Zunächst sollte die Burg selbst das Denkmal sein. Doch jene Wandervögel, die 1922 die »Vereinigung zur Erhaltung der Burg Ludwigstein« gründeten, wünschten »kein totes Denkmal, sondern einen Hort frischen Lebens und echten Frohsinns, wo die wandernde Jugend Ruhe und Erquickung finden kann und gleichzeitig in Ehren der gefallenen Helden gedenkt«.12 Das atmete den Geist der Zeit und machte den Ludwigstein einerseits zu einer Art Kriegerdenkmal, das an den »Opfergang der deutschen Jugend« erinnerte. Andererseits war die Burg für nicht Wenige ein Mahnmal, ein Denkmal gegen den Krieg, das sich auch pazifistisch deuten ließ.13 So wie im Übrigen ganz eindeutig die 1921 von 200 Freideutschen Hans Paasche gewidmete alte Linde unterhalb der Burg, die noch fast einhundert Jahre stand, bevor sie ein Sturm fällte und bevor eine deutsch-polnische Jugendgruppe 2007 eine neue »Paasche-Linde« aus Paasches heute polnischer Heimat pflanzte.14 Ein eigener Gedenkraum auf der Burg, eine »Weihestätte«, wie es hieß, wurde zwar schon in den 1920er-Jahren geplant, jedoch erst im November 1933 offiziell 11 Beispielsweise die mehrteilige Serie des Burgarchivars Hans Wolf: Burg Ludwigstein. Trutzfeste und Jugendburg, in: LB Nr. 86 (März 1970), S. 8–16; LB Nr. 87 (Juli 1970), S. 17–20; LB Nr. 89 (Dezember 1970), S. 16–18; LB Nr. 90 (März 1971), S. 14–16. Zur Geschichte von Burg und Vereinigung in der Zeit des Nationalsozialismus s. Winfried Mogge: Der Kampf um den Ludwigstein. Burg und Vereinigung in den Jahren von 1933 und 1945, in: LB Nr. 142 (I/1984), S. 3–13. 12 Hugo v. Waldeyer-Hartz: Burg Ludwigstein im Werratal. Die Burg deutscher Jugendwanderer, Berlin 1924, S. 34. 13 Vgl. Linse: Wandervogel (Anm. 9), S. 544f. 14 Zur Paasche-Linde ausführlicher Stephan Sommerfeld: Die Paasche-Linde auf dem Ludwigstein – mehr als ein Baum, in: HJJA, 2008, NF 5, S. 95–108, sowie Linse: Wandervogel (Anm. 9), S. 546.
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eröffnet, im Beisein von Vertretern der alten Bünde und der HJ, zu deren Gebietsführerschule die Burg mittlerweile geworden war. Enno Narten wohnte der Feierlichkeit nicht bei; ihn, der noch wenige Tage zuvor in den »Kasseler Neuesten Nachrichten« seine »Erinnerungen an die erste Jahre der Erneuerung der Burg« hatte veröffentlichen können, nahm die Gestapo am Vorabend der Veranstaltung als »staatsgefährdenden Jugendführer« in »Schutzhaft«.15 Nichtsdestoweniger zelebrierte die Veranstaltung den Schulterschluss zwischen »alter« und »neuer« deutscher Jugend, und in den folgenden Jahren diente der Ludwigstein, sichtbar in zwei Gedenktafeln aus den Jahren 1939 und 1940, immer stärker dazu, die Tradition der Jugendbewegung in die NS-Ideologie, ihren Kriegs-, Helden- und Opferkult zu inkorporieren – mit dem »LangemarckMythos« als zentraler Brücke.16 In der lokalen Zeitung, aber auch in anderen deutschen Presseorganen, war 1940 zu lesen: »Über dem Ludwigstein weht heute die Fahne der Jugend des Großdeutschen Reiches. Unter ihrem Zeichen vereinen sich nunmehr die alten Kriegswandervögel mit ihren jungen Kameraden von der Hitler-Jugend im Gedenken an die Gefährten, die fielen, damit Deutschland lebe. Seite an Seite stehen sie heute, die alten wie die jungen, im Dienste für Führer und Vaterland« – und starben einen sinnlosen Tod.17 Doch das ist nur eine Dimension der Burggeschichte zwischen 1933 und 1945, die nicht als reine Widerstands- oder Resistenzgeschichte zu verstehen ist – und damit gewiss auch nicht als Opfergeschichte –, sondern, ungleich komplexer, als eine »Geschichte von Anpassung und Konflikt«.18 Wir wissen heute, dass die Trägervereinigung der Burg eine politisch und ideologisch ausgesprochen heterogene Gruppe war, deren Vorstand allerdings schon Anfang 1933, zum Zeitpunkt der »Machtergreifung« nur aus NSDAP-Mitgliedern bestand. Auch deshalb stellte sich der Trägerverein schon im Mai 1933, also noch vor der Auflösung des Großdeutschen Bundes, jener Sammelorganisation der bündischen Jugend, einen Monat später, unter die Schirmherrschaft der Reichsjugendführung.19 Erst aus der Einrichtung einer HJ-Gebietsführerschule auf der Burg und dem 15 Diese Information sowie die folgenden nach Mogge: Kampf (Anm. 11), sowie Linse: Wandervogel (Anm. 9), S. 544f. 16 Zum Mythos Langemarck allgemein Gerd Krumeich, in: FranÅois: Erinnerungsorte (Anm. 9), S. 292–309, sowie Arndt Weinrich: Kult der Jugend – Kult des Opfers: Der Langemarck-Mythos in der Zwischenkriegszeit, in: Historical Social Research, 2009, Nr. 34/ 4, S. 319–330; spezieller im Jugendbewegungskontext s. ders.: Hitler-Jugend und Pfadfinderbewegung. Schnittmengen und Differenzen am Beispiel des Langemarck-Gedenkens, in: Eckart Conze, Matthias D. Witte (Hg.), Pfadfinden. Eine globale Bildungs- und Erziehungsidee aus interdisziplinärer Perspektive, Wiesbaden 2012, S. 53–66. 17 Zit. nach: Mogge: Kampf (Anm. 11), S. 3. 18 So Winfried Mogge schon 1984; ebd., S. 13. 19 Dies und das Folgende nach Mogge: Kampf (Anm. 11) (dort viel ausführlicher).
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Dominanzanspruch der Hitler-Jugend entwickelte sich in den folgenden Jahren der »Kampf um den Ludwigstein« (W. Mogge), der auch innerhalb der Trägervereinigung und ihres Vorstands zu erheblichen Konflikten führte. Per GestapoBescheid und unter Bezug auf das Verbot der Bündischen Jugend vom Februar 1936 wurde die Vereinigung am 3. September 1936 aufgelöst. Immerhin gelang es den zu Liquidatoren bestimmten Vertretern der Vereinigung und des »Feldwandervogels«, eine Schenkung der Burg an den Reichsverband für deutsche Jugendherbergen durchzusetzen und die Burg zum »Ehrenmal der gefallenen Wandervögel« zu machen, was zur Anbringung der beiden Gedenktafeln 1939 und 1940 führte. Den ehemaligen Wandervögeln wurde, auch durch das Engagement von Fürsprechern in der Reichsjugendführung, das Recht zugestanden, sich zu Gedenkfeiern auf der Burg zu versammeln und sie nach den Bedingungen des Jugendherbergsverbandes weiterhin zu nutzen. Diese Regelung galt bis 1941, als sie von der Gestapo außer Kraft gesetzt wurde, nachdem die Reichsjugendführung im gleichen Jahr die Bündische Jugend zum Hauptfeind der Hitler-Jugend erklärt hatte. Lediglich ein eng umgrenzter Kreis von ehemaligen Bündischen, unter ihnen auch Nationalsozialisten wie Knud Ahlborn, erhielt die Genehmigung, zusammen mit der HJ »die Tradition des Ludwigstein zu pflegen«. Aber auch Enno Narten oder Burkhart Schomburg gehörten diesem Kreis an, der sich unter dem Vorsitz von Johannes Aff unmittelbar nach Kriegsende 1945 bei den amerikanischen Besatzungsbehörden erfolgreich um eine Wiederzulassung der Vereinigung und eine Freigabe der Burg bemühte. Ansonsten bestimmte in den Kriegsjahren die HJ mit ihren Veranstaltungen und Gruppen den Alltag der Burg, die daneben auch ein Ziel der »Kinderlandverschickung« wurde. Das Gedenken nach 1945 war schwierig. In der so genannten »Steinkammer am Turm« dehnte es sich nur langsam über die Kriegstoten beider Weltkriege aus dem bündischen Bereich hinaus aus und erstreckte sich dann auch auf die »Opfer der Vertreibung und irgendwelcher Gewalttaten«, wie es 1974 der ehemalige Burgarchivar Hans Wolf formulierte.20 Die Inschrift von 1940 wurde erst 1989 durch eine zusätzlich angebrachte Erklärungstafel kommentiert, die durchaus kontrovers aufgenommen und auch kritisiert worden ist, weil sie, so meinten die Kritiker, wenig differenziert auf das Bild einer antinationalsozialistischen Jugendbewegung hin ziele beziehungsweise das Bild der Jugendbewegung als eines verführten Opfers konserviere.21 Burggeschichte geht aber in der Gedenkgeschichte nicht auf. Zur Burgge20 Hans Wolf: Vom Ludwigstein, vom Archiv und von der Jugendbewegung, in: LB 108 (September 1974), 16 S. (Text eines Vortrags vom 01. 12. 1974, eingebunden mit separater Seitenzählung, hier S. 6). 21 Vgl. auch Linse: Wandervogel (Anm. 9), S. 546.
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schichte in der Erinnerungsperspektive gehört auch, dass der Ludwigstein vor allem nach 1945 nicht nur Gedenk- und Erinnerungsort gewesen – und geblieben – ist, sondern auch ein wichtiger Ort der »Erinnerungsarbeit« in Sachen Jugendbewegung, vorangetrieben beispielsweise durch den Freideutschen Kreis, vor allem aber – und auf der Burg selbst – durch das Archiv der deutschen Jugendbewegung. Als »Reichsarchiv der deutschen Jugendbewegung« war dieses Archiv seit 1922 entstanden, wurde 1941 auf Veranlassung der Reichsjugendführung von der Burg entfernt und an das »Reichsinstitut für nationalsozialistische Jugendarbeit« in Berlin übergeben. Wenig später an einen unbekannten Ort ausgelagert, ging es in der Schlussphase des Krieges verloren. Nach 1945 als »Archiv der Jugendbewegung« wieder aufgebaut,22 unterlagen insbesondere in der historiographischen und editorischen Arbeit des Archivs, so hat es Arno Klönne schon vor einigen Jahren formuliert, wichtige Themen einer »gezielten Vergesslichkeit«: darunter die ideengeschichtlichen Verbindungslinien zwischen den Jugendbünden vor 1933 und völkisch-nationalistischen beziehungsweise nationalsozialistischen Weltbildern, aber auch die Geschichte des weiblichen Teils der Jugendbewegung.23 Nicht zuletzt die große »Dokumentation der Jugendbewegung«, nach ihrem Initiator und Herausgeber Werner Kindt auch »Kindt-Edition« genannt,24 auf der Burg entstanden, steht für diese gezielte Vergesslichkeit und für den Versuch einer sowohl kollektiven, auf die Jugendbewegung insgesamt bezogenen, aber auch individuellen Selbstentlastung. Dabei ist an Werner Kindt selbst zu denken,25 an Theodor Schieder, über lange Jahre Vorsitzender der Historischen Kommission für die Erforschung der Jugendbewegung,26 oder an das SS-Mitglied Günther Franz,27 mit der Burg nicht
22 Zum Wiederaufbau nach 1945 s. aus der Sicht der damaligen Archivleitung Günther Franz, Hans Wolf: Bericht über das Ludwigstein-Archiv der deutschen Jugendbewegung, in: Das Nachrichtenblatt Nr. 40 (Mai 1957), S. 6–11. 23 Arno Klönne: Gedächtnisschwächen – Jugendbewegung und Erinnerungsarbeit, in: HJJA (Anm. 14), S. 20–22. 24 Werner Kindt (Hg.): Grundschriften der deutschen Jugendbewegung, Düsseldorf 1963; ders. (Hg.): Die Wandervogelzeit. Quellenschriften zur deutschen Jugendbewegung 1896–1919, Düsseldorf 1968; sowie ders. (Hg.): Die deutsche Jugendbewegung 1920–1933. Quellenschriften. Die bündische Zeit, Düsseldorf 1974. 25 Zu Werner Kindt s. Ann-Kathrin Thomm: Alte Jugendbewegung, neue Demokratie. Der Freideutsche Kreis Hamburg in der frühen Bundesrepublik Deutschland (Edition Archiv der deutschen Jugendbewegung 16), Schwalbach 2010, sowie verschiedene Beiträge von Christian Niemeyer in zum Teil ausgesprochen einseitiger Thesenbildung und enthüllend-skandalisierendem Duktus, u. a. Christian Niemeyer : Werner Kindt und die »Dokumentation der Jugendbewegung«. Text- und quellenkritische Beobachtungen, in: HJJA, 2005, NF 2, S. 230–250; ders.: Werner Kindt in seiner Eigenschaft als Chronist der Jugendbewegung, in: Gisela Hauss, Susanne Maurer (Hg.): Migration, Flucht und Exil im Spiegel der Sozialen Arbeit, Bern 2010, S. 227–248. 26 Kommission für Geschichte der Jugendbewegung, in: Das Nachrichtenblatt Nr. 47 (Juni
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nur eng verbunden als langjähriger Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats des Archivs und als stellvertretender Vorsitzender der Kommission für die Erforschung der Jugendbewegung, sondern auch als Leiter (»Präfekt«) der »Burgakademie«. Diese Einrichtung der 1950er- und 1960er-Jahre beschäftigte sich vor allem in Vortragsveranstaltungen mit historischen und politischen Themen. Der nationalkonservative Historiker Walther Hubatsch gehörte zu den Referenten, aber auch die völkisch-nationalistischen Schriftsteller Hans Grimm (»Volk ohne Raum«) oder Will Vesper waren zu Gast auf der Burg. Das komplexe Verhältnis zwischen Jugendbewegung und Nationalsozialismus, aber auch die Frage der – individuellen wie kollektiven – NS-Belastung ist vom Archiv über lange Zeit nur sehr zögerlich, wenn überhaupt, aufgegriffen worden; eher wirkte es mit seinen führenden Repräsentanten, dem langjährigen Archivar Hans Wolf, seinem Wissenschaftlichen Beirat und der von Theodor Schieder geleiteten Kommission für die Geschichte der Jugendbewegung, als eine Art »Erinnerungskartell«.28 Wenn sich die jüngere Forschung in zum Teil polemischer Art und in der Urteilsbildung mitunter viel zu grobschlächtig mit diesen Entwicklungen und Problemen beschäftigt (bezogen auf die Zeit vor und nach 1945) und das Pendel gewissermaßen in die andere Richtung ausschlagen lässt,29 dann liegt das ohne Frage auch an jener geschichtsbildprägenden selektiven Erinnerung und den auf ihr basierenden Geschichtsbildern, die deutlich über die unmittelbare Nachkriegszeit hinaus auch auf der Burg ausgeformt und von dort aus verbreitet wurden. Das zeigen nicht nur ein näherer Blick auf die Kindt-Edition oder auf die Beurteilung einer so schwer belasteten Persönlichkeit wie die der des nationalsozialistischen Botschafters im besetzten Frankreich, 1959), S. 22. Vgl. auch Christoph Nonn: Theodor Schieder. Ein bürgerlicher Historiker im 20. Jahrhundert, Düsseldorf 2013. 27 Zu Günther Franz s. u. a. Wolfgang Behringer : Bauern-Franz und Rassen-Günther. Die politische Geschichte des Agrarhistorikers Günther Franz (1902–1992), in: Winfried Schulze, Otto G. Oexle (Hg.): Deutsche Historiker im Nationalsozialismus, Frankfurt a. M. 1999, S. 114–141, sowie Ernst Klee: Personenlexikon zum Dritten Reich, Frankfurt a. M. 2005, S. 161. 28 Den Begriff »Erinnerungskartell« verwendet, durchaus zutreffend, Thomm: Jugendbewegung (Anm. 25), S. 368. 29 Dafür stehen insbesondere die Arbeiten von Christian Niemeyer, neben den oben erwähnten Aufsätzen zu Werner Kindt, dem Archiv der Jugendbewegung und der »Dokumentation der Jugendbewegung« u. a.: Die dunklen Seiten der Jugendbewegung. Vom Wandervogel zur Hitlerjugend, Tübingen 2013 (vgl. dazu aber die Rezension von Heinz-Elmar Tenorth, in: Zeitschrift für Pädagogik, 2014, Nr. 5, S. 805–807). Deutlich differenzierter und ausgewogener die kritische Analyse von Lukas Möller, die sich nicht nur auf das Verhältnis von Jugendbewegung und Nationalsozialismus sowie den Umgang mit diesem Verhältnis nach 1945 beschränkt: Lukas Möller : »Ich habe geschwiegen, weil ich im Bezug auf die Sache durchaus für Toleranz bin«. Der Umgang mit rechtem Gedankengut in der Jugendbewegung nach 1945 am Beispiel der Jugendburg Ludwigstein, in: Zeitschrift für Sozialpädagogik, 2014, Nr. 12 , S. 425–440.
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Otto Abetz,30 sondern auch die Rezensionen kritischer Publikationen zur Geschichte der Jugendbewegung und zu ihrem Verhältnis zum Nationalsozialismus. Die Besprechungen und Kommentierungen beispielsweise der Werke von Harry Pross, Walter Laqueur und Karl Otto Paetel oder der kritischen Rede des Theologen Helmut Gollwitzer anlässlich des 50. Jahrestages des Meißner-Treffens 196331 in den Ludwigsteiner Blättern, immer wieder aus dem Umfeld des Archivs stammend, lassen das erkennen.32 Im Anschluss an die jüngere zeithistorische Forschung wäre auch für den Ludwigstein und die ihm verbundenen Gruppen und Personen die Frage nach der NS-Belastung, mindestens ebenso sehr aber auch die Frage nach dem Umgang mit dieser Belastung, individuell wie kollektiv, nach 1945 zu stellen. Was galt eigentlich auf dem Ludwigstein und in der Jugendbewegung allgemein (beziehungsweise ihren Nachfolgeorganisationen nach 1945) als NS-Belastung? Und wie veränderten sich Verständnis und Wahrnehmung von Belastung im Laufe der Jahrzehnte? Welche individuelle NS-Vergangenheit und NS-Belastung diskreditierten in den Bünden nach 1945 und auf dem Ludwigstein zu welchem Zeitpunkt, welche nicht? Die Historisierung beziehungsweise Selbsthistorisierung der Jugendbewegung in den Jahrzehnten nach 1945 ist nicht nur ein wichtiges Kapitel der Burggeschichte, sondern auch eine Thematik, die über den burggeschichtlichen Kontext hinaus weist. Sie gehört in den breiteren Rahmen der sich seit einigen Jahren intensivierenden Auseinandersetzung mit der Frage, wie sich denn Jugendbewegte und Jugendbewegung (im Sinne derjenigen Gruppen und Bünde, 30 S. beispielsweise Walther Jantzen: Rezension zu Karl Epting: Generation der Mitte, sowie zu ders.: Aus dem Cherche Midi, in: Das Nachrichtenblatt Nr. 25/26 (März 1954), S. 23f. Zu Abetz und zum Abetz-Bild in der Jugendbewegung, gerade auch nach 1945, vgl. Eckart Conze: Otto Abetz, in: Barbara Stambolis (Hg.): Jugendbewegt geprägt. Essays zu autobiographischen Texten von Werner Heisenberg, Robert Jungk und vielen anderen, Göttingen 2013, S. 55–68. 31 Harry Pross: Jugend, Eros, Politik. Die Geschichte der deutschen Jugendverbände, Bern 1964; Walter Laqueur : Die deutsche Jugendbewegung. Eine historische Studie, Köln 1962; Karl O. Paetel: Jugendbewegung und Politik. Randbemerkungen, Bad Godesberg 1961; Helmut Gollwitzer : Festansprache, in: Werner Kindt, Karl Vogt (Hg.): Der Meißnertag 1963. Reden und Geleitworte, Düsseldorf, Köln 1964. 32 S. beispielsweise Karl Vogt: Rezension von Karl O. Paetel: Jugendbewegung und Politik, in: LB Nr. 58 (September 1961), S. 19f.; G.W. (vermutlich Günther Welter): Rezension von Walter Laqueur: Die deutsche Jugendbewegung, in: LB Nr. 64 (April 1963), S. 18f. (positiver aber bei Hans Wolf, in: LB Nr. 65 (August 1963), S. 20–22); Hans Wolf: Rezension von Harry Pross: Jugend, Eros, Politik, in: LB Nr. 70 (April 1965), S. 18f. Zur Wahrnehmung der Gollwitzer-Rede 1963 s. Hans-Ulrich Thamer : Das Meißner-Fest der Freideutschen Jugend 1913 als Erinnerungsort der deutschen Jugendbewegung, in: HJJA (Anm. 14), S. 169–190, insbesondere S. 182–188. Vgl. auch Jürgen Reulecke (Hg.): 50 Jahre danach – 50 Jahre davor. Der Meißnertag von 1963 und seine Folgen (Jugendbewegung und Jugendkulturen. Jahrbuch 9), Göttingen 2014.
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die sich in die Tradition der historischen Jugendbewegung stellten und stellen) nach 1945 zur Geschichte der Jugendbewegung und ihrer Bünde als Teil der deutschen Geschichte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verhalten haben.33
Burggeschichte – Jugendbewegungsgeschichte – Zeitgeschichte Wie aber nähern wir uns nun, jenseits der Gedenk- und Erinnerungsgeschichte, der Geschichte der Burg im 20. Jahrhundert an? Für eine umfassende Burggeschichte, chronologisch aufgebaut und integral in ihrem Ansatz, fehlen noch viele Grundlagen. Können wir denn schon klare Phasen der Burggeschichte im 20. Jahrhundert identifizieren? Wie könnten sie aussehen? Sollten sie den politischen Zäsuren der deutschen Geschichte folgen: 1914 beziehungsweise 1918, 1933, 1945, 1990? Oder ergibt sich eine Periodisierung aus der um 1900 beginnenden und letztlich bis heute nicht abgeschlossenen Aneignungsgeschichte der Burg durch die Jugendbewegung selbst? Dann müssten wir von einer Entdeckungsphase sprechen, von der Inbesitznahme nach dem Ersten Weltkrieg, von Anpassung und Abwehr nach 1933, vielleicht von Wiederaneignung nach 1945, von der »Verstiftung«, wie es in den Quellen immer wieder heißt, 1970,34 von der Hochzeit der »jungen Bünde« in den Jahren danach, um solche Periodisierungsmöglichkeiten nur anzudeuten. Andere Einteilungsmöglichkeiten könnten sich aus der Baugeschichte der Burg ergeben: Ausbau und Erweiterung in vielen Schritten – nach 1920 beginnend, nach 1945: Meißner-Bau, Archivflügel, Enno-Narten-Bau. Ist es sinnvoll, das wäre eine nächste Frage, die drei Säulen des »Burgbetriebs«, um das einmal so zu nennen, historisch getrennt voneinander zu analysieren: erstens, die Burg als Jugendherberge, später als Jugendbildungsstätte; zweitens, die Burg als Fahrtenziel und Begegnungsort der Jugendbewegung (der »jungen Bünde« genauso wie der älteren Jugendbewegten); und drittens, die Burg als Archiv der Jugendbewegung? Vermutlich würde eine solche Herangehensweise dem Charakter der Burg nicht gerecht und könnte nur schwer die Wechselbeziehungen zwischen den drei Bereichen erfassen, auch in ihrer personellen Verflechtung, die die Dynamik der Burgentwicklung entscheidend bestimmten. Dazu tritt freilich die dezentrale Burggeschichte. Die Geschichte des Ludwig33 Die Archivtagung 2014 konnte diese wichtige Thematik nicht erschöpfend behandeln, aber sie konnte doch einige Impulse geben und Anstöße liefern für eine weitere Tagung, die sich diesem Problemkreis intensiver widmen wird. Vgl. jetzt auch die Studie von Rüdiger Ahrens: Bündische Jugend. Eine neue Geschichte (1918–1933), Göttingen 2015. 34 S. LB Nr. 88 (Oktober 1970), S. 24–27.
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stein, sie fand nicht nur auf der Burg selbst statt, sondern auch im Denken, Handeln und Wirken derjenigen Menschen, die sich der Burg auf die eine oder andere Weise verbunden fühlten. Über Personen und Biographien können wir uns der Geschichte des Ludwigstein ebenso nähern wie der Geschichte der Jugendbewegung insgesamt. Wie die allgemeine Zeitgeschichte hätten wir in dieser Perspektive zu fragen nach biographischen Entwicklungen und Transformationen, nach Wandlungs-, Anpassungs- und Lernprozessen, nach Erfahrungen und deren Wirkung. Und das gilt nicht nur für jene »Jahrhundertgeneration«, jene Gründergeneration des Ludwigstein mit ihren Geburtsjahrgängen um 1890/1900. Biographische Zugänge könnten in dieser dezentralen Perspektive ergänzt werden durch und verknüpft werden mit einem Blick auf die Geschichte der LudwigsteinKreise, die es auf lokaler Ebene an vielen Orten gab, die sich der Burg und der Jugendbewegung verbunden fühlten, deren Aktivitäten und Wirken sich aber nicht auf die Burg als Ort beschränkten. Wie aber könnte, wenn ein rein sektoraler Zugriff sich als unangemessen erweist, wenn ein rein chronologischer Ansatz schnell an seine analytischen und interpretatorischen Grenzen stößt und wenn eine Wahrnehmungs-, Erinnerungs- und Deutungsgeschichte der Burg aus der Sicht derjenigen, die sich ihr verbunden fühlen, Distanzprobleme mit sich bringt, wie könnte man dann einer Burggeschichte des 20. Jahrhunderts näher kommen? Einer Burggeschichte, die Forschungsvoraussetzungen zugleich nutzt und neue schafft, die kleinteilig vorgeht, aber doch größere Linien nicht aus dem Auge verliert, und die sich schließlich auch bezieht auf Ansätze, Fragehorizonte und konzeptionelle Überlegungen aus der »allgemeinen« Geschichtswissenschaft, um eine Verinselung und damit eine Selbstreferentialität der Burggeschichte zu verhindern. Es geht dabei nicht zuletzt um eine konzeptionelle Verklammerung der Erforschung der Burggeschichte und der Jugendbewegungsgeschichte insbesondere mit der Geschichte von Jugend und Jugendkulturen, aber auch, im weiteren Sinne, mit der Geschichte politischer, gesellschaftlicher und sozialkultureller Entwicklungen im 20. Jahrhundert. Dabei erscheint es fruchtbar, einige Spannungsfelder zu markieren, in denen sich Geschichte und Entwicklung der Burg befanden und zum Teil bis heute befinden, Spannungsfelder, die man in empirischen Untersuchungen in klarer Gegenstandsorientierung vermessen könnte, und die, eben weil es sich um Spannungsfelder handelt, nicht zuletzt die Dynamiken der Burggeschichte – Krisen, Konflikte, Auf- und Abwärtsbewegungen – erkennbar und greifbar werden lassen. Forschungsergebnisse sind hier noch nicht zu präsentieren, aber vielleicht die eine oder andere Forschungsfrage, auf die sich beispielsweise auch andere Beiträge dieses Bandes beziehen.
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Generationen Generationen und Generationalität wären ein erstes solches Spannungsfeld, in das man die Burggeschichte stellen könnten. Wenn man die Jugendbewegung, ihre Entstehung, aber auch ihre weitere Entwicklung, generationell begreift, dann erhebt sich die Frage, ob sich und wie sich die spezifische Generationalität der Jugendbewegung auch in der Geschichte des Ludwigstein, vor wie nach 1945, äußerte und ob sich Entwicklungsdynamiken der Burggeschichte auch generationell erklären lassen.35 Welche Generationen, Generationen der Jugendbewegung, waren überhaupt auf der Burg aktiv? Enno Narten war Jahrgang 1889, er war Meißner-Fahrer, gehörte aber nicht zu den Organisatoren des Treffens 1913; von 1914 bis 1918 war er Soldat, als er nach dem Weltkrieg seine »Kampagne« für die Jugendburg Ludwigstein begann, war er Anfang 30. Mit Enno Narten begegnet uns die Gründergeneration des Ludwigstein, jene »Jahrhundertgeneration«, die sich bis weit in die Zeit nach 1945 hinein für die Burg engagierte und, wie beispielsweise auch Burkhart Schomburg, in den Burggremien Verantwortung übernahm. Erich Kulke, Jahrgang 1907, war nach 1945 lange Vorsitzender der Vereinigung.36 Doch welche Generation folgte? Liest man die Ludwigsteiner Blätter, so gewinnt man den Eindruck einer Generationenlücke, eines Generationensprungs. Trifft das zu? Wenn ja: Wie ist es zu erklären? Und was bedeutete es für die Burg? Finden wir die Jugend des Dritten Reiches, die Soldaten des Zweiten Weltkriegs und die viel zitierte Flakhelfer-Generation, geboren um 1930, auf dem Ludwigstein? Welche Vorstellungen von Jugend, von Jugendbewegung und Jugendburg hatten die unterschiedlichen Generationen der »Ludwigsteiner«? Und machte sich das auf der Burg, in ihren Gremien, ihren Aktivitäten, ihrem Programm bemerkbar?
35 Generationen und Generationalität sind in den vergangenen Jahren zu einem gründlichst beackerten Forschungsfeld der Geschichtswissenschaft geworden. Daher können die Ausführungen an dieser Stelle kursorisch bleiben. Auch die Literatur zur historischen Generationenforschung ist mittlerweile unüberschaubar geworden, daher als weiterführender Verweis, pars pro toto, lediglich Ulrike Jureit: Generationen. Zur Relevanz eines wissenschaftlichen Grundbegriffs, Hamburg 2005, sowie dies.: Generationenforschung, Göttingen 2006. 36 Zu Erich Kulke s. den Beitrag von Claudia Selheim in diesem Band. Weitere biographische Annäherungen an einzelne Protagonisten der Burggeschichte stellen ein wichtiges und lohnendes Forschungsdesiderat dar.
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Tradition und Erneuerung Vermutlich ließe sich die Generationenfrage mit einem zweiten Spannungsfeld verbinden, das man plakativ mit den Begriffen »Tradition« und »Erneuerung« kennzeichnen könnte. Welche – tatsächlichen oder vermeintlichen – Traditionen der Jugendbewegung wurden auf der Burg gepflegt? Gerade nach 1945 gab es immer wieder Diskussionen, schriftliche oder mündliche, über die Traditionsfrage, über das »Erbe« der Jugendbewegung. Kaum eine Pfingsttagung des Ludwigsteiner Kreises in den 1950er-Jahren wurde nicht von dieser Frage beherrscht. Sollte man, konnte man an die Bünde der Zeit vor 1933 anknüpfen? Wie waren Vergangenheit und Gegenwart zu verbinden? Nicht zuletzt die Formeln von Hermann Schafft,37 der in diesen Jahren den Vorsitz der »Vereinigung Ludwigstein« inne hatte, stifteten einen fragilen Konsens, der aus der Geschichte des Ludwigstein einen neuen Auftrag abzuleiten versuchte: Der Ludwigstein, so Schafft bei der Pfingsttagung 1951, sei ein »Ort der Sammlung und fruchtbaren Begegnung zwischen Alten und Jungen«, der der »Weiterführung der Haltung diene, die von der Jugendbewegung als Ausdruck deutschen Wesens geprägt worden sei«.38 Man redete und stritt über »Erbe« und »Auftrag« der Burg. »Es geht nicht um die Nachwuchsfrage der Burg«, stellte Schafft nach kontroversen Diskussionen fest, sondern »um die Verantwortung für die ganze deutsche Jugend«.39 Das signalisierte Übereinstimmung und zeigte doch die Schwierigkeit, das »Erbe der Jugendbewegung« nach 1945 anzunehmen und zugleich neu zu bestimmen. »Unter der Oberfläche«, so notierte ein regelmäßiger Teilnehmer der Ludwigsteiner Pfingsttagungen, »knisterte es von Spannungen, aber man fand sich doch wieder im Gemeinsamen. So lange unsere Begegnungen durch Lied und Dichterwort, durch Musik und Tanz, durch Spiel und Tanz so entscheidend bestimmt werden, wird uns das Erringen der Gemeinsamkeit, möge sie noch so bedroht sein, immer gelingen!«40 Die zentralen Topoi jener eher rückwärtsgewandten Demokratisierung der Ära Adenauer,41 sie begegnen uns auch auf dem Ludwigstein: die Beschwörung der Mitte (auch in kritischer Auseinandersetzung mit der politischen und kul37 Zu Schafft s. jetzt die umfassende biographische Studie von Lukas Möller : Herrmann Schafft. Pädagogisches Handeln und religiöse Haltung. Eine biographische Annäherung, Bad Heilbrunn 2013. 38 Zit. nach: Wolfgang Wieckberg: Zwei Begegnungen auf dem Ludwigstein, in: Das Nachrichtenblatt Nr. 3 (Juni 1951), S. 1–3, hier S. 2. 39 Karl August Eckhardt: Das Erbe der Burg, in: Das Nachrichtenblatt Nr. 4 (Juli 1951), S. 4f., hier S. 5. 40 Wieckberg: Begegnungen (Anm. 38), S. 3. 41 Dazu ausführlicher und in allgemeiner Perspektive Eckart Conze: Die Suche nach Sicherheit. Eine Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von 1949 bis in die Gegenwart, München 2009, S. 184–225.
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turellen Pluralisierung der westdeutschen Gesellschaft), die Kritik an »Vermassung« und »Massenkonsum« und, demgegenüber, der eigene Eliten- und Führungsanspruch; schließlich auch ein Antikommunismus, der dem Grundkonsens der jungen Bundesrepublik entsprach und der in gewisser Weise durch die Lage der Burg direkt an der innerdeutschen Grenze, in Sichtweite des Hanstein, seine Bestätigung fand und sich in den 1950er- und 1960er-Jahren zu einem regelrechten »Grenzwacht«-Topos ausformte. Die deutsche Teilung und der Gedanke der nationalen Einheit waren in dieser Perspektive immer wieder Themen von Veranstaltungen auf der Burg, nicht zuletzt anlässlich des nach 1953 alljährlich begangenen »Tages der deutschen Einheit« am 17. Juni, aber auch der jährlichen Pfingsttreffen. »Von der Höhe der Burg schweift der Blick ostwärts unwillkürlich über Wartburg, Thüringen und ganz Mitteldeutschland, hinweg über Schlesien, Posen und Ostpreußen nach Moskau und weiter bis nach Korea hin,« so verortete Burgwart Walther Jantzen beim Pfingsttreffen 1960 den Ludwigstein gleichsam geopolitisch.42 Die enge Kooperation zwischen der Ludwigsteiner Vereinigung und der Deutschen Jugend des Ostens (DJO), der Jugendorganisation der Vertriebenenverbände, die über lange Jahre auf der Burg intensiv präsent war, speiste sich auch aus dieser Quelle.43 Zwischen 1967 und 1969 entstand um einen 1961 errichteten sogenannten »Mahnstein« der DJO unterhalb des Meißnerbaus ein heftiger Konflikt. Der »ostpolitische« Grundkonsens der frühen Bundesrepublik erodierte – auch auf dem Ludwigstein; die »neue« Ostpolitik Willy Brandts brach sich Bahn.44 Ansonsten aber blieb es, wenn der aus dem publizierten Schrifttum gewonnene Eindruck nicht trügt, in den Jahren um »1968« eher ruhig auf dem Ludwigstein. Die Dynamik der Studentenbewegung, sie erfasste zwar nicht wenige Bünde. Die »Unterwanderung« und, in der Folge, das Ende des Bundes Deutscher Pfadfinder (BDP) bilden hier nur die Spitze des Eisbergs.45 Aber der 42 Walther Jantzen: Der Auftrag der Jugendburg Ludwigstein in unserer Zeit, in: LB Nr. 51 (August 1960), S. 7–12, hier S. 7. 43 Zur Präsenz und den Aktivitäten der DJO auf der Burg s. ausführlicher den Beitrag von Ullrich Kockel in diesem Band. 44 Der Konflikt um den »Oststein« ist, zumindest in Auszügen, dokumentiert in: Werner Diederich: Der Oststein – ein Mahnmal zum Frieden?, in: LB Nr. 85 (Dezember 1969), S. 8–14. Auch die seit 1953 auf dem Ludwigstein jährlich abgehaltenen »Europäischen Jugendwochen«, nicht unmittelbar aus der »Vereinigung Jugendburg Ludwigstein« hervorgegangen, aber mit ihr doch verbunden, wären unter den oben angedeuteten Fragestellungen einmal gründlich zu untersuchen. Dabei sollte man sich davor hüten, dem Europagedanken der Nachkriegsjahrzehnte bzw. allen seinen Ausformungen automatisch demokratisch-liberale Inhalte und Ziele im Sinne unseres heutigen, »westlichen« Europaverständnisses zuzuschreiben. Zur politischen Heterogenität von Europavorstellungen nach 1945 s. Vanessa Conze: Das Europa der Deutschen. Ideen von Europa zwischen Reichstradition und Westorientierung (1920–1970), München 2005. 45 S. dazu aus Zeitzeugenpersektive cum ira et studio: Reinhard Schmoeckel: Strategie einer
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Ludwigstein selbst scheint kein Ort von »1968« gewesen zu sein, allerdings auch kein »Gegenort«. Sicher, die Themen der Studentenbewegungs- und APO-Zeit waren durchaus auch Themen auf der Burg und in den Ludwigsteiner Blättern: von der Debatte über die Notstandsgesetze bis hin zum Reformbedarf im Bildungs- und Hochschulsystem. Aber eine radikale Gesellschaftskritik, wie sie der SDS vertrat, sie begegnet uns auf dem Ludwigstein und in den Ludwigsteiner Blättern nicht. Auch der Vietnamkrieg war kein Thema, und ebenso wenig gab es linke Amerikakritik oder gar Antiamerikanismus. Eher wurden, vor allem in den 1950er-Jahren, unter Stichworten wie »Vermassung« und »Konsumgesellschaft« Töne laut, die wir einem rechten, einem kulturellen, weniger politischen Antiamerikanismus, der weit vor 1945 zurück reicht, zuordnen können. Das würde die These verstärken, dass die »Ludwigsteiner« jener Jahre schlicht zu alt waren, um zu »Achtundsechzigern« zu werden. War die Burg in den Nachkriegsjahrzehnten, so ließe sich zugespitzt fragen, womöglich gar kein Ort der Jugend? Auch ein weiteres zentrales, ja definierendes Thema der Studentenbewegung fehlt: die NS-Vergangenheit und der Umgang mit ihr nach 1945. Sie wurde allgemein auf der Burg ebenso wenig thematisiert wie im Hinblick auf die NSVergangenheit der älteren Wandervogel- und Jugendbewegungsgeneration. Der sich gesellschaftlich breit und an vielen Orten an der NS-Vergangenheit entzündende Generationenkonflikt, als den wir »1968« auch verstehen können: auf dem Ludwigstein stand er, wenn überhaupt, sehr im Hintergrund. Lag auch das an der Dominanz der »Alten«?
Konfliktdynamik und Selbstverständigung Gleichwohl wäre die Geschichte der Burg im 20. Jahrhundert – und das wäre dann ein drittes Spannungsfeld – als eine Geschichte politischer Entwicklungen und Konflikte zu untersuchen. Warum fand »1968« zumindest auf den ersten Blick auf dem Ludwigstein nicht statt? War die Burg kein Ort jener um 1945 geborenen Generation, die wir als die Hauptträgergruppe der Studentenbewegung identifizieren? Immer wieder war, auch nach 1945, auf dem Ludwigstein vom »Aufbruch der Jugend« die Rede? Aber was bedeutete das in den dynamischen Zeiten nach dem Ende der Ära Adenauer? Die Burg selbst in Gestalt der »Vereinigung Jugendburg Ludwigstein« war, so will es scheinen, in den späten Unterwanderung. Vom Pfadfinderbund zur revolutionären Zelle, München/Wien 1979; vgl. aber auch die Dokumentensammlung von Axel Hübner u. a. (Hg.): Straßen sind wie Flüsse zu überqueren. Ein Lesebuch zur Geschichte des Bundes Deutscher Pfadfinder (BDP), Frankfurt a. M. 1981, sowie Eckart Conze: »Pädagogisierung« als Liberalisierung. Der Bund Deutscher Pfadfinder (BDP) im gesellschaftlichen Wandel der Nachkriegszeit (1945–1970), in: ders., Witte: Pfadfinden (Anm. 16), S. 67–82.
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1960er-Jahren stärker mit organisatorischen, rechtlichen und administrativen Entwicklungen beschäftigt, allen voran der Errichtung der »Stiftung Jugendburg Ludwigstein und Archiv der deutschen Jugendbewegung« als künftigem Träger der Burg,46 als mit politischen und gesellschaftlichen Auseinandersetzung, die man mit »1968« in Verbindung bringen könnte. Aber das reicht als Antwort auf die Frage nach »1968« auf der Burg noch nicht aus. Womöglich muss man weiter ausholen und Konstellationen und Entwicklungslinien aus der Zeit vor 1933 berücksichtigen und nach deren Fortwirken in der Nachkriegszeit fragen. Gewiss, der Ludwigstein verstand sich schon seit den 1920er-Jahren – und auch wieder nach 1945 – als Ort der Jugendbewegung insgesamt. Aber er war doch in seiner Gründungs- und Frühgeschichte ein Ort der bürgerlichen Jugendbewegung, des Wandervogels zumal (bei aller Heterogenität). Das wirkte auch nach 1945 weiter. Stärker »unbürgerliche« oder antibürgerliche Gruppen, das »linke« Spektrum der Jugendbewegung, trafen sich nicht auf dem Ludwigstein, sondern an anderen Orten: auf der Burg Waldeck im Hunsrück beispielsweise, Zentrum des Nerother Wandervogels, aber stark auch von den eher »linken« Jungenschaften frequentiert (wenn das so grobschlächtig überhaupt zu konstatieren ist). Das verweist über die konkrete Frage hinaus auf einen wichtigen Aspekt: Der Ludwigstein ist ein Ort der Jugendbewegung, aber er ist, weder historisch noch aktuell, der Ort der Jugendbewegung, auch wenn die Geschichte der Burg im 20. Jahrhundert von diesem Anspruch begleitet ist. In breiterer Perspektive gehört der Ludwigstein in ein Ensemble von Orten der Jugendbewegung, das einmal zu kartieren und in seiner Vielgestaltigkeit, auch in seiner historischen Entwicklung und Ausformung, näher zu untersuchen wäre.47 Zehn, zwölf Jahre nach »1968« sah es politisch auf der Burg schon wieder anders aus. Sehr deutlich fanden in den Jahren um 1980 die Anliegen der Umweltbewegung und der Friedensbewegung einen Rückhall auf der Burg: in zahlreichen Veranstaltungen, Veranstaltungsformaten, die sich mittlerweile auf dem Ludwigstein etabliert hatten. Gerade auch das 75-jährige Meißnertreffen 1988, von der Burg aus mit vorbereitet, stand deutlich im Zeichen jener Modernitäts- und Fortschrittskritik, als die wir die Themen und Protestanliegen von Kernkraftgegnern und Rüstungskritikern auch fassen können.48 1983 fiel es
46 Die Debatte über die »Verstiftung« ist in den Ludwigsteiner Blättern in Auszügen dokumentiert; Gründungsurkunde und Stiftungssatzung (vom 07. 03. 1970) finden sich in: LB Nr. 88 (Oktober 1970), S. 24–27. 47 In der Perspektive auf »Jugendburgen« tut dies in einem ersten Aufriss G. Ulrich Großmann: Jugendburgen, in: ders. u. a. (Hg.): Aufbruch der Jugend. Deutsche Jugendbewegung zwischen Selbstbestimmung und Verführung (Ausstellungskatalog), Nürnberg 2013, S. 82–91. 48 Dazu Eckart Conze: Modernitätsskepsis und die Utopie der Sicherheit, in: Zeithistorische Forschungen, 2010, Nr. 2, S. 220–239, vor allem S. 222 und S. 235–239.
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gerade in der Perspektive von Modernitätsskepsis und Modernitätskritik offensichtlich leicht, sich auf 1913 zurück zu beziehen.49 Es ist wohl möglich, dass das Meißnertreffen 1988 auch der Arbeit auf der Burg neue Impulse gab. Jedenfalls begann in diesen Jahren eine Phase der Reflexion über die Rolle und die Aufgaben der Burg, die in einen Prozess konzeptioneller Selbstverständigung einmündete. Jürgen Reulecke hat hier eine wichtige Rolle gespielt, der 1985 in einem Vortrag auf der Mitgliederversammlung der Vereinigung Ludwigstein die Burg nicht nur als »einmaliges kulturgeschichtliches Denkmal und Mahnmal« bezeichnete, sondern zugleich auch, wie bereits einleitend erwähnt, als »bildungs- und gesellschaftspolitische Institution von unverwechselbarem Charakter«, und aus diesem Anspruch eine in ihren Grundlagen bis heute gültige Konzeption entwickelte, die 1987 Eingang fand in das Grundsatzpapier »Selbstdefinition und Standortbestimmung« der Stiftung und damit der Burg.50 Wichtig erscheint in diesen Dokumenten zum einen der Bezug auf die historische Jugendbewegung, zum anderen aber die programmatische Relativierung von Jugend im Zusammenhang des jeweiligen Generationenspektrums; also keine »Mythologisierung« von »Jugend« und »Jungsein«, gerade auch im Sinne der Generation »1913«, sondern »immer wieder neu die Frage, was die jeweils junge Generation als Erbe von Älteren weiterführen und ausbauen soll, kann und will«.51 Es überrascht wenig, dass solche konzeptionellen Aussagen erst möglich wurden am Lebensende bzw. nach dem Tod der »Meißner-Generation« beziehungsweise der »Jahrhundert-Generation«, deren Engagement für die Burg und auf der Burg ganz andere, unmittelbarere lebensgeschichtliche Bezüge aufwies als das der folgenden Generationenkohorten.
49 Insbesondere die Veranstaltungsberichte in den Ludwigsteiner Blättern der frühen 1980erJahre spiegeln das deutlich wider. Wie sich die historischen Entwicklungen der 1970er-Jahre – Ende des Fortschrittsoptimismus, Zukunftsskepsis, Übergang zur »reflexiven Moderne« (Ulrich Beck) – auf die Bünde und Gruppen der Jugendbewegung, ihr Selbstverständnis und ihre politische (Selbst-)Verortung sowie ihre Disposition für die Anliegen der Neuen Sozialen Bewegungen (Friedensbewegung, Umweltbewegung, Frauenbewegung etc.) auswirkten, wäre noch gesondert zu untersuchen. 50 Jürgen Reulecke: Zwischen gestern und morgen. Überlegungen zur Konzeption der Arbeit auf Burg Ludwigstein, in: LB Nr. 149 (Dezember 1985), S. 3–7; sowie Stiftung Jugendburg Ludwigstein und Archiv der deutschen Jugendbewegung: Selbstdefinition und Standortbestimmung (beschlossen in den Kuratoriumssitzungen vom 09. 11. 1986 und 04. 04. 1987, in: LB Nr. 157 (Dezember 1987), S. 5–8. 51 Ebd., S. 6.
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Offenheit und Abgrenzung Ist die Burg offener geworden seither? Offenheit und Abgrenzung bezeichnen ein viertes Spannungsfeld, in dem sich die Geschichte der Burg entwickelt hat und bis heute entwickelt. Offen für Bünde und Gruppen, die sich in der Tradition der historischen Jugendbewegung sehen, hat es auf dem Ludwigstein immer wieder, nicht nur in den letzten Jahren, Diskussionen darüber gegeben, welche Gruppen auf der Burg willkommen sein können und welche nicht. Diese Frage nach Offenheit und Abgrenzung erschöpft sich nicht in der Auseinandersetzung über rechtsradikale Tendenzen in der bündischen Szene, die in den vergangenen Jahren den Ludwigstein erreicht hat, die aber auch die Vorbereitung des hundertjährigen Meißnertreffens von 2013 durchaus überschattet hat. Immer wieder gab es in den Jahrzehnten nach 1945 intensive Diskussionen über den politischen Standort des Ludwigstein, über Fragen der politischen Toleranz, über den Ludwigstein als einen »demokratischen« Ort. Jene Prozesse gesellschaftlicher und sozialkultureller Liberalisierung oder »Westernisierung«, die die zeithistorische Forschung in den letzten Jahren für die Bundesrepublik insgesamt identifiziert und analysiert hat, unterlag ihnen auch der Ludwigstein? Wie sah das aus? Wie können wir diese Prozesse burggeschichtlich fassen? In den Veranstaltungen auf der Burg und in ihren Themen? In den Personen, die auf die Burg kamen und sich an ihren Aktivitäten beteiligten? In Diskussionen und Konflikten, die es in den Burggremien und Burginstitutionen immer wieder gegeben hat: vom Trägerverein bis zum Archiv? Das sind weitgehend unerforschte Fragen. Die Debatten über die Burg, über ihr Selbstverständnis und über ihren Ort in der Gesellschaft sind aber überdies wichtig, auch als Untersuchungsgegenstand, weil die Tradition der Jugendbewegung nicht geschützt ist, weil sie breit aneignungsfähig ist und weil sie, gerade deshalb, von Gruppen vereinnahmt werden kann, die sich von dieser Vereinnahmung Salonfähigkeit erhoffen und den Nachweis politischer Unbedenklichkeit. Offenheit und Abgrenzung – die Frage ist für das Selbstverständnis, aber auch die Außenwahrnehmung des Ludwigstein seit vielen Jahrzehnten von zentraler Bedeutung, und konstituiert gerade deshalb einen wichtigen roten Faden der Burggeschichte. Wenn wir Burggeschichte in diesem Sinne verstehen als eine Burggeschichte in der Erweiterung, dann öffnet die Auseinandersetzung mit der Geschichte des Ludwigstein im 20. Jahrhundert, seit seiner »Entdeckung« vor mehr als einhundert Jahren, wichtige und zum Teil auch neue Perspektiven nicht nur auf die Geschichte der Burg selbst, sondern auf die Geschichte der Jugendbewegung, auf ihre Wirkungs-, Wahrnehmungs- und Deutungsgeschichte, gerade nach 1945. Vor diesem Hintergrund ist der Mikrokosmos der Burg nicht nur ein Untersuchungsraum, sondern zugleich eine Untersuchungssonde, weil sich in der Geschichte dieses Mikrokosmos – nicht isoliert betrachtet, sondern in den Wech-
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selbeziehungen zu seiner politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Umwelt – Entwicklungen bündeln, die über den Ludwigstein und die Jugendbewegung hinaus weisen. Es geht nicht darum, die Bedeutung des Ludwigstein zu überhöhen, nicht darum, verklärendes Pathos und idealisierende Erinnerung gleichsam wissenschaftlich zu »veredeln«, sondern darum – und hier lag die Bedeutung der Archivtagung 2014 –, in ersten Beiträgen, ersten Denkanstößen Konturen eines Forschungsfelds zu entwickeln, dessen weitere Erkundung ebenso wichtig wie lohnend erscheint.
Werner Troßbach
Der Überfall auf den Brith Ha’olim / Jungjüdischer Wanderbund in Wendershausen am 4./5. August 1931
Die seit 1920 in der verfallenen Burg an der Werra eingerichtete Jugendburg Ludwigstein war landesweit ausgerichtet und zog besonders auswärtige Besucher an. Gleichzeitig wirkte sie aber auch in ihrem regionalen Umfeld und stand hier in Verbindung mit anderen Einrichtungen. Besonders interessant erscheint vor diesem Hintergrund das Verhältnis zu der seit 1898 in Witzenhausen bestehenden Deutschen Kolonialschule (DKS). Dieses soll im folgenden Beitrag anhand eines besonderen Vorfalls im Jahr 1931 exemplarisch untersucht werden. Die Ausgaben des Jahrgangs 1935 des »Deutschen Kulturpionier«, einer Zeitschrift, die vom Altherrenverband der DKS herausgegeben wurde, lagen frisch gedruckt zur Auslieferung bereit, als sich der Druckereibesitzer Trautvetter mit einem ungewöhnlichen Anliegen an die Herausgeber wandte. Es ging um einen Artikel über »die Tätigkeiten der SA an der DKS«. Auf Anraten des Druckereibesitzers kam es zu einer ungewöhnlichen Maßnahme. Aus sämtlichen Exemplaren1 wurden die Seiten 38–41 herausgeschnitten. Begründet wurde dieses Vorgehen von dem mitverantwortlichen Herausgeber und Vorsitzenden des Altherrenverbandes, Otto von Scherbening, folgendermaßen: »In diesem Artikel schildert Fischbach (Studentenältester), wie sie die Juden verhauen haben. Von unserer Regierung wird darauf Wert gelegt, daß solche »Judenverfolgungen« nicht vorgekommen sind. In dem Artikel wird aber gerade dies geschildert. Der Kulturpionier kommt in alle Welt und womöglich auch einmal in falsche Hände.«2 Drei Jahre später, im Jahr des Novemberpogroms, waren solche Skrupel verflogen.3 Es erschien nun ein Artikel mit der Überschrift »Die 1 Zumindest konnte kein Exemplar ausfindig gemacht werden, das die entsprechenden Seiten enthält. 2 Eckhard Baum: Daheim und überm Meer. Von der Deutschen Kolonialschule zum Deutschen Institut für Tropische und Subtropische Landwirtschaft in Witzenhausen, Witzenhausen 1997, S. 166. 3 Inwieweit eine Änderung der Herausgeberschaft (Baum: Meer (Anm. 2), S. 145) dazu beigetragen hat, ist zweifelhaft. An der Spitze des neuen Herausgeberverbandes stand mit Dr.
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Judenschlacht von Wendershausen«.4 Darin wird der Überfall auf Mitglieder des Brith Ha’olim / Jungjüdischer Wanderbund5 geschildert, der in der Nacht vom 4. auf den 5. August 1931 in Wendershausen stattgefunden hatte. Der Artikel ist nicht allein aus der Perspektive der Täter, sondern bekennend von einem der Täter selbst geschrieben.6 Mit diesem Artikel sicherten sich die Täter (bzw. ein Täter) von 1931 die alleinige Interpretationshoheit dieses Vorfalls – im Grunde bis heute. Nicht zuletzt deshalb ist es geboten, die Ereignisse neu und auf breiterer Quellenbasis aufzuarbeiten. Dies ist möglich, weil die Akten der Staatsanwaltschaft beinahe vollständig erhalten sind und im Staatsarchiv Marburg aufbewahrt werden.7 Allerdings kann dem Artikel im »Kulturpionier« ein Quellenwert sui generis nicht abgesprochen werden. In der vorschnellen Gewissheit, zu den »Siegern der Geschichte« zu gehören, wurden Dinge offenbart, die im Kontext der polizeilichen und gerichtlichen Untersuchungen der Jahre 1931 und 1932 verschwiegen worden waren. Umgekehrt wurden all diejenigen Elemente verschwiegen oder verdreht, die der Umdeutung eines feigen Überfalls in eine Heldentat im Wege standen. Eine meiner Intentionen ist es nun, den Quellenwert dieses in vielfältiger Hinsicht außergewöhnlichen Dokuments abzuklopfen, und zwar durch Konfrontation mit den Untersuchungsergebnissen der mit dem Fall befassten Justizorgane der Weimarer Republik. Zunächst zum »factum brutum«. Es wird im »Deutschen Kulturpionier« von 1938 folgendermaßen dargestellt: »An der großen Eisenbahnbrücke auf der Werra-Koppel war Treffpunkt. Die Zeit schlich – endlich kamen die ersten Vortrupps, dann der Stahlhelm, zuletzt die Nachzügler in Räuberzivil – 45 Mann, das war alles. … Nach kurzer Beratung übernahm der SA-Sturmführer das Kommando und im Laufschritt ging es über die Brücke. Wir näherten uns Wendershausen, der Lärm war weithin hörbar. Die Juden vollführten ein fürchterliches Getobe in dem größten Saal des Dorfes und tanzten wilde Negertänze, daß der Holzfußboden zitterte.
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Winter just die Person, die der Verfasser des Artikels noch 1938 für die 1931 geleistete situative Kooperation mit der Polizei kritisierte, ohne allerdings Winters Namen zu nennen. Der Deutsche Kulturpionier, 1938, 38. Jg., Heft 1, S. 20–23. Inwieweit dieser Artikel mit dem 1935 herausgeschnittenen identisch war, ist nicht nachprüfbar. Zur verschlungenen Organisationsgeschichte des Bundes Brith Ha’olim (»Bund der Aufsteigenden«) / Jungjüdischer Wanderbund (JJWB): Richard Markel: Brith Haolim. Der Weg der Alija des Jung-Jüdischen Wanderbundes, in: Bulletin des Leo-Baeck-Instituts 9, 1966, S. 119–189; Werner Fölling, Wolfgang Melzer : Gelebte Jugendträume. Jugendbewegung und Kibbuz, Witzenhausen 1989, S. 101f. Der Bund war zionistisch-(links-)sozialistisch orientiert und organisierte tatkräftig die Palästina-Auswanderung. Der Autor ist nicht genannt. Er gibt sich als einer derjenigen Angreifer zu erkennen, die aus Mangel an Beweisen freigesprochen wurden. Dies schlösse aus, dass der Studentenälteste von 1935 (Fischbach) der Verfasser war. Hessisches Staatsarchiv Marburg, 274 Kassel Nr. 954, (künftig: HStAM (Anm. 7)).
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Einige kurze Befehle wurden gegeben, dann trennten wir uns in drei Gruppen, die von drei Seiten in den Hexenkessel hineinstoßen sollten. Um ihnen aber noch eine letzte Chance zu geben, gingen vier unserer besten Leute mit Hakenkreuzarmbinden in den Saal. Die Antwort war ein fürchterliches Geheul. Da griffen wir zu! Wie eine Sturmflut schwemmten sie aus dem Saal, den Häusern, den Scheunen – woher sie nur alle kamen – die Straße war schwarz. Mit Stuhlbeinen, Latten, Steinen, Bohnenstangen stürmten sie an. … Mit einem plötzlichen Vorstoß trieben wir sie die Dorfstraße hinunter, aber hier ging es nicht mehr weiter. Die Straße war verstopft mit schreienden und gestikulierenden Juden, während die Reihen, die uns gegenüber standen, mit dem Mut der Verzweiflung fochten. Andere hatten sich erhöhte Positionen ausgesucht und warfen ganze Ladungen von Pflastersteinen herüber, von denen zum Glück die wenigsten trafen, da unsere dünnen Reihen sehr auseinander gezogen waren.« Die Untersuchungen von Gericht, Polizei und Staatsanwaltschaft brachten ein völlig anderes, in entscheidenden Aspekten geradezu gegenteiliges Szenario zu Tage. Zutreffend ist allein, dass die im Brith Ha’olim / Jungjüdischer Wanderbund organisierten Jugendlichen am Abend des 4. August 1931 in der Gastwirtschaft Apel in Wendershausen den Abschluss ihrer Bundestagung feierten, die vom 2. bis zum 4. August im Bannkreis der Jugendburg Ludwigstein stattgefunden hatte. Die Konfrontation, um zunächst einen neutralen Begriff zu wählen, spielte sich jedoch nicht in oder vor dem Saal der am Ortsausgang in Richtung Witzenhausen befindlichen Gastwirtschaft ab, sondern einen Kilometer weiter, quasi schon am anderen Ortsausgang, »auf dem Eichhof«, wie die Einheimischen diesen Ortsteil nannten. In der Urteilsbegründung durch das Landgericht Kassel wird der Vorfall folgendermaßen rekonstruiert: »Die Mehrzahl der Teilnehmer an dem Überfall benutzten in Wendershausen den am Ufer der Werra entlang führenden Weg, der hinter der linken Häuserreihe der Hauptstrasse entlang läuft. Sie gelangten dann … zu dem Punkte der Hauptstrasse, an welchem etwas zurückgebaut die fragliche Feldscheune steht. Dem Zeugen Gronewald, der sich gegen 22 Uhr auf seinem Lastkraftwagen zum Schlafen niedergelegt hatte, fiel kurz vor 24 Uhr ein Radfahrer auf …, der offenbar die Lage auszukundschaften versuchte. Etwa nach 5 Minuten setzte ein heftiger Steinhagel auf die Scheune und auf den Lastwagen ein. Gronewald sah in der Dunkelheit nur drei Personen dicht an dem Gartenzaun … stehen und rief diesen Leuten laut zu, dass sie doch das Werfen mit Steinen lassen und seinen Wagen nicht beschädigen sollten. Nach wenigen Minuten der Stille setzten ein Trillerpfeifensignal ein und ein neuer Steinhagel, sodass Gronewald von seinem Wagen herunter sprang und in die Scheune lief. In der Feldscheune befanden sich damals aber nur drei Mitglieder des jüdischen
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Abb. 18: Skizze 1 zum Überfall auf Brith Ha’olim / Jungjüdischer Wanderbund in Wendershausen 1931 in den Prozessunterlagen.
Wanderbundes, während die übrigen, etwa 200 bis 250 Teilnehmer, an jenem Abend in dem Saale der Gastwirtschaft Apel … eine Schlussfeier mitmachten. …
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Abb. 19: Skizze 2 zum Überfall auf Brith Ha’olim / Jungjüdischer Wanderbund in Wendershausen 1931 in den Prozessunterlagen.
Der durch die niederfallenden Steine stark bedrängte Chauffeur Gronewald weckte nun die drei Wanderbündler in der Scheune mit dem ängstlichen Rufe: »Kommt raus, die schlagen uns tot!« Gronewald ging nun mit zwei der Wanderbündler nach der Querstrasse und bemerkte dort etwa 7 junge Leute sehr dicht an dem Gartenzaun stehen, offenbar, damit sie nicht erkannt werden wollten. Als Gronewald die Leute zur Rede stellen wollte, stürzte sich eine ganze Anzahl von Angreifern auf ihn ein und zwar derart grob und wüst, dass Gronewald schwere Schläge auf den Kopf und ferner einen so harten Schlag auf seinen linken Unterarm erhielt, dass beide Knochen des Unterarms durchbrachen. Er lief laut um Hilfe … und flüchtete vor den erneut Angreifenden durch ein Gartentor in einen Abort eines Bauernhofes … . Die Verfolger drangen aber auch hier … trotz seiner Rufe, dass er doch mit der ganzen Sache nichts zu tun habe, vielmehr der Chauffeur und garnicht Jude sei, mit Knüppel (!) auf ihn ein und trafen dabei wiederholt den schon gebrochenen Arm. … Mittlerweile war es einem der Wanderbündler gelungen, seine Leute in der Apel’schen Gastwirtschaft zu verständigen und herbeizuholen. Eine grössere Zahl der Juden lief, meist mit Latten bewaffnet, nach der Feldscheune zu. Der Führer der Juden, der 19jährige Nebenkläger Kugel, forderte die Angreifer auf, Frieden zu halten, indes vergeblich. Die Angreifer stürzten sich erneut auf die Juden, und an der Ecke der Hauptstrasse (!) und der erwähnten Querstrasse (!) kam es zu einem kurzen heftigen Handgemenge und einer Schlägerei, wobei
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mehrere der Juden, offenbar aber auch einige der Angreifer, verletzt wurden. Während der Schlägerei wurden auf Seiten der Angreifer wiederholt Rufe wie »Heil Hitler« laut. … Schließlich wichen die Angreifer auf die Seitenstrasse zurück und bewarfen von hier aus die Juden mit Pflaster- und Backsteinen, die dort vor dem Rauchhaus’schen Anwesen gelegen hatten. Auch hierbei wurden einige der jüdischen Wanderbündler verletzt. Da die Juden den Angriff mit grosser (!) Energie abwehrten, zogen sich die Angreifer in grosser Eile in der Richtung auf die Werra zurück. Die Angehörigen des jungjüdischen Bundes verfolgten sie nicht, da sie das Gelände und die Stärkeverhältnisse ihrer Gegner nicht kannten.«8 Nicht die Angehörigen des Jugendbundes hatten Pflastersteine geworfen, sondern die Angreifer. Es handelte sich nicht um den heldenhaften Angriff auf eine Übermacht, sondern um einen im Wortsinne feigen Überfall auf wenige Leute, die sich bereits zum Schlaf nieder gelegt hatten.9 Wie ging es nun weiter? Die Angreifer verließen den Schauplatz in heilloser Flucht. »Wie mehrere Zeugen an dem Geplätscher in dem Wasser bemerken konnten, schwamm ein Teil der Angreifer durch die Werra auf das andere Ufer.« Der SA-Sturmführer, der laut »Kulturpionier« »das Kommando« übernommen hatte, der Buchbinder Krumbügel, wurde unmittelbar nach dem Überfall von »Herzstechen« gepeinigt und versteckte sich in den Furchen eines Kartoffelackers. Zwei Kameraden, Horst Otto und Walter von Mohrenschildt, blieben bei ihm.10 Ein weiterer Teilnehmer, der Fleischergehilfe Ludwig Schelper, der im Urteil genannte Fahrradfahrer, schlich weiterhin in Wendershausen herum, bis ihn ein Trupp der jüdischen Jugendlichen ergreifen und in die Gastwirtschaft bringen konnte, wo die Jugendlichen ihn unter Leitung von Jakob (»Jolle«) Thaller »vernahmen«, und, nachdem der Bürgermeister von Wendershausen dazu gekommen war, »ein Protokoll aufnahmen« (PU, S. 6). Inzwischen hatte gegen 1.00 Uhr telefonisch ein Anrufer namens Sternberg die Polizei in Kassel verständigt. Auch der in Hundelshausen ansässige Landjägermeister Elsebach war telefonisch informiert worden und meldete sich 8 HStAM (Anm. 7); im Folgenden im Text in Klammern zitiert unter der Abkürzung ULG. 9 Bemerkenswert ist, dass die jüdischen Jugendlichen zwar entschlossen Widerstand leisteten, Fritz Kugel aber betonte, er habe sogar noch während der Auseinandersetzung mit den Worten »wir sind nicht hier, um uns zu schlagen« (HStAM (Anm. 7), Bd. 4, S. 9, Befragung Kugels am Morgen des 5. August), Frieden stiften wollen. Zur Orientierung jüdischer Organisationen auf Gewaltlosigkeit: Jacob Borut: Gewalttätiger Antisemitismus im Rheinland und in Westfalen während der Weimarer Republik, in: Geschichte im Westen, 2007, 22. Jg., S. 9–40, hier S. 19. Adolf Feibelsohn hingegen ließ in seiner Befragung deutlich eine entschlossen-abwehrbereite Haltung durchscheinen (s. u. S. 230). 10 HStAM (Anm. 7), Bd. 1: Befragungen und Berichte der Kriminalassistenten Leber und Pfaar sowie des Oberlandjägermeisters Elsebach, S. 97. Im Folgenden im Text in Klammern zitiert unter der Abkürzung PU.
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seinerseits in Kassel.11 Elsebach erschien gegen 2.30 Uhr von Oberrieden kommend mit einem Auto in Wendershausen. Kurz vorher hatten die jüdischen Jugendlichen Krumbügel, Otto und Mohrenschildt, die sich durch das Dorf nach Hause schleichen wollten, ergriffen und konnten sie jetzt dem Landjäger übergeben, der sie zunächst in die Gastwirtschaft Apel und dann in das Wohnzimmer des Bürgermeisters Vockenroth brachte. Inzwischen hatte sich auf Anordnung des Kasseler Polizeipräsidenten ein Trupp von 15 Polizisten unter Führung von Leutnant Aulepp, begleitet von Kriminalassistent Leber, um 1.40 Uhr in Kassel in einem offenen Mannschaftswagen in Bewegung gesetzt. Die Truppe traf um 3.10 Uhr in Wendershausen ein.12 Kurz darauf erschienen zwei weitere Personen, die Kolonialschüler Dinkelacker und Schreiber, (erneut?) in Wendershausen, und zwar auf Schreibers Motorrad. Bei ihrer Festnahme wurde bei Dinkelacker eine Pistole mit zwei Magazinen und einer Kugel im Lauf entdeckt. Offenbar hatten sich die beiden aufgemacht, um nach der Gruppe um Krumbügel zu sehen.13 Das Landgericht sprach demzufolge von einer »Erkundungsfahrt« und ging davon aus, Dinkelacker habe Schreiber geweckt und den »Plan« gefasst, »seinen vermeintlich von den Juden festgehaltenen oder doch bedrängten Parteigenossen beizustehen« (ULG, S. 25). Sollte dabei auch Waffengewalt eingeplant gewesen sein, was das Landgericht nicht ausschloss, wäre eine Eskalationsbereitschaft zu Tage getreten, die weit über den ursprünglichen Angriff hinausging. Schließlich wurde mit Engelbert Langebeckmann eine weitere Person in Polizeigewahrsam genommen, die jedoch nicht der Kolonialschule angehörte, sondern bei Domänenpächter Ehrbeck in Wendershausen als Landwirtschaftslehrling beschäftigt war. Er war aus einem Dorf bei Eschwege gebürtig, vor Antritt seiner Lehre war er jedoch schon länger mit seinen Eltern in Eisenach ansässig gewesen. Langebeckmann kam aktuell zwar aus Witzenhausen, wo er gegen vier Uhr morgens just jenes Fahrzeug angehalten und um Mitnahme gebeten hatte, das die verletzten Mitglieder des Brith Ha’olim ins Krankenhaus gebracht hatte (SP, S. 27). In Wendershausen angekommen, wurde er gleichfalls der Teilnahme am Überfall verdächtigt. Laut Zeugenaussagen war er gegen 21.30 oder 22.00 Uhr in Wendershausen mit dem Rad eingetroffen. Eigenen Angaben zufolge habe er dort einen Smoking angezogen und sei wiederum nach Witzenhausen aufgebrochen, um an der Geburtstagsfeier des Kolonialschülers und Stahlhelmmitglieds Hans Ahlfeld (PU, S. 143) teilzunehmen. Über den Zeit11 HStAM (Anm. 7), Bd. 1, S.1, Bericht Leutnant Aulepp, 5. August 1931. 12 Ebd. 13 S. die Aussage Schreibers vor dem Schwurgericht: »Dinkelacker hat mir erzählt, die Juden hätten in Wendershausen Krach gemacht. Darauf sind wir nach Wendershausen gefahren«, in: HStAM (Anm. 7), Bd. 2, Protokoll der Sitzung des Schwurgerichts vom 28. 09.1931, S. 8. Im Folgenden im Text in Klammern zitiert unter der Abkürzung SP.
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punkt seines Eintreffens dort machten die Teilnehmer an der Feier jedoch keine genauen Angaben, da sie erklärten, sie seien bereits erheblich »angeheitert« gewesen. Die Weste des Smokings war dem Landwirtschaftslehrling viel zu klein, die Hose musste dagegen mit einem Lederriemen gehalten werden. Die Schlussfolgerung lag nahe, dass Langebeckmann sich den Anzug bei einem Bekannten in Witzenhausen besorgt hatte, nachdem er nach seiner Teilnahme am Überfall mit den anderen durch die Werra geflüchtet war. Der Zeuge Hans Friske sagte aus, er habe gehört, Langebeckmann sei durch die Werra geschleift worden und habe Wasser geschluckt, da er nicht schwimmen könne (PU, S. 94). Im Wohnzimmer des Wendershäuser Bürgermeisters Vockenroth begann Kriminalassistent Leber sogleich mit ersten Befragungen sowohl der Festgenommenen als auch der Zeugen aus dem jüdischen Jugendbund. Neben dem Fahrer Mathias Gronewald (geb. am 02. 10. 1898 in Trippelsdorf Kreis Bonn, wohnhaft in Köln, Koelhofstr. 8) sagten im Laufe der Untersuchungen folgende Zeugen aus: Landarbeiter Adolf Feibelsohn (geb. am 07. 02. 1908 in Schildberg, »jetzt Polen«, wohnhaft in Berlin-Pankow, Mühlenstraße 77), Schüler Leo Katzmann, (geb. 17. 04. 1913 in Fulda, wohnhaft in Fulda, Lindenstr. 32), Kaufmann Fritz Kugel (geb. 10. 03. 1913, Kassel, wohnhaft Kassel, Hohentorstr. 6; techn. Leiter der Versammlung); Student Jakob »Julle« bzw. »Johle« Thaller (geb. 28. 04. 1905 in Tarnow, wohnhaft Berlin, Alte-Jakobstr. 57–59, gleichfalls als »technischer Leiter« bezeichnet), Schreinergeselle Simon Förster (geb. 22. 05. 1912 in Jurkow–Österreich, »jetzt Polen«, wohnhaft Köln, am Trutzenberg 36), Maschinenschlosser Günther Rottenstein (geb. 26. 10. 1913, wohnhaft Köln, Sterngasse 57), Israel Schupler (geb. 19. 12. 1912, Köln, im Augenblick zu Bremen auf Montage, sonst Köln, Moselstr. 44), Elektromonteur Rudolf Schulz (geb. 02. 01. 1908, Nürnberg, Brunnengässchen 28), landwirtschaftlicher Praktikant Otto Rosenbaum (18 Jahre, Ludwigshorst Kr. Deutsch Krone). Vor Gericht wurden lediglich Kugel, Katzmann und Feibelsohn als Zeugen geladen. Thaller und Kugel waren leicht verletzt worden, Schulz und Rosenbaum schwer, Rosenbaum befand sich noch am folgenden Tag im Krankenhaus. Bei einem weiteren Tagungsteilnehmer, Bernhard Fleischmann aus Nürnberg, Burgstraße 23, attestierte der Arzt Verletzungen am rechten Oberarm, die von einem Messerstich14 und einem Schlag mit einem Gummiknüppel herrührten. Fleischmann, Kugel, Rosenbaum und Gronewald bevollmächtigten die Kasseler Rechtsanwälte Kaufmann und Kugelmann, Unter Königstr. 71 B, mit der Vertretung der Nebenklage in der ersten Instanz (SP, S. 3). Mindestens ein Angreifer trug Verletzungen davon, die er Feibelsohn verdankte (PU, S. 23). Über Tagungsinhalt und -verlauf der jugendbewegten Veranstaltung enthalten die Akten von Polizei, Staatsanwaltschaft und Gericht so gut wie keine An14 HStAM (Anm. 7), Bd. 2, SP, S. 12, Aussage Kugel: Einer der Angreifer hatte ein Messer.
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gaben. Der Bund war sozialistisch-zionistisch orientiert. Die Angabe zweier SPD-Abgeordneten des Preußischen Landtags, es handle sich um »eine sozialdemokratische Jugendwandergruppe« (Kasseler Volksblatt, 21.08.31), war nicht völlig aus der Luft gegriffen.15 Über die Abschlussfeier wissen wir immerhin, dass sie als Tanzabend sowie »mit Geigenspiel und Vorträgen in hebräischer Sprache« gestaltet wurde.16 Die Teilnehmer aus dem Raum Köln, die Gronewald auf seinem LKW nach Wendershausen gebracht hatte, waren bereits am 1. August, einem Samstag, gegen 20.00 Uhr angekommen. Die Tagung begann jedoch erst am Nachmittag des 2. August, nachdem weitere Teilnehmer mit der Bahn eingetroffen waren. Auch auf der Auftaktveranstaltung wurde getanzt.17 Die Teilnehmer, männliche und weibliche Jugendliche, waren in der Scheune in Wendershausen und in einer weiteren »auf dem Ludwigstein« untergebracht (PU, S. 23). Wie auf anderen Bundestagungen des Brith Ha’olim / Jungjüdischer Wanderbund referierte ein Palästinapionier, in Wendershausen mit Enzo Sereni ein prominenter Angehöriger des seinerzeit u. a. von JJWB-Angehörigen gegründeten Kibbuz Givat Brenner.18 Eine bemerkenswerte Interpretation steuerte ein Jahr später »der bekannte Zionist« Dr. Gidion bei, der in der Landgerichtsverhandlung den aus Köln stammenden Kraftfahrer als Nebenkläger vertrat. Er versuchte »als jüdisch Nationaler Verständnis für die vaterländische Begeisterung« der Angreifer aufzubringen, »aber nicht für eine Begeisterung, wie sie sich bei diesen »Auchnationalen« zeige. Außerdem gab er zu bedenken, »dass die Angehörigen des Jüdischen Jugendbundes ebenfalls »Kolonialschüler« seien, weil ihre Ausbildung dahingehe, einstmals in Palästina als landwirtschaftliche Arbeiter bzw. Landwirte Verwendung zu finden.«19 Nicht alle der versammelten Jugendlichen 15 Der jüdische Jugendbund war jedoch weder organisatorisch noch programmatisch mit der SPD verbunden. Welche Informationen oder auch Kontakte die beiden Abgeordneten zu ihrer Einschätzung bewogen haben mögen, ist unbekannt. Immerhin erscheint Brith Ha’olim in der Darstellung eines Zeitzeugen als »Nachwuchsorganisation« der jüdisch-palästinensischen »Mapai«, die sich der 2. Internationale angeschlossen hatte, »in Deutschland« (E. K. Salinger : »Nächstes Jahr im Kibbuz«. Die jüdisch-chaluzische Jugendbewegung in Deutschland zwischen 1933 und 1943, Paderborn 1998, S. 28). Auf den Bundestagungen sprachen öfter Abgesandte der Gewerkschaft Histadrut (Hinweis von Knut Bergbauer, Köln). 16 Bericht der Kasseler Post vom 30. 09.1931. Die Zeitungsberichte wurden von der Pressestelle der Staatsanwaltschaft gesammelt und werden zum größten Teil im HStAM (Anm. 7), Bd. 4 aufbewahrt. Im Folgenden werden im Text in Klammern Zeitung und Datum des jeweiligen Berichts angegeben. 17 Zur Rolle des Tanzes in der Jugendbewegung allgemein: Gabriele Brandstetter : Ausdruckstanz, in: Diethart Kerbs, Jürgen Reulecke (Hg.): Handbuch der deutschen Reformbewegungen, Wuppertal 1998, S. 451–463. 18 Hermann Meier-Cronemeyer, Jüdische Jugendbewegung, Zweiter Teil, in: Germania Judaica, 1969, NF 29/30, S. 135, hier S. 93. 19 Kasseler Post, 21.04.1932. Zu Elementen der »Annäherung zwischen den Zionisten und den Konservativen Revolutionären«: Stefan Vogt: Vertraute Feinde. Zionisten und Konservative
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standen jedoch in einer landwirtschaftlichen Ausbildung. Unter den Zeugen befanden sich ein Schüler, ein Student sowie Angehörige zahlreicher anderer Berufe. Und ob sich (möglicherweise) sozialistisch orientierte landwirtschaftliche Praktikanten20 wie Adolf Feibelsohn oder Otto Rosenbaum mit Gidions Vergleich hätten anfreunden können, steht auf einem anderen Blatt. Besser verfolgen als die Inhalte der Tagung lassen sich die weiteren Schritte der am Morgen des 5. August ablaufenden polizeilichen Aktion: Gegen 5 Uhr traf die Polizeitruppe in der Kolonialschule ein, wo die große Mehrheit der Schüler im Internat untergebracht war, und begann sofort mit Durchsuchungen. Da man wusste, dass sich ein Großteil der Angreifer schwimmend durch die Werra gerettet hatte, suchte man in den Zimmern nach nassen Kleidern und wurde reichlich fündig. Nasse Kleidungsstücke wurden sofort folgenden Personen zugeordnet: Dinkelacker, Emmerich, Schmalz, Kölle, Ehrhardt, Kießling, Engel, Arendt, Born, Schreiber, Birlbauer, Hoffmann, Uhlig, später noch Frank, Heine, Kühr und Ziegert. Außerdem stellte man bei Walter von Mohrenschildt eine Kiste mit Munition (30 Jagdpatronen), bei Kurt Kießling zwei Gummiknüppel mit Eiseneinlage und einen geflochtenen Gummiknüppel, bei Harry Hoffmann eine Parabellum-Armeepistole mit langem Lauf und 20 Schuss Munition sowie bei Horst Otto eine Trillerpfeife sicher. Bei Ottheinrich Dinkelacker fand man einen Knüppel, eine Koppel mit Schulterriemen, eine Pistolentasche mit Reservemagazin, eine Schlagrute, ein Fahrtenmesser, ein Messer, bei Schreiber schließlich eine 16-mm Pistole, von der im Verlauf der Untersuchungen aber weiter nicht die Rede war.21 Den üblichen Morgenappell der Kolonialschüler nutzte die Polizei zu Gegenüberstellungen. Zwei Zeugen aus dem Organisationsteam des Reichstreffens, Fritz Kugel und Jakob Thaller, versuchten einzelne Angreifer zu identifizieren. Sie konnten sich jedoch auf keine Personen festlegen, da angesichts der zum Revolutionäre in der Weimarer Republik, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 2013, 61. Jg., S. 713–732, hier S. 731. Robert Rafael Gidion ist nachgewiesen bei: Klaus Luig: »…weil er nicht arischer Abstammung ist«. Jüdische Juristen in Köln während der NS-Zeit, Köln 2004, S. 191f. Den Hinweis auf diese Arbeit verdanke ich Knut Bergbauer, Köln. 20 Die Stellen landwirtschaftlicher Praktikanten, die sich im Brith Ha’olim organisierten, waren im Raum Hameln konzentriert: Bernhard Gelderblom: Zur Geschichte der Juden in Hameln und in der Umgebung (http://www.gelderblom-hameln.de/juden/kibbuz/geschichte.html). Feibelsohn allerdings arbeitete auf Gut Bärenklau bei Velten in der Mark, dem »Lieblingskind« des bekannten Genossenschaftstheoretikers Franz Oppenheimer. Feibelsohns Ladung als Zeuge wurde von Schimon Essach, einem Arbeitskollegen aus der »jüdischen Gruppe« in Bärenklau, entgegen genommen: HStAM (Anm. 7), Bd. 2, S. 53. Auf Gut Ludwigshorst an der Grenze zum polnischen Westpreußen, wo Rosenbaum beschäftigt war, wurden zwei Deputatistenstellen über längere Zeit mit jüdischen Praktikanten besetzt: Meier-Cronemeyer : Jugendbewegung (Anm. 18), S. 88 (Bärenklau), S. 68 (Ludwigshorst). 21 HStAM (Anm. 7), Bd. 1, S. 1ff., S.1, Bericht Leutnant Aulepp, 05.08.1931 und die weiteren Untersuchungen.
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Zeitpunkt des Angriffs herrschenden Dunkelheit Identifikationen weitgehend unmöglich waren. Mehr Glück hatte die Polizei mit dem festgenommenen Fleischergehilfen Schelper. Leider findet sich in den Akten der Staatsanwaltschaft kein Protokoll des Appells und der Gegenüberstellungen. Im Artikel von 1938 wird der Ablauf folgendermaßen dargestellt: »Wir waren, wie üblich, semesterweise angetreten … . Dann erschienen, eskortiert von dem Polizeichef und einem seiner Leute, zwei waschechte Vertreter des auserwählten Volkes. Waih geschriehen! Mit kreischenden Stimmen beschuldigten sie bald diesen, bald jenen unter den Angreifern gewesen zu sein. Da aber einige davon ein einwandfreies Alibi sofort nachweisen konnten, wurden die beiden »Hauptzeugen« rasch wieder abserviert. Es kam jetzt der Trumpf der Polizei – der Witzenhäuser SA-Mann. Was sie ihm vorgeredet hatten, weiß ich nicht. Jedenfalls wählte er mit Bedacht alle Versammlungsteilnehmer aus. Mit gemischten Gefühlen bestiegen wir (Hervorhebung WT) das wartende Polizeiauto – 22 Mann hoch.«22 Die Festgenommenen wurden ins Landratsamt abgeführt und Amtsrichter Bohnstedt aus Großalmerode vorgeführt, während sich aus Kassel prominente Unterstützung auf den Weg gemacht hatte. Als Rechtsanwalt Roland Freisler, der die Festgenommenen verteidigen sollte, am Ort des Gewahrsams eintraf, soll er sofort die Parole ausgegeben haben: »Nationalsozialisten und Stahlhelmer machen hier keine Aussagen.« Im sozialdemokratischen Kasseler Volksblatt wurde ihm acht Tage später vorgeworfen, er habe damit seine Kompetenzen überschritten, da ihm die Festgenommenen zu diesem Zeitpunkt noch keine Vollmacht erteilt hätten (Kasseler Volksblatt, 13.08.1931). Durch besondere juristische Finessen zeichnete sich Freislers Verteidigung auch im weiteren Verlauf nicht aus. Dagegen nutzte er den Prozess als Forum zur politischen Agitation – in einer Weise, die quasi ein Vorspiel zu seiner Verhandlungsführung später im Volksgerichtshof darstellt. Dem Korrespondenten des Kasseler Volksblatts zufolge gab Freisler in der Landgerichtsverhandlung »wieder einmal die Probe seines schauspielerischen Könnens. Mal schreiend, mal flüsternd, tänzelt er 22 Tatsächlich wurden der Aktenüberlieferung nach 22 Personen vorübergehend festgenommen. Drei davon (Krumbügel, Schelper, Langebeckmann) gehörten allerdings der Kolonialschule nicht an. Inwieweit auch die bereits in Wendershausen ergriffenen fünf Kolonialschüler antreten konnten bzw. mussten, ist ungeklärt. Jedenfalls wurden am Morgen neben den bereits Ergriffenen weitere 14 Kolonialschüler vorläufig festgenommen. Dass »mit Bedacht alle Teilnehmer« ausgewählt wurden, wäre als Eingeständnis zu werten, dass alle Festgenommenen an dem Überfall beteiligt waren. Die diesbezügliche Einschätzung der untersuchenden Kriminalassistenten Pfaar / Leber lautete 1931 wie folgt: »Da die Zahl der Teilnehmer bestimmt höher war als die Zahl der Festgenommenen und sich unter den Festgenommenen auch solche befinden dürften, die nicht in Wendershausen waren, besteht die Vermutung, daß sich noch weitere nicht ermittelte Schüler der D.K.S. an der Schlägerei in Wendershausen beteiligt haben müssen« (PU, S. 152).
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herum, fuchtelt – um einen seiner Ausdrücke zu brauchen – wie ein »Viehjude« mit den Händen herum, widerspricht sich in einem fort und als bombastischen Schlußeffekt verspricht er seinen Anhängern zum xten Male das dritte Reich« (Kasseler Volksblatt, 21.04.1932). Kritik übte das Volksblatt auch am Verhalten des Amtsrichters Bohnstedt. Er habe anlässlich der Haftprüfung keinen Grund gesehen, die Kolonialschüler festzuhalten und soll sogar geäußert haben, »er könne sich nicht denken, daß die gebildeten und aus besserem Hause stammenden Kolonialschüler sich wie Proletarier benähmen.«23 Dagegen wurden Langebeckmann und Schelper ins Witzenhäuser »Gerichtsgefängnis« gebracht, Langebeckmann am 8. August wieder freigelassen, Schelper nach Kassel in Untersuchungshaft überstellt, wo er bis zum Beginn der Verhandlung ausharren musste. Überhaupt sollte sich die juristische Aufarbeitung als schwierig herausstellen. »Zu den Aussagen der Kolonialschüler selbst« hatten die untersuchenden Kriminalassistenten Pfaar und Leber bemerkt, »daß diese nach Ablauf von vollen 8 Tagen nach der Tat ihre Aussagen übereinstimmend machten. Bei einer sofortigen polizeilichen Vernehmung am 5. 8. wäre das Ergebnis der Ermittelungen nach unserer persönlichen Überzeugung ein anderes geworden« (PU, S. 152). Insofern blieb nur eine Anklage wegen Landfriedensbruchs (§ 125 Abs. 1) übrig. Dabei musste (bzw. muss) nicht jedem einzelnen Angreifer ein bestimmtes Vergehen nachgewiesen werden, sondern lediglich die Teilnahme an einem gewalttätigen Auflauf.24 Direkte Gewaltausübung nach Abs. 2 § 125 glaubte man allein Schelper nachweisen zu können, da Gronewald ihn noch am frühen Morgen in Wendershausen identifiziert hatte. Die polizeilichen Untersuchungen hatten jedoch ergeben, dass auch der Vorwurf des Landfriedensbruchs nicht gegen alle Beschuldigten aufrechterhalten werden konnte. Wenn eine halbwegs plausible Begründung für den Besitz nasser Kleider gegeben werden konnte, wurde auf die Anklageerhebung verzichtet.25 Im Einzelnen beantragte der Sitzungsvertreter, Erster Staatsanwalt Ludwig: Gegen Schelper 1 Jahr 6 Monate Gefängnis unter Anrechnung der Untersuchungshaft, gegen Langebeckmann, Krumbügel, Horst und Fritz Otto, von Mohrenschildt, Schreiber, Erhart, Birlbauer 4 Monate auf Grund von § 125 Abs. 1 Str.GB, gegen Hans Otto und den Schreinerlehrling Karl Kanngießer aus Oberrieden als Jugendliche nur 2 Monate, gegen Dinkelacker wegen Landfrie23 Kasseler Volksblatt, 08. 08.1931. Bohnstedt gab an, seine Aussagen seien entstellt wiedergegeben worden: HStAM (Anm. 7), Bd. 4, 28.08.1931, S. 20. 24 Dirk Walter : Antisemitische Kriminalität und Gewalt. Judenfeindschaft in der Weimarer Republik, Bonn 1999, S. 216f. 25 Schilfschneiden an einem Teich und selbst Teilnahme an einer Exkursion mit einem nur leichten Gewitterregen am Nachmittag wurden nach Nachprüfung als Ausrede dann akzeptiert, wenn es keine weiteren Anhaltspunkte gab (PU, S. 149ff.).
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densbruchs 4 Monate und wegen Waffenbesitzes zu politischen Zwecken 3 Monate, zusammen 6 Monate und Einziehung der Waffe, gegen Hoffmann 1 Monat Gefängnis wegen Verstoßes gegen das Kriegswaffengesetz und Einziehung der Waffen und Munition. Freispruch vom Vorwurf des Landfriedensbruchs »aus tatsächlichen Gründen« wurde für Hoffmann und Seiberl beantragt.26 Allerdings brach vor Gericht der Vorwurf gegen Schelper in sich zusammen, da Gronewald ihn letztlich nur anhand einer Baskenmütze identifizieren konnte und der Wendershäuser Maurermeister Rauchhaus ihn unter den drei Angreifern explizit nicht gesehen haben wollte (SP, S. 13). Immerhin kann man der Justiz weder Untätigkeit noch Verschleppung vorwerfen, im Gegenteil. Am 11. August drängte der Kasseler Oberstaatsanwalt Ludwig die Polizei zu »größtmöglicher Beschleunigung«, woraufhin sich am Morgen des 13. August die Kriminalassistenten Pfaar und Leber nach Witzenhausen verfügten, um genauere Untersuchungen durchzuführen. In ihrem Abschlussbericht hielten sie fest, sie seien in Witzenhausen, Wendershausen und Oberrieden an drei Tagen von 8–22 Uhr fast ununterbrochen im Einsatz gewesen, wobei sie den Dienstwagen des Landrats hatten nutzen können. Tatsächlich vernahmen sie insgesamt 49 Zeugen und Beschuldigte und verfassten ein Protokoll von 130 Schreibmaschinenseiten. Ebenso schnell wie die Justiz hatte die Presse reagiert. Bereits am 6. August erschien ein Bericht im Witzenhäuser Kreisblatt, der sachlich die bis dahin bekannten Tatsachen referierte, und am 7. August nahm sich das bereits zitierte »Kasseler Volksblatt« der Sache an. Ein erster ausführlicher Bericht erschien am 8. August. Auch die Politiker schliefen nicht. Die Untersuchungen von Pfaar und Leber waren noch nicht abgeschlossen, als am 14. August 1931 die SPD-Abgeordneten Traudt und Kraft im Preußischen Landtag eine Anfrage der sozialdemokratischen Fraktion an das Preußische Staatsministerium richteten, in der sie den Justizminister aufforderten, dafür zu sorgen, dass die Strafverfolgung »energisch durchgeführt« werde. Im Übrigen nahmen sie die Kolonialschule als Wurzel des Übels ins Visier (Kasseler Volksblatt, 21.08.1931). Am 15. September bat das preußische Justizministerium um Zusendung der Anklageschrift, die bereits am 26. August fertig gestellt war. Am 28. September begann schließlich die Verhandlung des Großen Schöffengerichts Kassel in Witzenhausen, die einen Tag später mit dem Urteil endete. Von den Angeklagten sah das Gericht lediglich Fritz, Hans und Horst Otto sowie Ehrhardt, von Mohrenschildt, Schreiber und Krumbügel als überführt an, da sie eindeutig von Zeugen nach 23.00 Uhr auf dem Weg von Witzenhausen nach Wendershausen identifiziert worden waren. Sie erhielten jeweils die Mindeststrafe von 4 Mo26 HStAM (Anm. 7), Bd. 4, S. 41, 01.10.1931, Bericht der Staatsanwaltschaft an das Preußische Justizministerium. S. auch den Artikel der Kasseler Post vom 30.09.1931.
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naten Haft, Hans Otto als Jugendlicher zwei Monate. Dinkelacker und Hoffmann wurden lediglich zu einer Geldstrafe von fünfzig Mark wegen unerlaubten Waffenbesitzes und zum Einzug der Waffen verurteilt, Langebeckmann und auch Schelper freigesprochen, weil ihnen nach Ansicht des Gerichts eine Teilnehmerschaft nicht nachgewiesen werden könne.27 Angesichts der Anklagen und einiger markiger Formulierungen im Urteil waren dies magere Ergebnisse. Staatsanwaltschaft und Verurteilte gingen beide in Berufung. Das Preußische Justizministerium ließ sich weiterhin über das Vorgehen der Staatsanwaltschaft informieren, und am 13. Januar 1932 kam aus dem Ministerium ein Hinweis, wie die Anklage gegen Dinkelacker genauer zu fassen sei. Er war bereits in erster Instanz nicht lediglich wegen illegalen Waffenbesitzes, sondern auf Grundlage des Gesetzes vom 23. März 1931 angeklagt worden, das bewaffnetes Erscheinen zu politischen Zwecken unter besondere Strafe stellte. Das Ministerium war der Ansicht, es sei dabei irrelevant, ob die Versammlung, auf die die Waffe mitgenommen werde, als politische Versammlung im engeren Sinne zu qualifizieren sei, es genüge schon die politische Intention des Waffentragens. Außerdem wurde die Staatsanwaltschaft angewiesen, »im Benehmen mit dem Herrn Landgerichtspräsidenten, darauf hinzuwirken, daß unter Absetzung minder wichtiger Sachen« die Berufungsverhandlung rasch vorgezogen werde.28 Die Verhandlung fand am 19./ 20. April 1932 vor der großen Strafkammer des Landgerichts Kassel statt. Das Gericht tagte wiederum in Witzenhausen. Die Urteilsbegründung war erheblich schärfer formuliert als in der ersten Instanz. Das Strafmaß für die Teilnahme an dem Überfall wurde jedoch nicht verschärft. Allerdings sah man mit Hoffmann, Schelper und Langebeckmann drei weitere Angeklagte als überführt an. Hoffmann und Langebeckmann waren zwar nicht in bzw. vor Wendershausen gesehen worden, ihre Ausreden hinsichtlich des Zustands ihrer Kleidung wurden jedoch als abenteuerlich empfunden. Was Schelper betraf, so wurde nicht ausgeschlossen, dass er nicht direkt am Überfall teilgenommen hatte, er wurde jedoch verurteilt, da er ihn durch Ausspionieren des Terrains mit vorbereitet hatte (ULG, S. 37). Dinkelacker wurde zwar erneut vom Vorwurf des Landfriedensbruchs freigesprochen, hinsichtlich des Waffenbesitzes ging man jedoch mit der Anklage konform und verurteilte ihn zu drei Monaten Haft wegen Waffentragens mit politischer Intention (ULG, S. 24). Das Reichsgericht bestätigte am 3. Oktober 1932 grundsätzlich die Entscheidungen des Landgerichts.29 Dinkelacker kam jedoch wie in der ersten Instanz lediglich mit 50 Mark Strafe wegen illegalen Waffenbesitzes davon. 27 HStAM (Anm. 7), Bd. 4: Urteilsbegründung. 28 HStAM (Anm. 7), Bd. 4, 13.01.1932 und 07.03.1932. Damit entsprach das Ministerium der Forderung der Abgeordneten Kraft und Traudt, dafür Sorge zu tragen, dass das Verfahren zügig durchgeführt werde. 29 HStAM (Anm. 7), Bd. 3, S. 86ff.
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Für ein unrühmliches Ende der juristischen Aufarbeitung sorgten nicht die Gnadengesuche, die Rechtsanwalt Freisler am 15. Dezember 1932 für die Angeklagten einreichte.30 Fünf Tage später verabschiedete der Reichstag mit den Stimmen von NSDAP, KPD und SPD ein Gesetz, das alle auf Grund politisch motivierter Taten Verurteilten amnestierte, soweit sie »aus wirtschaftlicher Not« begangen und mit weniger als fünf Jahren bestraft worden waren.31 Aus den Vordrucken, die die Staatsanwaltschaft Kassel zu diesem Zweck erstellte, wird deutlich, dass außer den Untersuchungshäftlingen keiner der Wendershäuser Angreifer ein Gefängnis von innen gesehen hatte.32 Dennoch fällt im Vergleich mit heutigen Vorfällen das schleunige und zielstrebige Vorgehen von Polizei und Staatsanwaltschaft ins Auge. Bereits der rasche und adäquate Polizeieinsatz kann angesichts heutiger Erfahrungen nur Bewunderung auslösen. Genehmigt wurde er von einer Kasseler Polizeiführung, die in (sozial-)demokratischer Hand lag.33 Schließlich zeichnen sich auch die weiteren Untersuchungen von Polizei und Staatsanwaltschaft durch erstaunliche Zielstrebigkeit aus. Zwischen der Tat und der erstinstanzlichen Verhandlung lagen nicht einmal zwei Monate. Allerdings stand die Staatsanwaltschaft unter einem gewissen Druck seitens der vorgesetzten Behörde, des Preußischen Justizministeriums. Dem Ministerium gegenüber nahm wiederum die Volksvertretung ihre Kontrollfunktionen wahr, wie sich in der Anfrage der sozialdemokratischen Abgeordneten vom 15. August manifestiert. Diese wiederum bezogen ihre Informationen aus einer lebendigen und vielfältigen Presselandschaft. Etwas relativiert wird das Bild intakter und ineinander greifender demokratischer Strukturen durch das Agieren der Gerichte. Zwar verschlossen beide Instanzen keineswegs die Augen vor den politischen Motiven der Angeklagten. Auch dies wäre als Unterschied zu Verharmlosungen festzuhalten, wie sie heute öfter vorkommen. In beiden Verfahren galt z. B. die Mitgliedschaft in NSDAP und SA als Indiz für Gewaltbereitschaft. So hieß es in der Urteilsbegründung der 30 HStAM (Anm. 7), Bd. 3, S. 107ff. Sie waren nach Papens »Preußenschlag« vom Juli 1932 sicher nicht aussichtslos. 31 Rainer Zilkenat: Der »Kurfürstendamm-Krawall« am 12. September 1931. Vorgeschichte, Ablauf und Folgen einer antisemitischen Gewaltaktion, in: Rundbrief // AG Rechtsextremismus/Antifaschismus beim Parteivorstand der Linkspartei/ PDS 2, 2011, S. 46. 32 HStAM (Anm. 7), Bd. 3. 33 Gunnar Richter : Die Geheime Staatspolizeistelle Kassel 1933–1945 in: Zeitschrift des Vereins für hessische Geschichte, 2001, 106. Jg., S. 229–270, hier S. 231; Dietfrid Krause-Vilmar : Streiflichter zur neueren Geschichte der Jüdischen Gemeinde Kassel. Juden in Kassel (1808–1933). Eine Dokumentation anlässlich des 100. Geburtstages von Franz Rosenzweig [Ausstellungskatalog], Kassel 1986, S. 33–41. Polizeipräsident Adolf Hohenstein war Sozialdemokrat und jüdischer Religion. Wie der gleichfalls der SPD angehörende Vizepräsident Schöny wurde er nach Papens »Preußenschlag« vom 20. Juli 1932 entlassen und später von den Nazis verfolgt.
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ersten Instanz zur Beteiligung Krumbügels: »Ferner ist er Führer der SA Witzenhausen und würde als solcher bei einem derartigen Unternehmen wohl kaum fehlen.«34 Die große Strafkammer nannte im Berufungsverfahren den Überfall in wünschenswerter Klarheit schließlich einen »groben Terrorakt« (ULG, S. 43). Dennoch wurde auch in der zweiten Instanz hinsichtlich des Strafmaßes der Spielraum nicht ausgeschöpft.35 Eine historiographische Aufarbeitung des Vorfalls kann sich nicht auf die Nachzeichnung und Einordnung der Untersuchungen und Urteile beschränken. Die wichtige Frage, warum der Überfall gerade in der Nacht vom 4. auf den 5. August 1931 stattfand, wurde zwar in den beiden Verhandlungen thematisiert, nicht jedoch politisch reflektiert. Dabei offenbaren schon die praktischen Vorbereitungen, soweit sie erkennbar werden, dass der provinzielle Angriff adäquat nur im Kontext der politischen Gesamtlage verstanden werden kann.36 Dem Überfall zeitlich unmittelbar voraus gegangen war am 4. August eine Abendversammlung von NSDAP und SA in dem – von Wendershausen aus gesehen – jenseits der Werra gelegenen Nachbardorf Unterrieden. Auf der Tagesordnung dieser Versammlung stand nicht die Lage vor Ort, sondern es sollte über die »weitere Propaganda für den Volksentscheid« (PU, S. 121) beraten werden, der für den kommenden Sonntag angesetzt war. Dieser Volksentscheid zielte auf Neuwahlen zum preußischen Landtag und damit auf die Abwahl der preußischen Staatsregierung, die noch von einer »Weimarer Koalition« gebildet wurde. Initiiert wurde der Volksentscheid ursprünglich vom Stahlhelm, im Juni 1931 schloss sich die NSDAP an, und in letzter Minute sprang am 22. Juli die KPD auf diesen Zug auf.37 Die Versammlung in Unterrieden hatte für die Nazis den praktischen Vorteil, dass sie bereits beisammen saßen und sich auf weitere Taten vorbereiten konnten. Im Artikel von 1938 wird die Abfolge so dargestellt: »Die Versammlung ging vorüber wie alle anderen seinerzeit – Zwischenrufe, ein Rausschmiß, Geschrei auf der Straße usw. Dann saßen wir zusammen in der Gaststube des Versammlungslokals, liedersingend, debattierend. Plötzlich schrillte das Telephon. Keine 20 Sekunden später standen wir angetreten auf der Dorfstraße, die Parole hieß: Wendershausen! Ein Kamerad von uns mit Parteiabzeichen war von 34 HStAM (Anm. 7), Bd. 4, S. 12 der Urteilsbegründung. 35 In den Prozessen zum Berliner »Kudamm-Pogrom«, der nur einen Monat später als der Wendershäuser Überfall stattfand, urteilte die erste Instanz erheblich schärfer, während die Berufungsinstanz an die Organisatoren in einem abgetrennten Prozess mit teilweise skandalösen Begründungen (Zilkenat: »Kurfürstendamm-Krawall« (Anm. 31), S. 45; Walter : Kriminalität (Anm. 24), S. 217) Freisprüche verteilte. Zu den Abläufen s. a. Bernhard Sauer : Goebbels »Rabauken«. Zur Geschichte der SA in Berlin-Brandenburg, in: Berlin in Geschichte und Gegenwart. Jahrbuch des Landesarchivs Berlin, 2006, S. 107–164, hier S. 130f. 36 Walter : Kriminalität (Anm. 24), S. 229ff. 37 Sauer : »Rabauken« (Anm. 35), S. 132.
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den dort lagernden Juden angepöbelt und vom Rade gerissen worden, das mußte »gerochen« werden.« Dass in Wendershausen niemand »angepöbelt« und »vom Rade gerissen« worden war, erst recht kein »Kamerad mit Parteiabzeichen«, stellte sich in den Befragungen schnell heraus. Wie verhielt es sich aber mit dem Anruf ? Eine Reihe von Angaben in den Polizeiverhören machen deutlich, dass tatsächlich ein Anruf aus Wendershausen erfolgt war. Der Fleischergehilfe Schelper sagte am frühen Morgen des 5. August – noch unter dem frischen Eindruck der Tat und ohne die Gelegenheit, Absprachen zu treffen – aus, durch den Anruf sei »Parteihilfe« angefordert worden.38 Die Urteilsbegründungen erwähnen eine telefonische Anforderung jedoch nicht.39 Auch die Staatsanwaltschaft ging der Frage nicht nach, von wem der Anruf hätte gekommen sein können. Der einzige, der sich darüber Gedanken machte, war der in Hundelshausen stationierte Landjägermeister Elsebach. Er vermutete, dass Engelbert Langebeckmann, der einzige der Angeklagten, der in Wendershausen wohnhaft war, den Anruf getätigt habe (PU, S. 141f.). Dafür spricht, dass sich Langebeckmann tatsächlich spätestens seit 22.00 Uhr in Wendershausen aufgehalten hatte. Eine genauere Beschäftigung mit dieser Person, der wegen seiner Ortskenntnis ursprünglich Rädelsführerschaft vorgeworfen wurde, macht deutlich, dass das Ereignis der Nacht vom 4. auf den 5. August eine Vorgeschichte hatte, und zwar in verschiedener Hinsicht. Einmal in der Person Langebeckmanns, der nicht Mitglied der SA, sondern des Stahlhelm war. Am 3. August, einem Montag, hatte Langebeckmann zusammen mit dem Gärtner Gerlach, einem anderen Stahlhelmangehörigen aus Wendershausen, einige Mitglieder des Jugendbundes, die in kleinen Gruppen durch das Dorf spazieren gingen, angepöbelt und mit Äpfeln beworfen. Dem Kameraden erklärte er, dass er persönlich begründeten Hass gegen alle Juden hege, weil »die Juden« seinen Vater um »sein Wesen«, die Pacht eines Landguts gebracht hätten.40 Vor diesem Hintergrund könnte man vielleicht auf die Idee kommen, der Landwirtschaftslehrling habe
38 HStAM (Anm. 7), Bd. 1, S. 7: Befragung Schelpers am Morgen des 5. August in Wendershausen: »Während der Versammlung wurde telf. angerufen. Danach sagte einer zum andern: Auf nach Wendershausen.« In einer späteren Befragung (PU, S. 68) ließ er den Begriff »Parteihilfe« streichen. 39 Auch im Protokoll der Schwurgerichtsverhandlung wird der Anruf nicht erwähnt. Schelper wird dort nur mit den Worten zitiert: »Ich war in Unterrieden und habe dort gehört, dass in Wendershausen jemand von uns in Not ist« (SP, S. 9; ähnlich die Aussage von Hans Friske, S. 19). 40 In seinem Gnadengesuch legt Freisler relativ sachlich dar, dass Langebeckmann die Pacht des Gutes Dolgenbrodt bei Beeskow auf Grund von Querelen in der Eigentümerfamilie Specht verloren hatte (HStAM (Anm. 7), Bd. 3, S. 111ff.). Für die Apfelattacke gab es jedoch noch ein weiteres Motiv (s. u. Anm. 46).
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die in Unterrieden versammelten Nazis mit dem Anruf zur Befriedigung eigener Rachegelüste quasi instrumentalisiert. Der weitere Kontext zeigt jedoch, dass diese unpolitische Interpretation nicht weit trägt. Langebeckmanns Apfelattacke41 war nicht der erste Übergriff gewesen. Bereits am 2. August, als sich die Mitglieder des jüdischen Bundes in einem Steinbruch in der Nähe des Ludwigstein zur Auftaktveranstaltung trafen, waren sie Parolen ausgesetzt wie »Heil Hitler«, »Juda verrecke«, »Deutschland erwache«, die aus einer Gruppe von Störern kamen (PU, S. 22). Außerdem waren »die Aufräumungen«, die die jüdischen Jugendlichen vorgenommen hatten, um tanzen zu können, »zunichte gemacht worden«. »Die Feier wurde daher ungemütlich und musste vorher abgebrochen werden.« (SP, S. 12) Am Abend blieben etwa 15 Angehörige des Jugendbundes am Lagerfeuer zurück. Wiederum wurden sie von einer nicht genannten Anzahl von Personen angepöbelt und ihnen diesmal auch Gewalt angedroht. Ob Langebeckmann an den Störungen teilnahm, wie Landjägermeister Elsebach annahm, ist jedoch zweifelhaft, da er vor Gericht angab, er habe am 2. August an einer Stahlhelmveranstaltung in Heiligenstadt teilgenommen (SP, S. 6). Eine weitere Drohung mit Gewalt erfolgte am 3. August gegenüber dem Zeugen Katzmann, der vor der Scheune in Wendershausen Wache stand. Gegen 24.00 Uhr hielten zwei Personen auf einem Motorrad in Wendershausen kurz an, wobei der Zeuge Katzmann den Sozius, der »das Hoheitszeichen der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei« trug, »auf den Überfall (!) in dem Steinbruch« ansprach und die Antwort erhielt: »Schade dass Ihr (!) nicht richtig verhauen worden seid« (PU, S. 15f.). Die Staatsanwaltschaft und die beiden Kammern registrierten diese Vorgänge zwar, untersuchten sie jedoch nicht im Einzelnen. Man könnte argumentieren, sie hätten sich auf das Wesentliche konzentriert, um das Verfahren nicht zu verzögern. Es gab allerdings Gerichte, die die Nazi-Parolen nach § 130 als »Aufruf zum Klassenhass« bestraften.42 Da sich die Kasseler Gerichte und die Staatsanwaltschaft diese Auffassung nicht zu Eigen machten, wurden die Teilnehmer an den Pöbeleien und Drohungen nicht ermittelt. Dass es sich bei den Motorradfahrern vom 3. August um das Duo Schreiber / Dinkelacker (Sozius) handelte, scheint auf der Hand zu liegen. Der Inhalt des Wortwechsels mit Katzmann legt nahe, dass auch sie am Sonntag im Steinbruch zugegen gewesen waren, wenngleich ihnen ähnlich wie Langebeckmann die 41 Das Verfahren wegen Apfelwerfens wurde eingestellt, weil Äpfel nicht als »harte Gegenstände im Sinne des § 366, Ziff. 7 angesehen werden können« (HStAM (Anm. 7), Bd. 1, S. 160f.). 42 Das Schöffengericht Stendal im Frühjahr 1931 und ein erstinstanzliches Urteil zum Berliner Kudamm-Pogrom (Walter : Kriminalität (Anm. 24), S. 203, 219). Zur – juristisch davon zu trennenden – Debatte um die mögliche Ahndung von Kollektivbeleidigungen und die Rolle des Reichsgerichts darin: ebd., S. 194ff.
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Teilnahme an den Pöbeleien nicht nachzuweisen ist. Schließlich gab es eine weitere Person, von der RA Kugelmann, der Vertreter der Nebenklage, in der Verhandlung vor dem Schwurgericht überzeugt war, dass er sowohl an den Pöbeleien vom Sonntag wie am nächtlichen Überfall beteiligt gewesen sei: Es handelte sich um B¦la von Christen, den Angehörigen eines in Werleshausen ansässigen Adelsgeschlechts mit ungarischen Wurzeln (Kasseler Post, 30.09.1932). Er war zugleich ehemaliger Kolonialschüler. Seine Teilnahme an der Versammlung in Unterrieden und am Überfall wurde von Schelper vor Gericht bestätigt. Als Zeuge gerufen, verweigerte er die Aussage (SP, S. 26). Erstaunlicherweise wurden zu seiner Mittäterschaft keine weiteren Ermittlungen angestellt. Wie die rechte Szene in Witzenhausen überhaupt von der jüdischen Jugendtagung informiert worden war, ist im Einzelnen nicht zu rekonstruieren. Der Kolonialschüler Karl Max Engel sagte aus: »Dass die Juden in Wendershausen lagerten, war mir schon einige Tage vorher bekannt. Ich sah die jüdischen Pfadfinder durch Witzenhausen marschieren … .« Offenbar war es Brauch, dass die Jugendbünde vor ihren Veranstaltungen auf dem Ludwigstein durch die Witzenhäuser Innenstadt zogen. Möglicherweise hatte sich die Nachricht von der Bundestagung des Brith Ha’olim aber auch schon vor dessen Ankunft verbreitet. Engel jedenfalls hatte »auch gesprächsweise von dem Vorhandensein Kenntnis« (PU, 132f.). Außerdem fanden die jüdischen Jugendlichen bei ihrer Ankunft auf der Straße zwischen Witzenhausen und Wendershausen Flugblätter zum Volksentscheid sowie Schmierereien vor, genau 89 Hakenkreuze in weißer Farbe. Sie wurden vermutlich in der Nacht vom 1. auf den 2. August 1931 aufgebracht (PU, S. 104). Wie passt nun aber der Anruf genauer in diese sich nun abzeichnenden Vorbereitungen des Überfalls? Damit kommt wieder die Person Langebeckmanns in Spiel. Bevor er am Abend des 4. August in Wendershausen eintraf, hatte er gleichfalls eine Versammlung besucht, in der für den Volksentscheid agitiert wurde. Sie fand im Witzenhäuser Lokal »König von Preußen«43 statt und wurde von der Ortsgruppe des Stahlhelm veranstaltet. Langebeckmann hatte die Versammlung vorzeitig verlassen, offenbar um von Wendershausen aus Vorbereitungen für den Überfall zu treffen. Es stellt sich nun die Frage, inwieweit die Ortsgruppe des Stahlhelm oder einzelne Teilnehmer in diesen Plan eingeweiht waren. »Getrennt tagen – vereint schlagen« – könnte man eventuelle Absprachen zwischen SA und Stahlhelmmitgliedern auf diese Formel bringen? 43 Das repräsentative Gasthaus direkt vor der Werrabrücke wurde gerne vom Stahlhelm zu Versammlungen genutzt: Herbert Reyer: Vom »Entscheidungsjahr« 1932 zu den Anfängen der nationalsozialistischen Herrschaft in Witzenhausen 1933/34, in: Arthur Küntzel (Hg.): Witzenhausen und Umgebung. Beiträge zur Geschichte und Naturkunde, Witzenhausen 1983, S. 77–130, hier S. 94.
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Bereits die mangelhafte Untersuchung der Vorfälle am Steinbruch ist dazu angetan, die eingangs vorgenommene positive Wertung des Vorgehens der Staatsanwaltschaft und der Gerichte zu relativieren. Das Übergehen des Anrufs wäre ein zweites Glied in dieser Kette. Der Umstand, dass sich außer Langebeckmann aus dem Kreis der Verdächtigen kein weiterer Angehöriger des Stahlhelm vor Gericht verantworten musste, passt gleichfalls in diesen Zusammenhang. Stark zu schaffen machte die Nachricht von einem Anruf auch einem aufmerksamen Prozessbeobachter aus dem Witzenhäuser Honoratiorentum. Der pensionierte Amtsgerichtsrat Driessen, der trotz seines Alters von 74 Jahren an der Kolonialschule noch Rechtskundeunterricht erteilte, verurteilte in einem Schreiben, das er unaufgefordert an die Staatsanwaltschaft schickte, den Überfall zwar in aller Eindeutigkeit. Von einem Anruf wollte der alte Herr, der der DNVP zumindest nahestand, jedoch nichts wissen.44 Landjägermeister Elsebach, der den Angaben nachging und auf Langebeckmann als Anrufer tippte, wusste selbstverständlich, dass der Landwirtschaftslehrling nicht über einen eigenen Anschluss verfügte. Für ihn lag es nahe, dass der Anruf im Haus des Witzenhäuser Stahlhelmführers Nahme erfolgt war (PU, S. 141f.), der in Wendershausen in einem Haus seines Schwagers, des Domänenpächters Ehrbeck, ansässig war. Allerdings war auch Elsebach überzeugt, dass nicht Nahme selbst angerufen hatte, da dieser bis gegen 23.30 Uhr auf der Versammlung im »König von Preußen« anwesend war. Zusammen mit Erich Gröling, einem weiteren Stahlhelmer aus Wendershausen, traf Nahme mit seinem Automobil in Wendershausen erst kurz vor dem Überfall ein. Gröling vernahm auf dem Nachhauseweg gegen 0.15 Uhr zwar noch »Lärm auf der Straße«, will aber weiter nichts gesehen haben (PU, S. 106). Im Jahre 2007 veröffentlichte ein im September 1924 geborener Sohn des Stahlhelmführers seine Memoiren. Darin sind bruchstückhafte Erinnerungen an den Überfall enthalten. Sein Vater sei wohl schon im Haus gewesen, als »toller Lärm und angstvolle Schreie« zu hören gewesen seien. »Meine Eltern ließen unser Haus zunächst im Dunkeln. Als sie sich verunsichert fühlten, legte mein Vater sein geladenes Jagdgewehr bereit, machte Licht, öffnete das Fenster und fragte, was da los sei.«45 Walter Gerlach, ein auf der Domäne beschäftigter Gärtner und gleichfalls Mitglied des Stahlhelms, wollte – den polizeilichen Untersuchungen zufolge – tags zuvor von Frau Nahme gehört haben, »dass die Juden sich geäußert hätten, sie wollten das Stahlhelm-Lokal – gemeint war die Wohnung des Nahme – mal ausräuchern«. Diese Äußerung sei ein weiteres Motiv für die Apfelattacke gewesen (PU, S. 109). In der Verhandlung vor dem
44 HStAM (Anm. 7), Bd. 4, Brief vom 5. Oktober 1931. 45 Hans-Dieter Nahme: Ein Deutscher im zwanzigsten Jahrhundert, Rostock 2007, S. 35.
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Schwurgericht dementierte er jedoch – mit den ungelenken Worten, es sei ihm »nachher eingefallen, dass das nicht wahr ist.«46 Wenngleich davon auszugehen ist, dass der Witzenhäuser Stahlhelm anders als die SA nicht als Organisation an der Vorbereitung und Durchführung des Überfalls beteiligt war, so legen eindeutige Formulierungen im Artikel von 1938 (»der Stahlhelm rüstete«) doch eine Art Konsens »an der Basis« nahe,47 von dem man möglicherweise glaubte, dass er auf höherer Ebene gedeckt war – durch die gemeinsame Vorbereitung des Volksentscheids und eventuell auch durch das Herannahen der Harzburger Auftritte vom 11. Oktober 1931. Es hat den Anschein, als ob man seitens des bürgerlichen Honoratiorentums bis hinein in die Justiz die Thematisierung einer solchen Kooperation – und damit des Anrufs – in jedem Fall zu vermeiden suchte. Wie aber stand die übrige Bevölkerung zu dem Überfall? Die Zeugen aus Wendershausen zeigten sich in den ersten Befragungen durchgehend erschrocken von der Gewalt der Täter. Maurermeister Rauchhaus erkannte zwar in einer noch am Morgen des 5. August in Wendershausen durchgeführten Gegenüberstellung Krumbügel »an der Kleidung« als denjenigen, der den Überfall dirigiert hatte (PU, S. 98), bestätigte diese Aussage vor Gericht aber nicht. Immerhin sah sich Langebeckmann veranlasst, nach der Tat das Dorf und damit seine Arbeitsstelle zu verlassen. Unpräzise war allerdings die Mitteilung des »Kasseler Volksblatts«, die Wendershäuser Bevölkerung sei gegen Langebeckmann stark aufgebracht gewesen. In der Gerichtsverhandlung wurde deutlich, dass dies immerhin für die Mehrheit der Gutsarbeiterschaft galt,48 in der der sozialdemokratische Schweinemeister Julius Klinge den Ton angab.49 46 SP, S. 24. Das Dementi zielte nicht darauf ab, die jüdischen Jugendlichen weiß zu waschen, eher in eine andere Richtung: Hinweise, dass auch die Stahlhelmseite – wenn auch »nur« privat – ein Motiv zum »Zündeln« gehabt haben könnte, waren offenbar extrem unerwünscht. 47 Ein solcher Konsens ist für den Berliner »Kudamm-Pogrom« vom 12. September 1931 charakteristisch. An diesen Gewalttaten zum jüdischen Neujahrsfest waren nicht nur SAFührer und -Angehörige beteiligt, sondern auch der Charlottenburger Jungstahlhelmführer Wilhelm Brandt, »der offensichtlich ebenfalls einige Untergebene dirigierte.« (Walter : Kriminalität (Anm. 24), S. 211). Nicht aktenkundig (s. die Urteile in: Landesarchiv Berlin A Rep. 358–01, Nr. 20, Bd. 1) wurden in diesem Zusammenhang die Kolonialschüler Dinkelacker und von Mohrenschildt, die zu diesem Zeitpunkt in Berlin ihre Prozessladungen in Empfang nahmen. Dinkelacker war an seiner Heimatadresse in der Trautenaustraße, v. Mohrenschildt vorübergehend in der dem Kurfürstendamm benachbarten Kantstraße gemeldet (HStAM (Anm. 7), Bd. 2). Walter von Mohrenschildt avancierte später zum Adjutanten des Berliner SA-Führers Karl Ernst, der den Kudamm-Pogrom dirigiert hatte, verübte mit ihm gemeinsam weitere Terrorakte und wurde mit ihm zusammen ein Opfer des 30. Juni 1934 (B. Rieger : Mohrenschildt und die Verschleppung von Zamosc (!), o. O., o. .J., S. 149f.). 48 SP, S. 23, Aussage Ehrbeck junior, wie Langebeckmann Mitglied des Stahlhelms. In Wendershausen wurde das rechte Spektrum anscheinend weniger durch SA- und NSDAP- als Stahlhelmangehörige abgedeckt.
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Auch für die Stimmungslage in Witzenhausen lassen sich differenzierte Aussagen finden. Dass der ehemalige Amtsgerichtsrat Driessen als Angehöriger des Honoratiorentums die Tat verurteilte, wurde bereits gesagt. In besonderer Weise war Driessen vom Auftritt des Verteidigers abgestoßen. Freisler hatte in der ersten Verhandlung gehöhnt, es sei eine besondere Provokation, dass Juden sich anmaßten, ihr Treffen in einem der schönsten Teile des Vaterlandes zu veranstalten. An dieser Stelle dämmerte dem alten Herrn offenbar, welches Potenzial an Menschenverachtung sich auf dieser Seite aufgebaut hatte. Nicht geheuer war ihm auch die Atmosphäre im Publikum, wenngleich seine Beobachtungen auf einer vielleicht altersgemäßen, aber doch einseitigen bzw. monokausalen Wahrnehmung beruhten: »Alle hiesigen Zeugenaussagen junger weiblicher Personen sind stärkstem Zweifel unterworfen. In der Kolonialschule herrscht – geduldet – weitgehende Libertinage. Das entzückte Gelächter junger Mädchen im Zuschauerraum hat die Verhandlung mehrfach gestört.«50 Wie verhielt man sich nun an der Kolonialschule, von der in der Sicht der sozialdemokratischen Anfrage das eigentliche Übel ausging? Aufmerksam registrierte das »Kasseler Volksblatt«, dass trotz einer gleichzeitigen Aufsichtsratssitzung niemand aus der DKS-Leitung dem Prozess beiwohnte (Kasseler Volksblatt, 30.09.1931). Die Stimmung an der DKS »am Morgen danach« versucht der Artikel von 1938 in der ihm eigenen Art zu vermitteln. Nachdem die aus der Kolonialschule stammenden 22 Teilnehmer den Polizeiwagen bestiegen hatten, »scharten sich die Kameraden« demnach um das Fahrzeug. »Es begann mit einem leichten Grollen im Hintergrund – dann brach es aus. Ein einstimmiges Wutgeheul empfing die Polizeimannschaft, Johlen, Pfeifen, Sprechchöre: »Deutschland erwache, Juda verrecke, Sieg Heil, Sieg – Kampf – Rache – Deutschland erwache« – es war herrlich.« Es werden die Konturen einer »Gewaltgemeinschaft«51 erkennbar, die die Grenzen von SA und NSDAP deutlich transzendierte. Wurden die Parolen tatsächlich im Innenhof der Kolonialschule in Anwesenheit der Polizeitruppe gerufen oder handelt es sich bei dieser Mitteilung um ein weiteres Element übler Selbstbeweihräucherung? Immerhin konnte der Direktor der Kolonialschule, Dr. Arning, nicht umhin, in einem Schreiben an Ministerialdirektor Dr. Dammann vom Reichsinnenministerium, das noch am Tag der Festnahmen verfasst wurde, zuzugeben, die Schüler hätten sich »nicht enthalten können, den zum Verhör Angeführten noch einen Abschiedsgruss (!) 49 Nahme: Deutscher (Anm. 45), S. 30. 50 Driessen spielte wohl darauf an, dass die militärische Disziplin, die vor 1914 die Abläufe im Internat der Kolonialschule geregelt hatte (Baum: Meer (Anm. 2), S. 41–50), in der Republik aufgehoben worden war. Zur Haltung Driessens s. auch Baum: Meer (Anm. 2), S. 107. 51 Den Begriff in Anlehnung an: Winfried Speitkamp (Hg.): Gewaltgemeinschaften. Von der Spätantike bis ins 18. Jahrhundert, Göttingen 2013.
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darzubieten, der immerhin als eine gewisse Peinlichkeit für die Schupo gelten konnte«. Was seine eigene Haltung betraf, will er in seiner Vorlesung dagegen »heute« »noch einmal ganz rücksichtslos den Leuten« seine »Meinung gesagt haben«, »obwohl ja die Täter gar nicht dabei waren.«52 Der Öffentlichkeit gegenüber hielt es der DNVP-Angehörige jedoch »für das Beste, die Sache nicht wieder anzurühren.« Daraus wird ersichtlich, dass die eigentliche Frontstellung der Direktors schon am 5. August nicht gegen die Täter gerichtet war, zumal er bald darauf – deutlich zu seiner Erleichterung – erfahren haben wollte, »dass die wirkliche Teilnahme an den Vorgängen so recht keinem nachgewiesen werden konnte.«53 Letztlich ging es ihm darum, »dass man tendenziös gefärbten Berichten besser keinen Glauben beimessen sollte.« Und als wäre dies nicht schon deutlich genug: Man solle sich hüten, »erneute Aufmerksamkeit auf eine Sache (zu) lenken, welche, so harmlos sie sei (Hervorhebung WT), auch deswegen weil Juden dabei beteiligt waren, in der ungerechtesten und schädlichsten Weise zu Ungunsten der Anderen ausgeschlachtet werden würde.«54 Der Direktor der Kolonialschule mag die Gewalt taktisch verurteilt haben, von seiner Gesinnung her ist er als Teil der Gewaltgemeinschaft zu begreifen. Dazu passt, dass er sein Debüt als Leiter der Kolonialschule 1928 im »Kulturpionier« mit einem rassistischen Artikel gegeben hatte, der auch auf antisemitische 52 Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde, R 8023, Nr. 343, S. 345. In einem Schreiben an den Generalsekretär der Deutschen Kolonialgesellschaft vom 13. August 1931 (Ebd., S. 324) stellte Arning dar, »dass Herr Ministerialdirektor Dr. Dammann … dem Reichsinnenminister Dr. Wirth über die Angelegenheit Vortrag gehalten und ihn bereits in Kenntnis des von Ihnen mir freundlichst übersandten Artikels gefunden hat.« Damit können Artikel aus der »Vossischen Zeitung« oder dem »Berliner Tagblatt« gemeint sein. Zu letzteren s. Heinz Warny : kg. Brüssel. Zum Lebenswerk des Journalisten Kurt Grünebaum, 1910–1918, Eupen 2011, S. 31. 53 Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde, R 8023, Nr. 343, S. 325, 13.08.1931, Arning an Generalsekretär Duems (Deutsche Kolonial-Gesellschaft). Immerhin waren die Verurteilten nach dem erstinstanzlichen Urteil von der Schule relegiert worden. Im Oktober 1932 machte Arning jedoch den Eltern der Relegierten das Angebot, sie sollten beim Kuratorium (mit Durchschrift an Arning) die Wiederaufnahme ihrer Söhne beantragen, worauf er »befürwortend« tätig werde. Am 18. 11.1932 meldete er dem Vater Dinkelackers: »Ich habe es bewirkt.« (Archiv des »Deutschen Instituts für Tropische und Subtropische Landwirtschaft« (DITSL) in Witzenhausen, Schülerakte Ottheinrich Dinkelacker, s. auch die Schülerakte Horst Otto). Arnings immer wieder vorgebrachte Befürchtung war, dass »unsere Zuschüsse« seitens des Reiches »mit den Vorgängen der Prügelei in Verbindung gebracht« werden könnten (Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde, R 8023, Nr. 343, S. 324). Die Abgeordneten Traudt und Kraft hatten das Preußische Staatsministerium tatsächlich aufgefordert, auf das Reich in dem Sinne einzuwirken, dass der Kolonialschule der Geldhahn zugedreht werde. Nach Papens Preußenschlag drohte aus dieser Richtung keine Gefahr mehr, was es Arning ermöglichte, die Zurückhaltung aufzugeben und die Wiederaufnahmen zu »bewirken«. 54 Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde, R 8023, Nr. 343, S. 325, 13. August 1931, Arning an Generalsekretär Duems. Ähnlich hatte er sich bereits am 5. August gegenüber Ministerialdirektor Dr. Dammann vom Reichsinnenministerium geäußert (S. 345).
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Untertöne nicht verzichtete.55 Dass vor diesem Hintergrund niemand innerhalb der DKS auf den Gedanken kam, einen Dialog mit den Geschädigten aufzunehmen, liegt auf der Hand. Den unter »normalen« Umständen nahe liegenden Zuspruch erhielten die Geschädigten von anderer Seite, wie einem weiteren Schreiben Arnings zu entnehmen ist, in dem sich unfreiwillige Selbstentlarvung mit einer selbstentlastend gemeinten Denunziation paart: »Des weiteren erlaube ich mir zu bemerken, dass dieses Lager der jüdischen Jugendlichen gestern sein Ende gefunden habe, die Teilnehmer sind unter Absingen der Internationale durch die Stadt Witzenhausen gezogen und am Bahnhof von dem hiesigen Kommunistenführer in einer Rede unter freiem Himmel begrüßt und verabschiedet worden«.56 Der Überfall in Wendershausen reiht sich in eine Serie antisemitischer Gewalttaten während der Weimarer Republik ein, die erst in den letzten Jahren stärker ins Bewusstsein der Forschung gerückt sind.57 Sie lassen sich in verschiedener Hinsicht kategorisieren58, auch hinsichtlich regionaler Schwer-
55 Die Rassenpolitik der nordamerikanischen Einwanderungsgesetze und wir, in: Der Deutsche Kulturpionier 28, 1928, S. 45ff. Als »Mann der politischen Rechten« (Karsten Linne: Witzenhausen: »Mit Gott für Deutschlands Ehr. Daheim und überm Meer«. Die Deutsche Kolonialschule, in: Ulrich van der Heyden, Joachim Zeller (Hg.): Kolonialismus hierzulande. Eine Spurensuche in Deutschland, Erfurt 2007, S. 125–128, hier S. 127) ist er treffend charakterisiert. 56 Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde, R 8023, Nr. 343, S. 347, 6. August, Arning an Dr. Dammann. Mit dem »hiesigen Kommunistenführer« war Paul Joerg gemeint, der das gesamte Dritte Reich mit wenigen Wochen Unterbrechung in KZ-Haft verbringen musste. Sein Leidensweg führte durch die KZs Sachsenhausen, Buchenwald und Esterwegen, bevor er im Herbst 1945 nach Witzenhausen zurückkehrte und bald darauf starb: Reyer : »Entscheidungsjahr« (Anm. 43), S. 117f. Dass Joerg ein Grußwort sprach, ist insofern bemerkenswert, als er sich damit von der v. a. zwischen 1925 und 1930 vorherrschenden »antizionistischen« Parteilinie (Olaf Kistenmacher : Vom »Judenkapital« zur »Jüdisch-faschistischen Legion in Jerusalem«. Zur Entwicklung des Antizionismus der Kommunistischen Partei Deutschlands der Weimarer Republik 1925–1933, in: http://www.ca–ira.net/isf/beitraege/pdf/kisten macher-antisemitismus.kpd.pdf [16. 04. 2015]. Stärker differenzierend: Mario Kessler : Die KPD und der Antisemitismus in der Weimarer Republik, in: Utopie kreativ, März 2005, Heft 173, S. 223–232, hier S. 228f.) entfernte. Angesichts der »antizionistischen« Propaganda der »Roten Fahne« kann nicht erstaunen, dass der Brith Ha’olim 1928 einen Unvereinbarkeitsbeschluss gegenüber der KPD (Kurt Loewenstein: Die innerjüdische Reaktion auf die Krise der deutschen Demokratie, in: Werner Eugen Mosse, Arnold Paucker : Entscheidungsjahr 1932. Zur Judenfrage in der Endphase der Weimarer Republik, Tübingen 1966, S. 349–403, hier S. 396) gefasst hatte. Dies schließt nicht aus, dass sich einzelne Gruppen im Brith Ha’olim vom Radikalismus der KPD angezogen fühlten. 57 Walter : Kriminalität (Anm. 24); Borut, Antisemitismus (Anm. 9); Sauer, »Rabauken« (Anm. 35); Zilkenat, »Kurfürstendamm-Krawall« (Anm. 31). S. auch Michael Wildt: Volksgemeinschaft als Selbstermächtigung. Gewalt gegen Juden in der deutschen Provinz 1919 bis 1939, Hamburg 2007, S. 69–100. 58 Borut: Antisemitismus (Anm. 9), S. 21.
Der Überfall auf den Brith Ha’olim
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punkte59. Oft begünstigten zentrale politische Ereignisse – Wahlkämpfe, -siege oder auch -niederlagen der NSDAP – die Enthemmung in der Provinz. Auch der Wendershäuser Überfall stand in Bezug zu einem zentralen Ereignis, der Kampagne zum Volksentscheid. Möglicherweise bildete die gerade im Sommer 1931 zunehmende Gewalt an verschiedenen Universitäten60 einen weiteren Bezugspunkt. Es war auch nicht der erste Überfall auf eine jüdische Feriengruppe. Allerdings führte danach das relativ breite Medienecho dazu, dass Ausflüge gestrichen wurden, weil Eltern der jüdischen Jugendlichen ähnliche Übergriffe befürchteten. Der Brith Ha’olim reagierte gleichfalls, indem er für das folgende Jahr sein »Ferienlager« absagte.61 Am 31. März 1976 bekam die Staatsanwaltschaft Kassel unerwarteten Besuch. Es erschien Efraim Fritz Kugel, geb. 10. 03. 1913 in Kassel, wohnhaft in Tel Aviv, Stadtteil Afeka, Shay-Str. 14. Seitens der Staatsanwaltschaft wurde ihm Einsicht in die Untersuchungsakten gewährt. Es wurden ihm auch Kopien ermöglicht – »und zwar im Hinblick auf die gesamte Sachlage kostenlos.«62 Auch Jakob Thaller (bzw. Tahler) war dem Holocaust entkommen.63 Was die Seite der Täter betrifft: Von Walter von Mohrenschildt64 abgesehen, war keinem der Beschuldigten im »Dritten Reich« eine spektakuläre Karriere vergönnt. Hoffmann, Dinkelacker und von Christen gehörten jedoch zusammen mit weiteren Kolonialschülern, darunter auch dem Stahlhelmer Hans Ahlfeld, in Witzenhausen zu jenem breiten Unterbau des Terrors, der hier wie anderswo die lokalen Machtergreifungen begleitete. Im März 1933 ließen sie sich als Hilfspolizisten verpflichten. Anfangs standen sie Posten vor der »Kraftstation« der kleinen Stadt, später war ihre Hilfe bei Terrorakten wie der »Verhaftung von SPD-Funktionären«, Hausdurchsuchungen bei »Funktionären« von SPD und Freien Gewerkschaften sowie einer sog. »Zigeuner-Razzia« gefragt.65
59 Zu Vorfällen im hessischen Raum: Walter: Kriminalität (Anm. 24), S. 206ff. 60 Borut: Antisemitismus (Anm. 9), S. 31. 61 Ebd., S. 32. Im Jahre 2008 kam es in Hessen und Mecklenburg zu zwei Überfällen von NeoNazis auf zeltende Jugendliche aus dem linken Spektrum (Neuenhainer See bei Homberg / Efze, 23. Juli und Malchin, 11. August), wobei der Erstgenannte von der Kasseler (!) Staatsanwaltschaft als »unpolitisch« bagatellisiert wurde. 62 HStAM (Anm. 7), Bd. 4. 63 Er gehört zu den Gewährsleuten, die 1982 zur Geschichte des deutschen Zionismus in Tel Aviv befragt werden konnten: Hagit Lavsky : The Distinctive Path of German Zionism, Detroit, Jerusalem 1996, S. 268. 64 Siehe Anm. 47. 65 Stadtarchiv Witzenhausen IV A 2, S. 55, 100f.
Claudia Selheim
Erich Kulke (1908–1997): Wandervogel, Volkskundler, Siedlungsplaner und VJL-Vorsitzender
Eine erste Begegnung mit der Person Im Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg befinden sich etwa 50 in den frühen 1960er-Jahren geschaffene Bauernhausmodelle aus dem deutschen Sprachraum sowie einige Pläne und Zeichnungen der »Forschungsstelle deutscher Bauernhof«, deren Leiter Erich Kulke war.1 Letztere sollten als Anregung für den Bau der Modelle dienen und gelangten in der Nachkriegszeit an das Museum. Ideengeschichtlich hängen beide Bestände zusammen. Informationen zur Forschungs- bzw. Mittelstelle und zur Hausforschung im Nationalsozialismus boten zunächst zwei Aufsätze des Volkskundlers und Hausforschers Klaus Freckmann, in denen Erich Kulke eine wichtige Rolle einnimmt.2 Erneut begegnete Kulke im Kontext der Ausstellung »Aufbruch der Jugend. Deutsche Jugendbewegung zwischen Selbstbestimmung und Verführung« im Jahr 2013. Im Ausstellungskatalog wurde seine Funktion als Vorsitzender des Vereins Jugendburg Ludwigstein zwischen 1959 und 1963 erwähnt,3 die wiederum der Grund ist, seine Person im Kontext der Geschichte auf der Burg im 20. Jahrhundert zu beleuchten. Kulkes Verbindung zur Jugendbewegung knüpft aber auch an die Überlegungen Ernst Schlees (1910–1994) an, der 1966 schrieb »[…] für die Wissenschaftsgeschichte der Volkskunde wird sich früher oder später die Frage nach der Bedeutung der Jugendbewegung für das Ideengut des Faches stellen.«4 1 Die »Forschungsstelle deutscher Bauernhof« trug auch den Namen »Mittelstelle deutscher Bauernhof«; zu deren Aufgabe siehe weiter unten. 2 Klaus Freckmann: Hausforschung im Dritten Reich, in: Zeitschrift für Volkskunde, 1982, 78. Jg., S. 169–186. – Ders.: Zur Foto- und Plandokumentation in der Hausforschung der 30er und 40er Jahre, in: Zeitschrift für Volkskunde, 1985, 81. Jg., S. 40–50. 3 G. Ulrich Großmann: Jugendburgen, in: G. Ulrich Großmann, Claudia Selheim, Barbara Stambolis (Hg.): Aufbruch der Jugend. Deutsche Jugendbewegung zwischen Selbstbestimmung und Verführung (Ausstellungskatalog), Nürnberg 2013, S. 82–91, hier S. 85. 4 Ernst Schlee: Erich Meyer-Heisig zum Gedächtnis, in: Hessische Blätter für Volkskunde, 1966, 57. Jg., S. 253–255, hier S. 253.
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Blendeten Volkskundler, explizit Hausforscher, Kulkes Prägung in der Jugendbewegung aus, so schauten über die Jugendbewegung Forschende wenig auf seine Verortung in der Hausforschung.5 Der folgende Beitrag versucht, beide Bereiche zu beleuchten und auch Licht auf die Frage nach Kulkes Einstellung zum Nationalsozialismus zu werfen.
Die bündischen Jahre bis 1933/35 Erich Paul Otto Kulke wurde 1908 als Sohn des Baumeisters Paul Kulke und seiner Ehefrau in Frankfurt an der Oder geboren. Er besuchte das dortige evangelische Reformgymnasium, um danach eine Ausbildung zum Maurergesellen zu machen. 1927 führte ihn das Architekturstudium nach Karlsruhe, das er 1932 in Berlin bei Heinrich Tessenow (1876–1950) abschloss. Anschließend war er in seiner Heimatstadt als Regierungsbauführer und freier Architekt tätig. 1934 beendete er sein Studium mit der Dissertation »Die mittelalterlichen Burganlagen der Mittleren Ostmark«.6 Schon als Schüler wurde Kulke Mitglied und Führer des örtlichen Wandervogels. Zum zehnjährigen Bestehen der Gruppe gab die Zeitschrift »Wandervogel Deutscher Bund« 1932 das Themenheft »Frankfurt/Oder« heraus. Dem Vorwort Kulkes ist zu entnehmen, dass »ohne die Treue der Frankfurter Wandervögel« der Bund nicht entstanden wäre. »Ihr Durchhalten und ihre Opferbereitschaft […] in allen Stunden geforderter Entscheidung schufen mir den Glauben an den Sinn und Sieg unseres Bundesweges.«7 Der Weg war der, dass Kulke mit seiner Gruppe 1925 zum Wandervogel Völkischer Bund stieß. Dessen Bundesführer Karl Bückmann (1898–1946) verstand das Adjektiv »völkisch« im Sinne einer nicht-rassisch begründeten Volkstumsideologie.8 So schrieb er : »Wir glauben dabei mehr an die schöpferische Tat des Einzelwillens, der aus dem Bündnisleben Kraft und Antrieb gewinnt, als an eine geschlossene Massenwirkung des Bundes. Das ist der Sinn, den wir mit dem Begriff völkisch verbinden 5 Eine Ausnahme ist das Buch von Stefan Breuer, Ina Schmidt: Die Kommenden. Eine Zeitschrift der bündischen Jugend (1926–1933) (Edition Archiv der deutschen Jugendbewegung 15), Schwalbach/ Ts. 2010, S. 366–368. 6 Breuer, Schmidt: Kommenden (Anm. 5), S. 367. 7 Erich [Kulke]: Vorwort, in: Wandervogel Deutscher Bund (Osters), 1932, Folge 4, S. 91. 8 Karl Bückmann: Wandervogel, völkischer Bund (Ein Wort zur Aufklärung unseres vielfach mißverstandenen Namens), in: Werner Kindt (Hg.): Die deutsche Jugendbewegung 1920 bis 1933. Die bündische Zeit, Düsseldorf, Köln 1974, S. 246f. – Uwe Puschner : Völkische Bewegung und Jugendbewegung. Eine Problemskizze, in: Gideon Botsch, Josef Haverkamp (Hg.): Jugendbewegung, Antisemitismus und rechtsradikale Politik. Vom »Freideutschen Jugendtag« bis zur Gegenwart, Berlin u. a. 2014, S. 9–28.
Erich Kulke: Wandervogel, Volkskundler, Siedlungsplaner und VJL-Vorsitzender
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und zu einer Zeit verbunden haben, als man an eine parteimäßige völkische Richtung noch nicht dachte.«9 1928 entstand dann der »Bund der Wandervögel und Kronacher«, als dessen Bundesführer Kulke im Juli 1929 auf Schloß Kleßheim bei Salzburg war, wo ein gemeinsamer Bundestag mit dem Österreichischen und dem Sudetendeutschen Wandervogel abgehalten wurde.10 Dort beschloss man das »Salzburger Bekenntnis«: »Wir […] wissen, daß der Gedanke des Wandervogels weder überwunden noch erfüllt ist, und daß der Greif in allen deutschen Landen wieder zur Höhe steigt. Wir glauben an ihn als Erfüller unserer Jugendsehnsucht und Gestalter deutschen Lebens. Wir bekennen uns zu der Forderung, zuchtvoll an Leib und Seele unser Leben für Volk und Heimat führen zu wollen.«11 Abschließend kritisierte Kulke die Meißnerformel, da sie als ein geschichtliches Ereignis ohne Wirkung geblieben sei. Vielmehr rühmte er das »Langemarck-Geschlecht«, das ebenso wie die 600 in Salzburg versammelten »deutschbewußten« Jungen und Mädchen bereit gewesen war, seine »Lebenskraft in Verbundenheit und Verantwortung dem Boden des Vaterlandes zu opfern.«12 Mit dem »LangemarckGeschlecht« nahm Kulke Bezug auf die jugendlichen Opfer des Stellungskrieges in Flandern im November 1914, unter denen rund 10.000 Wandervögel waren. Die Niederlage wurde in der Kriegserzählung in einen Sieg umgedeutet, wonach die Jugendlichen nicht umsonst gefallen seien.13 Die Generationenunterschiede im »Bund der Wandervögel und Kronacher« führten im Januar 1930 in Kassel zu einer Abspaltung. Die Jüngeren mit Erich Kulke an der Spitze vermissten »eine klare Einstellung der Bundesführung als Bekenntnis für Volk und Volkstum.«14 Man gründete den »radikal-völkischen«15 Wandervogel Deutscher Bund mit Kulke als Führer. Das Bundesmotto lautete: »Wandervogel als Grundlage, Volk als Aufgabe«.16 Schwergewicht der Arbeit 9 Bückmann: Wandervogel (Anm. 8), S. 246. 10 Kindt: Jugendbewegung (Anm. 8), S. 1266. 11 Erich Kulke: Das Salzburger Bekenntnis, in: Die Kommenden. Großdeutsche Wochenschrift aus dem Geiste volksbewußter Jugend, 1929, Nr. 4, 36. Folge, S. 426 (mit Kommentar). – Mit leicht verändertem Wortlaut ist das Salzburger Bekenntnis wieder abgedruckt in: Wandervogel Deutscher Bund, 1932, Nr. 3, S. 62. 12 Ebd. 13 Gert Krumeich: Langemarck, in: Etienne FranÅois, Hagen Schulze (Hg.): Deutsche Erinnerungsorte, 3. Bd., München 2001, S. 292–309. – Arndt Weinrich: Der Weltkrieg als Erzieher. Jugend zwischen Weimarer Republik und Nationalsozialismus, Essen 2013. 14 Erich Kulke: Der Weg unseres Bundes, in: Fünfzig Jahre Wandervogel deutscher Bund. Wege und Aufgaben einer bündischen Gemeinschaft. Bussau 1979, S. 2–12, hier S. 3. 15 Winfried Mogge: »Wir lieben Balder, den Lichten…« Völkisch-religiöse Jugendbünde vom Wilhelminischen Reich zum »Dritten Reich«, in: Uwe Puschner, Clemens Vollnhals (Hg.): Die völkisch-religiöse Bewegung im Nationalsozialismus. Eine Beziehungs- und Konfliktgeschichte, Göttingen 2012, S. 45–64, hier S. 51. 16 Kulke: Weg (Anm. 14), S. 4.
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sollte die »Einsatzbereitschaft für das von Gefahren bedrohte Volk durch Lied, Tanz, Laienspiel, Volksmusik und Grenzlandarbeit« bilden.17 Volkslied und -tanz betrachtete Kulke als wahren Lebensausdruck, »freche und geile Gassenhauer« hingegen als »fremden Geist«, den er auch bei jüdischen Künstlern und Schriftstellern anprangerte und somit können an seiner Person Tendenzen des völkischen Antisemitismus festgemacht werden.18 1930 kam es auf der Veste Coburg zum »Bündnis der Greifen und Falken« unter der Schirmherrschaft des völkisch orientierten Schriftstellers Wilhelm Kotzde-Kottenrodt (1878–1948). Es unterzeichneten Fritz Lang als Führer des Österreichischen Wandervogels,19 Erich Kulke für den Wandervogel Deutscher Bund sowie Karl Dietrich (1899–1983) für die Deutsche Falkenschaft und den Schwarzhäuser Ring.20 Unter Beibehaltung ihrer Selbständigkeit wollten die Bünde »von der kulturellen Seite her mithelfen am Bau des kommenden großdeutschen Reiches«.21 Große Aufgaben sah man vor allem in Ostmitteleuropa, wo man die dort lebenden Deutschen durch die oben skizzierte Kulturarbeit stärken wollte. 1931 schrieb Kulke: »Wenngleich die Ostfrage vielleicht im Augenblick die brennendste Not des deutschen Volkes aufrollt, so wird doch das Schicksal unserer gesamten Volkseinheit nicht nur im Osten entschieden. Was wir ersehnen […], das bleibt ein Großdeutschland mit Einschlusse all derer, die durch den Versailler Vertrag vom Mutterland getrennt wurden.«22 Kulke und sein Bund verfolgten also durchaus revisionistische Ziele, auch wenn die Mittel der »Grenzlandarbeit« scheinbar harmlos waren, wie die Versendung einer bedeutenden Zahl von Büchern in den Osten.23 Die völkische Ausrichtung des Akteurs offenbart sich in seiner expliziten Werbung für die Zeitschrift »Die Kommenden« in einem Führerbrief 1930 ebenso wie in einem an seinen Bund gerichteten Artikel 1931: »Wir Älteren aber wollen den Wandervogel […] begreifen lernen, als eine Befreiungsbestrebung des alten deutschen Adelsblutes, unter dessen Führung allein unser Volk als menschheitsnötiges erhalten bleiben 17 Kindt: Jugendbewegung (Anm. 8), S. 249–250, hier S. 250. 18 Erich Kulke: Dem »Wandervogel Deutscher Bund«, in: Die Kommenden, 1931, Nr. 6, Folge 28, S. 326. – Dazu auch Peter Ulrich Hein: Völkische Kunstkritik, in: Uwe Puschner, Walter Schmitz, Justus H. Ulbricht (Hg.): Handbuch zur Völkischen Bewegung 1871–1918, München u. a. 1996, S. 613–633 sowie Werner Bergmann: Völkischer Antisemitismus im Kaiserreich, ebd., S. 449–463. 19 Fritz Lang war mit seiner Frau auch beim Treffen zum Jubiläum »50 Jahre Wandervogel Deutscher Bund« auf Burg Ludwigstein 1979; vgl. Fünfzig Jahre Wandervogel deutscher Bund (Anm. 14), S. 18. 20 Zu Karl August Gottlob Dietrich: Breuer, Schmidt: Kommenden (Anm. 5), S. 321f. 21 Kindt: Jugendbewegung (Anm. 8), S. 867. 22 Aelterenbrief (AdJb, Z/100–1013). 23 Erich Kulke: Bundeskapiteltagung 1931 anlässlich des Kronacher Bundestages, in: FuehrerBriefe, hg. vom Wandervogel Deutscher Bund, Hartung [Januar] 1931, Folge 6 (AdJb, Z/ 100–1477).
Erich Kulke: Wandervogel, Volkskundler, Siedlungsplaner und VJL-Vorsitzender
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und wieder hochkommen kann.«24 Und auch 1932 nannte er als »Hochziel« des Bundes die Erziehung zum »Herrenmenschen«,25 was wiederum dessen elitären Anspruch verdeutlicht. Kulke erinnerte sich 1979 an die Jahre ab 1933 und beschrieb sie als »stürmische Zeit« und als ein »Ringen um das Weiterleben als Bund bis 1935/37«. Dem »massiven Druck der Hitlerjugend, der Reichsjugendführung« suchte er durch »Vorsprachen und Beschwerden beim gleichgeschalteten Reichsbund der Jugendverbände« zu begegnen entgegnen, doch nutzten diese nichts, und so gab er in »einem Rundbrief die Weisung, den Bund zur Sommersonnenwende 1933 aufzulösen.«26 Zuvor, im Januar 1933, hatte sich Kulke in einen Führerbrief an seinen Bund gerichtet, in dem er diesem einen Weg in die Zukunft weisen wollte: »Jeder Gau unter klarer Führung strebe danach, im nächsten Jahre eine weit stärkere Selbständigkeit im Vertrauen auf seine ihm selbst gestellten Aufgaben zu erzielen.«27 Diese Aufgaben sah er vor allem in kultureller Hinsicht, doch als »Voraussetzung jeder Kultur« betrachtete er die »Wehrhaftigkeit« und den »Willen zur Wehrhoheit unseres Volkes«. Ferner hieß es: »Der Kampf um die Kultur […] fordert das Bekenntnis zum Krieger. Wir prägen den Begriff des wehrhaften Bauernstandes, als Ausdruck der Schollenverbundenheit und des Wehrwillens unseres Bundes.« Die Arbeit an der »Waffenreife« sollte ein zweites Langemarck verhindern. Im Februar appellierte er an die »Jungen und Mädel« des Bundes, Landarbeit für die Artamanen zu leisten.28 Der Führerbrief aus dem März 1933 trug das Thema »Luftschutz. Gas und Bomben drohen«. Kulke begründete ihn mit der »völligen Ohnmacht« der deutschen Wehrhaftigkeit nach dem Versailler Vertrag und listete Möglichkeiten des Luftschutzes auf. Letztlich stachelte er aber auch die Aggression an: »In einer Stunde können feindliche Geschwader von allen Seiten jede deutsche Stadt von der Grenze aus erreichen!«29 Seit dem 15. März 1933 war Kulke selbst Mitglied der Hitlerjugend und hatte den Rang eines Scharführers.30 Der Wandervogel Deutscher Bund sollte »in 24 Erich Kulke: Zum neuen Bund, in: Die Kommenden, 1931, Nr. 6, Folge 28, S. 331. – Ähnlich auch ders.: Wandervogel, Deutscher Bund, in: Wandervogel Deutscher Bund, 1931, Folge 1/ 2, S. 4–6, hier S. 5. 25 Erich Kulke: Thing. Worte zum Bundesthing, in: Wandervogel Deutscher Bund, 1932, Folge 10/11, S. 225–227, hier S. 225. 26 Kindt: Jugendbewegung (Anm. 8), S. 229–250. – Kulke: Weg (Anm. 14), S. 5–6. 27 Erich Kulke: An den Bund!, in: Fuehrer-Briefe, hg. vom Wandervogel Deutscher Bund, Hartung [Januar] 1933, Folge 1, Blatt 2 (AdJb, Z /100–1477). 28 Fuehrer-Briefe, hg. vom Wandervogel Deutscher Bund, Hornung [Februar] 1933, Folge 2 (AdJb, Z /100–1477). 29 Fuehrer-Briefe, hg. vom Wandervogel Deutscher Bund, Lenzmond [März] 1933, Folge 3 (AdJb, Z /100–1477). 30 Openjur VG Frankfurt (Oder) – Urteil vom 16. Oktober 2008 – Az. 4 K 1114/06, Satz 8, Zugriff 09. 01. 2013. Den Hinweis auf diese Quelle verdanke ich Klaus Freckmann. – Nach eigenen Angaben war Kulke schon seit 1932 in der Hitlerjugend. Vgl. Bundesarchiv Berlin
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seiner Organisation« aufgelöst und heimlich weitergeführt werden. So existierte die Älterenorganisation ohne die Jüngeren im Rahmen des »Kampfbundes für Deutsche Kultur« und des Deutschen Wandervogels beim »Fachamt für Bergsteigen und Wandern« im »Reichsbund für Leibesübungen« fort, an dessen Spitze Karl Bückmann stand. Im August 1933 betrachtete Kulke die Position des Bundes zur NSDAP als »geklärt«, da »ein wesentlicher Teil unserer Aelteren an führender Stelle innerhalb der Partei ihr Betätigungsfeld gefunden hat. Wir bejahen die Geschehnisse der letzten Zeit als einen Beginn zur Neugestaltung des deutschen Lebens überhaupt. Zum Führer Adolf Hitler haben wir nach seinem bisherigen Verhalten, das so wenig diktatorischen Anstrich gewonnen hat, Vertrauen zur Gestaltung des deutschen Freiheitsrechtes.«31 Der Bund bekannte sich begeistert zur »Totalität der deutschen Revolution«, die für ihn »ein immerwährendes Ringen um die Tiefe der deutschen Weltanschauung« war.32 Die »völkische Bewegung« konnte demnach nur erfolgreich sein, wenn sie sich Eingang in die »religiösen Machtbereiche des deutschen Wesens« verschaffe, man war auf der Suche nach einer »deutschen Weltanschauung«.33 Auch in Kulkes Beitrag »Wille und Glaube« ging es um das »Streben nach dem deutschen Sinnbild« und einem »arteigenem Glauben«.34 So stand er auch der Deutschen Glaubensbewegung nah.35 Besonders stürmisch gestalteten sich die Jahre ab 1934 für Kulke, der aber 1979 angeblich nur noch »verblasste Erinnerungen« an die Zeit hatte, die er anhand der Akten zwar auffrischen konnte, allerdings nicht ausführlich behandeln wollte und an andere Personen verwies.36 Zum Jahreswechsel 1934/35 schrieb er einen Brief an die Österreichischen Wandervögel und die »Kameraden vom alten Bund«,37 in dem er den nationalsozialistischen Staat begrüßte: »Wir im Reich stehen schon längst gestaltend und führend in der aufgabenreichen Gegenwart und wollen Tag und Nacht mit dem Einsatz der besten Kräfte uns hineinwerfen in den Strom deutschen Lebens, der sich uns wie ein unfaßbares Wunder täglich neu offenbart.« Den Österreichern sprach er Mut zu im »Kampf um ein nationalsozialistisches freies Oesterreich«.
31 32 33 34 35 36 37
(BArch), Antrag zur Bearbeitung der Aufnahme als Mitglied der Reichsschriftumskammer, Gruppe Schriftsteller vom Juli 1941. Erich [Kulke]: Zur Lage, in: Wandervogel Warte. Zeitschrift der Volkschaft des Wandervogels Deutscher Bund, 1933, Folge 4, S. 134f., hier S. 134. Ebd. Ebd. Erich [Kulke]: Wille und Glauben, in: Wandervogel Warte. Zeitschrift der Volkschaft des Wandervogels Deutscher Bund, 1933, Folge 6, S. 140f. Breuer, Schmidt: Kommenden (Anm. 5), S. 125. Kulke: Weg (Anm. 14), S. 5. AdJb, A 187 Nr. 21, 3: WVDB 1933–1942.
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Am 13. Januar 1935 richtete sich Kulke an Karl Bückmann und Wolf Wieckberg (1894–1986) und erklärte seinen Rücktritt als Führer, »weil es allein Aufgabe des Bundesführers oder seines Vertreters ist, die Weite der Bundesausrichtung zu bestimmen.«38 Weiter hieß es: »Wir haben nichts Grösseres zu kennen, als in Eindeutigkeit für das Reich unseres Führers tätig zu sein. Einsatz in den Organisationen jeglicher Art bleibt oberste Forderung.« Kulke vertrat die Ansicht, die Ausrichtung des Bundes habe nach folgenden Gesichtspunkten zu erfolgen: »Der politische, deutsche Mensch Der romfreie, deutsche Mensch Der im Volkstum verwurzelte, deutsche Mensch« Bückmann wandte sich am 19. Januar 1935 »an alle im Wandervogel« und schloss Kulke aus dem Deutschen Wandervogel aus, weil er nicht versucht hätte, die ihm übertragene Aufgabe als Führer der Jungmannschaft zu erfüllen. Ferner nahm er Stellung zu den von Kulke aufgeführten drei Punkten.39 Zum ersten Punkt schrieb er, der bereits vor 1933 Landtagsabgeordneter der NSDAP war, u. a.: »Ich lasse mich [sic!] hierbei von keinem, der nach der Machtübernahme zur NSDAP gestossen ist, irgendwelche Vorschriften machen, […] Wer in den Kampfjahren zur Mitarbeit nicht bereit war, sollte heute nicht allzu laut von seinem politischen Einsatz sprechen.« Hinsichtlich des zweiten Punktes erinnerte Bückmann an seinen Aufruf in Questenberg, »gegen den Totalitätsanspruch der Kirche Front zu machen…« und Kulkes Forderung im letzten Punkt erachtete er als reine Phrase. Er schloss den Brief mit dem Fazit: »Erich Kulkes Versuch, einen kleinen Wandervogelbund in die Front der Großorganisationen zu stellen, verfällt nur dem Fluch der Lächerlichkeit.« Erich Kulke schrieb darauf am 28. Januar einen Brief an seine Kameraden, in dem er über seinen Ausschluss aus dem Deutschen Wandervogel informierte und der Bundesführung riet, den Bund aufzulösen.40 Seiner Meinung nach wurde das Wort Bund missbraucht, »wenn nicht Angriffsgeist, Opfersinn und Zielsicherheit dahinterstecken.« Zudem ließ er wissen, dass er keinen neuen Bund innerhalb der NS-Organisationen aufziehen wollte. Später, wohl kurz nach seinem Ausschluss durch Bückmann, ergab sich die Möglichkeit einer Weiterarbeit mit seinen Gefolgsleuten an dem im April 1933 gegründeten »Reichsbund Volkstum und Heimat« unter Leitung von Werner Haverbeck (1909–1999). Dieser kam aus der evangelischen Jugendbewegung und war schon in den 1920er-Jahren in Organisa-
38 Ebd. 39 Ebd. 40 Ebd.
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tionen der NSDAP und seit 1929 Parteimitglied.41 Ab 1931 leitete er das Amt für Kultur und Weltanschauliche Erziehung in der Reichsjugendführung, wurde aber, weil er gegen die paramilitärische Ausbildung der Jugend durch Baldur von Schirach war, 1932 all seiner Ämter enthoben. 1933 folgte im Reichsbund ein Comeback für ihn, das schon 1934 endete,42 weil er auf die Jugend und die Arbeiterschaft setzte und so die Heimatverbände verprellte.43 Kulke und seine Kameraden stießen offenbar erst nach dem Ausscheiden Haverbecks zum Reichsbund. Während der Olympischen Spiele 1936 kam es laut Kulke zu einem letzten Treffen der »alten bündischen Freunde« in Steinhöfel bei Fürstenwalde im Rahmen des »Reichsbundes Volkstum und Heimat«.44 Für ihn folgte nach eigenen, bisher nicht nachweisbaren Angaben eine scharfe Verwarnung mit Überwachung durch den Sicherheitsdienst, der eine »eigene ›Akte Kulke‹« führte, wie er durch einen ihm »nahestehenden befreundeten SS-Führer erfuhr«.45 Aus dem bisher Erwähnten geht also hervor, dass Kulke kein Parteimitglied, aber Mitglied der Hitlerjugend war und offenbar nach der Machtergreifung die Nähe zur NSDAP suchte.46 Dass er sich aktiv für den Nationalsozialismus einsetzte, zeigt auch die von ihm herausgegebene Publikation »Hin zu dem Tag der Deutschen Freiheit! Sinnsprüche für Arbeit und Feier«. Im Vorwort zur dritten Auflage erwähnt Kulke die zwei vergriffenen Auflagen des Bändchens aus dem Jahr 1934. Danach hatte es im ganzen Reich Beachtung gefunden und »die ständig wachsende Nachfrage« hatte Veranlassung zu einer Neuauflage im Herbst 1935 gegeben, die unter der Losung »Sinnsprüche der Hitler-Jugend für Alltag und Feier« erschien. Sie war gedacht »als Gabe der Hitler-Jugend an alle NS.-Formationen, ganz gleich, in welcher Kolonne sie ›hin zu dem Tag der 41 Kulke: Weg (Anm. 14), S. 6. – Kulke verwies hier auf die Präsidentschaft Haverbecks der Sektion Deutschland im »Weltbund zum Schutz des Lebens«. Hierzu Ingrid Tomkowiak: Das »Heidelberger Manifest« und die Volkskunde, in: Zeitschrift für Volkskunde, 1996, 92. Jg., S. 185–207, bes. S. 196–199, hier S. 197. Sie wies auf die Reaktivierung einer völkisch-mythischen Ideologie und die Modernisierung der Volkstumsideologie durch Haverbeck in den 1970er- und 1980er-Jahren hin. 42 Zur vielschichtigen Persönlichkeit von Werner Haverbeck siehe u. a. Hermann Bausinger : Volkskunde und Volkstumsarbeit im Nationalsozialismus, in: Helge Gerndt (Hg.): Volkskunde und Nationalsozialismus. Referate und Diskussionen einer Tagung, München 1987, S. 131–141. – Tomkowiak: Manifest (Anm. 41), bes. S. 196–199. 43 Breuer, Schmidt: Kommenden (Anm. 5), S. 128. 44 Kulke: Weg (Anm. 14), S. 6. – Den Reichsbund löste Robert Ley allerdings schon im Januar 1935 auf. 45 Kulke: Weg (Anm. 14), S. 6. 46 Die letzte Angabe müsste überprüft werden, würde aber den Rahmen dieser Studie sprengen. Im Bundesarchiv Berlin liegen in der Personalakte Kulke zumindest keine entsprechenden Hinweise vor.
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Freiheit‹ marschieren.«47 Eine vierte Auflage des Werkes mit einer Auflage von 4.500 Stück erschien 1940.48 Die in dem Buch wiedergegebenen Zitate verweisen teilweise auf die frühere publizistische Tätigkeit Kulkes, denn auch in den bündischen, zum Teil von ihm selbst herausgebrachten Zeitschriften finden sich gelegentlich entsprechende Zitate. Die Bandbreite reicht von Goethe über Hermann Löns, Ernst Moritz Arndt, Georg Stammler, Walter Flex, Ernst Jünger, Alfred Rosenberg bis hin zu Adolf Hitler. Ein Gericht stufte das Bändchen 2008 eindeutig als nationalsozialistische Propaganda ein.49
Kulkes Weg nach 1935 1935 heiratete Kulke Ilse Prassen (1908–2000) im Zisterzienserkloster Chorin. Sie war Mitglied des Österreichischen Wandervogels und hatte 1931 in den »Kommenden« einen Aufsatz über die »Mädelgrenzarbeit in Slavonien« veröffentlicht50 in dem sie über die praktische Arbeit vor Ort und die verschiedenen Maßnahmen wie gemeinsames Lesen deutscher Bücher und Säuglingspflege berichtet. Die Wandervögel wollten auf diese Weise Auslandsdeutsche zur Selbständigkeit in der Erhaltung und Pflege des »Deutschtums« erziehen.51 Mithin ergänzte sich das Paar in seinen Interessen. Es zog in die Nähe von Berlin und bekam im Laufe der Jahre sieben Söhne. Seit 1936 war Kulke im Stabsamt des Reichsbauernführers für Bau- und Siedlungsfragen zuständig.52 Im Sommer 47 Erich Kulke (Hg.): Hin zu dem Tag der deutschen Freiheit! Sinnsprüche für Arbeit und Feier, Berlin 1935. 48 Openjur (Anm. 30), Satz 10. 49 Ebd., Satz 60. 50 Ilse Krassen [Prassen; C.S:]: Mädelgrenzarbeit in Slavonien, in: Die Kommenden, 1931, 6. Jg., 36. Folge, S. 424–426. 51 Breuer, Schmidt: Kommenden (Anm. 5), S. 98, 181. Aufgrund eines Druckfehlers in der Zeitschrift wurde in diesem Band der Nachname irrigerweise als Krassen wiedergegeben. – Ferner findet sich der Holzschnitt »Unser Sternsingen« von ihr in der Zeitschrift des Wandervogel Deutscher Bund, 1931, Folge 5, S. 87–89. 52 Erich Kulke: Die Vorlauben des Oderranddorfes Zäckerick, in: Adolf Spamer : Märkisches Volkstum. Brandenburgische Jahrbücher, 1936, Nr. 3, S. 224–232, hier S. 224. – Mit kleinen Abweichungen und anderem Bildmaterial wieder abgedruckt: Erich Kulke: Die Laubenhäuser des Oderranddorfes Zäckerick (Aus der bevorstehenden Veröffentlichung: »Der Bauernhof im Gebiet der unteren Oder«.), in: ders. (Bearb.): Vom deutschen Bauernhof. Vorträge der ersten Arbeitstagung der Arbeitsgemeinschaft für Deutsche Volkskunde. München 1939, S. 142–153. Hiernach fanden die Untersuchungen erst im September 1937 statt, was aber im Hinblick auf das Erscheinungsdatum der Brandenburgischen Jahrbücher unwahrscheinlich erscheint. – Dazu auch: Leonore Scholze-Irrlitz: Feldforschung in der Mark Brandenburg. Volkskundliche Wissensproduktion in den 1930er Jahren in Berlin, in: Ina Dietzsch, Wolfgang Kaschuba, Leonore Scholze-Irrlitz (Hg.): Horizonte ethnografischen Wissens. Eine Bestandsaufnahme, Köln u. a. 2009, S. 112–130, bes. S. 115.
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des Jahres unterrichtete er Volkskunde an der Hochschule für Lehrerbildung.53 Am 1. Mai 1937 trat er schließlich in die NSDAP ein, was ihm vorher wohl aufgrund der Mitgliederaufnahmesperre vom 19. April 1933 nicht möglich war. Nun konnten diejenigen der Partei beitreten, die sich inzwischen in NS-Verbänden und NS-Organisationen als Nationalsozialisten bewährt hatten. Zwischen 1939 und 1941 war Kulke Pionieroffizier, von 1942 bis 1944 Architekt in der Siedlungsabteilung des Oberkommandos des Heeres und dann an der Front. 1943 habilitierte er sich an der Technischen Hochschule in Danzig mit der Arbeit »Die Laube als ostgermanisches Baudenkmal«.54
Abb. 20: Seit 1936 war Kulke im Stabsamt des Reichsbauernführers für Bau- und Siedlungsfragen zuständig.
Als im Januar 1937 die »Arbeitsgemeinschaft« beziehungsweise »Reichsarbeitsgemeinschaft für deutsche Volkskunde« gegründet wurde, gehörten zu ihren Trägern die Reichsleiter der NSDAP Richard Walther Darr¦, Heinrich Himmler und Baldur von Schirach; ihr Leiter war Alfred Rosenberg. Die Arbeitsgemeinschaft sollte eine Beratungs- und Mittelstelle sein, deren Ergebnisse allen Parteigliederungen zugänglich waren. Die Volkskunde betrachtete man 53 Openjur (Anm. 30), Satz 12. 54 Breuer, Schmidt: Kommenden (Anm. 5), S. 367.
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damals »als das Kerngebiet jeglicher Erziehungs- und Schulungsarbeit«.55 Dementsprechend sollte diese noch junge Wissenschaft »zu einem Bollwerk der nationalsozialistischen Weltanschauung« ausgebaut werden.56 Erich Kulke leitete die »Mittelstelle für deutsche Bauernhausforschung«. Zugleich war er politischer Leiter in der »Hauptstelle Volkskunde« in Matthes Zieglers Amt »Weltanschauliche Informationen«. Ziegler (1911–1992), seit 1931 NSDAPMitglied, und Kulke kannten sich möglicherweise aus ihrer bündischen Zeit, denn der Nürnberger war seit 1929 Mitglied der Adler und Falken.57 Im März 1938 referierte Kulke über »Die Arbeitsgrundlagen der ›Mittelstelle deutscher Bauernhof‹«. Es war die Aufgabe dieser Einrichtung, die Fragen der Hofgestaltung und des Hausbaues zu untersuchen, die »für die Erkenntnis einer rassengeschichtlichen und rassenbedingten Volkskunde von Wert sind.«58 Als Arbeitsgebiete der Mittelstelle im Bereich von Forschung und Pflege führte er an: 1. Entwicklungsgeschichte des germanischen Bauernhofes vom Nordischen, nicht vom römisch=südländischen Standpunkt aus.59
55 Hannjost Lixfeld: Aufbau und Aufgaben Rosenbergs Reichsarbeitsgemeinschaft für deutsche Volkskunde, in: Wolfgang Jacobeit, Hannjost Lixfeld und Olaf Bockhorn (Hg.): Völkische Wissenschaft. Gestalten und Tendenzen der deutschen und österreichischen Volkskunde in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Wien u. a. 1994, S. 205–217, hier S. 207. 56 Zit. nach Lixfeld: Aufbau (Anm. 55), S. 208. 57 Lixfeld: Aufbau (Anm. 55), S. 207. – Zu Ziegler und dem »Amt Rosenberg« auch: Esther Gajek: »Feiergestaltung«. Zur planmäßigen Entwicklung eines »aus nationalsozialistischer Weltanschauung geborenen, neuen arteigenen Brauchtums« am »Amt Rosenberg«, in: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde, 2000, S. 75–86, bes. S. 76f. – Manfred Gailus: Vom »gottgläubigen« Kirchenkämpfer Rosenbergs zum »christgläubigen« Pfarrer Niemöllers: Matthes Zieglers wunderbare Wandlungen im 20. Jahrhundert, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 2006, 54. Jg., S. 937–973. 58 Erich Kulke: Die Arbeitsgrundlagen der »Mittelstelle deutscher Bauernhof« (Auszug aus dem am 17. März 1938 anlässlich der Bauernhofforschertagung gehaltenen Vortrag), in: Kulke: Bauernhof (Anm. 52), S. 17–26, hier S. 18. 59 Diesen Arbeitspunkt deckte Kulke z. B. ab in den Beiträgen: Der »keltische« Holzbaustil am oberdeutschen Bauernhaus, in: Germanen-Erbe. Monatsschrift für Deutsche Vorgeschichte. Amtliches Organ des Reichsbundes für Deutsche Vorgeschichte und der Hauptstelle Vorgeschichte des Beauftragten des Führers für die gesamte geistige und weltanschauliche Schulung und Erziehung der NSDAP, 1938, Nr. 3, S. 368–374. (Exemplarisch S. 368: »Jede kulturelle Erscheinung auf germanischem Raume gilt solange als diesem germanischen Volksboden entwachsen, als nicht das Gegenteil zwingend erwiesen ist. Dieser Grundsatz erscheint uns heute ganz natürlich, für jeden Deutschen selbstverständlich; und doch ist es noch gar nicht so lange her, daß eine ganze Anzahl deutscher Forscher und Gelehrter immer wieder ihre geradezu krankhafte Neigung bekundete, jede kulturelle Hochleistung, ohne jegliche wissenschaftliche Begründung, lieber irgendwelchem Fremdvolk, als dem eigenen Volke zuzuschreiben.«) – Die Entwicklung des nordischen Bauernhauses und sein Einfluß auf die nordisch bestimmte Kultur, in: Odal. Monatszeitschrift für Blut und Boden, 1936, Nr. 4, S. 1–19.
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2. Herausbildung des Bauernhof=Begriffes im Gegensatz und zur Ergänzung der bisher betriebenen einseitigen Hausforschung. […] 3. Erweiterung der bisher gewonnenen Ergebnisse der germanisch-deutschen Landnahme und der damit verbundenen deutschen Siedlungsgeschichte. 4. Pflege alter wertvoller Bauerngehöfte im Sinne des staatlichen Denkmalsschutzes, da das Bauerngehöft uns einen mindestens genau so bedeutsamen nationalen Gemeinsitz darstellt, wie Klöster, Schlösser, Kirchen und Burgen. 5. Reinigung und Erneuerung der bäuerlichen Bauweisen. […]
Über die Arbeit der Mittelstelle berichtete Kulke auch 1939 in den »Nationalsozialistischen Monatsheften«.60 Hier prangert er vor allem den Niedergang der Baukunst seit der Mitte des 19. Jahrhunderts an, die auf dem Dorf zu einer »blutleeren Gestaltung« geführt habe und für die Nachkriegsjahre konstatierte er den »Irrwahn eines internationalen Baustiles«,61 eine deutliche Positionierung gegen die Architekten des Bauhauses. »Dachpappe, Zement und Wellblech, eine in den Dörfern übel verteilte Geschäftsreklame für Zigaretten und Nähmaschinen taten dazu ihr übriges, um das einheitliche Dorfbild auf eine kulturell möglichst niedrige Stufe herabzudrücken.«62 Um einer derartigen »Dorfverschandelung« entgegen zu wirken, die in seinen Augen zur »Auflösung der bäuerlichen Lebenssicherheit« führte und die damalige Staatsideologie gefährdete, zeigte er Möglichkeiten »zur Erhaltung und Pflege der landschaftsgebunden Bauweisen« auf.63 Ein Punkt war »Die Erziehung der bäuerlichen Bauherrn, der ländlichen Plangestalter und des fachlichen Nachwuchses«.64 Dabei schlug er für Hochschulstudenten in den Dörfern »regelrechte etwa einwöchige Lager« vor,65 eine Veranstaltungsform, die auch in der Jugendbewegung in den 1920erJahren an Popularität gewonnen hatte. Neben einigen anderen Aufgaben wollte er die Deutsche Arbeitsfront sowie den Reichsnährstand mit der »Beseitigung der häßlichen Reklame« betrauen. Die »Dorfverschönerung« bzw. die »Volkstumspflege« in Form der Baupflege sollte letztlich auch der Landflucht Einhalt gebieten.66 Das »schöne Dorf«67 oder das »heimatgebundene Bauen« waren 60 Erich Kulke: Um das Erbe in der bäuerlichen Baukunst, in: Nationalsozialistische Monatshefte, 1939, Nr. 10, S. 21–32. 61 Kulke: Erbe (Anm. 60), S. 25. 62 Ebd., S. 25. 63 Ebd., S. 25f. 64 Ebd., S. 29. 65 Ebd., S. 30. 66 Ebd., S. 31. – Lixfeld: Aufbau (Anm. 55), S. 212. 67 Erich Kulke: Das schöne Dorf. Eine Anleitung für die Gestaltung des deutschen Dorfes, hg. vom Verwaltungsamt des Reichsbauernführers, Reichshauptabteilung I, Berlin 1937. In dem Buch setzt Kulke gute und schlechte Beispiele in Bildbeispielen gegenüber. – Entsprechendes gilt für die von Kulke bearbeitete »Land-Baufibel«, München [1943].
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Schwerpunkte Kulkes publizistischer Tätigkeit; Themen, die ihre Wurzeln auch in der Jugendbewegung hatten. So wurde schon in der Zeitschrift Wandervogel 1911 auf »Augenbeleidigungen« an Scheunen in Form von Plakaten hingewiesen und damit die am Ende des Kaiserreichs aufkommende Zivilisationskritik sichtbar.68 Kulke hatte bei seinen Plänen stets die Verhinderung der Landflucht im Sinn, der er mit arbeits- und betriebswirtschaftlichen Aspekten bei »heimatgebundenen« Neubauten begegnen wollte, die letztlich zu einer Leistungs- beziehungsweise Ertragssteigerung führen und somit die Autarkie oder wie es damals hieß die »Ernährungssicherung«, vor allem im Hinblick auf den möglichen Krieg, herbeiführen sollten. 1938 bearbeitete Kulke gemeinsam mit dem Architekten, Heimatschützer und frühen Nationalsozialisten Werner Lindner (1883–1964) u. a. den Band »Das Dorf. Seine Pflege und Gestaltung«, in dem er u. a. über »Das neue, heimatgebundene Bauen« schreibt, wobei er die gesetzlich am 14. Juli 1933 fixierte, durch das Reich übernommene Schaffung von neuen Höfen mit dem Ziel einer »Neubildung des deutschen Bauerntums« und einer »Wiedergesundung des ländlichen Bauwesens« erwähnt.69 In diesem Kontext entwickelt er das »Wunschbild eines nationalsozialistischen Siedlerdorfes«, dessen Modell er abbildete und ausführlich beschrieb. Es war in Teilen eine verkleinerte Ausgabe des städtischen Monumentalstils.70 Ein besonderes Augenmerk lenkt Kulke auf Anlagen des Gemeinwesens, so auf den Dorfanger als Festplatz der Dorfgemeinschaft und als Zentrum dörflichen Lebens. Im Dorfteich sollte sich die Feierhalle spiegeln, die als geistiger und kultureller Mittelpunkt der Gesamtanlage gedacht war und offenbar die Kirche ersetzen sollte.71 Ein weiterer Aspekt galt der »artgemäßen bäuerlichen Wohngestaltung« unter Einbindung des Dorfhandwerks, auch um Werte der »bäuerlichen Baukultur« wieder herzustellen.72 Das Handwerk stand neben eher auf das Brauchtum ausgerichteten Themen auch im Fokus der 1937 und 1938 von Erich Kulke herausgegebenen Reihe »Von deutscher Art und Kunst« mit »Bildmaterial zu volkskundlichen Arbeiten, die heute jeden deutschen Menschen angehen«. Der Reihentitel des sechs Bände umfassenden Mappenwerks galt Werten, »in denen deutsches Wesen und deutsche Lebensgesinnung Ausdruck und Gestalt gefunden haben.«73 Mit kur68 Wandervogel, 1911, Nr. 6, S. 193f., hier S. 193. 69 Erich Kulke: Haus und Hof des deutschen Bauern, in: Werner Lindner, Erich Kulke, Franz Gutsmiedl (Bearb.): Das Dorf. Seine Pflege und Gestaltung, München 1938, S. 7–11. – Ders.: Das neue, heimatgebundene Bauen, in: ebd., S. 216–219, hier S. 219, Abb. 513–515. 70 Lixfeld: Aufbau (Anm. 55), S. 110. 71 Ebd., S. 212. 72 Kulke: Bauen (Anm. 69), S. 216. 73 Text im Klappendeckel zu Marie Adelheid Reuß zur Lippe: Deutscher Hausrat, Leipzig
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zen Textheften sollten die Mappen als Unterlagen für Vortragsabende dienen. Kulke selbst schrieb über die »Mahnmale des deutschen Heldentums«.74 Im November 1939 wurde Kulke vom Verein für Bauerntumskunde zum Leiter der Arbeitsgemeinschaft »Das bäuerliche Haus« bestimmt, konkret ging es um das Arbeitsgebiet »Das bäuerliche Haus als Heimstätte boden- und blutsgebundener Geschlechter unter der Odalsrune. Die Hausgemeinschaft und Heimgestaltung bäuerlichen Lebensstiles.«75 1940 wurde der Verein umbenannt in »Gesellschaft der Freunde deutschen Bauerntums«. Nun galt ein besonderer Aspekt dem »lebensgesetzlichen Landbau«. 1941 veröffentlichte Kulke in der Zeitschrift »Odal« den Aufsatz »Deutsches Siedlungsgut im Osten«.76 Ziel des Aufsatzes war es, den »deutschen Siedlungseinfluß, und zwar vornehmlich nach der Kulturtat leistungsfähiger deutscher Bauerngeschlechter« anhand von Siedlungsformen zu belegen.77 Zudem untermauerte der Autor auch die vom Regime gewollte Eroberung neuen Lebensraums im Osten, wenn er argumentierte, dass das Land dem Volk gehöre, welches in der Lage sei, eine höhere Kultur zu bringen, womit er Deutschland meinte. Hinsichtlich der Bodenbearbeitung sprach er von einem Kulturgefälle von Westen nach Osten, dass eben mit der Entfernung von Deutschland zusammenhing.78 Positiv hob Kulke jedoch den Kinderreichtum in Polen hervor, auch wenn er die Kinder als ungepflegt und arm beschrieb: »Urwüchsig und lebenskräftig wachsen sie heran, bevölkern die Dörfer und das Land und bewahrheiten damit die Tatsache, daß nicht nur die Höhe der Kultur allein, sondern vor allem die blutliche Lebenskraft und der Lebenswille den Bestand eines Volkes und den Besitz eines Landes sichern. Wir setzen zwar der Zahl die Güte und den Wert entgegen. Aber dennoch bleibt das unser Ziel […]: den wiedergewonnenen ostdeutschen Lebensraum durch volkreiche Bauerndörfer mit
74 75 76 77 78
[1938]. – Die Autorin, von 1927 bis 1936 verheiratet mit dem Rassetheoretiker Friedrich Kurt gen. Hanno Konopath, war für Kulke vielleicht keine Unbekannte, berichtete sie doch über den Bundestag der Adler und Falken, war eine Förderin der Artamanen, hatte u. a. Traktate über »die naturgemäße Pflicht der ›nordischen Frau‹ zur Mutterschaft und Aufzucht ›artgerechter Kinder‹« publiziert und besaß enge Verbindungen zum Reichsbauernführer Darr¦ sowie zu anderen Nationalsozialisten. Sie selbst blieb nach dem Krieg eine unbeirrbare Nationalsozialistin. – Dazu: Marie Adelheid Konopath: Neunter Bundestag der »Adler und Falken« in Koblenz, in: Die Sonne, 1930, Nr. 7, S. 425f. Frdl. Auskunft von Dr. Susanne Rappe-Weber, AdJb, A 227 Nr. 21. – Mogge: Balder (Anm. 15), bes. S. 56f. – NPD. Wahre Liebe, in: Der Spiegel, 1965, Nr. 37, S. 50f. – Lionel Gossman: Brownshirt Princess. A Study of the »Nazi Conscience«, Cambridge 2009. Erich Kulke: Mahnmale deutschen Heldentums, Leipzig [1937]. BArch, WI (BDC) 8200001691. Erich Kulke: Deutsches Siedlungsgut im Osten, in: Odal. Monatszeitschrift für Blut und Boden, 1941, 10. Jg., S. 125–129. Ebd., S. 125. Ebd.
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kinderreichen Bauernsippen zu besetzen und zu halten.«79 Auch hier sollte die Neuansiedlung mit Deutschen eines Tages auf Neubauernhöfen erfolgen, die scheinbar an den traditionellen Baustil anknüpften, aber doch politische Zielsetzungen verfolgten. Solche Untersuchungen standen im Kontext der »Aufgaben der Volkskunde bei der politischen Neuordnung Osteuropas«, die explizit die Bauernhausforschung Kulkes einbezogen. So sollte ihm ein Mitarbeiterstab zur Verfügung gestellt werden, »um den Einfluß deutscher Siedlungskultur im russischen Raum und im Baltikum zu untersuchen und die erforderlichen Planungen für die künftige deutsche Siedlung im Baltikum, für die er die unerläßlichen Grundlagen schaffen kann, auszuarbeiten.«80 Noch zu Beginn des Jahres 1944 suchte Kulke nach jungen Leuten, die alte, einst von ausgewanderten Deutschen gebaute Bauernhäuser in Transnistrien aufmaßen, bevor das Kriegsgeschehen sie zerstöre.81 Im April 1944 wurde Kulke, der direkt dem Beauftragten des Führers für die Überwachung der gesamten geistigen und weltanschaulichen Schulung und Erziehung der NSDAP unterstellt war, zum Hauptgemeinschaftsleiter befördert.82
Neuanfang nach 1945? 1945 geriet Erich Kulke in sowjetische Kriegsgefangenschaft, aus der er im November 1948 entlassen wurde. Der Entnazifizierungsausschuss stufte ihn im April 1949 als entlastet ein.83 Von 1949 bis 1950 war Kulke Baurat an der Staatsbauschule in Holzminden, seit 1951 Leiter der Bauabteilung der Landwirtschaftskammer Hannover. Der Architekt knüpfte also erfolgreich an seine frühere Tätigkeit an, worauf auch sein 1963 erschienenes Buch »Neuzeitliche Baugestaltung in der Landwirtschaft« hinweist. 1965 übernahm er bis zu seiner Pensionierung 1973 den Lehrstuhl »Landwirtschaftliche Baukunde« an der Hochschule Braunschweig, wobei ihm Werterhaltung und Wertsteigerung der ländlichen Umwelt ein zentrales Anliegen war.84 Wohnte die Familie zunächst bei Hannover, so zog man
79 Ebd., S. 129. 80 BArch, Kanzlei Rosenberg – NS 8/245, zit. nach: Freckmann: Hausforschung (Anm. 2 ), S. 174. 81 Ebd., S. 183. 82 Openjur (Anm. 30), Satz 14. 83 Ebd., Satz 17. 84 Reinhardt Guldager : Erich Kulke – Landbaumeister und Lehrer, in: Joachim Grube, Carl
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1968 in den »Schulzenhof« nach Bussau im Wendland, in einen Rundling.85 Diese Dorfform hatte Kulke wohl schon als Student86 kennengelernt und wiederholt in seinen Publikationen vor 1945 erwähnt.87 1941 vertrat er »die Ansicht, daß der im Runddorf vorherrschende Ordnungs- und Planungsgedanke deutsch-germanisch genannt werden muß.«88 Doch heute weiß man, dass hier vorwiegend slawische Siedler lebten. Bereits vor Inkrafttreten eines entsprechenden Denkmalschutzgesetzes setzte sich Erich Kulke intensiv für den Erhalt der Rundlinge als Kulturgut ein, wofür er auch 1975 das Große Niedersächsische Verdienstkreuz erhielt. Zwischen 1976 und 1978 gab es in Bussau auch Älterentreffen des Wandervogels Deutscher Bund, und der Ort galt als eine Art Wallfahrtsort für Jugendbewegte.89 Die allgemeine Situation nach dem Krieg und die berufliche Einbindung ließen Kulke zunächst wenig Zeit, sich für den früheren Bund zu engagieren. Auf der Pfingsttagung des Kronacher Bundes 1954 auf dem Ludwigstein erkannte man die »Notwendigkeit des Weiterbestehens unserer Kameradschaft«, denn »[d]ie Tatsache, daß wir uns nach mehr als 20 Jahren wieder zu einer Gemeinschaft zusammengefunden haben, ist uns ein eindeutiger Beweis von der Stärke der uns einst bewegenden Idee.«90 Unter anderem sollte das Zusammengehörigkeitsgefühl gestärkt werden. Kulke umriss die Aufgabenstellung des Bundes für die Zukunft und betonte, »daß die einst aus der deutschbewußten Jugendbewegung gewachsenen Ziele niemals für die Erhaltung der Volkssubstanz notwendiger in ihrer Auswirkung sind als heute[ …]«91 Die vor dem Krieg erkannten Ziele wie Leistungswilligkeit, anständiger und sauberer Charakter, gesunder Körper, lebensstarke Familie und die Verankerung im deutschen Volkstum betrachtete er darin als »zeitlose unveräusserliche Werte«. Wesentlich war für ihn, dass die Mitglieder des Bundes mit ihren Kindern ein »deutsch-
85 86 87 88
89 90 91
Ingwer Johannsen: Eine Zukunft für das Bauen auf dem Lande. Festschrift für Erich Kulke, Münster-Hiltrup 1978, S. 15–22, hier S. 20. August Quis: Nachruf Erich Kulke 1908–1997, in: Hannoversches Wendland, 2001, 15. Jahresheft 1994–1997, S. 329–331. Erich Kulke: Heinrich Tessenow durchwandert das hannoversche Wendland, Bussau 1978. 1978 erhielt Erich Kulke für seine Verdienste die Tessenow Medaille in Gold der Alfred Toepfer Stiftung FVS. Kulke: Siedlungsgut (Anm. 76), S. 127. – An anderer Stelle konnte man lesen, »daß die Erbauungspläne [der Rundlinge; C.S.] eine sinnvolle Eingliederung in den 4-, 6- oder 8fachen nordischen Horizontkalender erfuhren, daß ein solches Richtungsbild die Umsetzung des urgermanischen Sonnenjahres in die Landwirtschaft darstellte.« S. Erich Kulke: Die bäuerliche Siedlung, in: Wilhelm Hansen: Das deutsche Bauerntum. Seine Geschichte und Kultur, Berlin 1938, S. 149–212, hier S.165f. Quis: Nachruf (Anm. 85), S. 331. AdJb, P 1 Nr. 244 (Personenmappe Erich Kulke): Rundbrief Nr. 1 des Wandervogel Deutscher Bund vom 01. 10. 1954, S. 3. Ebd., S. 4.
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betontes Leben« führten und dass das geistige Erbe des Dichters Georg Stammler (1872–1948) nicht verloren ginge. Der völkische Autor genoss in der Jugendbewegung besonders nach 1918 größtes Ansehen. Er war Mitglied der Adler und Falken sowie der Deutschen Glaubensgemeinschaft, seit 1923 im Vorstand der Deutschen Bauernhochschule und trat schließlich 1925 in die NSDAP ein. Er hatte sich zudem für die Bildung von Siedlergemeinschaften eingesetzt, in denen wirtschaftliche Arbeit und soziale Bindung zu Mitteln »geistiger Lebensführung« erhoben werden sollten.92 Zu den tagesaktuellen Aufgaben gehörte laut Kulke die Unterstützung der Witwen gefallener Bundeskameraden mit ihren Familien, besonders in der DDR, der »Sowjetzone«, wie er es nannte. Nachdem sich Mitglieder des ehemaligen Bundes der Adler und Falken zum Dörnbergbund zusammengeschlossen hatten, nahm Kulke Ostern 1954 an einem Dörnbergtreffen teil. Er konstatierte zahlreiche Querverbindungen der beiden Älterenbünde, die ihre Wurzeln in der gemeinsamen Ausrichtung der früheren Bundesarbeit hatten. Diese lag wohl besonders in der einstigen gemeinsamen Beteiligung an der Deutschen Glaubensbewegung.93 1955 und 1956 kam es dann zu ersten Treffen des Wandervogels Deutscher Bund nach dem Krieg auf Burg Ludwigstein mit je rund 200 Teilnehmern. Auf dem Pfingsttreffen 1957 wurde die Eingliederung der Mitglieder des Älterenkreises Wandervogel Deutscher Bund in der »Vereinigung Jugendburg Ludwigstein« beschlossen.94 Zwischen 1959 und 1963 war Erich Kulke Vorsitzender der »Vereinigung Jugendburg Ludwigstein«. In diesen Jahren ging es verstärkt um Bau-, Planungsund Finanzierungsaufgaben im Zusammenhang mit dem am 11. Oktober 1963 eröffneten Meißnerbau,95 weshalb seine Wahl in dieses Amt gut nachvollziehbar ist. Der von dem Architekten Jürgen Jaeckel (gest. 1962) geplante Bau sollte vor allem eine Bleibe für das Archiv der deutschen Jugendbewegung werden. 1961 und 1962 richtete Kulke auf der Burg »Ost-West-Wochen« aus, die Probleme der deutschen Teilung und einer möglichen Wiedervereinigung thematisierten.96 Als Erich Kulke dann 1979 über die Geschichte des Bundes re92 Justus H. Ulbricht: Völkische Erwachsenenbildung. Intentionen, Programme und Institutionen zwischen Jahrhundertwende und Weimarer Republik, in: Puschner : Handbuch (Anm. 18), S. 252–276, bes. S. 270–272. – Breuer, Schmidt: Kommenden (Anm. 5), S. 417f. 93 Mogge: Balder (Anm. 15), S. 51, 61. 94 Kulke: Weg (Anm. 14), S. 7. – 1. Freundesbrief vom 17. 08. 1957, unterzeichnet von Erich Kulke (AdJb, Z/300–2809). 95 Erich Kulke: Chronik des Meißnerbaues, in: Zur Einweihung des Meißnerbaues der Jugendburg Ludwigstein. Sonderheft der Ludwigsteiner Blätter. Witzenhausen, am 11. Oktober 1963, S. 11–23. Die Eröffnung des Baus war für Kulke zugleich das Ende der aktiven Burgarbeit. 96 Gideon Botsch: Zwischen Tradition und Rezeption. Völkische Jugendbünde und nationalistische Jugendverbände in der Bundesrepublik, Manuskript, im Druck.
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Abb. 21: Zwischen 1959 und 1963 war Erich Kulke (links) Vorsitzender der Vereinigung Jugendburg Ludwigstein.
flektierte, erwähnte er den »Irrweg von 1933 bis 1945« und sah die Notwendigkeit der Selbstkritik und Selbstbesinnung, der Veränderung: »Unser Blickfeld hat sich für ein europäisches Denken und eine humane Weltoffenheit geweitet, und wir gestehen uns, daß unsere vordergründig nur volkbezogene Einstellung begrenzt und einseitig war und Gefahren in sich barg. Das alles […] schmälert aber nicht das ehrliche Ringen von damals, als unsere Liebe, unser Herz Deutschland galt – aber, das wollen wir uns sagen, einem Deutschland, frei von jeglichem Rassenhaß und nationalem Fanatismus.«97 Die hier angedeutete Öffnung zur Welt, die Kulkes Ausführungen verschiedentlich zu entnehmen ist, drückte sich auch 1979 im Setzen des »Bussauer Heimatsteins« aus, der als »Erinnerungstafel für unsere verlorenen Gebiete Ostdeutschlands« gedacht war. »Er berührt damit das Verhältnis des deutschen Volkes zu seinen östlichen Nachbarn und dient dem Bemühen, in Ausgleich und Versöhnung für unsere Völker im östlichen Europa in eine bessere Zukunft zu finden.«98 Erich Kulke war zudem Mitglied des 1950 gegründeten »Arbeitskreis für Hausforschung«. 1982 erschien der Aufsatz »Hausforschung im Dritten Reich« von Klaus Freckmann, in dem dieser unter anderem auf die scheinbar wissenschaftlich fundierte Verbindung Rasse – Volkstum – Bauerntum – Hausform und die Funktion Kulkes in der »Mittelstelle deutscher Bauernhof« zur Zeit des 97 Kulke: Weg (Anm. 14), S. 3. 98 Erich Kulke: Gedanken um den Bussauer Heimatstein. Bussau 1979 (AdJb, Personenmappe Kulke).
Erich Kulke: Wandervogel, Volkskundler, Siedlungsplaner und VJL-Vorsitzender
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Nationalsozialismus hinwies. Die Äußerungen stießen teilweise auf heftige Kritik innerhalb des Arbeitskreises.99 Kulke forderte Freckmanns Austritt, doch am Ende bewirkte der Aufsatz das Gegenteil: den Austritt Kulkes aus dem Arbeitskreis.100
Fazit War die Einordnung der Person Erich Kulkes für ein Gericht in Frankfurt an der Oder 2008 relativ eindeutig, so ist sie in historischer Perspektive deutlich komplexer. In einem wiederaufgenommenen Prozess, in dem Kulkes Erben die Ausgleichszahlung für ein Grundstück in der DDR forderten, kam das Gericht in der abgewiesenen Klage zu dem Schluss, dass der Erblasser »dem nationalsozialistischen System […] erheblichen Vorschub geleistet« habe durch die Propaganda in der Schrift »Hin zum Tage der deutschen Freiheit!«, die dieser zusammengestellt und verbreitet hat.101 Zudem hatte das Gericht »keinen Zweifel daran, dass der Erblasser bei seinem vielfältigen Engagement wesentlich und willentlich für das nationalsozialistische System tätig geworden ist.«102 Der Wille oder die Bereitschaft für den Nationalsozialismus zu arbeiten, wurde bei Kulke in der Jugendbewegung gelegt, wo nicht nur er auf der Suche nach einer neuen Weltanschauung und neuen Lebensinhalten war. Die Blut- und Bodenideologie Walther Darr¦s war dem völkisch orientierten Erich Kulke geläufig, er formulierte ähnliche Gedanken und leistete mit seinen zahlreichen Aufsätzen in vielerlei Hinsicht sogar Vorarbeiten für die völkisch-rassistisch bestimmte NS-Bauerntumsideologie. Sicher glaubte er, im Rahmen der NSOrganisationen seine Forschungen und in bündischer Zeit entwickelten Ideale realisieren zu können. Vor allem bot sich dem jungen Familienvater in der »Mittelstelle deutscher Bauernhof« bzw. in der »Reichsarbeitsgemeinschaft für Volkskunde« die Möglichkeit, sein Wissen anzuwenden und sich als Nationalsozialist zu profilieren.103 Ferner konnte er zahlreiche Veröffentlichungen – besonders in den Organen des Amtes Rosenberg – publizieren, die die nationalsozialistische Ideologie unterstützten. In seinem Arbeitsumfeld fanden sich 99 Klaus Freckmann: 50 Jahre Arbeitskreis für Hausforschung, S. 2f., http://www.arbeits kreisfuerhausforschung.de/files/Freckmann_50 Jahre_AHF.pdf [09. 06. 2014]. 100 G. Ulrich Großmann: Völkisch und national – Der »Beitrag« der Hausforschung. Wiederaufleben der Runenkunde des SS-Ahnenerbes, in: Uwe Puschner, G. Ulrich Großmann (Hg.): Völkisch und national. Zur Aktualität alter Denkmuster im 21. Jahrhundert, Darmstadt 2009, S. 31–64, hier S. 36. – Ferner mdl. Auskunft von Klaus Freckmann im September 2014. 101 Openjur (Anm. 30), Sätze 46, 60. 102 Ebd., Satz 73. 103 Gajek: Feiergestaltung (Anm. 57).
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einige Mitstreiter aus der Jugendbewegung, zumeist aus dem Bund der »Adler und Falken« (Matthes Ziegler, Hans Strobel) – mithin gab es Netzwerke. Nach dem Krieg gelang es Kulke auf viele seiner Arbeiten aus dem Architekturbereich und der Denkmalpflege aufzubauen und er machte wie einige andere Bündische Karriere an einer westdeutschen Hochschule. Die »Kameraden« aus seinem alten Bund blieben für ihn lebenslang wichtig, das Adjektiv »deutsch« eine entscheidende Vokabel, das »deutschbetonte Leben« ein verinnerlichtes Leitmotiv, doch auch die Versöhnung mit Polen rückte in den Fokus. So zeigte er sich als typischer Vertreter seiner Generation. Das bündische Organisationstalent, die Freude an der Gruppenarbeit konnte er ebenso wie sein Fachwissen – befreit von völkischen Momenten – bei seinen neuen Aufgaben im Nachkriegsdeutschland gut einbringen.
Jürgen Reulecke
»Wo stehen wir?« – Der Freideutsche Kreis 1947/1948: Von Altenberg zum Ludwigstein
Es gibt Ereignisse im Geschichtsverlauf, die in späteren erinnerungskulturellen Zusammenhängen anlässlich runder Erinnerungsdaten in der Öffentlichkeit breit beachtet und diskutiert, manchmal auch gefeiert werden – aus welchen politikgeschichtlichen, mentalitäts- und zum Teil psychohistorischen Gründen auch immer! Die Erinnerung an den Beginn des Ersten Weltkriegs vor hundert Jahren lieferte 2014 eine immense Fülle an Beispielen, wobei diesmal nicht zuletzt auch die unterschiedlichen Geschichtsdeutungen in den damals maßgeblich beteiligten Staaten reflektiert wurden. Es gibt jedoch auch Jahre in der Geschichte, in denen zentrale mentale Erwartungen und geistige Perspektiven aufblühten, die von nun an maßgeblich und unwiderruflich die gesellschaftliche Zukunft bestimmen sollten – Wendejahre also, an die man sich aber rückblickend später kaum noch in ähnlich pathetischer Weise erinnert. Das Jahr 1947/ 1948, um das es im Folgenden gehen soll, gehört dazu, denn es lässt sich geradezu als eine langfristig höchst wirksame geistige »Schwelle« mit Nachwirkungen bis heute charakterisieren. Die immensen materiellen und sozialen, seelischen und psychohistorischen Erschütterungen der NS-Diktatur, des Kriegsendes und der unmittelbaren Nachkriegsmonate waren nun zwar noch keineswegs völlig überwunden, aber doch irgendwie bewältigt, und Blicke nach vorn begannen mehr und mehr die öffentliche Kommunikation ebenso zu bestimmen wie eine Fülle von – zum Teil allerdings höchst heterogenen, nicht zuletzt generationenspezifischen – Analysen der Vorgeschichte der damaligen Lage. Schon seit Ende 1945/Anfang 1946, besonders aber dann ab Frühjahr 1947 hatten zum Beispiel immer intensiver werdende Debatten über das aktuelle Generationenverhältnis und die Beteiligung der verschiedenen Altersgruppen am vorausgegangenen Geschehen von der Weimarer Republik über das NSRegime bis zum Kriegende begonnen. Dabei spielte der Blick von Angehörigen der um die Jahrhundertwende und im ersten Jahrhundertjahrzehnt geborenen mittleren Generation auf die aktuelle Jugendgeneration eine zentrale Rolle. Um aus der Fülle der Appelle und Initiativen einleitend nur zwei Beispiele zu zitie-
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Jürgen Reulecke
ren: Im April 1947 verkündete der streitbare Düsseldorfer Monsignore Carl Klinghammer (1903–1997), ehemals »Ruhrkaplan« genannt,1 in der Zeitschrift »Neues Abendland« vehement, dass nur über die Jugend eine jetzt unbedingt nötige Regeneration Deutschlands erfolgen könne, denn einzig »die seelische, geistige und körperliche Erneuerung der Jugend (gewährleiste) die Verjüngung des Volkes.« An zwei Dingen habe es nämlich in der jüngsten Vergangenheit in gravierender Weise gefehlt: an Brot und Sinn! Deshalb sei jetzt wie kaum je zuvor eine neue Orientierung, d. h. ein neuer Lebenssinn, eine neue »Beheimatung« und »Vergesellschaftung« im weitesten Sinn des Wortes gefragt. Auch von der Burg Ludwigstein gingen zu dieser Zeit mehrfach entsprechende Impulse aus. Man wolle ab jetzt wieder, so verkündete dort z. B. ein spezieller Wortführer in einer damals viel beachteten Rede, zusammen mit der jungen Generation zu einer demokratischen Ordnung finden. Allerdings scheue sich, so war sein Eindruck, die Jugend vor allzu vagen Versprechungen und blassen Theorien. Deshalb propagierte er im März 1948 auf dem Ludwigstein eine von ihm neu gegründete Organisation, in der »im Glauben an die erzieherische Kraft der Gemeinschaft … der Raum (geschaffen werden solle), in dem die Jugend das Wesen einer wahren Demokratie greifen und praktisch erleben« könne. In voller Gleichberechtigung und Zusammenarbeit solle hier die junge Generation mit den Alten gemeinsam leben und handeln.2 Bei dem Redner handelte es sich um Artur Mahraun (1890–1950) – in der Weimarer Republik charismatischer »Hochmeister« des 1920 in Kassel gegründeten Jungdeutschen Ordens (Jungdo) –, der Anfang 1947 eine in Westdeutschland schnell Anhänger findende Nachbarschaftsbewegung ins Leben gerufen hatte, die insbesondere in mittelgroßen Städten die Voraussetzungen für eine »direkte Demokratie« schaffen sollte. Anfang der 1950er-Jahre war sie bereits in über vierzig Städten von Leck in Nordfriesland bis Murnau in Süddeutschland nachweisbar.3 Die hier angesprochene Schwellenzeit um 1947/48 in der damaligen Vierzonensituation, also noch vor der Währungsreform im Juni 1948, vor der Grün1 Zum Folgenden s. Carl Klinkhammer: Jugend im Umbruch, in: Neues Abendland. Zeitschrift für Politik, Kultur und Geschichte, April 1947, S. 33–35; s. auch Lothar Albertin: Jugendarbeit 1945, Weinheim, München 1992, S. 24. Klinkhammer war in den 1930er-Jahren mehrfach wegen »Kanzelmissbrauchs« (als Kaplan in Altenessen erstmalig schon im April 1933) von der SA und SS in Schutzhaft genommen worden. 2 Zitiert nach Elisabeth Daemen-Fröhlich: Ludwigstein. Tagung der Freunde der Nachbarschaftsbewegung vom 12. bis 14. März 1948, Remscheid 1948, S. 10f. 3 S. dazu Claudia Althaus: Nachbarschaftsbewegung und direkte Demokratie in den frühen 50er Jahren, in: Geschichte im Westen, 2000, 15. Jg., Heft 1, S. 95–114. Der »Jungdo« zählte in der Mitte der Weimarer Republik angeblich etwa 400.000 Mitglieder ; s. auch Günter Bartsch: Die letzten Jahre Artur Mahrauns 1945 bis 1950 und die Folgen, München 1991, mit einer ausführlichen Darstellung der Bedeutung von Mahrauns »Ludwigsteiner Westzonenkonvent« Mitte März 1948, S. 29–35.
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dung der Bundesrepublik im Mai 1949, vor dem Ausbruch des »Kalten Krieges« und vor der Adenauer-Ära mit ihrem »Wirtschaftswunder« ist trotz der immensen materiellen und psychischen Belastungen jener Jahre zugespitzt geradezu als ein »unglaublicher Frühling« charakterisiert worden – dies mit Blick auf eine damals in spezifischer Weise »erfahrene Geschichte«, wobei sich hier der Begriff »Er-fahrung« in ganz besonderer Weise als Metapher für ein ausgeprägtes »Fahren« in Richtung auf eine neue Zeit verstehen lässt.4 Neben diversen Treffen von sich jetzt bildenden intellektuellen Netzwerken und Vereinigungen – besonders typisch ist etwa die im September 1947 gegründete »Gruppe 47« – erschien nun eine Fülle von Schriften, meist in Broschürenformat, welche Appelle an die junge Generation enthielten und Analysen der aktuellen jugendlichen Lebensverhältnisse lieferten, dies mit Titeln wie »Jugend auf dem Weg«, »Jugend ohne Heimat«, »Suchende Jugend«, »Aufgaben der jungen Generation«, »Stolz und Verantwortung: Von der Sendung der Jugend« usw. Gleichzeitig kam, als die regelmäßige Papierbeschaffung wieder einigermaßen funktionierte, mit ebenfalls programmatischen Titeln eine große Zahl von Zeitschriften auf den Markt, deren Botschaften sich alle um die Kernbegriffe Besinnung, Erneuerung, Wandlung, Aufbau u. ä drehten. Auch hier waren die Titel typisch: »Ende und Anfang«, »Die Fähre«, »Horizont«, »Die Sammlung«, »Neue Ordnung«, »Die Kommenden«, »Geist und Tat«, »Zeitwende«, »Neues Abendland«, »Die Pforte«, »Das Ziel« und »Frischer Wind«, um nur einige zu nennen. Der oben zitierte Klinkhammersche Begriff »Beheimatung« und die Bedeutung des Mahraunschen »Westzonenkonvent« auf dem Ludwigstein für den Start seiner Nachbarschaftsbewegung in der Nachkriegszeit verweisen darauf, dass man 1947/48 zur Überwindung des allgemeinen Chaos nicht zuletzt auch emotional besetzte Orte suchte, um sich dort angesichts der geistigen Trümmer und psychischen Scherbenhaufen mit Blick auf Zukunft seiner selbst neu zu vergewissern. Auf Zusammenkünfte von Kreisen, zu denen Personen gehörten, die zu ihrer jugendbewegten Prägung standen, trifft das in ganz besonderer Weise zu. Der Ludwigstein war ab Mitte 1946 einer dieser Orte wie nur wenige andere in Westdeutschland – dies selbstverständlich nicht im Sinn einer einsamen Fluchtburg, um den Nöten der Zeit infolge romantischer Sehnsucht zu entkommen, sondern um eine neue geistige Basis für zukünftiges Handeln im Austausch mit Gleichgesinnten zu finden und Strategien gemeinsamen Handelns zu entwerfen. Dass dabei das Problemfeld Jugend eine zentrale Rolle spielte und in diesem Zusammenhang vor allem von den nun Vierzig- bis Fünfzigjährigen (also von Angehörigen der sogenannten Jahrhundertgeneration) die Angehörigen der in den 1920er-Jahren geborenen HJ-Generation in4 S. dazu Alexander von Plato, Almuth Leh: »Ein unglaublicher Frühling«. Erfahrene Geschichte im Nachkriegsdeutschland 1945–1948, Bonn 1997.
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Jürgen Reulecke
tensiv angesprochen wurde, ist inzwischen bereits ebenso breit dargestellt worden wie die Bedeutung von entsprechenden Ereignissen auf dem Ludwigstein in diesem Kontext.5 Tatsächlich kam es hier zu Weichenstellungen, die – wie im Fall des Freideutschen Kreises, um den es im Folgenden geht – über ein halbes Jahrhundert Wirkung zeigen sollten. Hinsichtlich der Geschichte des Freideutschen Kreises und seines Umgehens mit der jungen Generation waren es drei Orte, von denen 1947/48 entscheidende Impulse ausgingen: neben dem Ludwigstein das Kloster Altenberg bei Wetzlar und zudem, in einem speziellen Zusammenhang, das Kloster Altenberg bei Köln. Geschichte mit lange nachwirkenden Folgen entsteht manchmal nicht nur im Kontext großer gesellschaftlichen Ereignisse, sondern hier und da auch am Wegrand. Anfang 1947 begegneten sich auf einer Straße in Frankfurt zufällig zwei ehemalige Bündische, die sich aus der Zeit der Weimarer Republik gut kannten. Hans-Joachim Schoeps (1909–1980), der eine von beiden (er war gerade aus dem schwedischen Exil zurückgekehrt), fragte den wiederentdeckten Freund – es handelte sich um Friedrich Kreppel (1903–1992): »Friedel, wo sind die anderen?« Diese Frage war der Anlass, anschließend eine gezielte Suche nach bündischen Freunden zu starten, zugleich aber auch die Idee zu verfolgen, ein Wiedersehenstreffen zu planen. Kreppel schlug als Ort dafür das Kloster Altenberg bei Wetzlar vor, wo er – damals Geschäftsführer des Hilfswerkes der Evangelischen Kirche in Hessen-Nassau und vorher Dozent an der PH Weilburg/ Lahn – mit seiner Familie wohnte und deshalb wusste, dass über Pfingsten dieses nun als Kinder- und Mütterheim ausgebaute Kloster nicht genutzt wurde. Kreppel und Schoeps nahmen nun Kontakt mit Werner Kindt (1898–1981) auf, damals Referent für volkskulturelle Arbeit in der Hamburger Kulturbehörde, von dem sie wussten, dass er als Sprecher einer dortigen freideutschen Ortsgruppe über viele Anschriften von ehemaligen Bündischen verfügte. Aufgrund der Einladung zu einem »Altenberger Konvent« zum Thema »Wo stehen wir? Die geistige Überwindung des NS« trafen sich dann vom 24. bis zum 26. Mai 1947 in dem ehemaligen Prämonstratenserinnenkloster bei Wetzlar über achtzig Bündische aus siebzehn ehemaligen jugendbewegten Bünden, darunter neunzehn Frauen .6 Den drei Einladenden Kindt, Kreppel und Schoeps ging es darum, nach 5 S. dazu zum Beispiel zwei Aufsätze in dem Sammelband von Paul Ciupke, Franz-Josef Jelich (Hg.): Ein neuer Anfang. Politische Jugend- und Erwachsenenbildung in der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft (Geschichte und Erwachsenenbildung 10), Essen 1999; darin Arno Klönne: Außerschulische Pädagogik »im Geiste der Jugendbewegung«. Anknüpfungen an jugendbündische Traditionen nach 1945, S. 29–38 sowie Winfried Mogge: Gemeinschaft und Gesellschaft. Jugendburg Ludwigstein: Diskurse zwischen bündischer Tradition, neuer Demokratie, Jugend- und Erwachsenenbildung, S. 39–46. Ähnliche Orte waren damals z. B. der Jugendhof Vlotho, das Kloster Altenberg bei Köln und die Burg Rothenfels. 6 S. die ausführliche Darstellung dieses ersten »Freideutschen Konvents« von Winfried Mogge: Der Altenberger Konvent 1947. Aufbruch einer jugendbewegten Gemeinschaft in die Nach-
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dem Ende des NS-Regimes und des Zweiten Weltkriegs im Geiste der »MeißnerFormel« von 1913 wieder zusammenzufinden und unter selbstkritischer Rückbesinnung auf das ehemals so idealistisch ausgerichtete jugendbewegte Ethos Einfluss auf die Zukunftsgestaltung Deutschlands zu nehmen.7 Gleich zu Beginn des Treffens fiel die Entscheidung über dessen weiteren Verlauf, als – so heißt es wörtlich im Rückblick von Schoeps darauf – »ein Kamerad aufstand, von den Motiven berichtete, die ihn selber 1933 zur NSDAP gehen ließen, und von der Entwicklung, die ihn in die Reihen der Männer vom 20. Juli 1944 führte. Er forderte alle Anwesenden auf, getreu dem Gelöbnis vom Hohen Meißner mit letzter innerer Wahrhaftigkeit über ihren Lebensweg in den letzten vierzehn Jahren zu berichten.« Ein Geist, so Schoeps, sei daraufhin aufgebrochen, der »das äußerste Gegenstück zu der heute in Deutschland verbreiteten Spruchkammermentalität« gewesen sei: Jeder im Kreis habe sich aufgefordert gefühlt, »über seinen Lebensweg Rechenschaft zu geben und eher sich zu belasten als etwas zu beschönigen.«8 Bei den anschließenden Gesprächen ging es dann vor allem auch um die Frage nach der Mitschuld an der Entstehung des NS-Regimes und danach, ob man nicht statt von Schuld richtiger von Versagen sprechen müsse: Die alte Jugendbewegung sei nun »von Schmerz und Scham« erfüllt, weil sie sich nicht gegen die »Umfälschung« und »verhängnisvolle Sinnverkehrung« ihrer Ideen und Ideale durch den Nationalsozialismus gewehrt habe: Sie habe naiverweise Anfang der 1930er-Jahre geglaubt, »ihre auf Freiwilligkeit basierten Gemeinschaftsformen von Führung und Gefolgschaft durch eine Massenpartei ins Große auf den Staat übertragen« zu können. Und in einer eindrucksvollen Rede zur aktuellen politischen Situation beklagte Achim Oster (1914–1983), Sohn des 1944 hingerichteten Hans Oster und selbst im Widerstand engagiert gewesen, dass zur Zeit die deutschen Menschen »nichts oder wenig wissen von der deutschen Schuld, die junge Generation im besonderen«, die annehme, in gutem Glauben gehandelt zu haben. Ihm scheine »im richtigen Erkennen des Problems der Schuld der Schlüssel zum Erkennen« der aktuellen Lage überhaupt und zu einem neuen Anfang zu liegen. Die Schuld sei ein »großer, auf dem kriegsgesellschaft, in: Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung, 1993–98, 18. Jg., S. 391–418; s. außerdem hierzu und zur Folgezeit Heinrich Ulrich Seidel: Aufbruch und Erinnerung. Der Freideutsche Kreis als Generationseinheit im 20. Jahrhundert (Edition Archiv der deutschen Jugendbewegung 9), Witzenhausen 1996, bes. S. 31–43. 7 Die Formel lautet: »Die Freideutsche Jugend will nach eigener Bestimmung, vor eigener Verantwortung, mit innerer Wahrhaftigkeit ihr Leben gestalten«; s. dazu Winfried Mogge, Jürgen Reulecke: Hoher Meißner 1913. Der erste Freideutsche Jugendtag in Dokumenten, Deutungen und Bildern (Edition Archiv der deutschen Jugendbewegung 5), Köln 1988. 8 Hans-Joachim Schoeps: Pfingsten 1947, in: Freideutscher Rundbrief, September 1947, Nr. 1, S. 1. Bei dem Kamerad, von dem Schoeps berichtet, handelte es sich um Normann Körber (1891–1973), ehemals Deutsche Freischar, dann Mitglied der Bekennenden Kirche, nach 1945 Amtsgerichtsrat in Delmenhorst.
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deutschen Volk lastender Berg und nicht wegzudiskutieren, ob der Einzelne daran nun unmittelbar teilhabe oder nicht.«9 Vor dem Hintergrund solcher selbstkritischer Reflexionen und gleichzeitig einer gegenseitigen Bestätigung der jugendbewegten »brüderlichen Aufgeschlossenheit gegen die Menschen« lief das Hauptergebnis dieses Treffens im Kloster Altenberg schließlich darauf hinaus, »als einer der ganz wenigen Kreise, in denen heute ohne Vorbehalt und Ressentiment gesprochen werden kann«, eine »einheitliche Bewegung zu menschlicher Begegnung, sachlicher Aussprache und vertrauensvoller Arbeit« zusammenzuführen und »durch ganz Deutschland hin Freideutsche Kreise zu bilden, die die Männer und Frauen aus der deutschen Jugendbewegung sammeln« sollten. Anders sei man »der realen Hoffnungslosigkeit der deutschen Lage nicht gewachsen.«10 Werner Kindt war es dann nach diesem Treffen in Altenberg bei Wetzlar, der von nun an eine Koordinatorenrolle übernahm und als erstes einen Rundbrief an eine große Zahl von ehemals »Bündischen« schrieb, um sie über die Ergebnisse des Altenberg-Treffens zu informieren und aufzufordern, »örtlich und landschaftlich« mit jugendbewegten Freunden »Freideutsche Kreise« zu gründen und diese dann bei den Militärregierungen genehmigen zu lassen, was in Hamburg bereits im Mai 1947 gelungen sei. Der Hamburger freideutsche Ortskreis fungierte von nun an als Geschäftsstelle der sich tatsächlich recht schnell ausbreitenden »freideutschen Bewegung«. In einem ersten »Freideutschen Rundbrief« vom September 1947 mit den Redetexten von Schoeps und Oster, den Zusammenfassungen der Rundgespräche und den in Altenberg gefassten Beschlüssen11 hat Kindt übrigens, von nun an der verantwortliche Schriftleiter dieses Rundbriefs, auch über eine bemerkenswerte Auseinandersetzung mit konkurrierenden freideutschen Bestrebungen aus Göttingen berichtet, die offensichtlich generationell begründet war. Angehörige der sogenannten »Meißnergeneration« (geboren vor allem in den 1880er- und frühen 1890er-Jahren), die der »Jahrhundertgeneration« (geboren um 1900/1910) wie Kreppel, Schoeps und Kindt vorausging, hatten nämlich von Göttingen aus seit Herbst 1946 – angeführt von Gustav Wyneken (1875–1964) und Knud Ahlborn (1888–1977) – Aktivitäten in Richtung Gründung eines »Bundes der Freideut9 Achim Oster : Die politische Situation, in: Freideutscher Rundbrief, September 1947, Nr. 1, S. 11–13. Oster bekleidete dann ab 1950 eine Mitarbeiterstelle in der »Zentrale für Heimatdienst« im Bundeskanzleramt und war ab 1964 als Brigadegeneral ein deutscher Vertreter bei der NATO. 10 Ebd., Zitate aus den Rundgesprächen und der Zusammenfassung der Tagungsergebnisse am Schluss durch Werner Kindt, S. 13 und S. 15. 11 Mit diesem ersten »Freideutschen Rundbrief«, später »Rundschreiben des Freideutschen Kreises« genannt, begann eine von nun an kontinuierliche Herausgabe von freideutschen Mitteilungen, die mit der Nummer 250/251 im September 2000, also nach insgesamt 53 Jahren, endete.
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schen« unternommen, von denen sich die Altenberger Freideutschen allerdings nachdrücklich distanzierten. Kindt hatte nämlich in Göttingen im Sommer 1947 vergeblich »Einigungsversuche« unternommen und daraufhin eine »notwendige Klarstellung« formuliert12, in der es heißt, das Vorgehen der Göttinger sei deshalb verfehlt, weil es dabei nur um tagespolitische Fragen gehe. Deren Aufruf sei »so untypisch für die Menschen aus den ehemaligen jugendbewegten Bünden, so alles und damit nichts sagend, dass er keine Plattform für eine echte und dauerhafte Sammlung darstellen« könne. Man wolle deshalb von Hamburg als »organisatorischem Vorort« aus den »in Altenberg beschlossenen Weg der organischen und behutsamen Bildung örtlicher Freideutscher Kreise« weiter verfolgen. Die nächste Station auf diesem Weg war bereits vom 15. bis 17. Oktober 1947 ein großes freideutsches Herbsttreffen auf dem Ludwigstein, zu dem der Altenberger Konvent und der Freideutsche Kreis Hamburg eingeladen hatten und bei dem etwa zweihundert Männer und dreißig Frauen zusammenkamen. Außerdem waren ausdrücklich Jugendführer aus Hessen und Niedersachsen eingeladen worden und auch Vertreter Akademischer Freischaren aus Göttingen, Erlangen und Marburg anwesend. Allerdings stellte sich jetzt bei den Teilnehmern nicht mehr jenes überwältigende kameradschaftliche »Hochgefühl« ein, das Altenberg bestimmt hatte, sondern es herrschte bei vielen Anwesenden zunächst eine »von Nüchternheit bestimmte und von Skepsis durchsetzte Zurückhaltung«, woraus sich jedoch die allgemein geteilte Bereitschaft ergab, nun eine Art »Arbeitstagung« durchzuführen, bei der es vor allem darum gehen sollte, »Schritte auf die weit gesteckten Ziele einer geistigen Klärung und Festigung des organisatorischen Zusammenschlusses der Freideutschen Kreise« hin zu unternehmen.13 Tatsächlich kam es zu dem einhelligen Beschluss, einen Führungskreis, bestehend aus Rüdiger Robert Beer, Werner Kindt, Hermann Schafft und Hans Joachim Schoeps, zu berufen, der bei einem Treffen zu Ostern 1948 in Altenberg die Beantwortung aller grundsätzlichen Fragen vorantreiben sollte, um dann während einer »Herbstwoche« auf dem Ludwigstein vom 11. bis 17. Oktober 1948 definitiv die Basis eines »Freideutschen Konvents« schaffen zu können. Die bei der Herbsttagung 1947 geschaffenen und intensiv Detailfragen diskutierenden Arbeitsgemeinschaften für Politik, Wirtschaft, Sozialpolitik, Pädagogik, Jugendfragen und musische Erziehung sollten dazu entsprechende Anregungen liefern. Außerdem kam es zur Gründung einer »Mittelstelle für überzonale Zusammenarbeit und Pflege der Auslandsbeziehungen« sowie vor 12 Werner Kindt: Altenberg – Göttingen – Hamburg. Eine notwendige Klarstellung, in: Freideutscher Rundbrief, September 1947, Nr. 1, S. 15f. 13 S. zum Folgenden den Freideutschen Rundbrief, Januar 1948, Nr. 2, mit dem Einstiegsbericht »Herbsttreffen auf dem Ludwigstein«, S. 1f., sowie Werner Kindt: Standort Januar 1948, S. 3–6.
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allem auch zur Einrichtung eines »Freideutschen Selbsthilfewerks«, das »Witwen und Waisen gefallener Kameraden« unterstützen sollte. Der Kasseler Pfarrer und Regierungsdirektor Hermann Schafft (1883–1959), damals Vorsitzender der Vereinigung Jugendburg Ludwigstein, war es, der in einer Grundsatzrede rückblickend das nicht zuletzt die jugendbewegten Bünde Anfang der 1930erJahre betreffende verhängnisvolle Auseinanderbrechen einzelner Kulturbereiche infolge eines »subjektivistischen Idealismus« anprangerte: Dadurch habe sich die mit dem Anspruch der Alleingeltung auftretende »unechte Weltanschauung« des Dritten Reiches mit ihrem »germanischen Ethos« durchsetzen können, was letztlich zur Katastrophe geführt habe. Von den sich jetzt zusammenfindenden Freideutschen forderte er deshalb nachdrücklich, »zu einer christlichen und humanistischen Auffassung vom Menschen« und zu dem »Prinzip der Menschlichkeit« zurückzukehren.14 Wie schon in Altenberg intensiv angesprochen, stand also in dieser Anfangsphase des Freideutschen Kreises hinter den nun vielfältig in Gang kommenden Einzelaktivitäten das nachdrückliche Streben, den Nationalsozialismus geistig zu überwinden: Wenn dieses Schicksal von Menschen wie den Freideutschen nicht gemeistert werde, so Helmut Tormin (1891–1951) als Fazit des Ludwigsteintreffens vom Herbst 1947 in einer Einleitung zum 3. Freideutschen Rundbrief, dann sei der deutsche Untergang definitiv nicht mehr aufzuhalten.15 Die offenbar breit geteilte Selbstbeschreibung der Freideutschen vom Herbst 1947 lautete daher : »Die Vielfalt der deutschen Wirklichkeit unserer Gegenwart mit allen ihren Spannungen in unseren Gemeinschaften sichtbar werden zu lassen und in vorbehaltloser Wahrhaftigkeit zu ertragen, ohne dass daraus ein neuer Richtungsstreit, eine einseitige politische Dogmatik, ein geistiger Kurzschluss oder aber eine laue Verschwommenheit entsteht, das soll und muss unser aller Anliegen und Herzensbedürfnis sein.«16 Das Bekenntnis einer eigenen »Schuld«, welches in Altenberg die Diskussion bestimmt hatte, tauchte allerdings von nun an kaum noch auf. Lediglich Rüdiger Robert Beer (1903–1985) ist in einer rückblickenden Stellungnahme zum 14 Zitiert ebd., S. 2; Schafft, von nun an der erste Obmann des Kreises, war einer der wenigen Freideutschen, die – ebenso wie Helmut Tormin (s. u.) – noch zur »Meißnergeneration« gehörten. Zu Schafft s. Traugott Jähnichen: Hermann Schafft, in: Barbara Stambolis (Hg.): Jugendbewegt geprägt. Essays zu autobiographischen Texten von Werner Heisenberg, Robert Jungk und vielen anderen, Göttingen 2013, S. 581–592, außerdem Lukas Möller : Hermann Schafft. Pädagogisches Handeln und religiöse Haltung. Eine biographische Annäherung, Bad Heilbrunn 2013. S. auch den Beitrag von Lukas Möller in diesem Band. 15 Helmut Tormin: Die geistige Überwindung des Nationalsozialismus und die Freideutsche Bewegung, in: Freideutscher Rundbrief, März 1948, Nr. 3, S. 1–5. Tormin, studierter Jurist, war damals Beamter im Landesarbeitsamt Hamburg, Dozent an der dortigen Evangelischen Akademie und Mitglieder der Gilde Soziale Arbeit. 16 So Kindt in: Rundbrief, Januar 1948, Nr. 2, S. 4.
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Herbstreffen von 1947 noch einmal auf die »Schuldfrage« eingegangen und hat zwar die Notwendigkeit betont, »zuerst für das einzustehen, was durch uns geschehen ist« (auch wenn man dabei gleichzeitig immer auch an die vielen Millionen Toten infolge der alliierten Vertreibungen aus dem Osten denke), meinte aber, dass man das Thema Schuld, obwohl es eine »fortwirkende Realität« sei, in Zukunft nicht ständig wieder aufgreifen solle: Es gebe, so Beer, »in diesen Dingen keine Aufrechnung Leben gegen Leben, Blut gegen Blut; es muss jeder zuerst für das Seine einstehen, wenn irgendwann die fürchterliche Kette von Rache und Vergeltung und Wiedervergeltung abreißen soll.« Deshalb müsse man alles daran setzen, von nun an eine neue Gesinnung zu schaffen, »nach außen hin und bei uns im Innern.«17 Rückblickend wurden deshalb die Schuldbekenntnisse in Altenberg als eine notwendige, aber dann weitgehend abgeschlossene »Selbstreinigung« verstanden, und dabei sollte es bleiben, bis von den sich nun im hohen Alter befindenden Freideutschen vier Jahrzehnte später noch einmal das Thema »Schuld« aufgegriffen wurde und auch bei der definitiven Auflösung des Freideutschen Kreises Anfang Juni 2000 in Altenberg bzw. Wetzlar eine Rolle spielte.18 Die »Schaffung einer neuen Gesinnung« setzte, so war den Freideutschen von vornherein klar, auch einen vertrauensvollen Kontakt zu den freien Jugendbünden voraus, die nach 1945 in vielfältiger Weise wieder entstanden waren – in Weiterentwicklug der Traditionen des Wandervogels, der Pfadfinderbewegung und der Jungenschaft. Die Gründung eines freideutschen »Arbeitskreises der freien Jugendgruppen« im Anschluss an das Herbsttreffen von 1947 unter Leitung von Hans-Joachim Schoeps und Heinz »Heigru« Gruber (1911–2000), war die Folge. Wenn sich der Freideutsche Kreis, so lautete die Perspektive, auch nicht in das aktuelle Eigenleben der bündischen Gruppen einmischen wolle, so fühle man dennoch »eine besondere Verantwortung, ihnen zu raten und zu helfen, wo immer solche Unterstützung erwünscht und notwendig« sei.19 Ein erster offizieller Schritt in dieser Richtung erfolgte unmittelbar nach dem 17 Rüdiger Robert Beer : Die deutsche Lage, in: Freideutscher Rundbrief, Mai 1948, Nr. 4, S. 3–9, Zitate S. 8. Beer war nach Hermann Schafft mehrere Jahre der Obmann des Freideutschen Kreises, seit Anfang 1948 Beigeordneter des Deutschen Städtetages; vorher war er Redakteur bei der »Frankfurter Zeitung« gewesen. 18 S. dazu Seidel: Aufbruch (Anm. 6), S. 46f., sowie Jürgen Reulecke: Der Historiker als »Ombudsmann«? Eine Begegnung mit dem Freideutschen Kreis, in: Barbara Stambolis (Hg.): Die Jugendbewegung und ihre Wirkungen. Prägungen, Vernetzungen, gesellschaftliche Einflussnahmen, Göttingen 2015, S. 85–102, bes. S. 94ff. 19 S. dazu in dem Sonderheft der Freideutschen Rundbriefe »Freiheit und Verantwortung« vom Januar 1949 den Beitrag von Friedrich Wilhelm Wodtke (Akademische Freischar Kiel): Freideutsche Bewegung und freie Jugendgruppen, S. 35–37. Heinz Gruber war früh (1927) Mitglied der HJ geworden und später im NS-Propagandaministerium tätig gewesen, ehe er im Kontext des Altenbergtreffens nachdrücklich sein Mitwirken im NS-Regime bedauert hat und sich in der Behindertenarbeit engagierte.
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Herbsttreffen von 1947 durch die Beauftragung Heinz Grubers, entsprechende Kontakte aufzunehmen und insbesondere vom 3. bis 5. November 1947 im Auftrage des ersten freideutschen Obmanns Hermann Schafft als offizieller Vertreter des Freideutschen Kreises und der jungen Bünde an einer Tagung der deutschen Jugendverbände in Altenberg bei Köln teilzunehmen.20 Zur Vorgeschichte dieser Tagung: Pfingsten 1947 hatte in der Ostzone in Meißen ein zweites »Parlamentstreffen« der FDJ stattgefunden, von dem unter Wortführung des Vorsitzenden Erich Honecker (1912–1994) der Aufruf an alle großen Jugendverbände in West- und Ostdeutschlands ausging, einen gesamtdeutschen Jugendring ins Leben zu rufen. Angesprochen wurden in einem Schreiben Honeckers vom 6. Juni 1947 der Bund der Deutschen Katholischen Jugend (BDKJ), die Evangelische Jugend, die sozialistischen Falken, die Bündische Jugend (vertreten durch den Freideutschen Kreis), zudem dann noch die Sportjugend und der Bayerische Jugendring. Nach anfänglichen Bedenken trafen sich auf Einladung von Josef Rommeskirchen (1916–2010), dem Vorsitzenden des BDKJ, Vertreter der genannten Organisationen vom 3. bis 5. November 1947 im Haus Altenberg im Bergischen Land (östlich von Köln), der zentralen Jugendbildungsstätte des BDKJ. Die Diskussion verlief von vornherein kontrovers, besonders zwischen Honecker auf der einen und Rommerskirchen sowie Heinz Westphal (1924–1998) von den Falken, dem späteren Vizepräsidenten des Deutschen Bundestages, auf der anderen Seite, wobei Heinz Gruber mehrfach versuchte, Kompromisse zu erreichen. Vor allem die Forderung nach einer freien demokratischen Verbandsarbeit unterschiedlicher Jugendorganisationen in der Ostzone und nach Freilassung inhaftierter Mitglieder von nicht zur FDJ gehörenden Jugendgruppen spielte eine Rolle und zwang Honecker und Edith Baumann (1909–1973), seine damalige Frau, in die Defensive. Zu diesem Zeitpunkt hatte die von Honecker aus ostzonaler Sicht angestrebte »Reichseinheit« der deutschen Jugendverbände letztmalig noch eine gesamtdeutsche Einigungsstrategie innerhalb der damaligen Vierzonensituation im Blick gehabt, ehe kurz danach immer deutlicher die Weichen in Richtung »Kalter Krieg« zwischen Ost und West gestellt wurden. Die Vorsitzenden der westdeutschen Jugendverbände hatten allerdings von vorn herein schon mit kritischer Distanz auf den von Honecker und seiner ostzonalen Einheitsorganisation FDJ entwickelten Plan geblickt. Es kam zwar nicht zuletzt infolge von Vermittlungsversuchen Heinz Grubers zu einer abschließenden Vereinbarung der in Altenberg anwesenden Verbandsvertreter, doch fiel sie sehr vage aus und lautete: »Ausgehend von dem Wunsch der deutschen Jugend zur Schaffung eines einheitlichen und unab20 S. zum Folgenden: Klaus Peter Lorenz, Jürgen Steinrücke: Grenzen der Einheit. Das Altenberger Gespräch 1947 um einen Gesamtdeutschen Jugendring (puls 14. Dokumentationsschrift der Jugendbewegung), Berlin 1987.
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hängigen Deutschland wurde die grundsätzliche Bereitschaft zu solcher Zusammenarbeit von allen Verbandsvertretern ausgesprochen. Es ist Voraussetzung für die erfolgreiche Zusammenarbeit, dass die freie demokratische Entwicklung in allen Zonen Deutschlands gleichermaßen verwirklicht wird.«21 Nach seiner Rückkehr aus Altenberg hat Heinz Gruber Hermann Schafft ausführlich über das Treffen berichtet und ihm ein detailliertes persönliches Protokoll zukommen lassen. Außerdem lud er Bundesführer aus verschiedenen jungen Bünden zum 16. bis 18. Januar 1948 auf den Ludwigstein ein, um sie über das Treffen in Altenberg zu informieren und eine »Arbeitsgemeinschaft freier Jugendbünde« zustande zu bringen. Diese sollte zwar auf keinen Fall die Eigenständigkeit der einzelnen Gruppen beeinträchtigen, aber doch eine bevollmächtigte Vertretung schaffen, die bei ähnlichen Verhandlungen wie in Altenberg mit der FDJ und den großen westdeutschen Jugendverbänden nachdrücklich die Sonderrolle der freien bündischen Jugend vertreten sollte. Es sei, so Gruber aufgrund seiner Erfahrungen, in Zukunft in der »hohen Politik« der Jugendverbände notwendig, dass eine »kampfkräftige« Vertretung des Gedankens einer von Parteien und Kirchen unabhängigen Jugendarbeit auftrat. Honecker hat übrigens dieses Treffen auf dem Ludwigstein ebenso wie ein weiteres im Februar 1948 im Jugendhof Vlotho unter Klaus von Bismarck (1912–1997) als Versuch von Verschwörern interpretiert, unter Beteiligung amerikanischer Offiziere in den Westzonen ein Verbot der FDJ vorzubereiten.22 Unterstützt wurde Gruber übrigens vor allem durch die Göttinger Akademische Freischar unter Walter Scherf-tejo (1920–2010) und die von diesem auf dem dortigen Johanniskirchturm ins Leben gerufene »Deutsche Jungenschaft«.23 Nach den insgesamt vier weichenstellenden Treffen der Freideutschen in Altenberg zu Pfingsten 1947 und Ostern 1948 und auf dem Ludwigstein im Herbst 1947 und Herbst 1948 konnte dann mit einem »dritten Altenberg« zu Pfingsten 1949 – so der Eindruck der Tagungsteilnehmer – »die erste Phase der freideutschen Sammlungsbewegung als abgeschlossen« angesehen werden.24 Neben organisatorischen Festlegungen für die weitere Zukunft des Freideutschen Kreises waren es vor allem zwei Themenbereiche, über die man sich 21 Presseerklärung vom »Altenberger Gespräch« der deutschen Jugendverbände, abgedruckt in: Lorenz, Steinrücke: Grenzen (Anm. 20), S. 27. 22 S. dazu Lorenz, Steinrücke: Grenzen (Anm. 20), S. 14. 23 S. in dem sich nun »Freideutsche Blätter« nennenden Freideutschen Rundbrief vom April 1949 den ausführlichen Bericht über diese »Deutsche Jungenschaft« von Hans Richter : Unabhängige Jugendgruppen, S. 20–23. Ein seither bestehender »Ring deutscher Fahrtenbünde« führte in der Folgezeit mehrere größere Treffen durch, so zum Beispiel 1952 ein Osterlager auf Burg Stahleck, an dem 17 Bünde beteiligt waren; s. dazu: Erkenntnis und Tat. Briefe aus dem Geiste deutscher Jugendbewegung, 1952, Folge 5/6 zum Thema »Stahlecktreffen«. 24 Das dritte Altenberg, in: Freideutsche Blätter, April 1949, Nr. 9, S. 2f.
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austauschte: die praktischen Arbeitsmöglichkeiten der Freideutschen in Richtung auf einen Wandel der deutschen Sozialstruktur25 und Überlegungen zu speziellen Projekten, so zum Beispiel zur Bildung einer »Studiengemeinschaft« und eines »Freien Jugendwerks«. Impulse zur Fortsetzung der in Altenberg 1947 geführten kritischen Selbstbesinnung über die eigene Vergangenheit – Stichwort »Schuld« bzw. »Versagen« – spielten nun nahezu keine Rolle mehr : »Zwei Jahre Freideutsche Sammlungsbewegung« hatten zu der selbstbewussten Zielsetzung geführt, »das gemeinsame Erbgut der Jugendbewegung nunmehr für die Gestaltung der Gegenwart und Zukunft fruchtbar zu machen« und nicht zu einer rückwärtsorientierten »Traditionsgemeinschaft« zu werden.26 Wie einleitend schon angesprochen, spielten 1947/1948 in der Öffentlichkeit in vielfältiger Weise Überlegungen und Analysen in Richtung auf die aktuelle Situation der Jugend eine zentrale Rolle, und in den freideutschen Kreisen wurde nun insbesondere die Frage nach den Möglichkeiten wie auch Grenzen eines konkreten freideutschen Umgehens mit der jungen Generation gestellt. Zum einen wollte man sich – so lautete die Entscheidung beim Herbsttreffen 1948 auf dem Ludwigstein – intensiv um eine Schulreform bemühen.27 Eine Studiengemeinschaft der Freideutschen Landsgemeinde Rheinland übernahm hier anfangs die Federführung und entwickelte ein Zwölfpunkteprogramm, das von der Hervorhebung der unterschiedlichen Bildungswerte der Natur- und Geisteswissenschaften über die Frage nach klaren Festlegungen in Richtung auf das »zwiespältige Menschenbild unserer Zeit« und nach der Bedeutung der humanistisch-christlichen Bildungsgrundlagen angesichts der »gesellschaftlichen Zerklüftungen unseres Volkes« bis hin zur Ablehnung einer »sozialen Einheitsschule« und zur Favorisierung vor allem einer »differenzierten Mittelstufe« führte. Auch die Reform der Lehrerbildung und – im Sinne der Meißnerformel – die Wege zur Erzielung einer »erzieherischen Gesinnung« in der Persönlichkeit des Lehrers spielten dabei eine wichtige Rolle. Seit Beginn der 1950er-Jahre sollte dann »das Problem der Bildung und Erziehung« geradezu eines der Kernthemen 25 Zu dieser Thematik s. die Zusammenfassung des Grundsatzreferates von Hans Raupach: Wandel der deutschen Sozialstruktur und unsere Aufgabe, in: Freideutsche Blätter, April 1949, S. 3–5. Der Jurist Raupach (1903–1997) war in der Weimarer Republik bündischer Führer gewesen, erhielt nach dem Krieg zunächst einen volkswirtschaftlichen Lehrauftrag an der Universität München, ehe er ab 1952 Professor an der Hochschule für Soziale Wissenschaften in Wilhelmshaven wurde und 1962 wieder nach München zurückkehrte, wo er der Direktor des dortigen Osteuropa-Instituts und von 1970 bis 1976 Präsident der Bayerischen Akademie der Wissenschaften war. 26 Werner Kindt: Zwei Jahre Freideutsche Sammlungsbewegung, in: Freideutsche Blätter, April 1949, Nr. 9, Sonderdruck S. 1–4. 27 S. Freiheit und Verantwortung, Sonderheft der Freideutschen Rundbriefe, Januar 1949, S. 39f., außerdem: Leitsätze zur Schulreform, in: Freideutsche Blätter, Dezember 1949, Nr. 10, S. 8–11.
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des Freideutschen Kreises werden28 : Unter der Leitung von Karl Seidelmann (1899–1974) und Fritz Uplegger (1905–2004) wurde nun im Freideutschen Kreis eine »Pädagogische Arbeitsgemeinschaft« fest etabliert, und Hans Bohnenkamp (1893–1977), Meißnerfahrer von 1913 und ab 1946 Professor an der PH Celle, wurde 1953 nach der Gründung eines allgemeinen »Deutschen Ausschusses für das Erziehungs- und Bildungswesen« dessen stellvertretender Präsident.29 Bezogen auf die außerschulische Jugendsituation hatte ja bereits Heinz Gruber im Auftrage Hermann Schaffts eine Reihe von Initiativen unternommen, die sich auf die jugendbündische Szene bezogen, doch dann übernahm Hans Richter (1903–1979), Mitarbeiter zunächst auf dem Jugendhof Vlotho, dann seit 1949 Leiter des Lehrerfortbildungsheims Braunlage, in einem umfassenderen Sinn die Aufgabe, die »Frage nach der geistigen und politischen Orientierung der heutigen Jugend« zu beantworten und Vorschläge zu einem entsprechenden Handeln des Freideutschen Kreises zu entwickeln.30 Dass bei der jungen Generation jedoch nicht das Gefühl entstehen dürfe, »dass ihnen etwas aufgedrängt« werde, war ihm von vorn herein klar. Es müsse, so Richter, den Freideutschen in Zukunft darum gehen, »die Eigenständigkeit der Jugendgruppen, die wir einst mit erkämpft haben, auch dann zu respektieren, wenn sie sich gegen uns und unsere Vorstellungen wendet.« Außerdem werde es wohl auch Gruppen geben, die man aus eigener Verantwortung heraus ablehnen werde, was dann aber klar begründet werden müsse. Dort aber, wo der Kontakt gelinge, sollten die Freideutschen »aus dem Wissen um unsere eigenen Irrtümer« der Jugend helfen, »die sich mit eigenem Entdeckermut ein Bild der heutigen Welt zu formen trachtet.« Man wolle sich aber dort versagen, »wo man die Schönheit eines romantischen Jugendlebens verabsolutiert und aus der Ablehnung alter Ideologien eine eigene, wirklichkeitsfremde Weltanschauung« mache. Die Jugend müsse zu eigenwilligen und dienstbereiten Männern und Frauen heranwachsen, und das könne in besonderer Weise auch in freien Jugendgruppen außerhalb der großen Verbände gelingen. Deshalb schlug Richter vor, ein »Freies Jugendwerk« zu gründen, das in Zukunft als eine »Gesellschaft zur Förderung freier Jugendbünde die Möglichkeiten geistiger und materieller Hilfe (prüfen) und die Voraussetzungen für eine sinnvolle Unterstützung der unabhängigen Jugendarbeit« schaffen sollte. Alle freideutschen Landsgemeinden und Ortskreise wurden daraufhin aufgefordert, die Bildung eines solchen Netzwerkes von 28 S. hierzu Seidel: Aufbruch (Anm. 6), S. 55–70. 29 S. Barbara Stambolis: Hans Bohnenkamp, in: dies.: Jugendbewegt geprägt (Anm. 14), S. 137–148, außerdem Hartmut Alphei: Wiederaufbau und Neuordnung der Lehrerbildung in Niedersachsen, in: Stambolis: Jugendbewegung (Anm. 18), S. 327–342. 30 S. zum Folgenden die Zusammenfassung des Referates von Hans Richter bei der dritten Altenbergtagung mit dem zitierten Titel in: Freideutsche Blätter, August 1949, Nr. 9. Richter war später von 1964 bis 1968 auch der Obmann des Freideutschen Kreises.
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Vertrauensleuten in Richtung Jugend zu unterstützen. Allerdings kam dann in der Folgezeit angesichts der schwierigen wirtschaftlichen Verhältnisse nach der Währungsreform offenbar keine breite Bewegung in Richtung »Freies Jugendwerk« in Gang, obwohl dazu in den Mitteilungsblättern der Folgezeit gelegentlich Beiträge nach dem Motto »Die Fackel weiterreichen…!« erschienen31 und mit den Führern einer ganzen Reihe junger Bünde persönliche Kontakte bestanden, die vor allem Heinz Gruber immer wieder neu pflegte: Noch im Vorfeld des 1988er-Meißnertreffens kam es im Wesentlichen auf Initiative Grubers, dieses – so Rudolf Bree – »von jugendlichen Visionen erfüllten Brückenbauers zwischen den Generationen«, zur Gründung eines »Bündischen Forums«, das bis weit in die 1990er-Jahre eine enge Verbindung zwischen den Freideutschen und den Nachkriegsbünden auf dem Ludwigstein herstellte.32 Insgesamt gesehen, setzte sich im Freideutschen Kreis jedoch im Laufe der 1950er-Jahre immer klarer eine Einstellung durch, die Rudolf Bree, der in den frühen 1980er-Jahre Obmann des Freideutschen Kreises gewesen war, rückblickend im Jahre 1992 auf »45 Jahre Freideutscher Kreis« folgendermaßen beschrieben hat33 : Man habe es der kommenden Generation schließlich überlassen müssen, ob sie sich mit den Freideutschen »zu ähnlichen Zielsetzungen ohne Fremdbestimmung zusammenfanden, oder die Zeiten erlaubten es nicht mehr.« Die Freideutschen hätten ja zu der Generation gehört, »die Hitler vorwiegend toleriert (habe) und der es schlecht (angestanden hätte), mit einem Führungsanspruch vor die kommende Generation zu treten.« Nachdem der Freideutsche Kreis die in Altenberg und auf dem Ludwigstein seit 1947 nachdrücklich gestellte und intensiv diskutierte Frage »wo stehen wir?« mehr oder weniger klar beantwortet zu haben glaubte, ging es seit den frühen 1950er-Jahren deshalb von nun an den Freideutschen unter den auf Hermann Schafft ab 1953 folgenden beiden Obleuten Karl Rode (1901–1980) und Rüdiger Robert Beer (1903–1985) darum – so lautete zum Beispiel das Thema des Freideutschen Konvents 1954 auf Burg Rothenfels – , die »Kunst zu leben« zu erörtern und dies mit Blick auf eine Zukunft zu tun, in der man endlich wieder ein »normales Leben« führen zu können hoffte.34 Die gesellschaftlichen und politischen Problemfelder, die ab jetzt bei den jährlichen Konventen debattiert wurden und in denen sich viele der 31 S. zum Beispiel Elisabeth Korn: Begegnung zwischen den Generationen, in: Das Nachrichtenblatt, Oktober 1954, Nr. 28, S. 2–5, und Werner Kindt: Die Fackel weiterreichen…!, in: Das Nachrichtenblatt, Dezember 1954, Nr. 29, S. 1–4. 32 S. zu den seit 1985 stattfindenden Herbstgesprächen Heinz »Heigru« Gruber : Der Freideutsche Kreis, in: Stichwort, 1990, Nr. 3, S. 21; s. außerdem den Nachruf von Rudolf Bree auf Heinz Gruber nach dessen Tod am 8. Mai 2000, in: Rundschreiben des Freideutschen Kreises, September 2000, Nr. 250–251, S. 168f. 33 Rudolf Bree: 45 Jahre Freideutscher Kreis, in: Buschtrommel. Nachrichtenblatt zu »Stichwort« und »Eisbrecher«, Mai 1992, Heft 2, S. 1f. 34 S. zum Folgenden ausführlich Seidel: Aufbruch (Anm. 6).
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Freideutschen auch öffentlich (beruflich oder ehrenamtlich) engagierten, drehten sich um das aktuelle Menschenbild und die Suche nach neuen Leitbildern, um die Bildungspolitik und die Arbeitswelt, um die Sicherung des Friedens, die internationalen Beziehungen, die Rettung der Umwelt u. ä., bis dann ab den 1970er-Jahren beim Übergang ins Seniorenalter bei den Angehörigen dieser »Jahrhundertgeneration« zunächst zunehmend eine Selbsthistorisierung – nicht zuletzt auch infolge der Herausforderung der 68er-Studentenbewegung, die man anfangs als »Jugendbewegung II« identifizieren zu können geglaubt hatte35 – und schließlich die grundsätzliche Frage nach dem positiven Bewältigen des Alterns auf Grund der gemeinsamen jugendbewegten Prägung eine immer wichtiger werdende Rolle zu spielen begann.
Fazit Ausgehend von Altenberg und vom Ludwigstein im Jahre 1947 spannte sich für die freideutschen Angehörigen jener »Jahrhundertgeneration« bis zur Auflösung ihres Kreises in Altenberg und Wetzlar im Juni 2000 ein Bogen von über fünfzig Jahren, in denen der Ludwigstein immer wieder eine zentrale Rolle spielte: als Treffpunkt, als Tagungsort und als Möglichkeit, sich in Arbeitskreisen und Beiräten für die Staffelstabweitergabe jugendbewegten Denkens und Handelns einzusetzen – allem voran bei der Entstehung der von Werner Kindt herausgegebenen dreibändigen »Dokumentation der Jugendbewegung« seit Anfang der 1960er-Jahre sowie zum Beispiel im Beirat des Archivs der deutschen Jugendbewegung. Es dürfte aus dieser in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg geborenen Alterskohorte wohl kaum eine vergleichbare »Generationseinheit« im Sinne Karl Mannheims geben, die sich bei ihrem Wandern durch das 20. Jahrhundert über eine solch lange Zeit in einer solch ständig selbstreflexiven und zugleich (aus historischer Sicht) auch frag-würdigen, d. h. befragungswürdigen Weise in die jeweilige Zeit gestellt hat.36 Insofern vermittelt die Ge35 S. dazu ders.: »Wir waren so himmelblaue Idealisten«. Die Eltern der 68er am Beispiel der Mitglieder des Freideutschen Kreises, in: Westfälische Forschungen, 1998, 48. Jg., S. 55–68 sowie Jürgen Reulecke: »In Unruhe leben«: Jugendbewegte Väter und studentenbewegte Söhne in den späten 1960er Jahren, in: Historische Jugendforschung. Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung, 2007, NF Bd. 4, S. 51–66. 36 Allein die Fülle der hinterlassenen Quellen des Freideutschen Kreises, vor allem die bis 2000 insgesamt 250 Hefte umfassenden »Rundschreiben« sowie die vielen Publikationen von Mitgliedern des Kreises und aus den Landes- und Ortskreisen seit deren Entstehung sind wohl einzigartig für eine Generationseinheit aus der »Jahrhundertgeneration«. Hinzu kommen inzwischen wissenschaftliche Darstellungen aufgrund von Quellenauswertungen sowie der Analyse von in den frühen 1990er-Jahren über sechzig durchgeführten Lebenslaufinterviews und einer Fragebogenaktion. Neben der Gesamtdarstellung von Seidel:
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schichte des Freideutschen Kreises (zu dem in seiner Blütezeit maximal allerdings nur etwa zweitausend Personen gehört haben) trotz seiner Besonderheiten dennoch viele exemplarische, auf das erfahrungs- und mentalitätsgeschichtliche wie auch psychohistorische »Spiel des Lebens« in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bezogene eindrucksvolle Einblicke. Stichwort »Spiel des Lebens«: Als sich die etwa 250 hochbetagten Teilnehmer des Freideutschen Konvents am 4. Juni 2000 in Wetzlar nahe Altenberg nicht nur aus »ihrem« Jahrhundert verabschiedeten, sondern auch definitiv ihren Kreis auflösten, sangen sie am Ende ihres letzten Zusammenseins zunächst gemeinsam das Lied »Nehmt Abschied, Brüder, ungewiss ist alle Wiederkehr« mit dessen Schlussstrophe »Nehmt Abschied, Brüder, schließt den Kreis, das Leben ist ein Spiel; nur wer es recht zu spielen weiß, gelangt ans große Ziel«, anschließend dann noch den Kanon »dona nobis pacem« und gingen dann auseinander.
Aufbruch (Anm. 6) aus dem Jahre 1996 s. vor allem Sabiene Autsch: Erinnerung – Biographie – Fotografie. Formen der Ästhetisierung einer jugendbewegten Generation im 20. Jahrhundert, Potsdam 2000; Ann-Katrin Thomm: Alte Jugendbewegung, neue Demokratie. Der Freideutsche Kreis Hamburg in der frühen Bundesrepublik Deutschland (Edition Archiv der deutschen Jugendbewegung 16), Schwalbach/Ts. 2010, sowie Thomas A. Kohut: A German Generation. An Experiential History of the Twentieth Century, Yale University Press 2012, außerdem Reulecke: Historiker (Anm. 18).
Lukas Möller
»Komm und reihe Dich ein!« – Die Jugendburg Ludwigstein von 1945 bis 1956 aus der Perspektive Hermann Schaffts
Sich der Geschichte aus der Perspektive einer einzelnen Person anzunähern, ist reizvoll und voller Einschränkungen zugleich. Zum einen kann eine Anschaulichkeit und eine Nähe zu dem behandelten Gegenstand erreicht werden, die das Verstehen erleichtert und Geschichte in gewisser Hinsicht erlebbar macht. Zum anderen jedoch besteht die methodische Einschränkung, dass nur bestimmte Quellen Verwendung finden, nur bestimmte Blickfelder ins Zentrum rücken und somit eben nur ein bestimmter Ausschnitt eines eigentlich größeren Bildes überhaupt beleuchtet werden kann. Bei dem hier vorliegenden Beitrag handelt es sich deshalb – ganz im Sinne der Idee dieses Jahrbuchs – um eine Annäherung aus einer von mehreren möglichen Perspektiven. Was durch die Quellen von und über Hermann Schafft betrachtet über die ersten Jahre der Jugendburg Ludwigstein nach 1945 in diesem Beitrag geschrieben wird, sollte allerdings als die authentische Geschichte dieses Ortes bezeichnet werden – die Geschichte dieses Ortes aus der Perspektive Hermann Schaffts.1 Schafft wird 1883 in eine bürgerliche Familie geboren. Sein Vater ist evangelischer Pfarrer, seine Mutter eine überaus gebildete Frau, die vor ihrer Heirat als Hauslehrerin arbeitet. In Hersfeld und Kassel geht Schafft zur Schule, er studiert Theologie in Halle, Tübingen und Berlin. Paul Tillich, dem großen Theologen des 20. Jahrhunderts, wird er ein väterlicher Freund und ein Spiegel für dessen theologische Ideen. Im Laufe seines Lebens ist Schafft dann Kriegsteilnehmer, Pfarrer, Gehörlosenseelsorger, Jugendbewegter, Jugendarbeiter, Zeitschriftenherausgeber, Volkserzieher, Lehrerbildner, Bildungspolitiker, Erwachsenenbildner – weitere Betitelungen ließen sich finden.2
1 Der Beitrag stützt sich in allen wesentlichen Aspekten auf die Dissertation: Lukas Möller : Hermann Schafft – pädagogisches Handeln und religiöse Haltung. Eine biografische Annäherung, Bad Heilbrunn 2013. 2 Für einen kurzen Einblick in Hermann Schaffts Leben und Wirken vor 1945 siehe: Lukas Möller: »Wir haben die heilige Verantwortung« – Eine Annäherung an den Pädagogen Hermann Schafft zur Zeit der Weimarer Republik, in: Historische Jugendforschung. Jahrbuch des
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Zum 70. Geburtstag 1953 erhält Hermann Schafft schließlich die Insignien eines erfüllten, gelebten Lebens, darunter das Bundesverdienstkreuz und die Ehrendoktorwürde in Theologie der Universität Marburg. Zum 75. Geburtstag schreibt ihm der Kasseler Regierungspräsident Fritz Hoch im Grunde stellvertretend für eine große Zahl von Menschen: Er danke ihm für alles, »was Sie in so vielfältiger Form der Allgemeinheit, insbesondere aber der Jugend unseres Bezirks gegeben haben«. Noch immer wirke er »mit einer erstaunlichen Lebendigkeit und Frische, wie in den früheren Jahrzehnten«. Es sei zu beobachten, dass »die Jugend geradezu danach drängt, mit Ihnen zusammen zu sein und von Ihnen zu hören, was Sie ihnen zu sagen haben.«3 Die Worte Hochs verweisen beispielhaft auf Schaffts jahrzehntelanges Engagement in Jugendarbeit und Jugendbewegung. Die Verbindung zur Jugendbewegung bestand allerdings nicht – anders als bei anderen zentralen Figuren dieses Kulturphänomens – von Kindheit und Jugend an. Richtig nachweisbar wird sie erst nach 1918. Dass Schafft auf dem ersten Meißnertreffen gewesen sein soll, ist ein hin und wieder wiederholter Satz, für dessen Richtigkeit es allerdings keine Belege gibt.4 Als Mitarbeiter im Kasseler Jugendring reist er im Herbst 1923 zum zweiten Meißnertreffen und streitet sich dort mit Kommunisten um Alfred Kurella und August Wittfogel über die richtige Deutung des Krisenempfindens seiner Zeit. Im Frühjahr 1923 schließt er sich zudem dem religiössozialen Neuwerkkreis an.5 Der Neuwerkkreis wird zwar gemeinhin als jugendbewegt bezeichnet, in seiner konkreten Ausformung unterscheidet er sich jedoch deutlich von den Wandervogel-, Pfadfinder- und Jungenschaftsgruppen der 1920er-Jahre. Neuwerk nämlich verfolgt das Ziel, am Reich Gottes schon in dieser Welt mitbauen zu helfen. Dabei verstehen sich die Mitglieder als Helfer und Brückenbauer, um der Jugendbewegung ihre Rolle in diesem größeren Plan verständlich zu machen. Man steht somit an der Seite der Jugendbewegung nicht mitten in ihren Reihen. Sie ist Teil des Instrumentariums, um den eigenen Plan zu erfüllen. Werner Kindt, selbst gut mit Schafft befreundet, gesteht diesem für die 1920er-Jahre jedenfalls nur eine Außenseiterposition in der Jugendbewegung zu. In seinem letzten Lebensdrittel – Schafft stirbt 1959 mit 75 Jahren – ändert sich dies allerdings grundlegend. 1947 wird er der erste Vorsitzende der Vereinigung Archivs der deutschen Jugendbewegung, 2011, NF Bd. 8, Themenschwerpunkt: Jugendbewegung und Erwachsenenbildung, S. 170–185. 3 Brief Fritz Hoch an Hermann Schafft, 02. 12. 1958: Hessisches Staatsarchiv Marburg, Best. 401,2 Nr. 545 (Personalakte Schafft). 4 Ausführlicher s. Möller : Schafft (Anm. 1), S. 81, Fußnote 512. 5 Zum Neuwerkkreis s.: Antje Vollmer : Die Neuwerkbewegung 1919–1935. Ein Beitrag zur Geschichte der Jugendbewegung, des Religiösen Sozialismus und der Arbeiterbildung, Berlin 1973 oder Möller : Schafft (Anm. 1), S. 79ff.
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Jugendburg Ludwigstein. Außerdem wählt man ihn im gleichen Jahr zum Obmann des Freideutschen Kreises. Damit steht »der ›Außenseiter‹ nun an der Spitze der beiden größten Nachfolgeverbände der Jugendbewegung.«6 In einem kurzen autobiografischen Text mit dem Titel »Lebensbericht« schreibt Schafft knapp über seine jugendbewegte Zeit nach 1945: »Da ich politisch unbelastet war, habe ich bis Ostern 1953 den Vorsitz in der Leitung der Burg Ludwigstein gehabt und war zugleich Obmann der freideutschen Sammlung. Auch im Jugendverband unseres Landes hat man mir die Leitung in die Hand gedrückt.«7 Schafft hat zugleich Recht und Unrecht, wenn er sein Mitwirken als aufgenötigt beschreibt. Als hauptamtlicher Regierungsdirektor für Erziehung, Wissenschaft und Religion in Kassel und zeitgleich als Pfarrer in Kirchbauna hatte er wahrlich genug anderes zu tun. Dennoch wollte er Einfluss auf die nächsten Generationen – und die Ämter in den Organen der institutionellen Jugendbewegung boten ihm diesen. Das erste sichtbare Zeichen für sein Engagement in den Quellen zu Hermann Schafft ist ein Mitgliedsausweis des »Jugendburg Ludwigstein e.V.« mit der Nummer 395 aus dem Jahr 1946. Die Karte mahnt programmatisch: »FÜR DIE ALTEN: Erinnerung an das Werden der ersten deutschen Jugendbewegung, Verpflichtung aus dem Tode ihrer Kameraden – das Mahnmal Ludwigstein! FÜR DIE JUNGEN: Aufruf zum Bau der Zukunft!«8 Dem 1945 wieder gegründeten Verein sitzt als Vorstand in den ersten Nachkriegsmonaten Johannes Aff vor. Er ist ein Wandervogel der ersten Generation. Wie Schafft bezeichnet auch er sich als religiöser Sozialist. Nachdem die Burg Ludwigstein unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg als Unterkunft für amerikanische Truppen und als Flüchtlingsheim genutzt worden war, ist sie seit dem 15. Juli 1946 erneut in der Hand des jugendbewegten Zusammenschlusses. Überaus zügig beginnt die Wiederaufnahme des Burgbetriebs. Den ersten Wandergast vermerkt der Burgwart Eduard Kurbjuhn in seinen Unterlagen am 7. August 1946. Kurz darauf, am 18. August 1946, findet die erste Freizeit statt. Es ist Hermann Schafft, der hier ganz praktisch Aufbauarbeit in Form von »Kundschaft« leistet. Diese erste mehrtägige Veranstaltung wird von der Regierung in Kassel verantwortet und lädt Jugendpfleger und Jugenderzieher zu einer Tagung auf den Ludwigstein.9 An einen geregelten Herbergsbetrieb ist allerdings noch längst nicht zu denken. Die allgemeine Ressourcenknappheit in 6 Werner Kindt: Der Pfarrer in der Jugendbewegung, in: ders. (Hg.): Hermann Schafft – Ein Lebenswerk, Kassel 1960, S. 30–40, hier S. 34. 7 Hermann Schafft: Lebensbericht, von ihm selbst verfaßt, in: Kindt: Schafft (Anm. 6), S. 147–151. 8 Mitgliedskarte Nr. 395, ausgestellt 1946: Archiv der deutschen Jugendbewegung (AdJb), N 28 Hermann Schafft Nr. 25. 9 Bericht des Burgwarts Eduard Kurbjuhn (o.D.): AdJb, N 28 Nr. 25.
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Deutschland behindert auch den Neuanfang auf der Burg. Lehrgänge drohen aufgrund von Nahrungsmangel auszufallen. Kohle oder Holz zum Heizen fehlen, sodass der Burgbetrieb in Frage gestellt werden muss. Die Kurse im Winter 1946/ 47 jedenfalls können am Ende nur deshalb stattfinden, weil Schafft im Herbst 1946 den Ankauf von 100 Decken ermöglicht. Diese und auch andere Anekdoten verweisen auf Schaffts tragende Rolle in den Anfangsjahren auf der Burg: Als Regierungsdirektor und ehemaliger Professor an Pädagogischen Akademien musste Schafft mit der Autorität seiner Ämter an den zuständigen Stellen für die Anliegen der »Vereinigung Jugendburg Ludwigstein« eintreten. Diese Rolle schlägt sich ebenfalls in den nachgelassenen Korrespondenzen jener Jahre nieder. In diesen geht es nicht hauptsächlich um die inhaltlichen Themen auf der Burg, sondern primär um die Besorgung von Geld und Gütern für den Aus- und Umbau. Es ist nicht vermessen zu sagen, dass das Projekt ohne den Improvisierer, Netzwerker und Tausendsassa Schafft auch durchaus hätte scheitern können. Als der Burgbetrieb Ende 1946 dann eben doch recht ordentlich in Schwung kommt, sind es zuerst Gruppen aus der Region, die die Burg für sich nutzen – und die wohl zum Teil Schaffts Einladung folgen. So übernachten auf der Burg beispielsweise der CVJM Kassel, die Pfadfinder aus Wolfhagen und die Freie Deutsche Jugend Kassel.10 Schafft selbst ist in dieser Zeit mit zwei Gruppen anwesend. Auch Arno Koselleck, mit dem Schafft seit den Zeiten der Pädagogischen Akademie in Kassel befreundet und der mittlerweile Direktor an der Pädagogischen Hochschule Hannover ist, weilt im Oktober mit 160 Personen auf der Burg. Ostern 1947 soll die »Vereinigung zur Erhaltung der Jugendburg Ludwigstein« zum ersten Mal offiziell nach ihrer Neukonstituierung in einer Mitgliederversammlung zusammentreten und einen neuen Vorstand wählen. Über die genaue inhaltliche Ausrichtung der Vereinigung herrscht wenige Monate zuvor jedoch noch keine Klarheit. Dass der Ludwigstein einmal eine ökonomisch leistungsfähige Herberge und Bildungseinrichtung werden könnte, ist längst noch nicht klar. Im Dezember 1946 mahnt Schafft gegenüber Johannes Aff, es könne zu einer möglichen Dominanz kommunistischer Jugendbewegter auf dem Ludwigstein kommen, wenn bei der Wahl des Vorstandes die falschen Personen in Verantwortung kommen.11 Eine solche Ausrichtung muss nach Schafft unbedingt verhindert werden. In dieser Warnung drückt sich (unausgesprochen) vor allem aus, dass Hermann Schafft keinen Vorsitzenden haben möchte, der dem Christentum gegenüber skeptisch gesonnen ist. Selbst vermutlich kaum mit 10 Vgl. Belegplan Jugendburg Ludwigstein, 04. 09. 1946: AdJb, N 28 Nr. 25. 11 Brief Hermann Schafft an [Jo]Hannes Aff, 05. 12. 1946: AdJb, N 28 Nr. 25.
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aktivem Interesse hinter einem weiteren tragenden Amt her, kündigt sich im Februar 1947 seine spätere zentrale Rolle als Vorsitzender in der Vereinigung dennoch an. Das Beiratsmitglied Will Meboldt schreibt an Schafft bezugnehmend auf den wichtigen Tagesordnungspunkt »Führung der Ludwigsteinvereinigung« des Pfingsttreffens: »Für uns Erwachsene bedarf es nicht nur einer persönlichen Führung der Korrespondenz und geschäftlichen Angelegenheiten. Das macht Hannes Aff mit Einsatz seiner ganzen Arbeitskraft leider mit viel Umständlichkeit und ungenügender Arbeitsverteilung. Jede Vereinigung muß auch eine geistige Führung haben.«12
Schafft spürt in gewissem Sinne zwei Zwänge: Er ist zum einen als geistiger Führer aufgerufen worden, mit seiner Beteiligung am Vorstand könnte er zum anderen dafür sorgen, dass seine religiöse Lesart der Jugendbewegung nicht marginalisiert wird. Schließlich wird Schafft bei der Ostertagung Anfang April 1947 zum Ersten Vorsitzenden der »Vereinigung zur Erhaltung der Jugendburg Ludwigstein« gewählt.13 Zum Hauptamtlichen Geschäftsführer ernennen die Anwesenden Enno Narten, auf dessen Initiative die Burg einst zum Ort der Jugendbewegung ausgebaut wurde. Der erste Beirat der Vereinigung ist Narten gegenüber durchaus skeptisch. Er sei sehr eigenwillig, manchmal selbstherrlich und unentwegt, schreibt bereits genannter Will Meboldt. »Andererseits ist die Burg z. T. Ennos Lebenswerk, was ihm nie vergessen werden soll. Wenn er nicht eine gewisse Maßlosigkeit besäße, hätte ich keine Bedenken, ihn wieder als Geschäftsführer einzusetzen.«14 Er wird den Posten dennoch eine Weile bekleiden. Nicht bei allen gilt die Wahl Schaffts zum 1. Vorsitzenden als unstrittig. Ein Beleg dafür ist ein Brief, der Schafft im Januar 1948 erreicht. Der Autor Alfons Schmalstieg weist darauf hin, dass er an der Ostertagung in »scherzhafter Weise von den Paradepferden und den Arbeitspferden« gesprochen habe. Schafft sei für ihn damals »in erster Linie gleichsam das Paradepferd, das Aushängeschild für die Vereinigung«15 gewesen. Diese Bild habe sich allerdings gewandelt. Im gleichen Brief heißt es anerkennend: »Zank, Krach und Stunk ist seit 25 Jahren genug um den Ludwigstein gewesen, manchmal war das ganze Werk am Krachen, aber immer haben sich beherzte Männer gefunden, die im entscheidenden Augenblick das Steuer in die Hand genommen und das Schiff durch die Wogen allzustürmischer Aufgeregtheit hindurchgesteuert haben.
12 Brief Will Meboldt an Hermann Schafft, 02. 02. 1947: AdJb, N 28 Nr. 26. 13 Personen-Überblick »Vereinigung zur Erhaltung der Jugendburg Ludwigstein – Witzenhausen a. d.W.«, 25. 04. 1947: AdJb, N 28 Nr. 26. 14 Brief Will Meboldt an Hermann Schafft, 02. 02. 1947: AdJb, N 28 Nr. 26. 15 Brief Alfons Schmalstieg an Hermann Schafft, 14.01.194[8]: AdJb, N 28 Nr. 28.
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Dafür, dass Du Ostern Steuermann wurdest und die schwierige Aufgabe übernahmst, danke ich Dir besonders«.16
Auch Werner Kindt schreibt rückblickend im Ton des jugendbewegten Chronisten: Kein anderer sei Schafft »an Haltung und souveräner Führungskraft« gleich gekommen. »Er war es, der Ostern 1947 bei dem ersten Wiedersehen unserer alten Gefährten die abgrundtiefen Klüfte zwischen den Lagern von gestern und vorgestern zu schließen verstand […]. Ihm war es beschieden, die verlorene Rotte der nach zwei Weltkriegen noch überlebenden alten Wandervögel zu gemeinsamem Einsatz zu rufen und ihr wieder ein Gesicht zu geben.«17 Die Satzung der Vereinigung Jugendburg Ludwigstein bestimmt den formalen Rahmen für die Tätigkeiten auf der Burg. Dort heißt es: »Die Vereinigung ›Jugendburg Ludwigstein‹ dient der Erhaltung des Ludwigstein als Mahn- und Ehrenmahl für die gefallenen Kameraden der Deutschen Jugendbewegung, wie sie im Wandervogel ihren ersten Ausdruck fand. Sie will die Burg pflegen und betreuen als eine Stätte des Friedens, die der wandernden Jugend als Herberge und zu gemeinsamer Erholung, Sammlung und Arbeit offensteht. Sie weiss sich verantwortlich für die Sorge um die Kinder der toten Kameraden.«18
Gemeinsam mit Enno Narten verfasst Schafft in seinem neuen Amt als 1. Vorsitzender der Vereinigung zeitnah nach der Wahl einen Aufruf zur Mitgliederwerbung. Darin fordern die beiden im Pathos längst vergangener Tage: »Komm und reihe Dich ein!« In »Erinnerung an ihren Opfertod« wolle man mit dem Erhalt der Burg der »7000 [gefallenen] Kameraden des 1. Weltkriegs« gedenken. Zudem verstehe sich die Vereinigung als »Verwalter eines Erbes«.19 Das Burgleben blüht in den folgenden Monaten wieder auf. Im Dezember 1947 weist Enno Narten darauf hin, dass die Nachfrage nach Übernachtungen auf der Burg das Angebot bei weitem übersteige: »Wenn wir alle Anfragen berücksichtigen wollten, dann müßten wir drei Burgen von der Größe des Ludwigsteins haben. Es ist schwer und betrüblich, diesem oder jenem Bund absagen zu müssen«.20 Diese Aussage ist deshalb bemerkenswert, weil der Ludwigstein zu dieser Zeit insgesamt etwa 300 Gäste pro Nacht aufnehmen kann – Zeltende eingerechnet. Allerdings gibt es noch immer deutliche bauliche Mängel. Sanitäre Anlagen sind beispielsweise kaum vorhanden. Der Ausbau der Burg gehört zwar nicht zu Schaffts unmittelbarem Verantwortungsbereich. In 16 Ebd. 17 Kindt: Pfarrer (Anm. 6), S. 35. 18 Satzung der Vereinigung zur Erhaltung der Jugendburg Ludwigstein, 05. 04. 1947: AdJb, N 28 Nr. 27. 19 Beitrag »An alle Freunde und Mitglieder« von Hermann Schafft. In: Mitteilungsblatt der Vereinigung zur Erhaltung der Jugendburg Ludwigstein, Mai 1948: AdJb, N 28 Nr. 28. 20 Drittes Rundschreiben der Vereinigung zur Erhaltung der Jugendburg Ludwigstein, Dezember 1947: AdJb, N 28 Nr. 27.
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die Tätigkeiten vor Ort ist er wenig involviert. Dennoch scheint die Koordination der Vorgänge auch ihm eine Menge Arbeit zu bereiten. Im April 1948 klagt er : »Es wäre mir lieber, wenn ich 6 Köpfe und 20 Hände hätte, um die Dinge, zu denen Ruhe und Überlegung gehört, wirklich ganz sorgfältig mit Euch zu klären.«21 In einem Brief einige Jahre später liest man in Bezug auf die Arbeit für die Vereinigung, es sei »alles immer unendlich und der Berg scheint unabtragbar«.22 Bewahren und Gedenken sind für Hermann Schafft nur zwei Funktionen der Burg Ludwigstein. Zugleich soll sie für ihn im Sinne der Satzung Sammlungsort jugendbewegter Kultur sein oder erneut werden. Diese Idee der Sammlung aller Jugendbewegten führt zu echten Konflikten innerhalb der Bewegung. Neben Hermann Schafft und Werner Kindt, der im Beirat der Vereinigung sitzt, versuchen nämlich auch Gustav Wyneken und Knud Ahlborn eine neue institutionelle Heimat der Jugendbewegung zu schaffen. Beide Parteien haben allerdings eine unterschiedliche Vorstellung von dem, was Jugendbewegung nach 1945 sein soll. In einem polemischen Schreiben nennt Wyneken Schafft auch vor diesem Hintergrund einen »pektoral begabte[n] Pastor, dessen Ungeist mehr und mehr Herr zu werden droht über den guten und freien Geist vom Hohen Meissner«.23 Werner Kindt meint, Wyneken habe Zeit seines Lebens die Kränkung nicht überwinden können, »daß man ihm ›einen Pfaffen vorzog‹«.24 Im Jahr 1953 endet Hermann Schaffts Amtszeit als 1. Vorsitzender der Ludwigstein-Vereinigung. Ihm folgt Karl Vogt. Dieser »Wachablösung«, wie Kindt es nennt, geht ein gewisser Konflikt voraus, der vielleicht als typisch für die Jugendbewegung bezeichnet werden kann. Diesen und zwei weitere Konflikte rund um den Ludwigstein nach 1945 soll der Beitrag im Folgenden nachzeichnen. Bereits einige Jahre vor Schaffts Rücktritt sind immer wieder und stetig Forderungen zu hören, die Alten im Vorstand – und Schafft ist ein Sinnbild dafür – sollen den Jungen Platz machen. Schafft selbst hält den Vorstand ebenfalls für zu alt. Eine solche Aussage ist beispielsweise für das Jahr 1950 überliefert.25 Schafft ist zu dieser Zeit 66 Jahre alt. Sein eigener Rückzug scheint allerdings kein konkretes Thema zu sein. Schafft erhält Briefe, in denen es heißt, er könne doch »Ehrenvorsitzender« oder »Schirmherr« werden, aber nicht mehr im Vorstand selbst mitarbeiten.26 Als solche Aufforderungen nicht fruchten, konfrontiert man Schafft mit dem Vorwurf, der Vorstand wahre zu große Distanz zum eigentlichen jugendbewegten Leben der Burg. Karl Vogt, 24 Jahre jünger als Schafft, schreibt diesem: »Ich kann mir denken, dass dieses Versagen vor allem 21 22 23 24 25 26
Brief Hermann Schafft an Wilm Geyer, 27. 04. 1948: AdJb, N 28 Nr. 28. Brief Hermann Schafft an Trude Döring, 13. 07. 1950: AdJb N 28 Nr. 32. Zitiert aus: Brief Werner Kindt an Hermann Schafft, 13. 06. 1948: AdJb, N 28 Nr. 15. Kindt: Pfarrer (Anm. 6), S. 35. Brief Hermann Schafft an Rolf Klunker, 09. 05. 1950: AdJb, N 28 Nr. 32. Vgl. Brief Fritz Schulz an Hermann Schafft, Mai 1951: AdJb, N 28 Nr. 33.
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daran liegt, dass die älteren Mitglieder des Vorstandes wegen ihrer beruflich starken Belastung nicht genügend Zeit und Kraft haben, sich der Burg in ausreichendem Masse zu widmen.«27 Mit wenigen Ausnahmen sei der Vorstand nicht bei Veranstaltungen auf der Burg zugegen. »Das ›Ludwigsteinvolk‹ erfährt leider überhaupt nichts von Euch.«28 Dieser Vorwurf muss besonders den an der Jugend so interessierten Hermann Schafft hart getroffen haben. Vogt bescheinigt der Vereinigung in seinem Brief die »Lethargie eines reinen Erinnerungsvereins« und befürchtet: die »Form des E. V. droht, uns zu verschlingen«. Und etwas später im gleichen Brief: »Du wirst selbst wissen, dass die Tragik fast aller Jugendorganisationen darin liegt, dass die Alten nicht abtreten wollen, weil sie glauben, das Erbe am besten verwalten zu können.«29 Der Konflikt zieht sich bis in den Sommer 1952. Schafft versucht die zunehmende Unzufriedenheit einzudämmen, ruft das »Ludwigsteinvolk« zur »Zucht« auf.30 Zündende Argumente hat er jedoch nicht aufzubieten. Sein Rücktritt folgt dann eben 1953. In dem zweiten Konflikt geht es um die wahre Deutung der Jugendbewegung. Im Kern ist es ein Konflikt zwischen Wyneken und Schafft, noch mehr allerdings einer zwischen zwei Lesarten der Jugendbewegung. Gustav Wyneken arbeitet in Konkurrenz zum Freideutschen Kreis von Göttingen aus an einer eigenen Sammlung jugendbewegter Menschen – er nennt es die »Freideutsche Arbeitsgemeinschaft«. Die Briefwechsel zwischen Schafft und Kindt einerseits sowie Wyneken und Ahlborn andererseits verdeutlichen, dass Erstere den Anderen diesen vermeintlichen Alleingang nicht zubilligen. Wynekens Publikation »Was können wir tun? Grundlagen einer freideutschen Politik« verrät einiges über die programmatische Ausrichtung des Göttinger Vorhabens. Während Schafft mit seiner religiösen Interpretation des Phänomens Jugendbewegung grundsätzlich die gesamte Jugend Deutschlands und Europas zur Jugendbewegung hinzurechnen will – für ihn wird es die Jugend sein, die von Gott initiiert zu einer neuen Welt aufbricht –, ist Wyneken der Überzeugung, die Jugendbewegung sehe »sich selbst als eine Elite der Jugend, einen Vortrupp im Aufbruch der Jugend«.31 Wyneken betont das zentrale Moment der Autonomie. Er plädiert für eine selbstbewusste Loslösung der Jugend von anderen Gesetzlichkeiten. Religiöse Weltanschauungen und Regeln bilden dabei keine Ausnahme. Das ist das Gegenteil von dem, was Schafft will, denn er sieht in den grundlegenden Glaubensüberzeugungen den Schlüssel zur Vereinigung von Jugend und Völkern. 27 28 29 30
Brief Karl Vogt an Hermann Schafft, 11. 05. 1951: AdJb, N 28 Nr. 33. Ebd. Ebd. Protokoll 2. Vorstandssitzung der Vereinigung Jugendburg Ludwigstein e. V., 06. 07. 1952: AdJb, N 28 Nr. 34. 31 Gustav Wyneken: Was können wir tun? Grundlagen einer Freideutschen Politik, Hamburg 1948, S. 7.
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Schafft verweigert Wyneken deshalb jede Annäherung. Dessen Sichtweise spielt in Schaffts Augen einem zersetzenden und zerstreuenden Pluralismus in die Hände. Allerdings wird an keiner Stelle der Auseinandersetzung ausgesprochen, dass es sich bei dem Konflikt zwischen Schafft/Kindt und Wyneken/Ahlborn eigentlich um einen zwischen einem säkularen Verständnis der Jugendbewegung, das die Autonomie der Jugend betont, und dem einer christlich fundierten Jugendbewegung ist. Wyneken schreibt in Bezug auf die Jugendbewegung als eine »Gemeinschaft von Freien«: »Man hat in diesen Zeiten oft gehört, daß sich die Kirche das Gewissen des Staates nannte. Aber die Kirche ist selbst Partei, sie ist nicht nur Partei einer bestimmten und umstrittenen Weltanschauung, sondern sie ist auch eine der um politische Macht kämpfenden Gruppen und stark mit Standesinteressen verquickt. Als solche ist sie nicht dazu geeignet, eine unparteiische und überparteiliche Instanz zu bilden.«32
Schafft und Wyneken bleiben in diesem Punkt unversöhnbar : Während der erste im christlichen Denken und Handeln den Schlüssel für die Heilung der Gesellschaft sieht, spricht sich der zweite unbedingt für eine areligiöse Gemeinschaft aus. Ganz allgemein lässt sich der ganzen Streit auf diese Formel bringen: Wyneken will die Idee (seine Idee) von dem, was Jugendbewegung heißt und ist, retten, Schafft hingegen möchte möglichst viele Menschen zusammenbringen. Dem exklusiven Anspruch von Schafft und Kindt, alleine für die Sammlung aller Jugendbewegten zuständig sein zu wollen, erteilen Wyneken und Ahlborn eine Absage. Dieser Anspruch könne, so Wyneken, selbst dann nicht gelten, wenn ein Kreis den anderen durch die Anzahl seiner Mitglieder überrage. Wyneken ist der Überzeugung, dass es keine quantitative Repräsentation des Freideutschen gibt, sondern nur eine qualitative »und sogar ein Einzelner kann ›repräsentativer‹ für die Idee des Freideutschtums sein als ein ganzer Verein.«33 An der Sammlung aller (vermeintlich) Freideutschen ist Wyneken keinesfalls interessiert. Er möchte die freideutsche Idee erhalten. Schafft hat einen solchen Exklusivismus (trotz eigener Exklusivitätsansprüche) jederzeit als bedrohlich empfunden. Der dritte Konflikt ist an anderer Stelle bereits ausführlich beschrieben worden.34 Er wird hier deshalb nur kurz skizziert. Laut Satzung der »Vereinigung zur Erhaltung der Jugendburg Ludwigstein«, verabschiedet im Frühjahr 1947, sind nur solche Personen als Mitglieder zulässig, »die als Freunde der alten deutschen Jugendbewegung sich von einer aktiven Förderung des Nationalso32 Ebd., S. 10. 33 Brief Gustav Wyneken an Werner Kindt, 27. 05. 1948: AdJb, N 35 Gustav Wyneken Nr. 1776. 34 Vgl. Lukas Möller: »Ich habe geschwiegen, weil ich im Bezug auf die Sache durchaus für Toleranz bin«. Der Umgang mit rechtem Gedankengut in der Jugendbewegung nach 1945 am Beispiel der Jugendburg Ludwigstein. Zeitschrift für Sozialpädagogik, 2014, 12. Jg., Heft 4, S. 425–440.
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zialismus freigehalten haben.«35 Die gesichteten Quellen legen jedoch in vielfacher Hinsicht nahe, dass es sich bei dieser Formulierung um ein Lippenbekenntnis handelt, das zwangsläufig Probleme und Seltsamkeiten nach sich zieht. Ein Beispiel: Als auf dem Ludwigstein 1947 die Idee diskutiert wird, ein Kinderheim einzurichten, schlägt das Beiratsmitglied Will Meboldt als Leiterin eine Bekannte vor, die eine »Jahre lange Tätigkeit als Leiterin von NSV-Kindergärten«36 nachzuweisen habe und deshalb besonders geeignet sei. Gleichermaßen unsensibel zeigt sich die Vereinigung im Mai des gleichen Jahres. Auf dem am Ludwigstein stattfindenden Reichstag der Gilde Soziale Arbeit wird neben anderen, unverfänglichen Themen auch über den »biologisch-wirtschaftlichen Standpunkt«37 der Gildenarbeit gesprochen. Es wird das Vokabular der Eugenik bemüht, um zu zeigen, dass es um die »Volkssubstanz« schlecht bestellt sei.38 Mehrfach muss sich Schafft während seiner Zeit als 1. Vorsitzender der Ludwigstein-Vereinigung mit der NS-Vergangenheit und mit ehemaligen Nationalsozialisten in den Reihen der Vereinigung befassen. Ein exemplarischer Fall ist Werner Döring, der bis zum Lebensende Schaffts mit diesem in freundschaftlichem Kontakt steht und der als gelernter Bibliothekar in den frühen Jahren der Nachkriegs-Burggeschichte für den Wiederaufbau des Archivs zuständig ist. Im Frühjahr 1948 schreibt der Geschäftsführer des Ludwigsteins, Enno Narten, an den Vorsitzenden: »Werner Döring hat mir […] selbst einmal gesagt, daß er seine Entnazifizierung solange wie nur irgend möglich hinausschieben würde, weil er sonst Gefahr laufe als Hauptschuldiger inhaftiert zu werden.«39 Er sei zwar NSDAP-Mitglied gewesen, beteuert Döring gegenüber Narten, aber niemand von Bedeutung. Narten empfiehlt Schafft daraufhin, die Sache auf sich beruhen zu lassen. Allerdings kann er sich den Hinweis nicht verbieten, es sei bemerkenswert »und für Dich ja auch nicht neu, daß man uns immer wieder den Vorwurf macht, wir seien bewußt oder unbewußt der Sammelpunkt für frühere NSDAP-Aktivisten.«40 Noch ein letztes Beispiel: Als Werner Kindt 1951 zum 50-jährigen Bestehen des Wandervogels einen Vortrag über die Bedeutung der Jugendbewegung nach 1945 hält und dabei seine Stellungnahme zum Nationalsozialismus und zur Hitlerjugend »unter den Tisch«41 fällt, beklagt sich Schafft über dieses Versäumnis. Kindt entschuldigt sich und weist zugleich darauf hin, dass das Vor35 Satzung der Vereinigung zur Erhaltung der Jugendburg Ludwigstein, 05. 04. 1947: AdJb, N 28 Nr. 27. 36 Brief Will Meboldt an Hermnn Schafft, 02. 02. 1947: AdJb, N 28 Nr. 26. 37 Bericht der Reichstagung der Gilde Soziale Arbeit, Mai 1947: AdJb, N 14 Werner Kindt Nr. 76. 38 Ebd. 39 Brief Enno Narten an Hermann Schafft, 13. 04. 1948: AdJb, N 28 Nr. 24. 40 Ebd. 41 Brief Werner Kindt an Hermann Schafft, 06. 11. 1951: AdJb, N 28 Nr. 33.
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standsmitglied der Ludwigstein-Vereinigung, der Anwalt Hans Lacher, und Werner Döring ihn wenige Wochen vor dem Vortrag aufgesucht hätten. Man habe ihn dazu aufgefordert, zur Hitlerjugend nur positiv Stellung zu nehmen. Dort sei doch, so hätten die beiden argumentiert, vieles aus der Jugendbewegung fortgesetzt worden.42 Besonders der seit 1948 amtierende Burgwart Walther Jantzen – so machen es die Quellen in Schaffts Nachlass deutlich – fördert überdies regelrecht das Auftreten rechter und völkischer Gruppierungen auf dem Ludwigstein. Im Protokoll zum Pfingsttreffen 1952 auf dem Ludwigstein ist beispielhaft zu lesen: »Zur Morgenfeier am Pfingstmontag erklärte Hermann Schafft, er habe sich erschrocken über die Einseitigkeit in Lied und Gedicht. Man dürfe nicht Volk und Vaterland als das Letzte herausstellen, es müsse etwas Höheres darüber stehen. Er habe nichts dagegen, wenn ›Bünde‹ auf der Burg ihre Lieder singen, aber nur als Gruppe. Wenn aber von der Burg, der Vereinigung aus eine Feier gehalten wird, sollte man in der heutigen Situation nicht vergessen, alle in rechter Weise anzusprechen und nicht einseitig zu sein.«43 Das Protokoll verdeutlicht, dass diese Morgenfeier einige Teilnehmer an die Feiern und Formen des Nationalsozialismus erinnert hat. Im Protokoll heißt es weiter : »Hermann Schafft betonte die Rücksichtnahme auf die, die noch nicht das vergessen können, was sie unter dem Nationalsozialismus erlitten. […] Grosse Aufregung habe das Gerücht verursacht, dass Hermann Schafft gesagt haben soll: ›Das ist Nazismus, das muss aufhören!‹«44 Schafft drückt zwar sein Bedauern aus, dass diese im kleinen Kreis gefallene Äußerung nun so öffentlich geworden sei. Dennoch: »Hermann Schafft erklärte, es wäre furchtbar, wenn sich etwas wiederholen würde, wenn man aus der Vergangenheit nichts gelernt hätte.«45 Trotz dieser offensichtlichen Zuspitzungen glaubt Hermann Schafft weiterhin, tolerant mit den entsprechenden Gruppen umgehen zu müssen. Er möchte niemanden von der Burg verjagen und allen Gruppierungen einen Platz bieten. Einige Jahre später, 1956, Schafft ist schon nicht mehr Vorsitzender, schreibt er etwas frustriert nach anhaltendem und weiter vehementem Auftreten rechter Gruppen auf jugendbewegten Veranstaltungen rund um die Vereinigung. »Ich habe geschwiegen, weil ich im Bezug auf die Sache durchaus für Toleranz bin.«46 Er wolle sich nicht dagegen aussprechen, dass politisch rechts stehende Menschen auf dem Ludwigstein auch einen Platz haben. Er beanstande aber sehr wohl, »daß ich den Eindruck 42 Ebd. 43 Protokoll 2. Vorstandssitzung der Vereinigung »Jugendburg Ludwigstein e.V.«, 06. 07. 1952: AdJb N 28 Nr. 34. 44 Ebd. 45 Ebd. 46 Brief H. Schafft an Arthur Bode, 23. 05. 1956: AdJb, N 28 Nr. 35.
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habe, daß W.J. [Walther Jantzen] diese Kreise bevorzugt und ihren Einfluß stärkt.«47 Und tatsächlich kommt dieser seit Wiedergründung der Vereinigung jahrelang schwelende und unentschiedene Konflikt schließlich im Sommer 1956 – mehr als zehn Jahre nach der Befreiung vom Nationalsozialismus – auch in der Welt jenseits der Burgmauern an. Im Juli 1956 meldet sich das Landesjugendamt Hessen postalisch bei Arthur Bode. Der Brief spricht deutlich die nun offenbar weithin bekannten völkischen Tendenzen auf dem Ludwigstein an. »Mit erheblicher Sorge sehen wir das anmaßende Auftreten nationalistischer und faschistischer Jugendgruppen [auf dem Ludwigstein] und betrachten dies als ein alarmierendes Anzeichen des Wiederauflebens nationalistischer Tendenzen.«48 Der Autor des Briefes mahnt: »Nach dem Zusammenbruch von 1945 wurde die Jugendburg Ludwigstein dank der Bemühungen von Professor Hermann Schafft der deutschen Jugend erhalten. Land und Bund haben in den vergangenen Jahren erhebliche Mittel zum Ausbau der Burg bereitgestellt. […] Sie werden Verständnis dafür haben, daß wir unsere Teilnahme an Veranstaltungen der Vereinigung Jugendburg Ludwigstein und eine Befürwortung weiterer staatlicher Zuwendungen für die Jugendburg Ludwigstein von einer klaren Stellungnahme [gegen rechte Bünde] des Vorstandes der Vereinigung abhängig machen müssen.«49
Ein Komitee aus Vorstand und externen Mitgliedern – darunter Hermann Schafft – kann sich schließlich darauf einigen, radikale verbotene Gruppierungen vom Burgleben auszuschließen. Das trägt vorerst zur Beruhigung bei. Der Konflikt um rechte Bünde und die Personalie Walther Jantzen bleibt aber weitere zwei Jahre bestehen. Die Geschichte der Burg zeigt – in Kürze – zweierlei: Wie überall in Deutschland nach 1945 wird auch am Ludwigstein Aufbauarbeit geleistet. Der Erfolg des Ludwigsteins heute ruht auf den Schultern des Engagements der Akteure von damals. Wie überall in Deutschland ringen auch die Verantwortlichen am Ludwigstein mit dem Erbe der Vergangenheit und um die Fragen der Zukunft. Welche Erfolge, Konflikte und Unmöglichkeiten dabei zum Tragen kamen, wurde in diesem Beitrag aus der Perspektive Hermann Schaffts anzudeuten versucht. Es erscheint als eine lohnende Arbeit, mithilfe anderer Quellen und Blickwinkel dieser weithin unbekannten Geschichte der Jugendbewegung weiter nachzugehen.
47 Ebd. 48 Brief Landesjugendamt Hessen an Arthur Bode, 25. 07. 1956: AdJb, N 28 Nr. 35. 49 Ebd.
Wolfgang Hertle
Friedensinitiativen auf Burg Ludwigstein – Grenzüberschreitungen und das internationale Grenztreffen der War Resisters’ International 1951
Bis heute beziehen besonders in den USA und in Großbritannien gewaltfreie Bewegungen ihr Selbstbewusstsein aus dem Wissen um ihre streitbare Vergangenheit.1 Aufgrund der von Gehorsam geprägten Geschichte fehlen in Deutschland entsprechende erfolgreiche Traditionen und manche Widerstandsaktionen sind vergessen worden. Wer weiß z. B. heute noch, dass die Insel Helgoland nach Kriegsende durch systematische Bombenabwürfe der Royal Air Force völlig zerstört worden wäre, hätten nicht zum Jahresende 1950 zwei Heidelberger Studenten (1) mit einer Besetzungsaktion eine Reihe weiterer Protestaktionen ausgelöst, die schließlich zur Rückgabe der Insel an die auf das Festland evakuierten Helgoländer führte?2 Diese Anfänge der gewaltfreien Bewegung nach 1945 sind aus heutiger Sicht besonders interessant, denn es ist kaum mehr nachzuempfinden, auf welche Schwierigkeiten unkonventionelle Aktionen im Klima des Kalten Krieges stießen. In diesen Kontext gehört auch eine gewaltlose Aktion bei einer Tagung der Internationalen Kriegsdienstgegner auf der Burg Ludwigstein im August 1951, bei der versucht wurde, mit einer die Grenze überschreitenden Aktion an der Werra dieselben Friedensforderungen in der DDR zu verbreiten wie im Westen. Im Archiv der deutschen Jugendbe1 Mein Interesse an diesem Thema ist von meiner persönlichen Entwicklung geprägt. Als Gymnasiast war ich aktiv im Bund Neudeutschland (ND). In Gesprächen mit Freunden im Bund Quickborn und im Bund Deutscher Jungenschaften wurde mir bewusst, wie im ND die bündischen Elemente zu Gunsten der Kontrolle durch die katholische Kirche abgebaut wurden. Als ich den Kriegsdienst verweigerte, stieß dies im ND und dem konservativen Umfeld in Bayern Mitte der 1960er-Jahre auf massive Ablehnung. Die Beteiligung einiger katholischer Intellektueller und Jugendgruppen am Widerstand gegen die Remilitarisierung in den 1950er-Jahren war aus der Erinnerung verdrängt worden. Zum demonstrativen Abschied vom ND trat meine Gruppe unter dem Fantasienamen »Katholische Jungenschaft« mit Protestsongs beim Ostermarsch 1966 auf. Seither besteht bei mir ein wehmütiges Interesse am kulturellen und Gemeinschaftsleben der Jugendbewegung. Und der gewaltfreie Widerstand wurde zum Schwerpunkt meiner Arbeit als Politologe und meines Engagements in der Ökologie- und Friedensbewegung. 2 Vgl. Ren¦ Leudesdorff: Wir befreiten Helgoland, Bremen 1996; Herbert Szezinowski: Friedenskampf um Helgoland, Frankfurt a. M. 1985.
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wegung finden sich darüber nur wenige Quellen, die sich aber durch Recherchen in einschlägigen Archiven ergänzen lassen. Insofern sind die folgenden Überlegungen vor allem als Anregung zur weiteren Erforschung zu verstehen. Das Internationale Grenztreffen der War Resisters’ International (WRI) und die darin integrierte Jahrestagung der »Internationale der Kriegsdienstgegner« (IdK), d. h. der 1947 neu gegründeten deutschen WRI–Sektion, im August 1951 auf dem Ludwigstein war ein Treffen der Friedensbewegung, das aber nicht zufällig auf der Burg der Jugendbewegung stattfand. Es gab seit den 1920erJahren zahlreiche Verbindungen zwischen Jugendbewegung und Friedensbewegung. Sie sind anhand von Einzelpersonen nachweisbar, die in beiden Bewegungen aktiv waren. In einigen Bünden finden sich solche Querverbindungen vermehrt, z. B. im Bund der Köngener, im Quickborn, in der Sturmschar, im Sternberg-Kreis. Gerade die Ludwigsteiner Sammlungen könnten daraufhin noch sehr viel gründlicher erforscht werden; die folgenden Beispiele sollen dafür einige Hinweise geben.3 Der Alt-Wandervogel Paul Heinecke (1898–1985) aus Eisenberg / Thüringen setzte sich sehr für die Wahl der Burg Ludwigstein als Tagungsort für die WRI/ IdK-Tagung ein. 1918 war Heinecke bei Arras in Nordfrankreich schwer verwundet worden.4 Bis 1933 war er Mitglied der Weltjugendliga. und nahm an internationalen Treffen der Jugend teil. Heinecke führte lange Korrespondenzen mit Burkhart Schomburg und erwähnte darin immer wieder das Ludwigsteiner Archiv, »Onkel Ludwig«, dem er zahlreiche Dokumente überlassen habe. Heinecke stand zudem in regem Briefwechsel mit dem IdK-Vorsitzenden Theodor Michaltscheff in Hamburg; auch darin ist die Burg Ludwigstein häufiges Thema. Von 1949 bis 1955 war Heinecke Mitglied im Arbeitsausschuss der Internationale der Kriegsdienstgegner. Die IdK war als Organisation in der DDR nicht zugelassen, aber auch nicht verboten: In den 1950er-Jahren hatte die IdK in der DDR ca. 125 Mitglieder. Heinecke stand mit allen im Folgenden erwähnten Personen in Kontakt. 3 Internationales Institut für Sozialgeschichte Amsterdam (IISH), Best. WRI; Archiv der Forschungsstelle für Zeitgeschichte Hamburg (AFZH), Best. IdK; Friedensakademie Bad Harzburg; Evangelisches Zentralarchiv Berlin: Korrespondenz Nikolaus Koch mit Friedrich Siegmund-Schultze, Ökumenisches Archiv ; Stadtarchiv Eisenberg (Thüringen): Nachlass Paul Heinecke im Stadtarchiv Eisenberg / Thüringen). – Vgl. auch Guido Grünewald: Die Internationale der Kriegsdienstgegner (IdK), Diss., Köln 1982. 4 Paul Heinecke verhandelte u. a. 1951 mit dem Ministerium für Post- und Fernmeldewesen über die Zulassung der Friedensrundschau im Zeitungsversand der DDR, schrieb diverse Eingaben zugunsten eines Gesetzes zum Recht auf Kriegsdienstverweigerung und engagierte sich für die Verbesserung der Bedingungen des gesamtdeutschen Dialoges. Heinecke sei »unser beste Freund in der Ostzone […] Sein Mut sollte nicht ein Anlass zur Verdächtigung sein, sondern zur Bewunderung und Nachahmung«; vgl. AFZH, Ordner 330: Michaltscheff am 29. 04. 1952 in Korrespondenz H. Müssig. – 1968 organisierte Heinecke in Thüringen ein Wandervogeltreffen.
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Der Hamburger Lehrer Helmut Hertling (1890–1991) nahm 1913 am Ersten Freideutschen Jugendtag auf dem Hohen Meißner teil; er war ein Freund von Knud Ahlborn und blieb der Jugendbewegung bis in sein hohes Alter verbunden.5 Seit dem Ende des Ersten Weltkrieges war er engagierter Pazifist und wurde Mitglied der Deutschen Friedensgesellschaft, sowie ab 1947 auch der IdK. Gemeinsam mit Ahlborn gründete er die »Gilde Hoher Meißner« und er gehörte zu den »Freideutschen Freunden der VHS Klappholttal«. Vor der Entscheidung für den Ludwigstein als Ort des Grenztreffens war auch Klappholttal auf Sylt im Gespräch gewesen. Heinz Kraschutzki (1891–1982) war 1903 dem Wandervogel beigetreten. Die Erfahrung des Ersten Weltkriegs ließ den Kapitänleutnant a. D., ähnlich wie Hans Paasche, zum Pazifisten werden. Er war von 1947–1963 Mitglied im Internationalen Rat der War Resisters’ International.6 Theodor Michaltscheff (1899–1968) war von 1947 bis 1966 Vorsitzender bzw. Generalsekretär der IdK (6), reiste Pfingsten 1951 zum Ludwigstein und führte mit dem Burgwart die abschließenden Verhandlungen für die Tagung.7 Unmittelbar vor dem Grenztreffen auf der Burg fand vom 27. bis 31. Juli 1951 in Braunschweig die Dreijahreskonferenz der WRI statt, ihr erstes Treffen in Deutschland nach dem Krieg. Ein Verbindungsmann für diesen Tagungsort war Prof. Eberhard Schomburg, Quäker und Cousin von Burkhart Schomburg.8 Enno Narten, der für die Geschichte der Jugendburg Ludwigstein eine wichtige Rolle spielte, war 1951 u. a. Vorsitzender der Ortsgruppe Hannover der »Deutschen Friedensgesellschaft« und Mitglied im Hauptausschuss für Volksbefragung gegen die Remilitarisierung.9 Es liegt nahe, dass er Helmut Hertling und den IdK-Vorsitzenden Theodor Michaltscheff kannte. Zusammengefasst deutet vieles darauf hin, dass einige Angehörige der Jugendbewegung, die als Soldaten bereits den Ersten Weltkrieg erlebten, nach Ende des Zweiten Weltkriegs verstärkt gegen die erneute Aufrüstung Deutschlands wirken wollten und den ihnen vertrauten Ludwigstein, auch angesichts seiner geopolitischen Lage an der innerdeutschen Grenze als besonders geeignet 5 Klaus Schlichtmann: Helmut Hertling (1890–1991) und die Weltbürgerbewegung, in: Detlev Bald, Wolfram Wette (Hg): Friedensinitiativen in der Frühzeit des Kalten Krieges 1945–1955, Essen 2010, S. 155–176. 6 Reinhold Lütgemeier-Davin: Vom Militär zum Antimilitaristen – Heinz Kraschutzki (1891–1982), in: Jahrbuch des Archivs der Jugendbewegung, 1982–83, Bd. 14, S. 241–254; Helmut Donat: Kapitänleutnant a. D. Heinz Kraschutzki (1991–1982). Ein Offizier im Kampf für ein »anderes« Deutschland, in: Wolfram Wette (Hg): Pazifistische Offiziere in Deutschland 1871–1933, Bremen 1999, S. 336–362. 7 »20 Jahre Friedensrundschau, 20 Jahre Internationale der Kriegsdienstverweigerer (1947–1966)«. Persönliche Erinnerungen von Theodor Michaltscheff, Reprint durch Archiv Aktiv, Hamburg 1996. 8 Zu Eberhard Schomburg (1904–1987) s. Claus Bernet: »Paedagogica Quakeriana reformate«, in: Michael Wermke (Hg.): Religionspädagogik und Reformpädagogik, Jena 2010, S. 195–222. 9 Stefan Appelius: Pazifismus in Westdeutschland, Aachen 1991, S. 257 und 265.
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für ein internationales Friedenstreffen ansahen. In einem Brief an Grace Beaton berichtet Theodor Michaltscheff am 9. Juli1950 von der Zusage des Burgwarts: »Wie gesagt ist es eine Art unabhängige Jugendherberge. Mehrere deutsche Friedensverbände hielten hier ihre Konferenzen ab. Die führenden Personen der Burg sind Pazifisten und Paul Heinecke ist ihnen sehr freundschaftlich verbunden. Sie gehörten vor1933 zur Jugendbewegung.«10
Das Internationale Grenztreffen vom 31. Juli bis 5. August 1951 auf Burg Ludwigstein Michaltscheff warb ausführlich für die Wahl der Burg Ludwigstein, denn sie sei »ein traditioneller Versammlungsort pazifistischer und fortschrittlicher Bewegungen«. Zudem gewähre sie »einen weiten Blick in die Ostzone hinein«. Wenigstens symbolisch könne man daher von einem »Ost-West-Grenztreffen« sprechen, auch wenn man »aus der Ostzone und den Ostländern kaum auf Teilnehmer hoffen« könne. Die Burg Ludwigstein sei bereit, für bis zu 250 Teilnehmer Unterkunft und Verpflegung zu stellen. Unterkunft sei einfachster herbergsmäßiger Art, mit nur einer Decke. Die Verpflegung einfach aber ausreichend, Unterkunft und Verpflegung kosteten 2,50 DM pro Tag. Michaltscheff kündigte das Internationale Grenztreffen in der IdK-Zeitschrift »Die Friedensrundschau« an. Die Titelseite vom April 1951 zeigt einen Blick auf die Burg Ludwigstein, die Juli-Ausgabe zeigt den Hof der Jugendburg. Das Treffen sollte die Konferenz in Braunschweig ergänzen und mehr Raum für persönliche Gespräche und Austausch bieten, als es eine alle drei Jahre stattfindende Tagung mit Vorträgen und Diskussionen ermöglichen könne. Teilnahmeberechtigt an diesem »summer-camp« sollten nicht nur die Delegierten der WRI-Konferenz sein, sondern im Prinzip jedes Mitglied einer der WRI-Sektionen und befreundeter Friedensorganisationen. Für das Grenztreffen war täglich ein Vortrag am Vormittag geplant. Die Nachmittage sollten ganz dem geselligen Beisammensein mit Wandern, Singen, Tanzen und persönlichen Begegnungen gewidmet sein, während für die Abende Diskussionen vorgesehen waren. Beschlüsse waren nicht geplant, aber auch nicht ausgeschlossen. Leichte organisatorische Schwierigkeiten brachte die Entscheidung mit sich, das Jahrestreffen der IdK vom 3. bis 4. August in das Programm des Internationalen Grenztreffens einzubauen. Die Vorträge an den Vormittagen waren als gemeinsame Veranstaltungen beider Treffen geplant. Am Abend des 31. Juli begrüßte Burgwart Jantzen die Gäste auf dem Lud10 AFZH, Best. IdK, Ordner 079, Korrespondenz WRI 4, Ordner 079.
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Abb. 22: Titelblatt der Zeitschrift »Die Friedensrundschau« vom Juli 1951.
wigstein. Aus elf verschiedenen Ländern waren 63 Kriegsdienstgegner gekommen, was die Erwartungen der Gastgeber übertraf. Heinz Kraschutzki gab als Vertreter der IdK im Internationalen Rat der WRI einen Rückblick auf die
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vorangegangene WRI-Konferenz in Braunschweig. Am 1. August referierte Kraschutzki über »Die weltpolitische Lage und unsere Aufgabe als Kriegsdienstverweigerer«. Gegenseitiges Misstrauen führe zu Aufrüstung und Kriegsvorbereitung. Russland fürchte insbesondere die Aufrüstung Deutschlands, da die Deutschen »erfahrene Russlandkämpfer« seien. »Das allgemeine Wettrüsten, das die Völker wirtschaftlich ruiniert, trägt nicht dazu bei, den Frieden zu sichern, sondern wird, wenn man ihm nicht rechtzeitig Einhalt gebietet, die Menschheit in den Abgrund stürzen.« Der Vortrag von Nikolaus Koch (1912–1991) am 2. August 1951 zum Thema »Gewaltlosigkeit in Deutschland. Mittel und Wege zur praktischen Durchführung« war nach Ansicht von Theodor Michaltscheff »vom Standpunkt der weltanschaulichen Schulung« Höhepunkt des Grenztreffens. Nikolaus Koch hatte der katholischen Jugend angehört.11 Ab 1949 engagierte sich der kriegsverletzte Koch intensiv gegen die drohende Wiederaufrüstung. Als Leiter der Deutschen Friedensakademie in Bad Harzburg forderte er pazifistische, aber auch christliche, gewerkschaftliche, Jugend- und Frauenorganisationen auf, ein Bündnis für»aktive Nichtgewalttätigkeit« zu bilden. Einer der Mitarbeiter der Friedensakademie war Josef C. Rossaint, der in der Weimarer Zeit im Friedensbund Deutscher Katholiken sowie bei der jugendbewegten Sturmschar, auch noch nach deren Verbot durch die Nazis, eine führende Rolle gespielt hatte. Koch veröffentlichte 1951 die grundlegende Schrift »Die moderne Revolution – Gedanken der gewaltfreien Selbsthilfe des Volkes«. Wahrscheinlich wurde hier erstmals das Wort »gewaltfrei« verwendet. Kochs Analyse der Situation im Kalten Krieg lässt sich auch als Weiterführung der Grundsatzerklärung der WRI verstehen, in der sich die Mitglieder verpflichten, an der Beseitigung aller Kriegsursachen mit zu wirken – und nicht nur den Kriegsdienst im engeren Sinn zu verweigern. Seiner Meinung nach war »nirgendwo, soweit wir sehen […] gegenwärtig der gewaltlosen Entwicklung der Welt eine solche Chance gegeben wie in unserem zweigeteilten Deutschland. Sein totaler Zusammenbruch 1945 und die nachfolgende Politik der Sieger, politisch, wirtschaftlich und geistig jedes Wiederaufleben vergangener Gewaltpolitik unmöglich zu machen, hat im deutschen Volk einzigartige Voraussetzungen geschaffen: den Zwang, gesunde und starke Politik nicht anders als gewaltlos treiben zu können.«12 Die Engländerin Rosa Hobhouse rief im nächsten Vortrag am 3. August zu absoluter und bedingungsloser Kriegsdienstverweigerung (KDV) auf, in der sie keinen Platz für einen vom Staat organisierten Alternativdienst vorsah – auch 11 Detlef Thierig: Nikolaus Koch. Philosoph und Friedenspartisan, in: Frank Ahland, Matthias Dudde, Stadtarchiv Witten (Hg): Wittener. Biografische Porträts, Band I, Witten 2000, S. 200–204. 12 Nikolaus Koch: Die moderne Revolution. Gedanken der gewaltfreien Selbsthilfe des Deutschen Volkes, Tübingen 1951, S. 117.
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wenn in Ländern, in denen es gar kein Recht auf KDV gäbe, wie in Frankreich, Italien und Spanien, sowie in den Ländern des Ostblocks, das Vorhandensein eines Ersatzdienstes unter ziviler Leitung einen Fortschritt darstellen würde. Deutsche Teilnehmer betonten, dass nach Artikel 4, Absatz 3 des Grundgesetzes niemand gezwungen werden dürfe, Kriegsdienst zu leisten. Sie seien bereit, notleidenden Menschen zu helfen, wollten aber nicht, dass ihre Hilfeleistung als Ersatz für nicht begangenes Verbrechen gelte. Die ausländischen Gäste wanderten am Nachmittag nach Falkenstein, während die Jahrestagung der deutschen Sektion mit Berichten über diverse Aktivitäten der IdK wie Versammlungen, Protestaktionen und Stellungnahmen gegen die Remilitarisierung fortgesetzt wurde. Am 4. August unternahmen die Gäste, die nicht an der IdKJahreskonferenz teilnahmen, eine Tagesfahrt nach Kassel, während die Tagung auf der Burg mit den Themen »Zusammenarbeit mit anderen Organisationen« und »Unsere Sichtweise des Ost-West-Problems« fortgesetzt wurde. Zwei inhaltliche Ergebnisse der IdK-Jahreskonferenz sind hervorzuheben: Die IdK bekräftigte in einer Entschließung, dass für sie Zusammenarbeit mit jeder Organisation möglich sei, »die nicht einseitig östlich oder westlich orientiert ist und die den Krieg als Mittel ablehnt«. Die Einhaltung dieser Neutralitätslinie im Klima des Kalten Krieges sollte in den folgenden Jahren immer wieder zu Spannungen innerhalb des Verbandes führen. Dem Vortrag von Nikolaus Koch folgend wurde beschlossen, »gewaltlose Gruppen zu bilden, deren Aufgabe sein wird, gewaltlose Aktionen in die Wege zu leiten. Diese Gruppen sollen aus Männern und Frauen bestehen, die mit den Methoden und Grundsätzen der Gewaltlosigkeit vertraut sind und die auch unter schwersten Prüfungen gewaltlos bleiben können.«13 Wegen der hohen Anforderungen, die an die Mitgliedschaft solcher Gruppen gestellt würden, könne nicht jedes Mitglied der IdK ohne Weiteres Mitglied auch einer gewaltlosen Gruppe sein, wenn auch die IdK als solche auf dem Boden der Gewaltlosigkeit stehe. Hier kommt u. a. Kochs Einstellung zum Ausdruck, der auf »das Gesetz der kleinen Zahl« setzte, entscheidend sei der Wille und die Entscheidung zur »aktiven Nichtgewalttätigkeit«.Berichte und ein Erfahrungsaustausch über »Kriegsdienst- verweigerer aus aller Welt« standen am 5. August auf dem Programm. Nachmittags führte eine Wanderung zum Hohen Meißner. Der abendliche Ausklang wurde mit Gesang, Musik und Spielen gestaltet. Michaltscheff sah das Experiment »Grenztreffen« als Erfolg an: »Der Ludwigstein, von dem die meisten unserer Freunde bis dahin kaum je gehört hatten, ist für sie ein Begriff geworden. Aber auch für die alte Jugendburg ist die Internationale der Kriegsdienstgegner ein Begriff geworden und sie beide werden 13 Die Friedensrundschau. Monatszeitschrift für Frieden, Versöhnung, Völkerverständigung, 1951, Heft September, S. 4.
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einander lange in guter Erinnerung haben […] das Grenztreffen war weniger als eine Stätte weltanschaulicher Schulung gedacht als eine solche der Begegnung über alle nationalen, konfessionellen, rassischen und politischen Grenzen hinweg, die den Unfrieden in die Welt bringen – und diese Aufgabe löste es durchaus.« Positiv erwähnt wurden die zwanglosen persönlichen Gespräche, die neu geschlossenen Freundschaften, die Spaziergänge und Wanderungen durch die schöne Landschaft »und nicht zuletzt […] der freiheitliche Geist vom Ludwigstein, den uns die deutsche Jugendbewegung, die diese Stätte der Begegnung schuf vermacht hatte«.14 (13)
Gewaltlose Aktion an der Werra Zum Ende des Grenztreffens war eine gewaltlose Aktion am »Eisernen Vorhang« geplant, an der fast alle ausländischen und deutschen Gäste teilnehmen wollten. Ziel dieser Aktion war es, ein Gespräch mit der Bevölkerung im thüringischen Grenzort Lindewerra in Gang zu bringen. Zunächst erteilten der Ortskommandant von Lindewerra sowie das hessische Innenministerium dafür die Genehmigung. Als jedoch das Bonner Ministerium für gesamtdeutsche Fragen den Besuch untersagte, beschränkten sich die Pazifisten auf ein Gespräch über den Fluss, dem sowohl Beamte der Volkspolizei, als auch der westlichen Grenzschützer beiwohnten. Den Polizeikommandanten sowie der Bevölkerung auf beiden Seiten der Werra wurde eine Erklärung überreicht, in der eine Lösung der Deutschlandfrage ohne Gewalt nach dem Vorbild Gandhis gefordert wurde. In diesem Text heißt es:15 »Wir erklären, dass dieser Besuch keinen parteipolitischen Charakter hat. Wir sind Menschen des Friedens und nehmen an keiner Hass- und Angstpropaganda teil. Wir sind der festen Überzeugung, dass alles Spiel mit Gewaltpolitik innerhalb der deutschen Grenzen ein Verhängnis nicht nur für Deutschland, sondern darüber hinaus für Europa und die ganze Welt sein muss. Diesem Spiel wollen wir mit waffenlosen Mitteln begegnen, deren Wirksamkeit Gandhi im gewaltlosen Befreiungskampf Indiens bewiesen hat. Wenn auch die Verhältnisse in Deutschland anders gelagert sind als in Indien, so ist der Einsatz gewaltloser Mittel für das deutsche Volk auch der einzige Weg, der zur friedlichen Wiedervereinigung Deutschlands führen kann. Wir wollen aus Gründen des Glaubens und des gesunden Menschenverstandes diesen Weg gehen. Wir übergeben diese Erklärung den Behörden und der Bevölkerung des westlich besetzten und des sowjetisch besetzten Deutschlands an der Fähre zwischen Oberrieden und Lindewerra, die über die Werra beide Teile Deutschlands verbindet. Wir bitten die 14 Ebd., S. 3. 15 Ebd., S. 10.
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Bevölkerung und die Behörden in beiden Teilen Deutschlands, sowie alle diejenigen, die das Schicksal Deutschlands mitbestimmen, immer weniger an dem unsinnigen Versuch teilzunehmen, aus Furcht vor dem Krieg den Krieg in unser Land zu bringen. Wir bitten alle gutgesinnten Kräfte in beiden Teilen Deutschlands und in der ganzen Welt, zu helfen, dass die gewaltlosen Bestrebungen gegen den Krieg und jegliche Form der Gewaltherrschaft sowie gegen die Vorbereitungen und Ursachen davon immer kräftiger gefördert werden. Jugendburg Ludwigstein, den 4. August 1951»
Am folgenden Tag versuchte Mary Barr, eine frühere Mitarbeiterin Mahatma Gandhis, erneut, mit der Bevölkerung auf der DDR-Seite des Grenzflusses ins Gespräch zu kommen. Auch ihr war der Grenzübertritt von Seiten des hessischen Innenministeriums erlaubt, dann aber vom Gesamtdeutschen Ministerium untersagt worden. In einem Telegramm nach Bonn teilte Frau Barr Minister Kaiser ihre Entschlossenheit mit, die Grenze mit oder ohne Genehmigung zu überschreiten:16 »Ich habe acht Jahre mit Gandhi gearbeitet und bin überzeugt, dass nur seine Methode der Gewaltlosigkeit der Welt Einigung und Gerechtigkeit bringen kann. Als ich nach Deutschland kam, hatte ich nicht die Absicht, bestehende Gesetze zu brechen. Die tragische Lage der Grenzbevölkerung veranlasste mich jedoch, in der Art und Weise zu handeln, wie ich es von Gandhi gelernt habe. Ich bat beim Grenzkommissariat um die Erlaubnis, dem Orte Lindewerra eine pazifistische Botschaft im Sinne Gandhis zu bringen. Das wurde mir verweigert. Jetzt wende ich mich an Sie mit der Bitte um Genehmigung. Wenn mir bis Mittwoch,dem 8. August, 9 Uhr, keine Genehmigung erteilt wird, werde ich mich verpflichtet fühlen, die Grenze ohne Genehmigung zu überschreiten. Ludwigstein, den 6. August. Mary Barr« (15)
Das Telegramm ging am Montag, den 6. August um 22.40 Uhr vom Ludwigstein ab, am 7. August gegen 16 Uhr kam telegraphisch die Genehmigung aus Bonn. Mary Barr machte sich sofort auf den Weg nach Lindewerra, begleitet von einer Dolmetscherin. Zum Austausch mit der Bevölkerung kam es allerdings nicht, da die Dorfbewohner noch auf dem Feld arbeiteten. Sie konnten zwar mit Volkspolizisten und herbeigeholten FDJ-Mitgliedern sprechen; dies entsprach aber nicht dem Ziel ihrer Mission. Die Behörden beider Seiten waren nicht an freiem Austausch und Gespräch interessiert. Das Verbot der westlichen Seite erlaubte der östlichen, zu behaupten, dass die Bundesregierung ein Gespräch mit Bürgern der DDR fürchte. An dieser Stelle darf der Hinweis auf eine wichtige, die Situation an der Grenze betreffende Entwicklung nicht fehlen: Vom 5.–19. August fanden in Ost-Berlin die 3. Weltjugendfestspiele statt, die für die DDR von 16 Ebd., S. 6.
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großer propagandistischer Bedeutung waren. Nachdem im Westen am 26. Juni die Freie Deutsche Jugend verboten worden war, war die DDR daran interessiert, dass möglichst viele, vor allem junge Menschen die Grenze von West nach Ost überquerten, während die Regierung in Bonn alles tat, um dies zu erschweren. Erstaunlicherweise werden diese Hintergründe in keinem der Berichte der Pazifisten über die Aktionen an der Werra erwähnt. Allein in einem vertraulichen Bericht der Übersetzerin von Mary Barr an die Sekretärin der WRI, Grace Beaton, wird dies erwähnt.17 Dort wird auch betont, wie aufgeschlossen die Grenzschützer im Witzenhausener Grenzkommissariat gewesen seien, welche sie nicht als Kommunisten verdächtigt hätten. Die IdK war durch schlechte Erfahrungen im propagandistischen Schlagabtausch zwischen Ost und West vorsichtig geworden, der Vorwurf, den Kommunisten zu nah zu sein, traf sie immer wieder. Vielleicht sollte deshalb das Zusammentreffen der Ereignisse an der Grenze nicht betont werden.
Abb. 23: Eintrag von F. Mary Barr im Gästebuch der Burg Ludwigstein anlässlich der Tagung der Internationale der Kriegsdienstgegner vom 31. Juli bis 5. August 1951.
Zwei Jahre später versuchte erneut eine Gruppe der Friedensbewegung in einer demonstrativen Aktion, die deutsch-deutsche Grenze an der Werra zu überschreiten. In dritter Lesung hatte der Bundestag am 19. März 1953 den Generalvertrag gebilligt, der faktisch die Eingliederung der BRD in das westliche Verteidigungsbündnis bedeutete. Am 12. April 1953 brachen in Hamburg acht Freiwillige zum Verhandlungsgang für den Frieden über Bonn nach Berlin auf. Die Gruppe hatte sich um Nikolaus Koch und Paul Debes zusammen gefunden, die den Weg nach Bonn und von dort bis zur Zonengrenze bei Witzenhausen
17 IISH Amsterdam, Bestand WIR, file Germany 1951, Korrespondenz Kathleen Rawlins.
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weitgehend zu Fuß gingen.18 Diese beiden bestimmten den Rhythmus des Verhandlungsganges, während die übrigen sechs mit dem Rad fuhren, um in den Etappenorten Abendveranstaltungen vorzubereiten. In Niedersachsen waren alle Versammlungen unter freiem Himmel genehmigungspflichtig. Durch geduldige Gespräche mit Polizei und Behörden gelang es, Behinderungen zu verringern und den Verdacht zu zerstreuen, die Gruppe sei eine kommunistische Tarnorganisation. Der Schwerpunkt der Versammlungen lag im Ruhrgebiet. In Bonn wurde auf einer Pressekonferenz ein Brief an den Bundespräsidenten veröffentlicht, der eine scharfe Ablehnung der Deutschlandverträge mit seiner einseitigen Westbindung enthielt. Am Pfingstsonntag erreichte die Gruppe planmäßig Werleshausen. In den folgenden Wochen scheiterte der demonstrative Übergang bei fünf Versuchen an der fehlenden Zustimmung amtlicher Stellen in der amerikanischen Besatzungszone, obwohl sich die Gruppe intensiv darum bemüht hatte. Die Demonstranten hätten die Grenze »sang- und klanglos« überschreiten können – mit Interzonenpässen oder heimlich über die grüne Grenze. Ihnen kam es aber darauf an, die Öffentlichkeit und alle politischen und amtlichen Stellen auf die Aktion und deren politische Begründung aufmerksam zu machen. In diese Phase fielen die Ereignisse des 17. Juni in der DDR. Die Aktivisten quartierten sich bei Bauern in Werleshausen ein, bis es der Gruppe am 15. Juli beim sechsten Versuch gelang, einige Kilometer nördlich am Dreiländereck zwischen Hessen, Niedersachsen und Thüringen von der britischen Zone aus die Demarkationslinie zu überschreiten. Auf dem Weg durch die DDR stand die Gruppe unter Kontrolle des Deutschen Friedensrates, die den unabhängigen und freien Austausch mit der Bevölkerung stark erschwerte. Am 20. Juli erreichte der Friedensmarsch Ost-Berlin. Koch bezeichnete den Verhandlungsgang als sein persönliches Gesellenstück in gewaltloser Aktion, während er noch zwei Jahre vorher resigniert festgestellt hatte, »die Deutschen sind noch nicht reif für Zivilen Ungehorsam«. Der San-Francisco-Moskau-Marsch, ein 10 000 km langer Protestmarsch gegen alle Atomwaffen, durchquerte vom 1. Dezember 1960 bis zum 3. Oktober 1961 Teile der USA sowie Europas, darunter die beiden deutschen Staaten. Die deutschen Marschteilnehmer erfuhren unterwegs von den Aktivisten aus den 18 Auch Paul Debes (1906–2004) war Wandervogel. Koch und Debes hatten sich Anfang November 1950 bei einer Tagung des Kreises »Gespräch aus der Ferne« um Dr. Hans Dahmen, Werner Rietz und Nikolaus Ehlen auf der Burg Ludwigstein kennen gelernt; vgl. Berichte über die Tagung in der Zeitschrift Das Gespräch aus der Ferne, 1951, Heft Januar. Debes beschäftigt sich zeitlebens mit der Verbreitung des Theravada- Buddhismus. Der Koreakrieg und die Wiederbewaffnung bewegten den Kreis um Debes 1951 bis 1954 zu öffentlichem Wirken für den Frieden. Ab November 1951 gab Debes die »Streitlosen Blätter« heraus. Ausgaben mit ausführlichen Berichten zum Verhandlungsgang 1953 befinden sich im AdJb; AdJb, Z/300–2641: Paul Debes (Hg.): Streitlose Blätter. Für Klärung und Wendung in PolitikKultur-Wirtschaft, Hannover 1952–1953.
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Vereinigten Staaten viel über deren Erfahrungen mit zivilem Ungehorsam. Die Aktivisten aus den USA bekamen ihrerseits hautnah die Atmosphäre des Kalten Krieges zu spüren, insbesondere als sie am 13. August unweit der Stadtgrenze von Berlin ankamen und dort die Nachricht vom Mauerbau erfuhren. Dennoch erreichten sie Anfang Oktober Moskau und demonstrierten vor dem Kreml mit denselben Forderungen wie im Westen. Es war ein weiter Weg für die deutsche Friedensbewegung, nach den Erfahrungen von Kriegen, Diktatur und Kaltem Krieg zur Philosophie und Praxis gewaltfreien Widerstandes und zivilen Ungehorsam zu finden. Dabei mussten Grenzen verschiedenster Art überwunden werden. Seit den 1960er-Jahren bewirkten transnationale Lernprozesse, dass Erfahrungen mit direkter gewaltfreier Aktion aus anderen Ländern nach Deutschland gebracht und dort weiter entwickelt wurden.19
19 Wolfgang Hertle: Larzac, Wyhl, Brokdorf, Seabrook, Gorleben. Grenzüberschreitende Lernprozesse Zivilen Ungehorsams, verfügbar unter http://castor.divergences.be/spip. php?article450 [20.07.2017].
Ullrich Kockel
Die Deutsche Jugend des Ostens und die Burg Ludwigstein (1951–1975)*
Dieser Beitrag über die Deutsche Jugend des Ostens (DJO) in den frühen Jahren der Bundesrepublik Deutschland, mit besonderem Augenmerk auf das Verhältnis der DJO zur Burg Ludwigstein, stellt erste Ergebnisse eines Forschungsprogramms vor, das komplexe Fragen zur Verortung kultureller Identitäten untersucht, angeregt durch Ergebnisse langjähriger Feldforschung in europäischen Grenzregionen, die, ausgehend von Nordirland, einen Bogen zum Baltikum spannt.1
Forschungsprogramm In diesem Forschungsprogramm geht es primär allerdings um keines der beiden hier im Titel genannten Subjekte – weder um die DJO noch um die Burg Ludwigstein. Untersucht wird vielmehr wie Menschen als Einzelne und über die »geglaubte Gemeinsamkeit« (Max Weber), die sie sich selbst und einander narrativ zuschreiben, Verbindungen mit ihren jeweiligen Alltags- und Sehnsuchtsorten schaffen; wie daraus – unabhängig von materiellen Realitäten – wirkmächtige Orte entstehen; und was deren Wirkung in der gesellschaftlichen Gegenwart ist. Es geht dabei vor allem darum, Prozesse und Beziehungsgeflechte auszuloten, die Menschen mit Orten verbinden, an denen sie nicht (mehr) sind oder (noch) nie waren.2 Den damit angerissenen Fragestellungen wird seit 2012 mit einem europäisch-vergleichend angelegten Forschungsprogramm aus der Perspektive der Kulturanthropologie/Europäischen Ethnologie nachgespürt, das am Intercul* Für Anregungen und Korrekturen danke ich Hans-Peter Germann (DJO). 1 Ullrich Kockel: Re-Visioning Europe: Frontiers, Place Identities and Journeys in Debatable Lands, Basingstoke 2010. 2 Zur Genese der Fragestellungen, s. Ullrich Kockel: Toward an Ethnoecology of Place and Displacement, in: Ullrich Kockel, Mir¦ad Nic Craith, Jonas Frykman (Hg.): A Companion to the Anthropology of Europe, Oxford 2012, S. 551–571.
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tural Research Centre der Heriot-Watt University Edinburgh angesiedelt ist. Ein Ausgangspunkt ist dabei die Untersuchung von Kontinuitäten und Wandel in Handlungen, Normen und Repräsentationen einer ethnisch begründeten Jugendbewegung, der DJO,3 als einer potentiell besonders einsichtsreichen Fallstudie.4 Gegründet 1951 um Jugendorganisationen der Flüchtlinge und Vertriebenen aus Ost- und Südosteuropa zusammenzubringen, war lange Zeit ein Bild der DJO als »Kaderschmiede des Nationalismus«5 weit verbreitet. Im Jahre 1974 wurde sie umgeformt zur »djo-Deutsche Jugend in Europa«, die sich betont als Teil der europäischen Bewegung versteht; nach dem Fall der Berliner Mauer öffnete sich die Organisation für Immigranten-Jugendgruppen, und zum 50. Verbandsjubiläum wurde eine Geschichte in Auftrag gegeben, die unter dem Titel »Wir woll(t)en Brücke sein!«6 erschien. Mit Ausnahme dieser durchaus kritischen aber »verbandsinternen« Historiographie sind die Geschichte und gesellschaftlich-kulturelle Wirkung der DJO bislang vorwiegend in Selbstdarstellungen7 sowie in journalistischen Artikeln8 und unveröffentlichten Abschlussarbeiten9 – diese vor allem in Zusammenhang mit der Auseinandersetzung um die deutsche Ostpolitik10 – behandelt worden.11 3 Seit 1974 ist der Verband offiziell in »djo-Deutsch Jugend in Europa« umbenannt. Der Einfachheit halber, und weil im Verbandsalltag das alte Kürzel nach wie vor allgemein gebraucht wird, benutze ich es auch hier. 4 Dabei ist die Positionierung der DJO im politischen Spektrum zu verschiedenen Zeitpunkten durchaus von Interesse, jedoch weniger als putatives Faktum denn als wechselhafte Zuschreibungen, die ihre eigenen Geschichten erzählen. Vereinfacht ausgedrückt: Interessant ist, wer die DJO wann wo (und warum dort) politisch eingeordnet hat, unabhängig davon, ob sie je – als Ganzes oder in Teilen – dort stand. Eine Analyse solcher Zuschreibungen ist notwendig, wäre aber im Rahmen dieses Beitrags nur oberflächlich möglich und wird deshalb unterlassen. 5 Siehe z. B. Eckart Spoo: Deutsche Jugend gen Osten. Die DJO – Kaderschmiede des Nationalismus, München 1970. 6 Jürgen Becker : Wir woll(t)en Brücke sein! Zuwanderung – Jugendverbandsarbeit – Integration, Berlin 2002. 7 S. Susanne Rappe-Weber, Jochen Zimmer : Gutachten zur Erschließung des Historischen Archivs der »djo-Deutsche Jugend in Europa«, Witzenhausen 2007 (unveröff. Ms.). 8 Siehe z. B. Peter Bru¨ gge: Die Schule der Rechtsradikalen, in: Der Spiegel, 1967, Heft 19, S. 105ff., http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-46290008.html [06. 01. 2015]. 9 So z. B. M. Englert: Zielsetzung, Zielwandel und Zielverwirklichung in der Deutschen Jugend des Ostens, Diplom-Arbeit, Universität Erlangen-Nürnberg 1967; J.-Y. Hur : Konzepte und Maßnahmen der »Integrations-Governance« für ostdeutsche Flüchtlinge von 1945 bis 1990 in Westdeutschland – Übertragbarkeit deutscher Erfahrungen auf Südkorea, Dissertation, Freie Universität Berlin 2010. 10 Rappe-Weber, Zimmer : Gutachten (Anm. 7). 11 Eine erste historisch orientierte Annäherung an die DJO ist Anne-Christine Weßlers Dissertationsvorhaben an der Universität Leipzig unter dem Titel: Jugend zwischen Revanchismus und Integration: zur Praxis der Jugendorganisation DJO–Deutsche Jugend des Ostens/ djo–Deutsche Jugend in Europa im Spannungsfeld von Tradition und gesellschaft-
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Die Aushandlung von Identitäten in der DJO über mehrere Generationen – zwischen einem stark »rückwärts« gerichteten Blick auf eine verlorene Heimat und einem eher »vorwärtigen« Bekenntnis zu einer europäischen »Einheit in Vielfalt«, von einem als rechtsextremistisch beargwöhnten Jugendverband12 zu einer Organisation, die jungen Menschen von heute zum politischen Engagement empfohlen wird13 – macht die DJO zu einer interessanten Fallstudie der Komplexitäten politisch-kulturellen gesellschaftlichen Wandels in der Bundesrepublik. In der DJO wurden und werden multiple Identitäten unter kulturbezogener Aneignung diverser Sehnsuchtsorte in Vergangenheit und Zukunft geschaffen, aus denen unter anderem neue Formen der Indigenität – des betonten »von-hier-Seins« – aufscheinen. Obwohl Untersuchungen zur inhaltlichen Entwicklung des Verbandes »interessante und repräsentative Einblicke in die Entstehung demokratischer Kultur in der Bundesrepublik Deutschland versprechen«14, fehlen solche Studien bisher.15 Das ist umso erstaunlicher, als es sich bei dieser Entwicklung um Schlüsselthemen zeitgenössischer kulturwissenschaftlicher Forschung dreht: Migration, Integration, Identität und Erinnerung. In diesem Zusammenhang wirft die kritische Rezeption der Formen und Gedankenwelt der bündischen Jugend in der Nachkriegszeit besonders interessante Perspektiven für den Umgang mit Traditionen und Denkansätzen auf, die durch den Nationalsozialismus gebrochen und diskreditiert wurden. Ähnliche Traditionen und Denkansätze werden heute vor allem in außereuropäischen Kontexten von emanzipatorischen Bewegungen entwickelt oder zum Teil neu aufgenommen, aber auch von neo-indigenen Bewegungen in Europa ideologisiert.16 Die Anwendung solcher Traditionen und Denkansätze im europäi-
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lichem Wandel 1951–2000, https://www.gko.uni-leipzig.de/fileadmin/ user_upload/ historisches_seminar/13didaktik/Bilder/Kurzexpos_E9_Dissertationsvorhaben_DJO_-_Endfassung.pdf [22. 12. 2014]. Siehe z. B. Spoo: Jugend (Anm. 5). Siehe z. B. Manfred Schwarz: Politik (Klartext: Wissen auf den Punkt gebracht), Ravensburg 2007, S. 90. Siehe Rappe-Weber, Zimmer : Gutachten (Anm. 7). In Studien zur Geschichte der deutschen Vertriebenen wird die DJO zwar erwähnt, meist aber nur am Rande, etwa im Zusammenhang mit Illustrationen. Siehe z. B. Andreas Kossert: Kalte Heimat. Die Geschichte der deutschen Vertriebenen nach 1945, 2. Aufl. München 2009, S. 130. Das Spektrum reicht dabei von den indigenistas Lateinamerikas über die Stadtindianer (»nur Stämme werden überleben«) der Alternativszene in den Metropolen und die tuteijshy Mittelosteuropas bis zur Initiative, den Einwohnern der schottischen Hochland- und Inselregion den offiziellen Status einer »indigenen« Volksgruppe zuzuerkennen. Zur Problematik dieser Bewegungen s. u. a. Ullrich Kockel: Being From and Coming To: Outline of an Ethno-Ecological Framework, in: Lewis Williams, Rose Roberts, Alastair McIntosh (Hg.): Radical Human Ecology. Intercultural and Indigenous Approaches, Aldershot 2012, S. 57–71.
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schen Kontext ist nicht zuletzt aus historischen Gründen äußerst problematisch, kann allerdings mit Bedacht auch positiv gewertet werden, weil sich daran die Dehnbarkeit der Begriffe zeigt. Die DJO hat sich durch symbolische Veranstaltungen, Praktiken und Ausstattung zumindest in ihrer Frühphase deutlich in die Nähe der bündischen Jugend gestellt,17 während sie durch politische Schulung und Arbeitskreise lange ein ausgeprägtes Sendungsbewusstsein mit dem Ziel der Wiedervereinigung Deutschlands in den Grenzen von 1937 förderte.18 Diese duale ursprüngliche Ausrichtung und die Transformation zu einem Dachverband für Migranten-Selbstorganisationen machen die DJO als Fallstudie zu einem geeigneten Ausgangspunkt für das Forschungsprogramm, da sich von hier Verbindungen in unterschiedlichste Richtungen verfolgen lassen. Im Juni und Juli 2010 konnte ich bei zwei Besuchen auf der Burg erste Einblicke in den DJO-Archivbestand gewinnen. In der Folgezeit habe ich die Quellenlage weiter sondiert, vor allem in Bezug auf die Medienberichterstattung und ausländische wissenschaftliche Quellen, wobei in letzteren unter anderem interessante Bewertungen der turbulenten Verbandsgeschichte in den Jahren um die Namensänderung zum Vorschein kamen, in denen das Bild einer kategorisch rechtsradikal einzuordnenden Organisation vorsichtig revidiert wurde.19 Umfangreiche historische Unterlagen zur DJO wurden in den letzten Jahren geordnet, erschlossen und offiziell im April 2011 dem Archiv der deutschen Jugendbewegung auf Burg Ludwigstein zur Verfügung gestellt.20 Auf Einladung des damaligen Bundesgeschäftsführers der djo-Deutsche Jugend in Europa, Thomas Hoffmann, konnte ich vom 8.–10. April 2011 am 56. Bundesjugendtag des Verbands auf der Burg Ludwigstein, mit dem das 60-jährige Verbandsjubiläum gefeiert und das DJO-Archiv formal eröffnet wurde, als teilnehmender Beobachter anwesend sein. Bei dieser Gelegenheit konnte ich mich mit Vertretern des Bundesvorstandes unterhalten und mit einigen Mitgliedern der älteren Generationen informelle ethnographische Interviews durchführen. 17 Rappe-Weber, Zimmer : Gutachten (Anm. 7). 18 Durch diese Schwerpunktsetzung wurden die diversen Bekenntnisse der DJO zu Europa in der öffentlichen Wahrnehmung lange in den Hintergrund gedrängt. Eine Analyse des Stellenwertes und der ideologischen Einbindung dieser Bekenntnisse steht noch aus. In wie weit diese Europa-Orientierung vor allem von jenen Teilen der DJO – wie z. B. der Sudetenddeutschen Jugend – getragen wurde, denen die Grenzen von 1937 relativ wenig bedeuteten (Interview-Aufnahme des Autors 001-HK-01 v. 08.10.13), bleibt ebenfalls noch zu erforschen. 19 Siehe z. B. Jerzy Kołacki: Die Kultur im Programm und der Praxis der »DJO-Deutsche Jugend in Europa« 1974–1987, in: Polnische Weststudien, 1988, VII/1, S. 77–94. 20 Obwohl weithin als »Archiv der DJO« bezeichnet, stellt der Bestand kein vollständiges Archiv dar. Einzelne Landesverbände (z. B. Baden-Württemberg) haben ihre eigenen Sammlungen, teils in ungeordneter Form, behalten. In Gesprächen wird gelegentlich auch ein »Cuxhavener Archiv« erwähnt, das nicht in den Bestand auf dem Ludwigstein integriert sei, zu dem mir aber bisher niemand Näheres erzählen konnte.
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Mit der Übertragung der Sammlung ins Archiv der deutschen Jugendbewegung bestand nun die Möglichkeit, die Entwicklung eines Forschungsprogramms in Angriff zu nehmen. Aus der Auswertung von Sekundärquellen sowie Interviews und Korrespondenz mit ehemaligen aktiven Mitgliedern ergaben sich Fragen, etwa zu bündischen Inhalten und Formen, aber auch zu weiter reichenden politisch-kulturellen Themenkreisen, über die ein erster Einstieg in die wissenschaftliche Auswertung der Archivbestände möglich wird. Die Perspektive ist dabei zwar interdisziplinär angelegt, aber deutlich von ethnologischen Erkenntnisinteressen geleitet. Institutionelle, politische und persönliche Aspekte werden unter Gesichtspunkten wie Kultur, Alltag, Identität und Geschichtlichkeit betrachtet und analysiert, wobei Prozesse kultureller Aneignung und Verortung im Vordergrund stehen. Feldforschung begann im Herbst 2012 mit einer ersten Phase intensiver Archivarbeit begleitet von Interviews mit Zeitzeugen.21 Eine zweite Runde Zeitzeugeninterviews, verbunden mit der Teilnahme an Veranstaltungen, folgte im Herbst 2013.22 Weitere Zeitzeugeninterviews und Archivarbeit sind für Frühjahr 2015 geplant. Der vorliegende Beitrag stützt sich vor allem auf die Auswertung der Verbandszeitschrift »Der Pfeil« (1951–1980),23 ergänzt durch Zeitzeugeninterviews. Die folgenden Ausführungen beginnen mit einem kurzen Überblick über die Geschichte der DJO und konzentrieren sich dann auf einige Schlüsseldaten mit Bezug zur Burg Ludwigstein (Gründung der DJO 1951, Errichtung des DJO»Mahnsteins« 1955, 9. Bundesjugendtag 1961, 12. Bundesjugendtag/ Jahr der Menschrechte 1965, 20 Jahre DJO 1971), bevor im Abschluss kurz auf die Namensänderung 1974 eingegangen wird, der wenig später die Verlegung des »Mahnsteins« von der Burg nach Rodholz/Hessen folgte.
Die Geschichte der DJO seit 1949 Erste lokale und regionale Jugendgruppen für Flüchtlinge und Vertriebene bestanden schon seit 1946. Die ersten Führer der Vorläufergruppen der DJO waren in ihrer Mehrzahl junge Erwachsene, die in verschiedenen Bereichen der Jugendbewegung, aber auch der Hitlerjugend und des Reichsarbeitsdienstes auf21 Für finanzielle Unterstützung dieser Phase danke ich dem Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD). 22 Diese und die folgende Phase wurden ermöglicht durch eine Internal Research Grant der School of Management and Languages an der Heriot-Watt University Edinburgh. 23 Von Karl Braun (Marburg), der als sudetendeutscher Junge drei Jahre lang DJO-Mitglied war, weiß ich, dass »Der Pfeil« nicht unbedingt allen Mitgliedern bekannt war; als primäres Selbstdarstellungsorgan des Verbandes kann die eingehende Analyse der Zeitschrift dennoch wertvolle Einsichten ergeben.
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gewachsen waren. Zahlreiche mehr oder weniger formell organisierte Gruppen waren bereits kurz nach Kriegsende entstanden. Aus diesen Vorläufern entwickelten sich zwei organisatorische Hauptformen: die Landesverbände in den Ende der 1940er-Jahre sich formierenden Bundesländern repräsentierten die Interessen der Flüchtlinge und Vertriebenen in ihren neuen Wohnorten, während die Landsmannschaften sich politisch-kulturell an der alten Heimat orientierten. Die Beziehungen zwischen diesen beiden Richtungen waren gezeichnet von persönlichen Animositäten innerhalb der Führungsriegen, politischen Machtkämpfen und ausgedehnten Debatten über die »richtige« Politik in Bezug auf Vertriebene und Flüchtlinge.24 Aufgrund ihrer relativ großen Zahl waren die Schlesier und die Sudetendeutschen besonders einflussreich.25 Beim ersten Landestreffen der Heimatvertriebenen Jugend in NordrheinWestfalen wurde 1949 der Bund Ostdeutscher Jugend (BOJ) proklamiert, initiiert von Ewald Pohl, der zwei Jahre später zum ersten Bundesleiter der DJO wurde. Zum gemeinsamen Namen kamen nun auch einheitliche Formen: Fahnen und Wimpel, Kluft und Tracht – das graue Fahrtenhemd für die Jungen und das Dirndl für die Mädchen.26 Im gleichen Jahr formierten sich niedersächsische Gruppen als Ostdeutsche Jugend (OdJ).27 In diesen Organisationen, aus denen 1951 die DJO hervorging, wurde oft die Erfahrung Westdeutschlands als »fremdes Land« betont, wie etwa von Peter Urban, der 1950 schrieb: »[…] denn wer die Heimat liebt […] der kann in fremdem Lande nie glücklich sein.«28 Am 5. August 1950 wurde in Stuttgart die bis heute kontroverse Charta der deutschen Heimatvertriebenen deklariert. Durch ihre Betonung eines »Verzicht[s] auf Rache und Vergeltung«, einer Einigung Europas »ohne Furcht und Zwang«, der aktiven Beteiligung am Wiederaufbau Deutschlands und Europas, und des »Recht[s] auf Heimat« als grundlegendes Menschenrecht wurde die Charta zu
24 Siehe u. a. Kossert: Heimat (Anm. 15); Matthias Stickler : »Ostdeutsch heißt Gesamtdeutsch«. Organisation, Selbstverständnis und heimatpolitische Zielsetzungen der deutschen Vertriebenenverbände 1949–1972, Düsseldorf 2004. 25 Siehe u. a. Kossert: Heimat (Anm.15); Erik Franzen: Der vierte Stamm Bayerns. Die Schirmherrschaft über die Sudetendeutschen 1954–1974, München 2010; Ian Connor: Refugees and Expellees in Post-war Germany, Manchester 2007; Pertti Ahonen: The Expellee Organizations and West German Ostpolitik 1949–1969, Ann Arbor 2000; Marion Frantzioch: Die Vertriebenen. Hemmnisse und Wege ihrer Integration, Berlin 1987; Friedrich Edding, Eugen Lemberg (Hg.): Die Vertriebenen in Westdeutschland. Ihre Eingliederung und ihr Einfluß auf die Gesellschaft, Wirtschaft, Politik und Geistesleben, 3 Bde., Kiel 1959. 26 Becker : Brücke (Anm. 6), S. 76. 27 Ebd., S. 77. 28 Ostdeutsche. Informationsdienst, 1950, Jg. 1, Heft 4, S. 2.; zitiert in Becker : Brücke (Anm. 6), S. 78, Hervorhebungen entfernt. Siehe hierzu aus volkskundlicher Sicht Albrecht Lehmann: Im Fremden ungewollt zuhaus. Flüchtlinge und Vertriebene in Westdeutschland 1945–1990, München 1991.
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einer wichtigen Grundlage für die Arbeit der DJO.29 Allerdings wurde vor allem der erste Punkt – Verzicht auf Rache und Vergeltung – im Laufe der Jahre immer wieder zur Zielscheibe der Kritik.30 Erste Gespräche über eine bundesweite Jugendorganisation der Vertriebenen hatten 1950 auf Burg Hohenfels stattgefunden. Am 6. Oktober 1950 vereinigten sich der BOJ und die OdJ als Ostdeutsche Jugend im Zentralverband der vertriebenen Deutschen (ZvD). Die Unterstützungsanträge diverser Jugendgruppen an das Bundesinnenministerium waren vom Ministerium mit der Forderung nach Zusammenschluss aller Gruppen junger Vertriebener beantwortet worden, was zur Bildung des Jugendrings der Vereinigten Ostdeutschen Landsmannschaften im Januar 1951 führte, dem im Februar das Göttinger Treffen aller Vertriebenen-Jugendorganisationen folgte, auf dem die Gründung der DJO beschlossen wurde. Im Anschluss daran wurde die DJO mit einem offiziellen Treffen gegründet, das am 7. und 8. April 1951 auf Burg Ludwigstein stattfand. Die Sudetendeutsche Jugend (SdJ) – die Jugendorganisation einer der größten Landsmannschaften – trat der DJO wenig später bei und hat seitdem eine wichtige Rolle im Verband gespielt. Ebenfalls 1951 wurde der Bund der vertriebenen Deutschen (BvD) durch Zusammenschluss des ZvD mit den Landsmannschaften der Schlesier und der Sudetendeutschen gegründet; allerdings blieben beide Landsmannschaften Mitglieder der Vereinigten ostdeutschen Landsmannschaften. Die Hoffnung, dass die Flüchtlinge und Vertriebenen nun im BvD eine gemeinsame Dachorganisation haben würden, erfüllte sich nicht. Die Landesverbände, deren Organisationsgrundlage der Wohnort war, sahen ihre Rolle vor allem in den nordund westdeutschen Bundesländern in konkreter Hilfe bei gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Integration.31 Die Landsmannschaften dagegen, in denen Vertriebene und Flüchtlinge aus derselben Heimatregion zusammenkamen und die vor allem in Bayern und Baden-Württemberg eine wichtige politische Rolle spielten, sahen ihre Aufgabe eher in politischen Forderungen nach Rückkehr in die jeweilige Heimatregion und betonten die Bewahrung kultureller Traditionen an Stelle der Integration. Der ZvD/BvD wurde zur Stimme der Vertriebenen im Bereich Wirtschafts- und Sozialpolitik, während der VOL sich eher als für die 29 Henning Müßigbrodt: Immer mehr leisten müssen, in: Der Pfeil, 2011, Heft 1, S. 13–15, hier S. 14. 30 Dabei geht es vor allem um die kontroversen Rollenzuschreibungen von »Täter-« bzw. »Opfernation«. Siehe u. a. Bill Niven (Hg.): Germans as Victims: Remembering the Past in Contemporary Germany, Basingstoke 2006; Helmut Schmitz (Hg.): A Nation of Victims? Representations of German Wartime Suffering from 1945 to the Present, Amsterdam 2007. Ein gutes Beispiel unpolemischen Umgangs mit der Charta bietet Ralph Giordano: Ostpreußen ad¦, 3. Aufl. München 1997, S. 105ff., der darauf hinweist, dass es »die« deutschen Vertriebenen als homogene Interessengruppe nicht gibt – und wohl auch damals nicht gab. 31 Becker : Brücke (Anm. 6), S. 52.
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»Außen-« und Kulturpolitik zuständig sah.32 Oskar Böse, einer der ersten Bundesführer der DJO, beschrieb den Nord/Süd-Kontrast in dem Sinne, dass der Norden mehr an sozialen Fragen interessiert und eher in einem gewerkschaftlichen Stil organisiert war, im Süden dagegen die Prinzipien der Landsmannschaften stärker zum Tragen kamen.33 In einem gewissen Grade reflektiert dies die allgemeine politische Orientierung der einheimischen Bevölkerung, die, von regional-spezifischen Ausnahmen abgesehen, im Norden eher sozialdemokratisch (SPD) und im Süden eher konservativ (CDU/CSU) wählte. Solche Unterschiede waren für die Kinder und Jugendlichen, die in der DJO organisiert waren und deren Mitgliedschaft in dieser oder jener Gruppe eher zufällig war, wohl von geringer Bedeutung. Die frühen Jahre der DJO waren bereits von Zwiespältigkeiten gekennzeichnet, die sich durch die ganze Verbandsgeschichte bis heute ziehen und in verschiedenen Zeitabschnitten mit unterschiedlichem Gewicht zum Tragen kommen sollten. So nahm zum Beispiel in der Verbandszeitschrift »Der Pfeil« die Beschäftigung mit der Europaidee einen breiten Raum ein. Ewald Pohl, der erste Bundesleiter der DJO, schrieb in der Mitgliederzeitschrift der DJO von der Hoffnung, »daß auch das heute zerrissene Deutschland einmal wieder als ganzes seine Pflichten und Aufgaben in einem freien Europa wahrnehmen wird, in einem Europa, in dem auch der deutsche Osten in Freiheit und Recht seinen Platz hat.«34 Die hier zum Ausdruck gebrachte Hoffnung entsprach der konservativen Europa-Vision, die zu jener Zeit weit verbreitet war.35 In derselben Zeitschrift ist einerseits die Rede von einer »Jugend im europäischen Geist«, die sich der Völkerverständigung und Zusammenarbeit widmet, während andererseits der Kolumnist »Kauke« eine Gruppe von DJO-Mitgliedern dafür lobt, dass sie eine Ausstellung mit dem Titel »Polen baut auf« in Hamburg »abgebaut« hatte.36 Schon 1952 traten neben der Europaidee markige Parolen von »mann32 33 34 35
Ebd., S. 53. Ebd., S. 67. Der Pfeil, 1951, 1. Jg., Heft 2, S. 2. Die damals dominante Europa-Vision, rechts der Mitte angesiedelt, lässt sich in zahlreichen Variationen über das frühe 20. Jahrhundert hinaus zurück verfolgen; siehe dazu u. a. Peter Bugge: The Nation Supreme. The idea of Europe 1914–1945, in: Kevin Wilson und Jan van der Dussen (Hg.): The History of the Idea of Europe, London 2002, S. 83–149; Gerard Delanty : Inventing Europe. Idea, Identity, Reality, London 1995; Heinz Duchhardt, Matgorzata Morawiec (Hg.): Vision Europa. Deutsche und Polnische Föderationspläne des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, Mainz 2003; Ute Frevert: Eurovisionen. Ansichten guter Europäer im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 2003; Hartmut Kaelble: Europäer über Europa. Die Entstehung des europäischen Selbstverständnisses im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 2001. 36 Der Pfeil, 1951, 1. Jg., Heft 5, S. 2 bzw. S. 9. Die Landsmannschaften hatten an der durch die Helmut-von-Gerlach-Gesellschaft veranstaltete Ausstellung unter anderem Anstoß genommen weil darin polnische Ortsnamen für ehemals deutsche Städte verwendet wurden. Die
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hafter Zucht« und »geschlossener Ordnung« zunehmend in den Vordergrund, und 1954 sprach Bundesführer37 Oskar Böse von einem »Frontabschnitt Schlesien«. Politische Bildungsarbeit, vor allem die »Ostkundlichen Studien«, waren in den 1950er- und 1960er-Jahren ebenso bestimmend für die Wahrnehmung der DJO in der Öffentlichkeit wie Volkstumspflege und die Trommel- und Fanfarenzüge der Jungenschaft. In Verbindung mit Symbolen wie dem der Odalsrune38 nachempfundenen Verbandsemblem entstand so ein Bild, das in vielen Augen dem völkischen Geist allzu nahe stehend erscheinen musste.39 Von Anfang an hatte ein erheblicher Teil der Mitgliedschaft keinen Familienhintergrund im Osten.40 Als mit den Jahren die Zahl der im Westen geborenen Mitglieder weiter zunahm führte dies zur verstärkten Betonung von »Ostgesinnung« gegenüber der Abstammung aus dem Osten: wichtig war, dass Mitglieder sich dem Ziel einer »Wiedergewinnung der Heimat im Osten« verbunden fühlten. Mit dieser politischen Orientierung rückte die DJO in die Nähe rechtsradikaler Ideologie,41 was zwangsläufig zu Konflikten mit anderen Orga-
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Hamburger Ausstellung wurde während der Eröffnung am 4. Juli von vor allem ostpreußischen Vertriebenen gestürmt. Siehe dazu Christian Lotz: Die Deutung des Verlusts. Erinnerungspolitische Kontroversen im geteilten Deutschland um Flucht, Vertreibung und die Ostgebiete (1948–1972), Köln 2007, S. 98f. Der Titel war 1953 von »Bundesleiter« in »Bundesführer« geändert worden. Dass es dazu eine Diskussion gab, ist anzunehmen; Einzelheiten habe ich noch nicht gefunden, vermute aber, dass es etwas mit der in diesen Zeitraum fallenden Gründung der Jungenschaft zu tun hatte. Der Odalsrune als Symbol des Ererbten, der Heimatverbundenheit, wurde, ergänzt durch einen Kreis, der die Wagenburg der Siedler – und damit deren Gemeinschaft – symbolisierte, zum Sonnenrad, das für den Glauben an die Zukunft steht, und aus dem ein Pfeil nach rechts, gen Osten, dem Verband seine Aufgabe weist. Ob dieses Bild Ausdruck einer real existierenden Kontinuität der Ideologie war, wie zeitgenössische Kritiker argwöhnten – z. B. Spoo: Jugend (Anm. 5), Brügge: Schule (Anm. 8) – oder eher eine Teilen der bündischen Jugend nachgesagte Naivität gegenüber völkischem Ideengut reflektierte, muss hier, mit Hinweis auf die o. g. Indigenismus-Debatte (Anm. 6), dahingestellt bleiben. Die Ambivalenz der Symbole wird auch deutlich in Anekdoten wie etwa derjenigen, dass eine Gruppe Jungenschaftler in den 1970er-Jahren ihre letzten Trommeln an die Gewerkschaftsjugend verkaufte (Interview-Aufnahme des Autors 001-HK01 v. 08.10.13). Interview-Notiz DJO 04–01 vom 28. 09. 2012: Vor allem im ländlichen Raum waren die DJOGruppen und ihre Vorläufer oft die einzige Jugendorganisation »vor Ort«, deren Veranstaltungen deshalb auch einheimische Jugendliche anzogen. Genaue Zahlen sind schwer zu verifizieren; vor allem für Nordwestdeutschland wird in Gesprächen oft ein Anteil von bis zu 40 % erwähnt. Unter dem Eindruck des ideologischen Missbrauchs und der Verkitschung galt jegliche Bezugnahme auf »Heimat« im deutschen Kontext lange als politisch zumindest rechtslastig und damit suspekt – was weithin auch durchaus zutreffend war und bleibt; siehe dazu u. a. Brigitte Rauschenbach: Heimat im Übergang. Erbschaft dieses Landes, dieser Zeit, in: Christiane Kraft Alsop (Hg.): Grenzgängerin. Bridges between disciplines. Festschrift für Irmingard Staeuble, Heidelberg 2001, S. 229–251. Allerdings läßt sich diese politische Zuschreibung im Lichte jüngerer Debatten (siehe Anm. 17) so kategorisch nicht mehr aufrecht erhalten; gerade im Kontext von Zwangsmigration scheint eine Neubewertung geboten die
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nisationen führte – zunächst mit den westdeutschen Kommunisten und der Freien Deutschen Jugend der DDR, später auch mit den Landesjugendringen und dem Bundesjugendring – welche die 1960er- und frühen 1970er-Jahre prägten. Unter dem Eindruck der neuen Ostpolitik, gegen die es vor allem in den landsmannschaftlichen Bundesgruppen erheblichen Widerstand gab, nahm die verbandsinterne Diskussion um Ziele und Sinn der DJO ab Ende der 1960erJahre zu und führte 1974 zur Umbenennung in »djo-Deutsche Jugend in Europa«, die mit einer engeren Einbindung in die konservativ geprägte Europabewegung einher ging.42 Daraufhin kam es zwischen der DJO und dem Bund der Vertriebenen (BdV) zunehmend zu Spannungen die 1990 zum Bruch führten.43 Es folgte die zuerst vom DJO-Landesverband Bayern 1995 beschlossene Öffnung des Verbandes für Jugendorganisationen von Zuwanderern, die in der Folgezeit der DJO ihr heutiges Gesicht als Dachverband für Migrantenselbstorganisationen gab.44 Aus der als »Kaderschmiede« eines neuen Nationalismus beargwöhnten DJO ist ein der heutigen Jugend für politisches Engagement empfohlener Jugendverband geworden.
nicht nur der Indigenitätsdebatte, sondern auch Erkenntnissen z. B. der Psychologie Rechnung trägt. Siehe dazu u. a. Regine Igel: Wie viel Heimat braucht der Mensch? Migranten, Vertriebene und Ostdeutsche im Blickfeld der Psychologie, Neue Zürcher Zeitung vom 27. 08. 2005, http://www.nzz.ch/aktuell/startseite/articled295o-1.166334 [23. 02. 2015]; Astrid von Friesen: Der lange Abschied. Psychische Spätfolgen für die 2. Generation deutscher Vertriebener, Gießen 2000. 42 Ihrem kulturpolitischen Ethos entsprechend war die DJO vor allem bemüht, Verbindungen zu Kultur- und Jugendorganisationen in anderen Ländern zu festigen und auszubauen, womit sie sich in den allgemeinen Zusammenhang der Europabewegung stellte, ohne sich dieser oder jener der formal als »europäische Bewegung« firmierenden Organisationen zuzuordnen. Ob es zu einzelnen dieser Organisationen personale Beziehungen gab, welcher Art diese ggf. waren und welchen Einfluss sie auf die DJO gehabt haben mögen, bleibt zu erforschen. 43 Seit Ende der 1950er-Jahre hatten die beiden Verbände eng zusammengearbeitet, was gelegentlich zu dem Missverständnis führte, die DJO sei die Jugendorganisation des BdV. Als der BdV von der DJO verlangte, Unterschriften gegen die Anerkennung der Oder-NeißeLinie durch die neue gesamtdeutsche Regierung zu sammeln, kündigte die DJO 1990 ihre langjährige Zusammenarbeit mit dem BdV auf. In Einzelpersonen besteht die Verbindung jedoch bis heute. 44 Neben Gruppen die ehemals deutsche Vertreibungsgebiete repräsentieren gehören zur DJO heute u. a. auch der Assyrische Jugendverband Mitteleuropa oder der Kurdische Kinder- und Jugendverband KOMCIWAN.
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1951 – Gründung der DJO auf dem Ludwigstein »Die geistigen Anliegen wurden aber bei dem Gründungsakt zugunsten rein organisatorischer […] Gesichtspunkte zurückgesetzt […] [weil die Initiative] […] nicht von den ideellen Trägern ausging, sondern von den »Organisatoren«.45
Die ersten Leiter der verschiedenen Jugendorganisationen der Vertriebenen und Flüchtlinge waren, wie bereits angesprochen, oft aus der Jugendbewegung hervorgegangen,46 und diese Organisationen übernahmen vielfach Elemente der bündischen Jugend.47 So war die Wahl des Gründungsorts zunächst auch von historischer Symbolik bestimmt und sollte die DJO in den Traditionszusammenhang der Jugendbewegung einordnen. Diese Symbolik des Ludwigstein als Ort soll das Titelbild des »Pfeil« illustrieren – der Blick vom Ludwigstein zum Hanstein als Ausdruck politischer Sehnsucht. Am 7. und 8. April 1951 fand die Gründungsversammlung der DJO auf Burg Ludwigstein statt. Anwesend waren »die Leiter und obersten Führungsgremien der unterschiedlichen Organisationen der heimatvertriebenen Jugend«.48 Dazu gehörten »die Landesgruppenleiter der Ostdeutschen Jugend (OdJ), die Bundesjugendreferenten des Jugendringes der Vereinigten Ostdeutschen Landsmannschaften (VOL) und die Leitung des […] Deutschen Jugendbundes (DJB – Bayern)«.49 Diese Ludwigsteiner Gründungsversammlung diskutierte und beschloss die gemeinsame Satzung und Organisationsstruktur und wählte den ersten Vorstand. Charakteristisch für den Verband, und bis heute beibehalten, ist die Organisation nach Landesverbänden, die der politisch-territorialen Struktur Deutschlands entsprechen, und Bundesgruppen, in denen die Volksgruppenzuschreibung50 zum Tragen kommt. Diese »Doppelstruktur«, in der sich auch der Interessenkontrast zwischen dem eher sozialpolitisch orientierten 45 46 47 48 49 50
Hans Christ in: Der Pfeil, 1955, 6. Jg, Heft 9, 1955, S. 1. Siehe auch Becker : Brücke (Anm. 6), S. 70. Ebd., S. 74. Ebd., S. 81. Ebd. Damit ist eine Kern-Problematik des Forschungsprogramms angesprochen zu dem das hier referierte Projekt beiträgt. Gefragt wird danach, wie und welche geglaubten Gemeinsamkeiten im Wandel der Zeit zum Tragen kamen. Dieser Wandel läßt sich sehr gut an DJOVeröffentlichungen nachverfolgen. Vgl. z. B. für die Sudetendeutsche Jugend: DJO/SDJ (Hg.): Sudetenland. Ostkundliche Studie für Schulen und Jugendgruppen (Unser Arbeitsbrief, Heft 4), Redaktion Rolf Nitsch, München o. J.; SDJ/DJO (Hg.): Die Sudetendeutschen. Vergangenheit und Gegenwart (Unser Arbeitsbrief, Sonderheft 10), Redaktion Reinhard Schmutzer, München 1985. Am 2. November 2013 setzte sich der Bundesjugendtag der Sudetendeutschen Jugend auf dem Heiligenhof (Bad Kissingen) mit dem Begriff »Volksgruppe« auseinander und fragte, was es in der dritten und vierten Nachkriegsgeneration bedeute, »Sudetendeutsche/r« zu sein.
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Abb. 24: Blick von Deutschland nach Deutschland, so die Originalunterschrift im »Pfeil«, 1955.
Norden und dem eher volkstumsorientierten Süden widerspiegelt, hat im Laufe der Jahre immer wieder zu Zerreißproben geführt, aber auch eine multiple Verankerung von Gruppenidentitäten und -loyalitäten gefördert die letztlich trotz aller Spannungen wohl zur Überlebensfähigkeit des Verbandes beigetragen hat. Als 1952 eine DJO-Jungenschaft im bündischen Sinne gegründet wurde, glich ihre Kluft – Grauhemd, schwarzes Halstuch und Knoten – in den Augen vieler doch allzu sehr jener der Hitlerjugend. Den Beteiligten schien dies damals wenig problematisch, obwohl ehemalige Mitglieder der Jungenschaft dies im Rückblick oft anders sehen.51 In den folgenden Jahren fanden einzelne Gruppen vor allem der Jungenschaft zu verschiedenen Anlässen, meist in Verbindung mit Fahrten, den Weg zur Burg. Das nächste größere Treffen, das einen langen Nachhall haben sollte, fand 1955 statt.
51 Interview-Aufnahme des Autors (004-HG-01, 26. 09. 2013).
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1955 – Ein Stein des Anstoßes auf der Burg Vorausgegangen war eine Tagung der DJO-Bundesgruppe Schlesien auf der Burg, wo sie mit Walter Jantzen, im »Pfeil« vom Juli 1955 als »Herr der Jugendburg«52 beschrieben, ins Gespräch kam. Laut »Pfeil« ging die Idee für »[i] rgendein Mahnmal, vielleicht ein Stein« von Herrn Jantzen aus, der in der DJO den »dazu berufene[n]« Jugendbund sah.53 Ob es bei diesem Gespräch um das Gedenken an den 17. Juni 1953 oder an Flucht und Vertreibung ging, ist aus dem »Pfeil«-Bericht nicht ersichtlich. Deutlich ist allerdings der Enthusiasmus mit dem das Projekt angegangen wurde. Einem Namenlosen wird die wichtige Entdeckung zugeschrieben, dass in Nürnberg auf dem ehemaligen Reichsparteitagsgelände unbenutzte Granitblöcke aus dem Iser- und Riesengebirge zu finden seien – Steine »aus einem ostdeutschen Vertreibungsgebiet«.54 Dass diese Granitblöcke ursprünglich für »Parteibauten Hitlers« bestimmte gewesen waren wird zwar angemerkt, aber nicht weiter erörtert; ihre Verfügbarkeit wird lapidar damit erklärt, dass diese Bauten »nicht alle zu Ende geführt« worden waren.55 Vom DJO-Bundesjugendtag auf dem die Idee vorgetragen und vermutlich diskutiert wurde wird lediglich dessen »allgemeine Zustimmung« berichtet, mit der ein Stein beschafft wurde, dessen Ursprung aus Reichenberg nahe der Neiße verbürgt war. Dieser wurde an der Ostseite der Burg aufgestellt und am 17. Juni 1955 von Bundesjugendführer Oskar »Ossi« Böse in einer als stimmungsvoll beschriebenen Zeremonie bei Sonnenaufgang seiner Bestimmung übergeben, »an den Rechtskampf um die geraubten Ostgebiete und an die Einheit Deutschlands zu mahnen«.56 Eine Gedenkkapsel mit einem von den Anwesenden unterzeichneten Gelöbnis auf Pergament wurde in den Stein eingelassen, der mit einer Kupferplatte verschlossen wurde. Die Platte trägt nur wenige Zeilen mit Kerndaten des DJOWeltbilds: 10 Jahre Vertreibung [1945–1955] Wille zur Freiheit [17. Juni 1953] Wiedervereinigung […] Rückkehr in den deutschen Osten […] 52 53 54 55 56
Die offizielle Bezeichnung war »Burgvogt«. Der Pfeil, 1955, 6. Jg., Heft 7, S. 2. Ebd. Ebd. Ebd.
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Für die Daten der Wiedervereinigung und Rückkehr sind Flächen freigelassen. Darauf folgt als Symbol der DJO die Odalsrune, und der Text schließt mit der Forderung: »Das ganze Deutschland soll es sein!« Nach der Zeremonie auf der Burg gingen die Beteiligten in kleinen Gruppen an die Zonengrenze zu einer Art kurzer Mahnwache. Der Mahnstein spiegelt durchaus den Geist seiner Zeit wider, wenn auch schon damals in der bundesdeutschen Gesellschaft insgesamt eine Rückkehr der Vertriebenen in die alte Heimat als zunehmed zweifelhaft angesehen wurde. In dem Maße, wie die Erlebnisgeneration integriert wurde und neue Generationen heranwuchsen, rückte dieses Ziel in immer weitere Ferne. Allerdings sollte hier angemerkt werden, dass Zeitzeugen die »Rückkehr in den deutschen Osten« heute im Sinne der Möglichkeit deuten, frei in diese Gebiete zu reisen, und dieses Reisen nicht mit einer Wiederinbesitznahme in Verbindung bringen wollen.57 Das mag auch damit zusammenhängen, dass in den Folgejahren diejenigen, denen es dabei durchaus um die Rückgewinnung ging, der DJO nach und nach den Rücken kehrten und die von mir bisher interviewten Zeitzeugen, die sich bis heute mit der DJO verbunden fühlen, schon damals den Worten eine andere Bedeutung zumaßen.
1961 – 9. Bundesjugendtag auf dem Ludwigstein Im Jahr des Berliner Mauerbaus feierte die DJO ihr zehnjähriges Bestehen und hielt ihren 9. Bundesjugendtag auf der Burg ab. Neben dem Bezug zur bündischen Jugend wurde dabei auch die Symbolik der Lage an der innerdeutschen Grenze herausgestellt. Der ehemalige (erste) Bundesleiter Pohl mahnte dazu im »Pfeil« die »aus der geschichtlichen Not unseres Volkes gewachsene Aufgabe« an, sich für die Einheit Deutschlands einzusetzen.58 Der Präsident des Bundes der Vertriebenen, Krüger, lobte in seiner Grußbotschaft die DJO dafür, dass sie »der Überzeugung mit zum Durchbruch verholfen« habe, »die friedliche Rückgewinnung und die Wiederbesiedlung der deutschen Ostgebiete« sei »eine Gemeinschaftsaufgabe des deutschen Volkes«. Seit Ende der 1950er-Jahre arbeitete die DJO auch formal enger mit dem BdV zusammen. Zu diesem Zeitpunkt war offensichtlich mit der »Rückkehr in den deutschen Osten« zumindest mehrheitlich noch nicht einfach die Reisefreiheit gemeint. Allerdings stellte sich die DJO mit ihrer Ludwigstein-Erklärung vom 6. Mai 1961 betont auf den Boden der Menschenrechte und des von den Westalliierten vertretenen Völkerrechts. Die Erklärung schließt mit dem Bekenntnis, dass die DJO keineswegs ein 57 Interview-Aufnahmen des Autors (001-HK-01, 08.10.13; 003-KS-01 29.09.13; 004-HG-01, 26.09.13; 007-HM-01, 28.09.13). 58 Der Pfeil, 1961, 11./12. Jg., Heft 4, S. 3.
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»Hindernis, sondern Brücke der Verständigung und des Friedens mit allen Völkern« sein wolle.59
1965 – Jahr der Menschenrechte Ganz in diesem Sinne stand auch der 12. Bundesjugendtag 1965 im Zeichen des »Jahrs der Menschenrechte«. Bundesjugendführer Böse betonte im »Pfeil« die Vision einer Welt, in der »das für alle geltende Recht der Grundpfeiler eines Europas der freien Völker und freien Volksgruppen wird.« Gemeint sein soll damit ein Europa, in welchem »Grenzen nur noch ethnographische und verwaltungsmäßige Bedeutung haben«.60 Diese Vision findet Ausdruck in der Entschließung der DJO zum »Jahr der Menschenrechte«. Betont geht es dabei um die Schaffung einer besseren Welt in Zusammenarbeit mit, und nicht gegen die Nachbarvölker. Allerdings lässt sich zwischen den Zeilen auch eine Interpretation herauslesen, die den Rechtsdiskurs im Ernstfall gegen diese Nachbarvölker einsetzen kann, indem sie zum Beispiel das historische Unrecht der Vertreibung dem Recht auf Heimat entgegenhält.
1971 – Feierstunde »20 Jahre DJO« auf der Burg Am 21. Mai 1970 war es anlässlich des Besuchs Willi Stophs, des Vorsitzenden des DDR-Ministerrats, in Kassel zu einem Eklat gekommen, der für die Entwicklung der DJO in den Jahren danach weichenstellend wirken sollte. Der Regierungswechsel Ende der 1960er-Jahre und die sich anschließende neue Ostpolitik der SPD/FDP-Koalition in den frühen1970er-Jahren hatten zu Spannungen in allen Organisation geführt, die sich als Interessenvertreter der Vertriebenen und Flüchtlinge sahen. Am Rande einer von der Jungen Union geplanten Demonstration hatten drei DJO-Mitglieder, darunter ein Mitglied der Bundesführung, die DDR-Fahne vor dem Kassler Schlosshotel vom Mast geholt.61 Die offensichtliche Opposition der DJO gegen die Ostpolitik, die in diesem Ereignis zum Ausdruck kam, führte zu erneuten Spannungen mit anderen Jugendverbänden im Bundesjugendring. In den Medien wurde der Eklat weithin als Aktion »rechter Extremisten« dargestellt, was zu Versuchen führte, die DJO aufgrund ihrer rechtslastigen Tendenzen aus dem Deutsche Bundesjugendring (DBJR) auszuschließen. Die DJO galt vielen als Hindernis für die Normalisie59 Der Pfeil, 1961, 11./12. Jg., Heft 5, S. 2. 60 Der Pfeil, 1965, 15. Jg., Heft 6, S. 1. 61 Becker : Brücke (Anm. 6), S. 182.
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rung der Beziehungen zwischen den beiden deutschen Staaten ebenso wie für die Verbesserung jugendpolitischer Beziehungen zwischen Deutschland und seinen östlichen Nachbarländern. Unter diesen Umständen empfanden einige Teilnehmer den 20. Gründungstag, der 1971 mit einer Feierstunde auf Burg Ludwigstein begangen wurde, weniger als einen Tag der Freude sondern vielmehr Anlass dazu, »über Sinn und Wert eines Jugendverbandes in Deutschland nachzudenken, der […] von vielen Seiten […] in das Feuer politischer Auseinandersetzungen gedrängt wird«.62 Es mag ein Ausdruck der Niedergeschlagenheit sein, die aus diesem Zitat spricht, dass es von der Veranstaltung kein Bild im »Pfeil« gibt. Das veröffentlichte Bild stammt eindeutig aus dem Archiv – es war schon für den Bericht vom 12. Bundesjugendtag 1965 benutzt worden. In seiner Ansprache betonte der damalige Bundesvorsitzende, Henning Müßigbrodt, dass die DJO »keine politischen Ordnung [wolle] die nicht auch von unseren Nachbarvölkern im Osten bejaht und mitgetragen wird«.63 Später im selben Jahr zeigte der »Pfeil« auf der Titelseite ein Bild des Mahnsteins, wie er seit dem Kasseler Treffen der beiden deutschen Regierungschefs aussah: die Kupferplatte verdeckt von einer Sandsteinkonsole für einen Blumentopf, an der Seite hing ein Papierkorb.64 Dazu gab es einen Kommentar, der in dieser »Verhüllungsaktion« sarkastisch ein »Lehrstück für die Art, wie Deutsche mit ihrer Geschichte umgehen« sah.65 Es wurde immer deutlicher, dass spätestens mit Beginn der neuen Ostpolitik Ende der 1960erJahre aus dem »Mahnstein« ein Stein des Anstoßes geworden war und dieser »schließlich selbst auf Burg Ludwigstein keinen Platz mehr« haben würde.66 Bereits im März 1971 war die Diskussion um einen neuen Verbandsnamen eingeleitet worden, begründet damit, dass der Name häufig missverstanden wurde und zu Vorurteilen Anlass gab. Ein Wettbewerb im Sommer desselben Jahres ergab »Deutsche Jugend für Europa« als favorisierten Namen.67 Drei Jahre später wurde diese Debatte auf dem 20. Bundesjugendtag wieder aufgenommen.
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Der Pfeil, 1971, 21. Jg., Heft 5, S. 19. Ebd. Der Pfeil, 1971, 21. Jg., Heft 11, S. 1. Ebd., S. 7. Der Pfeil, 1977, 27. Jg., Heft 3, S. 5. Die zum Teil heftigen Auseinandersetzungen zwischen der DJO und der Ludwigstein-Vereinigung über den »Mahnstein« sind in den Ludwigsteiner Blättern der späten 1960er-Jahre in Auszügen dokumentiert. 67 Becker : Brücke (Anm. 6), S. 196.
Die Deutsche Jugend des Ostens und die Burg Ludwigstein (1951–1975)
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Abb. 25: Der »Oststein« 1971.
1974 – Bekenntnis zu Europa Der 20. Bundesjugendtag fand vom 22. bis 24. März 1974 nicht auf der Burg Ludwigstein, sondern nicht minder symbolträchtig in Bad Godesberg68 statt. In seinem Jahresrückblick berichtete der Bundesvorsitzende, Henning Müßigbrodt, von einem Gespräch zwischen Vertretern der DJO und der SPD, das am 17. Januar im Ollenhauer-Haus stattgefunden und mit der Relativierung der Haltung der DJO-Führung zu den Ostverträgen geendet hatte. Die neue Vertragssituation wurde nun vom Vorstand als für die DJO verbindlich angesehen. Die kontroverse neue Position gab Anlass zu leidenschaftlichen Diskussionen
68 Bad Godesberg ist in einem doppelten Sinn symbolträchtig: in unmitelbarer Nähe der »provisorischen Bundeshauptstadt« Bonn gelegen ist es auch der Ort, an dem 15 Jahre zuvor die SPD sich programmatisch zu einer Partei der Mitte erklärt hatte. Ob die Symbolik seitens der DJO-Leitung intendiert war, muss hier dahingestellt bleiben.
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und einem Misstrauensantrag, der nur knapp abgelehnt wurde. Am Ende des Bundesjugendtages war ein neuer Name beschlossen worden, der das alte Kürzel als Erinnerung an die Geschichte des Verbandes enthalten sollte: DJO-Deutsche Jugend in Europa. Gleichzeitig wurde beschlossen, die Odalsrune mit dem Pfeil der Ostsiedler durch die Windrose als neues Verbandsabzeichen zu ersetzten. Der neue Name mit Beibehaltung des alten Kürzels sollte ein Signal für die Modernisierung der DJO ohne Aufgabe ihrer Geschichte und grundlegenden Ziele sein.69 Er signalisierte aber auch einen Generationsübergang; nur die Bundesführung rekrutierte sich zu diesem Zeitpunkt noch hauptsächlich aus der Generation, die Flucht und Vertreibung noch tatsächlich erlebt hatte, während die Mehrheit der Mitgliedschaft erst nach dem Krieg in Westdeutschland geboren worden war. So änderte sich auch das Verhältnis der DJO zur Burg Ludwigstein, die zwar weiterhin den Traditionszusammenhang »Jugendbewegung« symbolisch repräsentierte, als Grenzposten und Warte für den Blick nach Osten jedoch im Laufe der Jahre zunehmend an Symbolkraft für die Gegenwart verlor und damit zur Erinnerungsstätte nicht für den verlorenen Osten, sondern für die Verbandsgeschichte wurde. Die Entwicklung in den frühen 1970er-Jahren, die einen klaren Wendepunkt in der Geschichte der DJO darstellt, wurde nicht in allen Teilen der Organisation begeistert aufgenommen, wie das Beispiel des Landesverbandes Baden-Württemberg zeigt, der bis heute, mehr als dreißig Jahre danach, seinen eigenwilligen Weg geht,70 wenn auch innerhalb des Dachverbandes. Der Widerstand gegen den Wandel war am stärksten unter den landsmannschaftlich orientierten Bundesgruppen, wo ein Prozess der internen Aushandlung und Repositionierung in einigen Fällen zur Trennung der Wege führte – so verließen die Bundesgruppen Ostpreußen und Schlesien die DJO im Laufe der Zeit, weil sie in der »neuen« Richtung ihre eigenen Ziele, vor allem in Bezug auf die Rückgewinnung der ehemaligen Heimatgebiete, nicht mehr repräsentiert fanden. Wie »neu« die 1974 offiziell eingeschlagene Richtung allerdings wirklich war, ist fraglich. Die europäische Idee stand, wenn auch vielleicht nicht Pate, so doch sehr nahe an der Wiege der DJO.71 Dass sie zeitweise von anderem Gedankengut überschattet oder beiseite gedrängt wurde, steht außer Frage. Wie stark und richtungsgebend sie in den ersten 25 Jahren war, bleibt erst noch festzustellen. War das frühe Bekenntnis zu Europa lediglich Rhetorik um im Nachkriegs-Deutschland die Zu69 Becker : Brücke (Anm. 6), S. 197. 70 So benutzte der Landesverband z. B. bis vor kurzem ein an die Odalsrune erinnerndes Verbandsemblem. 71 Es gab innerhalb des Verbandes eine ziemliche Bandreite der Visionen, die im »Pfeil« teils mehr, teils weniger deutlich hervortraten und sich mit der Zeit auch durchaus verschoben. Ob »die DJO« als Verband konkrete oder eher diffuse Europa-Vorstellungen hatte, und wie sich diese im Laufe der Jahre wandelten, wäre noch zu erforschen.
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ordnung zu den »Ewiggestrigen« zu vermeiden, die dann allerdings doch unausweichlich erfolgte? Oder war es eine ehrlich und ernsthaft progressive politische Strömung, die einerseits in der Sprache ihrer Zeit redete, dabei andererseits aber doch den politischen Entwicklungen dieser Zeit voraus war? Am Ende der 1970er-Jahre hatte sich die DJO auch in ihrem öffentlichen Bild grundlegend neu entwickelt: von einer Organisation der Flüchtlings- und Vertriebenenjugend in den frühen Jahren, über einen allgemein-deutschen Jugendverband seit Mitte der 1950er- bis Ende der 1960er-Jahre, zu einer »normalen« Jugendorganisation mit besonderem Augenmerk auf internationalen Verbindungen vor allem mit den Ländern Mittel- und Osteuropas. Allerdings behielten die meisten der landsmannschaftlichen Bundesgruppen, deren primäre Wurzeln in der Jugendkulturarbeit liegen, ihre traditionellen Formen und Arbeitsweisen ebenso bei wie ihre grundsätzlichen politischen Positionen in Bezug auf Vertreibung.72 Aus mittel- und osteuropäischer Sicht wurden diese Wandlungsprozesse verständlicherweise kritisch beobachtet.73 Ob und inwieweit die DJO während ihres ersten Vierteljahrhunderts in der Tat eine »Schule der Rechtsradikalen« oder »Kaderschmiede des Nationalismus« war, kann hier nicht näher untersucht werden. Sie erfand sich ab 1951 in bewusster Anknüpfung an Traditionen vor allem auch der bündischen Jugendbewegung, und wie diese ist sie nicht so einfach in den überlieferten Kategorien von »rechts« oder »links« zu erfassen. Damals wie heute sind solche kategorischen Zuschreibungen problematisch und müssten zunächst auf dahinter stehende Erkenntnisinteressen »abgeklopft« werden. Es gibt ein Bild, das FranzJosef Strauß auf der Rednertribüne einer Vertriebenenveranstaltung zeigt; die Tribüne ist dekoriert mit Plakaten gegen die Dreiteilung Deutschlands, darüber ein Banner, auf dem Herbert Wehner von 1950 zitiert wird: »Die Anerkennung der Oder-Neiße-Linie ist ein Verbrechen an Deutschland«. Nation und Heimat als alleiniges Erbgut »rechter« Politik – so einfach lagen die Dinge schon damals nicht.74 Als gesellschaftliche Bewegung lassen sich in der DJO Elemente aus einem sehr breiten Spektrum politischer Orientierungen ausmachen, das sich quasi von Strauß bis Wehner erstreckt – und in beide Richtungen darüber hinaus. Eine Art »Gesamtverortung« zu wagen erscheint deshalb wenig sinnvoll und lenkt von wichtigeren Fragen ab: Was genau bedeuteten und bedeuten Schlagwörter wie »Recht auf Heimat« für einzelne und Gruppen, damals wie heute? Wie konstituiert sich eine »Volksgruppe« jenseits ihrer Sehnsuchtsorte, und wie und warum wandelt sich solche Konstitution im Laufe der Zeit? Was gab damals, und was gibt heute solchen Zuschreibungen ihre gesellschaftliche Re72 Becker : Brücke (Anm. 6), S. 208. 73 Siehe zum Beispiel Kołacki: Kultur (Anm. 19). 74 Siehe dazu auch Rauschenbach: Heimat (Anm. 41); Kockel: Outline (Anm. 16).
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levanz und Brisanz? Welche Unterschiede gab und gibt es zwischen verschiedenen Gruppen, und wie erklären sich diese? Was wollen die Einzelnen, die sich zu solchen geglaubten Gemeinsamkeiten zusammenfinden – und warum gerade das? Es geht darum, zu verstehen, was Menschen tun und warum. Ob sie damit politisch rechts, links, in der viel besetzten Mitte oder anderswo einzuordnen sind, hängt letztlich auch davon ab, was wir analytisch mit diesen Kategorien meinen und wozu wir dieselben gebrauchen.
Ein Nachspiel: 1977 – Entfernung des »Mahnsteins« von der Burg Der »Mahnstein« fand am 17. Juni 1977 ein neues Zuhause auf dem Gelände des DJO-Landesheims in Rodholz/Hessen. Restauriert und in einem Hain hinter dem Haus platziert wurde er mit einer zweiten Plakette versehen, auf der es über einer Windrose heißt: Dem Frieden verpflichtet Die Zukunft Europas gestaltend DJO-Deutsche Jugend in Europa
In den Stein eingemauert wurde eine Kartusche mit mehreren Dokumenten: die alte Urkunde von 1955, die Charta der Heimatvertriebenen, ein Auszug aus der Menschenrechtserklärung der UN, sowie eine neue Urkunde, in welcher die Gründe der Verlegung des Steins erläutert werden:75 Rodholz – Gedenksteinurkunde Heute, am 17. Juni 1977, geben wir diesem Gedenkstein aus den Anfangsjahren unseres Jugendverbandes auf dem Gelände des DJO-Heimes Rodholz in der Rhön einen neuen Standort. Als Mahnmal für die deutsche Wiedervereinigung und die Überwindung der Vertreibung wurde er im Jahre 1955 am Tag der Deutschen Einheit auf der Burg Ludwigstein aufgestellt. Mit der Burg Ludwigstein, hoch über der Werra, der Zonengrenze gegenüber, hatten die damaligen Verantwortlichen jenen Ort gewählt, an dem in der Tradition der Deutschen Jugendbewegung 1951 auch unser Jugendverband gegründet worden war. Seit 1967 zum »Stein des Anstoßes« geworden, spiegelt sich in der Geschichte dieses Granitblocks aus der Gegend um Reichenberg ein Stück der Veränderung wider, wie sie die Zeitgeschichte der letzten 20 Jahre mit sich brachte. Mit Säure verätzt, vor Besuchern dann durch eine Mauer versteckt, durch Bauarbeiten dann völlig der Zerstörung preisgegeben, hat ihn der Bundesvorstand schließlich nach Rodholz bringen lassen. 75 DJO Jahrbuch 1977, hg. von DJO-Deutsche Jugend in Europa, Bundesverband e.V., Bonn 1977, S. 70.
Die Deutsche Jugend des Ostens und die Burg Ludwigstein (1951–1975)
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Geschichte kann nicht verändert werden, auch wenn man Zeugen und Dokumente der Vergangenheit zu tilgen versucht! Man wird für die Zukunft nur aus ihr lernen können, wenn man von der Vergangenheit weiß und sich zu ihr bekennt. Der Wandel seit 1955 hat auch unseren Jugendverband verändert. Aus der Deutschen Jugend des Ostens ist 197276 die DJO-Deutsche Jugend in Europa geworden. Wir haben damit unser Anliegen in einen größeren europäischen Rahmen gestellt. Wenn hier wiederum die Vertreter aller Gliederungen unseres Verbandes um diesen Stein versammelt sind, so bedeutet dies für die heutige Generation der DJO-Deutsche Jugend in Europa das Bekenntnis zu den Heimatlandschaften unserer Gründergeneration, deren Erbe wir weitertragen wollen. Damals wie heute bekennen wir uns zu den Prinzipien, die für eine Zukunft in Europa gelten müssen: Frieden, Freiheit und Menschenrechte für die Menschen in West und Ost. Rodholz/Rhön, am 17. Juni 1977
76 Die Chronologie in solchen »Zeitkapsel«-Dokumenten ist aus historischer Sicht notorisch problematisch. Aus ethnologischer Sicht kann die präzise Chronologie, je nach Fragestellung, bisweilen zweitrangig sein. Ob die Umbenennung mit der Umfrage 1971, dem Beschluss 1974 oder zu einem Zeitpunkt dazwischen stattfand, ist weniger interessant als die Tatsache, dass und die Gründe, weshalb sie eben in diesem Zeitraum für notwendig erachtet wurde.
Weitere Beiträge
Tomsˇ Kasper
Lebenserneuerung – Karl Metzners Erziehungsprogramm für den Deutschböhmischen Wandervogel und die Freie Schulgemeinde Leitmeritz1
Deutsche reformpädagogische Schulversuche und die deutsche Jugendbewegung in der Tschechoslowakei in der Zwischenkriegszeit stellen sowohl in der deutschen wie in der tschechischen Bildungs- und Erziehungsgeschichte ein wichtiges Kapitel dar. Trotzdem scheint dieses Kapitel in der pädagigischen Diskussion zunehmend in Vergessenheit zu geraten. Dem soll diese Studie über die Bildungsund Erziehungsarbeit von Karl Metzner (1880–1947) entgegen wirken. Karl Metzner war eine der kontroversen und prägenden Figuren der deutschbömischen bürgerlichen Jugendbewegung2 und auch der deutschen Bildungsdiskussion in der Tschechoslowakei in der Zwischenkriegszeit3. Karl Metzners pädagogische Bemühungen korrespondieren eng mit Erziehungsvorstellungen des deutschen Bürgertums vor dem Ersten Weltkrieg in der habsburgischen Mehrvölkermonarchie, sind aber auch geprägt von der ersten Generation der deutschen Jugendbewegung in Tschechien nach der Staatsgründung 1918.4 Verfolgt man die na1 Dieser Artikel entstand dank der Unterstützung der Tschechischen Forschungsgemeinde GACR, im Rahmen des Projektes Nr. 13–18725S – Educational Programs and Concepts of German Pedagogical Organizations in Interwar Czechoslovakia. 2 Zum Begriff der Jugendbewegung als eine spezifisch deutsche Reaktion auf gesellschaftliche und mentale Umbrucherfahrungen des 19. Jahrhunderts vgl. Barbara Stambolis (Hg.): Jugendbewegt geprägt. Essays zu autobiographischen Texten von Werner Heisenberg, Robert Jungk und vielen anderen, Göttingen 2013, S. 14–15. 3 Der folgende Beitrag thematisiert vor allem die Rolle von Karl Metzner in der deutschen bürgerlichen Jugendbewegung –im Deutschböhmischen Wandervogel und im Sudetendeutschen Wandervogel. Selbstverständlich war das Phänomen der deutschen Jugendbünde viel breiter und bezog sich nicht nur auf die Wandervögel, sondern schloss weitere deutsche Jugendbünde in Böhmen und später in der Tschechoslowakei ein, insbesondere die sozialistische und die kommunistische Arbeiterjugend, die katholische Jugend, die Landjugend und die nationalsozialistische Jugend. Obwohl sich die Inhalte der einzelnen Jugendbünde in ihren Programmen scharf unterschieden, waren die Formen des Jugendbundlebens oft sehr ähnlich oder sogar identisch; vgl. dazu Peter Becher (Hg.): Deutsche Jugend in Böhmen 1918–1938, Benediktbeuern 1993. 4 Der folgende Beitrag benutzt die Begriffe »national bürgerliche« und auch »konservative« deutsche Jugendbewegung, worunter zunächst alle nicht sozialistischen Jugendbünde zu verstehen sind. Im weiteren Sinne stützten sich die deutschböhmischen und später sude-
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tionale Diskussion am Ende des 19. Jahrhunderts und zu Beginn des 20. Jahrhunderts in den böhmischen Ländern der Habsburgermonarchie und analysiert die Konstruktion des nationalen kollektiven Gedächtnisses in der deutschen Bevölkerung in Böhmen, wird man mit Feindbildern, mentalen Grenzziehungen und nationalen Schutzprämissen konfrontiert.5 Nicht nur in der deutschen, sondern auch in der tschechischen Diskussion kann man vergleichbare Strategien der nationalen Aktivisten erkennen.6 Dabei ist jedoch nicht zu vergessen, dass sich trotz ähnlicher nationaler Praktiken, etwa in der Gründung nationaler Vereine und nationaler Kataster, die ideellen Konzepte der Nation in der deutschen und tschechischen Diskussion sehr unterschiedlich entwickelten.7 In der deutschen nationalen Diskussion agierten die nationalen Führer anhand eines Konzeptes völkischer Erziehung8 bzw. einem romantischen volksorganischen Konzept des
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tendeutschen national bürgerlichen Jugendbünde auf kulturpessimistische Schriften und deren Denkmuster, die wiederum mit den lebensreformerischen Bewegungen und ihren »antimodernen« Charakteristiken korrespondierten. In diesem Sinne handelt es sich um eine Reaktion auf die Moderne, die bei einigen Bünden konservative Züge aufweist, insgesamt jedoch nicht ohne weiteres mit dem allgemeinen Terminus »konservativ« zu bezeichnen ist. Vgl. als Grundlagenwerke zur Verknüpfung von Lebensreform- und Jugendbewegung Kai Buchholz u. a. (Hg.): Die Lebensreform. Entwürfe zur Neugestaltung von Leben und Kunst um 1900, Darmstadt 2001. – Diethart Kerbs, Jürgen Reulecke (Hg.): Handbuch der deutschen Reformbewegungen (1880–1933), Wuppertal 1998. – Die bürgerlich nationalen und konservativen Jugendbünde spiegeln auch in den böhmischen Ländern der Habsburgermonarchie die Krise im Weltbild des deutschen Bürgertums wider, seine Hinwendung zu Pangermanismus, Imperialismus, Rassentheorien und Antisemitismus, seine Kritik des Liberalismus, des Zivilisationskonzeptes sowie die Hingabe an das Konzept der einheitlichen, harmonischen völkischen Gemeinschaft. Das alles sollte durch Erziehung vermittelt werden. – Stefan Breuer zeigt in seiner Studie »Anatomie der Konservativen Revolution«, dass man bei den national bürgerlichen Jugendbünden konservative Züge findet, was jedoch nicht ausreicht, um sie alle als jungkonservativ zu bezeichnen. Er analysiert die national bürgerlichen und völkischen Jugendbünde anhand der Theorie der »zweiten Moderne« von Ulrich Beck und zeigt, dass diese Jugendbünde nicht antimodern, sondern außerstande waren, die typischen Denk- und Handlungsweisen der »zweiten Moderne« für sich anzunehmen. Breuer greift damit explizit Fritz Sterns Bezeichnung der sog. konservativen Jugendbünde als »antimoderne Bünde« auf. – Vgl. dazu Stefan Breuer: Anatomie der konservativen Revolution, Darmstadt 1995; Ulrich Beck: Modernisierung der Moderne, Frankfurt a. M. 2001; Fritz Stern: Kulturpessimismus als politische Gefahr, München 1986. Vgl. Peter M. Judson: Construction nationalities in East Central Europe, New York 2005. Vgl. Peter M. Judson: Guardians of the nation. Activists on the language frontiers of imperial Austria, Cambridge 2006 und ders.: Die Schutzvereine und das Grenzland. Aktivitäten zur Realisierung von ›imagined borderlands‹, in: Peter Haslinger (Hg.): »Schutzvereine« in Ostmitteleuropa. Vereinswesen, Sprachenkonflikte und Dynamiken nationaler Mobilisierung (1860–1939), Marburg 2009, S. 7–19. Jitka Balcarova: »Jeden za vsˇechny, vsˇichni za jednoho!«. Bund der Deutschen a jeho prˇedchu˚dci v procesu ut vrˇen sudetoneˇmeck¦ identity, Praha 2013, S. 38. Ein einheitliches Konzept völkischer Erziehung gab es ebenso wenig wie eine Einheit in der völkischen Bewegung, denn diese Ideologie integrierte in der Ablehnung von Internationalismus und Liberalismus höchst widersprüchliche Ideologeme wie Rassismus, Antisemitis-
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Volkes als Volkskörper mit seinen typischen Volkseigenschaften, die sich als »Volkheit« und »Volkstum« artikulierten, und »gerettet« bzw. »wiederbelebt« werden mussten.9 Dagegen stützte sich die deutschnationale Erziehungsdiskussion in Böhmen am Anfang des 20. Jahrhunderts auf einen völkischen Volkserziehungsdiskurs, der die Sprache der Befreiungskriege konservierte und den Pathos der »Befreiung« ausnutzte, um im »Kampf« gegen die erfolgreiche tschechische nationale Bewegung und später gegen die Tschechoslowakei agitieren zu können. In der kollektiven Identität der Generation der um 1890 geborenen Jahrgänge war dieses Bild fest verankert; die völkisch bewusste Erziehung sollte das Volk sowohl mental wie auch institutionell vereinigen und im Kampf gegen den nationalen Feind stärken. Diese Generation10, deren männliche Angehörige den Ersten Weltkrieg meist an der Front erlebt hatten, begriff nach 1918 die völkische Erziehung als Mittel der Volksrettung. Obwohl die Einheit des Volkes das erklärte Ziel der völkischen Erzieher war, konnte man sich nicht auf den richtigen Weg dahin verständigen. Das schwächte die Aktivitäten der Alten und verursachte nach 1918 unter den Erziehern eine Skepsis, ob die von der älteren Generation propagierten Erziehungsmuster aus der Vorkriegszeit geeignet seien, den sudetendeutschen Stamm in der Tschechoslowakei zu retten. Die Generation der um 1900 Geborenen, denen das Kriegserlebnis fehlte, suchte nach neuen Wegen zur Einheit des Volkes.11 Diese Jungen entwickelten das Konzept einer mus, Antislawismus, Sozialdarwinismus, Militarismus, Imperialismus, Antiurbanismus, Alldeutschtum, Pangermanismus usw. – Vgl. Uwe Puschner u. a. (Hg.): Handbuch zur völkischen Bewegung 1871–1918, München 1996; ders.: Die völkische Bewegung im wilhelminischen Kaiserreich. Sprache – Rasse – Religion, Darmstadt 2001; Stefan Breuer: Die Völkischen in Deutschland. Kaiserreich und Weimarer Republik, Darmstadt 2008. – Daher werden im Folgenden unter »völkischer Ideologie« die aus der deutschnationalen Bewegung Österreichs nach 1870 kommenden Theoreme von Großdeutschland, Antisemitismus und Pangermanismus verstanden, die sich im Gedankengut vieler völkisch geprägter, deutschböhmischer Jugendführer, Volkserzieher und Heimatbildner finden. 9 Günter Hartung zeigt, wie sich ursprünglich viel breiter definierte Begriffe wie »Volkheit« oder »Volkstum« im völkischen Kontext durch großdeutsche, rassistische und antisemitische Konnotationen in ihrer Bedeutung veränderten; vgl. Günter Hartung: Völkische Ideologie, in: Puschner : Handbuch (Anm. 8), S. 22–44. 10 Zu den Identitäten der Generationen der 1890 Geborenen und 1900 Geborenen vgl. Stefan Breuer : Anatomie der konservativen Revolution, Darmstadt 1995, S. 30 und Jürgen Reulecke: Zum Selbstverständnis einer »jungen Generation«. Wo ist Zukunft?, in: Ulrich Herrmann (Hg.): Mit uns zieht die neue Zeit. Der Wandervogel in der deutschen Jugendbewegung, Weinheim 2006, S. 309–325. 11 Ähnlich wie Barbara Stambolis, die den Mythos der Jugend und der jungen Front, die das deutsche Volk vereinigen und retten sollte, analysiert, kann man die Aktivitäten der deutschböhmischen und später sudetendeutschen Jugendbünde betrachten. Auch in ihnen sah man das Erlösungsmittel aus der als Krise empfundenen Situation der Deutschen im neu entstandenen tschechoslowakischen Staat. Zum Mythos der Jugend vgl. Barbara Stambolis: Der Mythos der Jugend. Ein Aspekt der politischen Kultur im 20. Jahrhundert, Schwalbach
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volkspolitischen Erziehung und stellten Erziehungsfragen vor die eigentlich politische Arbeit. Dieser Generationenkonflikt spielte in der sudetendeutschen Jugendbewegung eine zentrale Rolle.12 Im Generationskonflikt spiegelte sich nicht nur der Streit um die Form der Jugendgruppenführung, etwa in Diskussionen die Rolle des Männerbundes13 und die Rolle des Führertums betreffend, sondern die Jungen stritten mit den Alten darum, um die Jugendarbeit aus den Fesseln der völkischen Volksschutzarbeit zu befreien, um sie nach politischen Zielen auszurichten. In diesem Sinne finden wir in der Sprache, in mentalen Vorstellungen und Handlungsmustern der Jugendbundführer nach 1918 Kontinuitäten zu den Denk- und Handlungsweisen aus der Vorkriegszeit: völkische Erziehungsmuster, Kampfrhetorik, Pathos der Volksrettung und Hingabe zur Volksvereinigung in einer überparteilichen Volksgemeinschaft. Andererseits beobachtet man in der jugendbewegten sudetendeutschen Diskussion nach 1918 klare Brüche und Diskontinuitäten, als die Jugend- und Männerbünde sich einerseits unter einem führenden Bund vereinigen sollten und andererseits neue mentale Erziehungskonzepte entwickelt wurden, in unserem Fall der volkspolitischen Erziehung14. Dieses Konzept mischte völkische, antisemitische, rassistische, großdeutsch-nationalistische Züge mit den Denkprämissen des nationalkonservativen Philosophen Othmar Spann (1878–1950)15, dessen Lehre über den wahren Staat die neue Generation im Sudetendeutschen Wandervogel stark
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2003 sowie Frank Trommler : Mission ohne Ziel. Über den Kult der Jugend im modernen Deutschland, in: Thomas Koebner (Hg.): Mit uns zieht die neue Zeit. Der Mythos Jugend, Frankfurt a. M. 1985, S. 14–49. Zum Generationskonflikt vgl. Hans Mommsen: Generationskonflikt und Jugendrevolte in der Weimarer Republik, in: Koebner : Zeit (Anm. 11), S. 50–67. Dazu vgl. Jürgen Reulecke: »Ich möchte einer werden so wie die«. Männerbünde im 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 2001; sowie Jürgen Reulecke: Männerbund versus Familie. Bürgerliche Jugendbewegung und Familie in Deutschland im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, in: Koebner : Zeit (Anm. 11), S. 199–223. Dazu vgl. Tomsˇ Kasper : Vychova ci politika, Praha 2007. Othmar Spann (1878–1950) war Nationalökonom und Philosoph, Theoretiker des Ständestaates und wird darum zu den Vertretern des »Austrofaschismus« gezählt. Er wurde 1903 an der Universität Tübingen zum Doktor der Staatswissenschaften promoviert, 1907 im Fach Volkswirtschaftslehre an der Technischen Hochschule in Brünn habilitiert. Nach einer Pause durch seine Einberufung in den Krieg, wo er bei Lemberg verletzt wurde, las er an der Technischen Hochschule in Brünn. 1919 wurde er an die Universität Wien berufen, wo er bis 1938 lehrte. Sein Werk »Der wahre Staat« (1921) wurde zum ideellen Konzeptionsprogramm der Jungen Generation in der »sudetendeutschen Bewegung und Jugendbewegung«. Ab 1933 war er Herausgeber der Zeitschrift »Ständisches Leben«, die der nationalsozialistischen Ideologie nahe stand. Hier kämpfte man gegen Rationalismus, Liberalismus, Materialismus und Marxismus und strebte als neue Ordnung einen Ständestaat an. Ab 1935 geriet Spann in Streit mit den Nationalsozialisten, denen seine Lehre zu elitär, zu idealistisch und zu wenig nationalsozialistisch war. Diese Konflikte brachten Spann 1938 für vier Monate in das KZ Dachau. Nach seiner Entlassung zog er sich ins Private zurück und wurde nach 1945 pensioniert.
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prägte. Das Denken eines elitär begriffenen Kameradschaftsbundes16, in dem vor allem die Vertreter der jungen Generation und die Anforderung der Volksbildungsarbeit zusammentrafen,17 führten letztendlich nach 1933 die sudetendeutschen Jugendbünde in den Schoß des Deutschen Turnverbands in der Tschechoslowakei (DTV). Den DTV führte seit 1931 der Vertreter der Jungen, Konrad Henlein, der 1933 neben der Jugend- und Bundarbeit auch eine politische Karriere startete. Henlein gründete die überparteiliche Sudetendeutsche Heimatfront als einheitliche Front für alle Sudetendeutschen und transformierte sie im Jahre 1935 zur politischen Institution, der Sudetendeutschen Partei. Diese spielte dann eine schicksalhafte Rolle in der politischen Krise gegen Ende der 1930er-Jahre und half der aggressiven nationalsozialistischen Machtpolitik Hitlers, in deren Folge das Sudetenland nach dem Münchner Abkommen in das »Dritte Reich« einverleibt wurde18. Der folgende Beitrag analysiert mit Karl Metzner die erzieherischen Aktivitäten eines Vertreters der alten Generation, der früher Obmann des Deutschböhmischen Wandervogels gewesen war und nach 1918 zu einer zentralen Persönlichkeit in der jugendbewegten Diskussion der Alten, also der deutschen Schulreformdiskussion in der CSR, wurde und Leiter des einzigen Landerziehungsheimes in der Tschechoslowakei war. Die völkische Erziehungsdiskussion der Alten verbreitete sich vor dem Krieg vor allem in den deutschen bürgerlichen und national orientierten Gesellschaftskreisen. Daher gehörten die Mittelschulstudenten zu den wichtigsten Adressaten dieses Konzeptes. Auch Karl Metzner übernahm als Absolvent der Realschule und zukünftiger Leitmeritzer Mittelschullehrer die völkischen Prä-
16 Die Junge Generation in der sudetendeutschen Jugendbewegung stützte sich in ideeller Hinsicht auf die Lehre Othmar Spanns. Die Jungen gründeten 1925 in der nordböhmischen Stadt Reichenberg (Liberec) den Arbeitskreis für Gesellschaftswissenschaften und 1928 den Kameradschaftsbund. Bund für volks- und sozialpolitische Bildung (KB). Der elitäre Bund sollte die ideelle Basis für die junge Generation im Sudetendeutschen Wandervogel und in der sudetendeutschen Jugendbewegung liefern. Entsprechend dieser Lehre sollte im KB der antiliberale, autoritätsgläubige, disziplinierte neue Mensch erzogen werden. Der KB verstand sich als Urzelle der neuen Staatlichkeit und der neuen Gesellschaft. Dazu half den Jungen auch die schriftliche Plattform Junge Front. 17 Dazu mehr vgl. Ernst Kundt, Emil Lehmann, Rudolf Kampe: Jugendführung und Volksgestaltung, Reichenberg 1925. – Emil Lehmann: Handbuch der sudetendeutschen Volksbildung, Reichenberg 1931; ders.: Sudetendeutsche Stammeserziehung, Eger-Leipzig 1923; Emil Lehmann: Sudetendeutsche Front, Reichenberg 1933. 18 Dass die völkische Bewegung enge Gemeinsamkeiten mit dem Nationalsozialismus aufweist und zugleich erhebliche Gegensätze zwischen beiden Bewegungen liegen, zeigen mehrere Beiträge in: Uwe Puschner, G. Ulrich Großmann (Hg.): Völkisch und national. Zur Aktualität alter Denkmuster im 21. Jahrhundert, Darmstadt 2009.
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missen der Volksschutzarbeit und die mentalen Erziehungsmuster der Alten und verwendete sie in seiner späteren Erziehungsarbeit.19
Metzners Vision einer Erziehungsreform als Ausweg aus der Zivilisationskrise und Form der Volksrettung Der Stil der wandernden deutschen Jugend wurde der deutschböhmischen Jugend spätestens seit 1905 bekannt, als sie die neuen natürlichen Formen des Jugendlebens während ihren Wanderungen in Sachsen kennengelernt hatte.20 Die Werte und der Lebensstil des deutschen Wandervogels wurden auch für die österreichische und vor allem deutsche Jugend in den böhmischen Ländern der Habsburgischen Monarchie wegweisend.21 In der Diskussion des Deutschböhmischen Wandervogels, die man seit 1912 anhand der von Karl Metzner herausgegebenen Vereinszeitschrift »Burschen heraus« rekonstruieren kann, setzten sich mehrere Diskurse durch, darunter die prägenden über Zivilisationskritik und Lebensreform einerseits, sowie den nationalen Kampf der Deutschen in den böhmischen Ländern andererseits:22 »Das Ziel des Fahrtenblattes ist die gute Ausbildung von Leib, Gemüt und Geist unserer studierenden Jugend. (…) Darin liegt nach unserer Meinung ein großer geistiger Vorteil für die Jugend – Wanderfahrten, Pfadfinderisches, Sport, Spiel und Turnerisches erfahren in Schülerbereichen eine Darstellung von eigenartiger Wahrheit und Natürlichkeit und die werbende Wirkung auf andere Schüler wird eine bessere sein. 19 Die in der Zwischenkriegszeit von Deutschen und Tschechen bewohnte Bezirksstadt Leitmeritz liegt etwa 60 km östlich von Prag in der schönen, romantischen Umgebung an der Elbe und bot gute Möglichkeiten für Wanderungen und Bootsausflüge. 20 Zur Wandervogelbewegung in Deutschland vgl. Hermann Giesecke: Vom Wandervogel bis zur Hitlerjugend, Weinheim 1981; Ulrich Herrmann: Wandervogel und Jugendbewegung im geistes- und kulturgeschichtlichen Kontext vor dem Ersten Weltkrieg, in: ders. (Hg.): »Mit uns zieht die neue Zeit«. Der Wandervogel in der deutschen Jugendbewegung, Weinheim 2006, S. 30–79. 21 Aus der reichen Literatur zur deutschen Jugendbewegung wurden für diese Studie vor allem die folgenden Werke benutzt: Walter Laqueur : Die deutsche Jugendbewegung, Köln 1962; Harry Pross: Jugend, Eros, Politik. Die Geschichte der deutschen Jugendbewegung, Bern 1964; Werner Kindt (Hg.): Grundschriften der deutschen Jugendbewegung. Bde. 1–3, Düsseldorf 1963, 1968, 1974; Peter Nasarski: Deutsche Jugendbewegung in Europa, Köln 1967. – Zum Österreichischen Wandervogel vgl. Gerhard Seewann: Österreichische Jugendbewegung 1900–1938, Frankfurt a. M. 1974. Zur Tätigkeit der deutschböhmischen Wandervogelgaue vgl. Tomsˇ Kasper : Einige Merkmale sudetendeutscher Jugendbewegung, in: Brücken, 2005, 13. Jg., S. 167–182. 22 Der Deutschböhmische Wandervogel entstand im Jahre 1911 am See bei Hirschberg in Nordböhmen. Der erste Führer war Hans Moutschka, der gleich am Anfang des Krieges gefallen ist. Dazu Johannes Stauda: Der Wandervogel in Böhmen 1911–1920, Waldkraiburg 1975 sowie Nasarski: Jugendbewegung (Anm. 21).
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Dasselbe erhoffen wir zum Teil auch für die Bestrebungen nach einer einfachen gesunden und naturgemäßen Lebensweise, soweit sie in solchen Schülerberichten ungezwungen zur Sprache kommen kann. (…) In ähnlicher Weise (Jung und Alt vereint!) soll der Naturschutz und die Liebe zu allen Lebewesen, ob ihnen nun die Schönheit die Form der Tiere oder jene der Pflanzen gegeben hat, ein Plätzchen finden, und ebenso ein veredelteres deutsches Volkstum. Lernt die Jugend das eigene Volkstum selbst auf Wanderungen, beim Volke, in versteinerter oder geschriebener Geschichte und im Volksliede kennen, so wird sie damit dasselbe in seiner Reinheit in Sprache und Sitte und mit seinen Tugenden lieben lernen.«23
Der Appell zum neuen Leben klingt in allen zentralen Artikeln in »Burschen heraus« ganz deutlich und sollte die Verhaltensnormen der jungen Generation wirksam verändern. Karl Metzner, der in Leitmeritz als Realschullehrer einer der aktivsten Gruppenführer war, sah darin eine Lebensaufgabe, die zur Volksrettung beitragen würde: »Unsere Kultur ist Stadtkultur geworden. Der bleichwangige, schmalbrüstige und blasierte Mensch ist deren Vertreter. Man schaue sich nur das schwächliche Geschlecht, welches unsere Schulen bevölkert, näher an! Muss uns nicht beim Anblicke der traurigen Gestalten um uns Deutschösterreicher oft recht bange werden? (…) Darum, all ihr deutschen Jungen unseres lieben Vaterlandes, heraus so wie er aus allen verweichlichenden Genüssen, heraus aus all den Philisterien alberner Gewohnheiten, heraus zum Manne des Volkes, in Gottes schöne Natur, in würzige Waldflucht, in Schönen und Guten! Das Leben lässt sich nicht lehren und auch nicht erlernen, man muss es eben erleben, darum immer wieder heraus zur Tat! Burschen heraus!«24
Dabei sagte Metzner deutlich, dass es sich in keinem Fall um eine individuelle Aufgabe, sondern um eine schicksalhafte Entscheidung der ganzen Jugendkultur handele. Es gab nur zwei Möglichkeiten: Entweder blieb der junge Mensch verdorben und für die Lebens- und Volkserneuerung unbrauchbar oder er trat über auf die Seite der großen Veränderungen, der neuen Lebensauffassung: »Es handelt sich tatsächlich um große Umwälzungen! Doch nicht auf dem Gebiete der Gesellschaftsordnung, sondern auf dem Gebiete der Selbsterziehung und Lebensauffassung des Einzelnen.«25 Im Mittelpunkt der Erneuerung stand die Reform der Erziehung und der Schule, so Metzner in »Burschen heraus«. Er argumentierte, dass die traditionellen Lebensformen und auch die Institution der Familie sich in einer tiefen Krise befänden und dafür nicht geeignet seien. An ihre Stelle müssten einerseits der Jugendbund, seine Führer und die neue Jugendkultur treten und andererseits die reformierte Schule – in unserem Fall die im Jahre 1928 gegründete Metzners Freie Schulgemeinde. 23 Was wir wollen, in: Burschen heraus, 1913, 2. Jg., Folge 5, S. 1–2. 24 Karl Metzner : Burschen heraus!, in: Burschen heraus, 1913, 2. Jg., Folge 7, S. 1–2. 25 Ebd.
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Die neue Jugendkultur im Sinne des Hohen Meißner wurde im Deutschböhmischen Wandervogel laut begrüßt, bedeutete den mentalen Anschluss an die deutsche Jugendbewegungsdiskussion und verband die deutschen Jugendbünde in Böhmen mehr mit der deutschen als mit der österreichischen Jugendbewegungsdiskussion, obwohl sie organisatorisch bis 1918 Teil des Österreichischen Wandervogel blieben.26 Das zeigte sich demonstrativ bei der Feier zu den Befreiungskriegen 1913, als der deutschböhmische Wandervogel die deutsche Trauer von 1813 hautnah und tiefemotional wiedererlebte und für das »Mitbauen und für den Aufbau des deutschen Geistes und Gemütes« ausnutzte: »Im Zeichen eines denkwürdigen Jahres steht unsere Zeit, im Zeichen der Erinnerung an schwere Not und drückende Knechtschaft, an hart errungenen Sieg und hieß erstrittene Befreiung. 1813! Ein Jahr, das in unseren Herzen lebendigen Widerhall findet, wenn sie Schlachten des Befreiungskrieges vor unserem geistigen Auge wieder erstehen und die Lieder eines Körner und Arndt erklingen, sie von glühender Begeisterung durchweht sind. […] Hundert Jahre sind verflossen. Noch immerzu aber wirken die Gedanken der Großen jener Zeit nach und weisen einem Ziele zu, dem innerer Erstarkung. Was Jahn und Seume gewollt, das wollen auch wir vom Wandervogel: Wir wollen mehr Sonnenglanz und Waldesduft, mehr Wagemut und fröhlichen Sinn, mehr Freundschaft und Brüderlichkeit in unser Leben hineintragen. Wir wollen auf unseren Fahrten unser Volk kennen und lieben lernen, den Blick stets aufs Große gerichtet, nicht in Kleinlichem verloren. Wir wollen mitbauen helfen an seiner inneren Größe, auf das sein wahres Wesen allüberall zum Siege komme, uns selbst und der Welt zugute.«27
Das Kriegsende war eine große Enttäuschung für den deutschböhmischen Wandervogel. Die Entstehung der Tschechoslowakischen Republik (CSR) und die europäische Nachkriegsordnung nach den Friedensverträgen von Versailles und Saint-Germain bedeuteten einen Schock für die in den neuen Staat einverleibten Sudetendeutschen. Sie wurden von einer Art völkischer Panik ergriffen, also einem Gefühl existenzieller Bedrohung durch den neuen Staat.28 26 Die Beziehungen zwischen dem Gau Deutschböhmen und dem Österreichischen Wandervogel (ÖW) waren nicht reibungslos. Der ÖW und auch die Gruppen in Mähren und Schlesien sprachen sich gegen einen selbständigen Gau Deutschböhmen und gegen die Herausgabe von »Burschen heraus« aus, und plädierten stattdessen für die gemeinsame Zeitschrift des ÖW »Fahrendes Volk«. In den Spannungen zwischen dem ÖW, den mährischschlesischen Gruppen und Gau Deutschböhmen zeigen sich jedoch auch die mentalen Unterschiede der einzelnen Gruppen. Während Mähren enge Beziehungen zu Wien empfand und treu blieb, richteten sich die deutschböhmischen Gruppen eher an Deutschland aus. So blieb Wien zwar organisatorischer Knotenpunkt für die Gruppen, mental jedoch entfremdeten sie sich von der Wiener Wandervogelrhetorik. 27 Wir und 1813, in: Burschen heraus, 1913, 2. Jg., Folge 5, S. 3. 28 Tomsˇ Kasper : Erziehung zur sudetendeutschen Einheit – ein politisches Instrument der sudetendeutschen Jugendbewegung, in: Zeitschrift für pädagogische Historiographie, 2006, 12. Jg., Nr. 1, S. 19–31, hier S. 19.
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»Unter den ›jetzigen Verhältnissen‹ sind wohl die tiefgreifenden Umwälzungen auf politischem, wirtschaftlichem und gesellschaftlichem Gebiet gemeint. Weil aber der Wandervogel nie und nimmer eine politische Vereinigung gewesen ist, so kann das Eingehen des alten monarchistischen Systems auf keinen Fall dem Wandervogel zugrunde richten. Unsere Hauptarbeit bleibt weiterhin eine völkische und eine Erziehungsarbeit. Allenthalben blutet unser Volk aus schweren Wunden, die besten Kräfte sind am Schlachtfeld geblieben und wie viele sind nicht geistig und moralisch verkommen? Wer anders als die Jugend soll da in erneuernder und aufbauender Arbeit all die schweren Wunden unseres Volkes heilen? Oder wollen wir etwa eine Zukunft haben, die einem Untergang gleich kommt? Nein wir wollen Lebensberechtigung. Die Ziele des Wandervogels liegen deshalb klar vor Augen. Mehr wie je werden wir die Erreichung dieser Ziele anstreben und das erfordert nicht gleichgültige, unschlüssige Menschen, feste, offene Charaktere bedürfen die Wandervogel-Gruppen und da kommen immer wieder auf die Führerpersönlichkeiten der Bewegung und auf die Zielbewusste Auslese zurück. (…) Deutschböhmen braucht den Wandervogel mehr wie je. Er sollte ihm festes Rückgrat verleihen, Not und Unglück aufrecht zu tragen.«29
Die junge Generation führte der charismatische Jugendführer Heinz Rutha (1897–1937)30, unterstützt von dem ihm nahestehenden Konrad Henlein (1898–1945)31. Gemeinsam gelang es ihnen unter Einbeziehung des starken 29 Waldemar Kleining: Deutschböhmischer Wandervogel in Gegenwart und Zukunft, in: Burschen heraus, 1918, 7. Jg., Folge 8–9, S. 114–115. 30 Heinz Rutha war aktiver Wandervogel in Nordböhmen. Als Karl Metzner in den Krieg zog, blieb er zwar Vorsitzender, der Gau Deutschböhmen jedoch wurde von wechselnden Gauleitern geführt. Nach Otto Kletzl wurde 1915 Heinz Rutha dort Gauleiter, bis auch er 1917 Soldat wurde. Nach 1918 setzte sich Rutha aktiv für die Erneuerung im Deutschböhmischen Wandervogel ein. Er arbeitete an den Leitideen der Gefolgschaft, des Führertums und der Pfadfinderschaft, wobei er den paramilitärischen Still verteidigte und die Rassenreinheit in den Vordergrund stellte. Als Rutha für die Erneuerung des Sudetendeutschen Wandervogels einen starken Partner in der Person von Konrad Henlein fand, konnte er zwischen 1931 und 1933 den Sudetendeutschen Wandervogel im Sinne der Jungen erfolgreich zu einem Bund der volkspolitischen Erziehung transformieren. Entscheidend wurde jedoch der Einfluss der Politik. Die inneren Spannungen im nationalistischen konservativen Lager, zu dem die Parteimitglieder von Henleins Sudetendeutscher Partei und der aufgelösten Deutschen Nationalsozialistischen Arbeiterpartei in der CSR zählten, führten zur Anklage gegen Rutha wegen seiner angeblichen Homosexualität. Rutha beging schließlich Selbstmord, als er im Gefängnis in Böhmisch Leipa auf das Gerichtsurteil wartete. – Dazu auch Mark Cornwall: The Devil’s wall. The nationalist youth mission of Heinz Rutha, Cambridge 2012. 31 Konrad Henlein wurde 1931 zum Gauturnwart im Deutschen Turnverband in der Tschechoslowakei (DTV) gewählt. Außerdem war er aktives Mitglied im Sudetendeutschen Wandervogel, wo er der Gruppe der Jungen nahestand und enge Beziehungen zu Heinz Rutha unterhielt. Er entwickelte und verwirklichte einen Erziehungsplan zur Turnreform im DTV. Diesen Erfolg nutzte Henlein zur Weiterentwicklung des DTV als Plattform für eine Vereinigung der nationalen sudetendeutschen Jugend in der Tschechoslowakei. Henlein und Rutha gewannen mehr Einfluss im Sudetendeutschen Wandervogel und reformierten diesen Verband nach 1933 gemeinsam. Konrad Henlein blieb jedoch nicht nur der turnerischen und der Erziehungsarbeit treu, sondern gründete 1931 eine überparteiliche Sudetendeutsche Heimatfront, die er vor den Wahlen im Jahre 1933 zur Sudetendeutschen Partei (SdP)
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Deutschen Turnverbandes in der Tschechoslowakei (DTV)32, den Erziehungsstil der Jungen in den meisten Gruppen des Sudetendeutschen Wandervogels durchzusetzen. Obwohl Karl Metzner nach 1918 noch eine wichtige Rolle im Sudetendeutschen Wandervogel spielte, gehörte er nicht mehr der Leitung des Jugendbundes an, sondern konzentrierte sich auf die Schulreform, die ihm als Realschullehrer in Leitmeritz ein besonderes Anliegen war.
Metzners Freie Schulgemeinde in Leitmeritz als Form der neuen Schule für den neuen Menschen und die Volkserneuerung Karl Metzner verstand die Volkserneuerung auch als eine Form sozialer Arbeit.33 Die von ihm 1905 gegründete Leitmeritzer Ruderriege, einer der Orte, an denen die neue Erziehung von Körper, Seele und Geist realisiert werden sollte, erweiterteer 1921 durch die Gründung einer Jugendsiedlung, in der etwa 30 Jungen wohnen konnten.34 Mit dieser Jugendsiedlung sollte den Jungen der Besuch der Mittelschule und damit ein sozialer Aufstieg ermöglicht werden. Zudem, so Metzner, sollte sie die Jugendsiedlung vor den ungesunden Einflüssen des damals herrschenden Familienlebens schützen: »Mit der Jugendsiedlung, deren Hauptaufgabe war, auch Minderbemittelten das Studium zu ermöglichen, verfolgte ich den Zweck, jenen Mittelschülern, die in der Siedlung wohnten und verpflegt wurden, durch Rudern, Schwimmen, Wandern, Sport und Gartenarbeiten im Rahmen des Gemeinschaftslebens eine erzieherische Richtung im neuen Sinne zu geben.«35 Die Jugendsiedlung bestand aus einfachen, militärischen Holzbaracken, die aus der nicht weit entfernten Stadt Theresienstadt nach Leitmeritz gebracht
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transformierte. Die SdP wurde bei der deutschen Bevölkerung in der CSR zur stärksten Partei. Nach 1933 traten in Henleins Partei zu den elitären Stimmen der nationalen Auslese zunehmend nationalsozialistische Stimmen, was innerhalb der Partei zu Unübersichtlichkeit und schweren inneren Spannungen führte. Die politischen Kämpfe in der Partei mündeten im Zeitraum 1937 bis 1939 schließlich in der Beseitigung des nicht ausgesprochen nationalsozialistischen Flügels. An Konrad Henleins Beispiel zeigt sich, wie eng die Verbindungen zwischen der Politik und der (Reform-) Erziehung in der Tschechoslowakei in der Zwischenkriegszeit war. Vgl. weiterhin Tomsˇ Kasper : Der völkische Diskurs im Deutschen Turnverband in der Tschechoslowakei, in: Hans Henning Hahn (Hg.): Hundert Jahre sudetendeutsche Geschichte, Frankfurt a. M. 2007, S. 173–192. Die Literatur zur Reformpädagogik ist vielfältig: vgl. das Standardwerk Jürgen Oelkers: Die Reformpädagogik. Eine Dogmengeschichte, Weinheim 1989. Zur Diskussion um die »neue Erziehung des neuen Menschen« vgl. Ulrich Herrmann: Neue Erziehung, neue Menschen, Weinheim 1987. Karl Metzner : Erziehung als Lebenserfahrung, in: Freie Schulgemeinschaft, 1935, Folge 39, S. 2.
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wurden. Sie boten keinerlei Wohnkomfort, sondern entsprachen Metzners Reformvorstellungen in der Erziehung zu einem einfachen, materiell anspruchslosen Leben für die Jugend. Ausdrücklich wollte er zeigen, dass auch ein einfaches, billiges Leben wertvoll und menschenwürdig sein konnte. Dem einfachen Lebensstil entsprachen auch der Tagesablauf und die Ernährung. Im Gegensatz dazu stand die Lebensführung der Lehrkräfte, die die Siedlungsjugend in den Leitmeritzer Mittelschulen unterrichteten, was Metzner zu dem Gedanken führte, eine eigene Mittelschule zu gründen. Als Muster galten ihm die Schulen in Deutschland, die er selber besucht hatte und mit deren Leitern er korrespondierte. Es handelte sich um die deutschen Landerziehungsheime und Wynekens Freie Schulgemeinde Wickersdorf. Metzner war begeistert von den Erziehungsgedanken von Hermann Lietz und seinen Nachfolgern: »Bevor ich diesen weiteren Schritt [die Gründung der Freien Schulgemeinschaft Leitmeritz im Jahre 1928, T.K.] auf dem Wege zur endgültigen Verwirklichung der neuen Erziehungsgedanken unternahm, begab ich mich noch auf eine längere Reise durch die Schweiz, Frankreich, England und Deutschland, wo ich hauptsächlich das freie Schulwesen studierte.«36 Im Jahre 1928 gründete Karl Metzner die Freie Schulgemeinschaft zu Leitmeritz als einen Teil der Jugendsiedlung mit folgendem Ziel: »Der Gesellschaft möglichst viele Menschen zu geben, die für Menschenwürde opfern und streiten, sei ein Hauptteil meiner Sendung. Um meine Sendung zu erfüllen, brauche ich zunächst die Jugend. Diese heranzuziehen, sei die erste Aufgabe der Lehrer. Treu und Pflichtgefühl muss ich deshalb von jedem Lehrer verlangen. Aufgabe der Elternschaft ist es, ihre Kinder mir nicht nur anzuvertrauen, sondern mich auch auf jegliche Weise zu unterstützen. Wer von Eltern, Lehrern und Schülern mir nicht Glauben und Gefolgschaft entgegenbringen kann, wird gut tun, mich lieber früher als später zu verlassen. Die Gesellschaft aber muss zur Erkenntnis gelangen, dass sie die Pflicht habe, mir jene Mittel zur Verfügung zu stellen, die ich brauche. Mittel, welche es mir und anderen ermöglichen, nicht nur Kinder vermögender Eltern, sondern Kinder des ganzen Volkes zu übernehmen.«37
Metzners »Sendung« bedeutete eine Negierung der traditionellen Rolle der Familienerziehung und eine radikale Bevorzugung der Gemeinschaftserziehung in der Schulgemeinschaft, wo Lehrer eines neuen Typs erziehen und unterrichten sollten. Mit der neuen Erziehung, die der Kunst mehr Raum gab als der Wissenschaft, sollte auch die neue Jugend schaffen: »Durch Freilustleben soll sie den Körper, durch Gemeinschaftsleben den Charakter stärken. Das Streben nach körperlicher Gesundheit und gesellschaftlicher Anständigkeit soll das Bedürfnis werden. Auch die Wissenschaft soll schließlich erzieheri36 Ebd., S. 3. 37 Karl Metzner : Meine Sendung, in: Freie Schulgemeinschaft, 1934, Folge 28, S. 6.
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schen Absichten dienen und in jenem Maße an den jungen Menschen herangebracht werden, als es seine jeweilige Entwicklungsstufe erheischt. […] Die Jugend soll auch ein einfaches Leben führen. Denn es ist leichter, zu einem bequemen Leben überzugehen als umgekehrt. Für jeden Menschen aber sei die Erkenntnis von großem Nutzen, dass man mit wenig Aufwand ein kulturell wertvolles Leben führen kann. […] Kurz, der Jugend will ich in der Freien Schulgemeinschaft eine Stätte ausbauen, an welcher sie zu aufrechten, mutigen Menschen herangedeihe.«38
Metzners Freie Schulgemeinschaft sollte nach dem Muster der deutschen Landerziehungsheime in drei Altersgruppen geteilt werden, die im Idealfall separat erzogen und unterrichtet wurden: »Lietz hat gefunden, dass für allgemeine Bildungsschulen eine Dreiteilung das Richtigste sei, also eine Unterstufe, eine Mittelstufe und eine Oberstufe. […] Diese drei Entwicklungsphasen sind wirklich ziemlich deutlich von einander zu unterscheiden und die Wünsche und der Ausdruck der Persönlichkeit sind in allen dreien stark von einander verschieden. Das bedingt aber auch eine äußere Trennung dieser drei Gruppen voneinander, da man sonst Gefahr läuft, dass ältere, weiter entwickelte Jungen den jüngeren unvorteilhaft, ja sogar gefährlich werden können. Damit aber haben wir die Raumfrage zu berühren.«39
Die Lösung der Raumsituation gelang Metzner, indem 1933 ein neues Gebäude für die 10–14-Jährigen gebaut wurde, für 15–18-Jährigen aber eine Villa in Hammerstein bei Reichenberg gemietet wurde: »Da es uns bisher an Raum mangelte und wir andererseits aus pädagogischen Gründen die jüngeren Zöglinge von den älteren sondern wollten, entschlossen wir uns, nachdem die Verlegung unserer Oberstufe in eine Villa in Triblitz bei Brüx misslang, die Villa ›Hammerstein‹ bei Reichenberg für unsere Zwecke zu mieten. Sie ist bereits in unserer Hand. Und den 1. Oktober wird ein Teil unserer Jugend dahin übersiedeln, um dort Unterricht zu erhalten. Der Ort ist von Bergen und Wäldern umgeben, liegt außerordentlich günstig und ist für Wintersport sehr gut geeignet.«40
Die Villa in Hammerstein war großzügig geschnitten und ermöglichte nicht nur die Trennung der älteren Jugend von der jüngeren, sondern bot auch eine ideale Umgebung zum Wandern, zum Sport sowie Werkstätten in den Räumen einer ehemaligen Fabrik. Zwar verbesserte sich mit der neuen Villa die Schulsituation erheblich, doch für Metzner ging damit eine erhebliche Verschuldung einher. Für den Betrieb der Schule war Metzner ganz auf das Schulgeld der Eltern angewiesen; die Freie Schulgemeinde erhielt als private Mittelschule keine öf38 Ebd., S. 5. 39 Wie wir uns die Weiterausgestaltung der Freien Schulgemeinschaft denken, in: Freie Schulgemeinschaft, 1933, Folge 16–17, S. 7–8, hier S. 7. 40 Unser neues Schulheim in Hammerstein bei Reichenberg, in: Freie Schulgemeinschaft, 1933, Folge 22–23, S. 30.
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fentliche Förderung durch den tschechoslowakischen Staat.41 Zudem wurden ihre Zeugnisse von staatlicher Seite nicht anerkannt; vielmehr mussten die Schüler bei einem Wechsel Aufnahme- oder Vergleichsprüfungen absolvieren. Metzner beklagte oft, dass die Eltern mehr am »offiziellen Zeugnispapier« interessiert seien, als an den realen Kenntnissen, Fähigkeiten und der Charakterentwicklung ihrer Kinder. Metzner hoffte auf eine Unterstützung seiner Schule durch die Stadt Leitmeritz und die sudetendeutschen Unternehmer : »Du deutsches Volk in Böhmen, schirme und fördere deine einzige höhere Pionierschule, die von vielen bekrittelt und bekämpft, überparteilich nur aufs Wohl der Jugend bedacht ist und sich ihren Weg bahnt«42. Der Appell fand nur teilweise Gehör ; allerdings erhielt Metzner im April 1934 eine Audienz beim tschechoslowakischen Präsidenten T. G. Masaryk, der sich für das Erziehungsprogramm interessierte und die Schule schließlich finanziell unterstützte. Bis 1938 entwickelte sich die Freie Schulgemeinde trotz mancher Rückschläge positiv. Dann änderte sich die Situation radikal. Obwohl Metzner das Münchner Abkommen begrüßte, war er von der Entwicklung im Reichsgau Sudetenland als Teil des »Dritten Reiches«, wo sich seine Schule nun befand, enttäuscht. Wie aus der privaten Korrespondenz zwischen den Brüdern Karl und Wenzel Metzner hervorgeht, war die Schule sofort heftigen Angriffen der Gau- und Reichsbehörden ausgesetzt.43Am 20. Mai 1939 wurde die Schule geschlossen; was Metzner blieb, waren die Schulden des Neubaus. Alle Einwände, u. a. beim Schulministerium in Berlin und bei Gauleiter Konrad Henlein, blieben erfolglos. Das Reichsgesetz zur Schließung privater Schulen vom 01. 03. 1939 galt auch im Sudetenland. Kommen wir jedoch zurück zur »goldenen« Zeit der Schule in der Tschechoslowakei und analysieren die pädagogischen Grundsteine dieser Reformschule. In die Schule wurden Jungen und Mädchen ab dem 9. Lebensjahr aufgenommen. »Vorbedingung bei der Aufnahme ist völlige Gesundheit, seelische Unverdorbenheit und geistige Vollwertigkeit.«44 Die Freie Schulgemeinschaft orientierte sich am Muster der Freien Schulgemeinde Wickersdorf und der deutschen Landerziehungsheime mit einem strikten Tagesablauf45, einem all-
41 Im Jahr 1931 erreichte Metzner, dass die Schule als Realgymnasium anerkannt wurde. Die Lehrkräfte mussten die Lehrbefähigung für Realgymnasien besitzen und die Abschlusszeugnisse den staatlichen Vorschriften entsprechen. – Vgl. dazu: Ein Schritt nach Vorwärts, in: Freie Schulgemeinschaft, 1931, Folge 7, S. 37–38. 42 Ein Schritt nach Vorwärts, in: Freie Schulgemeinschaft, 1931, Folge 7, S. 37. 43 Die Korrespondenz zwischen Karl und Wenzel Weigel beherbergt das Kreisarchiv in Leitmeritz mit dem Sitz in Lobositz (Lovosice). 44 Über unsere Schule, in: Freie Schulgemeinschaft, 1934, Folge 30, S. 13–15, hier S. 15. 45 Zum Tagesablauf siehe die Beilage Nr. 2 (S. 358–359).
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gemeinen Arbeitsplan und einem festen Erziehungsprogramm.46 Welche Erziehungsziele und Erziehungsmuster galten, zeigen die programmatischen und konzeptionellen Beiträge in der von Metzner seit 1928 herausgegebenen Zeitschrift »Freie Schulgemeinschaft«.
Vielseitige Ausbildung der Persönlichkeit als Erziehungsziel In der Freien Schulgemeinschaft Leitmeritz wurde eine ausgeglichene Entwicklung des Körpers, Charakters, der Sitten und des Geistes der Jugend angestrebt: »Wir streben die ganze Erziehung des Menschen an. Also Ausbildung des Geistes, des Körpers und des Charakters. Die körperliche Erziehung ist die Grundlage für unsere Erziehung.«47 Arbeit, Sport und manuelle Tätigkeiten hatten in Metzners Jugendgemeinschaft entsprechend seiner Vorstellung eines einfachen, konsumfreien Lebens große Bedeutung. Seiner Meinung nach sollte jeder Junge nicht nur intellektuelle Kenntnisse, sondern auch Arbeitsfertigkeiten erwerben, die ihn im Leben vor einer »ungesunden Lebensführung« in der modernen Gesellschaft bewahren sollten. Darum gehörte zur Schule die Bewirtschaftung eines großen Gartens, dessen Produkte zur eigenen Ernährung der Schüler verwendet wurden. Eine einfache, meist vegetarische Kost prägte die Speisekarte in der Schulgemeinschaft und in der Jugendsiedlung.48 Neben der Gartenarbeit unterstützte die handwerkliche Arbeit die Erziehung der Jugend, auch im Sinne einer Charakterbildung. Die Selbstversorgung durch Werk- und Gartenarbeit, sollte bei jungen Menschen die Vorstellung unterstützen, dass es möglich sei, unabhängig von Konsum zu existieren. Sie sollten lernen, ein Leben ohne die Güter der modernen, zivilisierten Welt zu führen. An die Stelle des modernen Weltbildes trat das Bild einer harmonischen vormodernen Gemeinschaft auf der Grundlage einer »natürlichen« Lebensweise. Auch der Sport richtete sich an der »Natur« aus. Betrieben wurde Sport bevorzugt im Freien, nicht in der Halle. Die Jungen beschäftigten sich im Sommer mit Schwimmen, Rudern und Leichtathletik, im Winter dann mit Schlittschuhlaufen, Ski- oder Schlittenfahren. Das Riesengebirge galt als beliebtes Ziel von Wanderungen und Reisen sowohl im Winter, als auch im Sommer. Ebenfalls die Gegend um die Elbe lud zum Wandern im Freien ein. Im Programm standen sowohl mehrwöchige Reisen ins In-, als auch ins europäische Ausland. 46 Zum Arbeitsplan der Freien Schulgemeinschaften und zu den Programmleitsätzen siehe die Beilage Nr. 1 (S. 356–358). 47 Karl Metzner : Über unsere Schule, in: Freie Schulgemeinschaft, 1933, Folge 30, S. 13. 48 Obwohl Metzner wahrnahm, dass die Jungen in der Siedlung die Lebensmitteloft wegwarfen, änderte er die Speisekarte nicht, sondern hielt an der Vorschrift »gesunder Kost« fest.
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Autorität und Freiheit in der Freien Schulgemeinde Leitmeritz Die alte Schule fasste Metzner als Autoritätsschule auf, in der Drill und passives Lernen vorherrschten. Im Gegensatz dazu stand seine neue Arbeitsschule, in der die Schüler »auf Grund eines interessant und anschaulich gehaltenen Unterrichts selbst ›erarbeiten‹ sollten. Erwartet wurden keine passiven Zuhörer, sondern aktive, selbständige, am Unterricht beteiligte Schüler.«49 Dabei plädierte Metzner für eine freie Beziehung zwischen Lehrern und Schülern, für einen freundschaftlichen Kontakt untereinander50, für eine »gesunde Entwicklung« der Persönlichkeit ohne Minderwertigkeitsgefühle und niedriges Selbstbewusstsein: »Aus diesem Grunde hat sich die Freie Schulgemeinschaft von den Grundsätzen der Autoritätsschule losgesagt. Sie mag ihre Zöglinge weder zu trotzigen Gesellen, noch zu zwangsbereiten Schwächlingen erziehen. Starke, innerlich feste und selbstbewusste Charaktere sollen geformt werden. Wenn die Kinder selbstsicher und mit einem starken Willen ausgezeichnet, aufwachsen sollen, bedürfen sie einer sorgfältigen und hilfsbereiten Führung. Nicht Zwang und Gewalt, sondern Vertrauen und aufrichtige Kameradschaftlichkeit zwischen Schüler und Lehrer ist die Grundbedingung für die erlösende Erziehung der Jugend. Und dass sich diese ohne Strafanwendung am schönsten, klaglosesten und vorteilhaftesten für das Kind abwickelt, das beweist die Erfahrung immer wieder.«51
Aus der Diskussion über die Autorität des Lehrers ergaben sich weitere Themen: die Persönlichkeit des Lehrers, die Beziehung des Lehrers zu Kollegen, zum Direktor und zu den Eltern. Angestrebt wurde eine Gemeinschaft von Lehrern, Schülern und Eltern, wobei die Partizipation der Schüler einen wichtigen Platz einnehmen sollte. Obwohl Metzner viele Argumente anführt, dass jeder Schüler respektiert werden muss, dass sich seine Persönlichkeit frei entwickeln und er nicht erniedrigt werden soll, dass es wichtig sei, in der Erziehung frei zu diskutieren und zu handeln, fordert er letztlich einen neuen Lehrertypus, dem es gelingt aufgrund seiner neuen Führerautorität die freie Gefolgschaft der Schüler zu gewinnen. Nicht demokratische, offene Auseinandersetzungen prägten demnach die Schulgemeinde, sondern Gefolgschaft und emotionale Führerschaft: »Da sie nun aber in dem sie kameradschaftlich behandelnden Lehrer eine geistig höhere Persönlichkeit sehen, von der sie sowohl im unterrichtlichen wie persönlichen Verkehr viel bekommen, erheben sie ihn ihrerseits, ohne dass der Lehrer das Geringste 49 Staatsschule und Freie Schulgemeinschaft, in: Freie Schulgemeinschaft, 1934, Folge 26–27, S. 1–2, hier S. 1. 50 Ebd., S. 1. 51 Ebd.
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hinzutut (wie anders ist es in den Staatsschulen!) zu einer Führerautorität, aber nicht zu einer Autorität, die sie fürchten, sondern zu einer solchen, die sie verehren, hochschätzen und oft sogar lieben. Dieser Führertypus stellt eine Persönlichkeit dar, der die Jugend willig freie Gefolgschaft leistet.«52
Auch die Beziehung zwischen den Lehrern und sich selbst als Direktor der Schulgemeinde nahm Metzner in den Blick. Da die Leitmeritzer Schulgemeinde eine schicksalhafte Sendung darstellte, hatte niemand das Recht, Metzners Werk zu »bremsen oder zum Misserfolg zu verurteilen«: »Zum mustergültigen Schaffen ist wiederum notwendig, grenzenlose Hingabe und Opferwilligkeit an unser Werk. Darum muss sich jedermann unbedingt an meine Entscheidung und Anordnung halten. Der Aufbau der Gemeinschaft erfordert unbedingte Einordnung. […] Unbedingte Duldsamkeit in konfessionellen und nationalen Angelegenheiten ist die unerlässliche Voraussetzung für das Emporarbeiten und Durchdringen unserer Gemeinschaft.«53 Erwartet wurden letztendlich nicht Dialog und Zusammenarbeit, sondern Treue, Gehorsam und Opferbereitschaft: »Das erste ist, ich brauche Mitarbeiter, das heißt Arbeiter, welche getragen sind von dem Schwung meiner Ideen und Gedanken und also auch instinktiv in der Lage sind, meinen innersten Absichten gemäß zu handeln. Opposition gegen meine Wünsche und gegen mein Wirken muss deshalb von vornherein aus eben dieser Klarlegung des Sinnes des Wortes des Mitarbeiters ausgeschlossen sein.«54
Differenzierung und Individualität im Unterricht Die alte Schule war nach Metzner geprägt von Einseitigkeit, in dem Sinne, dass vor allem der Intellekt ungesund hochgeschätzt, die Charakter- und Körpererziehung hingegen vernachlässigt wurde. Der alte Unterricht habe einseitig formelles Denken und Gedächtnisleistungen gefordert: »Das heißt, sie [die ›alte Schule‹, T.K.] ist weltanschaulich-psychologisch durchaus auf dem Standpunkt Descartes stehen geblieben, nach dem der Mensch aus Körper und Intellekt und nichts anderem zusammengesetzt ist, sie hat drei Jahrhunderte tieferer Erfahrung einfach verschlafen. […] Ist es der dämonische Erkenntnistrieb, alles zu durchdringen und zu ergründen, der die griechischen Naturphilosophen aus dem friedlichen Tempel hellenischer Harmonie ins Unermessene jagte, der die Renaissancemänner Gott, Kirche und Scheiterhaufen trotzen ließ, der aus den ewigen Versen des Faust lodert. Der Intellekt, dem in unseren Gymnasien gedient und geopfert wird, 52 Staatsschule und Freie Schulgemeinschaft, in: Freie Schulgemeinschaft, 1934, Folge 26–27, S. 1–2, hier S. 2. 53 Karl Metzner :. An meine Mitarbeiter von morgen, in: Freie Schulgemeinschaft, 1933, Folge 18–19, S. 18. 54 Ebd.
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besteht in der Fertigkeit, nach bestimmten Formeln gewisse algebraische, trigonomische und analytische Aufgaben zu lösen, die starken nicht mit den schwachen Passiv-Aoristen zu verwechseln, kümmerlich lateinische oder englische Texte in ein erbarmungswürdiges Deutsch zu ›übertragen‹ und gewisse Lehrbücheransichten usw. nachsagen zu können.«55
Anstelle der gefährlichen Einseitigkeit der alten Schule sollte nun der Respekt vor der individuellen Begabung des Studenten stehen, was in der neuen Arbeitsschule mit einem Kurssystem, das »den Bedürfnissen der Schüler anzupassen« war, gewährleistet wurde.56 Der Stundenplan sollte, so Metzner, wöchentlich festgelegt werden und flexibel sein, um auf die Besonderheiten der Schüler und ihre jeweiligen Erkenntnisinteressen eingehen zu können. Das System von Arbeitsgruppen und Kurssystem bedeutete, dass bei Metzner nicht Fachlehrer, sondern Kurslehrer gefragt waren. Weil die Themen der Kurse sehr unterschiedlich waren, erwartete man vom Lehrer an erster Stelle nicht Fachlichkeit, sondern die Offenheit, den Bedürfnissen der Schüler entgegenzukommen. Derselbe Lehrer unterrichtete also Sport, aber auch Lateinkurse, Chemiekurse, oder Philosophiekurse: »Ist der Lehrer aus seiner innersten Wesen Persönlichkeit, so hat er voll und ganz die Möglichkeit, durch weite, gediegene und ernstlich erworbene Kenntnisse sich voll und ganz der Jugend zu schenken und in dieser schenkenden Tugend sein eigenes Glück zu finden. Um sein Wirkungsfeld zu erweitern, muss also der Lehrer bei uns auf den verschiedenen Gebieten, welche seiner inneren Anlage entsprechen, gediegene Kenntnisse erwerben.«57
Karl Metzner als führende Persönlichkeit der sudetendeutschen Schulreform Metzner gründete nicht nur die exemplarische neue Schule, sondern setzte sich auch stark für eine systematische Reform der sudetendeutschen Schule insgesamt ein, die sich in zwei Phasen teilen lässt. Die erste Phase war durch unkoordinierte einzelne Schulversuche geprägt, die zweite Phase nach 1925 von einer stärkeren Vernetzung der sudetendeutschen reformpädagogischen Lehrer und einer deutlichen Belebung von Reformtendenzen.58 Damit waren Gründungen
55 Der Intellekt, in: Freie Schulgemeinschaft, 1934, Folge 29, S. 9. 56 Ziel und Zweck unseres Kurssystems, in: Freie Schulgemeinschaft, 1933, Folge 18–19, S. 13–16, hier S. 14. 57 Ebd. S. 15. 58 Dazu vgl. Tomsˇ Kasper : Deutsche reformpädagogische Vereine in der Tschechoslowakei 1918 bis 1933 als ein Beispiel der pädagogischen Vernetzung, in: Hans-Ulrich Grunder,
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repräsentativer Vereinigungen verbunden: Im Jahre 1925 entstand die Freie Arbeitsgemeinschaft deutscher Volks- und Bürgerschullehrer und im Jahre 1927 gründete Karl Metzner den Deutschen Arbeitskreis für Neugestaltung der Erziehung. Schon der Name verwies auf die internationale Dimension, auf den Internationalen Arbeitskreis für Erneuerung der Erziehung, der ein Teil des Weltbundes für Erneuerung der Erziehung (gegründet 1920 in England als New Education Fellowship) war. Der Deutsche Arbeitskreis wurde während der Tagung in Leitmeritz in der Freien Schulgemeinde vom 4. bis 5. Juni 1927 von Metzner gegründet, der das Programm und die Tätigkeit des Arbeitskreises vorstellte. Das zentrale Referat hielt Wenzel Weigel, Privatdozent an der Philosophischen Fakultät der Deutschen Universität Prag59 und eine der Hauptpersönlichkeiten der deutschen Reformbewegung in der Tschechoslowakei60. Die Verknüpfung von Metzners Schulreformaktivitäten mit der wissenschaftlichen deutschen Schulreform in der CSR zeigt sich hier eindrucksvoll. Belebt wurden die Reformen nach 1925 auch durch die Neugründung zweier reformpädagogisch orientierter Zeitschriften: »Sudetendeutsche Schule. Monatsblatt für zeitgemäße Schulgestaltung« und »Pädagogisches Jahrbuch«, dessen ersten Jahrgang über 1600 sudetendeutsche Lehrer abonnierten.61 In beiden Periodika wurden Nachrichten und analytische Texte zu einzelnen Schulund Erziehungsversuchender sudetendeutschen Lehrerschaft veröffentlicht, aber auch Informationen über die Reformtätigkeit deutscher, österreichischen Lehrer, teilweise tschechischer Lehrer. Auch Artikel über Reformversuche in anderen Teilen Europas–England, Frankreich, Schweiz – fehlten nicht. Neben den Zeitschriften wurden die Mitglieder des Arbeitskreises durch Metzners Rundbriefe über die aktuelle Reformdiskussion auf dem Laufenden gehalten.62 Die Rundbriefe vermitteln ein gutes Bild der sudetendeutschen Reformdiskussion seit 1925 und geben einen Überblick zu den einzelnen Schul-
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Andreas Hoffmann-Ocon, Peter Meetz (Hg.): Netzwerke in bildungshistorischer Perspektive, Bad Heilbrunn 2013, S. 197–202. Wenzel Weigel (1888–1979)studierte in Prag und absolvierte anschließend einen Studienaufenthalt bei Prof. William Stern in Hamburg (1922–1924), wo er sich vor allem der experimentellen Pädagogik widmete. 1927 habilitierte er sich bei Prof. E. Otto an der Deutschen Universität Prag. Mit Rudolf Lochner gehörte er zu den Hauptverteidigern der deutschen Pädagogik in der Tschechoslowakei. Am 01. 09. 1939 trat er in die NSDAP ein. Nach dem Krieg wurde er vom Volksgericht verurteilt, dann ausgewiesen. In Bayern schloss er sich der CSU an, wurde Landtagsabgeordneter. Vgl. Archiv der Karlsuniversität Prag, Fond Wenzel Weigel sowie Nationalarchiv Prag, Fond Schulministerium, Karton 273. Vgl dazu Tomsˇ Kasper : Die deutsche und tschechische Pädagogik in Prag, in: Stefan Höhne, Ludger Udolph (Hg.): Deutsche – Tschechen – Böhmen. Kulturelle Integration und Desintegration im 20. Jahrhundert, Köln u. a. 2010, S. 231–243. Vgl. J. Manda: Pädagogisches Jahrbuch 1928, in: Freie Schulzeitung, 1929, 9. Jg., Nr. 7, S. 106. Bezirksarchiv Leitmeritz: Rundbriefe des Deutschen Arbeitskreises für Neugestaltung der Erziehung.
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versuchen. Auffällig ist, wie heterogen sich die Schulversuche weiterhin darstellen, obwohl sie doch in dieser Phase einem gemeinsamen Programm unterlagen.
Fazit Karl Metzner – Gründer des Deutschböhmischen Wandervogels, Leiter der deutschböhmischen bürgerlich-national orientierten Jugendbewegung, Leiter der Fraktion der Älteren im Sudetendeutschen Wandervogel und Gründer und Direktor des einzigen deutschen Landerziehungsheimes in der Tschechoslowakei (»Freie Schulgemeinde zu Leitmeritz«) – stellt ein Beispiel für die mentale Tradition der konservativen jugendbewegten Diskussion in den böhmischen Ländern der Habsburgischen Monarchie bis zum nach 1918 neu entstandenen Tschechoslowakischen Staat dar. In Metzners pädagogischem Denken und in seinen zahlreichen pädagogischen Bemühungen werden der nationale Diskurs und der nationale Kampf auf dem Gebiet der Schule und Erziehung am Anfang des 20. Jahrhunderts deutlich sichtbar. Metzner versteht die Frage bzw. Reform von Schule und Erziehung als persönliche Sendung. Während Metzner vor 1918 Erziehung vorwiegend als Gebiet der Menschenveredelung, Menschenerneuerung und neuer Lebensauffassung auffasste, änderte sich seine Sicht nach 1918 teilweise. Nun sollten die neue Erziehung und seine neue Schule nicht nur eine neue Jugendkultur etablieren, sondern sie dienten nun auch dazu, die Deutschen in der Tschechoslowakei nach 1918 aus der Sackgasse herauszuführen. Die Erziehung wurde als Sache des Daseins und Nichtseins des sudetendeutschen Stammes begriffen. Durch die Erziehungs- und Bildungsarbeit sollte nicht nur ein neuer Mensch, sondern insbesondere ein neuer Deutscher geformt werden. Metzners Bildungsrezept basierte auf einer Arbeitsschule, die den individuellen Bedürfnissen der Schüler und ihren Eigenarten Raum gab. Die Lehrer des neuen Typus mussten dafür aber letztlich als Führer strikte Gefolgschaft, Gehorsam und unbedingte Akzeptanz einfordern, damit Metzners großes Werk gelingen konnte. Der Reformtraum der neuen Schule mündete bei Metzner aber doch in einer obskuren Parteinahme für diktatorische, von Kultur und Zivilisation unbelastete Naturen: »Um mich deutlich machen zu können, muss ich in etwas vergrößertem Maßstabe sprechen, sozusagen etwas übertrieben sprechen. Schauen Sie sich nur die politische Lage im Allgemeinen heute an. Stalin, Hitler, Mussolini sind heute durch die von ihnen als Persönlichkeiten geschaffenen Systeme weltbestimmend geworden. Alle drei haben keinen unserer heutigen Mittel-
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schule entsprechenden Bildungsgang durchgemacht. Sie sind ihrem ganzen Aufbau nach ungebrochene Naturen.«63
Beilage 1 – Arbeitsplan der Freien Schulgemeinschaften Was wir wollen64 1. Was in der Erziehung nicht mit Freude getan wird, ist wohl meist besser überhaupt nicht getan. Freude soll die treibende Kraft sein auf Seiten des Schülers, aber auch auf Seiten des Lehrers. Bis zur Reisezeit wird die Art der Freude zum Gutteil mit persönlicher Zuneigung zur Person und etwas zur Sache verknüpft sein. Später aber mub die Freude sich in ein weiterblickendes Suchen nach Freude und Befriedigung umwandeln und mub im Willen zu unbedingter Arbeit gipfeln. 2. Hierzu ist aber vor allem notwendig, daß man sich einander anpasse. Zunächst wird der Lehrer und die Schule versuchen, sich dem Schüler, so weit es nur geht, anzupassen, die Art des Schülers soll da das Bestimmende sein. Dem Lehrer soll nicht ein Schülerideal vorschweben, sondern er soll vielmehr trachten, den jungen Menschen zu dessen eigenster Entwicklung zu bringen, damit er echt werde. Nach und nach aber wird der Schüler es lernen müssen, sich auch an den Stoff und an den Lehrer anzupassen; denn das verlangt das Leben mit seinen gegebenen Tatsachen. 3. Vor allem wird das selbstständige Arbeiten des jungen Menschen zu fördern sein. Denn selbständiges Schaffen und freies Urteilen wird immer wertvoller sein, als nur reproduktive Arbeit. 4. Es wird unser Ideal sein, dab das Gegebene nicht der Lehrstoff sei, den der Schüler in sich aufzunehmen hat, dab vielmehr der Schüler an dem Stoffe gebildet werde. 5. Insbesondere mub aus diesen Gründen das Streben nach einem Berechtigungszeugnis als zu eng angesehen werden und die Vervollkommnung der Persönlichkeit als die Hauptsache erscheinen. Wir halten es deshalb für ein Unrecht, junge Menschen ganze Jahrgänge wiederholen zu lassen, weil sie aus einzelnen Fächern noch nicht die nötige Reife bekommen konnten. Die Entwicklung des Kindes soll vielmehr eine kontinuierliche sein, ohne dab es auf ein Jahr zurückgeworfen werden darf. 6. Aus diesen Gründen verwerfen wir den starren Stundenplan und versuchen, 63 Ziel und Zweck unseres Kurssystemes, in: Freie Schulgemeinschaft, 1933, Folge 18–19, S. 13–16, hier S. 15. 64 Was wir wollen, in: Freie Schulgemeinschaft, 1932, S. 50–51.
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durch das Kurssystem an den Schüler besser heranzukommen. Da den richtigen Weg zu finden, die richtige Technik herauszuarbeiten, ist eine Hauptaufgabe, welche sich unsere Versuchsschule gestellt hat. Vor allem trachten wir Lehrer, mehr Erzieher als Richter zu sein, mit Rat und gutem Beispiel, mit Erörterung und durch Ablenkung vom Unsinn zu helfen. Strafen wollen wir nach Möglichkeit ganz fallen lassen. Wo ein Ausweg sonst nicht möglich erscheint, dort halten wir Scheidung von nicht Zusammengehörigen für das Richtige. Dies betrifft sowohl das Verhältnis unter den Schülern, als auch zwischen den Schülern und Lehrern. Ein Schüler, der also nicht mitkann aber will, mub aus diesem Kurse ausscheiden. Die jungen Leute sollen die Notwendigkeiten im Gemeinschaftsleben erkennen. Deshalb sollen sie selbst mitschaffend mitverwalten. Je mehr die fördernden und bindenden Kräfte aus der Jugend selbst herauskommen, um so mehr werden wir mit unseren Erfolgen zufrieden sein. Dabei entschieden wir uns für die Koedukation beim überwiegenden Teil der jungen Menschen als das Richtige. Wir wissen sehr gut, dab die Erziehung in einem solchen Kreise allein sehr unvollkommen ist, dab als natürliche und notwendige Ergänzung die Erziehung durch das Elternhaus hinzutreten mub. Unsere Kinder deshalb recht oft den Eltern auf kürzere Zeit zurückgeben zu können, ist deshalb unser Wunsch. Dabei haben wir natürlich die stille Voraussetzung, dab die Eltern mit uns zusammen arbeiten, nicht aber gegen uns. Trotz der Mitverwaltung durch die Jungen sehen wir in straffer Manneszucht, die übrigens die Jugend meist selbst verlangt, ein wichtiges Erziehungsmittel. Doch darf nicht Angst vor Strafe oder Verachtung, sondern Erkenntnis die Wurzel der Manneszucht darstellen. Wenn unsere Schüler nach unserer Schulzeit, nachdem sie unsere Schule verlassen haben, das Bedürfnis haben nach Weiterbildung, dann haben wir unser Ziel erreicht, denn das Bedürfnis nach Weiterbildung zu wecken, scheint uns die gröbte Aufgabe der Erziehung. Der in seiner Totalität gefunde Mensch ist unser Ideal. Die Grundlage jedes anbauernden geistigen Entwickelns und Schaffens ist eine verläbliche Gesundheit, ein starker Körper. Darum verlangen wir, dab nicht stundenplanmäbig dem Körper Tribut gezahlt wird in seiner Entwicklung, dab vielmehr die Körperkultur ausgedrückt in Sport und Spiel, zur gleichen Notwendigkeit werde wie saubere Hand, sauberes Kleid, sauberes Wohnen und saubere Lebensführung. Da jener Mensch, der sich ohne grobe seelische Erschütterung in geänderter, den Zeitverhältnissen angepabter Lebensführung einzufinden weib, der tüchtigere ist, sehen wir in einer einfachen, bedürfnislosen Lebensführung
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ein Stück idealer Erziehung. So erzogene Menschen werden weniger leicht als verwöhnte Menschen von der Höhe einer Scheinkultur herabstürzen 15. Wir wissen auch, dab der Mensch, so weit auch seine Augen nach den Sternen schauen, doch mit den Füben auf dem Boden der harten Tatsachen stehen mub. Wir werden uns deshalb durch zeitlich und räumlich bedingte Komprommisse nicht von unserm Streben nach dem Vollkommensten abbringen lassen dürfen.
Beilage 2 – Tagesablauf in der Freien Schulgemeinde zu Leitmeritz Der Tageslauf65 6:30 Uhr
6:45–7:15 Uhr
7:15 Uhr 7:20–7:40 Uhr 7:45–8:35 Uhr 8:35–9:25 Uhr 9:25–10:15 Uhr
Tagwache (1. Läuten): der diensthabende Scharmeister geht in die Schlafsäle und weckt die Jungen. Antreten zum Morgenlauf: die »Tagcharge«, ein älterer Junge, –täglich ein anderer – lässt antreten und meldet. Dann geht’s hinaus auf den Exerzierplatz vorm Hause und in der frischen Morgenluft wird eine Runde gelaufen. Waschen – Fertigmachen: Erst warm, dann kalt! Einer passt auf den andern auf. Wasserscheuen ist man besonders gern »behilflich«. Zähne geputzt? Nägel sauber? Da hat einer seine Trainingshose falsch rum angezogen! Und der seinen Pullover! Endlich: Fenster auf, Betten ordentlich aufschlagen! Läuten zum Frühstückauftragen (1. Läuten): Die Tischdienste, von jedem Tisch ein Junge decken auf. Frühstück (2. Läuten): Eingeleitet mit einem kurzen Grub durch den Scharmeister, der in der Woche Dienst hat. 1. Unterrichtsstunde 2. Unterrichtsstunde Grobe Pause für Tagdienste (10 Uhr = Brot): Nach einem kurzen Antreten stürmen die Jungen zuerst in die Schlafsäle, machen ihre Betten und verteilen sich zu den einzelnen »Tagdiensten«, kleinen Hausarbeiten, wie auskehren, aufräumen, Staub wischen, Kohlen tragen u. a. Dann wird zum Abholen des 10-Uhr-Brotes angetreten. Bei diesem Antreten. Wird auch gewöhnlich ein kurzer Rapport von Herrn Prof. Metzner abgehalten. Die Jungen werden angeschaut, ihre Meldungen vorgebracht, und Beschwerden und Wünsche werden erledigt.
65 Das Tageslauf, in: Freie Schulgemeinschaft, 1932, S. 55–57.
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10:15–11:05 Uhr 3. Unterrichtsstunde (11:05–11:10 Pause) 11:10–12:00 Uhr 4. Unterrichtsstunde (12:00–12:10 Umkleidepause) 12:10–13:00 Uhr Die tägliche Turnstunde: Sie hat sich als sehr günstig für den körperlichen Zustand unserer Jungen erwiesen. Ordnungsübungen, Ausgleichsgymnastik, Lauf und Laufspiele werden gemacht. Sehr oft wird mit Begeisterung Fubball gespielt, besonders dann, wenn auch alle Scharmeister mitspielen. 13:00–13:25 Uhr Säubern und Ankleiden: Unordentlich oder unsauber darf niemand bei Tisch erscheinen – und oft genug wird kontrolliert. 13:25 Uhr Läuten zum Mittagessen – Auftragen (1.Läuten). Wieder treten die Tischdienste in Tätigkeit. 13:30–13:55 Uhr Mittagessen (2. Läuten): Durch einen Gruß oder kurzen Spruch leitet der diensthabende Scharmeister die Mahlzeit ein. 14:00–14:55 Uhr Absolute Hausruhe (Schlafstunde): Alle Jungen müssen in den Schlafsälen ruhen und stille sein. Viele schlafen, andere nehmen ein schönes Buch vor. 15:00–15:55 Uhr Arbeitsstunde (Arbeiten für das Heim): Beim Antreten werden die Arbeitsdienste verteilt, bei den regelmäßigen Arbeiten dieselben Jungen. Schlafsäle, Waschräume, Unterrichtsräume, Hof usw. sind gründlich zu säubern, auszukehren und aufzuräumen. Auch kleine Dienstwege oder praktische Arbeiten für die Siedlung sind zu erledigen. 16:00 Uhr Läuten zum Pausenauftragen: Tischdienste! 16:05-16:25 Uhr Pause: Wieder gemeinsamer Anfang und gemeinsamer Schluss. 16:30-17:20 Uhr 5. Unterrichtsstunde. 17:25-18:50 Uhr Selbststudium (Wiederholung des Tagesstoffes, Aufgaben). In dieser sogenannten »Studierstunde« arbeiten die Jungen für sich selbst das Erlernte durch und erledigen die Aufgaben für den nächsten Tag. Ein Scharmeister, der die Aufsicht führt, steht ihnen mit Rat und Tat helfend zur Verfügung. Nur an den Ausgangstagen (Dienstag und Freitag) tritt nachmittags eine Änderung ein: Dann ist die Arbeitsstunde schon von 2:00-2:40 (die Schlafstunde entfällt). Von 2:40-4:40 ist Ausgang; 4:45-5:00: Pause; 5:00-5:50 die 5. Unterrichtsstunde; bis 6:50 ist das Selbststudium; dann wie gewöhnlich weiter. 18:55 Uhr Läuten zum Abendessenauftragen: Tischdienste! 19:00-19:25 Uhr Abendessen: Wie bei allen Mahlzeiten ist Sauberkeit und
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Ordnung der Jungen unerlässlich. Der Scharmeister vom Dienst eröffnet und schließt die Mahlzeit. 19:30-20:30 Uhr Gemeinschaftsabend – Lesestunde – Arbeitsgemeinschaften: Viele Jungen machen Spiele, manche auch arbeiten noch, die meisten lesen. Die Jungen sind sich selbst überlassen; sie lernen dabei gegenseitige Rücksichtnahme. Dann und wann findet als besonderes ein lustiger Abend statt, als Belohnung für gutes Arbeiten oder Verhalten sehr beliebt. 20:30-21:00 Uhr Zähneputzen – Waschen – Abenddienste: Alle machen sich fertig zur Nachtruhe. Einige Arbeiten, wie Kohle holen und Ebraum auskehren usw. sind noch zu erledigen. ab 21:00 Uhr Unbedingte Nachtruhe: Alle Jungen liegen in den Betten, in den Schlafsälen hat Ruhe zu herrschen und das Licht ist auszulöschen. Noch einmal geht der Scharmeister vom Dienst durch alle Räume und kontrolliert vor allem die Schlafsäle, dann ist alles still. Nur in der Kanzlei ist noch Licht. Dort erledigen die Scharmeister noch zahlreiche Arbeiten für das Heim. Briefe werden geschrieben, Berichte gemacht, an Plänen für inneren und äußeren Ausbau wird gearbeitet. Einzelne bereiten vor, und in gemeinschaftlicher Aussprache wird dann entschieden. Es gibt genug zu tun, und noch lange muss das Licht in der Kanzlei brennen, ehe auch hier die Nachtruhe eintritt.
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Walther G. Oschilewski (1904–1987) als sozialistischer Historiker der Jugendbewegung* Jürgen Reulecke zum 75. Geburtstag
Die Arbeiterjugend transformiert den Meißner-Geist in den »Geist von Weimar« Die Arbeiterjugendbewegung der beginnenden 1920er-Jahre trug ein Doppelgesicht. Die sozialistischen und kommunistischen Parteien sahen in der organisierten Jugend vor allem den Parteinachwuchs. Walter G. Oschilewski, W.G.O., dagegen betonte im Rückblick: »Jugendliches Leben und Bildungsenthusiasmus waren charakteristische Merkmal der frühen Arbeiterjugendbewegung [der Weimarer Zeit]«. Und er erläuterte dies so: »Auf den wöchentlichen Gruppenabenden der Arbeiterjugend, auf die sie sich nach jedem grauen Alltag freute, las sie sich quer durch die Gärten des Weltgeistes: Laotse und Rosa Luxemburgs Briefe, Kropotkin und Tagore, Campanella und Tolstoi; den jungen Ernst Toller, Freiligrath und die Stürmer und Dränger des Naturalismus. Aus dem Bereich der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte kamen Vorträge jüngerer Lehrer, Studenten und gelegentlich auch gestandener Politiker über Marx und Engels, Lassalle und Bernstein. Es waren zumeist ›Einführungen‹, denn es wäre sinnlos gewesen, Jugendlichen unter achtzehn Jahren etwa Marx’ ›Kapital‹ vorzusetzen. Erlebnisberichte der Arbeiterführer, volks-, natur- und erdkundliche Unterweisungen, Sport und Spiel, Museumsbesuche, Lieder- und Vortragsabende hatten den Vorrang. Manches trug zur * Vortrag gehalten beim »[2.] Workshop zur Jugendbewegungsforschung, 4. –6. April 2014« auf der Burg Ludwigstein, (für den Druck überarbeitet). Der Vortrag war eine Reaktion auf die gegenwärtig allzu einseitige Reduzierung der »Deutschen Jugendbewegung« auf die bürgerliche Jugend unter Außerachtlassung der Arbeiterjugend. Symptomatisch dafür war die 2013/ 14 im Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg gezeigte Ausstellung »Aufbruch der Jugend. Deutsche Jugendbewegung zwischen Selbstbestimmung und Verführung«, in deren gleichnamigem Katalog es bereits einleitend hieß: »Diese bürgerliche Jugendbewegung […] steht im Mittelpunkt der Ausstellung«; G. Ulrich Großmann, Claudia Selheim, Barbara Stambolis (Hg.): Aufbruch der Jugend. Deutsche Jugendbewegung zwischen Selbstbestimmung und Verführung (Ausstellungskatalog), Nürnberg 2013, S. 8.
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Verwirrung bei, aber das gehört eben auch zum jungen Menschen, der sich selbst zu begreifen sucht und demzufolge oft erst auf verschlungenen Pfaden zum eigenen Bewusstsein und zur objektiven Erkenntnis der Wirklichkeit und der Geschichte gelangt […] Obwohl der Arbeiterbewegung (Sozialdemokratische Partei und Gewerkschaften) arbeitsgemeinschaftlich verbunden, war die Arbeiterjugendbewegung empfindlich gegenüber der versuchten Gängelei durch die Etablierten, und sie verteidigte ihre ideelle und organisatorische Autonomie mit bemerkenswerter Bravour.«1
In einem vom Hauptvorstand der Arbeiterjugend herausgegebenen Bericht über die »Jungsozialisten«, also über die 18- bis 21-Jährigen organisierten Jugendlichen, hieß es: »Ihre Arbeit geht aus von Grundlagen, die die Arbeiterjugend [der 14- bis 18jährigen] geschaffen hat. Aber sie bewegt sich in anderer Richtung. Ziel und Wollen sind von dem der Arbeiterjugend grundverschieden.// […] die Jungsozialisten können keine NurJugend und Nur-Jugendbewegung mehr sein. Sie haben sich zum politischen Zielbewusstsein durchgerungen und müssen nun Stellung nehmen zu den brennenden Fragen unserer brodelnden Zeit. Sie sind vor Aufgaben gestellt, die man mit Spiel und Tanz, mit Gemeinschaftskultur und Erleben allein nicht meistern kann. Sie müssen hineinwachsen in die Wirklichkeit, in das Leben, in die Politik und die Wirtschaft, in die Arbeit für die Partei und den Sozialismus. Das bedeutet eine oft schmerzliche Abkehr vom goldenen Jugendland, ein bitteres Sicheinfügen in die harte Welt der Tatsachen. Pflichten treten heran an den Menschen, die ein hohes Maß von Opferfreudigkeit und Verantwortlichkeit verlangen […] Der Weg zur gesellschaftlichen Gestaltung des Sozialismus führt nur über die Sozialdemokratische Partei. Darüber muss Klarheit sein; die Partei darf nicht geringschätzig – als ein notwendiges Übel – abgetan werden. Sie ist für uns mehr als nur eine Partei; die ist die Trägerin des sozialistischen Ideals, die Gestalterin neuer Lebensformen, die Verkörperung der höchsten Sehnsucht, des stärksten Befreiungswillens von Millionen unterdrückter Menschen.«2
Das war freilich keine Selbstdarstellung dieser Jungsozialisten, sondern der Versuch ihrer Steuerung durch die SPD-Parteiführung. Denn auch die Mitglieder der »Jungsozialistischen Vereinigungen« hatten die Impulse der bürgerlichen Jugendbewegung nach dem Ersten Weltkrieg aufgenommen und verstanden sich in erster Linie als lebens-reformerische Jugendbewegung, die als Selbsterziehungsgemeinschaft zur kulturellen Erneuerung der Gesellschaft und der Partei angetreten war und individualistisch-antiautoritäre Positionen hegte. Ab Januar 1922 erschienen als zentrales Organ der Jungsozialisten die »Jung1 W. G. Oschilewski: Durchbruch und Leistung. Die deutsche Jugendbewegung 1918–1933, in: Junge Menschen. Ein Auswahlband 1920–1927 (Quellen und Beiträge zur Geschichte der Jugendbewegung 24), Frankfurt a. M. 1981, S. 346–378, hier S. 349f. 2 Richard Weimann: Die Jungsozialisten, in: Erich Ollenhauer (Bearb.): Von Weimar nach Bielefeld. Ein Jahr Arbeiterjugendbewegung. Zum Reichsjugendtag in Bielefeld Ende Juli 1921, Berlin 1922, S. 102–104, hier S. 102f.
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sozialistischen Blätter«. Ihr Redakteur war bis Ende 1924 der junge Arbeiterdichter Karl Bröger »als Vertreter der neuen Generation der Arbeiterbewegung«, der das ethisch-utopische Element des Sozialismus, nicht den Materialismus betonte.3 Bröger hatte bereits in einer programmatischen Rede »Jugend und Kultur« auf dem Weimartag der Arbeiterjugend 1920 den berühmt gewordenen Satz gerufen: »Jugend hat das unbedingte Recht, von sich zu sagen: ich bin mein eigener Anfang!«4 Die kommende proletarische »Jugendkultur« gründe auf der »erlebte[n] und durchgefühlte[n] Gemeinschaft«, die in Spiel und Tanz, Gesang und Rede ihren Ausdruck finde.5 Freilich ergänzte er diesen bürgerlichen Gedanken der Jugendautonomie und Lebensreform durch den Hinweis: »Das unterscheidet die Bewegung der deutschen Arbeiterjugend von der bürgerlichen Jugendbewegung, daß wir bewußt und wirkend mitten im [beruflichen und politischen] Leben stehen.«6 Die »Jungsozialistischen Vereinigungen« waren nach W.G.O. »eigenständige Gemeinschaften, die von dem hochgemuten Geist eines ›Jungen Sozialismus‹ angerührt wurden, wie er auf dem Reichsjugendtag der Arbeiterjugend, Weimar 1920, zum Durchbruch kam. Die Zugehörigkeit dieser jungen Menschen setzte nicht voraus, dass man zugleich auch Mitglied der Partei sein musste; sie konnten es sein, brauchten es aber nicht […] Die Jungsozialisten in der ersten Hälfte der Zwanziger Jahre waren im generalisierenden Sinne als ein Teil der Jugendbewegung in ihrem Suchen und Drängen den ›Freideutschen‹ sehr ähnlich, der Unterschied bestand im wesentlichen vor allem aber darin, dass die Jungsozialisten zumeist aus der Arbeiterjugendbewegung [Weimarer Prägung] kamen und sich von vornherein zu einem ›Sozialismus als Seelenerlebnis‹ (Gustav Haase)7 bekannten.«
Der Sozialismus sollte nicht nur als eine Form der Organisation der Wirtschaft, als »Magenfrage« verstanden werden, sondern »auch eine Angelegenheit der Kultur, des Herzens, des Bundes Gleichgesinnter […] Es ging den damaligen Jungsozialisten dementsprechend um die Erweckung gemeinschaftsbildender Kräfte in der Sozialdemokratischen Partei, der sie sich in innerer Freiheit verbunden fühlten. Das Entscheidende dabei war, nicht von der Gemeinschaft zu reden, sondern sie durch persönliches Tun zu erleben und zu gestalten.«8 3 Franz Lepinski: Die jungsozialistische Bewegung, ihre Geschichte und ihre Aufgaben, Berlin 1927, S. 24. 4 Karl Bröger: Jugend und Kultur, in: Das Weimar der arbeitenden Jugend, Magdeburg 1921, S. 47–50, hier S. 47. 5 Ebd., S. 49. 6 Ebd., S. 49. 7 Zum Verständnis Haases, eines Hamburger Jungsozialisten, von »sozialistischer Kultur« siehe Franz Osterroth: Der Hofgeismarkreis der Jungsozialisten, in: Archiv für Sozialgeschichte, 1964, 4. Jg., S. 525–574, hier S. 530f. 8 Oschilewski: Durchbruch (Anm. 1), S. 350f.
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Dies waren keine nachträglichen Konstruktionen, sondern entsprach W.G.O.s Position in den frühen 1920er-Jahren. Damals erinnerte der seit 1920 im »Verein Arbeiterjugend Großberlin« Organisierte seinen Bochumer Gesinnungs- und Wanderkameraden Franz Osterroth brieflich an die »Tage von Bielefeld«9 und sprach abschätzig von jenem »etwas frisierten Massenjugendtag«.10 Und er ermunterte den vier Jahre älteren Osterroth, bereits seit 1917 SPD-Mitglied und von 1919 bis 1924 Jugendsekretär des Bergarbeiterverbandes in Bochum: »Lass Dich nicht klein kriegen, wenn hier und dort noch viel Mache wohnt. Der Verband der Arbeiterjugendvereine Deutschlands ist keine Jugendbewegung in dem großen umfassenden Sinn, um den wir wissen, aber in diesem Verband läuft ein heißer Jugendstrom. Du und ich und andre stehen darin. //Pflicht ist stählern Wort an das Ethos in uns. Es gibt soviel Sophismen, die man als Watte in die Ohren stecken kann, um der Stimme der Pflicht auszuweichen. Wir sind für jede Feigheit zu gut, wieviel mehr erst für eine, die die Brüder in ihrer Not lässt. Denk immer an die Brüder und kein Atem von Jugendpflegebürokratie kann so giftig sein, dass man ihn und damit dem Kreis von Brüdern entfliehen müsste.«11
»Jugendbewegung« statt »Jugendpflege« lautete also die Parole, »Frei Heil« war der Begrüßungsruf der vom »Weimargeist« ergriffenen Arbeiterjugendbewegten. Die bürgerliche Vorkriegs-Jugendbewegung von Wandervogel und Freideutschtum entfaltete so nach dem Ersten Weltkrieg in der Arbeiterjugendbewegung ihre Wirksamkeit – das ist ein wesentlicher Bestandteil ihrer gemeinsamen Geschichte – aber stieß dort auch auf das proletarische Solidaritäts- und Freiheitsbewusstsein: »Mit uns zieht die neue Zeit.« Die Hamburger Arbeiterjugendlichen brachten 1920 Michael Englerts Vertonung (1915) dieses von Hermann Claudius 1914 »der neuen Jugend gewidmeten« Lieds »Wann wir 9 Gemeint waren der 2. Reichsjugendtag der Arbeiterjugend und die damit verbundene 1. Reichstagung der Jungsozialisten in Bielefeld vom 29. Juli bis 1. August 1921. Dort begegnete Osterroth erstmals W.G.O., der ihm die Grüße von Ernst Friedrich aus Berlin überbrachte: Franz Osterroth: Auf dem Bielefelder Reichsjugendtag, in: Franz Osterroth: Die Zeit als Jugendsekretär des Bergarbeiterverbandes in Bochum [Auszug aus seinen unveröff. Lebenserinnerungen], Bochum [1983], S. 53f. Osterroth war 1920 mit der bürgerlichen Jugendbewegung vertraut geworden und übernahm deren Lebensstil in seinem »Bochumer Arbeiterjugendbund«: Osterroth: Das Erlebnis der Jugendbewegung, in: Osterroth: Zeit, S. 6–17; ders.: Lange Freundschaft mit Oschi, in: Mittels Tun ein Mensch werden, Berlin 1969, o. S. 10 Dieser Charakter der Veranstaltung als »eindrucksvoller Massenkundgebung« zur Schaffung eines »Massenbewusstseins« wird bestätigt bei Cornelius Schley : Sozialistische Arbeiterjugend Deutschlands (SAJ) (Quellen und Beiträge zur Geschichte der Jugendbewegung 30), Frankfurt a. M. 1987, S. 149 und S. 151. 11 Brief W.G.O.s an Franz Osterroth v. 17. 02. 1921 (richtig wohl 17. 02. 1922; siehe Datum Konferenz Bielefeld), in: In memoriam Walther G. Oschilewski, in: Europäische Ideen, 1988, Nr. 67/68, S. 23f. – W.G.O. widmete Osterroth auch das Gedicht »Bericht eines Erwachenden im Frühling«, typische Wandervogel-Lyrik, in seinem Band »Sturz in die Äcker. Gedichte«, Berlin 1931, S. 56.
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schreiten Seit’ an Seit’« auf den Weimartag der arbeitenden Jugend; von dort ausstrahlend trat dann das »Weimarlied« seinen Siegeszug bei allen jugendbewegten Bünden an.12
Vom Prolo zum Professor: Eine Bildungskarriere Der geistige Entwicklungsgang W.G.O.s in der Arbeiterjugendbewegung – als 1904 Geborener gehörte er zur »jugendbewegten Jahrhundertgeneration« (Jürgen Reulecke) – von seinem 14. bis zu seinem 21. Lebensjahr, also von 1919 bis 1925, spiegelt genau die erste Phase der Weimarer Republik, von der Revolution über den »Ruhrkampf« und die Inflation bis zur relativen Stabilisierung von Staat und Wirtschaft. In der Bundesrepublik war er dann als Literat und Gelehrter gewiss ein Vorzeige-Bildungsbürger. In der Neuen Deutschen Biographie heißt es über ihn – freilich dort ohne Interesse an den Impulsen für seine geistige Entwicklung, sondern nur an deren gedruckten Resultaten: »er [arbeitete] 1920–33 als freier Mitarbeiter für Tageszeitungen […] Daneben schrieb er für kulturpolitische Zeitschriften […], ebenso wie für Zeitschriften der Jugendbewegung […] [und für] Blätter des Druckgewerbes. 1933/34 und 1942 redigierte O. die Zeitschrift ›Der Bücherwurm‹. Bis 1939 arbeitet er als Fachberater für Verlage, besonders für Eugen Diederichs, sowie für das ›Berliner Tageblatt‹, die ›Frankfurter Zeitung‹ und andere Zeitungen. 1940–45 war er Soldat. Nach dem Krieg zunächst Bibliothekar der Berliner Lehrerbibliotheken, war O. 1946–1950 [Berliner] Stadtverordneter. Seit 1948 leitete er das Ressort Kulturpolitik des ›Telegraf‹ (Berlin), 1955–69 als stellvertretender Chefredakteur. 1948–69 war er auch Verlagsleiter und Cheflektor des [Berliner] arani-Verlags, in dem er die Ressorts Kulturpolitik, Literatur, Kunstgeschichte und Sozialwissenschaften betreute. Seit 1949 war O. Vorstandsmitglied der ›Freien Volksbühne Berlin‹, Mitglied des ›Vereins für Geschichte Berlins‹ und seit 1952 Herausgeber von dessen Jahrbüchern. 1951–70 war er Kulturredakteur der ›Berliner Stimme‹, 1955–72 Schriftleiter des ›Volksbühnenspiegel‹, des Verbandsorgans der deutschen Volksbühnen-Vereine. O. schrieb und gab mehr als 150 Bücher […] heraus. Mit seinem vielfältigen Vereinsengagement erwarb er sich bleibende Verdienste um das kulturelle Leben Berlins nach 1945. Besondere Aufmerksamkeit widmete O. der Berliner Geschichtsschreibung. Eine Fundgrube für Zeithistoriker ist seine an biographischen Notizen reiche Abhandlung über die ›Zeitungen in Berlin‹.«13 12 Weimarlied: in: Das Weimar der arbeitenden Jugend, ergänzte Ausgabe Berlin 1923, S. 104f. Die Rechte für das Lied lagen beim Berliner Arbeiterjugend-Verlag. Franz Osterroth nannte den Arbeiterjugendtag von Weimar »das Pfingsten des jungen Sozialismus«: Osterroth: Die Entwicklung der jungsozialistischen Bewegung, in: Die Tat, 1927/1928, 19. Jg., S. 309–313, hier S. 310. 13 Rudolf Stöber : Oschilewski, Walther Georg in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 19, 1999, S. 606f. [Onlinefassung]; URL: http://www.deutsche-biographie.de/ppn118747754.html.
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Legendär war sein »Bücherreich im Zehlendorfer Fischtal«.14 Es war ein von der Bau-Genossenschaft gemietetes Reihenhaus in einer der besseren Gegenden Berlins, kein proletarischer Mietblock also: » – ein Haus, das Treffpunkt vieler, vieler Freunde war. Ein Haus, in dem er sich, ohne es freilich zuzugeben, wohl fühlte. Ein Haus aber auch, so ungewöhnlich wie W.G.O. selbst, und sehr zu ihm passend. Tausende und Abertausende von Büchern in allen Zimmern, bis an die Decke, selbst auf dem Fußboden und auf der Treppe zum ersten Stock: Bücher und Broschüren, wohin man blickte oder ging«.15 Ich kann mich selbst erinnern, wie er mir Mitte der 1970er-Jahre stolz einen zur Bibliothek ausgebauten Kellerraum zeigte und ungefähr so kommentierte: »Ich werde getadelt, weil ich mir in meinem Alter immer noch so viele Bücher anschaffe, aber ich kann doch nicht leben, als ob ich schon tot wäre.« Und Willy Brandt bestätigt diesen hortenden Bildungstrieb: »Mittlerweile hat es sich herumgesprochen, dass sich in W.G.O.s Häuschen im Zehlendorfer Fischtal unter der Last von mehr als 50.000 [an anderer Stelle: 20.000] Bänden die Türen senken. Eine Äußerlichkeit? Wohl mehr. Denn Walther G. Oschilewski ist der Musterfall eines autodidaktischen Bücherwurms, wie es ihn heute sonst kaum noch gibt (wohl auch nicht geben kann). Er hat niemals aufgehört zu lesen und zu lernen. In den Jugendjahren nahm er oft wochenlang kein Mittagessen zu sich, weil er das bißchen Honorar, das einging, zum Buchhändler trug.«16
Der Bibliophile war aber auch, trotz zunehmend schlechter Gesundheit, ein eminent fruchtbarer »politisch-wissenschaftlich geschulter, journalistisch befähigter Publizist«.17 Als seine Arbeitsbereiche nannte er dabei: »Kunst, Literatur, Soziologie, Sozialismus, Politische Bewegung, Sozialistische Biographie, Geschichte der Arbeiterbewegung, Bibliographie, Buch-, Verlags-, Druck- und Schriftgießereigewerbe sowie Archivwesen und Bibliothekswissenschaft«.18 1962 hatte er auch einen Lehrauftrag in Publizistik an der Freien Universität Berlin.19 So war es nur eine logische Konsequenz, dass ihm der Berliner Regierende Bürgermeister Klaus Schütz als eine seiner letzten Amtshandlungen 1977 den Professor e.h. verlieh: »er hatte wohl nichts sehnlicher gewünscht als diese
14 Brigitte Seebacher-Brandt: Zum Tode von Walther G. Oschilewski, in: Nekrologe 2, Europäische Ideen, 1987, Nr. 65, S. 27f., hier S. 27. Seine Wohnadresse war damals: Berlin 37 (Zehlendorf) [heute: 14169 Berlin], Am Fischtal 19. 15 Fritz Heine: W.G.O., in: In memoriam (Anm. 11), S. 3. 16 Willy Brandt: Schreiben, Anregen, Ordnen, in: W. G. Oschilewski: Auf den Flügeln der Freiheit, Berlin 1984, S. 7–11, hier S. 8. 17 Friedrich Heine: Geleitwort, in: W. G. Oschilewski: Bibliographie, Bonn 1979, S. 5–7, hier S. 6. 18 W. G. Oschilewski: Lebenslauf, in: In memoriam (Anm. 11), S. 13f., hier S. 13. 19 Zeittafel Walther G. Oschilewski, in: Mittels Tun (Anm. 9), o. S.
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Auszeichnung: seine Briefe an uns bezeugen es. Klaus Schütz tat gut daran, die Verleihung trotz gewisser Widerstände durchzusetzen«.20 Und doch war das kein geradliniger bildungsbürgerlicher Lebensweg. »Als ich ihn das erste Mal […] besuchte, es muss 1974 gewesen sein, nannte er sein Leben schlichtweg ›irre‹«, erinnert sich Brigitte Seebacher-Brandt in einem Nachruf auf ihn.21 »Angefangen hatte es mit seiner Leselust, als er fünfzehn war und es in der Schule wegen chronischer Faulheit und Aufsässigkeit nicht mehr weiterging«, schrieb Willy Brandt ironisch 1984 zum 80. Geburtstag von W.G.O.22 Dessen eigener Schlüsselsatz dazu lautete: »Meine geistige und spätere wissenschaftliche Ausbildung ist die eines schulischen Außenseiters.«23 Die vor diesem bildungsfernen proletarischen Herkunfts-Hintergrund sich entfaltende Bildungs-Karriere war allerdings keine anti-bürgerliche Bildung. Es ging diesem späteren »kulturpolitische[n] Publizist[en] und Historiker«24 doch vielmehr auch um die autodidaktische Aneignung der geistigen bürgerlichen Kultur, die er aber unter einem sozialistischen Freiheitsbegriff und Gemeinschaftssinn sorgsam auswählte und um die revolutionären Traditionen des Sozialismus ergänzte. Sein Leitstern dabei war Clara Bohm-Schuch, seine »zweite ›Frau Mutter‹«.25 Sie war 25 Jahre älter als er und hatte sich bildungsmäßig und beruflich von ganz unten hochgearbeitet. Sie war von 1919 bis 1922 Chefredakteurin der sozialdemokratischen Frauenzeitschrift »Die Gleichheit«, sie war außerdem von Januar 1919 bis Juni 1920 SPD-Mitglied in der Verfassungsgebenden Nationalversammlung gewesen, dann bis 1933 im Reichstag. »Sie war eine der ganz wenigen unter der damaligen weiblichen ›Führergarnitur‹, die auch ein Gefühl hatte für eine neue Lebenskultur und die wirklich ein großes Interesse an jungen Menschen hatte.«26 Sie war zudem für W.G.O. dadurch vorbildlich, dass sie ihr politisches Engagement mit journalistischer und schriftstellerischer Tätigkeit verband. Und sie soll mehr als einmal W.G.O.s Mietschulden beglichen haben.27
20 Heine: W.G.O. (Anm. 15), S. 3. Trotz freundlicher Hilfe des Landesarchivs Berlin und des Archivs der Freien Universität Berlin ließ sich bisher der Grund für diese Widerstände nicht ermitteln. Der Nachlass von Klaus Schütz im Landesarchiv Berlin ist aus konservatorischen Gründen noch gesperrt. 21 Seebacher-Brandt: Tode (Anm. 14), S. 27. 22 Brandt: Schreiben (Anm. 16), S. 8. 23 Oschilewski: Lebenslauf (Anm. 18), S. 13. 24 Arno Scholz: Nachwort, in: W. G. Oschilewski: Lebensspuren, Berlin-Grunewald 1964, S. 125f., hier S. 125. 25 Brief W.G.O.s an Franz Osterroth (Anm. 11), S. 23; Die Briefe von W.G.O. an Clara BohmSchuch befinden sich in ihrem Nachlass im Archiv der sozialen Demokratie der FriedrichEbert-Stiftung. 26 Brief Herta Gotthelf an W.G.O. v. 22. 01. 1951 in: In memoriam (Anm. 11), S. 75. 27 Seebacher-Brandt: Zum Tode (Anm. 14), S. 28.
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W.G.O. hat ihr dankbar seinen bei der Rabenpresse 1931 veröffentlichten Gedichtband »Sturz in die Äcker« gewidmet.28 Aber wenn er später auch in den beiden ersten Wahlperioden nach 1945 als Mitglied in der Berliner Stadtverordnetenversammlung saß, so war er doch »eigentlich kein Mann der praktischen Politik. Er blieb Schriftsteller. Und […] Publizist […]«29
W.G.O. als Historiker der bürgerlichen und proletarischen Jugendbewegung W.G.O. hat auch zwei Geschichten der deutschen Jugendbewegung veröffentlicht: 1929/1930 erschien in zwanzig Fortsetzungsfolgen im »Jungbanner« (Beilage von: Das Reichsbanner, Magdeburg; Organ des »Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold«)30 unter dem Titel »Aufbruch und Botschaft. Kurzgefasster Abriss der Geschichte der deutschen Jugendbewegung«.31 Wie er dort einleitend 28 In seinem Gedichtband »Auf flammender Brücke. Die frühen Gedichte eines Knaben«, Dessau 1924, S. 9, hat ihr W.G.O. das »Gebet« »in Liebe« gewidmet. Bohm-Schuchs einziger in der Weimarer Zeit veröffentlichter Lyrikband »Gedichte« erschien, wohl durch W.G.O. vermittelt, 1932 bei V. O. Stomps in Berlin. 1926/27 war W.G.O. Herausgeber einer »Sozialistische Kultur-Korrespondenz (Kulturspiegel/ Jungvolk/ Frauenstimme). Unter Mitwirkung von Robert Breuer, Heinrich Lersch und Clara Bohm-Schuch, MdR« (Berlin, Selbstverlag). 29 Klaus Schütz: Trauerrede [auf W.G.O., gehalten am 03. 07. 1987 auf dem Waldfriedhof BerlinDahlem], in: In memoriam (Anm. 11), S. 4–7, hier S. 6. Die Urnen von W.G.O. und seiner Frau Margarete ruhen, bedingt durch die Heirat seiner Tochter nach Griechenland, auf dem (alten) Städtischen Zentralfriedhof von Heraklion/Kreta: Holger Hübner: Walther G. Oschilewski, in: Geschichte der Berlin SPD, Personen L-Z, S.1, [http://archiv.spd-berlin.de/ geschichte/personen/l-z//oschilewski-walther-g.print.html, aufgerufen 26. 08. 2013]. 30 Vermittelt wurde dies durch Franz Osterroth, seit 1928 in der Redaktion des »Reichsbanners« und seit Anfang 1932 Stellvertretender Bundesjugendleiter des Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold: Osterroth: Die Zeit (Anm. 9), S. 71; ders.: Freundschaft (Anm. 9), o. S. Osterroth betont nicht nur die Gesinnungsnähe der Hofgeismarer Jungsozialisten zum »Reichsbanner«, sondern spricht ausdrücklich von der Heranziehung der »alten politischen Gesinnungsfreunde« zur Mitarbeit in dessen Bundesorgan: Osterroth: Hofgeismarkreis (Anm. 7), S. 566. 31 W. G. Oschilewski: Aufbruch und Botschaft, in: Das Reichsbanner, 6. Jg., Beilage Jungbanner, Nr. 43 v. 26. 11. 1929, S. 355f.; Nr. 45 v. 09. 11. 1929, S. 371f.; Nr. 46 v. 16. 11. 1929, S. 379f.; Nr. 48 v. 30. 11. 1929, S. 395f.; Nr. 49 v. 07. 12. 1929, S. 403; Nr. 51 v. 21. 12. 1929, S. 420; Nr. 52 v. 28. 12. 1929, S. 428.; 7. Jg. Nr. 1 v. 04. 01. 1930, S. 8; Nr. 3 v. 18. 01. 1930, S. 24; Nr. 6 v. 08. 02. 1930, S. 48; Nr. 9 v. 01. 03. 1930, S. 71f.; Nr. 11 v. 15. 03. 1930, S. 88; Nr. 12 v. 22. 03. 1930, S. 96; Nr. 14 v. 05. 04. 1930, S. 112; Nr. 15 v. 12. 04. 1930, S. 120; Nr. 17 v. 26. 04. 1930, S. 136; Nr. 19 v. 10. 05. 1930, S. 152; Nr. 20 v. 17. 05. 1930, S. 160; Nr. 25 v. 21. 06. 1930, S. 203f.; Nr. 27 v. 05. 07. 1930, S. 219 (»Schluß statt Fortsetzung« – scherzhaft sollte so darauf hingewiesen werden, dass die ursprünglich geplante kurze Abhandlung sehr viel umfangreicher geworden war, »so daß kritische ›Reichsbanner‹-Kameraden mich murrend fragten,
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ausführte, war dieses Werk entstanden »unter Benutzung des sehr umfangreichen Schrifttums (und neuesten statistischen Materials), die die dokumentarischen Unterlagen lieferten[,] sowie eigener Erlebnisse und Erfahrungen.«32 Über ein halbes Jahrhundert später veröffentlichte er dann – auf diesem Text fußend – 1981 den zweiteiligen Anhang »Aufbruch und Botschaft. Die deutsche Jugendbewegung 1901–1918« und »Durchbruch und Leistung. Die deutsche Jugendbewegung 1918–1933« in einem Auswahl-Reprint33 der von Walter Hammer 1919/20 bis 1927 herausgegebenen Jugendbewegungszeitschrift »Junge Menschen«.34 Diese zweite Fassung ist umfangreicher als die Urfassung; beide beob die ›Jugendbewegung‹ […] nie ein Ende nehmen wollte«: Osterroth: Freundschaft (wie Anm. 9), o.S.). 32 Oschilewski: Aufbruch (Anm. 31), Nr. 43 v. 26. 11. 1929, S. 355. 33 Oschilewski: Aufbruch und Botschaft. Die deutsche Jugendbewegung 1901–1918, in: Junge Menschen (Anm. 1), S. 334–345; ders.: Durchbruch (Anm. 1), S. 346–375. 34 Siehe auch W. G. Oschilewski: Kämpfer einer guten Sache. Über Walter Hammer, in: Lebensspuren (Anm. 24), S. 60–64. W.G.O. lernte die Zeitschrift um die Jahreswende 1919/1920 kennen: »Die Zeitschrift sollte von vornherein nicht allein für die intellektuelle Jugend, nicht nur für ›höhere‹ Schüler, junge Lehrer, Studenten, Angestellte gedacht sein, sondern – entsprechend der sozialen Verpflichtung – auch für die heranwachsende proletarische Jugend.« W.G.O. war damals auf die Zeitschrift ›Arbeiterjugend‹ abonniert. Dort aber fand er »vorfabrizierte Antworten auf vielleicht unmögliche Fragen, die mir täglich vor der Seele standen«. Er »wusste nicht, wohin der Weg, – mein Weg – eigentlich gehen sollte. Als Zugehöriger der Arbeiterbewegung, der ich meine schwachen Kräfte widmete, empfand ich damals die Empfehlungen der Bildungsfunktionäre als eine allzu schwache Kost. Es war immer die gleiche dürftige Auswahl an Lesestoff, der angeboten wurde: Zimmermanns ›Bauernkrieg‹, Haeckels ›Welträtsel, Blos’ ›Französische Revolution‹, Kautskys ›Ethik‹, Goethes ›Faust‹, Biographien von Marx, Engels und Lassalle, aber auch manche überflüssigen parteipolitischen Sechserbroschüren. Sicherlich waren diese Empfehlungen für die Formung des Weltbildes einen jungen Arbeiters nicht unwesentlich, aber es schien, dass zur Gestaltung sozialistischer Vorstellungen noch andere geistige Voraussetzungen und andere Lebenswerte notwendig wären […] ›Unbedingt, radikal, den Dingen auf den Grund gehend‹, wie man als Fünfzehnjähriger zu sein glaubte, schien mir die einseitige und nur aus dem Grunde einer Zweckmäßigkeit gepflegte Bildung für die Hinwendung zu einer der Arbeiterparteien nicht hinreichend begründet zu sein. Man sagte sich, im Sozialismus der Erzväter stecke doch viel mehr drin, und das gelte es herauszufinden, wenn nicht das opportune Verhältnis des sozialistischen Bildungswesens gegenüber der deutschen Kultur zu einer Uniformität des geistigen Habitus des Arbeiters führen solle. So kam man zu der Erkenntnis, dass das Problem der Kultur in einem modernen Sozialismus eine verpflichtende Aufgabe sei: es gehe um die Pflege und Fortführung des Kulturbesitzes, um Expropriation der kulturbesitzenden Expropriateure […] Ich wurde Abonnent dieser ›Stimme des neuen Jugendwillens‹. Sie sprach die Sprache, die ich im Aufruhr der Gefühle und des Nachdenkens erst nach manchen Irr- und Umwegen selbst zu sprechen wagte. Jede Nummer der Zeitschrift erwartete man sehnsüchtig und berauschte sich an der Vielfalt des Werdens einer neuen Zeit. Wir, die wir damals ständige Leser der ›Jungen Menschen‹ waren, gestehen gern, dass die Zeitschrift uns ungeahnte Horizonte aufriss und den Sinn für die lebenswerten Dinge des Geistes schärfte. War sie auch zunächst noch im Stil der alten Wandervogel-Kultur gehalten, die uns in Wort und Bild nicht mehr so ganz zusagte, so zeichnete sich doch bald eine Tendenz ab, die dem Lebenserneuernden und Lebensgestaltenden entsprach.// Noch waren wir fünfzehn-, sech-
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ruhen auf einer guten Kenntnis der originalen Quellen, die W.G.O. viele Jahrzehnte lang gesammelt hatte, und der jeweils erschienenen Sekundärliteratur. Beide Texte reden von einer »Deutschen Jugendbewegung«, zu der nicht nur die bürgerlichen einschließlich der konfessionellen Bünde zählen, sondern ebenso selbstverständlich die Arbeiterjugendbewegung.35 Der erste Text – emotionaler im Ton als die spätere Fassung – ist vor allem eine Feier des Jugendbewegtseins (»Kultur-Idealismus«),36 so wenn er in einem Kapitel über »Die Frühzeit der jungsozialistischen Bewegung« über die Jungsozialisten als Teil des Weimar-Erlebnisses der Arbeiterjugend 1920 sagt: Es zeigte sich hier ein »erster Ausdruck eines jungen lebendigen fröhlichen Sozialismus. Es ist vielleicht nicht unangebracht, darauf hinzuweisen, wie sehr dieser so ganz undogmatische, erlebniszehnjährige junge Arbeiterinnen und Arbeiter, die für eine kurze Zeit dem Edelkitsch und den unverbindlichen Poesien verfielen, aber das änderte sich bald, und das Wertgefühl wuchs von Monat zu Monat. Wir lasen nicht mehr Friedrich Lienhard oder Cäsar Fleischlein, dessen Gedicht ›Hab’ Sonne im Herzen‹ wir recht mochten, sondern schon Carl Spitteler, Hans Paasche, Tolstoi und aus dem altbabylonischen ›Gilgamesch‹. Ich erinnere mich noch daran, dass ich mit einer Jugendfreundin eine ›Literaturgruppe‹ einrichtete, an deren Abenden ich den Arbeiterbündlern zu erklären versuchte, was ein Sonett sei oder woran man den Realismus in Kunst und Literatur vom Impressionismus zu unterscheiden erkenne. In der Volksschule hatten wir nie darüber gehört«. – W. G. Oschilewski: Stimme des neuen Jugendwillens, in: Junge Menschen (Anm. 1), S. X–XXIII, hier S. XIf. 35 Will man eine Gegengeschichte zu W.G.O.s Darstellung der Arbeiterjugendbewegung lesen, dann greife man zu Gerhard Rogers Rostocker Dissertation von 1953 »Die pädagogische Bedeutung der proletarischen Jugendbewegung«, 1971 im Verlag Roter Stern (Frankfurt am Main) mit einem Vorwort von Lutz von Werder – damals Pädagogik-Student und eine führende Figur in der Berliner »anti-autoritären« Erziehungsarbeit – wieder aufgelegt. Für Roger wäre W.G.O. ganz klar einer der von ihm heftig kritisierten »Kulturschwärmer« und Jugendbewegungs-Romantiker gewesen, für den dann konsequenterweise auch der demokratische Staat eine höhere Bedeutung besessen habe als die sozialistische Revolution. Und W.G.O.s Bekenntnis zum Jugend-»Avantgardismus« würde er selbstverständlich die Aussage von der Avantgarde-Rolle der Kommunistischen Partei entgegensetzen. Wer dagegen an einer wissenschaftlich-historischen Beurteilung der Vorgänge interessiert ist, der findet eine abwägende Darstellung bei Schley (Anm. 10). Der zeigt die Aufbruchstimmung der Arbeiterjugend nach dem Ersten Weltkrieg, die erweiterten Möglichkeiten der individuellen Selbstentfaltung in ihrem jugendlichen Freizeitleben und die hier erfolgte Übernahme bürgerlicher Vorbilder von Jugendbewegtheit, Jugendkultur und Jugendautonomie und die Orientierung an lebensreformerischen Idealen. Er betont aber auch die Möglichkeit einer damit einhergehenden illusionistischen Überschätzung der gesellschaftlichen Entwicklung hin zum Sozialismus und die Gefahren der Entfremdung von den politischen Kampforganisationen der erwachsenen Arbeiter durch das Modell eines angeblichen Klassenkampfes der Jugend gegen das Alter. Das Ziel der Jugendbildung konnte für die Sozialdemokratie nicht die Integration der Arbeiterjugend in der bürgerlichen Kultur sein, sondern die Stärkung der Arbeiterorganisation als Gegenkraft innerhalb der bürgerlichen Gesamtkultur. Die Aufgabe, aber auch die Schwierigkeit lag also darin, gleichzeitig jugendbewegt und sozialistisch bzw. sozialdemokratisch zu sein. 36 Oschilewski: Aufbruch (Anm. 31), Nr. 9 v. 01. 03. 1930, S. 71f.
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reiche, sich mehr vom Gustav Landauerschen Pathos, den Romantikern und Utopisten nährende Sozialismus der wirkliche Lebenszustand der Jugend war […] Sozialismus war [dieser Jugend] keine Interessenbewegung mehr, deren rationalen Ideologie ein großer Teil der Arbeiterbewegung sich ergeben hatte, sondern ein aus tiefem religiösem Erlebnis genährter Glaube und Zeugnis wahrhaften Lebens.«
Diese Jugend habe die Überwindung des »Individualismus« und der »Masse« erstrebt, sie sei getragen gewesen von der »Sehnsucht nach brüderlicher Gemeinschaft«. Der »Sozialismus der Alten« sei dagegen oft »nur Wahlpflicht, Programmtreue und Bildungsbetriebsamkeit«.37 So habe für die jungsozialistische Bewegung eine ganz neuartige Situation bestanden: »Sie war Jugendbewegung und Arbeiterbewegung zugleich«.38 Und im Kapitel »Der Weg der Jungsozialisten in der Politik« schrieb er, die Werte des »Jungsozialismus« waren »innere Besinnung und universale Selbsterziehung« und nicht die »Eroberung der äußeren Macht«.39 In der späteren zweiten Fassung von 1981 hat W.G.O. vor allem den jugendbewegten Bildungskanon herausgearbeitet und dabei eine klare politische Perspektive eingenommen: Er äußerte sich als Anhänger der reformistischen Ausrichtung der Arbeiterjugend entgegen einer revolutionären Strategie. Er sah die Arbeiterjugendbewegung weiterhin nicht oder zumindest nicht vorrangig als politische Kampforganisation, sondern als Erziehungsgemeinschaft. Er bekannte sich zu deutscher demokratischer und sozialer Republik von 1919 und 1949 und zum Godesberger Programm – die Fluchtlinien seines Geschichtsbildes liefen auf diese Fixsterne zu. Nun waren seine politischen Vorbilder ihm persönlich bekannte führende Sozialdemokraten wie Erich Ollenhauer, Willy Brandt40 oder Carlo Schmid. Seine beiden Jugendbewegungsgeschichten sind keine Lebenserinnerungen – solche waren ihm aufgrund seiner objektivierenden Geschichtsauffassung auch gar nicht möglich. Ursprünglich eigenes Erleben und aus der wissenschaftlichen Literatur Erlesenes verschmolzen hier zu einer häufig nicht mehr aufzulösenden Einheit. Wenn er aber an anderer Stelle auf seine eigene jugendbewegte Zeit zurückblickte, vermied er jede Glorifizierung und betonte stattdessen in ironisch-weiser Distanz das Ungenügende seines damaligen jugendlichen Weltverständnisses:
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Ebd., Nr. 6 v. 08. 02. 1930, S. 48. Ebd., Nr. 9 v. 01. 03. 1930, S. 71f. Ebd., Nr. 11 v. 15. 03. 1930, S. 88. W.G.O. begegnete dem 15-jährigen Willy Brandt erstmals 1929 auf dem Zeltlager der Roten Falken auf der Rheininsel Namedy bei Andernach: W.G.O. war der Redakteur der »ZeltlagerZeitungen der Kinderrepublik Deutschland«, Brandt kümmerte sich dort u. a. um das Kasperle-Theater ; Schütz: Trauerrede (Anm. 29), S. 7.
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»Von maßloser Gefräßigkeit, was den Genuß geistiger Kostmittel anbelangt, irrte ich schon seit Jahren, aufgerührt von dem schrankenlosen Individualismus Friedrich Nietzsches, Max Stirners, Gustav Landauers, George Sorels im Labyrinth des Weltgeistes umher. Ich hatte viel gelesen, nur weniges davon richtig verdaut, aber es drängte mich, das Unausgegorene an Ideen und Problemen an den Mann zu bringen. In diesem Zustand geistigen und literarischen Größenwahns kam ich [Ende des Jahres 1924] zu Robert Breuer.«41
Er akzeptierte im Alter die einstige Kritik Eugen Diederichs:42 »Da ich viel und unsystematisch las, von Einfällen getrieben wurde, die oft im Gegensatz zu den mir gegebenen Möglichkeiten standen […] Ungehemmt in geistigen Demonstrationen, wie ich damals war […], hoffte ich in meiner mit untauglichen Mitteln hochgestapelten Selbstüberschätzung, dass ich reif dazu wäre, die Welt mit neuen Vorstellungen zu beglücken«.43 Doch diese bescheidene Haltung führte zu keiner Abwertung der lebensbestimmenden Bedeutung seiner jugendbewegten Anfänge: »Trotz Armut und Zweifel waren die frühen Jahre der Jugend doch die beste Zeit in meinem bisherigen Erdenwalten, wesensbestimmender als die späteren kleinen Erfolge und Selbstbestätigungen […]«.44
Aufbegehrender Arbeiterjugendlicher 1919–1920 W.G.O., geboren 1904 im Nordosten Berlins als Sohn eines unpolitischen ostpreußischen Handwebermeisters und späteren Speditionskutschers und einer altberliner Näherin und dort in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen,45 hat 1981 am Ende der zweiten Fassung seiner Geschichte der Jugendbewegung eine ganz persönliche Erinnerung eingestreut, um mit ihr bei den Älteren um ein größeres Verständnis für den subkulturellen Lebensstil der damaligen Nach1968er-Generation zu werben:
41 W. G. Oschilewski: Statist auf der Bühne der Zeit. Erinnerungen an Robert Breuer, in: Oschilewski: Lebensspuren (Anm. 24), S. 12–18, hier S. 13; siehe auch ders.: Auf der Bühne der Zeit. Erinnerungen an Robert Breuer, in: Oschilewski: Flügeln (Anm. 16), S. 177–186. 42 Vgl. Brief von Eugen Diederichs »An einen jungen Schriftsteller« [ = W.G.O.] v. 21. 01. 1925, in: Eugen Diederichs – Leben und Werk. Ausgewählte Briefe und Aufzeichnungen, Jena 1936, S. 412. 43 W. G. Oschilewski: »In Willen und in Sehnsucht«. Begegnungen mit Eugen Diederichs, in: Oschilewski: Lebensspuren (Anm. 24), S. 19–24, hier S. 21f. 44 W. G. Oschilewski: Erinnerungen an frühe Tage, in: Untergang?, Europäische Ideen, 1981, Nr. 51, S. 16f., hier S. 17. 45 Schütz: Trauerrede (Anm. 29), S. 4. Er hatte nicht, wie etwa bei Scholz: Nachwort (Anm. 24), S. 125, zu lesen, sechs Geschwister, sondern nur einen Bruder : Hübner (Anm. 29) unter Berufung auf W.G.O.s Tochter Christiane Dorothee Kavalaki.
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»Als ich 1919, 14jährig, einer Wandervogelgruppe beitrat und mir das Beinkleid meines blauen Einsegnungsanzugs kurzerhand bis zum Knie abschnitt, um zu einer zünftigen kurzen Wanderhose zu kommen, gab es väterliche Maulschellen. Das zeitweilige Barfußlaufen in der Stadt vergraulte meine erste Liebe; die Mutter der Bäckermeistertochter war dagegen, wie überhaupt die ganze Kleinbürgerwelt gegen unseren äußeren Habitus in seiner gewollten ›Ungepflegtheit‹, den wir für ›natürlich‹ hielten […] Wir trugen damals leinene Kittel von der Art, wie sie in früheren Zeiten bei den Bauern üblich waren, als Schuhzug Sandalen, und wurden darob als ›Jesuslatscher‹ verspottet. Für das Wandern waren sie übrigens auch völlig ungeeignet […] und so wichen sie auch bald den derben Gebirgshalbschuhen (Haferlschuh). Kurze Hosen aus Rippensamt waren sehr beliebt […] Lange Haare trug man […] Kurzschnitt war verpönt; mir hat immer der Hinweis eines Generationsgenossen (Karl Litten) gefallen, der meinte: ›Nur Soldaten und Sklaven wurde das Haar kurz geschoren, das war ein Zeichen der Unterdrückung.‹ Und gegen die waren wir in jeder Form. Allerdings ist uns damals nicht aufgefallen, daß unsere äußere Ausstattung auch eine Art Uniform darstellte.«46 »Um die Natur, das ungebundene Leben, die Kameradschaft zu erleben, ging sie [= die Arbeiterjugend] auf Fahrt […], aber sie hatte weder Zelt noch Schlafsack; wenn es hoch kam, Zeltplane und eine verfilzte Decke, und oft nur ein Säckchen Haferflocken als Wegzehrung und Tagesration im Brotbeutel. Jugendherbergen und Landheime gab es damals nur wenige, jedoch unterm Sternenhimmel zu kampieren, war ein schönes, unvergessliches Abenteuer.«47
W.G.O.s eigene »Schulkarriere« zeigt deutlich, von welchem rebellischem Geiste dieser Nachkriegs-Jugendliche beseelt war : Er war im Frühjahr 1919 »ein aufsässiger, das zweite Jahr (!) die Quarta absolvierender Realschüler [der JahnRealschule in der Berliner Diestelmeyerstraße], der mit seinen antimilitaristischen und sozialrevolutionären Aufsätzen die Lehrer zur Verzweiflung brachte […]. […] als eben dieser miserable Quartaner las ich Gustav Landauers hinreißendes Buch ›Aufruf zum Sozialismus‹ (1911) und seinen Novellenband ›Macht und Mächte‹ vom Jahre 1903; die Erstausgabe besitze ich heute noch […] Nachdem ich wegen mangelhafter Leistungen und des organisierten Vertriebs ›unzüchtiger Photographien‹, deren Objekte man in den Antikensammlungen aller Museen der Welt ansichtig werden kann, der Schule verwiesen wurde, begann ich am 1. April 1919 eine Lehrzeit als Schriftsetzer in der wohlrenommierten Buchdruckerei H. S. Hermann & Co. in der Beuthstraße 8, nahe dem Berliner Spittelmarkt. Die Odyssee meiner Lehrzeit und deren vertrackte Ursachen – von H. S. Hermann über die Druckerei des Rauhen Hauses (Wichern-Stiftung), Hamburg, zur Vorwärts-Buchdruckerei und Verlagsanstalt Paul Singer & Co. – kann ich hier nicht erzählen. Bemerkenswert ist vielleicht nur noch die sehr eindeutige 46 Oschilewski: Durchbruch (Anm. 1), S. 374. 47 Ebd., S. 349. In dieses jugendbewegte Gemeinschaftsleben gibt ein kleiner Bericht Karl Richters Einblick: Sie seien am Wochenende »ins Jrüne« bei Berlin gefahren: »Wandernd und musizierend waren wir durch die sandigen, märkischen, von Sonne durchfluteten Kiefernwälder gezogen, und wir hatten in den zahllosen verträumten Seen, während sich die grünen Schilfgürtel im Winde wiegten, manch’ erfrischendes Bad genommen«: Karl Richter : Auf Schusters Rappen. Mein Wanderjahr – Anno 1923, Berlin 1990, S. 10.
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Beurteilung meines Klassenlehrers Wilhelm Schmidt von der III. Pflichtfortbildungsschule für Jünglinge zu Berlin, Klasse S 67 für Schriftsetzer. Angelegentlich eines Stegreifreferats von mir über ›Sozialismus, Kommunismus, Anarchismus‹ […] sagte er mir : ›Oschilewski, […], sie sind kein Kirchenlicht.‹«48
W.G.O. sah den historischen Kontext seiner Jugendrebellion im Rückblick sehr wohl: »Damals, in wirrer, chaotischer Zeit, kurz nach dem ersten Weltkrieg, als alle glaubten – die Künstler, die Baumeister, die Jugendbewegten, die Apostel der abstrusesten Heilslehren –, ein neues Zeitalter wäre angebrochen, war ich gerade 16 Jahre alt. Ein Schriftsetzerlehrling in der Berliner Vorwärts-Buchdruckerei von Paul Singer & Co. in der Lindenstraße 3, der mit den ersten selbstgemachten Versen und Glossen die Welt aus den Angeln heben wollte. Langhaarig und kurzbehost, mit prachtvollen Barockwaden, an denen meine spätere Lebensgefährtin sosehr Gefallen fand […] Der literarisch infizierte Wandervogel, der sich gerade vom Anarchisten zum Jungsozialisten gehäutet hatte […]«.49
Während seiner vierjährigen Schriftsetzerlehrzeit, die er erst 1923 »nach mehreren Ausbruchsversuchen« zu Ende brachte,50 nahm er »jahrelang an Lehrgängen der Arbeiterbildungsschule und der Berliner Volkshochschule teil«.51 Zudem hatte »der Schriftsetzerlehrling W.G.O. auf seinem täglichen, [jeweils] fast einstündigen Hinund Rückmarsch zur Arbeitsstätte vom Strausberger Platz bis zur Lindenstraße Zeit genug […], über die Geistesknäuel nachzudenken […]«52 »Von der Jugendbewegung aufgerührt, las ich mich durch die üppigen Gärten des Weltgeistes. Zunächst stand ich im Banne des klassischen Anarchismus und Individualismus, der fernöstlichen Weisheit, aber auch Nietzsche, Schopenhauer, Kurt Hiller war ich zugetan. Da ich ohne Vorbildung vieles im Dschungel der Erkenntnisse und Begriffe nicht recht verdaute, war trotz eines unbändigen Willens, den Dingen auf den Grund zu kommen, mein Weltbild reichlich chaotisch. Das ist nachweisbar, da ich als Sechzehnjähriger auch zu
48 W. G. Oschilewski: Grand old man der Volksbühne. Weggefährte Siegfried Nestriepke, in: Oschilewski: Lebensspuren (Anm. 24), S. 42–52, hier S. 42f. Am 25. 05. 1919 hörte W.G.O. die Gedächtnisrede von Julius Bab für den in München erschlagenen Gustav Landauer in der Berliner Volksbühne am Bülowplatz: ebd., S. 42. 49 W. G. Oschilewski: Über den Tag hinaus. Warum uns Kurt Tucholsky fehlt, in: Lebensspuren (Anm. 24), S. 53–59, hier S. 53. W.G.O. hatte 1921 beim Bielefelder Reichsjugendtag die Gelegenheit, die »Inflationsheiligen« Max Schulze-Sölde und Karl Strünkmann mitsamt ihrem »christ-revolutionären« Anhang persönlich kennen zu lernen: siehe Osterroth: Die Zeit (Anm. 9), S. 53. 50 Seebacher-Brandt: Zum Tode (Anm. 14), S. 27. 51 Oschilewski: Lebenslauf (Anm. 18), S. 13. 52 Oschilewski: Tag (Anm. 49), S. 55.
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schreiben begann – ich bin noch heute verblüfft darüber, dass man das krause Zeug, das ich mir von der Seele schrieb, hier und dort auch druckte.«53
Anarchistische Jugend-Rebellion 1921–1922 W.G.O.s erste eigene Veröffentlichungen erschienen unter anderem 1921 in Ernst Friedrichs junganarchistischem Organ »Freie Jugend. Organ der Föderation der revolutionären Jugend deutscher Sprache«. W.G.O. war 1920 Mitglied des Vereins »Arbeiterjugend Groß-Berlins« in der »Sozialistischen Arbeiterjugend« geworden, »die sich nach dem denkwürdigen ersten Reichsjugendtag in Weimar 1920 vom Jugendpflegeverein zur autonomen Jugendbewegung gemausert hatte. Trotz und wegen des ›neuen Aufbruchs‹ gärte es in mir, und ich strebte nach neuen Verantwortungen und Zielen.«54 Worin diese bestanden, mag W. G.O.s Satz erklären: »In der Antikriegsbewegung standen Ernst Friedrich und wir als damalige junge Anarchisten in erster Reihe.« Sechzehneinhalbjährig sei er, damals Schriftsetzerlehrling beim Berliner »Vorwärts«, im Frühjahr 1921 auf den zehn Jahre älteren Ernst Friedrich gestoßen, genauer auf dessen Leseabende antimilitaristischer und revolutionärer Literatur : »Ich sehe noch heute die aufrüttelnden Ankündigungsplakate vor mir : ›Ernst Friedrich spricht‹.«55 Er habe ihn so zunächst als »ekstatischen Rezitator« wahrgenommen, der ihm durch seine Lesungen die Klassiker des revolutionären Antimilitarismus nahe brachte: »Friedrich Wilhelm Forster, Magnus Schwandtje, Hans Paasche hatte ich schon gelesen, aber nun kamen neben Henri Barbusse, Leonhard Frank, Andreas Latzko, Bertha von Suttner, Romain Rolland noch Proudhon, Bakunin, Elis¦e Reclus, Tolstoi, Peter Kropotkin, Gustav Landauer, Max Nettlau, Rudolf Rocker, Robert Bek-Gran und Theodor Plivier hinzu.«56 Dessen Manifest »Anarchie«57 »hatte es mir in seiner urreligiösen, auf den entschiedenen Individualismus hinzielenden Ekstatik besonders angetan«.58 53 Oschilewski: Erinnerungen (Anm. 44), S. 16. Nach Zeittafel (Anm. 19), o. S., erschienen seine ersten Beiträge 1921 im »Vorwärts«, Berlin, und in »Die Gleichheit«, Berlin. 54 W. G. Oschilewski: Freigeist und Friedenskämpfer, in: Berliner Stimme Nr. 34/17 v. 26. 08. 1967, wieder abgedruckt in: Ulrich Linse: Ernst Friedrich zum 10. Todestag, in: Europäische Ideen, 1977, Nr. 29, S. 17–19, hier S. 17. 55 Vgl. auch W. G. Oschilewski: Sonnenwende, in: Freie Jugend, 1921, 3. Jg., Heft 29/30, zit. nach Ulrich Linse: Anarchistische Jugendbewegung 1918–1933, Frankfurt a. M. 1977 (Quellen und Beiträge zur Geschichte der Jugendbewegung 18), S. 184–186. Dieser Artikel bekommt einen Bekenntnischarakter auch dadurch, dass die brennende Flamme der Sonnwendfeier das Logo der Rezitationsauftritte von Ernst Friedrich war : »Ernst Friedrich spricht«: siehe Abb. in Linse: Ernst Friedrich (Anm. 54), S. 83. 56 Oschilewski: Freigeist (Anm. 54), S. 17. 57 Erschienen in Weimar im Oktober 1919, eine Flugschrift im Kleinoktav-Format. 58 Oschilewski: Freigeist (Anm. 54), S. 17.
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Friedrich, so W.G.O. später, »war und blieb ein individualistischer Einzelkämpfer, von faszinierender Beredsamkeit, ein künstlerisch begabter, politisch irrealer ›Phantast‹. Er war aber auch ein dynamischer Praktiker, der als Verleger, Autor, Rezitator (›Ernst Friedrich spricht‹) und durch verschiedene von ihm initiierte Unternehmungen (Verlag, Buchhandlung, Wohnkommunen, libertäre Kinderarbeit, Arbeiter-Kunst-Ausstellungen) und durch sein ›Internationales Anti-Kriegs-Museum‹ in der Jugendbewegung und in der breiten Öffentlichkeit von sich reden machte«.59
In einem emphatischen Artikel »Bruder! Genosse!« bekannte sich 1921 W.G.O. in der »Freien Jugend« zu Friedrichs revolutionärem Junganarchismus.60 Er unterstützte ihn auch »beim Aufbau der »Ersten deutschen ArbeiterkunstAusstellung« und des »Anti-Kriegs-Museums«. »Die Begegnung mit Ernst Friedrich hat meine Jugendentwicklung wesentlich mitbestimmt. Ich half ihm bei der Herausgabe der Zeitschrift ›Freie Jugend‹ (in einigen wenigen Nummern stand ich auch im Impressum als ›Vertriebsmann‹, aber mir oblag als Schriftsetzerlehrling, der ich war, auch der Verkehr mit dem Drucker.«61 Mein »Weltbild war zweifellos radikal, verbohrt-konsequent und ziemlich chaotisch.// Aber mein Anarchismus war eigentlich nur ein hemmungsloser Individualismus, der nach unbeschränkter Freiheit des Einzelmenschen verlangte, vor allem gegen gesetzliche und persönliche Autoritäten gerichtet war, was sich aber nur geistig demonstrierte, denn sonst, so glaube ich, bin ich schon damals ein einigermaßen verträglicher, in der Gemeinschaft behauster Mensch gewesen.«62
Zu diesem Gemeinschaftserlebnis gehörten nicht zuletzt auch die Wanderfahrten mit Friedrich und seinem Kreis in die Berliner Umgebung (siehe Abb. 26). Es ist ferner anzunehmen, dass nicht nur die antiautoritäre und individualanarchistische Geste Friedrichs und die Tatsache, dass die von diesem gegründete Jugendorganisation keine Untergruppierung einer Partei- oder Gewerkschaftsorganisation war, den sechzehnjährigen W.G.O. anzog, sondern eben auch – in Reaktion auf den vorausgehenden Ersten Weltkrieg – dessen antimilitaristische und antistaatliche Ausrichtung: »Ich will mich nicht unterordnen einer Gesellschaft, und möge sie sich Volksstaat oder Monarchie nen-
59 Oschilewski: Durchbruch (Anm. 1), S. 355. 60 W. G. Oschilewski: Bruder! Genosse!, in: Freie Jugend v. September 1921, wieder abgedruckt in: Nekrologe 2 (Anm. 14), S. 26f. 61 Brief W.G.O.s an den Verfasser v. 13. 05. 1974. Der Untertitel der »Freien Jugend. Organ der Föderation der jungen Anarchisten deutscher Sprache« habe von ihm gestammt: Brief W.G.O.s an Herbert Wehner v. 11. 03. 1968, in: In memoriam (Anm. 11), S. 21. Vgl. auch Brief von Ernst Friedrich an W.G.O. v. 24. 01. 1954, Faksimile in: In memoriam (Anm. 11), S. 123f. 62 W. G. Oschilewski: Pädagogische Republik der Jungen. Bei und mit Eduard Weitsch in Dreißigacker, in: Oschilewski: Lebensspuren (Anm. 24), S. 7–11, hier S. 8f.
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Abb. 26: Nach der Sommersonnwende der Anarchistischen Jugend in den Gosener Bergen 1921 oder 1922; soweit kenntlich von links nach rechts: sitzend Frau Friedrich, W. G. Oschilewski, Ernst Friedrich, liegend u. a. der Dramatiker Arnold Bronnen und der damalige Gymnasiast Carl Werckshagen.
nen.// Aber meine Freiheit, in der ich leben will, soll geboren werden aus meinem inneren Menschen heraus.«63 Spätestens 1923 brach W.G.O. mit dem antimilitaristischen Anarchismus. Ein militanter nationaler Sozialismus bestimmte nun sein Denken.
In der »Experimentiersozietas« der Volkshochschule Dreißigacker 1923 Im Mai 1923, nach Abschluss seiner Lehrjahre als Schriftsetzer, ging W.G.O. zusammen mit seinem Berufs- und Wanderfreund Karl Richter, dem späteren langjährigen Berliner Landesvorsitzenden der Industriegewerkschaft Druck und Papier im DGB, auf die Handwerker-»Walz«.64 Dieses proletarische Pendant 63 Oschilewski: Bruder (Anm. 60), S. 26f. 64 W.G.O. hat diesen Brauch in seinem Büchlein »Der Buchdrucker. Brauch und Gewohnheit in
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zur bürgerlich-jugendbewegten »Großen Fahrt« – führte sie sogar wie die Wandervögel in den Böhmerwald (siehe Abb. 27). Hintergrund des Unternehmens war die Arbeitslosigkeit während der Inflationskrise 1923. Denn Richter schreibt, von ihrer Berliner Arbeiterjugendgruppe seien damals im Frühjahr 1923 einundzwanzig Burschen, die den verschiedensten Berufen angehörten, auf Wanderschaft gegangen.65 Man habe verabredet, sich zum Verfassungstag am 11. August 1923 auf dem Reichsjugendtag der Arbeiterjugend in Nürnberg wieder zu treffen.66 Sie wollten damit wohl ganz im jungsozialistischen Sinne ein Bekenntnis zu Volk und Staat ablegen. Richter schrieb zum Abschluss dieser durch Deutschland, Österreich und die Tschechoslowakei führenden Fahrt: »Unser Wandern war Freiheit, Blick in die blaue Ferne. Wir wollten die Welt erfahren, das Wissen erweitern. Nun fühlten wir in uns die Verpflichtung, wieder mitzuwirken und Mitverantwortung zu übernehmen. Das war eine notwendige
alter und neuer Zeit« beschrieben (1. Aufl. bei Eugen Diederichs, Jena 1935; neue erweit. und verbess. Aufl. Berlin-Grunewald 1955, 3. Aufl. Itzehoe 1988, 2. Aufl. S. 62–69). Den ausführlichen Erinnerungsbericht über diese Wanderfahrt hat Karl Richter verfasst: Auf Schusters Rappen (Anm. 47). Von W.G.O. gibt es darüber ein expressionistisches Gedicht »Gesang der Jungen in den Böhmischen Wäldern« (»Geschrieben 1924 [recte: 1923] ›auf der Walz’ (durch Böhmen)« schrieb W.G.O. handschriftlich über eine Kopie an den Verf.), erstmals abgedruckt in der Anthologie »Jüngere Arbeiterdichtung«, ausgewählt von Karl Bröger, Berlin 1929, 2. erweit. Aufl., dann in W. G. Oschilewski: Sturz in die Äcker. Gedichte, Berlin 1931, S. 55. Ferner gibt es von ihm ein paar Zeitungsartikel über diese Fahrt: W. G. Oschilewski: Hannes, Willi und ich, in: Metallarbeiter-Jugend v. 27. 08. 1927; ders.: Der Bebel der Landstraße, in: Rheinische Zeitung (Köln) v. 20. 05. 1928; Walther Gosch [= W.G.O.]: Hottehüh, auf Schusters Rappen, in: Fränkische Tagespost, Nürnberg, v. 24. 12. 1928; W. G. Oschilewski: Auf Schusters Rappen. Wir Jungen von einst – Karl Richter gewidmet, in: Berliner Zeitung Nr. 28 v. 1974. 65 Finanziell war für Richter und W.G.O. (seit 1920 Mitglied im »Verband der Deutschen Buchdrucker«) die Sache dadurch abgefedert, dass sie auf dem Berliner Verbandsbüro ihr Mitgliedsbuch gegen das Quittungsbuch für die Wanderschaft eingetauscht hatten, in welches dann die Zahlstellen die jeweils an sie gezahlte Reiseunterstützung eintrugen. Da zudem Gegenseitigkeitsverträge mit allen europäischen Brudergewerkschaften bestanden, konnten sie auch im Ausland mit Reisegeld rechnen. Richter : Rappen (Anm. 47), S. 16: »Auf Grund der vielen Vergünstigungen, die wir hatten, nannten uns die anderen Tippelbrüder auch ›Aristokraten der Landstraße‹. Wir brauchten bei einfacher Lebensführung nicht ›Fechten‹ zu gehen, und die Gendarmen sahen uns, weil wir Reiseunterstützung erhielten, nicht als Landstreicher an.« Sie besaßen ferner den Jugendherbergsausweis als Zugang zu einer günstigen Übernachtungsgelegenheit. Dort, wo es keine Jugendherberge gab, boten sich andere Alternativen: »Wirtshäuser, Hütten, Pferdeställe, Heuschober und wenn es da nicht klappte, so war bestimmt Verlass auf Mutter Grün. Wenn sich aber dort die Wärme des Tages verflüchtigt hatte, lagen wir fröstelnd in unserer Zeltbahn, schauten in den dämmrigen Morgen und warteten darauf, dass das Morgenrot den dunklen Wald erhellte« (ebd., 24f.). Als Ausrüstung hätten sie sich billige Wehrmachtstornister erstanden, in der neben der Zeltbahn auch die Landkarte und die Reiselektüre steckten (darunter Walt Whitmans »Grashalme« und Hölderlins »Hyperion«) (ebd., S. 10f). 66 Richter : Rappen (Anm. 47), S. 10.
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Entscheidung angesichts der politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Verhältnisse in unserem von Krisen erschütterten Land.«67
Abb. 27: Auf der Walz bei Wien 1923; links Karl Richter, rechts W. G. Oschilewski. Das Foto war von einem Wandervogel bei Tulln aufgenommen worden.
Das galt aber in diesem Maße nicht für W.G.O., der sich – wohl weil er sich über seine berufliche Perspektive noch nicht klar war68 – eine weitere Auszeit 67 Ebd., S. 25. 68 »[Ich war] damals noch ein junger Arbeiter, der das typographische Handwerk von Grund auf erlernt und den Kopf voller literarischer und philosophischer Rosinen hatte«: Oschilewski: Willen (Anm. 43), S. 19. Heiner Lotze hat 1930 den Gesichtspunkt der Veränderung der Lebensperspektive des einzelnen Kursteilnehmers durch Dreißigacker angesprochen (Heiner Lotze: Die ehemaligen Schüler von Dreißigacker, in: Ilse Theiß, Heiner Lotze (Hg.): Dreißigacker. Volkshochschule / Erwachsenenbildung, Jena 1930, S. 29–34):«Durch alle zehn Jahre hindurch ist wohl keine Fragen von Freunden, Bekannten und Gegnern des Volkshochschulheimes so oft aufgeworfen worden wie diese: Was wird aus den Schülern Dreißigackers nach der Beendigung der Kurse? Kehren sie in ihren Beruf zurück oder nicht? Wirken sie aktiver an den gesellschaftlichen Aufgaben mit oder sind sie Eigenbrötler geworden? Haben sie etwas vom Heimbesuch ›gehabt‹ oder verläuft ihr Leben in den gleichen Bahnen wir vorher? Ist ihre Weltanschauung, ihre politische Überzeugung eine andere geworden, und wenn ja, welche?, oder ist die die gleiche geblieben usf.« (ebd., S. 29). Die wichtigste Teilfrage, so Lotze weiter, sei die nach der Rückkehr in den Beruf: »Neigt nicht, so fragt man, ein junger Angestellter oder Arbeiter, der mehrere Monate geistig arbeiten konnte, zu einer Unterschätzung seiner bisherigen Tätigkeit. Ist nicht Sehnsucht nach
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gönnte und sich im Hochsommer 1923, gerade 19 Jahre alt, in den viereinhalb Monate dauernden 7. Männer-Kurs an der Heimvolkshochschule Dreißigacker bei Meiningen69 einschrieb. »Ich hatte keine Vorstellung davon, was mich erwartete – allein der Umstand, daß sich hier junge Menschen aus allen Berufen, Konfessionen und politischen Parteirichtungen zusammenfanden, um sich über sich selbst, über die Probleme ihrer Zeit und über ihre Aufgabe in der Gesellschaft klar zu werden, hatte es mir angetan. Ich entschloß mich für Dreißigacker, weil ich gegen sich in ähnlicher Weise anbietende, aber parteipolitisch einhellig ausgerichtete Lebens- und Arbeitsstätten einen gewissen Rochus hatte.«70 Heiner Lotze, der von Friedrich Muck-Lambertys »Neuer Schar« herkommend 1921/22 den Weg nach Dreißigacker gefunden hatte, sah die freie Volkshochschule aufgrund ihrer weltanschaulichen Neutralität, ihrem ganzheitlichen Bildungsziel und ihrer die geistige Eigentätigkeit fördernden Lehrmethode als »natürlichen Verbündeten der Jugendbewegung«.71 In Dreißigacker war W.G.O. jedenfalls immer noch der aufbegehrende Antiautoritäre. Der Gründer und Leiter der Heimvolkshochschule Eduard Weitsch erinnerte sich später an ihn vor allem wegen seiner anarchistischen Renitenz, weil ich, schreibt W.G.O., »wenn ich inmitten mancher Irrungen und Wirrungen des Hausparlaments der Heimleitung irgendwie etwas am Zeuge flicken wollte, ebenso boshaft wie konstant’ von der ›Geheimleitung‹ gesprochen hätte«.72 Im Rückblick sah W.G.O. die Bedeutung des Aufenthaltes äußerst positiv :
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geistiger Beschäftigung, ja vielleicht ein ›Bildungsfimmel‹ das Ergebnis des Kurses?« (ebd., S. 30) Lotzes Antwort: 80–85 % aller Schüler würden in ihr altes Arbeitsgebiet zurückkehren, 20 Prozent oder 5 von 30 Schülern jedes Kurses wechselten dagegen ihren Beruf (ebd., S. 30f.). Eduard Weitsch, der Leiter von Dreißigacker, betonte im Rückblick, es sei nicht seine Absicht gewesen, dass Dreißigacker »zum Sprungbrett für irgend welchen Aufstieg werden [sollte]. Unser eigentliches Ziel war, die Schüler wieder in den alten Beruf zurückzuführen, wo sie geistig eines Hauptes länger als alles Volk umher, einen festen Punkt in ihrer nächsten Umgebung darstellen sollten […]« (Eduard Weitsch: Dreißigacker – die Schule ohne Katheder, Hamburg 1952, S. 152). W.G.O., obwohl er den Berufswechsel vom Schriftsetzer zum Schriftsteller anstrebte und dann in Dreißigacker zum Entschluss kam, »dem Geiste zu dienen«, meint: »Im Unterschied zu manchen meiner damaligen Mitschüler wollte ich […] nichts werden. Ich hatte keinen Drang nach einer höheren Sprosse auf der sozialen Stufenleiter« (Oschilewski: Republik (Anm. 62), S. 10f. Vgl. Josef Olbrich: Konzeption und Methodik der Erwachsenenbildung bei Eduard Weitsch, Stuttgart 1972; Paul Ciupke, Franz-Josef Jelich (Hg.): Experimentiersozietas Dreißigacker, Essen 1997. Oschilewski: Republik (Anm. 62), S. 9f. Siehe auch W.G.O.s Brief an Eduard Weitsch v. 22. 05. 1953, in: In memoriam (Anm. 11), S. 17f. und W. G. Oschilewski: Vor, in und nach Dreißigacker. »Bekenntnisse« eines ehemaligen Dreißigacker-Schülers, in: Volkshochschule im Westen, 1957, 9. Heft, S. 101f. Heiner Lotze: Die geistige Lage der Jugendbewegung und die Volkshochschule, Frankfurt a. M. 1928., S. 30f. Oschilewski: Republik (Anm. 62), S. 8 mit Bezug auf Weitsch: Dreißigacker (Anm. 68), S. 81. Weitsch selbst erklärte ebd. diese Art von Kritik damit, dass das Hausparlament, wenn es
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»So glaube ich auch heute noch, daß ich für Dreißigacker von vornherein prädestiniert war, was mich nicht hinderte, manchen Begleiterscheinungen des Gemeinschaftslebens kritisch gegenüber zu stehen.// […] lebensentscheidend war für mich, den damals zwischen geistigem Größenwahn und exhibitionistischer Selbstkritik hin- und herschwankenden Jüngling, auf das Probierfeld demokratischen Verhaltens gelangt zu sein. Dreißigacker war zweifellos das leider einmalig gebliebene Beispiel eines Gruppensozialismus, der uns lehrte, dass das Gedeihen der Gemeinschaft von der Selbstzucht und der verantwortlichen Freiheit des Individuums abhängt. Und ich bekenne gern, dass mir die Dreißigacker Experimentiersozietas davon mehr beigebracht haben [sic] als alle späteren mitbürgerlichen Tätigkeiten in Organisationen und Parlamenten.«73
Jungsozialistischer nationaler Sozialismus 1923–1926 Spätestens in Dreißigacker wurde aus dem anarchistischen Staatsfeind ein staatsbejahender Nationalist. W.G.O. machte – zusammen mit dem sogenannten »Hofgeismar«-Flügel der Jungsozialisten und deren Mentor Karl Bröger – eine erstaunliche politische Wandlung zum militaristischen Staatssozialisten durch. »Meine radikale Staatsverneinung ist dann […] durch die nahe Tuchfühlung mit dem Hofgeismarkreis der Jungsozialisten (Karl Bröger, Franz Osterroth, August Rathmann, Benedikt Obermayr, Fritz Steinhoff, Robert Keller, Heinrich Deist, Otto Bach, Werner Jakobi) in eine übertriebene Verherrlichung des Staates umgeschlagen. Das Kind wurde mit dem Bade ausgeschüttet.«74 W.G.O., der wohl selbst auf der Hofgeismarer Tagung der Jungsozialisten an Ostern 1923 nicht anwesend war, schrieb über das Hofgeismar-Erlebnis in seiner ersten Geschichte der Jugendbewegung 1930: »War [der Arbeiterjugendtag von] Weimar ein Erwachen aus dem Gleichmaß einer auch dem proletarischen Menschen nicht fern gebliebenen Kleinbürgerlichkeit, so wurde Hofgeismar der einer durch den [französischen] Ruhreinfall im Ursprung verursachten vaterländischen Erregung junger Sozialisten.« Sie hätten dort tief »die Zugehörigkeit
entscheidungsunfähig war, ja nur auf sich selbst als Sündenbock verwiesen war, aber manche dann unterstellten, »die Pleite des Parlaments sei recht eigentlich den Lehrern willkommen, um sie in eine bequeme Möglichkeit zu versetzen, ihre eigenen Absichten durchzuführen«. 73 Oschilewski: Republik (Anm. 62), S. 9f. Der Ausdruck »Experimentiersozietas« bei Weitsch: Dreißigacker (Anm. 68), S. 166. Ebd.: »Gerade die größere Verworrenheit und Unübersichtlichkeit unseres sozialen Tuns und Unterlassens und ihre Folgen nötigen dazu, diesem Gemeinschaftsleben neben dem Unterricht seinen gebührenden Platz zu sichern und ihn zu erweitern. Es ist für den jungen Menschen von außerordentlicher Wichtigkeit und sozial bildendem Werte, wenn er einmal in einer Sozietas steht und sich in ihr bewähren muss.« 74 Oschilewski: Republik (Anm. 62), S. 9.
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zu Volk und Staat« empfunden und Franz Osterroth seine Rede am Osterfeuer mit dem Ruf geschlossen: »Es lebe Deutschland!«75 Bis 1923 war nach Franz Osterroth eine »ausgesprochene politische Leidenschaft« bei den Jungsozialisten kaum bemerkbar, galt ihr Hauptinteresse doch der »Kulturfrage«; erst mit dem nationalen Erlebnis des Ruhrkampfes hätten sie sich unaufhaltsam politisiert.76 Die Hofgeismarer propagierten nun den Gedanken der »Volksgemeinschaft« und den »nationalen Charakter der Arbeiterbewegung« und wandten sich gegen den marxistischen Internationalismus und die marxistische Lehre vom Absterben des Staates und setzten sich für einen Sozialismus im nationalen Rahmen auf der Grundlage eines starken Staates ein.77 Dies war wohl auch W.G.O.s Position, als er die vor allem vom »Freideutschen Bund« ausgerichtete Meißner-Tagung von 1923 besuchte, auf der eine starke Gruppe kommunistischer Freideutscher gegen das »Volksgemeinschafts«-Modell auftrat.78 W.G.O. dagegen betonte in seiner ersten Jugendbewegungs-Darstellung 1930 einen anderen Aspekt: Die Hofgeismarer hätten ein »republikanisches Staatsund Nationalbewusstsein« gefordert im Sinne einer staatsbewussten Neuorientierung des Sozialismus mit dem Ziel der Übernahme des deutschen Staates durch die Arbeiterschaft und der durch diese sozialistische Staatseroberung mögliche Verwirklichung des »Volksstaats«.79 Auch der Hofgeismarer Karl Bröger propagierte ab 1923 in den »Jungsozialistischen Blättern« den Gedanken der »Volksgemeinschaft« und des »nationalen Charakters der Arbeiterbewegung«.80 W.G.O. schrieb in einer späteren Würdigung Brögers: »Sein Leben und Wirken ist ein symbolhaftes Beispiel für den Aufstieg des Arbeiters aus Dumpfheit und Geistesenge.« W.G.O. meinte damit »[…] jenes werktätige Deutschland, dessen Aufstieg aus politischer Unmündigkeit im wilhelminischen Reich zum eigenhändigen und selbstbewussten Glied der Nation er wie kein anderer Dichter seiner Zeit gefördert hat und dem er in vielen Schriften ein 75 Oschilewski: Aufbruch (Anm. 31), Nr. 11 v. 15. 03. 1930, S. 88. 76 Osterroth: Entwicklung (Anm. 12), S. 311. Vgl. Walter Hammer (Hg.): Die Politik der jungen Generation, Werther bei Bielefeld [1922 oder 1924], darin auch ein Kapitel über die Jungsozialisten. 77 Lepinski: Bewegung (Anm. 3), S. 24 78 Siehe A[ugust] Messer : Die freideutsche Jugendbewegung. Ihr Verlauf von 1913 bis 1923, 5. erweit. Aufl. Langensalza 1924, S. 132–175; Werner Kindt (Hg.): Die deutsche Jugendbewegung 1920 bis 1933. Die bündische Zeit, Köln 1974, S. 272–285. W.G.O.s Teilnahme wird dokumentiert durch ein Foto, das ihn als Zuhörer bei einer Rede des damaligen Kommunisten Karl August Wittfogel zeigt: Oschilewski: Mittels Tun (Anm. 9), o. S. W.G.O. kam wohl Eugen Diederichs’ Bitte, einen Bericht über die Tagung zu schreiben (Brief von Eugen Diederichs an W.G.O. v. 14. 09. 1923, in: In memoriam (Anm. 11), S. 24), nicht nach. 79 Oschilewski: Aufbruch (Anm. 31), Nr. 11 v. 15. 03. 1930, S. 88. 80 Lepinski: Bewegung (Anm. 3), S. 24.
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beredter Anwalt seines Lebensanspruchs und seines Kulturwillens gewesen ist. […] Im Hintergrund all seiner Pläne stand Deutschland, das Deutschland der Arbeit, der Menschenwürde, der selbsterkämpften Freiheit und Gleichberechtigung in der europäischen Völkerfamilie.«81
Unter dem Einfluss der Hofgeismarer nationalen Ausrichtung der Jungsozialisten (Osterroth sprach später vom »Ruhrkampf als politisches Erlebnis«)82 verfasste W.G.O. »unter den rauschenden Kastanien Dreißigackers« das Gedicht »Volk« und schickte es an Eugen Diederichs, der es in seiner Monatsschrift »Die Tat. Monatsschrift für die Zukunft deutscher Kultur« an prominenter Stelle abdruckte, versehen mit dem Zusatz: »Der Verfasser ist ein junger Arbeiter«:83 »Volk Volk, wieder brennen die weiten Felder/ Und nah ist der ewige Mittag,/ Der Sonne wild um deine Schläfen schlägt./ Wie groß und gewaltig wächst der Choral! // Volk, die große Not!/ Die tausend Fahnen deiner Sehnsucht flattern./ Wir wissen doch, daß Willen aus uns eine Kraft gebärt,/ Die aufsteht wie ein neuer Mensch.// War eines Schicksals übermächtger Spruch/ Auch jener schwere Kampf,/ Der deinen Wunsch veratmen ließ – / So wieder gläubiges Gebet:/ Der Schollen Bruch, der Hunger deiner Pflüge,/ Das Land geöffnet für die neue Saat.// Volk, Volk, noch weht ein Flammenring um deine Leiber ;/ Die Ahnung und der Wille deiner Söhne, Töchter und der vielen Brüder schon,/ Lässt die Musiken einer hellen Zukunft uns erhören.// Du Volk: wieder die große Fahne!/ Hand in Hand gestürzt [gestützt? U.L.]:/ Schützer der weiten Landschaften deiner Seele.// Volk blüh!// Am 28. August 1923.«
Es war also ein völkisches, ein nationales Widerstands-Gedicht als Reaktion auf den französischen Einmarsch in der Ruhr. Wenn auch expressionistisch verfremdet,84 war doch die Botschaft ebenso verständlich wie in Karl Brögers 81 W. G. Oschilewski: Über Karl Bröger (Veröffentlichungen der Stadtbibliothek Nürnberg 3), Berlin 1961, S. 5 und 10. Siehe auch W. G. Oschilewski: Nichts kann uns rauben … Karl Brögers Weg durch die Zeit, in: Oschilewski: Lebensspuren (Anm. 24), S. 65–73. 82 Osterroth: Hofgeismarkreis (Anm. 7), S. 534f. 83 Es erschien auf der ersten Seite der Dezember-Nr. = »Literarischen Weihnachtsnummer« 1923 von Die Tat, 15, Heft 9, Dezember 1923, S. 641. Dazu Brief Eugen Diederichs an W.G.O. vom 14. 09. 1923, in: In memoriam (Anm. 11), S. 24. 84 W.G.O.s Lyrik stand damals besonders unter dem Einfluss von Kurt Heynicke und seines 1917 in Herwarth Waldens Berliner Sturm-Verlag erschienenen expressionistischen Gedichtbandes »Rings fallen Sterne«. Vgl. besonders Brief von Kurt Heynicke an W.G.O. v. 16. 08. 1924, in: In memoriam (Anm. 11), S. 27 und W. G. Oschilewski: Erinnerungen an
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erstmals auf dem Hofgeismartag der Jungsozialisten vorgetragenen Gedichtzyklus »Deutschland« (dessen Schlussgedicht wiederum an Heinrich Lerschs »Soldatenabschied« von 1914 anknüpfte: »Deutschland muss leben, und wenn wir sterben müssen«). W.G.O. hat Brögers »Deutschland« (und damit indirekt sein eigenes Gedicht) auch noch 1961 verteidigt: »Aus einem festen und unbeirrbaren Glauben entstand in den leidvollen und wirren Tagen der Inflation und des Separatismus 1923 das Gedicht ›Deutschland‹ als ein bleibendes Gedächtnis.«85 Und er nannte in der gleichen Schrift Bröger seinen »Freund und Weggenossen durch 25 Jahre«, den die Nationalsozialisten zu Unrecht bei seinem Tod 1944 für sich zu vereinnahmen versucht hätten.86
In Ernst Niekischs national-bolschewistischem »Widerstands-Kreis« 1926 1925 wurde W.G.O. Mitglied der »Jungsozialistischen Vereinigung Groß-Berlin« und der SPD.87 In dem von Franz Osterroth herausgegebenen »Politischen Rundbrief« der Hofgeismarer veröffentlichte Ernst Niekisch (damals noch SPDMitglied) im April 1925 einen Aufsatz über »Grundfragen deutscher Außenpolitik« und stellte darin seine national- und sozialrevolutionäre Auffassung zur Diskussion (Wehrhaftmachung des deutschen Volkes mit allen Mitteln; Weg der deutschen Arbeiterschaft zum Staat), stieß damit aber bei der großen Mehrheit der Hofgeismarer auf entschiedene Ablehnung.88 Nur die »entschiedensten Teile«89 der Hofgeismarer Arbeitskreises scharten sich dann 1926 um Ernst Niekisch: Die überwiegende Ablehnung dieser Positionen durch den Reichsausschuss der Jungsozialisten im Januar 1926 habe dann einige Genossen bewogen, der jungsozialistischen Bewegung den Rücken zu kehren und zur Herausgabe einer neuen, von dem National-Bolschewisten Ernst Niekisch herausgegebenen Zeitschrift »Widerstand. Blätter für sozialistische und nationalrevolutionäre Politik«.90
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frühe Tage. Zum 90. Geburtstag von Kurt Heynicke, in: Europäische Ideen, 1981, Nr. 51, S. 16f. Oschilewski: Bröger (Anm. 81), S. 10. Ebd., S. 5 und 11. Bröger war einer der Mitbegründer des »Reichsbanners« und sein erster Gauführer in Franken; er wurde 1933 im KZ Dachau inhaftiert. Zeittafel (wie Anm. 19), o.S. Osterroth: Hofgeismarkreis (Anm. 7), S. 560. Lepinski: Bewegung (Anm. 3), S. 22. Lepinski: Bewegung (Anm. 3), S. 22. Osterroth: Hofgeismarkreis (Anm. 7) S. 562, spricht den um Niekisch gescharten Jungsozialisten das Recht ab, sich als Nachfolgegruppe der Hofgeismarer zu bezeichnen; ähnlich auch Lepinski: Bewegung (Anm. 3), S. 25: »Niekischs ›Widerstand‹ wird man wohl nicht zum jungsozialistischen Schrifttum im eigentlichen Sinne
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W.G.O. wurde Schriftleiter der ersten vier Ausgaben (Juli bis Oktober 1926) von Niekischs »Widerstand«, dessen Titel angeblich von ihm stammte.91 Er trat in den während seiner Zeit als Redakteur dort veröffentlichten Artikeln für die Verbindung von Arbeiterschaft und republikanischem Staat ein und sah es als historischen Auftrag der Arbeiterschaft, »diesen Staat in ein soziales (sozialistisches) Gebilde und in eine Machtrepräsentation der Werktätigen zu übersetzen«.92 Nur die Arbeiterschaft sei in der Lage, Bismarcks preußisch-deutschen Staat zu erhalten und als »Volksstaat« fortzusetzen.93 Das Erziehungsziel sei nicht mehr wie in der Jugendbewegung und in der Reformpädagogik der »Neue Mensch«, sondern »Erziehung zum Staat, Erziehung zur Wehrhaftigkeit«94 – für einen ehemaligen anarchistischen Antimilitaristen und leidenschaftlichen Individualisten waren das starke Worte! Ausdrücklich warf W.G.O., der inzwischen (von 1925/1926 bis 1927) an der Deutschen Hochschule für Politik (DHfP) in Berlin bei Theodor Heuss, Georg Cleinow, Adolf Grabowsky und Arnold Wolfers politische Wissenschaften als Gasthörer studierte und an der DhfP, zusammen mit dem völkisch-liberalen Frank Glatzel, auch die innerhalb des Lehrplans eingebauten Donnerstag-Ausspracheabende der Führer der verschiedenen Berliner Jugendverbände leitete,95 im »Widerstand« der DhfP vor, dass man dort »Politik als Wissenschaft« betreibe und nicht als »Erziehung zur Politik«, und das heiße eben: »Erziehung zum Staat, Erziehung zur Wehrhaftigkeit. Widerstand«.96 Doch bald kam es, wie einst bei Ernst Friedrich, zur Trennung des 22-jährigen W.G.O. von Niekisch: »Er hat mir das bis zu seinem Tode übelgenommen.«97 Als Begründung schrieb W.G.O. in der ersten Fassung seiner Geschichte der Jugendbewegung 1930: Eine Gruppe der Hofgeismarer Jungsozialisten habe sich
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zählen können.« W.G.O war jedenfalls bis 1927 Mitglied bei den Jungsozialisten: Zeittafel (Anm. 19), o. S. Als publizistischer »Abgesang« an den Jungsozialismus erschien ein von W.G.O. redigiertes »Sozialistisches Sonderheft« in Eugen Diederichs: Die Tat, 1927/28, 19. Bd., Heft 4 v. Juli 1927. Brief von W.G.O. an Herbert Wehner v. 11. 03. 1968, in: In memoriam (Anm. 11), S. 21. W. G. Oschilewski: Wehrhaftigkeit, Reichsbanner, bürgerlicher Pazifismus, in: Widerstand 2, August 1926, S. 15–17, hier S. 15f. Oschilewski, ebd., S. 16; ders.: Erziehung zur Politik, in: Widerstand 3/4, September/Oktober 1926, S. 35–38, hier S. 36. Er berief dabei auch auf Arthur Moeller van den Brucks »deutschen Sozialismus«. Oschilewski: Wehrhaftigkeit (Anm. 92), S. 16. Zeittafel (Anm. 19). o. S.; Oschilewski: Lebenslauf (Anm. 18), S. 13; er erwähnt dort auch, dass er 1925–1927 Hospitant an der Berliner Friedrich-Wilhelm-Universität im Fach Geschichte war. 1924 hatte W.G.O. bereits »bei dem jungen Privatdozenten der Pädagogik Dr. Wilhelm Flitner und bei dem [Klassischen] Archäologen Prof. [Herbert Guido] Koch an den Brüsten der Jenenser Magna mater gesogen«: Oschilewski: Statist (Anm. 41), S. 12f., dazu Brief von Peter Diederichs an W.G.O. v. 25. 11. 1974, in: In memoriam (Anm. 11), S. 113. Oschilewski: Erziehung (Anm. 93), S. 37f. Brief W. G. Oschilewski an Herbert Wehner v. 11. 3. 1968, in: In memoriam (Anm. 11), S. 21.
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»eine Zeitlang zu den nationalradikalen Formulierungen Ernst Niekischs [bekannt]. Nachdem aber der ›Widerstand‹, die Zeitschrift dieser Gruppe, durch Niekisch immer mehr der Wortführer einer verschwommenen nationalistischen Fata Morgana wurde, trennten sich fast alle ehemaligen Hofgeismarer dieses ›Widerstands‹-Kreises von Niekisch«.98 Die Zeit der extremen politischen Pendelausschläge war damit für W.G.O. ebenso wie zunächst für die Weimarer Republik insgesamt zu Ende. Seine literarische und journalistische Berufstätigkeit trat für ihn ab jetzt in den Vordergrund.99 Während letztere sich weitgehend auf das sozialistische Leser-Milieu beschränkte, konnte er durch seine literarische Verankerung im expressionistischen Verlagsambiente doch weit ins avantgardistisch-künstlerische Feld hinausgreifen.100
98 Oschilewski: Aufbruch (Anm. 31), Nr. 11 v. 15. 03. 1930, S. 88. Nach Osterroth: Hofgeismarkreis (Anm. 7), S. 562, trennte sich W.G.O. erst 1928 von Niekisch, weil dieser »nach und nach den Boden der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung verließ und man nicht von vom national betonten Sozialismus zum sozial betonten Nationalismus geraten wollte«. Im Geleitwort des »Sozialistischen Sonderheftes« der »Tat« (Anm. 90), S. 242, grüßte W.G.O. auch noch Niekisch als Gesinnungsgenossen. Eine Fortsetzung fand das »Widerstands«-Denken dann im »Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold«: »In seiner national betonten, militanten Treue zur demokratischen Republik von Weimar war das ›Reichsbanner‹ den ›Hofgeismarern‹ gesinnungs- und zielverwandt, die eigene Einreihung in seine Formationen daher selbstverständlich«: Osterroth: Hofgeismarkreis (Anm. 7), S. 566. 99 »Seit 1924 lebe ich als freier Schriftsteller in Berlin, daneben, ebenfalls in einem freien Verhältnis, als Verlagslektor, Gastdozent, Schriftleiter und Hauptschriftleiter verschiedener literarischer und politischer Zeitschriften und Zeitungen […] Von 1924 bis 1933 schrieb ich täglich für die gesamte sozialistische und freigewerkschaftliche Presse« (Oschilewski: Lebenslauf (Anm. 18), S. 13). Erst nach einer Lungenoperation und nach der Währungsreform zweifelte er, ob er sich und seine Familie weiter wie bisher als freier Mitarbeiter durchbringen könne und trat 1948 bis 1969 in den Dienst des Berliner SPD-nahen Blattes »Telegraf«: Seebacher-Brandt: Zum Tode (Anm. 14), S. 28. Der »Telegraf« musste 1972 im 27. Jg. sein Erscheinen einstellen. 100 Im Jahre1924 nahm der junge Dessauer Verleger Karl Rauch W.G.O.s Lyrik unter seine Fittiche, 1933–1934 war W.G.O. Redakteur des von Rauch hg. »Der Bücherwurm«; vgl. W. G. Oschilewski: Brief an einen Autor [= Karl Rauch], in: Oschilewski: Lebensspuren (Anm. 24), S. 95–97; ders.: Ein Leben für das Buch. Karl Rauch gestorben, in: Telegraf (Berlin) v. 18. 09. 1966. 1925 veröffentlichte der Sturmverlag Herwarth Waldens Verse von W.G.O. und er blieb diesem »noch eine zeitlang verbunden«: Oschilewski: Erinnerungen (Anm. 44), S. 17; siehe auch W. G. Oschilewski: Marc Chagall, Waldens »Sturm« und Berlin, in: Europäische Ideen, 1978, Nr. 40, S. 63–71. Von 1926–1933 war W.G.O. an einem der interessantesten literarischen Experimente der Weimarer Republik, an Victor Otto Stomps »Rabenpresse« und dessen neugegründeter Zeitschrift »Der Fischzug« als Autor, Redakteur und Setzer beteiligt; vgl. W. G. Oschilewski: Aus der Rabenpressezeit. V. O. Stomps und seine Leute, in: Oschilewski: Lebensspuren (Anm. 24), S. 25–29; dazu: Hendrik Liersch: Die fast vollständige Geschichte der Rabenpresse, Berlin 2007.
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Prägung durch die Jugendbewegung Nicht nur W.G.O. selbst, sondern auch seine politischen Freunde sahen ihn zutiefst geprägt durch die Arbeiterjugendbewegung: W.G.O.s Buchtitel »Auf den Flügeln der Freiheit« – mit literarischen Porträts von Bettina von Arnim über Rosa Luxemburg und Erich Mühsam bis zu Ernst Friedrich – veranlasste Willy Brandt zum Hinweis, der 80-jährige W.G.O. habe damit auch eine »Selbstaussage« getroffen. »Warum sonst hätte er gerade diese Frauen und Männer hier und aus diesem Anlass noch einmal vorgestellt?// Jenseits der Verbundenheit zu Berlin ist den meisten gemeinsam, dass sie sich nicht ein- und schon gar nicht unterordnen mochten; dass sie der (freiheitlichen) Arbeiterbewegung existentiell verpflichtet waren und ohne sie nie das geworden wären, was sie geworden sind, dass sie dennoch Einzelgänger, Außenseiter blieben und auf ihre eigene geistige Unabhängigkeit hielten; zumeist waren sie Frauen und Männer des geschriebenen, nicht des gesprochenen Wortes, mehr der Reflexion als der Tat. Dies alles – gilt es nicht auch für Oschilewski?«101
Und Brigitte Seebacher-Brandt schrieb in ihrem Nachruf auf W.G.O.: »Er hat sich eben nie auf ein eingefahrenes Gleis begeben und nie in ein organisatorisches Korsett zwängen lassen. Sozialdemokrat von frühester Jugend an, war er kaum je in eine Parteiversammlung zu locken. Das Dasein eines Schriftsetzers […] tauschte Oschi, knapp den Jünglingsjahren erwachsen, gegen die Ungebundenheit eines Schriftstellers ein […] Die gefühlsbetonten anti-autoritären Anarcho-Syndikalisten hatten es ihm angetan, und im Grunde seiner Seele ist er nie von ihnen losgekommen. Sein Stück über Ernst Friedrich gehört zum Schönsten, was er geschrieben. ›Friedenskämpfer, Wahrheitssucher‹ überschrieb er es – ein Titel, den über sein eigenes Leben zu setzen er nicht widersprochen hätte«.102
Freilich glätten solche Elogen die extremen Ausschläge von W.G.O.s rebellischer Jugendbewegungs-Biographie, in der sich wiederum die krisenhaften Konvulsionen der Weimarer Republik abbilden. Besonders auffällig in der rückblickenden Fremd- und Selbstdeutung sind die Hinweise auf den bei W. G. O. zum Ausdruck kommenden autodidaktischen Bildungsantrieb, der nicht in eine von seinem Herkunftsmilieu abgehobene, rein individuelle Karriere mündete, sondern in das Konzept einer traditionsbewussten »sozialistischen Kultur«, welche auch die »Pflege und Fortführung des Kulturbesitzes als Expropriation der kulturbesitzenden Expropriateure« einschloss.103 Der historische Kontext dieses auf die Beseitigung des bürgerlichen Bildungsprivilegs gerichteten »sozialistischen Kulturwillens« lässt sich genauer 101 Brandt: Schreiben (Anm. 16), S. 7. 102 Seebacher-Brandt: Zum Tode (Anm. 14), S. 27f. 103 Oschilewski: Stimme (Anm. 34), S. XII.
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verorten durch einen Schlüsseltext von W.G.O.: »Das Problem der Kultur« (1927). Als Folge der Nationalisierung des Hofgeismarer Jungsozialismus durch das Ruhr-Erlebnis kam es auch zu einer politischen Radikalisierung des bisherigen jungsozialistischen Kultur-Idealismus: Vehement abgelehnt wird nun von W.G.O. die dürftige »agitative« Klassen- und Partei-Kultur der Sozialisten, gefordert wird eine Verbreiterung der sozialistischen Bildungsarbeit »in Richtung der durch Geist und Blut mit uns verbundenen Volks- und Nationalkultur«: »Das Problem der Kultur im modernen Sozialismus […] ist eine verpflichtende Aufgabe: es geht um Eroberung, Pflege und Fortführung des [völkisch-nationalen] Kulturbesitzes, um die kulturelle Expropriation der kulturbesitzenden Expropriateure!«104 Eduard Weitsch nannte das 1919 in seinem gleichnamigen pädagogischen Buch die »Sozialisierung des Geistes«.105 Der von W. G. O. erfahrene Weg der erfolgreichen Inklusion eines Außenseiters in die bürgerliche Bildung und damit letztlich auch die Integration eines jugendbewegten Anarcho-Rebellen in den volkssouveränen Staat wird in seinen beiden Jugendbewegungs-Geschichten als Verschmelzen von persönlicher und Bewegungsgeschichte inszeniert. Es ist zu vermuten, dass der dort beschriebene Weg der Weimarer Arbeiterjugendbewegung zur Teilhabe an Freiheit und Bildung als jungsozialistisches Modell einer evolutionär-reformistischen politischen Emanzipation der Arbeiterklasse insgesamt gedacht war.106
104 W. G. Oschilewski: Das Problem der Kultur, in: Die Tat, 1927/1928, 19. Bd., Heft 4 v. Juli 1927, S. 296–302, hier S. 302. Siehe dazu auch Anm. 34. 105 Eduard Weitsch: Zur Sozialisierung des Geistes. Grundlagen und Richtlinien für die Deutsche Volkshochschule, Jena 1919. W.G.O. nannte das bei Eugen Diederichs erschienene Buch »sozusagen [die] Geburtsurkunde der freien Volksbildungsbewegung«: Oschilewski: Republik (Anm. 62), S. 7. 106 Diese Geschichtsdeutung findet sich auch bei Osterroth: Hofgeismarkreis (Anm. 7), S. 569: »Nach der Wiedererstehung der Sozialdemokratie […] 1945 erlebten die ehemaligen ›Hofgeismarer‹ […] in der Haltung des Parteivorsitzenden Kurt Schuhmacher und im Godesberger Grundsatzprogramm der SPD von 1959 die Bestätigung ihrer Überzeugung, daß sie schon in der ersten Deutschen Republik den rechten Ansatz für die Politik der deutschen Sozialdemokratie gefunden hatten.«
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»Sie betreiben Trockenübungen«. Ein offener Brief an Christian Niemeyer
Sehr geehrter Herr Kollege Niemeyer, obwohl wir uns schon vollends im neuen Jahr befinden, muss ich noch eine Schuld aus dem alten Jahr abtragen. Sie werden sich erinnern, dass ich Ihnen in der etwas hitzigen Diskussion nach Ihrem Abendvortrag im Zehlendorfer »Kohlenkeller« der Familie Wehr eine schriftliche Begründung meiner Vorbehalte gegenüber Ihrem Buch »Die dunklen Seiten der Jugendbewegung«1 versprochen hatte. Als ich dann versuchte, sie neben einer anderen Arbeit in Worte zu fassen, zeigte sich aber, dass ich dafür nicht den Kopf frei bekam. Das gelang mir erst nach dem familiären Weihnachtstrubel und dem Abschluss dieser Arbeit. Nun ist Ihr Buch ja nicht für den Tag geschrieben. Die Fragen, die es aufwirft, werden zumindest diejenigen, die sich für die Geschichte der deutschen Jugendbewegung in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts interessieren, wie in der Vergangenheit auch in der Zukunft, also über Gedenkjahre und -tage hinaus, beschäftigen. Sie sehen mir deshalb sicherlich nach, dass ich Ihnen erst heute schreibe. Vielleicht sollte ich zunächst noch einmal erklären, weshalb ich das tue. Mich interessiert die Geschichte der Jugendbewegung, weil ich den jugendbündischen Gemeinschaften, denen ich angehört habe, und den Freunden, die ich dort gefunden habe, viel verdanke, gewiss nicht mehr als meinen Eltern, aber in mancher Hinsicht doch mehr als der Schule und den Lehrern, die mich dort unterrichtet haben. Allerdings zählte die Jugendgeschichte nicht zu meinen Lehr- und Forschungsgebieten. In meiner Lehrtätigkeit habe ich mich einmal an einem Seminar meines Potsdamer Kollegen Hanno Schmitt zur jüdischen Jugendbewegung in Deutschland beteiligt. Publikationen zur Geschichte der Jugendbewegung entstanden erst nach meiner Emeritierung, zumeist aus Anlässen, die Erinnerungen heraufriefen: Geburtstagen von Freunden, dem fünfzigsten Jah1 Christian Niemeyer : Die dunklen Seiten der Jugendbewegung. Vom Wandervogel zur Hitlerjugend, Tübingen 2013.
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restag der Gründung des Bundes, dessen Führung ich zeitweise angehört habe, und des Meißnertags 1963.2 Hinzu kam ein von der Fritz-Thyssen-Stiftung gefördertes Forschungsprojekt zur Biographie des Kultur- und Sozialwissenschaftlers Arnold Bergstraesser, das mich bewogen hat, der Einladung von Barbara Stambolis zur Mitarbeit am Band »Jugendbewegt geprägt« zu folgen und Beiträge über Bergstraesser sowie über Felix Messerschmid zu schreiben.3 Ich erwähne dies deshalb, weil Sie allem Anschein nach meinen, alle »Jugendbewegungsveteranen«, zumal die mit dem Archiv der deutschen Jugendbewegung verbundenen Historikerinnen und Historiker, ja selbst deren Freunde, seien bei der Beschäftigung mit der Geschichte dieser Bewegung befangen. Mich erinnert das an die Anfänge meines politikwissenschaftlichen Studiums in den 1960er-Jahren. Angesehene Hochschullehrer erklärten uns damals, Politik könne nicht Gegenstand einer eigenständigen Wissenschaft sein, auch die noch mit ihr verbundene, uns besonders interessierende Zeitgeschichte sei wissenschaftlich höchst fragwürdig. Denn Geschichte lasse sich erst aus der Distanz objektiv betrachten. Beim Blick auf die eigene Zeit seien Historiker hingegen unvermeidlich befangen. Der Vorwurf der Befangenheit traf aber auch Remigranten, die Deutschland bei der NS-Machtergreifung unfreiwillig verlassen hatten und sich als Wissenschaftler, Schriftsteller, Publizisten mit dem »Dritten Reich« beschäftigten. Nicht nur angehende Bundesbürger mit mehr oder minder brauner Vergangenheit hielten ihnen entgegen, man müsse diese Zeit im eigenen Land erlebt haben, um darüber urteilen zu können. Hier wurde also das Miterleben zur Bedingung des historischen Verstehens erhoben. Nun möchte ich mich hier nicht über die viel erörterten Probleme historischen Verstehens und historischer Urteilsbildung verbreiten. Ich möchte nur darauf hinweisen, dass die Unterstellung einer wie auch immer bedingten Voreingenommenheit und Befangenheit jedwede Diskussion erschwert und der wissenschaftlichen Diskussion die Basis entzieht. Denn wer in einer Diskussion den oder die je andere(n) in der Diskussion für befangen erklärt, argumentiert nicht mehr ad rem, sondern ad personam, entwertet ihre Argumente, zwingt sie, statt der Argumente sich selbst zu rechtfertigen und schirmt die eigene Position so gegen Kritik ab. Damit komme ich zu Ihrem Buch. Wie man auf der Rückseite des Umschlags liest, bietet es »erstmals seit fünfzig Jahren eine kritische Gesamtdarstellung der deutschen Jugendbewegung, bewusst nicht endend 1933, sondern 1945«. Als 2 Günter C. Behrmann: Der Bund deutscher Jungenschaften auf dem Meißnertag 1963, in: Jürgen Reulecke (Hg.): 50 Jahre danach – 50 Jahre davor. Der Meißnertag 1963 und seine Folgen (Jugendbewegung und Jugendkulturen. Jahrbuch 9), Göttingen 2014, S. 51–68. 3 Günter C. Behrmann: Arnold Bergstraesser, in: Barbara Stambolis (Hg.): Jugendbewegt geprägt. Essays zu autobiographischen Texten von Werner Heisenberg, Robert Jungk und vielen anderen, Göttingen 2013, S. 103–124; ders.: Felix Messerschmid, ebd., S. 473–486.
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Verlagswerbung mag das hingehen. Der Anlage und dem Inhalt des Buches entspricht es nicht. Die Einleitung ist informativer. Sie verspricht eine »kritische Personen- und Dogmengeschichte« (S. 13). Das reicht zwar nicht für eine Gesamtdarstellung, aber für mehr als ein Buch. Freilich hätte ich mir auf den Büchertischen des Jahres 2013 eine neue Gesamtdarstellung gewünscht. Denn seit Walter Laqueurs Geschichte der Bewegung und Harry Pross’ »Jugend, Eros, Politik«,4 zwei zu Recht auch von Ihnen geschätzten Büchern, hat sich die Forschung mehr und mehr spezialisiert. Es wäre an der Zeit gewesen, sie wieder zu bündeln. Zurück zu Ihrer Einleitung, der noch das erste Kapitel zu den »Mythen« und »Historiographen« der Jugendbewegung zuzurechnen ist. »Irgendetwas«, so Ihr Befund, »stimmt mit der Jugendbewegungshistoriographie des Mainstream vom Grundsätzlichen her nicht« (S. 15). Was nicht stimmt, wird dann durch drei »Leitmotive« näher bestimmt: Danach wurde die Geschichtsschreibung der Jugendbewegung »bis auf den heutigen Tag wesentlich von Betroffenen« dominiert, deren »Erzählweise« »all den dunklen, den verborgenen und verachtenswerten Zügen dieser Bewegung« nicht hinreichend Raum gab. Dieser Geschichtsschreibung wird die »Aufklärung« durch eine ideologiekritische Ideengeschichte entgegengesetzt. Sie führt zu der Einsicht, »dass es sich bei der deutschen Jugendbewegung im Wesentlichen um einen Mythos handelt, geschaffen in der Absicht, davon abzulenken, dass es in einzelnen Gruppen und Gemeinschaften auch eine politische Sozialisation vor Auschwitz gab, eine Sozialisation also, die Auschwitz überhaupt erst ermöglichte« (S. 17). Unter diesen Leitmotiven handeln die folgenden vier Kapitel von der »Kindt Edition«, d. h. von der vor einem halben Jahrhundert entstandenen »Dokumentation der Jugendbewegung«, vom völkischen Ideengebräu in Köpfen führender Wandervögel, von »angeblichen Ziehvätern« der Bewegung, von (präfaschistischen) »Ideologemen«, ihrer Verbreitung und Personen, die sie verbreitet haben. Abgeschlossen wird das Buch, das erkennbar zum 100. Jahrestag des Meißnerfests am 13. Oktober 1913 geschrieben wurde, durch ein Kapitel »Meißnerfest und Meißnerformel: Leuchttürme auf Sand gebaut. Oder : Warum und wie man einen Mythos kreiert und am Leben hält« sowie durch ein Fazit zum Leitthema »Vom Wandervogel zur Hitlerjugend«. Die dazu zentralen Kapitel werden kenntnisreich, wenngleich in oft allzu gewundenen Assoziationsketten behandelt. Wahrscheinlich ist derzeit niemand so gut wie Sie über die seit dem Meißnertag 1963 erschienene Literatur zur Geschichte der Jugendbewegung informiert. Das zeigen rund 1500 Anmerkungen, die wiederum auf ein 33 Seiten füllendes Literaturverzeichnis verweisen. 4 Walter Laqueur : Die deutsche Jugendbewegung, Köln 1962; Harry Pross: Jugend, Eros, Politik. Die Geschichte der deutschen Jugendverbände, Wien 1964.
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Auch der Ausgang von der »Kindt-Edition« ist gut gewählt. Werner Kindt war ein von der Jugend bis ins hohe Alter in jugendbewegten Kreisen aktiver Journalist. Die von ihm herausgegebene »Dokumentation der Jugendbewegung«5 ist zu einem viel genutzten Hilfsmittel der Forschung zur Jugendbewegung bis hin zu Seminar- und Examensarbeiten geworden. Auf ihren insgesamt rund 3500 Seiten bieten die drei Bände in großer inhaltlicher Breite Selbstdarstellungen, die andernorts teils nicht mehr, teils nur über eine sehr viel aufwendigere Archivarbeit zugänglich sind. Das gilt sowohl für die Primärquellen, die zu einem großen Teil erst durch die Dokumentation erschlossen wurden, als auch für die Überblicksartikel zu den Dokumenten im zweiten und dritten Band. Die Kindt-Edition, so schreiben Sie zum Schluss des ihr gewidmeten Kapitels, dürfe man allerdings »nur mit äußerster Vorsicht konsultieren«. »Denn Werner Kindt hat, ebenso wie andere Editoren aus der Jugendbewegungsgeneration […], den nachfolgenden Generationen ein politisch geschöntes bzw. seinen Vorstellungen entsprechendes Bild der Jugendbewegung hinterlassen wollen« (S. 63). Mit Einschränkungen, die ich erst mal zurückstelle, kann ich Ihnen zustimmen. Trotzdem richtet sich meine Kritik insbesondere gegen dieses Kapitel, das Schlüsselkapitel des gesamten Buchs: 1. Da Sie bei der Kindt-Edition ansetzen, scheint sich für Sie die Frage zu erübrigen, was wir beim Blick auf die Jugendbewegung ins Auge fassen. Gerade bei der von Ihnen geforderten kritischen Betrachtung der Dokumentation zeigt sich aber, dass wir zumal dann, wenn wir uns dieser Bewegung unter empirisch bearbeitbaren Fragestellungen nähern wollen, über soziale, sachliche und zeitliche Differenzierungen und Eingrenzungen verständigen müssen. 2. Das Kapitel zur Kindt-Edition wird mit einem Unterkapitel »Walter Laqueur und Harry Pross – ein Nestbeschmutzer wird ignoriert und ein anderer bekämpft« eröffnet. Dass die beiden Autoren und ihre Bücher bei namhaften »Veteranen« der Bewegung auf eine Abwehrhaltung stießen, trifft zu und ist im Hinblick auf die Kindt-Edition gut belegt. Die Frontstellung – hie Laqueur, Pross und Niemeyer, dort die Kindt-Edition und der ihr nachfolgende »Mainstream« der Jugendbewegungsforschung im Umfeld des Archivs – beschreibt hingegen eine von Ihnen eingenommene Kampfposition, nicht den Gang der Forschung seit schon zu Beginn der 1950er-Jahre entstandenen Studien. 3. Im Schlussabsatz des zweiten Kapitels konzedieren Sie der Jugendbewe5 Werner Kindt (Hg.): Grundschriften der Jugendbewegung, Düsseldorf 1963; ders. (Hg.): Die Wandervogelzeit. Quellenschriften zur deutschen Jugendbewegung 1896–1919, Düsseldorf 1968; ders. (Hg.): Die deutsche Jugendbewegung 1920–1933. Die bündische Zeit, Düsseldorf 1974.
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gungsgeneration, dass ihr der reflektierte kritische Rückblick auf die eigene Jugendgeschichte durch die Zeitgenossenschaft mit der NS-Zeit in besonderem Maße erschwert wurde. Sie folgen dabei einem Essay von Norbert Frei.6 Wer davon ausgeht, sollte in der Konsequenz auch die Geschichtsschreibung dieser Generation oder genauer : Generationen samt aller Dokumentationen historisieren. Sie bedienen sich hingegen eines sehr einfachen, im Grunde unhistorischen Musters der Aufarbeitung der Vergangenheit: der Entlarvung von Personen.
Soziale, sachliche und zeitliche Differenzierungen und Eingrenzungen Auf dem Umschlag Ihres als Paperback publizierten Buchs sieht man ober- und unterhalb des Titels zwei Fotos: oben Kreise bewegt tanzender junger Frauen in wallenden Kleidern, die von knienden jungen Männern in Kitteln und kurzen Hosen umringt werden, unten Hitlerjungen, die mit schlotternden Uniformen in lockerer Reihe vor einem erwachsenen und einem jugendlichen Führer angetreten sind. Dass damit Kontinuitäten »vom Wandervogel zur Hitlerjugend« illustriert werden, lässt sich wohl kaum behaupten. Man sieht im Gegenteil nur Differenzen: Unterschiede im Alter, in der Stellung und dem Verhältnis der Geschlechter, in der sozialen Formation, in der Kleidung und Haltung. Obwohl ich gerne wüsste, weshalb der Titel von Bildern gerahmt wird, die ihn dementieren, will ich mich bei dieser Frage nicht aufhalten. Vielmehr möchte ich darauf aufmerksam machen, dass wir bei der allgemeinen Rede über die Jugendbewegung von Differenzen absehen, die bei jeder näheren Betrachtung beachtet werden müssen. Zu den soeben genannten Differenzen kommen Unterschiede der Jugendgenerationen hinzu.7 Hitlerjunge wurde man beim Erreichen des 14. Lebensjahres. Die Jungen auf dem unteren Foto sind wahrscheinlich alle nach dem Ersten Weltkrieg aufgewachsen. Hingegen gehörten die jungen Frauen und Männer auf dem oberen, vermutlich 1913 auf dem Meißner aufgenommenen Foto den im späten 19. Jahrhundert geborenen Jahrgängen an. Da Sie Mädchen und Frauen sowie das Verhältnis der Geschlechter kaum beachten, die Jugendbewegung mithin als eine weithin männlich dominierte, in großen Teilen rein männerbündische Bewegung betrachten, werde auch ich die Gender-Aspekte mitsamt ihren Problemen beiseite lassen und mich auf die 6 Norbert Frei: Abschied von der Zeitgenossenschaft. Der Nationalsozialismus und seine Erforschung auf dem Weg in die Geschichte, in: ders.: 1945 und Wir, München 2005, S. 41–62. 7 Um Missverständnisse zu vermeiden, verwende ich den Generationsbegriff nur im historischsoziologischen Verständnis Karl Mannheims.
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verschiedenen Altersgruppen und Jugendgenerationen in der Bewegung konzentrieren. Dabei gehe ich im Unterschied zu einer verbreiteten Sichtweise davon aus, dass die Bewegung von Anfang an von zwei verschiedenen Altersgruppen getragen wurde: den Schülern im Wandervogel einerseits, den akademischen Freischaren in der zeitgleich entstandenen Freistudentenbewegung8 andererseits. Dem Wandervogel und verwandten Gruppen, so den in Deutschland rasch Gefolgschaft findenden, von Ihnen nur am Rande berücksichtigten Boy Scouts gehörten mehrheitlich 13- bis 17-Jährige an. Die Studierenden in den jugendbewegt-freistudentischen Gruppen waren bei zumeist eingehaltenen drei- und vierjährigen Studienzeiten um die 20 Jahre alt. Das erscheint mir vor allem deshalb beachtenswert, weil das engere und weitere soziale Umfeld, die eigene Stellung in diesem Umfeld, die Erfahrungsbereiche und Erlebnissphären dieser beiden Altersgruppen beträchtlich differierten, im Kaiserreich und unter schon beträchtlich veränderten Bedingungen in den 1920er- und 1930er-Jahren wohl noch stärker als heute. »Wir wollten«, schrieb der ehemalige Wandervogel Carlo Schmid in seinen Erinnerungen, »eigentlich gar nichts bewegen! Wir wollten wandern, uns in Volkstänzen tummeln, singen und ein freies Leben führen.«9 Dies lässt sich verallgemeinern: »Der Zusammenhalt der Wandervögel beruhte«, so Christa Berg, »auf einem diffusen Lebensgefühl, nicht auf einem Katalog von Programmpunkten.«10 Ähnlich Harry Pross: »Das Hordenleben mit seiner originellen Abwandlung ewiger Knabenspiele ist scharf zu trennen von den gedanklichen Bezirken, in denen die ›junge Mannschaft‹ lebte. Die Horden waren revolutionäre Erscheinungen der Jugendpsychologie. Das ›Gedankengut‹ der Bewegung aber hatte nichts Originelles, es war hausbacken, vom politischen Philistertum inspiriert, gegenrevolutionär in der Regel.«11 Hieraus folgt freilich nicht, dass sich die Gruppen der Heranwachsenden in einem »Jugendreich« bewegt haben, das pädagogischen Einflussnahmen gesellschaftlicher Mächte unzugänglich war. Die Heranwachsenden haben sich nicht selbst »emanzipiert«. Vielmehr eröffneten in der sich rasant modernisierenden wilhelminischen Gesellschaft Bildungsexpansion, Lebens- und Kultur-
8 Sigrid Bias-Engels: Zwischen Wandervogel und Wissenschaft. Zur Geschichte von Jugendbewegung und Studentenschaft 1896–1920 (Edition Archiv der deutschen Jugendbewegung 4), Köln 1988; Hans-Ulrich Wipf: Studentische Politik und Kulturreform. Geschichte der Freistudenten-Bewegung 1896–1918 (Edition Archiv der deutschen Jugendbewegung 12), Schwalbach/ Ts. 2004. 9 Hier zitiert nach Petra Weber : Carlo Schmid, in: Stambolis: Jugendbewegt (Anm. 3), S. 624. 10 Christa Berg: Familie, Kindheit, Jugend, in: dies. (Hg.): Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Bd. IV, 1870–1918. Von der Reichsgründung bis zum Ende des Ersten Weltkriegs, München 1991, S. 91–146, S. 133. 11 Pross: Jugend (Anm. 4), S. 12.
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reformbewegungen,12 insbesondere die Reformpädagogik, Gymnasiasten Räume altershomogener Vergemeinschaftung und gemeinschaftlichen Erlebens in der »freien« Natur jenseits der keineswegs grauen Mauern ihrer groß- und kleinstädtischen bürgerlichen Wohnviertel. Professionelle und nicht professionelle Pädagogen waren in der Bewegung von Anfang an führend oder lagen auf der Lauer, um der Jugend habhaft zu werden. Für die 13- bis 17-Jährigen wurde mit der zeitlichen und sozialen Bildungsexpansion, der Entstehung von Jugendbünden und -verbänden, der Institutionalisierung von Jugendarbeit und -pädagogik erst das 20. Jahrhundert zum »pädagogischen Jahrhundert«. Obwohl gegen eine Eingrenzung des Untersuchungsfelds auf die deutsche bürgerliche Jugendbewegung nichts einzuwenden ist, sollte dabei dieses sehr viel weitere Feld zumal dann im Blick bleiben, wenn nach Prozessen politischer Sozialisation und deren pädagogischer Beeinflussung gefragt wird. Denn das, was man schon beim »flüchtigen Blick auf die Anfänge des Wandervogels« (3. Kapitel) sehen kann, waren ja keine Besonderheiten des Wandervogels. Die sich im Wandervogel entwickelnde »Jugendkultur« blieb wie jede jugendliche Subkultur an ihre Zeit, an gesamtgesellschaftliche kulturelle Strömungen, an die Herkunftsmilieus der Jugendlichen gebunden. Zudem zeigt sich bereits im Wandervogel und noch deutlicher bei den Boy Scouts, in der bündischen Jugend und den großen Jugendverbänden der Weimarer Zeit, vollends dann bei der Organisation der gesamten Jugend im faschistischen Italien, in der Sowjetunion sowie im »Dritten Reich«, dass sich Peergroups der Heranwachsenden und ihre gemeinsamen Aktivitäten auf Heimabenden, Lagern, Fahrten etc. für eine Beeinflussung von Denk- und Verhaltensweisen unter den unterschiedlichsten Zielsetzungen und politischen Regimen instrumentalisieren ließen. Das geschah immer unter der Annahme, wer die Jugend – und diese möglichst früh – habe, habe die Zukunft. Blickt man auf die Jugendgeschichte des letzten Jahrhunderts zurück, so ist diese Annahme, also sozialisationstheoretisch gesprochen die These einer dauerhaften »Prägung« (»Internalisierung«, »Kristallisation«) politischer und anderer weltanschaulicher Orientierungen in der Adoleszenz, indes erheblich zu relativieren. So musste der amerikanische Soziologe Howard Becker nach dem Untergang des »Dritten Reichs« feststellen, dass er mit seinen dramatischen Warnungen vor einer durch die Hitlerjugend indoktrinierten und fanatisierten Jugend falsch lag.13 Er irrte sich, weil er sowohl
12 Die Jugendbewegung war nicht nur eine dieser Bewegungen. Sie lag vielmehr in deren Schnittfeld. Vgl. dazu insbesondere Diethart Kerbs, Jürgen Reulecke (Hg.): Handbuch der deutschen Reformbewegungen 1880–1933, Wuppertal 1998. Eine Fortschreibung über 1933 hinweg wäre angebracht, sollte dann aber bis heute führen. 13 Howard Becker : German Youth: Bond or Free, London 1946. Die teilweise revidierte deut-
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die Bedeutung, die politische Ideologien für Heranwachsende gewinnen können, als auch die längerfristigen Wirkungen ihrer politischen Beeinflussung in Jugendverbänden weit überschätzt hat. Das war kein Sonderfall. Die Jugendforschung des letzten Jahrhunderts ist voll von Fehlprognosen dieser Art. In unserer Diskussion haben Sie Ihre Forschung als »kritisch-empirisch« vom »Mainstream« abgehoben. Der damit erhobene Anspruch lässt sich im Hinblick auf die Jugendgruppen nur durch eine dichte Beschreibung der Mittel und Wege, über die die Jugendlichen in den Gruppen beeinflusst wurden, sowie erkennbarer Wirkungen der Einflussnahme einlösen. In einigen Bereichen, so auf dem Feld der »bellizistischen« vormilitärischen Erziehung, ist dies durchaus möglich. Ihre Ausführungen bleiben im Unterkapitel zu »Langemarck« jedoch leider weit hinter der Forschung zurück.14 Das ist auch eine Folge des auf Personen und Ideologien zentrierten Ansatzes. Näher kommt man damit erst den akademischen Freischaren sowie all den Gruppen, zu denen sich teils schon im Krieg Ältere nach ihrem Ausscheiden aus den Jugendgruppen zusammengeschlossen haben. Erst dort konnten Fragen des Lebenssinns und der Lebensführung, Weltanschauungen, soziale und politische Ideologien, religiöse Glaubenslehren eine auch subjektiv hohe Bedeutung gewinnen. Sie stieg nach der Kriegsniederlage und dem ihm folgenden politischen Umbruch nochmals beträchtlich, zumal für die jungen Männer, die jahrelang freiwillig oder unfreiwillig am Krieg teilgenommen hatten und sich unter radikal veränderten Lebensbedingungen neu zurechtfinden mussten.15 Zwar waren die Ideologien, die den Gang der Geschichte wie die bestehenden gesellschaftlichen, ökonomischen und politischen Verhältnisse zu erklären und den richtigen Weg in die Zukunft zu weisen schienen, nicht neu, die in großer Zahl verfassten Bekenntnisschriften mit Harry Pross gesprochen nicht »originell«. Der völkische Nationalismus wie der seither weniger religiös als kulturpsychologisch und/ oder rassenbiologisch begründete Antisemitismus zählten, worauf Sie auch wiederholt hinweisen, zu den ideologischen Erbschaften des 19. Jahrhunderts. Das Gleiche galt für den von Ihnen ohne Begründung über-
sche Ausgabe erschien unter dem Titel: Vom Barette schwankt die Feder. Die Geschichte der deutschen Jugendbewegung, Köln 1949. 14 Vgl. Christoph Schubert-Weller : »Kein schön’rer Tod …«. Die Militarisierung der männlichen Jugend und ihr Einsatz im Ersten Weltkrieg 1890–1918, Weinheim 1998. Die in der Reihe »Materialien zur historischen Jugendforschung« von Ulrich Herrmann herausgegebene Arbeit wird nicht einmal im Literaturverzeichnis aufgeführt, Schubert-Wellers Artikel »Vormilitärische Jugenderziehung« (in: Berg: Handbuch (Anm. 10), S. 503–514) nur beiläufig erwähnt. 15 Davon zeugt der erste Band der Kindt-Edition. Jede zweite der in ihn aufgenommenen »Grundschriften« ist in den frühen Nachkriegsjahren entstanden. Es gilt zu beachten, dass in den »Grundschriften« eine Bewegung gedeutet wurde, die unabhängig davon bestand.
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gangenen Sozialismus,16 den marxistischen, den marxistisch-revisionistischen, den nicht-marxistischen der »Kathedersozialisten« etc. Gleichwohl ist festzustellen, dass unter den Freideutschen erst bei und nach der Kriegsniederlage politisch-ideologische Gegensätze aufbrachen. Die Hervorhebung von ideen-/ ideologiegeschichtlichen Kontinuitäten, die in das Kaiserreich und noch weiter zurückreichen, und von Personen, die dafür repräsentativ sind, hat, wie sich an vielen Stellen des Buches zeigen ließe, zur Folge, dass die unterschiedlichen Generationslagen der nach Kultur- und Lebensreformen strebenden jugendbewegten Freistudenten im Kaiserreich einerseits, der von sozialrevolutionären Bewegungen mitgerissenen bündischen Studenten in der Weimarer Republik andererseits, soweit sie überhaupt in den Blick kommen, unterschätzt werden. Von ideologischen Kontinuitäten auf der kulturell-ideengeschichtlichen Ebene wird häufig, so auch von Ihnen, auf die Stabilität entsprechender Einstellungen auf der individuellen Ebene geschlossen. Verfolgt man die einzelnen Biographien, so stößt man in den Jahrgängen, die ihr Studium nach dem Ersten Weltkrieg aufnahmen, hingegen nicht selten auf Jugendbewegte, die sich politisch-ideologisch mehrfach umorientiert haben. Es gab, hierauf wollte ich am Abend in Zehlendorf mit dem Sie erbosenden Hinweis auf bündische »Nationalbolschewisten«17 aufmerksam machen, ein immens weites ideologisches Spektrum, in dem nicht alles mit allem, aber vieles mit vielem kombiniert werden konnte, und neben direkten Wegen in den Nationalsozialismus davon entfernte Wege, die sowohl in den NS als auch in den Widerstand münden konnten. Wenn nach Kontinuitäten gefragt wird, die bis zur Shoa führten, muss die »Artamanenbewegung«, der Sie ein Unterkapitel widmen (S. 52–63), berücksichtigt werden. Beim Blick auf diese Kontinuitäten ist allerdings anderes als »Gruseln« angebracht. Auch wäre zu fragen, was sich Gemeinsamkeiten der bündischen Jugend zurechnen lässt, was nicht. Der Arbeitsdienst war beispielsweise alles andere als eine Erfindung der Artamanen.
Zum Gang der Forschung seit den 1950er-Jahren Die HJ, heißt es im Schlusskapitel (S. 200) ist »ohne die Vorläuferschaft der Bündischen und ohne die Übernahme vieler, im Raum der Bündischen Jugend vorentwickelten Sozialformen, Ideologieelemente und Aktivitäten nicht zu 16 Reinhard Preuß: Verlorene Söhne des Bürgertums. Linke Strömungen in der deutschen Jugendbewegung 1913–1919 (Edition Archiv der deutschen Jugendbewegung 8), Köln 1991 wird, soweit ich sehe, nur im Literaturverzeichnis berücksichtigt, der Sozialismus der jugendbewegten Rechten nicht thematisiert. 17 Dass diese, wie Sie mir entgegengehalten haben, in Ihrem Buch nicht vorkämen, trifft nicht zu. Man schlage im Personenverzeichnis unter »Ebeling, Hans« und »Laß, Werner« nach.
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denken, wie ja überhaupt der NS nicht ohne die Anknüpfung an völkische Traditionen erklärbar ist. Ein Großteil der Methoden und Gestaltungsmittel der NS-Jugendarbeit, der Gruppenformen und des Verbandsaufbaus der HJ hat im Bündischen seinen Ursprung: so unter anderem das Führer-GefolgschaftPrinzip, die Formen von Fahrt, Lager, Geländespiel und Heimabend, das Liedgut und der Kultstil, bis hin zur Symbolsprache und den ›Zeichen‹ der HJ.« (S. 200). Das ist, wie auch angegeben, nicht das Ergebnis Ihrer Forschungen, sondern ein Zitat aus der erstmals 1955 erschienenen, bei Wolfgang Abendroth in Marburg entstandenen Dissertation des Sozialwissenschaftlers Arno Klönne.18 Eine sehr präzise Einsicht in Kontinuitäten »vom Wandervogel zur Hitlerjugend« findet sich also schon in wissenschaftlicher Literatur aus den Gründungsjahren der Bundesrepublik. Sie mögen erwidern, dass der marxistische Politikwissenschaftler Abendroth und seine linken Schüler Außenseiter der »schwarzen« Adenauer-Republik waren. Der Dissertation Klönnes lassen sich jedoch andernorts entstandene Arbeiten zur Seite stellen. Sie verweisen selbst (S. 24ff.) auf das Kapitel »Bündische Jugend und Hitlerbewegung« der Arbeit, mit der Harry Pross 1949 in Heidelberg als Schüler des linksliberalen Kultursoziologen und Nationalökonomen Alfred Weber promoviert wurde.19 Zudem erwähnen Sie, wenngleich erst im Schlusskapitel, Michael Jovy unter denen, die den »Zusammenhang zwischen Wandervogel und Hitlerjugend […] vergleichsweise früh thematisiert« (S. 192) haben. Als ich das las und dazu nähere Angaben suchte, blieb mir die Spucke weg. Denn wenn ich nicht etwas überlesen habe und wenn die zwei Seitenangaben im Personenverzeichnis nicht trügen, wird Jovy nur noch einmal unter »Rebellen aus illegalen bündischen Gruppen« (S. 204) aufgeführt. Dass er eine 1984 in Münster publizierte, aber bereits seit 1952 vorliegende (Interessierten seither bekannte) Studie zum Thema »Jugendbewegung und Nationalsozialismus: Versuch einer Klärung ihrer Zusammenhänge und Gegensätze«20 verfasst hat, erfährt erst, wer in der »Literatur« (S. 243) nachschlägt. Die Zahl der in das Literaturverzeichnis aufgenommenen Publikationen dürfte zwischen 600 und 700 liegen. Die Publikationen, deren Titel dem Thema Ihrer Arbeit so nahe kommen wie die Studie von Jovy, lassen sich an den Fingern 18 Arno Klönne: Hitlerjugend. Die Jugend und ihre Organisation im Dritten Reich, Hannover 1955. 19 Harry Pross: Nationale und soziale Prinzipien der bündischen Jugend, Diss., Manuskript: Universitätsbibliothek Heidelberg 1949. 20 Michael Jovy : Jugendbewegung und Nationalsozialismus. Zusammenhänge und Gegensätze. Versuch einer Klärung, Typoskript: Universitätsbibliothek Köln 1952. Da auf dem Umschlag der vom »bündischen arbeitskreis burg waldeck« herausgegebenen, von Arno Könne eingeleiteten, 1984 in Münster erschienenen Buchausgabe als Titel »Deutsche Jugendbewegung und Nationalsozialismus« steht, wird die Arbeit teilweise fälschlich unter diesem Titel zitiert.
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einer Hand abzählen. Dass Sie seine auch in Ihrer Universitätsbibliothek greifbare Studie nur flüchtig wahrgenommen, ihre Bedeutung daher nicht erkannt haben, lässt sich wohl ausschließen, behandelte er doch im Kapitel IV zur »geistige(n) Einwirkung einzelner Denker und Ideologien« unter anderen »Nietzsche, Lagarde, Langbehn«, im Kapitel V »National und sozial« »Nationales Denken der bündischen Jugend und Nationalismus der NSDAP«, im Kapitel VI »Volk, Reich, Staat, Rasse« den »Volksbegriff der Jugendbewegung« sowie die »Jugendbewegung und Rassenfrage«, kurz: Personen und Ideen/Ideologien, denen Sie gleichfalls eine hohe Bedeutung beimessen. Dass auch Sie im vierten Kapitel, wenngleich mit anderer Tendenz, von Nietzsche, Lagarde und Langbehn handeln, mag ein Zufall sein. Aber weshalb fehlt in den 323 Anmerkungen der Name Jovy? Natürlich kann ich nur vermuten, was Sie bewogen haben könnte, dessen Studie zu übergehen. Sie wurde in den Jahren 1950 bis 1952 als von Theodor Schieder betreute Doktorarbeit in Köln geschrieben. Nehmen wir einmal an, Sie hätten sie an der Stelle, an der dies angebracht war, nämlich zu Beginn des Kapitels zur Kindt-Edition, so wie die Dissertation von Pross und dessen darauf basierende Arbeiten vorgestellt und dabei auch noch die Doktorarbeit von Klönne erwähnt. Hätte sich Ihr Buch auch dann so schreiben lassen, wie Sie es geschrieben haben? Mir scheint, dass das zwar nicht unmöglich, aber schwierig gewesen wäre. So hätten Sie schon wenige Seiten später im Unterkapitel »Theodor Schieder und Günter Franz – zwei Historiker mit brauner Weste im Kontext der Kindt-Edition« (S. 32–37) stärker als Sie das getan haben, die Einwände des Schieder-Biographen Christoph Nonn gegen die von Ihnen flott wiederholten Vorwürfe zu Schieders Aktivitäten im »Dritten Reich« berücksichtigen müssen.21 Vor allem hätten Sie Schieder sehr viel deutlicher von Günther Franz absetzen müssen. Sie hätten dann auch nicht den »Veteranen« der Bewegung generell Befangenheit unterstellen können. Denn die Doktorväter Abendroth22 und Schieder hatten der Jugendbewegung angehört; Afred Weber hatte mit den Freideutschen symphatisiert. »Meik« Jovy war im Kölner Bottmühlenturm noch in der Deutschen Jungenschaft e.V. aktiv, als er seine Doktorarbeit schrieb. Arno Klönne war und blieb in bündisch-jungenschaftlichen Szenen präsent. Auch Pross kannte die dj.1.11 und deren Nachfahren nicht nur aus ihren Zeitschriften und Büchern.23 (Als wir zur Breschnew-Zeiten beim Kongress der International Political Science Association mit unseren Frauen
21 Christoph Nonn: Theodor Schieder. Ein bürgerlicher Historiker im 20. Jahrhundert, Düsseldorf 2013; ders.: Theodor Schieder, in: Stambolis: Jugendbewegt (Anm. 3), S. 611–621. 22 Vgl. Uli Schöler : Wolf(gang) Abendroth, in: Stambolis: Jugendbewegt (Anm. 3), S. 43–54. 23 Das Unterkapitel »tusk« in: Pross: Jugend (Anm. 4), S. 380–392 zeugt von einer anhaltenden Faszination.
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eines Abends in Moskau im Hotel Rossija zusammensaßen und das Gespräch auf »Jungenschaft« kam, wurde der Abend lang.) Wie man sieht, entstand in den Gründungsjahren der Bundesrepublik eine von Insidern aus den Nachkriegsjungenschaften getragene, politikwissenschaftlich und soziologisch-sozialgeschichtlich fundierte historisch-kritische Forschung, welche die »dunklen Seiten« ans Licht brachte und den Kontinuitäten »vom Wandervogel zur HJ« nachging. Sie fand aus verschiedenen Gründen nicht die verdiente Beachtung, weshalb sie auch nicht traditionsbildend wurde. Laqueur, Pross und auch andere schlossen indes daran an. Und wir Jüngeren hielten uns dann vor allem an Laqueur. Kindts Dokumentation konnte damit schon deshalb nicht konkurrieren, weil man sich in ihren Textmassen verliert. Wo Sie meinen, gegen den »Mainstream« anzurudern und dies die Leser immer gleich wissen lassen, betreiben Sie Trockenübungen. Mit geschichtspolitischen Intentionen, wie sie Werner Kindt, vor allem aber Günther Franz verfolgt hat, ist keine der seit den 1980er-Jahren in repräsentativen Reihen, so in der »Edition Archiv der deutschen Jugendbewegung« und den »Materialien zur historischen Jugendforschung«, erschienenen Arbeiten in Verbindung zu bringen. Das gilt auch für die Artikel in großen Spezialenzyklopädien. Als Beispiel mag hier Jürgen Reuleckes Artikel im fünften Band des Handbuchs der deutschen Bildungsgeschichte mit der ihm zu Grunde gelegten Literatur dienen.24 Weshalb wurde er bei Ihren vielen Erwähnungen von Publikationen Reuleckes übergangen?
Die Geschichtsschreibung historisieren »Die dunklen Seiten der Jugendbewegung« handeln sowohl von solchen Seiten als auch von ihrer teils tatsächlichen, teils vermeintlichen Verdunklung in der historischen Literatur zur Geschichte der Jugendbewegung, insbesondere der Kindt-Edition. In erster Linie ist da Günther Franz zu nennen. Denn er nahm im »Gemeinschaftswerk Dokumentation der Jugendbewegung«, dem Archiv der deutschen Jugendbewegung und der »Kommission für die Geschichte der Jugendbewegung« als deren Schieder nachfolgender Vorsitzender die Schlüsselstellung ein. Im Unterschied zu Schieder war er bereits bei der NS-Machtergreifung ein vielseitig engagierter Nationalsozialist. Mehr Nazi als Franz konnte man 1933ff. kaum sein. Den Angaben zu seiner NS-Karriere, die Sie von Wolf24 Jürgen Reulecke: Jugend und »junge Generation in der Gesellschaft der Zwischenkriegszeit, in: Dieter Langewiesche, Heinz-Elmar Tenorth (Hg.): Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Bd. V, 1918–1945: Die Weimarer Republik und die Nationalsozialistische Diktatur, München 1989, S. 86–110.
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gang Behringer übernehmen, ließe sich z. B. aus den Jahren, in der er sich an der Umwandlung der Universität Heidelberg in eine völkische Musteruniversität und an der Ausgrenzung von »Nichtariern« beteiligt hat, noch manches hinzufügen. Dieser als Rektor der Landwirtschaftlichen Hochschule Hohenheim in den 1960er-Jahren wieder zu Ansehen gelangte Franz brachte es fertig, den dritten Band der Kindt-Edition unter anderem mit den folgenden Sätzen einzuleiten: »Der Inhalt aller drei Bände bestätigt, dass die Jugendbewegung, auch über den Einschnitt des Weltkriegsendes 1918 hinweg, sich Zeit ihres Bestehens der Meißner-Formel verpflichtet fühlte, ›nach eigener Bestimmung, vor eigener Verantwortung mit innerer Wahrhaftigkeit ihr Leben zu gestalten‹. Diese innere Freiheit war nach dem 30. Januar 1933, als der Umbau zu einem totalitären, diktatorischen Staat in Deutschland einsetzte, nicht mehr durchzuhalten. Damit ergibt sich ein organischer zeitlicher Abschluss der Dokumentation. Jede spätere Äußerung wird unfrei, ist zumindest durch politische Rücksichtnahmen bestimmt.«25 Das war in seinem Munde durch und durch verlogen. Geschichtsklitterung betrieb er auch in seiner Einleitung zum Kapitel »Jugendbewegung und Universität«.26 Der »Hochschulring deutscher Art«, der entscheidend dazu beigetragen hat, dass sich die Studentenschaft früh mehrheitlich gegen die Republik gestellt hat, wird als »Gesinnungsgemeinschaft« beschrieben, die den »Auswirkungen des Versailler Vertrags« opponiert hat, »aber auch durch die Belebung der Volksgemeinschaft, durch Arbeiter-Unterrichtskurse, Arbeitsgemeinschaften für staatsbürgerliche Erziehung usw. das Auseinanderklaffen der Klassen verhindern wollte«. Dass das mit Unterstützung und im Zusammenwirken mit der politischen Rechten, auch der extremen Rechten, geschah und dass der Hochschulring in den »Frühlingsjahren der Studentenschaft« im Satzungsstreit »Nichtarier«, das hieß: Juden, aus der von ihm völkisch definierten deutschen Studentenschaft ausschließen wollte, wird nicht erwähnt.27 Sie reagieren darauf, was ich gut verstehe, mit Entsetzen und Abscheu. Das kann zu historisch-kritischer Analyse motivieren, sie aber nicht methodisch anleiten. Ihr Buch überzeugt (mich) auch deshalb nicht, weil Sie mit den Historikern des »Mainstream« ins Gericht gehen, Ihnen sogar, was nun völlig ab25 Günther Franz: Vorwort, in: Kindt: Die bündische Zeit (Anm. 5), S. 5. 26 Ebd. S. 1316–1321. 27 Jugendbewegte finden sich auf beiden Seiten des darum kreisenden Satzungsstreits. Nicht nur deshalb ist unter der Frage nach Kontinuitäten eine systematische Einbeziehung der Studentenschaft geboten. Vgl. als immer noch informativste Studie der Gründungsjahre der Deutschen Studentenschaft die Dissertation von Jürgen Schwarz: Studenten in der Weimarer Republik. Die deutsche Studentenschaft in der Zeit von 1918 bis 1923 und ihre Stellung zur Politik, Berlin 1971.
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wegig ist, eine »dritte Schuld« anlasten, das eigene methodische Vorgehen hingegen kaum reflektieren. Der ideengeschichtlich-ideologiekritische Ansatz und die damit verbundene Entlarvung von Personen, die ihre Vergangenheit »beschwiegen« oder wie Franz »entbräunt« haben, waren in den 1960er- und 1970er-Jahren en vogue. Damals hatten sie, auch wo sie mit anderen Absichten instrumentalisiert wurden, eine aufklärerische Funktion. Heute erbringt dieser Ansatz kaum mehr Erkenntnisgewinne. Die NS-affinen »Ideologeme« sind auch im Hinblick auf die Jugendbewegung in systematischerer Ordnung und Gewichtung referiert und kritisch analysiert worden. Über die Personen, die jugend-, bildungs-, ideen-, wissenschaftsgeschichtlich noch von Interesse sind, etwa die Historiker Schieder und Franz, die Universitätspädagogen Hans Bohnenkamp, Otto Friedrich Bollnow, Wilhelm Flitner, Herman Nohl, Karl Seidelmann, Eduard Spranger, Theodor Wilhelm, Erich Weniger und Kontroversen über ihre Vergangenheit im »Dritten Reich« kann man sich andernorts, zuletzt – mit Ausnahmen – in »Jugendbewegt geprägt«, besser informieren. Dass die sehr nahe liegende Frage nach Kontinuitäten von der Jugendbewegung zum Jungvolk, der HJ, dem BDM, dem Reichsarbeitsdienst und dem Nationalsozialismus insgesamt in der Kindt-Edition auf die beschriebene Weise kurzerhand abgeschnitten wurde, sollte heute nicht mehr verwundern. Denn dies war im Umgang mit der NS-Vergangenheit von Institutionen und Vereinigungen der verschiedensten Art und ihren Repräsentanten weithin üblich. Die erste Ringvorlesung zu den Universitäten und zu wissenschaftlichen Disziplinen im Nationalsozialismus wurde in meiner Studienzeit 1964 in Tübingen gehalten. Es vergingen dann zwanzig und mehr Jahre, bis die Geschichte einzelner Universitäten, Wissenschaften und Wissenschaftler sowie der großen Förderinstitutionen – Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, Notgemeinschaft – im »Dritten Reich« auch im Hinblick auf Kontinuitäten über die historischen Zäsuren 1933 und 1945 hinweg systematisch erforscht wurden. Bei der kritische Befragung der mit der Dokumentation und in ihr, freilich nur in Teilen, betriebenen Vergangenheitspolitik müsste diese also selbst historisiert, in ihren Bedingungen, Folgen und Funktionen reflektiert werden. Sie bleiben mit Ihren freihändig verteilten Schuldsprüchen indes fast immer dort stehen, wo weitergefragt werden müsste, so auch nochmals am Ende des Buches. Dort listen Sie 66 in den Kurzbiographien der Dokumentation genannte ehemalige Jugendbewegte auf, die nach Ihrer Durchsicht NSDAP-Mitglieder waren, und beklagen, dass die Parteimitgliedschaft nur von sechs Personen angegeben wurde. Ist historisch betrachtet anderes zu erwarten? Und wäre nicht weiter zu fragen, was es denn besagt, dass etwa jeder vierte der biographierten, überwiegend in staatsnahen Berufen tätigen ehemaligen Jugendbewegten Mitglied dieser mehr als zehn Millionen Mitglieder zählenden Staats-, Volks- und Massenpartei beigetreten ist? Wissen wir über den Nationalsozialismus oder zu-
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mindest die 66 ehemaligen Jugendbewegten und die Jugendbewegung mehr, seit wir dies wissen? Indem Sie so ganz in eingefahrenen Bahnen einer Aufarbeitung der NSVergangenheit verblieben sind, haben Sie es sich und den Ihnen folgenden Lesern zu einfach gemacht. Vielleicht lässt sich das eindringlicher als durch meine Kritik durch einige Zitate aus dem Schreiben begründen, das Fritz Borinski28 im Mai 1933 zur Selbstauflösung des mit der SPD, dem sozialdemokratischen Reichsbanner, der Freischar als größtem Bund innerhalb der bündischen Jugend und Einrichtungen der Arbeiterbildung verbundenen »Leuchtenburgkreis« jugendbewegter sozialdemokratischer Marxisten, verfasst hat:29 »Die Parteien und Organisationen haben versagt. Dreimal wurden sie überrumpelt und geschlagen: am 14. 9. 1930, am 20. 7. 1932 und am 5. 3. 1933. Mit dieser dreifachen entscheidenden Niederlage sind sie geschichtlich gerichtet. Gegenüber der jetzigen Revolution stehen wir in legaler nationaler Opposition. Wir sind nicht Bürger genug zum Überläufertum, nicht Verschwörer genug zur Illegalität. Jeder falsche Schein der Illegalität ist zu vermeiden. Ich halte auch eine illegale sture Opposition für verantwortungslos. Das deutsche Volk muss Hitler eine Chance geben. Schafft er es, erhöht er wirklich die Nation nach außen, hilft er wirklich den Millionen der Elenden und Arbeitslosen durch eine neue Wirtschaftsordnung, so haben wir diese Neuordnung zu bejahen. Der 5. März war keine blinde Gegenrevolution, kein blosses Zurück. Er hat zerstört, was morsch war, was wir bekämpften, aber nicht von innen her zerschlagen konnten. Er hat die revolutionären Fragen weitergetrieben, z. Tl. klarer und schärfer gestellt. Er hat uns von Halbheiten befreit: Weimarer Republik, Tolerierungspolitik, Spannung zwischen Parteierstarrung und bündischem Kreis. Hitler hat den Apparat zerschlagen. Nach dieser Richtung sind wir frei geworden […].« Potsdam, den 26. Januar 2015 Mit freundlichen Grüßen Günter Behrmann PS.: Ich hoffe, Sie bezweifeln nicht mehr, dass ich Ihr Buch gelesen habe. Zur eigenen Überprüfung meiner Kritik habe ich es in Teilen sogar mehrmals gelesen. Das Ergebnis widme ich der Erinnerung an meinen Freund Charles Foster, 28 Vgl. Sabine Andresen: Fritz Borinski, in: Stambolis: Jugendbewegt (Anm. 3), S. 161–172. 29 Archiv der deutschen Jugendbewegung, A 211: Fritz Borinski: Zur Lage, 2 S., maschinenschriftlich, mit einem handschriftlichen Vermerk von Mai 1933.
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der als transatlantischer »Netzwerker« in den Social Sciences mir und vielen anderen weit über das Studium hinaus mit kritischen Ratschlägen behilflich war. Als wir uns in Washington das letzte Mal sahen, bereitete er sich, obwohl schon schwer an Krebs erkrankt, auf eine große Fahrt durch Rumänien mit dem dort die Bundesrepublik vertretenden Meik Jovy vor.
Werkstatt
Maria Daldrup, Elija Horn
Jugendbewegungsforschung im Archiv der deutschen Jugendbewegung*
Zum zweiten Mal in Folge trafen sich vom 4. bis 6. April 2014 Nachwuchsforscher/innen im Archiv der deutschen Jugendbewegung (AdJb) auf der Burg Ludwigstein unweit Witzenhausens. Damit war dem Wunsch nach Fortsetzung des 2013 erfolgreich verlaufenen, interdisziplinär ausgerichteten Workshops zum Austausch über Forschungsarbeiten zur historischen Jugendbewegung sowie personellen Vernetzung entsprochen worden. Eingeladen hatte in diesem Jahr Yorck Müller-Dieckert (Northeim), begrüßt und unterstützt wurde die Veranstaltung von der Leiterin des AdJb Susanne Rappe-Weber (Witzenhausen) sowie Jürgen Reulecke (Gießen) als Vertreter der Stiftung Dokumentation der Jugendbewegung und des wissenschaftlichen Archivbeirats. Der Geschäftsführer der Jugendbildungsstätte der Jugendburg Ludwigstein, Stephan Sommerfeld (Witzenhausen), zeichnete als Einstieg in den Workshop eine Collage der aktuellen Entwicklungen um die Burg und erläuterte die Hintergründe, die im November 2013 zu der Entscheidung eines einjährigen Verbots jeglicher bündischer Veranstaltungen geführt hatten. Bereits in der nachfolgenden, kontroversen Diskussion wurde deutlich, wie schwierig Grenzziehungen gerade hinsichtlich von (noch oder nicht mehr) vertretbaren Wertvorstellungen einzelner bündischer Gruppierungen sind und wie wichtig ein offenes Gespräch auch in Zukunft bleiben muss, um das demokratisch-plurale Miteinander auf der Burg als anerkannter Bildungsstätte und Treffpunkt junger Menschen zu sichern. In seiner Darstellung biographischer und institutioneller Entwicklungen verdeutlichte Knut Bergbauer (Wuppertal) das noch immer bestehende Forschungsdesiderat einer Geschichte der jüdischen Jugendbewegung. Diese war keineswegs losgelöst von der sogenannten bürgerlichen Jugendbewegung in den 1910er-Jahren entstanden, wie beispielsweise die Referenz auf die »Meißner* Dieser Beitrag wurde online veröffentlicht: Tagungsbericht: Jugendbewegungsforschung im Archiv der deutschen Jugendbewegung, 04. 04. 2014–06. 04. 2014 Witzenhausen, in: H-SozKult, 04. 06. 2014, .
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Formel« belegt; zugleich waren sozialistische und zionistische Ideen gerade in den 1930er-Jahren von zunehmender Bedeutung. Mit Blick auf Breslau, einem der drei Zentren der jüdischen Jugendbewegung neben Berlin und Hamburg, verfolgte Bergbauer die strukturellen und inhaltlichen Dynamiken von den Gründungsjahren der jüdischen Jugendbewegung bis zu den mitunter erfolgreichen Bemühungen einzelner Gruppierungen, wie etwa der Werkleute, während des Nationalsozialismus den Mitgliedern die Möglichkeit zur Emigration zu bieten. Ulrich Linse (München) näherte sich in seinem Gastvortrag einem Ausschnitt der Biographie Walther G. Oschilewskis (1904–1987) bis 1933. Im Alter von 14 Jahren war »Oschi«, Sohn einfacher Berliner Arbeiter, erstmals zu einer Wandervogelgruppe gekommen. Aus der Verbindung dieser proletarischen Herkunft mit dem Zugehörigkeitsgefühl zum bürgerlichen Wandervogelmilieu resultierte ein Spannungsverhältnis, das durchaus Chancen des sozialen Aufstiegs barg, wie Linse in seiner Charakterisierung Oschilewskis als »Vorzeige-Bildungsbürger« verdeutlichte. Trotz weitgehender Verweigerung schulischer Leistung erhielt Oschilewski über jugendbewegte Strukturen Zugang zu politischem bis literarischem Bildungsgut. Erste schriftstellerische Gehversuche unternahm er in romantisierenden Schilderungen über das Leben von »Tippelbrüdern«, das er über einige Monate teilte. Prägend sei auch der Aufenthalt an der Heimvolkshochschule Dreißigacker, einer reformpädagogisch geprägten Lern- und Lebensgemeinschaft, gewesen. Anschließend habe ihn ein »Bildungsfimmel« gepackt, mit der Schriftstellerkarriere hingegen habe es vorerst nicht geklappt. Zu Beginn der 1930er-Jahre konnte er sich im Umfeld der Rabenpresse doch noch publizistisch etablieren. In seinen Erinnerungen deutete Oschilewski die Geschichte der Jugendbewegung als Bildungsgeschichte, was einerseits mit seiner Skepsis am bürgerlichen Bild vom Menschen als »individuellem Entfaltungswesen« zusammenhänge; andererseits sei diese Deutung wohl seiner persönlichen Geschichte geschuldet, wie Linse konstatierte. Hagen Stöckmann (Göttingen) thematisierte die nationalsozialistischen Ordensburgen, die als Teil der NSDAP den »Führernachwuchs«, sogenannte NSOrdensjunker, ausbilden sollten. Konzeptionell habe man sich nicht nur an Kadettenschulen, sondern auch an britischen Public Schools oder an reformpädagogischen Ideen wie Erlebniserziehung orientiert. Stöckmann betonte, dass zwar die Führungsebene der NSDAP jugendbewegtes Gedankengut ablehnte, unter den Lehrkräften aber viele in der Jugendbewegung sozialisiert worden waren. Verbindungslinien zwischen Jugendbewegung und Nationalsozialismus lassen sich, so seine These, insbesondere anhand der Kategorie des Raumes aufzeigen. Damit verknüpft ist die Frage nach den Konsequenzen von Indoktrination, oder allgemeiner : nach den Implikationen von Sozialisierungsräumen. Zugleich nahm er so die Bedeutung von Räumen institutioneller Erziehung
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als »Prestige-Orten« in den Blick, im Gegensatz zu jenen, in die man nach der Ausbildung »wandert«. Im Fall der Ordensjunker waren das häufig die als »nicht zivilisiert« geltenden Gebiete Osteuropas, wo sie in verschiedenen Funktionen – vom Verwaltungsbeamten bis hin zum Exekutionsausführer – eingesetzt wurden. Inhaltlich sollten die Ordensjunker in rassenideologischen Fragen sowie diplomatischen Umgangsformen oder Verwaltungstätigkeiten ausgebildet werden. Letztlich seien sie jedoch »Komparsen des Nationalsozialismus« gewesen, denn an den Ordensjunkern, die aus nahezu allen sozialen Milieus kamen, sollte gelingender sozialer Aufstieg demonstriert werden. Anhand der Biographien zweier jugendbewegt geprägter Akteure verdeutlichte Stöckmann, dass die Ordensjunker auch in einem spannungsreichen Verhältnis zur nationalsozialistischen Ideologie stehen konnten. Katholische Jugendgruppen im Zweiten Weltkrieg standen im Fokus des Vortrages von Verena Kücking (Köln). Auch nach ihrer zwangsweisen Auflösung Ende der 1930er-Jahre und der räumlichen Entzerrung durch den Kriegseinsatz ihrer Mitglieder, so Kückings zentrale These, bestanden viele dieser Gruppen fort. Ihre Kommunikation untereinander erfolgte vielfach über Feldpostbriefe, die im Rahmen des laufenden Dissertationsprojekts untersucht wurden. Dieser Quellenbestand – von der klassischen Feldpost zwischen Mitgliedern einer Pfarrjugend, Briefen eines Jugendkaplans bis zu Rundbriefen des Bundes Neudeutschland – erlaubte es, Netzwerk- und Raumdynamiken zu rekonstruieren und Themensetzungen wie etwa Literatur oder religiöse Fragen innerhalb der verlagerten Kommunikationsräume in den Blick zu nehmen. Solche Korrespondenznetzwerke nahmen, wie Kücking überzeugend darlegte, eine existentielle, vergemeinschaftende Bedeutung für ihre Mitglieder ein und vermochten es, den Fortbestand der Gruppe trotz Verbotes zu sichern. Ein kontroverses Thema stellte Sven Reiß (Kiel) in der Präsentation seines Dissertationsvorhabens vor: »Päderastie« als kulturelles Phänomen in der Jugendbewegung. Aktuellen Anlass dazu gaben erst jüngst öffentlich bekannt gewordene sexuelle Übergriffe in jugendbewegten Kontexten der vergangenen Dekaden. Reiss nähert sich der Frage aus kulturhistorischer Sicht vor dem Hintergrund ungeklärter Fragen, beispielsweise ob die Jugendbewegung signifikant gefährdeter sei als andere Räume (Sportvereine, Jugendzentren etc.) oder ob spezifische Strukturen in der Jugendbewegung »Päderastie« ermöglichen bis befördern. Referenzen sind dabei die Thesen zum mann-männlichen Eros Hans Blühers, das Eros-Konzept Gustav Wynekens, aber auch Biographien von weniger bekannten Akteuren, die bis weit in die 1990er-Jahre ihre Neigung zu älteren Jungen bzw. jungen Männern (teils offen) zeigten. Mit dem »Päderastie«Begriff, den er als einen kulturellen definiert, will sich Reiss von medizinischen bzw. juristischen Perspektiven absetzen. In der anschließenden, teils sehr lebhaften Debatte stand insbesondere die Gewichtung von »Päderastie« für eine
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Bewertung der Jugendbewegung insgesamt im Vordergrund. Reiss’ differenzierter Zugriff auf das Thema verdeutlichte demgegenüber die Notwendigkeit einer historischen Entflechtung bislang unsachgemäß vermengter Diskurse mit dem Ziel, mehr Klarheit über das Phänomen als solches herzustellen. Ein anderes Phänomen der historischen Jugendbewegung nahm Elija Horn (Hildesheim) in den Blick: die Rezeption Indiens. Diese Hinwendung zur indischen Kultur war innerhalb der Jugendbewegung nicht ungewöhnlich und zeigte sich beispielsweise auf einer religiös-philosophischen Ebene, wie sie in Publikationen der Freideutschen Jugend zum Tragen kam. In den Selbstbeschreibungen einer Indienfahrt (1927) des ohnehin für seine sogenannten »Grenzlandfahrten« bekannten Nerother Wandervogels lassen sich denn auch typische Narrative eines Orientalismus- und Exotismus-Diskurses erkennen: Bekannte Ost-West-Dichotomien durchsetzt mit rassistischen Implikationen sowie Abenteuer- und Gemeinschaftserlebnissen werden hier vor einer indischen Kulisse reproduziert. Diese dienen im Fall der Nerother einer Demonstration der eigenen kulturellen Überlegenheit sowie eigener Männlichkeitskonzepte. In Freideutschen Kontexten wurden orientalistische Diskurse zur Selbstverortung und -legitimation genutzt, meist um Auswege aus einer als krisenhaft wahrgenommenen Gegenwart zu finden. Katharina Schulz (Berlin) bot eine Gesamtschau jüdischer Pfadfinderbünde in der Zwischenkriegszeit. Dazu zählen unter anderem Kadimah, Zofim, Das Schwarze Fähnlein oder Makkabi Hazair. Ausführlich stellte sie die Gruppen anhand geographischer Verortung, Mitgliederzahlen und von Vergleichen, beispielsweise bezüglich der Ausrichtung einzelner Bünde (Ost- oder Westjudentum, zionistisch bis loyal dem Deutschen Reich gegenüber etc.), vor. In ihrer im Werden begriffenen Masterarbeit möchte Schulz jüdische Pfadfinder nicht nur in den Kontext der jüdischen Jugendbewegung Deutschlands einordnen, sondern in eine deutsche Pfadfindergeschichte, sodass auch eine Kontrastierung mit nicht-jüdischen Bünden erfolgte. Schulz konstatierte insbesondere eine Zäsur hinsichtlich der inhaltlichen Ausrichtung der jüdischen Pfadfinder 1933: Ab jenem Jahr habe die Verwendung jüdischer Begriffe in den Organen maßgeblich zugenommen und die Verwirklichung des Chaluz-Gedanken sei stärker in den Vordergrund getreten. Die Figur Otto Abetz beleuchtete Matthew Peaple (Karlsruhe) in seinem biographisch ausgerichteten Vortrag. Zentral war hierbei nur am Rande dessen bedeutende wie kontrovers zu interpretierende Rolle in der Geschichte deutschfranzösischer Beziehungen während der Zwischenkriegszeit, sondern vielmehr ein Rekurs auf Abetz’ Biographie vor 1933. Diese Phase stellt ein bislang unterbelichtetes Kapitel seines Lebens dar, ihre Wirkung ist jedoch kaum zu unterschätzen – nicht zuletzt, weil er als Mitglied des Wandervogels diese Zeit nachträglich als »entscheidendes Jugenderlebnis« bezeichnete. Gerade über
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Denk- und Wertvorstellungen aus seiner jugendbewegten Selbstverortung lässt sich seine Tätigkeit im Nationalsozialismus deutlicher konturieren und einordnen. Hierzu zeigte Peaple einerseits den Verlauf von Kindheit und Jugend Abetz’ bis hin zu den Jahren als Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft Karlsruher Jugendbünde von 1927 bis 1933. Andererseits beleuchtete er dessen politische Vorstellungen über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft des Deutschen Reiches anhand von autobiographischen Texten, immer mit Blick auf die Verbindungen zur Jugendbewegung und ihrer möglichen Prägekraft auf sein »Menschenbild«. Maria Daldrup (Witzenhausen) eröffnete einige Einblicke in das im AdJb angesiedelte laufende DFG-Projekt zur Digitalisierung und Erschließung des Fotografennachlasses von Julius Groß (1892–1986). Dafür stellte sie zunächst den Gegenstand vor: Eine Sammlung von ca. 40.000 Bildern aus den Jahren 1908 bis 1933 wird für die wissenschaftliche Nutzung über die Online-Datenbank ARCINSYS zugänglich gemacht. In einem Überblick über Biographie und Werk von Groß wies Daldrup auf die Zusammenhänge zwischen der typischen Bildästhetik des wohl wichtigsten Wandervogel-Fotografen und seinen persönlichen, stark jugendbewegt geprägten Ansichten hin: Romantisch stilisierte Abbildungen der Natur und des Wander- und Gemeinschaftserlebnisses gehen Hand in Hand mit zivilisationskritischen Perspektiven und auf Ganzheitlichkeit abhebende Sehnsüchte im Wandervogel. Schließlich machte die Rednerin auf verschiedene Herausforderungen der für die Erschließung notwendigen Arbeitsschritte aufmerksam und erläuterte, wie sie und ihr Projektkollege Marco Rasch hiermit umgehen. Auch verwies sie auf die Potentiale, die gerade in einer seriellen Auswertung der Groß’schen Fotografien liegen. Das gezeigte Bildmaterial sprach nicht nur für sich, sondern unterstrich Daldrups implizite Aufforderung, diesen sukzessive bis Juli 2015 vollständig online stehenden Nachlass intensiv für wissenschaftliche Arbeiten zu nutzen. In einem abschließenden Kommentar verwies Jürgen Reulecke (Gießen) noch einmal auf die Notwendigkeit einer differenzierten historischen Jugendbewegungsforschung insbesondere im Hinblick auf kulturgeschichtliche Fragestellungen. Zugleich betonte er die Bedeutung der Sammlung und Sicherung archivalischer Quellen zur Jugendbewegung, wie sie etwa im AdJb betrieben wird, und ihrer fachgerechten Vermittlung im gesellschaftlichen Kontext. Gerade im Windschatten aktueller Diskussionen um die Jugendburg Ludwigstein ist es unabdingbar, sich weiterhin besonders mit den personellen, institutionellen und ideellen Kontinuitäten und Brüchen der historischen Jugendbewegung dezidiert auseinanderzusetzen und zugleich Einzelphänomene wie Raumkonstrukte, Emotionen oder Subjektivierungsformen in den Blick zu nehmen. Hierfür wird 2015 im Rahmen des dritten Workshops zur Jugendbewegungsforschung wieder genügend Raum geboten.
Elija Horn
Orientalismus und Exotisierung in Texten zur Indienfahrt des Nerother Wandervogel
Wenn heute von den weltumspannenden Fahrten des Nerother Wandervogel während der 1920er-Jahre gesprochen wird, dominiert deren positive Deutung. Vor allem die Weltoffenheit des Bundes und die von ihm vorangetriebene Wissensvermittlung über andere Kulturen durch die öffentlichen Diavorträge über die Reisen werden gelobt.1 Mithilfe des von Edward Said entwickelten Konzepts des Orientalismus nehme ich im Folgenden eine andere Deutung der »Indienfahrt« der Nerother vor.2 Dabei argumentiere ich, dass die beteiligten Nerother nicht nur mit konkreten, überwiegend stereotypen und ihre Wahrnehmung lenkenden Vorstellungen von Indien auf den Subkontinent reisen, sondern dass sie das Land als kontrastive Folie nutzen, um Überlegenheit zu demonstrieren und sich selbstaffirmativ zu positionieren. Quellengrundlage sind die von den Nerothern publizierten schriftlichen Reisedokumentationen. Elf Mitglieder des Nerother Wandervogel begeben sich Ostern 1927 unter Leitung von Robert Oelbermann auf die Indienfahrt, von der sie ein knappes Jahr später zurückkehren. Derartige Auslandsfahrten sind ein charakteristisches Merkmal der Nerother, einem um 1920 von Karl und Robert Oelbermann gegründeten Jungenbund. Das gemeinsame Erleben von Abenteuern und Romantik, die Erfahrung von Natur und geheimnisvoll-mythischen Momenten gilt als bedeutsam; darüber zu reflektieren ist weniger wichtig.3 Die 1922 erstandene Ruine Waldeck soll als Jugendburg das Zentrum der Nerother Aktivitäten bilden. Die internationalen Reisen, die auch als »Kreuzzüge«4 bezeichnet werden, ordnen sich nicht nur der Finanzierung für die Bauvorhaben auf der Waldeck unter, 1 Vgl. u. a. Stefan Krolle: »Bündische Umtriebe«. Die Geschichte des Nerother Wandervogels vor und unter dem NS-Staat : ein Jugendbund zwischen Konformität und Widerstand (Geschichte der Jugend 10), Münster 1985, S. 26. 2 Edward Said: Orientalism, New York 1979. 3 Vgl. u. a. Robert [Oelbermann]: Vorwort. Auf der Heimreise von der Indienfahrt, in: Der Herold. Bundesorgan des Nerother Wandervogels Deutscher Ritterbund, 1928 a, Nr. (7), S. [1] ff. 4 Ebd., S. [2].
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sondern sind zudem Ausdruck eines für die Nerother typischen Lebensgefühls.5 Mit »romantischen Fahrten«wollen sie sich ihre Jugend erhalten, wie Oelbermann 1921 im Wandervogel schreibt.6 De facto sind die abenteuerlichen Reisen in ferne Länder ein Alleinstellungsmerkmal, mit dem sich die Nerother von anderen Bünden und einem kritisch gesehenen Globetrottertum absetzen wollen. Nicht zuletzt stellt Robert Oelbermann die Fahrten in den Dienst des guten Ansehens Deutschlands in der Welt: »Neben der Durchführung unserer Fahrten unternehmen wir damit wertvolle Propaganda für das Deutschtum im Auslande […].«7 Auch setzt man auf das Fernweh jener Jungen, die ihren Alltag in der krisengeschüttelten Weimarer Republik gern gegen eine Reise in die vermeintliche Unbeschwertheit exotischer Länder tauschen würden.8 Die Indienfahrt 1927/28 erfüllt diese Zwecke gut. Mit den Bildern, Filmen und Publikationen, die im Nachgang vermarktet werden, finanzieren die Nerother nicht nur offene Rechnungen ihrer Reise, sondern führen auch der Burg Mittel zu.9 Für die Analyse aller anderen genannten »Zwecke« konzentriere ich mich im Folgenden auf das von Robert Oelbermann herausgegebene, von Karl Mohri und Otto Wenzel verfasste Heft »Indienfahrt« des Nerother Wandervogel Deutscher Ritterbund, erschienen 1928 in Plauen.10 Im Geleitwort schreibt Oelbermann: »Indienfahrt! Wie viele junge Menschen der Jugendbewegung haben in ihren tiefsten Träumen sich nach einer Indienfahrt gesehnt und wie viele heimliche Pläne sind schon gemacht worden, um das geheimnisvolle Wunderland im Osten zu erreichen. Den Nerothern ist es gelungen, eine Indienfahrt durchzuführen, […].«11
Der Appell an die seinerzeit nicht seltene Indiensehnsucht erscheint programmatisch: im Rückgriff auf die dem Subkontinent zugeschriebene Exotik und Mystik wird Aufmerksamkeit erzeugt, und zwar nicht für Indien, sondern für die 5 Vgl. Robert Oelbermann: Die Idee des Nerother Bundes, in: Werner Kindt (Hg.): Die Deutsche Jugendbewegung 1920 bis 1933. Die bündische Zeit: Quellenschriften (Dokumentation der Jugendbewegung 3), Düsseldorf, Köln 1974, S. 224. 6 Robert Oelbermann: Die Gründung des Nerother Bundes, in: Wandervogel (Gelbe Zeitung), 1921, Heft 5/6. 7 Oelbermann: Idee (Anm. 5), S. 224. 8 Vgl. Robert Oelbermann: Nerother Auslandsfahrten, in: Der Herold. Bundesorgan des Nerother Wandervogels Deutscher Ritterbund, 1930, Nr. 15/16, S. 36f. 9 Vgl. Karl Oelb[ermann]: [Chronik der Nerother], in: Der Herold. Bundesorgan des Nerother Wandervogels Deutscher Ritterbund, 1930, Nr. 13/14, S. 42f. 10 Beworben wurde das Heft wie folgt: »Das Indien-Heft der Nerother ist erschienen. Das Heft enthält 16 Bilder und ausführliche Berichte von allen wesentlichen Geschehnissen der Fahrt; für Pimpfenwerbung vorzüglich geeignet. Jeder Nerother sollte dieses Heft besitzen, denn die Indienfahrt ist bis jetzt das gewaltigste Ereignis des Bundes. […] Preis: RM 1,50«; Das Indienheft, in: Der Herold. Bundesorgan des Nerother Wandervogels Deutscher Ritterbund, 1929, Nr. 8, S. 28. 11 Robert Oelbermann: Indienfahrt des Nerother Wandervogel Deutscher Ritterbund 1927/28 (Grenzlandfahrten deutscher Jugend 5), Plauen 1928, S. 2.
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Nerother.12 Dabei macht der Bund sich die gängige Indienbegeisterung der Deutschen jener Zeit zu Nutze. Zivilisationskritische Diskurse, die die Sehnsucht der Jugendbewegten nach Natürlichkeit und Harmonie widerspiegelen, bedient Oelbermann, indem er konstatiert, dass sich Indien den Nerothern »besonders dort am stärksten offenbart [hat], wo es sich unberührt und unzerstört von der Zivilisation erhalten hat.«13 Das so evozierte Bild Indiens lässt die Doppelgesichtigkeit von Exotisierungsprozessen sichtbar werden: einerseits wird ein vermeintlich positives Gegenbild der eigenen Realität konstruiert, andererseits greift man dafür auf Stereotype zurück, die, ins Negative gewendet, deutlich xenophobe Merkmale aufweisen können14. Die Pädagogen/ Ethnologen C.-M. Danielzik und D. Bendix verweisen auf die Perfidie des Exotismus, der sich »als harmlose Faszination für das ›Fremde‹« geriere, aber dabei »nicht zu trennen [ist] vom Streben nach Beherrschung.«15 Indien wird so zum fetischisierten Objekt, welches in den Dienst einer Kritik am Westen gestellt wird. Exotismen finden sich auch in jenen Passagen der Indienfahrt, in denen die Schilderungen in deutlicher Anlehnung an zeitgenössische Abenteuerromane und orientalistische Märchen verfasst sind, so z. B. über den Besuch beim Maharaja in Chittogarh, der – den »gebogenen indischen Säbel« gezückt – im Marmorpalast residiert, umgeben von Reichtum, »Gold und Edelsteinen«, devoten Dienern und treu ergebenen Gefolgsmännern.16 So stellt man sich Indien vor: märchenhaft, zeitlos und schön! Aber auch die Horror und Schrecken auslösenden Seiten des Subkontinents, vor allem in der tropischen, als unheimlich empfundenen Natur lokalisiert,17 werden beschrieben: »Es ist Mitternacht. Schwarz und undurchdringlich starrt im Kreise der Wald. Das Feuer, an dem die Wache sitzt, ist niedergebrannt […]. Regungslos, wie in schwarze Särge eingebettet, liegen die Kameraden unter ihren Decken. Ein unsichtbarer Nachtvogel kreist im Tale, wehklagende Töne ausstoßend […] Plötzlich fährt der Wachhabende in die Höhe. Zur rechten im Wald ist ein scharfes, fauchendes Knurren ertönt. Er richtet sich auf und geht ein paar Schritte darauf zu. Da ertönt es noch 12 Siehe in der Jugendbewegung populäre Bücher wie Hermann Hesses Siddharta (1922); Oelbermann beruft sich dezidiert auf Hesse; [Oelbermann]: Vorwort (Anm. 3), S. [3]. 13 Oelbermann: Indienfahrt (Anm. 11), S. 2. 14 Das ist ablesbar in Texten zum Besuch Rabindranath Tagores auf der Burg Waldeck im Sommer 1930, in denen der bengalische Dichter herabwürdigend dargestellt wird. Vgl. u. a.: Nerohm: Die letzten Wandervögel. Burg Waldeck und die Nerother. Geschichte einer Jugendbewegung, Baunach 1995, S. 30ff. 15 Chandra-Milena Danielzik, Daniel Bendix: Exotismus. »Get into the mystery…« der Verflechtung von Rassismus und Sexismus, hg. v. freiburg-postkolonial, 2010, verfügbar unter : http://www.freiburg-postkolonial.de/Seiten/2010-Danielzik-Bendix-Exotismus.htm [30. 09. 2013]. 16 Oelbermann: Indienfahrt (Anm. 11), S. 11. 17 Siehe auch Joseph Conrad: Herz der Finsternis, Erstveröffentlichung unter dem Titel »Heart of Darkness«, London 1899.
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einmal, grollend und fauchend in höchster Wut, dass er zusammenzuckt […] und kalte Schauer über seinen Rücken laufen. Und jetzt weiß er […], wo er diese Töne schon einmal gehört hat: Das war in der Menagerie, wenn sich die Tiger und Panther um den besten Fleischbrocken rissen. Schnell geht er zurück und legt trockenes Holz auf das Feuer, bis es hoch aufflammt und die nächste Umgebung hell erleuchtet. Aber nichts weiter ertönt […].«18
In dieser Szene, die sich ähnlich in einem Abenteuerroman der Jahrhundertwende finden ließe,19 wird gekonnt mit den Stilmitteln des Genres gearbeitet: in einer morbide-bedrohlichen Kulisse muss sich der allein die Verantwortung tragende Mann bewähren. Er gerät nicht in Panik, begreift die Lage, reagiert entschlossen und ohne viel Aufhebens davon zu machen. Sein beherztes Handeln rettet die schlafenden Kameraden. Hier wird Indien zur bloßen Kulisse der Selbstbehauptung der Nerother. Der Mythos des beherrschten, rational handelnden, einsamen und seinen Kameraden treu verbundenen Mannes wird erzählt, und das nicht zuletzt vor dem Hintergrund des Nerother Ideals von Männlichkeit.20 Absetzen können sie sich so auch von dem Maharaja in Chittogarh, der zwar mit seiner Entourage beeindruckt, sich aber letztlich doch als geschmackloser und offenbar ungebildeter Orientale entpuppt, als er den Nerothern stolz einige seiner Gemächer zeigt, in denen sie auf ein »merkwürdige[s] Gemisch von indischer Kunst und europäischem Kitsch« treffen, darunter »eine schreiend bunte Porzellanuhr, wie sie zu Dutzenden bei den Althändlern herumstehen«.21 Im Degoutieren des Nebeneinanders von »feinsten indischen Kunstwerken«22 und billigem Trödel demonstrieren sie ihre Überlegenheit: die Nerother wissen, was wirklich wertvoll ist, wohingegen der Maharaja – ähnlich den Angehörigen »primitiver« Völker – den Unterschied nicht kennt. Diese Passage ist zudem ein Paradebeispiel für Saids Konzept des Orientalismus. Im Rückgriff auf Foucault und Gramsci formuliert Said die These, dass durch die Erforschung des Raumes, der als Orient bezeichnet wird, westliche Gelehrte die Deutungsmacht über jenes 18 Oelbermann: Indienfahrt (Anm. 11), S. 10. 19 In der »Indienfahrt« von Oelbermann (Anm. 11), S. 7) finden sich konkrete Verweise auf orientalistische Abenteuerromane, z. B. auf Maximilian Kern: Im Labyrinth des Ganges (Kamerad-Bibliothek), Stuttgart: Union Verlag 1907. Dort wurden auch orientalistischexotistische Werke von Karl May veröffentlicht. Eine qualitativ ähnliche Szene in der Indienfahrt ist jene der Tigerjagd im Dschungel; Oelbermann: Indienfahrt (Anm. 11), S. 25. 20 Frauen spielen keine Rolle, die Nerother treffen nahezu ausschließlich auf Jungen und Männer. Eines der Indien-Klischees, das sie – ganz in dieser Linie – nicht reproduzieren, ist der Mythos vom orientalischen Harem, der sonst gerade von männlichen Autoren gern bedient wird. Der Verzicht der Nerother auf dieses Versatzstück ist wahrscheinlich in ihrem latenten Antifeminismus und der im Bund weitgehend tabuisierten Sexualität begründet. 21 Oelbermann: Indienfahrt (Anm. 11), S. 11. 22 Ebd.
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Gebiet hergestellt und so den Orient erst diskursiv hervorgebracht hätten. Prozesse der Exotisierung, Essentialisierung und Enthistorisierung des Orients erachtet Said dabei als zentral. Unter den Verhältnissen von Kolonialismus und Imperialismus seien diese Prozesse nicht nur möglich, sondern auch nötig gewesen, um die Machtansprüche des Westens zu legitimieren. Das Sprechen über »den Orient« diene somit gleichzeitig der Herstellung und Affirmation der eigenen westlichen Identität, wohingegen »der Osten« als in der Regel inferiores Gegenbild von sich selbst benötigt worden sei.23 Die Nerother wissen mit der dem Orientalismus typischen Ambivalenz aus Faszination und Abgrenzung angesichts indischer Szenarien zu spielen: »Enge düstere Straßen, erfüllt von süßlichem Fettdunst, führen zum Tempel DargahKhwaja-Sahib. Auf der großen freien Treppe vor dem Eingangstor entledigen wir uns unserer Schuhe, treten ein. Vielgestaltige Höfe und Gänge führen zum Grabmal des Heiligen Muin-Ud-din-Chishti. Drei silberne Türen verschließen das Innere, nur die mittlere ist geöffnet. Pilger knien nieder, küssen die Schwelle, berühren sie mit der Stirn und gehen dann hinein, um zu beten. Und nur rückwärts schreitend, die Hände gefaltet, dürfen sie das Heiligtum verlassen. An der Moschee Sha Jehan’s vorbei gehen wir wieder hinaus. Leise Gebete murmelnd hängt uns ein Priester duftende Jasminkränze um die Schultern.«24
Die hier aufgerufene Szenerie verdeutlicht, wie die Nerother einerseits Indien exotisieren, es in einem Prozess des Othering als sowohl faszinierend und gleichzeitig fremd und unheimlich darstellen; andererseits bewegen sie sich darin souverän und werden vom Priester, einer lokalen Autorität, voller Ehrerbietung behandelt. Auch das ist eine machtvolle Stellung: sich inmitten unverständlicher Vorgänge zu befinden, aber nichts erklären zu müssen. Die Nerother brauchen nicht zu verstehen, warum die Straßen düster und von Fettdunst getränkt sind: Armut und Unterdrückung, von der sie als Weiße im Fahrwasser der Kolonialherren profitieren, sind weit weniger attraktiv als das Geheimnisvolle. Damit zum letzten Punkt: wie die Nerother selbst gelegentlich erwähnen, und wie es auch ihre Chronisten betonen, soll die Auseinandersetzung mit »den kulturellen Werten und Normen fremder Völker« Bestandteil der Fahrten sein.25 Gerade die zuletzt zitierte Passage zeigt, dass die Nerother wenig Interesse daran zeigen, die indischen Gegebenheiten zu verstehen. Auch geben ihre Berichte keine Hinweise darauf, dass Kontakte zur durchschnittlichen Bevölkerung auf23 Vgl. Edward Said: Orientalism, New York 1979. Es sei hier darauf verwiesen, dass Saids Konzept bis heute kritisch diskutiert wird, siehe dazu: Felix Wiedemann: Orientalismus. Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte 19 (4), verfügbar unter http://docupedia.de/zg/ Orientalismus?oldid=84646 [03. 07. 2013]. 24 Oelbermann: Indienfahrt (Anm. 11), S. 9. 25 Krolle: Umtriebe (Anm. 1), S. 26.
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genommen werden. Die Nerother gastieren meist bei in Indien lebenden Deutschen, bei wohlhabenden, in Städten wohnenden indischen Familien oder in kolonialen Einrichtungen. In ihrer Untersuchung orientalistischer Abenteuerliteratur verweist Berman auf deren Verbindungslinien zum Kolonialismus und das Verhältnis von Imagination und Erfahrung. Sie stellt fest, dass »die Begegnung mit dem Anderen […] auf Imagination beruht […] [und] durch das Selbstverständnis bedingt ist«, und zwar auch in der Realität, nicht nur in den fiktionalen Texten.26 Die Nerother wissen, wie sie Indien und die dortige Bevölkerung zu sehen haben. Wenn Berman feststellt, »dass die zunächst nur als spannend, unterhaltend, romantisierend […] gesehenen Darstellungen der Fremde in einer Wechselbeziehung zur deutschen Wirklichkeit standen«,27 so gilt das auch für die Nerother Indienfahrt. Koloniale Anklänge sind nicht zu überhören, wenn Oelbermann schreibt: »In unserer Jugend steckt ein unbändiger Drang nach Ferne und Weltenweite. Diesen Drang in rechter Weise einer gesunden Bewegung dienstbar zu machen ist die Aufgabe unseres Bundes. Aus den Jungen sollen unserem deutschen Lande einmal Männer erwachsen, die befähigt sind, für Volk und Heimat das Beste zu leisten.«28
26 Nina Berman: Orientalismus, Kolonialismus und Moderne. Zum Bild des Orients in der deutschsprachigen Kultur um 1900, Stuttgart 1997, S. 39. 27 Ebd., S. 46f. 28 Oelbermann: Indienfahrt (Anm. 11), S. 2.
Rezensionen
Dirk Schumann
Christian Niemeyer: Die dunklen Seiten der Jugendbewegung. Vom Wandervogel zur Hitlerjugend, Tübingen: A. Francke Verlag 2013, 272 S., ISBN 978-3-7720-8488-1, 29,99 E
Wie ausgeprägt die Kontinuitätslinien waren, die den Wandervogel und die Hitlerjugend miteinander verbanden, und in welchem Maß eine Sozialisation in der Jugendbewegung für eine spätere Mitwirkung an den NS-Verbrechen disponierte, ist eine seit Jahrzehnten in der Forschung kontrovers diskutierte Frage. Die Auseinandersetzung darüber hat mittlerweile an Schärfe verloren, doch, wie die zu rezensierende Publikation zeigt, bringt sie weiterhin sehr engagierte Debattenbeiträge hervor. Der mit einigen Arbeiten zur Geschichte der Jugendbewegung bereits hervorgetretene und außerdem als Nietzsche-Experte ausgewiesene Sozialpädagoge Christian Niemeyer verfolgt mit seiner im Jahr des Meißner-Jubiläums erschienenen Studie zwei Hauptziele. Zum einen will er darlegen, wie die von Werner Kindt herausgegebene dreibändige Edition von Schriften der Jugendbewegung in den 1960er- und 1970er- Jahren durch Verkürzungen und Auslassungen ein apologetisch verfälschendes, Bezüge zum Nationalsozialismus marginalisierendes Bild der Jugendbewegung präsentierte. Zum anderen, das ist die weiter reichende Intention, will er zeigen, wie sehr schon der Wandervogel von völkisch-antisemitischem Gedankengut geprägt war und somit eine klare, von der bündischen Jugend nach 1918 vermittelte Verbindungslinie von ihm zum Nationalsozialismus führte. Damit wendet sich Niemeyer gegen die »bisherige, mehrheitlich ›verehrende‹ Geschichtsschreibung« (S. 17) zur Jugendbewegung, die für ihn vor allem von denjenigen Historikerinnen und Historikern betrieben wird, die mit dem Archiv der deutschen Jugendbewegung in Verbindung stehen, an erster Stelle Jürgen Reulecke. Schließlich geht es Niemeyer darum, den »wahren« Nietzsche gegen seine Vereinnahmung als Teil der Jugendbewegungstradition durch zeitgenössische Akteure und durch die Historiographie in Schutz zu nehmen. Zu diesem Punkt, der im Folgenden nicht weiter behandelt werden soll, führt Niemeyer triftige Argumente an. Dazu sei angemerkt, dass es für die Wirkungsgeschichte eines Autors allerdings nicht entscheidend ist, ob er richtig oder falsch interpretiert, sondern in welchem Ausmaß er überhaupt rezipiert wird. Seine Befunde erarbeitet Niemeyer mittels einer »kritischen Personen- und
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Dogmengeschichte« (S. 13). Eine Sozialgeschichte der Jugendbewegung hält er für ebenso unergiebig wie eine Organisationsgeschichte, ohne dass dies den LeserInnen genauer erläutert würde. Von der neueren Kulturgeschichte, die etwa anregende körper- oder geschlechtergeschichtliche Perspektiven offeriert, ist gar nicht die Rede. Methodisch handelt es sich also um eine konventionelle Arbeit, was dem Erkenntnisgewinn doch klare Grenzen setzt. Nach zwei knappen einführenden Abschnitten zum Ansatz und zu den »Mythen« der Jugendbewegungshistoriographie geht es im ersten Hauptkapitel um die Kindt-Edition. Die vier folgenden Kapitel behandeln die Genese des Wandervogels, seine ideologischen Ahnherren Langbehn und Lagarde, besonders ausführlich dann ideologische Grundmuster, die den Wandervogel über die Bündische Jugend mit dem Nationalsozialismus verbinden, und schließlich, deutlich knapper, das Meißner-Fest 1913. Das letzte Kapitel greift die Kontinuitätsfrage noch einmal auf, ein Epilog bündelt die Befunde zur These von einer »zweiten Schuld« (S. 206) der Jugendbewegungsveteranen, zu der dann eine »dritte Schuld« (ebd.) der Jugendbewegungshistorie getreten sei. Niemeyers Ausführungen zur Kindt-Edition machen deutlich, dass diese der zu Beginn der 1960er-Jahre von Walter Laqueur und Harry Pross vorgetragenen scharfen Kritik an der Jugendbewegung ein vermeintlich objektives Bild entgegensetzen sollte, das den reformerisch-unpolitischen Charakter der Bewegung betonte und einen klaren Trennungsstrich zum Nationalsozialismus zog. Überzeugend belegt wird diese Intention erstens anhand der im Archiv der deutschen Jugendbewegung verwahrten Korrespondenz Werner Kindts, unter anderem mit Theodor Schieder, dem ersten Vorsitzenden der begleitenden wissenschaftlichen Kommission. Zweitens arbeitet Niemeyer heraus, wie Quellen für den Abdruck so gekürzt wurden, etwa in »Der Weiße Ritter« von 1920/21 oder in einem Aufruf des Artamanen-Vordenkers Willibald Hentschel von 1923, dass antisemitische, antislawische und eine gewaltsame Ostexpansion befürwortende Aussagen verschwanden. Drittens macht er auf die Lücken in einer Reihe von Kurzbiographien der Beiträger zur Edition aufmerksam, die deren NS-Belastungen ausblendeten, so etwa im Fall des »Adler und Falken«Führers Alfred Pudelko, der schon 1925 zur NSDAP stieß, SS-Mitglied und hochrangiger RSHA-Mitarbeiter war, oder des österreichischen WandervogelMitglieds Karl Thums, der sich schon seit 1931 in der Partei, der SA und im NSÄrztebund betätigte, seit 1940 als Direktor eines Instituts für Erb- und Rassenhygiene an der Prager Karls-Universität fungierte und nach 1945 durch rechtsextremes Engagement auffiel. Die Zusammensetzung des Freideutschen Kreises Hamburg, zu dem zahlreiche ehemalige NSDAP-Mitglieder zählten (was Ann-Kathrin Thomm 2010 herausgearbeitet hat) und dem Kindt angehörte, ist ein zusätzliches Indiz für die apologetische Zielsetzung, die dieser mit der Edition verfolgte.
Christian Niemeyer: Die dunklen Seiten der Jugendbewegung
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Somit vermag Niemeyer durchaus zu überzeugen, was das erste, engere Hauptziel seiner Studie angeht, auch wenn man über einzelne Interpretationen streiten kann, wie etwa die von Schieders Verhalten in der NS-Zeit und seiner schließlich aufgegebenen Beteiligung an der Kindt-Edition. Ganz anders sieht es beim zweiten Hauptziel aus. Gewiss ist es verdienstvoll, auf problematische Positionierungen im Gründerkreis des Wandervogels hinzuweisen, etwa auf Blühers Antisemitismus oder auf die antisemitischen und antipolnischen Aussagen des lange nur als harmloser Heimatdichter und Sozialreformer wahrgenommenen Heinrich Sohnrey. Aber macht dies »die Vorkriegsjugendbewegung« (S. 75), wie Niemeyer meint, insgesamt zu einem völkischen Unternehmen? Ähnlich gewagt und schon sprachlich unscharf erscheint die aus der zutreffend beobachteten Militarisierungstendenz im Wandervogel abgeleitete These, am Vorabend des Meißner-Fests habe es »mehrheitlich« in Deutschland wie in Österreich eine »Stimmung« gegeben, die »auf Krieg im Sinne des Festzurrens von so etwas wie männlicher Tatkraft und Verteidigungsbereitschaft im Dienste einer deutsch-völkischen Leitkultur« (S. 165) abgezielt habe. Für die langen Kontinuitätslinien des Antislawismus, Antiurbanismus, Antiintellektualismus und Antisemitismus, die Niemeyer vom Wandervogel zur Hitlerjugend ziehen will, findet er zwar Ansatzpunkte in der Zeit vor 1914, die meisten Belege stammen aber aus der Nachkriegszeit und sind vornehmlich dem völkischen Teil der Jugendbewegung zuzurechnen. Niemeyers Argumentation gerät streckenweise zu einer Aneinanderreihung von Beobachtungen zur Biographie von Akteuren und Werken aus der völkischen Szene im Kaiserreich und in der Weimarer Republik überhaupt, deren Verbindung zur Jugendbewegung manchmal mehr suggeriert als nachgewiesen wird, so im Fall des besonders widerlichen antisemitischen Romans »Die Sünde wider das Blut« (1918) von Artur Dinter. Wenn Niemeyer am Ende festhält, das deutlich wahrnehmbare Wachstum der HJ schon 1932 sei nicht zu erklären »ohne die Vorgeschichte der in diese Richtung weisenden Teile der bündischen Jugend« (S. 202), dann ist dies eine im Verhältnis zum eingangs formulierten Ziel, die dominante Kontinuitätslinie herauszuarbeiten, recht verhaltene und wohl kaum Widerspruch hervorrufende These. Wie in den großen Synthesen zur Geschichte des Kaiserreichs von Thomas Nipperdey und Hans-Ulrich Wehler aus den 1990er-Jahren nachzulesen ist, hat die Historikerzunft schon damals die dunklen Seiten der Jugendbewegung bereits des Kaiserreichs sehr wohl gesehen. In eigenartigem Kontrast zur zurückgenommenen Formulierung der Kontinuitätsthese am Ende des Buches steht der Niemeyers gesamte Studie durchziehende überaus kleinliche und bisweilen auch verzerrende (so etwa auf S. 48/49 und S. 140 gegenüber Jürgen Reulecke) Umgang mit Aussagen anderer ForscherInnen, die Niemeyer für schönfärberisch hält. So ist seine These von einer »zweiten Schuld« der Vete-
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Dirk Schumann
ranen der Jugendbewegung nach 1945 zwar insgesamt plausibel. Die Aussage, »(e)iniges aus dem Vorhergehenden« spreche dafür, »einem Teil der heute in der Burg Ludwigstein agierenden Alterskohorte der zwischen 1935 und ca. 1955 geborenen Jugendbewegungshistoriographen infolge falsch verstandener Pietät oder wegen zu großer Nähe zum Gegenstand eine, so betrachtet, dritte Schuld aufzuladen« (S. 206), überzeugt dagegen sprachlich ebenso wenig wie in der Sache. So bleibt der Eindruck eines in Teilen durchaus ertragreichen und wichtigen Buches, das schließlich aber am überzogenen eigenen Anspruch scheitert, noch dazu in einem auftrumpfend-selbstgewissen Stil, den man niemandem zur Nachahmung empfehlen möchte.
Justus H. Ulbricht
Gideon Botsch, Josef Haverkamp (Hg.): Jugendbewegung, Antisemitismus und rechtsradikale Politik. Vom »Freideutschen Jugendtag« bis zur Gegenwart (Europäisch-Jüdische Studien. Beiträge 13), Berlin, Boston: Walter de Gruyter 2014, 294 S., ISBN 978-3-11-030622-4, 89,95 E Im Mai 1913 erschütterte ein »Fall von Antisemitismus« (Andreas Winnecken) den noch jungen Wandervogel, hatte man doch in Zittau einem Mädchen den Beitritt zum Bund verwehrt, weil sie »Jüdin« war. Sofort entbrannte in den Blättern der Bewegung, aber auch in Teilen der zeitgenössischen Tagespresse, eine Debatte um die »Deutschheit« der bürgerlichen Jugendbewegung und die Zugehörigkeit von Mitbürgern jüdischen Glaubens oder gar »jüdischen Rasse« zur deutschen Kultur. Im Jahr 1912 hatten ähnliche Fragen die Erwachsenenwelt erschüttert, ausgelöst von Moritz Goldsteins Aufsatz »Deutsch-Jüdischer Parnaß« im Leitorgan der Gebildetenreformbewegung, dem »Kunstwart«. Rund einhundert Jahre später, also 2011/12, entstanden in den jungen Bünden unserer Zeit heftige Diskussionen darüber, welche Gruppen zur Jubiläums-Jahrhundertfeier des »Freideutschen Jugendtages« 2013 zuzulassen bzw. auszuschließen seien. Deutlich wurde so, dass die Beziehung der bewegten Jugend und einzelner ihrer Bünde zur völkischen Ideologie, dem Antisemitismus und dem organisierten Rechtsradikalismus, untrennbar zur Geschichte der deutschen Jugendbewegung zwischen Kaiserreich und Berliner Republik gehört. Eben diesen Zusammenhang aber hatte die frühe (Selbster-)Forschung, oftmals getragen von den Älteren aus der Bewegung der Zwischenkriegszeit und der ersten Nachkriegszeit, eher verdrängt, klein geschrieben oder gar verschwiegen. Der vorliegende Sammelband nimmt die Fäden der Debatte seit 1913 wieder auf und vergewissert sich der Nähe (und Distanz) des jugendbewegten Lebens, Denkens und der Gruppenstruktur zum »rechten Rand« der Gesellschaft – wobei rechtsextreme, deutsch-völkische und antisemitische Diskurse sich bekanntlich auch in der »Mitte der Gesellschaft« finden lassen. Uwe Puschner klärt Grundsatzfragen der Beziehung zwischen »Völkische[r] und Jugendbewegung«. Ulrich Linses Beitrag erinnert an »völkisch-jugendbewegte Siedlungen« und Peter Dudek richtet seinen kritischen Blick auf den »Antisemitismus im Kontext des Freideutschen Jugendtages«. Ivonne Meybohm kann deutlich machen, dass die Gründung des jüdisch-deutschen Wanderbun-
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Justus H. Ulbricht
des »Blau-Weiß« nicht ausschließlich als Reaktion auf völkische Tendenzen des Wandervogel gedeutet werden kann, wenn auch die zeitliche Nähe zum »Zittauer Fall« unübersehbar ist. Vielmehr muss man »Blau-Weiß« als Versuch des organisierten Zionismus verstehen, sich eine eigene Jugendbewegung und damit den benötigten Nachwuchs für die eigene Idee zu schaffen. Stefan Breuer durchmustert sodann den »völkische[n] Flügel der Bündischen Jugend« und Antje Harms rekonstruiert die »Geschlechterverhältnisse«, die Formen »politischer Partizipation« und das »nationale Engagement« im Jungdeutschen Bund um 1919. Jürgen Reulecke richtet seinen historischen Blick erneut auf die »Männerbundideologie und Männerbunderfahrungen« vor 1933 – beide letztgenannten Beiträge ergänzen also den üblichen Rückblick auf die Geschichte der Jugendbewegung um eine geschlechtertheoretische und -historische Perspektive, die der älteren Jugendbewegungsforschung so lange gefehlt hat. Bei so viel Blicken »nach rechts« weist Eckard Holler – engagiert und enthusiasmiert wie eh und je – auf die »Linke[n] Strömungen der »freien bürgerlichen Jugendbewegung« hin. Dies dient nicht einer Relativierung der vorher aufgeführten ernsten Befunde, sondern weitet den Blick und macht deutlich, wie changierend, unsicher, oftmals auch einfach unklar die ideologische Orientierung und politische Positionierung in weiten Kreisen der »jungen Generation« vor 1933 gewesen ist. Hollers Spurensuche reicht bis in die Zeiten des bündischen Widerstands im »Dritten Reich« und ins Exil hinein und erinnert an Menschen, deren jugendbewegte Prägung sie in die Verweigerung und die offene Opposition zum Nationalsozialismus geführt haben. Wie sehr das Bild der Jugendbewegung in der unmittelbaren Nachkriegszeit von den Nach- und Überlebenden geglättet worden ist, macht Christian Niemeyer an der damaligen Geschichtsschreibung zu den Artamanen deutlich. Marginalisierungen, Verdrehungen und Verfälschungen prägten noch bis in die 1980er-Jahre das Bild dieses radikal-völkischen Bundes, der zu den Vorbildern und Stichwortgebern der neuen rechten Bünde zu zählen ist. Dies kann Regina Weber auch am Beispiel der »Heimattreuen Deutschen Jugend« zeigen, deren Erziehungsideen, Geschlechter- und Familienbilder sie seziert und damit zeigt, wie deutlich und bewusst aktuelle rechte Bünde und deren Ideologie an das Denken der deutschen Rechten zwischen Kaiserreich und Nachkriegszeit anknüpfen. Doch es wäre ein Missverständnis, die heute existierenden völkischen Bünde und Gruppierungen allein als rückwärtsgewandt zu begreifen. Gideon Botsch kann in seinem, den Band abschließenden Beitrag »Jugendbewegung und Nationale Opposition« zeigen, wie aktuelle Problemlagen unserer Gesellschaft bzw. der ideologische und politische Reflex darauf in der Neuen Rechten und einzelnen Bünden mit traditionellen Versatzstücken völkischer Ideologie aus Großvaters Zeiten amalgamiert werden. Resümiert man Intention, Argumentationsweise und Ergebnisse der Beiträge
Jugendbewegung, Antisemitismus und rechtsradikale Politik
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so wird deutlich, dass es diesem Buch um eine differenzierte, kritische, doch nicht pauschalisierende Sichtweise auf ein problematisches Spektrum jugendbewegter Aktivitäten und Denkformen geht, das in seiner heutigen Form eine Herausforderung für unsere demokratische Gesellschaft insgesamt – und die jungen Bünde im Speziellen – bleibt. Die AutorInnen argumentieren auf breiter Quellengrundlage präzise, denn es geht ihnen nicht um einen »linken Alarmismus« der nahezu verschwörungstheoretisch überall rechtes Gedankengut wittert. Wir werden hingegen aufmerksam gemacht auf die Fallstricke einer sich als »unpolitisch« verstehenden Jugendkultur, die zu allen Zeiten verbunden war mit Diskursen und Haltungen der Mehrheitsgesellschaft – und folglich auch deren politische und moralische Fehler geteilt hat. Die erregten Debatten unmittelbar vor, während und nach dem Jubiläum 2013 zeigen, dass die jungen Menschen, die sich heute in Bünden und Gruppen zusammenfinden, mehrheitlich sensibel und der eigenen Bewegungsgeschichte bewusst ins Jugendland reisen. Dies aber liegt in politischer Hinsicht inzwischen nicht mehr exterritorial, sondern inmitten der Berliner Republik und einer globalisierten Welt. Deren Problemen nähert sich die heutige Bewegung eher wach, in aufgeklärter Romantik und sensibel. Die kleinen Fluchten in Fahrt und Lager finden zurück in eine moderne Gesellschaft, deren Kind wie Gegenbild Jugendbewegung immer war und wohl auch weiter sein möchte. Botschs und Haverkamps Band ist als eine Art intellektueller Fahrtenlektüre mehr als geeignet und stellt einen gewichtigen und differenzierten Beitrag zu einer Diskussion dar, die uns angesichts der Multikulturalität unserer Gesellschaft, von Migrationserfahrungen und Asyldebatten weiter begleiten wird. Letztlich verweisen die aktuellen Formen von Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit, deren Spuren im pfadfinderisch-bündischen Leben zu finden sind, auf uns selbst zurück und damit auf ein Diktum Friedrich Nietzsches, der einmal meinte: »Es kennzeichnet die Deutschen, dass die Frage ›was ist deutsch‹ bei ihnen nie ausstirbt.«
Paul Ciupke
Wolfgang Keim, Ulrich Schwerdt (Hg.): Handbuch der Reformpädagogik in Deutschland (1890–1933), Teil 1: Gesellschaftliche Kontexte, Leitideen und Diskurse, Teil 2: Praxisfelder und pädagogische Handlungssituationen, Frankfurt a. M.: Peter Lang 2013, 1256 S., ISBN: 978 3 631 62396 1, 139,– E Auf die Reformpädagogik wird ganz unterschiedlich geblickt und das hat natürlich auch vielfältige und durchaus anzuerkennende Gründe. Im Kontext der jüngeren Debatten über Pädophilie und den von manchen Akteuren seinerzeit propagierten »pädagogischen Eros« erscheint die Reformpädagogik als Ursumpf und gleichzeitige pädagogische Bemäntelung männlicher Übergriffigkeit. Dabei geraten vor allem solche Ansätze ins Visier, die man institutionell als Landerziehungsheime identifizieren oder internatsmäßige Lernformate charakterisieren kann. Gewichtige ideologiekritische Betrachtungen wie die einschlägige Untersuchung von Jürgen Oelkers heben die romantischen Projektionen, die politisch-pädagogischen Illusionen und eine grassierende und die Realien demokratischer und industrieller Gesellschaften ignorierende Gemeinschaftsseligkeit hervor. War deshalb die Reformpädagogik eine antimoderne Bewegung? Wohl eher nicht, wenn man die stillschweigende Durchsetzung etlicher ihrer Ideen in den didaktischen Konzepten der Gegenwart zur Kenntnis nimmt. Die Reformpädagogik kennzeichnet allerdings eine »starke gesellschaftliche Streuung« und ein »entsprechend breites Spektrum politischer Positionen« wie die Herausgeber dieses hier zu besprechenden monumentalen Sammelwerks in ihrer Einleitung festhalten (S. 16). Sie unterscheiden bürgerlich-konservative, liberal-demokratische und sozialistische Varianten. Reformpädagogische Ansätze haben sich bereits frühzeitig in alle Sektoren des Bildungshandelns eingeschrieben. Die Fokussierung mancher Betrachter und Kritiker auf bestimmte Institutionalformen etwa beschränkt und verzerrt also die Wahrnehmungen und Deutungen nachhaltig. Dennoch bevorzugen auch Wolfgang Keim und Ulrich Schwerdt bestimmte Perspektiven; für sie verkörpern zweifelsohne die Arbeiterbewegung und ihr verwandte soziale Bewegungen eine wesentliche Batterie, die die Reformpädagogik mit Energien versorgt hat. Eine solche Sichtweise hat einige Gründe für sich, unter anderem weil so weniger die kleinen Einrichtungen der Bildungseliten sondern vielmehr pädagogische Experimente in der »Regelschule« in den
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Paul Ciupke
Mittelpunkt von Betrachtungen wandern. Ob aber, wie die Herausgeber in ihrer Einführung andeuten, der politische Bruch 1933 auch eine gewaltsame Unterbindung reformpädagogischer Ansätze bedeutete, müsste vielleicht noch einmal genauer betrachtet werden. Jedenfalls beschränken sich die Beiträge des Bandes mit wenigen Ausnahmen auf die Periode vom Ende der Bismarck-Zeit bis zum Untergang der Weimarer Republik und auf den deutschsprachigen Raum. Ungeachtet dieser Eingrenzung kommt offenbar eine Menge Stoff zusammen. In vier Großabteilungen (Reformpädagogik und gesellschaftliche Kontexte, Leitideen und Diskurse, Praxisfelder, pädagogische Handlungssituationen) werden von 27 Autorinnen und Autoren in insgesamt 37 Beiträgen viele bemerkenswerte quellengesättigte Narrationen über Ideen, Ziele, Umsetzungen und Wirklichkeiten geboten. Abgeschlossen wird der Reigen durch verschiedene Register. Und auch wenn es speziell über reformpädagogische Projekte eine unglaubliche Vielzahl von detailreichen spannenden historischen Einzeldarstellungen gibt, muss man den beiden Bänden allein wegen ihrer Fülle erstmal bescheinigen, dass damit ein neues, beindruckendes, künftig nicht einfach hintergehbares Standardwerk gelungen ist. Natürlich werden die »üblichen Verdächtigen« abgehandelt, etwa wird der Einfluss der Jugendbewegung, der Arbeiterbewegung und der Konservativen Revolution untersucht. Der auch nicht unbedeutenden Lebensreformbewegung wird allerdings kein eigener Artikel gewidmet. Leitbegriffe wie Kindorientierung, Natur, Ganzheit, Gemeinschaft, Individualität, Selbsttätigkeit, Spiritualität oder Pädagogischer Eros werden erörtert. Die wesentlichen pädagogischen Handlungsfelder : u. a. Schule (besonders umfangreich abgehandelt), Erwachsenenbildung, Vorschulerziehung, Sozialpädagogik, Berufsbildung, Gefängnispädagogik werden betrachtet. Hier hätte man natürlich auch noch die verschiedenen Erscheinungsformen der heute so genannten außerschulischen Jugendbildung, die im Sammelband als Jugendhilfe im Feld der Sozialpädagogik mitläuft, als eigenständigen Sektor untersuchen können. Bei den Handlungssituationen, gemeint sind konkrete pädagogische Formate, finden wir Beiträge über Musik, Darstellendes Spiel, Feste, Körperarbeit, Kunstunterricht, Fahrten und Lager, Arbeit und natürlich den Unterricht schlechthin. Aus Sicht der Erwachsenenbildung wäre vielleicht auch eine Betrachtung der Arbeitsgemeinschaft als neue Form symmetrischer Unterrichtskommunikation lohnend gewesen. An Systematiken kann man natürlich immer herummäkeln, man wird schnell Lücken finden. Die sonst in der Regel breit abgehandelten Ideengeber aus Philosophie und Kulturkritik, zum Beispiel Nietzsche, werden hier nicht extra »gewürdigt« sondern beiläufig in den Argumentationsgang eingestreut. Das dokumentiert auch die andere Konstruktion, die die Herausgeber gewählt haben. Die Beiträge werden jeweils abgeschlossen mit einer Auswahlbibliographie, die mindestens zwischen Quellen und wichtiger Sekundärliteratur unter-
Handbuch der Reformpädagogik in Deutschland (1890–1933)
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scheidet, manchmal aber auch weitere Hinweise, z. B. auf wichtige Archive und weitere Quellenbestände gibt. Damit wäre die Berichtspflicht im Groben abgearbeitet. Erwähnt werden sollen aber doch noch einige aus subjektiver Sicht besonders lesenswerte Artikel. Immer souverän und lehrreich sind die Beiträge aus den Federn von HeinzElmar Tenorth, der neben dem für ihn klassischen Thema Erziehungswissenschaften diesmal auch das Gebiet der Natur aufgreift, und Tobias Rülcker, der unter anderem über Feste und Feiern schreibt. Markus Brenk äußert sich kenntnisreich über Literatur und Musik. Etwas zu knapp geraten und ans Ende gerutscht ist aber leider das nicht unwichtige Kapitel über Fahrten und Lager von Christa Uhlig. Verglichen mit den bisherigen Einführungen und einschlägigen Darstellungen stellt dieses Handbuch sicher das systematischste dar, dennoch fällt auf, dass eigenständige Darstellungen und Auseinandersetzungen mit den Akteuren und ihren Erfahrungskontexten fehlen. Welche Großereignisse waren prägend, was hat die Protagonisten mentalitäts- und generationengeschichtlich geformt und wie haben solche subjektiven Konstellationen sich später auf Habitusformen, Arbeitsfelder und Bildungsstrukturen ausgewirkt? Das wären ebenfalls lohnende Untersuchungsaspekte gewesen. Weitere Arbeitsperspektiven und Aufgabenfelder bleiben ohnehin, etwa der internationale Vergleich und die Betrachtung der reformpädagogischen Entwicklungen nach 1945, die Wiederbelebungen im Kontext von Protestbewegungen und neuen sozialen Bewegungen, und ihr allmähliches Einsickern in die pädagogischen Regelinstitutionen.
Rolf Koerber
Benno Hafeneger: Beschimpfen, bloßstellen, erniedrigen: Beschämung in der Pädagogik, Frankfurt a. M.: Brandes & Aspel 2013, 163 S., ISBN 978-3-95558-005-6, 17,90 E
Nach seinem 2011 erschienenem Band »Strafen, prügeln, missbrauchen. Gewalt in der Pädagogik« setzt sich Benno Hafeneger in seinem neuen Buch mit weniger manifesten Gewaltformen in der Pädagogik auseinander. Historisch folgt Hafeneger der Argumentation Jürgen Oelkers, der 2011 in der Folge der Aufdeckungen um die Odenwaldschule die »dunklen Seiten« der Reformpädagogik thematisierte: Die Abkehr von körperlicher Bestrafung durch Lehrkräfte und Erzieher habe zur Etablierung anderer »Techniken der Herrschaft« (S. 24) beigetragen und zu diesen gehöre die Beschämung. Die Beschämung als Form sozialer Ausgrenzung konnte in der Reformpädagogik wie in der Jugendbewegung besondere Wirkung entfalten, weil in beiden das Ideal der Gemeinschaft stark betont wurde (S. 18). Am Beispiel des heute unter Jugendlichen verbreiteten Phänomens des »Cybermobbing« macht Hafeneger deutlich, dass Beschämung nicht nur von Lehrkräften und Erziehern ausgeht, sondern dass auch Kinder und Jugendliche untereinander zu dieser Form der Gewalttätigkeit greifen – und in anderen Formen auch immer gegriffen haben. Das strafrechtlich schwer fassbare Cybermobbing lässt sich mit den Mechanismen der Beschämung treffend beschreiben – auch hinsichtlich seiner möglicherweise fatalen Folgen für die Persönlichkeitsentwicklung der Betroffenen. Soziale Ausgrenzung als Folge der Beschämung ist eine starke Belastung für die Identitätsbildung von Kindern und Jugendlichen. Besonders schwerwiegend wirken daher Formen der Beschämung, wenn sie im Rahmen eines Bildungs- und Erziehungsprozesses auftreten. Unreflektierte Formen, wie etwa ironische Bemerkungen oder Vorurteile, stehen dabei neben bewusst eingesetzten Formen der Beschämung durch Lehrkräfte, wie etwa das Aufzwingen belastender Situationen, das »Vorführen« schlechter Schülerleistungen oder Drohungen. Schließlich richten sich Formen der Beschimpfung und Beschämung auch gegen Pädagogen. Leidenschaftlich wendet sich Hafeneger gegen die (öffentliche) Herabwürdigung pädagogischer Berufe und ihrer Vertreter. Er stellt fest: »Beschämungen sind im deutschen Schulalltag und auch in Einrichtungen der
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Rolf Koerber
Kinder- und Jugendhilfe (durchaus) üblich und können das Selbstwertgefühl aller Beteiligten beeinträchtigen und auch ruinieren: der Lehrenden wie der Lernenden.« (S. 95) Das Feld wird an der Schule dadurch noch komplexer, dass es neben der Beschämung als Methode auch strukturelle Aspekte gibt, die Beschämung hervorrufen bzw. ein Klima verhindern, das Anerkennung und Wertschätzung fördert: Das zeitlich-thematische Korsett, die räumlichen Gegebenheiten, die Kommunikationskultur, ein massiver Kontrolldruck von verschiedenen Seiten (Eltern, Schulverwaltung, Schulleitung) gegenüber Lehrkräften und Schülern und schließlich der Umgang mit Schule in der Gesellschaft insgesamt. Als Gegenbild entwirft Hafeneger eine Kultur von Anerkennung, Respekt und Wertschätzung, die Beschämung ablehnt und die Identitätsbildung durch ein wertschätzendes Miteinander fördert. Dazu bedarf es geeigneter Räume im Sinne materieller und immaterieller Ressourcen, einer schulischen Fehlerkultur und einer Professionsethik. Geeignete Räume sieht Hafeneger insbesondere in der offenen Kinder- und Jugendarbeit realisiert. Zu ergänzen wären hier die Bemühungen zahlreicher Schulen, sowohl Lernräume als auch Lernzeiten anders zu gestalten. Der Aufbau einer positiven Wahrnehmung von Fehlern an der Schule und der produktiven Umgang damit ist dagegen eine noch größere Herausforderung, weil Schule ein in hohem Maße selbstreferentielles System ist: Eltern, Verwaltungen und Lehrkräfte haben Erwartungen an Schule, die aus ihrer eigenen Schulerfahrung stammen, weshalb eine Kulturänderung ein schwieriges und langwieriges Unterfangen ist. Für die Vermeidung von Beschämung zentral ist eine Professionsethik, die auf ein gesundes Verhältnis von Nähe und Distanz gerichtet ist und zum Ziel hat ein Arbeitsbündnis zwischen Erziehenden und Lernenden herzustellen. Dies erfordert ein hohes Maß an Reflexion und eine professionelle Handlungspraxis zur »Förderung und Herstellung von Autonomie der Subjekte« (S. 126) – einerseits müssen Lehrende/Erziehende also mit ihrer ganzen Person reflektiert handeln, sie müssen Sachverhalte klären helfen und sich andererseits zurücknehmen um dem Lernenden den nötigen Freiraum zu bieten. Hilfreich dazu ist die Annahme von Neugier und Lernfreude von Kindern und Jugendlichen und der Aufbau einer pädagogischen »Welt der Anerkennung« (S. 131), wie Hafeneger schreibt. Dabei müssen die pädagogisch Handelnden sensibilisiert sein und Räume bieten, damit Scham und Beschämung thematisiert werden können. Am Beispiel einiger Richtlinien und Kodizes aus der außerschulischen Jugendarbeit stellt Hafeneger dar, wie eine solche Sensibilisierung und Thematisierung erfolgen kann. Auf der Grundlage zahlreicher empirischer Untersuchungen kommt Hafeneger zu dem Schluß: »Die Daten zeigen keine dominante pädagogische Beschämungskultur und bieten keinen Stoff für negative Szenarios; sie geben
Hafeneger: Beschimpfen, bloßstellen, erniedrigen: Beschämung in der Pädagogik
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gleichwohl Anlass zu Besorgnis, weil größere Teile von Schülern – und das kann auch für andere pädagogische Einrichtungen in der Kinder- und Jugendhilfe angenommen werden – von unterschiedlichen Beschämungsformen betroffen sind.« (S. 148) Gegen diese Formen der Beschämung muss sich der pädagogische Diskurs richten, seien die Formen nun manifest oder subtil, gehen sie von Erziehenden, Kindern und Jugendlichen oder anderen Beteiligten und Nichtbeteiligten aus. Im pädagogischen Alltag muss es, so Hafeneger, darum gehen, die pädagogischen Verhältnisse weiter zu humanisieren um das pädagogische »Professionsprofil – weg vom missbilligenden Erwachsenenverhalten und »Beschämungsspezialisten« – hin zu einem taktvollen, aufmerksamen und anteilnehmend-zugewandten »Anerkennungsspezialisten« zu profilieren und zu festigen.« (S. 149) Benno Hafeneger hat ein wichtiges Buch zum rechten Zeitpunkt vorgelegt. Er zeigt, welche Schwächen unser Bildungssystem hat und verändert den Blickwinkel von der Wahrnehmung immer schwieriger werdender Schüler hin zu nachvollziehbaren Reaktionen von Kindern und Jugendlichen auf Beschämungen, die sie in eben jenem Bildungssystem erfahren. Wünschenswert wäre es, wenn diesem Band vertiefende Studien zu den Auswirkungen von Beschämung in der Pädagogik und dem (präventiven) Umgang damit folgen würden.
John Khairi-Taraki
Peter Dudek: »Wir wollen Krieger sein im Heere des Lichts«. Reformpädagogische Landerziehungsheime im hessischen Hochwaldhausen 1912–1927, Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt Verlag 2013, 243 S., ISBN 978-3-7815-1804-9, 19,90 E Im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts entstanden im deutschsprachigen Raum mehrere private Landerziehungsheime. Diese standen häufig in der Tradition von Hermann Lietz, besaßen aber auch eigenständige pädagogische Konzepte. Zu diesen Institutionen gehörten zwei reformpädagogische Landerziehungsheime im hessischen Hochwaldhausen, die Dürerschule (1912–1920) und die Bergschule (1921–1927), zu denen bis auf einige kleinere Studien bislang wenig bekannt ist. Peter Dudek, emeritierter Professor für Erziehungswissenschaft, rekonstruiert detailreich und ausführlich die Geschichte dieser beiden Schulen, wobei sein eigentliches Thema der Zusammenhang von bürgerlicher Jugendbewegung und Reformpädagogik ist. Darauf verweist schon der Titel des Buches: Das Gelöbnis, »Krieger im Heere des Lichts« sein zu wollen, war Teil des Fahneneids der Dürerschule. Diese Formel war dem Roman »Helmut Harringa. Eine Geschichte unserer Zeit« von Hermann Popert, der 1910 erschienen war und in der Jugendbewegung stark rezipiert wurde, entnommen. Dudek begreift die quellenbasierte Rekonstruktion der Einzelbeispiele in Hochwaldhausen als Teil zahlreicher Vorarbeiten für eine systematische, ideengeschichtliche, kollektiv- oder sozialbiographische Perspektive auf das Verhältnis von Jugendbewegung und Reformpädagogik. Die Geschichte der Dürerschule und der Bergschule wird vorwiegend anhand ihrer Gründer und Leiter, aber auch der Lehrerschaft, und soweit wie möglich der Schülerschaft, dargestellt. Zudem werden die (reform-) pädagogischen Konzepte im Kontext der allgemeineren zeitgenössischen und aktuellen Debatten um Reformpädagogik sowie die Idee der Schulgemeinde im Zusammenhang mit der Jugendbewegung erläutert. Der Gründer der Dürerschule, Georg Helmuth Neuendorff (1882–1949), sah seine Schule in einer engen Verbindung mit der Freideutschen Jugend und gründete an der Schule selbst eine entsprechende Gruppe. Neuendorff gehörte zum völkisch-nationalistischen Flügel der Freideutschen Jugend und zu den stärksten Kritikern Gustav Wynekens und dessen Konzept der Jugendkultur. Die Freideutschen wurden schnell zu einem elitären Club an der Dürerschule, der unter anderem keine »Nichtdeutschen«, d. h. keine jüdischen Schüler und
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John Khairi-Taraki
Lehrer, in seinen Reihen duldete. Neuendorff galten diese als unfähig, den Idealismus und Gemeinschaftssinn der Freideutschen zu teilen, die richtige Gesinnung zu entwickeln und somit vollwertige Mitglieder der Dürergemeinde zu werden. Ähnlich wie Wyneken sah sich Neuendorff als absolute Leitfigur. Sein Machtanspruch und Sendungsbewusstsein führten schließlich zu seiner Absetzung als Leiter der Dürerschule und deren Schließung. Den skandalösen Hintergrund dazu bildete eine Reihe sexueller Beziehungen, die Neuendorff zu einigen Schülerinnen unterhielt. Als eine Schülerin schwanger wurde und daraufhin Selbstmord beging, kam der Fall an die Öffentlichkeit. Neuendorff wurde verurteilt, blieb aber ohne Einsicht oder Reue. Stattdessen stilisierte er sich selbst zum Opfer. Nur ein Jahr nach der Schließung der Dürerschule wurde als neue reformpädagogische Schule die Bergschule Hochwaldhausen eröffnet und bis zu ihrer Schließung 1927 von Otto Steche (1879–1945) geleitet. Er orientierte sich an der Freien Schulgemeinde Wickersdorf, suchte aber auch den Kontakt zu Paul Geheeb und der Odenwaldschule. Zu den bekanntesten Schülern gehörten Erika und Klaus Mann. 1911 hatte Thomas Mann bereits Neuendorffs Aufruf zur Gründung der »Erziehungsschule Hochwaldhausen« unterschrieben. Im Februar 1922 traf er anlässlich eines Vortrags auf Otto Steche. Knapp einen Monat später wechselten Erika und Klaus Mann auf die Bergschule. Beide Institutionen in Hochwaldhausen scheiterten in einer für die Reformschulen exemplarischen Weise. Die Bergschule musste nach fast sieben Jahren wegen geringer Schülerzahlen und folglich fehlender finanzieller Mittel geschlossen werden. Das Ende der Dürerschule war vor allem auf die Verfehlungen des Gründers und Schulleiters Hellmuth Georg Neuendorffs zurückzuführen. Die Parallelen zum heutigen Skandal um die Odenwaldschule in der Verbindung von Reformpädagogik und sexueller Gewalt greift Dudek in einer ausführlichen Nachbemerkung auf. Dudek selbst setzt sich mit seiner Arbeit vom »feuilletonistischen Aktionismus« ab und bietet stattdessen eine wissenschaftliche und vor allem quellengestützte Auseinandersetzung. Hierdurch sieht er im Gegensatz zu Jürgen Oelkers Auffassung belegt, dass nicht die pädagogischen Konzepte ursächlich für den sexuellen Missbrauch waren. Vielmehr arbeiteten in den pädagogischen Institutionen Erwachsene mit entsprechenden sexuellen Präferenzen, die anfällig für sexuelle Übergriffe an Schutzbefohlenen seien. Er plädiert auch im Fall sexueller Gewalt in reformpädagogischen Einrichtungen für eine genaue Ermittlung der Sachverhalte. Man könne durchaus fragen, ob die Rede vom pädagogischen Eros nur eine »Deckideologie« für Pädophile und homosexuelle Pädagogen gewesen sei, wie Oelkers konstatiert. Aber es dürften nicht neue »Legenden oder Phantasiegeschichten« geschrieben werden, um die angeblichen Gründungsmythen reformpädagogischer Landerziehungsheime zu widerlegen. Für den Mangel an wissenschaftlicher Sorgfalt gerade bei diesem skandalträchtigen Thema führt Dudek mehrere Beispiele an.
Peter Dudek: »Wir wollen Krieger sein im Heere des Lichts«
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Dudek liefert damit einen gewinnbringenden Beitrag zu aktuellen Debatten und bietet zudem einem breiteren Publikum einen interessanten historischen Hintergrund zu den Missbrauchsfällen an der Odenwaldschule und zur Geschichte der deutschen Reformpädagogik im Allgemeinen.
Matthias Kruse
Karin Stoverock: Musik in der Hitlerjugend. Organisation, Entwicklung, Kontexte, 2 Bde., Uelvesbüll: Der Andere Verlag 2013, 862 S., ISBN-13 978-3-86247-362-5, 119,90 E
Schon die schiere Seitenzahl lässt es erahnen: Mit insgesamt 832 Seiten stellen die beiden Bände der Publikation »Musik in der Hitlerjugend« den Anspruch auf eine erschöpfende und umfassende Darstellung des Themas. Karin Stoverock widmet sich in ihrer geradezu akribisch recherchierten Studie der Entwicklung der musikalischen Praxis in der HJ sowie deren Einbindung in die politischen Intentionen des NS-Regimes. Ziel der Schrift ist es, die Musikarbeit der HJ, insbesondere die gesungenen Lieder, in ihrem Kontext aufzuzeigen. Durch die Erläuterung historischer Zusammenhänge soll dem Leser ermöglicht werden, »die Musik der HJ aus ihrer Zeit heraus zu verstehen und ihre Wirkungsweise nachzuvollziehen«(S. 3) Die Verfasserin gliedert ihre Studie in drei Abschnitte: Zunächst stellt sie die Organisation der HJ-Musikerziehung in ihrer geschichtlichen Entwicklung dar, darauf folgend widmet sie sich der Entwicklung der Vokalmusik. Im dritten Teil der Arbeit (Bd. 2) schließlich stellt die Verfasserin ausgewählte HJ-Lieder in ihrem jeweiligen Kontext vor. Dem Lied bzw. Singen fiel in der Musikarbeit der HJ eine besondere Rolle zu: das Lied war das zentrale Instrument zur Ideologisierung der Jugend. Insbesondere in Verbindung mit Fest und Feier war es sicherlich eines der wirkungsmächtigsten Propagandamittel, schließlich benannte es schlagwortartig Kristallisationspunkte der NS-Ideologie, die sich über das Singen mehr oder weniger in das Bewusstsein »einbrannten«. So liegt denn das Hauptaugenmerk der Darstellung folgerichtig auf dem Lied. Das Thema bildet, so Stoverock, ein Desideratum, daher war zunächst eine umfangreiche Sammlung von Materialien erforderlich. Über 100 einschlägige Liederbücher wurden analysiert. Um die Bedeutung der Lieder bzw. Liederbücher zu eruieren, wurden u. a. Zeitzeugeninterviews durchgeführt. Sie sind in die Darstellung eingerückt, verleihen ihr Plastizität. Karin Stoverock geht davon aus, dass die HJ in einer Traditionslinie mit der so genannten Jugendbewegung und der Jugendmusikbewegung gesehen werden muss. Sie legt daher in ihrer Studie einen deutlichen Akzent auf diesen Aspekt. So umfasst ihre Darstellung auch Abschnitte zu den Liedern des Wandervogels, der Bündischen Jugend sowie der Jugendmusikbewegung. Diese
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Matthias Kruse
Musik, so Karin Stoverock, war die wesentliche Grundlage für die Musikarbeit der HJ. »Die Basis für die gesamte musikalische Arbeit bildete […] während der ganzen NS-Zeit Jugendbewegung und Jugendmusikbewegung« (S. 772). Die Verfasserin zeichnet die Entwicklung des Wandervogels nach, informiert über dessen Liebe zum Volkslied, das durch Musiker wie Hans Breuer und Robert Kothe wiederbelebt wurde. Selbstredend fehlen auch die Hauptvertreter der Jugendmusikbewegung, Fritz Jöde (»Die Musikantengilde«) und Walther Hensel (»Finkensteiner Bund«), nicht. Intensiv bemüht sich Karin Stoverock darum, die personelle, inhaltliche und organisatorische Verflechtung der Jugend (musik)bewegung mit der HJ aufzuzeigen, sei es anhand der Biographien von Männern wie Fritz Jöde oder Wolfgang Stumme oder Organisationsformen wie dem »Offenen Singen«. In der sehr vorsichtigen Bewertung des Dargestellten mag die eine oder andere Formulierung verwundern; so etwa der Hinweis, dass nach 1933 die Verwendung von Musik als Propagandamittel von musikalischer Breitenarbeit unter professioneller Führung abgelöst, der Musik ein eigenständiger künstlerischer Wert zuerkannt worden sei (S. 769). Oder : Man habe Kindern eine »profunde musikalische Ausbildung ermöglichen wollen«, diese Intention sei »Hand in Hand« gegangen mit der ideologischen Beeinflussung der Jugend (S. 772) – Sicherlich war die Erziehung zur Musik in der HJ auch auf Qualität bedacht. Ziel und Schwerpunkt der Musikarbeit lagen aber sehr eindeutig auf der Indoktrination der Jugend. Musik war Mittel zum Zweck. Helmut Majewski, Reichsinspektor für Musik-, Fanfaren- und Spielmannszüge im Kulturamt der RJF, notierte 1941: »Im Mittelpunkt der Musikerziehung der Hitler-Jugend steht das Volkslied aller Zeiten. Da die Hitler-Jugend in erster Linie eine weltanschaulich-politische Organisation ist, steht hier im Vordergrund das neue Kampf- und Feierlied, in dem sich die Jugend zu der Weltanschauung Adolf Hitlers in Kundgebungen und Feierstunden bekennt« (zit. n. Fred K. Prieberg: Musik im NS-Staat, Frankfurt a. M. 1982, S. 252).
Und in der »Völkischen Musikerziehung« war bereits 1935 zu lesen: »Wesentlich ist, daß man die Basis des Musizierens grundsätzlich verschiebt […] Wesentlich ist, dem Jungen zu zeigen: Hier ist ein Lied, das eine ganz bestimmte wertvolle Haltung verkörpert. Wenn ich dieses Lied ehrlich singen will, muß ich mir als Mensch diese gleiche Haltung erkämpfen. Das ist der Sinn; das Ziel ist Charakterschulung« (H. Siebert: Musiker, werde wesentlich, in: Völkische Musikerziehung, 1935, 1. Jg., S. 624f.).
Das Moment der Indoktrination überstieg alles andere – das machte die HJMusikarbeit letztlich so perfide. So ist den letzten Sätzen Karin Stoverocks unbedingt beizupflichten:
Karin Stoverock: Musik in der Hitlerjugend
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»Am Ende der NS-Zeit lagen Deutschland und halb Europa in Schutt und Asche. Dass unter den Trümmern auch die meisten Lieder, die in der HJ gesungen wurden, begraben wurden, ist nach Kenntnis der Rolle, die diese Lieder im NS-Staat gespielt haben, durchaus beruhigend« (S. 794)
Barbara Stambolis
Günter Brakelmann: Kreuz und Hakenkreuz. Christliche Pfadfinderschaft und Nationalsozialismus in den Jahren 1933/1934, Kamen: Verlag Hartmut Spenner 2013, 325 S., ISBN 978-3-89991-142-8, 24, – E
Der Geschichte der Christlichen Pfadfinderschaft (CP) in den Jahren 1933/34 widmet sich Günter Brakelmann in der vorliegenden Publikation als Wissenschaftler und als persönlich Beteiligter. Brakelmann, 1931 geboren, war selbst in Bochum in der Christlichen Pfadfinderschaft aktiv, später Landesmarkführer von Westfalen. Der Theologe, Sozialwissenschaftler und Historiker, bis 1996 Professor für Christliche Gesellschaftslehre an der Ruhr-Universität Bochum, hat sich intensiv mit der NS-Zeit, nicht zuletzt mit der Geschichte von Gleichschaltung, Anpassung, lebensweltlicher Resistenz, bewusst kritischer Distanz und offenem Widerstand gegen das NS-Regime befasst. Er publizierte u. a. 2004 eine Studie über den Kreisauer Kreis und 2007 eine Biographie Helmuth James von Moltkes. Das nun vorliegende Buch »Kreuz und Hakenkreuz. Christliche Pfadfinderschaft und Nationalsozialismus in den Jahren 1933/1934« ist Wilhelm Schmidt (1911–1976) gewidmet; dieser habe »als Gemeindepfarrer […] nach dem Krieg unsere CP in Bochum und als Landesmarkführer die in Westfalen mitaufgebaut und mitgeprägt.« Brakelmann, geb. 1931, verweist, ebenfalls einleitend, auf einen autobiografischen Text, in dem er über seine eigene Tätigkeit in der CP in den Jahren 1947 bis 1962 ausführlicher Auskunft gibt. Der Autor ist also Experte und Zeitzeuge zugleich, der sich dem Gegenstand seiner Untersuchung auch persönlich verbunden fühlt, nicht zuletzt im Rückblick auf die Zeit unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg, als Verstrickungen in die NS-Geschichte bekanntlich beschwiegen und notwendige kritische Fragen nicht gestellt wurden. Brakelmann legt einen materialreichen, vorsichtig kommentierenden Band mit ausführlich zitierten Quellen vor, die brennspiegelartig die Jahre 1933/34 in den Blick nehmen: die verbreiteten Hoffnungen im protestantisch-bündischen Milieu auf eine »nationale Revolution« und zeitspezifische völkische und konservativ-revolutionäre Vorstellungen eines »Dritten Reiches«, die keineswegs mit dem dann zur Herrschaft gelangenden NS-Regime und seiner Ideologie identisch waren. An den in der CP-Presse, nicht zuletzt den darin veröffentlichten Beiträgen des Theologen Friedrich Duensing (1899–1944), verdeutlicht
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Barbara Stambolis
Brakelmann den mangelnden Rückhalt der Weimarer Republik in weiten Teilen der Bevölkerung, nicht zuletzt der jungen Generation, und die verbreitete »unpolitische« Haltung in jugendbündischen Kreisen. Zu diesen zählt der Autor auch die Pfadfinder, nicht nur die christlichen, die aufgrund ihrer spezifischen Führer- und Gefolgschaftsstrukturen in besonderer Weise politisch verführbar waren. Zu Recht warnt Brakelmann jedoch vor einer allzu vorschnellen moralischen Verurteilung. Es könne weder um ein »Scherbengericht«, noch um eine »große alles verstehende Verteidigung« der CP in der damaligen »Krisen- und Entscheidungszeit« gehen (S. 10). Vielmehr werden den Lesern durch eine detailgetreue Untersuchung der CP-Presse in den Jahren 1933/34 Facetten und zeitnahe Einschätzungen präsentiert, die möglichen vorschnellen SchwarzWeiß-Urteilen nachdenklich kritische Betrachtungsweisen entgegensetzen. So kann Brakelmann etwa am Beispiel des zum Zeitpunkt der Machtergreifung 23jährigen Theologiestudenten Wilhelm Schmidt zeigen, dass sich dessen kritische Distanz gegenüber dem NS-Regime von der Position Friedrich Duensings deutlich unterschied. Den monatlichen Ausgaben der Zeitschrift »Auf neuem Pfad« 1933/1934 chronologisch folgend, werden die jeweiligen Inhalte souverän zeithistorisch und theologisch kontextualisiert. Wünschenswert wären allerdings deutlichere Hinweise auf vergleichende Perspektiven, beispielsweise Deutungen eines »Dritten Reiches« im katholischen jugendbündischen Milieu, gewesen. Abschließend betont der Autor noch einmal sein Anliegen einer »verstehenden Würdigung und Wertung« und macht damit auch einem interessierten Laienpublikum in »didaktischer Absicht« deutlich, der Leser möge sich ein eigenes Urteil bilden. Er fügt ein ausführliches Verzeichnis zeitgenössischer Literatur an, das diesen Band ebenso wie seine insgesamt gesehen »handwerklich« überzeugende Präzision auch für weitere wissenschaftliche Forschungen interessant macht, wenngleich einige wichtige aktuelle Titel im Literaturverzeichnis nicht genannt sind. Zu erwähnen wären z. B. Arbeiten Uwe Puschners zu völkisch-religiösem Denken oder ein 2011 von Manfred Gailus und Armin Nolzen herausgebrachter Sammelband zur Kompatibilität religiöser Orientierungen mit loyalem Verhalten gegenüber dem nationalsozialistischen Staat. Zur Lektüre empfohlen sei diese Publikation allen, die sich mit dem Thema »Kreuz und Hakenkreuz«, d. h. dem Spannungsfeld politischer und religiöser Orientierungen befassen, das für konfessionelle Jugendgruppen, nicht nur für die CP, auch folgendem Schlagwort treffend benannt werden kann: »Wir für Deutschland, Deutschland aber für Christus.« Eine dem aktuellen Forschungsstand angemessene umfassende Studie zur evangelischen Jugend in den »Jahren der Entscheidung«, d. h. zwischen Weimarer Republik und NS-Zeit stehe noch aus, so Brakelmann. Diese wäre wohl auch, so ließe sich hinzufügen, im Hinblick auf eine konfessionsvergleichende Perspektive zu ergänzen.
Günter Brakelmann: Kreuz und Hakenkreuz
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Schließlich sei noch der Blick auf weitere Fragen erlaubt, die an eine ganze Gruppe Bündischer der Generation der Kriegsjugendlichen und Kriegskinder des Zweiten Weltkriegs – zwischen 1930 und 1945 geboren – gerichtet werden können, für die Vikare und Pfarrer wie Wilhelm Schmidt, die in Brakelmanns Publikation eine Rolle spielen, gleichsam soziale Väter darstellten? Was bedeuteten sie als Vorbilder nach 1945 in »vaterarmer Zeit«? Konnten sie Heranwachsenden in Jugendgruppen Halt und Orientierung geben? Welche Mittlerfunktion hatten sie vielleicht auch in der generationellen Auseinandersetzung der Kriegsjugend-/Kriegskindergeneration mit den katastrophenreichen Jahren des »Dritten Reiches« und deren kritischen Fragen an die NS-Verstrickungen der Vätergeneration? Auch dies wären zweifellos Forschungsfragen.
Kurt Schilde
Jonas Kleindienst: Die Wilden Cliquen Berlins. »Wild und frei« trotz Krieg und Krise. Geschichte einer Jugendkultur, Frankfurt a. M.: Peter Lang 2011, 128 S., ISBN 978-3-631-61808-0, 22,80 EUR
Wer seine Magisterarbeit über »Die wilde Cliquen Berlins« veröffentlicht, kann erwarten, in der historischen Jugendforschung Aufmerksamkeit zu finden und auf öffentliches Interesse nicht nur in der deutschen Hauptstadt zu stoßen. Erfreulicherweise hat die anzuzeigende geschichtswissenschaftliche Studie – von Wolfgang Wippermann und Uwe Puschner (Freie Universität Berlin) begutachtet – das Interesse eines international agierenden Verlags gefunden. Jonas Kleindienst untersucht die Ursprünge und Vorläufer dieser besonderen urbanen Jugendkultur in der Zeit zwischen Erstem Weltkrieg und Ende der Weimarer Republik. Die Arbeit geht – ansatzweise – über bereits vorliegende Erkenntnisse (Eve Rosenhaft, Rolf Lindner, Detlev Peukert, Alfons Kenkmann, Bernd Facklam und Andreas Mischok) hinaus. Neben diesen den Forschungsstand repräsentierenden Schriften hat er zeitgenössische – meist pädagogisch und oft oberflächlich auf abenteuerliches Aussehen, auffälliges Benehmen und Namensgebung (»Tatarenblut«, »Todesverächter« u. a.) eingehende – Beschreibungen ausgewertet. Auch Selbstzeugnisse hat der Historiker berücksichtigt und in einem Exkurs (S. 60–66) untersucht: In der – nur kurzlebigen – Zeitschrift »Der Rote Wanderer« aus dem Jahr 1923 spiegelt sich die Fähigkeit von Jugendlichen wider, »Beschimpfungen und negative Fremdzuschreibungen zu absorbieren und in trotzige und provokante Selbststilisierungen umzuwandeln« (S. 61). Ergänzend hat Kleindienst Zeitschriften, publizierte Zeitzeugenerinnerungen, belletristische Literatur und vor allem Polizei- und Justizakten herangezogen. Die von ihm selbst gestellte »berechtigte Frage, warum eine erneute Studie zu den Wilden Cliquen (Berlins) nötig und sinnvoll ist« (S. 12), beantwortet er positiv mit seiner Darstellung selbst. Zunächst sei als ein Versuch zur begrifflichen Klärung ein Zeitzeuge angeführt: »Wir waren keine wilde Clique, sondern eine ’Wilde Clique’«, so ein Mitglied der Wanderclique »Ostpiraten« in einem Interview (S. 78). Die »echten« wilden Cliquen setzten dann ein »W.C.« vor ihren Namen. Zu diesen Gruppen gingen von der Kommunistischen Partei und ihrem Jugendverband enttäuschte Jugendliche, und/ oder bildeten neue Formationen.
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Kurt Schilde
Insgesamt sind vielfältige Erscheinungen von parteikommunistischen Jugendgruppierungen, wilden Cliquen und sich an diesen orientierende Neuformierungen entstanden, die sich nach ihren Vorbildern bzw. Vorläufern auch als »wilde Cliquen« bezeichneten. Neben diesen Gruppen von Heranwachsenden hat es komplizierte Gemengelagen mit kriminellen Jugendlichen und Gangs gegeben. Die kriminellen Banden Erwachsener waren in Ringen zusammengefasst – wie parallel die »klassischen« wilden Cliquen Jugendlicher. Diese historischen Unübersichtlichkeiten konnte der Autor nicht in Gänze aufklären und erklären. Sehr interessant sind seine Funde über das Innenleben der Jugendgruppen, in denen in einigen Fällen Mädchen eine wichtige Rolle gespielt zu haben scheinen. Es wird noch zu erforschen sein, ob es sich dabei um Ausnahmen von der Regel gehandelt hat. Meist – so der bisherige Forschungsstand – hatten Mädchen allerdings nur eine sehr geringe Bedeutung. Die Entstehung der »Anti-Wandervögel« (S. 28ff.) und deren Transformation zu »wilden Cliquen«, »wilden Wandervögeln«, »Wanderflegeln«, »Wilden« – so einige der Fremdzuschreibungen – geht zurück in die Zeit zu Beginn des Ersten Weltkrieges. Damals zeigten sich in der Freizeitgestaltung aufgrund der besonderen sozialen Situation jugendkulturelle Ausprägungen – die sich u. a. in spezifischen Aufnahmeriten zeigten. Kleindienst spürt der Geschichte dieser Gruppen über die Zeit der Weimarer Republik hinaus nach und stellt sie in einen Zusammenhang mit jugendkulturellen Formationen wie den inzwischen legendär gewordenen »Edelweiß-Piraten«. Er stellt interessante Thesen zu Transformationen zwischen den genannten jugendkulturellen Ausprägungen auf, die weiter zu diskutieren sind. Nachzugehen und zu überprüfen wäre z. B. seine Aussage: »spätestens während des Zweiten Weltkrieges lebten wieder viele Jugendlichen in Wilden Cliquen den Wunsch nach Freiheit, Spass und Widerstand aus« (S. 114). Die Studie zeigt den Bedarf nach weiteren Untersuchungen unter Berücksichtigung jugendkultureller Theorieansätze und der – inzwischen auch schon historischen – Publikationen von Rolf Lindner (1984/1993) sowie Hellmut Lessing und Manfred Liebel (1981). Lohnenswert scheint auch die Bezugnahme auf die britische Kulturforschung zu sein, die im 1964 an der University of Birmingham gegründeten Centre for Contemporary Cultural Studies (CCCS) entstanden war. Der subkulturtheoretische Erklärungsansatz des CCCS – z. B. publiziert in »Jugendkultur als Widerstand« (1979) – interpretierte jugendliche Lebensformen im Nachkriegsengland der 1950er-/1960er-Jahre als Subsysteme erwachsener klassenspezifischer Stammkulturen. Dieser – inzwischen weiterentwickelte – Ansatz befruchtete damals die westdeutsche historische Jugendforschung und führte zur »Wiederentdeckung« von jugendlichen Protestgruppen, wie den bereits erwähnten »Edelweiß-Piraten« in der NS-Zeit. Es wäre
Jonas Kleindienst: Die Wilden Cliquen Berlins
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weiter nach den von Kleindienst konstatierten »Gemeinsamkeiten« (S.105) zwischen antifaschistischen »Edelweiß-Piraten«, Leipziger »Meuten« u. a. Gruppen zu suchen und seine These zu diskutieren: »Somit stellt die Geschichte der Wilden Cliquen eine Geschichte von vielen aufeinander folgenden Cliquen dar, die zwar den gleichen jugendkulturellen Ausdruck hatten, aber in der Regel keine personelle Kontinuität aufwiesen« (S. 113). Der Ansatz von Kleindienst kann als gewinnbringend für künftige Diskussionen über Jugendbewegungen und -kulturen und die Erforschung der Geschichte der Jugend im 20. Jahrhundert angesehen werden. An dieser Pionierstudie wird die zukünftige historische Jugendforschung nicht vorbei kommen.
Hans-Ulrich Thamer
Martin Schaad: Die fabelhaften Bekenntnisse des Genossen Alfred Kurella. Eine biografische Spurensuche, Hamburg: Hamburger Edition 2014, 182 S., ISBN 978-3-86854-275-2, 22,00 E.
Er war der »Großinquisitor« (Hans Mayer) der DDR-Kulturpolitik in den 1950er- und frühen 1960er-Jahren, der direkt oder aus dem Hintergrund die Kulturschaffenden der DDR auf den Kurs des »sozialistischen Realismus« zwingen wollte. Der Bürgersohn Alfred Kurella war aber als Gymnasiast auch Mitglied des »Wandervogels« und Teilnehmer am »Freideutschen Jugendtag« auf dem Meißner im Oktober 1913. Unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg wurde er Mitglied der KPD, Funktionär der Kommunistischen Jugendinternationale, später im Auftrag der Komintern Redakteur Chefredakteur der in Paris erscheinenden Zeitschrift »Le Front mondial«, bis er 1934 nach Moskau abberufen und persönlicher Sekretär von Georgi Dimitroff wurde. 1935 geriet er in die Verdächtigungs- und Verfolgungsmaschinerie der stalinistischen Säuberungen, wurde aus dem Komintern-Apparat entfernt und konnte als Bibliothekar in Moskau überleben. Seither galt sein Bemühen einzig und lange erfolglos der Rehabilitierung und Wiederaufnahme in die Komintern. Wie wurde man – trotz dieser Erfahrungen – vom jugendbewegten Freigeist zum dogmatischen Stalinisten? Alfred Kurella hat keinen Text verfasst, der Auskunft geben könnte über diesen widersprüchlichen, aber keinesfalls einen Einzelfall darstellenden Prozess der Radikalisierung und Dogmatisierung, der gnadenlosen (Selbst-)Disziplinierungs- und Verformungsversuche; über die daraus resultierende Praxis der Parteilinie, die jede Abweichung aufzuspüren und zu verfolgen bestrebt war. Kurella hat aber Mitte der 1930er-Jahre in Moskau einen Roman geschrieben, der erst 1954 in der DDR publiziert wurde und der nach Meinung von Martin Schaad darüber Aufschluss geben kann. Dieser scheinbar historische Roman, »Die Gronauer Akte«, schildert vordergründig einen Kriminalfall in einem niedersächsischen Dorf zur Zeit des Nationalsozialismus und ist gespickt mit Beschreibungen von Orten, Personen und Begebenheiten aus den ersten drei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts, von einem Bericht über das Meißnerfest bis zu Landschaftsschilderungen und bäuerlichen Idyllen im Geist der Jugendbewegung und des Volkskundlers Wilhelm Heinrich Riehl. Diese Schilderungen
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Hans-Ulrich Thamer
waren für den Kulturfunktionär Kurella allein schon deswegen unverzichtbar, weil er literarische Maßstäbe für den von ihm propagierten Sozialistischen Realismus setzen wollte und musste. Bei näherem Hinsehen – und das ist die detektivisch-literarische Leistung der vorliegenden Studie – ergeben sich zahlreiche Übereinstimmungen zwischen den Erlebnissen des Romancharakters Günther Geismar, einem Faschisten und Kurellas eigener Jugendzeit und Wandervogelsozialisation, die der Verfasser vor allem aus Wandervogelzeitschriften rekonstruiert hat. Die Wesensverwandtschaften der beiden Figuren, des fiktiven Günther Geismar und des realexistierenden jungen Alfred Kurella, gehen bis in das Engagement in der Jugendbewegung, in die romantische und völkische Verklärung von Natur, Landschaft und Bauerntum, in die Vorliebe für Musik und Kunst. Diese bürgerlich-romantische, mit der Gefahr des Abdriftens in den Nationalsozialismus verbundene Vergangenheit konnte oder wollte Kurella offenbar nicht leugnen. Aber sie passte schlecht in die Überlebensstrategie des Kommunisten Kurella. Darum greift der Autor Kurella, wie Schaad subtil nachweist, zur Strategie der literarischen Persönlichkeitsspaltung. Da waren die eigenen bürgerlichen Vergangenheitsverstrickungen, die der Romanfigur des Faschisten Geismar zugeschoben und auf diese Weise von Kurella als überwunden dargestellt werden. Dagegen die Figur des Berufsrevolutionärs Walter Berger, der sich ganz der kommunistischen Sache zuwenden wollte, ohne dass er eine erkennbare Vergangenheit besaß. Die wurde gleichsam bei Geismar abgegeben. Die These des Buches und damit die eigene Selbstbehauptung, von der Kurella seine Leser und zunächst vor allem seinen Ziehvater und Beschützer Dimitroff, der das Manuskript allerdings offenbar nie gelesen hat, überzeugen wollte, war verschlüsselt, aber doch einigermaßen naiv und wenig überzeugend: Da war Günther Geismar alias der Bürgersohn und Wandervogel Kurella, der für die frühen Fehleinschätzungen Kurellas geradestehen musste. Mit der anderen Seite dieser gespaltenen Persönlichkeit, dem Revolutionär Berger, identifizierte sich der Kommunist und Autor Kurella, der noch rechtzeitig auf den richtigen Weg der sozialistischen Revolution gefunden hat und nicht zum Faschisten geworden ist. Die »Gronauer Akten«, so die Schlussfolgerung von Schaad, waren »gleichermaßen Selbstkritik wie Selbstbehauptung.« Seine Wendung zum Stalinismus erklärt Kurella mit der Notwendigkeit zu überleben; in der Formulierung von Schaad »mit einem vom Terror erzwungenen Akt der Selbsterziehung« (S. 162). Die Belege dafür leitet er aus einer gut und spannend geschriebenem literaturwissenschaftlichen Analyse des autobiographisch angelegten Romans von Kurella ab; gleichsam aus einem historischen Punkt im Jahre 1935/36 und nicht aus einer Erfahrungsgeschichte eines Berufsrevolutionärs vom Ersten Weltkrieg über den Sieg des Nationalsozialismus bzw. die Bolschewisierung der kommunistischen Bewegung. Auch die Geschichte des Wandervogels bzw. der Freideutschen Jugend von 1910 bis 1918,
Martin Schaad: Die fabelhaften Bekenntnisse des Genossen Alfred Kurella
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zu der Schaad einige bemerkenswerte Details zum Verhalten und den politischen Affinitäten Kurellas in den Jahren 1917/18 beiträgt, bilden nur eine Folie, ohne dass nach einem möglichen inneren Zusammenhang zwischen den Einstellungen und Verhaltensformen des bürgerlichen Freigeistes und seiner späteren Politisierung und Radikalisierung gefragt wird. So gibt die lesenswerte und gut lesbare biographische Spurensuche zwar einen sehr guten Einblick in die Überlebensstrategien und die Innenwelt eines kommunistischen Funktionärs der Stalinzeit, aber nicht in die vollständige politische Biographie eines Wanderers zwischen den Welten. Dazu hätte es einer umfassenderen mentalitätsund ideologiegeschichtlichen Untersuchung bedurft, die auch der Frage nachgeht, was den Kern des Stalinismus ausmacht und wie er sich in diese Mentalitätsgeschichte der frühen Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts einordnet. Dennoch: eine spannende und anregende Lektüre, die Bausteine zu einer Wirkungsgeschichte auch der Jugendbewegung liefern kann.
Rolf Koerber
Helmut König (Hg.): Pitters Lieder. Die Lieder von Peter Rohland, hg. im Auftrag der Peter Rohland Stiftung, Baunach: Spurbuchverlag 2014, 248 S., ISBN 978-3-88778-407-2, 29,80 E
»Vergessen wir nicht, dass auch bei uns in Deutschland Anknüpfungspunkte für eine eigenständige Chansonkunst bestehen. Sie liegen irgendwo zwischen Volkslied, bündisch-vaganteskem Song und unserer heimischen, mittlerweile etwas schmalbrüstigen Chansonkunst. Ihr Barden schafft Texte, die weithin wirken! Sucht sie! Singt sie!« – Diesem Aufruf, seiner ersten Schallplatte von 1962 beigefügt, folgte Peter Rohland (1933–1966) selbst als einer der Ersten aus der bündischen Nachkriegsgeneration. Aufgewachsen in der Nachkriegsjugendbewegung brach »pitter«, so sein bündischer Name, sein Jurastudium in Tübingen ab und ging 1956 nach Berlin, wo er bis 1960 Musikwissenschaft, Musikethnologie und Gesang studierte. Bereits während des Studiums konnte Peter Rohland seinen Lebensunterhalt durch Musikauftritte finanzieren. Er war an der Gründung und Umsetzung der ersten beiden Waldeck-Festivals »Chanson Folklore International« 1964 und 1965 beteiligt, die eine wichtige Grundlage für die Entwicklung des deutschen Chansons waren. Das Festival von 1966 erlebte er bereits nicht mehr. Dennoch erwies sich sein eingangs zitierter Aufruf als hellsichtig – Kollegen mit klangvollen Namen wie Franz-Josef Degenhardt, Reinhard May oder Hannes Wader stehen für eine deutsche Singer-SongwriterBewegung, die auf Burg Waldeck ihre Anfänge hatte. Über Peter Rohland war diese Bewegung auch in der deutschen Jugendbewegung verwurzelt und es ist das besondere Verdienst der Peter Rohland Stiftung sein Andenken wachzuhalten. Dabei ist es erstaunlich, dass auch fast fünfzig Jahre nach seinem Tod, die Erinnerung an Peter Rohland derart lebendig ist. Woran mag das liegen? Sicherlich an der der geradezu magischen persönlichen Ausstrahlung, die er besessen haben muss, wie man Zeitzeugengesprächen entnehmen kann. Dazu kamen seine beeindruckende Stimme und schließlich sein Drang, weniger als die genannten Kollegen selbst zu schreiben als vielmehr Lieder zu finden. Die Methode, die Peter Rohland anwandte, wird im vorliegenden Liederbuch deutlich: Er wandte sich Themen zu – dem jiddischen Lied, den Texten von Francois Villon, den Landstreicherballaden und den Liedern deutscher Demokraten. Diese Lieder und Texte verwob er, auch unter
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Rolf Koerber
tatkräftiger Mitarbeit von Kolleginnen und Kollegen wie Gesine Köhler, Schobert Schulz und Hanno Botsch, zu Programmen, mit denen er auftrat. Dabei bewies er ein Gespür für Trends: Viele Gruppen und Einzelsänger nahmen eben diese Themen und auch die Funde, Vertonungen und Arrangements von Peter Rohland in den folgenden zwanzig Jahren auf und hielten so sein Andenken lebendig. Daneben trugen die vom Musikverlag Thorofon veröffentlichten Tonträger dazu bei, das Schaffen von Peter Rohland wahrnehmbar zu machen. Und nun ein von Helmut König unter Mitarbeit von Hanno Botsch, Hai Frankl und Helga König sorgfältig ediertes Liederbuch, das die Lieder enthält, die von Peter Rohland eingespielt wurden. Das Buch folgt den Themenkreisen und ergänzt diese noch durch die frühen Lieder aus dem jugendbewegten Kontext. Jedes der sich so ergebenden fünf Kapitel ist mit einer Einführung versehen – hier hätte man sich etwas mehr Originaltexte von Peter Rohland gewünscht, aber ihre Abwesenheit mag der Quellenlage geschuldet sein. Ein Lebenslauf, eine Diskographie und eine DVD mit Aufnahmen aller Lieder runden das Liederbuch ab und lassen es zu einer Gesamtschau des Werkes eines wichtigen Anregers des deutschen Chansons werden.
Barbara Stambolis
Doris Werheid: »glaubt nicht, was ihr nicht selbst erkannt«. Eine autonome rheinische Jugendszene in den 1950/60er Jahren, Stuttgart: Verlag der Jugendbewegung 2014, ISBN 978-3-88258-150-8, 20,– E
Der Verlag der Jugendbewegung, in dem das im Folgenden besprochene Buch über »eine autonome rheinische Jugendszene in den 1950/60er Jahren« erschienen ist, versteht sich als bündisches Projekt: Er bringt Publikationen »von Bündischen für Bündische« heraus, wie es auf der Verlagshomepage heißt. Die hier vorgestellte Neuerscheinung fügt sich in dieses Profil ein. Jugendbewegte werden unschwer im Zitat in der Überschrift »glaubt nicht, was ihr nicht selbst erkannt« ein jungenschaftliches Credo erkennen, das auch in Stichworten wie »autonom« oder »Selbsterringung« angesprochen wird, die sich mehrfach in dem Band wiederfinden. Die Autorin Doris Werheid, 1943 im Remscheid geboren, ist Mitglied der Deutschen Freischar, die sie als »bis heute inspirierende Heimat« bezeichnet (S. 217); sie ist außerdem ebenso jungenschafts-erfahren bzw. -geprägt wie die zu Wort kommenden Autoren und Interviewpartner, die gemeinsam Spuren einer spezifisch rheinischen Jungenschaftsszene der 1950erund 1960er-Jahre nachgehen. Wörtlich heißt es im Vorwort: »Uns interessierte, wie sich in den Gruppen der damaligen autonomen jungenschaft / dj.1.11 im Rheinland und Teilen des Ruhrgebiets ein bestimmtes Lebensgefühl, Selbstwertgefühl und eine besondere Gruppenpraxis bildeten, durch die lebenslang wirkende Prägungen der Jugendlichen entstehen konnten.« Die Frage nach dem regionalen Milieu und sich daraus ergebenden jugendkulturellen Besonderheiten ist zweifellos nicht nur für jugendbewegte Insider von Interesse. Außerdem wird folgende These formuliert, die ebenfalls allgemeineres zeitgeschichtliches Interesse verdient: Autonome Jungenschaftsgruppen hätten in den 1950er- und 1960er-Jahren insbesondere Heranwachsenden aus sozialen Unterschichten Möglichkeiten der Horizonterweiterung geboten, die nicht selten auch folgenreich für ihre Bildungswege und Berufsbiographien gewesen seien. Abgesehen von Katja »keks« Werheid gehören die Autoren und zitierten Interviewpartner der Generation der Kriegskinder des Zweiten Weltkriegs an, die einerseits als Jugendliche das Nachwirken der NS-Zeit in Schule und Elternhaus erlebten, und andererseits an politischen und sozialen Veränderungen sowie gesellschaftlichen Wandlungsprozessen der Bundesrepublik in jenen Jahr-
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zehnten aktiv Anteil nahmen. In den Jahren 1937 bis 1943 geboren, begannen eine ganze Reihe von Angehörigen dieser Altersgruppe, sich aus traditionellen, beispielsweise konfessionellen, Jugendmilieus zu lösen, kritische Fragen an die deutsche Vergangenheit zu stellen und sich politisch zu engagieren. Mehrheitlich scheinen sie außerdem in den Genuss sich ganz allgemein gesehen zunehmend erweiternder Bildungs- und Aufstiegschancen gekommen zu sein. Für die Orientierungssuche und Veränderungs- bzw. Aufbruchsbedürfnisse mancher Heranwachsender boten die Jungenschaften an Rhein und Ruhr offenbar einen guten Resonanzboden. Allerdings ist nicht die Konturierung zeitgeschichtlicher Hintergründe das vorrangige Anliegen dieser Publikation, sondern vielmehr der persönliche Rückblick auf erste Begegnungen mit jungenschaftlichen Gruppen oder die Faszination, die vom gemeinschaftlichen Singen und von Fahrten in die nähere und weitere Umgebung ausging. Vor allem die Loosenau im Bergischen Land und das Siebengebirge erwiesen sich als »magische Orte« (S. 56), wo sich das bündische Gemeinschaftsleben entfaltete. Ähnlich wie Doris Werheid betonen auch andere Autoren, in den Gruppen hätten sie teilweise Familienersatz gefunden, sich mit Vorbildern auseinandergesetzt und Orientierung gefunden. Erdmann »eardi« Linde etwa nennt Namen wie Johannes Ernst Seiffert, Michael Jovy oder Karl-Otto Paetel und betont, Arno Klönne sei sein »Vater in politischen Fragen und in Jungenschaftsfragen« gewesen; er habe ihn »total geprägt« (S. 25). Klönne, der das Buchprojekt beraten hat und dem einleitend ein besonderer Dank gilt, ist – auch zwischen den Zeilen – wiederholt sehr präsent, etwa, wenn Wolfgang »wanja« Streffer das »Schwimmen gegen den Strom« als spezifisch jungenschaftliche Haltung hervorhebt (S. 24), auf die, wie bereits angedeutet, auch im Titel dieser Publikation Bezug genommen wird. Unangepasste jugendkulturelle Szenen wie die autonomen Jungenschaftsgruppen hätten – so wird wiederholt hervorgehoben – an Rhein und Ruhr mit der für diese Region kennzeichnenden »Farbigkeit und Vielfältigkeit« besonders ausgeprägte Chancen gehabt. Es wäre sicher reizvoll, solchen Überlegungen in systematischeren Untersuchungen vertiefend nachzugehen. Genauer wäre auch die Rolle von Mädchen in jungenschaftlichen Gruppen unter die Lupe zu nehmen, der sich in der vorliegenden Publikation Katja und Doris Werheid widmen, ohne die beschreibende persönliche Ebene zu verlassen. Leider wird der nur kurz angesprochenen Frage der abwesenden, aus dem Zweiten Weltkrieg nicht oder erst spät oder physisch und psychisch versehrten Väter, d. h. der Bedeutung einer männlichen Umgebung in damals vielfach kriegsbedingt weiblich dominierten Familien in den persönlichen Erinnerungen so gut wie keine Aufmerksamkeit gewidmet. Und ein weiteres Desideratum ist zu erwähnen: Während die allmähliche politische Auseinandersetzung mit der deutschen Vergangenheit, oft mit angeregt durch Auslandsfahrten, eindrücklich geschildert wird, bleibt die einleitend angesprochene wichtige Frage nach den
Doris Werheid: »glaubt nicht, was ihr nicht selbst erkannt«
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Bildungswegen und Aufstiegskarrieren der an diesem Buchprojekt Beteiligten leider so gut wie unberücksichtigt; wenige Hinweise ergeben sich lediglich andeutungsweise aus deren Kurzbiogrammen am Ende des Bandes. Diesen Aspekt angemessen zu thematisieren, wäre indes wohl ein eigenes Projekt und war nicht das zentrale Anliegen von Doris Werheid. Die Autorin stellt vielmehr Erzählungen Jugendbewegter und ihre oft bis ins Alter intensiv erinnerten Erfahrungen in jugendbewegten Gruppen sowie den daraus erwachsenden Erzählungen und Selbststilisierungen ins Zentrum. Abgesehen vom persönlichen Wert, den eine solche Publikation für die Autorin, die sich mit vielen eigenen Erinnerungen eingebracht hat, und alle Beteiligten hat, stellt das Buch dennoch eine jugendkulturell interessante Quelle dar, aus der sich Forschungsfragen ableiten lassen, weshalb es nicht nur jugendbewegten Insidern, sondern auch weiteren erfahrungs- und zeitgeschichtlich Interessierten, Laien wie Forschern, als Lektüre zu empfehlen ist. Die autonomen Jungenschaften an Rhein und Ruhr gehören wohl zu den Jugendgruppen, die im Hinblick auf Lebensstil, Betätigungsfelder und Aktionsformen einen gewissen Eigencharakter beanspruchen können, die in die Gesellschaft hineinwirken wollten und die deshalb generationen-, sozial- sowie geschlechtergeschichtlich interessant sind. Abschließend sei eine auf die Bewahrung solcher privater Überlieferungen bezogene Bemerkung angefügt: An einem Buch-Beispiel wie dem hier vorgestellten lässt sich vielleicht auch diskutieren, inwieweit Fotos, Zeitschriften, Liederbücher und andere Erinnerungsobjekte von jugendbewegten Angehörigen der Kriegskindergeneration sowie ihre erzählten Geschichten für das Archiv der deutschen Jugendbewegung auf Burg Ludwigstein als Materialfundus von Bedeutung sein sollten.
Barbara Stambolis
Traugott Jähnichen, Uwe Kaminsky, Dimitrij Owetschkin (Hg.): Religiöse Jugendkulturen in den 1970er und 1980er Jahren. Entwicklungen – Wirkungen – Deutungen (Veröffentlichungen des Instituts für soziale Bewegungen, Schriftenreihe A: Darstellungen 58), Essen: Klartext Verlag 2014, 242 S., ISBN 978-3-8375-1272-4, 24,95 E Dem Forschungsfeld »Jugend und Religion« widmen sich – bezogen auf die 1970er- und 1980er-Jahre – in dem vorliegenden Tagungs-Sammelband Theologen, Sozialwissenschaftler und Historiker ; es handelt sich also um interdisziplinäre Zugänge zu Themenbereichen, die bislang nicht hinreichend erforscht worden sind und nun von Beteiligten der Bochumer DFG-Forschergruppe »Transformation der Religion in der Moderne« bearbeitet wurden. Diese Publikation stellt die Ergebnisse einer Tagung im November 2013 im Haus der Geschichte des Ruhrgebiets und der Kooperation zwischen dem Institut für soziale Bewegungen und dem Lehrstuhl für Christliche Gesellschaftslehre der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Ruhr-Universität vor. Die Herausgeber gehen davon aus, dass der in den Blick genommene Zeitraum in jugendkultureller Hinsicht, was religiöse Jugendkulturen betreffe, eine Umbruchzeit darstelle, die von uneinheitlichen Tendenzen gekennzeichnet sei, vom Bedeutungsverlust der christlichen Kirchen einerseits und vielfältigen »Neuaufbrüchen« andererseits. Allgemeine gesellschaftliche Entwicklungen fanden, wie sie betonen und nachvollziehbar belegen, ihren Niederschlag auch in jugendkulturellen Kontexten; zu nennen sind Individualisierung und Pluralisierung, wie sie auch in anderen Untersuchungen zu jugendkulturellen Wandlungsprozessen seit den 1960er-Jahren beschrieben werden. Wie Traugott Jähnichen und Uwe Kaminsky einleitend schreiben, sei »in den gesellschaftlichen Umbrüchen jener Zeit den Veränderungen der Jugendkulturen eine Vorreiterrolle« zugekommen (S. 12). Dies gelte »gerade auch für religiöse Jugendgruppen, die sich entweder wandelten oder gar neu konstituierten. Kirchliche Jugendgruppen und konfessionelle Jugendverbände machten dabei einen tief greifenden Wandel durch, da die herkömmliche Symbiose von Lagerfeuer und Bibel immer schwieriger wurde« (S. 12). Welche gesellschaftlichen und jugendkulturellen Wandlungsprozesse werden in dem Band konkret angesprochen? In einem ersten Block widmet sich Dimitrij Owetschkin aus einer allgemeineren Perspektive Tendenzen religiöser Jugend-
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sozialisation in der Bundesrepublik in den 1970er- und 1980er-Jahren, während Friedrich Schweitzer diese aus religionspädagogischer Perspektive betrachtet. Weitere neun Aufsätze verteilen sich auf die Blöcke II (Pluralisierung der religiösen Jugendkulturen), III (Politisierung der religiösen Jugendkulturen), IV (Wandel und Kontinuität der Werte religiöser Jugendkulturen seit den 1970er Jahren) und V (Kulturvergleichende Perspektiven). Es kann hier nicht auf alle Beiträge ausführlich eingegangen werden; deshalb sei der Blick vor allem auf einige wenige jugendbewegungs- und jugendkulturgeschichtlich möglicherweise besonders interessante Aspekte beschränkt, ohne das Spannende manch anderer Untersuchungsthemen in diesem Band, wie sie beispielsweise die katholischen und protestantischen Akademien darstellen, in Abrede stellen zu wollen (s. den Aufsatz von Thomas Mittmann). Markus Hero etwa wendet sich dem interessanten Feld religiöser Symboliken in jugendlichen »Alternativmilieus« wie »Beatniks«, »Gammlern« und »Hippies« und deren generationellem Protestverhalten gegenüber Wertorientierungen wie Ordnung und Disziplin zu. Dabei umreißt er die ausgeprägte Betonung von Leitvokabeln wie »Autonomie«, »Emanzipation« und »Selbstverwirklichung« in soeben angesprochenen Szenen bzw. »subkulturellen Szenerien« (S. 69). Leider vermerkt Markus Hero lediglich in einem Satz, Ansätze eines solchen »Mentalitätswandels« seien »im bürgerlichen Milieu schon seit Beginn des 20. Jahrhunderts« zu beobachten gewesen (S. 69). Wenn er Stichworte wie »Osho-Bagwan«, »Hare Krishna« oder »Transzendentale Meditation« als Ausdruck einer alternativen Religiosität in den Kontext alternativer Lebensentwürfe und Lebenspraktiken in Wohngemeinschaften und Landkommunen stellt, so hätte er diese auch in einer historischen Langzeitperspektive verorten können. Der Frage nach einer der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert vergleichbaren »vagierenden Religiosität« (Thomas Nipperdey) in den 1970er-und 1980erJahren ist er jedoch nicht nachgegangen. Solchen mentalitäten- und generationsgeschichtlichen Vergleichsperspektiven intensiver als dies in dem vorliegenden Band geschehen ist, nachzugehen, hätte jedoch wohl den Rahmen der Tagung gesprengt, die mit dem von Jähnichen, Kaminsky und Owetschkin herausgegebenen Sammelband dokumentiert wird. Dass die hier zur Diskussion gestellten Themen und Perspektiven zu erweitern sind, dass also weiterer Forschungsbedarf auf dem tatsächlich noch sehr weiten Feld religiöser Jugendkulturen besteht, betonen Herausgeber und Autoren zu Recht wiederholt. In diesen Zusammenhang gehört etwa auch Frage der Autoren Thomas Coelen, Frank Gusinde und Daniel Eul, warum in den ShellJugendstudien der 1970er- und 1980er-Jahre religiöse Wertorientierungen Heranwachsender erst spät beachtet worden sind (S. 173–193). Dass in dieser Publikation keine durchgehend präzise begriffliche Bestimmung von Jugendkultur, Jugendkulturen, Milieu, Szene, Subkultur etc. zu finden
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ist, sei kritisch angemerkt, dennoch: Anregend und zu empfehlen ist der Sammelband auf jeden Fall all jenen, die sich mit jugendkulturellen Entwicklungen im 20. Jahrhundert im weiteren Sinne befassen. Und die Leser werden darüber hinaus vielleicht auch die eine oder andere Beobachtung auf den eigenen Umgang mit dem heutigen Markt religiöser Sinnangebote beziehen können: die auf breite Akzeptanz stoßende Verbindung fernöstlich-meditativer und christlicher Kontemplationspraktiken beispielsweise oder die Faszination, die von Seminaren und »Auszeiten« in klösterlich-asketischem Ambiente ausgeht.
Rückblicke
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Jugendbewegt geprägt »gegen den Strom der Zeit …«
In memoriam Arno Klönne (4. Mai 1931–4. Juni 2015) Soziologe und Politikwissenschaftler, geboren in Bochum, aufgewachsen in Paderborn, Studium der Geschichte, Soziologie und Politikwissenschaft in Marburg und Köln; Promotion mit einer jugendsoziologischen Studie über die Hitlerjugend und ihre Gegner (1955) bei Wolfgang Abendroth. Landesjugendpfleger in Wiesbaden, wissenschaftlicher Mitarbeiter der Sozialforschungsstelle an der Universität Münster. 1978 bis 1995 Professor für Soziologie an der Universität Paderborn. Seit 1957 Mitherausgeber der Zeitschrift »pläne«, 1961 Mitgründer des Schallplattenlabels und des Verlags »pläne«. In den 1960erJahren u. a. einer der Sprecher der Ostermarschbewegung. – Während des Zweiten Weltkriegs erste Verbindungen zur katholischen Jugendbewegung, Gründer der »Jungenschaft Paderborn« (später unter dem Namen »dj.1.11 paderborn«). Unter Soziologen und auch Vertretern anderer Wissenschaftsdisziplinen war und ist es noch immer nicht selbstverständlich, die Person des Forschenden in irgendeiner Weise hinter ihren Forschungen sichtbar werden zu lassen.1 Der Satz: »De nobis ipsis silemus« trifft in mancher Hinsicht, aber doch nur mit Einschränkungen für Arno Klönne zu. Für ihn gilt die nicht zuletzt unter Soziologen verbreitete Devise »Von uns selber schweigen wir« jedoch nur insofern, als er stets sehr zurückhaltend war, wenn es darum ging, über Familie und Freunde zu sprechen.2 Zu seinen prägenden Erfahrungen in der Jugendbewe1 Martin Kohli: Von uns selber schweigen wir. Wissenschaftsgeschichte aus Lebensgeschichten, in: Wolf Lepenies (Hg.): Geschichte der Soziologie. Studien zur kognitiven, sozialen und historischen Identität einer Disziplin, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1981, S. 428–465. Vgl. auch Günter Burkart: Über die Unmöglichkeit einer Soziologie der Soziologie oder De nobis ipsis non silemus?, in: Günter Burkart, Jürgen Wolf (Hg.): Lebenszeiten. Erkundungen zur Soziologie der Generationen, Opladen 2002, S. 457–478. 2 Vgl. ähnlich zurückhaltend Georges Duby : Das Vergnügen des Historikers, in: Pierre Nora
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gung jedoch hat Arno Klönne immer wieder Stellung genommen, wobei er Selbstreflexionen zumeist in weitere zeitgeschichtliche und gesellschaftliche Zusammenhänge einband. Er war, so ließe sich pointiert sagen, auf eine besondere Weise Zeitzeuge und Wissenschaftler zugleich, wie – um ein Beispiel zu geben – an folgenden knappen Äußerungen deutlich wird. Im Jahre 2011, wenige Wochen nach seinem achtzigsten Geburtstag, teilte Arno Klönne in einem maschinenschriftlichen autobiographischen Text mit, er empfinde es »als lebenslänglich wirksamen Glücksfall,« die Jugendbewegung »erlebt« zu haben; wörtlich fügte Klönne hinzu: »Weiß der Himmel, welch ein wohlangesehener Ordinarius mit Bundesverdienstkreuz oder auch ministrabler Politiker sonst aus mir geworden wäre.«3 Dass er bis zu seinem Tode 2015 ein unangepasster Intellektueller war, der sich engagierte, aber nicht vereinnahmen ließ, wurde nicht zuletzt in ausführlichen Äußerungen Klönnes während eines Podiumsgesprächs aus Anlass seines 75sten Geburtstages 2006 deutlich.4 Die Metapher »gegen den Strom«, mit der Klönne 2006 seine erzählten Erfahrungen auf den Punkt brachte und mit der er lange zuvor – 1957 bereits – einen Bericht über Jugendwiderstand im Dritten Reich überschrieben hatte,5 stellt gleichsam die Klammer zwischen seinen persönlichen Erfahrungen und aus diesen erwachsenen Lebensprägungen sowie Selbstdeutungen dar. Arno Klönne gehört zu jener um 1930 geborenen »Kerngruppe der ›skeptischen Generation‹«,6 die ideologische Verengungen sowie Vereinnahmungen, von welchen Gruppen und Interessen auch immer, stets ablehnten.7 Wie er das Dritte Reich und den Zweiten Weltkrieg erlebt hat, hat er wiederholt, nicht zuletzt in dem bereits zitierten Text aus dem Jahre 2011 eindringlich folgen-
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u. a. (Hg.): Leben mit der Geschichte. Vier Selbstbeschreibungen, Frankfurt a. M. 1989, S. 65–99, hier S. 65: »Ich erzähle nicht mein Leben. Es ist vereinbart, dass ich […] nur einen Teil von mir bloßlege, das ego laborator, wenn man so will, oder das ego faber. Weil ich zum Beispiel nicht über Malerei, Theater oder Musik spreche, weil ich nichts über diejenigen sage, die ich liebe, liegt es auf der Hand, dass hier das Wesentliche verschwiegen wird.« Autobiographischer Text, verfasst für das Treffen des Mindener Kreises in Bad Liebenzell im Mai 2011: Arno Klönne, Jahrgang 1931, S. 9. Gegen den Strom. Geschichte politischer Opposition. Erinnerungen und Erfahrungen von Arno Klönne, DVD, Linkes Forum Paderborn 2006. Arno Klönne: Gegen den Strom. Bericht über den Jugendwiderstand im Dritten Reich, Hannover, Frankfurt a. M. 1957 (2. Aufl. 1960). Helmut Schelsky : Die skeptische Generation. Eine Soziologie der deutschen Jugend, Düsseldorf/Köln 1957. Vgl. Franz-Werner Kersting: Entzauberung des Mythos? Ausgangsbedingungen und Tendenzen einer gesellschaftsgeschichtlichen Standortbestimmung der westdeutschen 68er-Bewegung, in: Westfälische Forschungen, 1998, 48. Jg., S. 1–19; ders.: Helmut Schelskys ›Skeptische Generation‹ von 1957, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, 2002, 50. Jg., S. 465–495. Vgl. Hans Jaeger : Generationen in der Geschichte, in: Geschichte und Gesellschaft, 1977, 3. Jg., S. 429–452.
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dermaßen beschrieben, wobei er ein Lied in den Mittelpunkt stellt, das vielleicht nicht zufällig 1931, in Klönnes Geburtsjahr, im Umfeld einer später unter dem Nationalsozialismus verbotenen Jugendgruppe entstand:8 »In den Kriegsjahren […] war ›bündisch‹ die Chiffre für mancherlei nonkonforme Jugendszenen, die neben der Staatsjugendorganisation existierten. ›Wir sind wie der Wind, der über Landstraßen geht, ein fahrendes Volk, in die Weite verweht …‹ Dieses Lied, der Gitarrenklang dazu, die Stimmung, in der es gesungen wurde – für mich war das, es wird 1941 gewesen sein, eine Situation, die das entscheidende Gefühl hervorrief: Da willst Du dazugehören. Eine musikalisch-literarische Leistung war dieses Lied von der ›grenzenlosen Weite‹ gewiss nicht, aber es hat meine Sympathie bis heute. Der Klang einer anderen Welt lag darin – sie hatte nichts zu schaffen mit der Welt des Antretens, der Marschübungen und des Kommandierens, wie ich sie im Jungvolk der HJ vorfand und in der ich, wie alle Gleichaltrigen, ›Dienst‹ machte.«9
Der von Faschismus und Krieg wesentlich mitbestimmte generationelle Zeithorizont sei, wie Klönne wiederholt betont hat, für ihn ebenso prägend gewesen wie dann auch spezifische Erfahrungen in der katholischen Jugendbewegung in den Kriegsjahren und auch nach 1945. Bereits 1951, also im Alter von 20 Jahren, hat er in dem auflagenstarken Spurbuch-Verlag unter dem Titel »Fahrt ohne Ende« solche Erfahrungen, die durchaus exemplarisch für katholische Jungen seiner Altersgruppe gewesen sein dürften, einem breiteren jugendlichen Publikum vermittelt.10 Im Vorwort dieser »Geschichte einer Jungenschaft« spricht Klönne von »wir« und bringt bereits einige Stichworte ins Spiel, die retrospektiv und aus der Distanz betrachtet, fast schon programmatisch für seinen Lebensentwurf zu sein scheinen. Da ist die Rede von einer »illegalen Jungenschaftshorte«,11 deren Mitglieder zwar nicht politisch opponieren, sich aber ihres abweichenden Verhaltens und den Gefahren, denen sie unter den Bedingungen der Diktatur und des Krieges ausgesetzt sind, bewusst sind. Das in diesem Buch wiedergegebene Foto eines Jungen an einem Gipfelkreuz vor einer Bergkulisse habe aus Sicht der Gestapo, die bekanntlich bestimmte, was Widerstand war, oppositionellen Symbolcharakter gehabt.12 Für die Jungengruppe, die im Mittelpunkt dieses Buches steht, sind lebensweltliche Verwurzelung im Katholizismus und jugendbewegtes Fahrtenleben nicht zu trennen: »Fahrtenjungen! Irgend etwa hat sie gerufen: in die Weite, in die Freiheit, auf Fahrt! […] Sie gehen ihren eigenen Weg. Sie sind – auf Fahrt. Und ihr Ziel liegt noch jenseits der Wolken, in die sie ihre Pfeile richten. Und manchmal wissen die Jungen: die Fahrt 8 Vgl. Doris Werheid, Jörg Seyffarth, Jan Krauthäuser : Gefährliche Lieder. Lieder und Geschichten der unangepassten Jugend im Rheinland 1933–1945, Köln 2010, S. 55. 9 Klönne: Jahrgang (Anm. 3), S. 1. 10 Arno Klönne: Fahrt ohne Ende. Geschichte einer Jungenschaft, Colmar 1951. 11 Ebd., S. 10. 12 Ebd.
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zu diesen Zielen wird nie zu Ende gehen. Dann wissen sie, dass diese Fahrt ein Leben lang dauern wird, werden sie immer ›unterwegs‹ sein. Unterwegs zu Zielen, die sich recht oft nur unscheinbar von denen unterscheiden, zu denen sie in ihren Knabenträumen einst unterwegs waren. Im Grunde sind es die gleichen Ziele – wenn sie selbst die gleichen geblieben sind. Denn wenn wir es recht verstehen, dann ist unser ganzes Leben hier auf unserer Erde nur eine einzige große Fahrt. Eine Fahrt ohne Ende.«13
Der pathetische Grundton der zitierten Zeilen ist sicher der Zeit geschuldet, in der sie geschrieben wurden und in der die Nachwirkungen der Diktatur des Dritten Reiches und des Zweiten Weltkrieges noch unmittelbar zu spüren waren. In dem eingangs zitierten autobiographischen Text aus dem Jahre 2011 heißt es, an diese Zeiterfahrungen anknüpfend: »Schon im Sommer 1945 sind wir zum Zelten losgezogen, jetzt konnten wir draußen singen, was wir wollten. Im Herbst 1945 druckte eine Gruppe das erste bündischkatholische Liederbuch, ein paar Monate später erschienen Zeitschriften, die an die Tradition der Jugendbewegung anknüpften, die für mich die wichtigsten waren: ›Das junge Wort‹, ›Ende und Anfang‹ und ›Der Fährmann‹. Darin wurde nun auch kontrovers über Politik diskutiert, über die NS-Zeit, über die ›westlichen‹ Demokratien, über Sozialismus und Bergpredigt, von heute aus betrachtet in einem krausen Durcheinander ; aber höchst anregend, wie auf Entdeckungsreisen. Gefallen fand ich daran, selbst Texte zu schreiben […].«14
Lebensgeschichtliche und berufsbiographische Kontingenzen Unter den sich entwickelnden Interessen und Perspektiven, also Faktoren, die für Klönne »zusammenkamen«, sind weitere zu nennen: das bildungsbürgerliche Elternhaus beispielsweise, in dem es auch nach 1933 anregende Literatur gab, als diese aus öffentlichen Bibliotheken bereits entfernt worden war, u. a. des sozialistisch-pazifistischen Schriftstellers Leonhard Frank (1882–1961); auch jugendbewegt-katholische Zeitschriften der Zwischenkriegszeit gehörten dazu. Zahlreiche Begegnungen mit facettenreichen jugendkulturellen Milieus nach 1945 wären ebenfalls anzuführen: Klönne selbst hat von einer Reihe von Bünden, Zentren jugendbündischen Lebens und »Leitpersonen« gesprochen, nicht zuletzt auch von ideellen Orientierungen: »Stolz war ich, es war noch in der Gymnasialzeit, dass die ›Frankfurter Hefte‹ kleine Texte von mir brachten. Diese Zeitschrift hatte damals für mich orientierende Bedeutung. Einer der beiden Herausgeber war Walter Dirks, sogenannter Linkskatholik, Antimilitarist, Kapitalismuskritiker und in den 1920er Jahren Führer des Westfalengaus im Jugendbund ›Quickborn‹. Dirks war es, der als erster Publizist die westdeut13 Ebd., S. 11. 14 Ebd., S. 5.
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schen gesellschaftlichen Verhältnisse nach 1945 auf den kritischen Begriff einer ›Restauration‹ brachte. Auf der Jugendburg Bilstein […] hörte ich ihn vortragen und diskutieren. […] Bei einem Wanderführerlehrgang des Jugendherbergswerks (Man bekam ›Schulbefreiung‹ bei der Teilnahme, das schon machte die Sache attraktiv), 1948 im Sauerland, lernte ich auch Enno Narten kennen. Er erzählte aus Wandervogelzeiten, mehr noch sprach er aber die Fragen der Zeit an: Dass soziale Gerechtigkeit erreicht, die Gefahr neuer Kriege ausgeräumt werden müsse.«15
Dass er bei Wolfgang Abendroth (1906–1985), selbst unangepasst und im weitesten Sinne jugendbewegt und »widerständig«, promoviert hat, gehört zweifellos ebenfalls zu den Kontingenzen von Klönnes Biographie.16 Seit seiner 1955 erschienenen Dissertation über »Jugend im Dritten Reich« hat Klönne in zahlreichen weiteren Veröffentlichungen nicht zuletzt »bündische Umtriebe«, jugendliches nonkonformes Verhalten, Widerständigkeit im engeren Sinne und andererseits unauffällige Anpassung sowie auch überzeugtes aktives »Mitmachen« im Dienste des Regimes untersucht.17 Seine Publikationen zur Jugendbewegung und zu subkulturellen Jugendmilieus sind kaum zu zählen; viele sind ausdrücklich an ein breiteres, nicht selten auch an ein jugendliches Publikum gerichtet, dem er an historischen Beispielen nicht zuletzt zu vermitteln versuchte, sich »antizyklisch« zu verhalten.18 Mit anderen Worten: sich nicht mit jugendpflegerisch gut gemeinten Freizeitangeboten zu begnügen, auch wenn diese durchaus attraktiv waren; sich nicht auf Konsumenten reduzieren zu lassen, auch wenn die Konsumindustrie sich zunehmend auf einen jugendlichen »Markt« einstellte.19
15 Klönne: Jahrgang (Anm. 3), S. 6f. 16 Vgl. Uli Schöler : Auf dem Weg zum Sozialismus – Wolfgang Abendroth. Streiflichter eines Lebensweges aus dem Blickwinkel seiner Aktivitäten in der Jugendbewegung der Weimarer Republik, Berlin 2006; ders., Friedrich-Martin Balzer, Hans Manfred Bock (Hg.): Wolfgang Abendroth: wissenschaftlicher Politiker. Bio-bibliographische Beiträge, Opladen 2001. 17 Arno Klönne: Hitlerjugend: Die Jugend und ihre Organisation im Dritten Reich, Hannover 1955. Um nur zwei weitere Beispiele zu nennen: ders.: Jugendliche Subkulturen im Dritten Reich, in: Deutscher Werkbund e. V., Württembergischer Kunstverein Stuttgart (Hg.): Schock und Schöpfung. Jugendästhetik im 20. Jahrhundert, Darmstadt, Neuwied 1986, S. 308–313; ders.: Verführt und verheizt, in: Spiegel Geschichte, 2010, Heft 3: Der Krieg 1939–1945. Als die Welt in Flammen stand, S. 124–127. 18 Beispielsweise 1956: Arno Klönne: Aufbruch der Jugendbewegung (Die Waldläuferschule, Heft 30: Jugendbewegung, Teil I), Münster : Deutscher Jugend-Verlag 1956; es folgten: Jugendbewegung, Teil II: Jugendbewegung zwischen den Weltkriegen; Jugendbewegung, Teil III: Jugend – gestern und heute. – Arno Klönne: Gegen den Strom. Bericht über den Jugendwiderstand im Dritten Reich, Hannover, Frankfurt a. M. 1957 (2. Aufl. 1960). 19 Beispielsweise in einem Vortrag mit Diskussion beim Herbsttreffen des Freideutschen Kreises 1985 zum Thema »Die Rolle der Gruppe in der heutigen Gesellschaft«, in: Rundschreiben des Freideutschen Kreises, 1985, Nr. 192, S. 220–228, bes. S. 224 u. 227.
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Ein »Skeptiker« mit dem Blick auf »Restgeschichte(n)« Vom Geburtsjahrgang her gehört Klönne zu den von Helmut Schelsky (1912–1984) »Skeptiker« genannten Angehörigen einer Altersgruppe, die den Faschismus bewusst erlebt hatten und deshalb – so jedenfalls Schelsky – mehrheitlich nicht nur eine tiefe Abneigung gegenüber Ideologien, sondern auch gegenüber politischem Engagement jedweder Art hegten. Durchweg unpolitisch jedoch – wie Schelsky die um 1930 Geborenen beschrieb – waren diejenigen, die Hitlerjugend-Erziehung und den Zweiten Weltkrieg noch bewusst erlebt hatten, nicht, wie das berufliche und politische Wirken Klönnes belegt. Um ein Beispiel zu geben: Klönne engagierte sich wie manch andere Angehörige der skeptischen Generation auch, aus politischen Gründen »gegen jede neue Militarisierung«. »Es lag darin« so Franz-Werner Kersting, nicht nur die aus Erfahrung herkommende und vernünftige Furcht vor einem neuen Krieg, sondern ebenso sehr die Opposition gegen militärische Machtstrategien und der Zorn auf den Kasernenhofgeist jeder Art«, und zwar während die Fronten des Kalten Krieges sich verhärteten, zunehmend »gegen den Strom der deutschen Geschichte.«20 Klönne hatte Schelsky bereits in den 1950er-Jahren kritisiert und dessen Thesen »die Vision einer demokratisch engagierten Jugend entgegengesetzt«.21 Wie ist diese Kritik damit in Einklang zu bringen, dass Klönne einige Jahre Schelskys Assistent gewesen ist? Schelsky, so Klönne, sei sehr tolerant gewesen, wie auch Dieter Claessens (1921–1997) bestätigt hat,22 mit dem Klönne 1965 eine »Sozialkunde der Bundesrepublik« herausbrachte, die weite Verbreitung fand und mit deren Hilfe zahlreiche Studierende sich zeit- und sozialgeschichtliche Grundlagenkenntnisse erwarben.23 Dazu, dass Kritiker Schelskys Arno Klönne selbst als Gegenargument gegen Schelskys Generationenthesen ins Feld führen könnten, hätte man ihn in einem lebens- und berufsbiographischen Interview befragen sollen. In einem biographischen Interview wäre Klönne auch nach Schulen-Bildungen in der Soziologie und seiner Selbstverortung in der Soziologen-Zunft sowie ferner nach weiteren Selbstpositionierungen, bezogen etwa 20 Vgl. Franz-Werner Kersting: Helmut Schelskys ›Skeptische Generation‹ von 1957, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, 2002, 50. Jg., S. 465–495. 21 Detlef Siegfried: Time Is on My Side. Konsum und Politik in der westdeutschen Jugendkultur der 60er Jahre, Göttingen 2006; S. 744; unter Hinweis auf Kersting: Helmut Schelskys ›Skeptische Generation‹ von 1957, S. 490f. 22 Dieter Claessens: Lehrjahre in Münster, in: Peter Ulrich Hein, Hartmut Reese (Hg.): Kultur und Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland. Eine Festschrift zum 65. Geburtstag von Arno Klönne, Frankfurt a. M. 1996, S. 21–38, hier S. 29. 23 Dieter Claessens, Arno Klönne, Armin Tschoepe: Sozialkunde der Bundesrepublik, Grundlagen, Strukturen, Trends in Wirtschaft und Gesellschaft, Düsseldorf/Köln 1965 (vollst. überarbeitete Neuausgabe 1989).
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auf sein gesellschaftspolitisches Engagement, zu befragen gewesen. Antworten auf diese und weitere Fragen werden nun nur noch auf der Grundlage seiner immens umfangreichen Publikationen, Stellungnahmen und Interviews zu finden sein und werden vielleicht später einmal Teil einer wissenschaftlichen Biographie über Klönnes Lebensleistungen sein.
»Mittler« zwischen Milieus und Generationen Viele Menschen, die Arno Klönne verbunden waren, werden sich wohl in den kommenden Monaten und Jahren an Begegnungen mit ihm als Freund, akademischen Lehrer, anregenden Gesprächspartner und kritischen Zeit-Beobachter erinnern. Sie werden an Ereignisse und Anlässe denken, bei denen sich Arno Klönne einmischte, zumeist nachdenklich und nicht selten auch provozierend, dabei in Diskussionen konzentriert und freundlich dem fragenden Publikum zugewandt, intensiv bei diversen Veranstaltungen und Projekten sowie Publikationen beratend, ohne sich selbst in den Mittelpunkt zu stellen. Und eine ganze Reihe derjenigen, die Arno Klönne begegnet sind, wird ihn wohl auch als »Mittler«24 zwischen Angehörigen unterschiedlicher jugendkultureller Milieus und sozialer Bewegungen und den in diesen sich auf unterschiedliche Weise engagierenden Erfahrungs-Generationen erlebt haben. Im Rückblick auf die »bewegte Jugend« im 20. Jahrhundert betonte Klönne selbst nicht zuletzt die Substanz der historischen Jugendbewegung wiederholt folgendermaßen: Sofern diese sich »gegen den Strom« bewegt habe, habe sie Heranwachsenden auf der Suche nach tragfähigen Lebensentwürfen sinnvolle Erprobungsmöglichkeiten geboten. Die Jugendbewegung hat aus seiner Sicht zwar nach 1945, für seine eigene Altersgruppe und auch noch für eine Reihe rund zehn Jahre Jüngerer, eine auch individuell lebensgeschichtlich bedeutsame Blütezeit erlebt. Sie gehöre jedoch als historisches Phänomen des 20. Jahrhunderts weitgehend der Vergangenheit an. In dieser Deutung war er wieder – wie bereits angesprochen – Angehöriger einer Erlebensgeneration und Soziologe bzw. Historiker zugleich, wie folgende Passage seiner Selbstreflexionen 2011 zeigt: »Ich sehe die Jugendbewegung mitsamt der selbsterlebten Phase bündischer Jugend […] als einen produktiven sozialgeschichtlichen Versuch, allerdings mit mancherlei Irrwegen und Verführbarkeiten; und ganz so ›großartig‹ war dieses historische Unternehmen nun auch wieder nicht, aber doch lohnend. Speziell zur jugendbewegten ›Restgeschichte‹ nach dem Zweiten Weltkrieg: Darin lag nichts, was ›epochemachend‹ gewesen wäre …. Aber das jugendbündische Milieu der Nachkriegsjahre enthielt 24 Siegfried: Time (Anm. 22), S. 744.
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Chancen für die Beteiligten, die nach meinem Dafürhalten in den meisten anderen gleichzeitigen Sozialisationsangeboten für Jugendliche nur schwer zu finden waren: Erstens die Möglichkeit, in sehr jungen Jahren kulturell zu experimentieren, sich unbekannten oder ungewöhnlichen Inhalten von Musik und Literatur zuzuwenden, nicht nur über professionelle Vermittlungen, sondern im gemeinsamen, eigengestalteten Gruppenleben. Die Waldeck-Festivals z. B. konnten später hieran anknüpfen. Zweitens die Möglichkeit, nonkonformes Verhalten zu ›erlernen‹, sich nicht zu früh auf dieses oder jenes in der Gesellschaft institutionalisierte Konzept festzulegen […]. Angesichts der ›Versäulung‹ der deutschen Gesellschaft war darin Nonkonformität auch in Sachen Politik angelegt. In alledem steckten auch Risiken, aber Erfahrung von Freiheit ist immer riskant.«25
Auf die Frage an Klönne, inwieweit für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts jugendbewegte Geschichte nur noch »Restgeschichte« darstelle und inwieweit sie als historisches Phänomen des 20. Jahrhunderts (seit den 1960er Jahren) weitgehend der Vergangenheit angehöre, antwortete er 2011: »Ab Mitte der 1950er Jahre brach diese historische Linie ab, nicht nur im Wandel der Generationen, sondern auch durch die veränderten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen: Beginnendes ›Wirtschaftswunder‹ mit der Konzentration auf wirtschaftlichen Erfolg, Ausbreitung ganz anderer jugendkultureller Angebote, aufkommender kommerzieller Tourismus usw. usf. Für die nun aufwachsenden Jugendlichen ist die NS-Zeit kein Erfahrungshintergrund mehr. Die Bünde in jugendbewegter Tradition existieren weiter, aber als eine Möglichkeit in einer Pluralität von jugendkulturellen Offerten, die Frage nach ihrer gesellschaftlich ›bewegenden‹ oder eher : nonkonformen Bedeutung stellt sich nicht mehr. Das wurde dann um 1968 wieder anders – mit Motiven und Inhalten, die nicht denen der klassischen Jugendbewegung entsprachen, aber doch zum Teil mit ähnlicher Gefühlslage. Darin lag ja auch ein Problem für die ›Traditionsbünde‹ in der Zeit der neuen Jugendrevolte.«26
Einen so engen Zusammenhang zwischen Forschung und Leben, eigenen Erfahrungen und professionellem Zugang zu dem ›Themenfeld Jugendbewegung‹, wie sie im Lebenswerk Arno Klönnes sichtbar ist, wird es, das lässt sich wohl mit einiger Gewissheit sagen, künftig nicht mehr geben. Darauf angesprochen, 25 Arno Klönne, Jürgen Reulecke: ›Restgeschichte‹ und ›neue Romantik‹. Ein Gespräch über Bündische Jugend in der Nachkriegszeit, in: Franz-Werner Kersting (Hg.): Jugend vor einer Welt in Trümmern. Erfahrungen und Verhältnisse der Jugend zwischen Hitler- und Nachkriegsdeutschland, Weinheim, München 1998, S. 87–103, hier S. 101f. Vgl. auch Arno Klönnes Stellungnahmen zu Meißner-Jubiläen in: Barbara Stambolis, Jürgen Reulecke (Hg.): 100 Jahre Hoher Meißner (1913–2013). Quellen zur Geschichte der Jugendbewegung (Jugendbewegung und Jugendkulturen. Schriften 18), Göttingen 2015. 26 Zitate hier und im Folgenden: Arno Klönne und Jürgen Reulecke im Gespräch mit Barbara Stambolis über »Restgeschichte« und künftige Aufgaben der Forschung zur Geschichte der Jugendbewegung, in: Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung, 2011, NF Bd. 8, S. 400–413, hier S. 403–405.
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meinte er, unverwechselbar als nachdenklicher Vermittler mit Sinn für leise – und manchmal wohl auch melancholische – Akzente: »Das Forschungsfeld ›Jugendbewegung‹ (wenn damit die klassische deutsche Jugendbewegung gemeint ist) wird in Zukunft akademisch-›normal‹ beackert werden, was ja ganz legitim ist, aber dann des Reizes entbehrt, der in dem Zusammentreffen von subjektiven Zugängen und objektivierenden Interessen lag. Ein bisschen davon kann vielleicht erhalten bleiben, wenn junge Leute, die sich auf die Tradition der Jugendbewegung berufen, ›Geschichtsarbeit‹ betreiben wollen.«
Solche Sätze lassen sich durchaus als Aufforderung zur Fortsetzung des Nachdenkens über Zusammenhänge von Forschung und Leben auf dem weiten Felde der Geschichte »bewegter« Jugend verstehen, die Arno Klönne als Wissenschaftler erforschte und als jugendbewegt Geprägter verkörperte …
Susanne Rappe-Weber
Aus der Arbeit des Archivs. Tätigkeitsbericht für das Jahr 2014
Mit seinen Folgen prägte das vorangegangene Jahr auch noch das Jahr 2014 im Archiv und in der Burg Ludwigstein. So zog die umfangreiche Ausstellung »Aufbruch der Jugend. Deutsche Jugendbewegung zwischen Selbstbestimmung und Verführung« im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg eine Reihe von Anfragen zur Unterstützung weiterer Ausstellungen nach sich. Gleichzeitig sah sich die Burg Ludwigstein im Anschluss an das 100. Jubiläum des Freideutschen Jugendtages massiven Vorwürfen ausgesetzt, sich nicht ausreichend von vermeintlich rechtsextremen Strömungen innerhalb der bündischen Gruppierungen zu distanzieren. Dazu kamen aus dem wissenschaftlichen Umfeld Fragen die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und seinen Folgen in der Nachkriegszeit betreffend. Mit der Archivtagung »Ludwigstein. Annäherungen an die Geschichte der Burg im 20. Jahrhundert« wurden diese Themen aufgegriffen, ohne vorschnellen Antworten Vorschub zu leisten. Vielmehr wurden Forschungsperspektiven zu einer »Burggeschichte in der Erweiterung« als Geschichte der Jugendbewegung und ihres zentralen Erinnerungsortes vorgestellt und diskutiert, die Anregungen für künftige Untersuchungen bieten. Alle Gremien und Einrichtungen der Burg schlossen sich zu einer engeren Abstimmung ihrer Öffentlichkeitsarbeit zusammen und vereinbarten, wie künftig gemeinsam mit Kritik umgegangen werden soll. Besondere Schulungen gab es zum rechten und rechtsextremen Milieu, um den erhobenen Vorwürfen künftig besser begegnen zu können. Abschließend wurden die Zugangskriterien für Jugendgruppen auf der Burg im Dialog mit den Bünden selbst neu gefasst. Damit wurden die in der Tradition der Jugendbewegung stehenden Bünde wieder auf »ihrer« Burg zugelassen – auch für das Archiv, das in diesem Jahr einen Besucherrückgang verzeichnete, ein wichtiger Schritt. Sehr gute Arbeitsfortschritte erzielten die neuen Mitarbeiter/innen im DFGProjekt »Julius Groß«, das noch bis Mitte 2015 läuft. In Kooperation mit dem Verlag Vandenhoeck & Ruprecht / V& R unipress (Göttingen) sind die ersten beiden Jahrbücher des Archivs (9/2012–13 und 10/2014) im Rahmen der neuen Reihe »Jugendbewegung und Jugendkulturen. Jahrbuch« erschienen. Mit der
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Rückholung ausgelagerter Sammlungen wurde die Neuordnung der Magazine mit laufender Nummerierung und Registrierung aller Bestände abgeschlossen.
Archivstatistik 2014 Schriftliche Auskünfte Benutzer
2008 160 350
2009 136 196
2010 161 177
2011 178 128
2012 259 220
2013 315 113
2014 203 114
Benutzertage Besucher
684 781
242 828
282 778
695 885
294 906
228 863
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Besuchergruppen Seminargruppen
21 8
16 3
14 7
19 8
23 5
22 9
15 8
Seminarteilnehmer Fotoaufträge
98
25
101 191
160 532
115 337
137 603
147 417
Personal Die Stellen der Archivleiterin Dr. S. Rappe-Weber, der Archivarin E. Hack und der Fachangestellten B. Richter waren das ganze Jahr über besetzt. Am 1. September löste Adrian Kreusch als Bundesfreiwilliger die im Juni ausgeschiedene Thea Geißler ab. Für das DFG-Projekt »Erschließung und Digitalisierung des Fotografen-Nachlasses Julius Groß (1908–1933)« wurden der Kunsthistoriker Marco Rasch und die Historikerin Maria Daldrup eingestellt, die mit der inhaltlichen Erschließung der Fotografien betraut wurden. Seit Mai sorgte die Diplom-Museologin Carolin Kögler für die Einzel-Erschließung der Fotos.
Ehrenamtliche, Praktikant/innen, Werkverträge – Ehrenamtlich: Hans-Georg Nagel (Ordnung der Bibliothek Jugendmusikbewegung), Johan P. Moyzes (Pfadfindergeschichte), Malte Lorenzen (Sprecher des Netzwerkes Jugendbewegungsforschung), Yorck-Philipp Müller-Dieckert (Workshop Jugendbewegungsforschung) – Praktikant Michael Herzog, Nürnberg: Erschließungsarbeiten: NL Wyneken, NL Erich Scholz, Aktenbestand Mindener Kreis (17.02.–14. 03. 2014) – Praktikantin Franziska Weiß, Hannover : Erschließungsarbeiten: NL Wyneken, NL Günter Platz, NL Paasche (03.03.–28.03.)
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– Praktikant Karl Romeo Lacson, Kassel: Magazinarbeiten, Verzeichnungsarbeiten (14.07.–05.09.) – Werkvertrag: Robert Arndt, Wanfried: Magazinarbeiten für das Fotoprojekt (01.–31.12.)
Erschließung E. Hack hat neben der laufenden Erschließung von Neuzugängen insbesondere die Verzeichnung älterer Zugänge (Nachlässe, Aktensplitter) weitergeführt und die Online- Findbücher gründlich redigiert. Zurzeit ist das AdJb mit rund 95.000 Verzeichnungseinheiten in Arcinsys vertreten. Im laufenden Jahr sind rund 20.000 VZE eingegeben worden, überwiegend echte Neuverzeichnungen insbesondere aus dem Foto-Projekt. B. Richter ist für die laufende Einarbeitung von Büchern und Zeitschriften zuständig. Zudem hat sie die sukzessive Erschließung des Zentralarchivs der Pfadfinderbewegung (ZAP) weiter geführt.
Zugänge Insgesamt wurden 2014 35 Zugänge registriert, darunter viele Bücher und Zeitschriften. Größere Zugänge mit Archivgut: Nachlass Erich »olka« Scholz (N 157), Nachlass Hans Paasche (N 177), Aktenbestand »Mindener Kreis« (A 239), die Sammlung »Hamburger Singewettstreit« von Ingo Ernst (A 240), Materialien des BDP-Stamms Wolfenbüttel von Klaus Schumacher (A 233 ZAP) sowie Ergänzungen zu Nachlass und Sammlung zum Deutschen Pfadfinderbund (DPV) Hans-Dieter Wittke, u. a. mit dem Künstler-Nachlass Ortrud Krüger-Stohlmann (N 157).
Magazin Das »Außendepot« im Staatsarchiv Marburg wurde aufgelöst. Die archivwürdigen Bestände – darunter der Aktenbestand der »djo-Deutsche Jugend in Europa« und umfangreiche Nachlieferungen zu den Archiven des Bundes Deutscher Pfadfinder sowie des Bundes der Pfadfinderinnen und Pfadfinder – sind jetzt im Magazin des Enno-Narten-Baus untergebracht, das mit dieser Rückholaktion fast zur Hälfte gefüllt wurde. Für alle Magazine wurden Entfeuchtungsgeräte angeschafft, um die Luftfeuchtigkeit konstant zu halten.
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Ausstellung Im Archiv wurde die dreiteilige Ausstellung »Ludwigstein – Zur Geschichte der Burg in ihrer Region. Eine Ausstellung in Dokumenten, Bildern und Fotografien« erarbeitet und anlässlich der Archivtagung am 23. Oktober eröffnet. Die Ausstellung, die bis zum 30. September 2015 zu sehen ist, setzt sich wie folgt zusammen: 1. Ludwigstein – Annäherungen an eine 600-jährige Geschichte: 13 Plakate, 5 Vitrinen, 1 Tafelinstallation 2. Zweiburgenblick. Gemälde von Hanstein und Ludwigstein aus der Sammlung des Archivs: vier Ölgemälde 3. Landschaften, Burgen, Flüsse: eine jugendbewegte Faltbootfahrt auf Werra und Weser (1930): 14 Plakate, 1 Vitrine
Beteiligung an fremden Ausstellungen 1. Aufbruch der Jugend – Jugendbewegungen im 20. Jahrhundert (Germanisches Nationalmuseum Nürnberg, 26.03.13–31.01.14) 2. Pädagogik und Gesellschaft. Reformpädagogik im Land Thüringen 1920–1933 (Thüringisches Hauptstaatsarchiv Weimar, 08.06.13–28.03.14) 3. Einfach anders! Jugendliche Subkulturen im Ruhrgebiet (LWL-Industriemuseum Zeche Hannover, Bochum, 04.04.–07.09.14) 4. Helden erinnern. 200 Jahre Schloss Neuhardenberg (Stiftung Schloss Neuhardenberg, 01.06. –17.08.14) 5. Cunta tierra necesita un hombre? Centro de Recursos Medio Ambientales de San Sebastian [www.cristinaenea.org/zenbat-lur] (28.06.–30.10.14) 6. 14 – Menschen – Krieg (Militärhistorisches Museum Dresden, 31.07.14–31.03.15) 7. Signes des temps. Oeuvres visionnaires d‹avant 1914 (Beaux Arts Mons, Belgien, 22.08.–23.11.14) 8. Kindheit und Jugend im Ersten Weltkrieg (Deutsche Nationalbibliothek Leipzig, 11. 12. 2014–07. 06. 2015)
Archivführungen und Seminare Archivseminar der Universität Göttingen, Institut für Literaturwissenschaft; Archivseminar der Universität Siegen, Department Kunst und Musik; Dokto-
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randenkolloquium der Universität Marburg, Fakultät für Kunstgeschichte; Archivseminar der Universität Frankfurt a. M., Institut für Allgemeine Erziehungswissenschaft; Archivwerkstatt des Ring deutscher Pfadfinderverbände Baden Württemberg; Seminar »Geschichte der Jugendburg« für den Bundesfreiwilligendienst; Universität Kassel, Fachbereich Agrarwissenschaften –Konfirmandengruppe, Christliche Pfadfinderschaft Braunschweig, Archivführung für einen Betriebsausflug, Exkursion der Archivschule Marburg, Kurs der Anwärter, Tag des offenen Denkmals, Archivführung für eine Besuchergruppe, Exkursion Archiv-Referendare des Staatsarchivs Marburg
Tagungen, Präsentationen Woche der »Archive in Nordhessen« zum Thema »Frauen –Männer – Macht« (05.–12.03.) Symposium »Burg Ludwigstein vor 1920. Neue Forschungen zur Nutzung der Grenzfeste im Werraraum« mit rund 30 Teilnehmenden (20.03.) Workshop »Jugendbewegungsforschung« mit 15 Teilnehmenden (04.–06. 04. 2014) Archivtagung: Ludwigstein – Annäherungen an die Geschichte der Burg im 20. Jahrhundert. Archivtagung mit ca. 50 Teilnehmenden (24.–25. 10. 2014)
Berichte in der Presse Ludwigsteiner Blätter 1. Heft 262: Quellen und Forschungsmöglichkeiten zum Ersten Weltkrieg im Bestand des AdJb; Jugendbewegung und Jugendarbeit im Spiegel der 100Jahrfeier des Freideutschen Jugendtages; Symposion zur Geschichte der Burg zwischen 1415 und 1920 2. Heft 263: Neuberufungen im Archiv. Der Literaturwissenschaftler Prof. Dr. Wolfgang Braungart und der Kulturwissenschaftler Prof. Dr. Karl Braun verstärken den Wissenschaftlichen Beirat des Archivs; Ludwigstein – Annäherungen an die Geschichte der Burg im 20. Jahrhundert. Archivtagung am 24. und 25. Oktober 2014
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Veröffentlichungen und Vorträge Jürgen Reulecke (Hg): 50 Jahre danach – 50 Jahre davor. Der Meißnertag 1963 und seine Folgen (Jugendbewegung und Jugendkulturen. Jahrbuch 9 / 2012–13), Göttingen 2014, 392 S. Gudrun Fiedler, Susanne Rappe-Weber, Detlef Siegfried (Hg.): Sammeln – erschließen – vernetzen. Jugendkultur und soziale Bewegungen im Archiv (Jugendbewegung und Jugendkulturen. Jahrbuch 10 / 2014), Göttingen 2014, 249 S. Susanne Rappe-Weber – Jugend erzieht sich selbst«. Jugendarbeit und Jugendbewegung im Spiegel der 100-Jahrfeier des Freideutschen Jugendtages, in: Journal für politische Bildung, 2014, 4. Jg., Heft 1, S. 31–39 – Landwirtschaft und Geselligkeit im Tagebuch des Domänenpächters auf Burg Ludwigstein Johan Adam Schönewald (1807–1811), in: Alexander Jendorff, Andrea Pühringer (Hg.): Pars pro toto. Historische Miniaturen zum 75. Geburtstag von Heide Wunder, Neustadt a. d. Aisch 2014, S. 457–468 – Hans von Dörnberg, Barbara von der Saale, Johann Adam Schönewald – Biographische Zugänge zur Nutzung der Grenzburg Ludwigstein zwischen 1415 und 1815. Vortrag im Rahmen des Symposions auf Burg Ludwigstein (20.03.) – »Jugend erzieht sich selbst« – Archivpädagogik am historischen Ort zwischen steinernen Relikten, authentischen Quellen und brüchigen Traditionen. Vortrag im Rahmen der Tagung »Bildungsort Archiv« der Alice Salomon Hochschule in Berlin (20.06.) – Der Wandervogel auf »Großer Fahrt« in den Weltkrieg. Vortrag in der Eutiner Landesbibliothek (13.11.) – The strangeness and the journeys of the Wandervogel. Vortrag im Rahmen des internationalen Masterprogramms Abenteuer- und Erlebnispädagogik der Philipps-Universität Marburg (02.12.) Maria Daldrup und Marco Rasch DFG-Projekt »Erschließung Digitalisierung des Fotografen-Nachlasses Julius Groß (1908–1933). Bedeutender Bestand im Archiv der deutschen Jugendbewegung, in: Hessische Archivnachrichten, 2014, Heft 14/2, S. 67–70 Maria Daldrup und Elija Horn Tagungsbericht: Jugendbewegungsforschung im Archiv der deutschen Jugendbewegung, 04. 04. 2014–06. 04. 2014 Witzenhausen, in: H-Soz-Kult, 04. 06. 2014,
Im Archiv eingegangene Bücher des Erscheinungsjahres 2014 und Nachträge
1.
Bauer, Gerhard u. a. (Hg.): 14 – Menschen – Krieg. Katalog und Essays zur Ausstellung zum Ersten Weltkrieg des Militärhistorischen Museums der Bundeswehr : Dresden: Sandstein Verlag 2014 2. Bauer, Ulrich u. a. (Hg.): Kreuz und Lilie. Christliche Pfadfinder in Deutschland (1909–1972), Berlin: Wichern Verlag 2013 3. Blattner, Eva-Marie u. a. (Hg.): Natur. Hier bin ich Mensch, hier will ich sein. 100 Jahre Naturfreunde Tübingen (Ausstellungskatalog), Tübingen: Stadtmuseum 2013 4. Botsch, Gideon; Haverkamp, Josef (Hg.): Jugendbewegung, Antisemitismus und rechtsradikale Politik. Vom »Freideutschen Jugendtag« bis zur Gegenwart (Europäisch-jüdische Studien 13), Berlin: De Gruyter 2014 5. Brakelmann, Günter : Kreuz und Hakenkreuz. Christliche Pfadfinderschaft und Nationalsozialismus in den Jahren 1933/34, Kamen: Spenner 2013 6. Caspari, Volker ; Lichtblau, Klaus (Hg.): Franz Oppenheimer. Ökonom und Soziologe der ersten Stunden (Gründer, Gönner und Gelehrte. Biographienreihe der Goethe-Universität), Frankfurt a. M.: Societätsverlag 2014 7. DJH-Landesverband Nordmark e. V.: Einblicke und Aussichten. 100 Jahre DJH-Landesverband Nordmark e. V., Hamburg 2014 8. Europäisches Bildungswerk für Beruf und Bildung GmbH (Hg.): Impulse aus Mitteldeutschland. Die Freie Schul- und Werkgemeinde Letzlingen (Festschrift für Günter Wiemann), Magdeburg 2013 9. Faber, Richard (Hg.): Totale Institutionen? Kadettenanstalten, Klosterschulen und Landerziehungsheime in Schöner Literatur, Würzburg: Königshausen und Neumann 2013 10. Fiedler, Gudrun u. a. (Hg.): Sammeln – erschließen – vernetzen: Jugendkultur und soziale Bewegungen im Archiv (Jugendbewegung und Jugendkulturen. Jahrbuch 10/ 2014), Göttingen: V& R Unipress 2014 11. Fischer, Eckhard u. a. (Hg.): Dokumentation des Pfadfinderstammes
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12.
13.
14. 15. 16. 17.
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21. 22.
23. 24. 25.
26. 27.
Im Archiv eingegangene Bücher des Erscheinungsjahres 2014
Voortrekker Braunschweig. Die ersten 65 Jahre (1947–2012), Regensburg: Roderer 2014 Freytag-Loringhoven, Konstantin von: Erziehung im Kollegienhaus. Reformbestrebungen an den deutschen Universitäten der amerikanischen Besatzungszone 1945–1960, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2012 Goltz, Maren: Musikstudium in der Diktatur. Das Landeskonservatorium der Musik / die Staatliche Hochschule für Musik in Leipzig in der Zeit des Nationalsozialismus 1933–1945 (Pallas Athene – Beiträge zur Universitätsund Wissenschaftsgeschichte 45), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2013 Großegger, Beate: Kinder der Krise, Berlin: Verlag Archiv der Jugendkulturen 2014 Günther, Frieder (Hg.): Theodor Heuss. Privatier und Elder Statesman. Briefe 1959–1963, Berlin: de Gruyter 2014 Hafeneger, Benno: Beschimpfen, bloßstellen erniedrigen. Beschämung in der Pädagogik, Frankfurt a. M.: Brandes und Apsel 2013 Heinzlmaier, Bernhard: Performer, Styler, Egoisten. Über eine Jugend, der die Alten die Ideale abgewöhnt haben, Berlin: Verlag Archiv der Jugendkulturen 2013 Holler, Eckard; Schmidt, Fritz; Stibane, Pit (Hg.): Eine Reise über den Horizont: tusk, Stasi und andere, Augsburg 2013 Jähnichen, Traugott u. a. (Hg.): Religiöse Jugendkulturen in den 1970er und 1980er Jahren. Entwicklungen – Wirkungen – Deutungen, Essen: Klartext 2014 Jakubowska, Anna: Der Bund der Vertriebenen in der Bundesrepublik Deutschland und Polen (1957–2004). Selbst- und Fremddarstellung eines Vertriebenenverbandes (Studien zur Ostmitteleuropaforschung 25), Marburg : Herder Institut 2012 Helmut König (Hg.): Pitters Lieder. Die Lieder von Peter Rohland, hg. im Auftrag der Peter Rohland Stiftung, Baunach: Spurbuchverlag 2014 Kössler, Till; Schwitanski, Alexander J. (Hg.): Frieden lernen. Friedenspädagogik und Erziehung im 20. Jahrhundert (Frieden und Krieg. Beiträge zur Historischen Friedensforschung 20), Essen : Klartext 2014 Koyama, Hanae: Die Musikpädagogik von Fritz Jöde (in japanischer Sprache), Kyoto: University Press 2014 Leo, Per : Flut und Boden. Roman einer Familie, Stuttgart: Klett-Cotta 2014 Lill, Max: The whole wide world is watchin’. Musik und Jugendprotest in den 1960er Jahren Bob Dylan und the Grateful Dead, Berlin: Verlag Archiv der Jugendkulturen 2013 Osses, Dietmar ; Nogueira, Katarzyna (Hg.): Einfach anders! Jugendliche Subkulturen im Ruhrgebiet (Ausstellungskatalog), Essen: Klartext 2014 Paul, Gerhard; Schock, Ralph (Hg.): Sound des Jahrhunderts. Geräusche,
Im Archiv eingegangene Bücher des Erscheinungsjahres 2014
28. 29.
30.
31. 32. 33.
34. 35.
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37. 38.
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Töne, Stimmen (1889 bis heute), Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 2013 Pasdzierny, Matthias: Wiederaufnahme? Rückkehr aus dem Exil und das westdeutsche Musikleben nach 1945, München: Boorberg Verlag 2014 Prehn, Ulrich: Max Hildebert Boehm. Radikales Ordnungsdenken vom Ersten Weltkrieg bis in die Bundesrepublik (Hamburger Beiträge zur Sozialund Zeitgeschichte 51), Göttingen: Wallstein 2013 Reulecke, Jürgen (Hg.): 50 Jahre danach – 50 Jahre davor. Der Meißnertag 1963 und seine Folgen (Jugendbewegung und Jugendkulturen. Jahrbuch 9), Göttingen: V& R unipress 2014 Schenk, Dietmar : Aufheben was nicht vergessen werden darf. Archive vom alten Europa bis zur digitalen Welt, Stuttgart: Franz Steiner 2013 Schmieding, Leonard: Das ist unsere Party. Hip Hop in der DDR (Transatlantische Historische Studien 51), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2014 Schrölkamp, Stephan (Hg.): Alexander Lion. Höhen und Tiefen des Lebens. Autobiographisches und Selbstzeugnisse des Mitbegründers der deutschen Pfadfinderbewegung, Baunach: Spurbuchverlag 2014 Schumacher, Helmut (Hg.): Die A. Paul Weber-Gesellschaft (1974–2014). Festschrift zum 40-jährigen Bestehen, Lübeck: Schmidt Römhild 2014 Seegers, Lu: Vati blieb im Krieg. Vaterlosigkeit als generationelle Erfahrung im 20. Jahrhundert – Deutschland und Polen (Göttinger Studien zur Generationsforschung 13), Göttingen: Wallstein 2013 Stambolis, Barbara: Aufgewachsen in eiserner Zeit. Kriegskinder zwischen Erstem Weltkrieg und Weltwirtschaftskrise, Gießen: Psychosozial Verlag 2014 Stibane, Fritz u. a. (Hg.): Und was steuern wir an? Und halten wir Kurs?, Augsburg 2014 Stibane, Peter (Hg.): Hoher Meißner 2013. Jurtengespräche Weimar 2013. Festschrift für Berry Westenburger zu seinem 95. Geburtstag (Schriftenreihe in Verbindung mit dem Mindener Kreis 10), Karlsruhe 2014 Stoverock, Karin: Musik in der Hitlerjugend. Organisation, Entwicklung, Kontexte, 2 Bde., Uelvesbüll: Der Andere Verlag 2013 Weinrich, Arndt: Der Weltkrieg als Erzieher. Jugend zwischen Weimarer Republik und Nationalsozialismus (Schriften der Bibliothek für Zeitgeschichte NF 27), Essen: Klartext 2013
Wissenschaftliche Archivnutzung 2014
1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16. 17. 18. 19. 20. 21. 22. 23.
Hartmut Alphei, Lindau: Hans Bohnenkamp Christiane Barz, Berlin: Lebensreform in Brandenburg (1890–1930) Arvid von Bassi, Kiel: Karl Dietrich Erdmann, Günter Behrmann, Potsdam: Biographie Arnold Bergsträsser Knut Bergbauer, Köln: Jüdische Jugendbewegung in Breslau 1912–1938 Jan Biring, Hannover : Technische Mittler der 1920er-Jahre im Musikunterricht Sven Bindczeck, München: Geschichte der Burg Ludwigstein Tamara Block, Helsa: Die Wandervögel und der Erste Weltkrieg Karl Braun, Marburg: Völkisches Denken und Sexualität Wilfried Breyvogel, Essen: Pfadfinden Elmar Brohl, Marburg: Die DPSG Niedermarsberg Verena Burhenne, Münster : Vom Fleischverzehr und Fleischverzicht Arnulf Cammann, Bovenden: Der Bund Deutscher Pfadfinder Bremen (1957–1963) Mariska van Delft, Amsterdam: Änderungen im Wandervogel nach dem Ersten Weltkrieg Peter Dudek, Freigericht: Der »Ödipus vom Kurfürstendamm«. Ein Wickersdorfer Schüler und sein Muttermord 1930 Karl-Heinz Ebert, Homberg: Das Landjahr Mörshausen Lisa Geller, Rostock: Entstehung des DPVs im Zuge der Jugendbewegung Frauke Geyken, Göttingen: Wandervogel in Hessen Miriam Gold, Mannheim: Die Entstehungsursachen der deutschen Jugendbewegung Florian Heesch, Siegen: Jugendbewegung und Musik Wolfgang Hempel, Gaggenau: Jugendbewegung in Minden (1900–1933) Wolfgang Hertle, Hamburg: Beziehungen zwischen Friedensbewegung und Jugendbewegung Eckard Holler, Berlin: Biografie von Eberhard »tusk« Koebel
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Wissenschaftliche Archivnutzung 2014
24. Elija Horn, Potsdam: Indienrezeption in der Jugendbewegung (1920er-, 1930er-Jahre) 25. Gerhard Kaiser, Göttingen: Alkoholismus und Eugenik 26. John Khairi-Taraki, Gießen: Paasche-Popert-Vortrupp 27. Armin Kippenberg, Witzenhausen: Die Artamanenbewegung 28. Christian Köhler, Kaiserslautern: Jugendbewegung in der Pfalz 29. Inga Lezius, Eichstätt: Unterrichtsfilm zur Geschichte der Jugendbewegung 30. Felix Linzner, Marburg: Willibald Hentschel 31. Robert Müller-Mateen, Nürnberg: Die kulturelle Blüte auf Burg Lauenstein (1917–1930) 32. Uwe Mosthaf, Bovenden: Fritz Jöde und die Jugendmusikbewegung 33. Cornelia Müller, Berlin: Die barfüßigen Propheten und ihr ästhetisches Vermächtnis (1872–1972) 34. Harald Pinl, Langenhagen: Geschichte des BDP Erlangen (1949–1971) 35. Gesine Reimold, Goslar : Kindheit und Jugend im Harz, Wanderfahrten 36. Sven Reiß, Fahrenkrug: Wandervogel-Freundeskreise innerhalb des NSSystems 37. Franz Riemer, Hannover: Jugendmusikbewegung, Fritz Jöde und der Arbeitskreis Musik in der Jugend 38. Claudia Selheim, Nürnberg: Erich Kulke 39. Bastian Sonntag, Köln: Fritz Klatt und die Jugendbewegung 40. Thomas Spengler, Potsdam: Wilhelm Kotzde / Adler und Falken 41. Ingmar Schindler, Köln: Fritz Klatt als Pädagoge 42. Frauke Schneemann, Göttingen: Pfadfinder in den 1950er-Jahren 43. Sven Stemmer, Detmold: Archivwerkstatt Jugendbewegungsgeschichte 44. Christian Volkholz, Tübingen: Ein Leben für das »Gesunde und Echte«. Knud Ahlborn und die deutsche Jugendbewegung. Jugendidealismus und Ideen sozialer Neuordnung zwischen innerer Freiheit und Volksgemeinschaft 45. Anne-Christine Wessler, Leipzig: Die Geschichte der DJO 46. Raimund Wolfert, Berlin: Gerhard Lascheit, die Deutsche Freischar und Eberhard Koebel 47. Markus Zosel, Niedenstein: Musik und Lieder in der Jugendbewegung
Anhang
Autorinnen und Autoren
Günter C. Behrmann, Prof. Dr., Jg. 1941, Professor für Didaktik der politischen Bildung, 1975–1993 Universität Osnabrück/ Abt. Vechta, 1993–2009 Universität Potsdam; Veröffentlichungen zur politischen Sozialisation, politischen und historischen Bildung, politischen Kultur, Wissenschafts- und Bildungsgeschichte Sven Bindczeck, Jg. 1962, Dipl.-Ing. Elektrotechnik, Projektleiter in der Automobilindustrie; Forschungen zur Geschichte der Burg Ludwigstein Paul Ciupke, Dr. phil., Jg. 1953, Diplom-Pädagoge, Leitende Tätigkeit im Bildungswerk der Humanistischen Union in Essen; Veröffentlichungen zur Bildungs- und Kulturgeschichte sowie zu Fragen außerschulischer politischer Bildung Eckart Conze, Prof. Dr., Jg. 1963, Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Marburg; Forschung- und Publikationsschwerpunkte im Bereich der deutschen und internationalen Geschichte des 20. Jahrhunderts; Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats des Archivs der deutschen Jugendbewegung Maria Daldrup, M.A., Jg. 1980, Historikerin, wissenschaftliche Mitarbeiterin im DFG-Projekt »Fotografen-Nachlass Julius Groß« im Archiv der deutschen Jugendbewegung. Forschungen und Veröffentlichungen zur Geschichte der Bevölkerungswissenschaften, Biographie- und Netzwerkforschung, Medien- und Fotografiegeschichte, Jugendbewegung Jochen Ebert, Dr., Jg. 1964, wiss. Mitarbeiter im DFG-Projekt »Erwerbs- und Nutzungsorientierungen als Determinanten für die Ausprägung von Dorfprofilen (Hessen-Kassel 1737)« an der Universität Kassel; Forschungen und Ver-
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Autorinnen und Autoren
öffentlichungen zur ländlichen Gesellschaft und zu landwirtschaftlichen Großbetrieben in der Frühen Neuzeit G. Ulrich Großmann, Prof. Dr. phil., Jg. 1953, Kunsthistoriker, seit 1994 Generaldirektor des Germanischen Nationalmuseums Nürnberg; Forschungen und Veröffentlichungen u. a. zur historischen Bauforschung und zur europäischen Burgengeschichte Wolfgang Hertle, Dr. phil., Diplom-Politologe, Jg. 1946, Forschung und politische Bildungsarbeit zum Gewaltfreien Widerstand in Ökologie und Friedensbewegungen. Zuletzt Archivarbeit im Hamburger Institut für Sozialforschung Elija Horn, M.A., Jg. 1978, Indologe, Pädagoge und Antidiskriminierungstrainer, Promovend an der Universität Hildesheim und Promotionsstipendiat der Hans-Böckler-Stiftung; Forschung und Veröffentlichungen zu Reformpädagogik, Jugendbewegung, Orientalismus und Geschlechterforschung Alexander Jendorff, Prof. Dr., Jahrgang 1970, apl. Professor für Neuere Geschichte und Vergleichende Landesgeschichte an der Justus-Liebig-Universität Gießen, Oberstudienrat an der Goetheschule Wetzlar, Veröffentlichungen zur Religions- und Herrschaftsgeschichte Alteuropas, zur Adelsgeschichte und zur Historiographie- und Regionalgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts Tomsˇ Kasper, ass. Prof. Dr., Jg. 1974, Leiter des Instituts für Pädagogik und Psychologie an der Technischen Universität Liberec; Forschungen und Veröffentlichungen zur deutschen Jugendbewegung in der Tschechoslowakei, zur deutsch-tschechischen Bildungsgeschichte und zur Lehrerbildung in den böhmischen Ländern John Khairi-Taraki, Jg. 1982, Studium der Europäischen Ethnologie an der Philipps-Universität Marburg, seit Januar 2015 dort wissenschaftlicher Mitarbeiter Ullrich Kockel, Prof. Dr., Jg. 1957, Professor für Wirtschaftsethnologie an der Heriot-Watt University Edinburgh und Gastprofessor für Sozialanthropologie an der Vytautas Magnus Universität Kaunas; Forschungen und Veröffentlichungen u. a. zur endogenen Regionalentwicklung, zu interkulturellen Begegnungen, und zur Humanökologie mit Schwerpunkt auf Kulturerbe- und Heimatproblematik
Autorinnen und Autoren
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Rolf Koerber, Prof. Dr., Jg. 1966, Pädagoge, Universität Leipzig; Schwerpunkte: Schulentwicklung, Begabungsförderung, Führung und Management; Veröffentlichungen außedem auch zur Jugendgeschichte, Jugendbewegung und Lehrerbildung Karl Kollmann, Dr. phil., Jg. 1950, 1979–1989 Mitarbeiter im Archiv der deutschen Jugendbewegung; seit 1989 Archiv- und Museumsleiter in Eschwege; Ehrenamtliche Tätigkeit in der Historischen Gesellschaft des Werralandes und im Geschichtsverein Eschwege; zahlreiche Veröffentlichungen zur Regionalgeschichte Matthias Kruse, Prof. Dr., Jg. 1959, Studium der Schulmusik, Erziehungswissenschaften, Germanistik und Instrumentalpädagogik, Promotion 1992, Habilitation 2000, Schul- und Musikschuldienst, seit 2005 Professor für Musikvermittlung an der Stiftung Universität Hildesheim Ulrich Linse, Prof. Dr., Jg. 1939, 1992–2004 Prof. für Neuere Geschichte/ Zeitgeschichte an der Hochschule München, vorher Gymnasiallehrer im Zweiten Bildungsweg; Forschungen und Veröffentlichungen besonders zur Geschichte der »alternativen« sozialen Bewegungen vom Kaiserreich bis zur Bundesrepublik Felix Linzner, Lehrbeauftragter am Institut für Europäische Ethnologie/ Kulturwissenschaft der Philipps Universität Marburg; Dissertationsprojekt zur völkisch rassistischen Elitekonzeption Willibald Hentschels und deren Schnittstellen zur völkischen Jugendbewegung sowie Siedlungswesen Lukas Möller, Dr. phil., Jg. 1982, Erziehungswissenschaftler, tätig als Fachreferent für Pädagogik und Publizistik an der Universitätsbibliothek Kassel, zuvor wissenschaftlicher Mitarbeiter im Fachgebiet Historische Bildungsforschung der Universität Kassel; Forschungsschwerpunkt im Bereich pädagogischer Bewegungen des 20. Jahrhunderts Karl Murk, Dr. phil., Jg. 1962, Archivoberrat im Hessischen Staatsarchiv Marburg, Forschungen und Veröffentlichun-gen zur frühneuzeitlichen Verfassungsund Kultur-geschichte sowie zur hessischen Landesgeschichte Susanne Rappe-Weber, Dr. phil., Jg. 1966, Historikerin und Archivarin; Leiterin des Archivs der deutschen Jugendbewegung; Veröffentlichungen zur hessischen Regional- und Agrargeschichte, zur Jugendbewegung sowie zur Jugendburg Ludwigstein
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Autorinnen und Autoren
Jürgen Reulecke, Prof. Dr., Jg. 1940, 2003–2007 Professor für Zeitgeschichte an der Universität Gießen, vorher Universität Siegen; Forschungen und Veröffentlichungen u. a. zur Stadt- und Urbanisierungsgeschichte, zur Geschichte von Sozialpolitik und Sozialreform, zur Jugend- und Generationengeschichte im 20. Jahrhundert Kurt Schilde, Dr. phil., Jg. 1947, Zeithistoriker ; Forschungsprojekte zur Geschichte des Nationalsozialismus, insbesondere zur Opposition von Jugendlichen und Geschichte jüdischer Jugendlicher Dirk Schumann, Prof. Dr., Jg. 1958, Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Georg-August-Universität Göttingen; Forschungen und Veröffentlichungen v. a. zur Bürgertumsgeschichte, zur Gewaltgeschichte und zur Geschichte der Weimarer Republik, zur Geschichte von Kindheit und Jugend und zur Generationengeschichte, auch in transatlantischer Perspektive Claudia Selheim, Dr. phil., Jg. 1959, seit 2007 Leiterin der Sammlungen Volkskunde, Spielzeug und Judaica am Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg; Veröffentlichungen u. a. zu Themen der Sachvolkskunde mit Schwerpunkt Kleidung und Bauernstuben Barbara Stambolis, Prof. Dr., Jg. 1952, Professorin für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Paderborn; Forschungen und Veröffentlichungen u. a. zur Geschichte der Jugendbewegung, Generationen-geschichte, Adoleszenz im 20. Jahrhundert, kollektiv-biographische Studien, Kriegskindheiten im Zweiten Weltkrieg Hans-Ulrich Thamer, Prof. Dr., Jg. 1943, em. Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Münster ; Forschungsschwerpunkte: Französische Revolution, Geschichte des Nationalsozialismus und des europäischen Faschismus, Politische Rituale und symbolische Kommunikation in der Moderne, Kulturgeschichte von Museen und Ausstellungen Werner Troßbach, Dr. phil, Jg. 1955, Historiker am FB »Ökologische Agrarwissenschaften« der Universität Kassel; Veröffentlichungen zur Sozial- und Agrargeschichte vorwiegend der Frühen Neuzeit Justus H. Ulbricht, Dr. phil., Jg. 1954, Wissenschaftler, Publizist und Erwachsenenbildner. Zahlreiche Veröffentlichungen zur Geschichte des deutschen Bildungsbürgertums, der Kulturgeschichte Mitteldeutschlands und zur Religionsgeschichte der Moderne. Lebt in Dresden.
Autorinnen und Autoren
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Dieter Wunder, Dr. phil., Gymnasiallehrer, Leiter einer Gesamtschule, GEWVorsitzender, als Pensionär zunächst bildungspolitischer Berater, jetzt als Historiker arbeitend; Forschungen zu Adolf Reichwein und zur Geschichte des hessischen Adels und der Adelsdörfer in der Frühen Neuzeit
Abbildungsnachweise
Titelbild Unter Verwendung eines Entwurfs von Andreas Bohn, Neue Linie, Frankfurt a. M. 01 Hessisches Staatsarchiv Marburg, Best. Rechnungen I, Homberg Efze 67 / 2, Foto: dapolino.de/wkw. 02 Grafik: Sven Bindczeck. 03 Foto: dapolino.de/wkw. 04 Foto: Archiv. 05 Foto: Archiv. 06 Foto: Archiv. 07 Foto: G. Ulrich Großmann. 08 Grafik: Sven Bindczeck. 09 Grafik: Jochen Ebert, nach: Ludwig Zimmermann (Bearb.): Der Ökonomische Staat Landgraf Wilhelms IV. Nach den Handschriften (Veröffentlichungen der historischen Kommission für Hessen 17,2), Marburg 1934, S. 130–136. 10 Grafik: Jochen Ebert, nach einer Aufstellung vom 10. November 1866, in: Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, PK, I, HA Rep. 87, Nr. 1051. 11 Hessisches Staatsarchiv Marburg, Best. PII, Nr. 13744. 12 Sammlung Graf Botho zu Stolberg-Wernigerode, heute im Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg. 13 Pfälzische Landesbibliothek Speyer, Hs. 661. 14 Grafik: Sven Bindczeck. 15 [Eugen] Michel: Burg Ludwigstein, in: Zeitschrift für Bauwesen, 1907, 57. Jg., Sp. 147–164 und Tafeln 23–25. 16 Zeichnung von Herbert Rothgaengel in: W. Ulrich: Vom Ludwigstein, in: Das Werratal, 1925, 2. Jg. H. 6. 17 Grafik: Sven Bindczeck.
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Abbildungsnachweise
Hessisches Staatsarchiv Marburg, Best. 274 Kassel Nr. 957 Bd. Skizzen. Archiv der deutschen Jugendbewegung, P 1 Nr. 244. Archiv der deutschen Jugendbewegung, P 1 Nr. 244. Titelbild: Die Friedensrundschau. Monatszeitschrift für Frieden, Versöhnung, Völkerverständigung, hg. von der Internationale der Kriegsdienstgegner, 1951, 5. Jg., Juli-Ausgabe. Archiv der deutschen Jugendbewegung, Gästebuch der Burg Ludwigstein 1950–1951, CH 1 Nr. 95, S. 157. Titelbild: Der Pfeil. Zeitschrift der Deutschen Jugend des Ostens, 1955, 6. Jg., Folge 7. Titelbild: Der Pfeil. Zeitschrift für die deutsche Jugend, 1971, 21. Jg., Nr. 11. W. G. Oschilewski: Mittels Tun ein Mensch werden, Berlin 1969. W. G. Oschilewski: Mittels Tun ein Mensch werden, Berlin 1969. Die Entstehung des Fotos ist nachgewiesen in: Karl Richter : Auf Schusters Rappen, Berlin 1990, S. 17.