Lokalkolorit und Zeitgeschichte in den Evangelien: Ein Beitrag zur Geschichte der synoptischen Tradition 9783666539084, 3525539088, 3727806052, 9783525539088


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German Pages [348] Year 1989

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Lokalkolorit und Zeitgeschichte in den Evangelien: Ein Beitrag zur Geschichte der synoptischen Tradition
 9783666539084, 3525539088, 3727806052, 9783525539088

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ΝΤΟΑ 8 Theißen · Lokalkolorit und Zeitgeschichte in den Evangelien

NOVUM TESTAMENTUM ET ORBIS ANTIQUUS (ΝΤΟΑ) Im Auftrag des Biblischen Instituts der Universität Freiburg Schweiz Herausgegeben von Max Küchler in Zusammenarbeit mit Gerd Theißen

Zum

Autor:

Gerd Theißen, geb. 1943, studierte Germanistik und Ev. Theologie in Bonn, Promotion 1969 und Habilitation 1972 im Fach Neues Testament. Lehrer an Gymnasien 1976-1978. Professor in Kopenhagen 1978-1980, seit 1980 in Heidelberg. Buchveröffentlichungen: Untersuchungen zum Hebräerbrief 1969; Urchristliche Wundergeschichten 1974; Soziologie der Jesusbewegung 1977 Argumente für einen kritischen Glauben 1978; Studien zur Soziologie des Urchristentums 1979; Psychologische Aspekte paulinischer Theologie 1983; Biblischer Glaube in evolutionärer Sicht 1984; Der Schatten des Galiläers 1986.

NOVUM TESTAMENTUM ET ORBIS ANTIQUUS

Gerd Theißen

Lokalkolorit und Zeitgeschichte in den Evangelien Ein Beitrag zur Geschichte der synoptischen Tradition

UNIVERSITÄTSVERLAG FREIBURG SCHWEIZ VANDENHOECK & RUPRECHT GÖTTINGEN

1989

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CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek

Theißen Gerd: Lokalkolorit und Zeitgeschichte in den Evangelien: Ein Beitrag zur Geschichte der synoptischen Tradition / Gerd Theißen. Freiburg Schweiz : Univ.-Verl. -, Göttingen : Vandenhoeck u. Ruprecht, 1989 (Novum testamentum et orbis antiquus ; 8) ISBN 3-525-53908-8 (Vandenhoeck & Ruprecht) Gb. ISBN 3-7278-0605-2 (Univ.-Verl.) Gb.

NE: GT

Veröffentlicht mit Unterstützung des Hochschulrates der Universität Freiburg Schweiz © 1989 by Universitätsverlag Freiburg Schweiz Paulusdruckerei Freiburg Schweiz Computersatz «LOGOS» D. Trobisch, Mannheim ISBN 3 - 7 2 7 8 - 0 6 0 5 - 2 (Universitätsverlag) ISBN 3 - 5 2 5 - 5 3 9 0 8 - 8 (Vandenhoeck und Ruprecht)

GÜNTHER BORNKAMM GEWIDMET

INHALTSVERZEICHNIS Vorwort Einleitung: Lokalkolorit und Zeitgeschichte in der Erforschung der synoptischen Tradition

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1. TEIL: LOKALKOLORIT UND ZEITGESCHICHTE IN DEN KLEINEN EINHEITEN DER SYNOPTISCHEN TRADITION 1. Kapitel: Die Anfänge der Wortüberlieferung in Palästina A. Das "schwankende Rohr" (Mt 11,7) und die Gründungsmünzen von Tiberias Β. Israel und die Völker. Palästinazentrierte Lokalperspektiven in der Wortüberlieferung 2. Kapitel: Grenzüberschreitungen in der Erzählüberlieferung A. Die Geschichte von der syrophönikischen Frau und das tyrischgaliläische Grenzgebiet B. Die Legende vom Tod des Täufers - eine Volksüberlieferung mit Nachbarschaftsperspektive? C. Überlieferungsbedingungen der Apophthegmen D. Überlieferungsbedingungen der Wundergeschichten

25 26 44 62 63 85 102 119

2. TEIL: LOKALKOLORIT UND ZEITGESCHICHTE IN DEN GROSSEN EINHEITEN DER SYNOPTISCHEN TRADITION 3. Kapitel: Die große Endzeitrede und die Bedrohung des Jerusalemer Tempels im Jahr 40 n.Chr.

133

A. Brechungen zwischen Text und Situation in Mk 13 B. Ereignisgeschichte Palästinas 35-41 n.Chr. C. Die Caligulakrise in der Deutung der synoptischen Apokalypse

136 146 161

4. Kapitel: Die große Erzähleinheit der Passionsgeschichte und die Jerusalemer Gemeinde in den 40er Jahren

177

A. Amtsinhaber in der Passionsgeschichte B. Charakterisierte Personen in der Passionsgeschichte C. Anonyme Personen in der Passionsgeschichte D. Überlegungen zur Entstehungssituation der Passionsgeschichte

182 186 196 201

3. TEIL: LOKALKOLORIT UND ZEITGESCHICHTE IN DEN RAHMENGATTUNGEN DER SYNOPTISCHEN TRADITION 5. Kapitel: Die Logienquelle - palästinazentrierte Perspektiven in der Mitte des 1. Jahrhunderts A. Der Rahmen der Logienquelle: Die Versuchung Jesu und die Selbstapotheose des Gaius Caligula Β. Das soziale Umfeld der Logienquelle 6. Kapitel: Die Evangelien und ihre Entstehungssituation A. Nähe und Ferne zu Palästina in den Evangelien und die Frage ihrer Lokalisierung B. Kriegsnähe und Nachkriegsdistanz in den Evangelien und die Frage ihrer Datierung C. Gemeinde-, Jünger- und Volksüberlieferungen in den Evangelien und die Frage nach ihrem "Sitz im Leben"

212 215 232 246 246 270 295

Schlußbemerkungen

304

Literaturverzeichnis

307

Stellenregister

324

VORWORT Die historisch-kritische Exegese wird immer wieder für überholt erklärt. Sie genügt vielen theologischen Ansprüchen nicht. Häufig begegnet einem eine Stimmung, alles mit ihrer Hilfe Erforschbare sei ohnehin schon erforscht, alternative Methoden müßten neue Zugänge zum Text schaffen. In dieser Situation möchte dies Buch zeigen, daß man mit der ältesten Frage historischkritischer Forschung - der Frage nach Datierung und Lokalisierung von Texten - Neues entdecken und das Verstehen der Texte fördern kann. Anregungen zu diesem Buch habe ich vor allem von Alttestamentlern erhalten: John Strange (Kopenhagen) hat durch eine Studienreise in den Nahen Osten im Jahre 1980 mein Interesse für Biblische Archäologie und Landeskunde geweckt. Von Helga und Manfred Weippert (Heidelberg) habe ich die Idee, punktuelle Entsprechungen von archäologischen und geschichtlichen Daten mit Texten für deren Traditionsgeschichte auszuwerten. Schließlich sei die ikonologische Arbeit der Fribourger Schule genannt, zu der es in der neutestamentlichen Exegese bisher nur wenig Gleichwertiges gibt. Die Ausführungen über das "Schilfrohr" (Mt 11,6) habe ich 1983 in Fribourg vorgetragen. Das positive Echo von Othmar Keel und Max Küchler hat mich sehr ermutigt. In das Buch sind einige Vorarbeiten eingegangen: "Das 'schwankende Rohr' (Mt 11,7) und die Gründungsmünzen von Tiberias", ZDPV 101 (1985) 43-55 ist weithin mit Kapitel 1 A identisch; ebenso Kapitel 2 A mit "Lokal- und Sozialkolorit in der Geschichte der syrophönizischen Frau (Mk 7,24-30)", ZNW 75 (1984) 202-225. Ferner wurden Abschnitte aus: "Meer und See in den Evangelien. Ein Beitrag zur Lokalkoloritforschung" SNTU 10 (1985) 5-25 in Kapitel 2 D und 6 A verwertet. Die Einleitung ist eine überarbeitete Form des programmatischen Aufsatzes "Lokalkoloritforschung in den Evangelien. Plädoyer für die Erneuerung einer alten Fragestellung", EvTh 45 (1985) 481500. Die Fertigstellung des Buches verpflichtet mich zu mannigfachem Dank. Bernd Raebel hat Literatur beschafft, Zitate überprüft und das Literaturverzeichnis zusammengestellt. Hubert Meisinger hat die Korrekturen gelesen. Wega Schmidt-Thomée und Helga Wolf haben die verschiedenen Fassungen des Manuskriptes ins Reine geschrieben und immer wieder neue Korrekturen und Ergänzungen eingearbeitet. David Trobisch hat die Druckvorlage erarbeitet und das Register angefertigt. Allen gilt mein herzlicher Dank, besonders aber meiner Frau, die von der Israelreise 1980 bis heute die Entstehung dieses Buches verfolgt hat.

Ich widme das Buch Günther Bornkamm. Ihm war der programmatische Artikel in der "Evangelischen Theologie 1985" gewidmet. Seine exegetische Arbeit hat das "Lokalkolorit" der Exegese in Heidelberg nachhaltig geprägt. Der Rückgriff auf klassische historische Fragestellungen in diesem Buch geht auch auf dies "Lokalkolorit" zurück. Heidelberg, 1988

Gerd Theißen

EINLEITUNG: LOKALKOLORIT UND ZEITGESCHICHTE IN DER ERFORSCHUNG DER SYNOPTISCHEN TRADITION Die Erforschung der Evangelien wurde in unserem Jahrhundert lange Zeit von einem "formgeschichtlichen Konsens" getragen, der hinter den schriftlich vorliegenden Texten mit einer noch heute erkennbaren mündlichen Vorgeschichte rechnete. Dieser Konsens ist brüchig geworden. Seit einiger Zeit mehren sich die Zweifel an Existenz oder Bedeutung einer mündlichen Tradition im Urchristentum, werden Einwände gegen die Annahme "kleiner Einheiten" erhoben und breitet sich Skepsis gegenüber der Rekonstruierbarkeit vorschriftlicher Textfassungen aus.1 Die Erschütterung tradierter Selbstverständlichkeiten ist zu begrüßen. Die klassische Formgeschichte ist längst zur Alltagsdogmatik von Lehre und Forschung geworden, die falsche Gewißheit suggeriert, wo neue Vergewisserung notwendig wäre. Steht doch nicht mehr und nicht weniger auf dem Spiel als die Möglichkeit einer "Geschichte der synoptischen Tradition" d.h. einer historischen Erklärung für Entstehung, Formung und Abwandlung der wichtigsten Jesustraditionen. Die hier vorgelegten Untersuchungen über "Lokalkolorit und Zeitgeschichte in den Evangelien" wollen dazu beitragen, Möglichkeiten einer "Geschichte der synoptischen Tradition" von ihrer mündlichen Vorgeschichte bis zu ihrer 1

Die Auflösung des formgeschichtlichen Konsenses begann mit E.GÜTTGEMANNS: Offene Fragen zur Formgeschichte, BEvTh 54, München 1970 2 1971. Hier finden wir zum ersten Mal eine deutliche Skepsis gegenüber der Rekonstruierbarkeit der mündlichen Vorgeschichte von Texten und eine Zuwendung zum "kohärenten Text" in seiner jetzt vorliegenden Gestalt. Bei ihm angelegte Motive wurden in selbständiger Weise fortgeführt durch W.SCHMITHALS: Kritik der Formkritik, ZThK 77 (1980) 149-185 und ders.: Einleitung in die drei ersten Evangelien, Berlin 1985, der die Existenz einer nennenswerten mündlichen Tradition im Urchristentum überhaupt bestreitet. Die Evangelien gelten als Ausdruck schriftstellerischer Theologen. Bei Schmithals fehlt freilich die Zuwendung zum kohärenten Text; vielmehr werden mit einer komplizierten Literarkritik die ursprünglichen Texte erst rekonstruiert. Darin unterscheidet er sich von dem dritten profilierten Vertreter einer Abkehr von der klassischen Formgeschichte: K.BERGER: Formgeschichte des Neuen Testaments, Heidelberg 1984, und ders.: Einführung in die Formgeschichte, UTB 1444, Tübingen 1987; Berger plädiert für eine "neue Formgeschichte", die sich auf Gattungsanalyse und Gattungsgeschichte im Rahmen der antiken Literaturgeschichte beschränkt. Die Rückfrage nach der mündlichen Vorgeschichte sei nicht mit der Gattungsanalyse zu verbinden, sondern als Überlieferungsgeschichte mit einem eigenen methodischen Instrumentarium (z.B. der Wortfeldanalyse) zu betreiben. Die kritischen Anfragen dieser drei Exegeten verdienen m.E. eine größere Beachtung, als ihnen bisher widerfahren ist.

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Verschriftlichung in den Evangelien zu erhellen. Dabei kann nicht zu allen Problemen der form- und traditionsgeschichtlichen Erforschung der Evangelien Stellung genommen werden. Diese Arbeit beschränkt sich auf eine elementare Fragestellung, mit der jede Geschichtsschreibung beginnt. Vor der Auswertung von Quellen fragt sie: Wo und wann sind die Quellen entstanden? Eine "Geschichte der synoptischen Tradition" wäre unmöglich, wenn wir nicht zwischen früheren und späteren Texten unterscheiden könnten, wenn der Entstehungsort der Texte in Dunkel gehüllt und die Entstehungsgeschichte der Evangelien unaufgeklärt bliebe. Die Erforschung von Lokalkolorit und Zeitkontexten ist der Versuch, mit Hilfe von Lokal- und Datierindizien die kleinen Einheiten der synoptischen Tradition und ihre Redaktion zeitlich und räumlich zu lokalisieren. Dabei wird die formgeschichtliche Annahme einer mündlichen Tradition nach wie vor als gültig angesehen. Es wird weiterhin mit "kleinen Einheiten" gerechnet. Dagegen wird die Zuversicht der klassischen Formgeschichte, man könne die mündliche Vorgeschichte der Texte im einzelnen rekonstruieren, als problematisch angesehen. Hier ist ein Neuanfang notwendig. Und zu diesem Neuanfang möchte Lokalkoloritforschung beitragen - also eine Fragestellung, die der klassischen Formgeschichte fernlag. Doch zunächst sei begründet, warum die genannten drei Grundannahmen modifiziert oder beibehalten werden.

1. Die Annahme einer mündlichen Tradition2 Die Existenz mündlicher Tradition wird von urchristlichen Schriftstellern direkt bezeugt. Sie ist im Prolog des Lukasevangeliums vorausgesetzt, wenn zwischen dem, was Augenzeugen und Diener des Wortes tradierten (παρέδοσαν), und den Versuchen einer zusammenfassenden Erzählung der Ereignisse um Jesus unterschieden wird (Lk 1,1-4). Sie wird im zweiten Buchschluß des Johannesevangeliums angesprochen, wenn der Verfasser versichert, es gäbe noch eine Menge nicht-schriftlicher Jesusüberlieferung, aus der das JohEv nur eine Auswahl bringe (Joh 21,25). Noch am Anfang des 2.Jhdt.s sammelt der Bischof Papias in Hierapolis mündliche Überlieferungen von Jesus. Kostproben, die uns erhalten sind, zeigen, daß es sich um recht phantasievolle Traditionen handelt. Entscheidend ist: Papias lag sehr an deren 2

Skepsis gegen die Annahme einer mündlichen synoptischen Tradition findet sich besonders bei W.SCHMITHALS, Einleitung in die ersten drei Evangelien, Berlin 1985, 298-318. Vgl. ferner H.M.TEEPLE: The Oral Tradition that Never Existed, JBL 89 (1970) 56-68.

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mündlicher Form. War er doch der Ansicht, "daß aus Büchern geschöpfte Berichte nicht denselben Wert haben können wie das lebendige und beständige mündliche Zeugnis (τά παρά ζώσης φωνής και μενουσης)" (Eus. h.e.III.39.4). Die Annahme einer mündlichen Tradition wird durch religionsgeschichtlichen Vergleich bestätigt: Hinter der gegen Ende des 2Jhdt.s n.Chr. kodifizierten Mischna (und den dazugehörenden Kommentaren und Parallelsammlungen) steht eine mündliche Tradition, die in rabbinischen Lehrhäusern ihren "Sitz im Leben" hatte. Sie ist von anderer Art als die urchristliche Jesusüberlieferung, obwohl es manche Berührungen gibt.3 Aber sie zeigt: Das Urchristentum entstammt einem kulturellen Milieu, das mündliche Überlieferungen kannte und ihren Wert schätzte. In den synoptischen Texten stößt man ferner auf Züge, die sich am ehesten durch eine mündliche Vorgeschichte der Texte erklären lassen: so die formelhaften Einleitungen der Gleichnisse, die wiederkehrenden Motive in den Wundergeschichten, die schlichten Aufbaumuster der Perikopen. Zudem wird die Wortüberlieferung in den Evangelien als "mündliche Überlieferung" dargestellt: Nirgendwo hören wir von einem Auftrag, aufzuschreiben, was Jesus gesagt hat.4 Wohl sollen die Jünger seine Lehre verbreiten aber nicht durch Bücher, sondern indem sie Palästina (Mt 10,2ff) und die Welt (Mt 28,19f) durchziehen. Hier wird eine mündliche Überlieferungsform der Botschaft Jesu vorausgesetzt. Denn Jesus sagt: "Wer euch hört, hört mich" (Lk 10,16) und nicht: "Wer euch liest, liest mich" Die Existenz mündlicher Jesusüberlieferung sollte daher nicht bezweifelt werden, auch wenn sie nicht überall im Urchristentum in gleichem Maße präo

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Zur rabbinischen Uberlieferung vgl. B.GERHARDSSON: Memory and Manuscript. Oral Tradition and Written Transmission in Rabbinic and Early Christianity, ASNU 22, Lund-Kopenhagen 1961 ^1964. Trotz aller Vorbehalte gegen eine direkte Übertragung rabbinischer Traditionstechnik auf das Urchristentum wird man anerkennen müssen, daß hier eine historische Analogie zum urchristlichen Traditionsprozeß vorliegt. R.RIESNER: Jesus als Lehrer, WUNT 11,7, Tübingen 1981 2 1984 hat die Gedanken von Gerhardsson weitergeführt und die Möglichkeit allgemein verbreiteter Formen mündlicher Überlieferung (auch über die rabbinischen Schulen) hinaus wahrscheinlich gemacht. Man muß die "konservativen" Folgerungen keineswegs teilen, um von solchen Analogien her auch die Jesusüberlieferung zu erhellen. Im klassisch antiken Bereich käme als Analogie am ehesten die sokratische Tradition in Frage. Vgl. dazu G.KENNEDY: Classical and Christian Source Criticism, in: W.O.WALKER Jr.: The Relationships among the Gospels. An Interdisciplinary Dialogue, Dublin 1978,125-154. 4 In apokalyptischen Schriften fmden wir dagegen den Auftrag zur Niederschrift der Visionen (vgl. z.B. 4Esr 14,24-26). Oder es werden dem Seher himmlische Bücher übergeben (vgl. ÄthHen 82,1-3).

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sent war. Paulus zitiert nur wenige Stücke der synoptischen Tradition (IKor 7,10f; 9,14; 11,23-26). Das mag viele Gründe haben.5 Der unwahrscheinlichste Grund dafür aber ist, daß die Jesusüberlieferung noch nicht existierte. Dann müßte man auch aus den Johannesbriefen schließen, die johanneische Jesustradition habe zur Abfassungszeit dieser Briefe noch nicht existiert. In ihnen wird weder das Johannesevangelium noch aus seinen Traditionen ausdrücklich zitiert, obwohl sie sachlich vorausgesetzt sind.

2. Die Annahme "kleiner Einheiten" Auch an der zweiten Grundannahme formgeschichtlicher Forschung wird festgehalten: an der Annahme kleiner Einheiten. Damit ist nicht gesagt, daß diese Einheiten isoliert tradiert worden sind.6 Entscheidend ist, daß sie isolierbar waren und immer wieder in neue Zusammenhänge eintreten konnten, wie jene "Wanderlogien", die wir an verschiedenen Stellen der Evangelien finden. Als Beispiel sei das Wort von den Ersten und Letzten genannt, das in Mt 19,30, Mt 20,16 und Lk 13,30 in verschiedenen Kontexten begegnet und dadurch seine Selbständigkeit zeigt. Nur wenn man mit solchen (potentiell aus ihrem Kontext herauslösbaren) Einheiten rechnet, kann man erklären, warum im Laufe der Textgeschichte kleine Perikopen in den Text eingefügt werden wie das Apophthegma vom Sabbatbrecher in Lk 6,4 (im Codex D) oder die Geschichte von der Ehebrecherin zwischen Joh 7,52 und 8,12 bzw. nach Lk 21,28 (in der Minuskelfamilie 13) oder nach Lk 24,53 (in Minuskel 1333c). Vergleichbare Vorgänge lassen sich schon für die Redaktionsgeschichte der Evangelien nachweisen, etwa wenn der Mt-Evangelist das Vaterunser in eine Reihe zusammengehörender Frömmigkeitsregeln einfügt (6,9-13) oder den mkn Zusammenhang von zweiter Leidensweissagung und Rangstreit durch die Perikope von der Tempeldrachme unterbricht (vgl. Mt 17,24-27). Auch die Umstellungen, die Mt und Lk vornehmen, belegen das Bewußtsein der Evangelisten, isolierbare (und

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Das Fehlen der synoptischen Überlieferung bei Paulus ist für W.SCHMITHALS ein entscheidendes Argument für seine Skepsis gegenüber der Annahme einer mündlichen Tradition (vgl. Einleitung, 99ff). Jesusüberlieferung fehlt aber auch weitgehend bei Ignatius von Antiochien, obwohl er sicher das Matthäusevangelium kennt (vgl. Ign Sm 1,1). 6 Mim darf sich die mündliche Tradition nicht "ids formloses Chaos kleiner Einheiten" vorstellen, die unverbunden nebeneinander existierten. Diese Vorstellung wird von K.BERGER, Einführung, 109, mit Recht kritisiert.

5 daher versetzbare) Perikopenüberlieferung wiederzugeben. 7 Nimmt man hinzu, daß synoptische Überlieferungen im Thomasevangelium in einer Reihenfolge vorliegen, die nichts mit der Reihenfolge in den Synoptikern zu tun hat, so rundet sich das Bild ab: In der beobachtbaren schriftlichen Überlieferung wird die Jesusüberlieferung als Kombination kleiner Einheiten behandelt. Kein Wunder, wenn die Splitter synoptischer Überlieferung bei Paulus isoliert voneinander erscheinen, mögen sie auch innerhalb des Briefes in größere Kontexte eingebettet sein. Diese "Isolierbarkeit" kleiner Einheiten gegenüber ihrem jeweiligen Kontext gibt das Recht, jede Einheit für sich zu untersuchen, auch wenn sie nicht isoliert, sondern in wechselnden Kombinationen mit anderen Einheiten überliefert wurde.

3. Die Rekonstruierbarkeit der mündlichen Vorgeschichte von Texten Die Stärke der gegenwärtigen Kritik an der klassischen Formgeschichte liegt weniger in der Bestreitung mündlicher Tradition oder isolierbarer kleiner Einheiten als in der Skepsis gegenüber der Rekonstruierbarkeit einer mündlichen (oder schriftlichen) Vorgeschichte der Texte. Diese Skepsis hat viele Gründe. Die literarkritisch operierende Unterscheidung verschiedener Textschichten, d.h. die Trennung primärer, sekundärer und tertiärer Textelemente läßt sich kaum willkürfrei durchführen. Die Ergebnisse widersprechen einander und sind oft gleich wahrscheinlich. 8 Der Glaube, daß am Anfang der Überlieferung jene "reinen Formen" standen, die unsere Lehrbücher als gattungsspezifische Muster beschreiben, hat sich als naiv erwiesen. Ebenso plausibel wäre die Vorstellung, daß sich Überlieferungen durch Gebrauch zurechtschleifen und am Ende den Gattungsnormen mehr entsprechen als am Anfang. 9 7

Einen Überblick über die Umstellungen in Form anschaulicher Skizzen gibt W.G.KÜMMEL: Einleitung in das Neue Testament, Heidelberg 19 1978 , 32-33. 8

Vgl. etwa die kritischen Anfragen an die übliche Literarkritik bei K. BERGER: Exegese des Neuen Testaments, UTB 658, Heidelberg 1977, 27-32, die unter dem Leitgedanken stehen: "Die Frage nach der Kohärenz muß der Frage nach Brüchen und Spannungen vorgeordnet werden" (S.32). Bei W.SCHMITHALS ist dagegen die Abwendung von der klassischen Formgeschichte mit einem kaum nachvollziehbaren Zutrauen in die Möglichkeit literarkritischer Operationen verbunden, wie seine Rekonstruktion einer Grundschrift im MkEv zeigt: Das Evangelium nach Markus, ÖTK 2,1 und 2,2, Gütersloh 1979, vgl. S.44-51. 9

Vgl. die berechtigte Kritik bei K.HAACKER: Leistung und Grenzen der Formkritik,

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Aber an durchgehende Überlieferungstendenzen in die eine oder andere Richtung glaubt ohnehin kaum jemand. Hoffte man einst, aus den Abwandlungen der Stoffe in der schriftlichen Überlieferung auf deren Abwandlung in der mündlichen Vorgeschichte schließen zu können, so ist man heute skeptisch: Nicht einmal in der schriftlichen Überlieferungsgeschichte lassen sich eindeutige Tendenzen entdecken.10 Schließlich macht sich Ernüchterung hinsichtlich einer Rekonstruktion des "Sitzes im Leben" bemerkbar. Richtig bleibt, daß mündliche Formen in wiederkehrenden Gebrauchssituationen Stabilität erhalten. Aber wir wissen wenig Konkretes über die Gebrauchssituationen urchristlicher Überlieferungen. Gleichzeitig mit dem Abbröckeln des formgeschichtlichen Konsenses hat hermeneutische Reflexion den "kohärenten Text" als Gegenstand der Exegese rehabilitiert. Das neue "Axiom" lautet: Sinn konstituiert sich in der Textsynchronie, nicht in der Textdiachronie.11 Zusätzliches Gewicht erhält diese Zuwendung zum kohärenten Text dadurch, daß die Texte in ihrer jetzt vorliegenden Gestalt wirkungsgeschichtliche Bedeutung gewonnen haben und kontrollierbarer Auslegung nur in dieser Gestalt zugänglich sind. Wer Texte hinter dem vorliegenden Text rekonstruiert und auslegt, weiß nie, ob nicht schon der rekonstruierte Text Ergebnis einer (unbewußt) vorweggenommenen Auslegung ist. Die Zuwendung zum kohärenten Text ist als Korrektiv traditioneller Exegese zu begrüßen. Man muß freilich sehen: Diese Zuwendung wird von Exegeten vollzogen, die durch ein großes Hintergrundwissen um die Vorgeschichte von Texten und deren historische Kontexte vor Fehlinterpretationen bewahrt sind. Sie haben eben jene "historisch-kritische Exegese" internalisiert, von deThB 12 (1981) 53-71. 10 So das Ergebnis von E.P.SANDERS: The Tendencies of the Synoptic Tradition, MSSNTS 9, Cambridge 1969. Hinzu kommen oft grundsätzliche Überlegungen über den gegensätzlichen Charakter von schriftlicher und mündlicher Tradition, vgl. dazu W.H.KELBER: The Oral and the Written Gospel, Philadelphia 1983. 11

Dies neue "Axiom" hat sich durch eine Konvergenz verschiedener Ansätze ergeben: 1. Linguistische Denkmodelle sind ganz vom Primat nder Synchronie über die Diachronie bestimmt: Der Sinn eines Wortes wird nicht durch seine Etymologie, sondern durch seinen gegenwärtigen Gebrauch bestimmt. 2. Eine konsequente Redaktionsgeschichte wird auch bei vermeintlichen Spannungen, Dubletten und anderen Widersprüchen nach deren Sinn im gegenwärtig vorliegenden Text fragen, ehe sie als Indizien für eine Vorgeschichte des Textes ausgewertet werden. Denn der Autor letzter Hand muß den Text in der letzten Fassung gewollt und bejaht haben. 3. Wirkungsgeschichtliche Reflexion muß berücksichtigen, daß die Texte nicht in einer von modernen Gelehrten rekonstruierten Urform geschichtlich bedeutsam wurden, sondern als ganzheitliche Texte.

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ren Einseitigkeiten sie sich mit Recht abwenden. Ohne Wissen um alles, was im Umfeld der jetzt vorliegenden Texte liegt - ohne Wissen von ihrer Vorgeschichte, ihrer Situation, von den historischen Zusammenhängen und Selbstverständlichkeiten der Zeit - würde eine Auslegung "kohärenter Texte" willkürlich; ihr fehlte jenes Korrektiv historischen Wissens, das uns vor verzerrenden Rückprojektionen unserer Probleme und Wertungen in die Vergangenheit bewahrt und zugleich befähigt, Analogien zwischen damals und heute aufzudecken, die eine sachgemäße Begegnung mit den Texten ermöglichen. Befürworter einer Zuwendung zum kohärenten Text sollten daher an der historischen Aufgabe festhalten, Umfeld und Geschichte der Texte so weit wie möglich zu erhellen. Ob man diese Aufgabe zur "Exegese" im engeren Sinn rechnet oder begrifflich von ihr unterscheidet, ist eine sekundäre Frage. Die Forschung nach Lokalkolorit und Zeitgeschichte in den Evangelien ist auf jeden Fall eine historische Fragestellung. Sie beansprucht nicht, den ganzen Gehalt der Texte zu erfassen. Von der Prämisse ausgehend, daß es eine Vorgeschichte der Evangelienüberlieferung gegeben hat, die für jede "kleine Einheit" neu zu untersuchen ist, möchte sie zeigen, daß wir diese Vorgeschichte teilweise erhellen können - so wie es die klassische Formgeschichte annahm. Aber sie beschränkt sich nicht auf die Untersuchung der (mündlichen) Vorgeschichte. Auch die (schriftlichen) Evangelien können selbstverständlich auf Lokal- und Datierindizien hin untersucht werden. Die bisherigen Bemühungen um die Vorgeschichte der Texte basieren weitgehend auf textimmanenten Beobachtungen und deren Auswertung. Der hier vorgelegte "Neuansatz" geht dagegen von folgender Überlegung aus: Hin und wieder erlaubt uns der Vergleich zwischen Inhalten eines Textes mit textexternen Daten eine Kontrolle textimmanenter Analysen. Es handelt sich um "Glücksfälle". Man kann nicht bei jedem Text "Lokalkoloritforschung" treiben und die zeitgeschichtliche Situation rekonstruieren, so wie man jede Perikope textkritisch, redaktionsgeschichtlich oder strukturanalytisch untersuchen kann. Aber man darf die Hoffnung haben, daß einzelne Fälle ein Netzwerk von Beziehungen sichtbar machen, das vorsichtige Verallgemeinerungen über die Geschichte der ganzen Evangelientradition erlaubt. Fragen, die man auf diesem Wege beantworten kann, sind ihrer Natur nach sehr schlicht: Gab es in Galiläa eine Jesusüberlieferung? Läßt sie sich bis in die 30/40er Jahre zurückverfolgen? Wurden einige Jesusüberlieferungen im judäischen Raum geprägt? Lassen sich alle Evangelien außerhalb Palästinas lokalisieren? Ergibt die Zusammenschau der Ergebnisse Grundlinien einer Geschichte der synoptischen Tradition? Externe Daten, mit denen die synoptischen Texte erhellt werden können, sind zunächst die Daten der Zeitgeschichte. So intensiv die neutestamentliche

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Zeitgeschichte erforscht wurde, so isoliert blieb sie oft von der Auslegung neutestamentlicher Texte. Das hat sachliche Gründe. Denn nur an wenigen Punkten ragen zeitgeschichtliche Ereignissse in die "Textwelt" des Neuen Testaments hinein und auch dann ist umstritten, ob sie wirklich im Hintergrund der Texte stehen. Das gilt selbst für die größte politische Krise im 1. Jahrhundert n.Chr.: die Bürgerkriege von 68/69 n.Chr. und den gleichzeitigen jüdischen Krieg. Meist sieht man ihren Reflex in den Evangelien - besonders in der synoptischen Apokalypse. Aber immer wieder werden die Evangelien vor diese Krise datiert. 12 So kommt es, daß trotz aller Bemühungen die Gesamtgeschichte der damaligen Zeit und die Geschichte des Urchristentums wenig Berührungspunkte haben. Und doch sind sie vorhanden. Eine Reihe von Faktoren sorgt hier für einen "Entschärfungseffekt", der nur undeutlich in den Texten erscheinen läßt, was in der Realität die Texte und ihre Trägergruppen geprägt hat. Zunächst ist daran zu erinnern, daß in Texten nicht die geschichtlichen Ereignisse, sondern ihre Deutungen begegnen. Diese Deutungen folgen traditionellen Schemata des Wahrnehmens und Interpretierens. Oft schieben sich diese Schemata so sehr in den Vordergrund, daß der Verdacht entsteht, es handle sich nur um Wiedergabe von Topoi und Traditionen, nicht um Reaktion auf konkrete Situationen. Der Nachweis von Situationsprägung besteht in der Regel darin, daß man eine Auswahl und Modifikation traditioneller Motive in einem Text nachweist, die in überzufälliger Weise mit einer rekonstruierbaren Situation korrelieren. Die in den Texten enthaltenen Traditionen und Deutungen sind ferner Ausdruck begrenzter sozialer Perspektiven. Die Trägerkreise urchristlicher Texte lebten in einer besonderen Sinnwelt - entfernt von den Zentren der Macht in der römisch-hellenistischen Gesellschaft. Zeitgeschichtliche Ereignisse erlebten sie als Betroffene, nicht als Täter. Die Motive und Perspektiven der herrschenden Schicht waren ihnen fremd. Eine Analogie bildet die Qumrangemeinde. Wir sind sicher, daß sich in ihren Texten die Zeitgeschichte Palästinas widerspiegelt, aber diese Zeitgeschichte erscheint in sektiererisch gebrochener Perspektive. Die geschichtlichen Zusammenhänge, wie sie in den Makkabäerbüchern oder bei Josephus erscheinen, sind objektiv vorausgesetzt, könnten aber aus den Qumrantexten nicht rekonstruiert werden. Schließlich ist mit einem dritten "Entschärfungsfaktor" zu rechnen, der die Zeitgeschichte hinter den neutestamentlichen Texten undeutlich macht. Auch dort, wo Politik und Zeitgeschehen das Leben der urchristlichen Gruppen 12

Besonders JA.T.ROBINSON: Redating the New Testament, London 1976, 13-30. 86-117.

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nachweisbar bestimmt haben, können wir nicht immer mit entsprechenden Hinweisen in den Texten rechnen, weil diese bewußt manches ausklammern. Es ist auffällig, daß wir aus urchristlichen Texten des 1. Jhdt.s n.Chr. nichts Genaues über die neronische Christenverfolgung hören, obwohl die meisten urchristlichen Texte erst nach ihr geschrieben wurden. Hätte Tacitus (ann.XV,44) nicht über sie berichtet, so wäre es sehr kühn, sie aufgrund urchristlicher Texte zu postulieren.13 In den folgenden Untersuchungen werden u.a. zwei große geschichtliche Krisensituationen eine Rolle spielen: Einerseits die Krise unter Gaius Caligula, als dieser im Jahre 40 n.Chr. sein Standbild im Jerusalemer Tempel aufstellen wollte, andererseits die große politische Krise der Jahre 68/70 und des jüdischen Krieges. Beide zeitgeschichtlichen Krisenzeiten haben m.E. die Geschichte der synoptischen Tradition stärker betimmt als bisher angenommen wurde, auch wenn sie nur indirekt in den Texten präsent sind. Läßt sich nachweisen, daß beide auf die synoptischen Texte eingewirkt haben, so würde damit eine über mehrere Jahrzehnte sich erstreckende "Geschichte" dieser Texte sichtbar. Die Einordnung von Texten in die Geschichte ihrer Zeit ist das A und O historisch kritischer Forschung und bedarf daher keiner langen methodologischen Überlegungen. Anders ist es mit der Lokalisierung von Texten, wenn keine direkten Aussagen über den Entstehungsort überliefert sind. Während wir bei Datierungsfragen mit einem terminus a quo alle vorherliegenden Zeiträume ausschließen können, eröffnen sich bei Lokalisierungen verwirrend viele Möglichkeiten, wenn ein bestimmter Entstehungsort nicht in Frage kommt. Daß die Evangelien nicht in Palästina geschrieben wurden, kann man mit guten Gründen nachweisen. Aber eben deswegen tappen wir bei ihnen im dunkeln. Die Eingrenzung möglicher Entstehungsorte ist schwieriger als die Eingrenzung von Entstehungszeiten. Selbst dort, wo wir große Vertrautheit mit einem bestimmten Ort feststellen können, muß der Text nicht an diesem Ort entstanden sein. Wir müssen deshalb die methodologischen Probleme von Lokalkoloritforschung und Lokalisierungsversuchen etwas gründlicher besprechen. Entscheidend sind auch hier die Belege. Was in vergangenen Zeiten geschehen ist, kann nie direkt beobachtet werden. Es muß aus gegenwärtig vorhandenen Zeugnissen erschlossen werden. Neben den literarischen Quellen gibt es materielle Relikte. Zu ihnen gehört das Land, in dem sich die früheren 13

Ein Echo der neronischen Verfolgung findet sich erst l.Klem 6,1-2; AscJes 4,2-3; Act Pauli 11,1-17. Vgl. W.RORDORF: Die neronische Christenverfolgung im Spiegel der apokryphen Paulusakten, NTS 28 (1982) 365-374.

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Ereignisse abspielten: Palästina und der östliche Mittelmeerraum als Schauplatz für die Anfänge des Urchristentums, ferner alle Artefakte aus jener Zeit: Münzen, Inschriften, Baudenkmäler. Unter Lokalkoloritforschung verstehen wir den Versuch, biblische Texte auf lokalisierbare Gegebenheiten hin auszuwerten, so daß sich Text und Land einschließlich der in ihm gefundenen archäologischen Relikte - gegenseitig erhellen. Das Verhältnis der Texte zu "lokalisierbaren Gegebenheiten" läßt sich verschieden bestimmen. Lokalkolorit kann in der objektiven Prägung von Texten durch geographisch bestimmbare Verhältnisse bestehen auch dann, wenn die Texte selbst keine Ortsangaben und Ortscharakterisierungen enthalten, z.B. werden in Mt 23,29 par "Prophetengräber" erwähnt, die nur in Palästina als vertraut vorausgesetzt werden können.14 Häufig enthalten die Texte aber darüber hinaus explizite Lokalangaben. Sie müssen aber nicht an den genannten Orten entstanden sein. Ebenso wichtig für ihre Lokalisierung ist ihre "Lokalperspektive", d.h. die Frage, ob ein Text Palästina aus westlicher oder östlicher Perspektive betrachtet oder ob eine "zentrierte" Perspektive erkennbar ist, die auf einen Standpunkt in der Mitte zwischen den angegebenen Orten schließen läßt. Diese Untersuchung von "Lokalperspektiven" ermöglicht auch dort Aussagen, wo uns konkrete Lokalisierungen versagt bleiben. So werden wir nie präzis sagen können, an welchen Orten die Evangelien entstanden sind. Wohl aber können wir die Perspektive erkennen, aus der sie auf Palästina, den Schauplatz der Ereignisse, sehen. Ferner ist in der Lokalkoloritforschung zwischen lokalisierbaren Gegebenheiten verschiedener Struktur zu unterscheiden. In den meisten Fällen können wir unsere Texte nicht in einem konkreten "Dort und Damals" verorten, sondern müssen uns damit begnügen, typische Ortsbindungen nachzuweisen, z.B. die Prägung durch Landschaftstypen wie Meer und Land, Wüste und Flüsse, Gebirge und Ebenen, Stadt und Land. Wir wären oft zufrieden, wüßten wir wenigstens, ob unsere Texte in den Mittelmeerstädten beheimatet sind oder in den Städten des Binnenlands, ob sie aus einer Großstadt stammen oder aus Dörfern abseits der Zentren. is Dort, wo wir uns mit solchen allgemeinen Zuordnungen begnügen, können wir den Begriff "Lokalkolorit" eingrenzen 14

Vgl. J.JEREMIAS: Heiligengräber in Jesu Umwelt (Mt 23,29; Lk 11,47). Eine Untersuchung zur Volksreligion der Zeit Jesu, Göttingen 1958. 15

So wird die Didache meist in ländlichen Bereichen lokalisiert. Die Anweisung für den Apostel, nur einen Tag an einem Ort zu bleiben, wäre für Großstädte oder mittlere Städte unrealisierbar. So K.WENGST (ed.): Didache, Schriften des Urchristentums II, Darmstadt 1984, 32f. Zweifel an dieser verbreiteten Zuordnung zu einem ländlichen Milieu meldet dagegen G.SCHÖLLGEN: Die Didache - ein frühes Zeugnis für Landgemeinden, ZNW 76 (1985) 140-143 an.

π und von "Milieukolorit" sprechen. Bei solchem "Milieukolorit" lassen sich zwei Möglichkeiten unterscheiden: physische Milieus (wie Wüste und Gebirge) und soziale Milieus (wie Stadt und Land). Jedoch ist diese Unterscheidung selten konsequent durchführbar. Denn wo immer wir in der Geschichte dem prägenden Einfluß von Landschaften begegnen, handelt es sich nicht mehr um "natürliche Landschaften", sondern um Gebiete, die in einem jahrhundertelangen Verteilungskampf zwischen Gruppen und Gesellschaften um natürliche Ressourcen gestaltet wurden: Grenzen, Bevölkerungsverhältnisse, Verkehrswege, Siedlungen sind Niederschlag einer langen Geschichte von Arbeit und Konflikt. Lokalkolorit ist immer auch "Sozialkolorit" Will man diesen sozialen Aspekt besonders herausheben, so kann man den allgemeinen Begriff "Lokalkolorit" noch einmal eingrenzen und von "Sozialkolorit" - als einer besonderen Form von "Milieukolorit" - sprechen. Eine dritte Differenzierung bezieht sich auf die Bedeutung des "Zeitfaktors" für Lokalkoloritforschungen. Auf den ersten Blick erscheinen Orte und Landschaften als relativ "zeitloser" Raum, innerhalb dessen sich die "zeitlichen" Ereignisse abspielen. Aber das ist ein falscher Eindruck. Orte und Landschaften sind geschichtlich geprägt. Selbst die physische Physiognomie einer Landschaft ist Ergebnis einer Geschichte, erst recht aber spiegelt ihre kulturelle Gestaltung den Wandel der Zeit. "Lokalkolorit" ist daher immer auch "Zeitkolorit" Wir kennen Orte und Landschaften nur in der Gestalt, wie sie in einer bestimmten Epoche gegeben war. Das gilt sowohl für strukturelle Sachverhalte wie Grenzverläufe und Ortslagen, als auch für einmalige Situationen, die eine Lokalisierung von Texten ermöglichen. Eine letzte Differenzierung muß zwischen "Lokalkolorit", "Lokaltradition" und "lokalen archäologischen Relikten" vorgenommen werden. Eine Lokaltradition ist immer ein Text, lokale archäologische Relikte sind immer materielle Gegenstände (ggf. Inschriften als Träger von Texten). "Lokalkolorit" bezieht sich auf die inhaltliche Prägung von Texten durch Orte, "Lokaltradition" dagegen auf Orte, an denen eine Überlieferung tradiert wurde. Nicht alle Überlieferungen mit Lokalkolorit müssen Lokaltraditionen jener Orte sein, durch die sie inhaltlich geprägt sind; sie könnten auch an anderen Orten überliefert oder überregional verbreitet gewesen sein. Und theoretisch ist der Fall denkbar, daß eine Lokaltradition keine besondere Prägung durch den Ort ihrer Überlieferung zeigt. Für Palästina sind viele Lokaltraditionen erhalten. Pilgerberichte von der byzantinischen Zeit bis ins Mittelalter geben ein anschauliches Bild von dem, was man Jahrhunderte nach den Ereignissen an den Orten des biblischen Ge-

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schehens erzählte.16 Meist ist nicht mehr feststellbar, ob eine nach konkreter Anschaulichkeit verlangende fromme Phantasie die bekannten biblischen Ereignisse mit bestimmten Orten verband - oder ob eine davon unabhängige Lokaltradition vorlag. Oft ist der Nachweis nicht möglich, daß eine Lokaltradition in vorbyzantinische Zeit zurückreicht, in der noch kein Pilgerbetrieb biblisch gefärbte Lokaltraditionen brauchte und zu erbaulichen Zwecken schuf, wenn es sie nicht gab. Lokale archäologische Relikte und Lokaltraditionen sind unabhängig voneinander auszuwerten.17 Nur dann kann man manchmal mit Hilfe archäologischer Relikte das vorbyzantinische Alter einer Lokaltradition wahrscheinlich machen. Aber damit ist man noch nicht bei den geschichtlichen Ereignissen, von denen das Neue Testament spricht. Das sei an einem Beispiel veranschaulicht: Wir können eine Lokaltradition über das "Haus des Petrus" mit Hilfe archäologischer Funde bis in vorbyzantinische Zeit zurückverfolgen.18 Die Pilgerin Ätheria berichtet (Ende des 4./Anfang des 5.Jhdt.s) von einer Kirche in Kapernaum, in welche die Wände des Petrus-Hauses einbezogen seien (SEL 34, 1898, 122f). Ausgrabungen zeigen, daß unter einer Basilika des 5.Jhdt.s und einer Kirche aus dem 4.Jhdt. tatsächlich ein Privathaus des lJhdt.s liegt, das vielleicht von Judenchristen als Versammlungsort einer Hausgemeinde benutzt wurde. Haben wir also das "Haus des Petrus" (Mk 1,29) gefunden? Oder hat eine christliche Gemeinde in Kapernaum aufgrund der biblischen Berichte ihre Versammlungsstätte auf Petrus zurückgeführt? Denn dürfen wir sicher sein, daß Petrus wirklich in Kapernaum beheimatet war? Das entspricht zwar der synoptischen Darstellung, widerspricht aber Joh 1,44, wonach Petrus und Andreas aus Bethsaida stammen! Die zeit- und lokalgeschichtliche Auswertung von Evangelientexten hat ein gemeinsames methodisches Problem: Sie verläßt die textimmanente Welt, um einen Blick nach "draußen" zu werfen. Aber nicht jeder Text enthält ein "Fenster"; und nicht vor jedem "Fenster" ist etwas zu sehen. Die bevorzugten 16 Vgl. die Übersetzungen von H.DONNER: Pilgerfahrt ins Heilige Land. Die ältesten Berichte christlicher Palästinapilger (4.-7. Jhdt), Stuttgart 1979. Handbuchartig zusammengefaßt finden sich Referate über die Lokaltraditionen zu den neutestamentlichen Orten in J.FINEGAN: The Archeology of the New Testament. The Life of Jesus and the Beginning of the Early Church, Princeton 1969. 17

Zur methodischen Auswertung archäologischer Ergebnisse vgl. zusammenfassend O.KEEL/M.KÜCHLER: Orte und Landschaften der Bibel Bd 1, Göttingen/Zürich 1984, 348-378. 18

Vgl. R.RIESNER: Jesus als Lehrer, 438f; ders.: Die Synagoge von Kafarnaum, BiKi 39 (1984) 136-138; ders.: Neues von den Synagogen Kafarnaums, BiKi 40 (1985) 133135.

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Themen der lokal- und zeitgeschichtlichen Forschung zu den Evangelien wirken daher ein wenig zufällig. Im Laufe der Forschungsgeschichte haben sich jedoch einige Schwerpunkte herausgestellt. Der folgende skizzenhafte Überblick über einige ältere und neuere Beiträge beansprucht keine Vollständigkeit. Er soll deutlich machen, daß die folgenden Untersuchungen in eine größere Forschungstradition eingebettet sind, mag diese Tradition auch etwas abseits gelegen haben. Das gilt nicht für die ganze Bibelexegese. In der alttestamentlichen Wissenschaft hatten politische Geschichte, Territorialgeschichte und Biblische Archäologie immer einen anerkannten Platz. Innerhalb der neutestamentlichen Exegese führten sie dagegen ein Schattendasein, teils weil sich die Geschichte des Urchristentums relativ unberührt von der großen Geschichte abzuspielen scheint, teils weil sie wenig archäologische Spuren hinterlassen hat, teils weil die meisten Ortsangaben in den Evangelien in den Verdacht geraten sind, "Fiktion" zu sein. Seit K.L.SCHMIDTs Destruktion der geographischen und chronologischen Angaben im "Rahmen der Geschichte Jesu"19 gilt es als historisch naiv, nach "Orten und Wegen Jesu" 20 zu fahnden oder den Evangelisten geographisch zutreffende Vorstellungen zuzutrauen. Allenfalls fragt man nach der theologischen Bedeutung des Landes für die Evangelien und das Evangelium.21 Ähnliches gilt für die Zeitgeschichte: Die Erneuerung der Theologie in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts ließ das Interesse an den realgeschichtlichen Kontexten des Neuen Testaments zurücktreten. Es war eher bei "konservativen" Exegeten vorhanden, die sich dagegen sträubten, den historischen Jesus in einer Wolke kerygmatischer Zeugnisse verschwinden zu lassen. Das ist in den letzten zwei Jahrzehnten anders geworden. Ein Nachholbedarf an Lokal- und Zeitgeschichte ist unverkennbar. Die im folgenden skizzierten Beiträge lassen sich in vier Gruppen einteilen: Viele von ihnen verstehen sich als (direkten oder indirekten) Beitrag zur Leben-Jesu-Forschung. Eine zweite Gruppe will die Traditionsgeschichte der Evangelientexte erhellen. Eine dritte Gruppe beschäftigt sich mit den lokalund zeitgeschichtlichen Hintergründen der Evangelienredaktionen. Als vierte

19

Vgl. K.L.SCHMIDT: Der Rahmen der Geschichte Jesu, Berlin 1919. Sein Urteil am Schluß lautet: "Nur ab und zu mal werden wir aus Erwägungen über den inneren Charakter einer Geschichte diese zeitlich und örtlich etwas genauer fixieren können" (317). Eben dies will Lokalkoloritforschung. 20

G.DALMAN: Orte und Wege Jesu, Gütersloh 2 1921.

21

W.D.DAVIES: The Gospel and the Land. Early Christianity and Jewish Territorial Doctrine, Berkeley/London 1974 unterscheidet vier theologische Einstellungen zum Land Palästina: Ablehnung, Spiritualisierung, historisches Interesse und sakramentale Konzentration (vgl. 366ff).

14 Gruppe lassen sich Versuche zusammenfassen, eine Geschichte des Urchristentums nach religionsgeographischen (und ansatzweise auch zeitgeschichtlichen) Gesichtspunkten zu schreiben. 1. Beiträge zur historischen Leben-Jesu-Forschung Trotz aller historischen Skepsis dürfte feststehen, daß Jesus mit seiner Wirksamkeit in Galiläa begann und in Jerusalem endete. Damit sind zwei Schwerpunkte für Lokalkoloritforschung gegeben. W . B A U E R hat schon darauf hingewiesen, daß in der Jesusüberlieferung eine Distanz zu den Städten festzustellen ist: Die hellenistisch geprägten Orte Sepphoris und Tiberias werden in ihr ebensowenig erwähnt wie die jüdischen Orte Jotapata und Tarichäa. 22 Dabei liegt Sepphoris nur sechs Kilometer von Nazareth entfernt. 1984 veröffentlichte nun R.A.BATEY zwei Aufsätze, 23 in denen er einige Züge der Jesusüberlieferung auf diesem lokalen Hintergrund deutete: Sepphoris war 4 v.Chr. von Quintilius Varus zerstört, die Bevölkerung - als Strafe für die Rebellion des Judas Galiläus - in die Sklaverei verkauft worden. Die Stadt wurde durch Herodes Antipas wieder aufgebaut und diente ihm als Residenz, bis er ca. 19/20 n.Chr. Tiberias gründete. Die Frage liegt nahe: Hat etwa Joseph als Handwerker (als τέκτων) zusammen mit seinem Sohn Jesus das Leben der herodäischen Oberschicht in Sepphoris kennengelernt, das er als Anhänger des Täufers so kritisch beurteilt hat? Gab es damals schon jenes Theater in Sepphoris, das erst für das zweite Jahrhundert sicher belegbar ist? Dann könnte die polemische Verwendung des Begriffs υποκριτής (=Schauspieler) als Metapher für "Heuchler" einen konkreten Erfahrungshintergrund haben! All diese Fragen sind berechtigt, auch wenn wir sie wohl nie zuverlässig werden beantworten können. Jedoch gewinnen wir so plausible Hypothesen, um die Distanz Jesu zu den "Städten" bei gleichzeitiger räumlicher Nähe zu ihnen verständlich zu machen. Unter den galiläischen Dörfern tritt in der Jesusüberlieferung besonders Kapernaum hervor, wo mehrfach von einem "Haus" Jesu die Rede ist (Mk 2,1; 2 2 W.BAUER: Jesus der Galiläer, in: FS AJülicher, Tübingen 1927, 16-34 ( = ders.: Aufsätze und kleine Schriften, Tübingen 1967, 91-108). Eine zusammenfassende lokalhistorische Arbeit über Galiläa ist S.FREYNE: Galilee from Alexander the Great to Hadrian (323 B,C.E. to 135 C.E.), Notre Dame 1980. W.BÖSEN: Galiläa als Lebensraum und Wirkungsfeld Jesu, Freiburg 1985.

R A . B A T E Y : Is not this the Carpenter NTS 30 (1984) 249-258; ders.: 'Jesus and the Theatre, NTS 30 (1984) 563-574. Ein Vorgänger ist S.J.CASE: Jesus and Sepphoris, J B L 45 (1926) 14-22. 23

15

3,20; 9,33). R . R I E S N E R vermutet, daß hier ein "Lehrhaus Jesu" gemeint sei. 24 Er beruft sich dazu auch auf den oben genannten archäologischen Befund, daß sich in Kapernaum eine byzantinische Basilika über einem Privathaus aus dem l J h d t . n.Chr. erhebt. Für Jerusalem sei auf die Arbeiten J . J E R E M I A S hingewiesen. Er hat nicht nur das "Jerusalem zur Zeit Jesu" kultur- und zeitgeschichtlich untersucht,25 sondern auch konkreten Ortsangaben in den Evangelien wie "Golgatha" 26 und "Bethesda" 27 kleine Studien gewidmet. Die Ausgrabung des Doppelteichs von Bethesda war für ihn eine Bestätigung der Geschichtlichkeit von Joh 5,Iff. Neuere Untersuchungen von A . D U P R E Z haben diese Zuversicht korrigieren müssen: 28 Der in Joh 5, Iff vorausgesetzte Doppelteich von Bethesda hat kaum therapeutischen Zwecken gedient, wohl aber eine neben ihm gelegene (unterirdische) Badeanlage, so daß in Joh 5, Iff das Bild von zwei benachbarten Orten verschmolzen ist. Lokalkoloritforschung würde hier weniger den historischen als den traditionsgeschichtlichen Hintergrund von Joh 5, Iff erhellen. Aber gerade so zeigt sie ihre Fruchtbarkeit. 29 Die Zeitgeschichte kann zur Leben-Jesu-Forschung nur indirekt beitragen. In den Berichten über Jesus begegnen zwei Gestalten der politischen Geschichte: der römische Präfekt Pontius Pilatus und der jüdische Tetrarch Herodes Antipas, über die wir auch aus anderen Quellen etwas erfahren. J e besser die Evangelienberichte in das aus anderen Quellen erarbeitete Bild der 24

R.RIESNER: Jesus als Lehrer, 438f.

J.JEREMIAS: Jerusalem zur Zeit Jesu. Eine kulturgeschichtiche Untersuchung zur neutestamentlichen Zeitgeschichte, Göttingen "*1963. J JEREMIAS: Golgatha, Angelos Beiheft 1, Leipzig 1926. Einen zusammenfassenden Überblick über die Fragestellung bis heute gibt R.RIESNER: Golgata und die Archäologie, BiKi 40 (1985) 21-26. 26

27

J J E R E M I A S : Die Wiederentdeckung von Bethesda. Joh 5,2, Göttingen 1959. A.DUPREZ: Jésus et les dieux guérisseurs. A propos de Jean 5, Paris 1970.

29

Neuere Beiträge zur Lokalgeschichte Jerusalems weisen in die Zeit des Urchristentums. R.RIESNER: Essener und Urkirche in Jerusalem, BiKi 40 (1985) 64-76, hat aufgrund neuer archäologischer Funde das Zentrum der Urgemeinde auf dem Südosthügel Jerusalems lokalisiert - nicht weit entfernt vom Essenertor, das man inzwischen dort hat ausgraben und lokalisieren können. Archäologische Funde beim sogenannten "Davidsgrab" auf dem Südwesthügel weisen nämlich auf einen judenchristlichen Sakralbau aus der Epoche der Aelia Capitolina möglicherweise an der Stelle, wo sich die Urgemeinde einmal versammelt hatte. Die Nähe zum "Essenertor" wäre dann historisch bedeutsam, wenn man in der Nähe eines solchen Tores eine Essenergemeinschaft vermuten dürfte. Für den urchristlichen Liebeskommunismus hätte es dann ein benachbartes "Modell" gegeben. Auch hier ist der Blick in die konkrete Vergangenheit faszinierend jedoch sind sichere Schlüsse nicht möglich.

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Zeit passen, um so größer wird das Zutrauen zu ihrer Geschichtlichkeit. Besonders in den Arbeiten von E.STAUFFER 30 ist diese Verschränkung von realgeschichtlichem Interesse und Leben-Jesu-Forschung spürbar - und führt oft zu überzogenen Rückschlüssen. Neuere Beiträge sind in ihrem Anspruch bescheidener. Die Arbeiten von H.W.HOEHNER über Herodes Antipas 31 und J.P.LEMONON über Pilatus32 arbeiten in behutsamer Weise das Quellenmaterial auf.

2. Beiträge zur Traditionsgeschichte Die Suche nach direkter geschichtlicher Bestätigung der Evangelienberichte durch textexterne Quellen hat der lokal- und zeitgeschichtlichen Auswertung der Texte bei kritisch eingestellten Exegeten wahrscheinlich mehr Abbruch getan, als sie es verdient: Aber die Skepsis gegen eine direkte historische Auswertung der Überlieferungen ist berechtigt. Zunächst einmal ist es unsere Aufgabe, die Quellen zu erklären, ehe wir Rückschlüsse auf die Ereignisse machen können. Je skeptischer man jedoch gegenüber einer unmittelbaren historischen Auswertung der Überlieferungen wird, um so wichtiger wird es, die Texte selbst zu lokalisieren und zu fragen: Wo und wann wurden sie überliefert? Zu dieser traditionsgeschichtlichen Erhellung der Quellen kann Lokalkoloritforschung etwas beitragen. Ansätze zu einer lokal orientierten Traditionsgeschichte finden sich vor allem bei E.LOHMEYER. 33 Er beobachtete im Markusevangelium einen mit den Landschaften Galiläa und Judäa verbundenen theologischen Gegensatz: Galiläa erscheint als das Land, in dem sich das Heil offenbart, Jerusalem dagegen als Sitz der Feindschaft gegen Jesus. Er brachte diesen Gegensatz in Verbindung mit zwei Urgemeinden in Jerusalem und Galiläa, denen er verschiedene Typen von Christologien und Abendmahlsüberlieferungen zuord-

30

Vgl. E.STAUFFER: Christus und die Caesaren, Hamburg 41954; ders.: Jesus. Gestalt und Geschichte, DTb 332, Bern 1957. E. Stauffer mutete historischer Forschung zuviel zu, wenn er sie als "Realtheologie" der Kerygmatheologie entgegensetzen wollte; vgl. ders.: Entmythologisierung oder Realtheologie?, in: Kerygma und Mythos 2, Hamburg 1952,13-28. 31

H.W.HOEHNER: Herodes Antipas, SNTS MS 17, Cambridge 1972.

32

J.P.LÉMONON: Pilate et le gouvernement de la Judée, EtB, Paris 1981.

33

E.LOHMEYER: Galiläa und Jerusalem in den Evangelien, FRLANT 52, Göttingen 1936. In dieselbe Richtung weisen die unabhängig von Lohmeyer entstandenen Forschungen von R.H.LIGHTFOOT: Locality and Doctrine in the Gospels, New York 1938.

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nete: Galiläa habe Jesus als Menschensohn, Jerusalem dagegen als Messias verehrt. In Galiläa habe man das Abendmahl als Brotbrechen gefeiert, in Jerusalem als Todesgedächtnismahl. Diese Thesen haben sich zwar nicht durchgesetzt, aber es bleibt die Aufgabe, mögliche nachösterliche Auswirkungen der Geschichte Jesu in Galiläa zu erhellen und sich für die Möglichkeit offen zu halten, daß es mehrere "Urgemeinden" gegeben hat. Lohmeyers Ansatz wurde fortgesetzt von G.SCHILLE und É.TROCMÉ. Nachdem schon K.KUNDSIN in den 20er Jahren die Ortsangaben im Johannesevangelium als Hinweise auf die Geschichte der christlichen Gemeindebildung und Mission gedeutet hatte,34 übertrug G.SCHILLE diese Idee in den 50er und 60er Jahren auf die synoptische Tradition.35 Lokalisierte Wundergeschichten werden von ihm als Gründungslegenden urchristlicher Gemeinden gedeutet, als Dokumente der "Anfänge der Kirche" Der blinde Bartimäus vor Jericho wäre sozusagen der erste Bekehrte in dieser Stadt. Modell einer solchen ätiologischen Deutung der Wundergeschichten sind die Wunder der Apostelgeschichte, die oft im Zusammenhang mit der Gründung von Gemeinden erzählt werden. G.SCHILLE kommt so zu drei Regionen mit urchristlichen Gemeinden in Palästina: Galiläischen Gemeinden schreibt er ältere Wundergeschichten, Berufungserzählungen und die Kyrios-Christologie zu; in judäischen Gemeinden lokalisiert er die Logienüberlieferung und den Menschensohntitel, in Gemeinden des Jordanbeckens meint er die mit der Taufe verbundenen vorpaulinischen Hymnen und den Sohn-Gottes-Titel verorten zu können. Mit Recht hat sich dieser Ansatz nicht durchgesetzt. Aber er hat einen Vorzug: Er scheidet palästinisches und außerpalästinisches Traditionsgut nicht nach rein geistesgeschichtlichen Kriterien wie "jüdisch" und "hellenistisch" Diese Unterscheidung lag der Arbeit an einer "Geschichte der synoptischen Tradition" seit R.BULTMANN zugrunde. Aber sie ist nur begrenzt brauchbar, stand doch Palästina drei Jahrhunderte lang unter intensivem hellenistischen Einfluß (M.HENGEL). 36 Ein zweiter Nachfolger E.LOHMEYERs ist E.TROCMÉ: 37 Er vertritt die Meinung, die bei Mk gesammelten Wundergeschichten seien Ausdruck einer quasi-animistischen Mentalität in den ländlichen Grenzgebieten Syrien-Palästinas, während die ethisch ausgerichtete Logienüberlieferung in der Urbanen 34

K.KUNDSIN: Topologische FRLANT 39, Göttingen 1925.

Überlieferungsstoffe

im

Johannes-Evangelium,

35

G.SCHILLE: Die Topographie des Markusevangeliums. Ihre Hintergründe und ihre Einordnung, ZDPV 73 (1957) 133-166; ders.: Anfänge der Kirche. Erwägungen zur apostolischen Frühgeschichte, BEvTh 43, München 1966. 36 M.HENGEL: Judentum und Hellenismus, W U N T 10, Tübingen 1969. 37

E.TROCMÉ: La formation de l'Evangile selon Marc, EHPhR 57, Paris 1963, 37-44.

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Mentalität Jerusalems beheimatet sei. Sein Schüler K.TAGAWA hat diese Überlegungen konkretisiert:38 Er erklärt die Ortsangaben in den Wundergeschichten damit, daß der Mk-Evangelist an eben jenen Orten die Wundergeschichten fand, an denen er sie lokalisiert. Da die meisten Ortsangaben nach Galiläa weisen, wären die Wundergeschichten demnach eine spezifisch galiläische Tradition. Man wird zugeben müssen: So plausibel die allgemeine Annahme einer lokal gebundenen Tradition ist, so wenig überzeugend sind die bisherigen Versuche einer Konkretisierung. Zeitgeschichtliche Ansätze zur Erhellung der Geschichte synoptischer Traditionen waren da erfolgreicher. Hier können nur einige Beispiele genannt werden: G.HÖLSCHER gab der These ihre klassische Gestalt, daß die hinter Mk 13 stehende Quelle in der Caligulakrise der Jahre 40/41 entstanden sei.39 G.ZUNTZ wollte wegen Mk 13 sogar das ganze MkEv in das Jahr 40 datieren. 40 Die Beziehung auf die Caligulakrise ist jedoch umstritten. Ihr wurde vom dänischen Josephusforscher P.BILDE mit Nachdruck widersprochen.41 Ein zweites Beispiel ist das Zebedaidengespräch (Mk 10,35ff): Der dort (ex eventu?) geweissagte Märtyrertod des Jakobus ereignete sich in der Regierungszeit des Agrippa I. (41-44 n.Chr.), vgl. Apg 12,2. Die Perikope ist hier durch ein datierbares Ereignis bestimmt.42 Ein methodisch vorbildliches Beispiel für die zeitgeschichtliche Erhellung von Traditionsgeschichte ist die Analyse von Mt 23,34-36 durch O.H.STECK: 43 Der dort erwähnte Mord an einem Sacharja dürfte ursprünglich die Ermordung des letzten in den geschichtlichen Büchern des Alten Testaments erwähnten Propheten in 2.Chr. 24,20ff meinen. Bei Mt (und nur bei ihm) ist daraus ein Ereignis in der Zeit der christlichen Gemeinde geworden. Gemeint ist wahrscheinlich Sacharja, der Sohn des Baruch, der im Jahre 67/8 n.Chr. durch die Zeloten ermordet wurde (vgl. bell. 4,335).

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K.TAGAWA: Miracles et Evangile. La pensée personelle de Pévangéliste de Marc, EHPhR 62, Paris 1966. 39 G.HÖLSCHER: Der Ursprung der Apokalypse Mk 13, ThBl 12 (1933) 194-202. 40

G.ZUNTZ: Wann wurde das Evangelium Marci geschrieben?, in: H.CANCIK (ed.): Markus-Philologie, WUNT 33, Tübingen 1984, 47-71.

41

P.BILDE: Afspejler Mark 13 et jödisk apokalyptisk forlaeg fra kriseâret 40, in: S.PEDERSEN (ed.): Nytestamentlige Studier, Aarhus 1976,103-133.

42

Vgl. E.SCHWARTZ: Über den Tod der Söhne Zebedäi (1904), in: Gesammelte Schriften V, Berlin 1963, 48-123.

43

O.H.STECK: Israel und das gewaltsame Geschick der Propheten, WMANT 23, Neukirchen 1967, 26-33. 50-53. 282f.

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3. Beiträge zur Redaktionsgeschichte Trotz intensiver Forschung wissen wir noch immer nicht genau, wo und wann die Evangelien niedergeschrieben wurden. Die Einleitungen referieren über die vielen Versuche, sie zu lokalisieren. Hier seien nur einige neuere Beiträge genannt, die wegen ihrer besonnenen Argumentation Beachtung verdienen: J.ZUMSTEIN 44 erneuerte die These, das Matthäusevangelium sei in Antiochien entstanden - dort, wo von Anfang an Juden- und Heidenchristen zusammenlebten. Das erkläre das Nebeneinander von juden- und heidenchristlichen Tendenzen im Matthäusevangelium. H.D.SLINGERLAND 45 vertrat die These einer transjordanischen Herkunft des Matthäusevangeliums, weil für den Evangelisten Judäa "jenseits des Jordan" liege (Mt 19,1). M.HENGEL 46 lokalisierte das Markusevangelium mit einer Reihe bestechender Argumente nach Rom, wo es nach der neronischen Verfolgung (Mk 13,12) und vor der Tempelzerstörung etwa 68/69 n.Chr. entstanden sei. Beim lukanischen Doppelwerk hat er wahrscheinlich gemacht, daß der Verfasser Jerusalem auf einer Reise besucht hat. Denn er verfügt über detaillierte Ortskenntnis im Tempel (z.B. Apg 21,34f), muß aber m.E. nicht unbedingt ein Begleiter des Paulus auf seiner letzten Reise gewesen sein: Viele Juden und Gottesfürchtige haben den Tempel vor seiner Zerstörung besucht. Der Verfasser des lk Doppelwerkes könnte einer von ihnen gewesen sein oder in enger Verbindung mit solchen Jerusalempilgern gestanden haben. Aber natürlich könnte er auch selbst in Jerusalem gewesen sein. Schließlich muß eine neue Theorie zum Johannesevangelium erwähnt werden: K.WENGST lokalisierte es in das Herrschaftsgebiet des Herodes Agrippa II. nach dem jüdischen Krieg, u.a. weil Juden zur Abfassungszeit des JohEv nur noch hier politische Macht besaßen und daher als Repräsentanten einer feindlichen Außenwelt im Johannesevangelium auftreten können.47

44

J.ZUMSTEIN: Antioche sur l'Oronte et l'évangile selon Matthieu, SNTU 5 (1980) 122-138.

45

H.D.SLINGERLAND: The Trar.sjordanian Origin of St. Matthew's Gospel, JSNT 3, 1979,18-28.

46

M.HENGEL: Entstehungszeit und Situation des Markusevangeliums, in: H.Cancik (ed.): Markus-Philologie, W U N T 33, Tübingen 1984, 1-45; ders.: Der Historiker Lukas und die Geographie Palästinas in der Apostelgeschichte, Z D P V 99 (1983) 147-183.: Vgl. zu Lk auch H.KLEIN: Zur Frage nach dem Abfassungsort der Lukasschriften, EvTh 32 (1972) 467-477, der den Entstehungsort der lk Schriften in Caesarea vermutet. 47

K.WENGST: Bedrängte Gemeinde und verherrlichter Christus. Der historische Ort des Johannesevangeliums als Schlüssel zu seiner Interpretation, BThS 5, NeukirchenVluyn 1981.

20 Die zeitgeschichtliche Einordnung der Evangelienredaktionen hat beim MkEv eine lange Tradition. Meist wird eine Verbindung mit dem jüdischen Krieg angenommen. Entweder schreibt der Mk-Evangelist kurz vor der Tempelzerstörung in Rom (M.HENGEL) 48 bzw. Palästina (W.MARXSEN), 49 oder er setzt die Tempelzerstörung im Jahre 70 n.Chr. voraus, wie die meisten Exegeten meinen. Eine Interpretation des ganzen MkEv als Antwort auf die Kriegssituation findet sich jedoch selten. Bei S.G.F.BRANDON finden sich Ansätze dazu, wenn er das MkEv als Apologie römischer Christen versteht, die sich angesichts des vom Krieg hervorgerufenen Judenhasses vom Judentum distanzieren.50 Eine Zuordnung der beiden anderen synoptischen Evangelien zur Zeitgeschichte ist schwieriger. Beeindruckend ist der Versuch W.STEGEMANNs, das lukanische Doppelwerk aufgrund der in den Konfliktszenen der Apostelgeschichte vorausgesetzten Rechtssituation mit der repressiven Religionspolitik Domitians in Verbindung zu bringen.51 Beim MtEv könnte man die These von W.D.DAVIES nennen, die Bergpredigt sei Antwort auf Jamnia, d.h. eine christliche Reaktion auf die Neuorganisation des Judentums im Lehrhaus zu Jamnia nach der Katastrophe des Jahres 70 n.Chr.52

4. Beiträge zur Geschichte des Urchristentums Es liegt nahe, aufgrund datier- bzw. lokalisierbarer Traditionskomplexe zu einer umfassenden Sicht der Anfänge des Urchristentums zu gelangen. Das umfassendste Programm dazu legten H.KÖSTER und J.ROBINSON in den "Entwicklungslinien durch die Welt des frühen Christentums" vor.53 Dieses Programm wurde von H.KÖSTER 1980 in einem großen Entwurf durchge-

48

M.HENGEL, Entstehungszeit, Iff sieht m.E. überzeugend einen Zusammenhang zwischen der Krisensituation der Jahre 68ff und der Entstehung des MkEv, der auch dann gegeben wäre, wenn das MkEv etwas später geschrieben wurde.

49

W.MARXSEN: Der Evangelist Markus, FRLANT 67, Göttingen 2 1959.

50

S.G.F.BRANDON: The Trial of Jesus of Nazareth, London 1968. Auch die anderen Arbeiten von BRANDON sind insofern bemerkenswert, weil sie Zeitgeschichte und Urchristentumsgeschichte in ihrer Interaktion darstellen; vgl. ders.: The Fall of Jerusalem and the Christian Church, London ^1957; ders.: Jesus and the Zealots, Manchester 1967. 51

W. STEGEMANN: Zwischen Synagoge und Obrigkeit, Habil. Heidelberg 1982.

52

W.D.DAVIES: The Setting of the Sermon on the Mount, Cambridge 1964.

53

H.KÖSTER/J.ROBINSON: Entwicklungslinien durch die Welt des frühen Urchristentums, Tübingen 1971.

21

führt. 54 Er zeigt in ihm, wie das frühe Christentum nacheinander in lokal verschiedenen Zentren aufblühte: zunächst in Syrien, dann im ägäischen Raum, Ende des 2. Jahrhunderts in Ägypten und später in Nordafrika, während Rom schon sehr früh für die Geschichte des Urchristentums von Bedeutung war. Im Hinblick auf die Anfänge des Urchristentums legte F.VOUGA die Skizze einer theologischen Geographie des Urchristentums vor.55 Er unterschied vier Gruppen: das Jerusalemer Judenchristentum, die Hellenisten, die palästinischen Wandercharismatiker und eine Strömung apokalyptisch orientierter Propheten in Palästina. Eine geographisch orientierte frühchristliche Theologiegeschichte entwarf ferner K.BERGER: 56 Er rechnet mit verschiedenen theologischen Zentren: Neben Palästina vor allem mit Damaskus (JohEv), Ephesus (Kol, Pastoralbriefe, Barn) und Rom, denen er jeweils das Gemeingut zwischen verschiedenen neutestamentlichen Schriften und einige eindeutig lokalisierbare Schriften zuschreibt.57 Merkwürdigerweise gibt es keine Entwürfe einer Geschichte des Urchristentums, in denen zeitgeschichtliche Aspekte die Darstellung bestimmen. Die Zeitgeschichte erscheint oft nur als allgemeiner Hintergrund, von dem sich das Urchristentum abhebt. Die gewiß vorhandenen Wechselwirkungen zwischen ihr und der urchristlichen Geschichte bleiben undeutlich. Hier hegt eine Aufgabe für die Zukunft. Nachdem Methodik und Thematik einer lokal- und zeitgeschichtlichen Erforschung der Evangelien umrissen worden sind, können wir ihr Verhältnis zu anderen exegetischen Fragestellungen näher bestimmen. Wie oben hervorgehoben wurde, erhebt die Untersuchung von Lokalkolorit und Zeitgeschichte in den Evangelien keinen umfassenden hermeneutischen Anspruch. Sie will nicht den Sinn der Texte selbst auslegen, wohl aber den Kontext erkennen, in dem ihr Sinn anschaulich, lebendig und oft auch erst eindeutig wird. Um ihren Beitrag zu verdeutlichen, ordnen wir die lokal- und zeitgeschichtliche Auswertung von Texten zwei Dimensionen zu, die in jeder exegetischen Arbeit präsent sind. Die erste Dimension ist durch die Polarität von generalisie-

54

H.KÖSTER: Einführung in das Neue Testament, Berlin/New York 1980.

55

F.VOUGA: Pour une géographie théologie des christianismes primitifs, EThR 59 (1984) 141-149.

56

57

K.BERGER: Einführung, 186-202. .

Eine Sichtung lokalhistorischer Arbeit liegt in verschiedenen Handbüchern vor. Zwei von ihnen seien hervorgehoben, weil sie das wieder erwachte Interesse an lokalen Studien dokumentieren: Einerseits J.FINEGAN: The Archeology of the New Testament, Princeton 1969; andererseits das auf mehrere Bände angelegte Gemeinschaftswerk eines Alt- und eines Neutestamentiers O.KEEL/M.KÜCHLER: Orte und Landschaften der Bibel, Zürich/Göttingen 1982/1984, das für lange Zeit ein Standardwerk der biblischen Wissenschaften bleiben wird.

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render und individualisierender, die zweite durch die Unterscheidung von textimmanenter und texttranszendierender Fragestellung bestimmt. Generalisierend ist eine Exegese, die ihre Erkenntnisse mit Hilfe eines "Netzes" allgemeiner Kategorien formuliert. Paradigma einer generalisierenden Exegese sind grammatische Analysen und Textlinguistik sowie alle Auslegungen, die sich allgemeiner theoretischer Modelle bedienen. Individualisierend ist dagegen eine Exegese, die Texte als historisch einmalige Erscheinungen analysiert, z.B. die traditionsgeschichtliche Arbeit an konkreten Texten, die deren einmaliger Geschichte nachspürt. Mit der Polarität von generalisierender und individualisierender Exegese überschneidet sich der Gegensatz von textimmanenter und texttranszendierender Auslegung. Ein Text kann entweder als literarisches Phänomen auf seine Strukturen, Bilder und Aussagen hin untersucht werden - und zwar so, daß diese allein aufgrund ihrer gegenseitigen Beziehungen eine sinnvolle "Welt" erkennen lassen. Oder er kann in seinen realen Lebenskontext, in Raum und Zeit, Geschichte und Gesellschaft eingeordnet werden, so daß wir ihn als Ausdruck eines geschichtlich geprägten Lebensvollzugs deuten können. Dabei wird die immanente Textwelt verlassen und der Text in eine umfassendere "Real-Welt" eingeordnet. Lokalkoloritforschung und Zeitgeschichte gehören zweifellos zu den individualisierenden und texttranszendierenden Fragestellungen: Ort und Zeit sind etwas Einmaliges und Individuelles; Geographie und Archäologie führen uns über die textimmanente Welt hinaus. Damit kann unmöglich der ganze Sinngehalt von Texten erschlossen werden. Andere Fragerichtungen müssen hinzutreten. Folgende Skizze soll das veranschaulichen:

textimmanent

texttranszendierend

individualisierend

z.B. Traditionsgeschichte

z.B. Lokalkolorit und Zeitgeschichte

generalisierend

z.B. Strukturalismus

z.B. Sozialgeschichtliche Forschung

Die folgenden Untersuchungen wollen zwei allgemeine hermeneutische Einsichten belegen: Die erste besagt, daß textimmanente Analysen durch texttranszendierende Fragestellungen ergänzt werden müssen. Beschränkt man sich - wie in vielen form- und traditionsgeschichtlichen Untersuchungen

23

- auf Analysen von Schichten, Formen und Intentionen, so bleiben viele Ergebnisse arbiträr. Ein Zutrauen zur Tragfähigkeit solcher Analysen wird man erst schaffen, wenn sie hin und wieder durch textexterne Belege bestätigt werden - zumal in der gegenwärtigen Erkenntnissituation, die durch ein Abbröckeln des "formgeschichtlichen Konsenses" charakterisiert ist. Noch wichtiger ist die zweite hermeneutische Einsicht: Die individualisierende Fragestellung der Lokalkoloritforschung und Zeitgeschichte kann durch Verbindung mit generalisierenden Fragestellungen erneuert und vertieft werden. Die Möglichkeit zu solch einer Vertiefung bietet insbesondere die Verbindung mit der Sozialgeschichte. Hat man durch sozialgeschichtliche Forschung erkannt, wie wichtig die Zuordnung von Texten zu überdauernden Strukturen ist, so wird man auch in der Lokalkoloritforschung wichtige Ergebnisse schon dort sehen, wo man städtisches und ländliches Milieu, typische Distanz- und Nachbarschaftsphänomene erkennen kann. Eine an individuellen Ereignissen und Personen orientierte Geschichtsschreibung mag in solchen allgemeinen Zuordnungen zu Milieus und typischen Situationen ein Defizit historischen Erkennens sehen. Für eine an Strukturen und Konflikttypen orientierte Sozialgeschichte handelt es sich dagegen um wichtige Erkenntnisse. Nach diesem skizzenhaften Überblick über Methodik, Thematik und Hermeneutik unserer Fragestellung können wir die hier vorgelegten Forschungen zu Lokalkolorit und Zeitgeschichte in den Evangelien abschließend vorstellen. Ausgangspunkt ist immer wieder die schlichte Frage nach Datier- und Lokalindizien in den Texten. Durch Verbindung mit textexternen Daten sollen Texte genauer datiert und lokalisiert werden. Das Verfahren ist punktuell. Aber es wird erwartet, daß eine Zusammenschau vieler punktueller Einsichten übergreifende Entwicklungen sichtbar macht. Denn letztlich verstehen sich die folgenden Untersuchungen als Teilbeitrag zu einer "Geschichte der synoptischen Tradition" von ihren Anfängen bis zu den verschiedenen schriftlichen Fassungen in den Evangelien. Der erste Teil hat die "kleinen Einheiten" der synoptischen Tradition zum Gegenstand. Diese können nicht alle analysiert werden. Ausgangspunkt sind jeweils exemplarische Untersuchungen von Logien- und Erzählüberlieferungen. Im Anschluß daran wird kurz die übrige Logien- bzw. die Erzähltradition auf Zeitsituationen und Ortsbindungen hin untersucht, um abschätzen zu können, ob das exemplarische Beispiel verallgemeinernde Schlüsse erlaubt oder nicht. Der zweite Teil beschäftigt sich mit "großen Einheiten" in der synoptischen Überlieferung, d.h. mit Texten, die von vornherein als mehrgliedrige Kompositionen geschaffen wurden. Die synoptische Apokalypse wird dabei als Bei-

24

spiel für die Wortüberlieferung und die Passionsgeschichte als Beispiel für die Erzählüberlieferung untersucht. Während wir m.E. die Ursprünge einiger kleiner Einheiten bis nach Galiläa und Umgebung zurückführen können - so eine These des ersten Teils -, gehen die beiden untersuchten "großen Einheiten" auf judäische Gemeinden zurück und sind in verschiedener Weise durch Nähe und Distanz zur Caligulakrise des Jahres 40 n.Chr. bestimmt. Gegenstand des dritten Teils sind die "Evangelienredaktionen". Auch ihre Lokalisierung läßt sich begrenzt näher bestimmen. Auf konkrete Ortsangaben muß man dabei verzichten. Wohl aber ist eine Bestimmung der allgemeinen Perspektive möglich. Dabei wird sich als Hypothese ergeben, daß das MkEv eine Nachbarschaftsperspektive im Blick auf Palästina einnimmt (also weder in Palästina noch in Rom, sondern in der Nähe Palästinas entstanden ist). Beim Matthäusevangelium läßt sich eine Ost-, beim Lukasevangelium eine Westperspektive wahrscheinlich machen. Alle drei Evangelien wären danach nicht in Palästina entstanden, obwohl sie Stoffe enthalten, die palästinischen Ursprungs sind. Alle aber sind in verschiedener Weise durch Nähe und Distanz zum jüdischen Krieg 66-74 n.Chr. bestimmt. Abschließend sollen die Ergebnisse der Untersuchungen für eine "Geschichte der synoptischen Tradition" zusammengefaßt werden. Schon jetzt sei betont: Studien zu Lokalkolorit und Zeitschichte sind nur ein kleiner Teil der notwendigen Überlegungen, um Form- und Traditionsgeschichte in der Gegenwart weiterzuführen nicht durch Wiederholung ihrer vor einem halben Jahrhundert formulierten Grundannahmen, sondern durch deren kritische Überprüfung und Neuformulierung.

l.TEIL: LOKALKOLORIT UND ZEITGESCHICHTE IN DEN KLEINEN EINHEITEN DER SYNOPTISCHEN TRADITION

1. Kapitel: Die Anfänge der Wortüberlieferung in Palästina Der moderne Leser ordnet die Worte Jesu meist unbefangen in die Welt Palästinas ein. Auch in der Wissenschaft war das lange unbestritten. A.v.HARNACK charakterisierte die in Q gesammelten Traditionen als Reden und Sprüche Jesu mit "so gut wie ausschließlich galiläischem Horizont" 1 Die Redenquelle selbst sei "selbstverständlich in Palästina...", der "jüdischpalästinische Horizont" 2 ginge auf die authentische Verkündigung Jesu zurück. Aber auch J.WELLHAUSEN, der die Logienquelle für jünger als das MkEv hielt und skeptischer über die Authentizität der in ihr gesammelten Überlieferungen dachte, glaubte, sie sei in Jerusalem geschrieben nur daß in ihr der Horizont ausgeweitet sei: "In Q erhebt sich Jesus über den jüdischen Horizont, in dessen Grenzen er sich bei Markus hält."3 Die Analyse der Logienquelle von S.SCHULZ kommt hier zu anderen Ergebnissen. Zwar seien wenige alte Traditionen im "palästinensisch-transjordanischen Grenzraum" 4 beheimatet, die Mehrzahl der Überlieferungen aber gehöre zu einer jüngeren Schicht, bei der es sich um Traditionen syrischer, heidenchristlicher Gemeinden handle. Zu ihnen gehörten auch das Urteil über Johannes (Mt 11,7-11 par), das Jona-Zeichen (Mt 12,38-42 par), das Logion von der "Völkerwallfahrt" (Mt 8,1 If par), und der Weheruf über die galiläischen Städte (Mt 11,21-24 par) also Überlieferungen, bei denen eine Lokalperspektive erkennbar ist. Angesichts solcher Widersprüche in der Forschung lohnt es sich, systematisch möglichst viele Lokalindizien auszuwerten, um Heimat und Herkunft der einzelnen Traditionen näher zu bestimmen.

1

A.v.HARNACK: Beiträge zur Einleitung in das Neue Testament II. Sprüche und Reden Jesu, Leipzig 1907,121. 2

A.v.HARNACK: Sprüche und Reden, 172. J.WELLHAUSEN: Einleitung in die ersten drei Evangelien, Berlin 1911,165.

4

S.SCHULZ: Q. Die Spruchquelle der Evangelisten, Zürich 1972, 166

26

Α. Das "schwankende Rohr" in Mt 11,7 und die Gründungsmünzen von Tiberias Nach Mt 11,7 ruft Jesus den Menschen, die zum Täufer in die Wüste strömten, zu: "Wozu seid ihr in die Wüste hinausgegangen? Ein Rohr zu schauen, das im Winde schwankt?" Was mit diesem "schwankenden Rohr" gemeint war, muß den ersten Adressaten und Tradenten unmittelbar verständlich gewesen sein. Für uns ist es ein Rätsel. Grundsätzlich gibt es zwei Deutungsmöglichkeiten: Entweder ist das "schwankende Rohr" wörtlich zu verstehen, dann spiegelt sich in diesem Logion die reale Landschaft Palästinas, oder es liegt ein Bild vor, dessen Bedeutung wir aus dem Bilderschatz der damals vorhandenen Traditionen bestimmen müssen. Eine wörtliche Deutung ist prinzipiell möglich: Schilfrohr gab es sowohl in der Jordanaue wie am Ufer des Sees Genezareth. Es konnte bis zu fünf Meter hoch werden.5 Für Mt 11,7 ergäben sich dann zwei Interpretationsmöglichkeiten: Schwankendes Rohr ist in der Jordanwüste etwas Alltägliches. Die zu Johannes strömenden Menschen waren aber nicht gekommen, um etwas Alltägliches zu sehen, sondern um in der Wüste, der traditionellen Offenbarungsstätte Gottes 6 , einem Propheten zu begegnen7 Die Erwartungen des Volkes würden nach dieser Deutung durch die rhetorische Frage positiv aufgegriffen und gewertet. Eine andere Auslegungsmöglichkeit denkt an deren kritische Wertung: Die vom Täufer hervorgerufene Bewegung war verrauscht. "Sein Wort und seine Taten schufen keine dauernde Wirkung. Es ist, als ob sie sich nur Schilf angesehen hätten, den der Wind bewegt, oder als ob sie einem Menschen in einem prächtigen Gewand nachgelaufen waren."8 Beide Deutungen sind unbefriedigend. Daß beim "schwankenden Rohr" ausschließlich an Realien der palästinischen Umwelt gedacht wurde, ist angesichts der zweiten Frage unwahrscheinlich: "Oder wozu seid ihr hinausgegangen? Einen Menschen zu sehen, gekleidet in weiche Kleider?" Diese Frage ist formal parallel, inhaltlich aber stünde sie zur ersten Frage in Kontrast: Denn

5

Vgl. G.DALMAN: Orte und Wege Jesu, Gütersloh 31924, 91.

6

Daß die Wüste Ort der Offenbarung Gottes ist, steht seit der alttestamentlichen Exodus- und Wüstentradition fest. Für die neutestamentliche Zeit sei auf die Qumrangemeinde verwiesen, die Jes 40,3 auf ihre Existenz in der Wüste bezog (1 QS 8,12-14), sowie auf Zeichenpropheten, die ein erneutes Heilshandeln Gottes in der Wüste ankündigten: Josephus bell 2,259 und 7,438. 7

Diese Auslegung vertritt E. KLOSTERMANN: Das Markusevangelium, HNT 4, Tübingen 41971,96. 8

A.SCHLATTER: Der Evangelist Matthäus, Stuttgart 1948, 362.

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diese würde (wörtlich gedeutet) nach etwas fragen, was man tatsächlich in der Jordanwüste findet, jene aber nach Menschen, die man dort gewiß nicht finden kann 9 Man hat daher immer wieder nach einer metaphorischen Deutung gesucht. Die nächstliegende Möglichkeit ist die, in dem "schwankenden Rohr" eine Anspielung auf schwankende Menschen zu sehen. So spricht Lukian in seinem Dialog "Hermotimus oder von den philosophischen Sekten" von denen, die mangels eigener Urteilsfähigkeit ihren Lehrern ausgeliefert sind. Er warnt einen Schüler: "Du wirst so leicht zu führen sein wie Wasser, das auf einen Tisch gegossen wird und der leisesten Berührung einer Fingerspitze nach jeder Richtung folgt, und du wirst einem Schilfrohr (καλάμω) am Flußufer gleichen, das von jedem Hauch gebeugt wird, und wenn ein schwaches Lüftchen es durchzieht, so schwankt es (διασαλευση αύτόν)" (Hermot. 68). Ältere Exegeten dachten bei Mt 11,7 konkret an das Schwanken des Täufers, der in der vorhergehenden Perikope fragen läßt, ob Jesus wirklich der Kommende sei, eine Deutung, die mit der formgeschichtlichen Einsicht in die ursprüngliche Isoliertheit synoptischer Perikopen fragwürdig wurde.10 Wenn wir also das Bild nicht aus dem literarischen Kontext des Matthäusevangeliums heraus interpretieren können, so sind wir auf das Bild selbst angewiesen und die ihm zukommende traditionelle Bedeutung. In der uns zugänglichen Tradition begegnet das Bild in zweifacher Weise: als Gerichtsund als Fabelbild. Das Schwanken des Rohres kann in der jüdisch-alttestamentlichen Tradition ein Bild für das richtende Handeln Gottes sein, das Menschen erschüttert. So heißt es in der Prophetie des Ahia gegen Jerobeam: "Und der Herr wird Is9

Schon F.BLEEK: Synoptische Erklärung der drei ersten Evangelien, Leipzig 1862, 447f, wendet gegen die wörtliche Deutung ein: "Allein dann würde man erwarten, dass auch im folgenden Vers etwas der Art genannt wäre, was sie in der Wüste wirklich anzutreffen erwarten konnten, was nicht der Fall ist; auch würde das ύπό άνέμ,ου σαλεοόμ,ενον ein müßiger Zusatz sein " Die Parallelität der ersten und zweiten Frage wird jedoch auch für die wörtliche Deutung als Argument angeführt. So schließt A.PLUMMER: Critical and Exegetical Commentary on the Gospel According to S. Luke, ICC 3, Edinburgh 51922, 204, daraus, daß ανθρωπον unmetaphorisch ist, daß auch das Rohr wörtlich gemeint sein muß. Die hier vorgetragene "emblematische" Deutung will gerade diese Alternative von wörtlicher oder metaphorischer Deutung überwinden. 10 Diese kontextabhängige Deutung wird heute noch vertreten von W.FALBRIGHTC.S.MANN: Matthew, AncB, New York 1971, 136. Schon J.WELLHAUSEN: Das Evangelium Matthaei, Berlin 21914, 52, wies diese Meinung mit den Worten zurück: "Sonst müßte man an das Schwanken des Täufers in Bezug auf Jesus denken; doch besteht schwerlich echter Zusammenhang mit 11,2-6."

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rael schlagen, so daß es schwankt, wie das Rohr (LXX: ό κάλαμος) im Wasser schwankt; er wird Israel ausreißen aus diesem schönen Land, das er euren Vätern gegeben hat" (lKön 14,15). Der ptolemäische König Philopator wird von Gott gestraft, weil er den Tempel betreten hatte, "indem er (Gott) ihn hin und her schüttelte wie ein Rohr (ώς κάλαμον)" (3Makk 2,22). Wenn der Gottesknecht "geknicktes Rohr" nicht zerbricht (Jes 42,3), so ist eben das ein Zeichen dafür, daß er die ohnehin Getroffenen schont. Sollte das "schwankende Rohr" in Mt 11,7 also als Gerichtsbild verstanden werden? 11 Dann käme nur folgende Deutung in Frage: Ihr seid doch nicht etwa in die Wüste gegangen, um zu erleben, wie der Prophet Gottes selbst zum "schwankenden Rohr" wird - er, der anderen das Gericht ansagte! Weiter verbreitet als das Gerichtsbild ist das Fabelbild: Eine der Fassungen der äsopischen Kontrastfabel vom Baum und Schilf lautet: "Der Wind entwurzelte eine Eiche und warf sie in den Fluß. Wie sie so von den Wogen dahingetragen wurde, fragte sie die Schilfrohrstengel: "Wie kommt es, daß ihr, die ihr so schwach und zart seid, von den heftigen Winden nicht entwurzelt werdet? Diese antworteten: Ihr kämpft mit den Winden und widersetzt euch ihnen und deshalb werdet ihr entwurzelt; wir aber unterwerfen uns jedem Wind und deshalb bleiben wir unbeschädigt. - Man darf sich den Mächtigen nicht widersetzen, sondern muß sich ihnen unterordnen und gehorchen." (Halm Nr.17).

Diese Fabel ist in mannigfachen Variationen verbreitet. Allein im äsopischen Fabelcorpus begegnet sie in drei Variationen. Kontrastiert werden Bäume (Halm 179c), Eiche (Halm 17) und Ölbaum (Halm 179b) mit dem sich anpassenden Schilfrohr. Später begegnet die Fabel bei Babrios (Nr.36) und Avian (Nr. 16). Sie ist sogar in die rabbinische Tradition eingedrungen (b. Taan 20b, vgl. Der. Erez 4, Aboth d.R.N.41). Viele Exegeten sehen in Mt 11,7 eine Anspielung auf diese Fabeltradition: Der Täufer ist kein schwankendes Rohr, das sich den Gegebenheiten anpaßt. Er beweist auch gegenüber Fürsten Festigkeit. Zuletzt hat D.FLUSSER diese Deutung vertreten: "Als Jesus vom Rohr sprach, das im Winde schwankt, meinte er damit Höflinge, die in den Häusern der Könige wohnen und weiche Kleider tragen (Mt 11,7-9; Lk 7,2426). Dabei spielte er auf den Hof des Tetrarchen und auf Johannes den Täufer an und bezog die äsopische Fabel von der Eiche und vom Schilfrohr auf sie. Der Täufer ist die Eiche, die Höflinge sind das Schilfrohr."12 Auch diese 11

E.SCHWEIZER: Das Evangelium nach Matthäus, NTD 2, Göttingen 1973, 169, weist auf lKön 14,15 und 3Makk 2,22 als Parallelen zum bildlichen Gebrauch des "schwankenden Rohrs", schließt sich dann aber der üblichen Deutung an: Johannnes der Täufer war keine Windfahne und kein Weichling. 12

D.FLUSSER: Die rabbinischen Gleichnisse und der Gleichniserzähler Jesus I, Judaica et Christiana 4, Bern 1981, 52. Ebenso schon z.B. TH.ZAHN: Das Evangelium

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Deutung befriedigt nicht ganz: Die Fabel wertet das schwankende Schilf eindeutig positiv, die trotzige Eiche dagegen negativ. Soll etwa Johannes der Täufer als verblendeter, halsstarriger Mensch dargestellt werden, der seinen Untergang selbst verschuldet hat? Das ist kaum denkbar.

I. Das Schilfrohr als Emblem des Herodes Antipas Im folgenden soll der Versuch unternommen werden, die Alternative "wörtliche oder metaphorische Deutung" durch eine "emblematische Deutung" zu überwinden: Schilf begegnet nämlich auf den ersten Münzen des Herodes Antipas, welche dieser anläßlich der Gründung seiner Hauptstadt Tiberias (ca. 19 n.Chr.) prägen ließ.13 Münzen sind das älteste Massenkommunikationsmittel - in der Antike das einzige Medium, durch das politische Machtträger fast alle Untertanen erreichen konnten. Münzprägungen spiegeln politische Programme. Gilt das auch für die Pflanzenmotive der Münzen des Herodes Antipas? Gewiß in dem weiteren Sinn, daß sich der Tetrarch von Galiläa und Peräa durch die Wahl dieser Motive als frommer Jude seinen Untertanen darstellte: Das alttestamentlich-jüdische Bilderverbot schloß Darstellungen von Tieren und Menschen aus.14 Seine Münzen zeigen drei Pflanzentypen: Der erste (und älteste) Münztyp15 zeigt auf dem Avers mit hoher Wahrscheinlichkeit Schilfrohr (canna communis). Er wurde nur anläßlich der Gründung von Tiberias geprägt und verschwindet später. des Matthäus, KNT I, Leipzig 1905, 421. - Hingewiesen sei noch auf die merkwürdige Deutung von C.DANIEL: Les Esséniens et 'Ceux qui sont dans les maisons des rois' (Matthieu 11,7-8 et Luc 7,24-25), RQ6 (1967) 261-377. Das Rohr (qane) sei eme Anspielung auf die Zeloten. Ein Zelot ist ein qanna. Die Zeloten würden in der Wüste von ihren Feinden eingegriffen, d.h. vom Winde geschüttelt! ri Zur Gründung von Tiberias vgl. MAVI-YONAH: The Founding of Tiberias, IEJ 1 (1950/1) 160-169; H.W.HOEHNER: Herod Antipas, SNTS MS 17, Cambridge 1972, 91-100. Besonders zur Datierung der Gründung: Y.MESHORER: Jewish Coins of the Second Temple Period, Chicago 1967, 74. 14 Auf den öffentlich kursierenden Münzen hielt Herodes Antipas das Bilderverbot ein. Aber in seinem Palast waren Tierbilder vorhanden - ein Anstoß für Strenggläubige. Josephus hat von Jerusalem den Auftrag, diesen Palast deswegen zu zerstören. Eine radikalere Partei aber kommt ihm zuvor (Jos. vita 65f). 15 Dieser Münztyp ist in verschiedenen Varianten vertreten, vgl. die Abbildungen bei Y.MESHORER, Jewish Coins, Nr.63, 64 und 65; ferner FA.MADDEN: History of Jewish Coinage, New York 1967 [ = 1864], 97 Nr.l, dem die oben abgebildete Zeichnung entnommen ist. A.KINDLER: The Coins of Tiberias, Tiberias 1961, geht auf diesen Münztyp leider nicht ein.

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Der zweite Münztyp16 ist vom Jahr 26/27 n.Chr. an belegbar. Unverkennbar ist Antipas zu einem neuen pflanzlichen Emblem übergegangen. Wahrscheinlich handelt es sich um einen Palmbaum.

Aus dem letzten Regierungsjahr des Antipas (39 n.Chr.) stammt ein dritter Münztyp17. Auf ihm ist ein Palmzweig dargestellt.

Uns interessiert vor allem der erste Münztyp. Wirft das auf ihm begegnende Schilfrohr ein neues Licht auf das "schwankende Rohr" von Mt 11,7? Oder handelt es sich überhaupt um Schilfrohr? W.WIRGIN hat das bestritten. 18 Auf den Gründungsmünzen von Tiberias sei ein Lorbeerzweig abgebildet, wie sie die Kaiser von Augustus bis Nero bei ihren Triumphzügen in der Hand hielten. Nach Nero trat an seine Stelle ein Palmzweig. Wie immer man die Gründungsmünzen von Tiberias beurteilt: Ein Wechsel der Symbolik im Triumphzug nach Nero (54-68 n.Chr.) kann den Wechsel der Embleme auf den Antipasmünzen zwischen 19 und 30 n.Chr. auf keinen Fall erklären. Da16

Fotos bei Y.MESHORER, Jewish Coins, Nr. 66-73. Die Zeichnung stammt aus FA.MADDEN, Jewish Coinage, 97 Nr.2. 17

Fotos bei Y.MESHORER, Jewish Coins, Nr.75. Zeichnung aus FA.MADDEN, Jewish Coinage, 99 Nr.6. 18

W.WIRGIN: A Note on the 'Reed' of Tiberias, IEJ 18 (1969) 248-249. Auf Schilf deuten dagegen Y.MESHORER, Jewish Coins, 73-75; M A VI-YONAH in: Prolegomenon to FA.MADDEN, Jewish Coinage, XXIX - im Unterschied zu FA.MADDEN: Jewish Coinage, 97, der an einen Palmzweig denkt.

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gegen spricht die Chronologie. Ferner ist die Deutung der Pflanzenmotive auf den ältesten Antipasmünzen auf Lorbeerzweige kaum zu halten: Die Designer von Tiberias haben auf dem Revers einiger Münzen Lorbeerkränze abgebildet und dabei ganz andere Blattformen dargestellt.19

Darüber hinaus zeigt uns ein Mosaik aus der byzantinischen Basilika der Brotvermehrung am Nordufer des Sees Genezareth, wie ein in unserer Landschaft wirkender Künstler sich Schilf vorgestellt hat.20 19

Vgl. FA.MADDEN, Jewish Coinage, 98 Nr.5.

70

Das Mosaik stammt aus dem Ende des 4./Anfang des 5. Jhdt.s. Vgl. J.FINEGAN: The Archeology of the New Testament, Princeton 1969, 48ff. Grundlegend A.M.SCHNEIDER: Die Brotvermehrungskirche in et-Tabga, Paderborn 1934. Vgl. ferner S.LOFFREDA: Die Heiligtümer von Tabgha, Jerusalem 1978.

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Gewiß könnte der Künstler aus Ägypten kommen. Er ist mit ägyptischen Motiven vertraut, wie das Nilometer auf dem Mosaik zeigt.21 Die Wahl einer See- oder Flußlandschaft in einer Kirche am Ufer des Sees Genezareth dürfte jedoch durch die galiläische Landschaft inspiriert sein. Die Ähnlichkeit der Pflanzen auf den Gründungsmünzen von Tiberias mit dem Schilf des Mosaiks ist auffallend. So fehlen hier wie dort Schilfkolben. Wir gehen also von der Deutung des Münzemblems auf Schilf als der wahrscheinlichsten Deutung aus. Die Wahl eines solchen Motivs wäre zumindest verständlich. Vier Gründe seien angeführt: 1. Schilf ist ein häufiges Nebenmotiv auf den Münzen von Städten, die an Flüssen gelegen sind. Es begegnet als Attribut eines Flußgottes.22 Als Antipas seine erste Münzwerkstatt einrichtete, mußte er wahrscheinlich auf erprobte Münzhandwerker zurückgreifen. Schilf gehörte zu ihrem Repertoire. Da sie im Auftrag eines jüdischen Fürsten Münzen zu prägen hatten und die Darstellung von Göttern von vornherein entfiel, konnte ein Nebenmotiv zum Hauptmotiv der Münzen werden. 2. Antipas konnte sich am Vorbild seiner Brüder orientieren, die alle lange vor ihm mit Münzprägungen begonnen hatten. Die Münzen des Archelaos stammen aus den Jahren 4 v.Chr. bis 6 n.Chr., die des Herodes Philippus beginnen im ersten Jahr unserer Zeitrechnung und erstrecken sich bis in dessen letztes Jahr (34 n.Chr.). Antipas begann dagegen erst mit Prägungen, als er mehr als zwanzig Jahre regiert hatte (im Jahre 18-20 n.Chr.). Nun hatten seine Brüder immer Motive gewählt, die für ihr Land charakteristisch waren. Sieben Münztypen des Archelaos enthalten Schiffahrtssymbole.23 Nur Archelaos besaß einen Zugang zum Meer und verfügte über den Hafen in Caesarea (und den kleineren in Joppe). Philippus bildete auf seinen Münzen einen (heidnischen) Tempel ab,24 mit großer Wahrscheinlichkeit den Augustustempel in Paneas, das Wahrzeichen seiner von ihm "Caesarea Philippi" genannten Hauptstadt. Da er über stark heidnische Gebiete herrschte,

21

Josephus bell 3, 520 belegt zudem eine Lokaltradition, nach der eine starke Quelle am Nordufer des galiläischen Sees, Kapharnaum genannt, mit dem Nil in Verbindung gebracht wurde: "Einige hielten diese Quelle schon für eine Ader des Nils, da sie einen Fisch hervorbringt wie den Korakinos im See von Alexandria." 22

Vgl. E.DEMOLE: Fluß- und Meergötter auf griechischen und römischen Münzen, Genf 1923, Nr.18.162. 205 u.ö. Weniger ergiebig ist IMHOOF-BLUMER/O.KELLER: Tier- und Pflanzenbilder auf Münzen und Gemmen des Klassischen Altertums, Leipzig 1889, X, 10 und XIX, 63. 23

Y.MESHORER, Jewish Coins, 69, vgl. Nr. 56-60.

24

Y.MESHORER, Jewish Coins, Nr.76-84.

33

konnte er es wagen, heidnische Symbole zu verwenden. Herodes Antipas, der als einziger Herodessohn über rein jüdisches Land regierte, hielt sich dagegen streng an das Bilderverbot. Er wählte ein pflanzliches Motiv, das für seine neue Hauptstadt Tiberias charakteristisch war: Schilfrohr, wie es am Ufer des "Sees von Tiberias" wuchs.25 3. Das harmlose Schilfrohr war auch aus politischen Gründen gut gewählt. Herodes Antipas regierte über geographisch getrennte Gebiete: Zwischen Galiläa und Peräa schob sich ein Streifen hellenistischer Stadtrepubliken. Diese Trennung seiner Gebiete war ein kluger Schachzug bei der Aufteilung des Landes nach dem Tode des Herodes: Während die beiden anderen Herodessöhne über ein geographisch zusammenhängendes, aber ethnisch uneinheitliches Gebiet herrschten (über Samaritaner, Juden und Syrer), war das Territorium des Antipas zwar ethnisch homogen, geographisch dagegen geteilt - was für ihn ein politisches Problem war. Herodes Antipas mußte nach einem Emblem suchen, das beide Landesteile verband. Nun wurden sie geographisch durch den Jordan verbunden, der durch den galiläischen See fließt und die Westgrenze Peräas bildet. "Schilfrohr" konnte sowohl in Galiläa wie in Peräa als heimisches Symbol verstanden werden.26 4. Man könnte einwenden, es handle sich bei Schilfrohr um eine allzu unscheinbare Pflanze, um der Wahl dieses Motivs ein solches Gewicht beizumessen. Immerhin erscheint das Schilfrohr in zwei Beschreibungen Palästinas durch antike Autoren. Es wurde also auch außerhalb Palästinas als besonderes Charakteristikum des Landes betrachtet. Strabo beschreibt das vom Jordan durchflossene Land mit folgenden Worten: "Es hat auch einen See, der aromatische Binse und Rohr (κάλαμον) hervorbringt, und ebenso Sümpfe. Der See wird aber 'Gennesaritis' genannt" (Geogr. XVI, 2,16).27 So auch Y.MESHORER, Jewish Coins, 75: "Antipas looked for a special design to symbolize the foundation of Tiberias and found it in the reed, the characteristic vegetation of the region of Tiberia." Auch die späteren Münzen von Tiberias weisen ein unverkennbares Lokalkolorit auf. A.KINDLER, Coins of Tiberias, gibt einen Überblick über die Emblematik. Wenn hier die Göttin Hygieia (Nr. 3b und 16) und Serapis (Nr.15) erscheinen, so ist dies durch die Heilquellen von Hammath bei Tiberias motiviert; Anker (Nr.5) und Galeere (Nr.10) sind durch den galiläischen See bedingt. 26

Wenn Antipas später die Schilfemblematik durch Palmzweige und Palmbaum ersetzt, so wählt er wiederum eine in beiden Teilen seines Landes vorkommende Pflanze. Palmen sind für das Ufer des Toten Meeres bezeugt (Plinius d Ä . nat. hist. V, 15). Im Reisebericht der Aetheria, die 385-388 n.Chr. zum heiligen Land pilgerte, werden "viele Palmbäume" für das Nordufer des galiläischen Sees bezeugt (Peregrinatio ad loca sancta, ed. Geyer, 113). 27

Text, Ubersetzung und ausführlicher Kommentar bei M.STERN: Greek and Latin Authors on Jews and Judaism I, Jerusalem 1974 ( = GLAJJ), 288f. Nr.112.

34

Daß Strabo hier den sumpfigen Hule-See mit dem See Genezareth verwechselt, ist möglich. Jedoch ist zu bedenken, daß er See und Sümpfe trennt und den See "Gennesar" nennt - und das kann nur der galiläische See sein. Plinius der Ältere weist bei der Besprechung verschiedener Arten von Rohr (harundo) besonders auf Rohr aus Judäa und Syrien hin, das als kosmetisches und therapeutisches Mittel verwandt wurde: "et quo plura genera faciamus, ille, quae in Iudaea Syriaque nascitur odorum unguentorumque causa, urinam movet cum gramine aut apis semine decocta; ciet et menstrua admota" (nat.hist.XXIV, 85). "Damit wir die Arten von Rohr noch vermehren: Jenes, das in Judäa und Syrien wächst und als Parfum und Salbe verwandt wird, fördert den Urin, wenn es mit Gras und Eppichsamen gekocht wird. Es fördert und beschleunigt aber auch die Menstruation."28 Die Wahl des Pflanzenmotivs "Schilfrohr" auf den ersten Münzen des Antipas wäre nach all dem verständlich: Es handelt sich um ein bekanntes Attribut Palästinas insbesondere aber des Jordantals. Es verbindet die beiden getrennten Landesteile und wächst am Ufer des galiläischen Sees, an dem Heredes Antipas seine Hauptstadt gründete - jene Stadt, deren Gründung Anstoß und Anlaß seiner ersten Münzprägung war. II. Herodes Antipas - das schwankende Rohr? Was hat das Schilfemblem auf den Gründungsmünzen von Tiberias mit dem "schwankenden Rohr" von Mt 11,7 zu tun? Die Verbindung wäre gegeben, wenn das Jesuswort mit dem "schwankenden Rohr" auf Herodes Antipas anspielt, den Gegenspieler des Täufers. Dieser Vermutung soll im folgenden von drei Seiten her nachgegangen werden, nämlich vom numismatischen, literarischen und historischen Befund her. Von allen drei Seiten her läßt sich m.E. wahrscheinlich machen, daß im "schwankenden Schilfrohr" eine Anspielung auf Antipas vorliegt. 1. Der numismatische Befund Schilfrohr und Herodes Antipas konnten aufgrund der Gründungsmünzen von Tiberias leicht assoziiert werden, da auf ihnen dort, wo sonst die Köpfe der prägenden Fürsten und Machthaber erscheinen, das Schilfemblem steht. Die um das abgebildete Schilfrohr herumgelegte Legende ΗΡΩΔ(Οΐ) TETPA(PXOY)29 mußte diese Assoziation vertiefen und befestigen. Sie sagt:

28

Vgl. M. STERN, GLAJJ I, 496 Nr.217.

29

Y.MESHORER, Jewish Coins, 133.

35

Dem Fürsten Antipas gehört die Münze Schilfrohr abgebildet wurde.

nur daß anstelle seines Kopfes

Dürfen wir aber voraussetzen, daß die einfachen Leute Palästinas die Embleme auf der Aversseite von Münzen mit den prägenden Machthabern in Verbindung brachten? Daran kann m.E. kein Zweifel sein. Eben auf dieser Verbindung basiert ja die Pointe im Streitgespräch über den Zensus (Mk 12,13-17). Eben diese enge Verbindung wird in anderen Münzprägungen herodäischer Fürsten vorausgesetzt. Aufschlußreich ist hier die älteste Münze des Herodes Philippus. Sie zeigt den Kopf des Augustus - aber die dazu gar nicht passende Legende (ΦΙΛΙΠΠ)ΟΥ TETPA(PXOY)30 Nichts könnte besser die feste Erwartung zum Ausdruck bringen, auf dem Avers den prägenden Herrscher abgebildet zu sehen als diese Fehlprägung der Münzwerkstatt des Herodes Philippus. Nicht weniger aufschlußreich sind die Münzen des Königs Agrippa I., der von 41 bis 44 n.Chr. über ganz Palästina regierte. In dem stark heidnisch geprägten Cäsarea ließ er - als erster jüdischer Fürst - Münzen mit seinem Porträt prägen 31 , während er auf anderen Münzen den Kopf des Kaisers Claudius 32 abbilden ließ. Aus Rücksichtnahme gegenüber seinen jüdischen Untertanen aber ließ er - für seine jüdischen Gebiete - einen anderen Münztyp prägen, auf dem ein Baldachin steht, wo sonst sein Porträt zu finden ist 33 Bei diesem Baldachin handelt es sich um ein persönliches Attribut orientalischer Machthaber: Unter ihm ließ sich der König wahrscheinlich in Jerusalem sehen. Wenn ein persönliches Attribut an die Stelle des Porträts treten konnte, dann kann umgekehrt alles, was an der Stelle des üblichen Porträts steht, als persönliches Attribut aufgefaßt werden, auch wenn es vom prägenden Fürsten anders gemeint war. Man wird die ersten Münzen des Antipas im Lande aufmerksam betrachtet und kommentiert haben. Sollte da nicht irgendein witziger Kopf die Parole aufgebracht haben: Seht Antipas - das schwankende Rohr! Anlaß zum Spott über Antipas gab es genug. Die Gründung seiner Hauptstadt Tiberias war nicht unumstritten. Sie geschah auf unreinem Boden. Die Bevölkerung war z.T. dubioser Herkunft (ant 18,36-38). Die Stadt blieb ein Fremdkörper in Galiläa. Die Jesusüberlieferung schweigt von ihr. Es wäre also verständlich, wenn Gründungsmünzen dieser Stadt kritisch kommentiert wurden.

30

Y.MESHORER, Jewish Coins, Nr.76.

31

Y.MESHORER, Jewish Coins, Nr.85.90.92.93.

32

Y.MESHORER, Jewish Coins, Nr.86.87.89.

33

Y.MESHORER, Jewish Coins, Nr.88.88 A.B. Vgl. zu diesen Münzen J. MEYSHAN: The Canopy Symbol on the Coins of Agrippas I, BIES 22 (1958) 157-160 (hebr.).

36

Der Gebrauch von Münzbildern als Decknamen für Herrscher hat eine aufschlußreiche Analogie im Danielbuch. In Dan 7,7 symbolisiert das vierte Tier das seleukidische Reich. Seine Horner stellen die verschiedenen seleukidischen Fürsten dar. Diese Horner finden sich auch auf Münzprägungen der Zeit Seleukos I. Nikator und Antiochos I. Soter.34 Wenn nun aus den Hörnern seleukidischer Münzen Chiffren für die Seleukiden wurden, so ist auch möglich, daß aus dem "Schilfrohr" der Münzen des Herodes Antipas ein ironischer Spottname für diesen herodäischen Fürsten wurde. 2. Der literarische

Befund

Liegt es aber auch von der literarischen Überlieferung in Mt 11,7-9 her nahe, beim "schwankenden Rohr" an Herodes Antipas zu denken? Auszugehen ist von Beobachtungen zur Form des kurzen Apophthegmas. Mt 11,7-9 besteht aus drei parallelen rhetorischen Fragen. 35 Die beiden ersten sollen mit "Nein!" beantwortet werden, die letzte dagegen mit "Ja!" - wobei die Wahrheit noch über das hinausgeht, was mit einer Bejahung der Frage gesagt wäre. Denn der Täufer ist nicht nur ein Prophet - er ist mehr als das. Ferner gibt es eine kleine Asymmetrie zwischen der ersten und zweiten Frage. 36 Der Hörer muß selbst ergänzen, welche Meinung zurückgewiesen wird. Die folgende Wiedergabe des Logions mag das verdeutlichen. Was müssen wir bei der ersten Frage ergänzen? Und warum wird es nicht offen ausgesprochen? Aus einer Analyse der literarischen Struktur des Logions geht zunächst hervor: Wenn die beiden ersten Fragen formal parallel zueinander stehen, so darf vermutet werden, daß auch ihr Inhalt einander entspricht! Wenn nun aber die "vornehm gekleideten Menschen" in Königspalästen zu suchen sind müßte dasselbe nicht für das "schwankende Rohr" gelten? Spielt Jesus hier auf einen "schwankenden" Menschen im Königspalast von Tiberias an? 37 34

Vgl. S.MORENZ: Das Tier mit den vier Hörnern, ZAW 63 (1951) 151-154. O.KEEL und M.KÜCHLER danke ich für den Hinweis auf die Seleukidenmiinzen. 35

Das alttestamentliche Zitat in Mt 11,10 ist deutlich sekundär angehängt: 1. Es begegnet auch unabhängig von dieser Täuferperikope in Mk 1,2; 2. Es fehlt in der Parallele des Thomasevangeliums; 3. Es gibt dem Wort einen neuen Akzent: Der Täufer wird zum Vorläufer Jesu gemacht - entsprechend der christlichen Auffassung vom Täufer. 36

P.GAECHTER: Das Matthäus-Evangelium, Innsbruck 1963, 363 meint: "Die nach Analogie zu V.8 und 9 zu erwartende zweite Hälfte von V.7 ist in der mündlichen Tradition verlorengegangen." Es könnte jedoch ein plausibles Motiv gegeben haben, die Anspielung auf den Landesfürsten dunkel zu halten. 37

Etwas abenteuerlich ist die Vermutung von N.KRIEGER: Ein Mensch in weichen

37

1. Wozu seid ihr in die Wüste hinausgegangen? Ein Rohr zu schauen, das im Winde schwankt?

2. Oder wozu seid ihr hinausgegangen? Einen Menschen zu sehn in weichen Kleidern? Siehe, die weiche Kleider tragen, sind am Hof der Könige! 3. Oder wozu seid ihr hinausgegangen? Einen Propheten zu sehen? Ja, ich sage euch: Noch mehr als einen Propheten!

Man könnte einwenden, daß die mt Version von mehreren Königspalästen zu sprechen scheint (οίκοι im Plural). Dieser Einwand läßt sich widerlegen: Denn einmal spricht die lk Parallele von βασιλεϊοι, ein Begriff, bei dem auch in der Pluralform an einen Palast gedacht ist (vgl. ant 13,136. 138; c.Ap 1,140; Philo Flacc 92). Andererseits ist der Plural bei einem Königspalast durchaus sinnvoll: Denn dieser umfaßt im Unterschied zu den meisten Privathäusern mehrere Gebäude. So spricht Josephus vom Palast des Antipas in Tiberias als von οίκοι, d.h. von "Häusern" im Plural (vgl. vit 66). Ein zweiter Einwand könnte sich an die Erwähnung von Königen (im Plural) heften: Erstens war Herodes Antipas nur Tetrarch, zweitens scheint an mehrere "Könige" gedacht zu sein. Auch dieser Einwand ist nicht stichhaltig: Die Herodäer wurden nach wie vor Könige genannt. Das Neue Testament ist ein gutes Beispiel dafür, wenn es in Mk 6,14.22.26f Herodes Antipas einen "König" nennt. Auch Lysanias, der Fürst von Abilene, war nur Tetrarch (Lk 3,1). Dennoch nennt Josephus sein Land ein "Königreich" (bell 2,215). Philo, ein Zeitgenosse des Antipas, spricht sogar von den "vier Söhnen des Königs Herodes, die an Rang und Würden Königen gleichstanden" (legGai 300), obwohl damit zumindest zwei Herodessöhne eingeschlossen sind, die nicht einmal Tetrarchen waren. In Mt ll,7ff kann also durchaus an den Königspalast von Tiberias gedacht sein. D.FLUSSER hat recht, wenn er in ihm sucht, was Jesus mit dem Bild vom "schwankenden Rohr" meint! Jedoch denkt er an Höflinge nicht an Antipas selbst.38 Nun spricht die zweite Frage von einem "Menschen" Kleidern, NT 1 (1965) 228-230, der Täufer habe sich ehedem am Hof des Antipas aufgehalten. 38

Vgl. D.FLUSSER, Die rabbinischen Gleichnisse, 52. Kaum zu verifizieren ist die Meinung C.DANIELS, Les Esséniens, es handle sich bei den Leuten in "weichen Klei-

38 (ανθρωπον) im Singular. Hier dürfte nur eine Person gemeint sein. Ebenso könnte bei κάλαμον in der parallelen ersten Frage an eine Person gedacht sein. Falls mit dem "schwankenden Rohr" auf Herodes Antipas angespielt worden ist, ließen sich einige formale Eigentümlichkeiten der Perikope erklären. Es war gewiß nicht opportun, den mächtigen Landesfürsten direkt beim Namen zu nennen. Daher bleibt die erste rhetorische Frage - im Unterschied zu den beiden folgenden - ohne Antwort. Die Hörer ergänzten von selbst: "Seid ihr in die Wüste gezogen, um ein vom Wind schwankendes Rohr zu sehen?" "Natürlich nicht: Nicht den Herodes Antipas, sondern seinen prophetischen Gegenspieler wollten wir aufsuchen!" Ähnlich motivieren ließe sich der Wechsel vom Singular zum Plural zwischen der zweiten rhetorischen Frage und ihrer Antwort: Gefragt wird nach einem Menschen (Sg.!) in weichen Kleidern, die Antwort spricht im Plural von denen, die in den Königspalästen weiche Kleider tragen. Auch hier war es nicht opportun, direkt den ironisch Angegriffenen beim Namen zu nennen. Die pluralische Antwort verwischt die Anspielung auf einen bestimmten Menschen. Wir kommen also zu folgendem Ergebnis: Vom literarischen Befund her ist es möglich, das "schwankende Rohr" auf Herodes Antipas zu beziehen. In Verbindung mit dem Ergebnis der numismatischen Analyse gewinnt diese Möglichkeit sogar einen hohen Grad an Wahrscheinlichkeit.

3. Der historische Befund Spottnamen wie "schwankendes Rohr" - ein Name, in dem auch Bewunderung und Respekt mitschwingen konnte bleiben nur haften, wenn sie die gemeinte Person zutreffend charakterisieren. Wir müssen daher die Frage untersuchen, ob sich das noch erkennbare Verhalten des Antipas als kluge Anpassung an die jeweiligen Verhältnisse hat deuten lassen. Trotz der spärlichen Überlieferungen gibt es m.E. Indizien genug, um wahrscheinlich zu machen, daß Antipas als ein Meister kluger Anpassung gelten konnte - und gleichzeitig als ein zögernder Mensch. Antipas war im 2. Testament des Herodes zum Thronfolger vorgesehen gewesen (ant 17,146),39 und zwar anstelle des unglücklichen Antipater, der kurz vor dem Tode des Herodes hingerichtet wurde. Unmittelbar nach dessen dern", die sowohl in der Wüste als auch in Königspalästen zu finden seien, um Essener. Richtig dagegen P . G A E C H T E R , Das Matthäus-Evangelium, 363: "Mit den 'Palästen der Könige' spielt Jesus nicht undeutlich auf Herodes Antipas an." 39

Zu den verschiedenen Testamenten des Herodes vgl. W . H O E H N E R : Herod Anti-

pas, 18-19.

39

Hinrichtung änderte Herodes jedoch noch einmal sein Testament (ant 17,188) diesmal zuungunsten des Antipas, der nun auf Galiläa und Peräa beschränkt wurde, während der größte Teil des Landes Archelaos zufallen sollte. Antipas focht das Testament in Rom an. Zuerst scheinbar mit Erfolg. Dann aber setzte sich Archelaos durch; jedoch konnte auch Antipas seine Gebiete erhalten. Wir können begründet annehmen, daß Antipas es verstanden hat, sich den wechselnden Konstellationen gut anzupassen - sei es in der von Mißtrauen geprägten Atmosphäre des herodäischen Hofes am Ende der Regierungszeit des Herodes, sei es in Rom am Hof des Augustus. Wir dürfen es ferner als ein Zeichen kluger Anpassungsfähigkeit werten, daß er den Sturz seines Bruders Archelaos (6 n.Chr.) politisch so lange überlebte - obwohl doch jede Opposition im Innern des Landes das Schicksal des Archelaos verlockend vor Augen gehabt haben muß, der aufgrund von Beschwerden seiner Untertanen abgesetzt worden war (vgl. ant 17,342-344; bell 2,111). Wie weit Antipas selbst in den Sturz seines Bruders verwickelt war, ist schwer festzustellen! Immerhin berichtet Strabo (XVI, 2,46), auch Philippus und Antipas seien damals angeklagt gewesen und hätten sich nur mit großer Mühe behaupten können.40 Dio Cassius (55,27,6) wiederum führt die Anklage gegen Archelaos auf dessen Brüder zurück.41 Wie auch immer es sich verhalten hat: Antipas hat politisches Überlebensgeschick gezeigt. Das gilt auch für den Sturz des Seianus (31 n.Chr.). Möglicherweise hatte Antipas zu diesem zeitweise mächtigsten Mann des Reiches ein gutes Verhältnis gehabt. Wenigstens kann ihn sein Neffe Agrippa, der spätere König Agrippa I., mit Erfolg wegen Konspirationen mit Seianus gegen Tiberius denunzieren (ant 18,250). Antipas überlebte eine weitere Krise im Jahr 36/37 n.Chr. Nach der Verstoßung seiner nabatäischen Frau und deren Flucht zu ihrem Vater mußte Antipas mit einem feindlichen Nachbarn im Süden rechnen. Im Jahre 36 kam es wegen Grenzstreitigkeiten zum Konflikt. Antipas erlitt eine vernichtende Niederlage (ant 18,113ff). Der syrische Legat Vitellius mußte eingreifen und die kritische Lage an der Grenze stabilisieren. Antipas hatte eben diesen syrischen Legaten kurz vorher tief verärgert (ant 18,105). Dennoch gelang es ihm, mit ihm zusammenzuarbeiten: Gemeinsam ziehen sie zu einem der Feste nach Jerusalem (ant 18,122). Was von der einen Seite als kluge Anpassung positiv bewertet werden kann, dürfte von anderer Seite als Schwanken erscheinen! Hatte Herodes Antipas nicht zwischen zwei Hauptstädten "geschwankt", zwischen Sepphoris, seiner 40

Vgl. Text und Kommentar bei M.STERN, Greek and Latin Authors, 294ff, Nr.115.

41

Vgl. M.STERN, Greek and Latin Authors on Jews and Judaism II, 364f, Nr.418

40 alten Residenz, und der Neugründung Tiberias? Schwankte er nicht ebenso zwischen zwei Frauen? Obwohl Herodias die Verstoßung der ersten Ehefrau zur Bedingung in ihrem Heiratsvertrag gemacht hatte, wagte es Antipas nicht, den Sachverhalt seiner ersten Frau mitzuteilen (ant 18,111). So konnte sie ihrer Verstoßung durch Flucht zuvorkommen! Nach der synoptischen Tradition hatte Antipas sogar zu Johannes dem Täufer persönlich ein gutes Verhältnis (Mk 6,20) zu eben jenem Propheten, den er hinrichten ließ. Die volkstümliche Überlieferung in Mk 6 zeigt einen "schwankenden" Fürsten. Sie mag legendenhafte Züge haben, aber ist gewiß darin historisch, daß Antipas im Rufe stand, "schwankend" zu sein. Als einen zögernden Menschen schildert Josephus ihn auch bei seinem Versuch, für sich den Königstitel in Rom zu beantragen: Nur auf Drängen der ehrgeizigen Herodias habe er sich dazu aufraffen können (ant 18,245f). Wobei sein Zögern weit klüger war als das Drängen der Herodias. Wurde der Griff nach der Königswürde ihm doch zum Verhängis: Er wurde wegen geheimer Waffenlager beim Kaiser denunziert und verbannt. Es ist also historisch gut denkbar, daß Herodes Antipas aufgrund seiner ersten Münzprägung den spöttisch-anerkennenden Namen "schwankendes Rohr" erhielt. Jesus charakterisiert ihn an anderer Stelle als einen "schlauen Fuchs" (Lk 13,32). Beide Attribute weisen in dieselbe Richtung. Möglicherweise war es Nachrede solcher Art - ausgelöst durch die ersten Münzen -, die Agrippa zur Änderung des Münzemblems bewegten. Das Schilfrohr fehlt auf seinen späteren Münzen. An die Stelle des "schwankenden Rohrs" tritt der starke Palmbaum! III. Konsequenzen für das Verständnis von Mt 11,7-9 Falls das "schwankende Rohr" eine Anspielung auf Herodes Antipas ist, wäre sowohl die wörtliche wie die metaphorische Deutung im Recht: Das Münzemblem will Schilf im wörtlichen und konkreten Sinne darstellen, gewinnt aber als Emblem des Antipas eine vieldeutige Beziehung zu dem herodäischen Fürsten, bei der alle möglichen Assoziationen aus Fabel- und Gerichtstradition mitschwingen konnten. Wer wollte, konnte in Herodes Antipas, dem Adressaten der prophetischen Gerichtspredigt des Täufers, ein "schwankendes Rohr" sehen, das durch von Gott gesandte Schicksalsschläge erschüttert werden würde. Oder er konnte im Lichte der verbreiteten Fabeltradition in ihm einen klug sich an alle möglichen Umstände anpassenden Politiker sehen, der im Kontrast zum kompromißlos auftretenden Täufer stand. Entscheidend ist, daß diese Assoziationen erst durch die Münze möglich wurden. Konsequenzen ergeben sich dann sowohl für die traditionsgeschichtliche Ein-

41 Ordnung von Mt 11,7-9 wie für das inhaltliche Verständnis der Perikope. Als erstes ist festzuhalten: D i e Überlieferung muß innerhalb Palästinas entstanden sein. Sie war nur dort verständlich, w o auch die Gründungsmünzen von Tiberias kursierten. D i e s e kursierten als Kupfergeld für den alltäglichen Gebrauch fast ausschließlich im Territorium des Antipas. 4 2 Dort müssen wir also den Ursprung der Überlieferung suchen. D i e Vertrautheit mit der Lebenswelt Palästinas geht auch aus einem zweiten Indiz hervor: D i e Kombination von "Schilf' und "Wüste" wirkt zunächst paradox, da "Schilf' an wasserreiche Gegenden, "Wüste" dagegen an wasserarme Landstriche denken läßt. D a s südliche Jordantal aber bietet beides zusammen: eine ö d e Wüste - und mitten in ihr wie eine langgestreckte O a s e die grüne Flußaue des Jordan. 4 3

Exkurs: Johannes als Wüstenprediger und Jordanprediger Die in der synoptischen Tradition enthaltene Lokalisierung des Jordantäufers in die Wüste setzt eine große Vertrautheit mit der palästinischen Umwelt voraus. Die Wendung ό β α π τ ί ζ ω ν έ ν τω έρήμω enthält nämlich für den Leser zunächst einen Widerspruch: Wo soll man in der Wüste taufen? Ist doch die Wüste gerade durch Wassermangel gekennzeichnet. Schon Lukas sah das Problem. Er ändert Mk 1,4 so, daß Wüste und Jordan getrennt werden. Zunächst erzählt er, daß der Täufer in der Wüste Gottes Wort empfing (3,2). Erst danach "kommt" er in die Umgebung des Jordan (3,3). Beauftragung durch Gott in der Wüste und Ausführung des Auftrags durch Predigt der "Umkehrtaufe zur Vergebung der Sünden" werden lokal getrennt. Entsprechend gestaltet er die Erzählung nach der Taufe Jesu, als dieser vom Jordan weg in die Wüste getrieben wird. Ausdrücklich sagt Lukas: Jesus wandte sich vom Jordan ab ( ύ π έ σ τ ρ ε ψ ε ν α π ό TOÜ Ί ο ρ δ ά ν ο υ ) und wurde vom Geist in der Wüste umhergetrieben (Lk 4,1). Wieder trennt er Fluß- und Wüstenlandschaft. Matthäus hat das Problem auf andere Weise gelöst: Auch er vermeidet die Aussage, daß Johannes in der Wüste tauft. Er sagt vielmehr, Johannes "predigte in der Wüste", konkret in der "Wüste Judäas" (Mt 3,1). Die Wüste Judäas liegt westlich des Jordan zwischen Gebirgskamm und Totem Meer. Der Täufer wäre also, falls Matthäus die Wüste Juda richtig lokalisierte, bei seiner Predigt noch gar nicht am Jordan. Daher kann Matthäus die zu ihm strömende Menge gegenüber Markus etwas abweichend so charakterisieren: "Damals kamen zu ihm Jerusalem und ganz Judäa und die ganze Landschaft um den Jordan heraus" (3,5). Wenn gegen Markus auch Leute aus der

42

Y.MESHORER, Jewish Coins, 75: "The places where the coins of Antipas have been found are limited to the northern regions of the Land of Israel. No coins of his are known to have been found in the region of Judaea. This significant fact seems to indicate that these coins were intended solely for the local need of Antipas' tetrarchy "

43

Vgl. zum folgenden C.C.McCOWN: The Scene of John's Ministry, JBL 59 (1940) 113-131.

42

Jordangegend zum Täufer herauskommen ( έ ξ ε π ο ρ ε υ ε τ ο ) , kann sich der Täufer nicht direkt am Jordan befinden. Matthäus stellt sich offensichtlich vor, daß die Menge danach mit dem Täufer zum Jordan zur Taufe zieht (3,6), auch wenn er das nicht direkt sagt. Die Identifikation der "Gebirgswüste" Judäas mit dem Ort der Täuferpredigt und die dadurch bedingte Abrückung vom Jordan geht nun auch aus Mt 4,1 hervor: Nach seiner Taufe wird nämlich Jesus vom Geist "in die Wüste hinew/geführt" ( ά ν ή χ θ η ) , d.h. in die Gebirgswüste, in der jene Steine zu finden sind, von denen der Satan erwartet, Jesus würde sie in Brot verwandeln. Der Evangelist scheint eine zutreffende Vorstellung vom Verhältnis der "Wüste Judäas" zum "Jordan" zu haben. Die Wüste liegt "höher" als die Jordanebene. Matthäus und Lukas trennen beide auf ihre Weise "Wüste" und "Jordan". Dabei bleibt Lukas ganz allgemein, während Matthäus geographisch zutreffend an die Gebirgswüste Judäas denkt! In ihrer Nachfolge stehen auch moderne Exegeten, die scharfsinnig in Mk 1,4 eine Kombination von zwei konkurrierenden Traditionen postuliert haben: eine Überlieferung vom Wüstentäufer, die aus Jes 40,3 heraus entwickelt wurde, und eine (historisch zutreffende) Tradition vom Jordantäufer. Wenn der Markusevangelist beide kombiniere, so scheine er "keine klaren geographischen Vorstellungen zu haben." 44 R.Bultmann übernahm diese Ansicht von K.L.Schmidt; 45 W. Marxsen entwickelte sie zu einer weit ausholenden redaktionsgeschichtlichen Theorie. 46 Aber die "unklaren geographischen Vorstellungen" liegen in diesem Fall bei den modernen Exegeten, denn der Jordan fließt in seinem Unterlauf durch eine Wüste, die unmittelbar an eine schmale, grüne Flußaue angrenzt. Die in Mk 1,4 aufgenommene Tradition vom "Täufer in der Wüste" kann nur von Menschen stammen, die mit diesen (ungewöhnlichen) lokalen Gegebenheiten vertraut waren. Diese Tradition ist gewiß noch in Palästina entstanden. Schon Ph. Vielhauer wies darauf hin, daß die Überlieferung vom Wüstentäufer den konkreten Gegebenheiten entspricht und auch durch Mt ll,7ff bestätigt werde 47 , denn hier wird der Täufer eindeutig in der Wüste vorausgesetzt. Jesus fragt die zum Täufer strömende Menge, warum sie in die Wüste hinauszieht. Diese Ortsbestimmung ermöglicht zusammen mit anderen Indizien eine traditionsgeschichtliche Lokalisierung der Überlieferung nach Palästina.

Mt 11,7 läßt sich aber nicht nur traditionsgeschichtlich lokalisieren, sondern ansatzweise - auch datieren. Auszugehen ist von der Gründung der Stadt Tiberias (ca. 19 n.Chr.) als terminus a quo. Damals war durch die neu geprägten Münzen Gelegenheit, "Schilfrohr" und den herodäischen Landesfürsten in Zusammenhang zu bringen. Die einmal geprägten Münzen kursierten gewiß sehr lange. Da aber schon für das Jahr 26/27 ein anderer Münztyp belegbar 44

So K.L.SCHMIDT: Der Rahmen der Geschichte Jesu, 21.

45

Vgl. R.BULTMANN: Die Geschichte der synoptischen Tradition, FRLANT 29, Göttingen 1921 8 1970, 261.

46

So W.MARXSEN: Der Evangelist Markus. Studien zur Redaktionsgeschichte des Evangeliums, FRLANT 67, Göttingen 1956,17f.

47

PH. VIELHAUER: Tracht und Speise Johannes des Täufers, in: Aufsätze zum Neuen Testament, ThB 31, München 1965, 47-54,53f.

43

ist, dürfte die Tradition in den 20er Jahren entstanden sein. Ein terminus ante quem ist u.U. der Tod des Täufers. Die Perikope setzt dessen Hinrichtung nicht voraus; oder vorsichtiger gesagt: sie läßt sich zu Lebzeiten des Täufers gut vorstellen. Das haben auch die Redaktoren der Evangelien empfunden und sie bei ihrer Komposition in eine Zeit vor der Hinrichtung des Täufers plaziert. Als Fazit ergibt sich: Die Überlieferung ist wahrscheinlich im Palästina der 20er Jahre entstanden, d.h. genau zur Zeit und im Gebiet des Wirkens Jesu. Die nächstliegende Möglichkeit ist m.E., daß sie tatsächlich von Jesus stammt. Dafür spricht auch die außergewöhnliche Hochschätzung des Täufers. Die urchristliche Gemeinde hat diesen zwar als Propheten für Jesus in Anspruch genommen. Hier aber wird er über alle Propheten gestellt. Die Überlieferung wirft in der oben vorgetragenen Deutung auch ein neues Licht auf die Verkündigung Jesu: Mt 11,7-9 wäre ursprünglich sehr viel mehr vom Gegensatz Antipas und Täufer bzw. Königspalast und Wüstenprophet bestimmt, als es dem ersten Eindruck entspricht. Der Kontrast wird durch zwei Verhaltenszüge bestimmt. Auf der einen Seite steht der sich klug anpassende Politiker, auf der anderen der kompromißlos seine Botschaft ausrichtende Prophet. Auf der einen Seite der Luxus einer kleinen hellenisierten Machtelite, die sich schon durch ihre Kleidung von anderen abhob48, auf der anderen Seite der asketisch lebende Wüstenprediger mit betont einfacher und archaischer Kleidung49 Wir spüren in diesen Worten Jesu, wie hier zwei verschiedene soziale Welten in Palästina aufeinanderstoßen. Auch die Kritik des Täufers an der Eheschließung des Antipas paßt in dieses Bild: Was Herodias tat, als sie aktiv ihre Ehescheidung betrieb und die Entlassung einer anderen Frau vor ihrer Eheschließung verlangte, mochte in Palästina als Bruch väterlicher Sitten erlebt werden und zwar nicht nur bei einem so schroffen Propheten wie Johannes dem Täufer 50 Im Grunde aber tat Herodias (und Antipas) nichts anderes, als was in Rom und Griechenland selbstverständlich war. Hier konnte auch eine Frau die Initiative zur Ehescheidung ergreifen. Monogamie war selbstverständlich. Der Protest des Täufers gegen Antipas und seine Eheschließung mit Herodias ist daher Teil einer Reaktion im Volke gegen das Vordringen "fremder" Sitten in der Oberschicht der Herodäer: Ihr anpasserisches Verhalten, ihr Luxus, ihr Familienleben stießen auf Ablehnung im einfachen Volk. Johannes der Täufer ist das Sprachrohr 48

Zu den prächtigen Kleidern in Tiberias vgl. die von Josephus geschilderte Episode in Tiberias vita 334f.: Ein Soldat fällt dadurch auf, daß er ein bei der Plünderung von Tiberias erbeutetes prachtvolles Gewand trägt und wird dafür mit Schlägen bestraft. 49 Vgl. PH. VIELHAUER, Tracht und Speise Johannes des Täufers, 47-54. 50

Vgl. das kritische Urteil des Oberschichtangehörigen Josephus in ant 18, 136: Herodias hätte mit ihrer Eheschließung die väterlichen Sitten brechen wollen!

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dieser einheimischen Opposition und Reaktion. Unsere These, daß der polemische Gegensatz von Prophet und Königspalast die Überlieferung ursprünglich sehr viel mehr bestimmt als es heute den Anschein hat, wird indirekt durch die Version des Thomasevangeliums bestätigt. Hier ist der polemische Akzent besser bewahrt, auch wenn er nun ganz auf den Gegensatz zwischen dem wahren Gnostiker und den "Großen" dieser Welt umgedeutet wird: "Jesus sprach: Weswegen seid ihr herausgegangen aufs Feld? Zu sehen ein Rohr, das durch den Wind bewegt wird? Und um zu sehen einen Mann, der weiche Kleider anhat? Seht, eure Könige und eure Großen! Diese haben weiche Kleider an, und sie werden nicht erkennen können die Wahrheit!" (ThEv 78)

Die Pointe wird in der synoptischen Überlieferungsgeschichte verschoben. An das Wort wird ein kombiniertes Schriftzitat angehängt, das auch in Mk 1,2 unabhängig von der vorliegenden Überlieferung erhalten ist: "Dies ist der, von dem geschrieben steht: "Siehe ich sende meinen Boten vor dir her, der dir den Weg vor dir bereiten soll."

(Mt 11,10) An die Stelle des Gegensatzes Prophet/Fürst tritt das Verhältnis von Johannes und Jesus, des Vorläufers und der von ihm angekündigten Gestalt, was mit großer Wahrscheinlichkeit erst eine christliche Akzentverschiebung darstellt.

B. Israel und die Völker. Palästinazentrierte Lokalperspektiven in der Wortüberlieferung Daß wir in Mt 11,7-10 lokale Prägung nachweisen können, basiert auf zufällig erhaltenen materiellen Relikten, den Münzen des Herodes Antipas, und der beiläufigen Erwähnung der Wüste. Die Frage liegt nahe: Wenn wir aufgrund glücklicher Umstände für eine Logienüberlieferung Prägung durch palästinische Lokalverhältnisse nachweisen können, müssen wir mit solch einer Möglichkeit nicht auch bei anderen Jesusüberlieferungen rechnen? Das Problem ist nur, wie wir diese Möglichkeit wahrscheinlich machen können. Wir beschränken uns zunächst auf Worte aus der Logienquelle, weil sie zum selben Traditionsstrom gehören, in dem uns Mt 11,7-10 überliefert worden ist. Gewiß sind auch auf anderen Kanälen Worte Jesu bis zu uns gekommen.

45

Das zeigen die Doppelüberlieferungen in Q und Mk sowie die Logien des Thomasevangeliums. Aber in der Logienquelle haben wir eine Fülle traditionsgeschichtlich zusammengehörender Jesusworte, die spätestens in dem Augenblick zusammenkamen, als sie ein uns Unbekannter im lJhdt.n.Chr. niederschrieb. Weitere Worte Jesu aus Mk und dem Sondergut des Matthäus und Lukas sollen in zweiter Linie herangezogen werden - zumal man bei Logien des mt bzw. lk Sonderguts nie sicher sein kann, ob sie nicht doch in der Logienquelle gestanden und von Mk bzw. Lk weggelassen worden sind. Gemeinsam ist allen untersuchten Logien, daß sie das Verhältnis von Israel zu den Völkern ansprechen. Ein Wort Jesu betont so deutlich ein konkretes "Hier", daß es die Frage nach seiner impliziten Lokalperspektive geradezu herausfordert. Es ist ein Gerichtwort gegen dies Geschlecht, das in der Fassung des LkEv so lautet:51 Die Königin des Südens wird im Gericht mit den Männern dieses Geschlechts auftreten und sie verurteilen; denn sie kam von den Enden der Erde, um die Weisheit Salomos zu hören, und siehe, hier (ώδε) ist mehr als Salomo. Die Männer von Ninive werden im Gericht mit diesem Geschlecht auftreten und es verurteilen; denn sie taten Buße auf die Predigt des Jona hin, und siehe, hier (ώδε) ist mehr als Jona." (Lk 11,31-32)

Dies doppelte Gerichtswort ist jetzt eng mit dem vorhergehenden Wort über das Zeichen des Jona verbunden. Aber diese Verbindung ist nicht ursprünglich.52 Der neue Kontext des Gerichtswortes hat bei Mt bewirkt, daß die Rei51

Zur Analyse vgl. S.SCHULZ: Q, 250-257. Ferner eine sorgfältige Erörterung aller Probleme bei J.S.KLOPPENBORG: The Literary Genre of the Synoptic Sayings Source, Diss. Univ. of St.Michael's College, 1984 (Masch.), 156-165.

Dafür sprechen folgende Argumente: Die vorhergehende "Zeichenforderung" ist in Mk 8,llf unabhängig von den folgenden Gerichtsworten überliefert. Andererseits sind vergleichbare Gerichtsworte, in denen heidnische Umkehrbereitschaft als Vorbild hingestellt wird, als selbständige Überlieferung denkbar (vgl. Mt 11,20-24; Lk 10,13-15). Hinzu kommen leichte Spannungen zum vorhergehenden Kontext: 1. Nach Lk 11,29-30 werden die Adressaten, denen das Zeichen des Jona gilt, mit diesem "bösen Geschlecht" gleichgestellt, während nach Lk 11,31-32 die Adressaten der Verkündigung des Jona mit diesem bösen Geschlecht kontrastiert werden: Jene kehrten um; diese aber werden verurteilt werden, weil sie nicht umkehrten. 2. Bei ursprünglicher Zusammengehörigkeit beider Logien würde man auch in Lk (wie bei Mt) einen unmittelbaren Anschluß des Bildwortes von Jona an das Wort vom "Jonazeichen" erwarten. - Die Unabhängigkeit

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henfolge der Beispiele vertauscht wurde: Mt nennt zunächst die mit Jona verbundenen Nineviten als Kontrast zu "diesem Geschlecht" und stellt so eine einsichtigere Gedankenfolge her. Aber auch die bei Lk erhaltene ursprüngliche Reihenfolge ist sinnvoll.53 Sie entspricht der chronologischen Folge und enthält eine Steigerung: Die Königin des Südens wurde durch etwas Positives angezogen; die Nineviten aber wandten sich vom Bösen ab. Die Königin war eine einzige Person, die Nineviten sind ein ganzes Volk. Uns interessiert das zweimal betonte "Hier", das gewiß nicht nur lokal zu verstehen ist, aber eine lokale Komponente enthält. Zwei Bezugsgrößen werden genannt: Das Land der von Salomos Weisheit angezogenen Königin und Ninive. Da die Königin durch "Süden" charakterisiert wird, verbindet der Hörer Ninive unwillkürlich mit dem Norden. Denn einerseits wäre der rätselhafte "König des Nordens" (Dan 11,6.8.11 u.ö.) die Entsprechung zur "Königin des Südens"; andererseits ist Ninive traditionell mit dem Norden verbunden. So weissagt Zephanja die Vernichtung der Äthiopier im Süden und fährt dann fort: "Danach wird er (d.h. Jahwe) seine Hand gegen Norden recken und wird Assur verderben, wird Ninive zur Einöde machen und dürr wie die Wüste" (Zeph 2,13). Norden und Süden werden durch verschiedene "Bewegungen" verbunden: Die Königin kam zu Salomo aus dem Süden; Jona ging zu den Nineviten nach Norden. Der in diesem Logion sprechende Jesus wird zwischen Nord und Süd vorgestellt: Das zweimal angesprochene "Hier" dürfte topologisch in der Mitte liegen, in Palästina. Das Wort enthält eine palästinazentrierte Lokalperspektive. Oder vorsichtiger gesagt: Es läßt sich ungezwungen aus solch einer Lokalperspektive heraus verstehen. Dasselbe gilt für das Logion von der "Völkerwallfahrt", das man besser das Wort vom "Zustrom der Fernen zur Gottesherrschaft" nennen sollte54; denn beider Überlieferungen würde noch deutlicher, falls G.SCHMITT: Das Zeichen des Jona, ZNW 69 (1978) 123-129 mit der Annahme recht hat, daß in Lk 11,29 eine apokryphe Tradition über ein Zeichen des Jona gegen die Stadt Jerusalem verarbeitet ist (vitae prophetarum 6), denn das Zeichen in Lk 11,29-30 wäre dann mit Jerusalem verbunden, während Jona in Lk 11,31-32 eindeutig mit Ninive verbunden ist. Jedoch ist der Rückgriff auf diese apokryphe Tradition nur eine Möglichkeit. 53

Lk hatte einen Grund, die ursprüngliche Reihenfolge beizubehalten: Lk 11,30 spricht im Unterschied zu Mt 11,40 von "diesem Geschlecht". Der Polemik gegen "dieses Geschlecht" dienen beide folgenden Gerichtsworte auch in der ursprünglichen Reihenfolge. So A.VÖGTLE: Der Spruch vom Jonazeichen, in: Das Evangelium und die Evangelien, Düsseldorf 1971,103-136, dort 116-119.

54

Zur Rekonstruktion der Urform vgl. S.SCHULZ, Q, 323-330: Mt hätte danach die ursprünglichere Form des Logions erhalten, aber gerade die Bezeichnung der Hinzukommenden als πολλοί und der Nahen als "Söhne der Gottesherrschaft" dürfte von Mt stammen, da die letztere Bezeichnung auch in Mt 13,38 redaktionell ist.

47 es muß offen bleiben, ob Juden, Heiden oder beide zusammen zur Gottesherrschaft strömen. Die entscheidende Pointe ist: Die Nahen werden ausgeschlossen, die Fernen dagegen aufgenommen. Dies Logion steht sowohl bei Mt wie bei Lk in einem Kontext, in dem es nicht ursprünglich zuhause ist: In Mt 8,1 l f unterbricht es die Erzählung vom Hauptmann von Kapernaum. Anknüpfend an das positive Beispiel dieses einen Heiden verheißt es Heiden den Einlaß in die Gottesherrschaft und droht den "Söhnen der Gottesherrschaft" mit Ausschluß. Das M t E v warnt damit Juden und Christen, die ja auch "Söhne der Gottesherrschaft" sind (Mt 13,38) und deren Einlaß in die Gottesherrschaft ungesichert ist (Mt 7,2123). 5 5 In Lk 13,28f folgt das Logion einer Szene, in der Jesus als eschatologischer Richter Menschen ablehnt, die sich ihrer Bekanntschaft mit dem irdischen Jesus rühmen. Hier steht konsequenterweise die Drohung des Ausschlusses an erster Stelle, erst dann wird - in Umkehrung der ursprünglichen Reihenfolge? - die Verheißung ausgesprochen: "und sie werden kommen von Osten und Westen, von Norden und Süden und in der Gottesherrschaft zu Tische liegen." (Lk 13,29). Die Ausgeschlossenen umfassen hier auch Anhänger Jesu, die neu Hinzukommenden sind Heiden, auch wenn es nicht ausdrücklich gesagt wird. Daß die ursprüngliche Überlieferung ausschließlich an Heiden dachte 5 6 , kann man bezweifeln, aber nicht sicher nachweisen. 1.) Das Motiv des endzeitlichen Zustroms zu Jerusalem ist in zwei Formen belegt: als "Völkerwallfahrt" (Jes 2,2-4; Mi 4,1-4) und als "Sammlung der Zerstreuten": Jes 43,17; Bar 4,36ff; 5,5ff; TestBenj 9,2; Ps 107,3; Philo praem 165. Beide Motive werden oft miteinander verbunden: Die in der Endzeit nach Jerusalem strömenden Heiden bringen als Gaben die verstreuten Israeliten mit: Jes 66,12.20 PsSal 17,31 (vielleicht Die Israelkritik des Mt impliziert m.E. deutlich eine Warnung an die Christen: Die vorhergehende Bergpredigt hatte gezeigt: Wenn ihre Gerechtigkeit nicht besser ist als die von Pharisäern und Schriftgelehrten, werden sie nicht in die Gottesherrschaft kommen (5,20). Sogar christliche Propheten und Charismatiker werden ausgeschlossen werden, wenn sie Jesu Willen nicht erfüllen (7,21-23). Daß auch die Christen "Söhne der Gottesherrschaft" sind (Mt 13,38), weiß der Leser vielleicht (noch) nicht, aber die Anwendung desselben Begriffs auf Juden und Christen kann nicht zufällig sein. 55

Das ist fast allgemeiner Konsens. Vgl. nur die grundlegende Untersuchung von J.JEREMIAS: Jesu Verheißung für die Völker, Stuttgart 1956, 47-62. Das von ihm zusammengestellte religionsgeschichtliche Material wird neu gesichtet bei D.ZELLER: Das Logion Mt 8 , l l f / L k 13,28f und das Motiv der "Völkerwallfahrt", B Z 15 (1971) 222237; 16 (1972) 84-93, ohne daß Zeller die Möglichkeit erörtert, daß hier (auch) das Motiv der Sammlung der Zerstreuten vorliegt und die in die Gottesherrschaft Strömenden Juden und Heiden sein könnten. 56

48 auch Jes 60,4). Oder es wird die durch Umkehr der Israeliten ermöglichte Rückkehr der Zerstreuten durch die Umkehr aller Heiden vollendet (Tob 13,lff.ll; Tob 14,4ff.6f). Mit anderen Worten: Die meisten Texte rechnen in der Endzeit mit einem Zustrom von zerstreuten Juden und umkehrenden Heiden. 2.) Das Jesuswort nennt die Himmelsrichtungen, aus denen die Fernen kommen werden: Ost und West (Mt 8,11) oder gar alle vier Himmelsrichtungen (Lk 13,28f). Es kann kein Zufall sein, daß sich diese Himmelsrichtungen vor allem in atl.-jüdischen Texten über die "Sammlung der Zerstreuten" finden: Jes 43,5F57; Ps 107,3; Bar 4,3; 5,5. Denkt also auch das Jesuswort zunächst an die Rückkehr der zwölf Stämme? 3.) Dafür könnte das Wort vom "Gericht über die zwölf Stämme" (Mt 19,28/Lk 22,28-30) sprechen. Es setzt eine Rückkehr der zerstreuten Juden voraus. Vor allem aber verbindet es in der lk Fassung diese Rückkehr mit der Erwartung eines Mahles in der Gottesherrschaft: "In meinem Reich sollt ihr an meinem Tische essen und trinken und auf Thronen Platz nehmen, um über die zwölf Stämme Israels zu herrschen." Auch das Gastmahl mit Abraham, Isaak und Jakob (Mt 8,llf) könnte einmal das Freudenmahl des wieder vereinigten Israels gewesen sein. Entscheidend ist: In allen alttestamentlich-jüdischen Traditionen dient das Motiv des Zustroms der Fernen - unabhängig davon, ob Heiden, Juden oder beide gemeint sind - der Bestätigung alter Verheißungen an Israel. Hier dagegen wird eine Heilshoffnung in eine Drohung verwandelt: Die Nahen werden ausgeschlossen, denen eigentlich die Verheißung gilt. Können wir diese "Nähe" noch näher bestimmen? Wenn das Logion verschiedene Himmelsrichtungen nennt, gibt es der "Gottesherrschaft" räumliche Dimensionen. Die Gottesherrschaft ist lokalisierbar, wird aber nicht lokalisiert - vermutlich, weil als selbstverständlich gilt, daß sie in Palästina liegt. Die beiden im Logion verarbeiteten Traditionen enthalten nämlich eine palästinische Lokalperspektive: Die Erwartung eines eschatologischen Mahls kann gelegentlich mit dem Zion verbunden werden wie in der Jesajaapokalypse: "Und rüsten wird auf diesem Berge der Herr der Heerscharen allen Völkern ein Mahl mit fetten Speisen " (Jes 24,6f). 58 Das Motiv des endzeitlichen Zustroms ist sogar regelmäßig mit dem Zion verbunden. 59 Neu ist in der Jesusüberlieferung die Verschmelzung beider Traditionen, die möglicherweise auch in Mt 19,20/Lk 22,28-30 vorliegt. Die Frage ist, ob diese Erwartungen auch in der Jesusüberlieferung so eng an 57

W.GRIMM: Zum Hintergrund von Mt 8,llf/Lk 13,28f, BZ 16 (1972) 255f sieht in Jes 43,1-7 den Hintergrund von Mt 8,llf. 58 Es gibt diese Erwartung aber auch unabhängig von dieser Lokalisierung in ÄthHen 62,14 und lQSa II,llff. 59

J.JEREMIAS, Jesu Verheißung, 51: "Ausnahmslos an allen Stellen, an denen im A.T. die Vorstellung von der eschatologischen Völkerwallfahrt begegnet, ist das Ziel der Wallfahrt: die Stätte der Gottesoffenbarung, der heilige Berg Gottes, Zion."

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den Zion gebunden sind wie in der Tradition oder ob die Lokalisierung "in der Gottesherrschaft" bewußt alles offen läßt. Von Jerusalemer Perspektiven ist die Erwartung der Gottesherrschaft wenig bestimmt. Die Gottesherrschaft "scheint für Menschen gemacht, die Hunger, Aussatz und wenig Geld haben, aber offenbar keine nationalen Bedürfnisse" (CH.BURCHARD). 60 Gehobene kulturelle Bedürfnisse werden in ihr nicht erfüllt. Liturgische Träume einer kultischen Nähe zu Gott fehlen. Erfüllung der Sehnsucht ist ein gutes Essen im Gottesreich, das nicht als Opfermahlzeit im Tempel vorgestellt wird, sondern als Festessen im Kreis der Familienväter.61 Heil bedeutet Nähe zu Abraham, Isaak und Jakob, von denen keiner eine Beziehung zu Jerusalem hatte. Es könnte daher sein, daß die im galiläischen Hinterland wurzelnde Jesusbewegung eine auf Jerusalem konzentrierte Tradition auf Palästina ausgeweitet hat. Die beiden bisher behandelten Beispiele lassen nur indirekt auf den Standort des Sprechers schließen. Im Weheruf über die galiläischen Städte (Mt 11,2024 und Lk 10,13-16) wird dagegen der Standort durch Ortsnamen deutlicher umrissen: Mt 10,13-16

Lk 10,13-16

Darauf fing er an, die Städte, in denen die meisten seiner machtvollen Taten geschehen waren, zu schelten, weil sie nicht Buße taten:

Wehe dir, Chorazin! Wehe dir, Bethsaida! Denn wenn in Tyros und Sidon die machtvollen Taten geschehen wären, die bei euch geschehen sind, so hätten sie längst in Sack und Asche Buße getan. Ja, ich sage euch Tyros und Sidon wird es

Wehe dir, Chorazin! Wehe dir, Bethsaida! Denn wenn in Tyros und Sidon die machtvollen Taten geschehen wären, die bei euch geschehen sind, so hätten sie längst in Sack und Asche sitzend Buße getan. Ja, Tyros und Sidon wird es

60

CH.BURCHARD: Jesus von Nazareth, in: J.BECKER (ed.): Die Anfänge des Christentums, Stuttgart 1987, 12-58, dort 33f. Pointiert lautet diese Erkenntnis: "Das Reich Gottes ist kein Imperium, sondern ein Dorf' (S.34). 61

So NA.DAHL: Matteusevangeliet, I, Oslo 1973, 113: "Das Mahl im Himmelreich wird weniger als sublimes Gegenbild zur Opfermahlzeit im Tempel angesehen als zur Mahlgemeinschaft in der Familie und in frommen Gemeinschaften."

50 am Tage des Gerichtes erträglicher gehen als euch.

im Gericht erträglicher gehen als euch.

Und du, Kapernaum, wirst du bis zum Himmel erhoben werden? Bis zum Totenreich wirst du hinabfahren. Denn wenn in Sodom die machtvollen Taten geschehen wären, die bei euch geschehen sind, stände es noch heute. Ja, ich sage euch: dem Lande Sodoms wird es am Tage des Gerichts erträglicher ergehen als euch.

Und du, Kapernaum, wirst du bis zum Himmel erhoben werden? Bis zum Totenreich wirst du hinabfahren.

Die mt Fassung nennt als Kontrast zu den galiläischen Städten einerseits Tyros und Sidon im Nordwesten, andererseits das Land Sodom im Süden. Die drei direkt angesprochenen Städte liegen in der Mitte, was m.E. den Schluß von zwei entgegengesetzten Bezugsorten auf einen zwischen ihnen gelegenen Standort auch dort wahrscheinlicher macht, wo diese "Mitte" - wie in den bisher behandelten Logien - nicht näher charakterisiert wird. Nun enthält aber nur Mt die Bezugnahme zu Sodom.62 Wahrscheinlich hat er sie im Interesse einer Parallelisierung beider Teile des Logions hinzugefügt und dabei auf ein Wort der Aussendungsrede (Mt 10,15 / Lk 10,12) zurückgegriffen, wo ablehnende Städte mit Sodom und Gomorrha verglichen werden. 63 Eben dies Wort der Aussendungsrede geht bei Lk unmittelbar unserem Drohwort gegen die galiläischen Städte voran (vgl. Lk 10,10-12), ein sinnvoller Zusammenhang, der wahrscheinlich in der Logienquelle vorgegeben war. Mt hat ihn aufgelöst, als er die 'Weherufe gegen die galiläischen Städte' von der Aussendungsrede trennte. Er schickt eine erzählerische Einleitung vorweg, durch die ein neuer "Kontext" für das Logion geschaffen wird (Mt 11,20), und fügt den Vergleich mit dem Schicksal Sodoms an, um den in der Logienquelle gegebenen Assoziationsrahmen zu erhalten. Lk hat das Logion insgesamt wohl in ursprünglicherer Form überliefert. 62

Zur Rekonstruktion der Q-Fassung vgl. S.SCHULZ, Q, 360-366; A.POLAG; Fragmenta Q, Neukirchen-Vluyn 1979,46f.

63

Lk 10,12/Mt 10,15 wird von D.LÜHRMANN: Die Redaktion der Logienquelle, WMANT 33, Neukirchen-Vluyn 1969, 62 als Verbindungsglied zwischen Aussendungsrede und Weherufen auf die Redaktion der Logienquelle zurückgeführt. Außerdem führt er Lk 11,30/Mt 12,40 auf diese Redaktion zurück.

51

Uns interessieren besonders die drei galiläischen Orte. Bethsaida ist der bekannteste unter ihnen.64 Er war von Philippus zur "Stadt" erhoben und zu Ehren der Tochter des Kaisers Augustus "Julias" genannt worden (ant 18,28). Im NT begegnet der Ort als "Dorf (vgl. Mk 8,22.26). Da keine Münzen dieser Stadt erhalten sind, kann man zweifeln, ob es sich wirklich um eine "Polis" gehandelt hat.65 Interessant ist hier die wörtliche Formulierung bei Josephus: "Er (d.h. Philippus) gewährte ihr den Status einer Stadt aufgrund der Menge der Bewohner und der anderen Machtmittel (καϋ xr\ aXXrj δυνάμει)" (ant 18,28). Das könnte man auch so deuten, daß dieser Ort nur zwei Merkmale einer Stadt besaß: eine relativ große Bevölkerung und eine Befestigung. Vielleicht war es eine "Polis" mit eingeschränkten Rechten. Aber sie war bekannt genug, um von Josephus (vita 399; ant 18,28; bell 2,168), Plinius d.Ä. (n.h. V,71) und Ptolemaios (geogr V,16,4) erwähnt zu werden. Chorazim ist dagegen ein ziemlich unbekannter Ort. 66 Er wird in zeitgenössischen literarischen Quellen nirgendwo erwähnt - außer an unserer Stelle. Erst Euseb berichtet (onom 333) von Chorazim als einer Trümmerstätte in der Nähe Kapernaums. Archäologische Ausgrabungen auf dem chirbet keraze ( = Chorazim) 3 km nordwestlich von Kapernaum haben Reste einer Synagoge aus schwarzem Basalt mit Skulpturen zu Tage gebracht, die ins 4.Jhdt. n.Chr. zu datieren sind. Der Ort könnte ferner von Rabbi Jose (um 150 n.Chr.) erwähnt worden sein.67 In Menachoth 85a wird sein Ausspruch überliefert: "Man würde auch den Weizen aus Chorazim und Kepar Achim geholt haben, wenn diese nahe Jerusalem wären." Kepar Achim ist sonst nicht belegt, könnte aber mit Kepar Nahum ( = Kapernaum) identisch sein. Dann hät64

Zu Bethsaida vgl. C.KOPP: Die Heiligen Stätten der Evangelien, Regensburg 1959, 230-243; E.SCHÜRER: The History of the Jewish People in the Age of Jesus Christ Bd 2, Edinburgh 1979, 171f. 65

Vgl. A.H.M.JONES: The Urbanization of Palestine, JRS 21 (1931) 78-85, dort S.80. E.SCHÜRER: Geschichte II, 208, beruft sich für die Annahme eines Polis-Status von Bethsaida irrtümlich auf ant XX,8,4 (=18,159), da Josephus hier eine Polis Julia von umliegenden 14 Dörfern unterscheidet. Josephus meint aber eindeutig Julias in Peräa, das ehemalige Betharamphtha (ant 18,27), das er klar von Bethsaida ( = Julias) unterscheidet (ant 18,28). Der Fehler E.SCHÜRERs wurde auch in der Neubearbeitung von G.VERMES/F.MILLAR, History, 2, 172 nicht korrigiert. Er findet sich in vielen Handbüchern, z.B. A.FUCHS: Art. Βηθσαίδά(ν), EWNT I, Sp 515f und M.S.ENSLIN: Art. Bethsaida, B H H I, 234. 66

Vgl. C.KOPP, Stätten, 243-246; B.REICKE: Art. Chorazim, B H H I, 301. Zu korrigieren ist die Datierung der Synagoge ins 2./3.Jhdt. Sie gehört ins 4.Jhdt. Vgl. P.KASWALDEK: Corazim, Terre Sainte 3 (1985) 136-138. 67

H.STRACK/P.BILLERBECK: Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch I, München 8 1982, 605.

52 ten wir einen Beleg außerhalb von Mt 11,20-24 für die enge Zusammengehörigkeit beider Orte. Die Parallelstelle in der Tosephtha, TMen 9,2 (525), liest jedoch "Berachim" anstatt "Chorazim", so daß wir nicht sicher sein können, ob der Ort tatsächlich belegt ist. Kapernaum ist uns aus den Evangelien bekannt. 68 Josephus benutzt den Namen einmal für eine Quelle am Nordende des galiläischen Sees (bell 3,519), was aber eine sekundäre Namensverwendung ist. Denn Kepar Nahum heißt wörtlich "Dorf des Nahum". In der vita 403 erzählt er ferner, er sei in der dortigen Gegend auf sumpfigem Gelände gestürzt und habe sich verletzt, so daß er in das Dorf "Kepharnocus" gebracht worden sei.69 Hier kann nur Kapernaum gemeint sein. Die einzigen rabbinischen Belege weisen interessanterweise auf die Existenz von Minim ( =Judenchristen?) Anfang des 2.Jhdt.s in Kapernaum: Sie bekehren einen Juden, der dann durch einen Ritt auf dem Esel demonstrativ den Sabbat bricht - aber später wieder für das rechtgläubige Judentum zurückgewonnen wird: Midr Koh I, 8 (9 a ) und unter Bezug auf diese Episode Midr Koh VII, 26 (38a).70 Für die Lokalperspektive ist aufschlußreich, daß die beiden Orte Chorazim und Bethsaida eng einander zugeordnet werden und durch den Kontrast zu Sidon und Tyros als zusammengehörende Orte erscheinen: 71 In den ersten vier Jahrzehnten des lJhdt.s n.Chr. waren sie jedoch durch eine politische Grenze getrennt: Chorazim gehörte (ebenso wie Kapernaum) zum Gebiet des Herodes Antipas (4 v.Chr.-39 n.Chr.), Bethsaida dagegen zum Gebiet des Philippus (4 v.Chr.-34 n.Chr.). Die Grenze verlief am Jordan und war künstlich gezogen, denn die Juden fühlten sich über diese Grenze hinweg zusammengehörig. Das wurde auch in der weiteren Geschichte deutlich: Einerseits wurde es "von oben" anerkannt, als Nero ca. 54 n.Chr. dem Agrippa II. Länder zu beiden Seiten des Jordans als "Königreich" übertrug, andererseits wurde diese Zusammengehörigkeit im Jüdischen Krieg (66-70 n.Chr.) "von unten" demonstriert, als sich die jüdische Bevölkerung in beiden Gebieten gleich rebellisch verhielt. Die Zuordnung beider Städte in einer bis in die erste Hälfte des Jahrhunderts zurückgehenden Logienüberlieferung spiegelt 68

Zu Kapernaum vgl. C.KOPP, Stätten, 215-230; W.NAUCK: Art. Kapernaum, BHH II, 931.

69

Der handschriftliche Befund divergiert hier. Eine andere Lesart ist "Kapharnomon" (καφαρνώμ.ων).

70

Die beiden Stellen sprechen von "Minim" in Kapernaum. Das müssen nicht Judenchristen sein, zumal der demonstrative Sabbatbruch nicht unbedingt ein Kennzeichen judenchristlicher Frömmigkeit ist. "Minim" sind gründsätzlich alle Häretiker. 71

Tyros und Sidon werden immer zusammen genannt: vgl. Jes 23; Jer 47,4; Ez 26-28; Sach 9,2ff; Jo 3,4; ferner Esr 3,7; l.Chr. 22,4; Jdt 2,28; l.Makk 5,15.

53 deutlich ein populäres Zusammengehörigkeitsgefühl, das künstlich geschaff e n e politische Grenzen lang überdauert. 7 2 D i e zweite Merkwürdigkeit in diesem Wort gegen die galiläischen Städte ist die betonte Stellung Kapernaums, die bei Lk noch deutlicher hervortritt als bei Mt: D i e eigentliche Pointe ist die Anklage gegen diesen Ort. Er wird mit Bildern angegriffen, die sich im A T gegen das sündige Babel (vgl. Jes 14,11.13.15) und das hochmütige Ägypten (Ez 31,14ff) richten: Ein kleiner, unbedeutender Fischerort wird wie die altorientalischen Großmächte angegriffen! D i e s Kapernaum muß schlimmer als Chorazim und Bethsaida sein, denn bei diesen Städten scheint noch Hoffnung zu sein: D i e mit ihnen verglichenen Städte Tyros und Sidon existieren ja noch. Hier ist das letzte Wort vielleicht noch nicht gesprochen. Kapernaum wird dagegen das Unheil angesagt. Welch eine "kleine Welt" wird hier sichtbar! Häufig wird das Drohwort als nachösterliche Prophetie gedeutet, die auf Jesu abgeschlossenes Wirken zurückblicke. 73 Aber der Inhalt der Überlieferung deckt sich nicht mit d e m uns überlieferten (nachösterlichen) Bild von Jesu Wirken in Galiläa: A u s Chorazim sind uns keine Wunder Jesu überliefert. 72

Das JohEv kann wohl deshalb unbefangen von "Bethsaida in Galiläa" sprechen (Joh 12,21). C.KOPP, Stätten, 235, bemerkt dazu mit Recht: "So hat auch der Volksmund wohl nie sich um die stets wechselnden Grenzen gekümmert, ebensowenig wie um die heidnischen Umbenennungen seiner Städte. Die Bewohner des ursprünglichen Bethsaida waren durch tausend Fäden mit der Mutterprovinz verbunden, sie redeten denselben Dialekt, lebten ebenfalls am und vom 'Galiläischen Meer' " 73

R.BULTMANN: Geschichte, 118 bringt drei Argumente gegen die Authentizität des Wortes: 1) Es blicke auf die "abgeschlossene Wirksamkeit Jesu zurück" Aber nur in der von R.Bultmann wohl zu Unrecht für ursprünglich gehaltenen mt Fassung liegt deutlich ein Rückblick auf ein Wirken Jesu vor (Mt 11,20), aber auch dieser Rückblick hat nicht das ganze Leben Jesu im Blick, sondern nur die galiläische Wirksamkeit. 2) Das Logion setze "den Mißerfolg der christlichen Predigt in Kapernaum voraus" Richtig ist: Es setzt den Mißerfolg einer Umkehrbewegung in Chorazim, Bethsaida und Kapernaum voraus. Die Umkehrforderung ist schon für den Täufer belegt. Charakteristisch für Jesus ist, daß er sie im besiedelten Land erhebt. Wundertaten (δυνάμεις) erregten schon bei Jesus das Aufsehen der Umwelt (Mk 6,2.14), nicht erst bei seinen Nachfolgern (Mt 7,22). Daß Heiden als besser hingestellt werden, paßt gut zur Verkündigung Jesu (vgl. Mt 12,41-42). Ein όνειδίζειν, von dem die mt Einleitung spricht (11,20), ist schon für Judas Galiläus bezeugt: 'Ιουδαίους όνειδίσας οτι 'Ρωμιαίοις ύπετάσσοντο μ,ετά τον θεόν (Jos. bell 2,433). In Mt 11,20-24 fehlen Hinweise auf eine spezifisch christliche Predigt. 3) Jesu könne nicht gemeint haben, Kapernaum sei durch seine Wirksamkeit in den Himmel erhoben worden. - Falls Anlaß des Hochmuts in Kapernaum wirklich Jesu Wirken dort war, so wäre das Wort in einer nachösterlichen Situation nur schwer verständlich. Oder waren die Leute in Kapernaum auf einen am Kreuz Hingerichteten stolz?

54

Die Wirksamkeit Jesu in Galiläa wird als erfolgreich dargestellt. Vor allem aber würde die Ablehnung Jesu im Rückblick auf sein Leben kaum ihren Höhepunkt in Kapernaum finden, sondern in Jerusalem als Ort seiner Hinrichtung. Es ist daher ziemlich sicher, daß kein abgeschlossenes Bild von Jesu Wirken vorausgesetzt wird, sondern konkrete Erfahrungen verarbeitet werden, die an einen kleinen Ausschnitt Galiläas gebunden sind, sei es, daß Jesus auf seine Wunder in diesen Orten zurückblickt, sei es, daß urchristliche Wandercharismatiker ihre Ablehnung in diesen Orten bewältigen. Die Lokalperspektive ist galiläisch. Wir schauen in eine sehr begrenzte Welt, in der kleine Orte, die sonst kaum Bedeutung haben, Orte von entscheidender Bedeutung sind. Wir können ferner die Datierung eingrenzen: Das Wort setzt keine christlichen Gemeinden in Tyros und Sidon voraus. Ihre Umkehr wird als irreale Möglichkeit gegen die galiläischen Städte ausgespielt. Spätestens in den 50er Jahren aber gab es in Tyros eine christliche Gemeinde, die Paulus auf seiner letzten Reise nach Jerusalem besucht (Apg 21,3ff). Ebenso gab es Christen in Sidon, die Paulus auf seiner Überführung nach Rom besuchen darf (Apg 27,3). Das Logion Mt 10,20-24 dürfte älter als die Existenz dieser Gemeinden sein. In einigen weiteren Logien der Logienquelle werden verfolgte urchristliche Propheten in eine Linie mit den alttestamentlichen Propheten gestellt.74 Ihnen wird gesagt: "Ebenso haben sie auch die Propheten vor euch verfolgt." (Mt 5,11 / Lk 6,22f). Ihren Gegnern wird gedroht, daß die Tötung der Propheten (bzw. Gerechten) von Abel bis zu Sacharja an diesem Geschlecht gerächt werde (Lk 11,49-51 / Mt 23,34-36). Diese Worte würden natürlich dort besonders eindrücklich wirken, wo - nach damaligem Glauben - die Propheten getötet wurden, also in Palästina. Aber sie müssen deshalb nicht dort gesprochen sein. Verwandte Aussagen über die Tötung der Propheten werden im ägäischen Raum von Paulus formuliert (IThess 2,14-16). Wir müssen daher nach zusätzlichen Lokalindizien suchen. Diese finden sich in den Worten über die Prophetengräber: "Wehe euch, ihr Schriftgelehrten und Pharisäer, ihr Heuchler, daß ihr die Gräber der Propheten baut und die Grüfte der Gerechten schmückt und sagt: Hätten wir in den Tagen unserer Väter gelebt, wir hätten uns nicht mit ihnen am Blut der Propheten schuldig gemacht.

74

Vgl. O.H.STECK: Israel und das gewaltsame Geschick der Propheten, WMANT 23, Neukirchen-Vluyn 1967, der in einer grundlegenden Untersuchung die deuteronomistische Überlieferung von der Tötung der Propheten bis in neutestamentliche Zeit hinein untersucht hat.

55 Somit stellt ihr euch selbst das Zeugnis aus, daß ihr Söhne derer seid, die die Propheten getötet haben." (Mt 23,29-31; vgl. Lk 11,47-48)

Diese Überlieferung gehört sachlich und traditionsgeschichtlich zu den anderen Aussagen über die Propheten. Interessant ist, daß in ihr noch nachgewiesen wird, was in den anderen schon als Gewißheit vorausgesetzt wird: die Kontinuität der Prophetentötung von den Vätern bis in die Gegenwart. Diese Kontinuität wird anders als in IThess 2,14-16 und Mk 12,1-12 nicht darin gesehen, daß die gegengwärtige Generation in den Tod Jesu verstrickt ist, vielmehr wird sie mit der Existenz einer volkstümlichen Verehrung von Propheten- und Heiligengräbern begründet: Die in ihr sich ausdrückende Übernahme der Vergangenheit wird gegen die Angeredeten ausgespielt, obwohl diese sich ausdrücklich von der Verfolgung der Propheten distanzieren. Ein solches Wort ist m.E. nur dort sinnvoll, wo es Propheten- und Heiligengräber gibt, also in Palästina.75 Die Hörer müssen mit den lokalen Bräuchen der Gräber und der Heiligenverehrung vertraut sein. Neben den bisher diskutierten Wortüberlieferungen aus der Logienquelle, in denen eine palästinische Lokalperspektive sichtbar wird, sind noch einige Worte aus mt und lk Sondergut zu nennen. Sie finden sich alle in der Aussendungsrede des Mt bzw. Lk. Gerade deshalb sind sie für die gesamte Logienüberlieferung wichtig: In der Aussendungsrede begegnen uns die Regeln jener Wandercharismatiker, die Jesu Verkündigung weiterführten. In ihrem Wort wird das Wort Jesu gehört (Lk 10,16), was man auch so deuten darf: Sie überliefern die Worte Jesu (und möglicherweise auch andere Jesusüberlieferungen). Nur Lk bringt die rätselhafte Mahnung: "Grüßet niemanden auf dem Wege!" (Lk 10,4) Der Spruch könnte in der Logienquelle gestanden haben, denn Mt hätte ein klares Motiv, ihn wegzulassen. Gehört für ihn doch der Gruß gegenüber jedermann zum christlichen Ethos: "Und wenn ihr allein eure Brüder grüßt, was tut ihr Besonderes? Tun nicht auch die Heiden dasselbe?" (Mt 5,47) Nur Mt hat diese Konkretisierung in der Begründung des Feindesliebegebots. Mit dieser Mahnung im vorhergehenden Evangelium kann er mit dem Grußverbot nichts anfangen. Er streicht es. Lk aber hat möglicherweise seinen ursprünglichen Sinn erfaßt: Es handelt sich um ein "Besuchsverbot" Urchristliche Wandercharismatiker sollen auf ihren Reisen nicht Verwandte und Bekannte besuchen und sich so durch nichts von ihrer Aufgabe abhalten lassen. Gilt es doch als unhöflich, in einem Ort, an dem man Verwandte hat,

75

Vgl. J.JEREMIAS, Heiligengräber, 1958.

56 bei anderen abzusteigen. Wenn diese Deutung B.LANGs richtig ist,76 so wäre das Logion unverkennbar an palästinische Verhältnisse gebunden: Denn wo finden die urchristlichen Wandercharismatiker Verwandte und Bekannte - es sei denn in der Nähe ihrer Heimatorte? In der Aussendungsrede des MtEv sind zwei Worte mt Sonderguts erhalten, welche die Tätigkeit urchristlicher Wandercharismatiker lokal eingrenzen. Das erste Wort leitet die Aussendungsrede ein und nennt die Adressaten der Mission: "Gehet nicht auf eine Straße der Heiden und gehet nicht in eine Stadt der Samariter, sondern gehet vielmehr zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel." (Mt 10,5b-6) Das zweite Wort tröstet die Jünger angesichts zu erwartender Verfolgungen. Es nennt weniger Adressaten der Mission, als Zufluchtsstätten bei der Flucht:77 76 B.LANG: Grußverbot oder Besuchsverbot? Eine sozialgeschichtliche Deutung von Lukas 10,4b, BZ 26 (1982) 75-79. Er nimmt damit eine Deutung auf, die sich schon bei G.L.HAHN: Das Evangelium des Lucas Bd 2, Breslau 1894, 34f findet. Wichtig sind hier zwei Argumente: 1. Bei Lk kann άσπάζομ,αι das (längere) Einkehren bei Freunden bezeichnen (Apg 18,22; 21,7; 25,13). 2. Es gilt als unhöflich, seine Verwandten nicht zu besuchen, wenn man in ihren Ort kommt. Als Lucius in den Metamorphosen des Apuleius (11,3) nicht bei seiner Tante absteigt, sie aber dann zufällig trifft, muß er ihr ausdrücklich versichern: "Sooft sich ein Anlaß zur Reise nach hier einstellt, werde ich nie verfehlen, bei dir abzusteigen." Eine andere Deutung findet sich bei I.BOSOLD: Pazifismus und prophetische Provokation, SBS 90, Stuttgart 1978, 84f: Das Nicht-Grüßen sei eine provokatorische Zeichenhandlung.

77

Die Auslegung schwankt zwischen einer Auffassung von τελειν als "Vollendung des Missionswerks" und "Beendigung des Fluchtwegs". Zur Diskussion vgl. H.HÜBNER: Art. τελέω, EWNT III, 830-32 und M.KÜNZI: Das Naherwartungslogion Matthäus 10,23, BGBE 9, Tübingen 1970, 178 u.ö. Das Schwanken erklärt sich daraus, daß der weitere Kontext der Aussendungsrede an eine Missionsaufgabe denken läßt, der unmittelbar vorhergehende Kontext aber ebenso wie die erste Hälfte des Wortes an Verfolgung. Eine Rolle spielt ferner, daß τελεϊν mit Akk.Obj. (wie in Mt 7,28; 13,53; 19,1 und 26,1) an die Vollendung eines Werkes denken läßt, die Bedeutung "Vollendung eines Weges" aber ungewöhnlich wäre. Die griechischen Ausleger, die der Sprache des Matthäusevangeliums näher standen als wir, denken jedoch durchwegs an eine Flucht der Jünger (vgl. M.KÜNZI, Naherwartungslogion, 178). Es gibt daher m.E. keinen philologisch zwingenden Grund, zwischen V.23a (Flucht) und V.23b (Missionswerk) eine große Spannung zu sehen und das Logion in zwei selbständige Worte aufzulösen (gegen W.G.KÜMMEL: Verheißung und Erfüllung, Zürich 31956, 55-60). Ein sachlicher Gegensatz zwischen "Flucht" und "Mission" wäre angesichts der historischen Realität im übrigen konstruiert! Die Flucht der Hellenisten aus Jerusalem führte zur Samarien- und Heidenmission (Apg 8,Iff). Der Missionar Paulus war oft auf der Flucht

57 "Wenn sie euch aber in dieser Stadt verfolgen, flieht in die andre. Denn wahrlich, ich sage euch: Ihr werdet mit den Städten Israels nicht zu Ende kommen, bis der Menschensohn kommt." (Mt 10,23)

Noch ein drittes Wort dürfte sachlich in diesen Zusammenhang gehören. Es spricht vom Ziel der Sendung an Israel: Die zwölf Stämme werden wieder gesammelt und von den zwölf Jüngern regiert: "Ihr, die ihr mir nachgefolgt seid, werdet in der Wiedergeburt, wenn der Menschensohn auf dem Thron der Herrlichkeit sitzen wird, auch auf zwölf Thronen sitzen, um die zwölf Stämme Israels zu richten." (Mt 19,28; vgl. Lk 22,28-30)

Die Konzentration auf Israel verbindet alle drei Worte. Die Aussendung zu den "verlorenen Schafen" (ohne Hirten) und das Richten der zwölf Stämme (durch neue "Hirten") entsprechen einander. Die Parusie des Menschensohns wird in zwei Logien ausdrücklich erwähnt. Alle drei Worte stellen eine enge Beziehung zwischen den Jüngern und Israel her. Während das dritte Wort eindeutig aus der Logienquelle stammt, ist die Herkunft der beiden ersten Worte umstritten: Standen sie in Q? 78 Sind sie einer vormatthäischen Sondertradition entnommen? 79 Oder hat sie der Evangelist (bzw. seine Schule) selbst formuliert? 80 Sicher ist nur: Lk hätte allen Grund gehabt, sie zu streichen, falls er sie in Q gelesen haben sollte. Bei ihm wandert Jesus durch Samarien (Lk 9,5 Iff) und warnt vor eben jener Naherwartung, die in Mt 10,23 zum Ausdruck kommt (Lk 21,8). Aus der Wahrscheinlichkeit, daß Lk diese Worte gestrichen hätte, folgt freilich nicht, daß er sie wirklich gestrichen hat. Denn wir wissen nicht, ob er sie in Q vorfand. Wir können ferner vermuten, daß der Verfasser des MtEv die beiden Worte (vgl. nur 2.Kor 11,30-33). Und auch Mt verbindet die Sendung von Boten an Israel mit Flucht und Verfolgung (Mt 23,34-36). 7R Dafür hat vor allem H . S C H U R M A N N in subtilen Untersuchungen plädiert: Mt 10, 5b-6 und die Vorgeschichte des synoptischen Aussendungsberichtes, FS J.Schmid, Regensburg 1963, 270-282; ders: Zur Traditions- und Redaktionsgeschichte von Mt 10,23, BZ 3 (1959) 82-88. Weitere Autoren nennt A.POLAG, Fragmenta Q, 45 und 61. 79

So N A . D A H L : Matteusevangeliet, 136 und 139. Er vermutet mit Recht, daß beide Logien derselben Tradition angehören. 80 So zuletzt J.GNILKA: Das Matthäusevangelium, HThK I, 1, Freiburg 1986, 361f und 374f.

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nicht geschaffen hat. Zwar wird häufig angenommen, sie entsprächen seiner spezifischen Auffassung von Jesus: Zu seinen Lebzeiten sei Jesus nur zu Israel gesandt gewesen (vgl. Mt 15,24); von Ostern ab wende er sich an alle Völker (Mt 28,18f). Daß Mt sich das Verhältnis einer partikularen und universalen Mission so zurechtgelegt hat, soll nicht bestritten werden. Etwas anderes aber ist die Annahme, er habe diese Spannung geschaffen. Zu bedenken ist: In der Aussendungsrede sagt Jesus nichts über seine Sendung, sondern die seiner Jünger. Er hat deren nachösterliche Sendung im Blick, wenn er Teile der synoptischen Apokalypse - also Weissagungen, die sich auf die Zeit nach Jesu Tod beziehen - aus Mk 13 in die Aussendungsrede aufnimmt (Mt 10,17-22 = Mk 13,9-13). Mt hat die Aussendungsrede kaum "historisierend" verstanden als eine Sammlung von Anweisungen, die, was Mt 10,5f und 10,23 angeht, nur für die Zeit des Lebens Jesu galten. Denn ausgerechnet Mt setzt diese Weisungen Jesu nicht in eine Erzählung von einer vorösterlichen Aussendung um es sei denn, man wolle in der einleitenden Bemerkung: "Diese Zwölf sandte Jesus (10,5) die Andeutung eines solchen Berichtes sehen. Und ausgerechnet Mt betont, daß nach Ostern weiterhin alles gilt, was Jesus zu Lebzeiten gelehrt hat (Mt 28,18f). Es besteht m.E. kein Zweifel: Die Anweisungen Jesu in Mt 10,5ff gelten bis zur Parusie, "bis daß der Menschensohn kommt" (10,23). Diese auch für die nachösterliche Zeit geltende Begrenzung der Jüngermission auf Israel steht aber in deutlicher Spannung zum universalen Missionsbefehl. Man sollte daher damit rechnen, daß Mt 10,5bf und 10,23 nicht erst von Mt geschaffen, sondern von ihm übernommen wurden, zumal auch das sachlich verwandte Logion Mt 19,28 eindeutig vormatthäisch ist. Beide Israellogien weisen eine begrenzte Lokalperspektive auf. Die Sendung zum "Haus Israel" meint das Volk Israel (vgl. Mt 2,6; 19,28), das nicht unbedingt auf Palästina begrenzt sein muß, denn verlorene Schafe Israels kann es auch außerhalb seiner Grenzen geben. Dennoch zeigt die Abgrenzung von Heiden und Samaritern, daß im MtEv das jüdisch besiedelte Palästina gemeint ist.81 Die folgenden Worte weisen auf ländliches Gebiet, wenn sie 81

Noch weiter geht J.JEREMIAS: Jesu Verheißung, 16f: Er hält πάλιν für die Fehlübersetzung eines aramäischen Wortes, das undeterminiert "Provinz" heißt. Ursprünglich müsse die Landschaft Samarien gemeint sein: "Die Weisung, nicht nach Samaria zu gehen, sperrt ihnen (sc. den Jüngern) den Süden ab, das Verbot, zu den Heiden zu gehen, die drei anderen Himmelsrichtungen: sie sollen sich auf Galiläa beschränken" (S.17). Richtig ist, daß der Weg nach Judäa und Peräa ein kurzes Stück durch heidnisches Territorium führt. Galiläa und Peräa bildeten kein geschlossenes Territorium. Aber auch in Skythopolis, dessen Gebiet man durchqueren mußte, gab es Juden (vgl. Jos.bell 2,466ff.). Und daß es "verlorene Schafe des Hauses Israels" nur in Galiläa gibt, wird wohl kein Hörer des Wortes angenommen haben.

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Städte und Dörfer nebeneinander nennen (10,11). Auch das zweite Logion führt in einen begrenzten Bereich. Auffällig ist die merkwürdige Rede von "dieser Stadt", die für uns undurchsichtig ist. Das Wort muß einmal an eine ganz bestimmte Stadt gedacht haben. An welche, geht aus dem mt Kontext nicht hervor. Wenn man in "dieser Stadt" vertrieben wird, so wird man in "der anderen" Zuflucht finden. Bis zur Parusie wird es immer wieder eine jüdische Stadt geben, die christliche Missionare aufnimmt. Eine solche Zuversicht paßt in eine frühe Zeit, als man noch mit einem gewissen Optimismus Mission in Israel trieb. Wie hat sich Mt selbst das Wort zurechtgelegt? "Israel" ist für ihn zunächst das jüdisch besiedelte Palästina, "Land Israel" z.B. das Gebiet des Archelaos (2,20.21). Aber Mt dürfte in 10,23 an einen größeren Bereich denken. Denn unmittelbar vorher spricht er von Verfolgungen in Synhedrien und Synagogen, durch Statthalter und Könige (10,17f). Statthalter und Könige aber gab es im ganzen Osten des Reiches: in Nabatäa, Chalkis, Kilikien, Kommagene, Adiabene. Der Plural weist auf einen größeren Bereich als Palästina, wo es nur einen Statthalter und jeweils nur einen König gab (Agrippa I. und II.), wobei allerdings auch ein Tetrarch vom Volk "König" genannt werden konnte (vgl. Mk 6,14). Die Beziehung auf Gebiete über Palästina hinaus geht auch daraus hervor, daß die Missionare "den Heiden" Zeugnis ablegen sollen und somit nicht nur Juden im Blick sind (Mt 10,18). Für Mt wird ferner wichtig sein, daß in Mt 10, Iff jene zwölf Apostel ausgesandt werden, die einmal die zwölf Stämme Israels richten sollen (Mt 19,28), also auch die verstreuten Stämme der Diaspora außerhalb Palästinas. Über Palästina hinaus führt im MtEv ja schon 4,24: Vor der grundlegenden Lehre Jesu, der Bergpredigt, strömen Menschen aus "ganz Syrien" zu Jesus. Der Bereich, in dem nach dem Verständnis des Evangelisten "Israel" in 10,23 zu suchen ist, dürfte daher größer als Palästina sein. Entweder umfaßt er ganz Syrien die Rabbinen konnten erez jisrael in diesem weiten Sinne definieren 82 - oder die ganze Diaspora. 83 Mt konnte das Logion übernehmen, wenn er in seinem Umfeld (1.) nur solche christliche Gemeinden kennt, in denen es neben Heidenchristen auch Judenchristen gab und wenn er (2.) von jüdischen Gemeinden weiß, in denen noch keine christlichen Missionare gewirkt und Christen noch nicht "Zuflucht" gefunden hatten. Es ist nicht undenkbar, daß ein Christ Ende des 1. Jhdt.s n.Chr. ein solches Bild von der Verbreitung des Christentums hatte. In der vormt. Tradition aber dürfte in Mt 10,23 an einen begrenzteren Bereich gedacht sein. Wir befinden uns in der Nähe "dieser Stadt", die ganz ge82

Vgl. O.KEEL/M.KÜCHLER: Orte und Landschaften I, 262-268.

So G.STRECKER: Der Weg der Gerechtigkeit, FRLANT 82, Göttingen 3 1971, 41f: Mt denke an "die von Juden bewohnten Städte des Erdkreises".

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60 wiß in Palästina zu suchen ist. Wenn die beiden Israelworte (Mt 10,5f 13) vormt Tradition sind, so ist ihr "Sitz im Leben" wahrscheinlich in jenen Kreisen zu suchen, die auf dem Apostelkonzil als Träger der Israelmission in Erscheinung treten. Petrus ist unter ihnen die beherrschende Gestalt. Aus petrinischen Gruppen wären die beiden Israelworte in die mt Tradition gekommen. Das ist historisch möglich. Denn Mt bringt auch an anderer Stelle Sondergut, in der Petrus eine betonte Stellung hat: das Primatswort Mt 16,18-19, die mt Fassung der Sturmstillung (14,22-33) und die Perikope von der Tempeldrachme (17, 24-27). Wenn anderswo mt Sondergut aus diesen Kreisen zu ihm gelangt ist, warum nicht auch hier? Der Inhalt der beiden Worte paßt ausgezeichnet zu dem wenigen, was wir von diesen Kreisen überhaupt wissen: Sie wußten sich als Wandercharismatiker Israel verpflichtet. Sie unterschieden sich von den Hellenisten, deren Mission sich auch an Samarier (Apg 8,3ff) und Heiden (Apg 11,20) wandte. Ihr Zentrum (und "Heimathafen") war die Jerusalemer Gemeinde. Die Stadt Jerusalem dürfte mit dem rätselhaften έν τη πάλει ταύτη (10,23) gemeint sein, zumal dort Konflikte zwischen den Behörden und urchristlichen Missionaren bezeugt sind (Apg 12, Iff), und Petrus nach einem solchen Konflikt die Stadt verläßt (Apg 12,17). Die Suche nach den verlorenen Schafen Israels würde zu ihrem Programm passen. (Daß noch sehr viel später Petrus als "Hirt" der Schafe (Joh 21,15-17) begegnet, könnte freilich Zufall sein.) Hinzu kommt, daß der mit Petrus verbundene Zwölferkreis eng mit "Israel" verbunden ist. Schon die Zwölfzahl ließe das erschließen, wenn es nicht durch das Logion Mt 19,28 direkt belegbar wäre: Wahrscheinlich stammen also alle drei Israelworte aus dem Wandercharismatikerkreis der Zwölf, in dem Petrus eine dominierende Stellung hatte. Mt 10,5 und 10,23 hätten dann in der Frühzeit der petrinischen Israelmission eine Rolle gespielt. Wir haben somit in einer Reihe von Logien palästinisches, oft sogar galiläisches Lokalkolorit nachweisen können. Gewiß hat dieser Nachweis jeweils einen verschiedenen Grad von Plausibilität. Aber insgesamt dürfte das Ergebnis feststehen: Teile der Logienüberlieferung sind in Galiläa (oder in Palästina) geprägt worden. Dies Ergebnis klingt trivial, denn Jesus stammt aus Galiläa und ihm werden alle von uns untersuchten Worte zugeschrieben. Kein Wunder, daß hin und wieder galiläisches Lokalkolorit durchschimmert! Aber diese Erkenntnis wirkt weniger trivial, wenn man bedenkt, daß in einer der gründlichsten Analyse der Logienüberlieferung der größte Teil der besprochenen Logien syrischen Gemeinden außerhalb Palästinas zugeschrieben wird. Für die "Lokalisierung" von Logien ist ferner die Erkenntnis wichtig, daß die Logienüberlieferung ihren primären "Sitz" im Leben urchristlicher Wander-

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charismatiker hatte 84 - auch wenn das nicht ihr einziger "Sitz im Leben" gewesen sein muß. Mit Gerichtsworten gegen "dies Geschlecht" und Weherufen gegen ablehnende Orte bewältigten sie das eigene Geschick von Ablehnung und Heimatlosigkeit. Im Kontrast zwischen dem asketischen Wüstenpropheten und dem luxuriösen Hofleben sahen sie den Kontrast der eigenen Lebensweise zum "normalen Leben" abgebildet. In den Israelworten fanden sie ihr Selbstverständnis wieder: Wandernde Boten an Israel zu sein, das vor dem bald hereinbrechenden Ende zur Umkehr gerufen werden sollte. Dieser in den Nachfolgesprüchen und der Aussendungsrede hervortretende "Sitz im Leben" der Wortüberlieferung war nicht der eigentliche Gegenstand dieser Untersuchung; aber er hat für sie eine grundsätzliche Bedeutung: Er macht eine Lokalisierung der Ortsüberlieferung an einem bestimmten Ort wie Jerusalem unmöglich. Wandercharismatiker haben zwar ihren Heimathafen, aber sie tragen Überlieferungen an viele Orte. Sie sorgen für ihre Verbreitung. Sofern Jesustraditionen von ihnen überliefert wurden, sind sie a priori nicht an einen bestimmten Ort gebunden, sondern an ein Gebiet. Zentrum des urchristlichen Wandercharismatikertums war in der frühesten Zeit Palästina. Aber jüdische Gemeinden gab es auch in den syrischen Nachbargebieten. Ein Vordringen von Jesusüberlieferungen in diese Nachbargebiete ist von vornherein wahrscheinlich, sollte aber nicht dazu führen, daß man die galiläischpalästinische Prägung vieler Worte leugnet. Wie die Situation im Grenzland zwischen Syrien und Palästina die Jesusüberlieferung geprägt hat, läßt sich m.E. besser bei der Erzählüberlieferung als bei der Logienüberlieferung untersuchen. Ihr wenden wir uns nun zu.

84

An meiner Wanderradikalismusthese halte ich nach wie vor fest, auch wenn sie heute differenzierter formuliert werden müßte. Vgl. ihre erste Formulierung in: Wanderradikalismus. Literatursoziologische Aspekte der Überlieferung von Worten Jesu im Urchristentum, ZThK 70 (1973) 245-271 = Studien zur Soziologie des Urchristentums, W U N T 19, Tübingen 2 1983, 79-105.

2. Kapitel: Grenzüberschreitungen in der Erzählüberlieferung Wort- und Erzählüberlieferung gehören in denselben Strom der synoptischen Überlieferung. Dennoch müssen wir mit verschiedenen Überlieferungsbedingungen rechnen. Bei Jesusworten gilt Jesus als Autor. Erzählungen von Jesus sind dagegen immer von anderen formuliert. Keine einzige von ihnen kann Jesus als Autor beanspruchen. Das war wahrscheinlich auch den urchristlichen Tradenten bewußt: Worte Jesu werden von ihnen in der uns überschaubaren Überlieferungsgeschichte weniger verändert als Erzählungen. Und auch innerhalb von Erzählungen bleiben Worte Jesu beim Wiedererzählen "stabiler" als der erzählerische Kontext. Hinzu kommt ein weiterer Unterschied: Worte und Wortsammlungen werden vor allem von denen überliefert, die von ihrem Wert überzeugt sind: also von Anhängern, die in den Worten Anweisungen für ihr Leben finden. Erzählungen - einschließlich summarischer Berichte über die Lehre einer Person - sind dagegen für alle interessant, die sich ein Bild von einer geschichtlichen Gestalt machen wollen: für Anhänger, Außenstehende und Gegner. Um nur einige Beispiele zu nennen: Vom Täufer überliefert Josephus einen zusammenfassenden Bericht (ant 18,116-119). Seine Lehre wird in ihm nur sehr allgemein zusammengefaßt; die eschatologische Gerichtspredigt fehlt. Die Worte des Täufers aber sind uns nur in den Evangelien erhalten - gesammelt von Menschen, die in ihm einen entscheidenden Propheten sahen. Ein anderes Beispiel ist Jakobus der Herrenbruder. Von ihm wird in der christlichen Überlieferung ein pseudepigrapher Brief mit seiner Lehre überliefert. Aber auch Josephus berichtet über ihn. Aus seinem kurzen Bericht könnten wir jedoch nicht einmal erschließen, daß Jakobus ein Christ war. Josephus interessieren nur die Umstände und Auswirkungen seiner Hinrichtung. Über seine Überzeugungen schweigt er (ant 20,200ff). Natürlich kann man aus diesen beiden Beispielen kein "Gesetz" ableiten. Wer als Außenstehender eine Lehre widerlegen will, wird sich deshalb für sie interessieren - und sie vielleicht wie Orígenes in contra Celsum wörtlich wiedergeben. Unter den Gegnern Jesu kursierten gewiß auch Aussprüche von ihm: Das Tempelwort wird ihm im Verhör vor dem Synhedrium zur Last gelegt (Mk 14,58). Dennoch gibt es eine gewisse Wahrscheinlichkeit dafür, daß Erzählungen einen weiteren Kreis von Tradenten und Adressaten finden als Worte und Lehre. Dabei wird an Erzählungen wahrscheinlich das am schnellsten nach "draußen" dringen, was auffallend und ungewöhnlich wirkt: Skandalöses wie die Hinrich-

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tung als Verbrecher, Wunderbares wie Heilungen und Exorzismen. Wenn der zweite Teil "Grenzüberschreitungen in der Erzählüberlieferung" überschrieben ist, so ist damit zweierlei gemeint: In einigen Erzählungen wird die lokale Grenzsituation zwischen Palästina und seinen Nachbargebieten besonders deutlich. Als Beispiel dafür soll die Geschichte von der Syrophönikerin untersucht werden. Darüber hinaus vollzieht sich in der Erzählüberlieferung eine soziale Grenzüberschreitung: Nicht nur Jünger und Anhänger Jesu, sondern das ganze Volk erzählen von Jesus und Johannes. Mt 11,18f nimmt auf solch eine volkstümliche Fama direkt Bezug: Der Täufer galt als Asket, Jesus als "Fresser und Weinsäufer" An zweiter Stelle soll daher eine Erzählüberlieferung vom Täufer untersucht werden, bei der wahrscheinlich ist, daß sie nicht nur unter den Anhängern Jesu überliefert wurde: die Hoflegende von seiner Hinrichtung. Danach werden die Überlieferungsbedingungen von Wundergeschichten und Apophthegmen zusammenfassend besprochen.

A. Die Geschichte von der syrophönikischen Frau und das tyrisch-galiläische Grenzgebiet In Mk 7,24-30 weist Jesus eine ausländische Frau, die ihn um Hilfe für ihre kranke Tochter bittet, mit den Worten zurück: "Laß zuerst die Kinder satt werden. Denn es ist nicht gut, das Brot der Kinder zu nehmen und es den Hunden hinzuwerfen" (Mk 7,27). Die Antwort Jesu ist moralisch anstößig. Es ist, als ob ein Arzt sich weigert, ein ausländisches Kind zu behandeln. Die Antwort Jesu ist zudem ein exegetisches Problem: Die Brotmetaphorik paßt nicht zur Bitte der Frau. Jesus wird nicht um Speise gebeten, sondern um Hilfe als Arzt und Exorzist. Schon Matthäus hat das zweite Problem empfunden. Bei ihm antwortet Jesus auf die Bitte der Frau mit dem passenderen Bildwort vom Hirten: "Ich bin nur zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel gesandt" (Mt 15,24). Erst dann folgt das Bildwort von den Brotbrocken, die den Hunden vorgeworfen werden (Mt 15,26). Das "exegetische" Problem - die Spannung zwischen Bitte und Brotmetaphorik - ist damit entschärft. Das moralische Problem aber wird verschärft. Denn bei Mt sind die "Hunde" im Bildwort Jesu eindeutig Heiden - d.h. diejenigen, die nicht zum Hause Israel gehören. Vor allem ist bei ihm nicht mehr davon die Rede, daß sie später an die Reihe kommen sollen. Mk 7,27a wird gestrichen. Damit tritt der verletzende Charakter der Absage Jesu deutlicher hervor. Denn die Bezeichnung "Hund" war damals wie heute eine

64 Beleidigung. 1

Z w a r darf man an treue Haushunde denken. 2

Sie erhielten

den Abfall vom E s s e n ( J o s A s 10,13). A u f sie paßt das Diminutiv κυναριον. D a r u m wird das Bild aber nicht freundlicher: D i e Assoziation von Hunden mit Heiden gibt ihm in j e d e m Fall einen negativen Klang. M a n denke nur an Aussprüche wie: "Wer mit einem Götzendiener zusammen ißt, ist wie einer, der mit einem Hund zusammen ißt; wie der Hund unbeschnitten ist, so ist auch der Götzendiener unbeschnitten" (Pirque R.Eliezer 2 9 ) . 3 D i e neutestamentliche E x e g e s e ist verschiedene W e g e gegangen, um das anstößige W o r t Jesu verständlich zu machen. D r e i Auslegungstypen lassen sich unterscheiden: eine biographische, eine paradigmatische und eine heilsgeschichtliche. Die biographische Deutung der Perikope wird heute kaum noch vertreten. Die Anstößigkeit des Verhaltens Jesu wird hier stärker empfunden als in der modernen Exegese, die schnell geneigt ist, die Perikope auf Gemeindediskussionen zurückzuführen. So fragt J.Weiss 4 zu Mk 7,27: "Wie kommt ihm (d.h. Jesus) bei seiner unmittelbaren, vorurteilsfreien Art solches Bedenken?" E r kann sich das Verhalten Jesu nur so erklären: Jesus sei von seinem eigenen Volk enttäuscht gewesen und habe sich in die Einsamkeit zurückgezogen. Der Hilferuf der heidnischen Frau habe ihm die Widersinnigkeit der Lage bewußt gemacht: "Seinem Volk kann und will er nicht mehr helfen, und sofort drängt sich fremde Not an ihn heran! Das Unnatür"Hund" ist ein Schimpfwort: Der Vergleich mit diesem Tier galt als entehrend (vgl. lSam 17,43; Jes 56,10-11); "Hund" war Inbegriff für das Verachtenswerte (Koh 9,4; lSam 24,15; 2Reg 8,13; Prov 26,11). Das NT setzt diesen Sprachgebrauch fort: Daß Lazarus nicht einmal die Straßenhunde fernhalten kann, ist Zeichen seines tiefen Elends (Lk 16,21). Das Heilige darf nicht Hunden und Schweinen vorgeworfen werden (Mt 7,6). Gegner und Irrlehrer werden als "Hunde" verächtlich gemacht (vgl. 2Petr 2,22; Phil 3,2; Apk 22,15; IgnEph 7,1). Weiteres bei O.MICHEL: Art. κύων, ThWNT III, 11001104; S.PEDERSEN: Art. κύων, EWNT II, 821-823. 1

Belege für eine positive Wertung der Hunde sind Epiktet Diss IV 1,111: Das "Hündlein" gehört zu den Dingen, von denen man sich schwer trennt. In Tobit 5,17 folgt der κύων τοΰ παιδαρίου den Eltern bei der Verabschiedung des Sohnes. Die Unterscheidung zwischen eigenen Haushunden und fremden Straßenhunden ist gerade für den Umgang mit Speiseresten wichtig. Aseneth wirft ihr götzendienerisches Essen durchs Fenster auf die Straße mit den Worten: "Nie (und) nimmer essen meine Hunde von meinem Mahle und dem Opfer der (Götzen)bilder, sondern essen sollen es die Hunde die fremden" (JosAs 10,13, vgl. 13,8). Zur ambivalenten Bewertung des Hundes in der Antike vgl. allgemein W . R I C H T E R : Art. Hund, KP II, 1245-1249. 2

K.TAGAWA, Miracles et Évangile, 118f, wendet sich gegen die Identifizierung von Heiden und Hunden, da sie sich bei den Rabbinen immer nur als expliziter Vergleich, nicht aber als Metapher finde. Die bei P.BILLERBECK, Kommentar I, 724-726, angeführten Belege sind jedoch m.E. eindeutig genug, um im Kontext dieser Geschichte Hunde mit Heiden gleichzusetzen. 3

4

J.WEISS: Die drei ältesten Evangelien, S NT 2, Göttingen 1906,128.

65 liehe des Moments stellt sich ihm schnell in dem Gleichnisbild dar. Es ist ein Augenblickswort, und bedeutet nicht, daß er nicht helfen will." Damit ist nichts erklärt: Enttäuschung über das eigene Volk könnte ebensogut eine Hinwendung zu den Fremden verständlich machen. Abgesehen davon ist zu fragen: Warum wurde die Episode überliefert? Muß sie nicht etwas zum Ausdruck bringen, das unabhängig von einer einmaligen biographischen Situation war?5 Die paradigmatische Auslegung sieht in dem Verhalten der syrophönikischen Frau ein Beispiel für den angefochtenen und erprobten Glauben, der auch gegen den Augenschein an seinem Zutrauen zu Jesus festhält.6 Diese Deutung läßt sich für Tradition und Redaktion durchführen: Die Ablehnung der Bittstellerin durch den Wundertäter ist Steigerung eines traditionellen Motivs, der "erschwerten Annäherung", das wir aus vielen Wundergeschichten kennen. E.HAENCHEN findet hier "die primitive Vorstellung",7 der Wundertäter habe nur ein begrenztes Quantum an Heilkraft. Diese gehöre den Juden. Die heidnische Frau versuche, etwas von dieser Kraft für sich zu gewinnen. Ihre beharrliche Zudringlichkeit sei Ausdruck eines allgemeinen Wunderglaubens. Was in dieser Deutung Variation eines traditionellen Motivs ist, könnte bei Mk einen neuen Sinn erhalten haben. Zwei Deutungen sehen diesen spezifisch mk Sinn in der Darstellung des Glaubens an Jesus. Dabei kann der Akzent auf der fides quae, also auf der verborgenen Würde Jesu, liegen - so B.FLAMMER, 8 oder auf der fides qua, der Erprobung des Glaubens bei der bittenden Frau so K.TAGAWA.9 Beide nehmen an, daß die Geschichte ursprünglich einen anderen Sinn gehabt und die Mission an Heiden habe legitimieren wollen, was J.ROLOFF bestreitet: Für ihn handelt sie von Anfang an vom erprobten Glauben.10 All diese paradigmatischen Auslegungen haben zweifellos in einem Punkt recht: Die syrophönikische Frau ist eines der großen Symbole des erprobten Glaubens. Aber die "Erprobung" dieses Glaubens geschieht in einem konkreten geschichtlichen Kontext: Zwischen Jesus und der Frau steht die Schranke, die Juden und Heiden trennt. Jede Auslegung muß das berücksichtigen. Hier setzt die heilsgeschichtliche Deutung an. R.PESCH bringt einen breiten Konsens zum Ausdruck, wenn er feststellt: "Die Perikope ist ein Dokument urchristlichen Ringens um die Uberwindung eines aus dem Heilsvorrang Israels abgeleiteten Heilspartikularismus."11 In dem schroff ablehnenden Wort käme nicht Jesus, sondern eine urchristliche Gruppe zu Wort, welche Heiden den Zugang zur Gemeinde ver5

Als weiteres Beispiel biographischer Auslegung sei genannt I.HASSLER: The Incident of the Syrophoenician Woman (Matt XV, 21-28; Mark VII, 24,30), ET 45 (1934) 459-461: Jesus habe seine Ablehnung mit Augenzwinkern gesprochen usw.!

6

Diese Deutung findet ihren Höhepunkt in Luthers Fastenpostille WA 17/2, 200-204.

7

E.HAENCHEN: Der Weg Jesu, STö. 6, Berlin 1966 21968, 272-275, dort 274.

8

B.FLAMMER: Die Syrophönizerin (Mk 7,24-30), TThQ 148 (1968) 463-478.

9

K.TAGAWA, Miracles et Évangile, 120.

10

J.ROLOFF: Das Kerygma und der irdische Jesus, Göttingen 1974,159-161. Die heilsgeschichtliche Deutung wird u.a. vertreten durch R.PESCH: Das Markusevangelium, HThK II 1, Freiburg 1976, 385-391, dort 390; J.GNILKA: Das Evangelium nach Markus, EKK II 1, Neukirchen 1978, 289-295, dort 290. 11

66 wehren wollte; ja, es scheinen zwei Meinungen miteinander zu ringen. V.27b: "Es ist nicht gut, das Brot der Kinder zu nehmen und es den Hunden hinzuwerfen" klingt nach völliger Ablehnung der Heiden. Der vorausgeschickte Satz: "Laßt zuerst die Kinder satt werden" (V.27a) wirkt dagegen wie eine (sekundäre) Relativierung der Ablehnung: Aus dem absoluten Nein wird ein zeitlich begrenztes "vorerst nicht". Eine solche zeitliche Priorität der Juden vor den Heiden entspricht urchristlichen Vorstellungen bei Paulus (z.B. Rom 1,16), aber auch unabhängig von Paulus (Act 13,46). Es bleiben zwei Fragen: Warum sollte eine urchristliche Gruppe eine von ihr abgelehnte Meinung Jesus zuschreiben, wenn sie diese Meinung bei anderen Christen bekämpfen will? J.ROLOFF hat mit Recht Zweifel an der verbreiteten Ableitung der Perikope aus Gemeindedebatten angemeldet. Eine grundsätzliche Ablehnung der Heidenmission sei nirgendwo im Neuen Testament bezeugt. Die Perikope versuche, das historische Verhalten Jesu gerade in seinem Widerspruch zu nachösterlichen Verhältnissen verständlich zu machen.13 Die zweite Frage wird durch die Inkongruenz von Bitte und Ablehnung hervorgerufen: Warum folgt auf eine Bitte um Heilung eine Zurückweisung, die vom Brot spricht? Mit Recht fragt E.LOHMEYER: "Ist die Rettung eines kranken, wenn auch heidnischen Kindes anzuschauen, als ob man anderen das Brot entzöge?"14 Man kann diese Frage mit zwei Überlegungen beantworten: Die Brotmetaphorik könnte dadurch bedingt sein, daß gemeinsame Mahlzeiten oft der Anlaß waren, das Verhältnis zwischen Juden und Heiden zu diskutieren (vgl. Gal 2,11-14). Eine spätere Fassung der Perikope in den Pseudoklementinen zeigt, daß man die Perikope in der Tat so verstehen konnte:15 "Eine gewisse Justa lebt unter uns, eine Syrophönikerin, Kanaanäerin von Herkunft, deren Tochter von schwerer Krankheit befallen war, die auch zu unserem Herrn kam mit Schreien und Bitten, damit er ihre Tochter heile. Er aber, auch von uns gebeten, sagte: Es ist nicht gestattet, die Heiden zu heilen, die den Hunden gleichen dadurch, daß sie allerlei Speisen gebrauchen und mancherlei tun, da der Tisch im Reiche den Söhnen Israel gegeben ist. Sie aber hörte dies, wollte an dem Tisch teilhaben wie ein Hund, nämlich an den abfallenden Brocken, legte die bisherige Gewohnheit ab, indem sie in derselben Weise wie die Söhne des Reiches aß, und erlangte, wie sie wünschte, die Heilung ihrer Tochter." (Ps. Klem. Horn II, 19,1-3). 12

Die heilsgeschichtliche Deutung sieht in der Perikope einen Niederschlag des Ringens um die Aufnahme von Heiden. W.SCHMITHALS: Das Evangelium nach Markus, ÖTK II 1, Gütersloh 1979, 351-356, hat dem Konsens widersprochen, die Geschichte handele von der Aufnahme von Heiden in die christliche Gemeinde. Die Heidenmission sei in der markinischen Gemeinde anerkannt. In der Situation nach dem Jüdischen Krieg gehe es darum, das πρώτον der Juden anzuerkennen, wie die heidnische Syrophönikerin es vorbildhaft tut. 13 J.ROLOFF: Das Kerygma und der irdische Jesus. Historische Motive in den JesusErzählungen der Evangelien, Göttingen 1974,159-161, bes. Anm. 200 und 201. 14 E.LOHMEYER: Das Evangelium des Markus, KEK12, Göttingen 1937171967,145. 15 Vgl. zu dieser späten "Nacherzählung" W.BAUER: Das Leben Jesu im Zeitalter der neutestamentlichen Apokryphen, Tübingen 1909 = Darmstadt 1967, 346f.

67 Vielleicht hat schon Markus die Geschichte so verstehen wollen. Die Geschichte von der syrophönikischen Frau steht bei ihm zwischen der ersten und der zweiten Speisungsgeschichte. Im Kontext begegnet häufig das Stichwort ά ρ τ ο ς (6,35ff; 6,52; 7,2.5; 7,27; 8,4ff; 8,llf) sowie das dazugehörende χ ο ρ τ α σ θ ή ν α ι (6,24; 7,27; 8,8). Zudem spielt die erste Speisung in jüdischem Land (6,35ff), die zweite in heidnischem Gebiet (8,Iff). Die Annahme liegt nahe, die aufeinander folgende Speisung der "Kinder" und der "Hunde", der Juden und Heiden (Mk 7,27), beziehe sich im redaktionellen Kontext auf die Folge der beiden Speisungen.16 Man kann sich daher gut vorstellen, daß die Perikope sekundär auf das Verhältnis von Juden und Heiden in den christlichen Gemeinden gedeutet wurde - und dabei das Brotwort mit dem Problem der Speisegebote verbunden wurde. Kaum vorstellbar ist aber, daß das Brotwort im Blick auf diese Probleme formuliert wurde. Denn die in ihm betonte Reihenfolge erst die Kinder, dann die Hunde; erst die Juden, dann die Heiden hat mit dem Gemeindeproblem gemeinsamer Mahlzeiten nichts zu tun. Hier ging es darum, daß alle gleichberechtigt und gleichzeitig am Tische saßen. Zudem fragt man sich: Wäre es nicht viel einfacher gewesen, eine Geschichte von Jesu Mahlzeiten mit "unreinen" Menschen zu erzählen, um für gemeinsame Mahlzeiten von Juden- und Heidenchristen ein legitimierendes Modell zu haben? Warum sollte man derartige Probleme in einer Wundergeschichte kompliziert verschlüsseln? Warum sollte man Jesus eine abweisende Haltung zuschreiben, wenn es doch darum ging, eine akzeptierende Haltung in der Gemeinde durchzusetzen? Fassen wir unseren kurzen Überblick über die drei Auslegungstypen von Mk 7,24-30 zusammen. Wir finden durchgehend den Versuch, die Ablehnung der bittenden Frau durch Jesus so zu interpretieren, daß sie ihre Anstößigkeit verliert, sei es, daß man sie biographisch auf eine (unbeweisbare) Augenblicksstimmung Jesu zurückführt, sei es, daß man sie symbolisch auf die Prüfung des Glaubens deutet, sei es, daß man in ihr eine heilsgeschichtliche Symbolik - die Öffnung der Kirche für die Heiden - ausgesprochen sieht. All diese Versuche können nicht überzeugen. Es bleibt das Ärgernis: Wie kann man die Bitte um die Heilung eines Kindes damit ablehnen, daß Kinder den Hunden vorzuziehen seien? Wie kann man sich in dem Widerspruch verfangen, den Kindern innerhalb des Bildwortes einen hohen Wert beizulegen, in der Realität aber einem leidenden Kind die Hilfe zu verweigern? Hier setzt die Lokalkoloritforschung ein. Sie kann vielleicht einen neuen Anstoß zum Verständnis der Perikope geben. D i e zynische Antwort Jesu wird verständlicher, wenn man die geschichtliche Situation jener Gebiete berücksichtigt, in

16

Vgl. E.WENDLING: Die Entstehung des Markusevangeliums, Tübingen 1908, 81; K.KERTELGE: Die Wunder Jesu im Markusevangelium, StANT 23, München 1970, 156. Auch wenn man die Einbettung der Geschichte in ihren Kontext nicht so sieht, bleibt ein Zusammenhang mit dem Kontext: Die Lehre von Rein und Unrein (7,Iff) wird jetzt zum ersten Mal praktiziert. Vgl. TA.BURKILL: The Syrophoenician woman. The congruence of Mark 7,24-31, ZNW 57 (1966) 23-37, bes. 29 und A.PILGAARD: Jesus som undergorer i Markusevangeliet, Bibel og historie 3, Kobenhavn 1983, 98-101.

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denen die Geschichte lokalisiert ist.17 Die Ablehnung der Frau durch Jesus bringt eine Bitterkeit zum Ausdruck, die sich im Verhältnis von Juden und Heiden in den Grenzgebieten von Tyros und Galiläa angestaut hatte. Den ersten Erzählern und Hörern dürften die Verhältnisse in diesem Gebiet vertraut gewesen sein, so daß sie aufgrund dieser Vertrautheit die schroffe Abweisung der hilfesuchenden Frau durch Jesus als "lebensecht" empfunden haben. Unsere Aufgabe ist es daher, das Verhältnis von Juden und Heiden im tyrisch-galiläischen Grenzgebiet zu untersuchen. Das soll unter sechs verschiedenen Aspekten geschehen. Zu fragen ist: 1. nach den ethnischen Verhältnissen in diesem Gebiet: Welche Volksgruppen lebten dort? 2. nach den kulturellen und sprachlichen Gegebenheiten: Welche Sprachen wurden gesprochen? Welche kulturellen Einflüsse überkreuzten sich? 3. nach dem sozialen Status hellenisierter Phöniker in den phönikischen Stadtrepubliken: Herrschte zwischen den "Griechen" und den Einheimischen ein hierarchisches Gefälle? 4. nach den ökonomischen Bedingungen im tyrisch-galiläischen Grenzgebiet: Gab es ökonomisch bedingte Beziehungen und Abhängigkeiten zwischen den verschiedenen Volksgruppen? 5. nach den politischen Machtverhältnissen zwischen dem Stadtstaat Tyros und dem jüdischen "Hinterland": Welche strukturell bedingten Interessenkonflikte lassen sich nachweisen? 6. nach den sozialpsychologischen Aspekten des Verhältnisses von Juden und Heiden, d.h. nach gegenseitigen Stereotypen und Vorurteilen. Mit all dem wird die Perikope von der syrophönikischen Frau nicht "ausgelegt". Es werden nur Voraussetzungen für eine Auslegung dieser Wundergeschichte geschaffen. Wir müssen uns mit einem kurzen Ausblick auf Konsequenzen für die Exegese der Geschichte am Ende dieses Abschnittes begnügen.

17

TA.BURKILL: The Syrophoenician woman (s.o. Anm. 17), und J.GNILKA: Das Evangelium nach Markus, EKK II 1, Köln/Neukirchen 1978, 290, nehmen an, daß die Reise Jesu in tyrisches Stadtgebiet aus der Charakterisierung der Frau als "Syrophönikerin" herausgesponnen wurde.

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I. Ethnische Verhältnisse im tyrisch-galiläischen Grenzgebiet Jesus befindet sich nach Mk 7,24 in den "Gebieten von Tyros" 18 Gemeint ist das ländliche Stadtterritorium, das jeden antiken Stadtstaat umgab. Für die Nachbarstadt Ptolemais ist eine Inschrift erhalten, die diesen "pagus vicinalis" ausdrücklich nennt.19 Für Tyros haben wir literarische Belege für ein ländliches Territorium. Josephus nennt es in bell 3,38 ausdrücklich neben der Stadt Tyros: "Die Nordgrenze Galiläas bilden Tyros und das Tyrische Gebiet (Τυρίων χώρα)." Wir hören ferner von Dörfern, die zu Tyros gehören (Jos. bell 2,588), unter ihnen der Ort Kedesa in der Nähe der galiläischen Grenze (bell 2,459; 4,105). Jesus betrat nach der synoptischen Tradition nie die Stadt selbst, sondern immer nur das ländliche Stadtterritorium - so wie nach Mk 3,8 auch die zu ihm strömende Menge nicht aus Tyros selbst stammt, sondern aus der Umgebung (περί Τύρον και Σιδώνα).20 Diese Beschränkung auf das Land ist um so erstaunlicher, als zur Zeit, in der die synoptische Tradition geformt und die Evangelien niedergeschrieben wurden, schon eine christliche Gemeinde in Tyros existierte (vgl. Act 21,3-6) und es nahe gelegen hätte, entweder Jesus mit der Stadt in Verbindung zu bringen oder die Bewohner der Stadt mit Jesus. Die Beschränkung Jesu auf das Landgebiet dürfte den tatsächlichen vorösterlichen Gegebenheit entsprechen. Dafür spricht auch das, was wir noch über die Bevölkerung in diesem Gebiet erfahren können: Nicht nur in Tyros selbst, sondern auch auf dem Land muß es jüdische Dörfer gegeben haben, Dörfer, die noch ganz in der einheimischen jüdischen Kultur verwurzelt waren. Aus ihnen stammt ein Teil der treuesten Anhänger Johannes von Gischalas, eines der Anführer im jüdischen Aufstand. In bell 2,588 berichtet Josephus vom Aufkommen des Revolutionsführers. Zunächst sei er ein Einzelgänger gewesen, dann habe er Anhänger gefunden: "So brachte er schließlich eine Bande von 400 Spießgesellen zusammen, meist Flüchtlinge aus dem Gebiet von Tyrus und den dortigen Dörfern (έκ της Τυρίων χώρας και των έν αύτη κωμών)." Später verteidigt Johannes mit seinen Anhängern den äußeren Tempelhof gegen die belagernden 18

Die vom Mehrheitstext (und zuletzt von H.GREEVEN: Synopse der drei ersten Evangelien, Tübingen ^1981 z.St.) bevorzugte Lesart μιεθορί ( - Grenze, von Grenzen eingeschlossenes Gebiet) macht das noch deutlicher. Interessant ist auch die singuläre Lesart δρη (Minuskel 565), die an das Gebirgsland im tyrisch-galiläischen Grenzgebiet denken läßt. 19

Vgl. MAVI-YONAH: Newly Discovered Latin and Greek Inscriptions, QDAP 12 (1948) 84-102, dort Nr.3 auf 86-87. Die Inschrift lautet "PAGO VICINAL(I)", als handle es sich um eine Widmung. Der Gegensatz zum pagus urbanus ist vorausgesetzt. 20

Charakteristisch ist die redaktionelle Abänderung in Lk 6,17 in "die Küste von Tyros und Sidon". Lukas scheint auf Palästina aus der Perspektive des Mittelmeers zu blicken.

70

Römer. Wir müssen annehmen, daß er und seine Anhänger dezidierte Anhänger des jüdischen Glaubens waren - wie ja oft die fanatischsten Nationalisten aus Grenzgebieten oder dem Ausland stammen. In der vita charakterisiert er noch einmal die Anhänger des Johannes: "Bei Johannes blieben allein die Bürger (von Gischala) und etwa 1500 Fremde aus der tyrischen Metropole (έκ της Τυριών μητροπόλεως)" (vita 372). Danach wären seine auswärtigen Anhänger aus der Stadt Tyros selbst nach Galiläa geflohen.21 Auch in späterer Zeit werden jüdische Dörfer auf tyrischem Gebiet vorausgesetzt. Im Traktat des Jerusalemer Talmuds Demai werden Früchte diskutiert, bei denen es zweifelhaft ist, ob sie verzehntet sind - ein Problem, das für diese jüdischen Dörfer im "Ausland" akut war, vgl. jer Demai 1,3 (22d). Hinzuweisen ist schließlich noch auf eine Synagoge in Akziv (im südtyrischen Gebiet, an der Mittelmeerküste), die für die 2.Hälfte des 1.Jahrhunderts literarisch belegbar ist.22 Der Markusevangelist hat die "Reise" Jesu in das tyrische Gebiet zwar als "Reise ins Heidenland" verstanden: vor der Perikope von der Syrophönikerin steht die Diskussion um die Reinheitsfrage, an deren Ende sich Jesus (in einer geheimen Belehrung) ganz auf den heidenchristlichen Standpunkt stellt, daß alle Speisen rein sind (vgl. Mk 7,19). Nach der Perikope folgt eine Reise in die Dekapolis (7,13), also in "heidnisches Land". Wer nun die geographischen Verhältnisse näher untersucht, wird entdecken, daß Jesus im ländlichen Hinterland von Tyros ebenso wie auf dem Territorium der Dekapolis Juden finden konnte, die hier neben Syrern und Phönikern lebten.23 Die von Mk geschilderte "Reise ins Heidenland" berührt also nur Orte, in denen Juden wohnten. Das spricht dafür, daß Mk einigen Ortsangaben aus der ihm überkommenen Tradition einen ganz neuen Sinn gegeben hat: Jesu Weg zu den dortgenannten Orten wird zum Vorschein der Heidenmission, von deren Legitimität und Notwendigkeit Mk überzeugt ist (vgl. Mk 13,10). 21

, ,

.

.

Einige Juden werden seit eh und je in phönikischen Gebieten gewohnt haben. Wir hören von einer Emigration in die phönikischen Gebiete aus der Zeit des frühen Hellenismus: Nach dem Tode Alexanders seien Juden vor den syrisch-ptolemäischen Kriegen nach Phönizien geflohen (Jos c A p 1154). Zu Juden in Tyros vgl. ferner bell 2,478. 22 Vgl. F.HÜTTENMEISTER/G .REEG : Die antiken Synagogen in Israel, Beihefte zum TAVO Β 12/1, Wiesbaden 1977, 7f. Vgl. ferner den "Atlas of Israel" IX/9B, wo jüdische Siedlungen im (süd)-tyrischen Gebiet aus antiker Zeit verzeichnet sind. Diese schlichte Tatsache verdient es, m Erinnerung gerufen zu werden. R.PESCH, Markusevangelium, 387, meint z.B., das Gebiet von Tyros sei "heidnische Gegend". Richtig dagegen MAvi-Yonah, The Holy Land. From the Persian to the Arab Conquests (536 B.C. to A.D. 640), Grand Rapids 1966,130: "The territory of Tyre included quite a number of villages inhabited by Jews."

71

II. Kulturelle Verhältnisse im tyrisch-galiläischen Grenzgebiet In unserem Gebiet begegneten sich somit drei verschiedene kulturelle "Welten": Auf der einen Seite gab es seit je her den Gegensatz zwischen phönikischer und jüdischer Kultur. Über diesen Gegensatz schob sich die hellenistische Kultur, die zweifellos in weit größerem Maße die Städte erfaßt hatte als das Hinterland, zu dem man auch die jüdisch besiedelten Teile Palästinas zählen kann. Unsere Perikope läßt das Zusammentreffen dieser drei Kulturen noch erkennen. Die zu Jesus kommende Frau wird in Mk 7,26 als Έ λ λ η ν ί ς Συροφοινίκισσα τω γ έ ν ε ι charakterisiert. Damit wird wie in den folgenden Beispielen ein invariabler Faktor (die Herkunft) 24 mit einem variablen Aspekt (Kultur oder Wohnort) verbunden: Jos.vita 427:

Jos.cAp 1179f:

Philo, Abr. 251:

Die dritte Frau des Josephus wird charakterisiert als eine γυναίκα κατωκηκυϊαν μ.έν έν Κρήτη, το δε γένος Ίουδαίαν. Sie wohnt in Kreta, ist aber der Herkunft nach eine Jüdin. Aristoteles führt einen Dialog mit einem hellenisierten Juden, der nicht nur der Sprache, sondern auch der Gesinnung nach ein "Grieche" ist: το μεν γένος ήν 'Ιουδαίος έκ τής Κοίλης Συρίας 'Ελληνικός ήν ού τή διαλέκτω μ,όνον, άλλα και τή ψυχή. charakterisiert Hagar als "ihrer Abstammung nach zwar eine Ägypterin, nach ihren Anschauungen aber eine Hebräerin: γένος μ,έν Αϊγυπτίαν, την δέ προαίρεσιν Έβραίαν.

Die Charakterisierung der jeweiligen Person ist wie in Mk 7,26 (ebenso wie in Act 4,36 und 18,2) immer zweigliedrig. Diese Zweigliedrigkeit spricht gegen die Annahme, erst der Redaktor habe eine der beiden Charakterisierungen in Mk 7,26 hinzugefügt. 25 Die Doppelbezeichnung dürfte schon traditio24

In den folgenden Beispielen wird mit γένος die ethnische Herkunft bezeichnet. Act 4,36 und 18,2 sind Belege dafür, daß auch die geographische Herkunft mit diesem Wort gemeint sein kann: Barnabas ist Levit (d.h. jüdischer Herkunft im ethnischen Sinne) aus Kypern: Κύπριος τω γένει (Act 4,36). L.SCHENKE: Die Wundererzählungen des Markusevangeliums, SBB, Stuttgart 1974, 255, und HJ.KLAUCK, Allegorie und Allegorese in den synoptischen Gleichnistexten, NTA 13, Münster 1978, 273, halten "Griechin" für eine redaktionelle Zufügung. D.KOCH: Die Bedeutung der Wundererzählungen für die Christologie des Markusevangeliums, BZNW 42, Berlin/New York 1975, 87, läßt offen, welche der beiden Be-

72

nell sein. Auch Matthäus verbindet bei seiner Version der Perikope zwei Aspekte: ethnische und lokale Herkunft, wenn er von einer "Kanaanäerin aus jenen Gebieten" spricht (Mt 15,22). Die Pseudoklementinen sprechen von einer "Syrophönikerin, einer Kanaanäerin der Herkunft nach" (Ps. Klem. Horn II 19,1) und kombinieren so Markus- und Matthäusversion. Was läßt sich der Bezeichnung Έλληνίς entnehmen? Zumindest werden bei der Syrophönikerin griechische Sprachkenntnisse vorausgesetzt, wahrscheinlich jedoch weitgehende Integration in die griechische Kultur. So wenigstens haben die Pseudoklementinen die Notiz ausgedeutet. Die Syrophönikerin kauft in ihnen die beiden Brüder des Klemens auf: "Eine recht achtbare Frau, die sich dem Judentum angeschlossen hatte, Justa mit Namen, kaufte uns und hielt uns an Kindes Statt und erzog uns mit viel Aufmerksamkeit auf allen Gebieten der griechischen Bildung. Als wir in das verständige Alter kamen, gewannen wir den Kultus lieb und fanden Gefallen am Studium, damit wir durch Gespräche mit anderen Völkern diese in ihrem Irrtum überführen könnten. Aber auch mit den Lehren der Philosophen machten wir uns gründlich vertraut, besonders mit den höchst gottlosen des Epikur und des Pyrrhon, um sie desto besser widerlegen zu können." (Ps. Klem Horn XIII 7,3-4).

Das ist zwar romanhafte Erdichtung, illustriert aber gut, was man im dritten Jahrhundert n.Chr. einer "Griechin von syrophönikischer Herkunft" zutraute. Griechische Sprachkenntnisse schlössen dabei keineswegs Kenntnisse im Aramäischen aus. Die zweite Charakterisierung der Frau als Syrophönikerin hat u.U. auch den Sinn, verständlich zu machen, wie eine "Griechin" mit einem aus dem Hinterland kommenden jüdischen Wanderprediger sich sprachlich verständigen konnte. Zweisprachigkeit läßt sich für die tyrische Bevölkerung bis in neutestamentliche Zeit hinein belegen. Nach Josephus (ant 8,144; vgl. c.Ap. I 116) übersetzte Menander aus Ephesus tyrische Quellen ins Griechische. Aus phönikischen Kolonien im Ausland sind zweisprachige Inschriften erhalten: aus Delos Inschriften der Tyrer aus dem 4. und 1. Jhdt. v.Chr., aus Athen Inschriften der Sidonier aus dem 4./3. Jhdt. 27 Wenn selbst im Ausland die einheimische Sprache weiter gepflegt wurde, um wie viel mehr darf man für das Heimatland eine in allen Schichten lebendige phönikische Sprache annehmen. Mit Hilfe dieser einheimischen Sprache Zeichnungen sekundär ist. A.DERMIENCE: Tradition et rédaction dans la péricope de la Syrophénicienne: Marc 7,24-30, RTL 8 (1977) 15-29, dort 29, hält die zweite Bezeichnung für redaktionell. 26

CIS I Nr. 114 (Corpus Inscriptionum Semiticarum, Paris 1881). Dazu vgl. E.SCHÜRER: Geschichte des Jüdischen Volkes im Zeitalter Jesu Christi, III, Leipzig 1909, 97ff. Zu einer Inschrift aus dem lJhdt. vgl. R.DUSSAUD: Inscription phénicienne de Byblos d'époque romaine, Syria 6 (1925) 269-273. 27

Vgl. CIS I, Nr. 115-121.

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konnte sich eine Syrophönikerin gut mit einem Juden verständigen: Das palästinische Aramäisch und das Phönikische sind so eng verwandt, daß Josephus einmal die bei einem antiken Autor erwähnte "phönikische Sprache" stillschweigend als Sprache der Juden deuten kann (c.Ap. 1173). Die Syrophönikerin ist also eine hellenisierte Phönikerin, die auf dem ländlichen Stadtterritorium von Tyros auf einen galiläischen Propheten stößt. Hier begegnen sich zwei verschiedene "soziale Welten" Ihre Distanz mag eine Notiz des Josephus über Chabulon, eine kleine Stadt auf der Grenze zwischen Ptolemais und Galiläa, illustrieren: Cestius Gallus brannte sie nieder, "obwohl sie Häuser von außerordentlicher Schönheit besaß, die in ähnlicher Weise wie in Tyros, Sidon und Berytos erbaut waren" (bell 2, 504). Diese Häuser im hellenistischen Stil erschienen offenkundig wie Fremdkörper unter den einfachen Behausungen galiläischer Dörfer. Ähnlich dürfen wir uns die Syrophönikerin vorstellen: eine fremde Erscheinung im ländlichen Hinterland ihrer Stadt, dort, wo noch viele Juden wohnten.

III. Soziale Schichtung und hellenistische Kultur in den phönikischen Stadtrepubliken Die Charakterisierung der Syrophönikerin als "Griechin" gibt uns einen wertvollen Hinweis auf die soziale Schicht, der sie von den Tradenten und Adressaten der Geschichte zugerechnet wurde: Griechische Sprachkenntnisse und Kultur sprechen für eine Oberschichtangehörige, denn die Hellenisierung hatte überall zunächst die oberen Schichten ergriffen.28 Und noch lange gab es in der einfachen Bevölkerung viele Menschen, die kein Griechisch verstanden: 29 a) In Skythopolis übersetzt zur Zeit Diokletians ein Beamter die Predigt im Gottesdienst aus der griechischen in die aramäische Sprache - doch nur deshalb, weil sonst einige nichts verstanden hätten.30 b) In Jerusalem werden Predigt und Predigttext aus dem Griechischen ins "Syrische"

28 Vgl. MAVI-YONAH, The Holy Land, 213: T h e coastal Philistines and Phoenicians became hellenized, at least as far as their upper classes were concerned." 29

Vgl. zum folgenden E.SCHÜRER, Geschichte, 85, Anm. 243.

30

Vgl. B.VIOLET (ed.): Die palästinischen Märtyrer des Eusebius von Cäsarea, TU 14,4, Leipzig 1896, 4: Prokopius hat in der Kirche drei Ämter: Er ist Lektor, "in einer anderen Stellung (Amte) übersetzt er griechische Sprache ins Aramäische", schließlich ist er noch Exorzist. So die syrische Überlieferung. In der griechischen Überlieferung fehlt dieser Abschnitt.

74 (= Aramäische) und Lateinische übersetzt. In dem Reisebericht heißt es, es sei immer jemand da, "qui siriste interpretatur propter populum, ut semper discant". Wenn die Übersetzung propter populum geschieht, so ist zweifellos das einfache und ungebildete Volk gemeint. 31 c) In Gaza spricht um 400 n.Chr. ein Knabe aus dem Volk nur Aramäisch. Seine Mutter versichert, daß weder sie noch ihr Kind Griechisch sprechen.32

Zwar waren griechische Sprachkenntnisse auch bis in die Unterschichten gelangt - griechische Inschriften gegen Grabräuberei in Palästina wären sonst sinnlos.33 Aber eine einfache Frau mit wenig Griechisch-Kenntnissen würde man kaum als "Hellenin" charakterisiert haben, so wenig man einen Deutschen mit durchschnittlichen Englischkenntnissen "anglophil" nennen würde. Für die Hörer und Leser von Mk 7,24-30 war eine "Hellenin" gewiß etwas Besseres. Das gilt auch für die Pseudoklementinen. Sie machen aus ihr eine wohlhabende Frau: Sie kauft schiffbrüchige Knaben als Sklaven auf und läßt ihnen eine griechische Bildung zuteil werden (Ps. Klem Horn XIII 7,3f). Ihre Tochter bleibt unverheiratet. Sie heiratet einen armen Gläubigen (einen πένης Horn II 20,2). Die Geschichte ihrer Familie soll demonstrieren, daß man des Glaubens wegen bereit sein muß, auf Status und Reichtum zu verzichten. Wie gesagt: all das ist romanhafte Ausgestaltung. Aber die Geschichte von der Syrophönikerin hat offensichtlich in diese Richtung die Phantasie angeregt. Es gibt im übrigen noch ein zweites aber sehr unscheinbares Indiz für einen relativen Wohlstand der Syrophönikerin. Markus spricht in dieser Geschichte von einer κλίνη, nicht von einem κράβαττος (= Matratze, Strohsack; vgl. Mk 2,4.9.12; 6,55; Joh 5,8ff). Er wählt also den gehobeneren Ausdruck: κράβαττος galt als vulgär. Der attizistische Lexikograph empfiehlt, σκίμπους zu schreiben.34 Sozomenos überliefert die Anekdote, daß ein zyprischer Bischof öffentlich von einem anderen Bischof kritisiert wurde, als er in 31

S.SILVIAE: Peregrinado ad loca sancta 47,4, in: Itinera Hierosolymitana saeculi IIIIVIII, ed. P.Geyer, CSEL 39, Prag/Wien/Leipzig 1898,99. 32

Vgl. H.GRÉGOIRE/MA.KUGENER (eds.): Marc le diacre: Vie de Porphyre évaque de Gaza, Paris 1930, Kap. 68, 55. Zu berücksichtigen ist hier das legendarische Motiv: Daß das nur Syrisch sprechende Kind auch in Griechisch prophezeit, gilt als großes Wunder. 33

Ich denke an die bekannte Nazareth-Inschrift. Dazu vgl. B.M. METZGER: The Nazareth Inscription Once Again, in: Jesus und Paulus, FS W.G.KUMMEL, Göttingen 1975, 221-238. 34

Phrynichus XLIV, vgl. The New Phrynichus being a revised text of the Grammarian Phrynichus, ed. W.G.RUTHERFORD, London 1881, 137f. Es sei nicht verschwiegen, daß Markus an anderer Stelle in der Perikope das von Phrynichos abgelehnte Wort κυνάριον benutzt anstelle des von diesem empfohlenen κυνι'Βιον (vgl. Phrynichos L).

75 dem Text "Steh auf, nimm dein Bett und wandle" κράβαττος durch den vornehmen Ausdruck σκίμπους ersetzte: "Bist du etwa besser als der, der κράβαττος sagte, daß du dich schämst, dieses Wort zu benutzen" (Sozomenos, hist. eccl. I 11.23,40-24,5). Wenn Mk also das ihm geläufige Wort κράβαττος vermeidet, das er nicht nur in einer von ihm übernommenen Wundergeschichte, sondern auch in einem von ihm gestalteten Summarium ( 6 , 5 5 ) benutzte, so könnte die Wortwahl ein Hinweis auf die "besseren wirtschaftlichen Verhältnisse" der Syrophönikerin sein (J.Gnilka). 3 5 Wir können noch einen Schritt weiter gehen: Wenn die Syrophönikerin eine "Hellenin" ist, so sagt das wahrscheinlich auch etwas über ihren rechtlichen Status: In den hellenistischen Stadtrepubliken bildeten die "Griechen" die freie Bürgerschaft. Bildung und staatsrechtliche Position waren eng verbunden. Das Gymnasium war Voraussetzung für die Vollbürgerschaft. H.Bengtson vermutet daher: "Hellenen" bezeichnet "alle Männer und Frauen, die in den syrisch-phönikischen Städten zu der staatsrechtlich privilegierten Oberschicht, den "Hellenen", gehörten, ohne Rücksicht auf ihre völkische Herkunft und Abstammung. Wenn im Evangelium des Markus VII,26 von einer "Griechin", der Abstammung nach Syrophönikerin, die Rede ist, so kann dieser Gegensatz nur so erklärt werden, daß die Frau der privilegierten Gruppe der "Hellenen" angehörte, obwohl sie eine gebürtige Syrophönikerin war." 36 Als "Hellenin" stand sie in noch größerer Distanz zu den Bewohnern des jüdischen Hinterlands denn als Syrophönikerin. 37 Vgl. J.GNILKA, Mk, 293. Anzumerken ist noch: Mk kennt auch den Begriff κλίνη. Dessen Gebrauch ist in 4,41 und 7,4 jedoch motiviert: Einen Leuchter kann man allenfalls unter ein Bett setzen, nicht aber unter eine Matratze (4,21). Ebenso kann man leichter ein festes Bett "abwaschen" (7,4). Zu viel kann man aus der Wortwahl nicht herauslesen. Erst in Verbindung mit der Charakterisierung der Syrophönikerin als "Griechin" ist sie von Bedeutung.

35

So H.BENGTSON, in: P.Grimal (ed.): Der Hellenismus und der Aufstieg Roms. Die Mittelmeerwelt im Altertum II, Fischer Weltgeschichte 6, Frankfurt 1965, 252.

36

Aufgrund einer Analyse der mit dem Begriff "Syrophönikerin" gegebenen Assoziationen kommt A.DERMIENCE, Tradition et rédaction, 21f zu ganz anderen Ergebnissen. Er weist darauf hin, daß "Syrophoenix" als feminine Form außerhalb des NT nirgendwo belegt ist, die maskuline Form zunächst bei zwei lateinischen Autoren begegnet (Lucilius fgm. 486-7 und Juvenal 8,159). Bei diesen Autoren hat der Begriff einen deutlich abwertenden Sinn. Daraus folge: "on peut déduire que le féminin évoquait une femme peu recommandable, voire une prostituée." (23). Aber das ist m.E. eine unzulässige Folgerung. Die negativen Assoziationen bei den lateinischen Autoren beziehen sich auf das Geschäftsgebaren (vgl. Lucilius fgm. 496f: "und dieser verdammte Pfennigfuchser, dieser Syrophönizier, was machte der gewöhnlich in solchem Falle"), und sie sind als ein römisches Vorurteil zu bewerten: Die Römer (und z.T. auch die Griechen) schauten auf die Orientalen herab. Der aus Kleinasien stammende Philosoph und Rhetor Euna37

76

IV. Die ökonomischen Verhältnisse im tyrisch-galiläischen Grenzgebiet Diese Distanz zwischen Tyros und seinem z.T. jüdisch besiedelten Hinterland wurde durch ökonomische Faktoren verschärft. Tyros war eine reiche Stadt. Ihr Reichtum basierte auf Metallbearbeitung, Purpurproduktion (vgl. Plin. nat V 19,75; Strabo XVI 2,23) und einem ausgedehnten Handel über das ganze Mittelmeer.38 Ihre Währung war eine der stabilsten Währungen des Altertums in unserer Zeit: Sie blieb über Jahrzehnte hinweg ohne nennenswerte Münzverschlechterung,39 gewiß einer der Gründe, warum der Tempelschatz in tyrischer Münze angelegt wurde - und dafür sogar in Kauf genommen wurde, daß die tyrischen Münzen den Gott Melkart abbildeten. Tyros hatte jedoch ein Problem: Das ländliche Territorium von Tyros war von den natürlichen Gegebenheiten her begrenzt.40 Tyros lag auf einer Insel und auf dem Festland war die landwirtschaftlich nutzbare Fläche gering. Hinsichtlich der landwirtschaftlichen Versorgung war die Stadt von Importen abhängig. Diese Abhängigkeit bildet eine der Konstanten in der Geschichte von Tyros. Schon im AT finden sich Hinweise auf diese Abhängigkeit: Salomo liefert Weizen und Öl an Hiram von Tyros (IReg 5,22-25). Josephus drückt sich noch klarer aus: Salomo habe an König Hiram "jedes Jahr Getreide, Wein und Öl geschickt, die er deswegen fortwährend brauchte, weil er eine Insel bewohnte" (ant 8,141; vgl. auch ant 8,54). Nach Hezekiel liefern Judäa und Israel Weizen, Gummi, Wachs, Honig, Öl und Balsam an Tyros (Ez 27,17). Kein Wunder, daß eine Dürre in Palästina auch im tyrisch-sidonischen Gebiet zur Hungersnot führt (IReg 17,7-16). Aus den in ant 14,190-216 gesammelten Dekreten Cäsars zugunsten der Juden erfahren wir weitere Einzelheiten: Wir hören von jährlichen Weizenexporten aus Joppe nach Sidon (ant 14,206). Wichtiger noch ist die Zusicherung: "...daß die Söhne (des Hyrkan) über das Volk der Juden herrschen sollen und ihnen der Ertrag der ihnen gegebenen Orte zusteht (καρπίζωνταί)" (ant 14,196). Diese Zusicherung bezieht sich auf ganz Judäa pios (4. Jhdt. n.Chr.) lobt dagegen die Syrophöniker wegen ihrer angenehmen Konversation (Eunap. vita soph. 4%). Zu zwei Belegen mit weiblichem "Syraphoenix" vgl. Anm. 54. 38

Zur Geschichte von Tyros vgl. W.FLEMMING: The History of Tyre, New York 1915; NJIDEJIAN: Tyre through the ages, Beirut 1969.

39

A.BEN-DAVID: Jerusalem und Tyros. Ein Beitrag zur palästinensischen Münz- und Wirtschaftsgeschichte (126 a.C. - 57 p.C.), Basel/Tübingen 1969, spricht (S.8) von der "einzigartige(n) Wertbeständigkeit" der tyrischen Münze, die er mit einer Graphik (S.14) veranschaulicht. 40

Vgl. dazu S.FREYNE, Galilee, bes. 114-121.

77 und Galiläa. Bezeichnenderweise aber soll das Dekret in Sidon, Tyros und Askalon öffentlich aufgestellt werden (ant 14,197) - als sei es in diesen Städten besonders notwendig, klarzustellen, daß nicht sie den Anspruch auf die Erträge des jüdischen Landes hatten. Das wird im zweiten Dekret noch deutlicher. In ihm steht unter anderem die Bestimmung: "Alle Orte, Landstriche und Siedlungen, die den mit den Römern verbündeten Königen Syriens und Phönikiens gehörten und deren Erträge ihnen durch Schenkung zukamen (καρποϋσθαι), sollen nach Beschluß des Senats dem Ethnarchen Hyrkan und den Juden gehören!" (ant 14,209). Die "Könige Syriens und Phönikiens" können nur Dynastien in den hellenistischen Städten sein,41 die Pompejus "befreite" Sie hatten ein elementares Interesse an den (landwirtschaftlichen) Erträgen ihres Hinterlandes. Den aufschlußreichsten Beleg für diese Abhängigkeit Tyros' und Sidons von der landwirtschaftlichen Produktion des galiläischen Hinterlandes bietet das Neue Testament selbst. Unter Agrippa I. (4144 n.Chr.) droht ein regelrechter Wirtschaftskrieg: "Er (Herodes Agrippa I) war aber heftig erbittert gegen die Bewohner von Tyros und Sidon. Da kamen sie einmütig zu ihm, und nachdem sie Blastus, den Kammerherrn des Königs, gewonnen hatten, baten sie um Frieden, weil ihr Land aus dem des Königs seine Nahrungszufuhr bekam" (Act 12,20).

Zu Berytos gab es dagegen entspanntere Beziehungen: Agrippa II. spendete der Stadt Getreide und Öl (ant 20,212). Von Exporten aus Galiläa in die hellenistischen Küstenstädte hören wir weiter aus der Zeit des Jüdischen Krieges. In einem obergaliläischen Dorf wurde z.B. dem Kaiser gehörendes Getreide gestapelt (vita 71). Wir hören von Getreidevorräten der Königin Berenike in Besara (vita 119). In beiden Fällen war es zum Export bestimmt. Rabbinische Quellen bestätigen diese Getreideexporte. 42 Sie erwähnen Eselkarawanen, die aus dem Innern des Landes Getreide nach Tyros bringen (Jer. Demai I 3; Cant. R. 5,14). In Tyros gab es einen großen Getreidemarkt (p AbZar 4, 39d). Archäologische Untersuchungen haben im übrigen die enge Verflechtung von Galiläa, besonders von Obergaliläa und Tyros bestätigt: Im Unterschied zu Untergaliläa war der nördliche Teil Galiläas ganz auf die phönikischen Kü-

41

So z.B. der Tyrann Marion in Tyros, der ca. 43 v.Chr. vorübergehend galiläisches Gebiet eroberte (vgl. bell l,238f; ant 14,298).

42

Vgl. A.BEN-DAVID: Talmudische Ökonomie I, Hildesheim 1974, 239-243, zum Handel mit den hellenistischen Städten: "Als Getreidemärkte werden genannt: Tiberias und Sepphoris, Arab, ein Flecken in der Umgebung von Sepphoris, und das selbständige Tyros, das das Ziel der Getreidestraße von Galiläa über Kesib war, und wo regelmäßig von jüdischen Eseltreiber-Händlern (hebr. Chamaroth Be-Zor, d.h. Eseltreiber in Tyros) Getreide gekauft wurde." (186).

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stenstädte ausgerichtet.43 Halten wir fest: Tyros war eine reiche Stadt, die im Hinterland Agrarprodukte aufkaufen mußte. Reichten die "normalen" Mittel nicht aus, so mußte man zur Bestechung greifen, um doch noch ans Ziel zu kommen (vgl. Apg 12,20). Das galiläische Hinterland und das (z.T. von Juden besiedelte) ländliche Territorium der Stadt waren die "Brotlieferanten" der tyrischen Metropole. Bei den periodisch eintretenden Versorgungskrisen44 war von vornherein klar, wer am längeren Hebel saß: Tyros war finanziell stark genug, um selbst in Krisensituationen Getreide anzukaufen. Aber auch in "normalen" Zeiten werden die Bauern in den jüdisch besiedelten Gebieten oft (mit Recht) das Gefühl gehabt haben, für die reichen Städter produzieren zu müssen, während sie selbst dürftig lebten. Die jüdische Landbevölkerung im Hinterland der hellenistischen Städte teilte damit das allgemeine Schicksal des Landes: Beim Verteilungskampf um Lebensmittel zwischen Stadt und Land zog es meist den kürzeren. Nach Galen ist die Nahrungsmittelknappheit auf dem Lande oft ein Problem. Er schreibt über Hungersnöte: "Die Stadtbevölkerung, die, wie es Sitte ist, im Sommer genügend Lebensmittel für das ganze Jahr einlagert, nimmt allen Weizen von den Feldern, zusammen mit der Gerste, den Bohnen und den Linsen, und sie läßt der Landbevölkerung nur die übrigen Hülsenfrüchte zurück, obwohl sie selbst davon noch den größten Teil mit in die Städte schafft. Die Landbevölkerung hat dann, wenn die Wintervorräte aufgebraucht sind, durch den Sommer hindurch nur eine ungesunde Nahrung. Die Menschen auf dem Lande essen dann Schößlinge und Wurzelsprossen von ungesunden Pflanzen." (Galen, de probis pravisque alimentorum succis, cap.l; ed. Kühn VI 749f).

In dieser Situation gewinnt das Jesuswort in Mk 7,27 seine Aussagekraft: "Laßt zuerst die Kinder satt werden! Denn es ist nicht gut, das Brot der Kinder zu nehmen und es den Hunden hinzuwerfen"45 Dieses zunächst so an43

E.M.MEYERS: The Cultural Setting of Galilee. The Case of Regionalism and Early Judaism, ANRW II 19,1, Berlin 1979, 686-702; R.S.HANSON, Tyrian Influence in the Upper Galilee, Meiron Excavation Project Nr.2, Cambridge Mass. 1980, belegt diese ökonomische Ausrichtung Obergaliläas auf Tyros durch Münzfunde aus dem MeironGebiet: "For the 1st century C.E., coins from Tyre account for almost half of our total supply" (53). 44

Nur ein Teil der regionalen Versorgungskrisen sind uns bekannt. JJEREMIAS, Jerusalem, 157-161, hat die bekannten Notzeiten für Jerusalem zusammengestellt. 45 Die Einleitung in v.27b ού γάρ εστίν καλόν erinnert an die Tobsprüche weisheitlicher Überlieferung. Die Tobsprüche haben die Struktur: Besser...als". In Mk 7,27 wird diese Struktur sprachlich nicht realisiert, liegt jedoch als gedankliche "Tiefenstruktur" vor. Sinngemäß wird gesagt: "Es ist besser, die Kinder zu sättigen als die Hunde unter dem Tisch." Insofern klingt ein Tobspruch an. Vgl. zu dieser Gattung G.F.SNYDER:

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stößige Wort mußte folgende Assoziationen wecken: "Laßt zuerst die armen Leute im jüdischen Hinterland satt werden. Denn es ist nicht gut, das Brot der armen Leute zu nehmen und es den reichen Heiden in den Städten hinzuwerfen." Wohlgemerkt: Es wird nicht behauptet, das Wort Jesu habe dies sagen wollen. Der denotative Kern dieser Aussage besagt nur: So wie man Kinder den Hunden vorzieht, so gilt die erste Sorge den Juden. Aber um diesen denotativen Kern liegt ein durch die geschichtliche Situation bedingter assoziativer Hof ausgelöst durch die Wahl des Bildes: Wer im tyrisch-galiläischen Grenzgebiet vom Brot sprach, von Kindern ( = Juden) und Hunden ( = Heiden), sprach damit die allgemeinen ökonomischen Verhältnisse an, die von einem eindeutigen Gefälle bestimmt waren, das im Wort Jesu ebenso eindeutig umgekehrt wird. Vielleicht konnte Jesus bei seiner Antwort an ein von diesen Verhältnissen geprägtes bekanntes Sprichwort anknüpfen.

V. Die politischen Verhältnisse im tyrisch-galiläischen Grenzgebiet Handel war nur ein Weg, die landwirtschaftliche Versorgung der Stadt zu sichern. Ein anderer war territoriale Expansion, sei es mit friedlichen, sei es mit kriegerischen Mitteln. Solch eine territoriale Expansion nach Süden und Südosten lag um so näher, als Tyros keine "natürliche" Grenze gegenüber Galiläa hatte. 46 Landschaftlich gingen diese Gebiete der Heiden und Juden allmählich ineinander über. Die Versuchung, sich auf Kosten des jüdischen Hinterlandes auszudehnen, war groß. Wir hören schon im Alten Testament von einer tyrischen Expansion nach Süden: Hiram von Tyros kaufte Salomo 20 galiläische Orte ab - ein Kauf, den The Tobspruch in the New Testament, NTS 23 (1977) 117-120. TA.BURKILL: The historical development of the story of the Syrophoenician woman (Mark vii 24-31), NT 9 (1967) 161-177, nimmt ein Sprichwort wie "Charity begins at home" an (dort 175f). Ausgangspunkt der ganzen Traditionsgeschichte sei ein entsprechendes judenchristliches Logion v.27b, das sekundär in eine Wundergeschichte eingebettet und tertiär durch v.27a abgeschwächt wurde. 46

Vgl. S.FREYNE, Galilee, 8: "Finally we reach the northern boundaries of Galilee, and it is significant that the physical features here are much more complex and that no outstanding natural boundary suggests itself to mark off the region in any particular direction. Perhaps we should not then be surprised to find that the political boundaries have apparently reflected this confusion of nature." Zum tyrischen Expansionsstreben vgl. dort 6f, 120: "Tyre ... has a history of personal encroachment into Galilean territory from the days of Salomon to Caesar. Thus it poses the threat not of the invader but of the permanent aggrandizer".

80 Josephus in den tyrischen Stadtarchiven bestätigt gefunden haben will (vgl. 1 Reg 9,10-14; Jos c. Αρ. I 110). In persischer Zeit geht die Expansion nach Süden weiter.47 Die Perser teilten die palästinische Küstenregion im Wechsel Sidon und Tyros zu. Diese Expansion der phönikischen Küstenstädte Sidon und Tyros nach Süden hatte z.T. dauerhaften Erfolg. Josephus spricht vom Karmelgebirge, "das einst zu Galiläa gehörte, jetzt aber tyrisch ist" (bell 3,35). Kedesa wird von Josephus zur Zeit des Jonathan (152-143 v.Chr.) als Ort zwischen dem Land der Tyrer und Galiläa charakterisiert (ant 13, 154),48 z.Zt. des Jüdischen Krieges gehört es dagegen eindeutig zum tyrischen Territorium. Josephus beschreibt es als "Dorf, das den Tyrern gehört und ständig in Feindschaft und Kriegszustand mit den Galiläern lebt" (bell 4,105). Die interessenbedingte Politik der Tyrer, ihr landwirtschaftliches Versorgungsgebiet möglichst selbst zu kontrollieren, war in römischer Zeit schwer durchzusetzen: Zwar hatten die Römer Tyros für frei erklärt (Strabo XVI 2,23)49 und Mark Antonius hatte sich geweigert, die Stadt an Kleopatra zu schenken (ant 15,95); aber Augustus hatte bewußt die Entstehung eines großen zusammenhängenden jüdischen Territoriums unter Herodes gefördert. Der gestärkte jüdische Nachbar erschwerte jede Ausdehnung nach Südosten hin. Dazu kam, daß Augustus 20 v.Chr. Tyros und Sidon verfassungsrechtlich wohl wegen innerer Anarchie vorübergehend degradiert hatte (vgl. Dio Cassius 54, 7,6; allgemein Sueton Augustus 47).50 Expansionsmöglichkeiten gab es allenfalls nach Osten. Bezeugt ist sie nur für die Nachbarstadt Sidon, die im 1. Jahrhundert eine gemeinsame Grenze mit Damaskus hatte (vgl. ant 18,153). Hatte der König Herodes es noch verstanden, ein gutes Verhältnis zu Tyros aufrechtzuerhalten, so lebten andere herodäische Fürsten in einem gespannten Verhältnis zu Tyros: Herodes Agrippa hatte schon als "Privatmann" die Interessen der Damaskener gegen die Sidoner vertreten (ant 18,153f). Als König führte er einen regelrechten Wirtschaftskrieg gegen Tyros und Sidon (Act 12,20). Herodes Agrippa II. wurde sogar von den Tyrern als "Feind der 47

Vgl. zum folgenden MAVI-YONAH, The Holy Land, 30f.

48

Kedesa wird auch in den Zenonpapyri als Kydisos erwähnt (PCZ 59004 = CPJ Nr. 2a), das ist jedoch m.E. kein Beleg dafür, daß Kedesa im 3. Jhdt. tyrisch war (gegen MAVI-YONAH, The Holy Land, 130), obwohl es geschichtlich wahrscheinlich ist. 49

Das ging wohl nicht ohne Bestechung des römischen Generals Scaurus, dem zu Ehren die Tyrer eine Inschrift aufstellten. Vgl. zu dieser interessanten Geschichte NJIDEJIAN, Tyre, 102f.

50

Vgl. NJIDEJIAN, Tyre, 88.

81 Römer und Tyrer" bei Vespasian im Jahre 67 n.Chr. denunziert (Jos. vita 74). Solche Spannungen beruhten nicht nur auf persönlichen Animositäten, sondern spiegeln einen unvermeidlichen Interessenkonflikt wider: Die Herodäer standen der tyrischen Expansion nach Süden im Wege. Langfristig hat diese Expansion Erfolg gehabt: Ursprünglich erstreckte sich Tyros nur bis zur sogenannten "tyrischen Leiter", einer Stelle, an der das Gebirge nahe ans Meer kommt. In den rabbinischen Quellen ist dagegen das Wadi Qarn die Grenze geworden.51

VI. Die sozialpsychologischen Verhältnisse im tyrisch-galiläischen Grenzgebiet Ökonomische Abhängigkeit, politisches Expansionsstreben und eine kulturelle Distanz waren ein günstiger Nährboden für aggressive Vorurteile von beiden Seiten. Es gibt eine Reihe von Belegen, die dafür sprechen, daß die Tyrer in besonderer Weise gegen die Juden eingestellt waren. Josephus schreibt: "Die negativste Einstellung uns gegenüber haben die Ägypter insgesamt, unter den Phönikern aber die Tyrer" (c.Ap 1,70). Die Aussage über die Tyrer dürfte richtig sein: Während die Sidoner am Anfang des Jüdischen Krieges ihren Juden nichts zuleide taten (bell 2,479), während Berytos ein Zufluchtsort für den König Agrippa II. und seine Schwester Berenike war (vita 49; 357), gingen die Tyrer gegen ihre jüdische Minorität mit Gewalt vor (bell 2,478) - auch wenn die Übergriffe in ihrer Stadt nicht so exzessiv waren wie in Skythopolis und Caesarea. Es war nicht das erste Mal, daß es zu derartigen Übergriffen gekommen war. Schon zur Zeit des Tyrannen Marion war in Tyros jüdischer Besitz beschlagnahmt und jüdische Bevölkerung versklavt worden. Nach seinem Sieg über Cassius hatte Mark Antonius die Rückgabe des Besitzes und die Freilassung der Versklavten angeordnet (ant 14,313. 317. 321). Die Übergriffe am Anfang des Jüdischen Krieges führten zu weiteren Aktionen gegen die aufständischen Juden: Ein tyrisches Heer erschien vor Gischala und verbrannte den Ort (vita 44) - möglicherweise als Rache für die Zerstörung des tyrischen Kedesa (bell 2,459). Antijüdische Züge trägt auch die Verleumdung des Königs Agrippa II. durch die Tyrer bei der Ankunft des Vespasian im Osten: Das βλασφημ,εΐν τον βασιλέα (vita 407) ist wohl nur

Vgl. M A V I - Y O N A H , The Holy Land, 129f, der die Südverlagerung der Grenze (aufgrund von Inschriften) ins 3. Jahrhundert n.Chr. datiert.

51

82 Sonderfall einer Schmähung von Juden überhaupt. Insgesamt gilt für Tyros, was Josephus generell über die hellenistischen Städte und ihre Soldaten sagt: "Auch aus den Städten waren viele Hilfstruppen zusammengezogen worden, die zwar an Kriegserfahrung hinter den Berufssoldaten zurückstanden, durch ihren Kampfeseifer und Judenhaß jedoch das, was ihnen an kriegerischer Ausbildung noch mangelte, ersetzten" (bell 2,502). Angst und Mißtrauen gegenüber den Juden waren übrigens auch in der christlichen G e m e i n d e in Tyros lebendig. Als Paulus auf seiner letzten Reise nach Jerusalem hier Station machte, wurde er von ihr eindringlich davor gewarnt, nach Jerusalem zu ziehen (Apg 21,3-6). Einige Indizien sprechen dafür, daß die Vorurteile auf der anderen Seite nicht geringer waren: Gerade aus dem Grenzland zwischen Galiläa und den hellenistischen Mittelmeerstädten hören wir von rebellischen Gruppen, bei denen man Übergriffe gegen die "Griechen" und Syrer annehmen darf. Johannes von Gischala sei als Beispiel genannt Genaueres erfahren wir über die Gegend um Chabulon - also dem Grenzland zwischen Ptolemais und Galiläa. Im sogenannten "Räuberkrieg" sendet Varus Truppen von Ptolemais in diese Gegend, um Aufrührer zu bekämpfen (ant 17,288f; bell 2,68). Das wiederholt sich unter Cestius am Anfang des Jüdischen Krieges (bell 2,503). In dieser Gegend ist der Räuberhauptmann "Jesus" tätig, der gegen Josephus kämpfen soll (vita 104f). Aus der Aktivität solcher Rebellen läßt sich m.E. auf Feindseligkeit gegen die hellenistischen Städte schließen. Diese Feindseligkeit hatte eine lange Tradition. Bekannt waren die prophetischen Fremdvölkersprüche, die Tyros als reiche und gottlose Stadt verurteilten (vgl. Am l,9f; Jes 23; Jer 25,22; 47,4; Ez 26-28; Joel 3,4; Sach 9,2). Der synoptische Prophetenspruch Mt 11,2124 setzt diese Tradition fort: "Wehe dir Chorazin! Wehe dir, Bethsaida! Denn wären in Tyrus und Sidon die Wundertaten geschehen, die in euch geschehen sind, sie hätten längst in Sack und Asche Buße getan." Angesprochen sind kleine galiläische Orte, von denen Chorazin fast völlig unbekannt ist. Zwar kann man dem Spruch die Tendenz entnehmen, die ausländischen Städte moralisch gegen die einheimischen Dörfer auszuspielen - aber selbstverständliche Voraussetzung ist, daß Tyros und Sidon bei den Adressaten als ebenso verwerflich wie Sodom und Gomorrha gelten. Erst dann erhält der Spruch seine aggressive Schärfe: Die Galiläer sind nicht besser als diese verworfenen Städte. (Aufschlußreich ist übrigens: Bei Sodom ist vom "Land" Sodom die Rede - nicht von der Stadt. Damit wird die Übertragbarkeit auf die ländlichen Verhältnisse der Adressaten erleichtert.) Fassen wir zusammen: Die Geschichte von der syrophönikischen F r a u wird m . E . viel verständlicher, wenn Erzählern und Adressaten die Verhältnisse im galiläisch-tyrischen Grenzgebiet vertraut waren. Aggressive Vorurteile, durch ökonomische Abhängigkeitsverhältnisse aufrechterhalten und durch religiöse Traditionen legitimiert, erschwerten die Beziehungen zwischen den stärker hellenisierten Tyrern und der jüdischen Bevölkerung, die als Nachbarn oder als Minorität in Tyros - teils in der Stadt, teils auf dem L a n d - lebten. W a h r scheinlich nahmen die ökonomisch stärkeren Tyrer oft der jüdischen Landbe-

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völkerung das Brot weg, wenn sie mit ihren überlegenen finanziellen Mitteln im Hinterland Getreide aufkauften. Denkbar ist, daß eine sprichwörtliche Redewendung diesen Sachverhalt geißelte: Soll man den eigenen Kindern das Brot wegnehmen, um es den Hunden (d.h. den Heiden) zu geben? Das Besondere der Geschichte Mk 7,24ff ist dann: Hier sind die Gewichte von vornherein anders verteilt. Eine Vertreterin der tonangebenden hellenisierten Schicht kommt hilfesuchend und bettelnd zu einem Wanderprediger und Exorzisten aus dem jüdischen Hinterland. Sie erfleht Hilfe von dem Angehörigen einer Bevölkerung, die sonst immer den kürzeren zog. Schroff wird sie auf das normale Abhängigkeitsverhältnis hingewiesen. Wäre es nicht gerecht, wenigsten jetzt die eigenen Gaben nicht den Fremden zukommen zu lassen! Hinter dem zynischen Wort Jesu steht in realen Verhältnissen begründete Bitternis. Die hier vorgelegte Lokalkoloritstudie hat als Ergebnis, daß die Geschichte wahrscheinlich palästinischen Ursprungs ist. Sie setzt ursprünglich Erzähler und Hörer voraus, die mit den konkreten lokalen und sozialen Verhältnissen im tyrisch-galiläischen Grenzgebiet vertraut sind. Es erscheint daher schwieriger als zuvor, die Entstehung der Geschichte ausschließlich auf urchristliche Auseinandersetzungen um die Legitimität der Heidenmission zurückzuführen - Auseinandersetzungen, von denen wir aus Jerusalem, Caesarea und Antiochien hören. Konkreteres ist im Blick. Prinzipiell kann nicht ausgeschlossen werden, daß die Geschichte einen historischen Kern hat: eine Begegnung Jesu mit einer hellenisierten Syrophönikerin. Unsere Lokalkoloritstudie wäre damit abgeschlossen. Sie erhebt nicht den Anspruch, die Geschichte von der Syrophönikerin umfassend auszulegen. Abschließend aber sei die Frage gestellt, ob nicht auch für das tiefere Verständnis dieser Perikope etwas "herausgekommen" ist. Wenn die oben entfalteten Überlegungen richtig sind, so läge das Wunder nicht nur in der Fernheilung, sondern in der Überwindung einer ebenso trennenden Ferne: der von Vorurteilen geprägten Distanz zwischen Völkern und Kulturen, wobei die trennenden Vorurteile nicht einfach böswillige Nachrede sind, sondern in den sozialen, ökonomischen und politischen Verhältnissen zweier Nachbarvölker ihre reale Basis haben. Die syrophönikische Frau vollbringt das, was uns heute als ebenso wunderbar erscheint wie das eigentliche Wunder: Ein zynisches Bild wird von ihr aufgegriffen und so "umstrukturiert", daß es einen neuen Blick auf die Situation zuläßt und von Vorurteilen belastete zwischenmenschliche Grenzen durchbricht. Wie ist diese Umstrukturierung des Bildes möglich? Zwei Aspekte sind hervorzuheben: Einerseits kann die Frau an die Wertschätzung der Kinder in der Bildhälfte von Mk 7,27 anknüpfen und diese Wertschätzung gegen die faktische Geringschätzung der Not ihres eigenen

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Kindes "ausspielen". Sie kann aus dem Bild durch die schroffe Ablehnung hindurch eine positive Haltung gegenüber Kindern heraushören. Und wenn sie sich für ein Kind einsetzt, so realisiert sie nur, was in der Bildhälfte des Wortes gutgeheißen wird. Auf eine Formel gebracht: Sie kann Bildhälfte gegen Sachhälfte ausspielen.52 Gleichzeitig gelingt es ihr, das Schimpfwort "Hund" positiv auszuwerten. Vermutlich kann sie sich dabei auf positive Assoziationen stützen, die mit Hunden verbunden sind. Obwohl dies Tier bei allen Völkern das Repertoire menschlicher Schimpfwörter bereichert, wird ihm doch mit Recht eine positive Eigenschaft nachgerühmt: seine beharrliche Treue. Eine rabbinische Anekdote mag illustrieren, daß man diese Seite des Hundes kannte und schätzte: "Hirten hatten einmal gemelkt; es kam eine Schlange und fraß von der Milch. Der Hund (der die Schlange beobachtet hatte) sah, daß die Hirten sich niederließen, um (von der Milch) zu genießen; er begann sie anzubellen, sie aber achteten nicht darauf; zuletzt machte er sich auf, fraß (von der Milch) und starb. Sie begruben ihn und setzten ihm (für seine Treue) ein Denkmal. Bis heute heißt dieses "das Denkmal des Hundes" (Pesikta 79b).

Die Frau schwört das Bild des anhänglichen Hundes nicht nur in ihrer schlagfertigen Antwort herauf. Sie verhält sich wie ein "anhänglicher Hund". Sie glaubt, daß Jesus trotz seiner Ablehnung ihrer Tochter helfen kann und will. Jesus erkennt diese Haltung ausdrücklich an: "Wegen dieses Wortes, gehe hin: Der Dämon ist aus deiner Tochter gefahren" (Mk 7,29). Den modernen Leser aber spricht nicht weniger an, daß mit diesem Dämon der nicht weniger verhängnisvolle Dämon von Vorurteilen zwischen Angehörigen verschie52

Die Antwort der Frau hat Parallelen in Ri 1,7 und Philostrat vit Ap I 19. In Ri 1,7 rühmt sich der von den Israeliten besiegte König Adonibesek, siebzig Könige mit abgehauenen Daumen und großen Zehen hätten unter seinem Tisch ihr Brot aufgelesen ein Zeichen tiefster Erniedrigung der Feinde. Nach W.STORCH: Zur Perikope von der Syrophönizierin. Mk 7,28 und Ri 1,7, BZ 14 (1970) 256-257, ist die Pointe: Obwohl die syrophönizische Frau zu den "Hunden" (d.h. zu den Feinden des Gottesvolkes) gehört, so haben doch solche Hunde wie Adonibesek ihren Gefangenen dasselbe Essen wie ihren Kindern gegeben. Ob die Hörer dieser Geschichte so bibelkundige Assoziationen hatten, bezweifle ich. Daß sie so viel Bibelkunde einer nicht-jüdischen Frau zugetraut hätte, halte ich für ausgeschlossen. Möglich ist, daß die Antwort der Frau allgemeinere Redewendungen aufgreift: Philostrat spricht von den Brocken, die den Hunden vorgeworfen werden, um zu sagen, Damis habe auch das von Apollonius nur beiläufig Gesprochene gesammelt. Das Bild ist bei ihm ein Vergleich: Ahnlich wie die Hunde habe er sich verhalten, die sich von den Abfällen des Mahles nähren. Was bei Philostrat ein Bild für ein vorbildliches Verhalten ist, begegnet bei dem jüdischen Weisheitslehrer Ps.Phokylides 155f als ein negatives Bild für Bettelei: "Iß nicht die Tischabfälle vom Mahl des andern! Frist' nur von eignem Besitz dein Leben ohne Tadel."

85 dener Völker und Kulturen "ausgetrieben" wurde.

B. D i e L e g e n d e v o m Tod des Täufers - eine Volksüberlieferung mit Nachbarschaftsperspektive? Bei der Geschichte von der Syrophönikerin können wir mit einiger Sicherheit sagen: Sie ist von Menschen erzählt worden, denen das tyrisch-galiläische Grenzgebiet vertraut war. Ihr ursprüngliches Überlieferungsgebiet läßt sich lokalisieren. Ist das ein einmaliger Glücksfall? Oder enthalten auch andere Erzählungen von Jesus Indizien für Ort und Zeit ihrer Überlieferung? Ein Problem ist dabei, daß wir Jesusüberlieferungen nur begrenzt mit Erzählungen über andere Personen der damaligen Zeit vergleichen können. Geschichten von rabbinischen Lehrern wurden unter anderen Bedingungen tradiert und erlauben keine direkten Analogieschlüsse. Es gibt nur eine Ausnahme: D i e H o f l e g e n d e 5 3 vom Tod des Täufers. Sie wurde zusammen mit der Jesusüberlieferung in Mk 6,17ff erhalten. Könnten wir ihr Überlieferungsumfeld historisch erhellen, so könnte das Licht auf die Jesusüberlieferung werfen, in die sie überlieferungsgeschichtlich eingebettet ist. Vielleicht erfahren wir so 53

R. BULTMANN, Geschichte, 328f, klassifiziert Mk 6,14ff als "Legende", K. BERGER, Formgeschichte, 334, als "Märtyrerbericht", der gleichzeitig zur Gattung der "Hofgeschichten" gehört (vgl. Dan 3-4, Esther, 3.Esr usw.). M. DIBELIUS: Die urchristliche Überlieferung von Johannes dem Täufer, FRLANT 15, Göttingen 1911, 80, nennt sie eine "Anekdote", E. LOHMEYER, Markus, 121, eine "Novelle" Andere nehmen eine Entwicklung an, bei der sich die Gattung verändert hat. J. GNILKA: Das Martyrium Johannes des Täufers, in: Orientierung an Jesus, FS J. SCHMID, Freiburg 1973, 78-92, (vgl. ders., Mk I, 245f) meint, daß ein ursprüngliches Märtyrerbild durch das volkstümliche Motiv von der rachsüchtigen Frau überlagert wurde. Deutlich ist m.E.: 1) Es handelt sich nicht um einen typischen Märtyrerbericht. Im jüdischen Märtyrerbericht werden die Qualen des Märtyrers geschildert, die er seines Bekenntnisses wegen auf sich nimmt (vgl. 2.Makk 6,18-31; 2.Makk 7; bell 2,152-153). In der hellenistischen Märtyrerakte wird die Verteidigung des Märtyrers vor Gericht dargestellt. Beides fehlt in Mk 6,14ff. - 2) Es handelt sich nicht um eine typische Legende von einem heiligen Mann. Alle Gelegenheiten, diesen in seiner vorbildlichen Frömmigkeit zu schildern, werden nicht wahrgenommen. Es wird zwar vorausgesetzt, daß er "ein gerechter und heiliger Mann" ist (Mk 6,20), aber das wird nicht erzählerisch entfaltet. Josephus, der ihn einen "guten Mann" nennt (ant 18,117), schildert anschaulich, warum er diese Charakterisierung verdient. 3) Auch der Begriff "Anekdote" ist zu allgemein. Er erfaßt nicht das die ganze Geschichte prägende Milieu: Es ist eine Hofanekdote. Mit dem Begriff "Hoflegende" soll erfaßt werden, daß es sich um eine Hofanekdote von Intrigen und Machtmißbrauch handelt, in der im Unterschied zu vergleichbaren Hofgeschichten (Herodot IX, 108-113; Plut. Artax 17) ein "heiliger Mann" das Opfer ist. Eine Charakterisierung als "Hofnovelle" würde diesen Zug nicht erfassen.

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mehr über die Überlieferungskanäle, aus denen der Mk-Evangelist geschöpft hat. Zur Überlieferung vom Tod des Täufers ist bei Josephus eine konkurrierende Erzählung erhalten (ant 18,116-119), die in mancher Hinsicht dem historischen Geschehen mehr entspricht: Sie schreibt Herodes Antipas ein politisches Motiv für die Hinrichtung des Täufers zu. Ein Vergleich der beiden Täuferüberlieferungen kann deutlich machen, von welchen Interessen die Täuferlegende des Mk-Evangeliums bestimmt ist.54 Der historische Hintergrund beider Überlieferungen sei kurz skizziert: Herodes Antipas hatte - vielleicht auf Anregung des Augustus - eine nabatäische Königstochter geheiratet, um dem Expansionsdrang der Nabatäer diplomatisch entgegenzuwirken.55 Dieser Expansionsdrang läßt sich gut belegen: Aretas III. (ca. 85-60 v.Chr.) drang ca. 85 bis nach Damaskus vor und besiegte den jüdischen König Alexander Jannäus (ant 13,392; bell 1,103). Obdoas II. (29-9 v.Chr.) kaufte ca. 21/20 v.Chr. die Auranitis für 50 Talente. Augustus sprach das Gebiet dem Herodes I. zu, die Nabatäer aber hielten ihren Besitzanspruch aufrecht (ant 15,352; bell 1,398). Die Ehe zwischen einem Herodäer und einer Nabatäerin begrenzte einen schwelenden Konflikt. Nach Auflösung dieser Ehe erhoben die Nabatäer wieder ihre alten Ansprüche. Sie forderten (wohl nach dem Tod des Philippus 34 n.Chr.) "Gamala"56 für sich (ant 18,113) und fügten dem Antipas eine vernichtende Niederlage zu (ant 18,114). Gleichzeitig bezeugt Paulus, daß sie ca. 36 bis nach Damaskus vordrangen (2.Kor 11,32), was nach der Niederlage des Antipas möglich war. 57 54

Natürlich ist auch die Täuferüberlieferung bei Josephus ant 18,116ff nicht frei von Tendenz. So wird der eschatologische Charakter der Predigt des Täufers unterschlagen. Die Interpretation der Taufe klingt so, als müsse Josephus ein massiv-sakramentalistisches Mißverständnis korrigieren.

55

Vgl. E. SCHÜRER, Geschichte I, 433: "Auch waren es sicherlich politische Motive, die ihn zur Heirat mit der Tochter des Araberkönigs Aretas bestimmten. Er glaubte, dadurch besser als durch alle Befestigungen sein Land vor den Einfällen der Araber sicher zu stellen; und vielleicht war es Augustus selbst, der ihn zu dieser Heirat bewogen hat." (Vgl. E. SCHÜRER, History I, 342). Augustus unterstützte nämlich generell eine Verbindung der Klientelkönige durch Heirat (Suet. Aug. 48). 56 Gamala, Gamalitidis u.ä. lesen die Handschriften zu ant 18,113. Die Herausgeber konjizieren oft zu Gabala (vgl. L. H. FELDMAN, Josephus IX, S.80f). Das ist m.E. nicht nötig. Gamala liegt im Gebiet des Philippus, also genau in jenem Bereich, den die Nabatäer 21/20 v.Chr. gekauft hatten, ohne ihn in Besitz nehmen zu können. Hier konnten sie also Ansprüche geltend machen. Wahrscheinlich erhoben sie diese erst nach dem Tod des Philippus 34 n.Chr. Der Krieg mit Antipas fand 36 n.Chr. statt. Die vielen Überläufer aus dem Gebiet des Philippus zeigen: Es waren nicht alle von den besseren Rechtsansprüchen des Antipas überzeugt. 57

Zum Auftreten der Nabatäer in Damaskus in den 30er Jahren vgl. R. WENNING: Die Nabatäer - Denkmäler und Geschichte, NTOA 3, Fribourg/Göttingen 1987, 25 (mit Lit.). Ergänzt sei N. HYLDAHL: Paulus og Arabien, in: Hilsen til B.Noack, Kopenha-

87 Die Ehe des Antipas mit Herodias führte gleichzeitig zu innenpolitischen Schwierigkeiten: Sie verstieß gegen das jüdische Gesetz (vgl. Lev 18,16; 20,21). Antipas geriet damit in den Schatten seines Bruders Archelaos (4 v. - 6 n.Chr.). Dieser hatte die Glaphyra, eine Frau seines verstorbenen Bruders Alexander, geheiratet, obwohl Alexander mit ihr Kinder gehabt hatte (die Ausnahmeregel von Dt 25,5f konnte also nicht in Kraft treten). Auch Archelaos hatte um dieser Ehe willen seine vorherige Gattin Mariamne verstoßen. Sein Verhalten wurde vom Volk mißbilligt. Josephus erzählt in ant 17,350ff eine "Hoflegende", welche den plötzlichen Tod der Glaphyra auf diesen Verstoß gegen das Gesetz zurückführt: Ihr erster Mann, Alexander, sei ihr im Traum erschienen, habe sie heftig getadelt und angekündigt, sie wieder zu seiner Frau zu machen - d.h. aus dem Leben zu rufen. Diese Geschichte wird kaum von der sadduzäisch gesonnenen Oberschicht erzählt worden sein (vgl. Mk 12,18ff), sondern atmet pharisäischen Geist: Die Erwartung eines Lebens nach dem Tod wird als selbstverständlich vorausgesetzt. Schon das Verhalten des Archelaos hatte also Kritik im Volk hervorgerufen. Und jedermann wußte, daß Archelaos bald darauf auf Betreiben seiner jüdischen und samaritanischen Untertanen vom Kaiser abgesetzt worden war. Die Eheschließung des Herodes Antipas mit Herodias ca. 20 Jahre später konnte auch dessen Legitimität im Volk untergraben. Seine Kritiker konnten mit dem Geschick des Archelaos vor Augen - seine Stellung gefährden. Die Verbindung von außen- und innenpolitischen Schwierigkeiten war für Antipas bedrohlich. Mußte er doch fürchten, daß sich seine Widersacher im Innern wie im Äußern zusammentaten. Seine Niederlage gegen Aretas 36 n.Chr. deutet diese Konstellation an: Josephus führt sie auf Überläufer aus dem Heer des Antipas zurück und zwar Überläufer aus dem Gebiet des Philippus (ant 18,114). Auch der Täufer Sprecher einer populären Opposition im Innern konnte leicht mit den Nabatäern assoziiert werden: Wirkte er doch nicht weit von den Nabatäern entfernt. Seine Verkündigung bediente sich der Wüstentypologie (Jes 40,3 = Mk 1,3). Josephus führt die Inhaftierung des Täufers nicht auf dessen allgemeine Wirksamkeit zurück. Vielmehr sagt er ausdrücklich: "Als dazu auch andere zu ihm strömten (και των αΧΧων συστρεφομένων), fürchtete Herodes, das Ansehen des Mannes, dessen Rat allgemein befolgt zu werden schien, möchte (das Volk) zum Aufruhr treiben" (ant 18,118). Der Täufer muß über seine bisherige Anhängerschaft hinaus plötzlich größere Resonanz im Volk gefunden haben - wahrscheinlich mit seiner Kritik an der "Ehepolitik" des Herodes Antipas. Uns interessiert jedoch weniger die Rekonstruktion der historischen Zusammenhänge als die Aufdeckung von Überlieferungsbedingungen der Geschichte vom Tod des Täufers.58 So viel scheint sicher: Es waren keine schriftgelehrten Kreise, die diese Legende geformt haben. Entweder kannten sie die präzisen Gesetzesbestimmungen nicht, gegen die Herodes bei seiner Ehe mit Herodias verstoßen hatte, oder sie waren an ihnen nicht interessiert. Der Grund für die Kritik des

gen 1975, 102-107, der mit einem militärischen Vordringen der Nabatäer bis Damaskus nach dem nabatäischen Krieg rechnet. 58

Zur Geschichte des Herodes Antipas vgl. E. SCHÜRER, History, I, 340-353. Ferner H. W. HOEHNER, Herod Antipas 1972.

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Täufers an dieser Eheschließung wird nämlich ganz allgemein formuliert: "Es ist dir nicht erlaubt, die Frau deines Bruders zu haben" (Mk 6,18). Das ist nicht falsch. Präziser aber müßte es heißen: "Es ist dir nicht erlaubt, die Frau deines Bruders zu heiraten, solange er noch lebt." War er gestorben und kinderlos geblieben, so war es sogar die Pflicht des Bruders, die Witwe zu heiraten (Dt 25,5f; Mk 12,19). Nun könnte man meinen, solche Präzisierungen seien zu subtil, um in die Überlieferung einzugehen.59 Aber eben diese Präzisierung findet sich bei Josephus - allerdings nicht in seinem Abschnitt über den Täufer, sondern in einem langen Exkurs über die herodäische Familie (ant 18,27.142): Ήρωδιας έπι συγχύσει φρονήσασα των πατρίων 'Ηρώδη γαμ.εϊται. τοϋ ανδρός τω όμ,οπατρίω άδελφω διαστασα ζώντος (ant 18,136). "Herodias, auf Auflösung der väterlichen Überlieferungen bedacht, heiratete den Herodes, den Bruder ihres Mannes, der mit ihm den gleichen Vater hatte, nachdem sie sich noch zu dessen Lebzeiten von ihm getrennt hatte." In der gebildeten Oberschicht hat man die Ehegeschichte des Herodes Antipas zusammen mit einer genaueren rechtlichen Beurteilung erzählt. Auch erscheint Herodias in dieser Überlieferung aktiver. Sie, nicht Antipas, sinnt auf Auflösung der traditionellen Gesetze. Sie insistiert als Ehebedingung auf der Verstoßung der nabatäischen Königstochter, der ersten Frau des Antipas (ant 18,110). Mit anderen Worten: Sie betreibt aktiv ihre Ehescheidung und weigert sich, in polygame Verhältnisse einzutreten. In beiden Fällen orientiert sie sich an Verhaltensmustern, die in Griechenland und Rom selbstverständlich waren. 60 "Die Auflösung väterlicher Gesetze" war Übernahme fortschrittlicher Normen aus dem "Westen". 61 Mk 6,17ff aber weiß weder etwas von der Initiative der Herodias (beim Vor-

Mk 12,19 par zeigt jedoch, daß präzise rechtliche Bestimmungen in der urchristlichen Tradition erörtert werden: Die Institution der Leviratsehe war der urchristlichen Tradition durchaus vertraut. 59

G. DELLING: Art. Ehehindernisse, RAC IV, 680-691 zählt die Heirat der geschiedenen Frau des Bruders nicht zu den in Griechenland und Rom bekannten Ehehindernissen.

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Die Herodäer verstießen bei ihren häufigen Ehen zwischen Onkel und Nichten zwar nicht gegen das jüdische Gesetz, wohl aber gegen dessen verschärfende Auslegung bei einigen Frommen. Als Heiraten zwischen Onkel und Nichte sind belegt: Die Ehe der Herodias mit Herodes und Antipas (beide sind Halbbrüder ihres Vaters Aristobul); die Ehe der Salome mit Philippus, einem Halbbruder ihres Vaters Herodes; die Ehe der Berenike mit Herodes von Chalkis, eines direkten Bruders des Agrippa I. Nach Lev 18,12f war nur die Ehe zwischen Tante und Neffen verboten, nicht aber zwischen Onkel und Nichte. Bei den Essenern forderte man hier eine Gleichbehandlung: Verbotene Verwandtschaftsgrade sollten für Männer wie für Frauen gelten (vgl. CD V,9-ll). Hier wäre also schon die erste Ehe der Herodias anstößig gewesen. 61

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gehen gegen den Täufer erscheint sie jedoch als treibende Kraft), noch wird der Gesetzesverstoß juristisch genau beschrieben. Beides weist darauf hin, daß hier eine volkstümliche Überlieferung vorliegt: Das Volk konnte sich kaum vorstellen, daß eine Frau bei der Ehescheidung so aktiv wurde, wie das in der Oberschicht möglich war. Die Feinheiten der juristischen Sachlage waren ihm nicht wichtig. Wurde diese Geschichte also von Anhängern des Täufers erzählt? 62 Etwa im Kreis seiner Jünger, die am Ende den Leichnam des Täufers bestatten (Mk 6,29)? Das ist unwahrscheinlich, denn es fehlt jedes charakteristische Merkmal der Predigt des Täufers: seine Ankündigung des Gerichts, sein Ruf zur Umkehr, seine Aufforderung zur Taufe und zu einem gerechten Leben. Ebenso fehlt jede Stilisierung des Täufers als Prophet oder Märtyrer. Welche Möglichkeiten hätten seine Anhänger gehabt, seine Standhaftigkeit zu zeigen! Welche Chancen hat man sich entgehen lassen, ihm ein "letztes Wort" in den Mund zu legen! Die Täufergemeinde hätte gewiß die Haltung des Täufers in seiner letzten Stunde interessiert. Wenn sie keine Informationen darüber besessen hätte, so wäre es ein Leichtes gewesen, den Tod des Propheten mit den typischen Zügen jüdischer Märtyrertraditionen auszumalen. Was gegen die Annahme einer Überlieferung der Täufergemeinde spricht, spricht auch gegen eine spezifisch christliche Tradition. Hinzu kommt: Nichts weist auf den Täufer als Vorläufer Jesu hin. Nichts bringt seinen Tod mit Jesu Hinrichtung in Verbindung. Von der Reflexion christlicher Gruppen über den

62

So mit Fragezeichen R. BULTMANN, Geschichte, 329: "Die Geschichte bildet dann vielleicht eine Spur des Täufertums auf hellenistischem Boden" Ebenso H. WINDISCH: Zum Gastmahl des Antipas, ZNW 18 (1917/18) 73-83 und R. PESCH, Mk I, 343. Dezidiert wird diese These von K. BERGER, Exegese, 220f vertreten: Mk 6,17ff, schildere eine Gegenwelt zur Verkündigung des Täufers. Der Täufer kommt durch das um, wogegen sich seine Botschaft richtete: Gelage (vgl. Mt 11,18), Wein und einen unbedachten Eid: "Der Bericht über den Tod des Täufers ist daher ein theologisches Vermächtnis des Täuferkreises." (S.221). - Gegen diese bestechende These fmden sich die entscheidenden Argumente schon bei M. DIBELIUS, Überlieferung, 78f: Der Täufer tritt in Mk 6,17ff zurück; "nur das Haupt des Getöteten erscheint auf der Szene" (S.79). Eine Erzählung, die am Täufer interessiert wäre, würde sein Sterben darstellen. Auch der "Gegensatz des lasterhaften Königshofes zum Täufer" ist nicht die Pointe: Man müßte dann erwarten, "daß die Gestalt des Bußpredigers in asketisch-prophetischer Kleidung, mit Worten drohendsten Inhalts auf den Lippen in das sinnbetörende Treiben lüsterner Hofleute hineingestellt wird. Das versucht der Erzähler aber gar nicht." (S.79) Überhaupt eilt die Geschichte über den religiösen Ausgangspunkt die Kritik an der Ehe des Antipas - hinweg zur "religiös ganz irrelevanten Gastmahlsszene" (S.78 A .3).

90 Täufer ist nichts zu spüren. 6 3 M k 6,17ff ist demnach eine allgemeine Volksüberlieferung über den T o d des Täufers, 6 4 die möglicherweise sogar Nicht-Juden zugänglich war. Wenigstens treten spezifisch jüdische Z ü g e zurück. W i r besitzen Hinweise auf die Existenz solcher Überlieferungen. Josephus berichtet, daß die Niederlage des H e r o d e s Antipas gegen den Nabatäerkönig A r e t a s als Strafe für die Hinrichtung des Täufers gedeutet wurde (ant 18,116 und 119). Diese Deutung war damals plausibel: H a t t e der Täufer doch (nach M k 6,17ff) eben j e n e E h e scheidung angegriffen, die zur Feindschaft zwischen Antipas und Aretas, dem Nabatäerkönig, geführt hatte: D i e im Ehekontrakt vorgesehene Verstoßung der ersten F r a u mußte als Aufkündigung der guten Beziehungen zwischen dem Galiläer- und dem Nabatäerfürsten verstanden werden und war somit Anlaß jenes Krieges, in dem Antipas vernichtend geschlagen wurde. Josephus berichtet zunächst, "einige der Juden" hätten die Vernichtung seines H e e r e s als gerechte Strafe durch Gott angesehen (ant 18,116). Später schreibt er diese Deutung "den Juden" insgesamt zu (ant 18,119). In beiden Fällen bezeugt er die Existenz von Volksüberlieferungen über den Täufer und seinen Tod. 6 5

An eine Gemeindeüberlieferung denkt H.W.HOEHNER, Herod, Appendix VI: Possible Sources of the Story of John's Death, 303-306. Er nennt zwei Möglichkeiten: Johanna, die Frau des Chusa, könnte die Geschichte Petrus erzählt und dieser sie an Markus weitergegeben haben. Ebenso könnte Menahem sie an die antiochenische Gemeinde vermittelt haben, von der Mk sie habe. - Aber auch hier hat M. D I B E L I U S , Überlieferung, 78, schon das Entscheidende gesehen: Mk 6,17ff "hat kein evangelisches Interesse. Alle evangelischen Nachrichten über den Täufer schildern diesen im Hinblick auf den Größeren, der nach ihm kommt. Hier fehlt jede Beziehung zu der Sache, die die Evangelisten eigentlich treiben wollen. Das ist mindestens auffallend." 63

M.DIBELIUS, Überlieferung, 78, sieht zwar die Nähe zu den "Novellen", vermißt aber in Mk 6,17ff eine zu ihnen passende Absicht. Daher rechnet auch er mit einer Volksüberlieferung: "Die Art, wie er (sc. Johannes) vom Schauplatz verschwand, hat offenbar allerlei Gerüchte in der Menge zur Folge gehabt..." (S.86) Noch entschiedener betont E . L O H M E Y E R , Mk 121f: Mk 6,17ff "ist Volksdichtung aus vielerlei bekannten Motiven... Die Geschichte hat mit jüdischer oder urchristlicher Frömmigkeit nichts gemein; sie ist 'heidnisch', wenn auch mit jüdischen Dingen vertraut." Er sucht ihren Ursprung daher in jüdischen Kreisen, die sich ihrer hellenistischen Umwelt angepaßt haben. An Volksüberlieferung denkt auch J.GNILKA, Mk I, 246: "Die isoliert überlieferte Geschichte ist weder als christliche noch als Überlieferung der Täuferjünger sondern als im Volk umlaufende Geschichte anzusprechen ... Ziel der Geschichte könnte es gewesen sein, das gottlose Treiben der Mächtigen und konkret des Herodes Antipas und seines Hofes durch die Erinnerung zu brandmarken." 64

Auch Mk 6,14f belegt die Existenz von "Volksüberlieferungen" über den Täufer. So M.DIBELIUS, Überlieferung, 86, der von "Volksgerede" spricht. 65

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Es wird sich bei den von Josephus vorausgesetzten Erzählungen kaum um Mk 6,17ff handeln. Hier fehlt die Ankündigung einer Strafe Gottes. Vielmehr dominiert das legendarische Motiv der freigestellten Bitte.66 Wir finden dies Motiv z.B. auch in der Überlieferung über die Caligulakrise. Deren überraschende Wende wird schon 50 Jahre nach den Ereignissen mit einem Gastmahl des Agrippa für Gaius Caligula verbunden, bei dem der Kaiser Agrippa einen Wunsch freigestellt haben soll, den dieser genutzt habe, um die Rücknahme des Befehls zur Umwidmung des Tempels zu erbitten. Historisch richtig ist, daß eine Intervention des Agrippa I. zum guten Ausgang der Sache beigetragen hat, legendarisch ist die Form der Intervention. Die legendarische Umbildung der Ereignisse vollzog sich am Ort des Geschehens: Josephus schreibt seine Antiquitates in Rom, wo das legendäre Gastmahl stattgefunden haben soll. In Mk 6,17ff haben wir es mit einer vergleichbaren legendarischen Umbildung der Ereignisse zu tun. Hat sich auch sie am Ort des Geschehens vollzogen? Zweifel daran sind berechtigt, denn es gibt eine Reihe merkwürdiger Verschiebungen. Nach Josephus wurde der Täufer auf Machaira im Süden Peräas gefangen gehalten und hingerichtet (ant 18,119).67 Der unbefangene Leser von Mk 6,17ff aber kann nur an die galiläische Hauptstadt als Ort des Geschehens denken. Dort kommen die "Ersten Galiläas" zusammen. Von Peräa wird geschwiegen, obwohl es zum Reich des Herodes gehörte. Diese "Nordverlagerung" korrespondiert mit den geschichtlichen Ereignissen. Das zur Abfassungszeit des MkEv existierende Reich des Agrippa II. hatte im Verhältnis zum Gebiet des Antipas seinen Schwerpunkt nach Norden verlagert. In Peräa gehörte nur ein kleiner Teil des Landes zu seinem Gebiet. Dafür besaß er nördlich von Palästina Abilene, d.h. das Herrschaftsgebiet des Lysanias (ant 20,138; vgl. 19,275), und Chalkis mit der Hauptstadt Arkea (bell 7,97). 66

Belege für dies Motiv: Herodot IX, 108-113: Xerxes verspricht seiner Geliebten Artayante, er wolle ihr jede Bitte gewähren ( έ κ έ λ ε υ σ ε αυτήν αίτήσαι ö τι βούΧεται) (IX, 109). Im Buch Ester findet sich das Motiv gleich drei Mal: 5,3; 5,6; 7,2. Dort begegnet auch das Angebot, selbst die Hälfte des Reiches zu schenken (vgl. Mk 6,23). Daß das Motiv im zeitgenössischen Judentum kursierte, beweist Jos ant 18,289-297: Gaius stellt dem Agrippa I. einen Wunsch frei, den dieser dazu nutzt, um die Rücknahme des Befehls zu bitten, den Tempel durch Kaiserkult zu entweihen. 67

R.RIESNER: Johannes der Täufer auf Machärus, BiKi 39 (1984) 176, sieht zwischen der Überlieferung bei Josephus und Mk 6,17ff keinen Widerspruch: Die Evangelien sagen nichts über den Ort der Hinrichtung. Ein Gelage sei auch in Machaira möglich, denn dort hat man zwei große Speisesäle (triclinia) gefunden. Vgl. F.MANNS: Marc 6,21-29 à la lumière des dernières fouilles du Machéronte, Liber Annuus 21 (1981) 287290. - M.E. ist jedoch unverkennbar, daß Mk 6,17ff an einen Ort in Galiläa denkt. Für den Mk-Evangelisten selbst ist das ganz eindeutig.

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Noch in einem zweiten Punkt zeigt sich eine Anpassung an die zwischen 30 und 70 eingetretenen Veränderungen. Antipas wird nicht Tetrarch genannt, was sein eigentlicher Titel war, sondern "König".68 Diesen Titel hatte er nie besessen; ja, beim Versuch, ihn vom Kaiser verliehen zu bekommen, war er in Ungnade gefallen und abgesetzt worden. Die Herodäer nach ihm, Herodes von Chalkis (41-48 n.Chr.), Agrippa I. (41-44 n.Chr.) und Agrippa II. (54ca.90?), waren jedoch alle Könige. Agrippa II. nannte sich sogar "Großkönig", da er über mehrere Königreiche (im Norden Palästinas und im Libanon) herrschte. Seine Schwester Berenike erscheint als βασίλισσα μεγάλη (OGIS 428). Daß Antipas in Mk 6,17ff als "König" erscheint, dürfte Erzähler voraussetzen, in deren Erlebenswelt Herodäer selbstverständlich "Könige" waren. Eine dritte Verschiebung gegenüber der Realität ist nicht minder aufschlußreich: Herodias war vor ihrer Eheschließung mit einem ansonsten unbekannten Herodes verheiratet (ant. 18,136), in Mk 6,17 aber heißt ihr erster Mann "Philippus".69 Damit kann nur der Tetrarch Philippus gemeint sein, der im MkEv im Zusammenhang mit seiner Hauptstadt "Caesarea Philippi" (8,27) beiläufig erwähnt wird. Die Verwechslung ist verständlich: Philippus war neben Antipas der bekannteste Herodessohn. Beide hatten lange regiert (4 v. 34 n. bzw. 4 v. - 39 n.Chr.). Beide waren Nachbarn. Eine Überlieferung, die so

Lk 3,1 und Mt 14,1 bringen gegen Mk die korrekte Bezeichnung "Tetrarch". Mt wechselt dann aber (bei der Übernahme seiner Vorlage) wieder zu "König" (vgl. 14,9). Als König "erscheint er" Justin Dial 49,4 und Petr.Ev 1,1. In Antiochien ist er aber noch Anfang des 2. Jhdt.s Herodes Antipas als "Tetrarch" bekannt (Ign Sm 1,2 - vermittelt durch das Mt-Evangelium?). Verwechslungen von Titeln lassen sich nicht nur in der volkstümlichen Überlieferung feststellen, sie unterlaufen auch Historikern. Josephus reiht den "Ethnarchen" Archelaos unter die "Könige" ein (ant 17,354; vgl. Mt 2,22). Ferner wissen wir aus Josephus vita 52 von einem Tetrarchen Soemus, dessen Enkel Varus βασιλικού γένους war. Dieser Tetrarch wird von Tacitus (ann. 12,23) rex genannt: "Ituraeique et Iudaei defunctis regibus Sohaemo atque Agrippa provinciae Suriae additi". Pilatus hatte nach der Caesarea-Inschrift den Titel praefectus Iudaae (vgl. E. SCHÜRER, History I, 358 A.22), Tacitus aber nennt ihn "procurator", offensichtlich in anachronistischer Übernahme des Titels, den erst seine Nachfolger führten. 69 Die traditionelle Harmonisierung zwischen den Namen bei Josephus und in Mk 6,17ff wird ausführlich bei H.W.HOEHNER, Herod, 131-136, begründet: Der ansonsten unbekannte "Herodes", der nach Josephus der Ehemann der Herodias war, habe den Beinamen Philippus gehabt. Aber es ist äußerst unwahrscheinlich, daß Herodes I. zweien seiner Söhne denselben Namen gegeben hat. Wir haben zwar mehrere Fälle belegt, wo Brüder übereinstimmend den Namen "Herodes" führen. Aber das ist der Familienname (vgl. E.SCHÜRER, History I, 344 A.19). Die Harmonisierung bringt für den Markustext nicht viel. Denn Mk hat zweifellos nicht an einen Herodes Philippus gedacht, sondern an den Tetrarchen Philippus, dessen Namen er Mk 8,27 beiläufig erwähnt. Bei ihm läge also in jedem Fall eine Verwechslung vor.

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von einer Ehe des Antipas mit der Frau seines Bruders erzählte, mußte früher oder später mit Philippus als dem bekannten Bruder des Antipas verbunden werden. Wobei man annehmen darf, daß Philippus vor allem im Norden Palästinas und den angrenzenden syrischen Gebieten bekannt war. Eine vierte Verschiebung gegenüber der historischen Realität liegt darin, daß die Hauptverantwortung für die Hinrichtung des Täufers der Herodias zugeschoben wird. Sie erscheint als blutrünstige Intrigantin. Schon Mt hat das nicht glauben wollen. Er schreibt dem Herodes Antipas selbst die Absicht zu, den Täufer zu töten. Sein Zögern, diese Absicht auszuführen, erklärt er nicht mit einer heimlichen Sympathie des Fürsten mit dem Täufer (so Mk 6,20), sondern mit der Beliebtheit des Täufers beim Volk, auf die der Fürst habe Rücksicht nehmen müssen (Mt 14,5).70 Mt kommt damit der historischen Realität näher als Mk. Nun ist aber aus späterer Zeit belegt, daß Herodäerinnen sich in juristische Verfahren einmischten und dabei über Leben und Tod von Gefangenen entschieden. Neben Agrippa II. ist beim Verhör des Apostels Paulus auch seine Schwester Berenike anwesend (Apg 25,13ff; 26,30). Dieselbe Berenike interveniert erfolgreich bei ihrem Bruder Agrippa II., um das Leben des zum Tode verurteilten Justus von Tiberias zu retten (vita 242.355). Quintilian (Inst. IV, 1,19) zählt sie sogar zu denen, die quidam suarum rerum iudices waren, also zumindest großen Einfluß auf Gerichtsverfahren hatten. Daß Herodäerinnen Einfluß auf Gerichtsprozesse und Exekutionen nahmen, könnte sich aufgrund solcher Vorgänge in der Phantasie des Volkes gefestigt haben - nur daß ihnen in Mk 6,17ff ein unheilvoller Einfluß zugeschrieben wird. Hier hat womöglich ein Vorurteil die Phantasie bestimmt.71 Auch bei diesem Punkt kann man sagen: In der zweiten Hälfte des 70

Die mt Fassung korrigiert die mk Version - ganz offensichtlich dort, wo diese mit der historischen Realität allzu sehr in Spannung steht: 1) Herodes Antipas wird korrekt "Tetrarch" genannt (Mt 14,1), erst später in Anlehnung an den Mk-Text "König" 2) Er schätzt das Tötungsmotiv des Fürsten realistischer ein: Die bei Josephus ant 18,118 vorausgesetzte Angst des Antipas vor dem Einfluß des Täufers auf das Volk wird auch hier vorausgesetzt (vgl. Mt 14,5). - 3) Die tanzende Tochter wird zur Tochter der Herodias. - Die Verwechslung des ersten Ehemannes der Herodias mit Philippus korrigiert Mt nicht. Nur D und Teile der lateinischen Überlieferung lassen den Namen aus. Die Veränderungen des Mt am Mk-Text sind deshalb interessant, weil sie zeigen: Ein literarisch sekundärer Text kann in einigen Zügen "historischer" sein als ein literarisch primärer Text. 71

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Eme Analogie zur Verschiebung der Ursachenzuschreibung für einen politischen Mord von politischen Gründen zu privaten Motiven bietet der Tod des Caecina 79 n.Chr. in Rom. Sueton berichtet darüber: "Unter diesen (sc. deren Bestrafung Titus öffentlich verlangte) befand sich auch Aulus Caecina, ein gewesener Konsul, den er zu sich zur Tafel bat und gleich bei Verlassen des Speisezimmers niederstechen ließ; allerdings stand hier eine unmittelbare Gefahr bevor, da man sogar das Manuskript der

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1. Jhdt.s n.Chr. war solch ein Bild von Herodäerinnen vor allem im Norden Palästinas und im Süden Syriens plausibel - dort, wo Herodäer regierten. Eine fünfte Veränderung gegenüber den tatsächlichen Verhältnissen kann man bei der tanzenden Tochter feststellen.72 Nach der bestbezeugten Lesart ist sie eine Tochter des Herodes mit Namen "Herodias" (vgl. Mk 6,22, B, D u.a.), in der weiteren Geschichte ist sie dagegen eine Tochter der Herodias (so auch Mt 14,6). Eine Reihe von Handschriften haben Mk 6,22 entsprechend korrigiert. Jeder Leser wird die Geschichte spontan so verstehen, daß sie von einer aus der ersten Ehe der Herodias stammenden Tochter spricht. Da die Mutter-Tochter-Beziehung in der Geschichte fest verankert ist, wird man sie für Tradition halten dürfen. Erst in der Version bei Mk tragen die drei Hauptakteure im Intrigenspiel gegen den Täufer aufgrund sekundärer Veränderung den Familiennamen "Herodes" bzw. dessen weibliche Form "Herodias", als wolle man schon durch die Namengebung signalisieren, solche Geschichten seien typisch für das herodäische Fürstenhaus - insbesondere für seine Frauen. Für die traditionelle Geschichte ist daher anzunehmen, daß von einer Tochter der Herodias die Rede war. Aus Josephus erfahren wir ihren Namen: Salome (ant 18,136). Ihre Lebensgeschichte verbindet sie mit dem Norden Palästinas und Chalkis: Sie heiratete zunächst Philippus, den Tetrarchen über die Trachonitis, und nach dessen Tod 34 n.Chr. den Sohn des Herodes von Chalkis, Aristobulos. Hätte man im Bereich ihrer Besitzungen - bei Untertanen und Nachbarn - nicht am ehesten ein Motiv gehabt, sich solche Geschichten wie Mk 6,17ff zuzuraunen, in denen sie in ein ungünstiges Licht gesetzt wird?

Exkurs: Bei der Beurteilung der Hoflegende Mk 6,17ff spielt die Chronologie eine Rolle: Nach Mk 6,20ff war Salome ein "Mädchen". Die zweite Eheschließung der Herodias und das Ende des Täufers müßten sich in den (späten?) 20er Jahren ereignet haben: Denn nach dem MkEv gehen Wirken, Inhaftierung und Tod des Täufers dem Ende Jesu (ca. 30 n.Chr.) voran. Ahnlich sieht auch Q die Abfolge von Täufer und Jesus (vgl. Mt 11,12.16-19). Rede, die Caecina vor den Soldaten halten wollte, gefunden hatte." (Sueton Titus 6) Die Epitome de Caesarum berichtet dagegen über denselben Vorgang: "Caecinam consularem adhibitum cenae, vixdum triclinio egressum, ob suspicionem stupratae Berenicis uxoris suae iugulari iussit." (10,4) Hier wird der Vorwurf sexueller Beziehungen zu Berenice, der Geliebten des Titus, zur Ursache für die Tötung des Caecina. 72

Zum Problem der Identität der tanzenden Tochter vgl. ausführlich H.W.HOEHNER, Herod, 151-154. Auch Justin nennt die tanzende Tochter eine "Nichte" des Herodes, hält sie also für eine Tochter der Herodias aus ihrer ersten Ehe (Dial 49,4).

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Dagegen hat man eine Spätdatierung der Hinrichtung des Täufers vorgeschlagen. Salome wäre dann schon sehr viel älter, j a sogar Witwe gewesen. Josephus erzählt nämlich, daß viele Juden die Niederlage des Antipas gegen die Nabatäer 36 n.Chr. als Strafe Gottes für die Hinrichtung des Täufers gedeutet haben (ant 18,116-119). Können ca. 10 Jahre zwischen diesen durch den Vergeltungsgedanken verknüpften Ereignissen liegen? Müssen sie nicht unmittelbar aufeinander gefolgt sein? Nicht unbedingt! In Lk 11,51 wird für einen mehrere hundert Jahre zurückliegenden Mord die eschatologische Strafe angekündigt. In Mt 22,7 werden der Tod Jesu und die Zerstörung Jerusalems über 40 Jahre hinweg aufeinander bezogen. Aber auch geschichtlich ist eine "verspätete" Reaktion des Nabatäerkönigs denkbar: Josephus berichtet, daß die Auflösung der E h e nur der "Anfang" der Feindschaft war (ant 18,113). E r unterscheidet davon den akuten Anlaß des Krieges, einen Streit um Gamala. D a Gamala auf dem Gebiet des Philippus liegt, kann dieser Streit erst nach dessen Tod 34 n.Chr. ausgebrochen sein. Dieser Tod und dazu die Bindung der römischen Schutzmacht durch die Partner bot dem Nabatäerkönig die Chance zur "Revanche", hatte er doch gut begründete Ansprüche auf das Gebiet des Philippus (ant 15,352). D a ß er auf solch eine Chance längere Zeit gewartet hat, ist denkbar. Aber auch unabhängig von einer Spätdatierung des Todes Johannes des Täufers nimmt man oft an, daß Salome schon in den 20er Jahren verheiratet, auf keinen Fall aber ein junges Mädchen war. 7 4 Was wissen wir über ihr Alter? Sie ist frühestens ca. 5 n.Chr. und spätestens 20 n.Chr. geboren. Denn einerseits können wir das Geburts jähr ihrer Mutter Herodias in die Zeit von 10-7 v.Chr. datieren 7 5 und müssen für die Zeit bis zur Eheschließung und Geburt eines Kindes mindestens 13-15 Jahre ansetzen. Andererseits kann die Geburt der Salome nicht später als 20 n.Chr. gewesen sein, weil sie den 34 n.Chr. gestorbenen Philippus heiratete und bei ihrer Hochzeit mindestens 13 Jahre alt gewesen sein muß. Nimmt man ein relativ frühes Geburtsjahr an, so wäre denkbar, daß Salome in den 20er Jahren schon mit Philippus verheiratet gewesen ist und Mk 6,20ff schon deshalb ein Phantasieprodukt sein muß. Das ist jedoch nicht zwingend. Josephus erzahlt von den Ereignissen ihres Lebens nämlich in folgender Reihenfolge: "Nach ihrer Geburt" habe sich ihre Mutter von ihrem ersten Mann geschieden. Danach erst erwähnt Josephus ihre E h e mit Philippus. Dieser sei kinderlos gestorben, Salome habe den Aristobul geheiratet und diesem drei Söhne: Herodes, Agrippa und Aristobul geboren (ant 18,137). Wenn man diese Reihenfolge chronologisch deutet, ist eine Spätdatierung der Geburt der Salome eher wahrscheinlich: Nicht lange nach ihrer Geburt geschah die Scheidung. Salome kam 73

So W . S C H E N K : Gefangenschaft und Tod des Täufers. Erwägungen zur Chronologie und ihren Konsequenzen, NTS 29 (1983) 453-483. 7 4 So D . L Ü H R M A N N : Das Markusevangelium, H N T 3, Tübingen 1987, 114: Salome war längst verheiratet bzw. schon verwitwet. 75

Herodias war die Tochter des 7.v.Chr. hingerichteten Herodessohns Aristobulos, muß also spätestens 7 / 6 v.Chr. geboren sein. Andererseits ist sie die jüngere Schwester des Agrippa I., der 44 im Alter von 54 Jahren starb (ant 19,350), also 10 v.Chr. geboren wurde. Sie kann also nicht ca. 14 v.Chr. geboren worden sein (gegen E . K L O S T E R M A N N , Mk, 58).

96 noch als Kind an den Hof des Antipas. Erst danach heiratete sie Philippus. Die Ehe wird politisch motiviert gewesen sein: Anläßlich der Spannungen zwischen Antipas und den Nabatäern suchte der galiläische Fürst seinen Nachbarn Philippus enger an sich zu binden. Daß Philippus sehr viel älter war ids seine Nichte (und Frau) Salome, wäre bei einer politisch motivierten Ehe verständlich.76 Der Altersabstand zwischen der jungen Frau und ihrem Mann konnte aber in der Phantasie des Volkes dazu führen, daß Salome - wie in Mk 6,17ff vorausgesetzt - zur Tochter des Philippus wurde. Daß die Ehe kinderlos geblieben war, mochte diese Verschiebung begünstigen. Nach dem Tod des Philippus heiratete Salome Aristobulos77, einen Sohn des Herodes von Chalkis (gest. 48 n.Chr.). Aristobulos wurde 54 n.Chr. von Nero die Herrschaft über Kleinarmenien übertragen. Ca. 72/73 erscheint er als Herrscher über Chalkis (bell 7,226). Vielleicht hat Vespasian nach Einbeziehung des Königreichs Kleinarmenien in eine römische Provinz ihm sein väterliches Erbe als Ersatz gegeben. Drei Söhne sind bezeugt: Von den Eltern ist eine Münze mit dem Bild des Aristobulos und Salome erhalten. Da Aristobulos seit 64 n.Chr. allein auf Münzen . 78

abgebildet wird, könnte Salome noch vor 64 gestorben sein. Noch in einem letzten, sechsten Punkt wird eine sekundäre Motivanreicherung der Hoflegende Mk 6,17ff erkennbar: Auftreten und Tanz einer Königstochter bei einem Gastmahl ist ein legendarisches Motiv, das offensichtlich dazu dienen soll, Herodäerinnen eine zwielichtige "Moral" zuzuschreiben. Dort, wo Frauen bei Gastmählern von Männern erwähnt werden, finden wir immer den Gedanken an sexuelle Kontakte. In seiner zweiten Rede gegen Verres prangert Cicero das ausschweifende Leben des Angeklagten an: In Lampsakos habe er sich bei einem angesehenen Bürger Philodamus einquartiert, um dessen Tochter zu verführen. Philodamus habe ihn zuvorkommend bewirtet. Als sie bei einem Gastmahl schon viel Wein getrunken hatten, habe Rubrius, der Vertraute und Komplize des Verres, verlangt, die Tochter herbeizuholen: "Philodamus, ein Mann von ernsten Grundsätzen und schon bejahrt und zudem der Vater, war fassunglos über die Worte des Schurken. Rubrius setzte ihm zu. Da erklärte er, um etwas zu antworten, es sei bei den Griechen nicht Brauch, daß Frauen bei einem Männergastmahl Platz nähmen (negavit moris esse Graecorum ut in convivio virorum accumberent mulieres)" (in Verrem II, 1, 26 §66).

76

Philippus ist vielleicht 23/22 v.Chr. geboren. Er muß beim Regierungsantritt 4 v.Chr. schon ein junger Mann gewesen sein. Wenn Salome ca. 15 n.Chr. geboren worden ist, wäre sie fast 40 Jahre jünger als ihr erster Mann gewesen. Der Abstand wäre aber auch dann auffallend groß, wenn sie "nur" 30 Jahre jünger gewesen wäre. 77

Zu Aristobulos vgl. R.D.SULLIVAN: The Dynasty of Judaea in the First Century, ANRW 11,8, Berlin, New York 1977, 296-354, dort S.319-321. 78

Vgl. A.REIFENBERG: Ancient Jewish Coins, Jerusalem 41965, Nr.71-73. Reifenberg hat jedoch Zweifel, ob Nr.73 sich nicht auf den Sohn des Aristobulos mit gleichem Namen bezieht (vgl. S.25).

97

Der Vater weigert sich auch weiterhin, die Tochter zu holen. Es kommt zu gewaltsamen Auseinandersetzungen, bei denen ein Sklave getötet wird. Die inzwischen alarmierten Lampsaker drohen sogar, Verres umzubringen. In der Terenzkomödie "Der Eunuch" finden wir dieselbe Motiwerbindung. Der wenig erfolgreiche Liebhaber der Hetäre Thais vom Typ des miles gloriosus will ein unbescholtenes Mädchen zum Gastmahl herbeirufen, um die Hetäre eifersüchtig zu machen. Er hat ihr das Mädchen vorher als Sklavin geschenkt. Thais aber möchte das Mädchen schützen, zumal sie deren wahre Identität kennt. Es kommt zu folgendem Wortwechsel: "Junge, hol uns Pamphila, daß sie uns unterhalte." "Nimmermehr darf die zum Mahl", tobte Thais. Der Soldat besteht darauf; nun setzt es Zank." (Terenz Eunuch IV, 1,10-12). Später verlangt der Soldat mit recht eindeutigen Absichten das Mädchen zurück ( IV,7). Aufschlußreich ist auch die Hofnovelle vom Gastmahl des makedonischen Königs Amyntas, der eine persische Gesandtschaft bewirten muß: "Nach dem Essen beim Trinkgelage sprachen die Perser: 'Freund aus Makedonien, bei uns Persern ist es Sitte, auch die ehelichen und Nebenfrauen zum Mahle beizuziehen, wenn wir ein großes Gelage geben. Du hast uns freundlich aufgenommen, herrlich bewirtet und Dareios Erde und Wasser angeboten. Folge nun unserem Brauch!' Darauf erwiderte Amyntas: 'Männer und Frauen sind bei uns gesondert. Aber da ihr, unsere Gebieter, es wünscht, soll auch das noch geschehen.' Nach diesen Worten ließ er die Frauen holen. Sie erschienen und setzten sich in einer Reihe den Persern gegenüber. Als die Perser die schönen Frauen sahen, sprachen sie zu Amyntas: Was er da getan habe, sei gar nicht klug. Besser wäre es, die Frauen wären nicht erst gekommen, als daß sie nicht bei ihnen säßen, sondern zum Leid ihrer Augen dort drüben. Nun mußte Amyntas den Frauen befehlen, sich zu den Persern zu setzen. Als die Frauen gehorchten, faßten sie die Männer gleich an den Busen, denn sie hatten zuviel Wein getrunken; und mancher versuchte sie wohl auch zu küssen." (Herodot V,18)

Der Sohn des Amyntas überwältigt die Perser durch eine List. Er verspricht ihnen die Frauen für weitergehende Liebesdienste. Vorher sollen sie sich waschen. Die zurückkehrenden Frauen sind aber in Wirklichkeit verkleidete Jünglinge, die mit versteckten Dolchen die trunkenen Perser töten. Auch die Geschichte von der Königstochter Odatis reiht sich hier ein: Ihr Vater verweigert sie ihrem Geliebten. Auf einem Festgelage, bei dem die Großen des Reiches versammelt sind, soll sie anstatt dessen aus deren Mitte einen Ehemann auswählen, indem sie ihm eine Schale Wein reicht. Weinend geht sie heraus und schickt nach ihrem Geliebten. Als der schnell herbeieilt, gibt sie ihm die Schale und wird von ihm entführt (Athenaeus, Deipnosophistarum 13,35f). Auch hier bedeutet das Erscheinen einer Königstochter vor zechenden Männern Herstellung eines - durch Ehe legitimierten - sexu-

98 eilen Verhältnisses. 79 Daß Frauen (und junge Mädchen) bei Gastmählern von Männern nicht anwesend sind, wird auch in Mk 6,17ff als selbstverständlich vorausgesetzt: Das tanzende Mädchen muß den Raum verlassen, um ihre Mutter zu sprechen. Selbst die Ehefrau des Fürsten ist bei seiner Geburtstagsfeier nicht anwesend (Mk 6,24). Ohne Parallele ist das Motiv des Tanzens. 80 Es tritt an die Stelle direkter sexueller Motive in den zitierten Parallelen. Anschaulicher Hintergrund für dies Motiv ist die Tatsache, daß bei Symposien flötenspielende und tanzende Hetären anwesend sein konnten 81 - nicht aber ehrbare Frauen. Oft wird mit solchen Gelagen eine gewalttätige Auseinandersetzung verbunden - meist mit dem Ziel, die bedrohte Moral der beim Gastmahl anwesenden Frauen zu schützen (so Herod V,18; Cic. in Verrem II,l,66ff). Hin und wieder aber geht von den Frauen selbst der Wunsch nach Hinrichtung eines anderen aus (Esther 5-7; Herod IX, 108-113) - manchmal nur aus Lust an erlebter Grausamkeit wie bei der Geliebten des aus dem Senat ausgestoßenen L. Quinctius, dem man vorwarf, "er habe in Placentia eine Frau mit üblem Ruf, in die er sterblich verliebt war, zu seinem Gelage geholt. Dort habe er, um sich vor der Dirne zu brüsten, ihr unter anderem berichtet, wie scharf er seine Untersuchungen geführt habe und wie viele zum Tode Verurteilte er im Kerker habe, die er mit dem Beil enthaupten lassen werde. Da habe jene, die rechts von ihm zu Tische lag, gesagt, sie habe noch nie gesehen, wie jemand mit dem Beil hingerichtet wurde, und sie wolle das sehr gerne einmal sehen. Hierauf sei ihr Liebhaber ihr zu Willen gewesen und habe befohlen, einen von jenen Unglücklichen herbeizuschleppen, und habe ihn mit dem Beil enthaupten lassen. Eine wilde und grausige Tat Beim Trinken und Essen, wo es Sitte war, den 79

Auf diese Geschichte beruft sich vor allem H.WINDISCH: Kleine Beiträge zur evangelischen Überlieferung 1. Zum Gastmahl des Antipas, ZNW 18 (1917/18) 73-83, dort S.73ff, um die Geschichtlichkeit von Mk 6,17ff wahrscheinlicher zu machen. Aber auch in dieser Geschichte ist das Erscheinen der Königstochter ungewöhnlich: Dadurch wird ihre Demütigung unterstrichen. - Keine Parallele ist Herodot II, 121,5: Ein ägyptischer König schickt zur Aufklärung eines Leichendiebstahls seine Tochter ins Bordell, wo sie sich jedem hingeben soll, ihn aber vorher nach seiner frevelhaftesten Tat befragen soll. Herodot betont, daß er nicht an diese Geschichte glaube. 80 G.DALMAN: Zum Tanz der Tochter der Herodias, PJ 14 (1918) 44-46, weist auf "gesittete" Tänze von Frauen vor Männern in dem ihm bekannten Palästina hin. Aber auch damit wird die tanzende Königstochter nicht wahrscheinlicher: Mk 6,17ff setzt voraus, daß sie die angetrunkene Hofgesellschaft hingerissen hat. Das macht man nicht durch sittsame Schritte. 81

Vgl. F.WEEGE: Der Tanz in der Antike, Halle 1926, 118ff. "Wenn eine folkloristische Tradition die Vorstellung der tanzenden Herodias-Tochter entwickelte, zeigt das doch wohl an, in welch schlechtem Ruf das Fürstenhaus beim Volk stand." (J.GNILKA, Martyrium, 89).

99 Göttern von den Speisen zu spenden und Segenswünsche zu sprechen, wurde als Schauspiel für eine freche Hure, die sich an die Brust des Konsuls lehnte, ein Mensch als Opfertier geschlachtet und der Tisch mit Blut bespritzt!" (Livius 39,43,2-4)82

Mk 6,17ff läßt in der Tat Herodäerinnen in einem dunklen Licht erscheinen, das ihnen gewiß nicht gerecht wird. Wir müssen diese Geschichte in jene üble Nachrede einreihen, die im lJhdt. viele Herodäerinnen verfolgt hat. In den im 1./2. Jhdt.n.Chr. entstandenen "heidnischen Märtyrerakten" aus Alexandrien83 spiegelt sich der Gegensatz zwischen Juden und Griechen in der ägyptischen Hauptstadt, wobei die Griechen antijüdische und antirömische Affekte verbinden. So greift in den Acta Isidori (Rez.A Col III, 1,1 If = CPJ II, Nr.l56d) der Angeklagte den Kaiser mit folgenden Worten an: "Ich bin weder Sklave noch Sohn einer Sängerin, sondern Gymnasiarch der berühmten Stadt Alexandria. Du aber bist ein verächtlicher Sohn der Judäerin Salome Claudius, Sohn des Drusus und der Antonia minor, wird hier als außereheliches Kind der Salome verunglimpft. Diese war eine Schwester des Herodes I. mit guten Beziehungen zum julisch-claudischen Kaiserhaus, insbesondere zur Kaiserin Livia, der sie nach ihrem Tod ca. 10 n.Chr. ihre Besitzungen in Palästina vererbt (ant 18,31). Josephus schildert sie als Intrigantin, die den Tod ihrer Schwägerin Mariamne sowie deren Söhne Alexandros und Aristobulos verursacht hat. Bei den alexandrinischen Nachbarn der Juden stand sie auf jeden Fall nicht in hohem Ansehen. 84 Aber auch sonst gab es üble Verdächtigungen. Als Herodes Agrippa I. im Jahre 44 überraschend in Caesarea starb, feierten die nicht-jüdischen Bewohner von Caesarea seinen Tod mit obszönen Festen: "Sie stießen Läste82

Livius erzählt die Geschichte noch in einer ganz anderen Fassung: L. Quinctus habe einen Lustknaben überredet, mit ihm aus Rom nach Gallien zu ziehen. Zur Entschädigung für ein ihm entgangenes Gladiatorenspiel in Rom habe er vor dessen Augen mit eigener Hand einen vornehmen Gallier ermordet, der sich als Schutzflehender und Überläufer an ihn gewandt habe (Livius 39,42,8-12). Die Verbindung von Sex und Grausamkeit findet sich auch in der Überlieferung von Alexander Jannäus: "Als er nämlich mit seinen Dirnen an einem in die Augen fallenden Orte schmauste, ließ er gegen achthundert dieser Gefangenen kreuzigen und, während sie noch lebten, ihre Frauen und Kinder vor ihren Augen niedermetzeln. Damit vollzog er für das erlittene Unrecht eine so grausame Strafe, wie ein Mensch sie je ersonnen haben mochte." (ant

13,380083 84

Vgl. HA.MUSURILLO: The Acts of the Pagan Martyrs, Oxford 1954.

Eine anzügliche Bemerkung ist möglicherweise Acta Isidori Col.I, 18 CPJ II, Nr.156b, wo Agrippa I. als "Drei-Obolen-Jude" verunglimpft wird: Prostituierte werden oft nach ihrem Kaufwert klassifiziert, z.B. als "quadrantaria" (Quintilian Inst. 8,6,53; vgl. Plutarch, Cic.29).

100 rungen gegen den Verstorbenen aus, die man nicht wiedergeben kann, und die recht zahlreichen Soldaten unter ihnen gingen nach Hause und raubten die Standbilder der Töchter des Königs, brachten sie vereint in die Bordelle, stellten sie auf deren Dächer und verunglimpften sie nach Kräften, indem sie Dinge taten, die zu schändlich sind, als daß man sie erzählen kann." (ant 19.357).85 Kein Zweifel, hier werden junge Herodäerinnen als Prostituierte verhöhnt. Gemeint sind drei Töchter des Agrippa I.: Berenike, die damals 16 Jahre alt und mit Herodes von Chalkis verheiratet war, ferner die zehnjährige Mariamne und die sechsjährige Drusilla - beide damals schon vom Vater an andere versprochen (ant 19,355). Die libertinistische Aura kann kaum auf diese jungen Prinzessinnen zurückgehen. Sie war schon vorher mit Herodäerinnen verbunden.86 Eine von diesen drei Herodäerinnen hatte in ihrem ganzen Leben mit übler Nachrede zu kämpfen: Berenike.87 Als junges Mädchen war sie mit dem Sohn des alexandrinischen Alabarchen verheiratet oder verlobt (ant 19,276f), nach dessen Tod wurde sie die Frau des Herodes von Chalkis, der 48 n.Chr. starb. Danach lebte sie eine lange Zeit als Witwe am Hofe ihres Bruders Agrippa II. Hier kam sie ins Gerede: "Da aber das Gerücht ging, daß sie mit ihrem Bruder zusammenlebe, überredete sie den Polemon, den König von Kilikien, sich beschneiden zu lassen und sie zu heiraten; denn sie meinte, auf diese Weise die Verleumdungen als Lügen überführen zu können" (ant 20, 145). Die Ehe wurde bald wieder geschieden: "Berenike verließ den Polemon wegen ausschweifenden Lebens, wie man sagte" (ant 20,146). Dabei kann sich δι' άκολασίαν sowohl auf das Verhalten des Polemon wie auf das der Berenike beziehen. Nach der Scheidung lebte sie wieder am Hofe ihres Bruders. Daß ein bei den Juden beliebter herodäischer Fürst Bilder seiner Töchter anfertigen ließ und damit das zweite Gebot übertrat, mag erstaunen. Aber Agrippa I. ließ sich auch auf seinen Münzen mit Porträt darstellen - wenn auch wohl nur auf Münzen, die nicht in Jerusalem geprägt worden waren. Vgl. Y.MESHORER: Jewish Coins, 78-80. 138-141 und J.MEYSHAN: The Coinage of Agrippa I, IEJ 4 (1954) 186-200.

85

Parallel zu dieser Verhöhnung des Agrippa I. nach seinem Tod in Caesarea steht seine Verhöhnung ca. 38 n.Chr. während seines Aufenthalts in Alexandrien, vgl. Philo Flacc. 25ff bes. 36-39. Die Griechen "verbrachten ihre Tage im Gymnasium, um über Agrippa zu lästern und Spottverse zu knüpfen. Auch Dichter von Possenspielen und Schwänken nahmen sie zum Vorbild, um ihren Drang zur Gemeinheit kund zu tun..." (Flacc.34). 86

Vgl. zu ihr R.D.SULLIVAN, The Dynasty of Judaea, 311-312. TH. MOMMSEN: Römische Geschichte V, 540 VII, München 3 1984, S.239, ist nicht unbeeindruckt durch die gegen sie gerichtete negative Propaganda, wenn er schreibt: "... überdies hielt ... Berenike, eine Kleopatra im Kleinen, mit dem Rest ihrer viel in Anspruch genommenen Reize das Herz des Bezwingers von Jerusalem gefangen."

87

101

In Apg 25,22ff treten Agrippa II. und Berenike zusammen auf. Beide gelten als "Könige" (vgl. Jos.vita 48 180) und handeln zusammen. 88 Als König Agrippa 67 n.Chr. von den Tyrern "verunglimpft" wird (vita 407f), könnten die alten Gerüchte über ihr inzestuöses Verhältnis eine Rolle gespielt haben. Während des Jüdischen Krieges kommt es dann zu dem berühmten Liebesverhältnis zwischen Titus und der über 10 Jahre älteren Berenike. Josephus schweigt dezent darüber. In Rom wußte man Bescheid (vgl. Tac.hist. 11,2; Sueton Titus 71; Dio-Xiphilinus 66,15,3ff).89 Titus hätte vielleicht Berenike geheiratet. Als sie jedoch 75 in Rom auftauchte und sogar mit Titus zusammenlebte, gab es großen Widerstand gegen eine Heirat des designierten neuen Kaisers mit der orientalischen Prinzessin. In diesem Zusammenhang wird in Rom wieder der alte Klatsch vom inzestuösen Verhältnis Berenikes zu Agrippa II. aufgewärmt (Juvenal Sat VI, 156-160).90 Titus hat aus Staatsräson das Verhältnis auflösen müssen. In all diese Gerüchte über libertinistische Sitten herodäischer Frauen ist auch Mk 6,17ff einzureihen: Die tanzende Salome paßt gut zur angeblich in einem inzestuösen Verhältnis lebenden Berenike und zu symbolisch ins Bordell versetzten Herodäerprinzessinnen. Wahrscheinlich ist es den Herodäerinnen zum Verhängnis geworden, daß sie sich "emanzipierter" verhielten als das Volk, wie sich überhaupt die herodäische Oberschicht von den strengen Sitten der Väter entfernte. Wahrscheinlich war ihr Leben nicht lasterhafter als das anderer Mitglieder ihrer Schicht. Aber es gab Gruppen, die das Bild der lasterhaften Herodäerinnen brauchten - Teile des einfachen Volkes in Palästina, vor allem aber die nächsten Nachbarn der Juden: Denn wir können Lästerungen von Herodäern und Herodäerinnen vor allem in der Nachbarschaft Palästinas lokalisieren: in Alexandrien, Caesarea und in Tyros. Bei den nichtjüdischen Nachbarn der Juden in Palästina gab es ein Bedürfnis, sich von den Juden abzusetzen - und ihr Königshaus lächerlich zu machen. Auch die Geschichte vom Tod des Täufers dürfte in dieser Nachbarschaft begierig aufgenommen worden sein. Wir können noch vermuten, wo dies geschah. Einige Indizien weisen auf die nördliche Nachbarschaft Palästinas. Dort war Salome OD

Berenike wird in den Quellen immer "Königin" genannt; vgl. Jos.vita 119; Tacitus Hist 2,81, IG 111,556. In einer Inschrift in Beirut wird sie sogar vor ihrem Bruder Herodes II. als Regina Berenice genannt; vgl. G.H.MACURDY: Julia Berenice, AJP 56 (1935) 246253: Sie übte mit ihrem Bruder eine Art condominium aus (S.253). QQ

Zur kritischen Analyse der Quellen und zum politischen Hintergrund der Auseinandersetzung um Berenike vgl. JA.CROOK: Titus und Berenice, AJP 72 (1951) 162-175. 90

G.H.MACURDY, Julia Berenice, 253, hat wohl recht mit der Annahme, "that the story of her alleged incest, which is so prominent in all discussions of her, rests on prejudiced evidence and could easily arise from the events of her early life which led to her participation in her brother's power."

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bekannt - als Frau des Tetrarchen Philippus, als Schwiegertochter des Königs von Chalkis und als Königin von Kleinarmenien. Falls der Ehemann der Salome (oder ihr Sohn?), Aristobulos, ca. 72 das kleine Königreich Chalkis erhielt, hätte es sogar einen unmittelbaren Anlaß gegeben, noch einmal alte Familiengeschichten aufleben zu lassen. Ungenauigkeiten in der Wiedergabe der Familienverhältnisse, die Abbiendung von politischen und religiösen Dimensionen der Hinrichtung des Täufers, die Anpassung der Verhältnisse an die im Norden Palästinas eingetretenen Verschiebungen und Veränderungen - all das wäre dort verständlich. Unsere Vermutung ist daher, daß in dieser Geschichte eine herodäerfeindliche Nachbarschaftsperspektive vorherrscht. Der Evangelist Markus hat sie als Volksüberlieferung irgendwo in der Nachbarschaft Palästinas übernommen - wahrscheinlich nicht weit entfernt von jenen Gebieten, die noch in der zweiten Hälfte des lJhdt.s von Herodäern und Herodäerinnen beherrscht wurden. Jedoch sei darauf aufmerksam gemacht, daß man sich üblen Tratsch über Herodäerinnen auch gut in der Hauptstadt des Weltreichs, in Rom, vorstellen kann zumal Titus mit einer dieser Herodäerinnen ein Verhältnis hatte. Die "Propaganda" gegen eine mögliche Eheschließung mit ihr konnte jede Herabsetzung herodäischer Frauen gut gebrauchen. Dennoch ist diese Lokalisierung der Legende vom Tod des Täufers - so gut sie zur traditionellen Lokalisierung des MkEv nach Rom passen mag - unwahrscheinlich: Josephus überliefert in den Antiquitates, was man in Rom über den Täufer und das herodäische Haus wußte. Er bringt nirgendwo den Tod des Täufers mit Intrigen herodäischer Frauen zusammen. Für ihn ist die Hinrichtung des Täufers politisch motiviert. Sie wird in Machaira vollzogen. Der verantwortliche Herodäer ist ein "Tetrarch", kein König. Die Familienverhältnisse werden anders beschrieben.91

C. Überlieferungsbedingungen der Wundergeschichten Wenn die Überlieferung vom Tod des Täufers eine allgemeine Volksüberlieferung ist, die nicht (nur) von Anhängern des Täufers und Jesu überliefert wurde, so stellt sich die Frage: Ist diese Täuferlegende die einzige Volksüberlieferung in den Evangelien? Sollte es nicht auch unter Jesusüberlieferungen Geschichten gegeben haben, die über den Kreis seiner engsten Anhänger hinausgedrungen sind? Am ehesten kommen dafür Wundergeschichten92 in Frage, denn hier finden sich direkte Hinweise dafür, daß sie überall 91

E.LOHMEYER, Mk 121, suchte den Ursprung von Mk 6,17ff "in jüdischen Kreisen, etwa Roms, ..., die schon der hellenistischen Umwelt sich angepaßt haben." In seinem Handexemplar aber korrigierte er Rom in Syrien, vgl. E.LOHMEYER: Das Evangelium des Markus. Ergänzungsheft, bearbeitet von G. Saß. Göttingen 1963,11.

92

Hin und wieder wird eine eigene Gattung "Wundergeschichten" bestritten. So unter-

103 erzählt wurden. Diese Hinweise haben formgeschichtlich verschiedenen Charakter: a) In der Exposition von Wundergeschichten wird das Auftreten der Hilfesuchenden hin und wieder dadurch motiviert, daß sie von Jesu Wundertaten gehört haben: Die blutflüssige Frau hat lange unter ihrer Krankheit gelitten. "Als sie von Jesus gehört hatte, kam sie unter dem Volk ..." (Mk 5,27). Ebenso "hörte" die Syrophönikerin von Jesus, obwohl er verborgen bleiben wollte (Mk 7,25). Der Hauptmann von Kapernaum schickt bei Lk zu Jesus, nachdem er von ihm "gehört" hat (Lk 7,3; vgl. Joh 4,47). Es wird als selbstverständlich vorausgesetzt, daß man sich schon zu Jesu Lebzeiten von seinen Taten erzählte. b) Verbreitungsnotizen am Ende der Wundergeschichten bestätigen dies Bild: "Und das Gerücht über ihn verbreitete sich alsbald überall hin in die ganze umliegende Landschaft von Galiläa" (Mk 1,28).93 Der geheilte Aussätzige "ging hinweg und fing an, die Sache vielfach zu verkündigen und auszubreiten " (Mk 1,45). Die Augenzeugen des Exorzismus am See "flohen und verkündigten in der Stadt und auf dem Lande" (5,14). Ihre Rolle übernimmt später der Geheilte selbst: "Und er ging aus und fing an, im Gebiet der Dekapolis zu verkündigen, was Jesus ihm Großes getan hatte " (Mk 5,20). Dabei setzen sich die Erzähler von Jesu Wunder über dessen ausdrücklichen Willen scheidet M.DIBELIUS: Die Formgeschichte des Evangeliums, Tübingen 1971, 34ff; 66ff; zwischen "Paradigmen" und "Novellen". Dabei muß man sehen: Die "Novellen" bestehen ausschließlich aus Wundergeschichten (vgl. die Liste S.68) und werden durch die Ausrichtung auf das Wunder geradezu definiert; unter den "Paradigmen" führt er fünf Wundergeschichten an, bei denen die Pointe eher im Wort liegt. Diese Aufteilung der Wundergeschichten hat einen wichtigen überlieferungsgeschichtlichen Sachverhalt erfaßt, wie im folgenden gezeigt werden soll: "Wunder" wurden als Volks- und Gemeindeüberlieferung tradiert, ohne daß man zwischen beiden eine scharfe Grenze ziehen kann. Anders motiviert ist die Bestreitung einer antiken Gattung "Wundergeschichten" bei K.BERGER: Hellenistische Gattungen im Neuen Testament, ANRW II, 25,2, Berlin 1984, 1212-1218 und ders., Einführung, 76-84: Wundergeschichten seien auf verschiedene Gattungen zu verteilen, von denen keine durch das Wunder konstitutiert werde. Für das Neue Testament kann man m.E. feststellen: Nicht erst modernes Bewußtsein ordnet hier Berichte von Wundertaten Jesu zusammen, schon die Synoptiker sprechen von δυνάμ,εις (Mt 11,20.23; Mk 6,2.14), das Johannesevangelium von σημεία (Joh 2,11 u.ö.). Sie fassen damit Erscheinungen zusammen, die wir vor allem in "Wundergeschichten" gestaltet finden. Vor allem aber zeigen die stereotypen Motive und Aufbaumuster dieser Geschichten, daß sie zusammengehören. Daß in ihnen Elemente anderer Gattungen begegnen können, sei unbestritten. 93

Mk 1,28 kann so verstanden werden, als breite sich der Ruf Jesu in der galiläischen Umgebung aus oder in den Nachbargebieten von Galiläa. Daß der Ruf de facto im MkEv die Nachbargebiete erreicht, zeigt dann Mk 3,7f.

104

hinweg: "Und er gebot ihnen, daß sie es niemandem sagen sollten; aber soviel er es ihnen gebot, um so viel mehr machten sie es kund" (Mk 7,36).94 Ebenso wird das Geheimhaltungsgebot in Mt 9,30f übertreten: Jesus möchte, daß niemand die Heilung der zwei Blinden erfährt. "Sie aber gingen hinaus und machten ihn in jener ganzen Gegend bekannt." Zwei Analogien in der Apg bestätigen: Man setzt allgemein voraus, daß Wunder spontan weitererzählt werden (vgl. Apg 9,42; 19,7). c) Besonders interessant sind jene Fälle, wo innerhalb von Apophthegmen also einer anderen Gattung von Jesusüberlieferung - die Kenntnis von Jesu Wunder als bekannt vorausgesetzt wird. So heißt es von Jesu Vaterstadt, daß er dort keine Wunder tun konnte (Mk 6,5). Aber das Gerücht seiner Wunder hat die Stadt schon vor ihm erreicht. Nur deshalb kann die Menge staunend fragen: "Und solche machtvollen Taten geschehen durch seine Hände?" (Mk 6,2). Auch Herodes Antipas muß nach Mk 6,14 von Jesu Wundern gehört haben. Sonst könnte er nicht befürchten, Jesus sei der wiedererstandene Täufer und deshalb seien "Wunderkräfte in ihm wirksam". In der Anfrage des Täufers werden dessen Abgesandte sogar direkt mit Berichten von Jesu Wundern beauftragt: "... berichtet dem Johannes, was ihr hört und seht: Blinde werden sehend und Lahme gehen, Aussätzige werden rein und Taube hören, Tote werden auferweckt und Armen wird die frohe Botschaft gebracht ..." (Mt 11,5). d) Schließlich sind noch die Summarien zu nennen. Der Zustrom der Menge zu Jesus aus Galiläa, Jerusalem, Idumäa, Peräa, Tyros und Sidon wird in ihnen damit begründet, daß "sie hörten, wie große Dinge er tat" (Mk 3,8). 95 In den anderen Wundersummarien (Mk l,32f und 6,53-56) wird nicht ausdrücklich davon erzählt, daß die Menschen zu Jesus strömen, weil sie von seinen Wundertaten gehört haben, es ist implizit vorausgesetzt. Natürlich können wir aus solchen Aussagen die Überlieferungsbedingungen der Wundergeschichten nicht direkt ablesen. Aber wir erhalten das Bild, das sich die Evangelisten von ihnen gemacht haben. Aus diesem Bild lassen sich Rückschlüsse auf die Verhältnisse zur Zeit der Evangelisten, dann aber auch auf frühere Zeiten ziehen. Wir analysieren daher dies Bild unter drei Fragestellungen genauer: Wer erzählt von den Wundern Jesu? In welcher Form 94

U.LUZ: Das Geheimnismotiv und die markinische Christologie, ZNW 56 (1965) 930, hat einleuchtend zwischen "Wundergeheimnis", das übertreten wird, und "Persongeheimnis", das gewahrt bleibt, unterschieden. 95

Mk nennt in diesem Summarium über die jüdischen Stammgebiete Galiläa und Judäa hinaus die Nachbarregionen: Idumäa im Süden, Tyros und Sidon im Norden. Daß er die Dekapolis im Osten hier noch nennt, dürfte durch die Geschichte in Mk 5,Iff bedingt sein, die voraussetzt, daß Jesus in der Dekapolis als Unbekannter auftritt.

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wird von ihnen erzählt? Wo erzählt man sich von ihnen?

1. Wer erzählt von den Wundern Jesu? In den Texten werden drei Rollen genannt. Meist sind es die Zeugen des Geschehens, die ein anonymes Gerücht über Jesu außergewöhnliche Taten auslösen. Seltener verkündigt der Geheilte selbst die an ihm gewirkte Heilung (Mk 1,45; 5,20).% Einmal tritt sein Zeugnis (Mk 5,20) in Konkurrenz zu einem allgemeinen Gerücht (5,14). Zweimal wird der "Überlieferungsprozeß" direkt auf Jesus zurückgeführt; Er beauftragt die Gesandten des Täufers, von seinen Wundern zu erzählen (Mt 11,5). Er gibt dem Geheilten in Mk 5,19 einen "Verkündigungsauftrag" Um so mehr fällt auf: Nirgendwo werden die Jünger Jesu beauftragt, von Jesu Wundern zu berichten. Ihre Aufgabe besteht darin, Wunder zu tun (Mt 10,8/Lk 10,9). Dagegen ist die Wortüberlieferung den Jüngern anvertraut (Mt 10,7; 28,19). Welche Rückschlüsse lassen sich aus diesen textimmanenten Erzählerrollen auf die Überlieferungsbedingungen zur Zeit der Evangelisten ziehen? Wenn die Evangelisten anonyme Überlieferung auf Augenzeugen zurückführen, so ist das natürlich ein Rückschluß. Aber Ausgangspunkt dieses Rückschlusses muß eine Überlieferung sein, die auch außerhalb der Gemeindegrenzen existierte. Aufschlußreich ist insbesondere Mk 5,1-20: Die Träger des allgemeinen Gerüchts über Jesus "fliehen" vor ihm. Aufgrund ihrer Berichte wird Jesus gebeten, das Land zu verlassen (5,14). Hier ist ein negatives Bild von Jesus vorausgesetzt - ein Bild, das unmöglich in der Gemeinde bewahrt wurde. In Mk 5,1-20 konkurriert mit diesem Bild eine positive Überlieferung: Der Geheilte verbreitet sie in der ganzen Dekapolis. Die Konkurrenz zweier Überlieferungen läßt sich in zweifacher Weise deuten: Es könnte sich in den Augen der Erzähler in beiden Fällen um Jesusüberlieferung außerhalb der Gemeinde handeln, die teils negativ, teils positiv war. Positiv getönte Jesusbilder außerhalb der Gemeinde sind durch die Perikope vom "fremden Exorzisten" (Mk 9,38-40) belegt: Der Exorzist treibt im Namen Jesu Dämonen aus - er muß also etwas von den Exorzismen Jesu gehört haben -, aber er gehört nicht zur markinischen Gemeinde. "Er folgt uns nicht", klagen die Jünger (Mk 9,38f). Dennoch hat er ein positives Verhältnis zu Jesus.

QZ

D.ZELLER: Wunder und Bekenntnis. Zum Sitz im Leben urchristlicher Wundergeschichten, BZ 25(1981) 204-222, nimmt an, daß die betroffenen Geheilten zuerst die Wundergeschichten erzählten. Sein Aufsatz ist methodisch vorbildlich: Die textimmanenten Erzählerrollen müssen Ausgangspunkt für die Rückfrage nach den historischen Erzählern sein.

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Ein negatives Bild vom Wunderhandeln Jesu außerhalb seiner Anhänger läßt sich aus der Beelzebubperikope erschließen: Wenn die Gegner Jesu hinter den Exorzismen Satanswerk vermuten, so müssen sie von diesen Exorzismen erfahren haben (Mk 3,22). Das gilt speziell im MkEv, denn hier wird das Beelzebubgespräch anders als in Q (Mt 12,22-30; Lk 11,14-23) nicht durch einen Exorzismus eingeleitet. Die Gegner Jesu kommen vielmehr aus Jerusalem, können also nicht Augenzeugen der vorher geschilderten Exorzismen gewesen sein. Sie reagieren auf die Kunde von Jesus. Es spricht also viel dafür, daß Mk sowohl eine positive wie eine negative Fama von Jesus außerhalb der Gemeinde voraussetzt. Das Nebeneinander der beiden "Überlieferungsformen" in Mk 5,1-20 könnte jedoch auch als Konkurrenz von Volks- und Gemeindeüberlieferung gedeutet werden. Der Auftrag zur Verkündigung an den Geheilten klingt wie ein christlicher Predigtauftrag: "Verkündige ihnen, was der Herr an dir getan und wie er sich deiner erbarmt hat" (5,19). Nicht das wunderbare Geschehen steht hier im Zentrum, sondern das in ihm erkennbare Handeln und Erbarmen Gottes. Dieser Auftrag legitimiert eine Wunderüberlieferung, wie wir sie auch innerhalb der Gemeinde annehmen dürfen. Anders liest sich dagegen die Ausführung des Auftrags: "Und er ging hinweg und begann in der Dekapolis zu verkündigen, was ihm Jesus getan hatte, und alle erstaunten" (Mk 5,20). Hier tritt die religiöse Deutung zurück. Das Verb κηρυσσειν erinnert an sie. Aber es sagt vielleicht nicht mehr als άπαγγέλλειν in 5,14 (und 5,19). Man könnte den Schluß der Wundergeschichte daher so verstehen: Jesus beauftragt den Geheilten zwar mit der Verkündigung von Gottes Taten, aber de facto verbreitet der Geheilte nur das Gerücht über staunenswerte Taten Jesu. Wir hätten dann in Mk 5,1-20 Hinweise auf eine allgemeine Volksüberlieferung der Wunder Jesu, die teils negativ (5,14; vgl. 16), teils positiv (5,20) getönt war, die aber hinter der eigentlichen Intention Jesu (5,19) zurückbleibt. Diese allgemeine Volksüberlieferung wird sowohl auf die Augenzeugen der Wunder wie auf das Zeugnis der Geheilten zurückgeführt. Erkennbar ist noch, daß es Übergänge zwischen der von Jesus gewollten Überlieferung und der ohne seinen Willen verbreiteten Fama gab: Die beiden Geheilten, die im MkEv als Überlieferungsträger von Wundergeschichten auftreten, gehören zwar nicht zu den engsten Jüngern, werden aber als Anhänger Jesu gezeichnet. Beide werden von Jesus "weggeschickt". Der geheilte Aussätzige soll zum Priester gehen, sich rein erklären lassen und alles tun, um wieder in die "normale" Welt zurückkehren zu können. Der geheilte Gerasener bittet ausdrücklich, bei Jesus bleiben zu dürfen. Gegen seinen Wunsch wird er "nach Hause" gesandt, um den Seinen von Jesu Handeln zu erzählen. Beide werden ins "normale" Leben zurückgeschickt. Ihre Krankheit hatte soziale Isolation bedeutet, ihre Rückkehr ins Leben ist Demonstration

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ihrer Gesundheit. Aber Mk kennt auch eine andere Möglichkeit: Vom blinden Bartimäus heißt es: "Er folgte Jesus nach auf dem Wege" (Mk 10,52). Er ist der einzige Geheilte, von dem in den Wundergeschichten gesagt wird, daß er ein "Nachfolger" im engeren Sinne wurde. In ihm könnte die Rolle des urchristlichen Wandercharismatikers sichtbar werden, in den anderen Geheilten dagegen die Rolle der seßhaften Sympathisanten, aus denen die Ortsgemeinden hervorgingen. Von hier dringt die Kunde von Jesu Wunder über engere Kreise hinaus, war aber auch unabhängig von solchen "Sympathisanten" im Volk verbreitet. Bei Mk kann man noch eine deutliche Spannung zwischen dieser allgemein verbreiteten Wunderüberlieferung und der Intention Jesu spüren - d.h. jener Wunderüberlieferung, in der die Gemeinde ihre eigensten Überzeugungen wiederfand. Diese Spannung meldet sich im "Wundergeheimnis" 97 Jesus wollte nicht, daß von seinen Wundern erzählt wurde, konnte sich aber damit nicht durchsetzen. Das Wundergeheimnis knüpft zwar an traditionelle Elemente an - zum Wunder gehört eine geheimnisvolle Aura -, aber es wird im MkEv neu akzentuiert: 98 In Mk 1,44 könnte das Schweigegebot ursprünglich bis zur Reinheitserklärung durch den Priester gegolten haben. Jetzt ist es ohne Befristung formuliert und wird sofort übertreten. Die Übertretung (Mk 1,45) dürfte auf mk Redaktion zurückgehen. In Mk 5,19 wird die Sendung ins Haus ursprünglich Demonstration der Heilung sein. Mk läßt in einem redaktionell gestalteten Zusatz den Geheilten nicht "nach Haus" gehen, sondern in der Dekapolis predigen. Dadurch wird in die Entlassung nach Haus sekundär eine Begrenzung des Weitererzählens hineingelegt, als deren Übertretung die Predigt in der Dekapolis erscheint. Am deutlichsten wird der Widerspruch zwischen dem Geheimhaltungswillen Jesu und einer überall ver97

Die verschiedenen Formen des "Geheimnisses" lassen sich im MkEv durch die Zeitdauer unterscheiden, in der das Geheimnis jeweils aufgehoben wird. Das Wundergeheimnis wird unmittelbar übertreten. Das Persongeheimnis wird in Jerusalem paradox enthüllt: Hier spricht der mk Jesus offen davon, daß er der "Sohn Gottes" ist (Mk 12,6; 14,61f). Die geheimen Lehren "im Hause" bleiben dagegen gewahrt: Sie sprechen Probleme der nachösterlichen Gemeinden an. Den verschiedenen Zeitspannen entspricht wahrscheinlich ein verschiedener "Verbreitungsradius": Als Wundertäter war Jesus weit bekannt und bewundert. Sein Anspruch als Bote und Sohn Gottes war ein Stein des Anstoßes außerhalb der Gemeinde. Manche seiner Lehren aber waren Gemeindeüberlieferung, die nur intern tradiert wurde. no

In: Urchristliche Wundergeschichten, 143ff, habe ich gezeigt, daß die Schweige- und Geheimnismotive zur traditionellen Sprache des Wunders und der Magie gehören. Das schließt nicht aus, daß Mk diese traditionelle und ihm vorgegebene Sprache in eigentümlicher Weise neu benutzt. "Redaktion" ist hier Aktualisierung eines vorgegebenen Motivrepertoires.

108 breiteten Wunderüberlieferung in Mk 7,36: "Und er gebot ihnen, daß sie es niemandem sagen sollten; aber soviel er es ihnen gebot, um so viel mehr machten sie es kund." D i e von Mk vorgefundene Überlieferungssituation wäre dann folgende gewesen: Außerhalb ihrer eigenen Kreise fand die mk G e m e i n d e f r e m d e Jesusüberlieferungen im ganzen Volk. U m sie aneignen zu können, mußte sie diesen Überlieferungen Historizität zusprechen: Sie galten als Zeugnisse für Jesu Wirken. U m ihre "Fremdheit" zu erklären, mußte sie gleichzeitig dem Überlieferungsvorgang Authentizität absprechen: E s widersprach d e m Willen Jesu, daß diese Wundergeschichten im Volk kursierten. D i e mk Geheimhaltungsgebote wären dann ein Ausgleich zwischen Volks- und Gemeindeüberlieferung, zwischen zwei Überlieferungsformen der Wundergeschichten. 9 9 Schon M . D I B E L I U S hatte zwei vergleichbare Überlieferungsformen angenommen: auf der einen Seite Paradigmen, die ganz von ihrem religiösen Zweck her konzipiert sind, auf der anderen Seite die Novellen, in denen das Wunder Selbstzweck ist. Jene seien von "Predigern" des Evangeliums überliefert worden, diese von "Erzählern" in der Gemeinde. 1 0 0 Dibelius verortet 99

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Die Deutung der Geheimnismotive im MkEv als Versuch einer Synthese zwischen verschiedenen Traditionen hat eine lange Tradition. W.WREDE: Das Messiasgeheimnis in den Evangelien, Göttingen 1901 3 1963, sah in ihnen einen Ausgleich zwischen nachösterlichem Messiasglauben und unmessianischer Leben-Jesu-Überlieferung. R.BULTMANN, Geschichte, 372f, deutete das MkEv als Vereinigung des hellenistischen Kerygmas von Christus mit der Tradition über die Geschichte Jesu. E.SCHWEIZER: Zur Christologie des Markusevangeliums, in: ders.: Neues Testament und Christologie im Werden, Göttingen 1982, 86-103, sei als Beispiel für jene Auslegung genannt, die in den Geheimnismotiven einen Ausgleich zwischen der Wunder- und der Passionsüberlieferung sieht. Diesem vom Gedanken einer "Synthese" bestimmten Auslegungstyp kann ein anderer entgegengesetzt werden, der in den Geheimnismotiven eine Polemik angelegt sieht: Der Evangelist nehme die Wundergeschichten auf, um sie zu neutralisieren. So TH.J.WEEDEN: Die Häresie, die Markus zur Abfassung seines Evangeliums veranlaßt hat, in: R.PESCH (ed.): Das Markus-Evangelium, WdF 161, Darmstadt 1979, 238-258. - Um die oben skizzierte Deutung der Geheimhaltungsgebote bei Wundergeschichten in die bisherige Forschung einzuordnen, sei betont: 1. Es handelt sich hierbei nicht um eine Deutung aller Geheimnismotive, sondern nur der Geheimhaltungsgebote in Wundergeschichten. 2. Diese Deutung will nur den Anlaß eines Geheimnismotivs erklären, nicht aber seine Intention und Funktion im MkEv. Sie kann sich daher mit anderen Deutungen verbinden. 100 Vgl. M.DIBELIUS, Formgeschichte, 66ff. D.ZELLER, Wunder und Bekenntnis, 206, weist mit Recht auf eine innere Spannung in diesem Konzept M.Dibelius' hin: Einerseits sollen die Wundergeschichten missionarische Funktion haben bei Menschen, die schon an Wundertaten von Göttern und Propheten gewöhnt seien; andererseits werden sie einer sozialen Rolle zugeordnet, die in der Gemeinde angesiedelt wird: Leh-

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beide Überlieferungsformen in der christlichen Gemeinde. Die Aufnahme der weltlich geprägten Novellen war für ihn ein erster Schritt der Anpassung des frühesten Urchristentums an die "Welt". Macht man mit dem weltlichen Charakter der sogenannten "Novellen" jedoch ernst, so wird man nicht nur ihren Gehalt als weltlich ansehen, sondern auch ihre Traditionsträger: Ihre "Erzähler" sind keine besondere Gruppe in der christlichen Gemeinde, sondern Menschen mit erzählerischer Kompetenz im Volk unabhängig davon, wie nahe sie der Gemeinde standen. Wundergeschichten wurden gewiß auch in der Gemeinde erzählt. Aber sie hatten eine Form, die sie über die Grenze der Anhänger hinaus leicht zugänglich machte.

2. In welchen Formen wurde von den Wundern erzählt? Wir hatten bisher stillschweigend vorausgesetzt, es habe sich um Wundergeschichten nach Art der synoptischen Erzählungen gehandelt, wenn sich das "Gerücht" über Jesu Wirken im Lande ausbreitete. Aber könnten nicht auch summarische Hinweise jene Funktion erfüllt haben, die diesem Gerücht zugeschrieben wird: die Menschen erstaunen zu machen und anzuziehen? Müssen es jene in typischer Weise stilisierten Wundergeschichten sein, die uns im MkEv begegnen? Hier kann ein Vergleich mit zeitgenössischer Wunderüberlieferung weiterhelfen. Josephus rühmt in seiner Darstellung des Königs Salomo in den antiquitates dessen exorzistische Heilkunst. Noch in der Gegenwart sei sie verbreitet. Als Beleg erzählt er folgende Geschichte:101 "Ich habe zum Beispiel gesehen (ιστόρησα), wie einer der Unseren, Eleazar mit Namen, in Gegenwart des Vespasian, seiner Söhne, der Obersten und der übrigen Krieger die von bösen Geistern Besessenen davon befreite. Die Heilung geschah in folgender Weise. Er hielt unter die Nase des Besessenen einen Ring, in dem eine von den Wurzeln eingeschlossen war, welche Salomo angegeben hatte, ließ den Kranken daran riechen und zog so den bösen Geist durch die Nase heraus. Der Besessene fiel sogleich zusammen, und Eleazar beschwor dann den Geist, indem er den Namen Salomos und die von ihm verfaßten Sprüche hersagte, nie mehr in den Menschen zurückzukehren. Um aber den Anwesenden zu beweisen, daß er wirklich solche Gewalt besitze, stellte Eleazar nicht weit davon einen mit Wasser gefüllten Becher oder ein Becken auf und befahl dem bösen Geist, beim Ausfahren aus dem Menschen dieses umzustoßen und die Zuschauer davon zu überzeugen, daß er den Menschen verlassen habe." (Jos. ant 8,46-48).

rern wird man eher innergemeindliche Aufgaben zuschreiben. 101

Zur Deutung vgl. D.C.DULING: The Eleazar Miracle and Salomon's magical wisdom in Flavius Josephus Antiquitates Judaicae 8,42-49, HThR 78 (1985) 1-25.

110

Josephus gibt sich selbst als Augenzeugen an.102 Das geschilderte Ereignis muß in den Jahren 67/68 n.Chr. geschehen sein. Josephus schreibt davon ca. 25 Jahre später. Es besteht kein Grund, daran zu zweifeln, daß ein jüdischer Exorzist mit seinen Künsten einmal das Offizierkorps des römischen Heeres im Jüdischen Krieg in Erstaunen versetzt hat. Die Überlieferung davon ist eine typische Wundergeschichte, ihr Tradent ein Augenzeuge. Tacitus berichtet von Vespasian aus Alexandrien zwei Wunderheilungen, die 70 n.Chr. dort geschehen sein sollen. Auch hier handelt es sich um kleine Geschichten, nicht um summarische Hinweise auf die Heilkraft des Vespasian.103 Abschließend versichert Tacitus, er habe sie von Augenzeugen: "Beide Geschichten erzählen Augenzeugen auch jetzt noch, wo doch eine lügenhafte Darstellung keinen Gewinn mehr brächte." (Tac. hist. IV, 81,3). Tacitus schreibt etwa 104/110 n.Chr., als das flavische Haus Vergangenheit war. Er hat - woran zu zweifeln kein Grund vorliegt - Augenzeugen gesprochen. Die Wundergeschichten bei Josephus und Tacitus sind überlieferungsgeschichtlich den urchristlichen Wundergeschichten vergleichbar: Zwischen erzähltem Ereignis und Niederschrift liegen bei den beiden Historikern ca. 25 bzw. 35 Jahre. Das entspricht dem zeitlichen Abstand des MkEv vom Wirken Jesu (ca. 30/35 Jahre). Es handelt sich ferner um kurze Geschichten, nicht um summarische Notizen. Als Ausgangspunkt der Überlieferung gelten Augenzeugen. Eine zweckfreie Erzählung liegt in keinem Fall vor: Josephus will die überlegene Weisheit Salomos "verkündigen"; die von Tacitus aufgenommene Tradition soll die Macht des Vespasian legitimieren, der als Usurpator ohne dynastische Abstammung ein Legitimationsdefizit aufwies. So wie man sich in breiten Kreisen von den Wundern des Vespasian erzählt 102

'Ιστόρησα kann bedeuten: "Ich habe es gesehen" oder "ich habe es erfahren"; vgl. D.C.DULING, Eleazar, 21. Da Josephus im Jüdischen Krieg seit seiner Gefangennahme zum engen Kreis um Vespasian gehörte, dürfte er Augenzeuge sein. Er schreibt in Rom - und könnte es kaum riskieren, eine unzutreffende Geschichte zu erzählen, deretwegen ihn noch lebende Augenzeugen des Jüdischen Krieges hätten Lügen strafen können. 103

Vgl. zu dieser Wundergeschichte K.BERGER, Einführung, 79. Für sie trifft zu, daß sich das Wunder im Rahmen einer Audienzszene vollzieht. Der Begriff "petitio" ist hier angebracht: Das traditionelle Motiv der Bitte gegenüber dem Wundertäter erscheint in der Gestalt einer Bitte während einer Audienz. Wie sehr aber der Erfahrungshorizont einer normalen Audienz gesprengt wird, geht aus der Geschichte selbst hervor. Vespasian lehnt zunächst ab. Zum Hintergrund dieser Wunder des Vespasian vgl. H.SCHWIER: Theologische und ideologische Faktoren im ersten jüdisch-römischen Krieg (66-74 n.Chr.) im Zusammenhang mit der Zerstörung des Jerusalemer Tempels, Diss. Heidelberg, Masch. 1988, 308-310.

Ill

hat - nur dann konnten sie ihre propagandistische Funktion erfüllen -, so wird man auch von Jesus schon früh in seiner Umwelt Wunder erzählt haben. Der Charakter vieler Wundergeschichten ist nicht spezifisch "christlich": Nirgendwo finden wir ein Amen-Wort Jesu, obwohl diese Beteuerungsformel als Einleitung eines heilkräftigen Wortes gut denkbar wäre. Der Nachfolgegedanke fehlt völlig (mit der einen Ausnahme in Mk 10,52). Vom Ende der Welt hören wir nichts. Der "Glaube" ist ein allgemeines Zutrauen zur Wunderkraft Jesu. Nur die wenigen Wundergeschichten, die M.DIBELIUS zu den Paradigmen rechnete, haben charakteristische christliche Inhalte: 104 Die Heilung des Gelähmten zeugt von der Vollmacht zur Sündenvergebung (Mk 2,1-12), die Heilung der gelähmten Hand von der Relativierung des Sabbatgebotes (Mk 3,1-6), die Heilung in der Synagoge von der neuen Lehre in Vollmacht (Mk 1,3-28), der Blinde von Jericho von der Befähigung zur Nachfolge (Mk 10,46-52). Da aber der Übergang zwischen Paradigmen und Novellen fließend ist - wie schon die Unterscheidung von Paradigmen reinen und minder reinen Typs bei M.DIBELIUS zeigt -, empfiehlt es sich nicht, Vorhandensein oder Fehlen spezifisch christlicher Motive zur Grundlage einer Gattungseinteilung zu machen. E s handelt sich immer um Wundergeschichten - einmal in einer Prägung durch christliche Überlieferer, das andere Mal in einer Form, in der sie im ganzen Volk kursierten und zugänglich waren. 3. Wo wurden die Wundergeschichten überliefert? Nimmt man an, daß ein großer Teil der Wundergeschichten (auch) Volksüberlieferung war, so hat man damit ihre Verbreitung schon eingegrenzt: Wahrscheinlich wurden sie im syrisch-palästinischen Gebiet erzählt. Von dort konnten sie in andere Gebiete vordringen: als Gemeinde- und Jüngerüberlieferung breiteten sie sich mit der Gemeinde in neue Gebiete aus. Als Volksüberlieferung aber werden sie vor allem in Palästina und angrenzenden Gebieten erzählt worden sein. Die Untersuchung der Geschichte von der syrophönikischen Frau hatte gezeigt: Die Erzähler dieser Geschichte sind mit den tyrisch-galiläischen Grenzgebieten vertraut. Gibt es noch weitere Wundergeschichten, in denen sich solch eine lokale Bindung wahrscheinlich machen läßt? Hier kann man die drei mit dem galiläischen "Meer" verbundenen Wundergeschichten nennen: die Sturmstillung (Mk 4,35-41), die Heilung des Geraseners (Mk 5,1-20) und den Seewandel (Mk 6,45-52). Auffällig ist, daß in ihnen der See Geneza104

Vgl. M.DIBELIUS, Formgeschichte, 40.

112 reth "Meer" genannt wird. In allen drei Geschichten gehört diese Bezeichnung zum traditionellen Bestand der Wundergeschichten. Schon in der Antike nahm ein Kritiker des Christentums an dieser Bezeichnung Anstoß, wahrscheinlich Porphyrius, dessen skeptische Einwände gegen die geschichtliche Zuverlässigkeit der Evangelien uns bei Makarius Magnes 105 überliefert sind. "Die jedenfalls, welche von der wahren Beschaffenheit der Orte berichten, sagen, daß dort kein Meer (θάλασσαν) sei, vielmehr ein kleiner See (λίμ,νην), der am Fuße des Gebirges im Land Galiläa bei der Stadt Tiberias von einem Fluß gebildet wird, ein See, der in nur zwei Stunden auf kleinen Einbaumbooten durchkreuzt werden kann und der weder für Wogen noch für Sturm groß genug ist. Markus bewegt sich also außerhalb der Wahrheit..." (Makarius Magnes, Apokritikos III,6). 106 Was für Porphyrius ein Anlaß war, die geschichtliche Wahrheit der Evangelienberichte zu bestreiten, ist für die moderne historisch-kritische Forschung ein Hinweis auf die Entstehungsbedingungen der Evangelientexte. D i e im Griechischen ganz ungewöhnliche Benennung eines kleinen Sees als "Meer" weist auf die sprachliche und lokale Bindung der Evangelientraditionen. Einerseits wird ihr semitischer Sprachhintergrund greifbar, andererseits begegnet uns hier die lokal begrenzte Lebenswelt kleiner Leute aus Galiläa, für die ein See zum "Meer" schlechthin werden konnte. Das erste Argument wurde schon von Hieronymus gegen Porphyrius vorgebracht. Bei der Auslegung von Gen 1,10 schrieb er: "Et congregationes aquarum vocauit maria. Notandum quod omnis congregatio aquarum, siue salsae sint siue dulces, iuxta idioma linguae hebraicae maria nuncupentur. Frustra igitur Porphyrius euangelistas ad faciendum ignorantibus m ir acuì um eo, quod dominus super mare ambulauerit, pro lacu Genesareth mare appellasse calumniator, cum omnis lacus et aquarum congregatio maria nuncupentur" (Haebr. Quaest. in Gen Ι,ΙΟ).107 Hebräisch "jam" umfaßt sowohl "Meer" wie "See". Es wird in der LXX mit ganz weni-

105

Zu Makarius Magnes, der um 400 n.Chr. eine Apologie schrieb, vgl. BALTANERA.STUIBER: Patrologie, Freiburg-Basel 91978, 332f. Daß er sich mit der Christentumskritik des Neuplatonikers Porphyrius (ca. 234-301/305) auseinandersetzt, zeigt auch die unten zitierte Widerlegung des Porphyrius durch Hieronymus. Manche Forscher identifizieren den anonymen Kritiker jedoch mit Hierocles (vgl. M.STERN, GLAJJ, II, 425f, Anm. 8; im folgenden zitiert als GLAJJ). 106

Ebenso bemerkt Porphyrius ausdrücklich zum Exorzismus Mk 5, Iff, es habe sich um einen See (λίμ-νη) und nicht ein tiefes Meer (θάλασσα) gehandelt (bei Makarius Magnes, Apokritikos 111,4). 107

Noch der byzantinische Theologe Theophylaktos von Achrida (gest. ca. 1108) sieht sich in seiner Enarratio in Evangelium Joannis veranlaßt, den ntl. Sprachgebrauch zu rechtfertigen: θάλασσαν δέ λέγει τήν λίμ.νην τα γαρ συστήματα των υδάτων, θάλασσας έκάλεσεν ή θεία Γραφή (vgl. Migne, PG 123,1284).I.

113 gen Ausnahmen 108 immer nur mit θ ά λ α σ σ α übersetzt, auch dort, wo eindeutig ein Binnensee gemeint ist wie das Tote Meer (vgl. LXX Gen 14,3; 4Kön 14,25; Joel 2,20) oder der See Genezareth (Num 34,11; Jos 12,3; 13,27). Im Babylonischen Talmud werden die "Meere" von Ps 24,2 auf kleinere Binnenseen und auf das "große Meer" gedeutet: 109 "Es heißt (Ps 24,2): Er hat es (das Land Israel) auf Meeren gegründet und auf Strömen befestigt. Das sind die sieben Meere und die vier Ströme, die das Israelland umgeben. Folgende sind die sieben Meere: das Meer von Tiberias, das Meer von Sedom, das Meer von Schachlath, das Meer von Chilta, das Meer von Sibki, das Meer von Paneas und das große Meer" (Baba Bathra 74b). Das ntl. θ ά λ α σ σ α ist also auf dem Hintergrund semitischer Sprachgewohnheiten zu verstehen. Sofern es in den Evangelien begegnet, kann man dies als Indiz dafür ansehen, daß die Evangelien in einem Gebiet entstanden, in dem semitische Sprachen direkt oder indirekt den Wortschatz mitbestimmten. Das weist in den Osten des Römischen Reiches, sei es, daß die Evangelien dort entstanden sind, sei es, daß ihre Verfasser von dorther kommen oder daß die von ihnen übernommenen Traditionen hier ihre Heimat haben. Unsere zweite Überlegung führt in dieselbe Richtung. Die Bezeichnung eines Sees als "Meer" kann als Hinweis auf eine beschränkte Lebenswelt verstanden werden. Für kleine Bauern und Fischer in Galiläa konnte der See Genezareth zum Meer schlechthin werden. Zwei Analogien lassen sich dazu anführen. In seiner "Meteorologie" berichtet Aristoteles von versickernden Flüssen, die keinen Ausfluß zum Meer haben: "In Griechenland kommt diese Naturerscheinung nur in ganz geringem Ausmaß vor; wohl aber gibt es am Fuß des Kaukasus den See, den die Leute dort ein Meer nennen: Dieser wird von vielen großen Flüssen gespeist, hat aber keinen sichtbaren Abfluß; ein solcher tritt, nach unteriridischem Lauf, erst im Lande der Koraxer, bei dem sogenannten Pontostief wieder zutage. Das ist eine unermeßlich tiefe Stelle des (Schwarzen) Meeres" (Meteor. 1,13, 351). Vielleicht meint Aristoteles das Kaspische Meer. Auf jeden Fidi ist für ihn eine λίμνη, was für die Anwohner selbst eine θ ά λ α τ τ α darstellt. Eine ähnliche Differenzierung zwischen dem Sprachgebrauch der "Anwohner" und der aus einer umfassenderen Perspektive schreibenden Autoren kann mein beim "Toten Meer" feststellen. Für die meisten antiken Autoren war er ein "See", eine λ ί μ ν η oder ein lacus.110 108

Ausnahmen sind "jam" = Westen (2Chr 4,4) oder "ehernes Meer" im Tempel (2Chr 4,2) oder "Strand" (lob 6,3). 109 Parallelstellen dazu mit z.T. anderen Meeresnamen sind pKil 9,32e und pKeth 12,35b. Zu den verschiedenen Identifikationsversuchen vgl. P.BILLERBECK, Kommentar, 185. Auch so kleine Seen wie der Semechonitis oder gar der Phialesee konnten als jam ( = Meer) bezeichnet werden. 110 Vgl. Aristoteles, Meteor. 1,3,359 (= GLAJJ I 3, S.7); Hieronymus von Cardia (GLAJJ I 10, S.19); Diodorus Siculus, Bibl. Hist. II, 48,6 (GLAJJ I 59, S.173). XIX, 98 (GLAJJ I 62, S.176); Strabo, Geogr. XVI, 2,34 (GLAJJ I 115, S.294); Vitruvius, Architecture VIII, 3,8 (GLAJJ I 140, S.346); Seneca, Nat. Quaest. III, 25,5(GLAJJ I 187, S.432); Plinius dA., Nat. Hist. VII, 65 (GLAJJ I 207, S.482Í). V,71 (GLAJJ I 204, S.469); Claudius Ptolemaeus, Geogr. V, 15,2 (GLAJJ II 337a, S.167); Alexander v. Aphrodisias, In Arist. Meteor. II, 359a (GLAJJ II 400, S.336); Solinus, Collectanea

114 Nur vereinzelt begegnet die Bezeichnung Meer. So bei Pompeus Tragus (Ende des lJhdt.s v.Chr.) neben der Bezeichnung lacus: "In ea regione latus lacus est, qui propter magnitudinem aquae et immobilitatem Mortuum Mare dicitur" (bei Justinus, Epitome 3,6 = GLAJJ I 137, S.336).111 Hinter diesem "dicitur" verbergen sich wahrscheinlich die Einwohner Judäas. Denn bei ihnen wurde das "Tote Meer" schon immer "jam" genannt, 112 entweder "Wüstenmeer" (Dtn 3,17; 4,49; Jos 3,16; 2Kön 14,25) oder "Salzmeer" (Gen 14,3; Num 34,3.12) oder "Vorderes Meer" (Joel 2,20; Ez 47,18; Sach 14,8). Da für die Juden der Osten "vorne" war, konnte das Tote Meer als vorderes Meer vom Mittelmeer (als dem "hinteren Meer") unterschieden werden. An einer Stelle kann "jam" ohne näheres Attribut sogar das Tote Meer meinen: "Und man kam und sagte zu Joschafat: Es kommt gegen dich eine große Menge von jenseits des Meers, von Aram (v.l. von Edom)" (2Chr 20,2). Die Bezeichnung "Meer" für den salzigen Wüstensee im Jordantal dürfte also lokalen Ursprungs sein. Vom 2.Jhdt. n.Chr. an verbreitete sich diese Bezeichnung jedoch in der Antike auch außerhalb Palästinas. Wir kommen damit zu folgender Annahme: Die Bezeichnung "Meer" für einen Binnensee stammt jeweils aus der unmittelbaren Umgebung des jeweiligen Sees. Aus entfernterer Perspektive spricht man von einem "See". Ein Einwand liegt nahe: Die Verbreitung des Namens "Totes Meer" in der Antike seit der Zeitenwende auch außerhalb Palästinas. Diese "Ausnahme" bestätigt die Regel. Denn die antiken Autoren, bei denen der Begriff mare oder θ ά λ α σ σ α auf das "Tote Meer" angewandt wird, benutzen diesen Begriff meist mit Vorbehalt. Pompeius Trogus nennt den See einen "lacus" und referiert den Namen "mortuum mare" nur als ihm überlieferte Bezeichnung (GLAJJ 1137, S.336), Tacitus nennt ihn einen "lacus", aber präzisiert: "Lacus immenso ambitu, specie maris" (Hist. V, 6,2 = GLAJJ II 281, S.20). Ahnlich drückt sich Pausanias aus: Er spricht zunächst von einem See (λίμνη) und fügt erst in einem Relativsatz hinzu, daß dieser See "Totes Meer" (θάλασσα) genannt wird (Graec. Descr. V,7,4f = GLAJJ II 356, S.194). Aelios Aristeides hat sich in Skythopolis von diesem See (λίμνη) erzählen lassen, "den einige jetzt 'Meer' nennen" (Or. XXXVI, 82,88 = GLAJJ II 370, S.218). Galen spricht von einem See mit zwei Bezeichnungen: Die einen nennen ihn "Totes Meer", die anderen "Asphaltsee". Für ihn selbst handelt es sich um einen "See". Einmal spricht er sogar von einem "toten See" (De simplicium Medicamentorum Temperamentis ac Facultatibus IV, 20 GLAJJ II 381, S.316).113 Vergleichbar ist Dio Chrysostomus, der offensichtlich Rerum Memorabilium 1,56 (GLAJJ II 448, S.417). 111

Diese Stelle ist der älteste Beleg für die Bezeichnung "Totes Meer", die vermutlich durch die hebr. Bezeichnung "Wüstenmeer" angeregt wurde. Vielleicht setzt schon Josephus diesen Namen voraus, wenn er den Asphaltsee als "salzig und unfruchtbar" (άγονος) beschreibt ( bell 4,56). Hebr. araba hat auch die Bedeutung "sterilis". 112

Vgl. V.BURR: Nostrum mare. Ursprung und Geschichte der Namen des Mittelmeeres und seiner Teilmeere im Altertum (Würzburger Studien zur Altertumswissenschaft, 4), Stuttgart 1932, 89. 113 In derselben Schrift erläutert Galen an anderer Stelle den Begriff "Totes Meer" (τήν νεκράν όνομαζομένην θάλασσα) mit den Worten εστι Ô' αύτη λίμνη τις (IX, 2,10 = GLAJJ II 386, S.324).

115 den Namen "Totes Meer" kennt, ihn aber zu einem "toten Gewässer" (το υδωρ ν ε κ ρ ό ν ) abwandelt (bei Synesius, Vita Dionis II, 317 = GLAJJ I 251, S.539). An all diesen Stellen wird deutlich: Für die antiken Autoren ist das "Tote Meer" in Wirklichkeit ein See. Sie erklären den ungewöhnlichen Sprachgebrauch entweder mit der Größe und Unbeweglichkeit des Sees (so Pompeius Trogus) oder mit dessen Unfruchtbarkeit (so Olympiodorus, In Aristotelis Meteora Commentarla GLAJJ II 552, S.680Í). Der Salzgehalt des Wassers läßt das "Tote Meer" ja in der Tat in die Nähe des offenen Meeres rücken. Wenn dieser relativ große See dennoch außerhalb Palästinas nur mit Vorbehalt "Meer" genannt wird, um wieviel mehr gilt das für den kleinen galiläischen Süßwassersee, von dem die Evangelien sprechen.

Wenn in den drei mk Wundergeschichten (ebenso wie im sonstigen MkEv) vom "Meer" gesprochen wird, wo der galiläische See gemeint ist, so kann man daraus schließen: Diese Geschichten wurden in der Nähe dieses Sees geprägt. Ihre Erzähler bewohnen eine Lebenswelt, in der das große Meer am Rande liegt. Es ist daher verständlich, wenn Lk konsequent den Sprachgebrauch ändert: Wo Mk von θάλασσα spricht, schreibt er λίμνη (Lk 8,22.23.33). Er schaut aus größerer Distanz auf Palästina. Die Apg zeigt, daß ihm die große Mittelmeerwelt vertraut ist. Gibt es noch weitere Lokalindizien in den drei Wundergeschichten, die unsere Annahme über deren lokale Prägung bestätigen können? Vor allem der Exorzismus am See (Mk 5,1-20) enthält genauere Angaben über Landschaft und Orte, aber auch einen eindeutigen geographischen Fehler. Gerasa wird in der Nähe des galiläischen Sees angesiedelt, obwohl die Stadt in Wirklichkeit ca. 50 km vom See entfernt liegt. Die Geschichte scheint in ihrer jetzigen Form das "Land der Gerasener" (5,1) mit der "Dekapolis" (5,20) zu identifizieren. Gerasa erlebte in der Tat in der 2. Hälfte des l.Jhdt.s n.Chr. einen plötzlichen Aufschwung.115 Damals wurde der noch heute sichtbare rechtwinklige Stadtgrundriß mit Cardo und Decumanus geschaffen. Möglicher114 Olympiodorus (6. Jhdt. n.Chr.) ist einer der wenigen antiken Schriftsteller, die vom "Toten Meer" sprechen, ohne einen Vorbehalt deutlich zu machen. Ohne Vorbehalt spricht auch Euseb, Onom. 16,2 vom "Toten Meer" In Onom. 100,4 benutzt er dagegen den biblischen Namen θάλασσα ή αλυκή und fügt hinzu: ή καλούμενα νεκρά και άσφαλτιτις. 115

Vgl. C.H.KRAELING (ed.): Gerasa. City of the Decapolis, New Haven 1938, darin betont C.H.KRAELING: The History of Gerasa, 27-69, "that the real change in its character and life begins approximately with the second half of the first century" (35). Damals ereignete sich "a definite upturn" (35). "The most important token of and element in Gerasa's transformation in the second half of the first century is its new, ambitious city plan" (40). Damals, zwischen 22 und 76 n.Chr., wird der hippodamische Stadtplan übernommen: "the city would hardly have ventured upon an expansion program of such magnitude as that implied in the new plan until some wealth and the possibility of continued prosperity were in evidence." (41)

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weise konnte die Stadt eine Zeitlang als Hauptort der Dekapolis erlebt werden. Trotz des geographischen Fehlers paßt die Geschichte gut zu den Spannungen zwischen der Dekapolis und den jüdischen Nachbarn. Die ersten Erzähler müssen mit ihnen vertraut gewesen sein. Die Dekapolis ist eine Schöpfung der Römer. 116 Als Pompeius 63 v.Chr. Syrien in das Römische Reich eingliederte, befreite er die hellenistischen Städte im Ostjordanland von jüdischer Herrschaft (ant 14,74-76). Kein Wunder,daß die meisten Städte der Dekapolis im Erscheinen der römischen Legionen das entscheidende Datum ihrer Geschichte sahen. Sie begannen mit ihm ihre Zeitrechnung. Pompeianische Ära haben Abila, Dion, Gadara, Gerasa, Kanatha, Pella, Philadelphia und Hippos. Auch im 1. Jhdt. n.Chr. blieben die römischen Legionen Garanten ihrer Unabhängigkeit - nicht zuletzt gegen ihre jüdischen Nachbarn, die ehemaligen Herrscher. Die Spannungen zu diesen zeigen sich im Jahr 44 n.Chr. in gewalttätigen Auseinandersetzungen um ein Dorf zwischen den Philadelphiern und Juden, die der römische Procurator Fadus beendete (ant 20,2). 66 n.Chr. kam es - ausgelöst durch ein Blutbad unter der jüdischen Bevölkerung in Caesarea - zu Verwüstungen des Territoriums der Dekapolis: "Auf das Blutbad von Caesarea hin geriet das ganze Volk in wilden Zorn, verteilte sich in mehrere Kriegshaufen und verwüstete die Dörfer der Syrer sowie die benachbarten Städte Philadelphia, Esebon, Gerasa, Pella und Skythopolis. Darauf fiel man über Gadara, Hippos und die Landschaft Gaulanitis her, teils zerstörte man die Ortschaften, teils steckte man sie in Brand" (bell 2,458f). Auch hier mußten römische Legionen den Frieden wieder herstellen. Derartigen Spannungen zwischen den heidnischen Bewohnern der Dekapolis und den Juden sind der Anschauungshorizont von Mk 5, Iff: Ein jüdischer Exorzist kommt ins Nachbarland. Er trifft auf einen Besessenen, der von einer "Legion" unreiner Geister beherrscht wird und sich an unreinen Orten in Gräbern aufhält. Wahrscheinlich soll er heidnisches Wesen darstelle, denn die unreinen Geister fahren in die Schweine, die Juden ein Greuel waren. 117 Eine Schweineherde war nur auf heidnischem Gebiet denkbar. Mit dem religiösen Gegensatz zwischen Juden und Heiden wird zugleich dessen

116 Zur Geschichte der Dekapolis vgl. H.BIETENHARD: Die syrische Dekapolis von Pompeius bis Trajan, ANRW II, 8, Berlin/New York 1977, 220-261. E.SCHÜRER, History II, 85ff bes. 125ff. 117 Vgl. FANNEN: Heil für die Heiden. Zur Bedeutung und Geschichte der Tradition vom besessenen Gerasener (Mk 5,1-20 parr.), FTS 20, Frankfurt 1976, 162, zu den "Schweinen" in Mk 5,Iff.

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politischer Aspekt thematisiert: Der Dämon gibt sich als "Legion" zu erkennen.118 Er stellt ein ganzes Heer dar. Seine dringlichste Bitte ist, im Land bleiben zu dürfen - eben das, was auch die römische Besatzungsmacht wollte. Er wird ins Meer gejagt - vielleicht, weil man dort den Eingang zur Unterwelt vermutete, gewiß aber auch, weil der Wunsch, eine ganze Legion ins Meer zu jagen, sich so erzählerisch Ausdruck verschaffen konnte. Die Verbindung der Dämonenlegion mit Schweinen könnte durch römische Legionen selbst angeregt sein. Die Legion X Fretensis war seit 6 n.Chr. in Syrien stationiert, hat am Jüdischen Krieg und der Belagerung Jerusalems teilgenommen und war danach in Judäa stationiert. Auf ihren Feldzeichen und Ziegelstempeln hat sie u.a. das Bild des Ebers.119 Überall, wo man die 10. Legion kannte, mußte die Geschichte vom Exorzismus am See Assoziationen mit der römischen Besatzung auslösen: Im syrisch-palästinischen Raum hatte diese Geschichte mehr Ober- und Zwischentöne als anderswo. Hier wird man sie wahrscheinlich erzählt haben. Es gibt noch einen zweiten Zug in dieser Geschichte, der möglicherweise eine lokale Bindung anzeigt: Die Gerasener bitten Jesus, "ihr Gebiet zu verlassen" (5,17). Mit anderen Worten: Jesus wird auf sanfte Weise des Landes verwiesen. Er soll das Territorium der Stadt verlassen. Das wäre angesichts des angerichteten Schadens verständlich. Jemand, der exorzistisch gegen eine "Legion" vorging, war aber wohl auch aus anderen Gründen unerwünscht. Denn wer eine Legion von Dämonen vernichtete, könnte ja auch gegen andere Legionen Stimmung machen, zumal man in der Dekapolis über den jüdischen Widerstand gegen Rom gut informiert war: Einer der Führer des jüdischen Aufstands, Simon bar Giora (= Sohn des Proselyten), stammte möglicherweise aus Gerasa (bell 4,503). Die Distanzierung von jüdischer Rebellion gegen die Römer war für Gerasa und alle hellenistischen Städte Palästinas lebenswichtig. Sie wurde durch antijüdische Einstellungen verstärkt: In vielen Städten ging man am Anfang des Jüdischen Krieges gewaltsam gegen die ei118

T.REINACH: Mon Nom est Légion, REJ 47 (1903) 172-178, hat als erster die politischen Zwischentöne dieser Geschichte erkannt. Er seih in dem Besessenen ein Symbol des von den Römern gekennzeichneten jüdischen Volkes. Die Schweine begegneten in den Feldzeichen der Römer. Ihr Schicksal sei ein verschleierter aggressiver Wunsch gegen die Unterdrücker. Als ich eine solche Deutung in: Wundergeschichten, 252f. vorschlug, war mir Reinachs Aufsatz nicht bekannt. FANNEN, Heil, 170f. 184, hat ebenfalls dieses politische Motiv erkannt, ohne es zum Hauptmotiv der Erzählung zu machen. 119 Vgl. W.LIEBENAM: Art. Feldzeichen, PRE VI, 2151-2161. In den römischen Feldzeichen begegneten der Adler, Wolf, Minotaur, Pferd, Eber. Letzterer auf den Feldzeichen der Legio I Italica, XX Valeria-Victrix, II Adiuntrix und X Fretensis (dort Sp. 2157).

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genen jüdischen Minoritäten vor. Es kam zu Morden und Pogromen in Skythopolis, Askalon, Ptolemais, Tyros, Hippos und Gadara. Die Gerasener waren eine Ausnahme: "Die Gerasener endlich taten den Juden, die bei ihnen blieben, nichts zuleide und geleiteten die, welche die Stadt zu verlassen wünschten, bis an die Grenze" (bell 2,480). Diese Ausweisung mit Geleit entspricht der "sanften" Ausweisung Jesu in Mk 5,17. Damit soll nicht behauptet werden, Mk 5,17 sei unter dem Eindruck der Ereignisse im Jahre 66 n.Chr. formuliert worden. Die relativ "humane" Behandlung der jüdischen Minorität könnte mit einer strukturellen Gegebenheit zusammenhängen, die schon vorher wirksam war: Gerasa hatte Asylrechte. Wer sich dort zum "Zeus Phyxios" flüchtete wie jener Theon, Sohn des Demetrios, der sich ca. 69/70 einer großen Spende zur Errichtung eines Tempels rühmte (Gerasa, Inschriften. Nr.5, Nr.6 120), stand unter besonderem Schutz. Auch später erscheint die Stadt als "Gerasa hiera et asylo(s) et autonomos" (Gerasa, Inschr. Nr. 30, ca. 130 n.Chr.).121 Schonung von Schutzflehenden und Fliehenden hatte hier eine Tradition. Man distanzierte sich vom rebellischen Geist der Nachbarregion, tat es aber auf eine humane Art. Sollte sich davon eine Spur in Mk 5, Iff niedergeschlagen haben? Sicher ist das nicht. Aber man wird sagen dürfen: Was wir in Mk 5, Iff über die Dekapolis hören, paßt gut zu unseren (wenigen) Informationen über dieses Gebiet. Wo die Geschichte genau kursierte, läßt sich nicht mehr ausmachen: Der Schluß deutet an, sie sei in der Dekapolis verbreitet gewesen. Genauso gut könnte sie in der jüdischen Bevölkerung Galiläas erzählt worden sein: Der Stolz auf die Überlegenheit des "höchsten Gottes" (5,7), vor dem die fremden Dämonen niederknien (5,6), entspricht einer jüdischen Perspektive, und die in der Geschichte vorhandene Abneigung gegen unreine Orte und Tiere wäre bei denen gut denkbar, die ihren Nachbarn "auf dem anderen Ufer" mit nachbarschaftlicher Abneigung alles Unreine und Abstoßende zuschreiben. Auf jeden Fall war die Geschichte eine allgemeine Volksüberlieferung vom Exorzisten Jesu, denn es fehlen spezifisch christliche Züge. Wir können die Überlegungen zu den Wundergeschichten zusammenfassen: Ihre Überlieferungsgeschichte entspricht jenem "grenzüberschreitenden Charakter", der ihre innere Struktur bildet. Immer wieder werden in ihnen Grenzen menschlichen Könnens, menschlicher Endlichkeit und Vergeblichkeit überschritten. Sozial wie lokal haben sie wohl schon bald "Grenzen" überwunden. Soziale Grenzen, insofern sie bald auch über den Kreis der Anhänger Jesu hinaus erzählt wurden. Sie wurden zur Volksüberlieferung, ja, manche 120

Vgl. C.B.WELLES: The Inscriptions, in: C.H.KRAELING: Gerasa, 355-494, dort 375-378. 121

C.B.WELLES, Inscriptions, 390f.

119 sind wohl von vornherein als Volksüberlieferung kursiert. Lokal haben sie ebenfalls Grenzen überschritten: Wahrscheinlich wurden sie bald in Nachbargebieten Palästinas erzählt, auch wenn ihre ursprüngliche Bindung an den galiläisch-jüdischen R a u m unverkennbar ist. D e r Markus-Evangelist hat diese "freie" Wunderüberlieferung wieder in das Evangelium integriert. Er zeigt in seiner Erzählung des W e g e s Jesu, daß der in den Wundergeschichten Handelnde erst recht verstanden ist, wenn man seinen W e g bis zum Kreuz verfolgt. Wir sind damit zu folgendem Ergebnis gelangt: D i e entscheidenden Teile der Worte Jesu waren Jüngerüberlieferungen, ein Teil der Erzählüberlieferung die etwas profan klingenden Wundergeschichten - waren Volksüberlieferungen. A p o p h t h e g m e n stehen zwischen beiden Gattungen. Wer hat sie wohl überliefert?

D. Überlieferungsbedingungen der A p o p h t h e g m e n Neutestamentliche Apophthegmen 1 2 2 sind kurze Erzählungen, die ein Wort Jesu als Pointe haben. D i e erzählte Situation gibt den Worten als Kritik, A p o l o g i e oder Bestätigung einer vorhergehenden Äußerung einen "Mehrwert an Sinn", den das ungerahmte Wort nicht hätte. 1 2 3 Obwohl A p o p h t h e g m e n 122

Zur Gattungsbezeichnung stehen grundsätzlich zwei Begriffe zur Verfügung: "Apophthegma" (s. R.BULTMANN, Geschichte, 8ff) und "Chrie" (so K. BERGER, Hellenistische Formen, 1092ff; Formgeschichte, 82ff). Beide betonen verschiedene Aspekte derselben Gattung: "Apophthegma" die Beziehung zu einer konkreten Person, die den "Ausspruch" getan hat. Durch diese Personbindung unterscheidet sich das Apophthegma von der "Gnome", der allgemeinen Sentenz. "Chrie" betont demgegenüber den Situationsbezug des Ausspruchs: Es geht um die "Anwendung" (die χρεία) einer allgemeinen Sentenz auf einen besonderen Fall. Der Begriff "Apophthegma" umfaßt auch die Fälle, in denen der Situationsbezug eines Ausspruchs zurücktritt: Von den 24 "Apophthegmen" des Aristoteles in Diog. Laert V,17-21 sind sieben ohne Situationsbezug. Umgekehrt kann der Begriff "Chrie" auch jene Fälle einschließen, in denen die Pointe eng mit einer überraschenden Handlung verbunden ist. Wenn man nun in der Jesusüberlieferung die Bindung an die Person Jesu für konstitutiv hält, wäre der Begriff "Apophthegma" geeigneter, denkt man primär an den paränetischen "Gebrauch", so wäre "Chrie" vorzuziehen. Da "Apophthegma" den zusätzlichen Vorzug hat, ein in der Exegese eingebürgerter Begriff zu sein, habe ich mich für ihn entschieden. Der von M.DIBELIUS, Formgeschichte, 34ff, vorgeschlagene Begriff "Paradigma" wäre dagegen an dessen "Predigttheorie" gebunden: Hier wird eine Funktionsbestimmung der Gattung vorweggenommen, die noch zur Diskussion steht. Der Begriff "Apophthegma" trifft dagegen ein deskriptiv erfaßbares Merkmal der Gattung, das unbestritten ist. 123

R.C.TANNEHILL: Types and Function of Apophthegms in the Synoptic Gospels,

120

also zur Erzählüberlieferung gehören124, sind sie von Wundergeschichten klar zu unterscheiden. Sie enthalten in der Regel keine Ortsnamen. Der erzählerischen Einleitung entspricht selten ein entsprechender Schluß (wie in Mk 8,13; 10,16). Nur ausnahmsweise hören wir etwas von Reaktionen der Gesprächspartner Jesu und seiner Hörer (wie in Mk 10,22; 12,17.34.37). Meist steht ein Wort Jesu am Ende. Auch wenn es Berührungen zwischen beiden Gattungen gibt - wie jene Wundergeschichten zeigen, die zu den "Apophthegmen" oder "Paradigmen" gezählt werden (z.B. Mk 2,1-12) so liegt es doch nahe, bei beiden Gattungen mit verschiedenen Überlieferungsbedingungen zu rechnen. Der folgende Vergleich konzentriert sich auf drei Fragen: Wer hat die Apophthegmen überliefert? Zu welchem Zweck wurden sie überliefert? In welchem lokalen Bereich wurden sie geformt oder tradiert?

1. Wer hat die Apophthegmen überliefert? Während Wundergeschichten in "Verbreitungsnotizen" Hinweise auf ihre Überlieferungsträger enthalten, fehlen vergleichbare Notizen in den Apophthegmen. Nirgendwo wird angedeutet, daß die Gesprächspartner Jesu seine Lehre weitererzählen. Und doch muß etwas von ihr bekannt sein: Menschen erwarten von Jesus, daß er als Lehrer zu einem Problem Stellung nimmt (vgl Mk 12,14.19.32). Es werden Zeugen gegen Jesus aufgeboten, die behaupten, Auskunft über seine Lehre geben zu können (14,55f). Sie spielen seine Tempelweissagung gegen ihn aus. Ihr Zeugnis gilt als falsch. Ein außerhalb des Anhängerkreises kursierendes Wort Jesu wird hier im MkEv als nichtauthentisch abgelehnt, obwohl es im Kern auf Jesus zurückgehen könnte. Dagegen wird die im Volk kursierende Wunderfama von Jesus im MkEv inhaltlich bestätigt, obwohl Jesus mit der Existenz einer solchen Wunderüberlieferung nicht einverstanden ist. Es gibt jedoch einen direkten Hinweis für die Überlieferung eines Apophthegmas: Am Ende der Salbung von Bethanien heißt es: "Wahrlich ich sage euch: Wo immer das Evangelium in der ganzen Welt verkündigt wird, da wird auch von dem gesprochen werden, was sie getan hat, ihr zum Gedenken" (Mk 14,19). Man mag darüber streiten, ob die Geschichte der Frau damit als Teil A N R W II, 25,2 Berlin 1984,1792-1829, hat eine Systematisierung dieser Beziehung von "stimulus" und "response" vorgeschlagen: Correction, Commendation, Quest, Objection, Inquiry. 124

R.BULTMANN, Geschichte, 8ff, hat sie dagegen unter die "Wortüberlieferung" eingereiht, weil er am Anfang der Überlieferung oft ein Wort sieht, das erst sekundär erzählerisch gerahmt wurde. Heute wird man allgemein eine Gattung eher durch synchrone Textstrukturen bestimmen, als durch deren diachrone Vorgeschichte.

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des Evangeliums verstanden sein soll oder ob sie mit dem Evangelium nur verbunden wird, eindeutig ist: Verkündigung und Tradierung dieser Geschichte gehören zusammen. Folgender Schluß liegt nahe: Die Verkündiger des Evangeliums sind auch die Tradenten dieses Apophthegmas - und anderer Apophthegmen. 12S Die in den Apophthegmen vorkommenden sozialen Rollen geben einen weiteren (analytischen) Hinweis auf mögliche Tradenten: Gegenspieler Jesu sind Schriftgelehrte (Mk 2,15; 7,Iff; 12,28ff; vgl. 2,6ff) oder Pharisäer und Sadduzäer, die sich durch ihre Argumentation als schriftgelehrte Gesprächspartner ausweisen (Mk 10,2ff; 10,17ff; 12,18ff) bzw. mit "schriftgelehrten Argumenten" konfrontiert werden (Mk 2,25f). Umgekehrt wird Jesus als "Lehrer" angesprochen (Mk 10,17.20; 10,35; 12,14. 19.32). Deutlich ist: Die in den Apophthegmen dargestellte Kommunikation ist eine Auseinandersetzung zwischen "Gelehrten", d.h. zwischen Inhabern einer besonderen Rolle, in die nicht jedermann eintreten kann, während Jesus in den Wundergeschichten mit jedermann in Kontakt tritt. Die Annahme liegt nahe, daß Apophthegmen anders als die Wundergeschichten keine allgemeinen Volksüberlieferungen waren, sondern bestimmten Rollenträgern zuzuordnen sind: nämlich jenen, die im entstehenden Urchristentum predigten und lehrten. Ein komparativer Rückschluß kann diese Vermutung untermauern: Die urchristlichen Apophthegmen sind eine Variante der in der Antike in vielen Variationen belegbaren Gattung der "Chrien" oder "Apophthegmen" Gewiß haben sie einige Besonderheiten gegenüber der geschliffenen und knappen Chrie - eine etwas ausführlichere erzählerische Einleitung und eine Ausweitung zum Dialog -, aber für diese "Besonderheiten" lassen sich in der antiken Überlieferung Analogien finden.126 Chrien und Apophthegmen wurden in den Rhetorikschulen gepflegt. Sie gehörten zur Ausstattung des Redners, ei-

125 JJEREMIAS: Markus 14,9, ZNW 44 (1952/3) 103-107 ( = überarbeitet in: Abba, Göttingen 1966, 115-120), hat Mk 14,9 eschatologisch gedeutet: Engel werden die Tat der Frau im Jüngsten Gericht zur Geltung bringen, damit Gott ihrer gnädig gedenke. Bei Mk selbst liegt jedoch eindeutig ein auf die Mission bezogenes Verständnis vor, wie der iterative Sinn von δπου εάν zeigt. Es dürfte auch das Verständnis der vormarkinischen Tradition sein: Im Traditionsbereich des Mk bedeutet εύαγγέλιον die auf Erden verkündete Botschaft. 126 Die bei Lukian, Demonax, 12ff, gesammelten Chrien und Apophthegmen stehen insofern den synoptischen Apophthegmen formal näher, als sie oft eine ausführlichere erzählerische Einleitung und knappe Dialoge enthalten. Aber auch die gesamte Schrift weist erhellende Analogien zu den Evangelien auf, vgl. H. CANCIK: Bios und Logos. Formengeschichtliche Untersuchungen zu Lukians "Demonax", in H.Cancik (ed.): Markus-Philologie, WUNT 33, Tübingen 1924,115-130.

122 ner Rolle, deren Merkmal der professionelle Umgang mit dem Wort war. 127 Leider haben wir kaum Belege darüber, wie synoptische Apophthegmen konkret verwandt wurden. Das einzige Beispiel bestätigt die bisherigen Vermutungen: Es findet sich in einer urchristlichen Homilie, dem zweiten Klemensbrief: "Als der Herr von jemandem gefragt wurde, wann das Gottesreich komme, antwortete er: Wenn die Zwei eine Einheit sein werden und das Äußere wie das Innere, und das Männliche mit dem Weiblichen, so daß es weder männlich noch weiblich ist." (2.Klem 12,2) Apophthegmen sind also wahrscheinlich keine Volks-, sondern Gemeindeüberlieferung gewesen. Innerhalb der Gemeinden wurden sie kaum von jedermann tradiert, sondern von Lehrern, Predigern, Missionaren und Wandercharismatikern. Ihr sozialer Verbreitungsradius wäre dann "begrenzter" als der der Wundergeschichten gewesen. Weitere Überlegungen weisen in dieselbe Richtung. Für die synoptischen Apophthegmen ist charakteristisch, daß die Fragesteller Gruppen sind oder Gruppen repräsentieren. In der Regel haben die Gesprächspartner Jesu keinen individuellen Namen - mit Ausnahme einzelner Jünger. In den Jüngerberufungen werden sie mit Namen genannt (Mk l,16ff). Johannes (Mk 9,38-41) und Petrus (Mk 10,28ff; Mt 18,21ff) stellen in ihrem Namen Fragen oder werden stellvertretend für die Jünger gefragt (Mt 17,24ff). Individuell treten die Zebedaiden (Mk 10,35-40) sowie Maria und Martha (Lk 10,38ff) hervor. Alle namentlich Genannten gehören zu den engsten Anhängern Jesu. In den Wundergeschichten begegnen dagegen die Jünger fast nur als Kollektiv. Wo sie namentlich genannt sind (Mk l,29f; 5,37; Mt 14,28ff), handelt es sich z.T. nachweisbar um Zusätze.128 Dafür treten Hilfesuchende aus dem Volk gelegentlich mit Namen auf (Mk 5,22; 10,46). Darf man das so deuten: In den Wundergeschichten werden die Jünger von außen als Kollektiv wahrgenommen? Aus einer Außenperspektive heraus erscheinen sie als Einheit. In den Apophthegmen wird eine Binnenperspektive eingenommen: Hier werden aus der Sicht der engsten Anhänger Jesu die verschiedenen Gruppen der Außenwelt kollektiv 127

Fabel und Chrie gehörten zu den "Progymnasmata", Übungen im Paraphrasieren und Ausarbeiten vorgegebener Themen (vgl. H.GÄRTNER, Art. Progymnasmata, KP IV, 1156). Quintilian behandelt sie deshalb in seiner Institutio oratoria 1,9 11,14 X,5,llf. 128

In Mk 1,29 werden die vorher berufenen Jünger (1,16-20) zur Herstellung eines perikopenübergreifenden Zusammenhangs erneut genannt. In Mk 5,37 begegnet derselbe Kreis (vgl. 9,2; 13,3; 14,33). Mt 14,28ff ist ein nur bei Mt zu findender Zusatz zum Seewandel. In Joh 6,5ff sind die namentlich genannten Jünger Philippus und Andreas neu gegenüber der synoptischen Parallele, begegnen aber auch sonst im JohEv (vgl. 12,22). Belege für kollektiv auftretende Jünger sind: Mk 4,38; 5,31; 6,35ff.45ff; 8,Iff; 9,14ff; 10,46.

123 wie "von außen" wahrgenommen.

2. Welche Funktion hatten die Apophthegmen? Die antiken Analogien zeigen: Apophthegmen haben oft einen kritischen Zug. In pointierten Aussprüchen werden allgemeine Konventionen, Überzeugungen, Schwächen in Frage gestellt. Die kynische Überlieferung konnte daher in dieser Gattung eine ihr angemessene Form finden. Klassische Apophthegmen sind die bei Diog. Laert VI gesammelten Aussprüche des Diogenes. Oder die Anekdotensammlung des Lukian von Samosata über den kynischen Philosophen Demonax. Auch die Jesusüberlieferung konnte sich diese Form wegen ihres kritischen Zugs aneignen. 129 Auf dem Hintergrund dieser Gemeinsamkeit sei auf einen besonderen Akzent der Jesusüberlieferung aufmerksam gemacht: Während die Gesprächspartner in den Anekdoten über Diogenes oft anonyme oder bekannte Individuen wie Alexander der Große sind, finden wir in der synoptischen Überlieferung vor allem typisierend gezeichnete Gruppen als Gesprächspartner: Schriftgelehrte, Pharisäer, Sadduzäer und Herodianer. In ihnen vollzieht sich weniger eine Abgrenzung gegenüber Überzeugungen der ganzen Gesellschaft, als vielmehr gegenüber anderen Gruppen in ein und derselben Gesellschaft. Auch spricht Jesus hier nicht als einzelner "Weiser", sondern als Repräsentant einer Gruppe, wenn er z.B. das Verhalten der Jünger verteidigt (Mk 2,18; 2,23; 7,2). Mit anderen Worten: In den synoptischen Apophthegmen vergewissert sich eine Gruppe ihrer Überzeugungen und Verhaltensweisen durch Abgrenzung von anderen Gruppen in ihrer Umwelt. Die Apophthegmen der Evangelien definieren soziale Identität. Sie unterscheiden sich darin deutlich von Wundergeschichten: Was in diesen an Ängsten, Werten und Hoffnungen zum Ausdruck kommt, überschreitet die Grenzen jeder partikularen Gruppe. Mit ihnen kann sich jedermann identifizieren. Wo in ihnen Abgrenzungen thematisiert werden, handelt es sich um Abgrenzungen gegenüber Heiden, die überwunden werden (Mt 8,5-13; Mk 5,1-20; 7,24-30). Abgrenzungen gegenüber anderen Gruppen innerhalb des Volkes finden wir dagegen nur in den Wundergeschichten, die apophthegmatischen Charakter haben, also von M.DIBELIUS zu den Paradigmen gerechnet werden (Mk 2,1129

R.C.TANNEHILL, Apophthegms, 1826, betont mit Recht, daß Apophthegmen "value conflicts" zum Ausdruck bringen. Treffend K.BERGER, Hellenistische Gattungen, 1106: "Da die Vorgeschichte der Chrie wesentlich im Bereich kynischen Denkens anzusetzen ist, eignet ihr von Natur ein kritischer Zug. Denn der Kyniker steht für die Umwertung der Werte. Gerade dieser Zug aber macht Chrien/Apophthegmen für die Botschaft Jesu geeignet.

124

12; 3,1-6; Lk 13,10-17; 14,2-6). Auf eine vereinfachende Formel gebracht könnte man sagen: Apophthegmen haben eher eine sozial abgrenzende, Wundergeschichten eher eine sozial grenzüberschreitende Funktion. 130 Geschichten mit sozial abgrenzender Funktion sind immer wieder auch außerhalb ihres ursprünglichen Kontextes - verwendbar. Denn soziale Identität muß ständig neu definiert werden. Ursprünglich dienten die Apophthegmen dazu, eine innerjüdische Gruppe innerhalb des Judentums von anderen Gruppen abzugrenzen. Schon bei Mk können wir die Tendenz beobachten, mit ihrer Hilfe christliche Gruppen vom gesamten Judentum abzugrenzen. Eine sekundäre Funktion überlagert ihre primäre Ausrichtung.131 So wird in der Reihe von Apophthegmen (bzw. Wundergeschichten mit stark apophthegmatischem Charakter) in Mk 2,1-3,6 der Gegensatz zwischen Jesus und seinen Gegenspielern zur unüberwindlichen Feindschaft gesteigert: Der Evangelist fügt am Ende die Notiz hinzu: "Und die Pharisäer gingen hinaus und hielten alsbald mit den Herodianern Rat wider ihn, wie sie ihn ins Verderben bringen könnten" (3,6). Diese Todfeindschaft ergibt sich nicht aus den vorausgegangenen Konflikten. Erst im Gesamtzusammenhang des MkEv bildet sie eine Klammer zwischen Streitgesprächen und Passion.132 Zur Vertiefung der Gegnerschaft tritt deren Generalisierung. Im Gespräch über "Rein" und Unrein" handelt es sich um eine Diskussion mit Pharisäern. Der Evangelist aber schiebt in dieses Gespräch eine Parenthese, die deutlich macht, daß er das ganze Judentum meint: "die Pharisäer und alle Juden essen nämlich nicht, ohne sich die Hände mit der Faust gewaschen zu haben, indem sie die Überlieferung der Alten festhalten " (Mk 7,3). Wahrscheinlich war 1ΛΛ

Zur grenzüberschreitenden Funktion von Wundergeschichten vgl. mein Buch: Urchristliche Wundergeschichten, bes. 251ff. 131 Vielleicht kann man diese Überlagerung schon an den typischen Gesprächspartnern Jesu im MkEv ablesen: Mk nennt am häufigsten die "Schriftgelehrten" (21mal), weniger häufig die "Pharisäer" (12mal). "Schriftgelehrte" lassen sich auch außerhalb Palästinas belegen (besonders in Rom Vgl. H J.LEON: The Jews of Ancient Rome, Philadelphia 1960, 183-186 und die Inschriften Nr.7,18,67,99 usw. S.265ff). "Pharisäer" lassen sich außerhalb Palästinas nicht belegen. In den "Schriftgelehrten" grenzt sich das MkEv von dem ihm bekannten Diasporajudentum ab. So D.LÜHRMANN, Mk, 50f; vgl. ders.: Die Pharisäer und die Schriftgelehrten im Markusevangelium, ZNW 78 (1987) 169-185. 132 E.STEGEMANN: Von Kritik zur Feindschaft. Eine Auslegung von Markus 2,1-3,6, in: W.SCHOTTROFF/W.STEGEMANN (eds.): Der Gott der kleinen Leute Bd 2 Neues Testament, München/Gelnhausen 1979, 39-57, hat diese "zur Feindschaft zugespitzte Überlieferung von Konflikten früher Jesusanhänger mit ihren jüdischen Brüdern" (S.54) zutreffend in den Prozeß der Trennung von Judentum und Christentum nach 70 n.Chr. eingeordnet.

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der Brauch des Händewaschens zur Zeit Jesu noch nicht allgemeine Praxis 133 Hier handelt es sich um eine anachronistische Verallgemeinerung. Erst im mk Kontext erhalten die Apophthegmen diese vom Judentum abgrenzende Funktion. Abgesehen von diesem Kontext ist ihre ursprüngliche Funktion als Identitätsbestimmung innerhalb des Judentums noch gut erkennbar. Wir können dabei zwei Gruppen von Apophthegmen unterscheiden: Einerseits die kurzen Apophthegmen in Mk 2,1-3,6, andererseits die längeren Streitgespräche im 12.Kapitel. In der ersten Gruppe findet sich immer ein "christologisches Argument", die Berufung auf Jesu Autorität als "Menschensohn" (Mk 2,10), als "Arzt" (2,17) und "Bräutigam" (2,19). Inhaltlich werden Normen begründet, in denen sich Jesu Anhänger von anderen Juden unterscheiden: eine größere Liberalität in der Tischgemeinschaft (2,15ff), bei Fastenfragen (2,18ff) und in der Sabbatpraxis (2,23ff) also in jenen Normbereichen, die im Alltag als trennende Schranke zwischen Juden und Heiden erlebt wurden. Interessant ist, daß die persönliche Autorität Jesu durch Berufung auf allgemeine Logik und Erfahrung begründet wird: Ärzte besuchen Kranke; ebenso wendet sich Jesus den Sündern zu. Während einer Hochzeit kann man nicht fasten; also darf man in Gegenwart Jesu Fastenbräuche mißachten. Der Sabbat ist schon von der Schöpfung her für den Menschen geschaffen; daher ist auch der "Menschensohn" Herr über den Sabbat. Die charismatische Autorität Jesu begegnet hier nicht als "hoher Anspruch", hinter dem eine ganze Christologie steht. 134 Die zweite Gruppe von Streitgesprächen enthält dagegen eine ausgesprochen "theozentrische Argumentation": Gott ist dem Kaiser überzuordnen. Unausgesprochen wird gesagt: Wenn dem Kaiser der Denar zu erstatten ist, weil ihm das Geld gehört, um wieviel mehr muß Gott als dem Schöpfer und Eigentümer der Welt alles erstattet werden (12,17). Die Totenauferweckung 1

.

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Die kultischen Reinheitsvorschriften gewannen wahrscheinlich für den Alltag erst solche Bedeutung, als der Tempel zerstört war und der häusliche Tisch Attribute des Altars an sich zog. Ihm mußte man sich daher in ritueller Reinheit nähern. Zu den rabbinischen Bestimmungen des Händewaschens vgl. P.BILLERBECK, Kommentar I, 695ff. 134 H.-W.KUHN: Ältere Sammlungen im Markusevangelium, StUNT 8, Göttingen 1971, 53-98, bes. 80ff, schließt aus den "christologischen Logien" in Mk 2,1-3,6, daß sich die Apophthegmen an Christen wenden, die schon von der Autorität Jesu überzeugt sind: Die Auseinandersetzung werde also weniger mit einem Judentum außerhalb der Gemeinde, sondern mit einem Judenchristentum in ihr geführt. Zu bedenken ist aber auch, daß der personalcharismatische Anspruch Jesu in Mk 2,1-3,6 oft mit allgemeinen Erfahrungen plausibel gemacht wird. Damit könnte man sich auch an Außenstehende wenden. Probleme nach außen hin schlagen sich jedoch meist in Problemen innerhalb einer Gruppe nieder.

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wird nicht mit der Auferstehung Jesu begründet, sondern mit dem Glauben an den Gott Israels: Weil er der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs ist, ist er ein Gott der Verstorbenen (12,26f). Entscheidend für das Verhalten des Menschen sind die Gebote dieses Gottes, die im Doppelgebot der Liebe zusammengefaßt sind: im Sch e ma und im Gebot der Nächstenliebe. Ein Schriftgelehrter und Jesus stimmen darin überein (12,28-34). "Theozentrische" Argumentationsstruktur hat auch die Perikope über die Ehescheidung: Weil Gott am Anfang Mann und Frau zusammengetan hat, soll kein Mensch sie trennen (lo,9). Die sich in den Apophthegmen vollziehende Identitätsbestimmung christlicher Gruppen umfaßt beides, Einordnung und Abgrenzung im Judentum: Die Streitgespräche mit theozentrischer Argumentation formulieren Überzeugungen, die diese Gruppen mit Teilen des Judentums oder mit allen Juden gemeinsam haben. Die Apophthegmen mit "christologischer" Argumentation haben Normen zum Gegenstand, wo Christen von der Mehrheit jüdischer Gruppen abweichen. Im Laufe der Überlieferungsgeschichte tritt die abgrenzende Funktion stärker hervor. Bei Mk dominiert sie. Für uns ist folgender Rückschluß wichtig: Traditionen, die nach außen abgrenzende Funktion haben, können nicht bei denen tradiert worden sein, von denen man sich abgrenzt. Hier handelt es sich eindeutig um Überlieferungen, die im Binnenbereich der Gemeinde tradiert wurden.135

3. Wo wurden die Apophthegmen tradiert? Die Apophthegmen enthalten im Unterschied zu den Wundergeschichten keine Ortsangaben. 136 Wir können manchmal aus dem Inhalt erschließen, daß 1

· · . . . Das MkEv hat für Streitfragen und Probleme im Innern der Gemeinde eine eigene literarische Form entwickelt: die Geheimlehren Jesu im Anschluß an seine öffentliche Verkündigung. Dazu gehören die beiden großen Reden Jesu. Die Gleichnisrede Mk 4,10ff handelt vom Aufbau der Kirche, die Apokalypse Mk 13,3ff von ihrem Geschick in der Endzeit. Mk 7,17-23 diskutiert die Fragen der Speisegebote, die in den Gemeinden akut waren (vgl. Gal 2,11-14). Mk 9,28f warnt vor Überschätzung charismatischer Heilgabe bei schweren Fällen von Besessenheit. Warnungen vor der Überschätzung von Charismen kennen wir aus lKor 12-14. Mk 9,33ff warnt vor hierarchischen Ansprüchen - auch dies ein notorisches innergemeindliches Problem (vgl. 3Joh). Mk 10,10-12 nimmt zur umstrittenen Frage der Ehescheidung Stellung (vgl. IKor 7,10ff). 136 Vgl. R.BULTMANN, Geschichte, 67-69: Viele Ortsangaben sind nur implizit mit dem Stoff gegeben wie der "See" mit den Berufungsgeschichten Mk 1,16-20, der "Zoll" in Mk 2,14, der Tempel in Mk 12,41-44. Dasselbe gilt für Jerusalem in Lk 13,1-5, Galiläa in Lk 13,31-33 und Samarien in Lk 9,51-56. Explizit genannnte Orte sind nur "Bethanien" in Mk 14,3-9 und Jericho in Lk 19,1-10, zwei Apophthegmen, die auch we-

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Erzähler und Hörer sie in eine bestimmte Gegend verlegen, so z.B. bei den Berufungen am "Meer" (Mk 1,16-20; 2,14). Was oben über die Wundergeschichten am "Meer" gesagt wurde, gilt auch für diese kurzen Berufungsgeschichten: Sie sind in einer Gegend formuliert, für die das große Meer am Rande der Lebenswelt liegt. Indirekt lokalisierbar ist auch das Zöllnergastmahl. Nach dem mk Kontext findet es in (oder bei) Kapernaum statt.137 In dieser Gegend kann es sich bei einer Zollstation nur um eine Grenzstation gehandelt haben:138 Zwischen Kapernaum und Bethsaida verlief in der Tat seit der Teilung des herodäischen Reiches 4 v.Chr. eine Grenze. Sie existierte bis 39 n.Chr.139 Danach verschwand sie. Seit 39 n.Chr. vereinte Agrippa I. die Gebiete Galiläas westlich und östlich des Jordan (ant 18,252; bell 2,183). Auch nach seinem Tod im Jahre 44 n.Chr. blieben sie vereint. Denn Claudius sandte damals Cuspius Fadus nach Palästina - nicht nur als Procurator über Judäa und Samaria, sondern über "Judäa und das ganze Königreich" (ant 19,363). Eine Eingliederung des Königreichs in die Provinz Syriens lehnte er bewußt ab. Nur vorübergehend kam es noch einmal zur Trennung der Landesteile: 53 n.Chr. gab Claudius dem Agrippa II. die ehemalige Tetrarchie des Philippus und des Lysanias (ant. 20,138). Damit wurde der Jordan wieder zur Grenze. Aber schon im folgenden Jahre verlieh Nero nach seiner Thronbesteigung Teile von Galiläa und Peräa an Agrippa II. (ant 20,159; bell 2,252), so daß dieser die Tetrarchie des Philippus mit Ost-Galiläa in einer gen ihrer konkreten Personennamen auffallen: Simon der Aussätzige und der Oberzöllner Zacchäus. (Die von R.BULTMANN, Geschichte, 68 genannten lokalisierten Apophthegmen Mk 2,Iff; Mt 8,5ff; Mk 7,24ff sind m.E. eindeutig Wundergeschichten. Diese sind häufig lokalisiert.) 137

Die Lokalisierung der Zollstation in Kapernaum ergibt sich im MkEv nur aus dem weiteren Kontext (Mk 2,1). Eine Lokalisierung "am Meer" (2,13) könnte dagegen zur ursprünglichen Perikope gehört haben. Das Ebionäerevangelium lokalisiert die Zollstation eindeutig in die Nähe Kapernaums (vgl. E.HENNECKE/W.SCHNEEMELCHER, Apokryphen I, 102). Die oben skizzierten Überlegungen zur Berufung des Levi (und zum Zöllnergastmahl) setzen voraus, daß die Überlieferung wußte: Das Zollhaus lag im Norden des Sees Genezaret - also dort, wo Jesus das Zentrum seines Wirkens hatte. I M "Zöllner" war jeder, der Gebühren (Marktgebühr und Wegegeld) oder Steuern (Gewerbe-, Haus- und Verbrauchssteuern) gepachtet hatte (vgl. H.MERKEL: Art. τελώνης, EWNT 111,836). Es handelt sich also nicht nur um Grenzzölle. Aus Mk 2,13f geht jedoch hervor, daß die Zollstation am Wege liegend vorgestellt wird, und zwar außerhalb des Ortes, vgl. έ ξ η λ θ ε ν in Mk 2,13. Der Erzähler hat sehr wahrscheinlich an Wege- und Grenzzoll gedacht. 139 Die Grenze blieb auch nach dem Tod des Tetrarchen Philippus 34 n.Chr. erhalten. Denn Kaiser Tiberius ordnete sein Gebiet der Provinz Syrien zu, behandelte es aber weiterhin als gesonderte Verwaltungseinheit, die getrennt von Syrien den Tribut bringen mußte (ant 18,108).

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Hand vereinte. Dieser Zustand dauerte bis zum Tod des Königs in den 90er Jahren an. Das heißt: Seit 39 n.Chr. bestand am Jordan de facto keine Grenze mehr und damit auch keine Notwendigkeit, in dieser Gegend - in einem kleinen Ort wie Kapernaum eine Zollstation zu unterhalten. 140 Geschichten über Zöllner und Zollstationen in dieser Landschaft am Nordufer des galiläischen Sees müssen vor 39 geprägt worden sein - und zwar von Erzählern, die mit den lokalen Verhältnissen vertraut waren. Vertrautheit mit Verhältnissen, die der Leser nicht genau kennt, zeigt auch die Perikope vom "Scherflein der Witwe" (Mk 12,41-44). Ohne weitere Erläuterung ist hier von "der Schatzkammer" (το γαζοφυλάκιον) die Rede (V. 41.43). Im Tempel waren nach Josephus im inneren Vorhof viele Schatzkammern (bell 5,200). Trotzdem kann Josephus einmal - ohne weitere Erläuterung - von "der Schatzkammer" sprechen: Nachdem König Agrippa I. durch ein glückliches Schicksal vom Gefangenen unter Tiberius zum König unter Gaius geworden war, hängte er eine goldene Kette, die ihm von Gaius in Erinnerung an seine Gefangenschaft gegeben worden war, "innerhalb der Umfassungsmauern des Tempels über der Schatzkammer (ύπέρ το γαζοφυλάκιον) auf' (ant 19,294).141 Es ist m.E. für unsere Fragestellung nicht wichtig, genau zu wissen, wo diese Schatzkammer lag. Wichtig ist nur: Ein mit dem Tempel vertrauter Jude wie Josephus kann ohne weitere Erläuterungen von "der Schatzkammer" sprechen. Der Gedanke liegt nahe: Die Redeweise von "der Schatzkammer" entstand unter Menschen, welche die Ortsgegebenheiten kannten. R.BULTMANN ordnete die Apophthegmen weithin der palästinischen Urgemeinde zu. Er begründete dies mit deren formaler Verwandtschaft mit rabbinischen Streitgesprächen und Anekdoten. 142 Aber ein solcher Nachweis ist schwierig.143 Die synoptischen Apophthegmen sind formgeschichtlich mit 140 Auch hier wird eine (m.E. plausible) Voraussetzung gemacht: Alte Zollgrenzen können natürlich zur Erhebung von Binnenzöllen auch dann erhalten bleiben, wenn sie nicht mehr mit politischen Grenzen zusammenfallen. Jedoch finden wir die wenigen lokalisierbaren Zöllner an Grenzen: in Jericho (Lk 19,Iff), Caesarea (bell 2,287.292) und am Nordufer des galiläischen Sees (Mk 2,13f). 141

Den Hinweis auf die Josephusstelle verdanke ich S.KÖCHLER-MASLO und R.D. MASLO. 142 143

Vgl. R.BULTMANN, Geschichte, 49f.57f.60ff.

Eine kritische Untersuchung der von R.BULTMANN angeführten rabbinischen Parallelen findet sich bei G.G.PORTON: The Pronouncement Story in Tannaitic Literature. A Review of Bultmann's Theory, in: R.C.TANNEHILL (ed.): Pronouncement Studies, Semeia 20 (1981) 81-100. Ergebnis: Die synoptischen Apophthegmen hätten nähere Analogien in den Apophthegmen griechischer Philosophen und Politiker. Hier

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den Apophthegmen der griechischen Überlieferung zumindest ebenso eng verwandt wie mit rabbinischen Streitgesprächen und Anekdoten. Da hier keine formgeschichtliche Analyse der Apophthegmen möglich ist, begnüge ich mich mit wenigen Hinweisen: Zunächst einmal lassen sich einige Apophthegmen ins Galiläa des l.Jhdt.s n.Chr. lokalisieren. Drei Beispiele seien genannt: Von Justus von Tiberias, einem Zeitgenossen des Josephus, überliefert Diogenes Laertius aus dessen Buch "Der Kranz" (oder "Die Genealogien")144 ein Apophthegma aus dem Prozeß gegen Sokrates: "Während des Prozesses gegen ihn bestieg Plato die Rednerbühne und sprach: 'Obwohl ich der Jüngste bin, ihr Männer von Athen, der auf die Rednerbühne hinaufgestiegen ist ", woraufhin die Richter schrien: "Komm herab! Komm herab!'" (Diog. Laert. 11,41)

Eine Anekdote über R. Eliezer ben Hyrkanos (um 90 n.Chr.) wird oft auf eine Begegnung mit Judenchristen gedeutet.145 Hier wird sie angeführt, weil sie ein der Jesusüberlieferung entsprechendes Apophthegma für die 2.Hälfte des lJhdt.s in Galiläa bezeugt: "Einmal ging ich spazieren auf der oberen Marktstraße von Sepphoris und fand einen [Menschen von den Schülern des Jeschu han-nosri und] Jakob, Mann von Kfar Siknaja war sein Name. Der sagte zu mir: 'Es steht geschrieben in eurer Tora: Du sollst nicht bringen Dirnenlohn und Hundelohn ins Haus des Herrn, deines Gottes (Dt 23,19). Darf man davon machen (lassen) einen Abort für den Hohenpriester?' Aber ich antwortete ihm nichts. Er sagte zu mir: 'So hat mich gelehrt [Jeschu hannosri]: Vom Dirnenlohn ist es gesammelt, zu Dirnenlohn sollen sie / soll es zurückkehren (Mi 1,7). Vom Ort des Schmutzes sind sie gekommen, zum Ort des Schmutzes sollen sie gehen.' Und das Wort hat mir Vergnügen bereitet." (bAboda zara 16a; vgl. tChullin 11,24; Kohelet Rabba 1,1,8)

Wie in manchen synoptischen Apophthegmen werden zwei Schriftstellen gegeneinander ausgespielt (vgl. Mk 7,Iff; Mk 10,2ff). Man muß deshalb nicht an eine apokryphe Jesusüberlieferung denken. Man könnte genausogut auf ein galiläisches Milieu zurückschließen, in dem solch ein freier Umgang mit der

werden die rabbinischen Parallelen m.E. etwas unterschätzt: Nur bei ihnen finden wir die Verwendung von Schriftzitaten, nur sie führen in die unmittelbare geschichtliche Nähe zu den Anfängen des Urchristentums. 144 Zu Justus von Tiberias E.SCHÜRER, History, 34-37. Josephus schreibt ihm ausdrücklich "griechische Bildung" zu (vita 40). 145

Vgl. die ausführliche Analyse der Überlieferung bei J.MAIER: Jesus von Nazareth in der talmudischen Überlieferung, EdF 82, Darmstadt 1978, 144-181. Danach ist die explizite Beziehung auf "Jeschu han-nosri" ziemlich sicher sekundär. Ob der in der Geschichte auftretende Jakob ein Judenchrist war, ist unsicher. Auf jeden Fall war er ein "Ketzer".

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Schrift denkbar war - und in dem auch synoptische Streitgespräche tradiert und geprägt wurden. Dasselbe gilt mutatis mutandis für eine Überlieferung von dem wundertätigen Rabbi Chanina ben Dosa (um 7o), der in der galiläischen Stadt Arab - etwa 10 km nördlich von Nazareth - gelebt hat:146 "Von Rabbi Chanina ben Dosa hat man erzählt, daß er stand und betete. Da biß ihn eine giftige Schlange; er aber unterbrach sein Gebet nicht. Seine Schüler gingen und fanden die Schlange tot vor der Öffnung ihres Lochs. Da sprachen sie: Wehe dem Menschen, den die Giftschlange beißt; wehe der Giftschlange, die den Ben Dosa beißt!"

(tBer' 111,20, vgl. jBer 9a bBer 33a) Daß Apophthegmen und Streitgespräche im Galiläa des lJhdt.s denkbar sind, läßt sich nicht leugnen. Auch griechisch-hellenistische Einflüsse sind in diesem Raum möglich. Eine hellenistischen Apophthegmen nahestehende Form sagt daher nichts gegen eine palästinische Herkunft der synoptischen Apophthegmen. Hinzu kommt, daß in den synoptischen Apophthegmen weniger ein schlagfertiger einzelner Weiser die Konventionen der Gesellschaft in Frage stellt (obwohl solche Züge nicht fehlen), die Apophthegmen formulieren vielmehr Gruppennormen in Auseinandersetzung mit anderen Gruppen. Durch diesen formalen Zug stehen sie den rabbinischen Schulgesprächen nahe. Nur treten dort die streitenden Schulen als gleichberechtigte Partner auf. Formal werden sie gleich behandelt, wie das typische Schema "Die Schule Hilleis sagte zur Schule Schammais Es sagte zu ihr die Schule Schammais" (vgl. z.B. bGit 90a) zeigt. In der Jesusüberlieferung ist Jesus dagegen formal stärker hervorgehoben. Zwischen Fragesteller und Jesus besteht eine Asymmetrie. Darin stehen die von ihm überlieferten Apophthegmen vielen hellenistischen Analogien nahe. Aber auch sie haben unverkennbar an einer "Kultur der Kontroverse"147 teil, die wir für das lJhdt. n.Chr. in Palästina voraussetzen dürfen. Halten wir das Ergebnis unserer Untersuchungen zu den "kleinen Einheiten" der Jesusüberlieferung fest. Wo wir ihre Herkunft durch Lokal- und Datierindizien näher bestimmen können, stoßen wir auf palästinische oder galiläische Ursprünge. Der Anfang der Wort- und Erzählüberlieferung ist dort zu suchen, wo Jesus gewirkt hat. Zwei mögliche Trägerkreise der Überlieferung lassen sich erschließen: einerseits Jünger Jesu, die seine Worte (auch in er146

G.VERMES: Jesus the Jew. A historian's reading of the Gospels, London 1973, 72ff, sieht Jesus in einem charismatischen Milieu in Galiläa zu Hause, das auch bei Chanina ben Dosa in Erscheinung tritt. 147

Dies Stichwort stammt von D.DISCHON: Die Kultur der Kontroverse in Israel, Tel Aviv 1984 (hebr.), ein Buch, das ich nur mittelbar über eine Seminararbeit von M .JACOBS (1987) kenne.

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zählerischer Rahmung) bewahrten, weil sie in der Nachfolge ihr Leben an ihnen orientierten; andererseits das Volk, das von seinen Wundertaten wie vom Tod des Täufers aufsehenerregende Geschichten hören wollte. Beide Trägerkreise schließen sich nicht aus. Die Jünger und Anhänger Jesu werden sowohl Worte wie Wunder überliefert haben. Aber Wundergeschichten drangen schneller über den Kreis der Anhänger hinaus als Worte Jesu.

ZWEITER TEIL: LOKALKOLORIT UND ZEITGESCHICHTE IN DEN GROSSEN EINHEITEN DER SYNOPTISCHEN TRADITION Neben den "kleinen Einheiten" gibt es in den synoptischen Evangelien "große Einheiten" wie Geburts- und Passionsgeschichte oder die apokalyptische Rede Mk 13. Diese großen Einheiten umfassen mehrere perikopenartige Teilstücke, sind aber nicht aus deren Addition hervorgegangen. Vielmehr ist ihre Komposition vor den Teilstücken da, auch wenn sie sekundär durch weitere Perikopen aufgefüllt wurden. Bei großen Einheiten kann man nicht von synoptischen Gattungen sprechen. Die Texte sind singulär. Die Passionsgeschichte ist in der ganzen antiken Literatur ohne Analogie: Elemente der hellenistischen Märtyrerakte und des jüdischen Märtyrerberichts sind zu etwas Neuem verschmolzen. Wunderbare Geschichten von der Geburt eines großen Menschen gibt es in der Antike in vielen Variationen. Trotzdem wird man die Geburtsgeschichten bei Mt und Lk nicht als Realisierung derselben Gattungsstruktur auffassen. Sie haben keine typischen Aufbaumuster wie Wundergeschichten, Gleichnisse und Apophthegmen. Auch die synoptische Apokalypse ist ein singulärer Text. Obwohl es zu vielen Einzelmotiven Parallelen gibt, ist es in der apokalyptischen Literatur ungewöhnlich, daß nicht ein Offenbarungsmittler der Vergangenheit die Zukunft weissagt, sondern ein "Zeitgenosse" Alle großen Einheiten sind durch alttestamentliche Zitate, Anspielungen oder Motive geprägt. Die Passionsgeschichte durchzieht die Klage der Leidenspsalmen. Die synoptische Apokalypse deutet die Zukunft in den düsteren Farben des Danielbuches. Die mt Kindheitsgeschichte wird von Reflexionszitaten gestaltet; und die ersten Kapitel des LkEv sind voll von Hymnen in alttestamentlicher Sprache. Die großen Einheiten weisen in ein mit der Schrift vertrautes Milieu. Diese Nähe zur Schrift legt es nahe, bei ihnen eher mit schriftlicher Überlieferung zu rechnen als bei den kleinen Einheiten. Die großen Einheiten unterscheiden sich also von den kleinen durch größere Komplexität, Individualität und Nähe zur "Schriftlichkeit" Bei ihnen bahnt sich der Weg von der mündlichen Überlieferung zu den Evangelien an. Gerade deshalb wäre es für eine Geschichte der synoptischen Tradition wichtig, ihren historischen Kontext aufgrund von Lokal- und Zeitindizien genauer zu bestimmen.

3. Kapitel: Die große Endzeitrede und die Bedrohung des Jerusalemer Tempels im Jahr 40 n. Chr. Die "erzählte Zeit" umfaßt im MkEv den Weg von der T a u f e bis zur Passion. Nur an wenigen Stellen wird diese Erzählung durch Vor- und Rückgriffe durchbrochen, in Mk 6,14-29 durch Rückblende auf den Tod des Täufers, der zeitlich vor der Aussendung der Jünger Mk 6,7-13 liegt, in Mk 4 und 13 durch Vorgriff auf die Zeit nach Jesu Tod: In der Gleichnisrede schildert Jesus Entstehung und innere Gefährdung der Kirche (4,13-32). In der apokalyptischen R e d e spricht er über die äußere Gefährdung der G e m e i n d e durch Kriege, Katastrophen und Verfolgungen. Wenn irgendwo, so müßte in diesen beiden "geheimen Belehrungen der Jünger" der geschichtliche Hintergrund eines synoptischen Textes transparent werden. D a s gilt besonders f ü r Mk 13. D e n n es besteht Konsens unter den Exegeten, daß in dieser R e d e geschichtliche Erfahrungen im R a h m e n apokalyptischer Überzeugungen verarbeitet werden. 1 Konsens besteht darüber, daß es sich um krisenhafte Erfahrungen handelt. Drei Typen der Auslegung lassen sich unterscheiden, die z.T. auch kombiniert auftreten. 1) Viele Exegeten denken an Christenverfolgungen als Erfahrungshintergrund für Mk 13. Die Verse 9-13 spielen dann eine zentrale Rolle. L.SCHOTTROFF nimmt eine Verfolgung zur Zeit des Vespasian (68-79 n.Chr.) im Osten des Römischen Reichs an.2 Ihr Anlaß sei ein urchristlicher Messianismus gewesen, der vom Staat als politisch gefährlich eingeschätzt und vom MkEv abgelehnt wurde. So erklärten sich die Warnungen vor Pseudopropheten und Pseudomessiassen. Die Tempelzerstörung sei vorausgesetzt. An die Christenverfolgung unter Nero (ca. 64 n.Chr. in Rom) denkt dagegen M.HENGEL 3 : Das MkEv sei ca. 68 n.Chr. in Rom entstanden, die Erinne-

1

Die unüberschaubare Literatur zu Mk 13 wird referiert bei G.R.BEASLEYMURRAY: Jesus and the Future, London/New York 1954. Für die Zeit von 1954-1967 findet sich ein Überblick bei R.PESCH: Naherwartungen. Tradition und Redaktion in Mk 13, Düsseldorf 1968, 19-47. Zur neueren Forschung vgl. E.BRANDENBURGER: Markus 13 und die Apokalyptik, FRLANT 134, Göttingen 1984, 21-42. 2

L.SCHOTTROFF: Die Gegenwart in der Apokalyptik der synoptischen Evangelien, in: D.HELLHOLM (ed.): Apocalypticism in the Mediterranean World and the Near East, Tübingen 1983, 707-728. Gute Gründe für eine Datierung für die Zeit nach der Tempelzerstörung bringt N.WALTER: Tempelzerstörung und synoptische Apokalypse, ZNW 57 (1966) 38-49. Für die redaktionelle Ebene ist diese Situationsanalyse m.E. plausibel. Das schließt nicht aus, daß man für die in Mk 13 aufgenommene Tradition eine frühere Situation ausfindig macht. 3

M.HENGEL, Entstehungszeit, 1-45. Dieser faszinierenden Deutung stehen m.E. zwei

134 rung an die Verfolgung noch lebendig. Mk 13,12 spiegele das bei Tacitus ann XV,44 belegte Vorgehen gegen die Christen wieder: "So verhaftete man zunächst diejenigen, die ein Geständnis ablegten, dann wurde auf ihre Anzeige hin eine ungeheure Menge nicht so sehr des Verbrechens der Brandstiftung als einer haßerfüllten Einstellung gegenüber dem Menschengeschlecht schuldig gesprochen". Mk 13,12 setzte voraus, daß Christen ihre christlichen "Brüder" zum Tode ausliefern; Mk 13,13, daß sie bei allen verhaßt sind. Das MkEv sei entstanden, als nach Neros Tod Bürgerkriege und Aufstände in Germanien und Judäa sowie die bevorstehende Zerstörung des Jerusalemer Tempels apokalyptische Erwartungen neu belebt hatten. Noch weiter zurück datiert BO REIKE die in V.9-13 vorausgesetzten Christenverfolgungen4: Sie seien mit den in der Apg berichteten Verfolgungen der Jerusalemer Gemeinde identisch. 2) Häufig wird als Erfahrungshintergrund die Flucht der Urgemeinde aus Jerusalem angesehen, sei es, daß Mk 13 als Aufforderung zur noch bevorstehenden Flucht gilt, sei es, daß der Text auf diese Flucht zurückblickt. Das Fluchtmotiv in 13,14 wird hier zum Schlüssel der Auslegung. In der Tat ist uns in Euseb h.e. 111,5,2-3 eine Nachricht darüber überliefert, daß die Jerusalemer Gemeinde unmittelbar vor dem Jüdischen Krieg aufgrund eines Orakels nach Pella im Ostjordanland ausgewandert sei. Da eine Verfolgung erst kurz zuvor über die Jerusalemer Gemeinde hereingebrochen war - im Jahre 62 hatte der Hohepriester Animos den Herrenbruder Jakobus und andere unbekannte Juden(christen) hinrichten lassen (Jos.ant 20,200f) -, paßt auch dieser Zug in die angenommene Situation. Entweder nimmt man daher an, das MkEv selbst sei als Aufruf zum Exodus aus Jerusalem zu verstehen (W. MARXSEN) s , oder man vermutet, eine in Mk 13 verarbeitete Tradition sei mit dem bei Euseb erwähnten Orakel identisch (H.J.SCHOEPS; R.PESCH). 6 Zwar wird ein Exodus

Argumente im Wege: 1. In der literarischen Komposition des MkEv werden die Kriege in 13,6-8 vor den Verfolgungen in 13,9-13 genannt, in der historischen Realität aber gingen die Verfolgungen (ca. 64 n.Chr.) den Kriegen (66-70) voran. Zwar scheint Mk sich beide gleichzeitig zu denken. Während aber die Kriege "noch nicht das Ende" sind (V.7), dauern die Verfolgungen "bis zum Ende" (V.13). Er deutet damit eine zeitliche Folge in dem Sinne an: Auch wenn die Kriege zu Ende sind, gehen die Verfolgungen weiter. - 2. Zu diesem chronologischen Argument kommt eine lokalhistorische Überlegung: Die in 13,9 erwähnten Statthalter und Könige lassen an den Osten denken: Könige gab es vor allem im Osten des Reiches (vgl. D. BRAUND: Rome and the Friendly King. The Character of the Client Kingship, New York 1984). Statthalter hatten richterliche Funktion nur in der Provinz, nicht in Rom. 4

BO REICKE: Synoptic Prophecies on the Destruction of Jerusalem, in: Studies in New Testament and Early Christian Literature, FS W.Wikgren, NT.S 33, Leiden 1972, 121-134, bes. 131ff.

5

W.MARXSEN, Der Evangelist Markus, 112ff. W. Marxsen ist von seiner intelligenten Hypothese später wieder abgerückt.

6

HJ.SCHOEPS: Ebionitische Apokalyptik im Neuen Testament, ZNW 51 (1960) 101111; R.PESCH, MkEv II, 195f. R. PESCH hatte dagegen in: Naherwartungen, 207ff noch die Flugblatthypothese vertreten: Die in Mk 13 verarbeitete Tradition stamme aus der Caligulakrise, sei aber um 70 n.Chr. noch einmal in der mk Gemeinde "mißbraucht"

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nach Pella immer wieder als unhistorisch angefochten. Kaum zu bestreiten aber ist, daß es während des Jüdischen Krieges zur Emigration von Flüchtlingen gekommen ist. 3) Die beiden skizzierten Auslegungstypen können sich mit der Annahme verbinden, daß die Bedrohimg des Tempels durch den "Greuel der Verwüstung" im Mittelpunkt von Mk 13 steht. Häufig sieht man hier eine inzwischen eingetretene Weissagung: Der Tempel sei schon zerstört (z.B. D.LÜHRMANN)8. Hin und wieder aber rechnet man mit einer echten Weissagung: Das drohende Verhängnis sei noch nicht eingetreten, liege aber wie ein Schatten über dem Land. Zwei Situationen kämen dafür in Frage: F.HAHN nimmt an, daß die in Mk 13 verarbeitete Tradition in die erste Kriegsphase des Jüdischen Kriegs gehört, als das Kampfgeschehen noch ganz auf Galiläa konzentriert war. Die Angeredeten hatten von diesen Kriegen bisher nur "gehört" (13,7). Sie erwarten nun angsterfüllt das Vorrücken der Truppen nach Süden und die Gefährdung des Tempels, wo sie den Greuel der Versuchung "sehen" (13,14) werden. Die synoptische Apokalypse wäre dann ca. 67/69 in Judäa entstanden. worden. 7

So bei G.LUDEMANN: The Successors of Pre-70 Jerusalem Christianity. A Critical Evaluation of the Pella-Tradition, in: E.P.SANDERS (ed.): Jewish Christian Self-Definition Vol.1, Philadelphia 1980,161-173: Danach wäre die Überlieferung von der Flucht nach Pella eine Gründungsätiologie der dortigen christlichen Gemeinde. Dann könnte die Tradition von der Flucht selbst historisch sein, nur ihre Verbindung mit Pella wäre sekundär. Gut belegt ist nämlich, daß in den Kriegsjahren Angehörige der Oberschicht Palästina verließen (bell 2,556). Auch Johanan ben Zakkai soll die Flucht aus dem belagerten Jerusalem gelungen sein (Abot de R.Nathan 4) Der in Gerasa ca. 70 inschriftlich belegte Theon, Sohn des Demetrius, der dort als Schutzflehender auftritt, könnte ebenfalls ein Flüchtling aus Palästina sein (vgl. C.H.KRAELING, Gerasa, 376f. Inschrift Nr.6). Die Jerusalemer Urgemeinde hatte ein Motiv zur Flucht: Mit dem Aufstand kam jener Hohepriester Ananos zur Macht (bell 2,563), der die Gemeinde vier Jahre zuvor verfolgt hatte (ant 20,200f). 8 D.LÜHRMANN, Mk, 222. Bei dieser Deutung bezieht man den "Greuel der Verwüstung" auf die Verwüstung des Tempels durch das römische Heer. Zu der Fülle von Deutungen vgl. G.R.BEASLEY-MURRAY: A Commentary on Mark 13, London 1957, 59-72. 9

F.HAHN: Die Rede von der Parusie des Menschensohnes. Markus 13, in: Jesus und der Menschensohn, FS A.VÖGTLE, Freiburg 1975, 240-266. Diese bestechende Deutung steht zu der Tatsache in Spannung, daß der Krieg in Jerusalem mit der Vernichtung einer Kohorte begann (bell 2,449-456). Es gab Kämpfe zwischen den aufständischen Parteien (bell 2,442-448) und einen vergeblichen Versuch des syrischen Legaten Cestius Gallus, mit seiner Legion die Stadt Jerusalem zu erobern. Diese Anfangsphase des Krieges endete für die Römer in einem Fiasko (bell 2,499ff; 527ff). "Die in Judäa" (Mk 13,14) hatten den Krieg also von Anfang an persönlich erfahren und nicht nur aus der Distanz von ihm "gehört". Mit seiner Untersuchung hat F. HAHN jedoch ein Kriterium für jede Situationsanalyse formuliert: Gibt es eine Situation, in der man von Kriegen nur gehört hat, aber von einem "Greuel der Verwüstung" unmittelbar bedroht wird?

136 F.HÖLSCHER denkt dagegen an die drohende Profanierung des Tempels im Jahre 40 n.Chr., als Kaiser Gaius Caligula sein Standbild im Tempel aufstellen wollte. Damals war der syrische Legat Petronius schon mit Truppen bis Ptolemais herangerückt, um es notfalls mit Gewalt nach Jerusalem zu bringen. Nur der plötzliche Tod Caligulas am 24.1.41 bewahrte das Land vor einer Katastrophe. 10

A. Brechungen zwischen Text und Situation in Mk 13 Die Ansichten über den geschichtlichen Erfahrungshintergrund von Mk 13 gehen weit auseinander. Der Rückschluß vom Text auf eine hinter ihm liegende Situation ist nur durch eine dreifache Brechung hindurch möglich: Wir haben im Text mit einem Ineinander von Tradition und Redaktion, Geschichte und Zukunft, Erfahrung und Topik zu rechnen. Jede dieser Brechungen will sorgfältig bedacht sein. a) Obwohl Mk 13 oft als ein vom Evangelisten kohärent gestalteter Text gedeutet wird, ist die Aufnahme von Tradition unverkennbar. Zwischen dem Rahmen der Rede und der Rede Jesu gibt es Spannungen. Jesus wendet sich in 13,5 und 13,37 - entsprechend der geschilderten Situation - an "Hörer", appelliert aber in 13,14 an "Leser" Er fordert zunächst den Leser dazu auf, die rätselhafte Chiffre des βδέλυγμα της έρημ,ώσεως richtig zu verstehen, 11 dann die Bewohner Judäas, in die Berge zu fliehen. Deute- und Fluchtappell werden in der dritten Person formuliert, der erste im Singular, der andere im Plural. Beide Appelle gehören zusammen: Der "Greuel der Verwüstung" ist erst richtig verstanden, wenn man ihn zum Anlaß der Flucht nimmt. Umstritten ist, wie der Deuteappell zu verstehen ist. Fordert der Mk-Evangelist auf, beim Lesen des Danielbuches auf den "Greuel der Verwüstung" 10

G.HÖLSCHER: Der Ursprung der Apokalypse Mrk. 13, ThBl 12 (1933) Sp. 193-202, gab dieser These ihre klassische Form, war aber nicht ihr erster Vertreter. Vom Matthäustext ausgehend hat zum ersten Mal F.SPITTA: Die Offenbarung des Johannes, Halle 1889, 493-496, die synoptische Apokalypse auf die Caligulakrise bezogen, ohne diese These zu begründen (dort S.496). Eine Kritik dieser Hypothese findet sich bei P.BILDE: Afspejler Mark 13 et jodisk apokalyptisk forlaeg fra krisearet 40, in: S.PEDERSEN (ed.): Nytestamentlige Studier, Aarhus 1976,103-133. BILDE räumt nur für die isolierten Verse 7,14 und 18 die Möglichkeit ein, daß sie auf die Situation im Jahre 40 Bezug nahmen. Sofern man sie jedoch in ihrem Kontext liest, ließen sie sich nicht auf dieses Jahr beziehen. Auch hier wird ein wichtiges Kriterium für eine Situationsanalyse formuliert: Es dürfen nicht nur einzelne Elemente im Text zur angenommenen Situation passen, sondern deren Kombination und Reihenfolge im ganzen Text. 11 Zur Interpretation dieses Deuteappells an den Leser vgl. MURRAY, Commentary, 57, und R.PESCH, Naherwartungen, 144f.

G.R.BEASLEY-

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(Dan 12,11 u.ö.) zu achten, damit jeder merkt, jetzt gehe die uralte Weissagung in Erfüllung? So wenigstens hat ihn der Mt-Evangelist verstanden. Er verweist ausdrücklich auf "Daniel" und lokalisiert den Greuel der Verwüstung im Tempel, an "heiligem Ort" (Mt 24,15). Wenn aber schon Mk das hätte sagen wollen, warum weist er nicht deutlicher auf das Alte Testament wie in Mk 1,2; 7,6f; 11,17 u.ö.? Abgesehen davon, daß im Danielbuch nichts von Flucht steht. Gerade sie aber ist die entscheidende Konsequenz aus dem recht verstandenen Erscheinen des "Greuels der Verwüstung"! Ein Verweis auf Daniel würde den Leser von Mk 13,14 in die Irre führen. Sicher ist nur: Der Deuteappell in Mk 13,14 bezieht sich auf die vorangehende Chiffre "Greuel der Verwüstung" im selben Text. Vergleichbar sind Deuteappelle in Apk 13,9.18; 17,9. Eine zweite Möglichkeit wäre, daß der Evangelist an sein eigenes Evangelium denkt und dessen Vorleser auffordert, der Gemeinde die rechte Interpretation zum "Greuel der Verwüstung" zu geben.12 Aber νοείτω bedeutet nicht διερμηνευέτω (IKor 14,27). Eine Aufforderung zum Verstehen ist nicht unbedingt eine Aufforderung, etwas für andere zu interpretieren. Bei einem auf das Mk-Evangelium bezogenen Deuteappell würde man im übrigen eine Aufmerksamkeitsformel wie in Mk 4,9 erwarten: "Wer Ohren hat zu hören, der höre!" Denn obwohl das Mk-Evangelium in schriftlicher Form vorliegt, ist es doch zum Vorlesen (und d.h. zum Hören) bestimmt. Die Mk 4,9 entsprechenden Aufmerksamkeitsappelle zum Hören in Apk 2,7.11.17 usw. beziehen sich ja auch auf schriftliche Briefe an die sieben Gemeinden. Gedacht ist daran, daß sie in diesen laut vorgelesen werden. Am wahrscheinlichsten ist daher eine dritte Möglichkeit: Der Deuteappell denkt an einzelne Leser. Der Leser ist identisch mit dem Verstehenden. Er soll für sich die richtigen Konsequenzen ziehen. Obwohl er als einzelner Leser angesprochen ist, gilt die Aufforderung zur Flucht für alle, "die in Judäa" leben. Vorausgesetzt wäre dann, daß der Text noch von anderen (einzeln) gelesen werden soll - kurz, daß er als Flugblatt kursiert. Der Mk-Evangelist kann das nicht geschrieben haben. Er denkt nicht an private Leser, sondern an alle (13,37). Alles würde sich dagegen ungezwungen erklären, wenn Mk 13,14 Hinweis auf eine schriftliche Quelle wäre, die nicht zur öffentlichen Verbreitung bestimmt war, sondern mit geheimnisvollen Chiffren zur Flucht aufforderte und für Außenstehende unverständlich sein sollte. Zu dieser Spannung zwischen mündlicher und schriftlicher Kommunikation im Verhältnis von Rahmen und Rede kommt ein inhaltliches Problem: Ge12 So J.WELLHAUSEN, Das Evangelium Marci, Berlin 1909 = 1987, 103, unter Berufung auf C.Weizsäcker.

138 fragt wird nach der Zerstörung des Tempels - "wann wird das geschehen?" und nach dem Zeichen dafür, daß sich "dies alles vollenden wird". Die Antwort aber nimmt nirgendwo eindeutig auf den Tempel Bezug. Ja man kann sogar einen gewissen Widerspruch darin sehen, daß die Frage auf ein Ereignis zielt, das im MkEv als Erfüllung einer Weissagung und Vollzug göttlichen Gerichts (vgl. Mk 12,9) gedeutet wird, während in der Antwort von einem "Greuel" die Rede ist. Das Stichwort βδέλυγμα (Greuel) ist im Alten Testament meist mit Götzendienst verbunden. Es meint einen frevelhaften Akt des Menschen, auf keinen Fall ein Handeln Gottes. Daher ist es schwer, diesen "Greuel der Verwüstung" auf die Tempelzerstörung zu beziehen. 13 Wenn der Lk-Evangelist das tut (Lk 21,20ff), so läßt er das sperrige Wort βδέλυγμα weg und spricht nur von der "Verwüstung" Jerusalems. Seine Umdeutung der Stelle auf Tempelzerstörung und Eroberung Jerusalems ist mit so großen Eingriffen in den Text der Vorlage verbunden, daß man kaum glauben kann, schon die Vorlage habe einen antiken Leser an die Tempelzerstörung denken lassen. Nach der Tempelzerstörung aber wird im Rahmen der eschatologischen Rede gefragt. Falls Mk in 13,14ff an sie gedacht haben sollte, so läge eine Verschiebung zwischen Rahmen und Rede vor: Mk 13,14ff könnte eventuell sekundär auf die Tempelzerstörung bezogen worden sein, ist aber kaum von vornherein auf sie hin formuliert worden. 14 Daß eine Tradition in Mk 13 verarbeitet wurde, ist m.E. ziemlich sicher. Was 13

D.LÜHRMANN, Mk, 222, identifiziert den "Greuel der Verwüstung" mit der "Zerstörung der Stadt und des Tempels". Diese Zerstörung könnte dann nicht als ein gerechtes göttliches Gericht angesprochen sein. Es könnte sich m.E. nur um einen frevelhaften Akt im Zusammenhang mit der Zerstörung handeln. Entweder denkt man an einen Frevel der Verteidiger oder der Belagerer: Als Frevel der Verteidiger käme die Wahl eines neuen Hohenpriesters durch die Zeloten (bell 4,155f) in Frage so S.SOWERS: The Circumstances and Recollection of the Pella night, ThZ 26 (1970) 305-320. Sucht man den Frevel auf Seiten der Belagerer, so deutet man den "Greuel der Verwüstung" auf das Erscheinen des römischen Heeres unter Cestius Gallus auf dem Skoposberg am 17.Nov.66 - so J.J.GUNTHER: The Fate of the Jerusalem Church. The Flight to Pella, ThZ 29 (1973) 81-84 - oder wie W.SCHMITHALS, Mk, 575, auf heidnische Opfer in einem Fahnenheiligtum der Römer im brennenden Tempel (bell 6,316). Gemeinsam ist den bisher genannten Deutungen, daß sie ein vaticinium ex eventu annehmen. Wer mit einer echten Weissagung rechnet, denkt beim "Greuel der Verwüstung" meist an den Antichrist. So besonders M.HENGEL, Entstehungszeit, 29ff, 38ff. Einen Überblick über die ältere Auslegungsgeschichte bietet G.R.BEASLEYMURRAY, Commentary, 59-72. 14

Der Mk-Evangelist könnte die Weissagung der Tempelzerstörung auch in den 13,7-8 genannten Kriegen erfüllt gesehen haben. Die erste Frage in 13,5 nach dem Zeitpunkt der Tempelzerstörung wäre dann in 13,7-8 beantwortet, die zweite Frage nach dem "Zeichen" der Endereignisse in 13,14.

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zu ihr gehörte, bleibt unsicher. Erkennbar ist ein zweigliedriger Aufbau: 15 Auf den "Anfang der Wehen" (13,8) folgen "jene Tage" (13,19.24), innerhalb derer noch einmal eine große "Drangsal" (13,19) und die Parusie "nach jener Drangsal" (13,24) unterschieden werden. Zur Vorlage gehören also mindestens: 16 - der Anfang der Wehen (13,7-8) - d i e Drangsal (13,14-20) - d i e Parusie (13,24-27) Aber das ist nur ein Mindestumfang. Es könnten noch mehr Teile zur Vorlage gehört haben, z.B. 13,5f.l2f.21-23.17 Verbreitet ist die Zuweisung von V.9-13 zu einer sekundären Schicht: Hier finden wir Verfolgungslogien, die eine unabhängige Überlieferung sein könnten. Der Mt-Evangelist fügt sie in seine Aussendungsrede Mt 10,17-22 ein, behandelt sie also als selbständige Einheit. Wir können aber die genaue Abgrenzung einer Vorlage in Mk 13 vorläufig offenlassen. Vielleicht gibt uns die Situationsanalyse ein zusätzliches Kriterium an die Hand, um ihren Umfang zu bestimmen: Was zur rekonstruierten Situation des Textes paßt, dürfte in ihr entstanden sein. Dabei soll folgende methodische Regel gelten: Je weniger Textteile unter keinen Umständen in die angenommene Situation passen und als sekundär ausgeschieden werden müssen, um so besser! Denn wir können nie ganz sicher sein, ob sie nicht doch zur angenommenen Vorlage gehört haben. b) Eine zweite Verschiebung zwischen Text und Situation entsteht dadurch, daß der Text an einem bestimmten Punkt von "geweissagter Vergangenheit" in echte Zukunft übergeht. Nur die Textteile, die sich auf schon geschehene, 15

Diese Zweiteilung in eine "letzte Zeit" vor dem Ende und der Endzeit selbst hat eine Analogie in Qumran (Hinweis von H.-W.KUHN): In QpHab VII,lf wird vom "letzten Geschlecht", in VII,12 von der "letzten Zeit" gesprochen, für die der Prophet Offenbarung empfangen hat. Von ihr unterschieden wird die "Vollendung der Zeit" ( l Q p H a b VII,2). Der Mk-Evangelist hätte diese Zweiteilung aber zu einer Dreiteilung weiterentwickelt: Die Gegenwart ist schon "Anfang der Wehen", aber danach folgt nicht einfach die Vollendung, sondern eine innergeschichtliche Zukunft (13,14-23), in der sich der Mensch noch bewähren muß, erst danach die kosmische Parusie, die allein vom Handeln Gottes und des Menschensohns bestimmt ist (13,24-27). Nach H.CONZELMANN: Geschichte und Eschaton nach Mc 13, ZNW 50 (1959) 210-221, ist das die Pointe der mk Redaktion. 16

Es wäre nicht sinnvoll, alle Abgrenzungsversuche hier aufzuführen. Ich verweise auf die behutsame Diskussion bei E . B R A N D E N B U R G E R , Markus 13,21-42.

17 Uber den oben genannten Mindestumfang hinaus rechnet R.BULTMANN, Geschichte, 129, noch 13,12 und 21-22 zur Vorlage. F.HAHN, Rede, 240ff, zählt 13,9b. 1112 und 21-22 zur Tradition. Besonders für 21-22 leuchtet mir das ein. E.BRANDENB U R G E R , Markus 13,21ff, will freilich gerade diese Verse streichen.

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gegenwärtige oder sich abzeichnende Ereignisse beziehen, müssen auf die angenommene Situation bezogen werden. Wo aber liegt in Mk 13 bzw. seiner Vorlage der Übergang von fiktiver zu echter Zukunft? Auszugehen ist von den parallelen Einleitungen δταν δέ άκούσητε (V.7) und δταν δέ ΐδητε (V.14): Zunächst werden Ereignisse berichtet, von denen die Angeredeten "gehört" haben. Sie gelten als "Anfang der Wehen". Die entscheidenden Endereignisse werden sie dagegen "sehen", sowohl das schreckliche Ereignis, das sich hinter dem "Greuel der Verwüstung" verbirgt, wie das rettende Erscheinen des Menschensohns vom Himmel her (13,26). Alles spricht m.E. dafür, daß der Verfasser der hinter Mk 13 stehenden Tradition seinen Standpunkt zwischen diesen beiden Teilen hat. Was er in 13,14 weissagt, ist für ihn unmittelbar bevorstehende Zukunft. 18 Dafür sprechen folgende Argumente: Die Zweigliedrigkeit legt folgenden Gegensatz zwischen den in V.5-8 genannten Ereignissen und den Ereignissen ab V.14 nahe: Die ersten Ereignisse gehören zum "Anfang der Wehen", sind aber "noch nicht das Ende" Das aber kann man erst im Nachhinein feststellen: Erst im Rückblick auf die kriegerischen Katastrophen in V.7-8 kann gesagt werden: Sie brachten nicht das Ende. Sinnvoll ist aber eine solche Feststellung nur, wenn die Angeredeten in den Kriegen und Katastrophen von V.7f einmal das Ende gesehen haben, was jetzt richtiggestellt wird. Im Leser der kleinen Apokalypse aber wird die Erwartung geweckt: Wenn diese Ereignisse "noch nicht das Ende" waren, dann muß es mit den folgenden Ereignissen kommen. Daher erwartet er nach dem Neuansatz in 13,14ff das Ende. In der Tat weisen die Ereignisse von 13,14ff an Merkmale auf, die nur bei echt zukünftigen Geschehnissen vorstellbar sind. So steht noch nicht fest, zu welcher Jahreszeit die große Drangsal eintritt. Sonst wäre die Aufforderung sinnlos, man solle darum beten, daß sie nicht in den Winter falle (V.18). Offen ist noch, ob die Pseudopropheten und -messiasse die Erwählten vor der Parusie verführen können (V.21-22). Während die Irrlehren in V.5 viele verführen "werden" - und das heißt im Rückblick, viele verführt "haben" -, macht der Apokalyptiker in V.21-22 einen Vorbehalt: Die Pseudopropheten und messiasse tun Zeichen und Wunder, um die Erwählten zu verführen, "wenn es denn möglich ist" (V.22). Ferner haben die Ereignisse ab V.14 eine kosmische Dimension: Sie über-

18 So J.WELLHAUSEN, Mc, 103; E.KLOSTERMANN, Mk, 135; E. SCHWEIZER: Das Evangelium nach Markus, NTD1, Göttingen 31978, 157; W. GRUNDMANN: Das Evangelium nach Markus, ThHK 3, Berlin 51969, 266f u.a.

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treffen alle Notsituationen seit Anfang der Schöpfung.19 Sie bedrohen alles Leben auf Erden: "Hätte der Herr die Tage nicht verkürzt, so würde kein Fleisch gerettet werden" (13,20). Hier wird fast eine neue Sintflut erwartet. Wahrscheinlich wird nicht nur an Kriege gedacht. Denn von Kriegen ist ja schon in 13,7f die Rede. Was ab 13,14ff folgt, muß ihre Schrecken noch übertreffen. Schließlich sei darauf hingewiesen, daß der Text auf ein konkretes Verhalten zielt: Nach Eintreten eines bestimmten Ereignisses sollen die Angeredeten in die Berge fliehen. Daß hier eine tatsächlich geschehene Flucht als vaticinium ex eventu verschlüsselt wird, ist unwahrscheinlich. Dann hätte man eher eine futurisch formulierte Weissagung erwartet: "Wenn aber der Greuel der Verwüstung dort steht, wo er nicht stehen soll, dann werden die in Judäa in die Berge fliehen." Eine andere Frage ist, wo der Mk-Evangelist selbst seinen Standort gesehen hat. Theoretisch könnte für ihn Vergangenheit sein, was für die Tradition noch Zukunft war. Sein Standpunkt könnte sich auf die Zeit zwischen 13,23 und 13,24 verschoben haben. Die dafür angeführten Argumente sind m.E. aber nicht überzeugend. 1) Die Aussage: "Ihr aber sehet, ich habe euch alles vorhergesagt" (13,23) klingt so, als wolle der Verfasser sagen: Die inzwischen eingetroffenen Ereignisse können die Leser nicht beunruhigen, da Jesus sie ja schon vorausgesagt habe. E.BRANDENBURGER stützt diese Auffassung mit vergleichbaren Aussagen in der apokalyptischen Literatur, die seiner Meinung nach rückblickenden Charakter haben.20 Aber eine Wendung wie "Ich habe euch dies vorausgesagt" begegnet in TestLevi 19,1, AssMos 11,1 und SyrBar 84,1 nach Ereignissen, die aus der Perspektive des jeweiligen Apokalyptikers zur echten Zukunft gehören. TestLevi 19 folgt auf die Verheißung von Levis Einsetzung ins eschatologische Priester- und Königtum in TestLevi 18; AssMos 11,1 folgt, 19 Vgl. Dan 12,1 und es wird eine Zeit der Bedrängnis sein, wie noch keine gewesen ist, seit Völker bestehen, bis auf jene Zeit" Diese Wendung wird Anfang des 1. Jhdt.s n.Chr. aufgenommen von AssMos 8,1: "Und es wird Rache und Zorn über sie kommen, wie sie nicht dagewesen sind unter ihnen von Weltbeginn an bis zu jener Zeit In beiden Fällen werden mit dieser Wendung zukünftige Ereignisse angesagt. D.LÜHRMANN: Markus 14,55-64. Christologie und Zerstörung des Tempels im Markusevangelium, NTS 27 (1981) 457-474, 467f, erschließt aus der über Dan 12,1 hinausgehenden Aussage in Mk 13,19, daß es die geweissagte Drangsal bisher nicht gegeben hat "und nicht mehr sein wird", Mk denke an eine innergeschichtliche Drangsal, auf die noch eine geschichtliche Zeit folge. Aber die Wendung sagt nur: Diese Drangsal ist in diesem Ausmaß die letzte. Es folgt keine weitere. 20

E.BRANDENBURGER, Markus 13, 75-87, bes. 78 mit Anm. 166.

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nachdem das Kommen des Gottesbereiches und das Ende des Satans in Kap. 10 geweissagt worden ist; in SyrBar 84 geht eine Schilderung der eschatologischen Umkehr aller Werte im Gericht voraus. Mk 13,23 erlaubt also nicht aufgrund formgeschichtlicher Beobachtungen den Schluß, alles Vorhergehende sei schon geschehen. 2) Daß die Drangsal schon vorüber sei, wird manchmal aus Mk 13,20 erschlossen: "Und hätte der Herr nicht die Tage verkürzt, so wäre kein Fleisch gerettet worden. Aber wegen der Erwählten, die er erwählt hat, hat er die Tage verkürzt." έκολόβωσεν steht im Aorist, für L.SCHOTTROFF ein Grund, den Standpunkt des Verfassers unmittelbar vor der Parusie anzusetzen.21 Der Aorist könnte aber einfach sagen: Gott hat die Verkürzung der Tage schon beschlossen.22 Mt behält die Aoriste zunächst bei, setzt aber das zweite έκολόβωσεν ins Futur: κολοβωθήσονται (Mt 24,22), d.h. er faßt die Aoriste sachlich als Futur auf. Wahrscheinlich hat auch Mk sie so verstanden. Nun ist die "Verkürzung der Tage" ein traditioneller apokalyptischer Topos. Ursprünglich stand hinter ihm eine konkrete Erfahrung: Der 364 Tage umfassende Solarkalender des Astronomischen Buches im ÄthHen (Kap.72-82) ist um 1 1 / 4 Tage kürzer als das reale Jahr, galt aber in manchen apokalyptischen Kreisen als einzig wahrer Kalender - auch wenn man ihn auf Erden nicht praktizierte. Traten nun die jahreszeitlichen Änderungen in Übereinstimmung mit dem für "falsch" gehaltenen irdischen Kalender ein, obwohl sie nach dem "wahren" Kalender im Himmel schon früher hätten geschehen müssen, so gab es nur eine Erklärung: Gott hat die wahre Zeit im Himmel verkürzt, so daß die reale Zeit auf Erden hinterherhinkte. Eben das wird in ÄthHen 80,2f vorausgesetzt: "Und in den Tagen der Sünder werden die Jahre kürzer werden, und ihre Saat wird sich auf ihrem Lande und auf ihrem Acker verspäten ..."

In diesem Kontext hat der Gedanke Überzeugungskraft gewonnen, daß sich am Ende der Tage die "Zeitgeschwindigkeit" verändern werde, in ÄthHen 80,2 in der Weise, daß alles später als erwartet eintritt. Die Verzögerung ist Strafe für die Sünde der Menschen. Bei den meisten Belegen hat die Verkürzung der Tage jedoch positive Bedeutung. Die ersehnte Erlösung wird schneller als erwartet kommen - trotz aller Verzögerung (SyrBar 20,1; 83,1; Barn 4,3; 5Esr 2,13). Diese "positiven" Belege beziehen sich immer auf zukünftige Geschehnisse, was auch in Mk 13,20 der Fall sein wird.23 21

L.SCHOTTROFF, Gegenwart, 708.

22

J.WELLHAUSEN, Mc, 104: "Das Präteritum έκολόβωσεν statt des Futurums erklärt sich daraus, daß Gott den Beschluß schon gefaßt hat..." 23

Auch lKor 7,29: "Die Zeit ist zusammengedrängt" dürfte von diesem apokalyptischen Topos her zu verstehen sein (so J.WEISS: Der erste Korintherbrief, Göttingen 1910 =

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3) Ein drittes Argument für einen Übergang zwischen fiktiver und echter Zukunft zwischen Mk 13,23 und 13,24 ist die wiederholte Warnung vor Pseudopropheten. Sie rahmt wie eine inclusio die Weissagung der Ereignisse vor der Parusie ein (Mk 13,5f und 13,21f). Die in 13,5f erwähnten falschen Propheten sind nun sicher geschichtliche Erscheinungen. Blickt der Verfasser also auch in 13,2 lf auf ihm bekannte Erscheinungen zurück? Wohl kaum. Denn die Irrlehren von Mk 13,5 wirken durch das Wort. Ihr Anspruch "Ich bin's" wäre auch bei christlichen Propheten denkbar, die Jesu Worte im Ich-Stil verkündigten. Die Pseudopropheten und Pseudomessiasse in V.21f wirken dagegen mit Zeichen und Wundern. Hier ist eine Steigerung erkennbar. Es ist daher wahrscheinlich, daß sich der Mk-Evangelist in Übereinstimmung mit der ihm vorgegebenen Tradition zwischen V.13 und 14 einordnet. Darauf weist auch der letzte Satz vor dem Eintreten des "Greuels der Verwüstung": "Wer ausharrt bis ans Ende, der wird gerettet werden" (13,13). Daß nach diesen Worten tatsächlich vom Ende die Rede ist, liegt nahe, zumal mit Mk 13,13 vergleichbare Aussagen im Zusammenhang mit endzeitlichen Ereignissen begegnen (vgl. SyrBar 70,9; 4Esr 7,27f). Auch Mt geht an dieser Stelle von fiktiver zu echter Weissagung über. Ausdrücklich fügt er hinzu: και τότε ηξει το τέλος (vgl. Mt 24,14). Lk kann den Text nur dadurch auf schon geschehene Ereignisse (um-)deuten, daß er ihn tiefgreifend verändert und das Wort vom Ausharren bis ans Ende völlig umformuliert. Das Stichwort "Ende" fehlt bei ihm (vgl. Lk 21,19). c) Eine dritte Verschiebung zwischen Text und Situation ist mit dem Genre gegeben. Mk 13 ist eine apokalyptische Prophetie. Apokalyptisch ist die Vorstellung von der Notwendigkeit der Geschichtsereignisse, die im δει γενέσθαι von 13,7 zum Ausdruck kommt. Aber nicht alles läßt sich auf diesen Nenner bringen. So finden wir die konkrete Aufforderung zur Flucht in die Berge (13,14). Hier wird nicht gesagt, was geschehen muß, sondern wie man sich in einer bestimmten Situation verhalten soll. Nicht alles ist im Plan Gottes festgelegt. Daher kann man von apokalyptischer Prophetie sprechen. Sie lehnt sich stark an vorgegebene Motive und Topoi an. Insbesondere ist die Anlehnung an die Danielapokalypse auffallend.24 Die Wendung "es muß geschehen" (V.7) stammt aus Dan 2,28, der "Greuel der Verwüstung" (V. 14) aus Dan 12,11 (vgl. 11,31; 9,27). Eine "große Drangsal" wird in Dan 12,1 ge1970,197). Keine sachliche Parallele ist dagegen grBar 9,7, wo Gott die Tage des Mondes aus Zorn verkürzt. Zur Entstehung des Topos von der Verkürzung der Tage aus falschen Kalenderberechnungen vgl. K.G.KUHN: Zum Essenischen Kalender, ZNW 52 (1961) 65-73; ders.: ThLZ 85 (1960) 654-658. 24

Vgl. die sorgfältige Untersuchung aller Anspielungen und Anklänge an die biblische Prophetie bei L.HARTMANN: Prophecy Interpreted, CB.NT Ser.l, Lund 1966.

IH

weissagt. Vor allem ist das Erscheinen des Menschensohns mit den Wolken Wiederaufnahme der Menschensohnvision Daniels (Dan 7,13f). Der Verfasser deutet also Gegenwart und Zukunft im Lichte vorgegebener Tradition. Daher ist man nie sicher, ob Tradition wiedergegeben oder eine Situation widergespiegelt wird. Daß hinter den Topoi die Realität sichtbar wird, kann nur dadurch gezeigt werden, daß Auswahl, Kombination und Modifikation traditioneller Topoi in Mk 13 aus einer bestimmten Situation heraus eine Erklärung finden. Im allgemeinen gilt die Prophezeiung von "Krieg, Erdbeben und Hungersnöten" in 13,8 als Wiedergabe apokalyptischer Topoi. Jedoch wird dabei oft übersehen, daß sie nur ein kleiner Ausschnitt aus dem Repertoire apokalyptischer Schrecken sind.25 In SyrBar 70,6-10 umfaßt dies Repertoire: Tod im Krieg, Tod durch Trübsal, Behinderung durch die eigenen Leute, Krieg der Völker gegen die Herrscher, Erdbeben, Feuer, Hunger. Eine durchnummerierte Aufzählung der Schrecken bietet SyrBar 27,1-15: Unruhen, Hinschlachten der Großen, Tod vieler, Schwert, Hungersnot durch Dürre, Erdbeben und Erdspalten, Gespenster und Dämonen, Feuer, Vergewaltigung und große Freveltat, Unrecht und Exzeß, Unordnung durch Vermischung aller bisher genannten Übel. Zehn Plagen zählt die Apk Abrahams auf (30,3-5): Brand von Städten, Viehseuche, Hungersnot, Zerstörung der Mächtigen durch Erdbeben und Schwert, Hagel und Schnee, wilde Tiere, Hungersnot und Pest, Schwert und Flucht, Gewitter und Erdbeben. Beeindruckend ist die Folge apokalyptischer Plagen in Jub 23,13 und Apk 8-12; 15-16. Am ehesten vergleichbar mit Mk 13,7f ist 4Esr 9,3. Dort gilt als Zeichen des Endes "Erschütterungen an Orten, Verwirrung unter den Völkern, Anschläge unter den Nationen, Unruhen unter den Führern, Verwirrung unter den Fürsten." In 4Esr 13,31 sind es Kriege: "Stadt gegen Stadt, Ort gegen Ort, Volk gegen Volk und Reich gegen Reich." Aber auch hier stimmen die Schrecken nicht mit denen von Mk 13,7f überein: Im MkEv fehlt eine Hervorhebung der "Fürsten", im 4Esr fehlt die Voraussage von Hungersnöten. Läßt man die gängigen apokalyptischen Szenarien Revue passieren, so sind die in Mk 13,7f genannten Katastrophen vergleichsweise realistisch. Interessant ist die Veränderung, die Lk vornimmt. Er klammert den Abschnitt Mk 13,7f = Lk 21,10f aus dem Ablauf der dem Ende vorhergehenden Ereignisse aus: Die nach ihnen erwähnte Verfolgung geschieht zeitlich "vor" ihnen (vgl. 25

Zu den apokalyptischen Plagen vgl. P.VOLZ: Die Eschatologie der jüdischen Gemeinde im neutestamentlichen Zeitalter, Tübingen 1934,152ff. Auch die alttestamentliche Trias Schwert, Hunger und Pest (so in verschiedenen Reihenfolgen in Jer 14,12; 21,7; 38,2; Hez 5,12; vgl. 14,21) kann Mk 13,7f nicht erklären. Denn es fehlt hier gerade die Pest, die erst Lk 21,11 ergänzt. Anders E.SCHWEIZER, Mk, 151.

145 Lk21,12). Wahrscheinlich denkt Lk an den Jüdischen Krieg, von dem Jesus vorgreifend schon in V.10-11 spricht. Die von Mk vorgegebenen Schrecken genügen Lk aber nicht zur Beschreibung dieses geschichtlichen Ereignisses. Über den Mk-Text hinaus spricht er von "Schrecken und Zeichen vom Himmel" (Lk 21,11). Müßte die noch "schlichtere" Schreckenssammlung des Mk nicht erst recht auf konkrete Erfahrung zurückweisen? Zumal auch im einzelnen zurückhaltend formuliert wird: Mk spricht nicht von einer universalen Erdbebenkatastrophe, sondern von σεισμοί κατά τόπους: von regionalen Erdbeben. 26 Falls eine konkrete Situation hinter den (zweifellos vorhandenen) Topoi steht, müßte diese folgende Merkmale haben: Kriege zwischen Königreichen und Völkern, regionale Erdbeben und Hungersnöte (vielleicht auch Irrlehrer) gehören als "Anfang der Wehen" schon der Vergangenheit an. Sie wurden als Beginn des Endes gedeutet. Aber das hat sich als Irrtum erwiesen. Die Adressaten haben diese Kriege und Schrecken nicht unmittelbar erlebt, sondern von ihnen "gehört" Wir müßten also Kriege ausfindig machen, die 1. zur Abfassungszeit nahe Vergangenheit waren, 2. am Abfassungsort nicht unmittelbar erlebt wurden, aber 3. bei den Adressaten so große existenzielle Betroffenheit auslösen konnten, daß einige das Ende der Welt in ihnen anbrechen sahen.Es müßte eine Situation sein, in der sich für die unmittelbare Zukunft folgende Ereignisse abzeichnen: Ein rätselhafter "Greuel der Verwüstung" wird an einem Ort erscheinen, wo er auf keinen Fall "stehen" sollte. Dieser Ort ist für die Angeredeten nahe: Sie werden den Greuel der Verwüstung dort "sehen" können. Sein Erscheinen leitet für die in Judäa Wohnenden eine schreckliche Zeit ein. Deshalb sollen sie fliehen. Die Flucht könnte im Winter geschehen, d.h. man geht auf den Winter zu. Im folgenden soll die alte These erneuert werden, daß es zwischen dem Krisenjahr 40 n.Chr. und der apokalyptischen Prophetie in Mk 13 viele überzufällige Entsprechungen gibt. Die in Mk 13 verarbeitete Tradition dürfte in diesem Jahr entstanden sein. Da sie auf schon geschehene Ereignisse zurückschaut, müssen wir den Zeitraum von ca. 35-41 ins Auge fassen. Im folgenden Abschnitt skizzieren wir die Geschichte Palästinas in dieser Zeit - zunächst ohne Mk 13 dabei zu berücksichtigen.

Man könnte allenfalls auf "motio locorum" in 4Esr 9,4 hinweisen. Im Kontext könnte sich diese "Erschütterung von Orten" aber auch auf politische Unruhen beziehen, jedoch wäre dabei eher der Begriff "motus" ( = Erhebung, Aufruhr, Unruhe) zu erwarten. 26

146

Β. Ereignisgeschichte Palästinas 35-41 n.Chr. Die Zeit von 35-42 n.Chr. umfaßt die Regierungszeit der syrischen Legaten L.Vitellius (35-39? n.Chr.) und P.Petronius (39-42 n.Chr.) Beide griffen in die Ereignisse in Palästina mehrfach ein. Als Vitellius im Jahr 35 nach Syrien gesandt wurde, 27 stand er vor der Aufgabe, den parthischen König Artabanos in die Schranken zu weisen, der sich gerade Armenien angeeignet hatte. Zunächst gelang es ihm, zwei von den Römern unterstützte Königsprätendenten im Osten durchzusetzen: Mitridates wurde König von Armenien, Tiridates König von Parthien. Artabanos mußte fliehen, konnte jedoch später sein Reich wieder erobern. Nach dem Tode des Tiberius kam es dann dank der diplomatischen Kunst des Vitellius auf einer Brücke über den Euphrat zum Friedensschluß, bei dem Herodes Antipas die Verhandlungspartner bewirtete (ant Ιδ,ΙΟΙίί). 28 Krieg und Konflikt mit den Parthern überschatteten somit die Jahre 35-37. Zur selben Zeit brach in Palästina ein Krieg zwischen Herodes Antipas und dem Nabatäerkönig Aretas IV. aus.29 Seit der Scheidung des Herodäerfürsten von seiner ersten Frau, einer nabatäischen Prinzessin, herrschte Feindschaft zwischen beiden Fürsten. In der Zeit 35/36 war die Gelegenheit für die Nabatäer günstig, gegen Antipas vorzugehen: Die Römer waren durch die Parther gebunden. Der Bruder des Antipas, der Tetrarch Philippus, war 34 n.Chr. gestorben. Die Nabatäer hatten alte Territorialansprüche auf sein Gebiet. Jetzt hofften sie, diese mit militärischer Gewalt durchzusetzen. Herodes Antipas erlitt 36 n.Chr. eine vernichtende Niederlage. Vitellius mußte auf Befehl des Tiberius gegen die Nabatäer vorgehen. Gleichzeitig gab es Zeichen erhöhter religiöser Unruhe in Palästina: Im Jahr 36 n.Chr. (also während des nabatäischen Konflikts) tritt in Samarien ein

27

Vgl. T.MAYER MALY: Art. Vitellius (7c), PRE Suppl. IX, Sp. 1733-1739. Über den Krieg mit den Parthern berichtet ausführlich Tacitus ann. VI, 35-37. 41-44. Die Römer ließen hier einen Stellvertreterkrieg führen, griffen aber militärisch nicht direkt ein. •yo

Josephus ant 18,101ff datiert diesen Friedensschluß noch in die Regierungszeit des Tiberius. Nach Sueton Cal.14 fiel er jedoch in die Zeit des Gaius Caligula (vgl. noch Sueton Vitell.2; DioCassius 59,27). Zum Problem der Datierung vgl. E.SCHÜRER, History, 351, der das spätere Datum für wahrscheinlicher hält. Vgl. Josephus ant 18,Ulf und die Ausführungen zum herodäisch-nabatäischen Konflikt in Kap.2B. Die Nabatäer sind im Verlauf dieses Krieges vielleicht bis nach Damaskus vorgestoßen und haben dort Paulus in Gefahr gebracht. Vgl. G.W.BOWERSOCK: Roman Arabia, Cambridge Mass./London 1983, 67-69.

147 Prophet auf. 30 Er führt eine Menschenmenge auf den Garizim mit der Verheißung, er werde dort die verschollenen Tempelgeräte auffinden. Pilatus greift ein. Es gibt ein Blutbad. Die gefangengenommenen Anführer läßt Pilatus hinrichten. Samaritanische Beschwerden über sein Vorgehen führen zur Absetzung des Pilatus durch Vitellius. Pilatus muß sich nach Rom begeben, wo er nach dem Tod des Tiberius ankommt (ant 18,85-89). In derselben Zeit macht sich in Judäa eine erhöhte religiöse Sensibilität bemerkbar: Als Vitellius mit seiner Armee gegen die Nabatäer vorrückt (37 n.Chr.), bittet man ihn, das Heilige Land nicht durch die Feldzeichen der Legionen zu entweihen. Vitellius zieht daraufhin ohne sein Heer mit Herodes Antipas nach Jerusalem und feiert dort das Passa am 20. April 37. 3 1 Dort erreicht ihn am vierten Tag die Nachricht vom Tod des Tiberius am 17.3.37 (vgl. ant 18,120ff). Möglicherweise war er schon vorher in Jerusalem gewesen: Bei einem Aufenthalt in Jerusalem gab er auf jeden Fall das hohepriesterliche Gewand, das bisher die Römer nur zu Festen auslieferten, an die Juden zurück (ant 18,90-95; vgl. ant 15,405). Bei Samaritanern wie Juden spüren wir in dieser Zeit dieselbe Absicht: den einheimischen Kult durch Verfügung bzw. Auffinden der zum Kult notwendigen Geräte und Gewänder in die eigene Hand zu nehmen. Exkurs: Chronologie und Zahl der Vetelliusbesuche in Jerusalem sind umstritten. 3 2 Josephus berichtet drei Mal von ihm: Nach ant 15,405 schrieb Vitellius auf Bitten des Volkes an Tiberius, um die Kontrolle über das hohepriesterliche Gewand wieder jüdischen Instanzen anzuvertrauen. Nach ant 18,90-95 gestattet er an einem Passafest die Übergabe des Gewands, erläßt einige Steuern und ersetzt den Hohepriester Kaiphas durch Jonathan. Nach 18,120-126 zieht er während der Vorbereitung eines Nabatäerfeldzugs bei einem nicht näher bezeichneten Fest nach Jerusalem, sagt zu, daß seine Legionen das Heilige Land nicht berühren werden, und setzt den Hohepriester Jonathan wieder ab. 1. Die drei Berichte in den antiquitates lassen sich nicht harmonisieren. Nach ant 15,405 wurde das Hohepriestergewand aufgrund eines Reskripts von Tiberius ausgeZu diesem samaritanischen Propheten vgl. J . P . L É M O N O N : Pilate et le gouvernement de la Judée, E t B , Paris 1981, 231-239; M . F . C O L L I N S : T h e Hidden Vessels in Samaritan Traditions, J S J 3 (1972) 97-116. 30

31

Zu diesem Datum vgl. U . H O L Z M E I S T E R : Wann war Pilatus Prokurator von Judaea?, Bib 13 (1932) 228-232, dort S.229. 3 2 J . P . L É M O N O N , Pilate, 242-245, und H . S C H W I E R , Ideologische und theologische Faktoren, 109-114, plädieren für drei Jerusalembesuche. E . M . S M A L L W O O D : T h e Date of the Dismissal of Pontius Pilatus from Judaea, J J S 5 (1954) 12-21, dort 17-19, nimmt zwei Besuche an. Vgl. dies.: T h e Jews under R o m a n Rule, Leiden 1976, 171-173. Für einen einzigen Besuch plädieren dagegen W . O T T O : Art. Herodes Nr.24, P R E S u p p l i i , 1913, Sp. 168-191, dort 185-187, und T . M A Y E R M A L Y , Art. Vitellius, Sp. 1735.

148 liefert, nach 18,90ff aufgrund einer Entscheidung des Vitellius. Nun zitiert Josephus in ant 20,11-14 ein späteres Reskript des Kaisers Claudius an den Procurator Cuspius Fadus, in dem er - unter Berufung auf eine Entscheidung des Vitellius - anordnet, das Hohepriestergewand auszuliefern (ant 20,12). Hätte ein Erlaß des Tiberius vorgelegen, so hätte sich Claudius gewiß auf ihn bezogen, abgesehen davon, daß der Procurator C. Fadus es kaum gewagt hätte, das hohepriesterliche Gewand gegen einen kaiserlichen Erlaß unter seine Kontrolle zu bekommen. In ant 15,405 wird daher möglicherweise ein kaiserliches Reskript dem Tiberius zugeschrieben, das in Wirklichkeit erst Claudius (ant 20,11-14) verfaßt hat. Es wäre dann nicht unbedingt notwendig, aufgrund von ant 15,405 zwei Jerusalembesuche des Vitellius anzunehmen: einen ersten Besuch, um die Bitte des Volkes um Herausgabe des Hohepriestergewands zu empfangen und weiterzugeben, einen zweiten, um es aufgrund der Antwort des Kaisers tatsächlich auszuliefern. 2. Die kurzfristige Ein- und Absetzung des Hohenpriesters Jonathan wird durch ant 19,314 bestätigt, da Jonathan dort sagt, er habe nur einmal das hohepriesterliche Gewand getragen. Muß man Ein- und Absetzung auf zwei verschiedene Besuche verteilen? Nach ant 18,95 wurde Jonathan eingesetzt, nachdem Vitellius das Hohepriestergewand ausgeliefert hatte. Die Auslieferung des Gewands geschah, wie Josephus betont, "sieben Tage vor jedem Fest" (ant 18,94). Danach ( τ α ύ τ α π ρ ά ξ α ς ) wurde Kaiphas durch Jonathan ersetzt, so daß dieser noch beim selben Fest als Hohepriester fungieren konnte. Nach ant 18,123 setzte Vitellius eben diesen Jonathan während eines dreitätigen Aufenthaltes in Jerusalem ab, nachdem Vitellius bei einem Fest geopfert hat - also wohl nach dem Höhepunkt des Festes. Ist es absolut undenkbar, daß Jonathan vor einem Fest eingesetzt und unmittelbar danach wieder abgesetzt wurde? Man muß dabei keine dramatischen politischen Hintergründe annehmen. Nach ant 18,312 sagt Jonathan, "Gott habe ihn als der Hohenpriesterwürde unwürdig beurteilt". Dahinter könnte ein Fehler im Ritual, ein böses Omen oder sonst etwas stecken, das einen baldigen Austausch des Hohenpriesters wünschenswert machte. 3. Die beiden Berichte von Besuchen des Vitellius in Jerusalem in ant 18,90-95 und 18,120-125 könnten auch deshalb dasselbe Ereignis meinen, weil Josephus nach dem ersten Bericht (über einen 37 n.Chr. erfolgten Besuch) auf Ereignisse zurückgreift, die vorher geschehen sind: auf die Auseinandersetzungen mit den Parthern im Jahre 35/36 n.Chr., obwohl er so schreibt, als seien sie dem ersten Besuch gefolgt. Der Jerusalembesuch nach dem Friedensschluß mit den Parthern könnte in dieselbe Zeit fedlen wie der Jerusalembesuch nach der Absetzung des Pilatus. Auch von der absoluten Chronologie her müssen beide Besuche zeitlich eng beieinander liegen. Der erste Besuch geschieht nach Absetzung des Pilatus, der sich beeilt, nach Rom zu reisen, dort aber erst nach dem Tod des Tiberius am 17.März 37 eintrifft (ant 18,89). Während des (angeblich) zweiten Besuchs aber erreicht die Nachricht vom Tod des Tiberius Vitellius während eines Festes in Jerusalem, von dort gelangt sie in die anderen Provinzen (legGai 231. 288): Den Herrschaftswechsel wird man dem Befehlshaber einer der größten Armeen, dem syrischen Legaten, möglichst mitgeteilt haben. Wenn man bedenkt, daß Eilbotschaften bis zu 150 km am Tag schafften, müßte die Nachricht vom Tod des Tiberius eher beim ca. 5 Wochen späteren Passafest als beim 15 Wochen späteren Pfingstfest in Jerusalem eingetroffen sein. Das "Fest" des zweiten Besuchs wäre dann mit dem Fest des ersten Besuchs identisch. Vielleicht hat es vor-

149 her schon einen Besuch gegeben. Der letzte Jerusalembesuch aber war ziemlich sicher am Passa 37. Einzelheiten von ihm erzählt Josephus sowohl in ant 18,90-95 als in 18,120-125.

Mit dem Regierungswechsel in Rom verändern sich dann noch einmal die politischen Gewichte in Palästina: Agrippa I. wird König über die ehemalige Tetrarchie des Philippus und über Abilene. Sein Auftreten führt zu Spannungen mit Herodes Antipas, dem Tetrarchen über Galiläa. Als der 39 in Rom ebenfalls die Königswürde zu erlangen versucht, wird er aufgrund einer Denuntiation durch Agrippa I. von Gaius Caligula abgesetzt. In demselben Jahr wird Vitellius abberufen: Er kehrt in Todesangst nach Rom zurück (DioCass. 59,27,4) und rettet sich nur durch demütigende Unterwerfung unter Gaius , indem er als erster die Proskynese vor ihm einführt. 33 Der Nachfolger des Vitellius ist P.Petronius. Sein Name ist vor allem mit der großen Caligulakrise im Jahre 39/40 verbunden: Nachdem Juden in Jamnia einen Kaiseraltar niedergerissen hatten, wurde er beauftragt, mit militärischer Gewalt den Jerusalemer Tempel in ein Heiligtum des Zeus Epiphanes Gaius umzuwandeln. Durch langsame Ausführung des Befehls gewann er Zeit für Verhandlungen mit der jüdischen Aristokratie und ließ sich sogar bewegen, förmlich um Rücknahme des Befehls zu bitten. Durch Intervention des Agrippa I. in Rom hatte sich Gaius inzwischen umstimmen lassen. Er befahl, die Ausführung des Befehls zu stoppen, Petronius aber sollte sich wegen Ungehorsams das Leben nehmen. Die Ermordung des Kaisers am 24.1.41 beendete den Konflikt. Wir sind über die Caligulakrise durch Josephus (bell 2,184-203; ant 18,261309) und Philo (legGai 197-337) relativ gut informiert.34 Die Quellen sind 33

Auch Tacitus ann VI,32, sagt, Vitellius habe sich "aus Angst vor C.Caesar" aus einem tüchtigen Provinzstatthalter in einen servilen Schmeichler verwandelt. Wir wissen nicht, warum Vitellius um sein Leben fürchten mußte. Fürchtete er genauso wie Herodes Antipas, mit dem er - trotz mancher Spannungen - verbunden gewesen war, in Ungnade zu fallen? Antipas wurde im selben Jahre abgesetzt, in dem Vitellius (wahrscheinlich) aus Syrien abberufen wurde. 34

Eine ausführliche Analyse der Quellen und ihrer Tendenzen hat P.BILDE: Josefus som historieskriver, Kopenhagen 1983, vorgelegt. Das Buch beschäftigt sich vor allem mit der Caligulakrise im Jahre 40 n.Chr. Dem Bericht des Josephus wird gegenüber dem des Philo oft der Vorzug gegeben, obwohl Philo Augenzeuge und Zeitgenosse war und Josephus in den antiquitates unverkennbar novellistische Motive benutzt (vgl. das Regenwunder in ant 18,285ff und das Gastmahl mit freigestelltem Wunsch in ant 18,289ff). Einige seiner Thesen hat P.BILDE schon in: The Roman Emperor Gaius (Caligula)'s Attempt to Erect his Statue in the Temple of Jerusalem, StTh 32 (1978) 6793, vorgetragen. Zur kritischen Würdigung von P.BILDE vgl. N.HYLDAHL: Josefus som historieskriver, DTT 48 (1985) 51-64.

150

nicht tendenzfrei,35 enthalten Widersprüche, ergeben aber insgesamt ein anschauliches Bild der Vorgänge.36 Die wichtigsten Unterschiede seien in einer Synopse zusammengestellt und dann im einzelnen besprochen.37 QUELLEN ZUR CALIGULAKRISE

Philo

Josephus

Josephus

legatio ad Gaium 197-337

bellum judaicum 2,184-203

antiquitates 18,256-309

1) Grund und Anlaß des Konflikts 1. Selbstapotheose des Kaisers

1. Selbstapotheose des Kaisers

l.Selbstapotheose des Kaisers.

2. Zerstörung eines Kaiseraltars

2. Zorn über die jüdische Ge-

in Jamnia durch dortige Juden.

sandtschaft aus Alexandrien un-

3. Antijüdische Ratgeber des

ter Leitung Philos

Kaisers.

35

Philos Legatio ad Gaium ist weniger ein Geschichtswerk als ein Traktat "de mortibus persecutorum". Er soll zeigen, daß menschlicher Hybris die göttliche Strafe folgt. Er ist Zeitgenosse, schreibt kurz nach den Ereignissen, ist aber selbst in den Konflikt verwickelt: Wir müssen damit rechnen, daß er sich als Leiter der jüdischen Delegation in Rom in kein ungünstiges Licht setzen wollte. Josephus schreibt zum ersten Mal in den 70er Jahren über die Ereignisse. Bei ihm wird Petronius zum Modell des vorbildlichen römischen Beamten. Für die Vorgänge in Rom dürfte Philo als Augenzeuge die bessere Quelle sein, für die Ereignisse in Palästina könnte Josephus über gute Informationen verfügen. Beide Quellen haben übereinstimmend die Tendenz, die Friedfertigkeit der Juden herauszustellen. Sie schreiben als Apologeten einer bedrängten Minorität. 36 Von den modernen historischen Darstellungen seien neben der gründlichen Monographie von P.BILDE, Josefus som historieskriver, 1983, genannt: J.P.V.D.Balsdon: The Emperor Gaius, Oxford 1934 (=1964), 135-140; E.M.SMALLWOOD, The Jews, 174-180; E.SCHÜRER, History I, 394-398. 37

Die Caligulakrise hat auch im rabbinischen Schrifttum ein Echo hinterlassen. In bSota 33a hören wir von einer Bath Qol: "Ferner hörte einst Simon der Gerechte folgende Hallstimme aus dem Allerheiligsten ertönen: Aufgehoben worden ist die Götzenanbetung, die der Feind in den Tempel bringen wollte. Damals wurde Gaius Caligula erschlagen und seine Verordnungen wurden aufgehoben. Sie schrieben die Stunde auf, und es stimmte genau. Dies wurde in aramäischer Sprache gesprochen." Dazu vgl. P.WINTER: Simeon der Gerechte und Gaius Caligula, Jud. 12 (1956) 129132: Wahrscheinlich liegt hier eine Verwechslung des berühmten Hohenpriesters Simon des Gerechten (vgl. Sir 50, Iff) mit dem in ant 19,297. 313 erwähnten Simon Kanthera vor, der von Agrippa I. ca. 41 (oder schon 40?) zum Hohenpriester eingesetzt worden ist. - Unter den römischen Historikern erwähnt Tacitus zweimal den Caligulakonflikt in Palästina: hist V,9,2 und ann XII, 54,1.

151

2) D e r Auftrag an Petronius zur Entweihung des Tempels Der schon in Syrien amtierende

Der syrische Statthalter soll mit

Petronius wird als Nachfolger

Statthalter

mit

drei Legionen und Statuen (PI.)

des Vitellius

der halben Euphratarmee

(=2

nach Jerusalem ziehen. Bei Wi-

schickt, um mit Hilfe von zwei

Legionen) ein Standbild

Petronius

soll

nach Syrien

ge-

(Sg.)

derstand sollen die sich Wider-

Legionen eine Statue (Sg.) nach

nach Jerusalem bringen. Petro-

setzenden getötet und das Volk

Jerusalem zu bringen.

nius hat von vornherein Beden-

versklavt

ken.

Kriegsgeriichte.

werden.

Es

gibt

3) Die ersten Verhandlungen in Phönikien Petronius zieht nach Ptolemais,

Petronius läßt eine Statue in Sidon anfertigen,

um dort zu überwintern und im

um Zeit zu

Frühjahr den Krieg zu begin-

gewinnen.

nen. E r berichtet Gaius den

Stand

der

über

Vorbereitung.

Gaius antwortet wohlwollend. Petronius verhandelt zuerst mit geistlichen und weltlichen Führern der Juden

in

Phönikien

(oder in Antiochien?). Das jüdische Volk demonstriert

Das jüdische Volk demonstriert

Das

mit

in

mit Frauen und Kindern in der

striert,

Phönikien. Beratungen im Stab

Ebene von Ptolemais (192). D e r

Loyalität gegenüber dem Kaiser

Frauen

und

Kindern

des Petronius führen zu einem

Protest

Verzögerungsbrief

schildert.

an

Gaius:

wird

summarisch

ge-

jüdische

Volk

betont

und die eigene

demon-

dabei

seine

Leidensbereit-

schaft bei der Verteidigung sei-

Die E m t e (im Frühjahr!) dient

ner Religion.

als Vorwand zu weiterem Warten. Gaius reagiert mit einem neutralen Antwortschreiben.

4 ) Die zweiten Verhandlungen in Tibi Petronius ruft Volk und seine

Petronius eilt mit Freunden und

Führer in Tiberias zusammen,

Dienern nach Tiberias,

a)

a) Dort

In

Verhandlung

mit

dem

finden

Volk betont dies seine Loyalität

Demonstrationen

und Leidensbereitschaft.

denen die Saat wird (Herbst!).

40 Tage statt,

lang bei

vernachlässigt

152 b) Verhandlungen mit den Füh-

b) Verhandlungen mit dem he-

rern und Volk werden getrennt

rodäischen Köngishaus und der

weitergeführt.

Aristokratie führen zum Einlenken des Petronius.

Die SOtägige Vernachlässigung der Saat während

der

Ver-

Dabei

spielt das Argument eines drohenden

Landarbeiterstreiks,

handlungen (im Herbst: Ok-

dadurch bedingter

tober/November) ist für Petro-

fälle und das Anwachsen des

nius ein Grund zum Einlenken.

Rauberunwesens

Steuerauseine

Rolle.

Nach dem Einlenken des Petronius geschieht nach langer Dürre ein Regenwunder. seinem

Petronius schreibt an Gaius mit

Heer nach Antiochien zurück

Bitte um Rücknahme des Be-

und bittet von dort den Kaiser

fehls.

Petronius

kehrt

mit

brieflich um Rücknahme des Befehls.

Die Intervention des Agrippa in Rom Agrippa kommt

nichtsahnend

Agrippa kann bei einem Gast-

in Rom zu Gaius, erfährt durch

mahl Gaius zum Einlenken be-

ihn von der drohenden Entwei-

wegen, nachdem der Kaiser ihm

hung, wird ohnmächtig. Vom

einen Wunsch freigestellt hat.

Krankenlager aus schreibt er eine lange Petition an Gaius.

6) Der Ausgang des Konflikts Gaius nimmt seinen Befehl be-

Gaius nimmt seinen Befehl be-

dingt

soll

dingt zurück: Falls er noch nicht

keine weiteren Schritte nehmen.

ausgeführt ist, soll nichts Wei-

Außerhalb Jerusalems ist der

teres unternommen werden.

zurück:

Petronius

Kaiserkult zu dulden.

Gaius

plant die Statue auf einer Reise selbst nach Jerusalem zu bringen. (Philo kündigt Fortsetzung des

Petronius wird von Gaius per

Petronius wird von Gaius zum

Berichts als Palinodie an, die

Brief zum, Selbstmord verur-

Selbstmord verurteilt. Der Brief

wohl die Strafe des Frevlers

teilt, dieser Brief erreicht Pe-

mit diesem Befehl wird aber

schildern soll.)

tronius aber erst 27 Tage nach

von der Todesnachricht

der Nachricht vom Tod des

Gaius überholt.

Gaius.

von

153

1. Grund und Anlaß des Konflikts Alle Quellen sind darin einig, daß die Selbstvergötterung des Kaisers die entscheidende Ursache des Konflikts war. Das ist historisch nicht ganz zutreffend. Durch Philo erfahren wir einen konkreten Anlaß: Juden hatten in Jamnia einen neu errichteten Kaiseraltar niedergerissen. Darüber hatte der dortige Procurator Herennius Capito 38 in übertriebener Form nach Rom berichtet. Unter dem Einfluß jüdischer Ratgeber antwortete der Kaiser mit dem Befehl an den syrischen Legaten, ein kaiserliches Standbild mit Waffengewalt im Jerusalemer Heiligtum aufzustellen (legGai 200-207). Philo spielt den jüdischen Anteil an der Entstehung des Konflikts herunter: Die Errichtung eines Altars in Jamnia ist für ihn eine Provokation der Juden durch Heiden, seine Zerstörung Reaktion auf einen frevelhaften Übergriff. Josephus schweigt über den Jamniakonflikt. Dafür bringt er das Vorgehen des Gaius mit dem Mißerfolg der Gesandtschaft alexandrinischer Juden unter Philo in Verbindung (ant 18,262). Verständlicherweise finden wir diese Version nicht bei Philo: Hätte er sein Auftreten in Rom als Anlaß für das Vorgehen des Kaisers gegen das Jerusalemer Heiligtum dargestellt, so hätte er seiner diplomatischen Kunst kein gutes Zeugnis ausgestellt. Aber auch er weiß, daß Vorgänge in Rom eine Rolle gespielt haben, wenn er die dortigen antijüdischen Ratgeber aus Askalon und Ägypten für das Verhalten des Gaius mitverantwortlich macht. Beide Quellen weisen so auf die entscheidenden historischen Ursachen: auf Spannungen zwischen Juden und Nicht-Juden in Ägypten (von Josephus betont) und in Palästina (von Philo betont). Beide Spannungen wurden fast gleichzeitig manifest: Die Zerstörung des Kaiseraltars in Jamnia geschah nicht lange nach Auseinandersetzungen in Alexandrien, die dort durch Aufstellung von Kaiserbildern in den Synagogen ausgelöst worden

38

-

Jamnia, ursprünglich herodäischer Besitz, war durch Erbschaft in den Besitz der römischen Kaiserfamilie gelangt und wurde von einem Procurator des Kaisers verwaltet. C.Herennius Capito ist inschriftlich belegt (vgl. E.M.SMALLWOOD: Philonis Alexandrini: Legatio ad Gaium, Leiden 1961, 261). Wenn man bedenkt, daß in Caesarea und Sebaste ein Kaisertempel stand und von Juden toleriert wurde, wird man ermessen können, daß die Zerstörung eines Kaiseraltars auf kaiserlichem Grund und Boden völliges Unverständnis bei den Römern hervorrufen mußte. Die Juden werden dagegen Jamnia als altes jüdisches Stammland betrachtet haben, das von heidnischen Symbolen und Kulten frei bleiben sollte. Erst kurz zuvor hatten sie einen römischen Legaten, Vitellius, dazu bewegen können, mit seinen Legionen jüdischen Boden nicht zu betreten wegen der mitgeführten heidnischen Symbole (vgl. ant 18,121f).

154 waren (Flacc 4 Iff). 39 Juden sahen plötzlich an mehreren Orten ihren status quo in Frage gestellt. Sie konnten den Eindruck haben, ihre Religion sei grundsätzlich bedroht - zunächst durch die heidnische Umwelt, dann durch die Politik des Kaisers. Umgekehrt konnte die Parallelität der jüdischen Proteste in Alexandrien und Palästina von den Römern als "konzertierte Aktion" gegen den Kaiser gedeutet werden.40 Für die Zerstörung eines Kaiseraltars auf dem Eigentum des Kaisers in Jamnia fehlte ihnen gewiß jedes Verständnis: Mußte es ihnen nicht erscheinen, als wollten einige Juden die Grundlage der traditionellen römischen Toleranz gegenüber dem jüdischen Kult aufkündigen?41 Berücksichtigt man schließlich, daß die Römer aufgrund eines übertriebenen Berichts des Procurators Herennius Capito handelten, so würde der prinzipielle Charakter ihrer Reaktion verständlicher: der Griff nach dem jüdischen Zentralheiligtum. Eine politische Fehlentscheidung war er in jedem Fall. Ohne den Hang des Gaius Caligula zur Selbstvergötterung hätten die Römer gelassener und weiser reagieren können. Die Selbstapotheose des Gaius war aber entgegen den jüdischen Quellen nicht Konfliktursache, sondern konfliktverschärfender Faktor. Sie machte einen schon vorher existierenden Konflikt unlösbar und konnte deshalb im Bewußtsein der Beteiligten zur Hauptsache werden.

Die Unruhen in Alexandrien sind in das Jahr 38 n.Chr. zu datieren ( E . S C H Ü R E R , History I, 391 Anm.161), der Jamniakonflikt in das Jahr 39 oder den Winter 39/40. Beide haben ihre Wurzeln in lokalen Spannungen zwischen Juden und Nicht-Juden. Der Kaiser hat mit diesen Spannungen nichts zu tun. Sein Hang zur Selbstvergottung konnte jedoch von den Gegnern der Juden ausgenutzt werden, um diesen die traditionelle protectio romana zu entziehen und sie vor ihren Beschützern zu kompromittieren: Sie vollzogen nicht die üblichen kultischen Loyalitätsriten. 39

Vgl. E.M.SMALLWOOD, Legatio, 264: Gaius bekam die Nachricht von der Zerstörung des Kaiseraltars in Jamnia, als er schon von dem Widerstand der Juden in Alexandrien gegen das Aufstellen von Kaiserbildern in den dortigen Synagogen gehört hatte. "Either episode alone might have been regarded as merely a disturbance of the peace. But the two occuring within perhaps eighteen months of each other looked like organized disloyalty, and this probably accounted for the severity of the punishment which Gaius decided to impose on Palestine."

40

P.BILDE, Josefus, 69f, zeigt, daß die Reaktion des Gaius keineswegs die Reaktion eines unzurechnungsfähigen Despots war, sondern ihre Ursache eine "rationale römische Deutung der jüdischen Handlung (sc. der Zerstörung des Altars in Jamnia) als Bruch der politischen Loyalität gegenüber Rom und der Voraussetzung für die traditionelle römische Toleranzpolitik gegenüber dem jüdischen Volk" war (S.70). 41

155

2. Der Befehl des Gaius Caligula Nach Philo und Josephus bell 2,184ff geht der Befehl an den schon in Syrien (seit 39 n.Chr.) amtierenden Legaten Petronius. Nach ant 18,261 wird Petronius dagegen mit dem Befehl zur Tempelentweihung von Rom nach Syrien gesandt.42 Seine Wende vom Befehlsträger zum Befehlsverweigerer erscheint dadurch um so wunderbarer. Josephus hat den Bericht in den antiquitates in diese Richtung stilisiert.43 Im Grunde setzt er auch in ihm voraus, daß Petronius schon in Syrien war. Bei der Rücknahme des Befehls schreibt nämlich Gaius an ihn, er solle das Heer auflösen und sich den Dingen zuwenden, zu denen er ihn "zuerst" geschickt habe (ant 18,301). Petronius hatte also "zuerst" einen anderen Auftrag in Syrien, ehe er den Befehl zur Tempelentweihung erhielt. Ein zweiter Unterschied betrifft die Zahl der Legionen. Nach bell 2,186 zog Petronius mit drei Legionen nach Palästina. In ant 18,262 wird das korrigiert. Hier zieht er nur mit zwei Legionen nach Süden. Das stimmt mit Philo überein, der von der Hälfte der (aus vier Legionen bestehenden) Euphratarmee spricht (legGai 207). Dieses Aufgebot von Legionen ist erstaunlich. Als Cestius Gallus 66 n.Chr. zur Eindämmung des beginnenden jüdischen Aufstands nach Judäa zog, nahm er nur eine Legion mit. Die Größe der Armee im Jahre 39/40 n.Chr. zeigt: Man rechnete mit einem großen Krieg. Josephus schreibt von "Kriegsgerüchten" (bell 2,187). Nach Tacitus gab es tatsächlich einen bewaffneten Aufstand (hist V,9,2). Die jüdischen Autoren betonen dagegen den "pazifistischen Charakter" des jüdischen Widerstands. Schreibt Tacitus unter dem Eindruck des Jüdischen Kriegs? Oder gibt er die Einschätzung der Lage wieder, von der die Römer bei ihren Aktionen ausgegangen sind? Immerhin betont Philo, Herennius Capito habe dem Gaius "den Tatbestand maßlos übertrieben" mitgeteilt (legGai 202). Bestand die Übertreibung darin, daß Capito in der Zerstörung des Kaiseraltars das Zeichen zum Krieg sah - ja eine erste Kriegshandlung? Es wäre durchaus verständlich.44 42

P.BILDE, Josefus, 71f, meint, Petronius sei tatsächlich mit dem Auftrag zur Tempelentweihung aus Rom in Syrien angekommen und sei mit diesem Auftrag am Anfang einverstanden gewesen. Die grundsätzliche Bevorzugung des Josephusberichts vor Philo wirkt an diesem Punkt wenig überzeugend. P.BILDE übersieht ant 18,301 (s.o.). 43

In ant 18,277 distanziert sich Petronius viel deutlicher vom Befehl des Gaius als in bell 2,201: Er spricht vom "Wahnsinn des Gaius" 44

Auch im Jüdischen Krieg war die Einstellung der Opfer für den Kaiser das Zeichen zum Aufstand (bell 2,415). Vor allem aber war im Makkabäeraufstand die Zerstörung eines heidnischen Altars in Modein Beginn der Erhebung (l.Makk 2,25). Auch Philo rechnet übrigens mit Krieg. Er läßt Petronius in legGai 209-217 über die drohende Kriegsgefahr nachdenken. Tacitus könnte mit seinem Urteil, daß der Krieg schon im

156

3. Die ersten Verhandlungen in Phönikien Der entscheidende Unterschied zwischen Philo und Josephus liegt darin, daß Philo nur von Verhandlungen in Pönikien weiß, nichts aber von darauf folgenden Verhandlungen in Tiberias. Während die Statue in Sidon angefertigt wird (legGai 222), ruft Petronius die geistlichen und weltlichen Führer der Juden zusammen und teilt ihnen den Befehl des Gaius mit.45 Erst danach kommt es zu Massendemonstrationen gegen den Plan der Römer in der Ebene Phönikiens (legGai 225f). Ergebnis dieser Verhandlungen ist ein hinhaltender Brief des Petronius an Gaius. In ihm macht der syrische Legat geltend, das Volk könne aus Protest die Felder verwüsten und das Getreide anzünden (legGai 249). Wir befinden uns demnach kurz vor der Erntezeit (etwa im Mai 40 n.Chr.). Daraus, daß Petronius auch die Obsternte gefährdet sieht, folgt nicht, daß Philo an den Herbst denkt: Auch im Frühjahr kann man durch Fällen der Bäume oder Brände die Obsternte zunichte machen.46 Der Kaiser ist über diesen Brief des Petronius sehr erzürnt, schreibt aber einen verbindlichen Brief, der die Ausführung des Befehls verlangte (legGai 259f). Philo fügt aber hinzu, Gaius habe seinen Zorn "bis zu einem günstigen Augenblick" verborgen. Weiß er etwas von einem zweiten Schreiben des Gaius, in dem dieser den Petronius zum Selbstmord verurteilt? Daß Philo davon nicht erzählt, wäre verständlich: Sein Bericht bricht mitten im Sommer 40 n.Chr. ab. Die angekündigte Fortsetzung ist nicht erhalten. Während bei Philo dadurch das ganze Gewicht auf den ersten Verhandlungen in Phönikien liegt, verschiebt sich der Akzent bei Josephus auf die zweiten Verhandlungen in Tiberias. Von einem ersten hinhaltenden Brief nach Protesten der Juden Gange war (indirekt) vom Bericht des Herennius Capito abhängig sein, der ja nach legGai 202 "übertrieben" gewesen sein soll. 45

Josephus weiß nichts von diesen ersten Verhandlungen mit der jüdischen Aristokratie. Bei ihm folgen die (entscheidenden) Verhandlungen mit ihr erst nach Demonstrationen des Volkes. Sie führen zu einem ersten Teilerfolg (ant 18,273ff). Josephus hebt so die Bedeutung der Aristokratie für alle jüdischen Fragen hervor, d.h. die Bedeutung seiner eigenen Schicht. Bei Philo fallen die Entscheidungen dagegen in Rom, wo er selbst 39/40 n.Chr. war. Umstritten ist, ob Philo die ersten Verhandlungen in Antiochien oder in Phönikien lokalisiert (vgl. E.M.SMALLWOOD, Legatio, 273). Philo erzählt zunächst, daß Petronius die Künstler Phönikiens zusammengerufen hätte, um ihnen Material für die Statue zu geben. Hier befindet er sich wahrscheinlich in Phönikien selbst. Wenn er danach die jüdische Aristokratie zu sich bestellt, müßte er am selben Ort sein (legGai 222). Auch in legGai 225 ist er in Phönikien, ohne daß ein Ortswechsel erzählt wird.

46

P.BILDE, Josefus, 114, sieht dagegen in legGai 249 einen unüberwindlichen Widerspruch. Nach spec, leg IV,202f fallen Getreide- und Obsternte nicht zusammen. Bilde verlegt die Verhandlungen in die Zeit der Obsternte.

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weiß er nichts, wohl aber von einem Brief aus Phönikien im Winter 39/40 oder Frühjahr 40, in dem Petronius über den Stand der Vorbereitungen berichtet und auf den Gaius wohlwollend antwortet (ant 18,262). Beide kennen also zwei Briefe des Petronius an Gaius - und zwei Antworten!

4. Die zweiten Verhandlungen in Tiberias Nur Josephus weiß von zweiten Verhandlungen in Tiberias. Während bei ihm die jüdische Aristokratie bei den Protesten in Phönikien (im Unterschied zu Philo) gar nicht erwähnt wird, tritt sie nun aktiv auf. Angehörige des herodäischen Königshauses - d.h. die Regierung in Tiberias - beteiligen sich an den Verhandlungen. Die Proteste des Volkes gehen weiter. Es ist Saatzeit. Das Volk vernachlässigt 40 bzw. 50 Tage lang die landwirtschaftliche Arbeit. 47 Daraus können wir schließen, daß wir uns im Spätjahr 40 befinden, zur Zeit der Wintersaat, die kurz vor der Regenzeit im Oktober und November vorgenommen wurde. Wenn man die Berichte des Philo und des Josephus kombiniert, so ergibt sich als wahrscheinlichste Deutung, daß an zwei Orten und zu zwei Zeiten verhandelt wurde: zunächst im Mai in Phönikien, dann im Oktober in Tiberias. Mindestens ein halbes Jahr hätte über dem Land der Schatten des drohenden Unheils gelegen. Die Ereignisse hätten sich über mehr als ein Jahr erstreckt: 39/40 wäre der Jamniakonflikt gewesen. Noch im Winter 39/40 brach Petronius nach Phönikien ins Winterquartier auf, gewann dort Zeit mit der Herstellung der Statue. Mai 40 wären die Demonstrationen in Phönikien zu datieren, Oktober 40 die Verhandlungen in Tiberias. Manche halten jedoch eine so lange Untätigkeit des römischen Legaten für unwahrscheinlich und legen alle Verhandlungen entweder ins Frühjahr oder Spätjahr 40.48 Nach Josephus führen auf jeden Fall erst die Verhandlungen in Tiberias 47

N.HYLDAHL, Josefus som historieskriver, 63f, weist darauf hin, daß 40/41 Sabbatjahr war, in dem theoretisch die landwirtschaftliche Arbeit eingestellt wurde. Nun ist unklar, wie weit das Sabbatjahr wirklich praktiziert wurde. Sicher aber ist: Falls Sabbatjahr war, hätten diejenigen, die durch Verweigerung der landwirtschaftlichen Arbeit Druck auf die Römer ausüben wollten, ein gutes Argument: Gott selbst wollte in diesem Jahr keine Saat. 48

Die hier zugrundegelegte "Langzeitchronologie" entspricht E.SCHÜRER, History I, 397 Anm. 180. Zu einer Kurzzeitchronologie gelangt man, wenn man die beiden Verhandlungen (und Briefe des Petronius an Gaius) identifiziert. Man kann sie dann beide entweder ins Frühjahr (mit Philo) oder in den Herbst (mit Josephus) legen. Im ersten Falle könnten die Ereignisse mit dem Jamniakonflikt im Winter 39/40 begonnen haben. So E.M.SMALLWOOD: The Chronology of Gaius' Attempt to Desecrate the Temple, Latomus 16 (1957) 3-17; zusammenfassend dies., The Jews, 174-180, bes. Anm. 114/115. Legt man die Verhandlungen in den Herbst, so muß man die Ereignisse noch

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zu dem spektakulären Schritt des Petronius, um Rücknahme des Befehls zu bitten. Diesen Brief beantwortet Gaius mit dem Befehl zum Selbstmord.

5. Die Intervention des Königs Agrippa in Rom Der Intervention des Agrippa I. in Rom kommt nach den beiden ausführlichen Berichten entscheidende Bedeutung zu. Die Darstellungen weichen im einzelnen jedoch stark voneinander ab. Nach Philo kommt Agrippa nichtsahnend nach Rom, nachdem Gaius auf das erste, hinhaltende Schreiben des Petronius geantwortet hat. Er erfährt von Gaius selbst die Schreckensnachricht, fällt in Ohnmacht und muß nach Hause getragen werden (legGai 261ff). Unglaubwürdig ist, daß Agrippa erst durch Gaius über die drohende Tempelentweihung informiert wird. Die jüdische Gesandtschaft aus Alexandrien war darüber im Bilde. Jeder Jude in Rom wird gewußt haben, daß sich Unheil über dem Tempel zusammenbraut. Sollte Agrippa I. mit Gaius gesprochen haben, ohne vorher Kontakt mit Juden in Rom gehabt zu haben? Philo braucht die dramatische Szene, um das Ungeheuerliche der drohenden Tempelentweihung zu illustrieren: Sie ist für Juden schlechthin unerträglich. Agrippa bricht physisch zusammen. Er wendet sich noch vom Krankenlager in einer langen Petition an Gaius und bittet ihn, seinen Befehl an Petronius zurückzunehmen. Dieser Brief wird die Argumente enthalten, die damals zusammengetragen wurden, um Gaius umzustimmen. Es ist von sekundärer Wichtigkeit, ob er tatsächlich geschrieben wurde oder nicht. Nach Philo war Agrippa der entscheidende Sprecher jüdischer Anliegen. Um mehr zusammendrängen: Sie finden dann alle im Jahre 40/41 statt. So J.P. v. D.BALSDON: Notes Concerning the Principate of Gaius, JRS 27 (1934) 13-24, bes. 1924, und P.BILDE, Josefus, 106-117. Ein Hauptargument für eine Kurzzeitchronologie ist ant 18,269: Danach "eilt" (ήπείγετο) Petronius von den ersten Verhandlungen in Phönikien nach Tiberias. Nach der Langzeitchronologie müßten aber zwischen beiden Verhandlungen einige Monate liegen. Sollte Petronius so lange untätig gewesen sein? Das "Eilen" wird m.E. überbewertet: 1. Nach ant 18,262 "eilt" (ήπείγετο) der von Rom geschickte Legat Petronius, in Syrien die Befehle des Gaius auszuführen. Derselbe Bericht erzählt aber dann, daß er zunächst einmal mit seinen Legionen das Winterquartier bezieht und den Krieg auf das Frühjahr verschiebt. Die "Eile" bezieht sich hier auf einen Zeitraum von mehreren Monaten. Philo wird zutreffend berichten, wenn er Petronius eine bewußte Verzögerungstaktik unterstellt. 2. Im parallelen Bericht bell 2,193 ist noch nichts von "Eile" zu lesen. Hier kommt Petronius von Ptolemais nach Galiläa (προελθών). In den antiquitates merkt man jedoch die implizite Überzeugung, daß sich alles im Laufe eines Jahreswechsels zugetragen habe. Mit dieser Vorstellung im Hintergrund muß Josephus die Ereignisse sehr zusammendrängen und den Legaten "eilen" lassen.

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so erstaunlicher ist, daß Josephus ihn in seinem älteren Bericht überhaupt nicht erwähnt. In bell 2,184ff hören wir nichts von einer Aktivität des herodäischen Königshauses - weder in Palästina noch in Rom. Petronius ist hier die beherrschende Gestalt. Ganz anders ist das in den antiquitates. Danach veranstaltet Agrippa ein glänzendes Gastmahl, erhält einen Wunsch freigestellt und bittet um Bewahrung des Tempels als jüdisches Heiligtum (ant 18,289ff). Etwa gleichzeitig wird die herodäische Königsfamilie in Tiberias aktiv und gewinnt Petronius für ihre Argumente (ant 18,273ff). Als dessen Brief mit diplomatisch formulierter "Befehlsverweigerung" in Rom ankommt (ant 18,302ff), hat Agrippa Gaius schon umgestimmt, d.h. Agrippa und den Herodäern kommt das entscheidende Verdienst bei der Rettung des Tempels zu. Diese Verschiebung zugunsten Agrippas (die nach Philo einen historischen Kern hat), könnte auf Kontakte des Josephus mit der herodäischen Familie in Rom zurückgehen, die ihre Verdienste um den Tempel gewiß gebührend hervorgehoben hat - und auf deren Wohlwollen Josephus Wert gelegt haben wird.

6. Der Ausgang des Konflikts Das Ende des Konflikts kommt mit der Ermordung des Gaius am 24.1.41. Nach Josephus soll der Bote mit der Todesnachricht den anderen Boten, der dem Petronius das Todesurteil brachte, überholt haben. Das könnte ein novellistisches Motiv sein. Richtig ist, daß Petronius in Lebensgefahr schwebte. Vor seinem Tod aber hatte Gaius seine Befehle schon zurückgenommen, freilich nur halbherzig, so daß die Angst vor einer Wiederholung der Ereignisse lebendig blieb. Das geht aus Tacitus ann 12, 54,1, hervor. Der Text hat leider eine Lücke an der entscheidenden Stelle, die aber nach hist V,9,2 ergänzt werden kann.49 Das Ergänzte steht in Klammern: "Doch sein Bruder, mit Beinamen Felix, zeigte nicht die gleiche Bescheidenheit; er war schon seit langem über Judäa gesetzt und glaubte, er könne alle Übeltaten ungestraft begehen, da ihm eine so einflußreiche Stellung Rückhalt sei. Allerdings hatten die Juden den Anschein erweckt, als solle es zu einer Empörung kommen: Es war nämlich ein Aufstand ausgebrochen, nachdem (sie von C.Caesar den Befehl erhalten hatten, sein Bild in ihrem Tempel aufzustellen; und obwohl) man auf die Kunde von dessen Ermordung dem nicht Folge geleistet hatte, blieb die Besorgnis, ein anderer Kaiser könne dieselbe Weisung erteilen." (ann 12,54,1)

Aus dem Text geht hervor, daß zur Zeit des Procurators Felix (ca. 52-60 49

Vgl. zu dieser Konjektur E.KOESTERMANN: Cornelius Tacitus Annalen 3,11-13, Heidelberg 1967, 200f.

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n.Chr.) noch immer unter Juden die Furcht lebendig war, der Tempel könne entweiht werden. Der allgemeine Ausdruck "quis principum" irgendeiner der Kaiser könner das Vorhaben des Gaius wieder aufgreifen - bezieht sich auf mehrere Kaiser, zumindest auf Claudius und Nero und wahrscheinlich auf weitere Nachfolger des Gaius. Die Berichte des Josephus und Philo bestätigen in verschiedener Weise, daß diese Befürchtungen berechtigt waren. Nach Josephus hatte Gaius seinen Befehl nur Agrippa zuliebe zurückgenommen, nicht aus grundsätzlichen Erwägungen heraus, ja, er hatte angeordnet, die Statue im Tempel stehen zu lassen, falls sie sich schon dort befinden sollte (ant 18,301). Nach Philo enthielt die Rücknahme des Befehls ausdrücklich die Anordnung, daß der Kaiserkult außerhalb Jerusalems zu dulden sei - worin Philo mit Recht den Keim zu Aufständen und Bürgerkriegen sah (legGai 333335). Außerdem ließ Gaius in Rom eine neue Kolossalstatue anfertigen, die er selbst auf einer Reise in den Orient in den Tempel bringen wollte (legGai 337f). Der Konflikt nahm somit ein doppeltes Ende: durch eine zweideutige Rücknahme des Befehls durch Gaius und durch seine Ermordung. Die Gestalt des Petronius verdient Beachtung. Als Befehlshaber der syrischen Armee war er einer der mächtigsten Amtsinhaber des Römischen Reichs. Sein cursus honorum umfaßte das Konsulat (im Jahre 19 n.Chr.) und ein sechsjähriges Prokonsulat in der Provinz Asia (ca. 29-35 n.Chr.). Sollte ein Mitglied der imperialen Machtelite wirklich aus innerer Überzeugung zivilen Ungehorsam begangen haben? Gaius kann sich das nicht vorstellen. Für ihn ist Petronius von Juden bestochen (ant 18,304). Nach Philo legGai 232 bieten die demonstrierenden Juden in der Tat ihren ganzen Besitz an, um die Tempelentweihung abzuwenden. Das kann man als ein Bestechungsangebot verstehen. 50 Für die jüdischen Autoren ist er dagegen fast ein Gottesfürchtiger: "Er besaß wahrscheinlich einen Schimmer von der jüdischen Philosophie und Frömmigkeit Gott selbst hatte ihm den Gedanken zum zivilen Ungehorsam eingegeben (legGai 245). Philo wie Josephus schildern ihn so idealisierend, daß man sich fragen muß, ob bei ihnen die Legende die Wirklichkeit überwuchert hat. 51 Aber die Legende muß einen Anhalt in der Wirklichkeit haben: Unter dem Konsulat des Petronius wurde ein humanes Gesetz zugunsten von Sklaven beschlossen. Es trug seinen Namen. 52 Zudem gibt es Ana-

50

J.P.V.D.BALSDON, Gaius, 138, hält es für möglich, daß Petronius bestochen war.

51

So besonders P.BILDE, Josefus, 73-80. Für ihn ist der Petronius des Philo ein "Tendenzprodukt".

52

Vgl. R.HANSLICK: Art. Petronius, Nr.24, PRE XIX, Sp 1199-1201. Das mit seinem Namen verbundene Gesetz, die lex lunia Petroniana (Dig. XL 1,24) sieht vor, daß bei einem Prozeß darüber, ob jemand Sklave oder frei sein sollte, bei Stimmengleichheit für die Freiheit entschieden werden sollte. Auch die lex de servis (Dig. XLVili 8,11,2),

161

logien dafür, daß kluge Provinzstatthalter einen kaiserlichen Befehl unterliefen: So hatte Gaius angeordnet, daß der berühmte Zeus des Phidias von Olympia nach Rom transportiert werden sollte. Der Prokonsul von Achaia, Memmius Regulus, machte aber geltend, die Statue würde auf dem Transport zerstört. Außerdem sprächen Omina der Götter gegen einen Transport. Auch er riskierte nach Josephus den Tod, wurde aber durch die Ermordung des Gaius gerettet (ant 19,8-10).

C. Die Caligulakrise in der Deutung der synoptischen Apokalypse Bei einer Interpretation der synoptischen Apokalypse im Kontext der Caligulakrise kann es nicht nur darum gehen, Daten der skizzierten Ereignisgeschichte in den Texten wiederzufinden. Ebenso wichtig ist es, ihre Deutungen historisch verständlich zu machen. Denn Ereignisse wirken nicht direkt auf menschliches Handeln, sondern so, wie sie von Menschen gedeutet und erlebt werden. Die dabei verwandten Deutungs- und Erlebnismuster sind sozial bedingt. Sie gehören zur gemeinsamen Tradition. Dieselben Ereignisse werden daher in jeder Gruppe perspektivisch anders wahrgenommen. Auch in Mk 13 schauen wir in die geistige Welt einer kleinen Gruppe im Judentum, bei der Einschränkungen der Wahrnehmung von vornherein wahrscheinlich sind. Angeredet sind einfache Menschen, die ihre Äcker selbst bestellen (Mk 13,15f). Sie nehmen in diesem Text Ereignisse nicht in ihrem politischen Kontext wahr, sondern als Zeichen des ersehnten Weltendes. Es wäre unrealistisch, bei ihnen jenes umfassende Bewußtsein politischer Zusammenhänge und Hintergründe vorauszusetzen, das uns bei den aus der Oberschicht stammenden Schriftstellern Philo und Josephus begegnet. Und doch ist unverkennbar, daß die von Philo und Josephus dargestellten Ereignisse in Mk 13 ihre Spuren hinterlassen haben. Sie sind noch klar erkennbar, auch dort, wo sie möglicherweise bewußt "verundeutlicht" wurden. Es kann sein, daß die Verfasser und Adressaten mehr wußten, als sie zum Ausdruck brachten. Gab es doch Gründe genug, sich in einer angespannten politischen Situation vorsichtig auszudrücken!53 nach der Sklaven ohne richterliches Urteil nicht zum Tierkampf bestimmt werden durften, geht wahrscheinlich auf ihn zurück. M

E.HAENCHEN, Weg Jesu, 443ff, meint, daß der Mk-Evangelist aus politischen Gründen eine bewußt verschlüsselte Sprache wählt. Er erwartet eine allgemeine Christenverfolgung: Wenn die Christen (= "die in Judäa") zum Kaiserkult (= "dem Greuel der Verwüstung") gezwungen werden, sollen sie aus ihren Orten fliehen. Die vorausgesetzte historische Situation ist aber ca. 70 n.Chr. unwahrscheinlich: Der Kaiserkult hatte nur eine begrenzte Funktion beim Vorgehen gegen Christen als Loyalitätstest im Ver-

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Auf der Suche nach diesen Spuren der Ereignisse gehen wir den Text im folgenden Stück für Stück durch. Entscheidend wird sein, ob wir zu Mk 13,7-8. 14-26 Entsprechungen in der Situation der späten 30er Jahre finden. Denn diese Stücke werden fast allgemein der Tradition zugerechnet. Aber auch zu den übrigen Textteilen werden wir nach Entsprechungen suchen, denn möglicherweise gehörten auch sie zur Vorlage.

1. Der Anfang der Wehen (Mk 13,6-8) In der Rede Jesu werden an erster Stelle Irrlehrer genannt, die im Namen Jesu kommen und deren Rede durch έγώ είμ-L gekennzeichnet ist (V.6). Dabei könnte es sich um urchristliche Propheten handeln. Sie könnten IchWorte Jesu im Glauben sprechen, daß der erhöhte Herr durch ihren Mund spricht. Derartige Propheten werden im 2. Jahrhundert von Kelsus karikiert. Sie sagen: "Ich bin Gott oder der Sohn Gottes oder der göttliche Geist. Ich bin gekommen, weil der Untergang der Welt schon im Anzug ist (Or.c.Cels.VII,9). Im selben Stil sprechen montanistische Propheten: "Ich bin der Vater und ich bin der Sohn und ich der Paraklet."54 Wahrscheinlich sind von Anfang der Christentumsgeschichte Propheten dieser Art aufgetreten. Sie könnten die im folgenden genannten Kriege und Katastrophen als beginnende Endzeit gedeutet haben.55 Weniger wahrscheinlich sind außerchristliche "messianische Gestalten". Auch sie gab es in unserer Zeit. Im Jahr 36 führte ein samaritanischer Prophet eine Menschenmenge auf den Garizim, um die verschollenen Tempelgeräte aufzufinden (ant 18,85ff). Etwa zur gleichen Zeit könnte Simon Magus in Samarien fahren, nicht aber als Anlaß und Gegenstand des Verfahrens. Die Verfolgungen waren zunächst lokal begrenzt. Die Annahme einer Verschlüsselung aus politischen Gründen ist jedoch plausibel. 54 Die Deutung der bei Orígenes c. Cels.VII,9 genannten Gestalten auf christliche Propheten ist umstritten. Für diese Deutung spricht sich H.LIETZMANN: An die Korinther I.II, HNT 9, Tübingen 1949, 68f, aus, gegen sie H.WEINEL: Die Wirkungen des Geistes und der Geister, Freiburg 1899, 90f. Für Christen sprechen m.E. die Nähe zu den montanistischen Prophetien (vgl. die Fragmente in E.HENNECKE/ W.SCHNEEMELCHER, Neutestamentliche Apokryphen II, 486f), die trinitarische Formel, die Hinweise auf Glossolalie und die vorausgesetzte Eschatologie. - Die Ichbin-Worte des JohEv könnten übrigens auf verwandte geistinspirierte Sprecher im Urchristentum hinweisen. 55

Eine ganz andere Deutung gibt É.TROCMÉ: La formation de l'évangile selon Marc, EHPhR 57, Paris 1963, 164f: Mk 13,5f polemisiere gegen den Leitungskreis der Jerusalemer Urgemeinde um Jakobus, den Herrenbruder, der sich die Rolle des davidischen Messias angemaßt habe.

163 gewirkt haben, aber das ist nicht sicher: Justin (Ap 1,26) datiert ihn in die Zeit des Kaisers Claudius (41-52 n.Chr.). 56 Die Erzählung von Philippus und Simon in Apg 8 weist jedenfalls auf frühe Berührungen zwischen ihm und Christen hin. Für die Frage nach dem Erfahrungshintergrund der in Mk 13 verarbeiteten Tradition ist V.5 nicht entscheidend. Es ist möglich, daß erst der Mk-Evangelist im Rückblick auf viele Irrlehrer und Propheten diese Einleitung formuliert hat. 57 Wichtiger ist die Identifikation der in V.7 genannten Kriege: "Wenn ihr aber von Kriegen und Kriegsgerüchten hören werdet, so erschreckt nicht; es muß so kommen, aber es ist nicht das Ende! Denn erheben wird sich Volk gegen Volk und Königreich gegen Königreich" (Mk 13,7f). Alle Merkmale, die hier vorausgesetzt werden, treffen auf den nabatäischen Krieg 36/37 zu.58 In diesem Krieg erhob sich tatsächlich "Volk gegen Volk", Juden gegen Nabatäer. Es ist kein Kampf einer "Polis" gegen die andere. Beide Völker hatten eine monarchische Verfassung: Herodes Antipas führte zwar nur den Titel eines "Tetrarchen", wurde aber im (aramäisch sprechenden) Volk "König" genannt (vgl. Mk 6,14). 59 Josephus nennt die Tetrarchie des Lysanias "βασιλεία" (vgl. bell 2,215. 247 gegen ant 18,237; 20,138). Entscheidend aber ist: der nabatäische Krieg entspricht auch weiteren Bedingungen. Aufgrund von Mk 13,14 können wir die apokalyptische Prophetie in Judäa lokalisieren. Der nabatäische Krieg fand zwischen dem Fürsten von Galiläa und Peräa und den Nabatäern statt. Die Präfektur Judäa und Samarien wurde von ihm verschont. Die in Jerusalem oder Judäa lebenden hatten von diesem Krieg nur "gehört" (Mk 13,7). Gleichzeitig war er geeignet, bei ihnen existenzielle Betroffenheit auszulösen: Das Volk hatte die Niederlage des AnJustin datiert das Wirken des Simon Magus in Rom in die Zeit des Claudius, setzt aber ein vorheriges Wirken in Samarien voraus. Denn nach ihm hat Simon Magus vor allem in Samarien viele Anhänger. Es ist daher möglich, daß der "historische Simon" Ende der 30er Jahre in Samarien aufgetreten ist.

56

In der Zeit von ca. 40-70 sind viele Propheten und "Irrlehrer" in Palästina aufgetreten: Theudas ca. 4 4 / 4 8 n.Chr. (ant 20,97-99; Apg 5,36), unter dem Procurator Felix (ca. 52-60 n.Chr.) ein anonymer Prophet (ant 20,167f; bell 2,259) und ein Ägypter (ant 20, 168-172; bell 2,261-263; vgl. Apg 21,38), unter Festus ein Prophet (60-62 n.Chr.). Dazu P . W . B A R N E T T : The Jewish Sign Prophets A.D. 40-70. Their Intention and Origin, NTS 27 (1981) 679-697.

57

co

Eine Beziehung von Mk 13,7 auf den nabatäischen Krieg wurde zum ersten Mal von A.PIGANIOL: Observations sur la date de l'apokalypse synoptique, R H P h R 4 (1924) 245-249, vorgeschlagen, ohne daß diese Deutung eingehend begründet wird. Der Nabatäerfürst Aretas IV. wird von Josephus "König" genannt (ant 16,298; 18,109). Aretas III. (84-72 v.Chr.) ließ in Damaskus Münzen prägen mit der Legende "Basileos Aretou Philhellenos" (vgl. R.WENNING, Nabatäer, 25).

59

164

tipas als Strafe für die Hinrichtung des Täufers gedeutet (ant 18,116. 119). Für Christen und die Anhänger des Täufers sagte diese Niederlage darüber hinaus: Wenn Gott die Hinrichtung des Täufers sichtbar bestraft hatte, dann hatte er die Botschaft des Täufers bestätigt. Im Zentrum dieser Botschaft stand die Predigt vom nahen Gericht. Auch sie mußte wahr sein. Gott war dabei zu verwirklichen, was er angekündigt hatte: Das Ende mußte nahe bevorstehen. Wenn gleichzeitig in Samarien ein Prophet auftrat, der die Hoffnung auf eine neue Heilszeit belebte, so bestätigt sich der Eindruck: Die Zeit war voll von prophetischen Erwartungen. Vielleicht findet eine unscheinbare Kleinigkeit im Text eine Erklärung durch die damalige Situation: In Mk 13,7 werden "Kriege und Kriegsgerüchte" - in dieser Reihenfolge angekündigt, obwohl doch Kriegsgerüchte normalerweise den Kriegen vorausgehen, es sei denn άκούσητε.,.άκοάς ist figura etymologica, die nichts anderes sagt als: Sie hörten von Kriegen. Tatsächlich nahmen die Ereignisse folgenden Verlauf: Angesichts der Niederlage ihres Klientelfürsten Antipas konnten die Römer nicht untätig bleiben. Der syrische Legat Vitellius erhielt daher den Auftrag, mit zwei Legionen einzugreifen. Er zog von Antiochien bis nach Ptolemais, ließ dort seine Truppen zurück und reiste - wohl zur Vorbereitung des Feldzugs - nach Jerusalem. Dort erhielt er die Nachricht vom Tod des Tiberius (ant 18,124) und brach daraufhin das Unternehmen ab. Im Jahr 36/37 gab es also zunächst einen wirklichen Krieg zwischen Antipas und Aretas, dann drohte ein zweiter Krieg unter Beteiligung der Römer von noch größerem Ausmaß. Kriegsgerüchte folgten Kriegen! Nun könnte man einwenden, Mk 13,7 spreche von Kriegen im Plural! Aber auch hier entspricht die Situation dem Text: Gleichzeitig mit dem nabatäischen Krieg gab es zwischen parthischen Thronprätendenten Kriege, bei denen die Römer im Hintergrund standen (vgl. Tac. ann 6, 31-37). In Armenien wurde damals ein römischer Klientelkönig eingesetzt. Die synoptische Apokalypse berichtet weiter von "regionalen Erdbeben" und von "Hungersnöten": "Denn erheben wird sich Volk gegen Volk und Königreich gegen Königreich. Es werden Erdbeben an (einigen) Orten sein, es wird Hungersnöte geben!" (Mk 13,8). Lassen sich auch diese Ereignisse in der damaligen Situation nachweisen? Vitellius verbrachte das Passafest des Jahres 37 in Jerusalem. Der 15. Nisan fiel in diesem Jahr auf den 20. April.60 Vier Tage später erhielt er die Nachricht vom Tod des Kaisers Tiberius (gest. am 15.3.37). Zu eben dieser Zeit mußte in Jerusalem auch die Nachricht von einem Erdbeben eintreffen, das Antiochien und Teile Syriens am 9. April 37 60

Zum Datum vgl. U.HOLZMEISTER, Pilatus, 229.

165

erschüttert hatte und von dem uns der Antiochener Malalas in seiner Weltchronik (243,10 ed. Dindorf) berichtet.61 Der Abbruch des Feldzugs gegen die Nabatäer lag in dieser Situation nahe: Der Auftraggeber war gestorben. Die Parther hätten die günstige Situation ausnutzen können: Die Hälfte der Truppen war im Süden der Provinz gebunden, die Hauptstadt war durch ein Erdbeben getroffen. Es ist verständlich, daß Vitellius sobald wie möglich nach Antiochien zurückkehrte. Von den drei apokalyptischen Schrecken Kriege, Erdbeben und Hungersnöte - lassen sich nur die Hungersnöte nicht direkt nachweisen. Aber es gibt Indizien für Versorgungsschwierigkeiten. Vitellius war bei der Vorbereitung seines Feldzugs gegen die Nabatäer darauf angewiesen, im Hinterland seiner Operationen Ruhe zu haben. Die jüdische Aristokratie nutzte diese für sie günstige Lage dazu, einige Anliegen durchzusetzen, u.a. die Aufhebung aller Steuern auf landwirtschaftlichen Produkten (ant 18,90). Anlaß dazu könnten akute Probleme bei der Lebensmittelversorgung gewesen sein. Schon Herodes I. hatte bei schlechten Ernten Steuern erlassen (ant 15,365). Darüber hinaus aber sind Hungersnöte natürliche Folgen des Krieges: Palästina mußte sich darauf einstellen, zwei Legionen zu ernähren. Wir können ziemlich sicher sein, daß es Angst vor Versorgungsschwierigkeiten gab. Die in der synoptischen Apokalypse als "Anfang der Wehen" aufgeführten Ereignisse: Kriege, Erdbeben und Hungersnöte lassen sich demnach auf die Ereignisse im Jahre 36/37 beziehen.62 In dieser Zeit konnte in eschatolo61

Vgl. SCHENK v. STAUFFENBERG: Römische Kaisergeschichte bei Malalas X, 243,10. Als Alternative wird in der Exegese mit Recht eine Beziehung der Kriege, Erdbeben und Hungersnöte auf die große Krisenzeit 66-70 diskutiert, am überzeugendsten bei M.HENGEL, Entstehungszeit, 34ff. Jedoch passen die in Mk 13,7f vorliegenden Modifikationen apokalyptischer Topoi m.E. besser zu den Jahren 36/37 als zu den Jahren 6670: 1. Die Kriege der Jahre 66ff charakterisiert Tacitus (hist 1,2) so: "Vier Fürsten vom Mordstahl getroffen, drei Kriege im Land, noch mehr auswärts und gar nicht selten ihre Verschmelzung". Der für die Zeit 68/69 charakteristische Konflikt verschiedener Thronanwärter und "Fürsten" findet in Mk 13,7f kein Echo, obwohl Katastrophen unter den "Mächtigen" durchaus zum Repertoire apokalyptischer Schrecken gehören (vgl. 4Esr 9,3; syrBar 27,3; 70,7; ApkAbr 30,5). 2. Die Erdbeben werden in Mk 13,7f mit den Kriegen synchronisiert. Die für die spätere Zeit bezeugten größeren Erdbeben liegen jedoch vor oder nach dem Jüdischen Krieg: 60 n.Chr. in Laodikeia in Phrygien (Tac. ann. 14,27) und Achaia und Mazedonien (Sen. nat. quaest. 7,28,2); 62/3 werden Pompeji und Herculaneum zum ersten Mal durch ein Erdbeben verwüstet (Tac. ann. 15,22,2). Für die Zeit nach der Tempelzerstörung kann man ein Erdbeben auf Salamis und Pophos erwähnen (Or. Syb 4,128f) wahrscheinlich aus dem Jahr 77 n.Chr., 79 n.Chr war der große Vesuvausbruch, der Pompeji zerstörte. Für 68 n.Chr. sind nur klei-

166 gisch bewegten jüdischen Kreisen (d.h. auch unter Christen) der Eindruck entstehen: Das Ende der Welt ist da! Wann kommt schon in so kurzer Zeit so viel zusammen: Kriege mit Parthern und Nabatäern, Tod eines Kaisers, Erdbeben, das sichtbare Eingreifen Gottes zugunsten eines Propheten, der das nahe Ende verkündigt hatte. Weltgeschichtlich gesehen mochte es ein ruhiges Jahr sein. Wer aber in sehnsüchtiger Erwartung auf das Weltende hin lebt, kann in kleinen Krisenphänomenen leicht den Anfang des Endes erblicken. Deswegen mahnt die synoptische Apokalypse: "Es ist noch nicht das Ende" (13,7). Sowohl der nabatäische wie der parthische Krieg wurden ja bald beendet. Die Geschichte aber ging weiter. Man hatte sich getäuscht. Mk 13,9-13 dürfte m.E. erst später in den vorliegenden Zusammenhang eingefügt worden sein. Es handelt sich um Verfolgungslogjen mit unabhängigen Überlieferungsvarianten: vgl. zu 13,9 Lk 12,llf, zu 13,11 Lk 21,15, zu 13,12 Mt 10, 34f/Lk 12,53. Diese Logien werden durch Stichwortanschluß (vgl. παραδιδόναι. in 13,9.11.12) verbunden. Mt bringt sie in der Aussendungsrede (Mt 10,17-22). Der MkEvangelist hat sie genau dort in seinen "apokalyptischen Fahrplan" eingefügt, wo seine eigene Gegenwart zu suchen ist: Diese Gegenwart ist eine Zeit der Verfolgung und der Mission (13,10). Für die Bestimmung der Entstehungssituation des MkEv ist daher dieser Abschnitt von zentraler Bedeutung und muß später noch einmal besprochen werden. Nun können wir jedoch die Möglichkeit nicht ausschließen, daß Teile von 13,9-13 zur Tradition gehören. Besonders für V.12 wird das immer wieder vermutet. Woran könnte die synoptische Apokalypse in diesem Falle gedacht haben? Vorausgesetzt sind Verfolgungen. Für die 30er Jahre sind Verfolgungen der hellenistischen Gemeinde in Jerusalem belegbar. Nach der Steinigung des Stephanus wurden sie aus der Stadt vertrieben (Apg 6,1-8,3). Paulus wird in der Apg mit dieser Verfolgung in Zusammenhang gebracht. Aber er hat wohl unabhängig davon Christen verfolgt: Die Gemeinden in Judäa kannten ihn nicht (Gal l,22f; vgl.Gal 1,13; Phil 3,6; IKor 15,9). Dafür wird er mit der Gemeinde in Damaskus verbunden (Apg 9,Iff). Dort wird er selbst ca. 36/37 n.Chr. zum Verfolgten und muß überstürzt fliehen (2Kor ll,32f; Apg 9,24f). In 13,12 wird mit diesen Verfolgungen der traditionelle Topos vom Zerfall der Familien verbunden: Christen wurden von ihren Familiengliedern denunziert. Interessant ist, daß eine ganz andere Variante dieses Topos 63 in dem Bericht Philos über das nere Erdbeben belegt: ein Erdbeben im Maruccinerland an der Ostküste Italiens (Plin. nat. hist 2,109), ferner zwei Prodigien: ein Erdbeben bei der Flucht Neros kurz vor seinem Tod (DioCassius 63,28,1) und beim Einzug Galbas in Rom (Sueton, Galba 18,1). Vgl. A.HERMANN: Art. Erdbeben, RAC 5 (1962) Sp. 1104. Vor allem gehören Erdbeben nicht zum allgemeinen Katastrophenbewußtsein, sonst hätte sie Tacitus in der Einleitung seiner Historien (hist 1,2) in die beeindruckende Anhäufung von Krisenphänomenen eingeordnet. 3. Was die Hungersnöte angeht, so ist die Belagerung Jerusalems mit entsetzlichem Hunger unter den Belagerten verbunden (bell 6,193ff). 63 Der Topos ist traditionell; vgl. Mt 7,6; ÄthHen 56,7; 90,6f; 100,2; GrEsr 3,12f. Er begegnet in mannigfachen Varianten: auf Freunde wird er in 4Esr 5,9; 6,24 bezogen, auf das Verhältnis der Generationen in Jub 23,19, allgemein auf den Haß von Menschen

167 Krisenjahr 40 begegnet. Die vor Petronius demonstrierende Menge versichert ihre Bereitschaft, sich notfalls gegenseitig umzubringen: "Wir werden als gute Priester mit den Opfern beginnen, als Frauentöter werden wir dem Tempel unsere Frauen bringen, als Geschwistertöter Brüder und Schwestern, als Kindermörder Söhne und Töchter - unschuldige Kinder" (legGai 234). In solch einer Atmosphäre könnte der Topos vom Familienzerfall neu aktualisiert worden sein, auch wenn er etwas anderes meint als einen von Familiengliedern aneinander vollzogenen kollektiven Selbstmord. Jedoch sei noch einmal betont: Es ist zwar nicht unmöglich, in Mk 13,9-13 bzw. 13,12 Erfahrungen der Jahre 30-40 verarbeitet zu finden. Aber es könnte sehr wohl sein, daß der Mk-Evangelist diesen Abschnitt mit Blick auf seine Gegenwart in die Vorlage eingefügt hat.

2. Der "Greuel der Verwüstung" Die rätselhafte Wendung "Greuel der Verwüstung" greift ein Schlagwort aus der Religionsverfolgung unter Antiochus IV. 168/7 auf. "Am 15. Chislew des Jahres 145 erbaute (der König) ein Greuel der Verwüstung auf dem Brandopferaltar, und in den Städten Judas ringsum erbauten (die Leute des Königs heidnische) Altäre; vor den Türen der Häuser und auf den Straßen brachten sie Opfer dar." (IMakk l,54f) "Greuel der Verwüstung" ist wörtliche Übersetzung von hebr. "schiqquz m e schomem" (Dan 9,27; 11,31; 12,11), einer Verballhornung des Namens der höchsten heidnischen Himmelsgottheit, des baal schamajm oder des "Olympischen Zeus", dem der Tempel 168 geweiht wurde (vgl. 2Makk 6,2). 64 Konkret meinte "der Greuel der Verwüstung" die Umgestaltung des traditionellen Brandopferaltars vor dem Tempel zu einem heidnischen Altar, auf dem vielleicht Schweine geopfert wurden (so Jos. ant 12.253).65 Etwas diesem "Greuel der Verwüstung" Entsprechendes muß der Verfasser von Mk 13,14 im Auge haben! Aber was?

gegeneinander in syrBar 70,3. Er hat eine lange Vorgeschichte und findet sich schon im Mythos vom Pestgott Ira in Babylonien; vgl. H.GRESSMANN: Altorientalische Texte zum Alten Testament, Berlin 21928, 228. 64 Vgl. E.NESTLE: Zu Daniel, ZAW 4 (1884) 247-248, dort: "Der Greuel der Verwüstung" S.248. 65

Aus IMakk 1,54.59; 6,7 kann man erschließen, daß der "Greuel der Verwüstung" auf dem Altar stand. Nach IMakk 4,43 wurde der Altar gereinigt, indem Steine entfernt wurden. E.BICKERMANN: Der Gott der Makkabäer, Berlin 1937, 105-109, hat diesen Sachverhalt religionsgeschichtlich aufgeklärt: Die syrophönizischen Religionen verehrten Gottheiten in Form von Steinen und Altären, die oft auf einem Untersatz aufgestellt waren: "der Ganzopferaltar vor dem Tempelhaus wurde zum Podium eines Fetisch." (S.108)

168 Auf dem Hintergrund der Ereignisse des Jahres 39/40 läßt sich dieser "Greuel der Verwüstung" befriedigend erklären. Der Konflikt zwischen Gaius Caligula und den Juden mußte an den Religionskonflikt unter Antiochus IV. Epiphanes erinnern. Das gilt sowohl für den Anlaß des Konflikts - die Zerstörung eines heidnischen Altars in Jamnia -, wie dessen Zuspitzung in der drohenden Tempelentweihung. U m diese Analogien herauszuarbeiten, sei der Bericht des Philo über den Jamniakonflikt angeführt: "Die Stadt Jamnia, eine der am meisten bevölkerten Städte Judäas, bewohnt eine Mischbevölkerung, in der Mehrzahl Juden, aber auch einige Andersstämmige, die sich aus den Nachbarländern als Schädlinge dort eingenistet haben. Diese machten als Zugewanderte den in gewissem Sinne Eingeborenen Ärger und Scherereien, wobei sie ständig einen Teil der für die Juden althergebrachten Gesetze umzustoßen trachten. Von Reisenden hörten diese, welchen Ernst Gaius auf seine eigene Vergöttlichung lege und wie haßerfüllt er sich gebärde gegen alles, was jüdisch ist. Da hielten sie den Augenblick zum Angriff für gekommen und errichteten einen primitiven Altar aus dem ersten besten Materied, nämlich lehmgeformten Ziegeln, nur um etwas Boshaftes gegen ihre Mitbewohner anzustellen. Denn sie wußten, daß diese die Verletzung ihrer religiösen Bräuche nicht hinnehmen würden. Und genau so geschah es auch. Kaum hatten die Juden das bemerkt, strömten sie zusammen, empört, daß man die Weihe des heiligen Landes schänden wolle, und zerstörten den Altar." (Philo legGai 200-202) Zu wenig wurde bisher die Parallelität zu jenen Ereignissen, die den Makkabäeraufstand hervorriefen, beachtet: Auch damals wurden heidnische Altäre im jüdischen Land errichtet. Judas Makkabäus begann den Aufruhr, indem er einen dieser Altäre in Modein entsprechend dem Altargesetz in Dtn 7,5-6; 12,2-3 zerstörte (IMakk 2,15). Sein Vorbild hatten wahrscheinlich die Juden von Jamnia vor Augen, als sie den heidnischen (Kaiser)?-Altar zerstörten: Modein liegt nur ca. 35 km von Jamnia entfernt. In dieser Gegend wird die Erinnerung an den Aufstand so schnell nicht verblaßt sein. 66 Überhaupt gilt, daß die Erinnerung an die Religionsverfolgung unter Antiochos IV. lebendig war. In der Assumptio Mosis wird nach ihrem Vorbild eine neue Religionsverfolgung erwartet: 66

Durch das jährlich gefeierte Tempelweihfest (vgl. Joh 10,22; ant 12,325) wurde die Erinnerung an den Makkabäeraufstand immer wieder belebt. Nach 2Makk 10,5 fiel der Tag der Tempelweihe genau auf den Tag der Tempelentweihung durch die Heiden, also auf den 25. Kieslew, als der Greuel der Verwüstung errichtet wurde. Die Tempelweihe wird als Erinnerung an die vorherige Notzeit gefeiert: "Und acht Tage verlebten sie in Freude nach Art des Laubhüttenfestes, eingedenk dessen, wie sie vor kurzer Zeit in den Bergen und in den Höhlen, den Tieren gleich, gelebt hatten" (2Makk 10,6). Aufgrund des Tempelweihfestes wußte jeder Jude - auch ohne Schriftgelehrsamkeit - 1., was der "Greuel der Verwüstung" war und 2., daß er schon einmal Anlaß zur Flucht in die Berge gewesen war.

169 "Und es wird ... Rache und Zorn über sie kommen, wie sie nicht dagewesen sind unter ihnen von Weltbeginn an bis zu jener Zeit, in der er einen König der Erdenkönige und einen Machthaber von großer Gewalt gegen sie erwecken wird, der die, welche sich zur Beschneidung bekennen, am Kreuz aufhängt; die aber, die (die Beschneidung) verleugnen, wird er foltern und überliefern, gefesselt ins Gefängnis geführt zu werden. Und ihre Frauen werden den Göttern bei den Heiden geschenkt werden; und ihre jungen Söhne werden von Ärzten operiert werden, um ihnen die Knabenvorhaut überzuziehen. Die anderen unter ihnen aber werden mit Martern, Feuer und Schwert gestraft und gezwungen werden, öffentlich ihre Götzenbilder zu tragen, so unrein wie sie sind, gleich ihren Besitzern. Und von denen, die sie foltern, werden sie ebenso gezwungen werden, ihren verborgenen Ort zu betreten; und mit Stacheln werden sie gezwungen werden, schmählicherweise das Wort zu lästern, zuletzt nach diesem die Gesetze und was sie auf dem Altar haben." (AssMos 8,1-5)

Die Assumptio Mosis läßt sich zwischen 4 v.Chr. und 30 n.Chr. datieren: Der Tod des Herodes ist vorausgesetzt, die Regierungszeit seiner Söhne aber ist zur Abfassungszeit noch kürzer als seine 34jährige Regierungszeit (vgl. AssMos 6,6f). 67 In den Jahrzehnten vor der Caligula-Krise erwartete man also eine Religionsverfolgung nach Muster des Religionskonflikts unter Antiochus Epiphanes. Aufschlußreich ist: In diesen Erwartungen spielt ein "Greuel der Verwüstung" im Tempel keine Rolle - und das, obwohl der Tempel auch in der hier erwarteten Religionsverfolgung nicht unberührt bleiben sollte: Man erwartet, daß Juden genötigt werden sollen, das Allerheiligste zu betreten. Sie sollen Gesetz und Kult lästern! Wenn nun in späteren Texten der "Greuel der Verwüstung" wieder eine Rolle spielt wie die Synoptiker zeigen -, so liegt folgende Erklärung nahe: Konkrete Ereignisse führten dazu, daß man aus der Erinnerung an die vergangene Religionsverfolgung gerade dieses "Stichwort" neu aufgriff. Die Bezugnahme auf den "Greuel der Verwüstung" in der synoptischen Apokalypse ist dann sicher nicht nur Reproduktion eines vorgeprägten Topos, sondern Reflex von Erfahrung: nämlich der von Gaius angedrohten Entweihung des Tempels. Als Gaius Caligula von der Zerstörung des Altars in Jamnia erfuhr, ordnete er als Bestrafung die Errichtung seiner Standbilder im Jerusalemer Tempel an. Petronius zog mit zwei Legionen nach Ptolemais und ließ - um Zeit zu gewinnen - die Statue mit größter Sorgfalt in Sidon anfertigen (legGal; 222). 6 8 Gleichzeitig versuchte er, durch Verhandlungen eine militärische Auseinandersetzung zu vermeiden. In dieser Situation dürfte Mk 13,14ff formuliert

67

Vgl. E.BRANDENBURGER: Himmelfahrt Moses, JSHRZ V,2, Gütersloh 1976, 60.

Die Quellen sprechen meist von einem Standbild (legGai 222; ant 18,261). Josephus spricht aber in bell 2,185ff von "Standbildern". Vielleicht läßt er sich im bellum judaicum von der Anschauung leiten, daß das Bild des Kaisers meist neben der Göttin Roma aufgestellt wurde - so in Caesarea (bell 1,414) und an anderen Orten (Sueton Aug.52).

68

170

sein: "Wenn ihr aber den 'Greuel der Verwüstung' stehen seht, wo er nicht sein sollte - wer es liest, der merke darauf! - dann sollen die in Judäa ins Gebirge fliehen...". Folgende Argumente sprechen für diese Deutung: 1. "Greuel" (βδέλυγμα) ist oft mit götzendienerischen Praktiken verbunden. 69 Was unter dieser Chiffre angesprochen wird, ist ein Vergehen gegen Gott, auf keinen Fall aber eine Strafe Gottes! Die in Phönikien entstehende Statue war für Juden ein Greuel. War sie doch dazu bestimmt, den Kult in Jerusalem in einen Götzendienst zu verwandeln. 2. Die Wendung "Greuel der Verwüstung" ist als eine zu dekodierende Chiffre gemeint, wie der Deuteappell an den Leser zeigt. Es ist daher legitim, die Wendung als einen terminus technicus aufzufassen, der an etwas ganz Bestimmtes erinnern soll. Dafür kommt aber nur die Errichtung des Kultes für Zeus Olympios 168/7 v.Chr. in Frage. Daß die Traditionen des Makkabäeraufstands noch lebendig waren, zeigt der Jamniakonflikt. Wer über einige Schriftgelehrsamkeit verfügte, konnte aus IMakk 1,54 entnehmen, daß die Errichtung eines heidnischen Kultes im Tempel gemeint war, und aus Dan 12,11, daß solch ein "Greuel der Verwüstung" noch einmal in der Endzeit drohen werde! Aber auch unabhängig von solcher Gelehrsamkeit konnte der "Greuel der Verwüstung" zum Schlagwort eines Kreises von Frommen werden. 3. Die synoptische Apokalypse spricht vom "Greuel der Verwüstung" wie von einer Person, indem sie der Wendung das Partizip έστηκότα. anstatt das grammatisch richtige Neutrum έστηκώς hinzufügt. (Das ist so, als wolle man im Deutschen von einem "Unwesen, der dort steht, wo er nicht stehen soll" sprechen.) Die constructio ad sensum läßt hinter dem "Greuel der Verwüstung" eine Person vermuten. Die Kaiserstatue ist beides: als leblose Materie ein Neutrum (ein βδέλυγμ,α), als Darstellung des Kaisers eine Person. Zudem paßt das Partizip "stehend" inhaltlich ausgezeichnet zu einer Statue.70 4. Aufschlußreich ist schließlich das Gewicht, das der Lokalisierung der Statue beigelegt wird. Nicht ihre Existenz war das Anstößige. Jeder Jude wußte, daß es außerhalb des Heiligen Landes viele Kaiserstatuen gab. Jeder konnte in Caesarea im Augustustempel die Statue des Augustus als "Zeus Olympios" bewundern (bell 1,414). Anstößig war nicht, daß Petronius in Sidon eine Kai69 70

Vgl. W.FOERSTER: Art. βδελόσσομαι, ThW 1,598-600.

Vgl. den Befehl des Gaius Caligula in ant 18,261: ίσταν αύτοϋ ανδριάντα έν τώ ναω του θεοΰ (vgl 18,264), besonders aber die Formulierung bei der Rücknahme des Befehls: vüv οϋν εί μεν φθάνεις τον ανδριάντα έστακώς, έστάτω (ant 18,301). Hier liegt dieselbe Wendung wie in Mk 13,14 vor! Neben ίστάναι benutzen Philo und Josephus noch andere Verben für das "Aufstellen" einer Statue.

171

serstatue anfertigen ließ. Anstößig war allein ihr Bestimmungsort: Jerusalem und Judäa. Das Zeichen zur eschatologischen Flucht ist daher die Lokalisierung des "Greuels der Verwüstung" an einer Stelle, wo er nicht stehen darf. 71 Wenn man den "Greuel der Verwüstung" auf die Statue bezieht, die im Tempel aufgestellt werden sollte, dann bezieht sich alles von V.14 an Gesagte auf die (nahe) Zukunft. Die Aufforderung zur Flucht wäre echte Aufforderung, nicht vaticinium ex eventu. Es wäre daher kein Argument gegen die vorgeschlagene Datierung der synoptischen Apokalypse, daß aus dem Jahre 40 keine Flucht von Gruppen in die Berge bezeugt ist. Historisch zu belegen wäre ja nicht eine Flucht, sondern eine Fluchtbereitschaft. Das aber ist nicht schwer. Sagen doch die demonstrierenden Juden: "Wir ziehen aus unseren Städten, verlassen Haus und Hof; unsere Habe, unser Geld, unseren Schmuck und, was wir sonst noch haben, wollen wir aus freien Stücken anbieten." (legGai 232). In ant 18,274 weist die jüdische Aristokratie auf die Gefahr hin, daß die Vernachlässigung des Ackerbaus zu einem Anwachsen des Räubertums führen könne: Die verzweifelten Menschen könnten ihre Steuern nicht mehr bezahlen. Räuberei aber bedeutet in der Regel, daß man Haus und Hof verläßt. Da wir nun deutliche Belege für eine Bereitschaft haben, den angestammten Wohnsitz und Besitz zu verlassen sei es, um zu demonstrieren oder um sich als "Räuber" dem Zugriff der Steuereintreiber zu entziehen können wir bei anderen Gruppen die Bereitschaft voraussetzen, in Erwartung der Parusie des Menschensohns Haus und Hof zu verlassen. Die Abfassungszeit der synoptischen Apokalypse wäre dann das Jahr 40 n.Chr. Wir können den Zeitraum sogar weiter eingrenzen. Es ist jene Zeitspanne, in der die Aufstellung einer Kaiserstatue (oder mehrerer Statuen) im Tempel drohte. Auch wenn Philo und Josephus in ihrer Chronologie der Ereignisse differieren, so erlauben sie doch eine Datierung der Verhandlungen entweder ins Frühjahr (so Philo) oder in den Herbst (so Josephus). Gleich71

Gerade die Lokalisierung des "Greuels der Verwüstung" im Tempel wurde gegen die hier vorgeschlagene Datierung der synoptischen Apokalypse angewandt: Ist es nicht zu spät zur Flucht, wenn die Statue schon im Tempel steht? Vgl. P.BILDE, Mk 13,118f. Aber selbst wenn es den Jerusalemern unmöglich wäre zu fliehen, so könnten doch noch immer die "in Judäa" fliehen, d.h. die auf dem Land wohnenden Juden und Christen. Die damaligen Zeitgenossen haben zudem nicht erst die Aufstellung der Statue im Tempel als Frevel betrachtet. Schon ihren Transport durch jüdisches Land war eine Provokation. Eben deswegen hatte Vitellius darauf verzichtet, seine Legionen durch jüdisches Land zu führen (vgl. ant 18,121). Die Zerstörung des Kaiseraltars in Jamnia zeigt: Als Frevel galt jeder heidnische Kult im Land, nicht nur in Jerusalem. Nach bell 2,195 betonen die in Tiberias verhandelnden Juden gegenüber Petronius ausdrücklich, das Verbot, ein Bild von Gott oder Menschen aufzustellen, gelte "nicht allein im Tempel, sondern an jedem beliebigen Platz des Landes."

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gültig, ob die drohende Tempelentweihung zur Erntezeit im Mai (Philo) oder zur Saatzeit im Oktober/ November (Josephus) allgemein bekannt wurde - in beiden Fällen rückte der Winter unaufhaltsam näher. Daher ist die Bitte verständlich, die Flucht möge nicht in den Winter fallen. Denn dann ist es besonders schwer, sich zu ernähren. Auch der Abfassungsort läßt sich näher bestimmen. Die direkt in der 2.Person Plural Angeredeten müssen in der Lage sein, die Statue an ihrem Bestimmungsort "sehen" zu können. Das können nur Jerusalemer sein. Die "in Judäa Wohnenden" werden danach in der 3.Person Plural angeredet. Sie müssen nicht mit den Jerusalemern identisch sein, sondern könnten die auf dem Land wohnenden Judäer meinen. Es könnte aber auch sein, daß die Jerusalemer eingeschlossen sind, denn auch sie sind Judäer. Der Personenwechsel zeigt in jedem Fall, daß nicht alle Angeredeten die Statue an ihrem Bestimmungsort sehen müssen, um sich zur Flucht zu wenden. Gegen diese Lokalisierung kann man nicht einwenden, man könne unmöglich in Judäa lebende Menschen zur Flucht in die Berge auffordern, da sie ja ohnehin schon in den Bergen wohnten.72 Auch die Flucht der Makkabäer aus dem Hügelland der Schefela wird in 1 Makk 2,28 (vgl. bell 1,36) als Flucht "in die Berge bezeichnet. In 1 Makk 9,40 befinden sich die Fliehenden sogar auf dem Hochland von Madaba - trotzdem wird von ihrer Flucht "in die Berge" berichtet (vgl. noch bell 2,504 und ant 14,418). Die Aufforderung zur Flucht in die Berge meint den Rückzug ins unbewohnte Bergland, jenes Bergland, das schon immer Zuflucht von Rebellen war - von David bis Bar-Kochbar. Daher begegnet das Motiv der Flucht in Berge, Höhlen und Wüsten an vielen Stellen der jüdischen Literatur. 73 Die Datierung der synoptischen Apokalypse in die Caligula-Krise des Jahres 40 n.Chr. ermöglicht es uns, die in ihm zutage tretende Reaktion auf die drohende Tempelentweihung mit anderen Reaktionsformen zu vergleichen. Insgesamt lassen sich vier Reaktionen im Judentum beobachten: 1. Es kommt zu beeindruckenden gewaltlosen Demonstrationen. Das Volk strömt zu Petronius und erklärt, es werde sich lieber ohne Gegenwehr niedermetzeln lassen, als der Abschaffung seiner Religion, nämlich der Verletzung von Monotheismus und Bilderverbot, zuzustimmen (legGai 229ff; ant 18,261-272; bell 2,192-198).74 Solche demonstrative Gewaltlosigkeit hatte 72

So P.BILDE, Mk 13,118.

73

ÄthHen 96,2; AssMos 9,6f; PsSal 17,17; vgl. Hebr 11,38 und Apk 12,6.

74

Die Drohungen schwanken zwischen der Bereitschaft, sich passiv von den Römern niedermetzeln zu lassen (so bell 2,197) oder kollektiven Selbstmord aneinander zu begehen (legGai 234f).

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Tradition. Dieselbe Strategie wurde schon (ca. 26/29 n.Chr.) erfolgreich gegen Pilatus angewandt, als er Kaiserbilder nach Jerusalem bringen wollte (bell 2,169ff; ant 18,55). Da Pilatus damals nachgegeben hatte, konnten die Demonstranten auch diesmal hoffen, ihre Ziele zu erreichen. 2. Es kommt ferner zu einem "Landarbeiterstreik" - oder zur Androhung eines solchen. Die Aussaat wird verweigert (ant 18,272-274). Teils war das eine natürliche Folge der Demonstrationen: Man kann nicht gleichzeitig demonstrieren und Felder bestellen. Teils aber handelte es sich um ein zusätzliches Drohmittel. Man drohte nämlich, notfalls die Ernte zu vernichten (legGai 249) - wohl, um das Heer in Versorgungsschwierigkeiten zu bringen. Die Aristokratie warnt zudem vor dem Anwachsen des Räuberunwesens: Wer das Land nicht bebaut, kann keine Steuern zahlen und muß dann oft Haus und Hof verlassen, um sich den "Räubern" anzuschließen (ant 18,274). Möglicherweise konnte dieser "Landarbeiterstreik" an die jüdische Tradition des Sabbatjahrs anknüpfen, in dem die Felder unbestellt blieben; denn 40/41 wäre solch ein Sabbatjahr fällig gewesen.75 Möglicherweise handelt es sich aber auch um eine entfernte palästinische Variante der für Ägypten gut bezeugten Anachorese: Arbeiter verlassen dort hin und wieder ihre Felder und kehren erst nach Erfüllung bestimmter Bedingungen zu ihrer Arbeit zurück.76 3. Wenn die Aristokratie in ihren Verhandlungen mit dem syrischen Legaten auf "Räuber" hinweist, so meint sie bewaffneten Widerstand. Philo und Josephus schweigen von ihm. Tacitus berichtet jedoch von kriegerischen Handlungen: "Unter Kaiser Tiberius herrschte Ruhe. Danach sollten die Juden auf Befehl des Gaius Caesars Bild im Tempel aufstellen, griffen aber lieber zu den Waffen und erregten einen Aufstand, der erst mit dem Tod des Kaisers zu Ende ging" (hist V,9). Bei diesen Widerstandskämpfern lebte zweifellos die Tradition des religiösen Befreiungskrieges weiter, wie sie schon im Makkabäeraufstand lebendig gewesen war. 4. Auf hoher Ebene reagierte man verständlicherweise zunächst mit diplomatischen Mitteln: Petronius verhandelte mit den "geistlichen und weltlichen Führern der Juden" (legGai 222). Auch die herodäischen Fürsten wurden eingeschaltet: In Tiberias intervenierte der Bruder des Königs Agrippa, Aristobulos, bei Petronius (ant 18,273); in Rom König Agrippa selbst. Beide Interventionen hatten Erfolg. Aber erst die Ermordung des Gaius Caligula

75

J JEREMIAS: Sabbathjahr und neutestamentliche Chronologie, ZNW 27 (1928) 98103 = Abba, Göttingen 1966, 233-237. N.HYLDAHL, Josefus som historieskriver, 62ff, sieht in dem sogenannten "Landarbeitsstreik" eine Auswirkung des Sabbatjahres. 76

Vgl. W.SCHMIDT: Der Einfluß der Anachorese im Rechtsleben Ägyptens zur Ptolemäerzeit, Diss Köln 1966.

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am 24. Januar 41 beseitigte endgültig die Gefahr für das Heiligtum. Die synoptische Apokalypse gibt uns Kenntnis von einer fünften Reaktionsweise auf die Krise. Die hier angeredeten Kreise haben noch nicht Haus und Hof verlassen. Sie gehören nicht zu denen, die nach Ptolemais und Tiberias zogen, um gegen die Pläne des Gaius zu protestieren. Aber auch sie sind prinzipiell - nach einer sich abzeichnenden Zuspitzung der Lage - bereit, Arbeit und Äcker zu verlassen. Das ist für die Beurteilung ihres Verhaltens wichtig: Denn ihnen wird mit prophetischer Vollmacht ein Verhalten geboten, das in seinen Konsequenzen objektiv eine Unterstützung des Landarbeitsstreiks bedeutete, der sich damals in Palästina anbahnte. Was ihnen nicht geboten wurde, ist bewaffneter Widerstand. Auch diese Idee lag in der Luft. Es bestand gar kein Zweifel daran, daß es zu einem blutigen Krieg kommen würde, wenn Gaius seinen Plan nicht zurücknehmen würde. Die in Mk 13 angeredeten Judäer sollen dagegen in die Wildnis der Berge fliehen, um dort das Erscheinen des Menschensohnes zu erwarten. Auch damit setzen sie traditionelle Muster des Widerstands fort: Im makkabäischen Aufstand hören wir von einer Gruppe, die sich in Höhlen der Wüste zurückgezogen hatte und sich am Sabbat ohne Gegenwehr niedermetzeln ließ (IMakk 2,2938). Man hat oft angenommen, die in Mk 13 verarbeitete Prophetie sei ohne spezifisch christliche Prägung und ursprünglich eine jüdische Weissagung aus dem Jahr 40 n.Chr., die von Christen sekundär übernommen wurde.77 Diese Annahme ist nicht notwendig. Die Wege von Juden und Christen hatten sich im Jahr 40 noch nicht getrennt. Mk 13 zeigt uns ein Christentum, das ganz im Rahmen des Judentums blieb. Diese Christen wollten Juden sein, die an Jesus als den Messias und wiederkommenden Menschensohn glaubten. Natürlich unterschieden sie sich von anderen jüdischen Gruppen. Das zeigt auch Mk 13. Denn hier spüren wir nichts von der Bereitschaft, den Tempel mit Gewalt gegen andere oder gegen sich selbst zu verteidigen. Vielmehr träumt man von einer "evasiven" Lösung: Man will sich vom Ort der Krise entfernen. Der Furcht vor dem Kaiser Gaius Caligula, der sich blasphemisch zum Gott erhebt, setzt man die Hoffnung auf den "Menschen" entgegen, der vom Himmel herabkommt und die Seinen erlöst. Von einem Strafgericht über die Frevler hören wir nichts. Es fehlen die Racheträume apokalyptischer Phantasie. Die Identifikation mit dem empirischen Tempel ist deutlich geringer als bei anderen Gruppen. Das ist verständlich. Unter Christen kursierte das Jesuswort von der Zerstörung des Tempels bzw. seines Ersatzes durch einen anderen Tempel. Christen waren wegen dieser Prophetie schon in Bedrängnis geraten. Stephanus wird ihretwegen gesteinigt (vgl. Apg 6,14ff). Man 77

So G.HÖLSCHER, Ursprung, 1%.

175

kann ahnen, in was für eine schwierige Lage diese Christen nach der überraschenden Rettung des Tempels kamen: Die im Volk im Krisenjahr 40 entstandenen Agressionen gegen die Römer konnten gegen die Herren des Landes nur verhalten geäußert werden - zumal ein führender römischer Beamter den Befehl zur Tempelentweihung unterlaufen hatte. Um so wahrscheinlicher war es, daß sich die angestaute Spannung über eine Außenseitergruppe entlud, die sich vom Tempel distanziert hatte und mißverständliche Worte über sein Ende tradierte. Als nach der Krise Agrippa I. die Macht über Judäa und Samarien erhielt, kam es in der Tat zu einer Verfolgung von Christen, die diesmal nicht den radikaleren hellenistischen Flügel traf (so Apg 6,8-8,3), sondern das Zentrum der ersten Gemeinde: Jakobus der Zebedaide wird hingerichtet; Petrus entkommt nur knapp dem Tod (Apg 12,3). Der Bericht in der Apg läßt erkennen, daß Agrippa mit seinem Vorgehen gegen die Christen beim Volk Resonanz fand: Wer angesichts des sichtbaren Eingreifens Gottes für den empirischen Tempel diesem Tempel gegenüber Vorbehalte hatte, konnte in eine fatale Lage geraten. Möglicherweise führte die Caligulakrise des Jahres 40 n.Chr. zu einem ersten Schritt der Trennung von Juden und Christen. In den darauffolgenden 40er Jahren setzte sich die Heidenmission durch. Durch sie wuchs das Christentum über die Grenzen des Judentums hinaus. Die synoptische Apokalypse aber ist Dokument einer Zeit, in der Christen eine kleine Gruppe im Judentum waren. Sie kann uns lehren, jüdische und christliche Apokalyptik besser zu verstehen. Vor allem zeigt sie, daß sie Oppositionsapokalyptik ist - Opposition unterlegener Gruppen gegen die Weltmächte und Weltimperien. Das gilt für alle in den Kanon aufgenommenen apokalyptischen Bücher, für Daniel und die Johannesapokalypse. Das gilt auch für Mk 13. Diese apokalyptische Opposition steht in engem geschichtlichen und funktionalen Zusammenhang mit anderen Formen politischer Opposition. Ohne religiöse Legitimation hätte es damals keinen Widerstand gegeben auch keine Formen friedlicher Demonstrationen, keinen Landarbeitsstreik, keinen diplomatischen Druck - aber auch keine drohende Kriegsgefahr. Erst die Einsicht, daß das jüdische Volk im Konfliktfall die Treue zu Gott über die Loyalität zum Kaiser stellen würde, hat den römischen Staat zögern lassen, sein Vorhaben auszuführen. Neben dem funktionalen gibt es einen sachlichen Zusammenhang von Apokalyptik und politischem Widerstand in der biblischen Apokalyptik: Die von ihr vorausgesagte Weltkatastrophe ist bis heute nicht eingetreten, aber ihre Aussage gilt in abgewandelter Form weiter: Sie wird eintreten, wenn sich der Mensch an die Stelle Gottes setzt. Oder genauer: Wenn sich der Staat und seine Träger an die Stelle Gottes setzen. Dann wird der Staat zum "Greuel der Verwüstung". Seine Macht zu verwüsten ist heute ins Ungeheuerliche ge-

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wachsen. Unsicher aber ist, ob es wieder einen Beamten gibt, der wie Petronius den Gehorsam verweigert - und den ihm erteilten Befehl sabotiert. Dieser Petronius war ein Heide. Aber Philo bescheinigt ihm, daß er wahrscheinlich einen Schimmer jüdischer Philosophie und Frömmigkeit besaß (legGai 245). Und Josephus legt ihm Worte in den Mund, die an Jesus erinnern: Er sei bereit, für viele sein Leben hinzugeben: έτοίμως επιδώσω τήν έμ,αυτόν ψυχήν (bell 2,201). Die Untersuchung zu Mk 13 ist für eine Geschichte der synoptischen Tradition von nicht zu unterschätzender Bedeutung: Wenn die Tradition hinter Mk 13 auf eine genau lokalisierbare Situation des Jahres 40 n.Chr. zurückgeht, so werden damit - aufgrund zufälliger Umstände - ca. 30 Jahre Vorgeschichte eines mk Textes erkennbar. Wir können schließen: Schon 10 Jahre nach Jesu Tod nahm die in seinem Namen geprägte Überlieferung in Judäa neue Formen an. Die apokalyptische Prophetie hinter Mk 13 setzt die Worte vom zukünftigen Menschensohn voraus und aktualisiert sie in eine neue Situation hinein, verläßt aber die Formen der "kleinen Einheiten" synoptischer Überlieferung. Sie ist ein größerer Text mit komplexer Struktur. Wahrscheinlich hatte sie schriftliche Form, so daß wir mit einem frühen Übergang von mündlicher zu schriftlicher Überlieferung rechnen müssen. Die Frage liegt nahe: Läßt sich das auch für weitere Teile der synoptischen Tradition nachweisen? Gab es auch in der Erzählüberlieferung "große Einheiten", die einige Zeit vor den kanonischen Evangelien formuliert (und schriftlich fixiert) wurden? Am ehesten kommt hier die Passionsgeschichte in Frage. Ihr wenden wir uns im folgenden zu.

4. Kapitel: Die große Erzähleinheit der Passionsgeschichte und die Jerusalemer Gemeinde in den 40er Jahren

Die Passionsgeschichte bildet innerhalb der Erzählüberlieferung eine "große Einheit": Perikopenhafte Teilstücke sind so in das Ganze verwoben, daß sie isoliert schwer vorstellbar sind. Sie setzen die vorhergehenden Perikopen voraus und bereiten die folgenden vor. Oft gibt es Vor- und Rückgriffe über die unmittelbar benachbarten Perikopen hinweg: Die Bezeichnung des Verräters, die Ansage der Jüngerflucht und der Petrusverleugnung (Mk 14,17-21. 26-31) weisen z.B. über die Gethsemaneperikope hinweg auf Gefangennahme, Flucht und Verleugnung (14,43-54. 66-72). Umgekehrt greifen die Verspottung Jesu durch römische Soldaten (15,19-32) auf die Szenen im Synhedrium und vor Pilatus zurück. Diese starke Verflechtung der Perikopen wird allgemein anerkannt. Umstritten ist, ob sie Schöpfung des Mk-Evangelisten 1 oder Tradition ist und welchen Umfang die Tradition hatte. 2 Hinter dem jetzt im MkEv vorliegenden Text ist m.E. ein zusammenhängender Bericht erkennbar, der eine andere Chronologie voraussetzt. Nach dem MkEv starb Jesus am Passatag, nach der Tradition am Rüsttag zum Passa: In 14, lf beschließt das Synhedrium, Jesus vor dem Fest zu töten, damit es auf dem Fest nicht zu Unruhen unter dem Volk kommt. 3 Dazu paßt, daß in 1

Die klassische Formgeschichte nahm die Passionsgeschichte bewußt von der Dekomposition des synoptischen Stoffes in "kleine Einheiten" aus; vgl. K.L.SCHMIDT, Rahmen, 303-306. Ende der 60er Jahre wurden die ersten Zweifel daran laut: J.SCHREIBER: Die Markuspassion. Wege zur Erforschung der Leidensgeschichte Jesu, Hamburg 1969, wollte "konsequent redaktionsgeschichtlich" die Passionsgeschichte als Komposition des Mk-Evangelisten auffassen. E.LINNEMANN: Studien zur Passionsgeschichte, FRLANT 102, Göttingen 1970, kam traditionsgeschichtlich zum Ergebnis, daß dem Mk-Evangelisten nur Fragmente von Überlieferungen vorlagen, den Zusammenhang habe er selbst geschaffen. E.GÜTTGEMANNS, Offene Fragen, bes. 226ff hielt aufgrund linguistischer Grundsatzüberlegungen die Vorgeschichte eines Textes (zumal in mündlicher Überlieferung) für unerhellbar. Diese Zuwendung zur Passionsgeschichte als ein von Mk gestalteter kohärenter Text wird programmatisch vertreten in W.H.KELBER (ed.): The Passion in Mark, Philadelphia 1976, bes. 14ff, 153-159. 2 · Einen Uberblick zur Problemlage geben G.SCHNEIDER: Das Problem einer vorkanonischen Passionserzählung, BZ 16 (1972) 222-244 und J.ERNST: Die Passionserzählung des Markus und die Aporien der Forschung, ThGl 70 (1980) 160-180. 3 So M.DIBELIUS, Formgeschichte, 181; D.LÜHRMANN, Mk, 229. Gegen diese

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15,20f Simon von Kyrene vom Acker kommt. Das kann so verstanden werden, als käme er von der Arbeit. In einem Bericht, der an das Passafest denkt, wäre eine so mißverständliche Formulierung schwer vorstellbar, da am Passa alle Arbeit ruhte. In 15,42 wird ferner das Begräbnis Jesu auf einen "Rüsttag" datiert. Durch einen Relativsatz ist daraus der Rüsttag zum Sabbat geworden. Ursprünglich dürfte es der Rüsttag zum Passa gewesen sein (vgl. Joh 19,42). Denn das Motiv, Jesus noch vor Sonnenuntergang vom Kreuz zu nehmen und zu begraben, dürfte darin liegen, noch vor dem Beginn des Feiertags diese Arbeit zu tun. Am Passa wäre das jedoch sinnlos. Schließlich setzt auch die "Gerichtsverhandlung" vor dem Synhedrium im Grunde voraus, daß kein Festtag ist. An ihm ruhten alle Gerichtsverfahren. Es wäre ein Bruch der Prozeßnormen gewesen, den sich die Erzähler kaum hätten entgehen lassen: Denn die Erzählung zielt darauf, das Verfahren gegen Jesus als unfairen Prozeß mit widersprüchlichen Zeugen und Vorverurteilung durch den Hohenpriester darzustellen. Die hinter dem MkEv sichtbar werdende Chronologie stimmt nun genau mit der des JohEv überein. Dort stirbt Jesus am Rüsttag vor dem Passafest. In der Begräbnisszene begegnet expressis verbis (wie in Mk 15,42) das Stichwort "Rüsttag", aber jetzt als Vortag des Festes (Joh 19,42). Da das JohEv auf keinen Fall von den Synoptikern im Sinne einer literarischen Quellenverarbeitung abhängig ist, sondern allenfalls eigene Traditionen unter dem Einfluß der synoptischen Evangelien modifiziert hat 4 - was aber nicht sicher ist -, liegt die Annahme nahe: Mk und Joh setzen einen älteren Passionsbericht voraus, in dem Jesus am Vortag des Passa starb. Die Chronologie dieses vorkanonischen Passionsberichts weist auf ein durchgehendes erzählerisches Motiv, das in mehreren Perikopen erscheint. Wenn Jesus vor dem Fest hingerichtet werden soll, muß alles schnell gehen: Nach Mk 14,11 ist es die Aufgabe des Verräters, Jesus "rechtzeitig" (εϋκαίρως) auszuliefern. Die Bezeichnung dieses Verräters beim letzten Mahl beleuchtet Deutung hat man eingewandt: 1. Mk wolle bewußt göttliches Handeln gegen menschliches Planen ausspielen, 14,lf sei redaktionell. So L.SCHENKE: Studien zur Passionsgeschichte des Markus, FzB 4, Würzburg 1971, 49. Aber es liegt kein Akzent darauf, daß Jesus durch göttlichen Willen einen Tag länger lebt, als seine Gegner wollten. L.SCHENKE hat seine Ansicht in: Der gekreuzigte Christus, SBS 69, Stuttgart 1974, 127 Anm.35 zurückgenommen. 2. W.SCHMITHALS, Mk, 588 faßt έν τη εορτή lokal als "auf der Festversammlung" auf. Der temporale Sinn ist aber mitgegeben: Die Einleitung von 14,1 umfaßt zwei Zeitbestimmungen. Und die "List", zu der man den Verräter Judas benötigt, besteht nicht nur darin, daß man Jesus abseits vom Festtrubel verhaftet, sondern auch "rechtzeitig" (Mk 14,11). 4

So die These von A.DAUER: Die Passionsgeschichte im Johannesevangelium, StANT 30, München 1972.

179

den abrupten Übergang von Tischgemeinschaft zur Feindschaft: Einer, der jetzt noch mit Jesus dieselbe Schüssel benutzt, wird ihn sofort danach verraten (14,20). Die Ansage der Petrusverleugnung betont: Noch in derselben Nacht wird Petrus seinen Herrn verleugnen (14,30). Der Beschluß des Synhedriums wird "sehr früh" in der Nacht gefaßt (15,1). Auch Hinrichtung und Tod geschehen schnell: In der dritten Stunde wird Jesus gekreuzigt (15,25), in der sechsten tritt eine Finsternis ein (15,33), in der neunten stirbt er (15,34). Andere Gekreuzigte litten länger, bevor sie starben.5 Daher ist Pilatus mit Recht erstaunt, als er hört, daß Jesus "schon" tot ist ( 15,44). Man merkt der ganzen Erzählung an: Es ging alles unheimlich schnell, zu schnell für die Jünger. Nur Jesus hat alles kommen sehen. Anhand der Chronologie lassen sich also Spannungen zwischen Tradition und Redaktion, Übereinstimmungen mit dem joh Passionsbericht und ein durchgehendes Erzählmotiv nachweisen. All das weist auf eine vorkanonische Passionsgeschichte. Über ihren Umfang ist damit nichts gesagt. Sie könnte mit Mk 14,lf begonnen haben:6 Vom entsprechenden Todesbeschluß in Joh 11,47-52 an hat auch das JohEv auffällig viele Perikopen in derselben Reihenfolge wie das MkEv, auch wenn große Textpartien (wie die Abschiedsreden) in diese Reihenfolge eingeschoben und andere Perikopen wie die Tempelreinigung umgestellt sind. Für eine mit Mk 14,1 beginnende Passionsgeschichte könnte sprechen, daß alle Synoptiker hier einen Einschnitt haben: Die Zeit der Verkündigung Jesu ist mit der großen apokalyptischen Rede abgeschlossen, jetzt beginnt die Zeit des Leidens. Neben dieser "synoptischen Form" der Passionsgeschichte wäre auch eine Kurzform denkbar, die mit der Gefangennahme begann:7 Damit würde die 5

Josephus, vita 420, erzahlt, wie er bei einer Rückkehr von Tekoa nach Jerusalem unter vielen Gekreuzigten auch drei Bekannte entdeckt und bei Titus um deren Begnadigung bittet. Sie werden vom Kreuz abgenommen. Einer überlebt. Nimmt man Wege, Verhandlungsdauer und alles zusammen, so müssen die Gekreuzigten lange am Kreuz gelitten haben. Zu allen Fragen der Kreuzesstrafe vgl. H.-W.KUHN: Die Kreuzesstrafe während der frühen Kaiserzeit. Ihre Wirklichkeit und Wertung in der Umwelt des Urchristentums, A N R W II, 25,1, Berlin/New York 1982, 648-793. 6 7

So M.DIBELIUS, Formgeschichte, 181ff; D . L Ü H R M A N N , Mk, 227ff.

Einen solchen mit der Gefangennahme einsetzenden "Geschichtsbericht" nahm R.BULTMANN, Geschichte, 301f, an. L.SCHENKE, Christus, hat einen mit der Gethsemaneperikope beginnenden Bericht rekonstruiert. Auffällig ist, daß Judas in Mk 14,43 als "einer der Zwölf' fast neu eingeführt wird - obwohl er so schon in 14,10f dem Leser vorgestellt wurde. Ein sicheres Indiz ist das jedoch nicht: Die "Söhne des Zebedaeus" wurden auch mehrfach im MkEv eingeführt (1,19; 3,17; 10,35), was aber dort ein Zeichen gesonderter Überlieferungen ist.

180 Passionsgeschichte genau jenen U m f a n g haben, den die Passionssummarien umfassen: Auslieferung, Verurteilung, Hinrichtung, Auferstehung (vgl. bes. M k 10,32-34). 8

A u ß e r d e m setzt auch der joh Bericht mit der Gefangen-

n a h m e neu ein ( J o h 18, Iff). D i e L e h r e J e s u ist in ihm mit den großen Abschiedsreden abgeschlossen. Ebensogut vorstellbar wäre eine sehr viel umfangreichere Langform. 9 D a die synoptischen Perikopen etwa ab J o h l l , 4 7 f f eine überzufällige Übereinstimmung mit der joh Reihenfolge haben, könnte die vorkanonische Passionsgeschichte mit dem Einzug in Jerusalem begonnen haben: Sie hätte dann einen einheitlichen Spannungsbogen: D e n W e g von der Akklamation J e s u als "König" bis zu seiner Hinrichtung als "König der Juden". T a t s a c h e ist: W i r kennen den genauen U m f a n g der Passionsgeschichte nicht. U n d ebensowenig ist ihre Entwicklung für uns transparent: 1 0

Möglicherweise

stand a m Anfang ein zusammenhängender Kreuzigungsbericht, der dann zur "Kurzform" des Passionsberichts und schließlich zur Langform

erweitert

wurde. Möglicherweise gab es aber auch schon früh einen langen Bericht, der durch Zusätze bearbeitet wurde - wenn man nicht sogar mit einer Verschmelzung zweier Langversionen rechnet. 1 1

Auf die Leidensweissagungen als "Passionssummarien" beruft sich J J E R E M I A S : Die Abendmahlsworte Jesu, Göttingen 1960, 88f, um eine vormk Passionsgeschichte wahrscheinlich zu machen. Dies Argument behält auch dann seine Geltung, wenn man die Leidensweissagungen für mk Redaktion hält. Ebenso wie sich die (redaktionellen) Wundersummarien auf die Mk vorgegebene Wundertradition beziehen, könnten redaktionelle "Passionssummarien" eine vorgegebene Passionstradition voraussetzen. Daß diese Passionssummarien nicht dort einsetzen, wo im MkEv die Leidensgeschichte beginnt (in 14,Iff), könnte dafür sprechen, daß eine von Mk unabhängige traditionelle Größe im Blick ist. Andererseits beginnt 14,Iff mit den notwendigen Schritten zu jener "Auslieferung", mit denen die Passionssummarien einsetzen. 8

So Τ A . M O H R : Markus- und Johannespassion, AThANT 70, Zürich 1982. Noch weiter ging R.PESCH: Mk II,Iff, der eine bis zum Messiasbekenntnis Mk 8,27ff zurückreichende Passionsgeschichte postulierte, die Mk als konservativer Redaktor ohne große Änderungen übernommen habe. 9

J . J E R E M I A S , Abendmahlsworte, 83-90, nimmt eine Entwicklung vom knappen Kerygma in IKor 15,3b-5 über einen mit der Verhaftung einsetzenden Kurzbericht an, der schließlich zum Langbericht erweitert worden sei. G.SCHNEIDER: Die Passion nach den drei älteren Evangelien, München 1973, 25ff, meint, daß der Kreuzigungsbericht der Kern der Überlieferung sei, der dann bis zur Verhaftung Jesu (nach hinten) ergänzt worden sei. 10

Mit einer vormarkinischen Bearbeitungsschicht rechnen z.B. L.SCHENKE, Der gekreuzigte Christus, 141ff, und D . D O R M E Y E R : Die Passion als Verhaltensmodell, NTA 11, Münster 1974. W.SCHENK: Der Passionsbericht nach Markus, Gütersloh 11

181

Die folgenden Untersuchungen zu Lokal- und Datierindizien in der Passionsgeschichte sind so angelegt, daß sie unserem Nichtwissen über deren Umfang und innere Schichtung Rechnung tragen. Gefragt wird nach der Charakterisierung von Personen in der Passionsgeschichte. In ihr werden Personen oft so charakterisiert, daß der implizite Hörer Vorkenntnisse haben muß, um sie einordnen zu können. Solche "Vertrautheitsindizien" weisen auf eine relative Nähe zu den geschilderten Personen bzw. zu den Traditionen über sie. Was den unbekannten Umfang der Passionsgeschichte angeht, so wäre interessant zu wissen, ob sich derartige Vertrautheitsindizien in bestimmten Teilen der Passionsgeschichte mehren, in anderen dagegen fehlen. Was die innere Schichtung der Passionsgeschichte angeht, so wären Vertrautheitsindizien in einer sekundären Schicht genauso aufschlußreich wie im primären Text: Ließe sich ein sekundärer Zusatz datieren, so müßte der primäre Text älter sein. Aber selbst wenn man die Existenz einer vorkanonischen Passionsgeschichte überhaupt bezweifeln wollte, wären die folgenden Untersuchungen brauchbar - sei es zur Beurteilung einzelner Traditionen, sei es zur geschichtlichen Einordnung ihrer Redaktion. Die Anregung zur Suche nach Vertrautheitsindizien geht auf eine Idee R.PESCHs zurück. Er schloß aus der Tatsache, daß "der Hohepriester" in Mk 14,47ff ohne Namenangabe genannt wird, daß die Passionsgeschichte noch zur Amtszeit des Hohenpriesters Kaiphas (18-37 n.Chr.) formuliert sein müßte. Erst unter seinem Nachfolger wäre es notwendig gewesen, den Hohenpriester durch Namen zu unterscheiden.12 Auch wenn dieser Gedanke nicht viel Anklang gefunden hat, so sollte er doch Anlaß sein, systematisch die Personencharakterisierungen der Passionsgeschichte zu untersuchen. 13 1974, nimmt eine im Praesens historicum verfaßte Passionsgeschichte und eine apokalyptische Passionstradition an, die von Mk 11, Iff an ineinander gearbeitet wurden. 12

Nach R.PESCH, Mk II, 21, legt dieser Sachverhalt "den Schluß (nahezu zwingend) nahe, daß Kajafas als Hoherpriester noch amtierte, als die vormk Passionsgeschichte zunächst gebildet und erzählt wurde. Kajafas amtierte von 18-37 n.Chr. Als terminus ante quem der Entstehung der vormk Passionsgeschichte ist folglich das Jahr 37 n.Chr. zu nennen." Er fügt als Illustration eine moderne Analogie an: "Wenn ich vom "Bundeskanzler" oder vom "Bundespräsidenten" erzähle, werden meine Hörer in der Regel an den amtierenden denken. Will ich von einem früheren berichten, werde ich den Namen hinzufügen." Nun spricht die Exoduserzählung vom Pharao ohne Namensnennung, aber deshalb ist sie nicht zur Regierungszeit des Unterdrückungspharaos entstanden! Wenn eine Erzählung durch andere Zeitindizien für den Leser eindeutig einzuordnen ist, können in ihr Personen ohne Namen auftreten. Implizit ist immer gesagt: der damalige Kaiser, der damalige Papst usw. 13 . . . Die folgenden Ausführungen sind aus einem Seminar "Lokalkoloritforschung" hervorgegangen und verdanken einige Anregungen einer Seminararbeit von Ute KINDER:

182

Erst dann kann man beurteilen, was sie über Tradenten, Adressaten und Herkunft der Passionsgeschichte aussagen können. Drei Gruppen von Personen lassen sich unterscheiden: A. Amtsinhaber wie Pilatus und "der Hohepriester", B. Personen mit Charakterisierung 1. durch Familienangehörige (Mk 15,21. 40. 47; 16,1) 2. durch Herkunftsort (15,21. 43) 3. durch Gruppenzugehörigkeit (14,43. 67; 15,7). C. Anonyme Personen wie der Schwertzieher (14,47) und der fliehende Jüngling (14,51). Schon diese kurze Übersicht legt die Frage nahe: Lassen sich bestimmte Motive darin erkennen, daß verschiedene Menschen verschieden charakterisiert werden?

A. Die Amtsinhaber in der Passionsgeschichte Auffällig ist, daß im MkEv Pilatus durch seinen Namen, aber nicht durch sein Amt, der Hohepriester durch sein Amt, aber nicht durch seinen Namen charakterisiert werden. Man könnte darüber hinweglesen, wenn nicht Mt und Lk den Mk-Text korrigiert hätten. Mt ergänzt bei der ersten Erwähnung des Hohenpriesters den Namen "Kaiphas" (Mt 26,3. 57) und bei Pilatus das Amt: ήγεμ,ών (Mt 27,2). Lk hat die beteiligten Personen schon 3,lf in einem "Synchronismus" eingeführt: Der Täufer tritt zur Zeit des Pontius Pilatus (ηγεμονεύοντος Ποντίου Πιλάτου της Ιουδαίας) und zur Zeit der Hohenpriester Hannas und Kaiphas auf. Die beiden großen Evangelisten führen die Amtsinhaber also korrekt ein und sprechen über sie so, daß es auch für einen uninformierten Leser verständlich ist. Nur Mk setzt eine gewisse Vertrautheit mit Personen und Geschehnissen voraus. Läßt sich noch erkennen, was er voraussetzt? Der Leser der mk Passionsgeschichte weiß aus dem vorhergehenden Evangelium, daß es "Hohepriester" (im Plural) gibt, die zusammen mit Schriftgelehrten und Ältesten für Jesu Verwerfung verantwortlich sind (vgl. 8,31; 10,33; 11,18.27 u.ö.). Wenn ab 14,47 ohne Vorbereitung von "dem Hohenpriester" (im Singular) die Rede ist, so ist der Leser offensichtlich damit vertraut, daß sich aus dem Kollegium der Hohenpriester einer als Repräsentant des jüdischen Gemeinwesens heraushebt. Für Autor und Leser gibt es beim Verhältnis von Hohepriestern (im Plural) zum Hohenpriester (im Singular) keinen Datierungsindizien für eine vormk Passionstradition anhand der Personenbezeichnungen in der Mk-Passion (1985).

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Erklärungsbedarf. 14 Auch über Pilatus wird Vorwissen erwartet: Der Leser des MkEv muß wissen, daß Jesus durch den Wechsel von Galiläa nach Jerusalem aus dem Hoheitsgebiet eines herodäischen Fürsten (Mk 6,14ff) in das Gebiet des Pilatus übergewechselt ist. Ebenso, daß Pilatus der römische Präfekt ist. All das wird nicht erklärt. 15 Warum aber wird der eine nur qua Amt, der andere nur durch Namen charakterisiert? Wenn für die Leser "Pilatus" ein vertrauter Name ist, warum sollte nicht auch "Kaiphas" vertraut sein? Folgende Deutung liegt nahe: Bei der jüdischen Institution wird das Vorgehen gegen Jesus dem "Amt" (unabhängig vom konkreten Inhaber) angelastet, bei der römischen Institution dagegen der konkreten Person. Damit würde betont: Römische Präfekten sind nicht qua Institution gegen Jesus (und das Christentum), bei jüdischen Konfliktpartnern wird die Spannung zum Christentum dagegen mit der Institution verbunden. Dahinter könnten apologetische Motive stehen: Es war nicht zweckmäßig, den Gegensatz Jesu zu den mächtigen Römern zu betonen; weniger gefährlich war dagegen, ihn im Konflikt mit Juden darzustellen.16 Die in der Charakterisierung der Amtspersonen unbewußt zum Ausdruck kommende Kausalattribution könnte aber auch in konkreter Erfahrung begründet sein: In der Zeit nach Jesu Tod hören wir aus dem palästinischen Raum vor allem von Konflikten mit jüdischen Instanzen. Die überlieferten Martyrien gehen wie bei Stephanus entweder auf eine (halblegale) jüdische Gemeinschaftsjustiz zurück (Apg 7,54ff) 17 , oder fallen wie die Hinrichtung des Jako1 4 Die beiden Seitenreferenten haben das Problem eleganter behandelt: Nach Lk 3,1 regieren zwei Hohepriester, "Hannas und Kaiphas"; das Verhör wird entsprechend von Hohenpriestern (im Plural) geführt. Nur in der Wendung "Knecht des Hohenpriesters" bzw. "Haus des Hohenpriesters" (Lk 22,50.54) ist bei Lk vom Hohenpriester im Singular die Rede. - Bei Mt könnte man meinen, die Hohenpriester kämen im Hause ihres Kollegen Kaiphas zusammen (Mt 26,3.57). Er tritt sozusagen als "Hausherr" auf. Aber auch bei den Seitenreferenten ist das Problem eines Wechsels zwischen "dem Hohenpriester" und "den Hohenpriestern" noch vorhanden. 1 5 Daß der Präfekt "Pontius Pilatus" hieß, werden die Adressaten gewußt haben. Das Praenomen des Pilatus erfahren wir aber nur durch Lk 3,1 und lTim 6,13. In Mt 27,2 ist es sekundär in die Textüberlieferung eingedrungen. 1 6 S.G.F. BRANDON: The Trial of Jesus of Nazareth, London 1968, versteht das ganze MkEv als Apologie römischer Christen, mit der diese sich vom Judentum distanzieren, damit man nicht den Judenhaß der Zeit nach 70 n.Chr. auf sie übertrage.

17

Die Sanktionen gegen wirkliche und vermeintliche Tempelfrevler waren eine als legal empfundene jüdische Gemeinschaftsjustiz, die von den Römern toleriert wurde. Der Tempel bildete eine Art "Rechtsenklave" in der römischen Präfektur Judäa. So mit ausführlicher Begründung H. SCHWIER, Ideologische und theologische Faktoren, 61-

184

bus Zebedaeus in die Zeit des Agrippa I. (41-44 n.Chr.) bzw. wie die Hinrichtung des Herrenbruders Jakobus in eine Vakanz im Procuratorenamt im Jahr 62 (ant 20,200f). Die Verfolgungen geschehen also immer dann, wenn kein römischer Herrschaftsträger im Lande ist.18 Umgekehrt können die Römer einmal sogar als Schutzmacht auftreten: Sie retten Paulus vor einer Verschwörung seiner Landsleute (Apg 23,12ff). Wenn die Passionsüberlieferung in Palästina geformt wurde und darauf deuten die genannten Vertrautheitsindizien hin - dann könnte sich die Struktur der dortigen Lebenswelt in ihr spiegeln: Gegen die historische Realität wird das Synhedrium stärker "belastet", weil das den Erfahrungen der folgenden Jahre entspricht. Die Anonymität des Hohenpriesters könnte noch einen weiteren Grund haben. Sicher ist, daß sein Name unter Christen bekannt war. Denn es ist unmöglich, daß Mt, Lk und Joh ihn unabhängig voneinander mit derselben Person identifiziert haben. Sie greifen auf tradiertes Wissen zurück. Man muß daher damit rechnen, daß er in der ältesten Passionsüberlieferung bewußt verschwiegen wird. Und dafür gab es einen naheliegenden Grund: Das Haus des Hannas und Kaiphas war in der Zeit bis zum Untergang des Tempels ein wichtiger Machtfaktor in Jerusalem und Judäa. 19 Als Kaiphas 36/7 n.Chr. zusammen mit Pilatus abgesetzt wurde, blieb das Hohepriesteramt in seiner Familie. Der syrische Legat Vitellius setzte zunächst seinen Schwager Jonathan, den Sohn des Hannas, an seine Stelle (ant 18,95), tauschte ihn aber nach kurzer Amtszeit gegen seinen Bruder Theophilos aus (ant 18,123). Der abgesetzte Jonathan erhielt unter Agrippa I. erneut das Angebot des Hohenpriesteramts, verzichtete aber zugunsten seines Bruders Matthias (ant 19,316). Später spielte er unter Cumanus (ca 50-52 n.Chr.) eine bedeutende Rolle: Er wurde zusammen mit anderen jüdischen Führern gefangen nach Rom geschickt (bell 2,243) und erhielt aufgrund einer Intervention Agrippas II. seine Freiheit zurück (ant 20,136f). Der Procurator Felix (55/60-62) ließ ihn ermorden, was nur verständlich ist, wenn er mit ihm einen einflußreichen Aristokraten beseitigen ließ (bell 2,256; ant 20,163). Die große Macht seines Hauses zeigte sich darin, daß sein Sohn Ananos im Jahr 62 für wenige Monate Hohepriester wurde. In dieser Zeit ging er rücksichtslos gegen die Christen vor, so daß er auf Proteste der Gesetzesfrommen hin sein Amt verlor

65. 18

Im Zusammenhang mit der Frage nach der Zuständigkeit des Synhedriums für Todesurteile sind diese Martyrien intensiv diskutiert worden. Ich nenne hier als zusammenfassende Darstellungen: O.BETZ: Probleme des Prozesses Jesu, ANRW 11,25,1, Berlin 1982, 565-647, A.STROBEL: Die Stunde der Wahrheit, WuNT II, 21, Tübingen 1980, bes. 21ff. und die knappe Skizze bei D.LÜHRMANN, Mk, 251f. 19

Zu den Hohepriestern vgl. E.SCHÜRER, History II, 227-236.

185

(ant 20,200f). In der ersten Phase des Jüdischen Krieges erlebte er noch einmal ein Comeback: Er leitete den Aufstand, fiel aber radikalen Rebellen zum Opfer (bell 4,314-325). Aufschlußreich ist, daß der letzte legale Hohepriester des Heiligtums, Matthias, ein Enkel des Hannas war (ant 19,316). Insgesamt lassen sich acht Hohepriester aus dem Hause des Hannas für die Zeit von 666 n.Chr. nachweisen: Hannas (6-15 n.Chr.)

Kaiphas (18-36 n.)

Eleazar Jonathan Theophilos (16/17 n.) (36/7 n.) (37ff)

Matthias (41/2)

Ananos (62 n.)

Matthias (65 n.ff)

Es gab zwischen 30 und 70 n.Chr. in Jerusalem demnach keine Zeit, in der die Angehörigen des Kaiphas nicht mächtig waren. Das gilt besonders für die 30er und die frühen 40er Jahre, in denen seine Familie alle Hohepriester stellte, und in den 50er/60er Jahren, in denen sie erheblichen politischen Einfluß ausübte. Ihre sadduzäische Gesinnung ist durch ant 20,199 belegt und läßt sich aus Apg 4,Iff erschließen. Ihre Feindschaft gegenüber der neuen jüdischen Sekte der "Christen" zeigt sich im Vorgehen gegen Jesus, die Apostel (Apg 4) und den Herrenbruder (ant 20,200f). In der rabbinischen Literatur wird sie als mächtig und reich dargestellt (bPesachim 57a; tMenahot XIII, 18) und kritisiert (mKeritot I,7ff).20 Traditionen, die in ihrem Einflußbereich überliefert wurden, taten gut daran, ihren Namen nicht in negativen Zusammenhängen ins Spiel zu bringen. Ganz anders bei Pilatus. Er verlor 37 n.Chr. sein Amt aufgrund von Beschwerden der Samaritaner. Philo legGai 302 ist Zeuge dafür, daß sein "Image" in den 40er Jahren schlecht war.21 Er wirft ihm seine "Bestechlichkeit, seine Gewalttätigkeit, seine Räubereien, Mißhandlungen, Beleidigungen, fortgesetzten Hinrichtungen ohne Gerichtsverfahren sowie seine unaufhörliche und unerträgliche Grausamkeit" vor. Auch Josephus weiß von ihm 20

21

Vgl. J.GUTTMANN: Art. Ananos, EJ(D) II, 1928, 765-766. •

Philo ist zunächst nur ein Zeuge für das schlechte Image des Pilatus in Alexandrien. Die Charakterisierung des Pilatus findet sich bei ihm jedoch in der großen Petition des Agrippa I. an Gaius. Wenn diese auf einen authentischen Text zurückginge (so zuletzt J.P.LÉMONON, Pilate, 208-209), so wäre der schlechte Ruf des Pilatus auch für Palästina bezeugt; jedoch enthält die Petition des Agrippa I. zunächst einmal die Sicht Philos.

186 vor allem Negatives zu berichten: eine Reihe von Konflikten, die bei besonnener Amtsführung hätten vermieden werden können (ant 18,55ff). Bei Pilatus gab es keinen Grund, ihn als für Jesu Hinrichtung Verantwortlichen nicht namentlich zu nennen. Der Jerusalemer Josephus bezeugt: Man hat in Jerusalem über ihn mehr Unvorteilhaftes tradiert als über viele andere Präfekten und Procuratoren. B. Charakterisierte Personen in der Passionsgeschichte Während die beiden Amtsinhaber nur mit Amt bzw. Namen in der Passionsgeschichte auftreten, finden wir eine Reihe namentlich genannter Personen, die kurz durch Familienangehörige, Herkunftsort, Gruppenzugehörigkeit oder Funktion charakterisiert werden. Das ist um so auffälliger, als das MkEv vergleichsweise wenig namentlich genannte Personen mit Charakterisierung kennt. Bei der folgenden Liste ist zu bedenken, daß sich Mk 1-13 zur Passionsgeschichte etwa wie 5:1 verhalten: Namentlich genannte Personen mit näherer Charakterisierung durch:

in Mk 1-13

in Mk 14-16

Familie

Andreas, Bruder des Simon 1,16 Johannes und Jakobus, Söhne des Zebedaeus 1,19; 3,17; 10,35 Levi, Sohn des Alphäus 2,14 Jakobus, Joses, Juda, Simon als Brüder Jesu 6,3 Bartimäus, Sohn des Tini äus 10,46

Simon, Vater des Alexander und Rufus 15,21 Maria, Mutter des Jakobus des Kleinen und Joses 15,40 (vgl. 15,47; 16,1)

187 Herkunftsort

Jesus von Nazareth 1,9 bzw. Nazarener 1,24 Judas Iskarioth (?) 2 2 3,19

Jesus der Nazarener 14,67; 16,6 Judas Iskarioth (?) 14,10 Petrus als Galiläer 14,70 Simon aus Kyrene 15,21 Maria aus Magdala 15,40.47; 16,1 Joseph aus Arimathia 15,43

Gruppe und Funktion

Johannes der Täufer vgl. 1,4 6,14 23 Simon der Kanaanäer.23 3,18 Jairus der Synagogenvorsteher 5,22

Judas einer der Zwölf 14,10; 14,43 Petrus "einer von ihnen" 14,70 Barabbas, unter den "Aufständischen" 15,7

1. Bei den durch Familienangehörige charakterisierten Personen fällt auf: Sowohl Simon wie die zweite Maria in 15,40 werden nicht wie üblich durch ihren Vater, sondern durch ihre Söhne identifiziert.24 D i e s geschieht im allg e m e i n e n nur, w e n n die Söhne für die Erzählgemeinschaft bekannter oder bedeutsamer sind als der Vater. So spricht z.B. Josephus v o m alexandrinischen Alabarchen Alexander als d e m Vater des Tiberius (bell 5,205), weil dieser Tiberius Alexander, der spätere Procurator von Judäa (44-46 n.Chr.), Präfekt von Ägypten (ca 68 n.Chr.) und Militärberater des Titus, für die Leser des bellum judaicum die ungleich wichtigere Gestalt ist. Ähnlich wird

22

Judas Iskarioth könnte als "Mann aus Kerijot" (vgl. Jos 15,25) gedeutet werden. Andere Ableitungen bringen das Wort mit lat. sicarius = "Bandit" in Verbindung oder leiten es von sch e qarja "Lügner" ab. Vgl. die Zusammenstellung der Argumente bei M.LIMBECK: ΑτΙ.Ίσκαριώθ, EWNT II, 491-3, der entschieden für die letzte Deutung eintritt. Das MkEv hätte in diesem Fall außerhalb der Passionsgeschichte keine einzige Herkunftsbezeichnung neben "Jesus von Nazareth" Die Sonderstellung der Passionsüberlieferung würde dadurch noch klarer hervortreten. . . . . . . "Simon der Kananaios" ist wörtliche Wiedergabe von hebr. "der Eiferer", der "Zelot" (vgl. Lk 6,15; Apg 1,13; Ebionäerev. Frg.l = Epiphanius haer. 30,13,2f). "Kanaanäer" als Herkunftsbezeichnung würde Χαναναϊος lauten (vgl. Mt 15,22). Vgl. die Diskussion bei M.HENGEL: Die Zeloten, AGJU 1, Leiden/Köln 1961 2 1976, 72f. Natürlich ist nicht ausgeschlossen, daß der MkEvangelist selbst "Kananaios" als Herkunftsbezeichnung verstanden hat. 24 Die Identifikation durch den Vater ist in der ganzen Antike das Übliche; vgl. H.RIX: Art. Personennamen, KP 4, 657-661. Sie dominiert auch im Alten Testament, vgl. L.KÖHLER: Archäologisches. Nr.16-19, ZAW 40 (1922) 15-46, darin Nr.18: Die Personalien des Oktateuchs, 20-36, bes. 22-24. Nur selten wird der Vater durch die Kinder charakterisiert.

188 auch Mk 15,21 und 15,40 zu beurteilen sein, zumal weitere Indizien in dieselbe Richtung weisen. Simon von Kyrene wäre durch den Herkunftsort "Kyrene" ausreichend charakterisiert (vgl. Mk 1,9; 15,40; 15,43). Die Hinzufügung der beiden Söhne ist zur Identifikation nicht notwendig. Mt und L k lassen sie weg. Sie haben keine erzählerische Funktion. D a s einzige plausible Motiv, ihren N a m e n an dieser Stelle zu nennen, wäre: Sie sind den Tradenten der Passionsgeschichte bekannt. D a ß sie zur christlichen Gemeinde gehört haben, ist eine naheliegende, aber unbeweisbare Vermutung. 2 5 Im Fall der zweiten Maria muß der L e s e r ebenfalls ein Vorwissen über diese M a r i a mitbringen. Denn der Text erlaubt sechs Übersetzungen:

1. και Μαρία ή 'Ιακώβου του μ.ιχροϋ και Ίωσήτος μ.ήχηρ = eine Frau mit Namen "Maria". a) Maria, (die Frau) b) Maria, die Mutter c) Maria, (die Tochter)

25

des kleinen Jakobus und des kleinen Jakobus und des kleinen Jakobus und

die Mutter des Joses die Mutter des Joses die Mutter des Joses

Vgl. M.DIBELIUS, Formgeschichte, 183; ders.: Das historische Problem der Leidensgeschichte (1931), in: M.Limbeck (ed.): Redaktion und Theologie des Passionsberichtes nach den Synoptikern, WdF 481, Darmstadt 1981, 57-66, S.61; G.SCHNEIDER, Passion Jesu, 112. Die drei Personennamen in Mk 15,21 hat man auch als Lokalindiz ausgewertet für Jerusalem wie für Rom. So vermutet L.SCHENKE, Christus, 91f, Simon habe zum Stephanuskreis gehört, der ja laut Apg 6,9 mit Diasporajuden aus Kyrene in Kontakt stand. Die hellenistische Urgemeinde habe bei einer sekundären Bearbeitung der Passionstradition ihren Gewährsmann Simon in die Erzählung eingefügt nicht zuletzt mit einem polemischen Akzent gegen die Jünger (d.h. gegen die Hebräer von Apg 6,Iff), die geflohen und bei der Kreuzigung nicht anwesend waren. Daß in einer Grabkammer des 1. Jhdt.s im Kidrontal ein "Alexander, Sohn des Simon" bezeugt ist, der eventuell aus Kyrene stammt, sei wenigstens am Rande vermerkt; vgl. N A V I G A D : A Depository of Inscribed Ossuaries in the Kidron Valley, I E J 12 (1962) 1-12. Einen Hinweis auf die römische Gemeinde hat man dem Namen "Rufus" entnommen, den Paulus in Rom 16,13 grüßt; vgl. V.TAYLOR: The Gospel according to St. Mark, London 1952, 588; E.LOHSE: Die Geschichte des Leidens und Sterbens Jesu Christi, Gütersloh 1964 = G T B 316, Gütersloh 1979, 92. Daß Simon zur Gemeinde gehört hat, ist keineswegs sicher. Er wird als "ein gewisser Simon aus Kyrene" eingeführt, nicht als eine bekannte Größe. Dagegen werden mit den Namen Alexander und Rufus vertraute Personen genannt. Sie werden nicht erläutert.

189 2. καί Μαρία ή "Ιακώβου τοϋ μικρού και Ίωσήτος (λήτηρ = zwei Frauen, die Maria heißen bzw. von denen die zweite anonym ist. a) Maria, (die Frau) b) Maria, die Mutter c) Maria, (die Tochter)

des kleinen Jakobus und (Maria?,) des kleinen Jakobus und (Maria?,) des kleinen Jakobus und (Maria?,)

die Mutter des Joses die Mutter des Joses die Mutter des Joses

Nicht alle Übersetzungen sind gleich wahrscheinlich. "Maria, die Mutter des kleinen Jakobus und des Joses" [= lb] hat den Vorzug, ohne gedankliche Ergänzungen auszukommen. Sie entspricht zudem der Auffassung des MtEv, das nur zwei Marien kennt: Maria Magdalena und eine "andere Maria" (Mt 27,61; 28,l). 26 Für uns aber ist entscheidend: Tradenten und Adressaten waren die Familienverhältnisse der Maria transparent. Sie müssen gewußt haben, welche der sechs möglichen Beziehungen zutraf. Dazu kommt eine zweite Beobachtung: Die differenzierende Charakterisierung des Jakobus als "des Kleinen" setzt bekannte Menschen mit gleichem Namen voraus.27 Allein im MkEv werden vier Anhänger Jesu mit diesem Namen genannt. Neben Jakobus dem Kleinen der Zebedaide (Mk 3,17), der Herrenbruder (Mk 6,3) und der Sohn des Alphäus (Mk 3,18). Zwei von ihnen sind eng mit der Jerusalemer Gemeinde verbunden: Jakobus der Zebedaide wurde zwischen 41 und 44 in Jerusalem enthauptet (Apg 12.2; vgl. Mk 10,35ff). Jakobus der Herrenbruder war seit den 40er Jahren die dominierende Gestalt in der Urgemeinde und wurde 62 n.Chr. in Jerusalem gesteinigt. Ein Bedürfnis zur Differenzierung eines "kleinen Jakobus" von anderen ("größeren") Namensträgern existierte in der Zeit von ca. 30-65 n.Chr. vor allem in Jerusalem.28 26

Für insgesamt vier Frauen in Mk 15,40 (meist im Sinne der unter 2b oben aufgeführten Übersetzung) plädieren insbesondere L.SCHOTTROFF: Maria Magdalena und die Frauen am Grabe Jesu, EvTh 42 (1982) 3-25, S.8 und R.PESCH, Mk II, 505507. Für unsere Fragestellung ist entscheidend: Die Namenangaben sind so mißverständlich, daß sie ein Vorwissen voraussetzen, das dem Leser eine eindeutige Zuordnung ermöglicht. 27

Wo im Urchristentum Namensgleichheit vorliegt, beobachten wir eine Tendenz zur Differenzierung durch Beinamen: 1. "Simon" begegnet als Simon Petrus, Simon Kananaios (Mk 3,18), Simon der Kyrenäer (Mk 15,21), Simon der Aussätzige (Mk 14,3), Simon der Gerber (Apg 9,43), Simon Magus (Apg 8,9). 2. "Judas" hat den Beinamen Iskarioth (Mk 3,19), Barsabbas (Apg 15,22) oder wird als "Sohn des Jakobus" (Lk 6,16) von anderen Judassen unterschieden.

ya

Der Mk-Evangelist läßt offen, in welchem Verhältnis "Maria die des kleinen Jakobus und des Jose Mutter" (15,40) zur Mutter Jesu in Mk 6,3 steht, obwohl auch in 6,3 ein Jakobus und Jose in derselben Reihenfolge genannt werden. Da der Evangelist keinen

190

Nehmen wir noch eine dritte Beobachtung hinzu: Wie bei Simon von Kyrene wird die in 15,40 genannte zweite Maria durch ihre Söhne charakterisiert (zumindest durch Joses). Wieder sind die Söhne dem Tradentenkreis vertrauter als die Eltern. Wieder gelangen wir in die Zeit der Generation nach dem Auftreten Jesu - also in einen Zeitraum von ca. 40-70 n.Chr. Dabei ist zu berücksichtigen, daß im joh Traditionsstrom eine der Mariengestalten zur Mutter Jesu geworden ist (Joh 19,26). Die Generation der Söhne dieser Frauen gilt noch als Generation Jesu. Es ist die Generation des Herrenbruders Jakobus, der Jesus ca. 30 Jahre überlebte. 2. Aufschlußreich sind auch die durch Herkunftsort charakterisierten Personen. Sie sind in der Passionsgeschichte zahlreicher als die durch Familienbeziehungen charakterisierten Namen. Was läßt sich aus ihnen erschließen? Zunächst ein trivialer Sachverhalt: Herkunftsnamen werden nicht an den Herkunftsorten geprägt. Jesus wurde nicht in Nazareth "Nazarener" genannt, Joseph nicht in seinem Herkunftsort "Joseph von Arimathia".29 Die Tradenten der Passionsüberlieferung sind also weder in Nazareth, Magdala, Arimathia (und gewiß nicht in Kyrene) zu suchen. Das ist aber so wenig aufschlußreich wie die Tatsache, daß Petrus als "Galiläer" verdächtigt wird (14,70). Denn diese Einordnung wird von einer Jerusalemer Magd vorgenommen und sagt nichts über die Perspektive der Erzähler. Eine zweite Beobachtung führt etwas weiter. Herkunftsbezeichnungen setzen voraus, daß die genannten Herkunftsorte für Tradenten und Adressaten differenzierenden Charakter haben, d.h. sie müssen als Alternative zu anderen Ortsnamen mit etwa gleichem Bekanntheitsgrad auftreten können. Orte wie bewußten Ausgleich geschaffen hat, wird er die Namen an beiden Stellen aus seiner Tradition übernommen haben, ohne sie deshalb zu identifizieren. Das schließt nicht aus, daß in der vormk Traditionsgeschichte dieselbe Maria gemeint war. In Joh 19,25f begegnet eine Tradition, nach der die Mutter Jesu am Kreuze anwesend war. Wenn man einmal diesen Gedanken durchspielt, könnte man folgern: Jakobus der Herrenbruder (Mk 6,3) muß mit Jakobus dem Kleinen (15,40) identisch sein. Eine Notwendigkeit, ihn als den "Kleinen" von einem größeren Jakobus abzugrenzen, bestand vor allem bis zum Tod des Zebedaiden Jakobus, der eine bedeutende Stellung in der Urgemeinde gehabt hat; wird er doch neben Petrus als deren Repräsentant inhaftiert (Apg 12,Iff). Die Rede von "Jakobus dem Kleinen" wäre dann vor 44 n.Chr. entstanden. Später war Jakobus selbst eine große Gestalt, um deretwillen ThEv Lg 12 Himmel und Erde geschaffen sein läßt. Da die Voraussetzung dieser Überlegung - die Identität der in Mk 15,40 genannten Maria mit der Mutter Jesu - nicht sicher ist, kann es sich nur um eine vage Möglichkeit handeln, die man nicht als Argument heranziehen kann. 29 Ein aufschlußreiches Beispiel ist der Begründer der vierten jüdischen Sekte, Judas, bei Josephus. In ant 18,4 gilt er als "Gaulanit", in ant 18,23 als "Galiläer". "Gaulanit" könnte sein Beiname in Galiläa, "Galiläer" in Judäa gewesen sein (vgl. Apg 5,37).

191

Nazareth, Magdala und Arimathia liegen hinsichtlich ihres Bekanntheitsgrades etwa auf derselben Ebene: Außerhalb Palästinas konnte sich kein Mensch unter ihnen etwas vorstellen. In diesen drei Ortsnamen - vielleicht auch in Karioth, falls Isch-Karioth als "Mann aus Kerijot" zu deuten ist - begegnet uns eine begrenzte palästinische Lokalperspektive. Für die Bewohner dieser Lokalperspektive muß andererseits ein Name wie "Kyrene" differenzierenden Charakter gehabt haben, d.h. als Alternative zu anderen Provinzen oder Landschaften auftreten können - so wie Kyrene in Apg 6,9 als Alternative zu Alexandrien, Kilikien und Asien begegnet. Hier läge eine überregionale Perspektive vor. Die Verbindung von lokaler und überregionaler Perspektive wäre in einer großen Stadt Palästinas gut denkbar - besonders in Jerusalem, wo Juden aus Kyrene ausdrücklich bezeugt sind (Apg 6,9). Interessant ist ein Vergleich mit den Herkunftsbezeichnungen im bellum Judaicum. In der Regel wird dort der Vater zur Identifikation angegeben, nur in Ausnahmefällen der Herkunftsort. Es gibt den Araber Sylläus (bell 1,574), einen Samariter Antipater (bell 1,592), Judas den Galiläer (bell 2,433; vgl. 2,117), Niger den Peräer (bell 2,250; 2,566), Silas den Babylonier (bell 2,250; 3,11). Bei Judas und Niger betont Josephus ausdrücklich, daß sie "Galiläer" bzw. "Peräer" genannt werden, ihr Beiname also ein geläufiges Attribut ist (bell 2,433; 2,520). In seinem für einen großen, griechisch sprechenden Leserkreis gedachten Werk nennt Josephus also meist größere Landesteile wie Samarien, Galiläa, Peräa zur Identifikation von Personen - denn hier kann er bei seinen Lesern mit differenzierenden Kenntnissen rechnen. Die beiden Ausnahmen in bell 3,233 und 5,474 bestätigen die Regel, da hier den unbekannten Orten Ruma und Garis jeweils ein Hinweis auf Galiläa hinzugefügt wird.30 Als konkreter Ort begegnet ohne Erläuterung nur die weltbekannte Stadt "Babylon" In der Passionsgeschichte ist die Lokalperspektive deutlich begrenzter als bei Josephus.31 Eine dritte Überlegung sei abschließend kurz skizziert: Die Identifikation von Personen geschieht in der Antike durch Angabe des Vaters. Das gilt für Palä30 Josephus bell 3,233 spricht von "Netiras und Philippus aus dem Dorf Rume, Galiläer auch sie." Hier führt Josephus zu dem unbekannten Ort Ruma (heute rumah) das bekannte "Galiläer" hinzu. In bell 5,474 wird Garis als "Stadt Galiläas" für den Leser lokal eingeordnet. 31 · . . . . Ein Blick in die antiquitates bestätigt diesen Eindruck. Josephus spricht von Berossus dem Chaldäer (ant 1,93), Hieronymus dem Ägypter (1,94), Nikolaus von Damaskus (1,94), Herodot von Halikarnassos (8,260), Strabo dem Kappadokier (14,104), Judas dem Gaulaniter aus der Stadt Gamala (18,4) und Judas dem Galiläer (18,23). Immer handelt es sich um Herkunftsbezeichnungen, die für einen Leser außerhalb Palästinas verständlich sind. Nur Judas macht eine Ausnahme.

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stina, Griechenland wie Rom. Gerade deshalb muß es auffallen, daß in der Passionsüberlieferung zwar mehr charakterisierte Personen auftreten als sonst in der synoptischen Überlieferung, daß sie aber in keinem Fall durch ihren Vater identifiziert werden. Dahinter steht ein konkreter geschichtlicher Prozeß: Der Name des Vaters ist dort von Bedeutung, wo Vater und Familie bekannt sind. In Jerusalem sammelte sich aber die erste urchristliche Gemeinde aus Menschen, die z.T. nach Jerusalem übergesiedelt waren. Hier war der Herkunftsort signifikanter als der Vater. Nimmt man hinzu, daß die ersten Christen oft nach einem radikalen Bruch mit dem Elternhaus zu den Anhängern Jesu stießen (vgl. Mt 8,20f), so wird plausibel, daß die Väter als Identifikationspersonen zurücktreten: Nach ihnen wird man in der allgemeinen Gesellschaft identifiziert, nicht in der Gemeinde: Denn die Gemeinde ist die familia dei, welche die irdische Familie ablöst. Aus den genannten Namen können wir auf jeden Fall eins über die Gemeinde hinter der Passionsgeschichte lernen: Zu ihr gehörten Menschen, die aus Palästina und aus der Diaspora kamen. Eine Gemeinde mit dieser Zusammensetzung - Palästiner aus Galiläa und Hellenisten aus der Diaspora ist für die Anfänge des Urchristentums in Jerusalem bezeugt. Alles spricht dafür, daß die Jerusalemer Gemeinde als Entstehungsort der Passionsüberlieferung anzusehen ist. 3. Drei der in der Passionsgeschichte namentlich genannten Personen werden durch ihre Gruppenzugehörigkeit charakterisiert. Judas wird gleich zwei Mal als εΓς των δώδεκα eingeführt (14,10.43). Damit wird unterstrichen, daß einer aus dem engsten Jüngerkreis Jesus verraten hat. Diese Wiederholung muß nicht unbedingt auf einen alten Passionsbericht weisen, der in 14,43 zum ersten Mal von Judas sprach,32 zumal der geläufige Beiname "Iskarioth" (3,19 und 4,10) fehlt.33 J.JEREMIAS, Abendmahlsworte, 89, bringt vier Argumente für den Einsatz der alten Passionsgeschichte mit der Gefangennahme: 1. die Übereinstimmung mit den Passionssummarien, 2. die Einführung des Judas als unbekannte Person, die in Lk 22,47 eine (von Mk unabhängige?) Parallele habe, 3. die neutrale Schilderung der "Jünger" als Dabeistehende. Auch G.SCHNEIDER: Die Verhaftung Jesu. Traditionsgeschichte von Mk 14,43-52, ZNW 63 (1972) 188-209, sieht in Mk 14,43ff den Beginn einer alten Passionsgeschichte, hält aber die Charakterisierung des Judas für redaktionell (vgl. S.196). Sie solle das Ungeheuerliche des Verrats durch ein Mitglied des engsten Jüngerkreises betonen. - Es ist übrigens nicht einzusehen, warum zu einem mit der Verhaftung Jesu einsetzenden Passionsbericht nicht auch die Vorbereitungen zur Verhaftung (Mk 14,12.10-11) und andere Stücke aus Mk 14 gehört haben sollen: Die Ankündigung des Verräters, der Jüngerflucht und der Petrusverleugnung. 33

Einige Handschriften (A;K;0;545; 1241; 1424) tragen den Beinamen Iskarioth nach. Die vollständige(re) Charakterisierung des Verräters ist hier gewiß kein Zeichen für die

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Aufschlußreicher ist die Zuordnung des Petrus zum Jüngerkreis. Eine Magd identifiziert ihn als Anhänger des Jesus von Nazareth. Sie hat ihn zusammen mit Jesus gesehen. Petrus leugnet zweimal. Danach sprechen ihn andere Anwesende als Anhänger Jesu an, jetzt aufgrund der allgemeinen Aussage: "Du bist ein Galiläer" (14,70). Stillschweigend wird vorausgesetzt, daß ein Galiläer eindeutig identifizierbar ist, sei es durch seine Kleidung, sei es durch seine Sprache.34 Petrus hat ja inzwischen gesprochen. Und so ist es ganz logisch, wenn Mt die Knechte des Hohenpriesters ausdrücklich sagen läßt: "Deine Sprache macht dich offenbar" (Mt 26,73). Die hinter der mk Passionsgeschichte stehende Erzählgemeinschaft hat hier keinen Erklärungsbedarf gespürt. Etwa deshalb, weil sie mit den Verhältnissen vertraut ist?35 Zumindest ist das eine mögliche Erklärung, deren Plausibilität freilich dadurch abgeschwächt wird, daß Lk die Erkennbarkeit des Petrus als Galiläer ebensowenig erläutert wie Mk (vgl. Lk 2,59). Die interessanteste Gestalt unter den drei durch Gruppenzugehörigkeit charakterisierten Personen ist Barabbas. Bei seiner Einführung fallen einige Merkwürdigkeiten auf. a) Er wird als ό λεγόμενος Βαραββίς eingeführt, als wäre er schon einmal erwähnt worden. Vorher ist aber nur vom allgemeinen Brauch der Passaamnestie die Rede. Muß man also übersetzen: "Der (im Rahmen dieser Amnestie zur Freilassung) nominierte (Gefangene) war Barabbas "?36 Aber Einführung eines noch unbekannten Judas! 34

Über die verschiedene Sprachsituation in Galiläa und Jerusalem vgl. CH.RABIN: Hebrew and Aramaic in the First Century, CJNT 1,2, Assen 1976, 1007-1039, dort S.1036: "While we may assume that in Jerusalem and Judaea mishnaic Hebrew was still the ruling language, and Aramaic took the second place, the situation must have been reversed in areas such as the coastal plain and Galilee. There Aramaic, and possibly Greek, were the dominant languages spoken by people from all classes, while Hebrew mainly functioned as a literary language."

35

Nach G.SCHNEIDER, Passion, 72-79, und L.SCHENKE, Christus, 21f, spiegelt das (nach ihrer Meinung ursprünglich isoliert tradierte) Einzelstück die Lage der Jerusalemer Gemeinde wider, deren Mitglieder durch Anzeigen bei den Behörden bedroht waren. Schwach gewordene und abgefallene Christen wurden mit dem Beispiel des Petrus gemahnt, umzukehren. Spielte dabei eine Rolle, daß die Gemeinde viele Galiläer umfaßte? Nach J.GNILKA, Mk II, 291, legt die Identifikation des Petrus als Galiläer sogar "eine Lokalisierung der Überlieferung in Jerusalem nahe." ^ Das dysfunktionale λ ε γ ό μ ε ν ο ς kann in dreifacher Weise interpretiert werden: 1. Barabbas war damals bekannt (Vgl. Mt 27,16); 2. Barabbas war der zur Freilassung nominierte Gefangene (so R.PESCH, Mk 11,463); 3. Ein ursprüngliches "Jesus" ist weggefallen (vgl. Mt 27,16 (H) f* 700). Durch den Beinamen "Barabbas" wird dieser Jesus von Jesus von Nazareth differenziert. Ein ursprüngliches Jesus nimmt

194 die Bitte des Volkes um Freilassung eines Gefangenen wird erst später erzählt (15,8). Dabei ist die Nominierung offen. Pilatus kann deshalb zwei Gefangene zur Wahl stellen. Wahrscheinlicher ist daher die Annahme, daß die Erzähler damit rechnen: Jeder weiß, wer der "sogenannte Barabbas" ist. In diesem Sinne schreibt Mt, es handle sich um einen "damals berühmten Gefangenen, der Barabbas genannt wurde" (Mt 27,16). Was Mt explizit aus narrativer Distanz heraus darstellt, setzt Mk naiv voraus: die Bekanntheit des Barabbas. Liegt hier nicht ein Vertrautheitsindiz vor, das eine große Nähe zu den Ereignissen verrät? 37 b) Barabbas wird nicht ausdrücklich als Aufrührer bezeichnet. Wörtlich steht da: Er war "mit (μετά) den Aufrührern gefangengenommen worden", so daß die Erzählung ihn möglicherweise für unschuldig gehalten hat. Die Präposition μ,ετά kann bedeuten, daß jemand einer Gruppe zugerechnet wird, in Wirklichkeit aber nicht zu ihr gehört. So wird Jesus nach Lk 22,37 "unter die Räuber" (μετά άνομων) gezählt, und nach Lk 24,5 "unter die Toten" (μετά των νεκρών), ist in Wirklichkeit aber unschuldig und lebendig. Jedoch könnte μετά auch eine objektiv zutrefffende Gruppenzugehörigkeit signalisieren. So gehört Petrus "zu Jesus": μετά τοΰ Ναζαρηνοΰ (Mk 14,67). Erst Lk hat hier Klarheit geschaffen. Barabbas ist bei ihm "wegen Mord ins Gefängnis geworfen worden" (Lk 23,19). Die mk Fassung läßt sich dagegen u.U. so verstehen, als sei Barabbas unschuldig, zumindest aber nicht am Mord beteiligt. Die Bitte des Volkes um seine Freilassung wäre dann verständlich. 38 E.KLOSTERMANN, Mt, 220, für Mk 15,6 an. γ ι

Die Barabbasperikope gilt oft als unhistorisch. Zur Begründung werden zwei etwas in Spannung stehende Argumente angeführt: 1. Eine Amnestie zu Festtagen oder zum Passatag (Joh 18,39) ist nicht nachweisbar (vgl. P.WINTER: On the Trial of Jesus, SJ 1, Berlin 1961, 94). Man muß dann erklären, wie die erzählerische Phantasie auf diesen Brauch kam. Dazu dient das 2. Argument: Aufgrund allgemeiner Freilassungsbräuche zu Festen in der Antike sei die Barabbasperikope zur Entlastung der Römer sekundär geschaffen worden. So zuletzt R.L.MERRITT: Jesus Barabbas and the Paschal Pardon, JBL 104 (1985) 57-68. Die Verteidiger der Historizität schlagen ebenfalls zwei in Spannung stehende Wege ein: Unter der Voraussetzung, daß es keine allgemeine Passaamnestie gab, nimmt man an, daß die Überlieferung den einmaligen Feill des Barabbas zu einer generellen Institution verallgemeinert habe. So J.GNILKA, Mk, 300f, 304. Oder man bestreitet die Voraussetzung, es habe keine Passaamnestie gegeben: Es könnte ein jüdischer Brauch von den Römern in Respektierung provinzialer Rechtstraditionen übernommen worden sein. So A.STROBEL, Stunde, bes. 120f. 38 Auf diese Möglichkeit weist R.PESCH, Mk II, 463, hin. Falls in Mk 15,6ff noch eine Überlieferung greifbar ist, in der Barabbas ein Mit-Gefangener war, der nicht am "Mord" schuldig war, so wären in diesem Bericht noch keine apologetischen Motive vorhanden, "die Juden" anstelle des Pilatus zu belasten. Auch jetzt handeln in der Barabbasperikope nur die Hohenpriester (nicht wie sonst neben ihnen die Schriftge-

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c) Es wird ganz selbstverständlich von "den Aufrührern" gesprochen, die bei "dem Aufruhr" gefangengenommen wurden. Der zweimalige Artikel suggeriert dem Leser, er müsse wissen, worum es sich handelt. Mt läßt den Hinweis auf den Aufruhr weg. Lk verändert ihn geschickt: Barabbas sei wegen eines gewissen in der Stadt geschehenen Aufruhrs (δια στάσιν -uva) inhaftiert worden (Lk 23,19). Damit übernimmt Lk die Rolle des in unbekannte Ereignisse einführenden Erzählers. Mk verfügt über entsprechende erzählerische Kompetenz, wie die Einführung des Jordan (1,5), Gethsemanes (14,32) und Golgathas (15,22) zeigt. Hier aber setzt sein Text unbefangen Kenntnisse voraus, die ein Leser bald nicht mehr haben konnte. Der Text müßte dann noch zu einer Zeit formuliert worden sein, in der man den in ihm genannten Aufruhr nicht mit anderen verwechseln konnte. Unter Pilatus gab es ja mehrere Konflikte. Einen von ihnen, den Aquaedukt-Konflikt, nennt Josephus sogar eine στάσις (ant 18,62) bzw. eine "Unruhe" (ταραχή, bell 2,175). Der Bilderkonflikt und der Samaritanerkonflikt fallen unter das Stichwort θορυβεϊν bzw. θόρυβος (vgl. ant 18,58; 18,85-87). Aus Lk 13,Iff hören wir von einem ansonsten unbekannten Konflikt mit Pilgern. Kurz: Es gab viele Unruhen. Die Erzählgemeinschaft der Passionsüberlieferung aber fühlte sich durch einen Hinweis auf "den Aufruhr" ausreichend informiert. Man kann nur vermuten, daß der Text noch vor den nächsten großen Unruhen formuliert wurde. Denn dann hätte man "historisierend" die vorhergende "stasis" von den jüngeren abgehoben. Die nächste Jerusalem betreffende Unruhe mit blutigen Zusammenstößen aber wäre das Auftreten des Theudas unter Cuspius Fadus (44/45 n.Chr.; vgl. Apg 5,36; ant 20,97-98). Ist es denkbar, daß die Geschichte von Barabbas älter ist?39 Die bisherige Untersuchung hat somit eine Reihe von Vertrautheitsindizien in der mk Passionsüberlieferung zusammengetragen, die darauf hinweisen, daß sie in der Generation nach Jesu Wirken - wahrscheinlich in Jerusalem geprägt wurde. Doch noch haben wir nicht alle Personen in der Passionsgeschichte betrachtet. Es fehlen zwei für unsere Fragestellung vielleicht entscheidende Gestalten:

lehrten und Ältesten). Sie sind die eigentlichen Gegner Jesu - auch hier wird noch keine allgemeine Anklage gegen die Juden sichtbar. Vgl. dagegen die Fassung in Joh 18,38-40, wo nicht die Hohenpriester, sondern "die Juden" Barabbas freibitten. Zwischen den Hohenpriestern und dem Volk wird nicht mehr differenziert. 39 Anders D . L U H R M A N N , Mk, 256. Er sieht in der Rede von "der Stasis" einen Anachronismus des Mk-Evangelisten, für den "der Aufstand" mit dem Jüdischen Krieg identisch ist. Die verschiedenen Phasen des Widerstands von der Zeit Jesu bis 66-70 n.Chr. seien in seiner Perspektive zu einer Einheit verschmolzen. Das wird für die mk Redaktion richtig sein, schließt aber nicht aus, daß Mk den Text übernommen hat.

196

C. Anonyme Personen in der Passionsgeschichte In der Überlieferung von der Gefangennahme Jesu treten gleich zwei anonyme Personen auf: ein "Dabeistehender", der mit dem Schwert das Ohr des "Knechtes des Hohenpriesters" abschlägt (14,47), und ein anonymer Jüngling, der sich der Gefangennahme durch Flucht entzieht (14,51f). Beide werden durch τις eingeführt, der Schwertzieher sogar durch doppeltes είς Sé τις των παρεστηκότων, als wolle Mk sagen "irgendein Jemand unter den Dabeistehenden"; εις + Genitiv ist im MkEv die übliche Wendung zur Einführung einer anonymen Person, τις begegnet nur noch in Mk 11,3 und 15,36.40 Umstritten ist, in welcher Beziehung die beiden Personen zu Jesus innerhalb der Erzählung stehen. Sind sie als Anhänger Jesu gedacht? Handelt es sich um zufällig Anwesende? Oder ist der Schwertzieher einer der "Polizisten", der den Falschen trifft? Man wird zugeben müssen: Der unbefangene Leser denkt an Menschen, die auf Jesu Seite stehen. Aber ist die Korrektur solcher Unbefangenheit durch einige Exegeten völlig unberechtigt?41 Da wird bei der Gefangennahme Jesu von einem "Haufen" erzählt, der mit Schwertern und Stangen auszieht, um Jesus festzunehmen. Die Häscher haben Schwerter. Wenn nun im Gedränge einer ein Schwert zieht - könnte es nicht ein Häscher sein, der mit seiner Aktion den Falschen trifft? Kann man den Anhängern des Predigers der Gewaltlosigkeit Gewaltanwendung zuschreiben? Das Problem ist nur: Die ersten Christen haben den Text gewiß nicht so verstanden. Bei Lk gehört der Schwertzieher als einer der οΐ περί αυτόν zu den Jüngern (Lk 22,49). Ebenso ist er bei Mt "einer derer, die mit Jesus waren" Joh 18,1 Of identifiziert ihn sogar mit Petrus. Die Tradition sieht in ihm immer einen Jünger. Um so mehr fällt auf: Im MkEv wird dieser Schwertzieher nicht eindeutig Jesus zugeordnet. Seine Beziehung zu ihm bleibt im dunkeln. Oder soll sie bewußt im dunkeln bleiben? Dasselbe gilt von dem viel umrätselten Jüngling von 14,51. Er folgt zusammen mit anderen Jesus: συνηκολουθει αύτω. In Mk 5,37 bezieht sich das Verb συνακολουθεϊν auf den engsten Jüngerkreis. Der aber kann im Bericht von 40

είς + Genitiv in Mk 5,22; 6,15; 8,28; 9,17.42; 10,17; 12,28; 13,1; 14,20.26. Häufiger findet sich der Plural τίνες.

41

Für eine Deutung des Schwertziehers als eines der Häscher setzen sich vor allem L.SCHENKE, Christus, 118-120, und R.PESCH, Mk 11,400 ein. Daß die Jünger in der Verhaftungsszene nicht eindeutig als solche identifiziert sind, ist richtig. Aber wenn es heißt "alle flohen", so muß der Leser an die Jünger denken, auch wenn sie nicht eindeutig "Jünger" genannt werden.

197 Jesu G e f a n g e n n a h m e nicht gemeint sein. Unmittelbar vorher wird ausdrücklich festgestellt: "Alle flohen" Erst nach der Flucht "aller" Jünger ist von der mißglückten Festnahme und Flucht des "Jünglings" die Rede. So bleibt auch hier im Zwielicht, ob er ein Anhänger Jesu ist, der bei seiner Flucht der Inhaftierung knapp entgeht - oder ob er gar nicht zum engeren Jüngerkreis gehört. Wieder kann man fragen: Soll sein Verhältnis zu Jesus bewußt im Zwielicht bleiben? Beim exegetischen Rätselraten um diesen jungen Mann lassen sich drei D e u tungen unterscheiden: 1. Der Jüngling von Mk 14,51 gilt als Zeuge des Geschehens. Er wird in der Erzählung erwähnt, um die Glaubwürdigkeit des Geschehens zu belegen. 42 Dagegen kann man einwenden, daß gerade Gefangennahme und Jüngerflucht keiner Zeugen bedürfen. Waren hier doch alle Jünger anwesend. Außerdem wäre die Zeugenfunktion des fliehenden jungen Mannes überzeugender, wenn man seinen Neunen erführe (wie bei Simon von Kyrene und seinen Söhnen in 15,21). 2. Die Flucht des jungen Mannes in Mk 14,51f könnte als Schrifterfiillung erzählt sein. Amos spricht von den "Helden", die am Tage Jahwes nackt fliehen werden (Am 2,16). 43 Aber "Helden" (im Plural) sind etwas anderes als ein junger Mann (im Singular), ferner spricht die LXX an dieser Stelle von einem "Verfolgtwerden", was in Mk 14,51 fehlt, schließlich hat Arnos sonst kaum die Passionsgeschichte beeinflußt (allenfalls noch Mk 15,33). Noch unwahrscheinlicher ist die Deutung von Mk 14,51 als Josefstypologie: 44 Josef hinterließ aus ganz anderen Gründen sein Gewand in den Händen der Frau des Potiphars (vgl. Gen 39,12). 3. Die symbolische Deutung des jungen Mannes tritt in zwei Varianten auf: Entweder wird seine Flucht zu einem Symbol der Rettung Jesu aus der Hand seiner Verfolger, denen er durch seine Auferstehung entzogen wird. In diesem Falle sieht man allerhand hintergründige Beziehungen zwischen dem fliehenden Jüngling von Mk 14,51 und dem Jüngling im leeren Grab. 45 Dem mk Kontext entspricht eher die entgegengesetzte Deutung: Die Flucht ist nicht Symbol der Rettung, sondern des Versagens und des Unverständnisses der Jünger. Aber warum werden sie dann nicht eindeutiger als Jünger dargestellt? Es ist noch immer eine o f f e n e Frage, worin die erzählerische Funktion der beiden anonymen Personen gelegen hat. Sind sie wirklich nur Zeugen, Typen

42

Vgl. M.DIBELIUS: Das historische Problem, 60f; V.TAYLOR, Mk, 561f; Th.ZAHN: Einleitung, 250, wollte diesen Jünger gar mit dem Evangelisten selbst identifizieren.

43

So A.LOISY: L'évangile selon Marc, Paris 1912, 425; E.KLOSTERMANN, Mk, 153.

44

So H.WAETJEN: The Ending of Mark and the Gospel's Shift in Eschatology, ASTI 4 (1965) 114-131.

45

So A.VANHOYE: La fuite du jeune homme nu (Me 14,51-52), Bib 52 (1971) 401406.

46

So H.FLEDDERMANN: The Flight of a Naked Young Man (Mark 14,51-52), CBQ 41 (1979) 412-418.

198

oder Symbole? Oder hat man aus einem ganz einfachen Grund von ihnen erzählt: Unbestreitbar war, daß einer aus dem engsten Kreis Jesus verraten hatte; unbestreitbar, daß alle Jünger geflohen waren. In der Gemeinde mußte plausibel gemacht werden, warum es dazu kam. War es da nicht entlastend, wenn man erzählen konnte: Wenigstens einer hat versucht, Jesus mit Gewalt zu befreien (14,47)? Wurde das Bild der völligen Verlassenheit Jesu nicht ein wenig aufgehellt, wenn ein anderer mit ihm festgenommen werden sollte? Das Stichwort κρατεί ν begegnet sowohl in Mk 14,46 wie 14,51. Warum aber die Anonymität der beiden Anhänger Jesu? Warum die Unklarheit über ihr Verhältnis zu Jesus? Man kann über diese Anonymität nicht einfach hinweggehen. Denn die ganze Perikope hat ihre Pointe ja darin, daß Jesus durch Verrat identifiziert wird. Selbst die dunkle Nacht und der abgelegene Ort bieten ihm keinen Schutz. Jesus verliert seine "Anonymität". Zwei Menschen aus seiner Umgebung bleiben dagegen anonym. Bedenkt man, daß in der Passionsüberlieferung Personen sonst oft näher charakterisiert werden, so fallen diese beiden anonymen Einzelpersonen um so mehr auf. Das erzählerische Motiv für diese Anonymität ist m.E. nicht schwer zu erraten: Beide kommen in Konflikt mit der "Polizei" Der Schwertzieher begeht kein Kavaliersdelikt, wenn er das Ohr eines anderen abschlägt. Hätte der Schlag nur geringfügig anders getroffen, so wären Kopf oder Hals verletzt worden. Dieser Schwertschlag ist Gewaltanwendung mit möglicher Todesfolge. Auch der anonyme Jüngling übt Gegenwehr. In einem Handgemenge kommt seine Kleidung abhanden, so daß er nackt fliehen muß. Beide Personen waren in der Folgezeit gefährdet. Solange die Knechte des Hohenpriesters lebten (und solange die Folgen des Schwertschlags zu sehen waren), war es inopportun, ihre Namen zu nennen; ja, es war nicht einmal klug, sie als Mitglieder der urchristlichen Gemeinde zu zeichnen. Ihre Anonymität ist Schutzanonymität, die Verdunkelung ihrer positiven Beziehung zu Jesus Vorsichtsstrategie.47 Erzähler und Adressaten wußten mehr über beide Personen. Nur sie könnten unsre Fragen beantworten, wer sie waren, ob Petrus der Schwertzieher war, ob beide identisch waren, 48 ob man sich auf sie berief, um die Erzählung von Jesu Ende glaubwürdiger zu machen. All das werden wir nicht mehr erfahren können. 47

Schon J.M.LAGRANGE: Évangile selon Saint Jean, EtB, Paris 51936, 458, hat die Anonymität des Schwertziehers auf Vorsicht zurückgeführt, "car l'administration romaine goûtait peu ce recours à l'épée." Ähnlich CH.H.DODD: Historical Tradition in the Fourth Gospel, Cambridge 1963, 80:"It was not politic to let him be represented as a man of violence." Man muß die Annahme einer Schutzanonymität jedoch trennen von der Behauptung, der Schwertzieher sei Petrus gewesen. 48

So M.GOGUEL: Das Leben Jesu, Zürich 1934, 339f.

199

Das JohEv zeigt, daß der Gedanke einer Schutzanonymität den Erzählern der Passionsüberlieferung nicht fern lag. In ihm wird der Schwertzieher als Petrus identifiziert, der getroffene Knecht des Hohenpriesters als Malchos (Joh 18,10f). Aufgrund dieser Identifizierung kann das JohEv die Verleugnung des Petrus erzählerisch einleuchtend motivieren: Petrus verleugnet Jesus zum zweitenmal, als ihn ein Knecht des Hohenpriesters fragt, der ein Verwandter des Malchos ist. Dieser spricht ihn direkt auf die Szene bei der Gefangennahme an: "Habe ich dich nicht im Garten mit ihm gesehen?" (Joh 18,26). Es ist keineswegs notwendig, die joh Version für historisch oder für ursprünglicher zu halten. Entscheidend ist: Schon den antiken Tradenten und Erzählern war bewußt, daß der Schwertzieher gefährdet war, wenn seine Identität enthüllt wurde. Aus der sonstigen Literatur seien zwei Beispiele genannt, bei denen man an Schutzanonymität denken kann. Justin erzählt in seiner zweiten Apologie die Geschichte einer vornehmen christlichen Dame, die sich von ihrem Ehemann hatte scheiden lassen, weil sie dessen "ausschweifendes Leben" mißbilligte. Daraufhin hatte der Ehemann sie wegen ihres Christentums angezeigt. Sie kann beim Kaiser einen Aufschub ihres Prozesses erreichen, was aber nicht verhindert, daß ihr christlicher Lehrer zum Tode verurteilt wird und zwei weitere Christen mit ihm, die gegen das Urteil protestiert hatten (Ap 11,2). Auffällig ist, daß wir die Namen von zwei dieser Märtyrer erfahren, Ptolemaios und Lucius, daß aber die Hauptperson anonym bleibt. Justin schreibt in Rom, die Dame lebt noch. Gewiß wäre es für jeden leicht, ihren Namen herauszubekommen. Aber Takt und Rücksicht führen bei Justin zum Verschweigen ihres Namens.49 Das zweite Beispiel stammt aus Josephus und ist nicht ganz so einleuchtend. Als Josephus während der Belagerung Jerusalems unter einer Reihe von Gekreuzigten drei Verwandte entdeckt, bittet er Titus um ihr Leben. Sie werden vom Kreuz abgenommen. Einer überlebt. Josephus nennt keine Namen (vita 420). Es wäre nicht gut gewesen, den Namen dessen bekannt zu machen, der einmal von den Römern zum Tode verurteilt worden war. In beiden Fällen handelt es sich um Menschen, die mit dem römischen Staat in Konflikt geraten waren. Die Motive der Anonymität sind in diesen beiden Beispielen gewiß verschieden. Sie sind aber in jedem Fall im Interesse der Betroffenen. Zurück zur Gefangennahme Jesu. Gegen die oben entfalteten Überlegungen 49

Falls man diesen Lehrer Ptolemaios mit dem Verfasser des Briefes an Flora (Epiphanius adv. haer 33, 3-7) identifizieren darf, könnte die Dame Flora geheißen haben: Der Brief des Ptolemaios behandelt auch das Thema "Ehescheidung" Vgl. dazu P.LAMPE: Die stadtrömischen Christen in den ersten beiden Jahrhunderten, WUNT 2,18, Tübingen 1987, 200-203.

200

könnte man einwenden, daß sie schon voraussetzen, was doch erst bewiesen werden muß: daß die Erzählung im wesentlichen den historischen Ereignissen entspricht. Aber selbst wenn es sich in Mk 14,47 und 14,5 lf um legendarische Erweiterungen handeln sollte - was ich nicht glaube -, so veränderte sich nicht viel. Eine gefährdete Minorität wird in ihren Erzählungen nicht unnötig Verdacht auf sich lenken wollen. Ein erfundener Anhänger Jesu, der bei einem Schwertstreich das Leben eines anderen gefährdet, wäre für die Gemeinde genauso ein Problem wie ein realer Schwertzieher. Wer sich zu Personen bekennt, die - in den Augen der Behörden - "kriminelle Handlungen" begangen haben, ist gegen Verdächtigungen hilflos. Die Tatsache, daß Jesus durch ein römisches Verfahren hingerichtet worden ist, war für die junge Gemeinde ohnehin eine Belastung. Deshalb wird m.E. die Geschichte vom Schwertzieher und dem fliehenden Jüngling so wenig erfunden sein wie die Kreuzigung Jesu. Ein anderes Problem ist die Frage der literarischen Entstehung von Mk 14,43-52. Die Erzählung von der Gefangennahme wirkt nicht homogen.50 Man könnte die beiden "problematischen" Episoden ohne weiteres streichen und erhielte ein Apophthegma, das einen größeren Erzählzusammenhang voraussetzt, aber geschlossen erzählt werden konnte (etwa Mk 14,43-46 mit 48-49 als Pointe). Es ist denkbar, daß solch eine Fassung einmal erzählt wurde. Gab es doch ein Motiv, die beiden belastenden Episoden wegzulassen. Man wird aber wahrscheinlich von Anfang an in verschiedener Weise von Jesu Gefangennahme erzählt haben, entweder in einer Form, in der man die Gegner als hinterhältig darstellte; dann konnte man mit einem Wort Jesu schließen, das die heimliche Art des Vorgehens kritisierte, oder in einer Form, in der von der erfolglosen Gegenwehr einiger Anhänger Jesu erzählt wurde. Stimmt unsere Annahme einer Schutzanonymität, so wäre die Passionsüberlieferung eindeutig lokalisierbar. Nur in Jerusalem gab es einen Grund, Anhänger Jesu, die sich durch ihr Verhalten gefährdet hatten, durch Anonymität zu schützen. Auch die Datierung ließe sich eingrenzen: Teile der Passionsgeschichte müßten noch in der Generation der Zeitgenossen und Zeugen entstanden sein - etwa zwischen 30 und 60 n.Chr. 50

Am weitesten in der Dekomposition der Perikope ging E.LINNEMANN, Studien, 42ff. Sie unterscheidet drei Traditionen: 1. ein biographisches Apophthegma Mk 15,43.48f, 2. eine Verratserzählung V.44-46 und 3. Fragmente einer Verhaftungserzählung, die vom Widerstand der Jünger berichtete (V.47.50.51f). G.SCHNEIDER, Verhaftung, 188f, setzt sich kritisch mit ihrer Analyse auseinander, kommt aber de facto auch zu einer weitgehenden Auflösung der Überlieferung in eine ursprünglich isolierte Erzählung 15,43-46 (53a), die später durch Nachträge erweitert wurde.

201

D. Überlegungen zur Entstehungssituation der Passionsgeschichte Die bisherigen Untersuchungen waren so angelegt, daß zwar mit der Existenz einer vorkanonischen Passionsgeschichte gerechnet, ihr Umfang und innere Schichtung jedoch offen gelassen wurde. Die verschiedenen Rekonstruktionen einer vorkanonischen Passionsgeschichte blieben zunächst unberücksichtigt. Abschließend ist zu fragen, wie sich unsere Ergebnisse zu diesen Rekonstruktionen verhalten. Zur besseren Übersicht werden die gefundenen Lokalund Vertrautheitsindizien zusammengestellt und tabellarisch verschiedenen "Schichtanalysen" zugeordnet. Keine der von uns untersuchten Stellen wird bei allen Literarkritikern derselben Schicht zugerechnet, und sei es nur, daß sie in der Zuweisung zu einer "relativ älteren" und "relativ jüngeren" Schicht übereinstimmten. Jedoch ist unser Ergebnis auch so relevant: Wenn Lokal- und Vertrautheitsindizien in einer sekundären Schicht auftauchen, so müßte die primäre Schicht noch älter sein. So zählt L.SCHENKE z.B. nur Mk 14,47 und 14,55ff in der obigen Tabelle zur ursprünglichen Schicht; Mk 15,7 und 15,21 sind bei ihm sekundär. Darauf folgt im Rahmen seiner Analyse: Noch zur Zeit einer sekundären Bearbeitung der Passionsüberlieferung müßten "der Aufruhr" und der Name "Barabbas" für Erzähler und Hörer ebenso ein Begriff gewesen sein wie "Simon von Kyrene" und seine beiden Söhne. Wichtiger ist ein anderes Ergebnis: Die Lokal- und Vertrautheitsindizien setzen mit der Gefangennahme ein. Das stimmt mit der Annahme überein, daß spätestens von der Gefangennahme an ein alter Bericht existiert habe (R.BULTMANN, J JEREMIAS, L.SCHENKE). Aufgrund der oben besprochenen Datierindizien dürfte er in der Generation nach Jesus in Jerusalem entstanden sein. Die Frage ist, ob man seine Entstehungssituation versuchsweise noch weiter eingrenzen kann. Unter der Voraussetzung, daß Erzählungen durch die Situation ihrer Erzählgemeinschaft geprägt sind, sei im folgenden die Hypothese entfaltet, daß Auswahl, Formung und Stilisierung von Überlieferungen zu einer zusammenhängenden Passionsüberlieferung in den 40er Jahren besonders plausibel wäre.51 51

Die Datierung und Lokalisierung einer ursprünglichen Passionsüberlieferung in die Jerusalemer Gemeinde der ersten Generation (ca. 40-70) ist unabhängig von dieser Hypothese. Umgekehrt aber ist die Eingrenzung der Entstehungssituation auf die 40er Jahre nicht unabhängig von der Zuordnung der Passionsgeschichte zur Jerusalemer Gemeinde. Es handelt sich um keine neue Hypothese. Vielmehr wird die Passionsgeschichte oft mit großer Selbstverständlichkeit sogar in die 30er Jahre datiert. Vgl. L.SCHENKE, Christus, 140: "Die Entstehung des Passionsberichtes in der Jerusalemer Urgemeinde dürfte unzweifelhaft sein. Die sekundäre Bearbeitung führt er auf den

202

Lokal- und Vertrautheitsindizien Mk 14,47: Der anonyme Schwertzieher Mk 14,51f: Der fliehende Jüngling Mk 14,55f: Der Hohepriester (im Sing.) Mk 14,70: Erkennbarkeit von Galiläern Mk 15,7: Bekanntheit des Aufruhrs Mk 15,40: Simon von Kyrene und seine Söhne Mk 15,40: Die Frauen unter dem Kreuz

Taylor 52

Schenk 53

Schenke 54

Dormeyer 55

P2

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Stephanuskreis zurück (S.143) - eventuell sogar vor deren Vertreibung in den 30er Jahren! (S.143) Ebenfalls in die 30er Jahre will R.PESCH, Mk, 20-22, die älteste Passionsgeschichte datieren. 52

V.Taylor, Mark, 654-664, unterscheidet zwischen einer Quelle A, die der Evangelist in Rom gefunden hat, und die er durch oft in sich abgerundete Stücke aus einer Quelle Β auffüllte. Die Stücke aus Β seien durch viele Semitismen ausgezeichnet und gingen auf Petruserinnerungen zurück. Eine Zusammenstellung seiner Analyse findet sich S. 658, eine versuchsweise Wiedergabe der Quelle A auf S. 660-662. Der Vergleichbarkeit halber wurde in der obigen Tabelle A = P I und Β = P2. W .SCHENK, Passionsbericht, gibt S.272f eine Zusammenfassung seiner literarkritischen Analyse. Er unterscheidet eine Quelle im Präsens historicum (oben: PI), die mit der Einzugsgeschichte eingesetzt habe, eine zweite apokalyptische Passionstraditon (oben:P2) und isolierte Einzelüberlieferungen (oben: iso.).

54

W.SCHENKE, Christus, gibt S.135-137 die von ihm rekonstruierte Urform der Passionsgeschichte wieder. Sie habe (abgesehen von Mk 14,1a) mit der Gethsemanegeschichte eingesetzt. Eine sehr frühe sekundäre Schicht führt er auf die hellenistische Gemeinde in Jerusalem zurück. In ihr traten antijüdische Akzente stärker hervor. Hinzu kommen redaktionelle Notizen des Mk-Evangelisten.

55

D.DORMEYER, Passion, gibt S.297-301 zusammenfassend seine Analyse wieder: Eine bereits in sich komplexe Märtyrerakte (T; oben: P), sei durch eine dialogisierende sekundäre Redaktionsschicht (Rs; oben: = sek.) und davon zu unterscheidende paränetische Aktualisierungen des Mk-Evangelisten (Rmk; oben: red.) überarbeitet worden.

203

Als Abkürzungen gelten dabei folgende Chiffren: Ρ P1/P2 sek. red. iso.

vorkanonische Passionsgeschichte, sofern diese als Einheit gesehen und nicht in zwei Versionen P I und P2 zerlegt wird. Zwei Versionen einer vorkanonischen Passionsgeschichte (Hier wird nicht mit einer einheitlichen Urform gerechnet), sekundäre Abschnitte, die zur vorkanonischen Passionsgeschichte noch vor der mk Redaktion hinzugekommen sind, redaktionelle Abschnitte, die auf die Hand des Mk-Evangelisten zurückgehen. isolierte Einzelstücke, die als kleine Einheiten unabhängig tradiert wurden und sekundär (oder redaktionell) eingefügt wurden.

1. Die Erzählgemeinschaft der mk Passionsüberlieferung ist davon überzeugt, daß das Synhedrium Todesurteile fällen kann (Mk 14,64). Damit steht sie in Widerspruch zur historischen Realität:56 Der römische Präfekt hatte die Vollmacht zu Todesurteilen (bell 2,117). Jüdische Instanzen durften niemanden hinrichten lassen (Joh 18,31). Die Kriminalgerichtsbarkeit war ihnen genommen (pSanh 1,18a und 24b). Die viel diskutierten Gegenbelege weisen auf Ausnahmen, die sich durch besondere "Räume" und "Zeiten" verständlich machen lassen. Einerseits erkannten die Römer den Tempel begrenzt als "Rechtsenklave" an: Wer als Heide das Heiligtum betrat (bell 6,124ff; ant 15,417; Apg 21,28) 57 oder als Hoherpriester mehr als einmal im Jahr ins Allerheiligste ging (legGai 306f), verfiel dem Tode, ohne daß die Römer ein Urteil sprachen. Wahrscheinlich hätten einige jüdische Kreise diese sakrale Rechtsenklave gerne ausgedehnt, um auf alle Vergehen und Kritik gegen den Tempel hart reagieren zu können. Stephanus dürfte mit seiner tempelkritischen Verkündigung Opfer einer solch extensiven Rechtsauffassung geworden sein, die sich allerdings nur durch Lynchjustiz durchsetzen konnte (Apg 7,54-60). Andererseits sind Todesurteile für Zeiten bezeugt, in denen die direkte Verwaltung des Landes durch die Römer unterbrochen war. König

56

Bekanntlich hat H.LIETZMANN: Der Prozeß Jesu, in: Kleine Schriften II, TU 68, Berlin 1958, 251-263, dezidiert das Gegenteil behauptet: Das Jerusalemer Synhedrium hätte die volle Kapitalgerichtsbarkeit besessen. Wäre Jesus von ihm verurteilt worden, so hätte er gesteinigt werden müssen. Da er aber einer römischen Todesstrafe, der Kreuzigung, unterworfen wurde, sei die Darstellung vom "Prozeß Jesu" weitgehend unhistorisch. Eine ausführliche Auseinandersetzung mit H.LIETZMANN findet sich bei A.STROBEL, Stunde, bes. 21-45, eine kurze Zusammenfassung der m.E. richtigen Sicht bei D.LÜHRMANN, Mk, 251f. 57

Inschriften im Tempelhof belegen das. Sie wurden in zwei Exemplaren 1871 und 1935 4 gefunden. Vgl. A.DEISSMANN: Licht vom Osten, Tübingen 1923, 63, und E.J.BICKERMANN: The Warning Inscriptions of Herod's Temple, JQR 37 (1946/7) 387-405.

204

Agrippa I. ließ den Zebedaiden Jakobus töten. Er regierte vorübergehend von 41-44 n.Chr. ganz Palästina. Der Hohepriester Ananos nutzte 62 n.Chr. eine kurze Vakanz zwischen dem Procurator Festus und Albinus, um den Herrenbruder Jakobus und andere Juden(-christen?) zum Tode zu verurteilen (ant 20,200f). Er wird u.a. deswegen kritisiert, weil er zu diesem Zweck ohne Zustimmung des Königs Agrippa II. ein Synhedrium einberief.58 Daraus können wir schließen: Wo ein jüdischer König war, gab es nach der Rechtsauffassung einiger Kreise die Möglichkeit, ein Synhedrium zu einem Kapitalprozeß zusammenzurufen. Andere haben möglicherweise noch weitergehende Kritik am Verfahren des Ananos geübt.59 Das Synhedrium hatte also in der uns interessierenden Zeit (ca. 30 n.Chr.) keine Kompetenz zu Todesurteilen. Es gab ja anders als im Jahre 62 keinen jüdischen König, der in Jerusalem begrenzte Vollmachten hatte. Jesu Kritik am Tempel berührte zwar einen Bereich, in dem das Synhedrium mehr Rechte als anderswo hatte, aber die Erzähler von Mk 14,55ff sind davon überzeugt, daß die Haltung Jesu zum Tempel keinen triftigen Grund für seine Verurteilung hergab: Nach Mk 14,56-59 scheiterte der Versuch, auf der Weissagung Jesu gegen den Tempel eine Anklage zu bauen. Die Passionsgeschichte bestätigt indirekt, daß das Synhedrium nicht die entscheidende Rolle spielte: Jesus wird von den Römern hingerichtet. Die römische Todesstrafe der Kreuzigung ist dafür der beste Beweis. Tacitus läßt in seiner Notiz über die Christen keinen Zweifel daran, wer für das Todesurteil verantwortlich war: per procuratorem Pontium Pilatum supplicio affectus erat (Tac. ann 15,44,3). Das Synhedrium kann daher Jesus nicht zum Tode verurteilt, sondern beim Präfekten nur angezeigt haben. So verschiedene Überlieferungen wie die lk, die joh Passionsgeschichte und das Testimonium Flavianum (ant 18.64)60 stimmen darin überein. Wenn in Mk 14,64 demnach erzählt wird: CO

Protestierende Juden belehren den neuen Procurator darüber, "daß Ananos nicht befugt war, ohne jenes Zustimmung (χωρίς της εκείνου γνώμης) ein Synhedrium einzusetzen (καδίσαι συνέδριον)" (ant 20,202). Syntaktisch bezieht sich das "jenes" eher auf den König Agrippa II., der zudem nach ant 20,216 tatsächlich ein Synhedrium einberufen konnte (καδίσαντα συνέδριον). So mit Recht A.STROBEL, Stunde, 33f. ^ Daß es noch weitergehende Kritik gab, könnte man dem πρώτον in ant 20,201 entnehmen: Die bei Agrippa II. Protestierenden sagen: "Schon im Blick auf den ersten Schritt (d.h. die Einsetzung des Synhedrions) habe er nicht recht gehandelt." Oder aber: "Denn es war nicht das erste Mal, daß Ananos unrecht gehandelt hatte." Vgl. L.FELD MANN, Josephus IX., 496f. 60 Das Testimonium Flavianum kann man natürlich nur als Quelle heranziehen, wenn es sich um keine christliche Interpolation handelt. Die Aussage, daß Jesus Nicht-Juden angezogen habe und bei seiner Verurteilung Pilatus der Hauptverantwortliche sei, scheinen nicht aus der christlichen Überlieferung zu stammen. Daß ant 18, 63-64, wenn

205

"Alle verurteilten ihn, des Todes schuldig zu sein", so kann das nicht der historischen Realität entsprechen. Wahrscheinlich haben die Erzähler ihnen vertraute Verhältnisse in die Zeit Jesu zurückprojiziert. Die Ansicht, eine jüdische Instanz könne Todesurteile gegen religiöse Dissidenten fällen, kann sich erst unter dem Eindruck der Regierungszeit des Agrippa I. (41-44 n.Chr.) gebildet haben. Wir hören vorher von Maßnahmen des Synhedriums gegen die ersten Christen (Apg 4, Iff; 5,17ff), nicht aber von Todesurteilen. Der Steinigung des Stephanus liegt kein reguläres Gerichtsverfahren zugrunde. Unter Agrippa I. könnten dagegen die Voraussetzungen gegeben sein, in den Berichten von der Passion Jesu den Anteil der jüdischen Instanz gegen die historische Wirklichkeit zu erhöhen: Damals kommt es zu einem regelrechten Verfahren gegen leitende Christen: Der Zebedaide Jakobus wird von König Agrippa I. hingerichtet, Petrus wird inhaftiert, entkommt aber (Apg 12, Iff). Es sei jedoch betont: Wir wissen nicht, ob bei der Verurteilung des Jakobus das Synhedrium beteiligt war. Wir hören nur, die Hinrichtung habe "den Juden" gefallen (Apg 12,3). Ein Zusammenspiel mit dem Synhedrium ist möglich: Im Jahr 62 setzen nämlich die Kreise, die gegen das Vorgehen des Hohenpriesters Ananos protestieren, voraus, daß das Synhedrium mit Erlaubnis des Königs Agrippa II. hätte aktiv werden können. In ihren Augen hatten beide Instanzen zusammen - ein jüdischer König mit der Oberaufsicht über Tempelangelegenheiten und das Synhedrium das Recht zu einem Prozeß gegen den Herrenbruder Jakobus, was nicht eo ipso das Recht zu einem Todesurteil einschließt. Das ihnen vorschwebende Zusammenwirken beider Instanzen könnte in der Zeit des Agrippa I. ihr Modell haben. Dennoch bleibt es dabei: Direkt hören wir für die Zeit von 41-44 nichts über ein Vorgehen des Synhedriums gegen Christen. Sicher ist nur, daß jüdische Instanzen allein in der kurzen Regierungszeit des Agrippa I. gegen Christen vorgehen, ein Todesurteil bewirken und ausführen konnten und daß dies damals tatsächlich geschehen ist. Aufgrund solcher Erfahrungen dürfte in die Passionsgeschichte das Motiv einer Verurteilung Jesu durch das Synhedrium hineingekommen sein. Wir hätten dann einen terminus a quo für die vormk Passionsgeschichte. Ein terminus ante quem wäre 62 n.Chr. Nirgendwo wird in der Passionsgeschichte die Einberufung des Synhedriums zu einem "Prozeß gegen Jesus" als Kompetenzüberschreitung kritisiert. Die Kritik, die in den 60er Jahren anläßlich der Hinrichtung des Herrenbruders Jakobus die öffentliche Diskussion in Jerusalem bestimmte, findet in ihr kein Echo.

auch nicht von einem Christen geschaffen, so doch christlich überarbeitet ist, ist ganz eindeutig.

206

2. Für die Gemeinde, welche die Überlieferung vom "Prozeß" Jesu vor dem Synhedrium formte, muß ferner die Tempelweissagung Jesu ein Problem gewesen sein, denn sie distanziert sich von dieser Jesusüberlieferung. Obwohl für uns deren Authentizität wahrscheinlich ist, gilt sie in Mk 14,57f als falsches Zeugnis. Mk bestätigt, daß sie in verschiedenen Versionen umlief: Die Zeugen hätten sich widersprochen, als sie behaupteten, Jesus habe gesagt: "Ich werde diesen mit Händen gemachten Tempel zerstören und in drei Tagen einen anderen, nicht mit Händen gemachten Tempel erbauen." (Mk 14,58) Eine solche Distanzierung von der Tempelprophetie ist m.E. in der Situation nach 70 n.Chr. schwer vorstellbar. Wenn Jesus ihretwegen angeklagt war, so waren seine Richter ja durch die Zerstörung des Tempels ins Unrecht gesetzt, Jesus aber durch Erfüllung seiner Weissagung bestätigt worden. Nach 70 gab es Gründe, sich mit der Tempelweissagung zu identifizieren. Die in Mk 14,55ff hervortretende Distanzierung vom Tempelwort Jesu führt daher in eine frühere Situation zurück. Der Mk-Evangelist konnte sie aber übernehmen, weil für ihn Mk 13,2 die "authentische Jesusweissagung" war.61 Dort wird die Zerstörung des Tempels nicht auf Jesus zurückgeführt. Von einem wunderbaren Wiederaufbau ist nicht die Rede. Darin entspricht Mk 13,2 den historischen Ereignissen des Jahres 70 n.Chr. Anders als für den MkEvangelisten ist daher für den historisch-kritischen Exegeten eher Mk 14,58 die authentische Fassung des Jesuswortes, Mk 13,2 aber dessen Anpassung an die inzwischen abgelaufene Geschichte. Nun ist uns in einem Fall die Tempelweissagung als Belastung für die ersten Christen belegt: Stephanus wird nach Apg 6,14 durch falsche Zeugen beschuldigt, er habe gesagt: "Jesus der Nazaräer wird diesen Ort zerstören und die Gesetze ändern, die uns Mose überliefert hat." Genauso wie in Mk 14,58 wird hier die Tempelzerstörung auf Jesus selbst zurückgeführt. Anders als in Mk 14,58 wird aber kein neuer Tempel verheißen, sondern eine Änderung der mosaischen Gesetze. Diese Änderung tritt an die Stelle des "neuen Tempels". Die Distanzierung von der Tempelweissagung Jesu, wie sie in Mk 14,55ff vollzogen wird, wäre als Folge der ersten Christenverfolgung in den 30er Jahren verständlich. Erst recht mußte sie nach der Caligulakrise im Jahre 40/41 n.Chr. zu einer Überlebensfrage der Christen in Jerusalem werden: Damals war der Tempel durch Gottes Eingreifen - den überraschenden Tod des Tyrannen - wunderbar gerettet worden. Jede Kritik am Tempel war dadurch ins Unrecht gesetzt. Gott stand hinter dem Tempel in seiner empirischen Gestalt. In dieser Situation wäre verständlich, wenn Christen beteuer-

61

Die Motive der mk Redaktion hat D.LÜHRMANN, Markus 14, 55-64. 457-474, zutreffend herausgearbeitet. Deshalb ist die Tempelweissagung in Mk 14,55ff jedoch noch kein redaktioneller Einschub des Mk-Evangelisten.

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ten: Jesus habe nie den Tempel grundsätzlich verändern wollen; das sei boshafte Nachrede. 3. In nachösterliche Zeit weist auch das Bekenntnis Jesu vor dem Synhedrium. Es vereint nicht nur die drei wichtigsten christologischen Hoheitstitel: Christus, Sohn Gottes und Menschensohn (Mk 14,62f). Seine Verurteilung als "Blasphemie" setzt den Glauben der Christen voraus, daß der Gekreuzigte zu Gott erhöht ist. Der Anspruch, Messias zu sein, war keine Blasphemie, wohl aber die Behauptung, daß ein am Kreuz Hingerichteter der Messias sei.62 Die Steinigung des Stephanus beleuchtet diesen Sachverhalt: Nachdem er behauptet hat, er sehe die Himmel geöffnet und den Menschensohn zur Rechten Gottes stehen, wird er von der erzürnten Menge ergriffen und vor der Stadt gesteinigt (Apg 7,56ff). Der Glaube an den Menschensohn wird hier zum Schibboleth, aber auch zur Grundlage des Trostes in Verfolgung. Ähnliche Funktion hat der Menschensohnglaube in der Seligpreisung der Verfolgten Lk 6,22, in der Parusieverheißung Mt 10,23, in der Heilung des Blinden Joh 9,35ff.63 Aber auch in der hinter Mk 13 stehenden Tradition tritt der Menschensohn als Retter der Seinen in höchster Bedrängnis auf (Mk 13,26-27): Die Erzählung vom "Prozeß" Jesu vor dem Synhedrium hat unverkennbar Motivberührungen mit dieser aus dem Jahre 40 stammenden apokalyptischen Prophetie: 64 Hier wie dort wird eine Veränderung am Tempel mit dem Erscheinen des Menschensohns verbunden. Auch von daher drängt sich der Eindruck auf: Mk 14,55ff wäre in den Jahren 40-44 plausibler als zu anderen Zeiten.

62

Mit Recht argumentiert H.LIETZMANN, Prozeß, 256, daß eine nachösterliche Situation wie in Apg 7,55ff vorausgesetzt ist: "Der bis dahin doch unbescholtene Jesus kann sich als zukünftigen Messias neben Gott thronend erhoffen; das wird den Richtern als Narrheit, aber nicht als strafbare Lästerung erscheinen. Aber Stephanus schaut Jesus nach seiner Hinrichtung neben Gott; da ist die Lage entscheidend verändert." Arbeiten, die an einem Prozeß des Synhedriums gegen Jesus festhalten, müssen einen ganz anderen Anklagepunkt voraussetzen: Die Anklage wegen Verführung des Volkes und falscher Prophetie nach Dtn 13 und 18. So O.BETZ, Probleme des Prozesses Jesu, 565-647, und A.STROBEL, Stunde, 81ff. 63

Daß der Menschensohntitel an einigen Stellen in Verfolgungssituationen begegnet und hier eben "Sitz im Leben" hat, hat schon W.BOUSSET: Kyrios Christos, FRLANT 21, Göttingen 1913 1967, 18, bemerkt: "Das Bekenntnis zum Menschensohn wurde das Schibboleth, das den Kreis der Jünger Jesu von der jüdischen Synagoge trennte." 64

Diese Motivbeziehungen hat D.LÜHRMANN, Markus 14,55-64. 467ff, m.E. zutreffend herausgearbeitet. Bestehen sie aber nur auf redaktioneller Ebene? Wenn sowohl Mk 13 wie die Passionsgeschichte aus der Jerusalemer Gemeinde stammen, könnte die Verwandtschaft durch die geschichtliche Herkunft beider Texte genauso gut erklärt werden.

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4. Das Bild des Petrus in der Passionsüberlieferung würde ebenfalls gut in diese Zeit passen. Die Verleugnung des Petrus tritt in ihr als Kontrastmodell zum Bekenntnis Jesu vor dem Synhedrium auf: Jesus wird hingerichtet, Petrus entkommt. Die Weissagung der Verleugnung (Mk 14,29-31), die an Petrus gerichteten Worte in Gethsemane zur Wachsamkeit (Mk 14,37) und das Versagen des Petrus (14,54.69-72) zeigen, wie sehr die Passionsüberlieferung diesen einen Jünger hervorheben will. In den Jahren 41-44 geschah nun fast eine "Dublette" zur Petrusgeschichte in der Passionsüberlieferung. Der Zebedaide Jakobus wurde hingerichtet (Apg 12,2), Petrus festgenommen, konnte aber auf ungeklärte Weise entkommen. Wieder floh er: "Und er ging hinaus an einen anderen Ort" (Apg 12,17). Diesmal steht Petrus nicht im Kontrast zu Jesus, sondern zum Zebedaiden Jakobus. Es soll damit nicht behauptet werden, er habe unter Agrippa I. seinen christlichen Glauben verleugnet, oder die Geschichte seines Versagens sei Widerspiegelung seines späteren Verhaltens.65 Behauptet wird nur: Es lag in der damaligen Situation besonders nahe, eine Passionsüberlieferung zu schaffen, in der die Rolle des Petrus in dieser ambivalenten Weise hervortrat. Das gilt mutatis mutandis für die Rolle aller Jünger. Charakteristisch ist, daß nicht sie, sondern "Alexander" und "Rufus" sowie Frauen aus Galiläa die (spätere) christliche Gemeinde repräsentieren. Wir können aufgrund dieser Namen vermuten: In der Gemeinde hinter den Passionsüberlieferungen wußte man, daß die Gemeinde hellenistische Diasporajuden und aus Palästina stammende Christen umfaßte, was für die Jerusalemer Gemeinde zutraf. Zu ihr paßt auch das Bewußtsein, in der jüdischen Umwelt Sympathisanten zu haben: Joseph von Arimathia wird als jemand charakterisiert, der das "Reich Gottes" erwartete. Er muß nicht zur Gemeinde gehört haben. Er bildet ein Umfeld, in dem wie in der Gemeinde eschatologische Erwartungen lebendig waren. 5. Auch das in der Passionsgeschichte sichtbar werdende Verhältnis zu anderen Gruppen paßt in die Situation der 40er Jahre. Die Barabbasgeschichte wäre für eine Gemeinde existenziell, die spürte: Die rebellischen Elemente im Lande hatten im Zweifelsfalle beim Volk mehr Sympathie als sie. Solche rebellischen Gruppen waren in der Caligula-Krise aktiv geworden. Im Kampf um das nationale Heiligtum wußten sie sich im Einklang mit der ganzen Bevölkerung. Auch wenn nur Tacitus sie erwähnt (ann 12,54,1), können wir ihre Existenz sicher voraussetzen: Denn sie werden in den 40er Jahren von

65

G.KLEIN: Die Verleugnung des Petrus, in: Rekonstruktion und Interpretation, BEvTh 50, München 1969, 49-98, hat die These vertreten, in der dreimaligen Verleugnung des Petrus spiegele sich ein dreimaliger Positionswechsel des Petrus innerhalb der nachösterlichen Geschichte. Das ist etwas überzogen. Die dreimalige Wiederholung eines Motivs gehört zur Erzählkunst.

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Cuspius Fadus (44/45 n.Chr.) und Tiberius Alexander (46/48 n.Chr.) erfolgreich bekämpft (ant 20,5.97.102). Daß auch hohepriesterliche Gruppen mit ihnen konspirierten, wird freilich erst in der Zeit des Cumanus (50-52 n.Chr.) sichtbar: Damals wurde der ehemalige Hohepriester Jonathan zusammen mit anderen jüdischen Führern gefangen nach Rom geschickt (bell 2,243). Dessen Bruder Ananos erwies sich 62 n.Chr. als dezidierter Feind der Christen. Er verbündete sich im Jüdischen Krieg mit den Rebellen. Die hier sichtbar werdende "Koalition" könnte sich schon vorher angebahnt haben: eine Instrumentalisierung der Aufständischen für die Anliegen der jüdischen Aristokratie zeichnete sich ab, als die Aristokratie in der Caligulakrise mit dem Anwachsen der Räuberei drohte, falls man den Tempel entweihe (ant 18,274). 6. Eine letzte Beobachtung knüpft an die Kelchmetapher der Gethsemanegeschichte an. Jesus bittet darum, daß "dieser Kelch an ihm vorübergehen möge" (Mk 14,36). Dieselbe Metapher begegnet im Zebedaidengespräch. Jesus fragt die Zebedäussöhne: "Könnt ihr den Kelch trinken, den ich trinke, oder mit der Taufe getauft werden, mit der ich getauft werde?" (Mk 10,38) An beiden Stellen ist die Metapher mit einem gewaltsamen Tod verbunden unabhängig davon, ob sie nur das Todesgeschick oder ein Zorngericht Gottes in diesem Todesgeschick meint.66 An beiden Stellen wird sie auf Jesu Tod bezogen, wenn auch nicht nur auf ihn. An beiden Stellen begegnen dieselben Jünger. Denn die Zebedaiden gehören mit Petrus zu den drei engsten Jüngern, die mit Jesus in Gethsemane wachen sollen. Nun ist in Mk 10,35-45 der Märtyrertod des Jakobus vorausgesetzt.67 Dieser fiel nach Apg 12,2 in die Regierungszeit des Agrippa I. Wir können offenlassen, ob auch sein Bruder Johannes damals umkam oder ob der Tod des Jakobus zur Erwartung führte, daß auch er den Märtyrertod erleiden werde, weil von beiden erzählt wurde, sie hätten Jesus um dasselbe Schicksal gebeten. Letzteres ist mir wahrscheinlicher. Auf jeden Fall wurden unter Agrippa I. Jakobus und Petrus verfolgt, also Mitglieder jenes Kreises, der auch in Gethsemane um Jesus ist. Die Hinrichtung des Jakobus wurde mit der "Kelchmetapher" gedeutet. All das weist auf eine traditionsgeschichtliche Nähe zwischen der Gethsemanegeschichte und dem Zebedaidengespräch hin: Es werden dieselben Kreise gewesen sein, die den Tod der christlichen Märtyrer in den 40er Jahren als "Trinken eines Kelches" deuteten und die in der Gethsemanegeschichte von Jesu Todesangst so erzählten, daß er zum Modell für jeden Christen in Todesangst werden konnte. Wir kommen demnach zu folgendem Ergebnis: Es hat ziemlich sicher eine 66

Zur Kelchmetapher vgl. R. FELDMEIER, Krisis, 176-185, der entschieden für die zweite Deutung plädiert.

67

Zur Problematik vgl. E. SCHWARTZ, Tod, 48ff.

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zusammenhängende Passionsüberlieferung gegeben. Sie ist ab Mk 14, Iff spürbar. Mit der Gefangennahme Jesu tritt sie deutlicher hervor. Lokal- und Vertrautheitsindizien begründen die Annahme, daß sie in Jerusalem in der ersten Generation nach Jesu Tod ca. 30-60 n.Chr. formuliert wurde. Wahrscheinlich kann man die Phase der entscheidenden Prägung dieser Passionsüberlieferung noch weiter eingrenzen: Sie dürfte unter dem Eindruck der Verfolgungen in der Regierungszeit Agrippa I. (41-44 n.Chr.) nach der Caligulakrise formuliert worden sein. In dieser Zeit hat sich die Erzählgemeinschaft der Passionsüberlieferung als gefährdet erlebt. In dieser Zeit ist es verständlich, daß die Namen ihr vertrauter Personen in den Schutz der Anonymität gehüllt werden, um aus Konflikten mit den Behörden keine negativen Folgen entstehen zu lassen. In dieser Zeit konnte sich die Gemeinde im Geschick Jesu wiedererkennen. Sie brauchte die Erinnerung, um ihre eigenen Konflikte mit der Umwelt zu verarbeiten. Diese Erinnerung geht in den Grundzügen auf die Ereignisse selbst zurück. Aber sie hat eine Gegenwartsfunktion. Sitz im Leben der ältesten Passionsüberlieferung ist die Situation einer bedrängten Minorität, die durch ihr Bekenntnis zu Jesus (Mk 14,62f) immer wieder in die Gefahr des Verleugnens und Versagens geriet. Die Passionsgeschichte ist Konfliktparänese in der Form einer Erzählung von erinnerten Ereignissen. Nachdem wir zwei "große Einheiten" aus der Wort- und Erzählüberlieferung analysiert haben, können wir einige allgemeine Schlüsse für eine Geschichte der synoptischen Tradition ziehen: Schon in der Mitte des 1. Jahrhunderts seit 40 n.Chr. - wurde der Schritt von kleinen zu großen Einheiten vollzogen. Dieser Schritt erfolgte in Jerusalem und Judäa. Während wir die Anfänge der Überlieferung kleiner Einheiten bis nach Galiläa zurückverfolgen konnten, ist dies zweite Stadium der synoptischen Traditionsgeschichte mit einer lokalen Verschiebung verbunden, zugleich aber auch mit einer Verlagerung des "Sitzes im Leben": Während die kleinen Einheiten Jünger- und Volksüberlieferungen sind (und Gemeindeüberlieferungen unter ihnen nur schwer erkennbar sind), tritt bei den untersuchten großen Einheiten der neue "Sitz im Leben" deutlich hervor: Die apokalyptische Prophetie hinter Mk 13 wendet sich an ortsfest lebende Christen, die Passionsgeschichte ist aus der Perspektive der Jerusalemer Gemeinde geschrieben. In diesen Ortsgemeinden wird die Jesusüberlieferung durch eine theologische Reflexion gestaltet, die sie mit alttestamentlichen Zitaten und Anspielungen durchdringt. So verschieden Mk 13 und die Passionsgeschichte sind, so verwandt sind sie hinsichtlich ihres "schriftgelehrten Charakters": Leser und Hörer verstehen mehr von diesen Texten, wenn ihnen das Danielbuch und die Leidenspsalmen präsent sind. Die Nähe zur "heiligen Schrift" und der Umfang der großen Einheiten erlauben die Vermutung, daß beide großen Einheiten schriftlich formuliert worden

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sind - eine Vermutung, die für Mk 13 durch den Deuteappell in 13,14 direkt bestätigt wird. Eine zweite Gemeinsamkeit beider großen Einheiten ist durch die gemeinsame geschichtliche Situation bedingt, in der sie entstanden sind. Beide spiegeln eine Konfliktsituation wider: Die in der Caligulakrise entstandene apokalyptische Prophetie einen Konflikt des Judentums mit dem römischen Staat, an dem die Christen Anteil nahmen; die Passionsgeschichte dagegen verschärfte Konflikte der Christen mit ihrer jüdischen Umwelt nach dieser Krise. Die weitere Frage liegt nahe: Wenn die Verschriftlichung von Jesusüberlieferung in Form großer Einheiten schon von 40 n.Chr. an beginnt, gibt es Indizien dafür, daß auch weitere Teile der Jesusüberlieferung seit Mitte des 1. Jahrhunderts verschriftlicht wurden? Hin und wieder vermuten wir solche "älteren Sammlungen" kleiner Einheiten hinter dem ältesten Evangelium. Aber es könnte sich dabei auch um zusammenhängende mündliche Überlieferungen handeln. Wirklich belegbar ist nur die Logienquelle, die wir aus den Übereinstimmungen von Mt- und Lk-Stoff gegen Mk erschließen und rekonstruieren können. In ihr finden wir an zentraler Stelle eine "große Einheit": die Versuchungsgeschichte, in der mehrere abgerundete Szenen zu einem komplexen Ganzen zusammenkomponiert wurden. Sie hat wie die synoptische Apokalypse und die Passionsgeschichte ausgesprochen schriftgelehrten Charakter: Sie lebt von alttestamentlichen Zitaten. Wir hätten sie unter den "großen Einheiten" besprechen können. Da sie eng mit der Entstehung der Logienquelle verbunden ist und den Weg von großen und kleinen Einheiten zu den synoptischen Rahmengattungen erhellen kann, wird sie im Zusammenhang mit der Logienquelle analysiert und interpretiert.

3.TEIL: LOKALKOLORIT UND ZEITKOLORIT IN DEN RAHMENGATTUNGEN DER SYNOPTISCHEN TRADITION

5. Kapitel: Die Logienquelle - palästinazentrierte Perspektiven in der Mitte des 1. Jahrhunderts Die Redaktion der Logienquelle läßt sich nur schwer erkennen und noch schwerer lokalisieren und datieren. 1 Bei den einzelnen Worten Jesu müssen wir weitgehend mit Traditionsgut rechnen, das nicht erst zur Zeit der Niederschrift von Q geprägt wurde. Redaktionelle Zusätze und Kommentare lassen sich nicht eindeutig von traditionellen Elementen unterscheiden. Nur Auswahl, Kombination und Komposition von Jesusüberlieferungen sind sicher Redaktion. 2 Über die Auswahl von Jesusüberlieferungen können wir nur wenig wissen, da wir den Bestand an Überlieferungen nicht kennen, aus dem die Auswahl vorgenommen wurde. Eine bewußte redaktionelle Entscheidung zur Aufnahme einer Überlieferung ist nur dort erkennbar, wo inhaltlich oder formal abweichendes Überlieferungsgut in die Logienquelle aufgenommen wurde. So sind die drei Szenen der Versuchungsgeschichte als dramatisierter Dialog mit mythischen Personen innerhalb von Q singulär. Singulär ist auch die Geschichte vom Hauptmann von Kapernaum. Der Redaktor der Logienquelle weiß von einer breiteren Überlieferung an Wundertaten Jesu (vgl. Lk 7,21Q; Lk 10,13Q); aber er bringt nur diese eine Wundergeschichte. Klar erkennbar ist die Kombination verschiedener Überlieferungen in Q.3 1

Im folgenden wird mit einer schriftlichen Logienquelle gerechnet, wahrscheinlich in griechischer Sprache. Dafür vgl. J.S.KLOPPENBORG: The Literary Genre of the Synoptic Sayings Source, Diss. University of St.Michael's College 1984 (Masch.). 2

Zur methodischen Problematik der Erforschung der Q-Redaktion vgl. die sehr klaren Ausführungen von J.S.KLOPPENBORG: Tradition and Redaction in the Synoptic Sayings Source, CBQ 46 (1984) 34-62. 3

Eine Auswertung der Kombination verschiedener Themen kommt ohne Trennung von Tradition und Redaktion aus (abgesehen davon, daß die Kombination von Themen als redaktionell gilt). Eine solche Methodik liegt zugrunde bei H.E.TODT: Der Menschensohn in der synoptischen Uberlieferung, Gütersloh 1959, und P.HOFFMANN: Studien zur Theologie der Logienquelle, NTA 8, Münster 1972. Daß sie ohne Ausscheidung redaktioneller Bestandteile auskommen, ist m.E. ein Vorzug dieser Studien. Sie sind un-

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Einzelne Überlieferungen sagen nur wenig über die Redaktion von Q, da sie immer Tradition sein können. Aus ihrer Vereinigung in der Logienquelle aber läßt sich das Gesamtbild einer geschichtlichen Welt rekonstruieren, das in der Entstehungssituation von Q plausibel gewesen sein muß. Dies Gesamtbild muß in die Situation der Redaktion hineinpassen, auch wenn die einzelnen Überlieferungen, aus denen es sich zusammensetzt, nicht aus dieser Situation heraus entstanden sind. Waren die Worte Jesu doch aktuell gültige Überlieferungen für Autoren und Adressaten von Q. Sie sprechen im Rahmen von Q unmittelbar in die Gegenwart hinein. Ein erzählerischer Rahmen, der sie historisch distanziert, ist nur rudimentär vorhanden. Das durch ihre Verbindung in Q geschaffene Gesamtbild ergibt sich aufgrund von zwei Fragen, die unabhängig von einer Analyse verschiedener Schichten beantwortet werden können: 1. Welche Themen kehren in Q in verschiedenen Zusammenhängen immer wieder? Diese Themen müssen in der geschichtlichen Welt von Q bedeutsam gewesen sein. 2. Welche unterschiedlichen Themen werden in Q verbunden? Ihre Kombination muß eine Entsprechung in der realen Situation gehabt haben. Es ist ja ganz unwahrscheinlich, daß man zu jeder Zeit und an jedem Ort im lJhdt. gleichzeitig von "Israel", von "Heiden" und "Pharisäern" in eben der Weise reden konnte, wie es in der Logienquelle geschieht. Beobachtungen zur Komposition, d.h. zur Reihenfolge der in Q kombinierten Stoffe, ermöglichen hin und wieder eine Absicherung und Bestätigung von Ergebnissen. Redaktionelles Interesse wird erkennbar bei der Gestaltung von Anfang und Ende der Spruchquelle.4 Der Anfang einer Schrift bestimmt immer die weitere Leseerwartung. Hier muß deutlich werden, was der Autor bzw. Redaktor einer Schrift wollte. Freilich sei einschränkend betont: Wir wissen nicht sicher, was am Anfang und am Schluß von Q gestanden hat. Wir können nur sagen, was etwa gegen Anfang und gegen Ende zu lesen war. Eine bewußte Komposition wird ferner bei der Zusammenstellung von formal und inhaltlich verwandten Spruchgruppen erkennbar. Wenn der Redaktor eine Reihe von Weherufen gegen die Pharisäer zusammenstellt oder reproduziert abhängig von arbiträren Schichtenanalysen. 4

Die Auswertung von Anfang und Ende der Logienquelle ist für A.POLAG: Die Christologie der Logienquelle, WMANT 45, Neukirchen-Vluyn 1977, 15-17, Ausgangspunkt für seine Analyse der "späten Redaktion" Er glaubt darüber hinaus zwei Schichten erkennen zu können - was m.E. unsere Erkenntnismöglichkeiten überschätzt. Man mache sich klar, daß Q selbst ein erschlossenes "Konstrukt" ist, das wir nur in überarbeiteter Form in den Evangelien vorliegen haben.

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und in sie eine heftige Polemik gegen "dies Geschlecht" (Lk 11,49-5 IQ) einschiebt, so wird das daraus sich ergebende Bild der Pharisäer für ihn wichtig gewesen sein.5 Problematischer erscheinen mir drei weitere Gruppen von Kriterien zur Erhebung der Redaktion von Q: 1. Literarkritische Beobachtungen zu Widersprüchen und Sprüngen, aufgrund derer einzelne Sätze als redaktionell beurteilt werden. Denn selbst wenn man zeigen könnte, daß ein Satz oder ein Spruch in seinem jetzigen Kontext sekundär ist - was schon schwer genug ist -, so ist damit noch nicht nachgewiesen, daß er durch die Redaktion erst geschaffen oder an diesen Ort plaziert wurde.6 2. Problematisch sind traditionsgeschichtliche Kriterien, aufgrund derer älteres judenchristliches Material von jüngeren hellenistisch geprägten Uberlieferungen unterschieden werden7: Schon früh können wir in Palästina mit Überlieferungen rechnen, die hellenistisches Gepräge haben: Es gab schon bald nach Ostern eine hellenistische Urgemeinde; vor allem aber stand ganz Palästina schon jahrhundertelang unter hellenistischem Einfluß. 3. Nicht überzeugend sind m.E. auch formgeschichtliche Kriterien zur Unterscheidung von Schichten. Daß die Logienquelle zunächst ein weisheitlich geprägtes Buch war, erst sekundär prophetische Sprüche aufnahm und sich schließlich durch Integration von erzählerischer Überlieferung zu einem "bios" Jesu hin entwickelte, läßt sich m.E. nicht verifizieren.8 So wird Jesus im Doppelwort (Mt 12,41-42Q) sowohl mit Jona wie mit Salomo verglichen. Er ist beides: Prophet und Weisheitslehrer. Gerade die Zusammengehörigkeit beider Aspekte ist für Q (und wahrscheinlich schon für den historischen Jesus) charakteristisch.

Wir beschränken uns zur Feststellung über die Redaktion von Q mit Beob5

D.LÜHRMANN: Die Redaktion der Logienquelle, WMANT 33, Neukirchen-Vluyn 1969, 24-48, hat m.E. mit Recht diesen "Einschub" in die Weherufe redaktionsgeschichtlich ausgewertet.

6

Als redaktionsgeschichtliche Zusätze der Q-Redaktion identifiziert D.LÜHRMANN, Redaktion, nur zwei Sätze: Der Vergleich mit dem Geschick Sodoms in Lk 10,12Q und der Vergleich zwischen dem Zeichen des Jona und dem Menschensohn Lk 11,30Q (Vgl. S.62ff; 91). Sehr viel mehr "Zusätze" der späten Redaktion meint A.POLAG, Christologie, 16f, zu erkennen: Lk 7,2-10; 7,27 = Mal 3,1; Lk 7,28: das Wort vom Größeren, Lk 10,21f und 10,23f: Jubelruf und Seligpreisung der Augenzeugen; Lk 12,10: Lästerung des Geistes und Lk 12,49-53: ήλθον-Sprüche. 7

R.BULTMANN, Geschichte, 354, wendet dies Kriterium an mit dem Ergebnis, daß nur die Versuchungsgeschichte, der "Hauptmann von Kapernaum" und das Offenbarerwort Lk 20,21f (teilweise) hellenistisch geprägt sind. Die große Arbeit von S.SCHULZ, Q, besteht darin, aufgrund erweiterter Kriterien den größten Teil von Q einer jüngeren hellenistischen Schicht zuzuschreiben. Zur Kritik vgl. J.S.KLOPPENBORG, Tradition and Redaction, 39-45, und P.HOFFMANN, BZ 19 (1975) 104-115. 8

Diese Unterscheidung von drei Schichten (im Rahmen einer sich entwickelnden Gattungskonzeption) findet sich in höchst scharfsinniger Weise bei J.S.KLOPPENBORG, The Literary Genre, 410ff.

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achtungen zur Auswahl, Kombination und Komposition des Traditionsgutes. In einem ersten Teil soll der "Rahmen" von Q untersucht werden, die Gestaltung von Anfang und Ende dieser Schrift. In einem zweiten Teil wird das Bild verschiedener Gruppen in Q nachgezeichnet, um die geschichtliche Situation einzugrenzen, in der dies Bild (und die Konstellation der verschiedenen Gruppen) plausibel gewesen ist.

A. Der Rahmen der Logienquelle: Die Versuchung Jesu und die Selbstapotheose des Gaius Caligula Die Logienquelle beginnt mit dem Auftreten des Täufers und der Versuchungsgeschichte und endet mit apokalyptischen Sprüchen. Die Predigt des Gerichts steht am Anfang und am Ende. Der Anfang hat aber noch eine besondere Funktion: Er soll die im folgenden gesammelten Sprüche Jesu legitimieren, indem er ihren Sprecher, Jesus, als den legitimiert, den der Täufer als "Stärkeren" angekündigt hat (Mt 3,1 IQ). Daß Jesus tatsächlich dieser "Stärkere" ist, zeigt er in der Versuchungsgeschichte. Sie schildert einen "qualifying test"9: Jesus erfüllt vorbildlich den in der Thora offenbarten Willen Gottes, der bis an das Ende der Welt unverbrüchlich gelten wird (Lk 16,17Q). Er überwindet den Satan. Daß der Redaktor der Logienquelle am Anfang abweichend vom formalen Charakter der sonstigen Sprüche und Reden - eine erzählerische Einleitung bringt, wird so verständlich. Er zeigt in ihr, daß in den Worten Jesu Gottes Wille authentisch ausgelegt wird: Wer von Propheten geweissagt ist und den Satan mit Schriftworten entwaffnet, der muß im Namen Gottes sprechen. Es liegt daher nahe, die ganze Versuchungsgeschichte als Ausdruck der letzten Redaktion der Spruchsammlung aufzufassen.10 Sie ist in ihrer jetzigen Gestalt in einem Zug konzipiert worden, ja sie könnte von vornherein schriftlich formuliert gewesen sein.11 Die wörtliche Übereinstimmung von Mt und Lk zeigt, daß sie zu diesem Text außer der

9

Diesen treffenden Begriff hat D.ZELLER: Die Versuchungen Jesu in der Logienquelle, TThZ 89 (1980) 61-73, dort 63f, eingeführt.

10 Die Versuchungsgeschichte gilt allgemein als besonders junger Bestandteil der Logienquelle. So schon bei R.BULTMANN, Geschichte, 354. Mit der Redaktion der Logienquelle bringt sie m.E. zu Recht J.S.KLOPPENBORG, Literary Genre, 387ff, in Verbindung. 11

Daß die Q-Fassung in einem Zug konzipiert ist, sagt mit Recht U.LUZ: Das Evangelium nach Matthäus, EKK 1,1, Zürich/Neukirchen 1985, 160. Dieser Kommentar stellt die gegenwärtige Forschung übersichtlich dar. Ebenso J.GNILKA, Mt, 82-93; H.SCHÜRMANN: Das Lukasevangelium, HThK III, 1, Freiburg 1969, 204-220.

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Fassung von Q und Mk keine weitere (mündliche) Überlieferungsvariante kannten, die auf ihre Wiedergabe hätte einwirken können. Obwohl die drei Szenen der Versuchungsgeschichte in einem Zug konzipiert sind, sind sie traditionsgeschichtlich verschieden zu beurteilen. Die Wüstenund Tempelszene ließe sich aus Motiven heraus entwickeln, die auch in der mk Fassung vorhanden sind. Erstere, weil mit dem Wüstenaufenthalt das Thema des Hungers wie von selbst gegeben ist; letztere, weil auch in Mk ll,12f von dienenden Engeln die Rede ist.12 Nur die Versuchung auf dem Berge hat in der Tradition überhaupt keinen Anknüpfungspunkt. Sie fällt auch sonst durch Besonderheiten auf: In der Wüsten- und Tempelszene wird Jesus vom Satan durch Beschwörung seines Status als "Gottes Sohn" versucht. Die wörtliche Wiederholung des Bedingungssatzes Lk 4,3 und 4,9 und die strenge Parallelität des Aufbaus sind kein Zufall. Es geht um eine vergleichbare Versuchung: Der Satan nähert sich jedesmal mit scheinbar positiven Erwartungen. Er will, daß Jesus eigene oder fremde Wundermacht, die ihm schon jetzt zur Verfügung steht, demonstriert. Nachdem Jesus (in der bei Mt vorliegenden Reihenfolge der Szenen) die "frommen Wünsche" des Satans als Versuchung Gottes entlarvt hat, läßt der Satan die Maske fallen.13 Er ist gar nicht an Jesu Hoheit interessiert, sondern an seiner Unterwerfung, verlockt ihn aber mit dem Gegenteil von Unterwerfung: mit Macht. Er verspricht Jesus einen neuen Status: Er soll Herrscher der irdischen Reiche werden - beruft sich also nicht auf dessen schon vorhandenen Status als "Gottes Sohn". Und er stellt Bedingungen. Die Bergversuchung, die wie bei Mt ursprünglich wohl am Schluß stand,14 dürfte die Pointe der Versuchungsgeschichte in Q 12

Meist wird die Q-Fassung der Versuchungsgeschichte als entwickelte Form einer Erzählung beurteilt, die sich aus einer Mk l,12f vergleichbaren kürzeren Erzählung heraus entwickelt hat. So H.SCHÜRMANN, Lk, 208 u.a. Die Gegenposition vertritt S.SCHULZ, Q, 182: Mk habe die Versuchungsgeschichte radikal gekürzt, weil in ihr gegen jenes Verständnis von Jesus als Wundermann polemisiert werde, das im MkEv als besonderes Zeugnis der Evangejiumsverkündigung enthalten ist. Dieses Kürzungsmotiv wäre aber gerade bei der Versuchung auf dem Berge, von der sich keine Spur im MkEv findet, gegenstandslos. Vielmehr würde diese Versuchung sehr gut zu dem bei Mk geschilderten Weg des Gottessohns bis ans Kreuz passen. Aber auch die beiden anderen Szenen widersprechen nicht seiner Intention. Auch Mk 8,llf kennt die Überlieferung von der Zeichenverweigerung. 13 So M.DIBELIUS: Formgeschichte, 274 Anm.2. Er erklärt den Unterschied zwischen den ersten beiden Versuchungen und der letzten damit, "daß der Teufel im dritten Akt die Maske des an Jesu Erfolg Interessierten fallen läßt und offen einen Pakt anbietet." Es handelt sich jedoch weniger um einen Pakt, als um Unterwerfung (was aber jeder Teufelspakt seiner Natur nach ist). 14

Die Reihenfolge bei Mt ist für sich genommen sinnvoller: In der zweiten Versuchung

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sein. In ihr müßte daher auch die Absicht der Redaktion von Q in Erscheinung treten - falls man die Versuchungsgeschichte in einen Zusammenhang mit der Redaktion bringt. Die Versuchung auf dem Berge verbindet drei Elemente: (1.) eine Proskynese vor dem Herrscher der Welt, der (2.) die Macht hat, Königreiche zu vergeben und dessen Verehrung (3.) ein direkter Verstoß gegen die Verehrung des einen und alleinigen Gottes ist. Alle drei Motive finden wir in unserem geschichtlichen Zeitraum zum ersten Mal und am deutlichsten in der Gestalt des Gaius Caligula vereint, später zum Teil auch bei den autokratischen Herrschern Nero und Domitian. Im folgenden soll die Hypothese entfaltet werden: Die Erzählung von der Versuchung auf dem Berge ist unter dem Eindruck solcher absolutistischer Herrscher formuliert worden in der ersten Fassung in Q wahrscheinlich unter dem Eindruck des Konflikts des Kaisers Gaius Caligula mit dem jüdischen Monotheismus im Jahre 40 n.Chr. Hinter dem Geschehen in einer mythischen Welt würde dann als Erfahrungshintergrund ein reales Geschehen in dieser Welt sichtbar, womit nicht gemeint ist, daß die Versuchungsgeschichte eine Darstellung dieses irdischen Geschehens ist. Intendiert ist die Darstellung eines mythischen Geschehens. Aber das Modell für dies Geschehen stammt aus der realen Welt. Und die Annahme liegt nahe, daß die mythische Erzählung jene Probleme und Konflikte verarbeitet, die in der realen Welt mit diesem irdischen Modell verbunden waren. Mit einem Satz: Die Proskynese vor dem mythischen "Herrscher dieser Welt" ist eine sozialmythische Parallele zur Proskynese vor dem irdischen Herrscher. Um diese These zu belegen, rekonstruieren wir den Erfahrungshintergrund für jedes der mit der Versuchungsgeschichte verbundenen Motive: Proskynese, Machtübertragung und Konflikt mit dem Monotheismus.

versteckt sich der Versucher hinter "Gottes Wort", indem er mit Schriftzitaten zum Vertrauen auf Gott aufruft, dann erst läßt er die Maske fallen und verlangt offenen Götzendienst. Daß er danach noch überzeugend als Versucher wirken kann - gar unter der Maske der Frömmigkeit -, ist ganz unwahrscheinlich. Hinzu kommt, daß sich der lokale Horizont von Versuchung zu Versuchung ausweitet: von der Wüste über die heilige Stadt bis zur ganzen Welt. Der entscheidende Glaube an den einen und einzigen Gott steht betont am Schluß. - Die Reihenfolge bei Lk ist in sich weniger sinnvoll, wird aber im lk Gesamtaufriß verständlich: Die Reihenfolge Wüste, Berg, Jerusalem bildet den Weg Jesu bis zum Ende ab. Die lk Notiz in 4,13 "er ließ ab von ihm bis zur Zeit" verklammert ebenfalls Anfang und Ende. Zur Diskussion vgl. H.SCHÜRMANN, Lk, 218, der für die Ursprünglichkeit der lk Fassung plädiert.

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1. Die Proskynese Die Proskynese ist ein alter Bestandteil des persischen Hofzeremoniells. 15 Griechen lehnten sie als barbarisch ab. Alexander führte sie in sein Hofzeremoniell ein, stieß damit aber bei seinen Landsleuten auf heftigen Widerstand. Auch in Rom begegnet sie lange nur in submissio-Szenen von Barbaren. Das erste Zeugnis ist ein Siegesmonument des Sulla16, das dieser im Jahr 91 v.Chr. auf dem Kapitol errichtete. Es zeigte die Auslieferung des Numiderkönigs Jugurtha durch den König von Mauretanien Bocchus: Beide Könige knien vor Sulla nieder. Charakteristisch ist, daß dies Monument schon ca. 85 v.Chr. von Gegnern Sullas zerstört wurde. Es wurde mit Recht als Symbol seines absolutistischen Anspruchs gedeutet und abgelehnt. Auch weiterhin blieb die "Proskynese" das symbolische Zeichen der in Rom verhaßten Monarchie. Als Mark Antonius Caesar kniefällig das Diadem anbot, wurde das als Griff nach der Königswürde aufgefaßt und trug zur Ermordung Caesars bei.17 Für Augustus sind uns nur Darstellungen der Proskynese von Barbaren erhalten. Aufschlußreich ist dabei: Münzen mit der Proskynese eines Barbaren enthalten nicht gleichzeitig das Bild des Augustus, der dadurch eine gottähnliche Stellung erhalten hätte18; Münzen mit Augustus wiederum zeigen keinen knienden, sondern einen stehenden Barbar. 19 Der Augustus-Becher von Boscoreale20 erst zeigt beide in einer Szene: Hier kniet ein Barbar vor Augustus, der auf der Rückseite des Bechers im Kreise römischer Götter dargestellt wird. Aber diese Darstellung stammt möglicherweise erst aus claudischer Zeit. Nur in einer ganz besonderen Situation ist die Proskynese eines Römers vor Augustus überliefert: Tiberius stieg während eines Triumphzuges 15

Zur Proskynese vgl. J.HORST: Proskynein. Zur Anbetung im Urchristentum nach ihrer religionsgeschichtlichen Eigenart, NTF 3,2, Gütersloh 1932. Grundlegend ist A.ALFOLDI: Die monarchische Repräsentation im römischen Kaiserreich, Darmstadt 1970, bes. 11-16; 46-65. Zur bildlichen Darstellung von Proskynesen vgl. bes. H.GABELMANN: Antike Audienz- und Tribunalszenen, Darmstadt 1984. Einen kurzen Überblick gibt W.FAUTH: Art. Proskynese, KP 4,1189. 16

Vgl. die Behandlung dieses Monuments bei H.GABELMANN, Audienz- und Tribunalszenen, 111-113. Von ihm sind nur Teile der Basis erhalten. Ein Münzbild (ca. 56 n.Chr.) zeigt jedoch die Szene (vgl. Taf.22,1 Nr.33; vgl. EA.SYDENHAM: The Coinage of the Roman Republic, London 1952, 145 Nr. 879 Taf.24. 17

Vgl. Cicero, Phil II, 86. Dazu AALFÖLDI, Repräsentation, 51.54.

18

Parther werden bei der Rückgabe der Feldzeichen kniend dargestellt - aber sie knien nicht vor jemandem; vgl. BMC I, Taf.l, 7-9; 2,11.12. 19

Vgl. BMC I, Taf.12,13.14; vgl. dazu H.GABELMANN: Audienz- und Tribunalszenen, 121-124. 20

Dazu H.GABELMANN: Audienz- und Tribunalszenen, 127-131, Taf.13,1.2.

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vom Wagen und warf sich seinem Stiefvater vor die Füße, um ihm auf diese Weise den Sieg über die Germanen darzubringen (Suet Tib.20). Im allgemeinen aber wurde die monarchische Ambitionen verratende Huldigungsgeste der Proskynese von Augustus und Tiberius vermieden. Dies wurde anders unter Gaius Caligula. Er führte die Proskynese demonstrativ ins Hofzeremoniell ein. Dieser Vorgang war im Osten des Reichs auch unter Juden - wohlbekannt. Denn es war ausgerechnet der ehemalige syrische Legat Vitellius, der als erster vor Gaius Caligula die Proskynese vollzog:21 "Mit einem bewunderswerten Talent zu schmeicheln begabt, war er es, der als erster die Sitte einführte, Gaius Caesar (Caligula) als Gott zu verehren; als er nämlich aus Syrien zurückkehrte, wagte er es nicht, anders vor ihn zu treten, als mit verhülltem Haupt, wobei er sich herumdrehte und dann zu Boden warf." (Suet. Vit.2)

Interessant ist, daß Sueton die Vergötterung eng mit der Proskynese verbindet. Nicht Selbstaussagen des Gaius gelten als Beginn von dessen Selbstapotheose, sondern die von anderen vollzogene kniefällige Huldigungsgeste. Vitellius hat diese Geste wahrscheinlich im Osten kennengelernt. Denn sein Verdienst als syrischer Legat bestand gerade darin, daß er durch diplomatische Kunst den Partherkönig Artabanus nicht nur dazu gebracht hatte, "mit ihm zu unterhandeln, sondern auch den Legionsfeldzeichen zu huldigen" (Suet. Vit.2). Dürfen wir uns diese Huldigung als Proskynese vorstellen? Nach der Symbolsprache der parthischen Kultur wäre das zu erwarten. 22 Parther, welche Feldzeichen übergeben, werden unter Augustus auf Münzen kniend dargestellt (BMC I, Taf. 1,7-9; 2,11.12), ohne daß der Kaiser auf derselben Seite der Münzen abgebildet ist. Die Huldigung römischer Feldzeichen wird wahrscheinlich mit derselben symbolischen Geste vollzogen worden sein. Wenn aber Artabanus nach seinen Verhandlungen mit Vitellius den Λ1

Vgl. auch Tac.ann 6,32, wo die Proskynese expressis verbis nicht erwähnt wird. Man muß bei diesen den Vitellius herabsetzenden Berichten bedenken, daß er als Vater des späteren Kaisers mit diesem der Verachtung verfallen ist. DioCass 59,27,4-6 berichtet, daß er in Todesgefahr und Todesangst Gaius um sein Leben bat: "Und er fiel zu seinen Füßen nieder und weinte Tränen, währenddessen er ihn als Gott anredete und verehrte (θειάσας αύτόν πολλά καί προσκυνήσας) und am Ende gelobte, wenn er sein Leben bewahrte, ihm zu opfern." Die Proskynese war als Geste der supplicatio schon immer üblich, ebenso die Anrede als Gott, vgl. A A L F Ö L D I : Repräsentation, 50. Unüblich aber war das Opfergelübde. -yy

Man kann das aus einer Analogie erschließen. Als der armenische König Tiridates in ähnlicher Situation 63 n.Chr. den Bildern des Nero opfert, vollzieht er die Proskynese (DioCass 62,23,3). Wenn Artabanus ca. 30 Jahre vorher den Bildern des Augustus und Gaius opfert (so DioCass 59,27,3), so dürfte er dabei die Proskynese vollzogen haben.

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Feldzeichen kniend gehuldigt hat, dann könnte dieser Vorgang in Palästina bekannt gewesen sein. Denn bei diesen Verhandlungen hatte der Tetrarch Herodes Antipas eine wichtige Rolle gespielt (ant 18,101f); Vitellius besucht kurze Zeit darauf zusammen mit ihm Jerusalem (ant 18,122). Auch unter den alexandrinischen Juden wußte man über die neue Sitte am Kaiserhof Bescheid. Philo schreibt nicht ohne Stolz auf sein Volk: "Alle anderen nämlich, Männer, Frauen, Städte, Völker, Länder, Erdteile, fast möchte ich sagen, die ganze bewohnte Erde, alles stöhnte zwar unter den Taten des Gaius, fuhr aber trotzdem fort, ihm zu schmeicheln, hob ihn über das Maß hinaus in die Wolken und trug zur Steigerung seiner Eitelkeit bei. Einige verpflanzten auch die barbarische Sitte der fußfälligen Verehrung (την προσκύνησιν) nach Italien und verfälschten so das hohe Ideal römischen Freiheitsgefühls. Ein einziges Volk herausragend, das der Juden, stand im Verdacht, es werde Widerstand leisten, gewohnt, den Tod auf sich zu nehmen, ebenso willig, als bedeute er die Unsterblichkeit, um nie gleichgültig anzusehen, daß ein Stück uralter Tradition, und sei es auch noch so geringfügig, beseitigt werde." (Philo legGai 116f)

Diese Stelle ist aufschlußreich, weil sie innerhalb der Legatio einen besonderen Ort hat: Die Selbstapotheose des Gaius wird zunächst an seiner Neigung veranschaulicht, sich mit den griechischen Halbgötttern Dionysos, Herakles und den Dioskuren gleichzusetzen (78ff); dann folgt als Steigerung sein Anspruch, mit den olympischen Göttern Hermes, Apoll und Ares identisch zu sein (93ff). Höhepunkt seiner Verirrung aber ist sein Vorgehen gegen die Juden, weil er sich hier an dem einen und einzigen Gott versündigt (114ff). Erst in diesem Zusammenhang wird die Proskynese genannt. Die Martyriumsbereitschaft der Juden bezieht sich auf die in diesem Akt sichtbar werdende Selbstvergottung. Philo spielt geschickt auf die Irritation an, die die neuen Huldigungsformen in der selbstbewußten römischen Aristokratie ausgelöst hat: Die Senatoren mußten sogar vor einem leeren Stuhl des Gaius im Kapitol die Proskynese vollziehen (Dio Cass 59,24,4). Einzelne Mitglieder der Senatsaristokratie wurden darüber hinaus persönlich tief gedemütigt. Seneca empört sich darüber mit folgenden Worten: "Gaius Caesar schenkte Pompeius Pennus das Leben, wenn der das Leben schenkt, der es nicht nimmt. Als dieser freigesprochen worden war und seinen Dank erstatten wollte, streckte Caesar seinen linken Fuß vor, um ihn küssen zu lassen. Jene, welche das entschuldigen und leugnen, daß es ein Akt von Anmaßung war, sagen, daß er seinen vergoldeten, ja, seinen goldenen Schuh, der mit Perlen geschmückt war, habe zeigen wollen. Aber gerade das ist es ja: Was ist das für eine Schmach, daß ein Mann in konsularischem Rang Gold und Perlen küßt, als habe er andernfalls keine Stelle seines Körpers gefunden, die zu küssen weniger befleckend gewesen wäre. Dieser Mensch, der dazu geboren war, die freien Sitten des Staates in eine persische Sklave-

221 rei zu verwandeln, hielt es für nicht ausreichend, wenn ein alter Senator, der die höchsten Ehrenämter inne gehabt hatte, im Anblick der Ersten sich als Schutzflehender auf eine Weise zu Boden warf, in der sich besiegte Feinde vor den Siegern niederwerfen. Er fand einen Weg, die Freiheit noch tiefer herabzustoßen als die Knie..." (Seneca de benef. 11,12,1) Seneca ist hier Sprecher jener Kreise, welche die Proskynese als hybriden Anspruch eines autokratischen Herrschers verachten - und die doch selbst zu ihrem Vollzug genötigt wurden. Auch bei Philo gibt es Indizien dafür, daß er zusammen mit der von ihm geleiteten Delegation alexandrinischer Juden vor Gaius die Proskynese vollziehen mußte. Über seine zweite Audienz bei Gaius berichtet er: "Wir wurden vor ihn geführt, neigten uns bei seinem Anblick mit aller Ehrerbietung und Scheu tief zu Boden (μετ' αίδοϋς καί εύλαβείας της άπάσης ν ε ύ ο ν τ ε ς ε ι ς τουδαφος) und begrüßten ihn mit der Anrede "Augustus Imperator" Seine Erwiderung aber war so höflich und leutselig, daß wir nicht nur an unserer Sache, sondern auch an unserem Leben verzweifelten. Denn mit einem höhnischen Lächeln bemerkte er: 'Ihr seid also die Gottesverächter, die nicht glauben, ich sei ein Gott, ich, der ich schon bei allen anderen anerkannt bin, sondern ihr glaubt an den für Euch unbenennbaren Gott!' Darauf streckte er seine Arme gen Himmel und rief einen Namen aus, den schon zu hören ein Frevel ist, geschweige denn, ihn wörtlich wiederzugeben." (Philo legGai 352f) Der Text ist so formuliert, daß man nicht unbedingt an eine Proskynese denken muß. Der Wortlaut läßt auch die Deutung auf eine tiefe Verbeugung zu. Aber einerseits kann Philo kaum daran gelegen sein, herauszustreichen, er und die anderen vier Gesandten seien vor Gaius niedergekniet. Das hätte ihn kompromittieren können. Andererseits ist die Proskynese für die Jahre 3 9 / 4 0 der Regierung des Gaius mehrfach bezeugt 23 , so daß die in prekärer Situation 23

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Die Schwierigkeit, die Proskynese als reguläres Hofzeremoniell nachzuweisen, ist darin begründet, daß die belegten Fälle alle auf eine außergewöhnliche Situation deuten. Die Proskynese kann hier immer auch als supplicatio gedeutet werden. So bei Vitellius (DioCass 59,27,4-6), bei Pompeius Pennus (Sen.de benef. II, 12,1). Ebenso bei Domitius Afer, der im Senat Gaius mit Erfolg um sein Leben bat: "und endlich warf er sich zu Boden und dort liegend flehte er ihn an" (DioCass 59,19,5). Ein anderes Mal fallen Menschen aus der engsten Umgebung des Gaius vor diesem nieder, als der mißtrauische Kaiser ihnen verborgenen Haß gegen ihn unterstellt (DioCass 59,26,8 in der Version des Patricius). Aussagekräftig sind jedoch generalisierende Feststellungen: So die Notiz des Philo über die Einführung einer neuen barbarischen Sitte durch Gaius (leg Gai 1160; °der die Feststellung Dios, daß Gaius den "meisten, sogar den Senatoren, die Hand oder den Fuß zum προσκυνεϊν darreichte" (DioCass 59,27,1). Als Beispiel wird dann zwar nur die supplicatio des Vitellius erzählt. Aber das ist ein Beispiel für einen Senator. Wenn ihre Proskynese besonders hervorgehoben wird, so wird sie für alle anderen ordines die Regel gewesen sein. Der beste Beleg für die Proskynese als

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befindliche jüdische Delegation kaum eine Möglichkeit gehabt haben dürfte, ohne Beachtung dieses Hofeeremoniells bis zu Gaius vorzustoßen. Mit E.M.SMALLWOOD muß man daher damit rechnen, daß auch die jüdischen Gesandten die Proskynese vor Gaius vollzogen haben.24 Hier war die Aufforderung zu ihr in der Tat zu einer teuflischen Versuchung geworden. An und für sich war das Niederknien von Bittenden und Schutzflehenden ein normaler Akt. Juden waren in Scharen vor Pontius Pilatus niedergekniet, um ihn davon abzuhalten, die heilige Stadt mit Kaiserbildern zu entheiligen (Jos.bell 2,171.174).25 Aber niemand konnte hier an eine Zuschreibung göttlicher Eigenschaften an den römischen Präfekten denken. Gaius dagegen verband mit der Proskynese den Anspruch göttlicher Ehrungen. In der von Philo geschilderten Audienzszene macht er sich öffentlich über die jüdische Gottesverehrung lustig und ruft blasphemisch den Namen Jahwes so wird man wohl Philos Bericht deuten müssen. Hier tat sich in der Tat jene Alternative auf, die für die Versuchungsgeschichte bestimmend ist: die Alternative von Gottesdienst und Götzendienst. In bewußter Abhebung von Gaius Caligula hat sein Nachfolger Claudius die Proskynese verboten (DioCass 60,5,4). Für Nero und Domitian ist sie dann wieder bezeugt - d.h. für jene Kaiser, deren absolutistischer Machtanspruch die traditionelle Verfassung der res publica sprengte: Auch Nero ließ sich schon zu Lebzeiten als Gott anreden - so vom parthischen König Tiridates (DioCass 63,5,2). Und Domitian beanspruchte die Titel "dominus et deus" für sich. Nur bei Gaius Caligula aber wurde der in solchen Ansprüchen latente Konflikt mit dem jüdischen Monotheismus manifest: Sein Versuch, den Jerusalemer Tempel in ein Heiligtum des Kaiserkults zu verwandeln, mußte als direkter Angriff auf die Verehrung des einen und einzigen Gottes erlebt werden.

2. Machtausübung Der Satan der Versuchungsgeschichte rühmt sich dessen, daß er Macht über alle Königreiche der Welt hat. Besonders die lk Fassung betont das. Nachdem Bestandteil des allgemeinen Hofzeremoniells ist dann ihr Verbot unter Claudius: και προσαπηγόρευσε μ,ήτε προσκυνεϊν τίνα αυτόν (DioCass 60,5,4). 24

E.M.SMALLWOOD, 209-211 und 318: Die jüdischen Delegierten hätten sich auf das Modell des Syrers Naeman berufen können, um ihre Proskynese zu rechtfertigen (vgl. 2 Kön 5,18). Zu vergleichen ist ferner die kniefällige supplicatio der jüdischen Menge vor Petronius (Jos.ant 18,271f).

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er Jesus die "Königreiche der Ökumene" (bei Mt: der Welt) gezeigt hat, sagt er ihm: "Dir will ich all diese ihre Macht und Herrlichkeit geben, denn mir ist sie übergeben, und ich gebe sie, wem ich will; wenn du nun vor mir niederkniest, soll das alles dein sein" (Lk 4,6f). Bei Mt fehlen die unterstrichenen Satzglieder. Lk betont einerseits die Ökumene, d.h. die bewohnte Welt, die für ihn weitgehend mit dem Römischen Reich identisch ist (vgl. bes. Lk 2,1; Apg 17,6). Andererseits formuliert er explizit, was in der mt Fassung nur implizit vorausgesetzt ist: Daß der Herrscher der Welt die Vollmacht hat, Herrschaft zu verleihen. Vielleicht hat Mt diesen Zug weggelassen, weil bei ihm Jesus alle Macht im Himmel u n d a u f E r d e n hat (Mt 28,18). Vielleicht betont aber auch Lk diese auf den römischen Kaiser deutenden Züge unter dem Eindruck von Gestalten wie Nero und Domitian? 26 Wahrscheinlich ist aber schon die ursprüngliche Versuchungsgeschichte in Q von solchen Erfahrungen geprägt. Gerade mit Gaius Caligula konnte sich leicht die Vorstellung verbinden, daß er Macht über die "Königreiche" der Erde besaß und sie nach seinem Willen an andere verlieh.27 Er hat in seiner kurzen Regierungszeit sechs Könige im Osten eingesetzt. Der erste von ihnen war der jüdische König Agrippa I., den er nach seinem Regierungsantritt aus dem Gefängnis holte. Agrippa hatte ihm noch zu Lebzeiten des Tiberius die Herrschaft gewünscht und war deshalb bei Tiberius in Ungnade gefallen. Jetzt erhielt er "zur Entschädigung" die Tetrarchie des Lysanias und des Philippus (Jos.ant 18,237). Auf Inschriften nennt er sich stolz μέγας βασιλεύς (OGIS I, 419). Herrschte er doch über mehrere Königreiche zumal, nachdem er 39 n.Chr. auch noch Herodes Antipas beerbt hatte und seit 41 das ganze Gebiet beherrschte, das einst zum Königreich Herodes I. gehört hatte. Ein anderer herodäischer Fürst war weniger erfolgreich: Sein Onkel Herodes Antipas bemühte sich auf Betreiben seiner Frau Herodias im Jahr 39 um den Königstitel. Aber aufgrund einer Denuntiation durch Agrippa I. wurde er abgesetzt und nach Gallien verbannt (Jos.ant 18,240-256). Sowohl der überraschende Erfolg des Agrippa I. wie der Mißerfolg des Antipas demonstrierte 26

So R.MORGENTHALER: Roma - Sedes Satanae. Rom 13,lf. im Lichte von Luk. 4,5-8, ThZ 12 (1956) 289-304. Er weist mit Recht nach, daß bei Lukas "im Text der zweiten Versuchung vom Imperium Romanum die Rede ist" (S.292), hält die entsprechenden Züge in Lk 4,6 jedoch für lk Redaktion. Aber die hier angedeutete Dämonisierung des Römischen Reichs widerspricht der sonst bei Lk zu beobachtenden Tendenz, den Konflikt zwischen urchristlichen Gruppen und dem römischen Staat herabzuspielen. Daher hält H.SCHÜRMANN, Lk 211, Lk 4,6 für Tradition. 27

Dies Bewußtsein findet sich schon bei Augustus: "Aus meiner Hand empfingen die Völker der Parther und Meder ihre Könige" (res gestae 33; vgl. auch 27).

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in Palästina jedem, wer die Macht hatte, Königreiche zu geben und zu nehmen. Darüber hinaus hören wir noch von weiteren Klientelkönigen, die Gaius einsetzte: Antiochus IV. setzte er zum König über Kommagene und Kilikien ein (DioCass 59,8,2), Soemus über Ituräa (DioCass 59,12,2) und drei Söhne der Antonia Tryphaena über Kleinarmenien, Thrake und das Königreich Pontus und Bosporus (DioCass 59,12,2). Auch über diese (und andere) Könige wußte man in Palästina recht gut Bescheid. Denn nicht weniger als fünf römische Klientelkönige hat Agrippa I. zwischen 41 und 44 n.Chr. nach Tiberias eingeladen: Antiochus von Kommagene, Sampsigeram von Emesa, Kotys von Klein-Armenien, Polemon von Pontus und Herodes von Chalkis (ant 19,338342).28 Dem syrischen Legaten Marsus war dieses Treffen so verdächtig, daß er die Könige unverzüglich nach Hause schickte, als er davon hörte. Wieder wurde öffentlich demonstriert, wer im römischen Herrschaftsbereich Königen befehlen konnte. Ob die Ernennung eines Königs in Form einer Proskynese vor sich ging? Dio Cassius berichtet zwar von einer feierlichen Zeremonie, als Gaius vier Könige auf einmal ernannte: Gaius habe auf der Rednerbühne auf dem Forum gesessen, links und rechts von ihm die Konsuln. Seidene Vorhänge hätten das Ganze als Baldachin geschmückt (DioCass 59,12,2). Aber wir hören nichts von einer Proskynese. Es gibt jedoch eine Reihe von Überlieferungen über Klientelkönige, die als Zeichen ihrer Unterwerfung vor römischen Machthabern niederknieten. So erschien 167 v.Chr. Prusias, der König von Bithynien, in der Kleidung eines Freigelassenen vor dem Senat, blieb bescheiden an der Türe stehen, küßte die Schwelle und redete die Versammelten als "rettende Götter" an. Polybius tadelt dies servile Verhalten als eines Königs unwürdig (Pol XXX, 18,5; vgl. Liv XLV 44,20). Erinnert sei auch an Sullas Monument aus dem Jahre 91 v.Chr., das zwei kniende Klientelkönige zeigte: den einen als Gefangenen, der bald darauf im Triumphzug erdrosselt werden sollte, den anderen als treuen Vasallen. Unter Pompeius wiederholt sich eine ähnliche Szene: Der König Tigranes unterwirft sich ihm in einer Proskynese (DioCass 36,52,3). Aus dem lJhdt.n.Chr. ist die Proskynese des Königs Tiridates von Armenien vor Nero bezeugt. Dieser hatte 63 sein Diadem vor Neros Bild niedergelegt und war dabei niedergekniet (DioCass 62,23,3). Nach einem groß inszenierten Huldigungszug durch Syrien, Kleinasien und Illyrien kam er nach Rom, 28

Über diese Klientelkönige vgl. E.SCHÜRER, History, 1,448-451 Anm.34.

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um aus Neros Hand sein Königtum neu zu erhalten. Er und sein ganzes Gefolge vollzog dabei die Proskynese. Ein Aufschrei ging damals durch die Menge der Zuschauer. Nach einer Pause der Verwirrung redete Tiridates Nero als Gott an. Nero erläuterte in seiner Antwort den Sinn der Zeremonie: Sie solle seine Macht demonstrieren, Königreiche zu nehmen und zu geben: 'ότι και άφαιρεΐσθ-αι βασιλείας και δωρεΐσθαι δύναμαι (DioCass 63,5,3). Die Irritation, welche die Proskynese hervorruft, zeigt: Noch immer war sie in Rom etwas Besonderes, mochte sie auch im Osten alter Tradition entsprechen. Nur unter Gaius Caligula war sie als Symbol eines tyrannischen Herrschers ins Bewußtsein gedrungen - und blieb mit dem Namen dieses Tyrannen belastet. Aufgrund all dieser Belege ist es m.E. wahrscheinlich, daß man sich in Palästina die Belehnung eines Königs als mit einer Proskynese verbunden vorstellen konnte. Ob sich die Übergabe von Königreichen an Agrippa I. tatsächlich in Form einer Proskynese vollzog,29 ist demgegenüber eine sekundäre Frage. Immerhin hat sich Agrippa in Rom in den Ruf gebracht, die absolutistischen Neigungen des Gaius zu fördern. Dio Cassius nennt ihn und Antiochus von Kommagene "Tyrannenlehrer" (τυραννοδιδασκάλους, DioCass 59,24,1) und berichtet kurz, nachdem er ihren negativen Einfluß auf Gaius erwähnt hat, von der den Senat demütigenden Proskynese aller Senatoren vor dem leeren Stuhl des Gaius im Kapitol: τον τοϋ Γαίου δίφρον τον έν τω ναω κείμενον προσεκύνησαν (DioCass 59,24,4). Josephus läßt erkennen, daß Agrippa I. auch in Palästina die Symbole königlicher Macht betonte und eben dadurch den Neid seiner Schwester Herodias erregte (Jos.ant 18,241). Es ist daher zu vermuten, daß dieser Fürst von anderen Menschen orientalische Hofsitten erwartete und diese gegenüber seinem Kaiser selbst praktizierte. 30

29

K.MATTHIAE/E.SCHÖNERT-GEISS: Münzen aus der urchristlichen Umwelt, Berlin (Ost) 1981, 41f. 78, deuten (mit Vorbehalt) eine Tempelszene auf einer Münze des Agrippa I. (= MESHORER, Coins, Nr.89) als Darstellung der Krönung Agrippa I. durch Claudius. Sie identifizieren die kniende Gestalt mit Agrippa I. Diese Deutung ist jedoch nicht gesichert. Es könnte sich auch um eine Opferszene handeln. Die Krönung des Agrippa I. könnte auch auf einer anderen Münze (MESHORER, Coins, Nr.93) dargestellt sein, auf der Agrippa I. (?) zwischen zwei Gestalten stehend dargestellt ist. Unabhängig davon aber kann man vermuten, daß das Volk in Palästina die kniende Gestalt auf der zuerst erwähnten Münze des Agrippa I. möglicherweise auf den jüdischen Fürsten bezogen hat, lautet die Legende doch "Agrippas, Freund des Kaisers, Großkönig". 30

Wie selbstverständlich im Osten die Proskynese als Huldigungsgeste gegenüber einem König ist, geht aus den Evangelien hervor: Bei Mt huldigen die Weisen aus dem Morgenland dem neuen König, indem sie niederknien (Mt 2,8). Die Soldaten der

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3. Der Konflikt mit dem jüdischen Monotheismus Die beiden bisher besprochenen Motive - Proskynese und Machtverleihung würden auf jeden römischen Kaiser mit absolutistischen Tendenzen passen. Der Konflikt mit dem jüdischen Monotheismus ist dagegen nur für Gaius Caligula bezeugt. Nur er wollte sich an Stelle des biblischen Gottes im Jerusalemer Tempel verehren lassen. Nur er forderte von Juden jene Verehrung, die nur Jahwe zukam. Die Versuchungsgeschichte ist nun ganz deutlich von solch einer Alternative bestimmt. Die Proskynese vor dem diabolischen "Herrscher der Welt" ist identisch mit einer Verweigerung der Verehrung des einen und einzigen Gottes. Die Szene ist wahrscheinlich bewußt nach dem Modell der Proskynese vor einem blasphemischen Herrscher geformt. Wie wichtig die Huldigungsgeste der Proskynese im Text ist, geht aus dem Wortlaut der Aufforderung an Jesus hervor: "Wenn du (zu Boden) fallend mich anbetest " formuliert das MtEv (4,9). Lk drückt dasselbe verhüllter aus: Jesus soll "vor" dem Satan anbeten. Im Schriftzitat, mit dem Jesus dieses Ansinnen zurückweist, findet sich wieder das Stichwort "proskynein" - aber gerade dies entscheidende Stichwort fehlt sowohl im hebräischen Text wie in fast allen LXX-Handschriften. Die meisten LXX-Handschriften bringen in Dtn 6,13 und 10,20 die Lesart: κυρι,ον τον θεόν σου φοβηθήσί] και αύτω λατρεύσεις. Diese Lesart würde keine Beziehung des Textes auf die Proskynese ermöglichen.31 Kohorte verspotten Jesus im MkEv durch Proskynese (Mk 15,19/Mt 27,29). Bei Joh fehlt diese Proskynese, Lk läßt die ganze Szene weg. Sie ist nur im Osten denkbar und zeigt, daß die Soldaten der Kohorte orientalische Hilfstruppen waren, keine römischen Soldaten: Es gab gegen die Proskynese einen Widerwillen bei Senatoren und freien römischen Bürgern: "Das Äußerste, was in dieser Hinsicht darstellbar war, zeigt eine Szene der Trajanssäule (Nr.75 XLIV), in der sich ein römischer Soldat vor dem sitzenden Kaiser tief verbeugt, um ihm als Dank für ein Geldgeschenk die Hand zu küssen." (H.GABELMANN, Audienz- und Tribunalszenen, 103). 31

Die Annahme, Q sei in einem "bewußten LXX-Milieu" entstanden (so K.STENDAHL: The School of St. Matthew, ASNU 20, Uppsala 1954, 150) stützt sich vor allem auf die Versuchungsgeschichte. Beweiskräftig sind dabei nur Zitate, bei denen Übereinstimmung mit dem LXX-Wortlaut Nichtübereinstimmung mit dem masoretischen Text bedeutet. Drei Passagen sind relevant: 1. Bei Mt 4,4 άλλ' έπί παντί ρήμ,ατι έκπορευομένφ 8ιά στόματος θεοϋ fehlt im MT ein Äquivalent für ρήμ.ατι. Aber nur Mt bringt diesen Teil von Dtn 8,3. Er könnte ihn über seine Vorlage hinaus zugefügt haben. Dort wo Mt und Lk übereinstimmen, stimmen beide mit LXX und dem masoretischen Text überein. - 2. Mt 4,7 und Lk 4,12 bringen die Mahnung "Du sollst den Herrn, deinen Gott, nicht versuchen" mit der LXX im Singular, während MT den Plural hat. Der Kontext erlaubt jedoch nur den Singular. - 3. Mt 4,10/Lk 4,8 (s.o.) ist auf keinen Fall von "typischen Septuaginta-Abweichungen" geprägt (so S.SCHULZ, Q, 185), sondern ist innerhalb der LXX-Überlieferung eine abweichende Lesart. Auch hier

227 Nun hat aber der Codex Alexandrinus (5Jhdt.) an dieser Stelle jene Lesart, die auch in Mt 4,10/Lk 4,8 vorliegt: κύριον τον θεόν σου προσκυνήσεις καί αύτω μ,όνω λατρεύσεις In Dtn 6,13 wird Α für προσκυνήσεις von einer weiteren Minuskel (82 aus dem 12. Jhdt.) unterstützt, außerdem von einer Reihe frühchristlicher Autoren: Justin, Clemens von Alexandrien, Orígenes, Cyrill und Chrysostomos. In Dtn 10,20 ist die Bezeugung für diese Lesart schwächer: προσκυνήσεις in A wird nur von Cyrill unterstützt. Sehr viel breiter ist dagegen an beiden Stellen das zusätzliche μόνω bezeugt. Dieser Befund läßt die Möglichkeit zu, daß der christliche Schreiber des Codex Alexandrinus bei der Wiedergabe von Dtn 6,13 und 10,20 bewußt oder unbewußt durch die Versuchungsgeschichte beeinflußt war. Dies wird wahrscheinlich, wenn man den hebräischen Text vergleicht. Dort steht NT "fürchte", was die meisten Handschriften richtig mit φοβηθήση wiedergeben. NT wird aber sonst an keiner Stelle in der LXX mit προσκυνεΐν übersetzt 32 außer an unseren beiden Stellen in Dtn 6,13 und 10,20 (und hier nur im Codex Alexandrinus und in einer Minuskel). Haben die Erzähler der Versuchungsgeschichte also das Zitat ad hoc für ihre Zwecke zurechtgebogen? Solch eine "Manipulation" am Bibeltext wäre ihnen zuzutrauen. Denn auch in der zweiten Versuchung lassen sie den Satan die Bibel nicht korrekt zitieren. Er unterschlägt dort, was nicht zur Situation passen würde: "Denn seine Engel wird er für dich aufbieten, dich zu behüten auf all deinen Wegen. Sie werden dich auf den Händen tragen, daß dein Fuß nicht an einen Stein stoße." (Ps 91,110

Die unterstrichene Zeile fehlt. Der Satan will ja nicht vom Schutz auf den "Wegen" sprechen, sondern vom Vertrauen beim Sturz von der Tempelzinne. Wer hier einen ganzen Nebensatz wegläßt, dem ist auch zuzutrauen, daß er in der dritten Versuchung den alttestamentlichen Text frei übersetzt. Die eigenwillige Abweichung vom vorgegebenen AT-Text aber ließe sich dadurch erklären, daß die Erzähler eine Verurteilung der "Proskynese" vor dem "Herrscher dieser Welt" aus dem Text heraushören wollten! Es gibt aber noch eine andere Möglichkeit, die Abweichung vom atl. Text in Mt 4,10/Lk 4,8 zu erklären. 33 Inhaltlich entspricht das dem Satan durch Jesus entgegengehaltene Gebot ganz dem Sch e ma, dem täglich zu sprechenden Bekönnte eine kontextbedingte Anpassung an die Handlung der Versuchungsgeschichte vorliegen (so H.SCHÜRMANN: Lk, 212, Anm.184). Es ist demnach möglich, daß die Versuchungsgeschichte (und damit Q) von der LXX beeinflußt worden ist; sicher ist es nicht. 32

Vgl. E.HATCH/HA.REDPATH: A Concordance to the Septuagint II, Oxford 1897, 1297f.

33

Vgl. A.POLAG, Christologie, 148, und J.GNILKA, Mt, 91.

228

kenntnis jedes Juden zum einen und einzigen Gott. Die Frage ist, ob es eine Variante des Sch e ma gab, die auch sprachlich dem Text von Mt 4,10/Lk 4,8 entsprach. Justin zitiert in der Tat das Sch e ma in solch einer Form: "Den Herrn deinen Gott sollst du anbeten (προσκυνήσεις) und ihn allein (μόνω) verehren von deinem ganzen Herzen und aus all deiner Kraft, Gott den Herrn, der dich gemacht hat." (Ap I, 16,7). War solch eine Form schon im 1. Jhdt. n.Chr. verbreitet? Oder formuliert auch Justin schon unter dem Einfluß der Versuchungsgeschichte? Denn in Dial 125,4 zitiert Justin den Anfang des oben zitierten "ersten Gebots" eindeutig als Teil der Versuchungsgeschichte. Man kann die Frage offen lassen, ob die Versuchungsgeschichte den alttestamentlichen Text ad hoc an die von uns vermutete geschichtliche Situation angepaßt hat oder bei ihrer Abänderung des alttestamentlichen Textes einem traditionellen monotheistischen Bekenntnis gefolgt ist - in jedem Fall wird deutlich: Die geforderte Proskynese vor dem Satan ist Leugnung des Monotheismus. Das alles macht wahrscheinlich, daß das Modell des Satans in der Versuchungsgeschichte der Kaiser Gaius Caligula ist. Grundsätzlich kämen zwar auch Nero (54-68) und Domitian (81-96) in Frage. Jedoch entfällt letzterer aus chronologischen Gründen als Modell für die Versuchungsgeschichte in Q, könnte aber deren mt und lk Version beeinflußt haben. Nero käme in Frage. Aber nur bei Gaius Caligula finden wir den schroffen Konflikt zwischen Selbstapotheose und jüdischem Monotheismus; nur bei ihm finden wir die Vergabe eines Königreichs an einen jüdischen Herrscher in Palästina. Nur bei ihm erregte die Proskynese als neuer Brauch solches Aufsehen - sowohl in Rom wie unter den Juden des Ostens. Wir hätten somit einen terminus a quo für die Entstehung der Versuchungsgeschichte in Q. Sofern man die Versuchungsgeschichte in engem Zusammenhang mit der Gesamtredaktion der Logienquelle sieht, wäre es zugleich ein Anhalt zur Datierung von Q überhaupt. Entscheidend ist freilich, ob wir auch Anhaltspunkte für einen terminus ad quem finden können. Doch zunächst sollen unsere Beobachtungen zum Zeitkolorit der Versuchungsgeschichte auf die in der Forschung vertretenen Auslegungen bezogen werden. Alle drei Grundtypen der Auslegung - die heilsgeschichtliche, christologische und paränetische haben m.E. wichtige Aspekte dieser Geschichte erhellt.34

34

Überblicke über die Auslegung geben H.MAHNKE: Die Versuchungsgeschichte im Rahmen der synoptischen Evangelien, BET 9, Frankfurt 1978; U.LUZ, Mt, 160-162; J.GNILKA, Mt, 84f; J.S.KLOPPENBORG, Synoptic Sayings Source, 318-320.

229 1. D i e heilsgeschichtliche Auslegung 3 5 sieht in der Geschichte einen durchgehenden B e z u g zu den Versuchungen Israels in der Wüste: Jesus ist an die Stelle Israels getreten. Er erfährt erneut die Versuchungen Israels. Daran ist richtig, daß die Versuchungsgeschichte auf Israel konzentriert ist: Sie zielt auf das Grundbekenntnis Israels zum einen und einzigen Gott und bekräftigt es gegen alle Versuchungen und Gefahren. D i e hinter dieser Geschichte stehenden christlichen Gruppen fühlen sich der Thora unbedingt verpflichtet (vgl. auch Lk 16,17Q). Sie schließen sich im Bekenntnis zu Gott mit allen Juden zusammen. V o n diesem Bekenntnis abzufallen, ist die größte aller Versuchungen, die Jesus vorbildlich bestanden hat. 36 2. D i e christologische Auslegung 3 7 sieht in der Versuchungsgeschichte eine Auseinandersetzung um das rechte Messiasverständnis, sei es, daß dies durch Wunderglauben bestimmt sei (so in den ersten beiden Versuchungen) oder durch Hoffnungen auf einen Messias im politischen Sinn, der die Weltherrschaft antritt (so in der letzten Versuchung). 3 8 Wenn die Pointe in der dritten Versuchung liegt, wird man einer "politischen" Deutung prinzipiell zustimmen müssen. Nur daß hier kein zelotisches Messiasideal zurückgewiesen wird, «

Die heilsgeschichtliche Deutung findet sich am ausgeprägtesten bei J.DUPONT: Die Versuchungen Jesu in der Wüste, SBS 37, Stuttgart 1969. Im Hintergrund stehen als alttestamentliche Typoi: das Mannawunder Ex 16, das Wasserwunder von Massa Ex 17 und die Verehrung fremder Götter Ex 23 und 34. - Aber das Mauna fiel vom Himmel, während in der Versuchungsgeschichte irdische Steine zu Brot werden sollen! 36 Nach B.GERHARDSSON: The Testing of God's Son (Matt 4,1-11 and par). An Analysis of an Early Christian Midrash, CB.NT 2, Lund 1966, folgt die Versuchungsgeschichte dem Aufbau des Sch e ma, wie es in rabbinischer Interpretation gedeutet wurde. Gott lieben "mit ganzem Herzen" wende sich gegen die natürlichen Bedürfnisse des Essens und Trinkens, "mit ganzer Seele" meine die Bereitschaft, sein Leben aufs Spiel zu setzen, "mit aller Kraft" denke an das Vermögen. Der Bezug zum Sch e ma ist m.E. vorhanden - wenn auch nicht zu dieser Interpretation. 37

H.MAHNKE, Versuchungsgeschichte, 51-152,190-194, denkt an eine Zurückweisung des Verständnisses Jesu als eines Propheten wie Mose, als des eschatologischen Hohenpriesters und des messianischen Königs. W.STEGEMANN: Die Versuchung Jesu im Matthäusevangelium, Mt 4,1-11, EvTh 45 (1985) 29-44, sieht - nur auf das MtEv bezogen - den Sinn der Versuchung darin, daß Jesu Ende am Kreuz von vornherein "als Entäußerung des einzigartigen Gottesverhältnisses Jesu durchsichtig wird" (S.44). 38 So bes. P.HOFFMANN: Die Versuchungsgeschichte in der Logienquelle. Zur Auseinandersetzung der Judenchristen mit dem politischen Messianismus, BZ 13 (1969) 207-223. Die Freiheitsbewegung vertrat jedoch dasselbe monotheistische Pathos wie die Versuchungsgeschichte: Weil Gott alleine Herrscher war, durfte man dem Kaiser keine Steuern zahlen (bell 2,118). Sie wollten "weder den Römern noch irgend einem andern Untertan sein, sondern Gott, denn er allein (μόνος) ist der wahre und rechtmäßige Herr der Menschen" (bell 7,323).

230

sondern ein religiös überhöhter absolutistischer Herrscheranspruch (worin man sich mit den "Zeloten" einig gewesen wäre). Das Problem ist dabei nicht der in den Provinzen verbreitete gewöhnliche Kaiserkult, sondern der ungewöhnliche Anspruch absolutistischer Herrscher wie der des Gaius Caligula. Das Bekenntnis zu Jesus als Sohn Gottes ist mit solchen Ansprüchen unvereinbar. 3. Insgesamt zielt die Versuchungsgeschichte auf "Paränese"39: Genauso wie Jesus sollen seine Anhänger sich kompromißlos zu dem einen und einzigen Gott bekennen und konkurrierende religiöse Ansprüche als satanische Versuchung zurückweisen. Im Zusammenhang der ganzen Versuchungsgeschichte heißt das: Nichts in der Welt, weder die Verheißung von Nahrung, Sicherheit noch Macht, ist es wert, vom monotheistischen Bekenntnis auch nur einen Schritt abzuweichen - eine Erkenntnis, die in der Caligula-Krise des Jahres 40 bei Juden und Christen in Syropalästina einer existentiellen Probe ausgesetzt war. Je überzeugter man von den Beziehungen zwischen der Caligula-Krise und der Versuchungsgeschichte von Q ist, um so mehr wird man geneigt sein, die Versuchungsgeschichte (und Q) in die Nähe der Ereignisse des Jahres 40 zu rücken. Daher sei noch einmal betont: Erfahrungen mit Caligula könnten angesichts späterer absolutistischer Herrscher wie Nero wieder lebendig geworden sein. Erst wenn wir auch einige Anhaltspunkte für einen terminus ad quem haben, können wir die Möglichkeit einer sehr viel späteren Datierung ausschließen. So wie uns die Versuchungsgeschichte als Einleitung der Worte Jesu Indizien für einen terminus a quo liefert, so auch der Schluß der Worte Jesu in Q. Es handelt sich um eine Reihe von apokalyptischen Sprüchen, aus denen wir etwas über die Zukunftserwartung der Logienquelle erfahren. Danach wird die Parusie des Menschensohns ganz plötzlich kommen, mitten im tiefsten Frieden. Vergleichbar ist die Sintflut in der Zeit des Noah: "Sie aßen und tranken, heirateten und ließen sich heiraten" (Lk 17,27). Im parallelen Vergleich mit 39

Profilierte Vertreter dieses Auslegungstyps sind L.SCHOTTROFF/W.STEGEMANN: Jesus von Nazareth - Hoffnung der Armen, UTb 639, Stuttgart 1978, 72-76. In der dritten Versuchung sieht L.Schottroff die illusionären Herrschaftsträume aufständischer Gruppen zurückgewiesen. Aber sie schränkt ein: "Bei der Rolle, die die Weltherrschaft in der politischen Ideologie des Imperium Romanum spielt, darf man den antirömischen Aspekt aus der 3.Versuchung nicht ausblenden. Zelotische und ähnliche Herrschaftshoffnungen und römische Ideologie sind in gleicher Weise angesprochen" (S.75). Diese Sicht wird in der hier vorgelegten Deutung vertieft, nur daß der zelotische Griff nach der Weltmacht hier nicht als Versuchung der Christen angenommen werden muß. Eine Versuchung ist die Leugnung Gottes angesichts der Weltmacht.

231

der Zeit vor der Zerstörung von Sodom werden die alltäglichen Verrichtungen des Friedens noch anschaulicher geschildert: "Sie aßen, tranken, kauften, verkauften, pflanzten, bauten." (Lk 17,28) Niemand rechnet mit dem Ende. Beim Kommen des Menschensohns werden vielmehr die einen Getreide mahlen, die anderen schlafen (Lk 17,34f). Von Kriegen und Katastrophen, welche dem Ende vorausgehen werden, ist nicht die Rede. Die Stimmung ist vielmehr der im 1. Thessalonikerbrief vergleichbar, der im Jahr 52 n.Chr. schrieb: "Wenn sie sprechen werden: Es ist Friede und Sicherheit, dann kommt plötzlich das Verderben über sie (IThess 5,3). Wie anders sprechen die nach dem Jüdischen Krieg entstandenen Evangelien (Mk 13 parr) über die Zeit vor dem Ende! Daß wir uns in Q noch in der Zeit vor dem Jüdischen Krieg befinden, geht auch aus anderen Aussagen über die Zukunft hervor. So wird in Lk 13,34-35 / Mt 23,37-39 ein Wort gegen den Tempel wiedergegeben,40 in dem nicht mit dessen Zerstörung, sondern mit dem Verlassen des Tempels gedroht wird: "Siehe, euer Haus wird verlassen werden. Ich sage euch aber: Ihr werdet mich nicht sehen, bis die Zeit kommen wird, wo ihr sprecht: Gepriesen sei, der da kommt im Namen des Herrn!" (Lk 13,35 / Mt 23,38f) Das Passiv άφίεται ist als passivum divinum zu interpretieren: Gott wird den Tempel verlassen. Daher kann die Zeit der Gottesferne begrenzt werden: Wenn der Zukünftige im Namen des Herrn kommt, dann ist die Gottheit wieder nahe. Die Vorstellung, daß Gott den Tempel verläßt, ist jüdischem Denken nicht fremd. Sie gehört zu Hesekiels Botschaft. Im Jüdischen Krieg taucht diese Erwartung neu auf - wohl ein Aufleben schon vorher existierender Ängste und Befürchtungen.41 Im Jahre 70 n.Chr. geschah aber mehr als ein "Verlassen" des Tempels. Eine nach 70 formulierte Drohung gegen den Tempel hätte deutlicher auf die Tempelzerstörung Bezug genommen. Die Spätdatierung der Logienquelle durch J.WELLHAUSEN basiert vor allem auf zwei Argumenten:42 1. Ein sachlicher Vergleich zwischen der Fassung derselben Tradition in Q und im MkEv zeigt oft, daß Q die jüngere Fassung hat. - Aber es gibt Gegenbeispiele. Eine systematische Untersuchung aller Doppelüberlieferungen durch R.LAUFEN ergab,

40

O.H.STECK, Israel, 40-58, sieht in dieser Prophetie ein jüdisches Traditionsstück. Aber selbst wenn es außerhalb urchristlicher Kreise entstanden sein sollte, so muß es doch von ihnen als eigene Tradition übernommen worden sein, so daß es in jedem Fall (auch) als christliche Tradition verständlich gemacht werden muß. 41

Nach bell 6,299 wird nachts eine Stimme im Tempel gehört: "Laßt uns von hier aufbrechen." Tacitus hist V,13 bestätigt diese Überlieferung: et audita major humana vox, excedere deos.

42

J.WELLHAUSEN, Einleitung, 64-79,118-123,157-176.

232 daß bei den meisten Fällen Mk die jüngere Fassung bringt.43 2. In Mt 23,34-36 / Lk 11,49-51 sei die Ermordung des Sacharja, Sohn des Baris oder Baruch, im Jahre 67/68 n.Chr. vorausgesetzt, von der Jos. bell 4,335-343 berichtet. 0.H.STECK hat m.E. in überzeugender Weise gezeigt, daß dies nur für die mt Fassung gilt, nicht aber für die weitgehend mit Q identische Fassung des Lk.44

B. Das soziale Umfeld der Logienquelle Nach allgemeinem Konsens ist die Logienquelle zwischen 40 und 70 n.Chr. entstanden. Im folgenden soll eine weitere Eingrenzung dieses Zeitraums versucht werden. Methodischer Ausgangspunkt ist das Bild verschiedener sozialer Gruppen und Größen in Q: "Israel", "Heiden" und "Pharisäer". Entscheidend wird sein, ob sich eine geschichtliche Situation erkennen läßt, in der die in Q vorausgesetzte Konstellation dieser sozialen Gruppen und Größen denkbar ist - im Unterschied zu anderen Situationen, in der sie unwahrscheinlich wäre. Dabei ist zu bedenken: Wir besitzen in den Texten kein direktes Bild des sozialen Umfelds der Logienquelle, sondern nur dessen Deutung mit Hilfe verschiedener Traditionen.

1. Israel Die Logienquelle ist theologisch auf Israel ausgerichtet. Am Anfang und Ende steht die Gerichtspredigt an Israel. Johannes der Täufer wendet sich gegen eine falsche Heilssicherheit, die sich auf die kollektive Abstammung von Abraham beruft. Rettung gibt es nur für Einzelne, die umkehren. Diese individualisierende Gerichtspredigt prägt auch die kleine "Logienapokalypse" am Ende von Q: Das Strafgericht scheidet zwischen Guten und Bösen und zerreißt die engsten sozialen Bindungen: Zwei werden auf einem Bett schlafen, nur einer wird "mitgenommen" werden. Zwei werden an einer Mühle mahlen, nur einer wird Gnade erlangen (Lk 17,34fQ). Diese Gerichtspredigt ist innerhalb von Q so schroff und unerbittlich, daß einige Exegeten meinen, die Logienquelle rechne nicht mit einer Umkehr Israels.45 Aber die indivi43

R.LAUFEN: Die Doppelüberlieferungen der Logienquelle und des Markusevangeliums, BBB 54, Bonn 1980: Bei insgesamt 9 Fällen bringt Q vier Mal, Mk zwei Mal die ältere Fassung. In drei Fällen stehen teils Mk, teils Q der Urfassung am nächsten (S.385).

44 45

O.H.STECK, Israel, 26-33.

So besonders D.LÜHRMANN, Redaktion, 47, zu Lk 11,49-51Q: "Eine Umkehr Israels ist bei dieser Gerichtsankündigung nicht mehr im Blick, es bleibt nur noch das Gericht." Ebenso J.S.KLOPPENBORG, Synoptic Sayings Source, Kap.4, vgl. bes. 200-

233

dualisierende Gerichtspredigt wendet sich an Israel. Beim Täufer ist das evident. Nur Juden kann zugerufen werden, sie sollten nicht auf ihre Abrahamskindschaft vertrauen! Aber auch am Ende von Q wird diese Ausrichtung auf Israel betont. Auf die Logienapokalypse folgt die Verheißung an die Zwölf, daß sie zusammen mit dem Menschensohn die zwölf Stämme Israels "richten" werden (Mt 19,28f / Lk 22,28ff).46 Die Gerichtspredigt sieht zwar das ganze "Geschlecht" bedroht, aber sie ruft zur Umkehr, damit einzelne wie Noah und Lot in der zukünftigen Katastrophe gerettet werden. Hinter Q steht eine inneijüdische Erneuerungsbewegung, die mit prophetischer Radikalität die Umkehr jedes einzelnen in Israel fordert. 47 Sie setzt darin die Botschaft des Täufers und Jesu fort. Wir kennen aus der Geschichte des Urchristentums eine Strömung, die sich an Israel gesandt wußte: die von Petrus auf dem Apostelkonzil vertretene Israelmission, die dort der Heidenmission des Paulus und Barnabas entgegengesetzt wurde. Folgende Indizien weisen auf Zusammenhänge zwischen der Logienquelle und dieser Israelmission, die nicht erst auf dem Apostelkonzil entstand. a) Petrus ist eng mit den "Zwölfen" verbunden. Er wird in den Zwölferlisten immer an erster Stelle genannt (Mk 3,16.19 parr). Auch Paulus kennt ihn in diesem Zusammenhang (IKor 15,5). Neben dem Vertreter der Jerusalemer Ortsgemeinde, dem Herrenbruder Jakobus, treten zwei der Zwölfe als Gesprächspartner der antiochenischen Delegation auf: Petrus und Johannes. Eben diese "Zwölf' werden in der Logienquelle an betonter Stelle - gegen Ende - Israel zugeordnet. Daß sie Israel in der Endzeit richten werden, kann heißen: Sie werden an ihm das Endgericht vollziehen oder: sie werden es in der Endzeit regieren (Mt 19,28f). b) Die Israelmission ist gesetzestreu. Die Aufnahme eines Beschnittenen in 204. 46

Ob Mt 19,28fQ das Ende von Q darstellte, ist nicht sicher. E.BAMMEL: Das Ende von Q, in: Verborum Veritas, FS G.Stählin, Wuppertal 1970, 39-50, sieht in dem Spruch eine testamentarische Verfügung, mit der Q abschloß. Die ganze Spruchsammlung habe dadurch den Charakter eines Testaments erhalten. - Auf jeden Fall enthält dies Q-Logion eine Heilsbotschaft für Israel: Die zwölf Stämme werden aus der Zerstreuung zurückkehren. Wenn sie "gerichtet" werden, so ist dies kein Straf- und Veraichtungsgericht. Die nächste Analogie bietet PsSal 17,26.29: Dort richtet der Messias ein geheiligtes Volk, aus dem alles Böse entfernt worden ist.

47

So auch O.H.STECK, Israel, 288: "Die Spruchquelle selbst dürfte eine Logiensammlung zur Instruktion dieser Israelprediger sein, aus der sie ihre Botschaft an Israel, Worte an die Anhänger und Worte für sich selbst, aber auch Wehe- und Gerichtsworte an die Halsstarrigen entnehmen konnten."

234

eine der neuen heidenchristlichen Gemeinden wird zwar konzediert, aber gegen Widerstände (Gal 3,3f)· Sich selbst weiß Petrus an die "Beschneidung" gesandt. Wenn er später in Antiochien bereit ist, mit Heidenchristen zu essen (Gal 2,1 If), so heißt das nicht, daß er jüdische Speisevorschriften verletzte. Auch die Logienquelle ist gesetzestreu. Das zeigt nicht nur die einleitende Versuchungsgeschichte, sondern auch der Spruch von der Unauflöslichkeit des Gesetzes (Lk 16,17Q). Es fehlen in ihr alle Jesusüberlieferungen, die einen "liberalen" Umgang mit der Thora zeigen. Wir finden kein Wort zur Relativierung von Sabbatnormen und Speisegeboten. Die Zehntforderung wird als selbstverständlich vorausgesetzt (Lk 11,42Q), die Reinheitsforderung nicht kritisiert, sondern vom Äußeren der Gefäße auf deren Inhalt ausgedehnt: Wichtiger ist, daß der Inhalt nicht durch Raub und Vergehen befleckt ist (Lk 11,39Q).48 c) Es kommt auf dem Apostelkonzil zu einer gegenseitigen Abgrenzung von Israel- und Heidenmission nach geographischen, ethnischen oder inhaltlichen Kriterien. Die Träger der Logienquelle wissen sich an Israel gesandt. Sie erwarten, daß am Ende Menschen (Juden und Heiden?) aus allen vier Himmelsrichtungen in die Gottesherrschaft strömen werden (Mt 8,llfQ). Sie akzeptieren die Aufnahme einzelner Heiden als Ausnahme in der Gegenwart (Mt 8,Iff). Falls Mt 10,5f und 10,23 literarisch oder geschichtlich zur Logienquelle gehörten, hätten sie jedoch die aktiv betriebene Mission auf Israel beschränkt, so wie es beim Apostelkonzil vereinbart wurde. Die beiden Israelsprüche des mt Sonderguts können nur in zweiter Linie zur Situationsbestimmung von Q herangezogen werden. Es ist keineswegs sicher, daß sie in Q gestanden haben. Aber auch so wären sie für eine Beurteilung von Q wichtig. Entweder sind sie sekundär in die Logienquelle eingedrungen, bevor Mt sie in sein Evangelium aufnahm. Ihre Aufnahme müßte in einer Situation erfolgt sein, als eine Beschränkung der Mission auf Israel Plausibilität besaß; Q wäre dann älter als diese Situation. Oder es handelt sich um unabhängig von Q überlieferte Sprüché. Dann ist zu bedenken, daß die drei Israelsprüche (Mt 10,5f; 10,23 und 19,281) traditionsgeschichtlich und sachlich zusammengehören. Die auf Israel ausgerichtete Logienquelle hätte eine "Parallele" in diesen Israelsprüchen, von denen nur einer in die Logienquelle aufgenommen wurde. Fragt man nach einem geschichtlichen Ort für die drei Israelsprüche, so kommt man in den Umkreis des Apostelkonzils; auf ihm wurde von einem Teil der Christen die in Mt 10,5f und 10,23 geforderte Beschränkung auf Israel zum Programm erhoben. Angesichts der Unsicherheiten in der geschichtlichen und literarischen Zuordnung der beiden Israelsprüche Mt 10,5f und 10,23 zu Q müssen wir jedoch unabhängig von ihnen urteilen.

48

Die Thoratreue von Q wird mit Recht von S.SCHULZ, Q, 244f, betont. Vgl. auch ders.: "Die Gottesherrschaft ist nahe herbeigekommen" (Mt 10,7 Lk 10,9). Der kerygmatische Entwurf der Q-Gemeinde Syriens, in: Das Wort und die Wörter, FS G.Friedrich, Stuttgart 1973, 57-67.

235

Wir fragen daher: Wann ist eine gesetzestreue Israelmission, die zumindest ideell mit den "Zwölfen" verbunden ist, am ehesten denkbar? Spätestens seit Mitte der 50er Jahre finden wir aus Palästina stammende Missionare im Missionsgebiet des Paulus, die dort z.T. für die Beschneidung der Heiden eintraten und die Gemeinden in tiefe Konflikte stürzten. Diese judenchristlichen Missionare überschritten nicht nur die Grenzen, die auf dem Apostelkonzil gesteckt wurden, sondern auch Grenzen, die implizit (vielleicht sogar explizit) in Q vorhanden waren. Q müßte dann vorher entstanden sein. Vielleicht haben wir sogar einen Zeugen dafür, daß Überlieferungen von Q schon in den 40er Jahren vorhanden waren: Paulus. Auffällig ist, daß er bei seinen Gedanken über die Israelmission (in Rom 11) auf Topoi zurückgreift, die mit den in Q vorkommenden Gedanken z.T. Berührungen zeigen. a) Das deuteronomistische Bild der Prophetenverfolgung wird auch bei ihm bis in die Gegenwart verlängert: So wie Elia verfolgt wurde, so auch jetzt der Apostel (Rom 11,Iff). Noch enger sind die Beziehungen zwischen dem Topos der Prophetenverfolgung in Q und IThess 2,14-16. b) Der Gedanke, daß Heiden Israel zum Glauben "reizen" (Rom 11,11), hat eine Analogie in jenen vorbildlichen Heiden, die Israel durch ihren Glauben und ihre Umkehrbereitschaft beschämen: im Hauptmann von Kapernaum, in den Nineviten und der Königin des Südens (in Q). c) Die Erwartung einer Völkerwallfahrt zum Zion steht nicht nur hinter dem Logion Mt 8,llfQ, sondern auch hinter der Hoffnung des Paulus, daß am Ende der Zeiten "die Fülle der Heiden eingehen werde" (Rom 11,25). d) Von dem wiederkehrenden Christus erhofft Paulus eine Versöhnung mit ganz Israel, auch wenn es jetzt die Botschaft ablehnt (Rom 11,26). Ähnlich verheißt Q, daß diejenigen, die jetzt die Botschaft ablehnen, bei der Parusie Jesus grüßen werden mit "Gesegnet sei, der da kommt im Namen des Herrn" (Lk 13,35 Q). Nirgendwo finden wir hier ein Zitat. Paulus verwendet die Topoi eigenständig. Wahrscheinlich hat er sich auf dem Apostelkonzil mit dem Selbstverständnis der Israelmission auseinandergesetzt. Nach 10 Jahren greift er auf Gedanken zurück, die ihm damals begegnet waren, um der Israelmission in seiner theologischen Welt einen festen Ort zu geben. Mit all dem haben wir keine sicheren Datierindizien. Aber die Frage liegt nahe: Ist etwa Q im Umkreis des Apostelkonzils entstanden, als die Israelmission in Auseinandersetzung mit der neu entstandenen Heidenmission ihr Selbstverständnis klären mußte? Um dieser Frage nachzugehen, müssen wir das Bild der Heiden in Q klären.

236

2. Die Heiden Das Verhältnis zu den "Heiden" ist in Q ambivalent. An zwei Stellen finden wir eine deutliche Abgrenzung von ihnen: "Wenn ihr nur eure Brüder grüßt, was tut ihr Besonderes? Tun nicht auch die Heiden dasselbe?" (Mt 5,47). Lk verwendet an dieser Stelle das allgemeinere Wort "Sünder", das auch Heiden meinen kann (vgl. Gal 2,15). Die zweite Stelle spricht von der Sorge für Essen, Trinken und Kleidung und stellt fest: "Nach all diesen Dingen trachten die Heiden" (Mt 6, 32 Q). Was den Heiden an diesen beiden Stellen zugeschrieben wird, sind normale Lebensvollzüge: elementare soziale Kommunikation und die Befriedigung grundlegender materieller Bedürfnisse. Die Angeredeten sollen sich von diesem "normalen Leben" abheben. Sie sollen eine darüber hinausgehende Lebensform verwirklichen. Hier spricht eine kleine Minorität mit einem fast elitären Bewußtsein, die sich von den Heiden positiv unterscheiden möchte. Um so eindringlicher sind jene Stellen, wo Heiden als positive Beispiele genannt werden: Tyros und Sidon wären schon lange umgekehrt, hätten sie die galiläischen Wunder Jesu erlebt (Mt ll,20ff Q). Die Nineviten und die Königin des Südens hörten im Gegensatz zu "diesem Geschlecht" auf Prophetie und Weisheit Gottes: Sie ließen sich von Jona und Salomo beeindrucken (Mt 12,4 If Q). Interessant ist, daß in diesen beiden Worten den Hörern der Botschaft "Heiden" als Beispiel entgegengehalten werden. Dort, wo wir eine aristokratische Abhebung gegenüber dem "normalen Leben" der Heiden spüren, sind dagegen die Träger der Botschaft, die Jünger Jesu, angeredet. Jedoch ist jede Auswertung dieser Sprüche für die "soziale Welt" von Q schwer. Denn es sind traditionelle Sprüche. Eben deshalb ist es auch schwer, die Frage eindeutig zu beantworten, ob schon in Q eine Heidenmission vorausgesetzt ist. D.LÜHRMANN stützt sich dafür auf drei Argumente 49 : a) Die Gerichtsworte weisen einen ganz grundsätzlichen Gegensatz zu Israel auf. In ihnen gehe es nicht um Umkehr und Erweckung, "sondern nur noch um das Gericht". Aber auch der Prophet Jesus, Sohn des Ananias, der 62-70 in Jerusalem auftrat, hatte nur eine Unheilsbotschaft - und wandte sich nur an Juden (vgl. Jos.bell 6, 300-309). b) Die Aussendungsrede beginne in Q mit einer Verheißung an die Heiden: "Die Ernte ist groß, aber der Arbeiter sind wenige. Bittet daher den Herrn der Ernte, daß er Arbeiter in seine Ernte sende" (Mt 9,37 Q). Das Erntebild impliziert keine Beziehung zu den Heiden. Der Täufer gebraucht es in der für ihn charakteristischen Schärfe - aber er wendet sich an Juden (Mt 3,12). Mt hat dies Wort auf die Israelmission bezogen: Mit ihm leitet er Missionsanweisungen ein, die auf Israel beschränkt sind. 49

Vgl. D.LÜHRMANN, Redaktion, 86-88.

50

D.LÜHRMANN, Redaktion, 88.

237 c) Das wichtigste Argument sind wohl die positiv dargestellten Heiden: der Hauptmann von Kapernaum (Mt 8,5ff), die umkehrbereiten Tyrer und Sidonier (Mt 11,2024 Q). Aber diese Beispiele ließen sich auch so deuten, daß mit ihnen die Adressaten beschämt und zur Umkehr aufgerufen werden sollen. Wer solche Beispiele vor Augen hat, der ist in jedem Fall geistig darauf vorbereitet, die Heidenmission zu akzeptieren, selbst wenn er sie nicht aktiv betreibt.51

In jedem Fall dürfte die Aufnahme der Geschichte vom Hauptmann von Kapernaum auf einen bewußten redaktionellen Akt zurückgehen. Q kennt noch andere Wunder Jesu. Wenigstens wird von ihnen in Mt 11,5 Q und 11,20 Q summarisch berichtet. Aber nur eine Wundergeschichte wird aufgenommen obwohl sie nach formalen Gesichtspunkten nicht zu den in der Logienquelle gesammelten Stoffen paßt. Widerspricht diese positive Bewertung eines heidnischen Hauptmanns nicht der Annahme, daß in Q noch die Nachwirkungen der Caligula-Krise zu spüren sind? Kann man im römischen Staat die satanische Verführung zum Abfall vom Glauben sehen und einen heidnischen Hauptmann, möglicherweise einen Vertreter dieses Staates, als Vorbild des Glaubens darstellen? Fragen wir zunächst nach der Funktion dieser Wundergeschichte in Q. Die Versuchungsgeschichte bezeugt die Vollmacht Jesu, die alle seine Worte legitimiert. Der Hauptmann gibt als Hörer des Wortes Jesu ein Zeugnis für die Vollmacht Jesu. Anders ausgedrückt: Durch die Versuchungsgeschichte ist der Autor der Logienquelle (letztlich Jesus) in der Schrift präsent; durch den Hauptmann wird auch der Hörer in sie aufgenommen. Er unterstreicht die Macht der Worte Jesu, indem er sie in Beziehung setzt zu jenem System von Befehl und Gehorsam, in dem der Hauptmann selbst steht. Jesu Wort hat größere Autorität als ein Befehl in der Armee das ist die Botschaft des Hauptmanns. Läßt sich in der damaligen zeitgeschichtlichen Situation diese positive Sicht eines heidnischen Hauptmanns vorstellen? Zweifellos! In der Caligulakrise erschien gerade das römische Heer als ausgleichender Faktor. Sein Befehlshaber, der syrische Legat Petronius, unterlief die Befehle des Kaisers und verhinderte so den Ausbruch eines Krieges. Jüdische Quellen sprechen voll Bewunderung von ihm. Philo charakterisiert ihn sogar als "Gottesfürchtigen" (legGai 245). Eben dieser Petronius beruft sich in seinen Verhandlungen mit den demonstrierenden Juden auf seine Befehle: "Der mit euch Krieg führen wird, ist der, der mich gesandt hat, nicht ich; denn auch ich stehe, wie ihr, un51

So die These von P.D.MEYER: The Gentile Mission in Q, JBL 89 (1970) 405-417. Am gründlichsten hat U.WEGNER: Der Hauptmann von Kafarnaum, WUNT 14, Tübingen 1985, 296-334, die Frage der Heidenmission in Q erörtert, mit dem Ergebnis, daß die Argumente gegen eine Heidenmission überwiegen.

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ter Befehl" (καί γαρ αυτός, ωσπερ ύμεϊς, επιτάσσομαι) (bell 2,195). Hier begegnet eine ähnliche Haltung wie beim Hauptmann von Kapernaum: "Denn auch ich bin ein Mensch unter einer Befehlsgewalt" (καί γαρ έγώ άνθρωπος είμι ύπό έξουσίαν) (Mt 8,9). Natürlich sind solche Worte kein Echo der Aussagen des Petronius. Josephus schreibt diesem nur dasselbe "Berufsethos" zu, das der Hauptmann in der Logienquelle artikuliert. Die Analogie geht noch weiter: Petronius erkennt an, daß auch die Juden unter einem Befehl stehen, dem sie sich nicht entziehen können: Das Gesetz Gottes ist mehr als das des Kaisers zu respektieren; und auch er ordnet schließlich (nach Josephus) Gottes Gebot den kaiserlichen Befehlen über. Ebenso erkennt der Hauptmann Jesu überlegenes Wort an. Um es noch einmal zu betonen: Die Geschichte vom Hauptmann von Kapernaum ist keine Widerspiegelung der Erfahrungen mit dem syrischen Legaten Petronius. Die Geschichte war traditionell vorgegeben. Ihre Aufnahme in eine Logiensammlung aus der Zeit nach 40 n.Chr. wird jedoch verständlich, wenn man weiß: Heidnische Offiziere wurden auch positiv erlebt. Einige von ihnen verhielten sich vorbildlich. Gerade in der Caligulakrise war das deutlich geworden. 3. Pharisäer Sieht man von "diesem Geschlecht" ab, so sind die Pharisäer die einzige Gruppe, gegen die in Q deutlich polemisiert wird. Die einzelnen Sprüche gegen sie sind Tradition. Ihre Zusammenstellung zu einer "Kette" von Weherufen verrät aber ein redaktionelles Interesse, zumal einige erst nachträglich eine "Adresse" erhielten: Es fehlen die "Pharisäer" als Adressaten in Mt 23,6 (anders Lk 11,43) sowie in Lk 11,44 und 47 (anders Mt 23,27.29f). Möglicherweise wurden in Q zwei sich überschneidende Gruppen differenziert: "Pharisäer" (Lk 11,39-44) und "Gesetzeskundige" (νομικοί Lk 11,4652).52 Dieser Unterscheidung der Adressaten entsprechen inhaltliche UnterS2

Mt hat diese Differenzierung in der für ihn charakteristischen Einheitsfront von "Pharisäern und Schriftgelehrten" verschwinden lassen. Lk hat eher die ursprüngliche Differenzierung erhalten. Oder sollte Lk den Adressatenkreis in der zweiten Hälfte der "Weherufe" bewußt verändert und ausgeweitet haben? Dafür könnte sprechen, daß νομικός 6 mal in seinem Evangelium begegnet. Aber außerhalb der Weherufe (mit drei Belegen) ist er nur in Lk 7,30 eindeutig redaktionell, in Lk 10,25 (= Mt 22,35) aber ebenso eindeutig traditionell. Lk 14,3 ist schwer zu beurteilen. Entscheidend ist m.E. folgende Überlegung: Hätte erst Lk die Differenzierung zwischen Pharisäern und "Gesetzeskundigen" eingeführt, so würde man erwarten, daß er diese Unterscheidung auch in der abschließenden redaktionellen Notiz (11,53) aufgreift. Stattdessen spricht er dort

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schiede in der Polemik. Bei den Pharisäern wird deren fragwürdige Frömmigkeitspraxis kritisiert. Sie werden auf die für sie typischen Themen der rituellen Reinheit und Zehntzahlung angesprochen (Lk 11,39; 11,42 Q). Bei zwei der Sprüche gegen die Gesetzeskundigen wird dagegen der Mißbrauch der "Lehre" kritisiert: Das Aufbürden von Lasten auf andere; die Verwendung des "Schlüssels der Erkenntnis" zum Verschließen der Wahrheit (Lk 11,46 und 52). Das entspräche den Verhältnissen vor dem Jüdischen Krieg: Nicht alle Schriftgelehrten waren damals Pharisäer, nicht alle Pharisäer Schriftgelehrte.53 Nun könnte die Zusammenstellung von Weherufen gegen Pharisäer und Gesetzeslehrer schon vorgegeben gewesen sein. Ein bestimmtes redaktionelles Interesse wird jedoch in der Einschaltung eines Spruches in die Kette der Weherufe erkennbar, der sich 1. an einen allgemeineren Adressatenkreis wendet und 2. die Kritik extrem steigert, insofern den Angeredeten eine Mitschuld am Tod der Propheten zugeschrieben wird (Lk 11,49-51).54 Hier geht es um mehr als um Kritik an einer Frömmigkeitspraxis und am Mißbrauch der sozialen Rolle des Lehrers. Der Spruch steht bei Lk zwischen zwei Weherufen. Da die Parallele deutlich von Mt bearbeitet wurde, dürfte die lk Fassung Q nahekommen55: "Deshalb hat auch die Weisheit Gottes gesagt: Ich will zu ihnen Propheten und Apostel senden, und einige von ihnen werden sie töten und verfolgen, damit das Blut aller Propheten, das seit Erschaffung der Welt vergossen worden ist, von diesem Geschlecht gefordert wird, vom Blut Abels an bis zum Blut des Zacharias, der zwischen dem Altar und dem Haus umkam.

von "Schriftgelehrten und Pharisäern" und variiert damit die ihm in der Logienquelle vorgegebene Unterscheidung "Pharisäer" und "Gesetzeskundige" e'i

"Pharisäer" waren Gemeinschaften, in denen Laien und Schriftgelehrte eine besondere Frömmigkeit lebten. "Schriftgelehrte" waren Inhaber einer sozialen Rolle, die nicht nur von den Pharisäern ausgefüllt wurde. Es gab auch sadduzäische Schriftgelehrte. Wenn der Vorwurf der Prophetentötung in die Weherufe gegen die "Gesetzeskundigen" eingeschoben wird, so ist das konsequent: Nicht die pharisäischen Laien, sondern allenfalls die pharisäischen (und sadduzäischen) Schriftgelehrten konnten durch Gerichtsverfahren gegen "Propheten" und Christen vorgehen. 54 Die Auswertung dieser "Einschaltung" als ein Indiz für redaktionelle Arbeit findet sich zum ersten Mal bei D.LÜHRMANN, Redaktion, 43-48. 55

Die beste Analyse dieses Spruchs findet sich bei O.H.Steck, Israel, 26-33.50-53.282f.

240 Ja, ich sage euch: Es wird von diesem Geschlecht gefordert werden." (Lk 11,49-51)

Dieser Spruch meint die alttestamentlichen Propheten von Abel, der hier merkwürdigerweise unter die Propheten geraten ist, bis zu dem letzten in der Bibel genannten Propheten Sacharja, der nach 2Chr 24,20-22 im Tempel gesteinigt wurde. Die Annahme, daß dieser Prophet gemeint sei, scheint ungewöhnliche Bibelkenntnisse vorauszusetzen: Welcher Laie weiß, daß Sacharja der letzte ums Leben gekommene Prophet im Kanon ist? Die Exaktheit an diesem Punkt paßt auch kaum zur weniger exakten Einreihung Abels unter die Propheten. Dennoch läßt sich der Spruch befriedigend erklären. Die in Lk 1 l,47f angegriffenen Gesetzeskundigen haben ja selbst über die Prophetenverfolgungen in früheren Zeiten nachgedacht: Sie kontrastieren die Zeit, in der sie verfolgt wurden, mit der Gegenwart, in der man ihre Grabmäler verehrt. Ihnen ist zuzutrauen, daß sie beim Rückblick auf die Epoche der Prophetenverfolgung mit schriftgelehrter Genauigkeit den letzten getöteten Propheten ausfindig machten. Sie könnten den Gedanken populär gemacht haben, daß bis Sacharja die Propheten getötet wurden, seitdem aber nicht mehr. Mit moralischer Genugtuung schaute man auf jene bösen Zeiten zurück. Der in Lk 11,49-51 erhaltene Gerichtsspruch hebt diese Distanzierung von der Vergangenheit auf: Die Angeredeten können sich nicht in moralischer Überlegenheit von den bösen alten Zeiten distanzieren. Sie werden von den Folgen vergangener Bosheit eingeholt werden. Der ursprüngliche Spruch wirft den gegenwärtigen Adressaten nicht vor, sie töteten Propheten. Er setzte vielmehr das Bewußtsein voraus, die Prophetentötungen gehörten der Vergangenheit an. Im Kontext der Logienquelle sind jedoch christliche Propheten mitgemeint. Die Worte Jesu beginnen hier mit den Seligpreisungen (Lk 6,20-23 Q), die eine Analogie zwischen den Christen in der Gegenwart und den alten Propheten herstellen: Selig sind die Verfolgten, "denn ebenso taten ihre Väter den Propheten" (Lk 6,23 Q). Nach den Weherufen gegen die Pharisäer kommen in Q Sprüche, die Verfolgungssituationen voraussetzen: eine Mahnung, nicht die zu fürchten, die den Leib töten können (Lk 12,4f Q), das Wort vom Bekennen und Verleugnen des Menschensohns (Lk 12,8f Q) sowie die Zusage, der heilige Geist werde selbst die Verteidigung der Christen übernehmen (Lk 12,llf Q). Später werden dann Prophetentötungen noch einmal direkt angesprochen: "Jerusalem, Jerusalem, das die Propheten tötet und die steinigt, die zu ihr gesandt sind ..." (Lk 13,34f Q)

Hier fehlt jede zeitliche Befristung der Prophetentötungen; dafür wird ein

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konkreter Ort als Zentrum der Verfolgung von Propheten genannt: Jerusalem. Unverkennbar ist: Jeder Leser der Logienquelle mußte hier auch an Jesus und andere urchristliche Gestalten denken, die in Jerusalem ums Leben gekommen waren. Unser vorläufiges Ergebnis ist: Durch Kombination und Komposition verschiedener Überlieferungen in der Logienquelle werden in ihr "Pharisäer" und "Gesetzeskundige" mit der Verfolgung gegenwärtiger christlicher Propheten verbunden. Damit aber haben wir einen wichtigen Anhaltspunkt für die Datierung von Q. Denn nicht jede Situation zwischen ca. 40 und 70 n.Chr. legte es nahe, daß Christen dies Bild von Pharisäern und Schriftgelehrten entwickelten. Es läßt sich auch nicht aus der Passionsüberlieferung ableiten: In ihr werden die Pharisäer nie explizit als Gegner Jesu genannt. Für die Hinrichtung Jesu sind in ihr das Synhedrium und der römische Statthalter verantwortlich. Im Synhedrium saßen natürlich auch Pharisäer. Um so erstaunlicher ist, daß sie nicht besonders hervorgehoben werden. Im Gegenteil: Wo einer von ihnen aus der Anonymität hervortritt, wird er als heimlicher Sympathisant Jesu geschildert, wie der Pharisäer Nikodemus in der joh. Überlieferung (Joh 3,Iff; 7,50ff; 19,39ff) und Joseph von Arimathia in der synoptischen Überlieferung. Letzterer wird zwar nicht Pharisäer genannt, aber als jemand, "der das Reich Gottes erwartete" (Mk 15,43), gehörte er nicht zu den Sadduzäern, die eschatologische Erwartungen ablehnten. Wenn wir daher sowohl in der Logienquelle wie in Mk 3,6 auf die Vorstellung stoßen, daß Pharisäer Jesus verfolgt haben (und den Christen feindlich gesonnen sind), so ist das kein Reflex der Hinrichtung Jesu. Hier werden spätere Erfahrungen in das Bild der Pharisäer eingetragen. Bei der Suche nach einer Entstehungssituation für dies Bild der Pharisäer zwischen ca. 30 und 70 n.Chr. können wir ein ganzes Jahrzehnt ausschließen: die 60er Jahre. In ihnen sehen wir nämlich die Pharisäer (und andere gesetzesstrenge Schriftgelehrte) in einem schwerwiegenden Konflikt auf Seiten der Christen. Der sadduzäische Hohepriester Ananos hatte eine vorübergehende Vakanz im Procuratorenamt dazu genutzt, eigenmächtig gegen die Christen vorzugehen: "Er berief ein Synhedrion von Richtern und ließ ihm einen Mann namens Jakobus, den Bruder Jesu des sogenannten Christus, vorführen, sowie einige andere. Er lieferte sie zur Steinigung aus. Diejenigen aber in der Stadt, die im Rufe standen, am fairsten zu urteilen und die Gesetze streng einzuhalten (και περί τους νόμους άχριβεις) waren darüber empört und sandten heimlich zum König mit der Bitte, dem Ananos (schriftlich) zu befehlen, nicht mehr so zu verfahren. Schon beim ersten Schritt habe er unkorrekt gehandelt (oder: nicht zum ersten Mal habe er unkorrekt gehandelt)." (ant 20,200f)

Diejenigen, die hier wegen ihrer Fairneß und Gesetzestreue gerühmt werden,

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sind Pharisäer. Das legt nicht nur der Gegensatz dieser Gruppen gegen den sadduzäischen Hohenpriester nahe. Josephus charakterisiert auch an anderer Stelle die Pharisäer durch ihre ακρίβεια bei Gesetzesauslegung (bell 2,162) und Gesetzespraxis (vita 191). Mit demselben Stichwort werden die Schriftgelehrten Judas und Matthias (bell 1,648), Simon (ant 19,332) und der Galiläer Eleazar (ant 20,43) gekennzeichnet, bei denen eine Zugehörigkeit zur pharisäischen Strömung naheliegt. Es sind also Pharisäer, die gegen die Hinrichtung des Jakobus und anderer Christen protestieren - und sie tun es mit dem Ziel, in Zukunft ähnliche Übergriffe der Aristokratie gegen die Christen (oder andere Gruppen) zu verhindern. Sie haben Erfolg: Der sadduzäische Hohepriester wird abgesetzt. All das geschah im Jahre 62 n.Chr. Eine verschiedene Einstellung von Sadduzäern und Pharisäern zu den Christen ist schon für eine frühere Zeit bezeugt: Als Paulus Ende der 50er Jahre in Jerusalem inhaftiert und vor das Synhedrium gestellt wird, kommt es zwischen den Vertretern beider Strömungen zu einem Konflikt. Nach der lk Darstellung sagen die Pharisäer: "Wir finden an diesem Menschen nichts Böses" (Apg 23,9). Der lk Bericht könnte darin historisch sein, daß die im Jahre 62 zutage tretende positive Haltung der Pharisäer zu den Christen sich schon vorher angebahnt hatte. Christliche und nichtchristliche Quellen stimmen also darin überein, daß Ende der 50er bzw. Anfang der 60er Jahre die Haltung der beiden großen schriftgelehrten Strömungen gegenüber den Christen gespalten war. Das negative Bild der Pharisäer als Verfolger müßte sich dann vorher gebildet haben, also ca. 30-55 n.Chr. Nun bezeugt Paulus schon im l.Thessalonikerbrief (ca. 52 n.Chr.), daß es Verfolgungen in Judäa gab. Interessanterweise deutet er sie im Lichte desselben Deutungsschemas, das uns auch in der Logienquelle begegnet: er greift auf die deuteronomistische Tradition von der Tötung der Propheten zurück (IThess 2,14-16). Setzt er dabei denselben Erfahrungshintergrund wie die Logienquelle voraus? Verfolgungen sind für die 30er/40er Jahre auf jeden Fall gut belegt. Paulus spricht von ihnen (Gal 1,13.23; IThess 2,14-16). Aus der Apg hören wir von der Steinigung des Stephanus in den 30er (7,54-60) und der Hinrichtung des Jakobus Zebedaeus in den 40er Jahren durch das Schwert (12,2). Als Konfliktparteien treten bei Stephanus Vertreter der hellenistisch-jüdischen Gemeinde hervor (zu denen auch der 7,58 erwähnte Saulus gehört), bei Jakobus der König Agrippa I., der mit seinem Vorgehen gegen die Christen Anklang bei "den Juden" findet. Uns interessiert: Waren bei diesen Verfolgungen Pharisäer direkt oder indirekt beteiligt? Konnte damals jenes Verfolgerbild der Pharisäer entstehen, das die Logienquelle in ihrer jetzigen Komposition bestimmt? Ein Pharisäer hat seine Beteiligung an Christenverfolgungen selbst bezeugt:

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Paulus. Seine Aktivität gehört in die frühen 30er Jahre. Bei der Verfolgung unter Agrippa zwischen 41 und 44 n.Chr. sind wir auf indirekte Rückschlüsse angewiesen. Josephus beurteilt ihn als einen nachsichtigen Herrscher, der seinen Gegnern gerne verzieh, "da er Sanftmut für einen König passender hielt als Zorn" (ant 19,334). Warum ging er trotzdem gegen die Christen vor? Und welche Rolle spielten dabei die Pharisäer? 56 Agrippa trat seine Herrschaft über ganz Palästina 41 n.Chr. in einer schwierigen Situation an: Nach dem unerwarteten Ende der Caligulakrise schienen einige der durch den Erfolg ermutigten Juden das Maß zu verlieren. In Alexandrien griffen sie zu den Waffen und gingen gegen ihre Gegner vor (ant 19,278). In Palästina drohten nach Entweihung einer Synagoge in Dor Unruhen (vgl. ant 19,309). Agrippa ging klug vor: Er opferte bei seiner Ankunft in Jerusalem demonstrativ Dankopfer und "überging keine Forderung des Gesetzes" (ούδέν των κατά νόμον παραλιπών) (ant 19,293). Gleichzeitig sorgte er durch eine Steuerermäßigung für eine Beruhigung der Gemüter (ant 19,299). An sich war er kein Gesetzesstrenger. Vielmehr ließ er sich als erster jüdischer Fürst auf Münzen abbilden. Von seinen Töchtern existierten sogar Bildstatuen (ant 19,357). Verständlich ist, daß er Schwierigkeiten mit den Strengen hatte. Einer ihrer Schriftgelehrten, Simon, vertrat öffentlich die Meinung, der König sei vom Tempelkult auszuschließen (ant 19,332). Dieser Simon wird als έξακριβάζειν δοκών τά νόμιμα charakterisiert wohl als Pharisäer. Agrippa gelang es, ihn auf seine Seite zu ziehen und die gesetzesstrengen Kreise für sich zu gewinnen, indem er sich ihren Forderungen anpaßte. Generalisierend sagt Josephus über den König: "Er hielt gewissenhaft die väterlichen Gesetze, beachtete jeden Reinheitsritus und ließ keinen Tag ohne die gesetzlichen Opfer verstreichen" (ant 19,331). Nur durch demonstrative Gesetzesstrenge konnte er in dem durch die Caligulakrise aufgewühlten Land eine stabile Herrschaft aufbauen. Die Christen sind durch die Caligulakrise wahrscheinlich in eine bedrängte Situation geraten. Es war bekannt, daß sie dem Tempel distanziert gegenüberstanden. Wegen Tempel- und Thorakritik war nach Apg 6,14 Stephanus gesteinigt worden. Nun aber hatte Gott alle Kritiker des Tempels sichtbar widerlegt: Der Tod des Gaius Caligula zeigte, was alle erwartete, die gegen den Tempel vorgingen. Die Stimmung war erregt. So wie sie in Alexandrien zu gewalttätigen Aktionen einiger Juden gegen ihre heidnischen Mitbürger führte, so in Palästina gegenüber einer innerjüdischen Minorität. Wenigstens mußte es für Agrippa I. verlockend sein, die angestauten Spannungen auf diese Gruppe der Christen abzulenken - und so vorbildliche Gesetzesstrenge 56

Zu Agrippa vgl. E.SCHÜRER: History, 442-454. Er bezeichnet die Regierungszeit des Agrippa I. als "golden days again for Pharisaism" (446).

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zu demonstrieren. Es ist denkbar, daß er dabei unter dem Einfluß jener Kreise stand, die wie der Schriftgelehrte Simon für die Heiligkeit des Tempels eiferten. Das in Q vorausgesetzte Bild der Pharisäer paßt also bestens in die Zeit nach 40 n.Chr. Schon Ende der 50er Jahre wäre es nicht mehr plausibel gewesen. Innerhalb von 20 Jahren muß sich eine wichtige Veränderung im Verhältnis zwischen den palästinischen Judenchristen und den Pharisäern vollzogen haben. Wahrscheinlich ist ihre Annäherung ein Verdienst des Herrenbruders Jakobus,57 der in den 40er Jahren zur beherrschenden Gestalt unter den Jerusalemer Christen wurde. Wahrscheinlich spielten aber auch für uns nicht mehr durchschaubare Änderungen im Verhältnis von Pharisäern und Sadduzäern dabei eine Rolle. Wir können jetzt zusammenfassen. Die Logienquelle läßt sich aufgrund der zusammengetragenen Datierindizien am ehesten in die 40er Jahre datieren. Die Spuren der Caligulakrise sind in der Versuchungsgeschichte noch zu spüren. Damals ist eine auf Israel konzentrierte Mission denkbar, die sich möglicherweise von einer beginnenden Heidenmission abgrenzt. Heidnische Offiziere konnten positiv erlebt werden, hatten sie doch zur Bewältigung der Caligulakrise einen entscheidenden Beitrag geleistet. Vor allem aber würde das Bild der Pharisäer als Verfolger in diesem Kontext plausibler sein als in späteren Situationen. Wenn die palästinische Geschichte in so hohem Maße Q geprägt hat, dann wird diese Schrift auch in Palästina entstanden sein. Überall dort, wo in Einzellogien von Q eine Lokalperspektive erkennbar wird, konnten wir sie ungezwungen als Ausdruck einer palästinazentrierten Perspektive verstehen. Auch die in der Versuchungsgeschichte vorausgesetzten Orte sind in Palästina vorhanden oder vorstellbar: eine Steinwüste, der Tempel, ein Berg, von dem man Königreiche übersehen kann. Vom Berg Hermon konnte man in den 40er Jahren in der Tat zwei Königreiche sehen: das Königreich Chalkis im Norden und das des Agrippa im Süden. Natürlich ist der mythische Berg der Versuchungsgeschichte nicht der Hermon. Aber mythische Berge haben Modelle in der Erfahrungswelt. Zu dieser Erfahrungswelt gehört auch der Tempel, bei dem als selbstverständlich vorausgesetzt wird, daß jeder weiß, was die "Zinne" des Tempels ist - obwohl moderne Gelehrsamkeit sie bis heute nicht

57

Zur Würdigung von Jakobus dem Herrenbruder vgl. jetzt W.PRATSCHER: Der Herrenbruder Jakobus und die Jakobustradition, Göttingen 1987, und M.HENGEL: Jakobus der Herrenbruder der erste "Papst"?, in: Glaube und Eschatologie, FS W.G.Kümmel, Tübingen 1985, 71-104.

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eindeutig identifizieren kann. 58 Jedoch können wir auf eine genauere Lokalisierung verzichten. In der Logienquelle wurden nämlich vor allem Traditionen urchristlicher Wandercharismatiker gesammelt, also Traditionen, die nicht an eine bestimmte Ortsgemeinde gebunden sind. Die hier vorgelegte Orts- und Zeitbestimmung der Logienquelle ermöglicht es, das geschichtliche Motiv hinter dieser Sammlung von Jesusworten zu erkennen. Das stolze Bewußtsein der überwundenen Caligulakrise als großer satanischer Versuchung prägt diese Schrift. Während die ebenfalls in der Mitte des 1.Jahrhunderts entstandene synoptische Apokalypse und Passionsgeschichte auf Krisen und Konflikte eher reagieren und die Christen als Leidende erscheinen, enthält die Logienquelle einen Entwurf aktiver ethischer Lebensgestaltung, die auch radikale Forderungen ernst nimmt. Zu ihr gehört die Bereitschaft zu Leiden und Konflikt. Aber das Fehlen einer Passionsgeschichte am Ende der Schrift und der Ausblick auf das Endgericht zeigen: Im Zentrum steht die Verwirklichung der Gebote Jesu als authentischer Formulierung des Willens Gottes und die Verantwortung des Menschen vor seinem Richter für sein Leben in der Nachfolge. Während die Folgen der Caligulakrise für die (Jerusalemer) Ortsgemeinde eine schwierige Lage schufen, in der sie erhöht unter Druck geriet, hat die Caligulakrise andere Christen zu einem konsequenten Leben in der Nachfolge Jesu ermutigt. Hatte die Caligulakrise doch gezeigt: Unbedingte Treue gegenüber dem Willen Gottes hat eine Verheißung und läßt sich auch in ausweglosen Lagen gegen den Druck der Umwelt praktizieren. Die Logienquelle gehört somit sachlich und zeitlich zur zweiten Phase der synoptischen Traditionsbildung, in der in der Mitte des 1.Jahrhunderts die ersten Teile der Jesusüberlieferung in Palästina verschriftlicht werden. Die eigentliche Evangelienbildung bildet eine dritte Phase in der Geschichte der synoptischen Tradition. Sie setzt außerhalb Palästinas ein und ist durch Nähe und Distanz zum Jüdischen Krieg 66-74 n.Chr. geprägt. Ihr wenden wir uns im letzten Kapitel dieser Arbeit zu.

58

Vgl. N.HYLDAHL: Die Versuchung auf der Zinne des Tempels, StTh 15 (1961) 113127.

6. Kapitel: Die Evangelien und ihre Entstehungssituation Die Jesusüberlieferung fand ihre geschichtlich wirksame Gestalt als Evangelium. Der Mk-Evangelist hat diese Form als urchristliche Variante der antiken "Biographie"1 geschaffen, Mt und Lk haben sie durch Aufnahme der Logienquelle weiterentwickelt. Die Situation der Niederschrift von Jesustraditionen hat sich gegenüber der Logienquelle stark verändert. So ist die Logienquelle wahrscheinlich in Palästina geschrieben worden, die Evangelien aber entstanden in unterschiedlicher Distanz zu Palästina. Zu untersuchen wird sein, ob sich ihr Verhältnis zu Palästina näher erhellen läßt. Die Logienquelle wurde zwischen 40 und 55 n.Chr. im Bewußtsein einer überstandenen "Versuchung" verfaßt. Alle Evangelien setzen dagegen den Jüdischen Krieg 66-70 n.Chr. voraus. Zu fragen ist, wie der wachsende Abstand zum Krieg die Gestalt der Evangelien beeinflußt hat. Die Logienquelle steht dem Wandercharismatikertum nahe, in den Evangelien spüren wir eine Orientierung an anderen Lebensformen, so daß die Frage berechtigt ist, ob in ihnen Jesustraditionen auf die Bedürfnisse von Ortsgemeinden hin bearbeitet wurden. Wir untersuchen im folgenden Lokalisierung, Datierung und "Sitz im Leben" der Evangelien. Dabei wird das älteste Evangelium ausführlicher besprochen als seine Weiterentwicklung bei Mt und Lk.

A. Nähe und Ferne zu Palästina in den Evangelien und die Frage ihrer Lokalisierung Die Lokalisierung des MkEv ist trotz intensiver Bemühungen ungeklärt. Einerseits wird es im Anschluß an eine bei Irenäus bezeugte altkirchliche Tradi1 Nachdem die klassische Formgeschichte die Evangelien betont von antiken Biographien abgesetzt hatte - vgl. K.L.SCHMIDT: Die Stellung der Evangelien in der allgemeinen Literaturgeschichte (1923), in: ders.: Neues Testament - Judentum Kirche, ThB 69, München 1981, 37-30, werden sie jetzt wieder als spezifische Variante der antiken Biographie gewürdigt. So bei A.DIHLE: Die Evangelien und die griechische Biographie, in: P.STUHLMACHER (ed.): Das Evangelium und die Evangelien, WUNT 28, Tübingen 1983, 383-411, der die Evangelien der biographischen Tradition zuordnet, aber als Darstellung eines singulären Geschehens, in dem sich die alttestamentlichen Verheißungen erfüllen, von ihr abgrenzt. Noch weiter in der Einordnung der Evangelien in die Gattung "Biographie" geht K.BERGER, Formgeschichte, 352ff. Seine Polemik gegen A.DIHLE beruht m.E. auf einem Mißverständnis.

247 tion nach R o m datiert (adv. haer 3,1,1 Eus. h.e. V,8,2-4), 2 andererseits aufgrund allgemeiner geschichtlicher Erwägungen nach Syrien, liegt es doch nahe, das älteste Evangelium im Ursprungsland des hellenistischen Urchristentums entstanden zu denken, da die (griechisch geschriebenen) Evangelien in ihm beheimatet waren. 3 Wichtig ist, daß die früheste Form der altkirchlichen Tradition über das MkEv gegenüber der Alternative "Syrien oder Rom" neutral ist. D e n n wir hören bei Papias ( = Eus. h.e. III, 39, 14f) nur davon, daß Markus das Evangelium aufgrund mündlicher Petrusüberlieferungen verfaßt habe, nicht aber, w o und wann das geschah. Beides könnte erst Irenäus aus der Papiasüberlieferung erschlossen haben. 4 D i e meisten Notizen über Markus weisen eher in den Osten, in der A p g nach Palästina (12,12) und Syrien (12,25; 13,5; 15,37), in den Paulusbriefen nach Kleinasien (Phlm 24; Kol 4,10; 2Tim 4,11). In bei2

Irenaus sagt nicht direkt, daß das MkEv in Rom entstanden sei, setzt es m.E. aber voraus: "Matthäus hat bei den Hebräern in deren Muttersprache ein Evangelium geschrieben, während Petrus und Paulus in Rom das Evangelium verkündeten und die Kirche begründeten. Nach dem Tode dieser beiden Apostel hat uns Markus, der Schüler und Dolmetscher des Petrus, das, was Petrus predigte, ebenfalls schriftlich überliefert" (adv. haer 3,1,1). Die ältesten eindeutigen Lokalisierungen des MkEv in Italien finden sich in den antimarcionitischen Evangelienprologen (Text bei Κ .ALAND: Synopsis Quattuor Evangeliorum, Stuttgart 1964, 532) und bei Clemens ν Alexandrien ( = Eus. h. e. VI, 14,5-7). Heute wird diese traditionelle Lokalisierung mit historisch-kritischen Argumenten besonders beeindruckend von M.HENGEL: Entstehungszeit, 1-45, vertreten. 3

Die Alternative zur römischen Herkunft des MkEv ist der ganze Osten. So W.G.KÜMMEL, Einleitung, 70. Meist aber grenzt man den Entstehungsraum auf Syrien ein. D.LÜHRMANN, Mk, 7: "Mk und seine Leser mögen irgendwo in einem näheren oder weiteren Umkreis von Palästina gelebt haben, vielleicht im syrischen Raum; aber der ist als solcher fast unbestimmbar, reicht er doch vom Mittelmeer bis weit in den Osten des heutigen Irak und Iran." Will man den Herkunftsort näher bestimmen, so gibt es drei Möglichkeiten: a) Das MkEv ist im westlichen Syrien entstanden. So als Vermutung H.KÖSTER, Einführung, 602: "Antiochien oder eine andere Stadt der syrischen Westküste." b) Das MkEv stammt aus den syrischen Nachbargebieten Palästinas. So H.C.KEE: Community of the New Age, London 1977, 100-105; H.M.SCHENKE/K.M.FISCHER: Einleitung in die Schriften des Neuen Testaments II, Gütersloh 1979,80. c) Das MkEv stammt aus Galiläa bzw. ist ganz auf Galiläa ausgerichtet. So W.MARXSEN, Markus. K B E R G E R : Einführung, 202, lokalisiert es in Caesarea Philippi und Umgebung. 4

Irenäus basiert in adv.haer 3,1,1 eindeutig auf Papias (Eus h.e.III, 39,15). Irenäus könnte aus ihr erschlossen haben, daß Petrus bei der Abfassung des MkEv schon tot war. Denn Mk habe ja alles aus dem Gedächtnis niedergeschrieben. Da nun Petrus in Rom gestorben war , lag es nahe, das MkEv in Rom entstanden zu denken, zumal das der kirchlichen Bedeutung Roms bei Irenäus entsprechen würde.

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den Überlieferungszweigen wird Markus mit Barnabas verbunden (vgl. Apg 12,25 und Kol 4,10), was für eine Identität der Personen spricht. Erst in IPetr 5,13 erscheint er zusammen mit Petrus.5 Wahrscheinlich ist m.E. folgendes: Ein Markus gehörte im syrischen Urchristentum zum Kreis des Barnabas, der sowohl Beziehungen zu Paulus wie Petrus hatte (vgl. Gal 2, llff). Auch Petrus war in Syrien eine große Autorität (Mt 16,17ff). Der Kreis um Barnabas orientierte sich im antiochenischen Konflikt von Paulus weg zu Petrus hin (Gal 2,llff). Die von Papias vorausgesetzte enge Verbindung des "Markus" mit Petrus könnte daher schon in Syrien entstanden sein. Die Zuschreibung des ältesten Evangeliums an diesen (?) "Markus" findet sich nur in der inscriptio, die nicht vom Autor des Evangeliums stammt. Denn einerseits ist seine Einleitung mit άρχή τοϋ ευαγγελίου Ίησοϋ Χρίστου (Mk 1,1) ein befriedigender Buchbeginn, andererseits setzt die Formulierung κατά Μόίρκον die Existenz anderer Evangelien voraus.6 Aus der Inscriptio läßt sich nur erschließen: Das Evangelium stammt aus einem Traditionsbereich, in dem Markus eine große Autorität war.7 Daß der aus Palästina stammende Markus es tatsächlich verfaßt hat, folgt daraus nicht - und gilt angesichts der geographischen Fehler des MkEv eher als unwahrscheinlich. Woher stammt es aber dann? Wir untersuchen zunächst das allgemeine Milieu des MkEv unter der Fragestellung, ob es eher nach Rom oder nach Syrien weist. Danach bestimmen wir seinen traditionsgeschichtlichen Ort und fragen, wo sich die im MkEv zu beobachtende Verbindung verschiedener Traditionen am ehesten vorstellen läßt. Schließlich untersuchen wir die direkten Lokalangaben im MkEv - besonders seine "geographischen Fehler". a) Für das sozioökologische Milieu des MkEv ist der Gebrauch des Begriffs "Meer" aufschlußreich. Er stammt zwar aus vormarkinischen Einzeltraditionen (vgl. 4,39.41; 5,13; 6,47-49), begegnet aber auch in überleitenden Bemerkungen, die der Mk-Evangelist freier gestalten konnte. Diese wahrscheinlich redaktionellen Stellen erlauben den Schluß: Markus nennt ohne Bedenken den galiläischen See ein "Meer". Er tradiert hier keinen vorgefundenen

5

H.J.KÖRTNER: Markus der Mitarbeiter des Petrus, ZNW 71 (1980) 160-173, zeigt, daß "Markus" aus der paulinischen in die petrinische Tradition eingedrungen ist.

6 7

Vgl. M.HENGEL: Die Evangelienüberschriften, SHAW.PH 1984,3, Heidelberg 1984.

Dabei wird vorausgesetzt, daß das Buch schon in der mündlichen Tradition einem "Markus" zugeschrieben wurde; "andernfalls hätte man, als es galt, das Buch unter apostolische Autorität zu stellen, wohl einen prominenteren Mann zum Verfasser erkoren." So PH.VIELHAUER, Geschichte der urchristlichen Literatur, Berlin/New York 1975, 347.

249

Sprachgebrauch, sondern folgt seinem eigenen Stil.8 Sechs Mal begegnet θάλασσα in Einleitungssätzen ohne Ergänzung (2,13; 3,7; 4,la/b; 5,1.21), zwei Mal als Genitiwerbindung θάλασσα της Γαλιλαίας (1,16; 7,31). Diese Genitiwerbindung findet sich auch in Joh 6,1, ist also nicht von Mk geschaffen. Sie entspricht weder griechischem noch lateinischem Sprachgebrauch. Hier werden Seen und Meere in der Regel durch ein Adjektiv bezeichnet. So heißt das vor der syrischen Küste gelegene östliche Mittelmeer Συριακή θάλασσα (Strabo Geogr. 11,1,31), Συριακόν πέλαγος (Ptolemaios Geogr. V,14.2.3) bzw. Syrium mare (Julius Honorius Kosmographie II, 49). Die Bildung der Namen mit dem Genitiv einer Landschaft ist dagegen selten: Die Vulgata nennnt das Rote Meer Aegypti mare (Jes 11,15), Plinius d.Ä. das Tote Meer gelegentlich lacus Iudaeae (nat. hist. V,4,65).9 Andererseits entspricht die Genitiwerbindung "Meer Galiläas" genau der geläufigen hebräischen und aramäischen Namenbildung, wie "jam ha kinnereth" zeigt. Der Genitiv kann eine Landschaft bezeichnen: "jam haaraba" ist das "Meer der Wüste" Wir können daher annehmen, daß auch der Name θάλασσα της Γαλιλαίας auf einen semitischen Namen zurückgeht bzw. nach Analogie solcher Namen gebildet wurde. Das weist eher auf ein Milieu, in dem (wie im ganzen aramäisch sprechenden Osten) semitische Namenbildung vertraut ist und die große Mittelmeerwelt nicht im Zentrum der Lebenswelt steht. Denn wer das große Meer kennt, wird den kleinen galiläischen See kaum "Meer" nennen wollen. In der Weltstadt Rom ist die mk Rede vom "Meer" auf jeden Fall schwer vorstellbar. Dazu paßt auch, daß dieser Evangelist wie kein anderer den ländlichen Charakter des Wirkens Jesu bewahrt hat. Schon eine Vokabelstatistik kann das deutlich machen, wobei zu bedenken ist, daß die zum Vergleich herangezogenen Evangelien sehr viel umfangreicher sind. Mt πόλις 25 κώμη 4 κωμοπόλεις αγροί

Mk 7 7 1 3

Lk 37 12 2

In dieselbe Richtung weisen eine Reihe von "Umkreisformulierungen", nach

8

E J.PRYKE: Redactional Style in the Markan Gospel, SNTS MS 33, Cambridge 1978, 136-138, hält es an 12 von 19 Steilen für redaktionell.

9

Zum syrisch-phönikischen Meer vgl. V.BURR, Nostrum Mare, 48f. Zum ägyptischen Meer ebd. 49f. Weitere Beispiele kann man über das Register finden.

250

denen sich das Geschehen oft im Umkreis von Städten oder Orten abspielt.10 Nach Mk 1,38 verläßt Jesus die πόλι,ς Kapernaum, weil er auch in den "umliegenden Ortschaften" (κωμοπόλεις) predigen will. Nach Mk 3,8 strömen Menschen aus den Gebieten "um Tyros und Sidon" (περί Τύρον και Σιδώνα) zu Jesus. Mk sagt nicht "aus Tyros und Sidon", er denkt an das ländliche Territorium dieser Städte. Nach Mk 5,14 bringen Gerasener die Kunde von Jesus "in die Stadt und die Weiler" (nach Mt 8,13 nur: in die Stadt). Nach Mk 6,6 lehrt Jesus in den Dörfern im Umkreis seiner Heimatstadt. In Mk 8,27 spricht Petrus stellvertretend das Bekenntnis der mk Gemeinde in den "Dörfern von Caesarea Philippi", d.h. irgendwo auf dem ländlichen Territorium dieser Stadt. Nimmt man hinzu, daß alle Gleichnisse des MkEv aus einer agrarischen Welt stammen - sie handeln von Saat und Ernte, Wachstum und Weinbergen - so werden wir in ein stark ländliches Milieu geführt. Wenn die erzählte Welt etwas von der Welt der Erzähler widerspiegelt, so kann man sich den Verfasser des MkEv schwer in der größten Millionenstadt der damaligen Welt vorstellen. Wahrscheinlicher ist, daß für Verfasser und Leser ein ländliches Christentum eine vertraute Erscheinung ist. Selbst wenn sie in einer Stadt lebten, so wissen sie doch: Das Christentum breitet sich auf dem Land aus. Das weist eher nach Syrien als nach Rom. b) Traditionsgeschichtlich bildet das MkEv einen interessanten "Knotenpunkt". Wir finden in ihm mitten in synoptischen Stoffen Überlieferungen, die aus dem vor- und nebenpaulinischen hellenistischen Urchristentum abzuleiten sind. Gleich am Anfang seiner Schrift begegnet der Begriff εύαγγέΧιον. Er stammt an vielen Stellen vom Evangelisten selbst,11 so am Buchanfang (1,1), im einleitenden Summarium der Verkündigung Jesu (l,14f) und in der apokalyptischen Rede, wo der Satz über die Evangeliumsverkündigung an alle Völker den Kontext unterbricht (13,10). An anderen Stellen könnte er Zusatz sein: Die Worte Jesu in Mk 8,35 und 10,29 wären ohne ihn verständlich. Der Begriff ist bei Paulus ein geläufiger Terminus, den er mit seiner Gemeinde teilt (vgl. besonders IKor 15, Iff) und gehört sicher zur vorpaulinischen Tradition. Dasselbe gilt für die paulinischen Abendmahlsworte, von denen Paulus selbst sagt, daß er sie übernommen habe. Trotz kleiner Unterschiede sind sie mit der markinischen Überlieferung eng verwandt (vgl. IKor 11,23-26/Mk 14,22-25). Auch sie könnten erst durch den Mk-Evangelisten in die Passionsgeschichte eingefügt worden sein. Denn ursprünglich fehlten sie dort, wie die joh Passionsgeschichte vermuten läßt. Schließlich ist noch der Lasterkatalog in Mk 7,21-22 zu nennen. Er ist in den 10

H.C.KEE, Community, 103f, registriert sogar "a clear antipathy towards the city in Mark" (S.103). 11

So W.MARXSEN, Markus, 77-101.

251

paulinischen Briefen eine oft vorkommende traditionelle Gattung, innerhalb der Synoptiker aber ein singulärer Text. In all diesen Punkten berührt sich das MkEv mit vor- und nebenpaulinischen Traditionen. Da Paulus diese Traditionen dort übernommen hat, wo er die längste Zeit seiner missionarischen Tätigkeit gewirkt hat - nämlich im syrischen Christentum dürfen wir vorpaulinische Traditionen in der Regel dort voraussetzen. Wenn der Mk-Evangelist solche Traditionen in sein Evangelium einführt, wäre das am leichtesten erklärbar, wenn auch er durch das syrische Christentum geprägt ist. Neben solchen Gemeindetraditionen kennt er zwei Traditionen aus Jerusalem und Judäa: die synoptische Apokalypse und die Passionsgeschichte. Sie sind für sein Evangelium strukturbildend. Eine Überschneidung von Einflüssen des syrischen und des judäischen Urchristentums ist eher im syrischen Raum als in Rom denkbar, zumal wir aus Gal 2,1-14 wissen, daß sich in Antiochien Traditionen des syrisch-hellenistischen und des palästinischen Urchristentums berührten. Neben solchen Gemeindetraditionen finden wir im MkEv Volks- und Jüngerüberlieferungen. Zu den Volksüberlieferungen gehören m.E. die Hoflegende vom Tod des Täufers und jene Wundergeschichten, die einen etwas "profanen" Eindruck machen. Bei beiden deutet Mk an, daß er sie nicht aus der Gemeindeüberlieferung übernommen hat. Vom Tod des Täufers erzählt er nach der Aussendung der Jünger. Nach ihrer Rückkehr werden sie von Jesus gefragt, was die Leute von Jesus denken. Die erste Antwort lautet, er sei Johannes der Täufer. Hier setzt der Mk-Evangelist Täufertraditionen im Volk voraus, mit denen die Jünger unabhängig von ihrem Kontakt mit Jesus konfrontiert wurden und die bis zu Herodes Antipas gedrungen waren (Mk 6,14). Die Geschichte vom Tod des Täufers wird für Mk zu jenen Traditionen gehört haben, denen man auf Reisen im Lande auch außerhalb der christlichen Gemeinde begegnete. Noch deutlicher wird das bei den Wundergeschichten. Hier betont Mk wiederholt, daß sie gegen den Willen Jesu erzählt werden (vgl. 5,20f; 7,36) - ja, daß die in ihnen erzählten Handlungen gegen den Willen der Jünger von fremden Exorzisten nachgeahmt werden (9,38-40). Das kann man traditionsgeschichtlich so "deuten": Diese Geschichten wurden unabhängig von der Gemeinde überliefert und nicht immer zu ihrer Freude. Wahrscheinlich hat der Mk-Evangelist noch Kontakt mit solch einer im Volk lebenden Jesus- und Täuferüberlieferung. Das aber ist in Palästina und den angrenzenden syrischen Nachbargebieten wahrscheinlicher als im fernen Rom, zumal einige dieser Volksüberlieferungen in der Nachbarschaft Palästinas geprägt wurden (z.B. Mk 5,1-21).12 12

PH.VIELHAUER, Geschichte, 347, betont mit Recht, das MkEv sei "in einer Stadt

252

Schließlich kennt Mk einige Jüngerüberlieferungen, oder genauer: Überlieferungen, die eine Bekanntschaft mit dem Leben der radikalen Jesusnachfolger voraussetzen. Zu ihnen gehören die Berufungsgeschichten (Mk 1,16-20; 2,14), die Aussendungsrede (6,7ff), die Geschichte vom Reichen (10,17ff) mit der Frage nach dem Lohn der Nachfolge (Mk 10,28-30). All diese Überlieferungen setzen voraus, daß der Evangelist mit Wandercharismatikern vertraut ist. Die meisten Zeugnisse für Wandercharismatikertum weisen aber eindeutig nach Palästina und Syrien.13 Hier waren die Chancen am größten, Nachfolger Jesu zu finden, die Haus und Hof verlassen hatten, um das Reich Gottes zu verkündigen. Ein traditionsgeschichtlicher Knotenpunkt ist das MkEv noch in anderer Hinsicht: Wo verschiedene Einflüsse aufeinanderstoßen, kommt es zu Abgrenzungen und Polemiken. Eine Abgrenzung zu anderen Jesustraditionen wird m.E. in einigen "Geheimlehren" Jesu an seine Jünger sichtbar. Solche Geheimlehren konnten dazu dienen, gegen andere recht zu behalten, die sich auf dieselbe Autorität berufen, inhaltlich aber andere Aussagen machen. Der Geheimnischarakter der Lehre macht plausibel, warum den "anderen" die rechte Einsicht bisher fehlte. Denn wer eine Überlieferung als "geheime Lehre" einführt, gibt damit zu erkennen, daß sie nicht überall dort verbreitet ist, wo sie verbreitet sein könnte oder verbreitet sein müßte. Die erste Geheimlehre bezieht sich auf die Speisegebote. Aus der Tatsache, daß Reinheit nicht durch äußere, sondern durch innere Faktoren bestimmt ist, zieht Mk 7,17-23 die Konsequenz: Also sind alle Speisen rein (7,19). Bekanntlich haben nicht alle im Urchristentum diesen Standpunkt geteilt. Er steht dem des Paulus (und des anfangs mit ihm verbundenen Barnabas) nahe, wurde aber von anderen angefochten (Gal 2, llff). Das MtEv vertritt nicht die Linie des Mk: Bei der Übernahme von Mk 7,17ff läßt er die Reinerklärung aller Speisen weg. Indifferent gegenüber rein und unrein sei vor allem das Händewaschen (Mt 15,20). Zwar könnte man dem Text entnehmen, daß auch Speisen weder rein noch unrein sind, aber es wird nicht expressis verbis gesagt. Die mit Petrus verbundenen Kreise werden etwa so gedacht haben: Petrus schloß sich zuerst denen an, die sich durch Speisegebote nicht in der oder Gegend geschrieben worden, wo die palästinische Jesusüberlieferung lebendig war; das griechische Syrien bot diese Voraussetzung in ungleich größerem Maße als Rom." 13 H.C.KEE: Community, 104f, beruft sich für seine Lokalisierung des MkEv in die syrischen Nachbargebiete Palästinas auch auf die Berührungen mit urchristlichem Wandercharismatikertum. Er betont die Nähe von Wandercharismatikern zu stoisch-kynischen Philosophen, deren Traditionen in den syrischen Städten und der Dekapolis nachweisbar sind.

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Gemeinschaft mit Heidenchristen einschränken ließen, änderte dann aber seine Meinung (Gal 2,llff). Die nächste Geheimlehre folgt nach der Heilung des epileptischen Knaben (Mk 9,14-27). In ihr warnt Jesus vor dem Zutrauen, schwere Krankheiten wie Epilepsie heilen zu können. Allein das Gebet könne hier helfen. Auch hier gibt es im Urchristentum andere Stimmen: Mt ersetzt diese Geheimlehre Jesu durch eine ganz andere Aussage. Wenn die Jünger nicht heilen können, so ist einzig ihr "Kleinglaube" daran schuld. Schon ein Senfkorn "Glauben" kann Berge versetzen (Mt 17,19-20). In Mk 9,33ff geht Jesus in einer Lehre "im Haus" auf den Rangstreit der Jünger ein: Wer groß unter ihnen sein will, soll bereit sein, der letzte von allen und Diener aller zu werden. Das bezieht sich auf die Stellung in der Gemeinde und wird durch die Mahnung konkretisiert, Kinder aufzunehmen. Führungsposten in der Gemeinde sind an die Bereitschaft zu konkreter Hilfeleistung gebunden. Hierarchieprobleme gibt es in jeder Gruppe. Das urchristliche Schrifttum enthält genug Beispiele (vgl. z.B. lKor 1-4; 3Joh) Auffällig ist, wie Mt abändert: Für ihn bezieht sich der Rangstreit auf die Position in der "Gottesherrschaft" - weniger auf die gegenwärtige Gemeinde (Mt 18, Iff), und er hat keine Scheu, Petrus eine Art "Primat" zuzusprechen (Mt 16,17ff). Die letzte Geheimlehre im Haus ist die Belehrung über Ehescheidung (Mk 10,10-12): Danach gilt das Verbot der Ehescheidung gleichermaßen für Mann und Frau. Es ist aber insofern eingeschränkt, als erst mit der zweiten Heirat der Ehebruch beginnt. Trennung ist erlaubt. Auch hier vertritt das MtEv eine andere Position: Die Ehescheidung geht nur vom Mann aus. Sie ist zwar prinzipiell verboten, jedoch im Falle von "Unzucht" erlaubt (Mt 5,32; 19,9). Fazit: Mk grenzt sich in den kurzen Geheimlehren gegen andere christliche Traditionen ab. Das setzt aber voraus, daß er Kontakt mit ihnen hatte. Kann es ein Zufall sein, daß Mt meist eine andere Meinung vertritt? Dann müßte das MkEv in einem Raum entstanden sein, in dem ihm Traditionen und Haltungen begegnen konnten, die später im MtEv ihren Niederschlag gefunden haben. Auch das würde nach Syrien weisen vorausgesetzt, das MtEv läßt sich dort lokalisieren. c) Die geographischen Angaben des MkEv geben manche Rätsel auf, unabhängig davon, ob man es nach Syrien oder Rom datiert. Am auffälligsten sind zwei geographische Ungereimtheiten: Die erste betrifft die Lage von Gerasa. Nach 5,Iff grenzt das Stadtgebiet von Gerasa an den galiläischen See, obwohl Gerasa in Wirklichkeit ca. 65 km südöstlich gelegen ist. In 5,20 scheint das "Land der Gerasener" mit der ganzen Dekapolis identisch zu sein, was mehr

254

Sinn ergäbe: Denn einige Dekapolisstädte grenzten tatsächlich an den galiläischen See: sicher Hippos, wahrscheinlich auch Gadara.14 Aber Gerasa war de facto nur eine Stadt neben anderen. Die zweite Merkwürdigkeit findet sich in Mk 7,31. Danach geht Jesus "aus dem Gebiet von Tyros durch Sidon zum Meer von Galiläa mitten durch die Dekapolis", was etwa so sinnvoll ist, wie von Madrid über Paris und Wien nach Rom zu reisen. Meist gelten beide geographischen Unstimmigkeiten als sicheres Indiz dafür, daß der Verfasser des MkEv Palästina nicht kannte. Aber ist damit alles gesagt? Es gibt verschiedene Wege, mit beiden geographischen Unstimmigkeiten umzugehen: Erstens kann man versuchen nachzuweisen, daß sie doch mit der Realität vereinbar sind. Zu Mk 7,31 etwa hat F.G.LANG darauf hingewiesen, daß Damaskus zur Dekapolis gehörte (Plinius nat. hist. V, 16,74) und Damaskus und Sidon in den frühen 30er Jahren eine gemeinsame Grenze hatten (ant 18,153), so daß ein Weg von Sidon über Damaskus (= Dekapolis) ans galiläische Meer vorstellbar wäre.15 Schwieriger ist solch ein Nachweis bei Mk 5, Iff. Man müßte (ohne Belege) postulieren, daß Gerasa im lJhdt. als die entscheidende Stadt der Dekapolis galt, so daß deren ganzes Territorium als "Land der Gerasener" bezeichnet werden konnte - während die Stadt in der Nähe des Sees eine andere Dekapolisstadt sein müßte. Leichter wäre es, eine solche "realistische" Interpretation für "Gadara" durchzuführen. Diese Stadt hatte möglicherweise Zugang zum See. Nur ist "Gadara" eine erleichternde Lesart und "Gerasa" als lectio difficilior ursprünglicher. Zweitens kann man versuchen, die geographischen Merkwürdigkeiten des MkEv als "typische Fehler" einer Zeit ohne präzise Karten darzustellen, indem man vergleichbare Fehler und Verschiebungen aus der zeitgenössischen Literatur sammelt. Der merkwürdige Weg in Mk 7,31 wirkt nicht ganz so merkwürdig, wenn man die Beschreibung Phönikiens bei Plinius d.Ä. (nat.hist. V,17,75-78) liest: Er beschreibt in dieser Reihenfolge Tyros, Sarepta und Sidon, dann biegt seine Beschreibung scharf landeinwärts: Hinter Sidon liege der Libanon, ihm gegenüber der Antilibanon: "post eum introrsus Decapolitana regio praedictaeque cum ea Tetrarchiae et Palestines tota laxitas." (§77). "Hinter ihm landeinwärts liegt das Gebiet der Dekapolis, mit ihm die vorher erwähnten Tetrarchien und die ganze Weite Palästinas." Auch hier 14 Das Stadtgebiet von Gadara wurde vielleicht durch Hippos vom See abgeschnitten, jedoch sprechen zwei Indizien für einen (zeitweiligen?) Zugang direkt zum See: 1. Strabo spricht einmal von einem έτνϊ) Γαδαρίδι υδωρ (Geogr. XVI, 2,45) und meint hier wahrscheinlich den galiläischen See. 2. Die Stadt Gadara prägte Münzen, die oft ein Schiff zeigen (E.SCHÜRER, History II, 136). Skeptisch dagegen MAVI-YONAH: The Holy Land, Grand Rapids 1966,174. 15

F.G.LANG: "Über Sidon mitten ins Gebiet der Dekapolis", ZDPV 94 (1978) 145-160.

255

haben wir eine "bogenförmige Linienführung", die sich mit Mk 7,31 vergleichen läßt, wenn man die wichtigsten Stationen nebeneinander stellt: Plinius nat.hist. V,17,77

Mk 7,31

Tyros Sarepta Sidon Libanon Antilibanon Dekapolis Tetrarchien Palästina

Tyros Sidon

Dekapolis Meer Galiläas

Ist diese Übereinstimmung ein Zufall? Oder war man es gewohnt, das Land kreisförmig zu beschreiben? Entspricht Mk 7,31 solch einem "Beschreibungsmuster"? 16 Bei Mk 5, Iff kann man auf entsprechende Fehler antiker Geographen hinweisen. So unterscheidet z.B. Ptolemaios, Geogr. V,15 ausdrücklich zwischen Samarien und Judäa, "Sebaste" aber reiht er unter die judäischen Städte ein. Drittens kann man fragen, ob die geographischen "Kühnheiten" nicht eine bewußte Fahrlässigkeit bedeuten, durch die Mk ein ihm wichtiges Gebiet andeutungsweise in die Erzählung der Geschichte Jesu "integrieren" will. Auffallend ist, daß seine beiden geographischen "Fehler" 1. beide mit dem syrischen Nachbarland Palästinas zu tun haben, 2. beide den Weg des Evangeliums zu den Heiden vorbilden, 3. beide an Stellen stehen, bei denen wir am ehesten redaktionelle Eingriffe erwarten: am Anfang und Schluß einer Perikope. Selbst wenn Mk sie übernommen hat, hätte er sie leicht ändern können. Sprengt Mk hier bewußt die "geographische Logik" der Erzählung, um das Land seiner Gemeinden mit ins Spiel zu bringen? Auch das MtEv erwähnt einmal "Syrien" (Mt 4,24), wo wir uns die mt Gemeinden vorstellen. Und das 16

Man kann weiter fragen: Aus welcher Perspektive stammt diese "Beschreibung" des syrisch-palästinischen Raumes? Plinius d_Ä. widmete seine "Naturkunde" 77 n.Chr. dem Prinzen Titus (praef.3), den er möglicherweise auf seinem Palästinafeldzug zeitweise begleitet hat (was aber nicht ganz sicher ist). 68/69 ist er Subprocurator von Syrien. Bei seinem Weggang ehren ihn die Bewohner von Arad mit einer Inschrift (OGIS II, 586), bei der allerdings Buchstaben ergänzt werden müssen, um seinen Namen zu lesen. Wahrscheinlich hat Plinius d_Ä. also Palästina und Syrien gekannt, wenn man die fragmentarischen Lebensdaten so wie K.SALLMANN: Art. Plinius, KP 4, 928-937, dort Sp. 929, kombiniert. Er hätte dann vorwiegend aus einer Nordperspektive auf Palästina geschaut.

256

JohEv bringt die Diaspora - vielleicht als Ort des Evangeliums - andeutend ins Spiel (vgl. Joh 7,35; 12,20f). Ebenso könnte es sich beim MkEv verhalten. Wenn das MkEv in einem der syrischen Nachbarschaftsgebiete entstanden ist etwa in Chalkis, Damaskus oder im südlichen Orontestal - so würde der große Umweg Jesu über Sidon und die Dekapolis in Mk 7,31 in die Nähe der Heimat des mk Christentums führen. Auch die Rede von der südlichen Dekapolis als "Land der Gerasener" wäre verständlich. Kommt man nämlich von Norden in den Süden, so führt die große Straße nach Gerasa. Als Karawanenund Handelsstadt war sie das Ziel vieler Reisen.17 Das erklärt vielleicht, warum sie für die ganze Dekapolis stehen konnte: Wer in die Dekapolis fuhr, fuhr tatsächlich ins "Land der Gerasener". Die geographischen Ungenauigkeiten des MkEv sprechen also nicht gegen die Annahme, daß es in der syrischen Nachbarschaft Palästinas entstanden ist. Sie könnten weniger auf Unkenntnis basieren als auf dem Wunsch, die syrischen Nachbargebiete Palästinas im Evangelium zu erwähnen. Auch das Erscheinen einer "Syrophönikerin" (Mk 7,26) wäre so erklärbar: Falls die mk Gemeinde in Syrien ihre Heimat hatte, konnte sie in der Zuwendung Jesu zur Syrophönikerin den Weg des Evangeliums zu ihr vorgebildet sehen. Nun gilt der Begriff "Syrophönikerin" meist als Argument gegen eine Lokalisierung des MkEv in Syrien.18 Erstens setze er die Unterscheidung von Syro- und Lybophönikern voraus (vgl. Diod. 10,98,7 mit 20,55,4) und damit einen lokalen Standort, der einen Blick auf beide Siedlungsgebiete der Phöniker erlaube. Zweitens stammen die ältesten Belege für "Syrophoenix" aus lateinischen Schriftstellern des 2.Jhdt.s v.Chr. (Lucilius, Satiren frg. 496f) und des 1. Jhdt.s n.Chr. (Juvenal, sat. 8,158-162; Plinius d.Ä. nat. hist. VII,201). Der Befund läßt sich aber auch anders deuten. 1. Das lateinische Wort "Syrophoenix" ist wahrscheinlich ein griechisches Lehnwort, ist also nicht von den Römern selbst geprägt worden. Denn die Römer sprachen in der Regel von "Puniern" (poeni), übernahmen aber für

17

Vgl. M.ROSTOVTZEFF: Caravan Cities, Oxford 1932, 55ff. Zum römischen Straßennetz vgl. die Abbildung in MAVI-YONAH, Holy Land, 187. Sie zeigt, daß Gerasa von Skyothopolis, von Damaskus/Adra und Philadelphia her erreichbar war. Jedoch ging die Hauptstraße von Philadelphia über Bostra nach Damaskus, ohne Gerasa zu berühren. Zu den von Gerasa ausgehenden Straßen vgl. S.MITTMANN: Beiträge zur Siedlungs- und Territorialgeschichte des nördlichen Ostjordanlandes, Wiesbaden 1970, 152-163. Dort weist er die Annahme einer direkten römischen Straße von Gerasa nach Bostra 162f zurück. 18

So besonders M.HENGEL: Entstehungszeit, 45; K.NIEDERWIMMER: Johannes Markus und die Frage nach dem Verfasser des zweiten Evangeliums, ZNW 58 (1967) 172-188, dort 182.

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das im Osten wohnende Ursprungsvolk der Punier von den Griechen die Bezeichnung "Phoeniker". Plinius d.Ä. gebraucht beide Bezeichnungen nebeneinander: "Phoenices" u.ä. (nat. hist. VII, 192.195.197.208f) und "Poeni" (VII, 199). "Syrophoenix" ist auf jeden Fall eine griechische Wortbildung; und auch die in ihm vorausgesetzte Opposition zu "Lybophoinikern" begegnet zum ersten Mal bei dem griechischen Schriftsteller Diodor aus Sizilien (Diod. 20,55,4). Die ältesten literarischen Belege in Latein weisen somit auf eine nicht mehr belegte Vorgeschichte des Begriffs im Griechischen. 2. Die ersten lateinischen Belege verwenden "Syrophoenix" z.T. in pejorativem Sinn. Man merkt ihnen die Verachtung von Orientalen an. So wenn in den Satiren des Lucilius geschimpft wird: "und dieser verdammte Pfennigfuchser, dieser Syrophöniker, was machte der gewöhnlich in solch einem Falle?" (frg. 496f). Dasselbe gilt für die Satiren des Juvenal (sat. 8,158-162): "Aber, will in der Kneipe die ganze Nacht er verbringen, springt ihm der Syrer (Syrophoenix) entgegen, der trieft von der Fülle des Balsams. Er, der Syrer (Syrophoenix), der wohnet und haust am Tor Idumäas; Freundlich begrüßet der Wirt seinen Gast als Herren und König, Cyane auch, im leichten Gewand, mit der käuflichen Flasche."

Selbst der aus Syrien stammende Lukian läßt die Abwertung der orientalischen "Syrophöniker" gegenüber den westlichen Kulturvölkern durchklingen, wenn er über den Gott Bacchus schreibt, er sei "von mütterlicher Seite nicht einmal ein Grieche, sondern des syrophönikischen Kaufmanns Kadmus Tochtersohn" (DeorConc 4). Von dieser griechisch-römischen Abwertung der Orientalen ist in Mk 7,24ff nichts zu spüren. Im Gegenteil: die Syrophönikerin wird unbefangen mit einer "Griechin" identifiziert. Diese Identifikation wäre aus der Perspektive kleiner Leute im Orient (oder aus dem Orient) eher vorstellbar als aus der Sicht römischer Leser. 3. In den ersten beiden Jahrhunderten n.Chr. ist der Gegensatz von "Lybophöniker/Syrophöniker" bei Belegen für "Syrophöniker" u.ä. nicht konstitutiv. Plinius d.Ä. erwähnt die Syrophöniker als Erfinder der Balliste und der Schleuder (nat. hist. VII,201) in einer langen Aufzählung von Erfindungen, die er einzelnen Kulturbringern oder Völkern zuschreibt. In ihr wird "Phönikien" sechs Mal erwähnt: als Ursprungsland des Alphabets (VII, 192), der Steinbrüche (VII, 195), des Goldschürfens (VII, 197), des Handels (VII, 199), des Kahns (VII, 208) und der Navigation nach Sternen (VII, 209). Zwischen ihnen und den "Syrophoenices" (VII, 201) besteht kein Unterschied. Der Wechsel von "Phoenices" zu "Syrophoenices" wird nicht durch einen veränderten geographischen Kontext bestimmt. Justin verwendet in der Mitte des 2. Jhdt.s n.Chr. den Begriff "Syrophönikien", ohne Afrika im Blick zu haben. Er differenziert vielmehr Landschaften im Osten, wenn er schreibt: "Daß Damaskus Teil des arabischen Landes war und ist, auch wenn es jetzt dem sogenannten Syrophoenikien zugerechnet wird, kann keiner von euch leugnen."

258 (Dial. 78) Deutlich tritt eine östliche Lokalperspektive in einem ägyptischen Papyrus aus der 1. Hälfte des 2. Jhdt.s n.Chr. hervor, in dem die Verehrung der Isis unter verschiedenen Namen beschrieben wird: "unter den Indern als Maja, unter den Thessalern als Selene, unter den Persern als Latina, unter den Magiern als Kore, Thapseusis, in Susa als Nania, in Syrophoenikien als Gottheit (έν Φοινίκι Συρ[ε]ίκε θεός) (P.Oxy. 1380).19 4. 195 n.Chr. wurde Syrien von Septimius Severus geteilt, nachdem er seinen Gegner C.Pescennius Niger besiegt hatte, der sich in Antiochia zum Kaiser hatte ausrufen lassen.20 Der Norden hieß von nun ab Syria Coele, der Süden Syria Phoenice. Diese Namengebung knüpft an eine einheimische Tradition an. Septimius Severus hatte schon vorher in Syrien gedient und war seit 185 mit der aus Emesa stammenden Priestertochter Julia Domna verheiratet, die ihn auf allen Feldzügen begleitete. Wenn Justin schon ca. 150/160 n.Chr. "Syrophönikien" als Bezeichnung für das südliche Syrien benutzt, so dürfte das dieselbe onomastische Tradition sein, die unter Septimius Severus zur offiziellen Provinzbezeichnung wurde.21 Nach 195 n.Chr. mußte sich der Name "Syrophönikien" schnell verbreiten: Zwei der im mauretanischen Volubilis im äußersten Westen des Reiches gefundene Belege werden auf die Zeit nach 194 n.Chr. datiert. Ein weiterer Beleg für Syria Foinicia (CIL VI, 228) stammt aus der Zeit der Severer.22 Die "Syrophönikerin" in Mk 7,26 ist womöglich der erste Beleg einer in Syrien selbst beheimateten Namengebung, mit der das südliche Syrien vom Norden unterschieden wurde. Interessant ist, wohin der Syrer Tatian (nach dem arabischen Diatessaron XX,25f) die Syrophönikerin lokalisiert. Er schreibt in seiner Evangelienharmonie: "Und zur (selben) Zeit hörte eine Frau, eine Kanaanäerin, von ihm, (deren) Tochter einen unreinen Geist hatte. Und jene Frau war eine Gläubige aus Horns in Syrien."23 19

Daß sich "Syrophoinix" nicht in den ägyptischen Papyri belegen läßt, ist kein Argument für eine "westliche" Prägung dieses Begriffs (anders M.HENGEL, Entstehungszeit, 45 Anm. 164). Denn "Syrophönikien" läßt sich in den Papyri nachweisen. 20

Vgl. G.WINKLER: Art. Septimius Severus, KP V, 123-127.

21

Eine andere Erklärung gibt E.HONIGMANN: Art. Συροφοινίκη, PRE I V A 2 , 1 9 3 2 , Sp. 1788f: Da der Name Syrophönikien erst nach Bildung der Provinz Syria Phoenice im Jahre 195 denkbar sei, handle es sich in Justin Dial. 78 um eine spätere Interpolation. 22

J.-M.LASSERE: Ubique Populus, Paris 1977, 398f, bringt vier Belege für "Syrophoenix bzw. Syraphoenix aus Volubulis in Mauretanien, von denen er zwei in die Zeit nach 194 datiert - also nach der Teilung Syriens. Bei den beiden anderen fehlen Datierungen.

23

Zit. n. E.PREUSCHEN: Tatians Diatessaron aus dem Arabischen übersetzt, Heidelberg 1926,127.

259

Ein weiteres auf die Nachbarschaft Palästinas weisendes Lokalindiz könnte die Gleichsetzung von zwei λεπτά mit einem Quadrans in Mk 12,42 sein, 24 auch wenn sie oft für die römische Herkunft des MkEv in Anspruch genommen wird: Dem Leser werde ein griechischer Begriff in lateinischer Sprache erklärt 25 dazu ein terminus technicus für die kleinste Münze im römischen Münzsystem, die wie alles Kleingeld nur lokal verbreitet gewesen sei. Richtig ist: Der Quadrans ist als Münze nicht bis in den Osten gedrungen, 26 wohl aber als Fremdwort. Es begegnet im Talmud 27 und im MtEv, und zwar als Begriff für den geringsten Geldwert: Bis zum letzten "Quadrans" müsse ein Schuldner seine Schuld bezahlen (Mt 5,26). Die Verbreitung des Begriffs "Quadrans" bei gleichzeitiger Abwesenheit der Münze ist wohl so zu erklären, daß in vielen Provinzen die lokale Kupferprägung die Rolle des Quadrans und hin und wieder auch dessen Namen - übernahm. 28 In Palästina wären das die Procuratorenmünzen, die freilich ein etwas geringeres Durchschnittsgewicht als der römische Quadrans hatten. Nun gibt es im Münzwesen Palästinas eine Besonderheit, 29 die Mk 12,42 erklären könnte: Neben den Procuratorenmünzen (mit Durchschnittsgewicht von 2,08 g) 30 gibt es aus späthasmonäischer und frühherodäischer Zeit ungewöhnlich kleine Münzen, die halb so schwer waren: Das Durchschnittsgewicht für die unter Herodes I. geprägten Vertreter dieses kleinsten Münztyps ist berg 1926, 127. 24

Hin und wieder wird auch angenommen, Mk 12,42 wolle ein Lepton mit einem Quadrans gleichsetzen, da δ έστιν und nicht α εστίν da stünde und das Nebeneinander von Mt 5,26 (Quadrans) und Lk 12,59 (lepton) die Identität beider Größen zeige. Vgl. die Diskussion bei F.MADDEN, Jewish Coinage, 296ff. 25

Vgl. TH.ZAHN: Einleitung in das Neue Testament II, Leipzig 2 1900, 241f. 251. W.M.RAMSAY: On Mark 12,42, ET 10 (1898/9) 232 und 336, verteidigte dies Argument gegen Einwände von F.BLASS: On Mark 12,42 and 15,16, ET 10 (1898/9) 185-187 und 286f (war mir nicht zugänglich). In der Gegenwart wurde es aufgenommen von B.STANDAERT: L'Évangile selon Marc. Composition et Genre littéraire, Nijmwegen 1978, 471, und M.HENGEL, Entstehungszeit, 44. 26

Zur Verbreitung des Quadrans vgl. H.CHANTRAINE: Art. quadrans, R E XXIV, 649-667, bes. 663f: Der Quadrans wurde auch in Sizilien, Spanien und Gallien geprägt. 27

z.B. bQuid 12a, vgl. P.BILLERBECK, Kommentar I, 292

28

Vgl. K.REGLING: Art. Lepton, in: F.v.SCHRÖTTER (ed.): Wörterbuch der Münzkunde, Berlin Leipzig 1930, 350f, und H.CHANT RAINE, Art. quadrans, 660: "So war der κοδράντης q. des NT möglicherweise nichts anderes als die in Judaea unter römischer Hoheit geprägten Kleinerze." 29

Vgl. D.SPERBER: Palestinian Currency Systems During the Second Commonwealth, JQR 56 (1966) 273-301, und E.SCHÜRER, History II, 66 Anm.208. 30

Errechnet aus den Angaben bei Y.MESHORER, Jewish Coins.

260 0,89 g.31 Diese Münzen waren auch nach der Zeit des Herodes I. im Umlauf. Noch die rabbinische Literatur setzt diese Kleinstmünzen voraus. Sie wird dort Perutah genannt. Während ein "Quadrans" 1/4 eines Asses war, hat eine Perutah nur 1/8 des Wertes eines Asses: "Wieviel ist eine Perutah? Ein Achtel eines italischen Assars" (mQuid 1,1). Manches spricht dafür, daß die rabbinischen Gelehrten sich bei ihren Diskussionen um den Wert des Perutah mit einem vergangenen Münzsystem befaßten, das für sie gar nicht mehr existierte, aber im 1. Jhdt. noch verbreitet war.32 Diese palästinischen Kleinstmünzen, deren zwei zusammen einen Quadrans ergaben, waren ein Relikt aus vorrömischer Zeit, Ergebnis einer Verbindung lokaler und imperialer Münztraditionen. Sie werden am längsten dort verbreitet gewesen sein, wo noch lange herodäische Fürsten regierten, also im Norden Palästinas. Sie werden besonders in der Zeit verbreitet gewesen sein, in der noch Münzen Herodes I. kursierten, also vor 70 n.Chr. Ihre Umrechnung in das römische Münzsystem war besonders dort relevant, wo man immer wieder das heimische Kleingeld in das imperiale Münzsystem umrechnen mußte: in der Provinz. In Rom war der Quadrans dagegen per definitionem die kleinste Münze. Plutarch bezeugt das für seine Zeit: "Die Römer nennen die kleinste Münze Quadrans." (Plut. Cic. 99,5). Für römische Leser hätte es einer Erklärung bedurft, daß es überhaupt noch kleinere Münzen als den Quadrans gab.33 Wir kommen zu folgendem Ergebnis: Wägt man zwischen der Hypothese einer römischen und syrischen Herkunft des MkEv ab, so sprechen m.E. mehr Indizien für seine Herkunft aus dem Osten. Milieukolorit, traditionsgeschichtlicher Ort, geographische Angaben lassen sich eher verständlich machen, wenn man es im südlichen Teil Syriens entstanden sein läßt - in jenem Teil, der später offiziell "Syrophönikien" genannt wurde. Dorthin scheint die

31

D.SPERBER, Palestinian Currency, 300.

So die These von D.SPERBER, Palestinian Currency, 283: ...our texts are referring to earlier monetary systems, no longer in use during the time of their traditionaries, but of crucial legal importance. They were local Palestinian systems (for they are mentioned in the Mishna) in use before the introduction of Roman currency into Palestine (hence the pruta)." 32

O . R O L L E R : Münzen, Geld und Vermögensverhältnisse in den Evangelien, Karlsruhe 1929 = 1969, 28, meint sogar, das MkEv sei unter Claudius in Rom geschrieben, "jedenfalls freilich noch vor Nero, unter dem der Quadrans längst aufgehört hatte und der Drachme wieder begann, so daß wir es spätestens Ende der vierziger oder Anfang der fiinziger Jahre setzen müssen." Die Voraussetzung ist hier falsch: Nero hat Quadranten prägen lassen, vgl. H . C H A N T R A I N E , quadrans, 659f. Sie wurden bis ins zweite Jahrhundert hinein geprägt.

261

imaginäre Reise Jesu (Mk 7,31) zu zielen. Dort waren Galiläa und Caesarea Philippi als Ort des ersten Jüngerbekenntnisses (Mk 8,27-30) relativ nahe, Jerusalem und Judäa aber fern. Dort finden wir jene Synagogen und Synhedrien, Könige und Statthalter, die in Mk 13,9 das Konfliktfeld der mk Gemeinde bilden. Entscheidend wird sein, ob wir auf diesem lokalen Hintergrund die geschichtliche Entstehungssituation des MkEv besser erfassen können. Bevor wir uns dieser Frage näher zuwenden, noch ein Blick auf Mt und Lk. Beim MtEv sprechen einige Indizien dafür, daß es aus einer östlichen Lokalperspektive auf Palästina schaut. Am aufschlußreichsten ist sein eigenwilliger Gebrauch der Wendung πέραν τοϋ Ιορδανού. Diese Wendung bedeutet in der Regel im Alten Testament das Land östlich des Jordan, ist aber an sich eine von der Perspektive abhängige Richtungsbezeichnung. Das geht schon daraus hervor, daß hin und wieder der Wendung "jenseits des Jordan" ein "nach Osten" (Jos 13,27; 13,32; IChr 6,78) bzw. "nach Westen" (Jos 5,1) hinzugefügt wird. Dazu kommt, daß die absolute Wendung "jenseits des Jordan" eindeutig das Land "westlich des Jordan" meint (Dtn 3,20; Jos 9,1; 12,7; Judith 1,9). Wenn Matthäus von "jenseits des Jordan" spricht, meint auch er m.E. ein Gebiet "westlich des Jordan" Zunächst seien die drei Stellen nebeneinander gestellt: Mt 4,15f

Mt 4,25

Mt 19,1

"Das Land Sebulon und das Land Naphthali, die Straße am Meer jenseits des Jordan, das Galiläa der Heiden, das Volk, das in der Finsternis saß, hat ein großes Licht gesehen, und die im Lande und Schatten des Todes saßen, denen ist ein Licht aufgegangen" ( = Jes8,23-9,1)34 "Und es folgte ihm eine große Volksmenge nach aus Galiläa und dem Gebiet der Dekapolis und Jerusalem und Judäa und jenseits des Jordan." "Und es begab sich, als Jesus diese Reden beendet hatte, brach er aus Galiläa auf und zog in das Gebiet von Judaä jenseits des Jordan."

Eindeutig ist Mt 19,1, da hier Judäa "jenseits des Jordan" lokalisiert wird. Mt 4,15f ist Zitat. Der Evangelist könnte es übernommen habe, ohne präzise 34

"In Jes 8,23 kann "derech ha-jam" bedeuten: l."westwärts" als Richtungsangabe, 2. eine geographische Region an der Küste des Mittelmeers oder des Sees Genezareth, 3. eine Provinz des assyrischen Reichs (so E.FORRER, Die Provinzeinteilung des assyrischen Reiches, Leipzig 1921, 59f), 4. eine Straße entlang dem Mittelmeer oder dem See Genezareth. Die letzte Möglichkeit entfällt wahrscheinlich, erst im Mittelalter läßt sich eine via maris benannte Straße belegen, vgl. Z.MESHEL: Was There a 'Via Maris'?, IEJ 23 (1973) 162-166.

262

geographische Vorstellungen mit ihm zu verbinden. Nur so viel ist sicher: Er identifiziert das "Meer" mit dem galiläischen See. Denn kurz vorher schreibt er, Kapernaum liege am "Meer" (4,13). Die Wendung "jenseits des Jordan" ist attributiv zu verstehen als Näherbestimmung zum "Weg ans Meer". Dann läge "jenseits des Jordan" im Westen des Jordan. Dafür spricht auch, daß das Land "Sebulon und Naphthali" ebenso wie das "Galiläa der Heiden" für Matthäus westlich des Jordan liegen. Denn das Galiläa der Heiden ist das in Mt 4,12 unmittelbar vorher erwähnte Galiläa, das Nazareth und Kapernaum umfaßt und mit Sebulon und Naphthali identifiziert wird (4,13). Anders dürfte Mt 4,25 zu bewerten sein. Während "jenseits des Jordan" in 4,15 und 19,1 attributiv gebraucht wird, ist die Wendung hier anderen Substantiven gleichwertig koordiniert und bildet einen Begriff für sich. Neben Judäa stehend dürfte es die Landschaft "Peräa" bezeichnen. Möglich, aber weniger wahrscheinlich ist, daß "jenseits des Jordan" in 4,25 "Jerusalem und Judäa und alle weiteren Gebiete jenseits (d.h. westlich) des Jordan" meint, z.B. Idumäa, das Matthäus in Mk 3,8 gelesen hat, aber an dieser Stelle wegläßt! Zu vergleichen wäre dann Judith 1,9. Dort sendet Nebukadnezar "zu allen, die in Samarien und seinen Städten und jenseits des Jordan wohnten bis hin nach Jerusalem, Betane, Chellus, Kedes und dem Bache Ägyptens." Wenn diese Beobachtungen richtig sind, so müssen wir den Evangelisten im Osten oder Nordosten Palästinas lokalisieren.35 Häufig wird Antiochien als Entstehungsort genannt. Einerseits findet sich die erste sichere Bezeugung des MtEv bei Ignatius von Antiochien ca. 110 n.Chr. (Ign. Smyrn. 1,1). Andererseits entspricht die Verbindung juden- und heidenchristlicher Theologie der Geschichte und Struktur dieser Gemeinde. 36 Beide Argumente sind m.E. jedoch nicht durchschlagend: 1. Gute Argumente sprechen dafür, daß auch die Didache schon das MtEv voraussetzt (vgl. Did 8,2; 11,3; 15,3-4).37 Die Didache ist wahrscheinlich in Syrien, gewiß aber nicht in Antiochien entstanden, da der in Did 7,2f vorausgesetzte Wassermangel am Orontes undenkbar ist und die ländlich-kleinstädtischen Verhältnisse der Didache kaum zu einer so großen Stadt wie Antiochien passen. Nun steht das MtEv zweifellos der Didache theologisch näher als dem antiochenischen Bischof Ignatius, dessen abstrakte Paradoxien gar nicht zum MtEv passen. Zu fragen ist daher, ob man das MtEv nicht auch sozial und lokal näher an die Didache heranrücken muß, d.h.

35

So auch unter Berufung auf Mt 19,1 Origin, 18-28.

36

H.D.SLINGERLAND, Transjordanian

Vgl. die ausführliche Begründung einer B.H.STREETER: The Four Gospels, London J.ZUMSTEIN, Antioche, 122-138. 37

Vgl. K.WENGST (ed.), Didache, 24-32.

antiochenischen Herkunft 1924, 500-527, und jetzt

bei bei

263 ΛΟ

ins syrische Binnenland - aber nicht in die Weltstadt Antiochien. 2. Das MtEv trägt Spuren eines Ringens um Heidenmission (vgl. Mt 10,6; 15,24). Die antiochenische Gemeinde aber tritt in der Geschichte des Urchristentums von vornherein als Vertreter der Heidenmission auf (Apg. 15,1; Gal 2,Uff), d.h. der strengere judenchristliche Standpunkt trifft auf eine Gemeinde, die schon offen für das Heidenchristentum ist. Im MtEv aber scheint es eher umgekehrt zu sein: Eine ehemals streng judenchristliche Gemeinde öffnet sich im Laufe der Geschichte für die Heiden und stellt diesen Lernprozeß in Form eines Evangeliums dar: Auch Jesus wandte sich zunächst nur an die Juden und sandte die Jünger erst nach Ostern zu den Heiden. 3. Zu einer kleineren Stadt in Syrien paßt auch folgende Beobachtung: Nur Mt erwähnt in 5,41 Frondienste für Soldaten. Das hiermit angesprochene Problem wird durch eine im syrischen Hama gefundene Inschrift mit einem Edikt des Kaisers Domitian (81-% n.Chr.) beleuchtet:39 Domitian bestätigt hier, daß Städte von Gespanndiensten für die staatliche Post befreit sind. Es ist zu vermuten, daß kleine Orte den Zwang zu Diensten für den öffentlichen Verkehr drückender empfunden haben als die große Stadt. Bei einer Lokalisierung des Evangeliums in Syrien wäre leicht erklärbar, warum er genauso wie Mk von einem "Meer Galiläas" (4,18; 15,29) sprechen kann: Das große Meer ist für ihn fern. Aber er kennt es: In Mt 23,15 wird den Pharisäern und Schriftgelehrten nämlich vorgeworfen, sie durchstreiften "Meer und Land" (in dieser Reihenfolge!), um Proselyten zu machen. Hier scheint an das Mittelmeer gedacht zu sein. Aber es handelt sich nicht um eine konkrete Ortsangabe, sondern um eine zusammenfassende Bezeichnung für die weite Welt überhaupt. In Mt 18,6 fügt Mt der mk Vorlage ein π έ λ α γ ο ς hinzu: Verführer verdienten es, in der "Tiefe des Meeres" bzw. auf "hoher See" ertränkt zu werden. Der Begriff π έ λ α γ ο ς begegnet sonst nur noch in Apg 27,5 in Verbindung mit dem offenen Meer. Eine konkrete Ortsbezeichnung ist nicht gemeint. Stellt man sich die mt Gemeinde vom Meer entfernt vor, so kann man die überzogene Strafandrohung als das verstehen, was sie wohl ist: eine völlig irreale Drohung. Das Mittelmeer liegt nach allem nicht außerhalb des Horizontes der mt Gemeinden, gehört aber kaum zu deren konkreter Lebenswelt. Charakteristisch ist, daß das "Meer" im MtEv symbolische Transparenz erhält: Die Seesturmgeschichte erzählt von der bedrohten Gemeinde. Die Jünger im Boot "folgen Jesus nach" (anders Mk). Wie sie erleben alle Gläubigen in der Nachfolge Jesu Bedrohung und Geborgenheit (Mt 8.23-27). 40 38

Daß auch die Didache nicht in einem 'Dorf entstanden sein wird, sondern eher in einer durchschnittlichen Provinzstadt, zeigt G.SCHÖLLGEN: Die Didache - ein frühes Zeugnis für Landgemeinden?, ZNW 76 (1985) 140-143. 39 Vgl. R.MONTEVERDE/C.MONDÉSERT: Deux inscriptions de Hama, Syria 34 (1957) 278-287, dort 279ff. 40 Vgl. G.BORNKAMM: Die Sturmstillung im Matthäusevangelium, in: G.BORN-

264

Insgesamt gesehen läßt sich im MtEv eine gewisse "Ostverlagerung" der Perspektive erkennen: Die Kindheitsgeschichten, die bei Lk den Blick auf die große Welt zwischen Rom und Jerusalem öffnen, beziehen bei Mt das Morgenland (2,1-12) und Ägypten (2,13-15) ein. Den Verfasser könnte man sich gut in der Mitte zwischen diesen Gebieten vorstellen, d.h. in Syrien. Wenn er vom Zug der Magier nach Judäa erzählt, so berichtet er möglicherweise aus seiner Perspektive: Auch für ihn und seine Gemeinde stand der Stern über Bethlehem im (Süd-)Westen. Ebenfalls aus der Perspektive seiner Gemeinde wäre formuliert, daß Jesu Ruf nach "ganz Syrien" gedrungen ist, was in 4,24 abweichend von der mk Vorlage berichtet wird.41 Beim LkEv ermöglichen die Windverhältnisse Palästinas eine grobe Lokalisierung. Lukas setzt nämlich in 12,54-56 voraus, daß Westwind Regen bringt, Südwind dagegen Hitze: "Und wenn ihr den Südwind wehen seht, sagt ihr: 'Es wird Gluthitze geben; und es geschieht" (12,55). Nun brachte aber in Palästina vor allem der Ostwind Gluthitze, im Mittelmeerraum westlich von Palästina aber ist es der Südwind. Der Verfasser des lk Doppelwerks scheint also mit den palästinischen Verhältnissen nicht vertraut zu sein.42 Der Sachverhalt ist freilich komplizierter. Einmal sind physikalische Windrichtungen nicht immer mit ihrer sprachlichen Etikettierung identisch. Der biblische "Ostwind" ist de facto oft ein Südwind. Zum anderen ist auch der meteorologische Sachverhalt nicht so eindeutig: In manchen Gegenden Palästinas ist zeitweise ein heißer Südwind zu spüren.43 Zunächst aber gilt im Traditionsbereich der hebräischen Bibel: Der Ostwind (rua'qadim) bringt die Gluthitze: Die Ähren im Traum Pharaos werden vom Ostwind versengt (Gen 41,6.23.27). Die Pflanzen verdorren, sobald sie der "Ostwind" berührt (Ez 17,10; vgl. 19,12). Jona wird durch einen glühenden K A M M / G . B A R T H / H J.HELD (eds.): Überlieferung und Auslegung im Matthäusevangelium, WMANT 1, Neukirchen 4 1965, 48-53. 41

Mt interpretiert hier das "in die ganze Umgebung von Galiläa" aus Mk 1,28. Für ihn ist της Γαλιλαίας kein Genitivus epexegeticus, sondern possessivus. Er meint das an Galiläa angrenzende Umland. Er hat dies Umland wohl bewußt mit Syrien gleichgesetzt. In Mt 9,26 gibt er die Wendung aus Mk 1,28 nämlich ganz anders - mit "in jenes ganze Land" - wieder. 42

Diesen Schluß hat schon C.C.McCOWN, Gospel Geography, 16, gezogen. Das bleibt oft unbeachtet. W.GRUND MANN, Das Evangelium nach Lukas, ThHK 3, Berlin 5 1969, 273, spricht unzutreffend bei Lk 12,55 von einer "zutreffenden Wetterbeobachtung."

43

Zu den Windverhältnissen in Palästina vgl. F.M ABEL: Géographie de la Palestine I, Paris 1933, 117-121. - E.CA.RIEHM (ed.): Handwörterbuch des Biblischen Altertums II, Leipzig 1884, 1759-1761, und D.SCHENKEL (ed.): Bibel-Lexikon V, Leipzig 1875, 666-668.

265

Ostwind" zur Verzweiflung gebracht (Jon 4,8). Meteorologische Beobachtungen zeigen, daß dieser Ostwind oft von Südost kommt: aus der arabischen Wüste. Auch die Windrose des äthiopischen Henoch (76,5-13) läßt verdorrende Südwinde aus OSO und SOS kommen (s.u.). Es wäre nicht undenkbar, daß jemand diesen Südostwind einmal als "Südwind" klassifiziert, besonders dann, wenn er sich damit in Übereinstimmung mit dem Sprachgebrauch im sonstigen Mittelmeerraum befindet. Denn hier bringt insbesondere der "Südwind" die Gluthitze, indem er heiße Luft von der Sahara herbeitransportiert.44 Aufschlußreich ist die griechische Übersetzung des Alten Testaments. Sie ist in Ägypten entstanden. Dort kennt man den heißen "Chamsin" aus dem Süden. Die LXX übersetzt daher den "Ostwind" des hebr. Textes entweder neutral mit "Glutwind" ohne Angabe einer Himmelsrichtung (άνεμος ό καύσων, vgl. LXX Ez 19,12; 17,10; Jon 4,8; Hos 13,15). Oder sie macht aus dem hebr. "Ostwind" einen "Südwind" (so in Ex 10.13; vgl. Ex 14,21; Hiob 38,24; Ps 78,26; Ez 27,26). Philo von Alexandrien hat diesen heißen ägyptischen Südwind aus eigener Anschauung bei der Kommentierung von Ex 10,13 beschrieben: "Da fährt ein Wind daher, ein gewaltiger Süd, den ganzen Tag und die Nacht hindurch an Ausdehnung und Stärke zunehmend, schon an sich eine große Strafe; denn er ist trocken, erzeugt Kopfschmerz, schadet dem Gehör, ist geeignet, Mißbehagen und Angstgefühl hervorzurufen, zumal in Ägypten, das in südlicher Gegend liegt, in der der Umschwung der lichtspendenden Sterne sich vollzieht, so daß durch ihre Bewegung zugleich die Sonnenglut mit herangetrieben wird und alles verbrennt" (vita Mosis 1,120).

Dieser Chamsin kann auch im Süden Palästinas und in der Küstenebene unangenehm erlebt werden. Er kommt selten direkt von Süden, sondern oft aus Süd-Süd-West. In Hiob 37,17 wird er erwähnt. Im Gebirge Palästinas ist er weniger stark. Dort ist der "Ostwind" der klassische Glutwind.45 Die

44

Zum antiken Sprachgebrauch vgl. Art. Notos, in: Kleiner Pauly IV, 168. Die Antike kennt drei Typen südlicher Winde: den winterlichen Südwind, der Regen und Sturm brachte und das Schiff des Paulus kentern ließ (Apg 27,14-44); ferner einen sanften, den Himmel aufheiternden "Südwind" nach der Winterwende, der das Schiff des Paulus in zwei Tagen von Rhegium nach Puteoli trieb (Apg 28,13). Gefürchtet war der staubtragende Scirocco, der "pestilens Africus", der aus heißen nordafrikanischen Wüsten herüberwehte. Ihn hat Lukas in 12,55f vor Augen. Die Apostelgeschichte zeigt, daß er mit den Windverhältnissen im Mittelmeerraum westlich von Palästina vertraut ist. 45

Vgl. E.WIRTH: Syrien. Eine geographische Landeskunde, Wissenschaftliche Länderkunden IV/V, Darmstadt 1971, 85: "Unter bestimmten Voraussetzungen dringt vor allem im Frühjahr (Februar bis Mai) im Warmsektor einer Zyklone kontinentaltropische Saharaluft bis nach Syrien vor. Dieser heftige, trocken-heiße Südwind ist als

266 Windrose des äthiopischen Henoch gibt die Windverhältnisse Palästinas also korrekt wieder, wenn sie verdorrende Winde sowohl aus SO wie aus SW kommen läßt (vgl. äthHen 76,5.7-13):*

Was folgt also aus dem "Südwind" von Lk 12,55 für die Lokalisierung des Evangeliums? So viel ist sicher: Das Evangelium stammt kaum aus dem palästinischen und syrischen Binnenland. Wenn es überhaupt im Osten geschrieben wurde, so käme allenfalls der Kütenstreifen in Frage. Caesarea wäre

Samum oder Khamsin (...) in ganz Syrien gefürchtet. Besonders starke und auffällige Temperaturerhöhungen bringt er für die Küstenstationen Im sonstigen Mittelmeer nennt man diesen Wind "Scirocco" aus arabisch sharkija ( = Ostwind). Die Übernahme des Begriffs Scirocco für den heißen Südwind, obwohl sharkija eigentlich "Ostwind" heißt, illustriert sehr gut, wie dasselbe Phänomen in den verschiedenen Regionen mit verschiedenen Himmelsrichtungen verbunden wird. Zu den Windrichtungen an der Küste Palästinas vgl. J.GLAISHER: On the direction of the wind at Savona, recorded daily by Herr Dreher, in the ten years 1880-1889, PEFQSt 1892, 226-250. Der häufigste Wind ist danach in den Sommermonaten der Südwestwind. 46

Die Windrose ist entnommen aus S.UHLIG: Das Äthiopische Henochbuch (JSHRZ V/6), Gütersloh 1984, 654. Sie hat einen sehr schematischen Aufbau, wie O.NEUGEBAUER, The 'Astronomical' Chapters of the Ethiopie Book of Enoch (7282), in: Det Kongelige Danske Videnskabernes Selskab. Matematisk-fysiske Meddelelser 40/10, Kopenhagen 1981, 24ff, gezeigt hat. Er meint, es sei "far removed from empirical data". Der heiße Wind aus SOS fällt jedoch deutlich aus dem Schema heraus.

267

nicht unmöglich. 47 Wahrscheinlicher aber ist, daß Lukas aus einer Lokalperspektive von Westen her auf Palästina blickt.48 Auch aus anderen Gründen können wir eine Nähe zum großen Mittelmeer voraussetzen. 49 Lukas hat es konsequent vermieden, den kleinen Binnensee in Galiläa "Meer" zu nennen. Er benutzt den sachlich angemesseneren Ausdruck λίμνη (Lk 8,22.23.33). Von 19 θάλασσα-Stellen bei Mk bleiben bei ihm nur zwei (Lk 17,1.6). An diesen beiden Stellen ist der Begriff "Meer" nicht als konkrete Ortsangabe, sondern generisch zu verstehen. Das Motiv des Evangelisten liegt auf der Hand: Für ihn ist das Mittelmeer das Meer schlechthin. Bei dessen erster Erwähnung (in Apg 10,6) kann er es ohne nähere Bestimmung als θάλασσα einführen. Das absolute θάλασσα entspricht griechischem Sprachgebrauch. 50 Es ist darüber hinaus von der umfassenderen Lokalperspektive des Lk bestimmt: Der Verfasser des LkEv ist der einzige Evangelist, bei dem wir sicher sind, daß er mit der großen Welt des Mittelmeers und der Mittelmeerstädte vertraut ist. Das zeigen die Erzählungen der Apg. Vor allem zeigt das der Wir-Bericht, der nicht zufällig mit einer Seereise einsetzt (Apg 16,1 Off). Der Verfasser verfolgt mit diesem "Wir" die Absicht, dem Leser die eigene Augenzeugenschaft zu suggerieren, eine Absicht, die er mit bemerkenswerten Ausnahmen 51 bei dem größten Teil seiner historisch-kritischen Leser nicht erreicht. Das "Wir" hinterläßt aber in jedem Fall den Eindruck, daß Seereisen zur Lebenswelt des Autors gehören. Besäßen wir nur sein Evangelium und nicht die Apg, könnten wir die lokale Perspektive des Lk allenfalls aufgrund unscheinbarer Indizien vermuten: Nur für Lk gehört zu den endzeitlichen Katastrophen die "Angst vor dem Brausen

47

So H.KLEIN, Abfassungsort der Lukasschriften, 477: Für ihn ist der Verfasser ein "Mann aus Cäsarea"

48

Vgl. H.CONZELMANN: Die Mitte der Zeit, BHTh 17, Tübingen 4 1964, 62: "Das ganze Land scheint von Übersee her gesehen zu sein.

49

Zum folgenden vgl. meinen Aufsatz: "Meer" und "See" in den Evangelien. Ein Beitrag zur Lokalkoloritforschung, in: SNTU 10 (1985) 5-25.

50

Für Plato kann θ ά λ α σ σ α das Mittelmeer schlechthin sein (Phaidon 109b; 111b). Dasselbe gilt für Aelios Aristeides (Romrede 16). Aber auch bei jüdischen Autoren finden wir diesen absoluten Sprachgebrauch, vgl IMakk 7,1; 13,29; 14,5; 15,1.11 und bell 1,409.411 u.ö. So wie für die griechisch-römische Antike das Mittelmeer das "Meer" schlechthin sein konnte, so war für die Babylonier der Persische Meerbusen das "Meer" (vgl. BURR, Nostrum mare, 89). 51

Zu diesen Ausnahmen gehört M.HENGEL, Lukas, 147-183. Hengel hat m.E. nachgewiesen, daß der Verfasser des lk Doppelwerks Ortskenntnisse von Jerusalem besaß, die er vermutlich auf einer Reise erworben hatte. Damit ist nicht unbedingt gesagt, daß er der Begleiter des Paulus war. Vor 70 n.Chr. haben viele den Tempel besucht.

268

und Wogen des Meeres" (Lk 21,25). Nur bei ihm strömen die Menschen von der "Küste von Tyros und Sidon" (Lk 6,17) zu Jesus - als wolle er andeuten, bis wohin die christliche Verkündigung gelangt ist.52 Nur Lk ersetzt konsequent "Meer" durch "See". Freilich ahnt man schon von Anfang an die umfassendere lokale Perspektive: Das Evangelium beginnt in Jerusalem. Es berichtet von einem die "ganze Welt" betreffenden Edikt des Kaisers (Lk 2,1), nennt Syrien (2,2) und verschiedene palästinische Gebiete (3,1). Durch die Erwähnung der Kaiser Augustus und Tiberius kommt indirekt Rom ins Blickfeld, jene Stadt, in der das Geschehen in der Apg endet. Insofern bestätigt Lk unsere Annahme: Aus einer umfassenderen Lokalperspektive kann der See Genezareth nicht mehr θάλασσα, sondern nur noch λίμνη genannt werden.53 Dieselbe Differenzierung zwischen (Binnen-)Seen und Mittelmeer findet sich auch bei einigen jüdischen Schriftstellern, deren Werk oder Leben eine umfassendere Lokalperspektive aufweist. Josephus nennt die palästinischen Binnenseen λίμνη: den Phiale-See (bell 3,511), den Semachonitischen See (bell 3,515; 4,3; ant 5,199), den See Genezareth (bell 2,573; 3,463 u.ö.) und den Asphaltsee (ant 1,174; 4,85; 9,7.206; 15,168 u.ö.). Das Mittelmeer aber kann er ohne näheres Attribut als θάλασσα bezeichnen (z.B. bell 1,409.411; 2,14; 2,74 u.ö.). Ähnlich liegen die Verhältnisse bei IMakk. Der Autor ist wahrscheinlich in Jerusalem ansässig,54 aber er verfügt über einen weiten lokalen Horizont: Das Bündnis der Juden mit den Römern und die Auseinandersetzungen mit den Seleukiden lassen die ganze östliche Mittelmeerwelt als Ort der Handlung erscheinen. Das Mittelmeer ist das "Meer" (θάλασσα) schlechthin (IMakk 7,1; 13,29; 14,5; 15,1.11). Den See Genezareth aber nennt er το ΰδωρ του Γεννησαρ (IMakk 11,67).55 Diese Analogien bestätigen: Lk schreibt aus einer umfassenderen Lokalperspektive. Er schreibt sein Werk für Leser, die nicht in Palästina zu Hause sind. Ausgerechnet Lk aber ist der einzige, der den in Galiläa gebräuchlichen Bei Mk (3,8) ist dagegen unverkennbar das sich landeinwärts erstreckende Territorium von Tyrus und Sidon gemeint. H.CONZELMANN, Mitte der Zeit, 62, hat recht, wenn er schreibt: "Das ganze Land scheint von Übersee her gesehen zu sein."

52

M

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Wie sehr Lk an einer umfassenderen Lokalperspektive gelegen ist, zeigt er, wenn er Paulus in Apg 26,26 versichern läßt: "Das alles hat sich ja nicht in irgendeinem Winkel zugetragen." 5 4 Vgl. K.D.SCHUNCK: Das I. Makkabäerbuch, JSHRZ, 1/4, Gütersloh 1980, 292. Die Bezeichnung ϋδωρ begegnet bei Josephus abgewandelt zu ύδατα των Γεννησάρων (ant 13,158), wo Josephus IMakk als Quelle benutzt. Aber auch Strabo (Geogr. XVI,2,45 = GLAJJ I l l f , S. 298) und Dio Chrysostomos ( = G L A J J I 251, S. 539) sprechen von einem ϋδωρ.

55

269

Namen "(See) Genezareth" überliefert hat (Lk 5,1). Das MkEv erwähnt zwar die Landschaft "Genezareth" (Mk 6,53), läßt aber nicht erkennen, daß nach ihr der ganze See von den Anwohnern genannt wurde. Daß wir hier den ortsüblichen Namen haben, ist sicher. Einerseits entspricht dieser Name am ehesten dem hebräischen jam kinneret bzw. kinneroth (vgl. Num 34,11; Jos 12,3; 13,27),56 das in den LXX mit θάλασσα Χεναρα Χενερεθ und Χενερωθ wiedergegeben wird. Andererseits begegnet dieser Begriff bei palästinischen Autoren: So in IMakk als ΰδωρ Γεννησαρ (11,67) und bei Josephus.S7 Josephus versichert ausdrücklich, daß dieser Name bei den Einheimischen gebräuchlich war; vgl. καλείται Γεννησαρ προς των έπιχωριων (bell 3,463). Aber auch nicht-jüdische Autoren haben diesen Namen übernommen: Das älteste Zeugnis bietet Strabo (ca. 64 v.Chr. bis 20/30 n.Chr.). Er spricht vom λίμνη Γεννησαρϊτις (Geogr. XVI,2,16 = GLAJJ I 112, S. 288). Plinius d.Ä. (gest. 79 n.Chr.) spricht von einem See, "quem plures Genesaram vocant" (nat. hist. V,71 = GLAJJ I 204, S. 469). Danach verschwindet der Name aus der nicht-christlichen antiken Literatur und wird vom 2. Jhdt. an durch den Namen "See Tiberias" ersetzt.58 Wie läßt sich der Befund im LkEv deuten? Einerseits schreibt Lk aus einer Außenperspektive, andererseits bringt er als einziger den einheimischen Namen des Sees (und zwar unabhängig von seiner Vorlage, dem MkEv). Dieser 56

Wahrscheinlich nach der (in ntl. Zeit nicht mehr existierenden) Stadt Kinnereth bzw. Kinroth (Dtn 3,17; Jos 11,2; 19,35). Josephus hält "Gennesar" eindeutig für eine Landschaftsbezeichnung (bell 3,506). Ebenso ist "Genezareth" (v.l. Gennesar) in Mk 6,53 eine Landschaft, wie die Rede von einer χώρα (Mk 6,55) zeigt. Der Übergang vom atl. jam kinnereth zu Gennesar läßt sich im Targum Onkelos belegen, wo Num 34,11 durch jam ginnesar wiedergegeben wird. Vgl. F.M ABEL, Géographie, 495. Abwegig ist die Deutung von Gennesar als "Garten der Osiris" durch J.R.HARRIS, Osiris in Galilee, in: Exp Τ 40 (1928-29) 188-189.

57

Vgl. Jos. bell 2,573; 3,463.506; 5,15; ant 5,84; 13,158; 18,28.36.

CO

Die einzige Ausnahme ist Solinus (3. Jhdt. n.Chr.). Er basiert auf Plinius. Aus dem See "Genesara" wird bei ihm ein "lacus Sara", den er vom lacus Tiberiadis unterscheidet (Collectanea Rerum Memorabilium 35,3 GLAJJ II 449, S. 418). Er kann also den (verstümmelten) Namen Genesara nicht mehr auf den See von Tiberias beziehen, sondern hält ihn für einen zweiten See. Wenn der Name "See Genezareth" später bei christlichen Schriftstellern begegnet, ist das Nachwirkung von Lk 5,1. So benutzt Euseb im Onomastikon neben der zu seiner Zeit geläufigen Bezeichnung "See von Tiberias" (Onom. 72.20; 74,14; 162.4Í) auch den Namen "See Genezareth" (Onom. 58,12; 120,2). Hieronymus gibt in seiner Übersetzung des Onomastikon 72,20 durch stagnum Genezareth wieder. Die späteren Pilgerberichte nennen den See meist nach der Stadt Tiberias; vgl. H.DONNER: Pilgerfahrt ins Heilige Land. Die ältesten Berichte christlicher Palästinapilger (4.-7. Jahrhundert), Stuttgart 1979, 166f, 180, 184, 188, 200, 263f. Entweder sprechen sie vom lacum Tiberiadis oder mare Tiberiadis.

270 Befund würde ausgezeichnet zu der Vermutung passen, Lk schreibe zwar außerhalb Palästinas, habe aber Palästina auf einer Reise nach Jerusalem kennengelernt. Er muß deshalb nicht unbedingt der Reisebegleiter des Paulus gewesen sein. Denkbar ist, daß er alle im Wir-Bericht berührten Gebiete aus eigener Erfahrung kennt; daß er von der Westküste Kleinasiens stammt, wo der Wir-Bericht einsetzt, und bei der Abfassung seines Doppelwerkes dort ist, wo der Wir-Bericht endet: in Rom. All das sind leider nur Vermutungen. Unsere Überlegungen zur Lokalisierung der Evangelien haben somit zu folgenden Ergebnissen geführt: Das MkEv ist wahrscheinlich in den syrischen Nachbarregionen Palästinas entstanden. Vielleicht schaut es aus nördlicher Richtung auf Galiläa und Jerusalem. Das MtEv kann nicht weit entfernt davon entstanden sein. Es schaut eher aus östlicher Richtung auf Palästina. Es könnte in Damaskus oder in der Dekapolis entstanden sein, möglicherweise aber auch anderswo in Syrien. Das LkEv nimmt dagegen eindeutig eine Westperspektive ein. Hier ist zwar die lokale Distanz zu Palästina am größten, aber der Verfasser könnte Palästina auf Reisen kennengelernt haben. Diese Sicht der Dinge ist mit der Zwei-Quellen-Theorie und den in ihr vorausgesetzten geschichtlichen Abhängigkeitsverhältnissen gut vereinbar. Für den Verfasser des MtEv muß die in Palästina entstandene Logienquelle und das nicht weit entfernt in Syrien geschriebene MkEv zugänglich gewesen sein. Der Verfasser des LkEv könnte sich auf einer Reise seine beiden wichtigsten Quellen besorgt haben, ohne auf das weiter im Landesinnere entstandene (oder entstehende) MtEv gestoßen zu sein. Viel schwieriger lassen sich die erkennbaren Abhängigkeitsverhältnisse erklären, wenn man Mk in Rom entstanden denkt. Er müßte dort Zugang zu palästinischen Volksüberlieferungen und Jerusalemer Gemeindetraditionen gehabt haben, sein Evangelium müßte sehr schnell bis in den Osten gelangt sein, wo Mt es als Quelle benutzt. Undenkbar ist das nicht, aber unwahrscheinlicher.

B. Kriegsnähe und Nachkriegsdistanz in den Evangelien und die Frage ihrer Datierung Datierungen zielen nicht nur auf eine äußere Chronologie, sondern wollen die geschichtliche Situation bestimmen, die eine Schrift zu bewältigen versucht. Konsens ist, daß das MkEv durch die Nähe zum Jüdischen Krieg 66-74 n.Chr. bestimmt ist. Nur wenige plädieren für eine frühere Entstehung. 59

59

So G.ZUNTZ: Wann wurde das Evangelium Marci geschrieben?, in: H.CANCIK

271

Umstritten ist aber, ob die Zerstörung des Tempels (70 n.Chr.) noch bevorsteht oder schon geschehen ist60, was nur durch Interpretation von Mk 13 entschieden werden kann. Die zeitgeschichtliche Auswertung dieses Kapitels wird jedoch dadurch erschwert, daß in ihm Tradition aus dem Jahre 40 n.Chr. verarbeitet ist. Rückschlüsse auf die Situation des MkEv lassen sich am ehesten dort ziehen, wo redaktionelle Arbeit wahrscheinlich ist: vor allem im Rahmen der apokalyptischen Rede. 61 Der Mk-Evangelist hat die Rede als esoterische Belehrung an die Jünger gestaltet, mit der eine vorhergehende öffentliche Prophetie gegen den Tempel ausgelegt wird (Mk 13, lf). Diese Tempelweissagung setzt m.E. die Zerstörung des Tempels voraus. Denn sie ist an die inzwischen eingetretenen Ereignisse angepaßt. Andere Varianten der Prophetie sind zweigliedrig: Sie weissagen neben dem Abriß des Tempels einen Neuanfang (Mk 14,58; Joh 2,19). Im Sommer 70 wurde der Tempel zerstört. Ein Neuanfang war nicht in Sicht. Daher läßt Mk die positive Hälfte der Tempelweissagung in 13,2 weg. Ebenso aufschlußreich ist die Präzisierung der Zerstörungen: "Siehst du diese großen Gebäude? Hier (δδε) wird kein Stein auf Stein gelassen werden, der nicht zerstört wird" (Mk 13,2). Das einschränkende £>δε könnte andeuten, daß nur die Gebäude der Tempelplattform, nicht aber die Grundmauern der Plattform vernichtet wurden. Deren wuchtige Steine kann man noch heute bewundern. Auch hier wird die Tempelweissagung ex eventu präzisiert. Wie der Anfang der apokalyptischen Rede ist auch ihr Ende redaktionell ge(ed.): Markus-Philologie, W U N T 33, Tübingen 1984, 47-71. Wie er selbst betont, hängt seine "Datierung des Zweiten Evangeliums auf das Jahr 40 ausschließlich von der Beurteilung von Mk 13,14 ab" (S.71). Der Deutung von Mk 13,14 auf die Caligulakrise stimme ich zu, nicht aber der Annahme, daß damit die Redaktion des MkEv datiert werden kann: Mk 13,14 gehört zu einer von Mk übernommenen älteren Tradition. JA.T. ROBINSON: Redating the New Testament, London 1976, 95, 107ff, 352f, stützt sich auf Clemens von Alexandrien, Hypotyposen 6 ( = Euseb h.e. II, l,3f): Danach ist das MkEv noch zu Lebzeiten des Petrus entstanden. Er rechnet mit 45-60 als Entstehungszeit. 60

Das überzeugendste Plädoyer für eine Datierung kurz vor der Tempelzerstörung findet sich bei M.HENGEL, Entstehungszeit, bes. 21ff. 61

Während die zeitgeschichtliche Deutung der in Mk 13 aufgenommenen Tradition sich primär auf allgemein als traditionell betrachtete Teile (bes. auf 13,6-8.14-20.24-27) stützte, kann die redaktionsgeschichtliche Auswertung dort einsetzen, wo der Mk-Evangelist Traditionen neu kombiniert hat: Sein Werk ist die Kombination von Tempelweissagung 13,1-2 und apokalyptischer Rede, ebenso die Hinzufügung einzelner Logien am Ende (13,28-37). Auch die Einfügung von 13,9-13 verrät redaktionelles Interesse: Der Verf. spricht hier direkt die Gemeinde an. Oft wird auch für 13,21-23 redaktionelle Gestaltung angenommen.

272

staltet. Der Evangelist erwartet noch in seiner Generation, daß Himmel und Erde vergehen werden. Niemand kenne das Datum. Daher könne man sich nur durch andauernde Wachsamkeit auf dies Ende einstellen (Mk 13,30-37). Jedoch gebe es Anzeichen. Mk schreibt: "Wenn ihr dies geschehen seht, so erkennt, daß er vor der Tür steht" (Mk 13,29). Mit 'όταν ΐδητε ταύτα kann nur gemeint sein, was der Evangelist 13,14 (in Übernahme einer älteren Quelle) mit οταν δέ ίδητε το βδέλυγμα της έρημ,ώσεως angekündigt hat. 62 Der Evangelist schaut also auf die Tempelzerstörung als innergeschichtliches Ereignis zurück, erwartet aber noch zu seinen Lebzeiten eine umfassende eschatologische Katastrophe. In dieser Situation aktualisiert er erneut die Prophetie aus der Caligulakrise. Mit denselben Worten, mit denen sie auf den nabatäischen Krieg im Jahre 36 n.Chr. zurückschaute, schaut er auf den Jüdischen Krieg (66-70 n.Chr.) zurück. Mit Formulierungen, die damals die nahe bevorstehende Entweihung des Tempels durch den Kaiser ankündigten, kündigt er einen unfaßbaren Frevel an der Stätte des Tempels an (13,14ff). Die nächstliegende Annahme ist: er erwartet genau das, was man in der Caligulakrise befürchtet hatte, die Errichtung eines heidnischen anstelle des jüdischen Kultes. Daher kann er die Tradition aus dem Jahre 40 n.Chr. aktualisieren, ohne sie im wesentlichen ändern zu müssen. Da wir aus Tacitus (ann 12, 54,1) wissen, daß die in der Caligulakrise entstandene Befürchtung lange lebendig geblieben ist, werden die Tradenten der in Mk 13 enthaltenen Prophetie bis in die 70er Jahre gewußt haben, was sich hinter dem "Greuel der Verwüstung" verbarg. Während des Jüdischen Krieges hatte man wahrscheinlich mit der Verwirklichung der Prophetie gerechnet. Der Tempel war zerstört worden. Aber das konnte nur der "Anfang der Wehen" sein. Denn die endgültige kultische Entweihung des Tempels stand noch aus. Was im Jahre 40/41 irrtümlich erwartet worden war, mußte jetzt in Erfüllung gehen. Die Kriegsnähe des MkEv geht nicht nur aus Mk 13 hervor, wo der Evangelist bewußt auf die Zeit der Gemeinde nach Jesu Tod blickt. Man kann sie im ganzen Evangelium entdecken. Sie ist deshalb nicht so auffällig, weil das Evangelium ja auf ein vergangenes Geschehen zurückblickt, das nur indirekt die Gegenwart von Autor und Leser spiegelt. Bei der Heilung der gelähmten Hand formuliert Jesus die Alternative: "Ist es erlaubt, am Sabbat Gutes zu tun oder Böses zu tun, Leben zu retten oder zu töten?" (Mk 3,4)

62

So bes. F.HAHN: Die Rede von der Parusie des Menschensohnes, 245ff. Die eingehende Kritik von E.BRANDENBURGER, Markus 13,36ff, an F. HAHN hat mich nicht überzeugt.Nachdem in 13,14ff von zwei aufeinander folgenden Ereignissen die Rede ist - auf den "Greuel der Verwüstung" folgt die Parusie des Menschensohns -, kommt in 13,18f ein Appell, diesen Zusammenhang zu erkennen: Wenn man dies sieht, dann steht er (der zur Parusie kommende Menschensohn) vor der Tür. Das Zeichen ist nicht mit dieser Parusie identisch, sondern geht ihr voran.

273 Viel harmloser klingt diese Alternativfrage im lk Sondergut: "Ist es erlaubt am Sabbat zu heilen oder nicht (zu heilen)?" (Lk 14,3). Die Frage, ob man am Sabbat töten darf, stellte sich im Krieg. Sie wurde in den Jahren 66-70 diskutiert: Johannes von Gischala handelte mit dem Argument, es sei ein Frevel, am Sabbat zu den Waffen zu greifen, bei der Belagerung von Gischala einen Waffenstillstand aus, in dessen Schutz er nach Jerusalem entkommt (bell 4,98ff). Agrippa II. argumentiert gegen den Krieg: Auf ihm könne kein Segen liegen, da die Sabbatruhe übertreten werde (bell 2,392ff), wie es schon bald geschah (bell 2,517). In Mk 3,4 könnte ein entfernter Reflex dieser Debatte 6 3 vorliegen: Nach der Alternative "Gutes tun / Böses tun" wirkt die zusätzliche Alternative "Retten / Töten" überschüssig. 64 Wenn Jesus gleich darauf im Beelzebubgespräch sagt, daß ein in sich gespaltenes "Reich" keinen Bestand habe, so haben die Leser wahrscheinlich an das 68/69 n.Chr. von Bürgerkriegen zerrissene Römische Reich gedacht. Die in sich gespaltene β α σ ι λ ε ί α von Mk 3,24 hatte für sie mit jenen Kriegen von 13,8 zu tun, in der sich β α σ ι λ ε ί α gegen β α σ ι λ ε ί α erhob. Auch in Mk 5,Iff werden die Hörer des MkEv Anklänge an den Krieg herausgehört haben: Eine ganze Legion von Dämonen geht im Meer zugrunde. Die heidnischen Nachbarn Palästinas sind über die aggressive Handlung gegen die "Legion" erschrocken und verweisen den Unruhestifter des Landes. Die Tempelreinigung wird im MkEv durch zwei Prophetenzitate rechtfertigt. Nach Jes 56,7 soll der Tempel eine Gebetsstätte für alle Völker sein, wie in Jer 7,11 geweissagt, wurde er aber zur Räuberhöhle gemacht. Auch wenn der Evangelist vorgegebene Formulierungen aufgreift, könnte deren Kombination durch Erfahrungen im Jüdischen Krieg bestimmt sein. Der Aufstand begann damit, daß radikale Kreise Heiden von jeder Beteiligung am Kult ausschlössen: Sie beschlossen, von ihnen keine Opfer und Weihgeschenke anzunehmen (bell 2, 409ff). Damit war der Tempel keine Gebetsstätte der Heiden mehr. Die Radikalen unter den Aufständischen verschanzten sich später im inneren Tempel selbst. Für Josephus, der die Aufständischen mit Vorliebe "Räuber" nennt, wurde damit der Tempel selbst zur Räuberhöhle. 65 63

Diese Debatte geht bis in die Makkabäerzeit zurück: Nachdem sich eine Gruppe von Widerstandskämpfern am Sabbat wehrlos hätte hinmetzeln lassen, beschließen die Aufständischen: "Wenn jemand am Sabbattag gegen uns in den Kampf zieht, wollen wir gegen ihn kämpfen, damit wir nicht alle sterben, wie unsere Brüder in den Höhlen starben" (IMakk 2,41; vgl. ant 12,272-277). Josephus bezeichnet es als anerkannten Brauch, von da ab am Sabbat zu kämpfen, wenn es notwendig ist (ant 12,277). Aber auch Josephus kennt Einschränkungen: So wehren sich die Juden bei der Belagerung Jerusalems durch Pompeius am Sabbat wohl gegen persönliche Angriffe, nicht aber gegen Erd- und Schanzarbeiten (ant 14,62ff). 64

Hat der Mk-Evangelist redaktionell die Alternative "retten oder töten" in 3,4 eingetragen, um den in 3,6 folgenden Tötungsplan der Pharisäer und Herodianer vorzubereiten? Während Jesus heilt, planen seine Gegner Mord. Aber einen Tötungsbeschluß fassen ist etwas anderes als ihn ausführen. Die Alternative "retten/töten" tranzendiert die Situation: Die Gegner töten nicht am Sabbat.

65

G.W.BUCHANAN: Mark 11,15-19: Brigands in the Temple, HUCA 30 (1959) 169177; ders.: An additional Note, HUCA 31 (1960) 103-105, nimmt ebenfalls an, daß der

274 Auch das Winzergleichnis enthielt für die Hörer des MkEv eine deutliche Anspielung auf den Krieg. In ihm bringt der Erzähler am Ende die Überzeugung zum Ausdruck, daß der Herr des Weinbergs auf die Tötung seines Sohnes hart reagieren werde: "Er wird kommen und die Winzer vernichten und den Weinberg anderen geben" (Mk 12,9). Angesprochen sind die Hohenpriester, Schriftgelehrten und Ältesten des Synhedriums. In der Tat führte der Jüdische Krieg dazu, daß die traditionelle Machtelite vernichtet wurde. Schließlich ist die Barabbasperikope zu nennen: Der Text spricht dort von einer bestimmten στάσις zur Zeit Jesu. Der Mk-Evangelist konnte diese Formulierung unerläutert übernehmen, weil er beim Hörer die Erfahrung des großen Aufstandes voraussetzen konnte. Für sie gab es in Palästina die große στάσις der Jahre 66-70 n.Chr. Barabbas wird in deren Vorgeschichte eingereiht.66 Die Kriegsnähe des MkEv wird im allgemeinen nicht bestritten. Sie läßt sich räumlich und zeitlich präzisieren: Das MkEv ist in den syrischen Nachbargebieten Palästinas kurz nach der Tempelzerstörung geschrieben worden. 67 Diese Situationsbestimmung muß sich anhand von Mk 13 bestätigen lassen. Zwar übernimmt der Mk-Evangelist hier eine 30 Jahre ältere Tradition. Aber er hätte sie nicht übernommen, wäre sie in seiner Situation nicht plausibel gewesen. Möglicherweise hat er sie an einigen Stellen durch Zusätze erweitert. Das könnte in 13,9-13 und 13,21-24 der Fall gewesen sein. In 13,9-13 artikuliert er - mit Hilfe traditioneller Logien - Erfahrungen der Gemeinde, in 13,21-24 kommen deren Zukunftserwartungen zum Ausdruck. In beiden Fällen haben wir zu fragen: Sind sie in der Situation von ca. 70/75 n.Chr. plausibel? Wir beginnen mit den Zukunftserwartungen. Wenn unsere Datierung und Lokalisierung richtig ist, muß verständlich werden, warum trotz neu errungener politischer Stabilität im Römischen Reich die Erwartung einer nahen Katastrophe im MkEv lebendig blieb. Drei geschichtliche Faktoren sind zu nennen: die Nachwehen des Krieges, die offene Tempelfrage und das Weiterleben eschatologischer Erwartungen. 1. Die "Nachwehen des Krieges": Mit der Eroberung Jerusalems und der Zerstörung des Tempels war der Krieg wohl entschieden, nicht aber beendet. Auf

Mk-Evangelist an eine historische Besetzung des Tempels durch Zeloten ( = "Räuber") denkt. 66 So vor allem D.LÜHRMANN, Mk, 256. 67

Diese Kriegsnähe würde noch größer sein, wenn man das MkEv zwischen 68 und 70 n.Chr. datiert. Die folgenden Überlegungen würden mutatis mutandis auch unter diesen Voraussetzungen gelten: Mit der Erhebung des Vespasian zum Kaiser am lJuli 69 waren im Osten Erwartungen auf Beendigung des Bürgerkrieges entstanden. Schon am 22.Dezember 69 wurde Vespasian vom Senat anerkannt. Anfang 70 war der "große Krieg" vorbei. Die Niederschlagung des jüdischen Aufstandes konnte als sicher gelten. Erst 74 wurde er mit der Eroberung Masadas endgültig beendet.

275 Masada leisteten "Sikarier" noch bis 74 n.Chr. Widerstand (bell 7,252-406).68 Andere waren nach Ägypten geflohen und sorgten hier für Unruhen (bell 7,409ff). Sogar in der Kyrenaika kam es zu einer prophetischen Bewegung: Ein Weber mit Namen Jonathan führte seine Anhänger mit dem Versprechen in die Wüste, ihnen Wunder und andere Erscheinungen zu zeigen (bell 7,437ff). Die im Jüdischen Krieg entfachten Erwartungen und Energien waren zu gewaltig gewesen, als daß sie mit einem Schlag beseitigt gewesen wären. Es muß damals viele Menschen gegeben haben, die in der Zerstörung des Tempels nicht "das letzte Wort" sehen konnten. 2. Offen war vor allem das Schicksal des Tempels. Die Römer hatten nicht nur den Tempel zerstört, sondern den Kult beendet. 69 Dies geschah mit voller Absicht. Denn in ihm mußten sie das Rückgrat des Widerstandes sehen. Nur so ist zu erklären, daß sie die Kultgeräte nach Rom brachten und dort im neuerrichteten "Tempel des Friedens" aufstellten (bell 7,158ff). Nur so wird verständlich, warum der Jerusalemer Tempel nach seinem Brand geschleift (bell 7,1) und der Tempel in Leontopolis ohne strategische Notwendigkeit zerstört wurde (bell 7,420ff). Nur so wird die Umwidmung der Tempelsteuer in eine Abgabe an den Jupiter Capitolinus erklärbar (bell 7,218). Damit war klargestellt, daß an den Wiederaufbau eines Jahwetempels in Jerusalem nicht gedacht war. Das Geld sollte vielmehr den Wiederaufbau des zerstörten Jupitertempels in Rom finanzieren, dessen Brand die Flavianer mitverursacht hatten. Die Befürchtung war nicht unrealistisch, daß das Geld nach Abschluß der Bauarbeiten in Rom zum Wiederaufbau eines heidnischen Tempels in Jerusalem verwandt werden sollte. War doch auf Dauer kein Land ohne Tempel denkbar. 70 Derartige Befürchtungen waren deshalb glaubhaft, weil Vespasian und Titus wahrscheinlich auch an anderen Orten jüdische Synagogen für andere Zwecke umgewidmet hatten. Was Malalas darüber schreibt, ist im Kern m.E. glaubwürdig, bezieht sich der Antiochener doch auf Ereignisse in seiner Vaterstadt selbst: 68

Im allgemeinen wird das Jahr 73 n.Chr. als Datum der Eroberung Masadas angenommen. Seit W.ECK: Die Eroberung von Masada und eine neue Inschrift des L. Flavius Silva Nonius Bassus, ZNW 60 (1969) 282-289, wird aber immer mehr das Jahr 74 angenommen. Zur Diskussion vgl. H.SCHWIER, Faktoren, 48-52. 69

Vgl. dazu H.SCHWIER, Faktoren, 273ff, 323ff. Die folgenden Ausführungen zur flavianischen Propaganda basieren auf dieser Arbeit. 70

Diese Erwartung lag schon deshalb nahe, weil die Römer nur die Tempelgebäude, nicht aber die Tempelplattform zerstört hatten als wollten sie die Fundamente für einen Neubau erhalten. Wenn dies kein Jahwetempel sein sollte, so konnte es nur ein heidnischer Tempel sein.

276 "Vespasian aber stiftete aus der jüdischen Beute im großen Antiochien die sogenannten "Cherubim" vor dem Stadttor. Dort brachte er die kupfernen Cherubim an, die sein Sohn Titus im Tempel des Salomo angebracht gefunden hatte, und die er, als er den Tempel niederriß, von dort hatte wegschaffen und zusammen mit den Seraphim nach Antiochien bringen lassen, als er den Sieg über die Juden in seiner Regierungszeit im Triumph feierte. Er stellte eine kupferne Säule zur Ehren der "Selene" auf, die mit vier Stieren auf Jerusalem schaut. Denn er hatte sie nachts eingenommen, als der Mond geschienen hatte. Er errichtete ferner das Theater der Daphne und versah es mit der Inschrift "ex praeda judaea". Vorher war aber am Ort des Theaters eine Synagoge der Juden. Um diese zu demütigen (προς υβριν αΰτων), zerstörte er ihre Synagoge und stellte dort sein Standbild aus Marmor auf, was dort bis zum heutigen Tag steht. Derselbe Vespasian errichtete ferner in Caesarea in Palästina aus dieser jüdischen Beute ein sehr großes Odeion mit den Ausmaßen eines Theaters dort, wo früher die Synagoge der Juden stand." (Chron. 260-261) Die Cherubim, das Theater mit der lateinischen Inschrift und die Statue des Vespasian dürfte Malalas wohl aus eigener Anschauung kennen. Ob die Geschichte ihrer Aufstellung der Wahrheit entspricht, ist schwer zu beurteilen: 71 Immerhin gab es in Daphne wohl eine jüdische Siedlung. Dadurch würde verständlich, warum der Hohepriester Onias nach Daphne bei Antiochien flieht (2Makk 4,33-34). Eine jüdische Synagoge ist dort erst aus späterer Zeit bezeugt (Joh.Chrysost adv.Jud.or 1,6). Bekanntlich gibt es bei Kultstätten eine Kontinuität heiliger Orte. Es ist daher wahrscheinlich, daß Vespasian tatsächlich am Ort einer Synagoge oder in deren Nähe demonstrativ sein Standbild aufstellen ließ. Die prekäre Lage der antiochenischen Judenschaft nach dem Jüdischen Krieg ist uns aus Josephus gut bekannt: Titus muß das Ansinnen zurückweisen, die Juden aus Antiochien zu vertreiben und ihnen ihre bisherigen Rechte abzuerkennen (bell 7,100ff). Daß Josephus demütigende Akte gegenüber der antiochenischen Judenschaft verschweigt, wäre verständlich. In dieser Situation mußte unter den Juden und Christen Syriens die seit Gaius Caligula bestehende Befürchtung wieder aufleben, daß der (jetzt noch zerstörte) Tempel in ein heidnisches Heiligtum verwandelt werden sollte. Wer in Antiochien am Ort einer Synagoge sein Standbild aufstellt, dem war zuzutrauen, daß er es auch am allerheiligsten Ort aufstellen würde - und das um so mehr, als die siegreichen römischen Soldaten nach der Eroberung des 71

C.H.KRAELING: The Jewish Community at Antioch, JBL 51 (1932) 130-160, S.153, hält das Anbringen der Cherubim am Stadttor für historisch. Die Chron. 261 erwähnte Zerstörung der Synagoge datiert er merkwürdigerweise in die Zeit des Tiberius (S.140), obwohl Malalas sie eindeutig Vespasian zuschreibt. Vgl. ferner W.A.MEEKS/ R.L.WILKEN: Jews and Christians in Antioch in the First Four Centuries of the Common Era, SBLBSt 13, Missoula 1978,5.

277

Tempels dort schon ihren Feldzeichen geopfert und Titus zum Imperator ausgerufen hatten (bell 6,316): Der Tempel war schon einmal vorübergehend "kultisch" durch Heiden beschlagnahmt worden. Der Mk-Evangelist konnte deshalb die apokalyptische Prophetie aus der Caligulakrise ohne große Änderungen in sein Evangelium aufnehmen: 72 Alles deutete darauf hin, daß jetzt in Erfüllung gehen sollte, was sich damals angebahnt hatte. Man mußte die tradierte Prophetie nur noch dadurch aktualisieren, daß man die Weissagung von der Tempelzerstörung ergänzte (Mk 13,1-2) und die Beziehung auf die Gegenwart (Mk 13,9-13) stärker herausarbeitete. 3. Ein dritter "Unruhefaktor" waren die weiterlebenden Erwartungen auf eine entscheidende Wende. Während des Jüdischen Kriegs hatte die allgemeinorientalische Hoffnung eine Rolle gespielt, der Orient werde wieder erstarken, um über den Westen zu herrschen:73 die Mehrzahl war überzeugt von dem in den alten priesterlichen Aufzeichnungen enthaltenen Wort, daß zu eben dieser Zeit das Morgenland erstarke und daß man von Judäa aus sich der Weltherrschaft bemächtigen werde. Dieser rätselhafte Ausdruck hatte auf Vespasian und Titus hingedeutet, die Volksmenge aber legte menschlicher Begehrlichkeit entsprechend diese so hochwichtige Weissagung zu ihren Gunsten aus und ließ sich nicht einmal durch allerhand Mißerfolge zur Anerkennung der Wahrheit bekehren." (Tac. hist V,13,2)

Die von Tacitus beschriebene Erwartung konnte sich mit verschiedenen "Hoffnungsträgern" verbinden. Die römische Interpretation bezog sie natürlich auf Vespasian und Titus. Beide befanden sich zur Zeit der Bürgerkriege im Osten. Vom Osten her trat Vespasian als neuer Kaiser auf. Einheimische "Propagandisten" verliehen seiner Usurpation Legitimität: ein Priester auf dem Karmel (Tac. hist II, 78; Suet. Vesp. 5) und Josephus selbst, der ihm die Weltherrschaft weissagte (bell 3,400ff; 4,623ff; Suet. Vesp. 5; Dio Cass 65,1,4). Neben dieser (sekundären) interpretado romana gab es eine jüdische Inter72

Es sei noch einmal daran erinnert, daß nach Tac. ann 12, 54,1 die Erwartung einer Tempelentweihung auch unter den Nachfolgern des Gaius lebendig blieb: "manebat metus, ne quis principum eadem imperitaret" Der Plural zeigt, daß nicht nur an Claudius, sondern auch an dessen Nachfolger gedacht sein muß. Nur Vespasian kam für diese Befürchtung ernsthaft in Frage, war doch nur er im Osten aktiv gewesen. 2Thess 2,4 ist ein Beleg dafür, daß auch in christlichen Kreisen diese Befürchtung noch lange geteilt wurde - ganz unabhängig davon, wie alt der Brief ist. 73 Vgl. H.G.KIPPENBERG: "Dann wird der Orient herrschen und der Akzident dienen", Zur Begründung eines gesamtvorderorientalischen Standpunktes im Kampf gegen Rom, in: N.W.BOLZ/W.HÜBENER (eds.) Spiegel und Gleichnis, FS J. TAUBES, Würzburg 1983, 40-48; H. SCHWIER, Faktoren, 251ff.

278

pretation, die das allgemeine Orakel im Sinne des jüdischen Messiasglaubens deutete. Tacitus spielt auf sie an (hist V,13,2), Josephus bestätigt sie: "Was sie aber am meisten zum Krieg aufstachelte, war eine zweideutige Weissagung, die sich ebenfalls in den heiligen Schriften fand, daß in jener Zeit einer aus ihrem Land über die bewohnte Erde herrschen werde. Dies bezogen sie auf einen aus ihrem Volk, und viele Weise täuschten sich in ihrem Urteil. Der Gottesspruch zeigte vielmehr die Herrscherwürde des Vespasian an, der in Judäa zum Kaiser ausgerufen wurde." (bell 6,312f)

Der Text läßt erkennen, daß zwei Erwartungen verbunden werden: Die allgemeine Erwartung eines Weltherrschers aus dem Osten und eine "ebenfalls" in den "heiligen Schriften" enthaltene jüdische Verheißung. Wahrscheinlich haben während des Krieges verschiedene Gestalten diese Hoffnungen auf sich gezogen, etwa Menahem, der in königlicher Kleidung in Jerusalem auftrat (bell 2,444) oder Simon ben Giora, der sich mit hoheitlichen Insignien gefangen nehmen ließ (bell 7,26ff). Schließlich gab es noch eine dritte Variante solcher Umsturzerwartungen: 74 Nero hatte am 9.6.68 Selbstmord begangen, aber es hielt sich das Gerücht, er lebe noch. Anfang 69 trat ein Sklave aus Pontos als Pseudo-Nero auf den Kykladen auf, wurde aber bald getötet (Tac. hist 11,8-9; Dio Cass 64,9,3). Zehn Jahre später gelang einem aus Kleinasien stammenden Nero redivivus sogar die Flucht zu den Parthern (Dio Cass 66,19, 3; vgl. Tac. hist 1,2,1). Die 4.Sibylle, die kurz nach dem Vesuvausbruch am 24./25.8.79 entstanden ist, erwartet einen Nero redivivus, der von den Parthern her kommend das römische Reich unterwerfen wird. Er wird Asien wieder die Macht geben: "Es kommt nach Asien der große Reichtum, den einstmals Rom für sich geraubt und in den reichen Häusern aufgespeichert. Zweimal soviel und anderes dazu erstattet Asien zurück." (Or. Sib 4, 145-147) Wenn das MkEv in dieser Zeit falsche Messiasse und falsche Propheten erwartet (Mk 13,22), so entspricht das der Situation im Osten nach 70 n.Chr. Die Erwartung eines Nero redivivus zeigt, daß echte Zukunftserwartungen (so in Or. Sib 4, 145-147) durch konkrete Erfahrungen geformt werden: Ohne den historischen Nero und seine "Nachahmer" hätte es diese Prophetie nicht gegeben. Daher ist es notwendig und legitim, nach einem Modell für die Warnung des MkEv vor Pseudomessiassen zu suchen. Dabei muß man sich klar machen, daß die Vielzahl der geweissagten "Pseudomessiasse" (im Plural) Zeichen ihrer fehlenden Legitimität ist. Eigentlich wird nur eine Gestalt erwartet. Sagen die Verführer doch: "Siehe, hier ist der 74

Zur Nero redivivus vgl. M.HENGEL, Entstehungszeit, 39-43, und W.BOUSSET: Die Offenbarung Johannis, KEK 16, Göttingen 1906, 410-18.

279 Messias (ό χριστός), siehe dort!" (Mk 13,21). Charakteristisch für den falschen Messias ist, daß er durch Propheten und Wunder die Erwählten zu verführen sucht. Hier könnte die Propaganda für Vespasian den konkreten Erfahrungshintergrund bilden. Denn sie stützte sich sowohl auf Prophetien wie auf Wunder. 75 Es gibt mehrere Überlieferungen, nach denen Vespasian durch Weissagungen die Kaiserwürde zugesprochen worden war. Sie waren im Volk verbreitet: "Zwischen Judäa und Syrien liegt der Karmel; so heißt der Berg und seine Schutzgottheit. Für diese gibt es nach der Überlieferung der Vorfahren weder ein Bild noch einen Tempel, sondern nur einen Altar, an dem man seine Verehrung der Gottheit darbringt. Als Vespasian dort opferte und seine geheimen Hoffnungen im Herzen erwog, sagte nach wiederholter Besichtigung der Eingeweide der Priester Basilides zu ihm: 'Was du auch immer vorhast, Vespasian, sei es den Bau eines Palastes, sei es die Erweiterung deines Landbesitzes, sei es die Vermehrung deiner Dienerschaft; beschieden sind dir ein großer Wohnsitz, ein weitumgrenztes Gebiet, eine Menge Leute.' Diese etwas rätselhaften Worte hatte das Gerücht sofort aufgegriffen und wußte sie jetzt auch zu deuten; es gab nichts, was stärker im Volksmund umging." (Tac.hist II,78,3f) Sueton (Vesp.5) und Dio Cassius (65,1,4) bringen dieselbe propagandistische Überlieferung, die für die syrisch-palästinische Bevölkerung gedacht war. Für die ägyptische Bevölkerung brachte man eine andere "Prophetie" in Umlauf: Vespasian habe dort allein das Sarapisheiligtum besucht, im Tempel aber einen Ägypter namens "Basilides" gesehen, von dem er sicher wußte, daß er in einem mehrere Tage entfernten Ort war. Er vergewisserte sich, daß Basilides tatsächlich dort war. "Da deutete er die Erscheinung als gottgesandt und legte auf Grund des Namens "Basilides" dem ihm zuteil gewordenen Bescheid einen besonderen Sinn bei" (Tac.hist IV,82). 76 Eine für Vespasian besonders wertvolle Prophetie stammt von Josephus selbst. Als er nach seiner Gefangennahme vor Vespasian geführt wird, sagt er: "Du glaubst, Vespasian, in Josephus lediglich einen Kriegsgefangenen in die Hand bekommen zu haben, ich komme aber zu dir als Künder großer Ereignisse Du, Vespasian, wirst Kaiser und Alleinherrscher, sowohl du wie dieser dein Sohn. Laß mich jetzt nur noch fester fesseln und für dich selbst aufbewahren, denn du, Caesar, wirst nicht nur mein Herr sein, sondern der über Erde und Meer und das ganze 75

Vgl. zu diesem Abschnitt H.SCHWIER, Faktoren, 307-322: "Vespasian als Weltherrscher aus dem Osten".

76

Daß der Priester "Basilides" auf dem Karmel denselben Namen hat wie der ägyptische Kronzeuge für die Herrschaft des Vespasian, kann kaum Zufall sein: Weist das nicht auf ein geschicktes Arrangement der "Weissagungen" und "Zeichen"? Vgl. H.SCHWIER, Faktoren, 311f.

280 Menschengeschlecht..." (bell 3,400-402)

Auch diese Prophetie war bekannt. Sueton berichtet von ihr in seiner vita des Vespasian: "Auch einer der vornehmen Kriegsgefangenen, Iosephus, beteuerte, als man ihn in Fesseln legte, immer wieder, er werde binnen kurzem vom gleichen Vespasian wieder befreit werden, aber dann sei dieser bereits Kaiser." (Suet. Vesp.5) Innerhalb der rabbinischen Überlieferung wird sie auf Rabbi Jochanan ben Zakkai übertragen - auch das ein Beleg dafür, wie "populär" sie war.77 Aber nicht nur durch Prophetien, sondern auch durch "Zeichen und Wunder" wurde dem neuen Herrscher fehlende Legitimität verschafft. Sueton spricht ihren propagandistischen Wert offen aus: "Noch fehlte Vespasian das nötige Ansehen und gleichsam die von Gott bestätigte Majestät, da er wider Erwarten und erst seit kurzem zum Kaiser erhoben worden war. Aber auch diese wurde ihm zuteil. Zwei Männer aus dem Volk, der eine blind, der andere mit einem lahmen Bein, kamen miteinander zu ihm, als er auf seinem Tribunal saß, und baten ihn, zu ihrer Heilung zu tun, was ihnen Serapis im Traum gezeigt habe: Vespasian werde dem Blinden das Augenlicht wiedergeben, wenn er dessen Augen mit seinem Speichel benetze, das Bein des Lahmen heilen, wenn er geruhe, es mit seiner Ferse zu berühren. Da kaum eine Hoffnung bestand, daß die Sache irgendwie von Erfolg begleitet sein könnte, wollte der Kaiser nicht einmal einen Versuch wagen. Auf Zureden seiner Freunde unterzog er sich endlich vor versammeltem Volke dem Experiment, und der Erfolg blieb beidemal nicht aus" (Suet. Vesp.7).

Auch Tacitus kennt diese Wunder. Auch in seiner Sicht deuten sie "auf die Gunst des Himmels" und "auf eine gewisse Zuneigung der Götter zu Vespasian." (Tac.hist IV,81,1) Ebenfalls zu erwähnen ist eine Kette von "Zeichen", die sich bei der Belagerung Jerusalems ereignet haben.78 Tacitus nennt kämpfende Schlachtreihen im Himmel, plötzliches Leuchten um den Tempel herum, Aufspringen der Tempeltüren, Auszug der Götter. Am Ende dieser Zeichenkette steht jenes Orakel, das Vespasian die Weltherrrschaft weissagte (hist V,13). Josephus hat - wohl aufgrund derselben römischen Quelle - diese Zeichenkette in seinen Bericht von der Zerstörung Jerusalems aufgenommen und nur um einige Zeichen erweitert (bell 6,296-314). Auch bei ihm läuft sie auf die Weltherrrschaft des Vespasian hinaus. 77

Vgl. A.SCHALIT: Die Erhebung Vespasians nach Flavius Josephus, Talmud und Midrasch. Zur Geschichte einer messianischen Prophetie, ANRW 11,2, Berlin/New York 1975, 208-327, und P.SCHÄFER: Die Flucht des Johanan b. Zakkais aus Jerusalem und die Gründung des "Lehrhauses" in Jabne, ANRW II, 19,2, Berlin/New York 1979, 43-101.

78

Vgl. H.SCHWIER; Faktoren, 313ff.

281

Vespasian konnte demnach im Osten als ein Herrscher erscheinen, der messianische Erwartungen usurpierte und sich durch Propheten und Wunder legitimierte. Daß er selbst ein nüchterner Mensch war, war davon unabhängig. Als Usurpator war er auf eine lautstarke Propaganda angewiesen. Unter dem Eindruck eines solchen "Propagandafeldzugs" für den siegreichen neuen Kaiser, der durch Unterwerfung der Juden Frieden schafft und durch Prophetien und Wunder legitimiert war, dürfte die Warnung vor Pseudomessiassen in Mk 13,2 lf formuliert worden sein. Diese Pseudomessiasse wären dann nicht Führer im Aufstand gegen die Römer (bzw. durch Erinnerung an sie geprägte Erwartungen). Im Gegenteil: Kritisiert würde die Usurpation religiöser Hoffnung durch die römischen Herrscher, die den Aufruhr niederwarfen. Mit dieser Deutung befindet man sich mehr im Einklang mit den Traditionen, die in Mk 13 eingegangen sind: Schon die im Jahre 40 entstandene Prophetie wandte sich gegen die Hybris der Macht. Dasselbe aber gilt von der Menschensohntradition überhaupt, insbesondere von Daniel 7: Die Herrschaft des Menschensohns löst die Herrschaft blasphemischer Weltmächte ab. Sein Kommen beendet Unterdrückung, nicht aber die verzweifelten Versuche einheimischer Rebellenführer, Freiheit von dieser Unterdrückung zu erlangen. Die ab Mk 13,14ff zum Ausdruck kommenden Zukunftserwartungen lassen sich also gut in die Situation um 70 n.Chr. unterbringen. Dann aber muß sich Mk 13,9-14 auf die gegenwärtige Lage der mk Gemeinde beziehen lassen. Gewiß hat der Mk-Evangelist hier traditionelle Worte zusammengestellt. Aber auf konkrete Erfahrung könnte zurückgehen, daß er sie in 13,9-13 einfügt und mit der Aussage über die Verbreitung des Evangeliums in 13,10 verbindet. Wir müssen also wahrscheinlich machen, daß syrische Christen in der Zeit von ca. 66-76 n.Chr. Erfahrungen machen konnten, wie sie den in 13,9-13 zusammengestellten Worten Jesu entsprachen: Bedrängnis von allen Seiten (13,13), gegenseitiger Verrat von Familiengliedern (13,12), Verhöre vor jüdischen und heidnischen Instanzen (13,9), aber auch die Gewißheit einer Verbreitung des Evangeliums in allen Verfolgungen.79 Zwar fehlen direkte Belege für eine Christenverfolgung in Syrien. Aber wir können indirekt aus Josephus erschließen, daß damals auch Christen in Bedrängnis geraten sind. Sie standen den Juden nahe und waren von deren Schicksal mit betroffen. Teilten sie doch deren Absonderung von der Umwelt durch Verwerfung der Götter und Einschränkungen der Tischgemeinschaft (vgl. Gal 2,llff). Daß sie nicht alle separatistischen Normen des Judentums 79

Vgl. zum folgenden C.BREYTENBACH: Nachfolge und Zukunftserwartung nach Markus, AThANT 71, Zürich 1984, 311-330. "Die in Mk 13 angesprochene Gemeindesituation" und R.KÜHSCHELM: Jüngerverfolgung und Geschick Jesu, ÖBS 5, Klosterneuburg 1983.

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übernahmen, ließ sie als eine Gruppe zwischen Juden und Heiden erscheinen. Josephus berichtet von dieser Gruppe aus der Zeit des beginnenden Jüdischen Krieges mit folgenden Worten: 80 "Die Syrer ihrerseits brachten nicht wenige Juden um; sie töteten vielmehr alle, die sie in ihren Städten ergreifen konnten, und zwar nicht allein aus Haß wie früher, sondern auch, um der ihnen selbst drohenden Gefahr zuvor zu kommen. Schreckliche Wirren hielten ganz Syrien in Atem, jede Stadt war in zwei Lager gespalten und jede Partei suchte ihr Heil darin, der anderen mit dem Vernichtungsschlag zuvorzukommen. Die Tage brachte man mit Blutvergießen zu, noch schlimmer aber waren die Nächte durch die schreckliche Angst. Denn wenn man auch glaubte, die Juden beseitigt zu haben, so behielt man doch in jeder Stadt den Verdacht gegen die Judaisierenden (τους ιουδαίζοντας); man mochte zwar die nach beiden Seiten hin zweifelhafte Gruppe nicht ohne weiteres umbringen, fürchtete sie aber doch auf Grund ihrer Verbindung mit den Juden, als seien sie wirklich Feinde. Der Wunsch, sich zu bereichern, verleitete selbst Menschen, die mim bis dahin für durchaus harmlos gehalten hatte, zur Teilnahme am allgemeinen Morden unter den Gegnern." (bell 2,461-464)

Natürlich meint Josephus mit diesen "Judaisierenden" (ίουδαιζοντες) zunächst sogenannte "Gottesfürchtige", die mit der Synagoge sympathisieren. Aber auch Christen können unter diesen Begriff fallen. Den Vorwurf des "Judaisierens" (ίουδαϊζειν) erhebt Paulus gegen Petrus als Repräsentanten des antiochenischen Christentums (Gal 2,14). Noch eine Generation später hat es Ignatius von Antiochien mit Christen zu tun, die seiner Meinung nach im "Judaismos" leben (Mg 8,1) und deren Denken er als "Judaisieren" charakterisiert (Mg 10,3). Möglicherweise ist Ignatius dabei auch von Erfahrungen in seiner syrischen Heimat bestimmt. Auf jeden Fall war es im lJhdt. in Syrien nicht undenkbar, daß Christen als "Judaisierer" bezeichnet wurden. Daß Josephus die Christen nicht als gesonderte Gruppe hervorhebt, wäre kein Gegenargument: Denn auch bei der Hinrichtung des Jakobus charakterisiert er die anderen Hingerichteten nicht als Christen, obwohl sie ziemlich sicher Christen waren (ant 20,200f). Josephus differenziert noch nicht so zwischen Juden und Christen, wie wir es tun - und wie einige christliche Gruppen es schon damals getan haben. Für uns ist entscheidend: Eine allgemeine Bedrängnissituation, in der die Christen "von allen gehaßt" waren - von Juden und Heiden -, ist für Syrien in der Zeit des MkEv gut vorstellbar. Diese christlichen Gemeinden müssen Fälle von Familienverrat erlebt haben. Der apokalyptische Topos vom Zerfall der Familien reicht nicht aus, um Mk 13,12 zu erklären. Denn die in Q erhaltene Variante dieses Topos klingt "harmloser" Sie redet von Streit und Krieg in den Familien (Mt 10,34-26 80

Auch C.BREYTENBACH, Nachfolge, 327, sieht in diesen bei Josephus geschilderten Spannungen den geschichtlichen Hintergrund von Mk 13,9ff.

283

par), nicht von der Auslieferung zum Tode. Eben das bezeugt Josephus für das syrische Judentum zur Zeit des MkEv. Als der Haß gegen die Juden während des Jüdischen Krieges seinen Höhepunkt erreicht hatte, zeigte in Antiochien der Sohn des "Vorstehers der Juden" seinen Vater mit der Beschuldigung an, er plane, die Stadt heimlich anzuzünden. Der Vater und andere mitangezeigte Juden wurden daraufhin im Theater verbrannt (bell 7,46ff). Damit soll nicht gesagt sein, daß sich diese Katastrophe einer jüdischen Familie und Gemeinde in Mk 13,12 spiegele. Aber die Ereignisse zeigen, mit welch schrecklichen Ereignissen man rechnen mußte. Josephus läßt übrigens an einer Stelle direkt den apokalyptischen Topos vom Zerfall der Familien anklingen. "Zwischen denen, die zum Krieg drängten, und denen, die nach Frieden verlangten, kam es zum harten Zwist. Zuerst entbrannte der Streit in den Familien, unter Menschen, die sonst immer eines Sinnes waren, dann lehnten sich die besten Freunde gegeneinander auf " (bell 4,132). Wenn Mk 13,9-12 an die Gemeinden des MkEv in Syrien denkt, so müßten dort Verhöre von Christen vor Synhedrien und Synagogen, Königen und Statthaltern denkbar sein (13,9). In der Tat ist Syrien eine Provinz, wo diese Instanzen historisch nachweisbar sind. Hier gab es einige der wenigen Klientelkönige im Römischen Reich: Herodes Agrippa II., Antiochus von Kommagene und Kiliken (bell 7,219ff. 234ff), Aristobulos von Chalkis (bell 7,226) und Soemus von Emesa (bell 7,226). Synagogen gab es mehr als sonst im Römischen Reich. Denn das jüdische Volk war zwar überall verbreitet, aber "am meisten in Syrien wegen der Nachbarschaft zu Palästina" (bell 7,43). Regiert wurde die Provinz von einem Legaten des Kaisers. Ihm zur Seite stand ein Procurator über Palästina. Nun hat der Mk-Evangelist mitten in die Verfolgungslogien, mit denen er die bedrängte Gegenwart seiner Gemeinde anspricht, den stolzen Satz eingeschoben: "Und allen Völkern muß zuerst das Evangelium gepredigt werde" (Mk 13,10). Dieser Satz hat in Syrien um 70 n.Chr. einen besonderen Klang gehabt. Hier kannte man andere ευαγγέλια. Denn hier, im Osten des Reiches, war in einer schweren Krise des Reiches Vespasian zum Kaiser proklamiert worden, dem es gelungen war, Bürgerkriege und Aufstände zu beenden und den Frieden wiederherzustellen. Josephus nennt die Botschaft von seiner Kaiserproklamation "Evangelien": "Schneller als der Flug des Gedankens verkündigten die Gerüchte die Botschaft vom neuen Herrscher über den Osten, und jede Stadt feierte die gute Nachricht (ευαγγέλια) und brachte zu seinen Gunsten Opfer dar" (bell 4,618). Zahlreiche Gesandtschaften aus ganz Syrien kamen, um ihm zu huldigen (bell 4,620). Als Vespasian in Rom als Kaiser anerkannt und bestätigt wird, nennt Josephus die Nachricht davon ebenfalls ευαγγέλια (bell 4,656). Und in der Tat muß der Regierungsantritt Vespasians für viele wie ein "Evangelium" gewirkt haben.

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Man denke nur an die Weltuntergangsstimmung, mit der Tacitus seine Darstellung dieser Zeit beginnt: "Die Darstellung, an die ich mich mache, berichtet von einer Menge Mißgeschick, von Schlachtengreueln, zwietrachterfüllten Meutereien, ja selbst von Schreckenstaten in Friedenszeit: Vier Fürsten vom Mordstahl getroffen, drei Kriege im Land, noch mehr auswärts und gar nicht selten ihre Verschmelzung Italien schwer heimgesucht durch unerhörte und nach einer langen Reihe von Jahren sich wiederholende Schicksalsschläge, wobei ganze Städte der fruchtbaren Küste Kampaniens vom Meer verschlungen oder verschüttet, auch unser Rom ein Opfer von Feuersbrünsten, uralte Heiligtümer von den Flammen verzehrt, selbst das Kapitol von Bürgerhand eingeäschert wurden..." (hist 1,2)

Aus dieser schwersten Krise des Reichs seit den Bürgerkriegen der späten Republik hatte Vespasian hinausgeführt. Kein Wunder, daß man ihn als von Gott gesandten Retter verehrte: Josephus selbst hatte ihm die Weltherrschaft prophezeit (bell 3,400ff; 4,622ff). Wahrscheinlich hat er messianische Erwartungen auf ihn übertragen. In Ägypten wird er als "Gott" akklamiert.81 In dieser Lage schreibt der Verfasser des MkEv eine Art "Gegenevangelium": die Botschaft von dem Gekreuzigten, der zum Weltenherrscher bestimmt ist. Nicht die Konsolidierung der politischen Lage unter Vespasian ist das "Evangelium", sondern die Botschaft vom Leben und Sterben Jesu von Nazareth. Die betonte Art, mit der der Mk-Evangelist das Stichwort εύαγγέλιον seinem Buch voranstellt (Mk 1,1), die Predigt vom kommenden Reich εύαγγέλιον nennt (1,14), den Evangeliums-Begriff mit der Leidensnachfolge verbindet (8,35; 10,29), all das könnte darauf hinweisen, daß er seine Geschichte Jesu bewußt als ein Evangelium anderer Art konzipiert. Religiös überhöhte Propaganda für Vespasian gehörte für ihn zu jenem "Greuel der Verwüstung", mit dem er das Weltende kommen sah.82 Unser Ergebnis ist: Das MkEv ist chronologisch und sachlich durch Kriegsnähe bestimmt. Es entstand während des Jüdischen Krieges 66-74 n.Chr., wahrscheinlich nach der Eroberung des Tempels im August 70 und vor dem Ende aller Kriegshandlungen und Kriegsauswirkungen. Der Krieg hatte seinen Höhepunkt überschritten. Er galt als Vorspiel einer größeren Katastrophe. Im Vergleich zum MkEv sind die beiden anderen synoptischen Evangelien durch größere Distanz zum Krieg gekennzeichnet. An die Stelle der von außen bewirkten Herausforderungen treten bei ihnen verstärkt innere Probleme. Das sei zuerst am MtEv gezeigt.

81 82

So in P.Fouad Nr.8. Dazu H.SCHWIER, Faktoren 310ff.

Auch E.HAENCHEN, Weg Jesu, 435-460, bes.447, sieht in Mk 13 eine Auseinandersetzung mit dem Kaiserkult, deutet aber die konkreten Hinweise im Text allegorisch.

285

Aufschlußreich für das mt Geschichtsbild ist die mt Bearbeitung des Gleichnisses vom "Großen Abendmahl" (Mt 22,1-14). Nach der zweiten Aussendung der Knechte fügt der Evangelist eine Bemerkung über die Zerstörung Jerusalems ein: "Und der König erzürnte, sandte seine Heere, tötete jene Mörder und verbrannte ihre Stadt" (Mt 22,7). Auch wenn die Darstellung der Stadtzerstörung "topisch" ist - das meiste könnte man von jeder antiken Stadtzerstörung sagen83 - ,so ist ihre Einfügung in das Gleichnis durch keine literarische Tradition erklärbar: Kriege sind als Reaktion auf abgewiesene Einladungen untypisch und unrealistisch. Erst die (christliche) Deutung der Zerstörung Jerusalems als Strafe für die Abweisung der Botschaft macht diesen Zusammenhang plausibel. Für unsere Frage ist nun wichtig, daß die Einladung des "Königs" erst nach der Zerstörung der Stadt Erfolg hat - nicht bei den ursprünglichen Adressaten, sondern bei Zaungästen, die von überall geholt werden. Der Leser des MtEv muß dabei auch an die Heiden gedacht haben.84 Es muß für ihn plausibel gewesen sein, daß sich die Öffnung für die Heiden - die dritte Einladung an die "Zaungäste" - erst relativ spät (nach 70 n.Chr.) in der mt Gemeinde durchgesetzt hat, später als in anderen urchristlichen Gemeinden. Auch die daraus resultierenden Probleme dürften damals erst entstanden oder bewußt geworden sein. Die Gemeinde war zu einem corpus mixtum geworden. Denn die letzte Einladung hatte "Gute und Böse" angesprochen. Unter den neu Hinzugekommenen sind nicht alle würdig. Der Mt-Evangelist fügt deshalb die Episode von der Entfernung des Gastes ohne Hochzeitsgewand hinzu (22,11-14).85 Sie beleuchtet unmittelbare GegenZu den Bestreitern eines vaticinium ex eventu in Mt 22,7 gehören K.H.RENGSTORF: Die Stadt der Mörder (Mt 22,7), in: Judentum, Urchristentum, Kirche, FS J. JEREMIAS, BZNW 26 (1960) 106-129, der auf den topischen Charakter von Mt 22,7 (mit zahlreichen Belegen) hinweist. BO REICKE: Synoptic Prophecies on the Destruction of Jerusalem, in: Studies in New Testament and Early Christian Literature, FS A.P.WIKGREN, NT.S 33, Leiden 1972,121-134, argumentiert mit der Spannung zur Realität: Nero sandte die Heere gegen Jerusalem, der Sprung von Nero (in der historischen Realität) zu Gott (im Gleichnis) sei zu groß. Vgl. ferner S. PEDER SEN: Zum Problem der vaticinia ex eventu, StTh 19 (1965) 167-188. 84 L.SCHOTTROFF: Das Gleichnis vom großen Gastmahl in der Logjenquelle, EvTh 47 (1987) 192-211, hat m.E. überzeugend nachgewiesen, daß das ursprüngliche Gleichnis nicht am Gegensatz von Juden und Heiden oder Pharisäern und Sündern orientiert ist, sondern am Gegensatz von Reichen und Armen. Für die mt Redaktion ist die Deutung auf eine Öffnung für die Heiden jedoch wahrscheinlich. Daß es dafür keine Bildtradition gibt, die Arme und Bettler mit Heiden gleichsetzt, ist m.E. kein zwingendes Gegenargument: Wer wie der Mt-Evangelist in Mt 15,26f Heiden mit "Hunden" vergleichen kann, die sich vom Abfall ernähren, kann auch bei "Armen und Bettlern" an Heiden denken. oc

Dabei kann offen bleiben, ob der Mt-Evangelist diesen Zusatz selbst formuliert oder

286 wartsprobleme der Gemeinde. Auch wenn man Gleichnisse nicht als Darstellung der Gemeindegeschichte lesen darf, so suggeriert doch die mt Gestaltung des Gleichnisses vom "Großen Abendmahl'' sowohl einen größeren Abstand vom Jüdischen Krieg wie ein Hervortreten innerer Probleme in einer aus Juden- und Heidenchristen gemischten Gemeinschaft. Diese größere Distanz vom Jahre 70 n.Chr. kann man auch in einer winzigen Änderung im Winzergleichnis erkennen. Nachdem die Aussendung der Knechte und des Sohnes mit der Tötung des Sohnes geendet ist, folgt die Strafankündigung, daß der Besitzer des Weinbergs die Winzer töten und den Weinberg anderen geben wird. Über Mk hinaus fügt der Mt-Evangelist hinzu, daß die neuen Pächter des Weinbergs "die Früchte zu ihren Zeiten bringen werden" (Mt 21,41), und er wiederholt diese Bemerkung in 21,43. Während bei Mk nur die Wegnahme des Weinbergs im Blick ist, spricht Mt von seiner neuen Nutzung. Wer Früchte bringt, muß den Weinberg längere Zeit bearbeiten. Gewiß ist das ein Zug aus der "Bildhälfte" der Parabel. Er läßt sich nicht einfach in eine Aussage über die Gemeindegeschichte verwandeln. Wohl aber wäre die in sich stimmige Hinzufügung plausibel, wenn der Mt-Evangelist mit einer längeren Zeit seit "Übertragung" des Weinbergs an neue Pächter rechnet. 86 Eine größere Distanz vom Jüdischen Krieg ist auch in der mt Bearbeitung der apokalyptischen Rede zu spüren. Mk hatte seinen Abschnitt über die Zeit vor dem Ende so formuliert, daß die Kriegs- und Verfolgungszeiten (Mk 13,6-8. 9-12) als gleichzeitig gedacht werden konnten. Die "Königreiche" (13,8), die gegeneinander Krieg führen, haben etwas mit den "Königen" zu tun, von denen die Christen verhört und gerichtet werden (13,9). Mt aber verstärkt durch eine geringfügige Änderung den Eindruck einer zeitlichen Folge: Er setzt nach den Worten über die Kriege mit einem gliedernden τότε ein (Mt 24,9), das er in V. 10,14,16,23 und 30 z.T. in Übernahme mk Worte (so in V.16 und 23) wiederholt. Dies τότε schließt Gleichzeitigkeit nicht aus, weckt aber insgesamt den Eindruck eines zeitlichen Nacheinander (besonders in aufgrund einer selbständigen Gleichnistradition hinzugefügt hat (wie J. JEREMIAS: Die Gleichnisse Jesu, Göttingen 7 1965, 62f, meint). Die Scheidung von Guten und Bösen ist für Mt typisch (Mt 23,24-30.36-43.47-50) und bringt in jedem Fall einen ihm wichtigen Gedanken zum Ausdruck. Daß die Erweiterung inhaltlich zur vorhergehenden Parabel nicht paßt wie sollten unverhofft eingeladene Gäste für ein sauberes Festtagsgewand sorgen können? -, stört den Evangelisten nicht, da er das Gleichnis von vornherein allegorisch versteht. Das eigentliche Interesse des MtEv ist hier paränetisch. So wie den Führern Israels der Weinberg genommen wird, kann auch der christlichen Gemeinde der Weinberg genommen werden, wenn sie keine Früchte bringt. Vgl. H.WEDER: Die Gleichnisse Jesu als Metaphern, FRLANT 120, Göttingen 1978,160f.

86

287

24,14).87 Entscheidend ist die innere Distanz der Gegenwart vom Krieg. Mt hat die mk Schilderung der Gegenwart d.h. der Zeit zwischen Jüdischem Krieg (Mk 13,6-8 Mt 24,6-8) und dem erwarteten "Greuel der Verwüstung" (Mt 24,15ff) - dadurch bearbeitet, daß er die Verfolgungslogien (Mk 13,9-13) in die Aussendungsrede an Israel aufnahm (vgl. Mt 10,17-22) und in der apokalyptischen Rede die konkreten Instanzen der Verfolgung nicht mehr nennt, so daß jetzt Christen in der ganzen Welt gemeint sind.88 Daher betont Mt, daß die Christen "von allen Völkern" gehaßt werden. Der Konflikt mit der Umwelt bleibt. Gleichzeitig aber legt Mt einen größeren Akzent auf innere Schwierigkeiten. So wird der apokalyptische Topos vom Familienzerfall (Mk 13,12) bei ihm zur Ankündigung des Gemeindezerfalls.89 Christen werden sich gegenseitig ausliefern. Der "Haß" von außen führt im Innern dazu, daß sich die Christen gegenseitig "hassen" (24,10). Eine so gespaltene Gemeinschaft ist verführbar. Mt spricht von vielen Pseudopropheten. Sie gehören für ihn zur Gemeinde, wie Mt 7,21-23 zeigt. Durch ihr Wirken wird die "Gesetzlosigkeit" zunehmen (vgl. Mt 7,23) und die Liebe vieler erkalten. Gewiß kennt auch Mt den Druck von außen. Aber was die Gemeinde gefährdet, ist vor allem der innere Zerfall: der gegenseitige Haß und das Erkalten der Liebe. Ausharren bis ans Ende meint daher bei ihm nicht nur Ausharren in äußeren Verfolgungen, sondern Unbeirrbarkeit trotz Irrlehrer in der Gemeinde. 90 Zu den bisher gemachten Beobachtungen passen einige neue Akzente in der Zukunftserwartung des MtEv. Während die Logienquelle den Einbruch des Menschensohns in eine friedliche Welt erwartet, in der jeder seinem Alltagsgeschäft nachgeht und das MkEv die Parusie als Rettung aus einer friedlosen Welt ersehnte, verbindet das MtEv beide Zukunftsbilder, indem es ab Mt 24,15ff die Endzeitrede des MkEv mit apokalyptischen Worten der Logien87

Ν A.DAHL, Matteusevangeliet, 286, meint, in Mt 24,9-14 würden nicht Verfolgungen und Nöte nach den vorhergeschilderten Wehen angekündigt, sondern während dieser Wehen. Jedoch sind die jetzt angekündigten Nöte gegenüber dem (jüdischen) Krieg in 24,6-8 neu: Neu ist 1. die ökumenische Weite der Verfolgungen und 2. die in der Gemeinde selbst liegende Ursache der Krise. J.WELLHAUSEN, Mt 118, sagt mit Recht: "Die Grenze scheint in 24,9-14 über die Zerstörung Jerusalems tatsächlich schon hinausgerückt zu sein." 88

·

·

Mt weitet die Situation über Palästina hinaus aus, indem er am Beginn und Schluß des Abschnittes betont von "allen Völkern" spricht (vgl. 24,9.14). Vgl. J.WELLHAUSEN, Mt 118; W.GRUND MANN: Das Evangelium nach Matthäus, ThHK 1, Berlin 1968, 502. 89 So E.SCHWEIZER, Mt, 294: "die eigentliche Bedrängnis ist eine innergemeindliche." 90

So E.SCHWEIZER, Mt, 295.

288

quelle erweitert (vgl. Mt 24,26-28. 37-41). Das Ergebnis ist nicht widerspruchsfrei: Das Ende kommt nach einer schrecklichen Drangsal (Mt 24,15ff)91 und ist zugleich Einbruch in eine friedliche Welt (24,37ff). Worauf es Mt ankommt, bringt er in den großen Endzeitgleichnissen zum Ausdruck, die er der synoptischen Apokalypse anfügt. Mag sich die Ankunft des Herrn auch verzögern (24,48), so gilt es um so mehr, jederzeit auf sein Kommen vorbereitet zu sein. Gefordert ist ständige Wachsamkeit (25,1-13), Nutzung der anvertrauten Gaben (25,14-30) und Hilfeleistung gegenüber jedem Bruder (25,31-46). Das Weltende ist für Mt weniger Rettung aus verzweifelter Situation als Weltgericht, das zum ethischen Tun motiviert. Die größere Distanz zur Kriegs- und Krisensituation führt bei ihm dazu, daß das Thema der ethischen Bewältigung des Lebens wieder in den Vordergrund tritt. Die Aufnahme der Logienquelle ist daher mit seiner geschichtlichen Situation eng verbunden: So wie die Logienquelle ein selbstbewußtes Ethos nach überstandener Versuchung formuliert - so auch der Mt-Evangelist: Überstanden ist der Jüdische Krieg. Die Gemeinde ist noch einmal der vernichtenden Kriegsmaschinerie entronnen, so wie Jesus dem Morden des Herodes entronnen ist. Jetzt steht sie vor der großen Aufgabe, in "normalen" Friedenszeiten ihr Leben nach Jesu Weisung zu gestalten. Bei Lk können wir ähnliche Beobachtungen wie bei Mt machen. Er reflektiert intensiv über den Jüdischen Krieg. Mehr als alle anderen Evangelisten bringt er menschliche Betroffenheit über das Leiden der jüdischen Bevölkerung zum Ausdruck. Jesus weint angesichts der von ihm vorausgesehenen Zerstörung Jerusalems (19,41-44), und er fordert die Frauen Jerusalems auf, nicht über ihn, sondern über ihr Geschick und das Geschick ihrer Kinder zu klagen (23,28): Die Zeiten werden so schrecklich sein, daß man die Kinderlosen glücklich preisen wird (23,29), während man den Schwangeren und Säugenden ein "Wehe" zurufen muß (21,23), weil sie am härtesten vom Krieg betroffen wurden. Obwohl Lk die Deutung teilt, daß die Zerstörung Jerusalems eine "Strafe" ist - die Belagerungszeit ist eine Zeit "der Rache" (21,22) -, ist für ihn die positive Seite dieses Gedankens wichtiger: Die Katastrophe war nicht notwendig. Hätte das Volk Jesu Botschaft angenommen, so wäre dieser Krieg vermieden worden. In diesem Sinne ist 19,42 zu verstehen: "Wenn doch auch du an diesem Tage erkennen würdest, was dir zum Frieden dient. Jetzt 91

J.WELLHAUSEN, Mt, 118, meint, Mt meine mit dem "Greuel der Verwüstung" die schon geschehene Zerstörung Jerusalems. Daß ab Mt 24,15ff jedoch von echter Zukunft die Rede ist, geht daraus hervor: 1. daß schon V.14 in die Zukunft weist. Die weltweite Verkündigung des Evangeliums ist noch nicht beendet. Nach ihr kommt "das Ende" (V.14). 2. Die Bitte, die Flucht möge nicht am "Sabbat" geschehen - so nur Mt - setzt voraus, daß es sich um ein kurzes Geschehen an einem einzigen Tag handelt. Beim Rückblick auf ein historisches Ereignis würde man von einer längeren Flucht sprechen.

289 aber ist es verborgen vor deinen Augen Die Verheißung an das jüdische Volk gilt nach wie vor. Jesus ist zum zukünftigen "Sohn Davids" bestimmt, der die Hoffnungen seines Volkes erfüllen wird (Lk l,32f). Wir können bei Lk noch keine "innere" Distanz zum Krieg feststellen, wohl aber finden wir bei ihm das Bemühen um innere Distanzierung von den Erschütterungen, die der Krieg ausgelöst hat. Das geht am deutlichsten aus der lk Bearbeitung der synoptischen Apokalypse hervor.92 Die entscheidende Änderung ist, daß Lk die bei Mk als zukünftig erwartete "große Drangsal" auf den Jüdischen Krieg bezieht und somit "historisiert". Dadurch erhält der traditionelle Aufbau der Apokalypse eine neue Struktur:

Die synoptische Apokalypse nach mk Verständnis

nach lk Verständnis

13,5-8: Jüdischer Krieg als "Anfang der Wehen"

21,8-9: Warnung vor der eschatologischen Deutung von Kriegen 21,10-11: Ankündigung des Jüdischen Kriegs

13,9-13: Verfolgungszeit in und nach dem Jüd. Krieg als Gegenwart

21,12-19: Verfolgungszeit vor dem Jüdischen Krieg als Vergangenheit

13,14-23: Entweihung des Tempels als Befürchtung für die Zukunft

21,20-24: Zerstörung Jerusalems als Faktum. Die "Zeiten der Heiden" als Gegenwart

13,24-27: Parusie des Menschensohns

21,25-28: Parusie des Menschensohns

Durch die "historisierende" Deutung der großen Drangsal in Lk 21,20-24 wird bei Lk die zeitliche Reihenfolge der Ereignisse im Text gestört: Die Einleitung (V.8-11) wird zum Vorgriff auf eine spätere Zeit. Der folgende Ab92

Die lk Endzeitrede ist schon oft analysiert worden. Die klassische redaktionsgeschichtliche Deutung stammt von H.CONZELMANN, Mitte der Zeit, 116-124. Von neueren Untersuchungen seien nur die beiden Monographien von J. ZMIJEWSKI: Die Eschatologiereden des Lukas-Evangeliums, BBB 40, Bonn 1972, 43-325 (vgl. ders.: Die Eschatologiereden Lk 21 und 17, BiLe 14 (1973) 30-40) und R.GEIGER: Die lukanischen Endzeitreden, Bern 1973,149-258, genannt.

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schnitt wird deshalb durch προ δέ τούτων πάντων den in V.8ff geschilderten Ereignissen zeitlich vorgeordnet. Die in V.12-19 geschilderten Verfolgungen sind noch vor dem Jüdischen Krieg geschehen und aus der Sicht des Lk Vergangenheit.93 Deshalb steht am Ende dieses Abschnitts nicht die Verheißung: "Wer ausharrt bis ans Ende, wird gerettet werden" (Mk 13,13). Denn auf die Verfolgungen folgt nicht das "Ende", sondern die Zerstörung Jerusalems als weiteres innergeschichtliches Ereignis. Wenn diese Deutung richtig ist, müßten redaktionelle Änderungen in Lk 21,8-9 (10-11?) und 20-24 im Blick auf den Jüdischen Krieg erfolgt sein. Wir gehen die einzelnen Änderungen durch. Lk prophezeit in 21,9 neben Kriegen auch ακαταστασίας, was so viel wie "Aufstände, Anarchie" bedeutet. Damit wird er der Tatsache gerecht, daß der Jüdische Krieg in eine Zeit von Bürgerkriegen fiel. Zum ersten Mal seit 100 Jahren hatten die politischen Institutionen des Prinzipats versagt, die bisher den inneren Frieden gewährleistet hatten. Diese "Unruhen" waren im ganzen Römischen Reich spürbar. Lk nennt damit Geschehnisse, die für seine Gemeinde möglicherweise näher waren als der Jüdische Krieg.94 Die darauf folgenden Nöte werden durch eine neue Redeeinleitung ("Dann sagte er ihnen ") vom Vorhergehenden getrennt. Sie sind gegenüber der Mk-Vorlage gesteigert: Zu den regionalen Erdbeben kommen "große Erdbeben", zu Hungernöten "Seuchen", zu irdischen Katastrophen "grausige Dinge und große Zeichen vom Himmel" Sind mit all dem die unmittelbar dem Ende vorhergehenden Zeichen gemeint, die für Lk noch zukünftig sind? Die "großen Zeichen vom Himmel" (V.ll) wären dann mit den "Zeichen an Sonne und Mond und Sternen" identisch, die Lk als Einleitung der Parusie in 21,25 nennt. 95 Es ist auch eine andere Deutung möglich. Lk warnt zunächst vor einer 93

Lk hat über diese Verfolgungen in der Apg gerichtet. Zwischen Lk 21,12-19 und der Apg besonders dem Martyrium des Stephanus gibt es einige Beziehungen, vgl. J.ZMIJEWSKI, Eschatologiereden, 166f, 177. 94

So H.HOLTZMANN: Das Evangelium nach Lucas, Hand-Commentar zum NT I, Tübingen/Leipzig 31901, z.St. denkt an die "raschen Thronwechsel der Jahre 68-70" G.HARDER: Das eschatologische Geschichtsbild der sogenannten kleinen Apokalypse Markus 13, ThViat 4 (1952) 71-107, S.76 sieht hier dagegen "eine deutliche Anspielung auf den jüdischen Aufstand" Der Plural könnte darauf hindeuten, daß Lk mehrere Unruhen im Blick hatte - also die gesamte Situation im römischen Reich zur Zeit des jüdischen Kriegs, der Bürgerkriege und des Bataveraufstands. 95

So G.SCHNEIDER: Das Evangelium nach Lukas, ÖTK 3,2, Gütersloh/Würzburg 1977, 417: Lukas unterscheide 21,10f als Endereignisse von allen vorhergehenden zeitgeschichtlichen Geschehnissen.

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eschatologischen Deutung der Kriege (V.8-9) und kündigt dann diese Kriege mit Begleitumständen an, die eine eschatologische Deutung zwar nahe legen, aber nicht eschatologisch gedeutet werden sollen. Denn auch sie sind "nicht sofort das Ende" Die Steigerung der Nöte gegenüber dem Mk-Text in V.10.11 wäre dann von der Absicht bestimmt, auch ganz ungewöhnliche Zeichen einer eschatologischen Deutung zu entziehen. Lassen sich solche Zeichen mit dem Jüdischen Krieg verbinden? Denn an ihn denkt Lk in V.89 96 1) Da für die Zeit von 66-74 n.Chr. keine "großen Erdbeben" bezeugt sind, müßte Lk Erdbeben in zeitlicher Nähe zum Jüdischen Krieg mit diesem "synchronisiert" haben: 62/3 traf das erste Erdbeben Pompeji (Tac.ann 15,22,2), 79 gingen Pompeji und Herculaneum beim Ausbruch des Vesuvs unter (Plin.d.J. ep.6,16; Dio Cass 66,21, Iff). 77 wurde Korinth durch Erdbeben zerstört (Malal. 261). Im selben Jahr wurden mehrere Städte auf Zypern durch Erdbeben getroffen (Oros.7,9,11 Or.Sib 4,128f). An solche Katastrophen kann Lk gedacht haben. Auch die Sibyllischen Orakel verbinden die Zerstörung Jerusalems, das Erdbeben auf Zypern und den Ausbruch des Vesuvs (Or.Sib 4,115-144). Und Lk 21,10ff enthält nicht die Behauptung, die Kriege und Erdbeben seien absolut gleichzeitig. 97 2) Hungersnöte sind belegbar: Die in Jerusalem Eingeschlossenen litten entsetzlich unter Nahrungsmangel (bell 5,424ff. 512ff; 6, Iff). Es wurden Fälle von Kannibalismus bekannt (bell 6,193-213). In dem Fragment des Sulpicius Severus über die Zerstörung Jerusalems (Chron. 11,30,3) gelten Hungersnot und Kannibalismus als charakteristisch für die Belagerung Jerusalems, ebenso Krankheit als Folge der Hungersnot. Schwerer nachzuweisen sind die bei Lk genannten "Seuchen" Immerhin sei auf eine "Pest, wie sie mit dieser Heftigkeit noch nie aufgetreten ist" unter Titus (79-81 n.Chr.) hingewiesen (Suet.Titus 8). 3) "Schreckliche Dinge und große Zeichen vom Himmel" (Lk 21,11) sind ebenfalls für die Zeit des Jüdischen Kriegs belegt. In der "Propagandaschlacht" um Jerusalem hatten Erzählungen von himmlischen Erscheinungen eine große Rolle gespielt: "Man sah, wie am Himmel Heere 96

Daß Lk an den jüdischen Krieg denkt, meint A.SCHLATTER: Das Evangelium des Lukas, Stuttgart 2 1960, 412ff; W.MARXSEN, Markus, 131; J.ZMIJEWSKI, Eschatologiereden, 122-125. Er bringt zwei Argumente: 1. Lk meidet in der Regel Dubletten. Die Zeichen von V . l l und V.25 hat er daher kaum auf dasselbe Ereignis bezogen, da er sonst diese "Dublette" leicht hätte vermeiden können. 2. Lk streiche die mk Wertung der Zeichen als "Anfang der Wehen" und bestreite so (indirekt) deren endzeitlichen Charakter. 97

Man könnte sogar aus Lk 21,10f eine Folge von politischer und kosmischer Auflösung sehen, in der sich "das Ende allmählich anmeldet", so H.CONZELMANN, Mitte, 109f.

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zusammenstießen, Waffen funkelten, sah den Tempel aufleuchten vom plötzlichen Feuerschein der Wolken. Auf einmal sprangen die Pforten des Heiligtums auf, und es erscholl übermenschlich laut der Ruf, die Götter zögen aus. Zugleich vernahm man ein gewaltiges Getöse wie von einem Auszug." (Tac.hist V, 13,1; vgl. bell 6,288ff). Überhaupt erzählte man sich in dieser unruhigen Zeit viel von derartigen Zeichen: "Abgesehen von den vielfältigen Wechselfällen in der Menschenwelt gab es Wunderzeichen (prodigia) am Himmel und auf Erden, Warnungen durch Blitzschläge, zukunftkündende Andeutungen von froher und trauriger, zweifelhafter und handgreiflich deutlicher Art." (Tac.hist 1,3,2). Wahrscheinlich hat Lk in 21,10-11 eine für die Zeit des Jüdischen Kriegs und die 70er Jahre charakteristische Verbindung von politischen und "kosmischen" Katastrophen vor Augen. Er trifft jene dunkle apokalyptische Stimmung, die selbst bei Tacitus in seiner Beschreibung der Zeit (hist I, l,2f) noch zu spüren ist. Es kommt daher auch nicht darauf an, jede der genannten Krisenphänomene historisch nachzuweisen. Denn Lk setzt sich nicht mit den Ereignissen selbst sondern mit dem Bild von ihnen auseinander. In Lk 21,20-24 schildert Lk dann unverkennbar Belagerung und Fall Jerusalems.98 Gewiß tut er es mit den Farben des Alten Testaments. Aber selbst wenn er eine unabhängige Tradition wiedergäbe", so hat er sie doch bewußt an die Stelle von Mk 13,14ff gesetzt, und es müßte erklärt werden, warum sich die meisten Abweichungen vom Mk-Text als Anpassungen an die realen Ereignisse (bzw. ein plausibles Bild von ihnen) erklären lassen. So können wir aus Lk 21,20 erschließen, daß Jerusalem von mehreren Legionen umzingelt war. In drei Lagern auf dem Ölberg, beim Hippikusturm (im Westen) und Psephinusturm (im Nordwesten) umlagerten 6 Legionen und Hilfstruppen die Stadt (bell 5,130-135). Da eine direkte Eroberung mißlang, beschloß man eine circumvallatio (bell 5,491-511), auf die in Lk 19,43f Bezug genommen 98

Diese Deutung wird nur selten bestritten. So von F.FLÜCKIGER: Luk 21,20-24 und die Zerstörung Jerusalems, ThZ 28 (1972) 385-390. Er sieht in Lk 21,20-24 eine Neuinterpretation von Mk 13,14-18 aufgrund alttestamentlicher Prophetenworte. Vgl. die pointierte Formulierung von C.H.DODD: The Fall of Jerusalem and the Abomination of Desolation", JRS 37 (1947) 47-54 = ders.: More New Testament Studies, Manchester 1968, 69-83, dort S.79: "So far as any historical event has coloured the picture, it is not Titus's capture of Jerusalem in A.D. 70, but Nebuchadrezzar's capture in 586 B.C. There is no single trait of the forecast which cannot be documented directly out of the Old Testament." 99

Häufig versucht man, neben Mk eine weitere Vorlage für Lk 21 zu rekonstruieren, vgl. V.TAYLOR: Behind the Third Gospel, Oxford 1926, lOlff. Eine Einwirkung unabhängiger Tradition nimmt auch E.SCHWEIZER, Lk 207-211, an. In der Regel werden die Abweichungen des Lk vom Mk-Text jedoch redaktionsgeschichtlich erklärt.

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wird. Sie ist keineswegs so selbstveständlich, daß Lk sie ohne konkrete Kenntnisse hätte prophezeien können. 100 Seit Beginn des Krieges waren Menschen aus Judäa geflohen (bell 2,556). Noch die in Jerusalem Eingeschlossenen versuchten zu den Römern überzulaufen (bell 5,420ff. 446ff. 548ff). Wir hören von einer Flucht der Menschen in Jericho ins Bergland (bell 4,451).101 Die meisten aber flohen nach Jerusalem (bell 4,106ff. 138ff). Sie bildeten dort wie die Galiläer um Johannes von Gischala oder die Idumäer Parteien, die sich oft blutig befehdeten. All diese Fluchtbewegungen stehen im Hintergrund von Lk 21,21. Lk weiß von der Verwüstung Jerusalems (21,20): Titus hatte befohlen, "die gesamte Stadt und den Tempel zu schleifen" (bell 7,1). Viele Juden kamen im Krieg um, viele wurden als Sklaven verkauft (Lk 21,24). Wenn die hier vorgelegte Deutung von Lk 21,8-11 und 20-24 richtig ist, können wir aus dem LkEv wichtige Einblicke in das urchristliche Erleben des Jüdischen Krieges gewinnen. Lk warnt im Zusammenhang mit diesem Krieg vor eschatologischen Erwartungen. Der mk Warnung vor Irrlehrern, die mit dem Anspruch έγώ ειμί. auftreten, fügt er zwei Aussagen hinzu: 1. Sie verkünden das nahe Ende: "Die Zeit ist nahe herbeigekommen" und 2. sie verführen die Gemeinde dazu, "hinter ihnen herzulaufen" (Lk 21,8). Danach folgt die Aussage, daß mit dem jüdischen Krieg noch "nicht sofort das Ende" kommt (21,9). Dessen Bewertung als "Anfang der Wehen" läßt Lk weg. Die nächstliegende Deutung ist: Lk weiß noch, daß der Jüdische Krieg einst eschatologische Erwartungen in der christlichen Gemeinde geweckt hatte. Es war die Hoffnung, daß Jesus "das Reich Israels wieder herstellen" (Apg 1,6) und "Israel erlösen werde" (Lk 24,21). Wahrscheinlich hat man schon zum Himmel geschaut, um Jesus von dorther kommen zu sehen. Deswegen fragen die Engel nach der Himmelfahrt: "Ihr galiläischen Männer, was steht ihr da und blickt zum Himmel auf?" (Apg 1,11). Aber erst wenn der Menschensohn mit unübersehbaren kosmischen Zeichen kommt, gilt die Aufforderung zurecht: 100

Das meint F.FLÜCKIGER, Luk 21,20-24: "Jede befestigte Stadt wurde damals, ehe ein Feind sie zerstören konnte, eingeschlossen und belagert. Lukas hätte also, ohne Prophet zu sein, dasseslbe auch für Jerusalem voraussetzen können" (S.387). Aber sowohl der Legat Cestius Gallus (66 n.Chr.) wie Titus (70 n.Chr.) versuchen, Jerusalem zunächst einmal ohne circumvallatio zu erobern. Auch die Eroberungen Corbulos in Armenien geschahen handstreichartig, ohne lange Einschließung und Belagerung (Tac.ann. 13,39). Jedoch ist richtig, daß die circumvallatio in der römischen Belagerungskunst die Regel war - so bei Carthago (146 v.Chr.), Numantia (133 v.Chr.), Alesia (52 v.Chr.) und in Masada (73/4 n.Chr.). 101 Für eine allegorische Deutung dieser Flucht als Aufforderung zur "Absetzung vom Judentum" und zur "Hinwendung zum Heidentum", wie sie J.ZMIJEWSKI, Eschatologiereden, 211, vorschlägt, spricht m.E. nichts.

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"Hebet eure Häupter empor; denn eure Erlösung naht" (21,28). Möglicherweise sind einige Christen mit den "Verführern" dem wiederkommenden Herrn entgegengezogen. So könnte man die spezifisch lk Warnung verstehen: "Zieht nicht hinter ihnen her" (Lk 21,8), "geht nicht weg und folgt ihnen nicht" (Lk 17,23; anders Mt 24,26). Lk bemüht sich wahrscheinlich um Distanzierung gegenüber einer infolge des Krieges intensivierten eschatologischen Erwartung. Es war nicht die "sich dehnende Zeit", die Lk zur Korrektur einer unmittelbaren Naherwartung führte 102 , sondern eine akut aufgeflammte Naherwartung, die sich als Irrtum erwiesen hatte. Lk gibt die Naherwartung nicht völlig auf. Er rechnet weiterhin mit dem jederzeit möglichen Ende. Aber er erwartet das Kommen des Endes nicht mehr als Endpunkt eines Krieges. Der Krieg ist für Lk vorbei. Jetzt sind die "Zeiten der Heiden" (Lk 21,24). Wie in der Logienquelle ( = Lk 17,22-37) wird der Menschensohn unvermutet in diese friedliche Zeit einbrechen, ohne daß man sein Kommen vorherwissen kann. Die Überarbeitung der apokalyptischen Rede des MkEv erfolgt bei Lk somit im Lichte der vorhergehenden "Endzeitrede" der Logienquelle, die in Friedenszeiten besser urchristliche Zukunftserwartung festhalten kann als die durch eine Krisen- und Kriegssituation geprägte mk Apokalypse. Nach der hier vorgetragenen Sicht kann das LkEv nicht lange nach dem Jüdischen Krieg geschrieben sein.103 Der Verfasser reiht sich selbst in die dritte Generation nach Jesus ein (Lk 1,1-3). Er muß noch Menschen kennen, die am Geschick Jerusalems lebhaft Anteil genommen haben. Möglicherweise hat er selbst den (noch nicht zerstörten) Tempel besucht. So ließen sich seine überraschend guten Kenntnisse des Tempelplatzes erklären.104 Zumindest muß er Kontakt mit Menschen gehabt haben, die den Tempel noch gesehen hatten. Er schreibt etwa gleichzeitig mit dem MtEv in den 80/90er Jahren. Wir können jetzt unsere Überlegungen zur Situation und Datierung der synoptischen Evangelien zusammenfassen: Die Logienquelle ist im Bewußtsein der überstandenen Caligulakrise - irgendwann zwischen 40 und 55 n.Chr. geschrieben worden. Ihre Entstehungssituation spiegelt sich in ihrer Struktur: Am Anfang wird eine satanische Versuchung überwunden und auf dieser Grundlage eine selbstbewußte Ethik verkündet. Das MkEv wurde dagegen in Erwartung einer drohenden Katastrophe ca. 70/74 verfaßt. In ihm steht die eigentliche Versuchung Jesu am Ende: In Gethsemane erleidet der Gottes102

So die klassische These von H.CONZELMANN, Mitte, 5f 80ff 112f u.ö.

103

Vgl. die Diskussion bei H.CONZELMANN: Der geschichtliche Ort der lukanischen Schriften im Urchristentum (1966), in G.BRAUMANN (ed.) Das Lukas-Evangelium, WdF 280, Darmstadt 1974, 236-260. 104

M.HENGEL, Lukas, 147ff.

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söhn seine Krise. Wie er gehen auch die Leser auf die entscheidende Bewährung zu. Mt und Lk verbinden beide Ansätze. Ihre Situation hat sich der Entstehungssituation der Logienquelle wieder angenähert. Sie brauchen diese Sammlung von Jesusworten für ihre Neufassung des MkEv. Aktive Lebensgestaltung gewinnt für sie wieder eine höhere Bedeutung neben der Bewältigung von Konflikt und Leid. Daher wird nicht nur das "Ende" Jesu dargestellt, sondern das ganze Leben - von Geburt bis zum Kreuz. Der Weg zum Kreuz ist lang. Er ist bei Lk voll von ethischen Mahnungen. Der "Reisebericht" umfaßt die größten Teile der Stoffe aus der Logienquelle. Mt baut dagegen die ethischen Mahnungen der Logienquelle in fünf großen Reden in sein Evangelium ein. Sie werden zum entscheidenden Inhalt seiner Verkündigung. Hier erfährt der Leser das, was allen Völkern bis ans Ende der Welt gelehrt werden soll.

C. Gemeinde-, Jünger- und Volksüberlieferungen in den Evangelien und die Frage nach ihrem "Sitz im Leben" Das MkEv enthält Überlieferungen mit verschiedenem Sitz im Leben. Rückschlüsse auf den Sitz im Leben des MkEv selbst erlauben nur jene Überlieferungen, die für das ganze Evangelium strukturbildend sind. Kernpunkt der mk Komposition sind die beiden "großen Einheiten": synoptische Apokalypse (Mk 13) und Passionsgeschichte (Mk 14-16). Ihre Verbindung läßt die Intention des MkEv erkennen: Die den Jüngern vorausgesagten Verfolgungen haben ihr Urbild in der Geschichte Jesu. Seine Passion ist Verhaltensmodell für die mk Gemeinde. 105 So wie sie von jüdischen und heidnischen Instanzen unter Druck gesetzt wird, wurde auch Jesus von beiden verworfen (vgl. Mk 13,9 mit 14,55ff). So wie sie auf kunstvolle Verteidigung verzichten soll, verzichtete auch Jesus auf jede Verteidigung und beschränkte sich auf das Bekenntnis zu seiner Hoheit (vgl. Mk 13,11 mit 14,62f). So wie ihre Mitglieder von ihren nächsten Verwandten verraten werden, wurde auch Jesus von seinen Jüngern verraten, verlassen und verleugnet (vgl. Mk 13,12 mit 14,43ff). Durch Kombination zweier ursprünglich selbständiger Traditionen wird die Passionsgeschichte als "Konfliktparänese" gelesen im Lichte eines allen Jüngern drohenden Konfliktes mit ihrer Umwelt. Damit wird der Passionsgeschichte kein fremder Sinn gegeben. Im Gegenteil: Von Anfang an haben die Erzähler in der Geschichte vom Leiden Jesu ihr eigenes Geschick wiedererkannt. Die Passionsgeschichte teilt dem ganzen MkEv ihre Intention mit. Für die Frage

105

Vgl. den Titel des Buches von D . D O R M E Y E R : Die Passion Jesu als Verhaltensmodell, Münster 1974.

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nach dem "Sitz im Leben" des MkEv ist dabei entscheidend: Die beiden strukturbildenden "großen Einheiten", Apokalypse und Passionsgeschichte, stammen aus Ortsgemeinden und wenden sich an Ortsgemeinden. Gemeindeüberlieferungen prägen das MkEv. Die Annahme liegt nahe, dies Evangelium sei auch als Ganzes eine Niederschrift von Jesustraditionen für Ortsgemeinden, in dem Jünger- und Volkstraditionen aufgenommen und für die Gemeinde neu bearbeitet wurden. Diese Bearbeitung geschieht u.a. mit Hilfe der Geheimnismotive, durch die das MkEv trotz aller Verschiedenheit der in ihm aufgenommenen Einzeltraditionen106 eine kompositorische Einheit erhält. Die Geheimnismotive sind dabei so wenig einheitlich wie die verschiedenen Traditionen. Sie lassen sich· in drei Grundmotiven zusammenfassen107: 1. Das Wundergeheimnis: Jesus versucht ohne Erfolg das Bekanntwerden seiner Wunder zu verhindern.108 Auch das "Ortsgeheimnis" gehört oft in diesen Zusammenhang: Jesus möchte verborgen bleiben, um nicht die wundersuchende Menge anzuziehen (Mk 1,45; 7,24; 9,30?). 2. Die Geheimlehren, die den geheimen Sinn der Worte Jesu für die Jünger enthüllen: Die "Parabeltheorie" ist nur die erste dieser Geheimlehren. Sie gibt ihnen eine grundsätzliche Rechtfertigung. 3. Das Persongeheimnis: Jesu Würde bleibt unbekannt. Die Jünger erkennen sie erst durch das Messiasbekenntnis des Petrus. Aber erst der Hauptmann am Kreuz spricht das erste öffentliche (und noch unvollkommene) Bekenntnis zum "Sohn Gottes" Das Motiv des Jüngerunverständnisses gehört in diesen Zusammenhang. ad 1) Das Wundergeheimnis dient im MkEv zur Integration von Volksüber106

Diese Einzeltraditionen lagen wahrscheinlich hin und wieder als kleine Sammlungen vor, auch wenn es sehr schwer ist, dies im einzelnen nachzuweisen. Vgl. dazu vor allem die Überlegungen von H.W.KUHN: Ältere Sammlungen im Markusevangelium, StUNT 8, Göttingen 1971. 107 W.WREDE: Das Messiasgeheimnis in den Evangelien, Göttingen 1901 4 1969, unterschied vor allem drei Komplexe: Die Schweigegebote, das Jüngerunverständnis und die Parabeltheorie. Er erkannte als erster ihre Zusammengehörigkeit, faßte diese Motive jedoch noch nicht redaktionsgeschichtlich als Ausdruck der Theologie des MkEvangelisten auf, sondern als vormk Tradition. 108

Die Unterscheidung von Wunder- und Persongeheimnis geht auf U.LUZ: Das Geheimnismotiv und die markinische Christologie, ZNW 56 (1965) 9-30, zurück. Wenn man die drei Grundmotive der "Geheimnistheorie" vergleicht, so unterscheiden sie sich durch den Zeitpunkt der Enthüllung des Geheimnisses: Das Wundergeheimnis wird unmittelbar übertreten, das Persongeheimnis erst in der Pasison enthüllt, die Geheimlehren bleiben geheim: Erst die nachösterliche Gemeinde erfährt von diesen Lehren m.E. ein Zeichen dafür, daß sie in die Gegenwart weisen.

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lieferungen über Jesus. Zu ihnen gehören einige Wundergeschichten und die Hoflegende vom Tod des Täufers. Der Evangelist steht solchen Volksüberlieferungen mit Sympathie gegenüber. Sie sind ihm ein Zeichen für die Unaufhaltsamkeit, mit der sich die christliche Botschaft ausbreiten wird, und dokumentieren die Vollmacht, mit der die "neue Lehre" gelehrt wird (Mk 1,27). Aber der Evangelist hat gespürt, daß das im Volk vorhandene Bild von Jesus einseitig war. In ihm ist Jesus der erfolgreiche Wundertäter. Er beseitigt das Leid. Aber er führt nicht ins Leid hinein. Nur die Anhänger Jesu, die seinetwillen in Bedrängnis geraten, wissen davon. Wahrscheinlich will der Evangelist durch das Geheimnismotiv eine gewisse Korrektur anbringen - so sehen es die meisten Exegeten.109 Jedoch darf man nicht falsche Gegensätze aufbauen: Auch die Geschichte vom Ende des Täufers gehört zu den Volksüberlieferungen. Das einfache Volk weiß, daß "Gerechte" und "Heilige" in Konflikt mit den Machthabern geraten können. Es macht sich keine Illusionen über die Willkürherrschaft der Mächtigen. Nach dem MkEv hat es Wundertaten und Passion freilich auf andere Weise verbunden als der Evangelist selbst: Die Wundertaten Jesu lassen das Gerücht entstehen, er sei der wiederauferstandene Täufer, deshalb wirkten Wunderkräfte durch ihn (Mk 6,14). Wunder werden als "Protest Gottes" gegen die Hinrichtung seines Propheten erlebt. ad 2) Während die Wundergeschichten rasche Verbreitung finden, stößt die Lehre Jesu auf taube Ohren: "Obwohl sie hören, hören sie doch nichts" (Mk 4,12). Jesus muß die Wortüberlieferung für die Jünger in geheimen Belehrungen interpretieren. Diese Belehrungen finden oft (nicht immer) "im Hause" statt. Damit könnte der Adressatenkreis solcher "Zusatzbelehrungen" angedeutet sein: die in Hausgemeinden existierenden Ortsgemeinden. Für sie muß die Lehre Jesu in der Tat neu interpretiert werden. Dieser Bezug zu Ortsgemeinden wird besonders in 9,33ff deutlich. Jesus reagiert dort auf den Rangstreit der Jünger. Er begnügt sich nicht mit dem Wort von der Umkehr aller Positionen, er illustriert es an einem Beispiel. Vorbildlich ist, wer ein Kind im Namen Gottes aufnimmt. Diese Liebestat kann kein Wandercharismatiker vollbringen, sondern nur, wer in einem Haus wohnt. Entsprechend kann man auch die anderen Geheimlehren interpretieren, die "im Haus" stattfinden: Das Problem der Speisegebote war für die Ortsgemeinden aktuell. Wandercharismatiker wie Petrus und Barnabas konnten sich je nach Si-

109

Die extremste Zuspitzung dieser These findet sich bei ThJ.WEEDEN: The heresy that necessitated Mark's Gospel, ZNW 59 (1969) 145-158 deutsch in: R. PESCH (ed.), Das Markus-Evangelium, 238-258: Markus bekämpfe eine Häresie, die sich auf den Wundertäter Jesu berufen habe.

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tuation verschieden verhalten (Gal 2, llff)· 110 Eine Ortsgemeinde mußte jedoch zu einer dauerhaften Lösung gelangen. Die Warnung vor allzu großem Vertrauen in die eigenen Wunderkräfte (Mk 9,28f) war zwar bei allen Christen angebracht, könnte aber Distanz zu Wandercharismatikern signalisieren: Exorzismen waren ja Sache wandernder Missionare (Mk 6,12). Ihr Versagen bei Heilungen war für sie keine Katastrophe. Konnten sie doch an einen anderen Ort ziehen und erklären, daß der Unglaube des Ortes die Entfaltung der Wunderkraft hindere (Mk 6,5). Ortsgemeinden mußten dagegen realistisch Erwartungen und Möglichkeiten aufeinander abstimmen. Im Anschluß an das Streitgespräch über die Ehescheidung werden in geheimer Lehre "im Haus" zwei Themen der Familie behandelt (Mk 10,10-16): Eine Tolerierung von Scheidungen bei gleichzeitigem Verbot einer neuen Eheschließung und die Fürsorgepflicht für Kinder. Die "Geheimlehren im Haus" bringen so zum Ausdruck, daß die Lehré Jesu interpretationsbedürftig ist - insbesondere für die Anliegen der im "Haus" lebenden Christen. Aber auch die beiden großen Geheimlehren im "Freien" haben Ortsgemeinden im Blick: Die Auslegung des Gleichnisses vom vierfachen Acker ist aus der Sicht der Empfänger des Wortes konzipiert, d.h. der Ortsgemeinden, denn nur in ihnen wird man Menschen finden, bei denen "der Betrug des Reichtums und die übrigen Sorgen" das Wort ersticken (Mk 4,19). Die synoptische Apokalypse wendet sich an Menschen, die ihrer normalen Arbeit nachgehen: Sie sollen alles stehen und liegen lassen, um zu fliehen (Mk 13,15f). Wenn die Schwangeren und Stillenden von der Drangsal besonders betroffen sind, so wird deutlich: Die Angesprochenen leben in "normalen" Familienverhältnissen. Die Zerstörung der Familie (Mk 13,12) ist für sie eine Katastrophe. ad 3) Das Persongeheimnis Jesu ist die Mitte des MkEv. Jesus will nicht, daß seine Würde öffentlich bekannt wird,von der am Anfang nur außermenschliche Gestalten wissen: Gott und Engel (1,11.13), Satan und Dämonen (1,13.34). Die Dämonen werden durch Schweigegebote zum Verstummen gebracht (1,25; 3,1 lf). Nach scharfer Trennung zwischen Jüngern und Volk (Kap.4) läßt Jesu jedoch das Bekenntnis eines Dämons zu (5,7), bei dem nur die Jünger Zeugen sind. Eigentlich müßten sie Jesus erkennen. Aber sie bleiben blind. Ihr Unverständnis wird wiederholt getadelt (6,52; 8,14ff), bis endlich Petrus zur Erkenntnis der Messianität Jesu gelangt (8,29) und schroff zurückgewiesen wird, weil er mit ihr "irdische" Gedanken verbindet. Das Unver110 Dieses Schwanken macht Paulus ihnen in Gal 2 , l l f f als "Heuchelei" zum Vorwurf völlig zu Unrecht, denn Paulus hat in dieser Frage selbst seine Meinung geändert: Plädiert er noch in Antiochien für eine konsequente Freiheit von traditionellen Speisegeboten, so setzt er in Korinth (vgl. IKor 8-10) seine ganze Beredsamkeit ein, damit sie mit veränderter Begründung um der Schwachen willen respektiert werden. Auch Paulus war ein Wandercharismatiker.

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ständnis der Jünger wandelt sich von nun an zum Mißverständnis: Die Jünger müssen lernen, daß Jesus kein "Messias" im irdischen Sinne ist, wie vom Synhedrium unterstellt (14,61) und im Prozeß vor Pilatus mit dem Titel "König der Juden" umschrieben wird (15,2ff). In Wirklichkeit ist er der leidende Menschensohn, der sich denen, die ihm im Leiden nachfolgen (8,31-38), als Sohn Gottes offenbaren wird (9,2ff). Öffentlich spricht Jesus von sich als Sohn Gottes zum ersten Mal in der Winzerparabel (Mk 12, Iff). Öffentlich bekennt er sich vor seinen Richtern zu seiner Würde (Mk 14,62). Öffentlich wird er als Sohn Gottes unter dem Kreuz anerkannt (Mk 15,39). Aber auch die öffentlichen Zeugnisse sind verhüllt: Die Winzerparabel spricht in der indirekten Form des Gleichnisses vom Sohn Gottes. Jesus bestätigt vor seinen Richtern die Frage nach seiner Messianität mit der Ankündigung des Menschensohns. Das Bekenntnis des Hauptmanns ist unbestimmt und im Imperfekt formuliert. An allen drei Stellen ist ein Zusammenhang mit der Hinrichtung Jesu unverkennbar: Erst im Leiden wird das Persongeheimnis offenbar und bleibt in der Erniedrigung von Folter und Tod um so tiefer verborgen. Von diesem Persongeheimnis her sind die anderen Geheimnismotive zu verstehen: Das Wundergeheimnis zeigt, daß Jesus erst dort authentisch erkannt wird, wo sein Weg bis zum Ende nachvollzogen wird. Die Geheimlehren unterstreichen, daß er in der Öffentlichkeit nicht recht verstanden wird, sondern nur von denen, die in seiner Nachfolge Prüfungen und Verfolgungen auf sich nehmen (vgl. Mk4,17; 13,9-13). Das Persongeheimnis hat zunächst eine Funktion im Blick auf die Außenbeziehungen der Gemeinde: Irdischer Messianismus hatte im Jüdischen Krieg in eine Katastrophe geführt. Die Rebellenführer Menahem und Simon waren wie Könige aufgetreten und wegen ihres Anspruchs getötet worden, der eine von konkurrierenden Rebellengruppen (bell 2,444), der andere im römischen Triumphzug (bell 7,154f). Nach dem Krieg war es für Juden und Christen eine Überlebensfrage, sich von solch einem Messianismus zu distanzieren. 111 Josephus tat es, indem er Teile der messianischen Utopie auf die römischen Kaiser übertrug, das MkEv, indem es die messianischen Erwartungen durch die Gestalt des Gekreuzigten umprägte. In ihm huldigt am Ende ein Vertreter des römischen Staates dem gekreuzigten "König der Juden" - ein direktes Gegenbild zur Realität, wo Juden den römischen Siegern huldigen mußten. Das Evangelium sagt damit: Dieser "Messias" ist gegen den Augenschein den mächtigen Römern überlegen. Sein "Evangelium" ist den ε υ α γ γ έ λ ι α der sich neu behauptenden Weltmacht entgegengesetzt: Jene "Evangelien" verkündig111

Die oben vorgetragene Situationsanalyse des MkEv setzt den von L.SCHOTTROFF in "Die Gegenwart in der Apokalyptik der synoptischen Evangelien" eingeschlagenen Weg fort. Zur Distanzierung vom (politischen) Messianismus vgl. dort S.715ff.

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ten nach der größten politischen Krise des Prinzipats den Antritt eines Herrschers, der die verlorene Stabilität wiederherstellen würde, der durch Prophétie und Orakel legitimiert und durch Wunder bestätigt war. Dies Evangelium verkündigte dagegen den Beginn des Reiches Gottes (Mk l,14f), es legitimierte sich ebenfalls durch Prophetie (Mk l,2ff) und Wunder (l,23ff u.ö.), aber es verkündigte eine Antiherrschaft. Der Dienst dieses Herrschers durch Hingabe seines Lebens ist Gegenbild zur Unterdrückung der Völker durch die irdischen Machthaber (10,41-45); seine Speisung hungriger Volksmassen ist Gegenbild zum frivolen Gastmahl eines Königs (Mk 6,17ff), sein Evangelium wird nicht durch militärische Siege, sondern durch Verfolgungen unter alle Völker verbreitet (13,10). Sein Kommen vom Himmel ist Widerspruch gegen den frevelhaften Übergriff der irdischen Macht gegen die Verehrung des wahren Gottes (Mk 13). Wer diesen Herrscher als Anwärter auf irdische Macht versteht, hat ihn mißverstanden (Mk 8,27ff). Erst wenn seine Nachfolger den Weg bis ans Kreuz mit ihm gehen und selber bereit sind, ihr Leben hinzugeben, wird ihnen die Hoheit dieses Herrschers aufgehen (Mk 8,34ff) eine Hoheit, die jede irdische Macht begrenzt. Damit ist die Funktion des Persongeheimnisses nach innen genannt: Es ist mit der Nachfolge verbunden. Der Nachfolgegedanke stammt eigentlich aus den Traditionen des Wandercharismatikertums (vgl. 10,28-31), wird aber im MkEv so erweitert, daß jeder Christ ihn auf sich beziehen kann. Er erhält dabei neue Akzente: Nachfolge geschieht durch Leiden (bes. Mk 8,34-38; 10,32), "Dienst" (bes. 15,41; vgl. 1,31) und Tischgemeinschaft mit Jesus (2,15).112 Das sind Merkmale christlichen Lebens, die auch von denen verwirklicht werden können, die nicht Haus und Hof verlassen, um eine heimatlose Nachfolgeexistenz aufzunehmen, Dienstleistungen für andere sind für sie sogar eher möglich als für heimatlose Habenichtse. Diese Aneignung von Jesusüberlieferungen aus der Perspektive von Ortsgemeinden erklärt, warum das MkEv relativ wenig Logienüberlieferungen bringt - Überlieferungen, die ihren Sitz im Leben ursprünglich im Wandercharismatikertum hatten. Das

112

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Mk fügt an einigen Stellen wohl bewußt das Stichwort "Nachfolgen" ein. So wirkt es im Gastmahl des Levi Mk 2,15 etwas überschüssig, "denn sie waren viele und sie folgten ihm" (so die wahrscheinliche Lesart). Ähnlich eingeschoben wirkt "nachfolgen" in Mk 10,32. In Mk 8,34-38 verbindet der Mk-Evangelist durch seine Komposition Nachfolge und Leiden: Die Bereitschaft zur Lebenshingabe und zum Bekennen vor menschlichen Instanzen ist Erläuterung der im ersten Jesuswort geforderten Kreuzesnachfolge (Mk 8,34). Mk 15,40f verbindet möglicherweise "Nachfolgen und Dienen" Das Dienen in Galiläa hat man sich so wie in Mk 1,31 vorzustellen: Frauen sorgen für den Unterhalt des Predigers und seiner Jünger. Eben dieser Dienst, der im Besitz von Haus und Geld am besten geleistet werden kann, ist "Nachfolge".

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MkEv ist ein "Ruf in die Nachfolge" 113 Dieser Ruf wird aber so gestaltet, daß er ein Ruf an alle ist.114 Der gemeinsame Nenner, der alle verbindet, ist das Schicksal des Verfolgtseins und die Verpflichtung zur Hilfeleistung für die Gemeinschaft. Das Unverständnis der Jünger besteht darin, daß sie beides am Beispiel Jesu noch lernen müssen: Bereitschaft zum Leiden und zum Dienst. Im Mt- und LkEv wird diese Aneignung von Jesustraditionen fortgesetzt. Während das MkEv schlichte Volksüberlieferungen in die Erzählung von Jesus aufgenommen und bewahrt hat, besteht die Leistung des Mt und Lk darin, daß sie die Logienquelle in ihr Evangelium integriert und damit Jüngerüberlieferungen erhalten haben, deren Radikalität das "normale" Leben oft überfordert. Mt und Lk übernehmen dabei die Grundstruktur des MkEv. Die Passionsgeschichte steht am Ende, und alles Geschehen läuft auf sie zu. Der paränetische Gehalt der Passionsgeschichte bleibt gewahrt: Christsein bewährt sich im Bekenntnis, das in Konflikten bis ins Martyrium führt. Darin sind alle Christen gleich ob sie nun Wandercharismatiker oder Glieder einer Ortsgemeinde sind. Beide Großevangelien geben der Jesusüberlieferung insofern einen neuen Rahmen, als sie unabhängig voneinander Kindheitsgeschichten hinzufügen. Damit folgen sie einer verständlichen "biographischen" Tendenz zur Vervollständigung. Zugleich beginnen beide so ihre Darstellung in der Welt der Familie. Heimatlosigkeit und Wanderexistenz ist für diese Familie keine selbstgewählte Lebensform wie für die radikalen Nachfolger Jesu, sie ist von außen aufgenötigtes Geschick, verursacht durch politische Verfolgung (Mt 2,13ff) und Befehle zur Steuerschätzung (Lk 2, Iff). Die Familie Jesu steht in allen Gefahren unter Gottes Schutz. Durch diese positive Wertung einer Familie wird das nachfolgende afamiliäre Ethos der Jesusüberlieferung gemildert. Zwischen Kindheitsgeschichten und Passion bauen beide die Wortüberlieferung Jesu ein. Sie behält - trotz Modifikationen und Anpassungen - ihre radikale Strenge. Sie bringt keine realitätsorientierte Ethik für das Leben in Galiläa oder in der römischen Gesellschaft. Aber sie ist eben deshalb nicht an ihren historischen Kontext gebunden. Ihre ethische Radikalität ist zeitloser 113 So der Titel von E.STEGEMANN: Das Markusevangelium als Ruf in die Nachfolge, Diss. Heidelberg 1974. 114

Diese These wird von D.LÜHRMANN, Mk, 176f, vertreten: "Kreuzesnachfolge (vgl. 8,34) kann es nach Mk auch innerhalb der vorgegebenen Strukturen geben" (S.177), gemeint sind die im Exkurs "Haus als soziale Größe" (S.176Í) beschriebenen Strukturen.

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als pragmatische Programme. Erträglich wird sie erst durch Einbettung in eine Erzählung. Während in der Logienquelle Forderung neben Forderung stand und nirgendwo anschaulich wurde, wie Menschen mit diesen Forderungen umgehen, erleben wir nun, wie die ersten Adressaten dieser Lehre, die Jünger, mit ihr leben. Hier findet jeder Leser einen Bezug zu sich: Alle Jünger versagen. Alle Jünger veranschaulichen die Differenz zwischen ethischer Forderung und realem Leben. Und dennoch sind alle Nachfolger Jesu, die sich an seinen Geboten orientieren. Dazu kommen weitere Formen, ethische Radikalität zu bewältigen - ohne ihr untreu zu werden. Bei Mt finden wir Hinweise auf eine Zwei-Stufen-Ethik. Der reiche Jüngling braucht nur die zehn Gebote zu erfüllen. Der Ruf in die konsequente Nachfolge wird bedingt erteilt: "Wenn du vollkommen sein willst, geh hin und verkauf deine Güter und gib sie den Armen und du wirst einen Schatz im Himmel haben, und komm und folge mir nach!" (Mt 19,21) Mt kennt Lehrer, die das ganze Gesetz erfüllen, und andere, die einzelne Gebote "auflösen" Aber auch die "moderaten" Lehrer erhalten einen Platz im Himmelreich, wenn auch den letzten (Mt 5,19). Solch eine Zwei-Stufen-Ethik ist nicht programmatisch ausgeführt. Aber es gibt Ansätze zu ihr. Bei Lk finden wir einen anderen Ansatz. Für ihn bildet die Zeit Jesu eine besondere Periode in der Geschichte. In ihr gelten einige Normen, die später undurchführbar sind. Das trifft auch Normen des Wandercharismatikertums: "Und er sprach zu ihnen: Als ich euch ohne Beutel und Tasche und Schuhe aussandte, habt ihr da an etwas Mangel gehabt? Sie aber sagten: An nichts! Da sprach er zu ihnen: Aber jetzt, wer einen Beutel hat, nehme ihn, gleichfalls auch wer eine Tasche hat, und wer kein Schwert hat, verkaufe seinen Mantel und kaufe eins!" (Lk 22,35f)

Solche Ansätze zu einer gewissen "Relativierung" des ethischen Radikalismus dürfen jedoch nicht vergessen machen, daß die ethischen Gebote Jesu in allen Evangelien ernst genommen werden. Mit ihrer Hilfe soll das alltägliche Leben der Gemeinden gestaltet werden. Dieses Leben nimmt bei Mt und Lk wieder einen größeren Raum ein. Das MkEv war eine Passionsgeschichte mit ausführlicher Einleitung. Entsprechend wird die Situation der hinter ihm stehenden Gemeinde gewesen sein: eine bedrängte Situation, die den Blick auf Konflikt und Leiden konzentrierte. Ebenso gilt: Wie bei Mt und Lk die Zeit zwischen Geburt und Grab Jesu mit Worten und Lehren ausgefüllt wird, so wird auch in der Situation der mt und lk Gemeinden die Gestaltung des Lebens wieder in den Vordergrund getreten sein. Mt und Lk schreiben Evangelien, die den Gemeinden in ihrem kontinuierlichen Leben jene Kraft geben wollen, die in lebensbedrohenden Konflikten erst recht gefragt ist. Wir stehen am Ende unserer Untersuchungen zu den Evangelienredaktionen.

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Die Frage nach Lokal- und Datierindizien hat nicht nur Lokalisierungs- und Datierungsvorschläge gebracht. Genauso wichtig ist, daß die geschichtlichen Motive, die zur Evangelienschreibung geführt haben, transparent geworden sind: Die Evangelien bewahren Jesusüberlieferung trotz Veränderung von Ort, Zeit und Sitz im Leben. Sie wollen Kontinuität und Identität über einen geschichtlichen Wandel hinaus schaffen. Im Unterschied zur Logienquelle sind alle Evangelien außerhalb Palästinas geschrieben. Für Autor und Leser der Logienquelle war das Land Palästina und seine Geschichte noch unmittelbar präsent. Für die Leser der Evangelien mußte dieser Kontext in einem erzählerischen Rahmen vergegenwärtigt werden, damit die Worte Jesu in ihm verständlich werden konnten. Alle Evangelien sind durch die Erschütterung der Jahre 66-74 gezeichnet, als nicht nur Palästina, sondern die ganze Welt in eine Krisensituation geraten war. Alle sind damit beschäftigt, diese Krise zu verarbeiten, sei es Leidensdruck in den Nachwehen der Krise (Mk), sei es die Chancen der überwundenen Krise für das Leben der Gemeinden (Mt, Lk). Alle Evangelien sind Ausdruck eiens veränderten "Sitzes im Leben" für die Jesusüberlieferungen. Die wichtigsten Traditionen waren ursprünglich von Wandercharismatikern tradiert und erhalten worden. Daneben gab es schon früh Volks- und Gemeindeüberlieferungen. Die Evangelien wurden für Ortsgemeinden geschrieben und zeigen den Prozeß, wie Jünger- und Volksüberlieferungen für die Gemeinden angeeignet und interpretiert wurden. Die Weiterentwicklung der Überlieferungen von Wandercharismatikern führte eher zum Thomasevangelium als zu den synoptischen Evangelien. 115

115 Vgl. J.M.ROBINSON: On Bridging the Gulf from Q to the Gospel of Thomas (or vice versa), in: Ch.W.HEDRICK / R.HODGSON: Nag Hammadi, Gnosticism and Early Christianity, Peabody Mass. 1986, 127-175. Wichtige Anregungen verdanke ich hier einer im Entstehen begriffenen Dissertation von S.PATTERSON, eines Schülers von J.M.Robinson.

SCHLUSSBEMERKUNGEN Die Frage nach Lokalkolorit und Zeitkontext in der synoptischen Tradition ist nur bei wenigen Texten fruchtbar. Nur selten schimmern lokalisierbare Sachverhalte durch die Überlieferungen hindurch. Nur punktuell werden konkrete geschichtliche Situationen sichtbar. Verbindet man jedoch die einzelnen Punkte, so entsteht ein "Fadennetz", das übergreifende Zusammenhänge erkennen läßt. Sie ergeben zusammen keine umfassende "Geschichte der synoptischen Tradition", widerlegen aber die Skepsis, die eine Erforschung der Vorgeschichte unserer Evangelien für unmöglich hält. Abschließend seien diese Zusammenhänge noch einmal kurz skizziert: 1. In der "Geschichte der synoptischen Tradition" sind lokale Verschiebungen erkennbar. Die älteste Überlieferung wurde in Galiläa geprägt - und hat sich möglicherweise früh in die Nachbargebiete Galiläas ausgebreitet. Die galiläische Prägung dieser Überlieferung ist wegen der Herkunft Jesu aus Galiläa ohnehin wahrscheinlich, aber angesichts historischer Skepsis gegenüber der Jesusüberlieferung nicht selbstverständlich. Nachweisbar ist ferner ein zweites Stadium der Jesusüberlieferung im judäischen Raum: Einige Überlieferungen sind in und um Jerusalem geprägt worden. Dabei handelt es sich um zwei "große Einheiten", die synoptische Apokalypse und die Passionsgeschichte. Das zeigt, daß wir uns literargeschichtlich in einem sekundären Stadium befinden, in dem Jesusüberlieferung nicht nur in "kleinen Einheiten", sondern in größeren Komplexen überliefert wurde. Dieses Stadium ist schon zehn Jahre nach Jesu Tod erreicht worden: Der Kern der synoptischen Apokalypse entstand während der Caligulakrise im Jahre 40 n.Chr., die älteste Passionsgeschichte dürfte in den 40er Jahren ihre Prägung erhalten haben. Die Evangelien selbst repräsentieren ein drittes Stadium: Keines von ihnen ist in Palästina geschrieben Beim MkEv ist eine Nachbarschaftsperspektive spürbar. Es könnte nördlich von Palästina in jenem Teil Syriens geschrieben worden sein, der später "Syrophönikien" genannt wurde, dort, wohin noch Volksüberlieferungen über Jesus dringen konnten. Beim MtEv ist eine Ostperspektive erkennbar: Judäa liegt für dies Evangelium "jenseits des Jordans". Der Lk-Evangelist schaut dagegen vom Westen auf Palästina: Er ist mit der großen Welt der Mittelmeerstädte vertraut. Alle Evangelien sind vom Bewußtsein bestimmt, daß die Jesusüberlieferungen in der ganzen Welt verbreitet werden sollen. Wahrscheinlich soll die Evangelienschreibung diese Verbreitung fördern.

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2. Auch die Untersuchung der "Zeitgeschichte" in der synoptischen Tradition ergab einige allgemeine Ergebnisse. Die Geschichte der synoptischen Tradition ist durch zwei tiefgehende politische Krisen geprägt. So hat die ganz Palästina erschütternde Caligulakrise der Jahre 39/41 n.Chr. m.E. tiefere Spuren in der synoptischen Tradition hinterlassen, als man bisher angenommen hat. Mitten in ihr entstand jene apokalyptische Prophetie, die den Kern der großen Endzeitrede Mk 13 bildet. Auch die Logienquelle ist von der (inzwischen überstandenen) Krise geprägt: Sie gibt der Verkündigung Jesu durch die Versuchungsgeschichte eine erzählerische Einleitung, die den Konflikt zwischen der Selbstapotheose des Gaius Caligula und dem jüdischen Monotheismus reflektiert. Die Caligulakrise hat das Verhältnis der christlichen Gemeinden zu ihrer jüdischen Umwelt stark belastet, wie die ihr folgende Verfolgung unter Agrippa I. zeigt. Die Passionsgeschichte dürfte diese Spannungen widerspiegeln. Während die erste politische Krise somit zu Vorstufen der Evangelienbildung führte, d.h. zu "großen Einheiten" und einer "Logiensammlung", entstand in Reaktion auf die zweite Krise des jüdischen Krieges (66-74 n.Chr.) die Evangelienliteratur selbst. Der Mk-Evangelist schreibt das erste Evangelium unter dem Eindruck der Tempelzerstörung. Er kann dabei auf zwei durch die erste Krise geprägte "große Einheiten" zurückgreifen, in denen er die Situation seiner Gemeinde wiederfindet: Er übernimmt die synoptische Apokalypse, weil die unter Gaius Caligula entstandenen Befürchtungen einer Tempelentweihung unter seinen Nachfolgern (Vespasian und Titus) neu aufgelebt waren. Und er erwartet für seine Gemeinden einen tiefen Konflikt, auf den er durch die Passionsgeschichte vorbereitet. Das Mt- und Lk-Evangelium sind dagegen Zeugen einer wachsenden Distanz zum Krieg: Sie sind geschrieben, damit sich christliche Gemeinden wieder auf ein Leben in Friedenszeiten vorbereiten. Sie integrieren die Logienquelle in die Jesusüberlieferungen, weil sie der neuen Situation entspricht: So wie diese nach der überstandenen Caligulakrise ein selbstbewußtes Ethos der Lebensgestaltung verkündigte, so tun es der Mt- und LkEvangelist nach überstandenem jüdischen Krieg. 3. Die Frage nach dem "Sitz im Leben" war nur ein Nebenthema dieser Arbeit, die Untersuchung situativer Kontexte führte aber immer wieder zur Frage nach überdauernden sozialen Kontexten. Drei Trägergruppen von Jesusnüberlieferung wurden erkennbar: Jünger, Gemeinde und Volk. Die Jesusüberlieferungen gehören exklusiv keinem Trägerkreis, vielmehr wurden einige außer unter den Jüngern zugleich in Ortsgemeinden und im Volk überliefert, wobei man eine von den Jüngern bis zum Volk hin abnehmende Dichte der Überlieferung annehmen kann. Volksüberlieferungen sind die Legende vom Tod des Täufers und einige Wundergeschichten, Gemeindeüberlieferungen die Passionsgeschichte und die synoptische Apokalypse, Jün-

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geriiberlieferungen jene Worte, die einen ethischen Wanderradikalismus vertreten, der das Leben unter "normalen" Bedingungen überfordert. Der Weg zur Evangelienliteratur hin ist vor allem durch die Gemeindeüberlieferungen geprägt: Die ersten (schriftlich fixierten) Komplexe der Jesusüberlieferung synoptische Apokalypse und Passionsgeschichte - wurden in Ortsgemeinden tradiert. Sie prägen das älteste Evangelium in seiner Komposition. In dieses Gemeindeevangelium wurden neben weiterer Jüngerüberlieferung - das Phänomen des Wandercharismatikertums ist dem MkEv vertraut vor allem Volksüberlieferungen integriert. Die beiden jüngeren Evangelien schreiben das MkEv neu, indem sie die in der Logienquelle erhaltenen Jüngerüberlieferungen mit dem MkEv verbinden und für die Gemeinde erhalten. Der Sitz im Leben aller Evangelienredaktionen ist somit die "Ortsgemeinde". Die Evangelien wurden geschrieben, um die aus anderem sozialen Milieu stammenden Jünger- und Volksüberlieferungen für Ortsgemeinden zu bearbeiten: Wanderradikalismus und populärer Wunderglaube wurden so in eine Erzählung von Jesus integriert, daß sich das Gemeindechristentum an diesem Jesus orientieren kann. Die Erhellung von Lokalkolorit und Zeitgeschichte gehörte nicht zum Programm der klassischen Formgeschichte, die mit dem Anspruch auftrat, die mündliche Vorgeschichte der Evangelien geschichtlich zu erhellen. Ihr methodisches Werkzeug war die Analyse von Textschichten, Beobachtung von Überlieferungstendenzen, die Beschreibung von Gattungsstrukturen und die Rekonstruktion des "Sitzes im Leben". Grundlage der historischen Rekonstruktion einer Geschichte der synoptischen Tradition waren also vor allem textimmanente Analysen. Die hier vorgelegten Untersuchungen gingen andere methodische Wege. Durch Korrelierung der Texte mit externen Daten der Geschichte und des Landes Palästinas versuchten sie, geschichtliche Entwicklungen aufzudecken. Sichtbar wurden drei lokalisierbare Stadien der synoptischen Traditionsgeschichte, in der zwei politische Krisen ihren Niederschlag gefunden haben und drei Trägerkreise, die den "Sitz im Leben" der synoptischen Tradition bestimmten. Trotz Unterschiede im einzelnen ist die Nähe der Ergebnisse, die auf textimmanenten und textexternen Wegen gefunden wurden,bemerkenswert, vor allem die Erkenntnis einer Vorgeschichte unserer Evangelien, die in Galiläa mit den ersten Jesustraditionen begann und in den synoptischen Evangelien außerhalb Palästinas vorläufig endete.

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Der Jüdische

1 Die Abkürzungen entsprechen der TRE. Sekundärliteratur wird in den Anmerkungen beim ersten Mal bibliographisch vollständig zitiert. Nach dem Autorennamen steht dann ein Doppelpunkt. Bei weiteren Zitaten steht nur ein Kurztitel, erkennbar daran, daß nach dem Autorennamen ein Komma folgt.

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STELLENREGISTER

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ESTHER 5 - 7 9 8

Mi 4,1-4 47

HIOB 3 7 , 1 7 2 6 5

ZEPH 2 , 1 3 4 6

Hiob 38,24 265 PS 24,2 113 Ps 78,26 265 Ps 91,llf 227 Ps 107,3 47, 48 EZ 17,10 264, 265 Ez 19,12 264, 265 Ez 26-28 82 Ez 27,17 76 Ez 27,26 265 Ez 31,14ff 53 Ez 47,18 114 J E S 2,2-4 47 J e s 8,23-9,1 261

Jes 11,15 249 Jes 14,11.13.15 53 Jes 23 82 Jes 24,6f 48 Jes 40,3 42,87 Jes 42,3 28 Jes 43,1-7 47 Jes 43,5f 48 Jes 56,7 273 Jes 60,4 48 Jes 66,12.20 47 J E R 7,11 273 Jer 25,22 82 Jer 47,4 82 DAN 2,28 143 Dan 7 281 Dan 7,7 36 Dan 7,13f 144 Dan 9,27 143,167 Dan 11,6.8.11 46 Dan 11,31 143,167 Dan 12,1 143 Dan 12,11 137,143,167, 170 Hos 13,15 265 J O E L 2 , 2 0 113, 114

Joel 3,4 82 AM l,9f 82 Am 2,16 197 JON 4,8 265 Ml 1,7 129

SACH 9 , 2 8 2

S ach 14,8 114 IMAKK 1,54 1 7 0

IMakk IMakk IMakk IMakk IMakk IMakk IMakk IMakk IMakk IMakk IMakk

l,54f 167 2,15 168 2,28 172 2,29-38 174 7,1 268 9,40 172 11,67 268 11,67 269 13,29 268 14,5 268 15,1.11 268

2ΜΑΚΚ 4 , 3 3 - 3 4 2 7 6

2Makk 6,2 167 3 MARK 2 , 2 2 2 8 JUDITH 1,9 2 6 1 , 2 6 2

TOB 13,lff.ll 48 Tob 14,4ff.6f 48

Neues Testament MT 2,1-12 264 Mt 2,6 58 Mt 2,13-15 264 Mt 2,13ff 301 Mt 2,20.21 59 Mt 3,1 41 Mt 3,5 41 Mt 3,6 42 Mt 3,1 IQ 215 Mt 3,12 236 Mt 4,1 42 Mt 4,2 255 Mt 4,9 226 Mt 4,10 227,228 Mt 4,12 262 Mt 4,13 262 Mt 4,15 262 Mt 4,15f 261 Mt 4,19,1 262 Mt 4,24 59,264 Mt 4,25 261,262

325 Mt Mt Mt Mt Mt Mt Mt Mt Mt Mt Mt Mt Mt Mt Mt Mt Mt Mt Mt Mt Mt Mt Mt Mt Mt Mt Mt Mt Mt Mt Mt Mt Mt Mt Mt Mt Mt Mt Mt Mt Mt Mt Mt Mt Mt

5,11 54 5,19 302 5,26 259 5,32 253 5,41 263 5,47 55, 236 6,9-13 4 6,32 Q 236 7,21-23 287 7,21-23 47 7,23 287 8,Iff 234 8,5-13 123 8,5ff 237 8,9 238 8,11 48 8 , l l f 47, 48 8 , l l f par 25 8 , l l f Q 234,235 8,13 250 8,20f 192 8,23-27 263 9,30f 104 9,37 Q 236 10,Iff 59 10,2ff 3 10,5 58, 60 10,5b-6 56 10,5bf 58 10,5f 13, 58, 234 10,5ff 58 10,6 263 10,7 105 10,8 105 10,11 59 10,13-16 49 10,15 50 10,17-22 58,139,166, 287 10,17f 59 10,18 59 10,20-24 54 10,23 57, 58, 59, 60, 207,234 10,34f 166 10,34-26 par 282 11,5 104, 105

M 11,5 Q 237 M 11,7 26, 27,28, 30, 34, 42 M 11,7-10 44 M 11,7-11 par 25 M 11,7-9 28, 36, 40, 41, 43 M ll,7ff 37, 42 M 11,10 44 M 11,12.16-19 94 M ll,18f 63 M 11,20 50 M 11,20 Q 237 M 11,20-24 49, 52 M 11,20-24 Q 237 M ll,20ff Q 236 M 11,21-24 82 M 11,21-24 par 25 M 12,22-30 106 M 12,38-42 par 25 M 12,41-42Q 214 M 12,41f Q 236 M 13,38 47 M 14,22-33 60 M 14,28ff 122 M 14,5 93 M 14,6 94 M 15,20 252 M 15,22 72 M 15,24 58, 63, 263 M 15,26 63 M 16,17ff 248, 253 M 16,18-19 60 M 17,19-20 253 M 17,24-27 4, 60 M 17,24ff 122 M 18,Iff 253 M 18,6 263 M 18,21ff 122 M 19,1 19 M 19,1 261 M 19,9 253 M 19,20 48 M 19,21 302 M 19,28 4 8 , 5 7 , 5 8 , 5 9 , 6 0 M 19,28f 233, 234 M 19,30 4 M 20,16 4

Mt 21,41 286 Mt 21,43 286 Mt 22,1-14 285 Mt 22,11-14 285 Mt 22,7 95, 285 Mt 23,6 238 Mt 23,15 263 Mt 23,27.29f 238 Mt 23,29 10 Mt 23,29-31 55 Mt 23,34-36 1 8 , 5 4 , 2 3 2 Mt 23,37-39 231 Mt 23,38f 231 Mt 24,6-8 287 Mt 24,9 286 Mt 24,10 287 Mt 24,10.14.16.23.30 286 Mt 24,14 143,287 Mt 24,15 137 Mt 24,15ff 287, 288 Mt 24,16.23 286 Mt 24,22 142 Mt 24,26 294 Mt 24,26-28. 37-41 288 Mt 24,37ff 288 Mt 24,48 288 Mt 25,1-13 288 Mt 25,14-30 288 Mt 25,31-46 288 Mt 26,3. 57 182 Mt 26,73 193 Mt 27,16 194 Mt 27,2 182 Mt 27,61 189 Mt 28,1 189 Mt 28,18 223 Mt 28,18f 58 Mt 28,19 105 Mt 28,19f 3 MK 1-13 186 Mk 1,1 248, 250, 284 Mk 1,11.13 298 Mk 1,13.34 298 Mk 1,14 284 Mk l,14f 250, 300 Mk 1,16 186,249 Mk 1,16-20 127,252

326 Mk Mk Mk Mk Mk Mk Mk Mk Mk Mk Mk Mk Mk Mk Mk Mk Mk Mk Mk

l,16ff 122 1,19 186 1,2 44,137 l,2ff 300 l,23ff 300 1,24 187 1,25 298 1,27 297 1,28 103 1,29 12 l,29f 122 1,3-28 111 1,31 300 l,32f 104 1,38 250, 286 1,4 41, 42, 187 1,5 195 1,9 187,188 1,44 107

Mk Mk Mk Mk Mk Mk Mk Mk Mk Mk Mk Mk Mk Mk Mk Mk Mk Mk Mk Mk Mk Mk Mk Mk

1,45 103,105,107,296 2,1 14 2,1-12 111, 120, 123 2,1-3,6 124,125 2,4.9.12 74 2,6ff 121 2,10 125 2,13 249 2,14 127,186,252 2,15 121,300 2,15ff 125 2,17 125 2,18 123 2,18ff 125 2,19 125 2,23 123 2,23ff 125 2,25f 121 3,1-6 111, 124 3,2 41 3,3 41 3,4 272, 273 3,6 241 3,7 249

Mk Mk Mk Mk

3,8 6 9 , 1 0 4 , 2 5 0 , 2 6 2 3 , l l f 298 3,16.19 parr 233 3,17 186,189

Mk 3,18 187,189 Mk 3,19 187,192 Mk 3,20 15 Mk 3,22 106 Mk 3,24 273 Mk 4 133 Mk 4 , l a / b 249 Mk 4,9 137 Mk 4,10 192 Mk 4,12 297 Mk 4,13-32 133 Mk 4,17 299 Mk 4,18 263 Mk 4,19 298 Mk 4,35-41 111 Mk 4,39.41 248 Mk 5,1 115 Mk 5,1-20 105,106,111, 115,123 Mk 5,1-21 251 Mk 5,Iff 116,118, 253, 254, 255, 273 Mk 5,1.21 249 Mk 5,13 248 Mk 5,14 103,105,106, 250 Mk 5,16 106 Mk 5,17 117,118 Mk 5,19 105,106,107 Mk 5,20 103,105,106,115, 253 Mk 5,20f 251 Mk 5,22 122,187 Mk 5,27 103 Mk 5,37 122,196 Mk 5,6 118 Mk 5,7 118,298 M k 6 40 Mk 6,2 104 Mk 6,3 186,189 Mk 6,5 104,298 Mk 6,6 250 Mk 6,7-13 133 Mk 6,7ff 252 Mk 6,12 298 Mk 6,14 59,104,163,187, 251, 297 Mk 6,14-29 133

Mk Mk Mk Mk

6,14ff 183 6,14.22.26f 37 6,17 92 6,17ff 85, 8 8 , 9 0 , 9 1 , 92, 93, 94, 96, 98, 99, 101,300 Mk 6,18 88 Mk 6,20 40, 93 Mk 6,20ff 94, 95 Mk 6,22 94 Mk 6,24 67, 98 Mk 6,29 89 Mk 6,35ff 67 Mk 6,45-52 111 Mk 6,47-49 248 Mk 6,52 67, 298 Mk 6,53 269 Mk 6,53-56 104 Mk 6,55 74, 75 Mk 7,Iff 121,129 Mk 7,2 123 Mk 7,2.5 67 Mk 7,3 124 Mk 7,6f 137 Mk 7,13 70 Mk 7,17-23 252 Mk 7,17ff 252 Mk 7,19 252,70 Mk 7,21-22 250 Mk 7,24 69, 296 Mk 7,24-30 63, 67, 74,123 Mk 7,24ff 257 Mk 7,24ff 83 Mk 7,25 103 Mk 7,26 71, 75, 256, 258 Mk 7,27 63, 64, 67, 78, 83 Mk 7,27a 63, 66 Mk 7,27b 66 Mk 7,29 84 Mk 7,31 249,254,255,256, 261 Mk 7,36 104,108,251 Mk 8,Iff 67 Mk 8,4ff 67 Mk 8,8 67 Mk 8,1 If 67 Mk 8,13 120

327 Mk Mk Mk Mk Mk Mk Mk Mk Mk Mk Mk Mk Mk Mk Mk Mk Mk Mk Mk Mk Mk Mk Mk Mk Mk Mk Mk Mk Mk Mk Mk Mk Mk Mk Mk Mk Mk Mk Mk Mk Mk Mk Mk Mk Mk Mk Mk

8,14f 298 8,22.26 51 8,27 9 2 , 2 5 0 8,27-30 261 8,27ff 300 8,29 298 8,31 182 8,31-38 299 8,34-38 300 8,34ff 300 8,35 2 5 0 , 2 8 4 9-13 133 9,2ff 299 9,14-27 253 9,28f 298 9,30 296 9,33 15 9,33ff 253, 297 9,38-40 1 0 5 , 2 5 1 9,38-41 122 9,38f 105 10,2ff 121, 129 10,9 126 10,10-12 253 10,10-16 298 10,16 120 10,17ff 121, 252 10,17.20 121 10,22 120 10,28-30 252 10,28-31 300 10,28ff 122 10,29 250, 284 10,32 300 10,32-34 180 10,33 182 10,35 1 2 1 , 1 8 6 10,35-40 122 10,35-45 209 10,35ff 1 8 , 1 8 9 10,38 209 10,41-45 300 10,46 122, 186 10,46-52 111 10,52 107, 111 11,3 196 l l , 1 2 f 216

Mk Mk Mk Mk Mk Mk Mk Mk Mk Mk Mk Mk Mk Mk Mk Mk Mk Mk

Mk Mk Mk Mk Mk Mk Mk Mk Mk Mk Mk

11,17 137 11,18.27 182 12,1-12 55 12, Iff 299 12,9 1 3 8 , 2 7 4 12,13-17 35 12,14.19.32 121 12,14.19.32 120 12,17 125 12,17.34.37 120 12,18ff 87, 121 12,19 88 12,26f 126 12,28-34 126 12,28ff 121 12,41-44 128 12,42 259 13 1 8 , 5 8 , 8 7 , 1 3 2 , 1 3 3 , 134, 1 3 5 , 1 3 6 , 1 3 8 , 139,140, 143, 144, 145, 161, 163,174, 176, 207, 210, 211, 274, 295, 300 13 parr 231 13,1-2 277 13,If 271 13,2 206, 271 13,5f 143 13,5f.l2f.21-23 139 13,5 1 3 6 , 1 4 0 , 1 4 3 13,5-8 140 13,6-8 162,287 13,6-8. 9-12 286 13,7 135, 140, 143, 163,

Mk Mk Mk Mk Mk

164, 166 13,7-8 139, 140 13,7-8.14-26 162 13,7f 140, 141, 144, 163 13,8 139, 1 4 4 , 1 6 4 13,9 1 6 6 , 2 6 1 , 2 8 1 , 2 8 3 ,

286,295 Mk 13,9-12 283 Mk 13,9-13 58, 134,139, 166, 167, 274, 277, 281, 287, 299 Mk 13,9-14 281 Mk 13,9.11.12 166

Mk 13,10 70, 166, 250, 281, 283,300 Mk 13,11 1 6 6 , 2 9 5 Mk 13,12 1 9 , 1 3 4 , 1 6 6 , 281, 282, 283, 287, 295, 298 M k 13,13 1 3 4 , 1 4 3 , 2 8 1 , 290 Mk 13,14 1 3 4 , 1 3 5 , 1 3 6 , 1 3 7 , 1 4 0 , 1 4 3 , 163, 167, 211, 272 Mk 13,14-20 139 Mk 13,14ff 138, 140,141, 169, 272, 281, 292 Mk 13,15f 161, 298 Mk 13,18 140 Mk 13,19 139 Mk 13,19.24 139 Mk 13,20 1 4 1 , 1 4 2 Mk 13,21 279 Mk 13,21-22 140 Mk 13,21-24 274 Mk 13,21f 1 4 3 , 2 8 1 Mk 13,22 278 Mk 13,23 141,142, 143 Mk 13,24 139,141, 143 Mk 13,24-27 139 Mk 13,26-27 207 Mk 13,26 140 Mk 13,29 272 Mk 13,30-37 272 Mk 13,37 1 3 6 , 1 3 7 Mk 14-16 186 Mk 14-16 295 Mk 14,1 179 Mk 14,10 187 Mk 14,If 177, 179 Mk 14,Iff 210 Mk 14,10.43 192 Mk 14,11 178 Mk 14,17-21 177 Mk 14,19 120 Mk 14,20 179 Mk 14,22-25 250 Mk 14,26-31 177 Mk 14,29-31 208 Mk 14,30 179

328 Mk Mk Mk Mk Mk Mk Mk Mk Mk Mk Mk

14,32 195 14,36 209 14,37 208 14,43 187,192 14,43-46 200 14,43-52 200 14,43-54.66-72 177 14,43. 67 182 14,43ff 295 14,46 198 14,47 182,196,198, 200, 201, 202 Mk 14,47ff 181 Mk 14,48-49 200 Mk 14,51 182,196,197, 198 Mk 14,51f 1%, 197, 200, 202 Mk 14,54.69-72 208 Mk 14,55f 120, 202 Mk 14,55ff 201, 204, 206, 207, 295 Mk 14,56-59 204 Mk 14,57f 206 Mk 14,58 62, 206, 271 Mk 14,61 299 Mk 14,62 299 Mk 14,62f 207, 210, 295 Mk 14,64 203, 204 Mk 14,67 187,194 Mk 14,70 187,190,193, 202 Mk 15,1 179 Mk 15,2ff 299 Mk 15,7 182,187, 201, 202 Mk 15,8 194 Mk 15,19-32 177 Mk 15,20f 178 Mk 15,21 186,187,188, Mk Mk Mk Mk Mk Mk Mk

197, 201 15,21.40.47 182 15,21.43 182 15,22 195 15,25 179 15,29 263 15,33 179,197 15,34 179

Mk 15,36 1 % Mk 15,39 299 Mk 15,40 186,187,188, 190, 202 Mk 15,40.47 187 Mk 15,41 300 Mk 15,42 178 Mk 15,43 187,188, 241 Mk 15,44 179 Mk 15,47 186 Mk 16,1 182,186,187 Mk 16,6 187 LK 1,1-3 294 Lk 1,1-4 2 Lk l,32f 289 Lk 2,1 223,268 Lk 2, Iff 301 Lk 2,2 268 Lk 2,59 193 Lk 3,1 268 Lk 3,1 37 Lk 3, If 182 Lk 4,1 41 Lk 4,3 216 Lk 4,6f 223 Lk 4,8 227,228 Lk 4,9 216 Lk 5,1 269 Lk 6,4 4 Lk 6,17 268 Lk 6,20-23 Q 240 Lk 6,22 207 Lk 6,22f 54 Lk 6,23 Q 240 Lk 7,21 Q 212 Lk 7,24-26 28 Lk 7,3 103 Lk 8,22.23.33 115,267 Lk 9,51ff 57 Lk 10,10-12 50 Lk 10,12 50 Lk 10,13-16 49 Lk 10,13 Q 212 Lk 10,16 3, 55 Lk 10,38ff 122 Lk 10,4 55 Lk 10,9 105

Lk Lk Lk Lk Lk Lk Lk Lk Lk Lk Lk Lk Lk Lk Lk Lk Lk Lk Lk Lk Lk Lk Lk Lk Lk Lk Lk Lk Lk Lk Lk Lk Lk Lk Lk Lk Lk Lk Lk Lk Lk Lk Lk Lk Lk Lk

11,14-23 106 11,31-32 45 11,39 239 11,39-44 238 11,39 Q 234 11,42 Q 234, 239 11,43 238 11,44 238 11,46 239 11,46-52 238 11,47 238 11,47-48 55 ll,47f 240 11,49-51 54, 232, 239, 240 11,49-51 Q 214 11,51 95 11,52 239 12,4f Q 240 12,1 If 166 12,1 If Q 240 12,53 166 12,54-56 264 12,55 264, 266 12,8f Q 240 13,Iff 195 13,10-17 124 13,28f 47, 48 13,29 47 13,30 4 13,32 40 13,34-35 231 13,34f Q 240 13,35 231 13,35 Q 235 14,2-6 124 14,3 273 16,17 Q 215, 229, 234 17,1.6 267 17,22-37 294 17,23 294 17,27 230 17,28 231 17,34f 231 17,34f Q 232 19,41-44 288 19,42 288

329 Lk Lk Lk Lk Lk Lk Lk Lk Lk Lk Lk

19,43f 292 21, 8-11 289 21,10-11 145,290,292 21,10f 144 21,10ff 291 21,11 145,291 21,12 145 21,15 166 21,19 143 21,20 292,293 21,20-24 289, 290, 292, 293

Lk 21,20ff 138 Lk 21,21 293 Lk 21,22 288 Lk 21,23 288 Lk 21,24 293, 294 Lk 21,25 268,290 Lk 21,28 4,294 Lk 21,8 57, 293, 294 Lk 21,8 57 Lk 21,8-9 290 Lk 21,8-11 293 Lk 21,9 290,293 Lk 22,28-30 48, 57 Lk 22,28ff 233 Lk 22,35f 302 Lk 22,37 194 Lk 22,49 196 Lk 23,19 194,195 Lk 23,28 288 Lk 23,29 288 Lk 24,5 194 Lk 24,21 293 Lk 24,53 4 JOH 1,44 12 J oh 2,19 271 Joh 3,Iff 241 Joh 4,47 103 Joh 5,Iff 15 Joh 5,8ff 74 Joh 6,1 249 Joh 7,35 256 Joh 7,50ff 241 Joh 7,52 4 Joh 8,12 4 Joh 9,35ff 207

Joh 11,47-52 179 Joh ll,47ff 180 Joh 12,20f 256 Joh 18,10f 196,199 Joh 18,Iff 180 Joh 18,26 199 Joh 18,31 203 Joh 19,26 190 Joh 19,39ff 241 Joh 19,42 178 Joh 21,15-17 60 Joh 21,25 2 A P G 1,6 293 Apg 1,11 293 Apg 4,Iff 185, 205 Apg 4,36 71 Apg 5,17ff 205 Apg 5,36 195 Apg 6,1-8,3 166 Apg 6,8-8,3 175 Apg 6,9 191 Apg 6,14 206,243 Apg 6,14ff 174 Apg 7,54-60 203 Apg 7,54-60 242 Apg 7,54ff 183 Apg 7,56ff 207 Apg 7,58 242 Apg 8 163 Apg 8,3ff 60 Apg 9,Iff 166 Apg 9,24f 166 Apg 9,42 104 Apg 10,6 267 Apg 10,23 60 Apg 11,20 60 Apg 12,Iff 60, 205 Apg 12,2 18, 189, 208, 209, 242 Apg Apg Apg Apg Apg Apg Apg Apg

12,3 175,205 12,12 247 12,17 60, 208 12,20 77, 78, 80 12,25 247,248 13,5 247 13,46 66 15,1 263

Apg 15,37 247 Apg 16,10ff 267 Apg 17,6 223 Apg 18,2 71 Apg 19,7 104 Apg 21,3-6 69,82 Apg 21,3ff 54 Apg 21,28 203 Apg 21,34f 19 Apg 23,9 242 Apg 23,12ff 184 Apg 25,13ff 93 Apg 25,22ff 101 Apg 26,30 93 Apg 27,3 54 Apg 27,5 263 RÖM 1,16 66 Rom 11 235 Rom 11,11 235 Rom 11,Iff 235 Rom 11,25 235 Rom 11,26 235 lKORl-4 253 IKor 7,10f 4 IKor 9,14 4 IKor 11,23-26 4, 250 IKor 14,27 137 IKor 15, Iff 250 IKor 15,5 233 IKor 15,9 166 2KOR 11,32 86 2Kor ll,32f 166 G A L 1,13 166 Gal 1,13.23 242 Gal l,22f 166 Gal 2,1-14 251 Gal 2,11-14 66 Gal 2,1 If 234 Gal 2,llff 248, 252, 253, 263, 281, 298 Gal 2,14 282 Gal 2,15 236 Gal 3,3f 234 KOL 4,10 247,248 P H I L 3,6

166

2,14-16 54,55, 235, 242

1THESS

330 lThess 5,3 231 2TlM 4,11 247 PHLM 24 247 1PETR 5,13 2 4 8

3JOH 253 APK 2,7.11.17 137 Apk 8-12 144 Apk 13,9.18 137 Apk 15-16 144 Apk 17,9 137

2. Antike

Historiker

Euseb H.E. 111,5,2-3 134 h.e. 111,39,4 3 h.e. III,39,14f 247 h.e. V.8,2-4 247 ONOM 333 51

Herodot HEROD IX,108-113 98 Herod V,18 97, 98

Dio Cassius

Josephus

DIOCASS 36,52,3 224 DioCass 54,7,6 80 DioCass 55,27,6 39 DioCass 59,8,2 224 DioCass 59,12,2 224 DioCass 59,24,1 225 DioCass 59,24,4 220, 225 DioCass 59,27,4 149 DioCass 60,5,4 222 DioCass 62,23,3 224 DioCass 63,5,2 222 DioCass 63,5,3 225 DioCass 64,9,3 278 DioCass 65,1,4 277, 279 DioCass 66,19, 3 278 DioCass 66,21,Iff 291

ANT 1,174 268

(Dio-)Xiphilinus DIO-XIPHILINUS 66,15,3ff 101

Dioderos DIOD. 10,98,7 256 Diod. 20,55,4 256, 257

ant ant ant ant ant ant ant ant ant ant ant ant ant ant ant ant ant ant ant ant ant ant ant ant ant ant ant ant ant

4,85 268 5,199 268 8,46-48 109 8,54 76 8,141 76 8,144 72 9,7.206 268 12,253 167 13,136.138 37 13,154 80 13,392 86 14,74-76 116 14,190-216 76 14,196 76 14,197 77 14,206 76 14,209 77 14,313 81 14,317 81 14,321 81 14,418 172 15,95 80 15,168 268 15,352 86, 95 15,365 165 15,405 147,148 15,417 203 17,146 38 17,188 39

ant ant ant ant ant ant ant ant ant ant ant ant ant ant ant ant ant ant ant ant ant ant ant ant ant ant ant ant ant ant ant ant ant ant ant ant ant ant ant ant ant ant ant ant ant ant ant

7,288f 82 7,342-344 39 7,350ff 87 8,27. 88 8,28 51 8,31 99 8,36-38 35 8,55 173 8,55ff 186 8,58 195 8,62 195 8,64 204 8,85-87 195 8,85-89 147 8,85ff 162 8,89 148 8,90 165 8,90-95 1 4 7 , 1 4 8 , 1 4 9 8,94 148 8,95 148,184 8,101f 220 8,101ff 146 8,105 39 8,110 88 8,111 40 8,113 86, 95 8,113ff 39 8,114 86, 87 8,116 90 8,116-119 62, 86, 95 8,116.119 164 8,118 87 8,119 9 0 , 9 1 8,120-125 148,149 8,120-126 147 8,122 3 9 , 2 2 0 8,123 148,184 8,124 164 8,136 88, 9 2 , 9 4 8,137 95 8,142 88 8,153 8 0 , 2 5 4 8,153f 80 8,237 163,223 8,240-256 223 8,241 225 8,245f 40

ant ant ant ant ant ant ant ant ant ant ant ant ant ant ant ant ant ant ant ant ant ant ant ant ant ant ant ant ant ant ant

18,250 39 18,252 127 18,256-309 150 18,261 155 18,261-272 172 18,261-309 149 18,262 1 5 3 , 1 5 5 , 1 5 7 18,272-274 173 18,273 173 18,273ff 159 18,274 171,173, 209 18,289ff 159 18,301 1 5 5 , 1 6 0 18,302ff 159 18,304 160 18,312 148 19,8-10 161 19,275 91 19,276f 100 19,278 243 19,293 243 19,294 128 19,299 243 19,309 243 19,314 148 19,316 184, 185 19,331 243 19,332 242, 243 19,334 243 19,338-342 224 19,355 100

ant ant ant ant ant ant

19,357 100, 243 19,363 127 20,2 116 20,5 209 20,11-14 148 20,12 148

ant 20,97 209 ant ant ant ant ant ant ant ant ant

20,97-98 195 20,102 209 20,136f 184 20,138 9 1 , 1 2 7 , 1 6 3 20,145 100 20,146 100 20,159 127 20,163 184 20,199 185

ant 20,200f 1 3 4 , 1 8 4 , 1 8 5 , 204, 241, 282 ant 20,200ff 62 ant 20,212 77 BELL 1,36 172 bell 1,103 86 bell 1,398 86 bell 1,409.411 268 bell 1,414 170 bell 1,574 191 bell 1,592 191 bell 1,648 242 bell 2,14 268 bell 2,68 82 bell 2,74 268 bell 2,111 39 bell 2,117 191,203 bell 2,162 242 bell 2,168 51 bell 2,169ff 173 bell 2,171.174 222 bell bell bell bell bell bell bell bell bell bell bell bell bell

2,175 195 2,183 127 2,184-203 1 4 9 , 1 5 0 2,184ff 1 5 5 , 1 5 9 2,186 155 2,192-198 172 2,195 238 2,201 176 2,215 37, 163 2,243 184,209 2,247 163 2,250 191 2,252 127

bell bell bell bell bell

2,256 184 2,392ff 273 2,409ff 273 2,433 191 2,444 2 7 8 , 2 9 9

bell bell bell bell bell bell bell bell

2,458f 116 2,459 69, 81 2,461-464 282 2,478 81 2,479 81 2,480 118 2,502 82 2,503 82

bel bel bel bel bel bel bel bel bel bel bel bel bel bel bel bel bel bel bel bel bel

2,504 7 3 , 1 7 2 2,517 273 2,520 191 2,556 293 2,566 191 2,573 268 2,588 69 3,11 191 3,35 80 3,38 69 3,233 191 3,400-402 280 3,400ff 277, 284 3,463 2 6 8 , 2 6 9 3,511 268 3,515 268 3,519 52 4,3 268 4,98ff 273 4,105 6 9 , 8 0 4,106ff 293 4,132 283 4,138ff 293 4,314-325 185 4,335 18 4,335-343 232 4,451 293 4,503 117

bel bel bel bel bel bel bel bel 4,618 283 bel 4,620 283 bel 4,622ff 284 bel bel bel bel bel bel bel bel bel bel bel bel bel bel bel bel

4,623ff 277 4,656 283 5,130-135 292 5,200 128 5,205 187 5,420ff 293 5,424ff. 512ff 291 5,446ff 293 5,474 191 5,491-511 292 5,548ff 293 6,124ff 203 6,193-213 291 6,288ff 292 6,296-314 280 6,300-309 236

332 bell 6,312f 278 bell 6,316 277 bell 7,1 275,293 bell 7,26ff 278 bell 7,43 283 bell 7,46ff 283 bell 7,97 91 beU 7,100ff 276 bell 7,154f 299 bell 7,158ff 275 bell 7,218 275 bell 7,219ff. 234ff 283 bell 7,226 96, 283 bell 7,252-406 275 bell 7,409ff 275 bell 7,420ff 275 bell 7,437ff 275 CAP 1,70 81 cAp 1,110 80 cAp 1,116 72 cAp 1,140 37 cAp 1,173 73 cAp l,179f 71 VITA 44 81 vita 48 180 101 vita 49 81 vita 66 37 vita 71 77 vita 74 81 vita 104f 82 vita 119 77 vita 191 242 vita 242 93 vita 355 93 vita 357 81 vita 372 70 vita 399 51 vita 403 52 vita 407 81 vita 407f 101 vita 420 199 vita 427 71

Julius Honorius KOSMOGRAPHIE II, 4 9 2 4 9

Justinus EPITOME 3 , 6 1 1 4

Livius LIVIUS 4 5 , 4 4 , 2 0

224

legGai 261ff 158 legGai 300 37 legGai 302 185 legGai 306f 203 legGai 333-335 160 legGai 337f 160 legGai 352f 221 PRAEM 165 4 7

Livius 39,43,2-4 99

VITA M O S I S 1,120 2 6 5

Malalas

Plinius d.Ä.

CHRON. 243,10 165 Chron. 260-261 276 Chron. 261 291

NAT.HIST. V,4,65 249

Orosius OROS.7,9,11 291

Pausanias

GRAEC. DESCR. V,7,4f 114

Philo ABR. 251 71 FLACC 4 1 f f 154

nat.hist. V,16,74 254 nat.hist. V,17,75-78 254 nat.hist. V,17,77 255 nat.hist. V 19,75 76 nat.hist. V,71 51,269 nat.hist. VII,192 257 nat.hist. VII,195 257 nat.hist. VII,197 257 nat.hist. VII,199 257 nat.hist. VII,201 256, 257 nat.hist. VII,208 257 nat.hist. VII,209 257 nat.hist. XXIV,85 34

Plutarch PLUT. Cíe. 99,5 260

Flacc 92 37

LEGGAI 78ff 220

legGai 93ff 220 legGai 114ff 220 legGai 116f 220 legGai 197-337 149,150 legGai 200-202 168 legGai 207 155 legGai 222 169,173 legGai 229ff 172 legGai 231. 288 148 legGai 232 160,171 legGai 234 167 legGai 245 160,176,237 legGai 249 173

Polybius POL XXX, 18,5 224 Ptolemaios GEOCR. V,14.2.3 249 Geogr. V,15 255 Geogr. V,16,4 51

333 Sozomenos

hist IV,82 279

HIST. ECCL. I 11.23,40-24,5 75

hist V , 6 , 2

114

hist V , 9 , 2

159

hist V,9 173

hist V , 1 3 2 8 0

hist V,13,l 292 hist V,13,2 277, 278

Strabo GEOGR. 11,1,31 249 Geogr. XVI 2,23 76, 80 Geogr. XVI,2,46 39

Sueton SUET. AUGUSTUS 4 7 8 0 SUET. T I B . 2 0 2 1 9 SUET. TITUS 8 2 9 1

Suet. Titus 71 101 SUFT.VESP.5

277,279,

280

Suet. Vesp. 7 280 SUET. V r r . 2 2 1 9

Sulpicius Severus CHRON. 11,30,3 2 9 1

Tacitus ANN 12, 54,1 272

ann 12,54,1 159,208 ann 15,22,2 291 ann 15,44 9,134 ann 15,44,3 204 HIST I,l,2f 292 hist 1,2 284 hist 1,2,1 278 hist 1,3,2 292 hist 11,2 101 hist 11,8-9 278 hist 11,78 277 hist II,78,3f 279 hist IV,81,1 280 hist IV,81,3 110

Zum vorliegenden Buch Durch Untersuchung von Lokalkolorit und Zeitgeschichte wird die Vorgeschichte der synoptischen Texte von ihren Anfängen bis zur Evangelienschreibung erhellt. Dabei lassen sich drei Überlieferungsstadien (in Galiläa, Judäa und außerhalb Palästinas) erkennen, die durch zwei geschichtliche Krisen geprägt sind: durch die Caligulakrise (39-41 n.Chr.) und den Jüdischen Krieg (66-74 n.Chr.). Je nach Träger der Überlieferung werden Volks-, Gemeinde- und Jüngerüberlieferungen unterschieden, die in den Evangelien für die Gemeinden neu bearbeitet werden. Die in den Einzeluntersuchungen sichtbar werdende «Geschichte der synoptischen Tradition» steht in Kontinuität zur klassischen Formgeschichte und ergänzt diese durch neue Fragestellungen.

ISBN 3 - 7 2 7 8 - 0 6 0 5 - 2

(Universitätsverlag)

ISBN 3 - 5 2 5 - 5 3 9 0 8 - 8 ( V a n d e n h o e c k & Ruprecht)

ORBIS BIBLICUS E T ORIENTALIS (Eine Auswahl) Bd. 10

E D U A R D O ARENS: The Η Λ Θ Ο Ν - % « £ ί in the Synoptic Tradition. A Historico-critical Investigation. 370 Seiten. 1976. Bd. 17 FRANZ S C H N I D E R : Die verlorenen Söhne. Strukturanalytische und historisch-kritische Untersuchungen zu Lk 15. 105 Seiten. 1977. Bd. 2 2 / 1 CESLAS SPICQ: Notes de Lexicographie néo-testamentaire. Tome I: p. 1-524. 1978. Epuisé. Bd. 2 2 / 2 CESLAS SPICQ: Notes de Lexicographie néo-testamentaire. Tome II: p. 525-980. 1978. Epuisé. Bd. 2 2 / 3 CESLAS SPICQ: Notes de Lexicographie néo-testamentaire. Supplément. 698 pages. 1982. Bd. 23 BRI AN M. N O L A N : The royal Son of God. The Christology of Matthew t - 2 in the Setting of the Gospel. 282 Seiten. 1979. Bd. 2 5 / 1 MICHAEL LATTICE : Die Oden Salomos in ihrer Bedeutung für Neues Testament und Gnosis. Band I. Ausführliche Handschriftenbeschreibung. Edition mit deutscher Parallel-Übersetzung. Hermeneutischer Anhang zur gnostischen Interpretation der Oden Salomos in der Pistis Sophia. X I - 2 3 7 Seiten. 1979. Bd. 2 5 / 1 a MICHAEL L A T T K E : Die Oden Salomos in ihrer Bedeutung für Neues Testament und Gnosis. Band Ia. Der syrische Text der Edition in Estrangela Faksimile des griechischen Papyrus Bodmer XI - 68 Seiten. 1980. Bd. 2 5 / 2 MICHAEL L A T T K E : Die Oden Salomos in ihrer Bedeutung für Neues Testament und Gnosis. Band II. Vollständige Wortkonkordanz zur handschriftlichen, griechischen, koptischen, lateinischen und syrischen Überlieferung der Oden Salomos. Mit einem Faksimile des Kodex N. XVI-201 Seiten. 1979. Bd. 2 5 / 3 MICHAEL LATTKE : Die Oden Salomos in ihrer Bedeutung für Neues Testament und Gnosis. Band III. XXXIV-478 Seiten. 1986. Bd. 26 MAX K Ü C H L E R : Frühjüdische Weisheitstraditionen. Zum Fortgang weisheitlichen Denkens im Bereich des frühjüdischen Jahweglaubens. 703 Seiten. 1979. Vergriffen. Bd. 41 D A N I E L VON A L L M E N : La famille de Dieu. La symbolique familiale dans le paulinisme. LXVII-330 pages, 27 planches. 1981. Bd. 52 MIRIAM LICHTHEIM : Late Egyptian Wisdom Literature in the International Context. A Study of Demotic Instructions. X-240 Seiten. 1983. Bd. 53 URS W I N T E R : Frau und Göttin. Exegetische und ikonographische Studien zum weiblichen Gottesbild im Alten Israel und in dessen Umwelt. X V I I I - 9 2 8 Seiten, 520 Abbildungen. 1987 (2. Aufl.) Bd. 58 O D O C A M P O N O V O : Königtum, Königsherrschaft und Reich Gottes in den Frühjüdischen Schriften. XVI-492 Seiten. 1984. Bd. 61 H E L M U T E N G E L : Die Susanna-Erzählung. Einleitung, Übersetzung und Kommentar zum Septuaginta-Text und zur Theodotion-Bearbeitung. 205 Seiten + Anhang 11 Seiten. 1985. Bd. 71 HANS-PETER MATHYS: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Untersuchungen zum alttestamentlichen Gebot der Nächstenliebe (Lev 19, 18). XIV-196 Seiten. 1986.

NOVUM TESTAMENTUM ET ORBIS ANTIQUUS (ΝΤΟΑ) Bd. 1

MAX KÜCHLER, Schweigen, Schmuck und Schleier. Drei neutestamentliche Vorschriften zur Verdrängung der Frauen auf dem Hintergrund einer frauenfeindlichen Exegese des Alten Testaments im antiken Judentum XXII-542 Seiten. 1986

Bd. 2

MOSHE WEINFELD, The Organizational Pattern and the Penal Code of the Qumran Sect. A Comparison with Guilds and Religious Associations of the Hellenistic-Roman Period 104 Seiten. 1986

Bd. 3

ROBERT WENNING, Die Nabatäer - Denkmäler und Geschichte Eine Bestandesaufnahme des archäologischen Befundes 252 Seiten und ca. 20 Karten. 1986

Bd. 4

RITA EGGER, Josephus Flavius und die Samaritaner. Untersuchung zur Identitätsklärung der Samaritaner 412 Seiten. 1986

Bd. 5

EUGEN RUCKSTUHL, Die literarische Einheit des ¡ohannesevangeliums. Der gegenwärtige Stand der einschlägigen Forschungen. Mit einem Vorwort von Martin Hengel 344 Seiten. 1987

Bd. 6

MAX KÜCHLER/CHRISTOPH UEHLINGER (Hrsg.), Jerusalem, Steine 238 Seiten. 1987

Bd. 7

DIETER ZELLER (Hrsg.), Menschwerdung schen 236 Seiten. 1988

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GERD THEISSEN, Lokalkolorit und Zeitgeschichte in den Evangelien. Beitrag zur Geschichte der synoptischen Tradition 348 Seiten. 1989

Eine terminologische

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Gottes - Vergöttlichung

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