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German Pages 244 [236] Year 2010
Archiv für Begriffsgeschichte · Sonderheft 8
Archiv für Begriffsgeschichte Begründet von Erich Rothacker herausgegeben von Christian Bermes, Ulrich Dierse und Michael Erler
FELIX MEINER VERLAG HAMBURG
Christoph Strosetzki (Hg.)
Literaturwissenschaft als Begriffsgeschichte
FELIX MEINER VERLAG HAMBURG
Im Felix Meiner Verlag erscheinen folgende Zeitschriften und Jahrbücher: – Archiv für Begriffsgeschichte – Aufklärung. Interdisziplinäre Zeitschrift für die Erforschung des 18. Jahrhunderts – Hegel-Studien – Phänomenologische Forschungen – Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft – Zeitschrift für Kulturphilosophie – Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung
Ausführliche Informationen finden Sie im Internet unter »www.meiner.de«.
Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über abrufbar. ISBN 978-3-7873-1971-8 Der Herausgeber dankt der Ernst-Poensgen-Stiftung, Düsseldorf, für die Förderung der diesem Band zugrundeliegenden Tagung.
Archiv für Begriffsgeschichte ISSN 1617- 4399 · Sonderheft 8 © Felix Meiner Verlag 2010. Die Zeitschrift und alle in ihr enthaltenen Beiträge sind urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung vorbehalten. Dies betrifft auch die Vervielfältigung und Übertragung einzelner Textabschnitte durch alle Verfahren wie Speicherung und Übertragung auf Papier, Transparente, Filme, Bänder, Platten und andere Medien, soweit es nicht §§ 53 und 54 URG ausdrücklich gestatten. Satz: Type & Buch Kusel, Hamburg. Druck und Bindung: Druckhaus »Thomas Münzer«, Bad Langensalza. Werkdruckpapier: alterungsbeständig nach ANSINorm resp. DIN-ISO 9706, hergestellt aus 100% chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Printed in Germany. www.meiner.de/afb
INHALT
Christoph Strosetzki Literaturwissenschaft als Begriffsgeschichte ...................................................
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Begriffsgeschichte – Geschichte von Begriffen
Gottfried Gabriel Die Bedeutung von Begriffsgeschichte und Metaphorologie für eine systematische Philosophie .................................................................................
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Wolfgang Rother Gustav Teichmüllers Theorie der Begriffsgeschichte .....................................
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Ulrich Dierse Wann und warum entstand die Begriffsgeschichte und was macht sie weiterhin nötig? .................................................................................................
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Thomas Leinkauf Habent sua fata conceptus, verba et termini – zu Aspekten der Entwicklung von Begriffen ...............................................................................
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Lutz Geldsetzer Wörter, Ideen und Begriffe. Einige Überlegungen zur Lexikographie ........
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Begriffsgeschichte in Literatur- und Sprachwissenschaft
Carsten Dutt Begriffsgeschichte als Aufgabe der Literaturwissenschaft ............................
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Ulrike Zeuch Mimesis oder die Tauglichkeit literaturtheoretischer Begriffe zur Beschreibung ideengeschichtlicher Prozesse .................................................. 111 Riccardo Pozzo Imitatio oder Repraesentatio? Aristotelische Mimesis in den Literaturen Europas ...................................... 125 Gerda Haßler Die Entwicklung von Begriffen in Textserien: ein sprachwissenschaftlicher Zugang zur Begriffsgeschichte ........................ 131
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Inhalt
Literaturwissenschaftliche und philosophische Studien zur Geschichte einzelner Begriffe
Helmut C. Jacobs novella, nouvelle, novela – Genese, Dilemma und Möglichkeiten einer Begriffsgeschichte der romanischen Kurznarrativik ...................................... 145 Gianluigi Segalerba Die aristotelische Substanz als Wendepunkt in der Ontologie der Antike ... 161 Gisela Schlüter Discretion / Indiscretion bei Montaigne .......................................................... 173 Christian Wehr Imagination – Reflexion – Affektion Aspekte einer Begriffs- und Funktionsgeschichte der Meditation zwischen Spiritualität, Philosophie und Poesie ............................................... 185 Helwig Schmidt-Glintzer Die Richtigstellung der Bezeichnungen und die Beschreibung der Welt in China ............................................................................................... 201
Literaturverzeichnis ........................................................................................... 217
Christoph Strosetzki
Literaturwissenschaft als Begriffsgeschichte
Theodor W. Adorno hat Begriffe als »Denkmäler von Problemen«, d. h. von gesellschaftlichen Debatten, gesehen. Die Begriffsgeschichte bewegt sich in der Spannung zwischen Wortbedeutungswandel und Sachwandel, so daß in ihr sachund geistesgeschichtliche, zeit- und literaturgeschichtliche Fragestellungen zusammentreffen. Der Historiker Reinhart Koselleck unterscheidet vier mögliche Formen in den Beziehungen zwischen Realität und Begriff, wobei unter »Realität« ein gewisser Zustand zu verstehen ist, der mit dem Begriff erfaßt wird: Erstens können Zustand und Begriff während einer längeren Zeit stabil bleiben, zweitens kann die Bedeutung eines Wortes gleich bleiben, aber der Sachverhalt sich verändern. Drittens kann sich der Begriff bei unverändertem Zustand verändern. Viertens können sich Sachverhalte und Wortbedeutungen völlig auseinanderentwickeln, so daß die ehemalige Zuordnung nicht mehr erkennbar ist. Für den zweiten Fall ist nach Koselleck der Begriff des Kapitalismus in der Sicht des Marxismus ein Beispiel, für den dritten die Begriffsgeschichte von »Revolution«, bei der sich der Begriff zwar ändert, die Ereignisabfolgen sich aber in ähnlicher Weise wiederholen. Für den vierten Fall ließe sich der Staat mit seinen unterschiedlichen Sprachen und Erscheinungsformen im Laufe der Jahrhunderte anführen.1 Erstmals erwähnt findet sich das Wort »Begriffsgeschichte« in der Nachschrift einer Vorlesung Hegels zur Philosophie der Geschichte, wo es sich auf eine der drei Möglichkeiten des Geschichtsschreibens, die der »reflectierten Geschichte«, bezieht, die als Geschichte der Kunst, des Rechts oder der Religion »einen Übergang zur philosophischen Weltgeschichte«2 darstelle. Von Hegel stammt auch die Vorstellung von der »Arbeit des Begriffs«. Im Zusammenhang mit der philosophischen Lexikographie hatte die begriffsgeschichtliche Forschung einen ersten Höhepunkt 1879 in Rudolf Euckens Geschichte der philosophischen Terminologie. Mit Wittgenstein ist zu betonen, daß ein Wort immer nur in Zusammenhang mit Sätzen, in der Rede, in Diskursen und Texten gebraucht wird. Begriffsgeschichte darf also nicht zur falsch verstandenen Ideengeschichte werden, welche die politische, soziale und ökonomische Wirklichkeit ausblendet. Denn dann gliche sie der Übertragung eines Fußballspiels, »bei dem einzig die Bewegung des Balls, aber weder die Mannschaften, Spieler und Schiedsrich-
1 Reinhart Koselleck, Die Geschichte der Begriffe und Begriffe der Geschichte. In: Herausforderungen der Begriffsgeschichte, hg. von Carsten Dutt (Heidelberg: Winter 2003) 6. 2 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Werke, hg. von Hermann Glockner (Stuttgart 1927–1940) 11, 33.
Archiv für Begriffsgeschichte · Sonderheft 8 · © Felix Meiner Verlag 2010 · ISBN 978-3-7873-1971-8
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ter, noch die Regeln, noch das Publikum und die Medien sichtbar sind«3. Ernst Cassirer hatte die Begriffsgeschichte als Methode mit umfassendem Anspruch konzipiert. Für seinen Schüler Joachim Ritter, den ersten Herausgeber des Historischen Wörterbuchs der Philosophie, dient die Erforschung der Begriffe einer kritischen und antidogmatischen Reflexion, die einer abstrakten Festlegung des Begriffs entgegenwirkt. Der Begriffsgeschichte kommt das Verdienst zu, ein Denken zu verhindern, das kontinuitätslos neue Begriffe erfindet und in seiner eigenen Terminologie schwelgt.4 Seit Mitte der 1960er Jahre geht Koselleck davon aus, daß sich der Wandel der sozialen Wirklichkeit semantisch in bestimmten Leitbegriffen der politisch sozialen Welt niederschlägt, und betrachtet die Entwicklung in diesem Sinne besonders bedeutungsvoller Begriffe bzw. Grundbegriffe. Ein entsprechendes Anliegen verfolgt die »historische Semantik«.5 Nach Ralf Konersmann werden die Gegenstände erst durch den Diskurs gebildet, der von ihnen spricht. Dabei erscheinen in Anlehnung an die französische Wissenschaftsgeschichte6 weniger die Kontinuitäten von Begriffen als die Umbrüche und Widersprüche im Verlauf ihrer Geschichte von Interesse.7 Ohne den Blick auf die Sprechergruppen und ihre Interessen erscheint die Begriffsgeschichte wertlos, da sie es mit der Geschichte begrifflich orientierter Sprachhandlungen, d. h. mit der Geschichte der Sinnproduktion durch Sprache, zu tun hat. In Deutschland hatte Gadamer in den 1950er Jahren eine »Senatskommission für begriffsgeschichtliche Forschung bei der DFG« geleitet.8 Die Begriffs-
Ernst Müller, Einleitung, in: Begriffsgeschichte im Umbruch?, hg. von E. Müller (Hamburg: Meiner 2004) 15. 4 Vgl. Lutz Geldsetzer, Zur philosophischen Lexikographie der Gegenwart, zur Geschichte ihrer Theorie und über das philosophische Lexikon des Stephanus Chauvin (Düsseldorf: Stern 1967). 5 Vgl. Rolf Reichardt, Historische Semantik zwischen lexicométrie und New Cultural History. Einführende Bemerkungen zur Standortbestimmung. In: Aufklärung und historische Semantik. Interdisziplinäre Beiträge zur westeuropäischen Kulturgeschichte, Zeitschrift für historische Forschung, Beiheft 21, hg. von R. Reichardt (Berlin 1998) 7–28; Ralf Konersmann, Komödien des Geistes. Historische Semantik als philosophische Bedeutungsgeschichte (Frankfurt 1999); Ralf Konersmann, Wörter und Sachen. Zur Deutungsarbeit der Historischen Semantik, in: Ernst Müller (Hg.), Begriffsgeschichte im Umbruch (Hamburg: Meiner 2004) 21–32. 6 Vgl. Gaston Bachelard, Georges Canguilhem, Michel Foucault. Da für Foucault Diskurse ein epistemisch wirksames historisches Apriori darstellen, das Produktion und Wirkung von Aussagen steuert, erweist sich seine Methode als Theorie »die mit der Analyse gerade erst bei den epistemischen Rahmenbedingungen sprachlicher Bedeutungskonstitution anfängt und ihr Interesse verstärkt auf die Voraussetzungen lenkt, die das in einem gegebenen Zeitpunkt Sagbare und Denkbare überhaupt erst möglich machen.« Dietrich Busse, Begriffsgeschichte oder Diskursgeschichte? In: Herausforderungen der Begriffsgeschichte, hg. von C. Dutt (Heidelberg: Winter 2003) 27. 7 In Frankreich bestand ein Spannungsverhältnis zwischen der in der Zeitschrift »Annales« postulierten Mentalitätsgeschichte und dem linguistisch und soziologisch geprägten Strukturalismus. Im angloamerikanischen Bereich brachten die sprachpragmatischen Ansätze von John L. Austin und John Searle die Forderung einer Erneuerung der intellectual history auf. 8 Arbeitsbericht dazu: Archiv für Begriffsgeschichte 9 (1964) 7. 3
Literaturwissenschaft als Begriffsgeschichte
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geschichte hatte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wichtige Werke aufzuweisen; neben dem bereits genannten Historischen Wörterbuch der Philosophie (12 Bde.), sind Rolf Reichardts und Eberhard Schmitts Handbuch politisch-sozialer Grundbegriffe in Frankreich 1680–1820 sowie Reinhart Kosellecks in Zusammenarbeit mit Otto Brunner und Werner Conze erschienener Band Geschichtliche Grundbegriffe hervorzuheben. Hans Ulrich Gumbrecht bezeichnet diese drei Werke in der Einleitung zu seinem 2006 erschienenen Buch Dimensionen und Grenzen der Begriffsgeschichte als »Pyramiden des Geistes«, wobei er ihnen zugleich Respekt entgegenbringt und sie als Altertümer einschätzt. Schließlich trägt seine Einleitung den Titel »Über den schnellen Aufstieg, die unsichtbaren Dimensionen und das plötzliche Abebben der begriffsgeschichtlichen Bewegung«. Den schnellen Aufstieg konstatierte er in den Jahren ab 1950, wenngleich das Wort »Begriffsgeschichte« wie angesprochen bereits bei Hegel für jegliche Art von Geschichtsschreibung steht, die sich »im Übergang zur philosophischen Weltgeschichte« sieht, und Begriffe natürlich auch bei den französischen Enzyklopädisten des 18. Jahrhunderts definiert wurden. Bekannt ist, daß Ritters Vorläufer, Rudolf Eislers Wörterbuch der philosophischen Begriffe, nach 1899 bis 1927/30 in vier Neuauflagen erschien und daß Erich Rothacker 1955 das Archiv für Begriffsgeschichte herauszugeben beginnt. Die Aktualität der Begriffsgeschichte wird durch Großprojekte wie die bereits erwähnten von Otto Brunner, Werner Conze, Reinhart Koselleck herausgegebenen und 1997 abgeschlossenen Geschichtlichen Grundbegriffe, durch das seit 1992 von Gert Ueding herausgegebene Historische Wörterbuch der Rhetorik und durch Karlheinz Barcks Ästhetische Grundbegriffe9, aber auch durch jüngere Publikationen10 und Tagungen11 belegt. Zeitschriften, wie das Journal of the
Zu nennen ist auch: Eberhard Schmitt und Rolf Reichardt (Hg.), Handbuch politisch-sozialer Grundbegriffe in Frankreich 1680–1820 (München/Oldenburg ab 1985). Hier werden Begriffe wie Volk, Recht, Freiheit, Autorität, Natur, Vernunft und Toleranz betrachtet. Vgl. auch: Chr. Strosetzki, S. Neumeister (Hg.), Die Idee von Fortschritt und Zerfall im Europa der frühen Neuzeit (Sektion der Tagung des Deutschen Hispanistenverbandes, 28.–31. März 2007 in Dresden), Germanisch-Romanische Monatsschrift, Neue Folge Band 58, Heft 1, 2008, Heidelberg: Universitätsverlag Winter, 2008. 10 Vgl. E. Müller (Hg.), Begriffsgeschichte im Umbruch?, a. a. O. [Anm. 5]; C. Dutt (Hg.), Herausforderungen der Begriffsgeschichte, a. a. O. [Anm. 8]; vgl. auch das von Gunter Scholtz herausgegebene Sonderheft des Archivs für Begriffsgeschichte: Die Interdisziplinarität der Begriffsgeschichte (Hamburg 2000); Christof Dipper, Die »Geschichtlichen Grundbegriffe«. In: Historische Zeitschrift 270 (2000) 281–308; Eckhart Hellmuth, Christoph von Ehrenstein, Intellectual History Made in Britain: Die Cambridge School und ihre Kritiker. In: Geschichte und Gesellschaft 27 (2001) 149–172; als Sammlung bereits erschienener Aufsätze von unverminderter Aktualität: Hans-Ulrich Gumbrecht, Dimensionen und Grenzen der Begriffsgeschichte (Paderborn: Fink 2006). 11 Z. B. 2006 das 60. Wolfenbütteler Symposion: Begriffe, Metaphern und Imaginationen in Philosophie und Wissenschaftsgeschichte; im April 2006: Vera doctrina. Zur Begriffsgeschichte der »doctrina« von Augustinus bis Descartes. Keine der genannten Tagungen geht allerdings von der Literaturwissenschaft aus. 9
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History of Ideas12 oder das nunmehr von Gunter Scholtz herausgegebene Archiv für Begriffsgeschichte, sowie die seit dem Frühjahr 2007 im C.H. Beck Verlag erscheinende Zeitschrift für Ideengeschichte widmen sich der Erforschung von Begriffen. Anders als diese Veröffentlichungen hat vorliegender Band seinen Schwerpunkt in der literaturwissenschaftlichen Perspektive und bezieht dabei auch kulturwissenschaftliche Aspekte ein. Wenn Kultur zu verstehen ist als »der vom Menschen erzeugte Gesamtkomplex von kollektiven Sinnkonstruktionen, Denkformen, Empfindungsweisen, Werten und Bedeutungen […], der sich in Symbolsystemen materialisiert«13, und Literatur eine materiale und beobachtbare Seite von Kultur bereitstellt, dann eröffnet die Literaturwissenschaft den Zugang zu den Vorstellungen, Ideen und Werten einer Kultur. In diesem Zusammenhang kann eine auf der Beschäftigung mit Literatur basierende Begriffsgeschichte einen Beitrag zur Kulturwissenschaft leisten. Betrachtet man gängige Bibliographien wie die Bibliographie der Hispanistik oder die von Klapp initiierte Bibliographie zur französischen Literaturwissenschaft, so erscheint dort Literaturwissenschaft als Begriffsgeschichte als selbstverständliche und unumstößliche Realität. Wird doch in ersterer bei jedem Jahrhundert der Forschungsliteratur zu den einzelnen Autoren die Rubrik »Themen und Motive« vorangestellt, während in letzterer die entsprechenden Rubriken »Généralités, Histoire des idées« und »Thèmes« genannt werden. Wenn man von der Literaturwissenschaft ausgeht, kann man auf die zitierten Grundlagenstudien aus Philosophie und Geschichtswissenschaft zurückgreifen und auf ihnen aufbauen, indem man deren spezifische Relevanz und deren spezifischen Stellenwert für die Literaturwissenschaft vor Augen führt: Wann und wo gab es in der Geschichte der Begriffsgeschichte Auswirkungen auf die Literaturwissenschaft? Was bedeutet z. B. die Beziehung von Realität und Begriff beim literarischen Werk? Wie manifestieren sich politische, soziale und ökonomische Wirklichkeit des Begriffs in der Literatur? Wie ist die Metapherngeschichte einzuordnen? Welche Beziehungen haben Literatur- und Sprachwissenschaft zu Disziplinen wie Begriffsgeschichte, Ideen-, Problem- und Sachgeschichte, Modellforschung und Denkformenlehre? Wie ist das Verhältnis von literaturwissenschaftlicher und philosophischer bzw. historischer Begriffsgeschichte systematisch und historisch zu beschreiben? Die folgenden Artikel beruhen zu einem großen Teil auf Vorträgen, die im Rahmen der internationalen Tagung Literaturwissenschaft als Begriffsgeschichte vom 12. bis 14. Dezember 2008 an der Universität Münster gehalten wurden. Die Tagung war geprägt durch den interdisziplinären Dialog zwischen Romanisten
12 Vgl. in dieser Zeitschrift: Anthony Grafton, The History of Ideas: Precept and Practice, 1950–2000 and Beyond. In: Journal of the History of Ideas 67, 1 (2006) 1–32. 13 Ansgar Nünning, Kulturwissenschaft. In: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie, hg. von A. Nünning (Stuttgart/Weimar 2001) 355.
Literaturwissenschaft als Begriffsgeschichte
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und Philosophen, Germanisten und Sinologen, Literaturwissenschaftlern und Sprachwissenschaftlern. Entsprechend der dreiteiligen Grundstruktur der Tagung lassen sich auch die folgenden Beiträge in drei Teilbereiche gliedern: Unter der Überschrift Begriffsgeschichte – Geschichte von Begriffen wird zunächst aus historischer Perspektive aufgearbeitet, wie die Begriffsgeschichte entstand, welcher Platz der Begriffsgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert zugeordnet und welche Bedeutung ihr zugeschrieben wurde. In systematischer Hinsicht werden hier auch bereits Zusammenhänge zwischen insbesondere Begriffsgeschichte, Problem- und Ideengeschichte, Metaphorologie, Topos- und Modellforschung, Lexikographie und auch Literatur- sowie Sprachwissenschaft erarbeitet. Unter dem Titel Begriffsgeschichte in Literatur- und Sprachwissenschaft befassen sich die Beiträge des zweiten Abschnitts detailliert mit dem Zusammenspiel zwischen Begriffsgeschichte und Literatur- sowie auch Sprachwissenschaft, insofern zunächst die Rolle der Literaturwissenschaft in der Entwicklung der Begriffsgeschichte und vice versa erörtert wird, dann die Beziehung der Literatur über die Begriffe auf die Realität im Kontext verschiedener Mimesiskonzepte erforscht wird und schließlich das Zusammenspiel von begriffsgeschichtlichen und linguistischen Ansätzen im Kontext der Strukturierung eines onomasiologischen Wörterbuchs diskutiert wird. Im dritten Teil Literaturwissenschaftliche und philosophische Studien zur Geschichte einzelner Begriffe folgen Studien ausgewählter Begriffe, die paradigmatisch analysiert werden, um den historischen und systematischen Wandel am Einzelfall detailliert aufzuzeigen. Der erste Teil Begriffsgeschichte – Geschichte von Begriffen beginnt mit Gottfried Gabriels Beitrag »Die Bedeutung von Begriffsgeschichte und Metaphorologie für eine systematische Philosophie«. Er betrachtet kritisch Gustav Teichmüllers Abgrenzung von Begriffs-, Ideen- und Metapherngeschichte und stellt schließlich die Funktion begrifflicher Unterscheidungen in den Mittelpunkt, Erkenntnisse zu liefern, die unsere propositionalen Erkenntnisse vorprägen. Entsprechend plädiert er für eine Begriffs- und Metapherngeschichte, welche explizite und implizite Differenzierungen ans Licht bringt und dementsprechend eine Hermeneutik der Weltauffassungen als materiale Grundlage problemorientierter explikativer Erläuterungen oder rekonstruktiver Neubestimmungen von Begriffen in systematischer Absicht liefern kann. Wolfgang Rother vertieft die kritische Betrachtung der für die Disziplin als grundlegend anzusehenden Überlegungen Gustav Teichmüllers. Im Rahmen seiner Analyse von Teichmüllers Verständnis von Begriffsgeschichte kommt er unter anderem zu dem Ergebnis, daß dieses äußerst antidynamisch und Antikeorientiert und vom Primat des Systematischen vor dem Historischen geprägt ist. Besonders interessant im Kontext des vorliegenden Bandes scheint, daß Teichmüller seines Erachtens der Literatur- und Kulturwissenschaft implizit die Möglichkeit abspricht, als Begriffsgeschichte betrieben zu werden. Seine Analyse schließt mit einer innovativen Inbezugsetzung von Teichmüllers Theorie zur
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Freudschen Psychoanalyse, die darauf gründet, daß beide ein Bewußtmachen des Unbewußten zum Gegenstand haben. Ulrich Dierses Beitrag zum Thema »Wann und warum entstand die Begriffsgeschichte und was macht sie weiterhin nötig?« fokussiert vor allem diverse Aufsätze von Georg Gustav Fülleborn, um die bisher vernachlässigte Frage nach einem inneren Bedürfnis der Philosophiegeschichtsschreibung, das zur Entstehung der Begriffsgeschichte führte, zu beantworten. So gehört es zu den zentralen Erkenntnissen Fülleborns, daß grundlegende Probleme der Übersetzung von Begriffen auf Differenzen zwischen den Sprachen beruhen, die auf geschichtliche Brüche und Umbrüche rückführbar sind. Diese grundlegenden begrifflichen Unterschiede erkennt Fülleborn nun als Bereicherung, anstatt sie als Mangel oder Hindernis des Denkens zu werten. Ulrich Dierse schlußfolgert weiter, daß die im späten 18. Jahrhundert entstehende Sprachphilosophie und die von Koselleck u. a. beobachtete Vergeschichtlichung der politisch-sozialen Welt nicht zufällig zeitlich koordiniert auftreten, sondern beide auf die zentrale Einsicht hindeuten, daß historisch bedingte Gegebenheiten auch differente Benennungen erfordern; das impliziert, daß es in einem philosophischen Wörterbuch nicht so sehr darauf ankommt, ein Verzeichnis von Synonymen aufzustellen, sondern, bei aller nötigen Übersetzungsarbeit, die Differenzen nicht zu überspringen oder einzuebnen. Schließlich erläutert er in diesem Zusammenhang, inwiefern in der Neuzeit die Begrifflichkeit der politisch-sozialen Welt als wesentlicher Bestandteil der Geschichte verstanden wird und erkannt wird, daß sie zum Selbstverständnis der Akteure beiträgt und auf diese Weise historische Prozesse prägt. Thomas Leinkauf thematisiert unter der Überschrift »Habent sua fata conceptus, verba et termini – zu Aspekten der Entwicklung von Begriffen« eine Spannung von Kontinuität und Diskontinuität, die daraus resultiert, daß einerseits zentrale Begriffe der Philosophie immer wieder eine Restitution erfahren können, welche die radikale Kritik, die an ihnen geübt worden ist, in eine weitergeführte, neue Schwerpunkte setzende Begriffsverwendung integriert, und daß andererseits innovative Begriffs-Bildungsprozesse zu beobachten sind, deren Resultate die Lebenszeit ihrer Erfinder oftmals nicht zu überdauern vermochten, obgleich sie, neben evident polemischen, häufig durchaus gerade auch prägnante und sachangemessene Dokumente unseres Begreifens durch Begriffe darstellen. Beispielhaft analysiert er auf der einen Seite die ›Rettung‹ eines schon für obsolet erklärten traditionsreichen Begriffs und die Überlebensfähigkeit des Begriffs ›Substanz‹ und auf der anderen Seite die Nichtüberlebensfähigkeit des durchaus einprägsamen Begriffs ›Nullibisten‹ (eines Begriffs, der in direkter Weise auf die Vertreter einer Lehre verweisen soll, die dem höchsten Prinzip keinen ›Raum‹ oder ›Ort‹ im Sein zukommen läßt). Lutz Geldsetzer verbindet in seinem Beitrag Begriffsgeschichte und Lexikographie und bietet eine umfassende gleichermaßen historisch-einordnende wie auch logisch-abwägende philosophische Erläuterung der fundamentalen Frage
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der Zuordnung von Bedeutungen zu Wörtern bzw. Lexemen. Die Relevanz seiner Überlegungen für die linguistische bzw. allgemein die wissenschaftliche Lexikographie wird schließlich deutlich im Zusammenhang mit der Frage, was Bedeutungen sind, wie sie ihrerseits fixiert werden können und welchen Nutzen solche Formalisierungen für die Praxis der Lexikographie mit sich bringen. Der zweite Teil des Bandes mit dem Titel Begriffsgeschichte in Literatur- und Sprachwissenschaft wird durch Carsten Dutts Artikel »Begriffsgeschichte als Aufgabe der Literaturwissenschaft« eingeführt. Er betont, daß die Literaturwissenschaft bisher keine eigenständigen begriffsgeschichtlichen Forschungsprogramme vorlegen konnte, die es mit solchen wie dem Historischen Wörterbuch der Philosophie oder den Geschichtlichen Grundbegriffen hätten aufnehmen können. An den großen begriffshistoriographischen Unternehmungen, die in den 1950er und 1960er Jahren im deutschsprachigen Bereich auf den Weg gebracht wurden, waren andererseits von Anfang an auch Literaturwissenschaftler beteiligt. Grundsätzlich ist die Literaturwissenschaft jedoch keine exportierende, sondern eine importierende, eine übernehmende und lernende Disziplin, welche die theoretische Begründung und methodologische Normierung begriffshistorischer Arbeit integrierte. Im Folgenden schildert er systematisch, wie die Begriffshistorie auf literaturwissenschaftlichem Terrain genutzt wurde. Ulrike Zeuch befaßt sich in ihrem Artikel »Mimesis oder die Tauglichkeit literaturtheoretischer Begriffe zur Beschreibung ideengeschichtlicher Prozesse« mit Mimesis als einem grundlegenden literaturwissenschaftlichen Konzept, das von der Zeit Aristoteles’ bis heute kontinuierlich Verwendung fand. Sie analysiert im Folgenden speziell Parallelen und Veränderungen in der Verwendung des Konzepts bei Aristoteles und Brecht. Riccardo Pozzo befaßt sich, ausgehend von Erich Auerbach, mit dem Syntagma der ›dargestellten Wirklichkeit‹, hinter dem er eine Mehrdeutigkeit des Mimesisbegriffs aufzeigt, insofern ein Bezug sowohl zu ›Imitatio‹ als auch zu ›Repraesentatio‹ hergestellt werden kann. Vor diesem Hintergrund beschäftigt auch er sich mit Aristoteles, sowie auch mit Platon und mit späteren Interpretationen von Mimesis. Schließlich schlägt er einen Bogen zum modernen technischen Zeitalter und stellt ein neuartiges ›philosophisches‹ Instrumentarium vor, einen integrierten Hypertext, den das Istituto per il Lessico Intellettuale Europeo e Storia delle Idee entwickelt hat, um Studierenden Übersetzungskompetenzen beizubringen, welche die Lektüre philosophischer Werke im Original ermöglichen und eine stärkere Sensibilität für die zahlreichen Sprachen Europas zu entwickeln helfen. Gerda Haßler erläutert den Aufbau des onomasiologischen Wörterbuchs Lexikon sprachtheoretischer Grundbegriffe des 17. und 18. Jahrhunderts und die mit dieser Strukturierung zusammenhängenden grundlegenden Überlegungen zum begriffsgeschichtlichen Arbeiten. In diesem Rahmen widmet sie sich u. a. den Fragen, inwieweit onomasiologische Studien einen Realitätsbezug von Begriffen
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voraussetzen, historisch retrospektiv vorgehen oder authentische Begriffe rekonstruieren und inwiefern sie neben lexikalischen Benennungen oder Paraphrasierungen eines Begriffs bzw. seiner Nomination auch Prädikation erfassen sollen. Der dritte Teil des vorliegenden Bandes Literaturwissenschaftliche und philosophische Studien zur Geschichte einzelner Begriffe beginnt mit Helmut C. Jacobs, der sich mit der Begriffsgeschichte der romanischen Kurznarrativik beschäftigt und ihre unterschiedliche Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte in Italien, Frankreich und Spanien erarbeitet. In diesem Zusammenhang zeigt er nicht nur eine deutliche Besonderheit der italienischen novela im Vergleich zu ihrem französischen bzw. spanischen Gegenstück bezüglich des Einflusses der Jurisprudenz auf, sondern befaßt sich auch mit der Verbreitung unterschiedlicher Begrifflichkeiten für die Kurznarrativik in der Romania und mit weiteren Fragen zu »Genese, Dilemma und Möglichkeiten einer Begriffsgeschichte der romanischen Kurznarrativik«. Gianluigi Segalerba fokussiert in seinem Beitrag den von Aristoteles eingeführten Begriff der Substanz, den er für einen bedeutenden Wendepunkt in der Ontologie der Antike verantwortlich macht. Dabei zeigt er auf, inwiefern die zentrale Ausdeutung von Substanz in Aristoteles’ Ontologie sich auf das biologische Objekt bezieht und welche weiteren Implikationen der aristotelische Substanzbegriff mit sich bringt. Gisela Schlüter befaßt sich mit dem Begriffspaar Discretion/Indiscretion in Montaignes Essais. Basierend auf ihrer grundsätzlichen Forderung, dem reichen epistemologischen, psychologischen und moralphilosophischen Vokabular Montaignes, das die Sprache der Philosophie stark beeinflussen sollte, aus der Perspektive der Ideengeschichte mehr Aufmerksamkeit zu widmen, zeigt sie hier den semantischen Reichtum der beiden Konzepte Diskretion und Indiskretion. Dabei zeigt sie insbesondere, inwiefern Montaigne die traditionelle Bedeutung des Begriffs ›Diskretion‹ (im Sinne von z. B. distinctio, prudentia, moderatio) aufnimmt und gleichzeitig die spätere semantische Bereicherung des Konzepts vorwegnimmt, vor allem auch die moderne Verwendung von ›Diskretion‹ im Sinne von Takt. Christian Wehr erläutert die Geschichte der abendländischen ›Meditation‹ anhand von drei zentralen Texten, nämlich Ignatius von Loyolas Ejercicios espirituales (1548), René Descartes’ Meditationes de prima philosophia (1741) und Alphonse de Lamartines Méditations poétiques (1820). Dabei zeigt er ihre zentrale konzeptuelle Beständigkeit und strukturelle Konstanz auf, wobei seiner Studie zufolge gleichermaßen eine Wahrung der Techniken der (Selbst-) Affektion sowie ein deutlicher Funktionswandel zu beobachten sind, denn die überlieferten Strategien der Meditation profilieren, wie er in seinem Beitrag illustriert, zunächst die Unmittelbarkeit der sinnlichen Wahrnehmung und affektischen Befindlichkeit, sodann die Präsenz des cartesianischen »cogito« und schließlich die Materialität der poetischen Sprachlichkeit.
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Helwig Schmidt-Glintzers Beitrag thematisiert die chinesische Kultur und präsentiert mit der Begriffsgeschichte verbundene politische, spirituelle und gesprächskulturelle Aspekte in einer geschichtsübergreifenden Gesamtschau. Er geht zunächst auf die grundsätzliche Bedeutung ein, die einer Richtigstellung von Begriffen hier zugesprochen wird, und sodann u. a. auf Fragen der Überlieferung – auch der Möglichkeit einer begrifflosen Überlieferung sowie einer Überlieferung »außerhalb der Traditionen« –, des Verhältnisses von Meditationsbuddhismus und Sprache, der Geschichtenbegriffe und Geschichten, die zum Gegenstand und Begriffsapparat der Reflexion werden und erläutert schließlich auch, inwiefern die Anthologien der Han sich geradezu als staatsphilosophische Wörterbücher lesen lassen. Die Durchführung der Tagung ermöglichte die finanzielle Unterstützung der Ernst Poensgen-Stiftung. Allen Autoren des vorliegenden Bandes ist für ihre Mitarbeit zu danken, dem Felix Meiner Verlag und den verantwortlichen Herausgebern sei gedankt für die Aufnahme in die Reihe der Sonderhefte des Archivs für Begriffsgeschichte. Erwähnt sei Franziska Mormann, die sich in der Anfangsphase des Manuskripts annahm. Besonderer Dank gilt schließlich Frau Dr. Ursel Schaub für die umsichtige redaktionelle Endbetreuung der Druckvorbereitung. Münster im Mai 2010
Begriffsgeschichte – Geschichte von Begriffen
Gottfried Gabriel
Die Bedeutung von Begriffsgeschichte und Metaphorologie für eine systematische Philosophie
Die Begriffsbildung ›Begriffsgeschichte‹ ist selbst nicht unproblematisch. Streng genommen haben Begriffe gar keine Geschichte. »Was man Geschichte der Begriffe nennt«, so bemerkt bereits der Logiker Gottlob Frege treffend, »ist wohl entweder eine Geschichte unserer Erkenntnis der Begriffe oder der Bedeutung der Wörter.«1 Frege nimmt hierbei ohne Namensnennung Bezug auf seinen Jenaer Kollegen Rudolf Eucken, der neben Gustav Teichmüller und Friedrich Adolf Trendelenburg, der der Lehrer beider war, zu den Begründern der Begriffsgeschichte gehört.2 Eucken spricht allerdings vorsichtiger von einer »Geschichte der philosophischen Terminologie« und trägt damit bereits Freges Bedenken Rechnung; denn Terminologien haben natürlich ihre Geschichte, weil wir feststellen können, wann bestimmte Termini für bestimmte Begriffe oder begriffliche Unterscheidungen in Gebrauch gekommen sind. Sofern man sich auf begriffliche Unterscheidungen bezieht, ist es dann auch gerechtfertigt, objektsprachlich von deren Geschichte zu sprechen; denn Unterscheidungen werden (im Unterschied zu bestehenden Unterschieden) getroffen, also ›in der Zeit‹ – und zwar zu einer bestimmten Zeit – vollzogen, verändert, präzisiert, aufgegeben usw. In diesem Sinne ist Begriffsgeschichte die Geschichte begrifflicher Bestimmungen und Unterscheidungen. Die Bedeutung der Begriffsgeschichte für die Philosophie wird teilweise überschätzt, andererseits aber auch unterschätzt. Die Überschätzung erwächst aus der Gleichsetzung der Philosophie mit ihrer Geschichte. Da Philosophie ein
Gottlob Frege: Grundlagen der Arithmetik (Breslau 1884) VII. Zur Bedeutung von Trendelenburg, Teichmüller und Eucken für die Begriffsgeschichte vgl. Helmut Hühn: Unterscheidungswissen. Begriffsexplikation und Begriffsgeschichte. In: Begriffe, Metaphern und Imaginationen in Philosophie und Wissenschaftsgeschichte, hg. von Lutz Danneberg, Carlos Spoerhase und Dirk Werle (Wiesbaden 2009) 23–38. Hühn stellt besonders die Verdienste von Trendelenburg heraus. Siehe auch bereits Gunter Scholtz: Trendelenburg und die Begriffsgeschichte. In: Friedrich Adolf Trendelenburgs Wirkung, hg. von Gerald Hartung und Klaus Christian Köhnke (Eutin 2006) 239–256; ferner (zum Einfluß Trendelenburgs auf Eucken) Uwe Dathe: »Mit der Fackel Trendelenburgs in der Hand«. Rudolf Euckens Treue zu Friedrich Adolf Trendelenburg, ebd. 105–122. 1 2
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Denken in Begriffen ist, wird sie dann mit der Geschichte der philosophischen Begriffe identifiziert. Dagegen ist festzuhalten: Philosophie ist keine historische, sondern eine systematische Disziplin. Dies bedeutet freilich nicht, sie geschichtsvergessen betreiben zu können.3 Die Unterschätzung der Begriffsgeschichte hat ihren Ursprung darin, daß die Relevanz von begrifflichen Unterscheidungen für die Erkenntnis unterschätzt wird. Gemeinhin verbindet man Erkenntnis mit Aussagen, Urteilen oder Behauptungen. Diese sind es, von denen es seit Aristoteles – über Kant und Frege bis zur modernen Logik und Wissenschaftstheorie – heißt, daß ihnen Wahrheit (oder Falschheit) zukommt. Der Erkenntnisbegriff bleibt demzufolge an den Wahrheitsbegriff gebunden und Erkenntnis auf einen propositionalen Wissensbegriff beschränkt. (Auf eine Kritik dieser problematischen Engführung muß ich hier verzichten.) Unterscheidungen werden insbesondere durch Definitionen getroffen. Definitionen sind – als Sprechakte – aber keine Aussagen, sondern normative Festlegungen des Gebrauchs von Ausdrücken. Sie sind daher nur grammatisch, nicht aber logisch-semantisch als Aussagen zu behandeln. Selbst wenn in ihnen bestehende und vergangene Wortgebräuche Berücksichtigung finden, sind sie selbst nicht wahr oder falsch. Da ihnen kein Wahrheitswert zukommt, wird ihnen im Rahmen des propositionalen Wissensbegriffs dann auch der Erkenntniswert abgesprochen. Häufig wird diese Auffassung zur Willkürlichkeitsthese verschärft, der These nämlich, daß Definitionen willkürliche Festsetzungen des Gebrauchs von Zeichen sind bzw. sein sollten, die lediglich der Abkürzung dienen und deshalb keinerlei Erkenntniswert haben. Diese Willkürlichkeitsthese, die ihre Vorläufer in Hobbes und Pascal hat, ist insbesondere in der modernen, an formalen Systemen orientierten Wissenschaftstheorie vertreten worden. Ich halte sie im Kern für verfehlt. Sie gilt nicht einmal für formale Sprachen, geschweige denn außerhalb formaler Sprachen. Gewiß kommt es auch vor, daß ein willkürlich gewähltes Zeichen als Abkürzung für ein komplexeres Zeichen eingeführt wird, dies ist aber keineswegs der Normalfall einer Definition. Betrachten wir als Beispiel den Kalkül der Aussagenlogik. Die Möglichkeit, Junktoren (mit Hilfe des Negators) kreuzweise durcheinander definieren zu können, stellt eine tiefe logische Einsicht dar und die entsprechenden Definitionen sind allenfalls insofern willkürliche Festsetzungen, als die Wahl der Symbole willkürlich – nämlich konventionell – ist. Für die jeweiligen Gleichsetzungen der Bedeutungen gilt dies aber nicht. Die Definitionen sind keineswegs bloß willkürliche Festsetzungen, sondern Explikationen, die uns eine Einsicht in die logische Tiefenstruktur unserer Sprache zu vermitteln versuchen und als solche – anders als willkürliche Festsetzungen – Adäquatheitskriterien zu erfüllen haben. Willkürlich sind auch solche Vgl. Dieter Teichert: Die Geltung der Geschichte. Begriffsgeschichte als Philosophie? In: Genese und Geltung, hg. von Christiane Schildknecht, Dieter Teichert und Temilo van Zantwijk (Paderborn 2008) 107–126. 3
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Definitionen nur, solange wir künstlich so tun, als ob wir es mit bloßen Zeichen in formalen Sprachen zu tun haben. Sobald wir diesen Zeichen eine Bedeutung zuordnen, und ohne eine solche Zuordnung sind die formalen Sprachen ohne Relevanz, kann von einer Willkürlichkeit der Definitionen nicht mehr die Rede sein. Tatsächlich ist es ja auch keineswegs so, daß formale Sprachen ›willkürlich‹ aufgebaut werden, vielmehr wird bei deren Darstellung immer schon nach möglichen Interpretationen ›geschielt‹. Anders gesagt: Eine Trennung von Syntax und Semantik ist allenfalls arbeitsteilig, aber nicht prinzipiell möglich. Nun sind Eintragungen in einem begriffsgeschichtlichen Wörterbuch keine normativen Festsetzungen von Sprachgebräuchen, sondern deskriptive Feststellungen über Sprachgebräuche und Begriffsbildungen, also wahre oder falsche Behauptungen. Sofern man hier überhaupt von ›Definitionen‹ spricht, unterscheidet man sie als lexikalische Definitionen von festsetzenden oder stipulativen Definitionen. Worüber solche Eintragungen berichten und was sie beschreiben, sind allerdings häufig Definitionen als normative Festsetzungen anderer Autoren. Normativ sind solche Definitionen zumindest in dem Sinne, daß in ihnen nicht alle Bedeutungsaspekte Berücksichtigung finden. Mit Blick auf den jeweiligen konkreten Zweck werden einige Aspekte hervorgehoben und andere eliminiert. Definitionen verändern einen bestehenden Wortgebrauch, indem sie ihn ›zurechtrücken‹. Da Wortgebräuche für Unterscheidungen stehen, greifen Definitionen in die bestehende Gliederung unserer Welt ein. Dies erklärt auch den häufig zu Unrecht verurteilten so genannten ›Streit um Worte‹. In vielen Fällen geht es hier eben nicht ›bloß‹ um Worte, sondern um die sprachliche und damit begriffliche Gliederung der Welt. Relevante Definitionen sind danach nicht bloß sprachliche Abkürzungen, wie manche Wissenschaftstheoretiker meinen, sondern rekonstruktive Explikationen, die eine Neustrukturierung bestehender Inhalte vornehmen. Dies geschieht bereits in der Zusammenstellung des Definiens, in der Begriffsbildung. Dabei vollziehen sich Begriffsbildungen nicht nur in expliziten Definitionen, sondern gerade auch ›schleichend‹ in stillschweigenden Neuverständnissen. Definitionen sind lediglich der Ort, an dem der Wille zur begrifflichen Neustrukturierung am erkennbarsten dingfest gemacht werden kann. Gerade die grundlegenden, unser Weltbild bestimmenden Einsichten manifestieren sich in Unterscheidungen, und diese geben allererst den kategorialen Rahmen für unsere propositionalen Erkenntnisansprüche ab. Ein angemessenes Verständnis der epistemischen Rolle von Unterscheidungen bleibt verstellt, wenn man diesen lediglich eine vorbereitende Funktion für die ›eigentliche‹, nämlich propositionale (apophantische) Wissensbildung zuweist. Genauer betrachtet ist das Verhältnis zwischen Aussagen und Definitionen häufig gerade umgekehrt zu sehen. Aussagen sind wahr oder falsch in Abhängigkeit von zuvor getroffenen Unterscheidungen. In besonderem Maße hat dies Konsequenzen für die Philosophie, die es als Denken in Begriffen weder mit formalen Ableitungen noch mit empirischen Prüfungen zu tun hat. In der Philosophie vollzieht sich die Wissensbildung geradezu in Form
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von kategorialen Unterscheidungen, d. h. das philosophische Wissen besteht in einem Unterscheidungswissen als einem Wissen um Unterscheidungen. (Dies belegen schon Platons Dialoge.) Daher sollte man auch den apophantischen Charakter der Philosophie nicht überbetonen. Wohl geht es in ihr wesentlich um Begründungen, diese erstrecken sich aber weniger auf Behauptungen als vielmehr auf Unterscheidungen. Wesensaussagen in der Philosophie sind meistens verkappte Wesensdefinitionen, die ihrerseits normative Unterscheidungen darstellen. Wenn somit der philosophische Diskurs weniger in der Begründung (und Kritik) von Behauptungen als vielmehr in der Begründung (und Kritik) von kategorialen Unterscheidungen besteht, kommt der Begriffsgeschichte die Rolle zu, diesen Diskurs hermeneutisch verläßlich zu unterfüttern. Grundlegende Einsichten laufen fast immer darauf hinaus, die Dinge ›im Lichte‹ neuer Unterscheidungen neu zu sehen bzw. sehen zu lassen, also eine neue Sichtweise zu gewinnen. Die Einsicht in eine Unterscheidung kann – wie in der Gestaltwahrnehmung – die gesamte Sichtweise ›umkippen‹ lassen. Dies gilt nicht nur für die Philosophie, die es permanent mit kategorialen Erläuterungen zu tun hat, sondern bis in die Naturwissenschaften hinein. So vermutet T. S. Kuhn, daß alle wissenschaftlichen Revolutionen ihren Niederschlag in einem neuen Verständnis alter Termini gefunden haben.4 Die so genannten Paradigmenwechsel in den Naturwissenschaften gehen danach stets mit Veränderungen im Bereich der grundlegenden begrifflichen Unterscheidungen einher. So hat sich denn auch die Geschichte der Naturwissenschaften als ein fruchtbares Anwendungsfeld der Begriffsgeschichte als Problemgeschichte erwiesen. Mit Blick auf das Thema »Literaturwissenschaft als Begriffsgeschichte« läßt sich ergänzend anfügen, daß sich das terminologische Bemühen um Explikationen – im Sinne von systematischen Rekonstruktionen historischer begrifflicher Unterscheidungen – auch in hermeneutischen Disziplinen als fruchtbar und sogar notwendig erwiesen hat, wie dies insbesondere das Reallexikon der Deutschen Literaturwissenschaft überzeugend belegt. So scheint es mir z. B. dringend geboten zu sein, den in der gegenwärtigen Literaturwissenschaft und teilweise sogar in der Geschichtswissenschaft ausufernden Gebrauch des Terminus ›Fiktion‹ mit panfiktionalistischer Tendenz unter Hinweis auf die Begriffsgeschichte einzudämmen.5 Allgemein ist daran zu erinnern, daß bestehende Sprachgebräuche zwar Autoritäten darstellen, die es anzuerkennen gilt, denen man aber – wie jeder Autorität – nicht ›blind‹ folgen darf. Demgemäß sind Begriffsgeschichte und Problemgeschichte keine Gegensätze, wie manchmal behauptet wird, sondern
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Vgl. Thomas S. Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen (Frankfurt a. M. 21976)
210. Vgl. meinen Artikel »Fiktion«. In: Reallexikon der Deutschen Literaturwissenschaft, Bd. I, hg. von Klaus Weimar, in Verbindung mit Harald Fricke, Klaus Grubmüller und Jan-Dirk Müller (Berlin/New York 1997) 594–598. 5
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beide arbeiten Hand in Hand. Ich denke, diese Auffassung stimmt überein mit derjenigen Joachim Ritters, des Begründers und ersten Herausgebers des Historischen Wörterbuchs der Philosophie. Zu den Überzeugungen Ritters gehörte, daß die Geisteswissenschaften die Aufgabe haben, die Geschichtslosigkeit der modernen technischen Gesellschaft zu »kompensieren«. Dieser Auffassung ist von Kritikern bisweilen ein bloß archivarisches Interesse unterstellt worden. Nichts lag Ritter ferner. Für ihn war die Geisteswissenschaft das Organ, das der Gesellschaft »die geschichtliche und geistige Welt der Menschen offen und gegenwärtig hält«6. Ritter ging es nicht darum, zu Recht Vergangenes zu konservieren, sondern zu Unrecht Vergessenes zu »vergegenwärtigen«7. In diesem Sinne verdankt sich das Interesse der Philosophie an ihrer Geschichte einem Interesse an vergessenen Problemlösungen mit Blick auf systematische Fragen. Freilich ist diesem Interesse nicht damit Genüge getan, das Vergangene anachronistisch unter eine Fortschrittsgeschichte ›abhakend‹ zu subsumieren, sondern es geht gerade darum, das vermeintlich Überwundene für mögliche zukünftige Aktualisierungen präsent zu halten – als Material für eine problemorientierte reflektierende Urteilskraft als das Vermögen neue, bislang nicht gesehene Zusammenhänge zu erkennen. Ein in diesem Sinne systematisches Interesse an der Begriffsgeschichte finden wir bereits bei ihren Begründern Trendelenburg, Teichmüller und Eucken vorgebildet. Im folgenden beschränke ich mich vorwiegend auf eine Würdigung der begriffsgeschichtlichen Untersuchungen Teichmüllers.8 Da für Teichmüller »Philosophie nur in Begriffen besteht«, ist sie für ihn letztlich im Sinne Johann Friedrich Herbarts eine systematische »Bearbeitung der Begriffe«.9 Anders als Herbart sieht er aber, daß dieser Bearbeitung gründliche historische Studien voranzuschicken sind, in denen die der Bearbeitung zuzuführenden Unterscheidungen allererst in ihrer Entwicklung entfaltet werden.10
Joachim Ritter: Subjektivität (Frankfurt a. M. 1974) 131. Ebd. 8 Gustav Teichmüller (geb. 1832) war von 1871 bis zu seinem frühen Tod 1888 Professor der Philosophie an der Universität Tartu (Dorpat). Eine kurze Würdigung von Teichmüllers Beitrag zur Begriffsgeschichte findet sich in Helmut G. Meier: Artikel »Begriffsgeschichte«. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie [im folgenden: HWPh], hg. von Joachim Ritter, Karlfried Gründer und Gottfried Gabriel (Basel 1971), Bd. 1, 788–808; zu Teichmüller hier vor allem 802–804. Zur Gesamtwürdigung Teichmüllers s. Heiner Schwenke: Zurück zur Wirklichkeit. Bewusstsein und Erkenntnis bei Gustav Teichmüller (Basel 2006). 9 Johann Friedrich Herbart: Lehrbuch zur Einleitung in die Philosophie (Königsberg 1813). Neuausgabe von Wolfhart Henckmann (Hamburg 1993) § 1. 10 Vgl. Gustav Teichmüller: Vorrede. In: Studien zur Geschichte der Begriffe (Berlin 1874) III–IX. Nachdruck (Hildesheim 1966) V–XI. (Unsinniger Weise ist die römische Seitenzählung im Nachdruck verändert worden. Die Angaben der Originalausgabe werden deswegen mitgeführt.) Vgl. Adolf Dyroff: Über Teichmüllers Bedeutung. In: Archiv für spiritualistische Philosophie und ihre Geschichte, Bd. 1, hg. von Wladimir Szyłkarski (o. O. [Amsterdam] o. J. [1940]) VII–XXIV, hier XIV f. 6 7
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Die »Geschichte der Begriffe« zeige »die Motive jeder Theorie und die Bahnen, welche jeder Begriff seiner Herrschaft unterworfen hat, ebenso aber auch die Collisionen mit den übrigen Wahrheiten und die Auflösung eitler Machtansprüche.«11 Dem Versuch, »die Philosophie in die Culturgeschichte und Nationalliteratur aufgehen zu lassen«, wird unter Berufung auf Trendelenburg ausdrücklich widersprochen.12 Damit ist klar, daß Teichmüllers Darstellung trotz ihrer vordergründigen Orientierung an Autoren, an den »Namen der Philosophen«, letztlich auf die Lösung der »Probleme« aus ist. Demnach ist Begriffsgeschichte problemgeschichtlich ausgerichtet, und Philosophie fällt nicht mit ihrer Geschichte zusammen. Wenn man Teichmüller zu Recht zu den Begründern der Begriffsgeschichte zählt, so ist zu betonen, daß ihm jeder Historismus, er spricht von »historischer Psychologie«13, fremd ist. Überblickt man das Gesamtwerk Teichmüllers, so könnte man ihn schon aus rein quantitativen Gründen in erster Linie für einen Historiker der Philosophie halten, wobei dieser Eindruck noch dadurch verstärkt wird, daß seine Untersuchungen sich in erster Linie auf die griechische Philosophie erstrecken, und er mitunter ausdrücklich noch weiter zurückgeht, indem er den Orient einbezieht. Die Konzentration auf die griechische Philosophie ergibt sich für Teichmüller gerade aus dem begriffsgeschichtlichen Interesse: »Da unsere Philosophie fast ganz auf den Griechen ruht, so muss die Hauptarbeit des Geschichtsforschers den Ursprüngen der Begriffe bei den Griechen gewidmet werden.«14 Er meint sogar, es »würde nur ein dürftiges Häuflein originaler Begriffe übrig bleiben«, wenn wir von den Begriffen griechischen Ursprungs absehen wollten.15 In Erweiterung des bekannten Diktums von A. N. Whitehead, könnte man also sagen, daß für Teichmüller die abendländische Philosophie lediglich aus Fußnoten zur griechischen Philosophie bestehe. Hinzu kommt, daß Teichmüller ein wirkliches Verständnis der von den Griechen übernommenen Begriffe vermißt, da sie »in recht unklarer Fassung« übernommen worden seien.16 Daher gilt: ad fontes, zurück zu den Ursprüngen. Bei diesem Rückgang zeige sich dann, daß vieles von dem, was für eine »neue Entdeckung« gehalten werde, längst »bewiesen oder widerlegt« sei.17 Gerade diese Formulierung zeigt, daß Teichmüllers Interesse nicht den historischen Meinungen als solchen und deren Genese gilt. Es geht vielmehr um die Beantwortung der systematischen Frage nach ihrer Geltung, der Überprüfung von Meinungen als wahr oder falsch. Auch wenn dies in den Details der Einzeluntersuchungen Ders.: Studien, a. a. O. [Anm. 10] V (Orig. III). Ders.: Neue Studien zur Geschichte der Begriffe. Heft 1 (Gotha 1876). Nachdruck (Hildesheim 1965) VI. 13 Ebd. V. 14 Ebd. V f. 15 Ders.: Neue Studien zur Geschichte der Begriffe. Heft 2 (Gotha 1878). Nachdruck (Hildesheim 1965) 259. 16 Ebd. 17 Ebd. 260. 11 12
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nicht immer deutlich erkennbar ist, strebt Teichmüller – gut Platonisch – die Überführung von Meinung in Wissen an. In diesem Sinne setzt er sich von der rein historischen, die Auffassungen großer und kleiner Geister in gleicher Weise abhandelnden und daher letztlich teilnahmslosen Darstellung der griechischen Philosophie ab, wie sie Eduard Zeller in seinem bekannten umfassenden Werk »Die Philosophie der Griechen in ihrer geschichtlichen Entwicklung« vorgelegt habe. Eine solche Darstellung leiste dem Mißverständnis Vorschub, als gehörten die Gedanken der Griechen »einer uns fremden und staubigen antiquarischen Welt« an, die kein systematisches Interesse verdiene.18 Teichmüllers Arbeiten zur Begriffsgeschichte machen den weitaus größten Teil seiner Publikationen aus. Tatsächlich hat er aber, wie seine Hauptwerke Die wirkliche und die scheinbare Welt und die Religionsphilosophie belegen, ein grundsätzlich systematisches Verständnis von Philosophie. Verdeckt wird dies dadurch, daß diese Arbeiten erst sehr spät erschienen sind und es Teichmüller nicht vergönnt war, seine systematische Philosophie weiter auszubauen.19 Auf diese gehe ich hier nicht ein, wobei ich nicht verschweigen will, daß ich deren metaphysischer Ausrichtung im Rückgang von Kant zu Leibniz durchaus kritisch gegenüberstehe. Wichtig ist mir allein Teichmüllers Verständnis der Begriffsgeschichte, daß diese keinen Selbstzweck darstelle, sondern eine Vorarbeit leiste, nämlich die »erste Bedingung« für die »Fortschritte der Philosophie«20; »denn unsre heutige Philosophie bedarf noch immer der Arbeit, um die verwickelten Probleme ihrer Forschung durch den Blick auf die einfachen und durchsichtigen Motive ihrer Ursprünge leichter zu beherrschen und um nicht Wege zu verfolgen, die in eine Sackgasse führen, und deren Fruchtlosigkeit die Geschichte zeigen kann«21. Die historische Entwicklung wird aufgezeigt, um Fehlentwicklungen aufzudecken bzw. zu vermeiden und die philosophischen Grundbegriffe letztlich in einer systematischen »Topographie« zu verorten. Dabei geht Teichmüller sogar so weit zu behaupten, daß »jeder Begriff, wie im Raum jeder Punkt, seine durch bestimmte Bedingungen fest und nothwendig geordnete Lage in einem allgemeinen Systeme der Begriffe hat«22. Hier scheint sich Teichmüller zu einem Begriffsplatonismus zu versteigen, für den das systematische Interesse an der Begriffsgeschichte in einem ahistorischen System der Begriffe aufgeht.23 Der Begriffsgeschichte käme danach lediglich die Rolle einer vorbereitenden, letztlich negativen Heuristik zu. Hier ist daran zu erinnern, Ebd. 258 f. Verwiesen sei in diesem Zusammenhang auf die nachgelassenen Schriften: G. Teichmüller: Neue Grundlegung der Psychologie und Logik. Hg. von Jacob Ohse (Breslau 1889); und: Ders.: Logik und Kategorienlehre. In: Archiv für spiritualistische Philosophie, a. a. O. [Anm. 10] 1–272. 20 G. Teichmüller: Studien, a. a. O. [Anm. 10] V (Orig. III). 21 Ebd. V f. (Orig. III f.). 22 Ders.: Religionsphilosophie (Breslau 1886) 16. 23 Vgl. dazu den Beitrag von Wolfgang Rother in diesem Band. 18 19
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daß systematische Philosophie nicht mit der Errichtung eines philosophischen Systems zusammenfällt. Der Systemgedanke führt Teichmüller dazu, sich explizit von der »Bearbeitung der Begriffe« im Sinne Herbarts abzusetzen, indem er betont, daß man die Probleme nicht »aus dem Ganzen der Systeme […] herausreissen dürfe«24. Teichmüller konzentriert sich auf die zentralen Begriffe; aber auch diese geben eher den Leitfaden ab, an denen sich die Darstellung gewissermaßen ›entlanghangelt‹. Sein Buch will »kein Handbuch«25 sein, die Form bleibt der auf Zusammenhang bedachten Geschichtsschreibung verpflichtet. Obwohl Teichmüller bereits das Ziel formuliert »eine Sammlung aller bisher erarbeiteten philosophischen Begriffe«26 vorzulegen, um »den Besitzstand der Philosophie zu verzeichnen«, ist bei ihm ein alphabetisch geordnetes historisches Wörterbuch der Philosophie noch nicht in Sicht. Mit der Durchführung eines solchen Unternehmens hat erst Eucken in Ansätzen ernst gemacht, wobei er bereits vor Teichmüller ganz im Sinne Trendelenburgs eine »Aufforderung zur Begründung eines Lexicons der philosophischen Terminologie« startete.27 Beide Autoren bestätigen sich gegenseitig den Wert der Begriffs- bzw. Terminologiegeschichte. So schreibt Eucken an Teichmüller nach dessen Übersendung der »Studien zur Geschichte der Begriffe«: »Die ganze Arbeit an der Geschichte der Begriffe halte ich für äusserst verdienstlich, sie fördert entschieden die Klarheit der Begriffe und damit auch die Aufgabe der Gegenwart.«28 Dieses Zitat unterstreicht, daß die Begriffsgeschichte in erster Linie der Klärung der Begriffe und damit einem systematischen Ziel dienen soll. Umgekehrt erkennt Teichmüller den Gegenwartsbezug von Euckens »Geschichte der philosophischen Terminologie im Umriß« an: »Es steckt darin ein erstaunlicher Fleiss und jeder neuere Philosoph wird davon Gebrauch machen müssen.«29 Obwohl Teichmüller im Unterschied zu Eucken von einer Geschichte der Begriffe und nicht der Terminologie spricht, besteht in der Sache doch Übereinstimmung, da Begriffs- und Terminologiebildung für Teichmüller in einem engen Zusammenhang stehen. Unter Berufung auf Leibniz fordert er die Definition der Begriffe, die Überführung von klaren in deutliche Begriffe: »Ich habe immer gefunden, daß nicht nur der Lernende, sondern auch der Forschende erst recht zur Besinnung kommt, wenn er die Definition sucht und noch mehr, wenn er ihrer mächtig wird.«30 Dieser systematische Standpunkt macht ihn aber nicht blind für den tatsächlichen Umgang mit Definitionen bei philosophischen Klassikern. G. Teichmüller: Studien, a. a. O. [Anm. 10] VI (Orig. IV). Vgl. Neue Studien (1), a. a. O. [Anm. 12] X. 25 Ders.: Studien, a. a. O. [Anm. 10] VIII (Orig. VI). 26 Ders.: Neue Studien (2), a. a. O. [Anm. 15] 260. 27 Philosophische Monatshefte 8 (1872/73) 81. 28 Brief Jena 20.11.1875. Abgedruckt in: Archiv für spiritualistische Philosophie, a. a. O. [Anm. 10] 426 f. 29 Brief Teichmüller an Eucken, Dorpat 28.11.78, ebd. 432. 30 G. Teichmüller: Logik und Kategorienlehre, a. a. O. [Anm. 19] 1. 24
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So heißt es mit Blick auf Aristoteles, daß dieser trotz seiner durchgehenden Ausbildung einer Terminologie an Stellen, wo es nicht um die Ausführung seiner eigenen Auffassungen geht, Ausdrücke verwendet, »die seinem Systeme sonst ganz fremd und widersprechend sind«.31 Begriffe stehen jedenfalls in Verbindung mit Definitionen, insofern diese Festlegungen der Bedeutung von Termini oder zumindest Versuche solcher Festlegungen darstellen. Dieses an die Ausbildung von Terminologien gebundene Verständnis von Begriffen führt Teichmüller (richtiger Weise) dazu, zwischen Begriffen und Ideen und dementsprechend dann auch zwischen Begriffs- und Ideengeschichte zu unterscheiden.32 Begriffe zeichnen sich gegenüber Ideen dadurch aus, daß ihre Bildung durch »bewußte Gedankenarbeit« erfolgt. Eine Begriffsgeschichte setzte daher ein Bemühen um terminologische Bestimmungen auf Seiten der untersuchten Autoren voraus. Ideen können auch, wie Teichmüller zu Recht hervorhebt, vorbegrifflich oder begrifflich unbestimmt leitend sein, wie in der Religion, in der Politik und in der Kunst. Demgemäß grenzt Teichmüller die Begriffsgeschichte von der umfassenderen Ideengeschichte, »welche die Mythologie in erster Linie und dann auch die ganze Culturgeschichte umspannen muss«, als einen Teilbereich ab, wobei die Begriffsgeschichte auf die Analyse von Bemühungen beschränkt bleibt, Ideen durch mehr oder weniger genaue Definitionen in Begriffe zu überführen. Betont wird, daß philosophische Begriffe nicht isoliert betrachtet werden dürfen, sondern andere Gebiete, wie insbesondere die Theologie,33 die Psychologie und die Naturwissenschaften, einzubeziehen haben. Dieser Einsicht ist das »Historische Wörterbuch der Philosophie« unter Ausweitung auf alle Disziplinen gefolgt. Für die Einbeziehung der Naturwissenschaften steht in Teichmüllers eigenen Arbeiten z. B. die Untersuchung zur Begrifflichkeit Heraklits. Als das Neue an seiner Darstellung betont Teichmüller hier, daß er »der Metaphysik die Physik vorangehen«34 lasse. Dieses Vorgehen fand Zustimmung und Anerkennung, so auch durch Hermann Lotze, den seinerzeit anerkanntesten deutschsprachigen Philosophen, so daß Teichmüller feststellen konnte: »Durch meine Studien zur Geschichte der Begriffe kam ich zu der Erkenntniss, die seltsamer Weise als eine neu gewonnene betrachtet werden muss, daß das Verständniss der Metaphysik der Alten unumgänglich eine vorhergehende Bekanntschaft mit ihrer Physik voraussetzte.«35 Zu nennen ist an dieser Stelle auch die Berücksichtigung der Anatomie und Physiologie in der Untersuchung über die praktische Vernunft bei Aristoteles.36 Ders.: Aristotelische Forschungen. Bd. 2 (Halle 1869). Nachdruck (Aalen 1964) 5. Vgl. ders.: Neue Studien (2), a. a. O. [Anm. 15] 261 f. 33 Hierfür steht der dritte Band der Aristotelischen Forschungen zur »Geschichte des Begriffs der Parusie« (Halle 1873). Nachdruck (Aalen 1964). 34 G. Teichmüller: Neue Studien (1), a. a. O. [Anm. 12] VIII. 35 Ders.: Neue Studien (2), a. a. O. [Anm. 15] 273. 36 Vgl. ders.: Neue Studien zur Geschichte der Begriffe. Heft 3 (Gotha 1879). Nachdruck (Hildesheim 1965). Teichmüller selbst kündigt Eucken an, daß dieser Band seine »wichtigsten 31 32
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Ein wesentlicher Zug von Teichmüllers Herangehensweise ist die Befolgung des hermeneutischen Prinzips des Wohlwollens (»principle of charity«), nämlich die Unterstellung von Rationalität und Konsistenz auf Seiten der untersuchten Autoren.37 Die Befolgung dieses Prinzips unterstreicht das problemgeschichtliche Interesse im Blick auf eine mögliche systematische Rekonstruktion philosophischer Begrifflichkeit. Besonders im Falle der Interpretation der Platonischen Ideenlehre findet Teichmüller hier wiederum große Zustimmung durch H. Lotze. Dieser hatte gleichzeitig der üblichen Interpretation der Platonischen Ideenlehre widersprochen, die Platon »eine so widersinnige Meinung« zutraut, daß den Ideen »ein Dasein abgesondert von den Dingen, und doch […] ähnlich dem Sein der Dinge« zukomme.38 Ich hebe dies besonders hervor, weil Lotzes Platondeutung im Sinne einer Theorie der Geltung (und nicht des Seins) von eminenter Bedeutung für eine Verbindung von Platonismus und Kantianismus zu einem transzendentalen Platonismus im südwestdeutschen Neukantianismus wurde.39 Die geltungstheoretische Deutung der Platonischen Ideenlehre ist ein besonders eindrückliches Beispiel dafür, wie aus der Begriffsgeschichte problemgeschichtliches Kapital geschlagen werden kann. Wie wir gesehen haben, steht Teichmüller historisch und systematisch auf der Seite der Begriffe. Damit scheidet aus seiner Betrachtung nicht nur die Ideengeschichte, sondern auch die Metapherngeschichte aus, im ersteren Fall lediglich aus Gründen der Arbeitsteilung, im letzteren anscheinend aus prinzipiellen Gründen, indem es heißt, daß es besser sei, »alle metaphorischen Ausdrücke möglichst zu entfernen«.40 Dem können wir heute in keiner Weise mehr zustimmen.41 Ganz im Gegenteil haben wir anzuerkennen, daß sich gerade die grundlegenden Unterscheidungen in der Philosophie (und in den Wissenschaften) vielfach als kategoriale Metaphern darstellen, so daß es geradezu ein Erfordernis unserer Zeit ist, die Begriffsgeschichte durch eine Metapherngeschichte zu ergänzen. Weiter als Teichmüller war hier bereits Eucken, der neben der Geschichte der philosophischen Terminologie auch die Geschichte der philosophischen Metaphern in den Blick genommen hat und so als Vorläufer der von Studien enthält und viele sehr überraschende neue Ideen bringt mitten in allbekanntem Material.« (Brief Dorpat 17.10.78; in: Archiv für spiritualistische Philosophie, a. a. O. [Anm. 10] 432). In seiner Antwort bestätigt Eucken Teichmüller dessen Grundsatz, daß die Gedankenentwicklung der Philosophen nicht »isoliert zu betrachten«, sondern in einen »grösseren Zusammenhang« zu stellen sei (Brief Jena 4.1.79, ebd. 433). 37 Vgl. H. Schwenke: Zurück zur Wirklichkeit, a. a. O. [Anm. 8] 67. 38 Hermann Lotze: Logik (Leipzig 1874) §§ 317 ff. Vgl. dazu Teichmüller selbst in: Neue Studien (2), a. a. O. [Anm. 15] 263. 39 Vgl. den Artikel »Platonismus II«. In: HWPh, Bd. 7 (Basel 1989) 985–988. 40 G. Teichmüller: Logik und Kategorienlehre, a. a. O. [Anm. 19] 1. 41 Vgl. dazu G. Gabriel: Begriff – Metapher – Katachrese. Zum Abschluß des »Historischen Wörterbuchs der Philosophie«. In: Begriffe, Metaphern und Imaginationen in Philosophie und Wissenschaftsgeschichte, a. a. O. [Anm. 2] 11–22. In den Überlegungen im ersten Teil des vorliegenden Beitrags greife ich auf diesen Text zurück.
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Blumenberg begründeten Metaphorologie gelten darf.42 Was Blumenberg für die Metaphorologie in Anspruch nimmt, daß sie an die »Substruktur des Denkens«43 heranführt, gilt allerdings bereits für die Geschichte begrifflicher Unterscheidungen, indem diese die nicht-propositionale Substruktur des propositionalen Denkens freilegt. Einzubeziehen in die Untersuchung sind insbesondere auch kategoriale Katachresen als ›tote Metaphern‹, weil deren die Erkenntnis leitende und häufig auch irreleitende Funktion sozusagen im Verborgenen nachwirkt. Hatte doch schon Kant mit Blick auf solche Beispiele wie ›Grund‹ und ›Substanz‹ eine Untersuchung gefordert.44 Insofern tut man gut daran, sich auf eine Diskussion der Frage der Abgrenzung zwischen Begriffen und Metaphern gar nicht erst einzulassen. Zu widersprechen ist dagegen den fatalen erkenntniskritischen Konsequenzen, die aus dem bekannten Diktum Nietzsches gezogen werden, begriffliche »Wahrheit« sei ein »bewegliches Heer von Metaphern«45. In einem Punkt hat Nietzsche freilich Recht: Solange man an einer strikten Trennung zwischen (logischen) Begriffen und (rhetorischen) Metaphern festhält und dabei Begriffe als Garanten der Erkenntnis ausgibt, Metaphern dagegen als Mittel bloßer Überredung diffamiert, fällt dieses Verdikt schließlich auf die Begriffe zurück. Mit ihrer Entlarvung als tote Metaphern löst sich dann auch deren kognitiver Anspruch auf. Als Konsequenz ergibt sich hieraus eine radikale Erkenntniskritik, wie wir sie im Anschluß an Nietzsche in extremster Form in dem sprachkritischen Wörterbuch der Philosophie von Fritz Mauthner vorliegen haben. Bei Mauthner sind bereits alle Pointen und Irrtümer der Dekonstruktion vorgebildet.46 Die angemessene Reaktion auf deren Übertreibungen scheint mir zu sein, die These, daß es eine strikte Trennung zwischen Begriff und Metapher nicht gebe, sozusagen zu ›schenken‹, dafür aber um so entschiedener am Erkenntniswert der Metaphern festzuhalten, und dies gerade im Felde der Begriffsbildung.47 Ich fasse noch einmal den Kern meiner Überlegungen zusammen: Begriffliche Unterscheidungen stellen sich als vor-propositionale Erkenntnisse dar, die unsere propositionalen Erkenntnisse vorprägen, und zwar in einer solchen auf- und eindringlichen Weise, daß uns dies selbst häufig gar nicht bewußt ist.
Vgl. Rudolf Eucken: Ueber Bilder und Gleichnisse in der Philosophie (Leipzig 1880). Hans Blumenberg: Paradigmen zu einer Metaphorologie (Frankfurt a. M. 1998) 13. 44 Vgl. Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, § 59. 45 Friedrich Nietzsche: Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn. In: Werke, Bd. 3, hg. von K. Schlechta (München 71973) 309–322, hier 314. 46 Vgl. G. Gabriel: Logik und Rhetorik der Erkenntnis. Zum Verhältnis von wissenschaftlicher und ästhetischer Weltauffassung (Paderborn 1997) III. Kap. (49–66). 47 Daher ist es auch abwegig, die Metaphorologie dekonstruktiv gegen die Begriffsgeschichte auszuspielen, wie dies Anselm Haverkamp versucht: Metapher. Die Ästhetik in der Rhetorik (München 2007). Vgl. meine Kritik: ›Begriffsgeschichte vs. Metaphorologie‹? Zu Anselm Haverkamps dekonstruktiver Vereinnahmung Blumenberg. In: Zeitschrift für Ideengeschichte, Heft II/2 (Sommer 2008) 121–125. 42 43
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Wie wir die Welt sehen, ist durch unsere Begriffsbildungen – unter Einschluß kategorialer Metaphern – bestimmt. Eine Begriffs- und Metapherngeschichte, welche die expliziten und impliziten Unterscheidungen ans Licht bringt, liefert uns dementsprechend eine Hermeneutik der Weltauffassungen als materiale Grundlage problemorientierter explikativer Erläuterungen oder rekonstruktiver Neubestimmungen von Begriffen in systematischer Absicht.
Wolfgang Rother
Gustav Teichmüllers Theorie der Begriffsgeschichte
Daß Gustav Teichmüller heute kaum mehr bekannt ist,1 dürfte nicht unwesentlich mit seiner akademischen Laufbahn zusammenhängen, die ihn 1871 an die Universität Dorpat führte, wo er bis zu seinem Tod im Jahr 1888 lehrte. Hier entstand der größte Teil seines beträchtlichen, über 6000 Druckseiten umfassenden Œuvres,2 von hier aus übte er einen nicht zu unterschätzenden Einfluß auf die philosophische Kultur in Rußland aus.3 Aber hier war er auch von Deutschland abgeschnitten, hier wurde er von den deutschen Fachkollegen weitgehend ignoriert.4 Seine erste ordentliche Professur hatte er 1868 als Nachfolger Diltheys an der Universität Basel erhalten. Er war Kollege Nietzsches, der sich nach Teichmüllers Weggang erfolglos um dessen Lehrstuhl bewarb.5 Teichmüller gilt als »Pionier der philosophischen Begriffsgeschichte«.6 Das vor kurzem abgeschlossene Historische Wörterbuch der Philosophie, das sich die Begriffsgeschichte auf seine Fahnen geschrieben hat,7 führt ihn im Artikel »Begriffsgeschichte« unter den Stammvätern dieser Disziplin auf.8 Er scheint diesen Platz in der Ahnengalerie der Begriffsgeschichte durchaus zu Recht einzunehmen, füllen seine begriffsgeschichtlichen Arbeiten doch annähernd 2000 Druckseiten. Den Auftakt bildet 1873 der dritte Band der Aristotelischen For-
Die einzige neuere Arbeit über Teichmüller ist das Buch von Heiner Schwenke: Zurück zur Wirklichkeit. Bewusstsein und Erkenntnis bei Gustav Teichmüller (Basel: Schwabe, 2006) [Studien zur Geschichte der Wissenschaften in Basel, N.F. 4]. Dort findet sich auch ein Bericht über die wenigen Arbeiten zu Teichmüller (ebd. 119–121). Heiner Schwenke bereitet eine kommentierte Ausgabe »Gesammelter Werke« Teichmüllers vor, die im Verlag Schwabe, Basel, erscheinen wird. 2 Vgl. das Schriftenverzeichnis ebd. 309–312 sowie die Werkzusammenfassungen ebd. 64–116. 3 Vgl. ebd. 51 Anm. 97. Für Teichmüllers Einfluß auf Nikolaj Losskij (1870–1960) und seinen Intuitivismus vgl. ebd. 263–286. 4 Vgl. ebd. 46. 5 Vgl. ebd. 257–258. 6 Ebd. 13, 32. 7 Vgl. Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. von Joachim Ritter, Karlfried Gründer und Gottfried Gabriel. 13 Bde. (Basel: Schwabe, 1971–2007). Zur Konzeption vgl. das Vorwort von J. Ritter in Bd. 1, S.V–XI sowie: Zur Neufassung des »Eisler«. Leitgedanken und Grundsätze eines Historischen Wörterbuchs der Philosophie. In: Zeitschrift für philosophische Forschung 18 (1964) 704–708 = Archiv für Geschichte der Philosophie 47 (1965) 299–304 = Archiv für Begriffsgeschichte 11 (1967) 75–80. 8 Vgl. H. G. Meier: Artikel »Begriffsgeschichte«. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie [Anm. 7]. Bd. 1, 788–808, über Teichmüller unter dem Titel »Begriffsgeschichtliche Philosophie der Philosophiegeschichte«, ebd. 802–804. 1
Archiv für Begriffsgeschichte · Sonderheft 8 · © Felix Meiner Verlag 2010 · ISBN 978-3-7873-1971-8
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schungen,9 dem im Jahr darauf die Studien zur Geschichte der Begriffe10 und zwischen 1876 und 1879 drei Bände Neue Studien zur Geschichte der Begriffe folgen.11 Wer bei Teichmüller allerdings begriffsgeschichtliche Studien erwartet, wie sie die Artikel des Historischen Wörterbuchs der Philosophie bieten, wird enttäuscht sein. Der einschlägige Band der Aristotelischen Forschungen enthält eine »Geschichte des Begriffs der Parusie« von Platon über Aristoteles, die Stoiker, das Neue Testament bis hin zu den griechischen Kirchenvätern, eine Studie über die Entelechie bei Aristoteles und den »Begriff des ewigen Lebens im Neuen Testament«. In den Studien zur Geschichte der Begriffe werden Anaximander, Anaximenes, Xenophanes, Platon und Aristoteles behandelt, die Beiträge sind nicht nach Begriffen, sondern nach Philosophen geordnet.12 Die Bände I und II der Neuen Studien sind fast ausschließlich Heraklit gewidmet, Band III trägt den Untertitel »Die praktische Vernunft bei Aristoteles«. Der Frage, wieso Teichmüllers begriffsgeschichtliche Forschungen sich auf die Philosophie der Antike beschränken, wird unten in Abschnitt II nachzugehen sein. Von einem Autor, der so umfangreiche Studien zur Begriffsgeschichte verfaßt hat, darf man eine Theorie dieser Disziplin erwarten. Wer diese in den Vorworten zu den genannten Werken zu finden hofft, wird allerdings erstaunt sein, wie summarisch die diesbezüglichen methodischen Reflexionen ausfallen. Als einschlägiger erweisen sich hingegen Teichmüllers 1882 erschienenes philosophisches Hauptwerk, Die wirkliche und die scheinbare Welt,13 sowie die Religionsphilosophie von 1886,14 die daher für eine Rekonstruktion seiner Theorie der Begriffsgeschichte beizuziehen sein werden.
Aristotelische Forschungen. Bd. 3: Geschichte des Begriffs der Parusie (Halle: Barthel, 1873; Nachdruck: Aalen: Scientia, 1964) XVI, 163 [im folgenden AF III]. 10 Studien zur Geschichte der Begriffe (Berlin: Weidmann, 1874; Nachdruck: Hildesheim: Georg Olms, 1966) XI, 667 [im folgenden SGB]. 11 Neue Studien zur Geschichte der Begriffe. I. Heft: Herakleitos (Gotha: Friedrich Andreas Perthes, 1876) XVI, 269, (2); […] II. Heft: Pseudohippokrates de diaeta. – Herakleitos als Theolog. – Aphorismen (Gotha: Friedrich Andreas Perthes, 1878) XIV, 298; […] III. Heft: Die praktische Vernunft bei Aristoteles (Gotha: Friedrich Andreas Perthes, 1879) XVII, 453, (1) [im folgenden NSGB I–III]. 12 Als sehe er sich zu einer Rechtfertigung genötigt, schreibt Teichmüller im Vorwort zu den Studien zur Geschichte der Begriffe: »Obgleich darum in diesen Studien die Abschnitte durch die Namen der Philosophen und nicht der Probleme bezeichnet sind, so wird die Behandlung des Stoffes den Leser doch bald überzeugen, dass die Geschichte der Begriffe das Ziel meiner Arbeit war, wobei mir freilich nur der fortwährende Blick auf das Ganze der Lehre förderlich zu sein schien.« (SGB [Anm. 10] VI). 13 Die wirkliche und die scheinbare Welt. Neue Grundlegung der Metaphysik (Breslau: Wilhelm Koebner, 1882) XXXVI, 357, (2) [im folgenden WSW]. 14 Religionsphilosophie (Breslau: Wilhelm Koebner, 1886) (2), XLVI, 558, (2) [im folgenden Rph]. 9
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I. Philosophiegeschichte als Begriffsgeschichte – Begriffsgeschichte als Philosophiegeschichte Da die Sphäre des Philosophierens der Begriff ist, »Philosophie« als »Vernunftwissenschaft« – wie Teichmüller wiederholt geltend macht – »nur in Begriffen besteht«,15 ist für ihn Philosophiegeschichte nur als Begriffsgeschichte möglich. Mit seinem Konzept einer philosophischen Geschichte der Philosophie distanziert er sich zum einen von einem Verständnis der Philosophiegeschichte als Doxographie: »eine Geschichte der Meinungen und Ueberzeugungen [ist] keine Geschichte der Philosophie«.16 Zum anderen weist er den Ansatz der von ihm so genannten »historischen Psychologie« zurück, die für die Erklärung der Genese philosophischer Systeme biographische Begebenheiten und die sozialen, religiösen und politischen Rahmenbedingungen heranzieht.17 Seine Idee einer philosophischen Philosophiegeschichte positioniert sich auf diese Weise in Abgrenzung zu einer historischen Philosophiegeschichte, deren verlegerisch erfolgreiches Paradigma damals der Grundriss der Geschichte der Philosophie von Friedrich Ueberweg war,18 auf den Teichmüller in seinen Studien wiederholt Bezug nimmt.19 In seiner begriffsgeschichtlichen Konzeption der Philosophiegeschichte mit der Prämisse, daß der Gegenstand der Philosophie einzig die Begriffe sind, wird die Geschichte der Philosophie als zur Philosophie selbst gehörig betrachtet.20 Sie liefert gewissermaßen den ›empirischen‹ Stoff der Philosophie,
15 SBG [Anm. 10] V; NSGB I [Anm. 11] V; RPh [Anm. 13] 362 (Philosophie als »Vernunftwissenschaft«). 16 NSGB I [Anm. 11] V. 17 Ebd. 18 Friedrich Ueberweg: Grundriss der Geschichte der Philosophie von Thales bis auf die Gegenwart. 3 Bde. (Berlin: Ernst Siegfried Mittler und Sohn, 1863–1866). Die 12. Auflage erschien 1923–1926, eine völlig neubearbeitete Ausgabe erscheint seit 1983 im Verlag Schwabe, Basel. 19 Ueberwegs Grundriss der Geschichte der Philosophie wird von Teichmüller wiederholt kritisiert. Es handelt sich dabei nicht um eine grundsätzliche Kritik am Ueberwegschen Konzept historischer Philosophiegeschichtsschreibung, sondern um punktuelle Einwände: vgl. z. B. SGB [Anm. 10] 138, 141, 182–183; Aristotelische Forschungen. Bd. 2: Aristoteles’ Philosophie der Kunst, erklärt (Halle: Barthel, 1869; Nachdruck: Aalen: Scientia, 1964) 10. Zu Teichmüllers Kritik an Ueberwegs Repräsentationstheorie und Idealrealismus vgl. Schwenke: Zurück zur Wirklichkeit [Anm. 1] 150–151, 154 Anm. 88. 20 Damit befindet er sich im Einklang mit Kants Idee einer »philosophirenden Geschichte der Philosophie« (Lose Blätter zu den Fortschritten der Metaphysik. In: Kant’s gesammelte Schriften. Akademie-Ausgabe. Bd. 20, S. 340–341). Vgl. dazu Hermann Lübbe: Philosophiegeschichte als Philosophie. Zu Kants Philosophiegeschichtsphilosophie In: Einsichten. Gerhard Krüger zum 60. Ge-burtstag, hg. von Klaus Oehler und Richard Schaeffler (Frankfurt a.M.: Vittorio Klostermann, 1962) 204–229. Für Lübbe ist Kant »einer der ersten Philosophiegeschichtsphilosophen im strengen Sinn derer, die als solche die Philosophiegeschichte zum Range, selbst Philosophie zu sein, erheben möchten« (ebd. 210–211). Vgl. auch Hegels Diktum, »daß das Studium der Geschichte der Philosophie Studium der Philosophie selbst ist« (G. W. F. Hegel:
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sie ist »ein Feld der Beobachtung, eine Art von Experiment und eine wichtige Controle der Forschung«.21 Teichmüllers These, daß die Begriffsgeschichte eine präventiv-kritische Funktion ausübt, indem sie die Philosophie davor bewahrt, »Wege zu verfolgen, die in eine Sackgasse führen« und sich schließlich als unentbehrlich für die »Fortschritte der Philosophie« erweist,22 liegt die Auffassung zugrunde, daß es in der Philosophie einen definierbaren gesicherten Bestand an Begrifflichkeit gibt, auf den, wenn er einmal in einer Geschichte der Begriffe dokumentiert ist, ohne weiteres zurückgegriffen werden kann. Teichmüllers streng philosophisches Verständnis von Begriffsgeschichte führt ihn zu einer Präzisierung seines Begriffs von Begriffsgeschichte in der Abgrenzung zu verwandten geistesgeschichtlichen Disziplinen und Methoden, nämlich 1) zur Ideengeschichte, 2) zur Etymologie und 3) zur Lexikographie. 1) Den Unterschied zwischen Begriffs- und Ideengeschichte thematisiert Teichmüller in dem Aphorismus »Ueber den Titel: Geschichte der Begriffe« im zweiten Band der Neuen Studien zur Geschichte der Begriffe.23 Er faßt die Idee platonisch und hebt zum einen hervor, daß sie unabhängig davon, ob sie überhaupt erkannt wird, existiert, zum anderen, daß sie eine Wirkkraft besitzt, die sich in der »Culturgeschichte« entfaltet. Der eigentliche Gegenstand der Ideengeschichte ist der Mythos, d. h., Literaturgeschichte oder Literaturwissenschaft ist für Teichmüller nur als Ideengeschichte, nicht aber als Begriffsgeschichte möglich. Begriffe müssen nämlich drei Bedingungen erfüllen: Sie werden erstens mit einem »terminus technicus« bezeichnet, bedürfen zweitens einer »Definition« und setzen drittens die »Arbeit des Denkens« voraus, d. h. entweder eine Deduktion aus »einfacheren Principien« oder eine »inductive Begründung«. 2) Die Abgrenzung zur Etymologie ist in wissenschaftstheoretischer Hinsicht unproblematisch: Begriffsgeschichte ist eine philosophische, Wort- und Bedeutungsgeschichte eine sprachwissenschaftliche Disziplin. So kann Teichmüller die völlige Unabhängigkeit beider Disziplinen und Methoden postulieren. Die Okkurenz eines Wortes impliziert nicht notwendig die Existenz eines dazugehörigen Begriffes.24 Und das Verständnis eines Begriffs ist ohne Kenntnis der Etymologie möglich, wie umgekehrt mit der Rekonstruktion der Etymologie der Begriff noch nicht erfaßt ist.25 Vorausgesetzt ist dabei die Freiheit des Denkens von der Sprache bei der Bestimmung der Begriffe. Den in der Abgrenzung
Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie. Bd. 1: Einleitung. In: Werke in zwanzig Bänden [Theorie-Werkausgabe]. Bd. 18 [Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1971] 49). 21 SGB [Anm. 10] V. 22 Ebd. V–VI. 23 NSGB II [Anm. 11] 261–262. 24 »Dass es aber nicht von jedem Worte auch einen Begriff zu geben braucht, ist doch wohl nicht schwer zu beweisen. Ich erinnere nur an die berühmte Seeschlange, oder an die vielbesungene Lorelei: wer wäre im Stande, einen Begriff für irgendwelche diesen Namen entsprechende reale Wesen zu finden!« (RPh [Anm. 14] 167). 25 Vgl. WSW [Anm. 13] 12.
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zur Etymologie angelegten Konflikt zwischen der von Teichmüller gleichermaßen anerkannten »Autorität der Sprache« und seiner dem Denken zugestandenen »Souveränität« entscheidet er auf der Grundlage eines triadischen Modells zugunsten der letzteren. Er geht davon aus, daß »das Wort der Sprache nur eine unvollkommene Andeutung von einem Gedanken [sei], den man im Sinne habe und der durch die Natur der Dinge und der Vernunft fest und nothwendig gegründet, doch nicht so leicht sich selber klar werde und zum Begriff komme«.26 Dabei ist das Verhältnis von sprachlichem Zeichen zum Gedanken (und um so mehr zum Begriff) durch das Arbitraritätsprinzip gekennzeichnet, während der Gedanke erst durch die Arbeit des Denkens zum Begriff wird. 3) Wenn Teichmüller für die Begriffsgeschichte den »fortwährende(n) Blick auf das Ganze der Lehre« fordert,27 ist er sich durchaus bewußt, daß die Zurückweisung einer rein doxographischen zugunsten einer begriffsgeschichtlichen Philosophiegeschichtsschreibung die Gefahr eines lexikographischen Isolationismus in sich birgt. Er widmet der lexikographischen Methode einen ganzen Paragraphen der Wirklichen und der scheinbaren Welt, dessen Überschrift programmatisch lautet: »Die lexikographische Methode ist für die Philosophie unbrauchbar.«28 Der Nutzen der Lexikographie wird nicht prinzipiell bestritten, doch ihr methodischer Positivismus, der lediglich auf- und nachzeichnet, was gedacht wurde oder wird, wann ein bestimmtes Wort gebraucht wurde oder wird, läßt die Lexikographie als untaugliche Methode einer philosophischen Begriffsgeschichte erscheinen, da ihr Gegenstand nicht »die Richtigkeit oder Unrichtigkeit des Begriffs selbst« sei.29 Natürlich ist die Lexikographie dazu geeignet, anzugeben, »was ein Centaur oder eine Hexe ist und wer Apollo war«.30 Aber unter der Voraussetzung einer Orientierung an strenger philosophischer Begrifflichkeit spricht Teichmüller auf diese Weise Disziplinen wie der Literaturoder der Kulturwissenschaft implizit die Möglichkeit ab, als Begriffsgeschichte betrieben zu werden. Dieser Kritik an der Lexikographie liegt das erwähnte triadische Modell zugrunde, dem zufolge die genannten Lexeme zwar Gedanken repräsentieren, aber noch keine Begriffe sind und dies auch nie werden können. Die Lexikographie vermag die Grenzen der Sprache letztlich nicht zu überschreiten. Ihre Sphäre ist die zweistellige Relation von Zeichen und Gedanken. Zum dritten Relat, zum Denken des Begriffs, und damit in die Sphäre der Philosophie gelangt sie nicht. Ihre Aufgabe beschränkt sich darauf, »das Gemeinsame in allen Bedeutungen aufzusuchen, die ein und dasselbe Wort im Ebd. 13. SGB [Anm. 10] VI. 28 WSW [Anm. 13] 10: Titel von Buch I, Cap. 1, § 2. 29 Vgl. ebd. 10–11 (zit. 10) und 44. Teichmüller weist in diesem Zusammenhang darauf hin, daß Aristoteles die Lexikographie »genauer entworfen[en]« und »warm empfohlen[en]« und – allerdings wenig plausibel – die Hegelsche Philosophie »den ausschweifendsten Gebrauch von solchem lexikographischen Denken gemacht« habe (ebd. 10–11). 30 Ebd. 10. 26 27
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Laufe der Zeit erhalten hat, und die Wege der Ideenassociation zu finden, wodurch auch das Allerverschiedenste den gleichen Taufnamen empfing«31. Doch braucht die lexikographische Konstatierung und Erklärung von Homonymie, die Tatsache, daß identische sprachliche Ausdrücke nicht »unter dieselbe Definition fallen«, d. h. nicht denselben Begriff bezeichnen, die Philosophie nicht zu beunruhigen.32 Damit ist natürlich der Nutzen der Lexikographie nicht in Frage gestellt, die Teichmüller in ihrer Funktion einer begriffsgeschichtlichen Hilfswissenschaft, die den Sprachgebrauch dokumentiert, als durchaus »lehrreich« und »unverwerflich« bezeichnet.33
II. »Begriffe haben keine Beine« oder: Begriffsgeschichte als dekonstruktive Rekonstruktion des antiken Originals Eine Signatur der Teichmüllerschen begriffsgeschichtlichen Studien ist die Beschränkung auf die antike Philosophie. Wenn Philosophiegeschichte Begriffsgeschichte ist, wenn historische Forschung ihren Gegenstand von ihrem Ursprung her in den Blick nimmt,34 dann erscheint es als durchaus plausibel, daß »die Hauptarbeit des Geschichtsforschers den Ursprüngen der Begriffe bei den Griechen gewidmet werden«35 muß. Ebenso plausibel erscheint Teichmüllers methodisches Postulat der epochē des Begriffs- und Philosophiehistorikers, der es »verschmäht[e], die von Manchen für geistreich gehaltene Darstellungsweise anzuwenden, wonach die Theorien der Alten immer mit einer kritischen Sauce modernen Räsonnements servirt werden müssen«.36 Aber diese Plausibilitäten bilden für Teichmüller die Grundlage einer Theorie der Begriffsgeschichte, die letztlich jede Entwicklung der Begriffe leugnet und Begriffsgeschichte auf die Destruktion des Scheins einer Entwicklung reduziert. Dieser Schein wird durch die sprachliche Gestalt des Begriffs, durch das Gewand »moderner Ausdrucksweise« erweckt.37 Wenn also in der griechischen Philosophie bereits alle Begriffe vorhanden sind, wenn »die ganze moderne Philosophie nur ein immer nach den vermehrten positiven empirischen Kenntnissen und nach dem Zeitgeschmacke Ebd. 169. Ebd. 169–170. 33 Ebd. 10. 34 »Es ist interessant, den Lauf eines Flusses zu verfolgen; die Quelle aber bleibt das Wichtigste.« (NSGB III [Anm. 11] VIII). 35 NSGB I [Anm. 11] VI. 36 SGB [Anm. 10] VII. Vgl. auch WSW [Anm. 13] XXIV: »[…] ich liess mich zwar nie verleiten, von den heute grade herrschenden Ueberzeugungen aus, wie das den Meisten für philosophisch gilt, über die antike Plunderkammer abzuurtheilen, sondern versuchte vielmehr die modernen Auffassungsweisen zu vergessen und ganz mit den alten Griechen zu fühlen und zu forschen, um nichts Fremdes in ihre Denkweise hineinzutragen«. 37 NSGB II [Anm. 11] 259. 31 32
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zugestutztes Abbild des antiken Urbildes«38 ist, ja wenn, wie Teichmüller weiter voraussetzt, die von den Alten vorgeschlagenen Lösungen der philosophischen Probleme nichts an Gültigkeit eingebüßt haben, wenn damit der posthellenischen Philosophie jegliche Originalität abgesprochen wird,39 dann erschöpft sich die Philosophiegeschichte als Begriffsgeschichte in einer »Sammlung aller bisher erarbeiteten philosophischen Begriffe«40 mit dem Ziel einer dekonstruktiven Rekonstruktion, die die antiken Ursprünge allen Philosophierens freilegt: »Die […] Neuerer unterscheiden sich von den sich anschliessenden bloss dadurch, dass sie über die empfangenen und ererbten Begriffe im Unklaren sind und desshalb für neue Entdeckung halten, was schon Jahrhunderte vor ihnen beweisen oder widerlegt ist.«41 Für Teichmüller gibt es nichts Neues unter der Sonne. Sich als neu verstehende Systeme sind nur Variationen, »zeitgemässe Anpassungen uralter Ideenkreise«42. Die Entwicklung des Begriffs ist nur eine scheinbare. Was sich als eine spätere Entwicklungsform präsentiert, verhält sich nicht wie ein ausgewachsener, vollkommener Zustand zu einem noch unentwickelten und unvollkommenen Fötus, sondern umgekehrt wie eine im schlimmsten Fall bis zur Unkenntlichkeit entstellte Kopie zum Original.43 Teichmüllers Systembegriff ist explizit antidynamisch. Die Philosophie wandelt seit den Kirchenvätern auf der gleichen, von den Griechen gebauten »alte(n) granitne(n) Strasse«, mit deren »unveränderlich zugehauenen Bausteine(n)« die patristische Dogmatik in gleicher Weise wie neueren Philosophen ihre »speculativen Systeme« konstruierten.44 Die Tätigkeit de- und rekonstruierenden Freilegens illustriert Teichmüller wiederholt mit der suggestiven Kleidmetapher: Moderne Terminologie verhüllt die Begriffe in einer Weise, die das Wiedererkennen erschwert.45
WSW [Anm. 13] XXII. »Wenn wir in der neuesten Philosophie alle von den Griechen herübergenommenen Gedanken, die noch gewöhnlich in recht unklarer Fassung aufgenommen sind, wegliessen, so würde nur ein dürftiges Häuflein originaler Begriffe übrig bleiben.« (NSGB II [Anm. 11] 259). 40 Ebd. 260. 41 Ebd. 42 Ebd. 260–261. Vgl. auch NSGB III [Anm. 11] VII: »Desshalb ist es gut, daran immer wieder zu erinnern, dass alle diese hier behandelten Begriffe nicht nur viele Jahrhunderte hindurch lebendig blieben, sondern auch mit geringen Anpassungsmodificationen den höchsten Inhalt des menschlichen Denkens bis auf unsere Tage bilden.« 43 »[…] die späteren Entwicklungsformen der Begriffe sind nicht immer normale Bildungen, die den fötalen Zustand zu seiner vollkommenen Gestalt ausgelegt und ausgeprägt hätten, sondern sie sind oft nur Anwendungen und auch Verhüllungen des Begriffs in phantasievollen Gestalten.« (SBG [Anm. 10] X). 44 WSW [Anm. 13] XXIII. 45 »Darum fügt Boutroux [in einer Rezension der Neuen Studien zur Geschichte der Begriffe in der Revue philosophique par Ribot, 1877, no. 8, p. 146, 163, 164] mit Recht hinzu, dass die philosophischen Lösungen, welche die Alten für die Probleme der Wissenschaft fanden, fast alle auch heute noch für möglich gelten und dass man die Theorien des Thales, Demokrit und Plato, in unsere moderne Ausdrucksweise gekleidet, noch jetzt als Ausdruck wissenschaftlichen 38 39
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Philosophiegeschichte als Begriffsgeschichte hat also letztlich die Aufgabe, die Begriffe ihrer Kleider zu entledigen und damit den Schein zu zerstören, daß die Begriffe eine Geschichte haben.46 Pars reconstruens dieser Destruktion ist der Aufweis jenes »Punctum saliens, welches auch noch heute in allen den lebendigen philosophischen Systemen pulsirt und welches trotz aller Metamorphosen das immer gleiche und unsterbliche Leben des speculativen Gedankens anzeigt«47. Teichmüllers Praxis der dekonstruktiven Rekonstruktion mündet in einer Enthistorisierung der Begriffsgeschichte, wenn er das aposteriorisch gewonnene Resultat seiner umfänglichen begriffsgeschichtlichen Aristotelischen Forschungen, welches im Nachweis der faktischen Identität des Begriffs durch alle seine (scheinbaren) Metamorphosen hindurch besteht, ausdrücklich als apriorische Notwendigkeit postuliert und begründet. Der Begriffsinhalt bleibt »immer unverändert«, »weil er bei allen den verschiedenen Anwendungen doch nur die logische Immanenz des Allgemeinen im Einzelnen ausdrücken kann«.48 Es gibt für Teichmüller also keine Geschichte, sondern nur Variationen des Allgemeinen, das sich in verschiedenen Einzelnen konkretisiert. Das Paradigma ist die platonische Ideenlehre, der doktrinale Horizont die dezidierte und explizite Ablehnung der Hegelschen Dialektik. Teichmüller karikiert die Hegelianer, die wohl wissen würden, »welcher Negativitätstrieb in dem Dreieck steckt, so dass es sich aufhebt und zur höheren Wahrheit des Vierecks übergeht, welches durch die Diagonale ja die in ihm enthaltene und aufgehobene Natur des Dreiecks offenbart«.49 Aber: »Die Begriffe […] haben keine Beine und gehen nicht von der Stelle, an die sie gehören. […] denn die Welt der Wahrheit ist kein hin und her wackelnder Trunkenbold, womit Hegel, ohne die Selbstironie zu bemerken, seine Welt verglichen hat.«50 Bewusstseins wiederfinden kann.« (NSGB II [Anm. 11] 259). »Unsere heutige Physiologie und Psychologie steht fast ganz auf Aristotelischen Grundbegriffen, die man in der modernisirten Kleidung nicht so leicht erkennt.« (NSGB III [Anm. 11] VIII). 46 »Jetzt aber beginnt man zu erkennen, […] dass dieser ganze moderne Idealismus trotz seiner zeitmässig angepassten Terminologie uns dennoch keinen Schritt über den Ideenkreis des Alterthums hinaus führe und dass wir also entweder uns der ewigen Bedeutung dieser alten Weisheit hingeben oder ganz neue Anfänge und Wege suchen müssen. Diese neuen Anfänge liegen aber schon mannigfaltig zerstreut mitten in den alten Constructionen, da die Thatsachen sich ihren Formen nicht fügen wollen und theils Widersprüche der Auffassung, theils offenbare Verlegenheiten hervortreiben. Und dies ist der Nutzen einer Geschichte der Begriffe, dass sie erstens in dem Modernen die Erbschaft des Altherthums erkennen lässt, zweitens damit zugleich den Massstab der Beurtheilung und einer historischen Auffassung gewinnt, drittens die bleibenden und lebensvollen Gedankenformen anerkennt und viertens die Wurzeln neuer Bildungen aufzeigt und die Probleme stellt.« (NSGB III [Anm. 11] IX). – Vgl. auch WSW [Anm. 13] XI–XII. 47 WSW [Anm. 13] XXIV–XXV. 48 AF III [Anm. 9] 92. 49 RPh [Anm. 14] 229. 50 Ebd.
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III. Was ist ein Begriff? Was ist Geschichte? Wenn Philosophie für Teichmüller nur in Begriffen besteht,51 und zwar in Begriffen, die keine wirkliche Geschichte haben, stellt sich die Frage nach Teichmüllers Begriffs- und Geschichtsbegriff. 1) Der Begriff ist fürTeichmüller eine Bewußtseinsform oder ein »Erkennntnisselement«,52 und zwar das höchste, genuin philosophische Element einer sich in graduell differenzierten »Beziehungsformen«53 realisierenden Erkenntnis. Die Beziehungsformen folgen der traditionellen triadischen Struktur des Erkenntnisprozesses als Sinneswahrnehmung, Vorstellung und Begriff. Die verschiedenen Beziehungsformen gelangen auf jeder Ebene zu einem unmittelbaren Bewußtsein, d. h. zu einem direkten Zugriff auf die Wirklichkeit.54 Auf der Ebene der Anschauung, die Teichmüller als »perspectivisches Bild« bezeichnet, nimmt das Bewußtsein den Gegenstand in seiner Einheit wahr, d. h. die Blume als Blume und nicht als »Aggregat von Farbflecken«, das Wort nicht als »blosse(n) Haufen von Buchstaben«, den Akkord nicht als »einzelne Töne«. Die zweite, Anschauung und Begriff vermittelnde Ebene des Bewußtseins bilden die »Ideen oder Formen« der Erkenntnis wie »Verschiedenheit, Gleichheit, Zweck, Mittel, Ursache, Thun, Leiden und dergleichen«. Und drittens ist die Erkenntnis der Beziehung aller Elemente das Denken. Im Denken »wird nichts einzeln für sich vorgestellt, sondern eine Beziehung selbst wird mit einer andern Beziehung und mit dem Bezogenen verglichen und das Ganze einheitlich zusammengeschaut in Begriffen, was wir auch die intellectuale Intuition nennen.«55 Der Begriff ist also das komplexe Ganze vertikaler Beziehungen zwischen perspektivischer Anschauung, einem Reich der Ideen und der durch das Denken zu leistenden Synthese oder Synopse, die zugleich das horizontale Beziehungsnetz in seiner Ganzheit erfaßt. 2) Während der systematische Ort des Teichmüllerschen Begriffsdiskurses die Ontologie oder die wirkliche Welt ist, gehört die Geschichte zur Phänomenologie oder zur scheinbaren Welt. Sie wird im Rahmen der Deduktion der Zeitbegriffe thematisiert. Das Denken über empirisch vermittelte, als Beziehungspunkte verstandene Gegenstände generiert ein »perspectivisches Zeitbewusstsein«. Die Entperspektivierung der Zeitbilder wird durch einen vergleichenden Blick auf das Ganze der komplexen Zeitbeziehungen gewonnen. Die Wissenschaft der objektiven Zeit ist die Geschichte. Die Möglichkeit, Zukünftiges und Vergangenes Vgl. SGB [Anm. 10] V; NSGB I [Anm. 11] V; RPh [Anm. 14] 362. WSW [Anm. 13] 17. 53 Ebd. 19. 54 Vgl. ebd.: »Wir wollen nun diese Verbindungen, die bald psychologische Association und Verschmelzung, bald Reflexion genannt wurden, unsererseits einfacher und abstracter bloss Beziehung nennen. Bei dieser Beziehung ereignet es sich aber, dass der ganze Vorgang und sein Resultat wieder unmittelbar bewusst werden.« 55 Ebd. 19–20. 51 52
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zu denken, konstituiert die »objective Ordnung der Geschichte«. Geschichte ist somit eine Leistung des wissenschaftlichen Denkens. Deshalb kann »bei Thieren, Kindern, Wilden und ungebildeten und leidenschaftlichen Menschen keine geschichtliche Auffassung der Welt vorkommen«. Aber die »objective Zeitordnung« bleibt ein Konstrukt der scheinbaren Welt, das »nur in dem Denkenden gedacht wird«; ontologisch, in der wirklichen Welt gibt es nur »Bedingungen und Beziehungspunkte«, die »aufgefasst und verglichen und bestimmt« einen Begriff von Geschichte bilden. Aber: »Diese weltgeschichtliche Zeitordnung und ihr ganzer Inhalt ist […] selbst völlig zeitlos, wie ein jeder andere Inhalt wissenschaftlich erkannter Wahrheit.«56 Denn »diese Ordnung verfliesst nicht in der Zeit, weil die Zeit nur die perspectivische Auffassungsform dieser Ordnung ist und nur in das ideelle und nicht in das reale Sein fällt«.57 Die oben konstatierte Enthistorisierung der Begriffsgeschichte hat ihr epistemologisches Fundament also in dieser Reduktion der Geschichte auf eine perspektivistische Sicht auf das komplexe Ganze eines Beziehungsgefüges.
IV. Begriffstopographie statt Begriffsgeschichte Der Primat des Systematischen vor dem Historischen ist bereits in den begriffsgeschichtlichen Studien Teichmüllers angelegt, wenn er in seiner Kritik am lexikographischen Isolationismus für eine Darstellung der Begriffe »im Zusammenhange eines ganzen Systems« plädiert.58 Der metaphysische Diskurs über die wirkliche und scheinbare Welt führt Teichmüller dann zu einer Kritik des dialektischen Entwicklungsgedankens Hegels. Das durch das Prinzip der »Negativität« bewirkte Ineinanderübergehen und Sichselbstaufheben der Begriffe erscheint Teichmüller nicht als sukzessive Konstituierung des Wahren als des Ganzen, sondern als Ausdruck »perennierende(r) Lüge«, als ein das System zerstörender »lebendige(r) oder verewigte(r) Selbstwiderspruch«.59 Die Transformation enthistorisierter Begriffsgeschichte in eine relationale Begriffstopographie begründet Teichmüller im Kontext der Thematisierung seines Philosophieverständnisses im Vorwort zur Religionsphilosophie.60 Die Philosophie wird dort als »Wissenschaft des Geistes« definiert. Gegenstand der Philosophie sind die »Bewusstseinsinhalte des Geistes«, die sie gleichermaßen betrachtet (auf die sie »hinblickt«) wie auch »wissenschaftlich bearbeitet«, wobei der erkenntniskontemplative Charakter in der Gesamtschau auf die Beziehungspunkte und der erkenntnisaktive in der Koordination der Bezie-
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Ebd. 218–219. Ebd. 222. NSGB I [Anm. 11] X. WSW [Anm. 13] 22–23. Vgl. RPh [Anm. 14] XV–XXII.
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hungspunkte zu »Beziehungseinheiten« besteht.61 In dieser erkenntnisaktiven Hinsicht soll die »Philosophie als blosse Erkenntissarbeit«, wie Teichmüller in zunächst impliziter Kritik an Hegels Geistbegriff fordert, »den Geist nicht in sich verschlucken«, sondern »als Glied in einem Coordinatensystem die übrigen Functionen des Geistes und das Ich als selbständige Mächte anerkenn(en)«.62 Explizit distanziert sich Teichmüller von Hegels Philosophieverständnis, indem er die Begriffe »nicht in dem Verhältniss dialektischer Unterordnung« denkt, sondern als »in einem Coordinatensystem einander zugeordnet«.63 Neue Formen, neue Begriffe entstehen also, da die Begriffe »keine Beine« haben, nicht aus der Bewegung der Begriffe, sondern »(n)ur durch die Hinzunahme neuer Beziehungspunkte«, weil die Formen »so fest (stehen) wie die Zahlen, von denen auch keine in die andere überzugehen die Gewohnheit hat«.64 Für Teichmüller folgt die »geistige Welt« keiner Dynamik; sie ist vielmehr topographisch strukturiert: In einem genuin statischem Koordinatensystem hat »jeder Begriff, wie im Raum jeder Punkt« seine klar definierte und fest umrissene Position.65 Die Erkenntnis des Begriffs ist die Erkenntnis dieser Position im Koordinatensystem.66 Philosophische Erkenntnis wird nicht durch eine »Darwinistische oder Hegelsche Entwickelungsgeschichte« gewonnen, sondern durch eine »Topik«, die den Begriffen durch »Definition« und »Eintheilung« »fest bestimmte Oerter in einem Coordinatensystem« zuweist.67 Da die Geschichte, wie Teichmüller in der Wirklichen und scheinbaren Welt gezeigt hat,68 ein bloß perspektivischer Standpunkt ist, läßt sich Begriffsgeschichte ohne weiteres in Begriffstopographie transformieren, denn was in logisch-systematischer Hinsicht aufeinander oder auseinander folgt, kann »in der Geschichte gleichzeitig nebeneinander stehen«.69 Diese Transformation ist keine einfache Ersetzung einer Hegelschen Entwicklungsdialektik durch die eigene Relationsdialektik,70 sondern eine synthetisierende Transformation, der zufolge Teichmüller seine »Theorie sowohl als Entwickelungslehre, als auch als Topik« versteht. Die Synthese wird durch die von ihm so genannte »ächte« »geschichtliche Betrachtung« ermöglicht,71 die er explizit von der »eitlen und
Ebd. XXI. Ebd. XXII. 63 Ebd. XXIII. 64 Ebd. 229. 65 Ebd. 16. 66 Vgl. ebd. 168, 329. 67 Ebd. 108. 68 Siehe oben Abschnitt III 2; vgl. auch RPh [Anm. 14] 427. 69 Ebd. 108. 70 »Nun ist nach der Dialektik, die ich zuerst in meiner Metaphysik ausführte, jeder Begriff durch seine Beziehungspunkte festzulegen, wodurch ihm ein bestimmter Ort in dem System aller Begriffe zukommt.« (ebd. 227). 71 Ebd. 109. 61 62
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Wolfgang Rother
phänomenologischen Geschichtsbetrachtung« unterscheidet.72 Der Erkenntnisgewinn dieser echten Geschichtsbetrachtung besteht in dem Aufweis, »dass alle Oerter der systematisch bestimmten Grundformen […] sich in allen Jahrhunderten wiederholen«.73 Dieser ›geschichtliche‹ Aufweis, daß es nichts Neues unter der Sonne gibt, führt letztlich zu einer Aufhebung der Begriffsgeschichte im Begriffskoordinatensystem. Begriffe sind nämlich »nicht durch historische Vergleichung« zu finden, sondern »nur durch Hinzufügung neuer Beziehungspunkte und Gesichtspunkte«; »historische und statistische Betrachtungsweise« bleiben der »Sphäre der blossen Erscheinungsformen« verhaftet.74 Begriffliche Erkenntnis setzt zwar »die Kenntniss der historischen Erscheinungen« voraus, muß aber »das Wesen der Sache […], welches sich nur in unserem unmittelbaren Bewusstsein offenbaren kann, durch die unabhängig vom allem Historischen gegebenen apriorischen Coordinaten unserer geistigen Functionen zu bestimmen suchen«75.
V. Begriffsgeschichte als ›Psychoanalyse‹ Mit der oben erwähnten Kleid- oder Verhüllungsmetapher76 lenkt Teichmüller das Augenmerk auf eine strukturelle Beschaffenheit des Begriffs, die einerseits auf die platonische Anamnesislehre zurück- und andererseits auf die Freudsche Psychoanalyse vorausweist. Begriffsgeschichte erscheint in dieser Sicht als Erinnern des Vergessenen, als Freilegung des Verhüllten, als Bewußtmachen des Unbewußten, als Wiederherstellen aus dem Blickfeld getretener Bezüge im Koordinatensystem. Wir leben, wie Teichmüller in seinen einleitenden methodologischen, das psychoanalytische Motiv suggerierenden Reflexionen zur Wirklichen und scheinbaren Welt ausführt, unter der »Lehnsherrschaft der Philosophie« und der Begriffe, wie wir unter der der Muttersprache leben. »Jeder, der überhaupt denkt, und in irgend einem Gebiete etwas erkennt, (muss) unbewusst oder bewusst die Ausdrücke und Begriffe sich aneignen, welche die Philosophie als die allgemeine Wissenschaftslehre gefunden und ausgeprägt hat. Die Philosophie ist eben die allgemeine Atmosphäre, in welcher die denkende Menschheit athmet.«77 Mit Bezug auf dieses »natürliche Abhängigkeitsverhältnis« des Denkens von philosophischer Begrifflichkeit gibt es unterschiedliche Bewußtseinsgrade, d. h., die Menschen können sich im Element der Philosophie bewegen, wie sie
72 73 74 75 76 77
Ebd. 110. Ebd. 109. Ebd. 70–71. Ebd. 71. Vgl. SGB [Anm. 10] X; NSGB II [Anm. 11] 259; NSGB III [Anm. 11] VIII. WSW [Anm. 13] III.
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in der Muttersprache zu Hause sind, die sie gebrauchen, »ohne sich bewusst zu werden, dass sie sich dabei zugleich den Formen und Regeln des Sprachgenius unterwerfen«; in gleicher Weise »verwenden sie auch instinctiv die in jeder Periode der Geschichte grade herrschenden philosophischen Begriffe«.78 Das platonische Anamnesismotiv wie auch das Freudsche Verdrängungsmotiv vermögen das bekannte psychologische Phänomen zu erklären, daß wir etwas erkennen und wissen, ohne sofort korrekt sagen zu können, was wir meinen. Wenn uns die Sache dann erklärt wird, sagen wir »ja, das meinte ich eigentlich, das wollte ich sagen«, obwohl wir es noch eben nicht sagen konnten oder etwas anderes gesagt haben, als wir meinten.79 Ein ähnliches Phänomen ist die Erfahrung, die wir machen, wenn uns ein Name entfallen ist und uns jemand helfen will, indem er andere Namen nennt. Wir wissen hier zwar, welches nicht die richtigen Namen sind, aber den richtigen wissen wir auch nicht, solange er uns nicht gesagt wird, d. h., wir wissen und wissen zugleich nicht, was nur möglich ist, nachdem wir »die eigentliche Erkenntnis schon einmal gehabt« haben.80 In gleicher Weise kennen wir eine Sache bereits, bevor sie »dem Bewusstsein in der Form des Begriffs deutlich wird«. Daraus leitet Teichmüller ab, »dass wirklich in der Natur unserer Vernunft der Begriff der Sache irgendwie schon unbewusst vorhanden sein muss; denn wie bei der Wiedererinnerung der unbewusst gewordene Name dennoch wirkt und die falschen Namen abweist, so wirkt auch beim Forschen die noch unbewusste Vernunftform und leitet unbemerkt das Denken. Es ist darum sehr bewunderungswürdig, dass schon Plato das Erkennen als Wiedererinnern auffasste.«81 Begriffe entwickeln sich also nicht und wandeln sich auch nicht, sondern sie sind immer schon vorhanden, auch wenn sie noch nicht in die Sphäre des Philosophischen eingetreten sind. Diese Bewegung als ein Bewußtwerden der Unbewußten ist bei Teichmüller nach dem Paradigma der Psychoanalyse gedacht. Er setzt voraus, daß die Begriffe existieren »wie ein Schmerz im Schlaf«, dessen wir »uns erst beim Erwachen bewusst werden«82. Exemplarisch ist für Teichmüller die religiöse Bewußtseinsform, die »dem einfältigen Wahrheitssinn offenbart«, was »von der Philosophie in Begriffen gewonnen werden«83 muß. Die Träume oder gar Ungeheuer, die der Schlaf der Vernunft produziert, werden in einer der Psychoanalyse analogen philosophischen Therapie in Begriffe transformiert.
78 79 80 81 82 83
Ebd. IV. Ebd. 13. Ebd. Ebd. 14. RPh [Anm. 14] III–IV. WSW [Anm. 13] 350.
Ulrich Dierse
Wann und warum entstand die Begriffsgeschichte und was macht sie weiterhin nötig?
Wenn man nach dem Entstehen einer wissenschaftlichen Disziplin, einer philosophischen zumal, fragt, ist es immer gut, dies nicht der Laune der Gelehrten oder der Suche nach einem noch unbeackerten Feld der Wissenschaft zuzuschreiben, sondern nach tiefer liegenden, in der Sache selbst ruhenden Gründen zu fragen. So entstehen die Ästhetik und die Anthropologie nicht aus einem philosophischen ›Imperialismus‹, sich auch noch diese einst außerhalb der Philosophie liegenden Gebiete zu unterwerfen, sondern aus einer bestimmten Notwendigkeit heraus, im Falle der Ästhetik aus dem Bedürfnis, die autonom gewordene schöne Kunst von anderen Kunstfertigkeiten zu unterscheiden, oder, im Falle der Anthropologie, den Menschen und seine Natur in ihrem Kern, ohne die gewachsenen Bindungen des Standes, der Zivilisation und der geschichtlichen Herkunft zu begreifen. Auch für die Entstehung der Begriffsgeschichte gilt, daß sie sich nicht der Okkupation eines ansonsten einfallslosen Philosophen verdankt, sondern einem inneren Bedürfnis der Philosophiegeschichtsschreibung oder der Problematik im Umgang mit historischem Gedankengut überhaupt entspricht. Wenn ich recht sehe, ist die Frage nach dem Ursprung der Begriffsgeschichte, trotz allen Bemühens um die Theorie der Begriffsgeschichte bei Erich Rothacker, Joachim Ritter und Karlfried Gründer, bei Reinhart Koselleck, Rolf Reichardt und manch anderen, noch nicht gestellt worden. Sie ist, das sei vorweg angegeben, auch keineswegs eindeutig zu beantworten. Hinweise darauf möchte ich aber geben. Als Helmut G. Meier in seinem umfangreichen Artikel ›Begriffsgeschichte‹ im Historischen Wörterbuch der Philosophie den Anfängen dieser Disziplin, die diesem Lexikon zugrunde liegen sollte, nachging, konnte er ebenfalls keinen einzigen ausschlaggebenden Grund für den Ursprung der Begriffsgeschichte angeben. Mehr noch: Aus dem Artikel geht hervor, daß sich dieser neue Forschungszweig aus mehreren unterschiedlichen Quellen speist. Es waren, um in diesem Bild fortzufahren, zuerst kleine Rinnsale aus verschiedenen Richtungen, die zusammenfließen mußten, damit in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, mit Trendelenburg, Teichmüller und nicht zuletzt Rudolf Eucken, ein schmaler Fluß entstand, der sich gegenüber anderen, der Ideen-, Problem- und manch anderer Geschichte erst zu behaupten hatte und eigentlich erst nach dem zweiten Weltkrieg zu einem anerkannten Strom in der Forschungslandschaft anschwoll.1 Vgl. Helmut G. Meier: ›Begriffsgeschichte‹. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie [ = HWPh] Bd. 1 (Basel, Stuttgart 1971) 788–808. 1
Archiv für Begriffsgeschichte · Sonderheft 8 · © Felix Meiner Verlag 2010 · ISBN 978-3-7873-1971-8
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I. Wann und warum entstand die Begriffsgeschichte? Zu den Andeutungen und tastenden Versuchen in der Begriffsgeschichte, die gegen Ende des 18. Jahrhunderts auftraten (also eines der unterschiedlichen Rinnsale bilden), zählt nach Meier vor allem ein Autor, auf den ich hier aufmerksam machen möchte. Es ist der Breslauer Gymnasialprofessor und Kant-Anhänger Georg Gustav Fülleborn.2 In mehreren Aufsätzen der von ihm herausgegebenen und fast allein bestrittenen Beyträge zur Geschichte der Philosophie lieferte er Bausteine dazu, die später in das Projekt einer Geschichte der Begriffe eingehen konnten. An ihnen möchte ich demonstrieren, 1. daß es (natürlich) für eine Begriffsgeschichte nötig war, auf die Besonderheit der jeweils in der Philosophie benutzten Begriffe aufmerksam zu werden, und 2. daß für eine Begriffsgeschichte vorausgesetzt werden mußte, die Philosophiegeschichte und die Geschichte ihrer Lehrmeinungen als geschichtliche zu erfahren. Fülleborn hat zunächst in einem Aufsatz mit dem Titel Ueber einige Vortheile aus dem Studium der alten Philosophen3 im einzelnen entwickelt, warum es nötig sei, die antiken Philosophen in ihrer Originalsprache zu lesen und zu studieren. Es komme nämlich gar nicht so sehr darauf an, so Fülleborn, Philosophien adäquat aus einer in die andere Sprache zu übersetzen, sondern vor allem darauf, das Studium in einer einzigen Sprache gerade zu vermeiden. Man solle sich nicht »mit üblichen Synonymen abweisen […] lassen«, sondern seine »Ideen« in mehreren Sprachen üben, um Verfestigungen und »Einseitigkeiten« zu vermeiden. »Alles wird auf die einmahl angenommenen Begriffe zurückgeführt, man glaubt jede neue Idee wirklich zu verstehen, wenn man sie höchstens mit einem schon sonst geläufigen Worte für sich gestempelt hat.«4 Stattdessen empfiehlt Fülleborn: »In je mehreren Formen [und d. h. Sprachen] wir einen Begriff denken, desto deutlicher und bestimmter wird er uns werden.«5 Verbesserungen, Fortschritte in der Ausbildung der Begriffe seien nur aus der »Vergleichung«6
2 Georg Gustav Fülleborn (1769–1803) war seit 1791 Prof. der lateinischen, griechischen und hebräischen Sprache am Elisabethanum in Breslau. Manchmal wird er auch der Popularphilosophie zugerechnet. Er versah die von Christian Garve übersetzte Politik des Aristoteles mit Anmerkungen und Kommentar (Breslau 1799). Er schrieb ferner: Immanuel Kant: nebst einigen Bemerkungen über die Kantische Philosophie (Breslau 1800, Neudr. Bruxelles 1970) und: Encyclopaedia philologica (Breslau 21805). Heute ist er, nach einem frühen Vermerk in: Wilhelm Traugott Krug: Allgemeines Handwörterbuch der philosophischen Wissenschaften (Leipzig 21832–38) Bd. 2, 102, in keinem philosophischem Lexikon mehr vertreten. Wenigstens würdigt ihn die Allgemeine deutsche Biographie (Bd. 8 [Berlin 1878] 194 f.) noch als Philosophen, Philologen und Unterhaltungsschriftsteller. 3 In: Beyträge zur Geschichte der Philosophie, 6. Stück (Züllichau und Freystadt 1795) 103–123. 4 Ebd. 109 f. 5 Ebd. 111. 6 G. G. Fülleborn: Ueber einige Vortheile aus dem Studium der alten Philosophen. In: Beyträge …, a. a. O. [Anm. 3] 114, hier: S. 122 f.
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der Termini, also aus ihren Unterschieden, zu erwarten. Und so macht Fülleborn darauf aufmerksam, daß griech. ρχ, πάθος, ε δος, πειρον u. v. a. nicht mit einem einzigen (lateinischen oder deutschen) Wort wiedergegeben werden können, sondern nur durch mehrere und im einzelnen jeweils näher zu erläuternde Termini.7 Und er weist darüber hinaus auch auf gewisse sozialgeschichtliche Hintergründe der Begriffe hin: Die Griechen dachten sich bei einer πόλις eine Burg, Mauern, Gebäude, also eine Stadt; wir Neueren assoziieren beim Begriff ›Staat‹ eher ein Land und die Herrschaft über ein Land. Ferner unterschieden die Griechen einen πολιτικός deutlich von einem βασιλικός, also eine republikanische von einer monarchischen Staatsgewalt, wo die Neueren nur einheitlich von einem Staat sprechen.8 Fülleborn hat natürlich um so mehr Anlaß, auf solche historischen Differenzen im Gebrauch der Begriffe zu verweisen, weil er weiß, daß durch Kant gewaltige Veränderungen in der philosophischen »Kunstsprache« vorgenommen worden sind, die es notwendig machten, eben diese Veränderungen im Vergleich zur bisher gebräuchlichen Terminologie zu beachten. Nur so, nicht durch »Kompendien«, in denen alles in einer »Menge Haupt- und Unterabtheilungen« vereinheitlicht und scheinbar sicher gespeichert sei, behielten die Alten »einen grossen Werth.«9 »Ist nicht jede Vergleichung, welche mit Einsicht angestellt wird, fruchtbar an neuen Ideen, die man ohne dieses Geschäft nicht entdecken würde?«10 Und Fülleborn hat diesen Vorzug des Geschichtsschreibers der Philosophie, nämlich mit immer wieder anderen Theoremen umzugehen und sie bekannt zu machen, noch in einem weiteren Aufsatz unterstrichen: Was heisst, den Geist einer Philosophie darstellen?11. In diesem unterscheidet er drei Arten des Philosophierens, die dogmatische, skeptische und kritische Art; und die von ihm favorisierte Weise, die kritische, besteht eben darin, die jeweiligen »Principien« der Philosophien, »das Innere einer jeden Lehrmeynung, das, was den einzelnen Forschungen Kraft und Beziehung giebt«, kurz: »den Geist einer Philosophie« darzustellen.12 Dieser Geist ergibt sich aus dem jeweiligen individuellen Kontext, in dem eine Philosophie steht; in Fülleborns Worten: »[Er] kann und muss aus der körperlichen Umgebung der Wörter […] herausgehoben werden.«13 Alle diese Besonderheiten und Verschiedenheiten sollen nicht eingeebnet, sondern freigelegt werden; nicht auf die Glättung der Texte und ihre
Vgl. ebd. 111 ff. Vgl. ders.: Fragmente einer historischen Vorbereitung zu einer Geschichte der Politik. In: Beyträge …, a. a. O. [Anm. 3] 10. Stück (Züllichau und Freystadt 1799) 78–115. 9 Ders.: Über einige Vortheile In: Beyträge …, a. a. O. [Anm. 3] 116, 122. 10 Ebd. 121 f. 11 In: Beyträge …, a. a. O. [Anm. 3], 5. Stück (Züllichau und Freystadt 1795) 191–203. 12 Ebd. 194 f. 13 G. G. Fülleborn: Was heisst, den Geist einer Philosophie darstellen? In: Beyträge …, a. a. O. [Anm. 3], 5. Stück (Züllichau und Freystadt 1795) 196. 7 8
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Homogenisierung oder auf die Erstellung eines Synonymen-Lexikons komme es also in der Philosophiegeschichte an. Der »critische Philosoph« – und man darf den Terminus ›kritisch‹ hier wohl mit ›geschichtlich‹ gleichsetzen – »nimmt eigentlich keine Parthey«, »sondern er achtet vornehmlich darauf, inwiefern die Behauptungen des einen, oder die Zweifel des andern in jenen allgemeinen Gesetzen des menschlichen Geistes begründet sind«.14 Dies heißt nicht mehr und nicht weniger, als daß der Geschichtsschreiber eine jede Philosophie, über die er berichtet, nicht dogmatisch-unhistorisch auf ihren (noch aktuellen) Wahrheitsgehalt hin prüft, sondern sie daraufhin befragt, was an ihr im Verlauf der historischen Entwicklung des Denkens wahr sein konnte. Deshalb ist die Philosophie für einen solchen Historiker auch nie abgeschlossen: Er »sieht dieselbe vorläufig nur als mögliche Wissenschaft an, und beurtheilt mithin die Erfindungen der Denker nach dem Grade, in welchem sie sich dieser Idee einer Wissenschaft näherten oder davon entfernt blieben«.15 In einem weiteren Aufsatz16 heißt es noch deutlicher: »Das Menschengeschlecht ändert sich beynahe täglich, und mit ihm seine Bedürfnisse, seine Ansichten und seine Hofnungen.«17 Dementsprechend lehrt die Geschichte der Philosophie, daß jede »philosophirende Parthey wenigstens Eine Seite der Wahrheit entdekte«.18 Daraus folgt, daß auch die kritische Philosophie es nie zu einem »Glaubenssymbolum«, also zu einem ein für alle Mal verbindlichen Lehrgebäude bringen wird und daß sie es darauf auch gar nicht anlegen darf. Aber wenigstens sei es ihre Aufgabe, »eine beständige Prüfung und Durchforschung alter und neuer Ideen« vorzunehmen,19 schon deswegen, weil die Geschichte der Philosophie sonst leicht Gefahr läuft, die bestehenden Unterschiede zu verwischen, schon dadurch, daß sie statt der Original-Begriffe nur Übersetzungen anführt.20 Noch ein letzter Aufsatz von Fülleborn kommt für die hier behandelte Frage in Betracht: Ueber Geschichte der philosophischen Kunst-Sprache unter den Deutschen.21 Hier verfolgt der Autor zunächst die einzelnen Stationen der Ausbildung einer deutschen philosophischen Terminologie, nämlich bei Christian Thomasius und Christian Wolff, dann auch bei Gottsched, Reimarus, Jerusa-
Ebd. 199. Ebd. 200. 16 Einige allgemeine Resultate aus der Geschichte der Philosophie. In: Beyträge …, a. a. O. [Anm. 3], 4. Stück (Züllichau und Freystadt 1794) 145–159. 17 Ebd. 157. 18 Ebd. 156. 19 Ebd. 158 f. 20 Fülleborns Beispiel: griech. ασθησις ist nie durch ›Sinnlichkeit‹, ›Anschauung‹ oder ›Empfindung‹ allein wiederzugeben, ist aber ein einziges Wort. (Plan zu einer Geschichte der Philosophie. In: Beyträge …, 4. Stück, [Züllichau und Freystadt 1794] 180–186, hier: S. 186). 21 G. G. Fülleborn: Ueber Geschichte der philosophischen Kunst-Sprache unter den Deutschen. In: Beyträge …, a. a. O. [Anm. 3], 4. Stück (Züllichau und Freystadt 1794) 116–144. 14 15
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lem, Crusius bis hin zu Lessing, Mendelssohn, Georg Friedrich Meier u. a., um schließlich vor allem zu »Kants Reformen in der Philosophie« zu kommen22 und festzustellen, daß mit Kant und der kritischen Philosophie überhaupt eine Reihe neuer Begriffe oder neue Definitionen alter Begriffe in die Philosophie aufgenommen, mithin für das Denken notwendig geworden seien. Man konnte sich demnach nicht mehr auf den hergebrachten Begriffen als bequemen »alten Ruhestätten« ausbreiten,23 konnte auch nicht mehr (wie beim Übergang von der Scholastik zur Philosophie von Thomasius und Wolff) einfach übersetzen, sondern mußte einsehen, daß »in der Philosophie Wort und Begriff« immer »so genau verbunden [sind], dass man den leztern nicht immer mit andern Ausdrüken fassen kann«.24 Ohne diese eine Aussage übermäßig zu strapazieren, darf doch wenigstens soviel aus ihr herausgelesen werden, daß veränderte historische Begrifflichkeiten, im Begriff zusammengefaßte ›reale‹ Befunde, nach neuen Bezeichnungen verlangen. Was besagt dies? Es besagt, daß sich am Ende des 18. Jahrhunderts, ausgelöst vor allem durch das Auftreten von Kants Transzendentalphilosophie und ihre z.T. neue Terminologie, verstärkt ein Bewußtsein dafür entwickelte, daß eine lange Tradition der philosophischen »Kunstsprache« abgebrochen wurde und fortan Begriffe nicht mehr ohne weiteres übersetzt werden können, sondern daß sich – vor allem bei der Transposition der griechischen Begriffe ins Deutsche – Differenzen ergeben, die geschichtliche Brüche und Umbrüche sichtbar werden lassen. Dies wird aber – wie sich bei Fülleborn zeigt – nicht als Mangel oder Hindernis des Denkens gewertet, sondern als Bereicherung: Der Philosoph wird auf diese Weise aufmerksam auf die unterschiedlichen, in den einzelnen Sprachen und Epochen verschiedenen Aspekte einer Sache. Er beläßt es eben dadurch nicht nur bei einem Sachverhalt und einer Benennung dieses Sachverhalts, sondern er lernt, daß diese Benennungen je andere Seiten dieses Sachverhalts betreffen und seine Grenzen zudem unscharf sind. Daraus kann, wie sich an Fülleborns Ablehnung der parteiisch-dogmatisch betriebenen Art der Philosophie zeigte, ferner geschlossen werden, daß die Vielfalt der Meinungen der Schuladäquanz und die Teilwahrheit der einen, aber evtl. einseitigen Wahrheit vorgezogen werden sollte. Damit soll jedoch die Rolle dieses einen Kandidaten für die Gründungsgenealogie der Begriffsgeschichte nicht überbetont werden. Fülleborn hat aber, auch wenn ihm insgesamt nur eine recht bescheidene Funktion beizumessen ist, einen gewissen Stellenwert innerhalb einer sich nach und nach herauskristallisierenden Begriffsgeschichte, und zwar in zweierlei Hinsicht: 1. dafür, daß sich ein geschärftes Bewußtsein für den Wert der Begriffe in der Philosophie und den Wissenschaften (Fülleborn: für
22 23 24
Ebd. 136. Ebd. 143. Ebd. 142.
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die »Kunstsprache«) herausbildet,25 und 2. für ein sich sukzessive einstellendes geschichtliches Bewußtsein, mindestens aber für den eigentümlichen Wert einer »Geschichte der Philosophie«, der darin liege, »dass sich die Wahrheit dem menschlichen Geiste nie ganz und auf einmahl zeige.«26 Um dies zu verallgemeinern: Mit der Auflösung bzw. der schrittweisen Ablösung der aristotelischen Schulphilosophie, die mit Leibniz, Wolff und deren Nachfolgern eine letzte Blüte erlebt hatte, deren Ende aber durch Kants Philosophie markiert wurde, mußte sich ein neues Konzept für die Geschichtsschreibung der Philosophie herausbilden, bei dem es nicht mehr so sehr darauf ankommt, unter den verschiedenen Begriffen die identische Sache zu ermitteln, sondern hinter der Verschiedenheit der Begriffe (zunächst) auch eine Verschiedenheit der bezeichneten Sachverhalte zu vermuten. Mit anderen Worten: Die im späten 18. Jahrhundert entstehende Sprachphilosophie und die von R. Koselleck u. a. beobachtete Vergeschichtlichung der politisch-sozialen Welt treten nicht zufällig zeitlich koordiniert auf: Beide deuten darauf hin, daß historisch bedingte27 Gegebenheiten auch differente Benennungen erfordern; daß es demnach in einem philosophischen Wörterbuch nicht so sehr darauf ankommt, ein Verzeichnis von Synonymen aufzustellen, sondern, bei aller nötigen Übersetzungsarbeit, die Differenzen nicht zu überspringen oder einzuebnen. Damit ist ein erster gewichtiger Schritt unternommen, der zur weiteren Grundlegung der Begriffsgeschichte führen sollte.
II. Was macht die Begriffsgeschichte weiterhin nötig? Es wäre nun ein einfaches, aber wohl zu einfaches Unterfangen, wollte man schlicht behaupten, die Bedingungen der Zeit um 1800 seien in etwa dieselben wie heute, insbesondere die nach 1989, dem (vorläufigen) Ende der ideologischen Konfrontation zwischen Ost und West.28 Um das in Frage stehende Problem nicht allzu sehr ausufern zu lassen, möchte ich es in zwei Fragen aufspalten: 1. Warum ist die Fokussierung auf Begriffe und Begrifflichkeit nötig? Und 2. Was ist mit der Geschichtlichkeit der Begriffe gemeint, und wie behandeln wir sie angemessen? Ad 1. Für die Begrifflichkeit der politisch-sozialen Welt kann man die Lage um und nach 1789 hinreichend deutlich konturieren: Daß Begriffe, Parolen, Ebd. 142: »der Lehrling der Kunst nimmt mit dem Kunstworte zugleich ein Bild des Gegenstandes auf«, und so besteht die Gefahr, daß die Bezeichnungen schon für das Bezeichnete genommen werden. 26 Einige allgemeine Resultate…, a. a. O. [Anm. 16], 156 (Kursivierung im Originaltext). 27 Vgl. Fülleborns Hinweis auf den Unterschied von πλις und Staat. 28 Immerhin ist eine solche Kontinuität mit guten Gründen von R. Koselleck und seinem Kreis der begriffsgeschichtlichen Forschung behauptet worden. 25
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Prinzipien und Schlachtrufe die Politik seit der Französischen Revolution prägen, ist ein so offensichtlicher Befund, daß er kaum ausführlich belegt zu werden braucht. Schon Zeitgenossen registrieren, daß die neue Zeit sich oft einer neuen Sprache bediene. J.-F. de La Harpe geißelt ihren »Fanatismus«,29 und L. S. Mercier, schon während des Ancien Régime ein wacher Beobachter seiner Zeit,30 legt 1801 ein Lexikon der neuen, durch die Revolution neu gebildeten oder in ihrer Bedeutung neu gefüllten Wörter an und vermerkt u. a.: »La plupart de ces expressions sont fortes et vigoureuses, elles correspondaient à des idées terrribles; la plupart sont bizarres, elles appartenaient à la tourmente des événemens […].«31 Das schon vor der Revolution bekannte, aber meist nur in gelehrten Kreisen behandelte Thema des Mißbrauchs der Wörter erhält während der Revolution eine aktuelle Brisanz und weitet sich in zahlreichen Pamphleten zu einer sich »sprunghaft radikalisierenden« Debatte aus.32 So unterschiedlich diese Stimmen auch sind, können sie doch insgesamt als Indiz dafür gewertet werden, daß mit und seit der Epochenschwelle die sprachlichen Fassungen von Gedanken und Problemen stark an Bedeutung gewinnen und diese nicht ohne Verlust von jenen abgekoppelt werden können. Auch das Auftreten und die bis in die Gegenwart anhaltende Wirkung des Ideologiebegriffs gehören in diesen Zusammenhang. Denn Napoleons Feindschaft gegen die von ihm so betitelten ›Ideologen‹ rührte daher, daß, nachdem ihn einige beim Putsch des 18 Brumaire unterstützt hatten, diese sich mit ihren weitergehenden philosophischen Vorstellungen und aus seiner Sicht überspannten Ideen in die praktische Politik einmischen wollten. Damit wurde aus dem Namen für eine philosophische Schule die abwertende Bezeichnung für alle jene Fälle, in denen praktische Probleme durch griffige sprachliche Ausdrücke, Schlagwörter, Ideologeme u. ä. überhöht werden, somit die Ebene ihrer pragmatischen Lösung aber verlassen wird (was die jeweils Betroffenen natürlich nicht einsehen werden). Es handelt sich also um den bis heute virulent gebliebenen Konflikt, mindestens aber die Spannung zwischen Politik und Sprache, Anspruch in der Theorie und praktischen Möglichkeiten. Inzwischen leben Politik und Öffentlichkeit selbst zu einem guten
Jean-François de La Harpe: Du Fanatisme dans la langue révolutionnaire, ou de la persécution suscitée par les barbares du dix-huitième siècle, contre la religion chrétienne et ses ministres (Paris 1797). 30 Einschlägig wurde: Louis-Sébastien Mercier: Tableau de Paris, nouv. éd., 12 Bde. (Amsterdam 1783–88). 31 Ders.: Néologie, ou vocabulaire de mots nouveaux, à renouveler ou pris dans des acceptations nouvelles (Paris an IX – 1801) Bd. 1, XV. 32 Rolf Reichardt: Die Debatte über den ›Mißbrauch der Wörter‹ als Anzeiger einer historischen Problematik. In: Handbuch politisch-sozialer Grundbegriffe in Frankreich 1680– 1820, hg. von R. Reichardt und Eberhard Schmitt, Heft 1/2 (München 1985) 40–50, zit. 46; vgl. Ulrich Ricken: Zur Sprachdiskussion während der Französischen Revolution. In: Beiträge zur romanischen Philologie 13 (1974) 303–318; ders.: L’abus des mots – thème des lumières. In: Sitzungsberichte der Akademie der Wissenschaften der DDR 5 (1978) 157–163. 29
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Teil davon, Themen zu lancieren oder zu besetzen, mit Begriffen zu operieren und durch sie Einfluß zu gewinnen.33 Ein Streit um Worte liegt dann zwar immer nahe, hat aber zugleich kaum Aussicht auf Beilegung durch Konsens, weil es in ihm weniger um Verständigung durch Begriffsklärung als um Durchsetzung praktischer Ziele geht.34 Begriffe in dieser Funktion verschwinden in der Regel nicht, weil die hinter ihnen liegenden Aufgaben gelöst sind; sie werden vielmehr vergessen oder von anderen, dringlicheren überlagert. Ein Autor, der schon früh auf den bestimmenden Einfluß der Begriffe in historischen Prozessen hingewiesen hat, ist Benjamin Constant. Er begrüßte zunächst die Französische Revolution, lehnte aber die Schreckensherrschaft ebenso wie Napoleons Machtanspruch und die Restauration ab, kann also mit Recht ein Liberaler genannt werden. Vor allem in jenen Werken, die aus der Rückschau auf die Revolution geschrieben wurden, hat Constant immer wieder von der »Macht der Ideen« gesprochen, die die »Beherrscherinnen der Welt« seien, da sie und nicht Empfindungen oder Leidenschaften die bestimmenden Willensäußerungen der Menschen seien.35 Diesen Ideen – Constant nennt »Adel«, »Feudalsystem«, »Gleichheit«, »Freiheit« und »Erblichkeit« – komme es zu, »aktiv« zu sein; sie können dann »physische Kräfte« mobilisieren, für die Menschen auch Opfer zu bringen bereit sind.36 Entsteht ein Mißverhältnis zwischen den politischen Institutionen und den herrschenden Vorstellungen, den Ideen, werden Revolutionen unvermeidlich, die dann wieder für einen sozialen Ausgleich sorgen. Überschreiten diese aber ihr Ziel, wie die Französische Revolution in der Wende gegen das Eigentum, kommt es zu einer politischen Reaktion.37 Schon 1796 spricht Constant von der »hinlänglich bekannten« »Macht der Worte über die Menschen«, die »die Ideen erst heraufführen.« »Diese Macht ist zuweilen unheilvoll, oft aber sehr nützlich.«38 Diese Belege sollen hier genügen, um zu dokumentieren, daß in der Neuzeit die Begrifflichkeit der politisch-sozialen Welt als wesentlicher Bestandteil der Geschichte begriffen und (selbst in ihrer Zurückweisung durch Napoleon)
Beispiele aus der Gegenwart: Begriffe wie ›Generationenkonflikt‹, ›Globalisierung‹ und ›nachhaltig‹ waren bis vor kurzem noch nahezu unbekannt, mindestens aber nicht in der öffentlichen Debatte präsent. Andererseits ist ›Lebensqualität‹, das es immerhin zu einem Eintrag im HWPh brachte (Bd. 5 [Basel, Stuttgart 1980] 141–143), aus der allgemeinen Diskussion schon fast wieder verschwunden. 34 Vgl. Hermann Lübbe: Streit um Worte. Sprache und Politik (Bochum 1967). 35 Benjamin Constant: Über die Perfektibilität des Menschengeschlechts (1829). Werke, hg. von Axel Blaeschke und Lothar Gall (Berlin 1972) Bd. 4, 405 f., 416. 36 Ebd. 416. 37 Vgl. ders.: Über politische Reaktion (1797). Werke, a. a. O. [Anm. 35] Bd. 3, 123 f. 38 Ders.: Über die Stärke der gegenwärtigen Regierung Frankreichs und die Notwendigkeit, sich ihr anzuschließen. Werke, a. a. O. [Anm. 35] Bd. 3, 96; vgl. Martin Fontius: Von der Macht der Ideen – Constants Theorie der Revolution. In: Romanistische Zeitschrift 15 (1991) 89– 99. Fontius’ Ausführungen verstehen sich ausdrücklich als »von der Gegenwart angeregte Betrachtungen« (ebd. 90)! 33
Wann und warum entstand die Begriffsgeschichte?
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berücksichtigt wird, daß sie zum Selbstverständnis der Akteure beiträgt und auf diese Weise historische Prozesse prägt.39 Das kann natürlich nicht mit gleicher Selbstverständlichkeit für die wissenschaftliche Fach- oder Alltagssprache behauptet werden. Mit dem vielberufenen ›linguistic turn‹ ist aber (nach der schon länger bestehenden Sprachwissenschaft) um 1900 eine neue philosophische Disziplin, die Sprachphilosophie, auf den Plan getreten ist, die bis dato noch nicht zu den klassischen Fächern der Philosophie zählte, deren Aufstieg zu einer Grundlagendisziplin aber indiziert, daß eine allgemeine Hinwendung zur Sprache eingesetzt hat. Sie ist zwar nicht in allen, aber doch in vielen und zwar sehr unterschiedlichen Denkrichtungen präsent, nicht nur in der analytischen, sondern ebenso in der hermeneutischen und Dialogphilosophie und in vielen weiteren, die sich keiner speziellen Richtung zuordnen lassen. Seitdem können wir annehmen, daß jede Beschreibung eines Sachverhalts, jeder Versuch, eine Tatsache, ein Gemeintes, angemessen zu begreifen, ohne Berücksichtigung ihrer sprachlichen Form nicht oder nicht gut gedacht werden kann, auch wenn zu bezweifeln ist, ob die Sprache als das schlechthin nicht hintergehbare Medium gelten kann. Die Begriffsgeschichte als Begriffsgeschichte lebt also ganz wesentlich von der Voraussetzung, daß es darauf ankommt, den sprachlichen Ausdruck als Zugang zur wissenschaftlichen wie alltäglichen Welt zu berücksichtigen, mit anderen Worten: Begriffe und Sprache als Mittel zum Aufschluß des jeweiligen Denkens und der jeweiligen Welt zu berücksichtigen, und zwar als nicht nur vermittelndes, sondern auch als gestaltend-wirkendes Medium. Ad 2. Die Begriffsgeschichte als Begriffsgeschichte setzt die ›Geschichtlichkeit‹ der Geschichte überhaupt und insbesondere die Geschichtlichkeit von Theorien, Philosophien und Begriffen voraus. Das kann verschiedene Bedeutung haben. Im ›grundsätzlichen‹ Sinn bedeutet es, daß von der Einbettung in je besondere, historisch differente Gegebenheiten auszugehen ist, von Besonderheiten, die unter sich nur schwer zu vergleichen sind, zwischen denen aber, durch Interpretation und Verstehen, irgendwie eine Verständigung herbeigeführt werden kann und muß. Ein solches Verständnis von »Geschichtlichkeit« und eine ihr entsprechende Art der Geschichtsschreibung ist eigentlich erst im späteren 19. Jahrhundert, noch nicht mit Hegel, sondern erst seit Dilthey und Yorck von Wartenburg möglich geworden.40 Es scheint aber, daß es einerseits
Damit soll in keiner Weise der Vorrang einer bestimmten Form der Geschichtsschreibung behauptet werden. Es soll aber wenigstens am Rande vermerkt werden, daß auch die materialistische Geschichtsauffassung, insofern sie ja Geschichtsauffassung ist, notwendigerweise formuliert, gelehrt und propagiert werden muß(te). 40 Martin Heidegger hat das zwar dankbar aufgegriffen, dann aber sein eigenes, grundlegend anderes Verständnis von ›Geschichtlichkeit‹ ausgebildet. Vgl. U. Dierse: Verstehen der Geschichte und Vernehmen der Sprache. Von Dilthey und Yorck zu Heidegger. In: Dilthey und die hermeneutische Wende in der Philosophie, hg. von Gudrun Kühne-Bertram und Frithjof Rodi (Göttingen 2008) 137–152, bes. S. 144 ff. 39
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Ulrich Dierse
in aller Munde ist – nur unter einem anderen Terminus, dem des ›Paradigmenwechsels‹ –, andererseits aber noch zu wenig akzeptiert wird. Denn nur zu häufig wollen wir gerade heute, ungeduldig oder nicht, das Vergangene überwinden, ohne vorher nach den Gründen und Ursachen gefragt zu haben, die einst für eben dies Vergangene sprachen. Das mag in den exakten Wissenschaften seine Berechtigung haben – hier wird das ›Überholte‹ als das Falsche tatsächlich überwunden –, es gilt aber nicht in demselben Maße für die geschichtlichen oder Geisteswissenschaften, die man deshalb auch unter diesem Gesichtspunkt zurecht von den Naturwissenschaften unterscheidet. Hier könnte man, und darin liegt in der Tat ein Defizit des heutigen öffentlichen Bewußtseins, vor dem eiligen Abriß traditioneller Bestände danach fragen, warum und unter welchen Umständen sie entstanden sind, warum sie Bestand hatten und einst für vernünftig galten. So wäre es, um es an einem Beispiel zu demonstrieren, in der heute wieder erwachten Debatte um Werte, die bis in die Richtlinien von Schulen hineinreicht,41 vielleicht hilfreich, wenn man sich die vorangegangenen Formen des Wertbegriffs, etwa bei dem lange einflußreichen Neukantianismus und dem ebenso wirksamen Nicolai Hartmann, vor Augen führen würde. In diesem wie in anderen Fällen hätte eine differenzierte Sicht auf die Geschichte, ihre Bedingungen und ihren Verlauf, d. h. auch auf die Begriffgeschichte, gut getan, um neue Fehler, zumindest solche, die aus Voreiligkeit begangen werden, zu vermeiden.42 Allerdings sind hier sogleich Einschränkungen nötig: Die Begriffsgeschichte argumentiert in zwei unterschiedliche Richtungen: Sie weiß einerseits, daß sie keine Normen, noch nicht einmal Begriffsnormierungen liefern kann; sie ist aber andererseits von indirekter Relevanz, weil sie geschichtliche Bestände bewahrt und so die »Gegenwartsbefangenheit« bricht.43 Auf diese Art und Weise könnte der Vergangenheit wenn schon nicht eine entscheidende, so wenigstens eine beratende Stimme verliehen werden. Zudem würde man sich selbst und anderen kritisch-distanzierter gegenübertreten, wenn man rekapitulierte, wieviel Vernunft und Unvernunft auch im Vergangenen steckte, d. h. warum man dieses nun ablegen will und soll. Jedenfalls könnte so die eine oder andere Enttäuschung vermieden werden. Vor Selbstüberschätzung ist die Begriffsgeschichte allemal gefeit.
Vgl. Anton Hügli: Art. ›Werterziehung‹. In: HWPh Bd. 12 (Basel 2004) 591–609. Zur jüngsten Diskussion vgl. Kurt Röttgers: Wertepolitik; Christoph Menke: Werte, Wertungen und das Politische, beides in: Zeitschrift für Kulturphilosophie (2009) H. 1. 43 H. Lübbe: Begriffsgeschichte und Begriffsnormierung. In: Die Interdisziplinarität der Begriffsgeschichte, hg. von Gunter Scholtz (Hamburg 2000) (Archiv für Begriffsgeschichte, Sonderheft) 31–41, hier: S. 41. 41 42
Thomas Leinkauf
Habent sua fata conceptus, verba et termini – zu Aspekten der Entwicklung von Begriffen
I. Die Begriffsgeschichte ist ein Kind der Vergeschichtlichung des Denkens selbst, wie sie sich seit Vico und Herder im 18. Jahrhundert zeigte und im Denken des Idealismus eine konkrete, in vieler Hinsicht auch zumutende Form angenommen hatte. Sie ist aber auch nicht zu denken ohne die Historisierung des idealistisch-kritischen Denkansatzes im 19. Jahrhundert, ohne Brandis, Trendelenburg, Dilthey, u. a. Sie hat ihre Kontur dann erhalten in der selbst wiederum kritischen Reflexion auf die einerseits rein nivellierenden oder eben andererseits weltanschaulich überpointierenden Tendenzen des Historismus seit Mitte des letzten Jahrhunderts. Ein entscheidendes Datum ist hierbei die Gründung des Archivs für Begriffsgeschichte, in dessen frühen Nummern eine engagierte Diskussion um die Möglichkeit von Begriffsgeschichte stattgefunden hat; ein weiteres Dokument dieser Orientierung des Denken ist das vor kurzem zu einem vorläufigen Abschluß gebrachte Historische Wörterbuch der Philosophie, das von Joachim Ritter und Karlfried Gründer initiiert worden war und dann über einen Zeitraum von 40 Jahren in die Realität umgesetzt worden ist.1 Selbst wenn man glaubt, sich nicht zu den Spezialisten begriffsgeschichtlicher Analyse zählen zu dürfen, ist man doch immer schon selbst potentieller Gegenstand einer begriffsgeschichtlichen Reflexion, sofern man Begriffe in einem wissenschaftlichen, durch den terminologischen Usus einer Disziplin geprägten, in rein systematischer oder historisch rekonstruierender Form vorgehenden Ansatz verwendet. Es gibt keine ›frei‹ einsetzende Verwendung von Begriffen, diese sind, selbst wenn wir unser Recht auf einen willkürlichen ad hoc-Gebrauch oder eine subjektive, aus der individuellen Lebensperspektive resultierende Deutung geltend machen wollten, immer schon wesentlich ›mehr‹ als der Einzelne selbst an ihnen ausmacht. Dieses ›Mehr‹ an Bedeutung, dessen semantisches Schwerezentrum in der Tiefe der geschichtlichen Entwicklung des jeweiligen Begriffes Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 1, hg von Joachim Ritter (später zusammen mit Karlfried Gründer), völlig neu bearbeitete Ausgabe des Wörterbuchs der philosophischen Begriffe von Rudolf Eisler (Basel 1971 ff). Wichtig ist das das ganze Unternehmen begründende und rechtfertigende Vorwort, das Ritter 1970 verfaßt hat, dort heißt es (S.VIII): »Es ist nicht Aufgabe des ›Wörterbuchs‹, zur Spannung zwischen einer »cartesianischen« und einer geschichtlichen Philosophie Stellung zu nehmen. Die begriffsgeschichtliche Orientierung mußte da maßgebend werden, wo es darum geht einen Begriff in seiner Geschichte und aus dieser zu verstehen oder ihn in seiner gegenwärtigen Funktion in Beziehung zur Geschichte zu bringen«. 1
Archiv für Begriffsgeschichte · Sonderheft 8 · © Felix Meiner Verlag 2010 · ISBN 978-3-7873-1971-8
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liegt und von dort aus gleichsam unablässig eine Bedeutungsstrahlung emittiert, ist natürlich bei dem Typus von Begriffen deutlicher ausgeprägt und wird auch regelmäßig zum Anlaß von Überprüfungen, Streitigkeiten, Mißverständnissen etc., der durch einen terminologisch-diszplinenspezifischen Gebrauch motiviert ist. Hier ist sozusagen von der wissenschaftlichen Sache her, vom Modus des bewußten Forschens her, die Sensibilität viel ausgeprägter als bei der großen Menge umgangssprachlicher Begriffe, wo man immer leichter einmal den einen durch einen anderen ersetzen kann oder wo die Tingierung durch Affekte, emotionale Besetzung, Sozialtraditionen und anderes mehr zunächst Trennschärfen vermissen läßt, so daß man sich häufiger dann doch weniger über die Sachen als über die auf sie verweisenden oder sie meinenden Begriffe stritte. Im Kern aber prägen auch nicht-wissenschaftliche Wörter eine Art Begriffsstruktur aus, die sie ebenso zu möglichen Gegenständen einer begriffsgeschichtlichen Analyse werden läßt, wie die wissenschaftlichen Termini, dies gilt vor allem für die Literatur.2 Ich möchte im Folgenden als begriffsgeschichtlich Interessierter Beispiele für typische Schicksale von Begriffen geben, wenn diese pathetische Redeweise einmal gestattet sei, die auf die Spannung von Kontinuität und Diskontinuität verweisen sollen, auf die Tatsache, daß gerade zentrale Begriffe einer Disziplin, in diesem Falles der Philosophie, einerseits immer wieder, trotz ihrer scheinbaren Verbrauchtheit und Überholtheit, eine Restitution erfahren können, die die radikale Kritik, die an ihnen geübt worden ist, in eine weitergeführte, neue Schwerpunkte setzende Begriffsverwendung integriert, und daß auf der anderen Seite innovative Begriffs-Bildungsprozesse zu beobachten sind, deren Re-
Es ist nicht von der Hand zu weisen, daß die Entwicklung eines Interesse am Schicksal der Begriffe, das diese ja, man darf das vielleicht so sagen, dadurch ganzen Büchern gleichsetzt, insbesondere in der Tradition der deutschsprachigen Philosophie und Wissenschaftsgeschichte nicht ohne die Arbeit am Begriff denkbar ist, die das Denken des Idealismus und hierbei insbesondere Hegels an der Form oder der Natur des Begriffs geleistet hat. Die Entfaltung eines reflektierten Begriffs des Begriffs ist es gewesen, die den Begriff aus der Parataxe zu anderen sprachlichen Momenten herausgehoben hat und ihn zum eigentlichen und wesentlichen Träger und sprachlichen Ausdrucksmittel des Denkens gemacht hat. Daß Begriffe, wie Hegel sagt, aus der »Bewegung« des reinen Denkens erst entstehen und ihr genuiner Ausdruck sind, daß sie »Selbstbewegungen, Kreise, das, was ihre Substanz ist, geistige Wesenheiten« sind, bildet die Grundlage der begriffsgeschichtlichen Operation. Die Begriffe als in sich komplexe Form genommen, als »Kreise« und Ausdruck von »Selbstbewegungen«, legt ihnen eben auch ein Entwicklungsmoment und damit eine geschichtliche Dimension zugrunde, in der sie ihre Bewegung entfalten. Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorrede. In: Phänomenologie die Geistes (1807), hg. von Johannes Hoffmeister (Hamburg 1952) 31. Ebenso wäre für eine angemessene Einschätzung der Bedeutungen von ›Begriff‹, ›Geschichte‹, ›Leben‹ und ›Wissen(schaft) auf die Entwicklung zurückzugreifen, die nach Hegel die Konzeption der Philosophie als »Geisteswissenschaft« in Absetzung von der Naturwissenschaft durch Wilhelm Dilthey und dann, auf andere Weise, durch Ernst Cassirer begründet hat. Allgemein orientierend ist der Artikel von H. G. Meier: Begriffsgeschichte. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 1 (Anm. 1), Sp. 788–808. 2
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sultate, eben die als terminologisch intendierten Neubildungen, allzu häufig die Lebenszeit ihrer Erfinder nicht zu überdauern vermochten, obgleich sie, neben evident polemischen, häufig durchaus gerade auch prägnante und sachangemessene Dokumente unseres Begreifens durch Begriffe darstellen. Ich möchte zwei Beispiele geben, eines für die ›Rettung‹ eines schon als obsolet erklärten traditionsreichen Begriffs, eines für den ›Untergang‹ eines neu erfundenen Begriffs, der eine andere Denkrichtung als diejenige seines Autors für obsolet erklären wollte. Das erste Beispiel betrifft den Begriff der ›Substanz‹, seine Zurückweisung vor allem in Gestalt der scholastischen »forma substantialis« durch Descartes und seine Restitution durch Leibniz auf der einen, Spinoza auf der anderen Seite – eine Restitution, die Hegels Gedanken erst sachlichen Raum verschaffte, davon zu sprechen, daß die Substanz zum Subjekt werden müsse;3 das zweite Beispiel betrifft die Kritik des Cartesianismus und die Disqualifikation seiner Anhänger als »Nullibisten« durch Henry More, den neben Ralph Cudworth wichtigsten Vertreter des sogenannten Platonismus von Cambridge.4 Hier geht es um die systematisch zentrale Frage, wie sich ein unendlich mächtiges Wirkprinzip in seinen direkten Wirkungen, d. h. in seiner Selbstentfaltung, zum Raum als einem absoluten Substrat verhält. Begriffsgeschichtlich gewendet: einmal möchte ich auf die Überlebensfähigkeit des Begriffs ›Substanz‹ verweisen, zum anderen auf die Nichtüberlebensfähigkeit eines durchaus einprägsamen Begriffs wie ›Nullibisten‹, d. h. eines Begriffs, der in direkter Weise auf die Vertreter einer Lehre verweisen soll, die dem höchsten Prinzip keinen ›Raum‹ oder ›Ort‹ im Sein haben zukommen lassen. Zunächst also zum fatum des Substanz-Begriffs in der Neuzeit (II.), dann zum fatum des Nullibismus (III.), es wird dabei vielleicht auch deutlich werden, daß beide Begriffe sachlich miteinander zu tun haben: die Substanz kann, auf verschiedene Weise, im 16. und 17. Jahrhundert »überall« angesetzt werden, just das, was den Nullibistae ja abgesprochen wird, die sie vielmehr, sofern es die göttliche Substanz ist, so die Polemik, »nirgendwo« anzusetzen scheinen.
Vgl. G.W. F. Hegel: Vorrede. In: Phänomenologie, a. a. O. [Anm. 2] 19f, 24, 45, 50f; ders.: Vorrede. In: Philosophie des Rechts (1820/1), hg. von Johannes Hoffmeister (Hamburg 1995) 6: die »Substanz des Rechten und Sittlichen«; S. 11: die »Substanz der Sachen«; S. 15: »darauf kommt es an, in dem Scheinen des Zeitlichen und Vorübergehenden die Substanz, die immanent, und das Ewige, das gegenwärtig ist, zu erkennen«. 4 Zum Cambridge Platonism vgl. Thomas Leinkauf: Die Cambridge Platonists. In: Platon Handbuch, hg. von Christoph Horn, Jörn Müller, Joachim Söder (Stuttgart-Weimar) § VII, 11, 463–474. 3
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II. Der Begriff der Substanz gehört zweifellos zu den Grundbegriffen der Philosophie, er betrifft primär die Lehre vom Sein, die seit dem 17. Jahrhundert, ebenfalls durch einen Neologismus, als »Ontologie« bezeichnet worden ist, und zwar als das Fundament zunächst der Seinslehre des Platon, dann der Metaphysik, wie sie Aristoteles konzipiert hatte. Es kann hier jetzt nicht um eine auch nur grobe Nachzeichnung der wechselvollen Geschichte dieses Begriffs seit seinen Anfängen gehen, ich beschränke mich daher auf die wichtigsten Informationen: Was ich soeben sagte, daß Substanz als Begriff auf Platon und dann Aristoteles zurückgehe, war schon einmal, wie Sie natürlich bemerkt haben, falsch, denn ich habe erstens sozusagen einen ex post gebildeten lateinischen Begriff auf einen Denkansatz zurückprojiziert, der zunächst einmal ausschließlich in griechischer Sprache artikuliert worden ist, und ich habe damit zweitens zusätzlich schon unterstellt, daß es überhaupt ein Äquivalent im Griechischen für das lateinische ›substantia‹ gibt und daß dies zudem auch noch eben den Kernbereich der Ontologie betreffe. Die Begriffsgeschichte von ›substantia‹ setzt wesentlich später ein als das, worauf sich die Autoren, die diesen Begriff übersetzend-interpretierend geprägt haben, intentional beziehen. ›Substantia‹ hat, übersetzt man es direkt zurück, sein Äquivalent eindeutig in dem Ausdruck πστασις, der gerade im Denken Platons und Aristoteles keine Rolle spielt. Er gilt aber, und das gehört schon zum fatum dieses Begriffs, als Übersetzung oder zumindest sachliches Äquivalent für den Term οσα, der allerdings sehr wohl für Platon, etwa seit dem Phaidon (76 D, 78 C–D, 92 D–E) und dann der Politeia (V, 477 A–B; VI, 485 B, 509 B u. ö.), vor allem aber für Aristoteles eine Rolle spielte. Und es ist auch just in der Auseinandersetzung lateinischer Interpreten und Kommentatoren des Aristoteles, daß diese Begriffskonfusion mit großer Folgewirkung entstanden ist. Um die Probleme noch etwas zu verschärfen, gibt es auch noch eine lateinische Tradition, die unter ›substantia‹ den nicht nur in die Ontologie, sondern vor allem in die Logik und dort in die Prädikationslogik gehörenden Ausdruck ποκεμενον verstanden hat, dessen direktes lateinisches Gegenstück ›subjectum‹ ist – hier wurde also eine Funktion von Substanz (οσα), daß sie nämlich in einer Aussage als Zugrundeliegendes der von ihr prädizierten Akzidentien zu verstehen ist, für diese selbst gesetzt. Der Bezug geht also einmal auf das Organon des Aristoteles, die Kategorienschrift und die Lehre vom Satz, zum anderen auf die Metaphysik-Abhandlungen selbst. Es geht mir jetzt nicht um die Rekonstruktion der Angemessenheit der etwa seit Cicero und Seneca, dann seit den frühen lateinischen Christen zu beobachtenden Übersetzungen, sondern darum, daß gerade auch in den divergenten Bezugsbegriffen und Sachgehalten des lateinischen ›substantia‹ ein zentraler Bedeutungskern vorherrscht: Substanz bezeichnet ein Sich-Durchhaltendes und Bestand-Habendes, Etwas, das eine Einheit in der Vielheit ist, oder, klassisch, das Wesen einer Sache. Letzteres führte allerdings dazu, daß das lateinische Äquivalent für οσα, nämlich
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›essentia‹, zu einer Alternative ausgeprägt worden ist. Mit Blick auf das Szenario, um das es mir eigentlich geht, mit Blick also zunächst auf die Kritik des Descartes und seiner Schüler am Begriff der Substanz, der übrigens unbeschadet dieser Kritik durchaus weiter verwendet wurde, ist nun Folgendes wichtig: In der scholastischen, vor allem spätscholastischen Ausprägung des Verständnisses von Substanz kulminierte ein spezieller, aristotelischer Typus von Ontologie – mit Konsequenzen vor allem auch für die Naturtheorie – der das wesentliche Sein eines Einzelseienden als »forma substantialis« bestimmte. Die konzeptuelle Leistung dieses Ausdrucks besteht darin, daß vor dem Hintergrund der kanonischen Form-Materie-Unterscheidung, der Differenzierung von Substanz und Akzidens sowie dem Grundsatz »forma dat esse rei«, den man vielleicht so übersetzen kann: ›die Form verleiht einer Sache das Sein‹, eben dieses Sein einer Sache als »substantielle Form« bestimmt wird.5 Hintergrund dieser terminologischen Operation ist der Gedanke, daß auch die Akzidentalbestimmungen selbst, ebenso wie der Begriff der Materie, eine Formalbestimmung als dasjenige besitzen, was sie in ihrem wesentlichen Sein auszeichnet. In einem komplexen Gefüge von Formalbestimmungen – es wird hierfür durchaus auch der Begriff »complexio« verwendet, der als Ausdruck der Wirklichkeit einer Sache verstanden wird – bildet die »forma substantialis« die primäre, alle anderen unter ihren Index setzende Bestimmung. Dies meint einfach nur: Es ist etwas anderes, wenn Rot an einem Stein, einer Pflanze, einem Tier oder einem Menschen vorkommt, ebenso wie es etwas anderes ist, und zwar ontologisch wie epistemisch, ob ich von Stein, Pflanze, Tier oder Mensch als Einzeldingen spreche oder von deren akzidentaler Bestimmung ›rot‹. Die scholastische Philosophie hat diese Unterschiede, durchaus in direkter Konsequenz aus aristotelischen Einsichten, als qualitative, d. h. eben als formale Unterschiede gesehen6. Die »substantia formalis« ist also die Gestalt, in der uns vor allem die »erste Wesenheit« oder »erste Substanz« (πρτη οσα) des Aristoteles aus dessen Kategorienabhandlung im Wechsel vom Spätmittelalter zur Frühen Neuzeit wieder begegnet, in der »distinctio formalis« begegnen uns die akzidentellen Bestimmungen als selbständige Sachgehalte (die von der bloßen »distinctio rationis« unterschieden ist). Die grundsätzliche Kritik an diesem Begriff zielt auf die oben erwähnte Bindung der »forma substantialis« an deren Sein-gebende Funktion, sowie auf die
5 Johannes Scotus Eriugena: Periphyseon (De divisione naturae) III 27, Bd. 3, 216 f. SheldonWilliams (PL 122, 703 A): »substantialis forma est ipsa cuius participatione omnis individua species formatur, et est una in omnibus et omnes in una, et nec multiplicatur in multiplicatis nec minuitur in retractis; Thomas von Aquin, S. th. I, q. 76, a. 4. 6 Hier ist für den Ansatz des 17. Jahrhunderts insbesondere auf das Denken des Franciscus Suarze zu verweisen, dessen Disputationes metaphysicae 1597 erschienen sind, vgl. Rainer Specht: Einleitung. In: Franciscus Suarez: Über die Individualität und das Individuationsprinzip, lat.-dt., hg. von Rainer Specht (Hamburg 1976) xi–lii (mit Literatur); Ludger Honnefelder: Scientia transcendens. Die formale Bestimmung der Seiendheit und Realität in der Metaphysik des Mittelalters und der Neuzeit (Hamburg 1990) 200–294.
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metaphysische Konsequenz dieser ontologischen Annahme: daß es nämlich ein Sein gibt, das jenseits der sinnlich wahrnehmbaren akzidentellen Bestimmungen die Existenz, Identität, Stabilität eines individuellen Dinges fundiert. Genau gegen diese Grundvorstellung hat Descartes eingewendet, daß die substantielle Form ein »philosophisches Sein« (estre philosophique) sei, das ihm unbekannt wäre.7 Es gibt, so sagt Descartes etwa in den Principia, keine Steinform, die das Wesen des Steines empirisch zugänglich vermittelte und der mental eine »idea lapidis« entsprechen würde, denn alles das, was tatsächlich als Stein vorliegt, die materielle, akzidentell so und so verfaßte Struktur, seine Härte, Undurchsichtigkeit, Schwere etc. ist nichts anderes als eine bestimmte Modifikation von Ausgedehntheit.8 Zusammen mit der Zurückweisung der Substantialformen und der allgemeinen Substanz-Vorstellung der aristotelischen Tradition wird dann ebenso radikal (i) auch die Vorstellung, daß es Qualität oder qualitative Bestimmtheiten im Sein der Dinge gebe, als Projektion der Seele erkannt und von der Objekt- auf die Subjektseite der Wirklichkeit verschoben, sowie (ii) auch der Grundgedanke der aristotelischen Tradition, daß es eine finale, teleologische (entelechetische) Bestimmtheit im Seienden selbst gebe, nur noch als bloße subjektiv-mentale Setzung zugelassen. Daß es jeweils etwas Anderes sei, wenn die Bestimmung ›rot‹ an Steinen, Pflanzen, Tieren oder dem Menschen vorkomme, wird eben jetzt als überflüssige, die Sache selbst verfälschende Subtilisierung zurückgewiesen: Es gibt nur noch, wenn es ›rot‹ gibt, eine bestimmte, auf das Interagieren weniger res extensa-Faktoren reduzierte, einheitliche Konfiguration von Teilchen als die Oberflächenbestimmung x (für die wir die qualitas ›rot‹ einsetzen); einen analogen, zurückweisenden Gedankengang finden wir dann auch gegenüber dem causa finalis-Gedanken. Leibniz, und das ist jetzt der Punkt, auf den es mir ankommt, entwickelt seinen philosophischen, systematischen Ansatz in direkter und durchaus kritischer Auseinandersetzung mit dem Denken des Descartes, zugleich aber auch in intensiver Konsultation der aristotelischen Tradition in Form vor allem ihrer neuscholastischen Ausprägung, der zentrale Autor hier ist Francisco Suarez, dessen Disputationes metaphysicae von 1597 ein Grundtext des philosophischen Dis-
Vgl. etwa Descartes’ Brief an Morin vom 12. September 1638, AT II, S. 367 bezüglich der »forme substantielle« der Sonne: »mais je repons que cette distinction (sc. zwischen natürlicher und künstlicher Form) ne regarde que la cause de ces formes, & non point du tout leur nature, ou du moins que cette forme substantielle du soleil, en tant qu’elle differe des qualitez qui se trouvent en sa matiere, est derechef un estre philosophique qui m’est inconnu«. Descartes hat zugleich konsequent den Materie-Begriff der scholastischen Tradition abgelehnt, vor allem den der ›materia prima‹, von der nicht zu sehen sei, wie sie, aller Formbestimmung entkleidet, noch von ihrer akzidentellen Bestimmung, etwa der Ausdehnung, zu unterscheiden sei. Materie ist daher ihrer ›Substanz‹ nach nichts anderes als eben diese Ausgedehntheit (oder: ihr vormaliges Hauptakzidens ›quantitas‹, wird in verschiedener Weise, nämlich als extensio, quantitas, figura, motus, zur Substanz selbst), vgl. AT XI, S. 33–36; II, S. 367. 8 Descartes: Principia II, n. 11, AT VIII, S. 46. 7
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kurses des 17. Jahrhunderts gewesen sind. In diesem Kontext einer einerseits radikalen, an Descartes anknüpfenden Neubestimmung der Philosophie, die andererseits in viel größerem Umfang sich auch auf die antiken und neuscholastischen Ansätze einläßt und durch sie stützen läßt, restituiert Leibniz den traditionellen Substanz-Begriff und zwar gerade auch in seiner Ausprägung als »forma substantialis«9. Diese Entwicklung erstreckt sich eigentlich über das ganze Œuvre, besonders markant jedoch wird sie ab dem Zeitpunkt, da Leibniz sein eigenes System zu konzipieren beginnt, also seit Mitte der 80er Jahre mit dem Discours de métaphysique, und dann im Système nouveau und der neuen Dynamik in den 90er Jahren. So heißt es etwa in einem Schreiben an Thomas Burnett vom Januar 1699 und mit explizitem Rückblick in die Abhandlungen der Grundlegungs-Phase 1684–1686: »Ich betrachte wirklich den Begriff der Substanz als einen der Schlüssel(begriffe) der wahren Philosophie«10. Leibniz versucht diese Schlüsselfunktion in einer Art asymptotischen, beharrlich verfolgten und bis ins (für die Zeitgenossen vermeintliche) Paradox hinein reichenden Durchdringen dessen, was »Substanz« heißt, deutlich zu machen und zwar auf drei zentralen Gebieten: 1) dem der logischen Analyse, die die Substanz als »Subjekt« einer Satz-Struktur, insbesondere der Prädikationsstruktur, bestimmt (hierzu vgl. die »Generales inquisitiones de analysi notionum et veritatum«11); 2) dem der physikalischen Analyse, die die Substanz als »Kraft«, d. h. als dynamische, aus sich heraus aktive Einheit bestimmt12 und 3) dem der metaphysischen Analyse, die die Substanz als »Seele«, als geistige Einheit und als »wahres Abbild« Gottes, ja sogar, im Rückgriff auf einen Gedanken der Renaissance, als »kleinen Gott« in der Schöpfung bestimmt.13 Es ist dabei aufschlußreich, daß Leibniz in der Phase seines entwickelten Denkens davon ausgeht, daß der experimentelle Ursprung
Zur Rezeption von Aristoteles und Scholastik vgl. etwa GP IV S. 325, 509, 512, 572. Zum Substanz-Begriff vgl. De primae philosophiae emendatione (1694), GP IV, S. 468: zur Substanz »quae tam fecunda est ut inde veritates primariae, etiam circa Deum et mentes, et naturam corpoream consequantur”; vgl. auch an de Volder 1701, GP II, S. 224; an des Bosses 20.9.1712, GP II, S. 457; Nouveau Système, Eclaiscissement GP IV, S. 494. Zur Wiederaufnahme des aristotelisch-scholastischen Konzepts der »forma substantialis« im Zusammenhang mit dem metaphysisch strengen Begriff einer als Einheit und als Tätigkeitsprinzip gedachten Substanz vgl.das Systeme nouveau, GP IV, S. 478–479. Donald Rutherford: Metaphysics: the late period, In: The Cambridge companion to Leibniz, ed. by N. Jolley (Cambridge 1995) 124–132. 10 GP III, S. 245. 11 C S. 356–399 und die Ausgabe von F. Schupp (Hamburg 21993). 12 Vgl. etwa De ipsa natura, GP IV, S. 508, sowie das Specimen dynamicum. 13 Die übergreifende Bestimmung der »geschaffenen« Substanz ist aber immer wieder die, »d’estres actives et d’avoir quelque force en elles« (an Bayle, 27.12.1698; GP III, S. 56). Zur Seele als »une imitation de Dieu« und als »petit Dieu« vgl.an Bayle GP III, S. 72; Systeme nouveau 1695, GP IV, S.479 und NE IV 3, § 27, GP V, S. 370 = A VI/6, S. 389: die »Geister« (esprits) bringen, indem sie die Materie und deren innere Struktur beherrschen, selbst »ordonnances merveilleuses« hervor: »Cela paroist par les changemens, que les hommes ont faits, pour embellir la surface de la terre, comme des petits dieux qui imitent le grand Architect de l´univers, quoyque ce ne soit que par l´employ des corps et de leur loix«. 9
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des Begriffs der Substanz das durch den inneren Sinn zugängliche und gewußte Ich (moy) ist.14 Übernimmt Leibniz diese unmittelbare innere Erfahrung des cogitare als cogito (erste Person Singular) durchaus von Descartes, so ist doch die Verwendung von Substanz in den anderen Kontexten eine Restitution, die deutlich gegen Descartes gerichtet ist. Ich greife als Beispiel das Specimen dynamicum heraus, den Text, der dieses System in seiner Konsequenz für die Naturphilosophie darstellt: Hier restituiert Leibniz den Substanz-Begriff als einen universalen Begriff, den er aber, was die natürlichen Substanzen (die existierenden Dinge) betrifft, transformiert in eine dynamische Konzeption, die »das Agieren« (agere) als Wesensform aller Substanzen festlegt.15 Die Transformation und Restitution der Substanz in Verbindung mit den Begriffen der Form (Substantialform) und der Entelechie will ich hier nicht diskutieren, sondern vielmehr das Augenmerk darauf richten, warum Leibniz in diesem Text, der ja sozusagen der programmatische Text der von ihm neu entwickelten Dynamik ist, glaubt explizit eine solche Restitution/ Transformation expressis verbis verkünden zu müssen. Die Rechtfertigung der Wiederaufnahme traditioneller Terminologie betrifft nämlich immediat auch begriffsgeschichtliche Aspekte. Leibniz stellt klar, daß ihm daran liegt – und daß der Philosophie beziehungsweise jeder Wissenschaft daran gelegen sein sollte – die »Lehren der Alten beizuziehen« (doctrinae veterum consulere) und d. h. sich fragend und mit Gewinn für die eigene Sache mit ihnen auseinander zu setzen, denn diese Lehren sind Ausdruck einer diese Sache betreffenden Wahrheit. Leibniz geht also davon aus, daß in den Begriffen, in denen ja die ›doctrina‹ formuliert sei, eine bis auf seine Zeit hin grundsätzlich und im Kern erhaltene Wahrheit stecke. Leibniz bezeichnet es hier explizit als »Forschungsmethode« (ratio studiorum) oder zumindest als Teil oder Moment einer solchen Methode, die Texte der älteren Tradition und die in diesen Texten herausgehobenen, die Lehre und Argumente ausdrückenden Begriffe, »zu erläutern« oder zu »entfalten« (explicare kann beides heißen), sie dadurch »verständlich oder einsichtig zu machen« (ad notiones intelligibiles revocare) und zwar um, soweit möglich, diese Theorie zur Selbstübereinstimmung und zur Selbststabilität zu bringen
An Thomas Burnett, 20.1.1699, GP III, S. 247: unter Rückgriff auf seine kategoriale Unterscheidung von »idée claire« und »idée distincte« führt er aus: »Et de même je crois qu’on a une idée claire, mais non pas une idée distincte de la substance, qui vient à mon avis de ce que nous en avons le sentiment interieur en nous mêmes qui sommes des substances«. An die Königin von Preussen 1702, GP VI, S. 488, 493, vgl. auch GP IV 362; V, S. 96 = NE I c,3, § 18; 214–215; NE II c.27, § 4. 15 Leibniz: Specimen dynamicum, pars I, n. 1, ed. by H. G. Dosch, G. W. Most, E. Rudolph, (Hamburg 1982) 2: »ut vis illa in ipsis corporibus ab ipso (sc. Deo) producatur, imo ut intimam corporum naturam constituat, quando agere est character substantiarum. Zur Restitution als einem bewußten Akt, S. 4: »[…] ita nunc Peripateticorum tradita de Formis sive Entelechiis (quae merito aenigmatica visa sunt, vixque ipsis Authoribus recte percepta) ad notiones intelligibiles revocabuntur«. 14
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(ut constare sibi possit). Sei dies gelungen, so könne eine solche Theorie dann auch durch »neue Wahrheiten angereichert« werden (novis veritatibus augere). Dieses alles solle, so Leibniz weiter, deswegen der »prudentia docentis« und der »utilitas discentium« dienen, weil diese Faktoren Umsicht, Vorsicht, Überlegtheit wie auch der ›Nutzen‹ in einem historischen Kontext stünden, in einem Überlieferungsgeschehen, dessen eigentümliche Struktur nicht ohne Not übergangen oder vernachlässigt werden dürfe. Leibniz will – man denke durchaus an unsere eigene Gegenwart – vorschnelle Kritik, permanentes Novellieren und unkontrollierte Thesenmultiplikation strikt vermeiden, will dem Aufbauen gegenüber dem Einreißen (der aedificatio gegenüber der destructio) den Primat einräumen, weil nur so zu einem sicheren, festen und auch fortschreitenden Wissen zu gelangen sei.16 Das ›Neue‹ und ›Originelle‹ der eigenen oder zeitgleichen Philosophie soll das Substantielle und Gute der Tradition nicht einfach durch Verdrängung und Destruktion negieren – dies würde eben auch die Begriffe treffen, in denen Denken sich äußert –, sondern es in die »öffentlichen Schatzkammern« (thesauri publici) tragen. Das Gute des älteren Begriffs – nehmen wir Entelechie – liegt aus der Perspektive von Leibniz in dem korrektiven Potential, das er gegenüber gerade zeitgenössischen (nämlich cartesianischen) Verdrängungen oder Umdeutungen aufweist. So ist das, was bei Descartes vom Begriff ›Substanz‹ übrigbleibt, nachdem die »formae substantiales«, die »Entelechie« als final-dynamische Bestimmung und die »vis intima« kritisch zurückgewiesen worden sind, zu wenig, um etwa die Sachfragen der Naturtheorie (Energieerhaltung) oder der Moralphilosophie (Intentionalität) begründen zu können. Ein dynamischer Faktor etwa kann der »res extensa« als ausgedehnter Substanz nur noch nachträglich, als akzidentelle oder nicht-notwendige Bestimmung, angehängt werden.17 Leibniz, der demgegenüber die Substanz als genuin Tätiges denken will – die »vis activa primitiva« ist jeder körperlichen Substanz »per se« inne – kann diesen Begriff zusammen mit dem der »forma substantialis« wieder einführen. Die Neubewertung, die natürlich auch Leibniz an der älte-
Leibniz: Specimen dynamicum, pars I, n. 2, hg. von H. G. Dosch, G. W. Most, E. Rudolph, (Hamburg 1982) 4: »atque haec studiorum ratio mihi et prudentiae docentis et utilitati discentium maxime accomodata videtur, ne destruendi quam aedificandi cupidiores videamur, neve inter perpetuas doctrinae mutationes, audacium ingeniorum flatibus quotidie incerti jactemur; sed tandem aliquando humanum genus, refrenata sectarum libidine (quam inani novandi gloria stimulat) constitutis certis dogmatibus, inoffenso pede non in Philosophia minus quam in Mathesi ad ulteriora progreditur«. 17 Während für Descartes die Ausdehnung Wesensbestimmung des Körpers ist, vgl. Principia II, ist für Leibniz die Kraft Wesensbestimmung, aus der dann als Attribut die Ausdehnung allererst folgt, De primae philosophiae emendatione, GP IV, S. 468–470. Die klassische Bestimmung von Substanz, unum per se, ens a se, Zugrundeliegendes von Aussagen, Subjekt von Bestimmungen, Sich-Gleichbleibendes etc., lassen sich nach Leibniz gerade nicht am Ausgedehnten an sich, an der reinen extensio festmachen, diese ist nur abhängige, auf anderes bezogene, in sich vielheitliche Bestimmung, vgl. an de Volder: GP II, S. 169 f, 268. 16
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ren Begrifflichkeit und deren Semantik vornimmt, stellt diese formale Substantialität in den Horizont der »allgemeinen Ursachen« (causae generales), die nur notwendige aber nicht hinreichende (sufficientes) Bestimmungen zur Erklärung der Phänomene darstellen.18 Hier, das ist die typisch Leibniz‹sche Lösung, verbinden sich der dynamisch-substantielle und der mechanisch-extensionale Deutungsversuch der Wirklichkeit. In der ersten Deutungsebene der physikalischen Wirklichkeit holt Leibniz das Begriffsarsenal der Tradition, das kurz zuvor mit Bausch und Bogen durch Hobbes, Gassendi und vor allem auch Descartes herausgeworfen worden ist, wieder ins Interpretationsboot hinein – substantielle Form als Entelechie auf der einen, aktiv-dynamischen Seite, erste Materie als ursprüngliches Vermögen des Erleidens auf der anderen rezeptiv-dynamischen Seite – auf der zweiten Ebene allerdings, wo die aus diesen allgemeinen Ursachen abgeleiteten »besonderen Ursachen« und Verhältnisse bestimmt werden müssen, geht er wiederum einige Schritte mit Hobbes und Descartes und deren Schulen. Begriffsgeschichtlich bedeutet dies, daß der Reichtum des begrifflichen Bestecks nicht nur bewahrt, sondern auch vergrößert worden ist. Es zeigt aber auch an, daß die Dimension der Ontologie in gewisser Weise fürs erste gerettet worden ist, vor allem in der Bewahrung eines funktionstüchtigen Substanz-Begriffs, bevor der nächste harte kritische Eingriff durch Kant erfolgen wird.
III. Auf die skizzierte Diskussion zurückblickend und zeitgleich zu Leibniz entwikkelt sich die Philosophie des Henry More, des neben Ralph Cudworth wichtigsten Repräsentanten des sogenannten Platonismus von Cambridge. Die intensive Auseinandersetzung mit dem Denken des Descartes, die zunächst von enthusiastischer Affirmation ausging und dann von zunehmender Distanzierung bis hin zu polemisierender Kritik geprägt war, bildet den Hintergrund meines zweiten Beispiels, das jetzt das Scheitern der Etablierung eines Begriffs dokumentieren soll.19 In seinem systematischen Hauptwerk, dem Enchiridum metaLeibniz: Specimen dynamicum, pars I, n. 3, hg. von H. G. Dosch, G. W. Most, E. Rudolph, (Hamburg 1982) 6: »primitiva (sc. vis) quidem (quae nihil aliud est quam !ντελεχεα " πρτη) animae vel formae substantiali respondet […]«. Da dies aber nur die allgemeinen Ursachen betrifft, stimmt Leibniz wiederum auch denen zu (d. h. den Cartesianern oder Hobbes), »qui formas in rerum sensibilium causis propriis specialibusque tradendis adhibendas negant«. Leibniz will die Skylla der scholastischen »Klopffechtereien« (battologiae) auf der einen und die Charybdis der cartesianischen Entfinalisierung der physikalischen Wirklichkeit auf der anderen Seite vermeiden. Zum Problem vgl. Thomas Leinkauf: Der Natur-Begriff im 17. Jahrhundert und zwei seiner Interpretamente: »res extensa« und »intima rerum«. In: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 23 (2000) 399–418; Ders.: Der Naturbegriff in der Frühen Neuzeit. In: Der Naturbegriff in der Frühen Neuzeit. Semantische Perspektiven zwischen 1500 und 1700, hg. von Thomas Leinkauf (Tübingen 2005) 1–21. 19 Zu More vgl. Thomas Leinkauf: Die Cambridge Platonists [Anm. 4] 466–469. 18
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physicum aus dem Jahr 1671 stellt More seine neuplatonisch inspirierte, d. h. metaphysisch fundierte Ontologie in gedrängter Form dar. Ontologie allerdings ist hier nicht mehr die klassische Seinslehre seit Aristoteles und auch nicht Ideenlehre im Sinne der Platoniker, denn More schmeißt sozusagen alle diesbezüglichen Begriffe radikal aus dem Horizont der Metaphysik heraus und weist sie der Logik, d. h. der Begriffs-, Satz- und Schlußanalyse zu: das ›Ens quatenus Ens‹, die Begriffe ›existentia‹, ›perfectio‹, ›entitas‹, ›conceptus formalis sive objectivus‹ etc., alles Begriffe, die in der Metaphysik des Descartes durchaus noch eine Rolle spielen, die aber auch in den Cursus und Disputationes der späten Scholastik zum Rüstzeug der metaphysischen Argumentation gehören.20 More läßt als legitimen Gegenstandsbereich metaphysischer Reflexion ausschließlich die »substantia incorporea« gelten21. In diesem Enchiridium metaphysicum findet sich nun ein für die Positionierung More’s im Rahmen der Diskussion des 17. Jahrhunderts wichtiges Kapitel, in dem, so stellt es gleich die Überschrift in Aussicht, über »zwei Meinungen« gehandelt werden soll, die größte Dunkelheit in Bezug auf die Natur und den Begriff des Geistes bzw. Geistigen verbreiteten.22 More versteht dabei unter »spiritus«, was ich hier mit Geist wiedergegeben habe, eigentlich unkörperliches Sein im allgemeinen und in seinem Enchiridium ist die Hauptthese, daß Unkörperliches existiert, ja daß es sogar, dies der Schlag ins Gesicht sowohl des Descartes als auch natürlich der Schulphilosophie, als ausgedehntes Sein existiert und dadurch auch die Seinsmöglichkeit wiederum nicht-geistiger oder körperlicher Dinge bereit stellt.23 Auch hier kann ich auf das komplexe und bis hin zu Newtons Raum-Begriff wirkungsvolle Denkge-
Henry More: Enchiridium metaphysicum (1671). In: Opera omnia, Londini (Martyn) 1679, T. II/1, cc. 2–5, 143–158. 21 Ebd., c. 6, 158: »quod sola relinquitur substantia incorporea quae legitimum Metaphysicae Objectum esse possit«. 22 Ebd. c. 27, 307: »Duas esse Opiniones quae maximâ obscuritate naturam Spiritûs involvunt«. 23 Ebd., c. 8, n. 9, 167: das Unkörperliche existiert an einem ›Ort‹, der als »locus internus« bzw. »locus intimus« bezeichnet wird und dem im Folgenden alle traditionellen attributa divina zugesprochen werden: per se subsistere, immensum, infinitum, incircumscriptum, incomprehensibile, ens actu, ens per essentiam, actus purus etc., n. 12, 168, n. 13, 169: »argumentis manifesto demonstravimus Extensum illud infinitum, quod vulgo merum Spatium esse fingitur, revera Substantiam quandam esse, eamque incorpoream, sive Spiritum«. Diese ›Ausdehnung‹ versteht More im Gegensatz zu Descartes nicht als »magnitudo«, die teilbar ist und der Materie zukommt, sondern als »amplitudo«, »quae ita una est & simplex, aut saltem esse potest, ut repugnet in partes dicerpi«. Zugleich jedoch gilt, n. 14, 169: »quod aliquid extendi potest nec tamen in partes discerpi« – diesen Typus geistiger Ausdehnung bezeichnet More dann auch als »spissitudo«, vgl. c. 28, nn. 6–7, 319 f.: »extensio spiritualis« zeichnet sich dadurch aus, daß sie eine »vierte Dimension« im Sein der materiell-körperlichen Dinge markiert, die als »spissitudo« zu bezeichnen ist, die immer dann auftritt, wenn »vel plures vel plus Essentiae in aliquo Ubi continentur quam quod amplitudinem huius asdaequat« (S. 320). Vgl. auch Divine dialogues, (London 1668), n. 25 f, vgl. Alexander Jacob: Introduction. In: Henry More. The immortality of the soul, ed. by A. Jacob (Dordrecht 1987) liv–lvi. 20
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bäude Mores nicht ausführlich eingehen, nur soviel sei gesagt, daß More einen völlig neuen Raumbegriff als Basis oder besser: als ›Ort‹ der Existenz des Nichtkörperlichen konzipiert. Dies beruht auf dem Grundsatz, daß alles Existierende einen Ort seiner Existenz haben muß (man könnte es auch so formulieren: für jedes x gilt: wenn es existiert, dann ist es notwendig an einem Ort), wenn es nicht nur ein ens rationis sein soll, aber auch dieses hat je seinen Ort im Denken des tatsächlich existierenden Denkenden. Sofern daher Gott, als absolute Ursache der wirklichen Welt und damit allen in dieser anzutreffenden Seins, nicht nur ein begriffliches Sein als ens rationis, sondern ein wirkliches Sein im Sinne der Existenz haben soll, insofern muß, so More, dieser Gott auch – und in der Konsequenz alles Unkörperliche – einen Ort seines Existierens haben, ein, wie er es nennt, »Ubi« oder »Wo«.24 Die provokante These der Ausgedehntheit des Unkörperlichen und der Ortsgebundenheit selbst des göttlichen Wesens, bewegt sich exakt auf der Grenzlinie des vor allem durch Descartes in die jahrhundertealte Symbiose von Materie und Form, Körper und Seele, Leib und Geist eingezogenen Risses. Der Versuch, die Spaltung von res extensa und res cogitans (die sich ja seit Descartes wechselseitig im Sinne der Negation ausschließen) wieder rückgängig zu machen, ohne doch zugleich, wie etwa Leibniz oder Spinoza, in einen radikalen Monismus mit Konstruktionen paralleler, prästabilierter oder doch zumindest korrelierter Seins- und Phänomenreihen zu verfallen,25 sieht sich selbst natürlich gerade diesen Theoriemodellen ausgesetzt, aber auch der hochreflektierten schulphilosophischen Tradition. Das Provokante an More’s Ansatz ist die gegen beide Vorgaben, gegen die Schulphilosophie wie auch gegen den Cartesianismus gerichtete, Annahme einer metaphysischen Ausdehnung, einer »extensio metaphysica«, die nicht zusammenfällt mit der »extensio physica«, sei dies die traditionelle des aristotelisch-scholastischen esse extensum oder sei es die hierauf kritisch reagierende res extensa-Lehre des Descartes (die beide eine partes extra partes-Struktur ansetzen). In dem schon erwähnten 27. Kapitel des Enchiridiums nun wendet sich More polemisch gegen seine beiden Hauptgegner, Descartes und den Cartesianismus auf der einen, Aristoteles und die Schulphilosophie auf der anderen Seite. Er prägt dabei und das ist jetzt die, wie ich denke, begriffsgeschichtlich interessante Dimension, zwei Neubildungen, die aus der Sache des jeweiligen Denkansatzes selbst gezogen sind (und auch genau so, mit Bezug auf die Sache, begründet werden): Die Denkschule, die dem Unkörperlichen, obgleich es dessen Sein nicht in Frage
More: Enchiridium c. 8, Scholia, 173: »Me vero omne Ens quatenus Ens aliquo modo extensum censere lubens agnosco, Deo ipso non excepto, sed non omnia meris Mathematicis simplicibusve dimensionibus extendi, sed istiusmodi tamen dimensiones in spiritualioribus istis extensionibus aliqua ratione includi«. 25 Vgl. Thomas Leinkauf: Prästabilierte Harmonie (Monadologie §§ 78–81,87), In: Gottfried Wilhelm Leibniz: Monadologie, hg. von Hubertus Busche (Berlin 2008) 197–209 mit weiterer Literatur. 24
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stellt, keinen Ort zuweisen will (oder kann), wird als die Schule der »Nullibisten« bezeichnet, also als die Theoretiker des »Nirgends« oder »Nirgendwo«.26 Die Schule, die, ebenfalls unter Annahme des Seins von Unkörperlichem, diesem Unkörperlichen, etwa der Seele, einen ›Ort‹ zuweist, indem erstere dem ganzen Körpersubstrat im Sinne eines Sich-selbst-Aufteilens ko-präsent ist, nennt More die »Holenmeristen«, was (geht man auf die dahinter stehende griechische Begrifflichkeit zurück) soviel heißen soll wie: Theoretiker des ›Ganz im Teil seienden Unkörperlichen‹, d. h. Theoretiker (so sieht es kritisch More), die das Unkörperliche den Bedingungen letztlich körperlicher Ausgedehntheit aussetzen.27 Machen die Vertreter der ersten Schule, die Cartesianer, sozusagen zu wenig, so machen die Aristoteliker hingegen zu viel: Die Cartesianer gestehen dem Unkörperlichen keinen Existenzort zu, es ist der Ausdehnung als Bedingungsmodus des körperlichen Seins radikal entgegen gesetzt, die Aristoteliker gestehen zwar einen Existenzort zu, stellen aber das Unkörperliche unter die Bedingungen des Körperlichen. More selbst sieht seine Theorie als Versuch an, diese aus seiner Sicht unvertretbaren Theorien – die eine, weil sie durch die extreme Entgegensetzung kein commercium corporis et mentis mehr wirklich zulassen kann, die andere, weil sie dieses commercium ausschließlich durch Depotenzierung des Unkörperlichen zu Körperlichem erklären kann – zu überwinden und zwar durch ein tertium quid, das er als »metaphysische Ausdehnung« bezeichnet, die uns als eine »idea immobilis aeternique Extensi quod omnia complectatur« vorstellig werde.28 Die Position Mores wäre vor allem auch, das kann hier nicht geschehen, im Zusammenhang mit der für die Frühe Neuzeit typischen Betonung des Gedankens der Positionalität zu diskutieren, also der zunächst trans-physikalisch, systematisch zu verstehenden Annahme, daß Sein und ›eine-Position-Haben‹ koinzidieren. In den Kontext dieses von mir hier einmal als Positionalität bezeichneten Begriffs gehören unzweifelhaft Konzepte wie das der Perspektivität, der Individualität/Singularität und der skalar darstellbaren Gradation des Seienden. Im Ansatz von Leibniz werden diese Begriffe in einen systematischen Zusammenhang gestellt werden, wird jedes »unum per se« oder
More: Enchiridium c. 27, 307. Vgl. Descartes: Discours de la méthode, IV, n. 2, AT VI, 33: Je connu de là que j’étais une substance dont toute l’essence ou la nature n’est que de penser, et qui, pour être, n’a besoin d’aucun lieu, ni ne dépend d’aucune chose matérielle«. Vgl. jetzt Dominique Weber: Hobbes et le corps de Dieu (Paris 2009) c. 4, 103–119. 27 Vgl. Thomas Leinkauf: Mundus combinatus. Untersuchungen zur Struktur der barocken Universalwissenschaft am Beispiel Athanasius Kirchers (Berlin 22009), S. 56–66 zum Topos anima est tota in toto corpore & tota in qualibet parte corporis. 28 More: Enchiridium c. 8, Scholia in sect. 3, 172, dort auch zur extensio simplex und spissitudo: »in essentiali spissitudine rerum incorporearum, etiam simplex ac Mathematica extensio concipitur, tanquam virtualiter in ea conclusa«; das immobile aeternumque extensum wird »ad Deum« bezogen (hier wird dann Newton im berühmten Scholion seiner Principia anschließen; c.27, 308: More akzeptiert als Grundsatz mit den Nullibisten: »quicquid est alicubi est etiam extensum« – was irgendwo ist, ist auch ausgedehnt. 26
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jede Monade sua natura ein alles unter ihren Index stellendes Sein sein, ein das Universum aus seiner singulären Perspektive reflektierendes (spiegelndes) Sein, dessen ›Ort‹ als eine metaphysische (trans-physische) Position zu denken ist, die positiv ausschließlich durch die Negation aller anderen Positionen zu bestimmen ist. Daß More nun, im Unterschied zu Leibniz und auch zu Spinoza, dem ens perfectissimum, der substantia infinita oder der monas monadum, die eigentlich gegenüber allen Positionen als positionslos zu denken ist (wie die Cusanische Bestimmung Gottes als oppositio oppositorum, die ihn noch jenseits der durch Koinzidenz überwundenen Opposition stellt), dennoch ein Ubi zuweist, verweist sozusagen immediat auf seine alternative, also nicht nur nicht-cartesianische, sondern auch nicht-leibnizianische Physikkonzeption (und damit RaumVorstellung). Aus dieser Spannung der Selbstpositionierung resultiert auch die semantische Kraft seiner polemischen Begrifflichkeit.
IV. Die begriffliche Charakterisierung seiner Gegner als Nullibisten und Holenmeristen, die Henry More wirkungsvoll in eines seiner am meisten gelesenen Werke eingebracht hatte, hat sich, obgleich sie in der Sache die Positionen jeweils trifft und obgleich sie durchaus einprägsam ist (man kann sie schwer wieder vergessen, wenn man einmal auf sie getroffen ist), im Rückblick nicht durchgesetzt. Hier verpufft sozusagen die Dynamik begriffsbildender und damit natürlich auch potentiell die Begriffsgeschichte bereichernder Erfindungskraft. Gegenüber der Stabilität und Eigenschwere eines Begriffs wie ›Substanz‹, der gerade auch die Dynamik starker Transformationsprozesse aushalten kann, darauf sollte der erste Teil hinweisen, wirken Begriffe, die sich nicht durchgesetzt haben, als Leichtgewichte unabhängig von ihrer tatsächlichen Aussagekraft. Aber auch die Schwergewichte, wie Sein, Substanz, Subjekt usw. können durch einen bloß äußerlichen, formellen Verwendungs- oder besser Nutzungsmodus gleichsam gegen ihren historisch gewachsenen semantischen Reichtum ›abgenutzt‹ erscheinen oder eine Uneigentlichkeit im Gebrauch aufweisen. Die Begriffsgeschichte ist die Disziplin, die gerade diesen Vernutzungserscheinungen durch Aufhellung der historisch-sachlichen Tiefendimension begegnen kann, sie kann aber auch die Disziplin sein, die die Begriffe, die noch gar keine Abnutzungserscheinungen aufweisen können, wenigstens wieder ins Bewußtsein holt und ihnen dadurch ihre Existenz wiedergibt, ihnen vielleicht auch einen semantischen Ort im Spannungsgefüge von Epochen zuweist, die nicht gerade als begriffsarm zu bezeichnen sind. Leibniz hat, wie wir gesehen haben, ein starkes Vertrauen in die ursprünglichen Intuitionen des philosophischen Begreifens und in die daraus entsprungenen Begriffsbildungen, das ihn dazu veranlaßt, eine Art Abgleich vorzunehmen, um das konzeptuelle, sachangemessene Potential dieser Begriffe mit dem zu konfrontieren, was unter den Bedingungen fort-
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geschrittener Erfahrungen und Einsichten als Anreicherung oder als Überschuß begriffen werden kann, dies alles mit der Intention der reflektierten Bewahrung zumindest solcher Zentralbegriffe wie Substanz. More hingegen ist wesentlich stärker auf Innovation bedacht und prägt, in kritisch-polemischer Frontstellung gegen den Atomismus und den Mechanismus, gegen den Substanzen-Dualismus und gegen den Hylemorphismus, permanent neue Begriffe: »spissitudo«, »nullibistae«, »holenmeristae« etc., oder greift zumindest affirmativ recente Begriffsbildungen, wie etwa diejenige der »vis/virtus plastica«, auf. Die Tatsache, daß seine Prägungen fast unmittelbar mit seinem Ableben aus den Wechselstuben begrifflichen Austausches verschwunden sind, ohne daß doch gesagt werden könnte, daß die Prägestöcke ›falsch‹ geschnitzt worden seien, verweist auf die Komplexität der begriffsgeschichtlichen Traditionsbildung, die vom historischen Kairos, von der Stärke der Schulbildung, von der Persistenz der Thematik wie auch vielleicht davon abhängt, daß gerade der individuelle Index der Prägung wohl die Gelassenheit der philosophischen Einstellung zu stark in eine terminologische Entscheidungssituation zwingt, die auch eine Zuordnung zum begriffsprägenden Individuum impliziert. In dieser Perspektive ist es natürlich etwas anderes, einen traditionsreichen Fundamentalbegriff durch eigene interpretierende Anreicherung zu retten als einen neugebildeten Kampfbegriff in einen schon bestehenden Diskurs zu integrieren.
Lutz Geldsetzer
Wörter, Ideen und Begriffe Einige Überlegungen zur Lexikographie
Im Folgenden wird versucht, anhand zumeist philosophischen Materials und logischer Erwägungen einige Unterscheidungen plausibel zu machen, die in der linguistischen, aber auch allgemein in der wissenschaftlichen Lexikographie eine Rolle spielen. Es geht um die Zuordnung von Bedeutungen zu Wörtern bzw. Lexemen sowie um die Frage, was Bedeutungen sind und wie sie ihrerseits fixiert werden können.1 In den Lexika bietet man Wörter wie auch durch Wörter bezeichnete Ideen und Begriffe in alphabetischer Anordnung dar, und zweifellos hat sich die alphabetische Anordnung als die bequemste, übersichtlichste und daher auch erfolgreichste Art, umfassendes Wissensmaterial zu versammeln, in allen Wissenschaften bewährt. Reine Sprachwörterbücher sind die verbreitetste und unentbehrliche Lexikonart für jeden, der sich in Fremdsprachen umtut. Dies ist bekanntlich für Wissenschaftler geradezu obligatorisch. Ideen-Lexika sind eine neuere Erfindung und noch schwer von den Begriffslexika abgrenzbar, wie das Beispiel des italienischen »Dizionario delle idee«2 zeigt, das auf der Grundlage der bekannten »Enciclopedia filosofica di Gallarate« und ihren »concetti« (Begriffen) erarbeitet wurde. Begriffs-Lexika gibt es zwar schon länger, aber sie werden kaum als solche bezeichnet. Meistens treten sie unter den Titeln Enzyklopädie oder Wörterbuch dieser oder jener Wissenschaft auf. Gelegentlich auch als Wörterbuch ihrer Begriffe, wie in der Philosophie das bekannte »Wörterbuch der philosophischen Begriffe« von Rudolf Eisler.3 Ersichtlich bleiben in allen Formen der Lexika die sprachlichen Wörterbücher Vorbild. Von ihnen her hat sich die Vorstellung gehalten, daß Wörter einer Sprache einschließlich auch der Wörter, die in Fachsprachen und in den Wissen-
1 Zur Fragestellung vgl. J. Marouzeau, Lexique de la terminologie linguistique, français, allemand, anglais, italien (Paris 1951) VIII : »L’unification projetée suppose un accord sur le sens à donner à chaque terme existant ou proposé, et c’est ici que se pose une question delicate : au nom de quoi décidera-t-on que tel terme convient à telle notion ?« 2 Dizionario delle idee (Florenz 1977) – G. Giacon u. a. (Hg.): Enciclopedia Filosofica (Centro di Studi Filosofici di Gallarate) (Florenz 1957–1958, 4 Bde.; 2. Aufl. Florenz 1968–1969, 6 Bde.). Über weitere philosophische Lexika vgl. L. Geldsetzer, Allgemeine Bücher- und Institutionenkunde für das Philosophiestudium (Freiburg/München 1971) 111–122. 3 Rudolf Eisler, Wörterbuch der philosophischen Begriffe und Ausdrücke (Berlin 1899; 2. Aufl. 1904 , 2 Bde.; 3. Aufl. 1910, 3 Bde.; 4. Aufl. 1927–1930), jetzt völlig neu bearbeitet und hg. von J. Ritter, dann von K. Gründer und G. Gabriel, 23 Bde. (Basel 1971–2007).
Archiv für Begriffsgeschichte · Sonderheft 8 · © Felix Meiner Verlag 2010 · ISBN 978-3-7873-1971-8
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schaften gebraucht werden, die realen akustisch und in Schriftgestalten optisch wahrnehmbaren Zeichen sind, denen eine »Bedeutung« zugeordnet wird. Bedeutungen sind im Gegensatz zu Wörtern geistige Sinngebilde, die durch Wörter evoziert werden. Die Bedeutungen jedoch, auf die die sprachlichen Zeichen verweisen und die durch sie evoziert werden, müssen ihrerseits durch Wörter gleichsam dingfest gemacht werden. Auch dies erscheint in den Sprachwörterbüchern problemlos, wenn man etwa für das Übersetzen ein äquivalentes Wort der Zielsprache mit der entsprechenden Bedeutung sucht und (meistens) findet. Anders verhält es sich jedoch in den Fällen von Wörtern, deren Bedeutung ein mehr oder weniger komplexer gedanklicher Sachverhalt ist, der in der Regel nicht durch ein Wort evoziert werden kann. Für diese Fälle hat sich eine besondere hermeneutische Terminologie entwickelt. Man spricht vom mehr oder weniger umfassenden »gemeinten Sinn« dieser Wörter. Dies leuchtet etwa bei den biographischen Lexika unmittelbar ein. Denn in diesen wird einem Eigennamen, der gewöhnlich ein Wort aus dem Wörtervorrat einer bestimmten Sprache ist, dadurch ein »Sinn« zugesprochen, daß eine mehr oder weniger lange Lebensgeschichte und Leistungswürdigung vorgestellt wird. Nicht anders verhält es sich aber auch bei den komplexen Sinngehalten, die unter den Bezeichnungen »Idee« und »Begriff« gefaßt werden.4 Wie das im Unterschied zu den einfachen Sprachwörterbüchern geschieht, soll im Folgenden auch anhand historischer Beispiele näher gezeigt werden. Der klassische Ausgangspunkt der Überlegungen zum Wort-Bedeutungsverhältnis war die berühmte Stelle in der aristotelischen Hermeneutikschrift. Sie besagt, daß alle Menschen in der Welt die gleichen sinnlichen Erfahrungen machen und daher die gleichen psychischen Vorstellungen von den Dingen und Sachverhalten in der Welt bilden. Diese Vorstellungen sind nach Aristoteles Abbilder der Dinge. Da die Völker aber verschiedene Sprachen entwickelt haben, bezeichnen sie ihre Vorstellungen durch verschiedene Lautungen (und diese durch Abbilder der Lautungen durch ihre Laut-Schriften).5 Dabei erscheint die Wahl von Lautungen als konventionell und nur in wenigen Fällen selber abbildhaft, indem sie die akustischen Erfahrungen nachahmen (vgl. etwa Herders »Wau-wau-Theorie« der Sprachentstehung). Von daher hat sich bis heute die Meinung erhalten, daß jedem Wort einer besonderen Sprache eine Vorstellung als »Bedeutung« zugesprochen werden Vgl. B. B. Rundle, Art. »concept«, in: The Oxford Companion to Philosophy, ed. by T. Honderich (Oxford 1995) 146: »Concept. The term is the modern replacement for the older term idea, stripped of the latter’s imagist associations, and thought of as more intimately bound up with language«. 5 Aristoteles, Peri hermeneias/De interpretatione, hg. v. P. Gohlke (Paderborn 1951) 86: »Die Sprache ist Zeichen und Gleichnis für die seelischen Vorgänge, die Schrift wieder für die Sprache. Und wie nicht alle dieselben Schriftzeichen haben, bringen sie auch nicht dieselben Laute hervor. Die seelischen Vorgänge jedoch, die sie eigentlich bedeuten sollen, sind bei allen die gleichen, und auch die Dinge, die jene Vorgänge nachbilden, sind die gleichen«. 4
Wörter, Ideen und Begriffe – Einige Überlegungen zur Lexikographie
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kann. Die aristotelischen »Vorstellungen« sollten also die Bedeutungen von Wörtern der Lautsprache sein. Aristoteles deutete sie offensichtlich als dasjenige, was sein Lehrer Platon mit den »Ideen« gemeint hatte. Dies ist auch so tradiert worden und hat seit J. Locke dazu geführt, daß man die durch Wörter evozierten subjektiven Vorstellungen ebenfalls »Ideen« nannte. Da die Menschen als vernünftige Lebewesen aber im Verkehr miteinander ihre Vorstellungen bzw. Ideen austauschen und vor allem in Übereinstimmung bringen wollen, ließ sich umgekehrt schließen: Man mußte für die von allen Menschen gedachten (bzw. erinnerten) Bedeutungen die passenden Wörter finden. Daß diese Verhältnisse sehr viel komplizierter sind, hat sich in der langen Geschichte der Sprachphilosophie und Sprachwissenschaft und der Logik herausgestellt. Dennoch scheint es, daß das Grundmuster des Aristoteles zur Erklärung des Verhältnisses von Wort und Bedeutung sich durchgehalten hat und seither nur modifiziert und »kompliziert« worden ist. Bei diesen Weiterungen spielt auch der »Begriff« eine Hauptrolle. Von Platon stammte der Hinweis, daß die Ideen selber Begriffe seien, wozu dann auch die mathematischen Gebilde der Zahlen und geometrischen Formen gehörten. Von Aristoteles aber wurde der »Begriff« keineswegs als »Bedeutung« definiert, wie es in der zum logischen »Organon« gehörigen Hermeneutik-Schrift für die »Vorstellungen« gelten sollte. Begriffe besitzen nach Aristoteles zwar ebenso Bedeutung wie die Wörter. Diese werden technisch seither Intensionen (Merkmalsgesamt eines Begriffes) genannt. Daneben aber kommt ihnen jeweils auch ein Anwendungsbereich zu, was seither »Umfang« bzw. »Extension« genannt wird. Diese Extensionen bzw. Anwendungsbereiche der Begriffe müssen aber ihrerseits durch die (Bedeutungs-) Merkmale anderer Wörter festgestellt und logisch mit jenen verknüpft werden. Begriffe sind daher etwas anderes als einfache Bedeutungen von einzelnen Wörtern. Kurzum, Begriffe müssen gegenüber den Bedeutungen durch Umfangs- bzw. Extensionsangaben ergänzt bzw. erweitert werden. Gleichwohl hat man die Bedeutungen auch in der Logik sehr einseitig zum Hauptkriterium einer bestimmten Art von Begriffs-Logik beibehalten, nämlich in der sogenannten intensionalen Logik. Viele Logikhistoriker bezeichnen daher die aristotelische »klassische« Logik insgesamt als eine intensionale Logik. Im Gegensatz dazu wurde dann die Behandlung der Extensionen von Begriffen in der sogenannten mathematischen Logik speziell zum Hauptkriterium (bes. der mathematischen und physikalischen) Begriffe gemacht. Beides aber muß kritisch als Einseitigkeit eingeschätzt werden, denn es kann keine Begriffs-Logik geben, wenn sie nicht Intensionen (Merkmale) und Extensionen (Umfänge) von Begriffen zugleich thematisiert. Festzuhalten aber bleibt, daß die Auffassung der aristotelischen als rein intensionaler Logik dazu geführt hat, daß sie aufs engste mit dem sprachwissenschaftlichen Wort-Bedeutungs-Verhältnis verbunden geblieben ist. Das erklärt,
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daß seither auch in der Sprachwissenschaft Bedeutung und Begriff häufig gleichgesetzt werden (vgl. Anm. 4). Nochmals weiter kompliziert wurde die Stellung von Wort zu Bedeutung und zu Begriff durch die Formalisierung der Begriffe in der aristotelischen Begriffslogik. Denn hier stehen die sog. Begriffsvariablen gleicherweise für die logischen Begriffe als auch für die sie bezeichnenden Begriffszeichen bzw. Wörter (oder Termini). Meist verwendet Aristoteles als formale Variablen A, B, C, die auch als Zahlzeichen gelesen werden konnten. Diese Formalisierung führte dazu, Begriffe durch (andere) Begriffe oder Ausdrücke zu »definieren«. Dies wiederum ließ es in der Sprachbetrachtung als selbstverständlich erscheinen, daß Wörter durch andere Wörter oder ggf. Ausdrücke »definiert« werden. Die aristotelische Begriffslogik wurde damit zugleich auch Grundlage für die sprachwissenschaftliche Lexikographie. Das hat u. E. zu den bisher nicht bewältigten Problemen in der sog. Semantik bzw. Semasiologie und vor allem in den verschiedenen Versionen des sprachwissenschaftlichen Strukturalismus und den darin vorgeschlagenen »Bedeutungslehren« (theories of meaning) geführt.6 Denn man wurde dadurch gezwungen, hinter den Wortbedeutungen (als Evokationen sinnlicher Erfahrungsgehalte) eine zweite Bedeutungsdimension sog. intentionaler (gemeinter) Begriffe anzunehmen. Seither dürfte es auch Sachkennern sehr schwer fallen, in der entsprechenden Literatur herauszufinden, ob darin von den durch Wörter evozierten Bedeutungen oder von den durch evozierte Bedeutungen suggerierten »Begriffen« oder von beiden zugleich die Rede ist. Werfen wir zunächst einen Blick auf die gängigen Gestalten der Lexikographie. Neben den Wörtersammlungen einer einzigen Sprache in der Gestalt etwa der Fachwörterbücher der Wissenschaften oder der Handwerke waren schon in der Antike zwei- und mehrsprachige Lexika vorhanden, wie wir sie auch heute noch besitzen. Man nannte sie oft auch »Definitionarium« oder auch »Nomenclator«. Vor allem gab es aber auch solche, in denen veraltete Wörter und Wendungen registriert wurden, deren Bedeutungen dann in der jeweils aktuellen und geläufigen Sprache erklärt wurden. Das führte zur Kultur der sogenannten etymologischen Wörterbücher7, die es ebenfalls noch jetzt gibt. Die Bezeichnung stammt bekanntlich daher, daß man eine alte, veraltete oder schon gänzlich obsolete Bedeutung noch vorhandener Wörter erklären und ggf. als die eigentliche Bedeutung dieser Wörter ausgeben wollte. Leibniz in Deutschland und G. Vico in Italien haben diese »ursprünglichen Bedeutungen
6 Vgl. dazu A. Bühler, Art. »The structuralist approach«, in: Sprachphilososophie/Philosophy of Language/La philosophie du langage, Bd. 1 (Berlin/New York 1992) 718–731, bes. S. 727. 7 Vorbildlich wurde dafür das Werk des Isidor von Sevilla (um 570–636 n. Chr.): Origines sive Etymologiae, in: Migne, Patrologia Latina, Bde. 81–84, auch hg. von W. M. Lindsay (1911).
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der Wörter« als Erkenntnisquelle für die Erforschung der Vorzeit empfohlen.8 Daraus wurden oft weitreichende Schlüsse auf die tiefen Einsichten der Spracherfinder gezogen. Das haben bekanntlich noch Hegel und Heidegger getan. Aber dies hat inzwischen puren etymologischen Bestandsaufnahmen Platz gemacht. Wichtig ist festzuhalten, daß in den etymologischen Wörterbüchern der Lautbestand der aktuellen Wörter – oder in ikonischen Schriftzeichensystemen (wie etwa dem chinesischen) die aktuelle Zeichengestalt – festgehalten wird und neben ihren aktuellen Bedeutungen mehr oder weniger lange Reihen historisch früherer Bedeutungen erläutert werden. Erwähnen wir neben diesen vor allem auch die »Onomasiologischen Lexika«.9 Darin werden sogenannten realen Sachverhalten und Dingen (die man für gegeben oder leicht ausweis- und beschreibbar hält) ihre Bezeichnungen durch Wörter zugeordnet. Das läßt sich dann leicht auch für mehrsprachige Wörterbücher als Lehrbücher nutzen. In der Philosophie dürfte André Lalande sich mit seinem »Vocabulaire technique et critique de la Philosophie«10 danach gerichtet haben. Er registriert daher wesentlich die europäischen Fachwörter zu einem gegebenen französischen Fachwort, dessen Bedeutung in den sukzessiven Auflagen geradezu durch Akademiebeschlüsse kanonisch festgelegt wurde, wie man das von der Académie Française und ihrer Feststellung des hochfranzösischen Wortbestandes gewohnt ist. Nun ist es eine wohlbekannte Eigenschaft vieler Wörter, daß sie als Homonyme und Synonyme auftreten. Die homonymen Wörter und Schriftzeichen haben mehrere Bedeutungen, die naturgemäß in den Wörterbüchern gewöhnlich nacheinander registriert werden. Die Synonyme aber besitzen eine Bedeutung, die auch durch andere Wörter bzw. Schriftzeichen dargestellt wird, die dann ebenfalls genannt oder auf die verwiesen wird. Echte Synonymie wird im Wortschatz einer und derselben Sprache selten vorkommen, denn die Bedeutungsnuancen gehören zum Evokationspotential entwickelter Sprachen, es sei denn, man legt aus praktischen Gründen Wert darauf, daß es so sein soll. In den mehrsprachigen Wörterbüchern setzt man eher voraus, daß sich in der einen Sprache genaue Synonyme zu denen in der anderen finden. Dann werden sie gleichsam durch Äquivalenzrelationen definiert. Die logische Form ist hier die logische Äquivalenz bzw. die mathematische Gleichung, wobei in den mehrsprachigen Wörterbüchern gewöhnlich das Gleichheitszeichen nicht mitgedruckt wird.
Vgl. insbesondere G. Vico, De antiquissima Italorum sapientia ex linguae latinae originibus eruenda (Neapel 1710). 9 Vgl. z. B. F. Dornseiff, Der deutsche Wortschatz nach Sachgruppen, hg. von U. Quasthoff, hg. mit einer lexikographisch-historischen Einführung und einer ausgewählten Bibliographie zur Lexikographie und Onomasiologie von H. E. Wiegand, 8. Aufl. (Berlin 2004). 10 A. Lalande, Vocabulaire technique et critique de la philosophie (zuerst im Bulletin de la Société française de la philosophie 1902–1923), 18. Aufl. (Paris 2006). 8
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Den einsprachigen Synonymenlexika verwandt und aus ihnen entwickelt kennen wir noch die Wortfeld-Wörterbücher mit den »(sinn-)verwandten Ausdrücken« zu den jeweiligen Einträgen.11 Allen diesen sprachwissenschaftlichen Unternehmungen dürfte die Überzeugung zugrunde liegen, daß es darum geht, den die Lautung darstellenden Wörtern jeweils eine oder mehrere Bedeutungen zuzuweisen. F. de Saussure hat solche ein-eindeutigen Zuordnungen von Lautzeichen und Bedeutungen mit seiner Unterscheidung von signifiant (Lautbild) und signifié (Vorstellung) im Bewußtsein der meisten Sprachwissenschaftler nochmals befestigt. Reine Wörterlisten evozieren diese Bedeutungen zwar für denjenigen gleichsam automatisch, der die entsprechende Sprache beherrscht. Aber der Umgang mit den klassischen Sprachen – vor allem Griechisch und Latein – hat es fast selbstverständlich erscheinen lassen, daß die jeweilige Bedeutung bzw. der Sinn der Ausgangssprache auch durch die Entsprechungen in den neueren Sprachen beigefügt wird. Eines der wichtigsten derartigen lateinischen Wörterbücher war der von Basilius Faber (gest. um 1575) verfaßte »Thesaurus eruditionis scholasticae«12. Und neben ihm hat sich zum gleichen Zweck das Werk von Matthias Martinius bewährt13. Es nimmt bei seinen lateinischen Lexemen auch auf hebräische Wörter und Ausdrücke Bezug und fügt gelegentlich auch die deutschen Übersetzungswörter bei. Was die onomasiologischen Wörterbücher betrifft, so ordnen diese ein Wortmaterial nach »Sinnbezirken«. Sie sind eine übliche Gattung für die Auflistung von Fachterminologien geworden, und ihr Schwerpunkt liegt dann auch bei den individuellen Sachverhalten und Gegenständen, z. B. von Handwerken und Techniken sowie von einzelnen Kulturbereichen. Ein exemplarischer Vorgänger dürfte der »Nomenclator omnium rerum« von Hadrianus Junius (1511–1577)14 Dafür lieferte J. Trier das Beispiel mit seinem Buch »Der deutsche Wortschatz im Sinnbezirk des Verstandes von den Anfängen bis zum Beginn des 13. Jahrhunderts« (1931). Das Paradigma wurde von L. Weisgerber in seiner »inhaltsbezogenen Sprachwissenschaft« ausgebaut. 12 Basilius Faber (gest. um 1575), Thesaurus eruditionis scholasticae (Leipzig 1571), zuletzt hg. von Leich, 2 Bde. (Leipzig 1749). Das Werk nennt sich im Untertitel der Ausgabe von August Buchner (Leipzig/Frankfurt 1680) »Supellex Instructissima Dictionum, Verborum, Phrasium, Adagiorum, Sententiarum, Exemplorum, Rerumque variarum, quae docentibus juxta atque discentibus ad intelligendos tam prorsae quam vorsae orationis Auctores, solidamque eruditionem comparandam magno emolumento atque fructui esse possunt; cum adiuncta plerisque in locis accurate interpretatione Germanica, dictione graecis, et Syllabarum accentu, sive quantitate, vocum insuper et Phrasium germanicarum Indice luculento« 13 Matthias Martinius, Lexicon Philologicum, praecipue Etymologicum et Sacrum, in quo Latinae et a latinis Auctoribus usurpata tum purae tum barbarae voces ex originibus declarantur, comparatione linguarum (quarum et inter ipsas consonantia aperitur) subinde illustrantur, multaeque in divinis et humanis literis difficultates a fontibus, historia, veterumque et recentium scriptorum auctoritate enodantur – bene multa etiam in vulgatis Dictionariis admissa haud levia errata modeste emaculantur, 2. Aufl. (Frankfurt a. M. 1655). 14 Hadrianus Junius, Nomenclator omnium rerum, propria nomina variis linguis explicata indicans (1567, 2. vermehrte Ausgabe Antwerpen 1577, 3. Ausgabe Antwerpen 1583). 11
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gewesen sein. Derartiges setzt schon eine »enzyklopädische« Einteilung von Sinnbezirken voraus. Bei Junius sind es 59 im Hauptteil, 26 und nochmals 12 in Anhängen bei den späteren Ausgaben. Sie reichen im Hauptteil von »De re libraria et librorum materia« bis zu den Musikinstrumenten, und in den Anhängen von »De Elementis« bis »Cognationis affinitatisque vocabula« (Verwandtschaftsbezeichnungen) und von den »Maria« (Meeren) bis zu den »Oppida« (Städten). Nun ist bei diesen Bedeutungsangaben in den verschiedenen Formen der sprachlichen Wörterbücher die Hauptfrage, ob es im Verhältnis zu anderen und zumal neueren Sprachen genaue Äquivalenzen der Bedeutungen gibt, wie in den gängigen Schulwörterbüchern insinuiert wird. W. von Humboldt hat allerdings mit großem Nachhall in der Sprachwissenschaft davor gewarnt, dies allgemein anzunehmen, da die »innere Sprachform« jeder Muttersprache die ganze Welt jeweils anders sehen läßt, und damit jedes einzelne Verständnis evtl. zugleich ein Mißverständnis mit sich führt.15 Und auch die Wanderungen sogenannter Fremdwörter durch die Sprachen hindurch sind ein starkes Argument dafür, daß in solchen Fällen Lücken bestehen, die durch Eingemeindungen von Wörtern markiert werden. Nun lehrt ja die Erfahrung beim Übersetzen, daß nicht alle Lücken durch Fremdwörter ausgefüllt werden können. Um eine äquivalente Bedeutung von Wörtern oder Phrasen anzugeben, muß man zu Umschreibungen greifen. Darin erweist sich besonders bei literarischen Übersetzungen das Talent und Sprachgefühl des »kongenialen« Übersetzers. Solche Umschreibungen setzen ein genaues Verständnis des Ausgangsvokabulars voraus, ohne es auf genaue wörtliche »Bedeutungen« in der Übersetzungssprache fixieren zu können oder zu müssen. Hier bietet sich, wie vorn schon angedeutet, der deutsche hermeneutische Terminus »Sinn« an. In der Hermeneutik gilt der Sinn gewöhnlich als ein Umfassendes, in dem einzelne Bedeutungen aufgehoben sind. Man spricht dann auch vom »Gesamtsinn« einer Stelle, eines Textes oder gar eines Kulturzusammenhanges. Mehr oder weniger ausgreifende sinnvolle Umschreibungen von etwas Gemeintem in einem Kontext reizen dazu oder verlangen oftmals, »auf den Punkt gebracht« zu werden. Man sucht dann nach einem Wort oder Ausdruck, wodurch dieser Gesamtsinn seinerseits bezeichnet werden kann. Als sinnhaften Skopus der Auslegung weitschweifiger Textvorlagen gibt die Hermeneutiktheorie gewöhnlich die »Idee« der Sache an. Seit Schleiermacher
»Erst im Individuum erhält die Sprache ihre letzte Bestimmtheit. Keiner denkt bei dem Wort gerade und genau das, was der andere, und die noch so kleine Verschiedenheit zittert, wie ein Kreis im Wasser, durch die ganze Sprache fort. Alles Verstehen ist daher immer zugleich ein Nicht-Verstehen, alle Übereinstimmung in Gedanken und Gefühlen zugleich ein Auseinandergehen«, W. v. Humboldt, Gesammelte Schriften, Bd. 7, 64 f., zit. nach H. Arens, Sprachwissenschaft, 2. Aufl. (Freiburg/München 1969) 210. 15
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und Dilthey bis auf Gadamer wird sie gewöhnlich als dasjenige, was der Autor eigentlich hat sagen wollen, oder was er sich gedacht hat, vorgestellt. Aber diese hermeneutische Theorie der »Intention des Autors« dürfte mangels Kriterien für die Feststellung von Meinungen und Absichten von Autoren, besonders wenn sie längst verstorben sind, aber auch, wenn sie sich selbst »authentisch« interpretieren, als eine Fiktion erweisen. Von verstorbenen Autoren hat man nur den überkommenen Text, und die sog. authentische Interpretation ist nur eine neue Aussage, die selber der Interpretation bedarf. Das hat Kant mit seinem vielzitierten obiter dictum aus der »Kritik der reinen Vernunft« (B 370) zumindest geahnt, als er schrieb, daß es durchaus möglich sei, »den Autor besser zu verstehen als er sich selbst verstanden hat«. In der Tat versteht man zumindest frühere Autoren immer besser, als sie sich selbst verstehen konnten, denn man hat im Nachhinein auch den größeren Überblick über Umstände, zu denen sie keinen Zugang hatten. Gleichgültig ob man der fiktionalen Autorintention folgt oder aus späterer, umfassenderer und evtl. kenntnisreicherer Übersicht über die Konstituentien einer Textgenesis die »Idee« auf den Punkt bringt, so handelt es sich dabei gewöhnlich um konstruktive und oft ingeniöse Interpretationen, die über das pure Übersetzen hinausgehen. Vermutlich verdankt sich ihre wissenschaftliche Entwicklung der dogmatischen Hermeneutik in der Theologie und Jurisprudenz. Hierbei handelt es sich ja darum, sinnvollen Textstellen der Hl. Schrift oder Gesetzen und Rechtsgutachten der Rechtsgelehrten aus dem Justinianischen Codex Juris oder den germanischen feudalen Gewohnheitsrechten die »Idee« abzugewinnen, die oftmals recht komplexe Sachverhalte zusammenfassen und womöglich in einem Ausdruck oder Wort, womöglich auch einem Begriff (dazu später) ausdrückt.16 In der Lexikographie dürfte sich dieses Verfahren am deutlichsten bei der Erstellung von Wörterbüchern ikonischer oder »ideographischer« Zeichensprachen wie beim Chinesischen zeigen. Die chinesischen Radikalzeichen bilden in der Regel Dinge, Sachverhalte oder Handlungen und Vorgänge ab, für die man meist leicht ein wörtliches Äquivalent in den Lautsprachen findet. Aber bei den komplexen Zeichen, in denen bis zu sechs Radikalzeichen zusammengefügt sind (von denen meistens eines zugleich auch einen Aussprachehinweis gibt), braucht man schon viel Phantasie um herauszufinden, welche »Geschichte« durch solch ein komplexes Zeichen erzählt wird. Nehmen wir als Beispiel die Radikalzeichen für »Frau« (ny) und Kind (zi), die das zusammengesetzte Zeichen (hao) bilden. Die »Geschichte« bzw. die
16 Zur Unterscheidung von dogmatischer und zetetischer Hermeneutik bzw. Interpretation vgl. L. Geldsetzer, Art. »Hermeneutik«, in: Handlexikon zur Wissenschaftstheorie, hg. v. H. Seiffert und G. Radnitzky (München 1989), 127–139; ders., »Hermeneutik«. Internet des Philosophischen Instituts der HHU (Düsseldorf 2002), auch in: W. D. Rehfus (Hg.), Lexikon der Philosophie (Stuttgart 2004).
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Idee, die dadurch ausgedrückt wird, ist keineswegs, wie der moderne Europäer vielleicht vermuten könnte, »alleinerziehende Mutter«. Das auch in der chinesischen Gegenwartssprache vor allem in Begrüßungen vielgebrauchte Wort hao wird allgemein als »gut« verstanden und übersetzt. Aber nur der Etymologe wird genauer erkennen, daß es ein Ausdruck für dasjenige »Wohlbefinden« ist, das sich gewöhnlich beim Zusammensein von Mutter und Kind einstellt. Etymologische Studien bringen die Geschichte in die Lexikographie. Und so sind geschichtliche Lexeme die verbreitetsten Beispiele für die Abbreviation ganzer Epochen und zeitlicher Vorgänge unter der Bezeichnung »Idee«. Erinnern wir hier nur an philosophische Geschichts-Ideen wie »Scholastik«, »Renaissance«, »Aufklärung«. Auch das Wort »Idee« gehört selbst dazu, insofern es sehr ausgedehnte und mannigfaltige theoretische Überlegungen zusammenfaßt. Es hat heute geradezu Hochkonjunktur bei den Wissenschaftlern, wenn sie im vorbegrifflichen Raum eine »Intuition« bezeichnen wollen. Ihr Pionier war der an der Berliner Ritter-Akademie tätige Schweizerdeutsche Jakob Wegelin, der eine geradezu mechanische (sich auf Newton berufende) Theorie der Ideenbewegung konzipierte.17 Wilhelm v. Humboldt hat dann ihr Forschungsprogramm verfaßt. Er hatte es geradezu als »Aufgabe des Geschichtsschreibers« bezeichnet, »das Werden einer Idee in der Wirklichkeit« herauszuarbeiten.18 Das rief eine ganze Forschungsrichtung der »Ideengeschichte« hervor, in der man den »Geist« als Träger und Stütze von allen möglichen Kulturphänomenen auszuweisen bestrebt war. Auf der Grundlage der enzyklopädischen Sinnbezirke ihres Wortmaterials bemüht sich diese Forschungsrichtung um die Herausarbeitung »interdisziplinärer« Zusammenhänge, was wohl ihr hervorstechendes Merkmal geworden ist. Dazu verläßt sie sich aber meistens nicht auf die registrierten Wörter und ihre Bedeutungen. Ebenso wenig auf definierte Begriffe, die in der Materie vorgeformt sind. Vielmehr kommt die Ideengeschichte nicht umhin, gleichsam hinter den Wörtern und gegebenenfalls den Begriffen eine eigene »Ideenwelt« zu konstruieren und womöglich durch eigene Begriffe darzustellen. Diese wird ihrerseits in den Interpretationstheorien vor- und gewissermaßen über die zu interpretierenden Dokumente gelegt. Das ist gewöhnlich kein leerer Raum für ganz neue Theorien. Vielmehr dienen dazu spezifische Theorien einzelner Wissenschaften, besonders der KulturVgl. L. Geldsetzer, Die Ideenlehre Jakob Wegelins. Ein Beitrag zum philosophisch-politischen Denken der deutschen Aufklärung (Meisenheim 1963). 18 W. v. Humboldt, Über die Aufgabe des Geschichtsschreibers (Akademie-Vortrag 1821), in den Abh. der Preuß. Akademie 1822 (auch in: Werke, Band 1, 1960): »Ideen, die ihrer Natur nach außer dem Kreise der Endlichkeit liegen, durchwalten und beherrschen die Weltgeschichte in allen ihren Teilen.« »Das Geschäft des Geschichtschreibers in seiner letzten, aber einfachsten Auflösung ist Darstellung des Strebens einer Idee, Dasein in der Wirklichkeit zu gewinnen«. Vgl. dazu auch L. Geldsetzer, Art. »Ideengeschichte«, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 4 (1976) Sp. 135–137. 17
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wissenschaften und der Philosophie selber. Man kann die platonische Ideenlehre mit ihrer Hierarchie des Geistigen bis hin zu einzelnen Phänomenen selbst dazu benutzen, wie das in A. G. Lovejoys Schrift »The Great Chain of Being« exemplarisch für derartige Studien in den USA vorgeführt wurde. Oder man kann eine soziologische oder ökonomische oder auch kunsthistorische Ideenwelt als Hintergrund für solche Konstruktionen verwenden. Was hier möglich ist, dürfte bei weitem nicht ausgereizt sein. Denn dafür eignen sich offensichtlich alle Einzelwissenschaften, um die »Ideen« für eine Ideengeschichte zu liefern. Die Ideengeschichte ist innerhalb der allgemeinen Geschichte als Teil der Kultur- und Geistesgeschichte entwickelt worden. Was der Geist enthält und was ihn innerlich bewegt, das konnten allerdings nur die Ideen sein. Und diese im einzelnen herauszustellen und zu zeigen, wie die geschichtlichen Ereignisse und ihre Akteure von den Volksmassen bis zu den Wortführern von bestimmten Ideen bewegt werden, war die Leistung der sogenannten historischen Ideenlehre.19 Einer ihrer Vorläufer dürfte John Barclay mit seinem »Bild der Geister«20 gewesen sein, in welchem er die Verschiedenheit der europäischen Völker auf ihren »Geist« (animus) zurückführte und sich bemühte, den »jedem Zeitalter eigenen Geist« aufzuspüren (proprium spiritum … investigari). Durch G. Vico21 in Italien, Montesquieu22 und Voltaire23 in Frankreich, J. G. Herder24 in Deutschland und D. Hume25 in England wurde die Geisthypostase zum bequemen Vereinigungsprinzip aller zerstreuten historischen Materialien sowohl der Nationen als auch ihrer Institutionen. D. Tiedemann wendete sie in seinem Werk »Geist der spekulativen Philosophie (von Thales bis Berkeley)«26 zuerst auf die einzelnen philosophischen Systeme an, und G. G. Fülle-
Vgl. dazu J. Goldfriedrich, Die historische Ideenlehre in Deutschland (Leipzig 1902). John Barclay, Icon Animorum (London 1614, auch Frankfurt-Paris 1625, erw. letzte Ausgabe Frankfurt 1774). 21 Giambattista Vico, Principi di una scienza nuova intorno alla natura delle nazioni (Neapel 1725, 2. Aufl. 1730, dt. Übers.: Grundzüge einer neuen Wissenschaft über die Natur der Völker, Leipzig 1822). 22 Vgl. Ch. Secondat de Montesquieu, De l’esprit des Lois, ou du rapport que les lois doivent avoir avec la constitution de chaque gouvernement, les mœurs, le climat, la religion, le commerce, etc. (Genf 1748). 23 Voltaire, Essai sur les moeurs et l’esprit des nations (1756). 24 Vgl. Joh. Gottfried Herder, Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, 4. Teile (Riga/Leipzig 1764–1791). Herder stellt hier, besonders im 3. u. 4. Teil, den »Genius der Erleuchtung der Menschheit« in der »Physiologie« der einzelnen Völker und Zeiten dar. 25 David Hume, The Natural History of Religion (London 1757, dt. Übers.: Die natürliche Geschichte der Religion, Quedlinburg/Leipzig 1759). Für Hume sind die ursprünglichen polytheistischen und späteren monotheistischen Religionen Vergegenständlichungen natürlicher Ängste und Hoffnungen der Menschheit, und sie wirken als Institutionen auf alle sozialen Verhältnisse der Zeitalter zurück. Dies nehmen in Deutschland die sog. Junghegelianer zum Ausgangsphänomen ihrer »Ideologiekritik« als wesentliche Religionskritik. 26 Dietrich Tiedemann, Geist der Spekulativen Philosophie, 6 Bde. u. Registerband (Marburg 1791–1797). 19 20
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born versuchte in einem programmatischen Aufsatz »Was heißt den Geist einer Philosophie darstellen?« von 1795 zu erklären, was hier mit »Geist« gemeint sei.27 J. Neeb dürfte derjenige gewesen sein, der damals den einzelnen geschichtlichen Epochen die jeweiligen »Zeitgeister« zuordnete und ihre Wirkung auf die geschichtlichen Verhältnisse der Epochen darzustellen suchte.28 Ein bedeutendes Dokument dieser an den kontinentalen Geisteswissenschaften orientierten englischen Ideengeschichte ist das vierbändige Werk von John Theodore Merz »A History of European Thought in the Nineteenth Century« (1904–1912).29 Merz erläutert in der »Einleitung« sehr ausführlich, daß er sein Konzept von »Thought« aus der kontinentalen Tradition übernommen hat und damit bemüht war, das französische »Pensée« und das deutsche »Geist«, »Weltanschauung« oder »Denken« mit einem bislang unverbrauchten englischen Terminus zu fassen (I. S. 24 f.). Wobei er auch zahlreiche Gründe dafür anführt, diesen Terminus »Thought« nicht zu definieren, sondern ihn vielmehr in einer gewissen Vagheit offen zu lassen für die Ausfüllung durch alle Artikulationen des geistigen Lebens der Nationen. Als Gewährsmann für die deutsche Fortbildung des Geistbegriffes parallel zu Spencers Evolutionsphilosophie galt ihm übrigens Lotze.30 In Frankreich hat Alfred Fouillée (1838–1912) mit seinem Werk »L’Évolutionisme des Idées-forces« von 1890 verwandte Forschungen betrieben, die auch in Deutschland große Aufmerksamkeit erregten.31 Daß das Werk von Merz die Vorlage für die weitere Ausgestaltung der Ideengeschichte war, sieht man besonders an seinen letzten beiden Bänden »Philoso-
27 G. G. Fülleborn, »Was heißt den Geist einer Philosophie darstellen?« in den von ihm selbst herausgegebenen Beiträgen zur Geschichte der Philosophie, Bd. 2/5 (1795) 191–203. Er führt dort aus, »Geist« bedeute: »1. den Begriff des Inneren eines Gegenstandes, welches man im Gegensatz zu der äußeren Form die Materie nennen könnte. 2. des Allgemeinen oder Ganzen, welches durch die besonderen Teile verbreitet oder hervorgebracht wird. 3. des Wesentlichen in einem Gegenstande, im Gegensatz des Zufälligen. 4. des Hauptsächlichsten, Vornehmsten und Wichtigsten. 5. des Reinen, welches nach der Absonderung alles Fremdartigen übrig bleibt oder vor jenem Zusatze schon da war. 6. des Lebendigen, in und durch sich selbst Wirkenden. 7. des Belebenden, welches seine Kraft außer sich mitteilt.« 28 Joh. Neeb, Über den in den verschiedenen Epochen der Wissenschaften allgemein herrschenden Geist und seinen Einfluß auf dieselben (Frankfurt 1795). Vgl. dazu auch L. Geldsetzer, Artikel »Geistesgeschichte«, in: Hist. Wörterbuch der Philosophie, hg. v. J. Ritter, Bd. 3 (1974) Sp. 207–210. 29 Theodore Merz, A History of European Thought in the Nineteenth Century, 4 Bde. (London 1904–1912, ND Toronto/London: Dover Publications 1965) Part I: Scientific Thought, Bde. 1 und 2; Part II: Philosophical Thought, Bde. 3 und 4. 30 Ebd., Bd. 1, S. 49: »Both Mr. Herbert Spencer‘s ›System‹ and Lotze’s ›Microcosmus‹ are written with the object of establishing the unity of thought, of preserving the conviction that things exist and that events happen in some intelligible connection, and especially that the religion and the scientific views of the world and life are reconcilable.« 31 A. Fouillée, l’Évolutionisme des Idées-forces (Paris 1890, 7. Aufl. 1921, dt. Übers. v. R. Eisler [Leipzig 1908]). Daneben verfaßte Fouillée auch La Psychologie des Idées-forces, 2 Bde. (Paris 1893, 6. Aufl. 1922, dt. Übers. Leipzig 1907).
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phical Thought«, welche ihre Themen auf die einzelnen »Ideen« der Kulturentwicklung konzentrieren. So finden wir im 3. Band nach der Einleitung 5 Kapitel über den »kritischen Geist«, »die Seele«, »das Wissen bzw. Erkenntnis«, »die Realität« und »die Natur«. Im 4. Band geht es weiter mit 6 Kapiteln über »das Schöne«, »das Gute«, »den Geist«, »die Gesellschaft«, »die Einheit des Geistes bzw. des Denkens« und schließlich »die Grundlage des philosophischen Denkens«32. Dieses Geschichtswerk war eine für den angelsächsischen Kulturbereich bahnbrechende Leistung. Es ist auch jetzt noch wegen vieler heute vergessener Details interessant. Vor allem wurde es zum Vorbild zahlreicher literarhistorischer Studien, in denen solche »Ideen« als Kristallisationspunkte für die Entfaltung detaillierten Materials dienten. Das geschah durch Arthur Oncken Lovejoy, der 1935 mit seinem zusammen mit dem Ethnologen G. Boas verfaßten Buch über »Primitivism and Related Ideas in Antiquity« und im folgenden Jahr durch sein schon vorn erwähntes Buch »The Great Chain of Being« Aufmerksamkeit erregt hatte33 und seit 1940 das von ihm gegründete »Journal of the History of Ideas« in New York herausgab. Es wurde zu einer geisteswissenschaftlichen Institution in den Vereinigten Staaten von Nordamerika und bestimmt bis jetzt nachhaltig den Umgang der US-amerikanischen Historiographie mit den »Ideen« der Kulturbereiche.34 Die Ideengeschichte hat sich als integrierender Bestandteil der Geschichtsschreibung etabliert. Daß sie in neuerer Zeit auch in die Gestalt von Wörterbüchern gekleidet worden ist, verdankt sich ersichtlich der bisher in allen Wissensgebieten so erfolgreichen Methode der alphabetischen Ordnung und darauf beruhender leichter Zugänglichkeit ihrer Materialien. Das herausragende Werk dieser Richtung ist das 1974 in erster Auflage erschienene »Dictionary of the History of Ideas«, das jetzt in neuer Bearbeitung in 6 Bänden (New York 2004) vorliegt. Aber die Ideengeschichte wird durch dieses Ordnungsmittel keineswegs eine Art von Begriffsgeschichte, wie man leicht vermuten könnte, vielmehr ist sie von der genuinen Begriffsgeschichte genau zu unterscheiden. Denn die »Ideen« Da die Übersetzung z.T. nur ungenau sein kann, fügen wir die englischen Kapitelüberschriften hier bei: Bd. 3: 1. Introduction; 2. On the Growth and Diffusion of the Critical Spirit; 3. Of the Soul; 4. Of Knowledge; 5. Of Reality; 6. Of Nature. Bd. 4: 7. Of the Beautiful; 8. Of the Good; 9. Of the Spirit; 10. Of Society; 11. Of the Spirit of Thought; 12.The Rationale of Philosophical Thought. 33 A. O. Lovejoy und G. Boas, Primitivism and Related Ideas in Antiquity (Baltimore 1935); A. O. Lovejoy, The Great Chain of Being (Cambridge, Mass. 1936). Später veröffentlichte er noch Essays in the History of Ideas (Baltimore 1948). 34 Vgl. dazu P. P. Wiener und A. Noland (Hg.), Ideas in cultural perspective (New York 1962); M. Mandelbaum, The history of ideas, intellectual history and the history of philosophy, in: The historiography of the history of philosophy, Beiheft 5 von History and Theory (1965) 33–66; A. Grafton, The History of Ideas. Precept and Practice 1950–2000 and Beyond, in: Journal of the History of Ideas 67 (2006) 1–32. 32
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werden im allgemeinen nicht definiert, sondern allenfalls als reine Intensionen und als ein Ganzes von Bedeutungsgehalten, eben als »umfassender Sinn« eingeführt und an die Materialien, die in ihrem »Sinnbezirk« liegen, konstruktiv herangebracht. Daß es in der Philosophie wie in den Wissenschaften Begriffe gibt, dürfte ganz unstreitig sein. Ebenso, daß sie darin eine zentrale Rolle spielen. Es geht ja seit den Vorsokratikern in der abendländischen Philosophie und Wissenschaft wesentlich darum, die Erfahrungen »auf Begriffe zu bringen« und – wie Hegel es ausdrückte – »Arbeit an den Begriffen« zu leisten und mit diesen die Gemeinsprachen zu erweitern und zu bereichern. Daneben gehören freilich zur Ausstattung der Disziplinen die Eigennamen von Philosophen, die chronologischen Daten, die Ausdrücke bzw. Begriffsverknüpfungen in Buchtiteln, die Behauptungssätze und Maximen sowie die Argumente und Argumentationen der Theorien im schriftlichen Niederschlag der wissenschaftlichen Arbeit. Daß jedoch Begriffe eine Geschichte haben könnten ebenso wie andere Fakten, die geschichtlichen Betrachtungen und Verwendungen unterliegen, das dürfte schon weniger leicht zu begründen sein, obwohl es so leicht erscheint. Und dies umso mehr, als es ja mindestens seit zweihundert Jahren so etwas wie »Begriffsgeschichte« gibt und ihr in den letzten Dezennien eine beträchtliche Aufmerksamkeit gewidmet wird. Aber die Anfänge dieser Entwicklung zeigen, daß auch für sie die Ideengeschichte der Ausgangspunkt war.35 Nun scheint es mir, als ob die Begriffsgeschichte gewissermaßen auf zwei Schleichwegen in die Philosophie gelangt sei. Der erste war derjenige, der sich aus dem älteren aristotelischen Geschichtsbegriff ergab, der noch in Spuren und gleichsam fossil bis in den Anfang des 19. Jahrhunderts vorkam.36 Dieser ältere
Vgl. H. G. Meier, Artikel »Begriffsgeschichte« in: J. Ritter, Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 1 (Basel/Stuttgart 1971) Sp. 788–808. – Der Begründer der Universalgeschichte der Philosophie Joh. Jak. Brucker hat auch wohl zuerst in diesem Sinne den Ideenbegriff in seiner historischen Entwicklung dargestellt in seiner anonymen Dissertation »Historia doctrinae de ideis qua tum veterum imprimis graecorum, tum recentiorum philosophorum placita recensuntur« (Augsburg 1723, vermehrte 2. Ausgabe seines »Tentamen introductionis in historiam doctrinae logicae de ideis«, Leipzig 1718). Nach ihm hat C. G. Bardili mehrere Begriffe so behandelt in »Epochen der vorzüglichsten philosophischen Begriffe, nebst den nöthigsten Beilagen. 1. [einziger] Teil: Epochen der Ideen von einem Geiste, von Gott und der menschlichen Seele (Halle 1788). – Hegel spricht zwar als erster explizit von »Begriffsgeschichte«. Er meint damit aber die Unterstellung der weltgeschichtlichen Betrachtung unter einen bestimmten Begriff, etwa nach dem Beispiel Kants, der die Gesamtgeschichte unter den »Begriff des Rechts« bzw. der Entwicklung der Menschheit zur Realisierung des ewigen Friedens in der weltbürgerlichen Rechts-Vereinigung gestellt hatte. In all diesen Fällen wäre der Ausdruck »Idee« statt »Begriff« angemessen gewesen. 36 Am längsten hat sich dieser aristotelische Geschichtsbegriff in den Lehrbüchern und in der Bezeichnung der Sammlungen und Museen der »Naturgeschichte« (natural history, histoire naturelle) auch über Darwin und Lamarck hinaus gehalten. Er meint keineswegs eine historische Entwicklung, sondern die vollständige Sammlung und Beschreibung der vorhandenen Fakten der Natur. Ähnlich wird z.T. bis heute »Kunstgeschichte« verstanden. 35
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Geschichtsbegriff bedeutete »Faktensammlung« der empirisch gesammelten und erinnert festgehaltenen und notierten Fakten beliebiger Wissensgebiete. Und ersichtlich konnte man dann eine alphabetische Bestandsaufnahme philosophischer Begriffe, also ein Begriffslexikon, schon als solches für eine Begriffsgeschichte in diesem Sinne halten. Der zweite Schleichweg war die Anlehnung der begriffsgeschichtlichen Arbeiten an die Vorbilder der philologisch-sprachlichen Wörterbücher, wie sie schon aus der Antike überliefert und in der Neuzeit weitergeführt wurden.37 In all diesen lexikalischen, grammatischen und linguistischen Wörterbuchunternehmen finden wir zunächst einmal eine große Empirie im Umgang mit Wörtern. Und was hierbei zum Thema gemacht wird, nämlich die Wörter, das wird von den Sprachwissenschaftlern auch gerne »Begriffe« genannt. Daher kann auch die Tatsache nicht verwundern, daß nun die philosophischen Wörterbücher sich nach diesen Vorbildern richten und ebenso gerne und verbreitet BegriffsLexika genannt werden. Dies umso eher, als es ja selbstverständlich ist, daß die philosophischen Begriffe durchweg durch Wörter der philosophischen Fachsprache und damit eines Teils der Bildungssprache bezeichnet werden. Wir finden daher in der Philosophie gleichsam dieselbe Bandbreite von Begriffs-Lexika, wie sie als Wörterbücher in den Sprachwissenschaften vorkommen.38 Das philosophische Beispiel dürfte Aristoteles im 5. Buch der »Metaphysik« gegeben haben, wo die Grundbegriffe seiner Vorgänger registriert und diskutiert werden. Es hat auch später noch Nachfolge gefunden, z. B. bei M. Fogel, Lexikon philosophicum, sive commentatio in librum V. Metaphysicae Aristotelis (Hamburg 1689). Über die Begriffe Platons handelte schon der Timaeus Sophista, Lexicon Vocum Platonicarum das zwischen dem 1. und 4. Jh. n. Chr. verfaßt wurde; Ausgabe von D. Ruhnken (Leiden 1789) und G. A. Koch (Leipzig 1828, ND Hildesheim 1971). – Die antiken Philosophen nebst späteren Kommentaren behandelte lexikographisch der Venezianer Joh. Baptista Bernardus in seinem Seminarium totius philosophiae … quod omnium Philosophorum, eorundemque interpretum tam Graecorum, quam Latinorum, ac etiam Arabum Quaestiones, Conclusiones, Sententias omnes integras et absolutas miro ordinine digestas complectitur, ut quivis uno intuitu, et sine ullo labore, quicquid umquam a summis sapientiae Magistris dictum fuit, perspicere et eorum opera omnia in unum velut locum collecta habere possit, 3 Bde. fol. (Venetia 1582–1585, 2.Aufl. Venetia 1589–1599, 3. Ausgabe Lugdunum 1599–1605 [der 3. Band enthält ein eigenes Alphabet]). – Für die Neuzeit bildete sich neben den allgemeinen philosophischen Lexika eine eigene Traditionslinie der Definitionssammlungen aus den Werken einzelner Philosophen. Beispiele sind Heinrich Adam Meissners Philosophisches Lexikon aus Christian Wolffs sämtlichen deutschen Schriften (Bayreuth und Hof 1737), ND, in: Instrumenta Philosophica Series Lexica III (Düsseldorf 1979) und Friedrich Christian Baumeisters Philosophia definitiva, hoc est Definitiones philosophicae ex systemate Lib. Bar. a Wolff in unum collectae succinctis observationibus exemplisque perspicuis illustratae (Wittenberg 1738 und 1762, zuletzt noch in 3. und 4. Ausgabe Wien 1775). Hier sind die Definitionen nach philosophischen Disziplinen geordnet, aber durch einen alphabetischen Gesamtindex erschlossen. Stephanus Chauvins Lexicon Philosophicum [Anm. 38] war im wesentlichen ein Descartes-Lexikon. Rudolf Eisler gab dann nach ähnlichen Kant-Wörterbüchern von Chr. E. Schmidt/G. S. A. Mellin und G. Wegner mit seinem Kant-Lexikon, Nachschlagewerk zu Kants sämtlichen Schriften, Briefen und handschriftlichem Nachlaß (Berlin 1930, ND Hildesheim 1964), das Vorbild für zahlreiche Klassiker-Lexika auf der Grundlage ihrer Werkausgaben. 38 Eine Übersicht der älteren philosophischen Wörterbücher findet sich im Vorwort von 37
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Nun erhebt sich aber die Frage, ob das schon genügt, um dem Sachverhalt gerecht zu werden, um den es bei philosophischen und wissenschaftlichen Begriffen und zumal bei ihrer geschichtlichen Darstellung gehen muß. Das scheint mir aber keineswegs der Fall zu sein. Wenden wir uns also diesem eigentlichen Thema zu. Was ist logisch ein Begriff und wie unterscheidet er sich von einem Wort der Sprache und der oder den Bedeutungen, die den Wörtern zugeordnet werden. Dazu möchte ich zunächst an einen einfachen und allgemein bekannten logischen Sachverhalt erinnern, der ganz unverdächtig erscheint, aber entscheidende Folgen für die philosophische und wissenschaftliche Arbeit an und mit den Begriffen gehabt hat. Es ist die Art und Weise, wie Aristoteles überhaupt den Formalismus in die Logik eingeführt hat. Bekanntlich hat er ausschließlich die Begriffe dadurch formal dargestellt, daß er große Buchstaben des griechischen Alphabets (die aber zugleich auch als Zahlzeichen benutzt wurden) für die allgemeine Darstellung bzw. formale Notation von Begriffen eingeführt hat. Wichtig ist: nur für die Begriffe, nicht aber für Junktoren bzw. Verbindungspartikel, und auch nicht für ganze Behauptungssätze oder Schlüsse, wie das in der neueren sogenannten Aussagenlogik gemacht wird, in der etwa »p« und »q« Satzvariable darstellen. Erst durch Michael Psellos (1018–1078 oder 1096 n. Chr.) und Petrus Hispanus (ca. 1220–1277 n. Chr.) wurden in den bekannten Merkversen für die Schlußformen auch die Quantoren und die quantifizierten Negationen mit kleinen Buchstaben »a, e, i, o« formalisiert.39 Die Konsonanten in den Benennungen der Schlußformeln (wie etwa in »Barbara, Celarent«, »Darii«, »Ferio«, usw.) waren dabei keine formalen Platzhalter, sondern gewissermaßen nur stenographische Abkürzungen von mehr oder weniger ausführlichen Regeln zur Umformung der Schlüsse und für Beweisverfahren ihrer Gültigkeit. Daran ist Folgendes wichtig zu bemerken. Die von Aristoteles erfundene Formalisierung der Begriffe durch große Buchstaben behandelt jeden Begriff als Wort, genauer als Substantiv und/oder als Adjektiv und damit als jeweils eine einzige Bedeutungseinheit. Und sie verdeckt dadurch geradezu das, was Begriffe von Bedeutungen der Wörter grundsätzlich unterscheidet, nämlich ihre Zusammensetzung aus Extensionen (Umfängen) und Intensionen (Merkmale oder Bedeutungen). Das ist besonders merkwürdig deshalb, weil Aristoteles selber die Komposition der Begriffe aus Intensionen bzw. Merkmalen und Extensionen bzw. UmJoh. Micraëlius, Lexikon Philosophicum Terminorum Philosophis Usitatorum, 2. Aufl. (Stettin 1662), ND hg. v. L. Geldsetzer, in: Instrumenta Philosophica Series Lexica I (Düsseldorf 1966), X–XXII. »Einiges aus der Geschichte der Theorie der philosophischen Lexikographie«, in: Stephanus Chauvin, Lexicon Philosophicum, 2. Aufl. (Leeuwarden 1713), ND hg. v. L. Geldsetzer, in: Instrumenta Philosophica Series Lexica II, Düsseldorf 1967, VI–XI. 39 Die Buchstaben bedeuten: a = allgemein bejahend; e = allgemein verneinend; i = partikulär bejahend; o = partikulär verneinend. Vgl. dazu I. M. Bochenski, Formale Logik, 3. Aufl. (Freiburg 1970) 246 ff.
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fängen schon gekannt und in seiner Definitionslehre genauer ausgeführt hat. Die aristotelische Standarddefinition lautet bekanntlich, man müsse zur Definition eines Begriffes den »nächst höheren Gattungsbegriff und die spezifische Differenz« angeben.40 Das heißt: bei einem Begriff muß man angeben und wissen, daß er selber als Artbegriff im Umfang einer höheren Gattung liegt. Und ebenso muß man angeben und wissen, daß er zumindest ein spezifisches Merkmal als eine seiner Intensionen besitzt. Das ist zwar wenig und keineswegs genug für eine genaue Definition eines Begriffs. Aber Aristoteles hat darüber hinaus auch richtig erklärt, daß alle Merkmale bzw. Intensionen einer Gattung bzw. eines höheren Begriffes gänzlich als »generischer Merkmalsbestand« in den Merkmalsbestand seiner sämtlichen Unterbegriffe, also seiner Arten und Unterarten und sogar der Individuen in seinem Umfang eingehen. Das ist eine seither immer und überall bekannte Lehre des Aristoteles, aber sie ist selten ganz ernst genommen worden, und vielfach wurde und wird bei Begriffsanalysen dagegen verstoßen. Und zwar vor allem deshalb, weil seine Art der Formalisierung der Begriffe durch die Großbuchstaben diese Charakteristik der Begriffe unsichtbar macht. Machen wir noch auf eine andere mißliche Folge der aristotelischen Definitionslehre aufmerksam, die sich in der Logik – und auch in der Axiomatik des Euklid für die Mathematik – festgesetzt hat. Die Meinung nämlich, daß »höchste« Gattungen bzw. Kategorien oder Grundbegriffe überhaupt nicht definiert werden könnten. Das gilt nämlich nur für die aristotelische Standarddefinition. Diese versagt, wenn über einem Begriff keine höhere Gattung mehr festgestellt werden kann, wie es bei den »Kategorien« gemäß Aristoteles der Fall ist. Aber nach der von ihm selbst beschriebenen Konstruktion eines Begriffs aus Intensionen und Extensionen kann man sehr wohl auch bei Grundbegriffen bzw. Kategorien genau angeben, welches ihre Intensionen und erst recht, was ihr Umfang ist. Und dadurch sind auch Kategorien grundsätzlich definierbar. Man kann aber feststellen, daß in der logischen und mathematischen Axiomatik nicht einmal darauf reflektiert wird, wie das gehen könnte. Und natürlich gibt es vielerlei Gründe, die logische Charakteristik von Grundbegriffen zu tabuisieren. Nicht zuletzt denjenigen, damit solche »axiomatischen Grundbegriffe« für immer neue Interpretationen und damit zu begründende Theorien offen gehalten werden. Jedenfalls hat das dahin geführt, daß man diese Begriffe auch in den Lexika nicht logisch zu definieren sucht, sondern ihre Stellung und ihre Anwendung mehr oder weniger ausführlich umschreibt. Ein weiteres Defizit der aristotelischen Definitionslehre besteht hinsichtlich der »untersten Begriffe«, von denen angenommen wird, daß sie unüberschaubar viele Merkmale besäßen und deshalb ebenfalls undefinierbar seien. Dafür wird oft die (in der Scholastik nicht wörtlich nachweisbare) Formel: »Individuum est ineffabile« angeführt. Es handelt sich hier um die sog. Individuen, zu denen ne40
Vgl. Aristoteles, Topica I, 8, 103 b 15 f.
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ben den menschlichen Personen auch individuelle Dinge und Sachverhalte gehören. Logisch behilft man sich bei ihnen durch die »Eigennamen« oder durch sog. »Kennzeichnungen« (nach B. Russell41), und in der Regel werden sie in der Logik nicht als eigentliche Begriffe behandelt. Diese Verfahren führen auch bei der Registrierung von Individuen oder individuellen Sachverhalten in den Lexika dazu, daß sie mehr oder weniger umschrieben, aber nicht definiert werden. Gleichwohl ist logisch zu zeigen, daß sie ebenso wie die Grundbegriffe durchaus definierbar sind, wenn man ihre Intensionen und Extensionen aufzeigen kann. Ihre generischen Merkmale ergeben sich nämlich aus denen aller höheren Begriffe, unter die sie fallen, und das werden gemäß wachsender Hierarchiestufen immer mehr, aber niemals unendlich viele. Ihre Extension kann nur eine »Einer-Extension« sein, eben weil nur ein einziges Individuum unter sie fällt. Es sei aber erwähnt, daß die mathematische Logik bezüglich der Individuen auch »Null-Extensionen« eingeführt hat und somit über Individuen sprechen kann, die es nicht gibt. Dafür hat sie sich auch das sog. Meinongsche Paradox42 eingehandelt. Man wird davon ausgehen können, daß die meisten Verfasser von BegriffsLexika die aristotelische Logik als »klassische Logik« kennen und vor allem die aristotelische Definitionsmethode der Angabe des »genus proximum und der differentia specifica« als maßgeblich anwenden. Das hat aber zur Folge, daß sie damit nur die Begriffe mittlerer Abstraktionshöhe tatsächlich fachgerecht zu definieren versuchen, während sie sowohl die Grundbegriffe oder Kategorien wie auch die Individuen – als Personen wie als Dinge und Sachverhalte – nicht definieren, sondern umschreiben. Wobei die Individuen meist nur als »Beispielfälle« für Artbegriffe vorkommen. Es dürfte aber klar sein, daß vorgebliche Begriffe überhaupt keine Begriffe sein können, wenn sie nicht definierbar sind. Und so wird man auch folgern können, daß sehr vieles, was in Begriffs-Lexika abgehandelt wird, alles andere als Begriffe sind. Was sie dann aber sind, das führt zu den vorigen Thematiken zurück. Sie bleiben pure Wörter bzw. Bezeichnungen oder »Lemmata«, denen Bedeutungen und evtl. »Ideen« oder Probleme zugesprochen werden. Nun wurde vorn schon angedeutet, daß die Defizite der aristotelischen Definitionslehre durchaus heilbar sind, worum sich der Verfasser seit langem bemüht hat.43 Das heißt: auch Kategorien und Individualitäten können durchaus auch definiert werden, indem ihre Intensionen und Extensionen offengelegt B. Russell, On Denoting, in: Mind (1905), ND, in: B. Russell, Logic and Knowledge, Essays 1901–1950, hg. von R. C. Marsh (London 1965). 42 Vgl. dazu K. J. Perszyk (Hg.), Nonexistent Objects. Meinong and Contemporary Philosophy (Dordrecht 1993). 43 L. Geldsetzer, Logik (Aalen 1987); ders. Grundriß der pyramidalen Logik mit einer logischen Kritik der mathematischen Logik und Bibliographie der Logik, Internet Heinrich-HeineUniversity (Düsseldorf 2000); ders. Elementa logico-mathematica, Internet des Philosophischen Instituts der HHU Duesseldorf (Düsseldorf 2006). 41
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und im Formalismus selber dargestellt werden. Erst wenn dies auch logisch möglich wird, kann man sie auch als echte Begriffe behandeln. Mit Descartes kann man sagen: sie werden als Begriffe erst »klar«, wenn ihre eigenen Extensionen gleichsam nach unten und ihre Einbettung in die Extensionen ihrer Oberbegriffe nach oben sichtbar werden. Und sie werden »deutlich«, wenn auch ihre Intensionen als »generische Merkmale« von ihren Oberbegriffen her und ihre spezifischen Differenzen, die sie von ihren Oberbegriffen und gleichrangigen Nebenbegriffen unterscheiden, genau erfaßt werden. Dazu braucht man einen logischen Formalismus, der diese Verhältnisse darstellen kann. Für die Extensionsverhältnisse gibt es diesen Formalismus seit Porphyrius’ Einleitung ins aristotelische Organon.44 Es handelt sich dabei um die seither sogenannten Porphyrianischen Bäume, die von dem Neuplatoniker Porphyrius in seiner Einleitung ins aristotelische Organon textlich beschrieben und in der Scholastik vielfach als Bäume gezeichnet und für die Darstellung der Begriffe ganzer Theorien verwendet worden sind. In der Neuzeit hat man sie gewissermaßen auf den Kopf gestellt, so daß seither von »Begriffspyramiden« gesprochen worden ist.45 An deren Spitze steht dann eine höchste Gattung, an der Basis stehen die Individuen. Man kann bemerken, daß diese Begriffspyramiden, da sie nur Extensionen darstellen, seither als Klassifikationssysteme dienen. Nicht zuletzt finden sie sich in den Gliederungen der Inhaltsverzeichnisse von Büchern wieder. In textlicher Gestalt erscheinen sie gleichsam auf die Seite gekippt. Um in diesen rein extensionalen Begriffspyramiden auch die Intensionen der involvierten Begriffe logisch zu formalisieren, kann man sich durch das Verfahren der chinesischen Schriftzeichenbildung anregen lassen. Chinesische Schriftzeichen bestehen, wie vorn schon an einem Beispiel gezeigt wurde, aus Stilisierungen von anschaulichen Bildern von Gegenständen, die teils als »Radikale« (man benutzt meist 214 solcher Radikalzeichen und dies auch als Klassenzeichen zur Anordnung aller Zeichen in den Wörterbüchern), teils als Kombinationen solcher Radikale gezeichnet werden. Die Kombinationen reichen von 2 bis 6 Zeichen in einem einzigen Schriftzeichen, wobei einzelne Radikale zusätzlich oft auch als Lautzeichen dienen und somit »lautlich gelesen« werden. Man sieht leicht, daß die in einem komplexen Zeichen vereinigten Radikale nichts anderes als deren Merkmale darstellen. Und deswegen kann man oft – aber freilich nicht immer und nicht leicht – die Bedeutung von solchen Schriftzeichen erraten oder ahnen, wenn man die Bedeutungen der Radikale schon kennt.46 Porphyrii Isagoge et in Aristotelis Categorias Commentarium (Commentaria in Aristotelem Graeca IV/1), hg. von A. Busse (Berlin 1887). 45 Den Umschlag von den porphyrianischen Bäumen zu Begriffspyramiden registriert Stephanus Chauvin(us), Lexikon Philosophicum, 2. Aufl. (Leeuwarden 1713), ND, in: Instrumenta Philosophica Series Lexica II (Düsseldorf 1967), Art. »Arbor Porphyriana«, 53–54. 46 Ein Beispiel für die Bedeutungs- bzw. Merkmals-Notierung der chinesischen Schriftzeichen gab ich in: Grundriß der pyramidalen Logik, Internet der HHU Düsseldorf (Düsseldorf 44
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Nun sind die chinesischen Schriftzeichen niemals gemäß solchen Merkmalen in Begriffspyramiden geordnet worden. Aber das dürfte prinzipiell möglich sein, und vielleicht finden darin künftige chinesische Logiker für Teilbereiche des Wortschatzes noch eine dankenswerte Aufgabe. Für eine diese Verhältnisse offenlegende Formalisierung braucht man einen graphischen bzw. Diagramm-Formalismus, wie ihn schon die Begriffspyramiden darstellen. Dann kann man an Stelle der chinesischen Radikale die Buchstaben des Alphabets verwenden und sie als Merkmalsvariable – also nicht als Variable für ganze Begriffe – in diese Begriffspyramiden einsetzen. Dieser Formalismus stellt dann zugleich alle Extensions- und Intensionsverhältnisse von Begriffen dar, die in einer regulären Begriffshierarchie vorkommen. Das sieht folgendermaßen aus: Extensional-intensionale dihäretische Begriffspyramide
Extensional-intensionale Begriffspyramide mit multiplen Arten A
A
AB
ABD
AC
ABE
AB
ABE
ABE
AC
AD
ABE
Diese Pyramiden sind hier dreistufig: oben steht die höchste Gattung, in der Mitte Artbegriffe, die unterste Reihe stellt die Individuen dar. Man sieht, daß sich der Schematismus nach unten beliebig ausdehnen läßt, falls es die Komplexität der zu formalisierenden Begriffe erfordert. Es sei dazu bemerkt, daß schon Platon im Dialog »Sophistes« eine dihäretische Begriffspyramide zwecks Definition des »Angelfischers« vorgestellt hat.47 Sie hat neun Stufen und führt »deduktiv« von der Gattung »Handwerker« über ihre Arten und Unterarten bis zum »mit der Angel fischenden Handwerker«. Platon hat schon vor Aristoteles richtig bemerkt, daß sich die dihäretischen bzw. dichotomischen Arten gegenseitig durch Negation definieren. Das gilt freilich nur für diese dihäretischen Artbegriffe. Und deshalb ist die Formel, die man Spinoza zuspricht: »Omnis definitio est negatio« in dieser Allgemeinheit falsch.
2000) Einführung. Daß dieselbe Kompositionsmethode bei den Yin- und Yangzeichen im klassischen Yi Jing (Buch der Wandlungen) angewandt wird, zeigte ich in: L. Geldsetzer/Han-ding Hong: Grundlagen der chinesischen Philosophie (Stuttgart 1998) Kapitel 4/2: »Die Logik des Yi Jing«, 177–203. 47 Platon, Sophistes 219d–221a.
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Der Angelfischer hat als dichotomischen Nebenbegriff den »nicht mit der Angel Fischenden«, der positiv auch der »mit dem Netz Fischende« genannt wird. In der logischen Praxis sind freilich Begriffspyramiden mit multipler Artbildung häufiger als dihäretische. Bei ihnen ist die Negation zwischen den multiplen Arten und Unterarten allerdings nicht umkehrbar, was Folgen für die sogenannte »doppelte Negation« hat. Diese führt hier nicht zum Ausgangsbegriff zurück. Deshalb können multiple Unterarten auch nicht durch die Negation definiert werden. Das kann man an den Beispielen für die Arten von Farben zeigen: »Nicht-Rot« definiert keine andere Farbe.48 Man wird sich beim Umgang mit den Begriffen, vor allem in den BegriffsLexika, allgemein bemühen, diese als widerspruchslose, d. h. reguläre Begriffe, zu definieren. Und das geschieht, indem man ihre Position in einer solchen Begriffspyramide bestimmt und die sich daraus ergebenden generischen und spezifischen Merkmale und ihre extensionale Einbindung in Oberbegriffe und sich ergebende Unterbegriffe klarlegt und in behauptenden Aussagen, die die zwischen den Begriffspositionen bestehenden Verhältnisse mittels der Junktoren artikulieren, verdeutlicht. Aber damit kommt man nicht immer durch. Denn man muß mit den sogenannten widersprüchlichen Begriffen rechnen (contradictio in adiecto bzw. contradictio in terminis), die ja sehr verbreitet sind und von den Dialektikern geradezu als die eigentlichen und genuin philosophischen Begriffe vorgeführt werden. Und viele von ihnen sind gar nicht als solche erkannt und durchschaut. Das macht sich beim Versuch der Einordnung in reguläre Pyramiden dadurch bemerkbar, daß sie evtl. generische Merkmale enthalten, die nicht aus ihren Oberbegriffen herzuleiten sind, oder daß sie Unterbegriffe haben, die nicht ihre eigenen generischen Merkmale voll enthalten. Solchen widersprüchlichen Begriffen muß der Formalismus ebenfalls Rechnung tragen. Und es sei betont, daß es dabei keineswegs darum geht, sie als irgendwie »falsch« zu kennzeichnen, weil man in der Logik gewöhnlich die Falschheit auf die Widersprüchlichkeit zurückführt. Begriffe als solche können weder wahr noch falsch sein, denn Wahrheitswerte (»wahr« und »falsch«) gibt es nicht bei Begriffen, sondern nur bei Behauptungssätzen. Erst wenn widersprüchliche Begriffe in Urteile eingebaut werden, gelten diese als falsch. Aber auch dies ist nur ein durch lange Tradition geheiligter Irrtum. Widersprüchliche Urteile sind wahr und falsch zugleich, wie jedes Beispiel zeigt. Analysiert man widersprüchliche Begriffe hinsichtlich ihrer Intensionen und Extensionen, so läßt sich folgendes feststellen. Unter ihren Merkmalen befindet sich stets (mindestens) eines, welches zugleich negiert wird. Und diese Tatsache
Dieser Sachverhalt wird bislang in der Logik kaum gewürdigt. Allgemein geht man davon aus, daß die doppelte Negation schlechthin zum Ausgangsbegriff oder Ausgangssatz zurückführe. 48
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ergibt sich daraus, daß sie aus dihäretischen Nebenartbegriffen gebildet werden, die im Negationsverhältnis zu einander stehen. Deren spezifische Differenzen, die sich gegenseitig ausschließen, werden also zugleich in ihren Merkmalsbestand aufgenommen, während sie außerdem auch die generischen Merkmale ihrer Gattung enthalten. Man kann sagen: die widersprüchlichen Begriffe sind Verschmelzungen zweier dichotomischer bzw. dihäretischer Nebenarten zu einem neuen Begriff. Konkretes Beispiel wäre etwa (um mit Platon zu reden) der »angelnd-nichtangelnde Fischer« Das gilt aber auch für den »lebendigen nicht-lebenden (= toten) Mensch«, den man seither in der Logik gerne als den »sterblichen Menschen« bezeichnet. Daran sieht man aber zugleich, daß die »Sterblichkeit« ein widersprüchlicher Begriff sein muß, der gewöhnlich nicht als solcher erkannt wird. Was die Extensionen der widersprüchlichen Begriffe betrifft, so sind die Logiker im allgemeinen davon überzeugt, daß ihnen »nichts in der Wirklichkeit entspricht«. Und das müßte bedeuten, daß sie nach klassischer Logik überhaupt keine Extension besäßen. In der mathematischen Logik hat man ihnen daher die Null-Extension (sog. »leere Menge«) zugeschrieben. Und das führt gewöhnlich auch zu der Meinung, daß man sich unter widersprüchlichen Begriffen »nichts vorstellen« könne, eben weil kein Gegenstand unter sie falle. Üblich ist auch die Formulierung, daß sie – wie man auch von widersprüchlichen Urteilen sagt – »absurd«, d. h. sinn- und bedeutungslos seien. Das alles kann nicht wahr sein. Die zahlreichen unerkannten widersprüchlichen Begriffe – wie z. B. die »Sterblichkeit«, aber vor allem auch die »Möglichkeit« – wären nie in Umlauf gekommen, wenn man sich bei ihnen »nichts vorstellen« könnte. Die Physiker, die besonders gerne widersprüchliche Begriffe verwenden, sprechen in der Relativitätstheorie ja auch vom »unendlich-endlichen Raum« oder in der Mechanik von »Geschwindigkeiten, die keine sind« (was man dann »Null-Geschwindigkeit eines bewegten Körpers oder Teilchens an einem unausgedehnten Raumpunkt zu einem unausgedehnten Zeitpunkt« nennt), und sie stellen sich dabei allerhand vor, was sich in der langen Debatte um die Deutung der Heisenbergschen Unschärferelationen spiegelt. In der Tat besitzen die widersprüchlichen Begriffe auch Extensionen. Da in ihnen dihäretische Artbegriffe zu einem eigenständigen Begriff verschmolzen werden, übernehmen sie auch die sich ausschließenden Extensionen dieser Artbegriffe und verschmelzen sie zu einer einzigen Extension. Werden z. B. die Begriffe Leben und Tod (bzw. Nicht-Leben), die genau unterschiedene Extensionen besitzen, zur »Sterblichkeit« verschmolzen, dann umfaßt die Extension der Sterblichkeit alles Lebendige und alles Tote zugleich. Und die (widersprüchliche) Folge ist, daß man mit »Sterblichkeit« zugleich alles Tote und alles Lebendige meint und daher über das Tote so reden kann, als ob es lebendig wäre, und umgekehrt. Und das tun dann gewöhnlich auch Historiker und Philosophiehistoriker in ihren Nekrologen.
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Die Formalisierung der widersprüchlichen Begriffe muß dem Rechnung tragen. Sie sieht daher folgendermaßen aus: Pyramidale Formalisierung des widersprüchlichen Begriffs ABC Beispiel: A = AB = AC = ABC =
A
ABC AB
Körper lebendiger Körper toter Körper sterblicher = lebendig-toter Körper
AC
Man sieht, daß der im Viereck dargestellte widersprüchliche Begriff »ABC« sowohl das generische Merkmal »A« seiner Gattung enthält wie auch die beiden spezifischen Merkmale der dihäretischen Artbegriffe »B« und »C«. Seine Extension aber umfaßt die Extensionen der Artbegriffe gemeinsam und ununterschieden. Widersprüchliche Begriffe lassen sich an beliebigen Stellen zwischen den dihäretischen Arten einer regulären Begriffspyramide gleichsam mechanisch bilden. Darin liegt u. a. auch die Nutzbarkeit dieser Formalisierung als »ars inveniendi« (Erfindungskunst). Dies wiederum ist ein starkes Argument dafür, daß man Theorien nicht gleich als »in toto falsch« deklarieren muß, wenn sich darin solche Widersprüche nachweisen lassen. Sie sind als Begriffe isolierbar, ebenso die daraus gebildeten widersprüchlichen Urteile, und es ist eine Frage der Interpretation der jeweiligen Theorie, ob man sie zuläßt oder solche Begriffe und damit gebildete Urteile gewissermaßen stückweise eliminiert, um die »gesunden«, d. h. widerspruchslosen Teile der Theorie zu retten. In dieser pyramidalen Notationsweise lassen sich nicht nur Begriffe formalisieren, sondern auch Behauptungssätze und Schlüsse. Und zwar so, daß zugleich deren Wahrheit, Falschheit und/oder Widersprüchlichkeit ablesbar wird. Dazu muß man die zwischen den einzelnen Begriffspositionen in der Pyramide bestehenden Verhältnisse durch die logischen Junktoren, zu denen auch die Quantifikatoren (ein, einige, alle) gehören, benennen. Dies wurde an anderer Stelle genügend ausgeführt (vgl. Anm. 43). Hier dürfte es genügen, nur zwei Beispiele für ein wahres und ein falsches Urteil anzugeben. Von unten nach oben liest man stets wahre Urteile mittels der Kopula »ist« (AB ist A). Im Querverhältnis verknüpft die Negation stets »wahr« (AB ist nicht AC). Umgekehrt gelesen werden diese Urteile falsch (AB ist nicht A bzw. AB ist AC). Als Beispiel der Formalisierung der Begriffe und Hauptsätze eines dialektischen philosophischen Werkes sei auf die logische Rekonstruktion von Hegels »Phänomenologie des Geistes«
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hingewiesen.49 Ein weiteres Beispiel ist die logische Formalisierung des Zahlbegriffs und der Zahlarten und Unterarten.50 Bleibt man auf der Ebene einer einzelnen Theorie, so wird man aus ihrem Text gewöhnlich eine Interpretation bzw. ein Verständnis entnehmen, das man vor allem in der analytischen Philosophie als »logische Rekonstruktion« bezeichnet. Natürlich können die Ausleger recht verschiedener Meinung über den Gehalt der Sache sein. Dann werden sie aber recht verschiedene »logische Rekonstruktionen« der Sache liefern. Und dadurch unterscheiden sich die verschiedenen »Interpretationen«, die uns über solche Theorien unterrichten. Es sei nebenbei angemerkt, daß wir offenbar noch keine Geschichte daraus gemacht haben, solche kontroversen Auslegungen einfach nebeneinander zu stellen. Denn wer möchte schon Zeit und Mühe darauf verwenden, die »falschen Interpretationen« seiner Kollegen ausführlich darzustellen. Diese Arbeit würde darin bestehen, die vorkommenden Begriffe an anderen Stellen der Begriffspyramide einzusetzen und durch Ablesung der sich daraus ergebenden falschen Urteile zugleich zu beweisen, daß sich aus der Interpretation keine konsistente Theorie ergibt. Gelingt aber nicht einmal eine »logische Rekonstruktion«, so kann man sich immer noch mit einer Paraphrase oder mit ausführlichem Zitat des Textes über das Unverständnis hinwegretten. Wendet man sich aber dem Gesamtwerk eines Philosophen zu, also dem, was man seine »Philosophie« oder manchmal auch sein »System« nennt, so kommt gewiß alles darauf an, zunächst einmal das, was bei ihm originell, evtl. neu, vor allem was wirkmächtig bei Nachfolgern geworden ist, vom üblichen Bildungsgehalt der zu ihm führenden Traditionen zu unterscheiden. Dazu braucht man weite historische Kenntnisse (an denen es überspezialisierten Philosophiehistorikern mehr und mehr fehlt). Erst dann kann man einen Autor richtig einschätzen und eingliedern, etwa durch bündige Schulzuweisungen oder gar mit den metaphysischen Systemtiteln, etwa Idealismus, Realismus, Skeptizismus etc., auf deren Hintergrund sich das Originelle eines Autors abzeichnet. Der Kanon der prominenten Philosophen steht für die Zeiten bis zum Ende des 19. Jahrhunderts für das Abendland ziemlich fest. Man kann sich dafür immer noch auf den alten »Ueberweg«51 verlassen. Aber man sieht dort auch, daß in der Philosophiegeschichtsschreibung immer viel Arbeit darauf verwendet worden ist, das Werk der großen Denker dadurch logisch konsistent auszulegen, L. Geldsetzer, Über das logische Prozedere in Hegels »Phänomenologie des Geistes«, in: Jahrbuch für Hegelforschung, hg. v. Helmut Schneider, Bd. 1 (1995) 43–80. 50 Für genauere Erläuterungen der Ableitung des »dialektischen« Zahlbegriffs aus den regulären Quantoren der Einheit und der Allheit siehe L. Geldsetzer, Elementa logico-mathematica, Internet HHU Duesseldorf (Düsseldorf 2002) Abschnitte 1.16 und 1.16.1, sowie ders., Grundriß der pyramidalen Logik mit einer logischen Kritik der mathematischen Logik und Bibliographie der Logik, Internet HHU Duesseldorf (Düsseldorf 2000). 51 F. Ueberweg, Grundriß der Geschichte der Philosophie, 5 Bde., 11.–12. Aufl. (Berlin 1923– 1928), ND (Basel/Stuttgart 1951–1967). 49
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daß man ihre hinterlassenen Schriften ihren Lebensalterstufen zuordnet, um dadurch Inkonsistenzen als Veränderung und »Entwicklung« ihrer Philosophie zu deuten.52 Die einzelnen Entwicklungsstufen werden aber dann durchweg auch »logisch rekonstruiert« und für die Gesamtinterpretation aneinander gereiht. Daraus ergibt sich in der Regel, daß die philosophischen Begriffe, die sie geprägt oder verwendet haben, jeweils unterschiedlichen Stellenwert in verschiedenen Begriffspyramiden einnehmen. Es fällt übrigens auf, daß manche neueren Philosophen ihr eigenes Philosophieren schon selber dadurch »historisieren«, daß sie ihr Werk in ein »Frühwerk« und ihre »ausgereifte Philosophie« einteilen. Damit hat vielleicht Kant begonnen, als er von seiner »vorkritischen« und seiner »kritischen Philosophie« sprach (zu letzterer erwacht durch das Erweckungserlebnis der Lektüre Humes!). Jetzt ist von der »Kehre« Heideggers, vom »Wittgenstein des Tractatus« und vom »Wittgenstein nach der sprachphilosophischen Wende« oder von »Carnap I und II« die Rede. Das ist selbst ein alter Topos nach dem Muster der Paulinischen oder Augustinischen Bekehrung zu besseren Einsichten. Diese Methode der Begriffsdarstellung empfiehlt sich besonders auch für die logische Rekonstruktion des begrifflichen Gehalts einzelner philosophischer Werke. Implizit liegt sie schon immer mehr oder weniger kompetent ausgeführt den Rezensionen zugrunde. Die in Italien inzwischen sehr verbreitete lexikalische Form ist bekanntlich die der »Werklexika«, die durch Franco Volpi auch in Deutschland eingeführt wurde.53 Will man nun solchen Entwicklungen oder auch Brüchen im Denken eines Autors gerecht werden, so wird man im allgemeinen die jeweiligen pyramidalen Zustände ihrer Begriffsarsenale nacheinander skizzieren, ihre Abfolge als »Entwicklung« fixieren und die Veränderungen beschreiben, die sich von der einen zur nächsten Konstellation ergeben. Man kann dabei einen logischen Kniff verwenden, der in den scholastischen Logiktraktaten seit Petrus Hispanus54 ausführlich behandelt wird, und der sich in den neueren Zeiten explizit nur in der juristischen Logik erhalten hat. Es ist die sogenannte Ampliatio bzw. Amplificatio und Restrictio der Begriffe. Die Bezeichnungen verdanken sich einer rein extensionalen Betrachtung von Begriffsumfängen in einer Pyramide. Ampliatio heißt dementsprechend, den
52 Vgl. F. Ueberwegs Zuweisung der Platon-Schriften zu Platons Lebensaltern und W. Jägers Aristoteles-Interpretation, in: W. Jäger, Aristoteles. Grundlegung einer Geschichte seiner Entwicklung (Berlin 1955, ND der 2. Aufl. Hildesheim 2006). 53 Vgl. Franco Volpi und Julian Nida Rümelin (Hg.), Lexikon der philosophischen Werke (Stuttgart 1988), sowie F. Volpi (Hg.), Großes Werklexikon der Philosophie, 2 Bde. (Stuttgart 1999). 54 Petrus Hispanus: Summulae logicales (Venetia 1572, ND. Hildesheim/New York 1982); Summulae Logicales, hg. von I. M. Bochenski (Rom 1947); Tractatus, Called Afterwards Summulae logicales, First Critical Edition from the Manuscripts with an Introduction by L. M. de Rijk (Assen 1972).
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Umfang eines Begriffes erweitern. Restrictio heißt, den Umfang einschränken. In der Praxis wird bei Diskussionen ausgiebig Gebrauch davon gemacht, weil Diskussionspartner häufig dieselben Wörter für Begriffe benutzen, deren Umfänge verschieden sind. Verständigung darüber besteht dann gewöhnlich darin, daß beim »Abtasten«, was der andere eigentlich meint, die benutzten Begriffe amplifiziert oder restringiert werden, bis man den Eindruck gewinnt, man könne sich auf dieselben Umfänge einigen. Das bemerkt man am Status der neueren Diskussionen in der Wissenschaftstheorie über die »Theoriendynamik« bzw. über die Kuhnschen Paradigmawechsel von Theorien mit »gleichen« Begriffen.55 Amplifiziert man nämlich einen Begriff, so werden seine Nebenarten gewöhnlich zu seinen Unterarten und er selbst zur Gattung. Und restringiert man ihn, so kann er vom Gattungsstatus zu einem Artbegriff werden. Damit ergeben sich aber auch jeweils andere Intensionenbestände bei den involvierten Begriffen. Ein prominentes Beispiel einer Ampliatio ist die Kopernikanische Wende in der Astronomie. Im aristotelisch-ptolemäischen Weltbild gab es unter der Gattung Kosmos die beiden Artbegriffe »Himmelskörper« und »Erde«. Nicolaus von Kues und später Kopernikus haben aber die Erde unter die Himmelskörper subsumiert, d. h. den Begriff »Himmelskörper« so amplifiziert, daß er die Erde und alles Irdische mit umfaßte. Dadurch wurde die Erde zu einem Stern bzw. Himmelskörper neben den anderen. Für die Merkmale (Intensionen) des Irdischen und der Erde heißt das, daß alle Eigenschaften bzw. die Merkmale der Himmelskörper als generische Merkmale auch der Erde und den irdischen Körpern zukommen mußten. Und von da an haben wir einen heuristischen Forschungsrahmen, um von den Eigenschaften der irdischen Körper auf dieselben Eigenschaften der Himmelskörper zu schließen. Galilei konnte so im Mond Berge und Täler – wie auf der Erde – sehen, die aristotelisch-ptolemäisch denkenden Kardinäle konnten nicht erwarten, im Mond irdische Eigenschaften zu sehen, selbst wenn sie überhaupt durchs Teleskop geschaut hätten, so würden sie das Gesehene allenfalls als »gebirgs- bzw. talähnlich« gedeutet haben. Ein Begriff der restringiert wird erhält einen geringeren Umfang, aber auch neue spezifische Differenzen. Das war mit Wittgensteins Sprachbegriff der Fall. Im Tractatus umfaßte sein Sprachbegriff die Normal- und die formalen (bzw. sogenannten Ideal-) Sprachen. Später schränkte Wittgenstein seinen Sprachbegriff auf die Normalsprachen ein. Und dadurch wurden die grammatischen Eigenschaften von Normalsprachen Spezifica seiner Sprachbetrachtung.56 Vgl. Thomas Samuel Kuhn, The Structure of Scientific Revolutions (Chicago 1962, 2. erw. Aufl. 1976; dt. Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen [Frankfurt a. M. 1967], 2. erw. Aufl. 1976). – Die Diskussion über »Kommensurabilität und Inkommensurabilität« paradigmatischer Begriffe aufeinander folgender Theorien hält noch an. 56 Es dürfte dabei weder Wittgenstein noch seinen Anhängern klar geworden sein, daß er durch das, was er als »Definition von Begriffen durch ihre Familienähnlichkeit« ausgab, nur die sprachlichen Homonyme als Muster und Standard für alle »Begriffe« in die Logik trans55
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Das alles möge zeigen, daß man auf diese Weise durchaus eine »logische« Geschichte der Begriffe, sei es einzelner Philosophien, sei es in einer Schule, sei es in ganzen Epochen erhält. Dies muß nicht in expliziten logischen Rekonstruktionen erfolgen, sondern durchaus in mehr oder weniger umfangreichen Beschreibungen der Begriffskonstellationen. Freilich wird der Philosophiehistoriker sich zu seinem Verständnis selber seine privaten Begriffsbäume skizzieren und vor Augen halten. Gewiß wird man dabei zunächst von der (intensionalen) Bedeutung ausgehen, die evtl. auch eine etymologisch-historische sein kann. Aber darüber hinaus kommt es für die logische Konstruktion des Begriffs X darauf an, Klarheit darüber zu gewinnen, welche von seinen Merkmalsanteilen generische Merkmale eines »nächsthöheren« oder gar noch allgemeinerer Oberbegriffe sind, unter die er als quantifizierte Extension fällt. Dann bleiben das oder evtl. mehrere spezifische Merkmale übrig, durch die sich der gemeinte Begriff von seinen Oberbegriffen wie auch von dihäretischen oder multiplen Nebenbegriffen unterscheidet. In vielen Fällen ist es dann hilfreich zu erwägen, ob und welche Begriffe ihrerseits unter den Begriff X subsumiert werden können und damit zu seinem Extensionsbereich gehören. Diese müssen den gesamten Merkmalsbestand des gemeinten Begriffes enthalten, aber durch weitere spezifische Merkmale charakterisiert werden. Um sie aufzufinden bedient man sich der Quantifikation. Die unteren Begriffe sind stets »einige X« (mit ihren jeweils spezifischen Differenzen). Gegebenenfalls kann man auch auf individuelle Fälle »herabsteigen«, die durch die Quantifikation »ein X« aufgefunden werden und dann als »Beispielsfälle« für den Begriff X dienen.57
portierte. Homonyme Wörter haben in der Regel gänzlich verschiedene Bedeutungsmerkmale und nur zufälligerweise mögen sie auch einige Merkmale gemeinsam besitzen, worauf dann »Ähnlichkeiten« beruhen. Auf die Definition von Begriffen übertragen, führte dies bei Wittgenstein und seinen Anhängern dazu, daß (je nach Beispielsfällen) gänzlich verschiedene Begriffe als einer und derselbe Begriff definiert wurden, was nur als widersprüchlich und »dialektisch« bezeichnet werden kann. Vgl. dazu L. Geldsetzer, Wittgensteins Familienähnlichkeitsbegriffe. Internet des Philosophischen Instituts der HHU Düsseldorf (Düsseldorf 1999). Für eine pyramidal-logische Rekonstruktion der beiden Philosophien Wittgensteins siehe auch R. Goeres, Die Entwicklung der Philosophie Ludwig Wittgensteins unter besonderer Berücksichtigung seiner Logikkonzeptionen (Würzburg 2000), bes. auch III/B3, 234–300. 57 Betrachten wir als Beispiel die Definition des aristotelischen Substanzbegriffes. »Substanz« (x) fällt unter den Oberbegriff »Sein«, so daß gilt: »einiges Sein = Substanz«. Unter »Sein« fällt auch »einiges (andere) Sein = Akzidenzien«. Akzidenz ist also ein dihäretischer Nebenbegriff der Substanz. Beide definieren sich auch durch die Negationen: »Substanz ≠ Akzidenz« und »Akzidenz ≠ Substanz«. Unter »Substanz« fallen die »toten und die lebendigen Dinge«, d. h. »einige Substanzen = tote Dinge (Elemente)« und »einige (andere) Substanzen = lebendige Dinge«, wobei »tot« und »lebendig« die spezifischen Differenzen der Unterbegriffe der »Substanz« sind. Die »toten Substanzen« lassen sich weiter unterteilen in die vier aristotelischen Elemente, und ein Beispiel für eines derselben ist »Erde« (neben Wasser, Luft und Feuer). Die »lebendigen Substanzen« enthalten als Unterbegriffe »Pflanzen« und »Tiere«, für welche »eine Tulpe« bzw. »ein Hund« Beispiele sind.
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Daß dieses logische Prozedere nicht in jedem Falle strikt angewandt wird, liegt auf der Hand. Gleichwohl sollte es eine Richtlinie für die Bearbeitung der Begriffs-Lexika darstellen. Wie problematisch die Lage gegenwärtig noch ist, soll zum Schluß noch an zwei prominenten Unternehmungen gezeigt werden. Karlfried Gründer, der zweite Herausgeber, nennt in der Vorbemerkung zum 4. Band das »Historische Wörterbuch der Philosophie« (Basel-Stuttgart 1976) ein »begriffsgeschichtliches Wörterbuch«. Und im Untertitel wird es als »völlig neubearbeitete Ausgabe des ›Wörterbuchs der philosophischen Begriffe‹ von Rudolf Eisler« vorgestellt. Abgesehen von der Schwierigkeit, kompetente Bearbeiter für die Begriffe – und zusätzlich für die geschichtlichen Perspektiven – zu finden,58 spricht er von einem »breiten Spektrum von Realisationsformen und -stufen«. Speziell seien hier versammelt Forschungsmonographien und knappe Rekapitulationen von solchen, eine Fülle von nicht ausgeschöpften Belegstellen bei manchem Stichwort, was einen »Übergang vom lexikalischen zum Thesaurus-Charakter« bedeute, »begriffsgeschichtliche Kurzinformationen, … die zuweilen nur Platzhalter und Desiderat-Anmeldungen sind«, und auch Mischformen aus allen diesen. Angesichts dessen diene »als pragmatisches Regulativ, soweit irgend möglich, die Wortgeschichte«. Man wird auch in Zukunft nicht darauf verzichten können, sich dieser heuristischen Leitfäden der »Wortgeschichte« für die Erarbeitung echter Begriffsgeschichten zu bedienen. Beim Stand der Dinge scheint es also im Nachhinein sehr weise von Joachim Ritter und seinem Mitarbeiterkreis gewesen zu sein, das Unternehmen »Historisches Wörterbuch der Philosophie« und nicht »Historisches Wörterbuch der philosophischen Begriffe« genannt zu haben. Dem Ritterschen Wörterbuch zur Seite steht das ebenso eindrucksvolle Gemeinschaftswerk deutscher Historiker, »Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland«, das von Reinhart Koselleck und Otto Brunner seit 1967 herausgegeben wurde.59
Machen wir besonders auf Folgendes aufmerksam: Definitionen sind Äquivalenzen, keineswegs behauptende Urteile, die mit der Kopula »ist« formuliert werden. In der Mathematik sind auch die Gleichungen logische Äquivalenzen, und deshalb ebenfalls keine Behauptungssätze, sondern Definitionen. Wenn aber gewöhnlich mathematische Gleichungen wie »2 · 2 = 4« als exemplarische Wahrheiten gelten, dann müßten korrekte Wörterbuchdefinitionen wie »Armut = pauvreté« oder »Substanz = quantifiziertes Sein« ebenfalls exemplarische Wahrheiten sein. 58 K. Gründer, Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 4 (Basel / Stuttgart 1976) V: »Begriffsgeschichtliche Forschung hat nicht den Fundus der klassischen Philologie und die Sicherheit und Geläufigkeit ihrer Methoden. Ihr Stand ist nicht so, daß es überall oder auch nur für die wichtigsten Begriffe Vorarbeiten gäbe, die lexikalisch nur resümiert zu werden brauchten. Die Zahl der Autoren, die begriffsgeschichtlich forschen und in der Lage sind, zum Redaktionsschluß eines Bandes etwas zustande zu bringen, das ihren eigenen Ansprüchen genügt, wächst zwar … , aber sie ist noch immer nicht groß.« 59 Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Sonderausgabe Bde. 1–8/2 (Stuttgart 1972–1997, Neuausgabe 9 Bde. 2004).
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Das Werk ist freilich ebenso wenig eine reine Begriffsgeschichte geschichtswissenschaftlicher Begriffe, wie man nach dem Haupttitel erwarten sollte, den der Untertitel sogleich auch konterkariert. Die Herausgeber hätten daher besser daran getan, es als »Ideengeschichte« in der Tradition der älteren deutschen Ideengeschichte und der angelsächsischen History of ideas zu bezeichnen, um sich mancherlei Kritiken und Mißverständnisse zu ersparen.60 Wie die Herausgeber selbst bemerken, enthält es »1. Zentrale Begriffe aus Geschichte, Philosophie, Jurisprudenz und Ökonomie; 2. Zentrale Verfassungsbegriffe, Leitbegriffe und Schlagworte politischer Bewegungen; 3. Schlüsselwerke aus Politik, Wirtschaft und Gesellschaft; 4. Kernbegriffe aus der Arbeitswelt«. Auch das, was hier wirklich als Begriffe vorgestellt wird, verdiente es, der vorgeschlagenen Methode logischer Begriffs-Konstruktion unterworfen zu werden.
Vgl. E. Müller (Hg.), Begriffsgeschichte im Umbruch? (Hamburg 2004); sowie H. U. Gumbrecht, Dimensionen und Grenzen der Begriffsgeschichte (Paderborn 2006). 60
Begriffsgeschichte in Literatur- und Sprachwissenschaft
Carsten Dutt
Begriffsgeschichte als Aufgabe der Literaturwissenschaft Das Unbestreitbare vorweg: Es ist nicht die Literaturwissenschaft und es sind nicht Literaturwissenschaftlerinnen und Literaturwissenschaftler, an die man in erster Linie denkt, wenn die Rede auf jenes Paradigma historischer Semantik kommt, das wir Begriffsgeschichte nennen und das sich mittlerweile anschickt, als history of concepts, histoire des concepts oder historia conceptual auch außerhalb des deutschen Sprachraums Karriere zu machen.1 Theoretisch-methodologisch wie wissenschaftsorganisatorisch ging die maßgebliche Förderung begriffshistorischer Forschung von der Philosophie und der Geschichtswissenschaft aus. Und so sind es denn auch die Namen prominenter Philosophen und Historiker, die das Stichwort Begriffsgeschichte bewußtseinsaktuell werden läßt. In Münster denkt man selbstverständlich zuallererst an Joachim Ritter, den Gründungsherausgeber des Historischen Wörterbuchs der Philosophie. Ebenso erinnert man sich natürlich Erich Rothackers, der das Archiv für Begriffsgeschichte ins Leben rief; seinerzeit, 1955, in der Absicht, »Bausteine zu einem historischen Wörterbuch der Philosophie«2 zu sammeln. Und neben Ritter und Rothacker ist gewiß Hans-Georg Gadamer zu nennen, der zwar nur beinahe zum Mitherausgeber des Historischen Wörterbuchs der Philosophie wurde3, als ein weit über philosophische Fachkreise hinaus einflußreicher Autor jedoch seinerseits viel für die wissenschaftskulturelle Verankerung der Begriffshistorie getan hat: als Vorsitzender der Senatskommission für begriffsgeschichtliche Forschung der DFG (1957–1966), als Verfasser programmatischer Texte wie des zuerst 1970 publizierten und seither des öfteren nachgedruckten Aufsatzes
1 1998 hat die von dem New Yorker Historiker Melvin Richter gegründete und mittlerweile geschäftsführend von Kari Palonen (Jyväskylä) betreute History of Political and Social Concepts Group ihre Arbeit aufgenommen (http://www.jyu.fi/yhtfil/hpscg/index.html). – Seit 2005 erscheinen in brasilianischer-europäischer Kooperation halbjährlich die Contributions to the History of Concepts (http://contributions.iuperj.br/). – Zur Rezeption der Begriffsgeschichte in Spanien vgl. Faustino Oncina Coves: Historia conceptual, Ilustracion y Modernidad. (Barcelona 2009). 2 So der ursprüngliche Untertitel der Zeitschrift. 3 Vgl. hierzu die Darstellung von Margarita Kranz: Gelehrte Geschäfte. Warum HansGeorg Gadamer nicht Herausgeber des Historischen Wörterbuchs der Philosophie wurde. In: Zeitschrift für Ideengeschichte II/4 (2008) 95–111.
Archiv für Begriffsgeschichte · Sonderheft 8 · © Felix Meiner Verlag 2010 · ISBN 978-3-7873-1971-8
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»Begriffsgeschichte als Philosophie«4, vor allem freilich als Autor von Wahrheit und Methode. In Gadamers Hauptwerk werden ja nicht nur einige noch immer lesenswerte Begriffsgeschichten erzählt,5 sondern überdies wichtige, zu Recht vielzitierte Sätze zur Explikation der hermeneutischen Relevanz begriffsgeschichtlicher Untersuchungsgänge formuliert, darunter der Satz, daß das Interesse an einem »begründete[n] geschichtliche[n] Selbstverständnis […] von einer Frage der Wort- und Begriffsgeschichte in die andere« nötige.6 Auch Joachim Ritter hat diesen Satz Gadamers im Vorwort zum ersten Band des Historischen Wörterbuchs der Philosophie zitiert und dort durch den Hinweis ergänzt, daß begriffsgeschichtliche Forschung nicht als rein antiquarische Betätigung, vielmehr als »kritische Reflexion« zu verstehen sei, die einer »›abstrakten‹ Festlegung« philosophischer Begriffe entgegenwirke, indem sie deren »geschichtliche Prägung und Bildung« ins Bewußtsein hebe.7 Zu den für die jüngere Wissenschaftsgeschichte der Begriffsgeschichte entscheidenden Figuren zählt last but not least der Historiker Reinhart Koselleck. Unter den Inauguratoren und Förderern einschlägiger Großprojekte war der spiritus rector der Geschichtlichen Grundbegriffe, des Historischen Lexikons der politisch-sozialen Sprache in Deutschland, der eigentlich innovative Kopf. Das zeigt sich sowohl an der von ihm durch die programmatische Verbindung der Erkenntnisziele und Untersuchungsverfahren von Begriffsgeschichte und Sozialgeschichte vollzogenen Transgression eines auf theorie- und ideengeschichtliche Fragestellungen beschränkten Typs von Begriffshistoriographie8 als auch an der Verknüpfung von Begriffshistorie und geschichtswissenschaftlicher Moderneforschung, die Koselleck mit durchschlagenden Begründungen und weittragenden Arbeitshypothesen versehen hat. So mit der berühmt gewordenen ›Sattelzeit‹-Hypothese, daß der in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts teils einsetzende, teils sich beschleunigende soziale, ökonomische, politische und kulturelle Wandel zur Moderne im Spiegel begrifflich kondensierter Bedeutungs-
4 Archiv für Begriffsgeschichte 14 (1970) 137–151. Jetzt auch in: Hans-Georg Gadamer: Gesammelte Werke. Bd. 2: Hermeneutik II. Wahrheit und Methode. Ergänzungen, Register. (Tübingen 1986) 77–91. 5 Die Geschichten der humanistischen Leitbegriffe ›Bildung‹, ›sensus communis‹, ›Geschmack‹ und ›Urteilskraft‹ nämlich. Vgl. Hans-Georg Gadamer: Gesammelte Werke. Bd. 1: Hermeneutik I. Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik (Tübingen 61990) 15–46. 6 Ebd. 15. Vgl. dort auch die Feststellung: »Begriffe wie ›die Kunst‹, ›die Geschichte‹, ›das Schöpferische‹, ›Weltanschauung‹, ›Erlebnis‹, ›Genie‹, ›Außenwelt‹, ›Innerlichkeit‹, ›Ausdruck‹, ›Stil‹, ›Symbol‹, die uns selbstverständlich sind, bergen in sich eine Fülle von geschichtlichem Aufschluß.« 7 Joachim Ritter: Vorwort. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 1: A-B (Basel 1971) VII. 8 Vgl. Reinhart Koselleck: Begriffsgeschichte und Sozialgeschichte. In: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, hg. von Reinhart Koselleck (Frankfurt a. M. 1979) 107–128.
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einheiten der politisch-sozialen Sprache beobachtbar sei und sich mit Hilfe eines Kriterienkatalogs für die modernitätskonstitutive Transformation dieser Bedeutungseinheiten vergleichend ausmessen lasse. Man erinnert sich: Es ging Koselleck um die Beschreibung und Erklärung der ›Demokratisierung‹, der ›Verzeitlichung‹, der ›Ideologisierbarkeit‹ und der ›Politisierung‹ geschichtlich überkommener oder neu geprägter Begriffe im Horizont neuzeitlich bewegter Geschichte.9 Und es ging ihm in diesem Zusammenhang methodologisch zentral darum, daß die Begriffsgeschichte des revolutionär beschleunigten Übergangs von der alteuropäischen zur modernen Gesellschaft nicht nur historische Semantik, sondern zugleich historische Pragmatik der von ihr untersuchten Konzepte sein müsse: »Primär fragt Begriffsgeschichte danach, wann, wo, von wem und für wen welche Absichten oder welche Sachlagen wie begriffen werden.«10 Begriffshistorische Untersuchungen ermitteln demnach nicht nur vergangene Wortbedeutungen bzw. in diachroner Aufschichtung ihrer semasiologischen und onomasiologischen Befunde die Bildung, Verbreitung, Veränderung und schließlich die Auf- oder Ablösung von Konzepten, sondern auch ihren sich geschichtlich wandelnden Handlungssinn, ihre kommunikative Funktion in konkreten Begriffsverwendungszusammenhängen: von der Flugschrift über die Parlamentsrede und das Parteiprogramm bis zum zeitdiagnostischen Essay und kulturkritisch ambitionierten Roman.11 Bei Koselleck hat sich dieses Erkenntnisinteresse bekanntlich in einer langen Reihe von Begriffsfunktions-
9 Vgl. ders.: Einleitung. In: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon der politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Bd. 1: A-D, hg. von Otto Brunner, Werner Conze und Reinhart Koselleck (Stuttgart 1972) XII–XXVII. Zum heuristischen Status der Kriterien, ihrer Ergänzungsoffenheit und Verwiesenheit auf das diachronische Prinzip historischer Empirie heißt es S. XVIII f. zusammenfassend: »Alle genannten Kriterien, die Demokratisierung, die Verzeitlichung, die Ideologisierbarkeit und die Politisierung bleiben unter sich aufeinander verwiesen. Ohne jeden Anspruch auf Vollständigkeit behalten sie heuristischen Charakter, um den Gebrauch neuzeitlicher Terminologie gegen deren vorrevolutionäre Zusammenhänge abgrenzbar zu machen. Aus dem heuristischen Vorgriff folgt nun keineswegs, daß ihn die Geschichte jedes Begriffs bestätigen müßte. Vielmehr gibt es zahlreiche Konstanten, die sich über die Schwelle von etwa 1770 hinweg durchhalten. Um die Ausdrücke in ihrer Andersartigkeit – oder Gleichartigkeit – während der Zeit vor rund 1770 zu erkennen, bedarf es deshalb des Rückgriffs in die Vorvergangenheit, die wieder ihre eigene Geschichte hat. Diese mag von Wort zu Wort verschieden sein und wird deshalb in zeitlich unterschiedlicher Tiefe zurückverfolgt. Die Entstehung der Neuzeit in ihrer begrifflichen Erfassung ist nur nachvollziehbar, wenn auch und gerade die früheren Sinngehalte der untersuchten Worte oder wenn die Herausforderung zu Neubildungen mit in den Blick gerückt werden.« 10 Ders.: Stichwort: Begriffsgeschichte. In: Begriffsgeschichten. Studien zur Semantik und Pragmatik der politischen und sozialen Sprache, hg. von Reinhart Koselleck (Frankfurt a. M. 2006) 99–102, hier S. 100. 11 Es versteht sich, daß die Rekonstruktion der pragmatischen Dimension von Begriffen nicht ohne die Rekonstruktion der pragmatischen Dimension der Texte zu haben ist, in denen die Begriffe Verwendung finden. Vgl. hierzu Hans Ulrich Gumbrecht: Historische Textpragmatik als Grundlagenwissenschaft der Geschichtsschreibung. In: Lendemains 6 (1977) 125–135.
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charakteristiken niedergeschlagen, für die er einprägsame Etiketten gefunden hat: Aktionsbegriff, Bewegungsbegriff, Erfahrungsbegriff, Erfahrungsstiftungsbegriff, Erwartungsbegriff, Identifikationsbegriff, Kampfbegriff, Kompensationsbegriff, Prozeßbegriff, Vorgriff, Zielbegriff und dergleichen Typisierungen mehr.12 Wenn Begriffsgeschichte heute nicht nur als historische Bedeutungsforschung, sondern zugleich als historische Sprachhandlungsforschung betrieben wird, so ist dies vor allem dem Einfluß der disziplinübergreifend maßstabsetzenden Arbeiten Kosellecks zu verdanken, die uns den Doppelstatus von Begriffen – ihren Status als Indikatoren für Verhältnisse und ihren Status als Faktoren in Verhältnissen – sehen gelehrt haben.13 Begriffsgeschichtliche Forschungsprogramme, die es an Reichweite und Komplexität mit dem Historischen Wörterbuch der Philosophie oder den Geschichtlichen Grundbegriffen hätten aufnehmen können, waren seitens der Literaturwissenschaft zunächst nicht zu verzeichnen. Das heißt freilich nicht, daß an den begriffshistoriographischen Unternehmungen, die in den 1950er und 1960er Jahren im deutschsprachigen Bereich auf den Weg gebracht wurden, nicht von Anfang an auch Literaturwissenschaftler beteiligt gewesen wären. Selbstverständlich waren sie beteiligt. Der schon erwähnten DFG-Senatskommission gehörten unter Gadamers Vorsitz mit dem Kölner Romanisten Fritz Schalk und dem Göttinger Anglisten Klaus Dockhorn gleich zwei einschlägig spezialisierte Fachvertreter an.14 Und zu den von der Senatskommission veranstalteten Tagungen haben je und je auch Literaturwissenschaftler Beiträge geliefert. Nicht anders verhält es sich, wenn man auf das Rittersche Wörterbuch blickt, das zwar eine von der Philosophie und den Erfordernissen ihrer historischen Selbstverständigung ausgehende, dabei aber von Anfang an interdisziplinär ausgreifende Unternehmung war,15 die dementsprechend eine Vielzahl gelehrter Kompetenzen engagiert hat, darunter selbstverständlich auch diejenigen von Literaturwissenschaftlern: Die Artikel zur Begriffsgeschichte von »Epos« und von »Lyrik« etwa, die im Historischen Wörterbuch der Philosophie keineswegs fehlen, stam-
Vgl. hierzu das Begriffs- und Sachregister in Reinhart Koselleck: Begriffsgeschichten. Studien zur Semantik und Pragmatik der politischen und sozialen Sprache (Frankfurt a. M. 2006) 541 f. 13 Vgl. ders.: Begriffsgeschichte und Sozialgeschichte (wie Anm. 10) 121: »Ein Begriff ist nicht nur Indikator der von ihm erfaßten Zusammenhänge, er ist auch deren Faktor. Mit jedem Begriff werden bestimmte Horizonte, aber auch Grenzen möglicher Erfahrung und denkbarer Theorie gesetzt.« 14 Vgl. Fritz Schalk: Exempla romanischer Wortgeschichte (Frankfurt a. M. 1966); ders.: Praejudicium im Romanischen (Frankfurt a. M. 1971); ders.: Zur Semantik von Aufklärung in Frankreich. In: Festschrift für Walther von Wartburg zum 80. Geburtstag, hg. von Kurt Baldinger (Tübingen 1968) 251–266; ders.: Zur Geschichte von Enthousiasme. In: Romanische Forschungen 87 (1975) 191–225. Klaus Dockhorn: ›Memoria‹ in der Rhetorik. In: ders.: Macht und Wirkung der Rhetorik. Vier Aufsätze zur Ideengeschichte der Vormoderne, hg. von Klaus Dockhorn (Bad Homburg v.d.H. 1968) 96–104. 15 Zur Begründung dieses Ausgreifens vgl. J. Ritter: Vorwort [Anm. 7] VI. 12
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men von Fritz Martini, der Artikel über »das Klassische« von Beda Allemann, der Artikel »Romantik« von Ernst Behler; den Artikel »Humor« hat Wolfgang Preisendanz verfaßt und den Artikel »Rezeption« – wie könnte es anders sein – Hans Robert Jauß.16 Dennoch läßt es sich nicht bestreiten: Was die theoretische Begründung und methodologische Normierung begriffshistorischer Arbeit angeht, war und ist die Literaturwissenschaft keine exportierende, sondern eine importierende, eine übernehmende und lernende Disziplin. Die Resultate dieses lernenden Imports können sich freilich sehen lassen – sowohl hinsichtlich der weiten Verbreitung begriffsgeschichtlicher Erkenntnismittel als auch hinsichtlich der in ihrem Einsatz erreichten Könnerschaft. Man könnte das auf breiter Basis belegen. Ich will mich hier jedoch auf zwei Hinweise beschränken. Der erste gilt dem Großlexikon Ästhetische Grundbegriffe, das in den späten 1980er Jahren zunächst am Zentralinstitut für Literaturgeschichte der Akademie der Wissenschaften der DDR, nach der Wende dann am Berliner Zentrum für Literaturforschung konzipiert wurde und in den Jahren 2000 bis 2005 in erfreulich zügiger Bandabfolge im Druck erschienen ist. Als ein Nachschlagewerk, das »das gegenwärtige ästhetische Wissen […] in begriffsgeschichtlicher Perspektive« erschließen und so »einen historischen Zugang zu Funktionsbestimmungen des Ästhetischen in der modernen Welt« eröffnen will, richtet sich das Wörterbuch zwar »inter- und transdisziplinär« an die »Lehrenden und Studierenden aller ästhetiknahen Disziplinen«17. Die Belange der Literaturwissenschaft nehmen dabei jedoch eine zentrale Stellung ein, was sich sowohl an den behandelten Lemmata als auch an der Fachzugehörigkeit der Beiträger des Werkes ablesen läßt.18 Mein zweiter Hinweis gilt der dreibändigen, zwischen 1997 und 2003 gleichfalls erfreulich zügig publizierten Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte, die sach-, nämlich fachangemessen Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft betitelt ist. Die Herausgeber der Neubearbeitung haben für alle Artikel des Werkes eine begriffsgeschichtliche Rubrik obligatorisch gemacht, und zwar in Verbindung mit den ihrerseits obligatorischen Rubriken ›Wortgeschichte‹, ›Sachgeschichte‹ und ›Forschungsgeschichte‹.19 16
Vgl. hierzu die Verfasserübersicht im 13., dem Registerband des Werkes. (Berlin 2007)
886 ff. 17 Vorwort. In: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Band 1: Absenz – Darstellung, hg. von Karlheinz Barck [u. a.] (Berlin 2000) VII-XIII, hier S.VII. – Wie der als Analogiebildung auftretende Titel und die programmatischen Darlegungen des Herausgebervorwortes deutlich machen, ist die Konzeption der Ästhetischen Grundbegriffe in zentralen Punkten Koselleckschen Vorgaben verpflichtet. 18 Daß die aus der Entstehungsgeschichte des Wörterbuchs zu erklärende Präferenz für literaturwissenschaftliche Autoren mitunter auch zu weniger überzeugenden Stichwortvergaben geführt hat, ist die Kehrseite der Medaille. 19 Vgl. hierzu die einleitende Erklärung: Über das neue Reallexikon. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Band I: A-G, hg. von Klaus Weimar gemeinsam mit Harald Fricke, Klaus Grubmüller und Jan-Dirk Müller (Berlin/New York 1997) VIIf: »Im Interesse
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Welch enormer Zuwachs an Differenzierung und Übersichtlichkeit dank dieser Herausgeberentscheidung erreicht worden ist, wird jeder Lexikonbenutzer beim Vergleich mit den Artikeln des Vorgängerwerkes dankbar feststellen. Viele Artikel des neuen Reallexikons belegen überdies mit schöner Prägnanz den Gewinn, den die zum Standard erhobene begriffsgeschichtliche Exploration literaturwissenschaftlicher ›Realien‹ auch für deren anderweitige, zum Beispiel sachgeschichtliche Untersuchung und Darstellung einträgt; gehe es dabei nun um Epochen, Gattungen oder Dichtarten, um Stile, Tropen, Interpretationskategorien oder anderes. Die Beispiele zeigen: Wer sich auf das Thema »Literaturwissenschaft als Begriffsgeschichte« einläßt, betritt heute keineswegs mehr Neuland. Er sieht sich vielmehr auf bewährte Formen der literaturwissenschaftlichen Nutzung begriffshistorischer Untersuchungsverfahren und Forschungserträge verwiesen, die ich im Folgenden denn auch keineswegs zu bemängeln oder mit Reformvorschlägen aus eigener Hand zu behelligen beabsichtige. Ich möchte den bewährten Gebrauch der Begriffshistorie auf literaturwissenschaftlichem Terrain lediglich in zustimmender Absicht vergegenwärtigen, indem ich entlang einer aufsteigenden Linie epistemischer Produktivität, die uns vom Kleinen punktueller Klärungen ins Große thematisch weitreichender Erkenntnisgewinne und Verständnissicherungen führen wird, vier Funktionen literaturwissenschaftlich genutzter Begriffsgeschichte unterscheide: 1. 2. 3. 4.
Die Auflösung des Scheins von Begriffskonstanz Die Rekonstruktion literaturtheoretischer Begriffsnetze Die Erklärung von Begriffswandel Die Unterstützung anderweitiger Geschichtsschreibungsaufgaben der Literaturwissenschaft durch ein historisches Reflexionsmedium der historiographisch leitenden Begriffsbildungen
Hierzu einige Erläuterungen. Sie beginnen, wie gesagt, im Kleinen: mit Hinweisen auf eine immer wieder einmal fällig werdende punktuelle, man kann freilich auch sagen elementare Erkenntnisleistung. Die Rede ist von der semantischen Klärung unverständlich oder mißverständnisträchtig gewordenen Wortgebrauchs durch punktgenaue Nutzung begriffsgeschichtlichen Wissens. von Klärung und Präzisierung des wissenschaftlichen Sprachgebrauchs will sich das RLW zunächst von anderen Lexika unseres Faches abheben, daß es so deutlich wie jeweils möglich zwischen Wort-, Begriffs-, Sach- und Forschungsinformation unterscheidet. Der Artikel ›Drama‹ z. B. enthält in gekennzeichneten Abschnitten Informationen darüber, woher das Wort Drama kommt, was seine Bedeutungen waren und sind (WortGeschichte), wie sich der Begriff ›Drama‹ konzeptuell verändert hat und ggf. alternativ benannt worden ist (BegriffsGeschichte), wie die heute mit Drama bezeichnete Sache – insbesondere im deutschen Sprachgebiet – von den Anfängen bis in die Gegenwart ausgesehen hat (SachGeschichte), schließlich wie bzw. inwieweit die – insbesondere deutschsprachige – Literaturwissenschaft diese Sache bislang erforscht hat und wie man sich am zuverlässigsten darüber informieren kann (ForschungsGeschichte mit knapper Literaturliste).«
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Dabei geht es je und je um die Bedeutung, die ein sprachlicher Ausdruck, ein Begriffswort, in einem bestimmten Text hat, aus diesem Text aber nicht mehr ohne die Vermittlungsleistung der Begriffshistorie verstanden werden kann. Man denke hier zum einen an die Begrifflichkeit literarischer Texte der Vergangenheit, die – auf welche Weltausschnitte auch immer bezogen und aus welchen theoriesprachlichen Quellen auch immer gespeist – aufgrund von Prozessen des Sprach- und Bedeutungswandels zu einer uns semantisch entfremdeten Begrifflichkeit geworden ist und deshalb Gefahr läuft, punktuell überhaupt nicht mehr oder falsch, nämlich anachronistisch verstanden zu werden. Man denke zum anderen an die Begriffssprache der Rhetorik, der Poetik und Ästhetik, kurzum an die Begrifflichkeit des literaturtheoretischen Diskurses in seiner geschichtlichen Tiefenerstreckung, also an jene Vertikale, aus der die gegenwärtige Begriffssprache der Literaturwissenschaft hervorgegangen ist und auf die sie – sei es dem einzelnen nun bewußt oder nicht – über hochgradig mißverständnisträchtige Verwerfungen, über Diskontinuitäten und Transformationen hinweg zurückverweist. Auch hier sorgt die Begriffshistorie gegenüber dem punktuellen Altern literaturtheoretischer Texte – vom epigrammtheoretischen Epigramm bis zum poetologischen Essay oder Traktat – für hermeneutisch elementare Klärungen, nämlich für die punktgenaue Feststellung und Erklärung von Differenzen zwischen der ehedem intendierten und der heute etablierten Bedeutung der fraglichen literaturtheoretischen Termini. In beiden Formen seiner punktuellen, dabei aber elementaren Nutzung sorgt das Wissen der Begriffshistorie für die Überwindung jener Form des Nichtwissens, die in der Projektion des uns Bekannten und Geläufigen aufs Unbekannte und Ungeläufige besteht und sich mit Friedrich Schlegels 25. Lyceums-Fragment auf das dort so genannte »Axiom der Gewöhnlichkeit« zurückführen läßt: »Wie es bei uns und um uns ist,« – so lautet dieses Axiom in seiner sarkastischen Schlegelschen Fassung – »so muß es überall gewesen sein, denn das ist ja alles so natürlich.«20 Daß es sich in Texten, literarischen oder literaturtheoretischen Texten der Vergangenheit, begriffssprachlich nicht wie »bei uns und um uns«, sondern anders verhält, darüber belehrt uns die Begriffsgeschichte durch klärende Differenzbefunde, wie wir sie zumal in Gestalt der gelehrten Anmerkungsapparate unserer großen Klassiker-Ausgaben kennen und schätzen. Ich gebe ein Beispiel, und zwar wiederum aus Friedrich Schlegel. Wenn Schlegel in seiner »Philosophie der Philologie« Gattungsbegriffe der Poetik auf die Philologie überträgt und in diesem Zusammenhang philologische Miszellaneen und Lexika »philologische Satiren« nennt, so meint er damit nicht, wie dies dem gegenwärtig außerhalb wie innerhalb der Literaturwissenschaft herrschenden Satire-Begriff entspräche, Polemiken, Spottgedichte oder sonstige Formen »literarisch sozialiFriedrich Schlegel: Kritische Fragmente [1797]. In: ders.: Kritische Schriften und Fragmente. Studienausgabe in sechs Bänden. Bd. 1, hg. von Ernst Behler und Hans Eichner.: Kritische Schriften und Fragmente [1794–1797]. (Paderborn u. a. 1988) 240. 20
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sierter Aggression« (Jürgen Brummack), er meint vielmehr das Vielfältige und Zusammengesetzte, den mixtum compositum-Charakter der in Rede stehenden Werke.21 Daß Schlegel insoweit keineswegs idiosynkratischen Wortgebrauch treibt, daß er nicht aus der Begriffsgeschichte von ›Satire‹ ausschert, vielmehr im Rekurs auf die antike Begriffstradition und das für sie maßgebliche Paradigma der römischen Satire als eines (nicht notwendigerweise in unserem Sinne satirischen) Mischgedichts einen neuzeitlich und vollends in der Moderne in den Hintergrund getretenen Bedeutungsstreifen aktualisiert – eben darüber klärt uns begriffshistorische Arbeit in diesem Punkt auf. Indem sie Schlegels ›Sprungrezeption‹22 innerhalb der Begriffsgeschichte von ›Satire‹ transparent macht, löst sie den von der projektiven, der assimilatorischen Gewalt unseres Vorverständnisses ausgehenden Schein von Begriffskonstanz auf. Die Auflösung des Scheins von Begriffskonstanz betrifft freilich nicht nur verdeckte Differenzen zwischen einst gemeinten und heute vorherrschenden Bedeutungen, sondern auch Differenzen innerhalb der Tiefendimension der Geschichte, die erst in begriffsgeschichtlich geschulter Wahrnehmung die ihr eigene semantische Bewegtheit zurückgewinnt. Literaturwissenschaftlerinnen und Literaturwissenschaftler tragen dazu bei, indem sie die mit der Geschichte der Literatur in vielgestaltiger Wechselwirkung verbundene Geschichte der Literaturtheorie untersuchen. Die erste der von mir unterschiedenen Funktionen literaturwissenschaftlich fruchtbar gemachter Begriffshistorie geht in die zweite über, insofern sich die Auflösung des Scheins von Begriffskonstanz als vergleichende Rekonstruktion literaturtheoretischer Begriffsnetze vollzieht. Wenn sich Literaturtheoretiker – nennen wir sie nicht Friedrich Schlegel oder Jean Paul, Solger oder Hegel, sondern schlicht A und B –, wenn sich die Literaturtheoretiker A und B des Wortes »Humor« bedienen und eine Reihe von Aussagen über den Humor als Gemütszustand, als dichterische Einbildungskraft und Schreibart, als existenztragendes Welt- und Selbstverständnis wie als Signatur literarischer Werke machen – in der Regel eine ziemlich lange, womöglich Essay- oder gar Traktatlänge erreichende Reihe von Aussagen –, so werden sie trotz der sich durchhaltenden Identität des Wortes »Humor«, trotz der Konstanz des Begriffsnamens, schwerlich ein und denselben Humorbegriff artikulieren. Ihre Humorbegriffe werden mehr oder minder stark voneinander abweichen. So jedenfalls ist in Orientierung an der für begriffsgeschichtliche Textanalysen Vgl. hierzu Jürgen Brummack: Zu Begriff und Theorie der Satire. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 45 (1971) 275–377, hier S. 276. Ebd. (Anm. 3) auch die wichtige Feststellung: »Der Begriff der römischen Satire als eines Mischgedichts hat bei Schlegel als Ferment gewirkt, als er seinen Gedanken einer modernen Universalpoesie ausgebildet hat.« 22 Zur rezeptionstypologischen Unterscheidung der über einen zeitlichen Hiat hinweg erfolgenden Sprungrezeption von der Anschlußrezeption des soeben Geschaffen und objektiv Neuen durch Zeitgenossen vgl. Manfred Fuhrmann: Antike (Rezeption). In: Fischer Lexikon Literatur. Bd. 1: A-F, hg. von Ulrich Ricklefs (Frankfurt a. M. 1996) 60–79, hier S. 63. 21
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grundlegenden Unterscheidung von Wort und Begriff zu vermuten. »The persistence of […] expressions« – sagt treffend Quentin Skinner – »tells us nothing reliable at all about the persistence of the […] concepts.«23 Inwiefern die Humorbegriffe von A und B übereinstimmen und inwiefern sie voneinander abweichen, ermitteln begriffshistorisch arbeitende Literaturwissenschaftlerinnen und Literaturwissenschaftler, indem sie darauf achten, wie einerseits A und andererseits B das Substantiv »Humor« (und selbstverständlich auch das Adjektiv »humoristisch«) als Subjektausdruck oder als Prädikat, als Explicans oder als Explicandum verwenden. Denn wie anders als wortgebrauchsanalytisch sollte man den fraglichen Begriff bei A einerseits, bei B andererseits dingfest machen können? Das ist nun gewiß keine falsche, allerdings auch keine zureichende Beschreibung der begriffsanalytischen Methode begriffshistorisch verfahrender Literaturwissenschaft. Es wäre nämlich eine grobe Verkürzung zu behaupten, daß der Humorbegriff von A und der Humorbegriff von B in nichts anderem als in der jeweiligen Verwendungsweise der Worte »Humor« und »humoristisch« durch A bzw. B bestehen. Höchstens könnte man sagen, daß ihre Humorbegriffe auch darin bestehen. Für die jeweils artikulierten Begriffe ist nämlich nicht nur entscheidend, was A bzw. B unter Verwendung des Wortes »Humor« und seiner adjektivischen und adverbialen Entsprechungen über den Humor (als Weltsicht wie als Schreibart) aussagen; es ist nicht minder entscheidend, was A bzw. B über Ironie und Witz, über Subjektivität und Objektivität, über das Erhabene und die Idee, ja gar – siehe Jean Paul, siehe auch Solger – über das Endliche und das Unendliche aussagen. So nämlich präzisieren und erweitern sie ihre literaturtheoretisch relevanten Aussagen über den Humor. Begriffstheoretisch gewendet heißt das: Die in literaturtheoretischen Zusammenhängen gebildeten Begriffe sind – wie alle in Theoriezusammenhängen gebildeten Begriffe – je und je Elemente strukturierter Begriffsfelder. Sie sind Knotenpunkte in Netzen von Begriffen, die als Ober- oder Unter-, Gegensatzoder Korrelativbegriffe aufeinander bezogen sind. Und diese komplexen, durch eine Vielzahl verschiedenartiger Relationen verknüpften Begriffsnetze24 sind ihrerseits Funktionen jener Aussagenkomplexe – jener (sei es in systematischer Strenge ausgeführten, sei es im ordo neglectus des Essays oder der aphoristischen Präsentation entworfenen) Theorien –, die es vergleichend zu rekonstruieren gilt, wenn die mit ihnen vollzogenen Begriffsbildungen bzw. Begriffsumbildungen erkannt und angemessen beschrieben werden sollen. Quentin Skinner: Meaning and Understanding in the History of Ideas. In: History and Theory 8 (1969) 3–53, hier S. 39. 24 Zum formalwissenschaftlichen Begriff der Komplexität vgl. Niklas Luhmann: ›Komplexität‹. In: Historischen Wörterbuch der Philosophie. Bd. 4: I-K, hg. von Joachim Ritter und Karlfried Gründer (Basel 1976) 939 ff. Komplexität bemißt sich nach der »Zahl und Verschiedenartigkeit der Relationen, die nach der Struktur des Systems zwischen Elementen möglich sind« (ebd. Sp. 940). 23
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»Begriffe«, so hat es der als Theoretiker der Begriffe und ihrer Historie zu Unrecht in Vergessenheit geratene Philosoph Nicolai Hartmann einmal gesagt, »sind überhaupt keine selbständigen Gebilde«: »Der Begriff, als einzelner für sich genommen, ist immer arm an Bestimmtheit. Selbst die Definition, die seinen Gehalt explizieren soll, hilft hier nur wenig zurecht. Eine kurze Formel, selbst wenn sie nicht bloß Nominaldefinition ist, kann die fehlende Mannigfaltigkeit greifbarer Bestimmtheit nicht ersetzen. Die wirklich erschöpfende Begriffsbestimmung liegt einzig im weiteren Inhaltszusammenhang. Sie ist nirgends zu gewinnen als am Ganzen der […] Gedankenarbeit, in der der Begriff geprägt ist. Der Begriff hat eben seine Bestimmtheit außer sich.«25 Gute Begriffsgeschichtsschreibung weiß das – auch in der Literaturwissenschaft – und sie versteht sich deshalb als eine Form des Zugriffs auf Theoriegeschichte. Sie setzt ein beim theoretischen Detail, zum Beispiel beim Begriff des Humors, um dieses Detail gut hermeneutisch aus dem Ganzen der Dichtungstheorie oder Kunstphilosophie zu rekonstruieren, der es – von ihr bestimmt und sie zugleich mitbestimmend – angehört. Liefert aber die Folge der in der soeben skizzierten Weise umsichtig, nämlich theorierekonstruktiv durchgeführten Analysen der Humorbegriffe der Literaturtheoretiker A, B, C und D – nennen wir sie Friedrich Schlegel, Jean Paul, Solger und Hegel –, schon eine literaturtheoriegeschichtlich brauchbare Begriffsgeschichte? Was sie immerhin liefert, liegt auf der Hand: Differenzbefunde, die in diachroner Aufschichtung begrifflichen Wandel sichtbar machen, wobei sich Begriffshistorikerinnen und Begriffshistoriker immer wieder neu vor die Alternative gestellt sehen, die Stationen des Wandels von A zu B zu C zu D usw. entweder als Umbildungen an einem Begriff zu beschreiben – der dann zumindest als methodisches Subjekt einer Begriffsgeschichte unterstellt wird –, oder aber als Bildungen jeweils neuer Begriffe, die alle mit dem einen Begriffsnamen »Humor« belegt worden sind und in theoriegeschichtlich wohlbestimmten Relationen zueinander stehen.26 Wie immer man sich hier entscheidet, ob für die Vorstellung, es gebe die Geschichte eines verschiedene Gestalten durchlaufenden Begriffs, oder aber – an strengen Identitätskriterien für Begriffe orientiert – für ein Geschichts- und Geschichtserzählungsmodell des Nach- und Nebeneinander von »›distinct concepts‹, die sich alle mit ein und demselben sprachlichen Ausdruck verbanden bzw. verbinden«27, wichtig ist, daß die Differenzen zwischen den jeweils begriffsbildenden Aussagenkomplexen so präzise und übersichtlich wie möglich herausgearbeitet werden; und entscheidend für
Nicolai Hartmann: Das Problem des geistigen Seins. Untersuchungen zur Grundlegung der Geschichtsphilosophie und der Geisteswissenschaften (Berlin ²1949) 502 f. 26 Zur Diskussion dieses Problems vgl. Winfried Schröder: Was heißt »Geschichte eines philosophischen Begriffs«. In: Interdisziplinarität der Begriffsgeschichte, hg. von Gunter Scholtz (Hamburg 2000) (=Archiv für Begriffsgeschichte, Sonderheft Jahrgang 2000) 159–172. 27 Ebd. 169. 25
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die Anwendbarkeit einer anspruchsvollen Rede von Begriffsgeschichte ist, daß die herausgearbeiteten Unterschiede nicht nur konstatiert, sondern auch erklärt werden. Warum, aus welchen Gründen ändert sich bei welchen Autoren was am Begriff des Humors? Oder anders, den Wandel der Begriffe als ihren Wechsel interpretierend formuliert: Aus welchen Gründen bildet C im Horizont der Humorbegriffe von A und B einen dritten, nämlich seinen Humorbegriff in literaturtheoretischer Absicht? Gute Begriffsgeschichten geben hierauf Antwort. Sie sind – in der Literaturwissenschaft wie in anderen Disziplinen auch – erklärungsdichte Geschichten. Daß es zur Erarbeitung sachangemessener Erklärungsdichte geraten ist, begriffsgeschichtlich verfahrende Untersuchungen zur Geschichte der Literaturtheorie problemgeschichtlich zu hinterfangen, die Immanenz reiner Theoriehistorie aufzubrechen und die rekonstruierten Begriffsentwicklungen oder genauer: Begriffsnetzentwicklungen in bewußtseins- und mentalitätsgeschichtliche, kultur-, sozial- und politikgeschichtliche Kontexte einzubetten, sei hier nur angemerkt; ebenso, daß die auf kontextsensible Weise erklärungsdichte Rekonstruktion literaturtheoretischer Begriffsentwicklungen von der zur historischen Pragmatik erweiterten Begriffshistorie à la Koselleck lernen, also begriffsfunktionstheoretische Kategorien nutzen und entwickeln sollte. Auf unser Beispiel, den Humor als literaturtheoretisches Konzept, bezogen heißt das, die Geschichte eines Begriffs zu verfolgen, der um 1800 zu einem geschichtsphilosophisch aufgeladenen Orientierungsbegriff in aestheticis aufstieg, im Laufe des 19. Jahrhunderts aber zusehends zu einem ins Gehege bürgerlicher Zufriedenheitsideologie eingesperrten Kompensationsbegriff deformiert wurde, demzufolge es eben Humor ist, wenn man trotzdem lacht. Wie es dazu kam, kann man übrigens – eine zweite Verbeugung vor alten Münsteraner Tagen sei mir an dieser Stelle erlaubt – noch immer am besten bei Wolfgang Preisendanz nachlesen.28 Aber ich breche hier ab, um mit Bemerkungen zur vierten und letzten der von mir unterschiedenen Funktionen literaturwissenschaftlich genutzter Begriffshistorie zu schließen. Als Beschreibung und Erklärung literaturtheoretischen Begriffswandels, so sagte ich, kann die Begriffsgeschichte zugleich die anderweitigen Geschichtschreibungsaufgaben der Literaturwissenschaft unterstützen, indem sie ihr als historisches Reflexionsmedium der historiographisch leitenden Begriffsbildungen dient. Von welchen Geschichtsschreibungsaufgaben und welchen Begriffsbildungen ist die Rede? Nun, etwa von den einigermaßen komplexen Aufgaben der literaturwissenschaftlichen Gattungsgeschichtsschreibung, die bekanntlich dort besonders komplex werden, wo sie sich mit den Aufgaben der Historie einer gattungsübergreifenden Schreib- und Empfindungsweise, eines literarischen Vgl. Wolfgang Preisendanz: Humor als dichterische Einbildungskraft. (München ²1976); ders.: ›Humor‹. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 3: G-H, hg. von Joachim Ritter (Basel 1974) Sp. 1232 ff. 28
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Gestus verbinden. Man denke an die Geschichte der Idylle oder, um auf ein schon bemühtes Beispiel zurückzukommen, an die Geschichte der Satire. »Der Begriff der Satire« – so beschreibt Jürgen Brummack die historiographische Problemlage – ist von irritierender Vieldeutigkeit. Er bezeichnet eine historische Gattung, aber auch ein Ethos, einen Ton, eine Schreibabsicht, sowie die in vielerlei Hinsicht höchst verschiedenen Werke, die davon geprägt sind. Mehr noch als andere Gattungsbegriffe ist er im Laufe seiner Geschichte so komplex geworden, daß er sich nicht mehr definieren läßt – es sei denn normativ oder nichtssagend allgemein. Definitionsversuche haben zwar ihr Recht, eine Definition kann aber weder Grundlage noch Ziel einer Satireforschung sein. […] Akzeptiert man eine Definition und verwirft alle diejenigen, die damit nicht zu vereinbaren sind, so wird man der Geschichte nicht gerecht; erklärt man aber für den Gegenstand der Satireforschung alles, was je Satire genannt worden ist, so wird die Einheit des Gegenstandes mindestens problematisch. Diesem Dilemma kann man nicht entgehen; man kann es aber erklären, indem man der Begriffsgeschichte nachgeht und die üblichen Begriffsbildungen untersucht – das wäre die erste Aufgabe einer Satirephilologie.29 Brummacks methodologisches Postulat, dem er als Historiker der Satire auf eindrucksvolle Weise gerecht geworden ist, stehe modellhaft für das Gemeinte: Die Gegenstandsbegriffe, an denen sich Literaturwissenschaftlerinnen und Literaturwissenschaftler orientieren, wenn sie in historiographischer Absicht Textkorpora bilden, Zugehöriges ein- und nicht Zugehöriges ausschließen, – diese Gegenstandsbegriffe sollten begriffsgeschichtlich reflektiert gebildet werden. Wie Wittgenstein sagt: »Begriffe leiten uns zu Untersuchungen. Sind der Ausdruck unseres Interesses, und lenken unser Interesse«.30 Damit unser historisches, zum Beispiel gattungshistorisches Interesse ein umsichtiges, von assimilatorischer Gewalt und anachronistischen Irrläufen freies Interesse sein kann, ein Untersuchungsinteresse, das die Perspektiven der ehedem Schreibenden und Lesenden berücksichtigt, ohne ihnen sklavisch zu folgen, bedarf es der begriffshistorischen Reflexion unserer untersuchungsleitenden Begriffe. Ob wir freilich gute Gattungsgeschichten und gute Geschichten gattungsübergreifender Schreibweisen zuwege bringen, hängt an noch anderem als nur an begriffshistorischer Reflexion. Vor allem natürlich an unserer Fähigkeit, literarische Texte und Textreihen hermeneutisch genau und literarästhetisch sensibel zu interpretieren. Das alles heißt: Die Begriffshistorie ist gewiß nicht nur ein Hilfsmittel, nicht nur subsidiäre Methodik, sondern eines der wichtigen Geschäfte der Literaturwissenschaft. Wohlgemerkt: eines ihrer wichtigen Geschäfte, nicht das einzige und nicht ihr Hauptgeschäft. Die Begriffsgeschichte taugt nicht als Integrations29 30
J. Brummack: Zu Begriff und Theorie der Satire [Anm. 21] 275. Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen (Frankfurt a. M. 1971) 239.
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disziplin, sie taugt schon gar nicht zur Ausrufung eines neuen sogenannten Paradigmas, einer neuen Leitorientierung. Literarische Texte, sprachliche Kunstwerke vorzüglich, sind und bleiben die eigentlichen Erkenntnisgegenstände der Literaturwissenschaft. Und ein conceptual turn bleibe unserer von allerlei großsprecherischen turn-Proklamationen heimgesuchten Disziplin erspart.
Ulrike Zeuch
Mimesis oder die Tauglichkeit literaturtheoretischer Begriffe zur Beschreibung ideengeschichtlicher Prozesse
I. Kontinuität Kein Begriff scheint besser geeignet, Prozesse der europäischen Ideengeschichte zu beschreiben als die Mimesis. Mimesis ist ein Leitbegriff der Literaturtheorie und seit Aristoteles bis heute als literaturtheoretischer Begriff zentral. Insofern weist der Begriff der Mimesis eine erste, für die Beschreibung von ideengeschichtlichen Prozessen günstige Voraussetzung auf: die Kontinuität, und könnte geradezu als Musterbeispiel für lohnende Ideengeschichte gelten. Ideengeschichte meint hier, im Unterschied zur Begriffsgeschichte, die Rekonstruktion der Geschichte komplexer Sachverhalte und ihrer Problemzusammenhänge, nicht reine Begriffsanalyse, wobei die Begriffsgeschichte Koselleckschen Typs durchaus die Analyse komplexer Konstellationen von Begriffen und begrifflich gefaßter Sachverhalte intendiert und praktiziert. Mit Kontinuität ist weder die Konstanz substantieller Elementarideen oder Entitäten gemeint, die dem geschichtlichen Wandel immanent, aber abgelöst vom jeweiligen kulturellen Kontext sind,1 noch die Gleichheit des Sachverhalts gegenüber den Variationen oder Spielarten des Allgemeinen im Besonderen, Einzelnen.2 Gemeint ist an dieser Stelle zunächst die Kontinuität des Begriffs, So Arthur Oncken: Lovejoy, The revolt against dualism. An inquiry concerning the existence of ideas (New York 1930); vgl. Melvin Richter: Begriffsgeschichte and the History of Ideas. In: Journal of the History of Ideas 48 (1987) 247–263; Richter meint, die Ideengeschichte stelle zu leicht Identitäten und Kontinuitäten her. 2 So die Prämisse der philosophia perennis vgl. Wilhelm Schmidt-Biggemann: Philosophia perennis. Historical outlines of Western spirituality in ancient, medieval and early modern thought (Dordrecht 2004) XIII–XV, 27 ff.; vgl. ferner Joachim Ritter: Vorwort. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie [im folgenden: HWPh], völlig neubearbeitete Ausgabe des Wörterbuchs der philosophischen Begriffe, hg. von Joachim Ritter und Karlfried Gründer (Basel 1971–2007). Bd. 1. Hans Erich Bödeker: Reflexionen über Begriffsgeschichte als Methode. In: Begriffsgeschichte, Diskursgeschichte, Metapherngeschichte, hg. von ders. (Göttingen 2002) 73–121, hier 98, formuliert das Problem, Begriffsgeschichte von Ideengeschichte abzugrenzen, das seiner Meinung nach in Folgendem begründet liegt: »Solange das Verhältnis von Begriff, Bedeutung und Gebrauch ungeklärt bleibt, ist der Anspruch der historischen Begriffsgeschichte als eine Geschichte sprachlich konstituierten gesellschaftlichen Wissens und historischer Erfahrung beständig in Gefahr, bloße Ideengeschichte zu bleiben.« Zum begriffsgeschichtlichen Ansatz des HWPh vgl. Margarita Kranz: ›Wider den Methodenzwang‹? Begriffsgeschichte im Historischen Wörterbuch der Philosohie – mit einem Seitenblick auf die Ästhetischen Grundbegriffe. In: Begriffsgeschichte im Umbruch?, hg. von Ernst Müller (Hamburg 2005) 33–42. Gunter 1
Archiv für Begriffsgeschichte · Sonderheft 8 · © Felix Meiner Verlag 2010 · ISBN 978-3-7873-1971-8
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bei deren kritischer Analyse sich durchaus herausstellen kann, daß »infolge der Fortschreibung der Geschichte des Begriffs […] auch die referentielle Bedeutung des Begriffs« umgeschrieben wird. Methodisch trägt dieser Einsicht in die Dynamik des Begriffs der von Andreas Bartels favorisierte »chains-of-meaningAnsatz« Rechnung,3 wobei die Auflösung des Scheins von Begriffskonstanz seit dem Historischen Wörterbuch der Philosophie und dem Lexikon Geschichtliche Grundbegriffe eine wesentliche Funktion der Begriffsgeschichte ist.4 Reinhart Koselleck hat, in Anlehnung an seinen Schüler Heiner Schultz, in bezug auf die Begriffsgeschichte herausgestellt, daß es lediglich vier Möglichkeiten gebe, das Verhältnis von Begriff und Sachverhalt zu beschreiben, (1) Konstanz beider, synchron wie diachron, (2) Konstanz des Begriffs, Wandel des Sachverhalts, (3) Wandel des Begriffs, Konstanz des Sachverhalts, (4) Wandel beider.5 Vorstellbar ist aber auch, daß der Begriff konstant ist, der Sachverhalt ebenfalls, aber die Bewertung sich wandelt. So kann man die Differenz zwischen Platons und Aristoteles’ Mimesis-Begriff verstehen als Konstanz im Begriff wie im Sachgehalt, aber als Wandel in der Bewertung. Denn darin besteht – anders als die Rezeption des Aristoteles in der unmittelbaren Nachfolgezeit, dem Hellenismus, nahelegt – 6 der Unterschied zur Aristotelischen Poetik, dem Dichter wie dem Rezipienten mehr zuzutrauen an Differenzierungsfähigkeit zwischen Schein und Sein als Platon, um aus der Sphäre bloßer Meinung, dem Augenschein, der Empirie aufzusteigen zu wahrer Erkenntnis.7 Ähnliches gilt für die Mimesis als Nachahmung eines Vorgegebenen, was von Martin Opitz und Johann Christoph Gottsched als »äffisch« bewertet wird, aber vom Sachgehalt her
Scholtz, Begriffsgeschichte als historische Philosophie und philosophische Historie. In: Die Interdisziplinarität der Begriffsgeschichte, hg. von ders. (Hamburg 2000) 183–200, stellt vor allem die Gemeinsamkeiten zwischen Ritters HWPh und Kosellecks Lexikon geschichtlicher Grundbegriffe sowie die Komplementarität beider Ansätze heraus, und zwar m.E. überzeugend. 3 Andreas Bartels: Die Konstruktion semantischer Kontinuität in der wissenschaftlichen Begriffsbildung. In: Begriffsgeschichte der Naturwissenschaften. Zur historischen und kulturellen Dimension naturwissenschaftlicher Konzepte, hg. von Ernst Müller und Falko Schmieder (Berlin/New York 2008) 223–239, hier 239. 4 Dazu ausführlich Carsten Dutt: Funktionen der Begriffsgeschichte. In: Begriffsgeschichte der Naturwissenschaften, a. a. O. [Anm. 3] 241–252, hier 243 ff. 5 Heiner Schultz: Begriffsgeschichte und Argumentationsgeschichte. In: Historische Semantik und Begriffsgeschichte, hg. von Reinhart Koselleck (Stuttgart 1979) 43–74; Reinhart Koselleck: Begriffsgeschichten. Studien zur Semantik und Pragmatik der politischen und sozialen Sprache (Frankfurt a.M. 2006) 62 f. 6 Philosophie im Umbruch. Der Bruch mit dem Aristotelismus im Hellenismus und im späten Mittelalter – seine Bedeutung für die Entstehung eines epochalen Gegensatzbewußtseins von Antike und Moderne, hg. von Gyburg Radtke-Uhlmann und Arbogast Schmitt (Stuttgart 2009). 7 Stefan Büttner: Literatur und Mimesis bei Platon. In: Mimesis – Repräsentation – Imagination. Literaturtheoretische Positionen von Aristoteles bis zum Ende des 18. Jahrhunderts, hg. von Jörg Schönert und Ulrike Zeuch (Berlin/New York 2004) 30–63.
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seit Iulius Caesar Scaliger nicht verändert ist, die Mimesis der Wirklichkeit als Gegenstand der Literatur.8 Dieter Teichert hat auf die Frage, ob naturwissenschaftliche Begriffe eine Geschichte hätten, im Zusammenhang mit der sogenannten Kopernikanischen Wende konstatiert, daß »nicht die Begriffe ›Erde‹ und ›Sonne‹« von einem radikalen Begriffswandel betroffen seien, sondern »das Modell der Positionen beider Körper«9 – und damit, so meine Ergänzung, ein grundlegender Wandel der Bewertung. Zu fragen ist (1), ob im Falle der Mimesis jenseits der begrifflichen Kontinuität eine sachliche Kontinuität nachweisbar ist,10 oder ob die Kontinuität des Begriffs als Konstanz zu begreifen ist, mit welcher der Mensch seine Bezüglichkeit in Wahrnehmung und Selbstkonstituierung immer wieder neu befragt und dieses Beziehungsgeflecht unterschiedlich beschreibt, deutet und postuliert: pädagogisch, gefühlsanalytisch, normativ etc. Jedenfalls wird Kontinuität im Unterschied zum Bruch in der posthistoire – in Deutschland prominent geworden u. a. durch Arnold Gehlen – 11 in den Reflexionen auf die Bedingung der Möglichkeit von Ideengeschichte immer wieder genannt. Zu fragen ist (2), ob die Mimesis über eine Begriffsgeschichte hinaus dazu geeignet ist, ideengeschichtliche Prozesse zu beschreiben.
II. Geschichte einer Idee Was Mimesis meint, wird seit Aristoteles mit direktem Bezug auf ihn selbst und die Poetik, in kritischer Distanznahme zu ihr, in impliziter wie expliziter Transformation des Gemeinten usw., aber auch losgelöst von Aristoteles und seiner Poetik heterogen, vielfältig, in jedem Fall nicht eindeutig gedeutet.12 Aristoteles Ulrike Zeuch: Dichtungstheorie der Frühaufklärung. In: Aufklärung 17 (2005) 117–140; dies.: Das Allgemeine als Gegenstand der Literatur. Scaligers Begriff des Allgemeinen und seine stoischen Prämissen. In: Poetica 34, Heft 1–2 (2002) 99–124. 9 Dieter Teichert: Haben naturwissenschaftliche Begriffe eine Geschichte? In: Begriffsgeschichte der Naturwissenschaften, a. a. O. [Anm. 3] 97–116, hier 109. 10 Reinhart Koselleck argumentiert zu Recht: »Durchgehaltene Worte sind für sich genommen kein hinreichendes Indiz für gleichbleibende Sachverhalte« (Einleitung. In: Geschichtliche Grundbegriffe, hg. von Otto Brunner, Werner Conze, Reinhart Koselleck. Bd. 1 (Stuttgart 1972) XIII–XXVII, hier XXI. 11 Arnold Gehlen: Über kulturelle Kristallisation. In: Wege aus der Moderne. Schlüsseltexte der Postmoderne-Diskussion, hg. von Wolfgang Welsch (Weinheim 1988) 133–143, hier 141: »Ich exponiere mich […] mit der Voraussage, daß die Ideengeschichte abgeschlossen ist und daß wir im Posthistoire angekommen sind […]« (141). »[…] es ist kein Bewußtseinsort denkbar, von dem aus man alles in den Blick bekäme, d. h. keine Philosophie im alten Sinne« (142). 12 Zu Aristoteles vgl. Aristoteles: Poetik, übers. und erl. von Arbogast Schmitt (Darmstadt 2008); Viviana Cessi: Erkennen und Handeln in der Theorie des Tragischen bei Aristoteles, Frankfurt a.M. 1987; Arbogast Schmitt: Was macht Dichtung zur Dichtung? Zur Interpretation des neunten Kapitels der Aristotelischen Poetik (1451a36–b11). In: Mimesis – Repräsentation – 8
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bestimmt in der Poetik, daß der Dichter in der Tragödie menschliche Handlungen nachahme und diese Nachahmung im Unterschied zur Geschichtsschreibung etwas Allgemeines und damit Philosophischeres mitteile. Die Poetik geht von der anthropologischen Grundannahme aus, daß alle Menschen Lust an Nachahmung haben. Speziell für menschliche Handlungen als Gegenstand der Literatur heißt das: Nachgeahmt werden menschliche Handlungen. Der Handlungsbegriff ist komplex: Zu ihm zählen sowohl Gefühle wie Gedanken als auch Worte und Taten, für die der Mensch verantwortlich ist. Aristoteles geht davon aus, daß die Tragödie zu seiner Zeit als Gattung die in ihr liegenden Möglichkeiten bereits voll entwickelt habe; damit habe sie das Ziel, um das es Aristoteles geht, am besten verwirklicht. Im Sinne angewandter Ethik mache die Tragödie mit Hilfe der Darstellung bestimmter Handlungen einsichtig, welche Charaktertendenzen zu welchem ethisch relevanten Verhalten und damit auch Fehlverhalten führen. In der Forschung zur direkten Rezeption der Poetik des Aristoteles seit der Frühen Neuzeit in der Kommentarliteratur, aber auch der impliziten Rezeption im 17. Jahrhundert wird das Ausmaß der Umdeutungen und die Vielfalt sachlicher Bezugnahme deutlich, die zunächst so gar nicht intendiert ist: explizit als Transformation. Vielmehr hat jemand wie Francesco Robortello den Anspruch, den Autor besser verstehen zu wollen und zu können als dieser selbst, wie Robortello das in seinem Kommentar von 1548 In librum Aristotelis de arte poetica explicationes formuliert.13 Nicht erst in der Renaissance des 16. Jahrhunderts, aber in jedem Fall seit dieser Zeit bestehen disparate Bestimmungen dessen, was Literatur darstellen soll: entweder alles Vorstellbare oder aber eine menschliche Handlung, entweder etwas in der Vorstellung Gegebenes oder aber etwas dem Wahrscheinlichen bzw. dem Notwendigen nach Mögliches. Das Wahrscheinliche wird verstanden als konsensuell Beglaubigtes, das Notwendige wird ausgelegt als Norm und, insofern es sich um menschliche Handlung handelt, als moralische Norm. Das Wahrheitsproblem, das mit der Entfaltung von Möglichkeitswelten verbunden ist, wird nicht gelöst, sondern an die Nachfolgezeit weitergereicht. Die innerhalb der Literaturtheorie stattfindende Erörterung des der Wahrscheinlichkeit nach Möglichen ist dabei in einem weiteren, philosophischen Kontext zu sehen, der an dieser Stelle nur angedeutet werden kann: Zum einen spielt das Wahrscheinliche in der in der Frühen Neuzeit breit rezipierten Skepsis – in diesem Falle der gemäßigten, akademischen Skepsis – und ihrer Frage nach Wahrheitskriterien eine zentrale Rolle; zum anderen ist das posse fieri in der
Imagination, a. a. O. [Anm. 7] 65–95; zur Rezeption der Aristotelischen Poetik vgl. Brigitte Kappl: Die Poetik des Aristoteles in der Dichtungstheorie des Cinquecento (Berlin u. a. 2006). 13 Ulrike Zeuch: Aporien in der Literaturtheorie der Frühen Neuzeit. In: Mimesis – Repräsentation – Imagination. Literaturtheoretische Positionen von Aristoteles bis zum Ende des 18. Jahrhunderts, hg. von Jörg Schönert und Ulrike Zeuch (Berlin/New York 2004) 181–214.
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Frühen Neuzeit Anlaß zu einer lebhaften Diskussion um die Imaginationspotentiale der menschlichen Seele.14 Aufgrund der vielfältigen Bezugnahmen auf den primär aristotelischen Begriff der Mimesis weist der Begriff der Mimesis für die Beschreibung ideengeschichtlicher Prozesse eine zweite günstige Voraussetzung auf: die über mehr als 2000 Jahre hin bestehende kritische Auseinandersetzung mit der Mimesis, die sich durchaus als Prozeß fassen läßt. Seit Aristoteles ist die Mimesis nicht nur in der Literaturtheorie ein zentraler Begriff; vielmehr gilt die Nachahmung allgemein als zentral für die Entwicklung des Menschen in seinen kognitiven, psychischen, physischen und sozialen Prozessen und in diesem Sinne als anthropologische Konstante, bei aller gegenteiligen Behauptung von autarker, freiheitlicher Selbstbestimmung, vorbildloser und vorurteilsloser Urteilsfähigkeit und Unabhängigkeit in der Darstellung, Wiedergabe, Repräsentation von Vorgaben der sogenannten Wirklichkeit oder dessen, was ist. Der Mensch als soziales Wesen lernt durch Mimesis.15 Insofern scheint die Mimesis weit über den literaturtheoretischen Kontext hinaus als Kategorie zur Beschreibung ideengeschichtlicher Prozesse prädisponiert. In der zeitgenössischen Biologie (Evolutionstheorie), Psychologie (Adaptationsprozesse) und Soziologie (Behaviourismus) finden sich Reflexe auf diese anthropologische Konstante. Doch so einfach, wie die Sachlage zunächst scheint, ist es nicht. Denn erstens ist nicht klar, was ›Prozeß‹ meint: einen einheitlichen, zivilisationsgeschichtlichen Verlauf, der alle bestimmenden Momente der Mimesis betrifft, oder einen Verlauf, der sich durch Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen auszeichnet? Einen in der Transformation linearen oder einen diskontinuierlichen Prozeß? Einen Prozeß, der auf ein Telos zuschreitet, oder einen Prozeß ohne Ziel der Transformation? Oder gar einen iterierenden Prozeß? Zweitens entspricht der begrifflichen Kontinuität keine sachliche. Das scheint auf den ersten Blick selbstverständlich, da jeder Moment anders ist. Aber es gibt auch gedankliche Konstellationen, die für alle Menschen universal sind, wie die, das eigene Leben als dem eigenen Tod vorgängig zu begreifen – spätestens dann, wenn die Eltern sterben. Allerdings hält Michel Foucault16 in der Nachfolge Vgl. Scepticism from the Renaissance to the Enlightenment, ed. by Richard H. Popkin and Charles B. Schmitt (Wiesbaden 1987); Richard H. Popkin: The History of Scepticism. From Savonarola to Bayle, rev. ed. (New York u. a. 2003); Verena Lobsien Olejniczak: Skeptische Phantasie. Eine andere Geschichte der frühneuzeitlichen Literatur. Nikolaus von Kues, Montaigne, Shakespeare, Cervantes, Burton, Herbert, Milton, Marvell, Margaret Cavendish, Aphra Behn, Anne Conway (München 1999). 15 Vgl. Christoph Wulf: Une anthropologie historique et culturelle: rituels, mimésis sociale et performativité, traduction de Jean-Claude Bourguignon, Christine Delory-Momberger, Nathalie Heyblom (Paris 2007); Thema: Mimesis, Alterität und Erinnerung, hg. von Susanna Burghartz und Gesine Krüger (Köln u. a. 2008). 16 Trotz seines historischen Aprioris in den Dits et Ecrits stellt Foucault sich in den Kontext der Ideengeschichte; in dem Gespräch mit Raymond Bellour Über verschiedene Arten, 14
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Nietzsches17 als einer der Vertreter der posthistoire dafür, daß man Ideengeschichte auch angesichts der Brüche zwischen Überlieferungen, der Abbrüche von tradierten Deutungsmustern und der Diskontinuitäten in der Bedeutungszuschreibung betreiben könne, womit er zweifelsohne Recht hat.
III. Rekonstruktion des ideengeschichtlichen Prozesses […] Der kleinste gemeinsame Nenner zwischen der Mimesis eines Aristoteles als literaturtheoretischem Begriff und der Mimesis beispielsweise eines Bertolt Brecht, wie er sie – kongenial zum historischen Bewußtsein – versteht, kann angesichts des Mangels an sachlichen Schnittmengen nichts Bestimmtes meinen – ein Schluß, den Brecht in seinem Vergleich zwischen dramatischem Theater und epischem Theater oder eher Schema mit einigen »Gewichtsverschiebungen vom dramatischen zum epischen Theater« zumindest selbst nahelegt; Brechts Schema findet sich in der 1938 überarbeiteten Fassung der Anmerkungen zur Oper Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny, überschrieben mit: Zur dramatischen und epischen Form des Theaters.18 Dort unterscheidet er die Aristotelische Form des Theaters von der Epischen Form des Theaters und hebt in bezug auf die Mimesis des Aristoteles als Charakteristika hervor, daß sie darauf abziele, Handlungen nachzuahmen, die den Zuschauer emotional beteiligten, suggestiv in die Handlung verwickelten, die Distanz zwischen dargestellter Handlung und betrachtendem Zuschauer aufhöben zugunsten eines subjektlosen, passiven, rezeptiven Erlebens der Handlung, der Zuschauer allein in bezug auf sein Gefühl gefordert, ja diesem ausgeliefert sei. Gegenstand der Mimesis sei der Mensch als Fixum, nicht als etwas Veränderliches, das es noch zu erforschen gelten würde; die Handlung selbst sei linear und zwangsläufig.19 Daß Brechts Begriff der aristotelischen Mimesis menschlicher Handlung, wie dieser sie in der Poetik faßt, kaum etwas mit Aristoteles selbst zu tun hat, dafür um so mehr mit einem Produkt der Rezeptionsgeschichte der Aristotelischen Poetik, der Rezeption vor allem seit dem 18. Jahrhundert, besonders Lessing, ist bekannt.20 Brecht nennt als Ziel seiner Mimesis nicht die Handlung, son-
Geschichte zu schreiben benutzt Foucault neben den Begriffen der Diskontinuität und Transformation zur Beschreibung ideengeschichtlicher Prozesse als Metapher den Bruch (Michel Foucault: Schriften in vier Bänden. Dits et écrits. 1954–1988, hg. von Daniel Defert u. a., aus dem Französischen von Michael Bischoff u. a. (Frankfurt 2001) Bd. 1, 754). 17 Gianni Vattimo: Nihilismus und Postmoderne in der Philosophie. In: Wege aus der Moderne, a. a. O. [Anm. 11] 233–246. 18 Bertolt Brecht: Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, hg. von Werner Hecht u. a. Bd. 24, Schriften 4 (Berlin/Weimar/Frankfurt a.M. 1991) 85. 19 Ebd. 20 Thomas Martinec: Lessing und Aristoteles? Versuch einer Grenzbestimmung in Lessings
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dern die Erzählung, und zwar eine Erzählung, ohne den Zuschauer emotional zu vereinnahmen. Dieser soll vielmehr kritisch distanziert beobachten, außen vor bleiben, zu eigenen Entscheidungen aktiviert. Gefordert werde durch die Erzählung das Urteilsvermögen des Zuschauers, nicht das Gefühl. Dargestellt werde der Mensch als Prozeß.21 Weder will ich die Frage noch einmal stellen, ob Brecht mit seiner Unterscheidung von Aristoteles Recht hat, noch geht es mir darum, Aristoteles gegen Brecht in sein Recht zu setzen. Ich will an dieser Stelle auf etwas anderes hinaus: Trotz Brechts Absicht, sein episches Theater gerade gegen Aristoteles zu profilieren, seiner schematischen Gegenüberstellung, ja Frontstellung zum Trotz haben einige der von Brecht in bezug auf sein episches Theater genannten Charakteristika durchaus etwas mit Aristoteles’ Mimesis menschlicher Handlung zu tun. Die Poetik des Aristoteles ist eine normative Poetik auf empirischer und anthropologischer Grundlage. Empirisch ist Brechts Poetik, formuliert im Kleinen Organon für das Theater, insofern, als er von historischen oder von bereits literarisierten Gestalten ausgeht. Empirisch ist die Poetik von Aristoteles insofern, als er sich dabei auf vor ihm bereits verfaßte Literatur wie beispielsweise die Epen Homers und die Tragödien des Sophokles stützt, in deren Kenntnis und Auseinandersetzung er seine Poetik entwickelt. Der empirisch erfahrbare, einzelne Mensch ist für Aristoteles kein Fixum, sehr wohl aber die psychische Disposition oder das Denken als solches; die menschliche Seele an sich unterliegt Aristoteles zufolge nicht dem Wandel des jeweils anderen Seins. Brecht hingegen geht von einer Progression aus: »Wie er [der Mensch] ist, muß er nicht bleiben; nicht nur, wie er ist, darf er betrachtet werden, sondern auch, wie er sein könnte«22. Bemerkenswert ist, daß Brecht damit eine ebenfalls der Poetik des Aristoteles, dem 9. Kapitel, entnommene Gegenstandsbestimmung der Literatur aufgreift, allerdings losgelöst aus dem Kontext, was seit Robortello üblich ist: Literatur als Mimesis eines der Möglichkeit nach Wahrscheinlichen oder Notwendigen – eine Bestimmung, die nicht minder komplex und vielfältig transformiert in der Ideengeschichte der europäischen Literaturtheorie fortgewirkt hat wie die Mimesis.23
Interpretation des aristotelischen Tragödiensatzes. In: Lessings Grenzen, hg. von Ulrike Zeuch (Wiesbaden 2005) 81–100. 21 B. Brecht: Werke. Bd. 24, Schriften 4, Zur dramatischen und epischen Form des Theaters, a. a. O. [Anm. 18] 85. 22 Ders.: Werke. Bd. 23, Schriften 3 (Berlin/Weimar/Frankfurt a.M. 1993), a. a. O. [Anm. 18] 65–97, hier 82. 23 Ulrike Zeuch: Literatur als Mimesis eines der Möglichkeit nach Wahrscheinlichen oder Notwendigen. Zur Rezeption des 9. Kapitels der Poetik des Aristoteles im Barock. In: Welche Antike? – Konkurrierende Rezeptionen des Altertums im Barock, hg. von Ulrich Heinen (Wiesbaden 2010).
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Aristoteles wie Brecht geht es nicht um Nachahmung einer authentisch nachweisbaren Person, sondern um Konstruktion von Handlung im Spiel: im Drama. Literatur hat keinen beliebigen, sondern einen spezifischen Gegenstand, bei Aristoteles menschliche Handlung, bei Brecht den Menschen als Prozeß oder, wie er im Kleinen Organon formuliert: »lebende Abbildungen von überlieferten oder erdachten Geschehnissen zwischen Menschen«24, nicht »Abklatsch« als bloße Nachahmung.25 Weder die Poetik von Aristoteles noch die von Brecht ist normativ in dem Sinne, daß sie die Darstellung ethisch besonders vorbildlicher Handlungen forderte, im Gegenteil: Der fehlbare Mensch, der mittlere Mensch, der Mensch mit Widersprüchen, der Mensch in ethischen Grenzsituationen ist das Thema, ob Galilei in Brechts Schauspiel Das Leben des Galileo Galilei oder die Courage in dem Bühnenstück Mutter Courage und ihre Kinder oder die Magd Grusche im Kaukasischen Kreidekreis. Eine weitere Gemeinsamkeit ist die Aktivierung des selbständigen Urteilsvermögens beim Zuschauer. An erster Stelle steht für Aristoteles das Ziel, den Leser bzw. Zuschauer Einsicht gewinnen zu lassen in ethisch relevantes Verhalten einzelner Menschen, ohne daß dieser selbst die, wie in der Tragödie zumindest zum größten Teil, leidvolle Erfahrung machen muß. Dies geschieht auf vermittelte Weise, durch die eine bestimmte Handlung darstellende und zugleich angenehme, d. h. ästhetisch ansprechende Mimesis. Unterhalten, Vergnügen bereiten will Brecht auch, wie er im Kleinen Organon gleich zu Beginn ausführt. Es ist ein großer Vorzug, so Aristoteles, der Literatur, auf diese Weise teilhaben zu können an Fremderfahrungen und damit die eigene, naturgemäß eingeschränkte Perspektive zu öffnen. Diesem bestimmten Ziel genügt von den Künsten, die Aristoteles zu Beginn der Poetik nennt und denen allen die Nachahmung menschlicher Handlungen gemeinsam ist, am ehesten die Literatur. Brecht will, daß der Zuschauer in Distanz zum Dargestellten urteilt. Dabei unterstellt Brecht implizit, Aristoteles wolle eine Handlung darstellen, die den Zuschauer gefühlsmäßig derart absorbiere, daß sein Urteilsvermögen suspendiert sei und er in Trance falle.26 Das trifft jedoch nicht zu: Aristoteles zufolge reagiert der Zuschauer zwar mit Emotionen, mit Furcht und Mitleid, aber diese Gefühle sind Folgen eines Urteils, das aus einer Erkenntnis resultiert: Der Zuschauer erkennt, daß er als ein ähnlich beschaffener, weder ganz guter noch ganz schlechter Charakter eben solchen Gefährdungen erliegen kann. Der Zuschauer fühlt mit, da die im Charakter des Dargestellten begründeten Fehlentscheidungen und Fehlhandlungen Folgen für den Handelnden haben, die unverhältnismäßig schwerwiegend und leidvoll sind. Der Zuschauer leitet aus dem dargestellten Menschen keine abstrakten, universell anwendbaren Verhaltens24 25 26
B. Brecht: Werke. Bd. 23, Schriften 3, a. a. O. [Anm. 18] 66. Ebd. 86. Ebd. 83.
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regeln ab, sondern versteht die Genese einzelner Handlung. Brecht hingegen will eine generelle Veränderung des Denkens und eine allgemeine Aktivierung der Handlungsfähigkeit: »alles so zu begreifen, daß wir eingreifen können«27.
IV. […] als Konstruktion unter falschen Prämissen Ich halte an dieser Stelle inne; denn es geht mir nicht um einen erschöpfenden Vergleich von Aristoteles mit Brecht, sondern vielmehr um die Frage: Welche ersten Schlüsse lassen sich aus diesem Vergleich für die Beantwortung der eingangs gestellten Frage, ob die Mimesis als literaturtheoretischer Begriff zur Beschreibung ideengeschichtlicher Prozesse taugt, ableiten? Indem Brecht sich gegen die Darstellung des Menschen als Fixum zugunsten der Mimesis des Menschen als Prozeß wendet, setzt er eine bestimmte Auffassung der Mimesis voraus, gegen die er sich absetzt: Er nennt sie auch »Verschmierung der Widersprüche«, »Individualitäten ›aus einem Guß‹«, »Vortäuschung von Harmonie«, »Idealisierung«.28 Gesetzt, seine Prämisse träfe zu, ließe sich sagen, daß es sich bei Aristoteles und Brecht um einen Prozeß der Transformation in der Mimesis-Konzeption handelt, der als Hinwendung zur Nachahmung der Wirklichkeit zu begreifen sei, um »lebende Abbildungen von überlieferten oder erdachten Geschehnissen zwischen Menschen« herzustellen,29 wobei Brecht weiß, daß »das Vergnügen an den Abbildungen […] kaum jemals von dem Grad der Ähnlichkeit des Abbilds mit dem Abgebildeten abhing«.30 Nur hat die Idealisierung nichts mit Aristoteles’ Mimesis-Begriff zu tun: Aristoteles hält es für irrelevant, ob die handelnden Personen wirklich gelebt haben oder fiktiv sind. Wahr sei Literatur weder, weil sie getreu das gegebene Wirkliche, noch, weil sie ein dem in der Wirklichkeit Gegebenen möglichst nahekommendes Wahrscheinliches abbilde. Wahr sei Literatur durch die Mimesis eines Allgemeinen, das als Allgemeines weder in der Wirklichkeit anzutreffen sei noch auf reiner Imagination beruhe. Wenn Aristoteles vom Allgemeinen als Gegenstand der Literatur spricht, meint er kein Ideal – wie dies in der stoischhorazischen Überformung der Poetik seit Scaliger geschehen. Insofern erweist sich die Annahme, der ideengeschichtliche Prozeß der Mimesis lasse sich begrifflich als Hinwendung zur Nachahmung der Wirklichkeit fassen, als Konstruktion, die von falschen Prämissen ausgeht. Unterläge die Mimesis einem Prozeß konsequent fortschreitender Hinwendung zur Wirklichkeit, ließen sich Gemeinsamkeiten zwischen Aristoteles und Brecht kaum erklären. Der Wandel, markiert durch eine Schwelle des Übergangs, erfahren als Zäsur –
27 28 29 30
Ebd. 82. Ebd. 294 (Nachträge zum »Kleinen Organon«). Ebd. 66. Ebd. 69.
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das ist die Prämisse, unter die Koselleck sein Lexikon zu Geschichtliche[n] Grundbegriffe[n] stellt: Zwar gebe es Konstanten, die sich jenseits der »Schwelle« zur Moderne oder Neuzeit durchhielten,31 aber entscheidend sei die Zäsur um 1750,32 die einen »tiefgreifende[n] Bedeutungswandel« markiere.33 Aber selbst die Annahme, daß der Prozeß der Veränderung nicht so radikal sei, wie Brecht behauptet, sondern eher bestimmt durch »Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen« – diese zu klären ist eines der Ziele von Kosellecks Lexikon –,34 nicht durch einen kompletten Paradigmenwechsel, würde an dem Problem, von einer falschen Prämisse auszugehen, nichts ändern. Darüber hinaus besteht ein weiteres Problem: Der Wechsel von der Idealisierung der Wirklichkeit zur Mimesis der Wirklichkeit ist in der Ideengeschichte nicht eindeutig markierbar. Zum einen wird die Hinwendung zur Wirklichkeit nicht erst von Brecht behauptet, sondern lange vor ihm, spätestens seit 1800. Zum anderen wird auch das genaue Gegenteil konstatiert, daß die Moderne durch eine Abkehr von der Nachahmung der Wirklichkeit zugunsten von Abstraktion, Gegenstandslosigkeit, Fiktivität, Konstruktivität etc. gekennzeichnet sei.
V. Brüche, Umbrüche, Abbrüche Kaum brauchbar ist die Annahme eines kompletten Paradigmenwechsels für Prozesse, die vor 1800, beispielsweise in der sogenannten Frühen Neuzeit anzusetzen sind, die sich von ihrem Selbstverständnis her über die Wahrung der traditio und die aemulatio definieren, nicht aber über Negation, und die eher dem Konzept der iteratio oder der translatio folgen. So haben Forschungen der letzten Jahrzehnte zur Literatur des Mittelalters ergeben, daß weder die Fiktionalität noch die Individualität erst eine Neuheit der Literatur seit der Frühen Neuzeit ist.35 Zwar bleibt die Beurteilung in der Forschung ambivalent: Von Vor-Formen ist die Rede. Aber immerhin scheint damit das lange vorherrschende, vor allem durch die Klassik und Romantik um 1800 erzeugte Bild des Mittelalters revidiert, die Literatur des Mittelalters habe
R. Koselleck: Einleitung. In Geschichtliche Grundbegriffe, a. a. O. [Anm. 10] XVIII. Ebd. XIV. 33 Ebd. XV. 34 Ebd. XXI. 35 Vgl. vor allem die Forschungen von (a) Walter Haug: Die Wahrheit der Fiktion. Studien zur weltlichen und geistlichen Literatur des Mittelalters und der frühen Neuzeit (Tübingen 2003); (b) Brechungen auf dem Weg zur Individualität. Kleine Schriften zur Literatur des Mittelalters, hg. von Walter Haug und Burghart Wachinger (Tübingen 1995); (c) Innovation und Originalität, hg. von Walter Haug (Tübingen 1993); (d) Literatur, Artes und Philosophie, hg. von Walter Haug und Burghart Wachinger (Tübingen 1992); (e) Walter Haug: Literaturtheorie im deutschen Mittelalter. Von den Anfängen bis zum Ende des 13. Jahrhunderts. Eine Einführung (Darmstadt 1985). 31 32
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sich einer naiven Abbildfunktion von gegebener Wirklichkeit in kollektiven Formen des Selbstverständnisses verschrieben. Die Rezeption des Nibelungenliedes ist in dieser Hinsicht symptomatisch.36 So verdienstvoll diese Rückdatierung als modern geltender Fiktionalität und Individualität auch ist, geht diese Entdeckung doch von einer falschen Prämisse aus und verkennt dabei trotz der seit den 1970ern forcierten Alteritätsforschung in bezug auf das Mittelalter37 das spezifisch Andere der Literatur im Mittelalter gegenüber der der Neuzeit.38 Die Entdeckung geht insofern von einer falschen Prämisse aus, als damit unterstellt ist, es habe einmal eine solche als bindend angesehene Auffassung, Literatur habe Wirklichkeit abzubilden, gegeben, von der sie sich im Übergang zur Neuzeit schrittweise emanzipiert habe. Und die Forschung hat sich aus diesem Grund vor allem auf den Gegensatz zwischen Nachahmung von faktisch Gegebenem und fiktionaler Gestaltung, historischem Dokument und Imaginiertem konzentriert und versucht, die Fiktionalität der Literatur mit dem Wahrheitsanspruch im Sinne einer Korrespondenz mit der Wirklichkeit in Einklang zu bringen.39 Was bei dieser Konzentration aus dem Blick geriet, war der eigentliche Gegenstand der Literatur, der sich, ob frei erfunden oder angereichert mit Realia, in der Theorie über Literatur auf signifikante Weise von der der Frühen Neuzeit unterscheidet. Diese Differenz besteht nicht im Wahrheitsanspruch der Literatur, auch nicht darin, daß frühneuzeitliche Literaturtheorie das Individuum im Blick habe, mittelalterliche hingegen etwas Allgemeines. Der entscheidende Unterschied besteht im Begriff des Allgemeinen und damit zusammenhängend im Begriff dessen, was wirklich (im Sinne von: seiend) zu sein meint. Durch die Umdeutung des Allgemeinbegriffs sind in der Frühen Neuzeit zwei entscheidende Folgerungen gezogen worden: Literatur hat sich von der ›repraesentatio‹ der res zu emanzipieren, will sie nicht bloße Kopie sein – ein Vorwurf, der seit Platon präsent ist,40 jetzt aber unter den geänderten Prämissen eine neue Bedeutung und Aktualität bekommt. Und Literatur hat nicht nur etwas
Otfried Ehrismann: Das Nibelungenlied in Deutschland. Studien zur Rezeption des Nibelungenlieds von der Mitte des 18. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg (München 1975). 37 (a) Hans Robert Jauss: Alterität und Modernität der mittelalterlichen Literatur. Gesammelte Aufsätze 1956–1976 (München 1977); (b) Marina Münkler: Alterität und Interkulturalität. Ältere deutsche Literatur. In: Germanistik als Kulturwissenschaft. Eine Einführung in neue Theoriekonzepte, hg. von Claudia Benthien u. a. (Reinbek bei Hamburg 2002) 323–344. 38 Zur historischen Vermitteltheit von Epochenbegriffen vgl. nur Epochenschwelle und Epochenbewußtsein, hg. von Reinhart Herzog und Reinhart Koselleck (München 1987). 39 Zur Relevanz der im 20. Jahrhundert bedeutsamen Wahrheitstheorien der Korrespondenz beziehungsweise Kohärenz vgl. (a) Wahrheitstheorien. Eine Auswahl aus den Diskussionen über Wahrheit im 20. Jahrhundert, hg. von Gunnar Skirbekk (Frankfurt a.M. 82001); für die Literaturtheorie vgl. etwa (b) Hayden White: Auch Klio dichtet oder die Fiktion des Faktischen. Studien zur Tropologie des historischen Diskurses (Stuttgart 1986). 40 Zu Platons eigentlicher Intention vgl. Stefan Büttner: Die Literaturtheorie bei Platon und ihre anthropologische Begründung (Tübingen u. a. 2000). 36
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Allgemeines zu repräsentieren, sondern alles, was sich vorstellen läßt.41 Da die Forderung nach Mimesis eines Allgemeinen in der mittelalterlichen Literatur nicht bedeutete, wahrnehmbare Gegenstände in der Beschreibung auszusparen, so sie funktional bedeutend sind, hat die ausführliche Beschreibung sinnlich wahrnehmbarer Gegenstände immer wieder zu dem Mißverständnis geführt, die Dichter mittelalterlicher Literatur hätten – im Unterschied zur Neuzeit – anschaulich gedacht.42 Daß diese Umdeutung als historischer Prozeß rekonstruierbar ist, heißt nicht, daß sie gedanklich zwingend ist. Unter nicht transformierten Prämissen kann ein Mimesisbegriff auch zu einer Zeit vertreten werden, da diese Umdeutung historisch bereits vollzogen und zum main stream geworden ist, wie das Beispiel des Löffelschnitzers im Dialog De mente von Nikolaus Cusanus zeigt.43 Immerhin nachdenklich könnte stimmen, daß auch nach dem Mittelalter Dichter mit ihren Texten nicht bloß Begriffe anschaulich machen, abstrakte Normen erfüllen oder das, was sich wahrnehmen, in der Erinnerung reproduzieren und vorstellen läßt, 1 : 1 widerspiegeln wollten. So wundert nicht, daß die durch die Forschung seit den 1970er Jahren stark profilierte Alterität des Mittelalters gegenwärtig zugunsten von Strukturanalogien modifiziert wird und die Alteritätsdiskurse diversifiziert worden sind, so daß auch im Fall der Alterität die Zäsurierung eines Paradigmawechsels nicht einhellig ist.44
VI. Schlußfolgerung Ich habe einige der Probleme skizziert, die sich ergeben, wenn man den Begriff ›Mimesis‹ auf seine inhaltliche Bestimmung befragt und versucht, die Transformationen in der inhaltlichen Bestimmung des Begriffs als einen Prozeß innerhalb der Ideengeschichte zu beschreiben. Die Probleme in der inhaltlichen Bestimmung vervielfältigen sich noch, wenn man in dieser Beschreibung denjenigen Begriffen angemessen Rechnung tragen will, ohne welche die Mimesis selbst nicht hinreichend verstanden werden kann: Ich meine die Begriffe Mensch
Vgl. (a) B. Kappl: Die Poetik des Aristoteles in der Dichtungstheorie des Cinquecento, a. a. O. [Anm. 12]; (b) Arbogast Schmitt: Mimesis bei Aristoteles und in den Poetikkommentaren der Renaissance. Zum Wandel des Gedankens von der Nachahmung der Natur in der frühen Neuzeit. In: Mimesis und Simulation, hg. von Andreas Kablitz und Gerhard Neumann (Freiburg i.Br. 1998) 17–53. 42 Gottfried Willems: Anschaulichkeit. Zu Theorie und Geschichte der Wort-Bild-Beziehungen und des literarischen Darstellungsstils (Tübingen 1989). 43 Vgl. (a) Ulrike Zeuch: Das Unendliche – Höchste Fülle oder Nichts? Zur Problematik von Friedrich Schlegels Geist-Begriff und dessen geistesgeschichtlichen Voraussetzungen (Würzburg 1991); (b) Hubert Benz: Individualität und Subjektivität. Interpretationstendenzen in der Cusanus-Forschung und das Selbstverständnis des Nikolaus von Kues (Münster 1999). 44 Thema: Mimesis, Alterität und Erinnerung, a. a. O. [Anm. 15]. 41
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bzw. menschliches Subjekt, Handlung, Wirklichkeit, Das Allgemeine oder Natur als Gegenstand der Literatur, um nur diese zu nennen; denn auch diese sind geschichtlich. Und dennoch: Angesichts der Tatsache, daß die Mimesis über 2000 Jahre als Begriff kontinuierlich, wenn auch semantisch heterogen, rezipiert worden ist, ist die Einsicht, daß sich das, was kontinuierlich scheint, in etwas Differentes wandelt, und was different scheint, mit einem Mal überraschende Gemeinsamkeiten aufweist, ein hochspannender ideengeschichtlicher Befund – vorausgesetzt freilich, er trifft zu. Trotz der evidenten Probleme also, ein der Komplexität der Ideengeschichte angemessenes Bild zu skizzieren, will ich nicht nahelegen, überhaupt keine Ideengeschichte mehr zu schreiben. Vielmehr plädiere ich dafür, die Kontexte, in denen ein Begriff wie der der Mimesis verwendet wird, genau zu beachten, seine jeweilige inhaltliche Bestimmung im Kontext anderer, für diesen relevanten Begriffe zu sehen und zu berücksichtigen, daß eine beispielsweise Aristoteles zugeschriebene begriffliche Bestimmung nichts mit diesem selbst zu tun haben muß, sondern ausschließlich Reflex des eigenen Vorbegriffs und der durch die Rezeptionsgeschichte transformierten Bedeutung sein kann. Die Geschichte der Mimesis ist weder einheitlich noch linear; vielmehr wird sie zum Reservoir an Deutungsmöglichkeiten, aus dem – je nach Bedarf und eigenem Vorbegriff – geschöpft, einzelne Momente herausgegriffen, aktualisiert und für die eigene Positionierung genutzt werden. Weder läßt sich diese Geschichte als Progreß auf ein Ziel hin lesen, sei es die Abkehr von der Nachahmung der Wirklichkeit oder Hinwendung zur Wirklichkeit. Dazu ist die Geschichte viel zu komplex und bestimmt von der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Noch läßt sie sich lesen als Abfall von der eigentlichen, als Norm gehandelten Bedeutung, die Aristoteles ihr gegeben hat. Eine derartige Abwertung haben die teilweise innovativen Transformationen nicht verdient. Noch läßt sie sich lesen als Verlagerung vom Gegenstand der Mimesis zur Rezeption beim Zuschauer. Auch Aristoteles hat die Wirkung im Blick. Noch läßt sie sich lesen als iterierender Prozeß; denn eine komplette Restitution der aristotelischen Mimesis hat es – bislang jedenfalls – nie gegeben. Die Ideengeschichte der Mimesis stellt sich für mich vielmehr dar als ein Prozeß ohne Ziel, ergebnisoffen, so offen, wie der Mensch sich und seine Kontexte wahrnimmt und sich selbst immer wieder neu befragt. Um an den sachlichen Gehalt dessen, was Aristoteles mit dem Begriff Mimesis näherungsweise faßt, anzuknüpfen, bedarf es weder seiner kontinuierlichen, bruchlosen geschichtlichen Vermittlung noch der Kenntnis des Aristoteles selbst, sondern allein der Reflexion auf die Bedingungen menschlichen Erkennens.
Riccardo Pozzo
Imitatio oder Repraesentatio? Aristotelische Mimesis in den Literaturen Europas
I. Status quaestionis Auerbachs Mimesis1 trägt im Original den Untertitel: Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur. Auf der einen Seite findet sich hierin das von den Herausgebern der italienischen Ausgabe – der Einaudi Verlag wurde damals von großformatigen Intellektuellen wie Elio Vittorini, Cesare Pavese und Italo Calvino geführt – ganz im Sinne des Geistes des eisernen Vorhangs bevorzugte Stichwort ›Realismus‹ wieder. Auf der anderen Seite legt Auerbachs eigenes Syntagma ›Dargestellte Wirklichkeit‹ jedoch genau die Mehrdeutigkeit des Mimesisbegriffs nahe. Es umfaßt sowohl ›repraesentatio‹ als auch ›imitatio‹ und macht Mimesis so zu einem philosophischen Problem, das auf eine lange Geschichte verweist. Auerbach widmete sich der Erschließung der Art und Weise, wie Künstler verschiedene Versionen von Mimesis praktizierten. Er selbst lieferte aber keinen Beitrag zur Theorie der Mimesis. Inzwischen verfügen wir indes über eine Flut von Studien zu den verschiedenen Aspekten von Mimetismus in der Ästhetik wie auch in Psychologie, Anthropologie und vielen anderen Disziplinen. Eine Taxonomie der Grundlegungen mimetischer Kunsttheorie verdanken wir Stephen Halliwells The Aesthetics of Mimesis. Halliwell nahm sich vor, in seinem Buch »the fullest reassessment yet attempted of the ancient foundations of mimetic theories of art« anzubieten sowie eine Kritik über »not only the materials of those foundations but also the later edifices that have been erected (or superimposed) on them«2. Barbara Cassin hat in der Vorrede zu ihrem Dictionnaire des intraduisibles beteuert, der Leitsatz für die Ideen-, die Begriffs- und die Problemgeschichte im neuen Jahrhundert sei immer noch im Konzept des Vocabulaire des institutions indo-européennes von Émile Benveniste und Jean Lallot zu suchen: »pour trouver le sens d’un mot dans une langue«, müsse man »les réseaux dans lesquels il s’insère« beleuchten und versuchen »à comprendre comment
Erich Auerbach: Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur (Bern 1948); Ders.: Mimesis. Il realismo nella letteratura occidentale, italienische Übersetzung, hg. von Alberto Romagnoli/Hans Hinterhäuser mit einer Einleitung von Aurelio Roncaglia (Turin 21964). 2 Stephen Halliwell: The Aesthetics of Mimesis. Ancient Texts and Modern Problems (Princeton/Oxford 2002) vii. 1
Archiv für Begriffsgeschichte · Sonderheft 8 · © Felix Meiner Verlag 2010 · ISBN 978-3-7873-1971-8
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un réseau fonctionne dans une langue en le rapportant aux réseaux d’autres langues«3. Es war gerade Mme Cassin, die die Mimesis zur Kampfidee machte: »un indice de la manière dont, dans une langue à l’autre, tant les mots que les réseaux conceptuels ne sont pas superposables – avec mind, entend-on la même chose qu’avec Geist ou qu’avec esprit; pravda, est-ce justice ou vérité, et que se passe-til quand on rend mimêsis par représentation au lieu d’imitation?«4 Mme Cassins Lösung besteht in einer Deterritorialisierung, die »la géographie contre l’histoire« spielen läßt, »le réseau sémantique contre le concept isolé.« Denn wir sommes partis du multiple (les pluriels l’indiquent: vocabulaire des philosophies, dictionnaire des intraduisibles), et pour y demeurer: nous avons instruit la question de l’intraduisible sans viser l’unité, qu’on la place à l’origine (langue source, mots fontaines, fidélité à la donation ontologique) ou à la fin (langue messianique, communauté rationnelle)5 Mimesis sei ein unübersetzbares Wort, dessen »multiplicité est enfin celle des sens d’un mot dans une langue donnée«6. Handelt es sich tatsächlich hier um nichts Neues, um bloße Variationen uralter Ideen, um Transformationen einer enthistorisierten Begriffsgeschichte in eine Begriffstopographie?7 Gewiß nicht; die unten angeführten Ansätze zur Erneuerung von Ideen-, Begriffs- und Problemgeschichte sind dafür Zeuge.
II. Dargestellte Wirklichkeit ›Dargestellte Wirklichkeit‹‚ dies ist Auerbachs Verständnis von Mimesis. Daß aber der Horazsche Satz ›ut pictura poesis‹ nicht die ganze Breite des Begriffs umfaßt, beweist die Geschichte des Begriffs. Lassen Sie mich an dieser Stelle also die Ergebnisse aus der begriffsgeschichtlichen Forschung wiedergeben. Zunächst ist auf die Darstellung von Hermann Koller in seiner Monographie von 1954 sowie im Band 5 des Historisches Wörterbuchs hinzuweisen.8 Den Begriff Mimesis übernehme Platon aus der Musiktheorie des 5. Jahrhunderts, wobei er im zweiten und dritten Buch der Respublica der Disposition eines musika-
3 Barbara Cassin: Présentation, in: Vocabulaire européen des Philosophies. Dictionnaire des intraduisibles (Paris 2005) xvii. Cfr. Émile Benveniste/Jean Lallot, Vocabulaire des institutions indo-européennes (Paris 1969). 4 Ebd. xviii. 5 Ebd. xx. 6 Ebd. xxi. 7 Vgl. dazu den Aufsatz zu Gustav Teichmüller von Wolfgang Rother in diesem Band. 8 Hermann Koller: Die Mimesis in der Antike (Bern 1954); Ders.: Mimesis, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 5: L-Mn, hg. von Joachim Ritter/Karlfried Gründer (Basel/ Stuttgart 1980) 1396–1399.
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lischen Traktates folge. Diesem Traktat zufolge gliedere Plato die Erziehung in ›musiké‹‚ und ›gumnastiké‹‚ (376e); unter ›musiké‹‚ fallen ›logói‹‚ (376e), ›léxis‹‚ (392c), ›harmonía‹‚ (398c) und ›rhuthmós‹‚ (399e). Stil, Tonart und Rhythmus müssen sich also nach dem Wort richten, sollen ›préponta‹‚ sein, sie sollen dazu passen. Nach Damon werden die ›mimémata biou‹, die Ausdrucksformen des Lebens, in edle und unedle eingeteilt und von Platon in die Erziehung der Wächter aufgenommen oder verworfen (400a–b). Innerhalb der ›léxis‹ werde von Platon also zwischen ›diégesis‹ (Erzählung) und ›mímesis‹ (Darstellung) unterschieden (393d), wobei unter Mimesis die Aktion von handelnden Personen, szenische Darstellung ohne Erläuterungen des Dichters verstanden werde. Komödie und Tragödie seien reine Formen der Mimesis, während der Dithyrambos fast ausschließlich erzähle. Mimesis unedler Rollen sei im platonischen Staat nicht gestattet. Mittel dieser Mimesis seien ›phonaì kaí schémata‹, Stimmen und Gebärden (397b).9 Aristoteles baute in der Poetica ebenfalls auf der musikalischen Mimesis auf. Folgerichtig gäbe es bei ihm nur eine ›mímesis drónton‹, eine Darstellung handelnder Personen oder von Rollen (1449b26). Subjektive Lyrik falle daher nicht unter den Begriff der Mimesis. Mittel der Mimesis seien ›lógos‹, ›harmonía‹, ›rhuthmós‹ (1447a22), wobei freilich nicht alle Gattungen gleichen Anteil an diesen Mitteln der Mimesis hätten (1447a25). Objekte der Mimesis seien ›ethe‹, ›páthe‹‚ und ›práxeis‹, also Charaktere, Erfahrungen und Handlungen von Personen (1447a28).10 ›Theatrum‹‚ oder ›pictura‹, ›repraesentatio‹ oder ›imitatio‹? Diese Frage wird im Dictionnaire des intraduisibles im Artikel zur Mimesis von Jacqueline Lichtenstein und Élisabeth Decultot von Anfang an aufgeworfen: Au départ, ce terme ne se référait qu’au mime, à la danse, à la musique, autrement dit à des activités visant à exprimer la réalité intérieure et non à reproduire une réalité extérieure. Son application aux arts visuels est corollaire du changement sémantique qui s’opère à partir du Ve siècle oú il commence à désigner la reproduction du monde extérieur. […] L’élaboration philosophique du concept de mimêsis naît en effet d’une réflexion sur la peinture et la sculpture.11 Am Anfang wäre die Musik gewesen, und Platon sei der Musik gefolgt. Die weitere Ausarbeitung gehe aber in Richtung Malerei und Bildhauerei. Im ersteren Fall handelt es sich um »l’identité du sujet, la confusion entre l’acteur et l’auteur«, im letzteren um »l’identitè de l’objet, c’est-à-dire la relation de l’image (›eidôlon‹) à son modèle«12.
Ebd. 1396 f. Ebd. 1397. 11 Jacqueline Lichtenstein/Élisabeth Decultot: Mimesis, in: Vocabulaire européen des Philosophies, a. a. O. [wie Anm. 3] 786. 12 Ebd. 9
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Dieser Zweideutigkeit muß man Rechnung tragen. Die neuesten Übersetzer der Poetica auf Französisch, Roselyne Dupont-Roc und Jean Lallot, haben ein ›trait commun‹ innerhalb der Verwendung von der ›mimeisthai‹-Familie bei Platon und Aristoteles hervorgehoben, und zwar eine systematische Differenz: »l’ambivalence de base de l’accusatif d’objet affecté (= modèle) ou effectué (= copie) – construit avec ces verbes«13. Um das sich in diesem genauen Zusammenhang ergebende Problem zusammenzufassen, nehmen wir den Satz ›mimesthai huppon‹ an. Auf der einen Seite haben wir das von Platon in der Respublica angesprochene imitierende Subjekt, nämlich den in einem Theater handelnden Schauspieler. Worauf es ankommt, ist die Identität des Subjekts, weil das konstituierte Objekt eine bloße Kopie ist. Am Beispiel ›mimesthai huppon‹ geht es um den Mime, der das Pferd nachmacht. Auf der anderen Seite haben wir das von Aristoteles in der Poetica angesprochene repräsentierte Objekt, das es in der Poetik, aber auch in der Malerei und in der Musik geben kann. Hier geht es dagegen ausschließlich um die Identität des Objekts, das als Modell anvisiert wird, so bei ›mimesthai huppon‹ um das Pferd selbst, das repräsentiert wird. »Et que se passe-t-il quand on rend mimêsis par représentation au lieu d’imitation?« hatte Mme Cassin gefragt. Das war die Entscheidung von Dupont-Roc und Lallot. Um diese Zweideutigkeit zur Geltung zu bringen haben sich die beiden dazu entschlossen, ›mimesthai‹ durch ›représenter‹ statt durch ›imiter‹ zu übersetzen; denn ›mimeisthai‹ sei: sauf présence d’éléments discriminants dans le contexte, ›représenter un homme‹ offre la même ambiguité que ›mimeisthai anthrôpon‹, alors que la traduction traditionnelle par ›imiter‹ sélectionne abusivement l’interprétation de l’accusatif comme celui du modèle14. Ihre Begründung lautet: les connotations théâtrales de ce verbe et surtout la possibilité de lui donner pour complément, comme à ›mimeisthai‹, indifférement l’objet ›modèle‹ et l’objet ›produit‹ – au lieu qu’imiter excluait ce dernier, le plus important – ne pouvaient qu’emporter la décision.15 Dieselbe Lösung wurde übrigens von Girolamo Fracastoro bereits 1555 vorweggenommen. Bardulo sagt im Dialog Naugerius de Poetica: »Scis enim poeticam a Platone et Aristotele imitatoriam artem vocari: nihil autem refert sive imitari sive repraesentari dicamus« (6.6) und Naugerius antwortet ihm:
13 Roselyne Dupont-Roc/Jean Lallot: Notes à la traduction, in: Aristote, La Poétique (Paris 1980) 145. 14 Ebd. 15 Ebd.
Imitatio oder Repraesentatio?
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Probe dicis. Verum de imitatione hac, sive reprasentatione, poetica accurate arbitror esse considerandum: atque illud in primis est inquirendum, utrum circa omnia, de quibus poeta scribit, repraesentatio et imitatio dicatur. Dico autem: si poeta de stellis, de plantibus, de animalibus scribat, utrum et haec imitatio, quaemadmodum illa quae personas inducit, an propria quaedam imitatio poetae (puta, illa circa quae personas est tantum)? (6.7–8).16 Der Kommentar zu dieser Stelle von Enrico Peruzzi geht leider auf unsere Fragestellung nicht ein: connotato all’uomo il desiderio di imitare, collegato al piacere della conoscenza, è proprio sul valore di quest’ultima che Platone aveva formulato le più gravi riserve, ritenendo la poesia un’imitazione di un’imitazione (la realtà sensibile) rispetto all’archetipico mondo delle idee: cfr. quanto esposto in Resp. X 1–8, 595a–608b, in particolare per la dottrina dell’imitazione, i capitoli primo e secondo, 595a–598d. La critica platonica, ampliata anche alla carenza di contenuti morali nella poesia, è ripresa e ampiamente analizzata da Fracastoro, con significativi ›distinguo‹, nella parte conclusiva del dialogo (14.6–24).17 Bezeichnenderweise stimmen Peruzzis Bemerkungen zu Fracastoro mit den recht bündigen Sätzen überein, mit denen Auerbach das Mimesisbuch beschließt: Wie man Platons wichtige Frage zum X. Buch der Respublica zur Mimesis als Kopie von der Kopie der Wahrheit zusammen mit Dantes Anspruch verbinden könne, mit der Divina Commedia die wahre Wirklichkeit zu geben.18
III. Pädagogischer Niederschlag In diesem Beitrag erhebe ich keinen Anspruch, über Auerbach bzw. Halliwell hinaus zu gehen. Worauf es mir ankommt, ist vielmehr, auf ein neuartiges ›philosophisches‹ Instrumentarium hinzuweisen, den vom Istituto per il Lessico Intellettuale Europeo e Storia delle Idee – CNR zur Verfügung gestellten integrierten Hypertext, der Lehrern und Studenten dazu dienen wird, sich neue Wege der ideen-, begriffs- und problemgeschichtlichen Forschung anzueignen19. Dafür erweist sich der Mimesisbegriff als ein vortreffliches Sprungbrett. Während es also bei Auerbach um das Realismusproblem geht, geht es bei den neuesten Ansätzen um die Ideen-, die Begriffs- sowie die Problemgeschichte von Worten wie Mimesis, deren grundsätzliche Bedeutung für das Zusammenwachsen
16 17 18 19
Girolamo Fracastoro: Navagero. Della Poetica, a cura di Enrico Peruzzi (Florenz 2005) 62. E. Peruzzi, Note al testo, a. a. O. [Anm. 16] 118. E. Auerbach: Mimesis, a. a. O. [Anm. 1] Schluß. Vgl. www.iliesi.cnr.it
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Europas und das Selbstverständnis seiner Bürger in einer globalisierten Welt unbestritten ist. Dabei gilt es, die Entwicklung eigenständiger Urteilsfähigkeit zu unterstützen und so der Gefahr entgegenzuwirken, daß die starke Verschulung der im Laufe des Bologna-Prozesses neu eingeführten Studiengänge intellektuelle Selbständigkeit gerade behindert. Wenngleich das Englische als moderne ›lingua franca‹ allgemein anerkannt und unverzichtbar ist, muß doch die sprachliche Vielfalt in Europa mit ihren dreiundzwanzig anerkannten Sprachen, auch im Bereich der Wissenschaften, erhalten werden. Dafür spricht im Fall der Geistes- und Kulturwissenschaften der innere Zusammenhang von Thema und Sprache, allgemein aber der Präzisionsgewinn, der mit der Verwendung der Herkunftssprache einhergeht. Eng mit der Vielfalt natürlicher Sprachen verknüpft ist die Vielfalt wissenschaftlicher Sprachspiele. Auch hier sind, zumal zwischen den Kultur- und Naturwissenschaften, Übersetzungskompetenzen elementar, die in entsprechenden Modulen eingeübt und durch die wachsende Sensibilität für natürliche Sprachen gefördert werden können. In einem solchen Zusammenhang stehen der Ideen-, Begriffs-, und Problemgeschichte folgende Kompetenzen zu: 1.) die Beherrschung der in den Originalquellen verwendeten Fachsprache der Gegenwart, 2.) der Erwerb von Kenntnissen über den Wandel von Begriffen und die Bedeutung orientierender Metaphern im Lauf der Zeit, 3.) die Wahrnehmung der interkulturellen Dimension in begriffsgeschichtlichen Ansätzen, 4.) das Üben mit neuartigen internetbasierten Vermittlungsformen, 5.) die Übersetzung von wichtigen Werken, die in die gängigsten Sprachen nicht übersetzt wurden, sowie 6.) die kulturellen Kompetenzen der Eigen- und Fremdwahrnehmung, des Übersetzens und der Vertiefung von Identitätsformen durch Austausch und Dialog.20
Vgl. Matthias Jung/Corina Meyer: Nach Bologna. Allgemeine Bildung an Europas Universitäten (Berlin 2009). 20
Gerda Haßler
Die Entwicklung von Begriffen in Textserien: ein sprachwissenschaftlicher Zugang zur Begriffsgeschichte
I. Methodologische Voraussetzungen In diesem Beitrag möchte ich von Erfahrungen begriffsgeschichtlichen Arbeitens ausgehen, die auf der Arbeit am onomasiologischen Wörterbuch sprachtheoretischer Grundbegriffe des 17. und 18. Jahrhunderts beruhen und vielleicht eine Verallgemeinerung für begriffsgeschichtliches Arbeiten generell erlauben. Zunächst erscheint eine strenge Trennung zwischen dem Wort und dem Konzept oder Begriff wesentlich. Diese ist umso wichtiger bei Begriffsfeldern, die keine unmittelbare Stütze in der Realität haben und deren Inhalt sich durch gegenseitige Abgrenzung der Bezeichnungen konstituiert und verteilt wird.1 In diesem Sinne gehen wir vom semiotischen Dreieck aus, das wir insofern dadurch modifizieren, daß die Relation zwischen der Bezeichnung und dem Objekt durch eine nur mittelbar – über den Begriff – erfaßbare Beziehung zwischen den Bezeichnungen und ihren Relationen und dem Gegenstandsbereich ersetzt wird. Begriff
Objekt
Bezeichnung
Begriff
Bezeichnungen und ihre Relationen
Gegenstandsbereich
Demgegenüber schreiben Brunner, Conze und Koselleck: »Die Unterscheidung zwischen Wort und Begriff ist im vorliegenden Lexikon pragmatisch getroffen worden. Es wird also darauf verzichtet, das sprachwissenschaftliche Dreieck von Wortkörper (Bezeichnung) – Bedeutung (Begriff) – Sache in seinen verschiedenen Varianten für unsere Untersuchung zu verwenden.«2 So verdienstvoll es ist, daß seit den 1950er Jahren in begriffsgeschichtlichen Forschungen Sprache nicht als Epiphänomen der sogenannten Wirklichkeit betrachtet wird, ist die Auffas-
1 Vgl. Gerda Haßler: Der semantische Wertbegriff in Sprachtheorien vom 18. bis zum 20. Jahrhundert (Berlin 1991). 2 Otto Brunner, Werner Conze, Reinhart Koselleck (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 1 (Stuttgart 1972–1997) XXII.
Archiv für Begriffsgeschichte · Sonderheft 8 · © Felix Meiner Verlag 2010 · ISBN 978-3-7873-1971-8
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Gerda Haßler
sung der Sprache als »methodisch irreduzible Leitinstanz«3 jedoch nur dann legitim, wenn das problematische Verhältnis des Begriffs zu seinen Bezeichnungen gleichfalls reflektiert wird. Begriffsbildung ist keine einfache Nomination, in der einem fertigen Konzept eine Bezeichnung beigelegt würde, aufgrund derer der Begriff fortan stets gleichartig tradiert würde. Begriffsbildungen finden vielmehr in Texten statt, wobei auch eine gewisse Vielfalt von Bezeichnungen benutzt werden kann. Texte, in denen bewußt Konzeptualisierungsprozesse gestaltet werden, nennen wir begriffsprägende Texte, und zwar zunächst unabhängig davon, ob sich die begriffsprägende Absicht auch in einer entsprechenden Rezeption des Textes niederschlägt. Wir betrachten einen Text auch dann als begriffsprägend, wenn er durch eine Serie von Texten bereits vorbereitete Konzeptualisierungen auf besonders wirkungsvolle Weise benennt oder in die weitere Rezeption einbringt. Texte, deren begriffsprägende Rolle sich auch in der nachfolgenden Rezeption bestätigt, bezeichnen wir als Referenztexte für nachfolgende Konzeptualisierungen. Stellt sich dabei heraus, daß diese in Kontinuität zu den wesentlichen begrifflichen Merkmalen im Referenztext stehen, bezeichnen wir diesen auch als Referenztext für die nachfolgende Textserie, die das Ausgangskonzept verbreiten, variieren oder an jeweils neue Bedingungen anpassen kann. Eine Textserie ist eine Menge gedruckter Texte oder Manuskripte, die denselben Gegenstand im selben epistemologischen Rahmen behandeln und dabei dasselbe Ziel unter vergleichbaren Bedingungen verfolgen. Die Untersuchung von Textserien läßt den dynamischen Charakter wissenschaftshistorischer Prozesse transparent werden, die über den Horizont des einzelnen Werkes oder Forschers hinausgehen.
II. Ein Beispiel: ›Klarheit‹, ›Energie‹, ›Reichtum‹ und ›Wohlklang‹ Ausgangspunkt unseres Projekts war die Unzulänglichkeit der bisherigen lexikographischen Hilfsmittel als Unterstützung für das Verständnis von Texten aus der Geschichte der Sprachtheorien. Betrachten wir zum Beispiel den folgenden Textausschnitt, so stehen keine lexikographischen Hilfsmittel zur Verfügung, um Wörter wie Reichthum, Nachdrücklichkeit, Kürze, gemächliche Thätigkeit, Deut1ichkeit, Gewandtheit, Wohlklang, Organ außerhalb des Kontextes als metasprachliche Termini zu semantisieren: Sprache, als das Mittheilungs-Organ unsrer Begriffe und Empfindungen, erreicht ihre Bestimmung alsdann, wenn sie Begriff und Empfindung dem jedesmaligen Bedürfnisse des Geistes gemäss, darstellt. Da der Begriffe und Empfindungen, besonders eines gebildeten Geistes, so viele und mannichfaltige 3
Reinhart Koselleck: Begriffsgeschichten (Frankfurt am Main 2006) 99.
Die Entwicklung von Begriffen in Textserien
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sind, und, nach der Menge und Mannichfaltigkeit derselben, die intellectuelle Vortrefflichkeit des Geistes geschätzt wird: so ist der Reichthum an Worten und Wendungen, wodurch Begriffe und Empfindungen bezeichnet werden, einer der Hauptvorzüge der Sprache. Die Darstellung der Begriffe und Empfindungen durch die wörtliche Bezeichnung muss ferner der Fülle und dem Umfange dieser geistigen Operationen entsprechen, und die Begriffe mit aller Wahrheit und Vollständigkeit, die Empfindungen nach dem jedesmaligen Grade ihrer Stärke und Innigkeit, ausdrükken. Diese Eigenschaft der Sprache heisst: die Nachdrücklichkeit (Energie). Der Geist geht bei jeder bestimmten Kraftäusserung einen gewissen raschen Gang; alles, was ihn nicht fördert, hindert ihn. Er will lieber viel Kraft in wenig Zeit, als wenig Kraft auf viel Zeit verwenden. Daher ist ihm auch in der Entwickelung seiner Ideen die Kürze, die mehr Worte und Begriffe gleichsam in einen Punkt zusammendrängt, angenehmer, als die Weitschweifigkeit, die dieselben auseinander dehnt. Da die Sprache, in starken oder heftigen Bewegungen besonders, Begriffe und Empfindungen, und also auch bei der Darstellung derselben, den Ausdruck durch Worte, zusammendrängt: so schliessen wir die Eigenschaft der Kürze als schicklichsten dem Abschnitt von der Energie an. Der bestimmte Hang unsers Geistes bei allen seinen Kraftäusserungen, und also auch bei, der Sprache, ist eine gewisse gemächliche Thätigkeit, wodurch der intellectuelle sowohl, als der sinnliche Theil seiner Natur, auf eine ihm angenehme Weise ins Spiel gesetzt wird. Zuviel Ideen, auf einmal dargestellt, überladen, zuwenig – langweiligen ihn. Das Mittel zwischen jener Ueberladung, und dieser Leere – trifft die Deut1ichkeit, wodurch Begriffe und Empfindungen so leicht und so schnell, als möglich, in die Seele übertragen werden. Der Deutlichkeit schliessen wir sogleich die Gewandtheit an, als den Vorzug einer Sprache, nach welchem jeder Begriff und jede Empfindung, ohne Mühe, zweckmässig dargestellt und gleichsam mit Leichtigkeit gehandhabt werden kann. Eine Sprache kann sehr glücklich für die Deutlichkeit gebildet sein, und doch der Gewandtheit mangeln, (obgleich Gewandtheit immer zugleich auch Deutlichkeit mit sich führt.) Da endlich der Sinn des Gehörs das Organ ist, durch welches die Rede in die Seele fliesst, und der Geist selbst durch den Eindruck der äussern Sinne empfindlich gerührt wird: so ist der ausdruckvolle und harmonische Zusammenklang der Sylben und Worte mit den darzustellenden Ideen und Empfindungen, dem Geiste eben so vortheilhaft zur Beförderung des Nachdrucks und der Deutlichkeit der wörtlichen Bezeichnung, als dem Gefühle angenehm. Daher gehört auch der Wohlklang mit zu den wesentlichen Vorzügen einer Sprache. Durch die genannten Eigenschaften des Reichthums, des Nachdrucks, der Deutlichkeit und des Wohlklanges erfüllt die Sprache alle die Forderungen, welche der Philosoph nach Massgabe der intellectuellen und sinnlichen Kraftäusserungen des Geistes, in so fern diese auf die Rede Beziehung haben, an eine Sprache überhaupt machen kann. Durch die Vereinigung aller dieser Eigenschaften wird sie also (was sie durch ihre Bestimmung sein soll) das
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Gerda Haßler
vollkommenste Werkzeug zu dem Ausdrucke unserer Begriffe und Empfindungen.4 Für den heutigen Leser hinterläßt der Textausschnitt den Eindruck großer Vagheit, obwohl sich der Autor hier an die vier seit der Sprachbetrachtung der Humanisten geläufigen Kategorien des wertenden Sprachvergleichs anlehnt: Klarheit, Energie, Reichtum und Wohlklang. Obwohl die Autoren zwischen Text und Sprache durchaus unterschieden, bildete die Wertung von Texten eine Grundlage für die Übertragung ihrer Maßstäbe auf die Sprachen, die die Basis der Texte sind und in denen sie verfaßt sind.5 Die Gründe für den Eindruck der Vagheit des zitierten deutschen Textes liegen auf zwei Ebenen. Einerseits entstanden metasprachliche Texte im Rahmen unterschiedlicher gelehrter Aktivitäten und waren nicht an den Sprachgebrauch einzelner, noch vor ihrer eigentlichen Konstituierung befindlicher Wissenschaften gebunden. Dem entsprechen auch die häufig narrative und essayistische Form, die von Definitionen meist absieht, und die noch nicht abgeschlossene Terminologisierung vieler sprachtheoretischer Begriffe.6 Andererseits ist gerade in deutschen Texten häufig bemerkbar, daß man sich noch nicht auf ein Wort für die Übersetzung des lateinischen Terminus festgelegt hatte und unterschiedliche Varianten, teilweise im selben Text, aber auch mit der Absicht der Etablierung von Bedeutungsnuancen verwendet wurden. Mit der Verwendung von Deutlichkeit, Nachdruck, Reichtum und Wohlklang hatte sich Jenisch zwar eng an die lateinischen Kategorien der perspicuitas, energeia, abundantia und harmonia angelehnt, dabei aber doch eigene Akzente gesetzt. Die Klarheit (perspicuitas) spaltet er auf in eine Deutlichkeit und eine Gewandtheit, die teilweise zueinander im Widerspruch stehen, sich aber auch bedingen. Die Deutlichkeit bestimmt er als das richtige Maß an sprachlichen Mitteln, mit dem Begriffe und Empfindungen so leicht und so schnell, als möglich, in die Seele übertragen werden. Die Gewandtheit akzentuiert das Leichte und Mühelose in der Darstellung, stellt also gewissermaßen einen höheren Grad Daniel Jenisch: Philosophisch-kritische Vergleichung und Würdigung von vierzehn ältern und neuern Sprachen Europens, namentlich: der Griechischen, Lateinischen, Italienischen, Spanischen, Portugiesischen, Französischen, Englischen, Deutschen, Holländischen, Dänischen, Schwedischen; Polnischen, Russischen, Litthauischen. Eine von der Königl. Preuss. Akademie der Wissenschaften gekrönte Preisschrift des Herrn D. Jenisch, Prediger in Berlin (Berlin 1796) 3–5. (Hervorhebungen im Original). 5 Vgl. Brigitte Schlieben-Lange: Reichtum, Energie, Klarheit und Harmonie. Die Bewertung der Sprachen in Begriffen der Rhetorik. In: Texte, Sätze, Wörter und Monem. Festschrift für Klaus Heger zum 65. Geburtstag, hg. von Susanne R. Anschütz (Heidelberg 1992) 571–586. 6 Vgl. Gerda Haßler: La notion d’empirique dans l’histoire des sciences du langage: L’apport d’études sérielles. In: History of Linguistics 1999: Selected papers from the Eighth International Conference on the History of the Language Sciences, 14–19, September 1999, ed. by Auroux, Sylvain, Fontenay-St. Cloud with the assistance of Jocelyne Arpin, Elisabeth Lazcano, Jacqueline Léon (Amsterdam, Philadelphia 2003) 197–213. (Coll.: Studies in the History of the Language Sciences Vol. 99). 4
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an Deutlichkeit dar. Die Nachdruck genannte Energie der Sprache erklärt Jenisch auf der Basis des Einwirkens auf die Sinne, weshalb jede rohe Sprache eine kultivirte an Nachdruck und Kraft übertreffe. Die ursprünglichen, natürlichen Sprachen, die aus Onomatopoetika und Wurzelwörtern bestehen, seien elementare Formen von Energie, die sich allerdings auf die grobsinnlichen Ideen- und Empfindungskreise beschränken würden. Abstraktionen, Artikel, feine Verbindungs- und Uebergangspartikeln stellt Jenisch in einen Gegensatz zur Energie. Da die Sprachen sich jedoch vom ursprünglichen, energiereichen Zustand entfernt haben, sucht Jenisch die Nachdrücklichkeit in den modernen Sprachen auf verschiedenen Ebenen. Den lexikalischen Nachdruck sieht er in der Verwendung der Wörter mit ursprünglicher Bedeutung. Da sich die Bedeutungen der Wörter durch Metaphorisierung vom ursprünglichen, sinnliche Wahrnehmungen bezeichnenden Inhalt entfernt haben, ist ein Verlust an Nachdruck der Sprachen zu verzeichnen, der durch die Wiederbelebung der sinnlichen Bedeutung ihrer Wörter wieder ausgeglichen werden soll. Den Nachdruck im grammatischen Bau nennt Jenisch grammatikalische Energie. Auch sie gehe im Verlauf der Sprachentwicklung mit der Einführung der Artikel, Hülfs-Verbindungs und Uebergangswörter verloren. Die lebhafte Einbildungskraft und erschütterte Leidenschaft gehe mit der Ausbreitung der Funktionswörter verloren. Zum grammatikalischen Bau, der auch auf den Nachdruck der Sprache bezogen wird, zählt Jenisch die Wortstellung, zu der er die intensive Diskussion des 18. Jahrhunderts zur Kenntnis genommen hat.7 Eine regelmässige und natürliche Syntax erklärt er für die Deutlichkeit als notwendig. Er räumt dabei ein, daß man im Interesse der Harmonie (Wohlklang) durchaus von der festen Wortfolge abweichen könne, man reiße damit aber Worte und Ideen auseinander, was zu einem höheren Aufwand beim Hörer oder Leser führe, der sie wieder zusammenordnen müsse. Als dritte Form der Energie einer Sprache nimmt Jenisch eine Energie der Sprache durch die charakteristische Energie der Nation und ihrer OriginalSchriftsteller an. Hier bezieht auch er die Ebene des Gebrauchs in die Betrachtung der Vollkommenheitskriterien von Sprache ein. Die Anwendung der klassischen Kriterien auf die Charakteristik von Sprachen als Voraussetzungen der Sprachverwendung ist im 18. Jahrhundert vorherrschend, wird jedoch auch durch die Bezugnahme auf den Gebrauch der Sprache und damit auf rhetorische Kriterien durchsetzt.
7 Vgl. Ulrich Ricken: Grammaire et philosophie au siècle des Lumières: controverses sur l’ordre naturel et la clarté du français (Villeneuve-d’Ascq 1978); ders.: Sprache, Anthropologie, Philosophie in der französischen Aufklärung. Ein Beitrag zur Geschichte des Verhältnisses von Sprachtheorie und Weltanschauung (Berlin 1984).
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III. Der onomasiologische Ausgangspunkt Eine begriffliche Arbeit, die sich auf eine vom gegenwärtigen objektbezogenen Denken entfernte Epoche bezieht, muß sich mit der Frage auseinandersetzen, ob sie retrospektiv vorgeht oder die Rekonstruktion der authentischen Begriffe der beschriebenen Epoche beabsichtigt. Auf unseren Gegenstand bezogen, bedeutet dies die Beantwortung der Frage, inwieweit heute gültige objektbezogene Aussagen über Sprache, die in einer oder mehreren Theorien begrifflich verankert sind, zum Ausgangspunkt der Untersuchung werden sollten oder ob im Sinne einer Vermeidung jeglicher teleologischer Perspektivierung ausschließlich eine Rekonstruktion von Begriffen aus dem Sprachdenken des 17. und 18. Jahrhunderts erfolgen sollte. Die dabei repräsentierten Beziehungsgeflechte und funktionalen Zusammenhänge können mit einem hinreichenden Allgemeinheitsgrad beschrieben werden, um auch bei größeren wissenschaftsgeschichtlichen Veränderungen Gemeinsamkeiten in Fragestellungen und Antworten festzustellen. Die Suche nach authentischen Begriffen einer Epoche läßt die Merkmale, die der Klassenbildung zugrunde liegen, transparent werden, begründet sie in ihrer historischen Gebundenheit und bestimmt den Stellenwert des Begriffs im zeitgebundenen Netzwerk. Retrospektiv geht begriffsgeschichtliches Arbeiten dann vor, wenn von den begriffskonstituierenden Merkmalen ausgegangen wird, die den objektbezogenen Einsichten einer bestimmten Zeit entsprechen, und nach vergleichbaren früheren Konzeptualisierungen gefragt wird. Die retrospektive Betrachtung kann dazu beitragen, hinreichend allgemeine Merkmale für Konzeptualisierungen festzustellen, sie darf dabei allerdings nicht in den Fehler verfallen, einen zeitlich gebundenen »Maßstab« an frühere Epochen anzulegen. Mitunter fallen authentische Begriffe aufgrund des Fehlens geläufiger lexikalischer Formen erst bei einer solchen Sicht als Fragestellungen auf. Wir stellen dabei kognitive Prozesse bei der Begriffsbildung in den Mittelpunkt und reduzieren die onomasiologische Frage nicht auf eine Auflistung authentischer Bezeichnungen für einen feststehenden Begriff. Die Zusammenfassung aufgrund von Merkmalen kann sich im Konzeptualisierungsprozeß auch in einem vorbegrifflichen Stadium feststellen lassen, das sich sprachlich mit unspezifischen oder paraphrasierenden Bezeichnungen verbinden kann. Die Begriffsprägung selbst wird mit der Festlegung auf in der Regel eine Bezeichnung jedoch nicht abgeschlossen, da sich das Beziehungsgefüge, in dem der Begriff steht, erst später festigen oder neu konstituieren kann. Selbst eine Veränderung in den konstitutiven Merkmalen der Begriffsbildung ist dabei möglich. Die mehrfach begründete Notwendigkeit einer begriffsgeschichtlichen Fundierung wissenschaftshistorischer Forschungen wirft die Frage nach einer geeigneten Methode auf. Die onomasiologische Lexikographie ist eine durch besondere Stabilität gekennzeichnete Tradition, die seit den Glossaren der frühen Schriftkultur eine nicht abreißende Kette von Wortlisten, Thesauren oder Wör-
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terbüchern hervorgebracht hat. Diese Tradition ist in den letzten Jahren selbst Gegenstand wissenschaftshistorischer Forschungen geworden.8 Zweifellos ist eine semasiologische Untersuchung der Voraussetzungen, die Bezeichnungen für die Festigung und Weitervermittlung von Begriffen haben, gleichfalls unumgänglich. Sie hat die authentischen Bedeutungen eines Begriffsträgers oder eines anderen an Konzeptualisierungen beteiligten Wortes als Potential zu analysieren. Ein Charakteristikum der onomasiologischen Methode in ihrer Kontinuität ist eine sehr flexible Beziehbarkeit auf semantische Theorien, die seit den fünfziger Jahren zu zwei Wiederbelebungen geführt hat, die beachtliche Ergebnissen hervorbrachten. Die erste Renaissance der onomasiologischen Methode verbindet sich mit Versuchen, Ergebnisse der Feldmethode auf sie zu beziehen und dadurch den vorwiegend punktuellen Charakter früherer onomasiologischer Forschungen zu überwinden. Mit der verstärkten Entwicklung kognitiver Methoden in der Linguistik erfuhr auch die onomasiologische Methode eine Erneuerung. Auf dieser Basis untersuchten Andreas Blank und Peter Koch Typen des Bedeutungswandels.9 Dafür ist eine kohärente Theorie semantischer Veränderungen erforderlich, die auch lexikographisch angewendet werden kann. Ein besonderes Problem stellt dabei die genaue Beschreibung der einzelnen semantischen Veränderungen dar, die ein Etymon im Verlauf der Sprachgeschichte erfahren konnte. Gerade für die Lösung dieses Problems wird ein onomasiologischer Ausgangspunkt vorgeschlagen. Auf diese Weise wird es für den jeweils betrachteten Begriff möglich, die Prozesse zu beschreiben, die zur Entstehung neuer Bezeichnungen in bestimmten Sprachen geführt haben. Die onomasiologische Betrachtungsweise hat dabei einen doppelten Vorteil, insofern sie ein Sichverlieren in der Vielfalt der Formen und Bedeutungen von Wörtern verhindert und es andererseits erlaubt, die komplexe Analyse besonders interessanter Begriffsfelder in Angriff zu nehmen, ohne sofort die Gesamtheit des Wortschatzes einzubeziehen. Ziel ist es, kognitive Bezeichnungskonstanten zu finden, die den romanischen Völkern gemeinsam und vielleicht sogar universell sind.
IV. Textserien und begriffsprägende Texte Nach der Bestimmung des onomasiologischen Ausgangspunktes ließe sich die Forschungsaufgabe rein lexikalisch-semantisch als Suche nach Bezeichnungen für die als relevant vorausgesetzten Begriffe im 17. und 18. Jahrhundert bestim-
8 Vgl. Werner Hüllen (Hg.): The World in a List of Words (Tübingen 1994); ders. (Hg.): Onomasiologische Wörterbücher europäischer Sprachen in Geschichte und Gegenwart. Lexicographica. International Annual for Lexicography 21 (2005) 1–130. 9 Vgl. Peter Koch, Andreas Blank: Kognitive romanische Onomasiologie und Semasiologie. (Tübingen 2003).
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men. Damit könnte jedoch in zweifacher Hinsicht eine unzulässige Vereinfachung verbunden sein: – Für die relevanten Konzepte der Sprachdiskussion und Beschreibung von Sprachen im 17. und 18. Jahrhundert kann in vielen Fällen nicht von Terminologisierungen ausgegangen werden. Selbst wo Termini aus der lateinischen Grammatiktradition übernommen wurden, ist gerade deren Modifikation und Neubestimmung für das Sprachdenken der Epoche interessant. – Gerade die Wechselwirkung zwischen Konzeptualisierungsprozessen und deren sprachlichen Formen stellt ein interessantes Forschungsfeld dar, das nicht im Interesse versimplifizierter lexikalischer Faßbarkeit in seiner kognitiven Komplexität verkürzt werden sollte. Wir wenden also die onomasiologische Fragestellung in einem weiten Sinne an, der ausdrücklich nicht nur lexikalische Benennungen oder Paraphrasierungen eines Begriffes erfassen läßt, sondern davon ausgeht, daß bestimmte Stufen der Konzeptualisierung nicht über Nomination (der Begriff X wird a, b oder c genannt), sondern erst über die Berücksichtigung der Prädikation (eine zu dem Begriff X führende Eigenschaft wird mit d, e oder f prädikativ verbunden) erfaßt und beschrieben werden können. Gerade begriffsprägende Texte sind durch eine hohe Komplexität gekennzeichnet, die sich weniger syntaktisch als begrifflich manifestiert. Wie ein dichtes, bisweilen mit recht sperrigen Knoten geknüpftes Netz durchziehen die mittels Nach-, Um- und Neubildung gewonnenen Konzepte den Text. Konzepte entstehen dabei nicht nur durch die den Begriffen explizit beigefügten Definitionen und Paraphrasen, sondern vor allem durch die Logik ihrer diskurskontextuellen Organisation.10 Die Einbettung in den argumentativen Zusammenhang trägt maßgeblich zur konzeptuellen Fixierung bei. In der Regel bedienen sich begriffsprägende Texte auch schon im 17. und 18. Jahrhundert bestimmter Verfahren der Terminologiebildung: Neologismen, Terminologisierung von gemeinsprachlichen Lexemen durch Umdeutung des Signifikats, Entlehnungen mit grammatischer und gegebenenfalls syntaktischer Adaptation der Signifikanten an die Zielsprache. Auffällig ist dabei nicht allein das Auftreten solcher Prozesse als solches, sondern ihre Frequenz und Intensität. Insbesondere können in Analogie zu Termini in anderen Sprachen kreierte Benennungen einem Text eine besondere Prägung verleihen. Typischerweise bedienen sich solche Texte definitorischer Sätze und kontrastiver Merkmalszuschreibungen, die ebenfalls den Charakter des Normativen unterstreichen.
Vgl. Heidi Aschenberg, Reinhold Aschenberg: Probleme der philosophischen Übersetzung. Bemerkungen in Beziehung auf die deutschen Versionen von Sartres ›L’être et le néant‘. In: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen Bd. 235, 150. Jg. (1998) 84. 10
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Die methodologische Unterscheidung zwischen Wort- und Begriffsgeschichte hilft einer Tatsache gerecht zu werden, die Stierle als unterschiedliches Entwicklungstempo der Ausdrucks- und Bedeutungsseite der Sprache beschreibt.11 Zum konservativen Wesen der Wortbedeutungen gehört auch, daß Diskurse der Vergangenheit nicht einfach überholbar und nicht einfach ohne Verlust aus dem Kollektivgedächtnis der Diskursgemeinschaft entfernbar sind. Die vergangene Bedeutung ist immer noch eine gegenwärtige Bedeutungsmöglichkeit.12 Bedingung dafür, daß die vergangene, an Schrift gebundene Bedeutung sich aus der Latenz heben und neu aktivieren läßt, ist lediglich, daß die signifiant-Seite des Wortes dem gegenwärtigen Sprachbewußtsein noch präsent und von ihm akzeptiert ist. Durch seine asymmetrische Kommunikationssituation überspielt das geschriebene Wort immer schon die Trennung von Synchronie und Diachronie. Vergangene Bedeutung ist nicht einfach »überholte« Bedeutung, die neue Bedeutung übernimmt vielmehr eine komplementäre Rolle.13 Textserien und Referenztexte können dabei in unterschiedlichen funktionalen Verhältnissen zueinander stehen. Ein Referenztext kann durch Textserien konzeptuell, argumentativ und terminologisch vorbereitet werden. Er kann diese Textserien abschließen, damit ihr wissenschaftsgeschichtliches Vergessen einleiten oder die in den Textserien überlieferten Konzepte unter neuen Bedingungen für neue Fragestellungen verfügbar machen. Nachfolgende Textserien können die im Referenztext enthaltenen Konzepte verbreiten, aber auch vertiefen und modifizieren. Schließlich kann es Parallelserien zum Referenztext geben, die Lösungen für dasselbe Problem suchen. Das folgende Schema versucht
Karlheinz Stierle: Historische Semantik und die Geschichtlichkeit der Bedeutung. In: Historische Semantik und Begriffsgeschichte, hg. von Reinhart Koselleck (Stuttgart 1979) 169. Zur Begriffsgeschichte vgl. auch Rudolf Hallig, Walther von Wartburg: Begriffssystem als Grundlage für die Lexikographie. Versuch eines Ordnungsschemas (Berlin 1952), Bruno Quadri: Aufgaben und Methoden der onomasiologischen Forschung. Eine entwicklungsgeschichtliche Darstellung (Bern 1952), Ulrich Ricken: »Gelehrter« und »Wissenschaft« im Französischen. Beiträge zu ihrer Bezeichnungsgeschichte vom 12.–17. Jahrhundert (Berlin 1961), ders.: Onomasiologie oder Feldmethode? Bemerkungen zur Methode und Terminologie einiger neuerer wortkundlicher Arbeiten. In: Wissenschaftliche Zeitschrift der Karl-Marx-Universität Leipzig, Gesellschaftsund Sprachwissenschaftliche Reihe 5 (1961) 833–840, ders.: Bemerkungen zur Onomasiologie. In: Wissenschaftliche Zeitschrift der Karl-Marx-Universität Leipzig, Gesellschafts- und Sprachwissenschaftliche Reihe 13 (1969) 409–419, Gerda Haßler: Dictionnaire onomasiologique et métalangage des XVIIème et XVIIIème siècles. In: Lexicographica 21 (2005) 58–70, Gilles Siouffi: Enquête autour du concept de perfection dans la description linguistique (France, XVIIème siècle). In: History of Lingustics in Texts and Concepts. – Geschichte der Sprachwissenschaft in Texten und Konzepten, hg. von Gerda Haßler und Gesina Volkmann (Münster 2004) 141–154, Hans Ulrich Gumbrecht: Dimensionen und Grenzen der Begriffsgeschichte (München 2006). 12 K. Stierle, Historische Semantik, a. a. O [Anm. 11] 178. 13 K. Stierle, Historische Semantik, a. a. O [Anm. 11] 179. 11
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diese Vielfalt von Funktionen von Textserien im Hinblick auf das Begriffsgefüge des Referenztextes zu verdeutlichen:
Referenztexte sind intentional auf die Festlegung oder Veränderung begrifflicher Inhalte gerichtet und greifen dabei in unterschiedlicher Weise auf die vorangegangene serielle Textproduktion zurück. Sie werden in der Regel auch retrospektiv als verbunden mit bestimmten Begriffsbildungen erkannt und sind von daher auch die geläufigen Beispielspender in begriffsgeschichtlichen Arbeiten und lexikographischen Nachschlagewerken. Serielle Texte verdeutlichen dagegen sowohl die onomasiologische Breite in der Bezeichnungsgeschichte eines bestimmten Begriffes als auch die semasiologische Varianz und Dynamik des einzelnen Lexems. Sie können in den Referenztexten dann stringentere semantische Festlegungen vorbereiten, diese aber auch im nachträglichen Sprachgebrauch wieder aufweichen. Als Beispiele für die von uns untersuchten Textserien seien die folgenden genannt: – Textserie 1: Textserie in der Normierungsdiskussion des 17. Jahrhunderts in Frankreich (Commentaires sur les Remarques de Vaugelas par La Mothe le Vayer, Scipion Dupleix, Ménage, Bouhours, Conrart, Chapelain, Patru, Thomas Corneille, Cassagne, Andry de Boisregard). – Textserie 2: Mitte des 17. Jahrhundertst unter dem Eindruck der Entwicklung des Rationalismus entstandene Serie von Grammatiken, die sich das Ziel stellen, Sprachen auf dem Hintergrund allgemeingültiger vernünftiger Prinzipien zu erklären und dadurch deren Erlernen zu fördern (Claude Lancelots Lehrwerken zum Lateinischen (1644), Griechischen (1655), Italienischen (1660), Spanischen (1660). – Textserie 3: Mit der Eroberung, Kolonisierung und Missionierung Amerikas setzt eine Textserie ein, die sich auf die Beschreibung von Eingeborenensprachen bezieht. (João Rodriguez: Arte de la lingoa de Iapan. Nagasaki (3 vols) 1604–1608; Luis de Valdivia: Arte y gramática general de la lengua que corre en todo el reyno de Chile, con un vocabulario y confessionario. Lima
Die Entwicklung von Begriffen in Textserien
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1606; Luis de Valdivia: Doctrina christiana y cathecismo en la lengua allentiae, que corre en la ciudad de S. Juan de la Frontera. Lima 1607; Diego de Torres Rubio: Arte de la lengua quichua. Lima 1619 und weitere). – Textserie 4: Sprachensammlungen des ausgehenden 18. Jahrhunderts (Adelung, Johann Christoph (1970): Mithridates oder allgemeine Sprachenkunde mit dem Vater Unser als Sprachprobe in bey nahe fünfhundert Sprachen und Mundarten. Erster Theil, Berlin 1806 (Repr. Hildesheim, New York 1970 ; Denina, Carlo (1804): La clef des langues ou observations sur l’origine et la formation des principales langues qu’on parle et qu’on écrit en Europe. Berlin; Hervás y Panduro, Lorenzo (1979 [1800–1805]): Catálogo de las lenguas de las naciones conocidas, y numeración, división, y clases de estas, según la diversidad de sus idiomas y dialectos. (Madrid: Imprenta de la Administración del Real Arbitrio de Beneficiencia 1800–1805). Madrid: Atlas, 6 vols.; Denina, Carlo (1804): La clef des langues ou observations sur l’origine et la formation des principales langues qu’on parle et qu’on écrit en Europe. Berlin; Pallas, Peter Simon (1786): Linguarum totius orbis vocabularia comparativa; Augustissimae cura collecta. Sectionis Prima, Linguas Europae et Asiae complexae. Pars Prior, Petropoli: Typis Iohannis Caroli Schnoor. – Textserie 5: Sprachbezogene Preisfragen europäischer Akademien (z. B. Berliner Preisfragen: 1759: Welcher Art ist der wechselseitige Einfluß der Meinungen des Volkes auf die Sprache und der Sprache auf die Meinungen? 1771: Sind die Menschen ihren natürlichen Neigungen überlassen imstande, die Sprache zu erfinden? 1784: Was hat die französische Sprache zu einer Universalsprache in Europa gemacht, wodurch verdient sie diese Stellung und wird sie sie vermutlich weiter behalten? 1793 wurde ein Wettbewerb »über die Vervollkommnung der deutschen Sprache« ausgeschrieben, der von Campe gewonnen wurde; 1792/1794: Vergleichung der Hauptsprachen Europas, lebender und todter, in Bezug auf Reichthum, Regelmäßigkeit, Kraft, Harmonie und andere Vorzüge; in welchen Beziehungen ist die eine der anderen überlegen, welche kommen der Vollkommenheit menschlicher Sprache am nächsten?; 1799/1801: Über den Ursprung aller unserer Erkenntnisse. Die Betrachtung textueller Vorgänge der Entstehung und Verbreitung von Begriffen hilft dabei auch, die Frage nach der kausalen Erklärung der jeweiligen Veränderung und nach ihrer Rolle bei der Initiierung oder Verschleierung von Traditionsbrüchen zu beantworten. Zu Recht wurde vermutet, daß eine Erklärung des Wandels von Begriffen als Folge des Wandels von Sachverhalten nur die eine Hälfte der Erklärung ist und eine zweite die Erklärung des Wandels der Sachverhalte als Folge eines Wandels von Begriffen und deren Bezeichnungen.
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V. Der Aufbau des Lexikons sprachtheoretischer Grundbegriffe des 17. und 18. Jahrhunderts Abschließend soll das Ergebnis unserer Arbeit, das Lexikon sprachtheoretischer Grundbegriffe des 17. und 18. Jahrhunderts, in seinem Aufbau dargestellt werden. A. Makrostruktur Das Lexikon gliedert sich nach Hierarchieebenen, die dem einführend erklärten Begriffsraster folgen. Die oberste Hierarchieebene besteht aus folgenden Bereichen: (1) (2) (3) (4) (5) (6) (7) (8)
ONTOLOGIE / ZEICHEN / SPRACHE und DENKEN URSPRUNG / ENTSTEHUNG / ENTWICKLUNG EINHEIT / VIELFALT SPRACHVERWENDUNG GEGENSTAND DER SPRACHBESCHREIBUNG GRAMMATISCHE BESCHREIBUNG LEXIKALISCHE BESCHREIBUNG PHONETISCHE BESCHREIBUNG
Als Beispiel wird im Folgenden die Gliederung des ersten Begriffsbereichs aufgeführt, der den Schwerpunkt des Lexikons bildet:
ONTOLOGIE / ZEICHEN / SPRACHE und DENKEN 1. Wesen der Sprache 1.1. Beschäftigung mit dem Wesen der Sprache, Sprachtheorie 1.2. natürliche Sprache 2. Sprachfähigkeit vs. Einzelsprache 3. menschliche Lautsprache vs. andere Zeichen 3.1. Arbitrarität 3.2. Konvention 4. Zeichen vs. Idee (Begriff) 5. Spracherwerb 5.1. Erstspracherwerb 5.2. Zweitspracherwerb 5.3. Methode 5.4. defizitärer Spracherwerb 5.4.1. sozial defizitärer Spracherwerb (ausgesetzte Kinder) 5.4.2. physisch defizitärer Spracherwerb (Gehörlose) 5.4.3. kulturell defizitärer Spracherwerb (exotische Völker) 6. Funktionen der Sprache (allgemeine)
Die Entwicklung von Begriffen in Textserien
6.1. 6.2. 6.3. 7. 7.1.
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Mitteilung, Ausdruck des Denkens Darstellung / Vorstellung Hilfe des Denkens, kognitive Funktion Funktion (spezielle, bei Zuordnung sprachlicher Mittel unterschiedlicher Kategorien) Satzbeziehungsmittel
B. Mikrostruktur Die Einträge zu den einzelnen Lemmata haben folgende Mikrostruktur: – BEGRIFF – I. Schlüsselwörter des Bezeichnungsfeldes (lateinisch, deutsch, französisch, englisch; je nach Wichtigkeit der Konzeptualisierung in einzelnen Textsorten und Kulturräumen auch spanische, italienische, portugiesische, russische, polnische, tschechische und niederländische Bezeichnungen). Bei der Auflistung der Bezeichnungen wird zwischen geläufigen, weitgehend kontextfreien Bezeichnungen und am Konzeptualisierungsprozeß beteiligten, jedoch stark kontextgebundenen oder paraphrasierenden Bezeichnungen unterschieden. – II. authentische Definitionen und Verwendungskontexte mit Angabe der Referenztexte und typischer Verwendungsweisen. Die Textstellen werden unter Angabe des Referenztextes hintereinander in chronologischer Reihenfolge aufgeführt. – III. Darstellung des Begriffs und seiner Vernetzung im 17. und 18. Jahrhundert. Dabei wird auch auf Konzeptualisierungsprozesse, Terminologisierungen und Bezeichnungswandel eingegangen. – IV. Kontinuität und Rezeption. Begriffliche und terminologische Weiterentwicklungen nach dem 18. Jahrhundert werden kurz dargestellt. Unter Rezeption wird ein eventuelles Rekurrieren späterer sprachwissenschaftlicher Theorien auf das dargestellte Konzept unter Einschluß von Umdeutungen, Einbau in Theorienlegitimation, Festlegung auf spätere Referenztexte – möglicherweise sogar unter Ausblenden des Sprachdenkens der betrachteten Zeit – beschrieben. – V. Literaturhinweise. An dieser Stelle werden Hinweise auf weiterführende Literatur zum behandelten Begriff und seiner Historiographie gegeben. In der Rezeption von Konzepten und Lösungsansätzen kann die Relevanz eines stark dominierenden Problemhorizonts Passendes auslesen und Unpassendes ausblenden. Die bisherige geistesgeschichtliche Historiographie, in der allein die theoretischen Kontexte einander antworteten und Beziehbarkeiten stifteten, hat in vorbildlichen Einzelstudien der Vielfalt und der wechselnden Reichweite von
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Problemhorizonten durchaus Rechnung getragen.14 Der mit dem Lexikon auch beabsichtigte Beitrag zum Verständnis eines historischen Zeitraums erfordert jedoch eine Inbezugsetzung mit anderen Bereichen und Erscheinungsformen des Lebens im 17. und 18. Jahrhundert, die in die Begriffsbildungen unmittelbar über die Entstehungsbedingungen der Texte eingehen.
Clemens Knobloch: Problemgeschichte und Begriffsgeschichte. In: A Science in the Making. The 1994 Regensburg Symposia on European Linguistic Historiography, hg. von Herbert E. Brekle et al. (Münster 1996) 265. 14
Literaturwissenschaftliche und philosophische Studien zur Geschichte einzelner Begriffe
Helmut C. Jacobs NOVELLA, NOUVELLE, NOVELA
– Genese, Dilemma und Möglichkeiten einer Begriffsgeschichte der romanischen Kurznarrativik Es ist ein tief verwurzelter, noch in aktuellen Publikationen weiter tradierter Irrtum der Novellenforschung, den Beginn der Gattungsgeschichte erst mit Giovanni Boccaccios Decamerone von 1353 anzusetzen. Boccaccio konnte auf eine bereits seit Mitte des 13. Jahrhunderts einsetzende Tradition volkssprachigen Erzählens rekurrieren, die er durchaus aufnahm, dann aber freilich zu einem modellbildenden Höhepunkt geführt hat. Keineswegs hat er die Novelle erfunden, aber in unverkennbarer Weise geprägt. Insbesondere die neunte Novelle des fünften Tages, die als Falkennovelle bekannt geworden ist, wurde als »Paradebeispiel novellistischer Erzählkunst«1 diskutiert. Das zentrale Motiv des Falken, um das sich die Handlung wie um eine Achse dreht, wurde in der »Falkentheorie«2 als Spezifikum einer Novelle bezeichnet. Dies setzt voraus, daß es eine Gemeinsamkeit aller Texte gibt, die den kurzen Erzähltext von anderen literarischen Gattungen unterscheidet. Sollte es ein solches Spezifikum geben, so ist es – ein Dilemma – eben doch wieder in allen Texten anders, denn das Spezifikum der Novelle ist ihre ständige Neuheit und Variabilität. Die Anfänge der Novellistik und die Entstehung des gattungstypologischen Begriffs der Novelle sind eng verbunden mit der Herausbildung der mittelalterlichen Jurisprudenz in Oberitalien. Die Klärung des begriffsgeschichtlichen Zusammenhangs zwischen der juristisch-politischen Bezeichnung novella und der literarischen, dessen begriffsgeschichtliche Dimension im folgenden dargelegt wird, ist ein Desiderat der Novellenforschung.3 Schon die exemplarische Analyse zeigt, daß die übliche Herleitung von novella aus dem Altprovenzalischen unwahrscheinlich sein dürfte,4 da dies durch die juristischen Implikationen des
Wilhelm Pötters: Begriff und Struktur der Novelle. Linguistische Betrachtungen zu Boccaccios ›Falken‹ (Tübingen 1991) 6. 2 Ebd. 7. 3 Vgl. Wolfgang Rath: Die Novelle. Konzept und Geschichte (Göttingen 2000) 57, Anm. 1. 4 Vgl. Eberhard Leube: Boccaccio und die europäische Novellendichtung. In: Renaissance und Barock, hg. von August Buck (Wiesbaden 1972) 128–161, hier 128. Mercedes Brea: Narrativa breve provenzal. In: Tipología de las formas narrativas breves románicas medievales, hg. von 1
Archiv für Begriffsgeschichte · Sonderheft 8 · © Felix Meiner Verlag 2010 · ISBN 978-3-7873-1971-8
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Begriffs und die Situierung seiner Entstehung in den oberitalienischen Raum klar widerlegt wird. Die provenzalischen novas sind Erzählungen in Versform, und die vidas und razós sind Erzählungen in Prosa; die comtes sind kurze Erzählungen, die in längere Texte eingefügt sind.5 Der Begriff novela ist das Diminutiv zu nova. Seit jeher bestehen zwischen Literatur und Jurisprudenz enge Beziehungen. Viele Themen und Motive des Gerichtswesens haben Eingang in literarische Texte gefunden, und auch die Rechtswissenschaft hat die Literaturwissenschaft beeinflußt.6 Aufgrund ihrer Differenzierung in zwei institutionell streng getrennte Fächer sind solche interdisziplinären Referenzen den jeweiligen Fachvertretern kaum bewußt. Zur Bezeichnung von Teildisziplinen oder Arbeitsfeldern benutzen Rechts- und Literaturwissenschaft oft dieselben Begriffe, doch deren Bedeutung ist je nach der Disziplin unterschiedlich. Der Begriff Romanistik bezeichnet in der Jurisprudenz die Teildisziplin, die sich der Erforschung des römischen Rechts widmet,7 in der Literaturwissenschaft die Wissenschaft von Sprache, Literatur und Kultur der romanischen Völker. Der Romanist ist der Repräsentant der jeweiligen Disziplin. Als romanistische Mediävistik wird in der Rechtswissenschaft »die Wissenschaft vom römischen Recht im Mittelalter«8 bezeichnet, in der Literaturwissenschaft die Erforschung der romanischen Literaturen des Mittelalters. Der literaturwissenschaftliche Begriff Rezeption stammt aus der juristischen Romanistik.9 Er bezeichnet in der Rechtswissenschaft die Auseinandersetzung mit dem römischen Recht und dessen Übernahme in die seinerzeit aktuelle Rechtstradition der verschiedenen europäischen Länder.10 In der Literaturwissenschaft beJuan Paredes/Paloma Gracia (Granada 1998) 165–184, hier 169, Anm. 16. W. Rath: Die Novelle [Anm. 3] 57. 5 Zur Begrifflichkeit und Typologie der provenzalischen Kurzformen vgl. M. Brea: Narrativa breve provenzal [Anm. 4]. 6 Zum Einfluß des Rechts auf die mittelalterliche französische Literatur vgl. R. Howard Bloch: Medieval French Literature and Law (Berkeley/Los Angeles/London 1977). Karin Becker: Amors Urteilssprüche. Recht und Liebe in der französischen Literatur des Spätmittelalters (Bonn 1991). Zur Bedeutung des Rechts für die Herausbildung der frühen altitalienischen Texte vgl. Helmut C. Jacobs/Marcel Klugmann: Mittelalterliche Novellistik und Jurisprudenz – Zivilrechtsfälle und rechtsphilosophische Reflexion im Novellino. In: Mediaevistik 16 (2004) 7–50. Frank-Rutger Hausmann: Die Anfänge der italienischen Literatur aus der Praxis der Religion und des Rechts (Heidelberg 2006). 7 Vgl. Friedrich Merzbacher: Römisches Recht und Romanistik im Mittelalter. In: Historisches Jahrbuch 89 (1969) 1–32. 8 Hermann Dilcher: Zur Einführung: Romanistische Mediävistik. In: Juristische Schulung 6. Jg., Heft 10 (1966) 387–392, hier 387. 9 Vgl. Horst Rüdiger: Die Wiederentdeckung der antiken Literatur im Zeitalter der Renaissance. In: Geschichte der Textüberlieferung der antiken und mittelalterlichen Literatur. 1. Bd. (Zürich 1961) 511–580, hier 573 und 575–576. 10 Vgl. Hermann Lange: Das Problem der Rezeption im Recht. In: Zum Problem der Rezeption in den Geisteswissenschaften, hg. von Akademie der Wissenschaften und der Literatur (Mainz/Stuttgart 1987). Filippo Ranieri: Römisches Recht, Rezeption. In: Lexikon des Mittelalters. 7. Bd. (München/Zürich 1995) 1014–1016.
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zeichnet Rezeption die schöpferische Übernahme von Texten oder Kunstwerken der Tradition im Spannungsfeld von Nachahmung und Originalität,11 aber auch – als Rezeptionsästhetik – die Art und Weise, wie ein Leser Texte versteht.12 Der Begriff Novellistik bezeichnet im juristischen Sinne die Auswirkungen der Glossatoren auf die frühe italienische Gesetzgebung, insbesondere auf das lokale Recht der italienischen Kommunen.13 In der Literaturwissenschaft ist mit Novellistik das Korpus der seit dem Mittelalter entstandenen profanen volkssprachigen Kurznarrativik gemeint.
I. Grundsätzliche Überlegungen zur Begriffsgeschichte der frühen romanischen Kurznarrativik Der Begriff Kurznarrativik wird verwendet als Oberbegriff für kurze Erzählungen des Mittelalters, für die einzelnen ebenso wie die in Sammlungen zusammengefaßten, geistliche wie profane, abgefaßt in Prosa wie in gebundener Sprache. Als Novellistik wird derjenige Teilbereich verstanden, der die profanen Erzählungen in Prosa umfaßt. Die Genese der romanischen Kurznarrativik beginnt im Mittelalter: in Frankreich bereits im 12. Jahrhundert, in Italien und Spanien etwas später in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts. Das Exemplum, das »nicht als Gattungs-, sondern als Funktionsbegriff aufzufassen«14 ist, wird zur belehrenden Exemplifizierung von etwas anderem eingesetzt, meist indem eine vergangene Begebenheit zur Lösung eines aktuellen Problems dient.15 Die volkssprachige Novelle löst das lateinische Exemplum ab, das zunächst als Vorlage für Übersetzungen diente, und ersetzt es schließlich ganz. Nach einer Übergangsphase, in der Exempla in volkssprachiger Gestalt erzählt wurden, entfaltete das volkssprachige Erzählen mit neuen Funktionen im profanen Bereich eine solche Dynamik, daß die Erzähltexte eine inhaltliche Originalität als Novellen gewannen. Die No-
Vgl. Clemens Zintzen: Das Zusammenwirken von Rezeption und Originalität am Beispiel römischer Autoren. In: Zum Problem der Rezeption in den Geisteswissenschaften, hg. von Akademie der Wissenschaften und der Literatur (Mainz/Stuttgart 1987) 15–36. 12 Vgl. Karlheinz Stierle: Was heißt Rezeption bei fiktionalen Texten? In: Poetica 7 (1975) 345–387. 13 Vgl. H. Dilcher: Zur Einführung: Romanistische Mediävistik [Anm. 8] 389. 14 Walter Haug: Exempelsammlungen im narrativen Rahmen: Vom ›Pañcatantra‹ zum ›Dekameron‹. In: Exempel und Exempelsammlungen, hg. von Walter Haug/Burghart Wachinger (Tübingen 1991) 264–287, hier 264. 15 Zu den Konstituenten des Exemplums vgl. Hans-Jörg Neuschäfer: Boccaccio und der Beginn der Novelle. Strukturen der Kurzerzählung auf der Schwelle zwischen Mittelalter und Neuzeit (München 1969) 53–56. Karlheinz Stierle: Geschichte als Exemplum – Exemplum als Geschichte. In: Geschichte – Ereignis und Erzählung, hg. von Reinhart Koselleck/Wolf-Dieter Stempel (München 1973) 347–375. 11
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velle ist einer der nachhaltig wirkungsvollsten originellen Beiträge der Romania zur europäischen Literatur. In bezug auf die Benennung der frühen romanischen Kurzerzählungen ergibt sich in methodischer Hinsicht das Dilemma, diese bunte Fülle an Formen und Themen begrifflich zu erfassen und gattungstypologisch zu differenzieren. Schon die Zuordnung zum Textkorpus narrativer Kurzformen ist nicht in jedem Falle einfach, da es neben Prosatexten auch alle möglichen Kurzformen in gebundener Sprache gibt. Im Gegensatz zu anderen seit der Antike kanonisierten Gattungen wie Heldenepos, Drama oder Komödie stellt sich der bei einer Gattungszuweisung notwendige Vorgang einer begrifflichen Abstraktion, infolgedessen individuelle Texte bestimmten Gruppen subsumiert werden, als schwierig heraus. In methodischer Hinsicht ergeben sich zwei Grundfragen: erstens, auf der synchronen Ebene der Entstehungszeit dieser Texte, die Frage, wie die meist anonymen Autoren selbst ihre Erzählungen benannt haben, und zweitens, in diachroner Hinsicht, aus der Sicht der seit dem 19. Jahrhundert entstandenen Novellentheorien,16 die Frage, wie eine sich ständig wandelnde Literaturgeschichtsschreibung die frühen romanischen Erzähltexte benennen soll, unter der Direktive verschiedenster Interpretationsmodelle. Hieraus ergibt sich die Erfordernis zu klären, was man unter einer Novelle versteht. In bezug auf die erste dieser beiden Grundfragen kann man zwar die mittelalterlichen Bezeichnungen eruieren und bestimmten Texten zuordnen, da sich Ordnungen unterschiedlicher Gattungen und Binnengattungen rekonstruieren lassen, es stellt sich aber die Frage, ob es schon im Mittelalter ein Gattungsbewußtsein in bezug auf kurze Erzähltexte gegeben hat. Daß aufgrund des Fehlens von gattungstypologischen Definitionen und poetologischen Programmen postuliert werden kann, es habe kein Gattungsbewußtsein für die Kurznarrativik gegeben,17 kann mit Blick auf die frühe romanische Kurznarrativik sicherlich nicht aufrecht erhalten werden. Tatsächlich kann ein Gattungsbewußtsein vorhanden sein, selbst wenn es nicht explizit zur Sprache gebracht wird.18 So deutet die Konzeption des bel parlar gentile, das sich Herausreden aus einer bedrückenden oder lebensbedrohlichen Zwangslage mittels des Wortes und gegebenenfalls des Wortwitzes, die im Novellino eng mit dem Erzählen kurzer Geschichten verknüpft wird, durchaus auf ein gewisses Bewußtsein einer bestimmten Form von Reden, die in charakteristischer Weise im volkssprachigen Erzählen kurzer, zur Zeit ihrer Entstehung als neuartig eingeschätzter Geschichten artikuliert wird. Vgl. Karl Konrad Polheim: Novellentheorie und Novellenforschung. Ein Forschungsbericht 1945–1964 (Stuttgart 1965). W. Pötters: Begriff und Struktur der Novelle [Anm. 1] 37–46. 17 Zu dieser These vgl. Klaus Grubmüller: Die Ordnung, der Witz und das Chaos. Eine Geschichte der europäischen Novellistik im Mittelalter: Fabliau – Märe – Novelle (Tübingen 2006) 12. 18 Es kann indirekt erschlossen werden, aufgrund impliziter, mehr oder weniger bewußt vorgenommener Zuordnungen oder rekurrenter gattungstypologischer Charakteristika. 16
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Die zweite Grundfrage nach einer Typologie der Novelle, ob es einen »›Typus‹ Novelle«19 gibt oder nicht, steht im Zentrum der Novellentheorien.20 Bei der Suche nach den unabdingbaren Konstituenten der Novelle ergibt sich ein Dilemma, das Polheim beschreibt: »Die Hauptmerkmale, die aus den Novellentheorien des 19. Jahrhunderts immer wieder aufgenommen und angewendet werden: die unerhörte Begebenheit, der Wendepunkt und der Falke besitzen keineswegs die ihnen so oft zugeschriebene Allgemeingültigkeit, sondern sie sind immer sehr individuell zu verstehen«21. In den Novellentheorien ringt man geradezu um die Definition des Begriffs Novelle, in der romanistischen und germanistischen Novellenforschung gleichermaßen.22 Für Goethe ist die Novelle bekanntlich »eine sich ereignete unerhörte Begebenheit«23. Nicht nur entwickelt jedes Land seine eigene Novellentradition und entsprechende Novellentheorien, sondern auch seine jeweiligen Benennungen für die Gattung: Während im Englischen novel, wie im Spanischen novela, den Roman bezeichnet, wird die Erzählung tale oder short story genannt.24 In Frankreich werden die Begriffe nouvelle, conte, récit verwendet, in Spanien cuento und relato, in Italien novella. In Frankreich und Italien läßt sich eine eindeutige Unterscheidung zwischen Erzählung (nouvelle bzw. novella) und Roman (roman bzw. romanzo) feststellen. In Spanien verwendet man romance als Bezeichnung für die balladenartigen Gedichte und Gesänge der Romanzen; novela dagegen als Bezeichnung für den Roman,25 cuento für die Erzählung. Roman und Novelle weisen durchaus Gemeinsamkeiten auf. Die Voraussetzung beider Gattungen ist das Bewußtsein von Individualität. Formal hat die Kurznarrativik mit dem Roman nicht nur gemein, daß sie in Prosa verfaßt ist, sondern daß sie, wie dieser auch, eine unkanonische Gattung ist. Der Ausgangspunkt für die Novelle ist eine Ordnung, die durch Unvorhergesehenes gestört wird. Die Bodenständigkeit der Novellistik ergibt sich daraus, daß sie ausgeht von »Erfahrungen von wirklichen Geschehnissen aus dem Alltag«26, in dem es allerdings keine ordnende oder metaphysische Lenkung mehr gibt, denn Zufall und Glück bestimmen das Leben der Menschen. Der Zufall ist
W. Rath: Die Novelle [Anm. 3] 9. Zum Begriff der Novelle vgl. Gerald Gillespie: Novella, Nouvelle, Novella, Short Novel? – A Review of Terms. In: Neophilologus 51 (1967) 119–127, 225–230. 21 K. K. Polheim: Novellentheorie und Novellenforschung [Anm. 16] 59. 22 Zur deutschen Novellentheorie und -forschung vgl. Josef Kunz (Hg.): Novelle (Darmstadt 1973), zur romanistischen vgl. Hermann H. Wetzel: Die romanische Novelle bis Cervantes (Stuttgart 1977). 23 Johann Peter Eckermann: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens, hg. von Paul Stapf (Wiesbaden o. J.) 231. 24 Vgl. W. Rath: Die Novelle [Anm. 3] 15. 25 Vgl. Werner Krauss, (1940): Novela – Novelle – Roman. In: Zeitschrift für romanische Philologie 60 (1940) 16–28. 26 W. Rath: Die Novelle [Anm. 3] 12. 19 20
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eine unabdingbare Konstituente der Novelle; er bringt die handelnden Personen in außergewöhnliche Situationen, entreißt sie ihrem normalen Lebensvollzug, veranlaßt sie zu solchen Handlungsweisen, die für sie zu einem einschneidenden, unerwarteten, überraschenden Wendepunkt führt, nach dessen Erleben für sie nichts mehr so ist wie früher.27 In der Freiheit des Erzählens werden Grenzen durchbrochen. Dieses Entgrenzen bietet dem Erzähler viele Möglichkeiten,28 aber eine Schwierigkeit liegt auch in der Beschränkung dieser Freiheit, mit der er Neuland erschließen und Unerhörtes erzählen will. Zur Ordnung des Partikularen dient die Rahmenerzählung.29 Hier soll es nicht um die erneute Suche nach der Urform der Novelle30 oder um eine weitere Novellentheorie gehen, sondern um eine Untersuchung der Entstehung der volkssprachigen Novellistik aus begriffsgeschichtlicher Perspektive. Daß der Autonomisierungsprozeß, der vom lateinischen Exemplum zur volkssprachigen Novelle führt,31 inhaltlich, funktional und in bezug auf den Gattungsbegriff Novelle selbst aufs engste mit der Wiederentdeckung des römischen Rechts im Mittelalter und der Institutionalisierung der Rechtswissenschaft verbunden ist, soll im folgenden an der 1280 entstandenen anonymen italienischen Novellensammlung Novellino exemplarisch gezeigt werden. Gerade am Beispiel der frühen italienischen Novellistik und der mittelalterlichen Rechtswissenschaft läßt sich zeigen, wie groß der Einfluß der Jurisprudenz auf die Erzählliteratur gewesen ist, insbesondere auf den Novellino als eine der frühesten volkssprachigen Novellensammlungen, aber auch auf andere altitalienische Sammlungen von Kurzerzählungen, beispielsweise Le Miracole de Roma.32
27 Den Begriff »Wendepunkt« als Konstituente der Novelle hat Ludwig Tieck 1829 geprägt. Vgl. Hugo Aust: Novelle (Stuttgart/Weimar 31999) 26–27. 28 Vgl. W. Rath: Die Novelle [Anm. 3] 11. 29 Zum narrativen Rahmen von Kurzerzählungen vgl. H. Wetzel: Die romanische Novelle bis Cervantes [Anm. 22] 19–54. W. Haug: Exempelsammlungen im narrativen Rahmen [Anm. 14]. 30 Vgl. K. K. Polheim: Novellentheorie und Novellenforschung [Anm. 16] 10–11. 31 Vgl. Salvatore Battaglia: Dall’esempio alla novella. In: Filologia Romanza 7 (1960) 21–84. 32 Zu Le Miracole de Roma vgl. Helmut C. Jacobs: Les formes narratives brèves en Italie. In: Grundriss der Romanischen Literaturen des Mittelalters. 5. Bd. Teil C, hg. von Wolf-Dieter Lange (Heidelberg 1991) 17–120, hier 74–84.
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II. Die Entstehung der italienischen Novellistik und der ›Novellino‹ vor dem Hintergrund der Wiederentdeckung des römischen Rechts und der Institutionalisierung der Rechtswissenschaft Das antike römische Recht wurde zwischen 529 und 534 in Konstantinopel auf Geheiß des oströmischen Kaisers Justinian kodifiziert.33 Justinians Corpus iuris civilis besteht aus Codex, Novellae, Institutiones und Digesten. Auf den Begriff Novellae, die von Justinian selbst erlassenen Gesetze, geht der Begriff novella zurück. Waren die ersten drei Teile im Mittelalter noch bekannt, so gingen die Digesten verloren. Sie gerieten fünf Jahrhunderte lang in Vergessenheit.34 Erst um 1070 wurde eine Handschrift der Digesten aus dem 6. Jahrhundert wiederentdeckt. Auf der Grundlage des Corpus iuris civilis, das in seiner Gänze also erst gegen Ende des 11. Jahrhunderts wieder bekannt war, entwickelte sich in den ersten Jahrzehnten des 12. Jahrhunderts in Bologna eine Rechtswissenschaft an der dortigen Universität, die seit 1088 bestand.35 Die Universität Bologna mit ihrer Rechtsschule der Glossatoren wurde das europäische Zentrum der juristischen Studien. Wichtige Voraussetzungen für die Renaissance der antiken Rechtskultur und die Herausbildung der Jurisprudenz als institutionalisierter Wissenschaft waren der politische und wirtschaftliche Aufstieg der oberitalienischen Kommunen, deren Verwaltungs- und Handelsstrukturen eine Rechtspraxis notwendig machten, und in methodischer Hinsicht die Scholastik, deren Methoden bei der Interpretation der juristischen Texte Anwendung fanden.36 Eine wichtige Vorbedingung für die volkssprachige Erzählliteratur in Italien war der Umstand, daß im Zuge der politischen, sozialen und ökonomischen Veränderungen ein Laienpublikum entstand, das nicht mehr des Lateins kundig war. Durch den wirtschaftlichen Aufschwung in den Stadtrepubliken und die Auflösung bisher zentralistisch ausgerichteter Herrschafts- und Verwaltungsstrukturen wurde das Bildungsmonopol des Klerikerstandes, dem insbesondere die Pflege literarischer Bildung oblag, aufgehoben, und die Städte gewannen mit ihren Kanzleien, Notariaten, Handelsniederlassungen und aufblühenden Universitäten zunehmend an Bedeutung. Zu dem neuen Laienpublikum in Oberitalien, das sich für die volkssprachige Novellistik interessierte, gehörte nicht zuletzt
33 Vgl. Ennio Cortese: Il diritto nella storia medievale. 1. Bd. (Rom 1995) 99–123. Peter G. Stein: Römisches Recht und Europa (Frankfurt a. M. 1996) 61–67. 34 Vgl. Hermann Lange: Die Anfänge der modernen Rechtswissenschaft (Mainz/Stuttgart 1993) 10–12. 35 Vgl. Paul Koschaker: Europa und das römische Recht (München/Berlin 41966) 55–105. Helmut Coing (Hg.): Handbuch der Quellen und Literatur der neueren europäischen Privatrechtsgeschichte. 1. Bd. (München 1973). Johannes Fried: Die Entstehung des Juristenstandes im 12. Jahrhundert (Köln/Wien 1974) 45–171. Hermann Lange: Römisches Recht im Mittelalter. Bd. 1 (München 1997). 36 Vgl. Gerhard Otte: Die Rechtswissenschaft. In: Die Renaissance der Wissenschaften im 12. Jahrhundert, hg. von Peter Weimar (Zürich/München 1981) 123–142.
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auch der neue Berufsstand der Juristen und Notare. Die Anfänge der italienischen Novellistik in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts fallen in die Zeit der Postglossatoren, also in die Periode nach der Etablierung und Institutionalisierung der Rechtswissenschaft in Bologna. Gerade auch der Begriff Novelle steht im engen Zusammenhang mit der Jurisprudenz, denn die ursprüngliche Bedeutung ist juristisch-politisch.37 Die Novellae sind ein Teil des Justinianischen Corpus iuris civilis, auf den auch der moderne Begriff der Gesetzesnovelle oder die Wendung vom Novellieren eines Gesetzes zurückgehen. In der Literaturwissenschaft wird mit Novelle eine kurze Erzählung bezeichnet.38 Der Begriff novella findet bereits in der frühen italienischen Novellistik als poetologischer Terminus Verwendung, steht aber noch in Konkurrenz zu anderen Begriffen, mit denen die Autoren selbst ihre Erzählungen bezeichnen. Der Kompilator der Conti morali di anonimo senese nennt die einzelne Erzählung »contio«, die moralisch-didaktische Paränese, mit der jede Erzählung endet, »assempro«. Der Libro de’ Sette Savi di Roma ist einer der frühesten Belege für die Verwendung von »novella« als Gattungsbezeichnung, doch werden die Exempla im Text und in den Überschriften auch als »esempro«, ausschließlich im Text auch als »avventura«, »conto« oder »fatto« bezeichnet. Im Novellino meint der Begriff »novella« im Text und in den später hinzugekommenen Überschriften ein neues, bisher nicht gehörtes Ereignis, das man sich im Volk erzählt.39 Nur an einer einzigen Stelle wird mit »novella« eine Erzählung bezeichnet.40 Der Geschichtenerzähler wird als »novellatore«41 bezeichnet. In Francesco da Barberinos Reggimento e costumi di donna heißt die zweite der insgesamt drei dort eingefügten Prosanovellen provenzalischen Ursprungs ausdrücklich »essemplo«. Die dritte Erzählung nennt der Autor allerdings auch »novella«. Von Giovanni Boccaccio werden im Titel seiner Sammlung Decamerone zwar »cento novelle« angekündigt, doch wird diese Bezeichnung am Ende des Proemio relativiert und terminologisch diversifiziert, wenn Boccaccio angibt, er erzähle »cento novelle, o favole, o parabole, o istorie che dire le vogliamo«42. Im Text selbst findet sich außer novella auch die Bezeichnung novelletta. Der Decamerone ist der modellbildende Text für die endgültige Etablierung des Wortes novella im Italienischen als Bezeichnung für die kurze Erzählung, mit einer Rückwirkung auch die spätere, erst im 16. Jahrhundert erfolgte TitelgeVgl. Benno von Wiese: Novelle (Stuttgart 81982) 1. In Deutschland setzt sich das Wort Novelle zur Bezeichnung der literarischen Gattung erst ab 1760 allmählich durch. Vgl. Arnold Hirsch: Der Gattungsbegriff Novelle (Berlin 1928). 39 Vgl. Il Novellino, hg. von János Riesz (Stuttgart 1988) 64 (Nr. XXI), 68 (Nr. XXIII), 88 (Nr. XXXIII), 142 (Nr. LXIV). 40 Ebd. 196 (Nr. LXXXIX). 41 Ebd. 82 (Nr. XXXI). 42 Zu diesem Widerspruch vgl. W. Pötters: Begriff und Struktur der Novelle [Anm. 1] 37–38. 37 38
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bung des Novellino. In einer an der Wende zum 14. Jahrhundert entstandenen Handschrift wird die Sammlung bezeichnet als Libro di novelle e di bel parlare gientile. Im 16. Jahrhundert entsteht der Titel Cento novelle antiche. Auch der Begriff casus zeigt die enge Beziehung der Novellistik zur Jurisprudenz. Als casus im juristischen Sinne bezeichnete man zunächst lediglich die inhaltliche Zusammenfassung von einzelnen Gesetzen des Corpus iuris civilis,43 später einen juristischen Fall, der in einer juristischen Vorlesung erläutert wurde. Seit Mitte des 13. Jahrhunderts bildete sich allmählich eine eigene juristische Gattung heraus, die Casus-Sammlungen, deren Zusammenstellung zwar schon unter den Glossatoren begann, deren Blütezeit aber in die Zeit der Postglossatoren fällt.44 Bereits im Mittelalter wurden mit casus auch Novellen bezeichnet, aber erst in Boccaccios Decamerone.45 In der Literaturwissenschaft ist der Kasus ein bestimmter Typ von Novellen.46 Nach Jolles hat der literarische Kasus nicht vorrangig einen beliebigen Rechtsfall zum Gegenstand, sondern solche Fälle, die als Grenzfall eines Gesetzes oder als Gesetzeslücke bestimmt werden können.47 Dabei treffen zwei konträre, sich gegenseitig ausschließende Normvorstellungen aufeinander, die gegeneinander abgewägt und kritisch geprüft werden in Form einer kurzen Erzählung, die eine konkrete Anschauung des Falles als einmaliges, eindringliches, außergewöhnliches Ereignis vermittelt. Es geht um die Frage, nach welcher Norm dieses Ereignis gewertet werden soll, wobei meist »die Pflicht der Entscheidung«48 zwar postuliert wird, aber die Entscheidung schließlich meist offen bleibt und dem Leser zugewiesen wird, der sie durch kluges Abwägen für sich selbst in Eigenverantwortung treffen muß.49
III. Juristische Inhalte und Juridifizierung des ›Novellino‹ Von allen Texten der frühen italienischen Novellistik ist der Novellino, eine in den beiden letzten Jahrzehnten des 13. Jahrhunderts entstandene Novellensammlung, der bekannteste. Er besteht aus einem kurzen Prolog und einhundert Novellen. In insgesamt mehr als einem Dutzend Erzählungen mit juristischen Inhalten werden zivilrechtliche oder rechtsphilosophische Themen behandelt. Das Korpus der Novellen mit juristischen Inhalten läßt sich in zwei Bereiche
43 Vgl. Peter Weimer: Die legistische Literatur der Glossatorenzeit. In: H. Coing: Handbuch der Quellen und Literatur der neueren europäischen Privatrechtsgeschichte [Anm. 35] 213. 44 Vgl. Norbert Horn: Die legistische Literatur der Kommentatoren und der Ausbreitung des gelehrten Rechts. In: ebd. 261–364, hier 328–330. 45 Vgl. K. Stierle: Geschichte als Exemplum [Anm. 15] 363. 46 Zum literarischen Kasus vgl. André Jolles: Einfache Formen. Legende, Sage, Mythe, Rätsel, Spruch, Kasus, Memorabile, Märchen, Witz (Tübingen 41968) 171–199. 47 Vgl. ebd. 178. 48 Ebd. 191. 49 Vgl. K. Stierle: Geschichte als Exemplum [Anm. 15] 363.
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aufteilen: in Novellen, in denen konkrete Zivilrechtsfälle thematisiert, und in solche, in denen allgemeine rechtsphilosophische bzw. staatsrechtliche Fragestellungen erörtert werden.50 Dem ersten Bereich der Zivilrechtsfälle lassen sich insgesamt fünf Novellen zuordnen. Dargestellt werden meist privatrechtliche Streitigkeiten in der üblichen Konstellation von Kläger, Beklagtem und unabhängiger, übergeordneter juristischer Instanz, die den öffentlich ausgetragenen Rechtsstreit entscheidet. Originell am Novellino ist die Präsentation eines ethischen Problems in Form eines Rechtsstreits und einer Gerichtsszene. Dieses Verfahren der Juridifizierung eines vorgegebenen Stoffes findet sich auch in anderen Novellen der Sammlung, in denen juristische Inhalte behandelt werden. Die Originalität des Novellino besteht in der Ausformung neuer Geschichten mit juristischer Thematik und in der Juridifizierung der tradierten Erzählstoffe. Gerade die Novellen mit Zivilrechtsfällen zeigen deutlich den Gestaltungswillen des Erzählers, der die oft jahrhundertelang überlieferten Geschichten zu Rechtsfällen ausformt. Die Geschichten werden aktualisiert, nicht selten dadurch, daß historische Rechtsfälle oder Rechtsprobleme vergangener Zeiten in die Gegenwart versetzt werden. Gezeigt wird die Relevanz der Jurisprudenz in ihren konkreten Auswirkungen auf das alltägliche Leben. Der Autor des Novellino hat großes Interesse an spitzfindigen Rechtsfällen, aber auch an grundsätzlichen Rechtsfragen und rechtsphilosophischen Themen wie zum Beispiel der Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz, der Stellung des Herrschers gegenüber dem Gesetz oder Funktion und Konsequenzen der Milde im Rechtsverfahren. In manchen Novellen stehen juristische Fragestellungen im Vordergrund, in anderen dienen die juristischen Aspekte lediglich dazu, ethisch-moralische Fragen genauer zu konturieren oder zuzuspitzen. Unterschiedliche, divergierende Normen und Rechtsauffassungen werden anhand konkreter Begebenheiten in Frage gestellt und auf ihre Gültigkeit hin überprüft. Welche Rechtsauffassung der Autor vertritt, ist nicht eindeutig zu beantworten, denn der Novellino bietet keine Darstellung einer widerspruchsfreien Rechtsauffassung, sondern eine der Intention der Sammlung entsprechende anekdotische Behandlung. Der Autor des Novellino zeigt das Recht als übergeordnete Instanz, der sich Herrscher wie Untertanen in gleicher Weise unterordnen müssen, aber mit der Abwägung unterschiedlicher Rechtsauffassungen macht er die tiefgreifenden Umbrüche seiner Zeit deutlich: Das alte feudale, personengebundene Recht wird allmählich von einer neuen, vom römischen Recht geprägten Rechtsauffassung und -praxis abgelöst, die unabhängig von bestimmten Personen oder Institutionen einem abstrakten Rechtsbegriff verpflichtet ist. Die Juridifizierung im Novellino erfolgt nicht nur in inhaltlicher, sondern auch in sprachlicher und rhetorischer Hinsicht. Nicht selten wird in den NoZur genauen Analyse der Novellen im Verhältnis zu den Quellen vgl. H. C. Jacobs/M. Klugmann: Mittelalterliche Novellistik und Jurisprudenz [Anm. 6]. 50
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vellen mit einer juristischen Thematik zur Beschreibung der Sachverhalte die Fachsprache der Juristen in ihrer volkssprachigen Form verwendet. Einflüsse der rhetorischen Ausbildung der ars dictaminis und der ars notaria finden sich in der Darstellung der Strategien juristischer Argumentationen. Im Novellino wird das Ideal einer durch Wortgewandtheit und Schlagfertigkeit gekennzeichneten mündlichen Kommunikation, die Konzeption des bel parlar gentile, propagiert, die nicht selten höher bewertet wird als tapfere Heldentaten.51 Die besondere Relevanz des bel parlar gentile zeigt sich vor allem in den brillianten juristischen Argumentationen.
IV. Die frühe Novellistik in Frankreich und Spanien – eine Entwicklung ohne Beeinflussung durch die Jurisprudenz In Frankreich beginnt die volkssprachige Kurzerzählung schon wesentlich früher als in Italien und Spanien, nämlich bereits im 12. Jahrhundert. Hier wird vor allem die Gattung des fabliau ausgebildet, dessen Bezeichnung vom Wort fable abgeleitet werden kann. Jean Bodel aus Arras (um 1170–1210) ist ein namentlich bekannter Autor von acht fabliaux.52 Bezeichnungen für die altfranzösischen fabliaux sind fable, fablel oder fabliaus, des weiteren conte, essample, aventure, aber auch livre und escriture.53 Die Gattung der fabliaux weist thematisch eine besonders entgrenzende Binnengattung auf: die im weitesten Sinne erotischen, mitunter skatologischen fabliaux, die die Grenze moralischer und verbaler Dezenz durchbrechen, zumal es vergleichbare Texte in Italien oder Spanien nicht gibt.54 Die anglonormannische Dichterin Marie de France schreibt Verserzählungen, die sie als lai bezeichnet.55 Das Wunderbare, mit dem der Held konfrontiert wird, garantiert ihm eine schicksalhafte Fügung, die ihn auf geheimnisvolle Weise leitet.56 Charakteristika sind die Gestaltung von Stoffen der Artusdichtung, das Wunderbare sowie die höfische Gesinnung der Protagonisten. Verbunden ist der Begriff lai mit der aventiure, dem Stoff, der meist in den ersten Versen dieser Gattung als erzählenswertes Ereignis angekündigt wird, sowie contes für die Erzählung selbst. Für die Einführung des Begriffs nouvelle in
51 Vgl. Joan Hall: ›Bel parlare‹ and Authorial Narration in the Novellino. In: Italian Studies 44 (1989) 1–18. 52 Vgl. K. Grubmüller: Die Ordnung, der Witz und das Chaos [Anm. 17] 41–54. 53 Zum Begriff der fabliaux vgl. Per Nykrog: Les fabliaux (Genf 21973) 4–13. Juan Paredes Núñez: Formas narrativas breves en la literatura románica medieval: problemas de terminología (Granada 1986) 31–37. K. Grubmüller: Die Ordnung, der Witz und das Chaos [Anm. 17] 21. 54 Vgl. Fabliaux Érotiques, hg. von Luciano Rossi (Paris 1992). 55 Zum Begriff lai vgl. J. Paredes Núñez: Formas narrativas breves en la literatura románica medieval [Anm. 53] 25–31. 56 Vgl. H.-J. Neuschäfer: Boccaccio und der Beginn der Novelle [Anm. 15] 101.
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Frankreich sind wohl die Cent Nouvelles Nouvelles (1462) von Bedeutung gewesen, die auch die strukturelle Eigenheit von hundert Erzählungen übernommen haben.57 Im Unterschied zu Italien ist die altspanische Novellistik nicht in bürgerlichen Kreisen politisch autonomer urbaner Zentren, sondern vor allem am kastilischen Hof von König Alfons X. (1221–1284) verbreitet. Die frühe altspanische Novellistik ist verschiedenen Modellen verpflichtet; und die meisten volkssprachigen Texte sind Übersetzungen und Umformungen lateinischer und orientalischer Vorlagen: Erzählungen der lateinischen Antike, kirchlich geprägte Modelle wie das lateinische Exemplum, drittens orientalische Erzählkunst, die aufgrund der convivencia, des Zusammenlebens der Angehörigen unterschiedlicher Religionen (Christentum, Islam und Judentum) auf der Iberischen Halbinsel, Europa vermittelt wurden. Erstmals im 12. Jahrhundert wird die orientalische Erzählkunst europaweit verbreitet durch die Disciplina clericalis, eine Sammlung lateinischer Exempla des converso Petrus Alfonsi. Erste Übersetzungen aus dem Arabischen ins Kastilische waren Erzählsammlungen wie Calila e Digna (1251) und Sendebar (1253) aus dem Stoffkreis der Sieben Weisen. Die volkssprachige Novellistik erreicht in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts eine ebenso quantitativ wie qualitativ beeindruckende Hochblüte wie die sich synchron entwickelnde volkssprachige Novellistik in Italien. In Spanien stellen die Erzählsammlungen vorwiegend ein Medium des Wissenstransfers zwischen den unterschiedlichen Kulturen dar, wobei die orientalische Kultur mit ihren narrativen Weisheitslehren geradezu als Quelle einer translatio studii genutzt wurde, die auch zur Weiterentwicklung des Kastilischen beitrugen, das unter König Alfons X. als erste der romanischen Sprachen zur Wissenschaftssprache ausgeformt wurde. Dieser gab zahlreiche Übersetzungen aus dem Arabischen in die Volkssprache in Auftrag, die unter seiner Regie in der Übersetzerschule von Toledo zu den unterschiedlichsten Disziplinen und Wissensbereichen angefertigt wurden. Der König war ein Liebhaber der Erzählkunst und selbst Autor einer der literarisch und kulturgeschichtlich bedeutendsten Sammlungen volkssprachiger Kurzerzählungen, der Cantigas de S. María. Sie verweisen aufgrund der Bezeichnungen cantigas und cantares auf das Singen; in den Handschriften sind sie zusammen mit den Noten überliefert.58 In einer der cantigas wird in der Bezeichnung »cantiga nova con son meu«59 auf die Neuheit von Text und Musik hingewiesen, was insofern gattungstypologisch relevant ist, als die Neuheit als wichtiges Charakteristikum der Novelle gilt.60 Im anonymen Libro de Apolonio
Vgl. E. Leube: Boccaccio und die europäische Novellendichtung [Anm. 4] 141–142. Vgl. Albert Gier: Les Formes narratives brèves en Espagne et au Portugal. In: Les formes narratives brèves, hg. von Wolf-Dieter Lange. Tome 1/2. Fascicule 2 (Heidelberg 1985) 167–186, hier 168. 59 Zitiert nach ebd. 168. 60 Vgl. W. Rath: Die Novelle [Anm. 3] 329. 57 58
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(um 1260) findet sich in der Bezeichnung »hun romançe de nueua maestria«61 ebenfalls der Hinweis auf die Neuheit. Ansonsten bezeichneten die Autoren die Erzählungen ihrer Sammlungen mit den volkssprachigen Entsprechungen des Begriffs exemplum: exemplo, ejemplo etc.62 In Spanien sind die Differenzbefunde in bezug auf das lateinische Modell sehr viel geringer, denn der Prototyp des Exemplum bleibt viel länger gültig als in Italien. Der Verfasser der 1251 entstandenen Übersetzung aus dem Arabischen El libro de Calila e Digna nennt die Binnenerzählungen der Sammlung gewöhnlich »enxenplos«, nur einmal »enxenplos e semejanas«63. Ebenso findet sich in dem 1253 entstandenen Libro de los engaños e los asayamientos de las mugeres gewöhnlich »enxenplo«, zweimal auch »estoria«64. Der Begriff estoria oder ystoria wird häufig in Juan Manuels Erzählsammlung El conde Lucanor verwendet.65 Daß nicht alle profanen Erzählungen das Wohlgefallen der Kleriker finden konnten, belegen einige Kommentare kirchlicher Autoren, die starke Vorbehalte gegenüber dieser Art von Erzählungen geäußert haben. Im Espéculo de los legos, der Mitte des 15. Jahrhunderts verfaßten kastilischen Übersetzung des Ende des 13. Jahrhunderts entstandenen lateinischen Speculum Laicorum, wird erzählt, wie ein alter Kleriker jüngere Mitbrüder mit »algunas fablillas oçiosas«66 aufweckt, nachdem sie bei der Lektüre frommer Schriften eingeschlafen sind, natürlich um sie zu belehren: »Quando fablaua de las cosas çelestiales todos estauades agrauiados de suenno, mas agora que fablé palabras vanas e oçiosas luego despertastes todos«67. Ebenso enthalten auch die Castigos de Sancho IV (1282/83) die Ermahnung, der Prediger dürfe keine profanen Geschichten in Predigten verwenden: »Palabra de fabriella non la deue meter en la pedricaçion, ca la pedricaçion ofiçio santo e verdadero es, e por eso el que pedrica non deue y poner palabra mentirosa nin dubdosa«68. Entgegen dieser Warnung hatten volkssprachige Erzählungen zunehmend die Funktion der Auflockerung der lateinischen Messe, als Predigtmärlein.69
61
Zitiert nach A. Gier: Les Formes narratives brèves en Espagne et au Portugal [Anm. 58]
171. Vgl. J. Paredes Núñez: Formas narrativas breves en la literatura románica medieval [Anm. 53] 20–22. 63 Zitiert nach A. Gier: Les Formes narratives brèves en Espagne et au Portugal [Anm. 58] 172. 64 Vgl. ebd. 173. 65 Vgl. Jules Piccus: The Meaning of estoria in Juan Manuel’s El conde Lucanor. In: Hispania 61 (1978) 459–465. 66 El Espéculo de los legos, hg. von José María Mohedano Hernández (Madrid 1951) 451. 67 Ebd. 68 Castigos e documentos para bien vivir ordenados por el rey don Sancho IV, hg. von Agapito Rey (Bloomington 1952) 111. 69 Vgl. Predigtmärlein. In: Der Literatur Brockhaus, hg. von Werner Habicht / Wolf-Dieter Lange. 3. Bd. (Mannheim 1988) 124. 62
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Im 14. Jahrhundert herrscht der Begriff des Exemplum vor. Don Juan Manuel rekurriert in seiner 1335 beendeten Erzählsammlung El libro de los enxienplos del conde Lucanor et de Petronio ebenfalls auf den exemplum-Begriff für die einzelnen Erzählungen und nennt die eingefügten Aphorismen »proverbios«70. Der heutige Begriff cuento71 fand übrigens im 13. und 14. Jahrhundert noch keine Verwendung.72 Gebräuchlich war dagegen das Verb contar für erzählen.73 Seit dem 15. Jahrhundert finden sich Belege für die Verwendung von cuento im Zusammenhang mit Erzählungen, wobei allerdings nicht die Neuigkeit des Erzählten hervorgehoben wird.74 Boccaccios Decamerone wurde im 15. Jahrhundert auf der Iberischen Halbinsel zunächst in kleinen Kreisen gelesen, in Katalonien aufgrund der politischen Verbindungen zu Italien früher als in Kastilien.75 Als Folge der frühen Boccaccio-Rezeption finden sich im 15. Jahrhundert spanische Belege für die Verwendung der Bezeichnung novela für die Erzählung.76 Die erste, anonyme katalanische Übersetzung stammt von 1429.77 In Spanien waren Boccaccios Novellen im 15. Jahrhundert nur wenigen Personen bekannt; beispielsweise besaß Königin Isabel eine Handschrift des Decamerone.78 Die erste spanische Übersetzung erschien 1496.79 Diego de Cañizares übersetzte Mitte des 15. Jahrhunderts eine Erzählung der dem Stoff der Sieben Weisen angehörenden Scala Coeli des französischen Dominikaners Jean Gobi Junior († um 1350) ins Kastilische, unter dem Titel Novella que Diego de Cañizares de latín en romançe declaró y trans-
Vgl. A. Gier: Les Formes narratives brèves en Espagne et au Portugal [Anm. 58] 182. Folgende moderne Definition des Begriffs cuento lautet als eine Art Minimalkonsens: »cuento es un relato en prosa, de breve extensión, de un acontecimiento ficticio« (Julio DuránCerda: Sobre el concepto de cuento moderno. In: Explicación de Textos Literarios 5 [1976] 119–132, hier 121). 72 Vgl. María Jesús Lacarra: Prólogo. In: Cuento y novela corta en España. 1. Bd., hg. von María Jesús Lacarra (Barcelona 1999) 25–44, hier 41. Die einzige Ausnahme stellt wohl der Libro de los gatos dar, in dessen Titel keineswegs die Katzen (gatos) gemeint sind, sondern der auf eine Übersetzung der arabischen Vorlage zurückgeführt werden kann. Vgl. María Jesús Lacarra: El Libro de los gatos: hacia una tipología del ›enxienplo‹. In: Formas breves del relato, hg. von Yves-René Fonquerne/Aurora Egido (Zaragoza 1986) 19–34, hier 21. 73 Im Cantar de Mio Cid findet sich sowohl die Bedeutung zählen als auch erzählen. 74 Vgl. M. J. Lacarra: Prólogo [Anm. 72] 41. 75 Vgl. Joaquín Arce: Seis cuestiones sobre el tema ›Boccaccio en España‹. In: Filología Moderna 55 (1975) 473–489. Joaquín Arce: Boccaccio nella letteratura castigliana: panorama generale e rassegna bibliografico-critica. In: Il Boccaccio nelle culture e letterature nazionali, hg. von Francesco Mazzoni (Florenz 1978) 72–73, 86–87. Cuento y novela corta en España. 1. Bd., hg. von María Jesús Lacarra (Barcelona 1999) 408–426. 76 Vgl. M. J. Lacarra: Prólogo [Anm. 72] 40–41. 77 Vgl. Martín de Riquer: Boccaccio en la literatura catalana medieval. In: Filología Moderna 55 (1975) 451–471. Martín de Riquer: Il Boccaccio nella letteratura catalana medievale. In: Il Boccaccio nelle culture e letterature nazionali, hg. von Francesco Mazzoni (Florenz 1978) 107–126, hier 109, 118–126. 78 Vgl. Cuento y novela corta en España [Anm. 75] 408. 79 Vgl. J. Arce: Boccaccio nella letteratura castigliana [Anm. 75] 86. 70 71
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ladó de un libro llamada Scala Çeli.80 Die Bezeichnung Novella verweist auf das italienische Modell. Tatsächlich fand dieser Begriff im Kreis um den Marqués de Santillana (1398–1458) Verbreitung, der entscheidend von der italienischen Frührenaissance beeinflußt war.81 Weitere Belege für den Begriff novela enthält des weiteren das Werk Exemplario contra los engaños y peligros del mundo (Zaragoza 1493).82 Erst im 16. Jahrhundert fand der Decamerone weitere Verbreitung und wirkte auf die spanische Literaturproduktion, da er seit der Jahrhundertmitte von spanischen Autoren nachgeahmt wurde und insbesondere im 17. Jahrhundert den Theaterautoren als Stoffreservoire für die comedias diente. Der Einfluß des Decamerone war im 17. Jahrhundert am stärksten, paradoxerweise im Bereich des Theaters, viel weniger in der Kurznarrativik. Im 16. Jahrhundert wurde in Spanien der Begriff novela stets mit Boccaccio in Verbindung gebracht. Obwohl Miguel de Cervantes Saavedra (1547–1616) den Begriff novela im Titel seiner Boccaccio verpflichteten Novelas ejemplares von 1613 verwendet hat, hat sich dieser im Spanischen nicht durchgesetzt, sondern wurde zur Bezeichnung des Romans verwendet, wohingegen cuento die kurze Erzählung bezeichnet. Juan Timoneda (um 1518–1583) beispielsweise bevorzugt in seiner Erzählsammlung El Patrañuelo den Begriff patraña (Lüge) als äquivalenten Begriff zu novella.83 Der Blick auf die frühe volkssprachige Kurznarrativik unter dem Aspekt der Begriffsgeschichte hat insbesondere für Italien die enge Verbindung gezeigt, die für die Herausbildung der Novelle die Jurisprudenz spielt. Im Novellino zeigt sich die Tendenz, ältere Erzählstoffe zu aktualisieren und die juristischen Themen inhaltlich und sprachlich zu juridifizieren. Dadurch wird, ausgehend vom Exemplum, die volkssprachige Novelle als eigenständige Gattung ausgeprägt, ganz eindeutig als novella im literarischen wie juristischen Sinne. Boccaccio hingegen führte die seinerzeit junge Tradition der volkssprachigen Novellen weiter zu einem modellhaften Höhepunkt, indem er die Gattung gewissermaßen entjuridifizierte, unter Beibehaltung des kniffligen Falles, ausschließlich im literarischen, nicht mehr im juristischen Sinne. Ein Vergleich mit Frankreich und Spanien zeigt, daß dort aufgrund ganz anderer Entstehungsbedingungen die Jurisprudenz keine Rolle spielte, so daß in Vgl. Cuento y novela corta en España [Anm. 75] 80, 98–107. Jean Gobi: La Scala Coeli de Jean Gobi, hg. von Marie-Anne Polo de Beaulieu (Paris 1991). 81 In seinem Umkreis entstand die Übersetzung der Exempelsammlung Novela de Seleuco. Vgl. Cuento y novela corta en España [Anm. 75] 80. Unter den verschiedenen Schriften Boccaccios, die Marqués de Santillana in seiner Bibliothek besaß, gab es allerdings keinen Hinweis auf den Decamerone. Vgl. J. Arce: Boccaccio nella letteratura castigliana [Anm. 75] 74. 82 Vgl. M. J. Lacarra: Prólogo [Anm. 72] 41. 83 Vgl. J. Paredes Núñez: Formas narrativas breves en la literatura románica medieval [Anm. 53] 12–13. 80
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Spanien meist für die Erzählungen der Exemplum-Begriff in der volkssprachigen Form verwendet wurde.84 Erst seit dem 15. Jahrhundert tauchte wegen des Decamerone der Begriff novela auf, der sich auf der Iberischen Halbinsel trotz Cervantes’ Novelas ejemplares für die Novellistik nicht hat durchsetzen können, wohl aber für den Roman.
Vgl. Walter Pabst: Novellentheorie und Novellendichtung. Zur Geschichte ihrer Antinomie in den romanischen Literaturen (Heidelberg 21967) 102. 84
Gianluigi Segalerba
Die aristotelische Substanz als Wendepunkt in der Ontologie der Antike1 I. Einführung Das aristotelische Manöver bei der Einführung des Begriffes Substanz2 erweist sich als ein vielseitiger Prozeß gegen die vorangehenden Ontologien: Durch die Einführung dieses Begriffes will Aristoteles m.E. die Ontologie von Grund auf rekonstruieren3. Das Ziel dieser Arbeit ist, einige Grundlinien der Strategie des Aristoteles zu veranschaulichen; dafür werde ich mich zwei Aspekten seiner Theorie der Substanz widmen, nämlich: a) dem Aspekt der Substanz in ihrem Wert eines biologischen Gegenstandes, genauer gesagt von Organismus, welcher ins Zentrum der Ontologie gerückt wird;
Dieser Aufsatz entsteht aus der Überarbeitung des Vortrages: »Unterschiedliche Interpretation des Begriffes Substanz bei Aristoteles«, den ich bei der Tagung Literaturwissenschaft als Begriffsgeschichte hielt. Ich möchte mich hiermit bei Herrn Prof. Dr. Christoph Strosetzki für die Einladung zur Teilnahme an der Tagung herzlich bedanken. Frau Kathrin Bouvot, die meine Studie äußerst sorgfältig überprüft und den ursprünglichen Entwurf entscheidend verbessert hat, bin ich zu aufrichtigem Dank verpflichtet. An Frau Franziska Mormann und an Frau Ursel Schaub geht mein herzlicher Dank für die Hilfe, die sie mir bei der Vorbereitung des Textes für die Veröffentlichung geleistet haben. Die Verantwortung für die Inhalte, die ich in dieser Arbeit darlege, liegt selbstverständlich bei mir. 2 Das altgriechische Wort οσία wird in diesem Text ausschließlich mit dem Ausdruck Substanz wiedergegeben; die Entscheidung für diese Übersetzung habe ich getroffen, weil ich im deutschen Text die Parallele beibehalten will, welche zwischen dem Wert von οσία als biologischem Gegenstand (in diesem Falle übersetze ich οσία mit Substanz) und dem Wert von οσία herrscht, die im Text des Aristoteles vom Genitiv einer Entität oder vom Genitiv eines Pronomens, welches für eine Entität steht, begleitet wird (in diesem Falle übersetze ich οσία mit Substanz, die von der bestimmten Entität – vom Pronomen – dann begleitet wird, welche/ welches im Text des Aristoteles jeweils aufscheint; dieser Wert steht für das Wesen oder auch für die Form des biologischen Gegenstandes). Der Begriff Substanz bei Aristoteles ist meiner Meinung nach mehrwertig; dessen dominierende Werte sind Substanz als biologischer Gegenstand und Substanz als Form/Wesen/Natur eines biologischen Gegenstandes (zu einer ausführlicheren Darstellung meiner Deutung verweise ich auf meine Arbeit: Aspekte der Substanz bei Aristoteles. In: Substantia – Sic et Non, hg. von Holger Gutschmidt, Antonella Lang-Balestra, Gianluigi Segalerba (Frankfurt a.M. 2008) 35–84). 3 Die Ausgaben der aristotelischen Texte, deren Stellen in dieser Studie zitiert werden, sind: Aristotelis Categoriae Et Liber De Interpretatione. Recognovit Brevique Adnotatione Instruxit L. Minio-Paluello (Oxford 101992), und: Aristotelis De Anima. Recognovit Brevique Adnotatione Critica Instruxit W. D. Ross (Oxford 81990). 1
Archiv für Begriffsgeschichte · Sonderheft 8 · © Felix Meiner Verlag 2010 · ISBN 978-3-7873-1971-8
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b) dem Aspekt des Wertes von Substanz als einem sich selbst verwirklichenden Tätigkeitsprinzip (als einer inneren Macht), welches einen biologischen Gegenstand synchronisch und diachronisch aufbaut und durchdringt, einem biologischen Gegenstand immanent wirkt und alle Funktionen des biologischen Gegenstandes organisiert, betätigt und steuert; diese innere Kraft, welche zugleich den Gegenstand zur Verwirklichung führt und sich selbst im Gegenstand verwirklicht, ist die Seele des biologischen Gegenstandes4. Substanz hat im ersten Falle den Wert eines biologischen Gegenstandes; Substanzen sind deswegen die Entitäten, welche dem biologischen Bereich5 angehören: Tiere und Pflanzen. Substanz wird z. B. von einem Baum6, einem Menschen7 oder einem Pferd8 dargestellt. Im zweiten Fall ist die Substanz die Form, das Wesen, die Natur9 einer biologischen Entität; sie ist nämlich die Seele, d. h. das Organisations-, Struktur- und Entwicklungsprinzip eines lebenden Gegenstandes. Substanz/Wesen/Natur/ Form von einer biologischen Entität bilden verschiedene Bezeichnungen, um eigentlich dasselbe Prinzip zu benennen: Denn all diese Faktoren stellen bei den biologischen Entitäten das Lebens- und Entwicklungsprinzip der biologischen Einzeldinge dar; sie sind gleichzeitig das Programm, welches jeder biologischen Entität eigen ist und welches bei jeder biologischen Entität in deren unterschiedlichen Lebensphasen verwirklicht wird (dieses Programm ist je nach den unterschiedlichen biologischen Arten offensichtlich verschieden)10. Die Sub-
4 Ich möchte in diesem Zusammenhang die Bücher von Michael-Thomas Liske: Aristoteles und der aristotelische Essentialismus (Freiburg (Breisgau)/München 1985) und von WolfgangRainer Mann: The Discovery of Things (Princeton 2000), als Werke erwähnen, die mir bei der Erarbeitung dieser Interpretation sehr geholfen haben: Manns Forschung erweist sich als sehr relevant, um den Sinn der aristotelischen Wende bezüglich der Betrachtung der Gegenstände zu verstehen; Liskes Studie ist unter anderem unabdingbar für das Erfassen des dynamischen, d. h. aktiven Aspektes der aristotelischen Lehre von der Essenz. 5 Nicht zu vergessen ist jedoch, daß Aristoteles an einigen Stellen auch bestimmten Erzeugnissen – d. h. nicht lebendigen Entitäten – wie z. B. Häusern das Substanz-Sein im Sinne des Gegenstandes zuerkennt (vgl. Metaphysik Eta 2, 1043a18–19). 6 Für die Benennung von Bäumen als Substanzen vgl. Kategorien-Schrift 5, 2b13–14. 7 Für die Erwähnung von Pflanzen und Menschen als Substanzen siehe z. B. Metaphysik Zeta 7, 1032a18–19; für die Bezeichnung von Tieren und Pflanzen als Substanzen siehe De Caelo III 1, 298a29–32 und Metaphysik Lambda 1, 1069a30–32. 8 Für die Bezeichnung von Menschen und Pferden als Substanzen vgl. z. B. KategorienSchrift 4, 1b27–28. 9 Ich verstehe in diesem Kontext unter dem Begriff Natur (φ%σις) gleichzeitig das Prinzip und den Inhalt der Entwicklung einer biologischen Entität; siehe dazu Physik II 1, 193a28–b21 (für eine Bestätigung dieses Konzeptes verweise ich auf Metaphysik Delta 4, 1014b35–1015a19 und Zeta 7, 1032a12–27). 10 Für die Bedeutung von Substanz als Form (ε δο&) oder als Wesen (Wesen gibt in dieser Studie den altgriechischen Ausdruck τ' τ (ν ε ναι wieder) bestimmter Entitäten siehe z. B. Metaphysik Zeta 7, 1032b1–2, Zeta 7, 1032b14, Zeta 8, 1033b17, Zeta 10, 1035a1–2; De Anima II
Die aristotelische Substanz als Wendepunkt in der Ontologie der Antike
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stanz als Form ist die Wirklichkeit, die Vollendung11 einer biologischen Entität, d. h. sie ist zugleich der Verwirklichungsfaktor und der zu verwirklichende Inhalt von einer biologischen Entität, da die Form/Seele diese biologische Entität mit bestimmten Dispositionen und Fähigkeiten – unter normalen Umständen – ausstattet und sie selbst diese Dispositionen und Fähigkeiten ist: Die Seele des Menschen ist z. B. das die Lebensentwicklung jedes einzelnen Menschen dirigierende Prinzip und ist auch der Inhalt, welcher in jedem einzelnen Menschen realisiert wird12; die Dispositionen und Fähigkeiten der Seele bestimmen die unterschiedlichen biologischen Arten. Diese Art von Substanz ist immer die Substanz von einer Entität: Dieser Substanztyp ist nämlich nicht der ganze biologische Gegenstand (denn dieser hat seinerseits auch einen materiellen Teil), sondern ist das sich selbst betätigende Betriebssystem des Gegenstandes13. Das Wesen ist also ein Tätigkeitsprinzip14, worin unter Tätigkeit alle Funktionen einer biologischen Entität verstanden werden müssen. Die erwähnten zwei Aspekte der Substanz – i) biologischer Gegenstand und ii) Wesen eines biologischen Gegenstandes – bilden meiner Ansicht nach einen Wendepunkt in der Ontologie der Antike, indem sie eine Art doppelten Angriff gegen (praktisch) all die vorausgehenden Ontologien mit sich bringen. Der Wert von Substanz als biologischer Gegenstand wird von Aristoteles ins Zentrum der Ontologie gerückt15: Der biologische Gegenstand wird somit nicht mehr auf etwas anderes reduziert oder auf etwas anderes zurückgeführt, welches im Verhältnis zum Gegenstand eine Art Vorrang haben sollte16; der bio1, 412a6–9. Für die Äquivalenz zwischen Form und Wesen verweise ich auf Metaphysik Zeta 7, 1032b1–2 und Zeta 10, 1035b32. Für die Äquivalenz zwischen Substanz von etwas und Wesen verweise ich auf Metaphysik Gamma 4, 1007a20–27 und Zeta 6, 1031a15–18. 11 In dieser Studie gibt Wirklichkeit !νέργεια wieder; Vollendung gibt ihrerseits !ντελέχεια wieder. Für den Wert von Substanz als Wirklichkeit siehe z. B. Metaphysik Theta 8, 1050b2–3; für den Wert von Substanz als Vollendung siehe z. B. De Anima II 1, 412a21–22. 12 Die Seele verwirklicht den biologischen Gegenstand (z. B. den individuellen Menschen), indem sie als das Lebensprinzip des Gegenstandes wirkt (z. B. ist die Seele eines Menschen das innere Lebensprinzip des individuellen Menschen); da die Seele bestimmte Fähigkeiten und mithin einen bestimmten Dispositionen-Inhalt hat (z. B. hat die Seele des Menschen ein Ernährungsvermögen, ein Wahrnehmungsvermögen und ein Erkenntnisvermögen), verwirklicht die Seele sich selbst im biologischen Gegenstand, indem sie den Gegenstand mit diesen Fähigkeiten einrichtet (z. B. verwirklicht die Seele des Menschen sich selbst im individuellen Menschen, indem sie ihre Fähigkeiten im ganzen Menschen zur Entfaltung bringt). Die Seele ist infolgedessen sowohl die Wirkursache des Entwicklungsprozesses wie auch der Inhalt des Entwicklungsprozesses einer lebendigen Entität. 13 Ich beziehe mich damit ausschließlich auf die biologischen Gegenstände, welche aus Materie bestehen und eine Entwicklung erfahren, die sich aus unterschiedlichen Lebensphasen zusammensetzt. 14 Diese Auffassung vom Wesen gilt selbstverständlich ausschließlich für die lebendigen Entitäten. 15 Siehe dazu z. B. Kategorien-Schrift 5, 2a34–b6 und das Kapitel Metaphysik Zeta 1. 16 Der biologische Gegenstand wird z. B. nicht auf materielle Komponenten, oder auf Atome, oder auf das Feuer zurückgeführt und in diese Elemente aufgelöst, als ob seine wesentliche
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logische Gegenstand wird nicht in Grundelemente der Realität ontologisch auseinandergenommen, welche ihrerseits das Grundlegende in der Realität repräsentieren sollten, wohingegen der Gegenstand lediglich als ein akzidentielles Ergebnis gälte, das von den Grundelementen als eine sekundäre Entität, als ein vorläufiges Gefüge gebildet würde: Die biologische Entität ist hingegen die Basis für die Phänomene der Realität (d. h. sie ist die Basis für das Werden, für die Bewegung, für die qualitativen und quantitativen Änderungen); es ist der Gegenstand, welcher im ontologischen Vordergrund steht. Zugleich bringt die Auffassung von der Substanz als Wesen und Natur von etwas mit sich, daß die Existenz eines den Gegenständen des Bereiches der Lebewesen eigenen Faktors angenommen wird, welcher vom Inneren des biologischen Gegenstandes wirkt: Die Ursache, weshalb ein biologischer Gegenstand eine bestimmte Entwicklung hat, wird nicht auf Kräfte zurückgeführt, die außerhalb der Entität liegen, sondern wird im biologischen Gegenstand selbst geortet17.
II. Aspekte von Substanz als Gegenstand, welcher dem Bereich der Biologie angehört Für den Wert von Substanz als Gegenstand, welcher dem biologischen Bereich angehört, erweisen sich einige Stellen der Kategorien-Schrift als einleuchtend. Die Stelle Kategorien-Schrift 4, 1b27–28 lautet z. B.: »Substanz (οσία), um es im Umriß zu erklären, ist z. B. ein Mensch, ein Pferd.« Die Entitäten, welche den Status von Substanz haben, sind die Lebewesen. Diese Entitäten sind nicht leere Substrata: Aus ihrer eigenen Natur heraus sind sie etwas inhaltlich Bestimmtes18. Die Substanzen sind unmittelbare Konkretisierungen von bestimmten EiIdentität in der Materie, oder in den Atomen, oder im Feuer bestünde; der Gegenstand besteht aus Materie, ist nicht seinem Wesen nach Materie; der biologische Gegenstand ist seine Form, weil die Form seine Entwicklung lenkt, weil die Form zugleich sein Lebensprinzip und sein Lebensinhalt ist. Die wesentliche Identität des biologischen Gegenstandes ist seine Form, d. h. sein Lebensprinzip. 17 Dies illustriert, wie Aristoteles mit seiner Ontologie zu den Ioniern, zu Heraklit, zu Empedokles und zu Anaxagoras auf Distanz geht (diese Denker stellen lediglich einige Beispiele dar). Das Prinzip der Entwicklung einer biologischen Entität befindet sich innerhalb der Entität; es wird in diesem ontologischen Zusammenhang weder auf eine Kraft wie das Feuer (Heraklit), noch auf Kräfte wie Liebe und Haß (Streit) – Empedokles –, noch auf eine Kraft wie Anaxagoras’ Intellekt rekurriert; die Lebensentwicklung der biologischen Entität entspricht dem Programm, welches die biologische Art der Entität bestimmt und welches von der Seele der biologischen Entität, die als eine Sorte von Betriebssystem wirkt, bewerkstelligt wird: Diese Entwicklung bringt bestimmte Dispositionen und Fähigkeiten zum Ausdruck, welche in diesem Programm enthalten sind. Das Prinzip der Entwicklung befindet sich im Inneren der Entität. 18 Die Sorten von Entitäten, aus welchen sich die Realität zusammensetzt, werden in der Kategorien-Schrift 4, 1b25–2a4 zur Darstellung gebracht. Die Pluralität der kategorialen Entitäten gehört zur aristotelischen Strategie, das Vorliegen der Pluralität vom Seienden aufzuweisen: Diese Pluralität bildet ein Manöver gegen Parmenides’ Ontologie (vgl. z. B. Physik I 3).
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genschaften19: Um dieses Konzept zu präzisieren, stellen die Substanzen konkretisierte Eigenschaften (oder konkretisierte Komplexe von Eigenschaften) dar; ein individueller Mensch ist ein Mensch (d. h. er ist das in einem Individuum konkretisierte Mensch-Sein), ein individuelles Pferd ist ein Pferd (d. h. es ist das in einem Individuum konkretisierte Pferd-Sein). Eine Substanz stellt sich als ein x vor, wo das x für die bestimmte biologische Eigenschaft steht, die eine entsprechende biologische Art festlegt. Der Komplex der biologischen Eigenschaften, welcher die Substanz im Sinne des biologischen Gegenstandes konstituiert und konstruiert, ist die Essenz. Eine Substanz als Gegenstand ist nicht etwas Leeres und ist auch kein einfaches Bündel von Eigenschaften, welche in einem an sich selbst neutralen Boden auftreten, als miteinander gleichwertig gelten und verschwinden könnten: Die Substanz im Sinne des Gegenstandes ist nämlich kein reiner, einfacher Platzhalter für Eigenschaften oder für eine Abfolge von in einer an sich selbst leeren Entität bald vorkommenden, bald verschwindenden Eigenschaften, der einerseits an sich selbst eben leer wäre, und der andrerseits Eigenschaften in sich selbst von Mal zu Mal aufnähme. Im Gegensatz dazu ist die Substanz im Sinne des Gegenstandes als eine konkretisierte Eigenschaft anzusehen, weil sie unmittelbar als jene bestimmte konkretisierte Eigenschaft zum Vorschein kommt: Der einzelne Mensch ist die konkretisierte Eigenschaft Mensch-Sein; auf diese Art und Weise tritt er in der Realität in Erscheinung: Er wird von der Eigenschaft Mensch-Sein aufgebaut. Bestimmte Eigenschaften stellen das Konstitutive, die konstituierende Weise des Seins für das jeweils in Betracht gezogene Einzelding dar; die Einzeldinge sind diese Eigenschaften auf notwendige Weise, denn, eben da diese Eigenschaften das Konstitutive für diese Einzeldinge sind, sind diese Eigenschaften das Unentbehrliche, das Unerläßliche, das Unersetzliche für die jeweils in Rede stehenden Einzeldinge. Als Beispiel dafür kann das Nachstehende angeführt werden: Der individuelle Mensch ist die konkretisierte Eigenschaft Mensch-Sein; Mensch-Sein ist für den individuellen Menschen das Konstitutive und das die Entität Ausmachende: Es ist die Existenzweise des individuellen Menschen. Mithin ist der einzelne Mensch notwendig Mensch: Das Konstitutive (in diesem Falle das Mensch-Sein) zu verlieren, heißt, aus der Realität zu verschwinden20.
19 Unter Eigenschaft werden in dieser Studie eine biologische Eigenschaft oder der Komplex von biologischen Eigenschaften verstanden, welche eine biologische Art oder Gattung bestimmen: Der Inhalt der Eigenschaft Mensch-Sein bestimmt z. B. die Art Mensch. Jede derartige Eigenschaft ist an sich selbst ein Programm für eine bestimmte Entwicklung der Individuen, welche der biologischen Art angehören, die dieser Eigenschaft entspricht. 20 Durch einige Aussagen, welche im Verteidigungsmanöver enthalten sind, das zugunsten der Gültigkeit des Satzes vom Widerspruch in den Kapiteln Metaphysik Gamma 3, 4, 5, 6 zur Entfaltung gebracht wird, vermögen wir zu sehen, daß jede Substanz die biologische Eigenschaft notwendigerweise ist, welche die Substanz in ihrer Angehörigkeit zu einer biologischen Art kennzeichnet: Der individuelle Mensch ist notwendig der Komplex von Eigenschaften,
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In der Kategorien-Schrift 5, 2a11–14 wird die Substanz als die Entität illustriert, welche sich von keiner anderen Entität aussagen läßt und in keiner anderen Entität ist. Das erste Merkmal, mit welchem man in der Definition der Substanz qua Substanz konfrontiert wird, besteht infolgedessen darin, daß eine Substanz nie auf etwas anderes zurückgeführt wird: Sie wird nicht von einem anderen Zugrundeliegenden ausgesagt, und sie ist nicht in einem anderen Zugrundeliegenden. Hierin zeichnet sich der Wert von Substanz als Gegenstand ab; der ontologische Wert Gegenstand ist genau einer der Werte für Substanz21: Denn aus der Schilderung dieser beiden Merkmale Nicht-in-einem-Zugrundeliegenden-Sein und Nicht-von-einem-Zugrundeliegenden-Ausgesagt-Werden (siehe dazu Kategorien-Schrift 2, 1a20–b9) läßt sich entnehmen, daß die Substanz die Entität ist, welche nichts anderem zukommt, da sie keine Eigenschaft von einer anderen Entität ist. Nun läßt sich der Gegenstand insoweit, als er als die Entität interpretiert wird, welche selbständig existiert, eben als die Entität definieren, die nicht etwas anderem zukommt, da sie keine Eigenschaft von einer anderen Entität ist. Eine Qualität kommt z. B. dem Gegenstand (d. h. der Substanz) zu, welcher diese Qualität besitzt, da sie zu einem Gegenstand gehört, der seinerseits ein Ganzes bildet; ein biologischer Gegenstand kommt wiederum nicht einer anderen Entität zu, da ein Gegenstand keine Eigenschaft von einer anderen
welcher das Mensch-Sein bestimmt. Die Stelle Metaphysik Gamma 4, 1006a28–1007a4 ist zur Verdeutlichung dieses Themas besonders angemessen: Denn dank dieser Stelle kann beobachtet werden, daß eine Substanz, welche ein bestimmtes Wesen ist, der Inhalt dieses Wesens sein muß. Dies ist meiner Ansicht nach auf die aristotelischen Grundvoraussetzungen zurückzuführen, daß wesentliche Eigenschaften existieren und daß ein Einzelding als eine konkretisierte Eigenschaft gilt, welche somit die Essenz dieses Einzeldinges darstellt; die Wirklichkeit besteht aus Essenzen, welche in den Einzeldingen realisiert werden. Die Notwendigkeit, welche die Weise repräsentiert, auf die eine Entität, wenn sie ein bestimmtes Wesen ist, dieses bestimmte Wesen ist, ist als eine Folge davon zu interpretieren, daß das Wesen eines Einzeldinges dieses bestimmte Einzelding aufbaut; die wesentliche Eigenschaft ist für das Einzelding konstitutiv: Ohne diese Eigenschaft ist das Einzelding nicht mehr da, so daß für das Einzelding diese Eigenschaft notwendig ist (diesbezüglich ist auch die Stelle Metaphysik Gamma 4, 1007a20–33 nützlich). Für die Interpretation, daß die Verteidigung von der Gültigkeit des Satzes vom Widerspruch nicht nur eine sprachliche, sondern auch eine ontologische Abwehr ist, verweise ich auf die Studien von Terence Irwin: Aristotle’s concept of signification. In: Language and Logos, ed. by Malcolm Schofield and Martha Craven Nussbaum (Cambridge 1982) 241–266, und: Aristotle’s first principles (Oxford 1988). Heranzuziehen ist diesbezüglich auch das Buch von Russell M. Dancy: Sense and Contradiction: A Study in Aristotle (Dordrecht 1975). 21 Wenn ich vom ontologischen Wert spreche, meine ich damit, daß sich der jeweils in Rede stehende Wert nicht (zumindest nicht nur) auf sprachliche Entitäten bezieht: Es ist meiner Ansicht nach nicht der Fall, daß die Kategorien mit etwas nur Sprachlichem zusammenhängen; die Kategorien spiegeln die Struktur und die Organisation der Realität wider. Im Besonderen steht die Substanz nicht für ein Substantiv (zumindest nicht in erster Linie); die Substanz ist in der Kategorien-Schrift ein biologischer Gegenstand. Für eine Bestätigung der Deutung, daß die Kategorien Dinge und nicht (zumindest nicht in erster Linie) sprachliche Entitäten klassifizieren, siehe z. B. John Lloyd Ackrill: Aristotle’s Categories and De Interpretatione (Oxford 1963) 73–75 und 77–81.
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Entität ist. Formelhaft ausgedrückt: Die Substanz ist die Entität, welche trägt und nicht getragen wird. All die bisherigen Betrachtungen können die Position der Substanz als Gegenstand in statischer oder synchroner Weise erklären; es ist jedoch zu bemerken, daß sich die Substanz als eine unabdingbare Voraussetzung in der Ontologie zeigt, damit eine Basis für die Werdensphänomene vorhanden sein kann (ohne die Substanz als ontologische Unterlage könnte kein Werdensphänomen erfolgen): Ohne Zweifel entsteht die Einführung der Substanz als Gegenstand bei Aristoteles auch aus der Suche nach einer Entität, welche als Basis für die Werdensphänomene gelten kann. Stellen wie z. B. Kategorien-Schrift 5, 4a10– b19, Metaphysik Zeta 1, die Kapitel 3, 4, 5 von De Generatione et Corruptione I und die Kapitel 5, 6, 7, 8 von Physik I können bezeugen, daß Entstehen, Bewegung, qualitative und quantitative Änderungen eine Substanz voraussetzen, welche entsteht, welche sich bewegt, und welche bestimmte quantitative und qualitative Änderungen erfährt. Die Werdensphänomene brauchen eine ontologische Grundlage, durch welche sie in die Realität eintreten können. Das Zum-Vorschein-Kommen der Entitäten der anderen Kategorien braucht die Substanz als Gegenstand, weil die Substanz als Grundlage, als Unterlage für das Zum-Vorschein-Kommen dieser Entitäten fungiert: Ein Ursprung (nicht der Ursprung überhaupt) der Einführung vom Begriff Substanz als Gegenstand ist m.E. auf die Beobachtung zurückzuführen, daß alle Werdensphänomene immer einen ihnen zugrunde liegenden Gegenstand voraussetzen, ganz gleich, ob die Phänomene Entstehen einer Entität, oder Bewegung, oder auch qualitative und quantitative Änderungen sind. Bei allen Unterschieden ist Entstehen immerhin Entstehen von einem biologischen Gegenstand (z. B.: Ein Mensch wird geboren), Bewegung ist Bewegung eines Gegenstandes (z. B.: Ein Mensch bewegt sich), Qualitäten und Quantitäten kommen in den Gegenständen zum Vorschein (z. B.: Ein Mensch wird blaß). Die Substanz in ihrem Wert als biologischer Gegenstand ist die Basis für jedes Zum-Vorschein-Kommen der übrigen Entitäten. Die Tatsache, daß die Substanz unter den verschiedenen Merkmalen, welche die Substanz qua Substanz aufweist, auch als die Basis für die Entitäten der anderen Kategorien eingeschätzt wird (dies gilt z. B. sowohl bezüglich des Vorliegens von Qualitäten in einer Substanz wie auch bezüglich des Zum-Vorschein-Kommens derselben Qualitäten in einer Substanz), zeugt vom Aspekt, daß die Substanz und das kategoriale System nicht rein sprachliche, sondern zunächst ontologische Entitäten sind und als solche von Aristoteles entdeckt worden sind; diese Entitäten werden in den sprachlichen Strukturen widergespiegelt.
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III. Substanz als tätige Form und aktives Wesen einer biologischen Entität Das Thema der Substanz als einer inneren Kraft, als eines inneren Verwirklichungsfaktors, als eines Funktionen-Zentrums der lebendigen Entität muß jetzt behandelt werden. Dafür will ich einigen Aspekten der Schrift De Anima meine Aufmerksamkeit zuwenden: Denn einige Stellen von De Anima zeigen, daß die Substanz den Wert der inneren, allumfassenden Kraft und den des Verwirklichungsfaktors haben kann, welche die Entwicklung eines biologischen Gegenstandes wie die eines Menschen diktieren und dirigieren. Dieser Verwirklichungsfaktor ist insofern der biologische Gegenstand selbst, als der biologische Gegenstand ausschließlich aus dem Blickwinkel seiner inneren Wirkkraft beobachtet wird, welche einen bestimmten biologischen Inhalt zustande bringt. Wirkkraft und biologischer Inhalt werden von derselben Entität, d. h. von der Seele verkörpert: Die Seele als Wirkkraft realisiert sich selbst (d. h. ihre Dispositionen und Anlagen) in einem dazu angemessenen Körper; jedes beseelte Lebewesen ist m.E. als eine bekörperte22 Seele zu deuten, und zwar in dem Sinne, daß der Körper der Boden zur Selbstverwirklichung der Seele ist: Der Körper stellt das Element dar, ohne welches die Seele sich selbst nicht verwirklichen könnte. Die Stelle, die ich zitieren will, ist De Anima II 1, 412a6–22; in diesem Passus läßt sich auch die Mehrwertigkeit vom Begriff Substanz feststellen, da der Status von Substanz a) der Form, b) der Materie und c) dem aus diesen (d. h. dem aus Form und Materie Zusammengesetzten)23 zugeschrieben wird: »Wir nennen nun eine Gattung des Seienden (γένος +ν τι τ-ν .ντων) die Substanz (οσίαν), und von dieser das eine als Materie (0λην), welches an sich selbst (καθ1 ατ') kein Dieses Etwas (τδε τι) ist, ein anderes aber als Gestalt und Form (μορφ2ν κα3 ε δο&), nach welcher schon ein Dieses Etwas (τδε
22 Der von mir erfundene Ausdruck bekörperte Seele dient dazu, zu veranschaulichen, daß Aristoteles meiner Meinung nach nicht – zumindest nicht nur und nicht in erster Linie – einen beseelten Körper, sondern eben eine Seele, die einen Körper hat, vor sich sieht, wenn er einen Organismus beobachtet: Er sieht eine Energie und eine Anziehungskraft vor sich, welche eine Materie organisieren. M.a.W: Der Fokus seines Forschungsinteresses gilt dem Prinzip des Lebens (vgl. De Anima II 4, 415b8–20). 23 In bezug auf den Ausdruck das aus diesen ist m.E. darauf hinzuweisen, daß dieser Ausdruck eine Art Formel darstellt, die leicht mißzuverstehen ist, da sie das Konkrete als eine einfache Summe von Materie und Form vorstellt, als wäre die zusammengesetzte Substanz (z. B. ein Organismus wie ein Mensch) der einfachen Formel Materie + Form gleich. Eigentlich führen Form und Materie keine gleichwertige Funktion bei einem Organismus durch: Die Form ist das, was die Rolle des die Materie aktualisierenden, organisierenden Faktors ausführt; die Materie ist an sich selbst nur die Potentialität, auf welcher dieser aktualisierende Faktor wirkt; Form und Materie können darum nie als gleichwertige Faktoren angesehen werden. Die Form als aktualisierender Faktor wirkt vom Inneren eines Organismus: Denn die Form ist ein aktives Prinzip, das in der materiellen Komponente vorhanden ist; die Form ist nicht etwas Äußeres im Verhältnis zur Materie.
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τι) gesagt wird24, und drittens das aus diesen (τ' !κ το%των). Die Materie ist dann Potenz (δύναμι&), die Form aber ist Vollendung (!ντελέχεια), und dies in zweifachem Sinne, zum einen wie eine Wissenschaft, zum anderen wie das Betrachten. Substanzen (οσίαι) scheinen am meisten die Körper zu sein, und von diesen die natürlichen: Denn sie sind für das Übrige Prinzipien. Von den natürlichen Körpern haben die einen Leben, die anderen haben es nicht: Leben nennen wir sowohl die Selbst-Ernährung als auch Wachstum und Schwinden. Daher ist wohl jeder natürliche Körper, der am Leben teilhat, eine Substanz (5στε π6ν σ-μα φυσικ'ν μετ8χον ζω:& οσία ;ν εη), und zwar im Sinne einer zusammengesetzten Substanz (οσία δ1 ο0τω&