Literarische Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftstheorie: Kehlmann – Del Giudice – Serres 9783110642384, 9783110639742

Open Access The book examines the work of Daniel Kehlmann, Daniele del Giudice, and Michel Serres to show how writers

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German Pages 544 [546] Year 2020

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Table of contents :
Inhalt
Einleitung
Teil I: Historische und systematische Grundlegungen
1 Literatur und Wissenschaft: Problematisierung einer Leitdifferenz
2 Wissenschaft als Literatur: Poetik und Hermeneutik der literarischen Transformation wissenschaftlicher Diskurse
Teil II: Literarische Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftsgeschichtsschreibung
1 Literarische Wissenschaftsgeschichtsschreibung zwischen Geschichtswissenschaft und Wissenschaftsgeschichte
2 Zur Lektüre und Analyse von Kehlmanns wissenschaftshistorischem Roman
3 Die Vermessung der Welt zwischen fiktionaler Wissenschaftsgeschichte und wissenschaftshistoriographischer Metafiktion
Teil III: Literarische Epistemologie
1 Literarische Epistemologie
2 Daniele del Giudice: Atlante occidentale
3 Michel Serres’ ‚Epistemopoetik‘
Schluss
Literaturverzeichnis
Register
Danksagung
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Literarische Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftstheorie: Kehlmann – Del Giudice – Serres
 9783110642384, 9783110639742

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Bernadette Malinowski Literarische Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftstheorie

Literatur- und Naturwissenschaften

Publikationen des Erlangen Center for Literature and Natural Science/ Erlanger Forschungszentrums für Literatur und Naturwissenschaften (ELINAS)

Herausgegeben von Aura Heydenreich, Christine Lubkoll und Klaus Mecke Editorial Board Jay Labinger, Bernadette Malinowski, Arkady Plotnitsky, Dirk Vanderbeke

Band 6

Bernadette Malinowski

Literarische Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftstheorie Kehlmann – Del Giudice – Serres

ISBN 978-3-11-063974-2 e-ISBN (PDF) 978-3-11-064238-4 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-063982-7 ISSN 2365-3434 DOI https://doi.org/10.1515/9783110642384

Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution-NonCommercialNoDerivatives 4.0 International Lizenz. Weitere Informationen finden Sie unter http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/4.0/. Library of Congress Control Number: 2020946515 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2021 Bernadette Malinowski, publiziert von Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Dieses Buch ist als Open-Access-Publikation verfügbar über www.degruyter.com. Umschlagabbildung: Photo Researchers / Science History Images / Alamy Stock Foto Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck

www.degruyter.com

Inhalt Einleitung | 1  1  Naturwissenschaft als Provokation der Literatur | 12  2  Poetica scientiae als Provokation der Literaturwissenschaft | 18  3  Gegenstand – Fragestellung – Methode – Forschungsimpulse | 21  4  Zum Gang der Untersuchung | 34 

Teil I:  Historische und systematische Grundlegungen   1  1.1 

1.1.1  1.1.2  1.1.3  1.2  2  2.1  2.1.1  2.1.2  2.2 

Literatur und Wissenschaft: Problematisierung einer Leitdifferenz | 39  Epistemologische Ästhetisierung: Naturwissenschaftliche, wissenschaftstheoretische und -historische Grenzöffnungen | 39  „Alle Wissenschaft ist Fiktion“? – Der Antipositivismus der Neuen Physik | 39  Der Antipositivismus der Wissenschaftsgeschichte und -theorie | 55  Wissenschaftsästhetik als Kritik und Programm – Impulse für eine Poetik und Hermeneutik der poetica scientiae | 69  Metapher und Begriff – Wissenschaftskritik als Sprachkritik | 74  Wissenschaft als Literatur: Poetik und Hermeneutik der literarischen Transformation wissenschaftlicher Diskurse | 113  Zum Transfer naturwissenschaftlicher Diskurse ins Medium der Literatur | 114  Komponenten des Transfers: Wiederholung und Transgression | 114  Transferstrategien: Akte des Fingierens und Intertextualität | 117  Lector doctus – Die Rolle des Rezipienten | 136 

VI | Inhalt

Teil II: Literarische Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftsgeschichtsschreibung   1  1.1  1.2 

Literarische Wissenschaftsgeschichtsschreibung zwischen Geschichtswissenschaft und Wissenschaftsgeschichte | 149  Kehlmanns wissenschaftshistorischer Roman Die Vermessung der Welt als Sonderfall des historischen Romans | 149  Geschichtswissenschaft – Wissenschaftsgeschichte | 151 



Zur Lektüre und Analyse von Kehlmanns wissenschaftshistorischem Roman | 160 



Die Vermessung der Welt zwischen fiktionaler Wissenschaftsgeschichte und wissenschaftshistoriographischer Metafiktion | 166  Struktur als erzählte Geschichte – Erste Textvermessungen | 166  ‚Wissenschaft als Lebensform‘ – Zwei historische Skizzen | 176  Enzyklopädisches Weltgemälde: Die poetica scientiae Alexander von Humboldts | 176  Formelhafte Verdichtungen: Carl Friedrich Gauß | 187  Fiktionalisierung ‚fiktionaler‘ Strategien der Wissenschaftshistoriographie und Wissenschaftsbiographie | 202  Gattungsformale Strategie: Anekdotisches Erzählen | 202  Metahistoriographische und ästhetische Selbstreflexionen | 222  Fiktionalisierte Mathematikgeschichte (am Beispiel der nichteuklidischen Geometrie) | 236  Gauß und die nichteuklidische Geometrie | 236  Mathesis in poesis: Literarisierte Geometrie | 255 

3.1  3.2  3.2.1  3.2.2  3.3 

3.3.1  3.3.2  3.4  3.4.1  3.4.2 

Inhalt | VII

Teil III: 

Literarische Epistemologie  



Literarische Epistemologie | 279 

2  2.1 

Daniele del Giudice: Atlante occidentale | 282  „La scomparsa delle cose“ – De- bzw. An-Ästhetisierung und Fiktionalisierung bzw. Poietisierung der Wirklichkeit | 282  Poiesis der ‚Natur‘ – Zur technologischen Konstruktion von Sichtbarkeiten | 283  Epsteins ästhetische Theorien | 302  Epsteins Ästhetik der Moderne | 303  Epsteins poetologisches Experiment | 312  Widerstreit: Moderne Anthropologie und condition postmoderne | 338  Poetologie als Epistemologie: Die doppelte Ästhetik des Atlante occidentale | 353 

2.1.1  2.2  2.2.1  2.2.2  2.3  2.4 

3  3.1  3.2  3.2.1  3.2.2  3.2.3  3.2.4  3.2.5  3.3 

Michel Serres’ ‚Epistemopoetik‘ | 364  Philosophische Erkundungen: Epistemologische Paradoxien | 364  Erkundungen zu einer allgemeinen Epistemologie | 376  Wo denken? – Ethik des Rückzugs | 376  Wie denken? – I. Hermetische Methode | 379  Wie denken? – II. Von der hermetischen zur mathematischen Methode | 386  Wie denken? – III. Passagen zum Passagen-Denken: Enzyklopädik und Epistemologie | 412  Was denken? – Konfigurationen des ‚Dritten‘ | 427  Erzählte Epistemologie: Détachement. Apologue | 456 

Schluss | 493  Literaturverzeichnis | 505 Register | 531 Danksagung| 537 

Einleitung Der Shakespeare-Forscher, der nie eine Seite von Darwin gelesen hat, der Maler, dem schon schwarz vor Augen wird, wenn von komplexen Zahlen die Rede ist, der Psychoanalytiker, der nichts von den Resultaten der Insektenforschung weiß, und der Dichter, der keinem Neurologen zuhören kann, ohne einzuschlafen – das sind doch unfreiwillig komische Figuren, nicht weit entfernt von einer Art selbstverschuldeter Verblödung!1

Diese höchst provozierenden, an die Adresse der Geisteswissenschaftler und Künstler gleichermaßen gerichteten Sätze aus der Feder von Hans Magnus Enzensberger führen mitten hinein in das Themenfeld ‚Literatur und Naturwissenschaft‘, in dem diese Studie verortet ist. Mit der bloßstellenden Rede von der „selbstverschuldeten Verblödung“, die unweigerlich an Kants Definition von Aufklärung als der ‚Herausführung des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit‘ erinnert, klagt Enzensberger genau jene „andere Bildung“ ein, deren komplexe Inhalte der Wissenschaftshistoriker Ernst Peter Fischer in seinem 2001 erschienenen Buch Die andere Bildung. Was man von den Naturwissenschaften wissen sollte für den naturwissenschaftlich ungebildeten Leser aufbereitet und zusammengestellt hat. Ausdrücklich will Fischer sein Buch als Antwort auf den „Hochmut [der] literarisch und philosophisch Gebildeten gegenüber den Leistungen der Naturwissenschaften“2 verstanden wissen, wie er ihm exemplarisch in Dietrich Schwanitz’ zwei Jahre zuvor publizierten Titel Bildung. Alles, was man wissen muß entgegenschlägt. In der Tat kann man Schwanitz einen sehr reduzierten Bildungsbegriff vorwerfen, wenn er polemisch verlauten lässt: Die naturwissenschaftlichen Kenntnisse werden zwar in der Schule gelehrt; sie tragen auch einiges zum Verständnis der Natur, aber wenig zum Verständnis der Kultur bei. [...] [Und] so bedauerlich es manchem erscheinen mag: Naturwissenschaftliche Kenntnisse müssen zwar nicht versteckt werden, aber zur Bildung gehören sie nicht.3

|| 1 Hans Magnus Enzensberger: Die Elixiere der Wissenschaft. Seitenblicke in Poesie und Prosa, Frankfurt/M. 2002, S. 262. – Einzelne Passagen der Einleitung sowie der historisch-systematischen Grundlegungen sind meinem Beitrag „Literatur und Naturwissenschaft“, in: Theorien der Literatur. Grundlagen und Perspektiven, hrsg. v. Hans Vilmar Geppert u. Hubert Zapf, Bd. II, Tübingen, Basel 2005, S. 21–47, entnommen. 2 Ernst Peter Fischer: Die andere Bildung. Was man von den Naturwissenschaften wissen sollte, München 2001, S. 10. 3 Dietrich Schwanitz: Bildung. Alles, was man wissen muß, Frankfurt/M. 1999, S. 482. Open Access. © 2021 Bernadette Malinowski, publiziert von De Gruyter. Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivatives 4.0 International Lizenz. https://doi.org/10.1515/9783110642384-001

2 | Einleitung

Der hier ausgetragene Streit um die Definition dessen, was Bildung im Kern umfassen sollte, ist indessen nichts anderes als eine Fortsetzung jener querelle des sciences et des belles lettres, wie sie exemplarisch bereits im ausgehenden 19. Jahrhundert von Thomas H. Huxley und Matthew Arnold und im 20. Jahrhundert von Charles P. Snow und Frank R. Leavis ausgefochten wurde.4 In seinem 1880 gehaltenen Vortrag zur Eröffnung des Mason’s Science College weist Huxley mit Recht auf die lange Vorgeschichte in der Auseinandersetzung zwischen ‚science and culture‘ hin. Ohne diese „long series of battles“5 selbst näher zu kommentieren, führen die Spuren von Huxleys Kritik an der Dominanz der literarisch-humanistischen Fächer im englischen Bildungskanon bis ins Frankreich des 17. und 18. Jahrhunderts zurück.6 Besonders zu erinnern ist in diesem Zusammenhang Condorcets Rapport et projet de décret sur l’organisation générale de l’instruction publique vom 20. und 21. April 1792.

|| 4 „In the last century“, so diagnostiziert Huxley 1880 in seinem Vortrag zur Eröffnung des Mason’s Science Colleges in Birmingham, „the combatants were the champions of ancient literature, on the one side, and those of modern literature on the other, but, some thirty years ago, the contest became complicated by the appearance of a third army, ranged around the banner of physical science“ (Thomas H. Huxley: Science and Culture, in: Essays: English and American, Bd. 28, hrsg. v. Charles W. Eliot, New York 1910, Online-Edition 2001, http://www.bartleby.com/28/9.html; letzter Zugriff: 5.04.08). – Vgl. hierzu auch den Abschnitt Die Two Cultures Debate und ihre Vorgeschichte im 19. Jahrhundert in Pethes’ überaus konzisem Überblick zur Vorgeschichte über den „jüngsten Forschungsboom zur Wechselbeziehung zwischen Literatur und Naturwissenschaft“: Nicolas Pethes: Literatur- und Wissenschaftsgeschichte. Ein Forschungsbericht, in: IASL 28 (2003), S. 181–231, S. 186–191 (Zitat S. 186). 5 Huxley: Science and Culture. 6 Die Diskussion um die Anfänge der Zwei-Kulturen-Debatte kann hier nicht geführt werden. Nach Toulmins Einschätzung reicht die Trennung bis zu Aristoteles’ Unterscheidung zwischen einer abbildenden, ‚eikstatischen‘, im Feld des Wissens angesiedelten und einer phantastischen Kunst zurück und würde im exemplarisch-figurativen Gegensatz des (zeitlich früheren) humanistisch-literarischen Montaigne und des (zeitlich späteren) rationalistisch-abstrakten Descartes epochal zur Geltung kommen (vgl. Stephen Toulmin: Kosmopolis. Die unerkannten Aufgaben der Moderne, Frankfurt/M. 1994, u.a. S. 49, 79 f. u. 138). Valéry macht Pascals Differenzierung zwischen einem „esprit de géometrie“ und einem „esprit de finesse“ zum Auslöser der Debatte (vgl. Paul Valéry: Anmerkung und Abschweifung, in: ders.: Leonardo da Vinci, Frankfurt/M. 1998, S. 62–101, hier S. 75; Sind Geistes- und Naturwissenschaften grundverschieden?, in: ders.: Werke, Bd. 7: Zur Zeitgeschichte und Politik, hrsg. v. Jürgen SchmidtRadefeldt, Frankfurt/M. 1995, S. 390–392). – Vgl. auch Barck, der als „urszenisches Ereignis dieser Ausdifferenzierung und Trennung von Wissensbereichen“ eine 1767 an der preußischen Akademie der Wissenschaften geführte Debatte anführt (Karlheinz Barck: Literatur/Denken. Über einige Relationen zwischen Literatur und Wissenschaft, in: „fülle der combination“. Literaturforschung und Wissenschaftsgeschichte, hrsg. v. Bernhard J. Dotzler u. Sigrid Weigel, München 2005, S. 293–302, hier S. 297).

Einleitung | 3

Gegen den Mainstream seiner Zeit (und auch entsprechend erfolglos) entwirft Condorcet darin ein Erziehungs- und Bildungsprogramm, das den Primat der humanistischen Fächer zugunsten eines soliden wissenschaftlichen Studiums verwirft. Plusieurs motifs ont déterminé l’espèce de préférence accordée aux sciences mathématiques et physiques. D’abord, pour les hommes qui ne se dévouent point à de longues méditations, qui n’approfondissent aucun genre de connaissances, l’étude même élémentaire de ces sciences est le moyen le plus sûr de développer leurs facultés intellectuelles, de leur apprendre à raisonner juste, à bien analyser leurs idées. On peut sans doute, en s’appliquant à la littérature, à la grammaire, à l’histoire, à la politique, à la philosophie en général, acquérir de la justesse, de la méthode, une logique saine et profonde, et cependant ignorer les sciences naturelles. De grands exemples l’ont prouvé ; mais les connaissances élémentaires dans ces mêmes genres n’ont pas cet avantage ; elles emploient la raison, mais elles ne la formeraient pas. C’est que dans les sciences naturelles les idées sont plus simples, plus rigoureusement circonscrites ; c’est que la langue en est plus parfaite, que les mêmes mots y experiment plus exactement les mêmes idées. Les éléments y sont une véritable partie de la science, resserrée dans d’étroites limites, mais complète en elle-même.7

|| 7 Jean-Antoine-Nicolas de Caritat Condorcet: Rapport et projet de décret sur l’organisation générale de l’instruction publique [20./21.4.1792], in: ders.: Œuvres. Nouvelle impression en facsimilé de l’édition Paris 1847–1849, Bd. VII, Stuttgart-Bad Cannstatt 1968, S. 449–573, hier S. 468 f. „Mehrere Gründe haben uns bewogen, den mathematischen Disziplinen und Naturwissenschaften einen gewissen Vorrang zu geben. Zuvorderst ist für die Menschen, die sich nicht langen Betrachtungen hingeben, die sich in kein Wissensgebiet gründlicher vertiefen, eine auch nur elementare Beschäftigung mit jenen Wissenschaften das sicherste Mittel dazu, dass sie ihre Gedanken ordentlich gliedern. Mann kann zweifellos bei der Beschäftigung mit Literatur, Grammatik, Geschichte, Politik und Philosophie im allgemeinen sich Genauigkeit, geordnetes Vorgehen, eine gesunde und gründliche Logik aneignen und dabei mit den Naturwissenschaften nicht Bescheid wissen; […] Aber nicht die Anfangsgründe in diesen Wissenschaften bringen diesen Nutzen. Sie bedienen sich wohl des Verstandes, aber sie bilden ihn nicht. In den Naturwissenschaften sind die Begriffe einfacher, fester umrissen; und zwar darum, weil ihre Sprache vollendeter ist, weil dieselben Worte strenger dieselben Begriffe bezeichnen. Die Anfangsgründe sind bei ihnen ein wirklich eng begrenzter, aber in sich abgeschlossener Teil der Wissenschaft. Sie stellen außerdem eine Verstandesschulung dar, das einer viel größeren Zahl Menschen, besonders in der Jugend, zugänglich ist. Es gibt kein Kind – wenn es nicht ganz stumpfsinnig ist –, dem man nicht auch durch elementaren Unterricht in Naturgeschichte oder Landwirtschaft irgendwie zur Gewohnheit machen könnte, diese Wissenschaften anzuwenden. Sie sind ein Heilmittel gegen die Vorurteile, gegen die Beschränktheit des Geistes, ein wenn nicht sichereres, so doch umfassenderes Heilmittel als selbst die Philosophie. Sie sind nützlich in allen Berufen, und es ist nicht zu ersehen, wie viel nützlicher sie sein würden, wenn sie gleichmäßiger verteilt wären. Die, die den Entwicklungsgang dieser Wissenschaften verfolgen, sehen die Zeit nahen, wo der praktische Nutzen ihrer Anwendungen

4 | Einleitung

Als Huxley knapp hundert Jahre später und auf dem Höhepunkt der industriellen Revolution nahtlos an Condorcets Plädoyer anknüpft, hat sich das traditionelle Profil des Bildungssystems kaum gewandelt. Ohne die Relevanz eines literarisch-humanistischen Studiums in Abrede zu stellen – „I am the last person […] to suppose that intellectual culture can be complete without it“8 –, macht er unmissverständlich deutlich, dass der naturwissenschaftlichen Bildung in einer an wissenschaftlicher Rationalität und industriellem Wohlstand orientierten Welt zweifellos der Vorrang gebührt: „We may take for granted then, that […] the diffusion of thorough scientific education is an absolutely essential condition of industrial progress.“9 Entsprechend sieht Arnold in seiner Replik auch nicht die Frage im Zentrum, „whether knowing the great results of the modern scientific study of nature is not required as a part of our culture, as well as knowing the products of literature and art“,10 sondern die von Huxley vorgenommene Gewichtung zugunsten einer „scientific education“. Es sind im Wesentlichen zwei Argumente, die Arnold gegenüber Huxley ins Feld führt. Zum einen korrigiert er dessen auf die belles lettres reduzierten Begriff von Literatur und stellt diesem einen erweiterten, die Wissenschaften integrierenden entgegen: Literature is a large word; it may mean everything written with letters or printed in a book. Euclid’s Elements and Newton’s Principia are thus literature. All knowledge that reaches us through books is literature.11

„To know ourselves and the world“ heißt demzufolge nichts anderes als „to know the best which has been thought and said in the world“, und dieses Wissen schließt die belles lettres ebenso ein wie die Erkenntnisse eines Kopernikus,

|| ein Ausmaß annehmen wird, das man nicht zu erhoffen gewagt hätte, ein Zeitalter, wo der Fortschritt der Naturwissenschaften auf eine segensreiche Revolution in den mechanischen Künsten hervorrufen wird; und das sicherste Mittel, diese Umwälzung zu beschleunigen, ist das, diese Kenntnisse in allen Klassen der Gesellschaft zu verbreiten und überall bequeme Gelegenheiten zu schaffen, wo man sie auswerten kann“ (Jean-Antoine-Nicolas Condorcet [de Caritat]: Bericht über die Allgemeine Organisation des öffentlichen Unterrichtswesens, in: Erziehungsprogramme der Französischen Revolution. Mirabeau – Condorcet – Lepeletier, eingel. u. erläutert v. Robert Alt, Berlin, Leipzig 1949, S. 61–117, hier S. 76). 8 Huxley: Science and Literature. 9 Ebd. 10 Matthew Arnold: Literature and Science [1882], in: Philistinism in England and America (= The Complete Prose Works of Matthew Arnold, Bd. 10), hrsg. v. Robert H. Super, Ann Arbor 1974, S. 53–73, hier S. 59 f. 11 Ebd., S. 58.

Einleitung | 5

Galileo, Newton oder Darwin.12 Zum anderen – und mit diesem Argument verlagert Arnold den Akzent nun seinerseits auf die humanistische Bildung – sieht er humanes Leben durch ethische, intellektuelle, ästhetische und soziale Bedürfnisse geprägt, die nicht voneinander zu trennen, sondern auf vielfache Weise aufeinander bezogen sind.13 Während die Naturwissenschaften eine Fülle von Fakten und theoretischen Konzepten bereitstellen, dabei jedoch im Bereich von Intellekt und Wissen verhaftet bleiben,14 erfüllen die „humane letters“ eine integrative, die verschiedenen Wissens- und Erfahrungsfelder miteinander verbindende Funktion: Indem sie insbesondere auch die Gefühle ansprechen, haben sie „not only the power of refreshing and delighting us […], they have [also] a fortifying, and elevating, and quickening, and suggestive power, capable of wonderfully helping us to relate the results of modern science to our need for conduct, our need for beauty“.15 In ungleich schärferer Form und mit einer wesentlich nachhaltigeren Wirkung finden beide Positionen ihre Fortsetzung in der Snow-Leavis-Kontroverse. So bekannt Snows Thesen von den zwei Kulturen auch sind, so sehr werden sie selbst heute noch zur Untermauerung und Zementierung gerade jener Vorurteile instrumentalisiert, die Snow für die wechselseitige Entfremdung und Ignoranz zwischen der literarisch-geisteswissenschaftlichen und der naturwissenschaftlich-technischen Intelligenz verantwortlich macht. Eine mit überwiegend dualistischen Kategorien operierende Rhetorik, die sich ferner einer Reihe anschaulicher, einprägsamer und deshalb für den populistischen Gebrauch hervorragend geeigneter Metaphern bedient und nicht zuletzt der für viele Passagen der Rede-Lecture charakteristische ironische Duktus,16 mag sicherlich die

|| 12 Ebd., S. 56 u. 59. 13 Vgl. ebd., S. 61 f. 14 Vgl. ebd., S. 64. 15 Ebd., S. 68; vgl. S. 64 f. u. 67. 16 Wenn man Leavis’ äußerst heftig, emotional, einseitig und abschätzig geführten Attacke gegen Snow auch nicht in allen Punkten folgen mag, so wird man – nach Abzug aller polemischen Schelte – dem sachlichen Kern seiner Kritik des Snow’schen Stils doch weitgehend zustimmen müssen: Snows Lecture „exhibits an utter lack of intellectual distinction and an embarrassing vulgarity of style“ (Frank R. Leavis: Two Cultures? The Significance of C. P. Snow [1962], in: ders., M. Yudkin: Two Cultures?, London 1962, S. 9–30, hier S. 11); moniert werden vor allem die sprunghafte, repetitive, historische Aspekte ignorierende Argumentation, fehlende Begriffsklärungen (ohne Erläuterung setze er z.B. „literary culture“ mit „traditional culture“ gleich, ebd., S. 16; „He is repetitious, but he devolops no explanation further“, ebd., S. 19), vor allem aber das Bedienen zahlreicher Klischees („it is a document for the study of cliché“, S. 17) gepaart mit unzulässigen Verallgemeinerungen (S. 19), Simplifizierungen, Verzerrungen (S. 23) und mangelhafter gedanklicher Substanz (S. 17).

6 | Einleitung

‚Topisierung‘ singulärer Formulierungen begünstigt haben. Auch oszilliert Snow zuweilen unentschieden zwischen beiden Kulturen, lässt aber – wie seinerzeit Huxley – letztlich keinen Zweifel daran, dass die akuten sozialen Probleme der Industrienationen und die davon nicht zu trennenden globalen Probleme und Gefahren, insbesondere das Gefälle zwischen Arm und Reich, die Überbevölkerung und die atomare Bedrohung, nur über eine „scientific revolution“17 zu lösen sind. Dazu sei nicht nur Kapital erforderlich, sondern vor allem die Ausbildung einer genügenden Anzahl von Naturwissenschaftlern und Ingenieuren, die ihr Wissen in den Dienst der nicht-industrialisierten Länder stellen und sich vor Ort um einen Ausgleich des wissenschaftlich-technologischen und des dadurch bedingten sozialen Gefälles bemühen.18 Der postulierte soziale, politische und ökonomische Wandel setzt demzufolge die gründliche Reform des Bildungssystems, insbesondere eine Aufwertung der Natur- und Technikwissenschaften im schulischen und universitären Fächerkanon voraus. Die Rolle, die Snow den „literary intellectuals“ in diesen Transformationsprozessen zuweist, lässt sich nur vor der von ihm gefällten negativen Diagnose über den status quo dieser Kultur rekonstruieren. Mit ihrer vergangenheitsfixierten, wertekonservativen, wissenschafts- und technikfeindlichen Haltung hätte sich die „traditional culture“ von jeher blind und ignorant insbesondere gegenüber all jenen gesellschaftlichen Prozessen gezeigt, denen sie ihren Wohlstand verdanke. Die als „natural luddites“19 diffamierten Intellektuellen hätten den sozialen Fortschritt, dessen Nutznießer sie sind, eher behindert denn gefördert und zeichnen maßgeblich für den gegenwärtigen Zustand der Stagnation und Erstarrung verantwortlich.20 Ins Positive gewendet wäre gerade die Kunst dazu angehalten, Kenntnisse und Leistungen von Wissenschaft und Technik der Öffentlichkeit zu vermitteln und auf diese Weise zur Lösung des Kernproblems, namentlich die mangelnde Kommunikation zwischen beiden Kulturen,

|| 17 Zur „scientific revolution“ vgl. das gleichnamige Kapitel in: Charles P. Snow: The Two Cultures. With Introduction by Stefan Collini, Cambridge 1998, S. 29–40. 18 Vgl. ebd., S. 46 f. 19 Ebd., S. 22. 20 „In fact, those two revolutions, the agricultural and the industrial-scientific, are the only qualitative changes in social living that men have ever known. But the traditional culture didn’t notice: or when it did notice, didn’t like what they saw. Not that the traditional culture wasn’t doing extremely well out of the revolution; the English educational institutions took their slice of the English nineteenth-century wealth, and perversely, it helped crystallise them in the forms we know“ (ebd., S. 23; vgl. in diesem Kontext das Kapitel „Intellectuals as Natural Luddites“, in: ebd., S. 22–28).

Einleitung | 7

beizusteuern.21 Dass der Kunst damit eine bloße Dienstleistungsfunktion zugedacht ist, macht Snow unmissverständlich deutlich: It is bizarre how very little of twentieth-century science has been assimilated into twentieth-century art. Now and then one used to find poets conscientiously using scientific expressions, and getting them wrong – there was a time when ,refraction‘ kept cropping up in verse in a mystifying fashion, and when ,polarised light‘ was used as though writers were under the illusion that it was a specially admirable kind of light. Of course, that isn’t the way that science could be any good to art. It has got to be assimilated along with, and as part and parcel of, the whole of our mental experience, and used as naturally as the rest.22

Nicht die autonome, kreative und kritische ‚Assimilierung‘ szientifischer Gehalte ist gefragt, sondern eine wissenschaftsrealistische bzw. -naturalistische Kunst, die die Wissenschaften als pars pro toto der Lebens- und Erfahrungswelt ausweist. Die hier demonstrierte ganzheitliche Gesinnung schrumpft indessen zur bloßen Koketterie, sobald man die fundamentale Rolle mit bedenkt, die Snow den Natur- und Technikwissenschaften einräumt: Diese beschränkt sich keineswegs darauf, die natürliche Welt zu verstehen und zu kontrollieren;23 vielmehr sind sie „the material basis for our lives: or more exactly, the social plasma of which we are a part“.24 Leavis’ Replik auf die provokanten Thesen Snows ist Angriff und Verteidigung zugleich. Über weite Strecken seines Essays versucht er sowohl den Romancier als auch den Naturwissenschaftler Snow mit dessen eigenen argumentativen Waffen zu schlagen, indem er ihm „complete ignorance“, „intellectual nullity“ und absolute Inkompetenz in beiden Bereichen vorwirft,25 weitet seine

|| 21 Vgl. Charles P. Snow: The Two Cultures: A Second Look [1963], in: ders., The Two Cultures, S. 53–100, v.a. S. 60 f., wo es heißt: „I did not mean that literary intellectuals act as the main decision-makers of the western world. I meant that literary intellectuals represent, vocalise, and to some extent shape and predict the mood of the non-scientific culture: they do not make decisions, but their words seep into the minds of those who do.“ 22 Snow: The Two Cultures, S. 16. Der russischen Literatur kommt in dieser Sicht eine Vorbildfunktion zu: Zwar mangelt es auch ihr an Verständnis für die „pure science“, weshalb diese auch nur selten adaptiert wird, doch im Gegensatz zur westlichen Literatur finde sich in ihr zumindest „a rudimentary acquaintance with what industry is all about. […] An engineer in a Sovjet novel is as acceptable […] as a psychiatrist in an American one“ (ebd. S. 37). 23 Vgl. ebd., S. 67. 24 Vgl. ebd., S. 30. 25 Leavis: Two Cultures?, S. 10 u. 12. Snow sei „intellectually as undistinguished as it is possible to be“, „he doesn’t know what he means, and doesn’t know he doesn’t know“ (ebd., S. 10), und von Geschichte hätte er schon gar keine Ahnung (vgl. S. 16). So wenig es den Wissen-

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sarkastische Kritik ausdrücklich aber auch auf alle diejenigen aus, die den Mythos ‚Snow‘ kreiert und The Two Cultures binnen kürzester Zeit zum Klassiker stilisiert haben.26 Ungeachtet aller polemischen Spitzen bestätigt Leavis die Kernthese von den zwei disparaten Kulturen, wenn er die von Snow zur Demonstration der wechselseitigen Ignoranz exemplarisch angeführten Testfragen, wer unter den literarisch Gebildeten in der Lage sei, das zweite thermodynamische Gesetz zu definieren bzw. wer unter den wissenschaftlich Gebildeten Shakespeares Werke gelesen hätte, mit der Bemerkung kontert, dass es zur letzteren kein wissenschaftliches Äquivalent gebe und „equations between orders so disparate“ ohnehin sinnlos seien.27 Vor allem aber greift Leavis die bereits bei Snow angesprochene, wenngleich nicht näher ausgeführte Vision von einer dritten Kultur auf28 und baut diese zum zentralen Argument seines

|| schaftler Snow gebe, so wenig existiere auch der Schriftsteller Snow: Ihm gehe jegliche „creative power“ ab; seine Protagonisten seien ohne Leben: „when the characters are supposed to fall in love your are told they do, but he can’t show it happening“ (S. 13), und wenn er, wie in seinem Roman The Affair, wissenschaftliche Aspekte thematisiere, „no corresponding intellectual interest comes into the novel; science is a mere word, the vocation merley postulated“ (S. 14). „That he has really been a scientist, that science as such has ever, in any important inward way, existed for him, there is no evidence in his fiction“ (ebd.). „[…] Snow not only hasn’t in him the beginnings of a novelist; he is utterly without a glimmer of what creative literature is, or why it matters“ (S. 19). Entsprechend sei auch der in der Rede Lecture gezeichnete literarische Intellektuelle nichts anderes als „the enemy of art and life“ (S. 16). 26 „Snow is a portent. He is a portent in that, being in himself negligible, he has become for a vast public on both sides of the Atlantic a mastermind and a sage. His significance is that he has been accepted – or perhaps the point is better made by saying ,created‘: he has been created as authoritative intellect by the cultural conditions manifested in his acceptance“ (ebd., S. 10). „To my surprise, however, it [the Rede Lecture] took on the standing of a classic. It was continually being referred to […]“ (ebd., S. 11). 27 Ebd., S. 27; vgl. Snow: The Two Cultures, S. 14 f. 28 Im Kontext der Rede Lecture nimmt der Gedanke eines umfassenden Kulturbegriffs lediglich den Stellenwert eines Appendix mit Alibifunktion ein und wird entsprechend auch nicht näher erläutert. Nachdem er den Führungsprimat der Naturwissenschaften und Technologien bei der Lösung der eklatanten lokalen wie globalen Probleme mit dem Appell, den szientifischtechnischen Zweig innerhalb des Bildungssystems aufzuwerten, herausgestellt hat, betont Snow des weiteren: „Education isn’t the total solution to this problem: but without education the West can’t even begin to cope. All the arrows point in the same way. Closing the gap between our cultures is a necessity in the most abstract intellectual sense, as well as in the most practical. When those two senses have grown apart, then no society is going to be able to think with wisdom. For the sake of the intellectual life, for the sake of this country’s special danger, for the sake of the western society living precariously rich among the poor, for the sake of the poor who needn’t be poor if there is intelligence in the world, it is obligatory for us and the Americans and the whole West to look at our education with fresh eyes“ (Snow: The Two Cul-

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Essays aus. Angesichts eines rapiden wissenschaftlichen und technologischen Fortschritts mit seinen unvorhersehbaren Herausforderungen, Entscheidungen und Konsequenzen, müsse die Menschheit „in full intelligent possession of its full humanity“ sein.29 Dieses von Leavis beschworene Humanitätsideal, das gleichbedeutend ist mit der postulierten dritten Kultur, wird nicht durch Kunst und Literatur repräsentiert, sondern findet seinen angemessenen Ausdruck vielmehr in den durch sie motivierten kommunikativen Prozessen: It is in the study of literature […] that one comes to recognise the nature and priority of the third realm […], the realm of that which is neither merely private and personal nor public in the sense that it can be brought into the laboratory or pointed to. You cannot point to the poem; it is ,there‘ only in the re-creative response of individual minds to the black marks on the page. But – a necessary faith – it is something in which minds can meet.30

Literary criticism wird in dieser Sicht zum Paradigma einer Kultur der Kommunikation und Partizipation, deren Urteilskompetenz sich gerade nicht in der zementierten Abgeschlossenheit propositionaler Aussagen bekundet, sondern eine ‚Selbstfragwürdigkeit‘ impliziert („This is so, isn’t it?“), die den Dialog mit dem anderen ermöglicht und offen ist für die Formulierung von Einwänden und Korrekturen („‚yes, but‘“).31 Über diesen, seinerseits der ständigen Erneuerung und Entwicklung unterworfenen „collaborative-creative process“ formiere sich „a cultural community and consciousness“, eben jenes „third realm to which all that makes us human belongs“.32 Obwohl der Mythos von den ‚zwei Kulturen‘ das natur- wie geisteswissenschaftliche Selbstverständnis – und daraus resultierend auch die wissenschaft-

|| tures, S. 50). In seinem drei Jahre später verfassten Nachtrag kommt etwas deutlicher zum Tragen, dass Snow die Verantwortung für die Entstehung einer dritten Kultur vor allem den literarisch Intellektuellen zuschreibt: „It is probably too early to speak of a third culture already in existence. But I am now convinced that this is coming. When it comes, some of the difficulties of communication will at last be softened: for such a culture has, just to do its job, to be on speaking terms with the scientific one“ (Snow: The Two Cultures: A second look, S. 70 f.). 29 Leavis: Two Cultures?, S. 25; weiter heißt es: „What we need, and shall continue to need not less, is something with the livingness of the deepest vital instinct; as intelligence, a power – rooted, strong in experience, and supremely human – of creative response to the new challenges of time; something that is alien to either of Snow’s cultures“ (S. 26). 30 Ebd., S. 28. 31 Ebd. 32 Ebd. Diese letztlich nur regulativ aufzufassende Idee prägt auch Leavis’ Vorstellung von Universität als einem „centre of human consciousness: perception, knowledge, judgment and responsibility“ (ebd., S. 29).

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liche Praxis – nach wie vor bestimmt,33 formiert sich spätestens seit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert sowohl im Bereich der Literatur, der Geistes- und Kulturwissenschaften als auch im Bereich der Naturwissenschaften, der Wissenschaftstheorie, -geschichte und -philosophie eine kritische Allianz, die jene Kunst und Wissenschaft eindeutig trennende Demarkationslinie zunehmend in Frage stellt, relativiert und für transdisziplinäre34 Betrachtungen durchlässig macht. Bei den Bemühungen, das Verhältnis zwischen Literatur und Naturwissenschaft auszuloten, kommt den Entwicklungen in der neuen Physik und den dadurch ausgelösten erkenntnistheoretischen, sprachphilosophischen und ästhetischen Reflexionsprozessen seitens ihrer prominentesten Repräsentanten eine ebenso spezielle Bedeutung zu wie den von namhaften Wissenschaftstheoretikern und -historikern geführten Diskussionen um die soziale und kulturelle Kontextabhängigkeit der hard sciences. Die exorbitante Fülle an literatur- und kulturwissenschaftlichen Untersuchungen, die insbesondere seit den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts im Kielwasser solcher Öffnungen entstanden sind, können jedoch kaum darüber hinwegtäuschen, dass die durch C. P. Snow wieder entfachte two cultures-Debatte unter der neuen euphemistischen Etikette einer one culture oder third culture weiterhin schwelt. Scheinbar ungeachtet aller geleisteten Verständigungsbemühungen treten die alten Konflikte vor allem dort zutage, wo es um bildungspolitisch angeheizte Fragen nach dem Selbstverständnis der Universitäten und insbesondere nach der Legitimität der dort angesiedelten Geisteswissenschaften geht. Die eigene Existenzberechtigung wird dann nicht selten auf dem Rücken uralter und wissenschaftlich längst überholter Vorurteile gegenüber den vermeintlich besser gestellten (und das heißt letztlich immer: ökonomisch besser gestellten) Disziplinen propagiert und die im Kern politischen und gesellschaftlichen Probleme mit den rhetorischen Waffen der zwei Kulturen ausgefochten. – Auf wesentlich subtilere Weise

|| 33 Vgl. hierzu exemplarisch Holger Dainat: Vom Nutzen und Nachteil, eine Geisteswissenschaft zu sein. Zur Karriere der Unterscheidung von Natur- und Geisteswissenschaften, in: Geist, Geld und Wissenschaft: Arbeits- und Darstellungsformen von Literaturwissenschaft, hrsg. v. Peter J. Brenner, Frankfurt/M. 1993, S. 66–98 sowie Simon J. Lock: Cultures of incomprehension? The Legacy of the Two Cultures Debate at the End of the Twentieth Century, in: Interdisciplinary Science Reviews 41 (2016), S. 148–166. 34 Mit Transdisziplinarität bezeichnet Mittelstraß eine Forschung, „die sich selbst aus ihren disziplinären Grenzen löst, die ihre Probleme disziplinenunabhängig definiert und disziplinenunabhängig löst“ (Jürgen Mittelstraß: Die Stunde der Interdisziplinarität?, in: ders.: Leonardo-Welt. Über Wissenschaft, Forschung und Verantwortung, Frankfurt/M. 1992, S. 96–102, S. 90). In diesem streng disziplinenunabhängigen Sinn kann Transdisziplinarität für das vorliegende Projekt bestenfalls als regulative Idee beansprucht werden.

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manifestiert sich das konfliktuöse Verhältnis zwischen „scientists“ und „literary intellectuals“35 jedoch in jenen Ansätzen, welche die seitens der Naturwissenschaften einmal konzedierten Affinitäten zu den Textwissenschaften und zur Literatur verabsolutieren und die sciences dem Kosmos einer „allumfassenden Wissenschaft der Zeichen und Symbole“36 einverleiben. Auf die Spitze getrieben führen solche Ansätze nicht nur dazu, die Naturwissenschaften in bloßem Konstruktivismus und reiner Rhetorizität aufgehen zu lassen und ihnen jeglichen Bezug zur Realität abzusprechen,37 sondern ebenso dazu, die Differenzen der Diskurssysteme von Wissenschaft und Literatur zu tilgen und damit auch der Literatur ihre spezifischen Möglichkeiten – und dies gerade in der produktiven Transformation naturwissenschaftlicher Themen und Theorien – in Abrede zu stellen.38

|| 35 Snow: The Two Cultures, S. 4. 36 Dirk Vanderbeke: Theoretische Welten und literarische Transformationen. Die Naturwissenschaften im Spiegel der ‚science studies‘ und der englischen Literatur des ausgehenden 20. Jahrhunderts, Tübingen 2004, S. 12. 37 „The claim of rhetoric is that the phrase ,brute facts‘ is an oxymoron. Facts are by nature linguistic – no language, no facts. By definition, a mind-independent reality has no semantic component“ (Alan Gross: The Rhetoric of Science, Cambridge/MA, 1990, S. 202 f.) 38 Diese vor allem im Umkreis von Feminismus und Poststrukturalismus entstandenen radikalen Varianten einer In-Differenzierung von Wissenschaft und Kunst waren Auslöser für die jüngste und in ihren Mitteln sicherlich auch fragwürdigste Auseinandersetzung zwischen den ,Kulturen‘: 1996 veröffentlichte der amerikanische Physiker Alan D. Sokal unter dem Titel „Transgressing the Boundaries: Towards a Transformative Hermeneutics of Quantum Gravity“ eine Parodie auf all jene Theorien, welche die Wissenschaften unterschiedslos als kodierte Ideologien oder als bloß subjektive Konstrukte denunzieren und denen deshalb kein privilegierter epistemologischer Status zukomme. Die Parodie, von den Herausgebern der namhaften Zeitschrift Social Text als solche nicht erkannt, sondern als ein seriöser wissenschaftlicher Beitrag in einer Sondernummer des Magazins zum Thema „Science Wars“ publiziert, löste einen Sturm von Entrüstung aus. Sokal, der in seinem Aufsatz positiv vor allem auf feministisch-dekonstruktive Literatur Bezug nimmt, gab später den Grund für sein Vorgehen an: „What concerns me is the proliferation […] of a particular kind of nonsense and sloppy thinking: one that denies the existence of objective realities, or (when challenged) admits their existence but downplays their practical relevance. […] In short, my concern over the spread of subjectivist thinking is both intellectual and political. Intellectually, the problem with such doctrines is that they are false (when not simply meaningless). There is a real world; its properties are not merely social constructions; facts and evidence do matter. […] And yet, much of contemporary academic theorizing consists precisely of attempts to blur these obvious truths – the utter absurdity of it all being concealed through obscure and pretentious language“ (Alan D. Sokal: A Physicist Experiments with Cultural Studies, s. http://www.physics.nyu.edu/faculty/sokal/lingua_franca_v4/lingua_franca_v4.html, letzter Zugriff: 18.06.05). Auf Sokals Homepage findet sich auch „Transgressing the Boundaries“.

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Dass derartige Assimilierungsversuche seitens der Geistes- und Kulturwissenschaften auch Ausdruck einer permanenten Legitimationskrise sind, gilt mit Einschränkung nicht minder von der Literatur selbst. Auch dort werden Legitimationsversuche meist dann unternommen, wenn der Wert, der Status oder die Funktionstauglichkeit von Dichtung nicht mehr selbstverständlich gegeben sind. Dies scheint immer dann der Fall zu sein, wenn andere Weltdeutungssysteme ihren Führungsanspruch behaupten, wie etwa die Philosophie seit der griechischen Antike oder die moderne Wissenschaft seit ihrer festen Etablierung im frühen 18. Jahrhundert. Dass die Literatur spätestens seit der Romantik eine wahre Flut an kritischen Bestandsaufnahmen und Rechtfertigungsversuchen hervorgebracht und auf vielfältige Weise versucht hat, sich selbst im Spiegelmedium nicht-literarischer, ganz besonders eben auch wissenschaftlicher Diskurse zu definieren oder in der unmittelbar literarisch ausgetragenen Konfrontation mit den zeitgenössischen Wissenschaften das jeweils Ästhetikspezifische und dichterisch Genuine zu bestimmen – sich also gleichsam über die literarische ‚Arbeit an der Wissenschaft‘ die Differenz zur Wissenschaft zu erschreiben – ist vor dem Hintergrund einer langen kulturellen Entwicklung zu sehen: Angefangen von der seit der Renaissance sich vorbereitenden Aufklärung des 18. Jahrhunderts, deren herrschender Geist in Alexander Popes Epitaph von 1727 – „Nature and Nature’s Laws lay hid in Night. / God said, Let Newton be! and all was Light“39 in mehrfacher Hinsicht glänzend zum Ausdruck gebracht ist, über die „Bildungsrevolution des 19. Jahrhunderts“40, die einherging mit einem „außergewöhnlichen Aufstieg der Naturwissenschaften“, der Technik und der Medizin „zu einer das Leben und die Welt umgestaltenden Großmacht“41, mit einer beschleunigten Ausdifferenzierung des Wissenschaftssystems in neue disziplinäre Formationen und einer akademischen „Professionalisierung der Disziplinen, ihrer Standards und ihrer Karrieremuster“42 bis hin zu den revolutionären, das fundamentum inconcussum der klassischen Physik gewaltig erschütternden Erkenntnissen der Relativitätstheorie und Quantenmechanik zu Beginn des 20. Jahrhunderts – all dies schien den Führungsprimat der Wissenschaften auf ewig zu sichern und den Legitimationsdruck auf die || 39 Alexander Pope: „Epitaphs“ [XII], in: Pope. Poetical Works, hrsg. v. Herbert Davis, Oxford, London u.a. 1978, S. 651. 40 Thomas Nipperdey: Deutsche Geschichte 1800–1866. Bürgerwelt und starker Staat, München 1983, S. 451. 41 Ebd., S. 484. 42 Ebd., S. 495.

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Literaten vehement zu verstärken. – Soll der Dichter, so die ebenso plastisch wie polemisch formulierte Frage Gottfried Benns, „jede neue Bulle des wissenschaftlichen Ordens studieren, feststellen, was die Haute Couture diese Saison liefert, euklidische Muster oder akausale Dessous“, oder genügt es, wenn er in das „allgemeine Gejodel über die Größe der Zeit und den Komfort der Zivilisation“ einstimmt?43 Selbstverständlich setzt Benn hier ein klares ‚Nein‘: Statt einem Wirklichkeitsbegriff zu frönen, der die „Trennung von Ich und Welt, die schizoide Katastrophe, die abendländische Schicksalsneurose“44 nach sich zog, oder einem „Szientifismus [zu dienen], in dem die Aufklärung vor unseren Blicken endet“,45 verlangt der frühe Benn vom Dichter, sich „in einer Art Rückfallfieber und Sturzgeburt nach Innen, Niederem“ sinken zu lassen, bis er in „jene Sphäre“ gelangt, wo das Denken „in den dunklen Kreis organischer Belange tritt“46 und zu „prälogischen, aber noch erfüllungsfähigen Welten“47 zurückfindet. In markantem Gegensatz zu solchen archaisierenden Rettungsversuchen des Dichterischen, die, wie im Falle Benns, gegen „das komplizierte, zerfaserte, hybrid übersteigerte Begriffsnetz der modernen induktiven Naturexegese“48 genauso wettern wie gegen die neue Physik, stehen Forderungen ganz anderer Art. Sehr entschieden beansprucht etwa Robert Musil: [...] die Anpassung an das naturwissenschaftliche Weltbild kann der Literatur nicht erspart bleiben und ein gut Teil ihrer heutigen Gegenstandslosigkeit geht darauf zurück, daß sie sich dabei verspätet hat.49

Dass sich die Literatur dem jeweiligen Wissen, einschließlich der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse, einer Zeit nicht verschließen darf, sondern dieses rezipieren und reflektieren muss, ist auch eine Forderung, die Hermann Broch erhebt: Denn wenn es überhaupt so etwas wie Zeitgerechtheit gibt, so kann es nicht an der Wahl der Themen liegen [...], sondern es muß aus einem bestimmten Zustand des Bewußtseins,

|| 43 Gottfried Benn: Zur Problematik des Dichterischen, in: ders.: Sämtliche Werke (im Folgenden zitiert unter der Sigle SW), in Verbindung mit Ilse Benn hrsg. v. Gerhard Schuster u. Holger Hof, Bd. 3, Stuttgart 1986–2003, S. 232–247, hier S. 237. 44 Gottfried Benn: Provoziertes Leben, in: SW 4, S. 310–320, hier S. 314. 45 Benn: Zur Problematik des Dichterischen, S. 241. 46 Ebd. 47 Benn: Provoziertes Leben, S. 314. 48 Gottfried Benn: Goethe und die Naturwissenschaften, in: SW 3, S. 350–384, S. 371. 49 Robert Musil: Zu Kerrs 60. Geburtstag [1927], in: Gesammelte Werke in 9 Bänden, hrsg. v. Adolf Frisé, Reinbek b. Hamburg ²1981, Bd. 8, S. 1180–1186, hier S. 1183.

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aus einem bestimmten Zustand der Logik, kurzum einer bestimmten Technik des Denkens herstammen, aus einer Logik, die für die betreffende Zeit verbindlich ist und die damit automatisch zu ihren Themen und den ihr eigentümlichen Inhalten hinführt.50

Was Musil und Broch als „Anpassung an das naturwissenschaftliche Weltbild“ bzw. „Zeitgerechtheit“ bezeichnen, meint sicherlich nicht, dass Literatur den wissenschaftlichen Errungenschaften jeweils hinterher zu schreiben hat und ihr damit eine bloß reaktive oder kompensatorische Funktion zukommen würde. Auch liegt diesem Assimilierungspostulat alles andere als eine wissenschaftsenthusiastische oder blind wissenschaftsgläubige Haltung zugrunde, die sich aus der Übernahme naturwissenschaftlicher Methoden und Inhalte eine „Rechtfertigung des ästhetischen Gebildes“ (Blumenberg) erhoffen würde. Gleichwohl spricht sich in diesen Äußerungen die sehr realistische Einsicht aus, dass den Wissenschaften ihre paradigmatische Position im Ensemble zeitgenössisch verfügbarer Weltdeutungssysteme nicht länger abgesprochen werden kann. Beansprucht die Literatur, ihr Mitspracherecht innerhalb einer Gesellschaft aufrechtzuerhalten, ihre kritische und erkenntnisstiftende Funktion wahrzunehmen, aber auch ihr ästhetisches Innovationspotential auszuschöpfen, dann ist sie zur Auseinandersetzung mit bewusstseinsverändernden Denkprozessen, mit neuen Formen von Rationalität, mit allgemein autorisierten und anerkannten Normen und damit zum Überdenken ihrer eigenen sozialen, kulturellen, logisch-erkenntnistheoretischen und ästhetischen Voraussetzungen angehalten. Erst in der Auseinandersetzung mit dem, was Literatur nicht ist, so der einheitliche Tenor bei Broch und Musil,51 findet Literatur zu ihren Formen, Gegenständen und Aufgaben, also zu dem, was sie potentiell sein kann. Dabei dienen epistemologische Reflexionen der kritischen Erprobung von Wissen (in Brochs Roman Die unendliche Größe52 etwa werden divergente, miteinander konkurrierende Wissensparadigmen jeweils ‚linienverlängert‘ und solcherart die Grenzen und Aporien humaner Rationalität überhaupt aufgezeigt) ebenso wie der Bildung struktureller, ikonischer und emotionaler Äquivalenzen und der Entwicklung innovativer literarischer Darstellungsverfahren (so bezieht

|| 50 Hermann Broch: James Joyce und die Gegenwart. Rede zu Joyces 50. Geburtstag, in: ders.: Kommentierte Werkausgabe (im Folgenden zitiert unter der Sigle KW), hrsg. v. Paul Michael Lützeler, Bd. 9/1 S. 63–94, hier S. 76. 51 Zum Einfluss der neuen Physik auf poetologische Konzepte der deutschen Literatur vgl. Elisabeth Emter: Literatur und Quantentheorie. Die Rezeption der modernen Physik in Schriften zur Literatur und Philosophie deutschsprachiger Autoren (1925–1970), Berlin 1995. 52 Hermann Broch: Die unbekannte Größe, in: KW 2, S. 11–142.

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Musils im Mann ohne Eigenschaften53 literarisch entwickelte Konzeption des „Essays“ seine ethische und narratologische Doppelfunktion aus der Koinzidenz von humanistischer Gattungstradition und naturwissenschaftlichmethodischem Experiment). Exemplarisch für viele ‚Wissenschaftsliteraten‘ verweist Broch auf die komplementäre Beziehung, in der wissenschaftliche und literarische Erkenntnis stehen: Während der wissenschaftlichen Erkenntnis die Aufgabe zufällt, zur Totalität der Welt in unendlich vielen und kleinen rationalen Schritten vorzudringen, müsse die künstlerische Erkenntnis den von der Wissenschaft unerreichbaren „Weltrest“ erahnen lassen, den zu erfassen die ewige Sehnsucht des Menschen sei.54 Dichtung müsse deshalb den „Zusammenhang zwischen der logischen und allgemein geistigen und schließlich ethischen Struktur der Menschenseele“55 aufzeigen, also die komplexen Beziehungen und gleitenden Übergänge verdeutlichen, die zwischen dem rational-logischen und dem irrational-mythischen und religiösen Erkennen und nicht zuletzt zwischen Erkennen und Handeln bestehen. Mag die Rede von der „mythischen Erbschaft der Dichtung“ oder vom Kunstwerk als einem „ahnenden Symbol der geahnten Totalität“56 aus heutiger postmodern gefilterter Sicht antiquiert erscheinen, so bleibt jener von Broch angesprochene „Weltrest“ und damit jener Grenzbereich, wo das Exakte und Disziplinierte hinausweist und hinweist auf jenen „rational unbewältigten Erkenntnisrest“, wie er sich in den „großen Fragen des Todes, der Liebe, des Nebenmenschen“57 manifestiert, auch für die Literatur der Gegenwart kennzeichnend. Desgleichen trifft zu, wenn Broch die poetischnarrative Verfahrensweise im Umgang mit dem von Wissenschaft und Geschichte bereitgestellten „Realitätsvokabular“ geradezu programmatisch beschreibt: Aber es sind Realitätsvokabeln, die das Material der Dichtung ausmachen, und gleich dem Traum gewinnt Dichtung in neuer und eigener, und jetzt dürfen wir auch sagen, in subjektiver Logik und Syntax aus der Zusammenstellung dieser Vokabeln den Sinn, die Wirklichkeitstreue, den Symbolwert ihres autonomen Bereiches. Mit anderen Worten: auf die Realitätsvokabeln hat der Dichter, hat der Träumende keinen oder bloß einen sehr geringen Einfluß, sie gehören der objektiven Sphäre an, sie sind das Stück Reportage, das in

|| 53 Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften, hrsg. v. Adolf Frisé, Reinbek b. Hamburg 2002. 54 Hermann Broch: Denkerische und dichterische Erkenntnis [1933], in: KW 9/2, S. 43–49, hier S. 48 f. 55 Hermann Broch: Die mythische Erbschaft der Dichtung, in: KW 9/2, S. 202–211, hier S. 209. 56 Vgl. ebd. sowie Broch: Denkerische und dichterische Erkenntnis, S. 49. 57 Hermann Broch: Grundzüge zum Roman Die unbekannte Größe, in: KW 2, S. 243–246, hier S. 245.

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jedem Traum, in jeder Dichtung steckt, die subjektive Sphäre dagegen, in der der Träumende frei schaltet, das ist die Syntax, in der er die Realitätsvokabel einbaut.58

Damit formuliert Broch freilich alles andere als das Konzept einer écriture automatique, einer gleichsam unbewusst sich selbst schreibenden Literatur: Die subjektive Bearbeitung und ‚Anverwandlung‘ des objektiven Materials meint vielmehr jene gezielt vorgenommenen sprachlich-strukturellen Operationen, die im Rationalen, Objektiven, Begrifflichen und Endlichen das Irrationale, Subjektive, Symbolische und Unendliche sichtbar und erlebbar machen. Die künstlerisch-autonome Form will nicht, um mit Eco zu sprechen, als „Surrogat der wissenschaftlichen Erkenntnis“ aufgefasst sein, sehr wohl jedoch als „epistemologische Metapher“, womit zum Ausdruck gebracht ist, „daß in jeder Epoche die Art, in der die Kunstformen sich strukturieren – durch Ähnlichkeit, Verwandlung in Metaphern, kurz Umwandlung des Begriffs in Gestalt –, die Art, wie die Wissenschaft oder überhaupt die Kultur dieser Epoche die Realität sieht, widerspiegelt“.59 Die epistemologische Metapher übernimmt dabei im Wesentlichen die Funktion, „zwischen der abstrakten Kategorie der Wissenschaft und der lebendigen Materie der Sinnlichkeit“ zu vermitteln und erscheint somit „als eine Art von transzendentalem Schema, das es uns ermöglicht, neue Aspekte der Welt zu erfassen“.60 Ästhetische Transformationen und Übersetzungen von wissenschaftlichen Theoremen, Begrifflichkeiten, Anschauungsformen und Methoden in Strukturen und Quasi-Welten des Erzählens sind immer auch Prozesse der Metaphorisierung, die mit Operationen der Verfremdung und Negation, der Verknappung und Erweiterung, der Umfunktionalisierung und Überblendung etc. einhergehen und auf diese Weise das Abstrakte und bloß formelhaft Denkbare – also das ‚Wissenschaftliche‘ – so zurüsten, dass es sich zum einen der ikonischen Vorstellung und dem emotionalen Erleben öffnet und zum anderen wieder verweist „auf die rückwärtigen Verbindungen zur Lebenswelt als dem ständigen – obwohl nicht ständig präsent zu haltenden – Motivierungsrückhalt aller Theorie“.61 Mit diesen exemplarischen Skizzen sind bereits einige allgemeine Konstitutionsmerkmale dessen, was im Folgenden mit dem hybriden und gattungsübergreifenden Begriff einer poetica scientiae bezeichnet wird, angesprochen: 1. Die explizite Bezugnahme auf die Wissenschaften, insbesondere auf die Naturwissen|| 58 Hermann Broch: Das Weltbild des Romans, in: KW 9/2, S. 89–118, hier S. 105. 59 Umberto Eco: Das offene Kunstwerk [1962], Frankfurt/M. 1973, S. 46. 60 Ebd., S. 165. 61 Hans Blumenberg: Schiffbruch mit Zuschauer. Paradigma einer Daseinsmetapher, Frankfurt/M. 41993, S. 77.

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schaften, kennzeichnet die poetica scientiae als einen dezidiert referentiellen, an der Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Kunst angesiedelten Literaturtypus; in diesem Sinne erweist sie sich als realistische Literatur, die von einem ästhetizistischen, ‚rein‘ selbstreferentiellen Dichtungsverständnis deutlich abzugrenzen ist. 2. Diese Schnittstelle markiert die produktive Differenz zwischen szientifischem und fiktionalem Diskurs, eine szientifische Deixis, deren spezifische ‚Diskursivität‘, Phänomenologie, Funktionalität, Semantik, Wahrheits- und Erkenntniswert zwar vom jeweiligen narrativen Kontext abhängig und nur innerhalb desselben zu klären sind, deren Differenzqualität, d.h. die Unterschiedenheit und Unterscheidbarkeit beider Diskurse, jedoch ungeachtet der ästhetischen Transformationen des Szientifischen erhalten bleibt.62 3. Der für die poetica scientiae charakteristische Realismus – gleichsam ihre Heteroreferentialität – schließt, dies mag nahezu selbstredend sein, autoreferentielle und metafiktionale Reflexionen keineswegs aus; vielmehr erweist sich gerade der ‚andere‘, szientifische Diskurs als eine ideale Reibungsfläche, um die eigene poetologische Physiognomie zu konturieren. Gleichwohl bleiben diese Spiegelungen des Eigenen im Fremden – und dies gerade dort, wo sie aus einem konkurrierend-aemulativen Verhältnis zum Anderen generiert werden – auf jenes szientifisch ‚Andere‘ verwiesen, von dem es das poetisch-literarisch Eigene abzugrenzen gilt. 4. Die poetischen und narrativen Verfahrensweisen, die „Formen selbstreflexiven Erzählens“63, deren sich die poetica scientiae bedient, umfasst die Pluralität der narrativen, dramatischen und lyrischen Möglichkeiten, wie sie für die einzelnen Gattungen kennzeichnend sind. Spezielle Bedeutung kommt indessen referentiellen Verfahren, insbesondere den Strategien der Intertextualität zu: Sie generieren jene produktive Differenz zwischen scientia und poetica, inszenieren die vielfältigen Beziehungs-, Kreuzungsund Semantisierungsmöglichkeiten zwischen dem „disziplinierten Wort“64 der Wissenschaft und dem ‚undisziplinierten‘ Wort der Literatur und steuern nicht zuletzt die Analyse-, Interpretations- und Verstehensprozesse seitens des Rezipienten.

|| 62 Selbst eine ästhetisch forcierte Auslöschung dieser Differenz setzt ihre Etablierung voraus, so dass alle Formen einer ununterscheidbaren Amalgamiserung, einer Steigerung und ‚Überhöhung‘ des Szientifischen ins Mystische, Mythische oder Utopische, einer Indifferenzierung von szientifischem und literarischem Zeichencharakter etc. als solche nur funktionieren, solange die Differenz miterzählt ist. 63 So die gleichnamige Studie von Michael Scheffel: Formen selbstreflexiven Erzählens. Eine Typologie und sechs exemplarische Analysen, Tübingen 1997. 64 Formulierung nach Renate Lachmann: Bachtins Dialogizität und die akmeistische Mythopoetik als Paradigma poetisierter Lyrik, in: Das Gespräch, hrsg. v. Karlheinz Stierle u. Rainer Warning, München 1984, S. 489–515, hier S. 494.

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2 Poetica scientiae als Provokation der Literaturwissenschaft Ganz im Gegensatz zu science fiction als einem eingebürgerten Gattungsbegriff, muten Bezeichnungen wie Wissenschaftsliteratur, Wissenschaftspoesie oder poetica scientiae, mit denen im folgenden diejenige Literatur gekennzeichnet ist, die sich explizit wissenschaftlicher Anleihen bedient, eher befremdend an. Es ist sicherlich nicht abwegig, sie mit der rhetorischen Figur des Oxymorons zu identifizieren, verknüpfen diese Bezeichnungen doch zwei Begriffe, die nach konventionellem Verständnis einander widersprechen oder sich gar ausschließen. So sehen wir die Literarizität eines Textes etwa durch das Merkmal der Fiktionalität und Poetizität gekennzeichnet, womit ausgesagt ist, dass sich Literatur zwar durchaus auf Wirklichkeit beziehen kann, dass diese Bezugnahme aber nicht unmittelbar geschieht, sondern vermittelt in einer Sprache, die sich ästhetischer Form- und Gestaltungsprinzipien bedient, die von der sogenannten Alltagssprache abweichen. Dieser ästhetikspezifische Sprachgebrauch stattet einen Text mit Fiktionssignalen aus, welche die in ihm dargestellte Welt ganz unabhängig vom Anteil ihrer realen Bezüge und ganz unabhängig vom Identifikationspotential, das sie für den Leser bereithält, als eine fiktionale Welt des Als-ob ausweisen. Ferner resultiert aus diesem ästhetikspezifischen Sprachgebrauch, der die unterschiedlichsten, funktional aber stets miteinander in Beziehung stehenden Aspekte von Sprache betreffen kann, die Bedeutungsoffenheit der Literatur und damit die Möglichkeit, ein und denselben literarischen Text auf vielfache Weise auslegen und verstehen zu können. Demgegenüber assoziieren wir die Sphäre der Wissenschaft, insbesondere der hard sciences, mit dem Merkmal der Faktizität und verbinden damit den Anspruch, dass die in wissenschaftlichen Texten gemachten Aussagen auf bestimmte Problem- und Phänomenbereiche der Realität bezogen, durch spezifische Verfahrensweisen begründet und in einer klar und deutlich definierten und entsprechend intersubjektiv mitteilbaren und rational überprüfbaren Begriffs- oder Formelsprache dargestellt sind.65 Zwar lehren uns Wissenschaftstheoretiker und -historiker wie Karl Popper, Thomas S. Kuhn, Paul Feyerabend oder Larry Laudan, dass die Grundlage einer Wissenschaft eben kein System

|| 65 Vgl. dazu Art. „Naturwissenschaft“, in: Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, hrsg. v. Jürgen Mittelstraß, Bd. 2, Stuttgart, Weimar 1984, S. 977–979, sowie Art. „Wissenschaft“, in: ebd., Bd. 4, Stuttgart, Weimar 1996, S. 719–724. Zur Begriffsgeschichte vgl. ferner Art. „Naturwissenschaften“, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hrsg. v. Joachim Ritter u. Karlfried Gründer, Bd. 6, Basel, Darmstadt 1984, Sp. 641–650.

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zeitloser, allgemeingültiger, von einer Universalvernunft einsehbarer Ideen oder Axiome darstellt, sondern dem historischen und kulturellen Wandel unterworfen ist; auch relativieren sie wissenschaftsdogmatische Auffassungen mit dem Hinweis, dass alle wissenschaftlichen Erkenntnisprozesse von nichtwissenschaftlichen Ideen, Glaubensinhalten und Weltanschauungen beeinflusst und neben den rationalen immer auch von psychologischen und soziologischen Kräften mitgeprägt sind; nicht zuletzt vermitteln sie uns eine Skepsis gegenüber einem kumulativ sich vollziehenden, auf das Telos objektiver Wahrheit ausgerichteten Wissenschaftsfortschritt; doch bei aller Verunsicherung des wissenschaftlichen Fundaments, die mit diesen Bestimmungsversuchen einhergeht, bleiben wir im Großen und Ganzen in jenem dualistischen Denken verhaftet, das Wissenschaft und Kunst, Vernunft und Emotion, wissenschaftliche Rationalität und humane Vernünftigkeit, Objekt und Subjekt, Formel und Metapher, Abstraktion und Anschaulichkeit, Mythos und Logos voneinander abgrenzt.66 Gerade diese durch die Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftstheorie mit bedingten Verunsicherungen und Relativierungen ermöglichen es zwar, die Frage nach vergleichbaren Aspekten zwischen so radikal verschiedenen Diskurssystemen wie Literatur und Wissenschaft weitaus unbefangener anzugehen als dies bis vor wenigen Jahrzehnten noch der Fall war, zugleich begünstigen sie aber auch jene oben skizzierten radikalen Ansätze, die zwischen Literatur und Naturwissenschaft bestenfalls einen graduellen, nicht aber einen prinzipiellen Unterschied sehen. Die Position, die die vorliegende Studie demgegenüber einnimmt, ist entschieden moderater und konventioneller. Ihr kommt es darauf an, die differentia specifica des wissenschaftlichen und literarischen Diskurses in der produktiven Konfrontation beider überhaupt erst zu eruieren.

|| 66 Heinz Schlaffers ebenso anregendes wie irritierendes Buch Poesie und Wissen (Frankfurt/M. 1990) ist symptomatisch für das hartnäckige Verharren innerhalb des beschriebenen dichotomischen Denkmodells. Das „unwiderlegliche Weltbild der neuzeitlichen Wissenschaft“ (S. 123) kontrastiert mit einer zur „Statthalterin des Ungültigen“ (S. 147) degradierten Dichtung, die sich in der „ironischen Wiederholung widerrufener Botschaften“ (S. 134) und damit jenem Wissen erschöpft, das „vom Fortschritt neuzeitlicher Wissenschaft überholt“ worden ist (S. 115). Indem sie – wider die theoretische Einsicht der modernen Naturwissenschaft – an der „Verbindung von Anschaulichkeit und Bedeutsamkeit“ festhalten, „sind die Künste der modernen Welt prinzipiell – d.h. unabhängig von jeder fortschrittlichen oder restaurativen Gesinnung der Künstler – konservativ“ (S. 125; vgl. S. 127). Angesiedelt an der „Grenze zwischen idealer Forderung und realistischer Resignation“ (S. 123) und in Ermangelung eines „objektiven Systems“ (S. 122), erweisen sich Künstler, Kunst und Kunstrezipient letztlich als antiquierte Weltflüchtige.

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Insofern sie ihren Ausgang jeweils in literarischen Texten nimmt, in Abhängigkeit von diesen den darin gelegten und ästhetisch transformierten ‚szientifischen‘ Spuren nachgeht, versteht sich die Arbeit als eine dezidiert literaturwissenschaftliche; insofern diese ‚szientifischen‘ Spuren nicht nur minimalistisch gelesen, sondern in ihren umfangreicheren wissenschaftlichen, historischen und epistemologischen Kontext gestellt werden, versteht sie sich zugleich als ein dezidiert interdisziplinäres Unterfangen. Grundlegend für diese Positionierung ist die Auffassung, wonach Literatur ganz allgemein als ein kulturelles Integrationssystem beschrieben werden kann, das sich potentiell auf die Gesamtheit des Wissens – naturwissenschaftliches Wissen eingeschlossen – bezieht. Ihrem Gegenstand entsprechend muss also auch die Literaturwissenschaft als eine Integrationswissenschaft aufgefasst werden, die ihrem wissenschaftlichen Anspruch nur dann genügen kann, wenn sie sich den in der Literatur thematisierten und vielschichtig miteinander verflochtenen Spezialdiskursen stellt. In diesem Sinne meint Interdisziplinarität nichts anderes als die – zuweilen äußerst provokante – Forderung, die die Literatur aufgrund ihres interdiskursiven Charakters zwangsläufig an die Literaturwissenschaft stellt. Die simple Beobachtung, dass die Literatur vor der Wissenschaft keinesfalls Halt macht, sondern sich aus dem reichen Fundus wissenschaftlicher, ganz besonders eben auch naturwissenschaftlicher Erkenntnisse, Theorien und Verfahrensweisen bedient, die ihrerseits wiederum Einfluss auf die Entwicklung narrativer Formen und Techniken sowie auf die Ausbildung poetologischer Konzepte und Selbstverständnisse nehmen, führt damit unweigerlich immer wieder zurück zu den ganz grundsätzlichen Fragen nach dem Verhältnis von Literatur und Wissenschaft, nach ihren je spezifischen Möglichkeiten und Leistungen und ganz besonders eben auch nach dem Status, den Möglichkeiten und den Grenzen der Literaturwissenschaft selbst. Anders gesagt: Die Beobachtung des Dialogs zwischen Literatur und Wissenschaft führt nicht nur zu der Frage nach der produktiven Rezeption wissenschaftlicher Theorien in der Literatur, wie sie sich etwa in den immanent oder explizit zugrunde liegenden Poetiken oder in spezifischen Verfahrensweisen und Darstellungsmodi spiegelt; vielmehr wird dadurch umgekehrt auch auf Seiten der Wissenschaft ein selbstreflexiver Prozess in Gang gesetzt, in dem Fragen nach den Impulsen, welche die Literatur für die Wissenschaft, speziell die Literaturwissenschaft und deren Theorien und Methoden bereitstellt ebenso provoziert werden wie Fragen, die sich aus der intensiveren Beschäftigung mit ‚fremden‘ Disziplinen für die eigene Disziplin ergeben. Die Art und Weise, wie die Literatur auf historisches und zeitgenössisches wissenschaftliches Wissen reagiert und wie sie dieses Wissen ästhetisch sich aneignet und funktionalisiert, führt unweigerlich dazu, sich – wie ‚grenz-

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gängerisch‘ auch immer – mit diesem ‚anderen‘ Wissen, diesen ‚fremden‘ Disziplinen auseinanderzusetzen. Die literarische Praxis der Intertextualität korreliert folglich mit der literaturwissenschaftlichen Praxis der Interdisziplinarität, einer Praxis, die kaum ohne revidierenden und korrigierenden Rückwirkungen auf unser Verständnis sowohl von Literatur als auch von (Literatur-)Wissenschaft bleibt.67 Das interdisziplinäre Postulat, dem sich die Spezialdisziplin ‚Literaturwissenschaft‘ seitens ihres Gegenstandes, der Literatur, unterstellt sieht, adäquat einzulösen, birgt jedoch mindestens ebenso viele Schwierigkeiten und Probleme wie es Chancen und Perspektiven eröffnet – dies um so mehr, wenn es sich bei der literarisch integrierten ‚anderen‘ Disziplin nicht vorrangig um eine ausschließlich sprachlich operierende Textwissenschaft handelt, sondern, wie in dieser Studie der Fall, um überwiegend mathematisch und physikalischexperimentell operierende Wissenschaften. In der Regel ist der Literaturwissenschaftler ein mathematisch-naturwissenschaftlicher Laie und außerstande, die Höhenkämme mathematisch-naturwissenschaftlicher Disziplinen zu erklimmen; der Zugang zur fremden Disziplin ist ihm „letztlich nur durch die Inanspruchnahme einer Übersetzungstätigkeit möglich, die keinesfalls mit der eigentlichen Wissenschaft gleichgesetzt werden sollte“.68

3 Gegenstand – Fragestellung – Methode – Forschungsimpulse Die gattungsübergreifende, überaus vielgestaltige Physiognomie der poetica scientiae, die stark ausdifferenzierten und in sich wiederum äußerst komplexen naturwissenschaftlichen Disziplinen und Diskurse, ferner der interdisziplinäre Anspruch verbunden mit der Maßgabe, den Untersuchungsgegenstand möglichst zu vereinheitlichen und die daran geknüpften Fragestellungen innerhalb eines thematisch kohärenten Zusammenhangs zu diskutieren, waren ausschlaggebend dafür, die vorliegende Untersuchung auf mathematisch-physikalische Diskurse zu beschränken und nur solche literarische Werke zu berücksichtigen, die diese Diskurse auf klar identifizierbare Weise inhaltlich und formal aufgreifen. Zwei Themenkomplexe

|| 67 Ausführlicher dazu vgl. Gert-Ludwig Ingold, Bernadette Malinowski: Chancen und Grenzen des interdisziplinären Dialogs: Erfahrungsbericht über das Seminar ‚Farben und Licht in ästhetischer und physikalischer Perspektive‘, in: Physikerinnen stellen sich vor. Dokumentation der Deutschen Physikerinnentagung 2003, hrsg. v. Cosima Schuster, Berlin 2004, S. 107–112. 68 Vanderbeke: Theoretische Welten und literarische Transformationen, S. 15.

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stehen dabei im Zentrum: der Aspekt der literarischen Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftsgeschichtsschreibung sowie der Aspekt der literarischen Wissenschaftstheorie bzw. Epistemologie. Mit dieser Engführung auf wissenschaftshistorische und epistemologische Problem- und Fragestellungen intendieren die nachfolgenden Studien, einen nach wie vor überaus interessanten Bereich auf dem weiten und inzwischen kaum mehr zu überblickenden Feld literatur- und kulturwissenschaftlicher Untersuchungen zum Verhältnis von Kunst und Wissenschaft noch weiter auszuleuchten und damit zur Profilierung der Literatur der Postmoderne und Gegenwart in ihrem ebenso strittigen wie konstruktiven Dialog mit den Wissenschaften beizutragen. Im wissenschaftshistorischen Zusammenhang kommt dabei dem Verhältnis von Geschichtswissenschaft und Wissenschaftsgeschichte und deren narrativfiktionalen Transformationen besondere Aufmerksamkeit zu. Dabei gilt es die im systematischen Teil erörterten ästhetischen Öffnungen seitens der Wissenschaftsgeschichte und -theorie produktiv zu machen und die Wechselwirkungen zwischen wissenschaftlichen Geschichtsdarstellungen und -schreibweisen sowie deren theoretischer Fundierung einerseits, der wissenschaftshistorischen Fiktion und wissenschaftshistoriographischen Metafiktion andererseits aufzuzeigen. Von dezidiert epistemologischem Interesse sind vor allem Fragen nach dem Verhältnis von Wissen und Nichtwissen, nach spezifischen wissenschaftlichen und literarischen Erkenntnisformen und insbesondere nach den Möglichkeiten, die eine literarische Epistemologie für eine allgemeine Epistemologie der Wissenschaften bereitstellt. Ausschlaggebend hierfür wird weniger sein, die literarischen Texte durch ein primär theoriegeleitetes Vorgehen zu analysieren als vielmehr, durch intensive Lektüren die Theoriewertigkeit der Literatur selbst offenzulegen – dies eingedenk des unhintergehbaren Faktums, dass es schlechterdings kein theorieunabhängiges Sehen und Wahrnehmen geben kann.69 Die Fokussierung der genannten thematischen Schwerpunkte und der durch diese jeweils aufgeworfenen spezifischen Fragestellungen bleibt dabei eingebunden in einen allgemeinen Fragehorizont, innerhalb dessen vor allem die (produktions-, werk- und rezeptions-)ästhetischen Bedingungen einer poetica scientiae zu rekonstruieren und Aspekte einer produktiven (strukturell, semantisch und poetologisch) erfolgenden Aneignung, Transformation und Reflexion wissenschaftlicher Diskurse zu erörtern sind. Zentral sind hier zunächst Fragen nach der Motivation und Zielsetzung solcher Rückgriffe und Eingriffe, wobei das

|| 69 „[U]nd so kann man [mit Goethe] sagen, daß wir schon bei jedem aufmerksamen Blick in die Welt [auch in die Textwelt] theoretisieren“ (Johann Wolfgang Goethe: Zur Farbenlehre [1810], hrsg. v. Manfred Wenzel, Frankfurt/M. 1991, S. 14).

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Spektrum von einer dem Postulat der imitatio veterum verpflichteten Wissenschaftsliteratur über gemäßigtere, um Ausgleich bemühte, dabei Wissenschaft und Literatur komplementäre Sichtweisen, Erkenntnisleistungen und kulturelle Funktionen konzedierende Varianten, bis hin zu einer von Emanzipations- und Überbietungsbestrebungen motivierten, literarisch ausgefochtenen querelle des sciences et des littératures reicht. Ein weiterer Fragekomplex betrifft die spezifischen Verfahrensweisen, zu denen etwa Modi der Selektion und Kombination wissenschaftlicher Diskurseme, die Vielfalt rhetorisch-narrativer Techniken der intertextuellen Markierung, der ästhetischen Verwandlung, Semantisierung und Funktionalisierung szientifischer Bezüge gehören, wobei es insbesondere die Verlaufslogik von wissenschaftlichen zu narrativen Gehalten und Methoden zu beschreiben gilt. Weiterführend sind schließlich Fragen nach den kulturellen, ästhetischen, ethischen und nicht zuletzt auch wissenschaftlichen Konsequenzen zu berücksichtigen. Einer an Perspektiven, Einsichten, Kenntnissen und Denkimpulsen überaus reichen und in ihrem individuellen Anregungspotential kaum angemessen zu würdigenden Forschung zur literarisch produktiven Rezeption und Transformation naturwissenschaftlicher Diskurse verdankt die vorliegende Untersuchung eine ganze Reihe methodischer und konzeptioneller Anschlussmöglichkeiten. Einen Forschungsüberblick auch nur annähernd versuchen zu wollen, wäre ein hoffnungsloses Unterfangen; gleichwohl lässt sich das weite Feld – der ‚Trichterlogik‘ eines Untersuchungsgangs verpflichtet, der an der Breite ansetzt (ZweiKulturen-Debatte) und immer enger führend zur literarischen Wissenschaftsgeschichtsschreibung und Epistemologie fortschreitet – tendenziell in fünf Sektoren untergliedern. Der erste Sektor umfasst Forschungsliteratur, die sich vor allem im Anschluss an die Zwei-Kulturen-Debatte literatur- und kulturwissenschaftlich, wissenschaftstheoretisch und -historisch um eine Verhältnisbestimmung von wissenschaftlichem und kulturellem Wissen bemüht (so etwa die Sammelbände von Helmut Kreuzer, Literarische und naturwissenschaftliche Intelligenz. Dialog über die „zwei Kulturen“,70 George Levine, One Culture. Essays in Science and Literature,71 John Brockman, The Third Culture. Beyond the Scientific Revolution,72 Daniel Fulda und Thomas Prüfer, Faktenglaube und fiktionales Wissen:

|| 70 Stuttgart 1969. 71 Madison 1987. 72 New York 1996.

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zum Verhältnis von Wissenschaft und Kunst in der Moderne,73 sowie Elinor S. Shaffer, The Third Culture: Literature and Science74 und die Monographien von Stuart Peterfreund: Literature and Science. Theory and Practice75, Daniel Cordle, Postmodern Postures: Literature, Science and the Two Cultures Debate,76 David L. Wilson und Zack Bowen, Science and Literature. Bridging the Two Cultures77 sowie John H. Cartwright und Brian Baker: Literature and Science: Social Impact and Interaction78). In diesem Zusammenhang sind vor allem auch die seit 1993 von der John Hopkins-University herausgegebene Zeitschrift Configurations. A Journal of Literature, Science, and Technology ferner das seit 1997 von Lutz Danneberg, Wilhelm Schmidt-Biggemann u.a. edierte Jahrbuch Scientia Poetica. Jahrbuch für die Geschichte der Literatur und der Wissenschaften/Yearbook for the History of Literature, Humanities and Sciences79 sowie die seit 2015 von Aura Heydenreich, Christine Lubkoll und Klaus Mecke herausgegebene ELINASSchriftenreihe zu Literatur- und Naturwissenschaften80 zu nennen. Besonders hervorzuheben sind ferner Studien, die dezidiert von der „gegenseitigen Bedingtheit der Wissenskulturen“ ausgehen und die „Austauschprozesse zwischen den Wissenskulturen in den Blick [nehmen]“. Exemplarisch realisiert ist dieses Unternehmen in dem von Caroline Welsh und Stefan Willer herausgegebenen Band „Interesse für bedingtes Wissen“. Wechselbeziehungen zwischen den Wissenskulturen81. Wie bereits die für diesen Band titelgebende Formulierung von Friedrich Schlegel „Interesse für bedingtes Wissen“ anzeigt und wie es sich || 73 Frankfurt/M. 1993. 74 Berlin, New York 1998. 75 Boston 1990. 76 Aldershot 1999. 77 Grainesville u.a. 2001. 78 Santa Barbara 2005. 79 Tübingen 1997 ff. 80 Berlin, Boston 2014 ff. ELINAS ist „ein interdisziplinäres Forschungszentrum, das sich dem wechselseitigen Wissenstransfer zwischen Physik und Literatur widmet und von der Naturwissenschaftlichen, der Philosophischen und der Medizinischen Fakultät [der FriedrichAlexander-Universität Erlangen-Nürnberg] getragen wird“ (Aura Heydenreich u. Klaus Mecke: Zur Einführung. Dialogisches Denken. Für eine Kultur des Ideenaustausches und der Wechselwirkungen zwischen Schriftstellern, Physikern und Literaturwissenschaftlern, in: Physik und Poetik. Produktionsästhetik und Werkgenese. Autorinnen und Autoren im Dialog, Berlin, Boston 2015, S. 1–22, hier S. 3). Es ging hervor aus einem Arbeitskreis für „Physik und Literatur“, dessen lebendige Dialogkultur die Fruchtbarkeit interdisziplinären Austauschs – und nicht zuletzt auch die gewachsene Institutionalisierung dieses Dialogs – sichtbar werden ließ. 81 München 2008. Der von Caroline Welsh und Stefan Willer verfassten Einleitung „Die wechselseitige Bedingtheit der Wissenskulturen – ein Gegenentwurf zur Trennungsgeschichte“ entstammen auch die Zitate, vgl. S. 10.

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auch in der vorliegenden Arbeit zeigen wird, sind wissens- und wissenschaftsgeschichtliche Fragestellungen von epistemologischen nicht kategorisch voneinander abzulösen (beispielhaft hierfür sind die im Rahmen des SFBs „Ereignis Weimar-Jena. Kultur um 1800“ v.a. von Olaf Breidbach durchgeführten Analysen zu „Empirie versus Spekulation“82), sondern zumeist zwei Seiten einer Medaille, die freilich jeweils für sich einer akzentuierten Betrachtung unterzogen werden können, ohne die jeweils andere Seite aus dem Blick zu verlieren. Auch ist an dieser Stelle bereits auf die im Druck befindliche Untersuchung Physica Poetica: Zählen und Erzählen. Theorie und Praxis der Prozesse der Interformation zwischen Literatur und Naturwissenschaft von 1600 bis 2016 von Aura Heydenreich zu verweisen, die in äußerst exakter zeichen- und symboltheoretischer Argumentation für die „Grenzprozess[e] des Zeichenverkehrs“ zwischen Literatur und Physik das sehr produktive Konzept der „Interformation“ entwickelt.83 Zum zweiten Sektor gehören vor allem im Bereich der Linguistik und der Sprachphilosophie angesiedelte Studien, die sich der Beschreibung und Differenzierung epistemisch-diskursiver und literarisch-metaphorischer Sprache und Symbolsysteme widmen. Aufschlussreich sind in diesem Zusammenhang vor allem diejenigen Arbeiten, die sich mit Rhetorik, Bildlichkeit und Semiotik der Wissenschaftssprache beschäftigen. In diese Gruppe fallen Arbeiten, die trotz ihres innovativen Vorgehens und ihres Kenntnisreichtums letztlich disziplinären Interessen verpflichtet bleiben, indem sie ausgehend von der sprachlichrhetorischen Verfasstheit allen Wissens dazu tendieren, den Unterschied zwischen Literatur und Wissenschaft einzuebnen (z.B. Mary Hesses Models and Analogies in Science,84 Alan Gross’ The Rhetoric of Science85 oder der von Peter Dear herausgegebene Sammelband The Literary Structure in Scientific Argu-

|| 82 Vgl. z.B. Olaf Breidbach: Empirie versus Spekulation? Naturphilosophie als spekulative Wissenschaftslehre und die Formierung der modernen Naturwissenschaften aus der Situation Weimar-Jena um 1800, in: Ereignis Weimar-Jena. Kultur um 1800, hrsg. v. Olaf Breidbach, Klaus Manger u. Georg Schmidt, Paderborn 2015, S. 237–276. Wie Breidbach darin aufzeigt, ist das für die Situation um 1800 konstatierte „Gegeneinander der zwei Kulturen“, hier konkret von „Philosophie in spekulativer und Naturforschung in empirisch-induktiver Hinsicht“ (ebd., S. 243), ein „Konstrukt“ (ebd.) – zutreffend sprechen Welsh und Willer von einem „Narrativ der Trennungsgeschichte“ (Welsh/Willer: „Interesse für bedingtes Wissen“, S. 11), dessen Korrektur gleichermaßen von wissenschaftshistorischem wie wissenschaftstheoretischem Wert ist (vgl. ebd.). 83 Die Studie, die hier leider keine Berücksichtigung mehr finden konnte, wird voraussichtlich noch in diesem Jahr erscheinen. 84 Notre Dame 1966. 85 Cambridge/MA, London 1990.

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ment86), aber auch Untersuchungen, die sich kritisch gegen Nivellierungsversuche wenden (Hermann J. Schnackertz: Darwinismus und literarischer Diskurs. Der Dialog mit der Evolutionsbiologie in der englischen und amerikanischen Literatur87 oder Richard Nates Aufsatz „Rhetorik und der Diskurs der Naturwissenschaften“88) oder ästhetische und szientifische Erkenntnisformen sprachlogisch differenzieren (z.B. Gottfried Gabriel: Zwischen Logik und Literatur. Erkenntnisformen von Dichtung, Philosophie und Wissenschaft89). Die letztgenannten Arbeiten berühren bereits den dritten Sektor, der Studien umfasst, denen es um die Schematisierung und Systematisierung des theoretisch-methodischen und methodologischen Verhältnisses von Literatur und Wissen bzw. Literatur und Wissenschaften zu tun ist, im Zuge dessen auch das weite Forschungsfeld strukturieren und damit einen wertvollen Kompass für jede Forschungsarbeit bieten. In diesem Zusammenhang sind v.a. Ralf Klausnitzers Monographie Literatur und Wissen. Zugänge – Modelle – Analysen90 sowie der von Tilmann Köppe herausgegebene Band Literatur und Wissen. Theoretisch-methodische Zugänge91 anzuführen, auf dessen vielperspektivische Beiträge im Zuge dieser Arbeit immer wieder zurückzukommen sein wird. Generell gilt es festzuhalten, dass die Frage nach den Beziehungen und Wechselwirkungen zwischen Literatur und Wissen bzw. Wissenschaften92 in der letzten Zeit an

|| 86 Philadelphia 1991. 87 München 1992. 88 In: Die Aktualität der Rhetorik, hrsg. v. H. F. Plett, München 1996. 89 Stuttgart 1991. Ohne die Unterscheidung zwischen „Wahrheit und Dichtung, Fakten und Fiktionen“ aufzuweichen, plädiert Gabriel – und hierin ist ihm uneingeschränkt zuzustimmen –, für eine „Erweiterung des Erkenntnisbegriffs“: Der „Erkenntniswert“ der Literatur sei v.a. in ihrer „Vergegenwärtigungsleistung“ zu sehen. Dichterische Erkenntnis vollziehe sich auf Grund der Richtungsänderung des Bedeutens im Sinne einer aufweisenden Bezugnahme, einer symbolischen Exemplifikation, welche die reflektierende Urteilskraft des Lesers auf der Suche nach einer Deutung aktiviert, weniger im Sprachmodus des propositionalen Sagens als vielmehr im Sprachmodus des vergegenwärtigenden Zeigens (Gottfried Gabriel: Fiktion, Wahrheit und Erkenntnis in der Literatur, in: Wahrheit, Wissen und Erkenntnis in der Literatur. Philosophische Beiträge, hrsg. v. Christoph Demmerling u. Ingrid Vendrell Ferran, Berlin 2014, S. 163–180, hier S. 163 f. u. 168 f.). 90 Berlin, New York 2008. 91 Berlin, New York 2011. Einen kompakten Überblick über die einzelnen Beiträge bietet Köppes Einleitung: Literatur und Wissen: Zur Strukturierung des Forschungsfeldes und seiner Kontroversen, in: ebd., S. 4–28, v.a. S. 14–18. 92 Vgl. erneut den bis 2003 reichenden Forschungsüberblick von Pethes: Literatur- und Wissenschaftsgeschichte, S. 210 ff. sowie ders.: Poetik/Wissen. Konzeption eines problematischen Transfers, in: Romantische Wissenspoetik. Die Künste und die Wissenschaften um 1800, hrsg. v. Gabriele Brandstetter u. Gerhard Neumann, Würzburg 2004, S. 341–372. – Einschlägig ist

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Bedeutung erheblich zugenommen hat. Vergegenwärtigt man sich die beiden programmatischen Diskussionen, wie sie 2007 in der Zeitschrift KulturPoetik93 und in der Zeitschrift für Germanistik94 geführt wurden, so kollidieren beide Male ein harter Wissensbegriff (Stiening, Köppe) und ein weicher (Vogl, Borgards, Dittrich). Durch die Nivellierung der differentia specifica zwischen literarischen und nicht-literarischen (Vogl) sowie historischen und kulturellen Ausprägungen von Wissensformen (Köppe) führen beide Extrempositionen letztlich zu einer Entdifferenzierung des Wissens und Wissensbegriffs und erweisen sich als analytisch nicht mehr sinnvoll handhabbar.95 Für die vorliegende Untersuchung ist es nicht zielführend, a priori mit einem vorgefassten Wissensbegriff zu arbeiten, vielmehr sollen die Weisen des Verhältnisses der untersuchten Texte zum Wissen sich durch die Analysen allererst konkretisieren. Als zweckmäßig erweist sich jedoch die Grundunterscheidung ‚propositionales‘ und ‚nichtpropositionales Wissen‘, deren Relevanz für textwissenschaftliche Fragestel-

|| Krämers Klassifizierung nach den drei Relationierungstypen „Intention“, „Korrelation“ und „Zirkulation“ (Olav Krämer: Intention, Korrelation, Zirkulation. Zu verschiedenen Konzeptionen der Beziehung zwischen Literatur, Wissenschaft und Wissen, in: Köppe: Literatur und Wissen, S. 77–115; zu einer knappen Charakterisierung dieses Ansatzes vgl. B. Malinowski u. Michael Ostheimer: Komparatistik als Wissenspoetik, in: Handbuch Komparatistik. Theorien, Arbeitsfelder, Wissenspraxis, hrsg. v. Rüdiger Zymner u. Achim Hölter, Stuttgart, Weimar 2013, S. 256–261). Vgl. auch Thomas Klinkerts Beitrag Literatur und Wissen. Überlegungen zur theoretischen Begründbarkeit ihres Zusammenhangs, in: Köppe: Literatur und Wissen, S. 116–139, in dem er – teils in sachlicher Überschneidung mit Krämers Klassifizierung – vier Möglichkeiten der Relationierung von Literatur und Wissen unterscheidet: eine „wissensrezeptive“, eine ‚gegendiskursive‘, eine ‚wissensgenerierende‘ sowie eine ‚wissensproblematisierende‘ (vgl. S. 118–123). 93 Vgl. Gideon Stiening: Am „Ungrund“ oder: Was sind und zu welchem Ende studiert man „Poetologien des Wissens“ sowie Joseph Vogl: Robuste und idiosynkratische Theorie, in: KulturPoetik, 7. Jg., 2 (2007), S. 234–248 u. 249–258. Wie Stiening in einem späteren Aufsatz betont, gilt in erkenntnistheoretischer Hinsicht zwar „ohne alle Einschränkungen, dass Literatur kein Wissen ist“ (205); in wissensgeschichtlicher Hinsicht bedeutet dies ist jedoch keineswegs, dass „Literatur […] kein Wissen [enthalte]“ (Gideon Stiening: „Und das Ganze belebt, so wie das Einzelne, sei“. Zum Verhältnis von Wissen und Literatur am Beispiel von Goethes Die Metamorphose der Pflanzen, in: Köppe: Literatur und Wissen, S. 192–213, hier S. 204). 94 Vgl. Tilmann Köppe: Vom Wissen in Literatur; Roland Borgards: Wissen und Literatur. Eine Replik auf Tilmann Köppe, in: Zeitschrift für Germanistik, N.F. 17. Jg., 2 (2007), S. 398–410 u. 425–428. Ferner Andreas Dittrich: Ein Lob der Bescheidenheit. Zum Konflikt zwischen Erkenntnistheorie und Wissensgeschichte; Tilmann Köppe: Fiktionalität, Wissen, Wissenschaft. Eine Replik auf Roland Borgards und Andreas Dittrich, in: Zeitschrift für Germanistik, N.F. 17. Jg., 3 (2007), S. 631–637 u. 638–646. Zum Gegensatz harter vs. weicher Wissensbegriff vgl. auch Pethes: Literatur- und Wissenschaftsgeschichte, S. 182 f. 95 Vgl. hierzu auch Malinowski/Ostheimer: Komparatistik als Wissenspoetik, S. 256–261.

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lungen etwa Andrea Albrecht herausgearbeitet hat. Wie Albrecht am Beispiel der Sklavenszene in Platons Menon zeigt, sind es „insbesondere die indirekten, deiktischen und performativen Komponenten […], die die Diskrepanz zwischen normativer und deskriptiver Epistemologie, zwischen propositionalem Wissensanspruch und nicht-propositionaler Wissensexemplifikation deutlich werden lassen“.96 Dies führt unmittelbar auf den vierten Bereich von Forschungsliteratur, die sich dezidiert mit literarischer Wissenschaftsgeschichte, Wissenschaftsgeschichtsschreibung und Wissenschaftstheorie auseinandersetzt. Neuere wissenschaftsgeschichtliche Ansätze wie sie etwa Lorraine Daston, Peter Galison, Hans Jörg Rheinberger oder Michael Hagner geprägt haben, sind in diesem Zusammenhang ebenso einschlägig wie Studien zur Historiographie und zur Gattungstheorie des Historischen Romans (Hans Vilmar Geppert, Fabian Lampart, Ansgar Nünning).97 Anzuführen sind vor allem auch die Arbeiten von Christian Kohlross (Die poetische Erkundung der wirklichen Welt. Literarische Epistemologie [1800–2000]98) und Thomas Klinkert (Epistemologische Fiktionen. Zur Interferenz von Literatur und Wissenschaft seit der Aufklärung99). Kohlross begründet das u.a. mit den Namen Schiller, Kleist und Novalis verbundene Unternehmen einer „literarischen Epistemologie“ als ein „Konkurrenzprogramm zu der um 1800 sich von der Metaphysik emanzipierenden Erkenntnistheorie“100 und der damit verbundenen Reduktion dessen, was Wirklichkeit und Wissen sei. Anders als dies die Philologie seit dem 19. Jahrhundert zu tun pflegt, nämlich „sich mehr um die Generierung eines Wissens über Literatur [zu kümmern]“ als um das „Wissen der Literatur“ selbst, intendiert Kohlross, „das eigentlich erkenntnistheoretische Programm einer nicht-empirischen Epistemologie, deren Gegenstand die Formen der Weltdarstellung sind“101 in den von ihm durchgeführten Einzelstudien auszuloten. – Im Ausgang system- und fiktionstheoretischer Überlegungen leistet Klinkert in seiner komparatistisch-diachron

|| 96 Vgl. Andrea Albrecht: Zur textuellen Repräsentation von Wissen am Beispiel von Platons Menon, in: Köppe: Literatur und Wissen, S. 140–163, hier S. 161. 97 Vgl. exemplarisch Lorraine Daston u. Peter Galison: Objektivität, Frankfurt/M. 2007; HansJörg Rheinberger: Experimentalsysteme und epistemische Dinge. Eine Geschichte der Proteinsynthese im Reagenzglas, Göttingen 2001; Hans Vilmar Geppert: Geschichte umerzählt von Walter Scott bis zur Gegenwart, Tübingen 2009; Ansgar Nünning: Von historischer Fiktion zu historiographischer Metafiktion, 2 Bde., Trier 1995. 98 Bielefeld 2010. 99 Berlin, New York 2010. 100 Kohlross: Literarische Epistemologie, S. 13. 101 Ebd., S. 8.

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angelegten Studie zunächst eine theoretische Begründung der Interrelationen von Literatur und Wissenschaft: Aus der Doppelcodierung literarischer Texte resultiert nicht nur der „Widerstreit zwischen einer Fokussierung der Form (schön vs. hässlich) und einer Akzentuierung des Dargestellten als eines wissenswerten Gegenstandes (Fiktion vs. Wahrheit)“;102 vielmehr erwächst der Literatur aufgrund der zweiten Leitdifferenz auch die Möglichkeit, „an Wissensdiskursen [zu] partizipieren und somit zu epistemologischen Fiktionen [zu] werden“103. – Die bereits angesprochene unhintergehbare Verschränkung von Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftstheorie zeigt sich am deutlichsten in dem von Albrecht, Danneberg, Spoerhase und Werle entwickelten Konzept einer „Historischen Epistemologie […], das die Rekonstruktion wissenschaftlicher Wissensansprüche als Bestandteil epistemischer Situationen zu modellieren versucht“.104 Die Anschlussmöglichkeiten einer so verstandenen ,Historischen Epistemologie‘ an literaturwissenschaftliche Forschungszweige sind, wie die von Gittel unternommene Systematisierung zeigt,105 vielfältig. Die Fokussierung literarischer Texte, die Wissenschaft produktiv rezipieren, so die Maßgabe für die vorliegende Studie, entlastet keineswegs von der möglichst genauen Rekonstruktion jener Quellen, auf die der literarische Text Bezug nimmt, entlastet also mithin nicht von einer zumindest im Ansatz realisierten ,Historischen Epistemologie‘. Dabei geschieht die Inblicknahme der von Danneberg so bezeichneten „epistemischen Situation“106 – auch wenn die wissenschaftlichen Quellen möglichst unabhängig vom literarischen Text, in den sie eingegangen sind, untersucht werden – letztlich doch unter dem für die hier interessierende Frage nach einer poetica scientiae konstitutiven Primat des Ästhetischen – und dieser ist wiederum von den Komplementärparadigmen ‚Poetologie des Wissens‘ und ‚Epistemologie der Poetik‘107 nicht völlig abzulösen.108 || 102 Klinkert: Epistemologische Fiktionen, S. 3. 103 Ebd., S.4. 104 Vgl. Andrea Albrecht, Lutz Danneberg, Carlos Spoerhase u. Dirk Werle: Zum Konzept Historischer Epistemologie, in: Scientia Poetia, Bd. 20, Heft 1 (2016), S. 137–165, hier S. 138. 105 Vgl. Benjamin Gittel: Historische Epistemologie und Literaturwissenschaft, in: ebd., S. 290–305. 106 Zu diesem Begriff vgl. Albrecht et al.: Zum Konzept Historischer Epistemologie, S. 140 f.; Lutz Danneberg: Epistemische Situationen, kognitive Asymmetrien und kontrafaktische Imaginationen, in: Ideen als gesellschaftliche Gestaltungskraft im Europa der Neuzeit. Beiträge für eine erneuerte Geistesgeschichte, hrsg. v. Lutz Raphael u. Heinz-Elmar Tenorth, München 2006, S. 193–221, v.a. S. 209 f. 107 Formulierungen nach Pethes: Literatur- und Wissenschaftsgeschichte, S. 210. Der vielfach kritisierte Wissensbegriff, den Vogl seiner 1991 erstmals formulierten „Poetologie des Wissens“ zugrundelegt (s.o.; vgl. Joseph Vogl: Einleitung, in: Poetologien des Wissens um 1800, hrsg. v.

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Die fünfte Sektion schließlich umfasst dezidiert literaturwissenschaftliche Arbeiten zur ‚Wissenschaftsliteratur‘. Hier nehmen die Überblicksdarstellungen einen relativ überschaubaren Raum ein. Zu nennen sind vor allem motiv- und diskursgeschichtliche Längsschnitte, wie sie etwa von Elisabeth Emter, Literatur und Quantentheorie. Die Rezeption der modernen Physik in Schriften zur Literatur und Philosophie deutschsprachiger Autoren (1925–1970)109 und Katherine N. Hayles (z.B. The Cosmic Web: Scientific Field Models and Literary Strategies in the Twentieth Century und Chaos Bound: Orderly Disorder in Contemporary Literature and Science110) unternommen werden. Kommen komparatistische Darstellungen lediglich vereinzelt vor (vgl. den von Norbert Elsner und Werner Frick herausgegebenen, diachron angelegten Aufsatzband „Scientia poetica“. Literatur und Naturwissenschaft111 oder Betül Dilmac: Literatur und Physik. Literarisierungen der Physik im französischen, italienischen und lateinamerikanischen Gegenwartsroman112), gibt es eine Fülle von nationalphilologisch ausgerichteten Studien zur Literatur des 20. Jahrhunderts, die themenverwandte Fragestellungen aufgreifen (z.B. der von Helene Harth u.a. herausgegebene Band Konflikt der Diskurse. Zum Verhältnis von Literatur und Wissenschaft im modernen Italien,113 Maureen DiLonardo, New Physics and Modern French Novel: an Investigation of Interdisciplinary Discourse114 oder die umfangreiche Studie von Dirk Vanderbeke: Theoretische Welten und literarische Transformationen. Die Naturwissenschaften im Spiegel der ‚science studies‘ und der englischen Literatur

|| Joseph Vogel, München 1999, S. 7–16 sowie ders.: Für eine Poetologie des Wissens, in: Die Literatur und die Wissenschaften 1770–1930, hrsg. v. Karl Richter, Jörg Schönert u. Michael Titzmann, Stuttgart 1997, S. 107–127), sollte das Verdienst, nämlich den Blick auf die (kultur)historischen und kreativ-poietischen Aspekte des Wissens und der Wissensgenerierung gelenkt und ineins damit die epistemologische Relevanz poetologischer Konzepte aufgezeigt zu haben, nicht schmälern. Nicht zuletzt sind es ja gerade die dadurch ausgelösten eristisch geführten Debatten, die die nachhaltige Produktivität dieses Ansatzes bezeugen. 108 Damit ist nicht zugleich jenem von Albrecht et al. zurecht angemahnten „Reduktionismus“ stattgegeben, der die „Bedeutung epistemischer Werte […] negiert oder gegenüber sozialen, ästhetischen oder anderen Faktoren vernachlässigt“ (Albrecht et al.: Zum Konzept Historischer Epistemologie, S. 138). 109 Berlin 1995. 110 Ithaca/NY, London 1984 und Ithaca/NY, London 1990. Instruktiv ferner der von Hayles herausgegebene Sammelband Chaos and Order. Complex Dynamics in Literature and Science, Chicago, London 1991. 111 Göttingen 2004. 112 Freiburg/Br. 2012. 113 Tübingen 1991. 114 New York u.a. 1995.

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des ausgehenden 20. Jahrhunderts,115 die neben einer Reihe von einzelnen literarischen Fallstudien eine kritische Auseinandersetzung mit der geisteswissenschaftlichen Perspektive auf die Naturwissenschaften unternehmen). Eine Vielzahl von Anknüpfungsmöglichkeiten bietet ferner die komparatistische Arbeit von Andreas B. Kilcher, mathesis und poiesis. Die Enzyklopädik der Literatur 1600–2000,116 die das Verhältnis von Literatur und Wissen am Beispiel der Enzyklopädie untersucht. Die quantitativ umfangreichste Gruppe zu den Wechselbeziehungen zwischen Literatur und Naturwissenschaften bildet Sekundärliteratur zu einzelnen Autoren und Werken, mit denen sich die vorliegende Studie am gegebenen Ort auseinandersetzen wird.117 In Darstellung und Methode passt sich die Untersuchung dem dynamischen Reichtum ihres Quellenrepertoires, aber auch den daraus resultierenden wechselnden Perspektiven und Fragestellungen an und ist vorrangig um ein sachlich angemessenes Verhältnis zwischen historischer und systematischer Betrachtung, zwischen textnaher Evidenz und übergreifender theoretischer Konzeptualisierung bemüht. Vor dem Hintergrund der leitenden Fragestellung nach den Beziehungen zwischen Literatur und den in ihr ästhetisch transformierten wissenschaftlichen ‚Prätexten‘118 mit ihren jeweiligen wissenschaftshistorischen und epistemologischen Implikationen, erweisen sich insbesondere die Intertextualitätstheorie (vor allem deren textdeskriptiven Varianten) und die Rezeptionsästhetik als methodische Konstanten. Der genannten sachlichen Zielsetzung, durch die interdisziplinäre Perspektivierung exemplarischer Texte der poetica scientiae Einsicht in die Konstitutionsbedingungen von Literatur im Spannungsfeld von dialogischer Anknüpfung an naturwissenschaftliche Diskurse und deren vielgestaltige Transformationen in einer aus der klassizistischen Nachahmungsdoktrin längst entlassenen Kunstepoche zu gewinnen,

|| 115 Tübingen 2004. 116 München 2003. 117 Hierzu gehören auch Forschungsarbeiten, die nicht im zeitlichen Kontext des 20. Jahrhunderts angesiedelt sind, von denen aber gleichwohl wertvolle Impulse ausgehen. Exemplarisch seien genannt die Monographien von Horst Thomé: Roman und Naturwissenschaft. Eine Studie zur Vorgeschichte der deutschen Klassik, Frankfurt/M. 1978; Karl Richter: Literatur und Naturwissenschaft. Eine Studie zur Lyrik der Aufklärung, München 1972; und die Novalis- und Romantik-Studien von Erk F. Hansen: Wissenschaftswahrnehmung und -umsetzung im Kontext der deutschen Frühromantik. Zeitgenössische Naturwissenschaft und Philosophie im Werk Friedrich von Hardenbergs [Novalis], Kiel 1991; sowie Jürgen Daiber (z.B. Experimentalphysik des Geistes. Novalis und das romantische Experiment, Göttingen 2001). 118 Diese Annahme impliziert die bereits erwähnte Voraussetzung, dass auch die literarisch rezipierten naturwissenschaftlichen Diskurse textuell verfasst sind.

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korreliert dabei die methodische Zielsetzung, auf der Grundlage etablierter und bewährter literaturwissenschaftlicher Theorien das begriffliche und methodische Instrumentarium zur Analyse und Beschreibung von Prozessen der Transformation und Poetisierung, des literarischen Experimentierens mit und Übersetzens von szientifischem Wissen in poetisches ‚Wissen‘ zu erweitern. Darin deutet sich nicht zuletzt auch ein anthropologisches Interesse an, dies freilich spezifiziert und fokussiert auf jene Grenzbereiche, in denen die literarischen Transformationen szientifischen Wissens selbst angesiedelt sind bzw. deren Fragehorizont sie implizit provozieren, namentlich die Grenzbereiche von wissenschaftlichem und kulturellem Wissen, von realitätsorientiertem pragmatischem Handeln und entpragmatisiertem literarischem Entwurf, von Wissen und Nichtwissen, von Wissenschaft, Ästhetik und Ethik, von Physik und Metaphysik. Dass sich die vorliegende Studie auch als ein komparatistisches Unternehmen begreift, bedarf einer knappen Erläuterung. Das Desiderat eines komparatistischen Vorgehens ergibt sich aus dem Befund, dass es sich bei dem von der Literatur rezipierten Gegenstand ‚Naturwissenschaft‘ ja gerade um einen ‚transnationalen‘ handelt, folglich die Referenztexte zumal in ihren dezidiert epistemischen Gehalten die Begrenzung auf eine nationalphilologische Sichtweise gar nicht erst zulassen. Damit zusammenhängend ist das für ausnahmslos alle Formen der poetica scientiae konstitutive produktionsästhetische Verfahren der Intertextualität nicht abzulösen von der Forderung nach einer lecture relationnelle seitens des Interpreten,119 und diese beschreibt letztlich wiederum nichts anderes als eine ‚lecture comparée‘. Dieses Postulat einer vergleichendrelationalen Lektüre, das sich aus einer die literarischen Texte konstituierenden intertextuellen Schreibpraxis ergibt, korrespondiert mit der interdisziplinären Perspektive, ja wird durch diese in gewisser Weise sogar verschärft. Der intertextuellen Analyse eines intertextuell organisierten Textes kommt es darauf an, die

|| 119 Zur ‚lecture relationnelle‘ bzw. ‚lecture palimpsestueuse‘ vgl. Gérard Genette: Palimpsestes. La littérature au second degré, Paris 1982, S. 452 (dt.: Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe, Frankfurt/M. 1993, S. 533). Intertextualität als produktionsästhetisches Verfahren bezeichnet zunächst nichts anderes als „eine Möglichkeit, eine Alternative, ein Verfahren des Bedeutungsaufbaus literarischer Werke“ (Wolfgang Preisendanz: Zum Beitrag von R. Lachmann „Dialogizität und poetische Sprache“, in: Dialogizität, hrsg. v. Renate Lachmann, München 1982, S. 25–28, hier S. 26 f.), ein Verfahren, das auf die Lektüren eines Autors verwiesen bleibt. Produktion und Rezeption intertextuell organisierter Werke koinzidieren gleichsam in diesen Mehrfachlektüren. Interpretation ist dann wesentlich eine „Rekonstruktion von Lektüren“ (so Ulrich Gaier, Über Lektüre und Interpretation. Zu einem Gedicht von Ernst Jandl, in: Lachmann: Dialogizität, S.107–126, hier S. 113).

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„implikative Beziehung zwischen Phäno- und Referenztext“120 in der dialektisch-konfrontativen Lektüre beider zu klären, doch bleibt der Phänotext in der Regel derjenige, auf den das (literaturwissenschaftliche) Verstehens- und Erkenntnisinteresse des Leser primär gerichtet ist und Umfang und Ausmaß der Auseinandersetzung mit dem Referenztext entsprechend reguliert. Die interdiszplinäre Arbeit, sofern sie sich, wie im gegebenen Fall, mit literarischnaturwissenschaftlichen Intertexten beschäftigt, schließt dieses Verfahrensprogramm zwar ein, geht aber insofern darüber hinaus, als sie um eine möglichst ausgewogene Perspektivierung der in den Phäno- und Referenztexten jeweils verhandelten Probleme und Gegenstände bemüht ist. Sie intendiert, einen Sachverhalt auch unabhängig von seiner ästhetischen Transformation im literarischen Werk und – sofern dies die interdisziplinäre Kompetenz des Lesers erlaubt – unabhängig von literaturwissenschaftlichen Kategorien in seiner dezidiert szientifischen Prägung zu beleuchten und zu verstehen. Derartige ‚fremddisziplinäre‘ Rekonstruktionsbemühungen zielen letztlich darauf ab, gerade solche Aspekte eines Problems oder Gegenstands zu eruieren, die durch die isolierende, ‚disziplinäre‘, konkret: literaturwissenschaftliche Sicht verdeckt oder unterdrückt bleiben, und auf diese Weise die Dialogizität zwischen literarischem und naturwissenschaftlichem Text unter möglichst vielen Gesichtspunkten zu erfassen. Dieser interdisziplinäre Ansatz bleibt weder für die Darstellung noch für das komparatistische Ansinnen dieser Studie folgenlos. So werden die naturwissenschaftlichen, wissenschaftshistorischen und epistemologischen Sachverhalte nicht einfach vorausgesetzt oder lediglich peripher thematisiert, sondern in ihrer szientifischen und historischen Eigenständigkeit (in den nachfolgenden Studien geschieht dies meist in der Form längerer, graphisch vom Haupttext abgesetzter Exkurse) analysiert und nicht zuletzt im Hinblick auf ihre ästhetischen Implikationen untersucht. Entsprechend sind die vergleichenden Lektüren und Analysen in erster Linie auf das Verhältnis der narrativen Phänotexte zu ihren naturwissenschaftlichen Referenztexten und weniger auf das Verhältnis der narrativen Texte untereinander gerichtet.

|| 120 Renate Lachmann: Ebenen des Intertextualitätsbegriffs, in: Stierle u. Warning: Das Gespräch, S. 133–138, hier S. 136.

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4 Zum Gang der Untersuchung Den komparatistischen Studien zur produktiven Rezeption der Naturwissenschaften in der Literatur der Postmoderne und Gegenwart ist eine Reihe propädeutischer, historischer und systematischer Überlegungen voranzustellen. Diesen ist der erste der drei Hauptabschnitte der vorliegenden Arbeit gewidmet. Ausgehend von einer allgemeinen Problematisierung der wissenschaftstheoretisch fundierten und wissenschaftspraktisch anerkannten Leitdifferenz ‚Literatur‘ und ‚Wissenschaft‘ wird der seitens der Literatur und Dichtung unternommene ‚Annäherungsversuch‘ an die Wissenschaft in einem ersten Schritt und bereits mit Konzentration auf die Zeit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert aus der Perspektive der Wissenschaften selbst in den Blick genommen. Die fundamentale Rolle, die diesem Aspekt sowohl für die Entstehung als auch für das Verständnis einer poetica scientiae zukommt, wird in einem weiteren Abschnitt hervorgehoben, wobei hier die Leitdifferenz ‚Literatur‘ und ‚Wissenschaft‘ auf ihre sprachspezifische Manifestation ‚Metapher‘ und ‚Begriff‘ verengt wird. In einem weiteren Kapitel erfolgt sodann die Hinführung auf das eigentliche Thema ‚Wissenschaft als Literatur‘, wobei hier zunächst allgemeine Fragen nach einer Poetik und Hermeneutik der literarischen Transformation wissenschaftlicher Theorien formuliert und im Rekurs auf bereits vorliegende Forschungsliteratur erörtert werden. Der zweite Hauptabschnitt ist dem Thema ‚literarische Wissenschaftsgeschichtsschreibung‘ gewidmet. Ausgehend von dem Versuch, die literarische Wissenschaftsgeschichtsschreibung zwischen Geschichtswissenschaft und Wissenschaftsgeschichte theoretisch zu positionieren, werden am Beispiel von Daniel Kehlmanns Roman Die Vermessung der Welt Transformationen historisch bedeutsamer mathematisch-naturwissenschaftlicher Konzepte, Biographien und szientifischer Kontexte analysiert. Gleichermaßen im Zentrum der Untersuchung stehen hierbei historische Quellen und wissenschaftshistorische und -biographische Studien. So etwa wird mit Alexander von Humboldts Ansichten der Natur – mit Seitenblicken auf sein Kosmos-Projekt – eine spezifische Variante der poetica scientiae vorgestellt, darüber hinaus aber auch das ästhetische Potential mathematikgeschichtlicher Entwicklungen (hier am Beispiel der nichteuklidischen Geometrie) sowie wissenschaftsbiographischer Schreib- und Darstellungsweisen (hier am Beispiel verschiedener GaußBiographien) untersucht. Neben dem bereits oben aufgeführten Fragekomplex sind hier vor allem gattungstheoretische Probleme, etwa die Spezifika des wissenschaftshistorischen gegenüber dem historischen Roman oder der literarischen Biographie, sowie fiktionale und metafiktionale Strategien der

Zum Gang der Untersuchung | 35

Revision, Korrektur und Kritik wissenschaftshistorischer und -biographischer Schreibweisen von Relevanz. Den Gegenstand des dritten Kapitels bildet die ‚literarische Epistemologie‘, die in zwei Fallstudien exemplifiziert wird. Die ausführliche Analyse von DelGiudices zwischen Moderne und Postmoderne oszillierendem Roman Atlante occidentale zielt zum einen auf narrative Inszenierungen poietischer Implikationen in naturwissenschaftlichen Prozessen der Wissensgenerierung und Theoriebildung, zum anderen auf eine den Roman wesentlich prägende epistemologische Poetologie. Michel Serres, mit dem sich die zweite Studie beschäftigt, stellt insofern einen Sonderfall dar, als er Naturwissenschaft, Wissenschaftsgeschichte und -philosophie und nicht zuletzt Literatur in Personalunion verkörpert. Symptomatisch für sein Œuvre ist eine Denk- und Schreibweise, die mit ihren unruhigen Oszillationen und fließenden Funktionsübergängen die Zuordnung individueller Texte zu der einen oder anderen ‚Kultur‘ nahezu ausschließt. In einem ersten Abschnitt wird der Versuch unternommen, diese von Serres ausdrücklich intendierte und im Sinne einer dritten Kultur auch postulierte Praxis des Philosophierens und Schreibens zu systematisieren (dies durchaus in dem Bewusstsein, dass jeder Systematisierungsversuch der Programmatik dieser Philosophie partiell zuwiderläuft). Dabei rücken diejenigen Aspekte in den Vordergrund, die für Serres’ im Folgenden so bezeichnete Epistemopoetik von Relevanz sind. Im Fokus des zweiten Teils steht sodann eine detaillierte Analyse von Serres’ Lehrfabel Détachement. Aus den genannten Gründen beziehen alle Fallstudien die Analyse ihrer jeweiligen ‚Prätexte‘ mit ein. Den literarischen Texten steht damit eine ganze Reihe von überwiegend philosophischen, wissenschaftshistorischen und szientifischen Texten gegenüber, die das Profil der literarischen maßgeblich prägen, so wie umgekehrt die individuelle Optik der poetica scientiae auch die ‚Anderslesbarkeit‘ des szientifischen Materials provoziert.

| Teil I: Historische und systematische Grundlegungen

1 Literatur und Wissenschaft: Problematisierung einer Leitdifferenz 1.1 Epistemologische Ästhetisierung: Naturwissenschaftliche, wissenschaftstheoretische und -historische Grenzöffnungen Die produktive Rezeption der Naturwissenschaften in der Literatur, die seit Beginn des 20. Jahrhunderts eine nahezu ungebrochene Hochkonjunktur erlebt, lässt sich ohne den Beitrag, den die Naturwissenschaften selbst sowie die Wissenschaftstheorie, die Wissenschaftsgeschichte und die Philosophie zur Herausbildung einer third culture1 leisten, kaum angemessen nachvollziehen. Ihnen kommt nicht nur eine nachweisliche Vermittlungs- und Brückenfunktion zwischen Naturwissenschaft und Literatur zu, sondern auch eine hermeneutische und heuristische Funktion für die diesen Dialog beschreibende und analysierende Literaturwissenschaft. Im Folgenden gilt es vor allem drei Entwicklungen zu skizzieren, die zu einer Aufweichung des positivistischen Wissenschaftsverständnisses geführt haben: 1. die radikale Infragestellung leitender Erkenntnisparadigmen durch die Errungenschaften der neuen Physik; 2. der dadurch in Gang gesetzte erkenntnistheoretische, sprachphilosophische und ästhetische Reflexionsprozess seitens der wichtigsten Repräsentanten dieser Physik; 3. die durch die Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsgeschichte erwirkte Öffnung der Naturwissenschaften für eine historische, soziologische, hermeneutische und ästhetische Betrachtung.

1.1.1 „Alle Wissenschaft ist Fiktion“? – Der Antipositivismus der Neuen Physik Im 17. Jahrhundert legen Galileo Galilei, Francis Bacon, René Descartes und Isaac Newton das Fundament für die neuzeitliche Wissenschaft. Bereits mit Kopernikus’ Astronomie setzte eine Phase der Naturbetrachtung ein, die durch den Glauben an eine Übereinstimmung der Geometrie mit den ontologischen

|| 1 Vgl. Elinor S. Shaffer: „Introduction: The Third Culture – Negotiating the ,two cultures‘“, in: The Third Culture: Literature and Science, hrsg. v. Elinor S. Shaffer, Berlin, New York 1998, S. 1–12. Open Access. © 2021 Bernadette Malinowski, publiziert von De Gruyter. Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivatives 4.0 International Lizenz. https://doi.org/10.1515/9783110642384-002

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Grundlagen der Natur bestimmt war.2 Galilei, der erstmals Experiment und mathematische Beschreibung, Erfahrung und Hypothese, miteinander kombinierte, um auf diese Weise die Gesetzmäßigkeiten einzelner Naturvorgänge zu verstehen,3 gilt allgemein als Wegbereiter für eine objektive Naturbetrachtung: Indem sich der naturwissenschaftliche Beobachter bestimmten mathematischen Denkregeln unterwirft, tritt er zugleich hinter die mathematische Formulierung zurück, d.h. er objektiviert seine Beobachtung.4 Damit verbunden ist die spezifische Bestimmung des physikalischen Gegenstandes ‚Natur‘: Natur ist fortan reduziert auf das, was messbar und in Zahlen darstellbar ist, meint also jene materielle und mathematisch strukturierte Wirklichkeit, die es ‚an sich‘, also unabhängig vom individuellen Erleben des Beobachters, auf allgemeine und unbedingte Gesetze hin zu erforschen gilt.5 Während Bacon insbesondere die Bedeutung der empirischen bzw. experimentellen Verfahrensweise betont und das Prinzip der Induktion formulierte, nach dem allgemeine Prinzipien aus Experimenten abgeleitet und durch weitere Experimente überprüft werden, besteht Descartes’ Beitrag vor allem in der philosophischen Fundierung der objektiven Naturbetrachtung: Die von ihm postulierte Trennung von Geist und Materie gestattete es dem Wissenschaftler, die Natur als tote, vom Beobachter völlig geschiedene Materie zu behandeln, deren Phänomene analytisch in Einzelbestandteile zu zerlegen, funktional zu bestimmen und mathematisch zu quantifizieren sind. Berechenbarkeit, Gesetzmäßigkeit und objektive Beschreibbarkeit der Natur bilden auch die Grundlagen von Newtons Mechanik.6 Newton reduzierte alle physikalischen Erscheinungen auf die Bewegung von Massepunkten im Raum, die durch ihre gegenseitige Anziehung, die Gravitation, verursacht werden. Die

|| 2 Vgl. Elisabeth Emter: Literatur und Quantentheorie. Die Rezeption der modernen Physik in Schriften zur Literatur und Philosophie deutschsprachiger Autoren (1925–1970), Berlin 1975, S. 21. 3 Vgl. Werner Heisenberg: Das Naturbild der heutigen Physik, Hamburg 1955, S. 60 sowie Jürgen Mittelstraß: Neuzeit und Aufklärung. Studien zur Entstehung der neuzeitlichen Wissenschaft und Philosophie, Berlin, New York 1970, S. 172 f. 4 Die Mathematik, so Heisenberg, werde mit Galilei zum „Bindeglied“ zwischen dem menschlichen Geist und der Wirklichkeit der Natur (Heisenberg: Das Naturbild der heutigen Physik, S. 60). Zum Verhältnis von Theorie und Experiment, von „Protophysik“ und „empirischer Physik“ vgl. Mittelstraß: Neuzeit und Aufklärung, S. 169–173. 5 Vgl. Emter: Literatur und Quantentheorie, S. 22. Zu Galileis berühmtem Diktum von der Natur als einem von Gott in mathematischen Lettern geschriebenen Buchs vgl. Mittelstraß: Neuzeit und Aufklärung, S. 201 u. Hans Blumenberg: Die Lesbarkeit der Welt [1979], Frankfurt/M. 41999, S. 71–80. 6 Vgl. dazu und im Folgenden Emter: Literatur und Quantentheorie, S. 22 f.

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von ihm aufgestellten Gesetze der Mechanik hielten, wie bereits von Galilei gefordert, der Überprüfung in der empirischen Erfahrung stand. Man betrachtete sie in der Folge als feste Gesetze, anhand derer man nicht nur die Bewegung der Planeten, sondern alle Veränderungen in der physikalischen Welt erklären zu können glaubte. Die Natur erschien wie ein riesiges Uhrwerk, das, einmal in Gang gesetzt, nach unveränderlichen Gesetzen abläuft, die jedem Materieteilchen seinen Weg für alle Zeiten genau vorschreiben. Die Auffassung, dass das Naturgeschehen kausal und determiniert sei, erstreckte sich allmählich auf alle Bereiche des menschlichen Lebens und formierte nach und nach ein mechanistisch-materialistisches Weltbild, das trotz sich formierender Gegendiskurse seitens der Literatur7 und der romantischen Naturphilosophie8 bis zum Ende des 19. Jahrhunderts bestimmend blieb.9 Mit der Entwicklung der Relativitätstheorie und der Quantentheorie werden die Axiome der klassischen Physik radikal in Frage gestellt. Wurden Raum und

|| 7 Zu erinnern ist in diesem Zusammenhang vor allem an Goethe, dessen Kritik am Wissenschaftsideal Newton’scher Prägung (insbes. die kategorische Trennung von Subjekt und Objekt, die sowohl technologische als auch mathematisch-theoretische Abstraktion und die damit verbundene Überschreitung bzw. Eliminierung sinnlicher Wahrnehmung und Anschaulichkeit einerseits, die Isolierung und Dekontextualisierung der zu untersuchenden Naturphänomene andererseits, sodann die Behauptung eines theoriefreien Empirismus sowie die Gefahr der Substitution der Realität durch mathematische Begriffe) die bis in die unmittelbare Gegenwart hinein maßgeblichen wissenschaftskritischen Topoi berührt. Vgl. dazu die luzide Studie von Theda Rehbock: Goethe und die ‚Rettung der Phänomene‘. Philosophische Kritik des naturwissenschaftlichen Weltbilds am Beispiel der Farbenlehre, Konstanz 1995. 8 Zum romantischen Wissenschaftskonzept vgl. v.a. Schellings „Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums“ von 1803. 9 Man denke zum Beispiel an die französischen Aufklärer Voltaire und D’Alembert, die die Newton’sche Mechanik popularisierten und Newtons Gesetze zu einem universellen philosophischen Prinzip verallgemeinerten, dessen Gültigkeit sich sowohl auf die Natur als auch auf den Menschen erstrecken sollte (vgl. Emter, Literatur und Quantentheorie, S. 23 f.). Vgl. auch die Fiktion des allwissenden „Laplaceschen Dämons“, die die Gewissheit spiegelt, mit der das mechanistische Denken die Erkennbarkeit der Natur anhand der Gesetze der Mechanik vertrat: „Wir müssen also den gegenwärtigen Zustand des Weltalls als die Wirkung seines früheren Zustandes und andererseits als die Ursache dessen, der folgen wird, betrachten. Eine Intelligenz, welche für einen gegebenen Augenblick alle Kräfte, von denen die Natur belebt ist, sowie die gegenseitige Lage der Wesen, die sie zusammensetzen, kennen würde, und überdies umfassend genug wäre, um diese gegebenen Größen einer Analyse zu unterwerfen, würde in derselben Formel die Bewegungen der größten Weltkörper wie die des leichtesten Atoms ausdrücken: nichts würde für sie ungewiss sein und Zukunft wie Vergangenheit ihr offen vor Augen liegen“ (Pierre Simon de Laplace: Philosophischer Versuch über die Wahrscheinlichkeiten [1814], zitiert nach Bernulf Kanitschneider: Wissenschaftstheorie der Naturwissenschaft, Berlin, New York 1981, S. 45).

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Zeit in der klassischen Physik als absolute, d.h. als jeweils unabhängig voneinander und unabhängig von der Materie und dem physikalischen Geschehen existierende Größen aufgefasst, so ist seit Albert Einsteins spezieller Relativitätstheorie belegt, dass Gleichzeitigkeit und räumliche Entfernung von der Wahl des Bezugssystems abhängen, also relativ zum Bezugssystem sind.10 Da das Bezugssystem durch den Beobachter festgelegt ist, finden Elemente, die den Zustand des Beobachters, insbesondere die Geschwindigkeit, miteinbeziehen, Eingang in die Beobachtung. Der Zusammenhang der Messergebnisse in verschiedenen Bezugssystemen wird dabei durch die Naturkonstante c, also die Lichtgeschwindigkeit,11 die in allen Bezugssystemen die gleiche ist, gewährleistet, so dass auf dieser Basis weiterhin nach Naturgesetzen geforscht werden kann, die unabhängig von den jeweiligen Bezugssystemen sind und überall im Universum Gültigkeit besitzen sollen. Gleichwohl hatte die veränderte Raumund Zeitauffassung – die Vorstellung von einem vierdimensionalen Raum-ZeitKontinuum – maßgebliche Konsequenzen für das physikalische Weltbild. War Masse – um ein Beispiel zu geben – nach altem Verständnis etwas Konstantes, das zwar geteilt, aber nicht verringert oder vermehrt werden konnte, so musste aus der Erkenntnis von der Äquivalenz von Masse und Energie12 gefolgert werden, dass Masse und Energie ineinander umgewandelt werden können. Dementsprechend kann Masse verloren gehen, wenn sie sich in Energie verwandelt bzw. sich vergrößern, wenn Energie hinzugefügt wird. Ferner wandelte sich mit der allgemeinen Relativitätstheorie (in ihr wird das vierdimensionale RaumZeit-Kontinuum nicht mehr als eben, sondern als gekrümmt aufgefasst13) auch

|| 10 Nach Einstein werden zwei Beobachter ein Ereignis nicht notwendigerweise in der gleichen Zeitfolge einordnen, wenn sie sich relativ zueinander bewegen. Dabei ist nicht zu entscheiden, welche Zeiteinordnung die richtigere ist. Der Zeitabstand zwischen zwei Ereignissen ist folglich nicht unabhängig vom Bewegungszustand des Bezugssystems (ein Beispielexperiment beschreibt Horst B. Hiller: Die modernen Naturwissenschaften, Stuttgart 1974, S. 22). Das gleiche gilt für den räumlichen Abstand zwischen zwei Punkten. Auch er ist abhängig vom Bewegungszustand des Beobachters. Eine Messlatte z.B., die sich bezüglich des Beobachters bewegt, hat nicht die gleiche Länge, die sie im Ruhezustand hätte (vgl. Emter, Literatur und Quantentheorie, S. 27 f.). 11 Die Konstanz der Lichtgeschwindigkeit wurde erstmals 1887 von Albert Michelson und Edward Morley gemessen (vgl. ebd., S. 26). 12 Diese Äquivalenz von Masse und Energie fasste Einstein in die Formel E = mc². 13 Vgl. ebd., S. 29: Während der speziellen Relativitätstheorie eine Raum-Zeit-Vorstellung zugrunde liegt, die als vierdimensionaler Minkowski-Raum mit drei Raumkoordinaten und einer Zeitkoordinate beschrieben werden kann, kann das Raum-Zeit-Kontinuum der allgemeinen Relativitätstheorie, der Rieman’sche Raum, nicht mehr als vierdimensionales euklidisches Kontinuum aufgefasst werden. Im Riemann’schen Raum können keine starren Bezugskörper

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die Vorstellung vom Universum: An die Stelle eines im Wesentlichen unveränderlichen und ewig bestehenden Universums tritt die Auffassung von einem Universum, das sich ausdehnt und vielleicht auch wieder zusammenfällt, das folglich Anfang und Ende hat.14 Am 14. Dezember 1900 trat Max Planck mit einer Arbeit an die Öffentlichkeit, die gemeinhin als die Geburtsstunde der Quantenmechanik gilt. Planck nahm an, dass Atome Lichtenergie in Form kleiner ‚Pakete‘, sogenannter Quanten, abgeben bzw. aufnehmen und der Emissions- bzw. Absorptionsvorgang keinen, wie bisher angenommen, stetig verlaufenden Prozess darstellt, sondern sprunghaft-unstetig vonstatten geht.15 Bezog Planck seine Annahme von der Quantelung der Lichtenergie zunächst nur auf den Vorgang des Energieaustauschs, nicht aber auf die Eigenschaften des Lichts selbst, so stellte sich später heraus, dass die Größe der Quanten16 nicht von der Intensität des Lichts, sondern von seiner Frequenz abhängt, was zur Folge hatte, dass man von der Wellennatur des Lichts absehen und eine korpuskulare, also teilchenhafte Beschaffenheit des Lichts annehmen musste. Das paradoxe Verhalten des Lichts – bei der Ausbreitung im Raum zeigte es alle Eigenschaften eines Wellenvorgangs, wohingegen es sich in Wechselwirkung mit der Materie so verhielt, als ob es aus Korpuskeln bestünde17 – veranlasste schließlich die Annahme von der Doppelnatur des Lichts: Das Licht ist sowohl Teilchen als auch Welle. Fortan sollten beide Lichttheorien, nämlich sowohl die von Thomas Young und Augustin Jean Fresnel im Anschluss an Christiaan Huygens begründete und durch die Arbeiten von Maxwell und Faraday vertiefte und erweiterte Wellen- bzw. Undulationstheorie als auch die bereits von Newton aufgestellte und durch die Quan-

|| mehr benutzt werden, sondern nur noch nicht-starre, welche „nicht nur als Ganzes beliebig bewegt sind, sondern auch während ihrer Bewegung beliebige Gestaltungsveränderungen erleiden“ (Albert Einstein: Über die spezielle und allgemeine Relativitätstheorie [Gemeinverständlich], Braunschweig 91920, S. 67). 14 Vgl. Emter, Literatur und Quantentheorie, S. 30. 15 Zur Bestimmung der Quantengröße fand Planck die Formel E = h · v, wobei v die Frequenz des Lichts bezeichnet, das emittiert oder absorbiert wird, und h das Planck’sche Wirkungsquantum, das die „Größe der zulässigen Unstetigkeiten in der Natur“ angibt (Ernst Peter Fischer: Die andere Bildung. Was man von den Naturwissenschaften wissen sollte, München 2001, S. 171). Ausführlicher dazu vgl. Gert-Ludwig Ingold: Quantentheorie. Grundlagen der modernen Physik, München 2002, S. 16–19. 16 Vgl. Emter, Literatur und Quantentheorie, S. 32 f. Nicht Planck selbst, sondern Einstein war es, der Plancks Hypothese von der quantenhaften Natur der Strahlung auf das Wesen des Lichts übertrug. 17 Zu Einsteins Arbeiten zum licht- bzw. photoelektrischen Effekt vgl. ebd., S. 33, 34 und 39.

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tenlehre nachträglich bestätigte Teilchen- bzw. Korpuskulartheorie, ihre gleichberechtigte Gültigkeit behaupten. Doch damit nicht genug. 1923 griff der Physiker Louis de Broglie die für das Licht erwiesene Doppelnatur auf und übertrug sie auf die Materie; 1927 konnten erstmals Interferenzen, also Welleneigenschaften, bei Elektronenstrahlen nachgewiesen werden, so dass an der Richtigkeit von de Broglies Theorie kein Zweifel mehr bestand.18 Damit schien der Welle-Teilchen-Dualismus, hinter dem die in der klassischen Physik angenommenen zwei Wesenheiten der Natur, nämlich Licht und Materie, stehen, zugunsten der Auffassung von der Doppelnatur von Licht und Materie – beide sind sowohl Welle als auch Teilchen – überwunden.19 Das Problem, das sich aufgrund dieser Annahme von der doppelten, gleichsam von der Sowohl-als-auch-Natur der Natur ergibt, besteht darin, dass es keine Möglichkeit gibt, die Wellen- und Teilchennatur eines Photons oder Elektrons gleichzeitig nachzuweisen. Intendiert man bei einem Versuch eine exakte Ortsbestimmung, so erhält man den Hinweis auf ein Teilchen, wobei der Impuls unbestimmt bleibt, intendiert man hingegen eine exakte Impulsbestimmung, erhält man den Hinweis auf eine Wellenbewegung im Raum, wobei aufgrund des Ausdehnungscharakters der Welle wiederum keine Ortsbestimmung möglich ist.20 Die komplementären Größen Ort und Impuls können folglich bei gleichzeitiger Messung nie exakt bestimmt werden. Auf diesen Sachverhalt bezieht sich Werner Heisenbergs Unschärfe- oder Unbestimmtheitsrelation. Diese besagt, dass das Produkt der Unschärfen von Ort und Impuls den Wert

|| 18 Vgl. ebd., S. 29. De Broglie konnte dabei auf den Arbeiten von Niels Bohr aufbauen, der im Rekurs auf Plancks Quantenhypothese und Einsteins Lichtquantenlehre das konventionelle Rutherford’sche Atommodell modifizierte (vgl. ebd., S. 35–36). 19 Der von Niels Bohr im Anschluss an Heisenbergs Unbestimmtheitsrelation eingeführte Begriff der Komplementarität meint nicht nur „das gegenseitige Sichausschließen von Messungsprozessen sowie von Eigenschaften und Verhaltensweisen mikrophysikalischer Objekte und Systeme und deren Beschreibungsformen“, sondern ebenso die „Zusammengehörigkeit der sich ‚in Bereichen unserer Anschauung eine vollständige Disjunktion‘ bildenden Eigenschaften und Beschreibungsmodi“ (ebd., S. 45). Danach ist die mikrophysikalische Wirklichkeit nur dann richtig und vollständig dargestellt, wenn beide Beschreibungsformen, also Welle und Teilchen, zusammen berücksichtigt werden und damit der „Einheit des Widersprüchlichen“ (ebd.) Rechnung getragen wird. Zur Veranschaulichung dieses „unanschaulichen Phänomens der Komplementarität“ (ebd.) vgl. das sogenannte Doppelspaltexperiment, das 1927 von Einstein und Bohr als Gedankenexperiment entwickelt worden war und inzwischen realisiert wurde (vgl. ebd., S. 45–47). Zum Begriff der Komplementarität vgl. auch Fischer: Die andere Bildung, S. 179. 20 Dieses Entweder-oder gilt auch für die Größen Energie/Zeit und Winkelgeschwindigkeit/Drehimpuls, also für alle Größenpaare, deren Produkt eine Wirkung ist.

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des Planck’schen Wirkungsquantums nicht unterschreiten kann,21 im mikrophysikalischen Bereich also „keine raumzeitliche Beschreibung eines Bewegungsvorgangs im klassischen Sinne“22 möglich ist. Erlauben die Gesetze der klassischen Physik exakte Prognosen über den Zustand eines Systems, sobald man über alle Details dieses Zustands zu einem früheren Zeitpunkt verfügt, so lässt sich im mikrophysikalischen Bereich nurmehr mit statistisch ermittelten Wahrscheinlichkeitsaussagen operieren. Heisenberg bringt dies auf den Punkt, wenn er sagt: Aber an der scharfen Formulierung des Kausalgesetzes: „Wenn wir die Gegenwart genau kennen, können wir die Zukunft berechnen“, ist nicht der Nachsatz, sondern die Voraussetzung falsch. Wir können die Gegenwart in allen Bestimmungsstücken prinzipiell nicht kennenlernen.23

Im Gegensatz etwa zu Einstein, dessen berühmt gewordenes Diktum „Gott würfelt nicht!“ nichts anderes zum Ausdruck bringt als die Hoffnung, die beunruhigenden Erkenntnisse der Quantenmechanik eines Tages wieder mit den Grundlagen der klassischen Physik in Einklang bringen zu können, sehen die Vertreter der Kopenhagener Schule, insbesondere Niels Bohr und Werner Heisenberg, die Gültigkeit der klassischen Physik wenngleich nicht außer Kraft gesetzt, so doch wesentlich eingeschränkt. So kann für Bohr die frühere Annahme einer strikten Trennung von Subjekt und Objekt bei der Beobachtung eines mikrophysikalischen Systems nicht mehr aufrechterhalten werden: Indem sich der Physiker für eine bestimmte Versuchsanordnung entscheidet oder indem er festlegen muss, ob er den Ort- und damit den Teilchencharakter oder den Impuls- und damit den Wellencharakter eines Elementarteilchens messen will, nimmt er bereits Einfluss auf die Beobachtung.24 Da, so Bohr, aufgrund || 21 Vgl Klaus Mainzer: Art. „Unschärferelation“, in: Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie Bd. 4, hrsg. v. Jürgen Mittelstraß, Stuttgart, Weimar 1996, S. 423–425 u. Ingold: Quantentheorie, S. 37 f. u. 74 f.; zum Planck’schen Wirkungsquant vgl. ebd., S. 16–19. 22 Emter, Literatur und Quantentheorie, S. 43. „Nicht unzureichende Messungsinstrumente oder ungenügendes Wissen, sondern die Eigenschaften der Natur selbst hindern daran, daß genaue Voraussagen über den Weg, den ein einzelnes Elektron oder Photon nimmt, gemacht werden können“ (ebd., S. 42). „Die Phänomene selbst zwingen zur Statistik“ (ebd., S. 43). 23 Werner Heisenberg: Über den anschaulichen Inhalt der quantenmechanischen Kinematik und Mechanik, in: Zeitschrift für Physik 43 (1927), S. 172–198, hier S. 197. 24 „Nun bedeutet aber das Quantenpostulat, daß jede Beobachtung atomarer Phänomene eine nicht zu vernachlässigende Wechselwirkung mit dem Messungsinstrument fordert, und daß man also weder den Phänomenen noch dem Beobachtungsmittel eine selbständige physikalische Realität im gewöhnlichen Sinne zugeschrieben werden kann. Überhaupt enthält der Begriff der Beobachtung eine Willkür, indem er wesentlich darauf beruht, welche Gegenstände

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„der nicht zu vernachlässigenden Wechselwirkung mit dem Meßmittel bei jeder Beobachtung ein ganz neues unkontrolliertes Element hinzu[kommt]“, die Unabhängigkeit zwischen physikalischem Geschehen einerseits und Beobachtungsvorgang andererseits also nicht mehr gegeben und damit auch von einem lückenlosen Ursache-Wirkungszusammenhang nicht mehr die Rede sein kann, sieht Bohr die Objektivierbarkeit und Determiniertheit des Naturgeschehens an sich in Frage gestellt.25 Damit behauptet er keinesfalls, dass im mikrophysikalischen Bereich Gesetzlosigkeit und bloßer Zufall vorherrschen würden – auch die Quantenmechanik beruht auf erkennbaren Gesetzmäßigkeiten und lässt Voraussagen auf mögliche Beobachtungsergebnisse zu –, ebenso wenig wird die Gültigkeit der klassischen Physik für den makrophysikalischen Bereich und damit für unsere Erfahrungswirklichkeit angezweifelt, sehr wohl jedoch erfährt das streng deterministische, kausal-mechanistische Weltbild, das im Kausalitätsgesetz ein a priori gegebenes Naturgesetz von unfehlbarer Gültigkeit gesehen hat, eine Einschränkung und Relativierung. Die Kopenhagener Deutung der Erkenntnisse der Quantenphysik und die vielzähligen weiteren Interpretationen, die durch sie wiederum provoziert wurden, müssen als wichtige Zwischenstufen im Prozess des Transfers von Wissenschaft in Literatur gesehen werden. Es mag wenig erstaunen, dass z.B. Bohrs Verneinung einer „selbständigen physikalischen Realität“26 oder Heisenbergs Feststellung, „daß man die Entstehung der klassischen [Elektronen-] ‚Bahn‘ prägnant so formulieren kann: Die ‚Bahn‘ entsteht erst dadurch, daß wir sie beobachten“,27 Anlass boten, die Quantentheorie des Idealismus zu verdächtigen.28

|| mit zu dem beobachtenden System gerechnet werden“ (Niels Bohr: Das Quantenpostulat und die neuere Entwicklung der Atomistik [1927/28], in: Die Naturphilosophie 16 [1928], H. 15, S. 245–257, hier S. 245). 25 Im Zusammenhang mit Einsteins Vorwurf, Bohrs Deutung sei subjektivistisch, weist Paul Erbrich darauf hin, dass beide unter „objektiv“ möglicherweise etwas anderes verstanden haben: Für Bohr bedeute „objektiv“ eigentlich nur „intersubjektiv“, also lediglich die Unabhängigkeit davon, wer etwas beobachte, während für Einstein nur objektiv sei, was auch unabhängig von der Existenz eines Beobachters sei (Paul Erbrich: Zufall. Eine naturwissenschaftliche Untersuchung, Berlin 1988, S. 37). Nichtsdestotrotz wurde, so Kanitschneider, die positivistische Sicht auf die Erkenntnisse der Quantenmechanik im Laufe der Jahre zunehmend durch eine „starken Willen zur intersubjektiven Objektivität“ ersetzt (Kanitschneider: Wissenschaftstheorie der Naturwissenschaften, S. 174). 26 Bohr: Das Quantenpostulat und die neuere Entwicklung der Atomistik, S. 245. 27 Heisenberg: Über den anschaulichen Inhalt der quantenmechanischen Kinematik und Mechanik, S. 185. 28 Deutungen der modernen Physik im Kontext idealistischer Ideen unternahmen z.B. Arthur Stanley Eddington (Das Weltbild der Physik und ein Versuch seiner philosophischen Deutung,

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Doch wie dem auch sei, fest steht, dass die revolutionären Einsichten der Physik die Neudeutung konventioneller Begriffe wie Wirklichkeit, Objektivität und wissenschaftliche Erkenntnis notwendig machten. So gewinnt für Heisenberg die ‚Wahrscheinlichkeit‘ den Status einer „neuen Art von ‚objektiver‘ physikalischer Realität“29. In seiner näheren Bestimmung greift Heisenberg explizit auf den aristotelischen Begriff der Möglichkeit, der potentia, zurück, den er freilich aufgrund der mathematisch-funktionalen Beschreibbarkeit der Wahrscheinlichkeit in der Form einer Wellenfunktion vom Qualitativen ins Quantitative gewendet sieht. Während das Wahrscheinliche oder Mögliche als das eigentlich Objektive, d.h. als das von der Beobachtung Unabhängige und die gesamte Wirklichkeit Umfassende erscheint, kann das Faktische, also das, was nach altem Verständnis als Wirklichkeit schlechthin galt, im mikrophysikalischen Bereich nur als ein Geschehen des Übergangs vom Wahrscheinlichen zum Faktischen aufgefasst werden, wobei dieses Geschehen nur „während der Beobachtung statt[findet]“, also „sobald die Wechselwirkung des Gegenstandes mit der Messanordnung, und dadurch mit der übrigen Welt, ins Spiel gekommen ist“30. Wenn das Faktische also nicht in einem ontologischen Sinne ist, sondern erst durch den Akt der Registrierung geschieht, dann ist damit auch die „Illusion“ der klassischen Physik preisgegeben, wir könnten die Welt beschreiben, „ohne von uns selbst zu sprechen“31. In der Konsequenz bedeutet das für Heisenberg || Braunschweig 1931), Bela Fogarasi (Kritik des physikalischen Idealismus, Berlin 1953), Horst B. Hiller (Die modernen Naturwissenschaften, Stuttgart 1974, S. 125 f.), Franco Selleri (Die Debatte um die Quantentheorie, Braunschweig ³1990, S. 159–167). Vgl. auch Heisenbergs eigene Stellungnahme zum Idealismus: Das Argument des Idealismus, dass gewisse Vorstellungen a priori, d.h. insbesondere auch vor aller Naturwissenschaft seien, bestehe zu Recht. Die Ontologie des Materialismus habe auf der Illusion beruht, dass man die Art der Existenz, das unmittelbar Faktische der uns umgebenden Welt, auf die Verhältnisse im atomaren Bereich extrapolieren könne. Diese Extrapolation sei unmöglich (Werner Heisenberg: Die Entwicklung der Deutung der Quantentheorie, in: Die Deutungen der Quantenphysik, hrsg. v. Kurt Baumann u. Roman U. Sexl, Braunschweig, Wiesbaden 1984, S. 140–155, hier S. 140). 29 Heisenberg: Die Entwicklung der Deutung der Quantentheorie, S. 140. 30 Werner Heisenberg: Die Kopenhagener Deutung der Quantenphysik, in: ders.: Physik und Philosophie, Stuttgart 1959, S. 27–42, hier S. 38. Das vollständige Zitat lautet: „Der Übergang vom Möglichen zum Faktischen findet also während des Beobachtungsaktes statt. Wenn wir beschreiben wollen, was in einem Atomvorgang geschieht, so müssen wir davon ausgehen, daß das Wort ‚geschieht‘ sich nur auf die Beobachtung beziehen kann, nicht auf die Situation zwischen zwei Beobachtungen. Es bezeichnet dabei den physikalischen, nicht den psychischen Akt der Beobachtung, und wir können sagen, daß der Übergang vom Möglichen zum Faktischen stattfindet, sobald die Wechselwirkung des Gegenstandes mit der Messanordnung, und dadurch mit der übrigen Welt, ins Spiel gekommen ist.“ 31 Ebd., S. 38.

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nichts anderes als dass „das, was wir beobachten, nicht die Natur selbst ist, sondern Natur, die unserer Art der Fragestellung ausgesetzt ist“32. Das Naturbild der exakten Naturwissenschaft bezieht sich also nicht mehr auf die Natur ‚an sich‘, sondern auf unsere Beziehungen zur Natur. Dass damit der naturwissenschaftlichen Erkenntnis eine klare Grenze gesetzt ist, geht aus einer Replik Heisenbergs auf die Kritiker der Kopenhagener Deutung hervor: Die Kritik an der Kopenhagener Deutung der Quantentheorie beruht ganz allgemein auf der Sorge, daß bei dieser Deutung der Begriff der ‚objektivrealen Wirklichkeit‘, der die Grundlage der klassischen Physik bildet, aus der Physik verdrängt werden könnte. Diese Sorge ist [...] unbegründet; denn das ‚Faktische‘ spielt in der Quantenphysik die gleiche, entscheidende Rolle wie in der klassischen Physik. Allerdings ist es in der Kopenhagener Deutung beschränkt auf die Vorgänge, die sich anschaulich in Raum und Zeit, d.h. in den klassischen Begriffen, beschreiben lassen, die also unsere ‚Wirklichkeit‘ im eigentlichen Sinne ausmachen. Wenn man versucht, hinter dieser Wirklichkeit in die Einzelheiten des atomaren Geschehens vorzudringen, so lösen sich die Konturen dieser ‚objektivrealen‘ Welt auf – nicht in dem Nebel einer neuen und noch unklaren Wirklichkeitsvorstellung, sondern in der durchsichtigen Klarheit einer Mathematik, die das Mögliche, nicht das Faktische, gesetzmäßig verknüpft. Daß die ‚objektiv-reale Wirklichkeit‘ auf den Bereich des vom Menschen anschaulich in Raum und Zeit Beschreibbaren beschränkt wird, ist natürlich kein Zufall. Vielmehr äußert sich an dieser Stelle die einfache Tatsache, daß die Naturwissenschaft ein Teil der Auseinandersetzung des Menschen mit der Natur und insofern vom Menschen abhängig ist.33

Heisenbergs praktischer Realismus34 reduziert die Gültigkeit der Vorstellung von einer „objektiv-realen Wirklichkeit“ auf Phänomene der anschaulichempirischen Welt; im mikrophysikalischen Bereich jedoch kann nicht mehr von einem ‚wirklichen Sein‘, sondern nur noch von einer „Möglichkeit oder einer Tendenz zum Sein“35 gesprochen werden. Diese Form des Möglich-Seins ist, wie Heisenberg mehrfach betont, einzig als mathematische Form, nämlich als Wahrscheinlichkeitsfunktion, beschreibbar.36

|| 32 Ebd., S. 41. Vgl. auch Heisenberg: Das Naturbild der heutigen Physik, S. 18. 33 Heisenberg: Die Entwicklung der Deutung der Quantenphysik, S. 71. 34 Zur Unterscheidung zwischen praktischem und dogmatischem Realismus vgl. Werner Heisenberg: Die Entwicklung der philosophischen Ideen seit Descartes im Vergleich zu der neuen Lage der Quantentheorie, in: ders.: Physik und Philosophie, S. 61–79, v.a. S. 68–70. 35 Werner Heisenberg: Die Quantentheorie und die Anfänge der Atomlehre, in: ders.: Physik und Philosophie, S. 43–60, hier S. 55. 36 Vgl. ebd., S. 56. Im ausdrücklichen Rekurs auf Platons Dialog Timaios sowie auf den pythagoreischen Satz ‚Alle Dinge sind Zahlen‘ kommt Heisenberg zu dem Schluss: „In der heutigen Quantenphysik können wir kaum daran zweifeln, daß die Elementarteilchen letzten Endes auch mathematische Formen sind, aber solche einer sehr viel komplizierteren und abstrakte-

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Gegenüber der klassischen Physik, deren Absolutheitsanspruch bezüglich ihrer Theorien untrennbar mit der Vorstellung eines ontologischen Zusammenhangs zwischen Naturgesetz bzw. Theorie und Natur verbunden war, tritt in der modernen Physik ein entscheidender Bedeutungswandel ein: Physikalische Theorien beziehen sich auf Gesetze, die nicht einer an sich seienden Materie auferlegt werden. Die materialistische Annahme, die die traditionelle Physik geprägt hat, daß Materie das Primäre sei und Naturgesetze das nachträglich Eingeführte, verkehrt sich in der heutigen Physik in das Gegenteil. Diese Umdrehung führt nun aber in letzter Konsequenz zu der Idee, daß Materie im Grunde Geist ist, und zwar Geist, insofern er sich der ‚Objektivierbarkeit‘ fügt.37

Die Entfernung von der Sinneswelt geht notwendig einher mit der zunehmenden Relevanz rein mathematischer Operationen, welche allein die Objektivierbarkeit der Ergebnisse verbürgen.38 In diesem Zusammenhang ist Viettas These zuzustimmen, wonach „in der modernen Physik nur jener abstrakt-konstruktivistische Charakter von Erkenntnis, der in der mathematisch-geometrischen Methode der rationalistischen Philosophie von Anfang an angelegt war, rein zutage tritt“.39 Darüber hinaus gilt es in Rechnung zu stellen, dass die klassischempiristische Physik im Rückgriff auf die mathematische Methode entgegen ihres eigenen Anspruchs immer schon durch einen impliziten Rationalismus gekennzeichnet ist.40 In der Konsequenz zeigt sich die Entwicklung von der klassischen zur modernen Physik nicht nur als revolutionärer Bruch, sondern ebenso als kontinuierliche Fortsetzung und zugleich Radikalisierung der rationalistischen Tradition.41 Es sind im wesentlichen zwei Tendenzen der rationalis-

|| ren Art“ (ebd., S. 56). Demzufolge, so Hillers Interpretation, stößt man bei der Suche nach den Baustoffen der Welt nicht auf eine naturgegebene Materie, deren Zustandsformen, die Elementarteilchen, mit Hilfe physikalischer Gesetze beschrieben werden können, sondern man stößt auf naturgegebene Gesetze, infolge derer sich die Elementarteilchen in den uns bekannten meßbaren Strukturen materialisieren (Hiller: Die modernen Naturwissenschaften, S. 126). 37 Walter Schulz: Philosophie in der veränderten Welt, Pfullingen ²1974, S. 127. 38 Vgl. ebd., S. 131. 39 Silvio Vietta: Neuzeitliche Rationalität und moderne literarische Sprachkritik. Descartes – Georg Büchner – Arno Holz – Karl Kraus, München 1981, S. 55. 40 Vgl. dazu Kapitel 1.2 (Metapher und Begriff: Wissenschaftskritik als Sprachkritik) in der vorliegenden Studie. 41 „Wenn man versucht, von der Situation in der modernen Naturwissenschaft ausgehend, sich zu den in Bewegung geratenen Fundamenten vorzutasten, so hat man den Eindruck, daß man die Verhältnisse vielleicht nicht allzu grob vereinfacht, wenn man sagt, daß zum erstenmal im Laufe der Geschichte der Mensch auf dieser Erde nur noch sich selbst gegenübersteht“ (Heisenberg: Das Naturbild der heutigen Physik, S. 17).

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tisch ‚infiltrierten‘ empiristischen Naturwissenschaft, die in der neuen Physik ihren Höhepunkt erreichen: 1. die mit der galileisch-newtonschen Physik einsetzende Mathematisierung und Quantifizierung der Natur kulminiert in der neuen Physik in der Auflösung der Wirklichkeit in rein mathematischen Funktionsbestimmungen; damit vollendet sie auch die „Totaltransformation qualitativer Merkmale in quantitative Gesetzmäßigkeit“;42 2. die mit Descartes einsetzende Reduktion von Geist und Subjektivität auf die ratio im Sinne eines methodischen, abstrakt-begrifflichen Denkens kulminiert in der Auflösung des Menschen zu einem „Beobachter-Schema“, das „nicht Subjekt [ist], sondern objektives Moment der Verbindungsgeflechte, der Gefügeordnung“.43 Im Unterschied jedoch zu einer radikal empiristisch sich propagierenden Physik extrapolieren die Vertreter der neuen Physik den bis dahin verdrängten Rationalismus und den dadurch bedingten Verlust einer sinnlich und qualitativ erfahrbaren Wirklichkeit und rücken damit in die Nähe jener philosophischen und sprachphilosophischen Wissenschaftskritik, wie sie unter anderem Berkeley und Goethe an Newton geübt haben.44 Etwas überspitzt ließe sich sagen, dass wir es hier mit einer physikalischen Zweiweltenlehre zu tun haben: einerseits mit der empirisch-anschaulichen Welt, die nach wie vor auf den Grundpfeilern der klassischen Physik, nämlich Kausalität, Determinismus, Kontinuität und eines an den Gesetzen der binären Logik folgenden Subjekt-Objekt- bzw. Geist-Materie-Dualismus steht, andererseits mit der unanschaulichen, der Erfahrung sich entziehenden Welt der Elementarteilchen, deren Theoreme Potentialität, Wahrscheinlichkeit, Kontingenz, Doppeldeutigkeit, Unstetigkeit, Unbestimmtheit und Subjektivität bis dahin (und immer noch) eher im Kontext der Geisteswissenschaften und der Literatur als im Kontext der hard sciences anzutreffen sind. Aus der Perspektive der Literatur birgt diese Ambivalenz des physikalischen Welt- und Wirklichkeitsbegriffs eine enorme Sprengkraft, werden hier im weitesten Sinne doch zwei miteinander unversöhnbare Weltbildtypen unter der einen Wissenschaftsdisziplin Phy-

|| 42 Vgl. Vietta: Neuzeitliche Rationalität, S. 56 u. 55. Vgl. Heisenberg: „Das Atom der modernen Physik kann zunächst nur symbolisiert werden durch eine partielle Differentialgleichung in einem abstrakten vieldimensionalen Raum; erst das Experiment, das der Beobachter an ihm vornimmt, erzwingt von dem Atom die Angabe eines Ortes, einer Farbe, einer Wärmemenge. Für das Atom der modernen Physik sind alle Qualitäten abgeleitet, unmittelbar kommen ihm überhaupt keine materiellen Eigenschaften zu; das heißt jede Art von Bild, das unsere Vorstellung vom Atom entwerfen möchte, ist eo ipso fehlerhaft“ (Werner Heisenberg: Wandlungen in den Grundlagen der Naturwissenschaft. Zehn Vorträge, Stuttgart 1973, S. 23). 43 Schulz: Philosophie, S. 134. 44 Vgl. dazu Kapitel 1.2 (Metapher und Begriff) in vorliegender Studie.

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sik subsumiert. Das eminente Irritations- und Provokationspotential, das die damalige Leitwissenschaft Physik für die Literatur bereitstellt, erhellt sich aus eben dieser Koexistenz zweier Wirklichkeitsauffassungen, deren eine eher eine materialistische, monolithisch-geschlossene Weltsicht mit Tendenz zu dogmatischer Eindeutigkeit, substantieller Konstanz und absoluter Verbindlichkeit repräsentiert, deren andere – und dies demonstriert bereits die Kopenhagener Interpretation der Quantenphysik – sich eher durch einen entsubstantialisierten, entmaterialisierten und (treibt man die Deutung Heisenbergs auf die Spitze) konstruktivistisch-poietisch je herzustellenden Gegenstandsbereich auszeichnet und der aufgrund der ihr gleichsam ‚impliziten Alterität‘ eine Disposition zur Vieldeutigkeit,45 Offenheit, Nicht-Identität und damit ein durchaus dichtungsaffiner Zug eigen ist.46 Vor dem skizzierten Hintergrund mag es kaum erstaunen, dass gerade die Vertreter der neuen Physik ihre Leistung nicht nur als eine wissenschaftliche, sondern ebenso als eine künstlerisch-ästhetische ausweisen. Das Naturschöne, das mit der Entdeckung der mikrophysikalischen Welt sinnlich nicht mehr wahrgenommen werden kann, findet nun in der Gestalt ‚schöner‘ Theorien, Modelle und Formeln seinen Ausdruck: „Die Schönheit der Natur spiegelt sich

|| 45 Terminologische Anleihen wurden hier bei Hans Blumenberg gemacht. Vgl. Hans Blumenberg: „Wirklichkeitsbegriff und Wirkungspotential des Mythos“, in: Terror und Spiel. Probleme der Mythenrezeption, hrsg. v. Manfred Fuhrmann, München 1971, S. 11–66, hier S. 12 u. 20. – An der Tatsache, dass sich die Physiker in zwei Lager spalteten – das eine, vor allem vertreten durch Einstein, Planck, Schrödinger und de Broglie, hielt an der „Überzeugung von einer unabhängig existierenden Außenwelt, die objektiv und kausal beschreibbar ist“ (Emter, Literatur und Quantentheorie, S. 60), fest, das andere, vertreten u.a. durch Heisenberg, Born und Bohr, akzeptierte das durch die Atomphysik erzeugte Dilemma –, lässt sich das ganze Ausmaß dieser ‚Zweiweltenlehre‘ ablesen. 46 Vgl. auch Carten Könneker: „Aus kulturwissenschaftlicher Perspektive stellte die Entwicklung der modernen [Relativitäts- und Quanten-] Physik eine Fiktionalisierung der Physik dar, und damit ist gemeint, daß […] die Wissenschaft als solche literarisch geworden war. […] In der Kopenhagener Deutung wurde der Abschied von der klassischen „Wirklichkeit‘ dann geradezu zelebriert, der ultimative Durchbruch der Kategorie ‚Möglichkeit‘ in die Phalanx der ‚harten‘ Wissenschaften. [...] Nicht zuletzt der Prägung der literarischen Praxis durch die physikalisierte Möglichkeitskategorie ist es [...] zuzuschreiben, daß heute als das eigentliche ‚Prinzip der Moderne in Kunst und Literatur‘ die ‚reine Möglichkeit‘ angeführt wird“ (Carsten Könneker: Auflösung der Natur Auflösung der Geschichte. Moderner Roman und NS-„Weltanschauung“ im Zeichen der theoretischen Physik, Stuttgart, Weimar 2001, S. 109 ff.). Die Frage nach dem fiktiven Charakter der Wissenschaft habe, so Einstein, nur eine Antwort: „Alle Wissenschaft ist Fiktion“ (Albert Einstein: Mein Weltbild, hrsg. v. Carl Seelig, Berlin 1959, S. 113).

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auch in der Schönheit der Naturwissenschaft.“47 Mag man diese Form des wissenschaftsästhetischen Selbstverständnisses auch als Koketterie abtun, so steht dahinter die gerade von den Vertretern der Kopenhagener Schule sehr ernst diskutierte Frage nach einer adäquaten Wissenschaftshermeneutik und damit nach einer adäquaten wissenschaftssprachlichen Repräsentation solcher ‚Phänomene‘, die sich sowohl der sinnlichen Anschauung als auch einer auf Präzision und semantische Eindeutigkeit angelegten konventionellen Begriffssprache verweigern. Die „Sprache in der Quantenphysik“, so Niels Bohr, kann „nur ähnlich gebraucht werden […] wie in der Dichtung“; in beiden gehe es darum, „Bilder im Bewusstsein des Hörers zu erzeugen und gedanklich Verbindungen herzustellen“. Ähnlich argumentiert auch Heisenberg, wenn er an die Kunst appelliert, an der Umsetzung wissenschaftlicher Konzepte mitzuwirken, denn eine Theorie sei nur dann wirklich verstanden, wenn sie in einer verständlichen Sprache ausgedrückt werden kann.48 Diese Bemerkungen sind für eine Verhältnisbestimmung von Literatur und Naturwissenschaft mehrfach bedeutsam. Ersichtlich wird zunächst ein direkter und zugleich paradoxer Zusammenhang zwischen Naturauffassung und Ästhetik49: Die Einsicht, dass die Naturwissenschaft nicht mehr von der Welt handle, die sich uns unmittelbar darbietet, „sondern von einem dunklen Hintergrund dieser Welt, den wir durch unsere Experimente ans Licht bringen“,50 korreliert zum einem mit einem Entzug des Ästhetischen in der wörtlichen Bedeutung des sinnlich Wahrnehmbaren und Anschaulichen, zum anderen mit einem Entzug anschaulicher Begriffssprache.51 Zugleich ist gerade in dieser De-Ästhetisierung des wissenschaftlichen Gegenstands ‚Natur‘ und der damit verbundenen Abstraktionssteigerung der wissenschaftlichen Begriffe52 ein maßgeblicher Impetus

|| 47 Werner Heisenberg: Die Bedeutung des Schönen in der exakten Naturwissenschaft, in: ders.: Gesammelte Werke, Abt. C, Bd. 3: Physik und Erkenntnis 1969–1976, hrsg. v. Walter Blum, Hans-Peter Dürr u. a., München, Zürich 1985, S. 369–384, hier S. 369. 48 Vgl. Werner Heisenberg: Physik und Philosophie, Frankfurt, Berlin 1959 , S. 142 u. 150. 49 Ästhetik im Wortsinn von Wahrnehmung, im philosophischen Sinn als die Lehre vom Schönen und im literarischen Sinn als spezifischer Modus sprachlicher Darstellung und Wirkungsweise. 50 Werner Heisenberg: Die Goethe’sche und die Newton’sche Farbenlehre im Lichte der modernen Physik, in: ders.: Gesammelte Werke, Abt. C, Bd. 1: Physik und Erkenntnis 1927–1955, München, Zürich 1984, S. 261–275, hier S. 270. 51 „Die Natur“, so Heisenberg, „entzieht sich also der genauen Festlegung in unseren anschaulichen Begriffen durch die unvermeidliche Störung, die mit jeder Beobachtung verbunden ist“ (ebd., S. 272). 52 De-Ästhetisierung der Natur und Abstraktheit der sie beschreibenden Begriffssprache vollziehen sich parallel: „Die verfeinerte Beobachtungstechnik brachte neue Seiten der Natur

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für die Ästhetisierung dieser ‚Natur‘ und der sie erforschenden, sie allererst „ans Licht bringen[den]“ Physik zu sehen. Nicht zufällig rückt dabei die Sprache ins Zentrum der Auseinandersetzung, stellen die quantenmechanischen ‚Phänomene‘ in erster Linie vor ein sprachliches Vakuum, das „mit unseren anschaulichen Begriffen“53 nicht mehr zu füllen ist. Die Aufmerksamkeit richtet sich folglich auf jene Sprache, der seit jeher die Kompetenz zugeschrieben wird, gerade dem Uneindeutigen, ‚Unscharfen‘ und ‚Unbestimmten‘ seinen adäquaten Ausdruck verleihen zu können. Die Probleme und Grenzen der traditionellen Wissenschaftssprache führen damit umgekehrt zu einer Aufwertung künstlerischer Ausdrucksmöglichkeiten. Ohne dabei das hierarchische Gefälle zwischen Naturwissenschaft und Kunst aufzuheben – gerade Heisenbergs Äußerung impliziert die Gefahr einer möglichen Verzweckung und Instrumentalisierung der Kunst zur bloßen antilla scientiae –, wird der Kunst eine hermeneutische Funktion zuerkannt, deren pragmatische Einlösung zwar im Wesentlichen auf die bildhaft-anschauliche Konkretisation abstrakt-unanschaulicher theoretischer Konzepte beschränkt ist, deren wissenschaftlicher Zweck aber den einer bloß didaktisch konnotierten Übersetzungs-, Veranschaulichungs- und Vermittlungsgehilfin übersteigt. Die von Bohr angesprochene Fähigkeit der Sprache, Assoziationen auszulösen und durch die Herstellung von Bildern und Verbindungen das Unanschauliche der sinnlichen Vorstellbarkeit zu eröffnen, gewährleistet die Rückbindung der unanschaulichen Quantenwelt an die sinnliche Erfahrungswelt. Der dichterischen Sprache fällt damit die Aufgabe zu, die vielen ineinandergreifenden „Schichten der Wirklichkeit“54 in ihrem Zusammenhang aufzuzeigen. Vor allem aber avanciert hier die Kunst zum Prüfstein dafür, ob und inwieweit theoretische Konzepte auch tatsächlich verstanden sind und entsprechend als Erkenntnisse ausgewiesen werden können. Die Übersetzbarkeit wissenschaftlicher Theorien in die Sprache der Kunst (von Heisenberg offensichtlich als selbstverständlich vorausgesetzt) wird hier zum Indikator ihrer hermeneutischen Durchdringung und – in logischer Fortführung dieses Gedankens – zum Indikator ihres Erkenntnisgehalts. Als Ort naturwissenschaftlicher Selbstprüfung und Selbstbefragung ist die Kunst zugleich ein Ort epistemologischer Reflexion und Legitimation.

|| ans Licht, die unserer Anschauung verborgen bleiben, und im gleichen Maße wurden die Begriffe, mit denen die Naturwissenschaft arbeitet, abstrakter und unanschaulicher“ (ebd., S. 268). 53 Ebd., S. 272. 54 Ebd., S. 267.

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Mit dieser von Bohr und Heisenberg nahegelegten oder vielmehr postulierten wechselseitigen Einflussnahme von Literatur und Naturwissenschaft sind die ‚klassischen‘ Kernprobleme dieses Verhältnisses nicht gelöst, sondern stehen erneut zur Disposition.55 Die durch die neue Physik notwendig gewordene und von ihren ‚Revolutionären‘ selbst ausgetragene erkenntnistheoretische Auseinandersetzung mit deren Errungenschaften ist von einer sprachphilosophischen – und das meint hier vor allem begriffskritischen – und hermeneutischen Reflexion, die zugleich einhergeht mit einer gesteigerten Selbstreflexivität, nicht zu trennen.56 Die begrifflich-definitorischen Grenzen dessen, was ‚Wirklichkeit‘, ‚Natur‘, ‚Substanz‘, ‚Kausalität‘, ‚Subjektivität‘, ‚Objektivität‘ und nicht zuletzt eben auch ‚Wissenschaft‘ im Kern ausmachte, gesprengt, ihre epistemologisch besetzte Semantik aufgebrochen und damit auch das philosophische, wissenschaftliche und ästhetische Bemühen um ihre Neubestimmung unter den veränderten Bedingungen ermöglicht zu haben, gehört zu den unfreiwilligen und aus literarhistorischer Sicht auch zu den folgenreichsten Nebeneffekten, die mit den Errungenschaften der Relativitätstheorie und der Quantenmechanik einhergingen. Epistemisches Wissen, einst versehen mit dem

|| 55 Davon berührt sind vor allem Probleme der Wissenschaftssprache, konkret also Fragen nach dem ontologischen Status von wissenschaftlichen Modellen, Theorien und Konzepten, nach den Bedingungen ihrer Rezipierbarkeit, nach der Rhetorisierung und Metaphorisierung naturwissenschaftlicher Sprache, nach der Vermittlungs- und Erkenntnisfunktion von Fiktionen im Rahmen der Präsentation und Repräsentation naturwissenschaftlichen Wissens usf. 56 Dass die literarisch produktive Rezeption naturwissenschaftlicher Diskurse gerade im 20. Jahrhundert eine Hochkonjunktur erlebt, verdankt sich einer „sozialen und ideologischen Krise“ (Heinz Schlaffer: Poesie und Wissen. Die Entstehung des ästhetischen Bewusstseins und der philologischen Erkenntnis, Frankfurt/M. 1990, S. 235), ebenso aber einer durch die Erkenntnisse der neuen Physik mit ausgelösten und von ihren prominentesten Vertretern auch erkenntnis- und sprachphilosophisch reflektierten Krise der Begriffs- und Urteilssprache und – damit zusammenhängend – einer Krise eingespielter Wirklichkeitsvorstellungen. Exemplarisch ist diese Begriffs- und Urteilskrise und die damit aufs engste verknüpfte Krise humanen Selbstbewusstseins in Hugo von Hofmannsthals Chandos-Brief literarisch dokumentiert und als vorläufiger Endpunkt des rational-empirischen Erkenntnisparadigmas (repräsentiert durch den Adressaten des Briefes, Francis Bacon) ausgewiesen. Ferner scheint die Vermutung naheliegend, dass die Verdrängung der konkret-anschaulichen Natur die Verlagerung des künstlerischen Interesses vom Gegenstand ‚Natur‘ auf den Gegenstand ‚Naturwissenschaft‘ entscheidend begünstigt hat. Der Vorstoß nicht nur ins Unendliche, sondern auch ins Unanschauliche und damit ins Stoff- und Körperlose – Botho Strauß spricht von der „Beraubung der Wahrnehmung“ (Botho Strauß, Paare, Passanten, München 1984, S. 178) – kann darüber hinaus als ein gewichtiges Movens für die synkretistische Verschmelzung von Mathematik/Physik und Metaphysik/Mystik einerseits, von Mathematik/Physik und Erotik/Sexualität andererseits angenommen werden, wie sie für viele Werke der Moderne und Postmoderne typisch ist.

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Nimbus eines zeitlosen, absoluten und objektiven Gültigkeitsanspruchs, ist nun seinerseits dem Verdikt der Relativität und Fiktionalität ausgesetzt. Durch ihre eigenen Erkenntnisse provoziert, öffnet sich die Physik für fundamentale philosophische und ästhetische Fragestellungen. Diese werden jedoch nicht von außen an sie herangetragen, vielmehr werden die ihr immer schon eigenen, aber zumeist verdrängten impliziten Fragen durch eben diese Erkenntnisse selbst expliziert.

1.1.2 Der Antipositivismus der Wissenschaftsgeschichte und -theorie Auch selbstreflexive Prozesse in Wissenschaftstheorie und -geschichte regen maßgeblich dazu an, dass scheinbar fraglos gültige wissenschaftliche Prämissen und Paradigmen hinterfragt und das Verhältnis von naturwissenschaftlichen und kulturellen Ausprägungen humaner Rationalität neu bestimmt werden. Bereits der kritische Rationalismus Karl Poppers lehrt, dass wissenschaftlicher Fortschritt nicht auf dem kontinuierlichen Fortschreiten induktiv, also empirisch-experimentell gewonnener Einzelerkenntnisse zu einem universalen Wissen beruht, sondern dass das Kennzeichen der Wissenschaft vielmehr in der experimentellen Falsifizierbarkeit wissenschaftlicher Aussagen zu sehen ist (auch wenn diese logisch betrachtet wahr sind), Fortschritt also auf dem Prinzip von Versuch und Irrtum basiert.57 Auch wissen wir spätestens seit den wissenschaftstheoretischen Arbeiten von Thomas S. Kuhn, dass die Grundlage einer Wissenschaft kein System zeitlos, allgemeingültiger, von einer Universalvernunft einsehbarer Ideen oder Axiome ist, sondern jeweils das Konstrukt einer bestimmten Epoche der Wissenschaft darstellt, folglich „Wissenschaft durch die enge Bindung an ein Paradigma definiert [ist], das die für die Wissenschaftlergemeinschaft fundamentale forschungsleitende Theorie, Annahmen, Prinzipien, Verallgemeinerungen, ferner Begriffe, Definitionen, Regeln, Naturgesetze und einen bestimmten Bestand kanonisierten Wissens enthält“.58 Nicht

|| 57 Vgl. Karl R. Popper: The Logic of Scientific Discovery [1959], New York 1968, S. 50 u. 59. Instruktiv dazu auch John Neubauer: Models for the History of Science and of Literature, in: Science and Literature, hrsg. v. Harry R. Garvin, London, Toronto 1983, S. 17–37, hier S. 18 f. 58 Carl F. Gethmann: Art. „Wissenschaft, normale“, in: Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, Bd. 4, Stuttgart, Weimar 1996, S. 722–724, hier S. 722. Für den wissenschaftlichen Fortschritt maßgeblich ist „the role of competing schools and of incommensurable traditions, of changing standards in value, and of altered modes of perception“ (Thomas S. Kuhn: Comment on the Relations of Science and Art, in: ders.: The Essential Tension: Selected Studies in Scientific Tradition and Change, Chicago 1977, S. 340–351, bes. 340, dt.: Bemerkun-

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zuletzt stehen auch solche Wissenschaftsauffassungen nicht mehr ernsthaft in Frage, die, wie etwa Paul Feyerabend oder Larry Laudan, davon ausgehen, dass alle wissenschaftlichen Erkenntnisprozesse von nicht-wissenschaftlichen Ideen, Glaubensinhalten und Weltanschauungen beeinflusst und neben den rationalen immer auch von psychologischen und soziologischen Faktoren mitgeprägt sind,59 oder die, wie etwa bei Imre Lakatos und Laudan, den Mythos von einer monolithisch progredierenden Naturwissenschaft durchkreuzen, indem sie deren Fortschritt immer schon durch koexistierende und entsprechend miteinander konkurrierende Forschungsmethoden und -theorien gewährleistet sehen.60 Dabei geht es in den hier exemplarisch angeführten Positionen keineswegs darum, die je spezifischen Leistungen, Verfahrensweisen, Erkenntniswege und Darstellungsmodi unterschiedlicher Wissensformationen zu leugnen, erst Recht nicht die Differenzen zwischen Wissenschaft und Kunst zugunsten einer pseudo-romantischen Identifikation beider zu verwischen; vielmehr geht es darum, die theoretischen und praktischen Voraussetzungen von Wissen und Wissenschaft kritisch zu reflektieren und gleichsam in Fortsetzung der kritischaufklärerischen Philosophie die Bedingungen der Möglichkeit rational gesicher-

|| gen zum Verhältnis von Wissenschaft und Kunst, in: ders.: Die Entstehung des Neuen. Studien zur Struktur der Wissenschaftsgeschichte, hrsg. v. Lorenz Krüger, Frankfurt/M. 41992, S. 446– 460). – Zu einer wissenschaftlichen Revolution kommt es nach Kuhn dann, wenn „unlösbare Probleme, die der herrschenden Theorie zuwiderlaufen (= Anomalie)“, nicht länger ignoriert werden können, wenn also die „innerhalb der Reglementierungen der normalen Wissenschaft überlicherweise angewendeten Verfahren mit Regelmäßigkeit versagen“ und damit „die normale Wissenschaft in eine außerordentliche Wissenschaft oder in einen Krisenzustand über[geht]“ (Gethmann: Art „Wissenschaft, normale“, S. 723). Vgl. dazu Thomas S. Kuhn: The Structure of Scientific Revolutions, Chicago 1962, dt. Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Frankfurt/M. 1967 (im Folgenden zitiert unter der Sigle S), bes. S. 162 sowie ders.: Comment on the Relations of Science and Art, S. 340. Dazu Neubauer: „This suggests that one may identify the differences between arts and the sciences by studying how the professional education of scientists forges an essentially conservative temperament and how artists, on the other hand, are taught to prize ‚innovation for innovation’s sake‘. It looks as if the premium placed on innovation prevented the arts from progressing“ (Neubauer: Models of the History of Science and Literature, S. 31). 59 Vgl. dazu Neubauer: Models for the History of Science and of Literature, S. 26. 60 Nach Laudan „virtually every major period in the history of science is characterized [...] by the co-existence of numerous competing paradigms“ (Larry Laudan: Progress and its Problems: Towards a Theory of Scientific Growth, Berkeley 1977, S. 74, vgl. auch S. 134 ff.). Lakatos konstatiert: „It is not that we propose a theory and Nature may shout no, rather, we propose a maze of theories and Nature may shout inconsistent“ (Imre Lakatos: Falsification and the Methodology of Scientific Research Programmes, in: Criticism and the Growth of Knowledge, hrsg. v. Imre Lakatos u. Alan Musgrave, London 1970, S. 91–195, hier S. 132).

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ter Erkenntnis auszuloten und damit die Grenze zu anderen Wissens- und Erkenntnisformen zu bestimmen. Bei allen Unterschieden in den Versuchen, diese Grenze jeweils neu und anders zu ziehen – sei es auf der Grundlage eines kritischen Rationalismus, der den Unterschied zwischen wissenschaftlichen und pseudo- oder nichtwissenschaftlichen Aussagen in der experimentellen Falsifizierbarkeit ersterer sieht, sei es, wie im Falle Kuhns, auf der soziologischen Annahme von der Einzigartigkeit institutioneller Aspekte der wissenschaftlichen Ausbildung, Arbeit und Praxis,61 oder sei es, wie im Falle von Lakatos und Laudan, auf der Einsicht, dass Wissenschaft zwar von ganz verschiedenen Faktoren beeinflusst ist, ja dass, wie Laudan einräumt, zwischen Wissenschaft und Literatur strukturelle, thematische und ideationale Verbindungen vorhanden sind, rationale Erklärungen in der Wissenschaft jedoch immer noch Priorität vor allem anderen haben –,62 scheint mit diesen Bestimmungsversuchen eine Verunsicherung des vermeintlichen fundamentum inconcussum wissenschaftlicher Erkenntnis und eine nachhaltige Skepsis gegenüber einem kumulativ und vernünftig sich vollziehenden, auf das Telos objektiver Wahrheit ausgerichteten Wissenschaftsfortschritt einherzugehen. Ihre gemeinsame Leistung ist vor allem darin zu sehen, dass sie die Wissenschaften für eine historische Perspektivierung und damit verbunden für philosophisch-hermeneutische und ästhetische Fragestellungen öffnen. Am Beispiel von Kuhn und Feyerabend soll dies im Folgenden etwas ausführlicher aufgezeigt werden. Die historische Betrachtung der Wissenschaft könnte, so Thomas S. Kuhn einleitend zu seinem Buch The Structure of Scientific Revolution, „eine entscheidende Verwandlung im Bild der Wissenschaft, wie es uns zur Zeit gefangen hält, bewirken.“ (S 17). In der Tat markiert Kuhns 1962 veröffentlichte Wissenschaftshistoriographie einen Meilenstein in der von ihm selbst prophezeiten „historiographischen Revolution im Studium der Wissenschaft“ (S 19) und bietet sich deshalb als Ausgangspunkt für eine systematischere Darstellung jener durch die Wissenschaft, die Wissenschaftstheorie und -geschichte sowie die Philosophie eröffneten Dialogmöglichkeiten zwischen Naturwissenschaften und Literatur bzw. Kultur an. In der revidierten Zweitauflage räumt Kuhn die Affinität dieser Bereiche ausdrücklich ein, wenn er die „Geschichtsschreibung der Literatur, Musik, bildenden Kunst, Politik und vieler anderer menschlicher Tätigkei-

|| 61 Vgl. Kuhn, Comment on the Relations of Science and Art, S. 350. 62 Vgl. Neubauer, Models for the History of Science and of Literature, S. 27 f.

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ten“63 als Matrix seiner eigenen Auffassung von der geschichtlichen Entwicklung der Wissenschaften ausweist. Dort gehöre die „Periodisierung durch revolutionäre Umbrüche von Stil, Geschmack und institutioneller Struktur“ schon seit langem zu den „Standardwerkzeugen“. Er habe nun nichts anderes getan, als diese in ästhetischen Bereichen bewährte Perspektive auf die Sphäre der Naturwissenschaften zu übertragen. Ganz im Unterschied zu einer solcherart kulturhistoriographisch inspirierten Wissenschaftsgeschichte beruht Kuhn zufolge das konventionelle, und das meint hier positivistisch geprägte Image der Wissenschaft und ihrer Entwicklung vor allem darauf, dass wissenschaftliche Lehrbücher ebenso wie die auf ihnen aufgebauten gemeinverständlichen Darstellungen und philosophischen Arbeiten „von den dauerhaften Folgen vergangener Revolutionen“ berichten und so die „Grundlagen der jeweiligen normal-wissenschaftlichen Tradition“ aufzeigen (S 182). Als „pädagogische Vehikel“ vermitteln Lehrbücher „das Vokabular und die Syntax einer aktuellen wissenschaftlichen Sprache“, klammern aber deren historische Gewordenheit aus, so dass die Geschichte der Wissenschaft „linear und kumulativ“ und „als eine sich geradlinig auf den gegenwärtigen Stand entwickelnde Disziplin“ erscheint (S 184). Das ‚Revolutionäre‘ einer historischen Betrachtung der Entwicklung der Wissenschaften besteht nun weniger darin, dass sie Verdrängtes zutage fördert, das lediglich von kulturhistorischer bzw. kulturanthropologischer Bedeutung wäre – gleichsam Randerscheinungen, welche die Wissenschaft in ihrer Substanz und Funktion nicht tangieren –, sondern dass dadurch im Gegenteil ‚Sachverhalte‘ aufgedeckt werden, die das positivistische Wissenschaftsbild im Kern destruieren und darüber hinaus eine klare Konzeptualisierung von Wissenschaft bis heute verunmöglichen. Einige dieser irritierenden Faktoren sollen im Folgenden kurz dargelegt werden. In Kuhns Strukturmodell der Wissenschaftsgeschichte ist Erkenntnis jeweils durch einen Weltbezug bedingt, der sich dem Bewusstsein des Wissenschaftlers entzieht: „Ein offenbar willkürliches Element, das sich aus zufälligen persönlichen und historischen Umständen zusammensetzt, ist immer ein formgebender Bestandteil der Überzeugungen, die von einer bestimmten wissenschaftlichen Gemeinschaft in einer bestimmten Zeit angenommen werden“ (S 21). Entsprechend steht der Begriff des Paradigmas nicht nur für „konkrete Problemlösungen, die, als Modelle oder Beispiele gebraucht, explizite Regeln als eine Basis für die Lösung der übrigen Probleme der normalen Wissenschaft

|| 63 Thomas S. Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, 2., rev. und um das Postskriptum von 1969 erg. Aufl., Frankfurt/M. 1976, S. 220.

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ersetzen können“, sondern in einem weiteren soziologischen Sinne „für die ganze Konstellation von Meinungen, Werten und Techniken usw., die von den Mitgliedern einer gegebenen Gemeinschaft geteilt werden“.64 Die eklatante Bedeutung, die Kuhn dem Faktor der Kontingenz für die wissenschaftliche Entwicklung zuschreibt, zeigt sich besonders im Übergang von einem krisenhaften Paradigma zu einem neuen. Die einer wissenschaftlichen Revolution notwendig vorausgehende Krise wird „nicht durch Überlegung und Interpretation, sondern durch ein relativ plötzliches und ungegliedertes Ereignis“ beendet (S 165):65 Wenn solche Intuitionen auch von der Erfahrung abhängen, sowohl der anomalen wie der kongruenten Erfahrung, die dank dem alten Paradigma erworben wurde, sind sie doch nicht logisch oder Punkt um Punkt mit besonderen Momenten dieser Erfahrung verbunden, wie es bei einer Interpretation der Fall wäre. Sie raffen vielmehr ganze Komplexe dieser Erfahrung zusammen und verwandeln sie in das ganz unterschiedliche Bündel von Erfahrungen, das dann Punkt um Punkt mit dem neuen Paradigma und nicht mehr mit dem alten in Beziehung gesetzt wird. (S 166)

Aber nicht nur die Entstehung neuer, sondern auch die Aneignung anerkannter Paradigmata im Verlauf des wissenschaftlichen Studiums ist an Prozesse gekoppelt, die sich der wissenschaftlichen Erklärung entziehen. So geschieht die Aneignung konkreter Problemlösungen, indem man lernt, in Problemen „Ähnlichkeitsbeziehungen“ zu sehen, also aus Problemen lernt, Situationen, die einander ähnlich und als Gegenstand für die Anwendung desselben Gesetzes oder derselben Skizze eines Gesetzes zu sehen. Diese erlernten Ähnlichkeitsbeziehungen sind später in einer Sehweise für physikalische Situationen mehr als in Regeln und Gesetzen verkörpert. Dabei geht dieser Lernprozeß nicht mit ausschließlich verbalen Mitteln vor sich, sondern im Zusammenspiel von gegebenen Formulierungen und konkreten Beispielen; Natur und Worte werden gemeinsam erlernt. Das Ergebnis dieses Prozesses ist ‚stillschweigendes Wissen‘, das durch die wissenschaftliche Betätigung und nicht durch Aneignung von Regeln erworben wird.66

Beim ‚stillschweigenden Wissen‘ haben wir keinen Zugang zum Inhalt unserer Kenntnis, es gibt keine Regeln oder Verallgemeinerungen, mit denen sich diese || 64 Thomas S. Kuhn: Postskript – 1969 zur Analyse der Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, in: Wissenschaftssoziologie I: Wissenschaftliche Entwicklung als sozialer Prozeß, hrsg. v. Peter Weingart, Frankfurt/M. 1973, S. 287–319, hier S. 287. 65 „Discovery“, so bereits Polanyi, „takes place […] by a process of spontaneous mental reorganization uncontrolled by conscious effort“ (Michael Polanyi: Science, Faith and Society. A searching examination of the meaning and nature of scientific inquiry with a new introduction by the author [1946], Chicago, London 1964, S. 34). 66 Kuhn: Postskript, S. 301.

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Kenntnis ausdrücken ließe. Vielmehr handelt es sich um ein unwillkürliches Erkennen, um einen „Prozeß, über den wir keine Kontrolle haben“.67 Wenn implizites Wissen einen unhintergehbaren Bestandteil jeglichen wissenschaftlichen Wissens darstellt – Polanyi, auf den die Formulierung „tacit knowing“ zurückgeht, beschreibt Intuition treffend als „the tacit coefficient of explicit scientific knowledge“68 –, dann geht damit nicht nur die Diskreditierung des positivistischen Exaktheits- und Objektivitätsideals einher,69 sondern umgekehrt auch eine Aufwertung aisthetischer, poietisch-kreativer und hermeneutischer Prozesse und nicht zuletzt die Wiedereinführung quasi-metaphysischer Deutungsmuster. So wie die Wissensbildung stets unter den Vorgaben einer jeweiligen Weltanschauung zu analysieren ist, so ist umgekehrt jede Weltanschauung durch bereits erworbenes Wissen präformiert. Analoges gilt für die Wahrnehmung von Welt: Auch diese ist nicht durch die Natur der Umwelt und des Wahrnehmungssystems ein für allemal fixiert, sondern ihrerseits paradigmabedingt: Was ein Mensch sieht, hängt sowohl davon ab, worauf er blickt, wie davon, worauf zu sehen ihn seine visuell-begriffliche Erfahrung gelehrt hat (S 153). Entsprechend sind wissenschaftliche Revolutionen von Wahrnehmungsverschiebungen begleitet, von einem „Sehen durch ein anderes Paradigma“ (S 172), die zugleich einen Wandel des Weltbildes darstellen. Diese Historisierung und Individualisierung des Verhältnisses von humaner aisthesis und Weltanschauung bindet sowohl die Bestimmung des wissenschaftlichen Gegenstandes ‚Natur‘70 als auch

|| 67 Kuhn: Postskript, S. 304 f. „Es ist eine Wissensweise, die man missversteht, wenn man sie nach Regeln rekonstruiert“. 68 Michael Polanyi: Science, Faith and Society, S. 13. 69 In aller Deutlichkeit zieht Polanyi die Konsequenz: „If explicit rules can operate only by virtue of a tacit coefficient, the ideal of exactitude has to be abandoned. What power of knowing can take its place? The power which we exercise in the act of perception“ (Ebd., S. 10). „The declared aim of modern science is to establish a strictly detached, objective knowledge. Any falling short of this ideal is accepted only as a temporary imperfection, which we must aim at eliminating. But suppose that tacit thought forms an indispensable part of all knowledge, then the ideal of eliminating all personal elements of knowledge would, in effect, aim at the destruction of all knowledge. The ideal of exact science would turn out to be fundamentally misleading and possibly a source of devastating fallacies. I think I can show that the process of formalizing all knowledge to the exclusion of any tacit knowing is self-defeating“ (Michael Polanyi: The Tacit Dimension [1966], Gloucester, MA 1983, S. 20). 70 Die Natur als Gegenstandsbereich naturwissenschaftlicher Forschung erscheint in dieser kulturhistorischen Betrachtung der Wissenschaft selbst als ein integraler Bestandteil humaner Kultur und nähert sich damit einem konstruktivistischen Naturbegriff. Dieser aus der Wissenschaftshistoriographie sich ergebende Befund – die Akkulturisation der Natur als des Gegen-

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die wissenschaftlichen Erkenntnisprozesse irreduzibel an das erkennende Subjekt zurück. Das Ideal einer objektivistisch-kognitivistischen ‚reinen‘ Wissenschaft, das seine Legitimität aus der Annahme einer allem subjektiven Zugriff vorgängigen natürlichen Ordnung der Dinge bezieht, die über die Anwendung methodisch geregelter Verfahren zur exakten Abbildung gebracht werden,71 ist damit nicht länger aufrechtzuerhalten. Neben Welt- und Subjektbezug gilt es in diesem Zusammenhang einen davon kaum zu trennenden dritten Aspekt anzusprechen, nämlich die unhintergehbare Sprachbezogenheit wissenschaftlicher Wissensbildungs- und Erkenntnisprozesse. Wenn Wahrnehmung paradigmabedingt ist, umgekehrt die Entstehung von Paradigmata von verschiedenen nicht-wissenschaftlichen Wissensformen mitgeprägt ist, dann kann die Entstehung wissenschaftlichen Wissens nicht länger auf eine abstrakte Logik zurückgeführt werden, die sich in einem Raum ‚reiner‘ Wahrnehmung und ‚reinen‘ Denkens vollzöge. Eine wissenschaftliche Revolution, so Kuhn, stellt nicht lediglich „eine Präzisierung oder eine Ausdehnung des alten Paradigmas“ dar, sondern bedeutet vielmehr den „Neuaufbau des Gebietes auf neuen Grundlagen, ein[en] Neuaufbau, der einige der elementarsten theoretischen Verallgemeinerungen des Gebiets wie auch viele seiner Paradigmenmethoden und -anwendungen verändert“ (S 119). Der Zwang, die Bedeutung von feststehenden und vertrauten Begriffen zu ändern, sei der Brennpunkt der revolutionären Wirkung z.B. der Einstein’schen Theorie (S 141): In diesem Fall sei die wissenschaftliche Revolution eine „Verschiebung des begrifflichen Netzwerks, durch welches die Wissenschaftler die Welt betrachten“ (S 141). Die Verschleierung der Existenz und Rolle von wissenschaftlichen Revolutionen in wissenschaftlichen und populärwissenschaftlichen Lehrbüchern manifestiert sich besonders im Gebrauch fachwissenschaftlicher Terminologie. Am Beispiel des Wortes „Element“ zeigt Kuhn, dass Verbaldefinitionen in der Regel keine logischen Spezifizierungen der Bedeutung sind, sondern eher pädagogische Hilfsmittel. Und er folgert: „Die wissenschaftlichen Begriffe, auf die sie hinweisen, erlangen ihre volle Bedeutung erst, wenn sie innerhalb eines Lehrbuchs oder einer anderen systematischen Darstellung zu anderen wissenschaftlichen Begriffen, zu Verfahrensweisen und ParadigmaAnwendungen in Beziehung gebracht werden“ (S 189). Theorien, die in Lehrbüchern angeboten werden, „passen zu den Tatsachen“, aber nur dadurch, dass

|| standsbereichs der Naturwissenschaft – sollte einer gemeinsamen Betrachtung mit dem aus der neuen Physik abgeleiteten Befund einer De-Ästhetisierung des wissenschaftlichen Gegenstandes ‚Natur‘ unterzogen werden. 71 Vgl. Richard Rorty: Philosophy and the Mirror of Nature, Princeton 1979.

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„vorher schon greifbare Informationen in Fakten umgewandelt werden, die für das vorangegangene Paradigma überhaupt nicht existiert hatten“ (S 187 f.). Damit weisen sie ein fiktionales Element auf, das zum einen darin besteht, dass der heuristisch-pädagogische Wert eines Terminus in einen logisch-propositionalen transformiert wird; zum anderen darin, dass diese Transformation unter dem Vorzeichen eines Als-ob geschieht, welches das frühere Paradigma immer schon im Lichte des aktuellen Paradigmas erscheinen lässt.72 Paul Feyerabend schließt mehrfach an Kuhns Ausführungen an, verleiht aber der ästhetischen Dimensionierung wissenschaftlicher Erkenntnis- und Entwicklungsprozesse ein schärferes Profil. Wissenschaftlicher Wandel, zunächst allgemein als die Verdrängung einer Tradition durch eine andere charakterisiert,73 beschreibt Feyerabend näherhin als die Ablösung eines Stilparadigmas durch ein anderes: Sowohl die Künste als auch die Wissenschaften hätten „eine Fülle von Stilen entwickelt, Prüfungsstile eingeschlossen“, folglich könne die „Entwicklung von einem Stil zu einem anderen“ in beiden Bereichen als analog betrachtet werden.74 Die Kategorie des ‚Stils‘ ist dabei jenes tertium comparationis, an dem Feyerabend die Äquivalenz von Wissenschaft und Kunst festmacht. „[K]ünstlerische Verfahren kommen überall in den Wissenschaften vor und besonders dort, wo neue und überraschende Entdeckungen gemacht werden.“75 Was Feyerabend hier unter Kunstverfahren und Kunststil versteht, klärt sich vor allem im Rückblick auf die von ihm angestellten Überlegungen in Against Method. Erkenntnisfortschritt, so die These des ersten Kapitels, verdankt sich nicht einem methodischen, d.h. „festen, unveränderlichen und absolut verbindlichen Grundsätzen“76 verpflichteten Betreiben von Wissenschaft, sondern der bewussten oder unbewussten Verletzung dieser Regeln. „Ein solches unvernünftiges, unsinniges, unmethodisches Vorspiel erweist sich […] als unerläßliche Vorbedingung der Klarheit und des empirischen Erfolgs.“77 Zu diesem „Vorspiel“ gehört auch die undurchschaubare und unkontrollierbare

|| 72 „Die Lehrbuchdarstellung lässt durchblicken, daß sich die Wissenschaftler seit Beginn des wissenschaftlichen Unternehmens um die bestimmten Ziele, die in den heutigen Paradigmata verkörpert werden, bemüht haben“ (S 186). 73 Vgl. Paul Feyerabend: Erkenntnis für freie Menschen. Veränderte Ausgabe, Frankfurt/M. 1980, S. 39. 74 Paul Feyerabend: Wissenschaft als Kunst, Frankfurt/M. 1984, S. 76. 75 Ebd., S. 8. 76 Paul Feyerabend: Against Method. Outline of an anarchistic theory of knowledge, London 1975; dt. Wider den Methodenzwang. Skizze einer anarchistischen Erkenntnistheorie, Frankfurt/M. 1976, S. 35. 77 Ebd., S. 42.

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Vielheit subjektiver und historischer Bedingungen, die den inneren Fortschritt der Wissenschaft und die Entwicklung der Kultur im Ganzen nicht nur notgedrungen begleiten, sondern überhaut erst ermöglichen.78 Ähnlich wie wenige Jahre nach ihm auch Lyotard legitimiert Feyerabend das der Vernunft Widerstreitende – Lyotard prägte dafür den Begriff der „paralogie“79 – als notwendiges Konstituens der Erkenntnis und eigentliche Triebfeder für einschneidende Veränderungen in Forschung und Technik. Dieser methodische „Anarchismus“80 propagiert indessen kein irrationales Vorgehen, sondern vielmehr die „liberale Praxis“,81 von der normativ gesteuerten Produktion wissenschaftlicher ‚Vernünftigkeit‘ abzuweichen. Der einzige Grundsatz, „der sich unter allen Umständen und in allen Stadien der menschlichen Entwicklung vertreten läßt“, sei deshalb der Grundsatz des „Anything goes“.82 Mit dieser Formulierung beschreibt Feyerabend nun freilich keinen radikalen Erkenntnisrelativismus, sondern vielmehr jene für den wissenschaftlichen Fortschritt notwendige Freiheit, dem etablierten epistemologischen Konsens und den von ihm determinierten wissenschaftlichen Praktiken zuwiderzuhandeln. Wissenschaft und wissenschaftlicher Fortschritt wiederum sind nicht als reiner Selbstzweck aufgefasst, sondern an ethisch-humane Parameter rückgebunden bzw., so die andernorts erhobene Forderung, durch solche Parameter neu definieren:

|| 78 Feyerabend zeigt, dass diese subjektiv-historische Bedingtheit bereits für die zu untersuchenden materiellen Daten gilt: „Das Material, das ein Wissenschaftler tatsächlich zur Verfügung hat, seine Gesetze, seine experimentellen Ergebnisse, seine mathematischen Methoden, seine erkenntnistheoretischen Vorurteile, seine Einstellung zu den abwegigen Konsequenzen seiner Theorien, die er akzeptiert, ist in vielerlei Hinsicht unbestimmt, mehrdeutig und vom historischen Hintergrund nie ganz getrennt. Dieses Material ist immer durch Grundsätze beeinflußt, die er nicht kennt und die, wenn er sie kennen würde, äußerst schwer zu prüfen wären“ (ebd., S. 104). Zu diesen undurchsichtigen Faktoren zählen etwa unanalysierte physiologisch und kulturell bedingte Ansichten über Wahrnehmung und Beobachtung oder die von einer Vielzahl von „Hilfswissenschaften“ (ebd., 105) bereitgestellten Voraussetzungen, deren sich der Naturwissenschaftler bei der „Ableitung prüfbarer Folgerungen“ bedient. Aus diesem „historischphysiologischen Charakter der Daten“ erklärt sich, weshalb „keine Theorie […] jemals mit allen Tatsachen auf ihrem Gebiet“ (ebd., 91) übereinstimmen kann. Die Inkommensurabiltität von Theorien und Tatsachen verweist folglich nicht zwangläufig auf Unstimmigkeiten in der Theorie, sondern ist ebenso damit begründbar, dass „die Daten verseucht sind“ (ebd., 106). 79 Vgl. François Lyotard: La Condition postmoderne. Rapport sur le savoir, Paris 1979, S. 98. 80 Feyerabend: Wider den Methodenzwang, S. 44. 81 Ebd., S. 35. 82 Ebd., S. 45.

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Die Berufung auf die Vernunft ist leer und muß durch einen Begriff von der Wissenschaft ersetzt werden, der sie den Bedürfnissen der Bürger und Gemeinwesen unterordnet.83

Anarchistische Ausprägungen, die sich „wenig um Menschenleben und menschliches Glück“84 scheren, lehnt Feyerabend deshalb mit aller Entschiedenheit ab. Wiederholt weist er darauf hin, dass die für seine eigene Erkenntnistheorie charakteristische Allianz von Anarchismus und Ethik maßgeblich durch den künstlerischen Dadaismus inspiriert worden ist: Ein Dadaist würde keiner Fliege etwas zuleide tun – geschweige denn einem Menschen. Ernste Unternehmen beeindrucken ihn nicht und er schöpft sofort Verdacht, wenn die Leute nicht mehr lachen und jene Haltung und jenen Gesichtsausdruck annehmen, die anzeigen, daß jetzt etwas Bedeutendes kommen soll. Ein Dadaist ist überzeugt, daß es nur dann zu einem lebenswerten Leben kommt, wenn man sich daran gewöhnt, die Dinge leicht zu nehmen, und wenn man die Sprache von tiefsinnigen, aber bereits in Fäulnis übergegangenen Wendungen reinigt, die sich in Jahrhunderten angesammelt haben („Wahrheitssuche“, „Einsatz für die Gerechtigkeit“, „echtes Anliegen“ usw. usw.). Ein Dadaist ist zu fröhlichen Experimenten auch auf solchen Gebieten bereit, auf denen Veränderungen und Experimente nicht in Frage zu kommen scheinen (Beispiel: die Grundfunktionen der Sprache).85

Der antiprogrammatischen Devise des Dadaismus folgend,86 setzt Feyerabend den methodologischen Reglements des Logischen Empirismus und Kritischen Rationalismus einen uneingeschränkten Methodenpluralismus entgegen, formuliert „Antiregeln“, die ein „kontrainduktives Vorgehen“ veranlassen,87 plädiert für die produktive Integration solcher Erkenntnis- und Wissensformen, die es aus Sicht der konservativen Wissenschaftstheorie und -geschichte als obsolet, falsch oder irrational aus der wissenschaftlichen Praxis auszugliedern gilt88

|| 83 So Paul Feyerabend in: Irrwege der Vernunft, hier zitiert nach Stephen Toulmin: Kosmopolis. Die unerkannten Aufgaben der Moderne, Frankfurt/M. 1991, S. 317. 84 Feyerabend: Wider den Methodenzwang, S. 33. 85 Ebd., S. 34. 86 Gleich zwei Mal zitiert Feyerabend Hans Richters Ausspruch: „Dada hatte nicht nur kein Programm, sondern war gegen jedes Programm“ (vgl. Feyerabend: Wider den Methodenzwang, S. 52 u. 263). 87 Ebd., S. 47. Dazu gehört etwa die Entwicklung von Hypothesen, die anerkannten und bestätigten Theorien und Tatsachen widersprechen (vgl. ebd., S. 47–49). 88 Mythen, okkulte Praktiken, alternative Heilmethoden, wissenschaftlich überholte Konzepte usw. werden meist nur deshalb als absurd und unsinnig zurückgewiesen, weil ihr wissenschaftlicher Gehalt entweder unerkannt blieb oder bewusst verfälscht wurde (vgl. ebd., S. 73 f.). In der Erhaltung und Ausschöpfung dieser Alternativen sieht Feyerabend ein „not-

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und kontrastiert den sakrosankten Tugendkatalog der traditionell orientierten Wissenschaften89 mit den ‚Anti-Tugenden‘ „Unwissenheit, Dickköpfigkeit, Vorurteil, Lüge“.90 Zum anarchistischen „Wissenschaftsspiel“91 gehört nicht zuletzt der phantasievolle und experimentelle Umgang mit der Sprache, „denn ohne ständigen Sprachmißbrauch keine Entdeckung und kein Fortschritt“.92 Wie Feyerabend am Beispiel von Galilei aufzeigt, kann sich eine neue und absurd anmutende Theorie – in diesem Fall die der Erdbewegung – nicht allein auf der Grundlage rationaler Argumentation durchsetzen, sondern bedarf zu ihrem Erfolg neben den Vernunftgründen auch der Anwendung psychologischer, propagandistischer und rhetorischer Tricks.93 Der überaus komplexe Vorgang, eine neue Beobachtungssprache und damit eine neue Interpretation eines Sachverhalts einzuführen, ist dabei gleichbedeutend mit der „Erfindung einer neuen Art von Erfahrung“,94 eine Auffassung, derzufolge Sprache nicht nur Mittel zur Beschreibung, sondern ebenso Mittel zur phantasievollen Gestaltung von Ereignissen und Tatsachen ist.95 Tiefgreifende wissenschaftliche Innovationen verlangen daher die „lockere“, bis zur ‚Unsinnsrede‘ gesteigerte Argumentation mit ungeklärten Begriffen und mit Sätzen, für die es noch keine festgefahrene Grammatik gibt.96 Mit diesen erkenntnistheoretischen Annahmen beschreibt Feyerabend nichts anderes als die Bedingungen und Prozesse, die für einen Stilwechsel in der Wissenschaft verantwortlich sind. Stil bezeichnet dabei zunächst eine uni|| wendiges Mittel zur Erkenntnis und vielleicht sogar Veränderung der Eigenschaften der Welt, in der wir leben“ (ebd., S. 85). 89 „Exaktheit, Widerspruchsfreiheit, Ehrlichkeit, Achtung vor Tatsachen, Maximierung des Wissens unter gegebenen Bedingungen“ – all dies könne den Erkenntnisfortschritt zum Stillstand bringen (ebd., S. 356). 90 Ebd. Diese ‚Anti-Tugenden‘ gilt es freilich in einem außermoralischen Sinne aufzufassen. 91 Ebd., S. 107. 92 Ebd., S. 44. 93 Vgl. ebd., S. 123 u. 127. 94 Ebd., S. 136. Der auf „natürlichen Interpretationen“ (ebd., S. 113) beruhende „naive Realismus“ (ebd., S. 115), wie er für Galileis Zeit kennzeichnend war und demzufolge ein fester Zusammenhang zwischen Wörtern und wahrgenommenen Phänomenen bestand (die Phänomene „sind das, was die ihnen zugeordneten Sätze über sie sagen“, ebd., S. 112), konnte nur deshalb durch eine „andere Interpretation“, d.h. durch eine „neue Beobachtungssprache“ (ebd., S. 121) ersetzt werden, weil es Galilei mit den genannten strategischen Mitteln gelungen sei, „eine Erfahrung, die zum Teil dem Gedanken der Erdbewegung widerspricht“, in eine solche zu transformieren, „die ihn bestätigt“ (ebd., S. 130). Zu einer ausführlichen Beschreibung dieses Vorgangs vgl. ebd., Kap. 6 u. 7. 95 Vgl. ebd., S. 123 u. 310. Feyerabend lehnt sich dabei an die Sprachtheorie von Whorf an. 96 Vgl. ebd., S. 351 f.

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versale Kategorie, die für das gesamte Gefüge der humanen Welt prägend ist. In allen kulturellen Bereichen bilden sich Stile aus, sind Stile wirksam, die sich wechselseitig beeinflussen und deren vielschichtige Entstehungszusammenhänge nicht bis ins Letzte eingesehen werden können: Die Wahl eines Stils, einer Wirklichkeit, einer Wahrheitsform, Realitäts- und Rationalitätskriterien eingeschlossen, ist die Wahl von Menschenhand. Sie ist ein sozialer Akt, sie hängt ab von der historischen Situation, sie ist gelegentlich ein relativ bewusster Vorgang […], sie ist viel öfters direktes Handeln aufgrund starker Intuitionen. ‚Objektiv‘ ist sie nur in dem durch die historische Situation vorgegebenen Sinn: auch Objektivität ist ein Stilmerkmal […]. Man entscheidet sich also für oder gegen die Wissenschaften genauso, wie man sich für oder gegen punk rock entscheidet, mit dem Unterschied allerdings, daß die gegenwärtige soziale Einbettung der Wissenschaften die Entscheidung im ersten Fall mit viel mehr Gerede und auch sonst mit viel größerem Lärm umgibt.97

Nach dieser pragmatischen Stilauffassung sind die Wissenschaften – analog den Künsten – in erster Linie Handlungsrealisationen auf der Grundlage sozialer und historischer Bedingungen. Der wissenschaftliche Stil weist demzufolge eine Relationsstruktur auf, durch die sämtliche seiner Stilelemente in ein – zumeist latentes – konnotatives Geflecht von Bedeutungen und Interpretationen integriert sind.98 Was sich als Wissenschaft jeweils etabliert, ist folglich ein bestimmter Stil, dessen (vorübergehend) normativer Status vorgibt, was Wirklichkeit, Wahrheit usf. seien: „Untersucht man nämlich, was ein bestimmter Denkstil unter diesen Dingen versteht, dann trifft man nicht auf etwas, was jenseits des Denkstils liegt, sondern auf seine eigenen grundlegenden Annahmen.“99 || 97 Feyerabend: Wissenschaft als Kunst, S. 78. In Parenthese fügt Feyerabend hinzu: „(Würden wir in einer Zeit leben, in der man naiv an die heilende Macht und die ‚Objektivität‘ der Künste glaubt, Kunst und Staat nicht trennt, die Künste aus Steuermitteln reich beschenkt, in den Schulen als Pflichtfächer lehrt, während man die Wissenschaften für Sammlungen von Spielereien hält, aus denen sich die Spielenden bald das eine, bald das andere Spiel auswählen, dann wäre es natürlich ebenso angebracht, darauf zu verweisen, daß die Künste Wissenschaften sind. In einer solchen Zeit leben wir aber leider nicht)“ (ebd.). 98 So etwa sind „Begriffe […] wie Wahrnehmungen mehrdeutig und vom Hintergrund abhängig. Außerdem wird der Inhalt eines Begriffes auch dadurch bestimmt, wie er mit der Wahrnehmung zusammenhängt“ (ebd., S. 117), und es sei unmöglich, dieses Geflecht „auch nur annähernd auseinanderzunehmen“ (ebd.). Diese Behauptungen gelten für die Wissenschaftssprache ebenso wie für die Alltagssprache, denn wissenschaftliche Theorien wie die Aristotelische Theorie der Bewegung, die Relativitätstheorie, die Quantentheorie, die klassische und die moderne Kosmologie seien so allgemein und tief und hätten eine so komplizierte Entwicklung durchgemacht, „daß sie sich wie natürliche Sprachen betrachten lassen“ (ebd., S. 312). 99 Ebd., S. 77.

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Wenn Feyerabend von den künstlerischen Verfahren spricht, deren sich die Wissenschaft zur Durchsetzung eines neuen Stils bedient, dann ist damit kein prinzipieller Unterschied zwischen beiden Bereichen angezeigt (die Kunst ist nicht per se das ‚Unvernünftige‘, d.h. auch in ihr gibt es keinen ‚Stilwechsel in Permanenz‘ und folglich kommt es auch in ihr zu normativen ‚Stilerstarrungen‘); vielmehr übernimmt für ihn die Kunst eine heuristische Funktion für die Beschreibung all jener Prozesse, die bei der komplexen Erzeugung wissenschaftlicher Welten von Relevanz sind, von der konventionellen Wissenschaftsgeschichte und -theorie jedoch nicht erfasst werden. Die faszinierenden wissenschaftshistorischen Analysen, mit denen Feyerabend seine anarchistischdadaistische Erkenntnistheorie plausibilisiert, können (und sollen) nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese ‚Wissenschaftsstilistik‘ ihrerseits vor der Folie einer ganz spezifischen Ästhetik entstanden ist, zu deren stilistischen Präferenzen das Fragmentarische, Defizitäre, Kontrastive, Deviatorische, Paradoxe, ‚Inkommensurable‘ usf. per definitionem gehört. Ästhetische Kategorien werden in wissenschaftstheoretische Kategorien transformiert, die Deviationsästhetik in eine Deviationsepistemologie verwandelt.100 Diese ist nicht nur durch das au-

|| 100 Diese These kann auch im erneuten Rückblick auf „Wider den Methodenzwang“ aufrechterhalten werden. Gegen Ende seines Buches äußert Feyerabend die Überzeugung, „daß die anthropologische Methode die richtige Methode für die Untersuchung der Struktur der Wissenschaft (und überhaupt jeder Lebensform)“ ist (Feyerabend: Wider den Methodenzwang, S. 346). Die Analyse der Wissenschaft müsse wieder „am Nullpunkt“ anfangen. „Man muß ihr wie ein Anthropologe gegenübertreten, der sich an die Untersuchung der Geistesakrobatik der Medizinmänner einer neu entdeckten Gruppe von Stämmen macht. Und man muß auf die Entdeckung gefaßt sein, daß diese Geistesakrobatik tatsächlich unlogisch ist (vom Standpunkt der formalen Logik aus) und das auch sein muß, damit sie so funktioniert, wie sie es tut“ (ebd., S. 348 f.). Diese anthropologische Methode konvergiert aber letztlich mit einer stilistischästhetischen Methode, denn das dem ‚Wissenschaftsanthropologen‘ zur Verfügung stehende Material ist auf schriftliche Quellen und Kunstwerke beschränkt, seine Untersuchungen sind also wiederum Stilanalysen (hierzu gehören das Auffinden stilistischer Elemente, die Analyse ihrer Funktion, schließlich der Vergleich mit anderen Erscheinungen derselben Kultur, vgl. ebd., S. 321), die „eine Skizze der zugrundeliegenden Weltauffassung und ihres Einflusses auf Wahrnehmung, Denken, Argumentieren sowie der Grenzen, die sie der schweifenden Phantasie zieht“ (ebd.) entstehen lassen, d.h. auf deren Grundlage allererst anthropologische Schlussfolgerungen gezogen werden können. „Ein Schluß“, so Feyerabend selbst, „von Stil (oder Sprache) auf Kosmologie und Wahrnehmungsweisen bedarf daher besonderer Argumente; er ist nicht selbstverständlich“ (ebd., S. 328). Ein solches „Argument (das niemals zwingend sein kann) besteht im Hinweis auf charakteristische Verhältnisse in entfernten Gebieten“, d.h. je mehr stilistische Analogien sich auf den verschiedenen Gebieten einer Kultur ausmachen lassen, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass „man es mit einer in sich stimmigen Lebensform“ zu tun hat und „die nach ihr lebenden Menschen die Welt so sehen wie wir jetzt

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thentische Interesse motiviert, die historischen und gegenwärtigen Bedingungen, Strukturen und Funktionen von Wissenschaft einer adäquaten Analyse zu unterziehen, sondern ebenso durch eine, um mit Bloom zu sprechen, anxiety of influence,101 die zur erbitterten Revolte gegen die Autoritäten einer methodologisch orientierten Wissenschaft und Wissenschaftstheorie führt. Zumindest partiell ist Feyerabends Gegenentwurf deshalb als wissenschaftsgeschichtliche und -theoretische Projektion einer persönlichen Emanzipation von den ‚strong epistemologists‘ Carnap oder Popper zu lesen. Kunst und Literatur, von den ‚Traditionalisten‘ in klarer Opposition zur Wissenschaft definiert, stellen dabei jene Anti-Programmatik bereit, mit der die Maßstäbe und Normen der Gegner destruiert und durch ihr genaues Gegenteil ersetzt werden. Entsprechend sind Irrtum, Widerspruch, Unvernunft, Unsinn, Absurdität, Ungenauigkeit, Verschiedenverstehbarkeit usf.102 keine Indizien wissenschaftlichen Ungenügens, sondern Symptome wissenschaftlicher Kompetenz und „wesentliche Vorbedingungen“ für den Erkenntnisfortschritt. Von der Homogenität von Kunst und Wissenschaft ist es dann nicht mehr weit zu ihrer Identifikation: Die „Wissenschaften [sind] Künste, […] die Künste Wissenschaften“.103 Feyerabends eigene poetisierte Theoriebildung wird dabei zum Modell für ausnahmslos alle innovativen Theorien, die im Verlauf der Wissenschaftsentwicklung gebildet wurden. Diese kritischen Einwände, die letztlich auf den verdeckten, durch die Regel des „Anything goes“ auch nahezu unangreifbaren Universalismus dieser Auffassung zielen, gilt es freilich vor demselben Hintergrund wieder zu relativieren, vor dem Feyerabends anarchistische Erkenntnistheorie entstanden ist. Diese

|| ihre Bilder“ (ebd., S. 329). Auch wenn Feyerabend das ‚Anfängliche‘ und deshalb notwendig ‚Unklare‘ und ‚Ungenaue‘ seiner Analysen betont (vgl. auch ebd., S. 351) und die von ihm verwendeten Ausdrücke wie „‚Psychologie‘, ‚Anthropologie‘, ‚Wissenschaftsgeschichte‘, ‚Physik‘“ nicht auf Tatsachen und Gesetze, sondern ausschließlich auf „bestimmte Methoden zum Sammeln von Tatsachen und bestimmte Arten des Verbindens von Beobachtungen mit Theorien und Hypothesen“ (ebd., S. 355) aufgefasst wissen will, so verleiten ihn die eruierten Analogien dennoch immer wieder dazu, ‚faktische‘ Aussagen zu treffen: „Diese Menschen“, so in seiner Analyse der archaischen Welt, „leben in der Tat in einer ebensolchen Welt, wie sie von ihren Künstlern dargestellt wird“ (ebd., S. 337, vgl. auch ebd., S. 341). Die Grenzen zwischen einem Analogie- bzw. Homologiedenken, das davon ausgeht, dass die Gleichheiten zwar auf einen gemeinsamen, aber nicht beweisbaren Ursprung verweisen, und einem solchen, der einen realen und kausalen Zusammenhang zwischen Analogien und ihrem Ursprung annimmt und deshalb die Rekonstruktion der ursprünglichen Realität für möglich hält, sind hier nicht immer eindeutig auszumachen. 101 Harold Bloom: The Anxiety of Influence. A Theory of Poetry, New York 1973. 102 Vgl. exemplarisch Feyerabend: Wider den Methodenzwang, S. 350–351, 355, 378. 103 Feyerabend: Wissenschaft als Kunst, S. 78.

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intendiert nicht eine Kritik der Wissenschaften, sondern die Hybris und Gigantomanie eines mit ihr auf unreflektierte Weise verschränkten Wissenschafts‚Ethos‘, hinter dem Feyerabend „sektiererische“, machtpolitische und propagandistische Interessen chauvinistischer Wissenschaftsrepräsentanten wittert.104 Entsprechend diskreditiert die anarchistische Erkenntnistheorie nicht wissenschaftliche Regeln, sondern den damit verbundenen Anspruch auf Allgemeingültigkeit, nicht die Abstraktheit und Rationalität theoretischer Gebilde, sondern die Tabuisierung ihrer historischen, sozialen und vor allem ästhetischen Prämissen, nicht wissenschaftliche Erkenntnis, sondern das „Märchen“, „außerhalb der Wissenschaft gebe es keine Erkenntnis“,105 nicht die Ergebnisse und Erfolge der Wissenschaft, sondern das Dogma, diese „seien ohne jede Mitwirkung außerwissenschaftlicher Faktoren entstanden“.106

1.1.3 Wissenschaftsästhetik als Kritik und Programm – Impulse für eine Poetik und Hermeneutik der poetica scientiae Die Kritik der hier vorgestellten Positionen an einer positivistischen Auffassung von Wissenschaft und Wissenschaftsgeschichte ließe sich verkürzt als Kritik an der impliziten Ästhetisierung der Wissenschaft beschreiben. Das positivistische „Bild“ der Wissenschaft, wie es Kuhn zufolge in Lehr- und Geschichtsbüchern vermittelt wird, verdankt sich primär Darstellungsweisen, die auf die Eliminierung und Verschleierung alles dessen zielen, was dem Ideal einer kultur- und ästhetikunabhängigen Wissenschaft zuwiderläuft. Der Anspruch, Ästhetik und Wissenschaft, Wahrheit und Schönheit radikal voneinander zu trennen, wird, so der eigentliche ‚antipositivistische‘ Einwand, durch den kaschierten Einsatz ästhetischer Strategien realisiert. Bei diesen handelt es sich weitgehend um Reinigungs- und Schönheitsoperationen, die dem Ideal einer ‚vollkommenen‘ Wissenschaft und Wissenschaftsentwicklung verpflichtet sind – ein Ideal, das seinerseits markante Parallelen zur ‚klassischen‘ Ästhetik des Schönen aufweist. So ist das konventionelle Fortschrittsparadigma durch Kriterien der Linearität, Kontinuität und Kohärenz gekennzeichnet, die Epistemologie durch die Vorstellung von der harmonischen Übereinstimmung von Theorie und Na-

|| 104 Vgl. Feyerabend: Wider den Methodenzwang, S. 402 f. u. 409. 105 Ebd., S. 407; zum vorigen vgl. exemplarisch ebd., S. 392 f. 106 Ebd., S. 404.

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tur, der objektiven Reinheit und transhistorischen Universalität wissenschaftlicher Erkenntnisse.107 Die Kritik an der Legitimität verdeckter Ästhetisierungsprozesse geht nun umgekehrt mit der programmatischen Offenlegung solcher Ästhetisierungsprozesse einher, die für die wissenschaftliche Entwicklung und Erkenntnis als unhintergehbar angenommen werden. Die aus der Explikation der impliziten Ästhetik der Wissenschaft und Wissenschaftsgeschichte gewonnenen Ergebnisse können als Bausteine einer epistemologischen Ästhetik interpretiert werden. Anders als die verdeckte Ästhetik des positivistischen Wissenschaftsparadigmas ist die offene Ästhetik des ‚anti-positivistischen‘ Wissenschaftsparadigmas in eine modern-postmoderne Ästhetik der Differenz übersetzbar, von der relevante Impulse für die Analyse und Interpretation der poetica scientiae ausgehen. Deshalb sollen abschließend die gemeinsamen kritischen und programmatischen Tendenzen von post-positivistischer Wissenschaft, Wissenschaftstheorie und geschichte aufgeführt, die von wissenschaftlicher Seite geleisteten ‚Öffnungen‘ noch einmal präzisiert und mögliche Anschlussfragen für eine Poetik und Hermeneutik der poetica scientiae formuliert werden. (1) Moderne Wissenschaftstheorie und -geschichte problematisiert die traditionell suggerierte Kontinuität und Konsistenz wissenschaftlichen Fortschritts und betonen gerade dessen Brüche, Kontingenzen und Diskontinuitäten. (2) Mit der Infragestellung eines wissenschaftshistorischen Kontinuums verbindet sich eine tiefgreifende Skepsis gegenüber der Annahme von einer „Übereinstimmung zwischen der Ontologie einer Theorie und ihrem ‚realen‘ Gegenstand in der Natur“108 ebenso wie gegenüber der Annahme, dass in der historischen Abfolge von Theorien eine „zusammenhängende Richtung einer ontologischen Entwicklung“ ersichtlich wäre.109 Was an die Stelle dieser kritisierten Annahmen tritt, ist sehr verschieden. So halten die meisten Vertreter moderner und postmoderner Wissenschaftskonzeptionen an einer evolutionären Entwicklung der Wissenschaft fest, erkennen ihren Erkenntnissen jedoch eine nurmehr funktionale Übereinstimmung in Bezug auf die Natur zu und verzichten ferner darauf, falsifizierte wissenschaftliche Theorien als unwissen|| 107 Die Ausblendung historischer und individueller Kontexte mag „funktionell in der Ideologie des wissenschaftlichen Berufs verwurzelt [sein], jenes Standes also, der den sachlichen Einzelheiten bei anderen Dingen den höchsten Wert beimisst“ (Kuhn: Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, S. 184), und überdies vor allem pragmatische Gründe haben. 108 Eine rein funktionale Beziehung zwischen Zeichen und Bezeichnetem tritt damit an die Stelle einer ontologischen! Dieser ‚split‘ zwischen Zeichen und Bezeichnetem ist vermutlich der folgenreichste Aspekt für das Verhältnis von Literatur und Naturwissenschaft. 109 Kuhn: Postskript, S. 314.

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schaftlich oder mythisch zu diskreditieren. Das historische Bewusstsein erweist sich stets auch als Bewusstsein von der multifaktoriellen Bedingtheit der gegenwärtigen wissenschaftlichen Erkenntnisse.110 Kaum zu vereinheitlichen sind auch die Auffassungen über das Verhältnis wissenschaftlicher Theorien und Modelle zur Wirklichkeit. Unbestritten ist – und dies werden die nachstehenden Ausführungen zur wissenschaftlichen Sprachkritik verdeutlichen –, dass sich in den letzten Jahrzehnten ein kaum zu unterschätzendes Problembewusstsein über den Status von Wissenschaftssprachen und ihrer Relation zur Realität ausgeprägt hat, so dass Wissenschaft und Literatur gerade darin konvergieren, dass sie keine Realität ‚an sich‘ beschreiben, sondern eine Realität, die den ihrerseits wandelbaren humanen Wahrnehmungs-, Denk- und Fragemustern ausgesetzt ist. Von hier aus ist zu fragen, wie die Literatur das ‚interrogative‘ und kritisch-selbstreflexive Potential der Wissenschaften ausschöpft, umwertet oder ‚beantwortet‘. So werden gerade mit Blick auf das seitens der Literatur zumeist ebenfalls problematisierte wissenschaftliche Fortschrittsparadigma nichtwissenschaftliche Substitute geltend gemacht, wobei sich Tendenzen zu einer Remythisierung und Individualisierung von wissenschaftlichen Verläufen ebenso finden wie die synkretistische Überlagerung wissenschaftlicher Geschehnisse in verschiedene Zeitmodi und der Rückgriff auf quasiprogressive Modelle, die wissenschaftliche Entwicklungsverläufe ins Utopische, Dystopische oder Ideologische fortschreiben.111 Zu fragen ist ferner nach den || 110 So beschreibt Kuhn in Anlehnung an Darwin diesen Entwicklungsprozess als einen „Prozeß der Evolution von primitiven Anfängen her“, dessen aufeinander folgende Stadien durch ein zunehmend detailliertes und verfeinertes Verstehen der Natur charakterisiert sind, hält aber Aussagen, die diesen „Prozeß der Evolution auf etwas hin“ (Kuhn: Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, S. 224) betreffen, für nicht möglich. Mit der Absage an Wissenschaft als eines Unternehmens, das, wie Vertreter früherer Evolutionstheorien wie etwa Lamarck, Chambers, Spencer und die deutschen Naturphilosophen glaubten, unausgesetzt einem von der Natur gesteckten Ziel entgegenstrebt, verabschiedet er auch die teleologische Form der Evolution (ebd., 225). Auf den u.a. von Popper erhobenen Vorwurf, er vertrete einen relativistischen Standpunkt, entgegnet Kuhn, „daß er vom wissenschaftlichen Fortschritt in dem Sinne überzeugt sei, daß die wissenschaftliche Entwicklung […] ein indirektionaler und irreversibler Prozeß ist und daß spätere Theorien besser als frühere geeignet sind, Probleme in den oft ganz unterschiedlichen Umgebungen, auf die sie angewendet werden, zu lösen. Hingegen lehne er einen Fortschrittsbegriff ab, der eine wissenschaftliche Theorie für besser als ihre Vorläufer hält und zwar für besser nicht nur im Sinne eines besseren Instruments für die Entdeckung und Lösung eines Problems, sondern auch, weil sie in gewisser Weise eine bessere Darstellung dessen ist, was die Natur wirklich ist (Kuhn: Postskript, S. 314). 111 Zum Beispiel mündet die durch radikale Verwissenschaftlichung, Wirtschaftsliberalismus und sexuellem Liberalismus verursachte Pauperisierung der Gesellschaft in Michel Houellebecqs Roman Les particules élémentaire (Paris 1998) in die negative Utopie einer Gesellschaft,

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Manifestationsweisen von (literarischem) Zeichen und (szientifischem) Gegenstand.112 Akzentuiert die Literatur die Differenz und Diskontinuität von Zeichen und Realität und vertieft damit die wissenschaftstheoretisch erfolgte Problematisierung dieses Zusammenhangs oder agiert sie analog der epistemologischen Verdeckung des Ästhetischen und fingiert absolute und allgemeine Wahrheiten? (3) Die Kritik an der impliziten Ästhetisierung der Wissenschaft richtet sich vor allem gegen Prozeduren der Form- und Sinngebung, in denen das form- und sinngebende Subjekt ausgeblendet und solcherart der Schein einer objektiven, selbstevidenten Wissenschaft und Wissenschaftsgeschichte vermittelt wird. Die sinnlich-ästhetischen Anteile kognitiver Vorgänge,113 das Fiktive der Darstellung sowie das Konstruierte der dargestellten Inhalte wird paradoxerweise durch ästhetische Operationen verdeckt, die Wissenschaften via kathartischkosmetischer Eingriffe anästhesiert und anästhetisiert. Die dadurch erzeugte logische Konsistenz und historische Kontinuität ist damit letztlich durch eine „ästhetische Konsistenz“ fundiert, die, so Jauß mit Blick auf die Literatur, immer da eintritt, „wo die Ordnung der Fakten mit einheitsstiftenden Mitteln epischer oder dramatischer Darstellung sichtbar gemacht, wenn nicht sogar hergestellt wird“.114 Demgegenüber verweist eine im weitesten Sinne kulturwissenschaftlich und -geschichtlich begründete Wissenschaftshistoriographie und -theorie auf die Relevanz des geschichtlichen und anthropologischen Kon|| bestehend aus einer Art Übermensch, der sich dank gentechnischer Möglichkeiten geschlechtslos fortzupflanzen vermag. In Jeanette Wintersons Roman GUT-Symmetries (London 1997) wird die moderne Physik ins Mystische überhöht und als Pforte zu einer Realität interpretiert, in dem die Liebe als einziger Fixpunkt erscheint. 112 Als Basismodell zur Beschreibung dieses Zusammenhangs für die Gattung poetica scien– tiae – und dies wird später noch ausführlicher auszuführen sein – bietet sich immer noch Roman Jakobsons Modell der fiktionalen Kommunikation an. Demnach resultiert die Ambiguität der Referenz aus der Überlagerung zweier Sprechfunktionen, der ‚poetischen‘ und der ‚referentiellen‘, wobei die poetische ihre Dominanz bzw. Priorität gerade zur Geltung bringt: „The supremacy of poetic function over referential function does not obliterate the reference but makes it ambiguous“ (Roman Jakobson: „Linguistics and Poetics“, in: Style in Language, hrsg. v. Thomas A. Sebeok, Cambridge/MA ²1964, S. 350–377, hier S. 371). Entscheidend für Jakobson ist, dass mit der Akzentuierung der poetischen Funktion nicht der Konnex von Zeichen und Referenz, sondern deren Dichotomie aufgezeigt wird, sich die poetische Sprachfunktion folglich einer Ontologisierung widersetzt: „Poetic function […] by promoting the palpability of signs, deepens the fundamental dichotomy of signs and objects“ (ebd., S. 356). 113 Vgl. dazu auch Wolfgang Welsch: Grenzgänge der Ästhetik, Stuttgart 1996, S. 94–97. 114 Beitrag von Hans Robert Jauß zur Diskussion „Das Ästhetische als Grenzerscheinung der Historie“, in: Die nicht mehr schönen Künste, hrsg. v. Hans Robert Jauß, München 1968, S. 559–582, hier S. 573.

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texts wissenschaftlicher Praxis und damit auf die Relativität und Bedingtheit wissenschaftlicher Erkenntnis. Die historische Rekontextualisierung von wissenschaftlichen Personen, Entdeckungen, Theoriebildungsprozessen etc. – freilich in je unterschiedlicher Deutlichkeit – verbindet sich mit einer Kritik an der impliziten Ästhetisierung der Wissenschaft in wissenschaftlichen Darstellungen. Auch hier ist nach entsprechenden Funktionen der poetica scientiae zu fragen: Insofern diese die Ästhetizität des wissenschaftlichen Sujets als dominierend signalisiert – und dies geschieht bereits durch das Bekenntnis ihres eigenen fiktionalen Ursprungs –, expliziert sie nicht nur ihre eigenen ästhetischen Darstellungsmodi, sondern zugleich die implizite Ästhetik wissenschaftssystematischer und -historischer Darstellungen. Die Mitdarstellung der impliziten Ästhetik der Wissenschaft geschieht – paradoxerweise – mit ästhetischen Mitteln. Kritisiert und destruiert wird nicht das ‚Ästhetische‘, sondern das Bild einer ‚schönen‘ Wissenschaft, das seinen ästhetisch-poietischen Charakter verleugnet und sich stattdessen als das radikal Antiästhetische und Antifiktionale stilisiert. In der epistemologischen Funktion, eine Ästhetik bzw. Poetik und Hermeneutik zur Wahrnehmung und Analyse wissenschaftssystematischer und -historischer Präsentationsweisen und den diesen zugrunde liegenden quasi-metaphysischen und ästhetischen Prämissen bereitzustellen, bestünde demnach zwar eine weitere Koinzidenz von poetica scientiae und moderner Wissenschaftstheorie, darüber hinaus muss aber gefragt werden, inwiefern sich darin nicht auch Legitimationsbemühungen abzeichnen, das ‚Ästhetische‘ als eine Urdomäne der Literatur zu retten. (4) Die Kritik an den kulturell unabhängigen Beständen von Ontologie und Epistemologie, das Zugeständnis, dass auch exakte Wissenschaft ein geschichtlich gebundenes, über ein jeweiliges Selbstverständnis vermitteltes Weltverhältnis darstellt, leitet eine pragmatische und hermeneutische Wende in der Betrachtung der Wissenschaften ein, die sie mit all jenen Fragen wieder in Berührung bringt, die auch für geisteswissenschaftlich und literarisch orientierte Praktiken relevant sind:115 For to be at home in the world of nature does not just mean finding out how to utilize nature economically and efficiently – home is not a hotel! It means making sense of the relations that human beings and other living things have toward the overall patterns of nature

|| 115 „Die Tatsachen der Wissenschaft und Philosophie des 20. Jahrhunderts beruhen auf der aristotelischen Phronesis oder praktischen Weisheit“, so der Physiker und Wissenschaftshistoriker Stephen Toulmin (Toulmin: Kosmopolis, S. 307). – Paradox, dass in derselben Zeit, in der diese Öffnungen geschehen bzw. fortgesetzt werden, die Debatte um die zwei Kulturen wieder aufflammt.

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in ways that give us some sense of their proper relations to one another, to ourselves, and to the whole.116

Mit den hier verallgemeinerten funktionalen Entsprechungen zwischen antipositivistischer Wissenschaftstheorie bzw. -historiographie und poetica scientiae verbindet sich keineswegs die Intention, Aussagen über kausale Wechselwirkungen zwischen beiden Bereichen zu treffen oder sie gar unterschiedslos miteinander zu identifizieren. Gleichwohl zeigt sich, dass mit der Implementierung des Nicht-Wissenschaftlichen (des historisch Kontingenten, des Sozialen, des Irrationalen, des Narrativen) in den wissenschaftlichen Diskurs seitens der Wissenschaftsgeschichte und -theorie einerseits, der Implementierung szientifischer, wissenschaftshistorischer und epistemologischer Aspekte in den literarischen Diskurs andererseits thematisch-funktionale Übereinstimmungen und wechselseitige Ergänzungs- und Anschlussmöglichkeiten zutage treten, die es nahelegen, ihr Verhältnis primär als ein Partizipations- und Dialogverhältnis zu beschreiben.

1.2 Metapher und Begriff – Wissenschaftskritik als Sprachkritik Gegenüber den vorangegangenen Ausführungen stellt das folgende Kapitel eine Akzentuierung und Engführung der genannten Leitdifferenz von Wissenschaft und Literatur auf deren sprachliche Manifestationen ‚Begriff‘ und ‚Metapher‘ dar. Sowohl die Etablierung der neuzeitlichen ‚positiven‘ Wissenschaft als auch die Kritik dieser Wissenschaftskonzeption ist, so die zu entfaltende These, jeweils begleitet von einer massiven Sprachkritik.117 Im Bereich dessen, was als wahre Aussage über die Wirklichkeit Bestand hat, führt dies im ersten Fall zu einer Reduktion und Formalisierung der Sprache auf mathematisch darstellbare Begriffe, im zweiten zu einer Re-Amplifikation der Sprache im Sinne eines irreduziblen sinnlich-aisthetischen und metaphorischen ‚Rests‘. Die ‚ZweiKulturen-Debatte‘ erweist sich in dieser Blickrichtung als eine ‚Zwei-

|| 116 Stephen Toulmin: The Return to Cosmology. Postmodern Science and the Theology of Nature, Berkeley 1982, S. 272. 117 Grundlegend für die „Neuordnung des diskursiven Feldes“ im 17. und 18. Jahrhundert und die damit zusammenhängende „Reflexion der Möglichkeiten, Grenzen und Funktionen von Sprache in den jeweiligen Diskursen“ ist die glänzende Studie von Manuel Illi: Sprache in Wissenschaft und Dichtung. Diskursive Formationen von Mathematik, Physik, Logik und Dichtung im 17. und 18. Jahrhundert, Berlin, Boston 2017 (Zitat S. 4).

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Sprachkulturen-Debatte‘, die entscheidend durch den (zunehmend umstrittenen) Zusammenhang von Logik und Rhetorik geprägt ist. Die philosophische Grundlegung der neuzeitlichen Wissenschaft durch Bacon und Descartes verbindet – in je unterschiedlicher Weise – Kritik an der traditionellen Wissenschaft mit radikaler Sprachkritik. Beiden ist das Ziel gemeinsam, die Philosophie und mit ihr auch die Naturwissenschaft auf eine gesicherte Basis zu stellen, welche die Wahrheit ihrer Erkenntnisse verbürgt. Die methodische Fundierung der Wissenschaft soll wahre und objektive Aussagen und Sätze über die Wirklichkeit ermöglichen und damit einen ontologischen Zusammenhang mit dieser garantieren. – In seiner Idolenlehre verweist Bacon auf die prinzipielle Verführungskraft der Sprache und rückt deren Rhetorizität in die Nähe der Dichtung. Entsprechend sind sowohl „philosophische Systeme“ als auch „Prinzipien und Grundsätze der Wissenschaften“, sofern sie von Idolen und falschen Begriffen durchdrungen sind, nichts als „Fabeln […], die unwirkliche und erdichtete Welten darstellen“118 und den unmittelbaren Zugang zur Wirklichkeit blockieren. Eine wahre „Interpretation der Natur“ könne deshalb nur auf Forschungs- und Beweisverfahren beruhen, die von der Erfahrung ausgehen und in genau geregelten Schritten vom Einzelnen zum Allgemeinen, von der Empirie zur Theorie führen.119 Der für den Humanismus prägende und im Ideal des homo rhetoricus repräsentierte Gedanke einer copia rerum ac verborum ist damit verabschiedet. Der Sprache, sofern sie jenem dezidiert antirhetorischen Ideal des plain style verpflichtet ist, wird für den menschlichen Intellekt und damit für den wissenschaftlichen Erkenntnisprozess eine nurmehr instrumentelle Funktion konzediert.120 Ihr rhetorisch-persuasiver Gebrauch hingegen

|| 118 Francis Bacon: Novum Organon [1620], in: The Works of Francis Bacon. Nachdruck der Erstausgabe London 1858, Bd. 1, hrsg. v. James Spedding u.a., Stuttgart-Bad Cannstatt 1963, §§ 43–44. 119 Vgl. ebd., §§ 22, 26, 104, 105. 120 Die eindrucksvollsten historischen Dokumente dieser antirhetorischen Konzeption der Wissenschaftssprache stammen aus dem Umfeld der Royal Society. Verwiesen sei insbesondere auf John Wilkins: An Essay towards a Real Character and a Philosophical Language [1668], Menston 1968 und Thomas Sprat: The History of the Royal Society of London for the improving of Natural Knowledge [1667], London ²1702 (v.a. das 4. Kapitel „Language“ im 2. Teil). Zu den vielen von Sprat gerühmten und wiederholt auf das große Vorbild Bacon bezogenen Verdienste der Royal Society gehört vor allem die Anstrengung, „to separate the knowledge of Nature, from the colours of Rhetorick, the devices of Fancy, or the delightful deceit of Fables“ und „to render it an Instrument whereby Mankind may obtain a Dominion over Things, and not only over one anothers Judgments“ (ebd., S. 62). Zu einem allgemeinen Überblick über die sprachtheoretische Diskussion im 17. Jahrhundert vgl. Lia Formigari: Language and Experience in 17th-Century British Philosophy, Amsterdam, Philadelphia 1988,

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bleibt auf jene Lebensbereiche und Wissenschaften beschränkt, die es mit Meinungen und Dogmen, nicht aber mit begründeter Wahrheit und Erkenntnis zu tun haben, „denn hier geht es darum, Zustimmung zu erzwingen, nicht die Wirklichkeit zu meistern“.121 Descartes eruiert demgegenüber die Wahrheitsbedingungen von Sätzen, indem er alle möglichen Sätze einem radikalen Wahrheitszweifel unterzieht. Den archimedischen Punkt der Erkenntnis findet er schließlich in der Gewissheit von denkendem Ich, Welt und Gott. Der methodische Gebrauch der Vernunft, dessen Wahrheitskriterien Klarheit und Deutlichkeit sind, orientiert sich dabei an der mathematisch-geometrischen Beweisführung,122 wie sie bereits Galilei123 vorgeführt hatte. Die mathematischen Prinzipien repräsentieren die ontologische Grundstruktur der Welt, entsprechend sieht Descartes in der Mathematik das Modell der von ihm anvisierten „mathesis universalis“, einer nach „Ordnung und Maß“ forschenden Universalwissenschaft.124 Entscheidend für den gegebenen Zusammenhang ist, dass sowohl die empiristisch-induktive als auch die rationalistisch-deduktive Methode die Sprache im Bereich wahrer Aussagen auf mathematische Operationen reduziert: Der Verdinglichung der Na-

|| speziell zur Royal Society vgl. Brian Vickers: The Royal Society and English Prose Style: A Reassessment, in: ders. u. Nancy S. Struever: Rhetoric and Pursuit of Truth: Language Change n the Seventeenth and Eighteenth Centuries, Los Angeles 1985, S. 1–76. 121 Vgl. Bacon: Novum Organon, § 29. 122 „Diese beiden Wissenschaften [Arithmetik und Geometrie] sind nun nichts als spontane Früchte, die aus den eingeborenen Prinzipien der Methode entsprungen sind“ (René Descartes: Regulae ad directionem ingenii/Regeln zur Ausrichtung der Erkenntniskraft. Kritisch revidiert, übersetzt u. hrsg. v. Heinrich Springmeyer, Lüder Gäbe u.a., Hamburg 1973, S. 64). 123 „Die Erkenntnis der wenigen aber [gemeint sind die mathematischen Wahrheiten], welche der menschliche Geist begriffen, kommt meiner Meinung an objektiver Gewißheit der göttlichen Erkenntnis gleich; denn sie gelangt bis zur Einsicht ihrer Notwendigkeit, und eine höhere Stufe der Gewißheit kann es wohl nicht geben“ (Galileo Galilei: Dialogo […] sopra i due massimi Sistemi del Mondo, Tolemaico e Copernicano, in: ders.: Siderius Nuncius. Nachricht von neuen Sternen. Dialog über die Weltsysteme [Auswahl], hrsg. u. eingel. v. Hans Blumenberg, Frankfurt/M. 1965, S. 155). Nach Mittelstraß besteht die historische Leistung Galileis darin, „daß in dieser Galileischen Physik mathematische Vernunft (Theorie) und technische Fertigkeit (Erfahrung) zum ersten Mal ein festes Bündnis eingehen“ (Jürgen Mittelstraß: Neuzeit und Aufklärung, S. 172). 124 Die Grundzüge dieser allgemeinen Wissenschaft beschreibt Descartes in der vierten der Regulae. Nach Blumenberg zeichnet sich die Mathematisierung der Erkenntnisformen und damit die Ablösung des Ideals der Substanz durch das der Quantifizierung bereits seit der Spätscholastik ab (vgl. Hans Blumenberg: Der Prozeß der theoretischen Neugierde, Frankfurt/M. 1979, bes. S. 24).

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tur125 durch die quantifizierend-mechanistische Weltsicht korrespondiert eine Verdinglichung der Sprache bzw. ihres Gebrauchs. Newtons scharfe Kritik am Rationalismus und die ebenso scharfe Kritik, die Newton sich wiederum selbst gefallen lassen musste, sind ein geeignetes Beispiel um zu zeigen, dass und wie sich Prozesse sowohl der Konstituierung als auch der Kritik von Wissenschaft immer auch sprachlich und sprachkritisch vollziehen und auf der (fließenden) Grenze von Begriff und Metapher, Faktizität und Fiktion verlaufen. Mit seinem Hypothesenverdikt – „Hypotheses non fingo“ – wendet sich Newton gegen die in seiner eigenen Zeit dominierende rationalistisch-deduktive Philosophie Descartes’ und setzt dieser einen radikalen Empirismus entgegen. Hypothesen im cartesianischen Sinne sind – in der Deutung Newtons – nichts weiter als unbegründete metaphysische Vorurteile, leere Spekulationen und willkürliche Fiktionen, die es aus der Physik zu verbannen gilt, for whatever is not deduced from the phenomena is to be called an hypothesis; and hypotheses, whether metaphysical or physical, whether of occult qualities or mechanical, have no place in experimental philosophy.126

Gleichwohl verbinden sich in der Newton’schen Physik jene zwei methodischen Verfahren, wie sie „in Zukunft bestimmend für das methodologische Selbstverständnis der Physik, und von diesen her auch für die Naturwissenschaften insgesamt, werden sollte“,127 nämlich Analyse, d.h. empirisch-induktive Ableitung allgemeiner Kausalgesetze aus experimentellen Beobachtungen, und Synthese,

|| 125 Georg Lukács sieht die „Verdinglichung“ als Negation des „qualitativen Soseins der Dinge“ (Lukács zitiert nach Silvio Vietta: Neuzeitliche Rationalität und moderne literarische Sprachkritik, München 1981, S. 42). 126 Isaac Newton: The Mathematical Principles of Natural Philosophy I–II [1706], London 1968 [Nachdruck der Ausgabe 1729], S. 392. Vgl. auch den Anfang der Opticks: „My Design in this Book is not to explain the Properties of Light by Hypotheses, but to propose and prove them by Reason and Experiment“ (Isaac Newton: Opticks or A Treatise of the Reflections, Refractions, Inflections & Colours of Light [1704], New York 1952 [Nachdruck der Ausgabe 1730]). – Hypothesen sind, so die schöne Formulierung von Gamper, „Orte des Nicht-Wissens“: „Wo Hypothesen ins Spiel gebracht oder aus dem Spiel genommen werden, besteht eine fundamentale Unsicherheit, die nach den Kriterien des ,wahren‘, ,anerkannten‘ oder ,gültigen‘ Wissens nicht oder noch nicht beseitigt werden kann“ (Michael Gamper: Systematisches NichtWissen. Poetologie der Hypothese zwischen Wissenschaft und Literatur, in: Heikle Balancen. Die Weimarer Klassik im Prozess der Moderne, hrsg. v. Thorsten Valk, Göttingen 2014, S. 251– 268, hier S. 254). 127 Jürgen Mittelstraß: Newton – die ‚neue Wissenschaft‘ und die Anfänge des Empirismus in der Physik; unveröffentlichter Vortrag vom 1. Juni 2002 an der Universität Augsburg; Skript, S. 12.

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d.h. die deduktive Ableitung der Phänomene aus den analytisch gewonnenen Prinzipien.128 Die vor allem in England bereits sehr früh einsetzende Kritik an Newton zielt insbesondere auf dessen Behauptung, die von ihm verwendeten Definitionen, Regeln und Axiome seien sämtlich in der Erfahrung begründet, „deduced from Phaenomena & made general by Induction“129. Wenn für Newton die Geometrie „nicht ein protophysikalischer Teil der Mechanik, sondern […] umgekehrt ihrerseits durch die Mechanik begründet“ ist, dann „steht in methodologischen Dingen alles auf dem Kopf“:130 Einem faktisch hypothetischen Verfahren tritt hier die methodologische Erklärung ‚hypotheses non fingo‘ entgegen.131 Um jeglichen spekulativen Verdacht auszuschalten wird im Widerspruch zur eigenen

|| 128 Vgl. Newton: Opticks, Query 31. Aufgrund dieser Verbindung von mathematisch verfahrender und experimentell fundierter Physik zählt Kuhn Newton trotz der Priorität, die er induktiven Verfahren einräumt (vgl. Principia, 3. Auflage, 4. Regulae Philosophandi, zitiert bei Mittelstraß: Newton, S. 15), zu den Vertretern der „mathematischen“ Tradition; zur „experimentellen Tradition“ gehört etwa Robert Boyle, der auf mathematische Darstellung und Methode verzichtet und sich auf die experimentelle Forschung konzentriert (vgl. Thomas S. Kuhn: „Mathematische versus experimentelle Traditionen“, in: ders.: Die Entstehung des Neuen, S. 84–124). 129 Newton: Principia, S. 155. 130 Mittelstraß: Neuzeit und Aufklärung, S. 300 f. Nicht die von Newton geleistete Axiomatisierung der Mechanik ist Zielscheibe der Kritik, sondern die dieser zugrunde gelegte Methodologie. 131 Diesen „Konfliktfall zwischen faktischem Verfahren und seiner methodologischen Beurteilung“ geht Mittelstraß am Beispiel der Principia nach. Wissenschaftstheoretisch von Interesse sind dabei vor allem die terminologischen Verschiebungen bzw. Eliminierungen, die Newton in der zweiten Auflage der Principia (1713) vornimmt: Von den neun der ursprünglich als Hypothesen bezeichneten Sätze verbleibt ein einziger, die anderen werden umbenannt in „‚Phaenomena‘“ und „‚Regulae Philosophandi‘“. Damit erscheinen, so Mittelstraß, Sätze, die Newton vormals als ‚Hypothesen‘ bezeichnet hatte, jetzt als empirische Generalisierungen. „Die Physik der ‚Principia‘ wird nachträglich, in methodologischer Absicht, auf ihren empirischen Teil reduziert. Sie gerät gleichzeitig, von Newton unbemerkt, in Widerspruch zu ihrer methodologischen Darstellung“ (Mittelstraß: Newton, S. 11; vgl. auch S. 3). Die „methodologische Absicht“ ist jedoch im Wesentlichen Teil einer Fehde gegen den cartesischen Rationalismus, „sofern dieser seinen Ausgang im cogito ergo sum, d.h. in der Konstruktion eines mentalen archimedischen Punktes, und in der Konzeption sogenannter angeborener Ideen nimmt“ (ebd., 7). „Newton wendet sich mit allem Nachdruck gegen eine spekulative Tendenz, die er auf dem Boden des neuzeitlichen Denkens wiedererwachsen sieht, aber indem er diese Tendenz von vornherein mit der Position des Rationalismus, der Cartesischen Philosophie identifiziert, übersieht er, dass diese Position [...] auch anders verstanden werden kann. [...] [D]er synthetische Aufbau der Physik bei Galilei, Huygens und Newton selbst gerät damit in den Verdacht, trotz seines inhaltlich nicht-Cartesischen Charakters Cartesische Positionen der Methodologie zu teilen, und wird darum uminterpretiert“ (ebd., S. 14 f.).

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methodischen Praxis die Methodologie eines vermeintlich von rationalistischen Infiltrationen bereinigten Empirismus begründet: Die für den klassischen Empirismus zentrale Voraussetzung des empirisch ‚rein Gegebenen‘, durch kein begriffliches Unterscheidungssystem verfälschten physikalischen Datums, wird hier zum ersten Mal gegenüber einer ausgearbeiteten Physik in Anspruch genommen und korrespondiert der von Locke zum ersten Mal erkenntnistheoretischen Behauptung einer begriffsfreien Basis des Wissens in der Erfahrung.132

An diesem Punkt setzt die philosophische Kritik ein. Diese richtet sich weniger gegen die rationalistischen Implikationen einer radikal empirischmaterialistisch sich propagierenden Physik, als vielmehr gegen deren mangelhafte methodologische Reflexion. Der zentrale Vorwurf, der von Berkeley, Kant, Goethe oder Hegel an die Adresse der Naturwissenschaft bzw. -philosophie galileisch-newtonscher Prägung ergeht, kreist um die verleugneten metaphysischen Voraussetzungen, die deren mathematischen und begrifflichen Darstellungsformen notwendig zugrunde liegen, und um die Ansprüche und Konsequenzen, welche die Physik aus dieser Verdrängung für den Status ihrer wissenschaftlichen Erkenntnisse ableitet. „Daß Newton und seine Schule dasjenige mit Augen zu sehen glauben, was sie in die Phänomene hinein theoretisiert haben“,133 gehört zu den Hauptangriffen, die Goethe gegen Newtons Optik, jenem „Muster von sophistischer Entstellung der Natur“, ins Feld führt. Ähnlich scharf polemisiert Kant gegen die mathematisch verfahrenden „Naturphilosophen“, die sich „wider allen Anspruch der Metaphysik auf ihre Wissenschaft

|| 132 Mittelstraß: Newton, S. 15. Der Versuch, so Mittelstraß, Newtons Methodologie nachträglich durch umfassendere Systematisierungen wieder mit der Newton’schen Physik zu verbinden, schlage fehl, weil er den Aufbau der theoretischen Dynamik in den Principia nicht zu erklären vermag, d.h. den euklidischen Charakter einer rationalen Mechanik. Wenn etwa Paul Feyerabend vorschlägt, Newtons Formulierung „deduced from Phaenomena“ bereits als eine auf theoretischen Unterscheidungen beruhende Herleitung zu verstehen – bei diesen Phänomenen handle es sich nicht um „‚everyday facts pure and simple‘“, sondern um „‚an intimate synthesis of laws‘“ bzw. „‚an idealized and generalized description of the result that uses the terms of the theory under review‘“ – dann werde lediglich alles das schon in den Begriff des physikalischen Phänomens gesteckt, was später seinen theoretischen Anschluss an einen synthetischen Aufbau der Physik ausmachen soll. Die Aufgabe, „darzulegen, was bereits an Unterscheidungen in die Feststellung physikalischer Vorgänge eingegangen sein muß, damit diese als der erste Schritt einer physikalischen Erklärung aufgefasst werden können“, wäre mit diesem Vorschlag jedoch keineswegs gelöst (ebd., S. 16). 133 Johann Wolfgang Goethe: Zur Farbenlehre, in: ders.: Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche, I. Abteilung, Bd. 23/1, hrsg. v. Manfred Wenzel, Frankfurt/M. 1991, § 217, S. 386 f. sowie im Folgenden § 230, S. 389.

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feierlich verwahrten“,134 und noch pointierter spricht Hegel im Zusammenhang von Newton und Locke von einem „metaphysizierenden Empirismus“135: Physik, hüte dich vor Metaphysik, war sein [Newtons] Wahlspruch: d.h. also, Wissenschaft, hüte dich vor dem Denken. Und er sowohl als alle diese physischen Wissenschaftler bis diesen Tag haben treulich darauf gehalten, als sie sich nicht auf eine Untersuchung ihrer Begriffe, das Denken der Gedanken eingelassen haben. Die Physik kann aber doch nichts machen ohne Denken; ihre Kategorien, Gesetze hat sie nur durch das Denken, – ohne dasselbe geht es nicht. […] Newton wusste nicht, daß er Begriffe hatte und mit Begriffen zu tun hatte, während er mit physischen Dingen zu tun haben meinte, […] die Begriffe wie sinnliche Dinge handhabte und sie nahm, wie man Stein und Holz zu fassen pflegt.136

Bereits Berkeley dehnt seine Materialismuskritik auf die Sprache aus. Die prinzipielle „Neigung des Menschen, seine Begriffe zu verdinglichen“ [proclivity of mankind to realize their motions],137 sieht er vor allem im Gebrauch mathematischer Zeichen und Regeln und in deren Anwendung auf die Natur am Wirken. So würden die Anhänger der mathematischen Physik „durch ihre eigenen besonderen Zeichen irregeführt“, indem sie „die Brauchbarkeit einer Regel mit der Gewißheit einer Wahrheit“ verwechselten.138 Die Folge ist, dass sie „bei sich selbst und bei anderen den Eindruck [erwecken], als ob sie durch Zeichen ausgedrückte Dinge begriffen und verstünden, wenn sie in Wahrheit keine Idee, außer nur von den Zeichen selbst, haben“.139 Anstatt die mathematischen Grundbegriffe – wie die Sprache überhaupt – als Ergebnis gedanklicher Abstraktion anzuerkennen und ihren Wert auf einen pragmatisch-operationellen zu beschränken,140 werden sie einer ontologisch-metaphysischen Deutung unter|| 134 Immanuel Kant: Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft, in: ders.: Werke, Bd. IV: Schriften von 1783–1788, hrsg. v. Artur Buchenau u. Ernst Cassirer, Hildesheim 1973, S. 367–478, hier S. 374. 135 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, Bd. III (= Werke, Bd. 20), Frankfurt/M. 1971, S. 209. 136 Ebd., S. 231. 137 George Berkeley: Siris [1744], in: The Works of George Berkeley, Bishop of Cloyne, hrsg. v. Arthur A. Luce u. Thomas. E. Jessop, Bd. V, London 1953, S. 1–164, hier § 250. 138 George Berkeley: The Analyst [1734], in: ders.: Schriften über die Grundlagen der Mathematik und Physik, Frankfurt/M. 1969, S. 81–140, hier §§ 8, 10. 139 Ebd., § 36. 140 Nach Berkeley sind sowohl die Grundbegriffe der Arithmetik als auch der Geometrie „Produkte des menschlichen Geistes“ (George Berkeley: A Treatise Concerning the Principles of Human Knowledge [1710], in: ders.: Philosophical Works, hrsg. v. Michael R. Ayers, London 1975, S. 61–127; dt. Eine Abhandlung über die Prinzipien der menschlichen Erkenntnis, hrsg. v. Alfred Klemmt, Hamburg 1957, hier § 12). Auch die Zahlen – und dies gilt für alle „mathemati-

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worfen und mit der Natur der Dinge selbst identifiziert. Mit dieser ontologischen Identifikation von (mathematischer) Darstellungsform und (empirischem) Darstellungsgehalt verbindet sich für Berkeley eine ontologische Reduktion der gesamten Natur und Lebenswelt auf deren quantifizierbare und formalisierbare Strukturen:141 Obwohl die Mathematiker ihre Theoreme aus sehr einleuchtenden Fundamentalsätzen ableiten, so gehen doch ihre Prinzipien nicht über die Betrachtung der Quantität hinaus.142

Als Ergebnis der Abstraktion – im Sinne der „Isolierung eines Teils von einem Ganzen“ und damit des Absehens von allen nicht-isolierten oder nichtisolierbaren Teilen – kommt nach Berkeley allen Formen der begrifflichen Ver-

|| schen Entitäten“ – „hängen von der Vorstellung des Definierenden ab“, weshalb ihnen „in der Natur der Dinge kein feststehendes Wesen“ zukomme (George Berkeley: De Motu [1721], in: ders.: Philosophical Works, S. 209–227, hier § 67). In der Arithmetik würden daher nicht „Dinge“, sondern „Zeichen“ betrachtet, und zwar nicht um ihrer selbst willen, sondern wegen ihres praktischen Nutzens im Umgang mit den realen Dingen: „because they direct us how to act with relation to things, and dispose rightly to them“ (Berkeley: Principles, § 122). Ebenso ist die Geometrie eine „praktische Wissenschaft“ (Berkeley: Prinzipien, § 131), „eine bündige, exakte und methodische Art der Beweisführung […], die den Geist stärkt und schärft, und die, auf andere Bereiche übertragen, von allgemeinem Nutzen bei der Wahrheitssuche ist“ (Berkeley, Analyst, § 2). Auch sie hat es deshalb nicht unmittelbar mit den Eigenschaften der natürlichen Dinge selbst zu tun, sondern mit künstlichen Gebilden und Konstrukten, die zu bestimmten Darstellungszwecken vom Menschen geschaffen wurden. Die Allgemeinheit von Begriffen bezieht sich deshalb nie auf das Bezeichnete selbst, sondern auf den allgemeinen Gebrauch eines Zeichens (vgl. Berkeley, Prinzipien, § 12). 141 Diese ontologische Reduktion folgt nach Berkeley einer Überstrapazierung der analogischen Beziehung zwischen mathematischer Darstellung und dargestellter Natur. So heißt es im Kontext seiner Newtonkritik: „We are apt to lay too great a stress on analogies, and to the prejudice of truth, humour that eagerness of the mind, whereby it is carried to extend its knowledge into general theorems“ (Berkeley: Principles, § 106). Zu Berkeleys Kritik der physikalistischen Reduktion des organischen Lebens auf mechanische Prinzipien vgl. Berkeley: Siris § 232. 142 Berkeley: Prinzipien, S. 92. Nach Rehbock wendet sich Berkeley nicht gegen die Reduktion als eine Methode der „Rückführung der Vielfalt verschiedener Phänomene auf wenige gemeinsame Prinzipien“ (Theda Rehbock: Goethe und die ‚Rettung der Phänomene‘, S. 68) und damit der „abkürzenden, einförmigen und generalisierenden Darstellung unseres Wissens über die Natur, das ebenso ökonomisch wie umfassend zu sein vermag“ (ebd., S. 69), sondern gegen die Gleichschaltung von Methode und Ontologie. „Berkeley fordert also, gegenüber den empirisch feststellbaren, formalen Analogien und Ähnlichkeiten zwischen den Phänomenen zugleich ihre unaufhebbare qualitative Verschiedenartigkeit und Heterogenität, neben der formalmathematischen Grammatik der Natur zugleich ihre inhaltlich-materiale Semantik zu beachten und zu bewahren“ (ebd., S. 70).

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allgemeinerung, damit auch dem gesamten Apparat abstrakt-mathematischer Begriffe, dessen sich die Physik zur Darstellung ihrer Theorien bedient, ein lediglich hypothetisch-fiktionaler Charakter in ihrem Bezug auf die Wirklichkeit der Phänomene zu.143 Wie Berkeley stellt auch Hegel, freilich in gänzlich anderem philosophischen Begründungszusammenhang, den Wahrheitsanspruch einer mathematisch-quantifizierenden, das qualitative „Wesen“ einer Sache ausklammernden Erkenntnis in Frage: Die Evidenz dieses mangelhaften Erkennens, auf welche die Mathematik stolz ist, und womit sie sich auch gegen die Philosophie brüstet, beruht allein auf der Armut ihres Zwecks und der Mangelhaftigkeit ihres Stoffs, und ist darum von einer Art, die die Philosophie verschmähen muß. – Ihr Zweck oder Begriff ist die Größe. Dies ist gerade das unwesentliche, begrifflose Verhältnis. Die Bewegung des Wissens geht darum auf der Oberfläche vor, berührt nicht die Sache selbst, nicht das Wesen oder den Begriff, und ist deswegen kein Begreifen.144

Das durch die philosophische Szientismuskritik seit Berkeley aufgedeckte „empiristische Missverständnis“ (Mittelstraß), das vor allem darin besteht, dass sich die empirisch-neuzeitliche Physik seit ihren Anfängen uneingestanden im Rahmen eines rationalistisch vorgegebenen Kommunikationshorizonts berechenbarer Größenbeziehungen bewegt,145 impliziert der Sache nach Aspekte, wie sie auch für die ‚Two-Cultures‘-Debatten seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert charakteristisch sind. Die Mathematisierung der Natur durch die neuzeitliche Physik und die damit verbundene Reduktion des naturwissenschaftli|| 143 „Now, although such phantoms as corporeal forces, absolute motions, and real spaces do pass in physics for causes and principles, yet are they in truth but hypothesis, nor can they be the objects of real science. They pass nevertheless in physics, conversant about things of sense, and confined to experiments and mechanics“ (Berkeley: Siris § 293; Hervorhebung BM; vgl. auch ders.: De Motu §§ 6, 28, 39). – „Der Aussagegehalt der Theorien selbst, die mathematischen Gesetzmäßigkeiten der Erscheinungen, bleibt […] völlig erhalten, besitzt keinen rein fiktionalen Charakter. Er ist schlicht wahr oder falsch, je nachdem ob er empirisch bestätigt oder widerlegt wurde. Der hypothetisch-fiktionale Charakter betrifft lediglich die Form der (anschaulichen) Darstellung der Theorie mittels der Newtonschen oder vergleichbarer physikalischer Grundbegriffe“ (Rehbock: Goethe und die ‚Rettung der Phänomene‘, S. 74). 144 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie des Geistes, hrsg. v. Johannes Hoffmeister, Hamburg 1952, S. 37. 145 Ernst Cassirer sieht die Etablierung des neuzeitlichen Funktionalismus bereits bei Kepler angelegt: „Zur ‚Natur‘ – im neuen Sinne des Wortes – gehören nur solche Prozesse, die durch eine feste Regel der Größenbeziehung miteinander verknüpft und einander wechselseitig zugeordnet sind: der Funktionsbegriff ist es, der den Inhalt des Körperbegriffs, wie des Naturbegriffs abgrenzt und bestimmt“ (Ernst Cassirer: Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit, Berlin 1922 ff., Bd. 1, S. 355 f.).

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chen Wirklichkeitsbegriffs auf die primären, d.h. mathematisierbaren Qualitäten physikalischer Körper, geht notwendig einher mit einer „Subjektivierung der sekundären Qualitäten als ‚bloße‘ Empfindungen“146. Der Kern der philosophischen Kritik der klassischen Physik zielt weder auf die von dieser applizierten mathematisch-quantifizierende Methode noch auf die Begriffe, Prinzipien und Darstellungsformen, derer sie sich bedient; sie zielt vielmehr auf die unbewusst sich vollziehende ontologische Verdinglichung des methodischen und axiomatischen Bestands und auf den daraus sich ableitenden Absolutheits- und Universalitätsanspruch der physikalischen Natur-, Wirklichkeits- und Wahrheitsauffassung. Wissenschaftskritik, und dies werden die folgenden philosophischen und vor allem literarischen Analysen zeigen, ist selten Kritik an der Wissenschaft als eines spezifischen Erkenntnismodus, sondern Kritik an einer ihr nach nicht-wissenschaftlichen Maßstäben zugeschriebenen Wertigkeit.147 Diese (sprach-)philosophische Kritik an den Naturwissenschaften setzt sich vom ausgehenden 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart hinein fort. Stand vormals die unbewusste Metaphysik der Physik im Zentrum der Kritik, so ist es jetzt deren massive Tendenz, die historischen, lebensweltlichen, fiktionalmetaphorischen, im weitesten Sinne also kulturellen Voraussetzungen und Implikationen naturwissenschaftlicher Erkenntnis- und Darstellungsformen zu verdrängen. In Nietzsches umfassender Revolte gegen die traditionelle, nach seinem Verständnis mit der sokratischen Philosophie beginnende rationalistische Aufklärung148 wird der Intellekt – bis dato Kronzeuge der menschlichen Vorzugsposition innerhalb der Natur – zu einem bloßen „Mittel zur Selbsterhaltung des Individuums“ zurückgestutzt. Im Zuge dieser ‚Enthauptung‘ erweisen sich die

|| 146 Rehbock: Goethe und die ‚Rettung der Phänomene‘, S. 76. 147 Nicht die wissenschaftlichen Urteile sagen etwas über ihren eigenen Gütewert aus, sondern die nicht-wissenschaftliche Beurteilung dieser Urteile. Diese Beurteilung erfolgt letztlich in moralischen Kategorien: Ein wissenschaftliches Urteil ist ‚besser‘ als ein Erfahrungsurteil usw. Entscheidend ist, dass die nicht-wissenschaftliche Beurteilung und Wertbemessung (wie sie sich z.B. in der Hierarchisierung der Phänomenqualitäten in primäre und sekundäre, ebenso in der Hierarchisierung von wissenschaftlich und nicht-wissenschaftlich, von Begriff und Metapher, Wahrheit und Fiktion etc. zeigt, die ganze Bandbreite an Bewertungen eben, wie sie sich in der Sprache und den wiederum sprachlich konnotierten Werten von Wörtern ablagert) de facto-Folgen zeitigt, die verändernd in die Lebenswelt eingreifen (Stichwort: Ökonomisierung der Lebenswelt, Bildungspolitik, Anthropologie). 148 Vgl. dazu vor allem die kritischen Passagen in Friedrich Nietzsche: Die Geburt der Tragödie oder Griechentum und Pessimismus [1872], in: ders.: Werke in drei Bänden, hrsg. v. Karl Schlechta, München 71973, Bd. I, S. 70 ff.

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ontologischen Unterscheidungsdichotomien149 von Wirklichkeit und Schein, Wahrheit und Lüge, Begriff und Metapher, kurz: die gesamten Wissen repräsentierenden Ordnungsschemata der traditionellen Philosophie und Wissenschaft als Täuschung, Illusion und Verstellung: Schein wie ich es verstehe, ist die wirkliche und einzige Realität der Dinge […]. Ich setze also nicht ‚Schein‘ in Gegensatz zur ‚Realität‘, sondern nehme umgekehrt Schein als die Realität, welche sich der Verwandlung in eine imaginäre ‚Wahrheits-Welt‘ widersetzt.150 Die „scheinbare“ Welt ist die einzige: die „wahre Welt“ ist nur hinzugelogen.151

Die Universalisierung des Scheins als die Realität setzt alle Formen positiven Wissens von Mensch und Welt unter das Vorzeichen des Fiktiven und Imaginären: Ein „Ding an sich“ ebenso verkehrt wie ein „Sinn an sich“. Es gibt keinen „Thatbestand an sich“, sondern ein Sinn muß immer erst hineingelegt werden, damit es einen Thatbestand geben könne.“ (KGA VIII/1, 138)

Dieses ‚Hineinlegen‘ von Sinn ist nun freilich nicht mehr abgesichert durch einen absoluten Weltgeist und geschieht auch nicht länger im Rückgriff auf der Vernunft eingeborene Ideen oder transzendentale Kategorien, sondern ist ausschließlich aufgefasst als ein imaginärer, sinnentwerfender und sinnfingierender Vorgang, der letztlich durch einen leiblich-vital begründeten „Willen zur Überwältigung, Assimilation, Ernährung“ (KGA VII/3, 157) geleitet ist.152 Die

|| 149 „Der Grundglaube der Metaphysiker ist der Glaube an die Gegensätze der Werte. […] Es wäre sogar noch möglich, daß, was den Wert jener guten und verehrten Dinge ausmacht, gerade darin bestünde, mit jenen schlimmen, scheinbar entgegengesetzten Dingen auf verfängliche Weise verwandt, verknüpft, verhäkelt, vielleicht gar wesensgleich zu sein“ (Friedrich Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse, in: ders.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden (KSA), hrsg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari, München 1980, Bd. 4, S. 568. 150 Nietzsches Werke. Kritische Gesamtausgabe, hrsg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari, Berlin 1970 ff. (im Folgenden mit Band-, Abteilungs- und Seitenzahl zitiert unter der Sigle KGA), hier KGA VII/3, 386. 151 Friedrich Nietzsche: Götzen-Dämmerung, in: KSA 6, S. 75. 152 Nietzsches Kritik am idealistisch-dualistischen Denken berührt nicht zuletzt auch das vor allem erkenntnistheoretisch zementierte Verhältnis von Körper und Geist als eines hierarchischen oder gar oppositionellen. In überdeutlicher Schärfe beklagt er, „dass man die allerersten Instinkte des Lebens verachten lehrte; daß man eine ‚Seele‘, einen ‚Geist‘ erlog, um den Leib zuschanden zu machen“ (Friedrich Nietzsche: Ecce homo, in: Sämtliche Werke, Bd. I, S. 1157). Demgegenüber bindet Nietzsche alle Denkprozesse – in seinen Worten: alles „Imaginiren“ und „Interpretiren“ – an den Körper zurück und deutet sie als Projektionen physischer „Kraft“ und „Begierden“: „Das Ganze der organischen Welt ist eine Aneinanderfädelung von Wesen mit erdichteten kleinen Welten um sich: indem sie ihre Kraft, ihre Begierden […] außer sich setzen,

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‚klassischen‘ empiri(sti)schen und rational(istisch)en Erkenntnisparadigmen werden durch die fundamentale Bestimmung aller Denktätigkeit als ein „‚Interpretations-‘ und Imaginationsgeschehen“153 ausgehöhlt, die Faktizität der Welt – Inbegriff alles Seienden – als Fiktion und „Ausdichtung“ (KGA VIII/1, 112) veranschlagt. Es ist nahe liegend, dass Nietzsches Kritik vor allem auf jene Denkformen zielt, die mit einem – in Nietzsches Optik überaus naiven – Anspruch auf objektiv-allgemeingültige Erkenntnis und Wahrheit auftreten und genau aus diesem Grund der „Täuschung“ und „Lüge“ am meisten ‚aufsitzen‘. Was also ist Wahrheit? Ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen kurz eine Summe von menschlichen Relationen, die, poetisch und rhetorisch gesteigert, übertragen, geschmückt wurden, und die nach langem Gebrauche einem Volke fest, canonisch und verbindlich dünken: die Wahrheit sind Illusionen, von denen man vergessen hat, dass sie welche sind, Metaphern, die abgenutzt und sinnlich kraftlos geworden sind, Münzen, die ihr Bild verloren haben und nun als Metall, nicht mehr als Münzen in Betracht kommen. (KGA II/3, 374 f.)

Was sich unter dem metaphysischen Vokabular von Wahrheit, Erkenntnis, Notwendigkeit, Logik oder Begriff verbirgt, sind „Phantasieerzeugnisse“, die auf zufälligen rhetorischen Konventionen beruhen und den „ursprünglichen Wesenheiten ganz und gar nicht entsprechen“ (KGA II/3, 379 u. 373).154 Mehr als

|| als ihre Außenwelt. Die Fähigkeit zum Schaffen (Gestalten, Erfinden, Erdichten) ist ihre Grundfähigkeit“ (KGA VII/3, 352). Die Frage, welchen Seins- oder Schein-Status der Leib selbst in Nietzsches „Philosophie der Körperlichkeit“ (Zima) einnimmt – ob er seinerseits eine Projektion von Affekten und Kräften ist oder eine Art nicht- bzw. vorimaginäres ‚Transzendental‘ – beantwortet Nietzsche nicht eindeutig. So gibt er zwar zu bedenken: „Der Leib erweist sich immer weniger als Schein! Wer hat bis jetzt Gründe gehabt, den Leib als Schein zu denken?“ (KGA VII/3, 357), weist aber an anderer Stelle unmissverständlich darauf hin, dass jegliche Annahme einer nicht-scheinhaften Wirklichkeit lediglich einem anthropologischen Bedürfnis entspringt: „[…] daß die falschesten Annahmen uns gerade die unentbehrlichsten sind, daß ohne ein Geltenlassen der logischen Fiktionen […] der erfundenen Welt des Unbedingten […] der Mensch nicht leben kann.“ Es gelte, „die Unwahrheit als Lebensbedingung zu[zu]gestehn […]“ (KGA VII/3, 249). 153 Severin Müller: Faktizität als Fiktion. Nietzsches Konzeption des Imaginären, in: Nachdenken der Metaphysik. Alois Halder zum 70. Geburtstag, hrsg. v. Johann. E. Hafner, Severin Müller u.a., Augsburg 1989, S. 109–130, hier S. 117. 154 „Woher ist die Logik im menschlichen Kopf entstanden? Gewiß aus der Unlogik, deren Reich ursprünglich ungeheuer gewesen sein muß. Aber unzählig viele Wesen, welche anders schlossen, als wir jetzt schließen, gingen zugrunde: es könnte immer noch wahrer gewesen sein! Wer zum Beispiel das ‚Gleiche‘ nicht oft genug aufzufinden wusste, in betreff der Nahrung oder in betreff der ihm feindlichen Tiere, wer also zu langsam subsumierte, zu vorsichtig

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alle anderen Menschen begibt sich der vernunftdiktierte Wissenschaftler, Forscher und Philosoph unter die „Herrschaft der Abstractionen“: er leidet es nicht mehr, durch die plötzlichen Eindrücke, durch die Anschauungen fortgerissen zu werden, er verallgemeinert alle diese Eindrücke erst zu entfärbteren, kühleren Begriffen, um an sie das Fahrzeug seine Lebens und Handelns anzuknüpfen. Alles, was den Menschen vom Thier abhebt, hängt von dieser Fähigkeit ab, die anschaulichen Metaphern zu einem Schema zu verflüchtigen, also ein Bild in einen Begriff aufzulösen; im Bereich jener Schemata nämlich ist etwas möglich, was niemals unter den anschaulichen ersten Eindrücken gelingen möchte: eine pyramidale Ordnung nach Kasten und Graden aufzubauen, eine neue Welt von Gesetzen, Privilegien, Unterordnungen, Gränzbestimmungen zu schaffen, die nun der andren anschaulichen Welt der ersten Eindrücke gegenübertritt, als das Festere, Allgemeinere, Bekanntere, Menschlichere und daher als das Regulirende und Imperativische. (KGA II/3, 375 f.)

Galt Wahrheit bislang als ein Vorgang der Erhellung und Entbergung von Unbewusstem und Nichtgewusstem, so erscheint sie nun umgekehrt als ein historisch und unbewusst sich vollziehender Vorgang des Vergessens und Verbergens:155 Erkenntnis und Wahrheit sind ‚in Wahrheit‘ nicht gewusste Illusion. Im Zustand dieser Schein-Vergessenheit ignoriert der nach Wahrheit strebende Forscher, dass er „im Grunde nur die Metamorphose der Welt in den Menschen“ sucht; „er vergisst also die originalen Anschauungsmetaphern als Metaphern und nimmt sie als die Dinge selbst.“ (KGA II/3, 377) Er übersieht, dass Begriffe „durch Gleichsetzen des Nicht-Gleichen“ und damit „durch ein Vergessen des Unterscheidenden gebildet“ werden (KGA II/3, 374) und jeder Begriff „doch nur als das Residuum einer Metapher übrig bleibt“ (KGA II/3, 376). Vor allem aber verdrängt der in die „Sklavendienste“ (KGA II/3, 382) des Intellekts genommene Mensch sich selbst als freies, „künstlerisch schaffendes Subjekt“ (KGA II/3, 377). Die Gründe für diesen ausgeprägten ‚Oblivionismus‘ der Wissenschaften sind ambivalent: Das von Nietzsche angesprochene Stabilisierende und „Regulirende“, das den wissenschaftlichen Ordnungs- und Klassifikationsmodellen eignet, ermöglicht ein Leben „mit einiger Ruhe, Sicherheit und Consequenz“ (KGA II/3, 377) und dient darin dem ganz pragmatischen Zweck existentieller

|| in der Subsumption war, hatte nur geringere Wahrscheinlichkeit des Fortlebens als der, welcher bei allem Ähnlichen sofort auf Gleichheit riet“ (Friedrich Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft, in: Sämtliche Werke, Bd. III, S. 118 f.). 155 Vgl. KGA II/3, S. 375: „Er [der Mensch] lügt […] unbewusst und nach hundertjährigen Gewöhnungen – und kommt eben durch diese Unbewusstheit, eben durch dies Vergessen zum Gefühl der Wahrheit.“

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Selbsterhaltung.156 Ebenso weist gerade das wissenschaftlich errichtete „Columbarium der Begriffe“ (KGA II/3, 380) einen Zug des „Imperativischen“ und Imperialistischen auf, der das Streben nach Wahrheit als eine agonale Bewegung der „Aneignung und Einverleibung“ charakterisiert, die darauf zielt, die eigene partikulare „Ausdichtung“ der Welt gegenüber einer Vielzahl miteinander konkurrierender „erdichteter kleiner Welten“ durchzusetzen157 und „[d]em Werden den Charakter des Seins aufzuprägen“ (KGA VIII/1, 320)158: Der (szientifische) ‚Dichterfürst‘ ist Statthalter der Deutungsmacht! Naturwissenschaftliche ‚Wahrheiten‘ sind von diesen Befunden nicht ausgenommen. Auch naturwissenschaftliche Begriffe und mathematisch formulierte Naturgesetze sind das Ergebnis einer semiosis und poiesis, die jenem „Fundamentaltrieb des Menschen“, namentlich dem „Trieb zur Metapherbildung“ (KGA II/3, 381) entspringen: Sodann: was ist für uns überhaupt ein Naturgesetz; es ist uns nicht an sich bekannt, sondern nur in seinen Wirkungen d.h. in seinen Relationen zu anderen Naturgesetzen, die uns wieder nur als Relationen bekannt sind. Also verweisen alle diese Relationen immer nur wieder auf einander und sind uns ihrem Wesen nach unverständlich durch und durch; nur das, was wir hinzubringen, die Zeit, der Raum, also Successionsverhältnisse und Zahlen sind uns wirklich daran bekannt. Alles Wunderbare aber, das wir gerade an den Naturgesetzen anstaunen, das unsere Erklärung fordert und uns zum Misstrauen gegen den Idealismus verführen könnte, liegt gerade und ganz allein nur in der mathematischen Strenge und Unverbrüchlichkeit der Zeit- und Raum-Vorstellungen. Diese aber

|| 156 Der Mensch kennt nach Nietzsche nur einen utilitaristischen Wahrheitsbegriff: „Er begehrt die angenehmen, Leben erhaltenden Folgen der Wahrheit“ (KGA II/3, 372). 157 „Alles Geschehen, alle Bewegung, alles Werden als ein Feststellen von Grad- und Kraftverhältnissen, als ein Kampf“ (KGA VIII/2, 49). „Die Aneignung und Einverleibung ist vor allem ein Überwältigen-wollen, ein Formen, An- und Umbilden, bis endlich das Überwältigte ganz in die Macht des Angreifers übergegangen ist und denselben vermehrt hat“ (ebd., 88). Entsprechend ist in Nietzsches Denken der „Wille zum Schein, zur Illusion, zur Täuschung, zum Werden und Wechsel“ (KGA VIII/3, 21) synonym mit dem „Willen zur Macht“: „Der Wille zur Macht interpretirt […] er grenzt ab, bestimmt Grade, Machtverschiedenheiten“ (KGA VIII/1, S. 137). Zum wechselseitigen Bestimmungszusammenhang von ‚Imagination‘, ‚Fiktionalität‘ und ‚Wille zur Macht‘ vgl. Müller: Faktizität als Fiktion, bes. Abschnitt 3.3 und 3.4. 158 Das Zitat endet mit dem Zusatz: „das ist der höchste Wille zur Macht“. – Selbsterhaltung, Selbst-Sorge und Selbstbehauptung greifen hier unabdingbar ineinander. Das emsige Interpretationstreiben der Wissenschaft ist zugleich macht- und ohnmachtmotiviert: Es ist „Mittel selbst, um Herr über etwas zu werden“ (KGA VIII/1, 138) und zugleich schützendes Bollwerk gegen die „furchtbare[n] Mächte, die fortwährend auf ihn [den Forscher] eindringen, und die der wissenschaftlichen Wahrheit ganz anders geartete ‚Wahrheiten‘ mit den verschiedenartigsten Schildzeichen entgegenhalten“ (KGA II/3, 380).

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produciren wir in uns und aus uns mit jener Nothwendigkeit, mit der die Spinne spinnt. (KGA II/3, 379)

Auch das naturwissenschaftliche Wissen – einschließlich der Mathematik – ist nicht referentiell gedacht, sondern relationell: Wie alle Signifikanten bezeichnen auch Naturgesetze, Formeln und Zahlen lediglich „die Relationen der Dinge zu den Menschen“ (KGA II/3, 373), sind also Produkte jener metaphorischen „Kraft“ und „Begierden“, die sich selbst unablässig in die Textur von Außenwelt projizieren und übersetzen, ohne je die originale und originäre Verfasstheit des Naturgeschehens erschließen zu können. Dabei verdichten sich in Nietzsches Vergleich mit der ‚spinnenden Spinne‘ die wesentlichen Merkmale, die dieser Textur eignen: ihre leiblichen Wurzeln – alle Sprachzeichen sind körperlich erzeugte Symptome –, ihre komplex, kontingent und permutativ verwobene Struktur – der Text als ein „Netzwerk unerschöpfbarer Relationen“,159 ohne Grenzen, ohne Zentrum, ohne Ziel –, ihre Wandelbarkeit, Fragilität und Brüchigkeit – (Schein-)Ordnungsmuster können jederzeit durchkreuzt, variiert und aufgelöst werden –, ihr asignifikativer und referenzloser ‚Zustand‘ – die Löcher und Leerstellen im Netz sind ihrerseits metaphorische Verweisungen auf das schlechterdings uneinholbare ‚Wirkliche‘ und zugleich auf die nichtsbedeutende und nichts-repräsentierende Nichtigkeit der Zeichen selbst. Am Beispiel von Nietzsches Anmerkungen zur Mechanik und Logik wird noch einmal deutlich, dass der Wissenschaftler – gleich der Spinne – unablässig am Netz einer phantastischen Episteme spinnt, in der die „unfassbare flüssige Protheus-Natur“ (KGA III/3, 386) sich darstellt, als ob es sich um eine begriffene Welt von bestehenden Fakten, Kausalitäten und Notwendigkeiten handelte: Die Mechanik als eine Lehre der Bewegung ist bereits eine Übersetzung in die Sinnensprache des Menschen. […] Die mechanistische Welt ist so imaginiert […], daß ursächliche Einheiten fingiert sind, ‚Dinge‘ (Atome), deren Wirkung constant bleibt […]. (KGA VIII/3, 50 f.) 160 Das Muster einer vollständigen Fiction ist die Logik. Hier wird ein Denken erdichtet […] alle Affekte, alles Fühlen und Wollen wird hinweg gedacht. Es kommt dergleichen in der Wirklichkeit nicht vor: diese ist unsäglich anders complicirt. (KGA VII/3, 225)

|| 159 Umberto Eco: Das offene Kunstwerk, übers. v. Günter Memmert, Frankfurt/M. 1973, S. 31. 160 Vgl. KGA VIII/3, 94: „der Begriff ‚Atom‘ die Unterscheidung zwischen einem ‚Sitz der treibenden Kraft und ihr selber‘ ist eine Zeichensprache aus unserer logisch-psychischen Welt her.“

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Unmissverständlich hebt Nietzsche hier die „poiesis der mathesis“161 hervor und weist das wissenschaftliche Verhalten zur Welt als ein „höchstens […] ästhetisches Verhalten“ (KGA II/3, 378)162 aus. Mit dieser Formulierung ist zum einen jenes „Rohmaterial“ und „Sensationen-Wirrwarr“ umschrieben, von dem der Mensch irrtümlich annimmt, es handle sich um sinnlich vermitteltes Daten-, Fakten- und Informationsmaterial (vgl. KGA VII/3, 157 u. KGA VIII/2, 47),163 zum anderen – und vor allem – sind damit jene poietisch-experimentellen und künstlerisch-expressiven Leibespraktiken des Gestaltens, Formens, Plastizierens, Erfindens, Ordnens und Dichtens bezeichnet, welche die Pluralität von Alltags-, Kunst- und Wissenschaftswelten erzeugen. Zwar sind in dieser Deutung alle Menschen Künstler, gleichwohl erlaubt ihr „ästhetisches Verhalten“ und Verhältnis in der Welt und zur Welt Differenzierungen, die Nietzsche am Maßstab des ‚Lebendigen‘ selbst – jener herakliteischen „Protheus-Natur“ – vornimmt. Seine Bestimmungen kreisen letztlich um die Vorstellung humaner Selbstauslegung im Zeichen einer gesteigerten Lebendigkeit,164 die nur im freiheitlichen Entwurf immer neuer „Ausdichtungen“ von Welt ‚verwirklicht‘ werden kann. Der wissenschaftliche Intellekt, der sich im Besitz der Wahrheiten des Lebens wähnt, ist letztlich ein Lebensflüchtiger, der sich hinter einem „Bollwerk“ (KGA II/3, 380) allgemeiner, abstrakter Begriffe – ihrerseits nur verflüchtigte, hart- und starr-gewordene Metaphern – verschanzt

|| 161 Terminus entlehnt von Andreas Kilcher: mathesis und poiesis. Die Enzyklopädik der Literatur 1600 bis 2000, München 2003, S. 327. 162 KGA II/3, 378: „[…] zwischen zwei absolut verschiedenen Sphären wie zwischen Subjekt und Objekt giebt es keine Causalität, keine Richtigkeit, keinen Ausdruck, sondern höchstens ein ästhetisches Verhalten, ich meine eine andeutende Übertragung, eine nachstammelnde Übersetzung in eine ganz fremde Sprache.“ 163 Ausdrücklich spricht Nietzsche vom „Glaube[n] an die Sinne“ und stellt damit im Grunde nicht nur den ‚Gehalt‘ sinnlicher Wahrnehmung unter das Verdikt des Hypothetischen, sondern er rückt auch den Vorgang der Wahrnehmung und des Affiziert-Werdens, die „Faktizitätsgeltung der ‚Sinnlichkeit‘“ und damit „‚die Sinne‘ […] selbst in den Bereich des Fiktionalen“ (Müller: Faktizität als Fiktion, S. 116). Nach Müller, der Nietzsches Ausführungen zur Sinnlichkeit vor dem Hintergrund der sensualistischen Philosophie John Lockes liest, stellen die Sinnesempfindungen „‚Signale‘ dar, welche die Begegnung mit ‚Welt‘ melden – ohne Mitteilung von der Eigenart der begegnenden Realitäten“ (ebd., S. 115). 164 Nietzsches Metapher vom „Übermenschen“ hat bekanntlich eine Vielzahl von Interpretationen veranlasst; im gegenwärtigen Kontext ist das Bild in eine ästhetische Praxis zu integrieren, in der sich das menschliche Subjekt aus seinem kreativen Handeln nicht ausschließt, sondern einbezieht. Der „Übermensch“ ist damit auch Postulat: Aufforderung zur unablässigen Selbstgestaltung, Selbstausformung, Selbstausdeutung, die permanente Überwindung und Überschreitung des Selbst auf immer neue und andere Selbstperspektiven hin.

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und sich auf diese Weise das Leben buchstäblich ‚vom Leibe hält‘;165 seine Lebensvollzüge sind geprägt durch die „sokratische Tendenz“, die ‚Welt‘ in die „Zwingburg“ (KGA II/3, 381) epistemologischer Korrespondenz-, Klassifikationsund Kategorialsysteme einzusortieren und sich selbst zum Sklaven seines eigenen „Begriffsgott[es]“ (KGA II/3, 376) zu erniedrigen. Demgegenüber lässt sich der künstlerische Intellekt in seinen Äußerungen von der „Unmittelbarkeit der Täuschung“ (KGA II/3, 383) leiten; das unendliche Potential an ‚Interpretierbarkeiten‘, das er in der Welt und als Welt vorfindet, ist ihm Ausgangsmaterial seines dekonstruktiven Schaffens: Mit schöpferischem Behagen wirft er die Metaphern durcheinander und verrückt die Gränzsteine der Abstraktion […]. Jenes ungeheure Gebälk und Bretterwerk der Begriffe, an das sich klammernd der bedürftige Mensch sich durch das Leben rettet, ist dem freigewordenen Intellekt nur ein Gerüst und Spielzeug für seine verwegensten Kunststücke: und wenn er es zerschlägt, durcheinanderwift, ironisch wieder zusammensetzt, das Fremdeste paarend und das Nächste trennend, so offenbart er, dass er jene Nothbehelfe der Bedürftigkeit nicht braucht, und dass er nicht von Begriffen sondern von Intuitionen geleitet wird. Von diesen Intuitionen aus führt kein regelmässiger Weg in das Land der gespenstischen Schemata, der Abstraktionen: für sie ist das Wort nicht gemacht, der Mensch verstummt, wenn er sie sieht, oder redet in lauter verbotenen Metaphern und unerhörten Begriffsfügungen, um wenigstens durch das Zertrümmern und Verhöhnen der alten Begriffsschranken dem Eindrucke der mächtigen gegenwärtigen Intuition schöpferisch zu entsprechen. (KGA II/3, 382)

Beiden, dem „vernünftigen“ wie dem „intuitiven“ Menschen ist gemein, dass sie „über das Leben zu herrschen [begehren]“: die einen, indem sie es zähmen, vereinheitlichen, normieren und anästhesieren, die andern, indem sie es entfesseln, verfremden, ironisieren, desorganisieren und das sich Darbietende in

|| 165 Es sei, so Nietzsche in seiner Beschreibung der wissenschaftlich-sokratischen Kultur, „ja das Merkmal jenes ‚Bruches‘, von dem jedermann als von dem Urleiden der modernen Kultur zu reden pflegt, daß der theoretische Mensch vor seinen Konsequenzen erschrickt und unbefriedigt es nicht mehr wagt, sich dem furchtbaren Eisstrome des Daseins anzuvertrauen: ängstlich läuft er am Ufer auf und ab. Es will nichts mehr ganz haben, ganz auch mit aller der natürlichen Grausamkeit der Dinge. Soweit hat ihn das optimistische Betrachten verzärtelt“ (Nietzsche: Geburt der Tragödie, S. 55). Während „die Wissenschaft, von ihrem kräftigen Wahne angespornt, unaufhaltsam bis zu ihren Grenzen“ eile, „an denen ihr im Wesen der Logik verborgener Optimismus scheitert“, treffe „doch der edle und begabte Mensch noch vor der Mitte seines Daseins und unvermeidlich, auf solche Grenzpunkte der Peripherie, wo er in das Unaufhellbare starrt. Wenn er hier zu seinem Schrecken sieht, wie die Logik sich an diesen Grenzen um sich selbst ringelt und endlich sich in den Schwanz beißt – da bricht die neue Form der Erkenntnis durch, die tragische Erkenntnis, die um nur ertragen zu werden, als Schutz und Heilmittel die Kunst braucht“ (ebd., S. 86 f.).

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endlosen Variationen perspektivieren, überformen, steigern. Während Nietzsche in seiner kleinen Schrift „Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne“ nicht ganz ohne Bewunderung für den sokratisch-„vernünftigen“ Menschentypus ist – dieser vermag sich gerade im Unglück auf meisterhaft stoische Weise zu verstellen (vgl. KGA II/3, 384) –, prognostiziert er ihm in seiner zeitgleich entstandenen „Geburt der Tragödie“ den Umschlag in „tragische Resignation und Kunstbedürftigkeit“ angesichts des „Unaufhellbaren“.166 Seiner eigenen Epoche, die Nietzsche am Kulminations- und Wendepunkt einer geschichtlichen, vom sokratischen Geist durchwehten Kulturbewegung angekommen sieht, prophezeit er „das allmähliche Erwachen des dionysischen Geistes“:167 Das in die Aporien seiner Rationalität verstrickte sokratischwissenschaftliche Kulturparadigma – und mit ihm das begrifflich-abstrakte Sprachparadigma – wird nicht umhin können, erneut mit seinem „verhüllten Untergrunde“168 des Dionysisch-Tragischen – und mit ihm des triebhaft verwurzelten Metaphorischen – konfrontiert zu werden. Die Restriktion humaner Vernunft auf eine ausschließlich am Paradigma der Objektivität orientierte wissenschaftliche Rationalität bildet – bei allen grundsätzlichen Differenzen zu Nietzsche – auch den Ausgangspunkt für Husserls Wissenschaftskritik. Die „Krisis der europäischen Wissenschaften“ sieht Husserl wissenschaftshistorisch begründet durch eine sich „schon bei Galilei vollziehende Unterschiebung der mathematisch substruierten Welt der Idealitäten für die einzig wirkliche, die wirklich wahrnehmungsmäßig gegebene, die je erfahrene und erfahrbare Welt – unsere alltägliche Lebenswelt“.169 Diesen Vorgang, der unter der Maßgabe geschieht, die Welt in ihrem Ansichsein, frei von aller Subjektivität und Relativität zu erkennen, beschreibt Husserl als einen Prozess der Sedimentierung, im Zuge dessen durch Idealisierung und Konstruktion an die Stelle der realen Praxis die „ideale Praxis eines ‚reinen Denkens‘“ (K

|| 166 Nietzsche: Geburt der Tragödie, S. 87. 167 Gerade in der Wiederkehr des dionysisch Verdrängten „gewahren wir die in Sokrates vorbildlich erscheinende Gier der unersättlichen optimistischen Erkenntnis in tragische Resignation und Kunstbedürftigkeit umgeschlagen“ (ebd., S. 87). 168 Ebd., S. 34. Das „Erwachen des dionysischen Geistes“ denkt Nietzsche als einen rückläufigen historischen Prozess, innerhalb dessen das sokratische Paradigma der Weltauslegung erneut durch das (vor-sokratisch) dionysisch-tragische abgelöst werden wird (vgl. ebd., S. 109 f.). 169 Edmund Husserl: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Eine Einleitung in die phänomenologische Philosophie, hrsg., eingel. u. mit Registern versehen v. Elisabeth Ströker, Hamburg 1996, S. 52, im Folgenden unter der Sigle K zitiert.

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25) rückt und vorwissenschaftlich praktisches in ein rein theoretisches Interesse sich umstellt (vgl. K 27). Einer solchen Idealisierung und Interessensverschiebung verdankt sich, wie Husserl am Beispiel der Galileischen Physik zeigt, der Übergang von der empirischen Messkunst und ihrer praktisch objektivierenden Funktion „in das rein geometrische Denkverfahren“ (K 27) und schließlich in Arithmetisierung und Formalisierung der Geometrie, ein Prozess, der mit der zunehmenden „Entleerung ihres Sinnes“ (K 47) korreliert. Die Metamorphose der geometrischen Bedeutung – ‚ursprünglich‘ zurückweisend auf die „vorwissenschaftlich-anschauliche Umwelt“, später „kunstmäßig“ zur „Methodik des ausmessenden und überhaupt messenden Bestimmens“ (K 26) verfeinert und schließlich „in pure Zahlengestalten, in algebraische Gebilde“ (K 46) verwandelt – beschreibt Husserl als eine symbolische Sinnverschiebung (vgl. K 47), die den Ursprung mathematisch-naturwissenschaftlicher Erkenntnis in der empirischen Lebenswelt ebenso verdeckt wie ihren auf eben diese Lebenswelt bezogenen Zweck (vgl. K 53 f.). Das Versäumnis, die transzendentalen Bedingungen von Abstraktion und Idealisierung in Vorgegebenheiten der vorwissenschaftlich-anschaulichen Lebenswelt zu reflektieren, führte letztlich dazu, dass wir mit dem mathematischen „Ideenkleid für wahres Sein nehmen, was eine Methode ist“ (K 55). Das Ideenkleid „Mathematik und mathematische Naturwissenschaft“, oder dafür das Kleid der Symbole, der symbolisch-mathematischen Theorien, befaßt alles, was wie den Wissenschaftlern, so den Gebildeten als die „objektiv wirkliche und wahre“ Natur die Lebenswelt vertritt, sie verkleidet. Das Ideenkleid macht es, daß wir für wahres Sein nehmen, was eine Methode ist, – dazu da, um die innerhalb der lebensweltlich wirklich Erfahrenen und Erfahrbaren ursprünglich allein möglichen rohen Voraussichten durch „wissenschaftliche“ im Progressus in infinitum zu verbessern: die Ideenverkleidung macht es, daß der eigentliche Sinn der Methode, der Formeln, der „Theorien“ unverständlich blieb und bei der naiven Entstehung der Methode niemals verstanden wurde. (K 55 f.)

Was Husserl im Kern kritisiert, ließe sich als eine Art ‚Wissenschaftsästhetizismus‘ beschreiben: Durch das „freie Umphantasieren dieser Welt und ihrer Gestalten“ (K 53) in eine Sprache formal-abstrakter Symbole wird der „Schein“ einer selbstevidenten, „eigenständigen, absoluten Wahrheit“ (K 53) erzeugt, die vorgibt, die „‚objektiv wirkliche und wahre‘ Natur“ (K 56) zu sein: „die an sich mathematische Natur, die in Formeln gegebene, aus den Formeln heraus zu interpretierende“ (K 57).170 Die Referentialität einer solchen „an sich“ gedeuteten „mathematischen Natur“ ist dann bloße, sinnentleerte Selbstreferentialität.

|| 170 Ausdrücklich nimmt Husserl die neue Physik von diesem Vorwurf nicht aus (vgl. K 57).

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Mathematik ist fortan die „bloße Kunst, durch eine rechnerische Technik nach technischen Regeln Ergebnisse zu gewinnen, deren wirklicher Wahrheitssinn nur in einem an den Themen selbst und wirklich geübten sachlich-einsichtigen Denken zu gewinnen“. Das „ursprüngliche Denken“ hingegen, „das diesem technischen Verfahren eigentlich Sinn und den regelrechten Ergebnissen Wahrheit gibt […], ist hier ausgeschaltet“ (K 49). Ähnlich wie bei Berkeley und Goethe richtet sich Husserls Wissenschaftskritik nicht gegen die mathematische Methode und die durch diese ermöglichten Leistungen (Exaktheit, Objektivität, Allgemeinheit, Prognostizierbarkeit); vielmehr wendet sie sich gegen die naive Universalisierung und Ontologisierung von naturwissenschaftlicher Rationalität und Weltauffassung, naiv, weil in ihr die „Lebenswelt als vergessenes Sinnesfundament der Naturwissenschaften“ (K 52) unhinterfragt bleibt. So legitimiert Husserl den von ihm wissenschaftshistorisch aufgezeigten „Fortgang von sachhaltiger Mathematik zu ihrer formalen Logifizierung“ und damit zur „Verselbständigung der erweiterten formalen Logik als reiner Analysis oder Mannigfaltigkeitslehre“ (K 50) als rechtmäßig und notwendig, sofern dafür Sorge getragen ist, dass hierbei gefährliche Sinnverschiebungen vermieden bleiben, und zwar dadurch, dass die ursprüngliche Sinngebung der Methode, aus welcher sie den Sinn einer Leistung für die Welterkenntnis hat, immerfort aktuell verfügbar bleibt; ja mehr noch, dass sie von aller unbefragten Traditionalität befreit wird, die schon in der ersten Erfindung der neuen Idee und Methode Momente der Unklarheit in den Sinn einströmen ließ (K 50).

Der ideale Wissenschaftler wäre demnach zugleich Wissenschaftstheoretiker und -historiker, meint doch das von Husserl postulierte Rückfragen auf die „unbefragte Traditionalität“ im Kern nichts weniger als die umfassende Explikation jener „durch Sedimentierung bzw. Traditionalisierung verschlossenen Sinnes-Implikationen“ als den „beständigen Voraussetzungen [wissenschaftlicher] Gebilde, Begriffe, Sätze, Theorien“ (K 56). Was es demnach aufzudecken und präsent zu halten gilt, ist die Kontinuität und das Bedingungsverhältnis von empirischer Lebenswelt und theoretisch-wissenschaftlicher Methode. Geleitet von der Norm eines „ursprünglichen Rechtes aller Gegebenheiten“171 obliegt es der transzendentalen Phänomenologie, die verdrängte Geschichts- und Lebenswelt zu rekonstruieren. Diese „Besinnung auf den Ursprungssinn der neuen Wissenschaften“ (K 63) und ihre „Lebensbedeut-

|| 171 Edmund Husserl: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, Erstes Buch (= Husserliana Bd. 3), hrsg. v. Walter Biemel, Den Haag 1950, S. 57.

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samkeit“ erfordert eine „Umkehrung der Blickrichtung“: weg von der habitualisierten „natürlichen Einstellung“ der Tatsachenwissenschaften, die das faktische Wirklichsein einer Sache fraglos und selbstverständlich voraussetzt, hin zu einer „phänomenologischen Einstellung“, die über die Wahrnehmung der „reinen Selbstgegebenheit“ der Phänomene zurückführt „auf die erkennende Subjektivität als Urstätte aller objektiven Sinnbildungen und Seinsgeltungen“ (K 110). Gegenüber den traditionellen Vorstellungen einer ‚reinen‘ Wissenschaftssprache – sei diese a priori der humanen Vernunft eingeprägt oder a posteriori auf dem Weg induktiver Abstraktion allererst zu gewinnen – weist Husserl, ohne dabei freilich explizite Sprachkritik zu betreiben, wiederholt auf deren artifiziellen Charakter hin. Die Arbeit am wissenschaftlichen Begriff ist eine „kunstmäßige Arbeit“ (K 53), ein historisch sich vollziehender Prozess des „Umphantasierens“ von konkret-anschaulich Gegebenem in „‚mathematische Existenz‘ schaffende Konstruktionen“, des Übersetzens (metaphorein) aus einer Symbolsprache in eine andere, der „Verwandlung“ und Verkleidung schließlich des „wesentlichen Sinns der vorgegebenen Welt“ (K 54). Mit diesen Beschreibungen rückt Husserl die hochgradig formalisierte und selbstreferentielle Sprache der Wissenschaft in eigentümliche Nähe zu dem, was er an anderer Stelle als phantasiertes „Bildobjekt“ definiert: Das Bildobjekt bedeutet nichts, […] es weist nicht von sich weg, aus sich heraus, sei es auch auf ein Ähnliches, das als ein anderes gegenüber dem schon bildlich Erscheinenden sich geben würde […], sondern in sich hinein.172

Der fehlende repräsentative Bezug zur Wirklichkeit, die Bedeutungsleere, die monadische Geschlossenheit, darüber hinaus aber auch die Monologizität und Konsistenz – „frei von Widerstreitsbewußtsein“173 –, die nach Husserl das „Phantasieren im Stil der Einstimmigkeit“ und die darin entworfenen „quasiWirklichkeit[en]“ kennzeichnet, die Gefahr, den imaginierten Gegenstand für wirklich zu nehmen, während „die wirkliche Welt vor unseren Blicken fast versinkt“174 und nicht zuletzt das metamorphotische und poietische Potential, „immer neue Welten schaffen […] und eine gegebene Welt […] im Sinne der

|| 172 Edmund Husserl: Phantasie, Bildbewußtsein, Erinnerung. Zur Phänomenologie der anschaulichen Vergegenwärtigungen. Texte aus dem Nachlaß (1898–1925) (= Husserliana Bd. 23), hrsg. v. Eduard Marbach, Den Haag, Boston u.a. 1980, S. 37. 173 Hier und im Folgenden ebd., S. 534 f. 174 Ebd., S. 42.

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Unstimmigkeit mit einer vorher gestalteten“175 schaffen zu können: in all dem koinzidieren Phantasiegebilde und Wissenschafts-„Kunst“ und sind zugleich als Kontrahenten jener die Realität sui generis in den Blick nehmenden und in ihrer „gesamten Sinnhaftigkeit“ (K 12) vergegenwärtigenden ‚anderen‘ Wissenschaft der phänomenologischen Philosophie ausgewiesen. Bei aller konzedierten methodischen Funktionalität der mathematischen Sprache – Husserl spricht vom „Methoden-Sinn, der seine eigene Verständlichkeit hat im Operieren mit den Formeln und deren praktischer Anwendung, der Technik“ (K 57) –, ist die so genannte „naive“ und „kunstlose“ Sprache des Lebens dem zu suchenden „eigentlichen“ Sinn näher. Dem entsprechend vermag die phänomenologische Philosophie ihr Ziel, nämlich auf die „vor- und außerwissenschaftliche Lebenswelt, welche alles aktuelle Leben, auch das wissenschaftliche Denkleben in sich faßt und als Quelle der kunstvollen Sinnbildungen nährt“ (K 64), zurückzugehen, nur dann zu erreichen, wenn sie in ihren philosophischen Reflexionen an der „naiven Sprechweise des Lebens“ orientiert bleibt. Der Weg des Zurückfragens nach dem „historischen Ursprungssinn, vornehmlich nach dem Sinn aller darin unbesehen übernommenen und desgleichen aller späteren Sinneserbschaften“ (K 61), ist damit ganz wesentlich auch als ein sprachliches Vollzugsgeschehen charakterisiert: Als Speicher von Sinnsedimentierungen ist es die Sprache selbst, die fragend und reflektierend ‚durchschritten‘ und in ihren historischen ‚Schichtungen‘ und den darin jeweils eingelagerten referentiellen Wirklichkeitsbezügen freigelegt werden muss. So sehr Nietzsche und Husserl in ihrer Auffassung dessen, was Wirklichkeit und Wirklichkeitswahrnehmung meinen, voneinander abweichen, so sehr stimmen sie doch in ihrer fundamentalen Kritik an der Wissenschaftssprache überein: Die Sprache der Wissenschaft ist eine metaphorisch verdichtete, artifizielle Sprache, die ihre Wirkungsmächtigkeit dem Vergessen und Verdrängen ihres metaphorischen Status (Nietzsche) bzw. der Überdeckung und Ausschaltung ihres lebensweltlichen Sinnesfundaments (Husserl) verdankt und solcherart ‚purifiziert‘ selbst an die Stelle der Wirklichkeit rückt. Während Husserl freilich an der Möglichkeit einer transzendentalphänomenologischen Erschließung und unverstellten Inblicknahme der Wirklichkeit und damit an der Möglichkeit festhält, die Dinge selbst in einem buchstäblichen und eigentlichen Sinne zu sagen, zugleich aber, wie Nietzsche, die Differenz zwischen Metapher und Begriff als eine graduelle und nicht länger prinzipielle beschreibt (mathematische Formeln und wissenschaftliche Begriffe als Kulminationspunkte symbolischer Verdichtung), ist Nietzsche vermutlich der erste, der aus der konsta|| 175 Ebd., S. 536.

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tierten Unhintergehbarkeit des Figurativen auch die entsprechenden epistemologischen Konsequenzen zieht und die Unmöglichkeit eines transzendentalphilosophischen oder metaphysischen Zugangs zur Wirklichkeit konstatiert. Linienverlängert führen diese Positionen bekanntlich mitten hinein in den Poststrukturalismus. Auch nach dekonstruktivistischem Verständnis unterliegt der Begriff einer progredierenden Verzeitlichung, die mit Sinnverschiebungen, überdeckungen und -anreicherungen einhergeht und ihn gegen die Annahme einer eindeutig fixierbaren, präsenz- und referenzverankerten Identität resistent macht. Was sich im Gewand eines homogenen Namens versammelt, ist letztlich die Summe der historisch angewachsenen Polyvalenz der ‚in seinem Namen‘ getätigten Einschreibungen. Mit Derridas Auffassung, dass es nichts gebe, „was nicht mit der Metapher und durch die Metapher geschähe“, gelangt der von Nietzsche inaugurierte Prozess, in dem „wahre Welt endlich zur Fabel wurde“ (KSA 6, 80), an einen philosophischen Kulminationspunkt. Die Universalisierung des Metaphorischen zum „allgegenwärtigen Prinzip der Sprache“ führt in der Konsequenz nicht nur in den Entzug buchstäblicher, referentieller, ‚welthaltiger‘ Begriffssprache, sondern paradoxerweise auch in den „Entzug der Metapher“ selbst, man müsste sagen in ihre Entzüge; sie zieht sich zurück von der Szene der Welt, sie entzieht sich ihr im Moment ihrer übermäßigen Ausbreitung, im Augenblick, in dem sie jede Grenze überschreitet. Ihr Entzug hätte somit die paradoxale Form einer unbotmäßigen und überbordenden Insistenz, einer überschwenglichen Remanenz, einer eindringlichen Wiederholung.176

Die Vorstellungen und Begriffe, die wir von der Welt haben, sind demzufolge nicht länger in einem Verhältnis der Übereinstimmung und Korrespondenz zu Wahrnehmung und Wirklichkeit zu denken, sondern erweisen sich als nachträgliche Sekundäreffekte jenes primär metaphorischen Sprachgeschehens, das Derrida als ein unendliches „Spiel der différance“177 umschreibt. Was immer in

|| 176 Jacques Derrida: Der Entzug der Metapher, in: Die paradoxe Metapher, hrsg. v. Anselm Haverkamp, Frankfurt/M. 1998, S. 197–234, hier S. 200. 177 Jacques Derrida: Positionen, Wien, Graz 1986, S. 50. „Spiel“, so Derrida andernorts, „wäre der Name für die Abwesenheit des transzendentalen Signifikats als Entgrenzung des Spiels, das heißt als Erschütterung der Onto-Theologie und der Metaphysik der Präsenz“ (Jacques Derrida, Grammatologie, übers. v. H.-J. Rheinberger u. H. Zischler, Frankfurt/M. 1974, S. 87). Es handele sich mit Nietzsche um „die fröhliche Bejahung des Spiels der Welt. Sie spielt, ohne sich abzusichern“ (Jacques Derrida: „Die Struktur, das Zeichen und das Spiel im Diskurs der Wissenschaften vom Menschen“, in: ders.: Die Schrift und die Differenz, übers. v. R. Gasché, Frankfurt/M. 1976, S. 422–442, hier S. 441).

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diesem referenzlosen Signifikantenspiel als Illusion bedeutsamer Erkenntnis und Wahrheit sich einstellt, sind letztlich instabile und temporäre Figurationen, die sich im Vollzug sprachlicher Differenzierungen vorübergehend von anderen Figurationen abheben. Die Unmöglichkeit einer adaequatio rei et intellectus (sive repraesentationis) und damit auch die Unmöglichkeit einer wissenschaftlichen Erschließung und Vergegenständlichung von Welt und Natur, lässt Referentialisierung als ein ausschließlich innersprachliches Geschehen erscheinen: Referentialisierung meint demnach die Aktualisierung singulärer Bedeutungskomponenten einer sprachlich heterogenen Einheit, eine dekonstruktive ‚Arbeit am Begriff‘, die nur in Relation zu anderen sprachlichen Einheiten vollzogen werden kann und die ihrerseits den Prozess der ‚Heterogenisierung‘ des sprachlichen Zeichens im Sinne des Zerstreuens und Aufschiebens der in ihm ‚konservierten‘ Referenten und Bedeutungseinheiten perpetuiert.178 Diese Auffassung vom „Diskurs der Wissenschaften“179 als eines unhintergehbaren und unabschließbaren Zeichenprozesses findet sich häufig im Bündnis mit sozial-konstruktivistischen Ansätzen zur Beschreibung wissenschaftlicher Erkenntnisprozesse. In Anlehnung an poststrukturalistische Positionen bestimmen Latour und Woolgar in ihrer 1979 erschienenen und als ‚anthropologisch‘ deklarierten Studie Laboratory Life: The Social Construction of Scientific Facts die naturwissenschaftliche Arbeit im Labor primär als eine Form der ‚literary inscription‘: The notion of inscription as taken from Derrida (1977) designates an operation more basic than writing. It is used here to summarize all traces, spots, points, histograms, recorded numbers, spectra, peaks, and so on.180

Im Zuge der Ausführungen wird nicht immer deutlich, auf welches Subjekt diese Tätigkeit der literarischen Einschreibung zu beziehen ist. Ein Grund dafür ist, dass die Autoren ihre Beobachtungen nicht sich selbst zuschreiben, sondern einem ausdrücklich als „fictional character“ bezeichneten „observer“.181 Für

|| 178 Vgl. Jacques Derrida: Ousia und gramme, in: ders.: Randgänge der Philosophie, hrsg. v. Peter Engelmann, Wien 1988, S. 53–84, hier S. 78. 179 Vgl. Derrida: Die Struktur, das Zeichen und das Spiel, S. 422–442. 180 Bruno Latour, Steve Woolgar: Laboratory Life: The Construction of Scientific Facts [1979], 2. erweiterte Aufl., Princeton 1986, S. 88. Dass das Wort „social“ im Untertitel der Erstauflage in der zweiten Auflage gestrichen wurde, begründen die Verfasser mit der zentralen These ihrer Studie: „by demonstrating its pervasive applicability, the social study of science has rendered ‚social‘ devoid of any meaning“ (ebd., S. 281). 181 Mit der Einführung eines fiktiven Beobachters, hinter dem die empirischen Autoren gleichsam ‚verschwinden‘, wird die Möglichkeit einer Identität des Subjekts und damit auch

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diesen anthropologischen Beobachter fungiert „the notion of literary inscription as a principle for organizing his initial oberservations of the laboratory“.182 Darüber hinaus wird aber auch die Arbeit der beobachteten wissenschaftlichen Akteure primär als eine Literatur rezipierende und Literatur produzierende ausgewiesen und das Prinzip der ‚literary inscription‘ zum zentralen Selektions-, Organisations-, Struktur- und Ausdrucksprinzip des wissenschaftlichen Arbeitens selbst erklärt. Dem etablierten narrativen ‚setting‘ kommt dabei eine doppelte Funktion zu: Zum einen dient es dazu, die Differenzen zwischen ‚observierendem‘ und ‚observiertem‘ Subjekt sowie zwischen beobachtbarer Oberfläche und der Beobachtung sich entziehenden Substanz wissenschaftlicher Arbeit markiert;183 zum anderen ist dieser erzähltechnische Kunstgriff seinerseits Teil einer rhetorischen Strategie, der es letztlich darauf ankommt, die unauflösliche Verflechtung von wissenschaftlichem und literarischem Schreiben unter dem Primat der Fiktion aufzuzeigen. Entsprechend bewerten die Autoren nicht nur ihren eigenen Bericht als „no more than fiction“,184 sondern geben ausdrücklich zu verstehen, dass ihre Arbeit sich in nichts von jener der naturwissenschaftlichen Arbeit im Labor unterscheidet: Is there any essential distinction between the nature of our own construction and that used by our subjects? Emphatically the answer must be no.185

Die Frage nach der Referenz – „Do the central terms of science genuinely refer?“186 – und in diesem Zusammenhang nach der Erkenntnisfunktion und

|| die Möglichkeit des von ihm geführten Diskurses negiert. Entsprechend korreliert dieses narrative Konstrukt mit Derridas Beschreibung der Subjektivität als einer „Wirkung der différance“ (vgl. Derrida: Positionen, S. 70 f.). 182 Ebd., S. 45. 183 Ausführlich etwa weisen die Autoren auf den „intermediary status“ ihres fiktiven Beobachters und die daraus sich ergebenden Probleme und Konflikte für die beobachteten Wissenschaftler hin: „One consequence of his intermediary status is that his account so far has failed to satisfy any one audience. It could be said, for example, that in portraying scientists as readers and writers he has said nothing of the substance of their reading and writing. Indeed, our observer incurred the considerable anger of members of the laboratory, who resented their representation as participants in some literary activity. In the first place, this failed to distinguish them from any other writers. Secondly, they felt that the important point was that they were writing about something, and that this something was ,neuroendocrinology‘. Our observer experienced the depressing sensation that his Ariane’s thread had led him up a blind alley“ (ebd., S. 53). 184 Ebd., S. 257. 185 Ebd., S. 254. 186 Alan G. Gross: The Rhetoric of Science, Cambridge/MA, London 1990, S. 193.

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Wahrheitstauglichkeit der Wissenschaftssprache bildet bis in die unmittelbare Gegenwart hinein eines der Kernprobleme epistemologischer Reflexion. Weitgehender Konsens besteht inzwischen darin, dass Wissenschaft und Rhetorik keinen Gegensatz darstellen und naturwissenschaftliche Kommunikations- und Darstellungsformen alles andere als frei sind von stilistischen Raffinessen, persuasiven Strategien und bildhaften Elementen. Worin sich die aktuellen Positionen jedoch gravierend unterscheiden, ist der den Naturwissenschaften jeweils beigemessene Grad ihrer rhetorischen ‚Infiltration‘ sowie ihre davon abhängig gemachte Kompetenz, Natur und Wirklichkeit angemessen zu beschreiben. Das den sprachtheoretischen Debatten des 17. Jahrhunderts zugrundeliegende Denkschema, wonach der rhetorisch-figurative Sprachgebrauch letztlich nur Illusions-, Fiktions- oder Konstruktionseffekte zeitigt, wohingegen dem klaren und distinkten Gebrauch begrifflicher Nomenklaturen wenn nicht ein mimetischer, so doch ein funktionaler Bezug zur außersprachlichen Wirklichkeit zugestanden wird, bleibt ungeachtet der jeweils konkret eingenommenen Position für nahezu alle im Kontext der ‚rhetoric of science‘ entstandenen Publikationen implizit wirksam – besonders nachhaltig gerade dann, wenn das Vorhandensein einer nichtsprachlichen Wirklichkeit zugunsten einer Universalität des Zeichenhaft-Rhetorischen suspendiert wird. In ihrer Verlaufsstruktur erinnert die aktuelle wissenschaftsrhetorische Diskussion an die Intertextualitätsdebatte, wie sie im Anschluss an Bachtins Dialogizitätskonzept vor allem in den siebziger und achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts geführt wurde.187 Entsprechend lassen sich zwei Hauptrichtungen unterscheiden, die in terminologischer Anlehnung an Renate Lachmann als ‚rhetorikontologische‘ und ‚rhetorikdeskriptive‘ bezeichnet werden können, wobei letztere in der Regel auch eine ‚rhetorikfunktionale‘ Bestimmung wissenschaftlicher Sprache und Texte intendieren.188 Die erste Variante, vertreten vor allem durch C. R. Miller, Alan G. Gross und G. S. Rousseau, verficht eine „Rhetoric of Science without Constraints“,189 wonach ausnahmslos alle Gegenstände, Methoden und Ergebnisse naturwissenschaftlicher Aktivität sprachlich gebunden sind und deshalb jegli-

|| 187 Für einen konzisen Überblick vgl. Manfred Pfister: Konzepte der Intertextualität, in: Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien, hrsg. v. Ulrich Broich u. M. Pfister, Tübingen 1985, S. 1–30. 188 Im Vorwort des von ihr herausgegebenen Bandes: Dialogizität (München 1982, S. 8–10) gliedert Renate Lachmann das Spektrum der Intertextualitätstheorien in „textontologische“, „textdeskriptive“ und „textfunktionale“ Varianten (S. 8). 189 Alan G. Gross: Rhetoric of Science without Constraints, in: Rhetorica, Bd. 9, Nr. 4 (1991), S. 283–299.

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che Differenzierung zwischen res und verba, episteme und doxa zugunsten letzterer preisgegeben ist: The claim of rhetoric is that the phrase „brute facts“ is an oxymoron. Facts are by nature linguistic – no language, no facts. By definition, a mind-independent reality has no semantic component.190

‚Sprache‘ wird von Gross kurzerhand mit ‚Rhetorik‘ gleichgesetzt und in der Folge Naturwissenschaft zur Rhetorik erklärt: [T]here is no line that can be successfully drawn between rhetoric and scientific knowledge. […] By means of the rhetorical analysis of the hard sciences – biology, chemistry, and physics – rhetoric of inquiry inserts itself into the inner sanctum of epistemological and ontological privilege. If no aspect of these sciences is proof against this analysis, the case for the rhetorical construction of all knowledge is immeasurably strengthened.191

Was sich als wissenschaftliche Wahrheit jeweils gebärdet, sei „a consensus concerning the coherence of a range of utterances, rather than the fit between the facts and reality“.192 Der Vorgang der Konsensfindung innerhalb einer ,scientific community‘ wiederum ist maßgeblich gesteuert durch rhetorischpersuasive Strategien: „since truth is intersubjective, science, like all persuasive discourse, must convince us of the truth it claims.“193 Das sozialkonstruktivistische Modell von Wissenschaft und das rhetorische – man möchte fast sagen: rhetorikdarwinistische – Modell erscheinen hier bruchlos ineinander übersetzt: Der imperiale Kampf der wissenschaftlichen Akteure auf einem sozial (und das meint einem politisch, ökonomisch, institutionell und ideologisch) reglementierten Schauplatz korreliert jener im Modus der aemulatio ausgetragene und auf persuasio zielende Wettstreit konkurrierender wissenschaftlicher ‚Unwahr-

|| 190 Gross: The Rhetoric of Science, S. 203. Gross’ Gewährsmänner sind vor allem die griechischen Sophisten und, was doch etwas verwundert, Immanuel Kant. Der im Homo-mensuraSatz manifest gewordene Relativismus der Sophisten gilt ihm als die gemeinsame Wurzel eines „strong constructivism“ und einer „equally ambitious rhetoric of science“ (Gross: Rhetoric of Science without Constraints, S. 284). 191 Ebd., S. 285. Ähnlich äußert Miller: „Science is seen to be, in fact, rather like rhetoric – it requires the persuasion of an audience, it proceeds by argumentation, it uses topics and tropes, it relies on premises that are never fully demonstrable, it produces knowledge that can never be certain or necessary, it exists in discourse“ (C. R. Miller: Some Perspectives on Rhetoric, Science, and History, in: Rhetorica 7 [1989], S. 101–114, hier S. 102). 192 Gross: Rhetoric of Science, S. 204. 193 Ebd., S. 21.

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heiten‘. Rhetorische Hauptwaffe in diesem als ‚Wissenschaft‘ getarnten Streit der Ideologien ist die Metapher: Style in science is not a window on reality, but the vehicle of an ideology that systematically misdescribes experimental and observational events. It is their ideological stance that makes contemporary scientists the legitimate heirs of medieval theologians: theirs is not dispassionate search for truth, but a passionate conviction that the truth is their quotidian business. In science, understandably, metaphor is this ideology’s chief tool: at the scientific verge, words routinely fail to refer.194

Der wissenschaftliche Gebrauch der Metapher erschöpft sich in ihrer Funktion, ideologische Inhalte zu transportieren und das szientifische Gespinst einer „Reference without Reality“195 zu erzeugen. Die Kritik an der Wissenschaft koin-

|| 194 Gross: The Rhetoric of Science, S. 84. 195 Ebd., S. 193. In seinem Artikel „Rhetoric of Science without Constraints“, primär eine Auseinandersetzung mit McGuire und Melia, die den heuristischen und ideologiekritischen Wert von rhetorischen Analysen wissenschaftlicher Texte befürworten, zugleich aber an einem „minimal realism“ wissenschaftlicher Erkenntnis festhalten (vgl. J. E. McGuire, Trevor Melia: Some Cautionary Strictures on the Writing of the Rhetoric of Science, in: Rhetorica 7 (1989), S. 87–99 und dies.: The Rhetoric of the Radical Rhetoric of Science, in: Rhetorica 9: 4 (1991), S. 301–316), begründet Gross die Referenzlosigkeit der Wissenschaften, indem er „between prediction and truth, between prediction and explanation, and between an explanation and its target“ (Gross: Rhetoric of Science without Constraints, S. 285) unterscheidet. Wie er zunächst am Beispiel der Entwicklung der Astronomie von den Babyloniern über die Griechen bis Newton aufzeigt, ist die verhältnismäßig genaue Vorhersage von Planetenpositionen auch dann möglich, wenn ihnen eine aus heutiger Sicht falsche Theorie zugrunde liegt. „According to current physics, none of these systems is correct, though all predict celestial appearances with varying degrees of accuracy. In all cases, the predictions of a ‚false‘ theory may be as accurate as those of a ‚true‘ one. Finally, explanation is very different from prediction. All three systems predict, but only Newton’s actually explains, in the sense that his predictions flow coherently from the dynamic theories of his physics“ (ebd., S. 287 f.). Die Richtigkeit von Vorhersagen ist damit kein Kriterium für die Wahrheit zugrunde liegender Modelle oder Erklärungen. Der offensichtliche Wandel, dem wissenschaftliche Erklärungen im Laufe der Geschichte unterzogen sind, „undermines the putative truth value of currently approved theories“ (ebd., S. 289), verweist auf ihre kontingente Natur („scientific knowledge is clearly contingent“, ebd., S. 288) und gestattet erst recht keine Rückschlüsse auf eine „unchanging, underlying causal reality“ (ebd., S. 289). „In these matters, people decide, not nature; indeed, it is people who decide what nature is. These decisions fall well within the provinces of sociology and rhetoric“ (ebd.). Erst Recht gilt dies für jenen physikalischen Bereich, der sich der empirischen Beobachtung entzieht. Theorien über den Äther oder über das Elektron „were literally referring […] to nothing. In each case, the same nothing“ (ebd., S. 291). Es handle sich um „unoberservable entities […] constituted by scientific practice“ (292), die sich – der Äther ist dafür ein bekanntes Beispiel – jederzeit als „fictions“ erweisen können.

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zidiert hier mit einer Kritik an der Metapher als einer Form der Täuschung, der Manipulation und der Lüge. Scheint diese Aussage durch die Forderung nach einer ideologiefreien – in der Logik des Textes: metaphernlosen, dem neuzeitlichen plain-style-Ideal verpflichteten – Wissenschaftssprache motiviert, so wird dieses zweifelsohne berechtigte wissenschaftskritische Anliegen seinerseits durch die kategorische Feststellung von der universalen und unvermeidbaren Rhetorizität und Metaphorizität der Wissenschaften torpediert: „[M]etaphors in science can disappear only when scientists can redescribe natural relationships in a language free from metaphor. And they cannot.“196 Das Verdienst dieser radikal poststrukturalistischen Wissenschaftsauffassungen besteht vor allem darin, die Sensibilität für die écriture szientifischer Texte geschärft und über die Bloßlegung der ihnen impliziten Rhetorizität die Aufmerksamkeit auf nichtwissenschaftliche und ideologische Interessen, Steuerungsmechanismen und Motive der wissenschaftlichen Forschung gelenkt zu haben. Als ihr entscheidendes Manko hingegen erweist sich der ihnen zugrundeliegende globale, die wissenschaftlichen Aktivitäten zur Gänze usurpierende und letztlich zur Tautologie neigende Begriff der Rhetorik, dem sich weder hinlänglich präzise sprach- und textanalytische Unterscheidungen noch über die Sprache hinausgehende Differenzierungsmöglichkeiten zur Beschreibung epistemischer und epistemologischer Prozesse abgewinnen lassen.197 Zwischen dem positivistischen Nullius in Verba198 und dem poststrukturalistischen Totius in Verba199 existiert ein Reihe von Ansätzen, die, ohne die Rhetorizität und Metaphorizität der Naturwissenschaften in Abrede zu stellen, an einem „moderate scientific realism“200 festhalten. Damit ist nun freilich weder

|| 196 Ebd., S. 81. 197 Ähnlich skeptisch gegenüber der „Ubiquität der Rhetorik“ äußert sich auch Nate: „Wird der Begriff der ‚Rhetorik‘ zur universalen Kategorie, so droht er gerade wegen seiner Universalität als deskriptiver Terminus unbrauchbar zu werden. Die Aussage, Wissenschaft sei Rhetorik, weil ihr, wie prinzipiell jedem kommunikativen Akt, der Wille zur persuasio zugrunde liege, erscheint in ihrer Allgemeinheit zwar nicht falsch, bleibt jedoch ohne weitere Spezifikation wenig brauchbar für die Behandlung konkreter Fragestellungen“ (Richard Nate: Rhetorik und der Diskurs der Wissenschaften, in: Die Aktualität der Rhetorik, hrsg. v. Heinrich F. Plett, München 1996, S. 102–119, hier S. 112). 198 So das Motto der Royal Society, in dem die ausschließliche Orientierung der Wissenschaften an den Sachen selbst zum Ausdruck kommt. 199 Formulierung nach Peter Dear: Totius in verba: Rhetoric and Authority in the Early Royal Society, in: Isis 76 (1985), S. 145–161. 200 Mary Hesse: Models, Metaphors and Truth, in: From a metaphorical point of view: a multidisciplinary approach to the cognitive content of metaphor, hrsg. v. Zdravko Radman, Berlin, New York 1995, S. 351–372, hier S. 351. Ähnlich sprechen sich auch McGuire und Melia für einen

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die Rückkehr zum Ideal eines plain style oder einer literal language noch die Reduktion der rhetorisch-literarischen Qualität der Wissenschaftssprache auf eine illustrative, didaktisch-vermittelnde Funktion verbunden; auch verbirgt sich dahinter keine verkappte Version eines essentialistischen Wissenschaftsdenkens. Vielmehr erkennen die Vertreter dieser gemäßigten Position die grundsätzlich metaphorische Verfasstheit der menschlichen Sprache und also auch der Wissenschaftssprache an, insistieren dabei jedoch auf einer der metaphorischen Sprache selbst zukommenden Erkenntnis- und Wahrheitsfunktion. Im Anschluss an die sprachphilosophischen Untersuchungen des späten Wittgenstein, insbesondere aber an Gadamers Ausführungen über den Prozess der Begriffsbildung201 betont Mary Hesse not just that metaphor is as apt as literal language to convey knowledge, but more radically, that metaphor properly understood as logical priority over the literal, and hence that natural language is fundamentally metaphorically, with the „literal“ occurring as a kind of limiting case.202

Die Kontrastierung von Metapher und Begriff ist dieser Auffassung nach ebenso obsolet wie die damit verbundene Kontrastierung von Realismus und Relativismus. Geht man nämlich, wie Gadamer, vom „Geschehenscharakter der Sprache“203 aus und beschreibt die in der natürlichen Sprache vorgenommenen Begriffsbildungen als einen dialektischen Prozess, innerhalb dessen die Sprache kontinuierlich an neue Erfahrungshorizonte angepasst wird, so kann das, was sprachlich jeweils zum Ausdruck gelangt, zwar immer nur „relative Wahrheit“204 beanspruchen, ohne dass damit der Wirklichkeitsbezug der sprachlichen Aussage aufgekündigt wäre:205

|| „minimal realism“ aus (vgl. McGuire, Melia: The Rhetoric of the Radical Rhetoric of Science, S. 303. 201 Vgl. dazu vor allem die Kapitel „Der Begriff der Erfahrung und das Wesen der hermeneutischen Erfahrung“ und „Sprache und Begriffsbildung“, in: Hans Georg Gadamer: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 61990, S. 352–368 u. 432– 442. 202 Hesse: Models, Metaphors and Truth, S. 352. 203 Gadamer: Wahrheit und Methode, S. 431. 204 Ebd., S. 432. 205 Neue Erfahrungen sind für Gadamer negative Erfahrungen, weil mit ihnen „falsche Voraussetzungen […] widerlegt, für typisch Gehaltenes gleichsam enttypisiert wird“ (ebd., S. 359). Erfahrungen ereignen sich folglich nicht ohne sprachliche Voraussetzungen, sondern immer auf der Grundlage sprachlich verfasster Vorurteile: „Es kann also nicht ein beliebiger aufgelesener Gegenstand sein, an dem man eine Erfahrung macht, sondern er muß so sein, daß man

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Wer spricht – und das heißt: allgemeine Wortbedeutungen gebraucht – ist derart auf das Besondere einer sachlichen Anschauung gerichtet, daß alles, was er sagt, an dem Besonderen der Umstände, die er im Auge hat, teilgewinnt. Das bedeutet aber umgekehrt, daß sich der allgemeine Begriff, der durch die Wortbildung gemeint wird, selber durch die jeweilige Sachanschauung bereichert, so daß am Ende mitunter eine neue, spezifischere Wortbildung entsteht, die dem Besonderen der Sachanschauung gerecht wird.206

Dieser negativen Dialektik von Erfahrung und Sprache207 ist die „grundsätzliche Metaphorik“,208 die Gadamer unserem Sprachbewusstsein attestiert, gleichsam als positives Komplement ‚eingelagert‘, zielt die metaphorische ‚Inblicknahme‘ von Verschiedenem gerade auf das Gewahrwerden der Ähnlichkeiten,209 eine Vergleichsoperation, die die Differenzen allererst zutage fördert und deshalb von jenem dialektisch-progredierenden Prozess von Erfahrung und Begriffsbildung nicht abzulösen ist. Damit rückt Gadamer die „logische Produktivität“ der Metapher in den Vordergrund und lehnt umgekehrt ihre Instrumentalisierung als bloß rhetorische Figur entschieden ab; vielmehr komme es darauf an zu erkennen, „daß es das Vorurteil einer sprachfremden logischen Theorie ist, wenn der übertragene Gebrauch eines Wortes zum uneigentlichen Gebrauch herabgedrückt wird“.210 Vor diesem Hintergrund plädiert Hesse für einen gemäßigten Realismus in den Wissenschaften, wobei sie im Wesentlichen die bei Gadamer primär auf die natürliche Begriffsbildung eingeschränkten Beobachtungen auf die Wissen|| an ihm ein besseres Wissen nicht nur über ihn, sondern über das, was man vorher zu wissen meinte, also über ein Allgemeines gewinnt“ (ebd.; vgl. ferner S. 421). 206 Ebd., S. 432 f. 207 Der Negativität der Erfahrung korreliert eine Negativität der Sprache: Der „produktive Sinn“ (ebd., S. 359) dieser Negativität ist darin zu sehen, dass das korrektive Wechselverhältnis, in dem Erfahrung und Sprache zueinander stehen, einen Zuwachs an Erfahrung und sprachlich sich artikulierendem Wissen überhaupt erst ermöglicht. 208 Ebd., S. 433. 209 Vgl. ebd. 210 Ebd. Gadamer argumentiert hier mit und zugleich gegen Aristoteles: Einerseits affirmiert er dessen Auffassung „Gut übertragen heißt, das Gemeinsame erkennen“ (vgl. Aristoteles: Poetik 22, 1459 a 8, hier zit. n. Gadamer, S. 435), andererseits lehnt er dessen Fixierung auf ein logisches Beweisideal und die damit verbundene Ausgrenzung der Metapher in die Rhetorik ab: „Es ist das logische Ideal der Überordnung und Unterordnung der Begriffe, das jetzt über die lebendige Metaphorik der Sprache, auf der doch alle natürliche Begriffsbildung beruht, Herr wird. Denn nur eine auf die Logik gerichtete Grammatik wird die eigentliche Bedeutung des Wortes von seiner übertragenen Bedeutung unterscheiden. Was ursprünglich den Grund des Sprachlebens bildet und seine logische Produktivität ausmacht, das genial-erfinderische Herausfinden von Gemeinsamkeiten, durch die sich die Dinge ordnen, das wird nun als Metapher an den Rand gedrängt und zu einer rhetorischen Figur instrumentalisiert“ (ebd., S. 436).

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schaftssprache appliziert. Wissenschaftliche Modelle, Begriffe oder Theorien können demnach die Ordnung der natürlichen Welt ebenso wenig vollständig und exakt wiedergeben wie die allgemeinen Begriffe der Alltagssprache die Ordnung der Dinge.211 Der darin sich anzeigende Realismus ist deshalb immer nur als ein partikularer, lokaler, approximativer und situativ verfizierbarer Realismus aufzufassen.212 „But in science this does not imply a non-realist scientific theory because there is always a constraint from experience and experiment upon the detailed working-out of any particular conceptual structure.“213 Erfahrung und Experiment werden damit zu Faktoren, die den Realismus wissenschaftlicher Erkenntnisse ebenso gewährleisten wie beschränken. In Anerkennung des historischen und logischen Primats der metaphorischen Sprache214 sowie in der Annahme jenes von Gadamer paradigmatisch beschriebenen, grundsätzlich unabschließbaren dialektischen Prozesses von Sprache und Erfahrung, interpretiert Hesse den semantischen Gehalt der Wissenschaftssprache als bedeutsame „relations between objects, which are functions of perceptions of similarity and difference, and of the rules of classification in the light of these perceptions“.215 Den Analogien kommt lediglich ein nicht-propositionaler Status zu: Sie zeigen Wirklichkeit an, ohne sie essentialistisch auszusagen: This view is not a non-empirical idealism, because it does not deny that there is a real structure in the world, of which science progressively reveals more and more. In this sense the view is realist. But it is not a strong realism in the sense that science can explicitly capture this structure in an isomorphism of true natural categories and true descriptions.216

|| 211 Vgl. Hesse: Models, Metaphors and Truth, S. 364 sowie Gadamer: Wahrheit und Methode, S. 430: „Das Wort des menschlichen Denkens zielt zwar auf eine Sache, aber sie kann sie nicht als ein Ganzes enthalten. So geht das Denken den Weg zu immer neuen Konzeptionen fort und ist im Grunde in keiner ganz vollendbar.“ 212 Vgl. Hesse: Models, Metaphors and Truth, S. 356 u. 364. McGuire und Melia sprechen in einem ähnlichen Zusammenhang von einem hypothetischen Realismus: „[…] realism is an hypothesis about the success of scientific practice which holds that theories are true, or approximately true, just because they stand in an extratheoretical relation of correspondence to a nonhuman world“ (McGuire, Melia: The Rhetoric of the Radical Rhetoric of Science, S. 307). 213 Ebd., S. 364. 214 Ebd., S. 357–362. 215 Ebd., S. 366. 216 Ebd.

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Eingepasst in eine wissenschaftspragmatische Fortschrittskonzeption217 besteht der szientifische Wert der Metapher zum einen darin, die zwischen verschiedenen Phänomenen wahrgenommenen Ähnlichkeiten und Differenzen adäquat zu beschreiben – Hesse spricht auch von der deskriptiven Metapher, die kognitive Funktionen erfüllt und der deshalb ein grundsätzlicher Wahrheitsgehalt zukommt218 –, zum anderen aber auch darin, dass ihre prinzipiell offene und dynamische Struktur die kontinuierliche Anpassung an neue Erfahrungen und Beobachtungen ermöglicht.219 Die Metapher kann somit als sprachliches Korrelat der Erfahrung aufgefasst werden: Sie bildet die „Offenheit für Erfahrung, die durch die Erfahrung selbst freigespielt wird“,220 in ihrer eigenen sprachlichen Struktur ab. Der Begriff, der seine Entstehung lediglich dem vorübergehenden Anhalten des dialektischen Prozesses von Erfahrung und Sprache verdankt, vermag dem entsprechend die Stabilität seiner Bedeutung nur so lange zu erhalten, „as the natural categories are frozen at a particular stage or for particular reasons“.221 Unter diesen Voraussetzungen kann die Wissenschaftssprache dann „like a ‚literal‘ language“222 fungieren, bleibt aber letztlich als ein Grenzphänomen des Metaphorischen ausgewiesen. Im Verlauf einer Theoriebildung werden nun bekannte Similaritäts- und Differenzbeziehungen nicht einfach verworfen, sondern bleiben, sofern sie den an einem Gegenstand gemachten neuen Beobachtungen und Erfahrungen nicht widersprechen, in dem nunmehr um neue Metaphern erweiterten Theoriegefüge erhalten bzw. werden in den nunmehr erweiterten Bedeutungskomplex einer ‚alten‘ Metapher übernommen. Nach der Seite der Erfahrung ebenso offen wie nach der Seite der Sprache ist die Metapher gleichermaßen ‚empirie- wie theoriedurchtränkt‘, und es ist die jederzeit revidierbare Interaktion von Empirie und Theorie, die ihren jeweiligen Aggregatszustand bedingt. Entscheidend für diesen Zusammenhang ist ferner, dass die damit verbundenen sprachlichen Prozesse – semantische Modifikationen und Spezifizierungen, ‚Übertragungen‘ bekannter Wörter auf neue Kontexte – nicht unkontrolliert vonstatten gehen, sondern – und hier rekurriert Hesse auf Wittgensteins Konzept der Familienähnlichkeit – auf der Grundlage habituali-

|| 217 Von Poppers Beschreibung der Theoriebildung als einem evolutionären Prozess, innerhalb dessen fehlerhafte Konzeptionen durch bessere Hypothesen abgelöst werden, ist diese Sicht nicht allzu weit entfernt. 218 Vgl. ebd., S. 357. 219 Diese und die folgenden Anmerkungen führen Hesses Ansatz weiter; Hesse selbst bleibt in ihren diesbezüglichen Ausführungen äußerst vage. 220 Gadamer: Wahrheit und Methode, S. 361. 221 Hesse: Models, Metaphors and Truth, S. 368. 222 Ebd., S. 370.

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sierter und ihrerseits aus der Erfahrung gewonnener Regeln und Standards vorgenommen werden: „[T]here can be standards of correctness built into the metaphorical development of concepts […].“223 Auch wenn Hesse wissenschaftliche Modelle und Theoreme einer durch und durch metaphorischen Genese unterstellt, an deren vorläufigem Ende jeweils ‚Als-ob-Begriffe‘ stehen, kann doch nicht übersehen werden, dass im Rahmen einer progressiv-teleologisch, namentlich auf die sukzessive Freilegung der realen Struktur der Welt gerichteten Auffassung von wissenschaftlicher Erkenntnis,224 die metaphorischen Modelle und Theorien nach Aufhebung eben dieser Metaphorizität drängen. Mag das Spannungs- und Differenzverhältnis, das die Metapher zur Empirie wie zu vorgängigen ‚Theoriemetaphern‘ unterhält, im Prozess der wissenschaftlichen Wissensbildung auch nicht restlos aufzuheben sein, so ist dieser Prozess gleichwohl als die zunehmende Durchdringung und Erfassung der Realität und – ineins damit – als die zunehmende Klärung, Präzisierung und Konzeptualisierung der Metapher selbst gedeutet.225 Das zwanghafte Insistieren auf der prinzipiellen Metaphorik der Wissenschaftssprache226 führt hier in einen argumentativen Zirkel, an dessen Ende genau das stehen soll, was am Anfang zur Unmöglichkeit erklärt wurde: die möglichst exakte Kenntnis und Darstellung der Naturwirklichkeit. Einen ähnlichen Einwand gegen die Überstrapazierung der Metapher formuliert auch Richard Boyd. || 223 Hesse argumentiert in diesem Zusammenhang evolutionsbiologisch: „These standards are habitual, not explicit, and for their rationale we must look to the evolution of the human brain as it has come to cope with its natural and social environment“ (ebd., S. 369). 224 Vgl. ebd., S. 366. 225 Hesses Auffassung ist darin vergleichbar mit derjenigen Heisenbergs, wonach die Genese eines wissenschaftlichen Begriffs als „Verfeinerung der Begriffe des täglichen Lebens“ bezeichnet werden kann (Werner Heisenberg: Physik und Philosophie [1959], Frankfurt, Berlin 1968, S. 39). Das wissenschaftliche Fortschrittsdenken wird hier gleichsam in die geschichtliche Entwicklung der Wissenschaftssprache implementiert: Die fortschreitende Verfeinerung des Begriffs meint seine wachsende Rationalität und Abstraktion. Eine dazu gegenläufige Auffassung vertritt Foucault im Anschluss an die wissenschaftshistorischen Analysen von Georges Canguilhem, die zeigen, „dass die Geschichte eines Begriffs […] die seiner verschiedenen Konstitutions- und Gültigkeitsfelder, die seiner aufeinander folgenden Gebrauchsregeln, der vielfältigen theoretischen Milieus [ist], in denen sich seine Herausbildung vollzogen und vollendet hat. […] Infolgedessen ordnen sich die historischen Beschreibungen notwendig nach der Aktualität des Wissens, vervielfachen sie sich mit seinen Transformationen und hören ihrerseits nicht auf, mit sich selbst zu brechen“ (Michel Foucault: Archäologie des Wissens [1969], Frankfurt/M. 1995, S. 11 f.). 226 Die eliminierte Unterscheidung zwischen Metapher und Begriff wird ‚uneigentlich‘ als Unterscheidung zwischen ‚metaphorischer Metapher‘ und ‚begrifflicher Metapher‘ wiedereingeführt.

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Wie schon bei Hesse lässt sich auch bei ihm die Metapher kaum von einer Hypothese unterscheiden, doch im Gegensatz zu ihr hält Boyd an der Überzeugung fest, dass der Übergang von der kognitionswertigen Metapher in gesicherte Erkenntnis letztlich das Ziel jeder wissenschaftlichen Forschung ist: [W]hatever the merits of the claim that the cognitive content of literary metaphors can never be captured by literal paraphrase, there seems to be no reason to doubt that such explication is possible in the case of theory-constitutive metaphors, nor is there any reason to doubt that complete explications are often the eventual result of the attempts at explication which are central to scientific inquiry.227

Wissenschaftliche Theoreme sind nach Boyd vergleichbar mit Katachresen, „cases in which there are metaphors which scientists use in expressing theoretical claims for which no adequate literal paraphrase is known“228 Die epistemische Funktion der Metapher erschöpft sich freilich nicht in dieser Statthalterund Substitutsfunktion;229 Boyd schreibt ihr darüber hinaus auch das ‚energetische‘ Potential zu, Wissensprozesse zu generieren und zu initiieren: Theory-constitutive metaphorical terms – when they refer – refer implicitly, in the sense that they do not correspond to explicit definitions, but instead indicate a research direction toward them. The same thing is apparently true of theoretical terms in science generally.230

Deutlicher noch als bei Hesse treten hier die Unterschiede zur poetischen Metapher zutage: Im Bereich der wissenschaftlichen Theoriebildung231 erscheint die Metapher primär auf ihre kognitive Funktion reduziert, wohingegen ihr ästhetisches, Emotionen evozierendes Potential entweder gänzlich unberücksichtigt

|| 227 Richard Boyd: Metaphor and Theory Change: What is „Metaphor“ a Metaphor For, in: Metaphor and Thought, hrsg. v. Andrew Ortony, 2. überarbeitete Aufl., Cambridge 1993, S. 481– 532, hier S. 488. 228 Ebd., S. 486. 229 Die tropische Substitution einer „Bezeichnung für Dinge, die keine eigene Benennung haben“ (Quint. VIII, 6.34, zit. n. Gert Ueding, Bernd Steinbrink: Grundriss der Rhetorik. Geschichte, Technik, Methode, Stuttgart, Weimar 31994, S. 290) ist lediglich eine von zwei Bedeutungen, die Quintilian der Katachrese zuschreibt. In der Bedeutung von Bildbruch oder Bildsprung bleibt sie bei Boyd ausgeblendet. 230 Ebd., S. 524. 231 Neben diesem Bereich, der hier vor allem interessiert, gibt es selbstverständlich weitere Bereiche, in denen der Einsatz von Metaphern allerdings weitgehend anerkannt und seitens der Wissenschaften auch keiner Legitimation bedarf, so etwa der gesamte Bereich der didaktischen Unterweisung, der Wissensvermittlung und der Popularisierung wissenschaftlicher Erkenntnisse, in dem die Metapher insbesondere eine heuristisch-illustrative Funktion besitzt.

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bleibt oder, wie bei Boyd implizit angedeutet, zum Movens und Stimulans einer dezidiert theoretischen Neugierde umgedeutet wird. Im Gegensatz zur poetischen Metapher, die durch exzessiven Gebrauch zum Klischee oder zur ‚toten Metapher‘ erstarren kann, ist die Abnutzung einer epistemischen Metapher eher Symptom ihres bewährten kognitiv-konzeptuellen Gehalts. Während die Abnutzung einer poetischen Metapher in der Regel sowohl die kognitive als auch die ästhetische Wirkung zunehmend unterbindet, ist der Verschleiß einer epistemischen Metapher Parameter dafür, inwieweit die Transformation einer ‚defizitären‘ Ausgangsmetapher in eine „perfect metaphor“ (Hesse), d.h. in einen klaren und distinkten Begriff fortgeschritten ist. Gilt es in der Literatur den Tod der Metapher in aller Regel zu verhindern, ist er in der Wissenschaft geradezu das erklärte Ziel. In diesem Zusammenhang erweist sich der Ansatz von Montuschi als fruchtbar, die der Frage nachgeht, „what a metaphorical mechanism is, and how, typically, it works in scientific language“.232 Auf der Oberflächenebene, so Montuschi, könne der metaphorische Mechanismus als „a procedure of conceptual displacement“ beschrieben werden, wobei es vier Stadien zu unterscheiden gelte.233 1. Transposition: Verlagerung eines Konzepts auf einen neuen Kontext, wobei eine Vergleichsrelation zwischen altem und neuem Kontext etabliert wird; 2. (und von 1. nicht zu trennen): Interpretation: Übertragung eines Konzepts aus einem bekannten Kontext auf spezifische Aspekte der neuen Situation; 3. Correction: Anpassung des Konzepts an die neue Situation, aber auch der neuen Situation an das Konzept („mutual adaption“234). 4. Spelling out: Das Konzept erweist sich als zum neuen Kontext passend und als geeignet, die zuvor irritierenden Aspekte der neuen Situation angemessen zu deuten. Dieser Prozess verläuft nun nicht willkürlich; vielmehr liegen ihm generative Regeln zugrunde, die der Sprache gleichsam ‚tiefenstrukturell‘ eingeschrieben sind und die Montuschi in Anlehnung an J. F. Ross unter dem Terminus „Meaningdifferentiation- in-use“ subsumiert:235 Auf dieser Ebene kann der Prozess des ‚displacement‘ als eine Relationsstruktur zwischen „sameness as referred to words and differentiation as referred to meaning“ beschrieben werden, d.h. je nach Prädikation verändert ein Wort seine Bedeutung, nicht aber seine Ge|| 232 Eleonora Montuschi: What is Wrong with Talking of Metaphors in Science?, in: From a Metaphorical Point of View. A Multidisciplinary Approach to the Cognitive Content of Metaphor, hrsg. v. Zdravko Radman, Berlin, New York 1995, S. 309–327, hier S. 316 f. 233 Zum Folgenden vgl. ebd., S. 317 u. 323. 234 Ebd., S. 317. 235 Ebd., S. 318. „Meaning-differentiation-in-use is a generic linguistic phenomenon, which points out the fact that words, in suitably contrasting contexts, ,differentiate‘. Difference in meaning is, comparatively speaking, relative to the contextual occurrences of words“ (ebd.).

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stalt.236 Mit der von Montuschi eingeführten Funktion der „correction“ scheint mir jener Punkt im metaphorischen Prozess bezeichnet zu sein, an dem die poetische Metapher entscheidend von der epistemischen abweicht: Während die poetische Metapher ihre ‚Lebendigkeit‘ gerade daraus bezieht, dass sie den ihren Gliedern zugrundeliegenden Widerspruch aufrechterhält – Ricœur spricht von der Metapher treffend als einer „impertinenten Prädikation“, die gegen die habitualisierte Anwendung eines Wortes verstößt237 –, strebt die epistemische Metapher in aller Regel nach Aufhebung dieses Widerspruchs, folglich nach der Erzeugung einer neuen stabilen und allgemein anerkannten Prädikation für das neue Phänomen. Beide Metaphern erzeugen und organisieren zwar neue Zusammenhänge und Sichtweisen, sind also insofern korrektiv, doch während sich die poetische, ‚lebendige‘ Metapher einer Determination ihrer Bedeutung durch den neuen Kontext widersetzt, werden Metapher und Phänomen im wissenschaftlichen Prozess einander solange angeglichen, bis die Metapher zu einer definierten Kategorie entwickelt ist, die – bei aller Vorläufigkeit238 – eine angemessene Beschreibung und Erklärung des Referenzobjekts erlaubt. Wo poetische und epistemische Metaphern ihre ornamental-persuasive Funktion zugunsten einer Erkenntnisfunktion transgredieren, impliziert dieser Erkenntniswert tendentiell unterschiedliche Formen des Wissens. Zwar zeigen beide Metaphern Formen des Nicht- oder Noch-nicht-Wissens an und vermitteln somit ein positives Wissen von bestehenden Wissens- und Erkenntnisgrenzen, doch während sich die poetische Metapher gerade dort, wo sie sich der absoluten Metapher annähert, einer (künftigen) Übersetzung in die Logizität prinzipiell verweigert, ist mit dem epistemischen Gebrauch von Metaphern in aller Regel die Anstrengung verbunden, das in ihr angelegte Nicht-Wissen sukzessive zu explizieren. In dieser Unterscheidung – so ließe sich vorsichtig formulieren – drückt sich auch eine anthropologische Haltung gegenüber den Referenzbereichen der Metaphern aus: Wenn, um mit Blumenberg zu sprechen, poetischabsolute Metaphern „der Beantwortung höchster und unabweislicher Fragen“ dienen, indem sie das „nie erfahrbare, nie übersehbare Ganze der Realität“ repräsentieren,239 dann ist die Antwortstruktur der Metapher gerade darin zu se-

|| 236 Ebd. Gesteuert werde dieser Mechanismus der Bedeutungsgenerierung durch AnalogieRegeln, wobei Analogie darüber hinaus auch das Resultat der Signifikation bezeichnet. 237 Vgl. Paul Ricœur: Die lebendige Metapher, München 1991, S. V f. Vgl. ferner S. 245 f. 238 Vgl. Montuschi: „The spelling out is rarely, or only virtually, a completed process. Concepts, in fact, keep on being moved across contexts“ (Montuschi: What is Wrong with Talking of Metaphors in Science, S. 317 f. 239 Hans Blumenberg: Paradigmen zu einer Metaphorologie [1960], Frankfurt/M. 1998, S. 19 f.

Metapher und Begriff – Wissenschaftskritik als Sprachkritik | 111

hen, dass sie jene „prinzipiell unbeantwortbaren Fragen“240 als Fragen präsent halten. Ist die der epistemischen Metapher inhärente Frage teleologisch auf eine die Frage beschließende Antwort gerichtet, koinzidieren Frage und Antwort in der poetischen Metapher in eigentümlicher Weise darin, dass das, was metaphorisch jeweils ausgesagt wird, zwar Sinnangebote freisetzt, ohne deren bleibende Fragwürdigkeit zu unterlaufen. Die poetische Metapher erscheint in dieser Lesart nicht primär als Substitut und Begründung eines unzureichenden Daseinsgrunds,241 sondern eher als momenthaft verfügbares Substitut für ein Unverfügbares in seiner prinzipiellen Unverfügbarkeit. Als „semantisches Ereignis“,242 ausgelöst durch die Interaktion von Kontexten bzw. die innovative „Vermittlung zweier Vorstellungen in einer“, stimuliert die Metapher die Aktualisierung und Konstruktion neuer und temporär sich erhaltender Bedeutungskomplexe, ohne damit die Fragestruktur ihres Referenzbereichs und die ihr selbst inhärente Fragestruktur – ihre ‚Uneigentlichkeit‘ – aufzugeben. Die von Ricœur beschriebene Ereignisstruktur der Metapher, mit der er das Vorübergehende der metaphorisch-kontextuellen Wirkung im Sinne der Konstruktion von Bedeutung akzentuiert,243 ließe sich ohne weiteres um den Aspekt einer dezidiert ästhetischen Erfahrung erweitern: Über ihr poietisches Potential hinaus, neue Bedeutungen und Vorstellungen zu konstruieren, induziert und ‚besetzt‘ die poetische Metapher auch Affekte, die die emotive Teilhabe an einem (fiktiven oder realen) Unverfügbaren ermöglichen oder aber umgekehrt, und hier ist

|| 240 Ebd., S. 20. 241 Vgl. Hans Blumenberg: Anthropologische Annäherung an die Aktualität der Rhetorik, in: ders.: Wirklichkeiten, in denen wir leben, Stuttgart 1993, S. 104–136, bes. S. 124 f. 242 Mit der Zuordnung der Metapher zur Rede – Rede erscheint im Unterschied zur Sprache (‚langue‘) stets als ein vorübergehendes Ereignis [événement] – begründet Ricœur seine These, dass der „metaphorische Sinn […] durch eine bestimmte kontextuelle Wirkung entsteht“ und damit „mehr ist als die Aktualisierung einer der potentiellen Bedeutungen eines polysemischen Wortes“ (Paul Ricœur: Die Metapher und das Hauptproblem der Hermeneutik, in: Theorie der Metapher, hrsg. v. Anselm Haverkamp, Darmstadt ²1996, S. 356–378, hier S. 358 u. 361). Die echte Metapher definiert er entsprechend als „kontextuelle Bedeutungsveränderung“ (ebd., S. 361), deren „kontextuelle Wirkung über eine bloße Verwirklichung der potentiellen Skala von Gemeinplätzen oder Konnotationen hinaus[geht]“ (ebd.). Die „kontextuelle Wirkung“ – und hierin ist das poietische Potential der Metapher zu sehen – „schafft eine Wortbedeutung, die ein Ereignis ist, da sie nur in diesem Kontext existiert“ (ebd., S. 362). Die Metapher, „gleichzeitig ‚Ereignis‘ und ‚Bedeutung‘“, verliert ihren Status als echte Metapher in dem Augenblick, in dem sie durch Wiederholung eine wörtliche, identifizierende Bedeutung annimmt (ebd.). 243 Vgl. ebd., S. 359.

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an Eco zu erinnern, die „gefühlsmäßige Beteiligung“244 an einem durch die wissenschaftliche Vernunft ‚restlos Verfügten‘. Dieser emotiven Funktion der Metapher, die nicht auf persuasio, sondern auf methexis zielt, bescheinigt Eco angesichts der Tatsache, dass „die abstrakte Naturwissenschaft mögliche Strukturen der Welt konzipiert, die keinerlei Entsprechung in der gewöhnlichen Vorstellung besitzen und darum nicht bildhaft gedacht werden können“,245 zunehmende Relevanz. Metaphorische Figurationen, sofern sie auf Vernunfthypothesen der Wissenschaft Bezug nehmen, zielen dann nicht mehr primär darauf, bildhafte Vorstellungen dieses nicht länger Vorstellbaren zu eröffnen, sondern darauf, ein „emotionales Äquivalent, die diffuse Überzeugung, die dessen Erfassung begleiten würde, und schließlich das Gefühl der Unfähigkeit, es zu erfassen, zum Ausdruck [zu] bringen“.246 Die Funktion der Metapher, ikonische Vorstellungen zu eröffnen und Bedeutungen zu konstruieren, erscheint hier zugunsten der Funktion, emotionale Partizipation zu ermöglichen, verlagert. Diese Funktionsverschiebung, die den affektiven Wirkungsaspekt der Metapher wieder verstärkt ins Spiel bringt, ist ihrerseits Resultat der Verlagerung des naturwissenschaftlichen Referenzbereichs von der wahrnehmbaren Natur hin zu einer unanschaulichen und damit buchstäblich deästhetisierten Natur. – Unterstellt man nun mit Hesse und anderen den wissenschaftlichen Hypothesen ihrerseits einen ‚lediglich‘ metaphorischen Status, dann kann es in der poetischen Metapher, sofern sie sich auf wissenschaftliche Kontexte bezieht, nicht mehr darum gehen, das wissenschaftsbegrifflich ‚Verfügte‘ zugunsten einer „Skala von Perspektiven“247 aufzusprengen oder die Identität wissenschaftlicher Zeichen zu zersetzen; vielmehr würde die poetische Metapher dann lediglich vor dem Hintergrund anderer Figurationen und anderer Metaphoriken operieren.

|| 244 Eco: Das offene Kunstwerk, S. 414. 245 Ebd. 246 Ebd., S. 414 und 417. 247 Ebd., S. 413.

2 Wissenschaft als Literatur: Poetik und Hermeneutik der literarischen Transformation wissenschaftlicher Diskurse Was geschieht, wenn wissenschaftliche Methoden, Theorien, Wissensmodelle und Repräsentationsformen literarisch-produktiv rezipiert werden, und was geschieht, wenn wir als Leser ‚Wissenschaftsliteratur‘ rezipieren? Mit dieser gezielt schlicht formulierten Frage ist zwar eine unilaterale Transferrichtung (aus Wissenschaft in Literatur) angezeigt; diese schließt jedoch, wie bereits einleitend signalisiert, die gründliche Rezeption jener wissenschaftlichen und wissenschaftsgeschichtlichen Diskurse, die für einen literarischen Text produktiv gemacht wurden, mitnichten aus. Vielmehr wird der hier gesetzte Primat der Ästhetik und der Fiktion gerade auch im Studium der wissenschaftlichen Diskurse die Produktivität der Möglichkeiten des Freilegens, Produktivmachens oder Auserzählens literarischer Funktionen erweisen. Dabei gilt es, die Verhältnismodalitäten von Wissenschaft und Literatur „zu beobachten[,] sie zugleich als Produkt einer Beobachtung zu begreifen“248 und entsprechend zu beschreiben. In produktionsästhetischer Perspektive werden – v.a. im Rückgriff auf Isers Grenzüberschreitungstheorie sowie intertextualitätstheoretische Überlegungen – zunächst Komponenten und Strategien des Transfers näher in den Blick genommen, um sodann in rezeptionsästhetischer Perspektive die Bedingungen der Möglichkeit der Realisierung dieses ‚Dialogs der Texte‘ zu hinterfragen.

|| 248 Nicolas Pethes: Poetik/Wissen. Konzeption eines problematischen Transfers, in: Romantische Wissenspoetik. Die Künste und die Wissenschaften um 1800, hrsg. v. Gabriele Brandstetter u. Gerhard Neumann, Würzburg 2004, S. 341–372, hier S. 368. Dass damit nicht – wie bei Pethes – zwangsläufig eine system- oder diskursanalytische Fundierung des Vorgehens einhergeht, räumt der Verf. selbst ein: „Eine ,Wissenspoetik‘, die die Frage nach dem Transfer mit Foucault und Luhmann stellen möchte, wird weder von hermetischer Systemgeschlossenheit noch von einem transdisziplinären Einheitsdiskurs ausgehen, sondern zu beschreiben versuchen, wie kommunikative Ereignisse zwischen den Diskursen/Systemen kursieren“ (ebd., S. 369). Open Access. © 2021 Bernadette Malinowski, publiziert von De Gruyter. Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivatives 4.0 International Lizenz. https://doi.org/10.1515/9783110642384-003

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2.1 Zum Transfer naturwissenschaftlicher Diskurse ins Medium der Literatur 2.1.1 Komponenten des Transfers: Wiederholung und Transgression Indem wissenschaftlich gesichertes Wissen durch den Transfer in Literatur in eine Welt des Als-ob und damit unter den Primat der Fiktion gestellt wird, wächst ihm eine andere Seins-, Wahrheits-, Erkenntnis- und Funktionsweise zu: Die streng determinierte, eindeutig-propositionale Aussage des wissenschaftlichen Urteils verwandelt sich in die offene, undeterminierte, nichtpropositionale Behauptung der Dichtung und somit in ein Konstituens der darin entworfenen fiktionalen Welt. Die poetisierte wissenschaftliche Aussage bleibt zwar verwiesen auf den epistemologischen Zusammenhang und damit auf jenen wirklichen Sachverhalt, der mit dem epistemischen Urteil identifikatorisch ausgesagt wird, ist mit diesem jedoch nicht länger zu identifizieren. Im Transfer wird die epistemische Aussage (und d.h. immer auch die mit dieser zur Aussage gebrachte Wirklichkeit) folglich wiederholt und überschritten zugleich. Wiederholung und Transgression – als die beiden Komponenten des Transfers – vollziehen sich im Akt des Transfers zwar zugleich, müssen jedoch aus heuristischen Gründen getrennt betrachtet werden. Während die Wiederholung den Bezug zur wissenschaftlichen Aussage gewährleistet, folglich den Zusammenhang von Fiktion und Episteme erzeugt und ihr damit eine repräsentierende, konservierende und kontinuitätsstiftende Funktion zukommt, sprengt umgekehrt die Überschreitung diesen Zusammenhang gerade auf und generiert, etabliert und akzentuiert auf diese Weise den Bruch, die Diskontinuität, die Differenz. Bleibt die Wiederholung auf die Regeln des wissenschaftlichen Diskurses, seine Intentionalität und seinen Wahrheitsanspruch verpflichtet (und all dies findet mit der Wiederholung auch Eingang in den fiktionalen Diskurs), so können Diskursregeln, Intentionalität, Wahrheitsanspruch im Akt der Transgression außer Kraft gesetzt oder neuen Diskursregeln, Intentionen, Erkenntnismöglichkeiten, pragmatischen Zwecken usw. ‚unterworfen‘ bzw. verfügbar gemacht werden.249 || 249 Die hier vorgenommene Beschreibung der Transferkomponenten und – wie im Anschluss zu zeigen sein wird – der damit verbundenen konkreten produktionsäthetischen Strategien deckt sich im Resultat weitgehend mit Klinkerts systemtheoretischer Begründung des Verhältnisses von Literatur und Wissenschaft: „Letztlich haben wir es mit einer doppelten Codierung zu tun: Literatur als Kunst gestaltet sich nach den ästhetischen Prinzipien des Kunstsystems und operiert hierbei autopoietisch; Literatur als Erkenntnismedium setzt sich mit rivalisierenden Erkenntnismedien auseinander und definiert sich in Abgrenzung von diesen“ (Thomas

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Wiederholung und Transgression können im produktionsästhetischen Transfer zwar eine je unterschiedliche Gewichtung erfahren, das für die Gattung poetica scientiae schlechterdings konstitutive Interdependenz- und Interaktionsverhältnis zwischen beiden Komponenten bleibt davon jedoch unberührt. Beide sind stets regulativ und korrektiv aufeinander bezogen, denn zielt die Transgression auf die Akzentuierung der Verschiedenheit von scientia und poetica, mathesis und poesis, von wissenschaftlicher und fiktionaler Behauptung, so steuert die Wiederholung der völligen Auflösung und Trennung dieses Zusammenhangs entgegen. Die von beiden jeweils übernommenen Funktionen werden, je nachdem, ob im Transfer das Prinzip der Wiederholung oder das der Transgression dominiert, im fiktionalen Text entsprechend latent oder manifest zur Geltung kommen. Entscheidend ist jedoch, dass die Funktionen der einen durch die Funktionen der anderen zwar verschoben, verdrängt, ausgegrenzt, aber nicht gelöscht werden können. Vielmehr bedingt das Zugleich von Wiederholung und Transgression im Akt des Transfers auch die Interferenz und Interrelation ihrer jeweiligen Funktionen im literarischen Text. Vor dem Hintergrund der vorgenommenen Differenzierungen kann nun auch das Interdependenz- und Interaktionsverhältnis zwischen Wiederholung und Transgression näher beschrieben werden. Behauptet sich in der Wiederholung die Wirklichkeitsreferenz – im vorliegenden Kontext: die Identität des wissenschaftlichen Diskurses –, wird dieses Bestreben in der Transgression gerade unterlaufen.250 Denn die Transgression meint zunächst ja nichts anderes als die Überschreitung des Wiederholten und ist damit kontraproduktiv auf die Wiederholung selbst bezogen. Die Transgression verhindert folglich, dass das Wiederholte identisch ist mit dem, was in der Wiederholung (identisch) wiederholt werden soll. Bezogen auf die Wiederholung (und den in ihr wiederholten realen oder szientifischen Sachverhalt) stellt die Überschreitung stets eine Intervention in Richtung Verfremdung, Überformung oder Negation dar; positiv formuliert und im Hinblick auf die fiktionale Welt wird das Wiederholte derge-

|| Klinkert: Epistemologische Fiktionen. Zur Interferenz von Literatur und Wissenschaft seit der Aufklärung, Berlin, New York 2010, S. 21). Literatur ist eben „keine Wissenschaft oder Philosophie, sondern ein Medium der Erkenntnis von Erkenntnis“ (ebd.). 250 Auch Gabriel konstatiert für bestimmte Gattungen wie etwa den realistischen oder historischen Roman die Unverzichtbarkeit von „Referenzialisierbarkeit und Verifizierbarkeit“, zugleich aber auch, dass die poetische Darstellung „dieses Wissen gerade überbietet, indem sie zum Beispiel den Faktenwahrheiten eine symbolische Bedeutung […] verleiht“ (Gottfried Gabriel: (Gottfried Gabriel: Fiktion, Wahrheit und Erkenntnis in der Literatur, in: Wahrheit, Wissen und Erkenntnis in der Literatur. Philosophische Beiträge, hrsg. v. Christoph Demmerling u. Ingrid Vendrell Ferran, Berlin 2014, S. 163–180, hier S. 170 f.).

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stalt freigesetzt, dass es auch als Zeichen für etwas anderes verfügbar gemacht wird. Analoges gilt in der Umkehrung: Indem die Wiederholung in erster Linie darauf zielt, einen (wissenschaftlichen) Sachverhalt und den in ihm angelegten Informationswert identisch wiederzugeben, steuert auch sie der Transgression und den mit dieser gegebenen ‚Gefahren‘ ihrer Verfremdung etc. entgegen, bringt ihre repräsentative Funktion – in welcher Gestalt auch immer – zur Geltung und bleibt damit als faktisch nicht aufzuhebendes „(wissenschaftliches) Realitätsprädikat“ im literarischen Text präsent. Damit kann die Beziehung zwischen Wiederholung und Transgression als eine dialektische beschrieben werden: Das, was durch das jeweils eine zur Positionierung, Gestaltung oder Organisation gebracht werden soll, geschieht stets durch Negation dessen, was durch das jeweils andere zu seiner Positionierung, Gestaltung oder Organisation drängt. Was der in der Wiederholung auf seine Repräsentation zielende wissenschaftliche Sachverhalt in der Transgression an Reduktion, Substanzverlust, Verfremdung, Irrealisierung, De-Epistemologisierung ‚erleidet‘, wächst der fiktionalen Welt an Substanz, Realität und Gestaltungsmöglichkeiten zu – und umgekehrt.251 Die der Gattung eigene Hybridität gründet vor allem darin, dass Wiederholung und Transgression, unabhängig davon, mit welcher Dominanz sie sich in der fiktionalen Welt behaupten, sich gegenseitig nicht auslöschen können, ohne ihren gattungspoetologischen Status einzubüßen. Dieser impliziert gleichsam die äußerste Grenze dessen, bis zu welchem Grad sich Wiederholung und Transgression im produktionsäthetischen Transfer durchsetzen dürfen und auch durchsetzen müssen: So muss das Wiederholte in seiner Eigenschaft als ein bestimmtes Realitätsprädikat (Wissenschaftsprädikat) seine Relevanz zumindest soweit behaupten, dass seine Wiedererkennung und Konkretisation durch den Leser potentiell gewährleistet bleibt; desgleichen muss die Transgression in ihrer Eigenschaft, das Wissenschaftlich-Reale zum Zeichen für etwas anderes freizusetzen und damit die Differenz zwischen Welt der Wissenschaft und Welt der Fiktion zu etablieren, seine Relevanz in dem Maße behaupten, dass das in der Wiederholung Repräsentierte als ein fiktional Überschrittenes (und in dieser Überschreitung immer auch Freigesetztes und Freiverfügbares) entsprechend markiert ist. Auf die Frage, die sich von hier aus stellt, nämlich welche Bedingungen erfüllt sein müssen, damit ein literarisches Werk der Gattung poetica scientiae zuzurechnen ist, kann lediglich eine vorläufige Antwort versucht werden. Die

|| 251 Wiederholung als conditio sine qua non der Transgression, das Identische als Voraussetzung für die Etablierung von Differenz.

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Quantität der wissenschaftlichen Bezüge und die Qualität ihrer Repräsentation scheinen nur wenig verlässliche Kriterien zu sein. Die Antwort, so steht zu vermuten, ist vor allem in jener durch den Transfer etablierten Differenz von scientia und poetica, ihrer produktiven Funktionalisierung auf den und für die unterschiedlichen Ebenen des Erzählens sowie in der Nachhaltigkeit zu suchen, mit der sie den Lektüreprozess und damit das, was in der Lektüre jeweils zur Konkretisierung gelangt, zu steuern vermag.

2.1.2 Transferstrategien: Akte des Fingierens und Intertextualität Als Ergebnis der Transgression des Wiederholten ist die gattungskonstituierende Differenz von scientia und poetica stets als eine Differenz von Identität (das Wiederholte) und Differenz (das fiktive ‚Andere‘ des Wiederholten) zu charakterisieren. Die durch Wiederholung und Transgression etablierte Differenz von Identität und Differenz, somit also das Verhältnis, in das beide Differenzaspekte zueinander gesetzt sind, kann mittels Transferstrategien jeweils unterschiedlich akzentuiert werden. Transferstrategien sind damit Regel- und Steuerungsmechanismen, die das Verhältnis von Wiederholung und Transgression, von Identität und Differenz und damit die je verschiedene ‚Phänomenologie‘ und Funktionalität der für die Gattung konstitutiven Differenz von scientia und poetica modellieren und regulieren. Unter der Voraussetzung, dass die Differenz von Wirklichkeitsbezug und Fiktionalität für jede Literatur geltend zu machen ist, kommt den im Folgenden vorgestellten Transferstrategien keine Exklusivität für die in Rede stehende Gattung zu; ferner entspricht die Vielfalt dieser Strategien der Vielfalt narrativer und fiktionaler Möglichkeiten. Es wird also vor allem darum zu tun sein, einige wenige dieser für jeden produktionsästhetischen Prozess relevanten Grundoperationen zu erinnern und diese mit Blick auf die der poetica scientiae eigenen Möglichkeiten, Leistungen und Funktionen zu spezifizieren. Akte des Fingierens: Selektion, Kombination, Entblößung der Fiktionalität Die basalen Strategien des Transfers, mittels derer die Differenz von scientia und poetica allererst etabliert und akzentuiert wird, können mit Wolfgang Iser als „Akte des Fingierens“ bezeichnet werden. Iser unterscheidet dabei drei Operationen, die für die Konstituierung des Fiktiven252 maßgeblich sind und in je-

|| 252 Das Fiktive bestimmt Iser als die „Übersetzung des Imaginären in die konkrete Gestalt zum Zwecke des Gebrauchs“ (Wolfgang Iser: Akte des Fingierens. Oder: Was ist das Fiktive im

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weils „bestimmte, voneinander unterscheidbare Gestalten ausmünden“: 1. die Selektion von Elementen aus der realen Umwelt; sie erweist sich als „Möglichkeit, die Intentionalität253 eines Textes zu fassen, denn sie bewirkt es, dass bestimmte Sinnsysteme der Lebenswelt zu Bezugsfeldern des Textes und diese wiederum zum Kontext wechselseitiger Auslegung werden“;254 2. die Kombination der „aus der Textumwelt selektierten Elemente“ sowie der „Schemata des Textes selbst“;255 die dadurch erzeugten innertextuellen Relationierungen256

|| fiktionalen Text?, in: Funktionen des Fiktiven [= Poetik und Hermeneutik X], hrsg. v. Dieter Henrich u. Wolfgang Iser, München 1983, S. 121–152, hier S. 134). Damit ist das Imaginäre keineswegs ein den Formen des Fiktiven vorbehaltenes Vermögen: „Es ist mithin nicht die imaginative Dimension, die das literarische vom außerliterarischen Wissen trennt, sondern deren Formung durch die Fiktion. Die Imagination versieht in sämtlichen Bereichen unserer Wissensordnung die Aufgabe der Vorstellungssimulation durch Bildproduktion […]. Erst in dem Moment, da diese Bildproduktion vom Akt des Fingierens instrumentalisiert und mit den Funktionsmodellen poetischer Gattungen bzw. Stilmittel verknüpft wird, gewinnt sie eine literarische Qualität“ (Peter-André Alt: Beobachtungen dritter Ordnung. Literaturgeschichte als Funktionsgeschichte kulturellen Wissens, in: Grenzen der Germanistik. Rephilologisierung oder Erweiterung?, hrsg. v. Walter Erhart, Stuttgart, Weimar 2004, S. 186–209, hier S. 191). 253 Die im fiktionalen Text nicht explizit formulierte Intention ist demzufolge „nur über die Manifestationsqualitäten einzukreisen, die sich in der Selektivität des Textes im Blick auf seine Umweltsysteme erkennen lassen“. Sie zeigt sich „in der Dekomposition derjenigen Systeme, an die der Text angeschlossen ist, um sich in diesem Vorgang von ihnen abzuheben“ (ebd., S. 127). Intentionalität erscheint nach Iser als eine „‚Übergangsgestalt‘ zwischen dem Realen und dem Imaginären“; ihr kommt insofern ein Aktualitätsstatus bzw. Ereignischarakter zu, „als sie sich nicht in der Beziehung der Bezugsfelder erschöpft, sondern diese dekomponiert, um die gewählten Elemente in das Material ihrer Selbstpräsentation zu verwandeln. Aktualität bezeichnet dann das Wirksamwerden des Imaginären im Bereich des Realen“ (ebd., S. 128). 254 Ebd., S. 127. 255 Ebd., S. 129. 256 Wie die Intentionalität als Übergangsgestalt zwischen dem Realen und dem Imaginären erscheint, so ist die innertextuelle Relationierung dadurch, dass sie ihre Faktizität „durch den jeweiligen Grad ihrer Bestimmtheit, aber auch das Einwirken auf jene Elemente, die sie aufeinander bezieht“ (ebd., S. 130), gewinnt, ein Oszillieren zwischen dem Fiktiven und dem Imaginären. Durch Relationierung lassen sich drei Ebenen der Grenzüberschreitung ausmachen: Durch die Relationierung der aus der Textumwelt selektierten Elemente, z.B. der „in den Text eingekapselten Konventionen, Normen, Werte, Anspielungen und Zitate“, entsteht eine Transgression im Sinne einer „Umgeltung von Geltung“, die durch weitere Relationierungen insofern potenziert werden kann, als „im literarischen Text bereits durch Relationierung bestimmte semantische Bezugsfelder, die sich ihrerseits über die Relationierung der in den Text eingekapselten Elemente ergeben haben“ (ebd., S. 132), aufeinander bezogen werden können. Dadurch kommt es gleichsam zu einer „Umgeltung jener Geltungen, die sich aus der innertextuellen Organisation semantischer Räume ergeben haben“ (ebd., S. 132). Schließlich erfolgt Relationierung auch auf der „Ebene der lexikalischen Wortbedeutung“, z.B. durch die Neuorganisation

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verwandeln die sprachliche „Funktion des Bezeichnens in eine solche des Figurierens“; damit verliere Sprache zwar ihren denotativen, nicht aber ihren Verweischarakter;257 schließlich 3. die Entblößung der Fiktionalität durch sogenannte Fiktionssignale; diese bezeichnen nicht die Fiktion schlechthin, sondern einen auf historischen Konventionen beruhenden und entsprechend variablen „‚Kontrakt‘ zwischen Autor und Leser, dessen Regelungen den Text nicht als Diskurs, sondern als ‚inszenierten Diskurs‘ ausweisen“;258 die Gestalt, in welche die fiktionale Selbstentblößung mündet, ist die „Einklammerung“, durch die „alle Welt, die im literarischen Text organisiert ist, zu einem Als-ob“ wird.259 || von konventionell gebrauchten Wortfeldern. Auch in diesem Fall werden ‚schwebende‘ Beziehungen erzeugt, die sich durch „Instabilität“ auszeichnen, wodurch ein „semantisches Spektrum“ erzeugt wird, das sich „auf keine der kombinierten Wortfelder mehr zurückbringen lässt“ (ebd., S. 129). – Intentionalität und Relationierung erweisen sich gleichermaßen als „facts from fiction“ (Goodman), deren Eigentümlichkeit darin besteht, „daß sie weder eine Qualität dessen sind, worauf sie sich beziehen, noch [und dies gerade aufgrund ihrer durch diese Bezugnahme gewährleisteten Bestimmtheit] eine solche, die mit dem Imaginären überhaupt identisch wäre. Daher ließe sich das Fiktive als eine eigentümliche Übergangsgestalt qualifizieren, die sich immer zwischen das Reale und das Imaginäre zum Zweck ihrer wechselseitigen Anschließbarkeit schiebt“ (ebd., S. 150). – Damit sind Intentionalität und Relationierung zwar „über die von ihren in der Sprache gezeigten Auswirkungen zugänglich“ (ebd., S. 133), ohne aber selbst Sprache zu sein. Vielmehr besitzen sie den „Status der Aktualität“ und haben damit „Ereignischarakter“ (ebd., S. 128): Dieser wird im Fall der Intentionalität dadurch erzeugt, dass sie „sich nicht in der Bezeichnung der Bezugsfelder erschöpft, sondern diese dekomponiert, um die gewählten Elemente in das Material ihrer Selbstpräsentation zu verwandeln“ und damit ihre Aktualität im „Wirksamwerden des Imaginären im Bereich des Realen“ zu bekunden (ebd., S. 128) und im Fall der Relationierung dadurch, dass durch die Verletzung und Transgression primärer und – da bereits innertextlich perspektiviert und selektiert – sekundärer semantischer Systeme und Diskurse eine neue „semantische Topographie“ (ebd., S. 132) entspringt, die dem Imaginären seine konkrete, wenngleich nicht gänzlich in Sprache ein- und aufgehende Gestalt verleiht (vgl. ebd., S.134). Die Fiktionen – „das Fiktive als eine Konkretisation des Imaginären“ – gewinnen folglich durch die Sprache den „Realitätsanschein, der auf der einen Seite durch die konkrete Gestalt entsteht, die sie dem Imaginären verleihen und dessen sie auf der anderen Seite bedürftig sind, um solchen Gestalten ihre Wirksamkeit zu sichern. Indem sie aber ihre Existenz nur in der Sprache haben, bringen sie sich als solche durch die Art zur Geltung, in der sie die literale bzw. lexikalische Wortbedeutung überschreiten, die Funktion des Bezeichnens stillegen und die sprachliche Unübersetzbarkeit dessen signalisieren, worauf sie verweisen“ (ebd., S. 134). 257 Vgl. ebd., S. 133. 258 Vgl. ebd., S. 135. 259 Ebd., S. 139. Durch dieses Als-Ob „ist immer die Gegenwart eines Ganzheitsaspektes angezeigt“, in welchem sich „die Funktion des Gebrauchs [abschattet], um dessentwillen die Fiktion ins Werk gesetzt worden ist“ (ebd., S. 139): Denn die Fiktion geschieht immer um ihrer pragmatischen Verwendung willen. Folglich ist die im Text dargestellte Realität auch nicht als

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Das gemeinsame Merkmal dieser Akte des Fingierens besteht darin, dass sie „Grenzüberschreitungen“ darstellen: Akte des Fingierens sind Grenzüberschreitungen, verwischen aber erstens die Grenzen nicht und zweitens ist dieser Vorgang kein solcher des Transzendierens, weil durch die Akte des Fingierens das jeweils Überschrittene nicht überstiegen, sondern von ihnen ständig parat gehalten wird. Daraus ergibt sich die Doppelung oder Doppelheit als basaler Modus des Fiktiven.

Die Akte des Fingierens als Akte der Grenzüberschreitung implizieren damit jene dialektische Interrelation von Wiederholung und Transgression, wie sie für den Transfer kennzeichnend ist. Die aus ihnen sich jeweils ergebende Dopplung ist letztlich nichts anderes als der Effekt der durch sie – konkret: durch die ihnen implizite Dialektik – etablierten Differenz von Identität und Differenz. Anders formuliert: Die den Akten des Fingierens selbst implizite Dialektik zeichnet diese durch eine operationale – nicht zu trennende, sehr wohl aber zu differenzierende – Doppelfunktion aus, deren Effekt die Dopplung und Doppelfunktionalisierung der ihnen unterworfenen Sachverhalte ist. So ergibt sich im Akt der Selektion die Dopplung dadurch, dass einzelne Elemente aus den Umweltsystemen im Text „aktualisiert“ werden, während andere „inaktiv“ bleiben, doch so, dass sich „Gegenwärtiges aus dem Abwesenden visiert und Abwesendes sich in das Gegenwärtige einzeichnen kann“.260 Entsprechend wird im Akt der Kombination „jedes Wort dialogisch, jedes semantische Feld durch ein anderes gedoppelt, so dass in allem Gesagten immer auch ein anderes zur Geltung kommt“, also auch hier „Abwesendes immer durch Anwesendes gedoppelt ist“.

|| solche gemeint; sie ist Verweis auf etwas, das sie nicht ist, wenngleich dieses durch sie vorstellbar gemacht werden soll. (ebd., S. 139) Damit erfolgt mit der „Fiktion des Als-ob“ eine „doppelte Überschreitung, nämlich einerseits die Überschreitung der wirklichen Welt in den Akten des Fingierens, und andererseits eine Überschreitung der fiktionalen Welt selbst“. Erst durch diese zweite Transgression, in der die Fiktionalität des fiktiven Textes kenntlich gemacht wird, enthüllt dieser seinen pragmatischen, auf das Reale sich rück- und auswirkenden Zweck, in dem das „‚Imaginative‘“ allererst „seine zureichende Gestalt gewinnt“ (ebd., S. 141). Dies bedeutet, dass die „dargestellte Welt des Textes noch nicht der Zweck des Textes“ sein kann, sondern als „das wohlbestimmte Vergleichsglied die Bedingung dafür bildet, daß die durch die Klammer angezeigte Verweisung auf die Dimension des Gebrauchs vorstellbar zu werden vermag“ (ebd., S. 141). 260 Ebd., S. 126. Die Selektion erfüllt zwei maßgebliche Funktionen: Dadurch, dass „die im Text anwesenden Elemente durch abwesende gedoppelt“ (ebd.) sind, wird das Bezugsfeld überhaupt erst zu einem „Gegenstand der Wahrnehmung“, und dadurch, dass „durch die getroffene Auswahl das mit an[gezeigt] wird, was davon ausgeschlossen ist“, erscheint der Gegenstand der Wahrnehmung in einer bestimmten Perspektive.

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Schließlich ergibt sich die Dopplung im Akt der Selbstentblößung der Fiktion dadurch, dass die Virtualisierung und die mit dieser verbundenen Verfahren und Effekte der Dopplung selbst markiert, die Differenz als Differenz von Identität und Differenz ausgewiesen wird.261 Die Entblößung der Fiktionalität ist damit ein selbstreferentieller Akt, dem – und darin zeigt sich ein weiteres Mal die den Akten des Fingierens implizite Dialektik – eine gleichermaßen autoreferentielle, die Identität des fiktionalen Diskurses sichernde, wie heteroreferentielle, die Differenz zu den außertextlichen und textimmanenten Systemen markierende Funktion zukommt. Das Spezifische der Dopplung – die Dopplung als Effekt der den Akten des Fingierens immanenten Dialektik – ist, dass in ihr real Vorgegebenes zwar jeweils überschritten und d.h. umformuliert, virtualisiert, in seinem Realitätsstatus zum Zwecke der Konfiguration des Fiktiven getilgt und deformiert wird, zugleich jedoch als Hintergrund funktionalisiert ist, vor dem die mit der Transgression einhergehenden Prozesse der Umstrukturierung, Umgeltung etc. allererst thematisch werden können.262 Appliziert auf den Gattungstyp der poetica scientiae erscheint es sinnvoll, das Reale, auf das darin Bezug genommen wird, zu unterscheiden in ein lebensweltlich Reales einerseits, in ein wissenschaftlich Reales andererseits. Mit dieser Differenzierung sollen Wissenschaft und Lebenswelt keineswegs voneinander getrennt werden, vielmehr soll damit der unterschiedliche Modus, in dem sich ‚Lebensweltliches‘ und ‚Wissenschaftliches‘ als Reales überwiegend präsentiert, angezeigt werden. Idealtypisch (und damit notwendig simplifizierend) zeigt sich Lebenswelt als Praxis, in gemeinsamen kulturellen Erfahrungen und habitualisierten Vorstellungen, Wissenschaft hingegen als Theorie und Text. Während sich die Lebenswelt gegenüber der Wissenschaft zwar einerseits vielgestaltiger, heterogener und diffuser ausnimmt, so ist sie andererseits auf allgemeine teils natürlich bedingte, teils kulturell tradierte und durch Sozialisation angeeignete Schemata, Muster und Strukturen der Wahrnehmung, des Denkens, des Verhaltens, des Handelns und der Erfahrung zurückführbar, wel-

|| 261 Der fingierende Akt der Selbstentblößung der Fiktion ist somit stets metafiktional funktionalisiert: Insofern sich darin die Dopplung als basaler Modus des Fiktiven – und damit auch die Differenz von Identität und Differenz als Bedingung der Doppelheit – selbst anzeigt, entblößt sich Selbstreferentialität selbst als ein Effekt grenzüberschreitender Operationen; indem im Akt der Selbstentblößung die fiktionale Welt als eine Welt des Als-ob ausgewiesen wird – Iser vergleicht sie mit einer in Klammern gesetzte Welt –, werden die Klammern selbst in ihrer parenthetischen Funktion bloßgelegt und damit geöffnet für ihr ‚Außerhalb‘. 262 Ausführlich dazu vgl. Wolfgang Iser: Die Doppelungsstruktur des literarisch Fiktiven, in: Henrich u. Iser: Funktionen des Fiktiven, S. 497–558.

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che affektive, soziale, kognitive und kommunikative Einstellungen und damit die Teilhabe an ihr überhaupt erst ermöglichen. Diese allgemeinen formalen ‚patterns‘ gelangen zwar in der konkreten Erfahrung zu einer je unterschiedlichen und individuellen Realisierung, doch ist innerhalb des Gesamtbündels möglicher Attribuierungen stets eine gewisse Teilmenge von Merkmalen gegeben, die sich durch eine relativ hohe Konstanz auszeichnet und in der bestimmten Erfahrung von den Mitgliedern einer bestimmten Kultur regelmäßig besetzt wird. Umgekehrt ist es gerade die Menge der konventionell nicht besetzten Merkmale, welche die Verschiedenheit, Individualität und je Andersartigkeit von Erfahrung ermöglicht. Wird Erfahrung als Erfahrung gewusst, so kann sie mit Aristoteles als ein „Wissen des Besonderen“ definiert werden, das in exemplarischer Weise gleichzeitig eine Wahrnehmung des Allgemeinen leistet. Entscheidend ist, dass die dergestalt ‚gerasterte‘ und ‚stereotypisierte‘ Lebenswelt – trotz der ihr eigenen Individualität und Heterogenität – ein hohes Maß an Verfügbarkeit und Vertrautheit aufweist. Demgegenüber ist die Text-Welt der Wissenschaft per definitionem eine rational, diskursiv, systematisch und abstrakt verfasste, hochgradig spezialisiert, diszipliniert, propositional ‚besetzt‘, in ihrer Bedeutung definitorisch eindeutig festgelegt und dem entsprechend in ihrem Wirklichkeitsbezug eindeutig determiniert.263 Ihre Sätze und Urteile sind theoretisch – auch dann, wenn es sich dabei um Explikationen eines elementaren Erfahrungswissens handelt. Dadurch sperrt sich das ‚wissenschaftlich Reale‘ einer spontanen, quasi-automatischen Aneignung und Aktualisierung und wird verfügbar nur unter der Voraussetzung ihres rationalen Nach- und Mitvollzugs. Ihre Relevanz gewinnt diese Differenzierung sowohl für die Akte des Fingierens als auch für den Akt der Rezeption (vgl. unten), denn durch den doppelten Bezug auf Reales verdoppelt sich nicht nur die im Fiktiven aufgehobene, in der

|| 263 Die Wissenschaftssprache ist geprägt durch jenen abstrakten Objektivismus, den zuerst der Bachtinkreis, später vor allem Jacques Derrida als Fiktion des vereindeutigenden, sinnidentischen Wortes kritisiert haben. In ihr sind das einzelne Wort, der einzelne Begriff, das einzelne Urteil monologisch und – weil die ‚natürliche‘, historisch gewachsene Dialogizität des Wortes, seine ihm implizite Alterität, seine ‚Spur‘ unterdrückt sind – usurpatorisch, adialogisch und anti-dialogisch. Vgl. Michail Bachtin: Die Ästhetik des Wortes, hrsg. v. Rainer Grübel, übers. v. Rainer Grübel u. Sabine Reese, Frankfurt/M. 1979 u. Derrida: Grammatologie. Mit Lachmann kann deshalb die Wissenschaftssprache als „Gedächtnis des Gesetzes“ bezeichnet werden – im Gegensatz zur dialogischen Sprache der Kultur, die sie als „Speicher des ‚lebendigen‘ Gedächtnisses“ auffasst (Renate Lachmann: Bachtins Dialogizität und die akmeistische Mythopoetik als Paradigma dialogisierter Lyrik, in: Das Gespräch [= Poetik und Hermeneutik XI], hrsg. v. Karlheinz Stierle u. Rainer Warning, München 1984, S. 489–515, hier S. 501).

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Aufhebung gleichwohl bewahrte Spur dieses Realen, sondern es potenzieren und vervielfältigen sich auch die Möglichkeiten der Kombination der aus Lebenswelt und Wissenschaftswelt jeweils selektierten Elemente und ineins damit die Möglichkeiten ihrer Relationierung, ihrer Semantisierung (Signifikation) und ihrer Verschiedenverstehbarkeit. Mit Blick auf den literarischen Text erweisen sich empirisch, habituell verfasste Lebenswelt und textuell verfasste Wissenschaftswelt gleichermaßen als außertextliche Bezugsfelder. Dabei erfolgt der Zugriff auf die ‚gerasterte‘ und ‚vorstrukturierte‘ Lebens- und Erfahrungswelt – unabhängig davon, ob vom Autor intendiert oder nicht, unabhängig auch von seiner besonderen fiktiven Gestaltung – stets in einer Weise, dass das in ihr angelegte und von ihr nicht zu trennende Allgemein-Exemplarische mittransferiert, mitrepräsentiert und für seine Konkretisation im Akt des Lesens zugerüstet wird. In der Regel genügt bereits ein minimalistischer Index, um die Vorstellbarkeit oder zumindest das intuitive Verstehen eines auf Lebensweltlich-Reales bezogenen Fiktiven im Rezipienten zu ermöglichen – unabhängig vom Grad der Reflexion und der Bewusstheit, mit dem diese Konkretisation geschieht. Der Zugriff auf die Welt der Wissenschaft – konkret: auf jenen ‚Wissenschaft‘ genannten Text, der Wissen über die Realität kodiert – hingegen setzt, wie bereits angedeutet, zumindest die partielle rationale Durchdringung des wissenschaftlichen Diskurses voraus, denn erst ihr Studium ermöglicht die Teilhabe an ihr, und erst die Teilhabe an ihr ermöglicht ihre Verfügbarkeit und Freisetzung für literarische Zwecke.264 Dies gilt analog, und in verstärktem Maße, auch für den Akt der Rezeption: Denn zur Konkretisation und Vorstellbarkeit eines auf WissenschaftlichReales bezogenen Fiktiven, bedarf es eines Lesers, der die szientifischen Indices265 nicht nur als solche zu identifizieren, sondern diese auch in ihren diskursiven Herkunftszusammenhang zu integrieren vermag. Zugespitzt formuliert: Während die lebensweltlichen Indices aufgrund der vom Leser (in der Erinnerung) ständig parat gehaltenen Lebenswelt ihre Verweisungsfunktion gleichsam instantan anzeigen, wodurch das, worauf verwiesen wird, in der Vorstellung zur Kopräsenz gelangt, sich als Vergleichsglied zur Welt der Fiktion || 264 Damit ist der Zusammenhang von literarischen Formen und Lebenswelt bzw. im Falle der poetica scientiae wissenschaftlichem Wissen einerseits unaufkündbar; andererseits bleibt „das Wissen der Literatur vermöge der Operationen der Fiktion von den Zwecksetzungen und damit verbundenen Begriffssystemen der Wissenschaft getrennt“ (Alt: Beobachtungen dritter Ordnung, S. 192). 265 Der Index kann mehr oder weniger explizit sein; entscheidend ist, dass in ihm Wiederholung und Transgression angezeigt werden, d.h. aufgrund der durchlaufenen Akte des Fingierens ist seine Funktion nie eine benennende, sondern immer nur eine verweisende.

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abschattet, die Differenz zwischen Lebens- und Textwelt ihre Produktivität also entfalten kann, gilt es im Falle der scientifizischen Indices, sofern ihre indexikalische Funktion überhaupt wahrgenommen wird, das, worauf sie verweisen, in der Regel allererst im und für das Leserbewusstsein herzustellen. Wenn die Qualität der Dopplung (Dopplung/Differenz als Effekt der Akte des Fingierens) darin zu sehen ist, dass sie sich im dialektischen Modus von Anwesenheit und Abwesenheit ereignet – Iser spricht von der „Gleichzeitigkeit des wechselseitig Sich-Ausschließenden“266 –, dann muss das im Text Abwesende in der Welt des Lesers in ‚irgendeiner‘ Form anwesend sein, soll es sich in das im literarischen Text Anwesende einzeichnen können. Folglich wird sich das auf SzientifischReales bezogene Gegenwärtige des literarischen Textes nur dann aus dem Abwesenden visieren lassen, wenn dieses Abwesende als ein Anwesendes im Leserbewusstsein installiert ist. Erweist sich der szientifische Diskurs, auf den ein literarischer Text Bezug nimmt, im Leserbewusstsein als Leerstelle im Sinne des fehlenden Vorwissens, bleiben die Differenz von scientia und poetica und die aus ihr hervorgetriebenen produktiv-dialektischen und -dialogischen Möglichkeiten deaktiviert, die Gattung selbst unrealisiert und damit als Gattung außer Kraft gesetzt. Aufgrund seiner allgemeinen Verfügbarkeit und Präsenz, so lässt sich zusammenfassend sagen, weist das Lebensweltlich-Reale eine weitaus größere Disposition zu seiner Aneignung und Aktualisierung auf als das SzientifischReale, dem aufgrund seiner rational-theoretischen Komplexität eine hohe Widerständigkeit gegenüber einer spontanen Aneignung und Aktualisierung anhaftet. Seine Verfügbarkeit als Voraussetzung sowohl für seine Fiktionalisierung durch den Produzenten als auch für die Sinngebungakte durch den Rezipienten erfordert Studium und Arbeit, einen Autor im Sinne des poeta doctus, einen Leser im Sinne des lector doctus.267 Ehe im Folgenden die spezifische Rolle des Lesers näher in den Blick genommen wird, gilt es eine Transferstrategie vorzustellen, die sich aus der textuellen Verfasstheit des wissenschaftlich Realen ergibt und deshalb für die in Rede stehende Gattung ein unhintergehbares Konstitutionsprinzip darstellt: die Intertextualität.

|| 266 Iser: Die Doppelungsstruktur des literarisch Fiktiven, S. 503. 267 Fiktionalisierung im Sinne der Etablierung der Differenz von scientia und poetica ist nur unter der Voraussetzung möglich, dass diese Differenz vom Autor erlesen und erarbeitet wurde. Unter der gleichen Bedingung steht, wie noch zu zeigen sein wird, der Vorgang der Semantisierung bzw. der Sinngebung seitens des Lesers. Beide, Produzent und Rezipient, müssen zuerst Leser sein, ehe sie zu Dichtern bzw. Deutern werden.

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Intertextualität Ist das wissenschaftlich Reale ein für die Gattung poetica scientiae konstitutives außertextliches Bezugsfeld, das seinerseits textuell verfasst ist, so ist mit Intertextualität zunächst der spezifische Modus beschrieben, in dem diese Literatur auf eben dieses Reale Bezug nimmt. Um den Bezug zwischen Texten im Spielraum seiner Möglichkeiten zu erfassen, gilt es nach Stierle zwischen „semiotischer, phänomenologischer, hermeneutischer und pragmatischer Perspektive“ zu unterscheiden.268 Semiotisch ist die Intertextualitätsrelation eine Verweisung – im Falle der poetica scientiae eine szientifische Deixis –, die dadurch charakterisiert ist, dass der sprachlich organisierte Zeichenzusammenhang des Folgetexts „artikuliert, denotativ“, der Zeichenzusammenhang des Prätextes hingegen „unartikuliert, konnotativ“ gegeben ist: „Der denotierte Text ist in der intertextuellen Relation die Basis des konnotierten Texts.“269 Die Verweisung, die sich durch Verfahren der Referenz auf andere Texte herstellt, kann im Hinblick auf die poetica scientiae als Kontiguitätsfigur der Metonymie präzisiert werden: Die Metonymie als zentrales Verfahren dieser Gattung referiert nicht

|| 268 Karlheinz Stierle: Werk und Intertextualität, in: Stierle/Warning: Das Gespräch, S. 139– 150, hier S. 143. 269 Stierle: Werk und Intertextualität, S. 144. In der Terminologie Isers ist die semiotische Relation (wie auch die weiteren Relationen) Ergebnis der fingierenden Akte der Selektion und Kombination, wobei die Selektion hier auf der intertextuelle Ebene angesiedelt ist, die Kombination hingegen auf der intratextuellen Ebene; die Kombination ist damit eine Wiederholung der Selektion und deren Funktionen lediglich auf einer anderen Ebene. – In der Selektion werden Auf textimmanenter Ebene geschieht nun in der Kombination dasselbe wie auf der Ebene der selektierten Elemente aus dem Bezugstext, d.h. die Kombination ist eine Wiederholung der Selektion und deren Funktionen auf intratextueller Ebene: Werden in der Selektion einzelne Elemente des Bezugstexts ausgewählt, während andere inaktiv bleiben, dies wiederum so, dass sich die in den Folgetext eingekapselten Elemente des Bezugstexts vor dem Hintergrund dessen, was durch sie ausgegrenzt ist, präsentieren (vgl. Iser: Akte des Fingierens, S. 126), so wird in Kombination (die sich von …bis erstrecken kann) „der literale Sinn der Sprache […] genauso weggeblendet wie ihre Funktion des Bezeichnens“. Diese figurativverweisende Sprachverwendung „lässt sich nicht mehr über bestehende Referenzsysteme einlösen, sondern zielt auf Ausdruck und Repräsentation“, was zum einen bedeutet, „daß dasjenige, worauf verwiesen wird, selbst nicht sprachlicher Natur ist und auch nicht als eine objekthafte Gestalt existiert“, zum anderen aber, dass dadurch die „Vorstellbarkeit dessen, worauf sie verweist“ eröffnet wird, so dass sich schließlich die Sprache „zu einem Analogon [depotenziert], [welches] nur noch die Bedingung möglicher Vorstellbarkeit enthält“, aber eben nicht mit dem, was es vorzustellen gilt, identisch ist (ebd., S. 133 f.): „So bringt sich im Verweis der figurativen Sprache eine eigentümliche Doppeldeutigkeit zum Vorschein: sie funktioniert gleichzeitig als Analogon der Vorstellbarkeit und als Zeichen der sprachlichen Unübersetzbarkeit dessen, was sie anzielt“ (ebd., S. 134).

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auf eine spezifische Realität, sondern auf eine Vielzahl von Ensembles szientifischer Zeichen, die Realität und Realitätserfahrung kodiert haben.270 Phänomenologisch gestaltet sich die semiotische Relation von Denotation und Konnotation als ein „Verhältnis von Thema und Horizont“.271 Soll dieser Horizont nicht nur ein gewusster, sondern vor allem ein erfahrbarer, ästhetisch gegenwärtiger Horizont sein, so muss die Verweisung, die selbst nicht sprachlicher Natur ist, ihrerseits ästhetisch vergegenwärtigt werden:272 Die intertextuelle Gegebenheit ist nicht nur die Funktion eines semiotisch abgerufenen Vorwissens, das der Rezipient ins Spiel zu bringen hat. Der Text vielmehr spielt den Bezugstext herein, und zwar in einer Artikuliertheit, Reliefhaftigkeit, die das Ganze des intertextuellen Bezugstexts nicht einfach als Wissen voraussetzt, sondern es im Medium seiner konkreten Aufgerufenheit erscheinen lässt. Die Weise, wie ein Text eines anderen Texts inne ist, bestimmt seine ästhetische Gegenwärtigkeit.273

Im ‚Wie‘ des Aufgehoben- und Inneseins wird zugleich das hermeneutischpragmatische Verhältnis – die Haltung und Einstellung – eines Textes zu einem anderen fassbar. Unabhängig davon, ob dieses Verhältnis eines der Applikation, der Überbietung, der Aufbietung einer Autorität, der ironischen Distanznahme, der Erweiterung, der Korrektur usw. ist, unabhängig auch davon, um welche Form der Bezogenheit zwischen Texten es sich konkret handelt – ob der fremde Text als Zitat, Allusion, Reminiszenz in den aktuellen Text eingelagert ist, ob der aktuelle Text sich replikativ, kontrafaktisch, parodistisch oder kommentierend, kritisch, interpretierend zum Referenztext verhält: Grundsätzlich geht es immer „um die semantische Explosion, die in der Berührung der Texte geschieht, um die Erzeugung einer ästhetischen und semantischen Differenz“.274

|| 270 Vgl. Lachmann: Bachtins Dialogizität, S. 510. 271 Stierle: Werk und Intertextualität, S. 144. 272 Vgl. ebd. Die ästhetische Erfahrung ist eine Differenzerfahrung, hier konkret: die Erfahrung der Öffnung des Werks auf andere Werke (vgl. ebd.). Grundsätzlich handelt es sich hierbei um die Differenz von fremdem und aktuellem Text. Der fremde Text ist als Text abwesend; im aktuellen Text anwesend ist er als Erinnerung an die Lektüre eines Textes, d.h. als angeeigneter, umgesetzter, in Sinn oder Imagination überführter Text (vgl. ebd. S. 146), anwesend aber auch in den eindeutigen intertextuellen Markierungen, in den Referenzsignalen. 273 Ebd., S. 144 f. In rezeptionsästhetischer Perspektive stellt sich in diesem Zusammenhang erneut die Frage nach den Bedingungen der Konkretisation und damit der ästhetischen Erfahrung, konkret: die Frage nach dem Verhältnis von vorauszusetzendem Vorwissen und Konkretisationsmöglichkeit des literarischen Textes, nach Ab- und Anwesenheit. 274 Renate Lachmann: Ebenen des Intertextualitätsbegriffs, in: Stierle/Warning: Das Gespräch, S. 133–138, hier S. 134.

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Texte, literarische wie nichtliterarische, stehen zueinander nicht nur in einem Verhältnis der semiotischen [und phänomenologischen] Differenz, sondern, auf der Grundlage einer semiotischen Differenz, in einem Sachbezug, der als dieser das Verhältnis der Texte zueinander überschreitet und damit auch die intertextuelle zu einer anderen als intertextuellen Relation macht.275

In der Bezogenheit auf eine Sache zeigt sich die intertextuelle Relation im Sinne einer semiotisch-phänomenologischen Differenz stets auch als etwas, das den „Texten in der intertextuellen Relation als das gemeinsame Dritte vorausliegt“ und über die „bloße Textgestalt hinausreicht“.276 Für die hermeneutischpragmatische Relation bedeutet das, dass sie sich nur unter der Bedingung ‚realisiert‘, dass „Intertextualität überschritten wird“, folglich in der Auslegung und Konkretisation der semiotisch-phänomenologischen Differenz der aufeinander bezogenen Texte. Die deiktische Funktion, also jene Funktion, welche die intertextuelle Beziehung zwischen Phäno- und Referenztext indiziert, wird durch Referenzsignale garantiert. Bei diesen handelt es sich um Markierungen, die, so Renate Lachmann, die Doppelkodierung manifestieren und folglich als Störung der Textisotopie – als Ambivalenz oder Polyvalenz – wahrgenommen werden. Zwei Beziehungen zwischen Phäno- und Referenztext werden durch die Referenzsignale hauptsächlich angezeigt, die mit Lachmann als Kontiguitäts- und Similaritätsbeziehung bezeichnet werden können. Eine Kontiguitätsbeziehung liegt bei der in Rede stehenden Gattung dann vor, wenn ein konstitutives Element eines fremden, wissenschaftlichen Textes (seine thematische, stilistischrhetorische Ebene betreffend) bzw. eines medial vermittelten wissenschaftlichen Diskurses oder Paradigmas im Phänotext wiederholt wird, das den wissenschaftlichen Referenztext bzw. den wissenschaftlichen Diskurs als Ganzen evoziert, oder wenn eine signifikante Textstrategie eines fremden Textes repräsentiert wird, die den Referenztext in seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten wissenschaftlichen Tradition, Konvention oder Ideologie mit spezifischen thematischen oder stilistisch-rhetorischen Mustern aufruft. Eine Similaritätsbeziehung hingegen ist dann gegeben, „wenn im Phänotext Strukturen als fremdtextlichen Strukturen äquivalente signalisiert sind; diese Relation realisiert sich nicht in zitierten Elementen oder Verfahren, sondern im Aufbau von analogen Strategien, die ihre Entsprechungen in bestimmten Referenztexten haben. Die Analogie kann hierbei eine formale Äquivalenz bei völliger Umkehrung der

|| 275 Stierle: Werk und Intertextualität, S. 145. 276 Hier und im Folgenden ebd., S. 146.

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Funktion oder die funktionale Äquivalenz bei völliger Umbesetzung der Form bedeuten“.277 Die für den vorliegenden Problemzusammenhang relevantere Kontiguitätsbeziehung erscheint als Ergebnis der fingierenden Akte der Selektion und Kombination einzelner Elemente oder Strategien eines oder mehrerer Referenztexte. Dabei wird der ursprüngliche Referenzrahmen eines Elements, sein Stellenwert in einer Texttotalität aufgegeben und ein Kontakt zu jeweils anderen fremdtextlichen Elementen hergestellt. Auf diese Weise entstehen heterogene Reihen oder Schichten; einem Vorgang der Zerstreuung folgt der einer Zusammensetzung zu einem neuen Textkomplex.278 Die Doppelkodierung des referentiellen Zeichens beruht auf dessen Spaltung in einen (aktuell-)textuellen Verweisungsund Funktionszusammenhang einerseits, in einen (genetisch-)kontextuellen andererseits, wobei die in der Rezeption zu leistende Dekodierung des ersten, der Oberflächenisotopie des fiktionalen Textes gleichsam einverleibten Konnexes nur in Abhängigkeit einer Dekodierung des zweiten, die implikative, die Kontiguitäts-Beziehung zwischen den Texten aufbewahrenden Zusammenhangs erfolgen kann. Als gespaltenes Zeichen verweist das Referenzsignal metonymisch auf den Kontext bzw. das Paradigma, dem es entspringt, d.h. als Teil des Herkunftstextes evoziert es das Textganze (pars pro toto) oder einen größeren Text(sinn)abschnitt (pars pro parte);279 zugleich erweist es seine über den Kontext hinausreichende semantisch-funktionale Potentialität, indem es in den Verweisungs- und Funktionszusammenhang des neuen Textes eingeht, „sich diesem zugleich unterwirft und entzieht, einen fremden Text in den Blick bringt und doch auch in diesem nicht aufgeht“.280 Auf diese Weise gewinnt das Referenzsignal eine eigentümliche Autonomie, die paradoxerweise aus seiner Partizipation an (mindestens) zwei Texten resultiert, wobei die Partizipation am jeweils einen stets eine (partielle) Emanzipation vom Sinn- und Funktionszusammenhang des anderen bedeutet. Mit anderen Worten: Durch die doppelte Partizipation erleidet das Zeichen eine Heterogenisierung, die seine partizipative Beziehung sowohl zum Referenz- als auch zum Phänotext mit-durchdringt und mit-determiniert. Die Identität des Zeichens besteht dann gerade in seiner Nicht-Identität mit dem ihm in den jeweiligen Texten zugewiesenen Sinn- und

|| 277 Lachmann: Ebenen des Intertextualitätsbegriffs, S. 136. Beide Beziehungstypen schließen einander jedoch nicht aus. 278 Vgl. ebd., S. 136 f. 279 Als medial vermittelte können diese Texte bereits in habitualisierte Vorstellungen übergegangen sein. 280 Stierle: Werk und Intertextualität, S. 148.

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Funktionszusammenhang. Nicht zuletzt kommt den Referenzsignalen immer auch eine metapoetische, selbstreflexive Bedeutung zu: Als Zeichen, welche die Intertextualitätsrelation signalisieren und den Ort markieren, an dem anwesender und abwesender Text sich überschneiden, bilden sie auf signifikante Weise auch das Verfahren der Intertextualität selbst zeichenhaft ab. Damit identifizieren sie den literarischen Text insgesamt als Metatext: als Text über einen Text, der an diesen rückwirkend ebenso gerichtet ist wie an jenen potentiellen, ungeschriebenen ‚Text‘, der aus den Lektüre- und Verstehensprozessen durch den Leser resultiert. Stimmt man mit Stierle darin überein, dass die „Autorität“ eines ästhetischen (auch eines intertextuell organisierten) Textes in der „Bestimmtheit seiner Form“ liegt,281 so ist umgekehrt die Autorität eines wissenschaftlichen Textes gerade in der Bestimmtheit und Dominanz des Sachbezugs zu sehen. Diese Unterscheidung erlaubt es, den je spezifischen ontologischen Status literarischer und wissenschaftlicher Diskurse anzuzeigen, ohne ihre gemeinsamen Momente, nämlich ihre grundsätzliche sprachliche Verfasstheit einerseits,282 ihre Bezogenheit auf eine Sache andererseits, zu liquidieren. Ferner ermöglicht es diese Unterscheidung, die für die poetica scientiae konstitutiven intertextuellen Relationen gattungsspezifisch zu formulieren. Ein kurzer Vergleich der beiden Diskursgenres: Der literarische Diskurs ist, wie gezeigt wurde, durch die Differenz von Identität und Differenz und die durch diese bedingte Qualität der Doppelheit charakterisiert. Diese mündet nach Iser in die „Gleichzeitigkeit des wechselseitig Sich-Ausschließenden“,283 wodurch „dynamisierte Oszillationen“ erzeugt werden, ein Zustand, der zur Vielfalt seiner möglichen Aufhebungen im Prozess der Deutung auseinander treibt; ihm entspringe ein ästhetisches Potential, das als Quelle von Sinn sich schlechterdings durch nichts substituieren lässt. Im Unterschied dazu ist diese Qualität der Doppelheit im wissenschaftlichen Diskurs suspendiert. Dort werden Aussagen und Setzungen vorgenommen, die nicht nur einen logischpropositionalen Wahrheitswert beanspruchen, sondern darüber hinaus eine

|| 281 Ebd., S. 146. Ausdrücklich grenzt Stierle die Autorität der Form, welche die „Identität des Werks bestimmt“, von der „Liberalität der Applikationsmöglichkeiten, der Auslegbarkeiten, Fortführbarkeiten und Bezugnahmen“ (ebd.) ab. 282 Die Dominanz des Sachbezugs im wissenschaftlichen Text meint ja gerade nicht, dass in diesem Momente der Rhetorizität, Metaphorik und Narrativität suspendiert wären, sondern dass der Sachbezug über diese Momente dominiert. 283 Iser: Die Doppelungsstruktur des literarisch Fiktiven, S. 502.

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Identifikation der Setzung mit der zu erkennenden Realität nahe legen.284 Während sich der literarische Diskurs durch die Selbstentblößung seiner Fiktionalität einer Falsifizierbarkeit entzieht, ist von ihr die wissenschaftliche Setzung gerade dadurch ständig bedroht, dass diese nicht unter dem Vorzeichen des „Als-ob“ geschieht.285 Mit der intertextuellen Integration eines wissenschaftlichen Textes in einen literarischen werden Bestimmtheit und Dominanz des Sachbezugs der Bestimmtheit der fiktionalen Form subordiniert, das Primat der Faktizität dem Primat der Fiktion unterstellt (d.h. semiotisch: die Setzung in eine szientifische Deixis transformiert, phänomenologisch das Thema in einen Horizont, hermeneutisch-pragmatisch: die wie auch immer mit Bedeutung angereicherte, intendierte Verweisung, etwa ironisch, applikativ, überbietend etc.).286 Diese durch den Transfer, konkret: den fingierenden Akt der Selektion geleistete Subordination – und daran gilt es immer wieder zu erinnern – bedeutet weder die Eliminierung des Sachbezugs noch die Nichtung der ihn bezeichnenden propositionalen Aussage, sondern beider Wiederholung und Überschreitung zugleich. Dadurch „erfährt die Komplexhaftigkeit der Doppelung eine Steigerung, es entsteht die Gleichzeitigkeit verschiedener Diskurse, die ihre jeweiligen Kontexte als ein Spiel wechselseitigen Auf- und Abblendens entfalten“.287 Die aus der intertextuellen Bezugnahme resultierende „semantische Instabilität“ wird durch die im fingierenden Akt der Kombination erzeugten intratextuellen Relationierungen in der Weise gesteigert, „daß die gebündelten Diskurse auch im-

|| 284 Vgl. Iser: „In der Setzung ist die Gleichzeitigkeit des wechselseitig Sich-Ausschließenden aufgehoben, und das bedeutet vielfach, daß die Setzung mit der zu erkennenden Realität identifiziert wird“ (ebd., S. 503). 285 Nach Bachtin hat es das naturwissenschaftliche Erkennen mit dem Ding ohne Stimme zu tun; der literarische Diskurs hingegen ist personal in dem Sinne, dass sich das Subjekt im Dialog, in der Sinnkreuzung mit einem anderen trifft. „‚Sinn‘ ist personalistisch: in ihm liegen immer Frage, Appell und Vorwegnahme der Antwort, in ihm sind immer zwei (als dialogisches Minimum) gegenwärtig. Es ist dies keine psychologische Personalität, sondern eine SinnPersonalität. […] Personifikation (in der humanwissenschaftlichen Erkenntnis gegen die Verdinglichung gesetzt) ist jedoch keinesfalls Subjektivierung. Das Extrem ist hier nicht ‚ich‘, sondern ‚ich‘ in Wechselbeziehung mit anderen Personen“ (Bachtin: Die Ästhetik des Wortes, S. 352 u. 354). Entsprechend steht der Monologismus (die Einstimmigkeit) des wissenschaftlichen Diskurses der Dialogik (der Mehrstimmigkeit) der fiktionalen Prosa entgegen. 286 Wobei die Fiktionalisierung bei der in Rede stehenden Gattung immer im Zeichen der szientifischen Fokalisierung steht. 287 Iser: Die Doppelungsstruktur des literarisch Fiktiven, S. 501.

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mer Kontext füreinander sind, weshalb sie jeweils in eine fortlaufend umspringende Thema- und Horizont-Beziehung einrücken“.288 Mit der Intertextualität als einem für die Gattung poetica scientiae wesentlichen Konstitutionsprinzip rückt ein weiteres Moment in den Blick, welches das Intertextualitätsverfahren selbst – und im Zuge dessen die Gattung – charakterisiert, in der Konsequenz jedoch die gattungspoetologische und -hermeneutische Perspektive für eine gattungsethische öffnet: Intertextualität als ‚Dialog der Texte‘.289 Dass mit der Rede vom ‚Dialog der Texte‘ weniger eine Definition als vielmehr ein Problem benannt ist, wird unmittelbar einsichtig, sobald man andere, längst eingebürgerte Bezeichnungen für intertextuell konzipierte Texte wie etwa „littérature au second degré“ oder „literary recycling“290 heranzieht. Für den vorliegenden Zusammenhang ist nun nicht die mit diesen Termini insinuierte ästhetische Hierarchie relevant – der Prätext als genialisch verfasstes Original, vor dem sich der Folgetext als künstlerisch minderwertiges Abbild ausnimmt –, sondern die Tatsache, dass damit eine ‚Schieflage‘ angezeigt ist, die auch für die dialogische Relation der Intertextualität symptomatisch ist. Gerade die Beobachtung, dass durch den Transfer wissenschaftlicher Texte in Literatur der Primat der Faktizität unter den Primat der ästhetischen Form gestellt wird, lässt die folgende von Stierle geäußerte Vermutung zunächst plausibel erscheinen: Dialogisch in einem genaueren Sinne kann der Bezug zwischen Texten nicht heißen. Jeder Text macht den hereingeholten Text zum Moment seiner eigenen Bewegung. Dialog setzt die Autonomie der Aktanten des Dialogs voraus. Gerade diese aber erscheint in der intertextuellen Relation aufgehoben.291

Vor dem Hintergrund der beschriebenen Transferkomponenten und Transferstrategien, die für die Intertextualität als einem speziellen Verfahren des Trans-

|| 288 Ebd. 289 Dialogische Strukturen manifestieren sich zwar auf allen bisher angesprochenen Ebenen des Transfergeschehens, doch eignet sich die Intertextualität aufgrund des ihr per definitionem eigenen Dialogcharakters besonders gut, die einzelnen Facetten dieses Dialogischen zu analysieren. 290 Zur ‚Literatur auf zweiter Stufe‘ vgl. Gérard Genette: Palimpsestes. La littérature au second degré, Paris 1982; dt.: Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe, Frankfurt/M. 1993; zum Terminus des ‚literary recycling‘ vgl. Peter J. Rabinowitz: „What’s Hecuba to Us?“ The Audience’s Experience of Literary Borrowing, in: The Reader in the Text: Essays on Audience and Interpretation, hrsg. v. Susan R. Suleiman u. Inge Crossman, Princeton 1980, S. 241–263, hier S. 246. 291 Stierle: Werk und Intertextualität, S. 147.

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fers zum Zwecke der literarischen Textkonstituierung ja ebenfalls bestimmend sind, erschließt sich die dialogische Relation jedoch als eine weitaus differenziertere und komplexere. Zwei Hypothesen lassen sich den folgenden Ausführungen voranstellen: 1. Die den Akten des Fingierens implizite Dialektik gilt uneingeschränkt auch für die dialogische Intertextualitätsrelation. 2. Entsprechend partizipiert diese dem ‚Dialog der Texte‘ implizite Dialektik an der Etablierung und Aufrechterhaltung der gattungskonstitutiven Differenz von Identität und Differenz. Wie das hermeneutische Gespräch vollzieht sich der ‚Dialog der Texte‘ im Modus von Frage und Antwort, als ein verstehendes Einrücken in ein Überlieferungsgeschehen, weicht jedoch vom hermeneutischen Gespräch darin ab, dass er gerade nicht auf die ‚Verschmelzung der Horizonte‘ im Akt des Verstehens zielt,292 sondern auf die nachhaltige Akzentuierung der Differenz, des produktiven ‚Widerstreits‘.293 Wie nun ist die dem ‚Dialog der Texte‘ implizite Dialektik genauer zu beschreiben? Mit den Akten des Fingierens, die sich stets im Zugleich von Wieder|| 292 Vgl. Gadamer: Wahrheit und Methode, bes. Zweiter Teil, Kap. II,1. Dieser Unterschied zwischen dem ‚Dialog der Texte‘ und dem hermeneutischen Gespräch bleibt meines Erachtens selbst für den Fall zutreffend, dass die Horizontverschmelzung kein konkret einzulösendes Verstehensziel darstellt, sondern lediglich eine regulative Idee, die zwar angenähert, aber niemals eingeholt werden kann. Entscheidend ist, dass die regulative Idee in einem auf Einverständnis zielenden Verstehensprozess wirksam bleibt, indem sie diesem eine Richtung und einen Richtungssinn vorgibt, ihn also zwar nicht durch eine schon vorentschiedene Antwort, so doch durch eine latent vorgegebene Wahrheit (die formale Wahrheit der Übereinstimmung und des Einverständnisses der Dialogpartner) in seinen Möglichkeiten und seinen Akzeptanzbedingungen begrenzt. Der Dialog der Texte hingegen wird diese regulative Idee – auch in ihrer latenten Wirksamkeit – stets zu negieren suchen. Selbst dann, wenn der literarische Text den Dialog mit anderen Texten pragmatisch aufzuheben versucht – z.B. durch eindeutige Sinnzuschreibungen, utopische Besetzungen etc. – wird die Stimme des fremden Textes stets ein Gegengewicht, einen Widerstand darstellen, der die ‚restlose‘ Schließung der Differenz bzw. ihre sinnidentische Besetzung verhindert. 293 Die Differenz als das Ästhetikspezifische literarischer Texte berührt sich mit einer postmodern verfassten Hermeneutik der Dispersion, des Dissens, des Widerstreits, wie sie programmatisch von Lyotard beschrieben worden ist (vgl. Francois Lyotard: Der Widerstreit, München 1987). – Nach Iser ist die Differenz von Zeigen und Verschweigen die produktive Bedingung des Dialogs überhaupt. Während diese Differenz in der auf Zwecke gerichteten Alltagskommunikation in der „pragmatischen Finalität des Dialogs“ verschwindet (wobei durch die Aufhebung der Differenz die Zwecke nicht nur ihre Gestalt, sondern auch ihren pragmatischen Charakter allererst gewinnen), kann die Differenz nachhaltig akzentuiert werden, „indem man das Ungesagte aus der bloß unterstützenden Funktion entlässt und es zur Gleichrangigkeit mit dem Gesagten erhebt; geschieht das, dann wird die offen gehaltene Differenz in eine Zersetzung der Dialogpragmatik umschlagen“ (Wolfgang Iser: Zur Phänomenologie der Dialogregel, in: Stierle/Warning: Das Gespräch, S. 183–189, hier S. 184).

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holung und Transgression ereignen, werden operationale Eingriffe294 in einen fremden Text vorgenommen, die dessen Autorität und Identität zum Zwecke der Etablierung der eigenen fiktionalen Autorität und Identität zwangsläufig verletzen: Fiktion, so Iser treffend, ist die „Verletzung der Referenz schlechthin“.295 So ist bereits die Selektion ein äußerst distinguierter Vorgang, insofern mit Auswahl und Ausschluss einzelner Textelemente nicht nur Prozesse der Dezentrierung, Reduktion, Fragmentierung, Deformation etc. verbunden sind, sondern auch Entscheidungen, Wertungen und Semantisierungen, die für die Konstitution des Zieltexts ebenso prägend sind wie sie die spezifische Einstellung gegenüber dem Ausgangstext offenlegen. Intertextualität folgt in dieser Betrachtung sicherlich nicht den Regeln des ‚herrschaftsfreien Diskurses‘, sondern vollzieht sich – und vor diesem Hintergrund ist Stierles kritische Äußerung zu lesen – als eine textuelle Inkorporations- und Aneignungsbewegung, im Zuge derer das Angeeignete, indem es den Regeln und Zwecken des Zieltextes unterworfen ist, eine Enteignung erfährt.296 Den Akten des Fingierens, so ließe sich hermeneutisch formulieren, geht das Gespräch des Autors mit dem Bezugstext und dessen Sinnpositionen voraus,297 sie markieren gleichsam das vorläufige Ende dieser kommunikativen Situation, die aber gleichwohl als (Teil-)Antwort (und Antwort meint hier Entschiedenes, Positioniertes, Gesetztes, Bestimmtes, Gewertetes, Gedeutetes) auf jene perspektivierten und interessegesteuerten Fragen, unter denen das Gespräch mit dem Text stattgefunden und auf die der Text seinerseits Antwort – oder eben auch Frage – war, in den zu konstituierenden Text eingeht und das vollendete Werk als (Teil-)Replik auf einen fremden, szientifischen Text ausweist. Jede Wertsetzung fungiert als „Interpretant der Zeichenhandlung“,298 bedeutet folglich eine zweckhafte Pragmatisierung des

|| 294 Solche Eingriffe sind am Text vorgenommene Handlungen – eben hierin liegt bereits auf dieser formalen Ebene ihre ethische Dimension begründet. 295 Iser: Die Doppelungsstruktur des literarisch Fiktiven, S. 552. 296 Diese ‚Enteignung‘ gilt meines Erachtens nicht nur dann, wenn der aktuelle Text den Referenztext in manifester Weise usurpiert, um ihm seine eigene Autorität aufzuzwingen, sondern auch dann, wenn er den anderen Text affirmiert, seine Sinnintention konserviert usw. Immer wird sich der aktuelle Text durch ein Moment der Differenz vom anderen Text unterscheiden, dessen Bedeutungen, Werte etc. – und sei es noch so subtil – verändern und verschieben. 297 Vgl. Bachtin: Die Ästhetik des Wortes, S. 151 ff.: „Der Autor ist als konstitutives Moment der Form die organisierte, von innen ausgehende Aktivität des ganzen Menschen […]. In der Einheit des ästhetischen Objektes hat die Beziehung der Form zum Inhalt daher einen spezifischen personalen Charakter, und das ästhetische Objekt ist ein spezifisches, verwirklichtes Ereignis der Aktion und Interaktion von Schöpfer und Werk.“ 298 Lachmann: Bachtins Dialogizität, S. 496.

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Dialogs – und damit dessen transitorische Aussetzung, dessen punktuelle Stilllegung im Monologischen. Dass mit der Textkonstitution der Dialog an sein vorläufiges Ende kommt, liegt jedoch nicht nur im replikativen Charakter des Textes begründet, sondern auf einer fundamentaleren Ebene in der Konsolidierung der Zeichenhandlung im Medium der Schrift.299 Damit ist jedoch lediglich die eine Seite der Dialektik skizziert: das Moment der Negation und Deprivation, jener dem Dialogischen notwendig implizite Aspekt des Monologischen. Die „Verletzung der Referenz“ ist nicht gleichbedeutend mit Referenzlosigkeit. Die Selektion geschieht, wie alle Akte des Fingierens, als ein Zugleich von Wiederholung und Transgression. Die autoritäts- und identitätsnegierende Aneignungsbewegung vollzieht sich folglich zugleich als eine autoritäts- und identitätsstiftende und -bewahrende Gegenbewegung. Dies gilt für den Ausgangs- ebenso wie für den Folgetext: Der Ausgangstext wird verletzt und zugleich aufgenommen, er wird deformiert, umgedeutet etc. und zugleich in seiner identifizierbaren Andersheit wiederholt und bewahrt;300 ebenso sind Identität und Autorität des Folgetextes nicht bloße Effekte der Negation und Deprivation des Ausgangstextes, sondern verdanken sich partiell dessen Identität und Autorität. Anders formuliert: Die Identität des Ausgangstextes scheint als implizite Alterität in der Identität des Folgetextes auf, d.h. Alterität ist ein konstitutives Moment der Identität des Textes selbst und gewinnt nur im Hinblick auf diese ihre spezifische Bedeutung. Damit wird die Differenz in der Replik nicht nur aufgehoben, sondern zugleich entworfen. In diesem „gleichzeitigen Besetzen und Aufreißen der Differenz“ ist nach Iser das eigentliche den Dialog beherrschende Moment zu sehen.301 Der Kontiguitätspoetik, die für die Gattung poetica scientiae kennzeichnend ist, entspricht deshalb

|| 299 In Anlehnung an Bachtin lässt sich die Schrift als eine disziplinierende Kraft verstehen, die den Sinnpluralismus und die Vielstimmigkeit einebnet, zugleich aber zum Speicher der Stimmen werden lässt. Durch seine schriftliche Fixierung erleidet die natürliche Dialogizität, das lebendige Gedächtnis des Wortes eine Art vorläufiger Eindeutigkeit; der historisch angereicherte Sinnstrom des Wortes versiegt in der Präsenz des einen Sinns, dessen (auktorial verbürgte) Autorität die „Antwort-Struktur des Wortes, d[ie] Dialogizität als Setzung in der Übersetzung“ (ebd., S. 501) unterdrückt. 300 Diese Aspekte gewinnen dann im Akt der Rezeption noch einmal ein anderes und deutlicheres Gewicht, denn den intertextuellen Momenten eines Textes eignet ein Appellcharakter, die als Anleitung zu einer ‚lecture intertextuelle‘ zu verstehen sind, in deren Folge der Ausgangstext einer Lektüre oder Relektüre unterzogen wird. Diese intertextuelle Lektüre wird stets auch all das am Ausgangstext zutage fördern, was vorher verschüttet lag und erst durch die durch den Folgetext geleisteten Modifikationen, Akzentuierungen etc. zum Vorschein kommen konnte. 301 Iser: Zur Phänomenologie der Dialogregel, S. 185.

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eine Kontiguitätshermeneutik: Ein Verstehen, das sich auf der „Grenze zwischen dem Eigenen und dem Fremden“ ereignet,302 sich „eines punktuellen Sinns auf der Grenze zweier Kontexte“303 bemächtigt und diesen zeichenhaft materialisiert. Dass diese transitorische und punktuelle Wert- und Sinnkonsolodierung nicht in ein den fremden Text dominierendes Sinnmonopol ausufert und damit die Aufhebung des dialogischen Prinzips in einem monologisch erzählenden Diskurs bewirkt, verdankt sich all jenen Formen narrativer Darstellung, die der Inszenierung des Dialogs und der Freilegung des Dialogischen dienen: Strategien der intertextuellen Rhetorik, der chronotopischen Gestaltung, der Differenzierung der Figurenrede und Autorenstimmen, durch die verschiedene Wertakzente, Intentionen, Sinnsetzungen, Weltsichten etc. sich wechselseitig durchdringen, verfremden, kommentieren, hinterfragen, durchkreuzen, bespiegeln und solcherart die Zentrierung, Zementierung und dauerhafte Präsenz eines Sinnes verhindern. In diesem Zusammenhang kommt den Referenzsignalen und ihrer strukturellen Anordnung im Text wiederum eine besondere Funktion zu: Als doppelcodierte Zeichen sind sie nicht nur Statthalter der Alterität, sondern Statthalter der Kontiguität selbst und somit jener Grenze, an denen sich die Texte und mit ihnen der Sinn zugleich berühren und spalten. In dieser grenz-anzeigenden Funktion sind die Referenzsignale – und dies kennzeichnet einen weiteren Aspekt ihrer metatextuellen Qualität – auch Abbildungen der Dialogstruktur selbst.304 In eben dieser wechselseitigen und unabdingbaren Bezogenheit, Verwiesenheit und Teilhabe äußert sich das dialogische Moment im Dialektischen, das sich seinerseits als und in der unverzichtbaren Spannung von Deprivation und Freisetzung, Schrift und Stimme, Monologizität und Dialogizität, diskursiver Einheit der Rede und intertextueller ‚différance‘, von potentiell unendlicher Verweisstruktur und deren jeweiliger Arretierung zu fiktionalen Prägnanzen305 Identität und Alterität, Spaltung und Speicherung, Differenzierung und Spur

|| 302 Bachtin: Die Ästhetik des Wortes, S. 185. 303 Lachmann: Bachtins Dialogizität, S. 495. 304 In diesem Zusammenhang ließe sich von einer artikulierten Intertextualität sprechen: Indem die Referenzsignale die Stimme des fremden Textes markieren, störend in die Isotopie des aktuellen Textes eingreifen und damit die Differenz etablieren, weisen sie das literarische Gespräch nicht nur als ein inszeniertes aus, sondern legen zugleich die Strukturen frei, denen es entspringt. Die Referenzsignale sind Zeichenorte, an denen der fremde Text zur Artikulation kommt, Statthalter seiner Stimme(n), damit auch ganz buchstäblich Referenzerweise an den fremden Text. 305 Renate Lachmann: Zur Semantik metonymischer Intertextualität, in: Stierle/Warning: Das Gespräch, S. 517–523, hier S. 522.

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konzeptualisiert. Hierin wird auch ersichtlich, weshalb der dialogischen Intertextualität (auch in ihrer autoritär-usurpatorischen Form) stets ein literaturkritisches und im weiteren Sinne auch literaturethisches Potential innewohnt: Indem ein literarisches Werk sich als ein intertextuell komponiertes zu erkennen gibt, setzt es sich selbst fragend aus, stellt es sich selbst in seiner Originalität, Abgeschlossenheit und Autorität in Frage.

2.2 Lector doctus – Die Rolle des Rezipienten Seitdem der Leser durch die Rezeptionsästhetik eine entscheidende Aufwertung im literarischen Prozess erfahren hat, ist er aus der literaturwissenschaftlichen Analyse nicht mehr wegzudenken. Erst durch die vom Rezipienten vorgenommenen Konkretisierungen und Aktualisierungen der im literarischen Text angelegten Unbestimmtheits- und Leerstellen, so wissen wir seit den Untersuchungen von Iser und Jauß, entfaltet der literarische Text sein vielschichtiges Potential und wird gleichsam seiner ‚Determination‘, nämlich Literatur zu sein, zugeführt. Aus der Engführung der Wirklichkeitsreferenz auf szientifische Gegenstän306 de resultiert nun allerdings auch der Entwurf eines Lesers, der aufgrund seines Vorwissens potentiell in der Lage ist, das produktive Potential der für die poetica scientiae schlechterdings konstitutiven Differenz von Wissenschaft und Fiktion zu nutzen. Den beschriebenen poetischen Verfahren und Transferstrategien, mit denen wissenschaftliches Wissen übersetzt, verfremdet und in neue Sinnkreisläufe eingespeist wird, entspricht auf Seiten des Rezipienten eine ebenso komplexe, mit mehrfachen Funktionen besetzte Rezeptionseinstellung. Wenn einerseits der literarische Text nicht die normale Funktion einer wissenschaftlichen Mitteilung haben kann (Dominanz des Poetischen), es primär auch gar nicht darauf ankommt, ob die wissenschaftlichen Bezüge der Regel der Referenz folgen, ob sie also ‚wirklich wissenschaftlich stimmig‘ übernommen wurden, sondern darauf, welche möglichen Funktionen diesem übersetzten

|| 306 Die Referenz auf Wirklichkeit kann eine allgemeine Wirklichkeit meinen, d.h. eine für jedermann greifbare und erfassbare anthropologische Wirklichkeit, ein allgemeiner Erfahrungshorizont. Im Falle der poetica scientiae jedoch wird dieser Referenzbereich enggeführt auf eine szientifische Wirklichkeit und Praxis – oder vielmehr: um diesen Referenzbereich verdoppelt. Dass der szientifische Referenzbereich im fiktionalen Kontext wieder aufgesprengt und erweitert werden kann ins Allgemeine-Wirkliche, Allgemein-Menschliche, ist nur eine von vielen Möglichkeiten der Literatur, beide Referenzbereiche in ein dialogisches Verhältnis zu bringen.

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Wissen im Medium der Literatur zukommt; wenn andererseits in der veränderten Einstellung des Rezipienten gegenüber literarischen Texten die „Richtungsänderung des Bedeutens“, nämlich „weg von der Referenz, hin zum Sinn“307 bereits vollzogen ist, dann stellt sich zunächst die Frage nach dem näheren funktionalen Zusammenhang von Referenz (also direktem Wirklichkeitsbezug) und Sinn. Der Sinn eines literarischen Textes kann zwar auf vielfache Weise realisiert werden und sich in vielen Interpretationen niederschlagen, doch zu seiner optimalen Realisation wird dem Rezipienten sehr wohl die Fähigkeit abverlangt, den literarischen Text vor der Folie des wissenschaftlichen Textes oder Diskurses zu lesen. Diese doppelte Optik ermöglicht es überhaupt erst, den Wissenstransfer und die damit einhergehenden Prozesse der Bedeutungsänderung und Sinnverschiebung, wie sie sich zwischen wissenschaftlicher Theorie und ästhetischer Praxis ereignen, nachzuvollziehen. Erst durch diese doppelte Optik – zum einen die Rekonstruktion der in die Literatur eingegangenen wissenschaftlichen Diskurseme innerhalb ihres wissenschaftlichen und wissenschaftshistorischen Kontexts,308 zum andern durch die Rekonstruktion ihres Funktions- und Bedeutungswandels im literarischen Medium309 – wird der literarische Text überhaupt erst als Medium, als eine über sich selbst hinausweisende Vermittlungsinstanz verstehbar. Indem ein literarischer Text identifizierbare und in ihren Kontexten rekonstruierbare Wissensmodelle, Gedankenfiguren, Methoden etc. aufgreift und ästhetisch transformiert, gewinnt er das Potential, auf eben diese Realität wieder zurückzuwirken, im Leser gleichsam eine dritte Optik zu erzeugen, durch die etablierte wissenschaftliche Diskurse neu betrachtet und neu befragt werden können.310 Die oben aufgestellte Behauptung, dass sich jeder Wissenstransfer aus der Sicht des jeweiligen Wissenssystems als Reduktion und Verlust darstellt, kann vor diesem Hintergrund dahingehend revidiert werden, dass auch dem Wissenssystem, das durch das Medium der Literatur gleichsam hindurchgegangen ist, etwas zuwächst: neue Wahrnehmungsperspektiven und Fragestellungen, Aufklärung über seinen (intuitiven und spekulativen) Entstehungszusammenhang, über die der Begriffs-, Theorien- und Methodenbildung vorausgehenden und sie begleitenden || 307 Gottfried Gabriel: Zwischen Logik und Literatur. Erkenntnisformen von Dichtung, Philosophie und Wissenschaft, Stuttgart 1991, S. 15; vgl. auch S. 154 f. 308 Diese Rekonstruktion kann als der Versuch aufgefasst werden, jene im produktionsästhetischen Transfer geleisteten Wiederholungen zu wiederholen. 309 Dies heißt analog: Rekonstruktion als Wiederholung der produktionsästhetischen Transgression. 310 Erst dieser dritten Optik entspricht auf rezeptionsästhetischer Seite das, was produktionsästhetisch als Transgression bezeichnet wurde.

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narrativen und metaphorischen Prozesse und damit auch über das narrative und metaphorische Element in wissenschaftlichen Schreib- und Darstellungsweisen, eine (Wieder-)Erinnerung daran, dass alles Denken, Erkennen und Phantasieren seinen Ursprung im Menschen nimmt oder ganz einfach ein Bewusstsein von den vielschichtigen Kontexten, in denen ein Wissenssystem steht und aus denen es entsteht. Die Einlösung dieser im weitesten Sinne wissenschaftshermeneutischen Funktionen der poetica scientiae ist dabei dem Leser überantwortet. Was für die Literatur im Allgemeinen gilt, nämlich dass sie erst durch einen sie aktivierenden und konkretisierenden Leser als Literatur realisiert und ihr ferner möglicherweise eine über sie selbst hinausweisende, nicht nur wirklichkeitsbezogene, sondern auch wirklichkeitsverändernde Relevanz zukommt, gilt für die Wissenschaftsliteratur in besonderem Maße. Denn sowohl zur ‚optimalen‘ Realisierung der fiktionalen Welt als auch im weiteren zur Einlösung darüber hinausgehender, eben z.B. wissenschaftshermeneutischer Funktionen, bedarf es eines dem poeta doctus gleichsam ebenbürtigen Lesers, eines lector doctus, der den angelegten szientifischen Code zu decodieren und damit jene konstitutive Differenz von scientia und poetica zu aktivieren vermag.311 Der Engführung der Wissenschaftsliteratur auf eine primär szientifische Referenz einerseits, der Amplifikation dieser Referenz im Kontext der Fiktion andererseits, korrespondiert gleichsam ein erweitertes Lesermodell: Postuliert wird ein Leser, der sowohl in einen ‚lebensweltlichen Erfahrungshorizont‘ als auch in einen ‚szientifischen Wissenshorizont‘ einzurücken und an beiden zu partizipieren vermag. Zugespitzt formuliert – und hierin unterscheidet sich der in der Wissenschaftsdichtung angelegte und adressierte implizite Leser vom impliziten Leser anderer Gattungen: Der Gattungstyp der poetica scientiae kann überhaupt nur unter der Bedingung ‚funktionieren‘, dass der Leser den an ihn adressierten

|| 311 Vgl. in diesem Zusammenhang auch die Ausführungen von Danneberg und Spoerhase zu ihrer These, dass der „fiktionale oder faktuale Charakter eines Textes […] durch den Umgang mit den jeweiligen Texten gestiftet“ wird (Lutz Danneberg u. Carlos Spoerhase: Wissen in Literatur als Herausforderung einer Pragmatik von Wissenszuschreibungen: sechs Problemfelder, sechs Frage und zwölf Thesen, in: Literatur und Wissen. Theoretisch-methodische Zugänge, hrsg. v. Tilmann Köppe, Berlin, New York 2011, S. 29–75, hier S. 46). Bereits Klinkert formuliert den Befund, „[d]ass Fiktionalität nicht ein inhärentes Textmerkmal ist, sondern ein Operationsmodus, der auf der Ebene des Umgangs mit Texten zur Anwendung kommen kann, aber nicht muss“ (Klinkert: Epistemologische Fiktionen, S. 29). Dem entsprechend sind „‚Fiktion‘ und ‚Wahrheit‘ […] als kommunikative Operatoren“ zu betrachten, „mit denen Kommunikationsteilnehmer an Texte herangehen und nach denen sie Texte kategorisieren und prozessieren“ (ebd., S. 36).

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szientifischen Code – zumindest partiell – konkretisiert.312 Bleibt diese Konkretisation völlig aus, büßt diese Literatur ihren typologischen Status als poetica scientiae ein: sie wird zur ‚bloßen‘ poetica. Zeichnet sich hier einerseits die Gefahr eines elitären Autor-, Literatur- und Leserkonzepts ab, so wird diese Gefahr – und darauf wird im Verlauf dieser Studie immer wieder zurückzukommen sein – durch eine ganze Reihe poetischer Gegenstrategien abgefedert, die gerade auf den umgekehrten Effekt einer De-Elitisierung der Wissenschaft und ihrer ‚Personifikationen‘ zielen. Trifft die Annahme von dem auch selbstreferentiellen Impetus der poetica scientiae zu, nämlich über die literarische ‚Arbeit an der Wissenschaft‘ die Differenz zur Wissenschaft zu ‚erschreiben‘ – ein Impetus, der notwendigerweise auch den (textimmanenten) impliziten Leser ‚betrifft‘ –, dann gilt Analoges auch für den empirischen Leser: In rezeptionsästhetischer Perspektive kommt den szientifischen Referenzsignalen eine appellative Funktion zu, die den in der Regel naturwissenschaftlich nur unzureichend gebildeten Leser in ein intertextuell-vergleichendes Lektüreverhalten drängt und ihn unablässig auffordert, im Hin und Her zwischen wissenschaftlichem Prätext und literarischem Folgetext jene für die poetica scientiae konstitutive Differenz auszuloten,313 die durch

|| 312 Der Intensitäts- und Genauigkeitsgrad der Konkretisierung kann vielfach variieren, wird jedoch – und dies nicht nur aufgrund der den fiktionalen Texten eigenen Literarizität, sondern auch aufgrund der ‚Semiosen‘ bzw. Weiter- und Umschreibungen, denen nicht-literarische Texte ausgesetzt sind – immer den Status einer lediglich ‚synekdochischen‘ Konkretisierung haben (Formulierung angelehnt an Wirth, der in anderem Zusammenhang von „synekdochischer Leerstellenergänzung“ spricht, vgl. Uwe Wirth: Die Konjektur als blinder Fleck einer Geschichte bedingten Wissens, in: „Interesse für bedingtes Wissen“. Wechselbeziehungen zwischen den Wissenskulturen, hrsg. v. Caroline Welsh u. Stefan Willer, München 2008, S. 269–294, hier S. 275). 313 Die Differenz ist für den Leser nicht ‚einfach da‘, sondern wird durch die intertextuelle Lektüre, die immer auch eine differentielle Lektüre ist, ‚ausdifferenziert‘ oder – im extremsten Fall – allererst hergestellt. Bei einem (hier freilich nur hypothetisch konstruierten) durchschnittlichen Leser wird es sich in der Regel so verhalten, dass die Referenzsignale die Erinnerung an die Lektüre an den oder die Referenztext(e) auslöst, wobei Lektüre hier auch andere Formen der medialen Vermittlung dieser Referenz-‚Texte‘ einschließt. Der szientifische Sachverhalt, auf den Bezug genommen wird, gewinnt seine Präsenz folglich zunächst im Modus der Erinnerung. Erweist sich diese als lückenhaft und defizitär, wird eben dieses Defizit der Erinnerung als ein Appell zur Relektüre des Prätextes erlebt. Erweist sich die Erinnerung an den Referenztext für das Verständnis des aktuellen Textes als ausreichend, kann von einer ‚potenzierten‘ Rezeptionsintertextualität gesprochen werden, d.h. die Zeichen des Referenztextes sind dem Gedächtnis des Lesers eingeschrieben, die Herstellung dieses Textes obliegt dann der Gedächtnisarbeit des Rezipienten.

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diese Differenz ermöglichten Semantisierungsprozesse einzuleiten und sie für eine ästhetische Erfahrung zu öffnen.314 Minimalvoraussetzung dafür, dass diese appellative Funktion überhaupt eine appellative Wirkung im Leser zu erzeugen vermag, ist dessen Kompetenz, die Referenzsignale als solche zu identifizieren und damit die intertextuelle Qualität des Textes und die mit dieser gegebene Ambivalenz oder Polyvalenz – die sich zunächst auch als bloße Irritation äußern kann – zu registrieren. Die appellative Funktion, so ließe sich sagen, findet ihre hinreichende Einlösung dann, wenn sie den Leser zu einer Einstellung gegenüber dem Text motiviert, die ganz allgemein als ein ‚Verstehen-Wollen‘ beschrieben werden kann,315 das den Eintritt in das dialogische Gespräch mit dem Text stimuliert und initiiert. Den Referenzsignalen kommt dabei eine maßgebliche Funktion zu, insofern sie Explikationen eines dreifach dialogischen Beziehungsgefüges darstellen: Werkästhetisch markieren sie die intertextuelle Relation zwischen Phäno- und Referenztext und die mit dieser gegebenen Doppelzeichenhaftigkeit; darin bezeugen und dokumentieren sie zugleich die vor aller Werkmanifestation vorausgehende Kommunikation zwischen Autor und fremdem Text, verweisen gleichsam selbstreferentiell zurück auf ihren eigenen Ursprung im Gespräch. Diese in den Referenzsignalen manifestierte produktionsästhetische Beziehung zwischen Autor und Referenztext sowie werkästhetische Beziehung zwischen Phäno- und Referenztext programmieren wiederum – und eben darin liegt die appellative Funktion dieser Signalzeichen – ein spezifisches Leseverhalten. Dieses den Referenzsignalen implizite Rezeptionsprogramm informiert den Leser sowohl über das gegenständliche ‚Was‘ der für das Verstehen des literarischen Texts notwendigen weiteren Textlektüren als auch über das dialogische ‚Wie‘. Denn die „Kommunikationssituation, in der der Text als Replik entsteht“316 und die in die Replik eingeht, evoziert ihrerseits ein Kommunikationsverhalten, das nach

|| 314 Die Unterscheidung zwischen dem ‚Ausloten‘ bzw. Eröffnen der Differenzen einerseits und den darauf sich gründenden Semantisierungsprozessen andererseits wird hier aus heuristischen Gründen getroffen. Selbstverständlich gehört die Ausdifferenzierung dieser Differenzen zum Vorgang der Semantisierung. Gleichwohl können diese Prozesse der Bedeutungs- und Sinnkonstitutierung erst dann einsetzen, nachdem das Vorhandensein einer Differenz bemerkt wurde, der Leser also in welcher Weise auch immer in seiner Lektüre gestört oder irritiert wird. 315 Der Text muss also die Neugier des Lesers provozieren, die im Falle der poetica scientiae als theoretische bzw. szientifische Neugier beschrieben werden kann; ihr wohnt ein energetischer Aspekt inne, der zur Spurensuche anleitet und zur Lektüre anderer Textquellen motiviert. Der Terminus ‚theoretische Neugierde‘ ist entlehnt von Hans Blumenberg: Der Prozeß der theoretischen Neugierde, Frankfurt/M. 1979. 316 Lachmann: Bachtins Dialogizität, S. 509.

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der Wiederholung der dem Text vorausliegenden Kommunikationssituation verlangt, in deren Verlauf die in den Text eingesenkten heterogenen Elemente in ihrer ursprünglichen textuellen Ordnung wiederhergestellt werden, „ohne dabei die Sinnkomplexion abzubauen, die in der (ludistischen) Heterogenisierung der Elemente erzeugt werden konnte“.317 Die Funktionen, die Referenz- und Fiktionssignale innerhalb des Leseprozesses übernehmen, sind fundamental verschiedene (auch dann, wenn beide in einem einzigen linguistischen Zeichen zusammenfallen). Die Fiktionssignale bedeuten dem Leser, dass die zur Sprache gebrachte Welt „nicht eine gegebene Welt ist, sondern daß sie so verstanden werden soll, als ob sie eine gegebene Welt sei“.318 Diese Vorstellung im Zeichen des Als-ob impliziert eine doppelte Referenz, insofern sie auf die in ihr überschrittene wirkliche Welt verweist (der Verweis eröffnet überhaupt erst die Vorstellbarkeit) und zugleich bedeutet, dass die vorgestellte Welt nicht Selbstzweck ist – „es handelt sich doch nicht darum, ohne jeden Zweck etwas Unwirkliches als wirklich anzunehmen“ –,319 sondern sich in ihr die Dimension eines pragmatischen Gebrauchs abschattet.320 Relevant für den aktuellen Zusammenhang ist, dass das durch die Fiktionssignale angezeigte Fiktive eine Irrealisierung sowohl der realen Welt als auch des Lesers erwirkt, d.h. empirische Lebenswelt und empirisches Lesersubjekt depotenzieren sich zu einem Analogon, „damit durch dieses hindurch einer irrealen Welt die Möglichkeit für ihr reales Erscheinen gewinnen kann“.321 In der Folge dieses Realwerdens des Fiktiven wird der Als-ob-Charakter (wenigstens vorübergehend) suspendiert bzw. vergessen: Das Realwerden des Fiktiven verwandelt das ‚Es ist, als ob‘ in ein ‚Es ist‘.

|| 317 Lachmann: Ebenen des Intertextualitätsbegriffs, S. 137. 318 Iser: Akte des Fingierens, S.139. 319 So bereits Hans Vaihinger: Die Philosophie des Als ob, Leipzig 81922, S. 589, hier zitiert nach Iser: Akte des Fingierens, S. 141. 320 Mit der Fiktion des Als-ob erfolge, so Iser, eine doppelte Überschreitung, nämlich einerseits die Überschreitung der wirklichen Welt in den Akten des Fingierens, und andererseits eine Überschreitung der fiktionalen Welt selbst. Die dargestellte Welt des Textes lasse sich nicht mit der wirklichen Welt mimetisch verrechnen; vielmehr sei sie ein Sachverhalt, der gerade durch seine Als-ob-Kennzeichnung weder seine Bestimmung noch seine Wahrheit in sich selber tragen könne, sondern diese immer nur in Beziehung zu etwas anderem suchen und finden müsse (vgl. Iser: Akte des Fingierens, S. 142–144). – Nach Iser zielt diese durch das Alsob hergestellte Gebrauchsfunktion letztlich auf eine ästhetische Erfahrung: Diese könne sowohl Reaktion auf die Textwelt als auch Reaktion auf die empirische Welt sein, „die durch das Analogon der Textwelt hindurch aus einer Perspektive visiert wird, die nicht eine solche der gegebenen Lebenswelt ist“ (ebd., S. 145). 321 Ebd., S. 146.

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Die szientifischen Referenzsignale hingegen depotenzieren das Lesersubjekt gerade nicht zu einem Analogon zum Zwecke des Realwerdens des Fiktiven, sondern erinnern es gleichsam an seinen empirischen Status: In ihrer Funktion als Appellative distanzieren sie den Leser von der fiktionalen Welt, stören und unterbrechen den Prozess der Realisierung der fiktionalen Welt und holen die Differenz zwischen Realem und Fiktivem ins Bewusstsein zurück. Die szientifischen Referenzsignale, sofern sie als solche identifiziert werden, provozieren sodann eine Lektüre, die kompensatorisch die jeweiligen ursprünglichen textuellen Ordnungen wiederherstellt; mit anderen Worten: die durch sie angezeigte metonymische Relation verlangt die Wiederherstellung jenes (Gesamt-)Kontextes, dessen Verkürzung die Metonymie ist und dessen sie zu ihrem Funktionieren bedarf.322 Je mehr ein fiktionaler Text die Depotenzierung und Irrealisierung von empirischer Welt und empirischem Subjekt ermöglicht, je vollkommener also die Realisierung der irreal-fiktionalen Welt gelingt, desto stärker erfährt sich der Leser in die fiktionale Welt hineingenommen, desto stärker ist deren Als-obCharakter außer Kraft gesetzt. Je prominenter (und vielleicht auch enigmatischer) hingegen die Referenzsignale gesetzt sind, desto mehr wird sich der Leser angehalten sehen, die fiktionale Welt vorübergehend zu verlassen und sich die Kontexte in der Lektüre jener Texte anzueignen, auf welche die metonymische Relation verweist bzw. solcher Texte, die den wissenschaftlichen Zusammenhang der metonymischen Verkürzung herstellen helfen.323 Die (nachträgliche) Lektüre der Prätexte wird dabei immer bis zu einem gewissen Grad von der (zuvor erfolgten) Lektüre des aktuellen Textes beeinflusst sein: Lektüreumfang, Kenntnisaneignung oder -vertiefung, Ausmaß der Kontextualisierung der in den aktuellen Text eingelagerten Wissenselemente etc. ge-

|| 322 Diese Wiederherstellung des Gesamtkontexts kann auf unterschiedliche Weise erfolgen und hängt in jedem Fall davon ab, bis zu welchem Grad der Leser über diesen Kontext bereits verfügt und in welchem Maße er am Verstehen jener metonymischen Relation interessiert ist. 323 Man könnte in diesem Zusammenhang von bestimmten Referenztexten einerseits, von adjutanten Referenztexten andererseits sprechen. – Ein Referenzsignal kann – abhängig von dem Grad, in dem das Realwerden des Fiktiven geschieht – die Funktion eines Fiktionssignals übernehmen, indem es die Differenz von Fiktion und Wirklichkeit wieder ins Spiel bringt und den fiktiven Kontext, in dem es als nicht-fiktionales Zeichen steht, erinnert. – Die (Wieder)Herstellung des Referenztextes entspricht der Herstellung einer Refigurationsdisposition, d.h. sie ist innerhalb des Lektüreprozesses lediglich ein erstes Stadium, in dem sich der Leser in die Lage versetzt, die Refiguration zu leisten. Zum rezeptionsästhetischen Begriff der Refiguration, von Ricœur als mimêsis III gefasst, vgl. Paul Ricœur: Zeit und Erzählung, Bd. I: Zeit und historische Erzählung, München 1988, S. 113 f.

Lector doctus – Die Rolle des Rezipienten | 143

schieht nicht unabhängig vom aktuellen Text, sondern wird von diesem, konkreter: von dem durch ihn aufgeworfenen Fragen, von dem in ihm gegebenen Antworten und Deutungen etc. überlagert und gesteuert. Auf diese Weise wirkt der aktuelle Text auf den durch ihn hindurchgegangenen, wie auch immer transformierten und reorganisierten Ursprungstext zurück. Wie der aktuelle Text in der Kommunikation mit einem fremden Text als Replik entsteht, wobei die Kommunikationssituation in die Replik selbst eingeht – „der Text wird so zum Bestandteil der ‚realen‘ Situation, der nur in der Synthese mit ihr ein Zeichen bildet“ –,324 so entsteht umgekehrt auch der Referenztext in der Kommunikation mit dem nun durch den Leser hindurchgegangenen und wie auch immer verstandenen aktuellen Text als Replik, genauer: als Replik auf die (vorläufige) Leserreplik auf den aktuellen, seinerseits replikativ auf den Ursprungstext bezogenen aktuellen Text. In diesem Stadium der Rezeption kehrt sich das Verhältnis zwischen den Texten um: Der ‚eigentliche‘, frühere Prätext erscheint in der Lektüre als Folgetext des ‚eigentlichen‘, späteren Folgetexts. Diese durch die appellative Funktion der Referenzsignale ausgelöste und im Horizont des aktuellen Textes erfolgende Lektüre der Prätexte ist Teil der poetologischen Intentionalität der poetica scientiae, mehr noch: Bedingung der Möglichkeit der Realisierung ihrer ästhetischen und erkenntnisstiftenden Funktionen. Die Lektüre der intertextuell markierten Prätexte ist integratives und poetologisch kalkuliertes Moment der Lektüre des aktuellen Textes. Dessen Sinn- und Bedeutungspotential weist stets über die eigenen Textgrenzen hinaus und zurück auf den fremden Text, der erst durch die im Deutungshorizont des aktuellen Texts sich ereignende Lektüre eine neue und andere, in ihm zwar potentiell angelegte, aber bis dahin nicht aktualisierte Perspektive, Konturiertheit, Werthaltigkeit, Prägnanz, Kohärenz oder auch Diskontinuität und Offenheit gewinnt. Erst durch diese Einflussnahme, die der aktuelle Text auf die Lektüre und Interpretation des fremden, szientifischen Textes – auf die in ihm thematisierten Sachverhalte, auf seine sprachlich-rhetorische Gestalt, auf die ihm möglicherweise eigenen Brüche und Leerstellen etc. – ausübt, vermag der aktuelle Text seine spezifisch intertextuellen Funktionen zu erfüllen; erst durch diese vom Leser zu aktualisierende Rück-Wirkung auf den fremden Bezugstext vermag der aktuelle seine Einstellung und Haltung – sei es eine kritischprüfende, kommentierende, interpretierende, affirmative, negierende – jenem gegenüber zu evozieren und damit sein metatextuelles Potential zu verwirklichen. In dem Maße, in dem der fremde Text im Deutungsrahmen des aktuellen einer (Wieder-)Lektüre unterzogen wird, er sich auf diese Weise für eine andere || 324 Lachmann: Bachtins Dialogizität, S. 509.

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Sprach-, Gestalt- und Sinnwahrnehmung öffnet, seine Monologizität durch erinnerte (wissenschafts-)historische oder ideologische Kontexte, durch in ihm präsente Intertexte oder Begriffsgeschichten zur Vielstimmigkeit aufgesprengt wird, in dem Maße werden sich auch die intertextuellen und intratextuellen Differenzen des aktuellen Textes zeigen, seine Polyphonie, Polyvalenz und damit seine Verschiedenverstehbarkeit potenziert. Lektürepraktisch geschieht dies jedoch erst in einem weiteren Schritt, der zumeist in der Relektüre des fiktionalen Textes – nun freilich auf der Grundlage des angeeigneten szientifischen Kontextes und damit der vom Leser erworbenen Replikkompetenz – besteht. Erst jetzt wird die Rückkehr in die fiktionale Welt, werden neue, andere, vielfältigere Semantisierungs-, Verstehens- und Reflexionsprozesse erfolgen. Diese Lektüre lässt sich als eine Art synoptische Lektüre begreifen: Sie erfolgt synchron mit der erinnerten Lektüre des/der fremden Texte(s), und es ist eben dieser erinnernd mitgelesene Subtext, der die lineare Lektüre des aktuellen Textes nachhaltig stört und unterbricht, seine Entklammerung aus dem Als-ob und damit eine störungsfreie, identifikatorische Lektüre verhindert. Einmal stimmhaft geworden, kann der Referenztext nicht mehr in die Stummheit zurückfallen;325 er wird sich im Prozess der Lektüre immer wieder einmischen, sich Geltung verschaffen, mitreden, mitdeuten und sich – abhängig vom quantitativen und qualitativen Ausmaß der Referenzsignale sowie von der quantitativen und qualitativen Präsenz, die der abwesende, fremde Text im Leser innehat – mal als Hintergrundgeräusch, mal als gleichberechtigte Mit-Stimme, mal als über die Stimmen des fiktionalen Textes dominierende Stimme ‚zu Gehör bringen‘. Entsprechend variabel gestaltet sich auch das Verhältnis der Texte zueinander: Der fiktionale Text kann seine Dominanz über den szientifischen behalten, aber auch temporär einbüßen, beide Texte können auch gleichberechtigt nebeneinander existieren. Wie die Lektüre des fremden Textes zum poetologischen Kalkül des aktuellen Textes gehört, so auch das Risiko, vom fremden Text verdrängt zu werden, d.h. das Risiko, dass sich das Leserinteresse völlig auf den fremden Text verlagert. – Der Leser ist dabei stets die vermittelnde Instanz zwischen Prä- und Folgetext: Er ist diejenige Instanz, die den lediglich metonymisch präsenten Prätext vertritt und in der Entfaltung seiner Kontexte den Dialog zwischen Prä- und Folgetext inszeniert.

|| 325 Diese Aussage hat nur insoweit Gültigkeit, als der Referenztext tatsächlich im Leser präsent ist. Eine genaue Phänomenologie des Lektüreverhaltens müsste den zeitlichen Abstand, der zwischen den Lektüren liegt, berücksichtigen, müsste ferner dem Umstand Rechnung tragen, dass kulturelles und szientifisches Wissen (temporär) auch völlig vergessen werden kann.

Lector doctus – Die Rolle des Rezipienten | 145

Die intertextuelle Lektüre ist damit stets eine dialektische, ein Hin- und Hergehen zwischen den Texten, ein Ereignis, das gleichsam zwischen den Texten bzw. auf der Grenze der Texte stattfindet. Die für die Gattung poetica scientiae charakteristische Kontiguitätspoetik erhält ihr rezeptionsästhetisches Pendant in einer Kontiguitätslektüre, die hier wie dort in eine Kontiguitätshermeneutik ausmündet: Ebenso wie Sinn im Text durch die Berührung und Kreuzung zweier Horizonte – also: dialogisch – entsteht und sich als Antwort auf Zeichen zeichenhaft materialisiert, ist das Sinnverstehen ein Akt der Berührung und Kreuzung, durch den der aktuelle Text und die in ihm punktuell eingefrorenen Sinnidentitäten ihre Dialogizität – und damit ihre Kontiguitäts- und Differenzqualität – wiedererlangen, woraus möglicherweise neue differenz- und dialogaufhebende Antworten entstehen. Sinnkonstitution und Sinnverstehen meint hier programmatisch: Partizipation am Fremden und Anderen. Diese Teilhabe ist keine beliebige und kontingente, sondern eine intendierte und entsprechend ausgewiesene. Der (selbstreflexive) Rückverweis des literarischen Textes auf seine Genese in der Kommunikation mit einem fremden Text, ist zugleich Vorverweis auf einen Lektüre- und Verstehensweg – ganz buchstäblich also auf eine Rezeptionsmethode –, dessen ‚Abschreiten‘ einen Lesertypus von der Art ‚erzeugt‘, wie ihn der Text zu seinem Verständnis voraussetzt. Der lector doctus, dessen die Gattung poetica scientiae zu ihrer Realisierung bedarf, kann in der Regel nicht als selbstverständlich gegeben vorausgesetzt werden, sondern wird mit Hilfe der im Text programmierten sachlichen und methodischen Referenzen allererst generiert.

| Teil II: Literarische Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftsgeschichtsschreibung

1 Literarische Wissenschaftsgeschichtsschreibung zwischen Geschichtswissenschaft und Wissenschaftsgeschichte 1.1 Kehlmanns wissenschaftshistorischer Roman Die Vermessung der Welt als Sonderfall des historischen Romans Im September 1828 verließ der größte Mathematiker des Landes zum erstenmal seit Jahren seine Heimatstadt, um am Deutschen Naturforscherkongreß in Berlin teilzunehmen. Selbstverständlich wollte er nicht dorthin. Monatelang hatte er sich geweigert, aber Alexander von Humboldt war hartnäckig geblieben, bis er in einem schwachen Moment und in der Hoffnung, der Tag käme nie, zugesagt hatte.1

Diese Sätze, mit denen Daniel Kehlmanns im Jahr 2005 erschienener Roman Die Vermessung der Welt beginnt, weisen eine für den historischen Roman2 charakteristische Doppelung von Erzählstruktur und Erzählfunktion auf: Während mit den konkreten Zeit-, Orts- und Ereignisangaben des ersten Satzes – verknüpft mit der „panoramatischen Zeitstruktur des Erzählerstandpunktes“3 – Parameter gesetzt sind, die den historischen Rahmen skizzieren und damit die „Funktion historisch individualisierender Orientierung und Determination“4 erfüllen, setzt sich im zweiten das „szenische, mit dem Personenstandpunkt gegebene ‚Analogon der erlebten Zeit‘“5 durch, der die „Funktion fiktionalen Entwerfens“6 mar-

|| 1 Daniel Kehlmann: Die Vermessung der Welt [2005], Reinbek b. Hamburg ²2005, im Folgenden zitiert unter der Sigle V. 2 Vgl. dazu Hans Vilmar Geppert: Der ‚andere‘ historische Roman. Theorie und Strukturen einer diskontinuierlichen Gattung, Tübingen 1976, sowie ders.: Geschichte umerzählt von Walter Scott bis zur Gegenwart, Tübingen 2009. Zur Deutung des Romananfangs vor dem Hintergrund der historischen Quellen vgl. Ina Ulrike Paul: Geschichte und Literatur Organon der Selbsterkenntnis. Über Daniel Kehlmanns Die Vermessung der Welt [2005], in: Der historische Roman zwischen Kunst, Ideologie und Wissenschaft, hrsg. v. Ina U. Paul u. Richard Faber, Würzburg 2013, S. 174 f.). – Kehlmann selbst dementiert die Zugehörigkeit seines Romans zur Gattung des historischen Romans, verbindet diese jedoch generell mit dem „Genre der Trivialliteratur“ (Daniel Kehlmann/Sebastian Kleinschmidt: Requiem für einen Hund. Ein Gespräch, Reinbek b. Hamburg ²2018, S. 71). 3 Geppert: Der ‚andere‘ historische Roman, S. 21. 4 Ebd., S. 23. 5 Ebd., S. 21. 6 Ebd., S. 23. Open Access. © 2021 Bernadette Malinowski, publiziert von De Gruyter. Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivatives 4.0 International Lizenz. https://doi.org/10.1515/9783110642384-004

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kiert. Diese Akzentuierung des „Hiatus von Fiktion und Historie“7 – eine Formel, mit der Geppert das „Verhältnis der Abhebung des Historischen vom Fiktiven“ im ‚anderen‘ historischen Roman beschreibt – setzt sich im dritten Satz dergestalt fort, dass die fiktional-szenische Erzählsituation zwar beibehalten, mit dem Namen Alexander von Humboldt jedoch eine weitere historische Größe eingeführt wird, die rückwirkend die historisch-dokumentarische Funktion des ersten Satzes bestätigt und konkretisiert. Die Protagonisten werden damit von Anbeginn in ‚characters in fiction‘ und ‚characters in history‘8 gespalten, gleichsam in der Differenz von Geschichte und Fiktion verortet und in dieser bzw. als diese Differenz unterscheidbar.9 Mit den Angaben „größter Mathematiker“, „Naturforscherkongreß“ und „Alexander von Humboldt“ wird darüber hinaus der historische Gegenstand der narrativen Darstellung als ein wissenschaftshistorischer präzisiert, mit der personalen Fokussierung auf Gauß und Humboldt das wissenschaftshistorische Geschehen biographisch gebunden. Die Eingangssätze akzentuieren folglich nicht nur die „produktive Differenz von historischem und fiktionalem Diskurs“, sondern spalten zugleich den historischen Diskurs in einen biographisch-individualgeschichtlichen, zeitgeschichtlichen und wissenschaftsgeschichtlichen Diskurs auf, ohne freilich deren immanenten Zusammenhang, gewährleistet durch die Unhintergehbarkeit des Narrativen, aufzulösen. Während es nun nachgerade zur gattungsspezifischen Thematik des historischen Romans seit seinen Anfängen im frühen 19. Jahrhundert gehört, das menschliche Individuum „in seiner Position gegenüber der kontingenten Geschichte“ zu definieren und das „problematisch gewordene Verhältnis individueller und kollektiver Zeitdimensionen“10 in der Verschränkung von biographischer und geschichtlicher Dimension narrativ zu verarbeiten,11 ist die Allianz von politisch-gesellschaftlicher Zeitgeschichte und Wissenschaftsgeschichte und entsprechend von Historiographie und Wissenschaftshistoriogra-

|| 7 Ebd., S. 34. 8 Vgl. Edward M. Forster: Aspects of the novel [1927], in: ders.: Aspects of the novel and related writings, London 1974, S. 1–119, hier S. 30–39. 9 Diese einmal gesetzte Differenzierung ist auch durch das komplexe Spiel mit dieser Differenz (ihre zeitweilige Überformung einerseits, ihre beinahe Auflösung andererseits), das den weiteren Verlauf des Romans prägt, nicht mehr rückgängig zu machen. 10 Fabian Lampart: Zeit und Geschichte. Die mehrfachen Anfänge des historischen Romans bei Scott, Arnim, Vigny und Manzoni, Würzburg 2002, S. 24 u. 28. 11 „Strukturen individueller Entwicklung sind von zentraler Bedeutung für die Historisierung des Romans“ (ebd., S. 96). In seiner Diskussion der Rolle, die der Bildungsroman für die Herausbildung des historischen Romans innehat, definiert Lampart den historischen Roman treffend als „‚Roman der Bildung zur Wahrnehmung des Historischen‘“ (ebd., S. 103).

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phie eine keineswegs selbstverständliche. Der Grund dafür ist vor allem darin zu sehen, dass die Wissenschaftsgeschichte bis zur Entstehung der „Science in Context“-Bewegung in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts entscheidend durch die Überlegenheit der Naturwissenschaften geprägt war, also wesentlich als eine „history of science“ aufgefasst wurde, derzufolge die Entwicklung wissenschaftlicher Theorien, Forschungspraktiken und Institutionen unabhängig von allgemeinhistorischen Kontexten stattfindet. Vor dem Hintergrund der bereits im ersten Teil dargelegten ‚antipositivistischen‘ Tendenzen in der Wissenschaftsgeschichte und mit Blick auf den für Kehlmanns Roman charakteristischen doppelten Hiatus von Historie und Fiktion sowie Wissenschaftshistorie und Fiktion soll die Frage nach dem Verhältnis von Geschichte bzw. Geschichtswissenschaft und Wissenschaftsgeschichte im Folgenden kurz erläutert werden.

1.2 Geschichtswissenschaft – Wissenschaftsgeschichte Für die Tatsache, dass insbesondere in Deutschland Geschichtswissenschaft und Wissenschaftsgeschichte bis vor kurzem eine Koexistenz geführt haben, werden in der Regel zwei Hauptursachen verantwortlich gemacht:12 Zum einen fiel die Aufgabe der (Natur-)Wissenschaftsgeschichtsschreibung traditionell in das Ressort der Naturwissenschaftler selbst, zum anderen war die Geschichtswissenschaft lange Zeit auf das „historistische Paradigma einer Politikgeschichte im nationalhistorischen Rahmen“13 verengt. Erst im Gefolge der 68er Debatten, die seitens der Geschichtswissenschaft eine „Pluralisierung von Themen und Methoden“ zur Folge hatten, seitens der Wissenschaftsgeschichte – insbesondere durch Thomas S. Kuhns Studie „The Structure of Scientific Revolutions“14 – eine Historisierung wissenschaftlicher Prozesse und damit die „Suche nach auch außerhalb der Naturwissenschaften liegenden Begründungszusammenhängen des wissenschaftlichen Wandels“,15 kommt es zu einer Annäherung beider Disziplinen. Damit ist ein dritter maßgeblicher Grund für die bis dahin „gegenseitige Ignoranz“ von Geschichtswissenschaft und Wissenschaftsge-

|| 12 Vgl. dazu und im Folgenden Helmuth Trischler: Geschichtswissenschaft – Wissenschaftsgeschichte: Koexistenz oder Konvergenz? in: Beiträge zur Wissenschaftsgeschichte 22 (1999), S. 239–256. 13 Ebd., S. 241. 14 Thomas S. Kuhn: The Structure of Scientific Revolution, Chicago 1962; dt. Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, übers. v. Kurt Simon, Frankfurt/M. 1967. 15 Trischler: Geschichtswissenschaft – Wissenschaftsgeschichte, S. 242.

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schichte angeführt: Bis zu der von Kuhn eingeläuteten „antipositivistischen Wende“16 wurde Wissenschaftsgeschichte als Erfolgs- und Fortschrittsgeschichte betrieben, Wissenschaft als „prozessuale, positivistisch verfahrende Akkumulation von Ideen und Entdeckungen, die in Tempo und Richtung durch wissenschaftsimmanente Kriterien vorbestimmt war“,17 bewertet. Nach Mittelstraß liegt dieser Art von Wissenschaftsgeschichtsschreibung ein Geschichtskonzept zugrunde, das durch die „‚Eigenschaft des Fortschritts‘“ und – konsequenterund paradoxerweise – durch die „‚Eigenschaft der Geschichtslosigkeit‘“ gekennzeichnet ist.18 Mag diese ‚ahistorische Wissenschaftsgeschichtsschreibung‘ seit Kuhn eine erhebliche Problematisierung erfahren haben, so rücken mit ihr doch Aspekte eines wissenschaftlichen Selbstverständnisses in den Blick, die an Aktualität und Relevanz weder für die wissenschaftliche Praxis noch für das öffentliche ‚Image‘ der Wissenschaft eingebüßt haben. Ein Aspekt betrifft den ontologischen Status naturwissenschaftlicher Erkenntnisse: Wenn „wahre Sätze“ zum „geschichtslosen Bestand einer Wissenschaft“19 zu rechnen sind, die der „historischen Darstellung nicht bedürfen“, ihre „falschen Sätze, Unklarheiten, Mißverständnisse etc. dagegen zur Historie“ gehören, folgerichtig „das Historische […] für die Wissenschaft selbst das Uninteressante“ ist, dann wird die Wissenschaft selbst in eine ahistorische Wissenschaft und eine historische Nicht-Wissenschaft gespaltet und die Auffassung von Wissenschaft als teleologischer – gleichsam außerhalb der Geschichte verlaufender – Fortschrittsprozess erneut legitimiert. Eine ähnliche Problematik spiegelt sich in der Debatte ‚Externalismus versus Internalismus‘:20 Der externalistische Ansatz erklärt wis-

|| 16 Kurt Bayerts: Wissenschaft als historischer Prozeß. Die antipositivistische Wende in der Wissenschaftsgeschichte, München 1980, hier zitiert nach Trischler: Geschichtswissenschaft – Wissenschaftsgeschichte, S. 242. 17 Trischler: Geschichtswissenschaft – Wissenschaftsgeschichte, S. 242. 18 Jürgen Mittelstraß: Die Möglichkeit von Wissenschaft, Frankfurt/M. 1974, S. 114 u. 115 f. 19 Jürgen Mittelstraß: Neuzeit und Aufklärung. Studien zur Entstehung der neuzeitlichen Wissenschaft und Philosophie, Berlin, New York 1970, S. 266. 20 Vgl. dazu die Bestandsaufnahme von Stephen Shapin: Discipline and Bounding. The History and Sociology of Science as Seen Through the Externalism-Internalism-Debate, in: History of Science 30 (1992), S. 337–369. Der Beginn dieser Debatte ist umstritten. Als Beleg, dass sie nicht erst durch Kuhns „Structure of Scientific Revolutions“ ausgelöst wurde, führt Trischler exemplarisch einen Beitrag Hans Schimanks an: Edmund Hoppe oder über Inhalt, Sinn und Verfahren einer Geschichtsschreibung der Physik, in: Archiv für Geschichte der Mathematik, der Naturwissenschaft und der Technik 11 (1928/29), S. 345–351 (vgl. Trischler: Geschichtswissenschaft – Wissenschaftsgeschichte, S. 253). Eine „nicht-positivistische Konzeption“ der Wissenschaftshistoriographie sieht Canguilhem bereits durch Gaston Bachelard entwickelt (vgl. George Canguilhem: Die Geschichte der Wissenschaften im philosophischen Werk Gaston

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senschaftliche Entwicklungen aus dem Zusammenspiel politischer, ökonomischer, sozialer und ethisch-religiöser Faktoren und sieht „in der Wissenschaftsgeschichte die Erklärung eines Kulturphänomens durch die Bedingungen der gesamten kulturellen Umwelt“;21 der internalistische Ansatz hingegen bindet wissenschaftliche Phänomene vorwiegend an wissenschaftsimmanente theoretisch-methodische Probleme zurück, behandelt also „die Tatbestände der Wissenschaftsgeschichte als wissenschaftliche Tatbestände […], was einer epistemologischen Position entspricht, welche die Theorie gegenüber der empirischen Gegebenheit privilegiert“.22 Beide Positionen bleiben notwendig defizitär: Der externalistische Ansatz reduziert Wissenschaftsgeschichte letztlich auf eine „naturalistische Soziologie der Institutionen“, der internalistische auf die „Interpretation eines Diskurses mit Wahrheitsanspruch“.23 In den letzten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts verlagert sich der Schwerpunkt der Fragestellungen in der Wissenschaftsgeschichte „von der kognitiven Ebene hin zur gesellschaftlich-sozialen Ebene“,24 vom „Was“ des wissenschaftlichen Gegenstands zum „Wie“ der wissenschaftlichen Forschungspraxis: Der logische Positivismus scheint endgültig ausgedient zu haben. Die starke These lautet: Die Vorstellung einer überzeitlichen wissenschaftlichen Wahrheit und Einheit der Wissenschaft ist zutiefst ahistorisch: Wissen und Wissensproduktion sind temporal und variant.25

Die ahistorischen Prämissen einer fortschrittsideologisch orientierten Wissenschaftsgeschichte – wissenschaftliche Theorien, abstrakte Entdeckungen und

|| Bachelards, in: ders.: Wissenschaftsgeschichte und Epistemologie. Gesammelte Aufsätze, hrsg. v. Wolf Lepenies, Frankfurt/M. 1979, S. 1–21, hier S. 19). 21 Canguilhem: Der Gegenstand der Wissenschaftsgeschichte, S. 28. 22 Ebd. In seinen radikaleren Ausgestaltungen entspricht der internalistische Ansatz jener oben beschriebenen ‚ahistorischen‘ Fortschrittsgeschichte: „In einer strikteren Version wurden dann die Ordnung und Gesetzmäßigkeit der Natur selbst sowie die universell gültigen und historisch invarianten Kategorien wie Objektivität, Rationalität und Wahrheit als Triebkräfte des wissenschaftlichen Fortschritts angesehen“ (Michael Hagner: Ansichten der Wissenschaftsgeschichte, in: Ansichten der Wissenschaftsgeschichte, hrsg. v. ders., Frankfurt/M. 2001, S. 7–39, hier S. 9). Zu den bekannteren Vertretern des externalistischen Ansatzes zählen John Desmond Bernals vierbändige Sozialgeschichte der Wissenschaften (Reinbek b. Hamburg 1970), zu den Vertretern des internalistischen Ansatzes Alexandre Koyré: Von der geschlossenen Welt zum unendlichen Universum (Frankfurt/M. 1969) oder Arthur O. Lovejoy: Die große Kette der Wesen. Geschichte eines Gedankens (Frankfurt/M. 1985). 23 Canguilhem: Der Gegenstand der Wissenschaftsgeschichte, S. 28. 24 Trischler: Geschichtswissenschaft – Wissenschaftsgeschichte, S. 242. 25 Ebd., S. 243.

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Ideen, szientifische Logik und Rationalität, Objektivität – wurden nun ihrerseits einer Historisierung und Pragmatisierung unterworfen und konnten solcherart modifiziert Eingang in die überwiegend sozialkonstruktivistisch betriebene, Wissenschaft als „Science in Action“26 begreifende Wissenschaftsgeschichte finden. Epistemologisch relevante Kategorien wie Beweis oder Naturgesetz werden nun „Gegenstand vergleichender historischer Untersuchung“, d.h. als „diskursive Formationen“ in den Blick genommen, „die sich durch verschiedene Disziplinen hindurch entwickelt und gefestigt haben“.27 Auch rücken im Zuge dieses „‚experimental turn‘“ erstmals auch die „materiellen Repräsentationsformen der wissenschaftlichen Gegenstände und Phänomene“ sowie Fragen nach dem „Transfer von bloßen Phänomenen, Auffälligkeiten oder Daten in wissenschaftliche Erkenntnis“ in den Fokus wissenschaftsgeschichtlichen Interesses. Nicht zuletzt wird gerade in jüngerer Zeit das die wissenschaftliche Praxis (mit-)prägende, nicht explizit formalisierbare „implizite Wissen“ zum Gegenstand wissenschaftshistorischer Untersuchungen gemacht.28 Die seitens der Wissenschaftsgeschichte dominierende Auffassung von „Wissenschaft als sozialem Prozeß“ und damit einhergehend das „Erkenntnisziel einer gesellschaftshistorischen Kontextualisierung der Wissenschaften“ einerseits, die nahezu zeitgleich erfolgende „Integration sozialwissenschaftlicher [und zunehmend auch kulturwissenschaftlicher] Theorieangebote“ auch in der Geschichtswissenschaft andererseits, haben die „Voraussetzungen für eine Konvergenz von Wissenschaftsgeschichte und Geschichtswissenschaft verbessert“.29 Zugespitzt formuliert: Je weiter die wissenschaftshistorische Öffnung für eine dezidiert historische Perspektivierung ihres Gegenstandes ‚Wissenschaft‘ fortschreitet, desto mehr wächst sie einer ihrerseits methodisch und thematisch amplifizierten Geschichtswissenschaft als deren integraler Gegenstand zu. Entsprechend hat die Geschichtswissenschaft „die Untersuchung der (Na-

|| 26 Hagner: Ansichten der Wissenschaftsgeschichte, S. 21. 27 Hier und im Folgenden: Ebd., S. 21 u. 22. 28 Vgl. ebd., S. 23. Besondere Beachtung finden dabei Aspekte wie „Handwerk und Geschicklichkeit, körperliche Disziplin und gestisches Wissen, Aufmerksamkeit und Leidenschaften“ (ebd.). Im Lichte dieses wissenschaftshistorischen (und -theoretischen) Interesses werden vor allem auch solche philosophischen Betrachtungsweisen herangezogen, die bereits sehr früh – wie etwa die Prozessphilosophie Whiteheads oder Polanyis „The Tacit Knowledge“ – das ‚Irrational-Intuitive‘ rationaler Prozesse gewürdigt haben. 29 Trischler: Geschichtswissenschaft – Wissenschaftsgeschichte, S. 244. „Gesellschaftsgeschichte, Kulturgeschichte, Historische Anthropologie, ‚linguistic turn‘, Mentalitätsgeschichte und Mikrohistorie stehen beispielhaft für den neuen Pluralismus der Geschichtswissenschaft in Methodik wie in Thematik: für eine ‚Geschichte ohne Zentrum‘“ (ebd.).

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tur-)Wissenschaften im Prozeß der Modernisierung als genuin historisches Aufgabenfeld zu entdecken begonnen“.30 Im Zusammenhang mit der literarischen Wissenschaftsgeschichtsschreibung gilt es zwei Konvergenzen zwischen Wissenschaftsgeschichte und Geschichtswissenschaft besonders hervorzuheben: das von Lawrence Stone 1979 (kritisch) konstatierte „Revival of the Narrative“ und die damit einhergehende „Wiederbelebung der Biographie als historiographischen Genres“.31 Mit der ‚Wiederbelebung des Narrativen‘32 verbindet sich bekanntermaßen nicht nur die Reflexion auf die sprachlich-erzählerischen Darstellungs-, Repräsentations- und Dokumentationsmodi der (Wissenschafts-)Historiographie selbst, sondern – dies gleichsam als Effekt einer Entwicklung, die vom linguistic turn bis zum poststrukturalistischen „Il n’y a pas de hors-texte“ (Derrida) reicht – auf dem Prüfstand stehen damit auch jene Parameter, die das ‚Wissenschaftliche‘ der Wissenschaft(en) konstituieren und von den Bereichen des Ästhetischen, des Ethisch-Religiösen, des lebensweltlichen Erfahrungswissens usw. definitorisch abgrenzen sollen. Problematisch erscheint insbesondere das Konzept der „Realität“ und damit die Frage nach dem Verhältnis von Text und Kontext. Unabhängig davon, welche Richtung im einzelnen bevorzugt wird – das Spektrum reicht vom dogmatischen Beharren auf der Gegebenheit einer sprachunabhängigen Wirklichkeit bis hin zur völligen In-Differenzierung von Text und Realität –, so kann bereits die schlichte Tatsache, dass man sich überhaupt vor eine Entscheidung gestellt sieht, die ernsthafte Frag- und Diskussionswürdigkeit einer vormals (zumindest mehr oder weniger) selbstverständlich gegebenen fundamentalen Verschiedenheit von Text und Wirklichkeit nicht länger verdecken. Für die Geschichtswissenschaft und Wissenschaftsgeschichte bedeutet der Abschied von den großen – auch und gerade wissenschaftliches Handeln legitimierenden – „Meta-Erzählungen“33 nicht nur eine Entlastung von ideolo-

|| 30 Ebd., S. 244. Beispiele für diese Entwicklung ebd., S. 244 f. sowie S. 246–250. 31 Ebd., S. 248. 32 Zu einer ausführlichen Aufarbeitung der aktuellen Forschungsdebatte über die „Narrativität historiographischer Werke“ (S. 29) und den damit verbundenen „Konstruktcharakter von Geschichte“ (S. 30) vgl. Max Doll: Der Umgang mit Geschichte im historischen Roman der Gegenwart. Am Beispiel von Uwe Timms Halbschatten, Daniel Kehlmanns Vermessung der Welt und Christian Krachts Imperium, Frankfurt/M. 2017, bes. S. 37–42. 33 Jean-François Lyotard: Das postmoderne Wissen. Ein Bericht, übers. v. Otto Pfersmann, hrsg. v. Peter Engelmann, Graz u. Wien 1986. Vgl. hierzu einschränkend Doll unter Bezugnahme u.a. auf A. Assmann: „Trotz Abkehr von der frühzeitlichen Funktionalisierung des Vergangenen bleibt Geschichte legitimatorisch einer großen Narration verhaftet“, d.h. sie dient „zuvorderst der Legitimation von Herrschaft und der bestehenden Ordnung, wenngleich in einem weiteren, d.h. gesamtgesellschaftlichen Bezugsrahmen“ (Doll: Umgang mit Geschichte, S. 30).

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gisch oder idealistisch begründeten Geschichtsbildern, sondern vor allem die Last, ihren ureigensten Gegenstand, nämlich die ‚Vergangenheit‘, und ihre Möglichkeiten, diesen als Vergangenes zu thematisieren und darzustellen, neu auszuloten. Thematische Umorientierungen – kultur-, geschlechter-, mentalitäts- und individualgeschichtliche Ausdifferenzierungen der Geschichtswissenschaft gehören ebenso hierher wie die vermehrte Thematisierung symbolischer, diskursiver und ‚medialer‘ Formen der Weltaneignung –, eine verstärkte Reflexion sowohl der eigenen wissenschaftstheoretischen und -praktischen Voraussetzungen als auch des Verhältnisses zu anderen wissenschaftlichen Disziplinen sind Versuche, den mit der ‚Postmoderne‘ sich einstellenden Herausforderungen konstruktiv zu begegnen. Die Deligitimierung34 der ‚großen Erzählungen‘, d.h. ihre Entlarvung als fiktionale Mythen, hat ihre Zersplitterung in ‚kleine Erzählungen‘ zur Folge und damit: die Pluralisierung und Fragmentierung der sozialen Lebenswelt, der Handlungs- und Wissensformen und der mit diesen jeweils verbundene Anspruch, ‚wahr‘ zu sein. In diesem Sinne etwa ‚deligitimiert‘ Hayden White35 die Geschichtswissenschaft als eine Meta-Erzählung des Vergangenen: Der Historiker „macht“36 Geschichte, indem er die faktischen Bestandteile einer (ihrerseits bereits kodierten37) Chronik – die „Elemente einer Geschichte“38 – „als Bestandteile bestimmter Arten von Plotstrukturen“ kodiert. Erst durch dieses „fiktionsbildende Verfahren“39 des „emplotment“ werden die ursprünglich fremden, geheimnisvollen oder exotischen Ereignisse „verstehbar gemacht“40, werden ihnen Kohärenz und Bedeutung zugeschrieben. Die Art der Plotstruktur, d.h. ob historische Ereignisse „ihren Platz am Ende in einer tragischen, komischen, romantischen oder ironischen Geschichte [story] finden […], hängt von der Entscheidung des Historikers ab, sie entsprechend den Erfordernissen der einen

|| 34 Vgl. Lyotard: Das postmoderne Wissen, S. 112–122 sowie ders.: Memorandum über die Legitimität, in: Postmoderne und Dekonstruktion. Texte französischer Philosophen der Gegenwart. Mit einer Einführung hrsg. v. Peter Engelmann, Stuttgart 1990, S. 54–75. 35 Hayden White: Der historische Text als literarisches Kunstwerk, in: Geschichte schreiben in der Postmoderne. Beiträge zur aktuellen Diskussion, hrsg. v. Christoph Conrad u. Martina Kessel, Stuttgart 1994, S. 123–157. 36 Ebd., S. 128. 37 Vgl. ebd., S. 140. 38 Ebd., S. 127. 39 Ebd., S. 131. 40 Ebd., S. 134; zum Aspekt der Kohärenz vgl. S. 139–141.

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Plotstruktur oder des einen Mythos statt eines anderen anzuordnen“.41 Ein Ereignis wie die Französische Revolution kann demnach in verschiedenen Geschichten dargestellt werden und damit verschiedene Kohärenz- und Bedeutungsformationen annehmen. Die entmythologisierende – oder ‚delegitimierende‘ – Funktion dieser von White vorgenommenen Analysen besteht gerade darin, dass sie die Unhintergehbarkeit der ‚mythischen Methode‘ jeder Art von Historiographie aufdecken und damit sowohl die Mythologisierung, Monumentalisierung und Heroisierung von historischen Ereignissen oder Personen als Effekt ihrer narrativen Darstellung ‚outet‘ als auch den legitimierenden Anspruch des Historiographen, vergangene Wirklichkeit ‚wahrheits‘- und ‚realitätsgetreu‘ und objektiv abbilden zu können, als epistemischen Mythos entlarvt.42 Wenn die „Narration […] sowohl die Art und Weise [ist], wie eine Interpretation zustande kommt, als auch die Form des Diskurses, in der sich ein gelungenes Verstehen historischer Sachverhalte präsentiert“,43 dann ist das

|| 41 Ebd., S. 129. Zum damit zusammenhängenden „Problem ästhetischer Geschichtskonsistenz“ vgl. auch Geppert: Der ‚andere‘ historische Roman, S. 153 ff. 42 Mit der Betonung des Narrativen und Imaginativen – „Es spielt keine Rolle, ob die Welt als real oder lediglich vorgestellt verstanden wird; die Art der Sinnstiftung (making sense) ist die gleiche“, so White in: Auch Klio dichtet oder die Fiktion des Faktischen. Studien zur Tropologie des historischen Diskurses, Stuttgart 1991, S. 121 – behauptet White jedoch keinesfalls die Identität von Fiktion und Historie; vielmehr gilt, „dass historische Ereignisse sich von fiktionalen Ereignissen in eben der Weise unterscheiden, wie dies in der Nachfolge von Aristoteles immer wieder beschrieben worden ist. Historiker haben es mit Ereignissen zu tun, die einem bestimmten raumzeitlichen Ort zugewiesen werden können, Ereignissen, die im Prinzip beobachtbar sind oder wahrnehmbar sind (oder waren), während Autoren fiktionaler Literatur – Dichter, Romanautoren, Dramatiker – es sowohl mit jener Art als auch mit vorgestellten, hypothetischen oder erfundenen Ereignissen zu tun haben“ (ebd., S. 145). Zu einer „Poetologie des historischen Wissen“ in kritischer Abgrenzung und Weiterführung von Whites’ Ansatz vgl. Daniel Fulda: Poetologie des Wissens. Probleme und Chancen am Beispiel des historischen Wissens und seiner Formen (Vortrag auf dem 15. Göttinger Workshop zur Literaturtheorie am 20.06.2008), abrufbar über http://www.simonewinko.de/fulda_text.htm; letzter Zugriff: 26.08.20). Zur näheren Abgrenzung von traditioneller und postmoderner Geschichtsschreibung vgl. auch die luziden, überdies in eine ebenso prägnante wie besonnene ModernePostmoderne-Diskussion eingebetteten Ausführungen von Scholz (Gerhard Scholz: Zeitgemäße Betrachtungen? Zur Wahrnehmung von Gegenwart und Geschichte in Felicitas Hoppes Johanna und Daniel Kehlmanns Die Vermessung der Welt, Innsbruck u.a. 2012, S. 9–22. „Postmodern“, so Scholz, „ist die Thematisierung der Historie als Fiktion und der Fiktion als Historie“ (ebd., S. 20). Ob damit Gepperts Hiatus-These obsolet geworden ist (vgl. ebd.), halte ich für fragwürdig, zumal diese von einem höchst variablen Verhältnis von Historie und Fiktion ausgeht. 43 Hayden White: Die Bedeutung der Form. Erzählstrukturen in der Geschichtsschreibung [1987], Frankfurt/M. 1990, S. 80.

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Narrative (und mit ihm das Rhetorisch-Tropische, Imaginäre, Fiktive, Ästhetische) ein Geschichte und Literatur gleichermaßen zugehöriges Konstitutionsmerkmal.44 Die Differenz zwischen Literatur und Historie lässt sich dann nurmehr durch die Analyse der für die verschiedenen „Diskursmodalitäten“45 jeweils „speziellen Merkmale“ und damit durch eine möglichst exakte „Vermessung des Grenzverlaufs zwischen dem Imaginären und dem Realen“ feststellen. Diese Grenze – und dementsprechend die Resultate ihrer Vermessung – ist jedoch keine ‚ein für allemal‘ fixierbare, sondern ihrerseits dem historischen Wandel – dem je sich verändernden Blick aus der Gegenwart zurück auf die Vergangenheit – unterworfen. Ähnliche ‚deligitimierende‘ Funktionen lassen sich für das Genre der historiographischen Biographie feststellen. Wenn die „Renaissance des wirklichen Menschen“ nicht nur die „klassischen Exponenten historischer Größe“ betrifft, sondern auch die „‚kleinen Leute‘, ob Dienstmädchen, Handwerker oder Fabrikarbeiter“, dann verändern und relativieren sich Status, Funktion, Bedeutung und Relevanz der großen Geschichtsträger erheblich, wie umgekehrt die ‚kleinen Leute‘ allererst zu Funktoren, Trägern und ‚Machern‘ der Geschichte avancieren. Durch die Beiordnung von ‚Großem‘ und ‚Kleinem‘ stellt sich eine Art ‚parataktischer Effekt‘ ein, der in erster Linie darin besteht, dass die Geschichte als Geschichte vorzugsweise ‚großer Männer‘ als Quasi-Fiktion entlarvt wird. Wie in der Geschichtswissenschaft hat sich auch in der naturwissenschaftlichen Hagiographie46 eine „subjektive Wende“47 vollzogen, die das „traditionel-

|| 44 Das Narrative ist so betrachtet nicht länger der exklusive Darstellungsmodus fiktiver Literatur, sondern eine allgemeine Weltzugangs- und Weltdarstellungsweise, deren Status auch außerhalb ihres spezifisch literarischen Gebrauchs zu diskutieren ist. Zu einer allgemeinen Erzähltheorie vgl. Albrecht Koschorke: Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer Allgemeinen Erzähltheorie, Frankfurt/M. 2012. 45 Hier und im Folgenden White: Die Bedeutung der Form, S. 76 f., 62. 46 Vgl. auch Hagner, der die Aufteilung in eine externalistische und internalistische Wissenschaftsgeschichte durch den Umstand ergänzt wissen möchte, „dass die Geschichte der Wissenschaften zu keinem Zeitpunkt ohne ein heroisches Verständnis des wissenschaftlichen Fortschritts zu haben gewesen ist. Kategorien wie Genius, Kreativität und Intuition sind hier zum Zuge gekommen.“ In diesem Zusammenhang ist auch die wissenschaftliche Biographie zu sehen: „Die unpersönliche Welt der rationalen Strukturen und Systeme auf der einen Seite und die leidenschaftliche Welt von individueller Kreativität und Ingeniosität auf der anderen standen keineswegs in permanenter Auseinandersetzung um den richtigen Weg einer Wissenschaftsgeschichtsschreibung. Vielmehr haben beide ihren jeweiligen Geltungsbereich gefunden, indem sie an ein unterschiedliches Publikum adressiert sind und sich in verschiedenen Textgenres ausdrücken“ (Hagner: Ansichten der Wissenschaftsgeschichte, S. 10 f.). Mit der

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le Konzept wissenschaftlicher Größe und Genialität“ verabschiedet, indem sie „Individualität und Sozialität mit dem Instrumentarium personenzentrierter Forschung“ verknüpft und dabei vor allem die „Frage nach den Handlungs- und Entscheidungsspielräumen von Individuen in systemischen Kontexten“ berücksichtigt. „Bringing the Human Actors Back on Stage“48 – mit dieser Formulierung eines amerikanischen Wissenschaftshistorikers ist die Tendenz der Rückbindung einer den ‚menschlichen Faktor‘ eliminierenden, objektivistischen Auffassung von Wissenschaft an ihren humanen und kulturellen Ursprung treffendbezeichnet.

|| subjektiven Wende hingegen treten Leben und Wissenschaft, Biographie und Wissenschafts(geschichts)schreibung in ein Interdependenzverhältnis. 47 Hier und im Folgenden Trischler: Geschichtswissenschaft – Wissenschaftsgeschichte, S. 249. 48 David Kaiser: Bringing the Human Actors Back on Stage. The Personal Context of the Einstein-Bohr Debate, in: British Journal for the History of Science 27 (1994), S. 129–152.

2 Zur Lektüre und Analyse von Kehlmanns wissenschaftshistorischem Roman Zwei längere Anmerkungen zu den nachstehenden Analysen sind an dieser Stelle erforderlich. 1. Im Anschluss an die im systematischen Teil ausführlich beschriebene Rolle des Lesers gilt es daran zu erinnern, dass die Differenzen zwischen fiktionalem und historischem bzw. fiktionalem und wissenschaftshistorischem Diskurs im Roman zwar von Beginn an durch kalkuliert gesetzte indexikalische Zeichen markiert sind, ihre eigentliche Realisierung jedoch erst dadurch finden, dass sie vom Leser aktiviert, also entsprechend seines Unterscheidungsvermögens, entsprechend vor allem seiner (wissenschafts-)historischen Kenntnisse ausgestaltet und kontextualisiert werden.49 Diese Realisierungen, wie bruchstückhaft das im Leser mobilisierte Vorwissen auch immer sein mag, bleiben unabhängig vom weiteren Fortgang der Erzählung in der Lektüre präsent, d.h. ‚Geschichte‘ in ihrer zeit-, wissenschafts- und individualgeschichtlichen Ausdifferenzierung wird gleichsam als eine Art im Lesergedächtnis gespeicherter Subtext stets ‚mitgelesen‘. Selbst für den angenommenen Fall, Kehlmanns Roman würde lediglich einen der genannten historischen Diskurse entfalten, so wären mit dem komplexen, auch auf die anderen Diskurse verweisenden Index der Anfangssätze die im folgenden nicht-erzählten Diskurse dennoch als Leerstellen generiert, die vom Leser, sofern dieser über ein entsprechendes Subtext-Archiv verfügt, konkretisiert würden. Dem Leser wird damit von Beginn an der Status eines Miterzählers zugewiesen, der das NichtErzählte durch die ihm bekannten historischen Erzählungen ergänzt oder auch das erzählte Historische mit den ihm jeweils bekannten historischen Erzählungen (komplettierend, konkretisierend, kritisierend usw.) in Beziehung setzt. Besteht nun die miterzählende Leistung des empirischen Lesers, wie angedeutet, zunächst darin, dass er den im Gedächtnis in welcher Form auch immer gespeicherten historischen Subtext von Anfang an aktiviert – und diese Aktivierung ist sowohl Effekt der indexikalischen Zeichen als auch Voraussetzung für das Funktionieren der indexikalisch etablierten Differenzen und letztlich für das Funktionieren der Gattung überhaupt –, so ist das Miterzählen in erster Linie als ein Mitlesen jener historischen Erzählungen zu charakterisieren, auf die der Index verweist und die durch ihn im Leser erinnert werden. Als Leser des Romans und als Leser des historischen Subtexts vollzieht der Leser sozusa-

|| 49 Zum Folgenden vgl. Kapitel 2.2 „Lector doctus – die Rolle des Rezipienten“ in vorliegender Studie. Open Access. © 2021 Bernadette Malinowski, publiziert von De Gruyter. Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivatives 4.0 International Lizenz. https://doi.org/10.1515/9783110642384-005

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gen eine Synchronlektüre,50 wobei er in der Lektüre des gespeicherten historischen Subtexts zugleich zu dessen Wiedererzähler wird, der das Wiedererzählte (und jedes Wiedererzählen ist auch ein anderes Erzählen) der Romanerzählung und damit sich selbst dem fiktionalen Erzähler des Romans unverzichtbar zur Seite stellt. Die Lektüre des Subtextes geschieht zum einen in Abhängigkeit davon, ob und wie der Roman im weiteren Verlauf auf diesen Subtext rekurriert (ob er es bei der anfänglichen historischen Deixis belässt, ob er weitere indexikalische Momente einstreut oder ob er die Deixis zum narrativen Plot ausgestaltet) – das ‚Ob‘ und ‚Wie‘ der Referentialisierung steuert die Lektüre maßgeblich –, zum anderen in Abhängigkeit davon, ob und wie der Subtext im historischen Gedächtnis des Leser überhaupt ‚verfasst‘ ist. Sieht man einmal vom extremen Fall einer völligen Abwesenheit des Subtextes ab (sie führt – und dies trifft auf den historischen ebenso wie auf den wissenschaftlichen Roman zu – zum Kollaps der Gattung), so wird er in jedem Leser in einer anderen Gestalt vorliegen; mag diese Pluralität auch durch eine gemeinsame Schnittmenge historischer Fakten einerseits, durch die begrenzte Tropik der Geschichtserzählungen andererseits eingeschränkt sein, so wird sie doch durch die je unterschiedlichen Aneignungs-, Deutungs- und Aktivierungsweisen ihre Pluralität beibehalten. Damit ist ein weiterer Aspekt angesprochen: Die Synchronlektüre von Roman und Subtext setzt voraus, dass der Subtext bereits als ein ‚irgendwie‘ verfasster im historischen Gedächtnis des Lesers konstituiert ist, sie setzt also die bereits erfolgte Lektüre jener historischen Erzählungen voraus, deren Produkt der Subtext ist.51 Anders formuliert: Die anamnetische Lektüre – als solche ließe sich die synchron zur realen Lektüre des Romans verlaufende Lektüre des Subtextes beschreiben52 – bedarf zu ihrem Gelingen notwendig einer bereits real erfolgten Lektüre historischer Erzählungen oder Darstellungen.53

|| 50 Vgl. hierzu auch Bernadette Malinowski u. Jörg Wesche: Synchrones Lesen. Mathematik und Dichtung bei Michael Wüstefeld und Daniel Kehlmann, in: Poetiken der Gegenwart. Deutschsprachige Romane nach 2000, hrsg. v. Silke Horstkotte u. Leonhard Herrmann, Berlin, Boston 2013, S. 139–154. 51 Zugrunde gelegt wird hier ein weiter Begriff von ‚Lektüre‘, der vom faktischen Lesen über die Rezeption anderer Medien bis hin zum bloßen ‚Hörensagen‘ reicht und buchstäblich alle Formen der Aneignung einschließt. 52 Der Subtext ist ein Erinnerungstext, der im historischen Gedächtnis des Lesers aufbewahrt und entsprechend abgerufen werden kann; er ist in der Regel sozusagen nur noch in potenzierter Form an das materielle Medium der Schrift gebunden. 53 Sofern diese nicht erfolgt ist, wird sie der Leser, provoziert durch die Referenzsignale des Romans, nachholen – nachholen müssen, will er den Roman im Sinne der Gattung poetica scientiae aktualisieren. Vgl. dazu die Ausführungen im systematischen Teil.

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Der empirische Leser – gleichsam individualisiertes pars pro toto des impliziten Lesers54 – kommt letztlich also nicht umhin, sich jene intertextuelle Kompetenz zu erarbeiten, die notwendig ist, um das im Text virtuell in der Gestalt des impliziten Lesers angelegte Äquivalenzsystem – die Summe aller potentiellen Lektüren – wenigstens partiell zu realisieren. 2. Die Aneignung dieser intertextuellen Kompetenz,55 d.h. die gründliche Auseinandersetzung mit dem historischen Material,56 die zu einer angemessenen Erfassung der narrativen Transformationsstrategien und entsprechend zu einer angemessenen Beurteilung der daraus resultierenden ästhetikspezifischen Differenzen und Modifikationen57 unabdingbar ist, liegt den folgenden Studien nicht ‚stillschweigend‘ voraus, sondern wird ihrerseits dokumentiert. Zwei Gründe sind hierfür ausschlaggebend: Zum einen ist der Erwerb dieser Kompetenz, der sich konkret in ausführlichen wissenschaftshistoriographischen Exkursen niederschlagen wird, motiviert durch die vom Roman selbst evozierten hermeneutischen Fragen und damit als ein Effekt der im Roman angelegten

|| 54 Der implizite Leser meint jenes transzendentale Strukturmodell, „das als im Text verankerte strukturierte Hohlform die Gesamtheit der Vororientierungen bezeichnet, ‚die ein fiktionaler Text seinen möglichen Lesern als Rezeptionsbedingungen anbietet‘, und zugleich den Übertragungsvorgang beschreibt, durch den sich die Textstrukturen über die Vorstellungsakte in den Erfahrungshaushalt des Lesers übersetzen“ (Meinhard Winkens: Art. „Wirkungsästhetik“, in: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie, S. 678–681, hier S. 680). 55 Deupmann betont ebenfalls, dass „die ironische Erzählerrede ihre Figuren als Gegenstände historischen Wissens“ voraussetze, da andernfalls die „Spannung zwischen historischer Person und fiktiver Figur“, also die „Differenz zwischen historisch beglaubigtem und erkennbar unzuverlässigem ‚Wissen‘“ eingeebnet und „das Spiel mit der historiografischen Form funktionslos bliebe“ (Deupmann: Poetik der Indiskretion, S. 251). 56 Am Beispiel etwa der Geschichte der nicht-euklidischen Mathematik werde ich versuchen, das von Stiening erhobene, wenn auch aufwändig zu realisierende Postulat, nämlich den „wissenschaftsgeschichtlichen Kontext“ – und zwar zunächst „unabhängig von den Rezeptionsformen und -ergebnissen des literarischen Autors“ zu erschließen und darüber hinaus zu fragen, „welche Stellung jenes historische Wissen innerhalb des poetischen Gefüges einnimmt“ (Gideon Stiening: „Und das Ganze belebt, so wie das Einzelne, sei“. Zum Verhältnis von Wissen und Literatur am Beispiel von Goethes Die Metamorphose der Pflanzen, in: Literatur und Wissen. Theoretisch-methodische Zugänge, hrsg. v. Tilmann Köppe, Berlin, New York 2011 S. 192–213, hier S. 205). 57 Auch Vanderbeke weist darauf hin, dass die Erfassung von literarischen Transformationen eine „kreative Auseinandersetzung mit einem Einfluß voraussetzt“ (Dirk Vanderbeke: Theoretische Welten und literarische Transformationen. Die Naturwissenschaften im Spiegel der ‚science studies‘ und der englischen Literatur des ausgehenden 20. Jahrhunderts, Tübingen 2004, S. 201).

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Appellstruktur aufzufassen.58 Diese Appellstruktur ist ihrerseits zwar das Ergebnis von literarischen Transformationen, die auf der Grundlage ausgiebiger mathematikgeschichtlicher und historischer Rekonstruktionen seitens des Autors vorgenommen wurden, sie ist darüber hinaus aber auch Effekt einer bereits in den wissenschaftlichen und wissenschaftshistoriographischen Quellen selbst angelegten Appellstruktur. Hierzu ein Beispiel: Im Kontext der historischen Entwicklung der nichteuklidischen Geometrie (vgl. Kapitel 3.4.1) erweist sich diese Appellstruktur konkret als Diskrepanz zwischen einer geglätteten wissenschaftlichen und wissenschaftshistoriographischen Oberflächenstruktur und einer brüchigen, widersprüchlichen und geradezu hermetisch verdunkelten Tiefenstruktur, als eine Diskrepanz, die sich überhaupt nur auf dem Weg eines vertieften Quellen-Studiums – zu dem vor allem auch die synoptischvergleichende Lektüre verschiedener historischer Dokumente und historiographischer Darstellungen gehört – ‚entdecken‘ und entsprechend produktiv machen lässt. Erst ein solches Studium vermag die bis heute offenen Fragen nach der ‚inneren‘ Geschichte der nichteuklidischen Geometrie, nach ihren tief in die Historie eingesenkten ‚genetischen‘ Ursachen und Zusammenhängen, bloßzulegen, ferner über die vergleichende Lektüre der zumeist auf eindeutige Interpretation gerichteten wissenschaftsgeschichtlichen Studien das Ungeklärte und Ungeglättete als das Ungeklärte und Ungeglättete aufzudecken und solcherart die der Wissenschaft und ihrer Geschichte implizite Appell- und Interrogativstruktur offenzulegen. Der literaturanalytische Befund, so wird sich zeigen, nimmt sich dazu überraschenderweise konträr aus: Hier ist es umgekehrt die Fiktion, die dazu tendiert, eine von Unbestimmtheiten, Leerstellen, ‚Hermetismen‘ und Widersprüchen geprägte Historie zu verallgemeinern, zu vereindeutigen und auf ihr mathematisches Substrat zu verkürzen.59

|| 58 Es ist vielleicht auch Resultat dieser Appellstruktur, dass Ottmar Ette nach aller aus historischer Perspektive durchaus nachvollziehbaren Polemik gegen Kehlmanns Verfremdung des historischen Humboldt ausführt, dass „zumindest ein Teil der Leserschaft Interesse […] an den historischen Figuren entwickelt und sich im Falle Humboldts auf eine Entdeckungsreise durch die Werke eines der großen Autoren und Denken des 19. Jahrhunderts einläßt“ (Ottmar Ette: Alexander von Humboldt in Daniel Kehlmanns Welt, in: HiN – Humboldt im Netz. Internationale Zeitschrift für Humboldt-Studien [Potsdam – Berlin] XIII, 25 [2012], S. 34–40, hier S. 39. Online verfügbar unter http://www.uni-potsdam.de/u/romanistik/humboldt/hin/hin25/ ette_deu.htm). 59 Mit dieser ‚Vereindeutigungstendenz‘ wird das, was Deupmann treffend als „epistemische Unzuverlässigkeit“ bezeichnet (Deupmann: Poetik der Indiskretion, S. 243) freilich nicht getilgt, sondern vielmehr gesteigert.

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Die gleichrangige Behandlung von literarischem Text und historischen ‚Subtexten‘ zielt demzufolge nicht nur darauf, den literarischen Textphänomenen jeweils semantische oder funktionale Entsprechungen bzw. Abweichungen im historischen Material vergleichend gegenüberzustellen,60 sondern ebenso darauf, das in den Quellen selbst angelegte ästhetische und literarische Potential aufzudecken.61 Aus Sicht der Literaturwissenschaft werden derartige Rekonstruktionsversuche nicht selten als ‚positivistisch‘ etikettiert, doch steht zu fragen, ob derlei Einwände nicht maßgeblich in der Annahme gründen, dass das Archiv der Geschichte und Wissenschaftsgeschichte Texte konserviert, die von historisch weitgehend erwiesenen und entsprechend gesicherten Tatsachen berichten. Damit soll die Literaturwissenschaft zwar nicht dem Verdacht eines naiven Geschichts- und Naturwissenschaftsverständnisses ausgesetzt werden. Sehr wohl aber gilt es – und dies mit Blick auf die Literaturwissenschaft als einer geisteswissenschaftlichen Disziplin ebenso wie mit Blick auf die Naturwissenschaften – darauf hinzuweisen, dass eine unübersehbare Kluft zwischen der jeweiligen disziplinären Wissenschaftstheorie und der wissenschaftlichen Praxis besteht, die zu überwinden sich als weitaus schwieriger und langwieriger erweist als gemeinhin angenommen. So tendiert die naturwissenschaftliche Lehr- und Forschungspraxis trotz der inzwischen weithin akzeptierten wissenschaftstheoretischen Einsicht in die historisch-kulturelle Bedingtheit naturwissenschaftlicher Theorien, Methoden und Praktiken nach wie vor dazu, ihre || 60 Dies schließt selbstredend auch solche „Transformation[en] oder Umcodierung[en]“ ein, die, Deupmann im Rekurs auf Werber sehr präzise beschreibt, durch die „Wissen zum ‚Medium für Formen‘“ wird (Christoph Deupmann: Poetik der Indiskretion. Zum Verhältnis von Literatur und Wissen in Daniel Kehlmanns Die Vermessung der Welt, in: Die Unendlichkeit des Erzählens. Der Roman in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur seit 1989, hrsg. v. Carsten Rohde u. Hansgeorg Schmidt-Bergmann, Bielefeld 2013, S. 237–256, hier S. 241). 61 Zu Kehlmanns Umgang mit den Quellen vgl. ausführlich Doll, der den Roman detailliert als einen postmodernen historischen Roman untersucht. „Die Schilderung“, so Doll, „beschränkt sich nicht auf Deskription, sondern erfolgt auf Basis einer kritischen Auseinandersetzung mit den Quellen, deren Ergebnis in pointiert ironischer Perspektive präsentiert wird. Die historische Dimension des Romans ist demnach geprägt von einer Auseinandersetzung mit dem Material, dessen Wahrheitsgehalt angezweifelt wird“ (Doll: Umgang mit Geschichte, S. 245). Legitimiert werde dieses Misstrauen gegenüber dem Geschriebenen in der metahistorischen Dimension des Romans, die verdeutlicht, dass „Erinnerung und Wahrnehmung […] nicht nur Limitierungen unterworfen, sondern geradezu unzuverlässig und ungeeignet [sind], um Ereignisse akkurat festzuhalten“ (ebd., vgl. näherhin S. 269–274; 287–299). Wie Doll, der sich in seinen vergleichenden Analysen auf Humboldt konzentriert, überzeugend nachweist, legt der Roman damit nicht nur den „Konstruktcharakter des Materials“ (S. 288) und dessen fragwürdigen Wahrheitsgehalt offen, sondern darüber hinaus auch die Bedingungen seines Zustandekommens.

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Erkenntnisse am Maßstab eines klassischen Wissenschaftsbegriffs (Objektivität, Allgemeingültigkeit, Notwendigkeit) zu beurteilen und entsprechend öffentlich zu kommunizieren. Umgekehrt ist in den Kultur- und Geisteswissenschaften die Neigung zu beobachten, diese die ‚hard sciences‘ aufweichenden Ergebnisse der Wissenschaftsgeschichte und -theorie einerseits als den lang ersehnten ‚Beweis‘ für die Affinitäten zwischen Geistes- und Naturwissenschaften dankbar zu übernehmen, andererseits jedoch eben diese Affinitäten gerade dann auszublenden und zu ignorieren, wenn es darum geht, die Vorzüge der eigenen Disziplin auf dem Rücken der nunmehr wiederum ‚positivistisch‘ betrachteten ‚fremden‘ Disziplinen aufzuzeigen oder aber wenn es, wie im konkret angesprochenen Fall, darum geht, das Spezifische der Literatur durch die Aktualisierung eines positivistischen Wissenschafts- und Wissenschaftsgeschichtsverständnisses hervorzuheben.62

|| 62 Die Schwierigkeit, einen annähernd ‚neutralen‘ Boden zu gewinnen und der Versuchung zu widerstehen, sich je nach situations- und interessebedingten Bedürfnissen aus dem einen oder anderen Argumentationsfundus zu bedienen, ist – und dies gilt es durchaus auch selbstkritisch anzumerken – nicht ohne weiteres zu meistern. Die dafür verantwortlichen nichtwissenschaftlichen wie wissenschaftlichen Gründe einer genaueren Analyse zu unterziehen, ist ein Desiderat, das letztlich nur von einer transdisziplinär ausgerichteten Wissenschaftstheorie zu erfüllen wäre.

3 Die Vermessung der Welt zwischen fiktionaler Wissenschaftsgeschichte und wissenschaftshistoriographischer Metafiktion 3.1 Struktur als erzählte Geschichte – Erste Textvermessungen In seinem Roman Die Vermessung der Welt erzählt Daniel Kehlmann das Leben der Naturwissenschaftler Alexander von Humboldt und Carl Friedrich Gauß. Die Doppelbiographie63 beginnt mit einer Reise, die Gauß, nachdem er „Hannovers Grenzen“ seit 20 Jahren nicht mehr verlassen hatte, im September 1828 gemeinsam mit seinem Sohn Eugen auf Einladung Humboldts nach Berlin unternimmt. „Die Reise“, so auch der Titel dieses ersten Kapitels, endet mit der freundlichen Aufnahme und Einquartierung der beiden Gäste in Humboldts Haus. Erst im letzten Drittel des Romans wird der Faden dieser einleitenden Episode wieder aufgenommen und das Zusammentreffen der beiden ausgestaltet. In diese Rahmenhandlung sind die Lebensläufe der beiden, die kapitelweise alternierend erzählt werden, eingepasst. So entstehen im Laufe des Romans zwei Einzelporträts, die in das durch die Rahmenhandlung gezeichnete Doppelporträt integriert sind. Die Rahmenhandlung ist allerdings nicht symmetrisch konstruiert: Dem ersten Kapitel stehen die sechs letzten Kapitel gegenüber, von denen zwei (das zweite und das Schlusskapitel) die Konturen eines dritten Porträts – das Bild von Gauß’ Sohn Eugen – skizzieren. Kompositorische Besonderheiten weist auch das vorletzte Kapitel „Die Steppe“ auf: Indem es mit der gemeinsamen Zeit in Berlin beginnt, sich dann wiederum in die getrennten, nun abschnittweise alternierend erzählten Lebensläufe von Gauß und Humboldt verzweigt, wobei diese durch imaginäre Dialoge vernetzt bleiben, wiederholt, spiegelt und verdichtet sich in ihm gleichsam die Makrostruktur des Romans.

|| 63 „Die Verbindung komplementärer Lebensgeschichten folgt einem biographischhistoriographischen Vorbild der Antike“, nämlich den „Parallelbiographien Plutarchs, in denen bedeutende Männer der griechischen und römischen Geschichte einander gegenübergestellt werden“ (Friedhelm Marx: „Die Vermessung der Welt“ als historischer Roman, in: Daniel Kehlmanns „Die Vermessung der Welt“. Materialien, Dokumente, Interpretationen, hrsg. v. Gunther Nickel, Reinbek b. Hamburg 2008, S. 169–185, hier S. 172). Open Access. © 2021 Bernadette Malinowski, publiziert von De Gruyter. Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivatives 4.0 International Lizenz. https://doi.org/10.1515/9783110642384-006

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Exkurs Die zugleich geschlossene und offene Struktur des Rahmens verleiht diesem eine komplexe Dynamik: Bereits das erste Kapitel „Die Reise“ ist durch diese Doppelstruktur gekennzeichnet. Die erzählte Reise Gauß’ und Eugens nach Berlin entspricht einer Erzähl-Reise, in deren Verlauf der Rahmen als Rahmen allererst konstituiert wird. Die letzten sechs Kapitel entfalten und wiederholen diesen Konstruktionsprozess – allerdings in umgekehrter Richtung: So knüpft das erste davon („Der Sohn“) unmittelbar an den im „Reise“-Kapitel etablierten Rahmen an und schmückt diesen gleichsam aus, indem es die eigentliche Begegnung zwischen Humboldt und Gauß erzählt, welche in zwei weiteren Kapiteln („Der Äther“ und „Die Geister“) fortgesetzt wird. Damit umschließt und beschließt der Rahmen zum einen den Hauptteil des Romans – indem er die beiden getrennt erzählten Lebensläufe wieder zusammenführt und die stattfindende Begegnung ausgestaltet, vollendet er das im Reisekapitel begonnene Doppelporträt –, zum anderen jedoch wird er in mehrfacher Hinsicht unterbrochen und solcherart wieder aufgesprengt: einmal durch das eingefügte Porträt Eugens, des weiteren durch das Kapitel „Die Steppe“ mit seinen oben genannten Besonderheiten und schließlich durch das mit „Der Baum“ betitelte Schlusskapitel, das Eugens Reise nach Amerika zum Gegenstand hat und damit zwar motivisch an das Eröffnungskapitel „Die Reise“ anschließt, diesen Anschluss jedoch aufgrund der personal, örtlich wie motivational gänzlich veränderten Reisekonstellation zugleich verfehlt. Auf der makrostrukturellen Ebene erfüllen die Kapitel „Die Reise“, „Der Sohn“ und „Der Baum“ eine gleichermaßen prologische wie epilogische Funktion. Indem sie jeweils Erzählräume eröffnen, übernehmen sie eine prologische Funktion: mit dem Kapitel „Die Reise“ eröffnen sich die Erzählräume für die Einzelporträts wie für das Doppelporträt Humboldt/Gauß; das Kapitel „Der Sohn“ eröffnet den Erzählraum für das Porträt des Sohnes; ferner setzt es die Zeichnung des Doppelporträts Humboldt/Gauß fort; das Schlusskapitel „Der Baum“ eröffnet den Erzählraum für das – freilich nicht mehr erzählte – Leben Eugens in der Neuen Welt. – Indem sie Erzählräume beschließen, erfüllen sie eine epilogische Funktion: Das mittlere der drei Kapitel, „Der Sohn“, beschließt die im Hauptteil erzählten Einzelbiographien von Humboldt und Gauß; das Schlusskapitel beendet diese Einzelbiographien gleichsam ein zweites Mal (eine erneute Vereinzelung findet, wie erwähnt, im Kapitel „Die Steppe“ statt, in dem ferner das Leben der beiden durch zahlreiche Anspielungen buchstäblich bis an den Rand des Todes zerdehnt wird) und bringt außerdem das in der erzählten Begegnung der beiden entstehende Doppelporträt Humboldt/Gauß zum Abschluss; die epilogische Funktion des Eingangskapitels „Die Reise“ ergibt sich als Effekt der prologischen Funktion des Schlusskapitels (indem dieses den Auftakt einer neuen Lebenserzählung darstellt, gleichsam einen Generationenwechsel vollzieht, spaltet sich die im ersten Kapitel beschriebene Reise von GaußVater und -Sohn nach Berlin auf: während die Berlin-Reise des Sohnes sich rückwirkend lediglich als eine frühe Episode im Leben von Eugen erweist, dem die ‚eigentliche‘ Lebenserzählung in Amerika folgen wird, rückt die Berlin-Reise des Vaters in den Kontext der Lebensreise, deren beginnendes Ende mit Eugens Aufbruch in ein neues Leben in der Neuen Welt angezeigt wird).

Die Abfolge der einzelnen Kapitel ist, wenn auch Kehlmann eher spärlich mit konkreten Zeitangaben verfährt, weitgehend an die historische Chronologie der Ereignisse angelehnt, wie umgekehrt das Wissen um die historische Chronologie „ästhetisch anverwandelt“ wird und eine struktur- und „formbildende Funk-

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tion“ gewinnt.64 Das die Rahmenhandlung konstituierende Treffen zwischen Gauß und Humboldt in Berlin fand vom 14. September bis zum 3. Oktober 1828 statt; demzufolge endet das erste Kapitel mit dem 14. September, der Ankunft Gauß’ und Eugens in Berlin. Der Mittelteil des Romans erzählt, wie bereits erwähnt, alternierend das Leben der beiden Wissenschaftler bis zu ihrem Zusammentreffen: In je einem Kapitel werden zunächst Kindheit und Jugend der beiden beschrieben.65 Die Gauß gewidmeten Kapitel verschränken sein persönliches und wissenschaftliches Leben in Braunschweig und Göttingen, wobei die Kapitelüberschriften eine Art metaphorischen Index zu den einzelnen Schaffensperioden geben, wie sie in der Gauß-Forschung wiederholt genannt werden, namentlich die mathematische („Die Zahlen“),66 die astronomische („Die Sterne“)67 und die geodätische Schaffensphase („Der Garten“)68. Während

|| 64 Deupmann: Poetik der Indiskretion, S. 242. 65 Zur Orientierung werden in den folgenden Fußnoten einige markante Themen der einzelnen Kapitel genannt und ihren jeweiligen historischen Zeiträumen zugeordnet; dabei bleiben die wenigen Episoden, die entweder von Kehlmann frei erfunden oder meinerseits historisch nicht eruiert werden konnten, zunächst außen vor (eine differenzierte Komplettübersicht über die Romanhandlung, wie überhaupt eine äußerst fundierte Elementaranalyse des Romans findet sich bei Wolfgang Pütz: Daniel Kehlmann. Die Vermessung der Welt, Oldenbourg 2008, S. 16–25): Kapitel 2 („Das Meer“) beschreibt zeitraffend die ersten 30 Lebensjahre Humboldts (1769–1799): Kindheit und Jugend in Berlin und Tegel, das problematische Verhältnis zu Bruder Wilhelm, Studienjahre in Frankfurt a. d. Oder, Berlin, Göttingen, Hamburg u. Freiberg; Tod der Mutter, einjähriger Aufenthalt in Salzburg, Besuch des Bruders in Paris, wo er seinen Reisebegleiter Aimé Bonpland trifft, sodann Weiterreise nach Spanien und Teneriffa, schließlich Aufbruch in die Tropen. – Kapitel 3 („Der Lehrer“) widmet sich Gauß’ ärmlicher Kindheit, Jugend und Schulzeit in Braunschweig (1777–1795); thematische Schwerpunkte bilden u.a. seine mathematische Hochbegabung, seine Förderung durch den Herzog von Braunschweig sowie erste sensationelle wissenschaftliche Erfolge. 66 Die in diesem fünften Romankapitel erzählte mathematische Periode umfasst historisch die Zeit von ca. 1795 bis ca. 1800. Erwähnung finden u.a. Gauß’ Entscheidung für das Astronomieund gegen das Philologiestudium, seine erste Publikation über den von ihm entdeckten Beweis für die Konstruierbarkeit des regelmäßigen 17-Ecks, Rückkehr von Göttingen nach Braunschweig (1798), dort Fertigstellung seines Hauptwerks „Disquisitiones Arithmeticae“, Bekanntschaft mit Johanna Elisabeth Rosina Osthoff, erste astronomische Beschäftigungen. 67 Schwerpunktthemen des siebten Kapitels, das auf die astronomische Phase (ca. 1800–1818) verweist, sind von Gauß durchgeführte astronomische Berechnungen, die die Berechnung (und damit Wiederentdeckung) des Kleinplaneten Ceres ermöglichen und Gauß’ Weltruhm begründen, Hochzeit mit Johanna (1805), Berufung zum Universitätsprofessor und Direktor der geplanten Universitätssternwarte in das inzwischen französische Göttingen (1807), Geburt der ersten drei Kinder, Tod Johannas und des jüngsten Sohnes (1809). 68 Die geodätische Periode umfasst die Zeit von ca. 1819–1831. Das diese Phase indizierende neunte Kapitel schildert die Durchführung geodätischer Messungen im Königreich Hannover

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die zuletzt genannten Gauß-Kapitel den historischen Zeitraum von ca. 1796 bis 1821, also von ungefähr 15 Jahren umfassen, konzentrieren sich die weiteren Humboldt-Kapitel auf die vierjährige Forschungsreise in verschiedene Länder Südamerikas, die Humboldt vom Sommer 1799 bis zum April 1804 gemeinsam mit Aimé Bonpland unternommen hatte und die mit einer Seereise nach Kuba und schließlich nach Nordamerika (bis Ende Juni 1804) beendet wurde. Auch hier dienen die Kapitelüberschriften als Wegweiser, die Aufschluss über einige prominente Stationen dieser Reise geben: „Die Höhle“ verweist auf den Besuch der Cueva del Guácharo (Neuandalusien, heute Venezuela; September 1799),69 „Der Fluß“ auf die Reise auf dem Orinoko (30. März bis 10. Juli 1800),70 „Der Berg“ auf die Besteigung des Vulkans Chimborazo (23. Juni 1802),71 „Die Haupt-

|| unter erstmaligem Einsatz des von Gauß 1821 entwickelten Heliotrops; eingeblendet werden ferner seine zweite Frau Minna (Friederica Wilhelmine Waldeck, die Gauß bereits 1810 geheiratet hatte) sowie Eugen, das erste von drei weiteren aus dieser Ehe hervorgegangenen Kindern (der historische Eugen Gauß ist 1811 geboren, ist also in diesem Romankapitel, in dem er seinen Vater bei den Landvermessungen begleitet, 10 Jahre alt). 69 Das Kapitel beschreibt Humboldts ersten Aufenthalt in der erdbebenerschütterten Hauptstadt Neu-Andalusiens, Cumaná, die Empfänge beim dortigen Gouverneur, den Sklavenhandel, Besuch der Missionen der Chaimas-Indianer, Besuch der Höhle der Nachtvögel, zweiter Aufenthalt in Cumaná, Sonnenfinsternis (28.10.1799). 70 Aufenthalt in Caracas, Exkursion zum Gipfel der Silla, Aufbruch zum Orinoco (7.2.1800) über Calabozo (Stadt in den Llanos), dort galvanische Untersuchungen an elektrischen Aalen, Aufenthalt in San Fernando de Apure, Fahrt über den Rio Apure zum Orinoko; Aufenthalt bei Pater Zea, Missionar von Atures und Maipures, Passage der beiden gleichnamigen Katarakte; Fahrt auf dem Rio Negro bis zur Einmündung des Casiquare, jenes Kanals, der den Orinoco mit dem Amazonas verbindet (10.5.1800); Aufenthalt in der Mission Esmeralda (dort Einweisung in die Herstellung von und Selbstversuche mit Curare). Rückreise über San Fernando, abermals Aufenthalt in der Mission Atures bei Pater Zea, Besichtigung der Höhle von Ataruipe (bei Kehlmann vorverlegt auf den ersten Aufenthalt), schließlich die im Roman lediglich durch die Krankheit Bonplands indirekt thematisierte Weiterreise nach Angostura (Hauptstadt Guayanas). 71 In Form eines Briefes, den Bonpland vor der Besteigung des Chimborazo schrieb, finden folgende Stationen der Reise Erwähnung: Überfahrt nach Havanna (24.11.–19.12.1800), Seereise von Havanna nach Cartagena (Kolumbien; 9.–30.3.1801); Schiffsreise auf dem Rio Magdalena bis Bogotà (Ankunft 8.7.1801; dort Gast bei dem Biologen Mutis); Besteigung des Vulkans Pichincha (14.4.1802); Besteigung des Chimborazo (23.06.1802); Schiffsreise von Veracruz nach Cuba (Abreise 7.3.1804); Schiffsreise von Havanna nach Philadelphia (29.4.–20.5.1804), Aufenthalt in Washington und Besuch bei Präsident Jefferson (1.6.–13.6.1804). Zu einer ausführlichen, sowohl die historischen Quellen als auch weitere Rezeptionsbeispiele aus Literatur, Kunst und Film detailliert berücksichtigende Analyse des „Berg“-Kapitels vgl. Caroline Schaumann: Who Measures the World? Alexander von Humboldt’s Chimborazo Climb in the Literary Imagination, in: The German Quarterly 82.4 (Fall 2009), S. 447–468.

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stadt“ auf Humboldts und Bonplands Aufenthalt in Washington und das Treffen mit Präsident Thomas Jefferson (1. bis 13. Juni 1804).72 Ist dieser abstrakte Index einmal entschlüsselt,73 erweist er sich als eine chronotopische Landkarte, die sich vor dem Leser ausbreitet und die die gesamte, sich im Zeitraum von vier Jahren zurückgelegte Reiseroute absteckt. Der strukturellen Komplexität der letzten sechs Kapitel entsprechend, verkompliziert sich die diskursive Ordnung der dort thematisierten historischen Ereignisse: Die ersten vier dieser Kapitel spielen zur Zeit der VII. Versammlung deutscher Naturforscher und Ärzte 1828 in Berlin, zu der Humboldt Gauß eingeladen hatte. Diese Abschnitte informieren nicht nur über die gegenwärtige Lebenssituation und wissenschaftlichen Beschäftigungen von Humboldt und Gauß, sondern reflektieren, vor allem in der Figur des Eugen, relevante Ereignisse der deutschen Geschichte.74 Das vorletzte Kapitel „Die Steppe“ beschreibt

|| 72 Aufenthalt in Veracruz; Besuch der Silbermine von Taxco; Besteigung des Popocatepetl; Besuch der Ruinen von Teotihuacan; Besteigung des Vulkans Jorullo. 73 Die beiden Indexe, welche die einzelnen Lebensstationen von Gauß und Humboldt überschreiben, sind ein geeignetes Beispiel dafür, dass zur Erschließung wissenschaftlicher bzw. wissenschaftshistorischer Romane, sofern diese dezidiert mit intertextuellen Verfahren arbeiten, das gründliche Quellenstudium unabdingbar ist. Wenn Kehlmann häufig auf konkrete Orts- und Zeitangaben verzichtet, stattdessen die raumzeitlichen Informationen in einer erschlagenden Fülle von Anspielungen, Textverweisen, Ereignissen usw. mitteilt, dann macht er es seinem Leser sicherlich nicht leicht, doch gewährleistet gerade dieser Verzicht auf eindeutige Angaben (auch der Verzicht auf Angabe der benutzten Quellen), dass, wie noch zu zeigen ist, verschiedene Funktionen des wissenschaftshistorischen Romans überhaupt nur so zu realisieren sind. Treffend spricht Bareis mit Blick auf Kehlmann von „subtileren Formen der Intertextualität, die eher mit Begriffen wie Kommunikativität oder Dialogizität zu beschreiben sind und somit oftmals eher dem […] belesenen Verknüpfen zuzurechnen wären“ (Bareis, J. Alexander: Moderne, Postmoderne, Metamoderne. Poetologische Positionen im Werk Daniel Kehlmanns, in: Rhode u. Schmidt-Bergmann: Die Unendlichkeit des Erzählens, S. 321–344, hier S. 329). Dabei bezieht sich Bareis ausdrücklich auf eine Aussage Kehlmanns, wonach die Klassische Moderne „das Schreiben als ein gleichsam musikalisches Verknüpfen von Motiven, Bildern, Wiederholungen und Bezügen“ begreife (Kehlmann, zit. n. ebd., S. 328). 74 Vor allem das Kapitel „Der Vater“ ist dem Konflikt zwischen den restaurativen Mächten, denen Europa und insbesondere Preußen, das die Karlsbader Beschlüsse rigoros durchsetzt, seit Beendigung des napoleonischen Hegemonialsystems unterliegen, einerseits und der national-liberalen Bewegung, seit 1818 in der „Allgemeinen Deutschen Burschenschaft“ organisiert, andererseits gewidmet. Während der fiktive Humboldt die Restauration ebenso kritisiert wie den Dilettantismus der Studenten („Die Restauration liege wie Mehltau über Europa. […] Auf der einen Seite die Tyrannei, auf der anderen die Freiheit der Toren“, V 218), wird Eugen zu einem (wenngleich nur halbherzigen, politisch letztlich unkundigen) Vertreter der freiheitlichen Ideen der Burschenschaften und zum Opfer der polizeistaatlichen Methoden der Restauration. Ganz zufällig gerät er in eine studentische Versammlung, die während einer flammen-

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den weiteren biographischen Werdegang von Humboldt und Gauß, insbesondere Humboldts Russlandreise vom 12. April 1829 bis 28. Dezember 182975 sowie den Beginn von Gauß’ physikalischer Schaffensperiode und die Zusammenarbeit mit Wilhelm Weber, den er in Berlin durch Humboldt kennengelernt hatte. Wie im Mittelteil nehmen auch in diesem Kapitel die Ausführungen zu Humboldt wesentlich mehr Raum ein als die Schilderungen zu Gauß’ Leben, wie umgekehrt wiederum der Humboldt entsprechende historische Zeitraum im wesentlichen auf ein Jahr verkürzt ist, der Gauß entsprechende jedoch nahezu vier Jahre (1829 bis 1833) umfasst.76 Das Schlusskapitel ist Eugen und dessen Abreise nach Amerika gewidmet, die historisch in das Jahr 1830 fällt. Diese ‚positivistischen‘ Vermessungen des Textes führen auf mehrfache asymmetrische Verhältnisbestimmungen: Zum einen auf das (bezogen auf den Textumfang und damit die Erzählzeit) eklatante quantitative Ungleichwicht, mit dem Kehlmann seine Helden behandelt (obwohl beiden dieselbe Kapitelzahl gewidmet ist, nehmen die Humboldtpartien gegenüber den Gaußpartien nahezu || den, gegen die Unterdrückung des Volks durch „Fürst, Franzose und Pfaffe“ gerichteten Rede des angeblichen Turnvaters Jahn (vgl. V 230–232) gewaltsam aufgelöst wird (vgl. S. 233). Eugen wird verhaftet, entgeht aber aufgrund der Einflussnahme Humboldts und Gauß’ einer härteren Strafe und wird ‚lediglich‘ des Landes verwiesen (vgl. V 296 u. Schlusskapitel). Motivisch schließt das Kapitel „Der Vater“ – der Titel ist doppelt codiert und verweist auf Vater Gauß ebenso wie auf Turnvater Jahn – an das Eingangskapitel „Die Reise“ an: Eugen liest eines seiner „Lieblingsbücher“, nämlich Jahns Deutsche Turnkunst (V 8), das Gauß, nachdem er kurz darin geblättert hatte, mit den Worten „Der Kerl sei von Sinnen“ (V 9) aus der Kutsche wirft. Der Ironie preisgegeben wird hier vor allem das preußische Restaurationsgebaren: Als Humboldt kurz nach Ankunft seiner Gäste ein gemeinsames Foto vor seinem Haus machen lässt, stößt unerwartet ein Polizist hinzu und beschuldigt die Anwesenden des Verstoßes gegen das Versammlungsverbot (vgl. V 16). Zu den politik- und sozialgeschichtlichen Hintergründen vgl. näherhin Pütz: Daniel Kehlmann. Die Vermessung der Welt, S. 76–82. 75 Folgende, wiederum auch historisch belegte Stationen von Humboldts RusslandExpedition finden im Roman Erwähnung: Reise über Königsberg, Tilsit nach Sankt Petersburg, von dort Weiterreise über Moskau, Nishni Nowgorod, Kasan und Perm nach Jekaterinenburg im Ural mit zahlreichen Exkursionen zu Bergbau- und Hüttenbetrieben; Weiterreise über Tobolsk bis zur chinesischen Grenze und schließlich nach Orenburg im Südural. Aufbruch von Orenburg (26.9.1829) und Weiterreise nach Astrachan, von dort Rückreise nach Moskau mit einem Dampfschiff; das Kapitel schließt mit Humboldts Rückreise über Sankt Petersburg und der Ankunft in Berlin (am 28.12.1829). 76 Die im Roman thematisierten wissenschaftlichen Tätigkeiten von Gauß entsprechen folgender historischer Chronologie: Untersuchungen zum „Prinzip des kleinsten Zwangs“; 1831 Berufung von Wilhelm Weber als Professor der Physik nach Göttingen; mit der engen Zusammenarbeit mit Weber beginnt auch Gauß’ physikalische Schaffensperiode. Im April 1833 Erfindung und Bau des ersten elektromagnetischen Telegraphen (Gauß und Weber installieren in Göttingen eine Drahtleitung zwischen Sternwarte und Physikalischem Kabinett).

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doppelt soviel Erzählraum ein), zum andern auf das damit kontrastierende ebenfalls quantitative Ungleichgewicht zwischen fiktionaler Erzählzeit und erzählter historischer Zeit (die Gaußpartien erstrecken sich über einen wesentlich längeren historischen Zeitraum als die Humboldtpartien). Auffällig ist schließlich eine dritte Asymmetrie: Während Kehlmann die Porträts von Humboldt und Gauß in enger Anlehnung an historische Quellen modelliert,77 lässt er mit der Figur Eugens ein überwiegend fiktives Porträt entstehen. Diese Befunde mögen zunächst auf erzählpragmatische Ursachen zurückzuführen sein: Wissenschaftliche Forschungsreisen, wie sie Humboldt in die Tropen Südamerikas und später nach Russland und Sibirien unternommen hat, bieten – banal formuliert – schlichtweg mehr „Stoff“ als das dazu vergleichsweise eintönige, topographisch vor allem auf Göttingen beschränkte Dasein eines Gauß;78 hinzu kommt, dass ersterer seine Erfahrungen und vielseitigen Untersuchungen in der freien Natur durchgeführt und seine Beobachtungen und Resultate in einem umfänglichen, auch für den Laien zugänglichen Werk festgehalten hat, während die wissenschaftlichen Leistungen von Gauß vor allem „im Kopf“ entstanden sind und in hoch spezialisierten Abhandlungen und Publikationen ihren Niederschlag gefunden haben. Auch die gesteigerte Fiktionalisierung Eugens hat zunächst einen pragmatischen Grund, nämlich die äußerst dürftige Quellenlage zum historischen Eugen Gauß.79 Entscheidend ist jedoch, dass diese erzählpragmatischen Gründe – die größere narrative Disponibilität, die Humboldts Leben gegenüber der Biographie von Carl Friedrich Gauß aufweist,

|| 77 In der Tat werden die Figuren, wie Doll pointiert herausstellt, „primär im Hinblick auf ihre Funktion in kultureller Erinnerung und Wahrnehmung betrachtet“ (Doll: Umgang mit Geschichte, S. 246; vgl. auch S. 282) und zu einem „funktionalisierten Symbol für das Vergangene aus der Perspektive der Gegenwart“ (ebd., S. 261) stilisiert. Indem sie in die ihnen „bestimmte Rezeption eingepasst“ (S. 273) werden, erleben sie gewissermaßen ihre „eigene Historisierung“ (S. 260), oder, wie im Falle Bonplands, ihre ‚Exilierung‘ aus der Geschichte (vgl. S. 266). Vgl. hierzu auch Schilling: Der historische Roman seit der Postmoderne, S. 240. 78 Vgl. auch Deupmann, der in Anlehnung an Hans Reichenbachs „Unterscheidung von Entdeckungs- und Begründungszusammenhang“ ersterem die größere Erzählaffinität beimisst (Deupmann: Poetik der Indiskretion, S. 245). Historischer Raum und historische Zeit stehen im Roman in einem kompensatorischen Verhältnis: Der im Wesentlichen auf Braunschweig und Göttingen begrenzte Raum des Gaußplots wird kompensiert durch den Gauß gewidmeten längeren historischen Zeitabschnitt; umgekehrt wird die gleichsam zur ‚Welt‘ ausgedehnte Polylokalität des Humboldtplots durch einen historisch kürzeren Zeitraum ausgeglichen. Vgl. ferner Kehlmann selbst: „Man kann vom Zählen nicht erzählen. Man kann nur erzählen von den Menschen, die es tun“ (Kehlmann/Kleinschmidt: Requiem für einen Hund, S. 40). 79 Zum historischen Eugen und seiner Fiktionalisierung im Roman vgl. Pütz: Daniel Kehlmann. Die Vermessung der Welt, S. 66–69.

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sowie, im Fall des Eugen Gauß, die fiktive Kompensation mangelnder historischer Kenntnisse – mit sowohl wissenschaftshistorischen und wissenschaftshistoriographischen als auch mit literarhistorischen und literarhistoriographischen Phänomenen korrelieren. Die quantitativen, auf der formal-strukturellen Textebene angesiedelten Asymmetrien spiegeln zwei grundlegend verschiedene Auffassungen und Ausgestaltungen von „Wissenschaft als Lebensform“, für die Alexander von Humboldt und Carl Friedrich Gauß paradigmatisch einstehen: Dem expandierenden Weltbezug Humboldts entspricht ein wissenschaftliches Selbstverständnis, wonach die Mannigfaltigkeit der Welt als Einheit eines lebendigen Zusammenhangs zu erfahren und zu fassen ist und nur in einer Wissenschaft und Ästhetik verbindenden enzyklopädischen Darstellung ihren adäquaten sprachlichen Ausdruck zu finden vermag. Dem gegenüber steht der theoretische Weltbezug von Gauß, dem sich die Vielfalt der Phänomene in mathematischen Zusammenhängen erschließt, die in minimalistischen Zeichenformationen – mathematischen Formeln, konzentrierten wissenschaftlichen Abhandlungen – ihre ideale Darstellung finden.80 Während Humboldt die Welt in ihren räumlichen und zeitlichen Dimensionen abschreitet, erkundet und bis zuletzt den Versuch unternimmt, seine „Ansichten der Natur“ in geeigneten mimetischen Abbildungs- und Repräsentationsmodi sprachlich zu reproduzieren, kommt nach Gauß der mathematischen Form der Welt eine ontologische Realität zu, demgegenüber die empirische Wirklichkeit sich als sekundär, als konstruktivistisches Produkt der ersteren erweist. Gemeinsam ist Humboldt und Gauß, dass sie, wie zu zeigen sein wird, Figuren des Übergangs sind von einer ganzheitlich-enzyklopädischen Betrachtung und (wissenschaftlichen) Erfahrung der Natur hin zu einer von aller konkreten Natur losgelösten, diese allererst produzierenden theoretischen Naturbetrachtung. Dass sich die im Roman erzählte Wissenschaftsbiographie von Gauß über einen längeren historischen Zeitraum erstreckt, und Gauß-Vater überdies in Eugen eine in die Zukunft hi-

|| 80 Das „Leitmotiv der Totalerfassung des Raumes“ erkennt Pütz auch als Strukturprinzip des Romans: „Inhalt und Form stehen […] in einer Wechselbeziehung und bilden eine ästhetische Einheit, indem die fiktionale Wirklichkeit einer obsessiv betriebenen Quantifizierung der Welt und die Konstruktion einer kumulativen und informationsreichen Wirklichkeitsdarstellung in der Fiktion miteinander korrelieren“ (Pütz: Daniel Kehlmann. Die Vermessung der Welt, S. 25). Indem Kehlmann damit, wie Deupmann schreibt, „[d]ie ‚große Erzählung‘ […] in episodische, komisch pointierte Geschichten“ auflöse, ziehe er „formal die Konsequenz aus einer Deligitimation des modern-universalistischen Wissensverständnisses, seiner Institutionen und Repräsentanten“ (Deupmann: Poetik der Indiskretion, S. 246 f.) –, zeichnet aber darüber hinaus ein weiteres Mal auch auf formaler Ebene das vom historischen Humboldt einbekannte Scheitern einer wissenschaftsästhetischen Enzyklopädisierung der Welt nach.

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nein weisende ‚Linienverlängerung‘ erfährt, indiziert, dass sich die von ihm vertretene Wissenschaftskonzeption letztlich durchsetzen und radikalisieren wird. Indem die als quantitative Asymmetrien beschriebenen formalen Kompositionselemente die mimetische Funktion übernehmen, zwei konträre Wissenschaftsauffassungen abzubilden, nehmen sie den Status historiographischer Zeichen an. Gauß und Humboldt markieren jedoch nicht nur in einem wissenschaftshistorischen, sondern auch in einem literarhistorischen Sinne Figuren des Übergangs: Während Humboldt noch einmal die Synthese von Wissenschaft und Kunst wagt, sich in ihm zugleich aber die Krise dieser Synthese andeutet, indiziert die Figur Gauß die bereits vollzogene Trennung beider Bereiche: Wissenschaftliches Arbeiten und entspannt-genießende Lektüre erfolgen bei dem philologisch und mathematisch gleichermaßen hochbegabten Gauß völlig separat; wenn darüber hinaus der weitgehend als Gegenpol zu seinem Vater charakterisierte Eugen81 im Roman als Vertreter der Dichtkunst auftritt, wird die Spaltung von Wissenschaft und Kunst gleichsam auch als familiäre Trennung angezeigt und im konfliktuösen Verhältnis der beiden verschärft und schließlich in einem radikalen Bruch irreversibel vollzogen. Ins Literarhistorische übersetzt kann sowohl der historische als auch der fiktive Humboldt als Repräsentant eines in der Romantik verwurzelten Programms der Versöhnung von Wissenschaft und Ästhetik gelten, während Gauß-Vater und -Sohn metaphorische Stilisierungen der Trennung jener ‚poetica scientiae‘ in ‚zwei Kulturen‘ und einer in die Krise geratenen Literatur sind. Abschließend gilt es ein weiteres, im Roman ebenfalls asymmetrisch gestaltetes Verhältnis anzusprechen: das Verhältnis von Wissenschaftsgeschichte und allgemein-politischer Geschichte. Mit der Figur Eugen Gauß wird dem szientifischen Bereich nicht nur die Sphäre der Dichtung entgegengesetzt, sondern ebenso der Wissenschaftsgeschichte die Sphäre der politischen Geschichte. Die von Humboldt und Gauß praktizierte wissenschaftliche Lebensform und die ihnen aufgrund ihrer genialen Leistungen zugewiesene wissenschaftshistorische Heldenposition ist einer weitgehend apolitischen Haltung geschuldet, die sich als Abwesenheit von (Humboldt) oder Ignoranz (Gauß) gegenüber den politisch aktuellen Zeitgeschehnissen manifestiert. Der realhistorisch völlig unbedeutende Eugen wird im Roman zu einer Art Reflektorfigur fiktionalisiert,

|| 81 Pointiert sieht u. a. Schilling in Eugen und Bonpland eine „Doppelung des ProtagonistenPaares“, die zu einer „Steigerung der ironischen Komponente“ führe. Beide Figuren fungierten, so Schilling im Rekurs auf Stephanie Catani, als „‚Korrektiv und Kontrastfolie‘“ (Schilling: Der historische Roman seit der Postmoderne, S. 243).

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über welche die politische Historie in die vermeintlich in einem quasiahistorischen Raum sich ereignende Wissenschaftsgeschichte hereinbricht. Die polare Figurenkonstellation mit Humboldt und Gauß auf der einen, Eugen auf der anderen Seite führt folglich auf ein wissenschaftstheoretisches Problem, dessen Gegenstand eben jenes Verhältnis von Wissenschaftsgeschichte und allgemein-politischer Zeitgeschichte ist. Der (wissenschafts-)historiographisch weitgehend ausgegrenzte, an den Rand der väterlichen Lebensgeschichte gedrängte Eugen Gauß wird – stilisiert zum Träger der wissenschaftshistoriographisch ausgegrenzten Dichtung und politischen Historie – zum heimlichen Gravitationszentrum des Romans. Der Konflikt zwischen Gauß-Vater und Eugen allegorisiert damit sowohl den Konflikt zwischen Wissenschaftsgeschichte und politischer Geschichte, zum anderen den Konflikt zwischen Wissenschaft und Literatur. In seiner allegorischen Funktion verkörpert Eugen, der für seinen Vater stets nur einen Stör- und Hemmungsfaktor darstellt, die permanente Bedrohung einer teleologisch begriffenen Wissenschaft durch die Kontingenz der Geschichte und zugleich die Ordnung, Reinheit und Objektivität der Mathematik durch die Unbestimmtheit, Ambiguität und Subjektivität der Dichtung. Als personalisierte Figuration von Dichtung und politischer Historie ist Eugen zugleich eine weitere Manifestation des Hiatus von Fiktion und Historie; als ein seinerseits weitgehend fiktiver Charakter – er ist Dichter und zugleich erdichtete Figur – ist er darüber hinaus metafiktional funktionalisiert: Die Dichtung, so die durch ihn kommunizierte poetologische Botschaft, vermag irritierend und damit auch korrigierend in ein personalistisch monumentalisiertes Wissenschaftsgeschichtsbild einzugreifen. Nicht zuletzt deutet sich mit Eugens Ausreise nach Amerika am Ende des Romans eine utopische Perspektive an,82 die narrativ jedoch nicht ausgestaltet wird, sondern Leerstelle bleibt. Diese impliziert einen doppelten Zeitbezug: Als Linienverlängerung der Roman-Gegenwart generiert sie die Utopie einer neuen, noch unvermessenen Welt, aus der Retrospektive der Gegenwart von Autor und Leser erscheint eben diese Utopie als eine bereits gescheiterte. Ehe die bisher skizzierten Aspekte im Folgenden eingehender untersucht und das wechselvolle Spannungsverhältnis zwischen Fiktion und Wissenschaftsgeschichte näher bestimmt werden, gilt es die historischen Profile von Gauß und Humboldt schärfer zu konturieren.83

|| 82 Die utopische Dimension der neuen Welt wird dadurch verstärkt, dass „Amerika“ das buchstäblich letzte Wort des Romans ist (vgl. V 302). 83 Ein Kurzportrait zu Leben und Werk von Gauß und Humboldt zeichnen die Beiträge von Hubert Mania: „Carl Friedrich Gauß – eine Annäherung“ und Manfred Geier: „Alexander von

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3.2 ‚Wissenschaft als Lebensform‘ – Zwei historische Skizzen 3.2.1 Enzyklopädisches Weltgemälde: Die poetica scientiae Alexander von Humboldts Im Oktober 1834 schreibt Alexander von Humboldt an Carl August Varnhagen von Ense: Ich habe den tollen Plan, die ganze materielle Welt, alles, was wir heute von den Erscheinungen der Himmelsräume und des Erdenlebens, von den Nebelsternen bis zur Geographie der Moose auf den Granitfelsen wissen, alles in Einem Werk darzustellen, und in einem Werke, das zugleich in lebendiger Sprache anregt und das Gemüth ergötzt.84

Bereits 15 Jahre zuvor, also noch während seines Frankreichaufenthalts, als „Essai sur la Physique du Monde“ begonnen,85 wird Humboldts fünfbändiges Werk schließlich unvollendet unter dem Titel „Kosmos. Entwurf einer physischen Weltbeschreibung“ zwischen 1845 und 1862 erscheinen. Die Bezeichnung „Kosmos“ ist in mehrfacher Hinsicht von Vorteil: sie „sagt mit einem Schlagworte Himmel und Erde“86, bringt also den darzustellenden Gegenstand des Weltganzen zum Ausdruck; zugleich ist sie programmatischer Inbegriff sowohl der Darstellungsweise als auch des Darstellungszwecks, namentlich jener idealen „Verbindung eines litterarischen und eines rein scientifischen Zweckes“87, wie ihn Humboldt schon in den „Ansichten der Natur“ formuliert hatte. Das Kongruenzverhältnis von Gegenstand, Modus und Zweck der Darstellung und das diesem Kongruenzverhältnis implizite, ebenso produktive wie konflikt-

|| Humboldt – eine biographische Skizze“, in: Nickel: Daniel Kehlmanns „Die Vermessung der Welt“, S. 47–61 u. 62–77. 84 Brief vom 27. Oktober 1834, in: Briefe von Alexander von Humboldt an Varnhagen von Ense aus den Jahren 1827 bis 1858, Leipzig 1860, S. 20–23, hier S. 20. 85 Vgl. ebd., S. 22. 86 Ebd. Eine ausführliche Anmerkung zu den wortgeschichtlichen Zusammenhängen des Kosmos-Begriffs seit der Antike findet sich im Kapitel „Begrenzung und wissenschaftliche Behandlung einer physischen Weltbeschreibung“ des ersten Kosmosbands (vgl. Alexander von Humboldt: Kosmos. Entwurf einer physischen Weltbeschreibung, 5 Bde., Stuttgart, Augsburg 1845–1862, Bd. I, S. 76–78). Zur Affinität zwischen der antiken und der Humboldt’schen Kosmos-Idee vgl. auch Hartmut Böhme: Ästhetische Wissenschaft. Aporien der Forschung im Werk Alexander von Humboldts, in: Alexander von Humboldt – Aufbruch in die Moderne, hrsg. v. Ottmar Ette, Ute Hermanns u.a., Berlin 2001, S. 17–29, bes. S. 17–19. 87 Alexander von Humboldt: Vorrede zur zweiten und dritten Ausgabe [1849], in: Ansichten der Natur, mit wissenschaftlichen Erläuterungen [1807], 2 Bde., Stuttgart, Augsburg 1860, S. VII–X, hier S. VII.

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trächtige Potential soll im Folgenden eine chronologische Lektüre der Vorworte zu den „Ansichten“ und zum „Kosmos“ verdeutlichen.88 Die „ästhetische Behandlung naturhistorischer Gegenstände“89, so Humboldt in seiner Vorrede zur ersten Auflage der „Ansichten der Natur“ (1807), ist aus zwei Gründen notwendig: Zum einen dient sie einem kompositorischnarrativen Zweck, indem dadurch die einzelnen, an Ort und Stelle niedergeschriebenen Fragmente „in ein Ganzes zusammengeschmolzen“ werden, um auf diese Weise einen „Überblick der Natur im großen, Beweis von dem Zusammenwirken der Kräfte“ zu geben; zum anderen ist sie der rhetorischen Maßgabe unterstellt, den „Genuss, welchen die unmittelbare Ansicht der Tropenländer dem fühlenden Menschen gewährt“ zu erneuern und letztlich auch auf den „ewigen Einfluß“ (AE VI) hinzuweisen, „welchen die physische Natur auf die moralische Stimmung der Menschheit und auf ihre Schicksale ausübt“. Die „ästhetische Behandlung“ (AE V) ist dabei ein Verfahren, das der schön handelnden, weil ordnungsstiftenden Natur selbst abgeschaut ist; nur in der Nachahmung dieses schöpferischen Verfahrens kann die unmittelbare Anschauung des Naturzusammenhangs und der Wirkungen auf das betrachtend-erlebende Subjekt sprachlich wiederholt und solcherart vermittelt dem Leser die Möglichkeit eröffnet werden, am Genuss und an der Einsicht in das Naturganze zu partizipieren. Die Übersetzung der natura naturans – ihres poietischen Verfahrens und des dadurch gestifteten „inneren Zusammenhangs der Naturkräfte“ (AE VI) – einerseits und die Übersetzung der in der unmittelbaren Erfahrung und Anschauung der Natur ausgelösten Wirkungen auf das Subjekt in eine narrative Ordnung andererseits, stellt den Verfasser jedoch „trotz der herrlichen Kraft und der Biegsamkeit unserer vaterländischen Sprache“ (AE V) vor „große Schwierigkeiten der Composition“. So veranlasse der „Reichthum der Natur“ zur „Anhäufung einzelner Bilder“, was wiederum „die Ruhe und den Totaleindruck des Gemäldes“ störe. „Das Gefühl und die Phantasie ansprechend, artet der Styl leicht in eine dichterische Prosa aus“ (AE V f.). Das hier angesprochene Problem ist mehrschichtig: Seitens der Natur gilt es ihren sichtbaren „Reichthum“ mit

|| 88 Nachstehende Ausführungen beschränkten sich weitgehend auf die Paratexte. Zu einer umfassenden Darstellung von Humboldt als Schriftsteller und Autor vgl. die Bettina Hey’l: Das Ganze der Natur und die Differenzierung des Wissens. Alexander von Humboldt als Schriftsteller, Berlin 2007. 89 Alexander von Humboldt: Vorrede zur ersten Ausgabe [1826], in: Ansichten der Natur, mit wissenschaftlichen Erläuterungen, S. V–VI, hier S. V, im Folgenden unter der Sigle AE zitiert. Zu Humboldts „inter- und transmedialer Darstellungsform“ vgl. insbes. die wissensgeschichtlich angelegte Studie von Michael Bies: Im Grunde ein Bild. Die Darstellung der Naturforschung bei Kant, Goethe und Alexander von Humboldt, Göttingen 2012 (Zitat S. 294).

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jenen unsichtbaren Kräften,90 die den Zusammenhang der Natur gewährleisten, in Übereinstimmung zu bringen, seitens des sinnlich wahrnehmenden und fühlenden Subjekts die Vielfalt der Sinneseindrücke mit dem dabei erlebten Totaleindruck. Die eigentliche Kluft, die es in der „ästhetischen Behandlung“ zu überbrücken gilt, besteht nicht zwischen den beiden Subjekten ‚Natur‘ und naturerlebendem ‚Ich‘, sondern zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem, Außen und Innen. Die realistische Abbildung der parataktischen äußeren Vielfalt und Dynamik der Natur und der diesen korrespondierenden sinnlichen Eindrücke, kontrastiert mit dem „inneren Zusammenhang der Naturkräfte“, der wiederum der Ruhe und dem „Totaleindruck des Gemäldes“ entspricht. Akzentuiert die Darstellung das ‚Außen‘, so ist das Resultat eine „Anhäufung einzelner Bilder“, ein enzyklopädisches Nebeneinander; akzentuiert sie hingegen das Gefühl und die Phantasie, ist das Ergebnis lediglich „dichterische Prosa“. Die adäquate Darstellung, so lässt sich folgern, muss die Vielfalt des sichtbaren Außen mit der Einheit des unsichtbaren Innen vermitteln – ins Narratologische übersetzt: den Plot mit dem Diskurs. Dass ihm dies nicht immer gelingt, räumt Humboldt explizit ein: „Diese Ideen bedürfen hier keiner Entwickelung, da die nachstehenden Blätter mannigfaltige Beispiele solcher Verirrungen, solchen Mangels an Haltung darbieten“ (AE VI). Die „ästhetische Behandlung“ wird damit ausdrücklich an eine ethische Haltung rückgebunden: der Korrespondenz und Kongruenz von Natur und naturerlebendem Subjekt in der sprachlichen Darstellung gerecht werden, der kosmischen Ordnung, Stimmigkeit und Schönheit ihren adäquaten sprachlichen Ausdruck zu verleihen, ist ethisches Tun, das aptum zu verfehlen bedeutet „Verirrungen“, „Fehler“ (AE VI), Scheitern.91 1844, fünf Jahre vor der dritten Auflage der „Ansichten der Natur“, erscheint der erste Band des „Kosmos“; in seiner Vorrede greift Humboldt die

|| 90 Vgl. den instruktiven Beitrag von Anette Mook, die den naturwissenschaftlichen und philosophischen Einflüssen auf die noch jungen Humboldt-Brüder nachgeht und darlegt, dass der „fehlende wissenschaftliche Nachweis einer Lebenskraft, welche die Natur als holistisches Ganzes gewährleistet, […] eine zunehmende Kluft zwischen Naturalismus und Historismus [bedeutete]“, eine Kluft, die es Alexander von Humboldt nicht mehr „ohne vorsichtige Spekulationen zu überwinden“ gelang (Anette Mook: Die Brüder Humboldt und die naturwissenschaftlichen Grundlagen ihrer Anthropologie, in: ‚Natur‘, Naturrecht und Geschichte: Aspekte eines fundamentalen Begründungsdiskurses der Neuzeit [1600–1900], hrsg. v. Simone De Angelis u.a., Heidelberg 2010, S. 185–208, hier S. 199). 91 Dieser Intention entspricht es auch, wenn Humboldt abschließend auf den Zusammenhang zwischen dem „ewigen Einfluß“ der physischen Natur und der „moralischen Stimmung der Menschheit“ hinweist und seine Ansichten „vorzugsweise“ den „bedrängten Gemüthern“ (AE VI) widmet. Als Wissenschaftsprosa wollen sie zugleich Erbauungsliteratur sein.

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dominanten Themen der ersten Vorrede zu den „Ansichten“ wieder auf, differenziert jedoch das dort Ausgeführte und nimmt einige symptomatische Akzentverschiebungen vor. Er habe sich mit verschiedenen einzelnen Disziplinen beschäftigt, doch der eigentliche Zweck des Erlernens [war] ein höherer. Was mir den Hauptantrieb gewährte, war das Bestreben die Erscheinungen der körperlichen Dinge in ihrem allgemeinen Zusammenhange, die Natur als ein durch innere Kräfte bewegtes und belebtes Ganzes aufzufassen. 92

Gegenüber der Vorrede von 1807, in der „Überblick über die Natur im großen, Beweis von dem Zusammenwirken der Kräfte, Erneuerung des Genusses, welchen die unmittelbare Ansicht der Tropenländer dem fühlenden Menschen gewährt“ als gleichrangige „Zwecke, nach denen ich strebe“ (AE V) aufgelistet werden, rückt hier das Studium der Natur in den Vordergrund. Mit dieser Neuperspektivierung verschieben sich sämtliche mit der Darstellung verbundenen Aspekte: War das anschauende und erlebende Subjekt in der Vorrede zu den „Ansichten“ über den Aspekt des Genießens in den Zusammenhang der Natur und damit in die „ästhetische Behandlung“ einbezogen, so richtet sich Humboldts Bestreben im vorliegenden Werk darauf, die „Kenntniß der siderischen und tellurischen Erscheinungen des Kosmos in ihrem empirischen Zusammenhange abzuhandeln“ (KV VIII). Die Natur – einerseits ins Kosmische erweitert, andererseits um das anschauende und genießende Subjekt beschnitten – gibt auch hier das Vorbild der Darstellung. Das „allgemeine Naturgemälde“ spiegelt die kosmische Ordnung: Indem es von den fernsten Nebelflecken und kreisenden Doppelsternen des Weltraums zu den tellurischen Erscheinungen der Geographie der Organismen (Pflanzen, Thiere und Menschenracen) herabsteigt, enthält es schon das, was ich als das Wichtigste und Wesentlichste meines ganzen Unternehmens betrachte: die innere Verkettung des Allgemeinen und des Besonderen, den Geist der Behandlung in Auswahl der Erfahrungssätze, in Form und Styl der Composition. (KV XII)

Das menschliche Subjekt ist nun nicht mehr Teil des dargestellten Gegenstandes, sondern reduziert auf den darstellenden, „ordnenden Geist“, der die „reiche Fülle des Materials [beherrschen soll]“ (KV VIII), die Vielzahl der Einzelkenntnisse („Erfahrungssätze“) selektiert und kompositorisch mit dem „Allgemeinen“ verkettet. Wenn Humboldt in der Kosmos-Vorrede anmerkt, dass

|| 92 Humboldt: Vorrede, in: Kosmos, Bd. I, S. V–XVI, hier S. VI, im Folgenden zitiert unter Sigle KV).

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seine Schrift „Ansichten der Natur“ „einzelne Theile des Erdenlebens […] unter generellen Beziehungen“ behandelte und sie „mehr durch das gewirkt“ habe, „was sie in empfänglichen, mit Phantasie begabten jungen Gemüthern erweckt hat, als durch das, was sie geben konnte“ (KV IX), so ist dies vor allem als eine Kritik am Darstellungsmodus zu lesen. Beide Projekte sind nach der Maßgabe verfasst zu zeigen, „daß eine gewisse Gründlichkeit in der Behandlung der einzelnen Thatsachen nicht unbedingt Farbenlosigkeit in der Darstellung erheischt“(ebd.), einer Maßgabe, der Humboldt nach eigener Einschätzung in den „Ansichten“ nicht gerecht wurde. Die einseitige Darstellung der „generellen Beziehungen“ und damit die Vernachlässigung der faktischen „Kenntniß des Einzelnen“ hatte,93 so Humboldts späte Diagnose, die einseitige Beschäftigung der Leserphantasie zur Folge; damit gehört das Werk, um eine Formulierung aus der ersten Vorrede zu den „Ansichten“ aufzugreifen, in die Kategorie „dichterische Prosa“ (AE VI). Symptomatisch sind die von Humboldt vorgenommenen Akzentverschiebungen deshalb, weil sich in ihnen eine, wie noch zu zeigen sein wird, nicht ganz freiwillige Tendenz der fortschreitenden Szientifizierung der Naturbetrachtung und Naturdarstellung ausdrückt. Im Zuge dieses Szientifizierungsprozesses wird, wie bereits angedeutet, das Subjekt (konkreter: die Subjektivität des Subjekts) aus dem Naturzusammenhang ‚herausgenommen‘; darin zeichnet sich nicht nur eine Subjekt-Objekt-Spaltung ab, sondern ebenso eine Spaltung des Subjekts selbst: es wird als ein ‚wissenschaftliches‘ Subjekt etabliert, das sich darüber hinaus selbst – gleichsam in seiner allgemeinen Form als „Menschenrace“ (KV XII) – zu einem der vielen Gegenstände wissenschaftlicher Beobachtung macht.94 Diese ‚Auslagerung‘ des Subjekts geht einher mit der Re-

|| 93 An anderer Stelle der Kosmos-Vorrede und nicht bezogen auf die Ansichten der Natur sagt Humboldt in aller Deutlichkeit, dass ohne „Kenntniß des Einzelnen alle große und allgemeine Weltanschauung nur ein Luftgebilde sein könne“ (KV VI). 94 Diese unterschiedlichen Funktionalisierungen des eigenen Subjekts verdienten eine gründlichere Untersuchung. Wie nämlich Müller-Tamm am Beispiel von Humboldts Versuchen über die gereizte Muskel- und Nervenfaser (1797) ausführt, verschränken sich in Humboldts „Selbstversuchen“ – insbes. seinen „Experimenten am eigenen Körper“ – „naturwissenschaftliche Wissensproduktion und autobiographisches Schreiben“ (Jutta Müller-Tamm: Der Autor im Selbstversuch. Wissenschaft und Autobiographik um 1800, in: Heikle Balancen. Die Weimarer Klassik im Prozess der Moderne, hrsg. v. Thorsten Valk, Göttingen 2014, S. 269–285, hier S. 272 u. 270). Interessanterweise charakterisiert Humboldt selbst das von ihm praktizierte Darstellungsverfahren als „‚aphoristisch‘“ (Humboldt, hier zit. n. Müller-Tamm, ebd., S. 272); die „verstärkte Bezugnahme auf das forschende Subjekt“ ist folglich bereits in dieser ebenfalls sehr frühen Abhandlung der in den „Ansichten“ postulierten Darstellungsform und der mit dieser verbundenen Zwecke diametral entgegengesetzt. Für das ‚genießende‘ wie für das ‚for-

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duktion der ästhetischen Darstellung auf den Aufweis der kosmischen Ordnung. Es ist bezeichnend für den gleichermaßen apologetischen wie krisenhaften Charakter dieser Kosmos-Vorrede, dass das ‚Subjektive‘ in der Gestalt des ‚Genusses‘ und der ‚Phantasie‘ in ihr keine Rolle mehr spielt; diese erfahren ihrerseits eine diskriminierende „Auslagerung“ – ineins damit aber auch eine erhebliche Ausdifferenzierung und Aufwertung – in eigene Kapitel.95 Exkurs In den „Einleitenden Betrachtungen über die Verschiedenheit des Naturgenusses und eine wissenschaftliche Ergründung der Weltgesetze“, die sich unmittelbar an die Vorrede zum ersten „Kosmos“-Band anschließen und auf der Grundlage der im Dezember 1827 gehaltenen Eröffnungsrede einer Vorlesungsreihe an der Berliner Singakademie entstanden sind, unterscheidet Humboldt „zwei Arten des Genusses“, die sich in den „beiden Epochen der Weltansicht, dem ersten Erwachen des Bewußtseins der Völker und dem endlichen, gleichzeitigen Anbau aller Zweige der Cultur“96 spiegeln: Den einen [Genuss] erregt, in dem offenen kindlichen Sinne des Menschen, der Eintritt in die freie Natur und das dunkle Gefühl des Einklangs, welcher in dem ewigen Wechsel ihres stillen Treibens herrscht. Der andere Genuß gehört der vollendeteren Bildung des

|| schende‘ Subjekt kann jedoch veranschlagt werden, dass die in den Darstellungen jeweils generierte „Nähe [zum] Autobiographischen“ (S. 272) auch als „Bestandteil einer Bildungsgeschichte“ (S. 273) zu verstehen ist – dies nicht nur für das schreibende Subjekt, sondern auch für den Leser. 95 Die „Einleitende[n] Betrachtungen über die Verschiedenartigkeit des Naturgenusses und eine wissenschaftliche Ergründung der Weltgesetze. (Vorgetragen am Tage der Eröffnung der Vorlesungen in der großen Halle der Singakademie zu Berlin – Mehrere Einschaltungen gehören einer späteren Zeit an.)“, bilden das erste Kapitel des „Kosmos“. Ausdrücklich weist Humboldt in der Vorrede darauf hin, dass es sich hierbei um den einzigen Teil handelt, den er in der „Form einer Rede gelassen“ (KV X f.) hätte, während alle anderen Teile, wiewohl die darin behandelten Themen ebenfalls Gegenstand der bereits vom 3.11.1827 bis 26.4.1828 in Paris und Berlin gehaltenen Vorträge waren, von ihm „in den Jahren 1843 und 1844 zum ersten Male niedergeschrieben“ worden seien (KV X). An anderer Stelle der Vorrede nennt Humboldt ferner den Grund für die im wissenschaftlichen Apparat gelegentlich angestellten „historisierenden Betrachtungen“: „Wenn ich bisweilen des classischen Alterthums und der glücklichen Übergangs-Periode des durch große geographische Entdeckungen wichtig gewordenen fünfzehnten und sechzehnten Jahrhunderts erwähnt habe, so ist es nur geschehen, weil in dem Bereich allgemeiner Ansichten der Natur es dem Menschen ein Bedürfniß ist sich von Zeit zu Zeit dem Kreise streng dogmatisirender moderner Meinungen zu entziehen und sich in das freie, phantasiereiche Gebiet älterer Ahndungen zu versenken“ (KV XIV). 96 Alexander von Humboldt: Einleitende Betrachtungen über die Verschiedenheit des Naturgenusses und eine wissenschaftliche Ergründung der Weltgesetze, in: Kosmos, Bd. I, S. 3–48, hier S. 4-5, im Folgenden zitiert unter der Sigle B.

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Geschlechts und dem Reflex dieser Bildung auf das Individuum an: er entspringt aus der Einsicht in die Ordnung des Weltalls und in das Zusammenwirken der physischen Kräfte. (B 5) Zwar sind Humboldts Ausführungen durchsetzt von einer Topik, die für menschheits- oder naturgeschichtliche Betrachtungen seiner Zeit charakteristisch ist, doch besteht das Spezifische seiner Darstellung darin, dass er die menschliche – phylo- wie ontogenetische – Bildungs- und Fortschrittsgeschichte am Paradigma des Naturgenusses entwickelt: der Naturgenuss wird zu einem Indikator, an dem der jeweilige Stand von Bildung, Wissenschaft und Fortschritt abgelesen werden kann.97 Die graduelle Entwicklung des Genusses nimmt dabei ihren Ausgang bei einem bloß sinnlichen Genuss, den wir beim „freien Eintritt“ in die Natur empfinden und der „völlig unabhängig von der Einsicht in das Wirken der Kräfte ist“ (B 6), schreitet sodann fort zu einem Genuss, der, „ebenfalls nur das Gefühl ansprechend“, sich dem „individuellen Charakter einer Gegend, gleichsam der physiognomischen Gestaltung der Oberfläche unseres Planeten“ (B 7) verdankt und bereits an einen „bestimmten Kreis von Ideen und Gefühlen“ (B 7) gebunden ist, und steigert sich schließlich zum „veredelten Genuß“ (B 18), eben jenem „Naturgenuß der aus Ideen entspringt: da, wo das Ordnungsmäßige, Gesetzliche nicht bloß geahndet, sondern vernunftmäßig erkannt wird“ (B 15 f.).98 Für den vorliegenden Zusammenhang ist entscheidend, dass der Naturgenuss, sofern er Wirkung einer naivinstinktiven Sinnlichkeit ist, dem Historischen zugeordnet – gleichsam ins Historische ausgelagert – wird, nämlich in die frühen Entwicklungsphasen der Menschheit bzw. des Kindes; sofern er jedoch Wirkung der vernunftmäßig-wissenschaftlichen Einsicht in die Kausalzusammenhänge der Natur ist, bleibt er notwendiger Bestandteil der gegenwärtigen „wissenschaftlichen Cultur“ (B 15). Die beiden genannten Ursprungsorte des Genusses, der Kausalzusam-

|| 97 Der Geschichte des Naturgenusses wird gleichsam als Teil einer Wissens- und Wissenschaftsgeschichte ausgewiesen. 98 Den verschiedenen Arten des Genusses sind jeweils unterschiedliche menschliche Seelenund Erkenntnisvermögen, Betrachtungsweisen der Natur, Natur- und Landschaftstypen und schließlich Wissens- und Wissenschaftsstufen zugeordnet. Die Analyse ergibt eine dreigliedrige hierarchische, gleichwohl organisch verknüpfte Systematik; stichpunktartig lassen sich die drei Ebenen durch folgende Reihen charakterisieren: 1. ‚naiver‘ Genuß – „dumpfes Ahnden“ bzw. „instinktive Empfänglichkeit“ (B 16) – „Eindruck ewig wiederkehrender Gebilde“ – klassisch-harmonische Ideallandschaft – „fast bewusstloses Gefühl höherer Ordnung und innerer Gesetzmäßigkeit der Natur“. – 2. ‚angereicherter‘ Genuß – Sinnlichkeit und Phantasie – Eindruck der „physiognomisch differenzierten“ (B 7) und individualisierten Natur – romantischerhabene Natur – „dunkle Gefühle und die Verkettung sinnlicher Anschauungen“ leiten zur Erkenntnis, „dass ein gemeinsames, gesetzliches und darum ewiges Band die ganze lebendige Natur umschlinge“ (B 9)/durch das „freie Spiel“ der Phantasie bewirkte täuschende Ineinsspiegelung von Innen- und Außenwelt (vgl. B 8). – 3. „veredelter Genuß“ (B 18) – Vernunft/„zergliederndes und ordnendes Denkvermögen“ (B 17) – Zerlegung und Sonderung „bestimmter Naturgestalten und wirkender Kräfte“ nach dem „Causalzusammenhang“ – die Natur Asiens und der Tropen – „vernunftmäßige“ (B 16) Erkenntnis der Ordnungs- und Kausalzusammenhänge/„wissenschaftliche Physik“ (B 17); aber auch „aus roher und unvollständiger Empirie entsprungen[es]“ dogmatisches Wissen (B 17).

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menhang, in dem sie jeweils stehen, wird hier nicht nur zum entscheidenden Kriterium für seine Legitimität bzw. Nicht-Legitimität, sondern darüber hinaus wird mit ihnen jene Kluft indiziert, die Ästhetik und Wissenschaft zunehmend voneinander trennt und in eine hierarchische Ordnung zwingt. Der eigentliche Kunstgriff dieser von Humboldt unternommenen ‚szientifischen Ehrenrettung‘ des Genusses ist darin zu sehen, dass sie sein Programm der „Verbindung eines litterarischen und rein scientifischen Zwecks“ erneut legitimiert: Die Neubegründung des Naturgenusses aus dem Geiste der Wissenschaft – der Genuss nunmehr aufgefasst als Rückwirkung wissenschaftlicher Erkenntnisse auf Gefühl und Sinnlichkeit –, der solcherart szientifisch „veredelte Genuß“ indiziert die Spaltung von Ästhetik und Wissenschaft, soll aber zugleich deren Versöhnung ermöglichen. Die Tatsache, dass Humboldt im weiteren Verlauf an Argumentationsmuster früherer Schriften anschließt, diese zum Teil fast wörtlich wiederholt, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass der veränderte Kontext, in dem sie jetzt stehen, auch ihren gesamten semantischen Gehalt verschiebt. So etwa, wenn er erneut das Vorurteil zu entkräften versucht, wonach „bei jedem Forschen in das innere Wesen der Kräfte, die Natur von ihrem Zauber, von dem Reize des Geheimnisvollen und Erhabenen verliere“ (B 19) und „wissenschaftliche Erkenntniß das Gefühl erkälten, die schaffende Bildkraft der Phantasie ertödten und so den Naturgenuß stören“ (B 21) würde. Wie bereits in der ersten Vorrede zu den „Ansichten“ (AE V) bekräftigt Humboldt seine Behauptung, dass der „Genuß der Natur durch tiefere Einsichten in ihr inneres Wesen“ (B 18) im Gegenteil nur vermehrt würde, zumal mit „wachsender Einsicht das Gefühl der Unermesslichkeit des Naturlebens“ (B 22) zunimmt und jedes „Naturgesetz, das sich dem Betrachter offenbart, […] auf ein höheres, noch unbekanntes schließen [lässt]“ (B 21 f.). Dabei erinnert Humboldt selbst an die zuvor etablierte Differenz zwischen einfacher und wissenschaftlicher Naturbetrachtung, zwischen naivem und „veredeltem Naturgenuß“, wenn er den naiven Betrachter des Sternenhimmels mit dem professionell geschulten Blick eines Astronom vergleicht: das von dem einen empfundene „Gefühl des Erhabnen“ ist der Empfindung des anderen zwar „verwandt“, aber mit dieser nicht identisch; vielmehr wird ein qualitativer Unterschied der beiden Gefühle des Erhabenen festgesetzt und erneut mit der je verschiedenen ‚genetischen‘ Herkunft dieses Gefühls begründet: Das Gefühl des Erhabnen, in so fern es aus der einfachen Naturanschauung [i. e. gemeinen Sinnlichkeit] der Ausdehnung [des Himmelsgewölbes] zu entspringen scheint, ist der feierlichen Stimmung des Gemüths verwandt, welche dem Ausdruck des Unendlichen und Freien in den Sphären ideeller Subjectivität, in dem Bereich des Geistigen angehört. (B 20) Ein letzter Aspekt sei zum Beleg dafür angeführt, dass Humboldt einerseits zwar gegen die Auflösung des organischen Naturzusammenhangs und damit eng verbunden, gegen die Auflösung der Einheit von Ästhetik und Wissenschaft wie auch der Einheit der Wissenschaften selbst anschreibt, andererseits und zugleich jedoch diese Prozesse der Trennung, Pluralisierung und Partikularisierung mit vollzieht. In den „Einleitenden Betrachtungen“ stellt sich erneut das Problem der Darstellung. Bereits zu Beginn äußert Humboldt eine „zwiefache Besorgniß“: Einestheils ist der Gegenstand, den ich zu behandeln habe, so unermeßlich und die mir vorgeschriebene Zeit so beschränkt, daß ich fürchten muß in eine encyclopädische Oberflächlichkeit zu verfallen oder, nach Allgemeinheit strebend, durch aphoristische Kürze zu

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ermüden. Anderentheils hat eine vielbewegte Lebensweise mich wenig an öffentliche Vorträge gewöhnt; und in der Befangenheit meines Gemüths wird es mir nicht immer gelingen, mich mit der Bestimmtheit und Klarheit auszudrücken, welche die Größe und die Mannigfaltigkeit des Gegenstandes erheischen. (B 3 f.) Im Zentrum des hier angesprochenen Darstellungsproblems steht, wie in der sehr viel später verfassten Vorrede zum „Kosmos“ (vgl. die vorausgehenden Ausführungen), wiederum die Frage nach der adäquaten Vermittlung von Allgemeinem und Besonderem. Damit verbunden ist zum einen die Gefahr, einer „einseitigen Behandlung der physikalischen Wissenschaften“ zu erliegen und durch „endloses Anhäufen roher Materialen“ (B 21) in „encyclopädische Oberflächlichkeit zu verfallen“, ohne die Zusammenhänge zu verdeutlichen (B 3), zum anderen die Gefahr, die Pluralität der Naturkenntnisse zu vernachlässigen und durch die Beschreibung der nur allgemeinen Zusammenhänge an wissenschaftlicher Exaktheit einzubüßen, letztlich also wieder in „dichterische Prosa“ auszuarten. Wenn Humboldt nach einer Phase des „endlosen Anhäufens roher Materialen“ nun eine mit „höherer Intelligenz“ ausgestattete „Geistesrichtung“ heraufziehen sieht, „welche Mannigfaltigkeit in Einheit auflöst und vorzugsweise bei dem Allgemeinen und Höheren verweilt“ (B 21), dann zeichnet sich hier bereits ein erster Lösungsansatz ab. Humboldt fährt fort: „Um dies Höhere zu genießen, müssen in dem mühsam durchforschten Felde specieller Naturformen und Naturerscheinungen die Einzelheiten zurückgedrängt und von dem selbst, der ihre Wichtigkeit erkannt hat und den sie zu größeren Ansichten geleitet, sorgfältig verhüllt werden“ (B 21).99 Dass auch „von dem hohen Standpunkte aus, auf den wir uns zu einer allgemeinen, durch wissenschaftliche Erfahrungen begründeten Weltanschauung erheben, […] nicht allen Anforderungen genügt werden kann“ (B 38), räumt Humboldt durchaus ein; doch die mit seiner Entscheidung einhergehende Konsequenz ist radikaler zu fassen, drückt sich in ihr doch bereits das Eingeständnis aus, dass das Allgemeine und das Besondere in einer einzigen Darstellung – im Sinne der „Verbindung des literarischen und des szientifischen Zwecks“ – schlichtweg nicht mehr zu vermitteln sind und sich das Sowohl-als-auch in ein nicht mehr zu überbrückendes Entweder-Oder differenziert hat. Um das ‚Besondere‘ und ‚Mannigfaltige‘ gegenüber dem Allgemeinen doch noch ins Recht zu setzen, plädiert Humboldt schließlich für eine getrennte Darstellung beider mit der Begründung: Die Trennung ungleichartiger Ansichten, des Allgemeinen und des Besondern, ist nicht bloß zur Klarheit der Erkenntniß nützlich: sie giebt auch der Behandlung der Naturwissenschaft einen erhabenen und ernsten Charakter. (B 30)

|| 99 Gegen Ende der „Betrachtungen“ heißt es: „Der Zweck dieses einleitenden Vortrages war nicht sowohl, die Wichtigkeit des Naturwissens zu schildern: welche allgemein anerkannt ist […]; es lag mir vielmehr ob zu entwickeln, wie, ohne dem gründlichen Studium specieller Disciplinen zu schaden, den naturwissenschaftlichen Bestrebungen ein höherer Standpunct angewiesen werden kann, von dem aus alle Gebilde und Kräfte sich als ein, durch innere Regung belebtes Naturganzes offenbaren“ (B 39).

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Die 1849 verfasste „Vorrede zur zweiten und dritten Ausgabe“100 zu den „Ansichten der Natur“ eröffnet Humboldt mit einer Zusammenfassung der ersten Vorrede, extrapoliert jedoch die im vorausgehenden Exkurs am Beispiel der „Einleitenden Betrachtungen“ aufgezeigten semantischen Verschiebungen: Die zwiefache Richtung dieser Schrift (ein sorgsames Bestreben, durch lebendige Darstellungen den Naturgenuß zu erhöhen, zugleich aber nach dem dermaligen Stande der Wissenschaft die Einsicht in das harmonische Zusammenwirken der Kräfte zu vermehren) ist in dieser Vorrede zur ersten Ausgabe, fast vor einem halben Jahrhundert, bezeichnet worden. Es sind damals schon die mannigfaltigen Hindernisse angegeben, welche der ästhetischen Behandlung großer Naturscenen entgegenstehn. Die Verbindung eines littererarischen und eines rein scientifischen Zweckes, der Wunsch, gleichzeitig die Phantasie zu beschäftigen und durch Vermehrung des Wissens das Leben mit Ideen zu bereichern: machen die Anordnung der einzelnen Theile und das, was als Einheit der Composition gefordert wird, schwer zu erreichen.101

Die beiden Ziele ‚Naturgenuss durch lebendige Darstellung‘ und ‚Vermehrung der Einsicht in das harmonische Zusammenwirken der Kräfte‘ treten in „zwiefache Richtung“ auseinander. Die Kluft, die es sprachlich zu überwinden gälte, besteht nun nicht mehr, wie noch in der Vorrede von 1807, zwischen einem sichtbaren Außen und einem unsichtbaren Innen, sondern zwischen „einem litterarischen und einem rein scientifischen“ Zweck, Zwecke, die nunmehr als miteinander konkurrierende – in „ungünstigen Verhältnisse[n]“ stehende – beschrieben werden. Das Projekt, jenes zweifache Ziel des delectare und docere „gleichzeitig“ in einer einzigen Darstellung zu erfüllen, erklärt Humboldt gut vierzig Jahre nach dem ersten Erscheinen der „Ansichten“ für gescheitert. Der anhaltende Wunsch, der ‚einen Kultur‘ Ausdruck zu verleihen, weicht einem Bewusstsein von den ‚zwei Kulturen‘, deren Versöhnung sprachlich nicht zu leisten ist. Die Kritik, die Humboldt an der „unvollkommenen Ausführung seines Unternehmens“ übt, verdankt sich jedoch nicht nur dem prüfenden Rückblick auf den eigenen Text, sondern ebenso auf den historischen – insbesondere wissenschaftshistorischen – Kontext, der sich zwischen der ersten und dritten Auflage erheblich verändert hat. Es sei ihm noch im achtzigsten Jahre die Freude geworden, eine dritte Ausgabe meiner Schrift zu vollenden und dieselbe nach den Bedürfnissen der Zeit ganz umzuschmelzen. Fast alle wissenschaftlichen Erläuterungen sind ergänzt oder durch neue, inhaltreichere ersetzt worden. Ich habe gehofft, den Trieb zum Studium der Natur dadurch zu beleben, daß in

|| 100 Alexander von Humboldt: Vorrede zur zweiten und dritten Ausgabe [1849], in: Ansichten der Natur, mit wissenschaftlichen Erläuterungen, 2 Bde., Stuttgart, Augsburg 1860, S. VII–X. 101 Ebd., S. VII.

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dem kleinsten Raume die mannigfaltigsten Resultate gründlicher Beobachtung zusammengedrängt, die Wichtigkeit genauer numerischer Angaben und ihrer sinnigen Vergleichung untereinander erkannt, und dem dogmatischen Halbwissen wie der vornehmen Zweifelsucht gesteuert werde, welche in den sogenannten höheren Kreisen des geselligen Lebens einen langen Besitz haben.102

Humboldts Programm einer „Verbindung eines litterarischen und eines rein scientifischen Zweckes“103 – sein Projekt einer poetica scientiae – scheitert am zunehmenden Auseinanderdriften beider Pole: Der strikte Empirismus, dem sich Humboldt als Naturwissenschaftler verpflichtet weiß, und die damit einhergehende Fragmentierung und Spezialisierung des Wissens erweisen sich als unvereinbar mit dem Bestreben des Literaten und Ästhetikers Humboldt, die Einheit und Ganzheit der Natur und des Wissens von ihr in einem enzyklopädischen Weltgemälde anschaulich darzustellen.104 Was sich unter dem Gesichts-

|| 102 Ebd., S. VIII–IX. 103 Ebd., S. VII. 104 Vgl. dazu auch Böhme: Ästhetische Wissenschaft, S. 20 ff. und Wolf Lepenies: Der Wissenschaftler als Autor. Über konservierende Funktionen der Literatur, in: Akzente. Zeitschrift für Literatur 25 (1978), hrsg. v. Hans Bender u. Michael Krüger, S. 129–147, v.a. S. 131. – Die Spaltung von scientia und poetica führt dann vor allem im „Kosmos“ zu einer Darstellungstechnik, die letztlich eine doppelte Enzyklopädisierung der Natur versucht: Während der Haupttext den sinnstiftenden Zusammenhang des Naturganzen aufzeigen soll, zielt der umfangreiche Anmerkungsapparat im Wesentlichen darauf, das Defizit des Haupttextes, nämlich das Fehlen einer akribischen Dokumentation der empirisch-analytischen Fakten, zu kompensieren. – Nach Bies, der v.a. Humboldts „Ideen zu einer Geographie der Pflanzen nebst einem Naturgemälde der Tropenländer“ (1807) sowie „Ansichten der Natur“ sehr genauen Lektüren unterzieht, scheitert Humboldt auf der Ebene der „inhaltlichen Verknüpfungen“ der heterogenen Wissensgebiete, wohingegen es ihm sehr wohl gelingt, durch „die sorgfältige ästhetische Strukturierung, […] diesen Divergenzen entgegenzuwirken“ (Bies: Im Grunde ein Bild, S. 301). Mit Blick auf die „Ansichten“ hält Bies fest: „Im Zusammenspiel von Haupt- und Anmerkungstext entsteht […] eine dynamische, offene Textur“, eine „‚Darstellung‘ von Natur“, jedoch nicht „einer maßvoll voranschreitenden Natur, wie bei Goethe, sondern einer wilden, netzförmig wuchernden Tropennatur“ (ebd., S. 311). – Ottmar Ette hingegen, der die Korrespondenzen zwischen Humboldts „vie nomade“, „écriture nomade“ und „nomadisierenden Wissenschaftskonzeption“ (S. 34 u. 38) unter besonderer Berücksichtigung der Schreib- und Textinstanz aufzeigt, sieht die „Ganzheit von Darstellung und Erkenntnis, die Wissen und sinnliche Erfahrung unmittelbar aufeinander bezieht“, in den „Ansichten“ durchaus realisiert (Ottmar Ette: Eine ‚Gemütsverfassung moralischer Unruhe‘ – Humboldtian Writing: Alexander von Humboldt und das Schreiben in der Moderne, in: Ette/Hermanns: Alexander von Humboldt – Aufbruch in die Moderne, S. 33–55, hier: S. 49). Gestützt auf eine breite Quellenbasis erweist sich auch für Erdbeer „Humboldts Übergang von der Naturphilosophie zur strengen Wissenschaft als Wende des ästhetischen Diskurses, die sich ihrerseits den Aporien einer emergenten Wissenschaftskultur verdankt. Sie führt von der Metapher des poetischen Naturgemäldes zum

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punkt einer klassischen Ästhetik als ein Scheitern ausnimmt – eben die Unmöglichkeit, scientia und poetica miteinander in Einklang zu bringen –, erweist sich unter dem Gesichtspunkt einer modernen Ästhetik als höchst produktiv: Die sich etablierende und in Humboldts Werk bis zur Aporie gesteigerte Differenz von Wissenschaft und Literatur erscheint in der modernen ‚Wissenschaftsliteratur‘ zum positiven Signum der Erzählkunst gewandelt.105

3.2.2 Formelhafte Verdichtungen: Carl Friedrich Gauß In seiner Rede „Die Humboldt-Denkmäler vor der Berliner Universität“ vom 3. August 1883 würdigt Emil Du Bois-Reymond die Ansichten der Natur, die „Rede zur Eröffnung der Naturforscherversammlung in Berlin“ sowie den Kosmos als „Kunstwerke“, ihren Verfasser Humboldt als einen „Stilisten“, der sich noch im hohen Alter an der „selbsterzeugten schönen Form“ erfreute. Kritisch hingegen führt er an, „daß als Naturforscher Humboldt eigentlich nicht auf der letzten Höhe stand, daß es in geistiger Hinsicht ihm erging wie am Chimborazo, wo schließlich eine unübersteigbare Kluft ihn noch vom Gipfel schied. Die Kluft, die ihn vom Gipfel der Naturforschung trennte, war der Mangel an physikalischmathematischem Verständnis“.106 Gemessen jedoch an dem Umstand, dass die deutsche Wissenschaft in dieser Zeit „tiefer und tiefer gesunken“ war und die || Konzept der strengen Deskriptionspoetik, die mit immer neuen Mischprodukten des Exakten und Poetischen – mit Exotismen, Zahlen und Tabellen – experimentiert und sich auf diese Weise als dynamische Kultursemiotik profilieren kann“ (Robert Matthias Erdbeer: Deskriptionspoetik. Humboldts Kosmos, die verfahrensanalytische Methode und der wissenschaftsgeschichtliche Diskurs, in: „fülle der combination“. Literaturforschung und Wissenschaftsgeschichte, hrsg. v. Bernhard J. Dotzler u. Sigrid Weigel, München 2005, S. 239–266, hier S. 266). 105 Ohne einen kausalistischen Zusammenhang behaupten zu wollen, scheint mir Humboldt ein gutes Beispiel dafür zu sein, dass und wie moderne literarische Phänomene, Darstellungstechniken und Poetiken aus ganz persönlichen und/oder zeittypischen Krisenerfahrungen generiert werden. 106 Emil Du Bois-Reymond: Die Humboldt-Denkmäler vor der Berliner Universität (3. August 1883), in: ders.: Reden von Emil Du Bois-Reymond in zwei Bänden, 2., vervollständigte Auflage mit einer Gedächtnisrede v. Julius Rosenthal, hrsg. v. Estelle Du Bois-Reymond, Bd. 2, Leipzig 1912, S. 249–284, hier S. 262 f. Humboldt begnügte sich mit der „Feststellung und Anschauung des Tatsächlichen“ und dessen „bloßer Aufzählung“, während es ihm an der „geistigen Gewohnheit […],die Erscheinungen über eine gewisse Grenze hinaus zu zergliedern, und sie auf die letzten erkennbaren Gründe zurückzuführen“ mangelte. Bereits mit der Wahl des Titels Kosmos, bei dem es sich um einen „ästhetischen Anthropomorphismus“ handle, zeigt Humboldt sich „als echtes Kind einer mehr künstlerisch betrachtenden, als wissenschaftlich zergliedernden Kulturperiode“ (ebd., S. 263 f.).

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„Hirngespinste“ der „naturphilosophischen Spekulation“ auf nahezu alle Wissensgebiete und Bildungsinstitutionen übergriff, gehört Humboldt neben Paul Erman, Chladni, Tiedemann und „vor allen dem jugendlichen Verfasser der Disquisitiones arithmeticae“ zu jenen Ausnahmen, die zumal „in Paris das Ansehen deutscher Wissenschaft [retteten]“.107 Insbesondere durch seine „Form der Darstellung“,108 namentlich die „Vermengung des dichterischen Elementes mit dem wissenschaftlichen“,109 kommt Humboldt ein entscheidendes Verdienst um die Popularisierung der Wissenschaften zu: „Gerade weil er nicht so sublim war wie Newton oder Laplace, nicht so einseitig weltspiegelnd in absoluter Vollkommenheit wie Gauss, konnte er den von solchen Erzengeln der Wissenschaft erkannten Wahrheiten bei der Menge Eingang verschaffen.“110 Schließlich wird Humboldt als der Mann gewürdigt, dem es bestimmt war, die Brücke zu schlagen zwischen der alten und neuen Zeit, zwischen dem philologischhistorischen, ästhetisch-spekulativen Deutschland, wie die Jahrhundertwende es sah, und dem mathematisch-naturwissenschaftlichen, technisch-induktiven Deutschland unserer Tage.111

|| 107 Ebd., S. 268 f. Zu den Verwirrungsstiftern zählt Du Bois-Reymond ausdrücklich auch „Goethes falsche Theorien und Maximen“ (ebd., S. 268), aber auch die Napoleonischen Kriege hätten der deutschen Wissenschaft „nicht nur durch äußere Gewalt, sondern auch durch die mit der nationalen Erhebung verflochtene christlich-romantische Reaktion gegen den hellenischen Klassizismus der vorangegangenen Periode“ (ebd., S. 269) erheblichen Schaden zugeführt. Als prominente Opfer der Naturphilosophie werden der „genialste deutsche Physiker“, Johann Wilhelm Ritter, und der „genialste deutsche Physiologe“, Johannes Müller, angeführt (vgl. ebd.). 108 Ebd., S. 278. 109 Ebd., S. 262. 110 Ebd., S. 278. Zum „populären Humboldt“ vgl. auch Andreas W. Daum: Die Ironie des Unzeitgemäßen. Anmerkungen zu Alexander zu Humboldt, in: Zeitschrift für Ideengeschichte, München 2007, S. 5–23, bes. S. 15–17. 111 Ebd., S. 278. Weiter heißt es: „Nicht die Tausende von wohl beobachteten, wichtigen und neuen Tatsachen, mit welchen er die einzelnen Disziplinen bereicherte; nicht die glücklichen und sinnreichen Gedanken, die als Samenkorn von ihm hingeworfen oft zu neuen Wissenschaften erwuchsen; noch weniger seiner mit unendlichem Fleiß zusammengetragenen geschichtlich geographischen Werke sind es gewesen, wegen derer er jetzt da draußen im Marmorbilde sitzt. Das von ihm angestrebte Zusammenfassen des Weltganzen in künstlerischharmonischer Gestalt, die von ihm verwirklichte Verbindung des Idealen mit dem Realen, des Dichters mit dem Naturforscher, machten ihn für die Deutschen, in Emerson’s Sinne, zum repräsentativen Mann der Naturforschung“ (ebd.). – Humboldt, so die schöne Formulierung Kreuzers, sei „der umfassend alphabetisierte Leser eines ‚Buches der Natur‘“ (Leo Kreuzer: Alexander von Humboldt und die Naturwissenschaft der ‚Gruppe 1794‘. Essay, Hannover 2014,

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Dass sich das „mathematisch-naturwissenschaftliche, technisch-induktive Deutschland“ in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zwar in der wissenschaftlichen Gelehrtenwelt,112 kaum aber im Bewusstsein einer breiteren Öffentlichkeit durchsetzen konnte, wird offensichtlich an einer Persönlichkeit wie Gauß: Gerade an Gauss zeigt sich, einen wie kleinen Platz […] Naturwissenschaft und Mathematik in der Vorstellung der Deutschen einnahmen. Das Vergnügen an dem ergötzlichen Spott, den Heinrich Heine in den Reisebildern über die Göttinger Gelehrten ausgießt […] wird etwas getrübt, wenn man sich erinnert, daß unter jenen Gelehrten auch der unsterbliche Gauss sich befand. Nie hätte ein französischer Dichter bei ähnlicher Gelegenheit Laplace übersehen […].113

|| S. 26). Seine Naturwissenschaft sei jedoch nicht als „Vorgeschichte“ oder gar „Vorstufe“, sondern „Gegenentwurf zu einer modernen Expertenkultur. Sie ist Entwurf einer anderen Moderne“ (ebd., S. 38). 112 Der „Umschwung“ in Deutschland kam allmählich: Zwar hätte Friedrich der Große durch die Berufung von Männern wie Maupertuis, Euler und Lagrange der von ihm begründeten Akademie der Wissenschaften „zeitweise hohen, zum Teil vom Auslande geborgten Glanz verliehen“ (ebd., S. 270), auch wurden in Berlin bereits im ersten Drittel des Jahrhunderts „vier der wichtigsten physikalisch-chemischen Entdeckungen“ (ebd., S.272) gemacht (1818 fand Eilhard Mitscherlich die Isomorphie, 1822 Seebeck die Thermoströme, 1825 Ohm sein Gesetz, 1828 Wöhler die Synthese des Harnstoffs), doch ein der französischen Wissenschaftsmetropole Paris vergleichbarer „Sitz des deutschen Geisteslebens war Berlin unter ihm nicht geworden“ (ebd., S. 270). Zum „vornehmsten Mittelpunkt deutscher Wissenschaft“ (ebd., S. 271) entwickelte sich Berlin erst mit der Gründung der Berliner Universität (vgl. ebd., S. 271 f.), aus der schließlich „jene Schar von Männern erstand, welche mit noch vielen über Deutschland zerstreuten vorzüglichen Köpfen, die Scharte der naturphilosophischen Verwirrung auswetzten, und der Naturwissenschaft einen Schwung gaben, der nicht nur für Preußen und Deutschland, sondern für die Welt folgenreich ward und noch heute anhält“ (ebd., S. 272). Zu einer durchaus auch kritischen Bestandsaufnahme vgl. die 1882 gehaltene Rede „Über die wissenschaftlichen Zustände der Gegenwart“, in: ders.: Reden, Bd. 2, S. 142–156. 113 Du Bois-Reymond: Die Humboldt-Denkmäler vor der Berliner Universität, S. 269. Zum Verhältnis von Kunst und Naturwissenschaft vgl. auch Du Bois-Reymond: Kulturgeschichte und Naturwissenschaft [1877], in: ders.: Reden, Bd. 1, S. 567–629: „Die Kunst mit aller ihrer Herrlichkeit würde […] noch heute hilflos der Barbarei weichen, verliehe nicht die Naturwissenschaft unserem Dasein eine Sicherheit, über deren Ursachen wir gar nicht mehr nachdenken: so sehr sind wir gewöhnt, sie als natürliche Voraussetzung des Lebens der modernen Kulturmenschheit anzusehen. […] Auf dem Boden der Induktion und Technik ruht unsere Wissenschaft und Kultur so sicher, wie auf dem Boden der Spekulation und Ästhetik schwankend aufgebaut und Einsturz drohend uns vorher antike Wissenschaft und Kultur erschien“ (ebd., S. 601). Gleichzeitig aber sieht und kritisiert Du Bois-Reymond die Gefahren einer „einseitig betriebenen“ Naturwissenschaft und beschreibt diese vor allem als eine Verkümmerung

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In dieser Einschätzung sollte sich auch in einem gut zehn Jahre später unternommenen Rückblick nichts ändern: Trotz des „unermesslichen Einflusses, den die Naturforschung nach allen Seiten auf das menschliche Leben übt“, ist und bleibt die „überwiegende Mehrheit“ der Deutschen „den geschichtlichen, literarischen, künstlerischen Dingen fast ausschließlich zugewendet […]. Man frage sich nur, wieviele Gebildete, die sich nicht verzeihen würden, von einem Klavier- oder Geigenvirtuosen nicht alles Erdenkliche zu wissen, keine Ahnung haben von der Größe eines Gauss, eines Faraday.“114 Die bereits im Verlauf des 18. Jahrhunderts fortschreitende professionelle, institutionelle und disziplinäre Ausdifferenzierung der Wissensgebiete führt allerdings nicht nur zu der von Du Bois-Reymond diagnostizierten Kluft zwischen schöngeistig-geisteswissenschaftlicher Bildung einerseits, mathematischnaturwissenschaftlicher andererseits, sondern auch innerhalb der Naturwissenschaften zu konkurrierenden epistemologischen Auffassungen. Zwei dieser Konflikte gilt es mit Blick auf die wissenschaftliche Biographie von Carl Friedrich Gauß hervorzuheben: Erstens, der Konflikt zwischen einer empirischmechanistisch sich begreifenden exakten Naturwissenschaft und einer von den Ideen der Ganzheit, des Organismus und der Versöhnung von Subjekt und Objekt, Wissenschaft und Kunst geleiteten Naturphilosophie und -forschung sowie zweitens, der um 1800 zwar erst im Entstehen begriffene, in seinem Konfliktpotential zugleich aber bereits erkannte und explizit thematisierte Antagonismus zwischen einer ‚rein‘ theoretischen und einer pragmatisch-anwendungsorientierten Wissenschaftsauffassung. Dass der ‚Fürst der Mathematiker‘ Gauß mit einer holistisch spekulierenden romantischen Naturphilosophie Schelling’scher Provenienz nichts anzufangen weiß, ist nahezu selbsterklärend. Weitaus schwieriger ist es, sein prinzipielles Verhältnis zur Philosophie zu klären. Skeptisch und herablassend äußert er sich in einem Brief an seinen Freund Schumacher: Daß Sie einem Philosophen ex professio keine Verworrenheit in Begriffen und Definitionen zutrauen, wundert mich fast. Nirgends sind solche Begriffe mehr zu Hause als bei den Philosophen, die keine Mathematiker sind, und Wolf war kein Mathematiker, wenn er auch wohlfeile Compendien gemacht hat. Sehen Sie sich doch nur bei den heutigen Philosophen um, bei Schelling, Hegel, Nees van Esenbeck und Consorten, stehen Ihnen nicht

|| an Phantasie und Empfindung sowie als zunehmenden Verlust literarisch-kulturellen Wissens einerseits, als Verengung der naturwissenschaftlichen Tätigkeit auf den Aspekt der Technik andererseits (vgl. ebd., S. 604 u. 611). 114 Emil Du Bois-Reymond: Gedächtnisrede auf Hermann von Helmholtz (4. Juli 1895), in: ders.: Reden, Bd. 2, S. 516–570, hier S. 517.

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die Haare bei ihren Definitionen zu Berge. Lesen Sie in der Geschichte der alten Philosophie, was die damaligen Tagesmänner Plato und andere (Aristoteles will ich ausnehmen) für Erklärungen gegeben haben. Aber selbst mit Kant steht es oft nicht viel besser; seine Distinctionen zwischen analytischen und synthetischen Sätzen ist meines Erachtens eine solche, die entweder nur auf eine Trivialität hinausläuft oder falsch ist […].115

Wenn er andernorts von den „Haarspaltereien der Metaphysiker“116 spricht und den Philosophen vorwirft, sie würden „Träume von Irren als Philosophie“ verkaufen, zugleich aber auch überliefert ist, dass Gauß die Kritik der reinen Vernunft fünfmal gelesen hätte und „beim fünften Mal hat er dann gesagt: jetzt dämmert mir’s“,117 dann artikuliert sich in solchen Äußerungen mehr als nur die Polemik eines hardcore-Wissenschaftlers. Gauß geht es, und in diesem Anliegen trifft er sich mit Kant, vorrangig um die exakte Vermessung und Abgrenzung des wissenschaftlichen Terrains: „Es gibt Fragen […], auf deren Beantwortung ich einen unendlich höhern Werth legen würde als auf die mathematischen, z.B. über Ethik, über unser Verhältniss zu Gott, über unsere Bestimmung und unsere Zukunft; allein ihre Lösung liegt ganz unerreichbar über uns und ganz ausserhalb des Gebietes der Wissenschaft.“118 So sehr Gauß sich zeit seines Lebens für philosophische, insbesondere auch anthropologische und metaphysische Fragen interessierte, so vehement trat er auf wissenschaftlichem Gebiet für eine klare Aufteilung und Einhaltung der Zuständigkeiten ein. Seine Seitenhiebe gegen die verworrene Begrifflichkeit jener „Philosophen, die keine Mathematiker sind“, mögen pejorativ zwar als ein Beleg für die „Grenze seines Philosophieverständnisses“ und den „Beginn jener Entfremdung zwischen Geisteswissenschaften und Naturwissenschaften, die durch Ignoranz und Spezialisierung auf beiden Seiten eine gewisse Feindseligkeit entstehen ließ“,119 gewertet werden; positiv gewendet dokumentiert sich darin jedoch eine Auffassung von mathematischer Naturwissenschaft, die bestrebt ist, sich unabhängig von phi-

|| 115 Gauß an Schumacher (1.11.1844), in: Briefwechsel zwischen Carl Friedrich Gauss und H.C. Schumacher, hrsg. v. Christian A.F. Peters, Altona 1860/65, Neuausgabe Hildesheim 1975, 6 Bde. in I, II, III, hier Bd. II, 4, No. 944; S. 337. 116 Zitiert nach Martha Küssner: Carl Friedrich Gauß und seine Welt der Bücher, Göttingen, Frankfurt/M. u.a. 1979, S. 138. 117 Andreas Galle: Gauß und Kant, in: Weltall 1925, Nachdruck in Mitteilungen der GaußGesellschaft 6 (1969), S. 8–13, hier S. 8. 118 Wolfgang Sartorius von Waltershausen: Gauss zum Gedächtnis [1862], Stuttgart 1981, S. 97. 119 Küssner: Carl Friedrich Gauß und seine Welt der Bücher, S. 137. Zur Entfremdung der Wissenschaften von der Philosophie vgl. ferner Herbert Schnädelbach: Philosophie in Deutschland 1831–1933, Frankfurt/M. 41991, S. 88–137.

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losophisch-metaphysischen Voraussetzungen zu realisieren und ihre Axiomatik und Methodologie entsprechend wissenschaftsimmanent zu begründen. Mit dieser wissenschaftshistorisch äußert komplex sich vollziehenden Emanzipation der Naturwissenschaft von der Philosophie verbindet sich an der Wende zum 19. Jahrhundert und ausgehend von Deutschland ein weiterer Differenzierungs- und Ablösungsprozess: die Ausbildung einer reinen Mathematik im Unterschied zu einer am „‚Primat der Nützlichkeit‘“ orientierten angewandten Mathematik, wie ihn die Aufklärung begünstigte.120 Einer Studie Helmut Pultes zufolge lässt sich diese Entwicklung auf drei Komplexe zurückführen: (1) „Innermathematisch macht sich bereits an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert eine zunehmende Orientierung auf Grundlagenfragen hin geltend“,121 wobei das „Bemühen um ‚Strenge‘ und ‚Sicherheit‘ der Grundlagen“ mit einer intensivierten Reflexion darüber einhergeht, welche Teile der Mathematik auf Erfahrung angewiesen und welche davon unabhängig seien und auf bloßen Denkgesetzen basieren. Exemplarisch kann hier die von Gauß vorgenommene Unterscheidung zwischen einer empirieabhängigen Geometrie des Raumes und einer erfahrungsunabhängigen, apriori im Denken begründeten Arithmetik, der „reinen Grössenlehre“, die allein sich durch die Kategorien notwendig und wahr charakterisiert, angeführt werden: Nach meiner innigsten Ueberzeugung hat die Raumlehre in unserm Wissen apriori eine ganz andere Stellung wie die reine Grössenlehre; es geht unserer Kenntnis von jener durchaus diejenige vollständige Ueberzeugung von ihrer Nothwendigkeit (also auch von ihrer absoluten Wahrheit) ab, die der letzteren eigen ist; wir müssen in Demuth zugeben,

|| 120 „Die Mathematik des 18. Jahrhunderts, allem voran die Analysis, entwickelt sich nicht nur, aber vor allem mit solchen Problemen weiter, die von seiten der Mechanik, Astronomie und Physik allgemein an sie herangetragen werden, sondern steht auch unter einem ‚Primat der Nützlichkeit‘, der durch die Aufklärung kultiviert wird. Nützlichkeit im Sinne von Anwendbarkeit auf Probleme der äußeren Natur ist denn auch die wichtigste Legitimationsinstanz und verschafft angewandter Mathematik im weitesten Sinne eine Prävalenz vor solchen Untersuchungen, die sich um Klärung und Fundierung grundlegender Konzepte und Sätze bemühen“ (Helmut Pulte: Axiomatik und Empirie. Eine wissenschaftstheoriegeschichtliche Untersuchung zur Mathematischen Naturphilosophie von Newton bis Neumann, Darmstadt 2005, S. 296). 121 Ebd., S. 297. Beispielhaft hierfür sind insbesondere die „Wiederbelebung der Diskussion um die axiomatischen Grundlagen der euklidischen Geometrie durch G.S. Klügel, C.F. Gauß, M. Ohm und andere“, ferner die im Anschluss an Euler und Lagrange unternommenen „Versuche einer algebraischen Grundlegung der Analysis“ und nicht zuletzt die „Entstehung der sog. ‚Kombinatorischen Analysis‘ […], die sich im Ausgang von Lagranges Funktionentheorie entwickelte und zur Entstehung der von C.F. Hindenburg gegründeten ‚Kombinatorischen Schule‘ führte, die als die eigentliche ‚Keimzelle‘ der reinen Mathematik im Deutschland des 19. Jahrhunderts betrachtet werden kann“ (ebd.).

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dass wenn die Zahl bloss unseres Geistes Product ist, der Raum auch ausser unserm Geiste eine Realität hat, der wir a priori ihre Gesetze nicht vollständig vorschreiben können.122

(2) Wissenschaftstheoretisch tragen vor allem Kant, G.S. Klügel und Fries dazu bei, „daß sich in Deutschland reine Mathematik, gewissermaßen als ‚Gegenprojekt‘ zu den in Frankreich und England dominierenden empiristischen Auffassungen, etablieren konnte“.123 Mit der formal-mathematischen Bestimmung der reinen Anschauungsformen Raum und Zeit bot Kant eine erste „philosophische Begründung für Mathematik […], die sich selber als ‚rein‘ in dem Sinne verstand, daß die Begründung ihrer Sätze auf Sinneserfahrung durchgehend verzichten könne“.124 Auf der Grundlage der kantischen Unterscheidung zwischen reiner und empirischer Anschauung wird Klügel die „Abgrenzung von reiner und angewandter Mathematik“125 rechtfertigen. Seine „über Kant hinausgehende“ Forderung nach einer „spezifischen, gegenstandsorien-

|| 122 C.F. Gauß an F.W. Bessel (9. April 1830), in: Carl Friedrich Gauß: Werke, Ergänzungsreihe, Bd. 1: Briefwechsel, Hildesheim 1976, S. 487. 123 Hier und im Folgenden Pulte: Axiomatik und Empirie, S. 299. 124 In Übereinstimmung mit dem Rationalismus beschreibt Kant die reine Mathematik als eine Erkenntnis, „die durch und durch apodiktische Gewißheit, d.i. absolute Notwendigkeit, bei sich führet, also auf keinen Erfahrungsgründen beruht, mithin ein reines Produkt der Vernunft, überdem aber durch und durch synthetisch ist“, d.h. durch „Konstruktion der Begriffe“ charakterisiert ist (Immanuel Kant: Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können, in: ders.: Werke, Bd. IV: Schriften von 1783–1788, hrsg. v. Artur Buchenau u. Ernst Cassirer, Hildesheim 1973, S. 1–139, hier S. 29, vgl. S. 18). Entsprechend gilt, „daß in jeder besonderen Naturlehre nur so viel eigentliche Wissenschaft angetroffen werden könne, als darin Mathematik anzutreffen ist“ (Immanuel Kant: Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft, in: ebd., S. 367–478, hier S. 372). 125 Hier und im Folgenden Pulte: Axiomatik und Empirie, S. 300. „Die reine, welche die eigentliche Mathematik ist“, so Klügels Definition, „heißt darum so, weil alle Begriffe, alle Schlüsse, alle Zusammensetzungen und Zerlegungen der Größen unmittelbar durch den Verstand gebildet werden, ganz rein und unabhängig von aller Hilfe der sinnlichen Erkenntniß und Erfahrung“ (Georg S. Klügel: Art. „Mathematik“, in: ders.: Mathematisches Wörterbuch. Erste Abteilung: Die reine Mathematik, Bd. 3, Leipzig 1803–1831, S. 603, hier zit. nach Pulte: Axiomatik und Empirie, S. 300). Die reine Mathematik untergliedert Klügel des Weiteren in Arithmetik und Geometrie, die angewandte Mathematik hingegen in eine „physisch angewandte“ und eine „technische Mathematik“ (Klügel: Art. „Mathematik“, S. 607, zit. n. Pulte: Axiomatik und Empirie, S. 300). Die begriffliche Unterscheidung zwischen einer reinen Mathematik oder mathesis pura und einer angewandten Mathematik oder mathesis mixta bzw. applicata kennt bereits das 18. Jahrhundert, spielte jedoch im „Gesamtkanon der Mathematik keine erhebliche Rolle“ (Pulte: Axiomatik und Empirie, S. 296).

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tierten Methodologie für die reine Mathematik“ wird von philosophischer Seite erstmals in Fries’ Mathematischer Naturphilosophie (1822) eingelöst.126 (3) Bildungs- und kulturphilosophisch verdankt sich die Ausbildung reiner Mathematik maßgeblich – und paradoxerweise – jener von Romantik, Neuhumanismus und idealistischer Schulphilosophie bestimmten „Diskussion um eine Neuorientierung von Bildung und Wissenschaft in Preußen und anderen deutschen Staaten“127. Im Mittelpunkt dieser Neuorientierung, die, so Pulte, angesichts ihrer vielfältigen Implikationen, mit dem Begriff der ‚Humboldtschen Reform‘ nur unzureichend beschrieben werde, steht ein Wissenschaftsideal, das eine von praktischem Nutzen freie, um ihrer selbst willen betriebene Wissenschaft zur eigentlichen Lebensform des ‚gebildeten‘ Menschen erklärt und daher auch Bildung als ein nicht auf ‚äußere‘ Zwecke zu berechnendes, allein der Entwicklung und Vervollkommnung des menschlichen Intellektes dienendes Gut versteht. In diesem Kontext rückt die […] reine Mathematik zum wichtigsten Bildungsgegenstand neben den alten Sprachen und der Geschichte auf. Umgekehrt wird die an Anwendung und praktischem Nutzen orientierte Mathematik der Aufklärung […] zum Problem.128

Am Wissenschaftsparadigma ‚Mathematik‘ scheint sich mit Verspätung jener Emanzipations- und Autonomisierungsprozess zu wiederholen, der sich im Ausgang der Sturm und Drang-Bewegung einst in der Kunst vollzog: In der

|| 126 Wie bei Kant geschieht auch bei Fries die „Konstruierbarkeit der mathematischen Begriffe in der reinen Anschauung als Charakteristikum mathematischer Erkenntnis […] ‚mit Hülfe der productiven Einbildungskraft der eignen Einsicht (ohne Beyhülfe sinnlicher Wahrnehmung)‘“, wobei er jedoch – im Unterschied zu Kant – nicht mehr die reine Anschauung, sondern die produktive Einbildungskraft der Vernunft zur Begründungsinstanz für die Notwendigkeit mathematischer Erkenntnis erhebt und damit „Kants ‚Apodiktizitätsdualismus‘ von Anschauung und Denken durch einen ‚Apodiktizitätsmonismus‘ des Denkens ersetzt […]: Für Fries ist apodiktische Erkenntnis ‚alle diskursiv, sowohl die philosophische als auch die mathematische‘“ (ebd., 301). Entscheidend ist, dass er damit den „Bereich mathematischer Apodiktizität für solche Urteile [öffnet], denen eine Grundlage in der Kantischen reinen Anschauung fehlt“ und so „der generellen Entwicklung der Mathematik seiner Zeit, die durch zunehmende Abstraktion und Selbstbezüglichkeit auf ihre eigenen Begriffe, Gesetze und Strukturen gekennzeichnet ist, Rechnung [trägt]“ (ebd.). Fries’ philosophischer Beitrag zur Autonomisierung der Mathematik verdeutlicht sich vor allem im Kontrast zu Comtes Positivismus oder Herschels Empirismus: Beiden Auffassungen ist gemeinsam, dass sie der reinen Mathematik gerade keine kreative Autonomie und damit auch keine Möglichkeit zugestehen, durch Hypothesenbildung aktiv zur Ausbildung allgemeiner Naturgesetze beizutragen, sondern ihr vielmehr eine nur passiv-instrumentelle Funktion gegenüber der induktiv verfahrenden konkreten Mathematik einräumen (vgl. ebd., S. 284–290). 127 Ebd., S. 303. 128 Ebd.

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Betonung der schöpferischen Kraft des Geistes, des ‚Selbstdenkens‘ gegenüber passiver Wahrnehmung, des Genialischen gegenüber bloßer Reproduktion und mechanischer Anwendung, der spekulativen Theorie gegenüber ungeformter Erfahrung, etabliert sich die reine Mathematik als eine autonome, von allen außer ihr liegenden Begründungsinstanzen und Zwecken befreite Disziplin.129 Wie sehr Gauß diesem neuen Bildungsideal verpflichtet war, belegen die Erinnerungen seines Schülers Sartorius von Waltershausen: Die Mathematik hielt Gauß um seine eigenen Worte zu gebrauchen, für die Königin der Wissenschaften und die Arithmetik für die Königin der Mathematik. Diese lasse sich dann öfter herab der Astronomie und andern Naturwissenschaften einen Dienst zu erweisen, doch gebühre ihr unter allen Verhältnissen der erste Rang. Gauss betrachtete die Mathematik als das Hauptbildungsmittel des menschlichen Geistes, erkannte aber daneben das Studium der classischen Literatur in vollem Masse an und sagte gelegentlich, den erstern Weg der Geistesbildung habe ich vornehmlich betreten, dabei den andern aber nicht vernachlässigt.130

Während Euler oder auch noch Du Bois-Reymond an der am Vorbild Englands und Frankreichs ausgerichteten utilitaristischen Wissenschaftskonzeption der || 129 Vgl. ebd., S. 303 f. „Es entsteht eine ,neue Wirklichkeit der Mathematik‘, die durch Autonomie in einem weiten Sinne gekennzeichnet ist: Mathematik wird zu einer eigenständigen und starken Lehr- und Forschungsdisziplin, die ihre Gegenstände unabhängig von philosophischen Lehrmeinungen und unabhängig von möglichen Anwendungsbezügen definiert“ (ebd., S. 304). 130 von Waltershausen: Gauss zum Gedächtnis, S. 79 f. Dieser Einschätzung entsprechend, kommt auch anderen Naturwissenschaften nur insoweit das Prädikat wissenschaftlicher Exaktheit zu, als sie einer „mathematischen Berechnung fähig sind“. So heißt es über die Astronomie: „Der Gegenstand der Astronomie oder Sternenkunde sind die sämmtlichen Weltkörper, insofern wir eine wissenschaftliche Kenntniss von ihnen haben. […] Von allen Weltkörpern gehört nun aber eigentlich in die Astronomie nur das, was wir wirklich wissen, was auf zuverlässige Beobachtung gegründet, durch reiflich durchdachtes Raisonnement und strengen Calcül daraus gefolgert und durch vollkommene, niemals gestörte Übereinstimmung unwidersprechlich bestätigt ist. Nicht aber schlecht begründete Vermutungen, müssige Träume und aus der Luft gegriffene Hypothesen. Über die natürliche Beschaffenheit der Weltkörper wissen wir aber im Grunde nur sehr wenig, und die Astronomie als exacte Wissenschaft kann daher von den Vermuthungen darüber nur wenige und nur solche aufnehmen, die mit grosser Vorsicht den Regeln der Analogie gemäss gebildet sind. Das Meinen in der Astronomie hört erst da auf und das eigentliche Wissen fängt bei den Gegenständen an, die einer mathematischen Behandlung fähig sind: und das sind die Grösse und Gestalt der H[immels]-K[örper], ihre Entfernungen, ihre gegenseitigen Lagen und ganz vorzüglich die Veränderungen in den gegenseitigen Lagen oder mit andern Worten, die Bewegungen“ (Carl Friedrich Gauß: Astronomische Antrittsvorlesung [1808], in: ders.: Werke, hrsg. v. der Königlichen Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen, Bd. XII, Berlin 1929, S. 177–199, hier S. 181 f.).

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Aufklärung festhalten,131 wissen sich A. v. Humboldt und Gauß – bei aller Abweichung in Fragen wissenschaftlicher Forschungsrichtung, Methodik und Darstellungsweise – in ihrer ablehnenden Haltung gegenüber jeglicher Form von Wissenschaftsutilitarismus einig. Programmatisch formuliert Humboldt bereits in einer Abhandlung von 1797: In einem Zeitalter, wo man Früchte oft vor der Blüte erwartet, und vieles darum zu verachten scheint, weil es nicht unmittelbar Wunden heilt, den Acker düngt, oder Mühlräder treibt, […] vergißt [man], daß Wissenschaften einen inneren Zweck haben und verliert das eigentliche litterarische Interesse, das Streben nach Erkenntniß, als Erkenntniß, aus dem Auge. Die Mathematik kann nichts von ihrer Würde einbüßen, wenn sie als bloßes Object der Speculation, als unanwendbar zur Auflösung praktischer Aufgaben betrachtet wird. Alles ist wichtig, was die Gränzen unseres Wissens erweitert, und dem Geist neue Gegenstände der Wahrnehmung oder neue Verhältnisse zwischen dem Wahrgenommenen darbietet.132

Gauß wiederum legt in seiner „Astronomischen Antrittsvorlesung“ aus dem Jahre 1808 unmissverständlich dar: In den Prolegomenis einer jeden Wissenschaft ist es so hergebracht, dass man sich auch mit der Frage beschäftigt hat, wozu nützt die Wissenschaft? Es ist kein gutes Zeichen von dem Geiste der Zeit, wenn man eine solche Frage oft und immer aufwerfen hört. Es spricht sich darin theils ein unseliges Missverhältnis zwischen den nothwendigen oder für nothwendig gehaltenen Bedürfnissen des Lebens und den Ressourcen, ihnen Genüge zu leisten, aus: es ist ein stillschweigendes Eingeständniss eines wahrlich nicht ehrenvollen Grades von Abhängigkeit von jenen Bedürfnissen, wenn man alles auf unsere physischen Bedürfnisse beziehen zu müssen glaubt, wenn man für jede Beschäftigung mit einer Wissenschaft gleichsam eine Rechtfertigung verlangt und nicht begreifen kann, dass es Leute gibt, die studiren, bloss weil das Studiren selbst ihnen auch ein Bedürfniss ist. Aber nicht bloss unsere Anmuth documentirt eine solche Art zu urtheilen, sondern zugleich eine kleinliche, engherzige und träge Denkungsart, eine Disposition, immer den Lohn jeder Kraftäusserung ängstlich zu calculiren, einen Kaltsinn und eine Gefühllosigkeit gegen das

|| 131 Vgl. exemplarisch Du Bois-Reymond: „Unter Naturwissenschaft verstehen wir hier nicht allein die Summe der Kenntnisse von der toten und lebenden Natur, ihren Erzeugnissen, Wirkungen und Gesetzen, sondern auch die bewusste Einsicht in die zur Vermehrung jener Summe einzig dienliche Methode, und die gleichfalls bewusste Anwendung der Naturerkenntnis zu Zwecken der Technik, der Schifffahrt, der Heilkunde u. d. m., also die planmäßige Bewältigung und Ausnutzung der Natur durch den Menschen zur Vermehrung seiner Macht, seines Wohlbefindens und seiner Genüsse“ (Du Bois-Reymond: Kulturgeschichte und Naturwissenschaft, S. 574). Zu einer ganz ähnlichen Argumentation bei Euler vgl. Pulte: Axiomatik und Empirie, S. 296 f. 132 Alexander von Humboldt: Versuche über die gereizte Muskel- und Nervenfaser. 2 Theile, Posen u.a. 1797, Bd. 2, S. 3–5.

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Grosse und den Menschen Ehrende. Man kann es leider nicht verheelen, dass man eine solche Denkungsart in unserm Zeitalter sehr verbreitet findet, und es ist wohl völlig gewiss, dass gerade diese Denkart mit dem Unglück, was in den letzten Zeiten so viele Staaten betroffen hat, in einem sehr genauen Zusammenhange steht; verstehen Sie mich recht, ich spreche nicht [von] dem so häufigen Mangel an Sinn für die Wissenschaften an sich, sondern von der Quelle, woraus die selbe fliesst, von der Tendenz überall zuerst nach dem Vortheil zu fragen, und alles auf physisches Wohlsein zu beziehen, von der Gleichgültigkeit gegen grosse Ideen, von der Abneigung gegen Kraftanstrengung bloss aus reinem Enthusiasmus für eine Sache an sich: ich meine, dass solche Charakterzüge, wenn sie sehr vorherrschend sind, einen starken Ausschlag bei den Katastrophen, die wir erlebt haben, gegeben haben können.133

Scharfsinnig und mit Blick auf die aktuellen bildungs- und wissenschaftspolitischen Debatten erstaunlich weitsichtig verficht Gauß nicht nur das reine, selbstzweckhafte Studium der Wissenschaften, sondern eröffnet darüber hinaus zum einen den Zusammenhang zwischen einer an Nützlichkeit und Effizienz orientierten gesamtgesellschaftlichen Mentalität und den dadurch nicht unwesentlich (mit-)verursachten zeitpolitischen Geschehnissen, zum anderen den Zusammenhang zwischen eben dieser allgemeinen „Denkart“ und einer dieser entsprechenden wissenschaftlichen Mentalität. Die hier formulierte wissenschaftstheoretische Einsicht in die gesellschaftliche Kontextabhängigkeit wissenschaftlicher Entwicklungen einerseits, in die Wissenschaftsabhängigkeit gesellschaftspolitischer Tendenzen andererseits, rückt Gauß’ Plädoyer für eine „reine“ Wissenschaft in ein anderes Licht: Die enthusiastische Hingabe an die wissenschaftliche „Sache an sich“ verbindet sich hier gerade nicht mit einer indifferenten Abkehr von gesamtgesellschaftlichen Prozessen, sondern ist vielmehr umgekehrt als Korrektiv und Einspruch gegen einen dem ökonomischpragmatischen Imperativ unterworfenen Zeitgeist und den aus diesem resultierenden wissenschaftlichen und politischen Konsequenzen zu verstehen. Es wäre jedoch verfehlt, aus diesem Plädoyer für eine reine, autonome Wissenschaft eine feindselige Haltung gegenüber der praktisch-technischen An-

|| 133 Gauß: Astronomische Antrittsvorlesung, S. 191 f. Seinen Lieblingsdichter Jean Paul zitierend fährt Gauß an anderer Stelle fort: „Die Sonnen sind […] zu etwas Höherem da, als bloß um zu Schrittzählern und Wegweisern für zurückkehrende Pfefferflotten zu dienen, und die Bestimmung der Musen ist eine höhere, als die, bloß Mägde unserer Bedürfnisse zu sein.“ Knapp 40 Jahre später wird er an Alexander von Humboldt schreiben: „Meine Überzeugung hier wie in andern wissenschaftl[ichen] Feldern ist, daß unsere Kenntnisse überall nur dann großartige Fortschritte machen, wenn man sie als Selbstzweck, nicht bloß Mittel, ansieht, ohne nach augenblicklicher Nützlichkeit zu fragen“ (Gauß an Alexander von Humboldt am 14. und 15.4.1846, in: Briefwechsel zwischen Alexander von Humboldt und Carl Friedrich Gauss, neu hrsg. v. Kurt-R. Biermann, Berlin 1977, S. 92–95, hier S. 95).

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wendung wissenschaftlicher Erkenntnisse ableiten zu wollen. „Die Wissenschaft“, so ein durch Moritz Abraham Stern überlieferter Ausspruch von Gauß, „soll die Freundin der Praxis sein, nicht aber ihre Sklavin“.134 Über den praktischen Nutzen der Astronomie schreibt er: Wenn diese [die rein theoretische, BM] Seite des Werths der Astronomie […] auch die schönere ist, wenn auch diese allein schon die Astronomie zu einem würdigen Gegenstande unseres Studiums macht, so wollen wir darum doch auch die andern Seiten derselben nicht übergehen, wo sich dieselbe auch in Ansehung ihres Einflusses auf das Wohl des physischen Menschen auf eine sehr glänzende Art zeigt. Manchen von diesen wohlthätigen Einflüssen haben wir freilich ganz zu schätzen verlernt, gerade dadurch, daß wir sie schon zu lange und immer geniessen, weil wir selten Veranlassung haben, uns in die Lage derer zu versetzen, die ihrer entbehren müssen.135

Wenn Gauß anschließend die Vorteile der Astronomie für das „Wohl des physischen Menschen“ ins Gedächtnis ruft – konkret erinnert er ihre Bedeutung für die Zeitbestimmung, die Schiffsnavigation, die Kartographie und, unter Verweis auf esoterisch-abstruse Deutungen ungewöhnlicher Himmelsphänomene wie Kometen, Sonnen- und Mondfinsternisse, nicht zuletzt für die „Befreiung von dem schimpflichen Aberglauben“136 –, dann demonstriert er damit nicht nur seine Überzeugung, dass die Theorie die Praxis nach sich ziehe wie ein Magnet das Eisen,137 sondern deckt, indem er den Nutznießern des zivilisatorischen Fortschritts eine Art der Wissenschaftsvergessenheit und -ignoranz vorwirft, einen weiteren Charakterzug des ausschließlich auf Effizienzmaximierung versessenen Mentalitätstypus auf. Ein weiterer, bereits angesprochener Aspekt lässt sich an den zitierten Passagen aufzeigen: Gauß bedient sich vorwiegend ästhetischer Argumentationsstrategien, um die Vorrangstellung „reiner“ Wissenschaft zu legitimieren. Anders jedoch als Humboldt geht es Gauß dabei nicht um das Programm einer Versöhnung von Wissenschaft und Kunst durch die ästhetisch-anschauliche Behandlung naturwissenschaftlicher ‚Stoffe‘; vielmehr bedient sich Gauß des Vokabulars einer begrifflich und philosophisch bereits überformten Autonomieästhetik und appliziert es jenseits der Kunst auf das Gebiet der reinen Wis-

|| 134 Zitiert nach Erich Worbs: Carl Friedrich Gauss. Ein Lebensbild, Leipzig 1955, S. 117. 135 Gauß: Astronomische Antrittsvorlesung, S. 194. 136 Ebd., S. 194–198. 137 Dieses Diktum von Gauß ist überliefert im Vorwort eines Lehrbuchs des Hamburger Mathematikers und Gauß-Schülers Lübsen, hier zit. n. Ivo Schneider: Technik in der Sicht der exakten Naturwissenschaften am Beispiel von Archimedes, Christiaan Huygens und Carl Friedrich Gauß, in: Kultur & Technik 6 (1982), S. 21–41, hier S. 41.

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senschaft. Die Ausweitung des Geniebegriffs auf Künstler, Wissenschaftler und Staatsmänner gleichermaßen mag in der ästhetischen Diskussion des 18. Jahrhunderts keine Seltenheit darstellen; um so bemerkenswerter ist es, dass Gauß sich gerade nicht auf die ‚naturalistisch‘ begründeten Geniekonzeptionen der Aufklärung stützt,138 sondern sich klassisch-antiker Inspirationstopoi bedient und damit die wissenschaftliche Tätigkeit nicht nur an die Kunst, sondern auch an die Metaphysik rückbindet. So spricht er in einem Brief an Schumacher von „den gleichsam unbewußten Inspirationen des Genies, die niemand erzwingen kann“,139 und auch gegenüber Wilhelm Olbers bekennt er ganz jenseits aller rhetorischen Koketterie: Alles Brüten, alles Suchen ist umsonst gewesen, traurig habe ich jedes Mal die Feder niederlegen müssen. Endlich vor ein paar Tagen ist’s gelungen – aber nicht meinem mühseligen Suchen, sondern bloß durch die Gnade Gottes, möchte ich sagen: wie ein Blitz einschlägt, hat sich das Rätsel gelöst: ich selbst wäre nicht imstande, den leitenden Faden zwischen dem, was ich vorher wusste, dem, womit ich die letzten Versuche gemacht hatte – und dem, wodurch es gelang, nachzuweisen.140

Die Verschmelzung von geistigem Vermögen und Naturanlage, von inventio und dispositio, im Akt der ‚genieszientifischen‘ Schöpfung, manifestiert sich in der neuen Erkenntnis und deren schönen Gestalt. Während Gauß vor allem seine mathematischen Erkenntnisse wiederholt als plötzliche Eingebungen beschreibt, war ihm die Formulierung und Darstellung derselben harte Arbeit. „Sie wissen“, schreibt er wiederum an Schumacher, „dass ich langsam schreibe, allein dies kommt hauptsächlich daher, weil ich mir nie anders gefallen kann,

|| 138 Genialische Inspirations- und Produktionsvorgänge verdanken sich demnach der originalen, schöpferischen Naturgabe des künstlerisch oder wissenschaftlich kreativen Menschen. Vgl. exemplarisch die Definitionen bei Lessing und Kant. 139 Gauß an Schumacher, zit. n. Küssner: Carl Friedrich Gauß und seine Welt der Bücher, S. 21. 140 Gauß an Olbers (3.9.1805), in: Wilhelm Olbers. Sein Leben und seine Werke, 2 Bde., hrsg. v. C. Schilling, Berlin 1900, hier 2. Bd., S. 268, Nr. 133. „Gott rechnet“, soll Gauß einem Bericht seines Arztes zufolge gesagt und damit dem Gedanken Ausdruck verliehen haben, dass es die Zahl ist, welche die kosmische Ordnung durchwaltet (vgl. Worbs: Carl Friedrich Gauß, S. 17). In dieser Sakralisierung der mathesis pura berührt sich Gauß durchaus mit der von ihm zurückgewiesenen spekulativen Naturphilosophie der Romantik. Vgl. exemplarisch Novalis, für den die „ganze Mathematik […] eigentlich eine Gleichung im großen für die andern Wissenschaften“ und der „Begriff der Mathematik“ der „Begriff der Wissenschaft überhaupt“ ist. Entsprechend lautet die Forderung: „Alle Wissenschaften müssen daher streben, Mathematik zu werden“ (Novalis: Allgemeines Brouillons, in: Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs, hrsg. v. Paul Kluckhohn u. Richard Samuel, Bd. 3, Stuttgart ²1968, S. 50 u. 148).

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als wenn in kleinem Raume möglichst viel ist, und kurz zu schreiben viel mehr Zeit kostet als lang“.141 Sein Bemühen, „jede mathematische Darstellung auf die einfachste und eleganteste Form zu verdichten“142 und „seinen Untersuchungen die Form vollendeter Kunstwerke zu geben“143 – „pauca sed matura“ lautete entsprechend sein Grundsatz –, gereichte ihm allerdings nicht nur zum Vorteil. Dass er sich mit seiner pedantischen „Strenge der Beweisführung“ und der exzessiv betriebenen „synthetischen“ Darstellungsmethode144 mehrfach um die Erstpublikation relevanter mathematischer Forschungsergebnisse brachte145 und sich überdies den Vorwurf des Wissenschaftshermetismus einhandelte, ist inzwischen vielfach belegt. So kritisiert der Mathematiker Abel: „Er macht es wie der Fuchs, der seine Spuren im Sande mit dem Schwanz auslöscht“ und auch Jacobi moniert die erschwerte intersubjektive Nachvollziehbarkeit seiner „starren und gefrorenen“ Beweise, „so daß man sie erst auftauen muß“.146 Das Darstellungsideal der brevitas, das einhergeht mit einer äußersten Abstraktion und Verdichtung der Ergebnisse unter Verzicht auf die Wiedergabe unnötiger gedanklicher und formaler Zwischenschritte, ist aber nicht nur ein Indiz dafür, dass es Gauß primär nicht auf den Aspekt des docere ankam,147 sondern auf die Reinheit der Erkenntnis, welcher wiederum eine formalästhetische Reinheit zu entsprechen hatte. Unweigerlich sieht man sich an Nietzsches attizistisches,

|| 141 Gauß an Schumacher (2.4.1833), zit. n. Herbert Meschkowski: Denkweisen großer Mathematiker. Ein Weg zur Geschichte der Mathematik [1961], 2. überarbeitete Auflage, Braunschweig 1967, S. 55. 142 Worbs: Carl Friedrich Gauss, S. 227. 143 Waltershausen: Gauß zum Gedächtnis, S. 82. „Man dürfe einem guten Bauwerke, pflegte er [Gauß] zu sagen, nach seiner Vollendung nicht mehr das Gerüste ansehen“ (ebd.). 144 Vgl. ebd., S. 82. Die „synthetische Methode“ habe Gauß „beim Studium des Archimed und Newton lieb gewonnen [….]. Sie ist zwar an Kürze und Bündigkeit vor der analytischen Methode ausgezeichnet, allein der Gang der Entdeckung bleibt verschleiert und es scheint öfter, dass er den Weg zum blossen Zwecke der Belehrung absichtlich in seinen Schriften nicht habe betreten wollen“ (ebd.). 145 Wie aus den Tagebüchern von Gauß hervorgeht, hatte er die Theorie der elliptischen Funktionen bereits 1800 in ihren Grundzügen entwickelt und damit Jahre bevor Jacobi und Abel, die offiziellen Begründer dieser Theorie, ihre Ergebnisse erstmals publizierten. Weil er, wie er 1829 an Bessel schreibt, „das Geschrei der Böotier fürchtete“, verzichtete Gauß auch auf die Publikation seiner Erkenntnisse zur nichteuklidischen Geometrie; in diesem Fall waren es Lobatschewski und Bolyai, denen der Erstbegründungsruhm zufiel. Vgl. Meschkowski: Denkweisen, S. 55 f. sowie Hans Reichardt: Gauß und die Anfänge der nicht-euklidischen Geometrie, Leipzig 1985, S. 32. Mathematische Beispiele für das von Gauß praktizierte Verfahren extremer Vereinfachung finden sich ebenfalls bei Meschkowski: Denkweisen, S. 56 ff. 146 Zit. nach Meschkowski: Denkweisen, S. 56. 147 Vgl. von Waltershausen, Gauß zum Gedächtnis, S. 35.

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durch „strenge Überlegung, Gedrängtheit, Kälte [und] Schlichtheit“ ausgezeichnetes Stilideal erinnert.148 Die „kalte Schönheit“,149 mit der Gauß’ mathematischer Stil charakterisiert wird, steht dabei jener Vorstellung von Schönheit entgegen, die Gauß von künstlerischen Werken hatte. So äußert er sich 1827 in einem Brief an Schumacher: Ihre Erklärung der Stelle bei Virgil bin ich jetzt auch sehr geneigt, gelten zu lassen. Was mich anfangs dabei bedenklich machte, war die Überzeugung, daß der Dichter uns nicht Abstraktionen, sondern sinnliche Bilder geben muß und daß er doppelten Tadel verdient, wenn er das an sich sinnlich malende Wort nur gebraucht, eine Abstraktion auszudrücken.150

War es Humboldts Bestreben, die „Unmittelbarkeit der Anschauung mit der Wissenschaftsförmigkeit der Theorie zu vereinen“,151 erscheinen Wissenschaft und Literatur bei Gauß als zwei völlig voneinander getrennte Bereiche. Die Ästhetik der Mathematik, bis heute mit den traditionellen Kategorien des Schönen (Symmetrie, Einfachheit, Ordnung, Kohärenz, Eleganz, Harmonie) beschrieben,152 ist eine um den Aspekt der aisthesis kupierte Ästhetik. Wissenschaft, namentlich mathematische Wissenschaft, ist primär Abstraktion, d.h. sie transzendiert die „konkreten Ereignisse des wirklichen Geschehens“, ohne von der Wirklichkeit getrennt zu sein:153 Die Mathematik verhält sich zur Natur nicht als das ganz ‚Andere‘, sondern sie bildet die Natur in äußerster Verdichtung und Synthetisierung ab. Mit der nichteuklidischen Geometrie, als deren ‚Mitentdecker‘ Gauß gilt und von der an späterer Stelle noch ausführlich zu sprechen sein

|| 148 Friedrich Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches, in: ders.: Werke in drei Bänden, hrsg. v. Karl Schlechta, Bd. I, München 71973, S. 565. 149 Meschkowski: Denkweisen, S. 56. 150 Zit. n. Worbs: Carl Friedrich Gauß, S. 232. Obwohl kein Freund Goethes – er bemängelte seine Gedankenarmut; vor allem aber war die Beziehung zu Goethe durch die Farbenlehre und die gegensätzliche Einstellung der beiden zu Newton negativ geprägt (vgl. Küssner: Carl. Friedrich Gauß und seine Welt der Bücher, S. 90) –, bewunderte er dennoch die „vollendete Form der Goetheschen Lyrik“ (Worbs: Carl Friedrich Gauß, S. 232). Dem „vortrefflichen Jean Paul“ hingegen bescheinigte Gauß Gemütstiefe, Gedankenreichtum und Humor (vgl. Küssner: Carl Friedrich Gauß und seine Welt der Bücher, S. 90), aber auch, dass er die Vision einer Zeit hatte, „in der Flotten von Luftschiffen über die Erde ziehen“ (Gauß, zit. n. ebd., S. 129). Zu Vergil vgl. auch V 85. 151 Lepenies: Der Wissenschaftler als Autor, S. 130. 152 Vgl. dazu Gideon Engler: Aesthetics in Science and Art, in: The British Journal of Aesthetics 30, Nr. 1 (1990), hrsg. v. Terry J. Diffey, S. 24–34. 153 So die gelungene Definition von „Abstraktion“ nach Alfred North Whitehead: Wissenschaft und moderne Welt [1925], Frankfurt/M. 1984, S. 186.

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wird, deutet sich jedoch ein Paradigmenwechsel in der Auffassung von Wissenschaft und Natur an, die den Humboldtschen Kosmos endgültig verabschieden wird. „Man könne kaum ahnen“, lässt Kehlmann seinen Helden Gauß bezeichnenderweise sagen, „wohin der Weg der gekrümmten Räume noch führen werde. Er selbst begreife erst in groben Zügen“ (V 12). Für Humboldt hingegen ist das „Ende des Wegs […] in Sicht, die Vermessung der Welt fast abgeschlossen. Der Kosmos würde ein begriffener sein“ (V 238).154

3.3 Fiktionalisierung ‚fiktionaler‘ Strategien der Wissenschaftshistoriographie und Wissenschaftsbiographie 3.3.1 Gattungsformale Strategie: Anekdotisches Erzählen Mit der Einlagerung tradierter Anekdoten in den fiktionalen Diskurs schließt Kehlmann an zwei Entwicklungslinien an, die für die Gattungsgeschichte der Anekdote im ausgehenden 18. Jahrhundert kennzeichnend sind:155 Zum einen an die aus der Antike stammende Praxis der historischen Anekdote als einer Zweckform der Historiographie und Biographik und der damit einhergehenden „zunehmenden Spezialisierung auf bestimmte Personen“,156 zum anderen an die vor allem durch Heinrich von Kleist und Johann Peter Hebel begründete Tradition der literarischen Anekdote, die mehr und mehr auch zum integralen Be-

|| 154 Vgl. hierzu auch Kehlmann/Kleinschmidt: Requiem für einen Hund, S. 83 f. Zu einer rationalitäts- und zivilisationskritischen Lesart dieser und ähnlicher Passagen vgl. exemplarisch Pütz: Daniel Kehlmann. Die Vermessung der Welt, S. 51–57. 155 Vgl. Ernst Rohmer: Art. „Anekdote“, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, hrsg. v. Gert Ueding, Bd. 1, Tübingen 1992, Sp. 566–579, v.a. Sp. 576 f.; zum anekdotischen Erzählen bei Kehlmann vgl. auch Andrea Albrecht: „Spuren menschlicher Herkunft.“ Mathematik und Mathematikgeschichte in der deutschen Gegenwartsliteratur (Daniel Kehlmann, Michael Köhlmeier, Dietmar Dath), in: Zahlen, Zeichen und Figuren: mathematische Inspirationen in Kunst und Literatur, hrsg. v. Andrea Albrecht, Gesa von Essen u. Werner Frick, Berlin, Boston 2011, S. 543–563, v.a. S. 548–553. 156 Ebd., Sp. 576. Zur anthropologischen Fundierung der Anekdote – sie ist gebunden an eine spezifische Auffassung integrer, unbeschädigter Individualität – vgl. Walter Ernst Schäfer: Anekdote – Antianekdote. Zum Wandel einer literarischen Form in der Gegenwart, Stuttgart 1977, S. 17 ff. sowie Joachim Jacob: „Ich will hier rein“ – Die Anekdote als literarische Form, in: Sprache und Literatur 97 (2006), S. 14–31, bes. S. 19 f.

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standteil in Novellistik und historischem Roman avancierte.157 Durch diesen gattungshistorischen ‚Doppelanschluss‘ rücken nicht nur die (seit jeher) problematischen gattungstheoretischen Merkmale und Funktionen der Anekdote differenziert ins Blickfeld, sondern werden, indem Kehlmann sie explizit zu einem integralen Bestandteil seines anekdotischen Erzählens macht – die Theoriewertigkeit der Anekdote wird gleichsam miterzählt – auch zu einem Instrument der Korrektur, Kritik und Revision wissenschaftshistoriographischer und -biographischer Darstellung. Die im folgenden exemplarisch unternommene Mikroanalyse einer berühmten Anekdote aus dem Leben von Carl Friedrich Gauß soll zeigen, wie es gerade über das anekdotische Erzählen gelingt, die Differenz von wissenschaftshistorischem bzw. -biographischem und fiktionalem bzw. metafiktionalem Diskurs im Medium des Fiktiven auch für eine Theorie nicht-fiktionaler Wissenschaftshistoriographie und -biographie produktiv zu machen. Die Anekdote, die von der mathematischen Genialität des Knaben Gauß handelt, begegnet dem Leser im ersten Kapitel und ist eingebettet in eine Abfolge von wissenschaftlichen Ausführungen und autobiographischen Erinnerungen, die Gauß-Vater seinem ungeliebten Sohn Eugen angedeihen lässt. Beide befinden sich auf der Kutschfahrt nach Berlin und haben nach einigen Schwierigkeiten die Grenze, die das Königreich Hannover von „preußischem Boden“ (V 11) trennt, soeben passiert. Gauß war nun aufgeräumt, fast heiter. Er sprach über Differentialgeometrie. Man könne kaum ahnen, wohin der Weg in die gekrümmten Räume noch führen werde. Er selbst begreife erst in groben Zügen, Eugen solle froh sein über seine Mittelmäßigkeit, manchmal werde einem angst und bange. Dann erzählte er von der Bitternis seiner Jugend. Er habe einen harten, abweisenden Vater gehabt, Eugen könne sich glücklich schätzen. Gerechnet habe er noch vor seinem ersten Wort. Einmal habe der Vater beim Abzählen des Monatslohns einen Fehler gemacht, darauf habe er zu weinen begonnen. Als der Vater den Fehler korrigiert habe, sei er sofort verstummt. Eugen tat beeindruckt, obgleich er wusste, dass die Geschichte nicht stimmte. Sein Bruder Joseph hatte sie erfunden und verbreitet. Inzwischen musste sie dem Vater so oft zu Ohren gekommen sein, dass er angefangen hatte, sie zu glauben. Gauß kam auf den Zufall zu sprechen, den Feind allen Wissens, den er immer habe besiegen wollen. Aus der Nähe betrachtet, sehe man hinter jedem Ereignis die unendliche Feinheit des Kausalgewebes. Trete man weit genug zurück, offenbarten sich die großen Muster. Freiheit und Zufall seien eine Frage der mittleren Entfernung, eine Sache des Abstands. Ob er verstehe? (V 12 f.; Hervorhebung BM)

|| 157 Vgl. ebd. sowie Sonja Hilzinger: Anekdotisches Erzählen im Zeitalter der Aufklärung. Zum Struktur- und Funktionswandel der Gattung Anekdote in Historiographie, Publizistik und Literatur des 18. Jahrhunderts, Stuttgart 1997, S. 222 u. 233.

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Zum Vergleich sei zunächst die erste schriftliche Fixierung dieser in keiner mir bekannten Gaußbiographie fehlenden Anekdote durch Sartorius von Waltershausen zitiert: Er [Gauß, BM] selbst pflegte oft scherzweise zu sagen, er habe früher rechnen als sprechen können. Gauss’ Vater betrieb den Sommer über ein Maurer-Handwerk. Am Sonnabend pflegte er für die geschlossene Woche seinen unter ihn arbeitenden Gesellen den Lohn auszuzahlen, bei welcher Gelegenheit jenen, welche nach dem Feierabend gearbeitet hatten, für jede einzelne Stunde ihrer ausserordentlichen Beschäftigung eine dem Tagelohn verhältnissmässige Vergütung zugeschrieben wurde. Nachdem der Meister für die verschiedenen Betheiligten seine Rechnung geschlossen hatte, und im Begriff war das Geld zu verabfolgen, erhebt sich der kaum dreijährige Knabe, der unbemerkt den Verhandlungen des Vaters gefolgt war, von seinem ärmlichen Lager und ruft mit kindlicher Stimme: „Vater, die Rechnung ist falsch, es macht so viel,“ indem er eine gewisse Zahl nannte. Die Rechnung wurde darauf mit grosser Aufmerksamkeit wiederholt und zum Erstaunen aller Anwesenden genau so gefunden, wie sie von dem Kleinen angegeben war.158

Gegenüber der historischen Quelle ist Kehlmanns Wiedergabe drastisch kontextreduziert und auf die elementarste Funktion, die der Anekdote innerhalb der biographischen Tradition zukommt, zentriert, namentlich auf die „Charakterisierung einer historischen Person“.159 Während von Waltershausen das auf Gauß selbst zurückgehende (und auch von Kehlmann paraphrasierte) Diktum, er, Gauß, habe früher rechnen als sprechen können, durch das Modaladverb „scherzweise“ einem möglichen Fiktionsverdacht aussetzt, berichtet er die Episode vom kindlichen Mathematikgenie in der Form eines authentischen Ereignisses und suspendiert solcherart ihren anekdotischen Charakter. Aufschlussreich ist indessen, dass von Waltershausen seine eigene schriftliche Wiedergabe dieser und weiterer „ausserordentlichste[r] Beweise [d]er geistigen Fähigkeiten“ seines Lehrers Gauß ausdrücklich metabiographisch legitimiert: Gauss bewahrte dem engen kleinen Kreise des elterlichen Hauses, worin seine erste Jugend verstrich, bis an sein Lebensende ein Andenken voll rührender Pietät und wandte gern noch im hohen Alter seine Erinnerung auf unzählige kleine charakteristische Züge aus seiner frühesten Kindheit zurück, welche die äusserlich beschränkten, bescheidenen Verhältnisse derselben wiederspiegeln und in denen man die wunderbare Begabung des später so grossartig entfalteten Geistes schon einzelne Funken sprühen sieht. Er hatte sie treu im Gedächtnis behalten und wusste durch seine heiter gemüthliche, lebendige Erzählweise, worin bei ihrer Wiederholung nie die kleinste Abweichung vorkam, einen erhöhten,

|| 158 Von Waltershausen: Gauss zum Gedächtniss, S. 11 f. 159 Rohmer: Art. „Anekdote“, Sp. 568.

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unbeschreiblich lieblichen Reiz ihnen zu verleihen, der im todten Buchstaben, wenn wir versuchen wollten einzelne davon hier wiederzugeben, leider verloren gehen würde.160

Dieser apologetische Auftakt weist die im folgenden wiedergegebenen Berichte der mündlichen Autorschaft Gauß’ zu. Der Authentizitätsgrad seiner Erinnerungen, so wird deutlich gemacht, wurde weder durch den langen Zeitabstand zwischen dem Erinnertem und dem Vorgang der Erinnerung noch durch die lebendige narrative Ausgestaltung derselben tangiert. Der Hinweis, dass der Versuch seitens des Biographen, die Erzählungen schriftlich wiederzugeben mit dem Verlust ihres „unbeschreiblich lieblichen Reizes“ einhergehen würde, suggeriert zunächst die Absicht, auf die Wiedergabe gänzlich zu verzichten. Wenn sich der Bericht dieser Ereignisse dennoch unmittelbar anschließt, relativiert sich die Semantik dieser Verzichtserklärung dahingehend, dass der Biograph lediglich auf die „lebendige Erzählweise“ verzichtet, dafür aber die Geschehnisse in ihrer reinen historischen Faktizität wiedergibt. Der Weg von der mündlichen zur schriftlichen Überlieferung wird damit als ein Purifikationsprozess ausgewiesen, an dessen Ende die historisch-biographische Wahrheit steht.161 Ein kurzer Blick auf weitere Gaußbiographien zeigt, dass die Wiedergabe der genannten Kindheitsepisode prinzipiell zwei Mustern folgt: Entweder gehen ihnen – wie bei Waltershausen – metahistoriographische bzw. metabiographische Reflexionen voraus, die das ‚Anekdotische‘ dieser Episoden zwar zu bedenken geben, es aber dadurch dementieren, dass sie das fiktionale bzw. das historisch nicht authentisch verbürgte Moment unausgesprochen ‚wegretouschieren‘; oder sie verzichten auf eine Problematisierung des ontologischen Wahrheitsstatus der Episoden, indem sie diese ‚einfach‘ als ein historisches Faktum darstellen.162 Bei Worbs (1955) etwa findet sich eine dezidiert narrativ

|| 160 Von Waltershausen: Gauss zum Gedächtnis, S. 10 f. Hervorhebung BM. 161 Durch die Kopplung an den „todten Buchstaben“ erscheint diese historische Wahrheit in ihrer Nüchternheit zwar pejorativ besetzt, eine argumentative Volte, die eine doppelte Funktion erfüllt: Zum einen handelt es sich – ebenso wie bei der ihr vorausgehenden Verzichtserklärung, die durch das eigene Unvermögen, den „lieblichen Reiz“ der Erinnerungen im Vorgang ihrer Verschriftlichung zu erhalten, begründet wird – um einen Bescheidenheitstopos, der das hierarchische Verhältnis zwischen Erzähler und Zuhörer, biographierter Person und Biograph spiegelt: Der devote Schüler von Waltershausen blickt zu seinem verstorbenen Lehrer Gauß voller Bewunderung auf – eine Haltung, die den Duktus der gesamten Biographie prägt. Zum anderen wird durch die dezidierte Zurückweisung des Fiktionsverdachts der biographische Bericht in seinem Wahrheitsgehalt beglaubigt. 162 Ein analoges Operieren mit Klischees und Stereotypen, mit „Surrogaten und Extrakten“ reklamiert Ette für die ältere Humboldt-Literatur, die nicht zuletzt deshalb als „Steinbrüche für

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gehaltene Fassung des besagten Ereignisses: Der Biograph tritt hier als auktorialer Erzähler auf, dem selbst der Einblick in die Träume seines biographierten Helden nicht verwehrt ist.163 Waldo Dunnington, der 1954 die bisher umfangreichste Gaußbiographie vorgelegt hat, übersetzt das bei Waltershausen geschilderte Kindheitsereignis ohne Quellenangabe Wort für Wort ins Englische; eine geringfügige, jedoch signifikante Änderung nimmt er lediglich in der metabiographischen Einführung vor: „Up to the end of his life Gauss loved to recall numerous episodes of his early childhood. These anecdotes reveal unmistakably occasional sparks of genius. He remembered them correctly and knew how to lend them rare charm by his lively, happy way of narrating; never did the slightest deviation occur in the retelling of them“.164 Die ausdrücklich so genannten „anecdotes“ positioniert Dunnington zwar zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit, zwischen Erzählung als Form und Geschichte als faktischem Gehalt, doch bleibt diese Einsicht offenbar ohne Folgen für die historische Wahrheit. Indem Dunnington ferner auf die Angabe der Quelle Waltershausen verzichtet (die Tatsache, dass andere historische Quellen im Fußnotenapparat durchaus genannt werden, legt die Vermutung nahe, dass an dieser Stelle bewusst auf eine bibliographische Angabe verzichtet wurde), suggerieren diese metabiographischen Zeilen und erst recht die im wörtlichen Anschluss an Waltershausen berichteten Episoden eine Zeit- und Augenzeugenschaft seitens des Biographen: Zwischen Waltershausens und Dunningtons Biographie liegt zwar ein knappes Jahrhundert, doch wird dieser Zeitenabstand gerade nicht produktiv-kritisch genutzt, sondern schlichtweg suspendiert. Dass der Biograph Dunnington diesen Zeitabstand und mit ihm auch den Urheber der ersten Gaußbiographie gleichsam ‚überspringt‘, die Perspektive Waltershausen

|| Episoden, Anekdoten und Einsichten genutzt wurden“ (Ette: Alexander von Humboldt in Daniel Kehlmanns Welt, S. 37). Vgl. hierzu v.a. auch Daum: „Der Versuch, Humboldts Werk in schlüssigen Formeln zu verdichten und seine Persönlichkeit auf einen Nenner zu bringen, ist schon immer auf allen Seiten – jenen der Kritiker wie denen der Bewunderer – zu finden gewesen. […] Die Deutungsvielfalt, die in Humboldts Arbeiten [wie auch in seiner Person, BM] angelegt ist, unterläuft letztlich eine Deutungsgeschichte, die sich selbst in linearer Abfolge historisiert und in immer neuen Topoi zusammenfügt“ (Daum: Die Ironie des Unzeitgemäßen, S. 9). Dies gelte auch, wie Daum in leichtfüßig ironischem Duktus darlegt, für die „aus der postmodernen Literaturwissenschaft gespeisten Humboldtdeutungen“, die im Unterschied zu den älteren Chiffren „theoriegeleitet“ seien – „sie sind weniger auf die Person denn auf die Textur von Humboldts Werken und seine Sichtweise der Welt bezogen“ –, jedoch nicht weniger dazu beitragen, „noch mehr Formeln zu prägen“ (ebd., S. 10). 163 Vgl. Worbs: Carl Friedrich Gauß, S. 17. 164 Guy Waldo Dunnington: Carl Friedrich Gauss. Titan of Science [1954], with additional material by Jeremy Gray u. Fritz Egbert Dohse, New York 2004, S. 11 f.

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unmittelbar einnimmt und das Geschehen in der Manier des Augenzeugen berichtet, entspricht in narratologischer Hinsicht dem Versuch, eine Wahrheitsfiktion zu installieren, die die Aufhebung der sowohl fiktions- als auch historischchronologisch bedingten Distanz zwischen Darstellung und Dargestelltem, Biograph und biographiertem Leben suggeriert und den Wirklichkeits-, Dokumentar- und Wahrheitscharakter des Geschilderten akzentuiert. Während selbst noch neueste Biographien diese Strategien unreflektiert entlehnen,165 räumt Karl Bühler in seiner 1981 erschienenen Biographie in der Einleitung zum Kindheits- und Jugendkapitel unumwunden ein: „Durch Gauß selber wurde eine Anzahl Kindheitsanekdoten, die er als alter Mann zu erzählen liebte, überliefert und von seinen Freunden und Schülern weitergegeben. Diese Geschichten sind Bestandteil unsres traditionellen Gaußbilds, aber es ist weder möglich noch lohnend, Mythos und Wirklichkeit zu trennen.“166 Die Kindheitsgeschichten werden dann zwar durchgängig im Modus des Indikativisch-Faktischen dargestellt, doch erfolgt an gegebener Stelle in einer zusätzlichen Anmerkung (die Biographie enthält neben einem am Ende eingefügten Anmerkungsapparat auch Fußnoten) noch einmal der Hinweis: „Der Inhalt dieses und des vorhergehenden Absatzes sind Teil der Überlieferung, können aber nicht belegt werden.“167 An dieses dritte Muster biographischen Erzählens knüpft, um ein letztes Beispiel zu geben, auch Peter Ullrich in seiner kurzen Abhandlung über Gauß’ Herkunft, Schul- und Studienzeit an. Mit explizitem Hinweis auf Waltershausen introduziert das Kapitel über die „Frühen Belege des mathematischen Talents“ mit den Sätzen: „Die uns bekannten Berichte über Gauß’ bereits im Kleinkindalter hervortretende geistige Fähigkeiten entstammen offenbar den Erinnerungen seiner Familie, insbesondere denen seiner Mutter. Gauß selbst hat diese Erzählungen in seinen späteren Lebensjahren wiederholt zu Gehör gebracht, wobei er wohl auf eigene Ausschmückungen verzichtete [an dieser Stelle erfolgt

|| 165 Ähnlich verfahren Gerd Biegel und Karin Reich in ihrer 2005 in Braunschweig erschienenen Biographie: Carl Friedrich Gauß: Genie aus Braunschweig – Professor in Göttingen. Eingeleitet mit dem Satz „Auch folgende Geschichte geht auf seine [Gauß’, BM] eigenen Erzählungen zurück“ wird besagte Kindheitsepisode in enger Anlehnung an Waltershausen, jedoch wiederum ohne Angabe der Quelle, nacherzählt. 166 Walter K. Bühler: Gauss. A biographical Study, New York 1981; dt. Gauss. Eine biographische Studie, Berlin, Heidelberg u.a. 1986, S. 5. 167 Ebd., S. 174. Auch hier unterbleibt der Hinweis auf Waltershausen, wobei Bühler die in Rede stehende Anekdote ohnehin auf den Satz reduziert: „Rechnen konnte er schon im Alter von drei Jahren.“ Bühler ist der einzige mir bekannte Biograph, dem es explizit um historische Redlichkeit geht (exemplarisch für die gehäuften Hinweise auf die unsichere Quellenlage vgl. ebd., Fußnote 3, S. 9 sowie Anmerkung 2,1, S. 174, II.1, S. 175).

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der Hinweis auf von Waltershausen]. Auch wenn also nicht sämtliche Details als historisch verbürgt angesehen werden können, geben diese Berichte doch einen Eindruck davon, wie Gauß und seine Begabung von seiner Umgebung wahrgenommen wurden.“168 Drei gegenüber den Vorläuferbiographien vorgenommene Veränderungen sind hier von Belang: Erstens verlängert Ullrich (allerdings ohne Berufung auf eine Quelle) die Kette der mündlichen Überlieferer (nicht mehr Gauß, sondern „offenbar“ seine Familie, insbesondere seine Mutter, steht am ‚originären‘ Ursprung des Überlieferungsgeschehens), wodurch sowohl die Autor- und Urheberschaft dem Fragwürdigen und Anonymen ausgesetzt als auch der sich sozusagen in Permanenz vergrößernde Zeitenabstand akzentuiert wird. Zweitens zieht er die Authentizität der Waltershausenquelle in Zweifel, indem er dessen Authentizitätsdiktum aus dem Reich der Wahrheit ins Reich der Wahrscheinlichkeit verlagert („wobei er [Gauß, nach Aussage von Sartorius] wohl auf eigene Ausschmückungen verzichtete“), umgekehrt mit seiner eigenen These über die Herkunft der Kindheitserinnerungen zwar einen erhöhten Wahrscheinlichkeitsgrad beabsichtigt und insinuiert, durch die fehlende Quellenberufung jedoch nur eine weitere Hypothese in den Raum stellt; ungeachtet dessen bewirkt jedoch auch dieses Verfahren eine Vergrößerung der kritischreflexiven Distanz zwischen Biograph und Leser auf der einen und biographierter Person auf der anderen Seite. Drittens schließlich verschiebt Ullrich – wie zuvor implizit bereits Bühler – den Wahrheitsanspruch von der „historisch verbürgten“ objektiven Wahrheit zu einer nurmehr ‚impressionistisch‘ vermittelbaren Wahrheit subjektiver Wahrnehmungsperspektiven. Es geht also nicht mehr um den Anspruch, das Wesen einer realen historischen Person authentisch darzustellen und zu bezeugen, sondern um den Anspruch, das – seinerseits historisch wandelbare – Bild eines Menschen zu geben. Wollte man den hier lediglich exemplarisch skizzierten biographiegeschichtlichen Prozess auf einen Nenner bringen, so ließe sich in Anlehnung an Nünning auch im Bereich des Biographischen von einer zunehmenden Akzentuierung des Metabiographischen sprechen. Im Falle der Gauß’schen Kindheitserlebnisse, speziell derjenigen, die zum Beleg seiner bereits früh sich bemerkbar machenden mathematischen Genialität herangezogen werden, ist dieser Prozess, der vor allem durch die dürftige Quellenlage motiviert ist, gekoppelt mit dem Vorgang einer zunehmend extrapolierten ‚Anekdotisierung‘ der Ereignisse:

|| 168 Peter Ullrich: Gauss als Mensch – Herkunft und Frühe Begabung. Herkunft, Schul- und Studienzeit von Carl Friedrich Gauß, in: „Wie der Blitz einschlägt, hat sich das Räthsel gelöst“. Carl Friedrich Gauß in Göttingen. Katalog zur Ausstellung im Alten Rathaus am Markt Göttingen, hrsg. v. Elmar Mittler, Göttingen 2005, S. 17–34, hier S. 18.

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Erst der metabiographische, das eigentlich darzustellende Ereignis kontextualisierende Diskurs, ist es, der das biographische Ereignis zur Anekdote macht. Erst dann lässt sich von dieser behaupten: „Anekdoten […] erzählen keine Fakten, negieren andererseits auch das Faktische und das Repräsentative nicht einfach, sondern problematisieren das Faktische im Horizont des Fiktiven und bringen es in die Schwebe.“169 Kehlmann nun integriert diese Anekdote dergestalt, dass Gauß-Vater sich in der Gegenwart seines Sohnes Eugen an das Vorkommnis erinnert. Die epische und historische Distanz wird dabei durch die fiktional-unmittelbare Inszenierung der Erinnerung bzw. deren Weitergabe, aufgehoben und der Leser gleichsam zum impliziten Zeugen des Gesprächs gemacht; zugleich aber wird diese Distanz durch die indirekte Rede etabliert bzw. aufrechterhalten.170 Die Etablierung dieser Kommunikationssituation als Erinnerungssituation geschieht in enger Anlehnung an die Berichte der Biographen: Auch im Roman ist es Gauß selber, der die Anekdote erinnert und als Erinnerung weitergibt, wobei der Adressat, der – sieht man von Waltershausen ab – in den Biographien anonym bleibt, hier in der Gestalt Eugens eine Konkretisierung erfährt. Vergleicht man den Inhalt der Anekdote mit den biographischen Überlieferungen, fällt auf, dass Kehlmann das Geschehen zugunsten einer erhöhten Wahrscheinlichkeit umdichtet: Die ‚Tatsache‘, dass der Dreijährige den Rechenfehler seines Vaters lediglich beweinte, scheint wahrscheinlicher und plausibler als die offizielle Version, wonach der kleine Knabe diesen Fehler expressis verbis erkannt und korrigiert haben soll. Der durch diese fiktional vorgenommene historischrealistische Plausibilisierung des Geschehens erzielte Effekt der Entmythologisierung des Genies, scheint gegenüber der nachfolgend inszenierten metabiographischen Deutung durch Eugen ein lediglich sekundärer zu sein: Die Plausi|| 169 Jacob: „Ich will hier rein“ – die Anekdote als literarische Form, S. 29. In den untersuchten Biographien wird die um den genialischen Knaben Gauß kreisende Episode jeweils im Indikativ, Präteritum erzählt, d.h. es fehlen diejenigen Signale, die die historische Faktizität des Ereignisses in Frage stellen. Diese Funktion wird hingegen vom metabiographischen Diskurs übernommen. Dieser kann freilich, wie die Analyse der entsprechenden Waltershausenpassage zeigte, auch im Dienst der Suspendierung des Anekdotischen stehen. 170 Dass es sich bei der Bemessung des adäquaten Abstands zu einer fiktiven Figur, die eine historische zum Vorbild hat, um ein geradezu equilibristisches Problem handelt, betont Kehlmann selbst: „Der historische Mensch selbst ist gewissermaßen ein Magnet, und um ihn herum ist ein Feld, in dem man sich erfindend bewegt. Kommt man der ursprünglichen Gestalt zu nahe, dann schreibt man einfach eine Biographie, und das ist nicht der Sinn der Sache. Entfernt man sich aber so weit, daß die Kraft ihres Feldes nicht mehr spürbar ist, so hat man das künstlerische Recht verloren, diese Namen zu verwenden, und man unternimmt etwas ganz Sinnloses“ (Daniel Kehlmann: Diese sehr ernsten Scherze. Poetikvorlesungen, Göttingen 2007, S. 26).

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bilisierungsstrategie dient primär der Einrichtung einer ‚Fallhöhe‘: je mehr sich die erzählte Anekdote dem historisch Wahrscheinlichen nähert, desto wirksamer ist das Dementi, das sie durch Eugen erfährt. Eugen – und hier wird der Schein-Sein-Dualismus zunächst auf die Beziehungsebene Vater-Sohn projiziert – simuliert Bewunderung und nimmt das Gehörte unwidersprochen hin, „obgleich er wusste, dass die Geschichte nicht stimmte“ (V 13). Nicht nur entlarvt er die Geschichte als eine von seinem Bruder Joseph erfundene und verbreitete, sondern er liefert auch eine ausdrücklich hypothetisch formulierte Erklärung dafür, wie diese Geschichte ins Arsenal der Erinnerungen seines Vaters Eingang gefunden hat: „Inzwischen musste sie dem Vater so oft zu Ohren gekommen sein, dass er angefangen hatte, sie zu glauben“ (V 13). GaußVater wird nicht als Lügner überführt, sondern vielmehr zum Opfer eines fiktiven und manipulativen Erzählens und Wiedererzählens stilisiert. Entscheidend ist, dass Kehlmann die am Beispiel ausgewählter Gauß-Biographien aufgezeigte Problematisierung biographischen Schreibens nun im Medium des Fiktiven fortsetzt und zugleich ironisch ad absurdum führt: Führen die metabiographischen Reflexionen der Wissenschaftsbiographen zu einer zunehmenden ‚Anekdotisierung‘ der vermeintlich historisch verbürgten Kindheitsepisode(n), so kommt es bei Kehlmann, indem er die seitens der Biographen begonnene metabiographische Problematisierung fortsetzt, zu einer ‚De-Anekdotisierung‘ des Anekdotischen, ein Vorgang, der nun jedoch gerade nicht in einen historischen Positivismus zurückführt, sondern in die reine Fiktion mündet. Mit anderen Worten: Die Anekdote büßt hier ihren „Schwebe“- und damit ihren AnekdotenCharakter nicht dadurch ein, dass sie ins „Faktische“ aufgelöst wird, sondern ins „Fiktive“. Sowohl die faktische als auch die „fiktive Anekdote [wäre jedoch] ein Widerspruch in sich“.171 Eben diese Deutung erfährt an späterer Stelle des Romans eine nachträgliche fiktionale Bestätigung, wenn Kehlmann seinen Helden besagte Kindheitsepisode noch einmal erinnern lässt: Leblos und zweitklassig fühlte sich etwa die Erinnerung an den Nachmittag an, als er seinen Vater beim Abzählen des Lohnes korrigiert hatte. Vielleicht hatte er sie zu oft erzählen hören; sie schien ihm zurechtgebogen und unwirklich. Jede andere hatte mit seiner Mutter zu tun. (V 53)

Im Unterschied zur ersten Erwähnung wird hier die Anekdote nicht mehr vor einem Zuhörer realisiert, sondern zurückgenommen in ein innermonologisches || 171 Hans Peter Neureuter: Zur Theorie der Anekdote, in: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts 1973, S. 458–480, hier S. 472.

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Erinnerungsgeschehen, dem seinerseits eine umfassendere Reflexion über das Erinnern vorausgeht: Wer den Professor nach frühen Erinnerungen fragte, bekam zur Antwort, dass es so etwas nicht gebe. Erinnerungen seien, anders als Kupferstiche oder Postsendungen, undatiert. Man finde Dinge in seinem Gedächtnis vor, welche man manchmal durch Überlegung in die richtige Reihenfolge bringen könne. (V 53)

Da Erinnerungen „undatiert“, historisch also nicht fixierbar sind, ihre (chronologisch) „richtige Reihenfolge“ sich bestenfalls aus der Anstrengung logischer Rekonstruktion ergibt, kann es sie auch nicht geben. Das Spiel mit der Doppelbedeutung von Datum als Gegebenes und als Zeitangabe stellt einen ontologischen Zusammenhang zwischen Historie und Wirklichkeit bzw. Datum und Faktum her, welcher der Erinnerung, der stets etwas Kontingentes und ‚Abgeleitetes‘ anhaftet, abgeht. Ihre eigentlich pejorative Konnotation erhält die Erinnerung jedoch erst durch ihre wiederkehrende, zu häufige Erzählung: Sie büßt darin nicht nur ihre ursprüngliche Lebendigkeit ein, sondern überdies und ineins damit ihre Wahrheit und Authentizität. Mit diesen Reflexionen bestätigt Gauß-Vater die von Eugen vorgenommene Deutung der Anekdote, setzt jedoch den Akzent auf die eigene subjektive Wahrnehmung: Eugen, der in dieser Anekdote eine reine Erfindung seines Bruders Joseph sieht, die durch Verbreitung und häufiges Wiedererzählen (ein Wiedererzählen, dessen Adressat Gauß selber war) schließlich zu einer fremdbestimmten und fremdfabrizierten Erinnerung seines Vaters wurde,172 liefert gleichsam die Begründung dafür, weshalb sich für Gauß diese Erinnerung „leblos und zweitklassig“ anfühlt, eine Begründung, die dann auch Gauß in entschärfter Form für sich in Erwägung zieht: „Vielleicht hatte er sie zu oft erzählen hören; sie schien ihm zurechtgebogen und unwirklich“; vielleicht handelt es sich um reine Fiktion. – Für die metabiographische Semantisierung dieser fiktiven Sequenz bedeutsam ist insbesondere die Tatsache, dass Gauß hier nicht Produzent und ‚Autor‘,173 sondern vor allem Rezipient seiner eben nur scheinbar eigenen Erinnerung ist. Metapoetisch wird er damit

|| 172 Eine ‚eigene‘ Erinnerung, deren Gegenstand man selber ist, kann folglich durch die wiederholte Rezeption einer von einem anderen erfundenen Erzählung ‚gemacht‘ werden. 173 Sowohl Eugens Deutung der Kindheitsanekdote, erst Recht aber deren nachträgliche Bestätigung durch Gauß selbst, setzen ihn als Urheber selbst da außer Kraft, wo er, wie in der ersten Sequenz, selber zum Erzähler dieser Anekdote wird. Er ist nur einer von vielen Wiederund Nacherzählern – unter ihnen vor allem auch die Gauß-Biographen –, nicht Autor, sondern einer, der sich damit begnügt, die Anekdote „zu bringen und zu deuten“, wie Neureuter mit Blick auf den Anekdotenredakteur Kleist formuliert (Neureuter: Zur Theorie der Anekdote, S. 476).

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zum Repräsentanten des Lesers und den Erfahrungen, die dieser bei der Lektüre des anekdotischen Teils der Gauß-Biographien macht. Für die wissenschaftshistorischen Biographien ist bezeichnend, dass sie das Anekdotische vornehmlich dort einsetzen, wo die historischen Quellen schweigen oder in ihrer Historizität nicht beglaubigt werden können. Das fiktionale Moment der Anekdote wird dabei entweder ausgeblendet und mit der Etablierung eines ‚reliable narrators‘, der, folgt man etwa von Waltershausen, Gauß gewesen sein soll, zugunsten eines tatsächlichen Ereignisses „zurechtgebogen“, oder in jenem Schwebezustand zwischen Faktizität und Fiktion, wie er für die Anekdote charakteristisch ist, belassen. In beiden Fällen jedoch dient die Anekdote als ‚Füllsel‘ und Surrogat für den historisch nicht vorhandenen Quellennachweis, deren primär rhetorische Funktion darin besteht, den Wissenschaftler Gauß gleichsam ‚von Kindesbeinen an‘ zu heroisieren und in einen lückenlosen, kohärenten Lebenslauf einzupassen. Die Biographen folgen darin einem „Heroisierungsmodell, welches auf der Anwendung eines tradierten Lebenslaufkonzepts […] und der Profilierung der akademischen und menschlichen Einzigartigkeit beruht“.174 Der Anekdote kommt innerhalb dieser idealisierenden Modellierung eines Heros eine besondere Funktion zu, insofern sie bereits aufgrund ihrer gattungsgeschichtlichen Herkunft aus der Historiographie mit der ‚irgendwie geschichtlichen‘ Relevanz des in ihr erzählten Ereignisses rechnen darf und als ‚Geschichtchen‘ die „Repräsentanz, das heißt Spiegelung eines Großen im Kleinen“175 verbürgt. Die für sie konstitutive Kürze und Prägnanz erzwingt gleichsam auch die Verkürzung biographischer Kontexte auf ein repräsentatives Identitätsmerkmal, womit nichtrepräsentative Ereignisse und Wesenszüge nicht nur zwangsläufig ausgeblendet bleiben, sondern überdies das individuell Besondere einer sowohl biographischen als auch wissenschaftshistoriographischen Verallgemeinerung unterzogen wird: Die anekdotische Reduktion auf die mathematische Genialität des Knaben Gauß erzeugt eine Imago, in der diese Genialität als das dominante, allgemeine Kennzeichen seiner Individualität erscheint. Die Reduktion eines Individuums auf eine singuläre Qualität und der damit verbundene Effekt der Verallgemeinerung und Typisierung, kann auch als eine eindimensionale Überformung von Individualität beschrieben werden, die das biographierte Individuum zugleich depersonalisiert und entindividualisiert bzw. ins Transindividuelle entrückt. Zugespitzt

|| 174 So Christian v. Zimmermann im Vorwort zu dem von ihm herausgegebenen Sammelband: (Auto)Biographik in der Wissenschafts- und Technikgeschichte, Heidelberg 2005, S. 7–14, hier S. 7. 175 Vgl. Neureuter: Zur Theorie der Anekdote, S. 463; vgl. 458 u. 460.

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formuliert: Das entscheidende Merkmal der mathematischen Genialität verselbständigt sich, indem es von der vielseitigen Person Gauß abstrahiert wird; die Person erscheint aufgelöst in ihrer wissenschaftlichen Qualität und Funktion.176 Die Anekdote mag zwar „nur einen momenthaften Ausschnitt aus dem Leben || 176 Insofern ist auch Doll zuzustimmen, wenn er konstatiert, dass die Protagonisten nicht nur Resultat ihrer Rezeption sind, sondern auch jener „großen Erzählungen“ (allen voran der Ideale der Aufklärung), die einerseits zwar „aggressiv“ von ihnen selbst „vertreten und angewendet“ werden, andererseits aber auch „auf gesellschaftlicher Ebene ein Faktor“ sind, „der das Handeln der Figuren beschränkt“ und ihnen eine fremdbestimmte, „externe Prägung“ verleiht (Doll: Umgang mit Geschichte, S. 250 f.). Kurz: Sie sind wesentlich „Produkte eines sozialen Rahmens, aus dem sie nicht dauerhaft ausbrechen können“ (S. 252; vgl. hierzu bereits Scholz: Zeitgemäße Betrachtungen?, S. 18). Zur „Wirkmächtigkeit von und Unterdrückung durch große Erzählungen“ als einem der zentralen Themen des Romans vgl. Kap. 4.2 („Der postmoderne Umgang mit Metaerzählungen“), ebd., S. 250–267. Mit ebenso konsequentem wie überzeugendem Bezug insbesondere auf Adornos und Horkheimers Dialektik der Aufklärung – hierbei die Aussage Kehlmanns, sein Buch sei eine gewisse Form von Dialektik der Aufklärung ernst nehmend – liest Scholz den Roman als einen „prototypischen postmodernen Roman“ (Scholz: Zeitgemäße Betrachtungen?, S. 55; vgl. v.a. S. 23–44; Kehlmanns Selbstaussage findet sich ebd., S. 23), eine Einschätzung, die auch Neuhaus teilt, dabei aber den Gegenwartsbezug des deutschsprachigen postmodernen historischen Romans insofern stärker akzentuiert, als er das zunehmende Interesse an Geschichte v.a. mit den geänderten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen nach dem Mauerfall in Verbindung setzt (vgl. Stefan Neuhaus: „Die Fremdheit ist ungeheuer“. Zur Rekonzeptualisierung historischen Erzählens in der Gegenwartsliteratur, in: Entwicklungen der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur nach 1989, hrsg. v. Carsten Gansel u. Elisabeth Herrmann, Göttingen 2013, S. 23–36). Gegen die Etikettierung von Kehlmanns Roman als ‚postmodern‘ wendet sich Erik Schilling in seiner zeitgleich erschienenen Studie – trotz nicht weniger Übereinstimmungen in den Einzelbefunden: „Im Gegensatz zu den historischen Romanen der Postmoderne steht bei Kehlmann nicht die Fokussierung der Vergangenheit aus dem Blickwinkel der Gegenwart im Zentrum, sondern der Blick aus der Vergangenheit in Richtung Zukunft“ (Erik Schilling: Der historische Roman seit der Postmoderne. Umberto Eco und die deutsche Literatur, Heidelberg 2012, S. 253). So sieht er gerade mit Blick auf die beiden Protagonisten, aber auch mit Blick auf Eugens Aufbruch in die Neue Welt das „fortschrittsoptimistische Geschichtsmodell“ im Roman nicht zurückgenommen, sondern allenfalls verhalten in die Schranken gewiesen (ebd.). Auch Bareis negiert die Etikettierung von Kehlmanns Roman als einen postmodernen; vielmehr „ironisiert Kehlmann die Postmoderne mit den Mitteln der Postmoderne“ (vgl. Bareis: Moderne, Postmoderne, Metamoderne, S. 335). Dabei ist die „Funktionalisierung dieser Strategien“ keiner „postmodernen Geisteshaltung zuzuschreiben“ (ebd., S. 340), sondern einer „Haltung, die einerseits mit modernistischem Ernst und postmoderner Ironie beschrieben werden könnte, zuvörderst aber mit einem sowohl als auch“ (ebd., S. 342). Dieses Pendeln „zwischen den Polen der Moderne und Postmoderne“, „zwischen modernem Verlangen nach epistemischer Gewissheit und postmodernem Zweifel, zwischen Ernst und Ironie“ bezeichnet er vorläufig (und im Rekurs auf Timotheus Vermeulen und Robin van den Akker) mit dem Terminus „Metamoderne“, zumal dieser auch „den Rückgriff auf romantische Bilder und Vorstellungen“ nicht ausschließe (ebd.).

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[erzählen], dessen Vorgeschichte und weitere Entwicklung wir nicht erfahren“,177 doch impliziert gerade ihr Anspruch auf Repräsentanz das hermeneutische Postulat, das in ihr Repräsentierte als bedeutsam und repräsentativ für das ganze Leben einer historischen Persönlichkeit und darüber hinaus für die allgemeine Geschichte oder – wie im Falle von Gauß – für die Wissenschaftsgeschichte zu verstehen.178 Das besondere ‚Geschichtchen‘ evoziert seine – historisch wie ontologisch konnotierte – Projektion in allgemeine Geschichte. Diese appellative Funktion der Anekdote wird durch ihre rhetorische Struktur unterstützt. Es ist bezeichnend, dass sich die Wissenschaftsbiographen überwiegend an einem Anekdotenmodell orientieren, das in seiner „perfekten, ökonomisch organisierten und in sich vollendeten Struktur […] erkennbar von klassisch autonomieästhetischen Vorstellungen geprägt ist“.179 Die formale Geschlossenheit der Anekdote steht zwar einerseits im Widerspruch zu ihrem situationsbezogenen und fragmentarischen Gehalt, unterstreicht jedoch andererseits ihr repräsentatives Moment, indem sie das Konzept eines in sich stimmigen, integren und vollendeten wissenschaftlichen Lebenslaufs spiegelt und bestätigt, darüber hinaus aber auch einen Abglanz und Vorglanz der Wissenschaftsgeschichte als einer kontinuierlich und teleologisch verlaufenden Fortschrittsgeschichte und der transhistorischen Wahrheit ihrer Inhalte gibt. Kehlmann nutzt demgegenüber das Medium des Fiktiven, um jene narrativen und rhetorischen Muster zu dekonstruieren, die der biographischen Konstruktion der Wissenschaftler-Imago ‚Gauß‘ zugrunde liegen.180 Dabei wird das komplexe Spannungsverhältnis von Selbst- und Fremdstilisierung zunächst in ein Kommunikations- und Reflexionsgeschehen integriert: Die vom heroischen Vater im Gespräch mit seinem nichtsnutzigen Sohn Eugen entworfene autobio-

|| 177 Jacob: „Ich will hier rein“ – die Anekdote als literarische Form, S. 21. 178 Die biographische Situation wird gleichsam wissenschaftshistorisch zugerüstet und erscheint gegenüber der wissenschaftshistorischen Bedeutsamkeit des einen wesentlichen Identitätsmerkmals als bloßes Akzidens. Analog dazu sind auch die rhetorischen Funktionen des prodesse et delectare hierarchisiert: Der Unterhaltungswert der Anekdote bleibt zwar erhalten, ist aber gegenüber ihrem didaktisch-belehrenden Charakter – die Imago des genialen Wissenschaftlers als „Identifikationsmodell für den (gelehrten) Autor und Leser der Biographie“ (Zimmermann: Vorwort, S. 8) – lediglich von sekundärer Bedeutung. 179 Jacob: „Ich will hier rein“ – die Anekdote als literarische Form, S. 21 f. Zu den drei kompositionellen Bestandteilen der Anekdote – occasio, provocatio und dictum [bzw. factum] – vgl. ebd., S. 21. 180 Zu dieser den postmodernen historischen Roman allgemein prägenden Verschiebung des „Akzents von der Darstellung von Geschichte hin zur Reflexion von Geschichte“ und Geschichtsschreibung vgl. die ausführliche Aufarbeitung der Forschungsdebatte in Doll: Umgang mit Geschichte, bes. S. 57–62.

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graphische Imago des genialen Kindes entlarvt Eugen für sich (und den Leser) als eine von seinem Bruder Joseph in die Welt gesetzte biographische Illusion, ein Dementi, das Gauß-Vater an späterer Stelle für sich (und wiederum den Leser) bestätigen wird. Die Positionierung der Kindheitsanekdote innerhalb eines Gesprächs zwischen Gauß und Eugen dient nicht nur der Ausgestaltung einer konfliktreichen Vater-Sohn-Beziehung, sondern darüber hinaus der metabiographischen Reflexion einer ebenso konfliktbesetzten Beziehung zwischen (Auto-)Biograph und biographierter Person. Durch das zweifache Dementi der (auto-)biographischen Illusion – dem expliziten Dementi durch Eugen, dem seitens Gauß selber erhobenen Fiktionalitätsverdacht181 – wird die verdeckte „Komplizenschaft des Biographen“182 mit der von ihm biographierten Person aufgedeckt und zugleich aufgekündigt. Indem Vater und Sohn gerade in diesem Punkt unwissentlich miteinander übereinstimmen, wird eine heimliche, nur gegenüber dem Leser offengelegte Komplizenschaft zwischen Gauß-Vater und -Sohn etabliert, ein Kunstgriff, der die biographische Komplizenschaft spiegelt und vor allem (durch den im Romanverlauf immer wieder erfolgenden Hinweis auf die dezidierte Nicht-Komplizenschaft zwischen Gauß und Eugen) ironisiert.183

|| 181 Während Eugen „weiß“, dass die Anekdote erfunden ist, kann Gauß nicht wirklich entscheiden, ob diese Geschichte nun wahr ist oder nicht. 182 „Diese Neigung, sich zum Ideologen seines eigenen Lebens zu machen, dass man im Dienst einer allgemeinen Intention gewisse signifikante Ereignisse auswählt und zwischen ihnen eigene Beziehungen stiftet, um ihnen Kohärenz zu geben“, beschreibt Pierre Bourdieu als „Komplizenschaft des Biographen“ (Pierre Bourdieu: Die biographische Illusion, in: BIOS 1 [1990], S. 75–81, hier S. 76). 183 Dadurch, dass die Anekdote hier zum Bestandteil des Vater-Sohn-Konflikts gemacht wird, wird nicht zuletzt die Funktionstauglichkeit dieser Gattung für die Historiographie ganz generell in Frage gestellt. Der erstmals von Plutarch explizierte historiographische und biographische Wert der Anekdote – Plutarch rechtfertigt ihre Verwendung mit dem Hinweis, dass die kleinen Züge, die anekdotischen Begebenheiten, die biographisch relevanten seien (vgl. Rohmer, Art. „Anekdote“, Sp. 572) – wendet sich im 19. Jahrhundert zur „Kritik an ihr als der Auflösung der ‚Geschichte in Geschichten‘“ (ebd., Sp. 569). Ein noch früherer Beleg für diese kritische Wende findet sich in der 1784 im Teutschen Merkur publizierten Abhandlung „Ueber den Werth der Anecdoten“ von Albrecht Christoph Kayser: Aufgrund der „unzähligen Widersprüche im Menschen“ sind Anekdoten für Kayser „sehr unsichere Kennzeichen eines Charakters“ (zit. n. Jacob: „Ich will hier rein“ – die Anekdote als literarische Form, S. 24). In dieses zweifelhafte, die „historische Zuverlässigkeit und moralische Repräsentativität“ (ebd.) der Anekdote hinterfragende Licht rückt die Gattung auch bei Kehlmann: Der erniedrigende, verächtliche Umgang des fiktiven Gauß mit seinem Sohn Eugen fördert Charaktereigenschaften zutage, die mit der heroischen Imago nicht in Einklang zu bringen sind. Der sprachliche Kunstcharakter der wissenschaftsbiographisch überlieferten Anekdote wird also nicht nur durch die seitens

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Indem der Roman in der Fortführung und Dekonstruktion der biographiegeschichtlich überlieferten Kindheitsanekdote die illusionserzeugenden Strategien der wissenschaftsbiographischen Praxis und der damit verbundenen heroisierenden Intention aufzeigt, stellt er die Fiktion in den Dienst einer Historiographie, der es im Unterschied dazu auf die authentische Vermittlung des fremden Lebenslaufs ankommen sollte. Durch den fiktional erfolgenden Aufweis der Fiktionalität in den Faktizität prätendierenden Gauß-Biographien akzentuiert er die Differenz zwischen Faktizität und Fiktion nicht nur, sondern insistiert geradezu auf den je eigenen Rechten und Pflichten der Wissenschaftshistoriographie bzw. -biographik einerseits und deren als Fiktion gekennzeichneten fiktionalen Varianten andererseits. Der wissenschaftsbiographiekritische Impetus, mit dem die Nacherzählung der Kindheitsanekdote versehen ist, wie auch das damit verbundene Insistieren auf der Differenz von Faktizität und Fiktion, wird durch eine weitergehende Mehrfachfunktionalisierung der Anekdote noch verstärkt. Sie problematisiert hier nicht nur das „normative Abbild“184, das die Biographen bis zum heutigen Tag über die anekdotische Form vermitteln sowie das anekdotische Erzählen als Methode der Wissenschaftsbiographik, sondern wird darüber hinaus auch als indirektes Medium zur Charakterisierung des Wissenschaftlers Gauß eingesetzt. Dadurch nämlich, dass das Kapitel „Die Reise“ vorwiegend von Räumen han|| der Protagonisten unternommenen Metareflexionen unterstrichen, sondern auch dadurch, dass die Anekdote hier in Kontrast zu der außer ihr liegenden (fiktiven) Wirklichkeit gesetzt wird. Der Fiktionalitätsverdacht, dem die Anekdote seitens der Protagonisten ausgesetzt ist, wird dadurch schon fast zum Betrugsverdacht gesteigert: In Umkehrung einer weiteren Funktion, welche der Anekdote im Laufe ihrer Gattungsgeschichte zugewiesen wurde, nämlich „‚Teil einer subversiven Geheim- und Gegengeschichte zur offiziellen zu sein‘“ (Manfred Durzak: Der Erzähler Heinrich von Kleist. Zum ästhetischen Rang seiner Anekdoten, in: Der Deutschunterricht. Beiträge zu seiner Praxis und wissenschaftlichen Grundlegung 40, H. 1 [1988], S. 19–31, hier S. 23), ist es im Roman gerade die (fiktive) Wirklichkeit, die zur subversiven Gegengeschichte zur offiziellen, anekdotisch vermittelten und überlieferten, und im Roman als fiktiv entlarvten Lebens- und Wissenschaftsgeschichte wird. In poetologischer Hinsicht wird hier Fiktionalität mit einem doppelten Wertindex versehen: Fiktionalität wird als illegitim zurückgewiesen, wo sie, wie in der Wissenschaftshistoriographie und -biographie zur historischen Faktizität „zurechtgebogen“ wird; hingegen ist sie in der ausgewiesenen Welt des ‚Als-ob‘ (selbstredend) nicht nur legitim, sondern denkbar geeignet, ihren unredlichen Gebrauch auf dem nicht-literarischen Feld der Geschichte zu desavouieren. Nicht die Anekdote als Gattung wird hier in Frage gestellt, sondern die Anekdote in ihrer historiographischbiographischen Verwendung. 184 Vgl. dazu auch Jacob, der dafür plädiert, „die anekdotische Form eher als eine Problematisierung unserer Bilder vom Menschen aufzufassen, denn als deren normatives Abbild“ (Jacob: „Ich will hier rein“ – die Anekdote als literarische Form, S. 19).

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delt – der unmittelbare Erzählkontext, in dem die Anekdote situiert ist, steht im Zeichen der Fortbewegung im Raum, der Grenzüberschreitung sowie Gauß’ Ausführungen zur Differentialgeometrie –, wird die Aufmerksamkeit des Rezipienten auch auf die semantischen Konnotationen ihrer ‚räumlichen‘ Struktur gelenkt: Als minimalistische Erzählform ist die Anekdote „in einer komplexen, dreifach bestimmten Konstellation von Erzähler, erzähltem Gegenstand und adressiertem Publikum situiert“, wobei „diese drei Funktionen des Erzählens, des Mitteilens und des Bedeutens auf allerengstem Raum zusammen geführt sind“.185 In dieser perfekten ökonomischen Organisation erweist sich die Anekdote als ein Spiegel der für Gauß selber typischen Arbeitsmethode und Darstellungsweise, die, wie bereits ausgeführt, sich auf das Wesentliche – auf die formelhafte, pointierte Verdichtung von Ergebnissen – beschränkt. Während also im Roman der wissenschaftsbiographisch überlieferte anekdotische Gehalt weitgehend suspendiert wird, ist es umgekehrt die Form der Anekdote, die sich als höchst produktiv für die Charakterisierung der Gauß’schen Denk- und Darstellungsweise erweist. Die brevitas der Anekdote korreliert mit der wissenschaftlichen Form der strengen, um den Rechenweg verkürzten mathematischen Beweisführung und der pointierten Darstellung der Resultate. Die Anekdote ist damit formales Analogon der streng formalisierten Gauß’schen Mathematik. Thematisierung und Transfer formaler Aspekte des Gauß’schen Arbeitsstils (Methode, Beweisführung, Darstellung) geschehen hier nicht auf dem direkten Weg eines argumentativen Diskurses, sondern durch Semantisierung der literarischen Form ‚Anekdote‘. Die wissenschaftstheoretischen Implikationen von Gauß’ Schaffen werden an dieser Stelle ausschließlich strukturell reflektiert und über das anekdotische Darstellungsverfahren inszeniert.186 Platziert in der unmittelbaren Nachbarschaft zu Gauß’ Ausführungen über die Differentialgeometrie und seinen Spekulationen über die „gekrümmten Räume“ (V 12), wächst der Anekdote noch eine weitere Funktion zu. Zu erinnern ist in diesem Zusammenhang, dass es sich bei dem griechischen an-ekdoton zunächst um keine Gattungsbezeichnung handelt, sondern um einen „philologischen terminus technicus für noch nicht herausgegebene (wissenschaftliche) || 185 Ebd., S. 15 f. 186 Zur impliziten, formalen Inszenierung historiographischer und biographischer Fragen vgl. Ansgar Nünning: Von der fiktionalen Biographie zur biographischen Metafiktion – Prolegomena zu einer Theorie, Typologie und Funktionsgeschichte eines hybriden Genres, in: Fakten und Fiktionen. Strategien fiktionalbiographischer Dichterdarstellungen in Roman, Drama und Film seit 1970, hrsg. v. Christian v. Zimmermann, Tübingen 2000, S. 15–36, bes. S. 28 f. sowie ders.: Von historischer Fiktion zu historiographischer Metafiktion. Bd. 1: Theorie, Typologie und Poetik des historischen Romans, Trier 1999, S. 297–343.

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Schriften“.187 In diesem „Sinn von inedita kennt die gelehrte Sprache Europas das Wort noch bis ins 18. und 19. Jahrhundert hinein“.188 In der Aktualisierung dieser publikationstechnischen Bedeutung von Anekdote wird die an dieser Stelle – eben im Umkreis der Differentialgeometrie – erzählte Kindheitsanekdote auch zum Verweis auf Gauß’ äußerst zurückhaltende Publikationspraxis: Es war zu aller Zeit Gauß’ Streben[,] seinen Untersuchungen die Form vollendeter Kunstwerke zu geben; eher ruhete er nicht und er hat daher nie eine Arbeit veröffentlicht[,] bevor sie diese von ihm gewünschte durchaus vollendete Form erhalten hatte. Man dürfe einem guten Bauwerke, pflegte er zu sagen, nach seiner Vollendung nicht mehr das Gerüste ansehen.189

Die in ihrer verkürzten Rekapitulation fast schon zur Chiffre gewonnene Anekdote über Gauß als Kind wird so – über das Etymon der Gattungsbezeichnung – zum Verweis auf den wissenschaftlichen Status der Gauß’schen Überlegungen zur Differentialgeometrie funktionalisiert. Mit seiner Publikationsscheu, die von Waltershausen interessanterweise mit dem formalästhetischen Perfektionismus Gauß’ begründet, bringt sich Gauß im Falle seiner Arbeiten zur nichteuklidischen Geometrie um den Ruhm des Pioniers. Er steht sich, einsamer Avantgarde, der er ist, hierdurch selbst im Weg. Exkurs Im Ausgang der nichteuklidischen Geometrie steht eine bereits im Altertum einsetzende und seit Ende des 18. Jahrhunderts wieder verstärkt aufflammende Diskussion um den Beweis des sogenannten Parallelenaxioms, wie es von Euklid in der letzten seiner fünf „Forderungen“ definiert wurde.190 Bei diesen Bemühungen geht es im Kern darum, „dieses Postulat zu tilgen,

|| 187 Rohmer: Art. „Anekdote“, Sp. 566. 188 Neureuter: Zur Theorie der Anekdote, S. 459. 189 Von Waltershausen: Gauß zum Gedächtnis, S. 82. 190 Vgl. Euclides: Die Elemente: Bücher I–XIII, aus dem Griechischen übers. u. hrsg. v. Clemens Thaer und einem Vorwort v. W. Traegeser, Reprint, Frankfurt/M. ²1996. Zur „Vorgeschichte der nicht-euklidischen Geometrie“ vgl. das gleichnamige Kapitel in H. Reichardt: Gauß und die Anfänge der nicht-euklidischen Geometrie, Leipzig 1985, S. 13–20. Dass die Entwicklung der nichteuklidischen Geometrie zu den „eigenartigsten Kapiteln der Geschichte der Mathematik“ gehört, verdankt sich der Tatsache, dass eben diese „Untersuchungen zur Problematik des euklidischen Parallelenaxioms […] fast zwangsläufig, aber gegen den Willen der Geometer und entgegen aller Anschaulichkeit die nicht-euklidische Geometrie mit ihren zunächst widersinnig erscheinenden Konsequenzen“ hervorbrachte (ebd., S. 10).

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also aus den übrigen Postulaten und Axiomen abzuleiten“,191 oder als ein unabhängiges Axiom gelten zu lassen. Gauß, der sich, wie aus Briefen hervorgeht,192 seit seinem 15. Lebensjahr mit der Parallelentheorie beschäftigt, bemerkt in einer Notiz vom 27.4.1819: „In der Theorie der Parallelen sind wir jetzt noch nicht weiter als Euklid war. Diess ist die partie honteuse der Mathematik, die früh oder spät eine ganz andere Gestalt bekommen muss.“193 Hatte sich Gauß in den Korrespondenzen mit seinem Freund Wolfgang Bolyai – dessen Sohn Johann sollte später einer der Begründer der nichteuklidischen Geometrie sein – sowie mit Gerling über die aus seiner Sicht gescheiterten Versuche seitens Bolyai und Legendre, dieses Postulat zu beweisen, nur privat über die Parallelentheorie ausgelassen, so bezieht er öffentlich erstmals in einer Buchbesprechung vom 20. April 1816 Stellung.194 Nach Reichardt ist diese Äußerung deshalb von Bedeutung (und dieses Zitat mag ein weiteres Mal die publikationsasketische Haltung von Gauß belegen), „weil Gauß sich nicht scheut, seine Ansichten über die Parallelentheorie ganz offen und sehr deutlich auszusprechen, während er […] seine späteren Ideen über die nicht-euklidische Geometrie äußerst konsequent, man könnte schon sagen, erbarmungslos, vor der Öffentlichkeit zurückhält“.195 Im Zusammenhang mit Kehlmanns Roman ist diese Rezension darüber hinaus in zweifacher Hinsicht aufschlussreich: Zum einen stellen die Bemerkungen, mit denen Gauß seine Kritik einleitet, schlechterdings eine Provokation für jeden Schriftsteller dar, der dort postulierten wissenschaftsethischen Haltung ‚zuwiderzuhandeln‘. Gauß schreibt: Es wird wenige Gegenstände im Gebiete der Mathematik geben, über welche so viel geschrieben wäre, wie über die Lücke im Anfange der Geometrie bei der Begründung der Theorie der Parallellinien. Selten vergeht ein Jahr, wo nicht irgend ein neuer Versuch zum Vorschein käme, diese Lücke auszufüllen, ohne dass wir doch, wenn wir ehrlich und offen reden wollen, sagen könnten, dass wir im Wesentlichen irgend weiter gekommen wären, als Euklides vor 2000 Jahren war. Ein solches aufrichtiges und unumwundenes Geständniss scheint uns der Würde der Wissenschaft angemessener, als das eitele Bemühen, die Lücke, die man nicht ausfüllen kann, durch ein unhaltbares Gewebe von Scheinbeweisen zu verbergen.196

|| 191 Günter Aumann: Euklids Erbe: Ein Streifzug durch die Geometrie und ihre Geschichte [2006], Darmstadt ²2007, S. 35 f. 192 So heißt es in einem Brief an Schumacher vom 28.11.1846, er habe bereits im Jahre 1792 an eine Geometrie gedacht, „die Statt finden müsste und strenge consequent Statt finden könnte, wenn die Euklidische nicht die wahre ist“, wenn also das fünfte Axiom nicht gilt (in: Gauß: Werke, Bd. VIII, S. 238). 193 Gauß: Ideen, in: ders.: Werke, Bd. VIII, S. 166. 194 Die Rezension – ein Verriss – hatte ein Buch von Schwab über das erste Buch von Euklid (1814) zum Gegenstand sowie einen von Matthias Metternich herausgegebenen Band über die „Vollständige Theorie der Parallellinien“ (1815), vgl. Reichardt: Gauß und die Anfänge der nicht-euklidischen Geometrie, S. 27. 195 Ebd. 196 Göttingische Gelehrtenanzeige 20.4.1816, in: Gauß: Werke, Bd. VIII, S. 170 f.

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Mit der Formulierung „die Lücke, die man nicht ausfüllen kann“, beschreibt Gauß seine in den Jahren 1816/17 gewachsene Überzeugung, dass das Parallelenaxiom und mit ihm „die Nothwendigkeit unserer [d.i. der euklidischen, BM] Geometrie nicht bewiesen werden kann“.197 In eben diese wissenschaftliche, ‚erkenntnisdefizitäre‘ „Lücke“ schreibt Kehlmann hinein, wenn er einen weiteren Teil derselben Rezension, in welchem Gauß sich kritisch mit Schwabs Kritik an Kants Ausführungen zur Geometrie auseinandersetzt, zu einer eigenen Episode, nämlich zur fiktiven Begegnung zwischen Gauß und Kant, ausgestaltet (vgl. V 93–98).198 Zehn Jahre später wird Gauß an Schumacher schreiben: „Ich habe wohl zuweilen versucht, über diesen und jenen Gegenstand bloß Andeutungen ins Publikum zu bringen; entweder aber sind sie von Niemand beachtet oder […] es ist mit Kot danach geworfen.“199 In einem Brief an den Astronomen Encke spricht er von dem „Grundsatz […], solche Andeutungen, die aufmerksame Leser in jeder meiner Schriften in großer Menge finden können (sehen Sie z.B. meine Disqu. arithm., pag. 593 [art. 335]) stets dann erst zu machen, wenn ich den Gegenstand für mich selbst ganz abgemacht habe“.200 Kehlmann, dies sei nebenbei bemerkt, der das Quellen- und Forschungsmaterial von und über seine beiden Helden akribisch studiert haben muss, dürften derartige ‚Bonbons‘ nicht entgangen sein. Gauß liefert hier nichts weniger als eine Lektüreanleitung, die für den wissenschaftlichen Leser seiner Schriften ebenso gilt wie für den (literaturwissenschaftlichen) Leser der Vermessung der Welt: Nur dem „aufmerksamen Leser“ werden sich seine zuhauf gemachten „Andeutungen“ zur nichteuklidischen Geometrie erschließen.

Kehlmann spielt mit der etymologischen Bedeutung der Anekdote im Sinne von ‚noch nicht herausgegeben‘, indem er die Kindheitsanekdote geschickt im Themenumfeld der nichteuklidischen Geometrie situiert und solcherart der Anekdote – ungeachtet ihres spezifischen Inhalts – eine alludierende Funktion verleiht, deren Entschlüsselung dem „aufmerksamen Leser“ obliegt. Im Falle von Gauß’ Ausführungen zur nichteuklidischen Geometrie meint ‚Anekdote‘ aber nicht nur das Noch-Nicht-Edierte, sondern ist ferner mit der Konnotation einer ‚histoire secrète‘ belegt, eines geheimen Umstands, der „unbekannt ist und unbekannt bleiben sollte“.201 Wie sehr Gauß sich gegen die mündliche wie || 197 So Gauß in einem Brief an Olbers vom 28.4.1817, in: ebd., S. 177. 198 Auf diese Episode wird an späterer Stelle zurückzukommen sein. 199 Gauß an Schumacher am 15.1.1827, zit. n. Reichardt: Gauß und die Anfänge der nichteuklidischen Geometrie, S. 36. 200 Gauß an Encke am 18.8.1832, zit. n. Reichardt: Gauß und die Anfänge der nichteuklidischen Geometrie, S. 36. Bei der exemplarisch genannten Quelle handelt es sich um das wohl berühmteste Werk von Gauß, die Disquisitiones arithmetica. 201 In seinem „Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart“ definiert Adelung die Anekdote als einen „geheimen, unbekannten Umstand, eine Begebenheit, welche unbekannt ist und bleiben sollte“ (Adelung, zit. n. Rohmer: Art. „Anekdote“, Sp. 567). Damit schließt er an die französische Gesellschafts- und Klatschanekdote des 17. und 18. Jahrhunderts an, in der die ursprünglich etymologische Bedeutung eine Übertragung auf gesellschaftliche Verhältnisse erfährt und als ursprünglich nicht für die Öffentlichkeit bestimmte „histoire secrète“ nun nicht mehr primär das Mitteilungsmedium – das Manuskript – bezeichnet, sondern das Geschehen bzw. den

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schriftliche Veröffentlichung seiner Gedanken verwahrt hat, geht aus einem Brief an Franz Adolf Taurinus hervor, in dem Gauß ebenso wohlwollend wie kritisch dessen Ansätze zu einer nichteuklidischen Geometrie beurteilt, um dann mit den Worten zu schließen: Von einem Manne, der sich mir als einen denkenden mathematischen Kopf gezeigt hat, fürchte ich nicht, dass er das Vorstehende missverstehen werde: auf jeden Fall aber haben Sie es nur als eine Privat-Mittheilung anzusehen, von der auf keine Weise ein öffentlicher oder zur Öffentlichkeit führen könnender Gebrauch zu machen ist. Vielleicht werde ich, wenn ich einmal mehr Musse gewinne, als in meinen gegenwärtigen Verhältnissen, selbst in Zukunft meine Untersuchungen bekannt machen.202

Die Furcht vor dem Unverständnis seiner Zeitgenossen203 führt schließlich dazu, dass Gauß die Veröffentlichung seiner Ansichten über die Geometrie bis zu seinem Lebensende hinauszögert. – Nicht zuletzt ist der Rückgriff auf die Form der Anekdote und das verdeckte semantische Spiel mit ihren qualitativen Eigenschaften auch ein Hinweis auf jene durch die Entdeckung der nichteuklidischen Geometrie heraufbeschworenen „Krise der Anschauung“.204 || Inhalt selbst (vgl. Rohmer: Art. „Anekdote“, Sp. 566 sowie Neureuter: Zur Theorie der Anekdote, S. 459). Erst „unter dem Einfluß einer seriösen Geschichtsschreibung sind dann jene geheimgehaltenen Vorgänge um die herrschenden Personen zu kleinen, nebensächlichen Ereignissen herabgesunken […]. Hinfort kann etwas anecdote heißen, was längst nicht mehr unbekannt und unveröffentlicht ist, und in dieser Bedeutung von ‚Geschichtchen‘ wird das Wort auch im 18. Jahrhundert ins Deutsche übernommen“ (Neureuter: Zur Theorie der Anekdote, S. 460). 202 Gauss an Taurinus am 8.11.1824, in: ders.: Werke, Bd. VIII, S. 187 f. Knapp fünf Jahre später äußert sich Gauß gegenüber Bessel: „[…] meine Überzeugung, dass wir die Geometrie nicht vollständig a priori begründen können, ist […] noch fester geworden. Inzwischen werde ich wohl noch lange nicht dazu kommen, meine sehr ausgedehnten Untersuchungen darüber zur öffentlichen Bekanntmachung auszuarbeiten, und vielleicht wird diess auch bei meinen Lebzeiten nie geschehen, da ich das Geschrei der Böotier scheue, wenn ich meine Ansichten ganz aussprechen wollte“ (Gauß an Bessel am 27.1.1829, in: ebd., S. 200). 203 So auch Kehlmann selbst in einem Interview mit dem Spiegel: „Gauß hat seine Entdeckungen zur nichteuklidischen Geometrie nicht veröffentlicht, weil er den Zorn und den Spott der Kantschen Schule fürchtete“ (Daniel Kehlmann: „Mein Thema ist das Chaos“. Interview mit dem Spiegel vom 5. Dezember 2005, wiederabgedruckt in: Nickel: Daniel Kehlmanns „Die Vermessung der Welt“, S. 36–46, hier S. 41). 204 Ernst Cassirer: Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neuern Zeit, Bd. 4: Von Hegels Tod bis zur Gegenwart [1832–1932], in: ders.: Gesammelte Werke, Hamburger Ausgabe, hrsg. v. Birgit Recki, Bd. 5, Darmstadt 2000, S. 27. Diese Krise betrifft die reine geometrische Anschauung ebenso wie die empirisch-räumliche, denn der Überzeugung von der unmittelbar-intuitiven Gewissheit und Wahrheit der geometrischen Begriffe korreliert die Überzeugung von einer „substantialistischen Ansicht vom Raume“, von dem die Geometrie ein

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Diese Hinweise dürften genügen um zu verdeutlichen, dass Kehlmann mit der Rekomposition und Reinterpretation der Kindheitsanekdote nicht nur auf eine metabiographische Kritik der Wissenschaftsbiographik und -historiographie abzielt und dabei insbesondere die kupierte, d.h. faktizitätsprätendierende Anekdote als eine Zweckform historiographischer Sinnkonstitution in Frage stellt, sondern mit ihrer Situierung im Kontext der nichteuklidischen Geometrie einen (seinerseits ‚anekdotisch‘ kaschierten) Hinweis auf die von Gauß strikt unter Verschluss gehaltenen revolutionären Aufzeichnungen über den Raum gibt und diese als Teil einer inoffiziellen, subversiven und wahren Geheim- und Gegengeschichte ausweist. Unabhängig von dem in ihr erzählten Ereignis und abgelöst von jeglichen konkreten biographischen oder historischen Inhalten, sind es hier ausschließlich der etymologische Ursprung des Worts ‚Anekdote‘ und dessen im 17. Jahrhundert erfolgende Umdeutung zur „histoire secrète“ einerseits, ihre Platzierung im brisanten Kontext der nichteuklidischen Geometrie andererseits, wodurch Kehlmann diesen gleichermaßen biographisch wie wissenschaftsgeschichtlich brisanten Aspekt evoziert.205

3.3.2 Metahistoriographische und ästhetische Selbstreflexionen Die narrative Erzeugung einer ästhetischen Ordnung, so Kehlmann in seinem Essay „Wo ist Carlos Montúfar?“, ist das notwendige Fundament einer jeden realistischen Abbildung der Welt und ihrer faktisch gegebenen Unordnung:

|| „vollständiges und getreues Abbild“ (ebd., S. 39) liefert. Mit der Entdeckung der nichteuklidischen Geometrien und damit der Entdeckung alternativer, logisch ebenso gültiger Axiomensysteme, ist die Evidenz der euklidischen Prinzipien ebenso zerstört wie der mit ihr unlösbar verbundene Anspruch, essentialistische – d.h. die „‚Wesenseigenschaften‘ der Körper“ repräsentierende (Pulte: Axiomatik und Empirie, S. 171) – Wirklichkeitsaussagen zu treffen. Zu diesem Zusammenhang vgl. auch das folgende Kapitel zu Gauß und die nichteuklidische Geometrie. 205 Die Raffinesse, die Kehlmann im Spiel mit der Gattungsgeschichte an den Tag legt, zeigt sich vor allem darin, dass er die subversive, gegengeschichtliche Funktion der Anekdote, wie sie etwa der Klatschanekdote des Ançien Regime zukam und in jüngster Zeit vor allem im New Historicism wiederbelebt wurde, zwar adaptiert, dabei aber das subversive Moment gerade nicht auf das anekdotische Ereignis verlagert; vielmehr ist das Subversive der kunstvoll angelegte Effekt des Zusammenspiels von (wissenschaftlich brisantem) Kontext (nichteuklidische Geometrie) und (wissenschaftlich unverfänglichem) anekdotischem Text (die Kindheitsepisode), wobei sowohl die wissenschaftshistorische Brisanz des Kontexts als auch die für die Anekdote konstitutive Funktion der Subversivität vom Leser zu aktualisieren sind.

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Als ich begann, meinen Roman über Gauß, Humboldt und die quantifizierende Erfassung der Welt zu schreiben, über Aufklärer und Seeungeheuer, über Größe und Komik der deutschen Kultur, wurde mir schnell klar, daß ich erfinden mußte. Erzählen, das bedeutet, einen Bogen spannen, wo zunächst keiner ist, den Entwicklungen Struktur und Folgerichtigkeit gerade dort verleihen, wo die Wirklichkeit nichts davon bietet – nicht um der Welt den Anschein von Ordnung, sondern um ihrer Abbildung jene Klarheit zu geben, die die Darstellung von Unordnung erst möglich werden läßt. Gerade wenn man darüber schreiben will, daß der Kosmos chaotisch ist und sich der Vermessung verweigert, muß man die Form wichtig nehmen. Man muß arrangieren, muß Licht und Schatten setzen.206

Unmittelbar zuvor kommentiert Kehlmann den Stil, in dem Humboldt die letztlich gescheiterte Besteigung des Chimborazo am 23. Juni 1802 beschreibt. Bei Humboldts Bericht handle es sich um eine nüchterne Aufzählung der Fakten, die scheinbar keine Fragen offenläßt, verfasst im typischen Souveränitätston der Expeditionsbeschreibungen des achtzehnten Jahrhunderts, dem Ton des selbstgewissen Europäers auf Forschungs- oder Eroberungsreise: neugierig, doch von den Strapazen unberührt, diszipliniert, kühl, aloof.207

In der Konfrontation mit Texten zeitgenössischer Alpinisten, in denen die drastischen physischen, psychischen und mentalen Symptome von Hochgebirgskletterern genauestens geschildert sind, zeigt sich, dass in Humboldts Bericht „nicht unbedingt weniger Fiktion [steckt] als in jener Episode der Verwirrung und taumelnden Ziellosigkeit, die ich daraus gemacht habe“. Das Gemeinsame von Humboldts historisch-wissenschaftlichem Bericht und Kehlmanns wissenschaftshistorischem Roman ist demzufolge eine ästhetisch-fiktionale Tiefenstruktur, die zerstreutes Erfahrungs-, Fakten- oder auch Text-Material zu einem logisch-kohärenten Ganzen zusammenfügt. Die manifeste Phänomenologie dieser Tiefenstruktur verdankt sich dem regulierten und kontrollierten Einsatz rhetorischer und narrativer Verfahrensweisen und ist dabei der für eine Zeit jeweils typischen politischen wie ästhetischen Programmatik verpflichtet.208 Die || 206 Daniel Kehlmann: Wo ist Carlos Montúfar?, in: ders.: Wo ist Carlos Montúfar? Über Bücher, Reinbek b. Hamburg 2005, S. 9–27, hier S. 15. 207 Hier und im Folgenden ebd., S. 20. 208 So verweist Kehlmann vor allem auf die Verfahren der Selektion und Kombination (er selbst musste „nicht nur sehr viel weglassen, sondern Verbindungen schaffen und aus isolierten Begebenheiten zusammenhängende Geschichten bauen“, ebd. S. 15), ferner nennt er Strategien der „Übersteigerung, Verknappung, Zuspitzung“ (ebd.). Humboldt, dem Programm der Weimarer Klassik verpflichtet, habe „Wahnsinn, Übelkeit, Schwindel, Angst und Verwirrung“ (ebd., S. 21) durchlaufen, einiges davon auch angedeutet, vieles aber verschwiegen (vgl. ebd., S. 20), konkret all das, „dessen Leugnung den Klassiker überhaupt erst definiert“ (ebd., S. 21): „So viel Mühe und Haltung, solche Leugnung der niederen Wirklichkeit, so viel Überwindung

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Differenz zwischen beiden ‚Erzählformen‘ markiert Kehlmann nun genau auf jener Grenze, an der sich nach konventionellem geschichtswissenschaftlichem Verständnis der wissenschaftlich-historische Diskurs vom literarischen Diskurs abhebt, sieht aber sowohl in Humboldts wie auch in seiner eigenen Erzählpraxis die darin vorgenommenen funktionalen Zuordnungen in ihr genaues Gegenteil verkehrt. Exemplarisch sei hier Gustav Droysens sehr prägnante Definition der unterschiedlichen Aufgaben von Kunst und Wissenschaft angeführt: Zum Wesen der Kunst gehört es, daß sie in ihren Hervorbringungen die Mängel, die durch ihre Mittel bedingt sind, vergessen macht. […] Das so Geschaffene ist eine Totalität, eine Welt in sich; das Musische hat die Macht, in diesem Ausdruck den Schauenden oder Hörenden voll und ausschließlich empfangen und empfinden zu lassen, was es so hat ausdrücken wollen. Anders die Wissenschaften. Vor allem die empirischen haben keine strengere Pflicht, als die Lücken festzustellen, die in den Objekten ihrer Empirie bedingt sind, die Fehler zu kontrollieren, die sich aus ihrer Technik ergeben, die Tragweite der Methodik zu untersuchen, die nur innerhalb der ihnen wesentlichen Schranken richtige Resultate ergeben können.209

Während die Kunst legitimiert ist, eine abgeschlossene „Welt in sich“ zu schaffen und dabei die Strategien der narrativen Strukturierung zu verdecken (sie akzentuiert das Objekt der Darstellung gegenüber der Darstellung selbst), ist die Wissenschaft sowohl mit Blick auf ihre realen Objekte als auch mit Blick auf ihre technologisch-experimentellen Methoden und zeichenhaften Darstellungsverfahren zu unbedingter Aufrichtigkeit, Realitätstreue und Transparenz verpflichtet. Gegenüber der Kunst, die das Objekt ihrer Darstellung und damit die Ebene des Geschehens akzentuiert, zeichnet sich die so verstandene Wissenschaft durch ein hohes Maß an Explizität ihrer epistemologischen Voraussetzungen aus.210 Dazu gehört ganz entscheidend auch die metaepistemische Reflexion von Problemen der historischen Rekonstruktion und der erzählenden Darstellung des Rekonstruierten: „Nur scheinbar sprechen hier die ‚Tatsachen‘ selbst allein, ausschließlich, ‚objektiv‘. Sie wären stumm ohne den Erzähler, der sie sprechen läßt.“211 Zielscheibe der folgenden Polemik Droysens könnte

|| eigener Schwäche sind zur Weimarer Klassizität nötig, das ist das Große und, wenn es scheitert, das Komische an ihr“ (ebd., S. 21). 209 Johann Gustav Droysen: Historik. Vorlesungen über Enzyklopädie und Methodologie der Geschichte [1857], hrsg. v. Rudolph Hübner, Darmstadt 51967, S. 420. 210 „Der beste Teil aller wissenschaftlichen Erkenntnis ist die Arbeit des Erkennens“ (ebd., S. 273). 211 Ebd., S. 361.

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durchaus der nach ästhetischer und szientifischer Verbindung trachtende Stil Humboldts sein: Die Phrasen von Objektivität der Darstellung und daß man die Tatsachen selbst sprechen lassen, daß man nach möglichster Anschaulichkeit und Lebendigkeit der Darstellung streben müsse, haben es so weit gebracht, daß das Publikum schon nicht mehr zufrieden ist, wenn sich ein Geschichtsbuch nicht wie ein Roman liest.212

Analog zu Kehlmann und in Übereinstimmung mit neueren historiographischen Theorien kritisiert Droysen nicht die unhintergehbare narrative Verfasstheit historischer Darstellungen, sondern umgekehrt deren bewusste Verdeckung zum Zweck der (vermeintlich) objektiven, unmittelbaren und obendrein ‚gefälligen‘ und publikumswirksamen Präsentation einer faktisch brüchigen und diskontinuierlichen Wirklichkeit und Geschichte. Eine kaschierte narrativästhetische Darstellung, so die eigentliche Kritik, verfremdet und verfälscht die Realität; eine explizierte hingegen, so die Forderung, markiert die Differenz zwischen zeichenhafter Darstellung und dargestellter Wirklichkeit. Indem die markierte, offengelegte Differenz vor allem den räumlichen, zeitlichen und ontologischen Abstand zwischen ‚Signifikant‘ und ‚Signifikat‘ anzeigt, ist sie zugleich Statthalter all dessen, was sich den Rekonstruktions- und Erkenntnisbemühungen der wissenschaftlichen Akteure entzieht und damit formaler Ausdruck eines eingestandenen Nichtwissens und Fragens. Ihre erkenntnistheoretische und hermeneutische Relevanz – die Differenz als Signal der „Diskontinuität im Verhältnis zwischen Zeichen und Gegenstand“ ist gleichsam auch der Motor, der Erkenntnis- und Verstehensprozesse in Gang hält – ist damit um eine ethische Dimension zu erweitern: Markierte Differenz als Topos wissenschaftlicher Redlichkeit. Humboldts ‚klassische Dämpfung‘ (Leo Spitzer), die unter dem Primat der gleichermaßen epistemologischen, ästhetischen und ontologischen Kategorie der „Ordnung“ erfolgt – die aufgeklärte syllogistische Ordnung der Vernunft, die klassizistische Ästhetik des ‚bel ordre‘ und die harmonische Ordnung des Kosmos entsprechen einander –, läuft diesen Anforderungen an die historischwissenschaftliche Berichterstattung zuwider. Der auktoriale Duktus, die geschlossene Form, die „scheinbar keine Fragen offen läßt“, schließlich die Eliminierung des physisch und mental ‚Unordentlichen‘, kurz: die fehlende Differenzmarkierung, kennzeichnet seinen Bericht im Sinne Droysens eher als ein Kunstwerk, im Sinne Kehlmanns hingegen als faktendurchtränkte, fiktive „Ko-

|| 212 Ebd., S. 273.

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mik“,213 der weder der Rang eines wissenschaftlichen, historiographischen oder biographischen Werks noch der eines Romans zukommt. Der wissenschaftshistorische oder -biographische Roman, so die implizite poetologische These Kehlmanns, ist nicht über die Fiktion allein zu definieren, sondern durch die mannigfachen Möglichkeiten, die Differenz an der Grenze zwischen Fakten und Fiktionen spielerisch-experimentell zu inszenieren. Die Ästhetik des ‚bel ordre‘ – Kontinuität, Kohärenz, ‚Logizität‘ („einen Bogen spannen“, „Verbindungen herstellen“, „Struktur und Folgerichtigkeit“) – bildet dabei das Fundament, das die ‚klare Abbildung‘ der chaotischen Welt und damit die „Darstellung der Unordnung“ erst ermöglicht.214 Der Realismus, den Kehlmann für seinen Roman beansprucht, ist insofern epistemologisch motiviert als der chaotische Kosmos nicht einfach als Unordnung dargestellt, sondern in seiner Unordnung transparent gemacht werden soll. Verleiht Humboldts Bericht trotz der darin aufgezählten Fakten und aufgrund der fehlenden Differenzmarkierungen der „Welt den Anschein von Ordnung“ (Humboldt belässt es sozusagen beim ästhetischen Fundament), ist für Kehlmann das ordentliche ästhetische Arrangement conditio sine qua non einer realistisch-unordentlichen und in ihrer Unordentlichkeit gewussten Darstellung von Wirklichkeit. Die quantifizierende Vermessung der Welt, das Ziel von Humboldts naturwissenschaftlicher Betätigung, entspricht einer der ästhetischen Konsistenz folgenden Darstellung insofern als es in ihr darum geht, die allgemeinen, unveränderlichen Strukturen und Gesetze der Natur – gleichsam ihre rationale Ordnung – zu erfassen. Eine Ästhetik hingegen, welche die Kluft zwischen scientia und poetica, (Wissenschafts-)Geschichte und Fiktion als letztlich unüberbrückbare inszeniert und sich dem Konformismus von ästhetischer und szientifischer Ordnung verweigert, leistet in epistemologischer Hinsicht gerade das, was eine auf Ordnung zielende Ästhetik und Wissenschaft nicht zu leisten vermag: Sie macht Unordnung auf sich selbst hin transparent und erzeugt damit den Effekt eines gesteigerten, die ‚ordentlichen‘ Abbildungen von Wissenschaft und Kunst überbietenden Realismus. Mit der Abgrenzung seiner eigenen ästhetischen Position von derjenigen Humboldts verweist Kehlmann bereits auf ein zentrales Prinzip seiner Poetik des wissenschaftshistorischen Romans: auf die poetologische und hermeneutische Relevanz, die der Akzentuierung und produktiven ‚Nutzung‘ des Zeitenabstands zukommt. Die Wahrheit, die Kehlmann ausdrücklich über das „bloß faktisch Richtige“ stellt, werde, „wenn überhaupt, erst im nachhinein und aus

|| 213 Vgl. Kehlmann: Wo ist Carlos Montúfar?, S. 21. 214 Ebd., S. 15.

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der Entfernung sichtbar“.215 Die Distanz zwischen der Gegenwart des Autors und der zu erzählenden Vergangenheit befreit die historischen Gegenstände, Ereignisse und Personen paradoxerweise aus dem Korsett ihrer historiographisch fixierten ‚Historizität‘ und macht sie für inventorisches Erzählen verfügbar: „Es ist […] die zeitliche Entfernung, und nur sie, die die Persönlichkeitsrechte aufhebt und es erlaubt, Menschen, die gelebt haben, neu zu erfinden.“216 Die solcherart legitimierte Freiheit der inventio ist gleichwohl keine beliebige, sondern wird durch den „Unterschied zwischen dem bloß faktisch Richtigen und dem Wahren, den jeder historische Roman berührt“,217 reguliert. Der real gegebene Zeitenabstand ermöglicht somit zwar allererst die narrative Konstituierung des „Hiatus von Fiktion und Historie“,218 von poetischer Wahrheit und szientifischer Faktizität, geht aber zugleich als konstitutives Merkmal der Hiatus-Struktur und deren mannigfachen narrativen Aktualisierungen in die Erzählung selbst und deren Poetik ein. Das zentrale tropische Verfahren in Kehlmanns Roman ist bezeichnenderweise die Ironie,219 nach Hayden White einer der „vier Grundtropen“, welche die historische Narration fundieren und vorstrukturieren.220 Kehlmann selbst bezeichnet Die Vermessung der Welt als künstlerische Satire: Künstlerische Satire ist immer, auf die eine oder andere Art, die Konfrontation eines Tons mit jener Wirklichkeit, die zu verschleiern er erfunden wurde – ein Zusammenprall, an dem der Ton scheitert und die sorgsam einstudierte Haltung bricht.221

Der Verfremdungs- und Distanzierungseffekt der satirisch-ironischen Ausdrucksweise geht auf die Zeit des erzählenden Autors ebenso über wie auf die Zeit der || 215 Ebd., S. 18. 216 Ebd., S. 25. 217 Ebd., S. 18. 218 Vgl. Geppert: Der ,andere‘ historische Roman, S. 36. 219 Wie Stephanie Catani in ihrem sehr differenzierten Beitrag zur Komik in Kehlmanns Vermessung der Welt scharfsinnig hervorhebt, geht das im Roman durch Witz, Satire und Ironie erzeugte Lachen in seiner Funktion „weit über einen bloßen Unterhaltungswert hinaus: Vielmehr legt es die selbstreflexiven und kritischen Momente offen, die das enorme Deutungspotential des Textes begründen und die in ihm ausgestellten poetologischen Reflexionen sichtbar werden lassen“ (Stephanie Catani: Formen und Funktionen des Witzes, der Satire und der Ironie in „Die Vermessung der Welt“, in: Nickel: Daniel Kehlmanns „Die Vermessung der Welt“, S. 198–215, hier S. S. 198 f.; zur Ironie als einer „spezifischen Erzählhaltung vgl. S. 208– 211). 220 Vgl. Hayden White: Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa, Frankfurt/M. 1991, S. 50 ff. 221 Kehlmann: Wo ist Carlos Montúfar?, S. 20 f.

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erzählten Figuren, akzentuiert aber gerade in der Konfrontation der zwar verschränkten, überblendeten und interferierenden, nicht aber bruchlos ineinander übersetzbaren Zeitdimensionen die für den (wissenschafts-)historischen Roman charakteristische Differenz von Historie und Fiktion. Doch erst in der vom Leser zu leistenden Aktualisierung der Differenz entfaltet der ironische Ton sein eigentliches Potential, indem die ironisch-ästhetische Maskierung der Sprache auf die ihr zugrundeliegende und dem ironischen Kalkül implizite Wahrheit durchdrungen wird.222 Der ironische Grundgestus in Kehlmanns Roman kommt vor allem in den Gesprächspartien zum Tragen. Unabhängig davon, ob die Dialoge der intradiegetischen Welt mündlich oder schriftlich (etwa in der Form von Briefen) stattfindet und unabhängig davon, ob es sich bei den darin enthaltenen dialogischen Elementen um Zitate aus historischen Quellen oder um frei erfundene handelt: sie alle sind „gefiltert durch die Scheindistanz indirekter Rede“.223 Dies hat zunächst (und scheinbar) die Aufhebung der Differenz zwischen Fiktion und Historie zur Folge, denn nicht nur das ‚Erfundene‘, sondern auch das historisch Verbürgte stehen in der Klammer des fiktiven ‚Als-ob‘, werden also dem „Primat der Fiktion“224 unterstellt; zugleich aber entstehen unterschiedliche Potenzierungsstufen des ‚Fiktiven‘, die sich durch die eingelagerten Referenzund Fiktionssignale voneinander abheben lassen. Diese ‚gestufte‘ Form der Fiktionalisierung markiert die Differenzen und hält sie im Bewusstsein des Lesers offen, zeigt aber zugleich das partizipative Verhältnis zwischen den Differenzpolen an: die ‚Fiktionalisierung der Historie‘, wodurch „fiktionales Erzählen aufzudecken [vermag], was an der Historie selbst Fiktion (in einem außerliterarischen Sinne) ist“; die „Historisierung der Fiktion“,225 die die konstitutive Verwiesenheit der Fiktion auf Wirklichkeit anzeigt. Als einem Prinzip transparenter Verfremdung und Distanzierung kommt der Ironie für die HiatusStruktur unterstützende Funktion zu, ja kann in ihrer allgemeinen Funktions-

|| 222 Die Kommunikation zwischen Autor/Erzähler, Text und Leser ist in diesem Zusammenhang ein Wechselspiel von Verschleierung und Enttarnung: die ironische – und das heißt immer auch: transparente – Codierung und Verneinung von Wirklichkeit zielt auf eine wirkungsästhetische Decodierung, die den satirisch-ironischen Ton zugunsten einer außerhalb der verfremdeten Wirklichkeit liegenden, einer wie auch immer idealisierten anderen Wirklichkeit aufhebt. 223 Kehlmann: Wo ist Carlos Montúfar?, S. 21. Vgl. hierzu auch Marx: „Die Vermessung der Welt“ als historischer Roman, v.a. S. 171 f. 224 Vgl. Geppert: Der ‚andere‘ historische Roman, S. 178. 225 Vgl. Paul Ricœur: Zeit und Erzählung, Bd. III: Die erzählte Zeit, München 1991, S. 306 ff.

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weise selbst als eine solche Struktur beschrieben werden:226 Sie bewirkt eine „ironische Scheinauthentizität, die eigentlich auf jeder Seite von neuem klarmacht, dass ich eben nicht vorgebe zu erzählen, wie es war“.227 Dabei bestimmen sich die vielfältigen Variationsmöglichkeiten der ironisch inszenierten Differenz zum einen durch die zur Konfrontation gebrachten ‚Gegenstandsbereiche‘ (diese umfassen die ‚Realien‘ in ihren zeittypischen Manifestationen ebenso wie die frei erfundenen ‚Gegenstände‘), zum anderen durch die literarischen Formen, deren sich die Ironie bedient (dazu gehören alle Formen der Hyperbolik und Verfremdung). Den Dialogen des Romans kommt insofern besondere Bedeutung zu als die metapoetischen, metahistoriographischen und -biographischen Reflexionen nahezu ausnahmslos in die Figurenrede projiziert sind. Den Auftakt einer ganzen Serie solcher poetologisch funktionalisierten Dialoge bildet das Humboldt gewidmete Kindheitskapitel. Nach dem frühen Tod des Vaters bittet die Mutter Goethe um Rat, „wie sie ihre Söhne ausbilden solle“ (V 19). Ein Brüderpaar, antwortete dieser, in welchem sich so recht die Vielfalt menschlicher Bestrebungen ausdrücke, wo also die reichen Möglichkeiten zu Tat und Genuß auf das vorbildlichste Wirklichkeit geworden, das sei in der Tat ein Schauspiel, angetan, den Sinn mit Hoffnung und den Geist mit mancherlei Überlegung zu erfüllen. Diesen Satz verstand keiner. Nicht die Mutter, nicht ihr Majordomus Kunth, ein magerer Herr mit großen Ohren. Er meine zu begreifen, sagte Kunth schließlich, es handle sich um ein Experiment. Der eine solle zum Mann der Kultur ausgebildet werden, der andere zum Mann der Wissenschaft. (V 19 f.)

|| 226 Zu erinnern ist vor allem an die romantische Ironie, wie sie insbesondere von Friedrich Schlegel theoretisch konzipiert wurde: Danach sollen entgegengesetzte Momente mittels der synthetisierenden Einbildungskraft in einen Schwebezustand gebracht werden, der sich einer eindeutigen Fixierung des Gemeinten entzieht. Dabei nimmt das ironische Kompositionsverfahren eine zentrale Funktion innerhalb der auszubildenden progressiven Universalpoesie ein: Indem sie sich der Auflösung eines polaren Spannungsverhältnisses verweigert, vermittelt sie „ein Gefühl von dem unauflöslichen Widerspruch des Unbedingten und des Bedingten“ (Friedrich Schlegel: Charakteristiken und Kritiken I [1796–1801], in: ders.: Kritische FriedrichSchlegel-Ausgabe, Bd. II, hrsg. v. Hans Eichner, München, Paderborn u.a. 1967, S. 160), ein Gefühl, das zugleich auf den unerreichbaren transzendentalen und absoluten Grund von Selbst und Welt verweist, den es in einer infiniten poetisch-ironischen Reflexionskette dennoch anzunähern gilt. Die rhetorisch-tropische Funktion der Ironie ist hier transzendiert und zugleich aufbewahrt in einer existentiell-ontologischen Ironiekonzeption. Vgl. hierzu auch Gerhard Kaiser: Erzählen im Zeitalter der Naturwissenschaft: Zu Daniel Kehlmanns Roman Die Vermessung der Welt, in: Sinn und Form: Beiträge zur Literatur, 2010, 62 (1), S. 122–134, hier S. 133. 227 Daniel Kehlmann: Wie ein verrückter Historiker (Interview mit Walter Grond), in: Volltext. Zeitung für Literatur 4 (2005), S. 12–13, hier S. 13.

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Kein Geringerer als Goethe wird hier zum Vollstrecker jener von Kehlmann beschriebenen Poetik des Zeitenabstands: Zwar werden Wilhelm und Alexander durch die starken Referenzsignale der Namen in ihrem historischen Kontext belassen,228 gleichzeitig aber aus ihrer Historizität befreit und in das theatralische ‚setting‘ eines Bühnengeschehens gestellt. Während die Differenz zwischen Historie und Fiktion den solcherart gespaltenen Figuren aufgeprägt wird, bleibt der Hiatus zwischen scientia und poetica durch den ins Spiel gebrachten Begriff des Experiments zunächst ‚deaktiviert‘, um dann umso drastischer in der Dichotomie von Kultur und Wissenschaft hervorzutreten. Der Expositionscharakter, dem diese Passage zukommt, ist mehrfach funktionalisiert: Eröffnet wird ein Zeithorizont, der sich von der historischen Zeit der Figuren bis in die Gegenwart des Autors erstreckt und in der Verschränkung von heteroreferentiellen (historische Namen, Tod des Vaters, Bildungsweg der Söhne, zwei Kulturen229) und autoreferentiellen Elementen (Spiel, Experiment) der thematische Fokus des Romans (die Wissenschaftlerbiographien von Humboldt und Gauß) zugleich als ein metafiktionaler (die explizit akzentuierte erzählerische Vermittlung dieser Biographien) angezeigt. Damit verbunden ist eine ebenso apologetische wie legitimierende Intention: Wissenschaftsgeschichte wird unter den Schutz der ‚Bühne‘ und der Freiheit des Spiels gestellt, und damit die Freiheit der Erzählung gegenüber den historisch und wissenschaftlich belegten Ereignissen beansprucht. Dabei ist es vor allem die ‚paritätisch‘ eingesetzte Ironie, die verhindert, dass der Vorrang der Fiktion gegenüber dem außerliterarischen Referenzbereich nicht mit einer wertenden Semantik korreliert. So wird der gerade für dieses Kapitel zentrale Kampf der Kulturen – der zweifache Mordanschlag, den das Dichtertalent Wilhelm auf seinen naturwissenschaftlich begabten Bruder verübt (vgl. V 21 und 24 f.) inszeniert den Konflikt auf der Geschehensebene – keineswegs zugunsten der Fiktion entschieden, sondern ironisch

|| 228 Zu diesen Referenzsignalen gehört ferner der Hinweis auf den Tod des Vaters, der wiederum die Rekonstruktion weiterer historischer Daten ermöglicht: Zum Zeitpunkt seines Todes im Januar 1780 waren Alexander und Wilhelm gerade einmal zehn bzw. zwölf Jahre alt (vgl. Gerard Helferich: Humboldt’s Cosmos, New York 2005, S. 5. Helferichs Monographie ist im Übrigen die einzige, die Kehlmann in seinem Essay „Wo ist Carlos Montúfar?“ ausdrücklich erwähnt und empfiehlt). 229 Gerade durch die aufgerufenen ‚zwei Kulturen‘ wird eine zeitliche Kontinuität zwischen Goethezeit und aktueller Gegenwart evoziert. Wie in den Ausführungen zu Humboldt gezeigt wurde, ist es eben jene Krise zwischen Literatur und Wissenschaft, an der seine dem Versöhnungsparadigma der Weimarer Klassik verpflichteten Schreibprojekte letztlich scheitern.

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in der Schwebe belassen.230 Dies gilt vor allem auch für die zahlreichen ironisch bissigen metapoetischen, insbesondere gattungspoetologischen Kommentare, die Kehlmann seinen beiden Protagonisten Gauß und Alexander von Humboldt in den Mund legt. Auch hier ist die Differenz von Wissenschaft, Geschichte und Fiktion in der Figurenrede konkretisiert und als Überblendung von Figurenund Autorstimme fassbar. Wie das folgende Beispiel veranschaulicht, führt die Überblendungstechnik zu einer Pluralisierung der Kommunikationsebenen: der Dialog zwischen Lichtenberg und Humboldt vervielfältigt sich in ein dialogisches Geschehen zwischen dem Autor und seinen Figuren, zwischen Leser und Figuren, zwischen Autor und Leser. Das Romanschreiben, sagte Humboldt, erscheine ihm als Königsweg, um das Flüchtigste der Gegenwart für die Zukunft festzuhalten. Aha, sagte Lichtenberg. Humboldt errötete. Somit sei es ein albernes Unterfangen, wenn ein Autor, wie es jetzt Mode werde, eine schon entrückte Vergangenheit zum Schauplatz wähle. Lichtenberg betrachtete ihn mit schmalen Augen. Nein, sagte er dann. Und ja. (V 27)

Humboldt, der die Ästhetik des Zeitromans gegen die Ästhetik des historischen Romans ausspielt, wird hier zu einer rhetorischen Figuration des Erzählers und Autors stilisiert: Die Figurenrede ist dabei Schauplatz eines impliziten Dialogs zwischen erzählendem Autor und erzählter Figur, eines Dialogs, von dem die Figur nichts weiß, der also nur für den Leser durchschaubar ist und in ihm das Bewusstsein von der Präsenz des Erzählers aufrechterhält. Die selbstironische Färbung, die Humboldts Schelte gegen die Verfasser historischer Romane auf der metapoetischen Ebene annimmt,231 ist nicht nur ‚uneigentliche Rede‘ im Sinne der schlichten Verkehrung von Gesagtem und Gemeintem, sondern eine heitere, aber deshalb nicht weniger ernsthafte Reflexion über die Legitimität des || 230 Die antagonistische Gruppenbildung mit Goethe, Wilhelm von Humboldt, Eugen Gauß und nicht zuletzt Kehlmann selbst auf der Seite der Dichtung, mit Alexander von Humboldt, Carl Friedrich Gauß und vielen anderen auf der Seite der Wissenschaften, ist ein strukturelles Verfahren, das die Differenz zwischen Dichtung und Wissenschaft aufrechterhält, ohne dabei den ‚kriegerischen‘ Gestus zu unterstützen. 231 Vgl. dazu auch die folgende Bemerkung von Gauß gegenüber seinem Sohn Eugen: „Sogar ein Verstand wie der seine, sagte Gauß, hätte in frühen Menschheitsaltern oder an den Ufern des Orinoko nichts zu leisten vermocht, wohingegen jeder Dummkopf in zweihundert Jahren sich über ihn lustig machen und absurden Unsinn über seine Person erfinden könne“ (V 9). Den historischen Personen wird auf diese Weise das Recht verliehen, Einspruch gegen ihre Fiktionalisierung zu erheben.

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eigenen schriftstellerischen Unternehmens.232 Der Dialog zwischen Autor und Figuren, der die intradiegetische Welt des Erzählten mit der extradiegetischen Welt des Autors und Lesers verbindet und eine weitere Variante der HiatusAkentuierung darstellt, ließe sich in diesem Zusammenhang auch Ausdruck poetischer und historischer Fairness beschreiben: Der Autor enthierarchisiert das Gefälle zwischen sich und seinen Protagonisten, indem er diese an seiner eigenen dichterischen Freiheit partizipieren lässt und ihnen die Möglichkeit zur kritischen Kommentierung seines Tuns konzediert.233 Die Intention dieses wissenschaftshistorischen Romans ist damit eine doppelte: Sowohl geht es darum, „Geschichte, vorbei an den festgeschriebenen Versionen, auf solche Art neu zu fassen, dass dabei gemeinhin verschwiegene oder übersehene Wahrheiten

|| 232 Die metapoetische Selbstreflexion ist an dieser Stelle so weit getrieben, dass das applizierte Verfahren der Ironie in Lichtenbergs „Nein […]. Und ja“ ausgedeutet wird. Zur Selbstreflexivität dieser Passage vgl. auch Doll: Umgang mit Geschichte, S. 279. Dass neben einer „offensiv ausgestellten Unzuverlässigkeit des Erzählers“ auch „metafiktionale Selbstreflexivität“ unabdingbar zur „Renaissance des historischen Romans“ gehört, wird in der Forschung, so wie hier exemplarisch von Friedhelm Marx, immer wieder betont. Mit Blick auf ähnliche metapoetische Passagen verallgemeinert Marx pointiert: „Es gehört zur spielerischen Gattungsreflexion des Romans, daß die Figuren selbst Vorkehrungen treffen gegen ihre Darstellung im Medium des historischen Romans“ (Marx: „Die Vermessung der Welt“ als historischer Roman, S. 170 u. 176). Vgl. in diesem Zusammenhang v.a. auch die von Marx und Pütz unternommenen poetologischen Lektüren der Daguerre-Episode: „Mit ihr erscheint der historische Roman über Humboldt und Gauß als literarische Beobachtung von Beobachtungen“ (ebd., S. 177 f.) und als Auseinandersetzung mit der „Möglichkeit der Reproduktion von Wirklichkeit“ (Pütz: Daniel Kehlmann. Die Vermessung der Welt, S. 75). 233 Dieses den Figuren zugestandene Recht ist auch als Respektsbekundung gegenüber der Genialität der historischen Größen Gauß und Humboldt zu deuten. Kehlmann hat diesen Respekt immer wieder zum Ausdruck gebracht, so etwa in einem in der FAZ publizierten Essay: „Für die Recherchen hatte ich mich intensiver, als es einem Laien angenehm sein kann, mit Mathematik, Geologie und der Astronavigation des achtzehnten und frühen neunzehnten Jahrhunderts zu beschäftigen, wodurch meine Bewunderung für das ernste Spiel der Forschung, für den tiefen Antrieb des Verstehenwollens größer wurde als je“ (Daniel Kehlmann: Mein Werdegang. Warum Schriftstellerei kein Beruf ist, in: FAZ [12.11.2005]). Gefragt, ob es nicht schwierig sei, gegenüber den historischen Größen immer den nötigen Respekt zu haben, antwortet Kehlmann in einem Interview: „Das Schwierige ist nicht der nötige Respekt, das Schwierige ist die nötige Respektlosigkeit. Weil ich ja eigentlich wie jeder dazu neige, mich diesen Figuren mit einer gewissen Ehrfurcht zu nähern. Die großen Leute mit einem saloppen Ton zu behandeln, das war die eigentliche Überwindung“ (Daniel Kehlmann: Mein Roman betreibt Geistesgeschichte als Komödie [Interview mit Ingmar Weber], in: Büchergildemagazin 2 [2006], S. 26–27).

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sichtbar werden“, als auch darum, den „Schwindel“, den die Verfasser historischer Romane betreiben, „auf lustvolle Art selbst [zu] thematisieren“.234 Dieses Verfahren der metapoetischen Selbstbefragung tangiert jedoch nicht nur das Genre des wissenschaftshistorischen Romans. „Die Pest der vorgetäuschten Identitäten“ (V 257), „dieses ständige Herleiern erfundener Lebensläufe, in denen noch nicht einmal eine Lehre stecke“ (V 114), die „Künstler“, die nur „zu leicht ihre Aufgabe“ vergessen würden, nämlich „das Vorzeigen dessen, was sei“ (V 221), hingegen „Abweichungen für eine Stärke“ hielten und mit ihren Erfindungen und Stilisierungen die Menschen verwirrten und die Welt verfälschten (vgl. ebd.), die „Romane, die sich in Lügenmärchen verlören, weil der Verfasser seine Flausen an die Namen geschichtlicher Personen binde“ (ebd.) – diese harsche Kritik, vom fiktiven Humboldt geäußert, vom fiktiven Gauß mit dem Ausdruck „Abscheulich“ ausdrücklich bestätigt, trifft ausnahmslos alle historischen Darstellungsformen als Formen der Erzählung. Mit der Analyse des anekdotischen Erzählens und der vergleichenden Lektüre von Gauß-Biographien wurde hierfür bereits ein Beispiel gegeben. Das dialogische Erzählen ist eine weitere Form der metapoetischen Kritik an der Geschichts- und Wissenschaftsgeschichtsschreibung. So wird etwa das in die Figurenrede eingesenkte Streitgespräch zwischen Erzähler/Autor und Humboldt in jenen Passagen fortgesetzt, in denen sich der Erzähler in auktorialer Manier über seine Figur erhebt und den gewonnenen Einblick in deren Gedanken und Entscheidungen gleichsam mit der Figur gegen die Figur und ihre Schreibprojekte wendet. Die gespielte Revanche, die der Erzähler an der Figur nimmt, avisiert vor allem wissenschaftshistoriographische Probleme des bewussten Verschweigens und Beschönigens solcher Tatsachen, die nicht in das monumentale Gemälde von einem aufgeklärten Heros und Weltreisenden passen. Kurz vor Teneriffa sichteten sie ein Seeungeheuer. In der Ferne, fast durchsichtig vor dem Horizont, hob sich ein Schlangenleib aus dem Wasser, bildete zwei ringförmige Verschlingungen und blickte mit im Fernrohr sehr deutlich erkennbaren Edelsteinaugen zu ihnen herüber. Um sein Maul hingen barthaardünne Fasern. Schon Sekunden nachdem es wieder untergetaucht war, glaubte jeder, er hätte es sich eingebildet. Vielleicht die Dünste, sagte Humboldt, oder das schlechte Essen. Er beschloß, nichts darüber aufzuschreiben. (V 45).

Tatsächlich bleibt in Humboldts Reiseberichten all das ausgeblendet, was Kehlmann die „magischen Elemente“ nennt.235 Im weiteren Wortsinn zählen

|| 234 Kehlmann: Wie ein verrückter Historiker, S. 12 u. 13.

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|| 235 Kehlmann: Mein Roman betreibt Geistesgeschichte als Komödie, S. 27. Zu Kehlmanns „magischem Realismus“ sowie zur Rolle des Phantastischen in der Vermessung vgl. Markus Gasser: „Daniel Kehlmanns unheimliche Kunst“, in: Daniel Kehlmann. Text + Kritik, Bd. 177, hrsg. v. Heinz Ludwig Arnold, München 2008, S. 12–29 sowie ders.: Das Königreich am Meer. Daniel Kehlmanns Geheimnis, Göttingen 2010, S. 83–108. Zur „Tilgung übernatürlicher oder nicht direkt erklärbarer Erscheinungen“ vgl. auch Doll: Umgang mit Geschichte, S. 290 f. u. 334 f. sowie Scholz: Zeitgemäße Betrachtungen?, S. 31–33. In diesem Zusammenhang wird nicht zuletzt dem Vermessen und Zählen neben einer wirklichkeitskonstituierenden auch eine ordnungs- und identitätsstiftende Funktion – das ‚Anmessen‘ gegen Chaos und drohendem Selbstverlust gleichsam als Methode – zugewiesen (vgl. Paul: Geschichte und Literatur – Organon der Selbsterkenntnis, bes. 164–170; Scholz: Zeitgemäße Betrachtungen?, S. 34–37). Im Kontext des magischen Realismus interessiert Tetzlaff v.a. die Bedeutung des Zufalls, den er als das „Kardinalthema“ von Kehlmanns Literatur ausmacht (Stefan Tetzlaff: Messen gegen die Angst und Berechnung des Zufalls. Grundgedanken der Poetik Daniel Kehlmanns, in: Textpraxis. Digitales Journal für Philologie, Nr. 4, [1.2012], http://www.uni-muenster.de/textpraxis/ stefan-tetzlaff-grundgedanken-der-poetik-daniel-kehlmanns, S. 1–10, hier S. 1). Mit Jakobson und Baßler charakterisiert er Realismus als „Kippfigur zwischen metaphorischer Aufladung und metonymischer Entladung“, d.h. das „Kokettieren mit dem Metaphorischen ist stets gefolgt von dessen Auflösung in ein metonymisches Nebeneinander“ und damit in gerade nichtzufällige, rational erklärbare Kontiguitätszusammenhänge (S. 2). Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen werden Gauß und Humboldt nicht nur als Figuren lesbar, die durch grundsätzlich verschiedene Denkprinzipien geprägt sind, sondern – poetologisch – auch „gegenläufige narrative Prinzipien“ (S. 7) repräsentieren: Humboldts „‚idealisierende Mimesis‘“, d.h. „sein Verfahren, im Nachhinein Dinge stimmig zu machen“ (ebd.), kontrastiert mit Gauß, den Tetzlaff als „konsequente Weiterentwicklung der kehlmannschen Figuren mathematischmetaphysischer Grenzgänger – und zwar in Richtung der Frage, was ein realistisches Narrativ ist“ (ebd.) erkennt. Für Gauß ist der Zufall der „‚Feind allen Wissens‘“ ist (V 15, hier zit. n. Tetzlaff, S. 8), er sei „der Metonymie mächtig“ und bewohne – insofern als er über eine „plothaft kausal“ verknüpfte Geschichte verfüge – ein „realistisches Sujet“ (dies wiederum im Unterschied zu Humboldt, dessen Reise „aus nahezu beliebig in ihrer Reihenfolge vertauschbaren Versatzstücken besteht“ [ebd.]). Kehlmanns magischer Realismus hebt sich dadurch vom ungebrochen realistischen Erzählen des 19. Jahrhunderts ab, dass er etwa die Brüche zwischen Phantasma und Wirklichkeit in der Diegese bewusst übergeht (4) und damit die „Kompatiblität zweier wesensfremder Sphären“, im Falle von Beerholms Vorstellung, „der des Mathematischen und der des Übernatürlichen“ leistet (5). „Den Zufall erkennen“, so Tetzlaff pointiert mit Blick auf Mahlers Zeit, „ihn meistern und abschaffen heißt: Phantasma und Realität gegeneinander durchlässig zu machen, es heißt ganz einfach: Realismus wird unmöglich“ (6) bzw. ist nurmehr als magischer Realismus möglich (vgl. S. 9). „Der magische Realismus Daniel Kehlmanns wird damit als Spielart textueller Selbstreferenz lesbar. Das Moment des Nichtrealistischen wird im sicheren (weil stabilen) Rahmen des Realistischen erprobt und wird sichtbar als metaphorischer Rest in einer metonymisch konstruierten Diegese“ (ebd.). Dieser metaphorische Rest wirke nicht aus einer kommentarlosen Vagheit heraus: „Keiner der Texte Kehlmanns lässt die Frage zurück, ob das Übernatürliche tatsächlich geschehen sei. Bei Kehlmann ist die Frage, ob das, was geschehen ist, übernatürlich sei.“ (ebd.).

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dazu nicht nur Träume, Formen des Aberglaubens, Einbrüche des Kontingenten, Begegnungen mit dem ‚Fabelhaften‘, Wunderbaren, Phantastischen und Absonderlichen, sondern auch das, was im Diskurs der Aufklärung negativ konnotiert ist und insbesondere das physische und psychische Mängelwesen ‚Mensch‘ betrifft: 236 Krankheit, Sexualität, Träume, Angst usf. Eben diesen auf die vernunft- und wissenschaftskompatiblen Gegenstände reduzierten Diskurs bricht die Fiktion auf, indem sie den magischen, aber eben auch den ganz und gar ‚realistischen‘ Realismus in das Erleben ihres Helden integriert.237 Die Fiktion kompensiert und komplettiert den Mangel an Realismus, der den Reiseberichten anhaftet. Durch dieses „Hinzutun von […] Realismus“238 wird die Fiktion zum Korrektiv einer Fiktion, die suggeriert, authentische und wahrhaftige Nicht-Fiktion zu sein.239 Für diese fiktionale Quellenkritik ist es unerheblich, ob die wissenschaftshistorischen Leerstellen mit faktischen oder fiktiven Surroga-

|| 236 „Die instrumentelle Vernunft der Aufklärer stellt sich dort unter Beweis, wo sie sogar Menschen allein auf ihre Zweckmäßigkeit hin betrachtet. […] Das Ziel der Reisen Humboldts ist eben nicht Erkenntnis, sondern das aufklärerische Auslöschen des Unerklärbaren“ (Scholz: Zeitgemäße Betrachtungen?, S. 31 u. 33). 237 Wie Gunther Nickel feststellt, unterscheide sich Kehlmanns magischer Realismus (charakterisiert als „gezielter Effekt“ der „verstörend durchlässigen“, „verschwommenen“ und „in ihrem exakten Verlauf nicht exakt aus[zumachenden]“ „Grenze zwischen dem Unwahrscheinlichen und dem Unmöglichen“) von dem seiner Vorläufer in der deutschen, v.a. aber dem der lateinamerikanischen Literatur „durch seinen Rückgriff auf mathematisch-naturwissenschaftliche Theorien von Blaise Pascal bis Ilya Prigogine“ (Gunther Nickel: Von „Beerholms Vorstellung“ zur „Vermessung der Welt“. Die Wiedergeburt des magischen Realismus aus dem Geist der modernen Mathematik, in: Nickel: Daniel Kehlmanns „Vermessung der Welt“, S. 151– 168, hier S. 153 f.). Die überaus instruktive medienphilosophische Lektüre des Romans, die Oliver Ruf unternimmt, bestätigt Nickels These und führt sie zugleich weiter: Insbesondere mit Blick auf die Telegrafen-Szene und Gauß’ daran geknüpfter Hoffnung, mit seiner toten Ehefrau Johanna kommunizieren zu können, konstatiert Ruf: „Es ist das thematisierte Medium letztendlich immer selbst – so lässt Kehlmanns Erzählen spürbar werden –, das seine Sujets hervorbringt. Damit kommt den medialen Objekten eine spezifische Funktion zu. Sie werden zu Zeichen jenseits ihres Gebrauchs, zu Zeichen, in die etwas Ungenanntes oder Unnennbares regelrecht einwandert“ (Oliver Ruf: Medienphilosophie und Memoria bei Daniel Kehlmann, in: Gansel/Herrmann: Entwicklungen der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur nach 1989, Göttingen 2013, S. 259–284, hier S. 266 f.). 238 Kehlmann: Wo ist Carlos Montúfar?, S. 21. Pointiert dazu auch Scholz: „Das ist die eine Seite des magischen Realismus: Dass er den magischen Anteil des sogenannten Realistischen sichtbar macht. Die andere Seite ist, dass er den realistischen Teil des Magischen zeigt“ (Scholz: Zeitgemäße Betrachtungen?, S. 52). 239 Ähnlich auch Friedhelm Marx: „Daniel Kehlmanns Vermessung der Welt entlarvt die Fiktion im scheinbar Authentischen und behauptet demgegenüber das Authentische der Fiktion“ (Marx: „Die Vermessung der Welt“ als historischer Roman, S. 178).

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ten gefüllt werden; entscheidend ist vielmehr, dass darin eine „verschüttete Wahrheit sichtbar“240 gemacht wird. Die Fiktion wird damit nicht zur Geschichtsschreibung, sehr wohl aber zu einem Instrument historischer und historiographischer Kritik.

3.4 Fiktionalisierte Mathematikgeschichte (am Beispiel der nichteuklidischen Geometrie) Im Folgenden soll es darum gehen, den ‚Mehrwert‘ einer poetica scientiae, wie sie Kehlmann praktiziert, anhand einer Lektüre der für die Gauß’sche wissenschaftstheoretische Situation zentralen Texte nachzuvollziehen, mit denen Kehlmann sehr gut vertraut gewesen sein muss. Die an den Brüchen, Diskontinuitäten und Widersprüchen der Wissenschaftsgeschichte ansetzenden literarischen Verfahren Kehlmanns machen deutlich, wie Literatur – einen vorinformierten Leser vorausgesetzt – als gleichberechtigte Stimme an der Klärung der Voraussetzungen menschlicher Wissens- und Wissenschaftsentwicklung mitwirken kann. Um diese Dinge deutlich zu machen, schicke ich meiner Lektüre der einschlägigen Romanstellen einen Abriss der hierfür relevanten mathematikgeschichtlichen Entwicklungen voraus.

3.4.1 Gauß und die nichteuklidische Geometrie „Die Entwicklung der nicht-euklidischen Geometrie und die Rolle, die Gauß darin spielte, bilden den Inhalt eines der eigenartigsten Kapitel der Geschichte der Mathematik.“241 „Eigenartig“ nimmt sich, wie bereits angedeutet, dieses Kapitel zunächst deshalb aus, weil die Entdeckung der nichteuklidischen Geometrie ein unfreiwilliges Nebenprodukt all jener Bemühungen war, die euklidische Geometrie, insbesondere das Parallelenpostulat,242 zu beweisen. In der

|| 240 Kehlmann: Wie ein verrückter Historiker, S. 12. 241 Reichardt: Gauß und die Anfänge der nicht-euklidischen Geometrie, S. 10. 242 Das fünfte Postulat lautet: „Werden zwei Geraden von einer dritten so geschnitten, dass die entstehenden Innenwinkel auf einer Seite der schneidenden Geraden zusammen kleiner als zwei Rechte sind, so schneiden sich die beiden Geraden bei genügend langer Verlängerung auf der Seite, auf der sich die Winkel befinden, deren Summe kleiner als zwei Rechte ist“ (Euklid: Elemente, zit. nach Jean-Pierre Le Goff: Von der Perspektive zur geometrischen Unendlichkeit, in: Spektrum der Wissenschaft Spezial 3 [2005], S. 22–29, hier S. 23; zum Aufbau von Euklids Elementen einführend Aumann: Euklids Erben, S. 32–42). Verkürzt formuliert: „Zu einer Gera-

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langen Geschichte dieser Beweisversuche brachten das 17. und 18. Jahrhundert insofern einen Fortschritt, als es verschiedenen Mathematikern gelungen war, das Parallelenaxiom durch äquivalente Axiome zu ersetzen.243 Die eigentliche Frage, ob es sich bei diesem fünften Postulat lediglich um einen geometrischen Lehrsatz handle, der sich aus den übrigen Postulaten und Axiomen der „Elemente“ logisch deduzieren lässt, oder um ein von diesen unabhängiges Axiom, war damit aber nicht geklärt. Erst Gauß, Johann von Bolyai und Nikolai Lobatschwesky gelangten nahezu zeitgleich zu einer Lösung des Problems. Die Genialität ihrer Beweisidee bestand darin, das fünfte Axiom als ungültig zu verwerfen und stattdessen anzunehmen: „Es gibt eine Gerade g und einen nicht auf g liegenden Punkt P, durch den mindestens zwei Geraden gehen, die g nicht schneiden.“244 Die axiomatische Autonomie des fünften Postulats galt als bewiesen, nachdem gezeigt werden konnte, dass sich die übrigen geometrischen Lehrsätze der Elemente auch unter der neuen Voraussetzung – der Negation des fünften Axioms – widerspruchsfrei herleiten lassen.245 Zugleich aber lieferten diese Beweisversuche erste überzeugende Hinweise von der Existenz anderer, nichteuklidischer Geometrien.

|| den und einem Punkt außerhalb derselben gibt es genau eine Parallele durch diesen Punkt“ (Le Goff: Von der Perspektive zur geometrischen Unendlichkeit, S. 23). 243 Eine Aufstellung äquivalenter Axiome findet sich bei Aumann: Euklids Erben, S. 203. Die meisten dieser Beweisversuche „entpuppten sich […] immer wieder als Zirkelschlüsse, in denen das 5. Axiom bewiesen wurde, indem man es in versteckter Form schon voraussetzte“ (Reichardt: Gauß und die Anfänge der nicht-euklidischen Geometrie, S. 12). Eine gewichtige Ausnahme und damit eine „wirkliche Vorstufe zur nicht-euklidischen Geometrie“ stellen hingegen die Ausführungen von Giovanni G. Saccheri und Johann Heinrich Lambert dar. Beide steuerten zwar ebenfalls einen Beweis des Parallelenaxioms an, gingen dabei aber „indirekt“ vor, „indem sie aus der Annahme, daß das 5. Axiom falsch sei, einen Widerspruch herleiten wollten“. Auf diesem Weg der „Verneinung des Parallelenaxioms“ gelangten sie zu „Begriffsbildungen und Ergebnissen“, bei denen es sich „in Wirklichkeit bereits um typische Denkweisen der nicht-euklidischen Geometrie handelt“ (ebd., S. 13; zu einer ausführlichen Darstellung vgl. ebd., S. 18–23). Zu diesen nichteuklidischen Theoremen gehörte etwa das von Lambert abgeleitete, letztlich aber von ihm selbst als absurd zurückgewiesene (und damit als Hinweis für die Richtigkeit und Abhängigkeit des euklidschen Axioms gedeutete) „Postulat der Existenz einer absoluten Länge“ (Bühler: Gauss. Eine biographische Studie, S. 96). 244 Aumann: Euklids Erbe, S. 206 (Hervorhebung BM). Demgegenüber fordert Euklids Postulat genau eine Parallele durch diesen Punkt. 245 Hätte es sich beim fünften Postulat um ein unselbständiges, also um ein implizit in den anderen Sätzen und Axiomen bereits enthaltenes gehandelt, hätten sich unter der Annahme seines Gegenteils sowohl das Parallelenaxiom als auch sein Gegenteil als gültig erweisen müssen, was wiederum ein sicherer Hinweis auf einen Widerspruch an irgend einer Stelle der Theorie gewesen wäre.

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Exkurs Wie aus einem Brief Friedrich Ludwig Wachters hervorgeht, war Gauß bereits im Jahr 1816 – und damit lange vor Bolyai und Lobatschewski246 – zur nichteuklidischen Trigonometrie vorgedrungen.247 Über die sehr wahrscheinliche Existenz einer widerspruchsfreien nichteuklidischen Geometrie äußert sich Gauß explizit in dem bereits zitierten Brief an Taurinus, wobei zum besseren Verständnis darauf hinzuweisen ist, dass es sich bei der von ihm vorausgesetzten „Annahme“ um die Negation des von Saccheri formulierten, dem Euklidischen Postulat mathematisch äquivalenten Satzes handelt. Dieser lautet: „Wenn in einem Dreieck die Summe der Winkel 180 Grad beträgt, dann gilt das Parallelenpostulat.“248 Die Annahme, dass die Summe der 3 Winkel kleiner sei als 180°, führt auf eine eigene, von der unsrigen (Euklidischen) ganz verschiedene Geometrie, die in sich selbst durchaus consequent ist, und die ich für mich selbst ganz befriedigend ausgebildet habe, so dass ich jede Aufgabe in derselben auflösen kann mit Ausnahme der Bestimmung einer Constante, die sich a priori nicht ausmitteln lässt. Je grösser man diese Constante annimmt, desto mehr nähert man sich der Euklidischen Geometrie und ein unendlich grosser Werth macht beide zusammenfallen. Die Sätze jener Geometrie scheinen zum Theil paradox, und dem Ungeübten ungereimt; bei genauerer ruhiger Überlegung findet man aber, dass sie an sich durchaus nichts unmögliches enthalten. So z.B. können die 3 Winkel eines

|| 246 Johann Bolyais Ergebnisse zur nichteuklidischen Geometrie lagen bereits 1823 vor, sind aber erst 1831 als Appendix eines Mathematiklehrbuchs seines Vaters erschienen. Die erste (verlorengegangene) Publikation des russischen Mathematikers Nikolai Lobatschewski stammt aus dem Jahre 1826. Während Bolyai aufgrund der Ignoranz, mit der die Fachwelt seinem Werk begegnete, seine Forschungen auf dem Gebiet der nichteuklidischen Geometrie einstellte, publizierte Lobatschewski, obgleich auch in seinem Fall die Resonanz ausblieb, ab 1829/30 weitere Abhandlungen über dieses Thema (vgl. hierzu Aumann: Euklids Erben, S. 206 f.). 247 Vgl. Wachter an Gauß am 12.12.1816, in: Gauß: Werke, Bd. VIII, S. 175 f. In diesem Brief berichtet Wachter von seiner Beschäftigung mit der „transcendenten Trigonometrie“, über die Gauß während eines Besuchs Wachters in Göttingen im April 1816 Andeutungen gemacht hätte. Vgl. dazu Reichardt: Gauß und die nicht-euklidische Geometrie, S. 31 u. 52. Während nahezu alle mir bekannten Darstellungen Wachters Brief als den ersten überzeugenden Beleg für Gauß’ frühe Einsichten in die nichteuklidische Geometrie würdigen und darauf auch die Glaubwürdigkeit der von Gauß selber in späteren Briefen wiederholten diesbezüglichen Behauptungen stützen, gelangt Gray zu einer weitaus kritischeren Einschätzung: Der Hinweis Wachters sei weit von der Aussage entfernt, „what enthusiasts for Gauss’s grasp of nonEuclidean geometry suggest, that this is the Lobachevskian horosphere, a surface in nonEuclidean three-dimensional space on which the induced geometry is Euclidean. Gauss, in contrast, possessed a scientist’s conviction in the possibility of non-Euclidean geometry which is no less, and no greater, than that of Schweikart or Bessel. […] he lacks almost entirely the substantial body of argument that gives Bolyai or Lobatchevskii their genuine claim to be the discoverers of non-Euclidean geometry“ (Jeremy Gray: An Introduction to Gauss’s Mathematical Diary [2004], in: Dunnington: Gauss, S. 449–467, hier S. 466). 248 Thomas Bührke: E = mc². Einführung in die Relativitätstheorie, München 42002, S. 77.

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Dreiecks so klein werden als man nur will, wenn man nur die Seiten gross genug nehmen darf, dennoch kann der Flächeninhalt eines Dreiecks, wie gross auch die Seiten genommen werden, nie eine bestimmte Grenze überschreiten, ja sie nicht einmal erreichen. Alle meine Bemühungen einen Widerspruch, eine Inconsequenz in dieser Nicht-Euklidischen Geometrie zu finden sind fruchtlos gewesen, und das Einzige, was unserm Verstande darin widersteht, ist, dass es, wäre sie wahr, im Raum eine an sich bestimmte (obwohl uns unbekannte) Lineargrösse geben müsste. Aber mir deucht, wir wissen, trotz der nichtssagenden Wort-Weisheit der Metaphysiker eigentlich zu wenig oder gar nichts über das wahre Wesen des Raums, als dass wir etwas uns unnatürlich vorkommendes mit Absolut Unmöglich verwechseln dürfen.249 In einem Brief an Schumacher vom 12. Juli 1831 liefert Gauß erstmals einen analytisch formulierten Beitrag zur nichteuklidischen Trigonometrie. Zunächst wiederholt er seine im Brief an Taurinus dargelegten Annahmen zur hyperbolischen Geometrie, um dann mit einem konkreten Beispiel fortzufahren: In der Euklidischen Geometrie gibt es nichts absolut grosses, wohl aber in der NichtEuklidischen, diess ist gerade ihr wesentlicher Charakter, und diejenigen, die diess nicht zugeben, setzen eo ipso schon die ganze Euklidische Geometrie; aber, wie gesagt, nach meiner Überzeugung ist diess blosse Selbsttäuschung. […] In der That ist in der NichtEuklidischen Geometrie der halbe Umfang eines Kreises dessen Halbmesser = r: = ½ πk (er/k- e-r/k), wo k eine Constante ist, von der wir aus Erfahrung wissen, dass sie gegen alles durch uns messbare ungeheuer gross sein muss. In Euklids Geometrie wird sie unendlich. In der Bildersprache des Unendlichen würde man also sagen müssen, dass die Peripherien zweier

|| 249 Brief an Taurinus vom 8.11.1824, in: Gauß: Werke, Bd. VIII, S. 187 (Erste Hervorhebung BM). Auch in diesem Brief weist Gauß ausdrücklich darauf hin, dass er sich „mit diesem Gegenstande“ bereits seit „über 30 Jahre“ beschäftigt. Der „eigentliche Knoten, die Klippe, an der alles scheitert“ (ebd., S. 186), liegt nach Gauß in der Tatsache, dass Taurinus in seinem 1826 publizierten Buch Geometriae prima elementa die Annahme, dass die Winkelsumme in einem Dreieck kleiner als 180° sein könne, zurückweist und damit (was Gauß in seinem Brief nicht zur Sprache bringt) hinter den Ergebnissen zurückbleibt, zu denen bereits Schweikart, ein Onkel von Taurinus, und vor diesem wiederum Saccheri und Lambert, gelangt waren. „Es gibt“, so Schweikart in einer an Gauß gerichteten Notiz vom Dezember 1818, „eine zwiefache Geometrie, – eine Geometrie im engern Sinn – die Euklidische; und eine astralische Größenlehre. Die Dreiecke der letztern haben das Eigene, dass die Summe der drei Winkel nicht zwei Rechten gleich ist“. Dies gelte, so Schweikart, unter der dreifachen Voraussetzung, dass die Summe der drei Winkel kleiner als 180° ist, diese „Summe immer kleiner werde, je mehr Inhalt das Dreieck umfasst“ und „die Höhe eines gleichschenkligen rechtwinkligen Dreiecks zwar immer zunimmt, je mehr man die Schenkel verlängert, dass sie aber eine gewisse Linie, die ich die Constante nenne, nicht übersteigen könne“ (vgl. Brief von Gerling an Gauß vom 25.1.1819, dem diese Notiz beigelegt ist; Gauß: Werke, Bd. VIII, S. 180). Mit Blick auf den Inhalt dieser Notiz spricht Gauß in einem Brief an Gerling von „dem gänzlichen Zusammentreffen seiner [Schweikarts] Ansicht mit der meinigen“ (Gauß an Gerling am 16.3.1819, in: ebd., S. 181).

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unendlichen Kreise, deren Halbmesser um eine endliche Grösse verschieden sind, selbst um eine Grösse verschieden sind, die zu ihnen ein endliches Verhältnis hat. Hierin ist aber nichts widersprechendes, wenn der endliche Mensch sich nicht vermisst, etwas Unendliches als etwas Gegebenes und von ihm mit seiner gewohnten Anschauung zu Umspannendes betrachten zu wollen. Sie sehen, dass hier in der That der Fragepunkt unmittelbar an die Metaphysik streift.250 Gauß reflektiert hier die Folgen, „die das Aufhören der Ähnlichkeit in der nichteuklidischen Geometrie nach sich zieht“ und gibt die „dort geltende Formel für den Umfang des Kreises an“.251 Außer diesem Brief sind lediglich einige wenige Notizen aus dem Nachlass überliefert, die vermutlich zwischen 1828 und 1831 entstanden sind und Hinweise für die von Gauß konstatierte „sehr ausgedehnten Untersuchungen“ über die ersten Gründe der Geometrie – namentlich zur Parallelentheorie und zur nichteuklidischen Geometrie – enthalten.252 In einer dieser Notizen werden „die grundlegenden Eigenschaften der parallelen oder, nach Johann Bolyai, asymptotischen Geraden hergeleitet“,253 in einer weiteren „gelangt Gauß zu dem Parazykel, der Kurve, in die der Kreis übergeht, wenn der Halbmesser unendlich wird. Er nennt sie Trope, also Wendekreis (cercle tropique), ein deutliches Zeichen, dass er den Parazykel als den Übergang von eigentlichen Kreisen zu den Hyperzykeln aufgefasst hat“. Eine kurze Aufzeichnung vermutlich vom November 1828 beinhaltet den unabhängig vom 5. Axiom geführten Beweis, dass die Winkelsumme im Dreieck nicht größer sein kann als zwei Rechte, zuletzt gibt es eine Notiz, in der Gauß das Volumen des Tetraeders in der nicht-euklidischen Geometrie berechnet.

Der hier skizzierte Ausschnitt aus dem mathematikgeschichtlichen Kapitel von der Entdeckung nichteuklidischer Geometrien ist aber aus einem weiteren Grund „eigenartig“ zu nennen, sind die damit verbundenen Diskussionen Ausdruck einer Krise, die nicht nur die Grundlagen der euklidischen Geometrie, sondern die der logischen Erkenntnis im allgemeinen betraf. Mit der erfolgrei-

|| 250 Gauß an Schumacher am 12.7.1831, in: Gauß: Werke, Bd. VIII, S. 217 f. Bei der „tollen Geschichte“, wie Bessel die hier von Gauß beschriebene Hypothese, „daß die Peripherien zweier Kreise von den Halbmessern r und r' nicht im Verhältnis r:r'stehen“, nennt (Bessel an Schumacher am 12.7.1831, zit. n. Reichardt: Gauß und die Anfänge der nicht-euklidischen Geometrie, S. 35 f.), handelt es sich, so Reichardt, um „die Analogie zur sphärischen Trigonometrie, wo sich die Umfänge der Kreise wie sin r/k : sin r'/k verhalten“ (Reichardt: Gauß und die Anfänge der nicht-euklidischen Geometrie, S. 36). 251 Paul Stäckel: Gauss als Geometer, in: Gauß: Werke, Bd. X, Abt. 2, S.1–123, hier S. 29. 252 Vgl. Gauß: Werke, Bd. VIII, S. 190 (Notiz über die Winkelsumme im Dreieck vom November 1828), 202, 207–209 (über die Eigenschaften paralleler Geraden sowie das Parazykel), S. 226 (Notiz über „Hauptmomente des Beweises“, dass in der Astralgeometrie „die Summe der Dreieckswinkel von 180° um eine dem Flächeninhalt proportionale Differenz verschieden ist“) und S. 228 (über das Tetraedervolumen) sowie 232 (über Volumenbestimmungen in der nichteuklidischen Geometrie). 253 Hier und im Folgenden Stäckel: Gauss als Geometer, S. 35.

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chen Konstruktion widerspruchsfreier nichteuklidischer Geometrien,254 die gleich gültig, notwendig und wahr neben der euklidischen Geometrie Bestand hatten, war der ontologische Status mathematischer Axiome und mit ihm der Begriff der Wahrheit überhaupt in Frage gestellt.255 Die weitreichenden erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen Probleme,256 die sich aus diesen Entwicklungen innerhalb der Mathematik ergaben, sollen im Folgenden nun aber nicht unter einer allgemein wissenschaftshistorischen Perspektive dargestellt werden, sondern erneut unter der verengten Perspektive der Mathematik, insbesondere der Geometrie.257 Euklids Elemente (vermutlich gegen Ende des vierten vorchristlichen Jahrhunderts entstanden) gelten als der erste Versuch, die Geometrie als eine axiomatisch-deduktive Wissenschaft zu beschreiben und darzustellen: „Er formulierte Postulate, Axiome und Definitionen und leitete daraus mithilfe der Logik ohne (bewussten) Rückgriff auf Anschauung und Erfahrung Aussagen (προτάσεις, lat. propositiones) her.“258 Die Begründung einer theoretisch und || 254 Diese Konstruktion war, daran gilt es immer wieder zu erinnern, das zufällige Ergebnis der Bemühungen, das fünfte euklidische Postulat durch dessen (bewusste!) Substituierung durch ein ‚falsches‘ Axiom zu beweisen. 255 Vgl. dazu Cassirer: „Die mathematischen Axiome, die man seit Jahrhunderten als das Musterbeispiel der ‚ewigen Wahrheiten‘ angesehen hatte, scheinen nun einem ganz anderen Erkenntnistypus anzugehören: Sie schienen, um mit Leibniz zu sprechen, aus ‚vérités eternelles‘ zu ‚vérités de fait‘ geworden zu sein. Damit war […] nicht nur ein einzelnes mathematisches Problem gestellt; es war vielmehr die Frage nach der ‚Wahrheit‘ überhaupt in einem neuen Sinn gestellt“ (Cassirer: Erkenntnisproblem, S. 24). 256 Die naturwissenschaftlichen Konsequenzen resümiert pointiert Mania: „Daß Gauß hier mit der mathematischen Struktur seiner Flächentheorie auch die physikalische Wirklichkeit berührt, sollte weitreichende Konsequenzen haben. Denn diese nichteuklidische Geometrie wird sich 1912 für Albert Einstein als das Schlüsselelement für sein neues Konzept der Gravitation erweisen. […] Die sogenannte ‚Gauß’sche Krümmung‘ ist die zweidimensionale Vorläuferin der vierdimensionalen Raumzeitkrümmung und liefert das mathematische Fundament für Einsteins universelle Gravitationstheorie, so daß wir Carl Friedrich Gauß als einen Urahn der Allgemeinen Relativitätstheorie bezeichnen können: Einstein preloaded“ (Mania: Carl Friedrich Gauß – eine Annäherung, S. 55 f.). 257 Mit dieser Perspektive soll zum einen der unmittelbare und für Kehlmanns Roman relevante Bezug zu Gauß gewährleistet, zum anderen aber eine bloß rekapitulierende Darstellung jenes Übergangs vom klassischen zum modernen Wissenschaftsbegriff vermieden werden. 258 Aumann: Euklids Erbe, S. 34. Euklids Leistung ist weniger darin zu sehen, dass er die Geometrie um neue Erkenntnisse erweiterte, sondern darin, dass er die „deduktiven Methoden der Eleaten (Parmenides, Zenon und andere), die aristotelische Logik und d[en] platonischen Idealismus […] zu einem axiomatischen System“ synthetisierte (Allan Calder: Das Unendliche – Prüfstein des Konstruktivismus, in: Spektrum der Wissenschaft Spezial 3 [2005], S. 54–61, hier S. 54). Aumann setzt das Wort „bewusst“ im Übrigen deshalb in Klammern, weil sich beim

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damit erfahrungsunabhängig operierenden Mathematik meint indessen nicht, dass damit der empirische Ursprung der Geometrie aufgekündigt259 und ihre Gehalte als ‚bloße Erfindungen und Konstruktionen‘ erkannt worden wären; vielmehr liegt den Elementen die Überzeugung zugrunde, dass die in ihr dargestellte Geometrie den einen faktisch vorgefundenen Raum adäquat zu beschreiben vermag, eine Auffassung, an der man bis zur Entdeckung der nichteuklidischen Geometrien nahezu unverbrüchlich festhielt. Für den „Platoniker Euklid“260 kann angenommen werden, dass er mit den metaphysischen Vorstellungen Platons übereinstimmte, wonach die Mathematik ein Mittel darstellt, „Zugang zu einer ‚Wahrheit an sich‘ zu erlangen, und den Gegenständen, die sie behandelt, […] eine eigentliche Existenz in der Welt der Ideen zu[gesteht]“.261 Entsprechend kommt den Axiomen ein ontologischer Status zu: Es sind Erkenntnisse eines ewigen, unveränderlichen, allgemeinen und notwendigen Seins, zu dem die empirische Welt in einem Verhältnis der methexis und mimesis steht. Die geometrische theoria, die durch ‚geistige Anschauung‘ gewonnene reine Erkenntnis von prototypischen, empirisch nicht vorkommenden Objekten wie Punkt, Gerade oder Ebene hat ihre, wenn auch defizitären, ‚Ektypen‘ in der sinnlich wahrnehmbaren Welt und lässt sich empirisch – etwa mit Papier, Bleistift und Zirkel – nachprüfen. Anschaulich beschreibt Proklos, ein EuklidKommentator des 5. nachchristlichen Jahrhunderts, diesen Zusammenhang: Für die Betrachtung der Natur leistet die Mathematik den größten Beitrag, indem sie das wohlgeordnete Gefüge der Gedanken enthüllt, nach dem das All gebildet ist […] und die einfachen Urelemente in ihrem ganzen harmonischen und gleichmäßigen Aufbau darlegt, mit denen auch der ganze Himmel begründet wurde, indem er in seinen einzelnen Teilen die ihm zukommenden Formen annahm.262

Unabhängig von den sich wandelnden höchsten Prinzipien, welche die Evidenz und Apriorizität mathematischer Erkenntnisse verbürgte, war mit Euklids Elementen ein Theorieideal geschaffen, das für die gesamte Wissenschafts- und Erkenntnistheorie – für die empirisch-wissenschaftliche ebenso wie für die mathematische Theorienbildung – zweitausend Jahre lang zum Vorbild ge-

|| Beweis der weit über 400 Propositionen bisweilen doch anschauliche Argumente eingeschlichen haben (vgl. Aumann: Euklids Erbe, S. 35). 259 Vgl. dazu u.a. Cassirer: Erkenntnisproblem, S. 42–52 sowie S. 53–54; Nicolas Bourbaki: Elemente der Mathematikgeschichte, Göttingen 1971, S. 23–25; Elemente einer Geschichte der Wissenschaften, hrsg. v. Michel Serres, Frankfurt/M. ²1995, S. 162 f., 165 f. 260 Cassirer: Erkenntnisproblem, S. 59; vgl. ferner S. 24. 261 Bourbaki: Elemente der Mathematikgeschichte, S. 23. 262 Proklos: Buch I des Euklid-Kommentars, zit. n. Pulte: Axiomatik und Empirie, S. 312.

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reicht.263 Mit Lakatos lässt sich dieses Euklidische Theorieideal allgemein beschreiben als ein „deduktives System mit einer unbezweifelbaren Wahrheitssetzung an der Spitze (einer endlichen Konjunktion von Axiomen) – so daß Wahrheit von dort auf den sicheren wahrheitserhaltenden Kanälen oder gültigen Schlüssen das ganze System durchdringt“.264 Mit der Pluralisierung der Geometrie durch die Entdeckung nichteuklidischer Geometrien erfährt dieses Theorieideal eine nachhaltige Erschütterung. In Frage gestellt ist nicht nur die unumstößliche Wahrheit der Axiome, sondern – damit verbunden – auch die unabhängige Existenz der geometrischen Gegenstände. Die Axiome – das fundamentum inconcussum jeder Theorie – sind fortan dem Verdacht ausgesetzt, bloße Hypothesen, also lediglich arbiträr festgelegte Annahmen und Gedankenkonstrukte zu sein. Sie beschreiben nicht länger die absolute ‚Natur‘ geometrischer Figuren, sondern die Verhältnisse und Relationen, in denen diese zueinander stehen: „Die einzelnen Elemente empfangen ihre Bestimmung und damit ihre Bedeutung erst aus dem systematischen Zusammenhang, dem sie sich einfügen. Sie sind nun durch einander, nicht unabhängig voneinander definiert.“265 Durch die „Krise der [reinen] Anschauung“ – die fragwürdig gewordene unmittelbare Evidenz der geometrischen Anschauung – gerät nicht zuletzt auch das Verhältnis der Geometrie zur Wirklichkeit auf den Prüfstand: Hatte die absolute Wahrheit der euklidischen Geometrie die Übereinstimmung mit der sinnlich wahrnehmbaren Welt verbürgt – die geometrischen Figuren als getreues Abbild des Seienden –, so gilt es im Ausgang nurmehr hypothetischer Wahrheiten diesen Zusammenhang experimentell zu prüfen oder ihn als ‚Ingrediens‘ des Wahrheitskriteriums auszuschließen. Was hier als einfache Alternative formuliert ist, schlägt sich in der Geschichte der Ma-

|| 263 Die Einigkeit, die zwischen Rationalisten und Empiristen über den Erkenntnis- und Wahrheitswert mathematisch-geometrischer ‚reiner Anschauungen‘ bestand, zeigt Cassirer exemplarisch an Descartes, Hume und Locke auf (vgl. Cassirer: Erkenntnisproblem, S. 24–26; zu Locke vgl. ebd., Bd. 2, in: Cassirer: Gesammelte Werke, Bd. 3, Darmstadt 1999, S. 212 ff.). Zu den gewichtigen Ausnahmen zählen Leibniz, der „die Axiome der euklidischen Geometrie keineswegs als schlechthin unbeweisbare Sätze stehenlassen [will]“ (Erkenntnisproblem, Bd. 4, S. 25), vor allem aber auch der bei Cassirer in diesem Zusammenhang nicht erwähnte Francis Bacon. Zu dessen tiefgreifender Skepsis gegenüber dem Deduktionismus in Mathematik und Logik vgl. die einschlägigen Aphorismen im Novum Organon (Francis Bacon: Novum Organon [1620], in: The Works of Francis Bacon. Nachdruck der Erstausgabe London 1858, Bd. 1, hrsg. v. James Spedding u.a., Stuttgart-Bad Cannstatt 1963, Aph. I, 13, 80, 96; II, 52, 59, 75). 264 Imre Lakatos: Mathematik, empirische Wissenschaft und Erkenntnistheorie (= Philosophische Schriften Bd. 2), hrsg. v. John Worrall u. Gregory Currie Braunschweig, Wiesbaden 1982, S. 27. 265 Cassirer: Erkenntnisproblem, S.29.

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thematik in einer ganzen Reihe von Versuchen nieder, die Geometrie auf neue Grundlagen zu stellen. Die moderne Auffassung, wonach „die ‚mathematische Wahrheit‘ […] einzig und allein in der logischen Deduktion, ausgehend von Prämissen, die von den Axiomen willkürlich gesetzt werden“, liegt266 – eine Auffassung, die sich mit Hilberts Grundlagen der Geometrie am Ende des 19. Jahrhunderts durchgesetzt hatte –, kann weder für Gauß, Bolyai und Lobatschewski noch für Riemann, dessen Habilitationsvortrag (1854) sich entscheidend auf die weitere Entwicklung der nichteuklidischen Geometrie auswirkte, veranschlagt werden. Sehr wohl nämlich hielten sie an der Überzeugung fest, „daß der Streit zwischen den verschiedenen möglichen Geometrien durch die Erfahrung entschieden“267 und die wahre Struktur des Raums experimentell aufgeklärt werden könnte. Für die euklidische Geometrie, deren Axiome über Jahrhunderte als Erkenntnisse des Immer-Seienden galten und die das „Paradigma des Wissens“268 überhaupt verkörperte, bedeutete die Entdeckung nichteuklidischer Geometrien (zunächst) einen Prestigeverlust, den Gauß vermutlich als erster in seiner vollen Konsequenz erkannt und formuliert hat: Ich komme immer mehr zu der Überzeugung, dass die Nothwendigkeit unserer Geometrie nicht bewiesen, wenigstens nicht vom menschlichen Verstande noch für den menschlichen Verstand. Vielleicht kommen wir in einem andern Leben zu andern Einsichten in das Wesen des Raums, die uns jetzt unerreichbar sind. Bis dahin müsste man die Geometrie nicht mit der Arithmetik, die rein a priori steht, sondern etwa mit der Mechanik in gleichen Rang setzen.269

Während die Arithmetik, die sich auf den Begriff der reinen Zahl gründet, weiterhin als Vernunftwissenschaft a priori gilt, sinkt die Geometrie in die Niederungen der empirischen Naturwissenschaften herab. Die „Einheit der Mathematik“, die seit den Pythagoreern in der „unlöslichen Korrelation zwischen Zahlenund Größenlehre, zwischen Arithmetik und Geometrie“ bestand,270 war damit zerbrochen. Der mehrfache Ursprung der mathematischen Erkenntnis – ist „die Zahl bloss unsers Geistes Product“, so hat „der Raum auch ausser unserm Geiste eine Realität, der wir a priori ihre Gesetze nicht vollständig vorschreiben können“271 – stellt in erster Linie vor das Problem, „welche Geometrie die ‚wahre‘, || 266 Bourbaki: Elemente der Mathematikgeschichte, S. 28 f. 267 Ebd., S. 26. 268 Cassirer: Erkenntnisproblem, S. 54. 269 Gauß an Olbers (Brief vom 28.4.1817), in: Gauß: Werke, Bd. VIII, S. 177. 270 Cassirer: Erkenntnisproblem, S. 42. 271 Gauß an Bessel (Brief vom 9.4.1830), in: Gauß: Werke, Ergänzungsreihe Bd. 1, S. 487.

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die in ‚Wirklichkeit‘ existierende sei“.272 Die von Gauß postulierte ‚Empirisierung‘ der Geometrie indiziert, dass er in mathematischer Hinsicht den Übergang vom klassischen, axiomatisch-deduktiven zum modernen, hypothetischdeduktiven Theorieverständnis bis zu jenem Punkt vollzogen hat, an dem die Frage nach der wahren Natur des Raums und damit die Frage nach der Bewährung hypothetisch formulierter Theorien an und durch die Erfahrung aufbricht; zugleich aber liefert diese Frage nach dem „Wesen des Raums“ den Hinweis dafür, dass er in erkenntnistheoretischer Hinsicht diesen Übergang nicht vollzog, vielmehr an der Möglichkeit einer prinzipiellen Übereinstimmung von logisch-mathematischer und ontologischer Wahrheit sowie deren Entsprechung mit der Wirklichkeit festhielt. Gauß gibt jene „unlösliche Gemeinschaft zwischen dem geometrischen und dem philosophischen Wahrheitsbegriff“273 nicht einfach preis, sondern verwandelt die nicht länger haltbare Antwort, die die euklidische Geometrie auf die Frage nach dem „Wesen des Raums“ und den in ihm enthaltenen Objekten gegeben hatte, zurück in eine echte Frage, deren „Fragepunkt unmittelbar an die Metaphysik streift“.274 Dass Gauß die Hoffnung auf Beantwortung dieser Frage ins Jenseits verschiebt, mag vordergründig nur Ausdruck seines Nichtwissens, gleichsam der sokratischen Aporie sein, in die die Entdeckung der nichteuklidischen Geometrien geführt hat; doch vor dem Hintergrund der zahlreichen Andeutungen, die Gauß in diesem Zusammenhang gemacht hat, ferner seiner strikten Weigerung, seine Ergebnisse zu publizieren, lassen Äußerungen wie diese auch etwas von der ungeheuerlichen Erschütterung und zugleich revolutionären Kraft ahnen, die mit der Relativierung der euklidischen Geometrie als einer Geometrie unter anderen einherging. Ohne Gauß eine wissenschaftstheoretische Intention unterstellen zu wollen, dokumentieren seine Äußerungen doch ein ausgeprägtes Bewusstsein von jener einschneidenden Krise, in welche die Geometrie und mit ihr die Mathematik insgesamt geraten war. In eben diesem Krisenbewusstsein, das die Frage nach den Grundlagen der Geometrie, nach ihrem Wahrheitswert und Wirklichkeitsbezug gänzlich ins Offene stellte, ist die unabdingbare Voraussetzung dafür zu sehen, dass die Mathematik den Übergang in die ‚Moderne‘ auch vollziehen konnte. Wie sehr Gauß – im Unterschied zu manchen zeitgenössischen Philosophen275 – die aporetische Situation der Geometrie auszuhalten bereit war

|| 272 Cassirer: Erkenntnisproblem, S. 42. 273 Cassirer: Erkenntnisproblem, S. 24. 274 Gauß an Schumacher am 12.07.1831, in: Gauß: Werke, Bd. VIII, S. 215 f. 275 Die vehemente Ablehnung der nichteuklidischen Geometrien etwa durch Lotze und Wundt belegt eindrücklich, dass die Krise der Geometrie nicht zuletzt auch eine Krise der

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und mit welcher Offenheit er den weiteren Entwicklungen in der Geometrie begegnete, zeigt seine Wahl des Themas von Riemanns Habilitationsvortrag „Über die Hypothesen, welche der Geometrie zu Grunde liegen“.276 Riemanns Rede vom 10. Juni 1854 ist für den vorliegenden Zusammenhang aus zwei Gründen relevant: Zum einen wurde sie kurz vor Gauß’ Tod am 23. Februar 1855 gehalten und markiert damit den Endpunkt in der weiteren Entwicklung, die die Geometrie zu Gauß’ Lebzeiten genommen hat; zum andern wird der darin erstmals vorgestellte Mannigfaltigkeitsbegriff im expliziten Rekurs auf Gauß’ Untersuchungen zur Flächentheorie entfaltet und auf diese Weise nicht nur die Kontinuität in der Neubestimmung der Raumgeometrie sichtbar gemacht, sondern in gewisser Weise auch der ‚Umweg‘ angezeigt, der zu dieser Neubestimmung erforderlich war. So ist es innerhalb der Gauß-Forschung nach wie vor äußerst umstritten, ob die geodätischen Beschäftigungen, denen Gauß zwischen 1821 und 1825 nachging, tatsächlich mit der Intention verbunden waren, das „Wesen des Raums“ nun auf empirischem Weg zu ergründen und ob seine in dieser Zeit entstandenen differentialgeometrischen Arbeiten überhaupt mit seinem Studium der nichteuklidischen Geometrie zusammenhängen;277 verbürgt ist allein

|| Philosophie, namentlich der Erkenntnistheorie und ihres apriorischen Bestands heraufbeschwor. Stellvertretend sei hier Wundt zitiert: „Die Meinung, welche die Vorstellung eines abweichend gestalteten Raumes für möglich hält, steht […] nicht etwa auf gleicher Linie mit der Meinung, dass wir uns Menschen vorstellen könnten, die ihre Köpfe in der Hand statt auf den Schultern tragen, sondern mit der andern, dass unsere Fiction im Stande sei, solche Menschen wirklich ins Dasein zu rufen“ (Wilhelm Wundt: Logik. Eine Untersuchung der Principien der Erkenntnis und der Methoden wissenschaftlicher Forschung, 2. Bde., umgearb. Aufl., Stuttgart 1893 ff., Bd. I: Erkenntnislehre, S. 498, zit. n. Cassirer: Erkenntnisproblem, S. 32). 276 Gauß, der bereits als Gutachter von Riemanns Doktorarbeit tätig war, „hatte […] von den drei vorgeschlagenen Thematen nicht das erste, sondern das dritte gewählt, weil er begierig war zu hören, wie ein so schwieriger Gegenstand von einem so jungen Manne behandelt werden würde; nun setzte ihn die Vorlesung, welche alle seine Erwartungen übertraf, in das grösste Erstaunen, und auf dem Rückwege von der Facultäts-Sitzung sprach er sich gegen Wilhelm Weber mit höchster Anerkennung und mit einer bei ihm seltenen Erregung über die Tiefe der von Riemann vorgetragenen Gedanken aus“ (so Rudolf Dedekind, zit. nach Detlef Laugwitz: Bernhard Riemann – ein Schüler von Gauß?, in: Mitteilungen der Gauß-Gesellschaft 36 (1999), S. 29–46, hier 34). 277 Skeptisch äußert sich Gray: „In particular, there is no evidence that Gauss derived the relevant trigonometric formulae [wie z. B. die im Brief an Schumacher erwähnte, in der nichteuklidischen Geometrie gültige Formel zur Berechnung des Kreisumfangs, BM] from the profound study of differential geometry that occupied him in the 1820s.“ So verführerisch es auch sei, das Theorem des biegungsvarianten Krümmungsmaßes mit seiner Beschäftigung mit der nichteuklidischen Geometrie in Verbindung zu bringen, so müsse dennoch festgehalten werden, „that Gauss did not develop the trigonometry of triangles on surfaces of constant (positive

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die Tatsache, dass er im Zuge dieser Vermessungen des Königreichs Hannover zu einer Neudefinition der ‚Fläche‘ gelangte278 und auf dieser Grundlage das sogenannte biegungsvariante Krümmungsmaß entwickelte.279 Dieses besagt, „dass die Krümmung einer Fläche eine ihr innewohnende Eigenschaft ist und nicht davon abhängt, wie diese Fläche im Raum eingebettet ist“.280 Mit dieser von den äußeren Raumkoordinaten unabhängigen, ausschließlich auf die innere Geometrie der Fläche bezogenen Definition der Krümmung war der durch Euler maßgeblich vorbereitete Übergang von der flachen zur gekrümmten Flächen-Geometrie und damit zur Differentialgeometrie vollzogen.

|| or negative) curvature until after 1840, when he had read Lobachevskii’s Geometrische Untersuchungen“ (Gray: Introduction to Gauss’s Mathematical Diary, S. 464). 278 Die Ergebnisse seiner Untersuchungen über gekrümmte Flächen veröffentliche Gauß 1828 unter dem Titel „Disquisitiones generales circa superficies curvas“/„Allgemeine Untersuchungen über krumme Flächen“. Diese Arbeit „gilt als epochemachender Beitrag zur Differentialgeometrie der Flächen, mit dem die Grundlagen dieser Theorie geschaffen wurden“ (o.V.: Art. „Gauß, Vermessungsarbeiten von“, in: Lexikon der Mathematik in sechs Bänden, hrsg. v. Guido Walz, Bd. 2, S. 251). Fläche meint hier „nicht mehr eine Oberfläche, das heißt die Grenze eines starren Körpers, sondern die Fläche selbst ist ein Körper, dessen eine Dimension verschwindend klein ist; zusätzlich hat man sich diese Fläche als biegsam, aber nicht als dehnbar vorzustellen. Von diesem Standpunkt her sind zum Beispiel eine Ebene, eine Kegelfläche und eine Zylinderfläche gleichwertig, da man sie durch Biegungen ineinander überführen kann, ohne dass dabei Dehnungen auftreten“ (Biegel/Reich: Carl Friedrich Gauß, S. 160 f.). 279 Der neue Krümmungsbegriff war notwendig geworden, nachdem jetzt nur noch solche Krümmungen einer Fläche interessieren, die auch bei Biegungen nicht geändert werden. Dieses biegungsvariante Krümmungsmaß, das auch Gauß’sches Krümmungsmaß oder theorema egregium genannt wird, hängt „definitionsgemäß nur noch von den inneren Eigenschaften der Fläche selbst“ ab, wohingegen der Raum, in dem die Fläche zwar noch eingebettet liegt, keine Rolle mehr spielt (Biegel/Reich: Carl Friedrich Gauß, S. 161). Ausgedrückt wird die Krümmung dadurch, „dass man jeden einzelnen Punkt auf der Fläche mit einer Zahl versieht, die besagt, wie groß oder klein die Krümmung der Fläche in diesem Punkt ist“ (Katharina Habermann: Von Gauß über Riemann zu Einstein – die mathematischen Grundlagen der Allgemeinen Relativitätstheorie, in: „Wie der Blitz einschlägt, hat sich das Räthsel gelöst.“ Carl Friedrich Gauß in Göttingen, hrsg. v. Elmar Müller, Göttingen 2005, S. 118–129, hier S. 118). Krümmungen können dabei positiv oder negativ sein und sich überdies „von einem zum anderen Punkt auf ein und derselben Fläche ändern“ (ebd., S. 119), und zwar sowohl nach der Größe als auch nach dem Vorzeichen. Flächen mit konstantem Krümmungsmaß – sei dieses, wie bei der Oberfläche einer Kugel, positiv oder, wie z. B. bei der Rotationsfläche der Traktrix, die Gauß auch als „Gegenstück der Kugel“ bzw. als „Pseudosphäre“ beschrieb, negativ – haben den Vorteil, dass man ein Flächenstück „beliebig herumschieben [kann], ohne Dehnungen und ohne Zerrungen (freie Beweglichkeit)“ (Biegel/Reich: Carl Friedrich Gauß, S. 161). 280 Habermann: Von Gauß über Riemann zu Einstein, S. 120.

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Auf dieser Grundlage setzen Riemanns Überlegungen ein. Bemerkenswert ist zunächst, dass Riemann bereits im Titel von „Hypothesen, welche der Geometrie zu Grunde liegen“ spricht, ein sprachlicher Wandel, der die „‚Revolution der Denkart‘ […], die sich jetzt im Innern der Mathematik vollzogen hatte“,281 in aller Deutlichkeit zum Ausdruck bringt. Der Wissenschaftscharakter der Mathematik beruht nicht länger auf einem „axiomatisch-deduktiven System absoluter Wahrheiten bzw. Erkenntnisse“, sondern auf einem „hypothetischdeduktiven System problematisch-konditionaler Sätze“.282 Dass die „volle Bedeutung des Raumproblems in allgemein-logischer Hinsicht“ erst mit Riemann seine „scharfe und in gewisser Hinsicht abschließende Formulierung“ erhält,283 verdeutlichen die kritischen Eingangssätze seiner Habilitationsrede: Bekanntlich setzt die Geometrie sowohl den Begriff des Raumes, als die ersten Grundbegriffe für die Constructionen im Raume als etwas Gegebenes voraus. Sie giebt von ihnen nur Nominaldefinitionen, während die wesentlichen Bestimmungen in Form von Axiomen auftreten. Das Verhältnis dieser Voraussetzungen bleibt dabei im Dunkeln; man sieht weder ein, ob und in wie weit ihre Verbindung nothwendig, noch a priori, ob sie möglich ist.284

Von diesem Befund ausgehend, stellt sich ihm die Aufgabe, die einfachsten Thatsachen aufzusuchen, aus denen sich die Massverhältnisse des Raumes bestimmen lassen – eine Aufgabe, die der Natur der Sache nach nicht völlig bestimmt ist; denn es lassen sich mehrere Systeme einfacher Thatsachen angeben […]. Die Thatsachen sind wie alle Thatsachen nicht nothwendig, sondern nur von empirischer Gewissheit, sie sind Hypothesen […].285

Das Auffinden der „einfachsten Thatsachen“ in einer Pluralität von Tatsachensystemen, das heißt hier: in einer Pluralität von Geometrien, und der Nachweis über die Gültigkeit dieser Tatsachen, kann also nicht mehr auf dem Weg einer rein mathematisch aufgefassten Geometrie erbracht werden, sondern nur noch

|| 281 Cassirer: Erkenntnisproblem, S. 23. 282 Alwin Diemer u. Gert König: Was ist Wissenschaft?, in: Technik und Wissenschaft, hrsg. v. Armin Hermann u. Charlotte Schönbeck, Düsseldorf 1991, S. 3–28, hier S. 4; vgl. Cassirer: Erkenntnisproblem, S. 59 f. 283 Cassirer: Erkenntnisproblem, S. 23. 284 Bernhard Riemann: Ueber die Hypothesen, welche der Geometrie zu Grunde liegen (Habilitationsvortrag vom 10. Juni 1854), in: ders.: Gesammelte mathematische Werke und wissenschaftlicher Nachlaß. Nach der Ausgabe von H. Weber u. R. Dedekind neu hrsg. v. Raghavan Navasimhan, Berlin, Leipzig 1990, S. 304–319, hier S. 304. 285 Ebd., S. 305.

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auf dem Weg einer physikalisch aufgefassten Geometrie. Der ‚Riss‘, der durch die Mathematik geht und den bereits Gauß diagnostiziert hatte, indem er die Geometrie aus der reinen Mathematik ins Gebiet der Erfahrungswissenschaften ausgliederte, bleibt auch für Riemanns Ausführungen bestimmend: Sie postulieren einerseits zwar die Anwendbarkeit der physikalischen Geometrie auf den Raum, halten andererseits jedoch an „allgemeinen Grössenbegriffen“ – und damit an der Möglichkeit, den physikalischen Raum mithilfe der, nun freilich hypothetisch gefassten, Sätze der reinen Mathematik zu charakterisieren – fest.286 Naturwissenschaft, so Riemann an anderer Stelle, sei zwar der Versuch, „die Natur durch genaue Begriffe aufzufassen“,287 wobei diese Begriffe empirisch fundiert sein müssen und im Falle einer neuen, „unerwarteten Wahrnehmung“ entsprechend zu ergänzen oder zu verbessern sind, so dass „durch diesen Process […] unsere Auffassung der Natur allmählich immer vollständiger und richtiger [wird]“, zugleich aber „immer mehr hinter der Oberfläche der Erscheinungen zurück[geht]“.288 Diese teleologische Fortschrittskonzeption, wonach die wissenschaftlichen Theorien im Laufe ihrer Entwicklung den Anspruch auf adäquate Abbildung der Wirklichkeit zunehmend erfüllen und sich dementsprechend der Wahrheit sukzessive annähern, korrespondiert bei Riemann allerdings keinem „naiven Empirismus“;289 vielmehr stimmt er mit seinem philosophischen Vorbild Herbart in der Auffassung überein: „Wir sind in unsern Begriffen völlig eingeschlossen, und gerade darum, weil wir es sind, entscheiden Begriffe über die reale Natur der Dinge.“290 In der Naturwissenschaft kann es folglich „keine reine Mathematik im Sinne bloßer symbolischer Konstruktion nach Gesetzen des Denkens geben – Mathematik ist dann immer ‚empiriedurchtränkt‘ und erkenntnistheoretisch nicht von Naturwissenschaft abzugrenzen“.291 Diesem Anspruch auf „wissenschaftlichen Realismus“ steht jedoch die tatsächliche Genese allgemein-mathematischer Begriffe bei Riemann entgegen. So demonstriert gerade der im Habilitationsvortrag entwickelte Man-

|| 286 Vgl. dazu insbesondere Pulte, der aufzeigt, „daß Riemanns empiristische Tendenzen nicht die These in Frage stellen, daß es ein (wenngleich modifiziertes) Verständnis reiner Mathematik ist, das bei ihm eine moderne, konsequent hypothetisch-deduktive Wissenschaftsauffassung erst ermöglicht“ (Pulte: Axiomatik und Empirie, S. 375). 287 Bernhard Riemann: Versuch einer Lehre von den Grundbegriffen der Mathematik und Physik als Grundlage der Naturerklärung, in: ders.: Werke, S. 553–558, hier S. 553. 288 Ebd. 289 Pulte: Axiomatik und Empirie, S. 377. 290 Johann F. Herbart: Lehrbuch zur Einleitung in die Philosophie [1813], hrsg. v. Wolfhart Henckmann, textkritisch rev. Ausg. der 4. Aufl., Hamburg 1993, S. 232 (§ 136). 291 Pulte: Axiomatik und Empirie, S. 379.

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nigfaltigkeitsbegriff, dass Riemann „zumindest Teilen der Mathematik eine eigene, erfahrungsunabhängige Wahrheit“292 zuerkennt, dies um so mehr, wenn es, wie Riemann, darum geht, „die Welt in ihrem Verhalten im Unendlichkleinen“ zu verstehen.293 Die Antinomie „Endliches, Vorstellbares“ und „Unendliches, Begriffssysteme, die an der Grenze des Vorstellbaren liegen“294 ist Riemann zufolge nicht durch die Annahme eines ontologischen Kontinuitätsprinzips aufzulösen. Die nicht vorstellbaren Begriffssysteme können zwar als an der Grenze des Vorstellbaren liegend betrachtet werden, d.h. man kann ein innerhalb des Vorstellbaren liegendes Begriffssystem bilden, welches durch blosse Aenderung der Grössenverhältnisse in das gegebene Begriffssystem übergeht. Von den Grössenverhältnissen abgesehen, bleibt das Begriffssystem bei dem Uebergang zur Grenze ungeändert. In dem Grenzfall selbst aber verlieren einige von den Correlativbegriffen des Systems ihre Vorstellbarkeit, und zwar solche, welche die Beziehung zwischen andern Begriffen vermitteln.295

Die hier „konstatierte Diskontinuität zwischen Endlichem und Unendlichem“, so Pulte, zeigt: „Riemanns reine Mathematik ist die Mathematik des Unendlichen.“296 Die Wahrheit und Notwendigkeit ihrer Sätze ist eine ausschließlich logisch-mathematische; sie sagt nichts über ihre Gültigkeit in der empirischen Welt aus, denn „unsere Auffassung der Welt“ ist nur dann „wahr“, „wenn der

|| 292 Ebd. Pulte weist auch auf Gegenpositionen zu dieser These hin, so etwa auf die Auffassung von Scholz, derzufolge es für Riemann „‚keine Trennung von reiner und angewandter Mathematik‘“ gab (Erhard Scholz: Geschichte des Mannigfaltigkeitsbegriffs von Riemann bis Poincaré, Boston 1980, S. 345, zit. nach Pulte: Axiomatik und Empirie, S. 379). Umgekehrt sieht Pulte seine Auffassung durch Mehrtens gestützt, der mit Blick auf den allgemeinen Mannigfaltigkeitsbegriff argumentiert: „‚Die neue Sprache der Mathematik bedarf nicht der Vergewisserung auf äußeres Sein, weil sie sich in der steten Arbeit an sich selbst vergewissert“ (Herbert Mehrtens: Moderne-Sprache-Mathematik. Eine Geschichte des Streits um die Grundlagen der Disziplin und des Subjekts formaler Systeme, Frankfurt/M. 1990, S. 68, zit. n. Pulte: Axiomatik und Empirie, S. 379). Vor allem aber sind es, wie noch zu zeigen sein wird, die von Riemann selbst vorgenommenen Unterscheidungen, die bei aller ‚Implizität‘ ein recht deutliches Bewusstsein von der Differenz zwischen einer reinen, erfahrungsunabhängigen Mathematik und deren physikalischen ‚Funktionalisierungs-‘ bzw. Applikationsmöglichkeiten zeigen. 293 Hermann Weyl: Philosophie der Mathematik und Naturwissenschaften [1926], München u.a. 51982, S. 115, zit. n. Pulte: Axiomatik und Empirie, S. 374. 294 Bernhard Riemann: Zur Psychologie und Metaphysik, in: ders.: Werke, S. 541–552, hier S. 550. 295 Ebd., S. 552. 296 Pulte: Axiomatik und Empirie, S. 386.

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Zusammenhang unserer Vorstellungen dem Zusammenhange der Dinge entspricht“.297 Diese methodologische Unterscheidung zwischen einem mathematischnotwendigen Wahrheits- und einem physikalisch-hypothetischen Wahrscheinlichkeitsbegriff durchzieht implizit auch Riemanns Hypothesen-Vortrag. Riemann tritt mit dem Vorhaben an, die begrifflichen Voraussetzungen und Zusammenhänge des „allgemeinen Begriffs mehrfach ausgedehnter Größen, unter welchem die Raumgrößen enthalten“ und von Euklid bis hinauf zu Legendre „unbearbeitet“ geblieben sind, zu prüfen. Im unmittelbaren Anschluss an seine Kritik stellt Riemann den „Plan seiner Untersuchung“ wie folgt vor: Ich habe mir daher zunächst die Aufgabe gestellt, den Begriff einer mehrfach ausgedehnten Grösse aus allgemeinen Grössenbegriffen zu construiren. Es wird daraus hervorgehen, dass eine mehrfach ausgedehnte Grösse verschiedener Massverhältnisse fähig ist und der Raum also nur einen besonderen Fall einer dreifach ausgedehnten Grösse bildet. Hiervon ist aber eine nothwendige Folge, dass die Sätze der Geometrie sich nicht aus allgemeinen Grössenbegriffen ableiten lassen, sondern dass diejenigen Eigenschaften, durch welche sich der Raum von anderen denkbaren dreifach ausgedehnten Grössen unterscheidet, nur aus der Erfahrung genommen werden kann.298

In gewisser Weise kündigt Riemann hier ein dekonstruktives Verfahren an, wenn er die Unmöglichkeit, geometrische Sätze aus allgemeinen Größenbegriffen abzuleiten und damit die Empirieabhängigkeit solcher Sätze über den abstrakten Weg der Konstruktion des „Begriffs einer mehrfach ausgedehnten Grösse aus allgemeinen Grössenbegriffen“ aufzuzeigen gedenkt. Im Ausgang seiner Überlegungen steht dann auch nicht die Erfahrung, sondern Gauß’ Differentialgeometrie der Flächen, die er über „kühne Abstraktionen“ und „Analogiebildungen“299 verallgemeinert, indem er sich nicht mehr auf zwei- oder dreidimensionale Flächen beschränkt,300 „sondern zu n-dimensionalen Mannigfaltigkeiten überging, von diesen aber nicht mehr die Euklidizität forderte,301 sondern nur || 297 Riemann: Versuch einer Lehre von den Grundbegriffen der Mathematik, S. 555. 298 Riemann: Ueber die Hypothesen, S. 304 f. 299 Pulte: Axiomatik und Empirie, S. 383. 300 Über die Möglichkeit von Räumen mit mehr als drei Dimensionen hat Gauß lediglich spekuliert: „Wir können uns […] etwa in Wesen hineindenken, die sich nur zweier Dimensionen bewusst sind; höher über uns stehende würden vielleicht in ähnlicher Weise auf uns herabblicken“, so Gauß in der Überlieferung nach Sartorius von Waltershausen (Gauss zum Gedächtnis, S. 81). 301 Dies im Unterschied zu Gauß, dem der Beweis des biegungsinvarianten Krümmungsmaßes dadurch gelang, indem er aufzeigen konnte, „daß das Krümmungsmaß allein aus den Größen berechnet werden kann, die die auf der Fläche von der euklidischen Metrik des Raumes

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voraussetzte, dass in jedem einzelnen Punkt eine Metrik, und zwar in der Gestalt einer positiv-definiten quadratischen Differentialform gegeben sei.“302 Dieser im Unterschied zu Gauß nicht mehr konkreten Form der Metrik entsprechend, ändert sich auch die Berechnung der Krümmung: Die Riemann’sche Krümmung wird „nicht mehr durch eine Zahl in jedem Punkt beschrieben, sondern durch mehrere Krümmungsgrößen“, die im sogenannten „Krümmungstensor“ – „einer Art Tabelle“ – zusammengefasst werden.303 Wie schon Gauß, sieht auch Riemann eine Fläche bzw. Mannigfaltigkeit ausschließlich durch ihre inneren Eigenschaften definiert, weicht aber darin von seinem Lehrer ab, dass er den in der Gauß’schen Flächentheorie bedeutungslos gewordenen Raum nun seinerseits zum geometrischen Objekt erklärt, eben zu einem „besonderen Fall einer dreifach ausgedehnten Größe“, deren spezifischen Eigenschaften empirisch zu eruieren sind. Diesem Unterfangen ist der dritte Teil des Vortrags gewidmet, in dem Riemann die Anwendung seines Mannigfaltigkeitsbegriffs erprobt und der Frage nachgeht, ob der physikalische Raum „nur einen besonderen Fall“ des allgemeinen Mannigfaltigkeitsbegriffs bilde. Ausgehend von der Untersuchung der Wahrscheinlichkeit der euklidischen „Hypothesen“, die „innerhalb der Grenzen der Beobachtung“ als „sehr groß“ angenommen werden kann, soll „über die Zulässigkeit ihrer Ausdehnung jenseits der Grenzen der Beobachtung, sowohl nach der Seite des Unmessbargrossen, als nach der Seite des Unmessbarkleinen“ geurteilt werden.304 Während Riemann die „Fragen über das Unmessbargrosse“ zu „müssigen Fragen“ erklärt, über die lediglich spekuliert werden kann, erhofft er sich von der Klärung der „Fragen über die Massverhältnisse im Unendlichkleinen“ Aufschlüsse über die „Erkenntnis [des] Causalzusammenhangs“ der Erscheinungen.305 Im Unendlichkleinen, so Riemann, „[verlieren] der Begriff des festen Körpers und des Lichtstrahls ihre

|| induzierte Längenmessung festlegen und die bei längentreuen Abbildungen ihrer Natur nach sich nicht ändern“ (Reichardt: Gauß und die Anfänge der nicht-euklidischen Geometrie, S. 82). 302 Ebd., S. 82. Der Begriff der Mannigfaltigkeit ersetzt hier den der Fläche. 303 Habermann: Von Gauss über Riemann zu Einstein, S. 123. 304 Riemann: Ueber die Hypothesen, S. 305. 305 Ebd., S. 317. Zu den näheren Zusammenhängen vgl. ferner Riemann: Versuch einer Lehre von den Grundbegriffen der Mathematik und Physik als Grundlage der Naturerklärung, wo es heißt: „Dasjenige, woraus der Zusammenhang der Dinge erkannt werden muss, sind also quantitative Verhältnisse, die räumlichen und zeitlichen Verhältnisse der Sinnendinge und die Intensitätsverhältnisse der Merkmale und ihrer Qualitätsunterschiede. Aus dem Nachdenken über den beobachteten Zusammenhang dieser Grössenverhältnisse muss sich die Erkenntnis des Zusammenhangs der Dinge ergeben“ (Riemann: Versuch einer Lehre von den Grundbegriffen der Mathematik, S. 555).

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Gültigkeit“, so dass es also „sehr wohl denkbar [ist], dass die Massverhältnisse des Raumes im Unendlichkleinen den Voraussetzungen der [euklidischen] Geometrie nicht gemäss sind, und dies würde man in der That annehmen müssen, sobald sich dadurch die Erscheinungen auf einfachere Weise erklären liessen“.306 Über die Geltung der Prämissen der euklidischen Geometrie kann aber erst entschieden werden, nachdem die „Frage nach dem innern Grunde der Massverhältnisse des Raumes“307 geklärt ist. Zwei Möglichkeiten zieht Riemann in Betracht: Der Raum bildet entweder eine diskrete Mannigfaltigkeit – in diesem Fall wäre die Metrik apriori „in dem Begriffe der Mannigfaltigkeit enthalten“ – oder eine stetige Mannigfaltigkeit – in diesem Fall müsste das „Princip der Massverhältnisse […] anderswoher hinzukommen“.308 Die Entscheidung, ob „das dem Raume zu Grunde liegende Wirkliche eine discrete Mannigfaltigkeit bilde[t], oder der Grund der Massverhältnisse ausserhalb, in darauf wirkenden bindenden Kräften“ zu suchen ist, kann nur getroffen werden, „indem man von der bisherigen durch die Erfahrung bewährten Auffassung der Erscheinungen, wozu Newton den Grund gelegt, ausgeht und diese durch Thatsachen, die sich aus ihr nicht erklären lassen, getrieben allmählich umarbeitet“. Die Antwort bleibt Riemann hier wie auch später zwar schuldig,309 doch ist es gerade die zweite seiner Annahmen, wonach der Raum eine kontinuierliche Mannigfaltigkeit bildet und folglich seine Struktur von „bindenden Kräften“ bestimmt wird, die in der Forschung zu zahlreichen Spekulationen geführt hat. Diese kreisen vor allem um die Frage, inwieweit die von Riemann in Erwägung gezogene Abhängigkeit der räumlichen Metrik von ‚bindenden Kräften‘ die Gravitationstheo-

|| 306 Riemann: Ueber die Hypothesen, S. 317. 307 Ebd., S. 318. 308 Hier und im Folgenden, ebd., S. 318. 309 Dass Riemann bei diesem Applikationsproblem zur zweiten These tendiert, geht implizit bereits aus den zitierten Eingangssätzen hervor, in denen er ja gerade den Gebrauch apriorischer Begriffe in den Naturwissenschaften kritisiert. Im „Versuch einer Lehre von den Grundbegriffen der Mathematik und Physik als Grundlage der Naturerklärung“ weist er den Kantschen Apriorismus unmissverständlich zurück: „Es ist nun von Herbart der Nachweis geliefert worden, dass auch die zur Weltauffassung dienenden Begriffe, deren Entstehung weder in der Geschichte, noch in unserer eigenen Entwicklung verfolgen können, sämmtlich, in soweit sie mehr sind als blosse Formen der Verbindung der einfachen sinnlichen Vorstellungen, aus dieser Quelle abgeleitet werden können und daher nicht (wie nach Kant die Kategorien) aus einer besonderen aller Erfahrung voraufgehenden Beschaffenheit der menschlichen Seele hergeleitet zu werden brauchen. Dieser Nachweis ihres Ursprungs in der Auffassung des durch die sinnliche Wahrnehmung Gegebenen ist für uns deshalb wichtig, weil nur dadurch ihre Bedeutung in einer für die Naturwissenschaft genügenden Weise festgestellt werden kann“ (Riemann: Versuch einer Lehre von den Grundbegriffen der Mathematik, S. 554; Hervorhebung BM).

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rie Einsteins vorwegnimmt.310 Dass es Riemann in seinem Vortrag aber nicht primär darauf ankam, seinen auf dem Weg der reinen Mathematik entwickelten allgemeinen Mannigfaltigkeitsbegriff am speziellen Fall des physikalischen Raums zu erproben, verdeutlicht die erkenntniskritische Intention, der er seine Ausführungen abschließend unterstellt: Solche Untersuchungen, welche, wie die hier geführte, von allgemeinen Begriffen ausgehen, können nur dazu dienen, dass diese Arbeit nicht durch die Beschränktheit der Begriffe gehindert und der Fortschritt im Erkennen des Zusammenhangs der Dinge nicht durch überlieferte Vorurtheile gehemmt wird.

|| 310 In dem von Riemann in Erwägung gezogenen Zusammenhang von Raummetrik und Kräften sieht beispielsweise Jammer jene „zentralen Gedanken in Einsteins Gravitationstheorie“ antizipiert, wonach die „metrische Struktur, die durch den Einstein’schen Tensor bestimmt ist, an jedem Punkt des Raum-Zeit-Kontinuums auf den Masse-Energie Tensor […] bezogen ist vermöge der Feldgleichungen […]. Riemanns Vorwegnahme einer solchen Abhängigkeit der Metrik von physikalischen Daten erscheint als die logische Lösung einer Schwierigkeit, zu der die Annahme von der variablen Krümmung des Raumes geführt hätte“ (Max Jammer: Das Problem des Raumes. Die Entwicklung der Raumtheorien, aus dem Engl. v. P. Wilpert, Darmstadt ²1980, S. 179 f., hier zit. n. Pulte: Axiomatik und Empirie, S. 399 f.). Weitere Beispiele für eine „‚Deifikation‘“ der Riemann’schen Theorie, die mit Beginn des 20. Jahrhunderts einsetzt und sich bis in die unmittelbare Gegenwart hinein erhält, finden sich bei Pulte, Axiomatik und Empirie S. 399 f. Pulte selbst interpretiert den „Hypothesen“-Vortrag (vgl. ebd., S. 395–399) im Ausgang von Riemanns Kritik der Newton’schen ֥ Mechanik (vgl. ebd., S. 363–375), vor allem aber im Zusammenhang mit Riemanns Äthertheorie (vgl. ebd., S. 388–394; ferner S. 375 f., Anm. 1313): „Das Problem der ‚bindenden Kräfte‘ in Riemanns Hypothesen weist demnach auf ein ungelöstes Problem seiner Äthertheorie hin, nämlich auf die Frage, wie der quasigeometrische Zustand des Äthers von den ‚ponderablen‘ Körpern bestimmt wird. Dieses Problem wiederum hängt eng mit der Frage zusammen, die Riemann als ein Teil nicht des ‚mathematischen‘, sondern des ‚metaphysischen Geschäfts‘ betrachtet und daher aus seinen mathematischen Untersuchungen ausgrenzt: die Frage nach den Ursachen der Ätherbewegung“ (ebd., S. 398). In der Tatsache, dass Riemann „die alte Eulersche Vorstellung, daß der Äther (auch) über Bewegung auf Materie wirkt“ nicht aufgibt, liegt „der entscheidende Unterschied zu einem Feldbegriff, wie er in der Allgemeinen Relativitätstheorie anzutreffen ist. Diese Theorie enthält ja nicht […] ein ‚Verbot‘ des Ätherbegriffs, sondern dessen feldtheoretische Umdeutung. Daher heißt es bei Einstein auch: ‚Der Begriff der Bewegung darf nicht auf ihn [den Äther] angewendet werden‘“ (ebd., S. 401). Von Einstein selbst ist lediglich bekannt, dass er, auf der Suche nach einer adäquaten mathematischen Sprache zur Darstellung der Allgemeinen Relativitätstheorie, von dem Zürcher Mathematiker Grossmann auf die Riemann’sche Geometrie aufmerksam gemacht wurde und diese sich entsprechend aneignete (vgl. Habermann: Von Gauss über Riemann zu Einstein, S. 125 f.). Riemanns Spekulationen über (bei ihm nicht näher definierten) „Kräfte“, welche die Raumkrümmung beeinflussen würden, waren Einstein offenbar nicht bekannt.

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Es führt dies hinüber in das Gebiet einer andern Wissenschaft, in das Gebiet der Physik, welches wohl die Natur der heutigen Veranlassung nicht zu betreten erlaubt.311

Noch einmal unterstreicht Riemann hier die Legitimität einer ‚bloß‘ hypothetisch-deduktiv verfahrenden ‚reinen‘ Mathematik, zugleich aber markiert er deren Grenze ganz eindeutig dort, wo sie zur Aufklärung physikalischer Probleme herangezogen wird. Die allgemeinen Begriffe der reinen Mathematik müssen sich letztlich am Prüfstein der Erfahrung bewähren.

3.4.2 Mathesis in poesis: Literarisierte Geometrie In Kehlmanns Die Vermessung der Welt nimmt die Entdeckung der nichteuklidischen Geometrie insofern eine Sonderstellung ein, als ihre Genese sukzessive innerhalb des Romangeschehens entfaltet wird. Während ein Großteil der von Gauß erbrachten mathematischen und naturwissenschaftlichen Leistungen einen lediglich lokal begrenzten und damit abgeschlossenen Erzählraum einnehmen, ist seine Raumtheorie zu einem den gesamten Roman durchdringenden, gleichsam global über den Erzählraum verteilten und zerstreuten Thema ausgestaltet. Wie der skizzierte mathematikgeschichtliche Verlauf zeigt, ist die Entdeckungsgeschichte der nichteuklidischen Geometrie alles andere als eine kohärent begriffene und verfasste.312 Seine historische Rekonstruktion bis zu Riemann vermag zwar den Übergang vom klassisch-axiomatischen hin zu einem hypothetisch-deduktiven, nicht länger verifizierbaren, sondern nurmehr empirisch falsifizierbaren Wissenschaftsverständnis aufzuzeigen, nicht aber ins ‚Innere‘ dieser Geschichte vorzudringen. Die Aura des Rätselhaften und Geheimnisvollen, ja sogar des Unheimlichen und Verbotenen, die dieses ‚Innere‘ der Geschichte bereits an seinem mathematischen ‚Ursprung‘ umgibt – erinnert sei noch einmal an die vom historischen Gauß diagnostizierte „Lücke im Anfange der Geometrie“, an die verbriefte tiefgreifende Verunsicherung in der Folge, diese Lücke mathematisch zu schließen, an das selbstauferlegte Tabu, die geometrisch ‚monströsen‘ Resultate der vorgenommenen Beweisversuche zu publizieren sowie an die zahlreichen, wiederum von Gauß selbst so genannten „Andeutungen“, er sei bereits sehr früh in Kenntnis der vollen Tragweite dieser

|| 311 Riemann: Ueber die Hypothesen, S. 318. 312 „Die fesselnde Geschichte des Euklidischen Programms und seines Zusammenbruchs ist noch nicht geschrieben“ (Lakatos: Mathematik, empirische Wissenschaft und Erkenntnistheorie, S. 6).

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anderen Geometrien gewesen –,313 bleibt auch für die wissenschaftshistoriographischen Dokumentationen prägend. Die Rolle, die Gauß in diesem szientifischen Abenteuer seitens der Wissenschaftshistoriker und -biographen jeweils zugewiesen wird, fällt denkbar unterschiedlich aus und reicht von der enthusiastischen Zelebrierung des Entdeckers Gauß – „Blitzartig hatte er sie geschaut und immer weiter hatte er diese nichteuklidische Geometrie für sich aufgebaut“314 – bis hin zum nüchternen Dementi: „[H]e lacks almost entirely the substantial body of argument that gives Bolyai or Lobachevskii their genuine claim to be the discoverers of non-Euclidean geometry“.315 Das Hermetisch-Dunkle, das diese Entdeckungsgeschichte an ihrem mathematischen Ursprung kennzeichnet, erfährt, wie schon gezeigt wurde, eine erste, äußerst diskrete Thematisierung in der im ersten Kapitel im unmittelbaren Zusammenhang mit der Differentialgeometrie erwähnten Kindheitsanekdote: Über die Gattungswahl wird hier die ehemals publikationstechnische Semantik der Anekdote im Sinn von ‚inedita‘ mit der ihr vor allem in der französischen Gesellschaftsanekdote zuwachsenden Konnotation einer ‚histoire secrète‘ verschränkt und auf diese Weise die von Gauß an den Tag gelegte extreme Publikationsscheu mit dem Enigmatischen und Unanschaulichen der

|| 313 Ein eindrückliches Zeugnis über die geradezu existenzbedrohenden Konsequenzen der Beschäftigung mit der nichteuklidischen Geometrie stammt von Wolfgang Bolyai, Freund von Gauß und Vater von Johann Bolyai: „Du darfst die Parallelen auf jenem Wege nicht versuchen; ich kenne diesen Weg bis an sein Ende – auch ich habe diese bodenlose Nacht durchmessen, jedes Licht, jede Freude meines Lebens sind in ihr ausgelöscht worden – ich beschwöre Dich bei Gott! laß die Lehre von den Parallelen in Frieden […]. – Diese grundlose Finsternis würde vielleicht tausend NEWTONsche Riesentürme verschlingen, es wird nie auf Erden hell werden, und das armselige Menschengeschlecht wird nie etwas vollkommen Reines haben, selbst die Geometrie nicht; es ist in meiner Seele eine tiefe und ewige Wunde; […] Es ist unbegreiflich, daß diese unabwendbare Dunkelheit, diese ewige Sonnenfinsternis, dieser Makel der Geometrie zugelassen wurde, diese ewige Wolke an der jungfräulichen Wahrheit.“ (in: Urkunden zur Geschichte der Nichteuklidischen Geometrie, hrsg. v. Friedrich Engel u. Paul Stäckel, Bd. II: Wolfgang und Johann Bolyai, 1. Teil, Leipzig, Berlin 1913, S. 79) In einem weiteren Brief beschwört Bolyai seinen Sohn abermals: „Ich sehe, mein unglückliches Leben wiederholt sich in Dir. Ich sehe Dich gleichsam zwischen gefahrvollen Klippen, wo noch ein Jeder Schiffbruch erlitt, im finstern Sturm hin und her geschleudert. Es ist ein unheimliches Schlachtfeld, worauf ich jederzeit geschlagen wurde; eine allem Streben des Forschergeistes trotzende, uneinnehmbare Felsenburg. In dieser Materie ist das ganze Leben nur eine brennende, ins Meer getauchte Fackel“ (Briefe Wolfgang Bolyais an seinen Sohn Johann [1820], in: ebd., S. 82). 314 Worbs: Carl Friedrich Gauss, S. 134. 315 Gray: An Introduction to Gauss’s Mathematical Diary, S. 466.

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nichteuklidischen Geometrie verbunden.316 Die wissenschaftsbiographisch immer wieder diskutierte Frage, wann Gauß erstmals die Möglichkeit einer solchen Geometrie in Erwägung zog, findet in der Fiktion eine eindeutige Antwort: Am Ende des Kindheitskapitels wird in einer – nun gänzlich frei erfundenen – Episode erzählt, wie der 14-jährige Carl Friedrich den in Braunschweig gastierenden Heißluftballonfahrer Pilâtre de Rozier dazu überredet, ihn auf einer zu Ehren des Herzogs unternommenen Fahrt begleiten zu dürfen. In erlebter Rede werden die enthusiastischen Empfindungen des jungen Gauß wiedergegeben – „[er] klammerte sich an den Korbrand, und erst als er den Mund zumachte, wurde ihm klar, daß er die ganze Zeit geschrien hatte“ (V 66) –, Empfindungen, die mit einer geschärften sinnlichen Wahrnehmung einhergehen und schließlich in eine intuitive Erkenntnis über die ‚wahre‘ Natur des Raums münden: Und der Raum selbst: eine Gerade von jedem Punkt zu jedem, von diesem Dach zu dieser Wolke, zur Sonne, zum Dach zurück. Aus Punkten Linien, aus Linien Flächen und aus Flächen Körper, doch damit war es nicht getan. Seine feine Biegung, von hier oben war sie fast zu sehen. […] Er spähte aufgeregt in die Sonne, das Licht veränderte sich. […] Ein paar letzte Flammen, das Rot am Horizont, dann keine Sonne mehr, dann die Sterne. […] Seine Augen schmerzten. […] Er stellte sich auf die Zehenspitzen, als könnte das helfen, starrte

|| 316 Damit verbindet sich – zumindest für diesen Roman – nicht die Intention einer pauschalen Wissenschafts- und Wissenschaftshistoriographiekritik. Die für die Textebene getroffene Beobachtung, dass die meisten mathematischen und naturwissenschaftlichen Erkenntnisse und Leistungen lokal ‚abgehandelt‘ werden, ist auch Indiz dafür, dass ihnen nichts Fragwürdiges anhaftet. Sie werden in ihrer Bedeutsamkeit nicht hinterfragt, sondern auch innerhalb der fiktionalen Welt als wissenschaftlich unstrittig zur Geltung gebracht. An ihnen ist gewissermaßen selbst im Medium des Fiktiven nur schwer zu ‚rütteln‘. Im Unterschied zur nichteuklidischen Geometrie entbehren sie des wissenschaftlich und wissenschaftshistoriographisch ‚Zwielichtigen‘, Mehrdeutigen und Abenteuerlichen, entpuppen sich als eher langweilig und fade und werden vermutlich gerade auch deshalb selten als selbständige Theorien produktiv gemacht, sondern meist an biographische Kontexte rückgebunden und durch diese entsprechend narrativ ‚aufgewertet‘. Konzentriert auf nur wenige Seiten (vgl. V 86–92) wird z.B. die Entstehung der Disquisitiones Arithmeticae, Gauß’ Hauptwerk zur „Grundlegung der Arithmetik“ (V 86) erzählt. Dabei interessieren weniger die mathematischen Zusammenhänge als vielmehr die Lebens- und Arbeitsbedingungen, unter denen die Disquisitiones entstanden sind. Während das Mathematische äußerst gestrafft berichtet wird („Die Arbeit ging schnell voran. Das quadratische Reziprozitätsgesetz war abgeleitet, das Rätsel der Primzahlenfrequenz seiner Auflösung näher. Die ersten drei Sektionen hatte er beendet, er war schon beim Hauptteil“, V 88), stehen biographische Lebensereignisse (die [historisch nicht überlieferten] Besuche bei Nina, einer russischen Prostituierten, die „Doktoratsprüfung“, erste Landvermessungsarbeiten und die von Gauß dafür entwickelte „Technik der Triangulation“, die erste Begegnung mit seiner späteren Frau Johanna, schließlich die Phase exzessiven Arbeitens sowie die Mittelbeschaffung für die Druckkosten) im Vordergrund.

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hinauf, begriff zum erstenmal, was Bewegung war, was ein Körper, was vor allem der Raum, den sie zwischen sich aufspannten und der sie alle, auch ihn, Pilâtre und diesen Korb, umfaßt hielt. Der Raum, der – Sie krachten in das Holzgestell eines Heustapels, ein Seil riß […]. Er wisse es jetzt, sagte Gauß. Na was denn? Daß alle parallelen Linien einander berührten. Fein, sagte Pilâtre. Sein Herz raste. (V 66 f.)

Die Datierung dieser Episode, die sich aus dem Erzählkontext relativ präzise auf das Jahr 1791 oder 1792 festlegen lässt, ist deshalb bedeutsam, weil Kehlmann hier die von Gauß gegenüber Schumacher 1848 getätigte Äußerung, er sei bereits seit 54 Jahren, also seit 1792, der Überzeugung, dass die euklidische Geometrie nicht die wahre sei und er mit den Ergebnissen Lobatschewskis übereinstimme, im Unterschied zur Gauß-Forschung unhinterfragt übernimmt.317 Das in diesem Brief implizit bekundete ‚Erstentdeckerrecht‘ – „materiell für mich Neues habe ich also im Lobatschewskyschen Werke nicht gefunden, aber die Entwickelung ist auf anderm Wege gemacht, als ich selbst eingeschlagen habe“318 – wird folglich fiktional bestätigt und damit der Pakt des Autors mit der historischen Figur nachhaltig bekräftigt. Die im Brief nachträglich aufgestellte Behauptung, er, Gauß, sei bereits seit 54 Jahren zu derselben Überzeugung wie Lobatchevski gelangt, holt der Roman in die Gegenwart der Jugend zurück und baut sie zum Ereignis einer intuitiven Erkenntnis aus. Zwar sind in diese Passage – wie auch in ihrem unmittelbaren Erzählkontext – diejenigen mathematischen Theoreme, die für die nichteuklidische Geometrie von Relevanz sind, metaphorisch bereits integriert,319 dies jedoch in einer Weise, die eher allgemeine wissenschaftshistorische und erkenntnistheoretische (und weniger mathe-

|| 317 Gauß an Schumacher (Brief vom 28.11.1846), in: Gauß: Werke, Bd. VIII, S. 238–239. Dieser Brief ist die einzige Quelle, in der ein konkretes Datum, nämlich das Jahr 1792, über den Beginn von Gauß’ Beschäftigungen mit der nichteuklidischen Geometrie genannt ist (vgl. ebd., S. 238). 318 Ebd., S. 239. 319 Dazu gehören etwa die metaphorisierten, aus dem eigentlichen mathematischen Zusammenhang herausgelösten Bilder der Krümmung („Das in der Ferne gekrümmte Land“, die „feine Biegung“ des Raums, V 66), die Verknüpfung unanschaulicher geometrisch-idealer Figuren (Punkt, Gerade, Fläche) mit alltäglichen Objekten der sinnlichen Anschauung (Dach, Wolke, Sonne), die den Wandel von einer Geometrie absoluter Objekte hin zu einer Geometrie der Ordnungs- und Relationsgefüge anzeigt (vgl. Cassirer: Erkenntnisproblem, S. 29), und schließlich – denkt man an die Weiterentwicklung der Raumtheorie durch Riemann und vor allem Einstein – die nur scheinbar willkürliche Erwähnung des Kraftbegriffs („Mit welcher Kraft die Luft sie schüttelte!“, V 66).

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matische) Deutungszusammenhänge provoziert. Die mathematische Erkenntnis, dass sich alle Parallelen im Unendlichen berühren,320 entzündet sich einerseits an der empirischen Anschauung – erzähllogisch erscheint die mathematische Pointe als ein in der Erfahrung wurzelndes, gleichsam induktiv gewonnenes Ergebnis –, womit auf Gauß’ spätere Forderung nach einer Empirisierung der Geometrie hingewiesen ist; andererseits – und deutlicher noch – ist diese Erkenntnis jedoch auch als eine intuitive, ‚rein‘ mathematische zu deuten, was insbesondere der ans Ekstatische grenzende affektive Zustand des Helden und nicht zuletzt die Zäsur, rhetorische Figur des Erhabenen, nahelegen. Beide Anschauungsformen – die empirische und die zum quasi-göttlichen Inspirationsakt stilisierte intuitiv-intellektuelle Anschauung – werden gleichsam in einer durch die abenteuerliche Ballonfahrt evozierten ästhetischen Raumerfahrung zur Koinzidenz gebracht und damit der Erkenntnisursprung gleichermaßen in Vernunft und Erfahrung verortet. Die Ballonfahrt und ihr jähes Ende sind in dieser Deutung eine mehrfach semantisierte wissenschaftshistorische Allegorie, die den Übergang von der klassischen (axiomatisch-deduktiven) zur modernen (hypothetisch-deduktiven) Wissenschaftsauffassung ebenso ins Bild setzt wie die damit verbundene Emanzipation der Mathematik von der Philosophie, die Ausgrenzung der Geometrie aus dem Reich der reinen Mathematik und nicht zuletzt die Spaltung der Geometrie selbst in eine formale, axiomatisierte einerseits, eine empirisch-‚physikalische‘ andererseits. Diese allegorische Lesart der Ballonfahrt wird durch die zweifache Verwendung der Riss-Metapher zusätzlich unterstützt: das bei der Landung gerissene Seil sowie der „Riß in der Pergamenthaut“ des Ballons attribuieren die gleichermaßen revolutionären wie krisenhaften Momente dieser Differenzierungsprozesse und der mit ihnen einhergehenden erkenntnistheoretischen Konsequenzen: der fragwürdig gewordene Gewissheits- und Einheitscharakter der Vernunft, die Vervielfältigung des Raums und die Pluralisierung der ‚Wahrheit‘, der Hiatus zwischen intuitiv-

|| 320 Dass der ‚Berührungsort‘, nämlich das Unendliche, an dieser Stelle zwar ausgespart, aber mitkonnotiert ist, wird durch die Blickrichtung – das Hinaufstarren zu den Sternen – angedeutet. – Gauß’ Wahrnehmung, so pointiert Pütz, abstrahiere sich „in Form einer Geometrisierung der Welt“ (Pütz: Daniel Kehlmann. Die Vermessung der Welt, S. 48). Dabei lenkt Pütz den Blick auch auf die astronomische und humane Dimension dieser Passage: „Der Aufstieg von unten nach oben und der unaufhaltsame Abstieg von oben nach unten […] lösen in Gauß eine Assoziationskette aus, die quer zur Kurvenbewegung des Ballons eine lineare Ausrichtung von der Statik des Raums (Punkte, Linien, Flächen, Körper) zur Dynamik der Zeit (Sterben, Vergehen, Folgen, Kreisen, Bewegung) sowie von der Erde zum Weltraum ausweist“ (ebd.).

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intellektueller und empirischer Evidenz, „zwischen der sinnlichen Anschauung und der Welt des geometrischen Begriffs“.321 Gegenüber dieser Sequenz, die den mathematischen und wissenschaftshistorischen Horizont buchstäblich ‚anreißt‘ und ‚aufreißt‘, stellt die im dritten Gauß-Kapitel, „Die Zahlen“, eingelagerte und wiederum rein fiktive Reise nach Königsberg, wo Gauß den hoch betagten und, wie sich zu seiner Enttäuschung bald herausstellt, völlig senilen Kant besucht, eine mathematische Konkretisierung und Präzisierung dar. Mit „gedämpfter Stimme“ trägt Gauß sein Anliegen vor: Er habe Ideen, die er noch keinem habe mitteilen können. Ihm scheine nämlich, daß der euklidische Raum eben nicht, wie es die Kritik der reinen Vernunft behaupte, die Form unserer Anschauung selbst und deshalb aller möglichen Erfahrung vorgeschrieben sei, sondern vielmehr eine Fiktion, ein schöner Traum. Die Wahrheit sei sehr unheimlich: Der Satz, daß zwei gegebene Parallelen einander niemals berührten, sei nie beweisbar gewesen, nicht durch Euklid, nicht durch jemand anderen. Aber er sei keineswegs, wie man immer gemeint habe, offensichtlich! Vielleicht gebe es gar keine Parallelen. Vielleicht lasse der Raum auch zu, daß man, habe man eine Linie und einen Punkt neben ihr, unendlich viele verschiedene Parallelen durch diesen einen Punkt ziehen könne. Nur eines sei sicher: Der Raum sei faltig, gekrümmt und sehr seltsam. Es tat gut, all das zum ersten Mal auszusprechen. Schon kamen die Worte schneller, die Sätze bildeten sich von selbst. Dies sei kein Gedankenspiel! […] Er behaupte etwa, daß ein Dreieck von genügender Größe, aufgespannt zwischen drei Sternen dort draußen, bei genauer Messung eine andere Winkelsumme habe als die erwarteten hundertachtzig Grad, sich also als sphärischer Körper erweisen werde. Als er gestikulierend aufsah, bemerkte er die Spinnweben an der Decke, mehrere Schichten davon, filzig ineinandergewoben. Eines Tages würden solche Messungen durchführbar sein! Doch sei das noch lange hin, einstweilen benötige er die Meinung des einzigen, der ihn nicht für verrückt halten könne, der ihn verstehen müsse. Die Meinung des Mannes, welcher die Welt mehr über Raum und Zeit gelehrt habe als irgendein anderer. (V 95 f.)

Zunächst wird auch hier ein wissenschaftshistorischer Prozess – die Ablösung und Emanzipation der Mathematik von der Philosophie – ereignishaft vergegenwärtigt. Weitgehend entpersonalisiert treten Gauß und Kant als paradigmatische Akteure und allegorische Gestalten ihrer jeweiligen Disziplin auf. Dass der seitens Gauß initiierte Dialog mit dem Philosophen von vorneherein zum Scheitern verurteilt ist, wird durch die parodistische Schilderung der Umstände, die dieser Begegnung unmittelbar vorausgeht, unmissverständlich antizipiert. Der „wunderliche Dialekt“ der Königsberger, der „dumpf blickende Pedell“ (V 94), der Gauß den Weg zu Kant beschreibt, die „fremd“ aussehenden Straßen,

|| 321 Cassirer: Erkenntnisproblem, S. 39.

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die „unverständlichen Schilder“ vor den Geschäften, das „Essen aus den Schenken roch nicht nach Essen“, der Diener Kants, ein „durch und durch staubiger alter Mann“, der ihm den Zugang zu seinem Herrn zunächst hartnäckig verwehrt, die düstere, stickige Atmosphäre in Kants Haus mit seinen „verhängten Fenstern“ und nicht zuletzt der Meister selbst, der sich als „regloser“ (V 95), abwesend dreinblickender „Zwerg“ erweist – all dies sind ironisch überfrachtete Seitensiebe auf die einstige Königsdisziplin ‚Philosophie‘, ihre Sprache und ihre Methoden, dargestellt in der Perspektive des Mathematikers.322 Das Verhältnis zwischen Philosophie und Mathematik ist gekennzeichnet durch wechselseitige Ignoranz, Fremdheit und eine unüberbrückbare Distanz: „Noch nie war er [Gauß] so weit von daheim gewesen“ (V 94). An diese im Vorfeld inszenierten Disharmonien schließt Gauß’ Monolog nahtlos an, wenn er seine eigenen Ideen vom Raum im offenen Widerspruch zu Kants Auffassung darzulegen beginnt. Mit der entschiedenen Zurückweisung von Kants Lehre, wonach der Raum (wie auch die Zeit) nicht als empirische Realität, sondern als apriorische Form „reiner Anschauung“,323 d.h. als Form unseres Bewusstseins vor jeder Erfahrung aufzufassen ist, und der Bloßstellung dieser Lehre als „Fiktion“ und „schöner Traum“, zeigt der fiktive Gauß – der sich hier ganz im Einklang mit dem historischen befindet – den zwischen Mathematik und Philosophie eingetretenen Bruch in aller Deutlichkeit auf. Die „Wahrheit“, wenngleich noch im Status der „Vermutung“, liegt auf der Seite der Mathematik. Die wissenschaftsgeschichtliche Situation ist in dieser Dichotomie zwischen der Wahrheit der Mathematik und der Fiktion der Philosophie auf die denkbar kürzeste Formel gebracht: Die Revolte gegen die einstige Leitwissenschaft Philosophie und deren „Monopolanspruch auf Wissenschaftlichkeit“324 ist vollzogen, die Mathematik ihrerseits imstande, ihre Theorien unabhängig von einem seitens der Philosophie vorgegebenen apriorisch-kategorialen Begriffsrahmen zu entwickeln und zu begründen sowie ihren „Realitätsbezug zu erklären und zu sichern“,325 kurz: die Mathematik genügt sich selbst und bedarf nicht länger einer außer und über ihr stehenden Disziplin. Die „unsicheren Hände“, mit denen Gauß sich anschickt, sein Gastgeschenk, „ein Exemplar der Disquisitiones“ (V 95), zu überreichen – Kant jedoch „regte keine Hand“, um es entgegenzunehmen –, || 322 Vgl. hierzu noch einmal den oben zitierten Brief von Gauß an Schumacher vom 1.11.1844 in: Briefwechsel zwischen Carl Friedrich Gauss und H.C. Schumacher, Bd. II, 4, No. 944; S. 337. 323 Zur allgemeinen Bestimmung der „reinen Anschauung“ vgl. Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft 1, in: ders.: Werkausgabe, Bd. III, hrsg. v. Wilhelm Weischedel, Frankfurt/M. 1974, S. 70; zur Erörterung des Raumes als reine Anschauungsform vgl. ebd., S. 70–78. 324 Schnädelbach: Philosophie in Deutschland 1831–1933, S. 88. 325 Pulte: Axiomatik und Empirie, S. 377.

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sind, wie auch die „gedämpfte Stimme“, mit der er sein Anliegen vorträgt, vordergründig Symptome der aufrichtigen Bewunderung für Kant, mehr noch aber verraten sie den inneren Erregungszustand, mit dem Gauß seine revolutionären Einsichten in die Natur des Raums erstmalig vorträgt. Vor allem aber ist in dieser Geste ein demonstrativer Akt der Selbstbehauptung zu sehen, handelt es sich bei den Disquisitiones Arithmeticae nicht nur in biographischer, sondern auch in wissenschaftlicher Hinsicht um das Gauß’sche Hauptwerk zur Zahlentheorie und damit zur reinen Mathematik. Die sodann von Gauß vorgetragenen Gedanken sind eine äußerst verkürzte Rekapitulation all jener oben skizzierten komplexen Entwicklungen, die die Geometrie zu Gauß’ Lebzeiten genommen hat: der Zweifel am axiomatischen Status des euklidischen Parallelenpostulats, die vergeblichen Versuche, es zu beweisen sowie der dadurch ausgelöste Verdacht, „daß der Satz nicht stimme“ (V 96). Erst im Anschluss an sein zweifaches Dementi – die Ablehnung der Lehren Kants und Euklids – beginnt Gauß, seine eigenen Ideen vorzutragen. Während diese Redepartie – wie auch alle anderen im Roman – auf der Ebene der Erzählung in indirekter Rede verfasst ist, wechselt die Figurenrede von einem zunächst hypothetischen Sprechmodus (angezeigt durch das zweifache „Vielleicht“) in einen zunehmend assertorischen (angezeigt in den Formulierungen „Nur eines sei sicher“ und „Dies sei kein Gedankenspiel! Er behaupte […]“, V 96). So werden die Grundannahmen der elliptischen Geometrie, wonach es zu einer Geraden und einem Punkt außerhalb ihrer überhaupt keine Parallelen gibt, und der hyperbolischen Geometrie, wonach es durch den gegebenen Punkt mehr als eine und damit notwendigerweise unendlich viele Parallelen gibt, jeweils mit einem introduzierenden „Vielleicht“ versehen, der der hyperbolischen Aussage mathematisch äquivalente Satz, „daß ein Dreieck von genügender Größe, aufgespannt zwischen drei Sternen dort draußen, bei genauer Messung eine andere Winkelsumme habe als die erwarteten 180 Grad“ (V 96), hingegen zu einer an Gewissheit grenzenden Behauptung gesteigert.326 Die ergänzende Schlussfolgerung, dass sich ein solches Dreieck „als sphärischer Körper erweisen werde“, konstatiert den Zusammenhang zwischen der Innenwinkelsumme von Dreiecken auf einer Fläche und der Krümmung der Fläche, wobei hier sowohl die Variante der hyperbolischen als auch der elliptischen Geometrie angesprochen ist, nach der die Winkelsumme weniger bzw. mehr als 180° beträgt und die Krümmung der Fläche dementsprechend negativ bzw.

|| 326 Zu den mathematischen Details vgl. die vorausgehenden Ausführungen.

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positiv ist.327 Die wissenschaftshistorisch ungeklärte Frage, ob Gauß diese Beziehung zwischen seinen beiden geometrischen Arbeitsgebieten – den nichteuklidischen Geometrien der Ebene und der Geometrie auf den Flächen konstanten Krümmungsmaßes – erkannt hat,328 wird auf der Ebene der Figurenrede zugunsten von Gauß entschieden, auf der Ebene des Erzähldiskurses (durch die indirekte Rede) jedoch offen gehalten. Auch diese Redepassage wird gestisch untermauert: Dies sei kein Gedankenspiel! Er behaupte etwa… Er ging auf das Fenster zu, aber ein erschrockenes Quieken des Männchens ließ ihn stehenbleiben. Er behaupte etwa, daß ein Dreieck von genügender Größe, aufgespannt zwischen drei Sternen dort draußen […]. (V 96)

In der Form zweier unscheinbarer Gesten zeigt Kehlmann hier den Paradigmenwechsel innerhalb der Geometrie auf: Gauß, im Begriff das „verhängte Fenster“ (V 95) zu öffnen, um seine Ausführungen zur nichteuklidischen Geometrie und der damit einhergehenden Empirisierung der Geometrie mit einem quasi-empirischen Fingerzeig auf das Firmament zu demonstrieren, wird durch Kants verschreckte Reaktion daran gehindert. Das hermetisch abgeschlossene und verdunkelte Zimmer wird hier zum Topos des absoluten Raums im Sinne einer dem Bewusstsein ursprünglichen, apriorischen Anschauungsform und entsprechend einer reinen Geometrie, „welche die Eigenschaften des Raums synthetisch und doch a priori bestimmt“;329 die Welt „dort draußen“, insbesondere die astronomische, folgt hingegen anderen geometrischen Prinzipien, deren Gültigkeit nur durch „Messungen“ (V 96) erwiesen werden kann. „Gerade in der Unmöglichkeit“, so der historische Gauß in einem Brief an Wolfgang Bolyai, „zwischen Σ [Euklidischer Geometrie] und Ѕ [nichteuklidischer Geometrie] a priori zu entscheiden, liegt der klarste Beweis, dass Kant Unrecht hatte zu

|| 327 Konkret besteht dieser Zusammenhang darin, „dass die Innenwinkelsumme eines Dreieckes genau dann kleiner als, gleich bzw. größer als 180° ist, wenn die Fläche negativ gekrümmt, flach bzw. positiv gekrümmt ist“ (Habermann: Von Gauß über Riemann zu Einstein, S. 119). – Streng genommen richtet sich die Rede vom „sphärischen Körper“ lediglich auf die elliptische Geometrie, die zu Gauß’ Zeiten auch „sphärische Geometrie“ genannt wurde (vgl. Reichardt: Gauß und die Anfänge der nicht-euklidischen Geometrie, S. 77 f.), doch verweist der Kontext der zitierten Passage auf beide Varianten. 328 Vgl. exemplarisch Stäckel: Gauss als Geometer, S. 108; Reichardt: Gauß und die Anfänge nicht-euklidischen Geometrie, S. 86 f. 329 Kant: Kritik der reinen Vernunft, S. 74.

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behaupten, der Raum sei nur Form unserer Anschauung“.330 Während der fiktive Kant sich von dieser neuen Wissenschaftswelt systematisch abschottet, ver-

|| 330 Gauß an Wolfgang Bolyai am 6.3.1832, in: Gauß: Werke, Bd. VIII, S. 221. Gauß verweist in diesem Brief ausdrücklich auf einen bereits 1831 in den Göttingischen Gelehrten Anzeigen publizierten Aufsatz, in dem er einen zweiten Grund für seine Ablehnung der Kant’schen Lehre angibt. In diesem Beitrag geht es u. a. um die Unterscheidung von rechts und links; der Unterschied sei, so Gauß, „so bald man vorwärts und rückwärts in der Ebene, und oben und unten in Beziehung auf die beiden Seiten der Ebene einmal (nach Gefallen) festgesetzt hat, in sich völlig bestimmt, wenn wir gleich unsere Anschauung dieses Unterschiedes andern nur durch Nachweisung an wirklich vorhandenen materiellen Dingen mittheilen können“ (Gauß: Werke, Bd. II, S. 177). Ergänzend dazu heißt es dann in einer Fußnote: „Beide Bemerkungen hat schon Kant gemacht, aber man begreift nicht, wie dieser scharfsinnige Philosoph in der ersteren einen Beweis für seine Meinung, dass der Raum nur Form unserer äusseren Anschauung sei, zu finden glauben konnte, da die zweite so klar das Gegenteil und dass der Raum unabhängig von unserer Anschauungsart eine reelle Bedeutung haben muss, beweiset“ (ebd.; vgl. auch Gauß: Werke, Bd. X, Abteilg. 1, S. 409 sowie Bd. VIII, S. 224 u. Brief an Schumacher vom 8.2.1846, in: Bd. VIII, 247). – Vor den skizzierten mathematikgeschichtlichen Hintergründen ist der Befund Andersons, wonach die Entwicklung der nichteuklidischen Geometrie erst mit Riemann einsetze, Kehlmann also „die moderne Widerlegung der rationalen, aufklärerischen Anschauung des Raums Gauß in den Mund legt“ (S. 62), nicht haltbar. Zuzustimmen ist ihm jedoch, wenn er die ‚Unheimlichkeit des Raums‘“ (S. 63) als den „Kern der Wirklichkeitsproblematik im Roman“ (ebd.) bestimmt und – mit Linienverlängerungen zu Musil und Kafka – die vielfältigen ‚Verstrebungen‘ der neuen Raumlehre mit dem Humboldtstrang aufzeigt (Mark M. Anderson: Der vermessende Erzähler. Mathematische Geheimnisse bei Daniel Kehlmann, in: Arnold: Daniel Kehlmann, S. 58–67). Diese ‚Unheimlichkeit des Raums‘ verdeutlicht auch der instruktive Beitrag von Sean Ireton: Lines and Crimes of Demarcation: Mathematizing Nature in Heidegger, Pynchon, and Kehlmann, in: Comparative Literature, Vol. 63, No. 2 (Spring 2011), S. 142–160. Die mit dem epistemologischen Primat des Messens einhergehenden zentralen Konzepte „linearity and progress“ erfuhren in der Aufklärung eine auch symbolische Deutung im Sinne von sozialem und moralischem Fortschritt, aber auch im Sinne der Abgrenzung (etwa des Zivilisierten vom Unzivilisierten, vgl. S. 150). Die negativen Kehrseiten der Aufklärung, auf die mit Blick auf Kehlmanns Roman auch seitens der deutschen Forschung immer wieder hingewiesen wird, liegen nach Iretons (wesentlich von Heidegger inspirierter) Argumentation in einer Auffassung von „mathesis“ als einer „general practice whereby we conceptualize things independent of their actual existence“ (S. 146), begründet. Vertreten Gauß und Humboldt auch „complementary exemplifications of mathesis“ (154), so ist ihnen, wie insbesondere die Analyse der „Netz“-Metapher verdeutlicht, gemeinsam, dass sie die von Edward S. Casey philosophiegeschichtlich herausgearbeitete Differenz von „place“ („finite, qualitative, and heterogeneous“) und „mathematical space“ (infinitve, quantitative, and homogeneous“) zugunsten letzterem preisgegen haben (S. 153): „In an apparent reversal of ontological priority, mathesis thus prescribes its laws to nature; reality is reduced to a configuration of imagninary lines and demarcations“ (S. 156). Die im Roman verhandelte Raumproblematik wird damit auch zum Dreh- und Angelpunkt der Kehlmann’schen Zivilisationskritik. – Von der aufgezeigten weitgehenden Übereinstimmung der literarischen mit der historischen mathema-

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abschiedet Gauß die kantische Welt und verbannt sie als hoffnungslos veraltet – vgl. die von ihm registrierten filzig ineinandergewobenen Spinnweben (V 96) – in ein historisches Plusquamperfekt.331

|| tikgeschichtlichen Entwicklung bleibt das „spezifisch ästhetische Erkenntnispotential von Literatur“ (169) – ihre „Möglichkeit […], durch intakte, ästhetische Formen das Chaos der Welt zu vermitteln und dieses wenngleich nicht in ontologischer, so doch in epistemologischer Hinsicht zu kompensieren“ (183) –, wie dies Herrmann für Kehlmanns frühe Werke gegen das unzulängliche „epistemologische Potential der Mathematik“ (171) geltend macht, völlig unberührt (Leonhard Herrmann: Vom Zählen und Erzählen, vom Finden und Erfinden. Zum Verhältnis von Mathematik und Literatur in Daniel Kehlmanns frühen Romanen, in: Fiktum versus Faktum? Nicht-mathematische Dialoge mit der Mathematik, hrsg. v. Franziska Bomski u. Stefan Suhr, Berlin 2012, S. 169–184. Seine Überlegungen zu dieser Form einer „literarischen Vernunftkritik“, die er überzeugend als einen „Grenzfall ästhetischer Autonomie“ ausweist, baut Herrmann an anderer Stelle entscheidend aus (vgl. Herrmann: Literarische Vernunftkritik. Formen, Funktionen und Paradoxien eines Konzeptes literarischer Eigenwertigkeit, in: Vom Eigenwert der Literatur: Reflexionen zu Funktion und Relevanz literarischer Texte, hrsg. v. Andrea Bartl u. Marta Famula, Würzburg 2017, S. 147–165, hier S. 151), und er stellt zurecht fest, dass „Gauß’ abstrahierende Methode“ auf der Textebene „in die Nähe literarischer Verfahren“ rücke, „analog zum Empirismus Humboldts“ jedoch „letztlich ebenfalls als unvollständig markiert“ werde (S. 158). Zugespitzt: „Wissenschaftsgeschichtlich ist Gauß’ nicht-euklidische Geometrie der Anfang eines Wegs, der weiter zu Heisenberg, Gödel und Einstein führt. Die Literatur bewegt sich damit einem gleichsam ausgetretenen Pfad, den sie durch ihre plastischen Erkenntnisformen wohl verbreitert, aber nicht grundsätzlich verändert“ (ebd., S. 163). Ähnlich auch Deupmann: „Die Erfassung der Welt durch ‚ein Netz aus Geraden, Winkeln und Zahlen‘ enthüllt […] eine Konstruktivität wissenschaftlicher Weltbeschreibung, die sie mit Poiesis, also der Erfindung fiktionaler Welten, auf einen gemeinsamen Nenner stellt: Beide Male geht es darum, dem zunehmenden Chaos eine (wissenschaftliche oder ästhetische) Ordnung abzutrotzen“ (Deupmann: Poetik der Indiskretion, S. 244). 331 Einem Kant ‚freundlich gesinnten‘ Leser mag es nicht recht einleuchten, dass der fiktive Kant diese eingerichtete Dialogsituation nicht zu einer entsprechenden Replik nutzen und den Gauß’schen Ausführungen nur ein hartnäckiges Schweigen entgegensetzen darf. Es sei zumindest erwähnt, dass Kant die Realität des Raums keineswegs widerlegt, sondern lediglich aufgezeigt hat, dass dem Raum keine Realität unabhängig vom Subjekt zukommt. Entsprechend unterscheidet er zwischen der „Realität (d.i. die objektive Gültigkeit) des Raums in Ansehung alles dessen, was äußerlich als Gegenstand uns vorkommen kann“ und der „Idealität des Raums in Ansehung der Dinge, wenn sie durch die Vernunft an sich selbst erwogen werden, d.i. ohne Rücksicht auf die Beschaffenheit unserer Sinnlichkeit zu nehmen“. Zusammenfassend erklärt Kant: „Wir behaupten also die empirische Realität des Raumes (in Ansehung aller möglichen äußeren Erfahrung), ob zwar die transzendentale Idealität desselben, d.i., daß er nichts sei, so bald wir die Bedingung der Möglichkeit aller Erfahrung weglassen, und ihn als etwas, was den Dingen an sich selbst zum Grunde liegt, annehmen“ (Kant: Kritik der reinen Vernunft, S. 76). Diese in der transzendentalen Ästhetik platzierten Ausführungen werden in der transzendentalen Logik weiter präzisiert: „Aber Raum und Zeit sind nicht bloß als Formen der sinnlichen Anschauung, sondern als Anschauungen selbst (die ein Mannigfaltiges enthal-

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Mit Blick auf die narrativen Verfahrensweisen gilt es mehrere Aspekte festzuhalten: 1. Die mathematikgeschichtlich äußerst komplexe Entwicklungsgeschichte der nichteuklidischen Geometrie ist auf einige wenige, aber maßgebliche Stationen konzentriert; diese werden weniger narrativ entfaltet, als vielmehr durch eine geschickte Auswahl und Reihung von fachlichen Termini markiert und in einen eher ‚losen‘ Zusammenhang gebracht. Es handelt sich um wissenschaftshistorische Abbreviaturen,332 die zu mathematisch allgemeinen Aussagen tendieren, aber gerade aufgrund dieser Verallgemeinerungstendenz einen maximalen thematischen Präzisionsgrad erreichen. Dieses Verfahren der || ten), also mit der Bestimmung der Einheit dieses Mannigfaltigen in ihnen a priori vorgestellt“ (ebd., S. 154), wobei Kant in einer Anmerkung mit Blick auf den Raum ergänzt: „Der Raum, als Gegenstand vorgestellt (wie man es wirklich in der Geometrie bedarf), enthält mehr, als bloße Form der Anschauung, nämlich Zusammenfassung des Mannigfaltigen, nach der Form der Sinnlichkeit Gegebenen, in eine anschauliche Vorstellung, so daß die Form der Anschauung bloß Mannigfaltiges, die formale Anschauung aber Einheit der Vorstellung gibt“ (ebd.). In diese Richtung ist auch der Einspruch Cassirers zu verstehen, wenn er der nachkantischen Philosophie vorwirft, sie hätte in ihrer Auseinandersetzung mit Kants transzendentaler Raum- und Zeitlehre die von Kant verhandelte erkenntniskritische Frage oft mit einer ontologischen verwechselt (vgl. Cassirer: Erkenntnisproblem, S. 30). Die philosophische Kritik an der nichteuklidischen Geometrie, die vor allem das fundamentale, a priori im Begriff des Raums selbst liegende Postulat verletzt sieht, „nämlich dass der Raum Einheit sein müsse“ (ebd., S. 39), erklärt sich entsprechend aus dieser mit Kant gerade nicht zu stützenden „substantialistischen Ansicht vom Raume“ (ebd.). Gerade die weitere Entwicklung der Geometrie durch Felix Klein macht deutlich, dass die Geometrie, definiert als „‚reine Beziehungslehre‘“, die „rein ideelle, die systematische Einheit des Raumes keineswegs aufgegeben“ hat und damit unmittelbar an Leibniz und Kant anschließt (ebd., S. 40). 332 Es dürfte mehr als klar sein, dass der hier verwendete Terminus der Abbreviatur sich ausschließlich auf den mathematischen bzw. mathematikgeschichtlichen Sachverhalt bezieht, damit also die Deutungsvielfalt, die diese Passage birgt und die forschungsseitig unter vielen Aspekten (etwa dem des Alterns) analysiert worden ist, selbstredend nicht auf den einen Sinn reduziert werden soll. – In die Rhetorik übersetzt sind diese Abbreviaturen der Synekdoche eng verwandt oder haben – v.a. dort, wo sie, wie im Falle bloßer Gesten, vordergründig keinen identifizierbaren Anteil mehr an einem wissenschaftsgeschichtlichen ‚Ganzen‘ haben, auf das sie verweisen – zumindest eine synekdochische Funktion. Das ‚Ganze‘ – der wissenschaftsgeschichtliche Kontext – kann in diesem Zusammenhang freilich nur als eine regulative Idee aufgefasst werden, da er als ‚Ganzes‘ an seinen Rändern – ungleich etwa einem konkreten Gegenstand – unbestimmt ist. Vor diesem Hintergrund bleiben die vom Leser aktualisierten wissenschaftsgeschichtlichen Zusammenhänge, wie gründlich diese auch erfolgen mögen, stets defizitär; es sind immer nur, um einen pointierten Ausdruck Uwe Wirths zu gebrauchen, „synekdochische Leerstellenergänzungen“ (Uwe Wirth: Die Konjektur als blinder Fleck einer Geschichte bedingten Wissens, in: „Interesse für bedingtes Wissen“. Wechselbeziehungen zwischen den Wissenskulturen, hrsg. v. Caroline Welsh u. Stefan Willer, München 2008, S. 269–294, hier S. 275).

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narrativen Abstraktion mathematischer und mathematikgeschichtlicher Sachverhalte setzt auf produktionsästhetischer Seite die fundierte Kenntnis der historischen Zusammenhänge voraus, wie es umgekehrt dem Leser erlaubt oder mehr noch: an ihn appelliert, diese Zusammenhänge auf dem Weg einer über den Erzähltext hinausgehenden intertextuellen Lektüre zu rekonstruieren.333 Die Bedenken, die aus Sicht der Literaturwissenschaft gegen solche ‚positivistischen‘ Rekonstruktionsversuche bestehen, gründen in der Annahme, dass das Archiv der Geschichte und Wissenschaftsgeschichte Texte konserviert, die von historisch weitgehend begründeten und entsprechend zu vereindeutigenden Tatsachen berichten. Der analytische Befund nimmt sich dazu konträr aus: An dieser Stelle ist es umgekehrt die Fiktion, die dazu tendiert, eine von Unbestimmtheiten, Leerstellen, ‚Hermetismen‘ und Widersprüchen geprägte Historie zu verallgemeinern, zu vereindeutigen und auf ihr mathematisches Substrat zu verkürzen. Ihren internen Beziehungs- und Spannungsreichtum vermögen diese Abbreviaturen hingegen erst in der ‚Konfrontation‘ mit den historischen Prätexten zu entfalten, erst dann also, wenn der Leser das partizipative Verhältnis, das dem Roman zu den historischen und fachlichen Quellen zugrunde liegt, reaktiviert und im Akt des Lesens in einen lebendigen Dialog überführt. Polemisch zugespitzt: Die fiktive Begegnung zwischen Gauß und Kant ist aufgrund ihrer humorvoll-ironischen Schilderung bestenfalls ‚nett‘ zu lesen, bleibt aber sowohl literarisch als auch wissenschaftshistorisch langweilig und flach, solange Passagen wie diese analytisch brachliegen. 2. Analoges gilt für die Transformation wissenschaftshistorischer Sachverhalte ins Gestische: Auch die Gesten sind wissenschaftshistorische Abbreviaturen, performative Inszenierungen komplexer Entwicklungs- und Ablösungsprozesse, die ihre Semantik erst vor der Folie der wissenschaftsgeschichtlichen Phänomene freigeben.334 Dabei können sie – wie im Falle von Gauß – die in der Figurenrede vermittelten Gehalte wiederholen, verdoppeln und akzentuieren, oder – wie im Falle des schweigenden Kant – die Figurenrede substituieren und damit den Rang einer autonomen,

|| 333 Die zahlreichen Bezugnahmen auf literarische Texte bleiben im Rahmen meiner Interpretation unberücksichtigt. Vgl. hierzu u.a. Karina von Tippelskirch: Paradigms and Poetics in Daniel Kehlmann’s Measuring the World, in: Symposium: A Quarterly Journal in Modern Literature 63 (3), 2009, S. 194–206. 334 Kehlmann selbst weist in seinen Poetikvorlesungen auf den sehr kalkulierten Einsatz von Gesten hin: „Gestik gehört zu den schwersten Übungen beschreibender Prosa – und so wie im literarischen Dialog kein Satz gesagt werden darf, der nicht einen Konflikt verschärft oder die Handlung vorantreibt, so darf es auch keine Geste geben, die nicht dem Ausdruck einer Charaktereigenschaft dient“ (Kehlmann: Diese sehr ernsten Scherze, S. 10).

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gleichwohl aber dialogrelevanten Körpersprache einnehmen.335 Schließlich fungieren die Gesten als wichtige Gelenkstelle zwischen dem Diskurs über die Geometrie des Raums und der Topologie des Raums der erzählten Welt.336 So lenkt die im Ansatz vollzogene, dann aber durch Kants ‚Gegengeste‘ unterbrochene Geste seitens Gauß, das Fenster bzw. den Vorhang zu öffnen, die Aufmerksamkeit auf die oppositionellen Raumstrukturen der fiktiven Welt (innen vs. außen, unten vs. oben) und lädt sie mit jener epistemischen, historischen und wertenden Semantik seiner Reflexionen über die nichteuklidische Geometrie auf.337 Erneut aufgegriffen werden die Spekulationen über den Raum erst wieder in den letzten, Gauß und Humboldt gemeinsam gewidmeten Kapiteln. Der folgende Auszug eines Gesprächs zwischen den beiden Protagonisten, das zunächst um die politische Situation in Deutschland kreist und sich zunehmend auf den wissenschaftlichen Bereich verlagert, zeigt, dass die Frage nach der

|| 335 Das ‚Quieken‘ Kants ist eher korporaler Reflex denn diskursiver Ausdruck bzw. markiert den ans Ende gekommenen, buchstäblich ins Unsinnige aufgelösten philosophischen Diskurs. 336 Nach Deupmann bezeichnet der „projektive Raum […], den Gauß dem vergreisten Philosophen Kant vergeblich dazulegen versucht […], in aller Unschärfe weit genauer die Konstitutionsbedingung des Raums der Fiktion“, wie umgekehrt aber auch die „nicht-euklidische Geometrie […] als Medium der narrativen Struktur“ fungiere (Deupmann: Poetik der Indiskretion, S. 242). Als Beispiel führt er an, dass „sich die parallel erzählten Lebenslinien trotz der die halbe Welt umfassenden Entfernung doch am Ende schneiden“ (S. 243). 337 Die demonstrative Geste Gauß’ wird ihrerseits durch die negativen Attribute, die der Stadt Königsberg und ihren Bewohnern zugeschrieben werden, atmosphärisch vorbereitet: Königsberg ist – aus Sicht des Protagonisten Gauß – nicht nur eine fremdartige, veraltete, verstaubte Stadt, sondern sie ist vor allem auch Kontrast zu Gauß’ Wohnsitz Braunschweig. Der schlechte Allgemeinzustand, der Gauß bei seinem Eintreffen in Königsberg kennzeichnet (er war „vor Müdigkeit, Rückenschmerz und Langeweile fast besinnungslos“, V 94) und das Gefühl „weit von daheim“ (ebd.) weg zu sein, evozieren Braunschweig als das positive Gegenbild zu Königsberg. Der wissenschaftlich und wissenschaftsgeschichtlich allegorische Charakter der Protagonisten Gauß und Kant wird damit durch eine entsprechend semantisch belegte Topographie zusätzlich hervorgehoben. Mit dem Betreten von Kants abgedunkeltem Zimmer wird das Pejorative, das Königsberg anhaftet, zunächst weiter zugespitzt, ehe durch die von Gauß im Ansatz verübte, den revoltierenden Kant jedoch abgewehrte Geste schließlich erneut ein topologisches Oppositionsverhältnis installiert: das begrenzte, abgedichtete, dreidimensionale Innere des Zimmers mit seinen Spinnweben an der Decke und seinem dementen Bewohner kontrastiert mit der Welt „dort draußen“, die im konkreten Kontext vor allem die kosmischastronomische Welt meint. Durch das Gestische wird diese Opposition primär an die konkrete Semantik der Figurenrede, also an die diskutierte mathematische Opposition von euklidischer und nichteuklidischer Geometrie gebunden, darüber hinaus bleibt aber die allgemeiner gefasste wissenschaftshistorische Semantik sowie die der topologischen Ordnung anhaftenden Wertungen (etwa veraltet vs. fortschrittlich; falsch vs. richtig; krank vs. gesund) erhalten.

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Beschaffenheit des Raums zwar keine wesentliche mathematische Vertiefung mehr erfährt, nun aber mit existentiellen und erkenntnistheoretischen Fragen verknüpft wird: Man meine, man habe alles selbst entschieden. Erst die Mathematik zeige einem, daß man immer die breiten Pfade genommen habe. Despotie, wenn er das schon höre! Fürsten seien auch nur arme Schweine, die lebten, litten und stürben wie alle anderen. Die wahren Tyrannen seien die Naturgesetze. Aber der Verstand, sagte Humboldt, forme die Gesetze! Der alte kantische Unsinn. Gauß schüttelte den Kopf. Der Verstand forme gar nichts und verstehe wenig. Der Raum biege und die Zeit dehne sich. Wer eine Gerade zeichne, immer weiter und weiter, erreiche irgendwann wieder ihren Ausgangspunkt. Er zeigte auf die niedrig im Fenster stehende Sonne. Nicht einmal die Strahlen dieses ausbrennenden Sterns kämen auf geraden Linien herab. Die Welt könne notdürftig berechnet werden, aber das heiße noch lange nicht, daß man irgend etwas verstehe. (V 219 f.)

Philosophisch eher dilettantisch weist Gauß die von Humboldt ins Spiel gebrachte Erkenntnistheorie Kants vehement zurück; die apriorisch-kategoriale Verfasstheit des Verstandes, jener „alte kantische Unsinn“, ist dem fiktiven Gauß der Dreh- und Angelpunkt, an dem sich die ‚Modernen‘ (er selbst) von den ‚Alten‘ (Kant, Humboldt338) scheiden. Die Funktion, die der Hinweis auf Kant an dieser Stelle erfüllt, erschöpft sich jedoch nicht in dieser figureninternen Deutung; vielmehr kommt seiner Erkenntnistheorie die Rolle eines Seismographen zu, an dem sich die wissenschaftsgeschichtliche Position der beiden Protagonisten ablesen lässt. Der historische wie der fiktive Gauß verkürzen die kantische Transzendentalphilosophie auf den Bereich der transzendentalen Ästhetik und der dort verhandelten reinen Anschauungsformen Raum und Zeit. Die Einsicht, dass dem Raum eine empirische Realität zukommt, er folglich nur durch Messungen, nicht aber durch apriorische Axiome bestimmt werden kann, beschreibt in diesem Kontext zugleich eine Sackgasse, aus der Gauß nicht mehr herausfindet, auch nicht herausfinden kann, da die Technik, die nötig wäre, um Messungen im astronomischen Bereich durchzuführen, schlichtweg nicht vorhanden ist.339 Die wohlwollende Reaktion des historischen Gauß auf Riemanns || 338 Dass auch der historische Humboldt ein überzeugter Kantianer war, der den erkenntnistheoretischen, moralphilosophischen und ästhetischen Richtlinien des Philosophen Folge zu leisten versuchte, stellt pointiert Geier heraus (vgl. Geier: Alexander von Humboldt – eine historische Skizze, S. 69 f.). 339 In Traum, Erinnerung und Fantasie jedoch gelingt es, auf dem Fundament von Technik und Wissenschaft eben deren Grenzen zu überwinden. So schreibt Ruf mit Blick auf die Telegrafen-Szene: „Ausgelöst durch die technische Erfahrung mit dem Telegrafen eröffnet sich Gauß die Transzendenz hin zu einer Traumlandschaft, die eine mediale Zukunftsvision enthält:

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Hypothesenvortrag deutet darauf hin, dass für Gauß (wie auch für Riemann) die Geometrie nur bedingt empirisch begründet werden kann, sondern weiterhin auf axiomatische Systeme – nun freilich im hypothetischen Sinne aufgefasst als „freie Setzungen des mathematischen Denkens“340 – angewiesen ist. Die weitere Entwicklung der Geometrie – insbesondere durch das 1872 erschienene ‚Erlanger Programm‘ von Felix Klein – nähert sich insofern der kantischen Position wieder an, als sie sich „streng auf die formale und analytische Klärung des Problems“ beschränkt und „von allen ontologischen Betrachtungen über die ‚Wirklichkeit‘ des Raumes ausdrücklich ab[sieht]“.341 Diese erkenntniskritische Sonderung „reiner Strukturfragen“ von „irgendwelchen Existenzfragen“342 hat der historische Gauß nicht mehr vollzogen. Mathematisch befindet sich Gauß gegenüber Kant ‚im Recht‘, erkenntnistheoretisch bleibt er hinter ihm zurück. Diese Zusammenhänge deutet die Fiktion auf subtile Weise im nahtlosen Ineinander von Existenz- und Raumfrage und in der von Gauß an den Tag gelegten erkenntnisskeptischen Haltung an. Die Tyrannei der Naturgesetze, die sich in den elementarsten Lebensprozessen – ‚leben‘, ‚leiden‘, ‚sterben‘ – manifestiert, rührt im Kontext dieser Passage an die zentrale Frage nach der menschlichen Freiheit. Während Gauß diese Freiheit durch die Naturgesetze untergraben sieht,343 sieht Humboldt sie durch die konstruktiv-schöpferische Fähigkeit des menschlichen Verstands, sich seine Gesetze selbst zu formen, gewährleistet. || In der Begegnung mit dem Medium wandelt sich die Erinnerung an die einstmals Geliebte zur Überschreitung des Diesseits hin zum Jenseits einer vollends technisierten Un-Wirklichkeit“ (ebd., S. 269). Der Telegraf und mit ihm der Ort der Sternwarte gerate für Gauß zu einer medial aufscheinenden ‚mythischen Geografie‘ im Sinne Cassirers: „Der den Raum überwindende Telegraf hebt die Zeit auf und erlaubt Gauß die Erinnerung an die tote Geliebte. […] Erinnern, so lässt Kehlmann deutlich werden, ist ein autopoetischer Akt, ein konstruktivistischer Vorgang, der Bilder herstellt und arrangiert. Ermöglicht wird dies durch die mediale Aufhebung von Raum und Zeit, die ja auch die erinnernde Fantasie kennzeichnet. Angefochten wird die Idee eines linearen Raum- und Zeitstrahls, der den Takt der Ereignisse uniformiert und Erinnerung zu einem planen Prozess werden lässt. Raum- und Zeiterfahrung werden subjektiviert und pluralisiert – und das in der Inszenierung der telegrafischen Medialität“ (Ruf: Medienphilosophie und Memoria, S. 270 f.). Gauß’ Zukunftsvision ist auch Auslöser einer Erkenntnisutopie: „Der Tod“, so lässt Kehlmann seinen Helden in dieser Szene reflektieren, „würde kommen als seine Erkenntnis von Unwirklichkeit. Dann würde er begreifen, was Raum und Zeit waren“ (V 282). 340 Cassirer: Erkenntnisproblem, S. 50. 341 Ebd., S. 32. 342 Ebd., S. 33. 343 Vgl. die dem Zitat unmittelbar vorausgehenden Zeilen: „Man denke, man bestimme sein Dasein selbst. Man erschaffe und entdecke, erwerbe Güter, finde Menschen, die man mehr liebe als sein Leben, zeuge Kinder, vielleicht kluge, vielleicht auch idiotische, sehe den Men-

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Exkurs Dass ausgerechnet der Empiriker Humboldt die kantische Transzendentalphilosophie verteidigt, mag zunächst überraschen, erweist sich jedoch gerade im fiktiven Kontext der Raumlehre als ein dezenter Hinweis auf die für sein Wissenschaftsverständnis charakteristische Ambivalenz von modern-positivistischer Forschungspraxis und klassisch-idealistischem Ganzheitsdenken. Das von ihm erklärte Ziel, die „Vielheit der Erscheinungen des Kosmos in der Einheit des Gedankens, in der Form eines rein rationalen Zusammenhangs zu umfassen“, kann zwar nur in einem historisch potentiell unabschließbaren Prozess angenähert werden – „Erfahrungs-Wissenschaften sind nie vollendet, die Fülle sinnlicher Wahrnehmungen ist nicht zu erschöpfen“ –,344 bleibt aber für Humboldts naturwissenschaftliche Tätigkeit die maßgebliche regulative Idee. Die „empirische Wissenschaft“, der sich Humboldt verpflichtet weiß und die auf dem „alleinigen Boden“ der „empirischen Betrachtung“ gründet,345 „schließt nicht aus die Anordnung des Aufgefundenen nach leitenden Ideen, die Verallgemeinerung des Besonderen, das stete Forschen nach empirischen Naturgesetzen“.346 Humboldt, der mit Kants Werk vertraut war, folgt hier unausgesprochen dessen Annahme, dass gesicherte Erkenntnis nur in der Verbindung von sinnlicher Anschauung in Raum und Zeit und den die Mannigfaltigkeit der Sinneseindrücke ordnenden und vereinheitlichenden (apriorischen) Verstandeskategorien – Humboldts „leitende Ideen“ – möglich ist, wobei er den Grundgedanken der kopernikanischen Wende voraussetzt, wenn er schreibt: Die Außenwelt existirt aber nur für uns, indem wir sie in uns aufnehmen, indem sie sich in uns zu einer Naturanschauung gestaltet. […] Die objective Welt, von uns gedacht, in uns reflectirt, wird den ewigen, nothwendigen, alles bedingenden Formen unserer geistigen Existenz unterworfen.347 Sowohl im Streben nach jenem „noch erhabenerem Ziel“, nämlich die wissenschaftlichen Erkenntnisse in ein „denkendes Erkennen, ein vernunftmäßiges Begreifen des Universums“348 zu überführen, also den „rein rationalen Zusammenhang“ in der „Einheit des Gedankens“349 zu fassen, als auch in der Überlagerung erkenntnistheoretischer und ästhetischer Reflexionen –

|| schen, den man liebe, sterben, werde alt und dumm, erkranke und gehe unter die Erde. Man meine, man habe alles selbst entschieden“ (V 219). 344 Humboldt: Kosmos, Bd. 1, S. 65. 345 Eindeutig grenzt Humboldt sich von einer rationalistisch verfahrenden Wissenschaft ab: „In meinen Betrachtungen über die wissenschaftliche Behandlung einer allgemeinen Weltbeschreibung ist nicht die Rede von Einheit durch Ableitung aus wenigen, von der Vernunft gegebenen Grundprincipien. Was ich physische Weltbeschreibung nenne (die vergleichende Erd- und Himmelskunde), macht daher keine Ansprüche auf den Rang einer rationellen Wissenschaft der Natur; es ist die denkende Betrachtung der durch Empirie gegebenen Erscheinungen, als eines Naturganzen“ (ebd., S. 31). 346 Ebd., S. 68. 347 Ebd., S. 69 f. 348 Ebd., S. 68. 349 Ebd., S. 65.

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auch diesen Zusammenhang gilt es in dem zu errichtenden „Natur-Gemälde“ anschaulich darzustellen –,350 übersteigt Humboldt freilich die von Kant gezogene Grenze des Erkennbaren.351 Die Erkenntnis der harmonischen Ordnung der Welt ist zugleich die Erkenntnis der Schönheit der Welt, und beide Aspekte lässt Humboldt im Begriff des Kosmos koinzidieren.352 Natur, Geist und Kunst greifen ineinander über: Wie das „Geistige […] in dem Naturganzen enthalten“ ist, so ist die Kunst „Inbegriff aller geistigen Productionskräfte der Menschheit“.353

Das Unverständnis, mit dem der fiktive Humboldt auf die Gauß’schen Anmerkungen über den Raum reagiert – „[…] was sei das mit dem Raum? Am Orinoko hätte er Ruderer gehabt, die ähnliche Witze gemacht hätten. Er habe das Gefasel nie verstanden. Auch hätten sie oft sinnverwirrende Substanzen eingenommen“ (V 220) – wird vor diesem historischen Hintergrund plausibel. Die Preisgabe der Einheit von Raum und Zeit, damit das Zugeständnis, dass es verschiedene Räume und darin wiederum verschiedene Welten gibt, ist mit dem Ziel von Humboldts ästhetischer Wissenschaftsauffassung, nämlich durch „höhere Vernunftthätigkeit“, welche die Erforschung der Natur kennzeichnet, jenes vollkommene Verhältnis der „Abspiegelung“354 von Natur, Vernunft und Sinnlichkeit allmählich zu offenbaren, nicht in Einklang zu bringen. Die Fiktion bleibt im Bereich des Wahrscheinlichen: sie beschränkt sich darauf, das historisch verbürgte Treffen zwischen Gauß und Humboldt in ein individuell gestaltetes ‚Setting‘ zu transformieren und in eine frei erfundene Gesprächssituation zu übersetzen. Dabei knüpft die Fiktion nicht lediglich thematisch an die ‚Realien‘ der Wissenschaftsgeschichte an (wie hier an den Stoff der Raumlehre), sondern bleibt selbst in ihren ‚fiktivsten‘ Konstruktionen innerhalb des wissenschaftshistorisch umgrenzten Terrains und des diesen umschließenden Deutungshorizonts. Die Fiktion ist von diesem Terrain her entworfen. Ihre ästhetische Differenz ist nicht als das ‚Andere‘ zur Wissenschaft und Wissenschaftsgeschichte zu markieren, sondern vielmehr als ein teils witzig-komisches, teils ironisch gebrochenes Spiel mit verfügbaren epistemischen und historischen Zeichen, deren Verweisungsvielfalt den Rahmen des Wahrscheinlichen nicht sprengt, sondern – und eben darin liegt ein großer Teil der für den Roman durchgängig charakteristischen Selbstreflexivität – die Verwei|| 350 Ebd., S. 50. 351 Humboldt erklärt zwar, dass dieses Ziel „bei dem jetzigen Zustande unseres empirischen Wissens nicht erlangt werden [kann]“ (ebd., S. 65), schließt aber – im Unterschied zu Kant – die Möglichkeit einer solchen Gesamterkenntnis des kosmischen Zusammenhangs nicht prinzipiell aus. 352 Zum Begriff des Kosmos vgl. noch einmal ebd., S. 76–78. 353 Ebd., S. 69. 354 Ebd., S. 34. Vgl. dazu auch Böhme: Ästhetische Wissenschaft, S. 18.

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sungsvielfalt der epistemisch-historischen Zeichen selbst bis in den letzten Winkel ‚vermisst‘ und ausleuchtet und solcherart die ästhetische Seite der Wissenschaftsgeschichte anschaulich ins Bewusstsein rückt. So weist nichts in den Quellen darauf hin, dass Humboldt sich mit der nichteuklidischen Geometrie beschäftigt, geschweige denn sich mit Gauß darüber ausgetauscht hätte; wenn nun der fiktive Humboldt sich darüber „wundere […], daß ein Mann wie Gauß diese Richtung vertrete“ und sich als ein Anhänger der „astralen Geometrie“ (V 246) entpuppt, dann folgt die Fiktion der Logik des Humboldt’schen Denkens; desgleichen gilt, wenn der fiktive Gauß Humboldts Annahme von einem „lichtschluckenden Äther“355 als „Unsinn“ (ebd.) zurückweist, da diese mit seiner Theorie vom leeren und gekrümmten Raum nicht kompatibel ist. Auch scheinbare Widersprüche in der fiktionalen Logik lösen sich vor der Folie der historischen Quellen auf,356 so etwa, wenn Gauß unmittelbar nach erneuter Darlegung seiner Raumtheorie auf Humboldts Vorwurf, er, Gauß, vertrete die Astralgeometrie, kontert: Tue er nicht […]. Er habe früh beschlossen, nie darüber zu publizieren. Er habe keine Lust gehabt, sich dem Gespött auszusetzen. Zu viele Leute hielten ihre Gewohnheiten für Grundregeln der Welt. (V 247)

Die von Gauß gegenüber Humboldt geschilderten Zukunftspläne, zu denen unter anderem auch die „Geometrie des Raumes“ gehören soll (V 261), werden durch das Erscheinen von Lobatschewskis Studie durchkreuzt: […] erst vor kurzem hatte ein russischer Mathematiker ihm eine Abhandlung geschickt, in der die Vermutung geäußert wurde, daß Euklids Geometrie nicht die wahre sei und parallele Linien einander berührten. Seit er zurückgeschrieben hatte, daß ihm keiner dieser Gedanken neu war, hielt man ihn in Rußland für einen Angeber. Bei dem Gedanken, daß andere bekanntmachen würden, was er so lange schon wußte, fühlte er ein ungewohntes Stechen. So alt hatte er also werden müssen, um zu lernen, was Ehrgeiz war. (V 272 f.)

|| 355 „Aber das hemmende Fluidum [gemeint ist der Äther, BM] scheint mir das grösste physikalische Rätsel und sein Dasein ist doch wohl nothwendig anzunehmen“, so Humboldt in einem Brief an Gauß vom 17.2.1833. Gauß wird sich in seiner Replik dazu jedoch nicht äußern. – Der Äther, für Humboldt ein „lichtschwächendes“, „widerstandleistendes, hemmendes Fluidum“ (Humboldt: Kosmos, Bd. 3, S. 50), eine „nicht selbst leuchtende, unendlich fein zertheilte Materie“ (ebd., Bd. 1, S. 89), das dem Weltraum eine lediglich „beschränkte Durchsichtigkeit“ (ebd., Bd. 3, S. 49) verleiht, erklärt etwa die Beobachtung, dass sich Exzentrizität und Umlaufzeit des „Enckischen Cometen“ regelmäßig vermindern (vgl. ebd., Bd. 3, S. 50f.; 567; Bd. 1, S. 113). 356 Vgl. zum Folgenden noch einmal Gauß’ Brief an Bessel vom 27.1.1829 (in: Gauß: Werke, Bd. VIII, S. 200), den Kehlmann hier sinngemäß zitiert.

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Im vorletzten Kapitel wird eine weitere „Abhandlung über die astrale Geometrie des Raums“ (V 290) erwähnt, die Martin Bartels zugeschrieben wird. Der historische Bartels war in den Jahren 1783 und 1788 Gehilfe von Gauß’ Lehrer in Braunschweig gewesen; die freundschaftliche Beziehung, die er seit dieser Zeit zu Gauß unterhielt, ist wissenschaftsbiographisch hinreichend belegt und wird auch im Kindheitskapitel des Romans aufgegriffen. Die genannte zweite Abhandlung ist historisch gesehen die erste, und sie stammt auch nicht von Bartels, sondern von Johann Bolyai. Dass Kehlmann sowohl das Erscheinungsjahr der Studie von Bolyai als auch ihren Urheber ‚fälscht‘, ist mehr als bloß fiktives Spiel mit der Wissenschaftsgeschichte; vielmehr wird hier in subtilster Weise eine Vermutung insinuiert, die auch in den historischen Analysen mehrfach diskutiert wird: Bartels nämlich, selbst ein vorzüglicher Mathematiker, ging 1806 nach Kasan und unterrichtete dort Lobatschewski;357 dass er bei dieser Gelegenheit auch Gauß’ Überlegungen zur nichteuklidischen Geometrie weitergegeben haben könnte, ist aufgrund der Tatsache, dass die Briefe, die sich Gauß und Bartels in den Jahren 1808 und 1821 geschrieben haben, ausschließlich persönliche Mitteilungen enthalten, eher unwahrscheinlich.358 Der Roman trifft in dieser wissenschaftshistoriographisch gleichwohl offenen Frage zwar keine Entscheidung, indem er diesen Verdacht etwa erhärtet, sehr wohl aber erinnert er über die fingierte Autorschaft, die er Bartels zuweist, einen weiteren ‚blinden Fleck‘ in der Entstehungsgeschichte der nichteuklidischen Geometrie. Indem er zwischen Bartels und der nichteuklidischen Geometrie einen Zusammenhang konstruiert, legt er eine weitere Spur, deren semantischen Implikationen sich dem Leser nur in Kenntnis der wissenschaftshistoriographisch ungeklärten Situation erhellen. Was sich an dieser Stelle aus wissenschaftshistorischer Sicht als Autorfiktion entlarvt, verweist darüber hinaus auf ein verborgenes Spiel der Poesie mit sich selbst. Diese Verschränkung von wissenschaftlicher bzw. wissenschaftshistorischer Entlarvung und metafiktionaler Selbstentlarvung findet sich bereits an einer früheren Stelle dieses Kapitels expliziert: Der Tod würde kommen als eine Erkenntnis von Unwirklichkeit. Dann würde er begreifen, was Raum und Zeit waren, was die Natur der Linie, was das Wesen der Zahl. Vielleicht auch, warum er sich immer wieder wie eine nicht ganz gelungene Erfindung vorkam, wie

|| 357 Der Unterricht bezog sich auf die Mécanique céleste von Laplace und die Disquisitiones arithmeticae von Gauß (vgl. Reichardt: Gauß und die Anfänge der nicht-euklidischen Geometrie, S. 68). 358 Vgl. Dunnington: Gauss. Titan of Science, S. 188 u. Reichardt: Gauß und die Anfänge der nicht-euklidischen Geometrie, S. 73 f.

Fiktionalisierte Mathematikgeschichte | 275

die Kopie eines ungleich wirklicheren Menschen, von einem schwachen Erfinder in ein seltsam zweitklassiges Universum gestellt. (V 282)

Die nichteuklidische Geometrie erscheint hier ‚epistemologisiert‘ und ‚poetologisiert‘ zugleich: Gauß’ Einsicht in die illusionäre Verfasstheit der Wirklichkeit, gesteigert zu der Erkenntnis seiner eigenen ‚Inventio‘-Existenz,359 koinzidiert mit einer Selbstentblößung des fiktionalen Status der Literatur. Indem Kehlmann seinem Helden selbst diesen metaepistemischen Kommentar zum hypothetischen Status wissenschaftlicher Erkenntnis360 und zugleich metafiktionalen Kommentar zur fiktionalen Biographik in den Mund legt, depotenziert er nicht nur den wissenschaftlichen Wahrheitsanspruch, sondern bestätigt ineins damit die Fiktionalität der Literatur.361 Wissenschaft und Literatur nähern sich darin einander an, dass sie beide auf einen Bereich lediglich möglicher Erkenntnis || 359 Vgl. hierzu sowie zu einer poetologischen Lektüre von Humboldts Begegnung mit einem Lama Kaiser: Erzählen im Zeitalter der Naturwissenschaft, S. 131 f. Während Kaiser den Lama als eine fiktive Manifestation des Autors deutet, sieht Deupmann in ihm eine „figürliche Vertretung“ des Lesers (Deupmann: Poetik der Indiskretion, S. 255 f.) und damit ein Pedant zum Grafen Ohe zur Ohe, jener Figur, die den allwissenden Gott ebenso vertritt wie „jenen ‚zweitklassigen Gott‘, der über die erzählte Welt, ihr Personal und alles Wissen gebietet“, namentlich „den Autor“ (S. 255). 360 In seiner zwar völlig anders angelegten, vom Verhältnis Zentrum und Peripherie bestimmten Analyse von Raum und Zeit kommt Schilling zu einer ähnlich epistemologischen Deutung: „Das Phänomen des Raumes steht für die Wandelbarkeit von Wissen und Erkenntnis, von Setzungen und Traditionen, von Gewohnheiten und Dogmen. Der Raum wird un(be)greiflich“ (Schilling: Der historische Roman seit der Postmoderne, S. 241). 361 Bei allen kritischen Dimensionen, die dem Roman zweifelsohne inhärent sind, erzeugt die literaturwissenschaftliche Forschung zu Kehlmann zuweilen den Eindruck, als gäbe es vom Standpunkt der Gegenwart aus nur noch die negativ-dialektische Seite der Aufklärung (die dann auch nicht mehr ‚dialektisch‘ wäre). Umso mehr verdient es der Beitrag von Gerhard Kaiser hervorgehoben zu werden, der die Vermessung der Welt und die in ihr zur Anwendung gelangten Verfahren der „Selektion und Stilisierung des historischen Materials“ als Mittel der Verschärfung der „historischen Signifikanz und damit zugleich d[er] Aktualität von Humboldt und Gauß“ einstuft (Kaiser: Erzählen im Zeitalter der Naturwissenschaft, S. 123). „Während die Romanhandlung [gleichwohl] den epochalen Wandel zur Geltung bringt, triumphiert hinterrücks die Überlebenskraft des poetischen Erzählens“ als eines der „großen, eigenständigen Weltdeutungsverfahren des Menschen“ (S. 123 f.). Pointiert auch Meller, der das „unheilvolle Deutsche“ im Roman auf eine Weise thematisiert sieht, ohne dabei „die Fernerinnerung durch hypertrophe Naherinnerung an die Nazizeit [einzutrüben]“. Vielmehr lege Kehlmann ein mentalitätsgeschichtliches Mosaik in seinen Text, das auf die Ingredienzien des späteren faschistischen Höllencocktails verweist, ohne in eine zweifelhafte Zwangsläufigkeit der geschichtlichen Entwicklung einzurasten und die gängige anachronistische Vergangenheitsbewältigung zu betreiben“ (Marius Meller: Die Krawatte im Geiste, in: Nickel: Daniel Kehlmanns „Die Vermessung der Welt“, S. 127–135, hier S. 129 f.).

276 | (Meta-)Fiktionale Wissenschaftsgeschichte / Wissenschaftshistoriographie

bezogen sind. Die Möglichkeit einer absoluten Wahrheit – der Wissenschaft wie der Literatur – wird auf den Augenblick des Todes verlagert. Der Tod wird damit zum Statthalter einer Wahrheitsutopie.

| Teil III: Literarische Epistemologie

1 Literarische Epistemologie Für das postmoderne wissenschaftliche Wissen sind nach Lyotard zwei Tendenzen kennzeichnend: erstens das nahtlose Ineinandergreifen von Wissenschaft und Technologie1 als Folge der rasanten Entwicklung insbesondere der Informationstechnologie sowie zweitens die „Rückkehr des Narrativen in das NichtNarrative“2 als Folge „der inneren Erosion des Prinzips der Legitimität des Wissens“3 nach dem Zusammenbruch der „großen Erzählungen“. Lyotards Einschätzung dieser Entwicklung ist durchaus ambivalent: Zum einen sieht er die Gefahr, dass durch die wissenschaftlich-technische Evolution ein Homogenisierungs- und Uniformierungseffekt erzeugt wird, der auf sämtliche lebensweltliche und gesellschaftliche Prozesse übergreift und letztlich zur „Verallgemeinerung der binären Sprachen“,4 zur Reduktion von Erkenntnis auf das, was „in Informationsquantitäten übersetzt werden kann“,5 zur „Tilgung des Unterschieds zwischen hier/jetzt und dort/damals“,6 zum Verlust humaner Welt-, Geschichts- und Subjekterfahrung7 und damit zu einem umfassenden „Schwinden der Wirklichkeit“8 führen kann. Zum anderen, so Lyotard, legen gerade die Naturwissenschaften und die sie charakterisierende „Pluralität formaler und

|| 1 Jean-François Lyotard mit J. Derrida, F. Burkhardt, G. Daghini u.a.: Immaterialität und Postmoderne, aus dem Französischen v. Marianne Karbe, Berlin 1985, S. 55–74, hier S. 58. 2 Jean-François Lyotard: Das postmoderne Wissen. Ein Bericht, hrsg. v. Peter Engelmann, Wien 52005, S. 87. 3 Lyotard: Das postmoderne Wissen, S. 116. 4 Jean-François Lyotard: Eine Widerstandslinie [1984], in: ders.: Grabmal des Intellektuellen, hrsg. v. Peter Engelmann, Wien 1985, S. 53–67, hier S. 63. 5 Lyotard: Das postmoderne Wissen, S. 23. 6 Lyotard: Eine Widerstandslinie, S. 63. 7 Vgl. Jean-François Lyotard: Das Erhabene und die Avantgarde, in: Merkur 38 (1984), S. 151– 164, hier S. 160. 8 Jean-François Lyotard: Beantwortung der Frage: Was ist postmodern?, in: Postmoderne und Dekonstruktion. Texte französischer Philosophen der Gegenwart, mit einer Einführung hrsg. v. Peter Engelmann, Stuttgart 1990, S. 33–48, hier S. 42. Lyotards Befund, wonach mit der Moderne „eine Erschütterung des Glaubens und, gleichsam als Folge der Erfindung anderer Wirklichkeiten, die Entdeckung einher[geht], wie wenig wirklich die Wirklichkeit ist“ (ebd.), deckt sich mit der von Baudrillard angesichts des omnipräsenten Phänomens der Simulation getroffenen Feststellung vom „kybernetischen Stadium“ der Realität (Jean Baudrillard: Der symbolische Tausch und der Tod, München 1982, S. 117). Die Annihilierung von Realität beginnt freilich nicht erst dort, wo technische Instrumente, Apparate und Medien zum Einsatz kommen, sondern – und darauf hat eindringlich Heidegger hingewiesen – elementarer und universeller dort, wo Wahrnehmung, Denken und Handeln selbst bereits technologisiert sind. Open Access. © 2021 Bernadette Malinowski, publiziert von De Gruyter. Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivatives 4.0 International Lizenz. https://doi.org/10.1515/9783110642384-007

280 | Literarische Epistemologie

axiomatischer Systeme“9 ein alternatives Legitimationsmodell für den sozialen Alltag wie für die Paradigmen der Wissenschaft nahe, das „keineswegs das der besten Performanz ist, sondern der als Paralogie verstandenen Differenz“;10 dabei bezieht die Paralogie ihr Rechtfertigungspotential aus der Form der „kleinen Erzählung“, für die „imaginative Erfindung“, „offene Systematik, das Lokale, die Anti-Methode“ ebenso kennzeichnend sind wie die „Unvorhersehbarkeit von ‚Entdeckung‘“ und ineins damit die „Bildung von Unsichtbarkeiten“,11 die Betonung des Dissens, die „Heteromorphie der Sprachspiele“ (lokal beschränkte Konsense und zeitweilige Verträge),12 die Selbstreferentialität des Diskurses und die Explikation metapräskriptiver Regeln13 bei gleichzeitigem Verzicht auf eine „allgemeine Metasprache“.14 Mit dem wissenschaftstechnologisch bedingten „Schwinden der Wirklichkeit“15 gerät auch die Annahme von einer Äquivalenz zwischen Wissen und Wirklichkeit, Wissen und Wahrheit unter Generalverdacht. Dies umso mehr, als sich der naturwissenschaftliche Gegenstandsbereich seit der wissenschaftlichen

|| 9 Lyotard: Das postmoderne Wissen, S. 128. Zum – gegenüber dem traditionell-deterministischen Wissenschaftsparadigma grundsätzlich verschiedenen – Legitimationspotential elementarer physikalischer und mathematischer Theorien der wissenschaftlichen Moderne und Postmoderne (Quantenmechanik, Relativitätstheorie, das Gödel’sche Theorem, die Thom’sche Katastrophentheorie, Mandelbrots Mathematik der Fraktale, Prigogines Theorie dissipativer Strukturen u.a.) vgl. ebd. S. 172–173: „Man gewinnt aus diesen […] Forschungen die Idee, daß die Überlegenheit der stetigen, ableitbaren Funktion als Paradigma der Erkenntnis und Prognose im Verschwinden begriffen ist. In ihrem Interesse für die Unentscheidbarkeiten, die Grenzen der Präzisison der Kontrolle, die Quanten, die Konflikte mit nicht vollständiger Information, die ‚Frakta‘, die Katastrophen und pragmatischen Paradoxa entwirft die postmoderne Wissenschaft die Theorie ihrer eigenen Evolution als diskontinuierlich, katastrophisch, nicht zu berichtigen, paradox. Sie verändert den Sinn des Wortes Wissen, und sie sagt, wie diese Veränderung stattfinden kann. Sie bringt nicht Bekanntes, sondern Unbekanntes hervor.“ 10 Ebd., S. 173. 11 Ebd., S. 175–177. 12 Ebd., S. 191–192. 13 Die explizite „Immanenz des Diskurses über die Regeln, die seine Gültigkeit ausmachen“ ist nach Lyotard einer der auffallendsten Züge des postmodernen Wissens (ebd., S. 159). Unter metapräskriptiven Aussagen versteht Lyotard die Voraussetzungen, unter denen denotative Aussagen gemacht werden; sie „schreiben vor, welcher Art die Züge der Sprachspiele sein müssen, um annehmbar zu sein“, wobei die Akzeptanzforderung wiederum nur dadurch gerechtfertigt ist, „daß dies Ideen, das heißt neue Aussagen, hervorbringen wird“ (ebd., S. 187). Metapräskriptive Aussagen, so ließe sich sagen, zielen auf methodologische Transparenz wissenschaftlicher Behauptungen ab. 14 Ebd., S. 186. 15 Lyotard: Beantwortung der Frage: Was ist postmodern?, S. 43.

Literarische Epistemologie | 281

Moderne zunehmend von der sinnlich-sichtbaren Natur zu einer sinnlich nicht mehr wahrnehmbaren, einer buchstäblich anästhetischen oder anaisthetischen ‚Natur‘ verschoben hat, die sich der wissenschaftlichen Repräsentation entzieht und als undarstellbare nur mehr im Modus des Ästhetischen dargestellt werden kann: Die (wissenschaftstechnologische) Ästhetisierung von Natur und Wirklichkeit erscheint geradezu als die Kehrseite ihrer (wissenschaftstechnologisch bedingten) Anästhetisierung.16 In Del Giudices Roman Atlante occidentale (1985) und Michel Serres Lehrfabel Ablösung werden die von Lyotard beschriebenen Tendenzen postmoderner Wissenschaft thematisch. An ihnen gilt es nun weniger zu zeigen, dass und wie wissenschaftliche Erkenntnisse und Erkenntnisprozesse literarisch poetisiert und poetologisiert, sondern dass und wie die diesen wissenschaftlichen Erkenntnissen und Erkenntnisprozessen selbst immanenten Zusammenhänge von Anästhetisierung und Ästhetisierung17 poetisch und poetologisch reflektiert und expliziert werden. Das Hauptaugenmerk wird also auf die Frage nach den spezifisch epistemologischen Funktionen der Gattung poetica scientiae zu richten sein.

|| 16 Einen ähnlich dialektischen ‚Mechanismus‘ beschreibt Heidegger, wenn er Technik auffasst als den „Verbrauch“ und die „Vernutzung des Seienden“ durch „die Rüstung im metaphysischen Sinne“, also dadurch, dass „der Mensch sich zum ‚Herrn‘ des ‚Elementaren‘ macht“ (Martin Heidegger: Überwindung der Metaphysik, in: ders.: Vorträge und Aufsätze, Pfullingen 4 1978, S. 67-96, hier S. 87 f.). Damit bezeichnet Technik ein spezifisch menschliches Verhältnis und Verhalten gegenüber der Wirklichkeit, eine buchstäblich konsumierende Praxis, die die vorfindliche, differenzierte Wirklichkeit (einschließlich der Wirklichkeit des Menschen) tilgt – gerade auch dort, wo diese technisch produziert wird. Andernorts kennzeichnet Heidegger den „Grundvorgang der Neuzeit“ explizit als die „Eroberung der Welt als Bild“ einerseits, als Abstraktion und Mathematisierung andererseits (Martin Heidegger: Die Zeit des Weltbildes [1938], in: Holzwege [1950], Frankfurt/M. 1980, S. 73–100, hier S. 76 u. 92). 17 „Ästhetisierung“ – und darauf wird immer wieder zurückzukommen sein – in der mehrfachen Bedeutung von: der sinnlichen Wahrnehmung zugänglich machen, Konstruktionen von Sichtbarmachung via medialer Techniken, Fabrikation von Wissen und Erkenntnis, aber auch kosmetische Eingriffe z.B. in wissenschaftliche Darstellungen des Undarstellbaren etc.

2 Daniele del Giudice: Atlante occidentale 2.1 „La scomparsa delle cose“ – De- bzw. An-Ästhetisierung und Fiktionalisierung bzw. Poietisierung der Wirklichkeit Daniele Del Giudices 1985 erschienener Roman Atlante occidentale18 erzählt von der Freundschaft zwischen Pietro Brahe, einem jungen italienischen Atomphysiker, der im europäischen Zentrum für Nuklearforschung (CERN) in Genf arbeitet, und Ira Epstein, einem erfolgreichen deutschen Schriftsteller fortgeschrittenen Alters mit vorübergehendem Wohnsitz in Genf. Ihre gemeinsame Leidenschaft für das Fliegen bringt sie zusammen: Eine von Epstein im Flug provozierte BeinaheKollision mit Brahes Maschine – der Zwei-Kulturen-Konflikt ist hier ebenso ins Plastische übersetzt wie die am CERN durchgeführten Kollider-Experimente – bildet den Ausgangspunkt dieser rasch sich entwickelnden und vertiefenden Männerfreundschaft.19 Die Romanhandlung ist in der Gegenwart angesiedelt, gleichwohl wird die synchrone Ereignisachse über Namen, Motivik, chronotopische Strukturen und vor allem die literarische Entwicklung Epsteins von einer diachronen gekreuzt und auf diese Weise die postmoderne Romanwelt an eine primär als Aufklärung verstandene Moderne rückgebunden. Der Roman markiere, so Del Giudices eigene Formu-

|| 18 Daniele Del Giudice: Atlante occidentale, Turin 1985 (im Folgenden zitiert unter der Sigle AO. In eckigen Klammern Seitenangaben der dt. Übersetzung: Daniele Del Giudice: Der Atlas des Westens, aus dem Italienischen v. Karin Fleischanderl, München 1987). Sofern in den Anmerkungen nur auf die Übersetzung rekurriert wird, erfolgt dies unter der Sigle AW. 19 Zur „poetologischen Funktion“ dieser Beinah-Kollision vgl. Thomas Klinkert: Daniele Del Giudice: Literatur und Erfahrung im Zeitalter virtueller Realität, in: Italienische Erzählliteratur der Achtziger und Neunziger Jahre. Zeitgenössische Autorinnen und Autoren in Einzelmonographien, hrsg. v. Felice Balletta u. Angela Barwig, Frankfurt/M. 2003, S. 299–308, hier S. 306, ferner Julia Fendt: Intersecting Lines: An Ecocritical Reading of Daniele Del Giudice’s Lines of Light, in: Literature, Ecology, and Ethics. Recent Trends in Ecocriticism, hrsg. v. Timo Müller u. Michael Sauter, Heidelberg 2012, S. 163–169, bes. S. 162 f., sowie dies.: Wissenschaft und Imagination in der Literatur. Kulturökologische Analysen zeitgenössischer Romane, Würzburg 2015, S. 67 u. 70. Fendt zufolge initiert die Beinah-Kollision einen „reintegrativen Interdiskurs […], welcher zu einer Annäherung der beiden gegenübergestellten Wissenskulturen führt“ (ebd., S. 67) und diese im Lauf der sich entwickelnden Freundschaft zwischen Epstein und Brahe in eine „kulturökologischen Balance“ (S. 88) bringt. Zur Flug, Absturz- und Schiffbruchmetphorik bei Del Giudice allgemein vgl. Philippe Daros: Le temps qui vient: Science et literature dans l’œvre de Daniele Del Giudice, in: Literature and Science/Literatur und Wissenschaft, hrsg. v. Monika Schmitz-Emans Würzburg 2008, S. 239–250. Open Access. © 2021 Bernadette Malinowski, publiziert von De Gruyter. Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivatives 4.0 International Lizenz. https://doi.org/10.1515/9783110642384-008

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lierung, ein „mutamento di epoca sostanziale“,20 einen Epochenwandel, für den symptomatisch ist, dass die „cose ormai cominciano ad essere non-cose“ (AO 66). Entsprechend ist auch der Dialog zwischen Brahe und Epstein, zwischen Naturwissenschaft und Literatur, im Wesentlichen um die Frage nach den Möglichkeiten von Wahrnehmung, Darstellung und Erkenntnis einer im Schwinden begriffenen Wirklichkeit zentriert.21 Seinen dezidiert epistemologischen Charakter erhält der Roman auf der Ebene des narrativen Diskurses ebenso wie auf der Ebene des – seinerseits primär diskursiv-dialogisch vermittelten – Geschehens. Um die vielfältigen epistemologischen Funktionen aufzuzeigen, sollen zunächst die von beiden Protagonisten jeweils durchgeführten Experimente – Brahes physikalisches und Epsteins ästhetischpoetologisches Experiment – getrennt dargestellt und sodann in ihren vielfältigen Bezügen analysiert werden.

2.1.1 Poiesis der ‚Natur‘ – Zur technologischen Konstruktion von Sichtbarkeiten Die Perspektive, aus der Brahes Experiment beschrieben wird, fokussiert weniger die augenscheinlich relevanten Fragen nach den wissenschaftlichen Inhalten (so sind die Informationen über theoretische Voraussetzungen und Annahmen, über Gegenstand und Zielsetzung des Experiments eher dürftig) als vielmehr den Prozess der Wissensgenerierung in seinen spezifischen Produktionskontexten, wobei dieser Prozess von der Frage nach den epistemischen Inhalten nicht zu trennen ist, sondern im Gegenteil diese Frage erst problematisierend ins Licht rückt. Zwei dieser im Roman thematisierten Produktionskontexte sollen im folgenden genauer betrachtet werden: die technischen Apparaturen, mit deren Hilfe die experimentelle Hochenergiephysik die zu untersuchenden ‚Naturobjekte‘ konfiguriert, und die semiotisch-rekonstruktiven Verfahren, deren sie sich zur Darstellung und Interpretation dieser technisch erzeugten Realität bedient. Vorab soll jedoch das realistische setting, in dem Brahes Experiment verortet ist, kurz beschrieben werden. || 20 Daniele Del Giudice: Il tempo dell’invisibile nell’Atlante di Daniele del Giudice (Gespräch Del Giudices mit S. Bertolucci, T. Gaddi, A. Pastorino u. G. L. Saraceni), in: Palomar. Quaderni di Porto Venere 1 (1986), S. 93. 21 Ausführlich – und mit einschlägigen Belegen – rückt Dilmac ähnliche Aspekte des Romans in den Kontext von Del Giudices schriftstellerischem Selbstverständnis (vgl. Betül Dilmac: Literatur und moderne Physik. Literarisierungen der Physik im französischen, italienischen und lateinamerikanischen Gegenwartsroman, Freiburg i. Br. u.a. 2012, S. 288–291).

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Exkurs Die experimentelle Hochenergiephysik zielt ganz allgemein darauf ab, „die Grundbausteine des Universums zu verstehen“.22 Dazu werden, wie etwa am CERN, dem europäischen Zentrum für Nuklearforschung in Genf, sogenannte Collider-Experimente durchgeführt: unterschiedliche Elementarteilchen werden in einem Teilchenbeschleuniger zur Kollision gebracht, wodurch es (in Abhängigkeit der zur Verfügung stehenden Energie) zur Freisetzung neuer Teilchen kommen kann. So handelte es sich bei den am CERN durchgeführten Experimenten UA1 und UA223 um Elektronen-Positronen-Experimente, die 1983 zum erstmaligen Nachweis sogenannter W- und Z-Bosonen durch die Forschergruppe um den italienischen Physiker Carlo Rubbia führten, der dafür ein Jahr später mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurde.24 Einer Vermutung Gerhard Regns zufolge, könnte Del Giudice Rubbias Nachweis der Z- und W-Bosonen aufgegriffen und auf den 1989 fertiggestellten, also zur Entstehungszeit des Romans noch im Bau befindlichen LEP25 überspielt haben.26 In der Tat arbeitet Brahe an einem Collider-Experiment (AO 140), das auf die Entdeckung neuer Teilchen ausgerichtet ist.27 Denkbar wäre aber auch – und dies wird vor allem durch den Titel Atlante occidentale nahegelegt –, dass Del Giudice bereits von dem geplanten ATLAS-Experiment wusste, das sich aus UA2 von zirka 1989 an entwickelte und den experimentellen Nachweis des Higgs-Mechanismus zum Ziel hatte.28 Der Higgs-Mechanismus bezeichnet den Vorgang, bei dem Elementarteilchen durch eine spontane Symmetriebrechung Masse erhalten.29 Da die neuen Teilchen, die Brahe und seine Kollegen am Ende des Romans

|| 22 Hier und im Folgenden Karin Knorr-Cetina: Wissenskulturen. Ein Vergleich naturwissenschaftlicher Wissensformen, Frankfurt/M. 2002, S. 14. 23 UA steht dabei für Underground Area (vgl. Knorr-Cetina: Wissenskulturen, S. 27). 24 Vgl. hierzu die vertiefenden Ausführungen zur „Weinberg-Glashow-Salam-Theorie“ in Dilmac: Literatur und moderne Physik, S. 310 f. 25 Beim LEP (= Large Electron Positron Ring) handelt es um einen Collider, dessen Maximalenergie für den Nachweis des Higgs-Mechanismus sich als zu gering erwies und deshalb den Bau des LHCs (= Large Hadron Collider) notwendig machte (vgl. Knorr-Cetina: Wissenskulturen, S. 26 f.). 26 Vgl. Gerhard Regn: Nach der Moderne. Literatur und Naturwissenschaft in Daniele Del Giudices ‚Atlante Occidentale‘, in: Konflikt der Diskurse. Zum Verhältnis von Literatur und Wissenschaft im modernen Italien, hrsg. v. Helene Harth, Susanne Kleiner u. Birgit Wagner, Tübingen 1991, S. 327–352, hier S. 339. 27 Vgl. AO 145 [195], wo die Rede ist von den „particelle che loro vedevano per la prima volta quella notte“. 28 Vgl. Knorr-Cetina: Wissenskulturen, S. 27 u. 30. 29 Knorr-Cetina erläutert den Higgs-Mechanismus im Zusammenhang mit ihrer These, dass experimentelle Hochenergiephysik „theoretisch motiviert“ und aktiv in die Suche nach fehlenden Theoriestücken eingebunden ist: „Nach dem physikalischen Prinzip der Symmetrie werden die elektromagnetische Kraft (die für die elektrische Ladung von Teilchen und die magnetischen Vorgänge verantwortlich ist) und die schwache Kraft (die für den radioaktiven Zerfall verantwortlich ist) ineinander umgewandelt; dies ist das Grundprinzip, auf dem die elektroschwache Theorie des Standardmodells beruht. Die beiden Kräfte werden von definierten Teilchen getragen; die elektromagnetische Kraft von masselosen Photonen und die schwache Kraft von den massiven W- und Z-Bosonen. Die Symmetrie, nach der Photonen, W-Bosonen

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entdecken, jedoch die Vorstellung von einer einzigartigen Symmetrie evozieren (vgl. AO 193), ist es eher unwahrscheinlich, dass es sich bei dieser Entdeckung um den literarisch antizipierten experimentellen Nachweis des Higgs-Mechanismus30 und damit um eine reale Bezugnahme auf das ATLAS-Experiment handelt. Wahrscheinlicher ist es, dass Del Giudice die Inhalte des zeitgenössischen UA2-Experiments mit der Bezeichnung für das später eingerichtete ATLAS-Experiment verbunden hat. – Die Experimente im CERN sind unterirdisch angelegt, ein Umstand, auf den auch der Roman mehrfach hinweist. Von Brahes Sicht auf das Gelände, auf dem sich der dreißig Kilometer lange unterirdische Ring befindet (vgl. AO 30) heißt es: Come tutti, Brahe aveva una doppia immagine del luogo: il grande anello sotterraneo arrivava fino al Giura inclinandosi di qualche grado, passava sotto una decina di paesi con campanile e monumento che davano nome alle vicine hall in profondità, e dunque Brahe pensava la topografia della pianura in forma circolare, ma le strade in superficie collegavano i paesini come in qualsiasi altro posto, con diagonali nette che tenevano conto soltanto degli espropri, delle fattorie, delle piccole colline naturali, del reticolo rurale di campi di colza e girasole. Cosí la rotazione, la grande rotazione e circolarità del sotto non corrispondeva alla geometria del sopra e, per andare dove voleva andare, Brahe doveva passare da un ordine mentale all’altro, secondo un orientamento di immaginazione [...]. (AO 36)31 Die durchaus realistische Topographie des Geländes – und dies gilt auch für weitere Landschafts- und Gebäudebeschreibungen32 – ist vielfältig semantisiert: die Lebenswelt kontrastiert mit der Wissenschaftswelt, die sinnlich erfahrbare Welt der Phänomene mit der unterirdischen Welt der Nicht-Dinge; spatialisiert wird auch die Wissenschaftsgeschichte, insofern ‚überirdisch‘ die Gesetze der klassischen Physik gelten, ‚unterirdisch‘ die Gesetze der neuen usw. Bezeichnend ist ferner, und auch diese Beobachtung lässt sich für den Roman verallge-

|| und Z-Bosonen ineinander transformiert werden, wird allerdings bei abkühlenden Temperaturen des Universums spontan gebrochen, was Photonen ohne Masse und die W- und Z-Teilchen mit Masse zurücklässt“ (Knorr-Cetina: Wissenskulturen, S. 26). 30 Erste Anzeichen für den Nachweis des Higgs-Mechanismus wurden nach Knorr-Cetina im April 1994 vom Fermilab bekannt gegeben, der vollständige Nachweis blieb jedoch weiterhin eine Herausforderung (Knorr-Cetina: Wissenskulturen, S. 27). 31 „Wie alle anderen sah auch Brahe das Gelände auf zweifache Weise: Der große unterirdische Ring reichte, mit einem Gefälle von ein paar Graden, bis zum Jura, verlief unter einem Dutzend kleiner Dörfer mit Kirchturm und Denkmal, die den Hallen direkt unter ihnen den Namen gaben; und deshalb stellte sich Brahe die Topographie der Ebene kreisförmig vor, aber die Straßen oberhalb der Erde verbanden die Dörfer wie an jedem anderen Ort auch, mit gerade Diagonalen, die nur auf die enteigneten Felder, die Bauernhäuser, die kleinen, natürlichen Hügel Rücksicht nahmen, auf das ländliche Netz aus Raps- und Sonnenblumenfeldern. So entsprach die Rotation, die große Rotation und Kreisförmigkeit unter der Erde nicht der Geometrie auf der Oberfläche, und um an sein Ziel zu gelangen, musste Brahe von einer geistigen Ordnung zur anderen übergehen, entsprechend einer imaginären Orientierung […]“ (AW 52). 32 Vgl. die Beschreibung des Gästehauses des CERN (AO 37 [52–53]), die Ausführungen zum Schloss Voltaire (AO 109–114 [146–153]) oder zum alten und neuen Genf (AO 82–92 [112–114]).

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meinern und ist Kennzeichen seiner postmodernen Grundierung, dass die topographischsemantischen Räume zwar einer binären, auf oppositionelle Strukturen gerichteten Logik folgen, diese jedoch nicht auf den Wertediskurs übergreift. Weder ist die Romanatmosphäre geprägt von der „Melancholie der Moderne“ noch von dem „zynischen Eklektizismus des ‚Alles ist erlaubt‘“;33 vielmehr ist sie bestimmt durch eine wesentliche Reflexivität,34 was im Zitat unter dem Hinweis auf die unterschiedlichen ‚geistigen Ordnungen‘ angedeutet ist und in den folgenden Analysen vertieft aufgezeigt werden soll.

Der Anfang des zweiten Kapitels führt den Leser mitten hinein in den für den Roman zentralen Problemzusammenhang von Wahrnehmung, Darstellung, Deutung und Erkenntnis wissenschaftlicher Objekte und Phänomene, denen kein dinghaft-phänomenaler Charakter mehr zugesprochen werden kann.35 All’alba l’ultima immagine era perfettamente identica alle prime che Brahe aveva osservato all’inizio della notte: dal buio si formava sul monitor prima una cornice col numero della serie, il tempo, la sigla dell’esperimento; poi da destra e da sinistra entravano linee rapidissime, alcune collidenti al centro dove l’impatto generava altre linee continue o tratteggiate, curve e parabole e ellissi e piccoli vortici attorcigliati su se stessi. Tutto restava cosí per qualche istante, bloccato, accaduto; poi tutto spariva di nuovo. Ogni dieci secondi le note di diapason si fermavano su un tono calante, i numeri delle quantità toccavano il limite massimo, e sullo schermo c’era questa specie di paf visivo. Di ogni linea Brahe conosceva il destino e la natura, e anzi l’ideale sarebbe stata una linea nuova, inspiegabile e dunque probabile, lí dove avrebbe potuto esserci e non c’era; però la visualizzazione nel complesso poteva sembrare tutto: una metropoli illuminata vista dall’alto, la

|| 33 Lyotard: Immaterialität, S. 38. Im Anschluss an Lyotard grenzt auch Welsch die „PseudoPostmoderne“ von der „veritablen Postmoderne“ ab (vgl. Wolfgang Welsch: Die Postmoderne in Kunst und Philosophie und ihr Verhältnis zum technologischen Zeitalter, in: Technologisches Zeitalter oder Postmoderne?, hrsg. v. Walther Ch. Zimmerli, München 1988, S. 36–72, bes. S. 59–61). 34 Im Gespräch mit Daghini charakterisiert Lyotard die postmoderne Malerei, zu der er auch die avantgardistische Malerei der Moderne zählt, als „wesentlich reflexiv“ im Unterschied zu jenem „Postmodernismus der Abschlaffung“ in Werken, „die eher das Gefühl als die Reflexion ansprechen“ (Lyotard: Immaterialität, S. 38). Die Analyse von Epsteins poetologischem Experiment wird allerdings zeigen, dass das Gefühl nicht im Gegensatz zur Reflexion stehen muss, sondern die Reflexion den Weg zum Gefühl – zu einer ‚neuen Sensibilität‘ – bahnen kann. 35 Entsprechend heißt es auch von Brahe, er arbeite „nell’ assoluta scomparsa delle cose“ (AO 68 [94]). Brahes historischer Namensgeber ist der dänische Astronom Tycho Brahe (1546–1601); mit ihm sind nicht nur relevante wissenschaftliche Einsichten über planetarische Bewegungen mittels neuer Techniken zu verbinden, sondern auch wissenschaftsorganisatorische und institutionelle Innovationen: Seine 1576 eingerichtete Beobachtungsstation kann als Vorläufer dessen gelten, was heute „Zentrumslaboratorium“ (wie z. B. das CERN) genannt wird (vgl. Karin Knorr-Cetina: Die Fabrikation von Erkenntnis. Zur Anthropologie der Naturwissenschaft, zweite, erweiterte Auflage, Frankfurt/M. 2002, S. XIX).

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fotografia notturna di una via con striature rosse e bianche di fari d’auto in movimento, il pannello degli scambi di una stazione, perline colorate sul velluto nero di un inanellatore. Erano immagini molto preliminari, selezionate, artificiali, non tutto l’evento ma soltanto quella parte che avrebbe potuto rivelare novità; gli eventi completi, migliaia di eventi di una notte, andavano in memoria. (AO 19)36

Die Bilder, die Brahe auf dem Monitor sieht, eröffnen sich zwar durchaus der Vorstellbarkeit für den Rezipienten, mehr aber noch erregen sie dessen Neugier, indem sie vor allem die Frage evozieren, wovon diese Bilder eigentlich Bilder sind, welchen originalen Naturgegenstand sie abbilden, auf welchen Referenzbereich sie bezogen sind. Der Roman gibt auf diese Fragen auch im weiteren Verlauf keine Antwort; im Gegenteil: In dem Maße, in dem der genannte Problemzusammenhang in nahezu endlosen Variationen wiederholt wird – er dominiert die wissenschaftliche ebenso wie die literarische und alltägliche Welt des Romans –, expandiert gleichsam auch die vom Leser wahrgenommene Leerstelle. Diese ‚bezeichnet‘ und umfasst das gesamte naturwissenschaftliche Wissen, das mit dem Projekt am CERN verbunden ist und markiert damit jene Schnittstelle, die den Laien vom Experten trennt.37 Umgekehrt jedoch lenkt die gezielte Aussparung

|| 36 „Im Morgengrauen waren die letzten Bilder noch immer völlig identisch mit den ersten, die Brahe am Anfang der Nacht gesehen hatte: Zuerst tauchte auf dem dunklen Monitor ein Rahmen mit der Seriennummer, der Uhrzeit und der Experimentbenennung auf, dann schossen von links und rechts Linien über den Bildschirm, von denen einige in der Mitte aufeinanderprallten, und jede Kollision erzeugte wiederum durchgehende oder gestrichelte Linien, Kurven und Parabeln und Ellipsen und kleine Wirbel, die sich um die eigene Achse drehten. Einen Augenblick lang blieb alles so, der Vorgang war fixiert, dann war der Bildschirm wieder schwarz. Alle zehn Sekunden fiel die Tonfolge auf den Ausgangston zurück, die Zahlengrößen erreichten die Höchstgrenze, und auf dem Bildschirm gab es diese Art von sichtbarem Paff. Brahe kannte die Bestimmung und die Art jeder einzelnen Linie, das Ideal wäre jedoch eine neue, unerklärliche und deshalb auch mögliche Linie gewesen, dort, wo sie hätte sein können, jedoch nicht war; die Bildschirmdarstellungen hätten im Ganzen jedoch auch etwas anderes sein können: eine hell erleuchtete Stadt aus der Vogelperspektive, die Nachtaufnahme einer Straße mit Autos, deren Scheinwerfer rot-weiße Schlieren zogen, das Stellwerk eines Bahnhofes, bunte Perlenschnüre vor dem schwarzen Samt eines Teilchenbeschleunigers. Es waren vorläufige, ausgewählte, künstliche Bilder: Nicht der ganze Vorgang, sondern nur jener Teil, der etwas Neues offenbaren konnte, die vollständigen Vorgänge, die tausend Vorgänge einer Nacht wurden gespeichert“ (AW 29). 37 Auf der naturwissenschaftlichen Sachebene verhindert die Leerstelle sowohl eine identifikatorische Lektüre durch den Leser als auch ein auf Identifikation und hermeneutische Horizontverschmelzung gerichtetes Gespräch der Protagonisten: Epstein und der Leser sind gleichsam vom epistemischen Subjekt Brahe getrennt. Die Kluft zwischen Laien und Experten thematisiert der Roman mehrmals auch ganz explizit: So etwa wundert sich Brahe während eines Aufenthalts in einer Buchhandlung, „daß es alle Bücher gab, nur keine über sein Fach,

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des ‚positiven‘ Wissens die Aufmerksamkeit auf den genannten Problemzusammenhang und damit auf wissenschafts- und erkenntnistheoretische Fragen, von deren Antwort die ‚Natur‘ des ‚positiven‘ Wissens nicht unberührt bleibt.38 In nahezu allen Werken der poetica scientiae ist dieses narrative Verfahren der Fokussierung des ‚negativen‘, ‚schwachen‘, ‚impliziten‘ Wissens durch Dezentrierung oder Ausblendung des ‚positiven‘ Wissens anzutreffen. Im Unterschied je-

|| und wenn es sie doch gab, waren es Bücher für die breite Masse, und die Dinge, mit denen er sich beschäftigte, wurden darin zu Orangenschnitzen, zu Sandwiches mit verschiedenen Schichten, zu Tennisbällen […], und am häufigsten kam der Satz vor: ‚Stellen Sie sich vor, wie…‘, und meistens musste er sich andere Dinge vorstellen als die, mit denen er zu tun hatte; […]. Sicher, Erklärungen waren notwendig, aber hätte er je erklären können, daß es für das, was er sah und zu sehen versuchte, buchstäblich kein Bild gab außer jenen konventionellen und von einer rigorosen Phantasie formalisierten Bilder, die sich im Hinblick auf die Dinge so willkürlich und allmächtig verhielten wie das Alphabet“ (AW 79). Sehr deutlich wird hier die kapitalistische Vermarktung des ‚Abenteuers Wissenschaft‘, vor allem aber die bildhafte Vergegenständlichung wissenschaftlicher Sachgehalte zum Zwecke ihrer Popularisierung als ein gewaltsamer Eingriff in die wahre Natur wissenschaftlicher Erkenntnisse kritisiert und ein jeglicher auf Wahrheit gegründete Zusammenhang zwischen ‚eigentlicher‘ und populär vermittelter Wissenschaft dementiert. Brahes problematisierende Einschätzung populärwissenschaftlicher Bücher erhellt sich, wie im Folgenden zu zeigen ist, vor allem aus der relevanten Bedeutung von Bildern für den wissenschaftlichen Diskurs selbst: Während darin Bilder in Ordnungen des Wissens eingebunden sind, fehlt es dem Laien in der Regel an solchen sachlich fundierten Zuordnungs- und Einordnungsmöglichkeiten. Die Folge davon ist, dass die populären Bilder nicht mehr als didaktische – und entsprechend personalisierte, dramatisierte und veralltäglichte Objekte der Wissensvermittlung rezipiert, sondern für Wissen und Wirklichkeit selbst gehalten werden. Brahes Kritik zielt letztlich auf die Gefahr einer Entfesselung und Verselbständigung des ästhetischen Potentials populistischer Bilddarstellungen, auf die Gefahr also, dass sich die metaphorischen und imaginären Bedeutungsüberschüsse der Bildmedien von ihrer szientifischen message emanzipieren und damit der Erzeugung eines fiktiven Bildes von der Wissenschaft als ganzer Vorschub geleistet wird. – Zur Kluft zwischen Laien und Experten vgl. auch AO 21 [32], 29 f. [43] sowie 104 f. [141 f.]. 38 Vgl. hierzu auch den Beitrag von Wirth zur „Konjektur als blinder Fleck“, in dem er im Rekurs u.a. auf Michel Serres’ „para-epistemisches ‚in-between‘“, Charles S. Peirces Kategorie der „Abduktion“ und Poppers „Hypothesen“-Begriff (Uwe Wirth: Die Konjektur als blinder Fleck einer Geschichte bedingten Wissens, in: Caroline Welsh/Stefan Willer: „Interesse für bedingtes Wissen“. Wechselbeziehungen zwischen den Wissenskulturen, München 2008, S. 269–294, hier S. 269 ff.) die „epistemologische Relevanz“ des intuitiven „Problems des Anfangs von Denkprozessen“ sowie der Bewusstwerdung „unbewussten, intuitiven Wissens“ (ebd., S. 273) hervorhebt. Zu dem von Parnes eindrucksvoll unternommenen Versuch, am Beispiel von „Theodor Schwanns Entdeckung der Zellen“ die „Vorgeschichte [einer] Intuition“ wissenschaftsgeschichtlich zu rekonstruieren, vgl. den im selben Band enthaltenen Beitrag von Ohad Parnes: Von der Schwierigkeiten der Wissenschaftsgeschichte, mit der Intuition umzugehen, und vom Versuch, diese Schwierigkeiten zu überwinden, S. 343–359, hier S. 348 u. 349).

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doch zu den bisher untersuchten Romanen berührt hier das negative Wissen primär nicht historische Kontexte, nicht kulturell verankertes Wissen, welches das szientifische mitprägen würde, sondern die technologisch-ästhetische Innenwelt des szientifischen Wissens, das auf intermediale und interdisziplinäre Strategien und Methoden der Wissenserzeugung und Wissensdeutung angewiesen ist. Für Brahe sind die Bildschirmdarstellungen Teil der experimentellen Praxis und des wissenschaftlichen Diskurses. Er liest sie als diskursive Bilder,39 deren epistemische Funktion und argumentativer Wert streng determiniert und auf einen spezifischen Gebrauchskontext beschränkt ist.40 Ihrer ‚Lektüre‘ und Deutung innerhalb dieses Kontextes – der Kontext des wissenschaftlichen Experiments – geht eine ‚Ordnung des Wissens‘ voraus, ein festgelegtes System, auf das die Bilder bezogen, dem sie zugeordnet, in das sie übersetzt werden und das ihren Status als Wissenschaftsbilder begründet.41 Dass die Zielsprache, in die Brahe die Bilder übersetzt, lediglich eine Möglichkeit unter vielen darstellt, verdeutlichen die von ihm durchgespielten Alternativen ihrer Anders-Wahrnehmbarkeit, An-

|| 39 Zur Unterscheidung diskursiver und aisthetischer Medien bzw. Kunstbildern und wissenschaftlichen Bildern vgl. Dieter Mersch: Einleitung: Wort, Bild, Ton, Zahl – Modalitäten medialen Darstellens, in: Die Medien der Künste. Beiträge zur Theorie des Darstellens, hrsg. v. ders., München 2003, S. 9–49; Dieter Mersch: Das Bild als Argument. Visualisierungsstrategien in den Naturwissenschaften, in: Ikonologie des Performativen, hrsg. v. Christoph Wulf u. Jörg Zirfas, München 2005, S. 322–344; Gottfried Boehm: Die Wiederkehr der Bilder, in: Was ist ein Bild?, hrsg. v. ders., München 1994, S. 11–38; Gottfried Boehm: Zwischen Auge und Hand: Bilder als Instrumente der Erkenntnis, in: Mit dem Auge denken. Strategien der Sichtbarmachung in wissenschaftlichen und virtuellen Welten, hrsg. v. Bettina Heintz u. Jörg Huber, Wien, New York 2001, S. 53–54; Gottfried Boehm: Jenseits der Sprache? Anmerkungen zur Logik der Bilder, in: Iconic Turn. Die neue Macht der Bilder, hrsg. v. Christa Maar u. Hubert Burda, Köln 2004, S. 28–43. Eine knappe Übersicht über diese u.a. Positionen bei Martina Heßler: Einleitung, in: Konstruierte Sichtbarkeiten. Wissenschafts- und Technikbilder seit der Frühen Neuzeit, hrsg. v. dies., München 2006, S. 11–37, hier S. 22–23. 40 Der seinerseits definierte Kontext definiert ihren Geltungsbereich. Werden sie mit neuen Kontexten in Verbindung gebracht, ändert sich ihr gesamter Bildstatus, d.h. ihre Logik, ihre Funktion. – Ihren „rhetorischen Beweischarakter“ haben Wissenschaftsbilder, so Knorr-Cetina, nur dadurch, „daß es sich um ‚Inskriptionen‘ (von Maschinen aus der ‚Natur‘ produzierte Signale) handelt und nicht um bloße Deskriptionen“ (Karin Knorr-Cetina: „Viskurse“ der Physik: Konsensbildung und visuelle Darstellung, in: Mit dem Auge denken, S. 305–320, hier S. 309). 41 Diese ‚Ordnung des Wissens‘ verzweigt sich wiederum in eine Vielfalt von Ordnungen (etwa eine mathematische und eine technologische), die fließend ineinander übergehen.

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ders-Lesbarkeit und Anders-Deutbarkeit.42 Die szientifische Sprache – sei diese nun begrifflicher oder mathematischer Natur – wird damit von Beginn an in das ‚parataktische‘ Gefüge einer Pluralität von Sprachen und kulturellen Codes gestellt und in ihrem Gültigkeitsanspruch in die präzise definierten Schranken des Experiments verwiesen.43 Zugleich wird eine Differenz zwischen dem Offenen und Phantasmatischen des Visuellen und dem ‚Definitorischen‘ und Eindeutigen der szientifischen Sprache etabliert, eine Differenz, die im szientifisch motivierten Übersetzungs- und Interpretationsvorgang zugunsten fixierter, identifikatorischer

|| 42 Dass die Wissenschaftsbilder auch als ästhetische Objekte gesehen werden können, ist Teil ihrer ‚medialen Natur‘ und ein Aspekt ihres problematischen erkenntnistheoretischen Stellenwerts: „Die Transformation von Bildern in einen anderen Kontext verändert ihren epistemischen Status und führt zu einer Bedeutungsverschiebung und manchmal dazu, daß Wissenschaftsbilder keine mehr sind, sondern beispielsweise zu Kunst oder auch zu Elementen der Popkultur werden“, so Martina Heßler in ihrer Einleitung, S. 36. Die Anderswahrnehmbarkeit von Gegenständen ist bereits für Hegel konstitutives Merkmal von Wahrnehmung: „[D]as Ding ist das Auch oder das allgemeine Medium“, d.h. in der pointierten Deutung von Wiesing: „Die Wahrnehmung kann das Bewußtsein nur auf ein Objekt richten, das auch anders sinnlich wahrnehmbar ist, weil Wahrnehmung immer eine durch das Wahrnehmungsbewußtsein vollzogene Identifizierung von sinnlichen Differenzen ist. Das Objekt einer Wahrnehmung gibt sich dem Wahrnehmenden immer als ein Objekt für mehrere Sinne, weshalb mit jeder Wahrnehmung eine Identifizierungsleistung verbunden sein muß“ (Lambert Wiesing: Einleitung: Philosophie der Wahrnehmung, in: Philosophie der Wahrnehmung. Modelle und Reflexionen, hrsg. v. ders., Frankfurt/M. 2002, S. 9–64, hier S. 53; die entsprechenden Abschnitte aus Hegels Phänomenologie des Geistes finden sich auf S. 139–145, das Hegel-Zitat auf S. 144). – Indem der Roman die genannten Alternativen explizit durchspielt, thematisiert er implizit auch die erkenntnistheoretische Relevanz dessen, was Wirth so treffend als „synekdochisches Sensorium“ im Sinne eines „kultivierten Ratevermögens“ bezeichnet hat, eines „Erschließens […], das vor dem Hintergrund vorbegrifflicher Prägungen und kulturellen Vorwissens [erfolgt]“ (Wirth: Die Konjektur als blinder Fleck, S. 277). 43 Zu diesem Kontext vgl. auch Lyotard, der in Anlehnung an Wittgensteins Theorie der Sprachspiele von heterogenen, nicht ineinander übersetzbaren und auf keine allgemeine Logik oder Metasprache rückführbaren „Diskursgenres“ spricht und diese definiert als „Modi der Satzverknüpfungen, die durch je verschiedenartige Zwecke bestimmt werden“ (Lyotard: Immaterialität, S. 41) und die je verschiedene Bezugnahmen auf Wirklichkeit zulassen (Wirklichkeit aufgefasst als eine zwischen Partnern verabredete Form des Konsens über Erkenntnisse und Verpflichtungen, vgl. Lyotard: Beantwortung der Frage: Was ist postmodern?, S. 41). Der aus dieser Pluralität von Diskursgenres, Satzordnungen und Zwecken entstehende Widerstreit bildet nach Lyotard „die Basis des Widerstands gegen eine ‚kommunikative‘ Verflachung und Vereinheitlichung“ (Lyotard: Immaterialität, S. 49). Mit diesen Ausführungen relativiert Lyotard seine frühe Position, wonach die wissenschaftliche Erkenntnis mit der Erzählung zu identifizieren sei (vgl. Lyotard: Das postmoderne Wissen, S. 83 ff. u. 96 ff.; zu dieser Selbstkorrektur ausdrücklich: Jean-François Lyotard: Randbemerkungen zu den Erzählungen, in: Postmoderne und Dekonstruktion, S. 49–53, v. a. S. 51 f.).

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Bedeutungen geschlossen und aufgehoben wird: Das Bild wird dem wissenschaftlichen Diskurs und den diesen bestimmenden Regeln gleichsam einverleibt, ein Vorgang, der notwendig mit dem Verlust des Bild-‚Anderen‘, insbesondere seiner ästhetischen Merkmale wie Metaphorizität, Polyvalenz und Autonomie einhergeht.44 Schließlich erscheint auch die Wahrnehmung selbst durch mentale Einstellungen und Erwartungshaltungen gesteuert, strukturiert und in die pluralen Formen einer technologisch-szientifischen, (quasi-)naturalistischen und ästhetischen Perzeption gespaltet. Wie sehr das Bewusstsein den spezifischen Erscheinungs- und in der Folge auch Deutungsmodus eines Gegenstandes reguliert, zeigt sich besonders in jenen Passagen, in denen die ‚wirklichkeitsgetreuen‘ Wahrnehmungen des Erzählers mit den wissenschaftlich modellierten Wahrnehmungen seiner Figuren überblendet werden: „Al fondo di una curva Brahe ha guardato il lago, e le montagne; ma le ha guardate come un puro movimento altimetrico, montagne lago montagne, linee inclinate di discesa, linee orizzontali a pelo dell’aqua, linee impennate in risalita“ (AO 89).45 Durch das narrative ‚blending‘ relativieren sich Erzähler- und Figuren-Blick und das in ihm sich Zeigende wechselseitig. Analog der Wahrnehmung der Visualisierungen auf dem Bildschirm wird auch hier Wahrnehmung als eine intentional gerichtete, gleichwohl intuitiv und instantan sich vollziehende Lektüre und Interpretation von Welt – und damit Welt als lediglich zeichen- und bildhaft zugängliche – ausgewiesen. Zugleich sind es wiederum Bewusstseinsgehalte im wahrnehmenden Subjekt, die die wahrgenommenen Zeichen- und Bildobjekte in ihrer spezifischen Erscheinungsweise gestalten. Im Ergebnis, und dies wird die Analyse technologischer Bildherstellungsverfahren erhärten, ist Wahrnehmung beschreibbar als ein zugleich rezeptiver (zeichenempfangender und -lesender) und poietischer (zeichenprozessieren-

|| 44 Wissenschaftsbilder werden instrumentell, argumentativ und damit auch rhetorisch eingesetzt – sie sind „vollzugsorientiert“ und haben „ihren Zweck notwendigerweise außer sich selbst“; entsprechend wird die Ikonizität des Bildes weitgehend ignoriert. Pointiert spricht Boehm in diesem Zusammenhang von „schwachen“ Bildern im Gegensatz zu den „starken“ Bildern der Kunst (Boehm: Zwischen Auge und Hand, S. 52 f.). Die Ambivalenz zwischen dem Ästhetischen von Wissenschaftsbildern und dem ihnen beigemessenen Anspruch auf Objektivität vgl. v. a. die Arbeiten von Lorraine Daston und Peter Galison (z.B. Das Bild der Objektivität, in: Ordnungen der Sichtbarkeit. Fotografie in Wissenschaft, Kunst und Technologie, hrsg. v. Peter Geimer, Frankfurt/M. 2003, S. 29–99). 45 „Am Ende einer Kurve hat Brahe den See betrachtet und die Berge; aber er hat sie wie eine rein altimetrische Bewegung betrachtet: Berge See Berge, abfallende Linien, horizontale Linien über dem Wasser, ansteigende Linien“ (AW 121). Vgl. jene Passage, in der die Luftveränderungen beim Fliegen beschrieben werden und die Luft sich unter Brahes Auge schließlich in Ziffern verwandelt, die eine immer höhere Geschwindigkeit anzeigen („trasformandosi in numeri di velocità crescenti sotto gli occhi di Brahe“, AO 100 [136]).

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der) Vorgang, wobei die unterschiedliche Wahrnehmung desselben Gegenstandes zum einen auf die intentionale (d.h. auf etwas gerichtete) Struktur der Wahrnehmung, zum anderen auf den je individuellen psychischen, physischen und kognitiven Zustand des wahrnehmenden Subjekts zurückgeführt werden kann.46 Als Medium weist das Bild jedoch nicht nur ‚voraus‘ in Richtung epistemische Zielsprache, sondern vor allem ‚zurück‘ auf den natürlichen Referenten, als dessen Abbild es fungiert. Als Bilder visualisieren sie ‚etwas‘, von dem es buchstäblich kein Bild gibt, „cose di cui non c’era immagine, se non quelle convenzionali e formalizzate di rigorosa fantasia, arbitrarie e potenti, rispetto alle cose, come un alfabeto“ (AO 79).47 Das Verhältnis zwischen Signifikant und Signifikat kann hier nicht länger in einer Rhetorik der Repräsentation beschrieben werden: Die traditionelle Vorstellung einer konventionalistischen oder

|| 46 In diesem Zusammenhang sei vor allem auf die phänomenologisch ausgerichtete Wahrnehmungstheorie von Thomas Reid (1764) und in dessen Gefolge von Konrad Fiedler (1887) und Charles Sanders Peirce (1903) verwiesen. Reid, der erstmals zwischen Empfindung (d.h. in einem bestimmten Zustand sein) und Wahrnehmung (d.h. auf etwas gerichtet sein) unterscheidet, erklärt Wahrnehmung als einen unbewussten „Leseakt“, innerhalb dessen die durch das wahrgenommene Objekt im Subjekt ausgelösten Empfindungen, Reize bzw. Zeichen „durch eine lesende Interpretation zu Wahrnehmungen von dieser Sache werden“ (Lambert Wiesing: Einleitung: Philosophie der Wahrnehmung, S. 39). Im Rekurs auf Reids „Modell von den unbewußten Tätigkeiten“ (ebd., S. 36) beschreibt Fiedler die Wahrnehmungen sowohl als intentionale Wahrnehmungen von etwas als auch als „Gestaltungen eines psychophysischen Subjekts […]. Das Subjekt faßt durch die Wahrnehmung nicht ein vorgegebenes Ding auf, sondern macht durch die Wahrnehmung das Wahrgenommene zu dem, was es ist“ (ebd., S. 43). Die Erzeugung dieser Gestalten kann als eine ‚Semiose in Permanenz‘ beschrieben werden, als ein „rastloses Werden und Vergehen, eine Unendlichkeit von Vorgängen, in denen die Elemente alles Seins in den mannigfaltigsten Arten auf den mannigfachsten Stufen ihrer Verarbeitung erscheinen, ohne daß das flüchtige, sich immer erneuernde Material jemals zu festen, unveränderlichen Formen erstarrte“ (ebd.). Das Wahrnehmungssubjekt ‚liest‘ nicht mehr, wie bei Reid, „eine vorgegebene Bedeutung aus seinen Empfindungen, sondern ist ein schaffender Künstler, der sich immer in einem bestimmten Zustand befindet“ (ebd., S. 44). Während es Fiedler auf die poietische Gestaltung von Empfindungen und Vorstellungen ankommt, rekonstruiert Peirce die „innere Entstehungslogik der Wahrnehmungsurteile“: „Wahrnehmungsurteile entstehen durch unbewußte Abduktionen aus wahrgenommenen Zeichen“ (ebd., S. 45), wobei Abduktion, so Peirce’ eigene Formulierung den „Vorgang des Aufstellens einer erklärenden Hypothese“ meint (Peirce, zit. n. ebd., S. 45). Wahrnehmen kann damit als „‚unbewusstes, kontinuierliches und abduktives Schlussfolgern in Zeichen‘“ definiert werden (Alexander Roesler, zit. n. ebd., S. 45; zu Peirce vgl. auch Wirth: Die Konjektur als blinder Fleck, v.a. S. 275–285). 47 Dinge, „von denen es keine Bilder gab außer den konventionellen und von einer rigorosen Phantasie formalisierten Bilder, die sich im Hinblick auf die Dinge so willkürlich und allmächtig verhielten wie das Alphabet“ (AW 109).

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ontologischen Korrespondenz zwischen Bild und einer von ihm unabhängig existierenden Wirklichkeit ist aufgekündigt.48 An die Stelle von Repräsentationen treten Konstruktions-, Inszenierungs- und Interaktionsprozesse, welche sowohl die Bilder als auch die wissenschaftlichen ‚Objekte‘ allererst generieren.49 Wissenschaftsbilder sind folglich nicht Repräsentationen, sondern „kons-

|| 48 Mersch unterscheidet drei grundlegende historische Phasen der Bildkultur: 1. die repräsentationale Funktion des Wissenschaftsbildes zwischen dem 17. und frühen 19. Jahrhundert; 2. die ‚mechanische‘ oder ‚nichtinterventorische‘ Aufzeichnung seit der 2. Hälfte des 19. und der 1. Hälfte des 20. Jahrhunderts und 3. die Bildkultur der allein auf mathematischen Algorithmen beruhenden Digitalisierung (Dieter Mersch: Naturwissenschaftliches Wissen und bildliche Logik, in: Konstruierte Sichtbarkeiten, S. 405–429, hier S. 407–410). 49 Vgl. dazu die Beiträge von Sabine Flach („It’s not easy being green!“ Schnittpunkte von Kunst, Medientechnik und Naturwissenschaften am Beispiel der Transgenic Art), Michael Hagner (Bilder der Kybernetik: Diagramm und Anthropologie, Schaltung und Nervensystem) und Dieter Mersch (Naturwissenschaftliches Wissen und bildliche Logik), in: Konstruierte Sichtbarkeiten, S. 281–302, 383–404 u. 405–429; ferner: Michael Lynch u. Samuel Edgerton: Aesthetics and digital image processing: Representational craft in contemporary astronomy, in: Picturing Power. Visual Depiction and Social Relations, hrsg. v. Gordon Fye u. John Law, London 1988, S. 184–220. Der prekäre Status wissenschaftlicher Bilder hängt mit dem prekären Status ihrer Referenten eng zusammen. „In Hochenergiephysik-Experimenten“, so Knorr-Cetina, „werden natürliche Ordnungen als Zeichenordnungen rekonfiguriert“ (Knorr-Cetina: Wissenskulturen, S. 61). Mehr als alle anderen Experimentalwissenschaften werde die Hochenergiephysik von Zeichenprozessen dominiert. Ihre Experimente nehmen in Zeichenprozessen ihren Ausgang: „Die Konstruktion von Objekten als Spuren oder ‚Unterschriften‘ von Ereignissen und nicht die Ereignisse selbst bestimmen und beeinflussen alle experimentellen Strategien“ (ebd., S. 62). „Die Objekte selbst sind […] ‚unwirklich‘; sie sind in den Termini eines Physikers irreale Gegenstände. Sie sind zu klein, um je – außer indirekt durch Detektoren – gesehen werden zu können, zu schnell, um eingefangen und im Labor gesammelt werden zu können, zu gefährlich als Teilchenstrahlen, um direkt manipuliert werden zu können. Die interessierenden Teilchen treten in der Regel in Kombinationen mit anderen Komponenten auf, die ihre Gegenwart maskieren. Die meisten subatomaren Teilchen sind überdies kurzlebige, in ständiger Veränderung begriffene Entitäten, die nur für den billionsten Teil einer Sekunde existieren. Aufgrund ihrer häufigen Metamorphosen und ihres Zerfalls treten sie daher als immer schon vergangene, immer schon historische Objekte auf“ (ebd., S. 76 f.). Ursache dafür ist eine Arbeitsteilung zwischen Labor und Experiment: „Die materiellen Prozesse der Teilchenbeschleunigung, die zur Zeichenproduktion führen, werden aus dem Aufgabenbereich der Experimente ausgeschlossen“ (ebd., S. 63). Dabei arbeitet bereits das Labor nicht mit „naturbelassenen Objekten“, sondern mit „Objektzeichen, mit ihren physiologischen, chemischen, elektrischen u. a. Komponenten, mit ihren Extrakten und ‚gereinigten‘ Versionen“ (ebd., 45–46), kurz mit hochkultivierten, inszenierten Naturobjekten (vgl. ebd., S. 47, 65). In Laboratorien werden „im Prinzip alle Objektaspekte neu verhandelt und neu definiert“ und „manche Objekte auch neu erzeugt, z.B. Teilchenzerfälle in der Hochenergiephysik“ (ebd., 65). In Anlehnung an Lacan spricht Knorr-Cetina in diesem Zusammenhang auch von der „Rekonfiguration von Selbst-

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truierte Sichtbarkeiten“: Sie „geben nicht das Sichtbare wieder, sondern machen [das Unsichtbare] sichtbar“.50 Sie bilden nicht Wirklichkeit ab, sondern erzeugen vielmehr einen „effet de réell“,51 eine Illusion von Wirklichkeit, in der die zeichenhaft konstituierte Realität mit der natürlichen, materiellen Realität nur scheinbar zur Deckung gelangt.52 Insofern sich die wissenschaftlichen Gegenstände und Bilder nicht mehr auf einen externen Referenten beziehen

|| anderen Dingen“ (vgl. ebd., S. 65). – Auch nach Lyotard sind die meisten ‚Immaterialien‘ „auf der Grundlage der Technowissenschaften Informatik und Elektronik erzeugt“ (Lyotard: Immaterialität, S. 80), und er verweist ausdrücklich auf die digitalen Bilder, die „nur produziert und nicht reproduziert werden“ (ebd., S. 59). Ins Kommunikationstheoretische übersetzt: Der Gegenstand bzw. das Phänomen wird als Nachricht (= eine Kombination von Zeichen) betrachtet, die Zeichen wiederum „sind aus diskreten Elementen gebildet, welche distinktive Merkmale des Trägers oder Materials (des Materiellen) sind […]. Die distinktiven Unterschiede, nach denen diese Merkmale verteilt sind, bilden den Code der Nachricht. Diese geht von einem Sender-Pol zu einem Empfänger-Pol, wobei je nachdem am oberen Ende Inkodierung und am unteren Ende Dekodierung stattfindet. Die Nachricht liefert eine Information über wenigstens einen Referenten (das, um was es sich handelt)“. Interaktion meint hier allgemein, 1. dass „jeder der Pole der Struktur allein in seinen Beziehungen zu den anderen Polen relevant ist“ und 2. dass „eine Änderung in der Funktion einer der Pole eine Destrukturierung und Restrukturierung des Ganzen nach sich zieht: es handelt sich dann um eine andere Nachricht“. Fazit: „Die Nachricht ist von ihrem Träger (dem Materiellen) nicht zu lösen; der Code selbst ist in den Träger eingeschrieben als die geregelte Anordnung der diskreten Elemente (Körner), die das Materielle (elektronische Wellen, Schallwellen, Lichtwellen, Elementarteilchen und ihre distinktiven Merkmale usw.) konstituieren. Das Materielle verschwindet als unabhängige Einheit. Das Prinzip, auf dem die Operationsstruktur aufgebaut ist, ist nicht das einer stabilen ‚Substanz‘, sondern einer unstabilen Menge von Interaktionen. Das Modell der Sprache ersetzt das Modell der Materie“ (ebd., S. 80–81). – Zur Analyse digitaler Bilder, insbesondere zu ihrer „Doppelexistenz“ als „Bildschirmerscheinung“ und „Zeichensatz“, vgl. auch Gernot Grube: Digitale Abbildungen – ihr prekärer Zeichenstatus, in: Konstruierte Sichtbarkeiten, S. 179–196, bes. S. 186–189. 50 Heßler: Einleitung, S. 13. Heßler bezieht sich dabei auf den von Hans-Jörg Rheinberger geprägten Begriff der „Sichtbarmachung“. 51 Vgl. Roland Barthes: L’effet de réell, in : Communications 11 (1986), S. 84–89. 52 Diese ‚Deckungsgleichheit‘ geht notwendig mit einem Vergessen des Bildcharakters des Bildes – mit dem ‚Tod der Metapher‘ – einher. Vgl. dazu auch Grube, der drei Aspekte eines wissenschaftlichen Bildes identifiziert: 1. das Bild ist eine Abbildung, deren Referenzgegenstand unabhängig von der Abbildung existiert; 2. die Abbildungsrelation wird durch ein maschinengesteuertes Aufnahme- bzw. Aufzeichnungsverfahren realisiert und begründet und 3. das Bild entbirgt Wirklichkeit, es überrascht und erlaubt Schlüsse auf ein sonst unzugängliches Phänomen (Grube: Digitale Abbildungen, S. 179–196, hier S. 183 u. 195). Bedauerlicherweise bleibt Grube gerade mit Blick auf den 3. Aspekt eine plausible Antwort auf die Frage, wie ein virtuelles Bildobjekt Aufschlüsse über ein real-natürliches Objekt erlauben, wie es also auf der Grundlage von Abbildungen überhaupt zu gesicherten Erkenntnissen kommen kann, schuldig.

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lassen – es sind „stellvertretende Instanzen“, „Supplemente“, welche die Anwesenheit eines natürlichen Referenten nurmehr fingieren53 –, erscheint die Wissenschaft selbst als eine entreferentialisierte: Die Natur ist nicht länger die objektive Bezugsgröße des naturwissenschaftlichen Denkens. Die epistemisch allererst konfigurierte und konstruierte Referentialität ist damit ein intrinsisches Moment des wissenschaftlichen Systems, Referentialität letztlich ein Aspekt seiner Selbstreferentialität. Die Dekonstruktion des Repräsentationsmodus führt zwangsläufig in ein erkenntnistheoretisches Dilemma, verbindet sich mit den intern erzeugten Referenten und den aus ihnen gewonnenen Erkenntnissen doch immer noch der Anspruch, etwas ‚Wahres‘ über die ‚wirkliche Wirklichkeit‘ auszusagen. Wissenschaftsbilder zählen damit nicht nur zu den wichtigsten Faktoren in der Ästhetisierung des Anästhetischen, sondern auch zu den maßgeblichen Akteuren in der Erzeugung wissenschaftlicher Erkenntnisse. Dabei liegen der Erzeugung von Sichtbarkeiten institutionelle Organisationseinheiten, hochtechnologisierte Maschinerien und komplexe Prozesse und Verweisungsketten zugrunde, die von der instrumentellen, personalen und ökonomischen Infrastruktur des Laboratoriums über diffizil konstruierte Apparaturen und experimentelle Einrichtungen wie Teilchenbeschleuniger und Detektoren bis hin zu den mit Programmen, Daten- und Zeichensätzen gespeisten Computeranlagen und den vielfältigen Möglichkeiten medialer Aufzeichnungs-, Simulations- und Transformationspraktiken reichen und in ihrer spezifischen Konfiguration das konstituieren, was im Bild jeweils zu sehen ist. Stefan Ditzen spricht in diesem Zusammenhang von „Bildmycel“, das die „Gesamtheit der Voraussetzungen an der Produktion eines artifiziellen Bildes“54 verkörpert. Während das Bild selbst die Prämissen und Prozeduren seiner Genese – seinen „demiurgischen Charakter“55 –

|| 53 Vgl. Jacques Derrida: Grammatologie [1974], übers. v. Hans-Jörg Rheinberger u. Hanns Zischler, Frankfurt/M. 31990, S. 250 f. u. 521. 54 Stefan Ditzen: Der Satyr auf dem Larvenrücken. Zum Verhältnis von instrumentellem Sehen und Bildtraditionen, in: Konstruierte Sichtbarkeiten, S. 41–56, hier S. 56. „Der Begriff ist an die biologische Organisationsform des Mycels bei Pilzen angelehnt, das in einem unterirdischen Wachstum den eigentlichen Pilz ausbildet. Dieser ist zunächst nicht sichtbar und von den Fruchtkörpern, die gemeinhin unter dem Begriff ‚Pilz‘ verhandelt werden, zu unterscheiden. Die biologische Terminologie charakterisiert mit dem Wort ‚Pilz‘ die Gesamtheit, die im eigentlichen Sinn anteilig mehr dem Pilzmycel zukommt, als dem oberirdisch auswachsenden Fruchtkörper“ (ebd., S. 55). 55 Mit dieser Formulierung beschreibt Grube Wissenschaftsbilder als Sinnbilder, die zeitgenössische Auffassungen, nicht aber naturgetreue Formen wiedergeben (Grube: Digitale Abbildungen, S. 184). Das eigentlich Demiurgische besteht darin, dass das wissenschaftliche Bild durch den wissenschaftlich trainierten und konditionierten Blick einerseits, durch Verfahren der Bildverbesserung andererseits seinen Bildcharakter zu verlieren droht: „Die Raffinesse des

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verbirgt und diese auch in der real erfolgenden wissenschaftlichen Forschung kaum thematisiert, methodisch veranschlagt und in ihren faktischen Auswirkungen auf die Erkenntnis reflektiert werden, legt der Roman diese ‚mycelische‘ Bildstruktur und deren vielschichtigen Verweisungs- und Wirkungshorizont offen. Eine im siebten Kapitel geschilderte Episode stellt den Konnex zwischen instrumentellen bzw. experimentellen Prädispositionen und naturwissenschaftlicher Visualisierung und Perzeption explizit her. Auf der Suche nach einem Ersatzteil schreiten Brahe und sein Kollege Rüdiger die Abteilungen und Regale eines Maschinenlagers ab. Die Anordnung der Materialien korrespondiert dabei der Relevanz, die den einzelnen Teilen für das Sehen zukommt. An den ersten Regalen, die unter anderem gefüllt sind mit Teilen für den Vakuumaufbau, mit Isolierrohren, Gelenken aus Metallegierungen, Drehgelenken, Labyrinthdichtungen und Leitungsröhren, gehen sie rasch vorüber, ohne sich noch einmal umzublicken, denn „tutto questo non riguardava i rivelatori e non era ancora il vedere, ma soltanto la base per produrre quello che forse si sarebbe visto“ (AO 69 f.).56 Sie verlangsamen ihren Schritt vor den Regalen, „dove cominciavano i ricambi del vedere“ (AO 70) und in denen Szintillationsplättchen, Optikfasern und nach Typ und Leistung geordnete Photovervielfacher gelagert sind. Schließlich bleiben sie zwischen Racks und diversen Karten für Rechnergehäuse, Prozess-Trigger, SpeechProcessoren, kurz: bei den Teilen für die Datenerfassung – „il culmine del vedere“ (AO 70) – stehen. Wie schon angedeutet korreliert die horizontale, parataktisch

|| Bildes liegt darin, sich als Bild zum Verschwinden zu bringen, um dadurch gerade als Bild in die Welt einzugreifen, wirksam und unmerklich. […] Das wissenschaftliche Bild wird gefährlicher, weil es als digitales Bild seinen Status als Zeichen teilweise verliert. Die Bedrohung […] in den scheinbar unbegrenzten Fälschungsmöglichkeiten […] liegt in der unaufgedeckten Selbstverleugnung“ (ebd., S. 185, Hervorhebung im Original). Nach Mersch ist es die „fehlende Negation bzw. die „genuine ‚Affirmität‘ des Bildlichen“, die ihm sein „Unheimliches“, seine besondere Macht und Suggestibilität verleiht (Mersch: Naturwissenschaftliches Wissen und bildliche Logik, S. 413 u. 415). Das Opake, das den Bildern als „konstruierten Sichtbarkeiten“ anhaftet, beruht auf einer „doppelten Unsichtbarkeit […], insofern sowohl ein Nichtsichtbares den Ausgangspunkt für die Sichtbarmachung bildet, als sich auch andererseits die Unsichtbarkeit der technischen Erzeugungsbedingungen im Bild zurückhält“ (ebd., S. 420). Da dem Bild die „indexikalische Anbindung“ an einen natürlichen Referenten fehlt – „die Daten und die Software bilden den Referenten“ – ist es mit Blick auf eben diesen natürlichen Referenten „spurenlos“ und „grundlos in seiner Funktion als Zeugenschaft“ (Bettina Heintz, Jörg Huber: „Der verführerische Blick“ – Formen und Folgen wissenschaftlicher Visualisierungsstrategien, in: Mit dem Auge denken, S. 9–40, hier S. 30). 56 „[…], denn alles das betraf nicht die Detektoren und das Sehen, sondern war nur die Grundlage zur Erzeugung dessen, was man vielleicht sehen würde“ (AW 96–97).

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gefügte Ordnung der Materialien57 mit einer vertikal-hypotaktischen, an der Relevanz für das Sehen ausgerichteten Werteskala; durch diese sinnlichphysiologisch determinierte Wertzuschreibung werden die technischen Bausteine an das Humane gebunden, das seinerseits in einem Dependenzverhältnis zu den technologischen ‚Prothesen des Auges‘ steht. Dabei ist die vertikale Achse, die Mensch und Technik in ein Verhältnis setzt, durch eine gegenläufige Bewegung charakterisiert: Je wertvoller die Materialien für das Sehen werden, desto langsamer schreiten Brahe und Rüdiger die Regale ab. Dem Weg von den grundlegenden, aber gleichsam ‚blinden‘ Materialien bis zum Gipfel des Sehens entspricht eine kontinuierliche Verlangsamung des Schritttempos bis hin zum Stillstand. Der Klimax des Sehens korrespondiert die Antiklimax des Gehens – ein Hinweis darauf, dass am Gipfel des Sehens die anatomischen Strukturen und physiologischen Prozesse des menschlichen Auges58 vollkommen von den technologischen

|| 57 Diese parataktische Ordnung wird am Ende der Passage unterstrichen: „Jedes Ding war gleichberechtigt mit den anderen ausgestellt [in pari diginità, AO 71]. Die Maschine, die Maschinen, die Teile und ihre Intelligenz waren alle da, mit ihrer Katalognummer: geordnet und verfügbar, wie ein Wörterbuch [ordinate e disponibili, come un vocabolario, AO 71]“ (AW 98). 58 Das Gehen ist neben dem Fliegen die zentrale Bewegungsmetapher des Romans und nimmt in ihren vielfältigen Verweisungsbezügen nahezu dingsymbolischen Charakter an. Auf einige Facetten sei im Folgenden hingewiesen: Das Gehen fungiert als eine Art Barometer, das den Stand der Freundschaft zwischen Brahe und Epstein, insbesondere auch den Grad des Gelingens ihres kommunikativen ‚Eingehens‘ aufeinander anzeigt (vgl. AW 16, 74). Bedeutsam ist das Gehen vor allem für Epstein. Es ist Thema seines literarischen Erstlingswerks Atlas der Gangarten und von besonderer poetologischer Relevanz: Schreiben wie Gehen sind für ihn Bewegungsabläufe, die einem inneren Rhythmus und – im Gegensatz zum Fliegen und den Vorgängen im Teilchenbeschleuniger – einem humanen Tempo folgen (AW 75, vgl. auch 48, 65). Sofern sich Schreiben und Gehen quasi-automatisch vollziehen, kommt ihnen lediglich der Status von Ablenkungsmanövern, Digressionen und Umwegen zu, die wegführen von den ihnen impliziten, nicht zuletzt auch human aufzufassenden Schwierigkeiten; vollziehen sie sich hingegen reflektiert und konzentriert, dann zeigen sie sich in ihrer Komplexität und Problematik und erweisen sich als eine Abfolge von „Aufgeben und Wiederfinden des Gleichgewichts zu sich“, als „Ungleichheit und Wechsel“, dem nur durch eine „Absicht“ oder eine „Richtung“ der Anschein von Kontinuität zuwächst (AW 75 f.). – Auf der diskursiven Ebene wird das Gehen mit einer ganzen Reihe von Gegebenheiten parallelisiert: Die Spuren, die Epstein beim Gehen durch den Garten hinterlässt, werden von seinem kuriosen Diener mit Pflastersteinen ausgelegt, so dass der Garten allmählich das Aussehen einer Landkarte annimmt, durchzogen von „Abzweigungen und Verästelungen, als gewährte man mir eine Erweiterung des Straßennetzes“; parallel heißt es auch von den Gefühlen, die Epstein mit dem neuen Sehen verbindet, dass sie immer „intimer und verästelter“ waren und „weder Ziel noch Zweck“ besaßen (AW 44), ferner ist das Pflastern eine Form des Kartographierens und damit ein weiteres Mal an Epsteins Schreibprojekte rückgebunden. Über Epsteins Bemerkung, dass die gepflasterte Wiese im Grunde ein „Film“ ist, „der alle menschlichen Bewegungen regis-

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‚Wahrnehmungsorganen‘ absorbiert und abgelöst sind, sinnliche Wahrnehmung also durch eine rein technologische substituiert ist.59 Die Apparaturen des Sehens eliminieren das Subjekt keineswegs, sind sie es doch, die das Undarstellbare für das Subjekt in spezifischer Weise zur Darstellung bringen und damit das geistigimaginäre Sehen dessen, was „niemand […] je mit eigenen Augen sehen“ würde, ermöglichen: ma solo dalle tracce computerizzate di ciò che era decaduto avrebbe potuto intuire e immaginare, immaginare con rigore e prova, ciò che si era generato per trasformarsi subito in tutt’altro. (AO 70)60

Der Gipfel des Sehens markiert damit auch jenen Punkt, an dem die blinde sinnliche Anschauung in eine geistig-imaginäre umschlägt. Technik und Mensch sind nicht als disparate, streng voneinander geschiedene und unterscheidbare Größen ausgewiesen; vielmehr stehen die mit ihnen jeweils assoziierten Kompetenzen und Funktionen in einer komplexen Interdependenz-, Interaktions- und Komplementärbeziehung. Gemeinsam bilden sie ein integrales Ordnungs- und Organisationsgefüge, eine quasi-organologische Einheit.61

|| triert“, wird das Gehen mit den Vorgängen des Beobachtens, Aufzeichnens und Speicherns von Teilchenspuren im CERN verbunden. Darüber hinaus ist mit Wiese (Natur) – Spur – Pflaster eine dreistellige Zeichenkonstellation beschrieben, die die Bezugspole der Repräsentation (wirkliche Wirklichkeit – Erscheinung/Bild – Darstellungsmedium/Abbild) abbildet, also Repräsentation repräsentiert und als ein literarisches wie epistemisches Verfahren problematisiert wird (dies vor allem über den von Epstein bedeuteten Einspruch gegen das Tun seines Dieners). – Die Zerstörungen, die Epstein im Garten beim Gehen hinterlässt, verweisen auf das Schwinden der Wirklichkeit und die allmähliche Auflösung des Außenraums; entsprechend ist das Pflastern ein Versuch des Konservierens, Materialisierens und Sichtbarmachens der vom Verwischen bedrohten Spuren, ein protestierendes Anpflastern gegen eine im Schwinden begriffene und technologisch usurpierte Welt. Nicht zuletzt ist das Gehen an Leiblichkeit und Bewegung, an die menschliche Anatomie und Physiologie und immer wieder auch an das Tierische, Instinktive und – literarisch konnotierte – Undisziplinierte und Autonome gebunden, das durch die Pflasterung gezähmt und kontrolliert werden soll (vgl. AW 74). Insgesamt tritt die Thematik des Gehens (wie bei dem analysierten Gang durch das Ersatzteillager) mit der zunehmenden Relevanz, die das Schwinden der Wirklichkeit und das neue Sehen für Epstein gewinnen, auf der inhaltlichen wie diskursiven Ebene zurück. 59 Vgl. auch Knorr-Cetina, die den Detektor als „eine Art ultimatives Wahrnehmungsinstrument“ beschreibt (Knorr-Cetina: Wissenskulturen, S. 75). 60 „nur die vom Computer aufgezeichneten Spuren dessen, was vorgefallen war, erlaubten zu sehen und sich vorzustellen, streng beweisbar vorzustellen, was entstanden war, um sich sofort in etwas ganz anderes zu verwandeln“ (AW 97). 61 Das ‚Schwinden der Sinne‘ ist nicht zu trennen vom allmählichen Verschwinden des anwesenden Körpers, der, wie Lyotard darlegt, „als materieller Sinnträger erscheint, auf dem mit

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Zu den Prozessen der Sichtbarmachung gehören schließlich auch all jene interaktiven und ästhetisierenden Eingriffe in die Bildschirmoberfläche, wie sie die raffinierten Programme der Bildbearbeitung zunehmend ermöglicht. Während die aktive Manipulation digitaler Bildschirmdarstellungen – ihre ‚kathartische‘ Behandlung – im Roman eher beiläufig Erwähnung findet,62 steht die Fälschung einer Maschinenzeichnung im Mittelpunkt einer Begegnung zwischen Brahe und dem Nobelpreisträger Wang. Bei dieser Werkzeichnung, deren einziges Exemplar in Brahes Besitz ist, handelt es sich um den Entwurf einer Maschine, deren einzelnen Teile von verschiedenen Teams in verschiedenen Ländern entwickelt wurden. Da Brahe der Bitte Wangs, ihm 20 Zentimeter zu überlassen, nicht nachkommen kann oder will, beschließt er, „die Zeichnung zu fälschen“ („contraffare il disegno“, AO 24 [36]), und zwar dergestalt, dass er mit dem von ihm konstruierten Teil

|| einer bestimmten Zahl von Codes (Gefühle, Bewegungen) Einschreibungen erfolgen“ (Lyotard: Immaterialität, S. 55). Die Beziehung zwischen Geist und Materie ist folglich „nicht mehr die zwischen einem intelligenten, seine Absichten verfolgenden Subjekt und einem leblosen, trägen Objekt. In der Familie der ‚Immaterialien‘ sind sie Vettern“ (ebd., S. 83). – Den Zusammenhang zwischen Mensch und Maschine beschreibt Knorr-Cetina ausführlich am Beispiel der im CERN durchgeführten Mega-Experimente. Wie (neben den epistemischen Objekten) auch die epistemischen Subjekte allererst konstruiert werden und damit als Komponenten und Produkte der technologischen und sozialen Maschinerien zu betrachten sind (vgl. KnorrCetina: Wissenskulturen, Kap. 7 u. 8), so werden umgekehrt die technologischen Maschinen als physiologische Organismen und sozial-moralische Wesen anthropologisiert und individualisiert (vgl. ebd., Kap. 5). 62 So geschieht die Suche nach einem neuen „Trigger-Niveau“, „indem sie eine Reihe von Signalen kürzten und andere hervorhoben“ (AW 143); gezielt „wählt Brahe Vorgänge aus, nimmt die spektakulärsten heraus“ (AW [188]), andernorts ist von den „inzwischen sehr reinen, sehr klaren“ Bildern die Rede (AW 192), die Brahe „wie Fotogramme“ erscheinen (AW 195). Dass Brahe sich der kosmetisch erzeugten Reinheit der Bilder durchaus bewusst ist und dieser Praxis auch Spuren des moralisch Unlauteren unterstellt, zeigt das Unbehagen, das er angesichts der Reinheit und Moralität wild lebender Tiere empfindet (vgl. AO 77 [107]). – Vgl. Heßler, die diese kosmetischen Verfahrensweisen ausdrücklich als „ästhetisches Handeln“ charakterisiert: „Dies meint, dass die wissenschaftliche Praxis von der Suche nach Mustern, nach Strukturen, nach Stimmigkeiten bzw. nach Herausfallendem geleitet ist und dass das, was gezeigt werden soll, hervorgehoben wird, indem es schärfer gemacht, eingefärbt, begradigt, betont und scheinbar Nebensächliches überdeckt und marginalisiert wird“ (Heßler: Einleitung, S. 23). – Was Bildbearbeitung konkret bedeutet, beschreibt Grube am Beispiel von Messungen atomarer Strukturen, deren bildliche Darstellung über ein Rastertunnelmikroskop erfolgt: Weder gibt es „sinnliche Erfahrungen mit atomaren Oberflächen“ noch gibt es ein realiter existierendes „Vorbild, […], an dessen Gestalt die Bildbearbeitung orientiert“ und mit der das Bild verglichen und der Grad der Übereinstimmung bzw. Abweichung mit dem Objekt ermittelt werden könnte; „was man über das abzubildende Objekt weiß, sind Messergebnisse und die sehen nicht aus“ (Grube: Digitale Abbildungen, S. 193 f.).

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vierzig Zentimeter in Wangs Refugium eindringt, um sich dann während der Verhandlung mit Wang großzügig zeigen und ihm die geforderten 20 Zentimeter überlassen zu können: „Però debbo fare finta di darglieli, senza darglieli in realtà“ (AO 32).63 Seine Kollegin Eileen, die dieses Vorgehen zwar nicht für korrekt hält, nimmt die Fälschung schließlich vor. Die Begegnung mit Wang – inszeniert als ein humoreskes Intermezzo – verläuft ganz nach Brahes Wunsch. Wang, so wird eindringlich suggeriert, durchschaut zwar das Täuschungsmanöver, spielt aber mit und überlässt Brahe den Sieg. Künstlerische performance, Manipulation, Täuschung und Betrug werden hier als ein selbstverständlicher Bestandteil des wissenschaftlichen Spiels ausgewiesen, ein Spiel, in dem es letztlich nicht um die persönliche Ehre des Gewinnens geht, sondern um den wissenschaftlichen Erfolg, der nur in Team-Arbeit erzielt werden kann. Refrainartig installiert Wang während der Begegnung mit Brahe die folgende Sentenz – und formuliert damit gleichsam die Goldene Regel des wissenschaftlichen Spiels: „Per vedere […] ci vogliono grande intenzione e grande energia, prima e dopo, perché ciò che è stato prodotto per poterlo vedere non lo si vede mentre accade: si vede prima come intenzione, si vede dopo come risultato“. Ha fissato Brahe negli occhi con intensità, ha detto: „Lei e io vediamo cosí“ (AO 39).64

Während die am Anfang zitierte Passage (vgl. AO 19 [29]) ihren Ausgang von der Bildschirmdarstellung nimmt und den Weg vom Wissenschaftsbild über dessen Interpretation hin zur wissenschaftlichen Erkenntnis skizziert, werden mit dem

|| 63 „Ich muß jedoch so tun, als würde ich sie ihm geben, ohne sie ihm wirklich zu geben“ (AW 46). 64 „‚Wenn man etwas sehen will, […], braucht man große Willenskraft und große Energie, zuvor und danach, denn das, was hergestellt worden ist, um gesehen zu werden, sieht man nicht, während es geschieht: Man sieht es zuvor als Absicht und danach als Resultat.‘ Er hat Brahe nachdrücklich in die Augen geblickt, hat gesagt: ‚Sie und ich, wir sehen das so.‘“ (AW 55). Evidenz wird als ein Produkt ausgewiesen, das aus der Verbindung von subjektiver Intention und Interpretation einerseits, technologischem Einsatz und Objektivität andererseits hervorgeht und damit als ein Modus der Beweisführung jenseits des epistemischen Diskurses. Vgl. auch Mersch, der die epistemische Funktion von Bildern als „Beglaubigung durch Sichtbarmachung“ beschreibt, die „Geltung nicht durch Gründe, sondern durch Evidenz“ erlangt. Evidenz aber ist – im Unterschied zum Argument – nicht falsifizierbar: die Evidenz des Visuellen beruht auf dem, „was durch sich selbst einleuchtet“, sie ist von schlagender Beweiskraft (Mersch: Naturwissenschaftliches Wissen und bildliche Logik, S. 416). Evidenz unterliegt – und auch das impliziert die von Wang formulierte Regel – aber auch historischen Bedingungen, d.h. „daß jede historische Formation all das sieht und sichtbar macht, was sie gemäß ihren Bedingungen der Sichtbarkeit zu sehen vermag, so wie sie alles sagt, was sie gemäß ihren Aussagebedingungen sagen kann“ (Gilles Deleuze: Foucault, Frankfurt/M. 1987, S. 85).

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Gang durch das Magazin und in Brahes inszeniertem Täuschungsmanöver die einzelnen Stationen bei der Erzeugung von Sichtbarkeiten (also jene Technologien und Interaktionen, die die wissenschaftliche Objektwelt generieren und untrennbar mit den epistemischen Prozessen zusammengeschlossen sind) abgeschritten und erinnert,65 und der Blick gleichsam auf das Bild-Innere – auf sein Anfängliches und Ursächliches66 – freigegeben. Sichtbar gemacht wird damit gerade das, was im (vorläufigen) Endprodukt – den „tracce computerizzate“ – und dessen Weiterverarbeitung unsichtbar bleibt, namentlich die instrumentellen, apparativen und zeichenprozessierenden Voraussetzungen seiner Herstellung. Indem der literarische Diskurs den Herstellungsprozess wissenschaftlicher Bilder – ihr unterirdisches Mycel – offen legt und die Relevanz dieser Bilder für die wissenschaftliche Erkenntnisgewinnung aufzeigt, arbeitet er dem die Ereignisebene dominierenden Thema, dem Verschwinden der Dinge, hier konkret: dem Verschwinden sowohl der Dinge als auch der Mechanismen ihrer Erzeugung im epistemischen Diskurs, entgegen. Ohne die Grenzen zwischen Naturwissenschaft und Literatur zu verwischen – und dies wird noch genauer zu analysieren sein –, wird über den fiktionalen Bilddiskurs der wissenschaftliche Bilddiskurs in seinen verborgenen technologisch-konstruktivistischen und virtuell-artifiziellen Zusammenhängen seziert und als ein unübersehbares Implikat des szientifischen Diskurses selbst ausgewiesen. Buchstäblich ans Licht gebracht wird die ‚Viskursivität‘67, die den physikali|| 65 Bekanntlich gehört das Magazin neben der Wachstafel zu den zentralen Memoria-Metaphern. Aus dem Umfeld der Sophistik und Rhetorik stammend, sind Magazinmetaphern überwiegend auf die Gedächtniskunst – auf die Lokalisierung bildhaft repräsentierter Gedächtnisinhalte – bezogen. Die Bilder, die in dem von Brahe und Rüdiger abgeschrittenen GedächtnisMagazin lagern, sind selbstreferentieller Natur: Bilder, welche die Bedingungen und Prozesse der Bilderzeugung abbilden und speichern. Zur Gedächtnismetaphorik vgl. Harald Weinrich: Metaphora Memoriae, in: ders.: Sprache in Texten, Stuttgart 1976, S. 291–294 sowie ergänzend Aleida Assmann: Zur Metaphorik der Erinnerung, in: Mnemosyne. Formen und Funktionen der kulturellen Erinnerung, hrsg. v. dies. u. Dietrich Harth, München 1991, S. 13–35. 66 Sichtbarkeit, so Mersch, wird letztlich aus Zahlenreihen modelliert: „Folglich haben wir es mit Transformationen von Theorien in Programme und von Programmen in Visualisierungen zu tun, an deren Anfang kein Wahrnehmbares oder eine markierbare Spur steht, sondern die Definition einer mathematischen Funktion“. Wissenschaftsbilder sind damit „Medium der Modellierung und Werkzeug eines internen wissenschaftlichen Konstruktivismus […], welche jeden Ursprung im Anschaulichen verloren haben“ (Mersch: Naturwissenschaftliches Wissen und bildliche Logik, S. 410; vgl. auch S. 417). 67 „Viskurse“ bezeichnen nach Knorr-Cetina visuelle Darstellungen, welche die Bedeutung der ‚rein‘ diskursiven Praxis für die Koordination des wissenschaftlichen Experiments zunehmend in den Hintergrund drängen: „Wo es Viskurs gibt, wird Diskurs schnell als ‚bloßes Reden‘ abgetan, der keine experimentellen Ergebnisse ‚zeigt‘ und keinen Nachweis für die Durch-

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schen Diskurs zunehmend prägt und elementarer Bestandteil seiner Selbstreferentialität ist. Dabei wird der epistemische Bildgenerierungsprozess wiederholt und überschritten zugleich, wobei hier die Transgression im Unterschied zu den bisher untersuchten Werken nicht auf ein Wissenschaftsexternes hin erfolgt,68 sondern auf die Wissenschaft selbst hin, auf ein ihr Immanentes. Für den Roman bedeutet dies konkret, dass er in der Wiederholung den epistemischen Viskurs auf einen Meta-Viskurs hin überschreitet, dessen epistemologische Funktion in der Selbstaufklärung des epistemischen Viskurses besteht. Auf diese Weise betreibt der Roman im besten Sinn des Wortes ‚Archäologie des Wissens‘. Zugleich, und dies wird noch zu zeigen sein, ist dieser Meta-Viskurs auch poetologisch relevant.

2.2 Epsteins ästhetische Theorien Epsteins Darlegungen über seine Entwicklung als Schriftsteller etablieren eine fiktionsimmanente Poetik, der, so die diesem Kapitel zugrunde gelegte These, in Bezug auf die epistemologischen Zusammenhänge des Romans eine maieutische Funktion zukommt. Del Giudices Aussage, sein Roman thematisiere einen „mutamento di epoca sostanziale“, ist auch literarhistorisch zu verstehen: Epsteins künstlerische Biographie repräsentiert den Übergang der literarischen Moderne in die Postmoderne. Seine Poetiken, die von ihm in der Vergangenheit vertretene Poetik der Moderne und die von ihm in der Gegenwart experimentell entwickelte Poetik der Postmoderne, weisen dabei einerseits allgemeine, d.h. literaturwissenschaftlich kanonisierte Merkmale auf, sind jedoch andererseits auch extrem individualisiert. In Epsteins Retrospektive erscheint seine literarische Wandlung vom modernen zum postmodernen Schriftsteller auch nicht als ein fließender Übergang, sondern als der radikale Bruch zwischen einer literari-

|| führung bestimmter Arbeiten erbringt“ (Karin Knorr-Cetina: Viskurse der Physik, in: Konstruktionen Sichtbarkeiten, hrsg. v. Jörg Huber u. Martin Heller, Zürich, Wien u.a. 1999, S. 245–261, hier S. 249). Dabei werden Viskurse ihrerseits nicht nur apparativ-mathematisch, sondern auch diskursiv erzeugt. Der Begriff weist ferner „auf die lateralen Bezugnahmen und Verknüpfungen der Darstellungen hin – die nicht isoliert sind, sondern immer in Zusammenhang mit vorherigen, gleichzeitigen, neuen Darstellungen stehen“ (ebd.); schließlich „entfalten Viskurse technische Objekte und haben eine interne Beziehung zu wissenschaftlicher Forschung“ (ebd.). 68 Transgressionen auf ein Wissenschaftsexternes hin verwandeln und semantisieren das wissenschaftliche Zeichen in ein wie auch immer konkretisiertes nicht-wissenschaftliches Zeichen. Dieses kann dann wieder sinnhaft auf die Wissenschaft selbst rückbezogen und als Teil ihres verdrängten Immanenten ausgewiesen werden.

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schen Moderne und einer ‚nicht mehr literarischen‘, weil nicht mehr literarisierbaren Postmoderne. Dieser Bruch wird durch die Poetik, die dem Roman als Ganzes zugrunde gelegt ist, gekittet. Der implizite Autor bzw. Erzähler erhebt Einspruch gegen Epsteins Deutung und korrigiert diese dahingehend, dass er Moderne und Postmoderne in eine kontinuierliche, ja sogar in einem Bedingungsverhältnis stehende Beziehung bringt.

2.2.1 Epsteins Ästhetik der Moderne Dal passato [so Epstein in einem Brief an seinen Verleger] mi interessa come è cambiato di libro in libro il mio rapporto tra l’etica e la forma […]. Ma sono molto occupato dal presente (che non è la „vita“, io ho vissuto abbastanza): è una nota musicale lunga, tersa, consonante con tutte le altre in assoluta simultaneità, nella simultaneità totale della fantasia, del vedere oltre la forma. Forse è forma fluente. Ma è appena un’impressione. È una nota sospesa e compiuta e... (AO 29)69

Mit dem Terminus „l’etica“ umschreibt Epstein die komplexen Zusammenhänge zwischen den Menschen – ihren Erfahrungen, Gefühlen, Gedanken und Wahrnehmungen – und den Dingen. Diese Zusammenhänge herzustellen und ihnen in der Literatur Ausdruck und Form zu verleihen, war sein primäres Anliegen.70 Ausführlich schildert Epstein in einem Gespräch mit Brahe die besondere Beziehung, die er zu den Dingen unterhielt: Ero capace di sentire come è fatta una cosa, ero capace di percepire la sua forma in un modo diverso da ciò che normalmente si intende per percepire: io sentivo come si sente il filamento di una lampadina nel vuoto d’aria della sua pera. Mi sembrava che ogni oggetto avesse una sua vita; non solo quella della materia, lavorata in forma, la sua vita era il pensiero che c’era dietro e il comportamento in cui si prolungava. [...] Cosí esisteva una relazione con gli altri, con molti altri, attraverso le cose che ci sono nel proprio tempo, attraverso il fare che non era soltanto fare gli oggetti, ma molto di più. Si poteva non essere

|| 69 „Von der Vergangenheit interessiert mich, wie sich von Buch zu Buch mein Verhältnis zu Ethos und Form verändert hat […]. Aber die Gegenwart beschäftigt mich so sehr (nicht das ‚Leben‘, ich habe genug gelebt): Die Gegenwart ist ein langer, klarer Ton, der mit allen anderen Tönen in absoluter Simultaneität übereinstimmt, in der totalen Simultaneität der Phantasie, des Sehens jenseits der Form. Vielleicht ist es eine fließende Form. Aber das ist nicht mehr als ein Eindruck. Der Ton ist in der Schwebe und vollständig und …“ (AW 42). 70 „Mein ganzes Leben und meine ganze Arbeit waren nichts anderes als der Versuch, die Menschen mit den Dingen in Zusammenhang zu bringen und die Dinge mit der Erfahrung und den Gefühlen, mit der Wahrnehmung ihrer selbst, mit den Gedanken“ (AW 81).

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d’accordo, ma c’era una possibilità di amicizia. Ogni oggetto era comportamento trasformato in cosa, e poi ritrasformato in comportamento. (AO 58–59)71

Epstein erscheinen die Dinge als je individuelle Manifestationen, ja geradezu als Narrative menschlicher Gedanken bzw. Verhaltensweisen und zwischenmenschlicher Verhältnisse.72 Solcherart personalisiert und ‚entdinglicht‘ kommt ihnen eine mediale Funktion zu: Sie vermitteln zwischen jenen Menschen, die die Dinge herstellen, und ihm selbst, der die Dinge gebraucht. Herstellung und Gebrauch werden dabei allerdings nicht als Komponenten eines ökonomischen Kreislaufs gedeutet, innerhalb dessen die Dinge zur Ware degradiert würden, sondern als den Dingen selbst innewohnende Handlungen im Vollzug. Entsprechend sind die Dinge als Medien auch keine passiven Instrumente, sondern lebendige Akteure innerhalb eines sozialen Gefüges.73 In Epsteins anthropomorphisierender und entdinglichender Optik erscheinen die Dinge zugleich und paradoxerweise in ihrer gesteigerten Dinghaftigkeit, als materielle Behälter, in denen menschliches Denken und Handeln konserviert oder vielmehr zwischengelagert ist. Es sind gleichsam materielle ‚Durchgangsstadien‘ menschlicher Denk- und Handlungsprozesse, hybride Gebilde aus Objektivem und Subjektivem.74 || 71 „Ich vermochte zu spüren, woraus ein Ding besteht, ich konnte seine Form auf eine Weise wahrnehmen, die sich von der herkömmlichen Art der Wahrnehmung unterschied: ich spürte, was der Glühfaden einer Lampe im Vakuum der Birne empfindet. Für mich besaß jedes Ding ein Eigenleben, und zwar nicht nur das der zu Form verarbeiteten Materie; sein Leben bestand in dem dahintersteckenden Gedanken und in dem Verhalten, in dem es sich fortsetzte. (…) Auf diese Weise unterhielt ich eine Beziehung zu den anderen, zu vielen anderen, und zwar durch die Dinge, die zu unserer Zeit gehören, durch das Tun und Herstellen, das nicht einfach ein Herstellen von Dingen war, sondern viel mehr. Man konnte anderer Meinung sein, aber darin bestand eine Möglichkeit der Freundschaft. Jedes Ding war in Objekt verwandeltes Verhalten, das sich wieder in Verhalten zurückverwandelte“ (AW 82–83). 72 Ähnlich auch die Deutung Dilmacs (vgl. Literatur und moderne Physik, S. 297). – Die Dingwelt umschließt für Epstein menschlich erzeugte Dinge, also Artefakte, ebenso wie die Gegenstände der Natur, im Grunde also die gesamte Welt der Phänomene. 73 Die ‚Sozialität‘ der Dinge – dies suggeriert Epsteins Rede von den Dingen als „possibilità di amicizia“ – kann so weit reichen, dass die Dinge die anderen Menschen substituieren. In diesem Fall sind sie nicht mehr Medien zwischen Menschen, sondern Stellvertreter. 74 Für Epstein sind die Dinge nicht – wie etwa im literarischen Symbolismus – Anlass und Vorwand für dichterische Selbstaussagen im Sinne Rilkes: „Im Grunde sucht man in jedem Neuen (Land oder Mensch oder Ding) nur einen Ausdruck, der irgendeinem persönlichen Geständnis zu größerer Macht und Mündigkeit verhilft. Alle diese Dinge sind dazu da, damit sie uns Bilder werden“ (Rainer Maria Rilke: Brief vom 27.05.1899 an Frieda von Bülow, in: ders.: Briefe und Tagebücher 1899–1902, Bd. 1, hrsg. v. Ruth Sieber-Rilke u. Carl Sieber, Leipzig 1931, S. 15–18, hier S. 17). Hingegen weist seine Bestimmung der Dinge durchaus Ähnlichkeiten mit Rilkes späteren ‚Dinggedichten‘ und der Lyrik des Imagismus auf: Auch hier erfolgt die

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Dieser Zugang zu den Dingen war Epstein nicht immer gegeben: Er musste ihren Gebrauch unter Zuhilfenahme von Anleitungen lernen. Jeder dieser Bildungsromane – „Ogni manuale era per me un libro di galateo applicato, un romanzo di formazione“ (AO 60) – verband sich für ihn mit einer „nuova nomenclatura“, einer „alfabetizzazione del corpo“ und eröffnete ihm eine Welt von Korrespondenzen zwischen Namen und Begriffen einerseits und Gesten, Gefühlen, Haltungen, Gedanken andererseits. Der Gebrauch der Dinge und der Gebrauch der Sprache waren letztlich untrennbar miteinander verschränkt – die Dinge waren ihm Sprachkörper –, und der Zugang zu den Dingen ermöglichte ihm den Zugang zur Welt und zu den Menschen: A me sembrava che la vita delle persone fosse unita a quella delle cose, fosse una lunga storia di sedie e di letti, di scarpe e di valige, di tavoli e di porte, di automobili e aerei e treni e navi e di cassetti e di scatole, cose che in genere non si vedono, che restano sullo sfondo di persone prese a pensare direttamente „io come sto?“ (AO 60)75

Sein Handwerk (mio mestiere, AO 59) als Schriftsteller bestand in nichts anderem als in der Wiederholung und Zurückverwandlung jener unsichtbaren und hintergründigen Metamorphosen, die das natürliche wie artefaktische Sein der Dinge konstituieren, in der Aktualisierung der ihnen eingeschriebenen narrativen Möglichkeiten, eben im Erzählen und Sichtbarmachen – in der ‚Aisthetisierung‘ – jener verborgenen Zusammenhänge zwischen Dingen und Menschen. In diesem Sinne folgte seine Poetik dem Programm einer ‚imitatio rerum‘, das die phänomenologische ‚Arbeit an den Dingen‘ voraussetzte und sich mit der ethischen Zielsetzung verband, die Menschen aus der Knechtschaft ihrer Selbstbezüglichkeit zu befreien und auf diese Weise ihr Glück zu mehren („accrescere la felicità del genere umano“, AO 60).

|| Präsentation der Dinge gleichermaßen in ihrer gegenständlichen Eigenart wie in ihrer phänomenologischen Bezogenheit auf die Menschen, werden verborgene Analogien und Verwandtschaften aufgedeckt und die Bedeutung des Dinghaften über ihre Verweisungsvielfalt erschlossen („No ideas but in things“ lautet das Credo von W. C. Williams; vgl. William Carlos Williams: A sort of a song, in: ders.: The collected poems, Bd. 2.: 1939–1969, hrsg. v. Arthur W. Litz, New York 1988, S. 55). Er betrachtet die Dingwelt im Grunde als oίkos, als ‚Haus‘ oder ‚Gehäuse‘ menschlicher Ideen und Handlungen. Sie in ihren Beziehungen zu den Menschen sehen bedeutet damit auch, sie in ihren ökologischen Strukturen sehen. 75 „Ich hatte den Eindruck, das Leben der Menschen sei mit dem der Dinge verbunden, sei eine lange Geschichte von Stühlen und Betten, Schuhen und Koffern, Tischen und Türen, Autos und Flugzeugen und Zügen und Schiffen und Schränken und Schachteln, von Dingen, die man für gewöhnlich nicht sieht, die im Hintergrund von Menschen bleiben, die damit beschäftigt sind, sich zu fragen: ‚Wie geht es mir?‘“ (AW 84–85).

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Exkurs Die ethische Fundierung von Epsteins Poetik ist freilich nicht auf die humanen Ziele seiner schriftstellerischen Tätigkeit beschränkt. Der Gebrauch der Dinge – das Sehen und Denken der Dinge in ihrer komplexen Verfasstheit und in ihren humanen Bezügen – meint ja gerade nicht ihre utilitaristische Verzweckung, sondern das Sehen und die (narrative) Sichtbarmachung dessen, was den Dingen als einem komplexen Beziehungsgefüge innewohnt. Dinge gebrauchen bedeutet für Epstein, sie aus dem ihnen von den Menschen zugewiesenen Dasein im Hintergrund (sullo sfondo) in den ihnen eigentlich zukommenden und angemessenen Vordergrund zu rücken, sie neben die Menschen und in ein Verhältnis zu den Menschen zu stellen – „in pari dignità“ (AO 58). Dinge gebrauchen bedeutet folglich, sie in ihrer „reinen Selbstgegebenheit“ (Husserl) und damit auch in ihrer spezifischen Erscheinungsweise, die zugleich ihre spezifische Wahrheitsweise – ihre Evidenz76 – ist, perzeptiv und intellektuell zu durchdringen, um das, was sich an und durch sie zeigt, narrativ sichtbar zu machen und einer Evidenzerfahrung für andere zuzuführen.77 Dabei ist die „reine Selbstgegebenheit“ der Dinge, ihre Präsenz, dadurch ausgewiesen, dass sie das Andere – die menschlichen Denk- und Handlungsformen, deren Transformation die Dinge ja sind – einschließt: das Andere ist nicht das Andere zum Selbst der Dinge, sondern Implikat dieses Selbst. Implikat deshalb, weil sich die Selbstgegebenheit der Dinge nicht in ihrem humanen Anderen erschöpft, sondern ihnen durch ihre materielle Gestalt – ihre Objekthaftigkeit – auch eine vom Menschen unabhängige Eigenständigkeit zukommt (auch dann zukommt, wenn ihre Gestalt Produkt menschlicher Fertigkeiten ist). Daneben wird den Dingen eine zeitliche Struktur beigemessen: Sie sind in der Tat ‚Durchgangsstadien‘, nämlich Ergebnis in der Vergangenheit aktualisierter und zugleich Ausgangspunkt von in der Zukunft möglicher humaner Denk- und Verhaltensweisen (vgl. AO 59). Ihre selbstgegebene Präsenz ist, um erneut eine Formulierung Husserls aufzugreifen, „stehendströmende Gegenwart“,78 die sich in die Vergangenheit ebenso erstreckt wie in die Zukunft. Die ‚imitatio rerum‘ – die Repräsentation der Dinge in den erzählten Geschichten – hat diese diffizile Selbstgegebenheit und Präsenz zur Grundlage, eine Grundlage, die ihrerseits in der wahrnehmenden und denkenden Zuwendung79 an die Dinge erarbeitet und hergestellt werden muss. Sehen und Denken sind für Epstein mit einer Art Dienstleistung an den Dingen verbunden, denn sehend und denkend wird den Dingen zu ihrer Präsenz verholfen (nicht zu ihrer

|| 76 Wahrheit als aletheia im Sinne des Offenbarens und Ans-Licht-Bringens von Verborgenem. 77 Der Begriff der Form lässt sich, so Derrida, nicht trennen von dem des Erscheinens, des Sinns, der Evidenz, der Essenz: „Die Form ist die Präsenz selbst. Das Formhafte ist das, was sich allgemein von etwas präsentiert, sich sehen läßt, zu denken gibt“ (Jacques Derrida: Die Form und das Bedeuten. Bemerkungen zur Phänomenologie der Sprache, in: Randgänge der Philosophie, hrsg. v. Peter Engelmann, Wien 1988, S. 159–174, hier S. 160). 78 Edmund Husserl: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Eine Einleitung in die phänomenologische Philosophie, hrsg., eingel. u. mit Registern versehen v. Elisabeth Ströker, Hamburg 1996, S. 171. 79 Diese Zuwendung äußert sich vor allem in der Behutsamkeit und Zärtlichkeit, mit der Epstein die Dinge berührt (vgl. AO 123 [164 f.]).

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Präsenz an sich, sondern für die Menschen).80 Sehen und Denken sind damit auch Präsentationsvorgänge, im Zuge derer die Dinge räumlich und zeitlich angemessen positioniert und in ihren Beziehungen zu den Menschen geordnet werden. Sehen und Denken der Dinge heißt, sie in ihrem Eigenleben (vgl. AO 58) sehen und denken, heißt, ihren rechtmäßigen Stellenwert beglaubigen und stellvertretend für die Dinge bezeugen, ihnen im rechten Sehen und Denken, im rechten Gebrauch, gerecht werden. – Die kritischen Impulse dieser Position sind offensichtlich: Epstein steht ein für ein Denken, das mit dem rationalistischen, positivistischen und ökonomistischen Prinzip der Natur- und Dingbeherrschung bricht, ohne dabei den Anspruch auf die Möglichkeit authentischer Wahrheitsfindung über eine mimetische Annäherung an die Dinge preiszugeben. Seine Forderung nach einer paritätischen Dignität des Besonderen und Singulären gegenüber dem Allgemeinen und Systematischen kritisiert zugleich den Bruch zwischen Subjekt und Objekt, einen Bruch, dessen Pole nicht idealistisch synthetisiert, sondern nur im genauen Hinblick auf die Dinge und in der adäquaten Für-Sprache für sie in ihrer vielschichtigen Bezogenheit und Verwiesenheit aufeinander – und das meint zugleich: in ihrer Andersheit – gezeigt werden können.

Wenn Epstein die besondere ‚Natur‘ der Dinge auf sein eigenes Schaffen und auf seine Bücher überträgt, dann stellt er sich und sein Werk in einen Produktions- und Rezeptionszusammenhang, innerhalb dessen auch seiner Arbeit und seinen Büchern eine mediale Funktion zukommt. Das Erzählen und Schreiben von Geschichten ist nichts anderes als eine Transformation von Verhalten (Epsteins Haltung zu den Dingen eingeschlossen), ein, wenn man so möchte, Dingerzeugungsprozess, der immer schon eingebunden ist in die Kontinuität81 jener

|| 80 Dieser Zusatz erscheint notwendig vor dem Hintergrund jener konstruierten Sichtbarkeiten, mit denen Brahe im Experiment operiert. Im Unterschied dazu präsentiert Epstein nichts Abwesendes oder Unsichtbares oder Nicht-Präsentes, sondern anwesende, präsente Dinge, die lediglich von den Menschen ins Abseits, in den Hintergrund gestellt sind. 81 Die Kontinuität ist ein weiteres Leitmotiv des Romans, das auf der diskursiven Ebene genau das leistet, wovon der Begriff auf der inhaltlichen Ebene spricht: Es stiftet Zusammenhänge und Kontinuität zwischen Disparatem. Dabei erscheint die Kontinuität meist als ein Konstrukt, das, indem es einen scheinbaren Zusammenhang herstellt, zugleich auch immer Differenzen einebnet. Auch hierzu einige Beispiele: Kontinuität zwischen Natürlichem und Künstlichem/Technischem (so setzt das künstliche Lampenlicht scheinbar die Kontinuität des Tageslichts fort und kaschiert die „späte Stunde“, die „dramatische Stunde“ [un’ora drammatica] der Nacht, die, wie es heißt, „fehl am Platz war“, AO 50 [71]; vgl. auch die Beschreibung des Verhaltens der Luftteilchen beim Fliegen, die in die Zylinderrippen des Flugzeugs eindringen und eine „kalte Kontinuität“ schaffen, AO 100 [135 f.]); Kontinuität zwischen natürlichen Mechanismen und kognitiven Prozessen (so erscheint das von „Ungleichheit und Wechsel“ beherrschte Gehen, bei dem der Körper permanent „aus dem Gleichgewicht“ gerät, lediglich durch die rasche und natürliche Aufeinanderfolge und gekoppelt an eine „Absicht“ oder „Richtung“ als Kontinuität, AO 53 [75 f.]; auch die kontingenten Ereignisse der Vergangenheit lassen sich in der Erinnerung sinnvoll zu einer „Kontinuität der Veränderungen“ verfugen, AO 61 [86]; vgl. auch AO 108 [145]); schließlich müssten einer Überlegung Brahes zufolge auch extreme,

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langen Geschichte, die vom Leben der Menschen mit den Dingen erzählt (vgl. AO 60). Analog den Dingen ist das von ihm geschaffene ‚Kunst-Ding‘ in seiner Selbstgegebenheit gerade nicht selbstbezüglich-ästhetizistisch, sondern Anderen und Anderem zugewendet und auf Andere und Anderes ausgerichtet. – Was aber meinen ‚Sehen‘ und ‚Denken‘ im Kontext von Epsteins früher Ästhetik? Guardando si vede solo lo sfondo, pensando si pensa solo la figura. Mai le due cose assieme. [...] Forse quello che ho inventato fin qui non è altro che una lente speciale, che permette di vedere lo sfondo e la figura nella loro relazione, in pari dignità. (AO 57-58)82

Das auf die dinglichen Phänomene im Hintergrund gerichtete Sehen ist physisch-sinnliche Wahrnehmung; das auf die Gestalt gerichtete Denken ist – und hier ist Epstein der platonisch-aristotelischen Philosophie verpflichtet – von Sinnlichkeit befreites, metaphysisch-geistiges Schauen, theorein im Sinne einer Anschauung dessen, was den Dingen in ihrer je besonderen Erscheinungsweise an allgemeinen Ideen, Formen oder Konzepten zugrunde liegt. Dabei erinnert Epsteins Intention, Sehen und Denken – und damit Sinnlichkeit und Vernunft, Besonderes und Allgemeines, Anschauung und Begriff – in ihrem Zusammenhang zu sehen, durchaus an die gemäßigten Varianten klassisch-aufklärerischer Philosophie und Ästhetik mit ihrer Forderung, den rational(istisch)en Weltbezug an einen sinnlich-empirischen rückzubinden.83 Dass es für Epstein

|| einander widersprechende Charaktereigenschaften nach dem physikalischen Vorbild der Komplementarität zum kontinuierlichen Ausgleich gebracht werden können, so, als würde es sich lediglich um zwei komplementäre Möglichkeiten (due modi complementari), zwei Punkte derselben Welle (due punti della stessa onda) handeln (AO 114 f. [154]). – Von diesen konstruierten Kontinuitäten unterscheiden sich zum einen jene, deren Status sich der Überprüfbarkeit entzieht (wenn Brahe an Epstein denkt, dann verbreitet sich der Gedanke in vielfache Linien und Fasern und verästelt sich „come una continuità, nella quale gli sarebbe stato difficile distinguere un singolo evento“, AO 78 [107]; auch die unterirdische Kontinuität [sotteranea continuità] des Traums, die den Tag mit der Nacht verbindet, AO 95 [129], gehört zu diesen unbestimmten Formen der Kontinuität), zum anderen die wahren Kontinuitäten (für die es nur ein Beispiel gibt, nämlich die unerforschten Reserven und Zonen der automatischen Erinnerung, AO 61 [86]). 82 „Beim Sehen sieht man nur den Hintergrund, beim Denken denkt man nur an die Gestalt. Nie beides zusammen. […] Vielleicht habe ich bisher nichts anderes erfunden als eine Speziallinse, die es ermöglicht, Hintergrund und Sehen in ihrem Verhältnis zueinander zu sehen, gleichberechtigt in ihrer Würde“ (AW 81). 83 Zu denken ist hier vor allem an Schillers Programm einer ästhetischen Erziehung des Menschengeschlechts, freilich auch an Kants erkenntnistheoretische Fundierung des Konnex von Anschauung und Begriff oder Baumgartens Rehabilitierung der Sinne, nicht zuletzt an Goethes

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eine theoriefreie Sinneswahrnehmung der Dinge und Tatsachen84 nicht gibt, sondern Sehen immer schon in gewisser Weise ‚konzeptualisiert‘ ist, machen seine oben zitierten Ausführungen über sein Studium, die Dinge zu gebrauchen, deutlich: Der bloße Blick auf die Dinge gibt ihr „Eigenleben“ nicht preis; vielmehr offenbart sich ihm die ‚Ordnung der Dinge‘ erst unter Zuhilfenahme von Nomenklaturen, so dass das, was Epstein Ding oder Tatsache nennt, „immer schon in irgendeiner Weise theoretisch orientiert, […] im Hinblick auf ein gewisses Begriffssystem und durch dasselbe implizit bestimmt“85 ist. Seine Skepsis gegenüber der reinen Abstraktion (und diese Skepsis ist zugleich Kritik an den ästhetizistischen Tendenzen in der Kunst wie in der Philosophie und der Wissenschaft) ist auf ein zweifaches bezogen, nämlich zum einen auf die Ablösung der allgemeinen Eigenschaften der Dinge von ihren individuellen,86 zum anderen (und mit ersterem verbunden) auf die Ablösung des geistigen Sehens vom sinnlichen, folglich auf die Verselbständigung und Entleerung begrifflichen Denkens gegenüber der gegenständlichen Erfahrung.87 Beide Abstraktionsprozesse führen letztlich zu der bereits angesprochenen Spaltung von Subjekt und Objekt, der es – so Epsteins ästhetisches Programm – im Medium

|| Verteidigung der Sinnlichkeit gegenüber einer technologisch verstärkten und nurmehr mathematisch-abstrakt verfahrenden Wissenschaft. 84 Zur Gleichsetzung der Dinge mit den Tatsachen äußert sich Epstein im Gespräch mit Brahe: „Forse all’epoca degli oggetti corrispondeva l’epoca dei fatti; sí gli oggetti e i fatti andavano insieme [...], e uno come me, se gli avessero chiesto: lei si interessa di? ..., avrebbe potuto rispondere: di fatti, soltanto fatti, i puri fatti...“ (AO 137)./„Vielleicht entsprach der Epoche der Dinge die Epoche der Tatsachen; die Dinge und die Tatsachen gehörten zusammen [...], und wenn man einen wie mich gefragt hätte: Wofür interessieren Sie sich...? hätte er antworten können: Für Tatsachen, nur für Tatsachen, reine Tatsachen...“ (AW 184). 85 Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen 3: Phänomenologie der Erkenntnis [1929], 1964, S. 477. Mit dieser Auffassung ist für Epstein, genauso wenig wie für Cassirer, kein radikaler Konstruktivismus verbunden; vielmehr ist dieses Bewusstsein von der Theoriehaltigkeit der Wahrnehmung vergleichbar mit Kants ‚präkonstruktivistischer‘ Bestimmung, wonach die Dinge unserer Erkenntnis stets die Dinge unserer Erfahrung und Dinge für unser Bewusstsein sind, während die Dinge ‚an sich‘ der menschlichen Erkenntnis entzogen bleiben. 86 Ausdrücklich spricht Epstein auch den serienmäßig hergestellten Dingen eine Individualität zu; entsprechend können auch sie in eine individuelle Beziehung zu ihm treten (vgl. AO 59 [82 f.]). 87 „Ratio ohne Mimesis negiert sich selbst.“ Mit diesem Wort Adornos kann auch Epsteins Position treffend beschrieben werden. Vgl. Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie. Gesammelte Schriften Bd. 7, hrsg. v. Gretel Adorno u. Rolf Tiedemann, Frankfurt/M. 1970, S. 489. Adornos Mimesis-Begriff orientiert sich dabei an Walter Benjamin: Über das mimetische Vermögen, in: Gesammelte Schriften Bd. 2.1: Aufsätze, Essays, Vorträge, hrsg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt/M. 1977, S. 210–213.

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einer mimetisch ausgerichteten Kunst entgegenzusteuern gilt. Epsteins Suche nach Verwandtschaften (vgl. AO 30 [44]) zwischen den Phänomenen sowie zwischen sprachlicher und dinglicher, dinglicher und menschlicher Welt entspricht im Literarischen seine Suche nach immer neuen Formen des Ausdrucks („aver attraversato la scrittura in tutte le sue forme“, AO 27 [40]). In der narrativen Sprache manifestiert sich das sinnliche und geistige Sehen solcher Zusammenhänge, Korrespondenzen und Ähnlichkeitsbeziehungen konsequenterweise in der Form all jener Tropen, die sich aufgrund ihrer genuin relationalen Struktur zur adäquaten Abbildung der genannten Beziehungen eignen: Analogien, Allegorien, Vergleiche, Metaphern.88 Epsteins Poetik des Sehens – Sehen im beschriebenen Doppelsinn von intellektueller und sinnlicher Wahrnehmung und damit im Sinne der theoretischen Annäherung an die Phänomene bei gleichzeitiger Wahrung ihrer Besonderheit – entspricht einer der ‚imitatio rerum‘ verpflichteten Poetik des Schreibens, welche auf die Selbstrepräsentation der Dinge zielt, in die, so ist zu erinnern, das Subjekt und mit ihm das Konzeptuelle und Schöpferische immer schon eingegangen sind. Als Phänomene der Literatur werden die Dinge zu referentiellen, der Lebenswelt zugewandten Zeichen der „menschlichen Intervention in die Dinge der Welt“ (Paul Valéry). Die Modernität von Epsteins Poetik ist dadurch gekennzeichnet, dass sie zwar einerseits an den Versöhnungsidealen der aufgeklärt-klassischen Ästhetik festhält, andererseits jedoch von Momenten der Negativität durchzogen ist, zu denen vor allem das Wissen um den utopischen Status einer auf Ganzheit, Harmonie und Identität gerichteten Ästhetik gehört. Wenn Epstein die Dinge in ihrer Selbstgegebenheit als „lauter Möglichkeiten“ wahrnimmt, „die sich von mir unterschieden, jedoch ähnlich waren“ (AO [84]),89 dann sind damit sowohl der Bruch und die Differenz als auch die Ver|| 88 Als Brahe versucht, Epstein von seinem Experiment im CERN zu berichten, macht er sich auf die Suche nach „Wörtern, Bildern, Analogien“, nach körperlichen Gesten, nach „irgendein[em] Ding unter den Formen der Welt […], mit dem er es [das, wofür es kein Bild gab] vergleichen konnte“ (vgl. AW 141). Dieser Versuch entspricht exakt der frühen Poetik Epsteins, von der er sich zum Zeitpunkt dieses Gesprächs längst verabschiedet hat. Doch ehe Brahe seine Ausführungen fortsetzen kann, wird er von Epstein unterbrochen: „‚Nein, nicht so. So helfen Sie mir nicht. Das, wovon Sie sprechen, hat mit nichts Ähnlichkeit, das wissen Sie sehr gut. Ich möchte, daß man diesen Unterschied spürt. (…) Die Dinge, die es geben wird, kommen von dort, und es werden Nicht-Dinge sein. Warum soll ich sie mir als etwas vorstellen, was bereits existiert und was dabei ist, zu verschwinden? Warum soll ich sie ohne ihren Namen erhalten, auch wenn er noch so beliebig ist? Warum schicken Sie für jedes Ding den Zwillingsbruder voraus, den ich bereits kenne, und hindern mich dadurch, mir den anderen vorzustellen?‘“ (AW 141–142). 89 „Erano tutte possibilità diverse di me stesso, appena variate“ (AO 60).

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bundenheit und Kontinuität zwischen Subjekt und Objekt bezeichnet. Sehr drastisch werden dabei auch die Grenzen literarischer Repräsentation im Sinne der Aktualisierung jener den Dingen innewohnenden Möglichkeiten gezogen: Pensò che il suo lavoro era stato pieno di cadaveri: una strage di possibilità a ogni pagina, cimiteri di oggetti e di gesti, immagini e pensieri smontati e appoggiati là, a terra di fronte a ciò che spuntava. Per questo rileggere era doloroso, perché quello che si vedeva era solo il positivo, mentre lui conservava ancora la memoria del calco. Poi piano piano se ne dimenticava, e rileggendo era tutto come voleva lui: scritto da un altro. (AO 96)90

Das, was im literarischen Werk reliefartig zutage tritt, sind lediglich Fragmente und Partikel aus einer Summe von Möglichkeiten, die das Sein der Dinge für das sehende Subjekt konstituiert, für das schreibende Subjekt jedoch nicht in toto darstellbar ist: Im Schreiben und Erzählen lassen sich die immanenten Möglichkeiten der Dinge lediglich partiell extrapolieren; hingegen vermag sich die Dingwelt als „Inbegriff des überhaupt Möglichen“ bestenfalls in der Erinnerung an das Gesehene als Negativ abzuschatten, um schließlich dem völligen Vergessen anheimzufallen. Epsteins ethisch fundierte Ästhetik – seine Suche nach immer neuen Formen um eines ‚dinggerechten‘ Schreibens willen – wird in der zitierten Passage auch von ihrer Kehrseite gezeigt: Schreiben und Erzählen als notwendig schuldbesetztes Unterfangen, als Unterdrückung und Massakrierung von Möglichkeiten und ungerechte Sprach-Behandlung der Dinge. Diese Schuld kann letztlich nur über Prozesse des Vergessens und Verdrängens, die mit der Abnabelung – der Abstraktion! – des literarischen Werks von seinem Autor einhergeht, kompensiert bzw. in der fortwährenden Anstrengung, immer neue dinggerechte Darstellungsformen aufzufinden,91 ‚gesühnt‘ werden. Sehen und Schreiben bleiben in dieser Poetik zwar unabdingbar aufeinander bezogen – das Schreiben orientiert sich am Ideal des Sehens –, doch stehen beide ebenso unausweichlich in einem konfligierenden, wenn nicht sogar aporetischen Verhältnis zueinander: Das mörderische Vokabular, mit dem das Verhältnis von geschriebenem ‚Positiv‘ und gesehenem ‚Negativ‘ versehen wird, kritisiert den narrativen Diskurs als einen höchst defizitären, der permanent Gefahr läuft, in

|| 90 „Er dachte, seine Arbeit sei voller Leichen gewesen: auf jeder Seite ein Massaker an Möglichkeiten, Friedhöfe von Objekten und Gesten, abmontierte Bilder und Gedanken, die auf dem Boden lagen, vor dem, was in die Höhe ragte. Aus diesem Grund tat es weh, eine Geschichte ein zweites Mal zu lesen, denn man sah dabei nur das Positiv, während er sich noch an den Negativabdruck erinnerte. Dann vergaß er ihn langsam, und beim erneuten Lesen war alles, wie er es sich wünschte: als hätte es ein anderer geschrieben“ (AW 130). 91 Diese Anstrengung meint auch den unablässigen Versuch, das sehende und das schreibende Subjekt einander anzunähern.

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einen Diskurs der Macht – einen Diskurs der gewaltsamen Subordination des dinggerechten Sehens – umzuschlagen und damit in eine jener Ideologien, welche die Dinge und Menschen auseinanderdividiert und sie in die hierarchische – hier spatialisierte – Scheinordnung von ‚Hintergrund‘ und ‚Vordergrund‘ rückt.92 Die Wehmut, die Epstein bei der Relektüre seiner eigenen Werke empfindet – „questo rileggere era dolorosa“ – rührt aus der Einsicht, dass seine Literatur notwendig hinter den Forderungen seiner Ästhetik zurückbleibt, mehr noch: Resultat der permanenten Verletzung dieser Forderungen ist. Umgekehrt treibt gerade der defizitäre Status der Literatur gegenüber der Ästhetik immer neue literarische Formen hervor. Die Unmöglichkeit, Poesie und Poetik in Übereinstimmung zu bringen, stellt den Impetus seiner Bemühung dar, sich schreibend und erzählend den gesehenen Dingen fortwährend anzunähern.

2.2.2 Epsteins poetologisches Experiment Epsteins poetologisches Experiment nimmt seinen Ausgang in dem von ihm mehrfach konstatierten Befund vom „Verschwinden der Dinge“ (la scomparsa delle cose, AO 62): „[L]e cose […] cominciano ad essere non-cose“; sie sind im Begriff, „pura energia, pura luce, pura immaginazione“ (AO 68) 93 zu werden. Der diagnostizierte Verlust des Empirischen wird dabei – von der primären Erzählerinstanz explizit, von Epstein in wiederholten Andeutungen –, ursächlich auf den Vorstoß der Naturwissenschaften in den subatomaren Bereich und der damit verbundenen Irrealisierung der Objekte zurückgeführt. Dem gesamten im CERN angesiedelten Plot kommt in diesem Kontext eine argumentative und (zweifach) begründende Funktion zu: Die dortigen Vorgänge erklären Epsteins Rede vom

|| 92 Erzählen ist für Epstein eine der möglichen Verhaltensweisen, in welche die Dinge – ihrerseits transformiertes Verhalten – transformiert werden können. Epstein ist sich zwar darüber bewusst, dass jedes Verhalten immer nur eines von vielen möglichen ist, gleichwohl leidet er unter der Diskrepanz zwischen den vielen Möglichkeiten, die den Dingen immanent sind, und dem Vermögen, nur eine davon realisieren zu können. Er überfordert die Literatur gewissermaßen, wenn er sie an einer Poetik des Sehens orientiert und beurteilt: Die Literatur als Positiv muss gegenüber dem Negativ notwendig Fragment bleiben. Die ‚Schuld‘, die Epstein hier implizit eingesteht, besteht letztlich in der Tatsache, dass jede Transformation mit autoritären Eingriffen – Selektion, Kombination, kurz: mit allen Akten des Fingierens – verbunden und damit von herrschaftlichen Prozeduren der Ausschließung (vgl. Foucault) begleitet ist. 93 „[D]ie Dinge […] beginnen, Nicht-Dinge zu sein“ (AW 94).

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Verschwinden der Dinge und bilden zugleich das Fundament und den Ausgangspunkt („un dato di partenza“, AO 103) seiner neuen Ästhetik.94 Der Wandel der Materialien in „Immaterialien“95 erfordert eine grundsätzliche Neuorientierung in und Neuordnung der Wirklichkeit, eine – ganz wörtlich – neue Welt-Anschauung, die vor allem das veränderte Verhältnis

|| 94 Die Formulierung „Verschwinden der Dinge“ fungiert im Epstein-Plot als formelhafte Verdichtung für das komplexe naturwissenschaftliche Gegenstands- und Tätigkeitsfeld im CERN. ‚Aufgesprengt‘ und extrapoliert macht sie all jene Vorgänge sichtbar, die mit der dortigen Arbeit konnotiert sind. Als der markierte Ausgangspunkt für Epsteins ästhetisches Experiment weist diese Formulierung jedoch auch zurück auf den naturwissenschaftlichen Bildungsprozess, den Epstein durchlaufen haben muss und auf den in mehrfachen Anspielungen hingewiesen wird. So zum Beispiel in dem Seh-Experiment, das Epstein mit Brahe durchführt. Brahe, der einfach nur beschreiben soll, was er sieht, überrascht Epstein dadurch, dass er, der doch, wie Epstein sagt, „nell‘ assoluta di scomparsa delle cose“ (AO 68 [94]) arbeitet, im Hinblick auf die alltägliche Lebenswelt eine extrem konventionelle Sehweise an den Tag legt. Epstein weiß also durchaus, was sich mit den Arbeiten im CERN verbindet. Ein weiterer Beleg für seine naturwissenschaftliche Bildung findet sich während eines gemeinsamen Fluges, in dessen Verlauf Brahe erstmals von seinem Experiment berichtet. Noch ehe er mit seinen Ausführungen beginnt, erfährt der Leser in einer kurzen, personal erzählten Passage, wie Brahe seinen Freund wahrnimmt: „Sein [Epsteins] Blick ist aufmerksam, aber nicht übertrieben neugierig; er schaut, als würde er bereits alles wissen, oder als wäre dies nur ein Ausgangspunkt“ (AO 139 [103]). Bezeichnend für diese Episode ist, dass, wie schon im Falle Epsteins, nicht der Inhalt des Experiments, sondern lediglich das Wie des Erzählens über das Experiment erzählt wird. 95 „Immaterial“, so Lyotard, „ist nicht immateriell; es bezeichnet eine Struktur, in der der herkömmliche Gegensatz zwischen Geist und Materie keinen Platz mehr hat“ (Lyotard: Immaterialität, S. 23). Mit dem Begriff „immaterial“ ist lediglich ausgedrückt, „daß heute – und das hat sich in allen Bereichen durchgesetzt – das Material nicht mehr als etwas angesehen werden kann, das sich wie ein Objekt einem Subjekt entgegensetzt. Wissenschaftliche Analysen der Materie zeigen, daß sie nichts weiter ist als ein Energiezustand, d.h. ein Zusammenhang von Elementen, die ihrerseits nicht greifbar sind und von Strukturen bestimmt werden, die jeweils nur eine lokal begrenzte Gültigkeit haben. […] Die zunehmende gegenseitige Durchdringung von Materie und Geist – gleichermaßen deutlich durch die Benutzung von Textverarbeitungsprogrammen – bewirkt nun, daß sich das klassische Problem der Einheit von Körper und Seele verschiebt“ (ebd., S. 25). An anderer Stelle definiert er den von ihm geprägten Neologismus „Immaterialen“: „Offenbar sind alle Fortschritte in den Wissenschaften, wahrscheinlich auch in den Künsten eng verbunden mit einer immer genaueren Kenntnis dessen, was man allgemein ‚Objekt‘ nennt […]. Wenn nun diese Objekte in Analysen zerlegt werden, wird klar, daß sie offenbar nur für den Menschen Objekte sind; aber in dem, was sie konstituiert, sind sie komplexe Agglomerate aus kleinen Energieteilchen, aus Partikeln, die als solche überhaupt nicht greifbar sind. Letztendlich gibt es keine Materie mehr, es gibt nur noch Energie; es gibt kein Material im ältesten Sinne des Wortes mehr, also ein Objekt, das sich einem Entwurf widersetzt, der es von seiner ersten Zweckbestimmung abbringen will…“ (ebd., S. 66).

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zwischen Mensch und ‚Ding‘ auszuloten hat.96 Dass Epstein sein ästhetisches Experiment rückbindet und einbindet in ein Leben, das von diesen veränderten Bedingungen durchwirkt ist, und er seinen ‚Versuch‘ gerade auf der Grundlage dieser radikalen Veränderungen unternimmt, zeugt von der Kontinuität seiner ethischen Gesinnung, Literatur und Leben nicht voneinander zu trennen, sondern in ihren konkreten Beziehungen zueinander einsichtig zu machen. Die Literatur, so ließe sich Epsteins Credo in die programmatischen Äußerungen Musils und Brochs fassen, bleibt zur „Anpassung an das naturwissenschaftliche Zeitalter“97 und damit zu „Zeitgerechtheit“98 verpflichtet. – Worin besteht nun Epsteins Experiment? Però deve esserci un legame segreto tra la scomparsa delle cose e la visibilità, perché oggi io le mie storie le vedo, io comincio sempre piú a vedere le mie storie. [...] prima le vedevo raccontando, le vedevo nel momento in cui le scrivevo, adesso le vedo guardando, vedo una storia compiutamente dall’inizio alla fine semplicemente guardando. E questo, […] è il mio esperimento. (AO 62-63)99

Mit dem Status der Dinge haben sich sowohl der Modus ihrer Wahrnehmbarkeit und Sichtbarkeit als auch die Möglichkeiten ihrer (literarischen) Darstellbarkeit grundlegend gewandelt. Hatten sich vormals die Dinge trotz ihrer verborgenen Verweisungskomplexität dennoch als Dinge gezeigt, so sind nun, da die Dinge im Verschwinden begriffen sind, Sichtbarkeit und Sehen nicht mehr sinnlichaisthetisch gebunden: Der Blick auf die non-cose ist kein Blick mehr, der sich auf ein dem Subjekt ‚Äußerliches‘ richten würde, sondern es ist ein Blick epistemisch-technologischer Prägung, ein gleichsam wissensgeformter Blick auf ein seinerseits ungeformtes, gleichwohl existentes ‚Nicht-Ding‘: Sehen ist „pure immaginazione“, reine Vorstellung, „vede[re] mentalmente“ (AO 145), theoria, schauendes Denken. || 96 Wie noch zu zeigen sein wird, ist Epsteins Vorhaben, einen „Atlas des Lichts“ zu schreiben, Signatur dieser Bemühungen, zugleich aber auch Signatur einer Krise, die geprägt ist von Orientierungslosigkeit und von der Suche nach Sinn. 97 Robert Musil: „Zu Kerrs 60.Geburtstag“ [1927], in: Gesammelte Werke in 9 Bänden, hrsg. v. Adolf Frisé, Reinbek bei Hamburg ²1981, Bd. 8, S. 1180–1186, hier S. 1183. 98 Hermann Broch: „James Joyce und die Gegenwart. Rede zu Joyces 50. Geburtstag“, in: ders.: Schriften zur Literatur I./Kritik, Kommentierte Werkausgabe (= KW), Bd. 9/1, hrsg. v. Paul Michael Lützeler, Frankfurt/M. 1975, S. 63–94, hier S. 76. 99 „Es muß jedoch einen geheimen Zusammenhang zwischen dem Verschwinden der Dinge und ihrer Sichtbarkeit geben, denn inzwischen sehe ich meine Geschichten, ich beginne meine Geschichten immer mehr zu sehen. […] Früher sah ich sie, indem ich sie erzählte, ich sah sie in dem Augenblick, in dem ich sie niederschrieb, jetzt sehe ich sie, indem ich schaue. Und das […] ist mein Experiment“ (AW 88).

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In dieser Sichtweise treffen sich Brahe und Epstein, koinzidieren Wissenschaft und Kunst.100 Als „pura energia, pura luce“ und „pura velocità“ (AO 68) eignet der schwindenden Wirklichkeit keine Präsenz mehr; entsprechend ist sie, wie Brahe für seinen Bereich konstatiert, „irrapresentabili“ (AO 145). Ihre Darstellbarkeit reduziert sich auf Formen reiner Virtualität und Artifizialität, auf die poietische Konstruktion von Zeichen, denen kein Bezeichnetes mehr korrespondiert,101 sondern jedes analoge Beziehungsgefüge aufgelöst ist „in quella strana e assoluta relazione in cui tutto era simultaneamente determinato e determinante, compreso lui“ (AO 77).102 Auch das alltägliche Leben erscheint in dieser spezifischen Optik nurmehr als Maske, hinter der sich kein Gesicht mehr verbirgt, als Inszenierung, die sich im referenzlosen Spiel der Andeutungen erschöpft: regolato dal movimento degli sguardi che riguardavano esclusivamente l’abbigliamento, dal gioco di pure allusioni e rimandi a cose che non accadevano piú, e le avventure si risolvevano in questo travestimento misurato, in questa piccola messa in scena. (AO 79)103

Geradezu plastisch wird hier die ‚Wirklichkeit‘ in ihrer textontologischen Verfasstheit gezeigt, einer Verfasstheit, die durch eine (ihrerseits theoretischzeichenhaft reglementierte) Perzeption reglementiert ist. ‚Realität‘ erscheint – poststrukturalistisch – aufgelöst in ein „Universum der Texte“, „in dem die einzelnen subjektlosen Texte in einem regressus ad infinitum nur immer wieder auf andere und prinzipiell auf alle anderen verweisen, da sie ja alle nur Teil eines ‚texte général‘ sind, der mit der Wirklichkeit und Geschichte, die immer schon ‚vertextete‘ sind, zusammenfällt“.104 Die Formulierungen, deren sich Brahe und Epstein zur Beschreibung der sich wandelnden Objektwelt bedienen,

|| 100 In dieser Sichtweise treffen sich entsprechend auch die Diskurse Brahes und Epsteins: Ihre Aussagen – diese Sichtweise betreffend – werden austauschbar: Sie kommentieren, ergänzen, erhellen einander, ohne sich aber zu einem einzigen Diskurs zusammenzuschließen. 101 Vgl. hierzu auch Dilmacs medienwissenschaftlich gestützte Interpretation (Dilmac: Literatur und moderne Physik, S. 300 f.). 102 „[…], in jener einzigartigen und absoluten Relation, wo alles gleichzeitig Determinat und Determinant war, er selbst nicht ausgeschlossen“ (AW 106). 103 „[…] bestimmt von der Bewegung der Blicke, die ausschließlich die Kleidung betrafen, vom Spiel der reinen Andeutungen und Verweise auf Dinge, die nicht mehr stattfanden, und die Abenteuer erschöpften sich in dieser unauffälligen Verkleidung, in dieser kleinen Inszenierung“ (AW 108 f.). 104 Manfred Pfister: Konzepte der Intertextualität, in: Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien, hrsg. v. Ulrich Broich u. Manfred Pfister, Tübingen 1985, S. 1–30, hier S. 9.

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weisen beide als reflektierte Vertreter einer postmodernen Wissenskultur aus, die durch die entsprechenden philosophischen – ihrerseits den naturwissenschaftlichen Diskurs aufnehmenden und auf diesen antwortenden – Theorien hindurchgegangen sind. So ist in Brahes und Epsteins Redepartien eine ganze Reihe von prominenten Theoremen aus dem Umkreis von Poststrukturalismus und Dekonstruktion integriert, deren Begriffe entweder direkt übernommen oder indirekt ihrer Sache nach paraphrasiert werden.105 Dazu im Folgenden einige Beispiele. Die Feststellung der Identität von Signifikant und Signifikat trifft Brahe im Hinblick auf das Experiment im CERN: Guardò i ponteggi e i cavi attorno al loro esperimento, come chiamavano il rivelatore, unendo in uno stesso nome la macchina e le intenzioni e forse i risultati, in quella strana e assuluta relazione in cui tutto era simultaneamente determinato e determinante, compreso lui. (AO 77)106

Der von Brahe gebrauchte Begriff des ‚Experiments‘ ist heterotop,107 insofern er die Vielfalt möglicher, völlig heterogener und heterodoxer Bedeutungen unter einem einzigen Namen subsumiert; zugleich ist er autoreferentiell, insofern er keine externe Referenz, damit auch keine Sinnpräsenz besitzt und die genannten ‚Referenten‘ wiederum nur Begriffe sind, die dem Begriff des ‚Experiments‘ || 105 Hingewiesen wurde bereits auf die von Lyotard entlehnte Formulierung vom „Verschwinden der Wirklichkeit“ sowie die paraphrasierten thematischen Zusammenhänge im Kontext von Lyotards Befund der Immaterialität. – Die Anlehnung der Figurenrede an die poststrukturalistische Terminologie ist auch als Eingeständnis einer fehlenden, der neuen Wirklichkeit adäquaten Sprache zu verstehen. Explizit formuliert dazu Epstein: „Es ist ein Jammer, daß ich es nicht beschreiben kann, denn im Nicht-Beschreibenkönnen liegt etwas Amoralisches, so wie im übrigen in einer guten Beschreibung etwas durch und durch Moralisches liegt“ (AW 95). 106 „Er [Brahe] betrachtete das Gerüst und die Kabel rund um ihr Experiment, wie sie den Detektor nannten, wobei sie mit einem einzigen Wort Maschine, Intentionen und eventuelle Resultate bezeichneten, in jener einzigartigen und absoluten Relation, wo alles gleichzeitig Determinat und Determinant war, er selbst nicht ausgeschlossen“ (AW 106). 107 Unter Heterotopie (eine zur ‚Ortlosigkeit‘ gesteigerte Unordnung) versteht Foucault jene „Unordnung, die die Bruchstücke einer großen Zahl von möglichen Ordnungen in der gesetzlosen und ungeometrischen Dimension des Heterokliten aufleuchten läßt.“ Es sind Heterotopien, die die „Sprache unterminieren, weil sie verhindern, daß dies und das benannt wird, weil sie die gemeinsamen Nenner zerbrechen oder sie verzahnen, weil sie im voraus die ‚Syntax‘ zerstören.“ Sie „trocknen das Sprechen aus, lassen die Wörter in sich selbst verharren, bestreiten bereits in der Wurzel jede Möglichkeit von Grammatik. Sie lösen die Mythen auf und schlagen den Lyrismus der Sätze mit Unfruchtbarkeit“ (Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge, Frankfurt/M. 1971, S. 20).

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eingeschrieben sind, in die der Begriff des ‚Experiments‘ sich zerstreut.108 Als Hetero-Topos ist der Begriff zugleich Chrono-Topos: Er verräumlicht die in seinem Namen und im Laufe seiner begrifflichen Geschichte vorgenommenen differentiellen Verschiebungen109 – die historisch gewachsene Polyvalenz seiner Einschreibungen. Er ‚spatialisiert‘ Zeit als eine heterogene Simultaneität von vorher und nachher. Komplementär zur Zerstreuung und Zersetzung der Sinngegenwart – und auch dieser Befund der Postmoderne ist in der zitierten Passage mitreferentialisiert – verhält sich auch die Dezentrierung des Subjekts und der Subjektivität. Wenn sich Brahe in das Experiment integriert weiß und sich ausdrücklich in den Begriff des Experiments einbegriffen sieht, dann ist der Begriff, den er von sich selbst hat, nicht logozentrisch-metaphysisch begründet – das Subjekt als sich selbst identische, autonome Instanz –, sondern Element des Experiments und dessen komplex vernetzter, ‚randloser‘ Struktur.110 Aufschlussreich für

|| 108 Nach Derrida „re-präsentiert der Signifikant nicht zunächst schlicht ein abwesendes Signifikat, sondern er unterschiebt sich vielmehr einem anderen Signifikanten, einer anderen Ordnung von Signifikanten, die mit der fehlenden Präsenz eine andere Beziehung unterhält, um dann vom Spiel der Differenz aufgewertet zu werden“ (Jacques Derrida: Die Stimme und das Phänomen, Frankfurt/M. 1979, S. 146). „Es gibt also keine Phänomenalität, welche das Zeichen oder den Repräsentanten reduziert, um schließlich das bezeichnete Ding im Glanz seiner Präsenz erstrahlen zu lassen“ (Derrida: Grammatologie, S. 86); damit erweist sich bei näherer Betrachtung jede referentiell verbürgte, homogen-präsentische Signifikation als illusorisch. Entsprechend sind Zeichen auch nicht sinnidentisch wiederholbar, sondern jede Wiederholung verursacht eine erneute Sinnverschiebung und Sinnzersetzung, zeitigt also Differenzen, die nicht auf einen gemeinsamen begrifflichen Nenner zu reduzieren sind. Die iterabilité (Wiederholbarkeit) gewährleistet folglich nicht nur die strukturelle, von der Gegenwart einer ihm eingeschriebenen Bedeutung unabhängige Relektüre eines Zeichens, sondern ist zugleich ursächlich für die nicht begrenzbare dissémination (Zerstreuung) seiner Bedeutung (vgl. Jacques Derrida: Signatur, Ereignis, Kontext, in: Randgänge der Philosophie, S. 291–314, bes. S. 298 u. 301). 109 Mit dem Neologismus „différance“ verbindet Derrida semantische Verschiebung und zeitlichen Aufschub in Permanenz: „Und wenn die Bedeutung des Sinns (in der allgemeinen Bedeutung des Wortes Sinn, nicht aber von Bezeichnung) unendliches Einbegriffensein ist? Die unbestimmte Rückverweisung eines Signifikanten auf einen Signifikanten? Wenn seine Kraft eine gewisse reine und unendliche Mehrdeutigkeit ist, die dem bezeichneten Sinn keinen Aufschub und keine Ruhe lässt, die ihn in seiner eigenen Ökonomie auffordert, zum Zeichen zu werden und sich selbst aufzuschieben?“ (Jacques Derrida: Die Schrift und die Differenz, Frankfurt/M. 1976, S. 44 f.). 110 Deutlich spiegelt sich dies auch in Brahes Gefühl, seine Abwesenheit könnte dem Experiment Energie entziehen („sua lontananza sottraesse energia“), weshalb er sich zwingt, selbst in seiner Freizeit gedanklich beim Experiment zu sein, „als könnte er dadurch bewirken, daß

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diese Passage (und sie steht exemplarisch für eine Vielzahl solcher Belege) ist, dass darin gerade kein fiktives Wissenschaftsbild inszeniert wird, sondern umgekehrt gängige Forschungspraxis realistisch abgebildet wird. Damit ist auch angedeutet, worauf später noch präziser einzugehen sein wird, dass die Ästhetik des Romans (ungleich der Ästhetik Epsteins) gerade dadurch, dass sie die realiter praktizierte Episteme bis in ihre postmodernsten Verwinkelungen hinein spiegelt, paradoxerweise dem Programm eines poetischen Realismus verpflichtet ist.111 Noch entschiedener negiert Epstein die Grenzen zwischen den Dingen und den Menschen, wenn er sie durch „linee di forza“, Kraftlinien miteinander verbunden fühlt und beide auf übereinstimmenden Umlaufbahnen wähnt, „senza piú oggetti in mezzo“ („ohne dass ein Ding dazwischen wäre“), wie überhaupt die Grenzen zwischen Innen und Außen nicht mehr existieren im ununterbrochenen Kreislauf der Vorstellungen („fuori e dentro non esistono piú, nell’ininterrotto circuito dell’immaginazione“, AO 68 [94]). Mit dem Schwinden der Wirklichkeit zeigt sich die Welt in ihrer Verschränkung und Symmetrie, gehen Ding und Körper als Physis ununterscheidbar in den Zustand reiner Energie über, in ein – folgt man der aristotelischen Bedeutung des Wortes112 – geistiges Tätigsein, das in der Deutung Epsteins nicht länger auf die Hervorbringung eines ‚wirklichen‘ Werkes (ergon) zielt, sondern selbstreflexiv auf Geist (Vorstellen, Denken und Fühlen) verwiesen bleibt. Immaterialisierung meint zugleich ‚Despatialisierung‘: Entsprechend erfordern die non-cose nichts mehr, was sich im Außenraum abspielen würde – keine Bewegungen, keine Gesten, keine Handlungen (vgl. AO 68 [94]; 137 [185]) –, sondern „sentimenti“, „intelligenza“ und „percezione“ (ebd.).113

|| sich etwas offenbarte“ („si sforzava di essere nel pensiero dell’esperimento, di esserci con la tensione, come se questo aiutasse qualcosa a venire fuori“, AO 102 [138]). 111 Zur ‚Postmodernität‘ der Hochenergiephysik vgl. Knorr-Cetina: Wissenskulturen, insbesondere die Abschnitte „Die Teilchenphysik und ihre negativen und liminalen Erkenntnisstrategien“ (S. 74–111), „Von Maschinen zu Organismen: Detektoren als physiologische und soziale Wesen“ (S. 163–193) sowie „Die Eliminierung des Individuums als epistemisches Subjekt in den Experimenten der Hochenergiephysik“ (S. 235–241). 112 Vgl. Martin Suhr: Artikel „Energeia“, in: Metzler Philosophie-Lexikon: Begriffe und Definitionen, hrsg. v. Peter Prechtl u. Franz-Peter Burkard, Stuttgart, Weimar 1996, S. 124–125. 113 Vgl. auch Lyotard, der mit der von ihm mitorganisierten Ausstellung „Die Immaterialien“ (Paris, 1985) das Ziel verbindet, „eine für die Postmoderne spezifische Sensibilität zu entdecken und zu erwecken […]. Diese neue Sensibilität ist noch verborgen und sich ihrer selbst zweifellos noch nicht bewusst“ (Lyotard: Immaterialität, S. 24).

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Die Immaterialisierung des Materiellen ist für Epstein durch einen in allen Bereichen sich vollziehenden Vervielfältigungsprozess verbunden. Diese ‚dissémination‘ der Lebenswelt zeigt sich etwa im Blick durch das Schaufenster eines Werkzeugladens: die der Größe nach sortierten Werkzeuge sind ihm lesbar wie ein Alphabet, das über die Möglichkeiten ihres Gebrauchs informiert („come un sillabario di tutto quello che si poteva fare“, AO 86): Gli sembrò che i manici fossero sempre piú colorati, che si riducesse la porzione di ferro e la presenza del grigio. Gli piaceva che anche l’utile stesse diventando a colori, come le scarpe e i vestiti, gli sembrava che cosí fosse tutto piú leggero, meno importante. Anche il significato, pensò, sta diventando sempre piú leggero, probabilmente a colori. (AO 86)114

Die konventionellen Ordnungssysteme (Quantitäts- und Zeichenordnungen) erweisen sich als pure Oberflächenillusion. Der aufmerksame Blick sieht, dass die Dinge ihre materielle Substanz und ihren wohldefinierten Gebrauchswert zunehmend einbüßen, dass sie leichter und bunter werden, dass sie aus der ihnen beigemessenen Größen- und Relevanzhierarchie ausscheren und in ihrer Phänomenalität und Operationalität zersplittern in eine bunte und mannigfache Pluralität. Das Alphabet – Werkzeugkasten des Schriftstellers – und die aus ihm rekrutierten Namen und Begriffe verweigern sich einer definitorischbezeichnenden und ordnend-klassifizierenden Funktion und befreien sich von der Last ihres referentiellen Signifikats zugunsten des bunten Spektrums und freien Spiels der Signifikanten in einer sich unendlich verzweigenden „bibliothèque générale“ (Grivel).115 Werden die Signifikanten hier noch sprachkörperlich aufgefasst, macht Epstein in einem Gespräch mit Brahe deutlich, ‚wohin‘ sich letztlich auch die Signifikanten zerstreuen:

|| 114 „Er hatte den Eindruck, daß die Griffe immer bunter wurden, daß sich der Anteil des Eisens und der Farbe Grau verringerte. Es gefiel ihm, daß auch das Nützliche bunt wurde, wie Schuhe und Kleider, und es schien ihm, als würde auf diese Weise alles leichter werden und weniger bedeutsam. Auch die Bedeutung, dachte er, wurde immer leichter, womöglich bunt“ (AW 117). 115 Der Inhalt dieser personal erzählten Passage wirkt auf die Form zurück: Der in der Perspektive Epsteins unternommene Vergleich zwischen Werkzeugen und Alphabet („come un sillabario“) wird in seiner Grundbeziehung – seinem tertium comparationis – durch die skizzierte Dekonstruktion der beiden Vergleichspole selbst dekonstruiert. Der Inhalt zerstört nicht nur die der Form eigene Semantik (die Ähnlichkeiten von Werkzeug und Alphabet), sondern die Form selbst (die durch das „come“ syntaktisch hergestellte Beziehung). Hier wird einsichtig, was Derrida mit dem „Entzug der Metapher“ meint (vgl. Jacques Derrida: Der Entzug der Metapher, in: Die paradoxe Metapher, hrsg. v. Anselm Haverkamp, Frankfurt/M. 1998, S. 197– 234, bes. S. 200).

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Potrei dirle: una storia è fatta di avvenimenti, un avvenimento è fatto di frasi, una frase è fatta di parole, una parola è fatta di lettere? E la lettera è irriducibile? È l’„ultimo“? No, dietro la lettera c’è un’energia, una tensione che non è ancora forma [...]. (AO 129)116

Die Oberflächenordnung einer konventionellen Erzählung wird stufenweise in ihre einzelnen formalen Bestandteile zerlegt bis zu jenem Punkt, an dem sich die Form ins Formlose reiner Energie auflöst.117 Exkurs Thema des Gesprächs, aus dem soeben zitiert wurde, ist erneut ihre Arbeit. Er, Brahe, beschäftige sich mit einer angewandten und speziellen Geometrie (una geometria applicata e particolare, AO 128), namentlich der Symmetrie: „Il mio lavoro è simmetria, una simmetria molto, molto spinta,“ und es sei immer wieder erstaunlich, dass es einem mit der Symmetrie gelinge, etwas von der Fluidität und Geschwindigkeit und Ungreifbarkeit zu erfassen. Als Brahe sich leicht vorwurfsvoll an Epstein mit den Worten wendet, er, Epstein, hätte ihn noch nie an den Ort der Produktion eingeladen, versucht der Schriftsteller nun seinerseits zu beschreiben, wie etwa die sprachliche Erzeugung eines Gefühls vonstatten geht. Dabei konfrontiert er Brahe allerdings lediglich mit einer Reihe ‚semi-rhetorischer‘ Fragen, die die Wahrnehmung innerer sprachlicher Strukturen und die Ursprünge von Bildern, Gesten und Gefühlen tangieren.118 ‚Semi-rhetorisch‘ sind diese Fragen deshalb, weil Epstein einerseits suggeriert, dass er selbst zwar um die Antworten weiß, sich aber nicht in der Lage sieht, sie Brahe adäquat zu vermitteln, andererseits aber am Ende seiner Ausführungen nicht nur die Erzeugung literarischer Werke, sondern jede Form authentischer Rede umgeben sieht von einer Aura des Geheimnisvollen und Wunderbaren. Dabei besteht die Authentizität von literarischer und alltäglicher Rede, gemäß Epsteins früher Poetik, in nichts anderem als im Wunder der unauflösbaren Entsprechung von individuellem Gefühl und Gedanke auf der einen und ebenso individuellem sprachlichem Ausdruck auf der anderen Seite.119 Geometrische und sprachliche Symmetrie werden – über

|| 116 „Könnte ich Ihnen sagen: Eine Geschichte besteht aus Ereignissen, ein Ereignis besteht aus Sätzen, ein Satz aus Wörtern, ein Wort aus Buchstaben? Und der Buchstabe ist irreduzibel? Er ist das ‚Letzte‘? Nein, hinter dem Buchstaben verbirgt sich eine Energie, eine Spannung, die noch nicht Form ist […]“ (AW [173]). 117 Epsteins Betrachtung der Sprache erfolgt analog seiner Betrachtung der Materie: Das Schwinden der Dinge geht einher mit dem Schwinden der Sprache. Der hier beschriebene Auflösungsprozess der Materialität der Sprache antizipiert bereits jenen Augenblick, in dem Brahe und sein Team die gesuchten Teilchen entdecken werden (s. u.). 118 „Kann ich sie je dazu einladen, die Zeiten der Verben zu besichtigen, die Gelenke, die die Sätze so verbinden, daß sie sich gegenseitig, wie durch Gegendruck festhalten? Kann ich Ihnen je den genauen Punkt anzeigen, an dem ein Bild entsteht, eine Geste, der Angelpunkt einer Geschichte, die Verflechtung eines Gefühls, und Sie auf den Unterschied zwischen Produkt und Produzenten hinweisen?“ (AW 173). 119 „Nein, hinter jedem Buchstaben verbirgt sich eine Energie, eine Spannung, die noch nicht Form ist, aber auch schon nicht mehr Gefühl, und wer weiß, welche Kraft notwendig wäre, um

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die von Epstein erzeugten Parallelen – in ihrer Funktionalität miteinander identifiziert: Beide machen das Unsichtbare – die flüchtigen, nicht fixier- und wahrnehmbaren Vorgänge im Detektor und die ebenfalls im ‚Energetischen‘ aufgelösten Gefühle, Haltungen etc. – sichtbar, indem sie es figurativ binden, wobei der Figuration eine quasi-begriffliche Eigentlichkeit und Buchstäblichkeit im Sinne der adäquaten Vergegenständlichung des Seienden zugetraut wird. Ausdrücklich aber konstatiert Epstein, dass er dieses Stadium seiner literarischen Biographie – er sei im Grunde immer ein Autor von Abenteuergeschichten (uno scrittore di storie d’avventura, AO 129) gewesen – hinter sich gelassen habe, „[c]ome si esce da una fila per essere stati spinti in avanti (AO 129).120

Brahe wird Epsteins Sprach-Dekonstruktion erst in dem Augenblick nachvollziehen, als er gemeinsam mit seinen Kollegen jene neuen Teilchen, deren Auffinden das Experiment ausschließlich diente, zum ersten Mal ‚sieht‘. Der Entdeckungs- und Wahrnehmungsvorgang ist dabei – darin die postmoderne Destabilisierung und Dezentralisierung des Subjekts ein weiteres Mal veranschaulichend – nicht nur auf die Mitglieder des Experiments verteilt, sondern darüber hinaus in einen seinerseits ‚distribuierten‘ Erzählvorgang integriert.121 Von Brahe heißt es: ma sopratutto sarebbe rimasto indimenticabile per Brahe l’attimo in cui passò, come di scatto, da ciò che vedeva con gli occhi a tutto ciò che vedeva mentalmente, la profondità di una materia nella quale le dimensioni non erano più quattro, ma dieci, o undici, e quelle sconoscuite e invisibili era cosí corte su se stesse, cosí curve, cosí veloci e irrapresentabili, cosí instabili, che sentí spaccarsi la parola „spazio“, sentí le lettere separarsi e ripiegarsi su se stesse come cilindri vorticanti, con all’interno altri cilindri e volumi aperti e chiusi istantaneamente, ma già volumi o cilindri o lacci o lembi o spirali non davano conto di alcunché, per tutto ciò che vedeva mentalmente in quel momento non esisteva im-

|| dieses Gefühl vom Wort abzuspalten, das es sichtbar macht, vom Gedanken, der es gleichzeitig denkt, und das Geheimnis zu verstehen, aufgrund dessen sich die Buchstaben auf eine bestimme Weise anordnen und auf keine andere und man sagen kann: ‚Sie gefallen mir‘, und das Wunder, daß dies eine Entsprechung hat“ (AW 173). 120 „So wie man eine Menschenschlange hinter sich lässt, weil man nach vorn gestoßen worden ist“ (AW 173). 121 Auch die Erzählperspektive folgt dabei dem Prinzip der zunehmenden Vervielfältigung und Mehrfachdimensionierung: Der Primärerzähler erzählt, woran Mark, einer der Mitarbeiter, sich in diesem besonderen Augenblick immer erinnern würde, wobei sich das, was Mark niemals vergessen würde, wiederum auf das bezieht, was Rüdiger und Brahe niemals vergessen würden. Auf der Ebene des Erzählens wird der Vorgang des Sehens mit vollzogen: ein Vorgang, der von Außen/vom Zentralen/vom Eindeutigen nach Innen/ins Verästelte/ins Plurale geht. Die Polyperspektive vervielfacht sich zusätzlich durch mutuelle Spiegelungen: Rüdiger perspektiviert Mark und Brahe, Brahe perspektiviert Rüdiger usw. Zur Subjektivität als einer „Wirkung der différance“ vgl. Jacques Derrida: Positionen. Gespräche mit Henri Rose, Julia Kristeva u.a., Wien 1998, S. 70 f.

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magine, almeno finché ritornando a distanze e proporzioni piú grandi non percepí il riarrotolarsi delle dimensioni conosciute, dove tutto si manifestava ancora in modo puntiforme, campi onde particelle, comprese le particelle che loro vedevano per la prima volta quelle notte; [...] ed ebbe chiaro che da lí sarebbero venuti i nuovi oggetti, portando con sé comportamenti e percezioni e modi di essere e sentimenti, e capí di colpo ciò che aveva capito Epstein, e provò tenerezza per la pazienza con cui Epstein aveva voluto spingersi fin qui, fin nella gola del leone per prendergli la spina [...]. (AO 145–146)122

Das, was Brahe im epiphaniehaften Übergang123 vom sinnlichen zum geistigen Sehen sieht und von Rüdiger unmittelbar zuvor mit dem Ausruf „È cosí bello.

|| 122 „[A]ber vor allem jener Augenblick würde für Brahe unvergesslich sein, in dem er schlagartig von dem, was er mit eigenen Augen sah, zu dem überwechselte, was er im Geiste sah, die Tiefe einer Materie, bei der es nicht mehr vier Dimensionen gab, sondern zehn oder elf, und die ihm unbekannten und unsichtbaren waren so kurz und gekrümmt, so schnell und so wenig darstellbar, so instabil, daß er geradezu spürte, wie das Wort ‚Raum‘ zersplitterte, spürte, wie sich die Buchstaben voneinander lösten und sich wie wirbelnde Zylinder aufs neue zusammenfügten, und in ihrem Inneren befanden sich neue Zylinder und Volumen, die sich im selben Augenblick öffneten und schlossen, aber schon verwiesen Volumen und Zylinder und Bänder und Zipfel und Spiralen auf nichts anderes, denn für all das, was er in diesem Augenblick im Geiste sah, gab es kein Bild, zumindest so lange nicht, bis Abstände und Proportionen wieder größer wurden, und er sah, wie sich die Dimensionen zusammenrollten und innerhalb der vier bekannten Dimensionen verschwanden, wo sich alles noch in Punktform manifestierte, Felder, Wellen, Teilchen, auch die Teilchen, die sie in dieser Nacht zum ersten Mal sahen; […] und es war ihm klar, daß von hier die neuen Dinge kommen würden und mit ihnen Verhaltensweisen und Wahrnehmungen und Seinsmöglichkeiten und Gefühle, und er verstand mit einmal, was Epstein bereits verstanden hatte, und er verspürte eine Zärtlichkeit für die Geduld, mit der Epstein bis zu diesem Punkt hatte gelangen wollen, bis in den Rachen des Löwen, um ihm die Gräte zu entfernen […]“ (AW 195–196). 123 Es ist bezeichnend, dass der Augenblick der wissenschaftlichen Erkenntnis hier in der Form einer literarischen Epiphanie erzählt wird, hat sich diese doch gerade in der kritischen Reaktion auf wissenschaftlichen Empirismus und literarischen Naturalismus entwickelt. Ursprünglich als die irdische, materielle Erscheinung von Gottheiten definiert, hat sich die Epiphanie als eine der markantesten Stilfiguren der Literatur der klassischen Moderne zwar weitgehend von ihren konkreten konfessionellen und religiösen Inhalten emanzipiert, blieb jedoch mit ihrem Anspruch, ein Sinnganzes der Realität auszudrücken, gleichwohl metaphysisch konnotiert. Die literarische Epiphanie ist durch folgende Merkmale charakterisiert: 1. durch den temporalen Aspekt der Plötzlichkeit als jener zentralen Anschauungsform des modernen Bewusstseins, die in der Beschleunigung der Lebenswelt ihre Entsprechung hat; dabei liegt dem Augenblick der Offenbarung die Doppelzeitigkeit des Vorübergehend-Flüchtigen einerseits, des Bleibend-Ewigen andererseits zugrunde; der Plötzlichkeit des Offenbarungsereignisses korreliert wiederum die Simultaneität des sich Offenbarenden: die Gegenwärtigkeit von Vergangenheit und Zukunft, von bereits konstituiertem Sinn und noch offenem, aber spürbar anwesendem Sinn, generell: die „Verbindung der Gegensätze und das Aufsteigen der allem zugrunde liegenden Einheit“ (Müller, s.u., S. 152). – 2. durch den perzeptiv-aisthetischen Aspekt

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|| der visuellen Wahrnehmung eines Gegenstandes, wobei sich dieser in einer Art Doppelgegenständlichkeit zeigt: er ist zugleich profanes Ding und „Gefäß für Offenbarungen“ (Hofmannsthal); - 3. durch einen erkenntnistheoretischen Aspekt, in dem wahrnehmendes, erkennendes Subjekt und wahrgenommenes, erkanntes Objekt ebenso zu einer ungeschiedenen Einheit verschmelzen wie philosophisch-analytische Erkenntnis und religiös-metaphysische Illumination. Die Erkenntnis erfolgt dabei im gegenwärtigen Augenblick der Wahrnehmung eines Dings und markiert den Durchbruch in die wesentliche, geistige Welt, die hinter der Maske der Dingoberfläche verborgen liegt. – Dabei sind Wahrnehmung und Erkenntnis, und damit wäre ein 4. Aspekt angesprochen, aus ihrem ästhetischen Zusammenhang nicht zu lösen: James Joyce, der den Begriff der literarischen Epiphanie geprägt hat, differenziert in terminologischer Anlehnung an Thomas von Aquins Lehre vom Schönen Ganzheit, Symmetrie und strahlender Glanz als die drei elementaren Eigenschaften des Schönen, denen die verschiedenen, gleichwohl augenblicklich-instantan sich vollziehenden Stufen der Wahrnehmung und Erkenntnis entsprechen. Fast immer wird das Erlebnis der Epiphanie „durch das Motiv der Unsagbarkeit eingeleitet“ (Ziolkowski, s.u., S. 605), wie überhaupt der narrative Kontext die strukturellen und hermeneutischen Bedingungen für das ‚Funktionieren‘ der Epiphanie liefert, die Epiphanie mithin als „strukturgewordener Prozeß ihrer Genese“ (Geppert, s.u.) beschrieben werden kann. – Sämtliche Merkmale kehren in der zitierten Passage, die Teil einer kollektiven Epiphanie ist, wieder: das Moment der Plötzlichkeit im abrupten Wechsel vom sinnlichen zum geistigen Sehen, in dem die Oberfläche der Bildschirmdarstellungen durchbrochen wird hin zu einer „Vorstellung von einer Symmetrie, die so radikal und überraschend war, daß man das, was zuerst als Manifestation verschiedener und getrennter Kräfte erschienen war, unter dem einzigen großen Gesetz […], das gleichzeitig ein Gesetz der Verschiedenheit und der Einheit war“ (AW 193), vereint sehen konnte. Die Erfahrung der Flüchtigkeit und Instabilität des darin Offenbarten, für das es kein Bild und kein Wort gab (vgl. AW 194 f.), paart sich mit der Erfahrung eines ursprünglichen Grundes, jener „Hundertstelsekunde hinter die große Exploxion, aus der alles entstanden war, als alles noch vereint war, nicht unterschieden und nicht in Dimensionen und Einheiten unterteilt“ (AW 196), einer Erfahrung, die zugleich als eine ästhetische – „Es ist so schön. So unglaublich schön“ – ausgewiesen ist. Auch das UtopischZukunftsweisende ist in diesen Blick in die „Tiefe der Materie“ (AW 194), in diesen – um eine treffende Formulierung Hugo von Hofmannsthals zu entlehnen – Augenblick des „ungeheuren Schauens des kosmischen Geschehens“ (s. u.) eingekapselt: Von hier, so heißt es, würden „die neuen Dinge kommen […] und mit ihnen Verhaltensweisen und Wahrnehmungen und Seinsmöglichkeiten und Gefühle“ (AW 195 f.) und damit auch – wie ex negativo im Zersplittern des Wortes „Raum“ zum Tragen kommt (vgl. AW 195) – eine neue Sprache mit neuen möglichen Sinn- und Bedeutungskonstitutionen. Der sich geradezu aufdrängende Vergleich mit Hofmannsthals Chandos-Brief kann hier nicht geleistet werden; festzuhalten sei lediglich, dass ein- und dieselbe Erfahrung (die durch den Verlust der logisch-empirischen Weltwahrnehmung erlebte Atomisierung von Welt und Sprache) den einen Helden an den Rand des existentiellen Abgrunds treibt, dem anderen hingegen zum Auslöser einer Offenbarung gereicht; während Chandos vom Absturz in den Abgrund durch jene epiphaniehaften Augenblicke gehindert wird, die kontrapunktisch auf seinen Zustand der Krise bezogen sind und in denen sich ihm das Wesen der banalsten Dinge als die „restlose Vereinigung des Unvereinbaren“ erschließen, entdeckt Brahe gleichsam am Grund des Abgrunds selbst das physikalische Ge-

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Cosí incredibilmente bello“ kommentiert worden war (AO 143 f.), bezieht sich weder auf die Bildschirmdarstellungen noch auf eine von diesen repräsentierte Natur, ma a quello che le tracce sparendo lasciavano immaginare, una simmetria cosí radicale e sorprendente per cui ciò che prima appariva come manifestazione di forze diverse e separate poteva essere considerato nell’unificazione di una grande legge, una sola e la piú semplice, una legge simultanea della differenza e dell’ identità, di cui in quel momento vedevano, come erano abituati a vedere loro, la prova e il compimento. (AO 144)124

Der gesehene ‚Gegenstand‘ ist ein physikalisches Gesetz, möglicherweise eine Vorstufe der Weltformel, eine mathematische Formel, deren Symmetrie als Hinweis auf die Vereinigung zweier Kräfte gilt, die bisher als disparat angenommen wurden. Der Bezugspol des geistigen Sehens ist damit eine abstrakte

|| setz der Einheit. Das in epistemische Krise und poetisch-mythische Epiphanien sich spaltende Erleben des Chandos erscheinen in Brahes Epiphanie verschmolzen zu einem einzigen, naturwissenschaftliche Erkenntnis und ästhetische Erfahrung augenblicklich umfassenden Kontinuum. Die von Hofmannsthal, Musil, Virginia Woolf und vielen anderen Autoren der klassischen Moderne inszenierten Epiphanien nehmen die bei Del Giudice naturwissenschaftlich bewiesene und zugleich ästhetisch erfahrene Erkenntnis gleichsam als poetische Erkenntnis und Erfahrung vorweg. Die moderne Kluft zwischen Wissenschaft und Dichtung ist postmodern geschlossen. – Die skizzierte Theorie der Epiphanie orientiert sich an folgenden Darstellungen: Karl Heinz Bohrer: Plötzlichkeit. Zum Augenblick des ästhetischen Scheins, Frankfurt/M. 1981; Umberto Eco: Joyce und d’Annunzio. Die Quellen des Begriffs der Epiphanie, in: Materialien zu James Joyces „Ein Porträt des Künstlers als junger Mann“, hrsg. v. Klaus Reichert u. Fritz Senn, Frankfurt/M. 1975, S. 279–289; Hans Vilmar Geppert: Zur Semiotik der „epiphany“ bei Flaubert, d’Annunzio, Joyce und Hofmannsthal (unveröffentlichte Antrittsvorlesung an der Universität Augsburg); Walter Höllerer: Die Epiphanie als Held des Romans, in: Akzente 8, April u. Juni 1961, S. 125–136 u. S. 275–285; Klaus Peter Müller: Epiphanie. Begriff und Gestaltungsprinzip im Frühwerk von James Joyce, Frankfurt/M. 1984; Theodore Ziolkowski: James Joyces Epiphanie und die Überwindung der empirischen Welt in der modernen deutschen Prosa, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 35 (Dezember 1961), S. 594–616; das Hofmannsthal-Zitat stammt aus Hugo von Hofmannsthal: Der Dichter und diese Zeit, in: Gesammelte Werke in Einzelausgaben, Bd. II, hrsg. v. Herbert Steiner, Frankfurt/M. 1959, S. 229–258, hier S. 255; zum Chandos-Brief vgl. ders.: Sämtliche Werke. Bd. 31: Erfundene Gespräche und Briefe, hrsg. v. Ellen Richter, Frankfurt/M. 1991, S. 45–55. 124 „[…], sondern [auf die] Vorstellung, die die verblassenden Linien hervorriefen, [die] Vorstellung von einer Symmetrie, die so radikal und überraschend war, daß man das, was zuerst als Manifestation verschiedener und getrennter Kräfte erschienen war, unter einem einzigen großen Gesetz vereint sehen konnte, dem einfachsten und einzigen, das gleichzeitig ein Gesetz der Verschiedenheit und der Einheit war, und in diesem Augenblick sahen sie, so wie sie es gewohnt waren zu sehen, die Bestätigung und Erfüllung dieses Gesetzes“ (AW 193).

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Theorie, die auf der Grundlage computertechnisch erzeugter Spuren eines laboratisierten Naturvorgangs ihre experimentelle Bestätigung erfährt. Geistiges Sehen – wiewohl rückgebunden an eine technologisch hervorgebrachte und damit ihrerseits bereits erkenntnisgeprägte Spurenhaftigkeit, der kein natürliches Signifikat entspricht – ist hier wesentlich erkenntnisorientiert; die wissenschaftliche Erkenntnis selbst – eingebunden in die Zirkularität von mathesis und poiesis125 – erweist sich letztlich immer als ein auf Wissen zielendes Wissen aus Wissen. Exkurs Die sinnliche Wahrnehmung und Deutung der Bilder und das geistige Sehen im Sinne der ‚eigentlichen‘ naturwissenschaftlichen Erkenntnis sind auf das engste miteinander verflochten und treten dennoch auseinander. Die Visualisierungen veranlassen und bestätigen zwar die wissenschaftliche Erkenntnis (dank ihrer Evidenz kann hypothetisches in positives Wissen überführt werden), doch ist diese Erkenntnis selbst nicht eine auf die Bilder gerichtete, sondern eine von diesen völlig abstrahierte. Die mathematisch-physikalische Erkenntnis gehört einer anderen Ordnung des Wissens zu. Ihr voraus liegt eine Theorie, welche die neuen Teilchen und deren Eigenschaften im Modus des Hypothetischen und Wahrscheinlichen beschreibt und antizipiert und im Idealfall, wie er im Roman ja eintritt, mit den Bildschirmdarstellungen, d.h. mit den ins Bildhafte übersetzten, auf nicht-sichtbaren Ereignissen bezogenen Messdaten übereinstimmt. Demgegenüber ist ein auf die Bilder selbst bezogener Verstehensund Erkenntnisprozess auf die oben beschriebenen Bilderzeugungsmaschinerien und prozeduren bezogen und analysiert den Weg von den ästhetischen Erscheinungen auf dem Bildschirm über die diesen zugrunde liegenden Programme bis hin zu den mathematischen Funktionen, die diese Programme definieren. „So bedarf es eines Wissens der zugrunde liegenden Programme und Modelle, um die Bilder angemessen verstehen zu können, das gleichwohl als Wissen ohne Korrelation erscheint, sondern der Erkenntnis apperzerpiert werden muß.“126 Dabei entscheidet „die Frage, ob im Erkenntnisprozeß Kurven, Diagramme, Zahlen, Text, Photographien oder digitale Bilder verwendet werden, darüber mit […], was wir in wissenschaftlichen Bildern sehen“,127 eine Frage, die auch im Roman explizit gestellt wird: „‚Wol-

|| 125 Wobei die poiesis nicht mehr an die Natur des Genies gebunden, sondern ihrerseits bereits hochgradig automatisiert und virtualisiert ist. „Der kreative Prozeß ergibt sich eher aus einem Zustand höchster Komplexität als aus einer Handlung“ (Lyotard: Immaterialität, S. 15). Die Technologien sind damit auch nicht mehr vorrangig „Mittel zum Beweis von schon vorher aufgestellten Hypothesen“, sondern sind imstande, selbst Denkoperationen auszuführen und Ideen zu haben; sie „führen geradezu das Projekt durch, die ganze Welt zu einer Prothese der menschlichen Intelligenz zu machen (ein altes cartesianischen Projekt), die Wirklichkeit in eine Prothese zu verwandeln“. „Technologie ist […] Wissenschaft inform von Apparaten“ (ebd., S. 58, vgl. auch S. 83). 126 Mersch: Naturwissenschaftliches Wissen und bildliche Logik, S. 418. 127 Heßler: Einleitung, S. 32.

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len Sie sie als Tabelle oder als Mikrofiches?‘ hat der Mann an der Ausgabestelle gesagt. ‚Lieber als Tabelle, dann sehe ich sie sofort‘, hat Brahe gesagt“ (AW 187). Dem Objektpronomen „sie“ ist dabei kein bestimmbares Objekt zugeordnet; durch diesen höchst subtilen Kunstgriff wird nicht nur die heikle Fragen nach der Referenz erneut aufgeworfen, sondern auch die Frage, was an den Schnittstellen, also im Übergang von einer zur anderen Darstellungsform passiert.128 Vor allem aber rückt damit das erkenntnistheoretische Problem der Interrelation von Theorie und Bild ins Zentrum, also die Frage, welche Rückwirkungen die unterschiedlichen Arten medialer Repräsentation auf eine bereits bestehende oder im Entstehen begriffene Theorie zeitigen – „jeder Übergang in eine andere Darstellungsform […] verändert das Wissen“129 – und inwiefern umgekehrt die Wahl der Visualisierungstypen durch das hypothetische Wissen und der mit diesem verbundenen Erwartungshaltung gesteuert wird. Der Theorie und Bild trennende Hiatus einerseits, die komplizierten und vielseitigen Wechselwirkungen zwischen Theorie und Bild andererseits schleusen in das wissenschaftliche Erkennntnisresultat Elemente des Instabilen, Unsicheren und Aporetischen ein, die letztlich nur durch eine Erkenntnistheorie ‚erfasst‘ werden können, welche sich gegenüber dem ‚negativen‘, ‚schwachen‘ und ‚liminalen‘ Wissen nicht verschließt.

Die Schönheit der Symmetrie gründet in der angenommenen Übereinstimmung der physikalischen Theorie mit einem abwesenden ‚natürlichen‘ Signifikat, dessen virtuelle Spuren seine Anwesenheit (scheinhaft) evident machen. Die naturwissenschaftliche Erkenntnis verschränkt sich mit einer ästhetischen Erfahrung, die von einer grundlegend modifizierten klassischen Ästhetik des Schönen geprägt ist: Einbildungskraft (der Sinn für Formen und Farben) und Verstand (das Vermögen rationaler Organisation) befinden sich zwar in freier Übereinstimmung,130 doch als technologische ‚Werke‘ sind die schönen Bilder, wie Lyotard am Beispiel der Fotografie darlegt, „unmittelbar von den Gesetzen der Erkenntnis geprägt“, d.h. alles Unbestimmte und Unreine – „und mit ihm auch das Gefühl“ – ist daraus entfernt. Entsprechend appelliert ein solches Bild „nicht ans Schöne des Gefühls, sondern ans Schöne von Verstand und Begrifflichkeit“; es „besitzt die Unfehlbarkeit dessen, was vollkommen geplant ist“, seine „Schönheit ist die des zweiten Blicks.“131 „Im Ergebnis ist es nicht schön, || 128 Vgl. Heßler: Einleitung, S. 32. Exemplarisch sei auch auf die Studie von Hennig verwiesen, der am Beispiel von visuellen Darstellungen rastertunnelmikroskopischer Messungen aufzeigt, wie die „Übergänge von abstrakten Graphen zu figurativen Formen […] die Grenzen zwischen den beiden Repräsentationsformen Graph und Bild erodieren lassen und die Bildhaftigkeit von Graphen deutlich machen“ (Jochen Hennig: Die Versinnlichung des Unzugänglichen, in: Konstruierte Sichtbarkeiten, S. 99–116, hier S. 102, vgl. v. a. S. 108–113). 129 Heßler: Einleitung, S. 32. 130 Vgl. Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, hrsg. v. Wilhelm Weischedel, Frankfurt/M. 1974, § 5. 131 Lyotard: Immaterialität, S. 95. Der Adressat dieser Bilder „ist nicht mehr das empfindsame Subjekt, das eine künftige Geschmacksgemeinschaft entwirft; es ist der Empfänger fertiger

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sondern zu schön.“ Dieses ‚zu‘ zeigt, so Lyotard weiter, ein Unendliches an, das eben nicht mehr das Unbestimmte eines Gefühls ist, sondern die unendliche Realisierung von Wissenschaft und Technik: „Die Bestimmung der Realien wird durch die stets weiter zurückgehende Analyse und die Erfindung neuer Axiome unendlich aufgeschoben.“132 Mit anderen Worten: Die Bilder verweisen auf die mannigfaltigen ‚technowissenschaftlichen‘ Prozesse ihrer Sichtbarmachung, ohne je auf den Ursprungsort ihrer Entstehung zurückzuführen und ohne je ihr Ziel, die Aktualisierung einer Referenz, zu erreichen. Mehr noch: Wissenschaft und Technik – selbst „matter of facts“ – erweisen sich ihrerseits als „Modi, das Unendliche der Ideen zu aktualisieren“133 und damit als Supplemente der Kunst.134 Am Höhepunkt des Experiments koinzidieren der naturwissenschaftliche Diskurs Brahes und der ästhetische Diskurs Epsteins im „Sehen hinter die Form“ – und treten zugleich an eben diesem Punkt auseinander, bleibt doch Brahes geistiges Sehen auf die veranschaulichende Beweiskraft der (virtuellen) Bilder und damit auf das sinnlich sichtbare Zeugnis einer ästhetisch vermittelten anästhetischen Natur angewiesen. Im Unterschied zur Wissenschaft, die das ‚natürlich‘ Unsichtbare durch konstruierte Sichtbarkeiten kompensiert – kompensieren muss, will sie Wahrheitseffekte über das Unsichtbare erzeugen –,

|| Produkte, in denen er die Perfektion der sie bestimmenden Verfahren wiederzuerkennen weiß“ (ebd.). 132 Ebd., S. 95. Vgl. auch S. 101: „Die postindustrielle Welt der Technowissenschaften hat nicht zum allgemeinen Prinzip erhoben, daß etwas darzustellen sei, was darstellbar ist und demzufolge wiederzugeben ist; vielmehr gehorcht sie dem umgekehrten Prinzip: das Unendliche liegt in der Dialektik der Suche selbst.“ 133 Ebd., S. 95. 134 Die Kunst verlagert sich von der Ästhetik des Schönen auf eine Ästhetik des Erhabenen, wie sie von Lyotard ausführlich dargelegt wurde. Die avantgardistische und postmoderne Ästhetik des Erhabenen ist jedoch nicht als das ganz Andere der Wissenschaft aufzufassen: Das Erhabene der Avantgarden ist „kaum nostalgisch“ im Sinne der Romantik: „[E]s richtet sich eher aufs Unendliche der durchzuführenden plastischen Versuche als auf die Vorstellung eines Absoluten, das verloren ist. Darin stimmt ihr Werk mit der zeitgenössischen Welt industrieller Technowissenschaft überein“ (ebd., S. 99 f.). Vgl. in diesem Zusammenhang auch Brahes Eindrücke unmittelbar nach der Entdeckung der neuen Teilchen: „ihm schien […], daß Sehen nichts anderes bedeutete, als die Schwelle des Unsichtbaren ein wenig zu verschieben (che vedere significasse solo spostare un po’ piú in là la soglia del non visibile, AO 146), sie mit einem einzigen Lidschlag abzureißen und wieder zu errichten, und ihm schien, eine Maschine, die so groß war, eine Geometrie, die derart kompliziert, und eine Mathematik, die derart komplex war, daß das wahre Problem in der andauernden Normalisierung des Unendlichen bestand, würden dabei helfen, strenge und konsequente Fragen zu stellen, die man solidarisch und konsequent beantworten musste… ‚Ist dir heiß‘ ‚Ja, heiß‘, ‚Ist dir kalt?‘ ‚Ja, kalt‘; und darin, in dieser Unerschöpflichkeit und Solidarität der Natur, lag die wahre Schönheit“ (AW 197).

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und auf die De-Ästhetisierung der Wirklichkeit mit deren Re-Ästhetisierung antwortet, wählt Epstein den asketischen, anti-poetischen Weg und unterwirft sich der Dominanz des (geistigen) Sehens. Wie lässt sich nun Epsteins „Sehen jenseits der Form“ beschreiben, und welche Konsequenzen verbinden sich damit für seine neue Ästhetik? In seiner bisherigen Tätigkeit als Schriftsteller waren Ding- und Sprachwelt, Poetik des sinnlich-geistigen Sehens und Poetik des Schreibens eng aufeinander bezogen. Den Dingen selbst war, wie gezeigt, die Geschichte ihrer Entstehung und ihrer möglichen Fortsetzung eingeschrieben. Der Schreibprozess, aufgefasst als Dingerzeugungsprozess, war die Fortschreibung jener Geschichte, die den Dingen – und mit ihnen den Menschen – als bereits verwirklichte und noch zu verwirklichende Möglichkeiten innewohnen. Mit dem Schwinden der Dinge – und damit dem Schwinden ihrer Präsenz – wird dem sinnlichen Sehen und dem auf dieses bezogene Schreiben seine materielle Grundlage entzogen: Das neue Sujet des Sehens und Schreibens ist nunmehr das Immateriale und damit das Formjenseitige, Unsichtbare und Undarstellbare.135

|| 135 Epsteins Immaterialismus ist, und dies gilt es noch einmal hervorzuheben, naturwissenschaftlich und nicht – wie etwa der Immaterialismus Berkeleys – theologisch oder metaphysisch motiviert. Entsprechend ist auch das vom sinnlichen Sehen losgelöste geistige Sehen – das ‚Sehen hinter die Formen‘ – nicht auf die Schau höherer, übernatürlicher Seinsgründe (etwa im Sinne der platonischen Ideenwelt oder der mystischen Gottesschau) gerichtet. Schließlich ist auch das Licht, von dem später die Rede sein wird, kein ‚lumen supranaturalis‘, das, wie bei Augustinus oder Thomas von Aquin, die Wahrheitsfähigkeit der menschlichen Vernunft (‚lumen naturalis‘) ermöglichen und verbürgen würde oder dem sich, wie bei Plotin, der Mensch in der Anschauung der Gottheit nähern würde. Hingegen sind die strukturellen Ähnlichkeiten, vor allem in der Verbindung von Sehen und Denken, mit der abendländischen jüdisch-christlichen und philosophischen Tradition unverkennbar (vgl. hierzu Hans Blumenberg: Licht als Metapher der Wahrheit. Im Vorfeld der philosophischen Begriffsbildung, in: Studium Generale 10, 1957, S. 437–447; ferner: Bruno Snell: Die Entdeckung des Geistes. Studien zur Entstehung des europäischen Denkens bei den Griechen, Hamburg 31955). Es ist vor allem die Formulierung „vedere mentalmente“, welche die insbesondere im Umfeld der romantischen Dichtung und Philosophie relevant gewordene Kategorie der ‚intellektualen Anschauung‘ evoziert. Gegen Kant gerichtet, der die Möglichkeit einer intellektuellen Anschauung unter Ausschluss der Sinne kategorisch ablehnt, halten Schelling, Hölderlin, Novalis, Schlegel und Schleiermacher im Rekurs auf Spinoza an der Möglichkeit einer scientia intuitiva – nach Spinoza die höchste und rein intellektuelle Erkenntnisform, die „durch die unmittelbare Teilhabe an der göttlichen Vernunft uns gegeben wird“ – fest (John Neubauer: Intellektuelle, intellektuale und ästhetische Anschauung. Zur Entstehung der romantischen Kunstauffassung, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 46. Jg., 1972, S. 294–319, hier S. 297). So unterschiedlich deren Konzeptionen der intellektualen Anschauung jeweils sind (Schelling deutet sie als Augenblicke „mystischer Selbstanschauung“ [ebd., 301]

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Einer Literatur, deren Referenzbereich entleert ist, bleibt nur der Rückzug auf und in sich selbst: Der Blick auf die Welt wandelt sich in Selbstanschauung – in eine Ästhetik, die selbstreflexiv die Bedingungen des Sehens und die Bedingungen von Kunst in den Blick nimmt. Hierin der postmodernen Philosophie Lyotards durchaus verwandt, leitet Epstein aus diesem Befund nun aber gerade nicht eine Ästhetik des „immanent Erhabenen“ ab, der zufolge sich die Kunst verpflichtet weiß, in der ‚Form‘ negativ-abstrakter Darstellungen „anzuspielen auf ein Undarstellbares, das nichts Erbauliches an sich hat, sondern im Unendlichen der sich wandelnden ‚Realien‘ liegt“ und damit „sehen zu lassen, daß es Unsichtbares im Sichtbaren gibt“;136 vielmehr leitet er daraus eine Ästhetik ab, die den Verzicht auf jegliche ‚Form‘ künstlerischer Darstellung und damit das ‚Ende von Kunst und Literatur‘ postuliert. Es handelt sich um die reine Ästhetik eines ebenso reinen abstrakt-geistigen Sehens, dessen Gesehenes nicht mehr in Kunst übersetzt werden kann, sich also nicht mehr als Kunst zu manifestieren vermag. Epstein geht, wenn man so möchte, über Lyotard hinaus, indem er nicht nur die Möglichkeit einer positiv-repräsentativen Darstellung von ‚Wirklichkeit‘ negiert, sondern auch die Möglichkeit einer negativabstrakten Darstellung zur Unmöglichkeit erklärt. Waren (sinnlich-geistiges) Sehen und Schreiben in seiner frühen Ästhetik korrespondierend aufeinander bezogen, so wird nun jeglicher Zusammenhang zwischen Sehen und Schreiben – und damit auch zwischen Weltbetrachtung und literarischer Sprache – || des absoluten Ich, Hölderlin als die „ästhetische Wiedergewinnung“ [303] eines als vollkommene Vereinigung von Subjekt und Objekt definierten Urzustandes, Friedrich Schlegel als „poetisches Wissen“ [307] von der Menschheit, Fichte als jene Tathandlung, in der sich das ursprüngliche Ich in einem Akt der Selbstanschauung konstruiert [vgl. 306], Novalis sieht sie durch einen frei gewählten und zugleich gegebenen Mittler ermöglicht, der sinnlich und zugleich übersinnlich angeschaut wird [309 f.], Schleiermacher spricht von der „intellektualen Anschauung der Freundschaft“ [zit. n. ebd., 312], wobei die Anschauung des Freundes zur eigentlichen Selbstanschauung wird), so sehr treffen sie sich doch in deren Verankerung in einem transzendenten, transzendentalen oder immanenten Absoluten und (Fichte ausgenommen) vor allem in der Auffassung, dass die intellektuale Anschauung nur als ästhetisch objektivierte und damit in der Schönheit (und nicht im Verstandesbegriff) sinnlich-übersinnlich angeschaut werden kann: „Im Gegensatz zu Fichte bezeichnet die Romantik mit intellektualer Anschauung keine verstandesmäßige Operation sondern sinnliche, vor allem visuelle Begegnung, die eben durch die Intensität ihrer Sinnlichkeit übersinnlich wird. […] Durch die äußerste Sinnlichkeit der Anschauung wird sie zum ästhetischen Erlebnis“ (ebd., S. 318). Im Falle Epsteins jedoch ist die intellektuale Anschauung weder sinnlich noch transzendent verwurzelt, sondern bestenfalls transzendental im Sinne eines radikalisierten Naturalismus, in dem reine Energie und reines Licht gleichsam als physiko-transzendentale Bedingung der Möglichkeit von (Nicht-)Welt und (Nicht-)Ich gedeutet werden. 136 Lyotard, Immaterialität, S. 98 u. 101.

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aufgekündigt: Das kunsttheoretische Prinzip des ‚vedere le storie raccontando e scrivendo‘ ist abgelöst durch das philosophisch-ästhetische Prinzip des ‚vedere le storie guardando‘. Das (nurmehr geistige) Sehen erscheint als ein vom Schreiben vollkommen abstrahierter und emanzipierter eigenständiger Vorgang, der zum ausschließlichen Gegenstand der neuen Ästhetik avanciert. Entsprechend gehen Epsteins literarische Geschichten nicht, wie vormals, aus den sinnlich wahrgenommenen Dingen und den in ihnen verborgenen ‚Geschichten‘ hervor und gelangen erzählend-schreibend zu ihrer wahrnehmbaren (d.h. auch lesbaren und deutbaren) Sichtbarkeit, sondern werden geistig-sehend erzeugt und für das geistige Auge sichtbar gemacht.137 Von der ‚Natur‘ dieser Geschichten erfährt der Leser nur wenig: Es sind Geschichten, in denen zeitliche Sukzessivität und Prozessualität138 zugunsten einer „pure simultaneità“ aufgehoben scheint, Geschichten, in denen die Möglichkeiten nicht mehr um eines fragmentarischen ‚Positivabdrucks‘ willen massakriert werden, sich hingegen alles auf einmal – „compiutamente dall’inizio alla fine“ (vollständig vom Anfang bis zum Ende, AO 63 [88]) – zeigt;139 es sind Geschichten, die keinen

|| 137 Es sei noch einmal das entsprechende Zitat angeführt: „prima le [le storie] vedevo raccontando, le vedevo nel momento in cui le scrivevo, adesso le vedo guardando, vedo una storia compiutamente dall’inizio alla fine semplicemente guardando. E questo, […] è il mio esperimento“ (AO 62 f.). 138 Und damit alles, was der Zeit und der Prozessualität unterworfen ist: schöpferische Arbeit, Handlung, Wachstum usw. 139 Unverkennbar kehren hier verschiedene Merkmale der Epiphanie wieder: die Hypostasierung des gegenwärtigen Augenblicks und die damit verbundene Aufhebung der zeitlichen Sukzessivität in einer räumlichen Simultaneität sowie die Vision von Ganzheit, Vollständigkeit und Einheit. Allerdings handelt es sich im Falle Epsteins um eine kupierte Epiphanie: Sie nimmt ihren Ausgang eben nicht mehr in der sinnlichen Wahrnehmung eines materiellen Gegenstandes, dessen wahrhaftes Wesen sich im geistigen Sehen ‚epiphanisieren‘ würde, sondern in den immaterialisierten non-cose, die nurmehr als geistige Vorstellungen des Subjekts zu begreifen sind. In einer solchen, von aller Empirie, aber auch von allen narrativen Kontexten abstrahierten Epiphanie wird dann auch nicht mehr die „faktische Wirklichkeit des Dings zu metaphysischer Symbolhaftigkeit [gesteigert]“ und „das Ding gleichsam aus seiner empirischen Starre zu poetischem Leben erweckt“ (Ziolkowski: James Joyces Epiphanie, S. 603), sondern eine geistig-symbolische Wirklichkeit in eine ‚höher‘- und höchstgeistige potenziert. Die Epiphanie wäre letztlich Gegenstand ihrer selbst; sie wäre nicht mehr poetische und zugleich metapoetische Figur, die der freien sprachlichen Imagination bzw. der „Entautomatisierung der künstlerischen Zeichen prinzipielle wirklichkeitsbildende Funktion“ zuspräche (Geppert: Zur Semiotik der „epiphany“), sondern eine ausschließlich metatheoretische Figur, die in einer referenzlosen Leere um sich selber kreist. Obwohl Epstein mehrfach betont, er stehe erst am Anfang seines Experiments – „Ich bin Anfänger in meinen eigenen Verhältnissen“, diese Worte von Rilkes Romanheld Malte könnten auch von Epstein stammen –, so deu-

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Außenraum mehr beanspruchen, sondern sich im geistigen Innenraum labyrinthisch verzweigen („ovunque nello spazio, determinato dalla storia stessa“), in alle Richtungen des Raums, der wiederum von der Geschichte selbst bestimmt wird (AO 68 [94]); es sind letztlich non-storie, deren Sujet das Sehen selbst ist – und mit ihm das Licht, jenes Licht, in das Epstein alles verwandelt sieht und das er gerne als Ding – als das einzige ihm verbleibende Ding überhaupt140 – beschreiben möchte.141 Die einzige Gestalt aber, in der Epsteins Lichtgeschichten nach außen strahlen, ist die einer abstrakten, rein formalen Ästhetik, die se-

|| tet doch nichts darauf hin, dass sein Schreibverzicht ein lediglich vorübergehender ist. Entsprechend sind auch seine epiphaniehaft offenbarten ‚Geistgeschichten‘ utopisch entleert: In ihnen deuten sich keine neuen (ästhetischen) Sprach- und Seinsmöglichkeiten mehr an; sie zielen – man möchte fast sagen: gespenstisch – in Richtung Leere, Dunkelheit und Tod. Vgl. auch den Schluss des von Epstein ausführlich beschriebenen Feuerwerks: „[…] e luce e luce e luce e luce – Buio“ (und Licht und Licht und Licht und Licht – Dunkelheit, AO 134 [180]). Auf Dunkelheit und Tod verweist auch der polysemantische Titel Atlante occidentale: im Westen geht die Sonne unter, ebenso ist der Westen traditionelles Symbol für Vergangenheit und Tod. 140 Vgl. AO 137 [184]. War ihm das Licht in seiner frühen Schaffensphase „sforno e contorno delle cose“ („Hintergrund und Rahmen der Dinge“), oder hatte sich ihm das Licht in Gegenstände verwandelt (AO 96 [130–131]), so ist es nun umgekehrt: Im neuen Sehen verwandeln sich ihm die Dinge in Licht, das Licht selbst ist ihm Ding (vgl. ebd.). Vgl. v.a. Epsteins Beschreibung des Feuerwerks (AO 130–134 [174–180]), die eine ‚eruptive‘ Entfaltung seiner Überzeugung von der Verwandlung der Materie in Licht („la materia diventava luce“, AO 130 [174]) ist. Analoges gilt für Brahes Arbeitswelt, wo „ogni luce era circostanziata e significativa“ („jedes Licht genau umrissen und bedeutungsvoll [war]“), „non tanto lo sfondo di un’azione, ma l’azione stessa“ („nicht so sehr der Hintergrund einer Handlung als die Handlung selbst“): „ogni luce era una domanda, o una risposta, non piú contorno delle cose, forse le cose stesse dopo il loro progressivo farsi piccole e sparire“ („jedes Licht war eine Frage oder eine Antwort, nicht mehr Umriß der Dinge, sondern vielleicht die Dinge selbst nach ihrem unaufhaltsamen Kleinerwerden und Verschwinden“, AO 48 [68]). Vgl. ein weiteres Mal Lyotard, der in Bezug auf die postmoderne Malerei sagt: „Änderung des Sujets, des Materials. Neues Sujet: Licht. Neues Material: Licht. So begründen sich die Werke, die aus Licht und durch Licht geschaffen sind, Werke, die sich selbst zum Sujet haben. Schwindelerregende Selbstreferenz“ (Lyotard: Immaterialität, S. 14). Die avantgardistische Malerei sei wesentlich reflexiv geworden, d.h. auf das Hinterfragen der Regeln der Kunst selbst konzentriert (vgl. ebd., S. 38 u. 39); entsprechend sucht sie auch das Undarstellbare, das immanent Erhabene „in den Bedingungen künstlerischer Arbeit selbst“ (ebd., S. 99). Diese Suche bezeichnet Lyotard als „Aufgabe des Experimentierens“ (ebd., S. 101). 141 Die non-storie sind damit pure Wahrscheinlichkeit. Vgl. AW 124 f.: „Vielleicht ist die Wahrscheinlichkeit eine große Form des Respekts und dem sehr nahe, was bis zur Übereinstimmung geschieht, und dennoch davon getrennt.“ Mit dem Verlust ihres Ding-Status (vgl. die Ausführungen zu Epsteins früher Ästhetik) verlieren Epsteins Geschichten auch jegliche kommunikative und hermeneutische Funktion; sie können nicht gelesen, nicht gedeutet, nicht in pragmatisches oder kognitives Handeln fortgesetzt werden.

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hend in die Gesetzmäßigkeiten des geistigen Sehens einzudringen versucht, eine Ästhetik, die nicht mehr – weder positiv noch negativ – Theorie der Kunst ist (deren integraler Bestandteil die Theorie der Wahrnehmung immer schon war), sondern Theorie des geistigen Sehens – reine Schau des reinen Sehens.142 Welcher Status kommt diesen Geschichten ‚im Kopf‘, diesen reinen Vorstellungen („pure immaginazione“) zu? Ist diese vollkommen immateriale – deliteralisierte – ‚Literatur‘ noch Kunst? Auf diese Fragen antwortet nicht die fiktionsimmanente Ästhetik Epsteins, sehr wohl aber die im Erzähldiskurs von Atlante occidentale realisierte Poetik. Der implizite Autor unternimmt am Ende des Romans den Versuch, Epsteins Ästhetik ins Ästhetische einer mise en abyme zu übersetzen und auf diese Weise den Kunst- und Darstellungsnihilismus seines Protagonisten zu überwinden.143 Nimmt man Epsteins radikal philosophische Ästhetik und die aus ihr resultierende Konsequenz einer absoluten literarischen Askese – eines freiwilligen poetischen Schweigens, das eben nicht einmal mehr nach (s)einer ‚negativen‘ Darstellung drängt – ernst, dann ist jeder Versuch, diese Ästhetik zu applizieren, als ein entschiedener Einspruch gegen eben diese Ästhetik zu deuten.144

|| 142 Mehrmals weist Lyotard darauf hin, dass es Aufgabe der Postmoderne sei, das Werk der modernen Avantgarde-Bewegung fortzuführen, freilich ohne sich durch deren Ideale zu legitimieren. Was die Avantgarde auszeichnet ist, dass sie nicht versuchte, „das schon Dagewesene […] zu wiederholen, sondern weiterzugehen im Hinterfragen der Kunst“. Die Avantgarden „mochten die etablierte ‚Moderne‘ lediglich, um sich von ihr abzusetzen, ins Exil zu gehen. Dieses Exil, das ich Experimentieren nenne, mache ich als Kraft im Postmodernen geltend“ (Lyotard: Immaterialität, S. 39; vgl. auch S. 30). Epstein löst dieses Postulat in denkbar radikalster Weise ein: Er begegnet der Exilierung der Wirklichkeit – ihrem Hinschwinden an einen (noch?) nicht erfahrbaren Ort – mit der Exilierung der Literatur aus seinem persönlichen Leben und dem Rückzug in ein inneres, geistiges Exil, in jenes mit der Formel „Sehen jenseits der Form“ umschriebene Experiment. 143 Vordergründig (und wie gezeigt werden soll nur scheinbar) stellt sich der implizite Autor gleichsam in den Dienst seiner Figur: Stellvertretend für Epstein führt er das Experiment zu Ende, indem er es literarisch erprobt. 144 Vgl. Lyotard: „Denn darstellen heißt relativieren, heißt in Zusammenhänge und Bedingungen der [...] Darstellung bringen. Das Absolute kann man also nicht darstellen. Man kann jedoch darstellen, dass es Absolutes gibt“ (Immaterialität, S. 98). Epsteins Ästhetik geht jedoch genau an diesem Punkt über Lyotard hinaus: Er macht nicht nur die positive Darstellung (nach Lyotard alle „feststehenden Symbole“ für das Absolute) zum „Märtyrer“ (vgl. ebd.), sondern Darstellung überhaupt. Epstein opfert die Darstellung zugunsten der „Dinge ohne Grab“ („cose senza sepoltura“, AO 85 [115]). – Obgleich Regns Argumentation, wonach in der mise en abyme Epsteins experimentelle Poetik des „vedere storie compiute“ literarische Gestalt gewinne, und zwar „nicht in der Form einer idealtypischen Realisierung, sondern im Modus allusiver Annäherung“, sehr plausibel erscheint (vgl. Regn: Nach der Moderne, S. 347), so bedeutet – mit Blick auf

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Der extradiegetische Erzähler weist die mise en abyme, allgemein definiert als die „Spiegelung der Makrostruktur eines literarischen Textes in einer Mikrostruktur innerhalb desselben Textes“,145 als das von Epstein geistig Gesehene aus:146 Er sieht, was Epstein sieht, und teilt es mit. Das, was sich dem Erzähler

|| Epsteins Ästhetik – jeder Darstellungsversuch nicht lediglich die Relativierung des Absoluten, sondern die Negation und Liquidierung eben dieser Ästhetik selbst. Die mise en abyme, die, wie Regn darlegt, als „avantgardistische Spatialisierung der Geschichte […] deren vorgängige Entfaltung auf der Achse temporaler Abfolge voraus[setzt]“, in ihr also das postmodern Experimentelle im modern Konventionellen abgestützt wird (vgl. ebd., S. 349), ist vor dem Hintergrund von Epsteins Ästhetik lediglich als eine von jenen literarischen Formen zu werten, die Epstein seiner frühen Ästhetik folgend stets gesucht hat. Mit seiner neuen Ästhetik hat sie nur im Modus des Alsob zu tun: Der implizite Autor insinuiert, dass die mise en abyme das wiedergibt, was Epstein sieht. Das Verfahren der mise en abyme ist vergleichbar mit jenem Spiel der Täuschung, das Brahe mit Wang spielt: Ist es hier eine Maschinenzeichnung, die gefälscht wird, um den Kontrahenten Wang auszutricksen (dieser durchschaut das Spiel und gibt nach, weil er das Spiel affirmiert), so handelt es sich bei der mise en abyme um eine spielerische Volte des impliziten Autors gegen die Ästhetik seines Protagonisten; vor allem ist sie jedoch Figur eines klugen Spiels mit dem Leser, der erst, nachdem er, wie Wang die Zeichnung, den Text gegen das Licht hält, erkennt, dass es sich bei der mise en abyme gerade nicht um die approximative Realisierung von Epsteins Ästhetik handelt, sondern um eine geniale Fälschung. 145 Werner Wolf: Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung in der Erzählkunst, Tübingen 1993; vgl. ferner: Ders.: Art. „Mise en abyme“, in: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie, hrsg. v. Ansgar Nünning, Stuttgart 2004, S. 442f.; Michael Scheffel: Formen selbstreflexiven Erzählens, Tübingen 1997, bes. S. 71–90. 146 Die exzessiv eingesetzte Formel „vede“ (er sieht) wird in dem knapp zweieinhalbseitigen mise en abyme-Text (vgl. AO 150–151 [200–203]) 15 Mal angeführt. – Das Ereignis des geistigen Sehens ist auf dem Flugplatz kurz vor Epsteins Abreise nach Deutschland und damit kurz vor dem letzten Wiedersehen mit Brahe situiert. Auf der Achse der Erzählzeit wird dieses Ereignis unmittelbar nach dem Bericht von der sensationellen Entdeckung im CERN erzählt, auf der Achse der erzählten Zeit fällt es jedoch mit dem Augenblick der Entdeckung zusammen („In quello stesso istante Ira Epstein […]“, AO 147). Diese Parallelisierung der Ereignisse verweist auf ihre Affinitäten und zugleich auf ihre Differenzen: Analog zur Entdeckung im CERN wird auch das geistige Sehen der Geschichte durch die sinnliche Wahrnehmung eines Modells und damit eine virtualisierte Realität evoziert: Epstein betrachtet durch ein Schaufenster eine Modelleisenbahn, die wiederum in ein Modell der Stadt Genf (den „grande anello“ des CERN und den alten Flugplatz, an dem sich die beiden Freunde kennen gelernt haben und die Geschichte ihren Ausgang nahm) eingepasst ist. Die in der mise en abyme erzählten Ereignisse erstrecken sich dabei bis zu jenem Augenblick, in dem Brahe am Flughafen eintrifft, um seinem Freund Lebwohl zu sagen. Die mise en abyme geht also unmittelbar in das Ende der Romanhandlung über. – Die Parallelgestaltung ist jedoch eine vom Erzähler ‚konstruierte‘, und es ist eben höchst fraglich, ob der Erzähler wirklich jene Geschichte wiedergibt, die Epstein geistig sieht. Parallelisiert werden bei genauer Betrachtung nicht Epsteins Sehen mit Brahes Sehen, sondern das Sehen des Erzählers mit Brahes Sehen.

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von dem zeigt, was Epstein sieht, ist die Geschichte, die im Roman Atlante occidentale erzählend hervorgebracht und – darin Epsteins früher Ästhetik folgend – für den Leser sichtbar gemacht wurde. Der Erzähler fungiert als Augenzeuge dessen, was sich in der geistigen Vorstellung seiner erzählten Figur abspielt. Indem er diese Vorstellungen stellvertretend für Epstein verbildlicht und versprachlicht, bezeugt er darüber hinaus gegenüber dem Leser die Glaubwürdigkeit seiner Figur und deren Experiment des „vedere una storia compiuta“. Bei der Gestaltung der mise en abyme orientiert er sich durchaus an den theoretischen Grundlagen der Epstein’schen Ästhetik: So wird etwa durch die „Aussparung von grammatikalischen Funktionswörtern, die eine temporale Abfolge indizieren könnten“, aber auch durch die „Kaskade anaphorisch gereihter ‚vedere‘-Formeln“ der „Eindruck extremen Akzelerierens der Diskursbewegung“147 und damit der Eindruck von Simultaneität des gesehenen Geschehens suggeriert. Der „Effekt einer Verräumlichung des Temporalen“ ergibt sich ferner aus der durchgängigen Verwendung des Präsens, das mit den Vergangenheitstempora des vorausliegenden Erzähldiskurses kontrastiert, sowie aus der Projektion der von Epstein gesehenen Geschichte auf ein von ihm gerade betrachtetes Modell der Stadt Genf.148 Auf der Ebene der histoire wird die von Epstein behauptete ‚Vollständigkeit‘ seiner Geschichten (Vollständigkeit definiert sowohl als die Total-Ansicht einer Geschichte „vom Anfang bis zum Ende“ als auch als Inbegriff des Möglichen und Wahrscheinlichen) dadurch insinuiert, dass einzelne Orte und Ereignisse des Romangeschehens parataktisch aneinandergereiht werden, darunter auch Situationen, die weder von Epstein erlebt noch überhaupt im Laufe der Romanhandlung thematisiert worden sind und sich deshalb einer chronologischen Zuordnung verweigern.149

|| 147 Regn: Nach der Moderne, S. 348. 148 Vgl. ebd., S. 347 u. 348. 149 Zum Beispiel findet die in der Romanhandlung sich anbahnende Liebesgeschichte zwischen Brahe und Gilda in der mise en abyme ihre Erfüllung („li vede entrambi che dormono“/„er sieht sie beide schlafend“, AO 150 [202]). Entgegen Regns Deutung, dass der „sekundäre handlungsvermittelnde Diskurs“ der mise en abyme „das Ausgesparte retrospektiv ins Bewusstsein“ rücke (Regn: Nach der Moderne, S. 333), scheint es mir gerade im Zusammenhang mit Epsteins neuer Ästhetik plausibler, die mise en abyme nicht nur als eine reduzierte Reproduktion und Retrospektion der erzählten Romanhandlung auszulegen, sondern auch als produktives und prospektives Verfahren der amplificatio im Sinne einer noch nicht erzählten, aber im Kontext der erzählten Handlung möglichen und wahrscheinlichen künftigen Handlung. Dass Epstein (in der Sicht des Erzählers) mehr sieht als er sinnlich wahrgenommen hat, ist ferner Indiz dafür, dass er dem geistigen Sehen eine quasi-metaphysische, eine hellseherische Qualität beimisst.

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Indem der Erzähler aber das poetische Schweigen Epsteins bricht – und Epstein wählt den Weg des Schweigens nicht aus Unvermögen, sondern aus Gründen der Authentizität –, widersetzt er sich gleichsam dem Willen seiner Figur und autorisiert sich als deren literarische Stimme: In der Gestalt einer mise en abyme verfasst er jenen „Romanautorroman“150, den der Romanautor Epstein nie zu schreiben beabsichtigte.151 Auf diese Weise macht er den von Epstein etablierten Bruch zwischen geistigem Sehen und narrativem Schreiben wieder rückgängig: Er rehabilitiert das Schreiben und Erzählen von Geschichten. Indem er seine ‚Erzählung‘ als ungebrochene, authentische Wiederholung dessen anzeigt, was Epstein sieht, erhebt er das geistige Sehen zum Fundament seiner narratio; indem er jedoch mit der Erzählaskese Epsteins bricht, dementiert er zugleich die Selbstgenügsamkeit, die Epstein dem geistigen Sehen beimisst – „Non aver bisogno di raccontare è l’unica cosa che incrina la felicità del vedere oltre la forma“ (AO 68)152 –, und damit die radikalen Konsequenzen, die dieser daraus zieht. Kritisch formuliert der Erzähler – allein dadurch, dass er erzählt – sein Missfallen an einer Ästhetik, die als Theorie einer ins Geistige versenkten Kunst keine Kunst mehr neben sich duldet und in der Folge zu einem Solipsismus des Denkens verpflichtet. Über das narrative, selbstreferentielle Verfahren der mise en abyme hält der Erzähler seinem Helden den Spiegel vor (genauer: der Erzähler suggeriert, dass es Epstein selbst ist, der sich den Spiegel vorhält) und rückt die Schattenseiten dieser ‚schwindelerregend selbstreferentiellen‘ (Lyotard), in den intellektuellen Autismus mündende Ästhetik ins Licht, ohne deren ästhetisches Potential zu negieren.153

|| 150 Jutta Zimmermann: Metafiktion im angloamerikanischen Roman der Gegenwart, Trier 1996, S. 53. 151 Eine argumentativ zwar anders unterlegte, im Ergebnis jedoch ähnliche Gegenläufigkeit konstatiert auch Richter: „Das entgrenzende visionäre Sehen, Epsteins Wahrnehmungsprojekt, [...], akzentuiert – innerhalb der histoire – jenen Aspekt des Atlanten, der maximale Zulassung von Kontingenz verspricht. Doch steuert Del Giudice dieser Bewegung auf der Ebene des discours entgegen, indem er der erzählten Welt mittels eines Repräsentationsmodells noch eine Form verleiht. Die Form […] begründet nicht nur die ethische Dimension seines Schreibens, sie begrenzt auch Kontingenz“ (Steffen Richter: Trauerarbeit der Moderne. Autorenpoetiken in der Gegenwartsliteratur, Wiesbaden 2003, S. 220). 152 „Es nicht nötig haben zu erzählen, trübt als einziges das Glück, hinter die Form zu sehen“ (AW 95). 153 Der Erzähler entwirft gleichsam eine dritte Ästhetik, die an Epsteins frühe Ästhetik – und damit an die sinnliche Wahrnehmung der Dinge und ihre komplexe Vernetzung mit den Menschen – anknüpft, zugleich aber der postmodernen Verfasstheit der Welt – ihrer Deästhetisierung – Rechnung trägt. Im Grunde synthetisiert er die Ästhetiken Epsteins: Er affirmiert dessen Befund vom „Schwinden der Dinge“ und die damit verbundenen ästhetischen Herausforderungen, doch er negiert die von Epstein gezogene Konsequenz des Schweigens und damit des ‚Schwindens‘ von

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|| Kunst und Literatur, indem er der deästhetisierten, formlosen Welt mit ästhetischen Mitteln Gestalt verleiht. Für diese Annahme spricht auch, dass er über das reproduktiv-produktive Verfahren der mise en abyme eine Ähnlichkeitsbeziehung zur bisher, im Modus von Epsteins früher Ästhetik erzählten Geschichte herstellt, ja mit der Kategorie der Ähnlichkeit eines der wichtigsten Theoreme dieser Ästhetik appliziert, zugleich aber eine ‚postmoderne‘ Sprache wählt, die den (ihrerseits aus den naturwissenschaftlichen Erkenntnissen resultierenden) Postulaten der neuen Ästhetik – Simultaneität und Wahrscheinlichkeit – gerecht zu werden versucht. Die Gestaltung der mise en abyme folgt damit jenem Gesetz von Identität und Differenz, wie es von Brahe und seinem Team formuliert worden ist. Mit anderen Worten: Sie folgt dem für die Poetik der poetica scientiae charakteristischen Prinzip von Wiederholung (Wiederholung der Romanhandlung, zu deren Bestandteil die poetologischen Diskurse Epsteins gehören) und Transgression (Überschreitung der fiktionsimmanenten Wirklichkeit auf mögliche und wahrscheinliche Wirklichkeiten hin sowie Überschreitung der Diskurse auf eine neue, dritte Ästhetik, zu der wesentlich die kritische Revision der von Epstein vertretenen Ästhetik des reinen Sehens gehört). Diese Beobachtung bestätigt sich vor allem im Hinblick auf die zeitliche Struktur: Sowohl das erzählende Subjekt als auch der erzählte Gegenstand sind in der mise en abyme in einer Vorzukunft verortet. Diese Zeitform wird bereits im vierten Kapitel explizit in einem ganz anderen Zusammenhang eingeführt: Brahe beobachtet seine Kollegin Eileen, die gerade dabei ist, in seinem Auftrag eine Werkzeichnung zu fälschen. „Er [Brahe] trinkt stehend, an das Fenster gelehnt: Die blauen Pünktchen auf dem Entwurf, das Mädchen mit den brünetten, üppigen Haaren, das Licht und die Situation und er selbst erschienen ihm wie Dinge, die er in diesem Augenblick und gleichzeitig in der Zukunft wahrnahm, von der aus er sich an sie würde erinnern können und sich vielleicht doch nicht mehr erinnern würde; von einer Vorzukunft aus“ (AW 49) („[…] percepite in questo istante e nello stesso tempo da un futuro in cui avrebbe potuto ricordarle e magari non se ne sarebbe ricordato piú, da un futuro anteriore“, AO 34, Hervorhebung B.M.). Während hier Zeit-Erleben und Zeit-Reflexion zusammenfallen, wird Brahe an anderer Stelle von einer „plötzlichen Sehnsucht“ nach dem Standort einer Vorzukunft erfasst (vgl. AW 146). Im sechsten Kapitel, gestaltet als innerer Monolog Epsteins, stellt der Romancier theoretische Reflexionen über die Zeitstruktur der von ihm gesehenen Geschichten an: „Und wie lange dauerte diese Zeit [gemeint ist der Augenblick des Sehens], da doch die äußere Zeit stillstand, Nullzeit [tempo zero, AO 68], und die Zeit im Inneren einer gesehenen Geschichte sich weder nach vorne noch zur Seite bewegte, sondern in alle Richtungen des Raums, der wiederum von der Geschichte bestimmt wurde?“ (AW 94). Alle diese Passagen antizipieren und erläutern das Zeitereignis der mise en abyme (wie im übrigen auch der Epiphanien), wie dieses umgekehrt auf diese ‚unscheinbaren‘ Textabschnitte zurückstrahlt, sie gleichsam in den Rang eigenständiger mise en abymes erhebt, ein Verfahren, das an unzähligen weiteren Beispielen erläutert werden könnte und das den Text als Ganzes in ein wahres Spiegelkabinett wechselseitig sich kommentierender, deutender, rekurrierender Reflexionen und Erlebnisse verwandelt. Dabei folgen die Spiegelungen dem Prinzip von Wiederholung und Transgression, d.h. sie gewährleisten ein Wiedererkennen des/der wiederholten Zeichen(s), ohne jedoch eine semantische Konsolidierung und damit die Übersetzung in eine Bild-Abbild-Relation zu ermöglichen; als iterierende Zeichenkomplexe unterliegen die Spiegel vielmehr einer unaufhörlichen Verzeitlichung, genauer: sie sind der Effekt der „différance als Temporisation“, die jede aktuale, identifikatorische Signifikation und damit auch die Aktualisierung einer Referenz aufschiebt. Nach Derrida setzt dies voraus, „dass das Zeichen, welches die Präsenz aufschiebt (différant), nur von der Präsenz, die es aufschiebt, ausgehend und im Hinblick auf die aufgeschobene Präsenz, nach deren

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Ungeachtet der Frage nach der reliability des Erzählers154 – gibt er tatsächlich das wieder, was Epstein sieht oder liefert er dem Leser nicht vielmehr ein Trugbild oder eine Möglichkeit dessen, was Epstein sehen könnte? – wird die mise en abyme vorrangig zu einer Figur der Kritik, die das Abgründige des Epstein’schen Ästhetizismus offen legt.155

|| Wiederaneignung man strebt, gedacht werden kann“ (Jacques Derrida: Die différance, in: ders.: Randgänge der Philosophie, hrsg. v. Peter Engelmann, Wien 1988, S. 29–52, hier S. 35). „Postmodern“, so auch Lyotard, sei „als Paradox der Vorzukunft (post-modo) zu denken“ (Lyotard: Beantwortung der Frage: Was ist postmodern?, S. 48), insofern die postmodernen Künstler bei ihrer Arbeit nicht „durch bereits feststehende Regeln geleitet“ sind, sondern umgekehrt: „sie arbeiten, um die Regel dessen zu erstellen, was gemacht worden sein wird. Daher rührt, daß Werk und Text den Charakter eines Ereignisses haben. Daher rührt auch, daß sie für ihren Autor immer zu spät kommen, oder, was auf dasselbe führt, daß die Arbeit an ihnen immer zu früh beginnt“ (ebd.). Dieses regellose Arbeiten beansprucht auch Epstein für seine narrativen Visionen (vgl. AO 67 [93], wo er die „regole“ als „la forma di ciò che accadeva“, als die „Form der Geschehnisse“ selbst bezeichnet), wobei diese – im Unterschied zu Lyotard – ‚textloser‘ Text, ‚werkloses‘ Werk sind, deren materiellen, schriftlichen Generierung sich Epstein ja systematisch verschließt. Vor diesem Hintergrund kann der Aufenthaltsort der Vorzukunft, von dem sich die geschilderten Episoden herschreiben, immer nur aktuell und virtuell zugleich eingenommen werden; entsprechend ist auch das, was sich dort ereignet – die augenblickshafte Restitution des Ursprungs und der Einheit, die Begegnung mit der Sache selbst – Wirklichkeit und Fiktion zugleich. 154 Vgl. in diesem Zusammenhang auch Richters Ausführungen zu Del Giudices „Poetik der Wahrscheinlichkeit“, in: Richter: Trauerarbeit der Moderne, S. 198–203; zur quantentheoretischen Fundierung der probabilità in Atlante occidentale, S. 207 f. 155 Während ‚abyme‘, ein Begriff aus der Heraldik, das Wappen im Wappen bezeichnet und somit den Aspekt der Wiederholung anzeigt, bedeutet ‚abime‘ Abgrund; diese Doppelbedeutung ist der – im Übrigen von André Gide in die Literatur eingeführten – Figur der mise en abyme im Sinne von „in den Abgrund unendlicher Wiederholung werfen“ eingeschrieben. – Anders deuten Klinkert und – auf ihn rekurrierend – Dilmac das Verhältnis von Erzähler und Figur: Nach Klinkert verschmilzt Epsteins „Bewusstsein mit dem des außerhalb der Geschichte stehenden Erzählers“ (Klinkert: Daniele Del Giudice: Literatur und Erfahrung, S. 301), ein Kunstgriff, mit dem Del Giudice die im Falle einer internen Fokalisierung bzw. eines personalen Erzählens gegebene Richtung der Verschmelzung von Erzähler und Figur umdrehe (vgl. ebd.). Erst durch diese „paradoxe ‚mise en abyme‘ des Produktionsvorgangs“ (ebd.) wird „das von Epstein erlebte simultane Sehen auch für den Leser erfahrbar“ (ebd., S. 306 f.). Dass jedoch trotz dieser Verschmelzung von Erzähler und Figur zugleich deren Differenz erhalten bleibt, macht auch Klinkert deutlich: „Im paradoxen Verhältnis zwischen Epsteins Verstummen und dem Diskurs des Textes äußert sich der prekäre Status eines Textes, dessen Gegenstand die Grenzen des Sichtbaren und somit letztlich die Nichtdarstellbarkeit sind“ (Klinkert: Die Grenzen des Sehens und der Kommunikation: Del Giudices ‚Atlante occidentale‘ und ‚Staccando l’ombra da terra‘, in: ders. Epistemologische Fiktionen. Zur Interferenz von Literatur und Wissenschaft seit der Aufklärung, Berlin, New York 2010, S. 316–325, hier S. 322).

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2.3 Widerstreit: Moderne Anthropologie und condition postmoderne Auch wenn Brahe und Epstein dem Verlust des Empirischen in Wissenschaft, Kunst und Leben mit Faszination, Neugier und Gelassenheit begegnen – „Non ho nostalgia per la scomparsa delle cose“, behauptet Epstein (AO 62) –, so ist beiden jene romantische Sehnsucht der Moderne, die nach Lyotard postmodern überwunden ist,156 alles andere als fremd. Dieser sehr unaufdringlich gestaltete Gegendiskurs ist nicht nur auf der Erzählebene, sondern in den Protagonisten Brahe und Epstein selber angelegt. Zweimal ist von Brahes Sehnsucht nach der „solidità degli oggetti“, nach der „Festigkeit der Dinge“ (AO 23 [35]) die Rede. Einmal im Zusammenhang mit seinem eigenen Experiment: Er liegt mit geschlossenen Augen auf dem Bett, wird aber von den „visualizzazioni con le tracce“ (ebd.), den Bildschirmdarstellungen mit den Spuren, heimgesucht. Ein weiteres Mal im Kontext eines Feuerwerks,157 das die Stadt Genf unter Brahes Mitwirkung Epstein zu Ehren organisiert hat: Nachdem das Feuerwerk erloschen ist, gibt Epstein eine ausführliche Beschreibung dessen, was er gesehen hat, und nachdem auch dieses sprachliche Feuerwerk abgeklungen ist, heißt es von Brahe, er versuche di trattenere le forme che ha appena visto, o creduto di vedere; vorrebbe che gli restassero con la limpidezza con cui le ha percepite mentre ascoltava, vorrebbe che avessero la solidità di un punto esterno contro cui rimbalzare, vorrebbe isolarle una per una, disporle con un certo ordine, toccarle; ma c’è un circuito di assoluta fluidità, di scorrimento veloce, di continua trasformazione nel quale gli sembra di essere immerso, dove è difficile stabilire un qualunque punto fisso; (AO 135)158

|| 156 Vgl. Lyotard: Immaterialität, S. 38. 157 Vgl. hierzu ausführlich Dilmac, die dem Feuerwerk eine „Stellvertreterfunktion für die ausgesparte Darstellung jener Computersimulation“ zuweist, „die Brahes Experiment erfolgreich abschließen wird“ (Dilmac: Literatur und moderne Physik, S. 295 sowie S. 318–321). Zu einer facettenreichen, insbes. den zeitlichen und erzähltechnischen Aspekt berücksichtigende Analyse von Brahes Experiment vgl. ebd., S. 324 f. Zur „Idee der verzweigten Zeit“ vgl. auch Fendt, Wissenschaft und Imagination, S. 68 f. u. S. 72 f.). Dem Lichtspektakel weist Fendt die Funktion einer „Entfaltungsplattform imaginativer Energien“ zu (ebd., S. 86). 158 „[…] versucht Brahe die Formen zu behalten, die er eben gesehen hat oder die er geglaubt hat zu sehen; er möchte, daß sie sich ihm mit derselben Klarheit einprägen, mit der er sie beim Zuhören wahrgenommen hat; er möchte, daß sie die Festigkeit eines äußeren Punktes besitzen, von dem man abprallen kann, er möchte sie der Reihe nach isolieren, sie in einer bestimmten Reihenfolge anordnen, sie berühren; aber da ist ein absolut flüssiger, schnell dahin-

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Der Wunsch – durch den syntaktischen Parallelismus in seiner Eindringlichkeit gesteigert –, den imaginär gesehenen Bildern Festigkeit und Stabilität zu verleihen, sie als Bilder zu isolieren und zu ordnen, die non-cose gleichsam in cose zurückzuverwandeln und sie als objektives Gegenüber im Außenraum positioniert zu wissen, ist hier weder ästhetisch noch naturwissenschaftlich motiviert, sondern anthropologisch: Er ist Symptom der Überforderung angesichts einer im Schwinden begriffenen, sich (buchstäblich) liquidierenden Wirklichkeit, aus der es offenbar kein Entrinnen gibt (die parallelistisch erzeugte Spannungssteigerung wird durch das adversative „ma“ jäh unterbrochen und in ihr krasses Gegenteil, die Ernüchterung, verkehrt). Es ist Brahe selbst, der für dieses ‚metaphysischlogozentrische‘ Verlangen an anderer Stelle eine evolutionstheoretische Begründung liefert: Alles, die unsichtbaren Vorgänge im Experiment eingeschlossen, wäre auf natürliche Weise sichtbar, hätte sich nicht im Laufe der Phylogenese „una misura standard della percezione e della sensibilità“, ein „Standardmaß der Wahrnehmung und Sensibilität“ entwickelt (AO 106 [143]), entwickelt möglicherweise sogar dadurch, dass Atom- und Schwerkraft einst zwar zu den menschlichen Sinnesvermögen zählte, jedoch „an irgendeinem Punkt der Evolution zugunsten der Standardwahrnehmung geopfert“ worden war (sacrificato in chissà quale punto dell’evoluzione, AO 145 [195]) und gegenwärtig nur durch eine gigantische Prothese wie den Detektor substituiert werden kann.159 Werden in diesen Passagen Mensch und Technik in ein Kontinuum gebracht – die Technik, die jene dem Menschen widerfahrenen Evolutionsschäden kompensiert, erscheint als die sinnliche Linienverlängerung des sinnamputierten Menschen –, so markiert die Sehnsucht nach einer der Standardwahrnehmung adäquaten ‚standardisierten‘ Welt einen Bruch zwischen Mensch und Technik, natürlicher und virtueller Wahrnehmung: Der sinnlich wahrnehmende Mensch hinkt in seiner phylo- wie ontogenetischen Entwicklung gewissermaßen der von ihm selbst produzierten technologischen Wahrnehmungsmaschinerie und deren Rückwirkungen auf die natürliche, gleichwohl immer auch theoretisch mitgeprägte Sinneswahrnehmung hinterher. Und, sofern man Brahes evolutionstheoretische Vermutungen ernst nimmt: Der Mensch lässt sich offenbar nicht nahtlos an eine frühere Evolutionsstufe anschließen. Wenn Epstein seinen Freund Brahe anfangs einmal einen „Metaphysiker“ nennt, hat er damit nicht ganz unrecht: Nicht ohne Bewunderung

|| strömender, in ständiger Veränderung begriffener Kreislauf, in den er eingefügt zu sein scheint und in dem es schwierig ist, einen Fixpunkt auszumachen“ (AW 181). 159 Der wissenschaftlich-technologische Fortschritt kompensiert die durch die Evolution verursachten Opfer und Verluste; es ist ein vergangenheitsorientiertes Fortschreiten mit dem Ziel, Erkenntnisse über den Ursprung der Welt zu gewinnen.

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und Respekt nämlich denkt Brahe an dieses Standardmaß der Wahrnehmung „come al senso comune, alla sua straordinaria forza e confortevolezza e intolleranza“ (AO 106), wie an einen zwar eingeschränkten, aber in seinen Kräfteverhältnissen äußerst ausgeglichenen und damit funktionstüchtigen Gemeinsinn, einen, wie es in der Übersetzung treffend heißt, „Hausverstand“, der es dem Menschen möglich machte, sich in der Welt und in Übereinstimmung mit der Welt einzurichten.160 Die Sehnsucht, von der Brahe gelegentlich erfasst wird, ist eine Form der Trauer über die – auch metaphysische – Unbehaustheit. Die Aporie, in die Epsteins Experiment einer neuen Ästhetik mündet, wurde dahingehend beschrieben, dass eine adäquate und authentische ‚Darstellung‘ der non-cose nurmehr im entsinnlichten, rein geistigen Sehen möglich ist, seine neue Ästhetik also letztlich gegen Kunst und literarische Sprache überhaupt zielen muss. In seinem geplanten Vorhaben, einen „Atlante della luce“ zu verfassen, deutet sich jedoch eine Gegendiskursivität zu dieser radikal mit der Literatur brechenden Ästhetik an, ein Selbstwiderspruch, der zwar nicht zu einer Relativierung seiner Position – etwa im Sinne des Erzählers – führen wird, sehr wohl jedoch deren anthropologische Problematik sichtbar macht. Einen versteckten, nur ganz leise anklingenden Hinweis darauf, dass auch Epstein den Verzicht auf die (poetische) Sprache als eines elementaren Aspekts des menschlichen Wohnens in der Welt potentiell mit der Gefahr von Schutzlosigkeit und Unbehaustheit assoziiert, findet sich im letzten Abschnitt des siebten Kapitels: Geschildert werden die Eindrücke, die Brahe bei der Lektüre eines von Epstein verfassten Romans hat.161 Am Ende wird der Satz eines Protagonisten dieses Romans zitiert, ein Satz, der das Ende der frühen Ästhetik und damit das Ende von Epsteins literarischem Schaffen antizipiert, und deshalb als eine gedankliche Projektion des Autors Epstein auf die von ihm erzählte Figur gedeutet werden kann: „‚Lui [Epsteins Ro-

|| 160 Eine ganz ähnliche Forderung nach Normalität formuliert Brahe nach der Entdeckung der neuen Teilchen: „ihm schien […], daß Sehen nichts anderes bedeutete, als die Schwelle des Unsichtbaren ein wenig zu verschieben (che vedere significasse solo spostare un po’ in là la soglia del non visibile, AO 146), sie mit einem einzigen Lidschlag abzureißen und wieder zu errichten, und ihm schien, eine Maschine, die so groß war, eine Geometrie, die derart kompliziert, und eine Mathematik, die derart komplex war, daß das wahre Problem in der andauernden Normalisierung des Unendlichen (rinormalizzare continuamente l’infinito, AO 146) bestand, würden dabei helfen, strenge und konsequente Fragen zu stellen, die man solidarisch und konsequent beantworten musste“ (AW 197). 161 In diesen Eindrücken – und hier wäre ein weiteres Beispiel für die zahllosen Parallelisierungen und Spiegeleffekte des Romans – bestätigt sich, was Epstein selbst über seine frühere Ästhetik gesagt hatte, letztlich also der unabdingbare Zusammenhang von Poetik und Poesie, die gelungene Übersetzung der Regeln der Kunst in das literarische Werk.

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manheld] sapeva che non avrebbe piú potuto accucciarsi tra le parole come un animale nella tana‘“ (er wußte, daß er sich nicht mehr zwischen die Wörter kauern konnte wie ein Tier in seinen Bau, AO 81 [111]). Doch in eben diesen „Bau“ der Sprache, der nach Epsteins neuer Ästhetik seine Funktion als oikos des Menschen eingebüßt hat, nimmt Epstein mit seinem Atlas-Projekt Zuflucht: Scriverò un Atlante della luce, forse sarà l’ultimo cosa che scriverò... [...] Lo scriverò soltanto per me, un libretto da portarmi appresso, in tasca. Lo userò come gli ornitologi usano quelli per riconoscere e distinguere gli uccelli, o come i geografi usavano le carte. Certe volte mi sembra che la geografia sia la scienza piú fondamentale, legata com’è alla terra per via del nome, e cosí legata alle persone per via dell’orientamento... Forse il vero centro del pensiero e del sentimento è nell’orecchio, dove ci sono gli ossicini dell’equilibrio... Chissà, [...] forse alla fine imparerò una geografia diversa, in cui uno, sollevando gli occhi dalla carta che ha in mano, guarda e vede davanti a sé, attorno a sé, un’enorme carta a grandezza naturale, e nonostante questo è capace di mettere il dito in un qualsiasi punto e dire „qui“ e dire „io“... (AO 138)162

Epsteins Atlas-Projekt ist ein solipsistisches – sein Autor adressiert es an sich selbst – und nicht ein auf Kommunikation und Dialog mit anderen gerichtetes. Dennoch handelt es sich bei diesem Vorhaben um ein Schreibprojekt und damit um ein heimliches Vergehen an dem von Epstein selbst etablierten und autorisierten ‚anästhetischen‘ Gesetz der poetischen Sprech- und Schreibaskese.163 In dem Wunsch, das Licht – „la cosa piú comune […] eppure […] la piú privata“ (AO 137 [184]), vor allem aber das schnellste, flüchtigste, wandelbarste und

|| 162 „Ich werde einen Atlas des Lichts schreiben, vielleicht ist es das letzte, was ich schreibe… […] Ich werde ihn nur für mich schreiben, ein Brevier, das ich immer bei mir in der Tasche trage. Ich werde es so benutzen, wie die Ornithologen die Handbücher benutzen, mit deren Hilfe die verschiedenen Vögel bestimmt und unterschieden werden, oder wie die Geographen ihre Karten benutzen. Manchmal habe ich den Eindruck, die Geographie sei die grundlegendste aller Wissenschaften, da sie schon aufgrund ihres Namens so sehr an die Erde gebunden ist, und an die Menschen aufgrund der Orientierung… Vielleicht liegt das wahre Zentrum des Denkens und Fühlens im Ohr, wo die Gleichgewichtsknöchelchen sind… Wer weiß, […] vielleicht werde ich am Schluß eine andere Geographie erlernen, bei der man, wenn man den Blick von der Karte in der Hand erhoben hat, um sich blickt und vor sich und rund um sich eine riesige Karte in natürlicher Größe sieht und trotzdem in der Lage ist, den Finger auf einen bestimmten Punkt zu legen und ‚hier‘ und ‚ich‘ zu sagen…“ (AW 185). 163 Als Epstein sein Atlas-Projekt gegenüber Brahe ankündigt, blickt ihn dieser überrascht an, woraufhin Epstein lächelnd den Kopf schüttelt und erklärt, dass er den Atlas nur für sich selbst schreiben wird. Brahes Blick kann übersetzt werden: ‚Sie werden also doch wieder schreiben?‘, ebenso Epsteins Reaktion: ‚Nein, ich bleibe meinem Experiment treu, ich schreibe den Atlas nur für mich selbst, werde ihn in die Tasche stecken, verstecken und ihn vor anderen verbergen‘.

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diffuseste aller Dinge – kartographisch zu vermessen und in seinen für den Menschen unendlichen phänomenalen Ausprägungen zu ordnen, zu differenzieren und sprachlich festzuhalten, spiegelt sich die Kehrseite jener im Schwinden begriffenen, unendlich vervielfältigten, partikularisierten und atomisierten Welt als ein unbeherrschbares Chaos, innerhalb dessen dem seinerseits nicht mehr identifizierbaren Subjekt jegliche Orientierung abhanden gekommen zu sein scheint.164 Epstein projiziert an dieser Stelle die physikalische Doppelnatur des Lichts in die ebenso ethisch wie erkenntnistheoretisch aufgeklärt-modern konnotierte Semantik von ‚Licht‘ und ‚Finsternis‘: Die allgegenwärtige Herrschaft des Lichts – „una cosa fuori misura, fuori del tempo, ovunque nello spazio, non circoscritta, senza solidità“ (ein Ding, für das es kein Maß gibt, das außerhalb der Zeit ist und überall im Raum, das keine Grenzen kennt und keine Festigkeit; AO 137 [184]), das die Konturen der Wirklichkeit und mit ihnen die Möglichkeit sinnlicher Wahrnehmbarkeit und ästhetischer Gestaltbarkeit ‚absorbiert‘ – führt in eine Dunkelheit, der (zumindest solange, bis aus der neuen Wirklichkeit der non-cose die neuen Tatsachen und mit ihnen die neuen Wahrnehmungs-, Erkenntnis-, Seinsweisen hervorgegangen sein werden; vgl. AO 146 [195 f.]) nur über eine zeichenhafte und wie auch immer ästhetisch und aisthetisch vermittelte Ordnung beizukommen ist. Liest man die von Epstein getroffene Feststellung, dass das Licht stets dasselbe bleibe und nur die Gefühle es seien, die sich verändern („la luce resta sempre uguale a se stessa, cambiano soltanto i sentimenti“, AO 137 [184]), im Zusammenhang mit seiner Angst, mit dem Schwinden der Dinge könnte ihm auch das Gefühl abhandenkommen (AO 62 [87]), dann erscheint seine Sicht auf die Postmoderne als eine zutiefst ambivalente: So sehr er die Buntheit, Vielfalt und Leichtigkeit der immaterialen Wirklichkeit begrüßt, so kritisch wendet er sich auch gegen eine Postmoderne, deren Differenzierungsmanie in die Uniformierung von Denken und Fühlen zu kippen droht.165 Der Maßlosigkeit des Lichts setzt Epstein die kartographische

|| 164 Vgl. hierzu auch Richter: Trauerarbeit der Moderne, S. 211 f.: „Wer wie die versierten Hobbypiloten Brahe und Epstein seine Identität gemäß dem Modell der Navigation – also relational zu den umgebenden Objekten – bestimmt, wird in einer Welt des Übergangs dieser Objekte in Dinge des Lichts die größte Schwierigkeit geraten, noch Ich zu sagen.“ 165 Zur Abgrenzung der „veritablen Postmoderne“ von der „postmodernen Einäugigkeit“ einer „Pseudo-Postmoderne“ vgl. Wolfgang Welsch: Die Postmoderne in Kunst und Philosophie, S. 48–49 u. 59–61. – In diesen Kontext müsste Brahes und Gildas Besuch des Schloss Voltaire einbezogen werden. Der Führer, kein anderer als der zukünftige Erbe des Schlosses, genealogisch also zum Stammbaum Voltaires gehörend, zeigt sich als typischer Repräsentant der Aufklärung (vgl. das Candide-Zitat, AW 149). Die völlige Dunkelheit, die im Schlossinneren herrscht, die Beschreibung, wie Brahe und Gilda sich in der Dunkelheit des Raumes über Tast-,

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Vermessung des Lichts entgegen – und behauptet sich damit, wie virtuell auch immer, als Autor(ität). Unter der Prämisse, dass alles Materielle in seiner elementarsten Form als nicht-dinghaft und damit als reine Licht-‚Substanz‘ erscheint, das Licht also Integral für schlechterdings alles ist, erweist sich Epsteins Vorhaben, einen „Atlas des Lichts“ zu verfassen, als ein enzyklopädisches Projekt. Indem Epstein überdies die mannigfaltigen qualitativen Erscheinungsweisen des seiner Natur nach immer gleichen Lichts ursächlich an den – seinerseits durch das Schwinden der Dinge bedingten – Wandel der menschlichen Gefühle und Perzeptionen rückbindet, charakterisiert er seinen „Atlas des Lichts“ zugleich als einen Atlas menschlicher Emotionen und Wahrnehmungsweisen. Thema des Atlas wäre demnach das immaterielle Licht, in das alles Materielle transformiert und das untrennbar mit den immateriellen Gefühlen und Wahrnehmungen verschränkt ist. Was es kartographisch und enzyklopädisch zu erfassen gälte, wäre das eine Ding ‚Licht‘ in seiner pluralen und polysemantischen Phänomenologie, die zugleich einer Phänomenologie der Wahrnehmungen und Empfindungen entspräche. Ins Linguistische übersetzt würde dies die qualitative Erfassung des einen Substantivs ‚Licht‘ mittels unendlich vieler Adjektive bzw. Attribute bedeuten (vgl. AO 137 [184]). Die Korrelation von Lichtattributen und Empfindungen ist jedoch keine generalisierbare, sondern eine zutiefst individuelle: Im Akt der Kommunikation bzw. im Akt des Lesens würde sich jedes dem Licht zugeschriebene Attribut seinerseits in eine Pluralität der Vorstellungen disseminieren und dadurch letztlich seine Klassifikations-, Beschreibungs- und Orientierungsfunktion einbüßen (vgl. AO 137 [184]). Die „schwindelerregende

|| Gehör- und Geruchssinn orientieren (die Umkehrung der Sinneshierarchie, die Ausschaltung des Gesichtssinns als aufklärerische Metapher für die Vernunft), die metaphorische Wegsemantik („es gibt keinen Anhaltspunkt mehr für den Rückweg“, AW 150) und schließlich das restlos entfernte, weil verlorengegangene und „immer weniger gebrauchte“ Mobiliar, von dem nur noch „Spuren“ an Wänden und Tapeten zeugen, all dies zeigt das Ende der Aufklärung an. Die Fensterläden, so der Führer, müssten wegen der Möbel geschlossen bleiben, genauer: wegen des „Abdrucks“, des „Umrisses“ und der „Spuren“, welche die Möbel auf den Wänden und Tapeten hinterlassen haben, „denn das Licht könnte mit der Zeit alles gleichmachen, den Abdruck der Gemälde und Schränke tilgen, und Stofftapeten und Wände würden einheitlich gelb werden, so daß man keine Spuren mehr sehen würde“ (AW 152). Im Namen der Aufklärung wird hier das Licht – zentrale Metapher der Aufklärung – ins Negative verkehrt: Das Licht der kritisch-differenzierenden Vernunft hat sich – so die Einschätzung des Voltaire-Erben – gewandelt in einen universalen Licht-‚Immaterialismus‘, der die Vernunft unter die Herrschaft der Technik stellt und sie zur Blindheit verdammt. Entsprechend ist der Führer auch der einzige, der sich kritisch über das CERN äußert: Eines Tages, so heißt es, werde ihm das ganze Anwesen gehören, „wenn die vom Ring nicht alles in die Luft jagen“ (AW 149).

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Selbstreferentialität“ (Lyotard) des Lichts würde zwangsläufig auf das Schreiben und Lesen des Atlas übergreifen.166 Mit seiner Wahl der ‚Text‘-Sorte „Atlas“ knüpft Epstein gattungspoetologisch an sein Erstlingswerk Atlante delle andature (Atlas der Gangarten, AO 58 [82]) an und setzt ferner das professionelle Erbe seines Vaters – „mio padre era un geografo“ (AO 123 [165]) – fort. Definiert als eine „Zusammenstellung von Karten in Buchform oder eine Folge von Einzelkarten, die eine sachliche Einheit bilden“,167 ist der Atlas durchaus mit einem enzyklopädischen Wörterbuch vergleichbar, das in der alphabetischen Reihung von Einzelartikeln die einheitliche Ordnung des Wissens oder eines Wissensgebiets abbildet. Ihrem epistemischen Inhalt, aber auch ihrem auf Bildung und Wissensvermittlung gerichteten Zweck entsprechend, werden sowohl Atlanten als auch Enzyklopädien vorrangig mit wissenschaftlichen Schreib- und Darstellungsweisen, also mit solchen Formen rationaler Wissenskonfiguration assoziiert, die auf Definition, Klassifikation und Systematik ausgerichtet sind. Wenn der Romancier Epstein auch wissenschaftliche Darstellungs- und Gattungsformen bedient, so steht zu vermuten, dass er an jene neuzeitlich-aufgeklärte Tradition der „artistischen Enzyklopädie“ anschließt, die „an der Möglichkeit einer Trennung von mathesis und poiesis gerade zweifelt“ und die Literatur nicht als „‚das Andere‘ des Wissens, die Sphäre außerhalb seiner Ordnungs- und Begriffswelten“ ausgrenzt, sondern sie – „gerade als Schreibweise“ – als ein „Dispositiv des Wissens“ anerkennt.168 Für diese Annahme einer wie auch immer konkret gestalteten Verschränkung von Literatur und Wissenschaft sprechen mehrere Indizien. Zunächst sind es die exotischen, in wissenschaftlicher Perspektive keine eigenständigen disziplinären Wissensgebiete formatierenden Themen der Epstein’schen Atlas-Projekte: Sowohl die „Gangarten“ als auch das „Licht“ werden durch die ‚atlantisch-

|| 166 Er könnte, so Epstein gegenüber Brahe, von jeglichem Typ Licht erzählen, doch würde Brahe sich sicher ein anderes vorstellen als er selbst (AW 184). In dieser Unmöglichkeit, das Licht qualitativ so zu erfassen, dass die Beschreibungen ähnliche oder gar identische Vorstellungen bei einem anderen hervorrufen, liegt auch der ganz pragmatische Grund für Epsteins Vorhaben, den Atlas nur für den Eigengebrauch zu verfassen. Der Atlas wäre zwar für andere durchaus lesbar, doch wären diese Lektüren aufgrund der fehlenden phänomenologischen Vergleichsmöglichkeiten radikal partikularisiert und singularisiert und damit nicht mehr integrierbar in einen gemeinsamen Vorstellungs-, Kommunikations-, Deutungs- und Orientierungszusammenhang. 167 Heinz Musall: Art. „Atlas“, in: Lexikon der Geographie in vier Bänden, Bd. 1: A bis Gasg, hrsg. v. Ernst Brunotte, Hans Gebhardt u.a., Heidelberg, Berlin 2001, S. 88. 168 Andreas B. Kilcher: mathesis und poiesis. Die Enzyklopädik der Literatur 1600 – 2000, München 2003, S. 18 u. 19.

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enzyklopädische‘ Darstellung gleichsam vom Rang eines Phänomens und Begriffs in den Rang einer Disziplin erhoben; entsprechend verlangt ihre adäquate Erfassung nicht mehr die Teilform des Artikels oder der Einzelkarte, sondern das Ganze einer Enzyklopädie oder eines Kartenwerks. Ein weiterer Hinweis auf den Synkretismus von Literatur und Wissenschaft ist Epsteins Hervorhebung der Geographie als der grundlegendsten aller Wissenschaften: Gleichermaßen an die Erde und die Menschen gebunden ist die Geographie eine ‚Interdisziplin‘ mit natur- und humanwissenschaftlicher Ausrichtung, die sich mit der „Erdoberfläche in ihrer räumlichen Differenzierung, ihrer physischen Beschaffenheit sowie als Raum und Ort des menschlichen Lebens und Handelns“ beschäftigt.169 In der Konnexion von Mensch- und Dingwelt, von nomologischen und ideographischen Erkenntnisinteressen, von positivistischen und hermeneutischen Methoden sowie von begrifflichen und ikonisch-symbolischen Ausdrucksmitteln170 weist die Geographie eine unübersehbare Affinität zu Epsteins früher Ästhetik, vor allem aber – wie noch zu zeigen ist – zur Ästhetik des Romans auf. – Die Bezeichnung seiner Atlanten als „sillabario“, der wie ein ornithologi-

|| 169 Hans H. Blotevogel: Art. „Geographie“, in: Lexikon der Geographie in vier Bänden, Bd. 2: Gast bis Ökol., hrsg. v. Peter Meusburger u.a., Heidelberg, Berlin 2002, S. 14. Die von Epstein angesprochene Doppelbindung der Geographie an Erde und Menschen entspricht der Zweiteilung der Geographie in die naturwissenschaftliche Physische Geographie einerseits, in die gesellschafts- und kulturwissenschaftlich ausgerichtete Humangeographie andererseits. Entsprechend dieser Differenzierung folgt die Physische Geographie dem methodologischen Prinzip, „dass der reale Gegenstand der Geographie (Ausschnitte der Erdoberfläche usw.) unabhängig vom Beobachter existiert und wahr und unverzerrt in den Ergebnissen der wissenschaftlichen Arbeit (Texte, Karten usw.) repräsentiert werden soll“, während die Humangeographie, „deren Gegenstände immer (auch) der sozialen und geistigen Welt angehören und insofern nicht als außerhalb unseres Denkens und unserer Sprache existent angenommen werden können“, ihre Ergebnisse als „Rekonstruktion“ und „Repräsentation“ begreift, „die einerseits von ihrem realen Gegenstand, andererseits von den […] Erkenntnisvoraussetzungen der Geographen bestimmt wird“ (ebd., S. 16). Der Zusammenführung der beiden relativ eigenständigen Zweige in einer „übergreifende[n] ökologischen Betrachtungsweise des GesellschaftUmwelt-Verhältnisses“ (ebd., S. 15) ebenso wie einer „wertorientierten geographischen Bildung, in deren Zentrum neben dem geographischen Wissen die geographische Handlungskompetenz steht“ (ebd., S. 16), kommt aufgrund der menschlichen Eingriffe in die natürliche Umwelt zunehmende Bedeutung zu. 170 Zu den wichtigsten kartographischen Zeichen gehören Positions-, Linear- und Flächensignaturen, aber auch ikonische Signaturen, deren Ikonizitätsgrad „von abstrakt-geometrisch bis assoziativ-bildhaft“ reicht, sowie symbolische und indexikalische Signaturen. In der Legende werden die Kartenzeichen „mit dem zugehörigen Begriff identifiziert bzw. verbal erläutert“ (vgl. Wolf G. Koch: Art. „Kartenzeichen“, in: Lexikon der Geographie in vier Bänden, Bd. 2, S. 214).

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sches Handbuch oder eine geographische Karte zu benutzen sei, vernetzt seine Atlas-Projekte mit dem geradezu leitmotivischen Vorkommen von Ordnungssystemen, allen voran dem Alphabet.171 Dieses dritte Indiz dafür, dass die AtlasProjekte einer poetica scientiae zuzurechnen sind, indiziert ebenfalls eine Kontinuität mit seiner frühen Ästhetik – und damit ein gegendiskursives Moment zu seiner Ästhetik des reinen Sehens – und verknüpft ein weiteres Mal den literarischen Diskurs des Romans mit dem naturwissenschaftlichen. Mit der Einführung des Alphabets als eines „enzyklopädischen Schreibparadigmas“ – als einer „literarischen Praxis der Enzyklopädie“ – wird die „Ordnung der Dinge“ (im Sinne des systematisierten Wissens) der „fragmentarischen und arbiträren Ordnung der Sprache überantwortet“,172 dies mit dem Effekt, dass das Wissen selbst eine Versprachlichung und Arbitrarisierung erfährt.173 Im Roman ist es Brahe, der auf diesen Zusammenhang unmissverständlich hinweist, wenn er die wissenschaftlichen und erst Recht populärwissenschaftlichen Bilder von Dingen, die sich jeglicher Form der Repräsentation verweigern, als gleichsam phantasmatographisch erzeugte imagines entlarvt, „die sich im Hinblick auf die Dinge so willkürlich und allmächtig verhielten wie das Alphabet“ („arbitrarie e potenti […] come un alfabeto“, AO 79 [109]). Wie beim Alphabet handelt es sich bei diesen Bildern um eine „Ordnung der Unordnung“, eine „nichtmotivierte Ordnung“, die, obzwar in ihrer Arbitrarität ungeordnet und bedeutungslos – „sie löscht alles aus, verdrängt alle Herkunft“174 –, dennoch einen Zusammenhang in der Abfolge der Buchstaben von A bis Z bzw. in der Schichtung eines Sandwiches (vgl. AO 79 [109]) suggeriert und dazu verleitet, „die atomisierten Fragmente erneut zu einer Totalität zu synthetisieren und Nachbarschaften und Sinnbezüge herzustellen“.175 Und wie für die Alpha-

|| 171 Vgl. noch einmal AO 60 [84], 71 [98], 86 [117]. 172 Kilcher: mathesis und poiesis, S. 178. Die Säkularisierung des Wissens ist die wissenschaftsgeschichtliche Voraussetzung dieses „geradezu kopernikanische[n] Paradigmenwechsel[s] in der Schreibweise der Enzyklopädie“: „Als Säkularisierung des Wissens nämlich erweist sich der Wechsel von einem metaphysisch und ontologisch disponierten Wissen, das sowohl die theologisch zentrierte Enzyklopädik des Mittelalters als auch die rationale Enzyklopädik der Frühen Neuzeit regulierte, zu arbiträren Wissensformen seit dem letzten Drittel des 17. Jahrhunderts“ (ebd.). 173 Vgl. ebd., S. 178 f. 174 Diese und die vorausgehenden Formulierungen aus Roland Barthes: Über mich selbst, München 1978, S. 160, hier zitiert nach Kilcher: mathesis und poiesis, S. 200, der sich ausführlich mit Barthes Theorie des Alphabets im enzyklopädischen Zusammenhang auseinandersetzt. 175 Kilcher: mathesis und poiesis, S. 200. Mit dem Hinweis auf die Arbitrarität des Alphabets negiert Brahe erneut den repräsentativen Status wissenschaftlicher Abbilder; darüber hinaus

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betisierung der Enzyklopädie, so ist auch für ikonographisch oder kartographisch gestaltete Atlanten das Kriterium der „Nützlichkeit“ bestimmend: „Die Wahrheit im Gehalt weicht der Nützlichkeit in der Darstellung des Wissens.“176 Die ausgewiesene ‚Benutzerfreundlichkeit‘ von Atlanten und Enzyklopädien hängt damit aufs engste zusammen: Die Arbitrarität der alphabetischen und kartographischen Aufschreibe- und Darstellungspraxen und der dadurch hervorgetriebene Effekt einer Arbitrarisierung und Partikularisierung sowohl des Textes als auch des Wissens bedingt den Wandel im Lektüreverhalten vom ‚linearen‘ Lesen zum Nachschlagen.177 Mit seinem Vorhaben, einen „Atlas des Lichts“ zu schreiben, reagiert Epstein auf seine eigene Sicht auf die Welt als einer in die Immaterialität des Lichts aufgelösten. Diese konturlose, formjenseitige, rein geistige Welt, der keine natürliche Außenwelt mehr entspricht, ist jene Geosphäre, die es kartographisch abzubilden gilt. Sein „Atlas des Lichts“ ist damit ein Atlas, dessen Gegenstand die Geographie seines Geistes ist und der deren Mangel an Formen, Konturen und Differenzen kompensieren soll. Intendiert als Gegenprojekt zum theoretisch-abstrakten „Sehen jenseits der Formen“, zielt das kartographische Schreiben darauf ab, die Welt des Geistes zu ‚erden‘, sie also physiognomisch zu dimensionieren, zeichenhaft nach außen zu projizieren, ihr ein geographisches Design zu verleihen, sie ganz buchstäblich zu designieren und sie auf diese Weise wieder für eine sinnliche Anschauung und sprachlich-hermeneutische Erfassung zu öffnen. Epsteins Vorhaben entspringt dem Wunsch, gegen das „Schwinden der Dinge“, gegen ihre Immaterialisierung ins rein Abstrakte anzuschreiben, indem er die non-cose zeichenhaft (in der Materialität des Sprachkörpers) zu rematerialisieren und in der

|| erinnert er abermals den Bildherstellungsprozess, denn digitale Bilder „sind im Wortsinn, unter Verwendung eines Alphabets, geschriebene Bilder“ (Grube: Digitale Abbildungen, S. 188). Dabei geht Grube von einem „notationellen Schriftbegriff“ aus, der (im Unterschied zum reduzierten „phonographischen Schriftbegriff“) das „Spezifische der Schrift“, nämlich ihre „Operativität“ berücksichtigt. Entsprechend fungiert hier der Terminus „Alphabet“ als Oberbegriff für eine Pluralität von Schriftcodes und umfasst z.B. auch „Notenschriften, Tanzschriften und mathematisch-logische oder formale Schriften“ (ebd., S. 188 f.). 176 Kilcher: mathesis und poiesis, S. 227. Das Kriterium der Nützlichkeit rückt das Kriterium der Wahrheit in den Hintergrund: „Das Alphabet organisiert ein Wissen, das nicht mehr ontologisch und rational, sondern praktisch und pragmatisch ist. Als entscheidendes Kriterium der Alphabetisierung der Enzyklopädie wurde deshalb die Nützlichkeit hervorgehoben, und eben nicht mehr eine wie auch immer metaphysisch verstandene Wahrheit“ (ebd., S. 216). 177 Vgl. ebd., S. 227, v.a. 265–275. – Atlanten und Enzyklopädien stehen von jeher im Dienst von Bildung und Ausbildung, was sich im Falle der Enzyklopädie nicht zuletzt in ihrer etymologischen Verwiesenheit auf die paideía im Sinne der Lehre, Ausbildung und Erziehung spiegelt.

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Topographie der atlantischen Karten zu verorten intendiert.178 Dieser Absicht wohnt auch ein wissenschaftskritisches Moment inne, geht es doch nicht zuletzt auch darum, den unendlich kleinen Maßstab, mit dem die Technowissenschaften operieren, um Informationen über das äußerst Große zu gewinnen, wieder auf einen menschlichen, sinnen- und sinngerechten Maßstab zu bringen.179 Diese kartographische ‚Rettung der Phänomene‘ geht notwendig mit Prozessen der Ästhetisierung einher: mit einer Re-Aisthetisierung im Sinne der Wiederversinnlichung einer sinnlich nicht mehr wahrnehmbaren, sinnlich enteigneten Welt, mit einer Re-Ästhetisierung im Sinne der vorübergehenden Aufhebung jenes von Epstein erklärten programmatischen Endes von Kunst und Literatur, vor allem aber im Sinne der bildhaft-kartographischen Darstellung des Undarstellbaren und der fiktionalen Erzeugung von Dingen, die es als Dinge nicht (mehr) gibt. Nicht zuletzt verweist der kartographische Darstellungsmodus auf einen Begriff des Schönen, der sich vom klassischen Ideal der Ordnung, der geregelten Relation und Übereinstimmung der Teile zu einem Ganzen und der Symmetrie her bestimmt180 und sich darin mit dem naturwissenschaftlich-mathematischen Verständnis von Schönheit trifft. Das rein formal definierte Schöne ist hier jedoch

|| 178 Das Atlas-Projekt ist durch die Paradoxie gekennzeichnet, dass der von jeder Sinnlichkeit abstrahierten geistigen Welt über das seinerseits abstrahierende Schreibverfahren der Kartographie eine konkret-sinnliche Gestalt gegeben werden soll. Diese kartographisch und damit virtuell erzeugte konkrete Gestalt ist Abstraktion der Abstraktion, weist also, obwohl sie die gestalthafte Annäherung an die natürliche Welt bedeutet, einen höheren Abstraktionsgrad auf als jene abstrakte Welt des Geistes, deren Abbildung sie ist. Wollte man – entgegen seiner ‚Ästhetik ohne Kunst und Literatur‘ – Epsteins ‚Sehen jenseits der Form‘ bildhaft darstellen, wäre dies nur in der abstrakten ‚Form‘ eines weißen Blattes bzw. einer weißen Fläche denkbar. Die kartographische Übersetzung dieser weißen Fläche wäre dann die Auflösung der ‚NichtFarbe‘ Weiß in ihre farblichen ‚Bestandteile‘. Abstraktion bezeichnet hier also, um auf ein Bild Epsteins zurückzugreifen, einen Vorgang der Re-Positivierung des Negativs (das Weiß, das Licht, das Negativ als Inbegriff aller Farben und aller Möglichkeiten). 179 Vgl. dazu auch Lyotard: Immaterialität, S. 82. 180 Wesentliches Kennzeichen eines geographischen Atlas ist, „dass die Karten hinsichtlich Format, Begrenzung, Maßstäben, Inhalt und Graphik aufeinander abgestimmt sind“ (Musall: Art. „Atlas“, S. 88). Analog gehören zu den Merkmalen einer Karte, definiert als ein „abstrahierendes und zugleich anschauliches Modell aus graphischen Zeichen“: die mathematisch definierte, nie verzerrungsfreie Verebnung (Kartennetzentwurf) und Verkleinerung (Maßstab), eine hohe Anschaulichkeit infolge der geometrischen Ähnlichkeit zur Erdoberfläche und der damit verbundenen Wahrung von Lagebeziehungen, die Verwendung graphischer Zeichen (= Kartenzeichen) und spezifischer Methoden der graphischen Abstraktion, mit der eine begriffliche Abstraktion einhergeht und schließlich die Verwendung von benennender und erklärender Schrift (geographische Benennungen, Namen, Zahlen). Vgl. Konrad Großer: Art. „Karte“, in: Lexikon der Geographie in vier Bänden, Bd. 2, S. 207–208.

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weder Spiegel einer schönen Natur noch Kennzeichen einer autonomen schönen Kunst, sondern ausschließlich funktional bestimmt, d. h. der praktischen Zweckmäßigkeit des Gebrauchs unterstellt.181 Auf die Praktikabilität deutet bereits Epsteins Absicht hin, den Atlas immer bei sich in der Tasche zu tragen. Das Taschenformat bezieht sich nicht nur auf die Größe des Atlas, sondern mehr noch auf seine einfache Handhabung: Es ermöglicht die ökonomische Lektüre des Nachschlagens und Nachschauens und gewährleistet die jederzeitige Verfügbarkeit – das jederzeitige „Zur-HandHaben“ – des kartographisch und lexikographisch organisierten Wissens.182 Zu gebrauchen wie ein ornithologisches Handbuch, mit dessen Hilfe „die verschiedenen Vögel bestimmt und unterschieden werden“ (AO [185]), soll der Atlas vor allem die definitorische Identifikation und Differenzierung jener indifferenten Licht-Welt leisten, die potentiell zwar alles ist, in der aber nichts mehr sinnlich und sinnhaft unterschieden werden kann.183 Als Kartenwerk ermöglicht der

|| 181 Auch in diesem Zusammenhang erweist sich die Brauchbarkeit des Design-Begriffs: Das Design verbindet Ästhetik (Gestaltung eines Gegenstandes), Technologie (industrielle Gestaltung) und Funktionalität (Gebrauch). Alle diese Faktoren binden den produzierten Gegenstand an den gesellschaftlichen Kontext zurück: Die Produktion von Designer-Gegenständen orientiert sich an der gesellschaftlichen Nachfrage. Die „Krise des Design“ sieht Lyotard darin, dass sich die „industrielle Produktion in bezug auf die gesellschaftlichen Bedürfnisse […] verselbständigt hat“, der Designer deshalb auch seiner „utopischen Aufgabe“, an der Verbesserung der Gesellschaft mitzuwirken, nicht mehr nachkommt (Lyotard: Immaterialität, S. 28 u. 31; vgl. auch S. 33). Epstein verweigert sich dieser sozialen Forderung in denkbar radikaler Weise. Seine ethisch motivierte Preisgabe der Literatur – die authentische Darstellung der non-cose ist der Verzicht auf Darstellung überhaupt – erweist sich in gesellschaftlich-sozialer Hinsicht als geradezu unethisch. 182 Zu erinnern ist in diesem Zusammenhang noch einmal an die Szene, in der Brahe und Rüdiger das Maschinenlager aufsuchen. Auch hier wird die im Magazin herrschende systematische Ordnung mit dem Aspekt der Verfügbarkeit verknüpft und mit einem Wörterbuch verglichen („ordinate e disponibili, come un vocabolario“ [AO 71]). Darüber hinaus bindet die Magazin-Metapher die Aspekte der Ordnung und Verfügbarkeit an den memoria-Diskurs zurück. 183 Das Schreibprojekt „Atlas des Lichts“ ist eingebunden in eine zyklische Struktur von Weltvernichtung und Weltschöpfung: In einer Umkehrung des biblischen Schöpfungsaktes gehen die Dinge zunächst in der Indifferenz des Lichts unter; der „Atlas des Lichts“ lässt die Dinge im Akt des Schreibens wieder aus dem Licht hervortreten. Das Schreiben (Kartographieren und Lexikographieren) ist – nun in Analogie zur göttlichen Rede – mit den Akten des Unterscheidens und Benennens verbunden. Darüber hinaus finden sich Merkmale der Johannesoffenbarung: Der Untergang der Welt ist im Roman zwar völlig entdramatisiert und ins Schöne und Gute gewendet – das „Schwinden der Dinge“ ist Welt-Nichtung, nicht WeltVernichtung! –, doch ist mit Brahes und Epsteins wiederholtem Hinweis, dass von dort, von der genichteten Welt, die „neuen Tatsachen“, Wahrnehmungs- und Seinsmöglichkeiten kommen werden („Le cose che ci saranno vengono da lí“, AO 104 [141]; vgl. auch 146 [195 f.]), ein

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Atlas geographische Ortsbestimmungen und dient dem Benutzer ganz allgemein der Orientierung und Navigation; als Kartenwerk der menschlichen Emotionen, Wahrnehmungsweisen und Gedanken (s.o.) dient Epsteins Licht-Atlas vor allem aber der inneren Orientierung. Dabei verbindet sich mit der topographischen und lexikographischen Registrierung von Emotionen, Kognitionen und Perzeptionen eine psychotherapeutische Funktion: Wie sich die Dinge im Schwinden zunehmend pluralisieren und vereinzeln und schließlich in ein homogenes Licht auflösen, so verästeln sich auch die Gefühle, werden zunehmend richtungslos und drohen schließlich ganz zu erlöschen (Vgl. AO 30 u. 62 [44 u. 87]); ihre kartographische Aufzeichnung ist folglich nichts anderes als der Versuch, jene mit der De-Aisthetisierung und De-Ästhetisierung der Wirklichkeit drohende Gefahr einer Anästhetisierung des Menschen im Sinne der Einbuße jeglicher Sensibilität und Empfindsamkeit abzuwehren.184 Epsteins Hoffnun-

|| adventistisch-messianistisches Element eingeführt. Der Roman folgt dabei der apokalyptischen Zeitstruktur (Zeit des Untergangs – Interimzeit des tausendjährigen Reiches – Ewiges Reich Gottes), wobei die erzählte Zeit im Übergang von Welt-Nichtung und Interimzeit angesiedelt ist, auf die Zukunft hingegen lediglich ‚prophetisch‘ verwiesen wird); ferner erscheint der apokalyptische Mythos (Weltzerstörung – tausendjähriges Reich – Herabkunft des neuen Jerusalem bzw. Etablierung des Reiches Gottes) im Roman nicht nur als eine säkularisierte, sondern als eine dezidiert szientifizierte Variante: Die Wissenschaft ‚nichtet‘ die Welt und lässt zugleich eine neue Welt entstehen. Welt-Nichtung und Welt-Schöpfung werden dabei als Kontinuum ausgewiesen, letztlich als eine durchgängig optimistisch gewertete Fortschrittsgeschichte. Lediglich in der Tatsache, dass auf Mythen zurückgegriffen wird, kann als latente Kritik am Wahrheitsanspruch der Wissenschaft gelesen werden: Der Mythos der Religion wird durch den Mythos der Wissenschaft abgelöst; was diese Mythen zu erkennen geben, ist letztlich eine Frage des Glaubens. 184 In dieser Intention ist Epsteins Projekt vergleichbar mit der Licht-Kunst etwa eines James Turrell. Auch hier geht es um das Sehen des Sehens, um die Wahrnehmung der Wahrnehmung, um die sinnlich-körperliche Erfahrung des Lichts in objektlosen und semantisch entleerten Räumen. Vgl. dazu Hartmut Böhme: Das Licht als Medium der Kunst. Über Erfahrungsarmut und ästhetisches Gegenlicht in der technischen Zivilisation. Antrittsvorlesung an der Humboldtuniversität Berlin am 2. November 1994 (im Folgenden zit. nach http://edoc.huberlin.de/humboldt-vl/boehme-hartmut/PDF/Boehme.pdf; letzter Zugriff: 26.09.19): „Die semantisch leere, doch feinstoffliche Fülle des Lichts schafft eine Raumpräsenz, die zur Präsenz des Betrachters wird. Er erfährt sich räumlich und als räumlich: denn das leibsinnliche Bewusstsein ist von einer eigenen Räumlichkeit. Damit, nicht mit Dingen der Natur, beginnt Naturästhetik“ (S. 28). Der Weg, den der Rezipient von/in Turrells Licht-Räumen zurücklegt, ist der „vom minimalen Licht zu einer maximalen Bewusstheit der eigenen Wahrnehmungsrealität. […] Das Minimum bezeichnet […] die geringstmögliche Differenz, welche Wahrnehmung allererst konstituiert, zum anderen den zur Objektlosigkeit gereinigten Raum oder die Farbfläche. Gerade dadurch, daß keinerlei ‚objektive‘ Differenz vorliegt, wird eine eigenaktive Differenzierung der Wahrnehmung in Gang gesetzt […]. Die objektive wie die subjektive Seite des

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gen gehen aber noch weiter: Sein Atlas soll nicht nur die labyrinthische Struktur der Gefühle, Gedanken und Wahrnehmungen und damit den gefährlichen Umschlag in die absolute Uniformität des Struktur- und Konturlosen – die menschliche Eindimensionalität185 – verhindern, sondern überdies den Weg weisen zu einem Zentrum des Fühlens und Denkens, das, so Epsteins Vermutung, im Ohr liegt, dort, „wo die Gleichgewichtsknöchelchen sind“ (AO [185]). Von diesem sinnlich-kognitiven Sinnzentrum her wäre eine „geografia diversa“ (AO 138) zu denken: eine Geographie, die nicht primär vom Sehen, sondern vom Hören bestimmt wäre – genauer: die den Blick akustisch ausrichten und deren kartographische Partituren die Positionierung, Identifizierung und Benennung eines ‚Ich‘ in einem Hier und Jetzt auf der „riesigen Karte in natürlicher Größe“ erlauben würde; eine Geographie, welche die Tondominante der Gegenwart, ihr vorsprachlich gestaltloses Gestimmtsein – „[la presente] è una nota musicale lunga, tersa, consonante con tutte le altre in assoluta simultaneità“ (AO 29) – , in die logischaffektive und mathematisch präzise Zeichenordnung eines Kartenwerks zu übersetzen und sie nachträglich mit Sinn und Gehalt auszustatten hätte.186 Die Rei-

|| ästhetischen Geschehens zielen auf einen Prozeß, bei dem die Erfahrung des Lichts oder des Farbfeldes ununterscheidbar mit der Selbstwahrnehmung des Rezipienten wird“ (ebd., S. 29). Dabei zielt die Licht-Kunst auf „Reinigung der ästhetischen Kompetenz“, das „Gewahrwerden des eigenen Sehen-Könnens“ und vermittelt solcherart „Formen der Ästhetik selbst“ (ebd., S. 30). Epsteins Licht-Atlas ist, wie gezeigt wurde, nicht primär Kunst, sehr wohl aber Dokumentation seiner eigenen lichtästhetischen Erfahrungen. – Zum ästhetischen Postulat einer neuen Art von Sensibilität in der postmodernen Kunst vgl. auch Susan Sontag: On Culture and the New Sensibility, in: dies.: Against Interpretation and Other Essays, New York 1967, S. 293–304. 185 Vgl. Herbert Marcuse: Der eindimensionale Mensch, Berlin, Neuwied 1967. 186 Diese von Epstein suggerierte akustische Weisung des Sehens und deren Bedeutung für die menschliche Kommunikation erinnert an das Alte Testament. Dort ist das Hinhören und Hören-auf (im Sinne des Gehorsams) Voraussetzung sowohl für das rechte Sehen als auch für das rechte Sprechen. Vgl. exemplarisch Psalm 38, Jes. 43,8–13, Hiob 4,12–15, Prv 18,13 u. 28,9. Epsteins Verortung des Sinnzentrums – und ineins damit des Gleichgewichts – im Ohr und nicht zuletzt die angedeutete Korrelation von Gehör und Sprache begegnet auch bei Herder, der das Gehör im Hinblick auf Deutlichkeit, Klarheit, Lebhaftigkeit, Zeit und Ausdrucksbedürfnis als den „mittleren der menschlichen Sinne […] und also Sinn der Sprache“ bestimmt (Johann Gottfried Herder: Abhandlung über den Ursprung der Sprache, in: Sprachphilosophische Schriften, ausgew., eingel. u. komm. v. Erich Heintel, Hamburg ²1960, S. 41–44). In der Literatur ist es vor allem die Lyrik der europäischen Spätromantik und des (maßgeblich von der Poetik E. A. Poes beeinflussten) französischen Symbolismus, die die Klangkraft der Sprache über ihren semantischen Gehalt stellt. Keats’ Ode to a Nightingale inszeniert geradezu dramatisch den Übergang vom Sehen zum Hören und die buchstäbliche Todesgefahr, der sich das lyrische Ich in der idealisierten Hingabe an eine rein musikalische Lyrik, verkörpert im Gesang der Nachtigall, aussetzt und es schließlich zur Rückkehr ins Reich des Sehens und des Logos

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hung Ohr – Auge – Sprache, die Epsteins Rede über sein Projekt inhaltlich strukturiert, beschreibt zugleich die Methode der „neuen Geographie“, in deren Atlas die zentralen Signaturen abendländischer Philosophie (Subjekt, Identität, Begriff, Präsenz) reliefartig herausragen. Das Atlas-Projekt erweist sich damit als eine im Medium der Schrift vorgenommene Revision einer Ästhetik des rein geistigen Sehens, eine Revision, die in jenen ontologisch begründeten Phonozentrismus, Logozentrismus und Subjektzentrismus zu münden scheint, der mit der postmodernen episteme und der dieser entsprechenden neuen Ästhetik gerade erst überwunden worden war. Aber: Die „riesige Karte in natürlicher Größe“, deren Lesbarkeit und Zugänglichkeit die „Karte in der Hand“ ermöglichen soll, ist nicht mehr die natürliche, unabhängig vom Menschen existierende Welt, sondern ihrerseits theoretisches Konstrukt, kartographische Rekonstruktion einer Landschaft des Geistes. Sie ist jener (in Auflösung begriffene, seine Positionssignaturen verlierende) Positiv-Abzug vom Negativ der geistigen ‚Licht‘-Welt, die im „Atlas des Lichts“ – der „Karte in der Hand“ – zum Zwecke der Positionierung und Orientierung erneut in ein Positiv übersetzt werden soll. Der dem „Atlas des Lichts“ eingeschriebene bzw. aus der kartographischen Schrift deduzierte Phono-, Logo- und Subjektzentrismus ist deshalb ein hochgradig virtueller, seine Logik der Identität, Präsenz und Wahrheit eine nurmehr fingierte, seine Methode ein Privatweg, seine Begriffe individuelle Chiffren ohne eine inter- oder transsubjektive Sicherung. Das eigentlich gegendiskursive Moment dieses Projekts liegt in der anthropologischen Relevanz, die der Materialität Schrift und einem auf Gestaltung und Strukturierung – und damit auf sinnliche Wahrnehmung – ausgerichteten (epistemischen wie narrativen) Schreiben zukommt.187 Ausgelagert in die

|| zwingt. Mallarmé spricht von seiner Dichtung als „Laboratorium“, in dem er als „Techniker“ die „Geometrie der Sätze“ erzeugt, und er radikalisiert die poésie pure zu einem „schweigenden Aufflug ins Abstrakte“, deren Ideal das „schweigende Konzert“, das „schweigende Gedicht, aus lauter Weiß“ wäre (Mallarmé, zit. n. Hugo Friedrich: Die Struktur der modernen Lyrik. Von der Mitte des neunzehnten bis zur Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts, Reinbek bei Hamburg 22 1996, S. 114 u. 118). Bei allen Unterschieden in den Voraussetzungen, der Konzeption und der poetischen Realisierung sind die Gemeinsamkeiten zwischen Epsteins Ästhetik des reinen Sehens und der symbolistischen Tradition mit ihrer Poetik der Entdinglichung und Entpersönlichung, des von allem Konkreten abstrahierten, rein geistigen „regard absolu“ (Mallarmé) und der Idealisierung von Nichts, Leere und Schweigen unübersehbar. 187 Gegenüber Epsteins früher Ästhetik erweisen sich Schrift und Schreiben als die einzig verbleibenden Medien der Gestaltung und Wahrnehmung: Schrift und Schreiben heben die non-cose in die Sichtbarkeit, lassen sie aus der indifferenten Finsternis des Lichts dinghaft hervortreten. Wahrheit im Sinne der aletheia, des Entbergens und Heraus- bzw. Hervortretens, ist damit kein primär erkenntnistheoretisch (d.h. auch unsinnlich) motivierter Begriff mehr,

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Zukunft und ausgewiesen als ein rein privates, nicht publikationsfähiges Projekt188 negiert es jedoch umgekehrt die kommunikative und orientierungsstiftende transsubjektive Funktion einer zeichenhaft vermittelten Literatur und Wissenschaft. Der Atlas wird damit zur Signatur einer Krise: Er indiziert die Aporie einer dem Bedürfnis nach Kommunikation und Orientierung Rechnung tragenden Anthropologie und der Unmöglichkeit, dieser unter den Bedingungen eines auf die Spitze getriebenen Immaterialismus – die Diktatur eines alles, nicht zuletzt auch alle differenzierenden, kommunikationsermöglichenden Zeichensysteme, absorbierenden Lichts – gerecht zu werden.

2.4 Poetologie als Epistemologie: Die doppelte Ästhetik des Atlante occidentale Brahes und Epsteins anthropologisch motivierter Wunsch nach einer ‚Ordnung der Dinge‘ findet in der diskursiven wie handlungsbezogenen Ordnung der Erzählung seine Erfüllung. Der implizite Autor antwortet seinen Helden mit einer doppelten Ästhetik, die ihrer in der Postmoderne verankerten Wissenschaft und Ästhetik ebenso gerecht zu werden versucht wie ihrer (noch) in der Moderne wurzelnden Psychologie. Der Titel des Romans, „Atlas des Westens“, ist eine Abbreviatur dieser doppelten Ästhetik, der implizite Autor ein Kartograph, der – ungleich seinem Helden Epstein – die Welt der Dinge und NichtDinge in Ordnungen des Narrativen einträgt und auf diese Weise eine wegweisende, orientierende, auf Partizipation und Kommunikation gerichtete Lektüre ermöglicht. Die Analysen haben gezeigt, dass in der Optik des Romans der Übergang von der geordneten materiellen Oberfläche der Wirklichkeit über ihre zeichenhaft-labyrinthische Struktur hin zu ihrer ‚energetisch‘ immateriellen Tiefenstruktur durch den jeweiligen Blick auf die ‚Dinge‘ konditioniert ist. Diese Annahme ist für die ‚histoire‘ (als Thema) und den ‚discourse‘ (als Strukturprinzip) gleichermaßen zentral: Den Ordnungen des Sehens korrelieren Ordnungen der Wirklichkeit, und sie treiben jeweils andere Wissensformationen und jeweils andere Ästhetiken hervor. In der Kartographie des „Atlas des Westens“ erscheinen diese Wahrnehmungs- und Wirklichkeitsordnungen nicht zusammenhanglos separiert, sondern eingelagert in ein textuelles Schichtenmodell,

|| sondern ein ästhetisch (d.h. sinnlich) motivierter: Wahrheit ist, was ästhetisch hervorgebracht und solcherart hervorgehoben Wahrnehmung ermöglicht. 188 Die Arbitrarität und Leere der Zeichen ist lediglich solipsistisch zu durchbrechen; in seiner publizierten Form würde sich der Atlas in potentiell unendlich viele Singularitäten seines Gebrauchs zerstreuen, d.h. in kommunikativer Hinsicht wäre er nichts als eine asignifikante Textur.

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das in einem von Brahe imaginierten geologischen Profil geradezu paradigmatisch veranschaulicht wird: Saliva, e immaginava dietro la parete di metallo e dietro la parete di beton il primo strato di molassa, spaccato in verticale dal suo salire, e la consistenza delle piccole scaglie di quarzo e di feldspato e forse l’impronta fossile di un animaletto, un lytoceras loricatum o qualche altro radiolare o echinoderma del giurassico, periodo che prendeva nome dal Giura alle cui falde stava risalendo, e poi lo strato successivo di morena con rocce e limo rastremati nel tempo dai ghiacciai, e piú su ancora lo strato di superficie con tuberi e erbe e radici delle latifoglie e delle conifere che spuntavano dal bosco nelle prime luci dell’alba. (AO 22)189

Sowohl der naturwissenschaftliche als auch der literarisch-ästhetische Diskurs folgen dieser vertikal-diachronen ‚Geologik‘, wobei die einzelnen stratisphärischen Schichten beider Diskurse durch ein komplexes Netz von Similaritäts-, Analogie- und Korrespondenzbeziehungen jeweils auch auf einer horizontalsynchronen Ebene miteinander verschränkt sind. Exemplarisch sei noch einmal auf die horizontal-parataktisch gefügte, mit einem Wörterbuch verglichene Ordnung des Maschinenlagers verwiesen, die durch eine vertikale, den Bedeutungsgrad der einzelnen Teile für das Sehen anzeigende Achse durchkreuzt wird oder die vertikale Schichtung naturwissenschaftlicher Bilder, die zugleich den diachronen Prozess ihrer Generierung und die unterschiedlichen Modi ihrer Wahrnehmbarkeit anzeigt; diese Passagen sind strukturell wiederum mit der von Epstein vorgenommenen Dekonstruktion einer Geschichte und mit dem von ihm eingeführten Vergleich zwischen Positiv- und Negativabdruck, in einem gröberen Maßstab aber auch mit der Raumsemantik (oberirdisch – unterirdisch190) und den damit jeweils verbundenen Wahrnehmungsweisen (sinnlich –

|| 189 „Er fuhr [mit dem Aufzug im CERN] nach oben, und im Geiste sah er hinter der Metallwand und hinter der Betonwand die erste Schicht Molasse, die von seiner Aufwärtsbewegung durchschnitten wurde, die kleinen Quarz- und Feldspatsplitter und vielleicht den fossilen Abdruck eines kleinen Tierchens, eines Lytoceras loricatum oder sonst eines Strahlentierchens oder Stachelhäuters des Juras, eines Zeitalters, dessen Name vom Juragebirge herrührte, das zu dieser Zeit entstanden war, und dann die darauffolgende Moränenschicht aus Felsen und Schlick, die im Lauf der Zeit durch den Druck der Gletscher nach oben hin zusammengeschoben worden waren, und noch weiter oben die Deckschicht mit Knollen und Gräsern und den Wurzeln der Laub- und Nadelbäume, deren Wipfel im ersten Licht der Morgendämmerung aus dem Wald ragten“ (AW 33–34). 190 Diesem binären Raummodell folgt nicht nur das unterirdische CERN im Unterschied zur überirdischen Stadt Genf; auch Genf ist in eine mit der Vergangenheit, Geschichte und Krieg konnotierte Altstadt und in eine mit Internationalität, Wissenschaft, Frieden, Neutralität und Freiheit konnotierte moderne Stadt gegliedert; nicht zuletzt stehen auch einzelne Gebäude in

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geistig) parallelisiert und analogisiert.191 Nicht zuletzt folgt auch das Kompositionsprinzip des Romans dieser vertikal-horizontalen Ausrichtung, etwa indem dezidiert moderne Motive (die futuristische Motivik der „velocità“, des Fliegens, des Autofahrens, der Männerfreundschaft192), Darstellungsfiguren (Epiphanie, mise en abyme) und Problemzusammenhänge (Darstellung des Undarstellbaren, Momente der negativen Ästhetik) aufgegriffen und mit postmodernen Theoremen („Spiel“, „Spur“, „Verweis“, Referenzlosigkeit, Immaterialität) und Verfahren (Dekonstruktion, dissémination, Täuschung) variiert und synkretisiert werden. Dieses artistische Arrangement des Romans konstituiert einen Hypertext, der – und darin besteht seine eigentliche Provokation – primär epistemologisch funktionalisiert ist. Was heißt das?

|| Opposition zueinander, so etwa das abgedunkelte Schloss Voltaire und die gläserntransparente „foresteria“ des CERN, über die auch eine zeitliche Opposition und zugleich eine historische Kontinuität erzeugt wird. 191 Diese Beispiele ließen sich um viele weitere ergänzen. Vgl. z. B. AO 13 [20 f.], wo eine alltägliche Situation – Epstein beobachtet die Menschen in einer Flughalle in ihren räumlichen Beziehungen zueinander – zum Anlass wird, über die ‚Schichten‘ des Menschen nachzudenken, darüber, wie die situativ artikulierte Sprache eben dieses bildhafte Wahrnehmen und Wahrgenommenwerden maskiert und solcherart – noch mehr als die Gesten – als ein Gerüst fungiert, ohne das die Menschen zusammenbrächen „wie jemand, der im Laufen geköpft wird und dessen Körper noch ein paar Schritte macht, bevor er zusammenbricht“ [20 f.]. Oder AO 105 [142], ein Passus, in dem erneut die ‚Vertikalstruktur‘ der Sprache aufgezeigt wird: Brahe versucht Epstein sein Experiment zunächst laizistisch mittels Wörtern, Bildern, Analogien und Gesten zu erklären; erst auf Epsteins Bitte hin beschreibt er das Experiment professionell und „nannte alles bei seinem richtigen Namen, nannte die Abkürzungen, nannte die Formeln; er machte auch nicht sehr viele Gesten; nur hin und wieder nahm er die Hand vom Steuer, aber eher um etwas dazulegen, als um es zu illustrieren, so als holte er aus einer unterirdischen Welt [sottomondo] Dimensionen und Begriffe und Bewegungen und Zustände und Richtungen hervor, die sich aus einer perfekten mathematischen Konstruktion ergaben und nur dort galten“ [142]. – Dieser doppelten Logik folgen auch die im Roman angesprochenen Ordnungsmodelle (Magazin, Alphabet, Wörterbuch, Nomenklatur, Atlas usw. und mit ihnen das ganze semantische Feld von funktional festgelegten Begriffen, von fixierten Positionen der Dinge in Raum und Zeit, von klaren Definitionen, präzisen Unterscheidungen etc.), die mit den im Roman ebenfalls thematisierten und praktizierten ‚ordnungsdekonstruierenden‘ Verfahren kollidieren (literaturtheoretisch ließe sich geradezu von einer Verschränkung von Systemtheorie und Dekonstruktion sprechen), ohne dass das eine das andere in seiner Daseinsberechtigung und seinem Gültigkeitswert in Frage stellen oder aufheben würde; im Gegenteil: für die Bereiche Naturwissenschaft und Literatur wird exemplarisch gezeigt, dass das eine ohne das andere schlechterdings nicht ‚zu haben‘ ist. 192 Zur (freilich entideologisierten) Rezeption des Futurismus vgl. Gerhard Regn: Nach der Moderne, S. 331–337.

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Der Roman betreibt Wirklichkeitsanalyse, indem er nicht nur die Schichten realer Prozesse der Wahrnehmung, der Wirklichkeitsmodellierung, der Wissenserzeugung, der Sprache etc. thematisiert193 und damit die geschichtete Struktur von Realität überhaupt – das Geschichtet-Sein, das Ge-Schichte-Sein als ihr quasi-ontologischer Status – offen legt, sondern vorrangig die Wirklichkeit der naturwissenschaftlichen Arbeit (in ihrer Verwobenheit mit der Lebenswelt, insbesondere aber mit der Ästhetik) realistisch abbildet. Die horizontale Vernetzung dieser Tiefenschichten erzeugt den Effekt, dass die verschiedenen Wirklichkeitsebenen aufeinander verweisen und sich wechselseitig begründen, kommentieren, erklären und deuten.194 Dabei werden sowohl die vielschichtigen Bezüge zwischen den fiktionsimmanenten Realitäten als auch zwischen Fiktion und Wirklichkeit hergestellt. Durch die eklatante ‚Theorielastigkeit‘ der fiktionsimmanenten Diskurse (und dies gilt für den Brahe- wie auch für den Epstein-Plot), aber auch durch das horizontale Geflecht von Korrespondenzen und Ähnlichkeiten werden Textschichten aufgehäuft und zugleich analytisch durchdrungen; ebenso wird dadurch die fiktionsimmanente Textwelt mit der ‚externen‘ wissenschaftlich-philosophischen wie literarischen Textwelt verschränkt, ja Wirklichkeit selbst als eine primär textuell verfasste, d.h. immer schon theoretisch-konzeptionell geprägte, gefilterte und vorinterpretierte ausgewiesen. Indem der Roman in allen seinen Schichten reale und fiktionale || 193 Die Schichten des Sehens reichen vom sinnlich-dinghaften Sehen über das begrifflichtheoretische Sehen bis zu einem inhaltsleeren, absolut geistig-abstrakten Sehen, die Wirklichkeitsmodelle von der materiellen Welt der Phänomene über die virtuell erzeugten, zeichenhaft plastizierten Weltbilder von einer nicht mehr sichtbaren mikrophysikalischen, immateriellen, formlosen, wahrscheinlichen Welt bis hin zu einer nur noch geistigen Innen-Welt, die jedes geistunabhängige Außen dementiert und ihrerseits in einem ‚Alles-ist-Licht‘ gipfelt; damit korrespondieren die Weisen der Wissenserzeugung, die von induktiv-experimentellen über imaginär-fiktionale bis hin zu deduktiv-rationalistischen Formen reichen, sowie die sprachlichen Konzepte, angefangen von Sprache als materiellem Sinn- und Sinnenträger (Begriffe, Formeln, Metaphern, Diskurse und Viskurse) und ineins damit Sprache als kommunikatives Medium bis hin zu ihrer Auflösung in eine immaterialisierte, rein ‚energetische‘, wortlose Sprache, die zugleich eine der Nicht-Kommunikation ist. 194 Wie Epstein seine Ästhetik des neuen Sehens auf der Grundlage der naturwissenschaftlichen ‚Immaterialien‘ errichtet, so stiften seine ästhetischen Ausführungen den Deutungsrahmen für die Vorgänge im CERN. Gerade die auf der horizontalen Ebene eingeflochtenen komplexen Beziehungen und Verweise verhindern dabei allerdings eindeutige kausale Zuweisungen, d.h. kein Diskurs kann für sich beanspruchen, den anderen in einem ganz bestimmten Aspekt zu begründen etc.; vielmehr funktionieren die genannten hermeneutischen und heuristischen Funktionen wiederum punktuell, so dass sich spätestens nach der Zweitlektüre des Romans nicht mehr sagen lässt, welcher Diskurs nun ursächlich und hauptsächlich einen Aspekt des anderen Diskurses beleuchtet.

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Textwelten nachahmt und diese auch schichtweise durchdringt, ist er nicht mehr imitatio rerum, sondern imitatio textorum. – Der Realismus des Romans besteht paradoxerweise gerade darin, dass er auf eine reale (Text)Welt Bezug nimmt, die die Realität – vor allem die Realität der Natur – problematisiert und damit sich selbst und ihren Seinsstatus als Realität in Frage stellt.195 Obgleich die für die horizontalen Ebenen charakteristische ‚mycelische‘ Struktur zu einer Einebnung der Unterschiede zwischen der literarischästhetischen und der naturwissenschaftlichen Welt tendiert, sind es vor allem die vertikal geordneten Tiefenschichten sowie die parallel komponierten Ereignis-, Wahrnehmungs- und Denksequenzen, die ein auf Differenzierung und Abgrenzung zielendes Gegengewicht schaffen. Wo diese Differenzierung durch das komplexe Mycel nicht nur gestört, sondern in der Lektüre (zumindest temporär) verhindert wird, werden die vertikal und parallel gesetzten Schnitte – in der Sprache der Kartographie: die aus der Textfläche herausragenden Reliefs – selbst zu chiffrierten Signaturen der Differenz und ergehen als Aufforderung zur Dechiffrierung – gleichsam als Frage nach den von ihnen geleisteten Differenzierungsfunktionen – an den Leser. Durch das Verfahren der Vernetzung einerseits, der Abgrenzung andererseits wird ein gemeinsamer, Literatur und Naturwissenschaft gleichermaßen tangierender Problemzusammenhang hergestellt – dieser betrifft im wesentlichen den Kontext Wahrnehmung – Darstellung – Erkenntnis bzw. Wissen –, ohne beide Bereiche indifferent miteinander zu verschmelzen. Es entsteht gleichsam eine gegenläufige Dynamik: Durch die aufgezeigten Interferenzen werden die starren Grenzen zwischen beiden Bereichen destabilisiert, zugleich aber – und dies spiegelt sich in der ästhetischen Ord-

|| 195 Der Roman tendiert in dieser Perspektive in zweifacher Weise zur „Antifiktion“: Als fiktionales Kunstwerk ist er zum einen jene „eminente Form der Fiktur, die die – moderne – Realität ist“ (Odo Marquard: Kunst als Antifiktion – Versuch über den Weg der Wirklichkeit ins Fiktive, in: ders.: Aesthetica und Anaesthetica. Philosophische Überlegungen, Paderborn, München u.a. 1989, S. 82–99, hier S. 96), d.h. sein Antifiktionalität besteht in der fiktionalen Wiederholung einer zunehmend fiktionalen Welt; zum anderen ist er „Antifiktion“ (nun im eigentlichen Sinne Marquards), indem er „Zuflucht der Theoria“ ist, „also dessen, was an der Theorie nicht bloße – ggf. fiktionsgeleitete – Sichtdisziplin ist, sondern wirkliche Erfahrung“ (ebd., S. 98), „Sehen des Übersehenen“ und „die Anerkennung: so ist es“ (ebd., S. 98 u. 99). Diesen Aspekt, der Antifiktion nun als eine Form des Widerstands gegen eine zunehmend „durchfiktionalisierte“ (ebd., S. 82) Wirklichkeit meint, realisiert Del Giudice vor allem in der Gestalt anthropologischer und epistemologischer Entwürfe. – Zu einem ähnlichen Befund kommt Meindl: „Allgemein scheint für den postmodernen Roman zu gelten, daß er sich vor die heikle Aufgabe gestellt sieht, den fiktionalen Charakter von Wirklichkeit zu vermitteln, ohne sich so als Fiktion von der Realität abzusetzen“ (Dieter Meindl: Der amerikanische Roman zwischen Naturalismus und Postmoderne 1930–1960, München 1983, S. 226).

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nung des Romans – neu errichtet bzw. verschoben und solcherart die Diversität der Ordnungen des Wissens affirmiert. Indem der Roman Einblick gewährt in die „epistemischen Maschinerien der Wissenserzeugung“ – in die komplexen Organisationsstrukturen und Verfahrensweisen des physikalischen Experiments, in die technologischen Voraussetzungen und ästhetischen Praxen naturwissenschaftlicher Bild- und Objektgenerierung, in die letztlich semiologisch und poietisch erfolgende Rekonfiguration natürlicher Ordnungen196 usw. –, konfrontiert er die Wissenschaft mit den Voraussetzungen und Methoden ihres Wissen-Schaffens. Die mannigfaltigen Strategien der Wissenserzeugung innerhalb ihres institutionellen Rahmens belichtend, kennzeichnet er die experimentelle Hochenergiephysik als ein selbstreferentielles, autopoietisches System. Damit dementiert er keineswegs die wissenschaftlich beanspruchte Gültigkeit theoretisch wie experimentell gewonnener Erkenntnis, weist dieser aber sehr wohl den Status eines liminalen Wissens zu. Die epistemologische Funktion des Romans ist vor allem darin zu sehen, dass er die in der wissenschaftlich betriebenen Epistemologie (immer noch) weitgehend verdrängte197 ‚Sub-Textualität‘ wissenschaftlicher Wissenserzeugung im Medium des Narrativen an die textuelle Oberfläche hebt, das naturwissenschaftliche Wissen an die Grenzen des Nicht- oder Noch-nichtWissens zurückverfolgt und auf diese Weise das den hard und strong sciences incodierte „schwache Wissen“ bloßlegt. Epistemologie als Aufklärung meint im Zusammenhang des Romans auch Epistemologie als anamnesis,198 die hier un-

|| 196 Vgl. Knorr-Cetina: Wissenskulturen, S. 61. 197 In der Regel gelten „ästhetische Phänomene als kulturelle Peripherie einer im Kern autonomen Wissensproduktion“ (Peter Geimer: Einleitung, in: Ordnungen der Sichtbarkeit. Fotografie in Wissenschaft, Kunst und Technologie, hrsg. v. ders., Frankfurt/M. 2002, S. 7–25, hier S. 8; zit. n. Heßler: Einleitung, S. 25). Entsprechend würden Bilder gemeinhin als „‚Supplemente‘“ fungieren, „die den eigentlichen wissenschaftlichen Diskurs, seine zentralen logischen und rationalen Argumente, nur begleiten“ (Dieter Mersch: Naturwissenschaftliches Wissen und bildliche Logik, S. 406). 198 Dieses anamnetische Verständnis von Epistemologie ließe sich stützen durch den im Roman ebenfalls angelegten Erinnerungsdiskurs. An dieser Stelle sei lediglich auf die Metaphern des Magazins, des Alphabets und des Atlas verwiesen: Das Magazin speichert die Instrumente des Sehens, die wiederum mit Ordnungen der Wahrnehmung korrelieren; das Alphabet steht im Dienste einer Enzyklopädisierung und Ordnung des Wissens, ebenso kann der Atlas als ein topographischer Wissensspeicher aufgefasst werden. Relevant ist in diesem Zusammenhang, dass über diese Metaphern jeweils etwas sichtbar gemacht wird, was in der gängigen wissenschaftlichen Praxis verborgen bleibt (aus Effizienzgründen zum Teil auch verborgen bleiben muss).

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trennbar mit der epistemologischen Funktion der Bewusstseins- und Ideologiekritik (letztere im wörtlichen Sinn einer Bild- und Bildlogikkritik) einhergeht. Epistemologie als jener wissenschaftliche Ort, an dem sich die Wissenschaften ein Wissen über sich selbst verschaffen, geschieht hier am nichtwissenschaftlichen Ort der Literatur. Dem Roman liegt vorrangig ein ‚metaepistemisches‘ Interesse zugrunde: Erzählt wird die Geschichte von den Bedingungen der Generierung naturwissenschaftlichen Wissens. Zum akzentuierten Gegenstand der literarischen Erzählung werden dabei gerade diejenigen Aspekte epistemischer Verfahrensweisen, die in der konventionellen Forschung im Verborgenen bleiben und entsprechend auch nicht veröffentlicht werden, namentlich die technologischen, theoretischen und ästhetischen Dispositionen diskursiver bzw. viskursiver und hermeneutischer Praktiken und deren Relevanz für die Entfaltung und Vereinheitlichung von Wissensgebieten, für die Bildung von Theorien und die Gewinnung von Erkenntnissen, kurz: Thematisiert wird alles, was in den Tiefenschichten und Vorhöfen der wissenschaftlichen Wissensproduktion geschieht, wohingegen die definierten Sachgehalte und fertigen Resultate, kurz: das propositionale Wissen ausgeblendet bleiben.199 Die metapoetischen Metaphern von ‚Hintergrund‘ und ‚Vordergrund‘ bzw. ‚Positiv‘ und ‚Negativ‘, wie sie Epstein zur Beschreibung seiner frühen Ästhetik verwendet, erscheinen in der Poetik des Romans programmatisch umgesetzt und epistemologisch funktionalisiert, wobei sich das Verhältnis Hintergrund-Vordergrund, Positiv-Negativ gegenüber der realiter praktizierten Wissenschaft und Epistemologie umkehrt: Während der wissenschaftliche Diskurs das ‚positive‘ Resultatewissen in den Vordergrund rückt200 und die zu diesem Wissen führenden poie-

|| 199 Die Realitätsnähe der romanhaft dargestellten Prozesse naturwissenschaftlicher Arbeit konnte im Rekurs auf wissenschaftstheoretische und -soziologische Studien bestätigt werden, wobei ausdrücklich darauf hinzuweisen ist, dass die im Roman gestellten Fragen etwa nach dem Zusammenhang von digitalisierten Bildern und wissenschaftlichen Erkenntnissen, nach der Bedeutung kommunikativer Prozesse bei der wissenschaftlichen Konsensbildung usw. erst seit der Jahrtausendwende expliziter Gegenstand epistemologischer Forschung sind. 200 Was Rheinberger für die experimentell verfahrenden Wissenschaften am Beispiel von Claude Bernard anschaulich ausführt, kann – wir haben es am Beispiel des historischen Gauß gesehen – für Wissenschaft schlechthin gelten: Die „nachträgliche Fixierung […], die seit dem 19. Jahrhundert auch in der Standard-Anlage wissenschaftlicher Publikationen zum Ausdruck kommt“, mache den historischen Entdeckungsprozess unsichtbar: „Die Seitenwege, […], die ‚Nachtwissenschaft‘, […] bleiben unterschlagen. Die Logik der Forschung fällt der Logik der Darstellung zum Opfer. Die Konsequenz ist die epistemologische Marginalisierung des Forschungsexperiments“ (Hans-Jörg Rheinberger: Experimentelle Virtuosität, in: „Interesse für bedingtes Wissen“. Wechselbeziehungen zwischen den Wissenskulturen, hrsg. v. Caroline Welsh u. Stefan Willer, München 2008, S. 331–342, hier S. 339).

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tisch-ästhetischen Faktoren und Prozesse weitgehend in den unsichtbaren, ‚negativen‘ Hintergrund rückt, verschiebt und ‚negativiert‘ der Roman die positive Erkenntnis in den Hintergrund und ‚positiviert‘ das der episteme eingeschriebene negativ-liminale Wissen zum sichtbaren, reliefartig hervorgehobenen Vordergrund. Was der Blick in diese Tiefenschichten enthüllt, ist letztlich die Unhintergehbarkeit imaginativer, ästhetisch-literarischer und rhetorischtropischer Momente im wissenschaftlichen Erkenntnisprozess, mit anderen Worten: die der wissenschaftlichen Erkenntnis inhärente Fiktionalität (die Fiktionalität im wissenschaftlichen Erkenntnisprozess und nicht die Fiktionalität der wissenschaftlichen Erkenntnis!). Die Frage nach dem Modus des Transfers von Wissenschaft in Literatur kann dahingehend beantwortet werden, dass in Atlante occidentale gerade nicht eine Fiktionalisierung propositionaler Erkenntnisse erfolgt, sondern eine Fiktionalisierung der diesen Erkenntnissen innewohnenden Fiktionalität. Das Fiktive als ein reales Moment naturwissenschaftlicher Arbeit ist hier das naturwissenschaftliche Faktum, das der Roman im Medium des Fiktiven wiederholt. Der dadurch erzielte Effekt ist nun alles andere als eine potenzierte Fiktionalität (etwa im Sinne einer ‚reinen‘ Phantastik): In dem Augenblick, in dem der Roman dieses Faktum als ein im naturwissenschaftlichen Diskurs verborgenes sichtbar macht, es also nicht nur im Sinne der Fiktionalisierung ästhetisiert, sondern es im Sinne der sinnlichen Wahrnehmbarmachung aisthetisiert, wiederholt er das Faktum der Fiktionalität und beginnt es bereits zu überschreiten. Wenn Wahrheit das Offenlegen und Entbergen von Verborgenem und Vergessenem bezeichnet – es sei noch einmal an das griechische Wort für Wahrheit, aletheia, erinnert –, dann ist diese ästhetisch erfolgende Aisthetisierung ein literarischer Erkenntnisprozess, der die Wahrheit über ein wissenschaftliches, aber anästhetisiertes Faktum offen legt.201 Es geht hierbei also nicht um die Darstellung eines Undarstellbaren, sondern um die Darstellung eines durchaus Darstellbaren, das aus wissenschaftspragmatischen, aber auch wissenschaftsideologischen Gründen nicht dargestellt wird. Die Darstellung der Fiktionalität als Faktum der Wissenschaft ist nun nicht als ein ‚Kampf der Kulturen‘ gestaltet, sondern – um ein Zentralmotiv des Romans aufzugreifen – als eine freundschaftliche Begegnung. Sie erfolgt nicht kritisch-problematisierend, sondern heiter-affirmativ. Während sich das Freundschaftliche in der Begegnung zwischen Brahe und Epstein vor allem in der aufgeschlossenen Teilhabe am Experiment des anderen und im Verzicht auf

|| 201 Der implizite Autor appliziert gleichsam Epsteins frühe Ästhetik: Das dem ‚Ding‘ Wissenschaft inhärente menschliche Handeln und Denken usw. wird literarisch vergegenständlicht.

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diskursive Macht zeigt, artikuliert es sich auf der diskursiven Ebene des Romans dahingehend, dass das Ästhetische – und mit ihm das Sinnliche, Narrative, Fiktive, Poetische, Imaginäre – und das Epistemische – und mit ihm Wahrheit, abstrakte Erkenntnis, positives Wissen – als ein anthropologisches Moment ausgewiesen werden, das für alle kulturellen Tätigkeiten konstitutiv ist. So wenig die Literatur die Gebietshoheit über das Ästhetische beanspruchen kann, so wenig kann die Naturwissenschaft die Gebietshoheit über das Epistemische beanspruchen. Die Kategorien des Ästhetischen und Epistemischen erscheinen damit aus den Bereichen Wissenschaft und Kunst ausgelagert – gleichsam entdiszipliniert – und als prinzipiell allen Menschen verfügbare Dispositive und jede kulturelle Handlung mitprägende Merkmale ausgewiesen. Entsprechend erweisen sie sich für eine distinkte Verhältnisbestimmung von Literatur und Wissenschaft als untauglich.202 Die Frage nach den Möglichkeiten einer Differenzierung von Wissenschaft und Kunst diskutiert der Roman nicht explizit; gleichwohl gibt er – und dies vor allem auf der Ebene des Diskurses – eine Antwort oder besser gesagt: der Diskurs vollzieht Antwort, ist antwortend. Inwiefern? Obgleich der Roman, wie wir gesehen haben, an den Ordnungen des Wissens festhält, geht es im Kern gar nicht um eine revolutionäre Verschiebung der disziplinären Grenzen; stattdessen vollzieht der Roman eine Aufklärungsbewegung, in die Kunst und Wissenschaft gleichermaßen hinein genommen sind. Er bescheidet sich damit, dass er, ausgehend von der aktuellen Verfasstheit von Wissenschaft und Literatur – ihrem status quo zum Zeitpunkt der Entstehung des Romans – und unter Rekurs auf den zeitgenössischen philosophischen Diskurs, einen Weg aufzuzeigen versucht, wie Wissenschaft und Literatur unter eben diesen aktuellen Bedingungen in ein kommunikatives Verhältnis zueinander gesetzt werden können. Dabei werden nicht wissenschaftliche Intentionen, Methoden oder Zielsetzungen diskreditiert, sondern schlichtweg epistemologische Leerstellen literarisch ‚entdeckt‘ und, wenn schon nicht gefüllt, so doch mit Sinnangeboten angereichert, die wegweisend für eine wissenschaftlich betriebene Epistemologie sein können. In diesem Kontext ist auf die bereits angesprochene mäeutische Funktion der Romanpoetik zurückzukommen. Indem der Roman das der Naturwissenschaft immanente Ästhetische und Poietische narrativ extrapoliert und eine epistemologisch funktionalisierte Poetik etabliert, zeigt er nicht nur die unvermeidbare Kunstverwiesenheit und Kunstbedürftigkeit der Wissenschaft bei der

|| 202 Vgl. dazu auch Paul de Man: The Epistemology of Metaphor, in: Critical Inquiry 5 (1978), S. 13–30, bes. S. 30.

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Erzeugung ihres Wissens auf, sondern hebt zugleich Poetologie und Ästhetik als unverzichtbare Wissenszweige einer wissenschaftlich verfahrenden Epistemologie hervor: Nur eine Poetologie und Ästhetik inkludierende Epistemologie vermag die Wissenschaft über ihr ästhetisch-fiktionales ‚Anderes‘ aufzuklären. Eben darin liegt auch das Wegweisende der epistemologisierten Poetik des Romans: Ihre primäre Funktion ist nicht darin zu sehen, dass sie die Fiktionalität als ein (epistemisch verdecktes) Faktum der Wissenschaft ‚entdeckt‘ und darstellt, sondern dass mit ihr Aspekte einer Methode vorgestellt sind, die für eine epistemisch verfahrende, d.h. für eine wissenschaftlich betriebene, auf Selbstaufklärung jener der Wissenschaft immanenten Ästhetizität und Poetizität gerichtete Epistemologie, produktiv gemacht werden kann.203 Aufgrund dieser Beobachtungen kann Atlante occidentale als eine im eigentlichen Wortsinn „epistemologische Metapher“ beschrieben werden. Während Umberto Eco mit diesem Terminus die für eine Epoche charakteristische künstlerische Form bezeichnet, die durch „Umwandlung des Begriffs in Gestalt“ die „Art, wie die Wissenschaft […] die Realität […] sieht, wiederspiegelt“,204 und ihr im wesentlichen die Funktion zuschreibt, „zwischen der abstrakten Kategorie der Wissenschaft und der lebendigen Materie unserer Sinnlichkeit“ zu vermitteln,205 ahmt Del Giudices Roman gerade das der Wissenschaft selbst immanente nicht-begriffliche Gestalthafte, Figurative und Metaphorische nach. Er erfüllt somit vorrangig auch nicht die Funktion, „die Errungenschaften der Wissenschaft […] mit der allgemeinen Fühlweise zu verbinden und so bestimmte Situationen, die zur Zeit nur die Vernunft konfigurieren kann, bildlich, gestalthaft, zugänglich zu machen, so dass sie dann in gefühlsmäßiger Beteiligung erlebt werden können“,206 sondern deckt Ikonizität, Sinnlichkeit und Emotionalität als das den Vernunfthypothesen selbst inbegriffene ‚Andere‘ auf, das seine unhintergehbare Evidenz besonders dort entfaltet, wo die Wissenschaft im subatomaren, anästhetischen Bereich operiert. Mit Blick auf den Ro-

|| 203 Lassen sich, so muss man fragen, die der Wissenschaft inhärenten ästhetischen, fiktionalen und metaphorischen Tiefenstrukturen und die mit diesen jeweils verbundenen spezifischen Logiken, Regeln und Funktionen ohne eine Ästhetik und Poetologie der Wissenschaften überhaupt adäquat erfassen? Ist angesichts einer auch poietisch und ästhetisch praktizierten episteme eine Epistemologie ohne Poetologie (im Sinne einer Reflexion von ars und techne, im Sinne also einer auf die metaphorisch-bildhaften und narrativen Prozesse bezogenen Poetologie und einer auf die technische Produktion bezogene Poietologie) künftig überhaupt denkbar? 204 Umberto Eco: Das offene Kunstwerk, aus dem Italienischen v. Günter Memmert, Frankfurt/M. 1973, S. 46. 205 Ebd., S. 165. 206 Ebd., S. 414.

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man ist deshalb zwischen epistemischer und epistemologischer Metapher zu unterscheiden: Er ist epistemische Metapher, insofern er poetisch-narrativ das Metaphorische der episteme thematisiert; er ist epistemologische Metapher, insofern er poetologisch die der episteme selbst inhärente poetisch-ästhetische Logizität – ihre Poeto-Logik – aufdeckt und Poetologie als eine nicht länger zu exkludierende Theorie der Epistemologie einfordert. Der Roman – und hierin liegt ein durchaus utopisch-visionäres Moment – entwirft und appliziert im Medium des Literarischen eine epistemologische Poetik, die, indem sie das Ästhetische und Fiktionale als das nicht identifizierbare Identische von wissenschaftlichem und literarischem Diskurs ausweist,207 wegweisend für eine „allgemeine Narratik“, wie sie Lyotard postuliert hatte, sein kann, eine „Narratik“, die – aus der Sicht des Romans – ihrerseits Bestandteil einer allgemeinen Anthropologie zu sein hätte; „ma questo è solo un punto di partenza“ (AO 85 [116]).

|| 207 Der Aspekt des Ästhetischen und Fiktionalen, daran gilt es noch einmal zu erinnern, führt nicht zu einer Indifferenzierung des wissenschaftlichen und literarischen Diskurses, also nicht zu einer Diskursidentität im Allgemeinen; vielmehr ist er Implikat – Tiefenschicht – des wissenschaftlichen Diskurses, d.h. mit der Rede von der Diskursidentität ist lediglich jene gemeinsame, als solche eben nie genau zu umreißende und zu identifizierende Schnittmenge markiert, in der sich das ästhetisch-fiktionale Implikat der Wissenschaft mit der Fiktionalität der Literatur berührt.

3 Michel Serres’ ‚Epistemopoetik‘ 3.1 Philosophische Erkundungen: Epistemologische Paradoxien208 In einem Gespräch mit Bruno Latour aus dem Jahr 1990 beschreibt der Naturwissenschaftler, Wissenschaftsphilosoph und Literat Michel Serres seine Position gegenüber der Epistemologie wie folgt: […] either science must develop its own intrinsic epistemology, in which case it is a question of science and not of epistemology, or else it’s a matter of external annotation – at best redundant and useless, at worst a commentary or even publicity. […] authentic epistemology is the art of inventing, the springboard for passing from the old to the new.209

Den „Streit zwischen Alten und Modernen“ hatte Serres bereits 1963 dahingehend für sich entschieden, dass eine moderne Philosophie der Wissenschaften nur als eine allgemeine Epistemologie positiver regionaler Epistemologien vorstellbar sei.210 Am Beispiel seiner eigenen Herkunftsdisziplin, der Mathematik, skizziert Serres den Weg von der klassischen Mathematik und ihrer traditionellen, extern durch die Philosophie geleistete Epistemologie hin zur modernen Mathematik, „die in ihrem autochthonen Bereich über eine eigene Methodologie, eine eigene ‚Selbstbeschreibung‘ und eine eigene ‚Logik‘ verfügt“ (St 60).211

|| 208 Mit dieser Formulierung beschreibt Lyotard die Philosophie Serres’. Vgl. Jean-François Lyotard: Rasche Bemerkung zur Frage der Postmoderne, in: Grabmal des Intellektuellen, hrsg. v. Peter Engelmann, Graz, Wien 1985, S. 80–88, hier S. 86. 209 Michel Serres with Bruno Latour: Conversations on Science, Culture, and Time [Eclaircissements, 1990], übers. v. Roxanne Lapidus, Ann Arbor 1995. 210 Michel Serres: Der Streit zwischen Alten und Modernen [1963], in: Hermes I: Kommunikation, aus dem Französischen übers. v. Michael Bischoff, Berlin 1991, S. 57–102, hier S. 102 (im fortlaufenden Text zitiert unter der Sigle St und Seitenangabe). 211 Ausdrücklich räumt Serres ein, dass das Phänomen der „Übernahme epistemologischen Denkens in den autochthonen Bereich einer Wissenschaft“ auch in anderen Wissenschaften zu beobachten ist (vgl. St 93). In dieser Möglichkeit der „internen Selbststeuerung einer strengen Wissenschaft“ sieht Serres das „spektakulärste Kennzeichen des neuen wissenschaftlichen Geistes“ (St 77). Der Grund dafür, dass die klassische Epistemologie von der modernen Mathematik und der mathematischen Logik abgeschnitten ist, besteht nach Serres zum einen in deren „Weigerung, den Wandel der [mathematischen] Prioritäten hinzunehmen“, zum anderen im „Festhalten an der reflexiven Analyse, das den tatsächlichen Übergang der epistemologischen Problemstellungen in den Bereich der Wissenschaftstechnik nur verhüllt“ (St 71). Open Access. © 2021 Bernadette Malinowski, publiziert von De Gruyter. Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivatives 4.0 International Lizenz. https://doi.org/10.1515/9783110642384-009

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Jede Wissenschaft, so Serres an anderer Stelle resümierend, sei in und auf sich selbst gegründet und beinhalte ihre eigene „endoepistemology“.212 Während Serres wiederholt scharfe Kritik an der klassischen Epistemologie übt, verzichtet er weitgehend darauf, seine Vorstellung von einer „allgemeinen Epistemologie positiver regionaler Epistemologien“ bzw. sein Postulat einer „authentic epistemology“ zu konkretisieren oder gar seine eigene Philosophie als Epistemologie auszuweisen. Gleichwohl erlauben die von ihm immer wieder vorgetragenen Vorwürfe gegen die traditionelle Epistemologie, seine Kritik an den Wissenschaften selbst und nicht zuletzt die von ihm entwickelten philosophischen, wissenschaftshistorischen und literarischen Perspektiven und Praktiken einen Begriff von authentischer, am (durchaus traditionellen) Ideal der Einheit des Wissens und der Wissen hervorbringenden Rationalität orientierten Epistemologie zu konturieren und den Beitrag, den Wissenschaft und Literatur gleichermaßen für die Herausbildung einer allgemeinen Epistemologie leisten, aufzuzeigen. Die entscheidenden Defizite der klassischen Epistemologie sind nach Serres vor allem in ihren folgenden Aspekten zu sehen: 1. Das reflexiv gerichtete epistemologische Bewusstsein erscheint gegenüber dem rasant sich entwickelnden wissenschaftlichen Denken und Erkennen stets mit zeitlicher Verzögerung und Verspätung.213 Sie ist aufgrund dieser „Zeitverschiebung zwischen der Geschichte der [wissenschaftlichen] Probleme und der Geschichte der zugehörigen Epistemologie“ immer nur „a parte post“ (St 99). 2. Indem sich die traditionelle Epistemologie ausschließlich mit der Systematisierung des Bestehenden befasst und damit die Geschichte, das heißt die innere Bewegung des Systems in Richtung seiner zukünftigen Entwicklung, weitgehend ignoriert, gerinnt sie zum des-

|| 212 Serres/Latour: Conversations, S. 128. 213 Vgl. St 61–71 „Während die wissenschaftlichen Erkenntnisse sich entwickeln, ausbreiten und verstärken, wie es das niemals abgeschlossene Drama der strengen Wissenschaften zeigt, werden die Reflexionsintentionen, die ihnen zeitlich in gewissem Abstand vorausgehen, von ihnen negiert, absorbiert oder überflüssig gemacht“ (St 62). Am Beispiel von Edouard Le Roys epistemologischer Studie La Pensée mathématique pure (Paris 1960) geht Serres den synchronen und diachronen Beziehungen zwischen der Mathematik und ihrer Epistemologie nach: Das ‚Zu-Spät‘ der Epistemologie resultiert im Wesentlichen in der Annahme, dass die Mathematik „etwas Abgeschlossenes“ sei, „etwas, das es in aller Strenge zu rekonstruieren gilt (was an sich gut ist), ohne dass man sich dabei der Tatsache bewusst würde, dass es eine Residualgeschichte gibt, die links mit dem System kollaboriert und ihm rechts Widerstand leistet“ (St 69). Blind gegen die kommenden Entwicklungen und ausschließlich befasst mit der Systematisierung des Bestehenden, sei Le Roys „Gesamtdarstellung das Gegenteil eines Programms“. Entgegen seiner eigenen Absicht sei Le Roy lediglich ein „‚Kommentator‘“, der vom System ausgehe und dann über die Geschichte, d.h. über die innere Bewegung des Systems stolpere (ebd.).

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kriptiven, in Redundanz und Wiederholung sich erschöpfenden Kommentar,214 der die „wirklich epistemologischen Probleme“ – die „tatsächlichen Entscheidungen hinsichtlich der Methode, des Gegenstandes und der Mathematik [bzw. der jeweiligen Wissenschaft] als ganzer“ (St 70) – verfehlt. Es handelt sich folglich um eine kupierte Epistemologie, die sich „in Richtung Geschichte bewegt und dabei allmählich den Charakter der logischen Wissenschaft verloren“ (St 87) hat.215 3. Damit verbunden ist ein genuin sprachliches Problem: Die traditionelle Epistemologie definiert sich als „Diskurs über die Wissenschaft“ und deren „strenge Sprache“, ohne jedoch die Grammatik, Morphologie, Syntax und Semantik der den eigenen Diskurs strukturierenden Sprache im Mindesten geregelt zu haben (vgl. St 81). Gleichermaßen entfernt von der „Sprache der (syllogistischen, formalen, modernen) Logik und der Sprache der Mathematik“, bleibt die epistemologische Diskurssprache undefinierbar und vage und unterscheidet sich nicht wesentlich von der Populärwissenschaft oder dem Kommentar (vgl. St 81 f.). Aufgrund der Distanz zwischen der „logisch-philosophischpopularisierenden“ Sprache der Epistemologie und der „technischmathematischen Sprache“, die sie zu beschreiben, zu normieren und zu begründen intendiert, kann die traditionelle Epistemologie nur als eine „äußere

|| 214 Vgl. St 68. „Daher rührt die Irritation des Philosophen, der nachdenkt, während um ihn her eine Revolution stattfindet. […] Er sieht nicht, welch eine komplexe Bewegung die Wissenschaft im Hinblick auf Öffnung und Schließung, System und Entwicklung vollführt. Konservatismus oder Dogmatismus […] finden ihre Erklärung stets in der verkürzten Sicht eines praktischen Zustands oder allgemeiner und komplexer darin, dass man die Extrapolation vergisst“ (St 68 f.). Zur bloß kommentierend-annotativen Epistemologie vgl. St 87. Im Gespräch mit Latour beschränkt sich Serres’ Kritik nicht mehr lediglich auf den Kommentar, sondern schließt alle Formen kritisch-urteilender und normativ-begründender Philosophie ein. In ihnen zeige sich die „uselessness of the reflexive loop“, eines reflexiv-kopistischen Denkens, das mit jeder Wiederholung einen Informationsverlust über die Sache, über die es vorgibt zu sprechen, in Kauf nimmt (Serres/Latour: Conversations, S. 128). 215 Das Problem des epistemologischen Kommentars ist nach Serres identisch mit dem des literarischen Kommentars. Auch letzterer müsse sich zwischen der Geschichte und der Philologie oder Sprachwissenschaft entscheiden. Es sei das Schicksal jeglichen Kommentars und seiner Wahrheit, sich entweder in der unbestimmten Kunst seines eigenen wissenschaftlichdeskriptiven Vorgehens zu verlieren (als Beispiel nennt Serres die Epistemologie seines Lehrers Bachelard) oder aber in (philo)logische Techniken, die ihn, den philosophischen Kommentar, auf die durch die Wissenschaften jeweils selbst initiierte Metasprache hin überschreiten. Im ersten Fall verliert sich der philosophische Kommentar in die Kunst, im zweiten wird er von der jeweiligen Wissenschaft selbst übernommen (vgl. St 87 f.).

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Epistemologie“ (St 82) bestimmt werden,216 und es ist eben diese exterritoriale Position, die sie im Bereich ihrer ureigensten Aufgaben, nämlich der methodologischen Beschreibung, der logischen Normierung und der transzendentalen Grundlegung scheitern lässt (vgl. St 98 f.) und vor allem die produktive Rückwirkung des epistemologischen auf den wissenschaftlichen Diskurs verhindert.217 4. Die mit der Aufklärung entstandene klassische Epistemologie impliziert, dass „rationality exists only in the sciences, nowhere else“.218 Sie steht also für einen reduzierten Begriff von Rationalität und hat damit die Trennung der wissenschaftlichen Kulturen entscheidend forciert.219 Diesen Defiziten der traditionellen Epistemologie korrespondiert eine Reihe von Postulaten und Tendenzen einer modernen, wissenschaftsintrinsischen und deshalb regional aufzufassenden Endoepistemologie: 1. Der Wandel des wissenschaftlichen Denkens „vom Sein zur Relation […], vom Objekt zu dessen Manifestation, von der Sache zur Methode“ (St 75) geht, wie Serres am Beispiel der Mathematik ausführt, einher mit der Absicht, „sich selbst zu ihrem Objekt zu machen und insbesondere zum Objekt ihres eigenen Diskurses“. Der von ihr angestrebte „Typus von Allgemeinheit“ und Wahrheit ist nicht mehr, wie in der traditionellen Mathematik, die „Generalisierung eines Objekts“, sondern die Generalisierung der Operation und Umgangsweise, folglich eine „‚methodologische‘ Generalisierung“ (St 78).220 Damit konstituiert sich die moderne Mathema|| 216 Seine Kritik am willkürlichen Kauderwelsch der klassischen Epistemologie – „Das epistemologische Konkordat wurde in Esperanto geschrieben“ (St 82) – steigert Serres bis zum Vorwurf der Künstlichkeit und des Verrats (vgl. St 82 u. 83). 217 Zusammenfassend heißt es dazu: „Die traditionelle Philosophie der Mathematik beschrieb, setzte Normen und legte Grundlagen. Sie versuchte zu sagen, was die Wissenschaft ist und wie sie sich entwickelt: Objekte, Methoden, Geschichte. Der Epistemologe betätigte sich dabei als Naturhistoriker im Sinne der Naturgeschichte. Er beschrieb die Anatomie ihres Aufbaus, die Physiologie ihrer Funktionen, den Verlauf ihrer (chronologischen, genetischen, psychologischen, reflexiven) Evolution. Und damit naturalisierte er sie; zumindest soweit, dass seine Beschreibung niemals auf das Objekt selbst zurückwirkte, dass sein Diskurs kein neues Leben in die methodischen Strukturen brachte“ (St 84). 218 Serres/Latour: Conversations, S. 128. 219 Vgl. ebd., S. 29. Natur- und Geistes- bzw. Sozialwissenschaften, so Serres, würden einander ignorieren und seien deshalb „hemiplegic“; seien erstere im Begriff, „inhuman“ zu werden, so tendieren letztere dazu, weltlos, „a-cosmic“ zu sein. „Isn’t it more reasonable to use both hemispheres of the brain unisono?“ (ebd., S. 142 f.). 220 Der primäre Begriff der traditionellen Mathematik ist die Zahl (das Maß, die Größe): Sie ist „logische Form und operatives Prinzip zugleich, Typus und Quelle“ (St 64); ihre Generalisierung ist das Konstruktionsprinzip der klassischen Mathematik (St 73). Der „Typus der Allgemeinheit“, den diese Mathematik anstrebt – ihre Generalisierungsbewegung – ist die „ständige Erweiterung eines Ausgangsobjektfeldes“ (St 74), die Erweiterung des Zahl-Begriffs also, „um

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tik „als Epistemologie ihrer eigenen Voraussetzungen: Sie ist dieser Diskurs, und sie ist es auf strenge Weise“ (St 77).221 Sie konstituiert sich, mit anderen Worten, „als strenge Epistemologie des analogen Wissens“ (St 80).222 2. Die posi-

|| ihn für bestimmte Operationen zugänglich zu machen“ (St 78). In der modernen Mathematik hingegen erreicht man den angestrebten Typus von Allgemeinheit, „indem man eine transversale und regressive Perspektive wählt, indem man sämtliche Objektbeziehungen eliminiert und Bereiche schafft, die nicht mehr durch ihre Objektelemente, sondern durch eigene Gesetze charakterisiert sind“ (St 75). Sie untersucht Strukturen relational und gelangt auf dem „Wege der Analogie“ zu Modellen, „die diese Struktur gleichsam transversal zum Ausdruck bring[en]: Gott, Tisch oder Schüssel“ (St 76) oder eben auch den Objektbereich der klassischen Mathematik. Auf diese Weise schaffe der moderne Mathematiker „Theorien, die multivalent sind“ (im Unterschied zum traditionellen Mathematiker, der partikulare Theorien in Abwandlungen wiederholt) (St 76). Die „longitudinale Bewegung“ der klassischen Mathematik wird also abgelöst durch die transversale Bewegung der modernen Mathematik, wobei zu dieser eine regressive Bewegung hinzukommt, insofern „nicht nur das Wie, sondern auch dessen Voraussetzungen“ (ebd.), also nicht nur die Methode, sondern auch deren Methodologie untersucht wird. Die Mathematik unserer Zeit ist damit „in ungleich höherem Maße Mathematik der Umgangsweise als Mathematik der Sache, und die Umgangsweise wird für sie zur Sache und zum Objekt des Denkens“ (St 77). 221 Vgl. auch Michel Serres: Anfänge, in: ders., Ilya Prigogine, Isabelle Stengers u.a.: Anfänge. Die Dynamik – von Leibniz bis Lukrez, aus dem Französischen v. Heinz Wittenbrink, Berlin 1991, S. 12: Wenn das Wissen „sich auf diese Vielfalt einlässt, multipliziert das Wissen seine Strenge“. 222 Die von der traditionellen Mathematik unternommene Reflexion bleibt fixiert auf die Analyse ihres Gegenstands (die Zahl) und auf die Analyse des Subjekts der Operationen (vgl. St 70): „Man hält fest an der Priorität der Zahl, was das Gebäude angeht, und am Subjekt der Operationen, was die Grundlegung betrifft“ (St 73). Fortschritt basiert hier auf der „Kontinuität einer schrittweisen Akkumulation partieller Deduktionsergebnisse“ (St 72, vgl. auch St 67). Die Emanzipation vom Objekt der Zahl (ein Objekt ist jetzt „nur noch das Objekt X, nur noch irgendein beliebiger Gegenstand“, St 75) sowie vom denkenden Subjekt konnte der neuen Mathematik jedoch erst auf der Basis der Leistungen der alten Mathematik gelingen. Erst, nachdem „bei den Objekten ein Höchstmaß an wünschbarer Ausdehnung“ (ebd.) erreicht worden war, konnte die „Allgemeinheit eine höhere Stufe erreichen“ (ebd.), die nach Serres in der beschriebenen „transversalen Thematisierung der eigenen Bewegung“ (St 78) bzw. Methode besteht. Das Charakteristische dieser Bewegung – und zugleich ihr Fortschritt ermöglichendes Prinzip – ist eine „‚reflexive‘ Verdopplung, die sich im Zuge ihrer Verwirklichung selbst beschreibt, steuert und normiert“ (St 77). Sie ist Reflexion der Methode – Methode als das neue Objekt des Wissens – und zugleich Reflexion dieser Reflexion der Methode, also Methodologie. Diese „reflexive Verdopplung“ (die letztlich ja nichts anderes meint als eine wissenschaftliche Praxis, die zugleich eine epistemologische ist) führe nun zu einer ungeheuren Vermehrung der abstrakten, die (transversale) Struktur betreffenden, und naiven, das Modell, das Paradigma, das Beispiel und Gegenbeispiel betreffenden, Ebenen (vgl. St 76 u. 79). Diese beiden Ebenen erweisen sich nicht länger, wie noch in der klassischen Mathematik, als stabil, sondern als höchst instabil und relativ, d.h. „eine Ebene ist abstrakt im Verhältnis zu einer anderen und

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tive Epistemologie führt einen Diskurs über die Wissenschaft, der von dieser selbst ausgeht und in seiner Sprache der wissenschaftlichen Sprache äußerst nahe steht. Aufgrund ihrer wissenschaftsinternen Position – Serres spricht auch von „innerer Epistemologie“ (St 83) – vermag sie sich „im Rahmen einer Sprache [zu] entwickeln, die den aufgeworfenen Problemen natürlich ist“ und diese Sprache relativ problemlos auch theoretisch zu fundieren (vgl. ebd.). Aus dieser Tendenz zur „Selbstbeschreibung“, die nicht nur den „Bereich der Evidenz“, sondern auch den des „blinden, formalen Denkens“ (St 85) erfasst, erwächst der inneren Epistemologie ein äußerst bedeutsamer Einfluss auf den Gegenstand ihrer Beschreibung [...]: Weit davon entfernt, ihn zu stabilisieren und zu naturalisieren, rekonstruiert, restrukturiert und erfüllt sie ihn mit neuem Leben. […] Hier ist die Wissenschaft der Wissenschaft eine Verdoppelung der Wissenschaft in sich selbst, eine Quasireflexion, und nicht etwa die Trennung eines Diskurses von seinem Gegenstand. Es gibt keinen Boden mehr, der den mathemata exterritorial wäre; sie stützen sich vielmehr auf die Spur ihrer eigenen Bewegung. Oder, wenn man so will, es gibt kein überfliegendes Denken mehr, das Denken stützt sich nur noch auf seinen eigenen Flug. Die Wissenschaft der Wissenschaft ist nicht mehr jener universelle äußere Bezug, dieser Pol, an dem sämtliche Längengrade zusammenlaufen; sie ist nun innerer Zugang und regionale Reflexion. (St 84 f.)

Erst dann, wenn eine Wissenschaft „die Steuerung ihres eigenen Gebietes übernommen und ihrer Sprache eine eigenständige Epistemologie, eine Theorie ihrer selbst, entwickelt hat, und dies im Hinblick auf Beschreibung, Begründung und Normen“, lässt sich von einer „zur Reife gelangten“ (St 94) Wissen-

|| konkret im Verhältnis zu der Ebene, die in der Ordnung der Reflexion auf sie folgt“ (St 79), ist also im Verhältnis zur jeweils vorausgehenden Ebene (abstrakte, transversale) Struktur, die eine Vielzahl von (naiven) Modellen oder Beispielen zusammenfasst („Eine Struktur ist nichts anderes als das Analogon zu dieser Vielzahl von naiven Modellen“, ebd.; vgl. auch 76), im Verhältnis zur jeweils nachfolgenden hingegen erweist sie sich wiederum als naive, paradigmatische Ebene, deren relationale Beziehungen zu anderen paradigmatischen Ebenen Ausgang neuer Strukturbildung sein kann (exemplarisch führt Serres den „Satz über den festen Punkt“ an, „der eine Vielzahl von Ergebnissen der klassischen Algebra oder Analysis auf analoge Weise neu zusammenfasst“, St 80). Auf diesem Weg – im Wechsel von „mathematischem Experiment“ auf der Paradigmenebene und „mathematischer Reflexion“ auf die Struktur (wobei diese Begriffe ebenso relative sind wie die Begriffe der abstrakten und der konkreten Ebene, vgl. St 79) – konstituiert sich die Mathematik als „strenge Epistemologie des analogen Wissens“ (St 80), als „generalisierte Methodologie“ (St 78). Äußere und innere Epistemologie verhalten sich demzufolge ebenfalls wie Modell zu Struktur: „Die naiven klassischen Theorien werden zu Modellen der strukturalen Wissenschaft. Das Wort ‚Modell‘ hat hier die Bedeutung eines ‚Paradigmas für eine Abstraktion‘; das Modell ist der Ort, an dem die Struktur sich realisiert und spiegelt, an dem sie sich selbst als Realisiertes betrachtet“ (St 84).

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schaft sprechen. Diese Diagnose meint freilich nicht, dass „da eine Geschichte an ihr Ende gekommen“ ist (St 95); vielmehr impliziert der Zustand der Reife die Fortentwicklung und den Wandel einer Wissenschaft hin zu ihrem unwandelbaren Wesen.223 Mit Blick auf die Mathematik bedeutet dies zum einen die „Abschließung gegenüber jeglichem anderen Wissen“ – eine Bewegung, die „zu dem (paradoxen) Ergebnis führt, dass die solcherart gereinigte Sprache, das Organon, universellen Charakter erhält“ (St 96)224 –, zum anderen aber die Öff-

|| 223 Deshalb kann Serres sagen, der Ursprung der Mathematik liege in ihrem Ziel, liege, „insofern er dynamischer Ursprung und nicht letztes Ziel, sondern Motor und Triebkraft ist – in jedem Moment, jedem Augenblick dieser Bewegung auf das Ziel hin“ (St 86, vgl. auch St 96 f.). 224 Serres fährt fort: „Die Bewegung der Abschließung ist eine universalisierende Bewegung. Im Maße, wie die Mathematik diese (radikale) Reinigung vornimmt, nähert sie sich dem Nullpunkt der Anwendung (oder des Außenbezuges) und damit dem Maximum ihrer Anwendbarkeit. Die unabhängigste aller Sprachen ist die Sprache der Sprachen. Je weniger Fenster sie hat, desto besser vermag das Universum sich darin zu spiegeln“ (St 96). Die Affinität zwischen Serres’ Projekt einer allgemeinen Epistemologie und Leibniz’ Projekt einer characteristica universalis, einer nach Art der ars combinatoria entwickelten Universalsprache, die „auf alle Lehren angewandt werden kann“, ist hier unübersehbar (Gottfried Wilhelm Leibniz: Die philosophischen Schriften, hrsg. v. Carl I. Gerhardt, Hildesheim 1978 (= Nachdruck der Ausgabe Berlin 1880), Bd. 4, S. 41). Diese universal applizierbare Sprache, die begründet ist durch eine Vorstellung von Universum als einer Unendlichkeit möglicher Welten, in denen alles miteinander verknüpft ist, kann sich nur enzyklopädisch realisieren: „Bei der Untersuchung einer jeden Wissenschaft soll man versuchen, ihre Forschungsprinzipien (principes d’invention) zu entdecken, die verbunden zu einer übergeordneten Wissenschaft, nämlich zu einer allgemeinen Wissenschaft (science generale) oder einer Erfindungskunst (art d’inventer), alles übrige herleiten können. […] Wäre allerdings diese Enzyklopädie so gemacht, wie ich es wünschte, dann könnten wir Mittel verfügbar machen, stets die Konsequenzen der fundamentalen Wahrheiten oder von gegebenen Tatsachen zu finden, mittels einer Art des Kalküls“ (ebd., Bd. 7, S. 168. Deutsche Übersetzung in Gottfried Wilhelm Leibniz: Philosophische Schriften, hrsg. und übers. v. Herbert Herring, Bd. 4: Schriften zur Logik und zur philosophischen Grundlegung von Mathematik und Naturwissenschaft, Darmstadt 1992, S. 117). Wie die allgemeine Epistemologie gewissermaßen eine Linienverlängerung und Vervollkommnung der ‚wissenschaftsregionalen‘ Endo-Epistemologie ist – Serres beschreibt sie als die prozessuale „Herausbildung einer zunächst positiven, dann strengen und schließlich generalisierten Epistemologie“ (St 80), die sämtliche Intentionen der alten Epistemologie (die deskriptive, normative und begründende Absicht) in sich aufnimmt –, so wurzelt auch die characteristica universalis in den elementaren Begriffen und Prinzipien der Einzelwissenschaften, die sodann zu einer allgemeinen und universal anwendbaren Wissenschaft – einer allgemeinen Epistemologie – verbunden werden können. Leibniz’ anhaltendes Bemühen, die „Kombinatorik mathematisch zu formalisieren und zu operationalisieren“ (Andreas B. Kilcher: mathesis und poiesis. Die Enzyklopädik der Literatur 1600 bis 2000, München 2003, S. 367), sie also von den Prinzipien anderer Wissenschaften zu emanzipieren, entspricht dem von Serres beschriebenen Prozess der Reinigung und „Abschließung gegenüber jeglichem anderen Wissen“ (St 96). Erst eine solche scriptura

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nung nach innen – eine Bewegung in Richtung ihres Wesens, in Richtung ihrer „Mathematizität“ (St 96). Erst von dieser regionalen, positiven Epistemologie aus, welche jede Wissenschaft für sich zu entwickeln hat, lässt sich eine allgemeine Epistemologie denken und konstituieren. Unter der Voraussetzung, dass die Philosophie sich selbst einer radikalen Kritik unterzieht, gleichsam ihre eigene regionale Epistemologie ausbildet, und sich über die Voraussetzungen und Gründe des Exports ihrer epistemologischen Aufgaben und Funktionen vergewissert, kann sie über die „Möglichkeit eines Rückimports“ derselben nachdenken. Ganz generell hat es den Anschein, als läge in dieser Bewegung von Ausdrücken und Problemen zwischen verschiedenen Gebieten und Bereichen eine der fundamentalsten Fragen moderner Wissenschaftsphilosophie. Solch eine moderne Philosophie der Wissenschaften ist nur als eine allgemeine Epistemologie regionaler Epistemologien vorstellbar. (St 102)

Mit den hier vorgenommenen, aus der wissenschaftsinternen Entwicklung der Mathematik resultierenden Bestimmungen der Endoepistemologie, rückt diese in die Nähe von Kunst, Rhetorik und Ästhetik. Entscheidend ist dabei, dass sich diese Nähe zum ‚Anderen‘ der Wissenschaft aus der wissenschaftsinternen Entwicklung selbst ergibt und ihr nicht nachträglich oder von außen aufgepfropft wird. Am deutlichsten zeigt sich dies in ihrer poetologischen Dimension: Als „art of inventing“ und „spring-board for passing from the old to the new“ appliziert die positive Epistemologie Verfahren der imaginatio und inventio, die es ihr ermöglichen, über das bestehende Wissen hinaus neues zu erfinden.225 Dabei kommt der Verlagerung des wissenschaftlichen Denkens von der Subs-

|| oder characteristica universalis wäre dann auch „der Schlüssel zu allen Wissenschaften und enthalte die Grundsätze aller Erfindungslogik“ (Gottfried Wilhelm Leibniz: Sämtliche Schriften und Briefe, hrsg. v. der Deutschen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1923 ff., II. Reihe: Philosophischer Briefwechsel, Bd. 1, S. 5), eben Serres’ maximal applizierbare „Sprache aller Sprachen“ (St 96). 225 Wörtlich schließt Serres hier an Leibniz’ Bestimmung der characteristica universalis als eine „Erfindungs-kunst (art d’inventer)“ an, aus der sich „alles übrige herleiten“ und alles mögliche künftige Wissen konstruieren ließe („die Konsequenzen der fundamentalen Wahrheiten oder von gegebenen Tatsachen zu finden“; Leibniz: Philosophische Schriften, Bd. 4, S. 117; vgl. auch S. 87 f.). Die auffallenden Parallelen, die der oben aufgezeigte Zusammenhang von ars inveniendi, allgemeiner Epistemologie und Universalsprache insbesondere auch zur enzyklopädisch-poetischen Wissenschaftslehre von Novalis unterhält, verdiente eine gesonderte Studie, zumal Serres seine Nähe zur deutschen Romantik ausdrücklich bekennt (vgl. Gespräch mit Michel Serres vom 18.3.1986, in: Florian Rötzer: Französische Philosophen im Gespräch. Mit einem Vorwort von Rainer Rochlitz, München 1986, S. 131–145, S. 137 f.).

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tanz zur Relation eine maßgebliche Bedeutung zu, erlaubt es doch erst das relationale – das transversal-analogische (vgl. St 76) – Denken, allgemeine Strukturen zwischen ‚x-beliebigen Gegenständen‘ (vgl. St 75) aufzusuchen und damit multivalente Theorien zu entwickeln. Die Fähigkeit der Endoepistemologie, produktiv auf die Wissenschaft selbst einzuwirken – gleichsam ihr produktionswie wirkungsepistemisches Potential –,226 resultiert vor allem aus ihrer Positionierung innerhalb der Wissenschaft selbst, wie umgekehrt die Autonomie und Selbstreferentialität der Wissenschaft nur als Bündnis von „Wissenschaft und Wissenschaft der Wissenschaft“ zu realisieren sind. Die Affinitäten zwischen einer so verstandenen epistemischen Epistemologie oder epistemologischen Episteme, die sich selbst beschreibt, sich selbst begründet, sich ihre Normen selbst setzt und auf „gänzlich unabhängige Weise index veri et falsi“ ist (St 94), und einer auf Autonomie, Selbstreferenz und Genialität gründenden Kunstauffassung sind unübersehbar. Die für den vorliegenden Zusammenhang aufschlussreichste Parallele findet sich in Friedrich Schlegels (in Analogie zu Kants Transzendentalphilosophie entwickelten) Konzeption einer Transzendentalpoesie. Wenn Schlegel fordert, dass „jene Poesie […] in jeder ihrer Darstellungen sich selbst, und überall zugleich Poesie der Poesie sein [sollte]“,227 und damit nicht nur die Vorstellung einer sich selbst reflektierenden Poesie verbindet, sondern einer Poesie, die sich selbst reflektierend zugleich selbst hervorbringt, dann ist damit auch das Verhältnis von Wissenschaft und Epistemologie exakt beschrieben: sich selbst reflektierend und beschreibend (ihre epistemologischen Aufgaben also verwirklichend) wirkt diese Wissenschaft auf sich selbst zurück, reaktiviert und transformiert sich und treibt ihre Entwicklung voran.228 Insofern Serres der Endoepistemologie und der aus dieser zu entwickelnden philosophischen allgemeinen Epistemologie die Funktion zuweist, „to create, to invent, to produce what will foster produc-

|| 226 Wiederholt weist Serres darauf hin, dass Wissenschaft ohne Produktivität und ohne entsprechende Effizienz völlig vergebens wäre (vgl. Serres: Struktur und Übernahme: Von der Mathematik zu den Mythen, in: Hermes I: Kommunikation, S. 25–44, hier S. 35; ders.: Diskurs und Parcours, in: Hermes IV. Verteilung [1977], übersetzt v. Michael Bischoff, Berlin 1993, S. 206–221, hier S. 206). 227 Friedrich Schlegel: Athenäums-Fragmente, in: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, hrsg. v. Ernst Behler unter Mitwirkung v. Jean-Jacques Anstett u. Hans Eichner, Bd. II/I: Charakteristiken und Kritiken [1796–1801], hrsg. u. eingeleitet v. H. Eichner, München, Paderborn u.a. 1967, S. 204 [Fragment 238]. 228 Die moderne Epistemologie folgt der Idee einer autonomen und autochthonen Referenz, derzufolge die „Beschreibung einer Bewegung auf diese Bewegung zurückwirkt“ (St 85).

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tion“,229 verbindet er deren poetologisch-avantgardistisches Potential mit einem transzendentalen Status: Sie generiert die Bedingungen der Möglichkeit von Wissenschaft, ist dieser also nicht, wie noch die klassische Epistemologie, nachträglich, sondern vorgängig und zugrundeliegend; indem sie diese Bedingungen generiert, d.h. ihre eigenen Konstituenten erzeugt, ist sie nicht zuletzt auch als autopoietisch zu charakterisieren. Serres’ äußerst optimistische Einschätzung der Entwicklung der Wissenschaften und ihrer jeweiligen Endoepistemologie ändert sich drastisch, sobald er den Blick auf die gängigen Wissenschaftspraktiken selbst richtet. Seine Wissenschaftskritik ist deshalb weniger Kritik an den Wissenschaften, sondern vielmehr Kritik an der „Organisation von Wissenschaft“230 und – damit untrennbar verbunden – an den nichtwissenschaftlichen Interessen, Strategien und Opportunismen, denen die Wissenschaften seitens ihrer Akteure unterstellt werden. Gegenwärtig gehorcht die Wissenschaft einer „Soziologie der Konkurrenz“:231 Sie sei „gespalten in Schulen, Lobbies, Sekten, die gegeneinander Front machen und sich bekämpfen, um die Macht zu ergreifen, das Feld einzunehmen, annehmbar zu sein, Medaillen, Kredite und Posten zu erringen“, und „diese Schlacht ist derartig heftig, dass wir buchstäblich dabei sind, darüber die Erkenntnis zu verlieren“.232 Die von Serres in seiner „Streit“-Schrift (1963) skizzierte innere Bewegung der Wissenschaften in Richtung ihrer eigenen Vervollkommnung erscheint nun, zwanzig Jahre später, einer martialischen Gegenbewegung ausgesetzt, die von außen in das Gebiet der Wissenschaft eindringt und sie in ihrer Substanz und Autonomie zu unterlaufen, auszuhöhlen und zu zerstören droht. Die Geschichte der Wissenschaften ist für ihn nicht nur eine Erfolgsgeschichte, sondern auch eine „debile Geschichte“ der Verstrickung von Erkenntnis mit Macht und Gewalt, an deren vorläufigem Ende Hiroshima

|| 229 Serres/Latour: Conversations, S. 137. 230 Jean-Claude Guillebaud im Gespräch mit Michel Serres (10. Mai 1981), in: Philosophien: Gespräche mit Michel Foucault, Kostas Axelos, Jacques Derrida […] und Michel Serres, hrsg. v. Peter Engelmann, Graz, Wien 1985, S. 156–174, hier S. 158. 231 Ebd., S. 159. 232 Der Gegenstand der Erkenntnis werde vergessen oder „zumindest immer wieder gesehen und gelesen unter dem verstellten Blickwinkel der Schlacht. Es handelt sich dabei nicht mehr um einen Gegenstand, sondern um einen Truppeneinsatz, um keine Methode, sondern um eine Strategie, nicht mehr um Erkenntnis, sondern um ein Kräftemessen. Wenn wir so weitermachen, wird die Wissenschaft die Erkenntnis verlieren, wie ein Mensch das Bewusstsein verliert. Von nun an gibt es keine wirkliche Disziplin mehr, sondern Gangstertum“ (ebd., S. 159 f.).

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steht.233 Nahezu idealtypisch mutet Serres’ Begriff von Erkenntnis an, wenn er erklärt: Im Gegensatz zu allem, was man darunter versteht, gibt es den Gegenstand des Wissens nur in dem Ausmaß, soweit es den Einsatz von Macht nicht gibt. Der Gegenstand ist weder Einsatz noch Fetisch, noch Handelsware. Der Gegenstand der Erkenntnis ist durch diese dreifache Negation definiert.234

Im Horizont der von Serres getroffenen epistemologischen und wissenschaftskritischen Diagnosen235 ist sein eigenes philosophisches Denken nichts anderes als die fortdauernde Anstrengung, das von ihm postulierte Projekt einer allgemeinen Epistemologie voranzutreiben. Es sei an dieser Stelle angemerkt, dass die Beschreibung von Serres’ Haltung gegenüber der Epistemologie nicht mit der Intention erfolgt, der Analyse seines literarischen (und von der Philosophie und Wissenschaft nicht zu trennenden) Werks ein theoretisches Instrumentarium für eben diese Analyse voranzustellen und damit den Blick auf seine Literatur zu verstellen. Vielmehr folgt meine Darstellung Entwicklungsstationen von Serres’ eigenem Denken. Dieses Denken nimmt in den Naturwissenschaften, vor allem in der Mathematik und Physik, seinen Ausgang und schreitet – dabei der Wissenschaftlichkeit dieser Wissenschaften verpflichtet bleibend – fort zur Literatur und schließlich zur Philosophie.236 Dieser linear anmutenden biographischen Denkbewegung entspricht nun freilich nicht jene Bewegung, der Serres’ wissenschaftlichliterarisch-philosophisches Denken methodisch folgt. Zweifellos ist dieses Denken oder vielmehr: diese Denkmethode237 Impulsen aus den Naturwissenschaften geschuldet: || 233 Vgl. ebd., S. 168. 234 Ebd., S. 160 f. 235 Diese Diagnosen verdanken sich ihrerseits einem von Serres vorgenommenen Perspektivwechsel: Während seine Abrechnung mit der traditionellen philosophischen Epistemologie aus einer wissenschaftsinternen, gleichsam endo-epistemologischen Perspektive erfolgt, nimmt er in seiner Beurteilung der Wissenschaften und ihrer Organisation einen dezidiert philosophischen Standort ein. Dieser philosophische Ort ist jedoch nicht mehr gleichzusetzen mit der traditionellen, äußeren Epistemologie; vielmehr handelt sich dabei um eine Position des Zwischen, eine Position, die durch die endo-epistemologische Reflexion hindurchgegangen ist und diese als impliziten Bestandteil einer allgemeinen philosophischen Epistemologie ausweist. 236 Vgl. Serres/Latour: Conversations, S. 1–42 (= First Conversation: Background and Training). 237 Der Einfluss der Mathematik auf Serres’ philosophisches Denken ist auf dieser fundamentalen Ebene vermutlich am nachhaltigsten. Denn wie in der modernen Mathematik die Methode zum Gegenstand des Wissens wird, dieses Wissen also zugleich seine eigene Methodologie

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All things considered, I was formed by three revolutions. First, the mathematical transformation from infinitesimal calculus or geometry to algebraic and topological structures; that was my first school – the bifurcation of the two mathematics, from which we emerged with a whole new way of thinking. The second was in the world of physics. I had learned classical physics, and suddenly here was quantum mechanics, but especially information theory,238 from which we emerged with a completely new world.[…] The third revolution came later, from having known Jacques Monod, […], who taught me contemporary biochemistry.239

Zugleich aber führt, wie noch zu zeigen sein wird, diese Denkmethode auf einen Begriff von Wissenschaft, Epistemologie und Wissenschaftsgeschichte, der sich von den traditionellen Definitionen (und damit auch von Serres’ anfänglichen Erfahrungen mit diesen Wissenschaften) entscheidend abhebt. – Mindestens ebenso prägend wie die genannten Wissenschaften ist für diese Denkmethode aber auch das Hineinwirken eben dieser Wissenschaften in das Leben selbst. Die Katastrophe von Hiroshima war Serres’ eigener Aussage zufolge der entscheidende Auslöser dafür, dass er sich von den Naturwissenschaften abwandte und sich den Geisteswissenschaften und der Literatur zuwandte. Hiroshima, „a revolution of a whole other order than the other three“, sei jenes Ereignis, das „between knowledge and morality“ stattgefunden habe: For the first time since its creation, perhaps since Galileo, science – which had always been on the side of the good, on the side of technology and cures, continuously rescuing, stimulating work and health, reason and its enlightenments – begins to create real problems on the other side of the ethical universe.240

Seit Hiroshima ist das Theodizee-Problem primär ein Problem der Wissenschaften,241 ein Problem jedoch, das weder von der Wissenschaft noch von ihrer posi-

|| entwickelt (vgl. St 77), so ist auch Serres’ Denken, wie noch zu zeigen sein wird, in erster Linie methodisches und methodologisches Denken. 238 Sowohl auf den Strukturbegriff, den Serres vor allem aus seiner Beschäftigung mit der algebraischen Methode Bourbakis gewinnt, als auch auf den Einfluss von Brillouins Informationstheorie wird an späterer Stelle noch ausführlich einzugehen sein. Eine genaue Rekonstruktion von Serres‘ „Arbeit am Begriff der Struktur“ auf dem Fundament von Bourbakis mathematischem Strukturverständnis einerseits und deren strukturalistische Applikation durch Claude Lévy-Strauss andererseits unternimmt die Soziologin Doris Schweitzer in ihrer instruktiven Studie Topologien der Kritik. Kritische Raumkonzeptionen bei Gilles Deleuze und Michel Serres, Berlin 2011, S. 253–281. 239 Serres/Latour: Conversations, S. 12 f. 240 Ebd., S. 15 und 17. 241 Wissen und Wissenschaft sind Formen des Eingreifens in und des Übergreifens auf Welt. „Es gibt“, um mit Adorno zu sprechen, „nichts Harmloses mehr“ (Theodor W. Adorno: Minima

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tiven Epistemologie gelöst werden kann. Biographisch ist Hiroshima diejenige Katastrophe, durch die Serres’ wissenschaftsverhaftetes und wissenschaftsoptimistisches Denken buchstäblich aus der Bahn geworfen wurde und die ihm zugleich jene ‚Denkpassage‘ zwischen Natur- und Geisteswissenschaften, zwischen den Wissenschaften auf der einen, Kunst, Religion und Mythos auf der anderen Seite eröffnet hat. – Will man Serres’ poetica scientiae als das Projekt zu einer allgemeinen Epistemologie begreifen, wird man dieser zweifachen Verwurzelung seines Denkens – der szientifischen und der katastrophischen – stets eingedenk bleiben müssen.242 Und nur von hier aus wird auch verständlich, weshalb diese allgemeine Epistemologie nur in der Interrelation von Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftstheorie, von Politik und Ethik, von Ästhetik und Literatur entwickelt werden, letztlich also nur eine anthropologische Epistemologie sein kann.

3.2 Erkundungen zu einer allgemeinen Epistemologie 3.2.1 Wo denken? – Ethik des Rückzugs Lesen Sie Montaigne. Ich habe immer geglaubt, dass es hier etwas Außergewöhnliches gab, Inseln, eigensinnige Gesichtspunkte.243

Wollte man eine moderne allgemeine Philosophie der Wissenschaften schaffen, so wäre deren erste Aufgabe, den „Stand der Dinge mit der größtmöglichen Klarsicht zur Kenntnis zu nehmen“.244 Der Standort, den es für eine solche Bestandsaufnahme einzunehmen gilt, erfordert den Rückzug aus dem Schlachtfeld der Wissenschaften, die mit ihren „kleinen, begrenzten Denkansätzen“ versuchen,

|| Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, Frankfurt/M. 1951, S. 21). Zum Zusammenhang zwischen der Katastrophe von Hiroshima und der „thanatokratischen Struktur der Wissenschaften“ vgl. auch Schweitzer: Topologien der Kritik, S. 239–248. 242 Aus dieser zweifachen Verwurzelung erklärt sich auch, weshalb diese allgemeine Epistemologie mehr ist – und auch mehr sein muss – als die Summe bzw. das gemeinsame, allgemeine Fundament regionaler Epistemologien. 243 Serres, Guillebaud: Philosophien, S. 163. 244 Ebd., S. 101 f. Damit reformuliert Serres eine genuin aufklärerische Forderung an die Philosophie, nämlich sich der Diagnose des Zustandes und des aktuellen Denkens zu stellen (vgl. Immanuel Kant: Was ist Aufklärung? Aufsätze zur Geschichte und Philosophie, Göttingen 1967).

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„das Feld zu erobern, indem sie sich als universal präsentieren“,245 ebenso wie aus dem Bereich des Politischen, das nurmehr „repetitiv, redundant und ohne Beziehung zu den wirklichen Problemen“246 ist. Das Scheitern der Philosophie im Bereich des Politischen wie des Epistemologischen begreift Serres letztlich als eine Form der Emanzipation, die geprägt ist durch das Bewusstsein, dass „eine Trennung von Staat und Philosophie notwendig besteht“247 und „Philosophie […] nicht Wissenschaft“248 ist. Das ‚Wohin‘ des Rückzugs ist demnach eine Domäne „der Reflexion, der Sprache, der Kultur“249, ein Ort der Freiheit des Denkens und der Erprobung und Entdeckung dieser Freiheit, und damit vor allem ein Ort, der sich jeder Art von Imperialismus, Unterwerfung, Ideologie und Autorität verweigert.250 Der Ort der Philosophie ist letztlich der Gegen-Ort zu Hiroshima: Erkenntnis war derart in Macht und Gewalt verstrickt, dass am Ende dieser Geschichte Hiroshima stand. Immer noch ist es Hiroshima. Wenn es nun im kulturellen, philosophischen Bereich noch um etwas geht, so darum, die Bedingungen von etwas aufzufinden, das über diesen Stichtag hinausgeht und dauernd millimeterweise verschoben wird. Dieser Stichtag Hiroshima ist unsere Geschichte. […] Hiroshima ist hinter uns und vor uns. Daraus wird keine Zukunft. Wenn es eine historische Zukunft gibt, so ist sie trotz allem jenseits dieses Stichtags zu finden, und das ist eben die Passage, welche die Philosophen ausmachen müssen. Was ich die Verpflichtung zum Rückzug nenne, zielt darauf ab, die Bedingungen von Erkenntnis, von Macht, von Wissenschaft wieder zu denken, um über diese debile Geschichte hinauszugehen.251

Der Philosoph ist verpflichtet, sich zu exilieren, will er seiner philosophischen Bestimmung, der Rettung der Erkenntnis und der Zukunft des Humanen, gerecht werden. Man mag einwenden, dass diese hehren Aufgaben und Ziele immer schon zum ureigensten Selbstverständnis der Philosophie gehörten und

|| 245 Serres, Guillebaud: Philosophien, S. 163. 246 Ebd., S. 167. 247 Ebd. 248 Ebd., S. 158. 249 Ebd., S. 165. 250 Vgl. ebd., S. 163 f. Die Freiheit des Denkens, die für Serres vor allem darin besteht, „seine eigene Philosophie zu erfinden“, seine „eigene Sprache zu sprechen“ und „nur zu schreiben, was man entdeckt, sich nicht auf’s Imitieren zu beschränken, nicht Gangster zu sein“ (ebd., S. 164), bedeutet in dieser Sicht aber auch Verzicht: Denn es geht nicht nur darum, dem Spiel von Macht und Gewalt, von Autorität (auch Sprach- und Deutungsautorität) abzudanken, sondern letztlich auch, sich in die „absolute Einsamkeit“ (ebd., 166) zu begeben und von dort nicht gehört zu werden. 251 Ebd., S. 168.

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Serres mithin gerade das praktiziere, was er mit seiner Ethik des Rückzugs zu verwerfen gedenkt, nämlich die mimetische Reproduktion einer Sprache, die von keinerlei Denken mehr belebt ist. Doch das Gleiche sagen bedeutet nicht, dasselbe sagen. Serres’ Ort des Rückzugs ist kein epikureischer Garten, keine rousseausche Natur, sondern ein Denk-Ort, eine Denk-Position, die von ihrem Gegen-Ort ‚Hiroshima‘ her entworfen, eingenommen und diesem verpflichtet ist. Hiroshima – als singuläres historisches Datum – kennzeichnet jene Katastrophe, in der das Humane und gleichermaßen die Erkenntnis an ihr Ende gelangt sind. Serres’ gesamtes philosophisch-literarisches Oeuvre ist von diesem Datum, von dieser katastrophalen Zäsur her geschrieben, ist ein einziger Nachtrag zu diesem Datum und auf dieses Datum hin. Hiroshima ist aber auch Paradigma für die Gegenwärtigkeit des Krisenhaften und die jederzeit mögliche Wiederholbarkeit der Katastrophe; sie ist jener Wendepunkt, der nicht nur einen katastrophalen Einschnitt im Sinne eines Ans-Ende-Gekommenseins des bisherigen Daseins, eines Abgeschnittenseins von aller Kontinuität markiert, sondern zugleich einen Raum für das Kommen und Eintreten eines anderen Denkens, Handelns und Lebens eröffnet. ‚Hiroshima‘ ist dann auch auf die von Serres beschriebene Anstrengung zu beziehen, die Katastrophe dauernd millimeterweise zu verschieben und aufzuschieben, markiert also eine bleibende Forderung an die Philosophie. Diese Forderung einzulösen, d.h. die „Bedingungen von etwas aufzufinden, was über diesen Stichtag hinausgeht“, ist Aufgabe der allgemeinen Epistemologie. Der Ort des Rückzugs, an dem sie stattfindet, ist ein ‚Draußen‘ und ‚Außerhalb‘ – weit entlegen vom Feld wissenschaftlicher, politischer, ökonomischer und ethischer Macht und Gewalt, dem es seine Notwendigkeit und seine Existenz verdankt und dem es zugleich zugewendetet und intentional und engagiert gerichtet ist. Begreift man mit Serres Hiroshima als die Katastrophe in der Geschichte der Erkenntnis und der Humanität, und begreift man ferner, dass Serres’ philosophisches Denken von diesem historischen Ereignis ausgeht, sich von den dieses Ereignis bedingenden Bedingungen zurückzieht, um auf dieses Ereignis oder vielmehr: die potentielle Wiederereignung dieses Ereignisses rückzuwirken, indem er es in seinen Bedingungen durchschaut und auf der immerwährenden Suche nach solchen Bedingungen ist, die die Wiederholung des Ereignisses verschieben und aufschieben, dann erweist sich das Apokalyptische als die transzendentale Bedingung sowohl seiner Denk-Position als auch seiner Denk-Praxis. In der Zuspitzung wäre der Ort des Rückzugs die Krise, die Zäsur, der Einschnitt selbst, die Position des ‚Zwischen‘.

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3.2.2 Wie denken? – I. Hermetische Methode Je ne peinds pas l’estre, je peinds le passage.252 Auf die Schiffe Philosophen, es gibt noch neue Länder zu entdecken.253

Die Position des ‚Zwischen‘ lässt sich nur als eine ambivalente beschreiben: Sie markiert die Zäsur, die Spaltung und den Riss ebenso wie die Verbindung, die Konjunktion und den Zusammenhang. Ersteres kennzeichnet für Serres den faktischen Befund seiner Zeit, letzteres das Postulat, dem er seine Philosophie unterstellt. Die Rolle einer allgemeinen Epistemologie sieht er dementsprechend darin, „das Band, die Brücke, den Zusammenhang zwischen der Vernunft, wie sie sich in den exakten Wissenschaften ausgebildet hat, und dem anderen Typus von Vernunft, wie er sich in den Geisteswissenschaften ausgebildet hat, zu suchen und zu konstruieren“.254 Die Position des ‚Zwischen‘ beschreibt damit nicht nur den Standort des Denkens, sondern auch dessen Methode und Zielsetzung. Die Methode ist in erster Linie eine Suchbewegung, die den Raum des ‚Zwischen‘ zu ergründen, zu konturieren und schließlich zu überbrücken intendiert: Between has always struck me as a preposition of prime importance. […] The space between – that of conjunctions, the interdisciplinary ground – is still very much unexplored. […] I believe that these spaces between are more complicated than one thinks. This is why I have compared them to the Northwest-Passage, with shores, islands, and fractal ice floes.255

Das Denken im ‚Zwischen‘ ist das Denken des ‚Zwischen‘ um des ‚Zwischen‘ willen. Es ist ein Passagen-Denken, das sich der Erfahrung der Krise der Wissenschaften als einer Krise des Humanen verdankt, die es zu überwinden, deren Wiederkehr es zumindest aufzuschieben gilt.256 || 252 Michel de Montaigne: Les Essais, hrsg. v. Fortunat Strowski, Hildesheim 1981, Bd., III, 2 (Du repentir). 253 Friedrich Nietzsche: Fröhliche Wissenschaft, hier zit. n. Serres, Rötzer: Französische Philosophen im Gespräch, S. 145. 254 Serres, Rötzer: Französische Philosophen im Gespräch, S. 134. 255 Serres/Latour: Conversations, S. 64 u. 70. 256 Das Bestreben, die Wissenschaften bzw. die Typen wissenschaftlicher Rationalität und die Vielfalt der Wissensformen zu versöhnen, folgt nicht einem primär szientifischen Impetus. Wie der Bruch selbst sich der existentiellen Erfahrung von Hiroshima verdankt, so geschieht auch

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Obgleich Serres die Methodologie seiner Methode kaum oder lediglich ‚passager‘ extrapoliert, lassen sich einige Konstanten nennen. Nimmt man sein Diktum von einer „allgemeinen Epistemologie regionaler Epistemologien“ ernst, dann müssen die Kennzeichen seiner philosophischen Methode identisch oder analog jener Endoepistemologie sein, wie er sie am Beispiel der Mathematik beschrieben hatte. Genau genommen muss, wie Serres auch selbst postuliert, eine allgemeine Epistemologie potentiell aus jeder regionalen Epistemologie hervorgehen können, ist diese doch durch die beiden entscheidenden Merkmale einer zunehmenden Selbstreferentialität und einer universalisierenden Bewegung gekennzeichnet und damit durch die Möglichkeit, das je besondere, regionale Epistemologische auf das allgemeine, globale Epistemologische auszurichten, wobei letzteres sowohl das allgemeine Wesen einer spezifischen Wissenschaft (die ihr eigene Logizität) als auch das allgemeine Wesen aller Wissenschaften (die ihnen gemeinsame Epistemologizität) umfassen würde. Ohne die Tatsache, „dass wir uns in einer ungewöhnlich gespaltenen, differenzierten, sehr pluralistischen Zeit befinden“ zu ignorieren,257 hält Serres – dies im grundlegenden Unterschied zu anderen postmodernen Philosophien – am Ideal der Einheit wissenschaftlicher Rationalität und damit an einer Philosophie der Synthese und der Totalität ungebrochen fest.258 Die Wiederversöhnung der Wissenschaften, die Suche nach Universalität sei deshalb das „beständige Projekt

|| die Suche nach Versöhnung um des Humanen willen, dem die Wissenschaften zugehören, in dem es sich aber nicht erschöpft. Es geht letztlich um die Suche nach Frieden – der Friede ist die eigentliche Antwort auf die Frage Wohin denken? – und damit um die Beendigung der Kriege, dessen einer der Krieg der Wissenschaften, dessen anderer der (durch die Wissenschaften entscheidend mitbedingte) Krieg der Menschen ist. In diesem Sinne ist der Philosoph Serres durchaus als ein Pontifex zu charakterisieren, die von ihm anvisierte Moral eine Moral der Heiligkeit (vgl. Serres, Guillebaud: Philosophien, S. 172). Vgl. hierzu auch den Beitrag von Kathrin Hondl: Der Brückenbauer. Michel Serres als öffentlicher Intellektueller in dem jüngst erschienenen Sammelband: Michel Serres. Das vielfältige Denken. Oder: Das Vielfältige denken, hrsg. v. Reinhold Clausjürgens u. Kurt Röttgers, München: 2020, S. 28–36. Hondl bezieht sich dabei v.a. auf Serres’ 2006 erschienenen Bildband L’art de ponts. 257 Serres, Rötzer: Französische Philosophen im Gespräch, S. 135. 258 „Ich sage nicht, dass es nie eine Einheit geben wird, ich bin nicht wie die Modernen, die denken, dass die Pluralität wesentlich ist und dass die Einheit für immer verloren ist. Ich sage, dass die Einheit im Moment nicht in Sicht ist. […] Ich bin und war lange Zeit eher Pluralist. Daher ist das Wort ‚Synthese‘ vielleicht nicht so gut, das Wort ‚Reise‘ wäre besser, das Wort ‚Irrfahrt‘ wahrscheinlich noch besser, und doch ist diese Irrfahrt von dem Streben nach Totalität gekennzeichnet. Die Irrfahrt ist das Resultat, aber am Ausgangspunkt stand das Streben nach Totalität. – Werden wir letzten Endes ein System zu konstruieren haben? Ich weiß es nicht“ (ebd., S. 135).

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der Philosophie“.259 Dieses wiederum lässt sich nicht als äußere Epistemologie betreiben, sondern verlangt die Anstrengung, „einen vollständigen Gang durch das Wissen ihrer Zeit zu machen“ und darüber hinaus, „das kommende Denken vorauszusehen, als ob es die Aufgabe der Philosophie sei, in die Zukunft vorzugreifen“.260 Philosophie ist Passagen-Denken, das sich als enzyklopädisches und avantgardistisches Denken begreift.261 Die dem ‚Zwischen‘ eigene Ambivalenz kehrt hier in der paradoxen Ineinssetzung von Passage (regional) und Enzyklopädie (global) wieder. Wie ist dieser Zusammenhang zu verstehen? Seinen eigenen Denk-Weg – den Weg des Passierens, des Übertragens und Übersetzens, des Transversalen und Topologischen262 – findet Serres idealtypisch (prä)figuriert im mythischen Gott Hermes.263 Zunächst verkörpert Hermes jenen Vermittler, der zwischen räumlich, zeitlich, sachlich (und damit auch disziplinär) Entferntem und Getrenntem ein Verhältnis der Nähe etabliert und neue Verbindungen stiftet.264 Er passiere „through folded time, making millions of connections“.265 Hermes, der Verbindungen zwischen ehemals Getrenntem herstellt, ist der Prototyp des Passagiers. ‚Im Vorübergehen‘, ‚im Übersetzen‘, ‚faltend entfaltend‘ offenbart und verdunkelt er zugleich; er expliziert und impliziert, entziffert und chiffriert; er ist Konfiguration gleichermaßen des Wissens und des Nicht-Wissens, des Verstehens und

|| 259 Ebd., S. 132. Mitzudenken ist in diesem Zusammenhang stets die politisch-ethische Gesinnung, die dieser allgemeinen Epistemologie zugrunde liegt. Universalität ist hier nicht philosophischer Selbstzweck, sondern gerichtet letztlich auf die Lösung der Probleme einer globalisierten Welt. 260 Ebd., S. 132 u. 133. Das Potential, „in die Zukunft vorzugreifen“, um die zukünftige Gegenwart mitzugestalten, ist ebenfalls ein gemeinsames Kennzeichen von regionaler und globaler Epistemologie. 261 „Wenn es keine Enzyklopädie gibt, gibt es auch keine Philosophie.“ Die Philosophie ist „vom Totalitätsprojekt, von der Enzyklopädik“ nicht loslösbar (ebd., S. 132). „Leibniz“, so bekennt Serres, „brachte mir auch die höchste und beste Tradition des Philosophierens bei: den philosophischen Enzyklopädismus, d.h. den Grundsatz, dass die Philosophie die wissenschaftlichen Errungenschaften ihrer Zeit so genau als irgend möglich zu kennen habe“ (Michael Jakob: Gespräch mit Michel Serres, in: ders.: Aussichten des Denkens, München 1994, S. 179–198, hier S. 183). 262 Zum Konzept der Topologie vgl. die nachstehenden Ausführungen. 263 Entsprechend macht Serres den Gott auch zur Titelfigur seines Hauptwerks Hermes I–V (1968–1980). Ein knapper, aber informativer Einblick in die fünf Bände gibt Barbara Ventarola: Transkategoriale Philologie: Liminales und Polysystematisches Denken bei Gottfried Leibniz und Marcel Proust, Berlin 2015, S. 82–89. 264 Vgl. Serres/Latour: Conversations, S. 64 f. 265 Ebd., S. 64.

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des Nicht-Verstehens, Hermeneutik und Hermetik.266 Er ist der Gott des Transports, der Übertragung – „he exports and imports; thus, he traverses. He invents and can be mistaken“267 – und damit Metapher im buchstäblichen Sinne. Mit den Wegen des Hermes und mit den auf diesen Wegen erzeugten Effekten der Ambivalenz und Paradoxie ist zugleich auch der enzyklopädische Weg beschrieben. Die Expansion der Enzyklopädie oder des Wissens ist, so Serres ausdrücklich, nicht „seamless and orderly“, sondern ähnelt vielmehr dem, „what is produced by the baker’s transformation“.268 Als Gegenparadigma zum linearen, deduktiven Enzyklopädismus gestaltet sich Serres’ hermetischenzyklopädisches Projekt als ein „netzförmiges Diagramm“, bestehend „aus einer Mehrzahl von Punkten (Gipfeln), die untereinander durch eine Mehrzahl von Verzweigungen (Wegen) verbunden sind“.269 Seine philosophische Aufgabe

|| 266 Den Zusammenhang zwischen implizieren und explizieren veranschaulicht Serres am Beispiel eines Bäckers, der den Teig knetet: „He makes folds; he implicates something that his movements then explicate. The most simple and mundane gestures can produce very complicated curves. […] The intermediaries – Hermes, angels, I myself […] we are forced to fly according to these curves. […] As a result, as soon as this intermediary comes to rest on a spot, he sometimes finds himself far off but also sometimes very close to foreigness. He always produces an effect of foreigness“ (ebd., S. 65). Der ‚explizierende‘ Hermes klärt auf und transformiert das Chaos, das Unverstandene und das Fremde in Sinn und Bedeutung: „Hermes the messenger first brings light to texts and signs that are hermetic, that is, obscure. A message comes through while battling against the background noise. Likewise, Hermes traverses the noise, toward meaning.“ (ebd.). Der „effect of foreignness, this incomprehensibility“, die der ‚implizierende‘ Hermes erzeuge, sei „the ordinary effect of a messenger come from afar to announce events. The messenger always brings strange news; if not, he’s nothing but a parrot“ (ebd., S. 66). 267 Ebd., S. 66. Und noch einmal zum Effekt der Fremdheit: „The messenger’s foreignness comes from this contradiction: that transport is the best and the worst thing, the clearest and the most obscure, the craziest and the most certain“ (ebd.). 268 Ebd., S. 65. 269 Michel Serres: Das Kommunikationsnetz: Penelope [1964], in: Hermes I: Kommunikation, S. 9–23, hier S. 9. Vgl. auch Serres’ Vorwort zu: Elemente einer Geschichte der Wissenschaften, hrsg. v. ders., Frankfurt/M. 1994, S. 11–37, hier S. 18 f. „Weit davon entfernt, eine geradlinige Abfolge stetigen Wissenserwerbs oder eine ebensolche Sequenz plötzlicher Einschnitte, Entdeckungen, Erfindungen oder Revolutionen zu zeichnen, die eine Vergangenheit plötzlich umwälzen und in Vergessenheit stürzen, eilt die Geschichte der Wissenschaften unbeständig durch ein vielfältiges und komplexes Netz von Wegen, Straßen, Bahnen, Spuren, die sich verflechten, verdichten, kreuzen, verknoten, überlagern, oft mehrfach verzweigen. Eine Vielzahl unterschiedlicher Zeitmaße, Disziplinen, Ideen von Wissenschaft, eine Mannigfaltigkeit von Gruppen, Institutionen, Kapitalien, Menschen, die sich einig sind oder bekämpfen, von Maschinen, Gegenständen, Prognosen und unvorhergesehenen Zufällen bilden zusammen ein schwankendes Gefüge, das die vielfältige Geschichte der Wissenschaften getreu darstellt.“

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sei es, dort Verbindungen herzustellen, wo Schismen sind.270 Im Unterschied zur traditionellen Philosophie, die von Substantiven oder Verben ausgehe und letztlich nur statische Systeme oder Geschichten hervorbringe,271 nehme er „relationships“ zum Ausgang seines Philosophierens: „I start in a dispersed way with relations, each quite different, […], in order to end, if possible, by bringing them together.“272 Der von ihm gewählte Abstraktionsweg geht folglich nicht von einem bestimmten Objekt oder Begriff aus, „but throughout a relation, a rapport“.273 Ihren adäquaten sprachlichen Ausdruck finden solche Beziehungen nun gerade nicht im Bereich der Substantive, Verben oder Adjektive, sondern im Bereich der Präpositionen: May I point out that each of my books describes a relationship, often expressed by a unique preposition? Inter-ference, for the spaces and times that are between; communication or contract for the relation expressed by the preposition with; translation for across; the para-site for beside… and so on.274 Pre-positions – what better name for those relations that precede any position?275 I abstract toward, by, for, and so on, down the list of prepositions. I follow them the way one follows a direction: one takes it and then abandons it. […] Once I have worked out the

|| 270 Serres/Latour: Conversations, S. 85. Serres’ Selbstcharakterisierung entspricht seiner Vorstellung vom „tiers-instruit“, jenem Dritten, der in allen Wissenschaften bewandert bzw. willens ist, wandernd Passagen zwischen den verschiedenen Wissenschaften und Wissensformen aufzusuchen (zu diesem Konzept s. u., Abschnitt Konfigurationen des Dritten). 271 Vgl. ebd., S. 104 f. 272 Ebd., S. 101. 273 Ebd., S. 104. Dieser Typus von Abstraktion „takes place in the movement from place to place“. Die Lektüre seiner Bücher ist nur schwierig für diejenigen, die sie fernab der NordwestPassage lesen, sprich für jene, die diese Bewegung von Ort zu Ort nicht mitvollziehen: „From a distance this seems difficult to understand, but from close up,, it’s a very simple matter. As simple as saying hello. In fact, we say hello to passersby, to people we encounter in our movements from place to place. […] A reading of my books may seem difficult, because it changes and moves all the time. This changing, these transformations, wanderings, criss-crossings, in each trip follow or invent the path of relation. […] Thus, one must seize the gesture as the relation is in progress and prolong it. There is neither beginning nor end; there is a sort of vector. That’s it – I think vectorially. Vector: vehicle, sense, direction, the trajectory of time, the index of movement or of transformation. Thus, each gesture is different, obviously.“ 274 Ebd. Serres spielt hier u.a. auf folgende Werke an: Hermès II – L’interférence (1972); Hermès I – La communication (1968); Hermès III – La traduction (1974); Le Parasite (1980). 275 Serres/Latour: Conversations, S. 105.

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maritime map of these spaces and times that precede any thesis (meaning position), I can die. I will have done my work.276

Als Leser wünschte man sich, Serres hätte seine Vorstellung von einer präpositionalen Philosophie en détail – quasi-systematisch – dargelegt. Präpositionen, dies macht er im Gespräch mit Latour deutlich – sind sprachliche Entsprechungen einer topologisch verfahrenden Philosophie, einer Philosophie des Reisens, der Randonnée: sie gewährleisten ein Maximum an Beweglichkeit; sie verhindern die Einnahme eindeutiger und fixierter Positionen, sind aber gleichwohl richtungsweisende Navigationshilfen. Sie markieren und stehen ein für die Pluralität, Dynamik und Offenheit philosophischer Erkenntnis. Ihre präpositionale Position innerhalb der Sprache und innerhalb des philosophischen Erkenntnisprozesses weisen sie selbst als Passagen zwischen der begrifflichen, propositionalen Sprache der Wissenschaft und der metaphorischen, nicht- oder vor-propositionalen Sprache der Literatur aus.277 Als passagen-eröffnende und ihrerseits passierbare Sprachpartikel implizieren sie eine Sowohl-als-auchStruktur und verweigern sich einer Zuordnung, Klassifizierung oder Spaltung in das Entweder-oder von Begriff und Metapher. Schließlich – appliziert man Serres’ hermetisch-topologische Methode und rückt zwei entfernt voneinander stehende Textpassagen zusammen – repräsentiert die Präposition die Paradoxie der philosophischen ‚passim-Existenz‘ selbst: […] the philosopher is pulled between two poles – that of maximal accumulation of all knowledge and experience and, at the other extreme, the cancellation of all knowledge and experience, starting from zero. Philosophy works on a two-layered cone, occupying its apex. I see the encyclopedia on the first layer and, on the second, nothing – learned unknowing, the suspension of judgment, solitude, questioning, doubt, incertitude, reconstruction starting from zero. Philosophy is not a body of knowledge nor a discipline among the usual sciences, because it insists on this balance between everything and nothing. A philosophical work necessarily contains everything, and then everything starting from nothing, through a newness obtained by this leap aside. Thus, the difficulty is double and redoubtable: it concerns the accumulation of the totality and the foreignness of the leap aside.278 Do you notice that, in relation to other parts of speech, the prepositions has almost all meaning and has almost none? It simultaneously has the maximum and minimum of meaning, exactly like a variable in classical analysis. From – the French de – indicates

|| 276 Ebd., S. 106. 277 Zu dieser Unterscheidung vgl. Gottfried Gabriel: Zwischen Logik und Literatur. Erkenntnisformen von Dichtung, Philosophie und Wissenschaft, Stuttgart 1991. 278 Serres/Latour: Conversations, S. 90.

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origin, attribution, cause, and thus almost anything one wishes; […] The path traced by this rapport starts everywhere and goes almost everywhere: like Hermes, it passes, and only passes. Likewise, the prepositions to or by denote ways of tracing relations more than they fix the outlines of these relations. […] Consider ‚post-positions’ in the English language. The verb they gravitate around is like an empty face, around which agitates this great name of possibilities. You add up, down, in, or over around it, like strands of hair that blow in all directions – like dancing limbs, valences, flames, seaweed, or banner.279

Die philosophische Mentalität ist charakterisiert durch die gegenläufige Tendenz, zum einen das vorhandene (Erfahrungs-)Wissen zu sammeln, zu durchwandern, zu konservieren und kontinuierlich zu ergänzen, zum anderen die Gültigkeit dieses Wissens zu bezweifeln, zu ignorieren und auszulöschen, um angelangt am philosophischen Nullpunkt einen Neuanfang zu wagen. Der Balanceakt, den der Philosoph zu meistern hat, bewegt sich folglich auf der Grenze zwischen dem Alles der Enzyklopädie und dem Nichts einer tabula rasa.280 Sprachliches Analogon dieser ‚Interposition‘ der Philosophie ist das Verhältniswort, das sich nach Serres einerseits durch eine Sinn- und Richtungstotalität – gleichsam eine enzyklopädische Semantik und Verweisungsstruktur –, andererseits durch eine Sinnleere – eine semantische tabula rasa – auszeichnet. Einer „präpositionalen Philosophie“ obliegt demnach die zweifache Aufgabe, einen „vollständigen Gang durch das Wissen ihrer Zeit zu machen“281 und auf diesem „enzyklopädischen Weg“ verschüttete oder noch nicht entdeckte Passagen zwischen getrennten Wissensgebieten zu eröffnen und „unsere abstraktesten wissenschaftlichen Ideen mit dem wieder zu vereinigen, was wir vom Menschen wissen“.282 Die gegenläufige Tendenz von ‚everything‘ und ‚nothing‘ ist letztlich eine einzige in-sich-gegenläufige Bewegung, heißt präpositionales Philosophieren – Passagen-Denken – doch nichts anderes als im Durchqueren gegebener Wissensordnungen die Grenzen bzw. Definitionen dieser Ordnungen || 279 Ebd., S. 106. 280 Serres führt hier zwei große Traditionen abendländischer Philosophie zusammen: die Enzyklopädie, das „Hauptinstrument der Aufklärung“ (Stephen Toulmin: Kosmopolis. Die unerkannten Aufgaben der Moderne, Frankfurt/M. 1994, S. 227; für einen historischen Überblick vgl. Jürgen Mittelstrass: Art. „Enzyklopädie“, in: Enzyklopädie, Philosophie und Wissenschaftstheorie, hrsg. v. ders., Bd. 1, Mannheim 1980, S. 557–562 sowie Fritz Schalk: Art. „Enzyklopädie“, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hrsg. v. Joachim Ritter u.a., Bd. 2, Basel 1972, S. 573–577) sowie die mit Descartes entstandene Vorstellung von einer von aller Tradition gereinigten tabula rasa, auf der das philosophische Denken einer gänzlichen Neubegründung unterzogen werden könnte (zu diesem „Mythos“ vgl. Toulmin: Kosmopolis, S. 281– 288). 281 Serres, Rötzer: Französische Philosophen im Gespräch, S. 132. 282 Serres, Guillebaud: Philosophien, S. 156 f.

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zu durchkreuzen, durchzustreichen und durchlässig – eben passierbar – zu machen. Es sind diese Denkoperationen, die das enzyklopädische Netz weben, ein Netz freilich, das sich in der von Serres eingenommenen topologischen Perspektive als ein überaus instabiles, fluktuierendes, sich endlos verzweigendes erweist.283

3.2.3 Wie denken? – II. Von der hermetischen zur mathematischen Methode Serres’ Konzept der gefalteten Raum-Zeit ist mehrfach inspiriert und dementsprechend auch verschieden funktionalisiert. Besondere Relevanz kommt dabei dem topologischen Begriff der Falte als einer gleichermaßen philosophischästhetischen wie mathematischen Denkfigur zu. Im Ausgang von Leibniz’ Monadenlehre und im wiederholten Rekurs auf Serres’ Leibniz-Studien284 hat vor allem Gilles Deleuze die Falte als ein für den Barock charakteristisches Modell philosophischer Erkenntnis und ästhetischer Repräsentation untersucht und für die (post)moderne Kunst und Philosophie fruchtbar gemacht.285 Aufgrund der herausragenden Rolle, die Leibniz für Serres’ epistemologisches Denken innehat,286 sollen im folgenden Exkurs die gleichermaßen erkenntnistheoretischen, methodischen und ästhetischen Implikationen dieser Denkfigur ausführlicher dargestellt werden.

|| 283 Vgl. Serres/Latour: Conversations, S. 109. 284 Vgl. Michel Serres: Le systéme de Leibniz et ses modèles mathematiques, Paris 31990; Ders.: Leibniz, in die Sprache der Mathematik rückübersetzt, in: ders.: Hermes III: Übersetzung [1974], aus dem Französischen übers. v. Michael Bischoff, Berlin 1992, S. 151–220. 285 Vgl. Gilles Deleuze: Die Falte. Leibniz und der Barock, übersetzt v. Ulrich Johannes Schneider, Frankfurt/M. 1995 [orig. Le pli. Leibniz et le baroque, Paris 1988]. 286 Ganz allgemein sieht Serres in der Leibnizschen Philosophie seine Vorstellung von Passagen-Denken und damit von einer umfassenden Kommunikation paradigmatisch verwirklicht (vgl. Serres/Latour: Conversations, S. 74). Für Serres ist sie vor allem Ausdruck einer nichtsystematischen, nicht-essentialistischen und nicht-statischen Auffassung vom Ganzen des Universums als einer Unendlichkeit von Möglichkeiten, Verhältnissen und Perzeptionen. Damit verbunden ist nicht zuletzt die Vorstellung von einer kombinatorischen Enzyklopädie, die nicht im Sinne der Polyhistorie das historische und aktuelle Wissen beschreibt, sondern in philosophischer Absicht das mögliche Wissen konstruiert und alles Wissbare überhaupt konstruierbar macht.

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Exkurs „Die ganze Welt“, so Deleuze in seiner Beschreibung der Leibniz’schen Monadologie, „ist nur eine Virtualität, die aktual nur in den Falten der Seele existiert, die sie ausdrückt, wobei die Seele von inneren Entfaltungen aus operiert, wodurch sie sich eine Repräsentation der eingeschlossenen Welt gibt. Wir gehen in einem Subjekt von der Inflexion zum Einschluß wie vom Virtuellen zum Aktualen, wobei die Inflexion die Falte definiert, deren Einschluß dagegen die Seele oder Subjekt, d.h. dasjenige, was die Falte, ihre Zweckursache und ihre vollendete Tat umhüllt“.287 Mehrfaches ist hier angesprochen: Die Monaden, von Leibniz aufgefasst als in sich geschlossene, vollkommen autarke, von anderen Monaden abgesonderte Substanzen – sie „haben keine Fenster, durch die irgendetwas in sie hinein- oder aus ihnen hinaustreten kann“288 – sind vorstellbar als materielle oder seelische Einfaltungen, die dank einer ihnen eigenen Wirkungskraft (force d’agir) in unablässiger Tätigkeit ihrer je individuellen Entfaltung und Vervollkommnung zustreben.289 Angeordnet als Stufenreich, das von den schlafenden, nur der passiven Perzeption fähigen über die zu aktivem Selbstbewusstsein begabten vernünftigen Seelen bis hin zur vollkommenen Monade Gott reicht,290 „repräsentieren [sie] das gesamte Universum gemäß ihren verschiedenen Stand- und Blickpunkten“ und „stellen jede für sich einen ‚Spiegel des Universums‘ dar, […] einzelne Perspektiven des göttlichen Schauens der Welt“.291 Der Gesamtzusammenhang der solcherart atomisierten Monaden – eine auf Korrespondenzen, Analogien und Kontinuität beruhende universale Ordnung – wird durch die Annahme einer prästabilierten Harmonie gestützt, die besagt, „dass Gott alle Beziehungen sowohl zwischen den einzelnen Dingen […] als auch zwischen Seele und Leib von Anfang so geordnet hat, daß alles Geschehen gesetz- und zweckmäßig ablaufen muß, obgleich nur ein Parallelismus, eine Koordination der Geschehnisse, besteht“.292

|| 287 Deleuze: Die Falte, S. 67. 288 Georg Wilhelm Leibniz: Die Prinzipien der Philosophie oder die Monadologie (frz.-dt.), in: ders.: Philosophische Schriften, hrsg. u. übersetzt v. Hans Heinz Holz, Frankfurt/M. ²1986, Bd. I, S. 439–483, hier: § 7, S. 441. 289 Mit dieser Vorstellung knüpft Leibniz an den – gegen Platon gerichteten – aristotelischen Entelechiegedanken an, wonach die Ideen keine selbständigen Wesenheiten in einem Reich jenseits der phänomenalen Welt sind, sondern die jedem Ding immanenten Kräfte, durch welche die Phänomene auf das ihnen von Gott jeweils zugedachte Telos im Stufenreich der Zwecke hingetrieben werden und die Verwirklichung ihrer je individuellen vollkommenen Form ermöglichen (vgl. Entelechie als das, was das Ziel, telos, in sich hat, echein). Leibniz beschreibt, so Srowig, dieses entelechische Tätigsein der Monaden als „gesetzmäßiges Durchlaufen verschiedener Perzeptionszustände“ (Regina Srowig: Art. „Monade, Monadologie“, in: Prechtl/Burkard: Metzler Philosophie Lexikon, S. 336–337, hier S. 337). 290 Zur Klassifikation der Nomaden in Abhängigkeit ihrer jeweiligen Perzeptionsfähigkeit vgl. Deleuze: Die Falte, S. 149 f. 291 Srowig: Art. „Monade, Monadologie“, S. 337; vgl. Leibniz: Monadologie, § 56; Theodizee, § 360. 292 Regina Srowig: Art. „Prästabilierte Harmonie“, in: Metzler Philosophie Lexikon, S. 413.

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Wahrnehmungs- und erkenntnistheoretisch bedeutet dies zunächst: Was immer als Welt vorgestellt und erkannt wird, ist keine dem Subjekt äußerliche, von ihm unabhängige Welt, sondern die substantielle Welthaltigkeit der menschlichen Seele – die in sie eingefasste, eingefaltete, implizierte Welt,293 die es „plica ex plica“294 zu explizieren und zu entfalten gilt. Der Vorgang der Entfaltung der Falten, die als Repräsentanten eingeborener Erkenntnisse aufzufassen sind,295 ist die „Kontinuierung oder Ausdehnung ihrer Tat, die Bedingung ihrer Manifestation“,296 folglich die fortschreitende Aktualisierung und Repräsentation der eingeschlossenen virtuellen Welt in der Tätigkeit des Vorstellens, die einhergeht mit einer gesteigerten Komplexität des Vorgestellten. Denken und Erkennen als Vorstellungsprozess bedeuten damit Reflexion – oder pointierter: Inflexion im Sinne des selbstbezüglichen Denkens, des Rückgangs in die Ratio, des Bewusstseins in sich selbst und die ihm inhärente Ordnung. Da die Faltungen der Seele wie auch die der Materie ins Unendliche diffundieren, ist auch die Vorstellungstätigkeit eine unendliche, niemals abzuschließende Aufgabe, und das deutlich Vorgestellte – im Sinne des Entfalteten und Ausgedrückten – stets an das noch Eingefaltete, die dunklen und verworrenen kleinen Perzeptionen, gebunden.297 Damit ist das Wahrnehmungs-

|| 293 „Jede Monade drückt […] die ganze Welt aus, wenn auch dunkel und verworren, da sie endlich ist und die Welt unendlich. Darum ist der Grund [fond] der Monade so dunkel. Weil die Welt nicht außerhalb der Monaden existiert, die sie ausdrücken, ist sie in jeder von ihnen in der Form von Perzeptionen oder ‚Repräsentanten‘, unendlich kleinen aktualen Elementen, eingeschlossen. Wie […] die Welt nicht außerhalb der Monaden existiert, sind es kleine Perzeptionen ohne Gegenstand, halluzinatorische Mikro-Perzeptionen. Die Welt existiert nur in ihren Repräsentanten, wie sie in jeder Monade eingeschlossen sind“ (Deleuze: Die Falte, S. 140 f., ferner 153; vgl. Leibniz: Monadologie, § 63, S. 469). 294 Deleuze: Die Falte, S. 24. 295 Deleuze weist an dieser Stelle auch auf Leibniz’ analog verwendetes „Bild der Adern des Marmors“ hin: „einmal sind die Adern die Faltungen der Materie, welche die in der Masse genommenen Lebewesen umgeben, so dass der Marmorblock wie ein aufgewühlter See voller Fische ist. Ein andermal sind die Adern die in der Seele eingeborenen Ideen, wie die im Marmorblock potentiell enthaltenen gefalteten Figuren oder Statuen. Die Materie ist marmoriert, die Seele ist marmoriert, beides auf unterschiedliche Weise“ (ebd., S. 13). 296 Ebd., S. 63. 297 Vgl. Leibniz: Monadologie, § 61; ders.: In der Vernunft gegründete Prinzipien der Natur und Gnade, § 13, in: Philosophische Schriften, Bd. I, S. 414–439, S. 431 f. Dezidiert weist Leibniz in diesem Zusammenhang auf die Beschränktheit und Vorläufigkeit jeder Vorstellung hin, wenn er sagt, „que cette représentation n’est que confuse dans le détail de tout l’univers et ne peu être distincte que dans une petite partie des choses“ (Leibniz: Monadologie, § 60, S. 464 f.). „Die Theorie der kleinen Perzeptionen“, so Deleuze, „stützt sich auf zwei Gründe: einen metaphysischen Grund, nach dem jede perzipierende Monade eine unendliche Welt ausdrückt, die sie einschließt; einen psychologischen Grund, nach dem jede bewusste Perzeption unendlich viele kleine Perzeptionen impliziert, die sie vorbereiten, zusammensetzen oder ihr folgen“ (Deleuze: Die Falte, S. 142). Bei dem Verhältnis zwischen den kleinen Perzeptionen und den bewussten ‚großen‘ Apperzeptionen handelt es sich jedoch „nicht um ein Verhältnis TeileGanzes“ (das Ganze kann bei Gewöhnung ebenso unwahrnehmbar bleiben wie die Teile), sondern um eines „des Gewöhnlichen zum Bemerkenswerten oder Beachtlichen: ‚Das Bemer-

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und Vorstellungsvermögen sowohl in quantitativer als auch in qualitativer Hinsicht begrenzt: Weder kann der Mensch als vorstellendes, endliches Wesen die Mannigfaltigkeit der Welt je vollkommen erfassen noch vermag er das in der Vorstellung Explizierte in allen seinen verborgenen Implikationen oder gar in seinem „dunklen Grund“ [le sombre fond], aus dem die Seele alles zieht, klar und deutlich einzusehen.298 Vielmehr „geht das Klare aus dem Dunklen hervor und fällt unablässig in es zurück“; „es ist von Natur ein Helldunkel, es ist die Entwicklung des Dunklen, es ist mehr oder weniger Klares“.299 Obwohl alle Monaden dieselbe Welt enthalten und ausdrücken, sind ihre jeweiligen Perzeptionen, Aktualisierungen und Ausdrucksweisen von ‚Welt‘ graduell verschieden: Jede hat ein ihr exklusiv zugehöriges „Gebiet des klaren, bemerkenswerten oder bevorzugten Ausdrucks“,300 ihren eigenen „‚Bezirk‘“,301 ihre je singulär gestalteten ‚großen‘ Falten.302 Dass die je individu-

|| kenswerte muß aus Teilen bestehen, die selbst nicht bemerkenswert sind‘“ (ebd., S. 143; zum Zitat im Zitat vgl. Leibniz: Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand II, Kap. 1, § 18, in: Philosophische Schriften, Bd. III/1, S. 117 f.]). Mathematisch formuliert: Eine bewusste Perzeption entsteht dann, „wenn mindestens zwei heterogene Teile in ein Differentialverhältnis treten, welches eine Singularität definiert. […] Die kleinen Perzeptionen sind also nicht Teile der bewussten Perzeption, sondern Erfordernisse oder genetische Elemente, ‚Differentiale des Bewusstseins‘“ (ebd., S. 143 f.; vgl. ferner S. 146 f.). 298 Vgl Deleuze: Die Falte, S. 50. Über den Grund: „Als ob der Grund jeder Monade aus unendlich vielen kleinen Falten (Inflexionen) bestünde, die nach allen Richtungen unaufhörlich entstünden und vergingen, so dass die Spontanität der Monade wie die eines Schlafenden ist, der sich auf seinem Bett hin- und herwälzt. Die Mikro-Perzeptionen oder Welt-Repräsentanten sind diese kleinen Falten in allen Richtungen, Falten in Falten, auf Falten [..]. Und es sind diese kleinen dunklen, verworrenen Perzeptionen, die unsere Makroperzeptionen zusammensetzen, unsere bewussten, klaren und deutlichen Apperzeptionen: niemals tauchte eine bewusste Perzeption auf, wenn sie nicht eine unendliche Gesamtheit kleiner Perzeptionen integrierte, welche die vorangegangene Makroperzeption aus dem Gleichgewicht bringen und die folgende vorbereiten. […] Die kleinen Perzeptionen sind der Übergang einer Perzeption zu einer anderen, ebenso wie Komponenten jeder Perzeption“ (ebd., S. 141 f.). Deshalb beschreibt Leibniz die kleinen Perzeptionen auch als „Stacheln der Unruhe, die die Instabilität jeder Perzeption ausmachen“ (ebd., S. 142; vgl. Leibniz: Neue Abhandlungen II, Kap. I, § 9–25; Kap. 20, §§ 6–9; Kap. 21, §§ 29–36). 299 Deleuze: Die Falte, S. 146 f. Dies entspricht Serres’ Definition von Wissen als eines „chiaro-scuro“ (vgl. unten). 300 Ebd., S. 149. 301 Ebd., S. 147. Das Bemerkenswerte und damit das Singuläre bestimmt sich „je nach den Differentialverhältnissen, welche die Perzeption in der Monade konstituieren“ (ebd., S. 149; zum Differentialkalkül als psychischer Mechanismus vgl. ebd., S. 146). Obgleich alle Monaden dieselben unendlich vielen kleinen Perzeptionen und dieselben Differentialverhältnisse aufweisen und ähnlich bewusste Perzeptionen hervorbringen, lässt sich sagen, „dass jede Monade gewisse Differentialverhältnisse bevorzugt“ (ebd.). 302 Das Gestaltete, das „feste Gewebe der Apperzeption“, jener (selbst)bewussten Vorstellung, die ihrerseits eine Falte bildet, welche „das Bewusstsein vom Unbewussten trennt“, jene

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ellen und selbständigen Wahrnehmungs-, Lese- und Verstehensweisen dennoch mit allen anderen übereinstimmen und die polyperspektivischen Vorstellungen in einem einheitlichen und harmonischen Kommunikationszusammenhang stehen, verdankt sich nach Leibniz Gott als der einzig vollkommenen Monade, aus der alle anderen Monaden, die materiellen wie die geistig-seelischen, und damit alle Vorstellungen, die unbewussten wie die bewussten, entstammen. Mit dieser ontotheologischen Fundierung aller vereinzelten Vorstellungen in der göttlichen Vorstellung sieht Leibniz die Mannigfaltigkeit, Individualität, Autarkie und Dynamik der seienden Monaden bewahrt, sie zugleich aber – korrespondierend und kommunizierend – aufeinander bezogen und in eine einheitlich-universale Ordnung gestellt. Weil die Welt in der Monade ist, schließt jede die ganze Reihe der Zustände der Welt ein; weil aber die Monade für die Welt ist, enthält keine auf deutliche Weise den „Grund“ der Reihe, aus der sie alle resultieren und der ihnen äußerlich bleibt wie das Prinzip ihres Zusammenstimmens. Man geht also von der Welt zum Subjekt um den Preis einer Drehung, die bewirkt, dass die Welt aktual nur in den Subjekten existiert, zugleich allerdings, dass die Subjekte sich alle auf diese Welt beziehen als auf die Virtualität, die sie aktualisieren.303 Wenn nun die ‚großen‘ Falten – die aus den kleinen, dunklen Perzeptionen entfalteten Phänomene – nur im Innen der Monade sind, wie lässt sich dann das Verhältnis von Erscheinung und Materie denken? Zur Erklärung bedient sich Leibniz der Kategorie der Ähnlichkeit: Das Ähnlichkeitsverhältnis zwischen perzipierter Innenwelt und materieller Außenwelt verdankt sich einer „‚Projektion‘“ von Perzipiertem „auf die Schwingungsebene der Materie“.304 Analogien, „Verhältnisse einer Ordnung“, beschreiben folglich nicht Ähnlichkeiten zwischen Perzeptionen und Dingen, sondern zwischen psychischen und physischen Kräften, Ereignissen und Operationen: den realisierenden, elastischen und plastischen Kräften der Materie und den aktualisierenden, gestaltenden, ‚inflektierenden‘ Bewegungen der Seele.305 Aufgrund der graduellen,

|| regionale und letztlich transitorische Entfaltung und Auflösung der „unendlich kleinen, den Hintergrund unaufhörlich bewegenden Falten“ zugunsten einer „große[n] Falte […], auf der die Formen erscheinen“, die Projektion von Welt „‚auf die Oberfläche eines Knicks‘“ – mit diesen Formulierungen lässt sich umschreiben, dass „wir immer in Falten perzipieren“, dass „wir Figuren ohne Gegenstand erfassen, allerdings durch den gegenstandslosen Staub hindurch [d.i. der dunkle Grund, den die kleinen Perzeptionen konstituieren, BM], den sie selbst auf dem Grund aufwirbeln und der sich legt, um sie einen Moment lang sichtbar zu machen. Ich sehe die Falte durch den Staub hindurch, den sie aufwirft, und von dem ich die Falten absetze. Ich sehe nicht in Gott, ich sehe in den Falten“ (ebd., S. 151–154). 303 Ebd., S. 47. 304 Ebd., S. 156. 305 Die Materie weist bei Leibniz eine hohe Affinität zum Leben und zum Organischen auf, vgl. dazu ebd., S. 15–21, 156–161. Die Fragen nach dem Verhältnis zwischen Seele und Materie muss auch als Frage nach dem Verhältnis zwischen Aktualisierung und Realisierung gestellt werden: Die Seele aktualisiert in ihren Perzeptionen die virtuell in den kleinen Perzeptionen ‚enthaltene‘ Welt: „Die Welt hat Aktualität nur in den Monaden, deren jede sie aus ihrem eigenen Gesichtspunkt, auf ihrer eigenen Oberfläche ausdrückt“ (ebd., S. 170). Wenn wir nun

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nicht jedoch prinzipiellen Verschiedenheit der Monaden lässt sich das, was Leibniz mit Blick auf die Beziehung von Seele und Leib sagt, für das Verhältnis von Seele und Materie allgemein behaupten: „Was in die Seele eingeht, [stellt das dar], was sich in den Organen ereignet [comme ce qui passe dans l’Ame représente ce qui fait dans les organes].“306 Mit Deleuze: „Eine durch das Bewusstsein perzipierte Qualität ähnelt den durch den Organismus kontrahierten Schwingungen. Die der Monade inneren Differentialmechanismen ähneln den Kommunikations- und Ausbreitungsmechanismen der äußerlichen Bewegung, obwohl sie nicht dieselben sind […].“307 Zur Veranschaulichung dieses paradoxen Verhältnisses zwischen Welt der Materie und Welt der Seele entwirft Leibniz das Bild eines Hauses mit zwei Etagen:308 die obere zeigt ein vollkommen abgeschlossenes und abgedunkeltes Interieur, tapeziert mit einer „‚von Falten untergliederten‘ Leinwand“, den angeborenen Ideen, welche durch die in der unteren Etage ausgelösten „Reizungen der Materie“ aktiviert309 und damit zu vorstellendem Tätigsein motiviert werden. Die obere Etage, die Monade, die „Autonomie des Inneren, eines Inneren ohne Außen“, hat als Korrelat die untere Etage, die „Unabhängigkeit der Fassade, ein Äußeres ohne Inneres“.310 Beide Etagen, reine Innerlichkeit und reine Äußerlichkeit, sind durch die unendliche Falte getrennt und zugleich verbunden, jener Falte, „die sich in den intimen Falten aktualisiert, welche die Seele in der oberen Etage einschließt, und die sich in den Faltungen auswirkt, welche die Materie eine aus der anderen entstehen lässt, immer im Äußeren, in der unteren Etage“.311 Die Welt – das barocke Haus – drückt sich demnach in einem doppelten Prozess aus: „Sie ist also zweimal gefaltet, in den Seelen, die sie aktualisieren, und nochmals gefaltet in den Körpern, die sie realisieren, jedesmal einer gesetzmäßigen Ordnungsweise folgend, die der Natur der Seelen oder der Bestimmung der Körper entspricht. Und zwischen den beiden Falten die Zwischen-Falte, die Zwiefalt, die Knickstelle der beiden Etagen, das

|| „aufgrund der Ähnlichkeit des Perzipierten mit einem Ding = x fragen, ob es nicht in solcher Weise aufeinander einwirkende Körper gibt, dass unsere innerlichen Perzeptionen ihnen entsprechen, dann stellen wir eben dadurch die Frage nach der Realisierung der Erscheinung oder, besser, nach einem ‚Realisierer‘ des Perzipierten, d.h. nach der Transformation der aktual perzipierten Welt in eine objektiv reale Welt, in objektive Natur“ (ebd., S. 171). Die Antwort erfolgt bei Leibniz über die ideale Präexistenz: das „Ausdrückbare aller Ausdrücke, das Realisierbare aller Realisationen, eventum tantum, dem Seele und Körper gleich sein wollen, das aber niemals ankommt […]“, vielmehr den „stummen und verschatteten Teil“ jedes Aktualisierungs- und Realisierungsereignisses ausmacht (ebd., S. 171 f.). 306 Leibniz: Monadologie, § 25, S. 451. 307 Deleuze: Die Falte, S. 159. 308 Vgl. dazu und im Folgenden Ebd., S. 12 f. sowie S. 162–196. 309 Vermittels „‚einiger kleiner Öffnungen‘, die auf der unteren Etage sehr wohl existieren“, löst die Materie an den Falten, Strängen oder Spannkräften, wie sie auf der undurchsichtigen Leinwand der oberen Etage gebildet sind, „‚Schwingungen oder Oszillationen‘“ aus. „Leibniz“, so Deleuze zusammenfassend, „führt eine große barocke Montage durch zwischen der unteren, durch Fenster unterbrochenen Etage und der oberen Etage, die blind und verschlossen, aber mit Widerhall ausgestattet ist wie ein Musiksalon, der die unten sichtbaren Bewegungen in Töne übersetzt“ (ebd., S. 12 mit Rekurs auf Leibniz: Neue Abhandlungen II, Kap. 12, S. 181). 310 Deleuze: Die Falte, S. 50; vgl. ferner S. 52. 311 Ebd., S. 53.

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Gebiet der Untrennbarkeit, das Scharnier und Schnitt ist“.312 Die „Zwiefalt“, so Deleuze im Rekurs auf Heidegger, ist „differenzierende und sich differenzierende Falte“, deren „‚Doppelung‘“ sich „notwendigerweise auf beiden durch sie unterschiedenen Seiten [reproduziert], die sie aber aufeinander bezieht, indem sie sie unterscheidet“.313 Von hier aus kann Leibniz’ Bild der Falte und dessen Deutung durch Deleuze auch zu einem hermeneutischen, näherhin rezeptionsästhetischen Modell weiterentwickelt werden. Leibniz selbst schlägt die Brücke zwischen Philosophie, Theologie und Ästhetik, wenn er die der Seele eigene „ursprüngliche Unvollkommenheit“ als eine notwendig defizitäre Lektüreund Deutungskompetenz beschreibt, durch die sich der Mensch von Gott unterscheidet, mit ihm aber zugleich in Beziehung steht. Auf solche Weise kann derjenige, der alles sieht, in jedem das lesen, was überall geschieht, und sogar das, was geschehen ist oder geschehen wird, indem er im Gegenwärtigen das wahrnimmt, was – ebenso in der Zeit wie dem Orte nach – entfernt ist. […] Eine Seele kann aber in sich nur das lesen, was auf deutliche Weise in ihr dargestellt ist [mais une âme ne peut lire en elle-même que ce qui y est représenté distinctement], sie kann nicht alle ihre Falten mit einem Schlage auseinanderwickeln, denn sie gehen bis ins Unendliche [elle ne saurait développer tout d’un coup ses replis, car ils vont à l’infini].314 Die je verschiedenen Perzeptionen, Aktualisierungen und Entfaltungen von Welt werden hier als mannigfaltige Lektüren und Deutungen einer universalen, unendlich verfalteten Textur ausgewiesen. Die Verschiedenverstehbarkeit dieser Textur resultiert aus der Unmöglichkeit des endlichen und perspektivisch gebundenen Subjekts, alle Falten auf einmal zu entfalten. Dieses Privileg kommt Gott zu, der als idealer Leser „alle Zustände der Monade, wie klein sie

|| 312 Ebd., S. 196. „Dass die Körper realisieren, heißt [jedoch] nicht, dass sie real sind: sie werden es, soweit das, was in der Seele aktual ist (die innerliche Tätigkeit oder Perzeption), etwas im Körper realisiert. Nicht der Körper wird realisiert, im Körper wird realisiert, was aktual in der Seele perzipiert ist. Die Realität des Körpers ist die Realisierung der Erscheinungen im Körper. Was realisiert, ist die Falte der beiden Etagen […]. Eine Leibnizsche Transzendentalphilosophie, die eher das Ereignis betrifft als das Phänomen“ und deren Bedingung die „doppelte Operation der transzendentalen Aktualisierung und Realisierung (Animismus und Materialismus)“ ist (ebd., S. 196). 313 Ebd., S. 53 f. „Wenn Heidegger die Zwiefalt als das Differenzierende der Differenz anspricht, will er vor allem sagen, dass die Differenzierung nicht auf ein vorher Undifferenziertes verweist, sondern auf eine Differenz, die sich auf beiden Seiten unaufhörlich entfaltet und faltet und die nicht eines entfaltet, ohne das andere zu falten, in einer Koextensivität des Enthüllens und Verhüllens des Seins, der Anwesenheit und des Rückzugs des Seienden.“ Zu Heidegger vgl. vor allem „Moira (Parm. VIII, 34–41)“, in: ders.: Vorträge und Aufsätze, Pfullingen 1954, S. 223–248. Zur Korrelation von Innerem und Äußerem, Oben und Unten vgl. ferner Deleuze: Die Falte, S. 61–63. 314 Leibniz: Monadologie, § 61, S. 467; sowie In der Vernunft gegründete Prinzipien der Natur und Gnade, Nr. 13, PS I, S, 431 f.).

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auch sein mögen, durchläuft, auf eine Weise, dass er mit ihr im Moment der Tätigkeit ‚ohne jede Distanz‘ zusammenfällt“.315 Lesen besteht nicht darin, von der Idee eines vorherigen Zustands auf die Idee des folgenden zu schließen, sondern das Bestreben oder die Tendenz zu erfassen, durch die der folgende Zustand selbst ‚durch eine Kraft der Natur‘ aus dem vorhergehenden hervorgeht. Die göttliche Lektüre ist ein wirklicher Übergang Gottes in die Monade […]. Mehr noch, jede Monade ist nichts anderes als ein Übergang Gottes: jede Monade hat einen Gesichtspunkt, dieser Gesichtspunkt jedoch ist das ‚Resultat‘ einer Lektüre oder eines Blicks Gottes, der durch sie geht und mit ihr zusammenfällt.316 Der göttliche Akt des Lesens aktualisiert und realisiert sich in den mannigfaltigen regionalen und zeitlich gebundenen Einzellektüren der Monaden, und er ereignet sich „immer und überall“, „im gleichzeitigen Zusammenfallen von allen in der Ordnung der Zeit aufeinander folgenden Übergängen mit allen gegenwärtigen Lebewesen, die die Welt zusammensetzen“.317 Die monadischen Einzellektüren sind also nicht determiniert und vorherbestimmt, sondern schöpferisch-kreative Hervorbringungen, aktiv-poietische Ausdrucksleistungen und Ausdrucksformen der Monade, „je nach deren eigenem Gesichtspunkt“.318 Es sind Repräsentationen von Welt im oben beschriebenen Sinne der unabschließbaren Selbstpräsentation und Selbstentfaltung der Seele. Die Interrelationen zwischen kleinen Perzeptionen und bewussten Apperzeptionen, zwischen diffuser Virtualität und Gestalt gewordener Aktualisierung lässt sich in diesem Kontext als Interrelation zwischen idealer (göttlich-ganzheitlicher) und aktualisierter (menschlich-regionaler) Lektüre beschreiben. Das individuell entfaltende, endliche Lesen im unendlich gefalteten, impliziten und lediglich in den ‚eingeborenen‘ Falten manifesten WeltText ist im Ergebnis ein „Helldunkel“319, zwiefältige Falte, „Zwischen-Ausdruck“, „pli selon pli“,320 gerechtfertigt und auf seine Weise wahr durch die Teilhabe an der Klarheit und Vollkommenheit Gottes. Der unendlich verfaltete Welttext wird vergleichbar mit einem literarischen Text als einem unendlich verflochtenen Netzwerk von an den Leser gerichteten Appellstrukturen und Sinnpotentialen, die im Leseprozess sukzessive aktualisiert, konkretisiert und entfaltet werden.321 Analog der Leibniz’schen force d’agir, ist die appellative Wirkung eines Textes Effekt einer Interaktion von Zeigen und Verschweigen, von manifest zeichenhaftem Ausdruck und latent

|| 315 Deleuze: Die Falte, S. 122. 316 Ebd. Nur über ein so verstandenes göttliches Lektüreverhalten lässt sich auch die Freiheit der Monaden begründen (vgl. ebd., S. 122 f.). 317 Ebd., S. 122. 318 Ebd., S. 130. Lesen und Schreiben, Rezeption und Produktion fallen hier ineins; Welt lesen ist Welt erzeugen. Zur Schöpfung als einer creatio continua vgl. Leibniz: Monadologie, §§ 47– 48. 319 Deleuze: Die Falte, S. 147. 320 Ebd., S. 56. 321 Vgl. Hans Robert Jauß: Literaturgeschichte als Provokation [1970], Frankfurt/M. 1992, S. 186; Wolfgang Iser: Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung [1976], München 1984.

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unendlich verfalteter Spur.322 Der dadurch allererst generierte Akt des Lesens vollzieht sich dabei über selektive und kombinatorische Prozesse, aus denen je individuell und historisch perspektivierte Aktualisierungen der virtuellen, unaus-schöpfbaren Sinn-Implizität hervorgehen. Die bei Leibniz durch Gott garantierte universale Prästabilität korreliert innerhalb der Wirkungs- und Rezeptionsästhetik mit dem transzendentalen Strukturmodell des impliziten Lesers, „das als im Text verankerte strukturierte Hohlform die Gesamtheit der Vororientierungen bezeichnet, ‚die ein fiktionaler Text seinen möglichen Lesern als Rezeptionsbedingungen anbietet‘, und zugleich den Übertragungsvorgang beschreibt, durch den sich die Textstrukturen über die Vorstellungsakte in den Erfahrungshaushalt des Lesers übersetzen“.323 Das ideale Ziel einer jeden Lektüre wäre demnach die Erzeugung des im Text virtuell angelegten

|| 322 Der dynamische Kommunikationsprozess zwischen Text und Leser wird durch die „Dialektik ‚von Zeigen und Verschweigen‘ reguliert, wobei das Verschwiegene den Anreiz für die Konstitutionsakte des Lesers bildet, die ihrerseits durch das im Text Formulierte und perspektivisch Ausgestaltete kontrolliert werden“ (Meinhard Winkens: Art. „Leerstelle“, in Nünning: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie, S. 362–363, hier S. 363). Ingardens Konzept der Unbestimmtheitsstelle wird durch Iser insofern dynamisiert, als er die textuellen Leerstellen „nicht als zu realisierendes Potential, sondern als ausgesparte Anschließbarkeit definiert. Leerstellen sind die Gelenke oder gedachten Scharniere des Textes, an denen ein Textelement nicht ohne weiteres an die vorhergehenden anschließbar ist […]. Die dadurch entstehende Kombinationsnotwendigkeit der Textschemata entautomatisiert die im habituellen Sprachgebrauch pragmatisch unproblematische Beziehung der Segmente untereinander“ (Doris Feldmann: Art. „Unbestimmtheit, literarische“, in: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie, S. 652; Hervorhebung BM). Die Leerstellen korrespondieren dem Leibniz’schen „dunklen Grund“, den ‚kleinen Perzeptionen‘, die vom Leser als ‚Lücken‘ und ‚Unterbrechungen‘ erfahren werden und ihm, so Winkens, eine Hypothesenbildung darüber abverlangt, in welchem Beziehungsverhältnis einzelne Textsegmente und Darstellungsperspektiven zueinander stehen (vgl. Winkens: Art. „Leerstelle“, S. 363). Die Leerstellen gefährden zwar die Textkohärenz (vgl. Feldmann: Art. „Unbestimmtheit, literarische“, S. 652), führen jedoch aufgrund der im Text angelegten transzendentalen Struktur, „‚in der der Leser immer schon mitgedacht ist‘“ und durch die jede aktualisierte Bedeutung „‚konditioniert‘“ ist, „‚allerdings in einer Form, die es erlaubt, dass sie der Leser selbst erzeugt‘“, nicht zu deren Auflösung. „So werden die Leerstellen als die letztlich irreduziblen Unbestimmtheitsbeträge und damit zugleich die Überordnung des Unformulierten nur implizit durch die wechselseitige Beziehung innerhalb des Ensembles markierter Textpositionen Vorgezeichneten gegenüber dem vom Text explizit Formulierten zu entscheidenden Merkmalen der Appellstruktur“ (Meinhard Winkens: Art. „Appellfunktion/struktur“, in: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie, S. 22–23, hier S. 22). 323 Meinhard Winkens: Art. „Wirkungsästhetik“, in: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie, S. 678–681, hier S.680. Mit der pointierten Formulierung von der „Gesamtheit der Vororientierungen“, die im individuellen Akt des Lesens immer nur perspektivisch, also blickpunkthaft und standortrelativ konkretisiert und wie die Falten der Seele niemals „mit einem Schlage auseinandergewickelt“ werden kann, wird zugleich angezeigt, dass das transzendentale, im Text virtuell angelegte Äquivalenzsystem nicht deterministisch aufzufassen ist, sondern – wiederum analog zu Leibniz – als je aktual sich ereignende Koinzidenz von Textlektüre und Textkonstitution (vgl. Deleuze: Die Falte, S. 122).

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„Äquivalenzsystems, das mehr ist als alle Positionen und Perspektiven zusammen“,324 die vollständige Explikation des Impliziten, die Horizontverschmelzung mit dem göttlich vollkommenen Leser. Die in den vielfältigen und potentiell infiniten Lektüren jeweils erzeugten Konkretisationen jedoch sind stets ‚nur‘ helldunkle Auffaltungen, schwebende Ausdrucksmuster zwischen Evidentem und Verschattung, sinnhafte Übergangsgestalten vor „dunklem Grund“.325

Dass die Monadologie – Leibniz’ „Diskurs über die individuierten Substanzen“, seine „Individualmetaphysik“ – untrennbar von der mathesis universalis ist, zeigt Michel Serres am Paradigma des von Leibniz erfundenen harmonischen Dreiecks. Vor dem Hintergrund des Bildes vom barocken Haus lesen sich seine Ausführungen wie die Rückübersetzung einer architektonischen Form in eine mathematische. Zunächst erläutert Serres die Merkmale und Gesetze des harmonischen Dreiecks anhand einer Tafel, die das harmonische Dreieck mit dem arithmetischen verbindet, wobei letzteres spiegelbildlich zu ersterem dargestellt ist.326 Die Tafel enthält alle Zahlen, die natürlichen wie die rationalen, und sie erzeugt diese Zahlen aufgrund einer einfachen Regel. Sie stellt sie in Gestalt einer Pyramide dar, deren Basis sich jenseits unseres Gesichtskreises im Unendlichen verliert […]: in diesem Abgrund gibt es eine unendliche Zahl schlummernder Teile […]. Es handelt sich um ein Aggregat mit guter interner Verknüpfung, das jedoch nicht einzigartig oder notwendig ist: Die Zahlen könnten insgesamt auch anders dargestellt werden, […] auf unendlich viele Weisen. […] Das Aggregat besteht aus Zahlenfolgen, die Tafel aus Folgen von Folgen; sie bildet eine Ordnung koexistenter Entitäten wie der Raum, von aufeinanderfolgenden Entitäten wie die Zeit, sie ist eine Ordnung von Ordnungen wie eine Raum-Zeit. Ganz auf dieselbe Art wie eine Entität der Welt oder des zeitlichen Ablaufs der Welt ist jede beliebige Zahl hier der Schnittpunkt oder Knoten unendlicher Zahlenfolgen, je nachdem, ob man die Tafel horizontal oder vertikal, diagonal oder treppenförmig liest; sie wird durch diese vorgeschriebenen Folgen analysiert; ohne die Folgen gäbe es nichts zu sagen über diese Zahl, sie liefern endlos die Prädikate, die unsere Zahl als gerade oder ungerade, als natürlich, zusmmengesetzt, als Summe oder als teilbar usw. ausweisen; die Zahl wird durch mehrere prädikative Bildungsgesetze, von denen die Tafel beherrscht ist, mehrfach determiniert. […] Nun unterscheidet sich aber jede Zahl von allen anderen zumindest durch ihre Stellung oder Lage […]; individualisiert und unterscheidbar, besitzt sie dennoch

|| 324 Winkens: Art. „Wirkungsästhetik“, S. 680. 325 Vgl. Deleuze: Die Falte, S. 58 u. 172. 326 Vgl. Serres: Leibniz, in die Sprache der Mathematik rückübersetzt, S. 175–184. – Leibniz hätte zwar nur reale Zahlen benutzt, doch die Menge der reellen intuitiv gesehen. „Das harmonische Dreieck ist gleichsam das kleine Theater, dessen großes das arithmetische Dreieck ist, die Bühne, auf der das Zusammengesetzte, das Wahrscheinliche, die Summierung herrschen: Es schließt, wo immer man will, die Lücken des diskret Zusammengesetzten, es ist überall in den Makrokulissen; ganz so, als könnte man seine Spitze an jeden durch Einheiten markierten Punkt setzen“ (ebd., S. 182).

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sämtliche denkbaren Beziehungen zu dem Aggregat als ganzem; sie umfaßt diese Beziehungen in ihrer eigenen Konstitution, sie enthält sie in ihrer eigenen Definition. […] Anders gesagt, die Zahl ist, was sie ist, auf eigene und ursprüngliche Weise durch die Gesamtheit dieer operationalen Beziehungen zu den übrigen Zahlen: einzigartig, aber allseits umgeben und erfaßt von dem arithmetischen Gewebe, dem Netz, dem Gitter.327

An den Rändern des Dreiecks zeigt die Tafel „ein oder zwei Folgen aus unendlich oft wiederholten Einheiten“,328 die sich „an der Spitze der Pyramiden, im Schnittpunkt der beiden Teildreiecke, schneiden“. Da sich aus diesen Einheiten („einfache Größen“, „Gestalten der Monaden“, „echte Atome des Schemas“) die gesamte Tafel aufgrund direkter Operationen erzeugen lässt, bezeichnet Serres sie auch als generische oder elementare Einheiten, denen der Status „beherrschender Monaden“ zukommt. In dem Grenzbereich, in dem sie [diese elementaren Einheiten] angesiedelt sind (jede beherrschende Monade definiert sich an einer Grenze), bilden die beherrschenden Monaden […] Folgen, die ihren Bezugs- oder Schnittpunkt (ihr Produkt) in der einen Einheit an der gemeinsamen Spitze der beiden Pyramiden finden, in jener Einheit also, die am gemeinsamen Rand sämtlicher Ränder die Beherrschenden und damit die gesamte Tafel beherrscht. Die Tafel entfaltet oder entwickelt zwei unendliche Dreiecke (oder Pyramiden oder Kegel), die in dieser und durch diese Einheit zueinander in Beziehung gesetzt werden. Das obere Dreieck besteht aus Einheiten oder Aggregaten von Einheiten, aus Aggregagten von Aggregaten und Folgen von Folgen und bringt die Welt der Dinge zum Ausdruck, die Leibniz in Teilmengen oder Teile […] aufteilt, bis hin zur individuellen Substanz, die als unteilbar gilt; das untere Dreieck zerlegt, entfaltet, entflechtet das Segment (0,1), das man durchaus als generisch im Verhältnis zum Dreieck der Welt bezeichnen kann; das heißt, es enthüllt die unendliche Vielheit der Regungen und Beziehungen innerhalb dieser Einheit (die ebenso unerreichbar ist wie die Unendlichkeit des zusammengesetzten Gebildes); es bringt die Nachwirkungen zur Darstellung, die dem Individuum inhärenten Spuren, die in Schichten abgelagert sind, überdeckt und aufzudecken, ebenso zahlreich wie die eines unverwüstlichen Palimpsests, auf das man von aller Ewigkeit her geschrieben hätte.329

Die alles beherrschende Einheit – der Schnittpunkt – „hat ihren Ort im Punkt der Harmonie: Gipfel, Grenze aller Grenzen, Rand aller Ränder, Standpunkt und Ichnographie sämtlicher Szenographien, konstitutive und umfassende Einheit“.330 Aus ihr erklärt sich die „harmonische Verbindung zwischen Seele und Körper, zwischen Individuum und Welt“.

|| 327 Ebd., S. 177; vgl. Abbildung ebd. 328 Hier und im Folgenden ebd., S. 179. 329 Ebd., S. 179 f. 330 Ebd., S. 180.

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Sie wird erklärt heißt, sie wird in den Sequenzen der einfachen Entitäten entfaltet: Den oberen Teil der Tafel bilden die Beziehungen zwischen dem Einfachen und den zusammengesetzten Dingen; der untere entwickelt die Beziehungen zwischen dem Einfachen und seinen eigenen Teilen; die Tafel insgesamt zeigt die Beziehungen zwischen den Teilen des Einfachen und den Komplexen aus einfachen Entitäten, wobei die ursprüngliche Einheit den Übergang darstellt. […] Die Monade entschlüsselt automatisch in sich und für sich ein Universum, das im selben Zuge ihr abgeschlossenes Inneres, ihr Ureigenstes und das extensive Ganze des Äußeren ist.331

Aber auch in dieser mathematisch-philosophischen Sicht gilt, dass man nur einen „endlichen Teil“ entdecken kann, „das Virtuelle liegt darunter, gegenwärtig, passiv und aktualisierbar“. Erkenntnis im Sinne des sukzessiven Entfaltens und der Zubewegung auf jenen uneinholbaren Schnittpunkt, der nichts anderes ist als die Gott vorbehaltene optimale Perspektive, ist Nachahmung der Schöpfung: [D]ie Erkenntnis kommt für mich auf dieselbe Weise zustande wie das Sein oder das Reale für Gott: vom Beliebigen zum Bestimmten, vom Vielen zu der einen Wahlentscheidung, vom Lokalen zum Globalen, vom Wirren zum Klaren, vom seitlichen zum optimalen Blick, von der schiefen Aufsicht ins Zentrum.332

In der neuen Mathematik, die Serres maßgeblich durch Leibniz’ analysis situs vorgeprägt sieht,333 ist die Falte bzw. Faltung ein Grundbegriff der Topologie, die „jene geometrischen Eigenschaften von Objekten untersucht […], die bei stetigen Deformationen unverändert bleiben, wobei die Objekte gebogen, gedehnt, zusammengedrückt und verdreht, aber weder aufgeschnitten, zerrissen, noch ‚geklebt‘ werden können“.334 Mathematisch geht es also nicht, wie in der klassischen Geometrie, um die Vermessung von statischen und (platonisch-) idealen Körpern und Einheiten (Distanzen, Winkel), sondern um die formale

|| 331 Ebd., S. 181. 332 Ebd., S. 209. 333 Die analysis situs begreift Serres als eine Topologie bzw. als eine „Morphologie, die unsere topologischen Strukturen vorwegnimmt“ (Serres: Leibniz, in die Sprache der Mathematik rückübersetzt, S. 163, vgl. auch ebd. S. 162, 164). „Leibniz called this study analysis situs because while coordinate geometry treated figures in terms of their magnitude, ‚we lack another analysis properly geometric or linear which expresses location [situs] directly as algebra expresses magnitude‘“ (Paul Harris: The smooth operator. Serres prolongs Poe, in: Mapping Michel Serres, hrsg. v. Niran Abbas, S. 113–135, hier S. 114; das Zitat im Zitat stammt aus Leibniz’ Analysis situs). 334 Vgl. Stichwort „Topologie“ unter http://www.atheory.tuwien.ac.at/CONTENTS/CORSES/ CoursesContents//vorlesungen/gegenwartsarchitektur/glossar.html#topologie (letzter Zugriff: 15.3.06).

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Beschreibung struktureller Beziehungen und Äquivalenzen. So können zwei Objekte oder Strukturen dann als topologisch äquivalent bezeichnet werden, „if one can be stretched, shrunk, or deformed in such a way that no new points are created or existing ones fused“.335 Neben solchen als stetig oder kontinuierlich bezeichneten Transformationen beschäftigt sich die Topologie auch mit der Erfassung diskontinuierlicher Veränderungen in natürlichen bzw. dynamischen Systemen.336 Als der eigentliche „Schöpfer der Topologie“ gilt Bourbaki zufolge Bernhard Riemann, der als erster versuchte, den Begriff des topologischen Raumes herauszuarbeiten, der den Gedanken einer autonomen Theorie dieser Räume konzipierte, der Invarianten (die „Bettizahlen“) definierte, die in der weiteren Entwicklung der Topologie eine überaus große Rolle spielen sollten, und der dafür die ersten Anwendungen auf die Analysis angab (Perioden der Abelschen Integrale).337

Auch Riemann beruft sich ausdrücklich auf die analysis situs von Leibniz, wenn er das „Programm der modernen Topologie“ (Bourbaki) formuliert: Mit diesem von Leibniz, wenn auch nicht ganz in derselben Bedeutung, gebrauchten Namen darf wohl ein Teil der Lehre von den stetigen Größen bezeichnet werden, welcher die Größen nicht als unabhängig von der Lage existierend und durch einander messbar betrachtet, sondern von den Maßverhältnissen ganz absehend, nur ihre Orts- und Gebietsverhältnisse der Untersuchung unterwirft.338

|| 335 Harris: The smooth operator, S. 121. 336 Prominentes Beispiel hierfür ist die von René Thom auf der Grundlage von Poincarés „topologischer Theorie dynamischer Systeme“ entwickelte Katastrophentheorie. 337 Nicolas Bourbaki: Elemente der Mathematikgeschichte, Göttingen 1971, S. 164. 338 Bernhard Riemann: Theorie der Abel’schen Functionen, in: Gesammelte mathematische Werke, wissenschaftlicher Nachlass und Nachträge, nach der Ausgabe v. Heinrich Weber u. Richard Dedekind neu hrsg. v. Raghavan Narasimhan, Berlin, Heidelberg u.a. 1990, S. 120–174, hier S. 123. Entsprechend heißt es auch in seinem Habilitationsvortrag: „Das Messen besteht in einem Aufeinanderlegen der zu vergleichenden Größen; zum Messen wird also ein Mittel erfordert, die eine Größe als Maßstab für die andere fortzutragen. Fehlt dieses, so kann man zwei Größen nur vergleichen, wenn die eine ein Teil der anderen ist, und auch dann nur das Mehr oder Minder, nicht das Wieviel entscheiden. Die Untersuchungen, welche sich in diesem Fall über sie anstellen lassen, bilden einen allgemeinen, von Maßbestimmungen unabhängigen Teil der Größenlehre, wo die Größen nicht als unabhängig von der Lage existierend und nicht als durch eine Einheit ausdrückbar, sondern als Gebiete in einer Mannigfaltigkeit betrachtet werden“ (Bernhard Riemann: Über die Hypothesen, welche der Geometrie zu Grunde liegen, in: Gesammelte mathematische Werke, S. 304–319, hier S. 306).

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Es geht also, wie Riemann im Hypothesenvortrag erklärt, um „Ortsbestimmungen in einer gegebenen Mannigfaltigkeit“.339 Wie bereits im Abschnitt 3.4.1 (Gauß und die nichteuklidische Geometrie) dieser Arbeit dargelegt, substituiert Riemann den Begriff der Fläche durch den der Mannigfaltigkeit und geht dabei von zwei- oder dreidimensionalen zu n-dimensionalen Mannigfaltigkeiten über, die er nicht mehr der Euklidizität unterstellt.340 Mit Blick auf Serres sind damit bereits die wichtigsten Faktoren der Topologie angesprochen: 1. Bestimmend für die Topologie ist nicht mehr der euklidische oder cartesianische dreidimensionale Raum, sondern ein pluralisierter, „variabler [und] dynamisierter Raumbegriff, der eine raumzeitliche Kontinuität impliziert“.341 2. Der physikalische Raum ist demzufolge kein absoluter und globaler Raum mehr, sondern ein geometrisches Objekt unter anderen, eben der „besondere Fall einer dreifach ausgedehnten Grösse“342 bzw. Mannigfaltigkeit, deren spezifische Eigenschaften nurmehr relational und lokal hinsichtlich ihrer Umgebungen, Nachbarschaften, Grenzen, Übergänge, Intervalle, bruchlosen Transformationen etc. untersucht werden können. 3. Lokale Mannigfaltigkeiten, die nicht mehr in das Bezugssystem eines globalen Raums eingebettet sind,343 erfordern eine von Metrik und „Maßbestimmungen unabhängige“ qualitativ funktionale Analyse.344 Serres

|| 339 Riemann: Hypothesen, S. 308. Sofern dies möglich ist, wird dabei die gegebene Mannigfaltigkeit „auf eine endliche Anzahl von Quantitätsbestimmungen zurückgeführt“. Daneben gibt es aber auch „Mannigfaltigkeiten, in welchen die Ortsbestimmung nicht eine endliche Zahl, sondern entweder eine unendliche Reihe oder eine stetige Mannigfaltigkeit von Größenbestimmungen erfordert. Solche Mannigfaltigkeiten bilden z.B. die möglichen Bestimmungen einer Funktion für ein gegebenes Gebiet, die möglichen Gestalten einer räumlichen Figur usw.“ (ebd.). 340 Vgl. dazu Kapitel „Literarische Wissenschaftsgeschichtsschreibung“. 341 http://www.verabuehlmann.ch/j/files/downloads/VB_Coincidence.pdf (letzter Zugriff: 5.8.2007). 342 Riemann: Hypothesen, S. 304. 343 Im Anschluss an Riemann spricht Hermann Weyl deshalb auch von abstrakten Mannigfaltigkeiten (vgl. dazu Michel Serres: Räume und Zeiten, in: Hermes V: Die Nordwest-Passage [1980], aus dem Französischen Michael Bischoff, Berlin 1994, S. 85–107, hier S. 89 f.). Diese Leistung, die Objekte und Körper unabhängig von einem sie umgebenden globalen Raum zu untersuchen, würdigt Serres als einen Akt der Befreiung aus der Höhle eines „jahrtausendealten Universellen“: „Riemanns und Weyls Extraktion oder Abstraktion befreit unsere Anschauung aus den Gräbern, in die Thales sie gesperrt hatte, oder aus der Höhlenwelt, in der sie gefangen war. Denn die Ähnlichkeit, das heißt die Abbildung, ist nur eine Operation unter anderen.“ 344 Wo die „Grössen […] als Gebiete in einer Mannigfaltigkeit betrachtet werden“, so Riemann, bedarf es der „Behandlung der mehrwertigen analytischen Funktionen“ (Riemann: Hypothesen, S. 306). Bereits in seiner Dissertation erklärt Riemann ausdrücklich: „Die Gesamt-

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bezeichnet die Topologie deshalb auch als die „Wissenschaft des Qualitativen“.345 4. Die Topologie zielt auf invariante Eigenschaften, also auf solche, die durch stetige Transformationen – Serres spricht von der „Wissenschaft der Verformung“346 – nicht geändert werden. Die Suche nach diesem „formal Invarianten“, d.h. nach topologisch äquivalenten Verhältnissen, Ordnungen und Relationen, in denen diverse Gebilde zueinander stehen, beschreibt er als einen „Transport, eine Irrfahrt oder eine Reise durch räumlich getrennte Mannigfaltigkeiten“,347 deren gemeinsamen Verkehrs- oder Kommunikationsraum es

|| heit dieser Funktionen bildet ein zusammenhängendes in sich abgeschlossenes Gebiet“ (Bernhardt Riemann: Grundlagen für eine allgemeine Theorie der Functionen einer veränderlichen complexen Grösse, in: Gesammelte mathematische Werke, S. 35–80, hier S. 62). In der weiteren Entwicklung der Topologie wird die „Funktionenmenge als das Analogon zu einer Punktmenge“ angesehen (Bourbaki: Elemente der Mathematikgeschichte, S. 167 f.). 345 Serres: Räume und Zeiten, S. 93. 346 Ebd. Den Transformationsbegriff hat vor allem Felix Klein für die Geometrie fruchtbar gemacht. „Klein’s basic idea is that each geometry can be characterized by a group of transformations and that a geometry is really concerned with invariants under this group of transformations“ (Morris Kline: Mathematical Thought: From Ancient to Modern Times, Bd. 3, Oxford 1972, S. 917). Zu Kleins sogenanntem „Erlanger Programm“ (1872), das die „erste wahrhaft befriedigende Gesamtorientierung über die Probleme der neuen Geometrie“ bot, vgl. ferner Ernst Cassirer: Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit. Bd. 4: Von Hegels Tod bis zur Gegenwart (1832–1932), Darmstadt 2000, S. 32–38 (Zitat S. 33). 347 Michel Serres: Diskurs und Parcours, in: Hermes IV, S. 206–221, hier S. 210. Schweitzer, die eine ausführliche Analyse dieses Vortrags unternimmt und dabei insbesondere auch Serres’ Kritik am „algebraischen Strukturalismus“ berücksichtigt, sieht den „besonderen Stellenwert dieses Vortrags […] darin, dass Serres nun das andere Ende des Rationalismus – den Mythos als Sinnbild des Irrationalen – topologisiert und damit eine topologische Verbindung und Versöhnung zwischen exakter Wissenschaft und Irrationalität herzustellen sucht“ (Schweitzer: Topologien der Kritik, S. 291). Die Topologie selbst werde bei Serres zu einem kritischen Instrument (vgl. ebd., S. 397): Sie führt „aus dem Zentrismus und den Ausschlüssen des Reduktionismus heraus“. Sie geht einher mit einer „Sprache des ‚Dazwischen‘“, die den „Zugang zu einem Zwischenraum zwischen Sprache und Außersprachlichem [eröffnet], der es Serres einerseits ermöglicht, das ‚Recht der Dinge‘ zu schreiben, andererseits zugleich zwischen Mathematik und Mythos zu vermitteln und so das Mythische der Vernunft zugänglich zu machen“ (ebd.). Sie dient ferner als „Mittel, ein anderes Zeitverständnis zu entwickeln, die ‚gefaltete Zeit‘“ und erlaubt schließlich die „Synthese von Partikularismus und Universalität“ (ebd.). Zu Serres’ Kritik am linguistic turn vgl. auch Ventarola: Transkategoriale Philologie, S. 74 f. Und auch Gehring betont, dass Serres’ Prosa „als eine Anstrengung in der Sache funktionieren“, „von vorhandenen Gegebenheiten reden“ will (Petra Gehring: Politik der Prosa. Schreibverfahren bei Michel Serres, in: Die unendliche Aufgabe. Perspektiven und Kritik der Demokratietheorie, hrsg. v. Reinhard Heil u. Andreas Hetzel, Bielefeld 2006. S. 169–183, hier S. 177).

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durch „Operationen des Verknüpfens und Verbindens“ zu rekonsturieren gilt.348 Dem singulären Begriff der Falte oder Faltung kommt in Serres’ Adaptation der Topologie deshalb besondere Bedeutung zu, weil er paradigmatisch die im Mannigfaltigen zu identifizierenden Einheiten als ein Zugleich von Identität und Differenz veranschaulicht: „Die Einheit, das Identische, ist der gemeinsame Rand des Identischen und des Unterschiedenen. […] Das unverrückbare Invariante der absoluten Variation.“349 Stabile Formen und Gestalten werden nur dort ausgebildet, wo sich die relationalen Konstellationen der Faltungen temporär zu erhalten vermögen; sobald sich diese Konstellationen zugunsten neuer Zueinanderfaltungen und Näheverhältnissen ändern, geschieht Transformation. Der „topologischen Mannigfaltigkeit“ korreliert Serres zufolge eine „Synchronie der Zeiten“.350 Entsprechend gilt auch für Zeit und Geschichte, dass sie keinem linearen und chronologischen Verlauf folgen, sondern in komplexen und unvorhersehbaren Bahnen fließen.351 Beide Mannigfaltigkeiten – die des Raums und der Zeit – werden im Begriff der gefalteten Raum-Zeit zusammengefasst und nach dem Muster der mathematischen Topologie philosophisch

|| 348 Ebd., S. 212; vgl. ferner S. 219. 349 Serres: Leibniz in die Sprache der Mathematik rückübersetzt, S. 183 f. Ähnlich deutet Serres die platonische chora: Wie die Falte charakterisiert er sie als einen topologischen Raum, in dem „Dasselbe und Andere, das Identische und das Unterschiedene in ihrem Getrenntsein, seit Anbeginn der Welt in Gstalt eines Chi [Kreuzung, BM] zusammengefügt, zusammengenäht vom Demiurgen“ (Serres: Diskurs und Parcours, S. 215). Zur anschaulichen Erläuterung der Falte vgl. auch Bühlmann: „[A]ls Faltungen gibt es sehr wohl identifizierbare Einheiten, die eigene Innen/Außen-Verhältnisse aufweisen, und die somit als Objekte verstanden werden können, obwohl sie alle kontinuierlich miteinander zusammenhängen. […] In der Falte wird das Verhältnis von Innen und Außen als kontinuierlich gefasst, ohne dabei die Differenz zu verlieren. Das Innen berührt das Außen, und damit ist das Außen im Innen virtuell schon enthalten und konkretisiert sich dynamisch an der Schnittstelle, der Membran“ (Vera Bühlmann: Coincidence – a happy complication of the ordinary?, unter: http://www.verabuehlmann.ch/j/files/downloads/VB_Coincidence.pdf; letzter Zugriff: 5.8.07). 350 Serres: Räume und Zeiten, S. 104. 351 Man würde, so Serres, die Zeit mit der Zeitmessung verwechseln. Letztere sei nichts anderes als „a metrical reading on a straight line“ (Serres/Latour: Conversations, S. 60 f.). Für die Zeit selbst hingegen gilt: „Time does not always flow according to a line […] nor according to a plan but, rather, according to an extraordinarily complex mixture, as though it reflected stopping points, ruptures, deep wells, chimneys of thunderous acceleration, rendings, gaps – all sown at random, at least at visible disorder. Thus, the development of history truly resembles what chaos theory describes. […] It [time] passes and also it doesn’t pass. We must bring the word pass closer to passoir – ‚sieve’. Time doesn’t flow; it perlocates. This means precisely that it passes and doesn’t pass“ (ebd., S. 57).

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fruchtbar macht. Die Topologie dient ihm dabei als eine Art „geometric lingua franca – a ‚space‘ in which one could translate among different spatial languages“.352 Dies zeigt bereits seine kulturphilosophische Deutung der Topologie: In dem von ihr mit mathematischer Strenge begründeten Pluralismus, der die „Befreiung“ sowohl vom „universellen Raum“ als auch von der „universellen Zeit“ brachte – „sie alle sind relativ zu einem System zu sehen, hängen von dessen Abschließung und Offenheit ab“ –,353 tritt gewissermaßen eine für alle wissenschaftshistorischen Vorgänge354 charakteristische ‚Kulturalisationsbewegung‘ exemplarisch zutage: Diese Befreiung, die schon vor langer Zeit erfolgte, von der aber in den tauben Diskursen der Philosophie nichts zu hören war, diese Befreiung ist schwierig, weil ohne Zweifel nichts schwieriger ist, als das Strenge in der Kategorie des Kulturellen zu denken. Das Strenge tendiert zum Universellen, zum A-priori oder zum Transzendentalen, das ist seine stärkste Neigung. Das Kulturelle tendiert zum Relativen, Zeitgebundenen, Singulären, zum Phantastischen, das ist seine stärkste Neigung. Das Strenge neigt zum Globalen, während das Kulturelle nur lokal ist. Deshalb ist es so schwierig, als kulturell ein Globales zu denken, das durch eine strenge Operation zustande gekommen ist und neue strenge Größen hervorbringt, das die Grundlage für exakte Messungen […] bildet […].355

Die Topologie hat den alten Raum, jenen, um ein Bild Serres’ aufzugreifen, über die Maßen aufgeblasenen Frosch zum Platzen gebracht: „Damit wird er auf Lokales zurückgeführt und taumelt schließlich in das Geschichtliche und ins Kulturelle“.356 Im Kern impliziert Serres’ Deutung die Aufhebung der scheinbar unverrückbaren Differenz von exakter Wissenschaft und Kultur – Aufhebung in dem Sinne, dass er die Kriterien, nach denen diese Differenzierung erfolgt, ad absurdum führt. Die Topologie ist diejenige Disziplin, die diese Aufhebung paradigmatisch leistet und veranschaulicht, indem sie „in aller Strenge“ das Universelle und Globale als ein Kulturelles und Lokales pluralisiert. Gerade in diesem Punkt hebt sich Serres von der postmodernen Philosophie entschieden ab: Denn die Grundlagen der Topologie, die er zu den Grundlagen seines Denkens macht, sind streng mathematische Grundlagen. Für verschiedene räumliche Gebilde oder Mannigfaltigkeiten können verschiedene Geometrien gelten, aber diese sind in bezug auf ihren Gewissheitsgrad gleich streng, gleich wahr und gleich notwendig; sie unterscheiden sich „lediglich in bezug auf das Sys-

|| 352 Harris: The smooth operator, S. 133. 353 Serres: Räume und Zeiten, S. 92 u. 102. 354 Vgl. ebd., S. 93. 355 Ebd., S. 92. 356 Ebd., S. 93. Zur Frosch-Metapher vgl. ebd., S. 92.

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tem von Transformationen, das sie zugrunde legen und im Hinblick auf welches sie die Gesamtheit der invarianten Eigenschaften feststellen“.357 Das Grundprinzip der mathematischen Topologie veranschaulicht Serres am Beispiel eines zerknüllten Taschentuchs: Auf ihm erscheinen Punkte, die auf einem ausgebreiteten und glatt gebügelten Taschentuch vermeintlich weit auseinander liegen, „in the same neighborhood“ und umgekehrt.358 „An object, a circumstance, is thus polychromic, multitemporal, and reveals a time that is gathered together, with multiple pleats.“359 Der Theorie der gefalteten Raum-Zeit korrespondiert damit auch einer methodischen Praxis, die Serres als topologische Abstraktion bezeichnet und deren Prinzip darin besteht, „non-metrical diversities“ zu beschreiben.360 Darüber hinaus ist das Konzept der gefalteten Zeit

|| 357 Cassirer: Erkenntnisproblem, S. 36. An dieser Gleichwertigkeit ändert auch die Tatsache nichts, dass sich die verschiedenen Transformationsgruppen in einem „Verhältnis der Überund Unterordnung“ befinden. „So ist z.B. die Auffassung der projektiven Geometrie gegenüber der gewöhnlichen metrischen Geometrie die übergeordnete; denn die Gruppe der projektiven Transformationen umschließt die ‚Hauptgruppe‘, auf die sich die euklidische Geometrie stützt, und enthält sie als Teil in sich. Die affine und projektive Geometrie hebt als ‚geometrische Eigenschaften‘ nur diejenigen heraus, die durch Parallelprojektion oder Zentralprojektion nicht verändert werden; sie erweitert also gewissermaßen den Gesichtskreis der metrischeuklidischen Geometrie, indem sie zu den ähnlichen Abbildungen im gewöhnlichen Sinne noch die Parallel- bzw. die Zentralprojektionen hinzufügt“ (ebd., 37). Bei konsequenter Durchführung dieses Vergleichs zeigt sich, „daß auch die Unterschiede, die man zwischen den einzelnen geometrischen Gebilden annimmt, nicht als absolute anzusehen sind, die durch die ‚Natur‘ dieser Gebilde ein für allemal gegeben und fixiert sind, sondern daß auch sie, innerhalb der verschiedenen Geometrien, sich verschieben. Denn die Art und das Prinzip der [begrifflichen, BM] Zusammenfassung entscheidet darüber, was wir als ‚dasselbe‘ oder ‚nicht dasselbe‘ anzusehen haben.“ Geschieht der Prozess der Begriffsbildung in der Mathematik immer in der Art der „‚Äquivalenz‘-Setzung oder der ‚Definition durch Abstraktion‘“ (z.B. fasst die euklidische Geometrie ähnliche Dreiecke, die sich nur durch ihre absolute Lage im Raum und durch ihre Seitenlänge unterscheiden, als eine einzige Gestalt auf), so zeigt sich beim Übergang von einer Geometrie zur anderen ein „eigentümlicher ‚Bedeutungswandel‘ der geometrischen Begriffe“. Begriffe, die in der euklidischen Geometrie eine Rolle spielen, entfallen z.B. in der affinen Geometrie gänzlich (etwa die Begriffe Entfernung und Winkel) oder werden begrifflich verwischt (wie etwa der Unterschied zwischen Kreis und Ellipse); dieser „Auflösungsprozess“ kulminiert in der Analysis situs: „Hier schwindet z.B. der Unterschied zwischen einem Kegel, einem Würfel und einer Pyramide; sie sind nicht mehr verschiedene, sondern nur noch Gebilde, da sie durch eine stetige Transformation ineinander überführbar sind“ (ebd., S. 38). 358 Serres/Latour: Conversations, S. 57. 359 Ebd., S. 60. 360 Ebd. Topologie meine nichts anderes als „this science of nearness and rifts“ (das zerknüllte Taschentuch). Die Kontrasttheorie ist die metrische Geometrie, „the science of stable and well-defined distances“ (das glatt gebügelte Taschentuch; ebd.).

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aber auch methodologisches Prinzip, insofern Serres diese gegenüber den konventionellen Auffassungen stark modifizierten Begriffe von Zeit und Geschichte seinen Streifzügen und „Irrfahrten“ durch die Geschichte des Wissens transzendental zugrunde legt: Die Zeitlichkeit des Nacheinanders erscheint abgelöst durch die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, die zuweilen in die Nähe des ATemporalen und A-Historischen rückt.361 Durch die modifizierte Raum- und Zeitauffassung erscheint nicht zuletzt auch der Begriff der episteme selbst modifiziert. Demnach gilt für die Entwicklung des naturwissenschaftlichen Wissens letztlich das, was auch für die des geisteswissenschaftlichen Wissens gilt: Sie verläuft nicht progressivakkumulativ, auch nicht in der Abfolge von normaler Wissenschaft und wissenschaftlicher Revolution; vielmehr bleibt das ‚alte‘ Wissen im aktuellen Wissen gespeichert, gleichsam ‚eingefaltet‘; es ist niemals obsolet, sondern zeitigt nachhaltige Effekte auf die aktuelle Realität und Rationalität.362 Dabei geht es in den Erkundungen, die Serres unternimmt, gerade nicht um die eindimensionale Evolution eines bestimmten Wissens innerhalb einer bestimmten Disziplin. Im Gegenteil: Analog der gefalteten Raum-Zeit ‚faltet‘ er die heterogenen kulturellen Bestände seiner Zeit ineinander, bringt im Aufweis von Isomorphien das vermeintlich Entfernte in ein Verhältnis der Nähe und überwindet solcherart die Trennung der unterschiedlichen Bereiche. Treffend erläutert Descombes dieses Verfahren: Man darf nicht auf die eine Seite das Wissen (das wahr oder falsch sein kann) und auf die andere Seite die Fiktion (weder wahr noch falsch) setzen. Serres, der Virtuose des Isomorphismus, läßt die Metaphysischen Meditationen Descartes’ aus einer Fabel von La Fontaine auftauchen, eine Lokomotive aus dem Werk der Denker des 19. Jahrhunderts, ein Theorem aus einer Erzählung, eine Legende aus einem Beweis und einen Beweis aus einer Legende. Bei all dem geht es nicht darum, mehr oder weniger schlaue Annäherungen zustande zu bringen, sondern Übersetzungen, Wort für Wort. Keine Interpretationen (Aufdeckung eines unter der Schale verborgenen Inhalts), sondern formale Äquivalenzen (Aufdeckung eines Isomorphismus).363

|| 361 Für diese Konzeption gilt, „that everything is contemporary“ (vgl. ebd., S. 44, zur Veranschaulichung S. 45). Die Vergangenheit ist demnach ebenso in der Gegenwart präsent wie umgekehrt die Gegenwart in der Vergangenheit. Speziell zur Mathematikgeschichtsschreibung vgl. auch Michel Serres: Differences: chaos in the history of the sciences, in: Environment and Planning D: Society and Space, vol. 30, no. 2, 2012, S. 369–380 (zuerst in: Les origines de la géométrie, Paris 1993). 362 Vgl. ebd., S. 54 f. 363 Vincent Descombes: Das Selbe und das Andere, Frankfurt/M. 1981, S. 109. Exemplarisch sei hier auf interdisziplinäre Studien wie „Turner übersetzt Carnot“ (1972), „Leibniz in die

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Die topologische Abstraktion oder strukturale Analyse364 ist demzufolge ein mathematisches Verfahren, das universal auf alle kulturellen Bestände appliziert werden kann mit dem Ziel, die dem Heterogenen jeweils zugrundeliegende homologe Topologie – formale Strukturen, Isomorphien, Äquivalenzen – aufzudecken.365 In Anlehnung an die Gruppe ‚Nicolas Bourbaki‘366 definiert Serres Struktur als „eine Menge von Elementen, die nach Zahl und Art nicht weiter bestimmt sind, eine Menge, in der eine oder mehrere Operationen, eine oder mehrere Relationen mit wohlbestimmten Merkmalen definiert sind. Präzisiert man nun Zahl und Art der Elemente und die Natur der Operationen, so erhält man das Modell der […] Struktur.“367 Im Gegensatz zur „symbolischen Analyse“ || Sprache der Mathematik übersetzt“, „La Tour übersetzt Pascal“ (1972) (diese und weitere Beispiele abgedruckt in Serres: Hermes III: Übersetzung, S. 151–220, S. 285–326, S. 327–340) verwiesen, die bereits im Titel die Praxis des Passagen-Denkens ankündigen. Ein besonders eindrückliches Beispiel für dieses Verfahren liefert Serres in dem Aufsatz „Lucretius: Science and Religion“ (in: Michel Serres: Hermes: Literature, Science, Philosophy, hrsg. v. Josué V. Harari u. David F. Bell, Baltimore, London 1982, S. 98–124). 364 Vgl. Serres: Struktur und Übernahme, S. 40. „Der ‚strukturale Vergleich‘ lässt […] erkennen, dass die verschiedenen Modelle eine abstrakte Relation gemeinsam haben, eine Struktur. Diese lässt sich unabhängig von den konkreten Modellen gesondert behandeln und kann auf eine kleine Zahl einfacher, axiomatischer Gesetze zurückgeführt werden. Insofern ist sie formal, sie ist unabhängig von den konkreten Modellen oder Sinninhalten. […] Sie ist […] aber auch in einem gewissen Sinne konkret, allerdings nur insofern, als sie ja erst das Ergebnis des Vergleichs konkreter Sinngehalte ist“ (Schweitzer: Topologien der Kritik, S. 272 f.). 365 Entsprechend kann Topologie als ein Diskurs oder Verfahren aufgefasst werden, „to map out a generalized space of relationships. […]‚Topology thus provides a kind of syntax and vocabulary for figuring abstract relationships between terms in den nodes and passages of the inter-information network‘“ (Niran Abbas: Introduction, in: Mapping Michel Serres, S. 1–9, hier S. 3; Zitat im Zitat von Paul A. Harris: The Itinerant Theorist: Nature and Knowledge/Ecology and Topology in Michel Serres, in: SubStance 83 [1997], S. 37). Pointiert auch Schweitzer: „Der ‚strukturale Vergleich‘ lässt […] erkennen, dass die verschiedenen Modelle eine abstrakte Relation gemeinsam haben, eine Struktur. Diese lässt sich unabhängig von den konkreten Modellen gesondert behandeln und kann auf eine kleine Zahl einfacher, axiomatischer Gesetze zurückgeführt werden. Insofern ist sie formal, sie ist unabhängig von den konkreten Modellen oder Sinninhalten. […] Sie ist […] aber auch in einem gewissen Sinne konkret, allerdings nur insofern, als sie ja erst das Ergebnis des Vergleichs konkreter Sinngehalte ist“ (Schweitzer: Topologien der Kritik, S. 272 f.). 366 Hinter diesem Pseudonym verbirgt sich eine Gruppe französischer Mathematiker, „who began, in 1935, the grand project of reconstructing mathematics on the basis of then recent developments in set theory and algebra“ (Steven D. Brown: Michel Serres. Science, Translation and the Logic of the Parasite, in: Theory, Culture & Society 2002, Bd. 19 [3], S. 1–27, hier S. 25). 367 Serres: Das Wolfsspiel. Der Wolf und das Lamm, in: Hermes IV: Verteilung, S. 94–111, hier S. 94; vgl. ders.: Struktur und Übernahme, S. 39 f. „Topological mapping and set theory concepts of structure overlap in point set topology, where geometrical figures are treated as collec-

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ist die strukturale eine abstrakt-formale, die darin besteht, „eine Sprache zu schaffen, die aus ihren eigenen Regeln hervorgeht; erst danach eröffnet sich die Möglichkeit, sie in Inhalte oder Modelle zu übersetzen. Entweder geht man von Sinn aus, oder man findet ihn (bzw. man erzeugt ihn)“.368 Struktur und Modell verhalten sich demnach wie Form zu Sinn. Modelle sind sinnerfüllte Formen, gefüllt mit besonderen Bedeutungen bzw. „kulturellen Inhalten“. Näherhin ist Sinn dann nicht mehr als „eindeutige Beziehung zwischen Symbol und Symbolisiertem (zwischen Sinngefäß und Sinngehalt)“ fassbar, sondern als „Pluralität von Beziehungen zwischen der (reinen, formalen, sinnentleerten) Struktur und ihren Modellen, deren jedes mit einer besondern Bedeutung gefüllt ist“.369 Die Erzeugung kultureller Inhalte und ihre Rekonstruktion fallen in dieser Methode ineins, denn auf der Grundlage einer isolierten Struktur ist es möglich, „alle denkbaren Modelle, die sie erzeugt, ausfindig zu machen, das heißt, es ist möglich, eine kulturelle Entität zu konstruieren, indem man eine Form mit Bedeutung füllt“.370 Die eigentliche Matrix, an der sich Serres’ Logoanalyse orientiert, liefert wiederum Leibniz. Der Schöpfungskalkül, so Serres in seiner LeibnizInterpretation, habe drei Voraussetzungen: erstens, eine Kombinatorik von Elementen oder diskreten möglichen Entitäten, zweitens, die Installation eines relationalen Raums sowie drittens die Funktionalität bzw. Determination dieser möglichen Elemente – dieser Variablen –, d.h. ihr Streben „gegen irgend etwas, die Existenz im eigentlichen Sinne“.371 Schöpfung heißt Produktion! „Produziert wird das Determinierte.“372 Determination wiederum entspricht in der Leib-

|| tions of points, whith the whole collection often regarded as a space“ (Harris: The smooth operator, S. 114). 368 Serres: Struktur und Übernahme, S. 39. 369 Ebd., S. 40. Vor diesem Hintergrund wird nachvollziehbar, wenn Serres erklärt: „Der Raum ist die Voraussetzung des Sinns und der Bedeutungen, die Topologie liegt unterhalb der Semiotik“ (Serres: Festes, Flüssiges, Flammen, in: ders.: Hermes V: Die Nordwest-Passage, S. 49–84, hier S. 62). 370 Ebd., S. 41. „Eine strukturale Analyse ist dann erfolgreich und fruchtbar, wenn es ihr gelingt, von einer Form ausgehend ein Element der Kultur zu rekonstruieren. Das Verständnis, das die symbolische Analyse bot, war von der Art des Wiedererkennens […]. Das Verständnis, das die strukturale Analyse bietet, muß von der Art einer Rekonstruktion sein. Wenn ich ein Element der Kultur zu rekonstruieren vermag, bin ich nicht mehr vom Mythos des Ursprünglichen fasziniert, denn ich erzeuge etwas. Eine wirklich strukturale Analyse erkennt man […] daran, daß es ihr gelingt, ihren Gegenstand als ein Modell zu rekonstruieren“ (ebd.). 371 Vgl. Serres: Leibniz, in die Sprache der Mathematik rückübersetzt, S. 202. 372 Ebd., S. 205. „Gesetzt sei eine Menge von Möglichkeiten, die nur Gott allein alle kennt, über die der Mensch jedoch keine Macht hat. Man nehme an, daß sie alle mit gleichem Recht

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niz’schen Terminologie „‚Entscheidung‘“ – nicht im Sinne eines subjektiven Vorgangs, sondern im Sinne eines „bestimmenden Grundes“, einer „Ultrastruktur, einer Morphogenese von den Rändern her“. Dass die Grenze, der Rand, die Peripherie der „Ort des Grundes und der Determinierung“373 ist, verdeutlicht die Rückübersetzung des Schöpfungsaktes in die Sprache der Mathematik, etwa, wie oben gezeigt, in das harmonische Dreieck der Zahlen, in dem Serres die Metaphysik des Individuums ebenso ausfindig macht wie die mathesis universalis.374 – Analog der topologischen Abstraktion ist auch die Leibniz’sche Ars combinatoria nicht lediglich eine universal applizierbare Methode, sondern mehr noch eine art d’inventer, eine Erfindungskunst, die alles Wissbare überhaupt konstruierbar machen soll.375

|| ins Dasein streben. Das zeigt, daß sie zu Anfang keine Ordnung besitzen und daß alle die Chance haben, dorthin zu gelangen. Folglich ist jedes Entstehen stochastisch. Jede Möglichkeit kann sich einstellen. Es gibt keine Vorbedingungen, es keine Prädetermination. Der Grund des Seins ist zufällig und kombinatorisch“ (ebd., S. 206). 373 Ebd., S. 208. 374 Serres intendiert mit seiner Abhandlung, den Zusammenhang zwischen der Monadologie – Serres’ „Individualmetaphysik“ – und der Universalmathematik aufzuzeigen. Dabei zeichnet er auf der Grundlage von Leibniz’ VIII. Metaphysischen Abhandlung zunächst den Weg „von der Individualmetaphysik zur Universalmathematik“ nach (vgl. Serres: Leibniz, in die Sprache der Mathematik übersetzt, S. 167–175), sodann auf der Grundlage von Leibniz’ Theorie des harmonischen Dreiecks den Weg „von der mathesis universalis zur Individualmetaphysik oder Monadologie“ (vgl. ebd., S. 175–185). Und er weist nach: „Mit derselben Bewegung und auf demselben Wege beginnt die Monade zu existieren, zu leiden und zu handeln, beginnt Gott sein Schöpfungswerk, konstituiert sich die universelle Mathematik. […] Am Ursprung von allem ist der Kalkül; am Ursprung ist der ganze Kalkül, der Ursprung des Kalküls. Logik, Arithmetik, Kombinatorik, der Übergang vom Diskreten zum Kontinuierlichen, vom Unstetigen zum Stetigen, von der Buchführung zur Variationsrechnung“ (ebd., S. 194). 375 Die Ars combinatoria ist nichts anderes als ein Verfahren der topologischen Abstraktion. So sollen die den Einzelwissenschaften jeweils zugrundeliegenden Prinzipien, Elemente oder Begriffe als „kombinatorische topoi bestimmt“ werden, „die dann durch eine allgemeinere Wissenschaft, […] die scientia generalis, kombinatorisch verbunden werden können“ (Kilcher: mathesis und poiesis, S. 368). In der gegenüber der scientia generalis weiter formalisierten characteristica universalis gilt die Kombinatorik dann als „jener ‚espèce de calcul’, der es ermöglicht, aus einem alphabetum cogitandi alles menschliche Denken […] mathematisch und operativ zu konstruieren“ (ebd.). Freilich ist bei Leibniz die universale wissenschaftliche Applizierbarkeit der „Kombinatorik als mathematisches Kalkül des Wissens“ (ebd., S. 369) noch durch die Annahme einer „ontologischen Ordnung der Dinge“ (ebd.) begründet. Die Kombinatorik, so Leibniz, „erfasst die Harmonie der Welt, die innere Struktur der Dinge und die Reihenfolge der Formen. Die fehlerlose oder nahezu perfekte Anwendung dieses unvergleichbaren Prinzips wird mit Recht als Philosophie betrachtet. […] Wenn man sich dann der Naturgeschichte – also dem, was existiert oder was sich in wirklichen Köpfen befindet – annähert, wird

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Mit dieser Methode verfolgt Serres ein gleichermaßen wissenschaftshistorisches wie wissenschaftstheoretisches Interesse. Davon ausgehend, dass der „zeitliche Vektor der Geschichte […] Träger der fortschreitenden Auflösung der Idee“ ist, dass also im „Verlaufe aufeinanderfolgender Kommunikationen“ die „Wahrheit verloren gehen kann“,376 besteht die vorrangige Aufgabe des Wissenschaftshistorikers darin, „die Informationskette […] bis zu seiner Quelle zurück[zu]verfolgen, das heißt bis zu dem Punkt, wo der Inhalt des Konzepts noch die größte Wahrheitstreue besitzt“.377 Dieses ‚Zurückverfolgen‘ geschieht nun wiederum nicht unter der Prämisse einer linearen Zeit- und Geschichtsentwicklung, folglich nicht chronologisch, sondern unter der Prämisse eines den pluralen Beziehungsmöglichkeiten heterogener Elemente Rechnung tragenden raumzeitlichen Kontinuums, folglich topologisch. Der tendentiell bereits angedeutete trans- bzw. ahistorische Charakter der topologischen Abstraktion kommt Serres’ im Letzten wissenschaftstheoretisch motivierter Strukturanalyse entgegen, hofft er durch diese nichts weniger zu entdecken, als dass die Vernunft auch in jenen kulturellen Tiefenschichten anzutreffen ist, die scheinbar nicht von ihr hervorgebracht worden sind. In diesem Sinne habe ich den Ausdruck Logoanalyse vorgeschlagen. Deren oberstes Ziel ist es, in einem scheinbar ungeordneten kulturellen Gebilde eine strenge Struktur aufzuzeigen, Schemata herauszuarbeiten, die der reinen Vernunft zugänglich sind und jenen Mythologien zugrunde liegen, die bisher selbst als Grundlage der Kultur angesehen wurden. […] Die Logoanalyse sucht nach rationalen (strukturellen) Schemata, wobei sie davon

|| das ungeheure Tor der Naturphilosophie, die Form der Dinge, der Ursprung der Qualitäten und Mischungen (mixtionens), die Mischung der Mischungen und alles, was uns rätselhaft erscheint, vor uns offen liegen“ (Leibniz: Die philosophischen Schriften, Bd. 4, S. 87 f.). 376 Serres: Struktur und Übernahme, S. 36. Ausdrücklich merkt Serres an, dass diese entropische Tendenz den Ideen, d.h. den Strukturen, wesensmäßig zugehört, „daß den Ideen […] ihrem Wesen nach ein Stör- und Rauschpotential innewohnt, welches die Übertragung philosophischer Botschaften beeinträchtigt“ (ebd.). Darauf wird später ausführlicher zurückzukommen sein. – Die Wahrheit, die allein der Struktur als jener „operationale[n] Invariante“, welche die Modelle unabhängig von ihrem Inhalt organisiert, zukommt, bezeichnet Serres in Anlehnung an Leibniz auch als „Determination“. Ein realer Prozess könne sich nur zwischen zwei Grenzen der Determination, nämlich schwacher bzw. Unterdeterminierung und starker bzw. Überdeterminierung entwickeln. Im einfachsten Fall bedeutet dies: „von der Wahrscheinlichkeit hin zur Überdeterminierung, von einem Zustand statistischer Verteilung hin zu einem Entscheidungsknoten, von einer aleatorischen Spielsituation hin zu einem notwendigen (und Notwendigkeit erzeugenden) Spielzug.“ Dass sich eine allgemeine Situation stets in der Weise wandelt, „daß sie von der Wahrscheinlichkeit zur Überdeterminierung übergeht“ sei das „Gesetz des elementaren Zyklus eines Prozesses“ (ebd., S. 21). 377 Ebd., S. 35.

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ausgeht, daß solche Schemata unterhalb jener mythischen Komplexe liegen, die ihrerseits die symbolische Analyse trugen, indem sie ihr die Archetypen lieferten. Das klassische Denken vertraute auf eine regionale Vernunft; die neue Kritik glaubt an eine generalisierte Vernunft, die den Bereich des Sinnes in der oben beschriebenen Weise in sich aufnimmt.378

Es geht also letztlich darum zu zeigen, dass jedem kulturellen Inhalt unabhängig von seinem aktuellen Ordnungs- oder Unordnungszustand eine rationale Organisationsstruktur zugrundeliegt, er mithin die sinnhafte Erfüllung einer formalen Wahrheit ist.379 Deshalb kann Serres sagen, dass in der Logoanalyse nicht nur eine Methode, sondern auch „das Versprechen einer erstaunlichen Versöhnung“ liegt, nämlich der Versöhnung von „Wahrheit und Sinn“.380 Im extremsten Fall würde dies bedeuten, „das griechische Wunder der Mathematik“ – und damit die Entstehung des abstrakt formalen Denkens – ebenso begreifen zu können wie „die phantastische Blüte der griechischen Mythologie“381 mit ihrem überbordenden Sinnangebot: Es ist richtig, den Gestalten dieser anderen, dionysischen Welt undurchdringliche, dichte, dunkle Bedeutungen zu geben, in denen die menschliche Seele, die Gefühle und das Schicksal des Menschen ihren Ausdruck finden, denn hier handelt es sich um die Realität und die Bestimmung des Menschen, um seine Zeit und sein Unglück, all dies in einem universellen Sinne verstanden. Aber sind diese Bedeutungen nur Symbole der Geschichte? Sind sie nicht auch in einem letzten Akt der Überladung, in ihrer allerletzten Determination bedeutungstragende Modelle transparenter Strukturen, Modelle der Ordnung der Erkenntnis, des Verstandes und der Wissenschaft? Es erscheint uns nicht unsinnig, […] nach einer neuen Deutung der Kultur zu suchen, einer Deutung, die sich an der reinen Ordnung der Erkenntnis orientiert.382

Serres generalisiert die mathematische Methode der Topologie nicht nur im Sinne ihrer universalen Applizierbarkeit, sondern auch dahingehend, dass er mit ihr sowohl eine spezifische Darstellungsform und Schreibweise383 als auch eine spezifische Hermeneutik gegeben sieht. Die Mathematik allgemein, die

|| 378 Ebd., S. 42. 379 Es geht, um noch einmal mit Leibniz zu sprechen, darum, „die Harmonie der Welt, die innere Struktur der Dinge und die Reihenfolge der Formen“ zu erfassen (Leibniz: Die philosophischen Schriften, Bd. 4, S. 87). 380 Serres: Struktur und Übernahme, S. 42 f. 381 Ebd., S. 32. 382 Ebd., S. 43, Hervorhebung BM. 383 Grundlegend dazu: Monika Schmitz-Emans: Schreibpraktiken bei Michel Serres, in: Écritures: Denk- und Schreibweisen jenseits der Grenzen von Literatur und Philosophie, hrsg. v. Margot Brink u. Christiane Solte-Gresser, Tübingen 2004, S. 125–139.

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Topologie im Besonderen lehre „rapid thought“.384 Im Unterschied zur konventionellen philosophischen Argumentation interessiert sie sich nicht für die Aufzeichnung von Zwischenschritten, für die Dokumentation von Zwischenergebnissen und damit für die lückenlose Darstellung einer Beweisführung; vielmehr gilt ihr der kürzeste und schnellste Weg zum Ziel als der effizienteste und der eleganteste. Geschwindigkeit ist für Serres das entscheidende Merkmal von Stil; ‚Stil‘ praktizieren bedeutet Risikobereitschaft und Selbstgefährdung, das Wagnis, sich dem Unsicheren, Verletzlichen und Zerbrechlichen auszusetzen, sich an den Rändern der Disziplinen zu bewegen; Wiederholung und Redundanz hingegen – Antonyme von Stil – Trägheit und Sicherheitsdenken, Aufenthalt in abgegrenzten Bezirken, Rückzug auf die Fixpunkte etablierter Beziehungen: „Repetion of content or method entails no risk, whereas style reflects in its mirror the nature of danger. In venturing as far as possible toward nonrecognition, style runs the risk even of autism.“385 Im ungünstigen Fall führt der kommunikative, interdisziplinäre, intertextuelle Weg der Topologie in die Sackgasse – das ist das Risiko, das Serres in Kauf zu nehmen bereit ist –, im günstigsten Fall jedoch zu einer „new organization of knowledge“, zu einer Neuordnung der epistemischen Landkarte, auf der vormals Getrenntes verlinkt erscheint. Er selbst ziehe auch im Bereich der Philosophie die mathematische Methode mit ihren „shortcuts“, die Topologie mit ihren Sprüngen quer durch Zeit, Raum und Wissenskulturen vor: „To move, while writing, from one point of the universe to another.“386 Der topologische Denkstil, der primär auf die Entdeckung und Erzeugung isomorpher Strukturen von Heterogenem gerichtet ist, korreliert einem Schreib- und Darstellungsstil, der sich durch Sprunghaftigkeit, Kontingenz, Diskontinuität, Auslassungen, Verknappung, Dynamik, Konfusion, Komplizierung (Verfaltung), Verzicht auf ornamentalen Schwulst387 etc. auszeichnet und der nicht mangels, sondern aufgrund und in Folge wissenschaftlichmethodischer Strenge an die Grenze wissenschaftlich sanktionierter Darstellungsweisen führt.388 Die Transposition der mathematischen Methode in den

|| 384 Serres/Latour: Conversations, S. 68. Er sei froh, so Serres gegenüber Latour, dass er im Informationszeitalter lebe, in dem „speed“ wieder eine „fundamental category of intelligence“ sei (ebd.). 385 Ebd., S. 94; vgl. ferner S. 120. 386 Ebd., S. 71. 387 „When it is reduced to mere ornamentation, style vanishes“ (ebd., S. 125). 388 So auch Schweitzer: Topologien der Kritik, S. 320. Der Stil führt im Grunde aber auch an die Grenzen einer konventionell verstandenen wissenschaftlichen Redlichkeit. Das Unwesentliche eliminieren bedeutet für Serres ganz konkret: nahezu vollständigen Verzicht auf Quellennachweise, Ignoranz gegenüber Forschungspositionen (vor allem aus dem zeitgenössischen

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Bereich der Philosophie ermöglicht es paradoxer- und doch streng logischerweise, in Gebiete vorzudringen, „where neither mathematics nor logic can go“,389 und Darstellungsformen hervorzubringen, die, sofern sie der formalen Sprache der Mathematik und Logik nicht gänzlich entgegenstehen, zwischen Wissenschaft und Ästhetik changieren.390 In der Zuspitzung bedeutet dies: Die topologische Methode, deren Regulativ die Wahrheit im Sinne struktureller Äquivalenzen ist, realisiert sich stilistisch in ‚unmethodischen‘, ‚undisziplinierten‘, ‚untheoretischen‘, kurz: ästhetischen Darstellungsformen, denen ihrerseits eine erkenntnissteuernde, hermeneutische Funktion zukommt, insofern sie genau das veranschaulichen, was innerhalb der disziplinär deteminierten Grenzen verdeckt bleibt: die hybride, interreferentielle, ‚weiche‘ Form des – disziplinär so genannten – allgemeinen, reinen, unumstößlichen Wissens. In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, dass die der Topologie implizite Hermeneutik entgegen Gadamer gerade nicht auf dem Zeitabstand als einer „positiven und produktiven Möglichkeit des Verstehens“391 gründet, sondern auf dessen Suspendierung. Hermeneutik meint hier wörtlich die Kunst des Übersetzens, die

|| Umfeld) und nicht selten genug die Verunmöglichung intersubjektiver Nachvollziehbarkeit usw., Nachlässigkeiten, die mit der mathematischen Methode ihre Rechtfertigung erhalten: „Style reveals methodology“ (Serres/Latour: Conversations, S. 125) und ist letztlich realisierte Methode. Treffend spricht Gehring von einer „Poetisierung in methodischer Absicht“ (Gehring: Politik der Prosa, S. 176; vgl. näherhin ebd., S. 178 f.). 389 Ebd. 390 Auf die Sprache bezogen heißt topologische Abstraktion nichts anderes als sprachliche Nähefelder schaffen, indem man Wörter, Konzepte, Texte und Stile aller Art zueinander faltet, heißt, in einer aktiven Beziehung zur Sprache stehen, im Sprachraum reisen, aktives sprachliches Passieren, Explorieren und Entfalten. Aus diesem Grund sind Serres’ Texte kaum einer bestimmten Textsorte zuzuordnen. „[H]e gets concepts out of many levels of language: signifiers, etymons, intertexts, concrete meanings of abstract words and abstract meanings of concrete words. […] Serres repeatedly delves inside words, bouncing arguments off their inner syllables, their roots, and their etymological kin. […] [He] draws concrete images, figures, comparisons, and stories out the inner resources of language, exploiting the multiple concepts opened up by the seemingly preconceptual, concrete origins of abstract words. His work with signifiers connects language to the stories and places of the world. Style, for Serres, is a means not of adorning but of inventing and finding. His choice of words and the structure of his sentences produce multilayered articulations of concepts, connotations, and multiple referents. Serres’ language thus seems to lead in all directions, whether in turn or at once. His writing is neither strictly conceptual, nor metalingual, nor poetic, nor affective, nor expressive, nor referential, but rather all of these in quick and sometimes dizzying succession“ (William Paulson: Swimming in the Channel, in: Mapping Michel Serres, S. 24–36, hier S. 27 f.). 391 Hans Georg Gadamer: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen ³1972, S. 281.

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Kunst der Sinn-, Bedeutungs-, Ordnungserzeugung im Zueinander- und Ineinanderfalten – im „cross-breeding“392 – von räumlich Distanziertem (seien dieses Ereignisse, Texte, Sprachen, Disziplinen, epistemen) – ein dynamischer und unabschließbarer Prozess, in dessen Verlauf neue Räume, Verortungen, Bedeutungsrelationen etc. hergestellt werden, denen stets andere Strukturen und damit andere Wahrheiten zugrunde liegen.393

3.2.4 Wie denken? – III. Passagen zum Passagen-Denken: Enzyklopädik und Epistemologie Serres’ Passagen- oder Hermesphilosophie steht ihrerseits in einem komplexen Beziehungsgefüge aus Mythos, Wissenschaft und Philosophie. Mit Blick auf die allgemeine Epistemologie sollen zwei dieser Verknüpfungen rekonstruiert bzw. Denk-Passagen und damit mögliche Zusammenhänge zwischen Disparatem erkundet werden: einmal die Beziehung zwischen präpositionaler Philosophie und französischer Enzyklopädistik, des Weiteren zwischen präpositionaler Philosophie und Endoepistemologie. Wiederholt (und passim) stellt Serres sein Denken in die französische Tradition von Montaigne, Leibniz, Voltaire und Diderot. Mit dieser teilt er die Auffassung, wonach es „keine eigentliche Distanz zwischen dem philosophischen Denken und der literarischen Schöpfung gebe“394 und innerhalb der Philosophie keinen Unterschied zwischen „dem theoretischen Ansatz, der von der Wissenschaft spricht, und dem literarischen Ansatz, der nicht von der Literatur spricht, sondern Literatur macht so wie derjenige, der, wenn er ein schönes Werk schafft, gleichzeitig theoretisch davon spricht“.395 Vor allem aber teile er mit dieser Tradition „my wish to be encyclopedic, followed by my desire for synthesis“.396 Die philosophischen Vorbilder sind für Serres ihrerseits PassagenDenker, die die Demarkationslinien zwischen Wissenschaft, Philosophie und Literatur aufheben und stattdessen diese Bereiche in mehrfache Verhältnisse zueinander setzen, sie also präpositional miteinander verbinden.

|| 392 Serres/Latour: Conversations, S. 28. 393 Stil ist eine gleichermaßen rezeptions- wie produktionsästhetische Praxis. Was im Zusammenhang mit Leibniz’ Falte ausgeführt wurde, trifft exakt auch hierauf zu. 394 Serres, Rötzer: Französische Philosophen im Gespräch, S. 132. 395 Ebd., S. 137 f. 396 Serres/Latour: Conversations, S. 89.

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Wie sehr Serres’ enzyklopädisches Projekt am Leitbild insbesondere des Enzyklopädiekonzepts Denis Diderots orientiert ist, zeigt bereits seine Charakterisierung der Präposition. Die von ihm vorgenommene Enzyklopädisierung des Verhältnisworts schreibt diesem sowohl eine semantische als auch eine relationale Totalität zu. Präpositionen indizieren und konnotieren ein Universum von Richtungs- und Bedeutungsmöglichkeiten. Potentiell kann jede Verhältnisbestimmung (sei sie kausal, modal, lokal oder temporal), jeder Zusammenhang und jede Sinnzuschreibung von einer Präposition ihren Ausgang nehmen bzw. auf eine Präposition zurückgeführt, das enzyklopädische Netz gleichsam interpräpositional aufgespannt und unendlich erweitert werden. In zeichentheoretischer Perspektive sind sie vergleichbar mit dem, was Umberto Eco das „Modell Q“ nennt: [D]ieses Modell [liefert] die Definition jedes Zeichens dank der wechselseitigen Verknüpfung mit dem Gebiet aller anderen Zeichen in Interpretantenfunktion, von denen jedes jederzeit das von allen anderen Zeichen interpretierte Zeichen werden kann: Das Modell gründet in seiner Komplexität auf einem Prozeß unendlicher Semiose. Von einem als „type“ angenommenen Zeichen aus ist es möglich, vom Zentrum bis zur äußersten Peripherie das ganze Universum der kulturellen Einheiten zu durchlaufen, von denen jede ihrerseits zum Zentrum werden und unendliche Peripherien erzeugen kann.397

Präpositionen fungieren gleichsam als sprachliche ‚Verkehrsknotenpunkte‘, die das Lokale mit dem Globalen verknüpfen. Als entgrenztes und entgrenzendes, all-inkludierendes, offenes Zeichen ist die Präposition Gegenparadigma zum Begriff, der auf Begrenzung, Definition, Reduktion und Exklusion beruht. Entsprechend ist auch das präpositional formierte Netz Gegenparadigma zum begrifflich formierten System.398 Die Komplexität des Netzes, die der Komplexität einer globalisierten Welt und des Wissens von der Welt geschuldet ist, ist eine

|| 397 Umberto Eco: Einführung in die Semiotik, München 1972, S. 124. 398 Vergleiche in diesem Kontext auch Ecos Gegenüberstellung von Wörterbuch (ein System von finalen Interpretanten und modellhaft verkörpert im Bild des porphyrischen Baums) und Enzyklopädie (ein auf Interkonnexion und Intertextualität beruhender Darstellungsmodus und modellhaft verkörpert im Bild des Netzes). Im Unterschied zum klassifizierenden, hierarchisch strukturierten und endlichen Baum, der „das Bild eines sehr begrenzten Universums“ suggeriert, „setzt eine enzyklopädische Darstellung voraus, dass die Repräsentation des Inhalts nur mit Hilfe von Interpretanten stattfindet, in einem Prozeß der unbegrenzten Semiose. Da diese Interpretanten nun ihrerseits interpretierbar sind, gibt es keinen zweidimensionalen Baum, der die globale semantische Kompetenz einer gegebenen Kultur darstellen kann. Eine solche globale Repräsentation ist nur ein semiotisches Postulat, eine regulative Idee, und nimmt das Format eines vieldimensionalen Netzes an […]“ (Umberto Eco: Semiotik und Philosophie der Sprache, München 1985, S. 108).

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ebenso quantitative (je mehr Passagen aufgefunden oder erzeugt werden, desto feiner und komplizierter ist das Gewebe und damit die Zahl der Elemente und ihrer Relationen) wie qualitative (dies sowohl in Bezug auf die verwobene Struktur der Verknüpfungen selbst als auch in Bezug auf die dadurch erzeugte Komplexion und Komplikation der verknüpften Elemente, ihrer inneren Organisation, ihrer Semantik399).400

|| 399 Vgl. Serres’ ‚naturalistische‘ Beschreibung der unwegsamen Nordwest-Passage (Michel Serres: Die Nordwest-Passage, in: ders.: Hermes V: Die Nordwest-Passage, S. 15–27). Serres’ ‚Naturalismus’ verdiente gesondert untersucht zu werden. So dient ihm die geographische Nordwest-Passage, die den Atlantik mit dem Pazifik verbindet, einerseits zwar als Modell zur Beschreibung der komplexen Beziehungen zwischen den Natur- und Geisteswissenschaften, umgekehrt will er die Passagen zwischen disparaten Bereichen als natürliche verstanden wissen, ihre Trennung hingegen als „universitäres Artefakt“ (vgl. Serres/Latour: Conversations, S. 74; Serres, Rötzer: Französische Philosophen im Gespräch, S. 132). Über die Passage zwischen den Wissenschaften von der Natur und den Wissenschaften vom Menschen heißt es: „Dass es diese Passage gegeben hat, sicherlich, dass sie aber äußerst komplex, schwierig, vor allem von Umständen abhängig war. Um von den Natur- zu den Humanwissenschaften zu gelangen, genügt es nicht, eine Tür zu öffnen und die Straße zu überqueren. Der Weg ist kompliziert: eine Idee kann Sie wie ein Ariadnefaden leiten, doch plötzlich in einem Moment abreißen und Sie auf offenem Feld zurücklassen. Man muss umkehren und mit einem anderen Faden wieder beginnen. Es gibt keine Karte“ (Serres, Guillebaud: Philosophien, S. 157). 400 Komplexität ist hier nicht mehr als ein Antonym zur Einfachheit aufgefasst, sondern als eine fundamentale Kategorie zur Beschreibung der Verfasstheit der Welt, des Menschen, des Wissens; sie ist damit zugleich ein „ausgezeichnetes Hilfsmittel des Wissens und der Erfahrung“ (Serres: Das Kommunikationsnetz: Penelope, in: ders.: Hermes I. Kommunikation, S. 9– 23, hier S. 23), beschreibt also jene philosophische, interdisziplinäre, ‚relationierende’ Praxis, die es, so Serres’ eigenes Anliegen, als „Theorie der Relationen“ auch de jure zu erarbeiten gilt (vgl. Michel Serres: Hermes II. Interferenz [1972], aus dem Französischen übers. v. M. Bischoff, Berlin 1992, S. 38; ders.: Der Parasit [1980], übersetzt v. Michael Bischoff, Frankfurt/M. 1984, S. 333). Prigogine und Stengers sehen in der Komplexität nicht nur ein grundlegendes Merkmal der Naturwissenschaften seit der Entdeckung der Wärmelehre – der ersten „‚Wissenschaft vom Komplexen‘“ – im 19. Jahrhundert; sondern darüber hinaus resultiert für sie aus der Einsicht in die Komplexität der Natur die Forderung an die gegenwärtigen Wissenschaften, die zweihundertjährige Trennung von „Wissenschaft und Weisheit, Wissenschaft und Wahrheit“ zu überwinden und den Dialog der Disziplinen zu praktizieren (Ilya Prigogine, Isabelle Stengers: Dialog mit der Natur. Neue Wege naturwissenschaftlichen Denkens [1980], Übersetzung nach dem englischen und französischen Manuskript von Friedrich Griese, fünfte, erweiterte Auflage, München, Zürich 1986, S. 107). Zu einer ausführlichen Darstellung der „Wissenschaft vom Komplexen“ vgl. ebd., Teil II, S. 109–199, ferner Gert Eilenberger: Komplexität. Ein neues Paradigma der Naturwissenschaften, in: Mannheimer Forum 89/90. Ein Panorama der Naturwissenschaften, hrsg. v. Hoimar v. Ditfurth u. Ernst Peter Fischer, München 1990, S. 71–134.

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Angesichts der Komplexität der Welt kommt es bereits bei Serres’ Gewährsmann Diderot zu einer gravierenden Verschiebung innerhalb der enzyklopädischen Ordnungs- und Darstellungsformen. Das Weltall bietet uns nur besondere Dinge, unendlich viele, fast ohne irgendeine feststehende und bestimmte Einteilung; es gibt dabei kein Ding, das man das erste oder letzte nennen kann; alles hängt zusammen und ergibt sich durch unmerklich feine Übergänge.401

Die unendliche Vielfalt der Welt, der Erfahrung und des Wissens ist nicht länger durch „klassifizierende und rationalisierende Aufschreibesysteme“ zu fassen, sondern verlangt ein grundlegend neues „Paradigma der enzyklopädischen Organisation des Wissens“.402 Dieses neue Paradigma – Diderot selbst veranschaulicht es mit der Metapher des Labyrinths403 – folgt einer zweifachen Ordnung: der Ordnung des Alphabets,404 die die „‚unendlich vielen Gesichtspunkte‘ einer in Einzelheiten zerstäubten Welt auf der Ebene des Wissens [reflektiert]“,405 und die Ordnung der Verweise, das „système de renvois“, das die Atomisierung und Arbitrarisierung, die der enzyklopädische Text durch seine Alphabetisierung erfährt, nicht aufhebt, sondern durch das komplementäre Verfahren der Vernetzung und Verflechtung ergänzt.406 „Vermittels der enzyklopädischen Ordnung, der Allseitigkeit der Kenntnisse und der Häufigkeit der Hinweise nehmen die Beziehungen zu, führen Verbindungen nach allen Richtungen, wächst die Beweiskraft, wird die Nomenklatur vollständiger, verdichtet und festigt sich das Wissen.“407 Mit dem „système de renvois“ erfährt auch der

|| 401 Denis Diderot: Art. „Enzyklopädie“ [1755], in: ders.: Philosophische Schriften, Frankfurt/M., Bd. 1, S. 149–234, hier S. 185 (zit. n. Kilcher: mathesis und poiesis, S. 254). 402 Kilcher: mathesis und poiesis, S. 252. 403 Vgl. Diderot: Art. „Enzyklopädie“, S. 205. 404 Die alphabetische Ordnung ist seit der Mitte des 17. Jahrhunderts die bevorzugte enzyklopädische Methode (vgl. Kilcher: mathesis und poiesis, bes. das Kap. „Alphabetisierung der Enzyklopädie“, S. 203–229). 405 Ebd., S. 256 (Zitat im Zitat aus Diderot: Enzyklopädie, S. 185). Kilcher verweist ferner auf Denis Diderot: Gedanken zur Interpretation der Natur, in: Philosophische Schriften, Bd. 1, S. 415–471, bes. S. 458, wo das Ganze des Universums als ein „système infini de perceptions“ beschrieben wird. Der unendlichen Komplexität der Welt – dem „unermesslichen Meer von Gegenständen“ korreliert eine Unendlichkeit von Wahrnehmungsmöglichkeiten und dieser wiederum „unendlich viele Gesichtspunkte [infinité de points de vûe], unter denen es dargestellt werden kann“ (Diderot: Art. „Enzyklopädie“, S. 185). 406 Vgl. Kilcher: mathesis und poiesis, S. 256. 407 Diderot: Art „Enzyklopädie“, S. 201; vgl. auch S. 200. Der grundlegende Unterschied zwischen d’Alemberts und Diderots Konzept der „renvois“ besteht nach Kilcher vor allem darin, dass d’Alembert den Querverweisen vorrangig die „Funktion von Instrumenten zur

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Begriff des Zusammenhangs eine Neubestimmung: „Die Gesamtheit der Wesen, die auf solche Weise im Zusammenhang miteinander stehen, ist keine einfache Reihe oder Reihenfolge im Rahmen einer einmaligen Ordnung von Dingen, sondern vielmehr eine Verbindung von unendlich vielen Reihen, die miteinander gemischt und verflochten sind“.408 Zusammenhang im Sinne einer „universellen Verknüpfung aller Dinge“409 meint die Maximierung von Relationsmöglichkeiten und die Erhöhung der Komplexität.410 Damit ist auch angedeutet, dass die Ordnung der Verweise, bei der es sich wie beim Alphabet um ein „asemantisches Schreibsystem“411 handelt, auf die ‚Natur‘ des Wissens selbst zurückwirkt: Erzeugt wird ein mehrdimensionales, multiperspektivisches, ‚gemischtes‘ Wissen, das sich einer linear-historischen Darstellung ebenso entzieht wie einer systematisch-theoretischen.412 Diderots etwas übermütige Behauptung, man könne „Hinweise, wie immer sie auch beschaffen sein mögen, nicht oft genug geben. Überflüssige Hinweise wären immerhin besser als unterlassene“, oder seine Beobachtung, wie im Laufe der Arbeit an der Enzyklopädie „die zahlreichen Windungen eines ausweglosen Labyrinths immer verwickelter wurden“,413 und nicht zuletzt die in der Enzyklopädie tatsächlich exzessiv erfolgte Praxis des Verweisens deuten aber auch die Gefahr einer „Verselbständigung“ und „offenen Systemlosigkeit der Verweise“ an: „Zahlreiche Verweise rekurrieren nicht auf Artikel, sondern wieder nur auf Verweise, andere wiederum sind ohne Adresse.“414 Anders und zu|| Aufhebung der labyrinthischen Disposition des Wörterbuchs“ zuweist (Kilcher: mathesis und poiesis, S. 257); ihm gehe es um die systematische Verkettung [enchaînement] der durch Alphabetisierung fragmentierten Wissensbestände (vgl. ebd., S. 252). Demgegenüber stellen Diderots Hinweise „weniger subordinierend-klassifikatorische, als vielmehr koordinierendvernetzende Bezüge her. Sie konstituieren Kontiguitäten von unterschiedlicher Nähe und Qualität“ (ebd., S. 258). 408 Denis Diderot: Art. „Zusammenhang“, in: ders.: Philosophische Schriften, Bd. 1, S. 408 ff., hier S. 411. 409 Ebd. 410 Vgl. dazu auch Kilcher: „Der Konzeption des Zusammenhangs als Subordination von Terminologien unter die totalisierende Systematik einer metaphysischen Weltkarte stellt Diderot seine Konzeption der Relation als komplexe und disseminative Verflechtung von Fragmenten entgegen. Seine ‚Verweise‘ sind nicht Instrumente der Unterordnung der Teile unter ein Systemganzes, sondern vielmehr nicht-hierarchische Bezüge von Singularitäten in einer komplexen, deterritorialisierten Totalität. Sie bringen das Wissen in eine Zirkulation von Beziehungen, in der es kein Zentrum und keinen Halt gibt“ (Kilcher: mathesis und poiesis, S. 262). 411 Ebd., S. 260. 412 Vgl. ebd., S. 259. 413 Diderot: Art. „Enzyklopädie“, S. 200 und 205. 414 Kilcher: mathesis und poiesis, S. 259.

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gespitzt formuliert: Die Verweise können potentiell ihre Funktion als verbindende, Zusammenhänge zwischen Disparatem stiftende Steuerungs- und Adresszeichen – ihre Passagen-Funktion – auch einbüßen und damit den Status rein selbstreferentieller Zeichen annehmen. Mit dieser ihnen eigenen ambivalenten Tendenz, nämlich zum einen die „universelle Verknüpfung aller Dinge“ anzustreben, zum anderen aber zu einer absoluten, nichts mehr verbindenden Selbstreferentialität, nähern sie sich dem paradoxen Zugleich-Charakter der Präposition an: dem Maximum der Enzyklopädie und dem Minimum der tabula rasa.415 Die dargelegten Eigenschaften und Funktionen der „renvois“ und die durch sie hervorgerufenen Effekte auf die Organisation und Beschaffenheit des Wissens machen deutlich, dass Diderot mit seiner Theorie der Verweise den – bereits mit ihrer Alphabetisierung einsetzenden – Prozess der „Ästhetisierung der Enzyklopädie“416 entscheidend forciert. Ein exkursorischer Blick auf die von Diderot in seinem Enzyklopädieartikel vorgestellten Verweis-Typen sowie auf das von ihm in seiner Ästhetik entwickelte Pendant der „rapports“, soll zur Vertiefung dieser Annahme beitragen, vor allem aber Serres’ präpositionale, Passagen- oder auch Hermesphilosophie als den Weg und Entwurf zu einer allgemeinen Epistemologie beschreiben, die aus einer Pluralität regionaler Theorien hervorgeht417 und ihrerseits gleichermaßen epistemisch, ästhetischliterarisch wie anthropologisch ist.

|| 415 Sowohl bei den Präpositionen bzw. Passagen als auch den „renvois“ handelt es sich um asemantische Medien der Grenzüberschreitung; indem sie Verbindungen zwischen episteme und doxa, Faktizität und Fiktion, positivem und negativem Wissen etc. herstellen, eröffnen sie innovative Schauplätze, positivieren sie negatives Wissen und vice versa. Potentiell können sie jede Bedeutung annehmen, tendieren also zum Enzyklopädischen und Omnisemantischen. 416 Vgl. Kilcher, mathesis und poiesis, S. 230–275 (= Kap. 2.3.: „Alphabetisierung als Ästhetisierung der Enzyklopädie“). 417 Diderots Theorie der Enzyklopädie und die eingangs vorgestellte Endoepistemologie der Mathematik sind, wie bereits gesagt, lediglich Beispiele solcher regionaler Theorien. ‚Hervorgehen‘ ist hier ganz wörtlich zu nehmen: die allgemeine Epistemologie generiert sich aus den regionalen Epistemologien; nur im enzyklopädischen Durchgang kann sie sich der regulativen Idee von einer „allgemeinen Epistemologie regionaler Epistemologien“ annähern. Serres geht es überwiegend darum, sein Passagen-Denken im Sinne einer methodisch-methodologischen Praxis anzuwenden, um auf diese Weise neue Passagen aufzufinden oder zu erfinden; hingegen geht es ihm gerade nicht darum, diese Praxis theoretisch-systematisch zu konzipieren und darzustellen. Die Entschiedenheit, mit der er das, was man (in Anlehnung an meine Ausführungen zur Ästhetik der Endo-Epistemologie) eine poietologische Epistemologie nennen kann, praktiziert, hat zur Folge, dass er sich kaum um detaillierte Nachweise seiner Thesen und Hypothesen bemüht und die Fundamente und Herkunftsorte seines Denkens kaum ausrei-

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Exkurs Bei den enzyklopädischen Verweisen unterscheidet Diderot zwischen sachlichen, satirischepigrammatischen und ‚genialischen‘ Verweisen, Bezeichnungen, die bereits eine gesteigerte ästhetische Funktion anzeigen. Die sachlichen Hinweise (renvois de choses) erläutern den Gegenstand, zeigen seine nahen Zusammenhänge mit den unmittelbar angrenzenden Gegenständen und seine fernen Zusammenhänge mit anderen, die man sonst für völlig abgesondert halten könnte; rufen die gemeinsamen Begriffe und die ähnlichen Prinzipien in Erinnerung, bekräftigen die Folgen, verbinden den Zweig mit dem Stamm und geben dem Ganzen jene Einheit, die für die Feststellung der Wahrheit und für die Überzeugung so günstig ist. Nötigenfalls rufen diese Hinweise aber auch eine völlig entgegengesetzte Wirkung hervor: sie fechten Begriffe an, widerlegen Prinzipien, greifen heimlich lächerliche Anschauungen an, deren offene Anfechtung zu riskant wäre, erschüttern sie und stoßen sie um. Wenn der Autor unvoreingenommen ist, haben solche Hinweise immer die doppelte Aufgabe, zu bestätigen und zu widerlegen, zu beunruhigen und zu beschwichtigen.418 Ganz im Sinne von Serres lässt sich Diderots Beschreibung als eine variable Topologie der Relationen lesen: Über das Darstellungs- und Organisationsverfahren der „renvois“ konstituieren sich relationale Näheverhältnisse, die sich nicht mehr auf statische und eindeutige Bezüge fixieren lassen, sondern ein dynamisch-komplexes Beziehungsgeflecht formieren, das der strukturellen und semantischen Identität, Äquivalenz, Kontinuität und Kontiguität von disparaten Gegenständen und Wissensfeldern ebenso Ausdruck verleiht, wie es bestehende Axiome, Definitionen und eingefrorene Relationen destruiert und der Fragwürdigkeit aussetzt. Als ein formalisiertes, damit auch asemantisches Darstellungs-, Schreib- und Organisationsverfahren419 wirken die Hinweise folglich auch auf die Substanz des Wissens zurück: Indem sie den Systemcharakter gegebener Wissensordnungen und -hierarchien massiv destabilisieren, transformieren, ‚entsubstantialisieren‘ und subvertieren sie das Wissen selbst. Entsprechend fungieren sie als Medien der Wissensorganisation und -kommunikation ebenso wie als rhetorisch-persuasive und logisch-argumentative Operatoren, die sinnverändernd oder sinnzersetzend in die Inhalte der episteme eingreifen (etwa indem sie propositionale Erkenntnis in präpositionale, polysemantische überführen) und solcherart auch deren epistemologische Prämissen erschüttern. Damit sind partiell bereits ästhetische Qualitäten der „renvois“ berührt: Es sind formale Kunstgriffe der Polemik und Ironie, der Verfremdung und Verdeckung, strategische Instrumente, die eine subtile Kritik an Wissenschaft und politischer Macht ermöglichen, sinn-lose Waffen gerichtet wider jene kriegerische „Soziologie der Konkurrenz“, von der Serres spricht. Das von Diderot eingesetzte wirkungsästhetische Vokabular weist die „renvois“ geradezu als theatralische Inszenierungsmöglichkeiten aus, als formale Performative, die auf die Erschütterung, Irritation, Erwartungsdurchbrechung und Bloßstellung der Sache wie der die

|| chend klärt. Nicht (wie die Schulphilosophie) kommentieren und reproduzieren möchte er, sondern produzieren, erfinden und vorankommen. 418 Diderot: Art. „Enzyklopädie“, S. 195. 419 Vgl. Kilcher: mathesis und poiesis, S. 262.

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Sache jeweils hervorbringenden Instanzen und Personen zielt. Gegenüber den sachdienlichen Hinweisen stellen die „renvois satyriques ou epigrammiques“420 eine Intensivierung dieser ästhetischen Funktionen und Wirkungen dar. Mehr noch als jene erlauben sie es dem Autor, aktiv in den enzyklopädischen Diskurs einzugreifen, ihn zu steuern, zu korrigieren und zu manipulieren. Damit erweisen sich die „renvois“ auch als ein Mittel zur Personalisierung der Enzyklopädie. Mehr noch: Sie sind elementare Bestandteile einer kommunikativen Situation, denn in der regulierten Verweisung auf Gegenstände sind die „renvois“ stets auch auf ein sprechendes, die Verweisungsautorität innehabendes Subjekt verwiesen, das seine ‚formale Rede‘ an die Autoritäten des Wissens und der Wissenschaft ebenso adressiert wie an den Leser der enzyklopädischen Artikel. Als Funktoren der Kommunikation kann ihre Wirkung so weit getrieben werden, dass sie die sachdienliche Funktion der „renvois de choses“ konterkarieren und die Objektivität der episteme als pure Fiktion entlarven. Das hier angedeutete Potential der Hinweise, einen hypothetisch-fiktiven „contre-discours“ (Foucault) zu etablieren, erhöht sich noch, sobald man den dritten Typus, die „renvois de l’homme de génie“ hinzuzieht. Im Unterschied zu den Sachhinweisen verlassen diese die Ebene der Gegenstände und Begriffe und stellen innerhalb der einzelnen Wissensbereiche relationale, qualitative und methodische Zusammenhänge her.421 Dadurch können sie „zu neuen spekulativen Wahrheiten, zur Vervollkommnung der bekannten Künste, zur Erfindung neuer Künste oder zur Wiederherstellung vergessener alter Künste führen“.422 Diese Art der Hinweise zu „finden“, vermag nur der mit „Kombinationsgabe“ (esprit de combinaison) und „Fingerspitzengefühl“ ausgestattete „Mann von Genie“ (homme des genie).423 „Es ist“, so Diderot resümierend, „jedenfalls besser, vage Vermutungen (conjectures chimériques) zu wagen, als nützliche Vermutungen zu unterlassen“. Die genialischen Hinweise erfordern demnach nicht nur Wissen, sondern vor allem Imagination, Erfindungs- und Kombinationsgabe; mit ihrer Hilfe werden nicht nur gegebene und als gesichert geltende Wissensbestände miteinander vernetzt und vor dem Vergessen bewahrt, sondern darüber hinaus auch mögliche Beziehungen hergestellt und damit hypothetisches, neues Wissen produziert. Kilcher sieht in diesem dritten Typus die „Formalisierung des poetologischen Aspekts der Querverweise überhaupt“, und schlussfolgert: „Enzyklopädie wird hier zu einer literarischen Schreibweise. Man könnte geradezu von einem ‚enzyklopädischen Erzählen‘ sprechen“,424 von einer Enzyklopädie als poetica scientiae. Vor dem Hintergrund des ästhetischen Potentials der enzyklopädischen Verweise mag es nun kaum mehr verwundern, wenn Diderot seine Bestimmung des Schönen mit der Kategorie

|| 420 Vgl. Diderot: Art. „Enzyklopädie“, S. 198 f. 421 „Das sind die Hinweise (renvois), die bei den Wissenschaften gewisse Beziehungen (certain rapports), bei den natürlichen Substanzen analoge Eigenschaften (qualités analogues), bei den Künsten ähnliche Arbeitsweisen (manoeuvres semblables) in Zusammenhang bringen“ (ebd., S. 197; hier und im Folgenden übernehme ich die von Kilcher leicht modifizierte Übersetzung, vgl. Kilcher, mathesis und poiesis, S. 261). 422 Diderot: Art. „Enzyklopädie“, S. 197. 423 Dieses und das folgende Zitat: Ebd. Diderot verweist an dieser Stelle auf seine Interpretation der „Natur“, wo er diese Begabungen definiert hat. 424 Kilcher: mathesis und poiesis, S. 260 u. 261. Den Terminus „enzyklopädisches Erzählen“ übernimmt Kilcher aus Jacques Prousts Analyse von Diderots Neveau de Rameau.

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der Relation begründet und die Fähigkeit, Beziehungen herzustellen, als eine spezifische Weise des Erkennens charakterisiert: […] der erste Schritt des Denkvermögens (faculté de penser) besteht darin, dass wir unsere Wahrnehmungen untersuchen, sie miteinander verbinden, sie vergleichen, sie kombinieren, zwischen ihnen Beziehungen (rapports) der Übereinstimmung (convenance) oder Nichtübereinstimmung (disconvenance) wahrnehmen und so weiter.425 Und pointiert an anderer Stelle: „Die Beziehung im allgemeinen ist eine Verrichtung (opération) des Verstandes.“426 Damit wird, so Kilcher, „das Schöne […] über die Kategorie der Relation zunächst als eine Ordnung des Denkens und des Wissens begründet“.427 Wenn Diderot annimmt, „dass die einzige gemeinsame Eigenschaft, in der alle […] Wesen übereinstimmen, der Begriff von Beziehungen ist“, 428 dann bestimmt er die enzyklopädische wie ästhetische Kategorie der Relation – wie Serres die der Passage – als eine universale, mit der sich alle Ordnungen des Seins und des Wissens, und damit auch alle Wissenschaften und Künste beschreiben lassen.429 Erinnert man daran, dass die methodisch-formale Kategorie der renvois bzw. rapports an der Vorstellung des Weltganzen ausgerichtet ist – das Weltganze fungiert als regulative Idee der enzyklopädischen wie ästhetischen Darstellung –, dann ist die gegebene „Korrelation von enzyklopädischer und ästhetischer Ordnung“430 letztlich teleologisch auf eine Identifikation von Wissen und Schönheit gerichtet. Wie die „renvois“ auf dem Feld der Enzyklopädie zu einer gesteigerten Komplexität und Ästhetisierung des Wissens führen, so führen auch die „rapports“ auf dem Feld der Ästhetik zu einer gesteigerten Komplexität und ‚Epistemisierung‘ des Schönen. Das Ideal der Einheit des Wissens im Sinne der „universellen Verknüpfung aller Dinge“ ist auch das Ideal der Schönheit, denn: „Schön ist ein Terminus, den wir auf unendlich viele Dinge anwenden.“431

Übereinstimmend lassen sich Diderots Theorie der Verweise und Serres’ präpositionale oder Hermes-Philosophie als eine ‚Epistemopoetik‘ deuten: Aufgrund ihrer gleichermaßen szientifischen wie ästhetischen Funktionen, erweisen sie sich als die adäquate Methode zur Abbildung und Generierung einer größtmöglichen, an der Komplexität des Weltganzen orientierten „universellen Verknüpfung aller Dinge“ – mögliche und künftige Dinge eingeschlossen. Das solcherart ‚relationierte‘, in Beziehungen gesetzte Wissen wird dabei gleichsam

|| 425 Denis Diderot: Philosophische Untersuchungen über den Ursprung und die Natur des Schönen (1752), in: ders.: Ästhetische Schriften, hrsg. v. Friedrich Bassenger, Frankfurt/M. 1968, Bd. 1, S. 98–136, hier S. 118. Diese Ausführungen erschienen bereits ein Jahr zuvor als Artikel „das Schöne“ im 2. Band der Enzyklopädie. 426 Ebd., S. 125. 427 Kilcher: mathesis und poiesis, S. 163. 428 Diderot: Philosophische Untersuchungen, S. 127. 429 Vgl. wiederum Kilcher: mathesis und poiesis, S. 264. 430 Ebd., S. 262. 431 Diderot: Philosophische Untersuchungen, S. 119.

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von jener der Methode eigenen Logik der ‚Epistemopoetik‘ affiziert, d.h. durch die tendenziell nicht abzuschließende Methode des Verweisens und Passierens durchläuft das Wissen eine Metamorphose, im Zuge derer es seiner Eindeutigkeit und Gültigkeit enthoben wird, eine zunehmende Kontextualisierung, Konnotierung und „Mischung“ erfährt und einrückt in die von Eco so bezeichnete „unendliche Semiose“. Das Medium (die Verweise) ist hier in der Tat die Botschaft (das Wissen).432 Die Theorie der Verweise und Passagen beschreibt damit nicht nur eine enzyklopädisch-ästhetische Methode, sondern auch eine poetologisch motivierte Theorie des Wissens und der Wissenschaften – eine Epistemopoetik. Als eine Methode „[to] reveal a chiaroscuro – a light and a dark“433 verbinden und falten die Verweise und Passagen heterogene Wissensfelder434 und produzieren solcherart Synthesen, die keine substantiellen oder kausalen Erkenntnisse darstellen, sondern die gemischte Disposition allen Wissens – das Wissen vom Wissen inbegriffen – zum Ausdruck bringen.435 Alle Formen der Episteme weisen Spuren des Archaischen und Mythischen auf,436 sind letztlich || 432 „Das Problem der Referenz ist im technischen Sinne ein abgeschlossenes Problem. Der neue neue Geist [sic.] ist ein Denken ohne Referenz; die Übertragung, der Transport, ist das Denken selbst, das Erwachen wirkungsvollen Erfindens, das Sonderbare seiner Morgenröten“ (Serres: Einleitung zu Hermes II. Interferenz, S. 7–18, hier S. 16; mit der Rede vom „neuen neuen Geist“ grenzt sich Serres von Bachelard ab, vgl. Gaston Bachelard: Der neue wissenschaftliche Geist [1934], übersetzt v. Michael Bischoff, Frankfurt/M. 1988). 433 Serres/Latour: Conversations, S. 153. 434 Wissensfelder, die sich nicht zuletzt auch auf das lebensweltliche, in vielfältigsten Erfahrungen gewonnenes Wissen erstrecken. 435 Das Passagen-Denken übernimmt hierin auch die Funktion einer wissenschaftsgeschichtlichen und wissenschaftstheoretischen Korrektur. 436 Die größte Illusion der neuzeitlichen Wissenschaften besteht nach Serres in der Annahme, ihre Erkenntnisse verdankten sich einer reinen Rationalität, die frei von Archaismen sei. Das Gegenteil sei der Fall: „Archaism is always there, and science doesn’t get rid of it“ (Serres/Latour: Conversations, S. 86 f.). Eine Wissenschaft, die ihre Aufgabe und ihren Fortschritt darin sieht, sich selbst von allem Mythisch-Archaischen zu reinigen, kippt in Wahrheit ins Ideologische, denn: „There is no pure myth except the idea of a science that is pure of all myth“ und „the more one tries to exclude myth, the more it returns in force, since it is founded on the operation of exclusion“ (ebd., S. 162 f.). Der Gegensatz von Wissenschaft und Mythos entspricht auf der Ebene der Wissenschaften selbst dem Gegensatz von Natur- und Sozialwissenschaften und schließlich dem Gegensatz von Natur und Kultur. An zahllosen Beispielen zeigt Serres auf, dass ein- und demselben Gegenstand – unabhängig davon, welcher Sphäre er zugehört – stets ein natürlicher und kultureller Aspekt zukomme und deshalb „simultaneously objects of this world and objects of society“ (ebd., S. 141; vgl. auch S. 146) sind. Exemplarisch sei auf seine Lukrez-Studien verwiesen, in denen er u.a. aufzeigt, dass die beiden Begriffe „atom“ und „vacuum“ zwischen Rationalität und Physik auf der einen, Religion und Mythos auf der anderen Seite verortet sind: „Both words“, so rekapituliert Serres im Gespräch

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also Mischformen aus „poem and theorem“.437 Dabei ist das Poetische zunächst als ein schlechthin intuitiv-antizipierendes und kreativ-schöpferisches Vermögen aufgefasst, das jeder Wissens- und Theoriebildung vorausgeht438 und den Ursprung und die bleibende Verwiesenheit allen Wissens im humanen Subjekt und auf dieses zum Ausdruck bringt. Diese Qualitäten bestimmen das Poetische auch in der Dichtung, die nur eine, wenngleich die prominenteste, der möglichen Formen ist, in der das Poetische konkrete Gestalt annimmt. Dabei ist die antizipierende, diskursives Wissen vorwegnehmende Funktion des Poetischen wie auch seiner spezifischen literarischen Manifestationen mit Blick auf Serres’ Begriff der gefalteten Zeit nicht so zu verstehen, dass es sich hierbei um eine bloße Vorstufe der Wissenschaft handelte, die zufällig und vage ins Bild setzt, was jene sodann in die logischrationale Klarheit des Begriffs hebt. Die Ausdrucksformen und Funktionen des Poetischen, insbesondere in Gestalt von Dichtung und Literatur, bilden hier nicht die unterste Ebene einer Erkenntnis- und Wissenshierarchie, an deren Spitze eine von ihren poetischen Ursprüngen purifizierte Wissenschaft steht. Vielmehr kommt dem Poetisch-Literarischen, indem es die gleichermaßen subtile wie komplexe Verfasstheit von gegebener, aber nicht wahrgenommener Wirklichkeit zur Erscheinung und zur Existenz für den Menschen bringt, eine wirklichkeitssetzende und damit auch eine wissen- und wissenschaftsbedingende Funktion zu.439 Ebenso aber gilt, dass das, was auf diese Weise poetischliterarisch erzeugt und in den Status eines Phänomens überführt wird, bereits eine Form des Wissens und der Erkenntnis darstellt. In letzter Konsequenz sind das Epistemische und das Po(i)etische nicht voneinander zu trennen und bleiben in allen ihren spezifischen Ausgestaltungen, Abstraktionen und Anwendungen stets relational aufeinander bezogen. Begreift man das Wissen analog

|| mit Latour, „indicate a crisscrossing: the word atom belongs to the same family as temple, and the word vide (vacuum) indicates, by its Latin and Greek roots, the act of catharsis“ (ebd., S. 141 f.). – Die von Serres kritisierte Verflechtung von Wissenschaft und Macht wurzelt, ähnlich wie bei Michel Foucault, damit auch in Praktiken diskursiver und sozialer Ausschließung (exclusion). 437 Serres/Latour: Conversations, S. 34. 438 Vgl. ebd., S. 44 u. 80. 439 An einem Gedicht von Verlaine, das eine synästhetische Erfahrung beschreibt, veranschaulicht Serres, dass darin zeitgenössische Theorien des „background noise“ poetisch vorweggenommen seien: „[…] Verlaine intuits the reality of background noise […]; […] the observer provides a sort of genesis of language, or of everything that takes place before its appearance. Now here’s a subject that’s truly poetic; at the same time it’s a real, scientific object“ (ebd., S. 78 f.; Hervorhebungen BM).

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der Zeit als ein gefaltetes Wissen, als ein gleichermaßen explizites wie implizites Wissen, so wird deutlich, dass sich das Implizite nicht auf die unbestimmten, polysemantischen Facetten des Wissens beschränkt, sondern auch den Bereich des Nicht-Wissens einschließt.440 Serres veranschaulicht diesen Zusammenhang mit dem ersten der drei Kepler’schen Gesetze: Kepler „describes the planets as circulation in an elliptical orbit with two centers – the sun, brilliant and fiery, and a second, dark one that is never spoken about. Indeed, knowledge has two centers.“441 Analog der elliptischen Umlaufbahnen der Planeten ist auch das

|| 440 In Anlehnung an die vorausgehenden Ausführungen ließe sich auch von einer präpositionalen Struktur des Wissens sprechen. „Der Weg“, so Serres, „existiert, und er existiert nicht. So ist das. So ist das auf dem Meer von Davis bis Beaufort, so ist das in den Erscheinungen, den Wolken und Felsen, so ist das im Wissen, ganz gleich welcher Karte man folgt“ (Serres: Die Nordwest-Passage, S. 26). Entsprechend gibt es im wissenschaftlichen wie kulturellen Bereich weder Königsdisziplinen noch erste oder letzte Autoritäten und Wahrheiten (vgl. ebd., S. 202; ferner ders.: Einleitung zu Hermes II. Interferenz, S. 11). 441 Serres/Latour: Conversations, S. 162. Das geometrische Modell der Ellipse wird als „geschlossene ebene Kurve mit einem Mittelpunkt und zwei Brennpunkten“ definiert. „Für jeden Punkt auf der Ellipse ist die Summe der Abstände zu den beiden Brennpunkten konstant. Die Ellipse wird durch zwei Achsen beschrieben: die große Achse, die durch die beiden Brennpunkte verläuft und die kleine Achse, die senkrecht zur großen steht und durch den Mittelpunkt geht. Die Ellipse ist sowohl zu den beiden Achsen, als auch zum Mittelpunkt symmetrisch“ (http://www.kepler-gesellschaft.de/Kepler-Foerderpreis/2006/Platz1_Faecheruebergreifend/ Astronomie.html). Für Serres ist das Keplersche Modell, demzufolge die Sonne gerade nicht in der Mitte, sondern in einem der beiden Brennpunkte ist, Gegenparadigma zum kopernikanischen, demzufolge alle Planeten um die Sonne als Mittelpunkt (und nicht, wie bis dahin angenommen, um die Erde) kreisen. Diese revolutionäre Entdeckung des Kopernikus wurde für Kant zur Metapher seiner transzendentalphilosophischen Erkenntnistheorie, wonach sich „die Gegenstände […] nach unserer Erkenntnis richten“ (KrV B XV) müssen (und nicht unsere Erkenntnis nach den Gegenständen). Derartige auf revolutionärem Denken beruhende Positionen, wie sie Serres u.a. auch bei Descartes, Galileo, Lavoisier und Pasteur gegeben sieht, etablieren jene Brüche und Schismen zwischen Subjekt und Objekt, Gegenwart und Vergangenheit, die es durch die auf Beziehung und Kommunikation beruhende präpositionale Philosophie wieder zu überbrücken gilt. Mit dem revolutionären Denken in Philosophie und Wissenschaft sind für Serres wiederum gewaltsame Prozeduren der Ausschließung dessen verbunden, was in der Vergangenheit und im Verborgenen liegt: „The regime of revolutions is no doubt only apparent. What, if, behind them or beneath these schisms, flowed (or percolated) slow and viscious fluxes? […] Are the breaks in history […] brought about from below by an extraordinarily slow movement that puts us in communication with the past, but at immense depths? The surface gives the impression of totally discontinuous ruptures, earthquakes […] whose brief violence destroys cities and remodels landscapes but which, at a very deep level, continue an extraordinarily regular movement, barely perceptible, on an entirely different scale of time. May I say that […] we can glimpse the history of religions, for example, which forms the lowest plate – the deepest, the most buried, almost invisible […]. But what I would

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(letztlich encyclopädische) Wissen von „geteilter Exzentrizität“,442 wobei in einem Exzenterpunkt die Sonne – das explizierte Wissen – steht, im anderen das unbestimmte, implizite und ungewusste Wissen. Beide Zentren aber sind aus heuristischen, ja geradezu aus wissenschaftsexistentiellen Gründen unabdingbar.443 Vor dem Hintergrund der Enzyklopädie und im Rückblick auf die von Serres beschriebene Endoepistemologie erweist sich die für beide Bereiche charakteristische Korrelation von Wissen bzw. Wissenschaft und Ästhetik bzw. Poetik als eine Korrelation von Enzyklopädie und allgemeiner Epistemologie, zu deren wichtigsten strukturellen und funktionalen Gemeinsamkeiten gehören: 1. Ihre theoretische Fundierung in der Kategorie der Relation oder Passage, deren dynamische, autonome und formale Qualität ihre universale Applikation ermöglicht, d.h. die „Formalisierung unterschiedlicher Gesichtspunkte“, mehr noch aber die „Formalisierung der Möglichkeit der Konstruktion von Beziehung überhaupt“.444 2. Das aus dieser dezidiert poetologischen Qualität resultierende Potential, in der Verflechtung und Kombination von historischem und aktuellem Wissen eben dieses Wissen in seinen vielfältigen Einfaltungen partiell zu explizieren, es in seiner Verwiesenheit wechselseitig zu konkretisieren, damit auch zu verändern und zu transformieren und dergestalt potentiell neues Wissen und neue Formen des Denkens und der Anschauung hervorzutreiben – ein Vorgang, der, wie gezeigt wurde, seinerseits Effekte der Fremdheit und damit

|| like to catch a glimpse of, beyond that, and deeper yet, is the furncace-like interior, so hidden, that blindly moves us“ (ebd., S. 139). 442 Jürgen Mittelstraß, Klaus Mainzer: Art. „Kepler, Johannes“, in: Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, in Verbindung mit Gereon Wolters hrsg. v. J. Mittelstraß, Mannheim, Wien u.a. 1984, Bd. 2, S. 383–390, hier S. 384. 443 „Wer forscht, weiß nicht, sondern tastet sich vorwärts“ (Serres: Elemente einer Geschichte der Wissenschaften, S. 35). Eine amüsante Veranschaulichung für die Relevanz der Unordnung, des Unbestimmten, des ‚Durchmischten‘ gibt Serres am Beispiel von Zolas Roman Au bonheur des dames: Boucicaut, der Erfinder des perfekt geordneten Warenhauses, in dem man alles finden konnte und in dem nichts fehlte, wird eines Tages durch einen Dämon dazu verleitet, „die Reihen und Abteilungen durcheinanderzubringen, so dass die Käuferinnen, in diesem Labyrinth gefangen, sich mit dem Kauf von tausendundeinem Zufallsfund ruinierten, bevor sie an ihr Ziel gelangten. Ein ruinöses Verhalten, dessen häufige Wiederholung […] dem Mann ein Vermögen einbrachte. Welche Wissenschaft hätte nicht seither ihr Vermögen durch Boucicauts Verfahren zu vergrößern verstanden? […] Die großen Kaufhäuser und die neue Enzyklopädie sind zur selben Zeit entstanden: Das Paradies der Wissenschaften ist eine gewisse Unordnung“ (Serres: Theoretische Interferenz: Tafel und Komplexität, in: Hermes II. Interferenz, S. 19–84, hier S. 31–32). 444 Kilcher: mathesis und poiesis, S. 264.

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neue, andere Einfaltungen und Implikationen zeitigt; 3. Auf diese Weise machen sie auch den notwendigen und unhintergehbaren Zusammenhang von Wissen und Nicht-Wissen deutlich, erfassen den „Bereich der Evidenz“ ebenso wie den des „blinden, formalen Denkens“. Entsprechend ist die Theorie der „renvois“ – die „general theory of relations“, die „philosophy of prepositions“ – ihrerseits eine Mischung: eine Theorie des Sichtbaren und Evidenten ebenso wie eine „theory of obscure, confused, dark, nonevident knowledge – a theory of adelo-knowledge“.445 4. Analog zu Diderot, der die Innovations- und Antizipationsfunktion der enzyklopädischen Arbeit der regulativen Idee von einer kosmologischen Ganzheit und Einheit unterstellt, ist sie auch in Serres’ Projekt einer allgemeinen Epistemologie gekoppelt an die transzendentalphilosophische Intention, sich im Suchen und Finden des „Transzendentalen in den [lokalen] Beziehungen“ dem globalen und einheitlichen Fundament allen Wissens und möglichen Wissens zu nähern („to invent the common ground for future inventions“, „the transcendental space, the conditions, for possible conditions in the future“446). Angesprochen ist hier letztlich eine Generalpassage, eine Perkolation, die – auch darin der enzyklopädischen creatio continua verwandt – nur über die unablässige Etablierung lokaler Verbindungen aufzufinden ist, über Passagen also, deren formale Qualität die Verankerung im Lokalen und Singulären und zugleich eine Ausrichtung ins Universale und Globale ermöglicht.447 || 445 Serres/Latour: Conversations, S. 126 u. 148. Wissenschaftshistorisch sieht Serres in diesem Verfahren, den Zusammenhang von Wissen und Nicht-Wissen herzustellen, eine Zusammenführung der ägyptischen und römischen „gesture of burying, of concealing, of hiding, of placing something in the shadows in order to conserve it“ einerseits, der griechischen „gesture of bringing things into light“ andererseits (ebd., S. 147; vgl. ferner Michel Serres: Rome. Le livre des fondations, Paris 1983 und Statues, Paris 1987). Den Terminus „Adelo-Knowledge“ leitet Serres vom Namen der griechischen Insel Delos ab, die ursprünglich „Adelos, the hidden one“ hieß. Mit diesem Adjektiv ist nicht zuletzt der weibliche Aspekt des Wissens konnotiert (vgl. dazu v.a. Michel Serres’ Essay über Lukrez, auf den im nächsten Abschnitt näher einzugehen ist). 446 Serres/Latour: Conversations, S. 86 u. 117. In dieser Prä-Position ist sie zugleich auch als eine allgemeine Propädeutik, eine allgemeine Grundlage aller Wissenschaften und Künste aufzufassen. 447 Serres/Latour: Conversations, S. 93. Damit ist, so Serres selbst, ein weiteres Mal eine mathematische Denkweise definiert: „formal, from the standpoint of language, using signs that tend toward the universal but immersed in a unique problem.“ In diesem Kontext ist daran zu erinnern, dass die produktivsten und innovativsten Synthesen zwar „local, singular, specific, adapted, original, regional“ sind (ebd., S. 91), umgekehrt aber auch gilt: „the synthesis only takes place on a field of maximal differences“ (ebd., S. 90). Das topologische Verfahren, die Methode der Relationen, erlaubt es, Nähe-, also Lokalverhältnisse zwischen größten Entfernungen zu konstruieren. Die Relation ist damit eine abstrakte Denkfigur, der die Lokal-

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In all diesen strukturellen und funktionalen Gemeinsamkeiten erweisen sich Enzyklopädie und Epistemologie geradezu als ineinander übersetzbar, mehr noch: in der Übersetzung gehen sie wechselweise auseinander hervor, bedingen sich, nähern sich einander an.

|| Global-Beziehung per definitionem eignet (vgl. auch die entsprechenden Ausführungen zur Präposition). Die Frage nach der Beziehung zwischen dem Lokalen und dem Globalen ist damit freilich nicht befriedigend gelöst. Wie das Modell „Lilliput“ mit dem Modell „Leviathan“ zusammenzudenken ist (vgl. dazu Toulmin: Kosmopolis, S. 307–316, zur historischen Entwicklung beider Modelle bes. S. 60–82 sowie S. 297–307), belässt Serres letztlich im Unbestimmten. Nach dem Motto „a single key won’t open all locks“ (Serres/Latour: Conversations, S. 91) kann es nur lokale Methoden für lokale Probleme und dementsprechend auch nur eine Pluralität von Metasprachen, ein „localized vocabulary“ (ebd., S. 92) geben; andererseits aber existiert auch eine relativ stabile Metametasprache, eben jenen auf Relationen und Präpositionen basierenden Modus der Abstraktion, „ways of moving from place to place, or of wandering“ (ebd., S. 102 f.). Diesen Reise-Modus wiederum sieht Serres durch die Topologie, „the freedom I take with ordinary metric theory – with the usual theory of space and time“ (ebd., S. 102), ermöglicht, die er aber weder als Ontologie noch als Metametasprache verstanden wissen will (vgl. ebd., S. 102 f.). – Zum „Problem des Übergangs vom Lokalen zum Globalen“ vgl. auch Schweitzer: Topologien der Kritik, bes. S. 305–311, 325–335. Treffend bezeichnet Schweitzer den globalen Raum auch den „Dritten Raum“ (ebd., S. 308): „Dieser Raum, in dem sich die Differenzen befinden und der entsprechend umfassend ist, gewährt eine Form der Einheit, die jedoch nicht in einer einheitslogischen Subsumption der differenten Räume mündet“ (ebd., S. 309). Es handle sich, mit Serres gesprochen, „um eine ‚Totalität ohne Begriff‘, d.h. ohne Archetyp oder Referenzpunkt. […] Vielmehr ist das, was in diesem Raum zusammenführt, Folge des Modellvergleichs, der über die Isomorphie zur Struktur führt“ (ebd.). Kurz: Es ist der „‚Raum der Isomorphien‘“ und „dementsprechend nichts Statisches, sondern ebenfalls ein Transformationsraum“ (ebd., S. 309 u. 311). Seinen Begriff der Kultur – pointiert spricht Schweitzer von einem „‚topologischen‘ Kulturbegriff“ habe Serres analog zum Dritten Raum konstruiert (vgl. ebd., Kap. IV, bes. S. 338–345). – Nicht zuletzt gilt es, das dialogisch bestimmte Verhältnis zwischen dem Regionalen und dem Globalen in seiner politisch-ethischen Dimension zu unterstreichen: Die von Serres praktizierte topologische Abstraktion impliziert und zielt auch auf die Konzeption einer gemeinsamen Lebenswelt, in der das Regionale bzw. Nationale und das Globale bzw. Internationale gleichsam transversal aufeinander bezogen sind, wechselseitig voneinander profitieren und sich vor allem in ihren ökonomischen und politischen Machtansprüchen relativieren. Das erste und letzte Wort dieser Epistemologie lautet ‚Frieden‘, die Abdankung der Macht selbst. Die Notwendigkeit eines solchen Ansatzes ist mit Blick auf die gegenwärtigen politisch-wirtschaftlichen Entwicklungen unmittelbar evident: die gegenläufigen, höchst prekären, weil letztlich auf den schieren Willen zu Macht, Herrschaft und Profit gestützten Prozesse von Europäisierung und Globalisierung einerseits, Provinzialismus, Nationalismus, Partikularismus andererseits. Das weitgehende Fehlen eines Dialogs der Kulturen zementiert die Oppositionen und Antagonismen zwischen dem Regionalen und dem Globalen, dem Peripheren und Zentralen, die bekanntermaßen in alle Bereiche des (inter- und intra-) gesellschaftlichen Zusammenlebens hineinreichen und hineinwirken.

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3.2.5 Was denken? – Konfigurationen des ‚Dritten‘ Das Passagen-Denken und die damit verbundene Denk-Methode der topologischen Abstraktion stellen die Verbindung und Kommunikation zwischen heterogenen und scheinbar unvereinbaren Ordnungen, Systemen, Disziplinen, Terminologien, Ideen, Ausdrucksweisen etc. her und produzieren auf diese Weise innovatives Wissen. Damit wirken sie auf den Begriff von Wissen, Wissenschaft und wissenschaftliche Rationalität selbst zurück: Diese erweisen sich ihrerseits als ‚Zwischen-Ausdruck‘ für die synkretistische Verschmelzung von Wissen und Nicht-Wissen, Ordnung und Unordnung, ‚Chiaro‘ und ‚Scuro‘, Theorem und Mythem, mathesis und poiesis. Ohne Zweifel muß das die alten Rationalisten schockieren, doch die Rationalisten der Generation, die der meinen vorausgeht, unterhalten zur Vernunft dasselbe Verhältnis wie ein gealterter Bigotter zur Tugend. Dies Verhältnis war sehr viel mehr eines der Moral als der Forschung, eines der sozialen als der intellektuellen Strategie. Es bestand, so denke ich, ein gewisser Zusammenhang mit der Reinheit: Es fragt sich aber, wohin mit dem Schmutzigen, Unreinen? Schwankung, Unordnung, Unschärfe und Rauschen sind keine Niederlagen der Vernunft, sind es nicht mehr; wir sprechen nicht mehr von dieser Vernunft, teilen nicht länger nach -ismen ein, diesen simplen und starren Puzzles, diesen strategischen Plänen für den letzten Krieg.448

Der von Serres beschriebene Vorgang der Entpurifizierung der Vernunft und ihrer Hervorbringungen (re)integriert in die Wissenschaften all jene Aspekte, auf deren Ausschluss eine traditionelle, am Ideal der ‚Klarheit‘ und ‚Deutlichkeit‘, der Ordnung und Systematik bemessene Auffassung von Wissenschaft zielt. Diese folgt, wie Serres verschiedenen Orts am Beispiel der klassischen Mathematik und Logik, aber auch an konventionellen Kommunikations-, Zeichen- und Ökonomietheorien aufzeigt, einer abstrakt-deterministischen Logik, die zweiwertige Schemata wie Subjekt – Objekt, Signifikant – Signifikat, Produzent – Verbraucher ausbildet, einer Logik, die dem „principe du tiers-exclus“ untersteht, d.h. zu ihrem Gelingen den erfolgreich betriebenen „Exorzismus des Dämons“449 voraussetzt. „Der Akt der Beseitigung der Kakographie“,450 also der

|| 448 Michel Serres: Der Parasit [1980], übersetzt v. Michael Bischoff, Frankfurt/M. 1984, S. 27. 449 Michel Serres: Der platonische Dialog und die intersubjektive Genese der Abstraktion [1964], in: Hermes I., S. 47–56, hier S. 53. 450 Die Kakographie, so Serres, „ist das Rauschen des Schriftzugs oder eher noch: die Schrift enthält eine (wesentliche) Form und ein (wesentliches oder akzidentelles) Rauschen. Wer schlecht schreibt, der taucht die graphisch verschlüsselte Nachricht in solch ein Rauschen; er behindert die Lektüre und macht den Leser zum Epigraphiker. Schreiben heißt, eine Form den

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Versuch, das Rauschen zu eliminieren, ist die Voraussetzung für das Erkennen der abstrakten Form und zugleich die Voraussetzung für das Gelingen der Kommunikation.“451 Eine entpurifizierte, ‚unreine‘ Wissenschaft hingegen (und damit auch die Endoepistemologie) schließt das dämonische Dritte in ihre Forschung ein, indem sie alle jene Phänomene ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt, die Serres unter die Formeln noise – Rauschen – und le parasite – der Parasit,452 das Parasitäre – subsumiert: Störungen, Verzerrungen, Verschmutzungen, Unschärfen, Schwankungen, Abweichungen, kurz: Phänomene des negativen und marginalen Wissens, die das sogenannte positive Wissen in seiner ‚Positivität‘ bedrohen und darin durch entsprechende Strategien der „Rauschunterdrückung“ eliminiert werden. Der Sache nach mutet die von Serres eingeführte Terminologie wenig innovativ an – die Affinitäten etwa zu Foucaults Diskursanalyse, Habermas‘ Kommunikationstheorie oder Derridas Dekonstruktion drängen sich förmlich auf –; aufschlussreich ist jedoch, dass und wie Serres die Theoreme des Rauschens und des Parasitären wissenschaftlich und metaphysisch fundiert, sie als unhintergehbare Figuren ausnahmslos aller kulturellen Formen der Kommunikation, der Erkenntnis, des Wissens und des Handelns ausweist und entsprechend zu elementaren Kategorien seiner Epistemologie erhebt. In seiner wissenschaftlichen Begründung des Rauschens rekurriert Serres vor allem auf die Arbeiten des Biologen Henry Atlan, der auf der Grundlage der || Gefahren solcher Störungen auszusetzen. Und mündlich kommunizieren heißt, einen Sinn den Gefahren des Rauschens auszusetzen“ (ebd., S. 49). 451 Ebd., S. 52. Mathematik und Logik, aber auch die von Serres beschriebene Logoanalyse funktionieren überhaupt nur unter der Bedingung, dass bei einem „konkreten graphischen Zeichen“, das „hier und jetzt an der Tafel steht“, zwischen dem „Symbol“ als einer „abstrakten Entität“ und der „Kakographie“ als dem empirischen Rauschen des individuellen und damit akzidentellen Schriftzugs unterschieden wird (ebd., S. 52; vgl. auch S. 49). Die Erkenntnis der abstrakten Entität aber garantiert zugleich die intersubjektive Kommunikation innerhalb der ‚scientific community‘: Es ist also „ein und derselbe Akt […], eine abstrakte Entität durch die konkreten Ausprägungen ihrer Erkennungsmerkmale hindurch zu erkennen und hinsichtlich dieses Erkennens mit anderen Übereinstimmung zu erzielen“ (ebd., S. 52). Entsprechend ist die Mathematik auch „das Reich der beinahe vollkommenen Kommunikation, des manthanein, des ausgeschlossenen Dritten“ (ebd., S. 53). Umgekehrt gilt: „Treibt man den Empirismus bis zu seiner letzten Konsequenz, so ist Sinn vollständig im Rauschen versunken […] und der Dialog zur Kakophonie verdammt“ (ebd., S. 55). 452 Zum Parasiten als einer Figur des Dritten vgl. grundlegend Petra Gehring: Der Parasit: Figurenfülle und strenge Permutation, in: Die Figur des Dritten. Ein kulturwissenschaftliches Paradigma, hrsg. v. Eva Eßlinger, Tobias Schlechtriemen u.a., Berlin 2010. S. 180–192. Zu Serres’ Konzeption des Parasiten im Kontext einer Philosophie der Gabe vgl. Iris Därmann: Theorien der Gabe. Zur Einführung, Hamburg 2010, v.a. S. 134–161.

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mathematischen Informationstheorie Claude Shannons eine „theory […] of selforganization from noise“453 zur Erklärung biologischer Phänomene der Komplexität und Evolution entwickelt. Von Shannon übernimmt Atlan die relevante Entdeckung, dass das Rauschen bzw. die Störung nicht, wie bis dahin angenommen, außerhalb der Beziehung Sender – Kanal – Empfänger zu lokalisieren ist, sondern unverzichtbarer Bestandteil des kommunikativen Geschehens ist: das Rauschen ist „the necessary ground against which the signal stands out as something different“.454 In geschlossenen Systemen kann – dem 2. Hauptsatz der Thermodynamik gemäß – eine übermittelte Nachricht an Informationswert verlieren, aber nicht hinzugewinnen; durch die Erzeugung von Redundanz kann diese entropische Tendenz kompensiert werden.455 Im Unterschied dazu

|| 453 William R. Paulson: The Noise of Culture. Literary Texts in a World of Information, Ithaca, London 1988, S. viii. Zu Serres’ Auseinandersetzung mit Atlan vgl. Michel Serres: Der Ursprung der Sprache, in: ders.: Hermes IV: Verteilung, S. 272–286. 454 Vgl. Brown: Michel Serres, S. 7. In seinem nachrichtentechnischen Modell unterscheidet Shannon zwischen Nachrichtenquelle und Sender auf der einen, zwischen Empfänger und Nachrichtenziel auf der anderen Seite. Eine zu sendende Nachricht wird vom Sender aus einer Nachrichtenquelle selektiert und codiert und vom Empfänger entsprechend dekodiert. Die Störquelle ist die dritte eigenständige Instanz; im Modell erscheint sie in der Mitte von Sender und Empfänger. Von Interesse sind ausschließlich quantitative Probleme bei der Übermittlung von Signalen (vgl. William R. Paulson: The Noise of Culture. Literary Texts in a World of Information, Ithaca, London 1988, S. 54), letztlich also die Beziehung zwischen Code und Kanal, Rauschen und Kapazität. „[I]nformation is measured in a curvilinear function against the degree of equivocation present in a message or the extent to which a message is ambiguous“ (Brown: Michel Serres, S. 14). Idealtypisch können drei Situationen unterschieden werden: 1. „Zero equivocation is a situation of absolute clarity between sender and receiver. There is no interference, perfect transparency. And thus no information whatsoever, since to occur there must be absolute identity between the two parties.“ 2. „At the other extreme, maximum possible equivocation, no message can be detected under the barrage of interference. Here also there is no information, since it cannot be distinguished form background noise“ (ebd.). 3. Der maximale Informationswert – auf der Kurvenfunktion genau in der Mitte – „is midway between the two extremes of equivocation, where noise and signal are equally mixed“ (ebd., S. 14 f.). 455 Vgl. Paulson: Noise of Culture, S. 67. Die mathematische Informationstheorie definiert Redundanz als „the portion of a message given over to the repetition of what is already found somewhere else in the message“ (ebd., S. 58). Besonderes Verdienst kommt in diesem Zusammenhang wiederum Shannon zu: „Shannon’s theorems establish the existence of codes that can provide arbitrarily good protection against degradation of the message without becoming arbitrarily cumbersome or expensive through the simple multiplication of copies transmitted. In general, this is accomplished by the introduction of redundancy that is not repetitive but is instead like linguistic redundancy in that it involves relations of structures, correlations between different elements or features of a message“ (ebd., S. 60). – Zur Affinität zwischen Shan-

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sind selbstorganisierende, autonome, biologische Systeme mit Strukturen und Energien ausgestattet, „that exhibit both redundant order and informational complexity“.456 Dies gegeben, „noise – from whatever source – can create complexity, can augment the total information of a system“.457 Ob aber nun das Rauschen als ein destruktiver oder konstruktiver Faktor wahrgenommen wird, ist abhängig davon, in welcher Position sich die Kommunikationspartner – ob in der Rolle des Senders oder der des Empfängers – befinden: Aus der Perspektive des Senders, „for whom ,information‘ is identical with ,transmitted message‘, the introduction of noise in the message means a loss of information“, aus der Perspektive des Empfängers458 hingegen ist es möglich, mehr Informationen zu erhalten als von der sendenden Umwelt ausgegeben. In diesem Fall erzeugt das Rauschen, gängigerweise betrachtet als „a random disturbance in the transmission channel“,459 Ordnung und Bedeutung: „Randomness“, so Atlan, „is a kind

|| nons Informationstheorie und Boltzmanns Entropietheorie vgl.Paulson: Noise of Culture, S. 46 u. 56 f. 456 Ebd., S. 73. 457 Ebd., S. 73. Mit anderen Worten: „[…] a certain degree of initial redundancy is a necessary condition for the production of complexity from noise or disorder in a self-organizing system“ (ebd., S. 75). In komplexen biologischen Systemen, die aus einer Vielzahl von Subsystemen bestehen, findet Informationserzeugung und -austausch auf und zwischen allen Ebenen – von der „molekularen Ebene bis zum Aufbau der Zelle, zum Gewebe, zum Organ usw.“, letztlich vom Lokalen zum Globalen – statt: „Der Körper ist ein hyperkomplexes System, das aus Information und Rauschen Sprache erzeugt. Mit ebenso vielen Vermittlungsgliedern wie es Integrationsebenen gibt“ (Serres: Der Ursprung der Sprache, S. 278 u. 284). Jeder lebendige Organismus stellt ein sowohl thermodynamisches als auch informationelles System dar (vgl. ebd., S. 275), dessen Subsysteme „alle strukturiert sind nach dem Paar Information-Rauschen, ZufallProgramm oder Entropie-Negentropie“ (ebd., S. 284). ‚Wissen‘ bezeichnet damit lediglich einen Kulminationspunkt innerhalb eines kontinuierlichen, auf allen Ebenen des menschlichen Körpers stattfindenden Prozesses; Subjekt und Objekt, Geist und Materie schließen einander nicht mehr aus: „Sie sind beide Ordnung und Unordnung“ (ebd., S. 285). Zu Serres’ Körperkonzept vgl. ausführlich Thomas Bedorf: Phänomenologische Bemerkungen zum Körperbegriff Michel Serres’, in: Michel Serres, hrgs. Clausjürgens u. Röttgers, S. 141–153, sowie Kurt Röttgers: Die Menschwerdung des Menschen, in: ebd., S. 155–173. Beide beziehen sich hierbei auch auf Serres’ Vorstellung von einer „‚Homineszenz‘“ im Sinne des „Eintritt[s] des Körpers in eine Evolution der Möglichkeiten“ (Bedorf, ebd., S. 142) bzw. eines „Differential[s] der Menschwerdung, vor allem als Differential der ‚Autohominisation‘“ (Röttgers, ebd., S. 155). 458 Für den Empfänger gilt dabei das, was über die selbstorganisierten Systeme im allgemeinen gesagt wurde: „they contain within themselves instances of internal communication, of emitters, channels, and receivers. Environmental noise in fact intercepts and confounds internal communication. But this is not its only effect, nor is it the only kind of noise in an organized system, for there is also the noise with internal transmission channels“ (ebd., S. 73). 459 Ebd., S. 67.

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of order, if it can be made meaningful, the task of making meaning out of randomness is what self-organization is all about“.460 Rauschen ist demzufolge nicht nur eine konfuse Mischung von Tönen, sondern: […] anything that arrives as part of message, but that was not part of the message when sent out, can be considered as noise introduced in transmission. Noise may thus be the interruption of a signal, the pure and simple suppression of elements of a message, or it may be the introduction of elements of an extraneous message, like the ghostly voices often heard on long-distance telephone lines, or it may be the introduction of elements that are purely random.461

Auf der Grundlage dieser Argumente sowie seiner in den 60er Jahren angestellten Überlegungen entwickelt Serres in dem 1980 erschienen Buch Le parasite ein dreiwertiges Zeichen- und Kommunikationsmodell, innerhalb dessen dem Konzept des Parasiten462 eine exponierte Stellung zukommt. „Gegeben seien […] zwei Stationen und ein Kanal, der beide verbindet. Der Parasit, der sich dem Fluß der Relation aufpfropft, ist in der Position des Dritten.“463 Wo aber Kanäle || 460 Henri Atlan: Disorder, Complexity and Meaning, in: Disorder and Order, hrsg. v. Paisley Livingston, Stanford 1984, S. 110, hier zitiert nach Paulson: Noise of Culture, S. 73. Atlans eigentliche Leistung besteht darin, die von Heinz von Foerster bereits 1960 gemachte Beobachtung, dass „self-organizing systems do not only feed upon order, they will also find noise on the menue“ (Heinz von Foerster: On Self-Organizing Systems and Their Environments, in: SelfOrganizing Systems, hrsg. v. Marshall C. Yovits u. George T. Cameron, New York 1960, S. 43, hier zitiert n. Paulson, S. 69) unter Zuhilfenahme von Shannons Informationstheorie mathematisch formalisiert zu haben (vgl. Paulson: Noise of Culture, S. 75 f.). 461 Ebd., S. 67. 462 In der Biologie bezeichnet der Parasit einen biologischen Organismus, der auf Kosten eines Wirts lebt und diesen durch permanenten Nahrungsentzug sowie durch seine Ausscheidungen einerseits zwar schädigen, andererseits aber auch dessen Überleben garantieren kann. Das französische „le parasite“ bedeutet ferner ‚Störung‘ und ‚Rauschen‘ und kommt v. a. in der Fachsprache der Nachrichtentechnologie vor (z.B. émission parasite, écho parasite, impulsion parasite, signal parasite). Serres behält beide Bedeutungen bei: Parasit ist derjenige, der seine Nahrung von anderen bezieht, der nimmt, ohne zu geben, und/oder derjenige, der Lärm macht und ein gegebenes System stört oder vernichtet (vgl. Serres: Der Parasit, S. 82). Die erste Operationsweise des Parasiten bezeichnet Serres auch als analytische, die zweite als paralytische (vgl. ebd., S. 309). 463 Serres: Der Parasit, S. 84. Das damit verbundene Geschehen ist sowohl als ein kontinuierlich metamorphotisches (s. die oben beschriebenen Verwandlungsprozesse) als auch endlos sich wiederholendes ausgewiesen: Es entsteht eine potentiell nicht abzuschließende Kommunikationskette (wobei jedes Glied sowohl die Rolle des Wirts als auch des Parasiten einnimmt), deren Bedingungsmöglichkeit paradoxerweise ihre fortgesetzte Unterbrechung, d.h. die stets neue Etablierung eines medialen Dritten ist, der die jeweilige Ausgangsbotschaft verwandelt und eine untilgbare Differenz zwischen Ausgangs- und Zielbotschaft produziert. Diese dritte

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sind, so Serres, ist auch Rauschen.464 Das Parasitäre in seinen unterschiedlichen Erscheinungsweisen – der Störung, der Abweichung, der Unterbrechung usf. – ist demnach kein zufällig hinzukommender Bestandteil des kommunikativen ‚Austauschs‘, sondern essentielles Attribut der physischen Materialität des Kanals: „Die Abweichung gehört zur Sache selbst“.465 Damit ist auch die unaufhebbare Paradoxie des parasitären Dritten beschrieben: Als Medium ist er die Bedingung der Möglichkeit von Kommunikation überhaupt – „Der Parasit ist das Sein der Relation“ – und zugleich derjenige, der den „Fluß“ jeder Kommunikation und das heißt auch: Inhalt und Sinn jeder Botschaft, „mehr oder weniger [bremst]“, stört, verzerrt und unterbricht. Der Parasit ist folglich zugleich „Sein und Nicht-Sein“, das Rauschen zugleich „Sturz in die Unordnung“ und „Anfang einer neuen Ordnung“.466 Das Paradox des Rauschens ist das Paradox der Kommunikation: „Einen Dialog führen heißt einen Dritten setzen und ihn auszuschließen versuchen. Gelungene Kommunikation ist der erfolgreiche Ausschluß dieses Dritten.“467 Da aber die vollkommene Kommunikation, d.h. jene, die keiner Vermittlung, keiner ‚Kanalisierung‘ und Relation bedürfte, schlech-

|| produktiv-metamorphotische Funktion – Serres nennt sie auch die katalytische (vgl. ebd., S. 309) – konstituiert zusammen mit der analytischen und paralytischen Operationsweise die parasitäre Logik. 464 Vgl. dazu und im Folgenden ebd., S. 120. 465 Ebd., S. 28. Der Kanal zwischen den beiden Stationen geht – analog der parasitären Ökonomie – nur in eine Richtung, d.h., es gibt keinen Austausch im Sinne des wechselseitigen Gebens und Nehmens (vgl. ebd., S. 14 sowie Abb. S. 36); sehr wohl aber gibt es einen Austausch der Positionen – „Wer zuvor Gast war, wird […] zum Unterbrecher; was Rauschen war, wird Gesprächspartner; was zum Kanal gehörte, wird zum Hindernis, und umgekehrt“ (ebd., S. 85) –, der das System mit sich selbst rückkoppelt (vgl. ebd., S. 81–85). So sind die Parasiten (das Rauschen) stets da, wenn das Signal nicht da ist; umgekehrt bringt nur das deutliche Signal die Parasiten zum Verschwinden. Das System – das ökonomische, das politische, das kommunikative – oszilliert zwischen Konsolidierung und Zerstörung und ist dabei permanenten Veränderungen und Verwandlungen unterworfen. Die Frage, ob es einen ersten Parasiten, eine ursprüngliche Produktion gibt, lässt sich Serres zufolge ebenso wenig beantworten (vgl. ebd., Abb. S. 12) wie die Frage nach einem ersten Sender (vgl. Serres: Der Ursprung der Sprache, S. 284 f.). 466 Ebd., S. 121. 467 Michel Serres: Der platonische Dialog und die intersubjektive Genese der Abstraktion [1964], in: ders.: Hermes I. Kommunikation, übers. v. Michael Bischoff, Berlin 1991, S. 47–56, hier S. 50. „As soon as the phenomenon appears, it leaves the noise, as soon as a form looms up or pokes through, it reveals itself by veiling noise“, so Serres in einer Analyse von Balzacs „The Unknown Masterpiece“. „[…] la belle noiseuse is the multiple, a thundering mix, chaos… The raucous, anarchic, noise […] is possibility itself, it is a set of possible things, it may be the set of possible things“.

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terdings nicht existiert,468 ist jede Mitteilung immer schon eine „Mischung aus Signal und Rauschen“ und mit jeder weiteren medialen Übermittlung weiteren, dem Rauschen geschuldeten Transformationen und Differenzierungen ausgesetzt: „Der Parasit erfindet etwas Neues. Er eignet sich Energie an und bezahlt sie mit Information.“469 So wenig existent die von jeglichem Geräusch purifizierte Kommunikation und Episteme ist, so wenig existent ist auch das absolute Rauschen.470 In Serres’ Terminologie entspricht dieses der „black multiplicity“ oder „undifferentiated multiplicity“ und fällt mit der absoluten Ordnung zusammen.471 Davon durch eine minimale Differenz unterschieden ist die „white multiplicity“ oder „blankness“, eine virtuelle Ordnung, in der alle Möglichkeiten präsent sind: „But it does not (yet) approach a clearly ordered form. It is a kind of in-between state, neither pure noise nor pure order, a third position ranged between the two. This is also precisely the point where Shannon and Weaver identify maximum informational value […].“472 Die aus dem Chaos hervorgehende Ordnung setzt die minimale Abweichung – das clinamen473 – voraus. „Die Abweichung gehört zur Sache selbst, und vielleicht bringt sie diese erst hervor. […] Am Anfang ist das

|| 468 Die „vollkommene, optimale, gelungene Kommunikation“ ist folglich die „Null-Relation“: „Der Kanal verschwände in der Unmittelbarkeit“ (Serres: Der Parasit, S. 120). Vgl. auch Därmann: Es kann Serres zufolge „kein Pfingstwunder der reinen Unmittelbarkeit geben: Pfingsten steht […] für eine parasitenlose kommunikative Unmittelbarkeit, die ohne Vermittler, Verteiler und Kanäle auskommt. Als Wunder hat Pfingsten keinen Platz in der Wirklichkeit; es kann jedoch als magnetisches, ja göttliches Bild störungsfreier Kommunikation eine Rolle in der wirklichen Kommunikation spielen und auf diese Weise selbst den parasitären Charakter eines Störenfrieds erhalten, der das Sprechen lateral über sich hinaustreibt“ (Därmann: Theorien der Gabe, S. 155). 469 Ebd., S. 59 f. 470 Auch in der Physik bezeichnet der analog zum weißen Licht geprägte Ausdruck „white noise“ den empirisch nicht nachweisbaren „sound of the sum-total of all possible frequencies“ (Brown: Michel Serres, S. 13). Dabei handelt es sich um Rauschprozesse mit konstanter spektraler Rauschleistungsdichte, die in der Realität nicht existieren können. Aus Gründen der terminologischen Vereinfachung verwendet man den Begriff auch für solche Prozesse, deren Leistungsdichte innerhalb eines mehr oder weniger großen Frequenzbereichs praktisch als konstant angesehen werden können (z.B. das thermische Rauschen oder das Schrotrauschen). 471 Diese These wurde bereits 1949 durch Shannon und Weaver belegt. Vgl. C. Shannon und W. Weaver: The Mathematical Theory of Communication, Urbana 1949, sowie zusammenfassend Brown: Michel Serres, S. 14. 472 Brown: Michel Serres, S. 14. 473 Vgl. dazu die nachfolgenden Ausführungen zu Serres’ Lukrez-Interpretation sowie Hanjo Berressem: „Incerto Tempore Incertisque Locis.“ The Logic of the Clinamen and the Birth of Physics, in: Mapping Michel Serres, hrsg. v. Niran Abbas, Ann Arbor 2005, S. 51–71, bes. S. 56–61.

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Rauschen.“474 Das Rauschen ist damit auch als eine produktiv-poietische Figur und nicht zuletzt als eine ontologische Kategorie ausgewiesen: Es konstituiert den „Grund des Seins“, den „Grund der Beziehung“,475 der sich als Abweichung, Störung, Unterbrechung und Chaos manifestiert, aber gerade darin sein produktives Potential aktualisiert. Diese Interpretation des Rauschens ist, wie der folgende kurze Exkurs zeigt, abermals durch Leibniz vorgeprägt. Exkurs Bereits Leibniz hatte sich der Geräuschmetapher zur Veranschaulichung der Ursprünglichkeit von Wahrnehmung, Erkenntnis und Sprache in einem schlechterdings nicht einzuholenden, undifferenzierten „dunklen Grund“ bedient. Man könnte die Schönheit des Alls in jeder Seele erkennen, wenn man all ihre Falten, die sich wahrnehmbar nur mit der Zeit öffnen, auseinanderlegen könnte. Da aber jede deutliche Perzeption der Seele eine unendliche Zahl verworrener Perzeptionen einschließt, die das ganze All in sich einhüllen, kann die Seele sogar die Dinge, von denen sie eine Perzeption hat, nur insoweit erkennen, als sie deutliche und ins Bewußtsein gehobene Perzeptionen besitzt; und Vollkommenheit kommt ihr nach dem Maße ihrer deutlichen Perzeptionen zu. Jede Seele erkennt das Unendliche, erkennt alles, aber auf verworrene Weise; gerade so wie ich, wenn ich am Ufer des Meeres spazieren gehe und den großen Lärm höre, den es macht [entendant le grand bruit qu’elle fait], die besonderen Geräusche einer jeden Welle höre, aus denen das Gesamtgeräusch (bruit total) zusammengesetzt ist, aber ohne sie im einzelnen zu unterscheiden.476

|| 474 Serres: Der Parasit, S. 28. Vgl. auch Michel Serres: Genesis, übers. v. Geneviève James u. James Nielson, Ann Arbor 1995, S. 13 f.: „Noise cannot be a phenomenon; every phenomenon is separated from it, a silhouette on a backdrop, like a beacon against the fog, as every message, every cry, every call, every signal must be separated from the hubbub that occupies silence, in order to be, to be perceived, to be known, to be exchanged. As soon as the phenomenon appears, it leaves the noise; as soon as form looms up or pokes through, it reveals itself by veiling noise. So noise is not a matter of phenomenology, so it is a matter of being itself. It settles in subjects as well as in objects, in hearing as well as in space, in the observers as well as in the observed, it moves through the means and the tools of observation, whether material or logical, hardware or software, constructed channels or languages; it is part of the in-itself, part of the for-itself; it cuts across the oldest and surest philosophical divisions, yes, noise is metaphysical. It is the complement to physics, in the broadest sense. […] It is at the boundaries of physics, and physics is bathed in it […].“ 475 Serres: Der Parasit, S. 83. 476 Leibniz: In der Vernunft begründete Prinzipien der Natur und Gnade, § 13, S. 431 f. Vgl. auch Leibniz: Monadologie, § 61, S. 467. Ein weiterer Beleg für das Motiv des Meeresrauschens findet sich in einem Brief von Leibniz an Arnauld vom April 1687 (vgl. Leibniz: Die philosophischen Schriften, Bd. 2, S. 90–102, hier: S. 91). Andernorts wählt Leibniz zur Erörterung der

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Das ‚Klangbild‘ vom rauschenden Meer erfüllt dabei eine primär heuristische Funktion: Es soll die paradoxe Vorstellung einsichtig machen, dass jede Monade das Unendliche und mit ihm jenen „sombre fond“, aus dem die Seele alles bezieht, als ein Ganzes wahrzunehmen in der Lage ist, dies aufgrund ihrer jeweiligen Endlichkeit einerseits, der unendlichen Verfaltung des Seelengrundes andererseits nur „in verworrener Weise“ vermag. Erkenntnisphilosophisch – und das meint bei Leibniz wahrnehmungsphilosophisch – sind es die mit dem „verworrenen Gemurmel“ [le murmure confus] des Meeres477 ins Bild gesetzten „kleinen Perzeptionen“,478 die den „dunklen Grund“ der monadischen Welt konstituieren und die – obgleich „wir [sie] in der Menge nicht unterscheiden können“479 – von größter „Wirksamkeit“ sind: In ihrer Zusammensetzung liefern diese „schwachen und verworrenen Empfindungen“ nicht nur die „Vorstellungsbilder von sinnlichen Qualitäten“ und „jene Eindrücke, die die umgebenden Körper auf uns machen“, sondern gewährleisten darüber hinaus aufgrund ihrer Unendlichkeit480 die raumzeitliche Kontinuität und damit die „Verbindung, die jedes Seiende mit dem ganzen Universum besitzt“ ebenso wie die stimmige Abfolge individueller Seinszustände und die Korrespondenz von Seele und Körper: Man kann sogar sagen, daß vermöge dieser kleinen Perzeptionen die Gegenwart mit der Zukunft schwanger geht und mit der Vergangenheit beladen ist, daß alles miteinander

|| „kleinen Perzeptionen“ das Bild vom „Murmeln einer versammelten Volksmenge“ (vgl. Gottfried Wilhelm Leibniz: Betrachtungen über die Lehre von einem einigen, allumfassenden Geiste [1702], in: ders.: Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie, übersetzt v. A. Buchenau, durchges. u. mit Einleitungen u. Erläuterungen hrsg. v. Ernst Cassirer, Bd. II, Darmstadt ³1966, S. 48–62, bes. S. 57 sowie Leibniz: Aufklärung der Schwierigkeiten, die H. Bayle in dem neuen ‚System der Vereinigung von Seele und Körper‘ gefunden hat [Juli 1698], in: ebd., S. 276–286, hier: S. 281). 477 So Leibniz in seiner „Metaphysischen Abhandlung“, wo er die kleinen Perzeptionen ebenfalls mit dem Meeresrauschen vergleicht (Leibniz: Metaphysische Abhandlung, in: Philosophische Schriften, Bd. I, S. 49–172, hier S. 153). 478 Leibniz: Neue Abhandlungen, Vorwort, S. XXIII. 479 Ebd. Der Grund dafür, dass sich die komplex zusammengesetzten kleinen Perzeptionen unserem Unterscheidungsvermögen entziehen, liegt zum einen in ihrer Verworrenheit – sie alle rufen „fast gleich starke Eindrücke hervor“, sind also „fast gleich fähig […], die Aufmerksamkeit der Seele zu bestimmen“ (Leibniz: Metaphysische Abhandlung, S. 153) –, zum anderen darin, dass sie ins Unendliche diffundieren, somit also auch die Vorstellungstätigkeit eine unendliche, niemals abzuschließende Aufgabe ist. 480 „Unsere verworrenen Perzeptionen sind das Ergebnis der Eindrücke, die das ganze Weltall auf uns macht. Genau dasselbe ist bei jeder Monade der Fall. Allein Gott hat eine deutliche Erkenntnis von allem, denn er ist dessen Quelle“ (Leibniz: In der Vernunft gegründete Prinzipien der Natur und Gnade, S. 433). Die „verworrenen Empfindungen [sind] das Ergebnis einer Vielfalt von Perzeptionen, die ganz und gar unendlich ist“ (Leibniz: Metaphysische Abhandlung, S. 153). Da die Faltungen der Seele wie auch die der Materie ins Unendliche diffundieren, ist auch die Vorstellungstätigkeit eine unendliche, niemals abzuschließende Aufgabe, und das deutlich Vorgestellte – im Sinne des Entfalteten und Ausgedrückten – stets an das noch Eingefaltete, die dunklen und verworrenen kleinen Perzeptionen, gebunden.

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zusammenstimmt […] und daß so durchdringende Augen wie die Gottes in der geringsten Substanz die ganze Abfolge der Dinge des Universums lesen könnten […]. Diese unmerklichen Perzeptionen bezeichnen auch und konstituieren das identische Individuum, das durch Spuren oder Ausdrucksformen charakterisiert wird, die sie von den vorhergehenden Zuständen dieses Individuums aufbewahren und wodurch sie die Verbindung mit seinem gegenwärtigen Zustand herstellen.481 […] Durch die unmerklichen Perzeptionen erklärt sich auch jene wunderbare prästabilierte Harmonie der Seele und des Körpers, wie auch aller Monaden oder einfachen Substanzen, die an die Stelle des unhaltbaren gegenseitigen Einflusses tritt.482 Diese „unmerklichen Perzeptionen“ sind es schließlich, die unsere gewöhnlichen, scheinbar internalisierten Handlungen und Entscheidungen „bestimmen“ und aus denen „auch die merklichen Perzeptionen stufenweise […] entstehen“.483 Im ästhetisch-auditiven Erleben des Meeresrauschens wird die unumstößliche Herkunft alles Endlichen und Vereinzelten aus einem metaphysisch-unendlichen Grund484 ebenso vernehmbar wie die zugleich gegebene Verbundenheit und Verschiedenheit alles Seienden: die graduelle Differenz von Gott und Mensch, von „verworrenen“ und klar-distinkten Perzeptionen, von Unbewusstem und Bewusstem, von Unendlichem und Endlichem. Das ozeanische Rauschen macht damit eine potentielle Totalität sinnfällig, aus der alles mannigfaltig Gestaltete, Abgesonderte, Distinguierte und Artikulierte als seine partielle Aktualisierung hervorgeht, sich ganz buchstäblich davon abstrahiert.

|| 481 Vgl. erläuternd dazu Leibniz: Neue Abhandlungen, Vorwort, S. XXXIII: „Da die Differenz zwischen zwei Zuständen der Seele immer nur vom mehr zum weniger Merklichen, vom mehr zum weniger Vollkommenen (oder umgekehrt) übergeht und übergegangen ist, macht sie deren vergangenen oder zukünftigen Zustand ebenso erklärlich wie ihren gegenwärtigen.“ 482 Ebd., S. XXV u. XXVII 483 Ebd., S. XXVII u. XXIX. 484 Zum Ursprung der verworrenen Perzeptionen vgl. Leibniz: Metaphysische Abhandlung, S. 151 f.: Danach ist „alles, was der Seele und jeder Substanz zustößt, eine Folge ihres Begriffes […]; so beinhaltet die Idee selbst oder das Wesen der Seele, daß alle ihre Erscheinungen oder Perzeptionen ihr spontan aus ihrer eigenen Natur erwachsen müssen, und zwar gerade auf solche Weise, daß sie von sich aus dem entsprechen, was sich im ganzen Weltall, auf ganz besondere und vollkommene Weise aber das, was sich im Körper, mit dem sie behaftet ist, ereignet, weil die Seele auf bestimmte Art und für eine bestimmte Zeit den Zustand des Weltalls gemäß den Beziehungen anderer Körper zu ihrem eigenen ausdrückt.“ Diese jeder Substanz eigene „vollkommene Spontaneität“ wird, so Leibniz, „in den intelligenten Substanzen zur Freiheit“ und „nichts […] bestimmt [sie] außer Gott allein“ (ebd., 151). Vgl. ferner Brief Leibniz’ an Arnauld im April 1687: „Tout arrive dans chaque substance en consequence du premier estat que Dieu luy a donne en la creant, et le concours extraordinaire mis à part, son concours ordinaire ne consiste que dans la conservation de la substance meme, conformement à son estat precedent et aux changemens qu’il porte“ (Leibniz an Arnauld, Brief vom April 1687, in: Die philosophischen Schriften von Gottfried Wilhelm Leibniz, Bd. 2, hrsg. v. C. J. Gerhardt, Hildesheim, New York 1978, S. 90–102, hier S. 91 f.).

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Analog zu Leibniz’ rauschendem „dunklem Grund“ nimmt auch in Serres’ Modell das Rauschen bzw. der Parasit als der „Grund des Seins“ eine transzendentale Position ein: „Es gibt ein Drittes vor dem Zweiten; es gibt einen Dritten vor dem anderen. […] Es gibt stets ein Medium, eine Mitte, ein Vermittelndes.“485 Mit dieser kommunikations- bzw. medienontologischen Fundierung des Dritten ist es nun auch möglich, Serres’ Epistemopoetik näher zu spezifizieren. Denn mit den genannten Erscheinungsweisen des Dritten – Abweichung, Unterbrechung, Störung, Chaos usf. – sowie seinen Funktions- und Operationsweisen – Transformation, Metamorphose, poiesis, Innovation, Dekonstruktion – sind abermals Kategorien ins Spiel gebracht, die primär mit dem Ästhetischen assoziiert werden. Dabei ist das Ästhetische nicht länger auf wahrnehmungsphysiologische und -psychologische Vorgänge einerseits, auf künstlerische Hervorbringungen und Bestimmungen des Schönen andererseits zu reduzieren, sondern als die Grundverfasstheit – die elementare und universale Seinsweise von Welt und Wirklichkeit ausgewiesen. „Wir kommen über die Ästhetik nicht hinaus […] wir haben das Wesen einer Welt, welche die Menschen allmählich geschaffen haben: ihre Ästhetik.“486 Dieses Diktum Nietzsches ließe sich auch für Serres in Anspruch nehmen, denn damit ausgeschlossen ist nicht nur die Beschränkung des Ästhetischen auf die Territorien des Körpers, des Sinnlichen und des Künstlerischen, sondern auch die Trennung von Kunst und Wissenschaft, von Geistes- und Naturwissenschaften. Der Logik Serres’ und auch Leibniz’ zufolge handelt es sich bei Kunst und Wissenschaft sowie bei der Wissenschaft in ihrer pluralen Ausdifferenzierung nicht um fundamental verschiedene Ordnungen und Weisen des Wissens und der Wissenserzeugung, sondern lediglich um verschiedene Abstraktionsgrade (Leibniz) bzw. um die mehr oder weniger erfolgreiche Unterdrückung des Rauschens. Entsprechend ist auch die Mathematik „das Reich der beinahe vollkommenen Kommunikation, des manthanein, des ausgeschlossenen Dritten“, und umgekehrt gilt: Treibt man den Empirismus bis zu seiner letzten Konsequenz, so ist Sinn vollständig im Rauschen versunken; dann ist der Kommunikationsraum von körniger Beschaffenheit, und der Dialog ist zur Kakophonie verdammt: Die Weitergabe von Information ist ewiger Wandel. Das Empirische ist demnach im strengen Sinn das Rauschen, das zugleich wesentlich und akzidentiell ist. Der erste ‚Dritte‘, den es auszuschließen gilt, ist der Empirist;

|| 485 Serres: Der Parasit, S. 97. 486 Friedrich Nietzsche: Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne [1873], in: Friedrich Nietzsche: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, hrsg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari, München 1980, Bd. 1, S. 873–890, hier S. 884.

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das erste Dritte, das ausgeschlossen werden muß, ist die Empirie; und dieser Dämon ist der stärkste unter allen Dämonen.487

Empirie aber, so wird im unmittelbaren Fortgang des Textes deutlich, meint vorrangig Individualität, Sinnlichkeit, Schönheit und Kunst: Damit ein Dialog möglich wird, müssen wir die Augen verschließen vor der Schönheit der Sirenen und unsere Ohren verstopfen vor ihrem Gesang. Im gleichen Zuge eliminieren wir das Gehör und das Rauschen, den Gesichtssinn und das stets mit Mängeln behaftete konkrete Zeichen.488

Für alle spezifischen Ausprägungen von Kunst und Wissenschaft aber ist der Chiasmus von Ästhetischem und Epistemischem konstitutiv, worin sie differieren ist letztlich ihre unterschiedliche Ausrichtung: Die Wissenschaft, bestrebt, den Parasiten zu eliminieren, tendiert in Richtung ‚reine‘ Kommunikation; die Kunst, bereit, den Parasiten zu inkorporieren, tendiert in Richtung Rauschen.489 Die von Serres vorgenommene zeichen- und medientheoretische (und ontologische!) Fundierung des Rauschens und des Parasitären als der Grund jeder Beziehung, jeder Ordnung, jeder Erkenntnis kann mit einer ganzen Reihe linguistischer und literaturwissenschaftlicher Modelle in Verbindung gebracht werden. Serres’ Beschreibung des Rauschens, darauf verweist bereits Paulson,490 ist der von dem russischen Formalisten Roman Jakobson so bezeichneten poetischen Funktion der Sprache äquivalent. Wie das Rauschen ist die poetische Funktion keine sekundäre, aus der referentiell-denotativen Funktion ‚künstlerisch‘ abgeleitete oder auf diese bezogene Funktion, sondern die Einfaltung aller Funktionen des sprachlichen Zeichens und als solche autonom und selbstreferentiell. „The set (Einstellung) toward the message as such, focus on the

|| 487 Serres: Der platonische Dialog, S. 55. 488 Ebd. 489 Von dieser Tendenz sind die experimentell verfahrenden Wissenschaften keineswegs ausgeschlossen. Wissenschaft beansprucht, unabhängig von ihrer jeweiligen Begründungspraxis (sei diese, wie etwa in der Experimentalphysik, empirisch oder, wie in der reinen Mathematik, nicht-empirisch), stets eine am Ideal der Exaktheit, Notwendigkeit und Allgemeinheit orientierte und intersubjektiv mitteilbare Aussagen-Wahrheit. – Ferner ist darauf hinzuweisen, dass Serres, indem er den „Empirismus bis zu seiner letzten Konsequenz“ treibt und das „Empirische“ mit dem ‚weißen Rauschen‘ zusammenfallen lässt, den Begriff der Empirie ins Metaphorische kippt: Wie das weiße Rauschen ist Empirie dann paradoxerweise etwas, das empirisch nicht existiert. 490 Vgl. Paulson: Noise of Culture, S. 83.

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message for its own sake, is the poetic function of language.“491 Aufschlussreich ist nun, dass Jakobson in der Folge seiner Phonemanalyse, die er im expliziten Rekurs auf die Informationstheorie Shannons vornimmt,492 sein zunächst fünfstelliges Kommunikationsmodell um einen sechsten Faktor, den Kanal, ergänzt und diesem die phatische Funktion, d. h. die Etablierung und Aufrechterhaltung der Sprachverbindung zwischen ‚addresser‘ und ‚addressee‘, zuweist. Der differentiellen Einheit von Rauschen und Kanal in Serres’ Modell entspräche hier folglich diejenige von ‚message‘ und ‚contact‘ bzw. von poetischer und phatischer Funktion. Und wie die poetische Funktion zwar ein allgemeines Konstituens von Sprache beschreibt, in der literarischen aber in prominenter Weise realisiert ist, so ist auch das parasitäre Rauschen untilgbarer Faktor aller kommunikativen Prozesse, der Literatur jedoch in besonderem Maße, ein Aspekt, der in Serres’ Modell durch den poietisch-produktiven Charakter des Rauschens zusätzlich akzentuiert erscheint. Übersetzt in die Sprache der Informationstheorie: „Esthetic information is specific to the channel which transmits it; it is profoundly changed by being transferred from one channel to another.‟493 Entsprechend verweigert sich die ästhetische Information jeder Übersetzung in eine andere Sprache, „[it] cannot be translated into any other ,language‘ or system of logical symbols because this other language does not exist.‟494 Der poetischen Sprachfunktion eignet damit auch eine akommunikative Qualität495 und nicht zuletzt – in der zugespitzten Formulierung

|| 491 Roman Jakobson: Closing Statement: Linguistics and Poetics, in: Style and Language, hrsg. v. Thomas A. Sebeok, Cambridge/MA ²1964, S. 350–377, hier S. 356. 492 Vgl. Roman Jakobson: Linguistics and Communication Theory, in: Structure of Language and Mathematical Aspects. Proceedings of the 12. Symposium in Applied Mathematics. Held in New York City April 14–15, 1960, Providence 1961, S. 245–252, bes. S. 245. Die Unterscheidung zwischen distinkten und redundanten Merkmalen eines Phonems ist nach Jakobson analog dem dichotomen Prinzip der binären Zahlen, der bits. Die redundanten Merkmale sind keine arbiträren, zufällig zu den distinkten hinzukommenden; hingegen ist jedes Phonem notwendig als Einheit einer Wechselwirkung aus beiden Merkmalen aufzufassen (vgl. ebd., S. 246). 493 Abraham Moles: Information Theory and Esthetic Perception, übers. v. J. Cohen, Urbana 1966, S. 131, zit. n. Paulson: Noise of Culture, S. 82. Ästhetische Information bildet hierbei den Komplementärbegriff zur semantischen Information. 494 Moles: Information Theory, S. 129, zit. n. Paulson: Noise of Culture, S. 82. 495 Drastisch formulieren es die Mitglieder der Gruppe μ: „The final consequence of this distortion of language is that the poetic word is disqualified as an act of communication. In fact, it communicates nothing, or rather, it communicates nothing but itself. We can also say that it communicates with itself, and this intracommunication is nothing other than the very principle of form. By inserting at each level of discourse, and between levels, the constraint of multiple correspondences, the poet closes discourse itself. It is precisely this closure that we

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Paul de Mans – eine „resistance to theory“.496 Die ‚reine‘ poetische Funktion – das maximale Rauschen – wäre dann realisiert, wenn ein Text semantisch absolut indeterminiert wäre, gleichsam nichts mehr bedeutet, gerade deshalb aber potentiell alles bedeuten kann.497 Erzähltheoretisch, um eine weitere Übersetzungsmöglichkeit anzudenken, ließe sich das Rauschen als ein akustisches Analogon zur Leer- und Unbestimmtheitsstelle auffassen, deren prinzipielle Disposition zur Vieldeutigkeit gleichwohl durch den Kontext, in dem sie steht, partiell eingeschränkt wird. Als Thema oder Motiv eines Textes wären Geräusche demzufolge (und paradoxerweise) zur sprachlichen Erscheinung gebrachte Leer- oder Unbestimmtheitszeichen, explizite Manifestationen und ‚Verlautbarungen‘ des „stummen und verschatteten Teils“498 eines Textes, ein sprachlicher Stör- und Irritationsfaktor, der die Handlungs- oder Diskurskohärenz ebenso gefährdet wie er die Kommunikation zwischen Text und Leser stört und auf diese Weise neue Wahrnehmungsund Deutungsmöglichkeiten produziert. Zur Unterstützung dieser Deutung ist anzumerken, dass Serres in anderem Zusammenhang den Parasiten auch als „joker“ bezeichnet und davon eine Definition gibt, mit der auch die literarische Leerstelle präzise umschrieben ist: „I have given the name joker, or blank domino, to a sort of neutral or, rather, multivalent element, undetermined by itself, that can take on any value, identity or determination, depending on the sourrounding system that it finds itself inserted in.“499 Joker-Parasiten operieren in der realen Welt in der gleichen Weise wie in der fiktiven: Sie sind nicht identifizierbar, können sich in mannifaltigen Gestalten konkretisieren, stören jegliche

|| call the opus“ (Group μ: A General Rhetoric, übers. v. T. Burrell u. E. Slotkin, Baltimore 1981, S. 12, zit. n. Paulson: Noise of Culture, S. 83 f.). 496 Vgl. Paul de Man: The Resistance to Theory, in: Yale French Studies 63 (1982), S. 3–20, hier S. 17: „The resistance to theory is a resistance to the rhetorical or tropological dimension of language.“ 497 Exemplarisch kann Mallarmés poetisches Ideal angeführt werden: Dichtung galt ihm als „schweigender Aufflug ins Abstrakte“, als ein „Erlöschen“, idealisiert zum „schweigenden Gedicht, aus lauter Weiß“ nurmehr umspielt vom Murmeln der Sprache und damit als Öffnung jenes potentiell unendlichen Sinn-Raums, von dem sein Schüler Valéry später und mit Blick auf seine eigene Dichtung sagen kann: „Meine Verse haben den Sinn, den man ihnen gibt“ (zitiert n. Hugo Friedrich, Die Struktur der modernen Lyrik. Von der Mitte des 19. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts, Reinbek b. Hamburg 221996, S. 118). 498 Formulierung nach Gilles Deleuze: Die Falte, S. 172. 499 Michel Serres: Rome. The Book of Foundations [1983], übers. v. F. McGarren, Stanford/CA 1991, S. 93.

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Art von eindeutigen Beziehungen,500 seien diese sprachlicher, ökonomonischer, sozialer, militärischer oder religiöser Natur, indem sie diese aufbrechen, disseminieren und komplizieren. Sie sind die eigentlichen Akteure im Spiel der Zeichen. Der kommunikationstheoretischen Bestimmung des Rauschens bzw. des Parasiten als Störung, Unterbrechung, Abweichung etc. lassen sich ferner inhaltliche, auch etymologisch abzuleitende Merkmale, die das Rauschen innerhalb von Verweisungs- und Intepretationskontexten situieren, die insbesondere an den Bereich des Metaphysischen, des Dionysisch-Rauschhaften, des Psychopathologischen und nicht zuletzt – auf der fundamentalen Ebene des Fragens und Zweifelns – auch des Hermeneutisch-Erkenntnistheoretischen rühren. Allen diesen Kontexten ist gemeinsam, dass sie das Individuelle, Subjektive, Objektive, Rationale, Homogene, Kontrollierbare, Abgegrenzte und Stabile übersteigen und bedrohen, dass sie also ihrerseits Phänomene und Erfahrungen zu umschreiben versuchen, die sich einer konkreten empirischen und wissenschaftlichen Festlegung entziehen und die auch im Verlauf ihrer jeweils sehr langen Ideen- und Diskursgeschichten ihre Affinität zum Unheimlichen, Unbewussten, Animalischen, Wunderbaren, Erhabenen und Rätselhaften nicht eingebüßt haben. Es sind, wenn man so möchte, konzeptionalisierte ‚QuasiGeräusche‘ oder abstrakt semantisierte Geräusch-Surrogate, die sich jeder einsinnigen Referenzierung, Logifizierung und ‚Verwesentlichung‘ widersetzen und dadurch das Rauschen im Signal gleichsam präsent halten, so wie umgekehrt das Rauschen selbst als der undifferenzierte Konvergenzpunkt all dieser heterogenen Diskurse beschrieben werden könnte. Das Rauschen disseminiert und distribuiert sich gleichsam in der Vielzahl der Diskurse des ‚Anderen‘ und rückt damit abermals in die Nähe des Ästhetisch-Literarischen als dem Ort, an dem diese Diskurse sich in ihrer ‚konkretesten‘, anschaulichsten und authentischsten Form realisieren.501 Das Rauschen selbst ist niemals ‚selbstredend‘ oder ‚selbsterklärend‘; vielmehr besteht sein gleichermaßen affektives wie hermeneutisches Potential gerade in einer grundsätzlichen Alterität und Bedeu-

|| 500 Eindeutige Beziehungen sind, wie gezeigt, immer nur relativ eindeutig. Sie implizieren das Parasitäre. „Der Parasit übt Mimikry. Er täuscht nicht nur vor, ein anderer zu sein, er täuscht vor, derselbe zu sein“ (Serres: Der Parasit, S. 310). Zu den „Mechanismen, Techniken und Operationen des Parasiten“ im Kontext von Serres’ „Genealogie des Eigentums“ vgl. Därmann: Theorien der Gabe, S. 149–153). 501 Indem die Literatur Rauscheffekte erzeugt, ist sie der Wirklichkeit und der Wahrheit näher als jede Wissenschaft. „[M]ir erscheint die Literatur manchmal tatsächlich als die höchste Form des Wissens überhaupt. […] Dort, wo die Wissenschaft nicht hinreicht, dort soll die Literatur einspringen“ (Serres in: Jakob: Aussichten des Denkens, S. 191).

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tungsleere und damit in der Kraft und Energie, Prozesse des Fragen und Deutens allererst zu stimulieren. Schließlich lassen sich die kommunikationstheoretischen Funktionen des Rauschens in besonderer Weise für die Literatur in Anspruch nehmen. Auf die Sprache bezogen, so Roland Barthes, wäre das Rauschen „dieser Sinn, der eine Leerstelle des Sinns zu Gehör brächte oder – was dasselbe ist – dieser Un-Sinn, der in der Ferne einen Sinn erklingen ließe“.502 Dieses Interferieren zwischen Sinn und Unsinn vermag optimal letztlich nur die poetische Sprache zu realisieren. Die Literatur ist das Rauschen, das als Hintergrundrauschen in allen Prozessen der Signifikation, der Kommunikation, des Verstehens und des Erkennens untilgbar präsent ist; sie ist das Rauschen, das sich störend in etablierte Beziehungen einmischt, diese unterbricht und transformiert und solcherart dem ‚A-Videnten‘ und Ungehörten, dem Unverständlichen und Unverstehbaren, dem Fremden und Verdrängten, dem Überschüssigen und Unbewussten Gehör verschafft und es zu Gehör für andere bringt. Dies vermag sie allerdings nur zu leisten, indem sie das latente, exkommunizierte Rauschen in manifeste Zeichenfunktionen übersetzt und in einem kommunizierbaren, interpretierbaren oder auch ‚lediglich‘ emotiven Geschehen kontextualisiert.503 Als Verlautbarung, Signifikation und bildhafte Gestaltung des Rauschens ist die Literatur folglich immer auch Gegenrauschen zur Sinn- und Bedeutungsleere, zur Sinn- und Bedeutungsallmacht des ‚reinen‘ Rauschens ebenso wie der ‚reinen‘ Kommunikation:504 Ihr Ort ist letztlich die prekäre Schwelle zwischen Rauschen und Signal, Chaos und Ordnung, Unsinn und Sinn.

|| 502 Roland Barthes: Das Rauschen der Sprache [1975], in: ders.: Das Rauschen der Sprache, aus dem Französischen v. Dieter Hornig, Frankfurt/M. 2006, S. 88–91, hier S. 90. Barthes imaginiert in diesem Essay die Utopie einer „Musik des Sinns“; diese wäre eingelöst, wenn „die Sprache in ihrem utopischen Zustand erweitert, ja, ich würde sogar sagen, denaturiert wäre, bis sie ein immenses lautliches Geflecht bildet, in dem der semantische Apparat irrealisiert wäre; der lautliche, metrische, stimmliche Signifikant würde sich in seiner ganzen Pracht entfalten, ohne daß sich jemals ein Zeichen abhebt (diese Schicht aus reiner Lust naturalisiert), aber auch – und darin liegt die Schwierigkeit – ohne daß der Sinn brutal verabschiedet, dogmatisch verworfen, kurz, kastriert wird“ (ebd., S. 89). 503 Kontextualisierung und Signifikation heißt: die Zone der Krise und des Rauschens, eben den „dunklen und verschatteten Teil“ zeichenhaft zu umspielen und ihn solcherart allererst hervorzubringen. 504 Wie gezeigt wurde, sind sowohl das reine Rauschen als auch die reine Kommunikation nicht existent; bezogen auf die Sprache wäre das maximale Rauschen dann realisiert, wenn nichts mehr (weder Information noch Emotion, auch nicht ‚beredtes Schweigen‘) kommuniziert würde; die optimale Kommunikation hingegen in der Formelsprache der Mathematik bzw. der Begriffssprache der Wissenschaften.

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Es kann in diesem Zusammenhang nicht oft genug betont werden, dass Serres sein auf den Grundlagen der mathematischen Informationstheorie konzipiertes Parasiten-Modell gerade nicht mit einer antiszientifischen Intention verbindet, sondern umgekehrt: mit der Absicht, den Verrat, den die Wissenschaftler an ihren Wissenschaften begehen, indem sie sich durch nicht-wissenschaftliche Interessen dominieren lassen, aufzudecken und ihm entgegenzuwirken. This is behind my temptation to write a defense and an illustration of the humanities – in the face of, in opposition to, and for the benefit of scientists themselves. To say to them: „Lucretius thinks more profoundly and even more rationally than many of today’s scientists. A novelist like Zola invented thermodynamic operators well before the science of thermodynamics; he introduced them without even realizing it. Read this or that poem by Verlaine.“ I want to show a certain reason in its emerging state and illustrate it for the benefit of academic reason. (Serres 1995, S. 55)

Doch belässt es Serres keineswegs beim Aufweis der antizipatorischen Funktion, die Kunst und Literatur für die Wissenschaft haben kann. Gleichermaßen geht es ihm um die Begründung einer Epistemologie, die sich aus primär ethisch-humanen Motiven an einer Kunst orientiert, für die die Integration des ‚Dritten‘ in all seinen denkbaren Manifestationen konstitutiv ist. In diesem Zusammenhang kommt Serres’ Interpretation von Lukrez’ Lehrgedicht De rerum natura besondere Relevanz zu, sieht er in der darin dargestellten Kosmologie nicht nur zwei fundamental verschiedene Typen der physikalischen Wissenschaft wirksam, sondern zwei fundamental verschiedene Typen von Wissenschaft überhaupt, die wiederum für verschiedene soziale und politische Ordnungen einstehen. Die Antagonisten Mars – Gott des Krieges und des Todes – und Venus – Göttin der Liebe, der Lust und des Lebens – symbolisieren dabei zwei extreme Haltungen des Menschen gegenüber der Natur bzw. Verträge (foedera), die der Mensch mit der Natur schließt und aus denen jeweils unterschiedliche Formen des Wissens und der Wissenschaft hervorgehen: „The laws of nature, articulated by this science, remain conditioned, and then determined in their global arrangement by such a pre-existing contract. For example, the choice between Venus and Mars.“505 Während die foedera fati der atomistisch-

|| 505 Michel Serres: The Birth of Physics [1977], übers. v. Jack Hawkes, hrsg., eingeleitet u. mit Anmerkungen versehen v. David Webb, Manchester 2000, S. 119. Mit der Wahlfreiheit zwischen einer ,Mars‘- und einer ,Venus‘-Wissenschaft ist für Serres keinesfalls eine relativistische Auffassung von Naturwissenschaft verbunden: „science is influenced by postulates, or by social, cultural, and historical decisions in general, which shape it and orient it; and yet it is universal, independent of the kind of contract made in advance. […] Science is conditioned, but it is

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mechanistischen Physik des kriegerischen Mars zugrunde liegen, erzeugen die foedera naturae eine der Venus zugerechnete Physik der Strömungen, Fraktale und Turbulenzen. Die martialische „science of death“ untersteht den Prinzipien der Kausalität, der Stabilität, der Berechenbarkeit und des Determinismus. Ihr sei die Wissenschaft von den Anfängen der Geometrie bis hinauf zu Newtons Mechanik gefolgt:506 The order of reasons is repetitive. The knowledge linked up in this way, infinitely iterative, is but a science of death. A science of dead things and a strategy of the kill. The order of reasons is martial. The world is in order, for this mathematicised physics, where the Stoics meet Plato, up the way, and Descartes, down, and order reigns amidst the heaps of corpes. The laws are the same throughout, they are thanatocratic. There is nothing to know, to

|| unconditional“ (ebd., S. 115). Vielmehr determiniert die Entscheidung für Mars oder Venus eine jeweils andere Topographie des Wissens („topography“, „world-map of knowledge“, ebd., S. 116 u. 117), eine jeweils andere Beziehung des Menschen zur Natur und damit nicht zuletzt eine jeweils andere Form der conditio humana. 506 Im Rekurs v.a. auf Hermes IV [1977] lassen sich wissenschaftsgeschichtlich drei Kulturen unterscheiden. Die erste, von Schweitzer als „mechanistisches Modell“ der Klassik bezeichnete, korreliert mit der oben beschriebenen ‚martialischen‘ Wissenschaft: Im mechanistischen Paradigma „wird ein lokaler Punkt festgesetzt – sei es die Vernunft, das Subjekt oder Descartes’ ‚cogito ergo sum‘ –, von dem aus globale Aussagen gefällt werden. [...] Der Übergang vom Lokalen zum Globalen, zum Raum, erfolgt hierbei nach einem bestimmten Gesetz: ‚hierdort-überall‘“. (Schweitzer: Topologien der Kritik, S. 346). Dieser Übergang funktioniere nur deshalb, weil dem Denken nach Serres ein bestimmter Raum, nämlich der Raum der euklidischen Geometrie, zugrundegelegt wird (ebd., S. 347). In diesem Modell gehe das Wissen jene Koalition mit der Macht ein, die Serres so vehement bekämpft (vgl. ebd., S. 353). Ihm entspricht die Kritikform des von Serres so bezeichneten „Wolfspiels“ (vgl. ebd., S. 374–385). Das zweite, von Serres ambivalent charakterisierte Kulturparadigma, die Thermodynamik, schiebt sich gleichsam zwischen Mars und Venus: Ist dieses „kulturelle Paradigma der Moderne“ (ebd., S. 360) einerseits durch die „Hinwendung zum Umstand, zur Unordnung, zur Wolke [und] die Idee der Irreversibilität als ein anderes Zeitmodell“ geprägt, so entwickle es sich andererseits gerade im Bereich der Geistes- und der aufkommenden Sozialwissenschaften im Lichte der Klassik. „Selbst wenn nun die großen Populationen, die Milieus und Umstände etc. in den Blick geraten, so verfangen sich diese Theorien wiederum im Kampf um die Herrschaft, in einer universellen Logik und in einem prädisponierbaren Raum“ (ebd., S. 361). „Es ist wiederum ein Archetypenmodell, das auf das Universale zielt“ (ebd., S. 365). Diesem Modell entspricht die Kritikform des von Serres so bezeichneten „‚Taubenspiels‘“ (ebd.): „Es geht nun weniger um den Ort, den Punkt, von dem alles herleitbar ist und den es dementsprechend zu erobern gilt, sondern um die Kontrolle über die Wege und Verbindungen der Netze. Die Kritik, die sich dahinter stellt, versucht diese Wege der Beziehungen zu besetzen, anzuzapfen, zu kontrollieren, mögen sie auch fluktuieren. Sie schafft dies, weil das thermodynamische Denken gleichfalls nur in der Abschließung funktioniert und das Terrain des Universellen nicht verlässt“ (ebd. 389).

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discover, to invent, in all this repetition. It falls, in the parallel of identity. […] This is the zero state of information, redundancy. The chain of causation, the fall of atoms, and the indefinite repetition of letters, three figures necessary to the zero point of science.507

Die „science of caresses“ hingegen steht für eine Wissenschaft des Werdens, des kontinuierlichen Flusses, der Unbestimmbarkeit und der Wahrscheinlichkeit. Sie beschreibt die Entstehung der Welt und alles, was in ihr ist, als Folge einer minimalen Abweichung im „senkrechten Fall“ der Atome durch das „endlos Leere“;508 die dadurch erzeugten Kollisionen sind der Beginn der Schöpfung:509 The angle [clinamen, minimal deviation, BM] […] breaks the chain of violence, interrupts the reign of the same, invents the new reason and the new law, foedera naturae, engenders nature, as it really is. The minimal angle of turbulence produces, here and there, the first spirals. It is literally revolution. Or the first evolution towards something other than the same. Turbulence disturbs the chain. It troubles the flow of the identical, just as Venus disturbs Mars.510

Mit dieser Annahme rücke Lukrez in die Nähe moderner thermodynamischer und chaostheoretischer Konzepte.511 Venus, die Serres als ein immanentes, der physikalischen Welt wesentliches Prinzip begreift, steht für „turbulence […] born of the noise“, wobei „turbulence“ analog der ‚white multiplicity‘ definiert ist als „a state of birth“, „a median state between a slightly redundant order and pure chaos“.512 Die Venus ist das Medium, der Kanal, die Passage, das Rau-

|| 507 Serres: Birth of Physics, S. 109. 508 Formulierungen nach Lukrez: Die Natur der Dinge, 2. Buch: Fortsetzung über die Prinzipien, übers. v. Hermann Diels, hrsg. v. Johannes Mewaldt, 1924, S. 92 u. 105. 509 Vgl. ebd., S. 105. 510 Serres: The Birth of Physics, S. 110. 511 Prigogine und Stengers unterstützen Serres’ Lesart des Lukrez’schen Textes: „[N]onclassical science has taught us that trajectories [hier konkret der bei Lukrez beschriebene parallele Fall der Atome, BM] can become unstable and that stochastic chaos can become creative. In certain circumstances, evolution bifurcates, the homogeneous disorder is no longer stable, and a new order of organized functioning is established, with amplified fluctuation. […] Creative chaos is illegality itself, for its description dissolves the distinction between the macroscopic state and the microscopic fluctuation; correlations can appear among distant events; local deviated echo throughout the system – the matrix-state in which fluctuations are amplified and from which things are born“ (Ilya Prigogine, Isabelle Stengers: POSTFACE: Dynamics from Leibniz to Lucretius, in: Serres: Hermes: Literature, Science, Philosophy, S. 137–155, hier S. 153 f.). 512 Serres: Genesis, S. 121. Vor dem Hintergrund der von Schweitzer rekonstruierten Kulturparadigmen korreliert das ,Modell Venus‘ mit dem „Paradigma der Informationstheorie“ des 20. u. 21. Jahrhunderts, die für Serres eine „Generalisierung – man könnte auch sagen: Syn-

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schen, die Abweichung, poietische Kraft: „She is relation, identically. Of relations in general between atoms of various families. Of conventions, assemblies, contests, coitus“, Prosopopoiie einer „science of relations“,513 einer ‚science du tiers-inclus‘, einer interdisziplinären Wissenschaft, in der potentiell alles mit allem kommuniziert und die jene oben beschriebene Topographie des Wissens als enzyklopädisches Netz formiert. Da die Natur nur als eine „nature of composites“514 zu denken ist – die essentielle Natur der Natur und ihrer Gesetze ist relational515 – ist die „physics of Venus“ auch die eigentliche „science of na-

|| these – der beiden vorherigen Stadien der Klassik [i.e. mechanisches Paradigma, BM] und der Thermodynamik“ darstellt (Schweitzer: Topologien der Kritik, S. 371). „In der informationstheorie geht es zugleich um Ordnung und Unordnung, Zufall und Determination, Naturwissenschaft und Kulturelles etc. […] [Es geht] sowohl um Grenzen (zwischen Information und Rauschen) als auch um die allgemeine Zirkulation und den Austausch der Informationen“ (ebd., S. 371). Dies tangiert auch das Verhältnis von Lokalem und Globalem: Es gehe nicht mehr „um das alte Universum, das glatt ist und von einem einzigen Gesetz beherrscht wird, sondern um die verzweigten Netze der Kommunikation, die kein Zentrum haben und in denen de jure jeder Ort eine Mitte ist. Zirkulation und Kreuzung bilden nun einen epistemologischen Pluralismus, der zur Voraussetzung für Entscheidung, Innovation und Erfindung wird“ (ebd.). In ihrer kritischen Form bricht sie, so Schweitzer mit Serres, „,mit jeglicher Strategie‘“: „Denn die Fragmentierung des Raums, die reiche Entfaltung der Räume in der Topologie bricht mit dem hierarchisierten Universellen, wie es der klassischen und der modernen Kritik zugrunde liegt“ (ebd., S. 393), und sie bricht damit, indem „mittels der Topologie die hierarchisierten Räume der Klassik und der Thermodynamik rekonstruiert und darin als Bedingung der Herrschaft dargestellt werden“ (ebd.). Standpunkt der Kritik ist dabei das „Dazwischen des Dritten Raums“, der Versöhnung und letztlich auch Freiheit ermöglicht (ebd. S. 394, vgl. auch 395): „Das, was durch die ,Neue neue Kritik‘ installiert wird und es erlaubt, Recht zu sprechen und zugleich zu produzieren, ist für Serres genau jene variierende, mehrdeutige, schwankende und doch strenge Methode der randonnée und der Dritten Raums – eine Welt, in der die Hochzeit der Gegensätze sowie die Hochzeit mit dem Ausgeschlossenen in der ,Neuen neuen Kritik‘ gefeiert wird“ (ebd., S. 396). Der „,Neue neue Geist‘“ ist „,hier-anderswo‘“ (ebd., S. 372). 513 Serres: The Birth of Physics, S. 123. 514 Ebd., S. 122. Die Termini Venus, Natur, Konjunktion sind deshalb synonym: „Venus sive natura sive coniuncta sive foedera“, ebd. S. 123. 515 „Things are made of atoms and the void, their study consists in seeking to determine how they are made. Their matter is particular, their nature is relational. The essential thing therefore for an exact discourse de rerum natura is relation or the interrelation“ (ebd., S. 122). „The laws of nature are those of conjugation […]. The foedera naturae, the laws of nature, are foedera coniunctorum, laws of conjunction, but they are themselves only possible through this conjunction: coniuncta foederum, composition of the laws“ (ebd., S. 123). Vgl. vertiefend hierzu den anspruchsvollen Beitrag von Vera Bühlmann: Das atomistische Zögern: Zu Michel Serres’ Philosophie eines objektiv Transzendentalen, in: Michel Serres. Das vielfältige Denken, S. 59– 80, v. a. S. 69 f. Bühlmann diskutiert diesen Aspekt im Kontext von Serres’ „Philosophie eines objektiv Transzendentalen“ (S. 61), das sie bei Serres in der Annahme einer „Natur“ als einer

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ture“. Umgekehrt gründet die thanatokratische Disposition der martialischen Physik in der systematischen Ausklammerung ihres nicht-systematisierbaren und ‚illegalen‘ Protomodells,516 eben der lebensbejahenden, erotischen „physics of Venus“ und entfremdet sich dadurch von ihrem eigentlichen Gegenstand, der Natur: „It remains a fundamental theory of the void and of atoms, as a knowledge of before the birth of things, but it is destroyed as a science of nature.“517 Den beiden Themenbereichen in Lukrez’ Gedicht folgend, nämlich der Kosmologie und Psychologie, expliziert Serres den Gegensatz zwischen Mars und Venus schließlich auch auf der Ebene der Moral: [T]he soul, my soul, a thing among things. Not only here today, troubled by terror and anxiety, by fear and labour, but as born one night from chance impacts and encounters, inclination and disturbance. This morning my soul is tumultuous, convulsive and stormy, but by its birth and essence, it is just a troublemaker. It is a taraxy, just as my body is. And things themselves. I know it, I learned it from the contracts of physics. And I make my revolution. Vortical physics is revolutionary. It goes back to the first disturbance, towards the primordial clinamen. And from there to the streaming. To the constancies of movement. To the general invariances, whatever the random variations may be. […] So ataraxy is a physical state, the fundamental state of matter; against which this background worlds are formed. Disturbed by circumstances. Morality is physics. Wisdom accomplishes its revolution. It climbs back up the spiral towards the primary state, ataraxy is the absence of vortices. The soul of the wise man extends to the global universe. The wise man is the universe. In repose, he is himself the pact.518

Der Weg von der ,taraxia‘ hin zur ataraxia – in der Philosophie Epikurs das summum bonum menschlichen Daseins – korreliert mit der physikalischen und

|| „Allgemeinheit von Information“ angelegt sieht (S. 60), die wiederum „mathematischphysikalisch […] als indefinite Bestimmtheit (Invarianz) von Entropie und Negentropie“ fassbar sei (S. 62). 516 „In a sense, the pre-model of the fundamental physics has no laws“ (ebd., S. 122). Vgl. ferner Prigogine und Stengers, die mit Serres darin übereinstimmen, dass die Bereinigung des Wissens von den „limits of laws, the limits of the realm in which nature can be controlled“ einer dem Diktat der Naturkontrolle und -beherrschung verpflichteten klassischen Wissenschaft geschuldet ist. Sie bestätigen ferner den daraus resultierenden Gestus der Wiederholung: „The history of science particularly repeats itself when it is a question of mastery or control“ (Prigogine, Stengers: Postface, S. 154). 517 Serres: Birth of Physics, S. 122. In ihrem Nachwort zu Hermes: Literature, Science, Philosophy kommentieren Prigogine und Stengers den Antagonismus von Mars und Venus: „The science of analysis and separation must henceforth, as Serres says, becalm itself, feminize itself, erase itself, with observation disappearing in favour of relation“ (Prigogine, Stengers: Postface, S. 151). 518 Serres: Birth of Physics, S. 130 f.

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kommunikationstheoretischen These von der Entstehung natürlicher und sprachlicher Ordnungen aus dem Chaos und dem Rauschen. Der Zustand der Seelenruhe, die ataraxia des Weisen, ist die Freiheit von den Dämonen der Lust und des Leidens, eine Freiheit, die nur zu erlangen ist im Rückgang auf ihren Ursprung in den bedrohlichen Turbulenzen und Erschütterungen des humanen Lebens. If we could speak every language and decipher every code, if we were informed by absolute knowledge, we would know nothing without at most, the experience of […] this suffering that is without remission and without end and whose oceanic clamor produces the background noise from which all our knowledge and the conditions of our practical activities spring. This is the origin of knowledge and our expertise. No, we did not set out long ago to understand things and act upon their future because we felt and observed through the five senses […] or for other reasons just as cold. No – we did it because we suffered from our misery or our crimes, and because we were moved by the intuition of our untimely death. Knowledge is based on this mourning. Our capacities come from our weaknesses, and our effectiveness from our fragilities. Our science has no other foundation than this permanent collapse, this lack, this endless slippage into an abyss of pain. 519

Die konkrete Übersetzung des Rauschens in die Sprache menschlichen Leidens und die genetische Rückbindung aller Formen theoretischen und praktischen Wissens an dieses Leiden, erklärt, weshalb Serres’ Epistemologie über die reine Wissenschaftstheorie hinausgehen und zu einer anthropologischen Epistemologie erweitert werden muss. Anders formuliert: Wenn das Humane (konventionell aufgefasst als das ‚unreine‘ Rauschen der Wissenschaft) der Grund und damit auch das untilgbare ‚Implikat‘ allen Wissens – gleichsam endoepistemisch – ist, dann kann sich die Epistemologie nur unter der Voraussetzung, dass sie dieses Humane integriert, zu einer ‚reinen‘ Endoepistemologie entwickeln. Alles Wissen ist pathetisch fundiert, entsprechend muss die Epistemologie auch eine Patho-Logie einschließen. Vor dem Hintergrund dieser Annahmen postuliert Serres eine moralphilosophisch motivierte Pädagogik, die auf die Ausbildung eines „Tiers-Instruit“ zielt, eines „Troubadour of Knowledge“,520 der sich zwischen den Disziplinen || 519 Serres/Latour: Conversations, S. 181 f. Ganz ähnlich heißt es bereits bei Wittgenstein: „Wir fühlen, daß, selbst wenn alle möglichen wissenschaftlichen Fragen beantwortet sind, unsere Lebensprobleme noch gar nicht berührt sind“ (Ludwig Wittgenstein: Tractatus logicophilosophicus, in: Werkausgabe Bd. 1, Frankfurt/M. 1986, S. 85, 6.52). 520 Serres/Latour: Conversations, S. 183. Serres hat diesen Überlegungen eine eigene Studie gewidmet, vgl. Michel Serres: Le Tiers-Instruit, Paris 1991; engl. „The Troubadour of Knowledge“, übers. v. Sheila Faria Glaser in Zusammenarbeit mit William Paulson, Ann Arbor 52006. Die etymologische Herkunft von Troubadour ist umstritten; Serres selbst konzentriert sich auf

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bewegt, dabei die hybride Natur allen Wissens entdeckt und anerkennt und insbesondere den primären Grund ausnahmslos aller kulturellen Leistungen im menschlichen Leiden dauerhaft in Erinnerung ruft.521 Angesichts einer globalisierten Welt, „in which fortune produces misery and knowledge produces ignorance“,522 in der eine kleine Zahl von Gewinnern Massen von Verlierern und damit die „global human condition“ produziert, ist die Begründung und Realisierung einer ‚Moral des Dritten‘ unverzichtbar. Ihr Maßstab sind die Verlierer, die Schwachen und Armen, in denen die Universalität des Bösen, aufgefasst als die moralische Kategorie des Dritten in allen seinen Manifestationen,523 am augenfälligsten in Erscheinung tritt; sie sind es, die das Wesen des Menschen und der Humanität definieren. „And what if wisdom and weakness go together? […] ecce home, ‚behold that man‘.“ Mit dem Problem des Bösen greift Serres das alte Theodizee-Problem wieder auf. Während eine kritizistische oder judiziale Philosophie die Frage nach dem Bösen immer noch im Kontext von subjektiver Schuld und Verantwortung dis|| die sekundäre Ableitung aus dem altfranzösischen „trouver“ im Sinne von ‚finden, erfinden, dichten, komponieren‘ und rückt das Wort damit nicht nur in die Nähe der rhetorischen inventio, sondern – unausgesprochen – abermals auch in die Nähe der Topologie (vgl. Serres/Latour: Conversations, S. 30). Ganz im Einklang mit Serres’ Philosophemen stünden auch die von Friedrich Dietz (1861) und Leo Spitzer (1940) aufgezeigten Herleitungen aus ‚turbare‘ (aufwühlen) und ‚contropare‘ (vergleichen). In seiner literaturgeschichtlichen Bedeutung konnotiert der Troubadour, der provenzalische Minnesänger, nicht nur den Dichter, sondern auch den Freund, den Liebhaber, den Verehrer. Zur komplexen Etymologie vgl. Kevin Tuite: Of Phonemes, Fossils and Webs of Meaning. The Interpretation of Language Variation and Change, unter: http://mapageweb.umontreal.ca/tuitekj/publications/Tuite-lang-variation.pdf, S. 13–18 (letzter Zugriff: 1.4.07). 521 „[T]he troubadour of knowledge, who is of both science and letters, has some chance of instituting the age of adulthood […]. He is admittedly a rationalist, but he does not believe that all the requirements of reason are met by science. He tempers one with the other. Likewise, he never sees the social sciences as exhausting the content transmitted by the humanities – far from it. So, for him there is as much rigor in a myth or a work of literature as in a theorem or an experiment and, inversely, as much myth in these as in literature“ (Serres/Latour: Conversations, S. 183). 522 Hier und im Folgenden Serres/Latour: Conversations, S. 186. 523 Das Böse bezeichnet nicht nur Verfehlungen des menschlichen Handelns und daraus resultierende negative Folgen, sondern „belongs essentially to history and time“ (ebd., S. 188), zum menschlichen Dasein selbst. Die Universalität des Bösen ist die Folge der Globalisierung der menschlichen parasitären Beziehungen. In der Tat seien wir Menschen „the masters of the Earth and of the world, but our very mastery seems to escape our mastery“, d.h. „we do not yet control the unexpected road that leads from local pavement, from good intentions, towards a possible global hell. […] [I]t not longer depends on us that everything depends on us“ (ebd., S. 171 f.).

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kutiere,524 berührt sie Serres zufolge ein universales, objektives, letztlich wissenschaftliches Problem, für das weniger individuelle oder kollektive Subjekte verantwortlich zu machen sind, sondern Beziehungsgeflechte, „relationships“:525 The problem of evil is no longer capable of being solved by judiciary action but becomes a scientific problem – universal, once again objective, stable, and recurrent in history – thus capable of being solved with neither individual nor collective subjectivity, but objectively. As impersonally as impersonal verbs.526

Die enge Verflechtung des Wissens und des Bösen527 führt in der Konsequenz zu einer Epistemologisierung des Moralischen: „The morality of relations is based on the science of relations.“528 Deshalb sollten wir nicht nur eintreten „into a natural contract with the entire Earth“, sondern ebenso „into a new moral contract with the global collectivity of humanity, proscribing all accusation“.529 Wie aber ist dieser „moral contract“ jenseits des Kreislaufs von Schuld und Sühne, Anklage und Verurteilung zu denken? Serres schlägt eine Art Pakt mit dem Bösen vor: [W]e must always reformulate this question: What is an enemy, who is he to us, and how must we deal with him? […] What [for example] is cancer? – a growing collection of malignant cells that we must at all costs expel, excise, reject? Or something like a parasite, with which we must negotiate a contract of symbiosis? I lean toward the second solution, as life itself does. I’m even willing to bet that in the future the best treatment for cancer will switch from eliminating it to a method that will profit from its dynamism. Why? Because,

|| 524 „Even if criticism does not believe in God, it still believes in His place. […] As a result, criticism puts in this place all the usual accused parties, whose names we learn and pass on – males, fathers, exploiters, whites, Westerners, logocentrism, the State, the Church, reason, science – each one of which, surely and often heinously, is deeply implicated in this affair. […] This cycle is ending for the obvious reason that it has exhausted the list of possible accused parties“ (ebd., S. 190 f.). 525 Ebd., S. 193. 526 Ebd., S. 192. Daran macht Serres auch den Unterschied zwischen Moralität und Ethik fest: Ethik ist kultur- und ortsabhängig und damit relativ, Moralität ist rational und universal. „Ethics is aligned with ideology, and morality is aligned with science“ (ebd.). 527 Diese Verflechtung ist, daran erinnert Serres immer wieder, lokalisiert am Ursprung allen Wissens („the problem of evil was located at the foundation of knowledge: this is the very point at which they touch“, ebd., S. 194). Die Impersonalität des Bösen als des Dritten führt folgerichtig zu einer isomorphen Bestimmung des Wissens und des Bösen und schließlich der Wissenschaft und der Moral. 528 Ebd., S. 193. 529 Ebd., S. 194.

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objectively, we have to continue living with cancer, with germs, with evil and even violence. It’s better to find a symbiotic equilibrium […] than to reopen a war that is always lost because we and the enemy find renewed force in the relationship.530

Der hier vorgezeichnete (und den Leser zunächst befremdende) Weg zur Tugend531 ist ein dritter Weg, der nicht auf die Ausrottung des Bösen zielt, sondern auf dessen konstruktive Integration. Dabei lässt sich die von Serres begründete Objektivierung und Verdinglichung des Bösen – das Böse als die moralphilosophische Figuration des Dritten – als ein erster entscheidender Schritt zu einer Konzeption von Moral ‚jenseits von Gut und Böse‘ begreifen, ist damit doch auch ein Vorgang der Neutralisierung und Entdämonisierung des Bösen eingeleitet. Übersetzt man das Böse in die Logik des Parasiten-Modells, erscheint es als ein gleichermaßen destruktiver wie konstruktiver Faktor tugendhaften Verhaltens. Die am Beispiel der Krebskrankheit veranschaulichte symbiotische Beziehung zum Bösen bezeichnet nichts anderes als den Sachverhalt, dass eine moralische Praxis, die frei ist von jeglicher Infiltration oder Interrelation mit dem Bösen, schlechterdings nicht existiert. Wie jedes Kommunizierte eine Mischung aus Signal und Rauschen, jedes Gewusste eine Mischung aus Wissen und Nichtwissen darstellt, so jede ‚gute‘ Handlung eine Mischung aus Gut und Böse. Indem das Rauschen, das Nichtwissen, das Böse den Dialog, das Wissen, die Kunst, die Moral bedingen und erzeugen sind sie darüber hinaus zugleich transzendental und auto-poietisch. Serres’ „objective morality“ gründet im Dritten, in der dritten Person – er, sie, es –, weshalb er sie auch eine „philosophy of personal pronouns“ nennt.532 Handelt es sich bei der ersten und zweiten Person Singular und Plural im strengen Sinn nicht um Pronomina – „pronoun, that is, a substitute for a noun“ –, sondern um „tokens of presence that the dialogue, dispute, debate, or account (direct or indirect) exchanges indefinitely“,533 steht die dritte Person für potentiell alles Seiende – einschließlich der ersten und zweiten Person – ein: Ich und Du, Wir und Ihr sind dialogische Beziehungen, die durch das beziehungsstiftende Element des Dritten allererst konstituiert werden:

|| 530 Ebd., S. 195. 531 Einen lesenswerte Skizze zu Serres’ Moralphilosophie entwirft David Webb: Michel Serres on Virtue, in: Clausjürgens/Röttgers: Michel Serres, S. 103–115. Webb sieht die Kategorie der courage im Zentrum von Serres’ „outline of an ethics inspired by a conception of life, and of human life in particular, as communication“ (ebd., S. 104). 532 Ebd., S. 197. 533 Ebd., S. 197, vgl. ferner S. 198.

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We Speak Only of Him. WE Think only of Him. For We Would Be Nothing Without Him. 534

Die dem Dritten zugesprochene Objektivität ist freilich nur als eine ,Transobjektivität‘ vorstellbar, die den konventionellen Gegensatz von Subjekt(ivem) und Objekt(ivem) übersteigt und inkludiert. Taken in its totality, the third-person enunciates and describes at leisure all existing objectivity and all that is thinkable or possible – human, inert, worldly, worldwide, ontological, divine, and moral. [The third-person is] the global referent for being and knowledge, for dialogue and debate, for the world and society, for what’s subjective and what’s impersonal, for love and hate, for faith and indifference, for things and causes535 – and not as a distant and passive spectator might speculate upon them, but in the dynamic and practice of collective and social action. […] the foundation of morality is no different from that of physics […].536

Serres’ szientifisch unterlegte moralphilosophische Argumentation ist bestechend: Die seit der Antike aufrechterhaltene und das menschliche Verhalten regulierende Grenze zwischen dem, was von uns abhängt, und dem, was nicht von uns abhängt, zwischen Freiheit und Notwendigkeit, hätte sich spätestens mit dem Zweiten Weltkrieg soweit verschoben, dass es nahezu nichts mehr gibt, was nicht von uns abhängen würde: We have become the tragic deciders of life or death, masters of the greatest aspects of our former dependence: Earth, life and matter, time and history, good and evil. We have encroached upon the theories of metaphysics. […] We are now, admittedly, the masters of the Earth and of the world, but our very mastery seems to espace our mastery. […] So, it no longer depends on us that everything depends on us.537

|| 534 Ebd., S. 198. „We would be nothing without it/him/her, and, from the beginning, we speak only of the third person. We don’t talk about anything, we don’t think anything if we don’t think something, even if this something is the network of our relations – proof that he/she/it does not exist in the first-person if he/she/it does not exist previously in the third-person, even in our discourses“ (ebd., S. 201). 535 „Things“ sind Gegenstand der Wissenschaften, „causes“ Gegenstand der Gesetze (ebd, S. 201). In den Humanwissenschaften – „the humanities bear within them the question of the hyphen“ (ebd., S. 181) – könnten die Fragen der Wissenschaft und der Moral potentiell zusammengeführt werden. 536 Ebd., S. 198 f. 537 Ebd., S. 171 f.

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Wir können, mit anderen Worten, die Unabhängigkeit, Freiheit und Intention unseres Handelns nicht mehr kontrollieren; Freiheit kehrt als Notwendigkeit zurück. „We are following the blind fate of sciences whose technology invents possibilities that immediately become necessities.“538 Die Kategorien der Notwendigkeit und Kausalität haben sich damit von der Natur auf die menschliche Gesellschaft verlagert: „Necessity abondons nature and joins society. It has left things and reconquered mankind’s home. […] The lives and actions of our children soon will be conditioned, in fact, by an Earth that we will have programmed.“539 Wir unterstehen nicht länger mehr den Kausalitäten und Bedingungen der Natur, sondern den Kausalitäten und Bedingungen unserer wissenschaftlich-technologischen Hervorbringungen. Der Verschiebung der Notwendigkeit entsprechend, verschiebt sich auch die Moral: „When necessity decamps from the objective world and moves toward people, morality, in turn, moves from individual people toward the objective world.“540 Die moralphilosophische Kategorie der Pflicht ist von der wissenschaftlichen Kategorie der Notwendigkeit und Kausalität nicht mehr zu trennen: „Must equals cause. Duty is the same as cause, since the consequences of our actions rejoin their conditions. Because the causes or the objects that we produce give birth to us, too, in a network of causes.“541 Der Name unseres neuen Ethos laute: „Natura sive homines – Nature, meaning human culture; human morality, meaning the objective laws of nature.“ Als Herren und Schöpfer der Welt – uns selbst eingeschlossen – stehen wir in einer umfassenden Verantwortung: In dominating the planet, we become accountable for it. In manipulating death, life, reproduction, the normal and the pathological, we become responsible for them. We are going to have to decide about every thing, and even about Everything – about the physical and thermodynamic future, about Darwinian evolution, about life, about Earth and about time, about filtering possibilities – candidates to be evaluated for becoming realities – a process Leibniz described as characterizing the work of God the creator, in the secret of his infinite understanding.542

Die Verantwortung verlagert sich von den Handlungen auf das diesen zugrundeliegende Wissen. Das Wissen und das Vorwissen der Folgen unserer Handlungen werden damit zur vordringlichen moralischen Pflicht. Notwendig ist der Homo sapiens mit dem kollektiven Homo faber zu versöhnen, notwendig die || 538 Ebd., S. 172. 539 Ebd., S. 172 f. 540 Ebd., S. 175. 541 Hier wie im Folgenden, S. 176. 542 Ebd., S. 173.

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Ethik in die Wissenschaften zu integrieren, notwendig die wissenschaftliche Praxis der Naturbemächtigung durch eine Praxis der Selbstbeaufsichtigung und Selbstbeschränkung zu substituieren. Aus diesem Grund kann Serres sagen: „Humanity begins with things; animals don’t have things.“543 In der Beziehung zu den Dingen, in der umfassenden Teilhabe an Welt und Natur, in der kommunikativen Interaktion konstituiert sich die conditio humana. Dieser zu entsprechen und eingedenk zu bleiben, ist letztlich das, was Serres mit seiner Anthropologie der Wissenschaften („anthropology of sciences“544) postuliert. Sie basiert auf einer foedera naturae, auf

|| 543 Ebd., S. 166, vgl. auch S. 199. Die Bedeutung des Dritten veranschaulicht Serres eindrucksvoll am Beispiel des Apfels, den Eva Adam überreicht. Der Apfel ist hier ursprünglicher Referent eines Vertrages: „A gift, a stake, a fetish, a first commodity, tracing heavingly for the first time the relation of love, of disobedience, of knowledge, of risk, and of mad prophecy – this fruit brought about the first human collectivity, the simplest one in history. We discovered ourselves naked, lovers, mortals and sinful, standing already before the tree of science and standing already before a tribunal – divine, moral, civil, penal, deciding about good and evil – all because of this apple, cause and thing, the first object“ (ebd., S. 200 f.). Der Apfel ist der Grund der Beziehung, kein Ding an sich mehr, sondern ein Objekt für die Menschen. In Zirkulation gebracht, gerät sein objektiver Status in den Hintergrund: Er wird zum Quasi-Objekt, zum „Bildner von Intersubjektivität“, zur Markierung von Subjektivität: Erst durch das Quasi-Objekt „wissen wir, wie und wann wir Subjekte sind, wann und wie wir es nicht mehr sind. Wir, was heißt das? Wir sind nichts anderes als dieser fließende Wechsel des Ich. Das Ich ist eine Spielmarke im Spiel, die man austauscht. Und dieses Wandern, dieses Netz von Übergängen, diese Stellvertretungen des Subjekts weben das Kollektiv“ (Serres: Der Parasit, S. 349). „Serres“, so Därmann treffend, „macht die Ausdifferenzierung, die Entstehung und Markierung des Ich und der je Anderen von bestimmten Objekten, genauer: von sogenannten Quasi-Objekten abhängig, die zugleich als Quasi-Subjekte fungieren, da sie Subjekte bezeichnen und auszeichnen, die es ohne die konstitutive Kraft der Objekte nicht geben würde“ (Därmann: Theorien der Gabe, S. 158). – Quasi-Objekte sind blanke Joker (vgl. ebd., S. 352 u. 353), Parasiten, die sich je nach sozialer Praxis unterschiedlich spezifizieren. Vier solcher Universalpraktiken lassen sich nach Serres unterscheiden: „Religion […] seizes upon sacred objects which become circulating ‚fetishes‘ to bind the faithful, the military achieves the same by taking weapons and making them operate as ‚stakes‘, whiche commerce adopts money and goods which it transforms into ‚merchandise‘. […] The fourth social universal – communication – is to some extent associated with modern science, which has made information in the form of genetic code the very principle of life“ (Brown: Michel Serres, S. 22 f.). Serres’ Kritik an den Wissenschaften lässt sich von hier aus noch einmal anders darstellen: Sie büßen ihren Wissenschaftsstatus ein, indem sie sich den Interessen der anderen sozialen Ordnungen unterwerfen (vgl. Serres: Genesis, S. 90–91). 544 Serres/Latour: Conversations, S. 141, 153.

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der Entscheidung für Venus – die Wissenschaft des Lebens.545 Paradigmatisch verwirklicht sieht Serres sie in der weisheitlichen Philosophie Epikurs: Greek wisdom arrives at one of its most important points here. Where man is in the world, of the world, in matter and of matter. He is not a stranger, but a friend, a familiar, a companion and an equal. He maintains an Aphroditean contract with things. Many other wisdoms and many other sciences are founded, conversely, on the violation of the contract. Man is a stranger to the world, to the dawn, to the sky, to things. He hates them and struggles against them. His environment is a dangerous enemy to be fought and kept in servitude. Martial neurosis from Plato to Descartes, from Bacon to our time. The hatred of objects at the root of knowledge, the horror of the world at the foundation of theory. Epicurus and Lucretius experience a reconciled universe, in which the science of things and the science of man are in accord, in identity.546

Die diagnostizierte Kluft zwischen den Naturwissenschaften, die sich (vermeintlich) nur mit dinghaften Objekten beschäftigen und das Humane ausblenden („natural sciences […] become inhuman“547), und den Sozial- bzw. Gesellschaftswissenschaften, die sich nur den sozialen Gesetzmäßigkeiten („laws“) widmen und darin zur Weltlosigkeit tendieren („social science remain without a world – a-cosmic“), könne nur durch die humanities überbrückt werden: Sie sind die „guardians of human pain“548 und damit „[of] the origin of knowledge and our expertise“.549 Die humanities, die moral sciences, sind Passagenwissenschaften: „[They] bear within them the question of the hyphen.“550

|| 545 Am Ende seines Gesprächs mit Latour formuliert Serres einen Maximenkatalog, der das zentrale Gewalt- und Tötungsmotiv des christlichen Dekalogs aufgreift, dieses jedoch in eine globale Perspektive rückt. Moralität transzendiert Individualität, sie muss ausgreifen auf Menschen wie Dinge, auf ausnahmslos alles in der Welt Seiende, vor allem aber auf die wissenschaftliche Ratio selbst. Am Ende formuliert er das Gewaltgebot positiv in das Liebesgebot um: „The maximal obligation would consist […] of loving not only thy neighbor but all global systems – individual, collective, living and inert. For this we need more than a morality – we need at least a religion“ (Serres/Latour: Conversations, S. 204). An anderer Stelle nennt Serres diese aufzustellende Moral eine „Moral […] der Heiligkeit“: „Ich weiß zwar nicht, was der Glaube ist, aber ich glaube zu wissen, was Heiligkeit ist. Es scheint mir, dass die Wissenschaft verloren ist, wenn nicht morgen der Gelehrte so etwas wie ein Heiliger wird“ (Serres, Guillebaud: Philosophien, S. 172). 546 Serres: The Birth of Physics, S. 131. 547 Hier und im Folgenden Serres/Latour: Conversations, S. 142. 548 Ebd., S. 182. 549 Ebd., S. 181. 550 Ebd., S. 181.

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3.3 Erzählte Epistemologie: Détachement. Apologue Die vorausgehenden Erkundungen stellten den Versuch dar, einige grundlegende und immer wiederkehrende Aspekte von Serres’ philosophischem epistemopoetischem Denken vorzustellen und exemplarisch in seiner historischen Verankerung und Kontinuität (Lukrez, Leibniz, Diderot) transparent zu machen. Um diese Intention einzulösen, wurde – darin Serres’ Denken bewusst widerstrebend – eine um Systematik, Kohärenz und Ordnung bemühte Darstellungsform gewählt, wodurch zwangsläufig die ‚gemischte‘ wissenschaftsästhetische Qualität seines Denk- und Schreibstils weitgehend ausgeblendet wurde. Um einen Eindruck seiner nicht nur theoretisch postulierten, sondern auch praktisch angewandten Epistemopoetik zu vermitteln, soll in der abschließenden Analyse von Serres’ Lehrfabel Détachement speziell die mit seiner Denkweise untrennbar verbundene Darstellungsweise in den Blick genommen werden. Dabei gilt es vorauszuschicken, dass in Serres’ Schriften in der Tat kein prinzipieller Unterschied zwischen wissenschaftlichen und ästhetisch-literarischen Ausdrucks- und Darstellungsformen auszumachen ist, sondern lediglich ein gradueller. Détachement,551 entstanden 1984, ist konventionell in Kapitel gegliedert, denen auf den ersten Blick der Status jeweils eigenständiger Erzählungen zukommt: „Paysan“, „Marin“, „Errant“ und „Franciscain“.552 Auch die Genrebezeichnung „Apologue“, die „seit der Antike sowohl im Bereich der Poetik als auch Rhetorik häufig zur Bezeichnung lehrhaften Erzählens verwendet“ wurde, im 20. Jahrhundert aber „höchstens noch als obsolete Bezeichnung der Fabel“553 erscheint, verweist zunächst auf eine traditionelle Form der moralisch-didaktischen Kurzepik.554 Die deutsche Übersetzung „Lehrfabel“ suggeriert durch die tautologische Akzentuierung des pragmatischen Zwecks der Unterrichtung und Unterweisung überdies eine Affinität des Apologs zur Lehrdichtung und verweist

|| 551 Michel Serres: Détachement. Apologue, Paris 1983, im Folgenden zitiert unter der Sigle D. Dt.: Ablösung. Eine Lehrfabel, aus dem Französischen übers. v. Klaus Boer, München 1988, im Folgenden zitiert unter der Sigle A. 552 Diesen Hauptüberschriften ist jeweils eine Art Untertitel (im Inhaltsverzeichnis mit kleinerer Schrift und unterhalb der Haupttitel gedruckt) zugeordnet: „Paysan“ ist untertitelt mit „Chine Lise“, „Marin“ mit „Le Bal des Cap-Horniers“, „Errant“ mit „Arbres des Mort, Arbre de Vie“ und „Franciscain“ mit „Enjeux, Fétiches, Marchandises“. Dabei ist „Errant“ das einzige Kapitel, das sich seinem Untertitel entsprechend in zwei Unterkapitel teilt. 553 J. G. Pankau: Art. „Apolog“, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, hrsg. v. Gert Ueding, Bd. 1, Sp. 805–808, hier Sp. 806 u. 808. 554 Vgl. ebd., Sp. 805.

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damit implizit auf die Relevanz, die Lukrez’ De rerum natura für Serres’ philosophisches Denken hat.555 Die genannten paratextuellen Elemente (Kapitelüberschriften, Gattungszuordnung) bilden eine Art Index, aus dem zentrale Themenkomplexe, Kompositionsmuster und narrative Verfahrensweisen assoziativ deduziert werden könnten.556 Es handelt sich – in Anlehnung an die obigen Ausführungen zu Leibniz’ und Serres’ Begriff der Falte – um komplizierte (einund zusammengefaltete) Wortfiguren, die sich in vielerlei Richtungen explizieren lassen, so dass sich bereits im assoziativen Vorfeld jenes kartographische Netz zu formieren beginnt, das Détachement als eine enzyklopädische Textur charakterisiert. Il est là, dans son tonneau accroupi, nu, sale, silencieux, parmi les immondices; il est là, sur la place publique, et les passants font un petit crochet de peur de lui marcher dessus; il pisse aux yeux de tous, il mange dans la main ou à même le sol ce qui tombe, Diogène le clochard a tout abandonné. Chien, il vit comme un chien, il aboie à ce qui passe, fort ou faible, riche et pauvre, dignitaire ou effigie; chien, son tonneau est niche, il est dehors, il a quitté tout intérieur: l’intérieur du foyer, l’intérieur chaud du groupe, il a quitté la société. Diogène a tout abandonné, il doute de tout. Il réduit tout à ce qui est sans illusion, discours ni fioriture. Il sort de la maison dure, il enlève le vêtement flou, il échappe aux relations visqueuses, il est nu, seul, dans son tonneau, le Cynique. quand il fait soleil. (D 119)557

|| 555 Vgl. Michel Serres: La Naissance de la physique dans le texte de Lucrèce: Fleuves et turbulence, Paris 1977, nachfolgend zitiert nach der englischen Ausgabe: The Birth of Physics, übers. v. Jack Hawkes, hrsg., eingeleitet u. mit Anmerkungen versehen v. David Webb, Manchester 2000. 556 Freilich hängen die Resultate solcher Assoziationsarbeit wiederum von der für die poetica scientiae konstitutiven „intertextuellen Kompetenz“ des Lesers ab (vgl. Abschnitt „Intertextualität“ in Kap. 2.1.2 dieser Arbeit). Die Grenzen eines solcherart assoziativen Zugangs sind die Grenzen eben dieser Kompetenz. 557 „Da ist er, hockt in seiner Tonne, nackt, schmutzig und schweigsam, zwischen Unrat und Dreck, dort, auf dem öffentlichen Platz, und die Passanten schlagen aus Angst, auf ihn zu treten, einen Bogen um ihn. Er pißt vor aller Augen, ißt mit den Fingern oder vom Boden, was runterfällt: Diogenes, der Clochard, der alles aufgegeben hat. / Ein Hund, denn er lebt wie ein Hund, bellt jene an, die vorbeigehen: Ob stark oder schwach, reich oder arm, Würdenträger oder Münzkopf. Ein Hund, seine Tonne eine Hundehütte, er selber ist raus, hat alles Innenleben aufgegeben: das Innen von Herd und Haus, das wärmende Innen der Gruppe; er hat die Gesellschaft verlassen. / Diogenes hat alles aufgegeben, zweifelt an allem. Er reduziert alles auf das, was es ist, ohne Schein, Diskurs oder Schnörkel. Er verließ das festgefügte Haus, legte das fließende Gewand ab und floh die zähen Beziehungen. Er, der Kyniker, ist nackt, allein in seiner Tonne. Im Angesicht der Sonne, wann immer sie scheint“ (A 85).

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Mit der Anekdote über Diogenes von Sinope setzt das letzte und längste Kapitel „Franciscain“ ein. Diogenes erscheint als Figuration der Ablösung: als das Ideal des exilierten Philosophen, der sein Glück jenseits der Polis und in der völligen Unabhängigkeit von äußeren Gütern erreicht, als ein Asket, der die Macht gesellschaftlicher Traditionen, Normen und Positionen zugunsten seiner persönlichen Freiheit und Selbstbestimmung aufgegeben hat, als ein Wahrheitssuchender schließlich, der lange vor Descartes – so will und postuliert es der Erzähler – den radikalen Zweifel zur Methode seines Philosophierens gewählt hat: Croyez Diogène plus que tout autre parleur du doute radical. N’écoutez pas ceux-ci quand ils disent qu’ils doutent, ils n’ont pas laissé leur manteau, ils n’ont pas laissé leur argent, leur élévation dans le groupe, leur petite puissance ni leur gloire médiocre. Ils ne déshabillent que les mots de leur parure, ils ne séparent de ses formations adventices ou de ses préjugés que l’idée, ils ne reviennent au réel dur et nu que dans leur tête, en rêve. Ils disent qu’ils pensent, ils ne font que dire. (D 120)558

Die warnend vorgetragene Kritik richtet sich gleichermaßen gegen die rationalistischen wie empiristischen Anfänge der neuzeitlichen Wissenschaft mit ihrer Annahme, Erkenntnisgewissheit setze die Säuberung des Denkens von aller Tradition voraus und müsse am Nullpunkt einer so geschaffenen tabula rasa neu einsetzen. Über die Kontrastierung mit Diogenes zielt diese Kritik vor allem auf ein theoretisches Denken, das vom Realen spricht, es in Wahrheit jedoch verfehlt: Ein von Leben und Wirklichkeit abgelöstes Denken und Reden verkommt zur bloßen Rhetorik; es bleibt im Strategischen verhaftet, und was sich darin als Wissen präsentiert, gründet letztlich auf einem Willen zur Macht. Was aber kennzeichnet diese Erzählung als Erzählung? Die DiogenesAnekdote erfüllt zunächst den Zweck eines bloßen ,point of departure‘: Ihre Wiedergabe erscheint rhetorisch instrumentalisiert für die sich anschließende philosophische Kritik. Diese bewegt sich ihrerseits zwischen philosophischem Gedanken und literarischer Form: Die philosophische Kritik am modernen Denken wird einem Erzähler zugewiesen, der sich appellativ an seine Rezipienten wendet. Evoziert wird geradezu der dogmatische Ton eines Predigers, der seine Gemeinde vor der Anbetung falscher Götzen warnt.

|| 558 „Glaubt dem Diogenes mehr als all den anderen Vertretern des radikalen Zweifels. Hört nicht auf die, welche behaupten zu zweifeln. Sie haben nicht ihren Mantel verschenkt, weder auf Geld, noch auf ihre Stellung in der Gruppe, ihre kleinen Machtbefugnisse oder gar auf ihren bescheidenen Ruhm verzichtet. Sie entkleiden nur die Worte ihres Schmuckes, trennen nur die Idee von Erlerntem und Vorurteilen, kehren nur im Denken oder im Traum zum ursprünglich Realen zurück. Sie sagen, sie denken, doch was sie tun, ist nichts als Reden“ (A 85 f.).

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Der Text fährt gleichnishaft fort: „Diogéne le clochard est nu comme François d’Assise […]“ (D 120). Nach der Auflistung einiger Parallelen zwischen dem Leben des Diogenes und dem des Franz von Assisi, verschiebt sich der Akzent kurz auf die Heiligenlegende, wobei in diesen Abschnitt weitere Mythen eingelagert sind: François d’Assise aime le monde. Il parle aux fleurs, il chante aux oiseaux, il dit au loup. Il dialogue longuement avec le loup de Gubbio. Je crois savoir ce qu’il lui a dit, j’écris tout ce qu’il lui a dit. Alors le loup, homme pour le loup, monstre à manger les autres loups, les hommes, pour se faire sa place à Gubbio, ville aux loups, alors le loup, lentement, quitte la ville de Gubbio, sans se retourner vers François, sans rugir ni dire. Sa louve ne nourrira pas de jumeaux, ni ne fondera de ville. Louve sèche (D 121).559

Das Hobbes’sche, ursprünglich auf Plautus zurückgehende Diktum ,homo homini lupus est‘ – hier in der Form einer Inversion erinnert –, der Verweis auf den Gründungsmythos von Rom, die allusorische Vorwegnahme des Gleichnisses vom Wolf und vom Lamm mit seinem biblischen Ursprung und seiner Weitertradierung in der Fabeldichtung sind hier in die Legende vom Heiligen Franziskus eingewoben. Genauer: Die Legende wird weniger nacherzählt, sondern erweist sich vielmehr als der Effekt einer bricolage verschiedenster Mytholegeme; die Erzählung ist eine Art ,point of return‘ des Erzählens. Der indirekte Verweis auf diese Mythenbausteine geschieht dabei in einer Weise, die zum einen ihre Identifikation als Teile eines bestimmten Mythos (und damit auch ihre Reintegration in denselben) erlaubt, zum anderen ihre Unabhängigkeit von einem spezifischen Mythos (und damit als frei variierbare und kombinierbare Elemente) veranschaulicht. Diese Verfahrensweise verleiht dem Text eine Kontraktionsbewegung: Er öffnet sich aufgrund der in ihn eingeschriebenen mythischen Spuren in Richtung der verschiedensten Mythen, ihrer jeweils umfangreichen Rezeptions- und Überlieferungsgeschichten und verzweigt sich von dort potentiell weiter ad infinitum; ebenso schließt er sich punktuell mit dem und zu dem Mythos vom Heiligen Franziskus zusammen, der, bezieht man den Anfang der Erzählung wieder mit ein, ineinsgespiegelt ist mit dem Mythos von Diogenes. Daran erinnert das Ende des zweiten Abschnitts: „Diogène, accroupi de-

|| 559 „Franz von Assisi liebte die Welt. Er redete mit den Blumen, predigte den Vögeln, sprach mit dem Wolf. Lange unterhielt er sich mit dem Wolf von Gubbio. Ich glaube zu wissen, was er ihm sagte, und schreibe es hier auf. Nun, der Wolf, der dem Wolf ein Mensch war, ein Ungeheuer, das andere Wölfe, andere Menschen, verschlang, um sich Platz und Stellung in Gubbio zu verschaffen, in dieser Stadt der Wölfe, also, dieser Wolf verließ langsam die Stadt Gubbio, ohne sich nach Franz umzudrehen, wortlos und ohne Drohung. Seine Wölfin wird weder Zwillinge nähren, noch eine Stadt gründen. Verdorrte Wölfin“ (A 86).

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vant le tonneau, se chauffe au soleil, quand il fait soleil. François d’Assise chante l’hymne au soleil. J’en écris, sous sa dictée, le drame“ (D 121).560 Der Dynamik des Textes folgend, verändert auch der Erzähler seine Position: War er zunächst quasi-neutraler Berichterstatter, ein Rhapsode, der die Anekdote des Diogenes wiedergibt, sodann warnender Prediger, der den rechten Glauben verkündet („croyez Diogène“, „n’écoutez pas“), so schlüpft er nun in die Rolle eines ‚unzuverlässig-zuverlässigen‘ Zeugen, der zu wissen glaubt („je crois savoir“), was Franz dem Wolf mitteilte, und schließlich in die Rolle eines prophetischen Vermittlers, der seinen als „drame“ ausgewiesenen Text nach dem Diktat des Heiligen Franziskus schreibt. Ehe diese Beobachtungen einer vertieften Analyse unterzogen werden, ist es ratsam, zunächst dem Text in seinem weiteren Verlauf zu folgen. Dass der Erzähler mit der Niederschrift des am Ende des zweiten Abschnitts angekündigten ,franziskanisch‘ perspektivierten Dramas längst begonnen hat, zeigt der Beginn des dritten Erzählabschnitts, der die Anekdote um Diogenes weiter entfaltet: Als Diogenes einige Frauen beobachet, die mit ihren Krügen Wasser aus dem Brunnen schöpfen, „[u]n gamin passe, courant, essoufflé, se faufile dans les jupes, se penche sur la vasque, trempe sa main, boit, plusieurs fois, au creux de la paume“ (D 122),561 woraufhin Diogenes seinen Becher hervorholt und ihn zerschlägt: „Il vient d’apprendre au chien que le chien vit dans le luxe, encore. Entre la bouche et l’eau, pourquoi cet intermédiaire inutile? Inutile ou dangereux?“ (ebd.).562 Es sei, so kommentiert der Erzähler, zwar richtig, dass sich Diogenes gegen den Becher und damit gegen ein materielles Gut entscheidet, das doch nur „zum Menschenhaß, zur Arroganz der Macht, zum Wahnsinnswettlauf“ führen wird, doch was er vergesse, dieser „elende Mensch“, sei die Tatsache, „daß man Wasser vergöttern, darum kämpfen und verkaufen kann – als rare Ware“ (A 87). Das Anekdotische mündet wiederum in die philosophische Reflexion: Eau ou vase, tout objet suppose des relations entre nous. Il existe, varie, s’éteint avec elles. Existerait-il seulement un objet sans un groupe pour le reconnaître, le faire, le

|| 560 „Wenn die Sonne scheint, hockt Diogenes vor der Tonne und wärmt sich an ihren Strahlen. Franz von Assisi singt den Sonnenhymnus. Ich schreibe dazu nach seinem Diktat das Drama“ (A 86). 561 „Ein Gassenjunge kommt gerannt, schwer atmend schlüpft er zwischen Röcken durch, beugt sich vor zur Brunnenschale, taucht die Hand ein, trinkt aus hohler Hand, trinkt mehrere Male“ (A 87). 562 „Der Hund begriff, daß er noch immer im Luxus lebte. Wozu zwischen Mund und Wasser dieses unnütze Hilfsmittel? Unnütz oder gar gefährlich?“ (ebd.).

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nommer ou le qualifier? Y a-t-il un seul objet pour un homme seul, c’est une question. La question inverse est tout aussi profonde: existerait-il un seul groupe humain, adviendraitil un seul accord entre quelques hommes, sans la condition préalable qu’il existe un objet pour eux. Pas de chose sans un collectif, pas de collectif sans chose. (D 123)563

Das zuvor ästhetisch Vergegenwärtigte wird auf eine theoretisch-diskursive Ebene gebracht, der narrativ-fiktionale Diskurs durch seine Übersetzung in nichtfiktionale Thesen und Hypothesen unterbrochen und zugleich gedeutet. Der anagogische Impetus des Textes – und mit ihm eines von Serres’ philosophischen Grundthemen – rückt zunehmend in den Vordergrund. Dinge und menschliche Gemeinschaften, so lassen sich die nächsten Abschnitte zusammenfassen, konstituieren sich zwar wechselseitig, doch erfahren die Dinge durch ihre Ökonomisierung und Utilitarisierung eine Entdinglichung und verwandeln sich in Waren, Fetische, Kampftrophäen, welche die dingliche Wirklichkeit verstellen. „François Diogène d’Assise et d’Athènes“ hat dieser Form der Objektbeziehung und ineins damit: dieser Form des menschlichen Miteinanders abgedankt, „a quitté la valeur et l’échelle, il a laissé l’échelle des valeurs, fort et faible, puissant et misérable, il a quitté la comparaison. D’où vient tout le mal du monde. On ne se détache jamais que de la comparaison“ (D 125).564 Franz und Diogenes etablieren eine radikale Gegenordnung zum gegebenen gesellschaftlichen Gefüge: François quitte le monde pour le monde […]. François est panthéist: ce monde-ci est divin. Tout divin, seul divin. Objectif. […] Diogène le Cynique a laissé ce prix, Diogène a laissé le sel. Pacifié, en haillons, seul devant son tonneau, montrant le zéro de l’usage sur la nudité de sa peau, il médite et demande: pouvons-nous inventer des rapports autre que de lutte, autres que d’échange ou d’adoration? Puis-je mettre la main ou porter le regard sur une

|| 563 „Wasser oder Vase [bzw. Gefäß, BM], jedes Objekt setzt Beziehungen zwischen uns voraus. Es existiert, verändert und verschwindet mit ihnen. Würde ein Objekt existieren, wenn es nicht von einer Gruppe erkannt, gemacht, benannt oder bewertet wird? Gibt es ein reines Objekt für einen reinen Menschen? Die darin enthaltene Frage ist ebenso grundsätzlich: Kann eine menschliche Gruppe rein für sich existieren, kann überhaupt eine einzige Übereinkunft zwischen Menschen stattfinden ohne die Voraussetzung eines für beide Seiten existierenden Objekts? Kein Objekt ohne Gemeinschaft, keine Gemeinschaft ohne Objekt“ (A 87 f.). 564 „Franz Diogenes von Assisi und Athen hat Wert und Hierarchie zurückgelassen, verließ die Ebenen der Werte, der starken, schwachen, mächtigen und elenden, verließ den Vergleich. Woher kommt das ganze Übel der Welt? Wenn man sich ablöst – so löst man sich nur vom Vergleich“ (A 89).

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chose, une chose qui ne soit ni un enjeu, ni un fétiche, ni une marchandise? (D 125; 126 f.)565

Die Anekdote über Diogenes wird nun weiter entfaltet und alternierend dazu die philosophische Reflexion über die Beziehung von Menschen und Dingen vertieft. Der Erzähler rückt zunächst wieder – und jetzt ausdrücklich – in die Rolle des Berichterstatters, um sodann das Berichtete zu dementieren bzw. zu korrigieren: Vaguant sur la place publique, une lanterne allumée à la main dans le milieu du jour, on rapporte que Diogène cherchait un homme. […] Et je dis qu’il cherchait une chose, je dis qu’il cherchait un objet. Cet objét rarissime qui n’est ni l’enjeu d’une lutte, ni le fétiche d’une adoration, ni une marchandise pour l’échange. Il cherchait l’objet perdu. La lanterne allumée au poing, errant dans les rues, hagard, Diogène est l’ancêtre du chercheur de science. (D 127)566

Nimmt man den Hinweis des Erzählers, er würde nach dem Diktat des Franziskus ein Drama niederschreiben, ernst, so wäre an dieser Stelle das Ende der Exposition erreicht: Das Drama, das hier erzählt wird, ist das Drama der Wissenschaften. Die sukzessive Eröffnung des mythischen Schauplatzes wird parallelisiert und zugleich ineinsgespiegelt mit der Eröffnung des szientifischen Schauplatzes, genauer: Der Ort, an dem sich das Drama abspielt, sind gleichermaßen der mythische Logos und der epistemische Logos. Der Schauplatz markiert eine Passage, die beide in ein Interferenz- und Interrelationsverhältnis zueinander bringt. Der zurückgezogen lebende und denkende, der vollkommen von den Beziehungen der Macht abgewandte und dem wahren, unverstellten Sein der Dinge zugewandte Diogenes, der Franziskaner, ist nicht nur Paradigma eines guten Lebens, sondern vor allem Paradigma einer guten Wissenschaft:

|| 565 „Franz ließ ab von der Welt um der Welt willen […]. Franz ist Pantheist: Diese Welt ist göttlich, unvergleichlich, objektiv. […] Diogenes, der Kyniker, ließ ab von diesem Preis, leistete Verzicht auf dieses Salz. Friedlich, in Lumpen, allein vor seiner Tonne, meditiert und fragt er, indem er mit der Nacktheit seiner Haut den Nullpunkt aller Nutzung zeigt: Können wir keine anderen Beziehungen schaffen als die des Kampfes, des Tauschs oder der Anbetung? Kann ich ein Ding mit meiner Hand berühren oder mit meinem Blick erfassen, ohne daß dies Ding zu einem Einsatz, einem Fetisch, einer Ware wird?“ (A 89 u. 90). 566 „Es geht der Bericht, Diogenes ziehe am hellichten Tag mit einer brennenden Laterne über den öffentlichen Platz auf der Suche nach einem Menschen. […] Und ich behaupte, daß er ein Ding, ein Objekt suchte, jenes höchst seltene Objekt, das weder Kampftrophäe ist, noch Fetisch der Vergötterung oder Ware eines Tauschprozesses. Er suchte das verlorene Objekt. / Mit der brennenden Laterne in der geballten Faust, unbeirrt in den Straßen irrend und suchend, ist Diogenes ein Vorfahr der Forscher und Wissenschaftler“ (A 90).

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eine Hermesvariante, die „irrend und suchend“ (A 90) nach dem Licht der Wahrheit strebt. Die Identifizierung des Diogenes als ein „ancêtre du chercheur de science“ ist freilich nur eine Zuspitzung, die von Beginn der Erzählung an vorbereitet ist. Die partielle narrative Entfaltung verschiedener Aspekte des Diogenes- und des Franziskusmythos, die synkretistische Verschmelzung heterogener Mythologeme erfolgt in einer streng selektiven Weise: Die Konzentration des Erzählers lagert auf jenen mythischen Konstellationen und Themen, die sich für Serres’ enzyklopädisches Epistemologieprojekt als relevant erwiesen haben: die Kategorie der Beziehung als solche, ihre Konkretion in kommunikativen Beziehungen, ihre negativen Manifestationen im sozialen, ökonomischen, politischen und wissenschaftlichen Gefüge, ihre idealen Manifestationen im ‚Zwischen‘, in der Passage, in der Askese, in der suchenden Reise.567 Diese epistemischen und epistemologischen Implikate der Mythen und Mythologeme werden durch deren erzählendes Wieder- und Neuerzählen, durch die kontrollierte Kontrastierung, Parallelisierung, Kreuzung und Vergleichung einzelner Fabelaspekte entfaltet und aufgedeckt. Entscheidend ist jedoch, dass der Erkenntnisgehalt von Mythen nicht vorrangig in der Weise philosophischer Abstraktion erfolgt, sondern in der Weise narrativer Hervorbringung: Das konzentrische, jeweils verschiedene Aspekte der Mythen umkreisende Erzählen treibt die bildhaften Elemente einer enzyklopädischen Epistemologie hervor. Diese metaphorischen Epistemologeme werden in den sich jeweils anschließenden philosophischen Reflexionspassagen zwar nachträglich ‚objektiviert‘ im Sinne einer wissenschaftlich pointierten und konzisen Thesenbildung, doch so, dass sie dabei ihre Kontiguität – ihr topologisches Näheverhältnis – zum Mythischen und Narrativen nicht verlieren. Dies geschieht etwa durch die parataktische Organisation von abstrakten Thesen und fiktiven, die Fabel des Mythos aufgreifenden Sätzen,568 durch Verknüpfung von fiktiver Redesituation und philosophischem Redegehalt569 oder durch die Relativierung von Thesen durch ihre Rückführung ins Interrogative.570

|| 567 Um Macht, Erkenntnis, Askese, Beziehungen zentrierte Motivfelder durchziehen nicht nur dieses Kapitel, sondern die gesamte Lehrfabel. 568 Mehrfach wurde bereits darauf hingewiesen, dass erzählende und philosophisch-reflexive Passagen alternieren. Diese parataktische Anordnung manifestiert sich sowohl auf der Makroals auch auf der Mikroebene des Textes, d.h. es ist lediglich die jeweils vorgenommene Akzentuierung, die es erlaubt, eine Passage eher dem Narrativen oder dem Philosophischen zuzuordnen. 569 So werden etwa die oben zitierten dezidiert philosophischen Fragen nach der Beziehung zwischen Objekt- und Subjektwelt als Fragen des meditierenden Diogenes ausgewiesen, die

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Die temporäre Aufspaltung und Verzweigung des narrativen Diskurses in Erzählung und philosophische Reflexion spiegelt die beiden auf der Geschehensebene etablierten, konträr aufeinander bezogenen Ordnungen: Die Ordnung der Gesellschaft, die der Logik der Macht, des Besitzes, des Tausches und des Kampfs verfallen ist, kurz: die jener „Soziologie der Konkurrenz“ folgt, die jegliche Wahrheit und Erkenntnis verunmöglicht; und die Ordnung des Diogenes-Franziskus, die der Logik der freiheitlichen Askese und des Rückzugs gehorcht, kurz: jener Logik der Ablösung, die den unverstellten und damit wahren Blick auf die Welt ermöglicht.571 Wenn soeben gesagt wurde, dass trotz dieser temporären Aufspaltung des narrativen Diskurses das topologische Näheverhältnis von Mythos/Literatur und Philosophie nicht preisgegeben wird, dann steht paradoxerweise die Logik des Erzähldiskurses im Kontrast zur Logik der Ablösung:572 Diese Logik des ‚attachement‘, der Verbindung und Relation, in der die kritisierte gesellschaftlich-epistemologische Ordnung und die Ordnung des narrativen Diskurses koinzidieren, unterläuft und relativiert die als ideal ausgewiesene Ordnung des ‚détachement‘, der Absonderung und Differenz. Mit Blick auf das weitere Geschehen übernimmt die Logik des Diskurses eine antizipatorische Funktion, denn es wird sich zeigen, dass Diogenes – und mit ihm etliche weitere tragische Protagonisten – letztlich Figuration einer gescheiterten Ablösung ist. Zunächst erfährt die Diogenes-Anekdote – und mit ihr die narrative Epistemologie – eine weitere Amplifikation: Mit der berühmten Begegnung zwischen Diogenes und Alexander dem Großen, zwischen dem, der nichts hat, und dem, der alles hat,573 wird die von Diogenes aufgeworfene Frage nach der Möglichkeit einer reinen Subjekt-Objekt-Beziehung erneut problematisiert. In einer „zweiten

|| Fragen also innerhalb einer fiktiven Redesituation etabliert und solcherart das Philosophische ästhetisiert (vgl. D 126 f.). 570 So etwa wird die Behauptung, dass jedes Objekt Beziehungen zwischen Menschen voraussetzt, unvermittelt wieder dem Status der Fraglichkeit ausgesetzt (vgl. D 123 bzw. A 87 f.). 571 Treffend bezeichnen Röttgers und Clausjürgens die Ablösung als einen „Topos für Übergänge“ (Kurt Röttgers u. Reinhold Clausjürgens: Zur Einleitung: Vielfältigkeiten [multiplicités], in dies.: Michel Serres, S. 1–25). 572 Am deutlichsten tritt dieser Kontrast in der Definition von Ablösung als Ablösung vom Vergleich zutage: „On ne se détache jamais que de la comparaison“ (D 125), der Vergleich aber wiederum zu den zentralen poetischen Verfahrensweisen des Textes gehört. Gerade der narrativ vollzogene Vergleich verschiedener Mythen (und – wie noch zu zeigen sein wird – dessen permanente Erweiterung) produziert jene Interferenzen, jene tertia comparationis, die als metaphorische Epistemologeme bezeichnet wurden. 573 Die Philosophie von Maximum und Minimum, von Enzyklopädie und tabula rasa, erscheint hier personalisiert.

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Meditation über Niedrigkeit“ setzt Diogenes den mit der Becher-Episode begonnenen Erkenntnisprozess fort: Entre ma bouche et l’eau, voici une écuelle, je casse l’écuelle […]. Entre mon corps et le soleil, Alexandre est passé, qui voile le soleil, ôte-toi de mon soleil, Alexandre. Entre mon attention et un objet du monde, toujours vient se glisser un interrupteur, un intercepteur, écuelle, […], Alexandre: un écran. Un parasite passe et se place entre le sujet, par exemple, moi, et l’objet, l’objet majeur de toute connaissance, le soleil. Le soleil, vu de la terre, est masqué par la puissance, juchée sur son cheval. (D 128 f.)574

Bereits die an Descartes’ Meditationes (und damit an jenes Paradigma philosophischen Denkens und Zweifelns, das zuvor als bloß rhetorisch und deshalb unglaubwürdig kritisiert worden war) angelehnte, erneut eine reflexive Passage introduzierende Formel kündigt das tragische Scheitern des Helden „François Diogène“ (D 128) an.575 Das Skandalon des Vorgangs ist nicht die Tatsache, dass Diogenes es wagt, das Angebot des Königs, ihm jeden Wunsch zu erfüllen, mit den bekannten Worten „Für diesmal, geh mir aus der Sonne!“ (A 91) in Anspruch nimmt, sondern die Tatsache, dass der König es überhaupt gewagt hatte, sich zwischen Diogenes und die Sonne zu stellen. In meditativen Wiederholungen und zugleich exzessiven Variationen, im sprunghaften Wechsel von Erzählen und Philosophieren, Deuten und Definieren, auktorialem und personalem Redegestus usf. umkreisen die folgenden Abschnitte den parasitären Dritten, illustrieren, dokumentieren, reflektieren, zitieren, behaupten, deuten, deuten an, verwerfen, dementieren, befragen, was dieser ist und nicht ist. Durch diese Mischung der Stile – man könnte geradezu von einer stichomythisch angelegten bricolage der Stile sprechen576 – gerät der Diskurs zunehmend in Unordnung und verwandelt sich selbst in jenes Geschehen, von dem er

|| 574 „Zwischen meinen Mund und dem Wasser ein Becher, den ich zerbreche […]. Zwischen Leib und Sonne trat Alexander und verdeckte sie. Hebe dich hinweg aus meiner Sonne, Alexander! Zwischen meine Aufmerksamkeit und einem Objekt der Welt schiebt sich stets ein Unterbrecher und Sperriegel, ein Becher […], ein Alexander: ein Schirm. Ein Parasit kommt und setzt sich fest zwischen mir, dem Subjekt, und dem Objekt, dem höchsten Erkenntnisobjekt: der Sonne. / Von der Erde gesehen, ist die Sonne verdeckt durch die Macht, die hoch zu Rosse sitzt“ (A 91). 575 Die tragische Wendung wird allerdings schon früher angezeigt, etwa in der kritischen Äußerung des Erzählers, dass Diogenes zwar den Becher zertrümmert habe, ohne sich dessen bewusst zu sein, dass auch das scheinbar wertlose Wasser eine Ware und damit eine Trophäe des Kampfes ist (vgl. D 122 f.). 576 „Oft“, so Petra Gehring, „sind die Sätze, als gälte es, mit einer Nähnadel Stiche zu setzen, ganz kurz“ (Petra Gehring: Leuchtende Unordnung, aufscheinende Ordnungen, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 67 [2019], S. 874–880, hier S. 877).

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spricht: zu einem anschwellenden Rauschen des Parasitären. Es ist dieses diskursive Geschehen, das eine Dynamisierung und Dramatisierung erfährt, wohingegen der eigentliche dramatische Plot nahezu stillgelegt ist bzw. nurmehr innerhalb kurzer Textbausteine in Bewegung bleibt. Als textuelles Gesamtgefüge stagniert er in der Wiederkehr des Gleichen und Ähnlichen, nämlich in der monologischen Bestimmung des Parasitären als einer Formation der Macht577 und in der dichotomen Anordnung dessen, was das Parasitäre in seinen zahllosen historischen, anthropologischen, szientifischen und konzeptionellen Manifestationen ist und was es nicht ist.578 Diese Klassifizierung des Parasitären in eine oppositionelle Ordnung geht einher mit einer – lediglich partiell aufgeweichten – Wertehierarchie, die aus der entschiedenen Parteinahme des (zunehmend sich im Anonymen verflüchtigenden) Erzählers für das NichtParasitäre und damit für das ‚Diogenetisch-Franziskanische’ hervorgeht. Die gegenläufige Bewegungstendenz von Plot und Diskurs erzeugt zwei unterschiedliche, konträr und korrektiv aufeinander bezogene Paradigmen textueller Organisation, die im Folgenden mit den Begriffen ‚Text‘ und ‚Textur‘ bezeichnet werden. In Anlehnung an den von Kilcher im Rekurs auf strukturalistische und poststrukturalistische Zeichen- und Textheorien entfalteten Texturbegriff soll mit dem Terminus ‚Text‘ zunächst ganz allgemein die traditionellaristotelische, semantisch und strukturell geschlossene, linear und systematisch geordnete sowie referentielle Logik textueller Organisation erfasst werden, mit dem Terminus ‚Textur‘ die (post)modern-anti-aristotelische, offenpolyphone und kombinatorisch-permutationelle.579 Die saloppe Formulierung,

|| 577 Der Plot tendiert zum Indifferenten. 578 Parasitär sind Alexander der Große in der Anekdote des Diogenes, der Wolf in der Legende des Heiligen Franziskus, die Macht, jenes tertium comparationis von König und Wolf, das Höchste, das Maximum, das Verstellende, Verschattende, Blendende, das Intuition und Erkenntnis Verdunkelnde und Verdrängende, Wettkampf, Wettstreit, Rivalität, das Residuum des Interesses, Ordnung, Hierarchie, Ludwig XIV., das Barbarische, der Tod, All-Raum, Hiroshima – diese Reihe ließe sich beliebig fortsetzen; nicht-parasitär sind Diogenes, Franz von Assisi, eine Kultur und Wissenschaft, die alles Parasitäre flieht, d.h. die Kultur in der Tonne, die Wissenschaft in ihrem Ursprung und in ihren Innovationen, die Uninteressierten, Indifferenten und Abgelösten, Thales, reine Logik, reines Denken, Nicht-Ort, vollkommene Utopie, Sonnengesang, Leben – diese Reihe ließe sich nur dann ad infinitum fortsetzen, wenn es das Parasitäre nicht gäbe. 579 Odysseus und Orpheus könnten in diesem Zusammenhang als mythische Figurationen von bzw. mythische Analoga zu Text und Textur aufgefasst werden. Wie Schmitz-Emans im Rekurs auf Serres’ Die fünf Sinne. Eine Philosophie der Gemenge und Gemische aufzeigt, verkörpern Odysseus und Orpheus „verschiedene Verfahrensweisen des Umgangs“ mit jener „Grenze zwischen Undifferenziertem und Differenziertem“, welche die Sirenen markieren (Schmitz-

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‚irgendwie hängt alles mit allem zusammen‘, bringt die enzyklopädische Disposition der Textur treffend zum Ausdruck: Textur, das ist die Vernetzung des Wissens überhaupt, Wissen als Vernetzung, Enzyklopädie als Netzwerk […]. Textur ist Enzyklopädik an den äußersten Grenzen möglicher Anordnung des Wissens [,] […], eine asystematische und förmlich entropische Form des enzyklopädischen Schreibens. […] Enzyklopädische Anordnung erweist sich im Status der Textur unter dem Vorzeichen der Unordnung. ‚Unordnung‘ aber ist hier nur ein Begriff für höchstmögliche Komplexität in der Anordnung eines fragmentierten Wissens und Schreibens.580

Im Rekurs auf Serres’ Epistemopoetik ist Textur die ‚formlose Form‘ epistemopoietischen Denkens und Schreibens. Sie ist Ausdruck jener beschriebenen Verlagerung des wissenschaftlichen Denkens von den Substanzen und Gegenständen zu den Relationen, von den Substantiven und Verben zu den Präpositionen.581 Und analog der präpositionalen Philosophie tendiert auch die Textur gleichermaßen zum Alles der Enzyklopädie wie zum Nichts der tabula rasa: „Die Textur verabsolutiert die Verweise [zwar] in einem komplexen atomistischen Geflecht“ intra- und intertextueller Anspielungen und Verknüpfungen und präsentiert sich damit als ein „fragmentarischer Typus der Universalität“,582 doch ist mit dem von Kilcher beschriebenen Grenzfall, wonach in der Textur die Daten des Wissens nicht nur in einer dysfunktionalen, unregulierten und unpragmatischen, sondern „in einer geradezu informationslosen Konsistenz“583 vorliegen, zugleich jener Grenzwert angezeigt, an der die Verweise jegliche kommunikative, an- und bedeutende Funktion verlieren und in die reine Selbstverweisung umschlagen. Das enzyklopädisch aufgespannte Netz würde – anknüpfend an die Logik des Parasiten – sämtliche distinkte Funktionen der

|| Emans: Schreibpraktiken bei Michel Serres, S. 131). Während Odysseus für den „rationalistischen Diskurs“ stehe, sei Orpheus „Inbegriff des Künstlers“, der sich auf „das Ungeordnete und das Rauschen“ einlasse (ebd.). Zu Serres’ ‚Sinnes‘-Schrift vgl. auch Jessica Güskens instruktiven Beitrag: Knoten: lösen, knüpfe, mit der Haut denken. Michel Serres’ tangible Philosophie der Gemenge und Gemische, in: Michel Serres. Das vielfältige Denken, S. 37–57. 580 Kilcher: mathesis und poiesis, S. 326. 581 „Das Schreiben“, so Schweitzer, „wird […] selbst zum kritischen Akt, es wird zu einer Praxis, einem performativen Akt, der im Text selbst die kritischen Abweichungen und Umwertungen vollzieht bzw. die Verbindungen, Vermischungen und Isomorphien erzeugt“ (Schweitzer: Topologien der Kritik, S. 452). 582 Ebd., S. 327. 583 Ebd.

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Zeichen und Verweise einbüßen und im kontinuierlichen Sein des Kanals – der Relation, des Parasitären, des Rauschens – zu Grunde gehen.584 Die Beobachtung, dass der Diskurs von Serres’ Lehrfabel durch die Kombination heterogener Stile und Erzählformen, den Wechsel der Erzählperspektive sowie die im weiteren Verlauf exzessiven intra- und intertextuellen Verweise eine komplexe Textur formiert, während sich der eigentliche Plot zunehmend zu einem geschlossenen Text mit fixierbaren Aussagen schnürt, erhärtet sich durch die Annahme, dass Serres die Grundsätze seiner Epistemologie auch auf die Literatur überträgt und insbesondere die epistemologische Methode der topologischen Abstraktion bzw. der kombinatorischen Topologie585 zum Struktur- und Organisationsprinzip seiner narratio macht. Serres’ Methode geht, wie gezeigt wurde, nicht von semiotischen oder texttheoretischen Überlegungen aus, sondern von mathematischen. Die von ihm vorgenommene Kontrastierung von Topologie, „the science of nearness and rifts“, und metrischer Geometrie, „the science of stable and well-defined distances“,586 korreliert in texttheoretischer und narratologischer Sicht mit der Unterscheidung von offen-heterogener Textur und geschlossen-homogenem Text und den damit jeweils verbundenen Operationen und Resultaten. Aber auch in der alleinigen Betrachtung der Topologie lassen sich beide Begriffe plausibilisieren, insofern dieses algebraische Verfahren darauf zielt, über die Relationierung und Vernetzung disparater Räume, Zeiten und Diskurse äquivalente Strukturen aufzudecken. Im signifikanten Unterschied zu den strukturalistisch-poststrukturalistischen Zeichenund Texttheorien geht es Serres nicht um ein radikalisiertes Denken in Differenzen, sondern umgekehrt um die Überwindung von Differenzen und Schismen durch das Auffinden von Isomorphien, Strukturäquivalenzen und analogen Ordnungsmustern. Die der kombinatorischen Topologie folgende Denk-,

|| 584 Julia Kristeva wagt sich in der Beschreibung dieses Grenzfalls vermutlich am weitesten vor, wenn sie, ich zitiere nach Kilcher, die „permutationelle Enzyklopädie […] treffend als ‚totalité carnevalesque‘ [charakterisiert]: ‚Il y a une pratique permutationnelle qui n’exprime pas et qui ne peut être représentée. Nécessairement, elle refuse la scène comme surface représentative et communicative et se joue dans la totalité du VOLUME carnivalesque‘“. Während der geschlossene Text stets bestrebt ist, „die ‚Permutation der erzählenden Rede anzuhalten (ârreter la permutation du discours narratif), den Text an eine Ende zu bringen‘“, perpetuiere der enzyklopädische Text das karnevaleske Spiel der Kombinationen und Allusionen. „Er ist förmlich die performative Bühne einer ‚théatralité permutationnelle‘“ (Kilcher: mathesis und poiesis, S. 332, Zitate aus Julia Kristeva: Le texte du roman. Approches sémiologique d’une structure discursive transformationnelle, The Hague 1970, S. 166). 585 Vgl. Serres: The Birth of Physics, S. 98. 586 Serres/Latour: Conversations, S. 60.

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Schreib- und Darstellungsmethode ist folglich teleologisch auf Synthesebildungen gerichtet; damit ist sie – erneut entgegen dem (post)strukturalistischen mainstream – aber auch entschieden intentional-pragmatisch orientiert. Wenn Serres gegenüber Latour erklärt, sein größtes Problem sei es, „my wish to be encyclopedic“ in Einklang zu bringen mit „my desire for synthesis“,587 dann drückt sich darin nicht nur das Bewusstsein aus, dass das Ideal von Enzyklopädie als einer Synthese des Wissens unter den Bedingungen der Moderne nicht mehr einzulösen ist, Enzyklopädie also nurmehr im Status der fragmentarisierten Textur konstituiert werden kann, sondern implizit ist damit auch die Frage nach den Applikationsmöglichkeiten und -grenzen der mathematischen Topologie im Bereich der Philosophie, der Epistemologie, der Literatur, kurz: im Bereich der Textkulturen berührt. Denn text- bzw. erzähltheoretisch gewendet beschreibt die Frage nach der Vereinbarkeit der textural verfassten enzyklopädischen Unordnung des Wissens und der synthetischsystematisch verfassten Ordnung des Wissens nichts anderes als die Frage nach der möglichen Vereinbarkeit von Textur und Text. Nach der aufgezeigten Gegenbewegung von Diskurs und Plot mag es naheliegend erscheinen, dass in Détachement die Differenz zwischen Text und Textur der Differenz von Plot und Diskurs entspricht und die Vereinbarkeit beider in der sukzessiven Ablösung oder Emanzipation des einen vom anderen besteht. Bei genauerer Betrachtung – und dies deutete sich bereits in der am Beispiel der Franziskus-Legende beschriebenen Kontraktionsbewegung an – weist auch der Plot sowohl Merkmale der Textur als auch des Textes auf. Dieses ‚plot-splitting‘ manifestiert sich tendenziell dahingehend, dass zum einen durch das diskursive Verfahren der Inter- und Intratextualität eine kaum zu überblickende Fülle von ‚fremden‘ Texten effektiv (und damit auch referentialisierbar) präsent ist und die Erzählung sich auf diese Weise zu einer höchst fragmentierten und atomisierten PlotTextur (mit enzyklopädischer Disposition) entgrenzt; zum anderen – und zugleich – zeigt sich der Plot als ein geschlossener, semantisch eindeutiger Text, der letztlich die gesamte Lehrfabel dominiert. Dieser geschlossene Text, der elementare Aussagen der Serre’schen Epistemologie zum Gegenstand hat, ist zwar durchgängig präsent, zeigt sich aber – dies in Abhängigkeit von seiner erzähltechnischen Hervorbringung – in unterschiedlicher Weise. Im ersten Fall – und dieser überwiegt rein quantitativ – erscheint er als ein Subtext, ist also paradoxerweise präsent als ein Text in absentia, der durch die enzyklopädische Vernetzung heterogener Textformen, -strukturen und -gehalte allererst erzeugt wird. Im zweiten Fall sind es die immer wieder eingestreuten kommentieren|| 587 Serres/Latour: Conversations, S. 89.

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den, philosophisch reflektierenden oder dezidiert epistemologischen Passagen, die diesen latenten Subtext an die manifeste, gleichsam schwarz auf weiß lesbare Oberfläche heben. Der im ersten Fall gegebene paradoxe Befund, dass die narrative Konstituierung der Textur – die potentiell universale Vernetzung aller Zeichen und Texte und damit des Wissens überhaupt588– zugleich die narrative Konstituierung des epistemologischen Textes – eines semantisch und strukturell geschlossenen Systems – ist, erhärtet sich vor dem Hintergrund der für die topologische Abstraktion charakteristischen teleologisch-pragmatischen Ausrichtung. Appliziert auf das Verhältnis von Text und Textur: Der epistemologische Subtext – die Struktur, die eine Pluralität von Modellen zusammenfasst – ist die pragmatische Finalität, auf die das permutationelle Erzählen und damit auch die relationelle Lektüre zusteuern; zugleich kommt dem epistemologischen Text ein transzendentaler Status zu, d.h. die Textur konstituiert sich vom Text her. Mit anderen Worten: Der Text ist archē und telos der Textur, die Textur archē und telos des Textes. Der Verzicht auf eine Entpragmatisierung und Dysfunktionalisierung der Textur scheint nicht nur ihre Bestimmung als permutationell-enzyklopädische „Vernetzung des Wissens überhaupt“ zu relativieren, sondern darüber hinaus den Verdacht zu provozieren, die Textur könnte sich lediglich als ein Text und damit als eine bloß simulierte und camouflierte Textur erweisen. Bevor dieser Frage nachgegangen und das Verhältnis von Text und Textur näher präzisiert werden soll, empfiehlt es sich, der „Franciscain“-Erzählung in einer paraphrasierend-kommentierenden Lektüre bis zum Schluss zu folgen und sie im Kontext der vorausgehenden Erzählungen zu betrachten. Alexander der Große, der sich zwischen Diogenes und die Sonne stellt, ist analog dem Becher ein Parasit, der den reinen Blick und die reine Erkenntnis versperrt. Alexander ist das Interesse. Qu’est-ce-que l’intérêt? Notre langue sage le dit sans ambages: c’est ce qui réside entre, qui se situe dans l’intervalle. […] Alexandre intervient, il est juché sur son cheval entre Diogène et le soleil, il est intéressant. L’écuelle est intéressante, elle est entre ma bouche et l’eau, […], les mots sont intéressants, ils volent ou dorment entre nous. […] Qui est le roi, qui est Alexandre? Il est l’objet le plus intéressant, il est la personne la plus intéressante du monde: le pouvoir est d’autant plus grand qu’il intervient partout. Et s’il est le plus grand, il n’y a pas de lieu ni de temps où il n’intervienne. Le pouvoir est donc ce qu’il y a de plus intéressant. Diogène l’abandonne […]. Diogène tente d’effacer les médiations. Il

|| 588 Vgl. Kilcher, mathesis und poiesis, S. 326.

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ponte les intervalles. Il éteint les medias. Il essaie, de la main, de la voix, d’écarter les parasites. Il est, très exactement, désintéressé.“ (D 132 f.)589

Diogenes, der Uninteressante, ist die Erkenntnis, deren Grundsatz die Erfindung ist, was nichts anderes heißt als „les chose à voir, les choses à connaître“ (D 94). „Si les gens de culture et de science“, so lautet die Schlussfolgerung, „ne s’intéressaient plus qu’à ce qui n’a pas d’intérêt, il pleuvrait des inventions sur notre monde“ (D 133). In der unmittelbar darauffolgenden Szene scheint es Diogenes, „que le corps du rois descend au tombeau“, als erhebe sich das Grabmal dort, wo der König steht in der Gestalt einer ägyptischen Pyramide; in dieser lagern der Pharao und seine Werte, Einsätze und Fetische. Wieder werden zwei verschiedene Topoi, zwei Protagonisten, zwei gesellschaftspolitische Entwürfe zusammengeführt und auf ihre identische Topologik zurückgeführt: Alexander und der Pharao, die Interessanten, die großen Fetische. Sodann die Fortführung des poetischen Bildes: Le soleil se lève derrière le tombeau pyramidal, oui, le soleil s’écarte de la tombe, il perce à la pointe, au sommet du polyèdre parfait. Je ne reconnais plus Diogène le Cynique, ébloui, transformé par le soleil, toute la scène change mais demeure, c’est la même, mais c’est la scène primitive de géométrie, c’est le jour et le lieu où Thalès vit le soleil passer audessus du tombeau et tracer sur le sable ce tout premier théorème des formes semblables stables par variance de taille, premier espace exact, c’est la scène première de science. Que la grandeur intervienne devant le soleil, et le chien reste à l’ombre. Que le soleil monte juste au-dessus du sommet du tombeau des rois, et le sage lit sur le sable la première rigueur inventée. Thalès et Diogène sont sur la même scène, l’une est le théorème de Thalès, la première invention de géométrie, l’autre est sa condition, le théorème de Diogène, la première invention de théorie de connaissance: ôte-toi de mon soleil, laisse-moi oublier ta grandeur, laisse-moi oublier ton pouvoir. Thalès est là, pour démontrer Diogène, Diogène rend possible Thalès. (D 134)590

|| 589 „Was aber ist das Interesse? Unsere gelehrte Sprache sagt kurz und bündig: Es ist das, was sich dazwischen befindet, was sich im ‚Zwischen‘ situiert. […] Alexander tritt dazwischen, sitzt hoch zu Roß, zwischen Diogenes und Sonne: Er ist interessant. Interessant auch der Becher, zwischen Wasser und Mund […]. Interessant die Worte, sie fliegen oder schlafen zwischen uns. […] Was ist der König? Was Alexander? Er ist das interessanteste Objekt, die interessanteste Person der Welt: die Macht ist deshalb so groß, weil sie stets und überall dazwischentritt. Und weil sie das größte ist, gibt es weder einen Ort noch eine Zeit, wo sie nicht dazwischentritt. Die Macht ist folglich das Allerinteressanteste. Diogenes hat ihr entsagt […]. Diogenes will alle Vermittlung streichen. Er überbrückt das Zwischen, löscht die Medien, versucht, aus Hand und Stimme die Parasiten auszutreiben. Er ist, im eigentlichen Sinne, uninteressant“ (A 93 f.). 590 „Die Sonne erhebt sich hinter dem Pyramidengrab, ja, löst sich vom Grabmal, bricht sich an seiner Spitze, am Scheitelpunkt des perfekten Polyeder. Geblendet von der Sonne, die alles

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Eine Szene, zwei Ursprünge, ein Bedingungsverhältnis: Diogenes und Thales, die Uninteressanten, die Antiparasiten, reine Erkenntnis und reine Wissenschaft, Erfinder der Erkenntnistheorie und der Geometrie. Erneut übersetzt und gedeutet: „La connaissance est sans grandeur, sans puissance, sans adoration, sans conquête, sans valeur, d’abord. L’invention, l’intuition, la découverte, légères, ont lieu sans force, sans or, sans encens. Peut-être sans lieu. Sans Alexandre, la science est un bain de soleil“ (D 135).591 Auf diese Weise setzt sich der Text fort. Im Zugleich von Amplifikation und Reduktion kommt zur Erfindung der Geometrie die Erfindung der Mechanik – auch sie geschieht im „Riß des Raumes“ (déchirure dans l’espace) –, noch einmal wird die Geburtsszene von Geometrie und Erkenntnistheorie wiederholt, abstrakt und zugleich poetisch: „Ils [des aïeux grecs anonymes] ont mis la main […] sur un lieu sans lieu, l’espace pur de la rigueur abstraite, sur cette parfaite utopie hors le monde sans laquelle la connaissance ne sera plus que dérisoire, accumulation et copie“ (D 137).592 Realisiert war dieses Ideal von Wissen und Wissenschaft nur im Stadium ihrer Geburt,593 danach nämlich formierten sich die „Alexandres de savoir“ (D

|| verändert, erkenne ich Diogenes, den Kyniker nicht wieder; die ganze Szene, obwohl in Ruhe, ändert sich: die Szene bleibt, doch ist es jetzt die Anfangsszene der Geometrie; es ist der Tag und der Ort, an dem Thales die Sonne über die Grabesstätte ziehen sah, als er in den Sand jenes allererste Theorem gleichbleibender Formen bei Änderung der Schnittlinien skizzierte: der erste exakte Raum, der erste Auftritt der Wissenschaft. Da, wo die Größe vor die Sonne tritt und der Hund im Schatten bleibt. Wo die Sonne über den Scheitelpunkt der Grabstätte der Könige steigt, und der Weise die Erstentdeckung mathematischer Strenge vom Sand abliest. Thales und Diogenes sind in ein und derselben Szene: die eine ist das Theorem des Thales, die ursprüngliche Entdeckung der Geometrie, die andere ihre Bedingung, das Theorem des Diogenes, die Entdeckung der Erkenntnistheorie: Geh mir aus der Sonne! Laß mich deine Größe, laß mich deine Macht vergessen! Thales tritt auf, um Diogenes zu erweisen, Diogenes ermöglicht Thales“ (A 95). 591 „Erkenntnis ist ohne Größe, ohne Macht und Anbetung, ohne Erorberung und Wertgeltung – anfangs jedenfalls. Erfindung, Intuition und Entdeckung, finden leichthin, ohne Aufwand statt, ohne Gold und Weihrauch – vielleicht auch ohne Ort. Ohne einen Alexander. Wissenschaft ist ein Bad in der Sonne“ (A 95 f.). 592 „Sie [all die namenlosen griechischen Vorfahren] legten […] die Hand auf einen ortlosen Ort, auf jenen reinen Raum des logisch-abstrakten Denkens, auf jene vollkommene Utopie außerhalb der Welt, ohne die die Erkenntnis nichts anderes wäre als ein Witz, eine formlose Materie oder Kopie“ (A 97). 593 Vgl. in diesem Zusammenhang auch Serres’ Thales-Kapitel in Elemente einer Geschichte der Wissenschaften, in dem er auf den Ursprung der Geometrie im Schatten hinweist: „Ja, die Geometrie trägt mit Recht den Namen ihrer Mutter, der Erde, auf der das, was vom Himmel fällt, gemessen wird. Mit Hilfe des Gnomons abgesteckt, bleibt sie als Grundlage, Gründung, Höhlung unterhalb der Wissenschaft im Schatten; hier ruht die Mumie, in deren schwarzen

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139), und die Objekte des Wissens waren überladen von Einsatz, Fetisch und Ware. Die Wissenschaftler sahen ihren Zuwachs an Macht, „donc leur ombre“ („mithin ihren Schatten“, D 139 [A 98]), „ils voient grandir leurs trésors, leur importance, leur puissance, l’ombre longue d’Hiroshima s’étend sur le monde“ (D 139).594 Die Wissenschaft, die der große Schatten Alexanders deckt, ist weder schön noch gut. Peut-être faut-il inventer, d’urgence, une science nouvelle où les savants s’amélioreraient: ôte donc ton ombre, Alexandre. Autrement et mal dit, si l’épistémologie se réduit à une logique du fonctionnement des méthodes assortie d’une sociologie concrète des groupes en conflit, alors la science n’est plus que l’ordure ordinaire. (D 140 f.)595

Hatte sich der Erzähler bereits zuvor mit der Aufforderung, den Leichnam und die Macht des Königs zu vergessen, direkt an den Leser gewandt, so weicht sein missionarischer Eifer zunehmend der Resignation. Wie, so die pragmatische Frage, kann man sich dem König widersetzen, wenn der Leib des Königs den ganzen Rauminhalt besetzt und sich auch den Leib der Sonne einverleibt hat (vgl. A 100 f.)? „Depuis le jour d’Hiroshima, le roi est devenue le Roi-Soleil“ („Seit dem Tag von Hiroshima ist der König der Sonnen-König geworden“, D 143 [A 101]). Ein kurzer Umweg über Ludwig den XIV., weiteres Exempel der Macht, führt zurück zu Alexander, der durch den gesamten Raum – „de soleil au tonneau“ („von der Sonne bis zur Tonne, D 146 [A 102]) – „les lignes de l’ordre, les barreaux de l’échelle“ („die Linien der Ordnung, die Stufen der Hierarchie“, D 145 [A 102]) ziehe.596

|| Eingeweide der Pfahl eingerammt ist, aus dem das Wissen aufsteigt. Episteme, epistema“ (Serres: Elemente einer Geschichte der Wissenschaften, S. 130, hier zit. n. Schweitzer, deren Studie ich den Hinweis auf diese Textstelle verdanke (vgl. Schweitzer: Topologien der Kritik, S. 419). 594 „Sie sahen ihren Zuwachs an Reichtum, Bedeutung und Macht, sahen, wie der riesige Schatten Hiroshimas sich über die Welt ausbreitete“ (A 98). 595 „Vielleicht muß sie erst erfunden werden, und zwar dringend: eine neue Wissenschaft, in der sich die Wissenschaftler meliorisieren. / Nimm ihn fort, deinen Schatten, Alexander! / Anders und bös gesagt: Wenn sich die Epistemologie auf eine Logik des Funktionierens von Methoden reduziert, die sich einer konkreten Soziologie der Konfliktgruppen anpaßt, so ist Wissenschaft nichts anderes als gewöhnlicher Dreck“ (A 99). 596 In Die fünf Sinne ist die webende Penelope Gegenfigur zum knotenzerschlagenden Alexander: „Penelope ist eine Vorbild- und Denkfigur der von Serres profilierten [neuen] Analyse“: „Verknüpfen, als fundamental prozesshaftes Verfahren des Konstruierens und (Er)Findens von Zusammenhängen“ (Güsken: Knoten, S. 53).

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Pas de route pour en faire le tour, pour l’éviter, pour s’écarter d’elle. Je cherche un lieu absent, un oubli dans mon corps tenu par le Roi-Soleil, le chas d’une aiguille dans mon âme scalaire, où j’aurais pouvoir de mouvoir le corps d’Alexandre. (D 146)597

Mit der ethischen Frage nach den möglichen Handlungsspielräumen des Wissenschaftlers unter den Bedingungen der Unterwerfung der Wissenschaft unter das Diktat der Macht tritt auch der homodiegetische Erzähler wieder in Erscheinung. Das narrative Subjekt, das sich mit Diogenes-Franz bis zur Ununterscheidbarkeit identifiziert und sich zugleich in die verschiedenen Rollen des Berichterstatters, Mahners, Propheten, Poeten differenziert hatte, erscheint nun wieder als ein singuläres „je“, das sich mehr und mehr als ein epistemisches Subjekt erweist. Im Horizont seiner Selbstbefragung („Comment déplacer toute l’échelle d’ordre? Il faudrait que je m’oppose au roi. Mais si je m’oppose à lui […], je confirmerai dans leur loi les rapports de la valeur et les hauteurs de l’idolâtrie“ usf., D 142)598 entpuppt sich das von ihm erzählte Drama als eine Art Selbstgespräch, dessen Gegenstand die Suche nach der verlorenen ‚science belle et bonne’ (vgl. D 140) ist. Das epistemische Subjekt selbst rückt nun als tragischer Protagonist in den Mittelpunkt. „Je cherche un lieu absent“ (D 146), aber, so die resignative Einsicht, mit der der folgende Abschnitt beginnt: „Ce lieu n’est pas là“ („Diesen Ort gibt es nicht“, D 146 [A 103]). Die anagnorisis ist keine der dramatis personae, sondern die des ‚narrativen Dramatikers‘. Und der Augenblick der Erkenntnis fällt zusammen mit einem Wendepunkt, an dem sich alles verändert und umkehrt. Zunächst schert der Erzähler mit einer unmittelbar vollzogenen Geste der Distanzierung aus dem Drama des Diogenes-Franziskus aus: „La tradition que je rapporte, la scène que je récite, cette parole du chien au roi, le vol immense de l’éloquence face au Roi-Soleil, ne sont que des panégyriques écrits de Diogène“ (D 146).599 Die wieder- und neuerzählte Anekdote des Diogenes, das Diktat des Franziskus, war bloßes Zitat, letztlich Zitat der Geschichte, denn: „L’histoire dit, l’histoire ne dit que la victoire du chien aboy-

|| 597 „Kein Weg für eigene Wege, kein Weg, um zu entkommen, um sich von ihr zu lösen. / Ich suche einen nichtvorhandenen Ort, ein Vergessen in meinem vom Sonnen-König erfaßten Leib, das Nadelöhr in meiner skalierten Seele, wo ich die Macht hätte den Leib Alexanders zu bewegen“ (A 103). 598 „Wie aber soll man die ganze Ordnung der Ebene verschieben? / Ich müßte mich dem König widersetzen. Doch wenn ich mich ihm widersetzte […], stets schlüge ich mein Zelt auf im Raum Alexanders“ (A 100). 599 „Die Tradition, auf die ich ziele, die Szene, die ich zitiere, jener Spruch, den der Hund zum König sagt, jener gewaltige Höhenflug der Eloquenz im Angesicht des Sonnen-Königs, all das sind nur panegyrische Schriften des Diogenes“ (A 103).

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ant sur le roi puissant: ôte-toi de mon soleil!“ (D 146).600 Von jetzt an wird alles gegen Diogenes – gegen die zitierte Geschichte – gewendet. „Je soupçonne“, „Ich unterstelle“ – mit dieser Redeformel beginnt die Umkehrung: Diogenes habe den König gezielt herausgefordert, „comme une araignée tend son fil poisseux pour capter les mouches“ („wie eine Spinne, die ihren tödlichen Faden spinnt, um darin die Fliegen zu fangen“, D 147 [A 103]), habe den Schwachen lediglich gemimt, um stärker zu sein als die Macht, habe vorgegeben, der Gesellschaft den Rücken zu kehren, nur um dem König Schach zu bieten, habe den Verachtungswürdigen gespielt, um sich über den Prinzen erheben zu können. Alexander, der keine Angst kannte außer der Angst, in dieses Netz zu gehen, habe das Spiel durchschaut, und nur deshalb gesagt: „si je n’avais pas été Alexandre, j’aurais voulu être Diogène“ (Wäre ich nicht Alexander, so wollte ich wohl Diogenes sein; D 147 [A 104]). Diogenes gehört zum Lager Alexanders: „Le chien n’est pas cynique, il n’a rien abandonné, ni le combat, ni la valeur […]“ (D 148). Der Leser hat sich täuschen lassen: Non, votre œil ne vous trompe pas: accroupi, devant le tonneau, dans la grande ombre d’Alexandre, le chien est prosterné devant le rois, devant toute l’échelle des grands rois, celle qui va jusqu’au soleil. Votre regard ne trompe pas, c’est votre oreille qui vous trompe, la lecture de cet écrit menteur. Diogène a inventé les armes logicielles contre les armes matérielles, ironie, éloquence, écriture, une sorte de publicité de parole contre la bombe. Sa souille est une arme et sa déréliction un décor.Celui qui a gagné contre le roi n’est qu’un Alexandre pouilleux, un metteur en scène, hypocrite et menteur. Ne croyez pas Diogène plus que tout autre parleur du doute radical. Il est encore dans la force, il tient aux enjeux maximaux, il manie les fétiches solaires, il crée la valeur. Dans le signe et la langue. Il demeure éternellement dans le tombeau tonneau sans soleil, sous la grande ombre d’Alexandre. (D 148 f.).601

|| 600 „Die Geschichte spricht, und sie spricht einzig vom Sieg des kläffenden Hundes über den mächtigen König: Geh mir aus der Sonne!“ (A 103). 601 „Der Hund ist kein Kyniker, er hat auf nichts verzichtet, weder auf Kampf, Wert noch Pose. […] Nein, euer Auge täuscht euch nicht: niedergekauert, vor der Tonne, im großen Schatten Alexanders, demütigt sich der Hund vor dem König, vor der ganzen Hierarchie großer Könige, bis hinauf zur Sonne. Nicht euer Blick, sondern das Ohr ist’s, das euch täuscht, die Lektüre der Lügenschrift. / Diogenes erfand Waffen der Logik gegen materielle Waffen, die Ironie, Redekunst, Schrift, eine Art Publizität der Rede gegen die Bombe. Seine Drecksuhle ist eine Waffe, und seine Zurückgezogenheit eine Zier. Jener, der gegen den König gewonnen hat, ist nichts anderes als ein lausiger Alexander, ein Schaumschläger, Heuchler und Lügner. Glaubt einem Diogenes nicht mehr als jedem anderen, der den radikalen Zweifel im Munde führt. Er ist Teil der Macht, spielt mit höchsten Einsätzen, verfügt über solare Fetische und

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Unter diesen umgekehrten Vorzeichen setzt sich die Geschichte – das Drama der Wissenschaften als das Drama der Menschheit – fort. Sie erscheint reduziert auf eine invariante Ordnungsstruktur – auf die Relation von major und minor (stärker-schwächer, besser-schlechter, oben-unten, früher-später etc.) –, die sich in eine Vielzahl unterschiedlicher Modelle – von biologischen und ethischen über räumliche, zeitliche, mathematische und physikalische bis hin zu sozialen und politischen Modellen – auffächert, dabei aber „über die Varianz der Modelle hinweg fortbesteht“:602 Diogenes verhält sich zu Alexander wie Antigone zu Kreon, das Lamm verhält sich zum Wolf wie Franz von Assisi zum Wolf von Gubbio, die Liebe verhält sich zum Hass wie die Vernunft zur Unvernunft, der Sklave verhält sich zum Herrn wie Nut zu Feder. „Les couples abondent dans ce multiple apologue, ils abondent et s’alignent, ils se font face comme en miroir. […] La série des forts se renforce, elle s’aligne dans l’espace jusqu’au soleil. En face, la série des faibles, de plus en plus faibles, rampe et s’humilie, à terre. Elle continue la série des forts“ (D 152 f.).603 Die ganze Stufenleiter der Hierarchie und Größe, die vom Tier über den Menschen bis hinauf zu Gott reicht (vgl. D 157 f.) wird von Diogenes abgedeckt, denn „[p]ar son nom, il est fils de Dieu“ (D 159).604 Diogenes ist der universale Sieger in der Zeit wie im Raum, Alexander hingegen nur eine lokale Größe (vgl. D 158 f., 170), letztlich aber besteht zwischen beiden kaum ein Unterschied: L’échelle de grandeur, lentement, se courbe. Le plus fort et le plus faible sont mutuels, le plus faible et le plus fort sont souvent jumeaux, il se forme un cercle, une sorte de cirque, une sorte de bague ronde où le chaton, dans sa pierre transparente, gèle et fait voir ces couples liés, qu’on croyait séparés de toute l’étendue large du ciel. La droite s’incurve et les stations rivales, complémentaires, réciproques, se boutonnent. Fermeture éclair. (D 161)605

|| kreiert die Werte: Mit dem Zeichen und mit der Sprache. / Er haust auf ewig im Tonnengrab, ohne Sonne, unter dem großen Schatten Alexanders“ (A 104 f.). 602 Serres: Das Wolfsspiel. Der Wolf und das Lamm, S. 96. 603 „Es gibt Paare zuhauf in dieser vielfachen Lehrfabel, sie häufen und reihen sich, von Angesicht zu Angesicht, wie im Spiegel. […] Die Reihe der Starken steigert sich, wächst im Raum bis zur Sonne. Gegenüber: die Reihe der Schwachen, der immer Schwächeren, demütig am Boden kriechend. Sie setzt die Reihe der Starken fort“ (A 107). 604 Diogenes, das heiße, „er ist aus Familie, Stammlinie und gens des Zeus“ (A 111). 605 „Die Stufenleiter der Größe krümmt sich langsam. Der Stärkste hier, der Schwächste dort auf der anderen Seite; meist sind sie Zwillinge. Die Stufenleiter formt sich zum Kreis, zum Rund der Manege, zu einer Art Ring oder Fassung mit durchsichtigem Stein, worin das Paar erstarrt und eng verknüpft zu sehen ist – sie, die man getrennt glaubte durch die ganze Weite des

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Es wurde bereits angedeutet, dass der Wendepunkt des Textes mit einem Positionswechsel des erzählenden Subjekts einhergeht. Der Erzähler verlässt den von ihm entworfenen Schauplatz606 und betrachtet das Geschehen fortan von außerhalb. Diese extradiegetische Position manifestiert sich nicht nur im Verzicht auf jegliche Identifikation mit dem Helden Diogenes und seinen zahlreichen Doppelgängern, sondern vor allem in der zunehmend metapoetischen und epistemologischen Wendung des Erzählten. Mit der zitierten Antigone-KreonSzene, die ja nur eine weitere Variante der Diogenes-Alexander-Konstellation darstellt, wird ein Diskurs über das Theaterspiel eingeführt, der primär wissenschaftshistorisch und epistemologisch funktionalisiert ist. Seit mehr als zweitausend Jahren wird die Antigone im Theater aufgeführt und als ein Sieg der Liebe gegen Kreon, den Staat und den Haß, rezipiert (vgl. D 150 [A 105]). Es sind parasitäre Verhältnisse, d.h. Verhältnisse wechselseitiger Versorgung (vgl. D 165 [A 115]), wechselseitiger Angleichung in Macht und Ruhm (vgl. D 160 [A 112]). „L’histoire, je veux dire l’écriture, ignore, implacablement, la prescription. Créon, éternellement, est sans pardon. Comme Alexandre est ridicule, devant l’injonction du chien“ (D 150 f.).607 Das Theater, die Geschichte, die Schrift: all dies sind Schauplätze, auf denen sich das Spiel um Siegen und Verlieren, das Spiel um die Macht, der „Kampf auf Leben und Tod“608 über Jahrhunderte wiederholt und in seinen gleichbleibenden Inszenierungen verfestigt und zementiert. Das Spiel selbst ist das Modell einer gleichermaßen antiästhetischen, antiethischen und antiszientifischen Soziologie der Macht. In radikaler Opposition zu modernen und poststrukturalistischen Auffassungen, die mit kritischem Blick auf Sinn- und Wahrheitsbehauptungen, Wertediskurse und Hierarchien gerade die destabilisierenden, dynamisierenden und entbindenden Funktionen des Spiels akzentuieren, ist hier das Spiel, unabhängig davon, ob es sich in der Kunst, der Politik oder der Wissenschaft ereignet, Ausdruck der Unterwerfung des Handelns und Denkens unter die Regeln der Macht: Qui joue, qu’il gagne ou perde, perd, il perd d’obéir aux règles du jeu ou à sa martingale. Il entre dans l’éspace attractif des chamailles et se soumet à lui. S’agenouille, drogué, ba-

|| Himmels. Die Gerade krümmt sich, und die gegnerischen, die komplementären und reziproken Positionen verknüpfen sich: Reißverschluß-Blitzverschluß“ (A 112 f.). 606 „Détachement“ bezeichnet in diesem Sinne auch das narrative Verfahren, die Perspektive und Funktion des Erzählers zu wechseln. 607 „Die Geschichte, will sagen, die Schrift ignoriert erbarmungslos die Verjährung. Auf ewig bleibt Kreon verdammt. So wie Alexander lächerlich wird auf Weisung eines Hundes“ (A 106). 608 Serres: Das Wolfsspiel. Der Wolf und das Lamm, S. 101.

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vant d’obéissance éperdue, devant les lois de la stratégie, de la lutte, de la victoire. (D 152)609

Das Spiel wird zum universalen Seinsmodus der Geschichte, ihrer starken und schwachen Akteure und deren Inszenierungen: theatrum mundi. Regisseurin dieses Spiels ist die Macht selbst in ihren unterschiedlichsten Gewändern und Strategien. Antigones Liebe ist nur ein anderer Name für Hass (vgl. D 151, A 106), die Vernunft, „die beste aller Macht“, lediglich „continuation de la sauvagerie par des moyens plus stables, qu’on appelle culture et science“ („Fortführung der Unvernunft mit dauerhafteren Mitteln: mit jenen, die wir Kultur und Wissenschaft nennen“, D 155 [A 109]). Dieser Vernunft, jene „raison bien raisonnable, écrite, qui fait haïr le loup transhistoriquement“ („jene leicht nachvollziehbare und geschriebene Vernunft, die den Wolf durch die Geschichte hindurch dem Haß ausliefert“, D 154 [A 108], bedient sich der Fabeldichter ebenso wie der Wissenschaftler; sie breitet sich auf dem Feld der Theorie – in der „école de la raison“ – ebenso aus wie auf dem Feld der Ethik und Moral – in der „maison de la prudence“ (D 154). Das Machtspiel der Vernunft ist universal, seine Protagonisten sind beliebig austauschbar, seine Spielzüge erschöpfen sich in der monotonen Bewegung der „Revolte“, in der Logik der Symmetrie und Substitution, durch die sich das Obere nach Unten, das Untere nach oben kehrt, sich aber nichts verändert; das Spielfeld – „l’éspace des relations entre nous“ („der Raum der Relationen zwischen uns“, D 163 [A 114]) – ist lediglich eine „circonférence étroite“, ein „enger Kreis“, organisiert durch die erstarrte Struktur der Ordnung.610 Quand la distance entre deux noms propres s’annule, quand la différence entre deux noms s’évanouit, quand le nom lui-même se perd, qu’importe le couple puisque les couples abondent indéfiniment, quand les variations entre les positions s’immobilisent, reste l’invariant, reste le chemin relationnel, stable, sur lequel tous se meuvent ou semblent se mouvoir, reste ce sur quoi les phénomènes apparaissent: la relation d’ordre, découverte enfin courbe, le plus vieux des manèges du monde. (D 164).611

|| 609 „Wer spielt, wer gewinnt oder verliert, verliert aus Gehorsam für die Regeln des Spiels oder ihren Einsatz. Er tritt ein in den attraktiven Raum der Streitereien und unterwirft sich ihm. Kniet nieder, vom schwärmerischen Gehorsam benebelt und eingelullt, vor den Gesetzen der Strategie, des Kampfes und des Sieges!“ (A 106 f.). 610 Vgl. auch Serres: Das Wolfsspiel. Der Wolf und das Lamm, S. 99 u. 100. 611 „Wenn die Distanz zwischen zwei Eigennamen Null wird, wenn die Differenz zwischen zwei Namen verschwindet, wenn der Name selbst, der das Paar einführte, sich verliert, weil die Paare sich unbegrenzt vermehren, wenn sich die Veränderungen der Positionen zueinander erstarren, bleibt einzig das Invariante, der rational-stabile Weg, auf dem sich alles bewegt oder

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Diese Passage ist doppelt funktionalisiert: In ihrer epistemologischen Funktion beschreibt sie die Auflösung kommunikativer Prozesse durch die Verselbständigung des parasitären Rauschens. Das Spiel der Macht, das die Verhältnisse auflöst und die Differenzen auslöscht, tendiert zur Nicht-Relation und verweist damit zugleich auf den Schauplatz des Kanals selbst, d.h. auf den Schauplatz des Parasiten. Zu Ende gedacht ist dieser Schauplatz der des Todes.612 In ihrer poetologischen Funktion liefert sie die Interpretation der Erzählung, worauf der aus dem Drama exilierte Erzähler unmittelbar zuvor dezidiert hinweist: „Une fois qu’on a bien décrit lesdits phénomènes, les Diogènes et les Antigones, les meutes et les troupeaux, reste que l’essentiel est l’échelle incurvée, le cercle d’ordre, invariants, sur quoi ces mouvements apparents ont lieu. L’essentiel est le lieu de ces déplacements“ (D 164).613 Das Einfrieren der Handlung als Folge der bloßen Reihung und Verschachtelung nahezu identischer Phänomene – durch Variation des Invarianten – demonstriert die entropische Bewegung im und des Spiel(s) der Macht.614 Entsprechend zwingt eine auf den Plot konzentrierte Lektüre den Leser, die vom Erzählersubjekt gemachte Erfahrung der Ausweglosigkeit und der Versklavung im Netz der Macht (vgl. noch einmal D 146 [A 103]) in der ästhetischen Erfahrung ‚nachzuerleben‘: Nachdem die dialogische bzw. dialektische Ordnung von Diogenes (der gute Mensch und gute Wissenschaftler) und Alexander (der böse Mensch und Zerstörer der Wahrheit) am Wendepunkt des Dramas als Scheinordnung entlarvt wird, verfestigt sich das Geschehen buchstäblich zu einem Handlungs-Strang, der sich zum monologischen Kunstwerk (Bachtin) schnürt und die Interpretationsfreiheit entsprechend beschneidet.

|| zu bewegen scheint, bleibt allein das, vor dem die Phänomene erscheinen: die Relation der Ordnung, als gebogene entlarvt, der älteste Zirkus der Welt“ (A 115). 612 In diesem Zusammenhang sei daran erinnert, dass das absolute Rauschen (und damit die absolute Unordnung, der Kanal, das Medium, der Dritte, die Differenz, die Interferenz ‚an sich‘, das „Sein der Relation“) und die absolut vollkommene Kommunikation (und damit reines Signal, absolute Ordnung, Nicht-Relation, Unmittelbarkeit, die vollkommene Abwesenheit parasitär-rauschhafter Interferenzen, also des Dritten) identisch sind. In beiden Fällen ist nichts mehr unterschieden und der Informationswert entsprechend null. 613 „Hat man besagte Phänomene erst geschildert, all die vielen mit Namen ‚Diogenes‘ und ‚Antigone‘, all die Meuten und die Herden, bleibt als Wesentliches die gekrümmte Stufenleiter, der Kreis der Ordnung und die Invarianten, auf denen diese offensichtlichen Bewegungen stattfinden. Das Wesentliche ist der Ort dieser Verschiebungen“ (A 114 f.). 614 Für den Diskurs hingegen bleibt die Mischung der Stile, der permanente Wechsel von einem zum anderen, bestimmend, d. h. es ist zunehmend allein die Form, welche die auf der Handlungsebene forcierte Auflösung der Differenzen konterkariert.

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Der Erzähler spielt und imitiert das Spiel der Macht und legitimiert sein narratives Spiel mit dem pragmatischen Zweck, dem Leser eine Lektion über das Spiel der Macht zu erteilen. Ist der Schüler-Leser erst einmal in der Schlinge der Aporie gefangen – was immer man tut und denkt: man ist Mitspieler; es gibt keinen Ort der Ohn-Macht, keinen Ort jenseits des Spielfelds –, kann der Erzähler sein pädagogisch-therapeutisches615 Geschick voll entfalten und mit klugen Ratschlägen den Weg aus der Schlinge weisen: Il suffit pour s’en libérer de reconnaître la largeur de l’espace, son déploiement, la grandeur de la terre, de la mer, du monde, la longanimité de l’intelligence sage. La force, libre, parcourt l’éspace, elle se lamente de la faiblesse, mais ne la requiert pas pour se connaître forte. La force résiste à la concurrence, elle se distingue de l’aggression, la puissance est de résister à la comparaison, la grandeur est de résister à l'échelle des tailles, qu’il soit bienheureux celui qui vit dans l’espace neuf que ne ravage pas la relation d’ordre. (D 166)616

Es folgt ein epistemologisches Manifest, das zwischen Wiederholung elementarer Lehrsätze, demonstrativ-vernichtenden Urteilen über die gescheiterten dramatis personae und appellativen Handlungsanweisungen changiert: La relation d’ordre produit les valeurs, déchaîne les guerres, elle est le grand fétiche. Elle est la matrice des fétiches. Elle désigne les enjeux, elle fixe les prix. Elle est ce qui nous reste du règne animal. Elle est la trace, dans nos groupes, des bêtes que nous fûmes. Elle est préhominienne. […] L’homme naît de la délaisser. Naîtra. Elle est la laisse du chien Diogène. Diogène est tenu en laisse par Alexandre […]. Le chien ne deviendra homme que de la détacher. Détacher la laisse d’ordre, laisser la cravache de la comparaison. Alexandre n’est pas né, Diogène à peine. […] Considérez les relations plutôt que les êtres et les êtres plutôt que les noms, et les chemins plutôt que les mouvements. Ne vous laissez pas éblouir par la pompe du roi – c’est facile – , ni par le tonneau du soi-disant sage – c’est moins facile. L’esclave et le maître sont ensemble à genoux, ils adorent tous deux la relation qui les attache. Elle est mouvante, stable, variante, invariante, quels que soient ses adorateurs et leur place. Leur place change, le lieu des relations demeure. Ils l’entretiennent et l’alimentent. Ils mouraient pour elle.

|| 615 Seine therapeutische Rolle etabliert der Erzähler, indem er das Spiel der Macht als „maladie de dépendence“ (D 166), als eine „Krankheit der Abhängigkeit“ ausweist, die „ernst genommen, wie eine Droge so zäh und als Hingabe an die Erscheinung ebenso tierisch-dumm ist wie das Bedürfnis des Herrn, über sich selbst hinauszukommen“ (A 116). 616 „Um sich davon zu befreien, genügt es, die Größe des Raumes, seine Ausdehnung, die Größe der Erde, des Meeres, der Welt, den Langmut des gelehrten Geistes wiederzuentdecken. / Die Stärke, die freie, durcheilt den Raum, beklagt die Schwäche, nimmt diese aber nicht in Anspruch, um sich stark zu wissen. Die Stärke widersteht der Konkurrenz, entzieht sich der Aggression; die Macht widersteht dem Vergleich, die Größe der Größenordnung, auf daß glücklich werde, wer in einem neuen Raum mit unversehrten Ordnungsrelationen lebt“ (A 116).

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Ils donnent leur corps, leur sang, leur vie à des luttes qui n’ont pour but que de la faire vivre. Elle est le dieu monstrueux qui vit de la mort de ses sectateurs. Elle est le dieu monstrueux qui a pour attribut le sceptre et le tonneau, la couronne et les immondices, l’empire et la folie. Nous lui sacrifions nos enfants. Les chiens lui donnent à manger leurs chiots et les louves leur louveteaux. (D 167 f.).617

Das Finale hebt mit den Worten an: „J’ai raconté, j’ai mis en scène la scène même de Diogène“ („Ich erzählte, ich inszenierte das Stück Diogenes“, D 168 [A 117]). Noch einmal lässt der Erzähler seine Helden im Spiel der Macht Revue passieren: Er beginnt mit Diogenes, von dem es nun heißt, er selbst hätte seinen Fall entwickelt und für uns Zuschauer zum Drama aufbereitet, fährt fort mit einer knappen Erläuterung seines dramaturgischen Vorgehens („Les scènes dans la scène foisonnent, font de l’ombre, comme impliquées“, D 169), stellt die Paare – hier die konkreten wie Antigone und Kreon, später die abstrakten wie Pöbel und Adel – noch einmal auf dem „champ de forces“ (D 172) auf und fügt sie ein in die vertikal-hierarchische Ordnung, die sich zum Kreis – zur runden Manege – krümmt. Voici l’amphithéâtre, le cirque rond. Je n’ai pas dit, acte par acte, et sous certaine dictée, un drame, comédie ou tragédie, récits parmi d’autres, des apologues joués, j’ai décrit exactement sous la même dictée la constitution lente de l’espace du théâtre, la dureté de sa clôture, cette espèce de relativité qui découvre un espace courbe là où chacun ne voit que des hiérarchies verticales. Ce théâtre est bien dessiné, maintenant, comme sur un bleu

|| 617 „Die Ordnungsrelation erzeugt die Werte, entfesselt Kriege, sie ist der große Fetisch, die Matrix der Fetische. Sie bestimmt die Einsätze, sie setzt die Preise fest. Sie ist das Überbleibsel animalischer Herrschaft, die Spur des Tieres, das wir waren, in unseren eigenen Gruppen: sie ist prähominid. […] Der Mensch wurde geboren, indem er auf sie verzichtete. Er wird geboren. Sie ist die Hundeleine des Diogenes. Diogenes liegt bei Alexander an der Leine […]. Der Hund kann nur Mensch werden, indem er sich ablöst, ablöst von der Leine der Ordnung, von der Knute des Vergleichs. Alexander ist noch gar nicht geboren, Diogenes ebensowenig. […] / Betrachtet lieber die Relationen und weniger das Seiende, lieber das Seiende als die Namen, und lieber die Wege als die Bewegungen. Laßt euch nicht blenden von der Pracht des Königs – denn das ist einfach – , aber ebensowenig von der Tonne des sogenannten Weisen – was weniger einfach ist. Sklave und Herr liegen gemeinsam auf den Knien und beten jene Beziehungen an, die beide miteinander verbindet: beweglich, fest, variabel, unveränderlich, je nach Anbetern und ihren Plätzen. Ihr Platz ändert sich, der Ort der Relationen bleibt. Sie sorgen für sie und nähren sie. Sie würden für sie sterben. Sie geben Leib und Blut für diese Kämpfe, die kein anderes Ziel haben, als sie am Leben zu erhalten. Sie ist der monströse Gott, der vom Tod seiner Anhänger lebt. Sie ist der monströse Gott, der als Attribute Zepter und Tonne, Krone und Unflat, Imperium und Wahnsinn hat. Wir opfern ihm unsere Kinder: Die Hunde werfen ihm ihre Welpen zum Fraß vor, und die Wölfe ihre Wolfsbrut“ (A 116 f.).

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d’architecture, en lignes localement droites et globalement incurvées, à singularités boutonnées. (D 171)618

In dieses Feld der Macht, diesen „cirque social banal, c’est aussi le cirque de la connaissance“, sind ausnahmslos alle einbegriffen und eingeschlossen: „une société fermée“, eine geschlossene Gesellschaft (D 172 [A 120]). Die Handlung als geschlossenes Kunstwerk bildet die Gesellschaft ebenso ab wie die Erkenntnis und die Wissenschaft. Sie ist Repräsentation der Manege und damit – folgt man der Logik des Textes – pars pro toto, Teilpartie in der Gesamtpartie der Macht. Im theatrum mundi, der Welt des Spektakels und der Repräsentation, ist die reale Welt – und mit ihr Erfahrung, Wahrnehmung, Phantasie – ausgeschlossen und verdunkelt durch den Schirm der Macht: „La représentation s’emplit du réseau des liens et ainsi echaîne, elle est vide d’objets“ (D 173).619 Das einzige, was zirkuliert und das Manegengeschehen durch „FeedbackZirkel“ (A 120 [D 172]) stabilisiert, sind die Spieleinsätze: „les enjeux, les fétiches, les marchandises“ (D 173). La clameur du stade couvre les bruits du monde. […] Le groupe se ferme sur soi, il ignore le monde. Il ne connaît que ce qu’il produit, ses représentations. La politique n’a pas besoin du monde. Les philosophes n’en font plus mention, ils demeurent dans le cirque, n’habitent ni la terre, ni la mer, ni la forêt, ni le soleil, ils se ferment dans la lettre du langage et du contrat. Ils s’enferment dans la cave des médias, dans la grotte aux politiques, dans le puits aux représentations, dans la casse de la lettre. Même ceux qui savent ou qui tentent d’inventer descendent dans la sape de la politique des sciences. Depuis combien de temps avons-nous gommé le monde […]? Le philosophe n’a plus besoin du monde, il n’a plus d’expérience. Il habite la tranchée des livres alignés, son écriture. (D 173)620

|| 618 „Seht dieses Amphitheater, die runde Manege. Ich spreche hier nicht Akt für Akt, nicht unter dem Diktat von Drama, Komödie, Tragödie: Geschichten unter anderen, gespielte Fabeln. Ich schreibe und beschreibe, unter diesem selbigen Diktat, die langsame Konstitution des Theater-Raums, seine dauerhafte Abgeschlossenheit, jenen Raum der Relativität, der sich als gekrümmter eben dort enthüllt, wo jeder einzig vertikale Hierarchien sieht. Dieses Theater zeigt sich heute wohl entworfen, einer architektonischen Blaupause gleich: örtlich gerade Linien, doch insgesamt gekrümmt, an Einzelpunkten aufgeknüpft“ (A 119 f.). 619 „Die Repräsentation, angefüllt vom Netzwerk der Bezüge und Verkettung, ist entleert von Gegenständen“ (A 120). 620 „Manegenklamauk übertönt den Lärm der Welt. […] Die Gruppe schließt sich ab und ignoriert die Welt. Sie kennt nur, was sie produziert: Repräsentationen. Die Politik bedarf der Welt nicht mehr. Die Philosophen geben keine Kunde mehr von ihr, hausen ebenfalls im Zirkus, bewohnen weder Erde noch das Meer, weder Wald noch Sonne; eingeschlossen, hocken sie verkeilt im Letternwald von Sprache und Vertrag, schließen sich ab in der Höhle der Medien, der Grotte der Politik, im Brunnenloch der Repräsentationen, im Setzkasten der Buchsta-

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Und als könnte der Leser die Lehre dieser Fabel immer noch nicht verstanden haben: Voici le point d’apologue à midi aujourd’hui, voici le point sur notre erre: nous avons décidé de détruire le monde plutôt que de changer l’amphithéâtre aux gladiateurs de l’ensemble de nos relations, nous avon décidé de détruire le monde pour avoir les moyens de détruire celui qui désire nous détruire, jumeau lié par le feed-back, escalade apparente et cercle de l’histoire. Dernière tragédie au plus vieux théâtre du monde, toutes les tragédies ont pour but de faire exister le cirque et de le renforcer, de nous laisser emprisonnés, bavant de drogue obéissante, dans ses murs. Nous resterons dans le théâtre pendant que, au-dehors, le soleil nucléaire ravage la terre. La terre paysanne, son ciel, la mer des cap-horniers, ses vents, les forêts de l’errance, leur haut savoir. Dernière le tragédie qui devrait nous ouvrir au nouveau savoir. (D 174 f.)621

Ein letztes Mal setzt der Erzähler neu an, noch einmal rekapituliert er die Quintessenz seiner Fabel, noch einmal appelliert er an den Leser: Sortir du maelström, sortir du trou noir où s’involue le groupe, où se raréfie l’espace, où disparaissent les objets, où déçoit le savoir […]. Sortir. Appareiller. Disparaître derrière la gerbe des sillons. Errer. Sortir blessés, hagards, drogués, ivres de désespérance, descendre lentement dans la terre lise, aller voler par la plaine ou les mers, méditer longuement devant les grands arbres, rien n’est si large que l’espace, rien n’est si commun que la place, sous le soleil, tant que notre soleil ne l’a pas vitrifiée. Pitié pour le monde, vienne le nouveau savoir. (D 176 f.)622

|| ben. Selbst jene, die es wissen, die Neues zu erdenken suchen, steigen hinab zur Senkgrube, wo Wissenschaft Politik betreibt. Wie lange schon löschen wir die Welt […]? Der Philosoph bedarf der Welt nicht mehr, er nimmt nicht teil an der Erfahrung. Er haust im Graben seiner Bücherflucht und seiner Schriften“ (A 120 f.). 621 „Damit sind wir am Kernpunkt der Lehrfabel, am Scheitelpunkt des Heute, – am Wendepunkt unserer Suche: Wir haben uns entschieden, lieber die Welt zu zerstören, als das Amphitheater der Gladiatoren durch ein Ensemble eigener Beziehungen zu verändern; wir haben uns entschlossen, die Welt zu zerstören, um damit jenen zu zerstören, der uns zu zerstören sucht: Zwillinge, durch Feed-back verwachsen, greifbare Eskalation und Zirkel der Geschichte. Letzte Tragödie im ältesten Theater der Welt. Alle Tragödien hatten zum Ziel, den Zirkus zu erhalten und zu stärken, damit er uns, sabbernd und willfährig, in seinen Mauern einschließen kann. / Wir bleiben in diesem Theater, während draußen die nukleare Sonne die Erde verwüstet. / Die Erde des Bauern, seinen Himmel, das Meer der Kap-Horn-Fahrer, ihre Winde, die Wälder der Irrungen, ihr hohes Wissen. / Die letzte Tragödie, die uns einem neuen Wissen öffnen sollte“ (A 121 f.). 622 „Raus aus dem Malstrom! Aus dem Schwarzen Loch, in das sich die Gruppe zurückzieht, wo der Raum sich rar macht, die Objekte verschwinden, das Wissen trügt. […] Raus! Die Anker gelichtet! Hinter Ackerfurchen verschwinden! Sich auf die Suche machen! Verwundet, verstört,

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Mit dem Hinweis auf Erde und Himmel des Bauern, Meer und Winde der KapHorn-Fahrer und die Wälder der Irrungen mit ihrem hohen Wissen verweist das Ende der Erzählung zurück auf die drei vorausliegenden Geschichten. Es wird suggeriert, dass sie vom „neuen Wissen“, von der „Heraufkunft des neuen Menschen“ handeln und an jenem Nicht-Ort spielen, dessen Existenz der Erzähler resigniert dementiert hatte. Aber wie „Franciscain“ kreisen auch diese Erzählungen letztlich um die zentrale Denkfigur der gescheiterten Ablösung. Auch hier werden scheinbar unvereinbare Ordnungen gegeneinander gestellt, um sie schließlich als ein und derselben Ordnung der Macht und des Todes zugehörig zu erweisen. Exkurs In der ersten Geschichte wird das ländliche China mit dem Westen kontrastiert. China ist die Kultur des Raumes und der Ewigkeit: die „totale Aneignung der Erde“ (A 12), vollständiger Konsum (A 10), „kein Rest, keine Leere, keine Geschichte, keine Zeit“ (A 12), wo das „Unkultivierte […] null [ist]“, alles „ins Reich der Kultur, der Vernunft, der Nutzung, des Gesetzes [eingeht]“ (A 16) und das „Gleichgewicht zur Perfektion gerät“ (A 17), wo alles „konstruiert, entworfen […], erzeugt, hergestellt“ (A 12) und der „Sieg des Künstlichen“ errungen ist, wo die „Totalität des Sinnes […] das ganze Land bedeckt“ und die „totale Immanenz“ waltet (A 18 f.), wo es keine Straßen und Wege mehr gibt, sondern nur „Orte völliger Ähnlichkeit, reiner Identität, totaler Verdichtung“ (A 22). Die Reise, die der Erzähler durch das chinesische Schwemmland unternimmt, ermöglicht ihm, die Frage nach seiner eigenen Herkunft zu klären: „Wer sind wir? Was machen wir?“ (A 13). Unser „Wesen“ ist das der „Randzone […], unser Sein Abweichung und Spielraum“ (A 14); hier gibt es noch unbestellte Flecken, „Ungleichgewicht, Exzentrizität“, „wir sind die Unvollkommenen, die Lücken, die Leerstellen“ (A 28). Der Westen ist die Kultur der Zeit und der Geschichte: hervorgebracht durch die Abweichung (vgl. A 15), durch den irrationalen und unkultivierten „Rest“, in dem „das Kommende […], das Vorausweisende“ herrscht, der „mein Zufall, meine Zeit, meine Geschichte, mein Leben“ ist (A 16); die Abweichung, die die Zeit erzeugt, destabilisiert und verhindert das Gleichgewicht und ermöglicht „das Abenteuer der Wissenschaft“ (ebd.). Aber auch „wir sind dem Gesetz verpflichtet, verdammt zur Vernunft; so neigen wir gen Osten“ (A 14), „rühren ans Ende der Geschichte“ (A 19) und schließen uns allmählich mit der „Kultur der Einschließung“ (A 21) zusammen. „Wie ausbrechen […]?“ (A 21), fragt sich der Erzähler auch hier. „Durch die Höhe, nach oben“ (A 21), senkrecht der „Spur der Himmelsstraße“ entlang, „sie allein bleibt von Pflanzen verschont“ (A 23). China ist auch das Land des fliegenden Drachens, des „drachenfliegenden Bauern, Sohn der Erde, Vater des Himmels“ (ebd.). Der „Drache ist kein Fabeltier, er stammt von dieser Erde, ist autochthon“ (A 22); ebenso wenig ist das Fliegen „mysteriös“ oder „göttlich“, sondern es

|| benommen, voller Verzweiflung, langsam im Schwemmlandboden versinken, über Ebenen und Meere fliegen, vor riesigen Bäumen endlos meditieren… Nichts ist größer als der Raum, nichts vertrauter als der Platz unter der Sonne, solange sie ihn nicht zu Glas geschmolzen hat. / Schade um die Welt! Das neue Wissen, es mag kommen“ (A 123).

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ist „etwas ganz Natürliches, eine ländliche Praxis, ein kulturelles Wissen“ (A 26). Und wieder die Negation des Auswegs: „China bewohnt die Geometrie. Ein einfaches und einheitliches Gesetz besetzt den Horizont; seine universelle Regel ohne Ausnahme überzieht die gesamte Ebene. Ein zweites Gesetz, doch zweifellos dasselbe, zieht ein Senkrechte genau über diese Horizontalität. Alles ergibt sich aus solch einer Norm. Hier verstehst du, daß China offenbar der letzten aller universalistischen Ideologien verfallen ist“ (A 28 f.). Erneut kehrt der Erzähler in den hermeneutischen Zirkel zurück: „Vor einem solchen Kreuz begreife ich, wer ich bin, wer wir sind: Schräge, Gefälle, Winkel. Vor dieser Stabilität erkenne ich das, was uns ständig vorantreibt, und warum sich China im Kreise bewegt. […] Wir sind trunken vor Bewegung, geimpft mit Perspektiven“ (A 28); „bei uns hat die Geometrie der Topologie ihren Platz überlassen. Der Maurer hat sich vom Harten, vom Rigorosen verabschiedet und sich dem Weichen, Sanften, Zarten, Dickflüssigen, Veränderlichen verschrieben: Türen, Einfassungen, Rahmen verändern sich wie Wolken. Der Architekt hat Perspektive, Standort, Fluchtlinien, das ganze Drum und Dran des Theaters weggelassen, um direkt und fortlaufend in die veränderlichen Gegenstände einzutreten. Wenn sich Wolken […] ändern in jedem Moment und jeder Phase, träumt ihr dann vom Standort? In den Wolken fliegen, das bedeutet das Sein und seine Stellvertreter verlieren, um sich blindlings in den aberwitzigen Wechsel zu stürzen. Keiner fliegt zweimal inmitten derselben Wolke. Die Ewigkeit tilgt sich im Instabilen, das Denken in den veränderlichen Objekten“ (A 27). Deshalb wird schon „morgen […] das, was wir unsere neuere Geschichte nennen, sich erschöpfen, verflachen, in Lehm und Löss der fernöstlichen Ebenen. Eine Ideologie der Geschichte annulliert sich im Universellen“ (A 29), der Westen annuliert sich im Fernen Osten. – In der zweiten Geschichte erscheint die topographische Opposition der ersten ins Biographische gespiegelt: Sie handelt von einem alten Seemann, dessen Leben in zwei Zeitabschnitte zerfallen ist, in das fünftägige „Inferno“ eines „Wirbelsturms in den Gewässern der Kerguelen“ (A 39) und in das Leben danach. „Der Einschnitt blieb“ und es „gelang […] ihm nicht, die beiden Zeitabschnitte miteinander zu verknüpfen“ (A 41). Der Gegensatz wandelt sich im Verlauf der Erzählung erneut ins Topographische (Meer und Land), wird dann geschlechtsspezifisch und zugleich ethisch entfaltet: „Stellen Sie sich vor“, so die Ehefrau des Kap-Horn-Fahrers: „Eine Welt, in der alle Männer auf See sind. Welch ein Paradies! […] Auf den Schiffen wären die Männer weit genug entfernt, um Haß und Krieg zu vergessen. Und bekämen sie dennoch Lust darauf, so würden sie tief versinken. Der Untergang wäre der Filter des Friedens“ (A 46). Auch habe sie deshalb einen Seemann geheiratet, „weil es auf dieser Welt keine Ehrlichkeit gibt“: „Ehrlichkeit ist keine Position des Gleichgewichts, ist nicht lebensfähig; sie beugt sich sogleich und paßt sich der Unehrlichkeit an. […] Es ist die Position des Gleichgewichts, auf die alles hinausläuft“ (A 47) – wieder schließt sich ein Kreis. Das Gegenteil der Ehrlichkeit ist nicht die Unehrlichkeit – beide gehören derselben Ordnung an wie Diogenes und Alexander –, sondern die Heiligkeit: „Heiligkeit, das ist Loslösung, Ablösung. […] Ja, das Fliegen, das ist Heiligkeit“ und das „Ankerlichten“: „Sich lösen vom Kai, vom Hafen, der Stadt, den Mauern, von all dem Hickhack mißgünstig konkurrierender Menschen; […] sich lösen von der Erde und sich dem Wind überlassen. Ich wollte einen Seemann, weil ein Seemann fliegt“. Sobald er jedoch wieder auf der Erde landet, „kehrt [er] zurück in den Kreis der Rivalen“ (A 47 f.). Heilig, so in einer von der Ehefrau erzählten Begebenheit, ist auch das lachende und „lärmende Geschrei der Kinderschar“, die „sich in das Kampfgeschehen einmischt, das ganze DummTheatralische der Kämpfenden nachahmt und so deren Haß und Wut in eine bunte Karnevalsmaske verwandelt“ (A 49). Erneute Variation einer Lehre: Fliegen, „nicht mehr von dieser Welt sein, Ekstase“, das ist, wenn „eine meiner materiellen Unveränderlichkeiten“, das Körpergewicht, „zu einer reinen Variablen“ wird. „Und wenn eine Sache variabel ist, veränderlich

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in eben diesem Punkt, so ist das gleichbedeutend mit ihrer Annullierung“ (A 51), denn „das, was sich vor allem ändert, ist der Schwerebezug zu den Dingen“ (A 52). Auch hier tilgt sich die Ewigkeit im Instabilen, löscht sich das Denken in den veränderlichen Objekten (vgl. A 27). – Das erste Kapitel der dritten Geschichte, „Suchender“, trägt den Titel „Bäume des Todes“ und setzt mit einem Traum vom „Arten-Baum“, dem „Baum des Lebens“ in einem Wald in Indien ein (A 60). Der Erzähler – ob träumend oder nicht, bleibt unklar – fährt fort, „eine Geschichte [zu] erzählen“ (A 61), die von einem „schreckenerregenden Baum“ handelt. Dieser Baum, der den „Goldenen Zweig“, des „Lebens Quelle“ (A 62) trägt, steht in einem Wald in Italien, „der in der Antike heilig war“, und wird bewacht von einem „Priester und Mörder“, denn, so lautete die „Spielregel dieser heiligen Stätte“: Den Platz des Priesters kann nur einnehmen, der seinen jeweiligen Vorgänger tötet. Der „Lebenskampf“ um den Besitz des Goldenen Zweiges, um den Besitz des Geheimnisses des Lebens, ist zu einem „Todeskampf“ entartet (A 62 f.). „Die Welt vergißt, daß die Rivalität allen Dingen die Realität entzieht. Der Kampf ist nicht das Geheimnis des Lebens, er […] tilgt die Welt, tilgt die Dinge, tilgt die Bäume, tilgt alles, selbst noch das Leben“ (A 63). Der „Priester-Soldat“, dieser „Winterkönig der Erkenntnis und unsicherer Beherrscher einer bestimmten Art des Erkennens hat das Umfeld des Baumes der Wissenschaft von dem Tag an in Besitz genommen, als er seinen Vorgänger zur Strecke brachte, jenen, der eine andere Theorie vertrat“ (A 64). Bald werde es nur noch eine einzige Wissenschaft geben: „die des Kampfes“, dahinter verborgen das Geheimnis des Lebens. „Wir haben die Erkenntnis verloren und verlieren sie täglich […]. Der Baum des Lebens stirbt, und der Goldene Zweig ist nichts als ein dürrer Dornenstrauch“ (A 65). Vom indischen Wald, von „Osten, wo die Sonne aufgeht“, vom „Ursprung der Zeiten, aus einem Mythos der Nacht, aus einem Paradies“ (A 65), setzt der Erzähler seine „Pilgerfahrt“ fort an die „Grenze Flanderns“ zum „schwarz-roten Bild des verdorrten Baumes“: eine Darstellung der Madonna im Dornenbaum. Der Holzstamm gabelt sich „zum Kreuz“ und wölbt sich „zum Kranz“, darin Maria und Jesus „gefangen“ sind (A 66). „Der Baum der Erkenntnis ist zum Buschwerk unverrückbarer und schmerzhafter Ideen geworden. […] Die Dornen kamen vom Vergleichen, die Trockenheit vom Wunsch nach absoluter Größe, der Verlust des Wissens vom Oben und Unten, Höchsten und Tiefsten, von Erhöhung und Erniedrigung, Alpha und Omega, den Prinzipien des Kampfes“ (A 67 f.). Das „Licht“ kommt nicht von den Figuren im Kreis, sondern von den fünfzehn im Gerank des Baumes verteilten gotischen A’s, die eine Aura aus Erzengeln und Engeln bilden und sich erneut zum Goldenen Zweig formieren (A 68). Das zweite Kapitel, „Baum des Lebens“, erzählt von einer viertausend Jahre alten Sequoia, einem „heiligen Baum“ und „Tempel“ (A 71), dem „Zeugen einer Erde vor aller Kultur, wo Kraft hervorbrach, ungezügelt-sinnlos“ (A 73). „Er ist Erinnerung, Vergangenheit, Gedächtnis“, und in dieser Erinnerung liest der Erzähler (vgl. A 72), „daß es das Leben nur gibt um des Bewahrens willen. Leben ist jenes Unternehmen, das durch die Zeit einen Appell herüberbringt – eine Form, Farben, Eigenschaften, einen Sinn“ (ebd.). Dieser Baum ist heilig, weil er reine Natur ist, „unkaschiert durch Arbeit“ (A 73). Aber, so wiederum die Relativierung, auch dieser Baum wurde von Magiern, Priestern, Wissenschaftlern gepflanzt, „wurde ersonnen, entwickelt, erfunden. Er wurde geformt: modelliert, bearbeitet, berechnet“ (A 74). „Doch das spielt hier keine Rolle“, hier geht es um andere Wissenschaftler: um „Menschen des Aufbruchs, der Menschheitsdämmerung“, die „Ideen geistiger Größe hatten, die das Leben betrafen“, eine „Kultur, die eingeschrieben war in ihre Agrikultur“ und die „Unsterblichkeit“ suchten und sie „während eines Umwegs ihrer Suche, bei einer unvermittelten Verzweigung ihrer Weisheit“ auch fanden (A 74 f.) Die „Spur“ dieses Wissens, das „ekstatisch“ und „frei von Tod“ (A 78) ist, haben wir längt verloren, „sind nur noch gewöhnt, aufeinander abgestimmte Zeichen wiederzuerkennen“ (A 77). Die Unsterblichkeit suchte auch der Held des Gilgameschepos und

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fand sie durch das „Geschriebensein“, und auch die Griechen haben sie, die da war „seit eh und je, wie die Sequoia“, mit der Erfindung von Logik, Geometrie und Genauigkeit „erfunden, geformt, modelliert und berechnet“ (A 80). Aber „diese Zahl, dieses Dreieck, der Beweis ad absurdum, diese unumstößlichen Invarianten seit Auftreten des Thales und des Pythagoras wuchsen ins Kolossale, zur Identität, so wie sie Form, Dasein, Geradheit, Präsenz und Belaubung des riesigen Baumes hervorbrachten. Nein, das griechische Wunder ist kein Beginn, es ist der Moment, wo ein machtvolles, erfinderisches und unfaßbar intelligentes Wissen verschwand“, jenes Wissen, das den „Menschen des Aufbruchs“ (A 74) eigen war. „Was ging uns verloren, daß wir uns der Geschichte, diesem Todesmythos, überließen?“ (A 81). Doch auch wir, so ironisch der Erzähler, hätten die Unsterblichkeit erfunden: „in den unbelebten Dingen“, im „nuklearen Abfall“.

Der zirkuläre Charakter von Détachement führt zurück zu der Frage nach dem Verhältnis von Text und Textur. Die Zirkularität ist nämlich nicht nur strukturelles Abbild jenes an der Logik der Macht ausgerichteten, sich in der geschlossenmonologischen Gestalt des Textes manifestierenden „Theaters der Repräsentation“, sondern beschreibt zugleich die perfomative Umsetzung jener der „Logik der textuellen und intertextuellen Relation“ folgenden, sich in der offenvielstimmigen Gestalt der Textur manifestierenden „Antistruktur des Netzes“. Die für Serres’ Apolog konstitutive Differenz von Text und Textur ist Ergebnis der Kombination zweier Schreib- und Organisationsweisen, die ein je unterschiedliches Lektüreverhalten provozieren. Auf der Ebene des Textes und ineins damit einer konzentrierenden Lektüre erscheint die Integration verschiedenster Bezugstexte funktional auf deren strukurelle und semantische Analogien gerichtet, wobei diese Analogien in propositionalem Duktus Kernthesen der Serre’schen Epistemologie rekapitulieren. Die Selektion und Kombination der Bezugstexte erfolgt unter dem Vorzeichen einer pragmatischen Finalität, die letztlich auf die Belehrung des Lesers zielt. Entsprechend behauptet sich der Erzähler als eine autoritär-wissende Instanz, die ihre Botschaften – seien diese negativ oder positiv, konstatierend oder appellativ formuliert – ihrem SchülerLeser verkündet. In der Ausrichtung seines substantiellen Gehalts auf Grundthemen und -thesen der Serreschen Epistemologie – sie umfasst die Kritik an der traditionellen Epistemologie ebenso wie die Alternative einer präpositionalen, dem Passagendenken verpflichteten Endoepistemologie – neigt der Text zu einem abgerundeten, systematischen und homogenen Ganzen, zu einer konzentrischen Gestalt, die das „Kriegsspiel“ der Wissenschaften im Kampf um die Macht abbildet. Der Kreis als vollkommene geometrische Figur wird zum Symbol eines wissenschaftlichen Theaters der Grausamkeit, dessen Streben nach Exaktheit und Universalität letztlich in einen allgemeinen, die Realität in ihrer komplexen Vielschichtigkeit ignorierenden Verblendungszusammenhang mündet. Als Abbild einer auf Repräsentation gegründeten Wissenschaft und Kunst – die kon-

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zentrische Gestalt des Textes als Repräsentation der Repräsentation – steht die Form des Textes jedoch gerade dort im Widerspruch zu seinem Gehalt, wo dieser zum Träger propositionaler Aussagen über die präpositionale Epistemologie und des darin postulierten offenen, topologisch-kombinatorischen, assoziativen Denkens wird. In diesem Fall ist die Form gerade nicht Mimesis ihres Gehalts, sondern dessen Antistruktur. Dieses aporetische Verhältnis von Form und Gehalt bedingt eine wechselseitige Beeinflussung und damit Relativierung: So gehen Qualitätsmerkmale der Form auf den Gehalt über – die Form ideologisiert und dogmatisiert den Gehalt –, wie umgekehrt der Gehalt die geschlossen-begrenzte Syntax der Form in Frage stellt und aufweicht. Auf der Ebene der Textur und ineins damit einer dekonzentrierenden Lektüre erweist sich Détachement als aktiver Vollzug der topologisch-permutationell operierenden Epistemopoetik. Textur ist dabei ihrerseits das Ergebnis einer produktiven ‚lecture relationnelle‘ (Genette), die literarische und wissenschaftliche Textsorten, Erkenntnis- und Wissensformen, Schreib- und Darstellungsweisen variiert, vermischt, ineinander übersetzt und transformiert.623 Im intertextuellen Rückgriff insbesondere auf Mythen, Dramen, Fabeln und Anekdoten integriert sie solche Bilder und Namen, Weltordnungen und Konstellationen, Ideen und Strukturen, Gattungen und Stile, die aus der offiziellen Wissens- und Wissenschaftskultur ausgeschlossen sind. Gerade in der komparativen Gegenüberstellung mit gültigen epistemologischen Konstrukten sowie in der wechselseitigen Übersetzung literarischer und wissenschaftlicher Signifikantensysteme werden der epistemische und epistemologische Wert und Gehalt der Literatur ebenso expliziert, wie umgekehrt die anerkannt wissenschaftlichen Terminologien und Systeme einer epistemologischen Verfremdung unterzogen und in ihrem Anspruch auf Allgemeingültigkeit und Exaktheit kritisch hinterfragt werden. Entscheidend ist ferner, dass sich die Pluralität von markierten und damit referentialisierbaren Anspielungen nicht in ihrer effektiven, fragmentarisierten Präsenz erschöpft, sondern gerade aufgrund ihrer fragmentarisch-alludierenden Offenheit eine amplifizierende Lektüre provoziert. In dem Maße, in dem der Leser den vom Erzähler gelegten Spuren folgt – und diese Spuren sind, wie gesagt, ihrerseits Ergebnis zahlreicher, produktiv bearbeiteter Lektüren – und damit das permutationelle Spiel perpetuiert, erhöht sich die Komplexität der Textur (d. h. die Quantität und Qualität ihrer Vernetzungs- und Verweisungsstruktur), verlagert sich der Akzent von der Botschaft auf das Medium und das Rauschen des

|| 623 Kultur generell erscheint bei Serres „wesentlich als Kommunikationsgeschehen, bei dem der Vermittler (das ‚Medium‘) die übermittelte Botschaft zugleich transformiert“ (Ventarola: Transkategoriale Philologie, S. 80).

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Kanals, von den Gegenständen auf den Modus des Passierens („mode of moving from place to place“).624 In dieser von Zitaten und Textresonanzen widerhallenden ‚chambre d’échos‘ (Barthes) verliert sich nicht nur die individuell getönte Stimme des Erzählers im Anonymen; vielmehr verschwindet die narrative Instanz auch in ihrer den Text ‚lediglich‘ organisierenden, strukturierenden und perspektivierenden Funktion, und dies wiederum in dem Maße, in dem der Leser das texturale Netz weiterspinnt. Epistemologisch gewendet ist dieser dezidiert anti-autoritäre Gestus der Textur die narrative Verwirklichung der eingangs beschriebenen Ethik des Rückzugs, Aufkündigung des Bündnisses von Wissen und Macht; im ‚Tod des Autors‘ vollzieht sich der Tod des epistemischen Subjekts: Denn das „ich“, das da Lamm spielte [oder Diogenes oder Antigone usf., BM], indem es seine Macht minimierte und besagte Mächte vor oder über sich stellte, dieses „ich“ ist niemand anderes als der Wolf. […] Es hat den Platz des Wolfs eingenommen, seinen wahren Platz. Das Recht des Stärkeren ist das Recht schlechthin. Der westliche Mensch ist ein Wolf der Wissenschaft.625

In der synchronen Produktion von Text und Textur inszeniert Serres den Streit zwischen Alten und Modernen im Medium des Narrativen. Text und Textur fungieren dabei als Quasi-Charaktere, die in einem dramatischen, ebenso antagonistischen wie partizipativen Verhältnis zueinander stehen. Die doppelte écriture von Text und Textur provoziert eine doppelte lecture, die entweder zur Realisierung und Akzentuierung des Textes (im ausgeführten Sinne der Repräsentation einer hierarchisch strukturierten Welt- und Wissensordnung mit dem narrativ-epistemischen Subjekt als totalisierendem Zentrum) oder der Textur (im Sinne des aktiven Mitvollzugs einer unabschließbaren permutationellassoziativen, von jeglichen fixierbaren Zentren der Signifikanz, der Ordnung und der Subjektivierung abgelösten Semiose) tendiert. Je konsequenter diese Entweder-oder-Lektüren jedoch betrieben werden, desto mehr ebnet sich die

|| 624 Exemplarisch sei noch einmal an die Franziskus-Legende erinnert: Mit der fragmentarischen Einspielung von und Anspielung auf verschiedenste(r) Mythologeme werden auch deren Plots, Gattungen, Rezeptionsgeschichten usw. importiert, d.h. ihre effektive Präsenz erschöpft sich nicht in den intertextuellen Anspielungen und Verknüpfungen, sondern reicht – je nach Aktualisierungskompetenz seitens des Lesers – weit darüber hinaus. Der Leser kann das plural-fragmentarisierte ‚emplotment‘ nahezu nach Belieben erweitern, vertiefen, ergänzen. Die Leseraktivität ist auch ein emanzipatorischer Akt, denn je weiter er die Vernetzung betreibt, desto mehr entfernt er sich vom Terrain dieser vorliegenden Geschichte und treibt deren Deterritorialisierung und Formauflösung voran. 625 Serres: Das Wolfsspiel. Der Wolf und das Lamm, S. 111.

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Differenz zwischen Text und Textur ein: der Text, der durch die endlose Wiederholung epistemologischer Lehren die Permutation der Textur still legt, gefriert letztlich in der monologischen Aussage, dass Wissen und Wissenschaft martialisch funktionieren und deshalb zum Tode führen; als Mimesis einer „Wissenschaft des Kampfes“ (A 65), die nur das „Ende der Geschichte“ (A 19) herbeiführt, des „starren Leichnams“ (A 15) einer durchrationalisierten Kultur, erstirbt er selbst in der absoluten Ordnung eines totalitären Sinns.626 Die Textur hingegen, die in der mannigfaltigen Verbindung von Heterogenem die Flucht aus der Geschlossenenheit des Textes ermöglicht, büßt in ihrer radikalisierten Form ihre konnektiv-kommunikative Funktion ein und löst sich in Un-Form und Nicht-Sinn eines absoluten Chaos auf. In dieser totalisierenden Tendenz zur absoluten Ordnung bzw. zum absoluten Chaos erweisen sich Text und Textur (und alle aus ihnen deduzierbaren Oppositionen wie Ordnung/Chaos, Diskurs/Parcours, mathesis/poiesis, Episteme/Ästhetik, Theorie/Mythos) als eine eben solche Scheinalternative wie die vielzähligen Paare, von denen Détachement erzählt. Diese Fortsetzung der Reihung vom Erzählten über das Erzählen bis hin zur Lektüre ist Teil des belehrenden Kalküls dieser Fabel, steuert diese doch auf allen Ebenen auf jene „gemeinsamen Grenzen des geordneten, nahezu stabilen Systems und der Unordnung, […], des Undifferenzierbaren und des Differenzierten, der Zerstreuung und der Einsaat“, der „Information und des Hintergrundrauschens“ zu, an denen sich „in der Tat anabolische und katabolische oder metabolische Prozesse [vollziehen]“ und Erkenntnis stattfindet.627 An dieser Grenze, „von der wir möglicherweise nie erfahren werden, ob sie den Dingen oder unserer eigenen Unwissenheit geschuldet ist“,628 herrscht Kontingenz sowohl im Sinne der Berührung von Heterogen-Getrenntem als auch im Sinne des Zufälligen und Nichtnotwendigen.629 Sich dieser Kontingenz aussetzen bedeutet sich befreien aus dem „Letternwald von Sprache und Vertrag“ (la lettre du langage et du contrat“), aus der „Höhle der Medien“ (la cave des médias) und aus der „Grotte der Politik“ (la grotte aux politiques, D 173 [A 121]), bedeutet sich zurückziehen vom „Manegenklamauk“, der den Lärm der Welt übertönt (vgl. D 173), bedeutet sich ablösen von der Dialektik des Selben und des Anderen und || 626 „Wenn ein Text geschlossen ist, dann ist er keine Geschichte“ (Michel Serres: Spektralanalyse, in: Hermes IV: Verteilung, S. 224–270, hier S. 232). Analog dazu ist eine „Episteme […] lediglich eine Statik von Thesen“ (ebd., S. 241 f.). 627 Serres: Festes, Flüssiges, Flammen, S. 82 sowie Michel Serres: Räume und Zeiten, in: ders.: Hermes V: Die Nordwest-Passage, S. 85–107, hier S. 104 f. 628 Ebd., S. 82. 629 Vgl. Serres: Räume und Zeiten, S. 106 f.

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sich jenem leeren und weißen ‚Zwischen‘ des ‚tiers-exclus‘ überlassen, wo „Erkenntnis, Anschauung und Wort als Abweichung auf dieser Grenze, [als] Zufallsfluktuationen in der Nacht unserer Zeiten“ sich ereignen, wo „wir leben in der Evidenz des Neuen“.630 Die Differenz von Text und Textur markiert dabei ihrerseits eine Spur, die ein solches ‚Zwischen‘ eröffnet: Mit der synchronen und wechselseitigen Erzeugung von konzentrischer Ordnung und exzentrischer Unordnung adaptiert der Text partiell Merkmale der Textur und umgekehrt. Dieses strukturelle und semantische Gleiten bewirkt eine wechselseitige Affizierung von Text und Textur (je nach Lektüreperspektive entstehen Mischungsverhältnisse mit ‚textuellem‘ oder ‚texturalem‘ Akzent), die das jeweilige Streben nach Totalisierung hemmt (die Differenz ist gleichsam Gestus einer verweigerten Absolutierung),631 darüber hinaus aber auch die Freiheit gewährt, die Suche nach dem verheißenen Nicht-Ort jenseits von Détachement fortzusetzen. Mit dem Verzicht, die Utopie des „nouveau savoir“ (D 175, 177) zu besetzen,632 dankt der Erzähler ab, zieht sich, wie am Ende der ersten Erzählung angekündigt, hinter die Furchen seiner Schrift zurück („derrière les sillons de mon écriture“, D 50 [A 35]) und entlässt seinen Leser in die mündige, von den Lehren dieser Fabel abgelöste Lektüre.

|| 630 Ebd., S. 105. 631 Diese Passagen, die das scheinbar stabile Gleichgewicht zwischen Text und Textur, die Macht der Zeichen, die Herrschaft des Sinns oder des Unsinns usf. erschüttern und destabilisieren, ahmen die am Ende von „Franciscain“ angesprochenen, auf die vorausliegenden Geschichten verweisenden und in diesen vervielfachten Fluchtwege nach: auf die fliegenden Drachen Chinas, auf die allein vom Pflanzen verschonte „Spur der Himmelsstraße“ (A 23), auf den Ort, „wo der schmale Weg in den Furchen verschwindet“ (A 30) und „die Bruchstücke des Lebens sich bilden“ (A 34), auf „all das, was sich der totalen Vereinnahmung durch Vernunft und Norm widersetzt, jene[n] verflucht irrationalen oder geheiligten Bereich“ (A 28). 632 Das „Wissen frei von Tod“, das der Bauern, der Seefahrer und der Suchenden, das „ekstatische und vielleicht schon verlorengegangene Wissen“, das „Wissen außerhalb unseres Wissens, das unsere Wissenschaft stillegt und unsere Sprache zunichte macht“, das „Wissen vom Leben“, von dem der Erzähler nur zu träumen vermag (A 78).

Schluss In diesem Fazit seien zunächst noch einmal in aller Kürze die einer ‚Trichterlogik‘ folgenden Stadien der Untersuchung knapp rekapituliert. Ausgehend von der Zwei-Kulturen-Debatte und deren Problematisierung, verengte sich der Fokus auf die Gattung einer poetica scientia – deren allgemeines Charakteristikum es ist, Aspekte des wissenschaftlichen Erkenntnisprozesses und der aus ihm resultierenden Wissens- und Erkenntnisformationen für die Literatur fruchtbar zu machen –, um schließlich in produktionsästhetischer Perspektive Komponenten und Strategien des Transfers sowie in rezeptionsästhetischer Perspektive die Rolle des Lesers näher zu bestimmen. Der daran sich anschließende Hauptteil der Untersuchung besteht in rekonstruktiv verfahrenden, die Bezugstexte einbeziehenden ‚Intensivlektüren‘ dreier literarischer Repräsentanten der poetica scientiae, die auf äußerst verschiedene Weise auf den wissenschaftlichen Erkenntnisprozess Bezug nehmen: Literarische Wissenschaftsgeschichte bei Daniel Kehlmann und literarische Wissenschaftstheorie bei Daniele Del Giudice und Michel Serres. Dies geschah nicht mit dem Ziel einer abstrakten ‚Apriori‘-Beschreibung von Transferbeziehungen auf systemischer und systematischer Ebene, sondern mit der Intention, die Theoriewertigkeit der Literatur selbst und damit deren Potential, nämlich die theoriegeleitete Diskussion über den Komplex ‚Wissen‘ und ‚Wissenschaft‘ (und seine jeweiligen Zuschreibungen) zu befruchten, auszuloten. Literatur und Wissenschaft, aufgefasst als zwei sowohl einander entgegen gesetzte als auch sich ergänzende Weisen, die Welt zu erschließen, zu erklären und zu verstehen, stehen seit den neuzeitlichen Anfängen der modernen Wissenschaften in einem ebenso kritischen wie fruchtbaren Dialog. Obwohl der Mythos von den „zwei Kulturen“ das (natur- wie geisteswissenschaftliche) Selbstverständnis – und daraus resultierend auch die wissenschaftliche Praxis – nach wie vor bestimmt, formiert sich seit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert sowohl im Bereich der Literatur als auch im Bereich der Naturwissenschaften, der Wissenschaftstheorie, -geschichte und -philosophie eine kritische Allianz, welche die zwischen Kunst und Wissenschaft bestehende Demarkationslinie zunehmend in Frage stellt, relativiert und für transdisziplinäre Betrachtungen durchlässig macht. Das paradoxe Verhältnis zwischen Literatur und Naturwissenschaft zeigt die Zwei-Kulturen-Debatte, die im Streit zwischen Thomas H. Huxley und Matthew Arnold bereits im 19. Jahrhundert einen ersten Höhepunkt erreicht, sich in der Auseinandersetzung zwischen C.P. Snow und F.R. Leavis in ungleich schärferer Form fortsetzt und am Ende des 20. Jahrhun-

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derts in der Sokal-Affäre ein weiteres Mal kulminiert. Gegenläufig dazu werden literarische Stimmen laut, die die Integration der Naturwissenschaften in die Literatur postulieren. Anhand exemplarischer Skizzen zu Musil und Broch konnte das in der Forschung zwar breit diskutierte, textphänomenologisch wie -theoretisch aber unterbeleuchtete Phänomen einer poetica scientiae näher bestimmt werden: Dieser hybride Literaturtyp zeichnet sich durch vier basale Konstitutionsmerkmale aus: 1. Die explizite Bezugnahme auf die Wissenschaften, insbesondere auf die Naturwissenschaften, kennzeichnet die poetica scientiae als einen dezidiert referentiellen, an der Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Kunst angesiedelten Literaturtypus; in diesem Sinne erweist sie sich als realistische Literatur, die von einem ästhetizistischen, ‚rein’ selbstreferentiellen Dichtungsverständnis deutlich abzugrenzen ist. 2. Diese Schnittstelle markiert die produktive Differenz zwischen szientifischem und fiktionalem Diskurs, eine szientifische Deixis, deren spezifische ‚Diskursivität’, Phänomenologie, Funktionalität, Semantik, Wahrheits- und Erkenntniswert zwar vom jeweiligen narrativen Kontext abhängig und nur innerhalb desselben zu klären sind, deren Differenzqualität, d.h. die Unterschiedenheit und Unterscheidbarkeit beider Diskurse, jedoch ungeachtet der ästhetischen Transformationen des Szientifischen erhalten bleiben. 3. Der für die poetica scientiae charakteristische Realismus – gleichsam ihre Heteroreferentialität – schließt autoreferentielle und metafiktionale Reflexionen keineswegs aus; vielmehr erweist sich gerade der ‚andere’, szientifische Diskurs als eine ideale Reibungsfläche, um die eigene poetologische Physiognomie zu konturieren. Gleichwohl bleiben diese Spiegelungen des Eigenen im Fremden – und dies gerade dort, wo sie aus einem konkurrierend-aemulativen Verhältnis zum Anderen generiert werden – auf jenes szientifisch ‚Andere’ verwiesen, von dem es das poetisch-literarisch Eigene abzugrenzen gilt. 4. Die poetischen, narrativen und metapoetischen Verfahrensweisen, derer sich die poetica scientiae bedient, umfasst die Pluralität der narrativen, dramatischen und lyrischen Möglichkeiten, wie sie für die einzelnen Gattungen kennzeichnend sind. Spezielle Bedeutung kommt indessen referentiellen Verfahren, insbesondere den Strategien der Intertextualität zu: Sie generieren jene produktive Differenz zwischen scientia und poetica, inszenieren die vielfältigen Beziehungs-, Kreuzungs- und Semantisierungsmöglichkeiten zwischen dem „disziplinierten Wort“ (R. Lachmann) der Wissenschaft und dem ‚undisziplinierten’ Wort der Literatur und steuern nicht zuletzt die Analyse-, Interpretations- und Verstehensprozesse seitens des Rezipienten. Damit ist auch das immense Provokationspotential angesprochen, das die poetica scientiae für die Literaturwissenschaft darstellt. Der literarisch dominanten Praxis der Intertextualität korreliert die literaturwissenschaftliche Praxis

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der Interdisziplinarität und begründet damit auch das prinzipielle methodische Vorgehen dieser Arbeit, die naturwissenschaftlichen, wissenschaftshistorischen und epistemologischen Sachverhalte in ihrer szientifischen und historischen Eigenständigkeit und auch mit Blick auf ihre potentiell ästhetischen Implikationen einer ebenso gründlichen Analyse zu unterziehen wie die literarischen Texte selbst. Derartige ‚fremddisziplinäre’ Rekonstruktionsbemühungen zielen letztlich darauf ab, gerade solche Aspekte eines Problems oder Gegenstands zu eruieren, die durch die isolierende, ‚disziplinäre’, konkret: literaturwissenschaftliche Sicht verdeckt oder unterdrückt bleiben, und auf diese Weise – freilich ohne Preisgabe eines literaturästhetischen Fokus – die Dialogizität zwischen literarischem und naturwissenschaftlichem Text unter möglichst vielen Gesichtspunkten zu erfassen.

Teil I: Historische und systematische Grundlagen

Unter dem Begriff „epistemologische Ästhetisierung“ wurde zunächst die Aufweichung des positivistischen Wissenschaftsverständnisses und ineins damit: die Öffnung der Grenzen zwischen den ‚hard sciences’ auf der einen, Kunst, Literatur, Ästhetik auf der anderen Seite nachvollzogen. Drei Entwicklungen fällt hierbei eine herausragende Rolle zu: 1. der radikalen Infragestellung leitender Erkenntnisparadigmen durch die Errungenschaften der neuen Physik; 2. dem dadurch in Gang gesetzten erkenntnistheoretischen, sprachphilosophischen und ästhetischen Reflexionsprozess seitens der wichtigsten Repräsentanten dieser Physik (Einstein, Heisenberg, Bohr); 3. der durch die Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsgeschichte erwirkten Öffnung der Naturwissenschaften für eine historische, soziologische, hermeneutische und ästhetische Betrachtung. Relevant für die ‚antipositivistische’ Entwicklung der neuen Physik ist u.a. der paradoxe Zusammenhang zwischen Naturauffassung und Ästhetik. Die Einsicht, dass die Naturwissenschaft nicht mehr von der Welt handelt, die sich uns unmittelbar darbietet, „sondern von einem dunklen Hintergrund dieser Welt, den wir durch unsere Experimente ans Licht bringen“ (Heisenberg), korreliert zum einen mit einem Entzug des Ästhetischen in der wörtlichen Bedeutung des sinnlich Wahrnehmbaren und Anschaulichen, zum anderen mit einem Entzug anschaulicher Sprache. Zugleich ist gerade in dieser De-Ästhetisierung des wissenschaftlichen Gegenstands ‚Natur’ und der damit verbundenen Abstraktionssteigerung der wissenschaftlichen Begriffe ein maßgeblicher Impetus

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für die Ästhetisierung dieser ‚Natur’ und der sie erforschenden, sie allererst „ans Licht bringenden“ (Heisenberg) Physik zu sehen. Entscheidend ist, dass die genannten Physiker angesichts des entstandenen wissenschaftsbegrifflichen Vakuums der Kunst und Literatur eine dezidiert wissenschaftshermeneutische Funktion zubilligen. Die seitens der Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftstheorie geleisteten Grenzöffnungen wurden vor allem am Beispiel von Kuhns Strukturmodell der Wissenschaftsgeschichte und Feyerabends ästhetischer Dimensionierung wissenschaftlicher Erkenntnis- und Entwicklungsprozesse aufgezeigt. Die Kontextualisierung und Historisierung wissenschaftlicher Entwicklungen und Erkenntnisprozesse, ihre Rückbindung an institutionelle, subjektive, psychologische und soziale Faktoren sowie die Aufwertung des ‚impliziten’ Wissens in allen Formen sogenannten ‚objektiven’ Wissens entlarven die Vorstellung von Wissenschaft als eines Systems zeitloser, allgemeingültiger Ideen und Axiome, die von einer transhistorischen Universalvernunft einsehbar sind, wenn nicht als Mythos, so doch als Problem. Darüber hinaus zeigen insbesondere die wissenschaftshistorischen und -theoretischen Schriften Feyerabends, wie ästhetische Kategorien in wissenschaftstheoretische transformiert werden und relevante Aspekte der Deviationsästhetik für die Konstruktion einer Deviationsepistemologie produktiv gemacht werden. Die verdeckte Ästhetik des positivistischen Wissenschaftsparadigmas kontrastiert so mit der offenen Ästhetik des ‚anti-positivistischen’ Wissenschaftsparadigmas und macht letztere für eine Hermeneutik der poetica scientiae fruchtbar. Die Zwei-Kulturen-Debatte konnte als eine Zwei-Sprachkulturendebatte profiliert werden. Hierzu wurde die Entwicklung von Bacon, Descartes, Newton, die sich um eine strikte Trennung von reiner Wissenschaftssprache und Rhetorik bemühten, über Berkeley und Goethe, Nietzsche und Husserl bis hin zu aktuellen Positionen aufgezeigt, die das Rhetorisch-Metaphorische der Wissenschaftssprache universalisieren oder aber für einen gemäßigten Realismus in den Naturwissenschaften einstehen. Es zeigte sich, dass Sprachkritik der primäre Modus ist, in dem sich die je spezifische Bestimmung dessen, was Wissenschaft sowohl in wissenschaftsimmanenter Perspektive als auch in Abgrenzung zu nicht-wissenschaftlichen, besonders literarisch-künstlerischen Erkenntnismodi ‚im Kern’ sei, vollzieht. Dass und wie sich auch in wissenschaftsimmanenter Perspektive Prozesse der Konstituierung und Generierung von wissenschaftlicher Erkenntnis immer auch sprachlich und sprachkritisch vollziehen und damit auf der fließenden Grenze von Begriff und Metapher, Faktizität und Fiktion verlaufen, wird im Rückgriff auf die Studien von J. Mittelstraß exemplarisch an Newtons Hypothesenverdikt veranschaulicht: Die eingehende Analyse der in

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Newtons Werk höchst flexibel und uneindeutig gebrauchten Begriffe ‚Hypothese’, ‚Definition’, ‚Regel’ und ‚Axiom’ führt zu dem Ergebnis, dass hier im Widerspruch zu Newtons eigener methodisch dezidiert hypothesengeleiteter Praxis die Methodologie – oder vielleicht besser: Ideologie – eines radikalen von rationalistisch-hypothetischen Infiltrationen bereinigten Empirismus steht. Insgesamt ließ sich die historische Entwicklung dahingehend charakterisieren, dass spätestens mit dem von Nietzsche herbeigeführten philosophischen und dem durch die Relativitäts- und Quantenphysik herbeigeführten naturwissenschaftlichen Paradigmenwechsel der Repräsentationsstatus der wissenschaftlichen Begriffs- und Formelsprache – und mit diesem der ontologische Faktizitäts- und Objektivitätsanspruch wissenschaftlicher Erkenntnis – zunehmend prekär wird. Nicht zuletzt erweist sich die naturwissenschaftliche Forschungspraxis, insbesondere im Bereich der Mikrophysik, zunehmend als eine konstruktivistischzeichenprozessierende, semiologische Praxis, deren Erkenntnis- und Darstellungsstrategien zwangsläufig in den Bereich ‚geisteswissenschaftlicher’ (vor allem semiotischer und hermeneutischer) Methoden hineinragen. Bei der Charakterisierung der Poetik und Hermeneutik der literarischen Transformation wissenschaftlicher Diskurse standen zwei Fragen im Zentrum: Was geschieht, wenn wissenschaftliche Methoden, Theorien und Wissensmodelle literarisch rezipiert und übersetzt werden? Und was geschieht, wenn wir als Leser ‚Wissenschaftsliteratur‘ rezipieren? Aus produktionsästhetischer Sicht erweisen sich Wiederholung und Transgression als die basalen Komponenten des Transfers: Im Transfer werden epistemische Aussagen wiederholt und zugleich überschritten. Während die Wiederholung den Bezug zur wissenschaftlichen Aussage gewährleistet, folglich den Zusammenhang zwischen Episteme und Fiktion erzeugt und ihr damit eine repräsentierende, konservierende und kontinuitätsstiftende Funktion zukommt, sprengt umgekehrt die Überschreitung diesen Zusammenhang gerade auf und generiert, etabliert und akzentuiert auf diese Weise den Bruch, die Diskontinuität, die Differenz. Die durch den Transfer – aufgefasst als Transgression des Wiederholten – etablierte gattungskonstitutierende Differenz von scientia und poetica kann entsprechend als eine Differenz von Identität (das Wiederholte) und Differenz (das fiktive ‚Andere’ des Wiederholten) charakterisiert werden. Das variable Verhältnis von Wiederholung und Transgression, von Identität und Differenz und damit die je unterschiedliche ‚Phänomenologie’ und Funktionalität der für die Gattung kennzeichnenden Differenz von scientia und poetica wird durch sogenannte Transferstrategien gesteuert, die in Anlehnung an Wolfgang Isers Theorie von den Akten des Fingierens detailliert beschrieben wurden. In diesem Zusammenhang wurde vor allem der Status des ‚wissen-

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schaftlich Realen’, auf das in den fingierenden Akten der Selektion und Kombination Bezug genommen wird, im Vergleich zum ‚lebensweltlich Realen’ zu klären versucht. Im Ergebnis führt die je unterschiedliche Verfügbarkeit von empirisch, habituell verfasster Lebenswelt und textuell verfasster Wissenschaftswelt zum einen auf die Intertextualität als der für die poetica scientiae zentralen Transferstrategie, zum anderen auf die Frage nach der spezifischen Rolle, die dem Leser dieser literarischen Gattung zukommt. Die poetischen Verfahren und Transferstrategien, mit denen wissenschaftliches Wissen ins Medium der Literatur übersetzt, verfremdet und in neue Sinnkreisläufe eingespeist wird, programmieren auf Seiten des Rezipienten eine ebenso komplexe, mit mehrfachen Funktionen besetzte Rezeptionseinstellung, ohne die die Gattung nicht realisiert bzw. aktualisiert werden könnte. Poetica scientiae bedarf eines lector doctus.

Teil II: Literarische Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftsgeschichtsschreibung

Das Verhältnis von Geschichtswissenschaft und Wissenschaftsgeschichte ist problematisch. Zwei erst im Zuge der Postmoderne sich entwickelnde Konvergenzen zwischen beiden Disziplinen, nämlich die Wiederbelebung des Narrativen und die Wiederbelebung der Biographie als eines historiographischen Genres bilden den ‚Link’ zur literarischen Wissenschaftsgeschichtsschreibung. Vor dem Hintergrund der Amalgamierung von Historiographie, Wissenschaft und Literatur, wie sie für postmoderne Theorien kennzeichnend ist (Feyerabend, Lyotard, White), wurden vor allem Fragen nach dem Status des Narrativen diskutiert sowie erste Differenzierungen einer Poetik des wissenschaftshistorischen Romans als Sonderform des historischen Romans vorgenommen. Am Beispiel von Daniel Kehlmanns Roman Die Vermessung der Welt, in dessen Mittelpunkt die Wissenschaftlerbiographien Alexander von Humboldts und Friedrich Gauß’ stehen und der zwischen fiktionaler Wissenschaftsgeschichte und wissenschaftshistoriographischer Metafiktion anzusiedeln ist, wurden einerseits Strategien wissenschaftshistorischen Erzählens im Roman untersucht (z.B. Struktur als erzählte Geschichte, anekdotisches Erzählen), andererseits aber auch die dem Roman zugrundeliegenden historischen Quellen, Wissenschaftsbiographien etc. einer ausführlichen Analyse unterzogen. So impliziert bereits Humboldts Projekt eines enzyklopädischen Weltgemäldes eine ausge-

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feilte, letztlich jedoch zum Scheitern verurteilte Poetik einer poetica scientiae; desgleichen erweist sich die Entdeckungsgeschichte der nicht-euklidischen Geometrie, an der Gauß maßgeblich beteiligt war, als Ausdruck einer wissenschaftlichen Krisensituation, die nicht nur den Beginn des modernen, hypothetisch-deduktiven Paradigmas einleitet, sondern in ihrer widersprüchlichen, spannungsreichen und geradezu enigmatischen Verlaufsstruktur eine Ästhetik abbildet, die der Roman nutzt und produktiv macht, wobei es hier überraschenderweise die Fiktion ist, die dazu tendiert, eine von Unbestimmtheiten, Leerstellen, ‚Hermetismen’ und Widersprüchen geprägte Historie zu verallgemeinern, zu vereindeutigen und auf ihr mathematisches Substrat zu verkürzen. Die Verfahren, die Kehlmann hierbei einsetzt, sind überaus subtil. Durch seinen Umgang mit dem Anekdotischen etwa dekonstruiert er jene narrativen und rhetorischen Muster, die der biographischen Konstruktion der Wissenschaftler-Imago 'Gauß' zugrundeliegen. Über die Anekdote wird zugleich das Etymon – anekdoton im Sinne von unveröffentlichter wissenschaftlicher Schrift – aufgerufen und verweist so, die Prioritätsfrage anreißend, auf den Status der Gaußschen Erkenntnisse zur Differentialgeometrie. Die ästhetische Differenz dieser Fiktion ist nicht als das ‚ganz Andere‘ zu Wissenschaft und Wissenschaftsgeschichte zu markieren, sondern vielmehr als ein teils witzig-komisches, teils ironisch gebrochenes Spiel mit verfügbaren epistemischen und historischen Zeichen, deren Verweisungsvielfalt den Rahmen der Wahrscheinlichkeit nicht sprengt, sondern – und eben darin liegt ein großer Teil der für den Roman durchgängig charakteristischen Selbstreflexivität – die Verweisungsvielfalt der epistemisch historischen Zeichen selbst bis in den letzten Winkel ‚vermisst‘ und ausleuchtet: Während einer – fiktiven – Ballonfahrt wird dem jungen Gauß die nicht-euklidische Geometrie (und damit die Unmöglichkeit ihrer synthetischen Begründung a priori) epiphaniehaft zuteil; in seinem gegen den greisen Kant gerichteten Monolog vollzieht er die Ablösung der Mathematik von der Philosophie, indem er einem durch drei Sterne aufgespannten Dreieck eine andere Winkelsumme bescheinigt als ‚hundertachtzig Grad‘, was durch Messung, also a posteriori, zu erweisen sei. Mit solchen Verfahren wird die äußerst komplexe Entwicklungsgeschichte der nichteuklidischen Geometrie auf einige wenige, aber maßgebliche Stationen konzentriert, indem sie durch eine geschickte Auswahl und Reihung von fachlichen Termini markiert und in einen eher ‚losen‘ Zusammenhang gebracht werden. Die Termini werden so zu auf den scientia-Bereich referierenden wissenschaftshistorischen ‚Abbreviaturen‘, die zu mathematisch allgemeinen Aussagen tendieren, aber gerade aufgrund dieser Verallgemeinerungstendenz einen maximalen themati-

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schen Abstraktionsgrad erreichen. Dieses Verfahren der narrativen Abstraktion mathematischer Sachverhalte setzt auf produktionsästhetischer Seite die fundierte Kenntnis der wissenschaftshistorischen Zusammenhänge voraus, wie es umgekehrt an den Leser appelliert, diese Zusammenhänge auf dem Weg einer über den Erzähltext hinausgehenden Lektüre zu rekonstruieren.

Teil III: Literarische Epistemologie

Verfahren literarischer Epistemologie wurden anhand von Lektüren von Del Giudices Roman Atlante occidentale (1985) und Michel Serres’ Lehrfabel Détachement (Ablösung; 1984) herausgearbeitet. Im Rekurs vor allem auf die von Lyotard beschriebenen Tendenzen postmoderner Wissenschaft galt es hier weniger zu zeigen, dass und wie naturwissenschaftliche Erkenntnisse und Erkenntnisprozesse literarisch poetisiert und poetologisiert werden, sondern dass und wie die diesen wissenschaftlichen Erkenntnissen und Erkenntnisprozessen selbst immanenten epistemologischen Zusammenhänge (etwa der Zusammenhang von Anästhetisierung und Ästhetisierung) poetisch und poetologisch reflektiert und expliziert werden. Del Guidices Roman zeichnet sich durch ein differenziert übersetztes ‚metaepistemisches‘ Interesse aus: In freundlich konstruktiver und gerade nicht konfrontativer Weise entwickelt sich eine Männerfreundschaft zwischen dem Physiker Pietro Brahe und dem Autor Ira Epstein, die, als prototypische Vertreter der ‚zwei Kulturen‘, miteinander über die epistemischen Bedingungen der Möglichkeiten ihres Tuns ins Gespräch kommen. Brahe führt im europäischen Zentrum für Nuklearforschung (CERN) Kollisionsexperimente mit Teilchen durch, deren Resultate nicht-abbildende ‚Bilder‘ eines letztlich menschlich erzeugten Geschehens sind, die nur wissensbasiert auf dem Wege von Rückschlüssen über dasjenige Geschehen Auskunft geben können, als deren abstrakte Spur sie gelten. Dem Autor Epstein, der in früheren Werken die Dinge in ihrer Beziehung zum Menschen erzählen wollte – eine Unternehmung, deren letztliches Misslingen er als moralisches Versagen interpretiert – wird zunehmend deutlich, dass sich die Dinge, ähnlich den ‚Naturdingen‘ in Brahes Experimenten, im Verschwinden befinden, weswegen er, und dies ist sein Experiment, eine Ästhetik der verschwindenden Dinge zu entwickeln sucht, die letztlich in einen solipsistisch konzipierten und auch so gehandhabten ‚Atlas des Lichts‘ münden soll. In dieser letzten Konsequenz einsamer Schau sind der Autor Epstein und der Phy-

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siker Brahe sehr nahe beieinander: In einer Episode, in der Brahe und ein Kollege auf der Suche nach einem Ersatzteil die Regale eines Maschinenlagers abschreiten, verlangsamt sich ihr Gang, je näher sie den Teilen für die Datenerfassung („il culmine del vedere“) kommen. Der Klimax des Sehens korrespondiert die Antiklimax des Gehens – ein Hinweis darauf, dass am Gipfel des Sehens die anatomischen Strukturen und physiologischen Prozesse des menschlichen Auges vollkommen von den technologischen ‚Wahrnehmungsorganen‘ absorbiert und abgelöst sind, sinnliche Wahrnehmung also durch eine rein technologische substituiert ist. Die Apparaturen des Sehens eliminieren das Subjekt keineswegs, sind sie es doch, die das Undarstellbare für das Subjekt in spezifischer Weise zur Darstellung bringen und damit das geistig-imaginäre Sehen dessen, was „niemand […] je mit eigenen Augen sehen“ würde, ermöglichen. – Erzählt wird mithin die Geschichte von den Bedingungen der Generierung naturwissenschaftlichen Wissens in ihren spezifischen Produktionskontexten wie auch die Auswirkungen dieses Wissens auf den Menschen und sein Verhältnis zu den Dingen. Dabei werden gerade diejenigen Aspekte epistemischer Verfahrensweisen zum akzentuierten Gegenstand der literarischen Erzählung, die in der konventionellen naturwissenschaftlichen Forschung im Verborgenen bleiben und entsprechend auch nicht veröffentlicht werden: die technologischen, theoretischen und ästhetischen Dispositionen diskursiver bzw. ‚viskursiver‘ (Knorr-Cetina) und hermeneutischer Praktiken und deren Relevanz für die Entfaltung und Vereinheitlichung von Wissensgebieten sowie für die Bildung und Gewinnung von Theorien und Erkenntnissen. Der Modus des Transfers von Wissenschaft in Literatur kann dahingehend beschrieben werden, dass im Falle der primär epistemologisch funktionalisierten poetica scientiae gerade nicht die Fiktionalisierung propositionaler Erkenntnisse im Vordergrund steht, sondern die Fiktionalisierung der diesen Erkenntnissen innewohnenden Fiktionalität. Nur eine Poetologie und Ästhetik inkludierende Epistemologie vermag die Wissenschaft über ihr eigenes ästhetisch-fiktionales ‚Anderes‘ aufzuklären. Darin liegt auch das Wegweisende der epistemologisierten Poetik des Romans: Ihre primäre Funktion ist nicht darin zu sehen, dass sie die Fiktionalität als ein (epistemisch verdecktes) Faktum der Wissenschaft ‚entdeckt‘ und darstellt, sondern dass mit ihr Aspekte einer Methode vorgestellt sind, die für die epistemologische Reflexion innerhalb der Wissenschaften fruchtbar gemacht werden kann, und dies in einer Weise, die auch die der Wissenschaft selbst inhärente Ästhetizität und Poetizität mitberücksichtigt. Für den Wissenschaftshistoriker, -theoretiker und Literaten Michel Serres ist die kritische Auseinandersetzung mit der klassischen Epistemologie kennzeich-

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nend, der er mit seinem eigenen Projekt einer allgemeinen Epistemologie begegnet, die nur in der Interrelation von Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftstheorie, von Politik und Ethik, von Ästhetik und Literatur entwickelt werden, letztlich also nur eine anthropologische Epistemologie sein kann. Präpositionen, als sprachliche Mittel, die Verhältnisse ausdrücken und organisieren, gelten Serres als Abbreviaturen eines hermeneutischen ‚Zwischen‘, das sich selbst in der Bewegung realisiert. Eine solche ‚präpositionale Philosophie‘ vermag, vor dem Hintergrund eines mathematisch-topologischen Verständnisses einer nicht linearen, sondern gefalteten historischen Raum-Zeit Berührungspunkte zwischen scheinbar Getrenntem, Isomorphien, aufzudecken – Passagen, nicht unähnlich den enzyklopädischen Verweisstrukturen Diderots, die das alphabetisch, und so randomisiert geordnete, Wissen sachlich in Beziehung setzen, aber auch ‚genialisch‘ spekulativ verknüpfen können oder im Extremfall auf sich selbst zurück oder ins Leere verweisen. Das ‚Unreine‘ ist für Serres demzufolge keine „Niederlage der Vernunft“, wie er es in seiner Philosophie des Parasitären entwickelt, sondern essentielles Attribut der physischen Materialität des Kanals: „Die Abweichung gehört zur Sache selbst“. Wie die Analyse der Lehrfabel „Détachement“ gezeigt hat, ist diese als eine erzählte Epistemologie zu lesen, die nicht nur von Epistemologie ‚handelt‘, sondern durch die gegenläufige Bewegungstendenz von Plot und Diskurs und die dadurch erzeugten, konträr wie korrektiv aufeinander bezogenen Paradigmen textueller Organisation zentrale Philosopheme Serres’ als Denkbewegungen realisiert: Im „Franciscain“-Kapitel von „Détachement“ werden Isomorphien zwischen Diogenes und Franz von Assisi aufgewiesen; in der DiogenesAlexander-Anekdote wird Alexander zum parasitären Dritten, das in einer bricolage der Stile zu einem anschwellenden Rauschen wird. So formiert der Diskurs von Serres’ Lehrfabel durch die Kombination heterogener Stile und Erzählformen, den Wechsel der Erzählperspektive sowie die im weiteren Verlauf exzessiven intra- und intertextuellen Verweise eine komplexe Textur, während sich der eigentliche Plot zunehmend zu einem geschlossenen Text mit fixierbaren Aussagen schnürt. Auf diese Weise transformiert Serres seine Epistemologie in Literatur (wie er umgekehrt seine epistemologischen Texte stets auch literarisiert) und macht die epistemologische Methode der topologischen Abstraktion bzw. der kombinatorischen Topologie zum Struktur- und Organisationsprinzip seiner narratio. Insgesamt oszillieren Serres’ philosophische wie literarische Texte in jenem für ihn programmatischen ‚Zwischen‘, das zwar tentative Schwerpunkte, aber kein Zentrum kennt. Im Transfer, durch die Auslotung der literarischen Möglichkeiten von Wiederholung und Transgression, erweist sich eine freilich stets aufs Neue analy-

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tisch zu gewinnende eigene Theoriewertigkeit von Literatur, die in den wissenschaftlichen Erkenntnisprozess und Theorieausbau mit eingebunden werden könnte. Das ‚Andere‘ der poetica scientiae kann insgesamt darin gesehen werden, dass Literatur mit ihren Mitteln geeignet ist – sei es durch ironischgebrochenes Spiel mit der Dokumentenlage wie bei Kehlmann, durch das Umkreisen der Leerstelle des pictum wie bei Del Giudice oder durch die écriture als epistemologisches Verfahren wie bei Serres –, das durch die Wissenschaftsentwicklung Verschüttete, systematisch durch sie Verdrängte oder von ihr im Fragen Ignorierte ans Licht zu bringen, wach zu halten und von der Wissenschaft einzufordern wie in sie einzubringen und so den wissenschaftlich geprägten und angeleiteten Menschen an das Gesamt seiner Möglichkeiten zu erinnern, zu mahnen und mit diesem zusammenzuführen.

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Open Access. © 2021 Bernadette Malinowski, publiziert von De Gruyter. Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivatives 4.0 International Lizenz. https://doi.org/10.1515/9783110642384-011

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Register Abbas, Niran 397, 405, 433 Abel, Niels Henrik 200, 398 Adorno, Theodor W. 213, 309, 375 Albrecht, Andrea 28ff., 202 Alt, Peter-André 118, 123 Anderson, Mark M. 264 Aquin, Thomas von 328 Arnold, Matthew 2, 4f., 493 Assmann, Aleida 155, 301 Atlan, Henri 428f., 431 Augustinus 328 Aumann, Günter 219, 236ff., 241 Bachelard, Gaston 152, 366, 421 Bachtin, Michail M. 122, 130, 133ff., 479 Bacon, Francis 39, 54, 75f., 243, 455, 496 Barck, Karlheinz 2 Bareis, J. Alexander 170, 213 Bartels, Martin 274 Barthes, Roland 294, 346, 442, 489 Baudrillard, Jean 279 Bedorf, Thomas 430 Benjamin, Walter 29, 309 Benn, Gottfried 13 Berkeley, George 50, 56, 74, 79ff., 93, 496 Berressem, Hanjo 433 Bessel, Friedrich Wilhelm 193, 200, 221, 238, 240, 244, 273 Biegel, Gerd 207, 247 Bies, Michael 177, 186 Bloom, Harold 68 Blotevogel, Hans Heinrich 345 Blumenberg, Hans 14, 16, 40, 51, 76, 110f., 140, 328 Boehm, Gottfried 289, 291 Böhme, Hartmut 176, 187, 272, 350 Bohr, Niels 44ff., 51ff., 159, 495 Bohrer, Karl Heinz 324 Bolyai, Johann 238, 240, 256, 274 Borgards, Roland 27 Bourbaki, Nicolas 242, 244, 400, 405 Bourdieu, Pierre 215 Boyd, Richard 107ff. Breidbach, Olaf 25

Broch, Hermann 13ff., 314, 494 Broglie, Louis de 44, 51 Brown, Steven D. 405, 429, 433, 454 Bühler, Walther K. 207, 237 Bühlmann, Vera 401, 446 Bührke, Thomas 238 Canguilhem, George 107, 152f. Cassirer, Ernst 80, 82, 193, 221, 241ff., 248, 258, 260, 266, 270, 309, 400, 403, 435 Catani, Stephanie 174, 227 Clausjürgens, Reinhold 380, 430, 451, 464 Condorcet, Jean-Antoine-Nicolas 3 Dainat, Holger 10 Danneberg, Lutz 24, 29, 138 Därmann, Iris 428, 433, 441, 454 Daros, Philippe 282 Daston, Lorraine 28, 291 Daum, Andreas W. 188, 206 Dear, Peter 25, 102 Dedekind, Rudolf 246, 248, 398 Del Giudice, Daniele 281ff., 302, 324, 335, 337, 357, 362, 493, 500, 503 Deleuze, Gilles 301, 375, 386ff., 391ff., 440 Derrida, Jacques 96ff., 122, 155, 279, 295, 306, 317, 319, 321, 336, 373 Descartes, René 2, 39, 48ff., 75ff., 243, 385, 404, 423, 444, 455, 458, 465, 496 Descombes, Vincent 404 Deupmann, Christoph 162ff., 168, 172f., 265, 268, 275 Diderot, Denis 412, 414ff., 425, 456 Diemer, Alwin 248 Dilmac, Betül 30, 283f., 315, 337f. DiLonardo, Maureen 30 Dittrich, Andreas 27 Ditzen, Stefan 295 Doll, Max 155, 164, 172, 213, 214, 232, 234 Droysen, Johann Gustav 224f. Du Bois-Reymond, Emil 187ff., 195f. Dunnington, G. Waldo 206, 239, 274 Durzak, Manfred 216

Open Access. © 2021 Bernadette Malinowski, publiziert von De Gruyter. Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivatives 4.0 International Lizenz. https://doi.org/10.1515/9783110642384-012

532 | Register

Eco, Umberto 16, 88, 112, 213, 324, 362, 413, 421 Edgerton, Samuel 293 Eilenberger, Gert 414 Einstein, Albert 42ff., 51, 61, 159, 241, 247, 252, 254, 263, 265, 495 Emter, Elisabeth 14, 30, 40ff., 45, 51 Encke, Johann Franz 220 Engel, Friedrich 256 Engler, Gideon 201 Enzensberger, Hans Magnus 1 Ette, Ottmar 163, 176, 186, 205f. Erdbeer, Robert Matthias 186 Euclides/Euklid 218f., 236, 242, 251, 260 Euler, Leonhard 189, 192, 195f., 247 Feldmann, Doris 394 Fendt, Julia 282, 338 Feyerabend, Paul 18, 56f., 62ff., 79, 498 Fichte, Johann Gottlieb 329 Fiedler, Konrad 292 Fischer, Ernst Peter 1, 43f., 414 Flach, Sabine 293 Foerster, Heinz von 431 Forster, Edward M. 150 Foucault, Michel 107, 113, 300, 312, 316, 373, 419, 422 Friedrich, Hugo 352, 440 Fries, Jakob Friedrich 193f. Fulda, Daniel 23, 157 Gabriel, Gottfried 26, 115, 137, 384 Gadamer, Hans Georg 103ff., 132, 411 Gaier, Ulrich 32 Galilei, Galileo 39ff., 65, 76, 78, 91 Galison, Peter 28, 291 Galle, Andreas 191 Gamper, Michael 77 Gasser, Markus 234 Gauß, Eugen 169, 172, 174 Gauß, Carl Friedrich 34, 150, 168ff., 187ff., 195ff., 203ff., 212f., 216ff., 221f., 232f., 236ff., 241, 244ff., 251f., 255ff., 269f., 273ff., 359, 399, 498f. Gehring, Petra 400, 411, 428, 465 Geier, Manfred 176, 269 Geimer, Peter 291, 358

Genette, Gérard 32, 131, 488 Geppert, Hans Vilmar 1, 28, 149f., 157, 227f., 322, 330 Gerling, Christian Ludwig 219, 239 Gethmann, Carl F. 55 Gide, André 337 Gittel, Benjamin 29 Goethe, Johann Wolfgang 13, 22, 41, 50, 52, 79, 81ff., 93, 177, 186, 201, 229f., 496 Gray, Jeremy 206, 238, 246, 256 Gross, Alan 11, 25, 99ff. Großer, Konrad 348 Grube, Gernot 294ff., 299, 347 Guillebaud, Jean-Claude 373, 376f., 380, 385, 414, 455 Güsken, Jessica 466, 472 Habermann, Katharina 247, 252, 254, 263 Hagner, Michael 28, 153f., 158, 293 Harris, Paul 397f., 402, 405f. Hayles, Katherine N. 30 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 79f., 82, 191, 290 Heidegger, Martin 264, 279, 281, 392 Heintz, Bettina 289, 296 Heisenberg, Werner 40, 45ff., 107, 265, 495 Helferich, Gerard 230 Hennig, Jochen 326 Herbart, Johann F. 249, 253 Herder, Johann Gottfried 351 Herrmann, Leonhard 161, 265 Hesse, Mary 25, 103ff., 112 Heßler, Martina 289f., 294, 299, 325f., 358 Heydenreich, Aura 24f. Hiller, Horst B. 42, 47, 49 Hilzinger, Sonja 203 Hofmannsthal, Hugo von 323 Hölderlin, Friedrich 328 Höllerer, Walter 324 Hondl, Kathrin 380 Huber, Jörg 289, 296, 302 Humboldt, Alexander von 150, 163, 166, 168ff., 176ff., 196ff., 202, 206, 223ff., 232f., 264f., 269ff., 275, 496f. Humboldt, Wilhelm von 230f. Husserl, Edmund 91ff., 306, 496 Huxley, Thomas H. 2, 4, 6, 493

Register | 533

Illi, Manuel 74 Ingold, Gert-Ludwig 21, 43, 45 Ireton, Sean 264 Iser, Wolfgang 117f., 121, 124f., 129f., 132ff., 136, 141, 393f. Jacob, Joachim 202, 209, 214ff. Jacobi, Carl Gustav Jacob 200 Jakob, Michael 381 Jakobson, Roman 72, 234, 438f. Jauß, Hans Robert 72, 136, 393 Joyce, James 14, 314, 323 Kaiser, David 159 Kaiser, Gerhard 229, 275 Kanitschneider, Bernulf 41, 46 Kant, Immanuel 79ff., 191, 193f., 199, 220, 254, 261, 263ff., 269ff., 309f., 326, 328, 423, 499 Kayser, Albrecht Christoph 215 Keats, John 351 Kehlmann, Daniel 149, 161, 166ff., 202, 204, 209f., 213ff., 220ff., 258f., 263f., 267f., 270, 273ff., 493, 499, 503 Kepler, Johannes 82, 423f. Kilcher, Andreas 31, 89, 344, 346f., 370, 407, 415ff., 424, 466ff., 470 Kleinschmidt, Sebastian 149, 172, 202 Kline, Morris 400 Klinkert, Thomas 28f., 115, 138, 282, 337 Klügel, Georg Simon 192f. Knorr-Cetina, Karin 284ff., 289, 293, 298f., 301, 318, 358, 499 Koch, Wolf Günther 345 Kohlross, Christian 28 König, Gert 248, 465f., 471, 473ff. Könneker, Carsten 51 Kopernikus, Nikolaus 4, 39, 423 Köppe, Tilmann 26f., 138, 162 Koschorke, Albrecht 158 Krämer, Olav 27 Kreuzer, Leo 24, 188 Kuhn, Thomas S. 18, 55, 57ff., 69ff., 78, 151f. Küssner, Martha 191f., 199, 201 Lachmann, Renate 17, 32, 99, 122, 126ff., 133, 135, 140f., 143, 494

Lakatos, Imre 56f., 243, 255 Lambert, Johann Heinrich 237, 239, 290, 292 Lampart, Fabian 28, 150 Laplace, Pierre Simon de 41, 188f., 274 Latour, Bruno 97, 364ff., 373ff., 379, 381, 383f., 386, 401, 403, 410ff., 414, 421ff., 425, 448f., 454f., 468f. Laudan, Larry 18, 56f. Laugwitz, Detlef 246 Leavis, Frank R. 2, 5, 7, 9, 493 Legendre, Adrien-Marie 219, 251 Leibniz, Gottfried Wilhelm 241, 243, 266, 368, 370f., 381, 386ff., 401, 404, 406ff., 412, 434ff., 445, 453, 456f. Lepenies, Wolf 153, 186, 201 Le Roy, Édouard 365 Lobatschewski, Nikolai Iwanowitsch (auch: Lobachevskii) 200, 238, 244, 274 Lock, Simon J. 10 Lukács, Georg 77 Lukrez 368, 422, 425, 433, 443ff., 445, 447, 456f. Lynch, Michael 293 Lyotard, Jean-François 63, 132, 155f., 279ff., 286, 290, 294, 298, 313, 316, 318, 325ff., 329, 331f., 335, 337f., 344, 348f., 363f., 498, 500 Mainzer, Klaus 45, 424 Mallarmé, Stéphane 352 Man, Paul de 361, 440 Mania, Hubert 175, 241 Marcuse, Herbert 351 Marquard, Odo 357 Marx, Friedhelm 166, 228, 232, 235 McGuire, J. E. 101f., 105 Mecke, Klaus 24 Mehrtens, Herbert 250 Meindl, Dieter 357 Melia, Trevor 101ff., 105 Meller, Marius 275 Mersch, Dieter 289, 293, 296, 300f., 325, 358 Meschkowski, Herbert 200f. Mittelstraß, Jürgen 10, 18, 40, 45, 76ff., 82, 152, 424, 496 Moles, Abraham 439

534 | Register

Montaigne, Michel de 2, 376, 379, 412 Montuschi, Eleonora 109f. Mook, Anette 178 Müller, Klaus Peter 324 Müller, Severin 85, 87 Müller-Tamm, Jutta 180 Musall, Heinz 344, 348 Musil, Robert 13ff., 264, 314, 324, 494 Nate, Richard 26, 102 Neubauer, John 55ff., 328 Neuhaus, Stefan 213 Neureuter, Hans Peter 210ff., 218, 221 Newton, Isaac 4f., 12, 39ff., 43, 50, 52, 77ff., 188, 192, 200f., 253f., 496 Nickel, Gunther 166, 176, 221, 227, 235, 275 Nietzsche, Friedrich 83f., 86f., 89ff., 95f., 201, 379, 437, 496 Nipperdey, Thomas 12 Novalis 28, 31, 199, 328, 371 Nünning, Ansgar 28, 208, 217, 333, 394 Olbers, Wilhelm 199, 220, 244 Pankau, J. G. 456 Parnes, Ohad 288 Paul, Ina Ulrike 149, 234 Paulson, William 411, 429, 431, 438f., 448 Peirce, Charles Sanders 292 Pethes, Nicolas 2, 26f, 29, 113 Pfister, Manfred 99, 315 Planck, Max 43, 45, 51 Polanyi, Michael 59f. Pope, Alexander 12 Popper, Karl R. 18, 55, 68, 71 Preisendanz, Wolfgang 32 Prigogine, Ilya 235, 368, 414, 445, 447 Proklos 242 Pulte, Helmut 192ff., 196, 222, 242, 249ff., 254, 261 Pütz, Wolfgang 168, 171ff., 202, 232, 259 Regn, Gerhard 284, 332, 334, 355 Rehbock, Theda 41, 81ff. Reich, Karin 207, 247 Reichardt, Hans 201, 218ff., 236ff., 240, 252, 263, 274

Reid, Thomas 292 Rheinberger, Hans-Jörg 28, 96, 294f., 359 Richter, Steffen 30f., 323, 335, 337, 342 Ricœur, Paul 110f., 142, 228 Riemann, Bernhard 42, 244, 246ff., 258, 263f., 270, 398f. Rilke, Rainer Maria 304 Roesler, Alexander 292 Rohmer, Ernst 202, 204, 215, 218, 220 Rorty, Richard 61 Röttgers, Kurt 380, 430, 451, 464 Rötzer, Florian 371, 379f., 385, 412, 414 Rubbia, Carlos 284 Ruf, Oliver 235, 269 Saccheri, Giovanni Girolamo 237ff. Schalk, Fritz 385 Schaumann, Caroline 169 Scheffel, Michael 17, 333 Schilling, Erik 172, 174, 199, 213, 275 Schlaffer, Heinz 54 Schlegel, Friedrich 24, 229, 328, 372 Schleiermacher, Friedrich 328 Schmitz-Emans, Monika 282, 409, 466 Schnädelbach, Herbert 192, 261 Schneider, Ivo 199, 386 Scholz, Gerhard 157, 213, 234f., 250 Schumacher, Heinrich Christian 190f., 199f., 219f., 239f., 245f., 258, 261, 264 Schwanitz, Dietrich 1 Schweikart, Ferdinand Karl 238f. Schweitzer, Doris 375, 400, 405, 410, 426, 444f., 467, 473 Serres, Michel 35, 242, 281, 288, 364ff., 370ff., 389, 395ff., 399ff., 417f., 420ff., 425, 427ff., 437f., 440f., 443ff., 454ff., 461, 463f., 466ff., 472f., 476ff., 487ff., 493, 500 Shaffer, Elinor S. 24, 39 Shannon, Claude 428f., 433 Shapin, Stephen 152 Snell, Bruno 328 Snow, Charles P. 2, 5ff., 493 Sokal, Alan D. 11, 494 Sontag, Susan 351 Spinoza, Baruch de 328 Spoerhase, Carlos 29, 138

Register | 535

Sprat, Thomas 75 Srowig, Regina 387 Stäckel, Paul 240, 256, 263 Stengers, Isabelle 368, 414, 445, 447 Stiening, Gideon 27, 162 Stierle, Karlheinz: 17, 33, 122, 125ff., 131f., 135 Strauß, Botho 54 Suhr, Martin 265, 318 Taurinus, Franz Adolph 221, 238f. Tetzlaff, Stefan 234 Tippelskirch, Karina von 267 Toulmin, Stephen 2, 64, 73f., 385, 426 Trischler, Helmuth 151ff., 159 Tuite, Kevin 449 Ullrich, Peter 207f. Valéry, Paul 2, 310, 440 Vanderbeke, Dirk 11, 21, 30, 162 Varnhagen von Ense, Carl August 176 Ventarola, Barbara 381, 400, 488 Vietta, Silvio 49f., 77 Vogl, Joseph 27f., 29 Wachter, Friedrich Ludwig 238

Waltershausen, Sartorius Wolfgang von 191, 195f., 200, 204f., 207, 209, 212, 218, 251 Weaver, Warren 433 Webb, David 443, 451, 457 Weber, Wilhelm Eduard 171, 232, 246, 248, 398 Weinrich, Harald 301 Welsch, Wolfgang 72, 286, 342 Welsh, Caroline 24f., 139, 266, 288, 359 Werle, Dirk 29 Wesche, Jörg 161 White, Hayden 156ff., 227, 498 Whitehead, Alfred North 201 Wiesing, Lambert 290, 292 Wilkins, John 75 Willer, Stefan 24f., 139, 266, 288, 359 Williams, William Carlos 305 Winkens, Meinhard 162, 394f. Wirth, Uwe 139, 266, 288, 290, 292 Wittgenstein, Ludwig 103, 448 Wolf, Werner 333 Woolgar, Steve 97 Worbs, Erich 198ff., 205f., 256 Wundt, Wilhelm 245 Zimmermann, Christian v. 212, 214, 217 Zimmermann, Jutta 334 Ziolkowski, Theodore 322, 330

Danksagung Hans Vilmar Geppert, Frank-Rutger Hausmann, Gert-Ludwig Ingold, Mathias Mayer und Jürgen Mittelstraß möchte ich ganz herzlich für ihren vielfachen und weiterführenden fachlichen Rat, ihre ebenso ermutigende wie geduldige Begleitung und ihre vorbehaltlose Unterstützung dieses doch ‚zwischen allen Stühlen‘ oszillierenden Projekts danken. Benjamin Dupke, Friedmann Harzer, Till R. Kuhnle, Fabian Lampart, Susanna Layh und Jörg Wesche danke ich für kritische Lektüren und inspirierende ‚Schmauch‘-Gespräche. Für ihren tatkräftigen Einsatz bei der Literaturrecherche und -beschaffung sowie bei redaktionellen Arbeiten danke ich Amelie Böhm, Benjamin Durst, Josie Reiche und Alwina Wagner. Zu Dank verpflichtet bin ich ferner Aura Heydenreich, Christine Lubkoll und Klaus Mecke für die freundliche Aufnahme dieses Bandes in der von ihnen herausgegebenen Reihe „Literatur und Naturwissenschaften“ sowie dem DeGruyter-Verlag, insbesondere Stella Diedrich, Simone Hausmann und Gabriela Rus, für Geduld und Umsicht im Zuge der Drucklegung. Christoph Grube sei für seine unverzichtbare Unterstützung bei der Einrichtung des Manuskripts gedankt, Winfried Thielmann schließlich für viel Schubkraft auf den letzten Metern. Chemnitz, 31. August 2020

Open Access. © 2021 Bernadette Malinowski, publiziert von De Gruyter. Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivatives 4.0 International Lizenz. https://doi.org/10.1515/9783110642384-013