Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts - erörtert von den wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Band 5 Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts: erörtert von den wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern 9783110599916, 9783110600803

Germany’s Federal Constitutional Court plays a key role in the development of constitutional law in the country. Academi

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German Pages 546 Year 2019

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Table of contents :
Geleitwort
Vorwort
Inhalt
I. Verfassungsprozessrecht
Konfrontationsobliegenheit im Verfassungsprozessrecht als Ausprägung des Rechtsschutzbedürfnisses
Feststellungsklage gegen Parlamentsgesetze und Subsidiarität der Rechtssatzverfassungsbeschwerde
II. Allgemeine Grundrechtslehren und internationale Bezüge
Prozeduralisierung und rationale Gesetzgebung in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts
Die Bindung deutscher Behörden und Gerichte an die Grundrechte des Grundgesetzes bei der Anwendung von Unionsrecht
Kein Streikrecht für Beamte – Zugleich zum Kooperationsverhältnis von BVerfG und EGMR
III. Einzelne Gewährleistungen
Die Größe mehrfachbelegter Hafträume im Strafvollzugs- und Auslieferungskontext
Der Status des Kindes in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts
Die Rechtsfigur der „Polizeifestigkeit der Versammlung“ in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts – geklärte und ungeklärte Fragen
Art. 14 GG und Sozialrecht – Der verfassungsrechtliche Eigentumsschutz sozialrechtlicher Ansprüche und Anwartschaften
IV. Abgaben-, Steuer- und Finanzrecht
Das Gebot der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit
Die Bedeutung des Gebots der Folgerichtigkeit für die gleichheitsrechtliche Maßstabsbildung im Steuerrecht
Steuerliche Systembildung und Systemwechsel in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts
Die Kernbrennstoffsteuer im Lichte der Finanzverfassung – Anmerkungen zur Entscheidung des BVerfG
V. Staatsorganisation
Das zweite NPD-Verbotsverfahren
Die Aufgabengarantie der Gemeinden nach Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG
VI. Verfassungsrechtliche Grundlagen des Rechtsschutzes
Die zu Unrecht unterbliebene mündliche Verhandlung und der Anspruch auf rechtliches Gehör im Verfahren nach § 495a der Zivilprozessordnung
Die Anforderungen aus Art. 19 Abs. 4 GG an den sozialgerichtlichen einstweiligen Rechtsschutz
Konsequenzen der Prozessunfähigkeit im Sozial- und Verwaltungsgerichtsprozess aus fach- und verfassungsrechtlicher Perspektive
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
Index
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Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts - erörtert von den wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Band 5 Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts: erörtert von den wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern
 9783110599916, 9783110600803

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Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts

Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts erörtert von den wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern herausgegeben von Matthias Modrzejewski und Kolja Naumann Band 5

ISBN 978-3-11-060080-3 e-ISBN (PDF) 978-3-11-059991-6 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-059875-9 Library of Congress Control Number: 2018962692 Bibliografische Information der Deutsche Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2019 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Einbandabbildung: Stephan Baumann, bild_raum, Karlsruhe Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck

www.degruyter.com

Geleitwort Der nun mittlerweile fünfte Band der von wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern verfassten „Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts“ trifft in seinem Erscheinungsjahr wohl nicht ganz zufällig mit dem für Deutschland und für den Gerichtsstandort Karlsruhe bedeutsamen Jubiläumsjahr 2019 zusammen. Wir feiern 70 Jahre Grundgesetz und 50 Jahre Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts im Karlsruher Schlossbezirk. Beide Jubiläen stehen gleichermaßen für historischen Erfolg und künftige Herausforderungen. Den damit verbundenen Topoi von Kontinuität und Zukunftsoffenheit sind auch die aus der „externen Binnenperspektive“ der nicht an der eigentlichen Entscheidungsfindung beteiligten wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern verfassten Beiträge zu Entwicklungen, Schattierungen und Schlaglichtern der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung verpflichtet. Wissenschaftlicher Anspruch und informierte Praktikersicht verdichten sich in den Linienbänden seit jeher zu ernstzunehmenden Interpretationen von Verfassung und Verfassungsjustiz. Von daher wünsche ich auch dem aktuellen Werk den verdienten Erfolg. Karlsruhe, den 1. Oktober 2018

https://doi.org/10.1515/9783110599916-001

Prof. Dr. Dr. h.c. Andreas Voßkuhle Präsident des Bundesverfassungsgerichts

Vorwort Der fünfte Band der Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts – erörtert von den wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern – nimmt sich wiederum zum Ziel, die Rechtsprechung des Gerichts zu ausgewählten Problemen des Verfassungsrechts vorzustellen, sie zu systematisieren und zu kontextualisieren. Die Bandbreite der bearbeiteten Themen ist groß und verdeutlicht einmal mehr, dass es kaum eine gesellschaftlich relevante Frage gibt, mit der das Bundesverfassungsgericht nicht schon befasst worden ist. Viele der prozessualen „Dauerbrenner“ des Rechts der Urteilsverfassungsbeschwerde sind schon in den früheren Bänden bearbeitet worden, so dass diesbezüglich kein akuter Erörterungsbedarf bestand. Einen Schwerpunkt dieses Bandes bilden demgegenüber zum einen Beiträge zu Querschnittsthemen des Verfassungs- und Verfassungsprozessrechts. Erstmals seit dem ersten Band der Linien der Rechtsprechung aus dem Jahr 2009 kommt zum anderen dem Abgaben-, Steuer- und Finanzverfassungsrecht wieder eine tragende Rolle zu. Der Band erscheint in einer Zeit, in der zahlreiche Gewissheiten der durch das Grundgesetz verfassten Bundesrepublik unsicher und zum Gegenstand intensiver Debatten geworden sind. Die anerkannte, große Bedeutung des Rechtsstaats im Allgemeinen und des Bundesverfassungsgerichts im Besonderen ist hiervon nicht gänzlich unberührt geblieben; Versuche der öffentlichen Verwaltung, sich der Bindungswirkung von gerichtlichen Entscheidungen zu entziehen oder die zunehmend schwieriger gewordene Wahl der Richter des Bundesverfassungsgerichts legen hiervon Zeugnis ab. Dennoch wird der deutsche Rechtsstaat international vielfach als ein Hort der Stabilität bewundert. Um diese große Errungenschaft weiter zu festigen, bedarf es neben der Erläuterung der Rechtsprechung des Gerichts durch die stetig intensivierte Pressearbeit auch des vertieften Austauschs zwischen Bundesverfassungsgericht, Justiz, Verwaltung, Anwaltschaft und Wissenschaft. Nur dieser ermöglicht es, das erforderliche gegenseitige Vertrauen und Verständnis zu erhalten. Hierzu möchte dieser Band einen Beitrag leisten. Dem Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts, Herrn Professor Dr. Dr. h.c. Andreas Voßkuhle, danken wir herzlich für sein freundliches Geleitwort. Die Beiträge befinden sich überwiegend auf dem Stand von Ende Juni 2018. Karlsruhe/Köln, im Oktober 2018

https://doi.org/10.1515/9783110599916-002

Matthias Modrzejewski Kolja Naumann

Inhalt I. Verfassungsprozessrecht Holger Greve Konfrontationsobliegenheit im Verfassungsprozessrecht als Ausprägung des Rechtsschutzbedürfnisses 3 Tristan Barczak Feststellungsklage gegen Parlamentsgesetze und Subsidiarität der Rechtssatzverfassungsbeschwerde 17

II. Allgemeine Grundrechtslehren und internationale Bezüge Thomas Jacob Prozeduralisierung und rationale Gesetzgebung in der Rechtsprechung 53 des Bundesverfassungsgerichts Kolja Naumann Die Bindung deutscher Behörden und Gerichte an die Grundrechte des 75 Grundgesetzes bei der Anwendung von Unionsrecht Stefan Habermann Kein Streikrecht für Beamte – Zugleich zum Kooperationsverhältnis von BVerfG und EGMR 99

III. Einzelne Gewährleistungen Tim R. Salomon Die Größe mehrfachbelegter Hafträume im Strafvollzugs- und 123 Auslieferungskontext Jessica Kriewald Der Status des Kindes in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts 153

X

Inhalt

Philipp Wittmann Die Rechtsfigur der „Polizeifestigkeit der Versammlung“ in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts – geklärte und ungeklärte Fragen 177 Jens Senger Art. 14 GG und Sozialrecht – Der verfassungsrechtliche Eigentumsschutz sozialrechtlicher Ansprüche und Anwartschaften 231

IV. Abgaben-, Steuer- und Finanzrecht Esther Reiche Das Gebot der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit

257

Matthias Modrzejewski Die Bedeutung des Gebots der Folgerichtigkeit für die gleichheitsrechtliche 277 Maßstabsbildung im Steuerrecht Christoph Schmidt Steuerliche Systembildung und Systemwechsel in der Rechtsprechung 303 des Bundesverfassungsgerichts Dominik Roderburg, André Schlosser Die Kernbrennstoffsteuer im Lichte der Finanzverfassung – Anmerkungen zur Entscheidung des BVerfG 341

V. Staatsorganisation Thomas Kliegel Das zweite NPD-Verbotsverfahren

375

Sascha D. Peters Die Aufgabengarantie der Gemeinden nach Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG

423

Inhalt

XI

VI. Verfassungsrechtliche Grundlagen des Rechtsschutzes Alfred Rust Die zu Unrecht unterbliebene mündliche Verhandlung und der Anspruch auf rechtliches Gehör im Verfahren nach § 495a der Zivilprozessordnung 465 Frank Schreiber Die Anforderungen aus Art. 19 Abs. 4 GG an den sozialgerichtlichen 487 einstweiligen Rechtsschutz Julian Nusser Konsequenzen der Prozessunfähigkeit im Sozial- und Verwaltungsgerichtsprozess aus fach- und verfassungsrechtlicher Perspektive 509 Verzeichnis der Autorinnen und Autoren Index

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I. Verfassungsprozessrecht

Holger Greve

Konfrontationsobliegenheit im Verfassungsprozessrecht als Ausprägung des Rechtsschutzbedürfnisses Leitentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts BVerfGE 147, 50 – 2 BvE 2/11 – DB AG und Finanzmarktaufsicht BVerfGE 147, 31 – Silvesternacht 2015 BVerfGE 129, 356 – Bahnimmobilien BVerfGE 124, 78 – BND-Untersuchungsausschuss BVerfGE 90, 286 – Auslandseinsatz der Bundeswehr BVerfGE 68, 1 – Atomwaffenstationierung

Schrifttum (Auswahl) Engelmann, Prozeßgrundsätze im Verfassungsprozeßrecht, 1977; Häberle, Verfassungsgerichtsbarkeit – Verfassungsprozessrecht, 2014; E. Klein, Verfahrensgestaltung durch Gesetz und Richterspruch: Das „Prozeßrecht“ des Bundesverfassungsgerichts, in: Badura/Dreier (Hrsg.), Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, 2001, S. 507 ff.; Lerche, Aspekte verfassungsgerichtlicher Subsidiarität in Deutschland und Österreich, in: Wilke (Hrsg.), Festschrift zum 125jährigen Bestehen der Juristischen Gesellschaft zu Berlin, 1984, S. 369 ff.; Neutz, Verfassungsprozessrecht – Untersuchung zur These von seiner Eigenständigkeit, 1990; Scholler/Broß, Verfassungs- und Verwaltungsprozeßrecht, 1980; Spranger, Die Verfassungsbeschwerde im Korsett des Prozeßrechts, AöR 127 (2002), 27 ff.; Stephan, Das Rechtsschutzbedürfnis: eine Gesamtdarstellung unter besonderer Berücksichtigung des Verfassungsprozesses, 1967; Vásquez, Verfassungsgerichtsbarkeit, Verfassungsprozessrecht und Pluralismus, 2016; Zacher, Die Selektion der Verfassungsbeschwerden, in: Starck, Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz – Festgabe aus Anlaß des 25jährigen Bestehens des Bundesverfassungsgerichts, 1976, S. 396 ff.

Inhalt I. II. III. IV.

Einleitung 4 Rechtsschutzbedürfnis als allgemeine Voraussetzung des Prozessrechts 5 Ausprägungen des Rechtsschutzbedürfnisses in verfassungsgerichtlichen Verfahren Konfrontationsobliegenheit als spezifische Ausprägung des Rechtsschutzbedürfnisses 8 9 V. Anwendung der Konfrontationsobliegenheit im Verfassungsprozessrecht . Allgemeines 9 . Rechtsschutzbedürfnis im Organstreitverfahren 10 . Konfrontationsobliegenheit am Beispiel des Organstreitverfahrens 11

https://doi.org/10.1515/9783110599916-003

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Holger Greve

. Übertragbarkeit der Konfrontationsobliegenheit auf andere Verfahren vor dem BVerfG 14 VI. Ausblick 16

I. Einleitung Das Verfassungsprozessrecht ist nicht unwesentlich von der „Eigenart des verfassungsgerichtlichen Verfahrens“¹ bestimmt. Ein Rückgriff auf allgemeine, im Verfahrensrecht anderer Rechtsgebiete anerkannte Rechtsgrundsätze ist nach verfassungsgerichtlicher Rechtsprechung aber jedenfalls dann möglich, wenn sie mit den jeweiligen Besonderheiten des verfassungsgerichtlichen Verfahrens in Einklang stehen.² Die Notwendigkeit für eine lückenfüllende Ergänzung des BVerfGG ergibt sich vornehmlich aus dem Umstand, dass das BVerfGG keine erschöpfende Verfahrensregelung darstellt, sondern sich auf wenige, unbedingt erforderliche, den Besonderheiten des verfassungsgerichtlichen Verfahrens angepasste Bestimmungen beschränkt.³ Hierdurch wollte der Gesetzgeber dem Bundesverfassungsgericht über dessen Geschäftsordnungsbefugnis als Verfassungsorgan⁴ hinaus Raum für eine angemessene Verfahrensgestaltung lassen.⁵ Dementsprechend obliegt es auch dem Bundesverfassungsgericht, die Rechtsgrundlage für eine zweckentsprechende Gestaltung seines Verfahrens im Wege

 BVerfGE 32, 288 (291); 43, 126 (128); 47, 105 (107); 88, 382 (383); siehe auch Geiger, Einige Besonderheiten im verfassungsgerichtlichen Prozeß, 1981, S. 40; inwieweit von einer Eigenständigkeit des Verfassungsprozessrechts auszugehen ist (so bspw. Häberle, JZ 1973, 451 ff.; ders., JZ 1976, 377 ff.; Zembsch, Verfahrensautonomie des BVerfG, 1971; Vásquez, Verfassungsgerichtsbarkeit, Verfassungsprozessrecht und Pluralismus, 2016, S. 185 ff.; a.A. etwa Sachs, BayVBl 1979, 386 ff.; Stern, Staatsrecht II, 1980, S. 1028 f.; Schlaich, VVDStRL 39 (1981), 99 (136 f.); E. Klein, AöR 108 (1983), 618 ff.; Neutz, Verfassungsprozessrecht, 1990; Schlaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 11. Aufl. 2018, Rn. 57), kann hier dahinstehen.  Vgl. BVerfGE 1, 4 (4); 1, 5 (6), 1, 109 (110); 8, 222 (224 f.); 33, 199 (204); 33, 247 (261); 46, 321 (323); 50, 381 (384); 81, 387 (389); 88, 382 (383).  BVerfGE 1, 109 (110); 2, 79 (84); kritisch zur lückenfüllenden Befugnis des BVerfGG Hillgruber/ Goos,Verfassungsprozessrecht, 4. Aufl. 2015, Rn. 22; Sachs,Verfassungsprozessrecht, 4. Aufl. 2016, Rn. 58.  Die Regelung des § 1 Abs. 3 BVerfGG hat insoweit nur deklaratorischen Charakter, vgl. BTDrs. 10/2951 S. 8; Wand, in: FS Gebh. Müller, 1970, 563 (566 f.); Volp, in: Barczak, BVerfGG, 2018, § 1 Rn. 99; Burkiczak, in: ders./Dollinger/Schorkopf, Bundesverfassungsgerichtsgesetz, 2018, § 1 Rn. 101 f.; Walter, in: ders./Grünewald, BeckOK BVerfGG, Stand: Dezember 2017, § 1 Rn. 14.  Detterbeck, in: Sachs, GG, 8. Aufl. 2018, Art. 93 Rn. 32; E. Klein, in: Badura/Dreier, FS 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, 2001, S. 507 (508)

Konfrontationsobliegenheit im Verfassungsprozessrecht

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der Analogie zum sonstigen Verfahrensrecht zu finden,⁶ dies aber nicht anhand einer pauschalen Übertragung eines Rechtsgrundsatzes auf den Verfassungsprozess in seiner Gesamtheit, sondern abgestimmt auf die jeweilige Verfahrensart mit ihren Besonderheiten.⁷ Die Sachentscheidungsvoraussetzungen im verfassungsgerichtlichen Verfahren sind im besonderen Maße durch die Besonderheiten des verfassungsgerichtlichen Verfahrens geprägt. Das Verfassungsprozessrecht dient der Durchsetzung und Konkretisierung des materiellen Verfassungsrechts und ist durch dieses wiederum geprägt.⁸ Es steht naturgemäß in einem engen Verhältnis zum Verfassungsrecht.⁹ Die Sachentscheidungsvoraussetzungen der verfassungsgerichtlichen Verfahren sind daher im Lichte des materiellen Verfassungsrechts auszulegen. Dies gilt auch für allgemeine Grundsätze des Verfahrensrechts die ergänzend zu den rudimentären Regelungen des Verfassungsprozessrechts heranzuziehen sind.

II. Rechtsschutzbedürfnis als allgemeine Voraussetzung des Prozessrechts Zwingende Sachentscheidungsvoraussetzung für jede Rechtsverfolgung ist das Vorliegen des Rechtsschutzbedürfnisses.¹⁰ Der Begriff des Rechtsschutzbedürfnisses wird in der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung auch synonym als Rechtsschutzinteresse verwendet.¹¹ Es handelt sich hierbei um ein allgemeines, in allen Prozessordnungen anerkanntes Rechtsprinzip,¹² wonach jede an einen

 BVerfGE 51, 405 (407); vgl. auch BVerfGE 1, 109 (110 f.); 33, 199 (204).  Vgl. Neutz, Verfassungsprozessrecht, 1990, S. 213; siehe auch Scholler/Broß, Verfassungs- und Verwaltungsprozeßrecht, 1980, Rn. 46 ff.  Vgl. Häberle, Verfassungsgerichtsbarkeit–Verfassungsprozessrecht, 2014, S. 73; Schorkopf, AöR 130 (2005), 465 (474).  Zum Begriff des Verfassungsprozessrechts siehe etwa Vásquez, Verfassungsgerichtsbarkeit, Verfassungsprozessrecht und Pluralismus, 2016, S. 190 ff. m.w. N.  Bettermann, AöR 86 (1961), 129 (160); Stephan, Das Rechtsschutzbedürfnis, 1967, S. 4 ff.; Buß, NJW 1998, 337 (338).  Spranger, AöR 127 (2002), 27 (63); Benda/Klein,Verfassungsprozessrecht, 3. Aufl. 2012, Rn. 566; Bethge, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, Stand: 42. Lfg. Oktober 2013, § 90 Rn. 436; Schorkopf, in: Burkizak/Dollinger/Schorkopf, Bundesverfassungsgerichtsgesetz, 2015, § 64 Rn. 19; Sachs, Verfassungsprozessrecht, 4. Aufl. 2016, Rn. 107.  Vgl. Bethge, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, Stand: 42. Lfg. Oktober 2013, § 90 Rn. 436; siehe hierzu auch Wieser, Das Rechtsschutzinteresse des Klägers im Zivilprozeß, 1971.

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Holger Greve

Antrag gebundene gerichtliche Entscheidung ein Rechtsschutzbedürfnis voraussetzt.¹³ Diese übergreifende Sachentscheidungsvoraussetzung leitet sich aus dem auch im Prozessrecht geltenden Gebot von Treu und Glauben, dem Verbot des Missbrauchs prozessualer Rechte sowie dem für die Gerichte geltenden Grundsatz der Effizienz staatlichen Handelns ab.¹⁴ Sie steht im Einklang mit dem grundrechtlichen Gebot des effektiven Rechtsschutzes aus Art. 19 Abs. 4 GG,¹⁵ da dieses nicht gewährleistet, Gerichte ohne konkretes Rechtsschutzziel in Anspruch zu nehmen.¹⁶ Bei objektiven Beanstandungsverfahren wie etwa der abstrakten Normenkontrolle, die keine subjektive Betroffenheit des Rechtsschutzsuchenden erfordert, da sie keine Rechtsstellung des Antragstellers schützt, genügt hingegen regelmäßig bereits ein objektives Klarstellungsinteresse.¹⁷ Der Begriff des Rechtsschutzbedürfnisses im Verfassungsprozessrecht weist inhaltlich keine festen übergreifenden Konturen auf, sondern ist vielmehr ein Mosaikbegriff, der sich aus Einzelgesichtspunkten zusammensetzt.¹⁸ Allgemeinhin ist vom Vorliegen des Rechtsschutzbedürfnisses auszugehen, wenn der Rechtsschutzsuchende schutzwürdige Interessen verfolgt.¹⁹ Wann dies der Fall ist, kann weder allgemein noch schematisch bestimmt werden, sondern richtet sich maßgeblich nach der jeweiligen Verfahrensart und den verfolgten Rechtsschutzzielen. Das Rechtsschutzbedürfnis kann hierbei auch als Regulativ der Selektion wirken, wobei die Kriterien der subjektiven oder objektiven Wichtigkeit eines konkreten Antrags Elemente des Rechtsschutzbedürfnisses darstellen können.²⁰ Abhängig vom konkreten Verfahren hat der Beschwerdeführer bzw. Antragsteller zur Erfüllung des Rechtsschutzbedürfnisses das ihm Zumutbare zu

 BVerfGE 61, 126 (135); 104, 220 (232); ferner Wieser, Das Rechtsschutzinteresse des Klägers im Zivilprozeß, 1971, S. 237.  BVerfGE 104, 220 (232).  Vgl. P.M. Huber, in: v.Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. I, 7. Aufl. 2018, Art. 19 Rn. 503.  Vgl. BVerfGE 104, 220 (232).  Vgl. BVerfGE 1, 396 (407); 6, 104 (110); 52, 63 (80); 68, 346 (351); 103, 111 (124); siehe auch Stephan, Das Rechtsschutzbedürfnis, 1967, S. 129 ff.; Voßkuhle, in: v.Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 3, 7. Aufl. 2018, Art. 93 Rn. 118. Allenfalls wenn ein Normenkontrollantrag rechtsmissbräuchlich gestellt wird, kann es auf das allgemeine Rechtsschutzbedürfnis ankommen, vgl. Kees, in: Barczak, BVerfGG, 2018, § 76 Rn. 52.  Engelmann, Prozeßgrundsätze im Verfassungsprozeßrecht, 1977, S. 70 m.w.N.  Ehlers, in: Schoch/Schneider/Bier, Verwaltungsgerichtsordnung, Grundwerk, Vorbm. § 40 Rn. 75.  Zacher, in: Starck, Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz, 1976, S. 396 (409 ff.).

Konfrontationsobliegenheit im Verfassungsprozessrecht

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erbringen. Ein besonderes Allgemeininteresse vermag in spezifischen Fällen aber durchaus prozessrechtliche Barrieren zu relativieren.²¹

III. Ausprägungen des Rechtsschutzbedürfnisses in verfassungsgerichtlichen Verfahren Das allgemeine Rechtsschutzbedürfnis des Beschwerdeführers oder des Antragstellers muss sowohl im Zeitpunkt des Eingangs der Beschwerde bzw. des Antrags als auch im Zeitpunkt der Entscheidung vorliegen.²² Grundsätzlich wird mit dem Vorliegen der Antrags- oder Beschwerdebefugnis bzw. dem Vorliegen der Zulässigkeitsvoraussetzungen verfassungsprozessual davon ausgegangen, dass das Rechtsschutzbedürfnis indiziert ist.²³ Insbesondere die Zulässigkeitsstationen der Antrags – bzw. Beschwerdebefugnis und der Rechtswegeerschöpfung erweisen sich als spezifische Ausprägungen des Rechtsschutzbedürfnisses, sodass diesem oftmals die Funktion eines „Auffangbeckens“ bei der Prüfung der Sachentscheidungsvoraussetzungen zukommt.²⁴ Das allgemeine Rechtsschutzbedürfnis als Sachentscheidungsvoraussetzung gewinnt daher vor allem dann eine eigenständige Relevanz, wenn dessen Vorliegen einer besonderen Begründung bedarf. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die Schutzwürdigkeit des auf Feststellung der Rechtsverletzung gerichteten Begehrens nicht ohne weiteres offensichtlich ist, sondern explizit anhand der konkreten Umstände dargelegt werden muss. Die Erledigung des verfolgten Begehrens führt dann nicht zum Wegfall des Rechtsschutzbedürfnisses, wenn ein besonderes „Fortsetzungsfeststellungsinteresse“ in Form einer Wiederholungsgefahr oder eines objektiven Klarstellungsinteresses vorliegt.²⁵ Dies kann etwa dann der Fall sein, wenn die beanstandete

 Lerche, in: Wilke, FS zum 125jährigen Bestehen der Juristischen Gesellschaft zu Berlin, 1984, S. 369 (370 f.); für den Fall eines besonderen Allgemeininteresses siehe etwa BVerfGE 124, 300 (318 f.).  BVerfGE 21, 139 (143); 30, 54 (58); 33, 247 (253); 50, 244 (247); 56, 99 (106); 72, 1 (5); 81, 138 (140); Klein/Sennekamp, NJW 2007, 945 (949).  Voßkuhle, in: v.Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 3, 7. Aufl. 2018, Art. 93 Rn. 114; Bethge, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, Stand: 51. Lfg. Mai 2017, § 13 Rn. 38; Barzak, in: ders., BVerfGG, 2018, § 64 Rn. 36; Benda/Klein, Verfassungsprozessrecht, 3. Aufl. 2012, Rn. 1333; Kloepfer/Greve, Staatsrecht, 3. Aufl. 2018, Rn. 378.  So Voßkuhle, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 3, 7. Aufl. 2018, Art. 93 Rn. 192.  BVerfGE 121, 135 (152); 131, 152 (194); 137, 185 (230 Rn. 126 f.); 147, 50 (124 Rn. 187); BVerfG, Urteil vom 27. Februar 2018 – 2 BvE 1/16 –, juris, Rn. 35.; siehe auch Greve, VR 2010, 346 (348).

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Rechtsverletzung in der Vergangenheit liegt und bereits abgeschlossen ist. Bei der Rüge von Grundrechtsverletzungen kann auch ein Rehabilitationsinteresse des Betroffenen, u. a. in Fällen besonders tiefgreifender und folgenschwerer Grundrechtsverstöße, die sich vor einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts in ihrer direkten Belastung bereits erledigt haben (bspw. kurzfristige Freiheitsentziehungen), das Bedürfnis einer retrospektiven Feststellung von Rechtsverstößen begründen.²⁶ Wenn ein hinreichend gewichtiges, grundsätzliches Klärungsbedürfnis an der verfassungsrechtlichen Prüfung fortbesteht, da es sich etwa um eine verfassungsrechtliche Frage von grundsätzlicher Bedeutung handelt, kann daher auch bei Wegfall des Beschwerdegegenstandes die Fortführung eines Verfahrens gerechtfertigt sein.²⁷ Unter welchen Voraussetzungen das Fortbestehen des Rechtsschutzbedürfnisses zu bejahen ist, hängt dabei letztlich von den Umständen des Einzelfalls ab und lässt sich nicht schematisch bestimmen.²⁸

IV. Konfrontationsobliegenheit als spezifische Ausprägung des Rechtsschutzbedürfnisses Mit seinem Beschluss vom 10. Oktober 2017 in einem Organstreitverfahren, der das parlamentarische Fragerecht aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG gegenüber der Bundesregierung zum Gegenstand hatte, hat das Bundesverfassungsgericht mit der Etablierung einer Konfrontationsobliegenheit als spezifischer Ausprägung des Rechtsschutzbedürfnisses im Organstreitverfahren vorprozessuale Handlungsmöglichkeiten des Antragstellers näher konkretisiert.²⁹ Hintergrund des Verfahrens war eine schriftliche Anfrage einer Bundestagsabgeordneten an die Bundesregierung, ob beim Bundesministerium des Innern in den ersten Tagen des Jahres 2016 aus Nordrhein-Westfalen eine Meldung über elf auf einem Bahnhofsvorplatz begangene sexuelle Übergriffe zum Nachteil junger Frauen eingegangen sei. Dies wurde von der Bundesregierung verneint, wobei in der Antwort allerdings darauf hingewiesen wurde, dass die Recherchen aufgrund der fehlenden Angaben in der Frage zu Zeitpunkt und Ereignisort erschwert wurden.³⁰ Mit dieser Antwort ließ es die Antragstellerin bewenden. Im Oktober 2016 wurde der Bundesminister des Innern vom Untersuchungsaus-

    

BVerfGE 104, 220 (233 ff.); 136, 190 (192 f. Rn. 6). BVerfGE 142, 313 (334 f. Rn. 63). BVerfGE 124, 300 (318); 142, 313 (335 Rn. 63). BVerfGE 147, 31. BT-Drs. 18/7985, Nr. 16, S. 10.

Konfrontationsobliegenheit im Verfassungsprozessrecht

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schuss „Silvesternacht 2015“ des Landtages Nordrhein-Westfalen u. a. zur Rolle der Bundespolizei in der Kölner Silvesternacht 2015/16 und zu den Meldungen aus Nordrhein-Westfalen befragt. In diesem Zusammenhang ging der Bundesminister des Innern u. a. auf die vom Land Nordrhein-Westfalen am 1. Januar 2016 auch an das Bundesministerium des Innern versandten Meldungen über die Ereignisse ein. Vor diesem Hintergrund war die Antragstellerin der Auffassung, dass ihre schriftliche Frage im März 2016 falsch oder unzureichend beantwortet worden sei und begehrte im Organstreitverfahren die Feststellung, dass die Bundesregierung sie dadurch in ihren Rechten aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG verletzt habe. Das Bundesverfassungsgericht kam in seiner Entscheidung zu dem Schluss, dass der Antrag als unzulässig abzuweisen sei, da der Antragstellerin das im Organstreitverfahren erforderliche Rechtsschutzbedürfnis fehle. Das Rechtsschutzbedürfnis im Organstreitverfahren setze das Bestehen eines für den Antragsgegner erkennbaren Konflikts voraus. Daher treffe bei (vermeintlich oder tatsächlich) unrichtig beantworteten parlamentarischen Fragen den Antragsteller vor Einleitung des Organstreitverfahrens eine Konfrontationsobliegenheit. Er müsse der Bundesregierung durch den Hinweis auf die (mutmaßliche) Unrichtigkeit der Antwort die Möglichkeit geben, die Sach- und Rechtslage ihrerseits zu prüfen und ihre Antwort gegebenenfalls zu berichtigen oder zu ergänzen.

V. Anwendung der Konfrontationsobliegenheit im Verfassungsprozessrecht 1. Allgemeines Das Rechtsschutzbedürfnis als Sachentscheidungsvoraussetzung im Verfassungsprozessrecht korreliert mit der jeweils einschlägigen Verfahrensart und dem damit zusammenhängenden Rechtsschutzziel.³¹ Die Anforderungen an die Antragsberechtigung mit ihren jeweiligen Anforderungen bestimmen maßgeblich den Zugang zum Bundesverfassungsgericht.³² Demzufolge divergieren auch die Anforderungen an das Rechtsschutzbedürfnis, sodass eine Übertragung von Maßstäben nur in Abhängigkeit der spezifischen Besonderheiten der jeweiligen Verfahrensart vorzunehmen ist. Die Konfrontationsobliegenheit erfordert vom Rechtsschutzsuchenden, die ihm vorprozessual zur Verfügung stehenden Mittel  Siehe etwa Sachs, Verfassungsprozessrecht, 4. Aufl. 2016, Rn. 107.  E. Klein, in: FS 50 Jahre BVerfG, 2001, S. 507.

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dergestalt auszuschöpfen, dass nicht bereits Fragestellungen an das Bundesverfassungsgericht herangetragen werden, die das Stadium einer verfassungsrechtlichen Streitigkeit noch nicht erreicht haben.

2. Rechtsschutzbedürfnis im Organstreitverfahren Bei Verfassungsstreitigkeiten wie dem Organstreitverfahren nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG, §§ 13 Nr. 5, 63 ff. BVerfGG ist somit zu untersuchen, ob dem Rechtsschutzsuchenden etwaige Handlungsmöglichkeiten zur Verfügung standen, um seine geltend gemachten Rechte eigenständig wahrzunehmen.³³ Dies hängt nicht zuletzt vom Charakter des einschlägigen verfassungsgerichtlichen Verfahrens ab. Kennzeichnend für die Ausgestaltung des Organstreitverfahrens nach dem BVerfGG ist eine kontradiktorische Parteistreitigkeit zwischen Antragsteller und Antragsgegner, die um ihnen zustehende, d. h. subjektivierte Rechtspositionen streiten.³⁴ Es dient maßgeblich der gegenseitigen Abgrenzung der Kompetenzen von Verfassungsorganen oder ihren Teilen in einem Verfassungsrechtsverhältnis, nicht der davon losgelösten Kontrolle der objektiven Verfassungsmäßigkeit eines bestimmten Organhandelns.³⁵ Die Anforderungen an etwaige Handlungsmöglichkeiten des Antragstellers, die dazu führen könnten, dass der Antragsteller vor dem Einleiten eines Organstreitverfahrens auf diese verwiesen wird, hat das Bundesverfassungsgericht im Laufe seiner Rechtsprechung verschärft. Zunächst wurde vom Gericht verstärkt der Subsidiaritätscharakter des Organstreitverfahrens betont. Hiernach ist bei Streitigkeiten zwischen Verfassungsorganen oder ihren Teilen das Rechtsschutzbedürfnis zumindest dann fragwürdig, wenn der Rechtsschutzsuchende die gerügte Verletzung seiner Rechte durch eigenes Handeln rechtzeitig hätte vermeiden können,³⁶ ohne dass es einer Anrufung des Bundesverfassungsgerichts bedurft hätte. Die eigenen Handlungsmöglichkeiten würden in einem solchen Fall durch verfassungsgerichtliche Schritte ersetzt, was zu einer dem Grundgedanken der Verfassungsgerichtsbarkeit zuwi-

 Vgl. BVerfGE 68, 1 (77).  Vgl. BVerfGE 142, 25 (Rn. 58); siehe auch Schorkopf, in: Burkiczak/Dollinger/Schorkopf, Bundesverfassungsgerichtsgesetz, 2015, § 63 Rn. 1 ff.; Walter, in: ders./Grünewald, BeckOK BVerfGG, Stand: Dezember 2018, § 63 Rn. 1.  Vgl. BVerfGE 68, 1 (69 ff.); 73, 1 (29 f.); 80, 188 (212); 104, 151 (193 f.); 118, 244 (257); 126, 55 (67 f.); 134, 141 (194 Rn. 160); 136, 190 (192 Rn. 5); 140, 115 (146 Rn. 80); BVerfG, Beschluss vom 11. Dezember 2018 – 2 BvE 1/18 –, www.bverfg.de, Rn. 18.  BVerfGE 68, 1 (77).

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derlaufenden Politisierung des Organstreitverfahrens führen würde.³⁷ Von dieser Rechtsprechungslinie ist das Bundesverfassungsgericht jedoch mehr und mehr abgerückt.³⁸ Zunächst stellte es in der weiteren Rechtsprechung verstärkt darauf ab, ob die in Betracht kommenden parlamentarisch-politischen Handlungsmöglichkeiten zur Erreichung des mit den Anträgen verfolgten Zieles geeignet³⁹ bzw. wirksam⁴⁰ sind. Mittlerweile wird das Rechtsschutzbedürfnis nicht mehr bereits dann in Zweifel gezogen, wenn dem Antragsteller parlamentarisch-politische Handlungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen, die beanstandete Maßnahme zu Fall zu bringen. Der Organstreit ist demgegenüber nicht subsidiär.⁴¹ Diese stärkere Rücknahme der verfassungsprozessualen Kontrolle soll vor allem gewährleisten, dass vom Verfahrensrecht des Bundesverfassungsgerichts kein mittelbarer Zwang zu einem bestimmten politischen Verhalten ausgeht,⁴² da andernfalls über die Vorwirkungen verfassungsprozessualer Anforderungen über die Gebühr in den politischen Raum hingewirkt wird. Dementsprechend hat das Bundesverfassungsgericht in einem ihm angetragenen Organstreit nicht darüber zu befinden, ob dem Antragsteller zur Verfolgung seines Prozesszieles außerhalb der gewählten Verfahrensart andere gleichwertige verfassungsrechtliche Wege offengestanden hätten oder noch offenstehen.⁴³ Ein Verweis auf politische Handlungsmöglichkeiten geht daher regelmäßig bereits deswegen fehl, da diese verfassungsrechtlich dem Organstreit nicht gleichwertig sind und auch keine Klärung der grundgesetzlichen Rechte der Beteiligten auf diese Weise erreicht werden kann.⁴⁴

3. Konfrontationsobliegenheit am Beispiel des Organstreitverfahrens Die kontradiktorische Ausgestaltung des Organstreitverfahrens setzt eine diskursive Auseinandersetzung von Verfassungsorganen, die zueinander in einem  BVerfGE 68, 1 (77).  Pietzcker, in: Badura/Dreier, FS 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, 2001, S. 587 (611); Walter, in: ders./Grünewald, BeckOK BVerfGG, Stand: Dezember 2018, § 64 Rn. 46.  BVerfGE 45, 1 (30).  BVerfGE 90, 286 (340).  BVerfGE 90, 286 (339); 104, 151 (198); a.A. Sondervotum der Richter Böckenförde und Kruis, in: BVerfGE 90, 390 (392).  BVerfGE 90, 286 (339).  BVerfGE 45, 1 (30); 90, 286 (338 f.); 129, 356 (374).  BVerfGE 90, 287 (338 f.); 129, 356 (374 f.); 139, 194 (222 Rn. 101); siehe auch BVerfGE 142, 25 (53 f. Rn. 80); 143, 101 (132 Rn. 104).

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Verfassungsrechtsverhältnis stehen, um ihre Kompetenzen voraus.⁴⁵ Hierbei ist das Rechtsschutzbedürfnis gegeben, wenn und solange über die Rechtsverletzung zwischen den Beteiligten Streit besteht.⁴⁶ Diese setzt aber zwingend voraus, dass der Konflikt, dessen Klärung im Organstreitverfahren begehrt wird, zuvor für den Antragsgegner erkennbar geworden ist.⁴⁷ Dem Antragsteller obliegt es daher, vor der Einleitung eines Organstreitverfahrens das in Streit stehende Recht in einer Art und Weise geltend zu machen, dass eine tatsächliche oder vermeintliche Verpflichtung für den Antragsgegner erkennbar wird.⁴⁸ Es bedarf mithin einer vorprozessualen Berufung auf das geltend gemachte Recht.⁴⁹ Denn erst ab diesem Zeitpunkt besteht für den tatsächlich oder vermeintlich Verpflichteten als Antragsgegner eine Veranlassung, seinerseits die Sach- und Rechtslage zu prüfen, um gegebenenfalls dem Begehren des Berechtigten und damit seinen verfassungsrechtlichen Pflichten nachzukommen.⁵⁰ Dies eröffnet zugleich die Möglichkeit, dass dem Begehren des Antragstellers noch im politischen Raum Rechnung getragen werden kann, ohne dass es einer Anrufung des Bundesverfassungsgerichts bedarf.⁵¹ Typische Fallkonstellationen sind parlamentarische Anfragen und die hieran anknüpfende Geltendmachung des Frageund Informationsrechts der Abgeordneten aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 i.V. m. Art. 20 Abs. 2 GG.⁵² Wenn für den Antragsgegner im Hinblick auf vermeintlich oder tatsächlich unrichtig beantwortete parlamentarische Fragen ein verfassungsrechtlicher Konflikt nicht erkennbar ist, ist der Antragsteller gehalten, auf die mutmaßliche Unrichtigkeit der Antwort hinzuweisen, damit für den Antragsgegner die Möglichkeit besteht, die Sach- und Rechtslage seinerseits zu prüfen, um seine Antwort gegebenenfalls zu berichtigen oder zu ergänzen. Dies gilt auch, wenn bspw. ein Antragsteller eine von ihm adressierte Frage anders als in dem vom Antragsgegner zugrunde gelegten Sinn verstanden wissen will. Hier obliegt es

 Vgl. BVerfGE 136, 190 (192 Rn. 5); 147, 31 (37 Rn. 18); BVerfG, Beschluss vom 11. Dezember 2018 – 2 BvE 1/18 –, www.bverfg.de, Rn. 18; Löwer, in: Isensee/Kirchhof, HStR III, 3. Aufl. 2005, § 70 Rn. 12.  BVerfE 147, 31 (37 Rn. 18) mit Verweis auf NdsStGH, Urteil vom 17. August 2012 – 1/12 –, juris, Rn. 50; vgl. auch BayVerfGH, Entscheidung vom 17. Juni 1993 – f.85 – IV-91 –, juris, Rn. 32.  BVerfGE 147, 31 (37 f. Rn. 19).  BVerfGE 129, 356 (375); vgl. auch Hillgruber/Goos, Verfassungsprozessrecht, 4. Aufl. 2015, Rn. 388; Schlaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 11. Aufl. 2018, Rn. 94.  Walter, in: ders./Grünewald, BeckOK BVerfGG, Stand: Dezember 2018, § 64 Rn. 47.  BVerfGE 129, 356 (375).  Vgl. VerfGH Berlin, Beschluss vom 11. April 2018 – 91/17 –, juris, Rn. 21.  Zu diesem Recht siehe etwa P. Müller, in: v.Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 2, 7. Aufl. 2018, Art. 38 Rn. 85 ff. m.w.N. aus der Rspr. des BVerfG.

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dem Antragsteller, etwa durch eine entsprechende Nachfrage den von ihm zugrunde gelegten Sinn der Frage klarzustellen.⁵³ Erst durch die Geltendmachung des berühmten Rechts und die Verweigerung des tatsächlich oder vermeintlich Verpflichteten, als Antragsgegner seiner verfassungsrechtlichen Pflicht gegenüber dem Antragsteller nachzukommen, materialisiert sich die verfassungsrechtliche Streitigkeit. Ab diesem Zeitpunkt ist die Streitigkeit justiziabel und kann im Wege des Organstreitverfahrens verfolgt werden. Das Erfordernis der Konfrontationsobliegenheit soll dementsprechend auch verhindern, dass Antragsbegehren in das Stadium der Begründetheitsprüfung gelangen, die ersichtlich des Rechtsschutzes durch eine solche Prüfung nicht bedürfen und zu einer rechtsmissbräuchlichen Politisierung des Verfassungsstreites führen würden. Eine vorherige Anrufung des Bundesverfassungsgerichts ist vorgreiflich und widerspricht der Intention des Organstreitverfahrens, lediglich den verfassungsrechtlich justiziablen Teil von an sich als politisch eingestuften Streitigkeiten zu erfassen.⁵⁴ Diese Beschränkung auf den verfassungsrechtlichen Kontrollmaßstab entspricht dem Grundsatz des judical self-restraint,⁵⁵ der darauf abzielt, den von der Verfassung für die anderen Verfassungsorgane garantierten Raum freier politischer Gestaltung offenzuhalten.⁵⁶ Für den Antragsteller ist die Konfrontationsobliegenheit auch nicht mit einer Entwertung seines geltend gemachten Rechtes oder einer sonstigen Rechtseinbuße verbunden, da es in seiner Hand liegt, etwaige Unklarheiten in Bezug auf die angestrebte Rechtsverfolgung zu beseitigen.⁵⁷ Insoweit stellt die Konfrontationsobliegenheit eine Konsequenz der Ausgestaltung des Organstreitverfahrens als kontradiktorisches Verfahren dar, in dem über streitig gewordene Rechte und Pflichten der Beteiligten zu entscheiden ist.⁵⁸ Sie ist Ausfluss des Gebots der Verfassungsorgantreue,⁵⁹ wonach alle Verfassungsorgane zu wechselseitiger Achtung, Rücksichtnahme und Kooperation bei der Wahrnehmung ihrer Aufga-

 Vgl. BVerfGE 137, 185 (228 Rn. 123).  Zur Erledigung politischer Streitfragen durch die Verfassungsgerichtsbarkeit Ipsen, in: Starck, Fortschritte der Verfassungsgerichtsbarkeit in der Welt – Teil II, 2006, S. 45 ff.  Vgl. dazu Spielmann/Röper, DÖV 2018, 928 ff.; kritisch Voßkuhle, in: v.Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 3, 7. Aufl. 2018, Art. 93 Rn. 36.  BVerfGE 36, 1 (14 f.). Siehe zur „political question-doctrine“ im amerikanischen Verfassungsprozessrecht, nach der bereits die Zuständigkeit für „politische“ Streitigkeiten abgelehnt wird Kau, United States Supreme Court und Bundesverfassungsgericht, 2007, S. 326 ff.  Vgl. VerfGH Sachsen, Urteil vom 11. April 2018 – Vf. 82-I-17 –, juris, Rn. 52.  VerfGH Berlin, Beschluss vom 11. April 2018 – 91/17 –, juris, Rn. 21.  Siehe dazu etwa Schenke, Verfassungsorgantreue, 1977; Voßkuhle, NJW 1997, 2216 ff.; Lorz, Intraorganrespekt im Verfassungsrecht, 2001.

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ben verpflichtet sind.⁶⁰ Dieses Gebot entfaltet seine Wirkung in bereits bestehenden Verfassungsrechtsverhältnissen.⁶¹ Hieraus folgt vor Einleitung des Organstreitverfahrens die Verpflichtung, sich bereits im politischen Prozess mit der Verfassungsrechtslage zu befassen und beanspruchte Rechte einzufordern.⁶² Als Konkretisierung des Gebots der Verfassungsorgantreue geht diese Verpflichtung nicht über das hinaus, was für den Umgang zwischen Verfassungsorganen als selbstverständlich zu erwarten ist.⁶³

4. Übertragbarkeit der Konfrontationsobliegenheit auf andere Verfahren vor dem BVerfG Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht mit einem überwiegend objektiven Charakter, wie etwa Normenkontrollverfahren, die den Antragsteller zum „Garanten der verfassungsgemäßen Ordnung“⁶⁴ machen, erfordern keine Konfrontationsobliegenheit, da gerade keine subjektiven Berechtigungen im Streit stehen, die vom Antragsteller geltend gemacht werden. Eine Konfrontationsobliegenheit kann sich vielmehr nur bei einer kontradiktorischen Streitigkeit vor dem Bundesverfassungsgericht ergeben, in dem die gegenseitige Abgrenzung von Kompetenzen von Verfassungsorganen oder ihren Teilen, die in einem konkreten Verfassungsverhältnis zueinanderstehen, in Rede steht. Insoweit stellt die Konfrontationsobliegenheit eine Konsequenz des kontradiktorischen Verfahrens dar, in dem über streitig gewordene Rechte und Pflichten der Beteiligten zu entscheiden ist.⁶⁵ Neben dem Organstreitverfahren kommt hier auch die Bund-Länder-Streitigkeit nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 3 GG, §§ 13 Nr. 7, 68 ff. BVerfGG in Betracht. Dieses Verfahren wurde vom Gesetzgeber mit dem Verweis (§ 69 BVerfGG) auf die Regelungen des Organstreits (§§ 64 ff. BVerfGG) als kontradiktorische Streitigkeit ausgestaltet, bei dem Antragsteller und Antragsgegner in einem verfassungsrechtlichen Rechtsverhältnis zueinander stehen müssen, aus dem sich Rechte und Pflichten ergeben, die sie gegenseitig achten müssen und die zwischen ihnen

 Vgl. BVerfGE 35, 193 (199); 45, 1 (39); 94, 166 (234 f.).  BVerfGE 134, 141 (201 Rn. 183).  BVerfGE 129, 356 (375); 147, 31 (37 f. Rn. 19); Bethge, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/ Bethge, BVerfGG, Stand: 40. Lfg. Februar 2013, § 71 Rn. 213.  Vgl. BVerfGE 129, 356 (375); 147, 31 (37 f. Rn. 19).  BVerfGE 101, 158 (213); 122, 1 (17); 127, 165 (190)  VerfGH Berlin, Beschluss vom 11. April 2018 – 91/17 –, juris, Rn. 21.

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streitig geworden sind.⁶⁶ Auch hier sind potenziell Fallgestaltungen denkbar,⁶⁷ in denen der Antragsteller vor der Einleitung einer Bund-Länder-Streitigkeit gehalten ist, das beanspruchte Recht bzw. die etwaige Verpflichtung des Antragsgegners in einer Art und Weise im politischen Raum geltend zu machen, dass für den Antragsgegner ein Konflikt erkennbar ist. Dem Antragsgegner wird hierdurch die Möglichkeit eingeräumt, seinerseits die Sach- und Rechtslage zu prüfen und dem Begehren des Antragstellers möglicherweise zu entsprechen. Erst wenn der Konflikt im Verfassungsrechtsverhältnis für den Antragsgegner erkennbar wird und ihm im politischen Raum nicht abgeholfen wird, kann sich ein vor dem Bundesverfassungsgericht justiziabler Verfahrensgegenstand materialisieren. Dies gilt gleichermaßen für die föderativen Streitigkeiten nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 GG, §§ 13 Nr. 8, 71 ff. BVerfGG, die auch als kontradiktorische Streitigkeiten ausgestaltet sind, in denen die Verfahrensbeteiligten anlässlich eines konkreten Konflikts subjektive Rechte und Pflichte gegeneinander geltend machen.⁶⁸ Eine Übertragbarkeit der Konfrontationsobliegenheit auf das Verfahren der Verfassungsbeschwerde nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, §§ 13 Nr. 8a, 90 ff. BVerfGG scheidet hingegen grundsätzlich aus. Der Beschwerdeführer ist hier im Rahmen der Zulässigkeitsprüfung gehalten, neben der Möglichkeit einer Verletzung von Grundrechten und grundrechtsgleichen Rechten darzulegen, dass er selbst, gegenwärtig und unmittelbar durch die angegriffene Maßnahme betroffen ist.⁶⁹ Insoweit erweist sich die Beschwerdebefugnis als spezifische Ausprägung des Rechtsschutzbedürfnisses.⁷⁰ Anders als in einem kontradiktorischen Verfahren ist der Beschwerdegegenstand hier keine Maßnahme eines Antragsgegners in einem Verfassungsrechtsverhältnis, in dem Kompetenzen voneinander abgegrenzt werden. Die Verfassungsbeschwerde als außerordentlicher Rechtsbehelf dient vielmehr dazu, Eingriffe der grundrechtsgebundenen deutschen öffentlichen Gewalt in Grundrechte des Beschwerdeführers abzuwehren. Ob ein tauglicher Beschwerdegegenstand vorliegt, der geeignet ist die gerügten Grundrechtspositio-

 Vgl. BVerfGE 20, 18 (23 f.); 103, 81 (86 f.); siehe auch Voßkuhle, in: v.Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 3, 7. Aufl. 2018, Art. 93 Rn. 134.  Siehe zu etwaigen Antragsgegenständen Voßkuhle, in: v.Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 3, 7. Aufl. 2018, Art. 93 Rn. 139; Schorkopf, in: Burkizak/Dollinger/Schorkopf, Bundesverfassungsgerichtsgesetz, 2015, §§ 68, 69 Rn. 19 ff.; S. Müller, in: Barczak, BVerfGG, 2018, § 71 Rn. 31; Lenz/ Hansel, in: dies., Bundesverfassungsgerichtsgesetz, 2. Aufl. 2015, § 68 Rn. 7  Vgl. BVerfGE 13, 54 (72); Bethge, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, Stand: 40. Lfg. Februar 2013, § 71 Rn. 12; Voßkuhle, in: v.Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 3, 7. Aufl. 2018, Art. 93 Rn. 150; Meister, in: Burkizak/Dollinger/Schorkopf, Bundesverfassungsgerichtsgesetz, 2015, § 71 Rn. 12; S. Müller, in: Barczak, BVerfGG, 2018, § 71 Rn. 9.  Vgl. BVerfGE 53, 30 (48); 79, 1 (14 f.); 102, 197 (206 f.); 123, 267 (329); 133, 277 (311 ff.).  Vgl. Hellmann, in: Barczak, BVerfGG, 2018, § 90 Rn. 258.

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nen des Beschwerdeführers zu beeinträchtigten, bemisst sich daher allein an den Sachentscheidungsvoraussetzungen der Verfassungsbeschwerde. Eine darüberhinausgehende Konfrontationsobliegenheit als Ausprägung des Rechtsschutzbedürfnisses findet hier keinen Raum.

VI. Ausblick Die Konturierung der Konfrontationsobliegenheit als eine spezifische Ausprägung des Rechtsschutzbedürfnisses in kontradiktorischen Verfassungsstreitverfahren schafft für etwaige Parteien Klarheit über etwaige vorprozessuale Handlungsobliegenheiten im politischen Raum und sorgt damit gleichzeitig dafür, dass nicht bereits verfrüht politische Auseinandersetzungen als Verfassungsstreitigkeiten vor dem Bundesverfassungsgericht ausgetragen werden.Vielmehr kann die Konfrontationsobliegenheit im Sinne einer Vorwirkung dazu beitragen, dass politische Konflikte, die sich noch nicht zu justiziablen Kompetenzkonflikten entwickelt haben, im politischen Raum behoben werden. Dies darf freilich nicht dazu führen, dass sich politische Kontrahenten über die Anwendung objektiven Rechts verständigen und einvernehmlich verfassungsrechtliche Grenzen in der Praxis verschoben werden.⁷¹ Eine Anrufung des Bundesverfassungsgerichts in einem kontradiktorischen Verfahren ist daher nur dann rechtsschutzbedürftig, wenn über streitig gewordene Rechte und Pflichten zwischen den Beteiligten zu befinden ist und dieser Konflikt für den Antragsgegner auch hinreichend erkennbar geworden ist. Dass solche Konstellationen keineswegs selten sind und Unklarheiten über etwaige vorprozessuale Obliegenheiten bestehen, zeigt auch die zügige Rezeption der Konfrontationsobliegenheit als Ausprägung des Rechtsschutzbedürfnisses durch die landesverfassungsgerichtliche Rechtsprechung.⁷²

 Für diesen Hinweis danke ich Herrn Ministerialdirektor a.D. von Knobloch.  Vgl. VerfGH Berlin, Beschluss vom 11. April 2018 – 91/17 – juris, Rn. 21; VerfGH Sachsen, Urteil vom 11. April 2018 – Vf. 82-I-17 –, juris, Rn. 52.

Tristan Barczak

Feststellungsklage gegen Parlamentsgesetze und Subsidiarität der Rechtssatzverfassungsbeschwerde Eine notwendige Neubestimmung des Verhältnisses von inzidenter fach- und prinzipaler verfassungsgerichtlicher Kontrolle formellen Gesetzesrechts Leitentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts BVerfGE 71, 305 – Milch-Garantiemengen-Verordnung BVerfGE 74, 69 – Subsidiarität der Gesetzesverfassungsbeschwerde BVerfGE 76, 107 – Landesraumordnungsprogramm BVerfGE 102, 197 – Spielbankengesetz Baden-Württemberg BVerfGE 115, 81 – Rechtsschutz gegen Bundesrechtsverordnungen BVerfGE 145, 20 – Regulierung des Spielhallensektors

Wichtige Kammerentscheidungen BVerfGK 15, 306 – Finanzmarktstabilisierungsgesetz BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 29. März 1999 – 1 BvR 295/99 –, juris – Börsengesetz BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 25. Februar 2004 – 1 BvR 2016/01 –, NVwZ 2004, S. 977 – Verfütterungsverbotsgesetz BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 28. Januar 2014 – 1 BvR 573/11 –, NVwZ-RR 2014, S. 537 – Bundesnaturschutzgesetz BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 25. Juni 2015 – 1 BvR 555/15 –, NJW 2015, S. 2242 – Mindestlohngesetz BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 16. Juli 2015 – 1 BvR 1014/13 –, NVwZ-RR 2016, S. 1 – Hessisches Spielhallengesetz BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 19. November 2018 – 1 BvR 1335/18 –, juris – Geldwäschegesetz

Schrifttum Axer, Normenkontrolle und Normerlaßklage in der Sozialgerichtsbarkeit, NZS 1997, S. 10 – 16; Bettermann, Zur Verfassungsbeschwerde gegen Gesetze und zum Rechtsschutz des Bürgers gegen Rechtsetzungsakte der öffentlichen Gewalt, AöR 86 (1961), S. 129 – 186; Bonhage/Dieterich, Jahresfrist für Rechtssatzverfassungsbeschwerden bei Gesetzesänderungen, NVwZ 2017, S. 1352– 1356; Buermeyer, Die Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde in Strafsachen, in: Rensen/Brink (Hrsg.), Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts – erörtert von den wissenhttps://doi.org/10.1515/9783110599916-004

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Tristan Barczak

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Inhalt I. Einleitung 19 II. Fach- und verfassungsgerichtlicher Rechtsschutz im Wechselspiel 22 III. Bekannte Linien – neue Konturen 24 . Grundsatz der materiellen Subsidiarität bei Rechtssatzverfassungsbeschwerden 24 . Fachgerichtliche Feststellungsklagen gegen formelle Gesetze als 27 Subsidiaritätsanforderung bei Rechtssatzverfassungsbeschwerden a) Fachprozessrechtliche Vorbemerkungen 28 30 b) Senatsrechtsprechung aa) Feststellungsklage gegen materielle Bundesgesetze 30 bb) Feststellungsklage gegen formelle Landesgesetze 34 cc) Feststellungsklage gegen formelle Bundesgesetze? 36 c) Kammerrechtsprechung 38 . Zwischenergebnis: Das grundsätzliche Erfordernis der negativen Feststellungsklage als Subsidiaritätsanforderung 41 IV. Prozessuale Folgerungen 43 . Ausweitung der Rügeobliegenheit im fachgerichtlichen Verfahren (§  Abs.  Satz  43 BVerfGG) . Fortgeltung der Ausnahmen vom Subsidiaritätserfordernis und Vorabentscheidungsmöglichkeit (§  Abs.  Satz  BVerfGG) 44 . Hinausschieben der Jahresfrist (§  Abs.  BVerfGG) 44 V. Fazit 46

I. Einleitung Parlamentsgesetze und die in ihnen zum Ausdruck kommende Autorität der Bundes- und Landesgesetzgebung genießen nach der grundgesetzlichen Systementscheidung für ein gewaltenteiliges Verfassungssystem einen besonderen Schutz vor dem richterlichen Zugriff. Zwar sind die Fachgerichte zur Prüfung formeller Gesetze am Maßstab des Grundgesetzes im Rahmen ihrer Zuständigkeiten umfassend berechtigt und verpflichtet.¹ Dieses allgemeine richterliche Prüfungsrecht ist jedoch auf eine inzidente Bejahung der Verfassungsmäßigkeit beschränkt. Im Falle der Verneinung haben die Gerichte nach der Grundentscheidung des Art. 100 Abs. 1 GG nur ein Vorprüfungs- und kein Verwerfungsrecht.² Eine prinzipale Rechtssatzkontrolle formeller, nachkonstitutioneller Bundes- oder Landesgesetze ist ihnen nicht gestattet. Diese ist bei der Verfassungsgerichtsbarkeit monopolisiert, aus Sicht des einzelnen Rechtsunterworfenen in der Rechtssatz-

 BVerfGE 1, 184 (197); Heun, AöR 122 (1997), S. 610 (612); zum Begriff des „formellen Gesetzes“ nur Dederer, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), GG, Art. 100 Rn. 84 ff. (70. Erg.-Lfg. Dezember 2013).  Siehe nur BVerfGE 138, 64 (90 f. Rn. 78); Schenke, JuS 2017, S. 1141 (1142).

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verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht.³ Ein prinzipales Normenkontrollrecht ist den Fachgerichten nur in beschränktem Umfang und ausschließlich für untergesetzliche, rein materielle Rechtsnormen eingeräumt. Für derartige im Rang unter dem Landesgesetz stehende Rechtsvorschriften⁴ sieht § 47 Abs. 1 Nr. 2 VwGO die fakultative Einführung einer „kleinen“⁵ Normenkontrolle durch das Oberverwaltungsgericht vor. Von dieser Möglichkeit haben sämtliche Bundesländer – mit Ausnahme der Stadtstaaten Berlin und Hamburg – Gebrauch gemacht.⁶ Demgegenüber gewähren weder die Feststellungsklage nach § 43 VwGO noch ihre funktionalen Äquivalente – insbesondere die von §§ 43 Abs. 2 Satz 1, 111, 113 Abs. 4 VwGO vorausgesetzte allgemeine Leistungsklage – einen auf die prinzipale Normenkontrolle gerichteten Rechtsschutz. Sie sind daher im Rahmen der Rechtswegerschöpfung unbeachtlich,⁷ können jedoch – was nicht selten außer Acht gelassen wird – unter dem Gesichtspunkt der materiellen Subsidiarität einer Gesetzesverfassungsbeschwerde relevant werden. Bei einer Verfassungsbeschwerde, die sich unmittelbar gegen formelle Gesetze richtet, greift das Gebot der Rechtswegerschöpfung (§ 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG) folglich ins Leere, weil es keinen zu erschöpfenden fachgerichtlichen Rechtsweg gibt.⁸ Diese Prämisse wurde durch den Grundsatz der Subsidiarität seit  Dazu Schlaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 10. Aufl. 2015, Rn. 117; Bethge, in: Festschrift für Schenke, 2011, S. 61 (71); instruktiv zu den divergierenden Maximen inzidenter und prinzipaler Normenkontrolle Burkiczak, in: Kluth/Krings (Hrsg.), Gesetzgebung, 2014, § 35 Rn. 28 ff.  Eine Ausnahme bildet die Änderung oder Ergänzung einer Rechtsverordnung durch ein formelles Landesgesetz, wenn dieses zugleich bestimmt, dass auch die (gesetzlichen) Einfügungen künftig durch Rechtsverordnung geändert werden können (sog. „Entsteinerungsklausel“). In diesem Fall kann auch das formelle Landesgesetz Gegenstand einer Normenkontrolle nach § 47 Abs. 1 Nr. 2 VwGO sein, vgl. BVerwGE 117, 313 ff.  Panzer, in: Schoch/Schneider/Bier (Hrsg.), VwGO, § 47 Rn. 13 (30. Erg.-Lfg. Februar 2016).  § 4 AGVwGO BW; Art. 5 Satz 1 BayAGVwGO; § 4 Abs. 1 BbgVwGG; Art. 7 Abs. 1 BremAGVwGO; § 15 HessAGVwGO; § 13 AGGerStrG M-V; § 75 NdsJustG; § 4 Abs. 1 Satz 1 AGVwGO Rh-Pf; § 18 SaarlAGVwGO; § 24 Abs. 1 SächsJustG; § 10 SachsAnhAGVwGO; § 5 AGVwGO S-H; § 4 ThürAGVwGO. Zuletzt Nordrhein-Westfalen durch § 109a JustG NRW, eingefügt durch das Vierte Gesetz zur Änderung des Justizgesetzes Nordrhein-Westfalen – Erweiterung der untergesetzlichen Normenkontrolle nach § 47 der Verwaltungsgerichtsordnung vom 18. Dezember 2018, mit Wirkung vom 1. Januar 2019, GV. NRW. S. 770; vgl. auch NRWLT-Drs. 17/3580, S. 2, wonach hiermit eine „bestehende Rechtsschutzlücke“ geschlossen wurde.  Michael, ZJS 2014, S. 490 (493); ders./Morlok, Grundrechte, 6. Aufl. 2017, Rn. 934; im Zusammenhang mit der Kommunalverfassungsbeschwerde auch Scheffczyk, in: Walter/Grünewald (Hrsg.), BeckOK-BVerfGG, § 91 Rn. 61 (Dezember 2018).  Siehe BVerfGE 74, 69 (74); 75, 108 (145); StGH BW, Urteil vom 17. Juni 2014 – 15/13 –, juris, Rn. 171; sowie Hellmann, in: Barczak (Hrsg.), Mitarbeiterkommentar zum BVerfGG, 2018, § 90 Rn. 377 ff., 382; Henke, in: Burkiczak/Dollinger/Schorkopf (Hrsg.), BVerfGG, 2015, § 90 Rn. 218; Hartmann, in:

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jeher relativiert.⁹ Um eine inzidente Normenkontrolle zu erreichen, oblag einem Beschwerdeführer schon in der Vergangenheit die Provokation eines Verwaltungsakts mit anschließender Anfechtungsklage¹⁰ oder die Provokation der Ablehnung eines Antrags mit anschließender Verpflichtungs-¹¹ oder Leistungsklage¹². Die jüngere Senats- und Kammerrechtsprechung des Gerichts, namentlich des Ersten Senats, wendet den Grundsatz, wonach gegen Parlamentsgesetze kein unmittelbarer fachgerichtlicher Rechtsweg eröffnet ist, mehr und mehr ins Gegenteil, indem sie den Beschwerdeführer grundsätzlich und in weitem Umfang darauf verweist, vor Erhebung einer Rechtssatzverfassungsbeschwerde eine negative Feststellungsklage im Sinne des § 43 Abs. 1 Var. 2 VwGO zu ergreifen, um der Beschwer durch den Legislativakt abzuhelfen.¹³ Sie zeichnet dabei eine Linie nach, die von einer „Emanzipationstendenz“¹⁴ der Verwaltungsgerichtsbarkeit selbst ausgeht: Diese nimmt die ihr obliegende anspruchsvolle Doppelbindung¹⁵ ernst, nach der die Fachgerichte ihre Bindung an das einfache Recht nicht aus den Augen verlieren dürfen, andererseits aber den verfassungsorientierten Blick „hinter das Gesetz“¹⁶ werfen müssen, um Grundrechtsschutz zu gewährleisten. Anders gewendet: Der die Rechtsprechung nach Art. 20 Abs. 3, 97 Abs. 1 GG bindende Vorrang des Gesetzes schließt den Vorrang der Verfassung ein.¹⁷ Im ersten Zugriff sind hiernach die sachnäheren Instanzgerichte dazu berufen, im Rahmen ihrer Zuständigkeiten bei Verfassungsverletzungen Rechtsschutz zu gewähren, bevor die Verfassungsrichter zu einem nachgelagerten Rechtsschutz

Pieroth/Silberkuhl (Hrsg.), Die Verfassungsbeschwerde, 2008, § 90 Rn. 219 f.; Sodan, DÖV 2002, S. 925 (935).  Siehe auch Schenke, NJW 1986, S. 1451 (1454).  BVerfGK 13, 237 (240); Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 30. Mai 2006 – 1 BvR 571/06 –, juris, Rn. 4; zur Provokation unnötiger Verwaltungsakte aber BVerfGE 31, 314 (323); 110, 370 (382).  BVerfGE 69, 122 (126); 72, 39 (44); 108, 370 (386); BVerfGK 6, 276 (280); 13, 237 (240); zur Unzumutbarkeit offensichtlich aussichtsloser Erlaubnisverfahren mit anschließender Anrufung der Verwaltungsgerichte aber BVerfGE 79, 1 (20); 102, 197 (208).  BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 24. Januar 2002 – 2 BvR 2071/01 –, juris, Rn. 3.  Mit entsprechender Feststellung Bonhage/Dieterich, NVwZ 2017, S. 1352 (1355); zur verwaltungsgerichtlichen Feststellungsklage als prozessualer „Allzweckwaffe“ auch Detterbeck, AöR 136 (2011), S. 222 (260 ff.), der davon ausgeht, dass über diese „fast immer“ eine inzidente Normenkontrolle zu erreichen sei (S. 263).  Zur Begrifflichkeit Wittreck, Die Verwaltung der Dritten Gewalt, 2006, S. 138.  Dreier, DV 36 (2003), S. 105 (105).  Stern, Staatsrecht III/1, 1988, S. 1474.  Statt vieler Burkiczak, in: Kluth/Krings (Hrsg.), Gesetzgebung, 2014, § 35 Rn. 16, 41 ff.

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besonderer Art schreiten.¹⁸ Nur auf einem solchen Fundament konnten die Grundsätze der formellen und materiellen Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde überhaupt Fuß fassen. Die fortschreitende Konstitutionalisierung¹⁹ der Rechtsordnung, namentlich die „Vergrundrechtlichung“²⁰ des gesamten Unterverfassungsrechts bringt es mit sich, dass diese doppelte Bindung anspruchsvoller und mit der Verwischung der Trennung von einfachem und Verfassungsrecht auch die Grenzen von Fach- und Verfassungsgerichtsbarkeit unschärfer werden.²¹ Die nachstehenden Ausführungen beziehen sich in erster Linie auf das Verhältnis von Verfassungs- und Verwaltungsgerichtsbarkeit und ihr jeweiliges prozessuales Fachrecht, sie lassen sich jedoch abstrahieren und kommen im Verhältnis von fach- und verfassungsgerichtlichem Rechtsschutz im Allgemeinen zum Tragen.

II. Fach- und verfassungsgerichtlicher Rechtsschutz im Wechselspiel Fach- und verfassungsgerichtlicher Rechtsschutz fungieren über die Schaltstelle des § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG wie miteinander kommunizierende Röhren. Weitet die fachgerichtliche Rechtsprechung die Rechtsschutzmöglichkeiten zugunsten des Rechtsunterworfenen aus – wobei eine solche Ausweitung oftmals verfassungsgerichtlich induziert sein wird in Blick auf Art. 19 Abs. 4 GG oder den

 BVerfGE 69, 122 (125 f.); 74, 69 (74 f.); BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 9. November 2017 – 1 BvR 1489/16 –, NVwZ-RR 2018, S. 249 (249); SächsVerfGH, Beschluss vom 25. September 2009 – Vf. 182-IV-08 –, juris, Rn. 48; Barczak, in: ders. (Hrsg.), Mitarbeiterkommentar zum BVerfGG, 2018, Einl. Rn. 92; Buermeyer, in: Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, Band 1, 2009, S. 35 (37 ff.).  Aus der Vielzahl der Beiträge Schuppert/Bumke, Die Konstitutionalisierung der Rechtsordnung, 2000, S. 9 ff.; Alexy, VVDStRL 61 (2002), S. 7 (10 ff.); Wahl, in: Festschrift für Brohm, 2002, S. 191 ff.; Jarass, in: Wittreck (Hrsg.), 60 Jahre Grundgesetz, 2010, S. 47 ff.; Bryde, in: Festschrift für Rottleuthner, 2011, S. 267 ff.; Barczak, in: Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, Band 4, 2017, S. 91 (93 ff.), m.w. N.  Bethge, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/F. Klein/Bethge (Hrsg.), BVerfGG, § 90 Rn. 279 (42. Erg.Lfg. Oktober 2013); ders., in: Gedächtnisschrift für Tettinger, 2007, S. 369 (370 ff.); Jestaedt, Grundrechtsentfaltung im Gesetz, 1999, S. 56 f.; Westerhoff, Die Prüfung der Verhältnismäßigkeit im Rahmen gebundener Entscheidungen, 2016, S. 139 ff.; Naumann, DÖV 2011, S. 96 (100); Neureither, NVwZ 2011, S. 1492 (1493).  Papier, DVBl. 2009, S. 473 (478); für konkrete Anwendungsbeispiele vgl. Barczak, in: Mülder/ Drechsler/Helmrich u. a. (Hrsg.), Richterliche Abhängigkeit, 58. Assistententagung Öffentliches Recht, 2018, S. 333 ff.

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allgemeinen Justizgewährleistungsanspruch –, wachsen hiermit spiegelbildlich die Anforderungen an Rechtswegerschöpfung und Subsidiarität für den potentiellen Beschwerdeführer.²² § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG „verarbeitet“²³ insofern Änderungen in Umfang und Tiefe des fachgerichtlichen Rechtsschutzes. Um dies an einem konkreten Beispiel zu illustrieren: Sah es der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts noch im Frühjahr 2008 als selbstverständlich an, dass verwaltungsgerichtlicher Rechtsschutz gegen die Ermächtigungen im hessischen und schleswig-holsteinischen Polizeirecht zur automatisierten Erfassung von Kfz-Kennzeichen nicht eröffnet und somit vor Erhebung der betreffenden Rechtssatzverfassungsbeschwerde nicht zu ergreifen war,²⁴ änderte sich seither das fachgerichtliche Grundverständnis: So hielt der Bayerische Verwaltungsgerichtshof eine verwaltungsgerichtliche Unterlassungsklage²⁵ gegen die entsprechende Parallelnorm im Bayerischen Polizeiaufgabengesetz für zulässig und prüfte die Bestimmung umfassend auf ihre formelle wie materielle Verfassungsmäßigkeit.²⁶ Nachdem der Kläger in diesem Verfahren mit seiner Revision vor dem Bundesverwaltungsgericht²⁷ gescheitert war, erhob er Urteilsverfassungsbeschwerde gegen die fachgerichtlichen Entscheidungen. Derselbe Kläger hatte allerdings bereits im Jahr 2009 Gesetzesverfassungsbeschwerde gegen die Normen des Bayerischen Polizeiaufgabengesetzes erhoben. Das Bundesverfassungsgericht sieht sich hier mit der sicher nicht alltäglichen prozessualen Konstellation einer prinzipalen Normenkontrolle im Wege der unmittelbaren Rechtssatzverfassungsbeschwerde²⁸ und einer inzidenten Normenkontrolle im Wege der Urteilsverfassungsbeschwerde²⁹ über eine identische Fragestellung  Anschaulich mit Blick auf fachgerichtlich geschaffene Rechtsschutzmöglichkeiten gegen sitzungspolizeiliche Anordnungen und die entsprechend angepassten Anforderungen an die Rechtswegerschöpfung im Verfassungsbeschwerdeverfahren BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 17. April 2015 – 1 BvR 3276/08 –, NJW 2015, S. 2175 (2176); dazu Barczak, NJ 2015, S. 360 (363).  Löwer, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band 3, 3. Aufl. 2005, § 70 Rn. 198.  BVerfGE 120, 378 (396 f.).  Der Antrag lautete, den beklagten Freistaat Bayern zu verpflichten, „es zu unterlassen, durch den verdeckten Einsatz automatisierter Kennzeichenerkennungssysteme Kennzeichen von Kraftfahrzeugen, die auf den Kläger zugelassen sind, zu erfassen und mit polizeilichen Dateien abzugleichen“ (VGH München, Urteil vom 17. Dezember 2012 – 10 BV 09.2641 –, juris, Rn. 40).  VGH München, Urteil vom 17. Dezember 2012 – 10 BV 09.2641 –, juris, Rn. 59, 64 ff.  Dieses erachtete die vorbeugende Unterlassungsklage ebenfalls als statthaft, vgl. BVerwG, Urteil vom 22. Oktober 2014 – 6 C 7/13 –, NVwZ 2015, S. 906 (906 ff.).  Verfahren anhängig unter Az. 1 BvR 1782/09.  Verfahren anhängig unter Az. 1 BvR 142/15; vgl. dazu die Übersicht des Ersten Senats für das Jahr 2018, abrufbar unter www.bverfg.de.

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befasst.³⁰ Es bleibt abzuwarten, wie das Gericht in diesen Verfahren über die Zulässigkeit der jeweiligen Rechtsschutzanträge entscheiden wird. Denkbar erschiene es, dass das Durchlaufen des Instanzenzuges – womit vom Beschwerdeführer selbst belegt wurde, dass fachgerichtlicher Rechtsschutz im konkreten Fall statthaft und nicht offensichtlich unzulässig war – die im Zeitpunkt ihrer Erhebung unzulässige Rechtssatzverfassungsbeschwerde erst zulässig gemacht hat.³¹ Umgekehrt könnte die verfassungsgerichtliche Kontrolle der fachgerichtlichen Entscheidungen im Rahmen der Urteilsverfassungs- auch das Rechtsschutzbedürfnis für die Gesetzesverfassungsbeschwerde nachträglich entfallen lassen.³² Mit dem fortschreitenden, vom Bundesverfassungsgericht unter Verweis auf Art. 19 Abs. 4 GG bzw. den allgemeinen Justizgewährleistungsanspruch vorangetriebenen Ausbau fachgerichtlicher Rechtsschutzmöglichkeiten wird der Korridor für die unmittelbare Anfechtung eines Hoheitsaktes im Wege der Verfassungsbeschwerde insgesamt enger. Dies vermag an der grundgesetzlich normierten Kompetenzverteilung zwischen Fach- und Verfassungsgerichtsbarkeit prima vista nichts zu ändern, verlangt aber nach einer Überprüfung der bekannten Linien im Verhältnis von inzidenter und prinzipaler Normenkontrolle formellen Gesetzesrechts.

III. Bekannte Linien – neue Konturen 1. Grundsatz der materiellen Subsidiarität bei Rechtssatzverfassungsbeschwerden Gegen Gesetze steht der Rechtsweg grundsätzlich nicht offen. Dieser bekannte Grundsatz wird prozessrechtlich bestätigt durch § 93 Abs. 3 BVerfGG. Das

 Eingehend zur Konkurrenz verfassungs- und verwaltungsgerichtlicher Normenkontrollverfahren bei gleichzeitiger Durchführung beider Verfahren Kamp, Das Verhältnis von verfassungsgerichtlichen und verwaltungsgerichtlichen Normenkontrollverfahren, 1992, S. 75 ff.  Die Zulässigkeit einer Verfassungsbeschwerde ist zum Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts zu beurteilen, das Bundesverfassungsgericht kann eine Verfassungsbeschwerde daher nicht als unzulässig abweisen, nur weil bei ihrem Eingang die Voraussetzungen des § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG noch nicht erfüllt waren, vgl. BVerfGE 106, 210 (214); 126, 1 (17); Lenz/Hansel, BVerfGG, 2. Aufl. 2015, § 90 Rn. 415 f.; von Häfen/Kessen, in: Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, Band 3, 2014, S. 93 (97 f.).  Zum Rechtsschutzbedürfnis im Verfassungsbeschwerdeverfahren statt aller Bethge, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/F. Klein/Bethge (Hrsg.), BVerfGG, § 90 Rn. 436 ff. (42. Erg.-Lfg. Oktober 2013).

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Subsidiaritätsprinzip³³ trägt jedoch auch im Falle einer Gesetzesverfassungsbeschwerde dazu bei, den Rechtsschutz den besonderen Aufgaben des Bundesverfassungsgerichts und der Fachgerichtsbarkeit entsprechend auszugestalten und die Funktionsfähigkeit des Bundesverfassungsgerichts zu erhalten.³⁴ Die Verfassungsbeschwerde ist nach ständiger verfassungsgerichtlicher Rechtsprechung kein zusätzlicher Rechtsbehelf zum fachgerichtlichen Verfahren, sondern ein außerordentlicher Rechtsbehelf, mit dem der Träger des vermeintlich verletzten Grundrechts Eingriffe der öffentlichen Gewalt abwehren kann.³⁵ Daher ist ein Beschwerdeführer, selbst wenn er im Sinne des § 90 Abs. 1 BVerfGG durch ein Gesetz unmittelbar betroffen ist, die Norm also keinen weiteren Vollzugsakt voraussetzt und den Normadressaten unmittelbar beschwert („self-executing“),³⁶ auch bei einer Rechtssatzverfassungsbeschwerde grundsätzlich verpflichtet, vor einer Anrufung des Bundesverfassungsgerichts die Fachgerichte auf jedem erdenklichen Weg mit seinem Anliegen zu befassen. Die Anforderungen der Subsidiarität beschränken sich nicht darauf, nur die zur Erreichung des unmittelbaren Prozessziels förmlich eröffneten Rechtswege zu beschreiten, sondern verlangen, alle Mittel zu ergreifen, die der geltend gemachten Grundrechtsverletzung abhelfen können. Damit soll neben der Entlastung des Bundesverfassungsgerichts³⁷ erreicht werden, dass seine Entscheidungen nicht auf ungesicherter Tatsachen- und Rechtsgrundlage getroffen werden, sondern die für die Auslegung und Anwendung des einfachen Rechts primär zuständigen Fachgerichte die Sach- und Rechtslage vor einer Anrufung des Bundesverfassungsgerichts aufgearbeitet haben.³⁸

 Zu Ideengeschichte und dogmatischer Herleitung näher Zuck, Das Recht der Verfassungsbeschwerde, 5. Aufl. 2017, Rn. 54 ff.; Sodan, DÖV 2002, S. 925 (927 f.); Peters/Markus, JuS 2013, S. 887 (887 f.)  BVerfGE 86, 383 (388). Dem Subsidiaritätsgrundsatz wird gerade bei Rechtssatzverfassungsbeschwerden eine besondere Bedeutung beigemessen, vgl. nur Scherzberg, in: Ehlers/Schoch (Hrsg.), Rechtsschutz im Öffentlichen Recht, 2009, § 13 Rn. 92; H. Klein, in: Festschrift für Zeidler, Band 2, 1987, S. 1326 (1339); Guckelberger/Zott, GewArch Beilage WiVerw Nr. 03/2014, S. 187 (195); Michael, ZJS 2014, S. 490 (493).  Vgl. BVerfGE 94, 166 (213 f.); 107, 395 (413); 115, 81 (92); stRspr.  BVerfGE 110, 370 (381); 125, 39 (76); 126, 112 (113); zur Verzahnung dieses Aspekts der Beschwerdebefugnis mit dem Subsidiaritätsgrundsatz BVerfGE 71, 305 (334 ff.) und Lenz/Hansel, BVerfGG, 2. Aufl. 2015, § 90 Rn. 306, 503 ff.  Zur Belastungssituation des Gerichts näher Barczak, in: ders. (Hrsg.), Mitarbeiterkommentar zum BVerfGG, 2018, § 34 Rn. 4, m.w.N.  BVerfGE 79, 1 (20); 97, 157 (165); 102, 197 (207); 143, 246 (321 Rn. 209); BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 28. Januar 2014 – 1 BvR 573/11 –, NVwZ-RR 2014, S. 537 (538).

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Der Grundsatz der Subsidiarität erfordert deshalb, dass vor Einlegung einer Verfassungsbeschwerde alle zur Verfügung stehenden prozessualen Möglichkeiten ergriffen werden, um eine Korrektur der geltend gemachten Verfassungsverletzung zu erwirken oder eine Grundrechtsverletzung zu verhindern.³⁹ Das gilt auch, wenn zweifelhaft ist, ob ein entsprechender Rechtsbehelf statthaft ist und im konkreten Fall in zulässiger Weise eingelegt werden kann.⁴⁰ Dass Rechtsprechung zugunsten der Zulässigkeit des Rechtsbehelfs für die gegebene Fallgestaltung noch nicht vorliegt, genügt regelmäßig nicht, um die Anrufung der Fachgerichte als von vornherein aussichtslos anzusehen.⁴¹ Nach diesen Maßgaben ist eine Verfassungsbeschwerde unzulässig, wenn in zumutbarer Weise Rechtsschutz durch die Anrufung der Fachgerichte erlangt werden kann. Dies wird sogar dann verlangt, wenn das Gesetz keinen Auslegungs-, Ermessens- oder Beurteilungsspielraum offenlässt, der es den Fachgerichten erlauben würde, im Wege der verfassungskonformen Interpretation die geltend gemachte Grundrechtsverletzung kraft eigener Entscheidungskompetenz zu vermeiden.⁴² Obwohl dann die fachgerichtliche Prüfung für die Beschwerdeführer günstigstenfalls dazu führen kann, dass die ihnen nachteilige gesetzliche Regelung über die konkrete Normenkontrolle nach Art. 100 Abs. 1 GG dem Bundesverfassungsgericht vorgelegt wird – dass die Fachgerichte bisweilen grundrechtsschützend lieber selbst zur Tat schreiten und zwingende, der verfassungskonformen Auslegung unzugängliche Normen unter Berufung auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz korrigieren, ist weder methoden- noch verfassungsrechtlich zulässig⁴³ –, ist sie regelmäßig geboten, um zu vermeiden, dass das Bundesverfassungsgericht auf ungesicherter Tatsachen- und Rechtsgrundlage weitreichende Entscheidungen trifft.⁴⁴ Die Pflicht zur Anrufung der Fachgerichte besteht nach ständiger senatsgerichtlicher Rechtsprechung ausnahmsweise dann nicht, wenn

 BVerfGE 123, 148 (172); 134, 242 (285 Rn. 150); stRspr.  BVerfGE 16, 1 (2 f.); 68, 376 (381); 70, 180 (185); 91, 93 (106); 145, 20 (54 Rn. 85); vgl. auch BVerfGE 5, 17 (19 f.); 107, 299 (309).  BVerfGE 70, 180 (186 f.); 145, 20 (54 Rn. 85).  BVerfGE 123, 148 (173); BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 16. Juli 2015 – 1 BvR 1014/13 –, NVwZ-RR 2016, S. 1 (2); Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 19. November 2018 – 1 BvR 1335/18 –, juris, Rn. 3.  Mit der Problematik einer Verhältnismäßigkeitskorrektur gebundenen Verwaltungshandelns und ihren rechtsstaatlichen Implikationen befassten sich bislang näher Naumann, DÖV 2011, S. 96 – 104, Barczak,VerwArch 105 (2014), S. 142– 181 und Mehde, DÖV 2014, S. 541– 548 sowie die Dissertation von Westerhoff, Die Prüfung der Verhältnismäßigkeit im Rahmen gebundener Entscheidungen, 2016.  BVerfGE 123, 148 (173); BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 25. Juni 2015 – 1 BvR 555/15 –, NJW 2015, S. 2242 (2242); Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 2. Mai

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die angegriffene Regelung die Beschwerdeführer zu Dispositionen zwingt, die später nicht mehr korrigiert werden können,⁴⁵ oder wenn die Anrufung der Fachgerichte nicht zumutbar ist, etwa weil das offensichtlich sinn- und aussichtslos wäre,⁴⁶ oder wenn ein Sachverhalt ausschließlich spezifisch verfassungsrechtliche Fragen aufwirft, die das Bundesverfassungsgericht letztlich zu beantworten hat, ohne dass von einer vorausgegangenen fachgerichtlichen Prüfung verbesserte Entscheidungsgrundlagen zu erwarten wären,⁴⁷ oder wenn die Beschwerdeführer vor Erhebung einer Verfassungsbeschwerde gegen eine straf- oder bußgeldbewehrte Rechtsnorm verstoßen und sich dem Risiko einer Ahndung auszusetzen müssten, um dann im Straf- oder Bußgeldverfahren – und damit gleichsam „von der Anklagebank herab“⁴⁸ – die Verfassungswidrigkeit der Norm geltend machen zu können (sog. DamoklesRechtsprechung).⁴⁹

2. Fachgerichtliche Feststellungsklagen gegen formelle Gesetze als Subsidiaritätsanforderung bei Rechtssatzverfassungsbeschwerden Die vorstehenden Grundsätze betreffen allgemein die Subsidiaritätsanforderungen in Konstellationen, in denen Verfassungsbeschwerden unmittelbar gegen Gesetze gerichtet sind und die angegriffenen Vorschriften einen Beschwerdeführer selbst, unmittelbar und gegenwärtig betreffen. Es ist nicht ersichtlich, dass diese Grundsätze nicht auch für die Frage zu gelten haben, ob zu den zu ergreifenden Rechtsmitteln gegebenenfalls eine fachgerichtliche Feststellungsklage oder deren funktionalen Äquivalente wie etwa eine verwaltungsgerichtliche

2018 – 1 BvR 3250/14 –, NJW 2018, S. 1635 (1636); Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 19. November 2018 – 1 BvR 1335/18 –, juris, Rn. 3; vgl. auch Niesler, in: Walter/Grünewald (Hrsg.), BeckOK-BVerfGG, § 90 Abs. 2 Rn. 82 (Dezember 2018).  BVerfGE 43, 291 (387); 60, 360 (372).  BVerfGE 55, 154 (157); 65, 1 (38); 102, 197 (208).  BVerfGE 123, 148 (172 f.); 138, 261 (271 f. Rn. 23).  OVG Münster, Beschluss vom 25. August 2017 – 13 B 762/17 –, NVwZ-RR 2018, S. 54 (56).  BVerfGE 81, 70 (82 f.); 97, 157 (165); 138, 261 (271 f. Rn. 23); 142, 268 (280 Rn. 44); BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 25. Juni 2015 – 1 BvR 555/15 –, NJW 2015, S. 2242 (2242). Zu der neueren Gegenausnahme des vorläufigen vorbeugenden Rechtsschutzes gegen drohende Bußgeldbescheide unten 2. b) bb).

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Unterlassungsklage zu rechnen sind.⁵⁰ Auch wenn in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in dieser Frage noch keine endgültige Linie auszumachen ist,⁵¹ lassen sich der Senats- und Kammerrechtsprechung der jüngeren Vergangenheit deutliche Konturen entnehmen. Sie lassen sich als Entwicklung lesen, diese zunächst für untergesetzliche Normen entwickelte prozessuale Rechtsschutzmöglichkeit Schritt für Schritt auch für formelle Gesetze der Länder und des Bundes zu verankern und zur Subsidiaritätsvoraussetzung für entsprechende Rechtssatzverfassungsbeschwerden zu machen.

a) Fachprozessrechtliche Vorbemerkungen Wenn hier im Folgenden von einer Feststellungsklage „gegen“ Gesetze die Rede ist, ist damit zwar klargestellt, dass es um die verwaltungsprozessuale Normenabwehr und nicht um eine regelmäßig ebenfalls über die Feststellungsklage verwirklichte Nomerlassklage⁵² geht, gleichwohl erscheint die Formulierung auf den ersten Blick ungenau: § 43 Abs. 1 VwGO eröffnet lediglich die Feststellung des Bestehens oder Nichtbestehens eines Rechtsverhältnisses oder der Nichtigkeit eines Verwaltungsakts im Verhältnis inter partes, und damit gerade nicht die für eine prinzipale Normenkontrolle charakteristische Nichtigkeitsfeststellung eines Gesetzes mit Allgemeinverbindlichkeit.⁵³ Ein feststellungsfähiges Rechtsverhältnis setzt voraus, dass zwischen den Parteien dieses Rechtsverhältnisses ein Meinungsstreit besteht, aus dem heraus sich eine Seite berühmt, ein bestimmtes Tun oder Unterlassen der anderen Seite verlangen zu können. Daran fehlt es gerade, wenn nur abstrakte Rechtsfragen wie die Gültigkeit einer Norm zur Ent-

 Wie selbstverständlich dagegen Epping, Grundrechte, 7. Aufl. 2017, Rn. 192; Peters/Markus, JuS 2013, S. 887 (889).  Siehe auch die Bewertung der verfassungsgerichtlichen Judikatur bei Löwer, in: Isensee/ Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band 3, 3. Aufl. 2005, § 70 Rn. 198: „verheddert“; Hartmann, in: Pieroth/Silberkuhl (Hrsg.), Die Verfassungsbeschwerde, 2008, § 90 Rn. 220: „nicht immer einheitlich“; Michael, ZJS 2014, S. 490 (493, mit Fußn. 32): „nicht ganz stringent“; die Subsidiaritätsrechtsprechung des Gerichts insgesamt als „wenig kohärent“ kennzeichnend Bäcker, EuR 2011, S. 103 (109).  Statt vieler Sodan, in: ders./Ziekow (Hrsg.), VwGO, 5. Aufl. 2018, § 42 Rn. 46 ff.; daneben werden verschiedene Alternativen (allgemeine Leistungsklage, § 47 VwGO, Klageverfahren eigener Art) als prozessualer Aufhänger für eine Klage auf Normerlass diskutiert, vgl. Würtenberger, AöR 105 (1980), S. 370 (382 ff.).  Vgl. insofern § 47 Abs. 5 Satz 2 VwGO; § 55a Abs. 5 Satz 2 SGG; §§ 31 Abs. 2 Satz 2, 78 Satz 1, 82 Abs. 1, 95 Abs. 3 Satz 1 BVerfGG.

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scheidung gestellt werden.⁵⁴ Die Feststellungsklage ermöglicht jedoch, die Gültigkeit einer Norm im verwaltungsgerichtlichen Verfahren inzident mit dem Antrag überprüfen zu lassen, „dass wegen Ungültigkeit oder Unanwendbarkeit einer Rechtsnorm kein Rechtsverhältnis zu dem anderen Beteiligten begründet ist“.⁵⁵ Statthaft sind hiernach Klagen auf Feststellung, dass der Kläger das gesetzliche Ge- oder Verbot nicht befolgen müsse,⁵⁶ dass die Rechtsvorschrift ihn in bestimmten Rechten verletze⁵⁷ oder dass sie auf ihn nicht anwendbar sei.⁵⁸ Hier bildet die Frage der Gültigkeit bzw. Ungültigkeit der zugrunde liegenden Rechtsnorm nur eine zulässige Vorfrage und nicht den Streitgegenstand.⁵⁹ Die verwaltungsgerichtliche Annahme einer derartigen „relativen“ Ungültigkeit einer Rechtsnorm⁶⁰ als Bezugspunkt einer negativen Feststellungsklage im Sinne des § 43 Abs. 1 Var. 2 VwGO beruht letztlich auf der im Folgenden darzustellenden Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Als zulässige Bezugspersonen einer solchen Feststellungsklage kommen nur der Normadressat und – als Vollzugsbehörde – der Normanwender in Betracht, mit anderen Worten kann die Klage nicht unmittelbar gegen den Normgeber gerichtet werden: Da zum einen nach Art. 30 GG die Ausübung der staatlichen Befugnisse und die Erfüllung der staatlichen Aufgaben grundsätzlich Sache der Länder ist, und zum anderen Art. 83 GG ebenso grundsätzlich bestimmt, dass die Länder Bundesgesetze als eigene Angelegenheiten ausführen, d. h. sie verwaltungsmäßig umsetzen, eröffnet sich im Regelfall ein Rechtsverhältnis zwischen Normadressaten und Normanwender, nicht jedoch zwischen Normadressat und Normgeber, da letzterer an der Umsetzung der Norm gegenüber dem Adressaten nicht beteiligt ist.⁶¹ Zwar sind Streitigkeiten mit dem Ziel, die Nichtigkeit eines formellen Gesetzes feststellen zu lassen, verfassungsrechtlicher Art und mit Blick auf die

 BVerwGE 136, 54 (59); BVerwG, Urteil vom 9. Dezember 1982 – 5 C 103/81 –, NJW 1983, S. 2208 (2208); OVG Münster, Beschluss vom 25. August 2017 – 13 B 762/17 –, NVwZ-RR 2018, S. 54 (55).  BVerwG, Urteil vom 23. August 2007 – 7 C 13/06 –, NVwZ 2007, S. 1311 (1312); siehe auch Happ, in: Eyermann (Hrsg.), VwGO, 14. Aufl. 2014, § 43 Rn. 9 f.; Hellmann, in: Barczak (Hrsg.), Mitarbeiterkommentar zum BVerfGG, 2018, § 90 Rn. 379.  Siehe nur BVerwGE 124, 47 (53 f.); 129, 199 (201).  BVerwGE 119, 245 (247 f.).  Exemplarisch VGH Kassel, Urteil vom 9. März 2006 – 6 UE 3281/02 –, NVwZ 2006, S. 1195 (1198).  Detterbeck, AöR 136 (2011), S. 222 (262).  Dazu Würtenberger, Verwaltungsprozessrecht, 3. Aufl. 2011, Rn. 440.  BVerwG, Urteil vom 23. August 2007 – 7 C 13/06 –, NVwZ 2007, S. 1311 (1313); OVG Münster, Beschluss vom 22. Juni 2017 – 13 B 238/17 –, NVwZ-RR 2018, S. 43 (44); Beschluss vom 25. August 2017 – 13 B 762/17 –, NVwZ-RR 2018, S. 54 (56) – Vorratsdatenspeicherung; ferner Weidemann, NVwZ 2006, S. 1259 (1260); ders., VerwArch 98 (2007), S. 523 (527).

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Rechtswegzuständigkeit nach § 40 Abs. 1 Satz 1 VwGO („Streitigkeiten nichtverfassungsrechtlicher Art“) prinzipiell nicht mit der verwaltungsgerichtlichen Klage zu führen. Hält sich der Feststellungsantrag jedoch innerhalb der angeführten Grenzen hinsichtlich Bezugspunkt und -personen, kann im Ergebnis auch die Gültigkeit von parlamentsgesetzlichen Normen im verwaltungsgerichtlichen Verfahren überprüft werden.⁶² Während die Verwaltungsgerichte die Verfassungswidrigkeit eines materiellen⁶³ und die Verfassungsmäßigkeit eines formellen Gesetzes⁶⁴ in den Gründen ihrer Entscheidung selbst feststellen können, bleiben sie im Falle der Verfassungswidrigkeit eines Parlamentsgesetzes auf eine Vorlage nach Art. 100 Abs. 1 GG angewiesen.⁶⁵

b) Senatsrechtsprechung aa) Feststellungsklage gegen materielle Bundesgesetze Ausgangspunkt der Senatsrechtsprechung, die verwaltungsgerichtliche Feststellungsklage als ein Mittel der Normenkontrolle zu verankern, war der Beschluss vom 17. Januar 2006.⁶⁶ In dieser Entscheidung erklärte der Erste Senat ausdrücklich – obschon keineswegs erstmals⁶⁷ – eine Verfassungsbeschwerde gegen

 Übereinstimmend Happ, in: Eyermann (Hrsg.), VwGO, 14. Aufl. 2014, § 43 Rn. 9a; Rennert, in: Eyermann, ebd., § 40 Rn. 27; Sodan, in: ders./Ziekow (Hrsg.), VwGO, 5. Aufl. 2018, § 43 Rn. 58; Seiler, DVBl. 2007, S. 538 (543); kritisch Geis, in: Festschrift für Schenke, 2011, S. 709 (716): „ein Taschenspielertrick, [der] die allgemeine Geltung von Normen […] relativiert, und so weder zum Prinzip der Rechtssicherheit noch des Vertrauensschutzes passen mag“.  BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 2. April 1997 – 1 BvR 446/96 –, NVwZ 1998, S. 169 (170) – Fluglärmverordnung; Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 24. Februar 1999 – 1 BvR 167/99 –, NJW 1999, S. 2031 (2031) – Fahrerlaubnisverordnung; Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 22. März 2000 – 1 BvR 1500/93 –, NVwZ-RR 2000, S. 473 (473); Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 3. Juli 2001 – 1 BvR 1472/99 –, NVwZ-RR 2002, S. 1 (2) – Verpackungsverordnung; BVerwGE 80, 355 (358 f.) – Allgemeinverbindlicherklärung eines Tarifvertrags; VGH Mannheim, Urteil vom 8. März 2017 – 5 S 1044/15 –, DAR 2017, S. 652 (654) – Straßenverkehrsordnung.  Lediglich exemplarisch BVerwGE 51, 69 ff. – Verfassungsmäßigkeit von § 12 BWahlG.  Vgl. nur Seiler, DVBl. 2007, S. 538 (542 f.) sowie schon oben I.  BVerfGE 115, 81. Zu dem vorausgehenden „Ping-Pong-Verfahren“ zwischen Bundesverfassungs- und Bundesverwaltungsgericht Geis, in: Festschrift für Schenke, 2011, S. 709 (710 ff.).  Zum einen hatte bereits der Zweite Senat in seinem – kaum beachteten – Beschluss vom 18. Dezember 1985 mehrere Verfassungsbeschwerde gegen die Milch-Garantiemengen-Verordnung des Bundes wegen der umfassenden finanz- und verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutzmöglichkeiten als unzulässig verworfen (vgl. BVerfGE 71, 305 [338 ff.]). Zum anderen deutete sich der mit BVerfGE 115, 81 vollzogene Rechtsprechungswandel auch in der Kammerpraxis des Ersten

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eine Rechtsverordnung des Bundes wegen materieller Subsidiarität für unzulässig. Hintergrund war zum einen die Frage, ob der Bundesverordnungsgeber in einer Rechtsverordnung die Einwohner verschiedener Länder bei der Gewährung landwirtschaftlicher Ausgleichszahlungen unterschiedlich behandeln darf, und zum anderen, auf welchem Wege der Einzelne Rechtsschutz gegen eine Rechtsverordnung erlangen kann. Die dem Grundsatz der Subsidiarität zugrunde liegende Erwägung, zunächst dem sachnäheren Fachgericht die Kontrolle auch der Einhaltung der Verfassung zu überlassen,⁶⁸ sprach nach Ansicht des Senats dagegen, die Verfassungsbeschwerde für den Bereich der untergesetzlichen, rein materiellen Rechtsetzung als Primärrechtsschutz anzuerkennen. Dies gelte selbst dann, wenn die untergesetzliche Norm einer unmittelbaren verwaltungsgerichtlichen Kontrolle über § 47 VwGO nicht zugänglich sei, etwa weil es sich – wie in vorliegendem Verfahren – um eine Rechtsverordnung des Bundes handele.⁶⁹ Der von Art. 19 Abs. 4 GG gebotene Rechtsschutz gegen Rechtssätze habe zwar in der Regel durch die inzidente Überprüfung der Rechtmäßigkeit der untergesetzlichen Rechtsnorm im Rahmen von Verfahren gegen deren Anwendung im Einzelfall zu erfolgen.⁷⁰ Sei dies jedoch nicht möglich oder führe eine inzidente Prüfung allein nicht zur Beseitigung der Grundrechtsverletzung, so komme außerhalb des An-

Senats seit längerem an: So hatte die 1. Kammer des Ersten Senats Verfassungsbeschwerden gegen Rechtsverordnung des Bundes, namentlich die Fluglärmverordnung (Beschluss vom 2. April 1997– 1 BvR 446/96 –, NVwZ 1998, S. 169 f.), die Fahrerlaubnisverordnung (Beschluss vom 24. Februar 1999 – 1 BvR 167/99 –, NJW 1999, S. 2031), die Verpackungsverordnung (vgl. Beschluss vom 22. März 2000 – 1 BvR 1500/93 –, NVwZ-RR 2000, S. 473 f. und Beschluss vom 3. Juli 2001 – 1 BvR 1472/99 –, NVwZ-RR 2002, S. 1 f.) sowie die Nutztierhaltungsverordnung (Beschluss vom 18. Oktober 2004 – 1 BvR 2057/02 –, NVwZ 2005, S. 79 f.) wegen materieller Subsidiarität wiederholt nicht zur Entscheidung angenommen und in sämtlichen Verfahren eine Feststellungsklage vor den Verwaltungsgerichten als vorrangig angesehen, mit welcher die Feststellung begehrt wird, dass ein zwischen Kläger und Hoheitsträger bestehendes Rechtsverhältnis von der für nichtig gehaltenen Rechtsverordnung nicht begründet wird. Siehe nachgehend auch noch BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 10. April 2012 – 1 BvR 413/12 –, juris, Rn. 2 – UV-Schutz-Verordnung.  Siehe oben I.  Die verwaltungsgerichtliche Normenkontrolle ist auf die untergesetzlichen Rechtsnormen desjenigen Landes beschränkt, das in seinem Landesrecht von der Ermächtigung des § 47 Abs. 1 Nr. 2 VwGO Gebrauch gemacht hat, erfasst mithin weder Rechtsakte der Bundes noch eines anderen Landes, vgl. BVerwGE 154, 247 (249 Rn. 16); Meßerschmidt, JURA 2016, S. 747 (757).  Eingehend zum Vorrang der inzidenten verwaltungsgerichtlichen Kontrolle gegenüber der Rechtssatzverfassungsbeschwerde Kuntz, Der Rechtsschutz gegen unmittelbar wirkende Rechtsverordnungen des Bundes, 2001, S. 127 ff. und passim.

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wendungsbereichs von § 47 VwGO die Feststellungsklage als Rechtsschutzmittel in Betracht.⁷¹ Die Anerkennung eines solchen als „verkappte Normenkontrolle“⁷², „heimliche Normenkontrolle“⁷³ oder „atypische Feststellungsklage“⁷⁴ bezeichneten Rechtsbehelfs, der weder Raum für eine „Klageart sui generis“ noch für eine analoge Anwendung des § 47 VwGO lässt,⁷⁵ stelle keinen Bruch mit dem System des Rechtsschutzes in der VwGO dar und führe insbesondere nicht selbst zur Implementation einer dem Verwaltungsprozessrecht bislang unbekannten Klageart.⁷⁶ Sie rechtfertige sich im Hinblick auf die Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG vielmehr daraus, dass Streitgegenstand die Anwendung der Rechtsnorm auf einen bestimmten Sachverhalt sei, sodass die Frage nach der Rechtmäßigkeit der Norm lediglich als – wenn auch streitentscheidende – Vorfrage aufgeworfen werde.⁷⁷ Es handele sich daher bei einer solchen, auf Feststellung einer Rechtsverletzung gerichteten Klage gegen den Normgeber auch nicht um eine Umgehung der in § 47 VwGO nur für Landesrechtsverordnungen vorgesehenen prinzipalen Normenkontrolle. § 47 VwGO entfalte gegenüber der Überprüfung der Rechtmäßigkeit einer Rechtsverordnung im Wege der Feststellungsklage keine Sperrwirkung.⁷⁸ Hierdurch hat der Erste Senat die von § 47 VwGO belassene Rechtsschutzlücke in Bezug auf bundesrechtliche Verordnungen und Satzungen geschlossen. Die damit korrespondierende Frage der materiellen Subsidiarität aufgrund einer negativen Feststellungsklage wurde vom Zweiten Senat in einem nächsten Schritt auf die Kommunalverfassungsbeschwerde erstreckt.⁷⁹ Das Bundesverfassungsgericht drängte die Verwaltungsgerichte auf diese Weise dazu, den Weg einer

 BVerfGE 115, 81 (92 f.).  So noch BVerfGE 10, 89 (98) – Erftverband; zuletzt auch Rennert, DVBl. 2017, S. 857 (859).  Hufen, Verwaltungsprozessrecht, 10. Aufl. 2016, § 18 Rn. 8; im Anschluss an diesen auch Löwer, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band 3, 3. Aufl. 2005, § 70 Rn. 198; Mann/Wahrendorf,Verwaltungsprozessrecht, 4. Aufl. 2015, Rn. 297; Möstl, in: Posser/Wolff (Hrsg.), BeckOK-VwGO, § 43 Rn. 29 (Januar 2018); Weidemann, NVwZ 2006, S. 1259 (1260).  Terhechte, in: Fehling/Kastner/Störmer (Hrsg.), Verwaltungsrecht, 4. Aufl. 2016, VwGO, § 43 Rn. 18, m.w. N.; Fellenberg/Karpenstein, NVwZ 2006, S. 1133 (1134 f.); Seiler, DVBl. 2007, S. 538 (539); Schenke, NVwZ 2016, S. 720 (725 ff.); Engels, NVwZ 2018, S. 1001 ff.  Zu beiden Ansätzen jeweils m.w.N. Pils, JA 2011, S. 113 (114).  Siehe aber Geis, in: Festschrift für Schenke, 2011, S. 709 (718): „ein Fremdkörper im Rechtsschutzsystem der VwGO“.  BVerfGE 115, 81 (95), unter Verweis auf BVerwGE 111, 276 (278 f.).  BVerfGE 115, 81 (95), unter Verweis auf BVerwGE 111, 276 (278); zustimmend Weidemann, VerwArch 98 (2007), S. 523 (528); Pils, JA 2011, S. 113 (115).  BVerfGK 16, 396 (402) – Seeanlagenverordnung.

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fachgerichtlichen Kontrolle untergesetzlicher Normen des Bundes- wie des Landesrechts (außerhalb des BauGB) über die verwaltungsgerichtliche Feststellungsklage nach § 43 VwGO zu öffnen. Damit wollte es zugleich verhindern, als „erstinstanzliche[s] Verordnungsüberprüfungsgericht“⁸⁰ instrumentalisiert und namentlich aus denjenigen Bundesländern mit Verfassungsbeschwerden „überflutet“ zu werden, die von § 47 Abs. 1 Nr. 2 VwGO keinen Gebrauch gemacht haben.⁸¹ Diese Befürchtung hatte schon zuvor für das sozialgerichtliche Verfahren, in welchem es lange an einer § 47 VwGO entsprechenden Regelung mangelte (jetzt § 55a SGG⁸²), Früchte getragen und dazu geführt, dass das Bundessozialgericht die Feststellungsklage (§ 55 SGG) gegen den untergesetzlichen Normgeber bereits mit Urteil vom 13. Januar 1993 und damit deutlich früher als die Verwaltungsgerichte anerkannte.⁸³ Auch die Verwaltungsgerichtsbarkeit zog hieraus Konsequenzen und erstreckte den Rechtsschutz über § 43 VwGO zunächst auf Rechtsverordnungen des Bundes.⁸⁴ Dabei blieb es jedoch nicht: Vielmehr wurde BVerfGE 115, 81 nur als notwendiger „Zwischenschritt zur Erstreckung des Art. 19 Abs. 4 GG auf alle Normgebungsakte“⁸⁵ gelesen und ermöglichen die Verwaltungsgerichte mittlerweile – jeweils angestoßen durch die nachfolgend darzustellende Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts – Rechtsschutz im Wege der negativen Feststellungsklage auch gegen formelle Landes- und Bundesgesetze.

 Engels, NVwZ 2018, S. 1001 (1007).  Insofern die Feststellungsklage nach § 43 VwGO als vorrangigen fachgerichtlichen Rechtsbehelf gegen eine Hundeverordnung des Landes Nordrhein-Westfalen stark machend, das keine Normenkontrolle nach § 47 Abs. 1 Nr. 2 VwGO kennt, BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 18. August 2000 – 1 BvR 1329/00 u. a. –, NVwZ 2000, S. 1407 (1408).  Eingefügt mit Wirkung vom 1. April 2011 durch das Gesetz zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch vom 24. März 2011, BGBl. I S. 453.  BSGE 72, 15 ff. – Klage auf Feststellung der Unwirksamkeit im Kassenzahnarztrecht vereinbarter Rechtsnormen, unter Verweis auf BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 20. September 1991 – 1 BvR 879/90 –, NJW 1992, S. 735 (735 f.); dazu Axer, NZS 1997, S. 10 (11 ff.); siehe auch BSGE 96, 61 ff. – Therapiehinweise des Gemeinsamen Bundesauschusses; 110, 20 ff. – Arzneimittel-Richtlinie.  Grundlegend BVerwGE 111, 276 – Flugrouten; ferner BVerwGE 136, 54 ff. – Mindestlohn in der Briefdienstleistungsbranche; BVerwG, Urteil vom 30. September 1999 – 3 C 39/98 –, DVBl. 2000, S. 636 f. – Frischzellenverordnung; Urteil vom 23. August 2007– 7 C 13/06 –, NVwZ 2007, S. 1311 ff. – Verpackungsverordnung; zusammenfassend zur verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung Engels, NVwZ 2018, S. 1001 ff.  Schenke, JZ 2006, S. 1004 (1004).

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bb) Feststellungsklage gegen formelle Landesgesetze Bereits vor der Entscheidung im 115. Band hatte der Erste Senat verwaltungsgerichtliche Rechtsschutzmöglichkeiten zur Voraussetzung einer Verfassungsbeschwerde gegen formelle Landesgesetze gemacht. In BVerfGE 74, 69 ging es um das Prüfungsrecht eines Landesrechnungshofes nach der Landeshaushaltsordnung. Der Erste Senat verwarf die unmittelbar gegen § 111 Abs. 3 LHO BW gerichtete Gesetzesverfassungsbeschwerde als unzulässig, weil verwaltungsgerichtlicher Rechtsschutz sowohl in Form der Unterlassungsklage gegen die Aufforderung des Rechnungshofes in Betracht komme, ihm Unterlagen zu übersenden oder Auskünfte zu erteilen, als auch im Wege einer Klage nach § 43 Abs. 1 VwGO gerichtet auf die Feststellung, „daß ein Prüfungsrecht des Rechnungshofes nicht besteht“.⁸⁶ In BVerfGE 102, 197 standen Vorschriften des Spielbankengesetzes BadenWürttemberg im Rahmen einer unmittelbaren Rechtssatzverfassungsbeschwerde zur Überprüfung. Der Erste Senat hielt die Verfassungsbeschwerde nach eingehender Prüfung des Grundsatzes der Subsidiarität jedoch insoweit für zulässig, weil die betreffenden Rechtsvorschriften den Behörden keinen Ermessens- oder Beurteilungsspielraum einräumten, mit der Folge, dass der Misserfolg eines von den Beschwerdeführern betriebenen Verwaltungs- und Verwaltungsstreitverfahrens deshalb von vornherein festgestanden habe.⁸⁷ In übereinstimmender Weise argumentierte der Erste Senat noch in BVerfGE 138, 261 mit Blick auf die Zulässigkeit der Gesetzesverfassungsbeschwerde gegen das Thüringische Ladenöffnungsgesetz, ohne hierbei die verwaltungsgerichtliche Feststellungsklage als fachgerichtliche Rechtsschutzmöglichkeit explizit zu nennen.⁸⁸ In seiner Entscheidung vom 3. März 2017 hinsichtlich der Regulierung des Spielhallensektors in Berlin, Bayern und im Saarland wurde der Senat dafür umso deutlicher: In BVerfGE 145, 20 hielt er einen Teil der gegen die Landesnormen gerichteten Verfassungsbeschwerden schon deshalb für unzulässig, weil die Beschwerdeführerinnen nicht ausreichend dargelegt hätten, warum ihnen nicht zumutbar gewesen sei, „vorbeugend eine mit Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz verbundene negative Feststellungsklage gemäß § 43 VwGO gegen die individuelle Verbindlichkeit der angegriffenen Verbote und Verpflichtungen zu erheben“.⁸⁹ Zwar waren die streitgegenständlichen landesrechtlichen Normen zum

 BVerfGE 74, 69 (76).  BVerfGE 102, 197 (208).  Vgl. BVerfGE 138, 261 (271 f. Rn. 23 f.). Darauf verzichtete auch der Landesverfassungsgerichtshof in seiner Parallelentscheidung, vgl. ThürVerfGH, Beschluss vom 7. Dezember 2016 – VerfGH 28/12 –, juris, Rn. 50 ff., mit Anm. Sachs, JuS 2017, S. 1039 f.  BVerfGE 145, 20 (55 Rn. 86).

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überwiegenden Teil bußgeldbewehrt und damit eigentlich eine anerkannte Ausnahme vom Grundsatz der Subsidiarität gegeben,⁹⁰ auf die sich die Beschwerdeführerinnen auch ausdrücklich beriefen.⁹¹ Diesen Einwand konterte der Senat jedoch mit einer weiteren Ausdehnung des Subsidiaritätserfordernisses: Eine Gesetzesverfassungsbeschwerde genügt danach „auch dann nicht dem Grundsatz der Subsidiarität, wenn die Möglichkeit besteht, fachgerichtlichen Rechtsschutz außerhalb eines Straf- oder Bußgeldverfahrens zu erlangen“.⁹² Was damit gemeint ist, hatte bereits die 2. Kammer des Ersten Senats in ihrem Beschluss vom 16. Juli 2015 über die Rechtssatzverfassungsbeschwerde gegen das Hessische Spielhallengesetz deutlich gemacht:⁹³ Der Subsidiaritätsgrundsatz verlange zwar nicht, dass der Betreffende vor Erhebung einer Verfassungsbeschwerde gegen eine straf- oder bußgeldbewehrte Rechtsnorm verstoßen und sich dem Risiko einer entsprechenden Ahndung aussetzen müsse, um dann im Straf- oder Bußgeldverfahren die Verfassungswidrigkeit der Norm geltend machen zu können. Er könne jedoch mithilfe der negativen Feststellungsklage vor den Verwaltungsgerichten fachgerichtlichen Rechtsschutz gegen die angegriffenen Verpflichtungen erreichen, ohne sich der Gefahr einer Verfolgung wegen einer Ordnungswidrigkeit aussetzen zu müssen. Er sei also nicht darauf angewiesen, zunächst gegen die angegriffenen Verpflichtungen zu verstoßen, um dann im Rahmen des Bußgeldverfahrens die Verfassungswidrigkeit der zugrundeliegenden Normen geltend machen zu können.Vielmehr könne die während des laufenden fachgerichtlichen Verfahrens bestehende Gefahr der Verfolgung wegen einer Ordnungswidrigkeit im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes gemäß § 123 Abs. 1 VwGO abgewendet werden.⁹⁴ Die Lösung besteht hiernach in einer Antragshäufung von vorbeugender negativer Feststellungsklage einerseits und vorläufigem vorbeugenden Rechtsschutz andererseits. Letzterer kann sich nach verwaltungsgerichtlicher Rechtsprechung ausnahmsweise gegen den Vollzug eines Gesetzes und insbesondere den Erlass von Bußgeldbescheiden richten und auf § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO gestützt werden.⁹⁵  Siehe oben 1.  BVerfGE 145, 20 (38 Rn. 28).  BVerfGE 145, 20 (54 Rn. 85); aufgegriffen von BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 19. November 2018 – 1 BvR 1335/18 –, juris, Rn. 4 f. – Geldwäschegesetz.  BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 16. Juli 2015 – 1 BvR 1014/13 –, NVwZRR 2016, S. 1 (1 ff.).  Bestätigt zuletzt von BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 26. Februar 2018 – 1 BvQ 6/18 –, juris, Rn. 4, mit Blick auf das bußgeldbewehrte Verbot der Gesichtsverhüllung nach § 23 Abs. 4 Satz 1 i.V. m. § 49 Abs. 1 Nr. 22 StVO.  Siehe VGH München, Beschluss vom 30. November 2010 – 9 CE 10.2468 –, juris, Rn. 17 ff.; dazu auch Detterbeck, AöR 136 (2011), S. 222 (262 f.).

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Diese Eingrenzung der Damokles-Rechtsprechung lässt sich auf die Einleitung strafrechtlicher Ermittlungen nicht übertragen: Selbst wenn man ohne eine konkrete Androhung eines strafrechtlichen Verfahrens bzw. ohne einen bestimmten Vorwurf eines strafbaren Verhaltens allein das allgemeine materielle Sanktionsvermeidungsinteresse des Betroffenen für die Annahme eines qualifizierten Rechtschutzinteresses für eine vorbeugende Feststellung ausreichen ließe, wären weder Staatsanwaltschaft noch Strafgericht bei der Beurteilung einer etwaigen Strafbarkeit formell oder materiell an die verwaltungsgerichtliche Entscheidung zum Nichtbestehen der streitbefangenen Pflichten gebunden und ergäbe sich das qualifizierte Rechtsschutzinteresse insoweit allein aus dem Einfluss, den die verwaltungsgerichtliche Entscheidung auf die strafrechtliche Beurteilung und insbesondere die Beurteilung der Schuldfrage durch die Staatsanwaltschaft bzw. das Strafgericht haben kann.⁹⁶

cc) Feststellungsklage gegen formelle Bundesgesetze? Ob eine fachgerichtliche Feststellungsklage als Subsidiaritätsanforderung auch für Rechtssatzverfassungsbeschwerden gegen formelle Bundesgesetze zu erheben ist, scheint demgegenüber in der Senatsrechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts noch nicht abschließend geklärt zu sein. Jedoch ist kein sachlicher Grund erkennbar, warum hier andere Vorgaben gelten sollten als hinsichtlich des fachgerichtlichen Rechtsschutzes gegen Landesparlamentsgesetze. Die Frage, ob fachgerichtlich eingeräumter Rechtsschutz gegen die Tätigkeit des formellen Gesetzgebers die Subsidiaritätsanforderungen an eine Rechtssatzverfassungsbeschwerde steigen lässt, ist dabei streng zu trennen von der – hier insofern nicht weiter interessierenden – Frage, ob dieser Rechtsschutz verfassungsrechtlich geboten ist: Während Art. 19 Abs. 4 GG gegen materielle Gesetze der Exekutive (Verordnungen, Satzungen) einen Anspruch auf Individualrechtsschutz einräumt,⁹⁷ soll der Begriff der „öffentlichen Gewalt“ das Parlamentsgesetz gerade nicht erfassen.⁹⁸

 Eingehend OVG Münster, Beschluss vom 25. August 2017 – 13 B 762/17 –, NVwZ-RR 2018, S. 54 (57 f.), m.w. N.; vgl. auch Engels, NVwZ 2018, S. 1001 (1006 f.).  Siehe oben aa).  Str., vgl. BVerfGE 24, 33 (50) – AKU-Beschluss: „Hätte das Grundgesetz mit dieser Tradition brechen und durch Art. 19 Abs. 4 GG eine Klage des Bürgers unmittelbar gegen vom Parlament beschlossene Gesetze wegen Verletzung seiner Rechte einführen wollen, so hätte dies eindeutig zum Ausdruck gebracht werden müssen“; aus der Literatur auch Enders, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), BeckOK-GG, Art. 19 Rn. 59 (November 2018); Jarass, in: ders./Pieroth, GG, 15. Aufl. 2018, Art. 19 Rn. 44. Demgegenüber sieht die heute herrschende Lehre die parlamentarische Gesetz-

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Die Verfassungsbeschwerden gegen das Tarifeinheitsgesetz (BVerfGE 146, 71) hielt der Erste Senat auch unter dem Grundsatz der Subsidiarität für zulässig.⁹⁹ Das Gesetz werfe zwar zahlreiche fachrechtliche Fragen auf, die, da der Fall einer Tarifkollision bisher vermieden worden sei, fachgerichtlich noch nicht geklärt seien. Unter Verweis auf die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts kam das Bundesverfassungsgericht jedoch zu der Einschätzung, dass insbesondere eine arbeitsgerichtliche Klage auf Feststellung (§ 46 Abs. 2 Satz 1 ArbGG, § 256 ZPO) der Anwendung eines Tarifvertrags im Betrieb nicht geboten sei. Im Atomausstiegsverfahren (BVerfGE 143, 246) zog sich der Erste Senat auf eine sehr schlanke Lesart des § 43 Abs. 1 VwGO zurück: Demnach sei die allein in Frage kommende Feststellungsklage vor den Verwaltungsgerichten im Zusammenhang mit dem Angriff gegen ein Gesetz zwar nicht von vornherein ausgeschlossen, setze aber zumindest die Feststellungsfähigkeit eines konkreten Rechtsverhältnisses voraus. Ein sinnvoller Feststellungsantrag, der über die den Verwaltungsgerichten in jedem Fall verwehrte Feststellung der Verfassungswidrigkeit der angegriffenen Normen hinaus ginge und diese gleichwohl zum Gegenstand der Klärung eines konkreten Rechtsverhältnisses machte, sei hier allerdings nicht erkennbar.¹⁰⁰ Die Gesetzesverfassungsbeschwerden gegen das „Bestellerprinzip“ bei Maklerprovisionen (BVerfGE 142, 268) waren nach Ansicht des Ersten Senats ebenfalls zulässig. Den Beschwerdeführern sei nicht zumutbar gewesen, sich zunächst um eine Klärung im fachgerichtlichen Verfahren zu bemühen, weil sie sich hiermit der Gefahr eines Bußgeldverfahrens aussetzen müssten.Würden sie ihre bisherige Vertragspraxis zur Provisionsverpflichtung der Wohnungsuchenden trotz des Verbots in § 2 Abs. 1a Wohnungsvermittlungsgesetz (WoVermittG) fortführen, so könnten sie sich damit einer Ordnungswidrigkeit nach § 8 Abs. 1 Nr. 1 WoVermittG schuldig machen.¹⁰¹ Eine Möglichkeit, fachgerichtlichen Rechtsschutz außerhalb des Bußgeldverfahrens zu erlangen, wie sie der Senat im Verfahren zu den Landesspielhallengesetzen ausmachte,¹⁰² bestand in Bezug auf das „Bestellerprinzip“ offenbar nicht: Das Recht der Wohnungsvermittlung ist Teil des Makler- und

gebung als Ausübung öffentlicher Gewalt im Sinne des Art. 19 Abs. 4 GG an, vgl. nur SchmidtAßmann, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), GG, Art. 19 Abs. 4 Rn. 93 (72. Erg.-Lfg. Juli 2014); Huber, in: ders./Voßkuhle (Hrsg.), vMKS-GG, 7. Aufl. 2018, Art. 19 Rn. 435; Bettermann, AöR 86 (1961), S. 129 (153 ff.); Schenke, JZ 2006, S. 1004 (1005 ff.); ders., NJW 2017, S. 1062 (1064 ff.); Seiler, DVBl. 2007, S. 538 (540 f.), jeweils m.w.N.  BVerfGE 146, 71 (111 f. Rn. 118 ff.).  BVerfGE 143, 246 (321 f. Rn. 210).  BVerfGE 142, 268 (280 Rn. 44).  Siehe oben bb).

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damit des Besonderen Schuldrechts,¹⁰³ Streitigkeiten aufgrund dieses Gesetzes sind folglich vor den ordentlichen Gerichten auszutragen (§ 13 GVG). Weder stand den beschwerdeführenden Immobilienmaklern hiernach eine sinnvolle Feststellungsklage nach § 256 ZPO noch eine vorläufige vorbeugende Rechtsschutzmöglichkeit gegen die drohenden Bußgeldbescheide zu.

c) Kammerrechtsprechung In der Rechtsprechung der Kammern des Ersten Senats scheint hingegen die fachgerichtliche Feststellungsklage gegen formelle Bundesgesetze als Subsidiaritätserfordernis allgemein anerkannt zu sein.¹⁰⁴ Mit Beschluss vom 29. März 1999 lehnte die 1. Kammer des Ersten Senats die Annahme einer unmittelbar gegen den damaligen § 7a Abs. 2 Satz 1 BörsG gerichteten Verfassungsbeschwerde einer Aktiengesellschaft ab. Die Frage der Verfassungsmäßigkeit der angegriffenen Vorschrift und deren einfach-rechtlicher Inhalt (Pflicht zur Gestattung der Einführung des elektronischen Börsensystems XETRA) müsse nach dem Grundsatz der materiellen Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde einer Vorklärung durch die allgemein zuständigen Gerichte zugeführt werden. In Betracht komme eine negative Feststellungsklage – wobei die Kammer ausdrücklich offen ließ, ob diese vor den Zivil- (§ 256 Abs. 1 ZPO) oder den Verwaltungsgerichten (§ 43 Abs. 1 Var. 2 VwGO) zu führen sei – mit dem Ziel einer Feststellung, dass der von der Börse geltend gemachte Anspruch gegen die Beschwerdeführerin nicht bestehe.¹⁰⁵ Im Jahr 2004 hielt die 3. Kammer des Ersten Senats eine Verfassungsbeschwerde, die unmittelbar auf die Verfassungswidrigkeit einer Vorschrift im Verfütterungsverbotsgesetz des Bundes¹⁰⁶ abzielte, für unzulässig, weil eine vor den

 Schellhammer, Schuldrecht nach Anspruchsgrundlagen, 9. Aufl. 2014, Rn. 169, 572. Siehe auch BVerfGE 142, 268 (283 Rn. 54): „Bei den Vorschriften des Wohnungsvermittlungsgesetzes handelt es sich um Spezialnormen in einem Nebengesetz zum Maklerrecht des BGB“.  Für das Erfordernis der Feststellungsklage gegen Landesparlamentsgesetze vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 21. Januar 1999 – 1 BvR 2077/98 –, NVwZ 1999, S. 867 (868) – Hessisches Hochschulgesetz; Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 20. September 2007 – 1 BvR 816/07 –, juris, Rn. 3 – Hamburgisches Denkmalschutzgesetz; Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 16. Juli 2015 – 1 BvR 1014/13 –, NVwZ-RR 2016, S. 1 ff. – Hessisches Spielhallengesetz.  BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 29. März 1999 – 1 BvR 295/99 –, juris, Rn. 7.  BGBl. 2001 I, S. 463, aufgehoben mit Wirkung vom 7. September 2005 durch Art. 7 Nr. 11 des Gesetzes zur Neuordnung des Lebensmittel- und Futtermittelrechts, BGBl. 2005 I, S. 2618 (2666).

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Verwaltungsgerichten zu erhebende Feststellungsklage mit dem Ziel, festzustellen, dass die Beschwerdeführerin weiterhin berechtigt sei, die vor Inkrafttreten des in der angegriffenen Norm geregelten Verbringungs- und Ausfuhrverbots ausgeübten unternehmerischen Tätigkeiten fortzuführen, nicht offensichtlich unzulässig gewesen sei.¹⁰⁷ Zwar seien die Verwaltungsgerichte mit Blick auf Art. 100 Abs. 1 GG gehindert, die mit der Verfassungsbeschwerde angegriffene Vorschrift selbst für verfassungswidrig zu erklären. Indes könnten bei der Rechtsanwendung durch die sachnäheren Fachgerichte auf Grund deren besonderen Sachverstands möglicherweise für die verfassungsrechtliche Prüfung erhebliche Tatsachen zu Tage gefördert und damit dem Grundsatz der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde gedient werden. Die Verwaltungsgerichte seien zur Abwendung schwerer und unabwendbarer Nachteile durch Art. 100 Abs. 1 GG auch nicht gehindert, vor der einzuholenden Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vorläufigen Rechtsschutz zu gewähren. Mit Beschluss vom 26. März 2009 nahm die 3. Kammer des Ersten Senats die Verfassungsbeschwerde eines Aktionärs gegen Vorschriften des Finanzmarktstabilisierungsgesetzes sowie der Finanzmarktstabilisierungsfonds-Verordnung nicht zur Entscheidung an, die die Möglichkeit einer Beteiligung des Finanzmarktstabilisierungsfonds an der Rekapitalisierung von Unternehmen des Finanzsektors vorsahen.¹⁰⁸ Nach Auffassung der Kammer bestand die vorrangig zu ergreifende Möglichkeit einer Klage zu den ordentlichen Gerichten, in deren Rahmen es zu einer wenn auch nicht prinzipalen, so aber doch inzidenten Kontrolle der angegriffenen Vorschriften kommen konnte. Zum einen habe ein Aktionär vor der Eintragung der Kapitalerhöhung in das Handelsregister die Entscheidungen des Vorstands und des Aufsichtsrats, und damit inzident auch die zu Grunde liegenden Vorschriften über ein gesetzlich genehmigtes Kapital, zivilprozessual im Wege einer (vorbeugenden) Unterlassungsklage zur Prüfung stellen können. Zum anderen sei auch nach Vollzug der Handelsregisteranmeldung eine inzidente Kontrolle der streitgegenständlichen § 3 und § 5 FMStFG im Rahmen einer allgemeinen Feststellungsklage nach § 256 ZPO weiter möglich gewesen.¹⁰⁹ In einem jüngeren Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 25. Juni 2015 wurden drei verbundene Verfassungsbeschwerden gegen Vorschriften des Mindestlohngesetzes (MiLoG) als unzulässig wegen Verstoßes gegen den Grund-

 BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 25. Februar 2004 – 1 BvR 2016/01 –, NVwZ 2004, S. 977 (979).  BVerfGK 15, 306 ff.  BVerfGK 15, 306 (313).

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satz der Subsidiarität abgewiesen.¹¹⁰ Es sei zwar unzumutbar, zur Eröffnung des fachgerichtlichen Rechtswegs gegen die bußgeldbewehrten Pflichten aus dem Mindestlohngesetz zu verstoßen, um auf diese Weise eine Prüfung der angegriffenen Normen in einem Ordnungswidrigkeitenverfahren zu ermöglichen. Der Grundsatz der Subsidiarität reiche jedoch weiter. Vorliegend bestehe die Möglichkeit, vor den Fachgerichten auf Feststellung zu klagen, nicht zu den nach §§ 16, 17 Abs. 2 und § 20 MiLoG (Melde-, Dokumentations- und Zahlungspflicht) gebotenen Handlungen verpflichtet zu sein. Diese Verweisung auf den fachgerichtlichen Rechtsweg sei weder sinn- noch aussichtslos und erweise sich auch sonst nicht als unzumutbar. Entsprechende negative Feststellungsklagen seien nicht von vornherein unzulässig. Es liege vielmehr nahe, dass die Fachgerichte hier ein berechtigtes rechtliches Interesse an der Feststellung des Bestehens oder Nichtbestehens eines Rechtsverhältnisses als gegeben ansähen. Dieses ergebe sich daraus, dass die Auslegung und Anwendung des Mindestlohngesetzes mit Blick auf das Verhältnis der Beschwerdeführer zu ihren abhängig Beschäftigten und den staatlichen Behörden ungeklärt sei. Diese Unklarheit erwachse aus den in der Fachliteratur umstrittenen Fragen, was unter einer Beschäftigung im Inland nach § 20 MiLoG zu verstehen und ob die Mindestlohnpflicht für ausländische Unternehmen der Transportbranche mit Unionsrecht vereinbar sei. Zur Vermeidung von Nachteilen während des laufenden Verfahrens könne vorläufiger Rechtsschutz der Fachgerichte in Anspruch genommen werden.¹¹¹ Die Möglichkeit der verwaltungsgerichtlichen (negativen) Feststellungsklage war schließlich auch der Grund, weshalb die 1. Kammer des Ersten Senats in ihren Beschlüssen vom 28. Januar 2014 sowie vom 19. November 2018 Verfassungsbeschwerden gegen das präventive Verbot mit Erlaubnisvorbehalt für das Ausbringen gebietsfremder Pflanzen nach § 40 Abs. 4 BNatSchG a. F. bzw. gegen die Sorgfaltspflichten nach dem Geldwäschegesetz (§§ 10 ff. GwG) jeweils nicht zur Entscheidung annahm.¹¹²

 BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 25. Juni 2015 – 1 BvR 555/15 –, NJW 2015, S. 2242 (2243); zu den Möglichkeiten einer Inzidentkontrolle des Mindestlohngesetzes im Einzelnen Löwisch, NZA 2014, S. 948 (949 ff.).  BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 25. Juni 2015 – 1 BvR 555/15 –, NJW 2015, S. 2242 (2243).  BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 28. Januar 2014 – 1 BvR 573/11 –, NVwZ-RR 2014, S. 537 (538) – Bundesnaturschutzgesetz; Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 19. November 2018 – 1 BvR 1335/18 –, juris, Rn. 3 ff. – Geldwäschegesetz.

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3. Zwischenergebnis: Das grundsätzliche Erfordernis der negativen Feststellungsklage als Subsidiaritätsanforderung Betrachtet man die Senats- und Kammerrechtsprechung, dürfte die Erhebung einer negativen Feststellungsklage im Sinne des § 43 Abs. 1 Var. 2 VwGO schon heute grundsätzlich zu den nach § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG zu wahrenden Subsidiaritätsanforderungen im Rahmen einer Rechtssatzverfassungsbeschwerde gehören.¹¹³ Es scheint nur noch eine Frage der Zeit zu sein, bis ein Senat diese Zulässigkeitshürde bei Verfassungsbeschwerden gegen formelle Bundesgesetze ausdrücklich aktiviert und damit die negative Feststellungsklage als „allgemeine Normenabwehrklage“ instrumentiert. Hinzu kommt, dass sich Beschwerdeführer neuerdings auch dann auf den Weg einer fachgerichtlichen Inzidentkontrolle der angefochtenen Normen verweisen lassen müssen, wenn diese bußgeldbewehrt sind, sich das Risiko einer entsprechenden Ahndung jedoch im Wege des vorläufigen vorbeugenden Rechtsschutzes abwenden lässt. Diese Effektuierung des Subsidiaritätsgrundsatzes dürfte sowohl auf der anhaltend hohen Verfahrensbelastung des Bundesverfassungsgerichts als auch auf der bereits oben beschriebenen Emanzipationstendenz der Verwaltungsgerichte beruhen. Welche Wege vor Erhebung einer Verfassungsbeschwerde zu beschreiten sind, richtet sich zwar unmittelbar nach Verfassungsprozessrecht, dieses verweist dabei aber auf die Rechtsmittel und sonstigen Rechtsbehelfe, die das einfache Recht und dessen Auslegung durch die Fachgerichte kennt.¹¹⁴ Ob der Sache nach die unmittelbaren Wirkungen eines Gesetzes vor den Fachgerichten geltend gemacht werden können, unterliegt insoweit auch der Entwicklung des einfachen Prozessrechts. Wenn namentlich die Verwaltungsgerichte die Feststellungsklage und den Begriff des feststellungsfähigen Rechtsverhältnisses im Sinne des § 43 Abs. 1 VwGO soweit auslegen, dass darüber – zumindest der Sache nach – die unmittelbaren Wirkungen eines Gesetzes von den jeweils Betroffenen geprüft werden können,¹¹⁵ so müssen solche Rechtsmittel aus der Perspektive des § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG grundsätzlich ergriffen werden. Dies gilt auch dann, wenn zwar unklar ist, aber zumindest ernsthafte Chancen bestehen, ob und dass auf diese Weise eine Prüfung herbeigeführt werden kann. Selbstverständlich sind in

 Wie hier Niesler, in: Walter/Grünewald (Hrsg.), BeckOK-BVerfGG, § 90 Abs. 2 Rn. 83 (Dezember 2018); vgl. zuletzt auch Friedrich, NVwZ 2018, S. 1007 (1011), der davon ausgeht, dass die Feststellungsklage aktuell „an Aufmerksamkeit und Bedeutung“ gewinnt, „weil sie im Einzelfall eine inzidente Normenkontrolle ermöglicht“; zweifelnd und hierfür letztlich eine Änderung der VwGO verlangend Weidemann, VerwArch 98 (2007), S. 523 (542).  Zu diesem Wechselspiel schon oben II.  Siehe oben III. 2. a).

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einem förmlichen Sinne nicht das Gesetz als solches und seine Verfassungsmäßigkeit Gegenstand der fachgerichtlichen Prüfung, sondern nur die sich aus dem Gesetz für den konkreten Fall ergebenden Rechtswirkungen für den Kläger. Gegen eben jene Wirkungen aber wehrt sich typischerweise auch ein Beschwerdeführer, wenn er sich mit einer Verfassungsbeschwerde gegen das Gesetz selbst wendet. Inzidente und prinzipale Normenkontrolle liegen damit nicht so weit auseinander, wie es oftmals den Anschein hat.¹¹⁶ Die aufgezeigten Anforderungen des Subsidiaritätsgrundsatzes sowie die hieraus zu ziehenden prozessualen Folgerungen gelten nicht nur für die fachgerichtliche Feststellungsklage, sondern sind auf prozessuale Äquivalente zu erstecken.¹¹⁷ Die in der VwGO nicht explizit geregelte Unterlassungsklage als Unterfall der allgemeinen Leistungsklage¹¹⁸ steht nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts in Konstellationen wie der vorliegenden in einem Alternativitätsverhältnis zur negativen Feststellungsklage, da von einer Behörde – jedenfalls in aller Regel¹¹⁹ – zu erwarten ist, dass sie auch ohne Vollstreckbarkeit dem Rechtserkenntnis nachkommen werde.¹²⁰ Funktional erfüllt sie die Aufgabe der Feststellungsklage. Auch insoweit verweist der Grundsatz der Subsidiarität

 Von „Annäherungstendenzen beider Ebenen“ spricht Seiler, DVBl. 2007, S. 538 (543).  Vgl. zum Gleichlauf von verwaltungsgerichtlicher Feststellungs- und Unterlassungsklage im hier interessierenden Kontext bereits BVerfGE 74, 69 (76); BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 21. Januar 1999 – 1 BvR 2077/98 –, NVwZ 1999, S. 867 (868); für die Konkurrenz von zivilprozessualer Feststellungs- und Unterlassungsklage vgl. demgegenüber BVerfGK 15, 306 (312 f.).  Siehe oben I.  Der Fall der Stadt Wetzlar, welche die vorausgehenden verwaltungsgerichtlichen Entscheidungen – samt Androhung und Festsetzung eines Zwangsgelds – und eine einstweilige Anordnung des Bundesverfassungsgerichts offensiv ignorierte, in welcher ihr aufgegeben wurde, ihre Stadthalle für eine Wahlkampfveranstaltung der NPD zu überlassen, dürfte weitgehend beispiellos sein, vgl. dazu BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 24. März 2018 – 1 BvQ 18/18 –, juris. Nach Aufforderung des Bundesverfassungsgerichts (vgl. Pressemitteilung Nr. 16/2018 vom 26. März 2018) hat die Kommunalaufsichtsbehörde den Sachverhalt aufgeklärt und dem Gericht darüber Bericht erstattet, wonach bei der Stadt Wetzlar offensichtlich „Fehlvorstellungen über die Bindungskraft richterlicher Entscheidungen und den noch verbleibenden Spielraum für eigenes Handeln“ bestanden (vgl. Pressemitteilung Nr. 26/2018 vom 20. April 2018, jeweils abrufbar unter www.bverfg.de).  Vgl. BVerwGE 40, 323 (327); 51, 69 ff.; a.A. Schenke, in: Kopp/Schenke, VwGO, 24. Aufl. 2018, § 43 Rn. 28: vorbeugende Unterlassungsklage schließt negative (vorbeugende) Feststellungsklage über die Subsidiaritätsklausel des § 43 Abs. 2 Satz 1 VwGO aus; zum Verhältnis von Feststellungsund allgemeiner Leistungsklage eingehend auch Pietzcker, in: Schoch/Schneider/Bier (Hrsg.), VwGO, § 43 Rn. 42 ff. (17. Erg.-Lfg. Oktober 2008), m.w. N.

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auf das einfache Prozessrecht. Die Frage, welche Klageart fachrechtlich Rechtschutz gegen Rechtsnormen gewährt, ist verfassungsprozessrechtlich irrelevant.

IV. Prozessuale Folgerungen 1. Ausweitung der Rügeobliegenheit im fachgerichtlichen Verfahren (§ 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG) Rechnet man die negative Feststellungsklage und ihre Äquivalente zu den prinzipiell zu wahrenden Subsidiaritätsanforderungen im Rahmen einer Gesetzesverfassungsbeschwerde, geht damit zwangsläufig eine Ausweitung der Rügeobliegenheit im fachgerichtlichen Verfahren einher. Der Vortrag des potentiellen Beschwerdeführers im fachgerichtlichen Verfahren muss die Feststellung ermöglichen, dass wegen Verfassungswidrigkeit einer Rechtsnorm kein Rechtsverhältnis zu einem anderen Beteiligten begründet ist. Diese Obliegenheit folgt unmittelbar aus dem Erfordernis der materiellen Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde¹²¹ und nicht etwa aus der Regelung des § 92 BVerfGG, die – ebenso wenig wie andere Vorschriften des BVerfGG oder der Prozessordnungen der Fachgerichte – für eine Rügeobliegenheit des Beschwerdeführers im Ausgangsverfahren herangezogen werden kann.¹²² Zwar ist es auch nach der grundlegenden Entscheidung des Ersten Senats in Sachen Opferentschädigungsgesetz nach dem Grundsatz der materiellen Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde nicht gefordert, dass ein Beschwerdeführer bereits das fachgerichtliche Verfahren als „Verfassungsprozess“ führt.¹²³ Etwas anderes gilt jedoch in Fällen, in denen bei verständiger Einschätzung der Rechtslage und der jeweiligen verfahrensrechtlichen Situation ein Begehren nur Aussicht auf Erfolg haben kann, wenn verfassungsrechtliche Erwägungen in das fachgerichtliche Verfahren eingeführt werden. Ein solcher Fall, nach welchem der Ausgang des Verfahrens von der

 Vgl. nur BVerfGE 83, 216 (228); 84, 203 (208).  Barczak, in: ders. (Hrsg.), Mitarbeiterkommentar zum BVerfGG, 2018, § 92 Rn. 49; O’Sullivan, DVBl. 2005, S. 880 (884).  BVerfGE 112, 50 (61 f.) – Opferentschädigungsgesetz; vgl. auch O. Klein, in: Benda/E. Klein/ O. Klein, Verfassungsprozessrecht, 3. Aufl. 2012, Rn. 585; Posser, Die Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde, 1993, S. 199; Bender, NJW 1988, S. 808 (809); Linke, NJW 2005, S. 2190 ff.; mit grundsätzlicher Kritik an entsprechenden Rügelasten im fachgerichtlichen Verfahren auch Pestalozza, Die echte Verfassungsbeschwerde – Vortrag, gehalten vor der Juristischen Gesellschaft zu Berlin am 18. Oktober 2006, 2007, S. 30: „Ist der Betroffene der Grundrechtspfleger des Fachgerichts?“.

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Verfassungswidrigkeit einer Vorschrift abhängt,¹²⁴ ist in den hier interessierenden Konstellationen jedoch typischerweise gegeben.

2. Fortgeltung der Ausnahmen vom Subsidiaritätserfordernis und Vorabentscheidungsmöglichkeit (§ 90 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG) Das Erfordernis der Erhebung einer fachgerichtlichen Feststellungsklage gilt auch verfassungsprozessual nicht ausnahmslos. Schon nach allgemeinen Grundsätzen gibt es verschiedene Fälle, in denen von der Erfüllung der Subsidiaritätsanforderungen abgesehen werden kann oder muss.¹²⁵ Darüber hinaus kann das Bundesverfassungsgericht auch nach § 90 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG sofort entscheiden, wenn die Verfassungsbeschwerde von allgemeiner Bedeutung ist oder wenn dem Beschwerdeführer ein schwerer und unabwendbarer Nachteil entstünde, falls er zunächst auf den Rechtsweg verwiesen würde. § 90 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG wird nicht nur auf Fälle fehlender Rechtswegerschöpfung im engeren Sinne angewendet, sondern analog auch dann, wenn der Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde eigentlich der Grundsatz materieller Subsidiarität entgegenstünde.¹²⁶ In Fällen, in denen das Gericht sofort entscheiden will, hält ihm die sogenannte Vorabentscheidungsmöglichkeit den sofortigen Zugriff offen.

3. Hinausschieben der Jahresfrist (§ 93 Abs. 3 BVerfGG) Wenn vor Erhebung einer Gesetzesverfassungsbeschwerde – abhängig vom fachrechtlichen Prozessrecht – oft und mittlerweile wohl in der Regel zunächst der Fachrechtsweg durchlaufen werden muss, stellt sich ein Fristenproblem: Nach Durchlaufen des Fachrechtswegs wird die für Verfassungsbeschwerden gegen Gesetze geltende Jahresfrist des § 93 Abs. 3 BVerfGG typischerweise verstrichen sein. Dies führt im Ergebnis zu keinen Verwerfungen, wenn die Fachgerichte eine Sachentscheidung treffen, die sodann mit der Urteilsverfassungsbeschwerde innerhalb der Monatsfrist des § 93 Abs. 1 BVerfGG angegriffen werden kann. Wenn

 BVerfGE 71, 305 (336); 74, 69 (74 f.); 74, 102 (114); 112, 50 (62).  Zu den Ausnahmen vom Subsidiaritätserfordernis oben III. 1.  BVerfGE 101, 54 (74); BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 25. Juni 2015 – 1 BvR 555/15 –, NJW 2015, S. 2242 (2243); Hellmann, in: Barczak (Hrsg.), Mitarbeiterkommentar zum BVerfGG, 2018, § 90 Rn. 397; Lenz/Hansel, BVerfGG, 2. Aufl. 2015, § 90 Rn. 523.

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aber die Rechtsschutzmöglichkeiten vor den Fachgerichten zweifelhaft sind und diese letztlich aus prozessualen Gründen keine Sachentscheidung treffen, kann sich hieraus eine Rechtsschutzlücke ergeben. Hier erscheinen zwei Lösungsmöglichkeiten denkbar: Zum einen könnte das Bundesverfassungsgericht einen Beschwerdeführer darauf verweisen, die Gesetzesverfassungsbeschwerde innerhalb der Jahresfrist des § 93 Abs. 3 BVerfGG, d. h. regelmäßig vor Erschöpfung des Rechtswegs anhängig zu machen und parallel dazu um fachgerichtlichen Rechtsschutz nachzusuchen. Die Verfassungsbeschwerde müsste dann vom Beschwerdeführer mit der Anregung versehen werden, sie in das Allgemeine Register einzutragen, aber ihre weitere Behandlung zunächst zurückzustellen („Parken im AR“).¹²⁷ Allerdings zwänge man den Beschwerdeführer auf diese Weise zur Erhebung einer im Sinne des § 92 BVerfGG voll begründeten Verfassungsbeschwerde, obwohl möglicherweise Jahre vergehen, bis über diese entschieden werden kann und ohne dass die Gesichtspunkte, die im fachgerichtlichen Verfahren vielleicht noch deutlich geworden sind, berücksichtigt werden könnten. Die Fristenregelung des § 93 erhält in Verbindung mit dem Substantiierungserfordernis des § 92 BVerfGG den Charakter einer Ausschlussbestimmung mit Präklusionswirkung, die eine entsprechende Nachreichung von Unterlagen nicht zulässt.¹²⁸ Vorzugswürdig erscheint daher eine Übertragung der zur Kommunalverfassungsbeschwerde entwickelten Grundsätze: Weil diese schon nach dem Wortlaut des § 91 Satz 1 BVerfGG nur in Form einer Rechtssatzverfassungsbeschwerde statthaft ist, richtet sich bei ihr die Frist grundsätzlich nach § 93 Abs. 3 BVerfGG. Auch bei einer Beschwerde der Gemeinden und Gemeindeverbände kommen die Grundsätze des § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG im Hinblick auf Rechtswegerschöpfung und Subsidiarität zum Tragen. Ist vor Erhebung der Kommunalverfassungsbeschwerde zunächst der fachgerichtliche Rechtsweg zu erschöpfen (insbesondere in Gestalt der Normenkontrolle nach § 47 Abs. 1 Nr. 2 VwGO) oder unter dem Gesichtspunkt der materiellen Subsidiarität ein Rechtsbehelf zu ergreifen (auch hier spielt insbesondere die negative Feststellungsklage gemäß § 43 Abs. 1 Var. 2 VwGO eine Rolle), muss der Beschwerdeführer grundsätzlich innerhalb der für diesen Rechtsbehelf bestimmten Frist, spätestens jedoch innerhalb der Jahres-

 Zu dieser – verfahrensrechtlich zulässigen – Vorgehensweise insbesondere im Kontext einer noch ausstehenden fachgerichtlichen Entscheidung über eine Anhörungsrüge vgl. Grünewald, in: Walter/Grünewald (Hrsg.), BeckOK-BVerfGG, § 93 Rn. 21 ff. (Dezember 2018); O. Klein/Sennekamp, NJW 2007, S. 945 (955).  Barczak, in: ders. (Hrsg.), Mitarbeiterkommentar zum BVerfGG, 2018, § 92 Rn. 91.

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frist,¹²⁹ das fachgerichtliche Verfahren einleiten. Die Jahresfrist des § 93 Abs. 3 BVerfGG für die Kommunalverfassungsbeschwerde wird in beiden Fällen hinausgeschoben und beginnt erst mit Abschluss des fachgerichtlichen Verfahrens (neu) zu laufen.¹³⁰ Dies hatte der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts zunächst abgelehnt¹³¹ oder ausdrücklich offengelassen,¹³² sodann aber für das ursprünglich nicht fristgebundene Verfahren der Normenkontrolle nach § 47 Abs. 1 Nr. 2 VwGO angenommen und mittlerweile konsequent auf die negative Feststellungsklage nach § 43 VwGO erstreckt.¹³³ Ein solches Hinausschieben der Jahresfrist sucht letztlich die Schwächen eines richterrechtlichen Ansatzes auszugleichen, der eine Frist für unanfechtbare Hoheitsakte (§ 93 Abs. 3 BVerfGG) mit dem Erfordernis verbindet, alle denkbaren Rechtsbehelfe zu ergreifen, um die Beschwer bereits im fachgerichtlichen Verfahren zu beseitigen (vgl. § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG). Diese Gesichtspunkte sollten auf die „Jedermann“-Gesetzesverfassungsbeschwerde übertragen werden, wenn diese unter die Subsidiaritätsanforderung einer negativen Feststellungsklage gestellt wird.

V. Fazit Soweit das fachrechtliche Prozessrecht eine entsprechende Möglichkeit eröffnet und sich im konkreten Verfahren ein entsprechender Antrag sinnvoll formulie-

 Das Normenkontrollverfahren nach § 47 VwGO ist seit dem 6. VwGO-Änderungsgesetz vom 1. November 1996 (BGBl. I S. 1626) fristgebunden und wurde durch Art. 3 des Gesetzes zur Erleichterung von Planungsvorhaben für die Innenentwicklung der Städte vom 21. Dezember 2006 (BGBl. I S. 3316) auf ein Jahr verkürzt. Die Feststellungsklage nach § 43 VwGO kennt demgegenüber zwar keine Frist, jedoch leitet das Bundesverfassungsgericht aus dem Sinn und Zweck des § 93 Abs. 3 BVerfGG ab, dass das fachgerichtliche Verfahren – soll die Möglichkeit der Kommunalverfassungsbeschwerde offengehalten werden – innerhalb der Jahresfrist eingeleitet werden muss, da andernfalls die Jahresfrist für Rechtssatzverfassungsbeschwerden umgangen werden könnte, vgl BVerfGE 76, 107 (115 f.); BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 9. Juni 1992 – 2 BvR 1742/91 –, juris, Rn. 3 f.  Dazu Barczak, in: ders. (Hrsg.), Mitarbeiterkommentar zum BVerfGG, 2018, § 91 Rn. 73.  BVerfG, Beschluss des Vorprüfungsausschusses vom 28. März 1985 – 2 BvR 280/85 –, NVwZ 1987, S. 124 (124 f.).  BVerfGE 71, 25 (36); BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 30. Mai 1986 – 2 BvR 492/84 –, NVwZ 1987, S. 125 (125).  Für § 47 Abs. 1 Nr. 2 VwGO vgl. BVerfGE 76, 107 (116); für die negative Feststellungsklage gem. § 43 VwGO vgl. BVerfGK 16, 396 (402); siehe ferner Hömig, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/F. Klein/ Bethge (Hrsg.), BVerfGG, § 93 Rn. 82 f. (41. Erg.-Lfg. Juli 2013), m.w. N.; Grünewald, in: Walter/ Grünewald (Hrsg.), BeckOK-BVerfGG, § 93 Rn. 82 f. (Juni 2018); ablehnend Gröpl, NVwZ 1999, S. 967 (968).

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ren lässt, zählt die negative, auf die Feststellung gerichtete Klage, dass wegen Ungültigkeit oder Unanwendbarkeit einer Rechtsnorm ein Rechtsverhältnis zwischen den Beteiligten nicht begründet worden ist, zu den Subsidiaritätsanforderungen einer Rechtssatzverfassungsbeschwerde. Der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts lässt sich insofern eine klare Linie entnehmen, die zunächst die Feststellungsklage gegen Rechtsverordnungen des Bundes stark machte, um diese sodann als vorrangigen fachgerichtlichen Rechtsbehelf gegenüber formellen Landes- und Bundesgesetzen zu verankern. Die negative Feststellungsklage wird hierdurch als „allgemeine Normenabwehrklage“ instrumentalisiert, die das logische Pendant zur Normerlassklage bildet.¹³⁴ Diese Linie erscheint konsequent und angemessen,¹³⁵ zeichnet sie doch letztlich die – von Karlsruhe aus angestoßene – Emanzipationstendenz der Verwaltungsgerichte nach, lückenlosen Rechtsschutz auch dort zu gewähren, wo nicht um Einzelsondern um Rechtsakte gerungen wird. „Rechtsnorm und Verwaltungshandeln sind im modernen Sozialstaat in weitem Umfang austauschbar geworden, so dass sich bei Ausklammerung von Gesetzen aus der Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG eine offene Flanke des Grundrechtsschutzes ergeben müsste“.¹³⁶ Diese Verlagerung des Grundrechtsschutzes auf die sachnähere Ebene der Fachgerichte kann zur notwendigen Entlastung des Bundesverfassungsgerichts beitragen. Dem sich dabei auftuenden Problem, dass die Jahresfrist der Gesetzesverfassungsbeschwerde bei einem Beschreiten des Rechtswegs der Feststellungsklage typischerweise verstrichen sein wird, ist mit einer Analogie der für die Kommunalverfassungsbeschwerde entwickelten Grundsätze und einem Hinausschieben der Frist des § 93 Abs. 3 BVerfGG bis zum Abschluss des fachgerichtlichen Verfahrens zu begegnen. Auf diese Weise wird die Möglichkeit zur verfassungsrechtlichen

 Dass sich letztere nach h.M. nicht auf den Erlass formeller Gesetze bezieht, weil es sich dabei um eine verfassungsrechtliche Streitigkeit handeln soll (vgl. BVerwGE 75, 330 [334 f.]; 80, 355 [358]), erscheint angesichts der Parallelen zur Normenabwehr wenig überzeugend, vgl. oben III. 2. a).  Grundlegende Kritik kommt demgegenüber von Glaser, in: Gärditz (Hrsg.), VwGO, 2. Aufl. 2018, § 43 Rn. 24, der der Feststellungsklage in Bezug auf formelle Gesetze „keine Bedeutung“ beimisst und im Interesse des Rechtsschutzsuchenden für eine „klare Zuordnung bestimmter Rechtsformen zu bestimmten Rechtsbehelfen“ – fachgerichtlicher Rechtsschutz gegen Rechtsverordnungen und Satzungen einerseits, verfassungsgerichtlicher Rechtsschutz gegen Parlamentsgesetze andererseits – plädiert; von überzogenen und unkalkulierbaren Anforderungen an den Betroffenen spricht auch Hopfauf, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke (Hrsg.), GG, 14. Aufl. 2018, Art. 94 Rn. 213.  Schenke, NJW 2017, S. 1062 (1065); ähnlich bereits ders., JZ 2006, S. 1004 (1006); in Befund und Bewertung übereinstimmend auch Weidemann, VerwArch 98 (2007), S. 523 (525).

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Überprüfung von Normen insgesamt erweitert, weil die Frist des § 93 Abs. 3 BVerfGG insoweit relativiert wird. Hinter den Vorzügen verbergen sich jedoch auch gewisse, im Einzelnen noch nicht überschaubare Risiken: Zum einen begibt sich das Bundesverfassungsgericht ein Stück weit seiner unmittelbaren Zugriffsmöglichkeit auf Normen, die es bisher gelegentlich genutzt hat, um besonders bedenkliche Gesetze möglichst schnell einer allgemeinverbindlichen Klärung zuzuführen. Diese bleibt zwar über die Vorabentscheidungsmöglichkeit des § 90 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG erhalten, wird aber schwerer zu rechtfertigen sein. In der Regel werden solche Vorschriften erst einmal länger hingenommen werden müssen, was in manchen Fällen zur Beurteilung der Normen ein Vorteil sein kann, in anderen aber auch ein Nachteil. Eine größere Untiefe droht dadurch, dass die gesetzliche Ausgestaltung des Rechtsschutzsystems kein dem zentralen Verwerfungsmonopol des Bundesverfassungsgerichts für verfassungswidriges Gesetzesrecht vergleichbares Instrument für die Feststellung eines Verstoßes nationaler Rechtsvorschriften gegen vorrangiges Unionsrecht kennt, sondern diese Prüfung im Kern den jeweils zuständigen Fachgerichten – ergänzt um die Möglichkeit eines Vorabentscheidungsersuchens an den Europäischen Gerichtshof nach Maßgabe von Art. 267 AEUV zur Klärung etwaiger Zweifelsfragen bei der Auslegung des Unionsrechts – als inzidente Fragestellung im Rahmen eines konkreten Rechtsstreits überantwortet.¹³⁷ In der Folge kann der verfassungsgerichtliche Verweis auf die Feststellungsklage dazu führen, dass im fachgerichtlichen Verfahren die Unvereinbarkeit mit Unionsrecht – einschließlich der Unionsgrundrechte – festgestellt wird.¹³⁸ In diesem Fall dürften die angegriffenen Normen nicht mehr angewendet werden. Damit wären auch möglicherweise aufgeworfene verfassungsrechtliche Fragen nicht mehr entscheidungserheblich; die behauptete Beschwer wäre entfallen. Die Voraussetzungen für eine Richtervorlage nach Art. 100 Abs. 1 GG wären ebenso nicht mehr gegeben wie für eine anschließende Urteilsverfassungsbeschwerde. Dieser Weg erschiene zwar insoweit konsequent, als § 43 Abs. 1 VwGO schon bislang als lückenfüllendes, dezentrales Rechtsschutzinstrument fungiert, um effektiven Rechtsschutz im Sinne der Art. 47 EUGRCh und Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV gegen unmittelbar beschwerende, keinen Vollzugsakt voraussetzende EUVerordnungen zu gewährleisten, gegen die ein Vorgehen mit der Nichtigkeitsklage nach Art. 263 Abs. 4 AEUV unstatthaft ist (sog. Jacobs gap).¹³⁹ Auf diese Weise  OVG Münster, Beschluss vom 25. August 2017 – 13 B 762/17 –, NVwZ-RR 2018, S. 54 (59).  Exemplarisch OVG Münster, Beschluss vom 22. Juni 2017 – 13 B 238/17 –, NVwZ-RR 2018, S. 43 ff.: Verstoß der Vorratsdatenspeicherung nach §§ 113a ff. TKG gegen Art. 7, 8, 11, 16 in Verbindung mit Art. 52 Abs. 1 EUGRCh.  Eingehend dazu Lenz/Staeglich, NVwZ 2004, S. 1421 ff.; Michl, NVwZ 2014, S. 841 ff.

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hätte sich das Bundesverfassungsgericht jedoch aus dem Dialog der Gerichte ein Stück weit selbst verabschiedet.¹⁴⁰ Es wird daher in Zukunft genau zu beobachten sein, ob bei der gewünschten Entlastung des Gerichts das Kind mit dem Bade ausgeschüttet wird und an welchen Stellen gegenzusteuern ist.

 Der Verweis auf die fachgerichtliche Feststellungsklage mag in der Vergangenheit zudem Ausdruck einer „Strategie“ des Bundesverfassungsgerichts gewesen sein, dem Europäischen Gerichtshof nicht selbst vorlegen zu müssen, vgl. dazu Bergmann, in: Umbach/Clemens/Dollinger (Hrsg.), Mitarbeiterkommentar zum BVerfGG, 2. Aufl. 2005, Kap. A III, Rn. 20; Proelß, Bundesverfassungsgericht und überstaatliche Gerichtsbarkeit, 2014, S. 196 ff.

II. Allgemeine Grundrechtslehren und internationale Bezüge

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Prozeduralisierung und rationale Gesetzgebung in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Leitentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (Senat) BVerfGE 125, 175 – Hartz IV-Gesetz BVerfGE 130, 263 – W-Besoldung BVerfGE 132, 134 – Asylbewerberleistungsgesetz BVerfGE 137, 34 – Menschenwürdiges Existenzminimum BVerfGE 139, 64 – Richterbesoldung BVerfGE 140, 240 – Beamtenbesoldung BVerfGE 143, 246 – Atomausstieg

Schrifttum (Auswahl) Britz, Verfassungsrechtliche Verfahrens- und Rationalitätsanforderungen an die Gesetzgebung, Die Verwaltung 50 (2017), S. 421 ff.; Dann, Verfassungsgerichtliche Kontrolle gesetzgeberischer Rationalität, Der Staat 49 (2010), S. 630 ff.; Grzeszick, Rationalitätsanforderungen an die parlamentarische Rechtsetzung im demokratischen Rechtsstaat, VVDStRL 71 (2012), S. 49 ff.; Hebeler, Ist der Gesetzgeber verfassungsrechtlich verpflichtet, Gesetze zu begründen?, DÖV 2010, S. 754 ff.; Hölscheidt/Menzenbach, Das Gesetz ist das Ziel: Zum Zusammenhang zwischen gutem Verfahren und gutem Gesetz, DÖV 2008, S. 139 ff.; O’Hara, Konsistenz und Konsens – Die Anforderungen des Grundgesetzes an die Folgerichtigkeit der Gesetze, 2018; Pestalozza, Gesetzgebung im Rechtsstaat, NJW 1981, S. 2081 ff.; Petersen, Verhältnismäßigkeit als Rationalitätskontrolle, 2015; Risse, Rechtsprechung und Parlamentsfreiheit – Versuch einer Vermessung der geschützten parlamentarischen Gestaltungs- und Entscheidungsräume, JZ 2018, S. 71 ff.; Ruffert, Die neue Prozeduralisierung – Zur Fortentwicklung der grundrechtlichen Verfahrensdimension in der neueren Verfassungsrechtsprechung, in: Geis/Winkler/Bickenbach (Hrsg.), Festschrift für Friedhelm Hufen, 2015, S. 511 ff.; Schlaich, Die Verfassungsgerichtsbarkeit im Gefüge der Staatsfunktionen, VVDStRL 39 (1981), S. 99 ff.; Schuppert, Gute Gesetzgebung, ZG 2003 (Sonderheft), S. 4 ff.; Schwerdtfeger, Optimale Methodik der Gesetzgebung als Verfassungspflicht, in: Stödter/Thieme (Hrsg.), Festschrift für Hans Peter Ipsen, 1977, S. 173 ff.; Steinbach, Rationale Gesetzgebung, 2017; Waldhoff, „Der Gesetzgeber schuldet nichts als das Gesetz“, in: Depenheuer/Heintzen/Jestaedt/ Axer (Hrsg.), Festschrift für Josef Isensee, 2007, S. 325 ff.; Wieckhorst, Grundrechtsschutz durch Legislativverfahren, 2017.

https://doi.org/10.1515/9783110599916-005

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Inhalt I. Problemstellung 54 II. Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts . Entwicklungslinien 56 . Rechtsprechung des Ersten Senats 59 a) Hartz IV-Gesetz 59 61 b) Asylbewerberleistungsgesetz c) Neuere Entscheidungen 62 64 . Rechtsprechung des Zweiten Senats a) W-Besoldung 64 b) Richterbesoldung und Beamtenbesoldung III. Divergenz und Konvergenz 66 IV. Theoretischer Hintergrund 69 V. Ausblick 72

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I. Problemstellung Wer über „gute Gesetzgebung“¹ sprechen will, berührt schon allein durch die gewählte Perspektive den Kernbereich staatlicher Verfassung. Denn ob Gesetzgebung in einem normativen Sinne „akzeptabel“, mithin verfassungskonform ist, entscheidet letztlich das Bundesverfassungsgericht; ob die Gesetzgebung aber auch „gut“ ist, ist damit noch nicht gesagt. Zur Kontrollperspektive gilt indes: Die Produkte eines Verfassungsorgans unterliegen der Überprüfung durch ein anderes Verfassungsorgan. Damit tritt man in das Spannungsfeld der Gewaltenteilung. Zwar entspricht es gerade der durch das Grundgesetz vorgegebenen Rechtsstaatsordnung, die Normsetzungen der Legislative unter bestimmten Voraussetzungen der kassatorischen Normenkontrolle der Judikative zu unterwerfen. Doch geht es hierbei klassischerweise in erster Linie um eine an materiellen Verfassungsmaßstäben ausgerichtete Ergebniskontrolle, die nach binärem Muster über den Bestand des Rechtssatzes entscheidet; hinzu kommt ein Kontrollzugriff auf formale Fragen des äußeren Gesetzgebungsverfahrens. Soweit, so unproblematisch. Diffuser wird es dagegen, wenn es um die „innere“ Seite des Gesetzgebungsverfahrens geht, plakativ umschrieben mit Prozeduralisierung und Verfahrensrationalität.² Hinterfragt das Bundesverfassungsgericht, ob ein Parlament insoweit seine „Hausaufgaben“ gemacht hat?

 In Anlehnung an Schuppert, ZG 2003 (Sonderheft), S. 4 ff.  Vgl. im Überblick zur Prozeduralisierung des Rechts Bauer, Die produktübergreifende Bindung des Bundesgesetzgebers an Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, 2003, S. 116 ff.;

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Aus dem Blickwinkel der Staatsphilosophie des aufgeklärten Idealismus, ohne die moderne Staatlichkeit in ihrer Freiheitsdimension nicht denkbar ist, muss ein solcher Zugriff zunächst überraschen. Die „drei Gewalten im Staate sind Würden, und, als wesentliche aus der Idee des Staats überhaupt zur Gründung desselben (…) notwendig hervorgehend, Staatswürden.“³ Und weiter: Es sind „drei verschiedene Gewalten (…), wodurch der Staat (…) seine Autonomie hat, d.i. sich selbst nach Freiheitsgesetzen bildet und erhält.“⁴ Die Legislative nimmt dabei eine besondere Stellung ein, denn die „gesetzgebende Gewalt kann nur dem vereinigten Willen des Volkes zukommen“, der Souverän ist allein der allgemein gesetzgebende Wille.⁵ Jegliche Gesetzgebung ist somit unmittelbar auf die Subjektivität aller Rechtsunterworfenen zurückgeführt und an sie gebunden. Diese Erkenntnis kann nicht ohne Einfluss auf die Verhältnisbestimmung von Gesetz und Gesetzgebung bleiben: Der von Rousseau und Kant entwickelte Begriff von Freiheit im Sinne von Gehorsam gegenüber dem selbstgegebenen Gesetz – das, weil es Gesetz ist, allgemeine Gültigkeit hat – führt in seiner Anwendung auf den Staat nicht nur dazu, ihn als subjektbegründeten sozialen Interaktionszusammenhang zu verstehen, sondern auch, das positive staatliche Gesetz als Instrument zu bestimmen, mit dem die gleiche äußere Freiheit der rechtsunterworfenen Subjekte nach allgemeingültigen Grundsätzen geordnet wird.⁶ Das „wie“ dieser Bestimmung bleibt hingegen weiterhin offen. Wie also lässt sich die Bildung des Allgemeinwillens in realistischer Weise prozeduralisieren?⁷ Den diesbezüglichen Ansätzen des Bundesverfassungsgerichts will dieser Beitrag nachgehen, wobei den „rein“ prozeduralen Anforderungen der Schwerpunkt eingeräumt werden soll.⁸ Ausgespart bleiben an dieser Stelle ferner die aus der Integrationsverantwortung des Bundestags gefolgerten „prozeduralen“ Pflichten des Parlaments in europarechtlichen Fragen.⁹ Insgesamt sollen die maßgeblichen Entscheidungen so weit wie möglich selbst zu Wort kommen.

Steinbach, Rationale Gesetzgebung, 2017, S. 163 ff.; Wieckhorst, Grundrechtsschutz durch Legislativverfahren, 2017, S. 44 ff.  Kant, Die Metaphysik der Sitten, Rechtslehre, § 46, A 169, B 199.  Kant, Die Metaphysik der Sitten, Rechtslehre, § 49, A 173, B 203.  Kant, Die Metaphysik der Sitten, Rechtslehre, § 46, A 166, B 196; vgl. Wiegand, Demokratie und Republik, 2017, S. 56.  So wörtlich Wiegand, Demokratie und Republik, 2017, S. 54.  Vgl. Wiegand, Demokratie und Republik, 2017, S. 60 (bezogen auf Republikanismus und Repräsentation); Schwerdtfeger, in: Festschrift für Ipsen, 1977, S. 173 (177 f.).  Vertiefend daher zu Kriterien der Rationalität, etwa Folgerichtigkeit, Konsistenz o. ä.: O’Hara, Konsistenz und Konsens, 2018; Dann, Der Staat 49 (2010), S. 630 ff.; Hölscheidt/Menzenbach, DÖV 2008, S. 139 (140 f.).  Hierzu eingehend – und kritisch – Risse, JZ 2018, S. 71 (74 ff.) m.w.N.

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II. Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Bevor der Blick auf den aktuellen Stand der Rechtsprechung beider Senate gerichtet wird, gilt es, frühere Entwicklungslinien der Rechtsprechung zum Umgang mit Prozeduralisierungs- und Rationalitätsanforderungen nachzuzeichnen.¹⁰

1. Entwicklungslinien Bereits im Apothekenurteil vom 1958¹¹ finden sich – vorsichtige – Anklänge eines Durchgriffs auf die innere Seite der Gesetzgebung. Nicht nur müssen danach vom Gesetzgeber Ziel und Zweck einer gesetzlichen Regelung jedenfalls allgemein und schlagwortartig bezeichnet werden, auch müssen der Inhalt des zur Prüfung stehenden Gesetzes und die für seine Gestaltung maßgebend gewesenen Erwägungen des Gesetzgebers im Einzelnen analysiert werden. Jedoch sieht das Bundesverfassungsgericht hier noch keine qualitative Aufladung dieser „Erwägungen“ dahingehend vor, dass ihnen die betroffenen Lebensverhältnisse abgelesen werden könnten: Es ist vielmehr Aufgabe des Gerichts, sich – notfalls mit Hilfe von Sachverständigen – einen möglichst umfassenden Einblick in die durch das Gesetz zu ordnenden Lebensverhältnisse zu verschaffen. In einem weiteren Beschluss von 1975 (Mühlenstrukturgesetz)¹² wurde der Zugriff schon konkreter. Zunächst wird dem Gesetzgeber ein grundgesetzlich belassener Beurteilungs- und Handlungsspielraum bei der Bestimmung gewisser wirtschaftspolitischer Ziele und der zu ihrer Verfolgung geeigneten Maßnahmen attestiert. Die daran anknüpfende verfassungsrechtliche Prüfung erstreckt sich sodann (auch) darauf, ob der Gesetzgeber sich die Kenntnis von der zur Zeit des Erlasses des Gesetzes bestehenden tatsächlichen Ausgangslage in korrekter und ausreichender Weise verschafft hat. Auch das Mitbestimmungsurteil von 1979¹³ greift auf den Topos der Prognose als Spielart einer Einschätzungsprärogative der Legislative zurück. Für die Kontrollfrage, ob die Prognose des Gesetzgebers vertretbar ist, wird als Maßstab verlangt, dass sich der Gesetzgeber an einer sachgerechten und vertretbaren  Vgl. im Überblick Waldhoff, in: Festschrift für Isensee, 2007, S. 325 (327 ff.); Nolte, Der Staat 52 (2013), S. 245 (248 ff.).  BVerfGE 7, 377 (411 f.).  BVerfGE 39, 210 (225 f.).  BVerfGE 50, 290 (333 f.); vgl. auch BVerfGE 57, 139 (160).

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Beurteilung des erreichbaren Materials orientiert hat. Er muss die ihm zugänglichen Erkenntnisquellen ausgeschöpft haben, um die voraussichtlichen Auswirkungen seiner Regelung so zuverlässig wie möglich abschätzen zu können und einen Verstoß gegen Verfassungsrecht zu vermeiden. Es handelt sich also – so ausdrücklich der Senat – eher um „Anforderungen des Verfahrens“. Wird diesen Genüge getan, so erfüllen sie jedoch die Voraussetzung inhaltlicher Vertretbarkeit; sie konstituieren insoweit die Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers, die das Bundesverfassungsgericht bei seiner Prüfung zu beachten hat. Noch weitergehend ist das Urteil zur Staatsverschuldung von 1989¹⁴, welches – konkret im haushaltsverfassungsrechtlichen Kontext – dem Einschätzungs- und Beurteilungsspielraum des Haushaltsgesetzgebers in formeller Hinsicht eine „Darlegungslast“ im Gesetzgebungsverfahren gegenüberstellte, bezogen auf die Gründe und die Art und Weise des Rückgriffs auf Ausnahmetatbestände erhöhter Kreditaufnahme. Diese als Obliegenheit bezeichnete Darlegungslast hat im Hinblick auf den Ausnahmecharakter dieser Befugnis eine normative Grundlage in der Publizitätspflicht für den Haushalt, die verfassungsrechtlich gewährleistet ist und die Kontroll- und Legitimationsfunktion von Haushaltsberatung und -verabschiedung erst erfüllbar macht. Sie trägt dazu bei, die Inanspruchnahme der Ausnahmebefugnis zu erhöhter Kreditaufnahme trotz des Fehlens eindeutiger materiell-rechtlicher Vorgaben auf Ausnahmefälle zu beschränken und so ihren Ausnahmecharakter zu sichern; die Unbestimmtheit des materiellen Maßstabs findet damit ein Stück weit ihren Ausgleich in formellverfahrensmäßigen Anforderungen. Wenngleich das Urteil sicher einen Spezialfall aus dem Haushaltsverfassungsrecht betrifft und eine heute nicht mehr gültige Norm, ist der Ansatz des Bundesverfassungsgerichts doch bemerkenswert: Es konstatiert das Fehlen eindeutiger materiell-rechtlicher Vorgaben und sieht diese „ausgeglichen“, man könnte sagen: kompensiert durch formell-verfahrensmäßige Anforderungen an das Haushaltsgesetz. Dies wird uns noch häufiger begegnen. Die Schwierigkeit, in früheren Entscheidungen eine eindeutige Linie auszumachen, verdeutlicht auch das Urteil zum Länderfinanzausgleich II von 1992¹⁵, welches eine Begründungspflicht gesetzgeberischer Setzungen ausdrücklich zurückweist. Denn verfassungsgerichtlicher Kontrolle unterliegt nach diesem Diktum allein die Entscheidung des Gesetzgebers selbst. Diese muss ihre Grundlage in verlässlichen objektivierbaren Indikatoren (d.i. zur Bestimmung des Mehrbedarfs der Stadtstaaten gegenüber Flächenländern) finden. Soweit der Gesetzgeber sich für einen Veredelungsfaktor entscheidet, muss dessen Ausgestaltung inner-

 BVerfGE 79, 311 (344 f.) m.w.N.  BVerfGE 86, 148 (241).

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halb der Bandbreite der Indikatoren verbleiben, die für die strukturelle Eigenart der Stadtstaaten aussagekräftig sind. Dabei ist der Gesetzgeber nicht verpflichtet, die Gründe für die Wahl des konkreten Wertes der Einwohnerwertung darzulegen; bei der Gestaltung des Länderfinanzausgleichs übt er, anders als eine Verwaltungsbehörde, kein gesetzesgebundenes Ermessen aus. Wenige Jahre später verlangt der Zweite Senat im Urteil zum Länderfinanzausgleich III (1999)¹⁶ hingegen wiederum für die Berücksichtigung von Sonderlasten außergewöhnliche Gegebenheiten, die einer besonderen, den Ausnahmecharakter ausweisenden Begründungspflicht unterliegen. Dies deutet auf eine den Gesetzgeber „bösgläubig“ machende Pflicht bzw. Obliegenheit hin, die durch ihren Hinweischarakter den Gesetzgeber über den Weg des Verfahrens zur Beachtung des Regel-Ausnahme-Verhältnisses der betroffenen Regelungen disziplinieren soll. In eine ähnliche Richtung weist der Beschluss zum Halbteilungsgrundsatz von 2006¹⁷. Er bewegt sich auf dem durchaus steinigen Boden der Findung verfassungsgerechter Steuergrundsätze. Der Senat sieht die Schwierigkeiten ihrer Bestimmung, hält es aber aufgrund der Gewährleistung einklagbarer, auch den Gesetzgeber bindender Grundrechte für ausgeschlossen, speziell für das Steuerrecht die Kontrolle verfassungsrechtlicher Mäßigungsgebote dem Bundesverfassungsgericht gänzlich zu entziehen: Es bleibt hingegen die Möglichkeit, in Situationen zunehmender Steuerbelastung der Gesamtheit oder doch einer Mehrheit der Steuerpflichtigen, insbesondere etwa dann, wenn eine solche Belastung auch im internationalen Vergleich als bedrohliche Sonderentwicklung gekennzeichnet werden kann, vom Gesetzgeber die Darlegung besonderer rechtfertigender Gründe zu fordern, nach denen die Steuerlast trotz ungewöhnlicher Höhe noch als zumutbar gelten dürfe. Also wiederum eine Darlegungslast zur Reflexion von Ausnahmetatbeständen. Schon nach diesen wenigen Entscheidungen fällt es nicht leicht, von „Linien der Rechtsprechung“ zu sprechen, geprägt von Konsistenz und Kontinuität. Nicht nur aufgrund der zumeist betroffenen Sachgebiete (Steuern, Finanzverfassung) deutet einiges darauf hin, die Entscheidungen als Annäherungsversuche des Bundesverfassungsgerichts zu begreifen, in einer schwierigen normativen Situation durch behutsamen Zugriff auf – außerhalb der Trias von Zuständigkeit, Verfahren und Form gelegene – verfahrensmäßige Anforderungen praktikable Maßstäbe zur Anwendung zu bringen, die letztlich, wenn auch nur „mittelbar“, eine gerichtliche Überprüfung ermöglichen. Die Zurückhaltung, die den Ent-

 BVerfGE 101, 158 (224 f., 234 f.).  BVerfGE 115, 97 (116).

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scheidungen anzumerken ist, sollte sich auch in ihrer Interpretation niederschlagen. Eine historische Linie „guter Gesetzgebung“ ergibt sich hieraus jedenfalls nicht. Anders könnte dies jedoch angesichts aktuellerer Grenzbestimmungen gesetzgeberischer Rationalität sein, wie sie die beiden Senate in jüngerer Zeit formuliert haben. Auch hier soll der Wortlaut wieder unmittelbar zur Sprache kommen.

2. Rechtsprechung des Ersten Senats a) Hartz IV-Gesetz Einen gewichtigen Stein ins Rollen brachte der Erste Senat ohne Zweifel durch das Urteil zum Hartz IV-Gesetz von 2010.¹⁸ Der Senat hatte die Ausgestaltung des gesetzlichen Leistungsanspruchs im Hinblick auf die verfassungsmäßige Pflicht zur Bestimmung des Existenzminimums zu überprüfen. Diesen Leistungsanspruch sieht das Gericht dem Grunde nach in der Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG in Zusammenhang mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG verortet: Problematisch ist dabei, dass der Umfang dieses Anspruchs im Hinblick auf die Arten des Bedarfs und die dafür erforderlichen Mittel jedoch nicht unmittelbar aus der Verfassung abgeleitet werden kann. Er hängt von verschiedenen Faktoren ab und ist danach vom Gesetzgeber konkret zu bestimmen. Die hierbei erforderlichen Wertungen kommen dem parlamentarischen Gesetzgeber zu. Ihm obliegt es, den Leistungsanspruch in Tatbestand und Rechtsfolge zu konkretisieren. Ob er das Existenzminimum durch Geld-, Sach- oder Dienstleistungen sichert, bleibt grundsätzlich ihm überlassen; zudem kommt ihm ein Gestaltungsspielraum bei der Bestimmung des Umfangs der Leistungen zur Sicherung des Existenzminimums zu.¹⁹ Sodann vollzieht der Senat die Konkretisierung des Anspruchs nach, wonach der Gesetzgeber alle existenznotwendigen Aufwendungen folgerichtig in einem transparenten und sachgerechten Verfahren nach dem tatsächlichen Bedarf – der Senat spricht hier zentral von „realitätsgerecht“ – zu bemessen hat. Hierzu hat er zunächst die Bedarfsarten sowie die dafür aufzuwendenden Kosten zu ermitteln und auf dieser Basis die Höhe des Gesamtbedarfs zu bestimmen. Das Grundgesetz schreibt ihm dafür keine bestimmte Methode vor; er darf sie vielmehr im Rahmen der Tauglichkeit und Sachgerechtigkeit selbst wählen. Abweichungen von der gewählten Methode bedürfen al-

 Vgl. BVerfGE 125, 175 ff.  BVerfGE 125, 175 (224 f.).

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lerdings der sachlichen Rechtfertigung.²⁰ Dergestalt erkennt der Senat mithin einen Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers bei der Bemessung des Existenzminimums. Diesem korrespondiert eine zurückhaltende Kontrolle der einfachgesetzlichen Regelung durch das Bundesverfassungsgericht: Da das Grundgesetz selbst keine exakte Bezifferung des Anspruchs erlaubt, beschränkt sich die materielle Kontrolle darauf, ob die Leistungen evident unzureichend sind.²¹ Diese materielle Evidenzkontrolle ist ausdrücklich nur auf das Ergebnis bezogen. Interessant ist der Umgang des Senats mit der Problematik, wie innerhalb der materiellen Bandbreite, welche die Evidenzkontrolle belässt, das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums justiziabel wird. Denn immerhin fehlen quantifizierbare Vorgaben durch das Grundgesetz selbst. An dieser Stelle wird verfassungsrechtlich eine Kontrolle der Grundlagen und der Methode der Leistungsbemessung daraufhin gefordert, ob sie dem Gewährleistungsgehalt des Leistungsanspruchs gerecht werden. Der Prozeduralisierungsgedanke erstreckt sich auch deshalb auf das Verfahren zur Ermittlung des Existenzminimums, weil eine Ergebniskontrolle am Maßstab dieses verfassungsrechtlichen Anspruchs nur begrenzt möglich ist. Um eine seiner Bedeutung angemessene Nachvollziehbarkeit des Umfangs der gesetzlichen Hilfeleistungen sowie deren gerichtliche Kontrolle zu gewährleisten, müssen die Festsetzungen der Leistungen auf der Grundlage verlässlicher Zahlen und schlüssiger Berechnungsverfahren tragfähig zu rechtfertigen sein.²² Zusammenfassend zielt die verfassungsgerichtliche Prüfung auf die Fragen, ob der Gesetzgeber das Ziel, ein menschenwürdiges Dasein zu sichern, in einer Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG gerecht werdenden Weise erfasst und umschrieben hat, ob er im Rahmen seines Gestaltungsspielraums ein zur Bemessung des Existenzminimums im Grundsatz taugliches Berechnungsverfahren gewählt hat, ob er die erforderlichen Tatsachen im Wesentlichen vollständig und zutreffend ermittelt und schließlich, ob er sich in allen Berechnungsschritten mit einem nachvollziehbaren Zahlenwerk innerhalb dieses gewählten Verfahrens und dessen Strukturprinzipien im Rahmen des Vertretbaren bewegt hat. Zur Ermöglichung dieser verfassungsgerichtlichen Kontrolle ist der Gesetzgeber gehalten, die zur Bestimmung des Existenzminimums im Gesetzgebungsverfahren eingesetzten Methoden und Berechnungsschritte nachvollziehbar offenzulegen; kommt er dieser – so vom Senat ausdrücklich bezeichneten – „Obliegenheit“ nicht hinreichend nach,

 BVerfGE 125, 175 (225).  BVerfGE 125, 175 (225 f.).  BVerfGE 125, 175 (226).

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unterliegt die Ermittlung des Existenzminimums bereits wegen dieser Mängel der verfassungsgerichtlichen Beanstandung.²³ In der Subsumtion dieser Maßstäbe ist der Erste Senat sodann streng. Die Vorgabe einer schlüssigen Ermittlung maßgeblicher empirischer Grundlagen steht einer Schätzung ohne hinreichende Tatsachengrundlage „ins Blaue hinein“ genauso entgegen wie die Unterlassung der Beschaffung einer ausreichenden Datengrundlage.²⁴ Besonders deutlich fällt die Kritik bei der Bedarfsbemessung für minderjährige Kinder aus: Deren freihändige Setzung ohne irgendeine empirische und methodische Fundierung ist mit Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG unvereinbar.²⁵

b) Asylbewerberleistungsgesetz Der – um im Bild zu bleiben – so ins Rollen gebrachte Stein blieb jedoch nicht auf dieser Bahn, sondern erhielt zunächst durch das Urteil zum Asylbewerberleistungsgesetz (2012) jedenfalls dem Duktus nach eine andere Richtung.²⁶ Der Sache nach ging es auch hier um die Sicherung einer menschenwürdigen Existenz, ganz in der Linie des Hartz IV-Urteils. Die einschlägigen Passagen der Entscheidung lesen sich zum Teil, vergegenwärtigt man sich die wörtlichen Ausführungen von 2010, wie eine durchaus distanzierende Klarstellung hierzu: Die sich aus der Verfassung ergebenden Anforderungen an die methodisch sachgerechte Bestimmung grundrechtlich garantierter Leistungen beziehen sich danach nicht auf das Verfahren der Gesetzgebung, sondern auf dessen Ergebnisse. Das Grundgesetz beinhaltet in den Art. 76 ff. GG Vorgaben für das Gesetzgebungsverfahren, die auch die Transparenz der Entscheidungen des Gesetzgebers sichern. Das Grundgesetz schreibt jedoch nicht vor, was, wie und wann genau im Gesetzgebungsverfahren zu begründen und zu berechnen ist. Es lässt Raum für Verhandlungen und für den politischen Kompromiss. Entscheidend ist, dass im Ergebnis die Anforderungen des Grundgesetzes nicht verfehlt werden, tatsächlich für eine menschenwürdige Existenz Sorge zu tragen. Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG bringt insofern für den Gesetzgeber keine spezifischen Pflichten im Verfahren mit sich; entscheidend ist, ob sich der Rechtsanspruch auf existenzsichernde

   

BVerfGE 125, 175 (226). BVerfGE 125, 175 (239). BVerfGE 125, 175 (246). Vgl. BVerfGE 132, 134 ff.

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Leistungen durch realitätsgerechte, schlüssige Berechnungen sachlich differenziert begründen lässt.²⁷ Der Senat bezieht seine Anforderungen damit ausdrücklich auf den materiellen Normbefund, nicht auf dessen historische Genese. Nimmt man den Senat beim Wort, kommt es für den verfassungsgerichtlichen Kontrollzugriff nicht darauf an, ob der Rechtsanspruch auf existenzsichernde Leistungen durch realitätsgerechte, schlüssige Berechnung sachlich differenziert „begründet worden ist“, sondern ob er sich entsprechend „begründen lässt“.²⁸ Ohne Abweichung zum Hartz IV-Urteil im wörtlichen Vergleich ist die dem Gesetzgeber insgesamt zugestandene Methodenoffenheit. Es bleibt dabei, dass das Grundgesetz insofern keine bestimmte Methode vorschreibt, wodurch der dem Gesetzgeber zustehende Gestaltungsspielraum begrenzt würde. Vielmehr darf er die Methode zur Ermittlung der Bedarfe und zur Berechnung der Leistungen zur Sicherung einer menschenwürdigen Existenz im Rahmen der Tauglichkeit und Sachgerechtigkeit selbst auswählen. Werden hinsichtlich bestimmter Personengruppen unterschiedliche Methoden zugrunde gelegt, muss dies allerdings sachlich zu rechtfertigen sein.²⁹

c) Neuere Entscheidungen In den nachfolgenden Jahren dominierten diese Ausführungen zum Asylbewerberleistungsgesetz die Diktion des Ersten Senats. So wurde im Urteil zum menschenwürdigen Existenzminimum von 2014³⁰ die Freiheit des Gesetzgebers von verfahrensbezogenen regulatorischen Zugriffen durch das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich betont, indem der genuin politische Raum der Entscheidungsfindung unterstrichen wurde: Die Verfassung schreibt nicht vor, was, wie und wann genau im Gesetzgebungsverfahren zu begründen und zu berechnen ist, sondern lässt Raum für Verhandlungen und für den politischen Kompromiss. Das Grundgesetz verpflichtet den Gesetzgeber insofern auch nicht, durch Einbeziehung aller denkbaren Faktoren eine optimale Bestimmung des Existenzminimums vorzunehmen; darum zu ringen ist vielmehr Sache der Politik. Entscheidend ist, dass die Anforderungen des Grundgesetzes, tatsächlich für eine menschenwürdige Existenz Sorge zu tragen, im Ergebnis nicht verfehlt werden.³¹

    

BVerfGE 132, 134 (162 f. Rn. 70). BVerfGE 132, 134 (162 f. Rn. 70 a.E.). BVerfGE 132, 134 (163 Rn. 71). Vgl. BVerfGE 137, 34 ff. BVerfGE 137, 34 (73 f. Rn. 77).

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Diese Formulierung – in der Fassung von 2012 – findet sich identisch im Beschluss zur Hochschulfusion von 2015³² sowie im Urteil zum Betreuungsgeld aus dem gleichen Jahr³³. Zuletzt gewannen gesetzgeberische Sachverhaltsermittlungs- und Begründungsanforderungen im Urteil zum Atomausstieg vom Dezember 2016³⁴ eine gesteigerte Relevanz, nachdem die dortigen Beschwerdeführerinnen mit Blick auf die Eile und die Erkenntnisquellen des Gesetzgebungsverfahrens jene als verletzt gerügt hatten. Der Erste Senat erteilte derartigen Anforderungen eine unzweideutige Absage. Eine von den Anforderungen an die materielle Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes unabhängige Sachaufklärungspflicht kennt das Grundgesetz danach nicht. Nur ausnahmsweise kann in bestimmten Sonderkonstellationen eine selbstständige Sachaufklärungspflicht des Gesetzgebers angenommen werden; der Senat verweist hierzu v. a. auf gesetzliche (Fach‐)Planungsentscheidungen.³⁵ In allen übrigen Fällen verbleibt es beim Grundsatz, dass die Gestaltung des Gesetzgebungsverfahrens im Rahmen der durch die Verfassung vorgegebenen Regeln Sache der gesetzgebenden Organe ist. Da das parlamentarische Verfahren zudem mit der ihm eigenen Öffentlichkeitsfunktion und Transparenz einen öffentlichen Diskurs und damit letztlich die Kontrolle auch der Gesetzgebung durch die Bürger ermöglicht, sieht der Senat keinen Bedarf für weitergehende selbstständige Aufklärungspflichten.³⁶ Auch ohne eine derartige Pflicht besteht selbstverständlich die Notwendigkeit für den Gesetzgeber, seine Entscheidungen in Einklang mit den verfassungsrechtlichen Anforderungen, insbesondere den Grundrechten, zu treffen, und sie insoweit – etwa im Blick auf die Verhältnismäßigkeitsanforderungen – auf hinreichend fundierte Kenntnisse von Tatsachen und Wirkzusammenhängen zu stützen. Jedenfalls darf er Grundrechtseingriffe im Ergebnis nicht auf offensichtlich fehlsame Annahmen gründen.³⁷ Die im Urteil ferner ausgesprochene Zurückweisung einer besonderen Verfahrenspflicht zur Gesetzesbegründung entspricht dem Duktus der Entscheidung zum Asylbewerberleistungsgesetz und der nachfolgenden Judikate.³⁸ Allein

 BVerfGE 139, 148 (180 Rn. 61).  BVerfGE 140, 65 (79 f. Rn. 33).  Vgl. BVerfGE 143, 246 ff.  BVerfGE 143, 246 (343 f. Rn. 274): Einerseits der Beschluss zur Südumfahrung Stendal (BVerfGE 95, 1 [23 f.]) zu einer Fachplanungsentscheidung durch Gesetz; andererseits der Beschluss zur kommunalen Rück-Neugliederung (BVerfGE 86, 90 [108 f.]), ebenfalls mit „deutlichem planerischen Einschlag“.  BVerfGE 143, 246 (344 Rn. 274).  BVerfGE 143, 246 (344 Rn. 275).  BVerfGE 143, 246 (345 Rn. 279).

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maßgeblich ist, dass im Ergebnis die (materiellen) Anforderungen des Grundgesetzes nicht verfehlt werden.

3. Rechtsprechung des Zweiten Senats In seinen aktuelleren Entscheidungen³⁹ kam der Erste Senat nicht umhin, darauf zu verweisen, dass der Zweite Senat für den „Sonderfall der Höhe der Besoldung“ eine Sonderkonstellation ausnahmsweise gebotener Gesetzesbegründung annimmt.

a) W-Besoldung Anlass der neuen Rechtsprechungslinie war der mit der Einführung der W-Besoldung verbundene Systemwechsel im Besoldungsrecht der Professoren. Das Urteil von 2012⁴⁰ im Kontext der in Art. 33 Abs. 5 GG verankerten Pflicht zur amtsangemessenen Alimentation konstatiert zunächst die hergebrachte Kontrollperspektive⁴¹: Dem weiten Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers korrespondiert eine zurückhaltende, auf den Maßstab evidenter Sachwidrigkeit beschränkte materielle Kontrolle der einfachgesetzlichen Regelung durch das Bundesverfassungsgericht, die sich im Ergebnis auf die Frage beschränkt, ob die dem Beamten gewährten Bezüge evident unzureichend sind.⁴² Da jedoch besoldungsrechtliche Systemwechsel in besonderem Maße mit Unsicherheiten behaftet und für Prognoseirrtümer anfällig sind, kommt es zusätzlich auf die Einhaltung prozeduraler Anforderungen an, die als „zweite Säule“ des Alimentationsprinzips neben seine auf eine Evidenzkontrolle beschränkte materielle Dimension treten und seiner Flankierung, Absicherung und Verstärkung dienen.⁴³ Der Senat begründet sodann diesen verfassungsrechtlichen „Systemwechsel“. Dabei erkennt er zunächst den „klassischen“ Grundsatz an, wonach der Gesetzgeber nur ein wirksames Gesetz – und eben nicht mehr – schuldet.⁴⁴ Er

 Vgl. nur BVerfGE 143, 246 (345 f. Rn. 279 a.E.).  Vgl. BVerfGE 130, 263 ff.  Vgl. BVerfGE 65, 141 (148 f.); 103, 310 (319 f.); 110, 353 (364 f.); 117, 330 (353).  BVerfGE 130, 263 (294 f.).  BVerfGE 130, 263 (301).  Vgl. Geiger, Gegenwartsprobleme der Verfassungsgerichtsbarkeit aus deutscher Sicht, in: Berberich u. a. (Hrsg.), Neue Entwicklungen im öffentlichen Recht, 1979, S. 131 (141); Schlaich, VVDStRL 39 (1981), S. 99 (109).

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sieht sich jedoch mit der Herausforderung konfrontiert, dass das Alimentationsprinzip selbst keine quantifizierbaren Vorgaben im Sinne einer exakten Besoldungshöhe liefert. Hieraus folgert der Senat die Notwendigkeit prozeduraler Sicherungen, damit die verfassungsrechtliche Gestaltungsdirektive des Art. 33 Abs. 5 GG auch tatsächlich eingehalten wird. Die prozeduralen Anforderungen an den Gesetzgeber kompensieren daher die Schwierigkeit, das verfassungsrechtlich gebotene Besoldungsniveau anhand materieller Kriterien zu bestimmen. Zudem stellt diese prozedurale Absicherung einen Ausgleich dafür dar, dass die Ausgestaltung des Beamtenverhältnisses einschließlich der Festlegung der Besoldungshöhe der Regelungskompetenz des Gesetzgebers unterliegt. Insofern entfaltet die prozedurale Dimension des Alimentationsprinzips Schutz- und Ausgleichsfunktion.⁴⁵ Die so eingeführten Prozeduralisierungsanforderungen werden noch weiter in die Subkategorien von Begründungs-, Überprüfungs- und Beobachtungspflichten entfaltet und in ihrem Anwendungsbereich sowohl auf – in besonderer Weise prognostisch angelegte – strukturelle Systemwechsel als auch auf die kontinuierliche Fortschreibung der Besoldungshöhe in Gestalt von regelmäßigen Besoldungsanpassungen bezogen.⁴⁶

b) Richterbesoldung und Beamtenbesoldung Im Jahr 2015 hatte der Zweite Senat anlässlich der Verfahren zur Richterbesoldung⁴⁷ und zur Beamtenbesoldung⁴⁸ Gelegenheit, diese Rechtsprechung weiter zu konturieren. Danach ist die Festlegung der Besoldungshöhe durch den Gesetzgeber an die Einhaltung prozeduraler Anforderungen geknüpft, was sich insbesondere in Form von Begründungspflichten niederschlägt.⁴⁹ Der Gesetzgeber ist gehalten, bereits im Gesetzgebungsverfahren die Fortschreibung der Besoldungshöhe zu begründen. Die Ermittlung und Abwägung der berücksichtigten und berücksichtigungsfähigen Bestimmungsfaktoren für den verfassungsrechtlich gebotenen Umfang der Anpassung der Besoldung müssen sich in einer entsprechenden Darlegung und Begründung des Gesetzgebers im Gesetzgebungsverfahren niederschlagen. Eine bloße Begründbarkeit genügt dabei nicht den verfassungsrechtlichen Anforderungen der Prozeduralisierung. Denn – so der Senat – der mit der Ausgleichsfunktion der Prozeduralisierung angestrebte Ra    

BVerfGE 130, 263 (301 f.). BVerfGE 130, 263 (302). Vgl. BVerfGE 139, 64 ff. Vgl. BVerfGE 140, 240 ff. BVerfGE 139, 64 (126 f. Rn. 129).

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tionalisierungsgewinn kann – auch mit Blick auf die Ermöglichung von Rechtsschutz – effektiv nur erreicht werden, wenn die erforderlichen Sachverhaltsermittlungen vorab erfolgen und dann in der Gesetzesbegründung dokumentiert werden. Zusammenfassend gilt: Die Prozeduralisierung zielt auf die Herstellung von Entscheidungen und nicht auf ihre Darstellung, d. h. nachträgliche Begründung.⁵⁰ Diese Formulierungen wurden kurz darauf im Beschluss zur Beamtenbesoldung wörtlich wiederholt.⁵¹ Auch der Beschluss zur abgesenkten Eingangsbesoldung in Baden-Württemberg rekurriert auf Prozeduralisierungsanforderungen.⁵²

III. Divergenz und Konvergenz Schon im Urteil zum Hartz IV-Gesetz scheint auf, was wie ein roter Faden die späteren Entscheidungen beider Senate durchzieht: Das Grundgesetz enthält sich in grundrechtlich besonders sensiblen Sachbereichen konkreter quantifizierbarer Vorgaben zur Höhe der Leistungsgewähr. Fehlt es an (primären) Kriterien zur materiellen Subsumtion, ist das Gericht auf anderweitig, d. h. nicht notwendigerweise materiell, subsumtionsfähige „Hilfsmerkmale“ zurückgeworfen. Denn eine verfassungsgerichtliche Kontrolle bloß auf Evidenzniveau ist äußerst schwierig, wenn ein solches „Evidenzerlebnis“ nicht ohne weiteres festgestellt werden kann. Die nun greifende Kontrolle von Grundlagen und Methode der Leistungsbemessung substituiert dann in gewisser, sicherlich nur approximativer Weise die traditionelle Ergebniskontrolle am Maßstab dieses Grundrechts. Dabei gilt jedenfalls für das Urteil zum Hartz IV-Gesetz, dass die fehlende Verfahrensrationalität nicht lediglich ein unterstützendes Argument, sondern der eigentliche Grund für die Verfassungswidrigkeit der Regelsätze gewesen ist.⁵³ Mit dem Erfordernis der Verfahrensrationalität ist damit neben der bestehenden Evidenzkontrolle eine weitere „negative Grenze des gesetzgeberischen Handelns“ eingezogen.⁵⁴

    

BVerfGE 139, 64 (127 Rn. 130). BVerfGE 140, 240 (296 Rn. 112 f.). BVerfG, Beschluss vom 16. Oktober 2018 – 2 BvL 2/17 –, juris, Rn. 36. Petersen, Verhältnismäßigkeit als Rationalitätskontrolle, 2015, S. 217. Petersen, Verhältnismäßigkeit als Rationalitätskontrolle, 2015, S. 217.

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Diese Konsequenz relativierte der Erste Senat dann in den späteren Judikaten, allen voran zum Asylbewerberleistungsgesetz.⁵⁵ Er stellte klar, dass sich die aus der Verfassung ergebenden Anforderungen an die methodisch sachgerechte Bestimmung grundrechtlich garantierter Leistungen nicht auf das Verfahren der Gesetzgebung beziehen, sondern – man kann ergänzen: allein – auf dessen Ergebnisse.⁵⁶ Von einer im engeren Sinne zu verstehenden Begründungs- bzw. Methodenkontrolle nahm der Senat mithin Abstand und überführte die prozeduralen Anforderungen in eine „reine“ Ergebniskontrolle; erst hier sollte nun wieder die Intervention des Gerichts einsetzen. Mit anderen Worten: Es sollte nicht mehr darauf ankommen, ob die gesetzgeberische Entscheidung realitätsgerecht und schlüssig, sachlich differenziert begründet worden ist, sondern allein, ob sie sich entsprechend begründen lässt – und dies auch nachträglich.⁵⁷ Den neueren Entscheidungen des Ersten Senats ist damit durchweg eine merkliche Zurückhaltung bei der Annahme selbstständiger Ermittlungs-, Sachaufklärungs- oder Begründungspflichten abzulesen. Die Verfahrensrationalität muss sich im Ergebnis, im materiellen Schlusssatz der Rechtssetzung widerspiegeln: Ist eine solche „Begründbarkeit“ auch noch ex post in der gerichtlichen Kontrollperspektive erkennbar und methodisch nachvollziehbar, gibt es danach keinen Raum für weitere Prüfmerkmale des „inneren Gesetzgebungsverfahrens“.⁵⁸ Bemerkenswert ist jedoch die verfassungsprozessuale Kehrseite dieser seit dem Asylbewerberleistungsgesetz gültigen Linie einer „nachvollziehenden Plausibilitätsprüfung“⁵⁹. Denn anders als noch etwa in frühen Entscheidungen⁶⁰ obliegt die auch nachträglich noch zulässige methodische Erklärung bzw. Erklärbarkeit legislativer Produkte im Verfassungsprozess dem Gesetzgeber: Ihn treffen Darlegungs- und Beweislasten; ein Ermittlungsgebot des Bundesverfassungsgerichts besteht nicht.⁶¹ Ob die oben referierte Rechtsprechung des Zweiten Senats bezogen auf die Darlegungslast die identische prozessuale Konsequenz wie der Erste Senat ziehen würde, kann derzeit nicht abschließend beantwortet werden. Denn ob gesetzgeberischen Strukturentscheidungen auf dem Gebiet des Besoldungsrechts über-

 Zum Verhältnis dieser sozialrechtlich geprägten Entscheidungen zuletzt: Nolte, Der Staat 52 (2013), S. 245 ff.  BVerfGE 132, 134 (162 Rn. 70).  BVerfGE 132, 134 (162 f. Rn. 70 a. E.).  Vgl. eingehend Britz, Die Verwaltung 50 (2017), S. 421 (427, 430).  Britz, Die Verwaltung 50 (2017), S. 421 (429); vgl. auch Steinbach, Rationale Gesetzgebung, 2017, S. 85 f.  Vgl. nur BVerfGE 7, 377 (411 f.).  Britz, Die Verwaltung 50 (2017), S. 421 (427 f., 430 f.).

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zeugende konzeptionelle Erwägungen zugrunde liegen, hat der Senat zuletzt in einem eigenständigen Zugriff überprüft.⁶² In diesem Zusammenhang ist überdies anzumerken, dass in den vorgestellten Besoldungsentscheidungen die vom Senat aufgestellten Rationalitätsmaßgaben nur Eingang in den Maßstabsteil der Entscheidungen gefunden haben, indes nicht tragender Bestandteil der Subsumtion sind.⁶³ Im engeren Sinne „zum Schwur“ gekommen ist es daher in den „klassischen“, auf die Bewertung der Besoldungsparameter ausgerichteten Besoldungsverfahren insoweit noch nicht; bislang reichten hier die materiellen Maßstäbe für die verfassungsgerichtliche Kontrolle aus. Ob etwa die in der aktuellen Entscheidung des Zweiten Senats zur abgesenkten Eingangsbesoldung in Baden-Württemberg⁶⁴ vorgenommene „Scharfstellung“ der Prozeduralisierungsanforderungen verallgemeinerungsfähig ist, bleibt daher abzuwarten.⁶⁵ Gleichwohl ist nicht in Abrede zu stellen, dass der Zweite Senat in seinem abstrakten Interventionsniveau deutlich über den Duktus selbst des Hartz IVUrteils hinausgeht. Explizit weist der Senat das Genügen einer bloßen Begründbarkeit gesetzgeberischer Rationalität im betroffenen Sachbereich zurück und verlangt eine vor dem Schlussakt der Rechtssetzung ansetzende Rationalisierung, dokumentiert in den Gesetzgebungsmaterialien. Die hierfür herangezogenen Sachgründe lassen sich funktional-deskriptiv verschlagworten mit Kompensations- und Schutzfunktion.⁶⁶ Kompensatorische Funktion erfüllen Prozeduralisierungspflichten aufgrund der schon mehrfach angerissenen Schwierigkeit, das verfassungsrechtlich gebotene Leistungsniveau (hier: Besoldung) anhand materieller Kriterien zu quantifizieren. Die Schutzfunktion knüpft hieran an. Mit der Ausgestaltung des Beamtenverhältnisses unterliegt auch die Festlegung der Besoldungshöhe allein der Regelungskompetenz des Gesetzgebers, und nicht etwa der Aushandlung durch Tarifparteien. Die prozedurale Absicherung einer Art. 33 Abs. 5 GG gemäßen Besoldungsgesetzgebung soll diese hergebrachte Asymmetrie jedenfalls prozessual ausgleichen: Die Schutzfunktion kompensiert insoweit die fehlende Möglichkeit der deutschen Beamtenschaft, durch Maßnahmen des Arbeitskampfes auf ihre Beschäftigungs- und Besoldungsbedingungen Einfluss zu nehmen.⁶⁷ Fach- wie verfassungsgerichtlicher Rechtsschutz werden erst hierdurch in die Lage gesetzt, den inneren Rechtssetzungsvorgang nachzuvollzie-

 BVerfGE 145, 1 (16 Rn. 38).  Vgl. Britz, Die Verwaltung 50 (2017), S. 421 (428).  BVerfG, Beschluss vom 16. Oktober 2018 – 2 BvL 2/17 –, juris, Rn. 36.  Aktuell sind noch einige Vorlageverfahren zu diversen Besoldungsfragen anhängig.  BVerfGE 130, 263 (301 f.) spricht von „Schutz- und Ausgleichsfunktion“.  Zuletzt konkret: BVerfG, Urteil vom 12. Juni 2018 – 2 BvR 1738/12 u. a. –, juris, Rn. 183; Kaiser, AöR 142 (2017), S. 417 (436).

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hen.⁶⁸ Zugespitzt formuliert ist Anliegen des Zweiten Senats, die „Black Box“ der Besoldungsgesetzgebung auszuleuchten und sich zugleich selbst der Ausleuchtung zu öffnen, indem das gerichtliche Entscheidungsprogramm prozedural gebunden und entfaltet wird. Es bleibt letztlich eine Divergenz beider Senate festzuhalten. Grundsätzlich festzuhalten ist indes vorab auch, dass die Entscheidungen der beiden Senate in unterschiedlichen Sachbereichen ergangen sind. Dass aber unterschiedliche Lebens- und Sachbereiche erfordern, sich ihnen jeweils kontextbezogen und im engsten Sinne sachangemessen zu nähern, steht ebenfalls außer Frage. Für den Ersten Senat gehört die Prozeduralisierung von Gesetzgebung allein zur Darstellung und (auch nachträglicher) Begründung bzw. Begründbarkeit von Entscheidungen. Der Zweite Senat zielt im eigentlichen Sinn auf die Herstellung von Entscheidungen.⁶⁹ Sind die Ansätze auch verschieden, ihre Funktion ist es nicht: Es geht dem Bundesverfassungsgericht insgesamt um die Gewährleistung wirksamer grund- und verfassungsrechtlicher Kontrolle auch in den Bereichen, in denen das Grundgesetz selbst keine hinreichend konkreten Maßstäbe der materiellen Kontrolle bietet, und vor allem: auch nicht bieten kann.⁷⁰ Vergegenwärtigt man sich die an das Gericht herangetragenen Fragen nach der verfassungsrechtlich konkret gebotenen Höhe menschenwürdiger Grundsicherung der Existenz oder der amtsangemessenen Beamtenalimentation, leuchtet dies unmittelbar ein. Das Gericht kann in diesen ohne Zweifel singulären Sonderkonstellationen⁷¹ eine Antwort schlechterdings nicht schuldig bleiben, ist indes darauf angewiesen, dass sich der Gesetzgeber zunächst selbst in qualifizierter Form die gleichen Fragen gestellt hat.

IV. Theoretischer Hintergrund Vor diesem empirischen Hintergrund wird deutlich, dass das Bundesverfassungsgericht nicht selbst über ein Konzept optimaler Methodik der Gesetzgebung verfügt.⁷² Die Regeln des äußeren Gangs der Gesetzgebung sind ausgenommen: Aufteilung der Kompetenzen, Ausgestaltung der Initiativ- und Antragsrechte, der

 Vgl. Steinbach, Rationale Gesetzgebung, 2017, S. 84.  Ausdrücklich: BVerfGE 139, 64 (127 Rn. 130).  Britz, Die Verwaltung 50 (2017), S. 421 (427 f.).  So auch zuletzt BVerfG, Urteil vom 19. September 2018 – 2 BvF 1/15 u. a. –, juris, Rn. 178; außerdem BVerfG, Beschluss vom 16. Oktober 2018 – 2 BvL 2/17 –, juris, Rn. 36.  Vgl. Schwerdtfeger, in: Festschrift für Ipsen, 1977, S. 173.

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Ablauf von Debatten etc., all dies ist rechtlich und prozessual greifbar.⁷³ Anders sieht es dagegen bei der konkreten Methodik der legislativen Entscheidungsfindung aus. Zwar lassen sich die methodischen Stufen hin zum Rechtssatz (bzw. jeglicher hoheitlicher „Setzung“) nachvollziehen: Vom Heranziehen der vollständigen und richtigen Fakten und Daten, über die Aufbereitung derselben als valide Sachverhaltsbasis, bis hin zur Abwägung zwischen denkbaren Schlussfolgerungen hieraus und der finalen Entscheidung.⁷⁴ Welche Bindungen bestehen jedoch in diesen Stufen, was ist conditio sine qua non einer „guten“ Gesetzgebung? Ausgangspunkt ist immer die Freiheit des Gesetzgebers. In den Grenzen dessen, was das Verfassungsrecht als Rechtsbindung des Gesetzgebers festgelegt hat, handelt die gesetzgebende Volksvertretung nach dem Mehrheitsprinzip und mit politischer Gestaltungsfreiheit.⁷⁵ Anforderungen an die Regelhaftigkeit des Gesetzes ergeben sich indes nicht zuletzt aus dem Gebot verallgemeinernder Regelbildung: Die „Allgemeinheit“ des Gesetzes drängt auf klare Regelungen, stärkt die Rationalität der Gesetzgebung, setzt „Rechtsstrukturen“ und gibt ein rationales, ein „mittleres“, ein freiheits- und gleichheitsgerechtes Maß.⁷⁶ In erster Linie bezieht sich dies auf Formulierung und sprachliche Allgemeinheit des Gesetzes: Diese stärken die Wirkkraft der Gesetze, begründen Rechtssicherheit und Vertrauen, und schaffen notwendige Bedingungen der Freiheit.⁷⁷ An der Problematik der gerichtlichen Kontrollperspektive ändert dies indes nichts: Denn hinterfragt das Gericht detailliert gerade die Qualität der Regelbildung, sieht es sich dem Vorwurf ausgesetzt, unzulässig in den legislativen Entscheidungsraum überzugreifen, oder – in einer bekannten Formulierung – seine inhaltlichen Vorstellungen an die Stelle derjenigen des Gesetzgebers zu setzen.⁷⁸

 Schwerdtfeger, in: Festschrift für Ipsen, 1977, S. 173; Hölscheidt/Menzenbach, DÖV 2008, S. 139 (143 f.).  Vgl. Schwerdtfeger, in: Festschrift für Ipsen, 1977, S. 173 (173, 178 ff.); Ruffert, in: Festschrift für Hufen, 2015, S. 511 (517 f.); Schuppert, ZG 2003 (Sonderheft), S. 4 (18).  Wörtlich: Badura, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR XII, 3. Aufl. 2014, § 265 Rn. 53; vgl. auch Waldhoff, in: Festschrift für Isensee, 2007, S. 325 (333 ff.).  So wörtlich: G. Kirchhof, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR XII, 3. Aufl. 2014, § 267 Rn. 12; vgl. unter stärkerer Betonung des Transparenzgedankens Waldhoff, in: Festschrift für Isensee, 2007, S. 325 (336); ferner Wieckhorst, Grundrechtsschutz durch Legislativverfahren, 2017, S. 356, unter Rekurs auf die grundrechtliche Bindung auch des Gesetzgebers.  Wörtlich: G. Kirchhof, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR XII, 3. Aufl. 2014, § 267 Rn. 12.  Vgl. Schwerdtfeger, in: Festschrift für Ipsen, 1977, S. 173 (188); Risse, JZ 2018, S. 71 (71 f.); G. Kirchhof, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR XII, 3. Aufl. 2014, § 267 Rn. 11; Dann, Der Staat 49 (2010), S. 630 (643 f.).

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Ansätze, die rechtsstaatlich und demokratisch gebotene Rationalität staatlichen Handelns zu sichern, findet man seit jeher in der Verwaltungsverfahrenslehre. Die Transparenz administrativer Entscheidungsbildung, Qualitätssicherung des Entscheidungsergebnisses und Lernbereitschaft des Entscheidungsträgers sind gewichtige Leitsterne des modernen Verfahrensrechts.⁷⁹ Beispiele für derartige, der Selbst- und Fremdkontrollfunktion dienende Sicherungsmaßnahmen administrativer Rationalität finden sich etwa in Begründungs- und Dokumentationserfordernissen (§ 39 VwVfG), Anhörungspflichten, Befangenheitsregelungen, Aufklärungsund Informationspflichten.⁸⁰ Die Praxisrelevanz beispielsweise des Begründungserfordernisses bei beamtenrechtlichen Auswahlentscheidungen spricht für sich.⁸¹ Insgesamt ist jedoch äußerste Vorsicht geboten, verwaltungsverfahrensrechtliche Rationalitätsanforderungen auf die Gesetzgebung zu übertragen.⁸² Schon die oben angedeuteten staatsphilosophischen Grundbestimmungen stünden dem entgegen. Fruchtbringend kann indes sein, sich bewusst zu machen, dass es bei der Problematik der Prozeduralisierung um (nur) verfahrensbezogene Argumente in der materiellen Rechtmäßigkeit geht, nicht aber um im engeren Sinne Fragen der formellen Rechtmäßigkeit von Gesetzen.⁸³ In dieser Hinsicht liegen Vergleiche der prozeduralen Kontrolle in Form von indirekter Kontrolle legislativer Einschätzungs- und Prognosespielräume mit administrativen Pendants nicht ganz fern.⁸⁴ Dies ist in der Rechtsprechung des Zweiten Senats angedeutet, wenn die verfahrensbezogenen Anforderungen als „zweite Säule“ des Alimentationsprinzips neben seine auf eine Evidenzkontrolle beschränkte materielle Dimension treten und seiner Flankierung, Absicherung und Verstärkung dienen sollen.⁸⁵ Prozedurale Anforderungen haben die Funktion, den weiten Entscheidungsspielraum des Gesetzgebers durch eine Art Selbstvergewisserung

 Vgl. nur Schmidt-Aßmann, Der Verfahrensgedanke im deutschen und europäischen Verwaltungsrecht, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. II, 2. Aufl. 2012, § 27 Rn. 61; hierauf verweist etwa BVerfGE 139, 64 (126 f.).  Vgl. Britz, Die Verwaltung 50 (2017), S. 421 (422).  Statt vieler: BVerfGE 143, 22 (28 f. Rn. 20).  Sehr kritisch etwa Waldhoff, in: Festschrift für Isensee, 2007, S. 325 (330); Möllers, Legalität, Legitimität und Legitimation des Bundesverfassungsgerichts, in: Jestaedt u. a. (Hrsg.), Das entgrenzte Gericht, 2011, S. 281 (396 ff.); Hebeler, DÖV 2010, S. 754 (760 ff.); Grzeszick, VVDStRL 71 (2012), S. 49 (63 ff.), alle jeweils m.w. N.; deutlich gegen diese Vorwürfe nunmehr: Britz, Die Verwaltung 50 (2017), S. 421 (430).  Vgl. Petersen, Verhältnismäßigkeit als Rationalitätskontrolle, 2015, S. 196.  Vgl. Petersen, Verhältnismäßigkeit als Rationalitätskontrolle, 2015, S. 101 ff.; zu Zulässigkeit und Grenzen der administrativen Einschätzungsprärogative: Jacob/Lau, NVwZ 2015, S. 241 ff.  Vgl. BVerfGE 130, 263 (301).

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Thomas Jacob

zu kanalisieren.⁸⁶ Zentral ist damit eben auch der Kompensationsgedanke: Denn wo das Entscheidungsergebnis nicht rechtlich klar determiniert ist, können zum Ausgleich das Verfahren und seine Regelung eine gewisse Gewähr für eine angemessene Entscheidung bieten.⁸⁷ Dieser Gedanke ist dem Bundesverfassungsgericht keineswegs neu, wenn es wiederholt ausgeführt hat: Ausfüllungsbedürftige materiell-rechtliche Normen, die in den Grundrechtsschutz eingreifen, erscheinen eher tragbar, wenn durch ein formalisiertes, gerichtlich kontrollierbares Verfahren dafür vorgesorgt wird, dass die wesentlichen Entscheidungsfaktoren geprüft und die mit der Norm angestrebten Ziele wirklich erreicht werden.⁸⁸

V. Ausblick Das Bundesverfassungsgericht operiert mit seiner Rechtsprechung zu Prozeduralisierung und rationaler Gesetzgebung zwischen zwei Extrempositionen. Wird einerseits das Öffentlichkeitsgebot des Gesetzes dahingehend erweitert, dass Motive und Verfahrensablauf ebenso öffentlich und leicht zugänglich sein müssten wie der spätere Gesetzestext, mithin der der für die rechtsstaatliche Verwaltung selbstverständliche Begründungszwang auch den Gesetzgeber treffe,⁸⁹ steht andererseits monolithisch das Diktum, wonach der Gesetzgeber gar nichts anderes als (nur) das Gesetz schulde.⁹⁰ Die Navigation zwischen diesen Polen erinnert ebenso an eine Fahrt zwischen Skylla und Charybdis wie auch die Motivlage des Gerichts: Vermieden werden soll sowohl eine Übergriffigkeit in den Kernbereich gesetzgeberischer Tätigkeit als auch eine Kontrollrücknahme, die letztlich einen effektiven Grundrechtsschutz leerlaufen ließe.⁹¹ Eine Lösung könnte in einer stärkeren Kontextualisierung der Rechtsprechung des Bundes-

 BVerfG, Beschluss vom 16. Oktober 2018 – 2 BvL 2/17 –, juris, Rn. 38.  So wörtlich schon Voßkuhle, Das Kompensationsprinzip, 1999, S. 63 ff. m.w. N.; kritisch hierzu Grzeszick, VVDStRL 71 (2012), S. 49 (72 ff.).  BVerfGE 33, 303 (341); vgl. auch BVerfGE 41, 251 (265); 49, 168 (181 f.); 61, 210 (252).  So Pestalozza, NJW 1981, S. 2081 (2086).  So Geiger, Gegenwartsprobleme der Verfassungsgerichtsbarkeit aus deutscher Sicht, in: Berberich u. a. (Hrsg.), Neue Entwicklungen im öffentlichen Recht, 1979, S. 131 (141); Schlaich, VVDStRL 39 (1981), S. 99 (109); zuletzt Hölscheidt/Menzenbach, DÖV 2008, S. 139 (145). Vgl. zum aktuellen Meinungsstand in der Literatur Wieckhorst, Grundrechtsschutz durch Legislativverfahren, 2017, S. 53 ff.  Britz, Die Verwaltung 50 (2017), S. 421 (428 f., 430).

Prozeduralisierung und rationale Gesetzgebung

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verfassungsgerichts liegen.⁹² Wie in den einschlägigen Entscheidungen selbst eigentlich schon hinreichend klar zum Ausdruck kommt, geht es keinem der beiden Senate darum, abstrakt-allgemeine Anforderungen an Gesetzgebung überhaupt zu formulieren. Es dürfte sich jeweils um einen „spezifischen Kontrollzugriff für Sonderfälle“ handeln, der nicht überinterpretiert werden sollte; auch zur prozeduralen Kontrolldichte ist womöglich nicht das letzte Wort gesprochen.⁹³

 Vgl. zuletzt BVerfG, Urteil vom 19. September 2018 – 2 BvF 1/15 u. a. –, juris, Rn. 178; ferner BVerfG, Beschluss vom 16. Oktober 2018 – 2 BvL 2/17 –, juris, Rn. 36, wonach der Gesetzgeber hier „ausnahmsweise“ mehr als das Gesetz als solches schulde.  Vgl. Britz, Die Verwaltung 50 (2017), S. 421 (431); Ruffert, in: Festschrift für Hufen, 2015, S. 511 (519 f.); (zu) weitgehend daher Kempny/Krüger, SächsVBl. 2014, S. 153 (156).

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Die Bindung deutscher Behörden und Gerichte an die Grundrechte des Grundgesetzes bei der Anwendung von Unionsrecht Leitentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts BVerfGE 37, 271 – Solange-I BVerfGE 73, 339 – Solange-II BVerfGE 89, 155 – Vertrag von Maastricht BVerfGE 95, 173 – Tabaketikettierung BVerfGE 113, 273 – Europäischer Haftbefehl BVerfGE 118, 79 – Emissionsberechtigungen BVerfGE 121, 1 – Vorratsdatenspeicherung, eA BVerfGE 123, 267 – Vertrag von Lissabon BVerfGE 125, 260 – Vorratsdatenspeicherung, Hauptsache BVerfGE 126, 286 – Honeywell BVerfGE 128, 1 – Gentechnik BVerfGE 129, 78 – Cassina BVerfGE 129, 186 – Investitionszulagengesetz BVerfGE 133, 277 – Antiterrordatei BVerfGE 140, 317 – Soweit BVerfGE 142, 74 – Sampling BVerfGE, Beschluss des Ersten Senats vom 21. März 2018 – 1 BvF 1/13 –, juris – Lebensmittelinformation

Ausgewählte Literatur Britz, Grundrechtsschutz durch Bundesverfassungsgericht und den Europäischen Gerichtshof, EuGRZ 2015, S. 275 ff.; Franzius, Strategien der Grundrechtsoptimierung in Europa, EuGRZ 2015, S. 139 ff.; Griebel, Doppelstandards des Bundesverfassungsgerichts beim Schutz Europäischer Grundrechte, Der Staat 2013, S. 371 ff.; Sauer, „Solange“ geht in Altersteilzeit, Der unbedingte Vorrang der Menschenwürde vor dem Unionsrecht, in: NJW 2016, S. 1134 ff.; Thym, Vereinigt die Grundrechte, JZ 2015, S. 53 ff.

Inhalt I. Einführung 76 II. Unionsrechtlicher Rahmen

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https://doi.org/10.1515/9783110599916-006

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. Anwendungsvorrang 79 . Trennung der Grundrechtsräume nach Inkrafttreten der Charta? 80 a) Rechtsprechung zu Art.  GrCh 80 b) Rechtsprechung zu Art.  GrCh 82 83 III. Bisherige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts . Die Rechtsprechung des Zweiten Senats 83 a) Solange-I 83 b) Solange-II 84 85 c) Maastricht d) Tabaketikettierung 85 e) Subventionsrückforderung – umfassende Vorprägung 85 f) Europäischer Haftbefehl I 86 g) Urteil zum Vertrag von Lissabon 86 h) Honeywell 87 i) Soweit oder Solange-III 87 j) Bilanz 88 . Die Rechtsprechung des Ersten Senats 89 a) Emissionsberechtigungen 89 b) Vorratsdatenspeicherung 90 aa) Eilverfahren 90 bb) Hauptsacheverfahren 90 91 c) Gentechnik d) Cassina – Grundrechtsfähigkeit juristischer Personen aus anderen EU-Mitgliedstaaten 91 e) Investitionszulagengesetz 92 f) Antiterrordatei 94 g) Sampling 94 96 h) Entscheidung zu Informationen im Lebensmittelrecht i) Bilanz 96 . Zusammenfassung 97 IV. Ausblick 98

I. Einführung Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland enthält schon in seiner Präambel das Bekenntnis zu einem vereinten Europa. Seit 1957 hat sich diese Europäische Einigung wesentlich im Rahmen von EWG, EG und EU vollzogen. Dabei hat der EuGH der Europäischen Rechtsordnung schon sehr früh einen Vorrang vor nationalem Recht zugesprochen, um eine einheitliche Anwendung des europäischen Rechts sicherzustellen.¹ Da dieser Vorrang nach Auffassung des EuGH  Vgl. EuGH, Urteil vom 5. Februar 1963 – C-26/62 – van Gend und EuGH, Urteil vom 15. Juli 1964 – C-6/64 – Costa v. E. N. E. L.

Grundrechtsbindung bei der Anwendung von Unionsrecht

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auch gegenüber nationalen Grundrechten besteht, ist die Wirksamkeit nationaler grundrechtlicher Gewährleistungen und damit – für die Bundesrepublik – die Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts im Anwendungsbereich des Unionsrechts prekär. Die Anwendbarkeit deutscher Grundrechte in diesem Bereich ist Gegenstand des vorliegenden Beitrags. Entsprechend der Zielsetzung der „Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts“ konzentriert sich der Beitrag fast ausschließlich auf die Entscheidungen des Gerichts.² Das Erkenntnisinteresse liegt dabei nicht auf der Überprüfbarkeit von deutschen Umsetzungsgesetzen an deutschen Grundrechten. Hier ist zwischenzeitlich vieles geklärt. Die diesbezügliche Rechtsprechung des Gerichts wird jedoch genutzt, um sich der Frage zu nähern, inwieweit bei der Anwendung von europäischem Recht bzw. deutschem Umsetzungsrecht durch deutsche Behörden und Gerichte, deutsche Grundrechte zur Anwendung kommen. Dabei liegt die praktische Bedeutung dieser Fragestellung weniger in der Anwendbarkeit von Grundrechten generell. Denn sollte man die Anwendbarkeit deutscher Grundrechte verneinen, so käme wohl fast immer ein paralleles Chartagrundrecht zur Anwendung. Die Auswirkungen betreffen vielmehr die prozessualen Durchsetzungsmöglichkeiten der Grundrechte. Denn eine Unanwendbarkeit deutscher Grundrechte würde nach der bisherigen Verneinung der Rügbarkeit von Chartagrundrechten mit der Verfassungsbeschwerde diesen Rechtsbehelf ausschließen. Soweit das Unionsrecht in Verordnungen oder Richtlinien abschließende Vorgaben macht, wäre der für die deutsche Verfassungswirklichkeit wichtige Rechtsbehelf der Urteilsverfassungsbeschwerde, mit der nicht inzident die Verfassungswidrigkeit des zugrundeliegenden Gesetzes gerügt, sondern die grundrechtsverletzende Anwendung im Einzelfall geltend gemacht wird, wirkungslos.³ Einer der zentralen Gründe für die Wirkungsmacht der Grundrechte für die Auslegung des einfachen Rechts wäre im Anwendungsbereich des Unionsrechts, soweit keine Individualbeschwerdemöglichkeit zum EuGH geschaffen wird, ausgeschlossen. Die Beschwerde zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gem. Art. 34 EMRK könnte diese Lücke strukturell kaum füllen.⁴

 Die zahlreichen in der Literatur vertretenen Erklärungen und Lösungen des Problems können dementsprechend in diesem Beitrag nicht dargestellt und diskutiert werden; vgl. die obige Literaturauswahl.  Die international wohl beispiellose Vergrundrechtlichung der deutschen Rechtsordnung wäre ohne das Institut der Urteilsverfassungsbeschwerde nicht vorstellbar.  Auf die Frage, inwieweit der EGMR seine Prüfungszuständigkeit bei der Anwendung von Unionsrecht durch die Mitgliedstaaten zurücknimmt, kann in diesem Beitrag aus Platzgründen nicht eingegangen werden.

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Als Beispielsfälle, in denen diese Frage virulent wird, sollen hier nur zwei genannt werden: Zum einen könnte ein deutsches Gericht bei Anwendung der Datenschutzgrundverordnung eine grundrechtlich fehlerhafte Abwägung zwischen Persönlichkeitsrechten und Pressefreiheit treffen. Wenn im Anwendungsbereich der Datenschutzgrundverordnung keine deutschen Grundrechte Anwendung finden, könnte das Bundesverfassungsgericht nicht eingreifen. Zum anderen wäre etwa in einem Asylrechtsstreit um die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft eines christlichen Konvertiten denkbar, dass das Verwaltungsgericht Vorgaben der Qualifikationsrichtlinie zur Berücksichtigung der Religionsfreiheit in einer das Grundrecht verletzenden Weise umsetzt. Auch hier bliebe, da Art. 10 Abs. 1 lit. b) der Qualifikationsrichtlinie die religiöse Verfolgung abschließend definiert, kein Raum für eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts. Um sich dieser Frage zu nähern, wird zunächst überblicksartig und ohne jeden Anspruch auf Vollständigkeit die relevante Rechtsprechung des EuGH, insbesondere zum Vorrang des Unionsrechts und zur Anwendbarkeit der Chartagrundrechte dargestellt. Hierauf aufbauend soll dann die relevante Rechtsprechung des Zweiten und im Anschluss des Ersten Senats zu dieser Frage aufgearbeitet werden. Der Beitrag schließt mit einem Ausblick und vorsichtigen Prognosen zur weiteren Entwicklung.

II. Unionsrechtlicher Rahmen Unionsrechtlicher Ausgangspunkt von Überlegungen, inwieweit deutscher Grundrechtsschutz bei der Anwendung von Unionsrecht gewährt werden kann, ist der Vorrang des Unionsrechts (dazu unter 1.). Dieser Vorrang, der sich funktionalpragmatisch aus der notwendigen Einheitlichkeit der Unionsrechtsordnung ableitet, begrenzt die Wirkung von entgegenstehendem nationalem Recht. In einem weiteren Schritt soll untersucht werden, inwieweit das Inkrafttreten der Grundrechtecharta und die daraufhin ergangene Rechtsprechung des EuGH Anlass gibt, eine strukturelle Trennung der Grundrechtsräume anzunehmen (dazu unter 2.).

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1. Anwendungsvorrang Den Vorrang des Unionsrechts gegenüber nationalem Recht hat der EuGH erstmals mit dem Urteil in der Sache Costa/E.N.E.L. entwickelt.⁵ Der EuGH formulierte, dass es den Mitgliedstaaten unmöglich sei, gegen Rechtsakte der Gemeinschaftsrechtsordnung „nachträglich einseitige Maßnahmen ins Felde zu führen“. „Wie immer geartete innerstaatliche Rechtsvorschriften“ könnten der Unionsrechtsordnung nicht vorgehen. Die hierin schon angelegte Annahme, Gemeinschaftsrecht gehe im Kollisionsfall auch nationalem Verfassungsrecht vor, hat der EuGH dann zuerst explizit in der Entscheidung „Internationale Handelsgesellschaft“ ausgesprochen.⁶ Voraussetzung dafür, dass nationales Recht unangewendet bleibt, ist eine Kollision zwischen nationalem und europäischem Recht. Erfasst sind hiervon jedenfalls direkte Kollisionen, in denen nationales und europäisches Recht für den gleichen Sachverhalt unterschiedliche Rechtsfolgen anordnen. Gibt also eine Norm des EU-Sekundärrechts eine bestimmte Rechtsfolge vor, so kann der nationale Rechtsanwender von der Anordnung der Rechtsfolge nicht mit der Begründung absehen, diese verstoße gegen nationale Grundrechte. Daneben sind auch indirekte Kollisionen, in denen nationale (verfahrensrechtliche) Vorschriften der praktischen Wirksamkeit von europarechtlichen Vorschriften entgegenstehen, erfasst. Voraussetzung der Unanwendbarkeit einer solchen nationalen Bestimmung ist nach der Rechtsprechung des EuGH, dass die nationale Bestimmung die Verwirklichung des unionsrechtlich bezweckten Erfolges in qualifizierter Weise behindert.⁷ Auf die Details dieser Auffassung kommt es im vorliegenden Kontext nicht an; festzuhalten ist, dass der Anwendungsvorrang des Unionsrechts die Anwendung gleichlaufender nationaler Regelungen nicht ausschließt. Unionsgrundrechte stünden also der Anwendung gleichlaufender nationaler Grundrechte nicht entgegen. Etwas Anderes gilt unionsrechtlich nur im Bereich der Handlungsform der Verordnung gem. Art. 288 AEUV. Diese verbietet es den Mitgliedstaaten nach der Rechtsprechung des EuGH, inhaltsgleiches Recht zu erlassen oder beizubehalten.⁸ Einen entsprechenden Charakter haben jedoch Unionsgrundrechte nicht. Diesen in besonderem Maß auf Konkretisierung angelegten Rechtsnormen kommt

   

EuGH, Urteil vom 15. Juli 1964 – C-6/64 – Costa v. E. N. E. L. EuGH, Urteil vom 17. Dezember 1970 – C-11/70 – Internationale Handelsgesellschaft. Vgl. Nettesheim, in: Grabitz/Hilf/ders., Das Recht der EU, Art. 1 AEUV, Rn. 76. Nettesheim, in: Grabitz/Hilf/ders., Das Recht der EU, Art. 288 AEUV, Rn. 101.

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keine vergleichbare Wirkung wie der grundsätzlich unmittelbar wirkenden und keinen Umsetzungsakt erfordernden Verordnung zu.⁹

2. Trennung der Grundrechtsräume nach Inkrafttreten der Charta? Da in der deutschen Literatur und Rechtsprechung vielfach ein Grundsatz einer sich gegenseitig ausschließenden Anwendbarkeit von deutschen Grundrechten und Chartagrundrechten angenommen wird, soll im Folgenden ergänzend geprüft werden, inwieweit dies aus der Grundrechtecharta zu folgern sein könnte.

a) Rechtsprechung zu Art. 51 GrCh Schon vor dem Inkrafttreten der Charta hat der EuGH den Anwendungsbereich der damals aus allgemeinen Rechtsgrundsätzen abgeleiteten Gemeinschaftsgrundrechte auch auf mitgliedstaatliche Handlungsspielräume bei der Anwendung von Unionsrecht erstreckt. Insbesondere hat er seit der ERT-Entscheidung¹⁰ angenommen, dass die Mitgliedstaaten auch bei der Einschränkung von Grundfreiheiten die Grundrechte des Gemeinschaftsrechts zu beachten haben. Diese vielfach als zu weit empfundene Rechtsprechung war Hintergrund für die Vorschrift des Art. 51 GrCH. Danach sind die Mitgliedstaaten an die Chartagrundrechte gebunden, wenn sie Unionsrecht „durchführen“. Im englischen Text ist die Rede von der Bindung der Mitgliedstaaten „only when they are implementing Unions law“. Im französischen schließlich wird die Bindung auf Situationen beschränkt „lorsqu’ils [die Mitgliedstaaten] mettent en œuvre le droit de l’Union“. Über die Frage, ob damit im Ergebnis eine Begrenzung der Anwendbarkeit der Chartagrundrechte gegenüber der bisherigen EuGH-Rechtsprechung beabsichtigt war, ist viel gestritten worden.¹¹ Der EuGH hat dem eine Absage erteilt. Er

 Vgl. Classen, EuR 2016, S. 304 (310).  EuGH, Urteil vom 18. Juli 1991 – C-260/89 – ERT; kritisch hierzu statt vieler P.M. Huber, EuR 2008, 190 ff.  Vgl. umfassend Ladenburger/Vondung, in: Stern/Sachs, GrCh, Art. 51, Rn. 23 ff. und Ward, in: Peers u. a., EU Charter, Art. 51, Rn. 51.37 ff. mit weiteren Nachweisen; kritisch zu der Bedeutung der Erläuterungen des Präsidiums etwa Kingreen, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 5. Aufl. 2016, Art. 51 Rn. 18 f.

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hat zunächst in der scharf kritisierten Åkerberg Fransson-Entscheidung¹² an einem weiten Anwendungsbereich der Grundrechtecharta festgehalten und ausgeführt dass „die durch die Charta garantierten Grundrechte zu beachten sind, wenn eine nationale Rechtsvorschrift in den Geltungsbereich des Unionsrechts fällt, [und deshalb] … keine Fallgestaltungen denkbar [sind], die vom Unionsrecht erfasst würden, ohne dass diese Grundrechte anwendbar wären. Die Anwendbarkeit des Unionsrechts umfasst die Anwendbarkeit der durch die Charta garantierten Grundrechte.“ Problematisch war nicht so sehr dieser Ergebnissatz, der letztlich alle Deutungsvarianten offen ließ, sondern die danach folgende Subsumtion, in der der EuGH den Anwendungsbereich der Charta im Wesentlichen damit begründete, dass die von Herrn Fransson hinterzogene Mehrwertsteuer auch dem Unionsbudget zugutegekommen wäre und damit – so zumindest die in Deutschland teilweise heftige Kritik – ein denkbar weites Verständnis des Anwendungsbereichs der Charta befürwortete.¹³ Der EuGH hat in Folgeentscheidungen den Anwendungsbereich der Charta genauer bestimmt und greift hierbei im Ergebnis auf ein Indizienbündel zurück.¹⁴ In der Entscheidung Cruciano Siragusa¹⁵ verlangt er für die Anwendung der Unionsrechte „einen hinreichenden Zusammenhang von einem gewissen Grad […], der darüber hinausgeht, dass die fraglichen Sachbereiche benachbart sind oder der eine von ihnen mittelbare Auswirkungen auf den anderen haben kann“. Hierfür sei „u. a. zu prüfen, ob mit ihr eine Durchführung einer Bestimmung des Unionsrechts bezweckt wird, welchen Charakter diese Regelung hat und ob mit ihr nicht andere als die unter das Unionsrecht fallenden Ziele verfolgt werden, selbst wenn sie das Unionsrecht mittelbar beeinflussen kann, sowie ferner, ob es eine Regelung des Unionsrechts gibt, die für diesen Bereich spezifisch ist oder ihn beeinflussen kann“. Der EuGH ist demnach um eine klarere Begrenzung des Anwendungsbereichs der Grundrechtecharta bemüht und hält sich insbesondere in politisch besonders sensiblen Bereichen eher zurück.¹⁶ Der in Deutschland oft erhobenen Forderung, von einer Grundrechtskontrolle abzusehen, soweit den Mitgliedstaaten Spiel EuGH, Urteil vom 7. Mai 2013 – C-617/10 – Akerberg Fransson.  Vgl. statt vieler Scholz, DVBl 2014, S. 197 ff.; differenzierend Lange, NVwZ 2014, S. 169 ff.; kritisch aus belgischer Perspektive auch Bailleux, RTDH 2014, S. 215 ff. Der Erste Senat hat auf diese Entscheidung in der Antiterrordatei-Entscheidung bekanntlich mit einer deutlichen Warnung reagiert und für den Fall einer weiteren Ausweitung des Anwendungsbereichs der Unionsgrundrechte die Annahme eines ultra-vires Aktes angedeutet.  Vgl. Thym, DÖV 2014, S. 941 ff.  EuGH, Urteil vom 6. März 2014 – C-206/13 – Cruciano Siragusa  EuGH, Urteil vom 15. September 2015 – C-67/14 – Alimanovic zu Sozialleistungen für Unionsbürger und Urteil vom 7. März 2017 – C-638/17 PPU – X. und X. zum Anwendungsbereich des Unionsrechts auf Visumsanträge von Asylbewerbern.

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räume bei der Umsetzung des Unionsrechts verbleiben, wird er jedoch kaum nachkommen.¹⁷

b) Rechtsprechung zu Art. 53 GrCh Der relativ weite Anwendungsbereich der Unionsgrundrechte hat insbesondere in der Bundesrepublik zu Befürchtungen geführt, dass der EuGH die Grundrechte als Unitarisierungsvehikel nutzen, die Bedeutung des Unionsrechts ausbauen und nationale Grundrechte schrittweise verdrängen wolle. Diesbezüglich ist Art. 53 GrCh zu beachten, nach dem die Chartagrundrechte nicht als Einschränkung oder Verletzung anderer menschenrechtlicher Gewährleistungen anzusehen ist. Ziel der Vorschrift ist es, dass die Charta nicht zu einer Reduzierung des Schutzeffekts charta-externer Grundrechtsnormen, insbesondere des nationalen Verfassungsrechts der Mitgliedstaaten, führt.¹⁸ Die Vorschrift wurde verschiedentlich als Ausdruck eines neuen Rechtspluralismus gedeutet, die es nationalen Gerichten ermöglichen solle, nationale Grundrechtsstandards gegenüber (zwingenden) EU-rechtlichen Vorgaben in Stellung zu bringen.¹⁹ Der EuGH folgte diesem Ansatz in der Melloni-Entscheidung nicht.²⁰ Er führte aus, dass eine solche Auslegung der Charta gegen den Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts, der auch gegenüber mitgliedstaatlichem Verfassungsrecht gelte, verstoßen und damit die Wirksamkeit des Unionsrechts beeinträchtigen würde. Der EuGH verfolgt in dieser Entscheidung klar das Ziel, den Vorrang des Unionsrechts auch nach Inkrafttreten der Charta abzusichern; nationale Grundrechte können nicht angewendet werden, wenn sie die Wirksamkeit des Sekundärrechts beeinträchtigen.²¹ In der am selben Tag ergangenen Åkerberg Fransson-Entscheidung²² setzte der EuGH leicht andere Akzente. Der Fall betraf – wie oben dargestellt – nationale Rechtsakte, die zwar in dem weiten Verständnis des EuGH „Durchführung“ des Unionsrechts darstellen, aber anders als die Auslieferungsentscheidungen keiner abschließenden unionsrechtlichen Regelung unterlagen, m. a.W. mitgliedstaatlichen Umsetzungsspielraum eröffneten. In dieser Situation, so der EuGH, stehe es den Mitgliedstaaten frei, neben Unionsgrundrechten auch mitgliedstaatliche

     

Vgl. Masing, JZ 2015, S. 477 (481 f.). Vgl. Krämer, in: Stern/Sachs, GrCh, 2. Aufl. 2016, Art. 53, Rn. 1. Vgl. die Zusammenfassung bei de Witte, in: Peers ua, EU Charter, Art. 53, Rn. 13 ff. EuGH, Urteil vom 26. Februar 2013 – C-399/11 – Melloni. Siehe de Witte, in: Peers, u. a., EU Charter, Art. 53, Rn. 22 ff.; vgl. Lenaerts, EuR 2015, S. 3 (21 ff.). EuGH, Urteil vom 7. Mai 2013 – C-617/10 – Åkerberg Fransson.

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Grundrechte anzuwenden, so lange keine Vollharmonisierung vorliege und die Wirksamkeit des Unionsrechts nicht beeinträchtigt werde. Eine abschließende Aussage ist damit nicht zu der Frage getroffen, ob auch in vollharmonisierten Bereichen die Anwendung von parallelen mitgliedstaatlichen Grundrechten möglich ist. Diese fehlende Eindeutigkeit dürfte sich dadurch erklären, dass aus Sicht des EuGH für die Anwendung nationaler Grundrechte kein Bedarf ersichtlich ist, wenn eine Maßnahme schon gegen Unionsgrundrechte verstößt. Denn in diesem Fall sind nach seiner Rechtsprechung alle nationalen Stellen verpflichtet, dem Unionsgrundrecht zur Geltung zu verhelfen. Aus Sicht des EuGH kommt es auf die parallele Anwendbarkeit von nationalen Grundrechten nicht an.

III. Bisherige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Vor diesem europarechtlichen Hintergrund soll im Folgenden die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts im Hinblick auf die Frage des Grundrechtsschutzes bei europäisch determinierten Einzelakten untersucht werden. Zunächst soll die Rechtsprechung des Zweiten Senats und im Anschluss die teilweise in den Ableitungen differenzierende Rechtsprechung des Ersten Senats dargestellt werden, wobei eine chronologische Darstellung der Entscheidungen erfolgt.

1. Die Rechtsprechung des Zweiten Senats Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist in den Anfängen im Wesentlichen durch den Zweiten Senat geprägt worden.

a) Solange-I Aufgrund des Fehlens eines europäischen Grundrechtskatalogs oder anderweitiger Sicherheitsmechanismen bejahte der Zweite Senat 1974 in der Solange-IEntscheidung seine Befugnis, eine Verordnung der Europäischen Wirtschaftsge-

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meinschaft auf die Vereinbarkeit mit deutschen Grundrechten zu überprüfen.²³ Im Ergebnis nahm er die Vereinbarkeit mit deutschem Verfassungsrecht an und vermied somit eine Kollision mit dem Vorranganspruch des Unionsrechts.²⁴

b) Solange-II Diese Rechtsprechung entwickelte er in der Solange-II-Entscheidung vom 22. Oktober 1986 entscheidend fort.²⁵ Dort heißt es nach Ausführungen zu den in der Rechtsprechung des EuGH zwischenzeitlich als allgemeinen Rechtsgrundsätzen entwickelten Gemeinschaftsgrundrechten: „Solange die Europäischen Gemeinschaften, insbesondere die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Gemeinschaften einen wirksamen Schutz der Grundrechte gegenüber der Hoheitsgewalt der Gemeinschaften generell gewährleisten, der dem vom Grundgesetz als unabdingbar gebotenen Grundrechtsschutz im wesentlichen gleichzuachten ist, zumal den Wesensgehalt der Grundrechte generell verbürgt, wird das Bundesverfassungsgericht seine Gerichtsbarkeit über die Anwendbarkeit von abgeleitetem Gemeinschaftsrecht, das als Rechtsgrundlage für ein Verhalten deutscher Gerichte oder Behörden im Hoheitsbereich der Bundesrepublik Deutschland in Anspruch genommen wird, nicht mehr ausüben und dieses Recht mithin nicht mehr am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes überprüfen“.²⁶

Mit dieser heute klassischen Formulierung gab der Zweite Senat die Richtung für die kommenden Jahrzehnte der Rechtsprechung vor und nahm seine Prüfungskompetenz zurück. Genau genommen war damit jedoch über das hier interessierende Problem noch wenig gesagt. Denn die Formulierung bezog sich explizit auf die Überprüfung von abgeleitetem Gemeinschaftsrecht, welches Grundlage des Verhaltens deutscher Stellen ist. Nicht ausgeschlossen war damit die Überprüfung des umsetzenden Verwaltungshandelns der nationalen Stellen.

 Vgl. BVerfGE 37, 271 ff. Die Entscheidung war, was heute kaum mehr beachtet wird, mit einem ausführlichem Sondervotum von drei Verfassungsrichtern versehen, BVerfGE 37, 291 ff.  BVerfGE 37, 271 (288 ff.).  BVerfGE 73, 339 ff.  BVerfGE 73, 339 (387).

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c) Maastricht Die Maastricht-Entscheidung vom 12. Oktober 1993²⁷ bezog sich in ihren Grundrechtspassagen im Wesentlichen auf den Grundrechtsschutz gegenüber der „Hoheitsgewalt der Gemeinschaft“ und führte den Begriff des „Kooperationsverhältnisses“ ein.²⁸ Die Zurücknahme der Prüfungskompetenz umfasste danach nur die Anwendbarkeit (und nicht die richtige Anwendung) von abgeleitetem Gemeinschaftsrecht. Auch der insoweit genutzte – und viel kritisierte – Begriff des Kooperationsverhältnisses macht deutlich, dass sich das Bundesverfassungsgericht aus der Gewährleistung von Grundrechtsschutz nicht gänzlich zurückzieht, sondern dass es hierzu in bestimmten Regelungssituationen zur Schonung der Kompetenzen des EuGH bereit ist.

d) Tabaketikettierung In der Entscheidung vom 22. Januar 1997 zur Tabaketikettierungsverordnung ließ es der Zweite Senat offen, inwieweit auf europäischen Vorgaben beruhende Regelungen des nationalen Rechts durch das Bundesverfassungsgericht an deutschen Grundrechten zu überprüfen seien.²⁹ Verstoße ein deutscher (Umsetzungs‐) Rechtsakt isoliert betrachtet nicht gegen deutsche Grundrechte, so könne es für die verfassungsgerichtliche Entscheidung dahinstehen, inwieweit dieser europarechtlich determiniert sei.

e) Subventionsrückforderung – umfassende Vorprägung Ein Beschluss vom 17. Februar 2000 der Ersten Kammer des Zweiten Senats nahm auch deutsche Umsetzungsakte – in concreto einen Subventionsrückforderungsbescheid und ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichts – von der Überprüfung am Maßstab deutscher Grundrechte aus.³⁰ Denn diese seien „in den für die Verfassungsbeschwerde maßgeblichen Teilen durch die Vorabentscheidung des EuGH umfassend vorgeprägt“. Es sei nicht erkennbar, dass durch diese Vorab-

 BVerfGE 89, 155 ff.  BVerfGE 89, 155 (175).  BVerfGE 95, 173 (181).  BVerfG, Beschluss der Ersten Kammer des Zweiten Senats vom 17. Februar 2000 – 2 BvR 1210/ 98 –, juris.

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entscheidung der vom Grundgesetz als unabdingbar gebotene Grundrechtsschutz generell in Frage gestellt würde. Der Kammerbeschluss ist soweit ersichtlich die erste Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, die zu dem hier interessierenden Problem konkret Stellung nimmt. Die Kammer führt den Begriff der „umfassenden Vorprägung“ ein. Jedenfalls dort, wo eine umfassende Vorprägung durch Unionsrecht in der Auslegung des EuGH für den konkreten Einzelfall besteht, kommt deutscher Grundrechtsschutz auch gegenüber deutschen (Umsetzungs‐)Rechtsakten nicht in Betracht. Im zu entscheidenden Fall war die Rechtslage eindeutig, da der EuGH die Auslegung des Gemeinschaftsrechts vorgegeben hatte.

f) Europäischer Haftbefehl I Eine Fortentwicklung erfolgte in dem Urteil des Zweiten Senats vom 18. Juni 2005 zum Europäischen Haftbefehlsgesetz.³¹ Der Senat führte hier aus: „Der Gesetzgeber war jedenfalls verpflichtet, die Umsetzungsspielräume, die der Rahmenbeschluss den Mitgliedstaaten belässt, in einer grundrechtsschonenden Weise auszufüllen.“³²

Diese Weichenstellung begründete der Senat in der Folge insbesondere mit der Rechtsnatur des Rahmenbeschlusses als besonderer unionsrechtlicher Handlungsform aus dem „Bereich der dritten Säule“. Es wurde zunächst nicht allgemein entschieden, inwieweit auch deutsche Gesetze, die der Umsetzung von Richtlinien dienten, am Maßstab deutscher Grundrechte zu messen sind, soweit die Richtlinie Umsetzungsspielräume eröffnet.

g) Urteil zum Vertrag von Lissabon Mit dem Urteil zum Vertrag von Lissabon vom 30. Juni 2009 etablierte der Zweite Senat neben der Ultra-vires-Kontrolle die Identitätskontrolle.³³ „Darüber [über die Ultra-vires-Kontrolle] hinaus prüft das Bundesverfassungsgericht, ob der unantastbare Kerngehalt der Verfassungsidentität des Grundgesetzes nach Art. 23 Abs. 1

 BVerfG 113, 273 ff.  BVerfGE 113, 273 (300).  BVerfGE 123, 267 ff.

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Satz 3 in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3 GG gewahrt ist (vgl. BVerfGE 113, 273 ). … Die Identitätskontrolle ermöglicht die Prüfung, ob infolge des Handelns europäischer Organe die in Art. 79 Abs. 3 GG für unantastbar erklärten Grundsätze der Art. 1 und Art. 20 GG verletzt werden. Damit wird sichergestellt, dass der Anwendungsvorrang des Unionsrechts nur kraft und im Rahmen der fortbestehenden verfassungsrechtlichen Ermächtigung gilt.“³⁴

Die Bedeutung der Entscheidung für die hier interessierende Fragestellung blieb zunächst offen, da Anknüpfungspunkt das „Handeln europäischer Organe“ blieb, also keine explizite Festlegung zu deutschen Umsetzungsrechtsakten erfolgte.

h) Honeywell In der Honeywell-Entscheidung vom 6. Juli 2010 bestätigte der Zweite Senat den Anwendungsvorrang des Unionsrechts vor dem mitgliedstaatlichen Recht im Falle einer Kollision.³⁵ Er führte aus: „Das Recht der Europäischen Union kann sich nur wirksam entfalten, wenn es entgegenstehendes mitgliedstaatliches Recht verdrängt. Der Anwendungsvorrang des Unionsrechts führt zwar nicht dazu, dass entgegenstehendes nationales Recht nichtig wäre. Mitgliedstaatliches Recht kann vielmehr weiter seine Geltung entfalten, wenn und soweit es jenseits des Anwendungsbereichs einschlägigen Unionsrechts einen sachlichen Regelungsbereich behält. Im Anwendungsbereich des Unionsrechts dagegen ist entgegenstehendes mitgliedstaatliches Recht grundsätzlich unanwendbar. … Der Anwendungsvorrang entspricht auch der verfassungsrechtlichen Ermächtigung des Art. 23 Abs. 1 GG, wonach Hoheitsrechte auf die Europäische Union übertragen werden können (vgl. BVerfGE 31, 145 ; 123, 267 ).“³⁶

In der Folge führte der Senat aus, dass der Anwendungsvorrang des Unionsrechts seine Grenze bei offensichtlichen Ultra-vires-Akten habe.

i) Soweit oder Solange-III Mit Beschluss vom 15. Dezember 2015 hat der Zweite Senat die im Lissabon-Urteil angelegte Identitätskontrolle auf die Überprüfung von Umsetzungsakten deut-

 BVerfGE 123, 267 (354).  BVerfGE 126, 286 ff.  BVerfGE 126, 286 (301 f.).

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scher Behörden und Gerichte im Einzelfall erstreckt.³⁷ Nachdem der Zweite Senat zunächst ausspricht, dass Akte deutscher Behörden, von der Bindung an Grundrechte freigestellt sind, „soweit sie durch das Unionsrecht determiniert werden“ ³⁸, schränkt er diesen Grundsatz in der Folge ein: „Soweit Maßnahmen eines Organs oder einer sonstigen Stelle der Europäischen Union Auswirkungen zeitigen, die die durch Art. 79 Abs. 3 GG in Verbindung mit den in Art. 1 und 20 GG niedergelegten Grundsätzen geschützte Verfassungsidentität berühren, gehen sie über die grundgesetzlichen Grenzen offener Staatlichkeit hinaus. […] Die in Art. 23 Abs. 1 Satz 3 in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3 GG für integrationsfest erklärten Schutzgüter dulden auch keine Relativierung im Einzelfall (vgl. BVerfGE 113, 273 ; 123, 267 ; 126, 286 ; 129, 78 ; 129, 124 ; 132, 195 ; 134, 366 ). […] Vor diesem Hintergrund gewährleistet das Bundesverfassungsgericht im Wege der Identitätskontrolle den gemäß Art. 23 Abs. 1 Satz 3 in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3 und Art. 1 Abs. 1 GG unabdingbar gebotenen Grundrechtsschutz uneingeschränkt und im Einzelfall.“³⁹

Der Zweite Senat sieht sich also im Wege der Identitätsrüge befugt, auf zwingenden europäischen Vorgaben beruhende deutsche Einzelakte zu prüfen und aufzuheben. Die im konkreten Fall in Rede stehende Auslieferung eines in Abwesenheit Verurteilten hielt der Senat für unvereinbar mit Art. 1 Abs. 1 GG, da das entscheidende OLG sich nicht vergewissert hatte, dass dem Auszuliefernden ein Anspruch auf eine neue Beweisaufnahme zustand. Im Fortgang der Entscheidung stellte der Senat zusätzlich fest, dass die Auslieferung auch mit dem (durch den Senat grundrechtskonform interpretierten) Rahmenbeschluss zum Europäischen Haftbefehl unvereinbar war.

j) Bilanz Die Aussagen in der Rechtsprechung des Zweiten Senats lassen sich wie folgt zusammenfassen: Das Bundesverfassungsgericht nimmt seine grundrechtliche Kontrolle dort zurück, wo dies zwingende Vorgaben des Unionsrechts erfordern und übt seine Rechtsprechungsbefugnisse in einem Kooperationsverhältnis zu dem Europäischen Gerichtshof aus. Diese Zurücknahme umfasst Unionsverordnungen, deutsche Umsetzungsgesetze zu Rahmenbeschlüssen und Einzelakte, soweit diese umfassend vorgeprägt sind. Eine Ausnahme hiervon gilt, wenn eu-

 BVerfGE 140, 317 ff.  BVerfGE 140, 317 (334).  BVerfGE 140, 317 (336 f.).

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ropäisches Recht oder dieses Recht umsetzende deutsche Rechtsakte gegen die von der Ewigkeitsgarantie geschützten Bestandteile des Grundgesetzes, insbesondere die Menschenwürde verstoßen.

2. Die Rechtsprechung des Ersten Senats Im Zuge der sich vertiefenden europäischen Integration wurden immer mehr grundrechtsrelevante Fragen, die dem Ersten Senat zur Entscheidung vorlagen, unionsrechtlich überlagert, so dass auch dieser zu der Anwendbarkeit deutscher Grundrechte in dieser Situation Stellung nehmen musste.

a) Emissionsberechtigungen Der Erste Senat entwickelte die bis dahin ergangene Rechtsprechung des Zweiten Senats in der Entscheidung zu der Zuteilung von Treibhaus-Emissionsberechtigungen fort.⁴⁰ Er stellte zum einen fest, dass die Solange-II-Rechtsprechung zur Nichtüberprüfbarkeit europäischer Rechtsakte anhand deutscher Grundrechte nicht nur für Verordnungen, sondern auch für Richtlinien und die deutschen Umsetzungsgesetze gelte, soweit „das Gemeinschaftsrecht keinen Umsetzungsspielraum lässt, sondern zwingende Vorgaben macht.“ ⁴¹ Eine Überprüfung deutscher Umsetzungsakte durch das Bundesverfassungsgericht sei jedoch eröffnet, wenn diese in der Richtlinie dem Gestaltungsermessen des Mitgliedsstaats überantwortet würden.⁴² Im zu entscheidenden Fall wies das Bundesverfassungsgericht nach, dass die streitgegenständliche nationale Vorschrift durch die Richtlinie in das Gestaltungsermessen der Mitgliedstaaten gestellt war, so dass das Bundesverfassungsgericht die Übereinstimmung der Norm mit den Grundrechten des deutschen Grundgesetzes vollumfänglich prüfen konnte. Eine Verletzung des Art. 14 Abs. 1 GG oder des Art. 12 Abs. 1 GG konnte es in der Folge nicht feststellen.⁴³

 BVerfGE 118, 79 ff.  BVerfGE 118, 79 (95).  BVerfGE 118, 79 (98); der Erste Senat spricht damit generell für deutsche Umsetzungsgesetze aus, was der Zweite Senat bisher nur für den Rahmenbeschluss geklärt hatte.  BVerfGE 118, 79 (99 ff.).

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b) Vorratsdatenspeicherung aa) Eilverfahren Im Eilbeschluss des Ersten Senats zur Vorratsdatenspeicherung vom 11. März 2008 bestätigt der Senat die bisherige Rechtsprechung.⁴⁴ Zweifel an der Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde in der Hauptsache ergäben sich zwar zum Teil daraus, dass das angegriffene Gesetz Vorgaben der EU-Richtlinie umsetze.⁴⁵ Zum einen eröffne die Richtlinie aber Gestaltungsspielräume, zum anderen liege diese dem EuGH zur Überprüfung vor. Sollte dieser die Richtlinie für nichtig erklären, „wäre Raum für eine umfassende Prüfung der angegriffenen Normen durch das Bundesverfassungsgericht am Maßstab der deutschen Grundrechte“. ⁴⁶

bb) Hauptsacheverfahren Diese Linie führte der Erste Senat in der Hauptsacheentscheidung zur Vorratsdatenspeicherung fort.⁴⁷ Er bestätigte in dem Urteil vom 2. März 2010 zunächst die bisherige Rechtsprechung zur Prüfungskompetenz bei Bestehen von Umsetzungsspielräumen. Er begründete diese leicht variierend von der Eilentscheidung damit, dass aufgrund der Heimlichkeit der Überwachungsmaßnahmen ausnahmsweise eine unmittelbare Rechtssatzverfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht möglich und demgemäß kein vorheriger Grundrechtsschutz in Kombination mit dem Vorlageverfahren durch die Fachgerichte zugänglich war. Deshalb sei hier die Verfassungsbeschwerde auch im durch Sekundärrecht voll determinierten Bereich zulässig. Nur so könne der Grundrechtsberechtigte gegebenenfalls eine Überprüfung der Primärrechtskonformität der Richtlinie durch den EuGH, im Wege eines durch das Bundesverfassungsgericht eingeleiteten Vorabentscheidungsverfahrens, erreichen.⁴⁸ In der Folge lehnte der Senat eine Verletzung des Grundgesetzes durch den zwingend vorgeschriebenen Richtlinieninhalt ab, weshalb es auf den Vorrang des Gemeinschaftsrechts nicht ankomme.⁴⁹ Der Senat geht in beiden Entscheidungen davon aus, dass auch bei zwingenden Vorgaben im Unionsrecht eine Prüfung nationaler Umsetzungsakte durch das Bundesverfassungsgericht am Maßstab deutscher Grundrechte nicht per se

     

BVerfGE 121, 1 ff. BVerfGE 121, 1 (15). BVerfGE 121, 1 (15 ff.). BVerfGE 125, 260 ff.. BVerfGE 125, 260 (306 f.). BVerfGE 125, 260 (308 f.).

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ausgeschlossen ist. In den Entscheidungen macht der Erste Senat deutlich, dass er von seiner Befugnis ausgeht, europäische Vorgaben umsetzendes deutsches Recht auf die Vereinbarkeit mit deutschen Grundrechten zu überprüfen, wenn nicht ausgeschlossen werden kann, dass das Sekundärrecht seinerseits gegen Primärrecht verstößt. Eine Verwerfungskompetenz für Europäisches Sekundärrecht steht dem Bundesverfassungsgericht demgegenüber nicht zu.

c) Gentechnik Ein anderer Ansatz findet sich in der Entscheidung des Ersten Senats zum Gentechnikneuordnungsgesetz.⁵⁰ Der Senat nahm in der Entscheidung einen bestehenden Umsetzungswillen des deutschen Gesetzgebers an. Da die Vorschriften jedoch isoliert betrachtet schon mit dem Grundgesetz vereinbar seien, komme es auf unionsrechtliche Bestimmungen für die verfassungsgerichtliche Beurteilung nicht entscheidungserheblich an. Der Erste Senat ging in dieser Entscheidung davon aus, dass er auch bei vollständig unionsrechtlich determinierten Rechtsakten anhand der deutschen Grundrechte prüfen könne, ob diese – isoliert betrachtet – mit deutschen Grundrechten vereinbar seien. Soweit dies zu bejahen sei, stelle sich kein weiteres Problem, eine Vorlage an den EuGH erübrige sich.Verletze allerdings der deutsche Rechtsakt isoliert betrachtet die deutschen Grundrechte, so müsse weiter geklärt werden, inwieweit diese überhaupt anwendbar gewesen seien. Hierbei handelt es sich formal betrachtet nur um eine Frage der Prüfungsreihenfolge, nicht um eine Wiederinanspruchnahme einer Verwerfungskompetenz; allerdings wird jedenfalls deutlich, dass dem Bundesverfassungsgericht eine Prüfungskompetenz zukommt.

d) Cassina – Grundrechtsfähigkeit juristischer Personen aus anderen EU-Mitgliedstaaten In der Entscheidung zur Grundrechtsfähigkeit juristischer Personen aus Mitgliedstaaten der Europäischen Union setzte sich der Erste Senat mit der Frage auseinander, inwieweit nationale Gerichte bei der Anwendung nationaler Bestimmungen, die teilweise EU-Richtlinien umsetzen, nationale Grundrechte zu

 BVerfGE 128, 1 (35 ff.). Die Entscheidung entspricht in dem Gedankengang der Tabaketikettierungsentscheidung des Zweiten Senats.

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beachten hätten.⁵¹ Ein Grundrechtsverstoß könne insbesondere dann vorliegen, wenn sich ein deutsches Gericht „in der Annahme, an vermeintlich zwingendes Unionsrecht gebunden zu sein, an der Berücksichtigung der Grundrechte des Grundgesetzes gehindert sieht“. ⁵² Denn die Fachgerichte müssten „den Einfluss der Grundrechte bei der Auslegung zivilrechtlicher Vorschriften des nationalen Rechts, die unionsrechtlich nicht oder nicht vollständig determiniert sind, zur Geltung bringen“ ⁵³. Bei der Prüfung, ob ein solcher Umsetzungsspielraum bestehe, sei das Bundesverfassungsgericht, da davon die Anwendbarkeit deutscher Grundrechte abhänge, nicht „auf eine bloße Willkürkontrolle beschränkt“. ⁵⁴ Bestehe kein Umsetzungsspielraum, so müsse das anwendbare Unionsrecht durch das Fachgericht auf seine Vereinbarkeit mit europäischen Grundrechten geprüft werden und ggf. eine Vorlage an den Europäischen Gerichtshof erfolgen. Die Entscheidung behandelt erstmals die Grundrechtsbindung bei der Anwendung von Sekundärrecht durch deutsche Gerichte und spricht die These getrennter Grundrechtsräume aus. Der Erste Senat geht davon aus, dass bei einer Volldeterminierung der Rechtslage durch Unionsrecht deutsche Grundrechte per se nicht anwendbar sind. Um die in diesem Modell besonders wichtige Grenzziehung zwischen den Grundrechtsräumen nicht aus der Hand zu geben, findet hier durch das Bundesverfassungsgericht – obwohl es um die Auslegung von nicht-verfassungsrechtlichem Recht geht – nicht nur eine bloße Willkürkontrolle statt, sondern eine weitergehende Prüfung des Unionsrechts auf seinen abschließenden Charakter.⁵⁵ Der Grund dafür wird vom Ersten Senat explizit festgestellt: Die Bejahung einer umfassenden Determinierung des deutschen Rechtsakts durch Unionsrecht ist gleichbedeutend mit der Nichtanwendbarkeit deutscher Grundrechte. Diese Frage kann jedoch nach deutschem Verfassungsverständnis nicht den Fachgerichten überantwortet werden. Vielmehr ist für die abschließende Beurteilung, inwieweit überhaupt (deutscher) Grundrechtsschutz zu gewähren ist, zwingend das Bundesverfassungsgericht zuständig.

e) Investitionszulagengesetz In dem Beschluss vom 4. Oktober 2011 zum Investitionszulagengesetz befasste sich der Erste Senat mit der hier interessierenden Frage aus einer verfassungs    

BVerfGE 129, 78 ff. BVerfGE 129, 78 (102 f.). BVerfGE 129, 78 (103). BVerfGE 129, 78 (103). Vgl. Hufeld/Rathke, EuR Beiheft 2013, S. 7 (14).

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prozessualen Perspektive.⁵⁶ Er führte im Verfahren der konkreten Normenkontrolle aus, dass diese nur dann zulässig sei, wenn das vorlegende Gericht geklärt habe, ob unionsrechtlich ein Umsetzungsspielraum bestehe, da nur dann eine Prüfung und ggf. Verwerfung des Umsetzungsgesetzes durch das Bundesverfassungsgericht in Betracht komme.⁵⁷ Es sei dabei zuvörderst Aufgabe der Fachgerichte, das Unionsrecht auszulegen, die dafür ggf. auch das Vorlageverfahren nach Art. 267 AEUV nutzen müssten. Insbesondere sei es nicht Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts im Rahmen der konkreten Normenkontrolle selbst dem EuGH Fragen zur Entscheidung vorzulegen. Andererseits sei das Bundesverfassungsgericht bei der Überprüfung des Rechtsstandpunkts des Fachgerichts nicht auf eine Willkürkontrolle beschränkt. Denn, so führt der Erste Senat aus: „mit der Entscheidung über die Reichweite der unionsrechtlichen Bindung des nationalen Gesetzgebers wird zugleich über die Grenzen der verfassungsgerichtlichen Prüfung am Maßstab des Grundgesetzes befunden. Die Bestimmung der Voraussetzungen für die Ausübung der eigenen Gerichtsbarkeit und damit die Beantwortung der Frage, ob es das nationale Recht am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes misst oder darauf verzichtet, muss im Verhältnis zum vorlegenden Gericht in der Hand des Bundesverfassungsgerichts verbleiben. Die Entscheidung eines Fachgerichts darüber, ob und inwieweit Unionsrecht im Sinne eines acte-clair dem Gesetzgeber einen Umsetzungsspielraum belässt, ist daher nicht nur einer Offensichtlichkeitskontrolle durch das Bundesverfassungsgericht unterworfen. Diesem steht insoweit vielmehr ein weitergehendes Überprüfungsrecht zu.“⁵⁸

Mit der Entscheidung wird erneut die aus dem Cassina-Beschluss entwickelte Aufgabenverteilung zwischen Bundesverfassungsgericht und Fachgerichten betont. Letztere sind grundsätzlich für die Auslegung, Anwendung und Klärung des Unionsrechts zuständig, dass Bundesverfassungsgericht ist aber, weil hiervon seine Prüfungsmöglichkeiten abhängen, diesbezüglich nicht auf eine Willkürkontrolle beschränkt; es übt vielmehr ein „weitergehendes Überprüfungsrecht“ aus. Im Vergleich zum Cassina-Beschluss ist der Fokus in dieser Entscheidung aber gewissermaßen ein umgekehrter. Mit der Vorgabe an die Fachgerichte, die Volldeterminiertheit vorab gegebenenfalls durch eine Vorlagefrage an den EuGH zu klären, stellt der Erste Senat hier nicht sicher, dass sich die Gerichte deutschen Grundrechtsschutz entziehen, sondern vermeidet, dass er in vollumfänglich determinierten Bereichen deutschen Grundrechtsschutz gewährt.

 BVerfGE 129, 186 ff.  BVerfGE 129, 186 (198 f.).  BVerfGE 129, 186 (203 f.).

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f) Antiterrordatei In dem Urteil zur Antiterrordatei vom 24. April 2013⁵⁹ führte der Erste Senat seine Rechtsprechung vor dem Hintergrund der kurz zuvor ergangenen Åkerberg Fransson-Entscheidung des EuGH fort und verband dies mit einer deutlichen Warnung an den EuGH. Die im Antiterrordateigesetz geregelte Verbunddatei sei ausschließlich an deutschen Grundrechten zu messen, da das europäische Sekundärrecht die entsprechenden Fragen nicht regeln würde. Jede andere Deutung der Anwendbarkeit der Grundrechtecharta und insbesondere der Åkerberg Fransson-Entscheidung stelle einen Ultra-vires-Akt dar.⁶⁰ Der Europäische Gerichtshof sei deshalb nicht gesetzlicher Richter und insbesondere nicht im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens anzurufen. Die Entscheidung betont mit der mehrfachen Erwähnung der „ausschließlichen Anwendbarkeit“ deutscher Grundrechte den Gedanken getrennter Grundrechtsräume.

g) Sampling Der Erste Senat hat diese Rechtsprechung in dem Sampling-Urteil vom 31. Mai 2016 konsolidiert und hierbei insbesondere umfassende Vorgaben für den Umgang der Fachgerichte mit europäischen Vorgaben gemacht.⁶¹ Zunächst stellt der Senat in der Entscheidung fest, dass keine Überprüfung innerstaatlicher Rechtsvorschriften am Maßstab deutscher Grundrechte in Betracht kommt, wenn das europäische Recht keinen Umsetzungsspielraum belässt. Der Senat führt in der Folge aus: „Halten die Fachgerichte eine vollständige Bindung durch das Unionsrecht ohne Vorabentscheidungsersuchen an den Europäischen Gerichtshof für eindeutig, unterliegt dies wegen der Bedeutung dieser Frage für die Anwendbarkeit der deutschen Grundrechte in vollem Umfang der Überprüfung durch das Bundesverfassungsgericht (vgl. BVerfGE 129, 78 ).“⁶²

Aus dem Zusatz in dem Cassina-Beschluss „Hierbei ist es nicht auf eine Willkürprüfung beschränkt.“ wird in der Entscheidung zum Sampling also die Überprüfung „in vollem Umfang […] durch das Bundesverfassungsgericht“. Im Anschluss    

BVerfGE 133, 277 ff. BVerfGE 133, 277 (313 ff.). BVerfGE 142, 74 ff. BVerfGE 142, 74 (113).

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stellt der Senat klar, dass die Frage der vollständigen Determinierung für einen EU-Rechtsakt nicht zwingend einheitlich zu beantworten ist. „Soweit für die hier zu entscheidenden Fragestellungen eine Determinierung des deutschen Urheberrechts durch die anwendbaren Bestimmungen der Urheberrechtsrichtlinie angenommen wird, gilt dies nicht zwingend auch für die weiteren Regelungen der Richtlinie.“⁶³

Schließlich äußert sich der Senat zur Bedeutung des Verfahrens nach Art. 267 AEUV für den Grundrechtsschutz. Er führt aus: „Eine Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union kann aus grundrechtlicher Sicht insbesondere dann erforderlich sein, wenn das Fachgericht Zweifel an der Übereinstimmung eines europäischen Rechtsakts oder einer Entscheidung des Gerichtshofs mit den Grundrechten des Unionsrechts, die einen den Grundrechten des Grundgesetzes entsprechenden Grundrechtsschutz gewährleisten, hat oder haben muss (vgl. BVerfGE 129, 78 ). Das verlangt – unabhängig von dem Anspruch auf den gesetzlichen Richter aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG, der bei der fachgerichtlichen Handhabung der Vorlagepflicht gemäß Art. 267 Abs. 3 AEUV zu beachten ist (dazu BVerfGE 82, 159 ; 129, 78 ; 135, 155 ) – das Gebot eines effektiven Rechtsschutzes, insbesondere Grundrechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG in Verbindung mit dem jeweils anwendbaren Grundrecht des Grundgesetzes; vgl. BVerfGE 118, 79 ; 129, 78 ). Sollte der Bundesgerichtshof bei der Auslegung und Anwendung der Urheberrechtsrichtlinie Zweifel an deren Vereinbarkeit mit den Grundrechten des Unionsrechts, insbesondere mit der Kunstfreiheit gemäß Art. 13 Satz 1 der Grundrechtecharta, haben, muss er die Frage der Vereinbarkeit mit den europäischen Grundrechten und einer grundrechtskonformen Auslegung der Richtlinie dem Gerichtshof der Europäischen Union vorlegen.“⁶⁴

Das Sampling-Urteil scheint insofern neben die allgemein anerkannten Verstöße gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG bei der Handhabung der Vorlagepflicht, einen neuen Prüfungsmaßstab in Gestalt von Art. 19 Abs. 4 GG in Verbindung mit dem jeweils anwendbaren Grundrecht einzuführen. Insbesondere der zweite Satz des zitierten Absatzes macht deutlich, dass den Fachgerichten diesbezüglich kein Spielraum zukommt, sondern das Bundesverfassungsgericht zu einer uneingeschränkten Kontrolle befugt ist.

 BVerfGE 142, 74 (114).  BVerfGE 142, 74 .

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h) Lebensmittelinformation Mit weiterer Entscheidung vom 21. März 2018 hat der Erste Senat schließlich eine Prüfung des § 40 Abs. 1 LFBG, der die Information der Öffentlichkeit über Verstöße von Unternehmen gegen lebensmittelrechtliche Vorschriften vorschrieb, an deutschen Grundrechten vorgenommen.⁶⁵ Vorliegend interessant ist dies, weil es Stimmen in der Literatur gab, die die Sekundärrechtswidrigkeit des deutschen Umsetzungsgesetzes annahmen, da das Unionsrecht die Frage schon abschließend regele. Der Erste Senat hielt sich in dieser Konstellation für prüfungsbefugt. Selbst wenn das Umsetzungsgesetz auch gegen Sekundärrecht verstoße, könne das Bundesverfassungsgericht das Gesetz daneben am Maßstab deutscher Grundrechte prüfen.⁶⁶ Die Entscheidung rückt leicht von bisherigen Obersätzen ab, da die abschließende Regelung durch Unionsrecht hier einer Prüfung am Maßstab deutscher Grundrechte nicht mehr im Wege steht. Die Prüfung ist nur ausgeschlossen, wenn das Unionsrecht die von der deutschen Regelung vorgesehene Rechtsfolge zwingend vorschreibt.

i) Bilanz Der Erste Senat geht von der gleichen Prämisse wie der Zweite Senat aus: dem Anwendungsvorrang des Unionsrechts, der durch Art. 23 GG grundsätzlich verfassungsrechtlich legitimiert ist. Um den Vorrang sicherzustellen, wird in zahlreichen Entscheidungen eine Theorie getrennter Grundrechtsräume entwickelt. Eine Überlappung der supranationalen und der nationalen Grundrechtssphäre ist demnach ausgeschlossen; die Abgrenzung erfolgt danach, ob das Unionsrecht eine Frage abschließend, ohne nationalen Umsetzungsspielraum regelt. Im Falle einer abschließenden Regelung ist auch ein dieses Recht umsetzender deutscher Einzelakt einer verfassungsgerichtlichen Überprüfung entzogen. Bezüglich dieser Frage steht den deutschen Fachgerichten kein Einschätzungsspielraum zu.

 BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 21. März 2018 – 1 BvF 1/13 –, juris.  BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 21. März 2018 – 1 BvF 1/13 –, juris, Rn. 22.

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3. Zusammenfassung Die Senate haben sich wie oben dargestellt, schon mit zahlreichen unterschiedlichen Konstellationen beschäftigt, in denen Grundrechtsschutz in europäisch determinierten Bereichen zu gewähren war. Wie europäisch determinierte Einzelakte durch das Bundesverfassungsgericht überprüft werden können, wurde dabei meist eher beiläufig unter Rückgriff auf die tradierte Rechtsprechung zur Nicht-Überprüfung von Verordnungen, Richtlinien und Umsetzungsgesetzen ohne nationalen Spielraum beantwortet. Insbesondere in Entscheidungen des Ersten Senats ist dabei relativ deutlich ein Modell getrennter Grundrechtsräume angelegt. Die Anwendungsbereiche der Grundrechte des Grundgesetzes und jener der Charta bleiben konstruktiv getrennt.⁶⁷ Das Bundesverfassungsgericht wacht in dem Modell des Ersten Senats nicht nur darüber, dass deutsche Grundrechte – wo anwendbar – eingehalten werden. Vielmehr stellt es mit der Rechtsprechung seit dem Cassina-Beschluss und seit dem Sampling-Urteil in der Prüfungsdichte verschärft sicher, dass Fachgerichte die Bedeutung der Grundrechte für das jeweilige Rechtsgebiet nicht umgehen können, indem es prüft, dass jedenfalls deutsche oder europäische Grundrechte angewendet werden. Im Sampling-Urteil hat der Erste Senat darüber hinaus noch einen eigenständigen Prüfungsmaßstab für die Vorlagepflicht zum europäischen Gerichtshof in Art. 19 Abs. 4 GG in Verbindung mit dem jeweils anwendbaren Grundrecht entwickelt. Was genau Inhalt dieses Prüfungsmaßstabs ist, ist jedoch offen geblieben. Insbesondere ist (noch) nicht ersichtlich, welche eigenständigen Anforderungen sich insofern Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG entnehmen lassen. Die Rechtsprechung des Zweiten Senats nimmt deutschen Grundrechtsschutz demgegenüber nur dann zurück, wenn zwingende Vorgaben des Europarechts dies gebieten. Auch solche Vorgaben können jedoch durch Art. 1 Abs. 1 GG verdrängt werden. Die Soweit-Entscheidung des Zweiten Senats bricht mit der Dogmatik getrennter Grundrechtsräume.⁶⁸ Soweit Verletzungen der Menschenwürde in Rede stehen, duldet das deutsche Verfassungsrecht keine Relativierung, weder durch kollidierende Grundrechte Dritter, noch durch (sperrende) Vorgaben des Unionsrechts. Allerdings war in der betreffenden Entscheidungskonstellation nach Auffassung des Zweiten Senats durch das Unionsrecht eine Auslieferung nicht zwingend vorgeschrieben, so dass die Feststellung einer Menschenwürdeverletzung durchaus als obiter dictum eingestuft werden kann.

 Britz, EuGRZ 2015, S. 275 (281).  Vgl. Nettesheim, JZ 2016, S. 424 (425); Sauer, NJW 2016, S. 1134 (1135)

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Kolja Naumann

IV. Ausblick Es dürfte vieles dafür sprechen, dass das Bundesverfassungsgericht die oben dargestellte Rechtsprechung in Zukunft behutsam weiterentwickelt. In der Entscheidung zu § 40 LFBG ist dies bereits angedeutet. Insbesondere in Fällen, in denen deutsche Behörden bei der Anwendung von EU-Verordnungen im Einzelfall Anordnungen treffen, die sowohl einer Prüfung an europäischen als auch an nationalen Grundrechten nicht standhalten würden, liegt es nahe, dass das Bundesverfassungsgericht entsprechende Akte und diese bestätigende Gerichtsentscheidungen am Maßstab deutscher Grundrechte messen und aufheben kann. Der Ausgangspunkt aller verfassungsrechtlichen Rechtsprechung zur Zurücknahme deutschen Grundrechtsschutzes – den vom Europäischen Gerichtshof zurecht postulierten Vorrang des Unionsrechts zu beachten – ist in solchen Fällen nicht im Ansatz berührt. Teilweise wird sogar die Auffassung vertreten, dass der europäische Äquivalenzgrundsatz dafür streite, das Bundesverfassungsgericht müsse in dieser Situation ebenso wie in rein nationalen Sachverhalten Grundrechtsschutz gewährleisten. Ein solcher, pragmatischer Ansatz, mit dem das Bundesverfassungsgericht so weitgehend Grundrechtsschutz gewährleistet, wie es zwingende Vorgaben des Unionsrechts zulassen, soweit diese nicht gegen die Menschenwürde verstoßen, vermeidet auch große dogmatische Umwälzungen, die in der Literatur teilweise vorgeschlagenen Neuerungen mit sich bringen würden. Insbesondere dürfte es wenig zielführend sein, dass das Bundesverfassungsgericht seinen Prüfungsmaßstab auf die Chartagrundrechte selbst ausweitet. Folgt man dem pragmatischen Ansatz, würde der Begründungsaufwand für das Bundesverfassungsgericht im Wesentlichen jenem der Soweit-Entscheidung entsprechen. Es müsste dargelegt werden, dass die nationalen Behörden- und Gerichtsentscheidungen sowohl gegen Grundrechte des Grundgesetzes als auch gegen grundrechtskonform interpretiertes EU-Sekundärrecht verstoßen.

Stefan Habermann

Kein Streikrecht für Beamte – Zugleich zum Kooperationsverhältnis von BVerfG und EGMR Leitentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (Senat) BVerfGE 8, 1 – Teuerungszulagen BVerfGE 44, 249 – Alimentation kinderreicher Beamter BVerfGE 111, 307– Görgülü BVerfGE 112, 1 – Alteigentümer/Bodenreform III BVerfGE 119, 247 – Teilzeitbeamte BVerfGE 128, 326 – Sicherungsverwahrung II BVerfGE 130, 76 – Privatisierung des Maßregelvollzugs BVerfGE 130, 263 – W-Besoldung BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 12. Juni 2018 – 2 BvR 1738/12, 2 BvR 1395/13, 2 BvR 1068/14, 2 BvR 646/15 –, juris – Beamtenstreik

Schrifttum (Auswahl) Battis, Streikrecht für Beamte?, ZBR 2011, S. 397 ff.; Bitsch, Streikrecht für Beamte, ZTR 2012, S. 78 ff.; Blanke/Sterzel, Beamtenstreikrecht, 1980; Brinktrine, Hat das grundgesetzliche Streikverbot für Beamte eine europäische Zukunft?, ZG 2013, S. 227 ff.; Buchholtz, Streiken im europäischen Grundrechtsgefüge, 2014; Däubler, Der Streik im öffentlichen Dienst, 2. Aufl. 1971; Di Fabio, Das Beamtenrechtliche Streikverbot, 2012; Fritz, Lehrer als Beamte „light“?, ZG 2014, S. 372 ff.; Gooren, Das Ende des Beamtenstreikverbots, ZBR 2011, S. 400 ff.; Hänsle, Streik und Daseinsvorsorge, 2016; Hebeler, Noch einmal: Gibt es ein Streikrecht für Beamte?, ZBR 2012, S. 325 ff.; Hoffmann, Beamtentum und Streik, AöR 91 (1966), S. 141 ff.; Hwang, „Auslegungshilfe“ ernst genommen: Zum Spannungsverhältnis zwischen der EMRK und dem GG am Beispiel des beamtenrechtlichen Streikverbots, VerwArch 108 (2017), S. 366 ff.; Ickenroth, Das deutsche Beamtenstreikverbot im Lichte der Europäischen Menschenrechtskonvention, 2016; Isensee, Beamtenstreik. Zur rechtlichen Zulässigkeit des Dienstkampfes, 1971; Kaiser, Streikrecht für Beamte – Folge einer Fehlrezeption?, AöR 142 (2017), S. 417 ff.; Katerndahl, Tarifverhandlung und Streik als Menschenrecht, 2017; Klaß, Die Fortentwicklung des deutschen Beamtenrechts durch das europäische Recht, 2014; Kutscha, Beamtenstreikrecht: Leipziger Verbeugung vor Straßburg, Recht und Politik 2014, S. 206 ff.; Laubinger, Das Streikverbot für Beamte unter dem Anpassungsdruck des Europarechts, in: Festschrift für Eckart Klein, 2013, S. 1141 ff.; Lauer, Das Recht des Beamten zum Streik, 2017; Leisner-Egensperger, Das Recht des öffentlichen Dienstes – Grundlagen und neuere Entwicklungen, Die Verwaltung 2018, S. 1 ff.; Lindner, Dürfen Beamte doch streiken?, DÖV 2011, S. 305 ff.; Lörcher, Aktuelle Streikrechtsverfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, AuR 2013, S. 290 ff.; Lorse, Das Streikverbot für Beamte im Lichte der aktuellen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu Artikel 11 EMRK, ZBR 2015, S. 109 ff.; Luber, Personalpraktische Konsequenzen eines Beamtenverhältnisses mit Streikrecht, RiA 2018, S.4 ff.; https://doi.org/10.1515/9783110599916-007

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Manssen,Weiterhin kein Streikrecht für deutsche Beamte?, JA 2015, S. 835 ff.; Merten, Streikfreiheit für Beamte kraft Europäischer Menschenrechtskonvention?, in: Festschrift für Rudolf Wendt, 2015, S. 303 ff.; Nokiel,Weiterhin kein Streikrecht für Beamtinnen und Beamte, DÖD 2016, S. 152 ff.; Pollin, Das Streikverbot für verbeamtete Lehrer. Eine Analyse unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, 2015; Ramm, Das Koalitions- und Streikrecht der Beamten, 1970; Rothballer, Zulässigkeit des Beamtenstreiks?, NZA 2016, S. 1119 ff.; Sangi, Streikrecht auch für Beamte?, KritV 2012, S. 103 ff.; Schlachter, Beamtenstreik im Mehrebenensystem, RdA 2001, S. 341 ff.; Schnapp, Beamtenstatus und Streikrecht, 1972; Schröder, Ist ein funktional differenziertes Streikverbot für Beamte iSv. Art. 11 EMRK mit dem Grundgesetz vereinbar?, AuR 2013, S. 280 ff.; Schubert, Das Streikverbot für Beamte und das Streikrecht aus Art. 11 EMRK im Konflikt, AöR 137 (2012), S. 92 ff.; Schulz, Zum Streikrecht von Beamten, 2016; Seifert, Recht auf Kollektivverhandlungen und Streikrecht für Beamte, KritV 2009, S. 357 ff.; Sonntag/ Hoffmann, Streikrecht für Beamte? – OVG Münster räumt Irritation aus, RiA 2012, S. 137 ff.; von Steinau-Steinrück/Sura, (Noch) kein Streikrecht für Beamte – Der öffentliche Dienst im Spannungsfeld zwischen Verfassungsrecht und EMRK, NZA 2014, S. 580 ff.; Traulsen, Das Beamtenstreikverbot zwischen Menschenrechtskonvention und Grundgesetz, JZ 2013, S. 65 ff.; Werres, Der Einfluss der Menschenrechtskonvention auf das Beamtenrecht, DÖV 2011, S. 873 ff.; Widmaier/ Alber, Das Streikverbot der deutschen Beamten im Spannungsfeld zwischen Grundgesetz und Europäischer Menschenrechtskonvention, ZEuS 2015, S. 507 ff.; Widmaier/Alber, Menschenrecht auf Streik auch für deutsche Beamte?, ZEuS 2012, S. 387 ff.; Wißmann, Das Beste aus zwei Welten: Streikrecht für Beamte?, ZBR 2015, S. 294 ff.

Inhalt 101 I. Einleitung 102 II. Verfassungsrechtliche Ausgangslage 102 . Bisherige Aussagen des BVerfG . Verfassungsrechtliche Determinanten 104 III. EMRK und Rechtsprechung des EGMR 108 . Art.  EMRK 108 . Rechtsprechung des EGMR, insbesondere Demir und Baykara () sowie Enerji Yapi-Yol Sen () 108 . Bedeutung für die Rechtslage in Deutschland: Bisheriger Meinungsstand 110 IV. „Szenario“ Kollisionslage: ausgewählte Lösungsansätze 112 . Status quo: GG vor EMRK 112 . Streikrecht für Teile der deutschen Beamtenschaft 113 115 . Streikrecht für alle Beamten in Deutschland V. Entscheidung des BVerfG vom . Juni  zum Streikrecht für beamtete Lehrer 115 . Verfassungsrecht 115 . EMRK 117 119 VI. Ausblick

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I. Einleitung Das Streikrecht wird vom Bundesverfassungsgericht seit vielen Jahren als eine Ausprägung der Koalitionsfreiheit angesehen und dem Schutzbereich des Art. 9 Abs. 3 GG unterstellt.¹ Auch in der Praxis sind Auseinandersetzungen zwischen Tarifvertragsparteien im Wege des Arbeitskampfes keineswegs ungewöhnlich. Der Öffentlichkeit in Erinnerung geblieben sind etwa aus der jüngeren Vergangenheit die Arbeitsniederlegungen der Lokführergewerkschaft GDL sowie der Pilotenstreik bei der Deutschen Lufthansa AG. Die Auswirkungen eines Streiks werden zwar mitunter kritisch gesehen, gerade die jeweils konkret Betroffenen äußern häufig Unverständnis über die Wucht der Beeinträchtigungen. Die grundsätzliche Zulässigkeit von Streikmaßnahmen (im Rahmen der rechtlichen Vorgaben) und ihre Bedeutung für eine funktionierende Tarifautonomie werden indes nicht in Abrede gestellt. So selbstverständlich die allgemeine Anerkennung eines Streikrechts im Arbeitsrecht ist, so klar distanzierte sich bislang in Deutschland die ganz überwiegende Auffassung in Literatur und Rechtsprechung von einem Streikrecht für Beamte.² Das Streikverbot wurde als hergebrachter Grundsatz des Berufsbeamtentums und tradierte Selbstverständlichkeit betrachtet; für eine umfangreiche Herleitung und Begründung sah man angesichts der bestehenden Staatspraxis zumeist keine Notwendigkeit. Die Frage nach einem Streikrecht für Beamte ist durch zwei jüngere Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) aktuell geworden: das Verfahren Demir und Baykara aus dem Jahr 2008 sowie, kurz darauf, die Rechtssache Enerji Yapi-Yol Sen (2009). In diesen Verfahren, die die

 Vgl. BVerfGE 84, 212 (225); 88, 103 (114); 92, 365 (393 f.); BVerfGK 4, 60 (63). Der Verfassungsgeber hat eine Festschreibung des Streikrechts und seiner möglichen Grenzen nicht ausdrücklich vorgenommen. In der 18. Sitzung vom 4. Dezember 1948 beschloss der Hauptausschuss des Parlamentarischen Rates die Streichung des Absatzes 4 des Art. 9 GG in der vom Grundsatzausschuss vorgeschlagenen Formulierung „Das Streikrecht wird im Rahmen der Gesetze anerkannt“. Der Abgeordnete Dr. Eberhard (SPD) führte hierzu aus, es sei eine große Kasuistik zu befürchten, wenn man eine Reihe von Beschränkungen in das Streikrecht einfüge. Man möge in der zweiten Lesung auf das Streikrecht zurückkommen, vgl. JöR 1 (1951), S. 123. Hierzu kam es aber nicht mehr, vgl. JöR 1 (1951), S. 124 f.  Ausnahmecharakter haben insoweit zwei erstinstanzliche Entscheidungen, die (jedenfalls im Ergebnis) von einem Streikrecht für Beamte ausgehen: VG Düsseldorf, Urteil vom 15. Dezember 2010 – 31 K 3904/10.O –, juris; VG Kassel, Urteil vom 27. Juli 2011 – 28 K 1208/10.KS.D –, juris. Beide Entscheidungen sind nicht rechtskräftig. Entweder wurden sie in der Berufungsinstanz abgeändert oder das Verfahren ausgesetzt (§ 94 VwGO).Vereinzelte Vorstöße aus dem Schrifttum datieren zumeist aus den 1970er-Jahren, vgl. etwa Ramm, Das Koalitions- und Streikrecht der Beamten, 1970; Däubler, Der Streik im öffentlichen Dienst, 2. Aufl. 1971.

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Rechtslage in der Türkei betrafen, entwickelte der EGMR seine Rechtsprechung zu Fragen der Koalitionsfreiheit fort. Die Aussagen des EGMR in den genannten Entscheidungen wurden vielfach dahingehend gedeutet, dass ein allein an dem Status von Beschäftigten im öffentlichen Dienst orientiertes Streikverbot nicht mit der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) vereinbar sei. Gerechtfertigt werden könne ein Streikverbot allenfalls funktional, das heißt mit Blick auf die konkret ausgeübte Tätigkeit des betroffenen Beschäftigten. Auch in Deutschland sind diese Entscheidungen des EGMR zur Kenntnis genommen worden. Beamtete Lehrerinnen und Lehrer, die während ihrer Dienstzeit an Streikmaßnahmen bzw. Protestveranstaltungen der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) teilgenommen hatten und hierfür disziplinarrechtlich von ihren jeweiligen Dienstherren belangt wurden, beriefen sich in Verwaltungsstreitverfahren unter anderem auf die jüngere Rechtsprechung des Straßburger Gerichtshofs. Keines der verwaltungsgerichtlichen Verfahren war in der letzten Instanz erfolgreich. Eine Reihe der unterlegenen Klägerinnen und Kläger erhob daraufhin Verfassungsbeschwerden, über die der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts am 17. Januar 2018 mündlich verhandelt hat. Mit Urteil vom 12. Juni 2018 hat er einen – vorläufigen – Schlusspunkt unter die Debatte um ein Streikrecht für Beamte gesetzt.

II. Verfassungsrechtliche Ausgangslage Für das BVerfG bestand in der Vergangenheit mangels entsprechender Verfahren keine Veranlassung, sich grundlegend und vertieft mit der Problematik eines Streikrechts für Beamte zu befassen. Es hat die Frage indes in einigen Entscheidungen „mitgedacht“ und sich damit implizit positioniert (1.). Ausgehend von der bisherigen Verfassungsrechtsprechung sind die Aussagen des Grundgesetzes zur Koalitionsfreiheit, aber auch zum Berufsbeamtentum zu beleuchten (2.).

1. Bisherige Aussagen des BVerfG Das BVerfG hat in der Vergangenheit sein Verständnis von den grundlegenden Rechten und Pflichten der Beamtin bzw. des Beamten immer wieder konturiert. Schon früh hat es dabei am Rande Aussagen zum Streikrecht getroffen. Auch wenn diese nicht im Zentrum der jeweiligen Argumentation standen – häufig ging es um Fragen der Alimentation und ihrer Bestandteile – sind sie als unmissverständliche Absage an ein Streikrecht für Beamte zu verstehen. In seinem Beschluss vom 11. Juni 1958 betreffend die Gewährung von Teuerungszulagen an

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Beamte hat sich das Gericht mit der Eigenart des Beamtenverhältnisses auseinandergesetzt und hierzu ausgeführt, der einzelne Beamte habe keine eigenen rechtlichen Möglichkeiten, auf die nähere Ausgestaltung seines Dienstverhältnisses, insbesondere auf die Höhe seiner Besoldung, einzuwirken. Ebenso wenig sei er nach hergebrachten Grundsätzen befugt, zur Förderung gemeinsamer Berufsinteressen kollektive wirtschaftliche Kampfmaßnahmen zu ergreifen. Er sei vielmehr auf die Regelung angewiesen, die sein Dienstherr als Gesetzgeber getroffen habe.³ Knapp zwanzig Jahre später befasste sich das Gericht im Zusammenhang mit der Alimentation kinderreicher Beamter erneut mit den hergebrachten Grundsätzen des Berufsbeamtentums und den Auswirkungen auf das Arbeitskampfrecht. In Bezug auf Streikmaßnahmen führte es aus, verfassungsrechtlich garantiert sei der hergebrachte allgemeine Grundsatz des Berufsbeamtentums, dass die angemessene Alimentierung summenmäßig nicht „erstritten“ und „vereinbart“ werde, sondern einseitig durch Gesetz festzulegen sei, was innerhalb des Beamtenrechts die Zulassung eines Streiks ausschließe.⁴ Eine weitere Aussage findet sich im Beschluss des Zweiten Senats vom 19. September 2007 zur Verfassungsmäßigkeit einer antragslosen Teilzeitbeschäftigung von Beamten: So gehöre seit jeher die Treuepflicht zu den Kernpflichten des Beamtenverhältnisses. Der Beamte sei dem Allgemeinwohl und damit zur uneigennützigen Amtsführung verpflichtet und habe bei der Erfüllung der ihm anvertrauten Aufgaben seine eigenen Interessen zurückzustellen. Der Einsatz wirtschaftlicher Kampf- und Druckmittel zur Durchsetzung eigener Interessen, insbesondere auch kollektive Kampfmaßnahmen im Sinne des Art. 9 Abs. 3 GG wie das Streikrecht, sei ihm verwehrt.⁵ Die Überzeugung von dem bestehenden Streikverbot für Beamte kommt implizit auch in dem Urteil des Zweiten Senats zur Privatisierung des Maßregelvollzugs vom 18. Januar 2012 zum Ausdruck. Dort heißt es mit Blick auf Angestellte, für den bei dem Einsatz von Nichtbeamten im Maßregelvollzug nicht auszuschließenden Fall eines Streiks könne und müsse die gebotene Vermeidung unverhältnismäßiger Gemeinwohlschädigungen oder unverhältnismäßiger Beeinträchtigungen Dritter durch Notdienste sichergestellt werden.⁶ In der Entscheidung zur Besoldung hessischer Professoren aus demselben Jahr betonte der Zweite Senat nochmals, die Ausgestaltung des Beamtenverhältnisses sei der einseitigen Regelungskompetenz des Beamtengesetzgebers unterstellt. Der Beamte sei seinem Dienstherrn zur Treue verpflichtet, was auch Folgen für die

   

BVerfGE 8, 1 (17). BVerfGE 44, 249 (264) mit Verweis auf BVerfGE 8, 1 (15 ff.); 8, 28 (35); 19, 303 (322). BVerfGE 119, 247 (264), m.w. N. BVerfGE 130, 76 (122).

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Ausgestaltung des Arbeitskampfrechts habe. Mit diesen und weiteren Vorteilen für den Dienstherrn seien umgekehrt die Bindungen verbunden, die sich aus Art. 33 Abs. 5 GG ergäben, insbesondere auch die Anforderungen des Alimentationsprinzips. Ein „Rosinenpicken“ erlaube die Verschiedenheit der Beschäftigungssysteme dem Gesetzgeber nicht.⁷

2. Verfassungsrechtliche Determinanten Die Frage nach einem Streikrecht oder Streikverbot für Beamte betrifft primär das Verhältnis von Art. 9 Abs. 3 GG (a) zu Art. 33 Abs. 5 GG (b). Koalitionsfreiheit und Berufsbeamtentum sind dabei als jeweils bedeutsame Verfassungsgüter in einen möglichst schonenden Ausgleich zu bringen. Bei der Herstellung praktischer Konkordanz ist besonderes Augenmerk auf die Vorgaben der EMRK zu legen und – soweit angezeigt – auch die hierzu ergangene Rechtsprechung des EGMR mit einzustellen (dazu unter III.). a) Art. 9 Abs. 3 GG schützt als besondere Ausprägung oder Spezialfall⁸ des Grundrechts der allgemeinen Vereinigungsfreiheit (Art. 9 Abs. 1 GG) die Koalitionsfreiheit als das „Recht, zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden“ (Art. 9 Abs. 3 Satz 1 GG). Das Grundrecht aus Art. 9 Abs. 3 GG ist dabei als Menschenrecht für jedermann und für alle Berufe gewährleistet. Die Koalitionsfreiheit schützt alle Menschen in ihrer Eigenschaft als Berufsangehörige (Arbeitnehmer oder Arbeitgeber)⁹ und enthält keinen Ausschluss für bestimmte berufliche Bereiche. Damit werden auch Beamte vom persönlichen Schutzbereich des Art. 9 Abs. 3 GG umfasst.¹⁰ In sachlicher Hinsicht stellt sich Art. 9 Abs. 3 GG nach der Rechtsprechung des BVerfG als ein Freiheitsrecht auf „spezifisch koalitionsgemäße Betätigung“ dar,¹¹ das dem Einzelnen die Freiheit gewährleistet, Vereinigungen zur Förderung der Arbeits- und

 BVerfGE 130, 263 (298), m.w. N.  Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, 14. Aufl. 2016, Art. 9 Rn. 32; Bauer, in: Dreier, GG, Bd. I, 3. Aufl. 2013, Art. 9 Rn. 66.  Bauer, in: Dreier, GG, Bd. I, 3. Aufl. 2013, Art. 9 Rn. 67.  BVerfGE 19, 303 (312, 322); vgl. auch BVerwGE 59, 48 (54 f.); so auch Scholz, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 9 Rn. 178, 215 (September 2016); Kemper, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 1, 7. Aufl. 2018, Art. 9 Rn. 181; Bauer, in: Dreier, GG, Bd. I, 3. Aufl. 2013, Art. 9 Rn. 100; Cornils, in: Epping/ Hillgruber, BeckOK GG, Art. 9 Rn. 41 (Dezember 2016); Kannengießer, in: Schmidt-Bleibtreu/ Hofmann/Henneke, GG, 14. Aufl. 2018, Art. 9 Rn. 23; Löwer, in: von Münch/Kunig, GG, Bd. 1, 6. Aufl. 2012, Art. 9 Rn. 101 (Stichwort Streik).  St. Rspr., BVerfGE 17, 319 (333); 19, 303 (312); 28, 295 (304); 50, 290 (367); 58, 233 (246); 93, 352 (358), zuletzt BVerfG, Urteil des Ersten Senats vom 11. Juli 2017– 1 BvR 1571/15 u. a. –, juris, Rn. 130.

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Wirtschaftsbedingungen zu bilden und diesen Zweck gemeinsam mit anderen zu verfolgen. Zu den geschützten Tätigkeiten der Koalition zählen unter anderem die nach außen gerichteten koalitionsspezifischen Aktivitäten (kollektive Koalitionsfreiheit), wobei den Koalitionen im Rahmen ihrer Interessenwahrnehmung die Wahl der eingesetzten Mittel selbst zusteht.¹² Der Begriff der spezifisch koalitionsmäßigen Betätigung ist weit zu verstehen; das Bundesverfassungsgericht hat der früher vertretenen sog. Kernbereichsformel, wonach sich der Schutz des Art. 9 Abs. 3 GG nur auf die für den Erhalt und die Sicherung des Bestandes der Koalition unerlässlichen Verhaltensweisen beschränken sollte, eine klare Absage erteilt.¹³ Spätestens seit der Entscheidung des Ersten Senats zur Aussperrung aus dem Jahr 1991 ist verfassungsgerichtlich geklärt, dass der Schutzbereich des Art. 9 Abs. 3 GG auch die Teilnahme an Streiks umfassen kann. Arbeitskampfmaßnahmen zählen jedenfalls dann zu den von Art. 9 Abs. 3 GG geschützten Mitteln, wenn sie auf den Abschluss von Tarifverträgen gerichtet und allgemein erforderlich sind, um eine funktionierende Tarifautonomie sicherzustellen.¹⁴ Diese Aussage hat der Erste Senat in seiner Entscheidung zum Einsatz von Beamten als Streikbrecher im Jahr 1993¹⁵ und auch danach wiederholt bestätigt.¹⁶ b) Obwohl dem Wortlaut nach schrankenlos gewährt, räumt die Koalitionsfreiheit den geschützten Personen und Vereinigungen nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts „keinen inhaltlich unbegrenzten und unbegrenzbaren Handlungsspielraum“ ein.¹⁷ Unabhängig von der Frage einer Übertragbarkeit der Schrankenregelung des Art. 9 Abs. 2 GG¹⁸ findet die Koalitionsfreiheit damit ihre Grenze in kollidierendem Verfassungsrecht und unterliegt jedenfalls den verfassungsimmanenten Schranken. Derartige Schranken können sich aus den Grundrechten Dritter sowie aus anderen Gütern mit Verfassungsrang ergeben.¹⁹ Das Bundesverfassungsgericht hat bereits früh entschieden, dass

 BVerfGE 50, 290 (368), m.w. N.; 92, 365 (393); zuletzt BVerfG, Urteil des Ersten Senats vom 11. Juli 2017 – 1 BvR 1571/15 u. a. –, juris, Rn. 130; Hilje, Streikrecht in kirchlichen Einrichtungen?, 2015, S. 117 f.  Vgl. BVerfGE 93, 352 (358 f.); 94, 268 (283).  BVerfGE 84, 212 (225).  BVerfGE 88, 103; vgl. zum Streikrecht auch BVerfGE 92, 365 (393 f.); BVerfGK 4, 60 (63); zur Streikarbeit durch Beamte Blattner, BB 2015, S. 2037 ff.  BVerfG, Urteil des Ersten Senats vom 11. Juli 2017 – 1 BvR 1571/15 u. a. –, juris, Rn. 131.  Vgl. BVerfGE 58, 233 (247), m.w. N.  Vgl. zu dieser Frage etwa Bauer, in: Dreier, GG, Bd. I, 3. Aufl. 2013, Art. 9 Rn. 93 m.w. N.; Scholz, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 9 Rn. 337 (September 2016); Kemper, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 1, 7. Aufl. 2018, Art. 9 Rn. 196.  Vgl. BVerfGE 92, 26 (41): „Die Koalitionsfreiheit ist ein vorbehaltlos gewährleistetes Grundrecht. Grundsätzlich können ihr daher nur zur Wahrung verfassungsrechtlich geschützter Güter

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Art. 33 Abs. 5 GG als Beschränkung der Koalitionsfreiheit in Betracht kommen kann.²⁰ Nach einer wiederholt gebrauchten Definition des Bundesverfassungsgerichts ist mit den hergebrachten Grundsätzen des Berufsbeamtentums im Sinne des Art. 33 Abs. 5 GG der Kernbestand von Strukturprinzipien gemeint, die allgemein oder doch ganz überwiegend während eines längeren, traditionsbildenden Zeitraums, mindestens unter der Reichsverfassung von Weimar, als verbindlich anerkannt und gewahrt worden sind.²¹ Dabei stellt Art. 33 Abs. 5 GG unmittelbar geltendes Recht dar und enthält zugleich einen Regelungsauftrag an den Gesetzgeber.²² Obgleich sich dem Wortlaut der Norm entsprechende Anhaltspunkte nicht entnehmen lassen, unterscheidet das Bundesverfassungsgericht im Rahmen von Art. 33 Abs. 5 GG seit jeher zwischen (bloßen) Berücksichtigungspflichten und sog. Beachtenspflichten.²³ Angesprochen ist damit die Unterscheidung zwischen den (feststehenden) hergebrachten Grundsätzen des Berufsbeamtentums und dem (entwicklungsoffenen) Beamtenrecht. Hinter dieser Differenzierung steht das Bemühen der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, eine Fortentwicklung des Beamtenrechts zu ermöglichen, ohne dabei aber tiefgreifende strukturelle Veränderungen zuzulassen.²⁴ Dass sich Schranken gesetzt werden. Das schließt allerdings eine Ausgestaltungsbefugnis des Gesetzgebers nicht aus, soweit er Regelungen trifft, die erst die Voraussetzungen für eine Wahrnehmung des Freiheitsrechts bilden.“ Zustimmend, aber kritisch zur mangelnden Differenzierung zwischen Eingriff und Schutzbereichsausgestaltung Höfling, in: Sachs, GG, 8. Aufl. 2018, Art. 9 Rn. 137; vgl. auch Kemper, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 1, 7. Aufl. 2018, Art. 9 Rn. 116 ff.  BVerfGE 19, 303 (322); zustimmend Bauer, in: Dreier, GG, Bd. I, 3. Aufl. 2013, Art. 9 Rn. 94, 100; Kemper, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 1, 7. Aufl. 2018, Art. 9 Rn. 197; Cornils, in: Epping/ Hillgruber, BeckOK GG, Art. 9 Rn. 89.1 (Dezember 2016). Schröder, AuR 2013, S. 280 (282 f.) zufolge ist Art. 33 Abs. 5 GG aber nur im Bereich der kraft Verfassungsgebot gemäß Art. 33 Abs. 4 GG ins Beamtenverhältnis Berufenen eine taugliche Schranke.  BVerfGE 107, 218 (237), m.w. N.; 121, 205 (219); vgl. auch BVerfGE 8, 332 (343); 46, 97 (117); 58, 68 (76 f.); 83, 89 (98); 106, 225 (232); 117, 330 (344 f.); 117, 372 (379); kritisch zu dem Aspekt einer Verankerung in der Weimarer Republik bei einer bald 70jährigen Verfassungspraxis Huber, in: Festschrift für Wendt, 2015, S. 127 (132 f.); vgl. auch – ohne Bezugnahme auf die Reichsverfassung von Weimar – jüngst die Entscheidung des Zweiten Senats zur Verfassungswidrigkeit einer zweijährigen „Wartefrist“ für den Besoldungsanstieg nach Beförderung bei Verleihung eines Amtes der Besoldungsgruppe B 2 oder R 3 in Rheinland-Pfalz, BVerfGE 145, 1 (8, Rn. 16).  BVerfGE 117, 330 (344); 119, 247 (260).  Kritisch hierzu aus der Literatur etwa Hebeler, JA 2014, S. 731 (732); Gooren, ZBR 2011, S. 400 (403).  Dem Bundesverfassungsgericht zufolge soll eine zeitgemäße Konkretisierung der hergebrachten Grundsätze unter Art. 33 Abs. 5 GG möglich sein, der nicht „das Gestrige“ konserviere, sondern nur die tradierten und funktionswesentlichen Grundstrukturen des Berufsbeamtentums übernehme, vgl. BVerfGE 119, 247 (261).

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an der Unterscheidung zwischen Beachtenspflichten in Bezug auf die hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums und Berücksichtigungspflichten hinsichtlich des Beamtenrechts auch durch die Einfügung der sog. Fortentwicklungsklausel in Art. 33 Abs. 5 GG im Jahr 2006 nichts geändert hat, stellte der Zweite Senat in seiner Entscheidung zur Teilzeitbeschäftigung von Beamten (2007)²⁵ klar und bestätigte diese Auffassung in seiner Entscheidung zur Übertragung von Führungsämtern im Beamtenverhältnis auf Zeit (2008).²⁶ Zu dem Kernbestand der hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums zählen nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts unter anderem das Alimentationsprinzip,²⁷ der Grundsatz der Hauptberuflichkeit,²⁸ das Lebenszeitprinzip²⁹ und die Treuepflicht.³⁰ Für das (im Ergebnis bislang zwar fast einhellig anerkannte, aber ebenso wie die vorgenannten Strukturprinzipien nicht vom Wortlaut des Art. 33 Abs. 5 GG umfasste) Streikverbot für Beamte war (bislang) umstritten, ob es sich hierbei um einen eigenständigen oder einen aus den anerkannten Strukturprinzipien des Berufsbeamtentums abgeleiteten Grundsatz handelt.³¹ Diese Frage ist jedenfalls dann akademischer Natur, wenn man im Ergebnis auch einem abgeleiteten Grundsatz des Art. 33 Abs. 5 GG Verfassungsrang zubilligt, wofür im Falle des Streikverbots gute Argumente sprechen.³²

 BVerfGE 119, 247 (272 f.); a.A. das Sondervotum des Richters Gerhardt, vgl. BVerfGE 119, 247 (291 f.).  BVerfGE 121, 205 (232); ebenso etwa Domgörgen, in: Hömig/Wolff, GG, 11. Aufl. 2016, Art. 33 Rn. 17; Badura, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 33 Rn. 62 (September 2016); Kunig, in: von Münch/Kunig, GG, Bd. 1, 6. Aufl. 2012, Art. 33 Rn. 53.  BVerfGE 44, 249 (265); 49, 260 (271 f.); 70, 251 (267); 76, 256 (298); 99, 300 (314 f.); 106, 225 (232); 119, 247 (263).  Vgl. BVerfGE 9, 268 (286); 55, 207 (240); 71, 39 (61); 119, 247 (263).  BVerfGE 9, 268 (286); 44, 249 (265); 70, 251 (266); 71, 255 (268); 121, 205 (220).  Ausführliche Herleitung in BVerfGE 39, 334 (346 f.); vgl. auch BVerfGE 43, 154 (165); 119, 247 (264).  Für den Status als eigenständiger Grundsatz etwa Traulsen, JZ 2013, S. 65 (68); wohl auch Merten, in: Festschrift für Wendt, 2015, S. 303 (308); Battis, in: Sachs, GG, 8. Aufl. 2018, Art. 33 Rn. 70 f.  Vgl. Widmaier/Alber, ZEuS 2015, S. 507 (514); zur grundgesetzlichen Verankerung des Streikverbots für Beamte auch Isensee, Beamtenstreik, 1971, S. 53 ff.

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III. EMRK und Rechtsprechung des EGMR Die vorstehenden Grundsätze haben lange Zeit – ausgesprochen oder unausgesprochen – die Bewertung eines Streikverbots für Beamte in der Bundesrepublik Deutschland geprägt. Aus Sicht der (Verfassungs‐)Gerichte und des ganz überwiegenden Schrifttums galt für das Verhältnis von Streikrecht und Berufsbeamtentum folgende Grundaussage: Die Koalitionsfreiheit des Art. 9 Abs. 3 GG, auf die sich in personeller Hinsicht auch Beamte berufen können, gewährt unter Umständen ein Streikrecht, welches aber wiederum für Personen im Beamtenstatus nach Art. 33 Abs. 5 GG ausgeschlossen ist. Zugleich sind in Deutschland die Gewährleistungen der Europäischen Menschenrechtskonvention zu beachten und insbesondere auch bei der Auslegung des Grundgesetzes heranzuziehen.

1. Art. 11 EMRK Auf der Ebene des Völkerrechts gewährleistet Art. 11 Abs. 1 EMRK die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit. Nach dieser Bestimmung hat jede Person das Recht, sich frei und friedlich mit anderen zu versammeln und sich frei mit anderen zusammenzuschließen, wozu nach dem ausdrücklichen Wortlaut auch das Recht gehört, zum Schutz seiner Interessen Gewerkschaften zu gründen und Gewerkschaften beizutreten. Die Ausübung dieser Rechte darf nur Einschränkungen unterworfen werden, die gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sind für die nationale oder öffentliche Sicherheit, zur Aufrechterhaltung der Ordnung oder zur Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit oder der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer (Art. 11 Abs. 2 Satz 1 EMRK). Zudem sind nach Art. 11 Abs. 2 Satz 2 EMRK rechtmäßige Einschränkungen der Ausübung dieser Rechte für Angehörige der Streitkräfte, der Polizei oder der Staatsverwaltung möglich.

2. Rechtsprechung des EGMR, insbesondere Demir und Baykara (2008) sowie Enerji Yapi-Yol Sen (2009) Der EGMR hat Art. 11 Abs. 1 EMRK in frühen Entscheidungen zunächst einschränkend interpretiert und vor allem die negative Dimension der Versamm-

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lungsfreiheit betont.³³ Insbesondere lehnte er zunächst die Anerkennung eines Rechts auf Eintritt in Kollektivverhandlungen und den Abschluss von Kollektivverträgen als Element von Art. 11 EMRK ab³⁴ und betonte die Wahlfreiheit des jeweiligen Vertragsstaates, Instrumente vorzusehen, mit denen die Gewerkschaften die Interessen ihrer Mitglieder wahrnehmen könnten. In einer Entscheidung aus dem Jahr 1976³⁵ stellte der EGMR fest, Art. 11 EMRK gewähre den Gewerkschaften kein Recht auf den Abschluss von Kollektivverträgen für die Beschäftigen des öffentlichen Dienstes mit deren Arbeitgeber, dem Staat. Zudem entschied der Gerichtshof im selben Jahr,³⁶ dass Art. 11 EMRK kein Streikrecht garantiere, da dies keinen unerlässlichen Bestandteil der Koalitionsfreiheit darstelle. Eine grundlegende Änderung dieser Rechtsprechung im Sinne einer Schutzbereichserweiterung nahm der EGMR mit seiner Entscheidung in der Sache Demir und Baykara v. Türkei vom 12. November 2008 vor. Die Große Kammer des Gerichtshofs entschied, dass Art. 11 EMRK – neben weiteren Gewährleistungen – das Recht auf Tarifverhandlungen, auch für Beamte (civil servants),³⁷ schütze.³⁸ In ihrer Entscheidung vom 21. April 2009 stellte zudem die Kammer der 3. Sektion des EGMR in der Rechtssache Enerji Yapi-Yol Sen v. Türkei ausdrücklich fest, dass Art. 11 Abs. 1 EMRK grundsätzlich auch Beamten (fonctionnaires)³⁹ ein Streikrecht gewährleiste, jedenfalls aber ein solches nicht generell für alle Beamten ausgeschlossen werden könne.⁴⁰ In der Folgezeit ergingen weitere Urteile des EGMR,

 Zu den Phasen des Rechtsprechungswandels vgl. Seifert, KritV 2009, S. 357 ff.  Nußberger, RdA 2012, S. 270 (272); Bröhmer, in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Konkordanzkommentar, 2. Aufl. 2013, Kap. 19 Rn. 107.  EGMR, Swedish Engine Drivers’ Union v. Schweden, Urteil vom 6. Februar 1976, Nr. 5614/72.  EGMR, Schmidt und Dahlström v. Schweden, Urteil vom 6. Februar 1976, Nr. 5589/72.  Teilweise sind Bedenken an der Übersetzung der Begriffe „civil/public servant“ bzw. „fonctionnaire“ im Sinne von „Beamter“ nach deutschem Recht geäußert worden, so etwa OVG NRW, Urteil vom 7. März 2012 – 3d A 317/11.O –, juris, Rn. 211 ff. Diese Übersetzung ist in der Rechtssprache allerdings durchaus gängig, vgl. Köbler, Rechtsfranzösisch, 4. Aufl. 2004, S. 260; Fleck, Wörterbuch Recht: Französisch-Deutsch, Deutsch-Französisch, 2. Aufl. 2013, S. 120; Ellenberger/ Froschauer, Grundwortschatz der Rechtssprache, Deutsch-Französisch, Französisch-Deutsch, 2002, S. 115.  EGMR (GK), Demir und Baykara v. Türkei, Urteil vom 12. November 2008, Nr. 34503/97, §§ 153 f.; dazu Grabenwarter/Pabel, EMRK, 6. Aufl. 2016, § 23 Rn. 88. Seifert, KritV 2009, S. 357 (358) weist darauf hin, dass bereits zuvor die Kammer der 2. Sektion des EGMR ein Streikrecht im Rahmen des Art. 11 EMRK implizit anerkannt habe, vgl. EGMR, Dilek u. a. v. Türkei, Urteil vom 17. Juli 2007, Nr. 74611/01 u. a.  Vgl. bereits oben Fn. 37.  EGMR, Enerji Yapi-Yol Sen v. Türkei, Urteil vom 21. April 2009, Nr. 68959/01, § 32.

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denen vom Schrifttum vielfach eine Konkretisierungs- und Konsolidierungswirkung in Bezug auf ein konventionsrechtliches Streikrecht zugeschrieben wurde.⁴¹

3. Bedeutung für die Rechtslage in Deutschland: Bisheriger Meinungsstand Ungeachtet möglicher Übersetzungsschwierigkeiten, die dem Umstand geschuldet sind, dass die amtlichen Fassungen der Entscheidungen des EGMR nur in französischer und/oder englischer Sprache vorliegen, ist den beiden vorgenannten Entscheidungen des Straßburger Gerichtshofs im Schrifttum vielfach die folgende Grundaussage entnommen worden: Das Recht auf Kollektivverhandlungen und Streik (Art. 11 Abs. 1 EMRK) kann nicht statusbezogen für alle Beamten bzw. Angehörige des öffentlichen Dienstes, sondern allenfalls funktional mit Blick auf die jeweils ausgeübte Tätigkeit eingeschränkt werden. Ein in Deutschland bestehendes (statusbezogenes) Streikverbot für alle Beamten in einem absoluten Sinne kollidiert daher mit einem aus konventionsrechtlicher Sicht allein nach funktionellen Kriterien einschränkbaren Streikrecht.⁴² Uneinigkeit herrscht allerdings in Bezug auf die Frage, welche rechtlichen Konsequenzen aus einer Kollisionslage zu ziehen wären. Ausgangspunkt ist aus verfassungsrechtlicher Perspektive der Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes, zu dem sich das Bundesverfassungsgericht bereits früh bekannt hat.⁴³ Danach hat die deutsche öffentliche Gewalt bindende Völkerrechtsnormen zu befolgen und Verletzungen nach Möglichkeit zu unterlassen, um

 Vgl. etwa EGMR, Kaya und Seyhan v. Türkei, Urteil vom 15. September 2009, Nr. 30946/04; EGMR, Saime Özcan v. Türkei, Urteil vom 15. September 2009, Nr. 22943/04; EGMR, Çerikci v. Türkei, Urteil vom 13. Juli 2010, Nr. 33322/07; EGMR, National Union of Rail, Maritime and Transport Workers (RMT) v. Vereinigtes Königreich, Urteil vom 8. April 2014, Nr. 31045/10; EGMR, Tymoshenko u. a. v. Ukraine, Urteil vom 2. Oktober 2014, Nr. 48408/12; EGMR, Hrvatski liječnički sindikat (HLS) v. Kroatien, Urteil vom 27. November 2014, Nr. 36701/09.  Gegen das Bestehen einer Kollisionslage zwischen deutschem Recht und Völkerrecht allerdings OVG NRW, Urteil vom 7. März 2012 – 3d A 317/11.O –, juris, Rn. 219 ff.; Lindner, DÖV 2011, S. 305 (308); Hense, in: Epping/Hillgruber, BeckOK GG, Art. 33 Rn. 42.3 (Dezember 2016); Kaiser, AöR 142 (2017), S. 417 (431 ff., 440); vgl. auch Lorse, ZBR 2015, S. 109 (114); Junker, in: Festschrift für Wank, 2014, S. 219 (229 f.); Bitsch, ZTR 2012, S. 78 (82); Fritz, ZG 2014, S. 372 (380); Höfling, in: Sachs, GG, 8. Aufl. 2018, Art. 9 Rn. 146: „Den Vorgaben der EMRK lässt sich durch eine Statuspolitik Rechnung tragen, die im Hinblick auf die Ausübung von Hoheitsgewalt konsequent zwischen Beamten und Tarifbeschäftigen unterscheidet.“  Vgl. nur BVerfGE 6, 309 (362 f.); 18, 112 (121); 31, 58 (75 f.), st. Rspr.; zum normativen Charakter der Völkerrechtsfreundlichkeit auch Kees, Der Staat 54 (2015), S. 63 (79 ff.).

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auf diese Weise einem Auseinanderfallen von völkerrechtlicher und innerstaatlicher Rechtslage entgegenzuwirken. Darüber hinaus dient der – ebenso wie die hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums zwar anerkannte, aber nicht ausdrücklich im Grundgesetz niedergelegte – Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit als Auslegungshilfe für die Grundrechte, die rechtsstaatlichen Grundsätze der Verfassung sowie für das einfache Recht.⁴⁴ Im Rahmen der Heranziehung der Europäischen Menschenrechtskonvention als Auslegungshilfe berücksichtigt das Bundesverfassungsgericht Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte auch über den konkret entschiedenen Einzelfall hinaus (sog. Orientierungs- und Leitfunktion).⁴⁵ Das Grundgesetz entscheidet aber nicht nur über die Wirksamkeit, sondern auch über den Rang von internationalem Recht innerhalb der nationalen Rechtsordnung.⁴⁶ Hängen Wirksamkeit und Anwendbarkeit von Völkerrecht innerhalb der deutschen Rechtsordnung von den Vorgaben des Grundgesetzes ab, so können sie durch die Verfassung auch begrenzt werden, mit der Folge, dass es unter Umständen zu einem Auseinanderfallen von innerstaatlich wirksamem Recht und völkerrechtlichen Verpflichtungen kommen kann. Das Bundesverfassungsgericht hat dies jüngst etwa für den Fall der Überschreibung eines Doppelbesteuerungsabkommens durch innerstaatliches Gesetz („Treaty Override“) festgestellt.⁴⁷ Wie erwähnt ist eine solche Situation zwar – soweit möglich – zu vermeiden, da dem Grundgesetz eine Öffnung für das Völkerrecht als Teilaspekt einer „offenen Staatlichkeit“⁴⁸ vorschwebt. Es ordnet aber keine absolute Unterwerfung der deutschen Rechtsordnung unter die Völkerrechtsordnung und den unbedingten Geltungsvorrang von Völkerrecht vor dem Verfassungsrecht an.⁴⁹ Der Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit hat mit anderen Worten zwar Verfassungsrang, er beinhaltet aber keine verfassungsrechtliche Pflicht zur uneingeschränkten Befolgung aller völkerrechtlichen Normen.⁵⁰ Eine Übernahme von Wertungen des

 BVerfGE 141, 1 (29 Rn. 71), m.w. N.  BVerfGE 111, 307 (320); 128, 326 (368); BVerfGK 10, 66 (77 f.); 10, 234 (239); Lorse, ZBR 2015, S. 109 (110); Nußberger, RdA 2012, S. 270 (273); Polakiewicz/Kessler, Das Streikverbot für deutsche BeamtInnen auf dem Prüfstand der Europäischen Menschenrechtskonvention, Gutachten, 2012, S. 4; Seifert, KritV 2009, S. 357 (371); Grabenwarter/Pabel, EMRK, 6. Aufl. 2016, § 16 Rn. 8 f.  Der Gedanke, dass es bei dem Nebeneinander verschiedener Rechtsordnungen Anwendungsbzw. Geltungsgrenzen geben muss, ist im Grundgesetz an anderer Stelle durchaus präsent (vgl. Art. 31 GG).  BVerfGE 141, 1 (16 Rn. 36).  Begriffsbildend Klaus Vogel, Die Verfassungsentscheidung des Grundgesetzes für eine internationale Zusammenarbeit, 1964, S. 42 f.  BVerfGE 112, 1 (25 f.).  BVerfGE 112, 1 (26, 28 ff.).

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Völkerrechts scheitert dort, wo dies methodisch nicht mehr vertretbar und mit den Vorgaben des GG unvereinbar ist.⁵¹ Ginge man von einer Kollisionslage aus, wären unter Berücksichtigung der Maßgaben zu Inhalt und Grenzen der Völkerrechtsfreundlichkeit unterschiedliche Lösungsansätze denkbar, die von einer (vollständigen) Beibehaltung des Streikverbots für Beamte über eine teilweise Anerkennung in Bezug auf bestimmte Gruppen von Beamten bis hin zu der Bejahung eines generellen Streikrechts reichten.

IV. „Szenario“ Kollisionslage: ausgewählte Lösungsansätze 1. Status quo: GG vor EMRK Eine erste Option zur Beantwortung der eingangs aufgeworfenen Frage stellte die Beibehaltung des Status quo unter Betonung der Grenzen einer völkerrechtsfreundlichen Auslegung dar.⁵² Für eine solche Sichtweise könnte der bereits angesprochene Umstand angeführt werden, dass der Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit weder eine ausnahmslose noch eine unreflektierte Übernahme völkerrechtlicher Wertungen verlangt. Das Bundesverfassungsgericht hat in der Vergangenheit verschiedene Fallgruppen entwickelt, in denen eine völkerrechtsfreundliche Auslegung des Grundgesetzes nicht in Betracht kommt. So enden die Möglichkeiten einer konventionsfreundlichen Auslegung etwa dort, wo diese nach den anerkannten Methoden der Gesetzesauslegung und Verfassungsinterpretation nicht mehr vertretbar erscheint.⁵³ Würde die Beachtung der Entscheidungen des EGMR gegen eindeutig entgegenstehendes Gesetzesrecht oder deutsche Verfassungsbestimmungen, namentlich auch gegen Grundrechte Dritter verstoßen, bliebe kein Raum mehr für eine konventionsfreundliche Auslegung.⁵⁴ Auch tragende Grundsätze der Verfassung könnten eine solche Grenze darstellen,⁵⁵ wobei hier die inhaltliche Konturierung im Einzelfall Probleme auf BVerfGE 141, 1 (30 Rn. 72); vgl. zu einer moderierenden, nicht derogierenden Qualität der Völkerrechtsfreundlichkeit des GG auch Di Fabio, Das beamtenrechtliche Streikverbot, 2012, S. 22.  Teilweise wird in diesem Zusammenhang zur Kompensation eines Streikverbots für Beamte eine Erweiterung der Beteiligungsrechte von Gewerkschaften (vgl. § 118 BBG, § 53 BeamtStG) gefordert.  BVerfGE 128, 326 (371).  BVerfGE 111, 307 (329).  BVerfGE 111, 307 (319).

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werfen kann. Sieht man in dem Streikverbot einen (eigenständigen oder abgeleiteten) hergebrachten Grundsatz des Berufsbeamtentums im Sinne von Art. 33 Abs. 5 GG und damit zugleich einen Grundsatz mit Verfassungsrang, so dürften dessen Aussagen einer völkerrechtsfreundlichen Auslegung im Sinne eines Streikrechts für die deutsche Beamtenschaft (oder jedenfalls für Teile von ihr) entgegenstehen.

2. Streikrecht für Teile der deutschen Beamtenschaft Zieht man die Grenzen der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes enger und begreift das Streikverbot nicht als einen Kernbestandteil von Art. 33 Abs. 5 GG, wäre die bestehende Kollisionslage durch eine möglichst schonende Einpassung der Rechtsprechung des EGMR in die nationale Rechtsordnung aufzulösen.⁵⁶ Als nationaler Anknüpfungspunkt für die völkerrechtlich in Art. 11 Abs. 2 Satz 2 EMRK vorgesehene Möglichkeit einer Einschränkung (auch) des Streikrechts „für Angehörige der Streitkräfte, der Polizei oder der Staatsverwaltung“ wird hierbei in der Literatur mitunter auf den Funktionsvorbehalt des Art. 33 Abs. 4 GG abgestellt.⁵⁷ Danach ist die Ausübung hoheitsrechtlicher Befugnisse als ständige Aufgabe in der Regel Angehörigen des öffentlichen Dienstes zu übertragen, die in einem öffentlich-rechtlichen Dienst- und Treueverhältnis stehen. Der Sache nach geht es bei dieser Lösung mithin darum, nur einzelne Beamtengruppen aufgrund der von ihnen wahrgenommenen „staatsnahen“ Aufgaben von einem Streikrecht auszunehmen. Dieser Ansatz beansprucht für sich, dem funktionalen Verständnis des EGMR recht nahezukommen. Er birgt mit Blick auf die Rechtslage in Deutschland aber auch Probleme, von denen zwei näher beleuchtet werden sollen: Aus dogmatischer Sicht ließe sich eine Adaption der EGMRRechtsprechung mit dem Berufsbeamtentum in seiner aktuellen Ausgestaltung nicht vereinbaren (a); aus praktischer Perspektive ergäben sich zudem nicht zu unterschätzende Abgrenzungsschwierigkeiten zwischen „Kernbereichsbeamten“ (ohne Streikrecht) und „Randbereichsbeamten“ (mit Streikrecht) (b). a) Nach dem geltenden Beamtenrecht, das das Berufsbeamtentum jenseits der hergebrachten Grundsätze näher ausgestaltet, gehen mit dem Beamtenstatus aufeinander abgestimmte Rechte und Pflichten einher. Ausweitungen oder Beschränkungen auf der einen zeitigen in der Regel auch Veränderungen auf der anderen Seite des Beamtenverhältnisses. Ein „Rosinenpicken“, d. h. ein einseiti-

 Vgl. auch BVerfGE 111, 307 (327); 128, 326 (371).  Vgl. Lauer, Das Recht des Beamten zum Streik, 2017, S. 296 ff.

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ger Zuwachs an Rechten bzw. Pflichten, lässt das Beamtenverhältnis nach bisheriger Auffassung des BVerfG nicht zu.⁵⁸ Mit der Zuerkennung eines Streikrechts stellte sich daher die Frage nach der Erhaltbarkeit grundlegender beamtenrechtlicher Prinzipien. Die Regelung der Besoldung durch den Gesetzgeber, die gerichtliche Überprüfbarkeit der Alimentation und die hiermit zusammenhängende subjektiv-rechtliche Funktion des Art. 33 Abs. 5 GG stünden ebenso zur Disposition wie die Treuepflicht des Beamten und die weitgehende Absage an ein synallagmatisches Verständnis von Besoldung und Diensterbringung. Gänzlich brüchig – nicht zuletzt auch vor dem Hintergrund des Gleichheitssatzes – würde ein System des Berufsbeamtentums, in dem es für einzelne Beamte („Randbereichsbeamte“) zu einer wesentlichen Verschiebung von Rechten und Pflichten käme (Zubilligung des Streikrechts), während bei anderen Beamten („Kernbereichsbeamte“) die hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums wie bisher zu Anwendung gelangten. b) Eine funktionale Abgrenzung wäre in der Rechtsanwendung zudem mit Unsicherheiten behaftet. Das Konzept, (nur) hoheitlich tätigen Beamten das Streikrecht vorzuenthalten, klingt zwar griffig. Allerdings dürfte eine trennscharfe Differenzierung, wann bei einer konkreten Diensthandlung hoheitsrechtliche Befugnisse wahrgenommen werden (und welche Auswirkungen dies für ein Streikrecht zeitigte), nicht unproblematisch sein.⁵⁹ Als Beispiel mögen Lehrkräfte dienen, deren (reine) Lehrtätigkeit in der Regel nicht schwerpunktmäßig hoheitlich geprägt sein wird,⁶⁰ die unter Umständen aber auch (grundrechtsrelevante) Ordnungsmaßnahmen während des Unterrichts zu ergreifen oder Zensuren zu vergeben haben. Vollends problematisch wird eine Abgrenzung allerdings dann, wenn nicht eine konkrete Diensthandlung in Rede steht, sondern abstrakt die Frage zu klären ist, ob einem bestimmten Beamten, der (wegen Abordnung,Versetzung, Umsetzung oder aus sonstigen Gründen) unterschiedliche (teils hoheitliche, teils nicht-hoheitliche) Funktionen wahrnimmt oder aber einer bestimmten Gruppe von Beamten, die möglicherweise unterschiedliche Diensthandlungen ausüben und verschiedene Dienstposten wahrnehmen, ein Streikrecht zuzubilligen ist.⁶¹

 BVerfGE 130, 263 (298).  Den Versuch einer solchen Abgrenzung unternimmt Lauer, Das Recht des Beamten zum Streik, 2017, S. 304 ff.  BVerfGE 119, 247 (267).  Zu diesem Problem auch von Steinau-Steinrück/Sura, NZA 2014, S. 580 (582 f.).

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3. Streikrecht für alle Beamten in Deutschland Schließlich wäre – jedenfalls theoretisch – eine weitere Position denkbar: die Anerkennung eines uneingeschränkten Streikrechts für alle Beamtinnen und Beamten. Bei einer solchen Lösung entfielen zwar mit den Kategorien „Rand- oder Kernbereichsbeamte“ bzw. „Beamte mit/ohne Streikrecht“ die zuvor beschriebenen Abgrenzungsschwierigkeiten. Eine solche Lösung griffe aber ebenso wie die Anerkennung eines teilweisen Streikrechts für Beamte nach funktionellen Kriterien in das austarierte System des Berufsbeamtentums ein und erforderte letztlich massive Umwälzungen im deutschen Beamtenrecht. Unabhängig davon dürfte eine solche Forderung auch über die Vorgaben des Völkerrechts hinausgehen, das mit Art. 11 Abs. 2 EMRK selbst Einschränkungsmöglichkeiten des Art. 11 Abs. 1 EMRK vorsieht.

V. Entscheidung des BVerfG vom 12. Juni 2018 zum Streikrecht für beamtete Lehrer Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil zum Streikrecht für Beamte auf einer früheren Prüfungsstufe angesetzt und bereits das Bestehen einer Kollisionslage verneint. Inhaltlich gliedert sich die Entscheidung des Zweiten Senats (2 BvR 1738/12, 2 BvR 1395/13, 2 BvR 1068/14, 2 BvR 646/15)⁶² in zwei große Teile:

1. Verfassungsrecht Zunächst wird das Streikverbot für Beamte aus der Perspektive des Grundgesetzes beleuchtet. So eindeutig die überwiegende Auffassung in Rechtsprechung und Schrifttum ein Streikrecht für Beamte im Ergebnis bislang ablehnte, so wenig aufgearbeitet und geklärt waren einzelne dogmatische Fragen zu Reichweite und Einschränkbarkeit der Koalitionsfreiheit mit Blick auf einen Beamtenstreik. Im Rahmen der Schutzbereichseröffnung hat das Gericht zunächst noch einmal⁶³ verdeutlicht, dass die Koalitionsfreiheit für jedermann und für alle Berufe gewährleistet ist und damit auch Beamte vom persönlichen Schutzbereich des Art. 9 Abs. 3 GG umfasst sind.⁶⁴ Mit der Einbeziehung von Beamten in den

 Urteil des Zweiten Senats vom 12. Juni 2018, juris.  Vgl. bereits BVerfGE 19, 303 (312, 322).  BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 12. Juni 2018 – 2 BvR 1738/12 u. a. –, juris, Rn. 113.

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Schutzbereich in Zusammenhang stehen die – bislang eher unterbelichteten – Fragen, inwieweit die Koalitionsfreiheit bereits auf der Ebene des Schutzbereichs verfassungsunmittelbar durch die hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums (Art. 33 Abs. 5 GG) begrenzt wird und ob der sachliche Schutzbereich mit Blick auf das Erfordernis der Tarifbezogenheit des Streiks und der Tariffähigkeit der Streikenden für sich auf das Recht zum Arbeitskampf berufende Beamte überhaupt eröffnet sein kann. Der Zweite Senat hat die erste Frage verneint und damit den Weg für eine Güterabwägung (Art. 9 Abs. 3 mit Art. 33 Abs. 5 GG) geebnet, die zweite Frage hingegen vor dem Hintergrund der konkreten Fallgestaltung und mit Blick insbesondere auf die jüngere Rechtsprechung des EGMR⁶⁵ und des BAG⁶⁶ zu Unterstützungsstreiks bejaht. Eine klar befürwortende Position hat der Senat zu der Frage eingenommen, ob es sich bei dem Streikverbot um einen eigenen hergebrachten Grundsatz des Berufsbeamtentums mit Verfassungsrang handelt, der vom Gesetzgeber nicht nur zu berücksichtigen, sondern zu beachten ist.⁶⁷ Diese Aussage steht in der Linie des Bundesverfassungsgerichts, die Grundlagen des Berufsbeamtentums – etwa eine amtsangemessene Besoldung und die grundsätzlich lebenslange Anstellung – nicht politischen Augenblicksentscheidungen preiszugeben. Auf der Ebene der Eingriffsrechtfertigung stehen sich zwei wenig versöhnlich erscheinende Verfassungsgüter (Koalitionsfreiheit in Gestalt des Arbeitskampfrechts; hergebrachte Grundsätze des Berufsbeamtentums in Gestalt des Streikverbots) gegenüber. Der Zweite Senat betont im Rahmen der Herstellung praktischer Konkordanz⁶⁸ zum einen die wegen des Erfordernisses einer Tarifbezogenheit ohnehin engen Grenzen, die einem Streikrecht als Teilaspekt der Koalitionsfreiheit in der vorliegenden Konstellation (Unterstützungsstreik von Beamten) bereits auf der Ebene der Schutzbereichseröffnung gezogen werden. Ein Streikverbot zeitige auch kein vollständiges Zurücktreten der Koalitionsfreiheit für Beamte, beraube sie mithin auch nicht gänzlich ihrer Wirksamkeit. Zum anderen seien mit den Vorschriften über die Beteiligung von Spitzenorganisationen der Gewerkschaften Regelungen zur Kompensation der Beschränkung von Art. 9 Abs. 3 GG bei Beamtinnen und Beamten geschaffen worden.⁶⁹ Eine weitere Kompensation des bestehenden Streikverbots ergebe sich aus dem Alimentati-

 Vgl. EGMR, National Union of Rail, Maritime and Transport Workers v.Vereinigtes Königreich, Urteil vom 8. April 2014, Nr. 31045/10.  Vgl. BAGE 123, 134 (136).  BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 12. Juni 2018 – 2 BvR 1738/12 u. a. –, juris, Rn. 143 ff.  Dazu klassisch Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995, Rn. 72, 317.  BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 12. Juni 2018 – 2 BvR 1738/12 u. a. –, juris, Rn. 158.

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onsprinzip, wonach der Staat zu der Versorgung seiner Beamten und deren Familien verpflichtet sei und diese Pflicht mit der Ausgestaltung von Art. 33 Abs. 5 GG als grundrechtsgleichem Recht zur gerichtlichen Überprüfung der verfassungsgemäßen Alimentation durch den einzelnen Beamten auf dem Rechtsweg auch durchgesetzt werden könne. Nicht näher tritt der Senat den verschiedentlich aufgestellten Forderungen nach der Gewährung eines Streikrechts auf der Grundlage funktionaler Kriterien und unter Heranziehung von Art. 33 Abs. 4 GG (vgl. auch oben IV. 2.), nach einer Übertragung des sogenannten Dritten Weges aus dem kirchlichen Arbeitsrecht (Ersetzung der Tarifverhandlungen durch Schaffung einer „Arbeitsrechtlichen Kommission“)⁷⁰ sowie nach einer Ausweitung der Gewerkschaftsbeteiligung hin zu einem echten gewerkschaftlichen Mitentscheidungsrecht.⁷¹ Diese Ideen erscheinen auf den ersten Blick vor dem Hintergrund des Prinzips praktischer Konkordanz charmant, bieten sie doch einen „handfesten“ Ausgleich für das Streikverbot. Sie widersprechen nach Auffassung des Zweiten Senats aber der Institution des Berufsbeamtentums mit den aufeinander bezogenen Rechten und Pflichten und brächten das ganze System, das in seinen wesentlichen Grundzügen (etwa Alimentationsprinzip, Lebenszeitprinzip, Treuepflicht) vom Verfassungsgeber vorgefunden und übernommen wurde, in Bedrängnis.

2. EMRK Der zweite Teil der Entscheidung betrifft die Europäische Menschenrechtskonvention. Der Senat knüpft zunächst an seine Aussagen im Görgülü-Beschluss (BVerfGE 111, 307) und dem Urteil zur Sicherungsverwahrung (BVerfGE 128, 326) an. In den genannten Entscheidungen wurde der Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes (Herleitung, Umfang, Grenzen) detailliert entfaltet.⁷² Den Entscheidungen vorausgegangen waren jeweils Verfahren vor dem EGMR, in denen dieser sich veranlasst sah, zu der Rechtslage in Deutschland aus der Perspektive des Völkerrechts Stellung zu nehmen.⁷³ Dies war im Falle des Streikrechts für Beamte anders: Seine maßgeblichen Aussagen hat der EGMR in

 Vgl. hierzu näher BVerfGE 140, 42 ff., m.w. N.  BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 12. Juni 2018 – 2 BvR 1738/12 u. a. –, juris, Rn. 161 f.  Vgl. BVerfG 111, 307 (315 ff.); 128, 326 (366 ff.).  Vgl. EGMR, Görgülü v. Deutschland, Urteil vom 26. Februar 2004, Nr. 74969/01; EGMR, M. v. Deutschland, Urteil vom 17. Dezember 2009, Nr. 19359/04.

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Stefan Habermann

Verfahren gegen die Türkei (Demir und Baykara sowie Enerji Yapi-Yol Sen)⁷⁴ und damit zur türkischen Rechtslage getroffen. In seinem Urteil zum Streikrecht für Beamte hat der Zweite Senat diesen Aspekt hervorgehoben, einer differenzierten Bewertung zugeführt und damit zugleich seine Aussagen zur Leit- und Orientierungsfunktion fortentwickelt. Maßgeblich sei danach jenseits der „inter-partes“-Fälle des Art. 46 EMRK eine Kontextualisierung im Sinne einer Berücksichtigung der Umstände des jeweiligen Falles, die den konkreten Sachverhalt ebenso würdige wie den (rechtskulturellen) Hintergrund, in den er eingebettet werde. Die Leit- und Orientierungsfunktion sei dort besonders groß, wo sie sich auf Parallelfälle im Geltungsbereich derselben Rechtsordnung beziehe, mithin (andere) Verfahren in dem von der Ausgangsentscheidung des EGMR betroffenen Vertragsstaat betroffen seien.⁷⁵ Jenseits dieser Parallelsituationen sei der Leit- und Orientierungswirkung insbesondere durch eine Überprüfung der eigenen Rechtsordnung sowie durch eine Übernahme der vom EGMR formulierten Grundwertungen im Sinne von verallgemeinerungsfähigen allgemeinen Grundlinien Rechnung zu tragen.⁷⁶ Wo es nicht um Grundwertungen und die Sicherstellung eines menschenrechtlichen Mindeststandards gehe, sei die Betonung von nationalen Besonderheiten nicht ausgeschlossen, wobei dem – vom EGMR in bestimmten Bereichen anerkannten – Aspekt des „margin of appreciation“ eine wichtige Rolle zukomme. Diese deutschen Besonderheiten in Gestalt des Berufsbeamtentums (Art. 33 GG) hat der Zweite Senat am Ende der Entscheidungsgründe in seinen (den dialogischen Gedanken betonenden) Ausführungen näher aufgezeigt.⁷⁷ Der Zweite Senat musste vor diesem Hintergrund nicht zu möglichen Grenzen der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes Stellung nehmen. Käme es doch einmal auf diese Frage an, wäre zu klären, ob das Streikverbot als hergebrachter Grundsatz des Berufsbeamtentums zu den Verfassungsentscheidungen in Gestalt von tragenden Grundsätzen der Verfassung⁷⁸ zählte, die sich gegen völkerrechtliche Gewährleistungen, auch solche der EMRK, durchzusetzen vermögen.⁷⁹

 In späteren Entscheidungen hat der EGMR überwiegend auf Aussagen in den Verfahren Demir und Baykara sowie Enerji Yapi-Yol Sen Bezug genommen.  BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 12. Juni 2018 – 2 BvR 1738/12 u. a. –, juris, Rn. 132.  BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 12. Juni 2018 – 2 BvR 1738/12 u. a. –, juris, Rn. 173.  BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 12. Juni 2018 – 2 BvR 1738/12 u. a. –, juris, Rn. 181 ff.  Begriff: BVerfGE 111, 307 (319); 123, 267 (400 f.); 141, 1 (24 Rn. 59).  Dazu BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 12. Juni 2018 – 2 BvR 1738/12 u. a. –, juris, Rn. 172: „Es bedarf derzeit insbesondere keiner Klärung, ob das Streikverbot für Beamte als hergebrachter Grundsatz des Berufsbeamtentums und traditionelles Element der deutschen Staatsarchitektur

Streikrecht für Beamte

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VI. Ausblick Die Beschwerdeführenden, die von den Gewerkschaften GEW, DGB und ver.di unterstützt werden, haben den Gang nach Straßburg angekündigt, sollten die Verfassungsbeschwerdeverfahren nicht in ihrem Sinne entschieden werden. Es spricht daher einiges dafür, dass sich der EGMR mit dem Streikverbot für Beamte in Deutschland befassen wird. Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund dürften die Ausführungen des Zweiten Senats zu der Vereinbarkeit des Streikverbots mit den Vorgaben der EMRK zu lesen sein. Sie stehen in der Tradition eines dynamischen Verbundes der Verfassungsgerichte in Europa.⁸⁰ Der Beitrag des EGMR zu dem „Dialog der Gerichte“⁸¹ dürfte von vielen mit Spannung erwartet werden.

(…) zugleich einen (auslegungsfesten) tragenden Grundsatz der Verfassung darstellt (…), wofür indes viel sprechen dürfte“.  Vgl. dazu Voßkuhle, NVwZ 2010, S. 1 ff.  BVerfGE 128, 326 (369).

III. Einzelne Gewährleistungen

Tim R. Salomon

Die Größe mehrfachbelegter Hafträume im Strafvollzugs- und Auslieferungskontext Leitentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (Senat) BVerfGE 35, 202 – Lebach BVerfGE 45, 187 – lebenslange Freiheitsstrafe BVerfGE 75, 1 – ne bis in idem, Völkerrecht BVerfGE 108, 129 – Sachaufklärung im Auslieferungsverfahren BVerfGE 109, 13 – Lockspitzel I BVerfGE 109, 133 – Sicherungsverwahrung BVerfGE 113, 154 – Auslieferung USA BVerfGE 123, 267 – Lissabon BVerfGE 140, 317 – Identitätskontrolle I BVerfGE 147, 364 – Auslieferung Rumänien I

Wichtige Kammerentscheidungen BVerfGK 7, 120 – Haftunterbringung BVerfGK 12, 417 – Zimmerbelegung im Maßregelvollzug BVerfGK 12, 422 – Gemeinschaftsunterbringung BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 14. Juli 2015 – 1 BvR 1127/14 –, juris BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 22. März 2016 – 2 BvR 566/15 –, juris BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 6. September 2016 – 2 BvR 890/16 –, juris BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 16. August 2018 – 2 BvR 237/18 –, juris

Schrifttum (Auswahl) Bachmann, Bundesverfassungsgericht und Strafvollzug, 2015; Kretschmer, Die Mehrfachbelegung von Hafträumen im Strafvollzug in ihrer tatsächlichen und rechtlichen Problematik, NStZ 2005, S. 251– 255; Meyer, Der Grundsatz gegenseitigen Vertrauens, EuR 2017, S. 163 – 186; Müller-Dietz, Menschenwürde und Strafvollzug, 1994; Nitsch, Die Unterbringung von Gefangenen nach dem Strafvollzugsgesetz, 2006; Theile, Menschenwürde und Mehrfachbelegung im geschlossenen Vollzug, StV 2002, S. 670 – 674

Der Verfasser dankt Herrn Dr. Philipp Lassahn LL.M. (Harvard) für hilfreiche Anmerkungen. https://doi.org/10.1515/9783110599916-008

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Inhalt I. Menschenwürdegarantie und Auslieferungsverfahren 125 . Modifizierter grundrechtlicher Schutzstandard 125 . Besonderheiten des unionsrechtlich determinierten Auslieferungsverkehrs 128 . Zwischenergebnis und Vermutungsregeln 132 . Rechtsprechung zu Auslieferungshindernissen aufgrund defizitärer 135 Haftbedingungen II. Menschenwürdegarantie, unmenschliche Behandlung und Strafvollzug, insb. 136 Haftraumgrößen . Menschenwürde und Art und Weise der Unterbringung im Strafvollzug in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts 136 . Menschenwürde und Art und Weise der Unterbringung im Strafvollzug in der fachgerichtlichen Rechtsprechung 140 . Unmenschliche Behandlung und Haftraumgrößen in der Rechtsprechung des EGMR 143 III. Problemstellung und Lösungsansätze: Gewährleistungsgehalt in nationalen und transnationalen Sachverhalten 145 145 . Problemstellung . Lösungsansatz I: bereichsspezifische Interpretation der Menschenwürde unter Berücksichtigung der Lebensbedingungen im Zielstaat 147 . Lösungsansatz II: Universalität der Garantie aus Art.  Abs.  GG und höhere nationale Standards aus Art.  Abs.  i. V. m. Art.  Abs.  GG 148 IV. Ausblick 150

Die Diskussion um räumliche Mindestanforderungen an mehrfachbelegte Hafträume steht noch am Anfang. Sie ist nicht nur im nationalen Strafvollzugskontext, sondern gerade auch im Auslieferungsverkehr von großer praktischer Bedeutung. Denn die konkrete Erwartung, dass ein Betroffener nach seiner Auslieferung im Zielstaat in deutlich zu beengten Hafträumen inhaftiert werden wird, kann dazu führen, dass Auslieferungen aus verfassungs-, aber auch aus menschenrechtlichen Erwägungen für unzulässig zu erklären sind. Wie die Haftraumgröße zu bestimmen ist und welche Größe das rechtlich zulässige Minimum darstellt, ist nicht abschließend geklärt.¹ Orientierung bietet jedoch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR). Am 19. Dezember 2017 gab der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts einer Verfassungsbeschwerde gegen Entscheidungen des Hanseatischen Oberlandesgerichts in Hamburg in einem Auslieferungsverfahren statt, machte aber  BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 13. Juli 2016 – 1 BvR 826/13 –, juris, Rn. 17. Als Beispiele für einfach-rechtliche Regelungen siehe § 7 Abs. 2 und 3 Erstes Justizvollzugsgesetzbuch Baden-Württemberg und § 108 Abs. 4 Brandenburgisches Justizvollzugsgesetz. Darüber hinaus fehlen gesetzliche Festlegungen verbreitet, dazu kritisch Friehe, JuWissBlog 100/ 2018 vom 18. Dezember 2018, https://www.juwiss.de/100-2018/

Die Größe mehrfachbelegter Hafträume im Strafvollzugs- und Auslieferungskontext

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zu den – einzig gerügten – potenziell menschenwürdewidrigen Haftbedingungen im Zielstaat Rumänien, insbesondere im Hinblick auf die dort herrschenden beengten Hafträume in überfüllten Justizvollzugsanstalten, keine Ausführungen. Vielmehr erkannte er lediglich darauf, dass das Ausgangsgericht die Vorlagepflicht nach Art. 267 Abs. 3 Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) in verfassungsrechtlich relevanter Weise verletzt hatte.² Die Kritik ließ nicht lange auf sich warten: Das Bundesverfassungsgericht habe „von der dringend erhofften Klarstellung dieser virulenten Problematik abgesehen“, „die forensische Praxis im rechtlichen Nirwana belassen und Deutschland einen außenpolitischen Bärendienst erwiesen.“³ Ohne diese Kritik zu teilen, die die Bedeutung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) und des Unionsrechts bei der Beurteilung eines Auslieferungsersuchens im unionsrechtlich determinierten Auslieferungsverkehr unterschätzt, befasst sich der folgende Beitrag mit der aufgeworfenen Frage nach materiellen Maßstäben für die rechtliche Beurteilung von Haftraumgrößen und dem Spannungsverhältnis, welches sich insoweit zwischen dem Auslieferungsrecht und dem nationalen Strafvollzugskontext entwickelt hat. Zunächst wird abstrakt zu den verfassungsrechtlichen Maßstäben bei der Beurteilung von Auslieferungsentscheidungen ausgeführt (I.) und sodann werden die für nationale Strafvollzugssachverhalte entwickelten Maßgaben für Haftraumgrößen skizziert (II.). Abschließend wird im Rahmen einer Zusammenführung beider Bereiche das Problem aufgeworfen, dass die Anforderungen, welche die deutschen Fachgerichte der Verfassung für den nationalen Strafvollzug entnehmen, in Auslieferungsverfahren erhebliche Hürden darstellen. Der Beitrag schließt mit Lösungsansätzen für dieses Problem (III.).

I. Menschenwürdegarantie und Auslieferungsverfahren 1. Modifizierter grundrechtlicher Schutzstandard In Auslieferungsverfahren finden die Grundrechte und grundrechtsgleichen Rechte des Grundgesetzes nur eingeschränkt Anwendung, soweit die Bedingun-

 BVerfGE 147, 364 ff.  Böhm, NStZ 2018, S. 197.

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gen im Zielstaat geprüft werden.⁴ Das Bundesverfassungsgericht spricht in ständiger Rechtsprechung davon, dass das Grundgesetz von der Eingliederung des von ihm verfassten Staates in die Völkerrechtsordnung der Staatengemeinschaft ausgehe. Daraus leitet das Gericht einen grundsätzlichen Achtungsanspruch gegenüber fremden Rechtsordnungen und -anschauungen ab, auch wenn sie im Einzelnen nicht mit den deutschen innerstaatlichen Auffassungen übereinstimmen.⁵ Diese Herangehensweise findet ihre Rechtfertigung auch darin, dass der im gegenseitigen Interesse bestehende zwischenstaatliche Auslieferungsverkehr erhalten und die außenpolitische Handlungsfähigkeit der Bundesregierung gewahrt werden muss.⁶ Würde man die Situation in Zielstaaten anhand der in Deutschland geltenden grundgesetzlichen Maßstäbe messen, hätte dies aber nicht nur erhebliche Auswirkungen auf die deutsche Teilnahme am – auf Gegenseitigkeit basierenden – zwischenstaatlichen Auslieferungsverkehr. Vielmehr müssten die möglichen Auswirkungen auf den zwischenstaatlichen Rechtshilfeverkehr auch bei der Beurteilung innerstaatlicher Sachverhalte stets mitgedacht werden. Dies würde sich schnell als „Bremsklotz“ für die Interpretation und Anwendung der materiellen verfassungsrechtlichen Gewährleistungen erweisen. Demzufolge leitet die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung in diesem Kontext aus der Verfassung einen restriktiven Maßstab ab. Hiernach ist zu prüfen, ob einer Auslieferung der nach Art. 25 GG in der Bundesrepublik Deutschland verbindliche völkerrechtliche Mindeststandard⁷ oder die unabdingbaren Grund-

 Dies spiegelt die verfassungsgerichtliche Praxis wider; zur diesbezüglich geführten Kontroverse in der Wissenschaft siehe stellvertretend Ziegenhain, Der Schutz der Menschenrechte bei der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit in Strafsachen, 2002, S. 304 ff.  Vgl. etwa BVerfGE 75, 1 (16 f.); 108, 129 (137); 113, 154 (162 f.).  Vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 16. Januar 2010 – 2 BvR 2299/ 09 –, juris, Rn. 20; und vom 26. Februar 2018 – 2 BvR 107/18 –, juris, Rn. 23.  Die verfassungsgerichtliche Praxis geht dahin, den Grundlagenstreit, ob partikuläres Völkergewohnheitsrecht unter Art. 25 GG fällt (dazu stellvertretend Herdegen, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, Art. 25 GG, Rn. 39 ff. ), nicht anzusprechen, aber auch die grundlegenden EMRK-Standards unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des EGMR unter diesen Begriff zu fassen, siehe zuletzt BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 26. Februar 2018 – 2 BvR 107/18 –, juris, Rn. 28 ff. (zu Art. 6 EMRK); vgl. auch BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 20. Dezember 2007 – 2 BvR 1996/07 –, juris, Rn. 25 (bzgl. der Anforderungen, die der EGMR auf Grundlage des Art. 3 EMRK an Haftbedingungen stellt). Dies ergibt auch Sinn, dient Art. 25 GG doch dem Zweck, einen weitgehenden Gleichklang der freiheitlichen Verfassungsordnung zu den völkerrechtlichen Verpflichtungen Deutschlands herzustellen, dazu aktuell BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 15. März 2018 – 2 BvR 1371/13 –, juris, Rn. 36 m.w. N. Überdies dürfte insoweit die völkerrechtsfreundliche Auslegung dafür sorgen, dass die EGMR-Rechtsprechung in die Auslieferungsprüfung einzube-

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sätze der deutschen verfassungsrechtlichen Ordnung entgegenstehen.⁸ Ist dies der Fall, ordnet auch das einfache Recht in Form des § 73 Gesetz über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen (IRG) an, dass die Leistung von Rechtshilfe bzw. die in Frage stehende Auslieferung für unzulässig zu erklären ist. Während sich der über die nationale Rechtsordnung hinausweisende völkerrechtliche Mindeststandard insbesondere aus den gewohnheitsrechtlich geltenden menschenrechtlichen Mindestgarantien zusammensetzt,⁹ wenn er auch in Teilen darüber hinausgeht,¹⁰ orientiert sich der materielle Gehalt der Formel „unabdingbare verfassungsrechtliche Grundsätze“ an den über die Ewigkeitsgarantie in Art. 79 Abs. 3 GG geschützten – und insoweit tatsächlich unabdingbaren – Art. 1 und Art. 20 GG und den aus ihnen abgeleiteten Gewährleistungsgehalten.¹¹ Hieraus folgt die wichtige Rolle, die Art. 1 Abs. 1 GG bei der Beurteilung von Verfassungsbeschwerden gegen Auslieferungsentscheidungen zukommt, und dass Gewährleistungen, die aus der Menschenwürde in nationalen Sachverhalten abgeleitet werden, grundsätzlich auch im Auslieferungsverfahren als „Auslieferungsgegenrechte“¹² relevant werden können.¹³ Zur Unzulässigkeit einer Auslieferung führt nach der Kammerrechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht bereits die Betroffenheit einer verfassungsrechtlichen Gewährleistung, die (auch) aus Art. 1 Abs. 1 GG folgt; vielmehr soll eine Auslieferung erst dann un-

ziehen ist, auch dazu BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 26. Februar 2018 – 2 BvR 107/18 –, juris, Rn. 25 f.  Vgl. BVerfGE 63, 332 (337 f.); 75, 1 (19); 108, 129 (136 f.); BVerfGK 3, 159 (163).  Dabei mag man darüber streiten, ob es methodisch und rechtspolitisch sinnhaft ist, den im Auslieferungsverfahren zu prüfenden völkerrechtlichen Schutzstandard auf den gewohnheitsrechtlichen Mindeststandard zu reduzieren, zumal die Achtung gegenüber fremden Rechtsordnungen und -anschauungen hier nicht zur Begründung dienen kann, da die Zielstaaten selbst und in vollem Umfang Subjekt der gesamten völkerrechtlichen Verpflichtungen, einschließlich der völkervertraglichen Rechtssätze sind, und die entsprechenden Rechtsnormen damit gerade auch Bestandteil ihrer Rechtsordnungen sind.  So etwa die in der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung unter diesem Punkt gefasste Einhaltung des Spezialitätsgrundsatzes, vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 24. März 2016 – 2 BvR 175/16 –, juris, Rn. 45; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 17. Mai 2017 – 2 BvR 893/17 –, juris, Rn. 33.  Dabei ist der genaue Gehalt der unabdingbaren Grundsätze nicht klar umrissen, vgl. etwa Schorkopf, Grundgesetz und Überstaatlichkeit, 2007, S. 97 f.; zum Gehalt dieser Fallgruppe Salomon, Die internationale Strafverfolgungsstrategie gegenüber somalischen Piraten, 2016, S. 486 ff.  Zum Begriff Lagodny, NJW 1988, S. 2146.  Siehe etwa BVerfGE 140, 317 (343 ff. Rn. 53 ff.) zum aus Art. 1 Abs. 1 GG hergeleiteten Schuldgrundsatz, aus dem Mindestgarantien für Beschuldigtenrechte im Strafprozess folgen.

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zulässig sein, wenn der dem Schutz von Art. 1 GG unterfallende Kernbereich nicht mehr gewährleistet ist.¹⁴

2. Besonderheiten des unionsrechtlich determinierten Auslieferungsverkehrs Der Auslieferungsverkehr zwischen Mitgliedstaaten der Europäischen Union ist durch den Rahmenbeschluss 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl (Rahmenbeschluss)¹⁵ zu einem erheblichen Anteil unionsrechtlich determiniert. Das Bundesverfassungsgericht hat diesbezüglich klargestellt, dass der grundsätzlich auch gegenüber der Verfassung bestehende Anwendungsvorrang des Unionsrechts¹⁶ seine Grenze in den durch Art. 23 Abs. 1 Satz 3 in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3 GG für integrationsfest erklärten Grundsätzen der Verfassung finde und nur so weit reiche, wie das Grundgesetz und das Zustimmungsgesetz die Übertragung von Hoheitsrechten erlaube oder vorsehe.¹⁷ Der verfassungsgerichtlichen Kontrolle dieser „verfassungsänderungs- und integrationsfesten Verfassungsidentität“ diene die Identitätskontrolle durch das Bundesverfassungsgericht,¹⁸ die im Ergebnis dazu führen könne, dass das Unionsrecht in Deutschland in eng begrenzten Einzelfällen für unanwendbar erklärt werde – ein Ausspruch, den das Bundesverfassungsgericht sich selbst vorbehält.¹⁹ Jedenfalls soweit im Unionsrecht gegenüber einem Auslieferungsersuchen kein „Gegenrecht“ bereitsteht, das Unionsrecht also eine Pflicht zur Durchführung vorsieht, eine Auslieferung aber etwa die Menschenwürde des Betroffenen berührt, hat eine auf eine Identitätskontrolle gerichtete Verfassungsbeschwerde vor dem Bundesverfassungsgericht Aussicht auf Erfolg.²⁰ Derartige Kollisionen

 Prägnant zu unionsrechtlich determinierten Sachverhalten BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 6. September 2016 – 2 BvR 890/16 –, juris, Rn. 36.  ABl Nr. L 190 vom 18. Juli 2002, S. 1, geändert durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009.  Vgl. BVerfGE 140, 317 (334 Rn. 36).  Vgl. BVerfGE 73, 339 (375 f.); 89, 155 (190); 123, 267 (348 ff.); 126, 286 (302); 129, 78 (99); 134, 366 (384 Rn. 26); 140, 317 (336 Rn. 40 ff.).  Vgl. BVerfGE 140, 317 (336 Rn. 41).  Vgl. BVerfGE 123, 267 (354).  In der Praxis ist das Bundesverfassungsgericht noch darüber hinausgegangen und hat die Identitätskontrolle auch angewandt, obwohl keine Kollision zwischen unionsrechtlicher Pflicht zur Überstellung und der Menschenwürde vorlag – ein Umstand, der im wissenschaftlichen Schrifttum mit guten Gründen kritisiert wurde, zumal in diesen Fällen eine Ausnahme vom Anwendungsvorrang dogmatisch nicht zu begründen ist, vgl. dazu Hong, European Constitutional

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zwischen unionsrechtlicher Pflicht und verfassungsrechtlichem Verbot dürften infolge der fortentwickelten EuGH-Rechtsprechung aber Seltenheitswert haben. Denn der Gerichtshof hebt bei Auslieferungen nunmehr explizit auch die Bedeutung der Unionsgrundrechte, insbesondere von Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRCh) und damit – über Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh – von Art. 3 Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) hervor²¹ und nimmt das Unionsrecht gegenüber nationalem Verfassungsrecht zudem ein Stück zurück.²² Die unmenschliche Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK betrifft häufig Fälle, die im nationalen Kontext unter Art. 1 Abs. 1 GG fallen würden, insoweit sind die unionsrechtlich verankerten Auslieferungsgegenrechte gestärkt worden; eine Konfliktlage zwischen Unionsrecht und Verfassungsrecht ist damit unwahrscheinlicher geworden.²³ Mit der bereits angesprochenen Entscheidung vom 19. Dezember 2017 stellt das Bundesverfassungsgericht nun klar, dass die üblichen Maßstäbe der Vorlagepflicht aus Art. 267 Abs. 3 AEUV und deren verfassungsrechtlicher Untermauerung auch in Auslieferungsverfahren gelten. Es hat die Vorlagepflicht in

Law Review, 2016, S. 549 (555); Meyer, HRRS 2016, S. 332 (336); Burchardt, ZaöRV 2016, S. 527 (548 f.); Sauer, NJW 2016, S. 1134 (1135); Satzger, NStZ 2016, S. 514 (518 ff.); Finke, HRRS 2016, S. 327 (331).  EuGH, Urteil vom 5. April 2016, Aranyosi und Că ldă raru, C-404/15 und C-659/15 PPU, juris, Rn. 84. Zur vorherigen restriktiveren Herangehensweise vgl. die Nachweise in BVerfGE 140, 317 (353 Rn. 78) sowie EuGH, Urteil vom 26. Februar 2013, Melloni, C-399/11, EU:C:2013:107, Rn. 59, in dem der EuGH betonte, dass die nationalen Justizbehörden die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls nur in den im Rahmenbeschluss vorgesehenen Fällen ablehnen können. Die Europäische Kommission hatte indes bereits 2011 ausgeführt, dass der EGMR auf Mängel in einigen Haftanstalten in der EU hingewiesen habe, inakzeptable Haftbedingungen (ab einem gewissen Schweregrad) einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK darstellen könnten und der Rahmenbeschluss zum Europäischen Haftbefehl keine Übergabe vorsehe, bei der die vollstreckende Justizbehörde unter Berücksichtigung aller Umstände des Falls davon überzeugt ist, dass die Übergabe zu einem Verstoß gegen die Grundrechte des Betroffenen aufgrund inakzeptabler Haftbedingungen führen würde, Bericht der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat über die seit 2007 erfolgte Umsetzung des Rahmenbeschlusses des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten vom 11. April 2011, KOM(2011) 175, S. 8.  Vgl. EuGH, Urteil vom 5. Dezember 2017, M.A.S. und M.B. („Taricco II“), C-42/17, ECLI:EU: C:2017:936, Rn. 61; dazu Burchardt, Verfassungsblog vom 7. Dezember 2017, https://verfassungs blog.de/belittling-the-primacy-of-eulaw-in-taricco-ii/; zu den Deutungsmöglichkeiten auch Wegner, JuWissBlog 143/2017 vom 20. Dezember 2017, https://www.juwiss.de/143 -2017/.  Dies gilt jedenfalls für die vorliegend relevante Frage der rechtlichen Bewertung von Haftbedingungen. Damit wird nicht verkannt, dass in der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung unter Art. 1 Abs. 1 GG auch solche Sachverhalte gefasst werden, die nicht unter Art. 3 EMRK oder Art. 4 GRCh fallen würden, vgl. zuletzt etwa BVerfGE 140, 317 ff. (Abwesenheitsurteil).

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diesen Fällen zudem gestärkt, indem es den Fachgerichten für eine Nichtvorlage (mit Ausnahme von Evidenzfällen) die Pflicht einer nachvollziehbaren Begründung auferlegt hat.²⁴ Letztlich bewegt sich der Zweite Senat damit in integrationsfreundlicher Weise in die Richtung, die Identitätskontrolle als ultima ratio anzusehen und sie am Ende des gerichtlichen Auslieferungsverfahrens zu verorten, also an einen Zeitpunkt, an dem das fachgerichtliche Verfahren komplett und demnach unter möglicher Einbeziehung des EuGH durchlaufen wurde und ein etwaiger Konflikt zwischen unabdingbaren verfassungsrechtlichen Grundsätzen und dem Unionsrecht offen zutage tritt.²⁵ Als anerkannt kann mittlerweile zudem gelten, dass mit Verfassungsbeschwerden gegen grundsätzlich unionsrechtlich determinierte Auslieferungsentscheidungen neben Art. 1 Abs. 1 GG auch Verletzungen des Art. 19 Abs. 4 GG, etwa Mängel der Sachverhaltsaufklärung, des Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG (faires Verfahren) sowie des Art. 103 Abs. 1 GG aussichtsreich gerügt werden können. Dies gilt jedenfalls, wenn der jeweilige Beschwerdeführer rügt, dass das für die Auslieferungsentscheidung zuständige Oberlandesgericht eine nötige Sachverhaltsaufklärung unterlassen oder nur defizitär durchgeführt hat bzw. das rechtliche Gehör verletzt hat und das jeweilige Vorgehen nicht durch Unionsrecht determiniert ist.²⁶ Darüber hinaus scheint das verfassungsgerichtliche Prüfungsprogramm gegenüber Entscheidungen im unionsrechtlich determinierten Auslieferungsverkehr noch nicht derart festzustehen wie für den allgemeinen Auslieferungsverkehr. So ist bereits die Frage, ob der völkerrechtliche Mindeststandard weiterhin

 BVerfGE 147, 364 (383 Rn. 49)  In eine andere Richtung deutete die Entscheidung in der Sache Identitätskontrolle I (BVerfGE 140, 317 ff.), in der die Frage der Vorlagepflicht der Fachgerichte nicht thematisiert wurde.  Vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 16. August 2018 – 2 BvR 237/ 18 –, juris, Rn. 21 f. für Art. 19 Abs. 4 GG. Dies ist regelmäßig der Fall, da der Rahmenbeschluss zwar teils verfahrensrechtliche Regelungen enthält, aber insoweit weitreichend auf das innerstaatliche Recht der Mitgliedsstaaten verweist, siehe Rahmenbeschluss 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten, ABl EU Nr. L 190 vom 18. Juli 2002, S. 1 ff., Erwägungsgrund 12, sowie Art. 11 Abs. 1 und 2, 12, 13 Abs. 1, 2, 3, 4 und 14. Dass in diesen Fällen Wertungen des Unionsrechts bei der Auslegung und Anwendung der Grundrechte des Grundgesetzes zu beachten sind, liegt nahe. Auch insoweit deutete BVerfGE 140, 317 ff. noch in eine andere Richtung, denn die in der Sache Identitätskontrolle I letztlich zu beurteilende Aufklärungspflichtverletzung hätte auch unter Art. 19 Abs. 4 GG bzw. Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG (faires Verfahren) gefasst werden können, so auch noch BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 27. November 2014 – 2 BvR 2735/14 –, juris, Rn. 12; vgl. auch Schönberger, JZ 2016, S. 422 (424).

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zur Prüfung herangezogen werden kann, nicht abschließend beantwortet.²⁷ Für eine jedenfalls teilweise Anwendung dieses Prüfungsstandards auch im unionsrechtlich determinierten Auslieferungsverkehr spricht jedenfalls, dass der EuGH in seiner aktuellen Entscheidungspraxis die Ausnahmen von der Pflicht des ersuchten Staats, Auslieferungsersuchen im unionsrechtlich determinierten Auslieferungsverkehr zu befolgen, deutlicher als zuvor betont. So hat er auf Grundlage des Art. 1 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses, der die Pflicht hervorhebt, die Grundrechte und die allgemeinen Rechtsgrundsätze (Art. 2 und 6 EUV) zu achten, für das Verbot unmenschlicher Behandlung im Sinne des Art. 4 GRCh²⁸ und das Grundrecht auf ein unabhängiges Gericht und ein faires Verfahren im Sinne des Art. 47 Abs. 2 GRCh²⁹ anerkannt, dass der ersuchte Staat bei einer echten Gefahr einer Verletzung dieser Rechte als letztes Mittel davon absehen kann (und letztlich muss), einem Auslieferungsersuchen auf Grundlage eines Europäischen Haftbefehls Folge zu leisten. Diese Rechtsprechung dürfte verallgemeinerungsfähig für alle unionsrechtlichen Grundrechte sein. Sie eröffnet dem Bundesverfassungsgericht, ohne in Konflikt mit dem anwendungsvorrangigen Unionsrecht

 In der Entscheidung Identitätskontrolle I (BVerfGE 140, 317 ff.) fand dies keine Erwähnung, was aber maßgeblich daran gelegen haben dürfte, dass die dort zu beurteilende Abwesenheitsverurteilung und der damit betroffene Schuldgrundsatz bisher in ständiger Rechtsprechung den unabdingbaren verfassungsrechtlichen Grundsätzen zugeordnet wurde, dazu BVerfGE 63, 332 (338); 140, 317 (347); BVerfGK 3, 27 (32 f.); 3, 314 (318); 6, 13 (18); 6, 334 (341 f.). In den nachfolgenden Kammerentscheidungen wurde die Frage der fortdauernden Anwendung des völkerrechtlichen Prüfungsanteils im verfassungsgerichtlichen Verfahren teilweise eher offengelassen, siehe etwa BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 26. Februar 2018 – 2 BvR 107/ 18 –, juris, Rn. 24 („insbesondere“); anders noch BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 6. Mai 2016 – 2 BvR 890/16 –, juris, Rn. 43 soweit die Auslieferungsentscheidung unionsrechtlich determiniert ist. Zu diesem Problemkomplex gehört auch die aktuell aufgetretene Rechtsfrage, ob die diplomatische Immunität ein Gegenrecht bzw. ein Hindernis gegenüber einem europäischen Auslieferungsersuchen darstellt, siehe dazu OLG Bamberg, Beschluss vom 27. September 2018 – 1 AuslAR 30/18 –, welches Art. 40 Abs. 1 des Wiener Übereinkommens über diplomatische Beziehungen (WÜD) letztlich als Auslieferungshindernis geprüft und einen von der Norm gewährten Immunitätsschutz lediglich auf Grund der Besonderheiten des Einzelfalls (vertretbar) verneint hat, siehe dazu BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 2. Oktober 2018 – 2 BvR 2160/18 –. Im allgemeinen Auslieferungsverkehr wäre eine Verletzung der diplomatischen Immunität gemäß Art. 2 Abs. 1 bzw. 2 GG i.V. m. Art. 25 GG wohl als verfassungsgerichtlich relevantes Auslieferungshindernis anzusehen, siehe etwa BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 24. März 2016 – 2 BvR 175/16 –, juris, Rn. 39, 44 ff. (zum Spezialitätsgrundsatz).  EuGH, Urteil vom 5. April 2016, Aranyosi und Că ldă raru, C-404/15 und C-659/15 PPU, juris, Rn. 88 ff.; EuGH, Urteil vom 25. Juli 2018, M.L., C-220/18 PPU, Rn. 57 ff.  EuGH, Urteil vom 25. Juli 2018, L.M., C-216/18 PPU, juris, Rn. 47 ff.

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oder der Souveränität anderer Staaten zu geraten, zukünftig die Möglichkeit, auch im Verfassungsbeschwerdeverfahren wieder auf den (regional geltenden³⁰) menschenrechtlichen Mindeststandard zurückzugreifen, der mit den Unionsgrundrechten weitgehend übereinstimmt, ohne dass auf die Identitätskontrolle und damit auf rein nationale Maßstäbe rekurriert werden müsste. Hielte man dies nicht für möglich, wäre die Konsequenz, dass mit einer Verfassungsbeschwerde auch unionsrechtlich anerkannten Auslieferungsgegenrechten (z. B. Recht auf ein faires Strafverfahren im Zielstaat) keine Geltung verschafft werden könnte, wenn diese nicht im Einzelfall auch in den Schutzbereich des Art. 1 Abs. 1 GG fielen. Wollte man dieses Ergebnis vermeiden, so wäre zu überlegen, ob der insoweit fehlende materielle Schutz durch die Verfassungsbeschwerde zur Folge haben müsste, dass eine im fachgerichtlichen Verfahren zu restriktiv erfolgte Anwendung unionsrechtlich anerkannter Auslieferungsgegenrechte mit der Rüge des Art. 3 Abs. 1 GG (Willkürverbot) angegriffen werden könnte. Eine drastischere Lösung wäre es, in diesen Fällen die GRCh-Grundrechte auch im Rahmen der Verfassungsbeschwerde als rügefähig anzusehen. Unabhängig von dem im Verfassungsbeschwerdeverfahren anwendbaren materiellen Standard, wird Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG in diesen Konstellationen zukünftig einen großen Raum einnehmen, da viele der sich in Auslieferungsverfahren stellenden Fragen europarechtlich noch nicht beantwortet sind.

3. Zwischenergebnis und Vermutungsregeln Unabhängig von den Unklarheiten hinsichtlich des verfassungsgerichtlichen Prüfungsmaßstabs bleibt festzuhalten, dass die echte Gefahr einer Menschenwürdebetroffenheit bzw. einer unmenschlichen Behandlung durch die Gegebenheiten in den Haftanstalten des Zielstaats einer Auslieferung im Ergebnis dazu führt, dass dem Auslieferungsersuchen durch deutsche Stellen nicht nachgekommen werden muss bzw. darf. Dies ist im Verfassungsbeschwerdeverfahren als solches rügefähig und zwar unabhängig davon, ob das Auslieferungsersuchen im unionsrechtlich determinierten oder im anderweitigen Auslieferungsverkehr erfolgt.³¹

 Zur verfassungsgerichtlichen Praxis, auf den regionalen Standard abzustellen siehe oben Fn. 7.  Die neue EuGH-Rechtsprechung sieht eine zweistufige Prüfung vor, wonach in einem ersten Schritt zu klären ist, ob eine abstrakte Gefahr für eine Verletzung von Art. 4 GRCh durch systemische oder allgemeine, jeweils bestimmte Personengruppen oder bestimmte Haftanstalten betreffende Mängel der Haftbedingungen besteht, und sodann geprüft werden muss, ob sich diese

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Dass die vielerorts bestehenden systemischen Defizite im Strafvollzug nicht viel öfter dazu führen, dass Auslieferungsersuchen zurückgewiesen werden, ist dem Grundsatz gegenseitigen Vertrauens und der Zusicherungspraxis geschuldet. Nach dem erstgenannten Grundsatz ist im Auslieferungsverkehr zwischen Deutschland und anderen Staaten, insbesondere wenn dieser auf einer völkervertraglichen Grundlage durchgeführt wird, dem ersuchenden Staat im Hinblick auf die Einhaltung der Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit und des Menschenrechtsschutzes Vertrauen entgegenzubringen.³² Dieser Grundsatz gilt auch bei gravierenden systemischen Problemen im nationalen Strafvollzug. Denn auch dann wird ein Staat stets ein erhebliches Interesse an der Aufrechterhaltung und Funktionsfähigkeit der gegenseitigen Rechtshilfe haben, so dass er von der Verletzung der Rechte einer ausgelieferten Person, regelmäßig Abstand nehmen wird, weil diese die zukünftige Funktionsfähigkeit des Auslieferungsverkehrs beeinträchtigen würde.³³ Eine Erschütterung dieses Grundsatzes setzt üblicherweise stichhaltige Gründe voraus, nach denen eine beachtliche Wahrscheinlichkeit dafür bestehen muss, dass gerade im konkreten Fall in dem ersuchenden Staat die Mindeststandards nicht beachtet werden.³⁴ Sind allerdings die Rahmenbedingungen im Zielstaat derart defizitär, dass die unabdingbaren verfassungsrechtlichen Grundsätze oder der völkerrechtliche Mindeststandard von diesem nur mit großer Anstrengung eingehalten werden können, wird man an die stichhaltigen Gründe keine allzu hohen Anforderungen stellen dürfen. Trägt das grundsätzliche Vertrauen eine Auslieferung nicht, bleibt der Weg der völkerrechtlich verbindlichen Zusicherung. Selbst bei gravierenden Defiziten im Zielstaat bleibt die rechtliche Prüfung eines Auslieferungsersuchens eine Prüfung des Einzelfalls. So lässt sich die Beanstandung einer Auslieferung häufig dadurch vermeiden, dass der Zielstaat – regelmäßig unter

Mängel auch im konkreten Fall verwirklichen können mit der Folge der einstweiligen Aussetzung der Vollstreckung des Haftbefehls und der Einholung zusätzlicher Informationen beim Zielstaat. Sollten diese das Vorliegen einer echten Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung nicht ausschließen, wird das Übergabeverfahren beendet, siehe EuGH, Urteil vom 5. April 2016, Aranyosi und Că ldă raru, C-404/15 und C-659/15 PPU, juris, Rn. 144. Zur durch den EuGH nunmehr postulierten verringerten Prüfungszuständigkeit der Gerichte des ersuchten Staats siehe unten Fn. 104.  Vgl. BVerfGE 109, 13 (35 f.); 109, 38 (61); 140, 317 (349 ff.); im unionsrechtlichen Auslieferungsverkehr beansprucht dieser Grundsatz wegen der Bindung aller Akteure an die GRCh und die EMRK in noch größerem Maße Geltung, siehe BVerfGE 140, 317 (350 f.); grundlegend Meyer, EuR 2017, S. 163 ff.  Siehe etwa BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 17. Mai 2017– 2 BvR 893/ 17 –, juris, Rn. 28.  BVerfGE 109, 13 (35 f.); 109, 38 (61); 140, 317 (350).

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Einräumung von Kontroll- und Besuchsrechten – gegenüber dem ersuchten Staat zusichert, dass der oder die Betroffene trotz der systemischen Defizite dergestalt inhaftiert werden wird, dass es den Mindestanforderungen genügt. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sind solche Zusicherungen geeignet, Bedenken hinsichtlich der Zulässigkeit der Auslieferung auszuräumen, sofern nicht im Einzelfall zu erwarten ist, dass die Zusicherung nicht eingehalten wird.³⁵ Durch eine Zusicherung wird also eine – vom Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens unabhängige und im Gegensatz zu diesem einzelfallbasierte – widerlegbare Vermutung rechtskonformen Verhaltens des Zielstaats begründet.³⁶ Solche Zusicherungen sind rechtspolitisch zwar nicht unproblematisch, weil sie regelmäßig zu einem Zwei-Klassen-Strafvollzug in den Zielstaaten führen und diese letztlich zwingen, auf Kosten anderer Gefangener bessere Bedingungen für Personen zu schaffen, deren Auslieferung sie bewirken wollen. Für die Beurteilung des konkreten Einzelfalls kommt ihnen dennoch regelmäßig eine große Bedeutung zu.

 Vgl. BVerfGE 9, 174 (181 f.), 15, 249 (251); 63, 215 (224); 109, 38 (62); BVerfGK 2, 165 (172 f.); 3, 159 (165); 6, 13 (19); 6, 334 (343); 13, 128 (136); 13, 557 (561); 14, 372 (377 f.); BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 20. Dezember 2007 – 2 BvQ 51/07 –, juris, Rn. 27 f.; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 9. April 2015 – 2 BvR 221/15 –, juris, Rn. 17; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 17. Mai 2017 – 2 BvR 893/17 –, juris, Rn. 30.  Eine andere Herangehensweise verfolgt das OLG München, welches im unionsrechtlich determinierten Auslieferungsverkehr auf völkerrechtlich verbindliche Zusicherungen nebst Einräumung von Besuchs- und Kontrollrechten verzichten will und unter Berufung auf den EuGH nur noch „zusätzliche Informationen“ vom Zielstaat verlangt, OLG München, Beschluss vom 20. Februar 2017 – 1 AR 68/17 –, juris, Rn. 49 f. Diese Herangehensweise ist bedenkenswert, zumal es zweifelhaft ist, ob im innereuropäischen Auslieferungsverkehr eine zusätzliche völkerrechtlich verbindliche Zusicherung eine gesteigerte Vermutung rechtskonformen Verhaltens begründen kann, da Verstöße gegen die Grundrechtecharta im oder nach dem Auslieferungsverfahren ohnehin Vertragsverletzungen darstellen würden, die – wohl anders als Verstöße gegen Zusicherungen – prozessual (im Wege des Vertragsverletzungsverfahrens gemäß Art. 258 ff. AEUV) geltend gemacht werden können. Ob das Bundesverfassungsgericht derlei „zusätzlichen Informationen“ jedoch dieselbe Rechtswirkung zuerkennt wie Zusicherungen, ist derzeit noch offen. Es ist jedoch darauf hinzuweisen, dass der EuGH die Erteilung von Zusicherungen auch im unionsrechtlich determinierten Auslieferungsverkehr mittlerweile als gangbaren Weg anerkannt hat, siehe etwa EuGH, Urteil vom 25. Juli 2018, M.L., C-220/18 PPU, Rn. 110 ff.

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4. Rechtsprechung zu Auslieferungshindernissen aufgrund defizitärer Haftbedingungen Das Thema defizitärer Haftbedingungen stellt sich im Auslieferungsverkehr derzeit mit wachsender Regelmäßigkeit. Dessen Virulenz wird auch dadurch verursacht, dass Staaten, deren nationaler Strafvollzug schon nach der Rechtsprechung des EGMR systemische Defizite aufweist, teilweise aus innerstaatlichen Gründen keine konkretisierten Zusicherungen geben können, etwa weil über die Zuteilung verurteilter Personen zu konkreten Haftanstalten und über weitere Modalitäten des Strafvollzugs (offener/geschlossener Vollzug) durch unabhängige Fachkommissionen entschieden wird.³⁷ Die Zusicherungen die demzumtrotz abgegeben werden (können), garantieren teilweise Haftraumgrößen, die – wenn überhaupt – am untersten Rand des Zulässigen liegen und daher ihrerseits diejenigen Probleme aufwerfen, zu deren Beseitigung sie eigentlich dienen.³⁸ Die Rechtsprechung der Oberlandesgerichte zu diesen Konstellationen ist uneinheitlich. Zahlreiche Oberlandesgerichte waren bereits mit Verfahren befasst, die die Haftraumbedingungen in derartigen Fällen betrafen.Viele der Senate hielten eine Auslieferung von Personen infolge der im Zielstaat herrschenden Haftbedingungen, zumeist unter Verweis auf die EMRK bzw. die Rechtsprechung des EGMR, für unzulässig.³⁹ Eine Auseinandersetzung mit den aus Art. 1 Abs. 1 GG folgenden Maßstäben und der Frage, ob diese Maßstäbe mit den Mindestanforderungen der EMRK deckungsgleich sind oder womöglich darüber hinausgehen, fehlt dabei zumeist. Das Bundesverfassungsgericht sah in dem bereits oben erwähnten Fall über eine Auslieferung nach Rumänien jedenfalls die erhöhten Substantiierungsanforderungen einer auf eine Identitätskontrolle gerichteten Verfassungsbeschwerde, mit der ein Verstoß gegen Art. 1 Abs. 1 GG gerügt wurde,

 Vgl. etwa die Situation in Rumänien, dazu BVerfGE 147, 364 (367 ff. Rn. 10 ff.)  Vgl. etwa die Zusicherung im kürzlich entschiedenen Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht „Raum von mindestens 3 m² für Gefangene […], die sich in einem geschlossenen Regime befänden, und 2 m² für Gefangene, die in einem Mehrfachhaftraum mit offenen Türen untergebracht seien“, BVerfGE 147, 364 (368 Rn. 11); Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 12. Januar 2018 – 2 BvR 37/18 –, juris, Rn. 5.  OLG Stuttgart, Beschlüsse vom 29. April 2016 – 1 Ausl 326/15 –, juris, Rn. 31, 38, und vom 17. Juni 2016 – 1 Ausl 6/16 –, juris, Rn. 12 f.; OLG Hamm, Beschluss vom 23. August 2016 – 2 Ausl 125/16 –, juris, Rn. 15 ff.; OLG Celle, Beschluss vom 22. Dezember 2016 – 1 AR (Ausl) 59/16 –, juris, Rn. 19 ff.; OLG München, Beschluss vom 13. April 2017 – 1 AR 126/17 –, juris, Rn. 27 ff.; siehe ferner OLG München, Beschluss vom 16. Mai 2017– 1 AR 188/17–, juris, Rn. 45; OLG Nürnberg, Beschluss vom 5. Juli 2017 – 2 Ausl AR 14/17 –, juris; siehe aber OLG Hamburg, Beschluss vom 3. Januar 2017 – Ausl 81/16 –, juris.

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als gewahrt an.⁴⁰ Die Frage, welche konkreten Maßstäbe dem Grundgesetz für die Beurteilung von Haftraumgrößen in Zielstaaten entnommen werden können, ist derzeit aber noch nicht abschließend beantwortet. Für den nationalen Strafvollzug haben Fachgerichte und das Bundesverfassungsgericht jedoch bereits mehrfach, zumeist auf Grundlage der Menschenwürde, konkrete Maßstäbe gebildet.

II. Menschenwürdegarantie, unmenschliche Behandlung und Strafvollzug, insb. Haftraumgrößen 1. Menschenwürde und Art und Weise der Unterbringung im Strafvollzug in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Die Menschenwürdegarantie ist in der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung als tragendes Konstitutionsprinzip im System der Grundrechte anerkannt.⁴¹ Mit ihr wird der soziale Wert- und Achtungsanspruch des Menschen verbunden, der es verbietet, diesen zum bloßen Objekt des Staates zu machen oder ihn einer Behandlung auszusetzen, die seine Subjektqualität prinzipiell in Frage stellt.⁴² Art. 1 Abs. 1 GG schützt den einzelnen Menschen nicht nur vor Erniedrigung, Brandmarkung, Verfolgung, Ächtung und ähnlichen Handlungen durch Dritte oder durch den Staat selbst.⁴³ Durch sie ist jede Behandlung des Menschen durch die öffentliche Gewalt schlechthin verboten, die die Achtung des Wertes vermissen

 BVerfGE 147, 364 (378 Rn. 34); siehe auch bereits die Entscheidung über die einstweilige Anordnung nach § 32 BVerfGG, BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 18. August 2017 – 2 BvR 424/17 –, juris, Rn. 29 ff., die die Verfassungsbeschwerde vor dem Hintergrund von Art. 1 Abs. 1 GG weder als von vornherein unzulässig noch als offensichtlich unbegründet ansah. Bei einer auf eine Identitätskontrolle gerichteten Verfassungsbeschwerde muss im Einzelnen substantiiert dargelegt werden, inwieweit im konkreten Fall die durch Art. 1 Abs. 1 GG geschützte Garantie der Menschenwürde verletzt ist; zu den erhöhten Begründungsanforderungen (vgl. § 23 Abs. 1 Satz 2 1. Halbsatz und § 92 BVerfGG) in Identitätskontrollsituationen vgl. BVerfGE 140, 317 (341 f. Rn. 50).  Vgl. BVerfGE 6, 32 (36, 41); 45, 187 (227).  Vgl. BVerfGE 27, 1 (6); 45, 187 (228); 109, 133 (149 f.).  Vgl. BVerfGE 1, 97 (104); 107, 275 (284); 109, 279 (312).

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lässt, der jedem Menschen um seiner selbst willen, kraft seines Personseins, zukommt.⁴⁴ Auch der staatliche Spielraum bei der Belegung und Ausgestaltung von Hafträumen ist – der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung zufolge – durch das Recht der inhaftierten Person auf Achtung ihrer Menschenwürde begrenzt.⁴⁵ In diesem Zusammenhang wird vom Bundesverfassungsgericht hervorgehoben, dass die grundlegenden Voraussetzungen individueller und sozialer Existenz des Menschen auch dann erhalten bleiben müssen, wenn der Grundrechtsberechtigte seiner freiheitlichen Verantwortung nicht gerecht wird und die Gemeinschaft ihm wegen begangener Straftaten die Freiheit entzieht. Aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip folgt nach dieser Rechtsprechungslinie die Verpflichtung des Staates, den Strafvollzug menschenwürdig auszugestalten, mithin das Existenzminimum zu gewähren, das ein menschenwürdiges Dasein überhaupt erst ausmacht.⁴⁶ Sei dies nicht möglich, komme nur die Verlegung eines Strafgefangenen in eine Justizvollzugsanstalt in Betracht, in der dieser Standard gewährt werde.⁴⁷ Ob die Art und Weise der Unterbringung eines Strafgefangenen die Menschenwürde berührt, ist nach der bisherigen Kammerrechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts grundsätzlich von einer Gesamtschau der tatsächlichen, die Haftsituation bestimmenden Umstände abhängig,⁴⁸ wobei konkrete räumliche Mindestanforderungen nicht abschließend herausgearbeitet worden sind. Als Faktoren, die eine aus den räumlichen Haftbedingungen resultierende Verletzung der Menschenwürde indizieren, kommen in erster Linie die Bodenfläche pro Gefangenem, also der einem Gefangenen gewährte persönliche Raum, und die Situation der sanitären Anlagen, namentlich die Abtrennung und Belüftung der Toilette, in Betracht, wobei die Verkürzung der täglichen Einschlusszeiten als ein

 Vgl. BVerfGE 30, 1 (26); 109, 279 (312 f.).  Dazu BVerfGK 12, 417 (419 f.); BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 27. Februar 2002 – 2 BvR 553/01 –, juris, Rn. 14; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 13. März 2002 – 2 BvR 261/01 –, juris, Rn. 17; Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 22. Februar 2011 – 1 BvR 409/09 –, juris, Rn. 29; Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 7. November 2011 – 1 BvR 1403/09 –, juris, Rn. 37; Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 14. Juli 2015 – 1 BvR 1127/14 –, juris, Rn. 17; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 22. März 2016 – 2 BvR 566/15 –, juris, Rn. 27.  Vgl. BVerfGE 45, 187 (228); 109, 133 (150); BVerfGK 7, 120 (123).  BVerfGK 12, 417 (420); BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 16. März 1993 – 2 BvR 202/93 –, juris, Rn. 20.  Vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 14. Juli 2015 – 1 BvR 1127/14 –, juris, Rn. 18; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 22. März 2016 – 2 BvR 566/15 –, Rn. 27; vgl. auch VerfGH Berlin, Beschluss vom 3. November 2009 – 184/07 –, juris, Rn. 26.

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die Haftsituation abmildernder Faktor berücksichtigt werden kann.⁴⁹ Darüber hinaus kann die Dauer der Unterbringung maßgeblich sein, sofern die Unterbringung unter ansonsten beanstandungswürdigen Bedingungen für eine Übergangszeit zumutbar erscheint.⁵⁰ In Fällen einer nur vorübergehenden Unterbringung ist zudem zu berücksichtigen, ob die begrenzte Dauer für den Betroffenen von vornherein absehbar war. Im Einzelfall können weitere Umstände von Bedeutung sein, etwa die Lage und Größe von Fenstern, die Ausstattung und Belüftung des Haftraums, die Raumtemperatur und die hygienischen Verhältnisse.⁵¹ Das Bundesverfassungsgericht hat indes auch anerkannt, dass es der Herausbildung übergreifender Grundsätze und Unterscheidungsmerkmale bedarf, die sowohl den Betroffenen als auch den Behörden Kriterien an die Hand geben, um die Beurteilung der Menschenwürdekonformität der Unterbringung vorhersehbar zu ermöglichen.⁵² Dementsprechend hat die Kammerrechtsprechung mit Blick auf die Mindestgröße von Einzelhafträumen festgestellt, dass eine Grundfläche von nur wenig über 6 m² an der unteren Grenze des Hinnehmbaren liege. Da es sich bei der Unterbringung im fraglichen Fall um einen wohngruppennahen Vollzug mit weitreichenden Möglichkeiten der Zeitverbringung außerhalb des Haftraums gehandelt habe, sei die Menschenwürde aber noch nicht verletzt.⁵³ Die 3. Kammer des Ersten Senats hat die Auffassung des Verfassungsgerichtshofs des Landes Berlin gebilligt, wonach eine Unterbringung für einen Zeitraum von knapp drei Monaten in einem Einzelhaftraum mit einer Bodenfläche von 5,25 m² bei einer Gesamtschau der dortigen Umstände die Menschenwürde verletze.⁵⁴ Zuletzt hat die 2. Kammer des Zweiten Senats in einem obiter dictum ausgeführt, eine dauerhafte Unterbringung in einem Einzelhaftraum mit einer Größe von etwa 4,5 m² sei mit Art. 1 Abs. 1 GG unvereinbar.⁵⁵

 Vgl. BVerfG, Beschlüsse der 1. Kammer des Ersten Senats vom 22. Februar 2011 – 1 BvR 409/ 09 –, juris, Rn. 30, und vom 7. November 2011 – 1 BvR 1403/09 –, juris, Rn. 38; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 22. März 2016 – 2 BvR 566/15 –, Rn. 27.  Siehe VerfGH Berlin, Beschluss vom 3. November 2009 – 184/07 –, juris, Rn. 32.  Zu beiden Aspekten BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 22. März 2016 – 2 BvR 566/15 –, Rn. 27.  Siehe BVerfG, Beschlüsse der 3. Kammer des Ersten Senats vom 13. Juli 2016 – 1 BvR 826/13 –, juris, Rn. 15; und vom 28. Juli 2016 – 1 BvR 1695/15 –, juris, Rn. 20.  Vgl. BVerfGK 20, 125 (125).  Siehe BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 14. Juli 2015 – 1 BvR 1127/14 –, juris, Rn. 18 sowie VerfGH Berlin, Beschluss vom 3. November 2009 – 184/07 –, juris; vgl. zur Mindestgröße von Einzelhafträumen ferner schon BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 19. Oktober 1993 – 2 BvR 1778/93 –, juris, Rn. 9.  Vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 22. März 2016 – 2 BvR 566/15 –, Rn. 28.

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Die Rechtsprechung zu Einzelhafträumen ist allerdings nicht ohne weiteres auf die Unterbringung in Gemeinschaftshafträumen übertragbar, zu der es bislang keine vergleichbare verfassungsgerichtliche Rechtsprechung gibt. In diesem Zusammenhang hat die 3. Kammer des Zweiten Senats in einem Fall verfassungsrechtliche Bedenken geäußert, weil der dortige Betroffene in einer als Einzelhaftraum vorgesehenen Zelle mit einer Grundfläche von 7,6 m² mit einem anderen Häftling untergebracht wurde, wobei die Kammer die Menschenwürdebeeinträchtigung, auf die sie erkannte, maßgeblich daraus ableitete, dass die Unterbringung an fünf Tagen jeweils für 23 Stunden andauerte und der Haftraum eine offene Toilette hatte.⁵⁶ Ohne eine Mindestgrenze festzulegen, ist in der bisherigen Kammerrechtsprechung die Annahme zu finden, dass ein geringes Unterschreiten der (unbezifferten) Mindestbodenfläche durch anderweitige Rückzugsmöglichkeiten kompensiert werden könne, da sich etwa in einem Freigängerhaus, in dem ein Verschluss der Hafträume nicht stattfinde und volle Bewegungsfreiheit zumindest auf der jeweiligen Etage der Anstalt gewährt werde, die Probleme einer gemeinschaftlichen und beengten Unterbringung im Haftraum in deutlich geringerer Schärfe stellten, als bei dauerndem Zwangszusammenschluss auf engstem Raum ohne Möglichkeit des Ausweichens bei aufkommenden inneren und äußeren Spannungen.⁵⁷ Neben den zuvor benannten Abwägungsfaktoren hat die Kammerrechtsprechung es für möglich erachtet, auch die Frage der praktischen Realisierbarkeit einzubeziehen. So erkannte die 3. Kammer des Zweiten Senats mit Beschluss vom 15. Juli 2010 an, dass es zwar die Menschenwürdegarantie verbiete, Gefangene grob unhygienischen und widerlichen Haftraumbedingungen auszusetzen, die Frage, wann in der Beschaffenheit von Hafträumen eine Missachtung des von Art. 1 Abs. 1 GG gewährleisteten Achtungsanspruchs liege, sich aber nicht ohne Rücksicht auf die Umstände und auf Fragen der praktischen Realisierbarkeit beantworten lasse.⁵⁸ Auch die 2. Kammer des Zweiten Senats erkannte mit Beschluss vom 13. November 2007 darauf, dass sich nicht ohne Berücksichtigung der allgemeinen – auch wirtschaftlichen – Verhältnisse beantworten lasse, welche

 BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 27. Februar 2002 – 2 BvR 553/01 –, juris, Rn. 2, 6, 14 f.; siehe auch BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 13. März 2002 – 2 BvR 261/01 –, juris, Rn. 2; zur Menschenwürdeverletzung bei kleiner Zelle und offener Toilette vgl. auch BVerfG, Beschlüsse der 1. Kammer des Ersten Senats vom 22. Februar 2011 – 1 BvR 409/09 –, juris, Rn. 31, und vom 7. November 2011 – 1 BvR 1403/09 –, juris, Rn. 37 ff.  Siehe BVerfGK 12, 417 (420).  BVerfGK 17, 420 (426).

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Standards nicht unterschritten werden dürften, ohne dass die Menschenwürde der Betroffenen berührt werde.⁵⁹

2. Menschenwürde und Art und Weise der Unterbringung im Strafvollzug in der fachgerichtlichen Rechtsprechung Nach der Auffassung des Bundesgerichtshofs lässt sich die Frage, wann die räumlichen Verhältnisse in einer Strafanstalt derart beengt sind, dass die Unterbringung eines Gefangenen dessen Menschenwürde verletzt, nicht abstrakt-generell klären. Sie müsse der tatrichterlichen Beurteilung im Einzelfall überlassen bleiben.⁶⁰ Ein verfassungsmäßiges Raummindestmaß lasse sich nicht schematisch bestimmen.⁶¹ Genauere Vorgaben entnehmen Oberlandesgerichte aus Art. 1 Abs. 1 GG. Weitgehende Einigkeit besteht unter ihnen darüber, dass eine Menschenwürdebeeinträchtigung vorliegt, wenn in mehrfachbelegten Hafträumen eine Mindestfläche von 6 m² bzw. 7 m² pro Gefangenem nicht eingehalten wird und zudem die Toilette nicht abgetrennt bzw. nicht gesondert entlüftet ist.⁶² Davon abgesehen variiert die Rechtsprechung der Oberlandesgerichte in der Frage, welche räumlichen Anforderungen aus dem Verfassungsrecht für die Unterbringung in einem mehrfachbelegten Haftraum folgen und ab welcher räumlichen Enge – ohne das Hinzutreten weiterer Umstände – ein Verstoß gegen die Menschenwürde vorliegt. Das Oberlandesgericht Hamm sah eine Verletzung der Menschenwürde durch die Unterbringung in einem von drei Personen belegten Haftraum mit einer Fläche von 14,88 m² und nur durch einen Vorhang abgetrennter Toilette, die nicht

 BVerfGK 12, 422 (424) unter Verweis auf BVerfGE 87, 153 (170); 91, 93 (111).  Beispielhaft BGHZ 198, 1.  So BGH, Urteil vom 11. März 2010 – III ZR 124/09 –, juris.  Siehe OLG Frankfurt a. M., Beschluss vom 18. Juli 2003 – 3 Ws 578/03 –, juris, Rn. 23, NJW 2003, 2843 (Luftraum von 16 m³ und Bodenfläche von 7 m² pro Gefangenem bei gleichzeitig fehlender Abtrennung bzw. gesonderter Entlüftung der Toilette); OLG Naumburg, Beschluss vom 3. August 2004 – 4 W 20/04 –, juris, Rn. 9 (Doppelbelegung in einer 9,49 m² großen Zelle ohne abgetrennten Sanitärbereich); OLG Karlsruhe, Urteil vom 19. Juli 2005 – 12 U 300/04 –, juris, Rn. 15 (Haftraumgröße von 8,83 m² bei wechselnder Doppelbelegung und lediglich durch einen Vorhang abgetrennter Toilette); OLG Hamburg, Urteil vom 14. Januar 2005 – 1 U 43/04 –, juris, Rn. 42 (Doppelbelegung in einer Zelle mit einem Luftraum von 26,6 m³ und einer Bodenfläche von etwa 8,6 m² bei einer nur durch einen Schamvorhang abgetrennten Toilette ohne gesonderte Entlüftung); OLG Karlsruhe, Beschluss vom 9. Januar 2006 – 1 Ws 147/05 –, juris, Rn. 2 (Doppelbelegung in einem Haftraum mit 9,09 m² Grundfläche bei Abtrennung der Toilette lediglich durch einen Schamvorhang).

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gesondert entlüftet wurde, als gegeben an.⁶³ Es betonte dabei, ein Verstoß gegen die Menschenwürde liege jedenfalls dann nahe, wenn die Grundfläche der Zelle pro inhaftierter Person 5 m² unterschreite, ohne dass es dann auf die konkrete Ausgestaltung der sanitären Anlagen ankomme.⁶⁴ Denn hierin liege eine deutliche Unterschreitung derjenigen Mindestgröße, die in der Literatur als Untergrenze ernsthaft erwogen werde. Bei einer Grundfläche von weniger als 5 m² sei die Fortbewegungsmöglichkeit und Freizeitbeschäftigung des Gefangenen auf der Fläche, die ihm unter Berücksichtigung des für die Möblierung notwendigen Flächenbedarfs noch verbleibe, bereits derart eingeschränkt, dass von einer menschenwürdigen Unterbringung kaum mehr die Rede sein könne.⁶⁵ Dem Oberlandesgericht Frankfurt am Main zufolge liegt eine Beeinträchtigung der Menschenwürde jedenfalls in einer Unterbringung dreier Gefangener in einer Zelle von 11,54 m², die abzüglich der Fläche für die abgetrennte, gesondert gelüftete Toilette eine Fläche von ca. 9 m² aufwies.⁶⁶ Dabei hielt der Senat an seiner vorherigen Rechtsprechung fest, in der er – unabhängig von der sanitären Situation – eine Unterschreitung der Anforderungen an eine menschenwürdige Unterbringung bereits darin sah, dass in doppelbelegten Hafträumen mit einer Grundfläche von 11,54 m² die Fortbewegungsmöglichkeit und Freizeitbeschäftigung stark eingeschränkt seien.⁶⁷ Der Grenzwert, bei dessen Unterschreitung eine Menschenwürdebeeinträchtigung anzunehmen sei, betrage zwischen 6 und 7 m² pro Gefangenem.⁶⁸ Wegen räumlicher Enge könnten sich die Gefangenen bei einer Unterschreitung nicht gleichzeitig in der Zelle bewegen, der Haftraum könne weder mit eigenen Sachen ausgestattet werden, noch könnten Gefangene Gegenstände zur Fortbildung oder Freizeitbeschäftigung besitzen. Auf den hinreichenden Rauminhalt der Zelle, also die Luftmenge, komme es dann nicht mehr an. Auf die durch die defizitäre sanitäre Situation gegebene Verletzung der Intimsphäre, des Schamgefühls und die Überschreitung der Ekelgrenze sei nur ergänzend hinzuweisen.⁶⁹

 OLG Hamm, Beschluss vom 13. Juni 2008 – 11 W 78/07 –, juris, Rn. 27 ff.  So auch OLG Hamm, Urteil vom 29. September 2010 – 11 U 88/08 –, juris, Rn. 23.  OLG Hamm, Beschluss vom 13. Juni 2008 – 11 W 78/07 –, juris, Rn. 30.  OLG Frankfurt, Beschluss vom 21. Februar 2005 – 3 Ws 1342/04 und 1343/04 (StVollz) –, Rn. 2.  OLG Frankfurt, Beschluss vom 15. August 1985 – 3 Ws 447/85 – NStZ 1985, 572, und vom 2. April 1987 – 3 Ws 67/87 –, StV 1988, 540.  Dahingehend auch Nitsch, Die Unterbringung von Gefangenen nach dem Strafvollzugsgesetz, 2006, S. 124, die nach ausführlicher architektonischer Berechnung 6 m² pro Person in der Mehrfachbelegung als „gerade noch vertretbar“ ansieht; siehe auch Schöch, in: Kaiser/Schöch, Strafvollzug, 5. Aufl. 2003, § 7 Rn. 73: mindestens 7 m² pro Person „gerade noch hinnehmbar“.  Mit dieser Begründung OLG Frankfurt, Beschluss vom 21. Februar 2005 – 3 Ws 1342/04 und 1343/04 (StVollz) –, Rn. 2 m.w. N.

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Das Oberlandesgericht Karlsruhe hat demgegenüber eine Beeinträchtigung der Menschenwürde durch Haftraumbedingungen bei einer doppelbelegten Zelle von 9,13 m², die eine integrierte, aber durch eine Mauer abgetrennte Nasszelle mit einer zusätzlichen Grundfläche von 1,3 m² aufwies, abgelehnt.⁷⁰ Zwar sei der Haftraum geringfügig kleiner, als in der hierzu ergangenen Rechtsprechung anderer Gerichte sinngemäß gefordert worden sei. Er belasse aber dem einzelnen Gefangenen einen noch ausreichenden Rest an Subjektivität und Identität. Die Grundfläche des Raumes erlaube jedem Gefangenen für sich noch eine eigenständige Beschäftigung, wie etwa Lesen, Schreiben, Basteln oder Gymnastik, ohne dass der andere Gefangene hierdurch notwendig in diese Beschäftigung einbezogen oder an eigener anderer Beschäftigung gehindert sei. Die körperliche Nähe zwischen den Gefangenen sei noch nicht derart bedrängend, dass von einer Aufhebung der persönlichen Eigenständigkeit ausgegangen werden müsse. Überdies sei in den Fällen, in denen auf eine Menschenwürdebetroffenheit erkannt worden sei, die Toilette mehr oder weniger offen im Haftraum belegen gewesen. In dem verfahrensgegenständlichen Fall stehe durch die Abtrennung dem einzelnen Gefangenen ein Rückzugsraum zur Wahrung seiner Eigenständigkeit und Intimität zur Verfügung. Auch das Oberlandesgericht Celle verneinte eine Menschenwürdebetroffenheit durch die Unterbringung in einem doppelbelegten Haftraum mit einer Größe von 9,82 m² mit räumlich abgetrennter Nasszelle von 1,42 m².⁷¹ Einen Beschluss des Kammergerichts,⁷² mit dem es die dreimonatige Unterbringung in einem Einzelhaftraum von 5,25 m² Bodenfläche mit räumlich nicht abgetrennter Toilette als nicht für sich genommen menschenunwürdig ansah, weil der Betroffene sich tagsüber etwa sieben Stunden außerhalb des beanstandeten Haftraumes habe bewegen können und für ihn absehbar gewesen sei, dass er nicht in dem Raum verbleiben werde, hat der Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin aufgehoben.⁷³ Die Ansicht des Kammergerichts verkenne die Anforderungen, die die Menschenwürde an die Unterbringung von Strafgefangenen stelle. Die Unterbringung des Beschwerdeführers für einen Zeitraum von knapp drei Monaten in einem Einzelhaftraum von 5,25 m² mit räumlich nicht abgetrennter Toilette, in dem er zeitweise zwischen 15 und fast 21 Stunden unter Verschluss gewesen sei, verstoße bei einer Gesamtschau der Umstände gegen die in der Verfassung von Berlin verankerte Menschenwürde.

   

OLG Karlsruhe, Beschluss vom 31. Januar 2005 – 1 Ws 279/04 –, juris, Rn. 16 f. OLG Celle, Beschluss vom 3. Juli 2003 – 1 Ws 171/03 (StrVollz) –, juris, Rn. 21. KG, Beschluss vom 25. September 2007 – 2/5 Ws 189/05 Vollz –, juris. VerfGH Berlin, Beschluss vom 3. November 2009 – 184/07 –, juris, Rn. 28.

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3. Unmenschliche Behandlung und Haftraumgrößen in der Rechtsprechung des EGMR Der EGMR hat hinsichtlich des persönlichen Bereichs, der jedem Häftling in einem Gemeinschaftshaftraum zukommen muss, bereits mehrere Entscheidungen getroffen. Da diese Entscheidungen z. B. hinsichtlich der Frage, ob die Möblierung in die Flächenberechnung einzubeziehen ist, uneinheitlich waren,⁷⁴ hat die Große Kammer in der Muršić-Entscheidung vom 20. Oktober 2016 die für die Prüfung einer Verletzung von Art. 3 EMRK geltenden Maßstäbe klargestellt und vereinheitlicht, wobei sie feststellte, dass die Maßstäbe auch für die Untersuchungshaft gelten würden.⁷⁵ Dabei ist zu beachten, dass auch eine Auslieferung nach der Rechtsprechung des EGMR unzulässig ist, wenn begründete Tatsachen („substantial grounds“) für die Annahme vorliegen, dass die betreffende Person im Falle ihrer Auslieferung einem realen Risiko („real risk“) der Folter oder der unmenschlichen oder herabwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK ausgesetzt ist.⁷⁶ Die Große Kammer hat festgestellt, dass die starke Vermutung („strong presumption“) einer Verletzung von Art. 3 EMRK bestehe, wenn der persönliche Raum des Häftlings („personal space“) in einem Gemeinschaftshaftraum unter 3 m² falle.⁷⁷ Diese starke Vermutung müsse als gewichtige, jedoch nicht unwiderlegliche Vermutung einer Verletzung von Art. 3 EMRK verstanden werden.⁷⁸ Sie könne – so der EGMR weiter – aber nur dann widerlegt werden, wenn drei Kriterien kumulativ vorlägen⁷⁹: ‒ es müsse sich um kurze, gelegentliche und unerhebliche Reduzierungen des persönlichen Raums („short, occasional and minor reductions of personal space“) handeln,

 Vgl. die Zusammenfassung in dem Urteil der Großen Kammer vom 20. Oktober 2016, Muršić ./. Kroatien, Beschwerde Nr. 7334/13, §§ 103 ff., §§ 116 ff.  EGMR, Urteil der Großen Kammer vom 20. Oktober 2016, Muršić ./. Kroatien, Beschwerde Nr. 7334/13, § 115.  Vgl. EGMR, Urteil des Plenums vom 7. Juli 1989, Soering ./.Vereinigtes Königreich, Beschwerde Nr. 14038/88, § 91.  EGMR, Urteil der Großen Kammer vom 20. Oktober 2016, Muršić ./. Kroatien, Beschwerde Nr. 7334/13, § 124; ähnlich bereits zuvor EGMR, Urteil vom 10. Januar 2012, Ananyev u. a. ./. Russland, Beschwerden Nr. 42525/07 und 60800/08 (Piloturteil), und EGMR, Urteil vom 22. Oktober 2009, Orchowski ./. Polen, Beschwerde Nr. 17885/04, § 123: „strong indication“.  EGMR, Urteil der Großen Kammer vom 20. Oktober 2016, Muršić ./. Kroatien, Beschwerde Nr. 7334/13, § 125.  EGMR, Urteil der Großen Kammer vom 20. Oktober 2016, Muršić ./. Kroatien, Beschwerde Nr. 7334/13, § 132 und § 134.

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ausreichende Bewegungsfreiheit und Aktivitäten außerhalb des Haftraums müssten gewährleistet sein und die Strafe müsse in einer geeigneten Haftanstalt („appropriate detention facility“) vollzogen werden, wobei es keine die Gefangenschaft erschwerenden Bedingungen („aggravating aspects“) geben dürfe.

Zur Begründung hat der EGMR ausgeführt, die Frage, ob es zu einer Verletzung von Art. 3 EMRK gekommen sei, könne nicht auf eine numerische Berechnung der Quadratmeter, die einem Gefangenen zukämen, beschränkt werden; vielmehr sei eine Einzelfallbetrachtung erforderlich.⁸⁰ In Fällen, in denen der persönliche Bereich des Gefangenen („personal space“) zwischen 3 m² und 4 m² betrage, bleibe dieser Umstand bei der Abwägung ein gewichtiger Faktor. Er führe zusammen mit anderen Aspekten, die auf unangemessene Haftbedingungen schließen ließen, zu einer Verletzung von Art. 3 EMRK. Dabei gehe es insbesondere um den Zugang zu Aktivitäten im Freien, die natürliche Licht- und Luftzufuhr oder die Möglichkeit, sanitäre Anlagen ungestört benutzen zu können.⁸¹ Der EGMR hat es außerdem für erforderlich gehalten, die Methode der Berechnung des „personal space“ klarzustellen, und dabei betont, bei dieser Berechnung solle der von den Möbeln eingenommene Platz mit inbegriffen sein. Wichtig sei indes, dass den Gefangenen die Möglichkeit verbleibe, sich in der Zelle frei zu bewegen.⁸² Der EuGH hat diese Rechtsprechung des EGMR aktuell in Bezug genommen und für den europäischen Auslieferungsverkehr als maßgeblich erachtet.⁸³  EGMR, Urteil der Großen Kammer vom 20. Oktober 2016, Muršić ./. Kroatien, Beschwerde Nr. 7334/13, § 123.  EGMR, Urteil der Großen Kammer vom 20. Oktober 2016, Muršić ./. Kroatien, Beschwerde Nr. 7334/13, § 139. Hieraus folgt für Oberlandesgerichte in Auslieferungsverfahren die Pflicht, auch im Falle einer vorhandenen Zusicherung eines persönlichen Bereichs von 3 m² bis 4 m² noch die begleitenden Modalitäten des Vollzugs aufzuklären und zu bewerten. Das kommt bisweilen in der fachgerichtlichen Rechtsprechung sehr kurz.  EGMR, Urteil der Großen Kammer vom 20. Oktober 2016, Muršić ./. Kroatien, Beschwerde Nr. 7334/13, § 114: „[…] calculation of the available surface area in the cell should include space occupied by furniture.What is important in this assessment is whether detainees had a possibility to move around within the cell normally.“ Damit orientiert sich die Große Kammer insbesondere an dem Piloturteil in Sachen Ananyev (siehe Fn. 78), in dem betont wurde, die Gesamtfläche der Zelle müsse dem einzelnen Gefangenen erlauben, sich frei zwischen den Möbeln in der Zelle zu bewegen (§ 148), und weicht in der Tendenz von Entscheidungen wie derjenigen in der Sache Eze ab, in der er suggerierte, dass die maßgebliche Fläche nur diejenige sei, die nicht von Möbeln verstellt werde, EGMR, Urteil vom 21. Juni 2016, Eze ./. Rumänien, Beschwerde Nr. 80529/13, § 56.  EuGH, Urteil vom 25. Juli 2018, M.L., C-220/18 PPU, Rn. 90 ff.

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Die drei abweichenden Meinungen der mit 10 zu 7 Stimmen getroffenen Mehrheitsentscheidung in der Sache Muršić kritisieren insbesondere, dass die Mehrheit von den Empfehlungen des Komitees zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe (CPT) abweiche.⁸⁴ In der Tat wird in der Empfehlungspraxis der räumliche Mindeststandard mehrfachbelegter Hafträume zumeist über 3 m² pro Gefangenem verortet. Nach den Berichten des CPT sollte Gefangenen in Gemeinschaftshafträumen ein persönlicher Bereich von je 4 m² zukommen („Minimalstandard“), wobei die sanitären Anlagen herauszurechnen seien.⁸⁵ Das Internationale Komitee des Roten Kreuzes hält bei der Unterbringung in Gemeinschaftshafträumen einen persönlichen Bereich von 3,4 m² (inkl. des Betts, auf das mindestens 1,6 m² entfallen sollen) für das zulässige Minimum.⁸⁶ Weitere Empfehlungen und Grundsatzdokumente heben vor allem auf die weiteren Unterbringungsmodalitäten (Aufschlusszeiten, Tageslicht, Frischluft, Hygiene, Aktivitäten, etc.) ab, ohne konkrete Platzangaben zu enthalten.⁸⁷

III. Problemstellung und Lösungsansätze: Gewährleistungsgehalt in nationalen und transnationalen Sachverhalten 1. Problemstellung Ein Vergleich der nationalen Rechtsprechungspraxis, insbesondere der der Oberlandesgerichte, mit der Rechtsprechung des EGMR lässt deutlich erkennen, dass der Standard unmenschlicher Haftbedingungen nach Art. 3 EMRK niedriger

 Vgl. EGMR, Urteil der Großen Kammer vom 20. Oktober 2016, Muršić ./. Kroatien, Beschwerde Nr. 7334/13, Joint Partly Dissenting Opinion of Judges Sajó, López Guerra and Wojtyczek, insb. § 4 f.; Joint Partly Dissenting Opinion of Judges Lazarova Trajkovska, De Gaetano and Grozev, insb. §§ 2 und 9; Partly Dissenting Opinion of Judge Pinto de Albuquerque, insb. §§ 48 ff.  CPT-Standards, CPT/Inf (2015) 44, S. 3; dabei blieb das CPT auch nach der Muršić-Entscheidung, siehe CPT, 26th General Report of the CPT, 1 January – 31 December 2016, CPT/Inf(2017)5, Rn. 56.  Vgl. auch die Lichtbilder, ICRC, Water, Sanitation, Hygiene and Habitat in Prisons, 2013, S. 18 ff.  So etwa die Europäischen Strafvollzugsgrundsätze, Empfehlung des Ministerkomitees des Europarates, Rec(2006)2, Ziff. 4, 6, 18, 25; Resolution der Generalversammlung der Vereinten Nationen 70/175 vom 17. Dezember 2015, Mindestgrundsätze für die Behandlung von Gefangenen (Mandela-Regeln), UN Doc. A/RES/70/175, Regel 12 f.

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ist, als die Anforderungen, die aus Art. 1 Abs. 1 GG für die räumliche Beschaffenheit von Haftzellen im (deutschen) Strafvollzug abgeleitet werden.⁸⁸ Würde die Rechtsprechung der Oberlandesgerichte die aus Art. 1 Abs. 1 GG folgenden Anforderungen an die Größe von mehrfachbelegten Hafträumen zutreffend wiedergeben (ca. 5 – 7 m²) und fände dies auch auf transnationale Sachverhalte Anwendung, so würde dies den Auslieferungsverkehr mit vielen Staaten vollständig verhindern. Bei der Frage, welche Raumanforderungen Art. 1 Abs. 1 GG zu entnehmen sind, könnte dann auch nicht – im Wege der völkerrechtsfreundlichen Auslegung – auf die EMRK und die Rechtsprechung des EGMR zurückgegriffen werden. Denn eine Absenkung nationaler Grundrechtsstandards im Wege einer völkerrechtsfreundlichen Auslegung ist unzulässig.⁸⁹ Eine solche ginge auch am Zweck der völkerrechtsfreundlichen Auslegung – der Vermeidung von Völkerrechtsverletzungen – vorbei, denn eine Verletzung von den in einem menschenrechtlichen Vertrag niedergelegten Garantien steht bei schutzintensiveren nationalen Standards nicht zu befürchten. Überdies wäre eine solche Anpassung der Grundrechtsstandards „nach unten“, um einen Gleichlauf mit der EMRK herzustellen, auch durch Art. 53 EMRK versperrt.⁹⁰ Zwar hat das Bundesverfassungsgericht zu der Frage, welche räumlichen Anforderungen der Verfassung bezüglich mehrfachbelegter Hafträume zu entnehmen sind, bislang keine ausdifferenzierte Rechtsprechung entwickelt. Dem Gericht bleibt daher durchaus die Möglichkeit, Art. 1 Abs. 1 GG in Anlehnung an die neue EGMR-Rechtsprechung auszulegen. Die Folge einer solchen Herangehensweise wäre jedoch auch, dass den durch die Fachgerichte für nationale Sachverhalte aus Art. 1 Abs. 1 GG abgeleiteten höheren Gewährleistungsstandards faktisch der Boden entzogen würde. Zur Auflösung dieser Situation bieten sich dem Gericht zwei Alternativen jenseits der denkbaren Extremoptionen (erstens eine Blockade des Auslieferungsverkehrs durch hohe Raumanforderungen und zweitens, eine deutliche Reduktion der fachgerichtlich entwickelten Gewährleistungsstandards):

 So bereits Bachmann, Bundesverfassungsgericht und Strafvollzug, 2015, S. 231 f.  Vgl. BVerfGE 111, 307 (317 m.w. N.); 128, 326 (371).  Vgl. auch BVerfGE 111, 307 (317). Für Art. 53 GRCh siehe aber EuGH, Urteil vom 26. Februar 2013, Melloni, C-399/11, EU:C:2013:107, Rn. 55 ff.

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2. Lösungsansatz I: bereichsspezifische Interpretation der Menschenwürde unter Berücksichtigung der Lebensbedingungen im Zielstaat Der Gewährleistungsbereich des Art. 1 Abs. 1 GG könnte in nationalen und transnationalen Sachverhalten unterschiedlich weit zu fassen sein. So könnte Art. 1 Abs. 1 GG in Auslieferungsverfahren in Anlehnung an Art. 3 EMRK und die Rechtsprechung des EGMR so ausgelegt werden, dass bei Auslieferungen jedenfalls der vom EGMR geforderte europäische Mindeststandard eingehalten werden müsste; bei rein nationalen Strafvollzugssachverhalten könnten jedoch höhere Standards gelten. Als Anknüpfungspunkt einer solchen kontextbezogenen Auslegung der Menschenwürdegarantie könnte die in der Kammerrechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts angedachte Auslegung des Art. 1 Abs. 1 GG (auch) anhand der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen dienen.⁹¹ Dies fände eine Grundlage in der Überlegung, dass die aus Art. 1 Abs. 1 GG ableitbaren Gewährleistungen bezüglich der Unterbringungssituation inhaftierter Personen letztlich kumulativ in Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip verankert sind.⁹² Vor diesem Hintergrund wären – in Einklang mit der weiteren Ausformung des verfassungsrechtlich garantierten Existenzminimums – Konkretisierungsmöglichkeiten und Gestaltungsspielräume des Gesetzgebers eröffnet,⁹³ „der die zu erbringenden Leistungen an dem jeweiligen Entwicklungsstand des Gemeinwesens und den bestehenden Lebensbedingungen im Hinblick auf die konkreten Bedarfe der Betroffenen auszurichten hat“.⁹⁴ Dabei wäre zu fragen, ob nicht bei Auslieferungen im Ergebnis auf die Lebensbedingungen im Zielstaat abgestellt werden müsste. Würde dieser Ansatz verfolgt, so würde der materielle Gewährleistungsgehalt der Menschenwürdegarantie in Auslieferungssachverhalten je nach der Situation im Zielstaat variieren. Die Folgen dieser Lösung wären indes eine problematische Relativierung des von Art. 1 Abs. 1 GG eigentlich gewährten Mindeststandards und erhebliche Rechtsunsicherheiten im Auslieferungsverkehr. Denn es wäre dann Aufgabe der Fachgerichte, die wirtschaftlichen Verhältnisse im Zielstaat aufzuklären und anhand dessen den Gewährleistungsgehalt der Menschenwürde im konkreten Einzelfall – ohne dass es hierfür eine Formel gäbe – zu

 BVerfGK 12, 422 (424); kritisch dazu Müller-Dietz, Menschenwürde und Strafvollzug, 1994, S. 22.  Mit Bezug zum Strafvollzug vgl. BVerfGE 45, 187 (228); 109, 133 (150); BVerfGK 7, 120 (123).  Zum Gestaltungsspielraum BVerfGE 125, 175 (222) m.w.N.  BVerfGE 132, 134 (159).

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bestimmen. Es dürfte sich zudem als problematisch erweisen, eine dogmatisch schlüssige Begründung für eine solche bereichsspezifische Auslegung des Art. 1 Abs. 1 GG zu finden, zumal die zu überbrückenden Unterschiede in den rechtlichen Anforderungen (< 3 m² bei transnationalen Sachverhalten gegenüber 5 – 7 m² pro Person bei nationalen Sachverhalten) erheblich sind. Auch dürfte sich die Frage stellen, ob nicht bei einer solchen Lösung, die sich in Auslieferungsfällen an der EGMR-Rechtsprechung orientieren würde, die völkerrechtsfreundliche Auslegung wiederum in unzulässiger Weise genutzt würde, um den eigentlich geltenden grundgesetzlichen Schutzstandard für Fälle mit transnationaler Komponente zu reduzieren. Schließlich würde das Bundesverfassungsgericht mit einer solchen Lösung deutlich von seiner bisherigen Rechtsprechung abweichen, die in Auslieferungskonstellationen zwar das grundgesetzliche Gewährleistungsprogramm aus Achtung vor der Souveränität anderer Staaten auf die unabdingbaren verfassungsrechtlichen Grundsätze reduziert,⁹⁵ aber gerade nicht den anwendbaren Kerngewährleistungsgehalt jener unabdingbaren Grundsätze in schon begrifflich problematischer Weise relativiert.

3. Lösungsansatz II: Universalität der Garantie aus Art. 1 Abs. 1 GG und höhere nationale Standards aus Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG Ein eingängigerer Ansatz wäre es, weitere sachverwandte grundrechtliche Gewährleistungen in die Betrachtung einzubeziehen. Der Resozialisierungsgrundsatz, der verfassungsrechtlich über Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG gewährleistet wird,⁹⁶ und das allgemeine Persönlichkeitsrecht, welches gleichermaßen hergeleitet wird, haben bisher bei der Beurteilung von Haftraumgrößen allenfalls eine untergeordnete Rolle gespielt. Dabei läge es nahe, die Haftraumbedingungen gerade auch an diesen Gewährleistungen zu messen. So wurde in der Literatur – wenn auch unter dem Stichwort der Menschenwürde – bereits richtigerweise hervorgehoben, dass mit der Unterbringung in mehrfachbelegten, beengten Hafträumen „Eingriffe in Sphären menschlicher Intimität“ einhergingen und die Identität und Integrität der Persönlichkeit des Gefangenen beeinträchtigt würden, wenn keinerlei abschirmbare Privat- und Intimsphäre gegenüber Zellengenossen gewahrt werden könne.⁹⁷ So bekämen Zellengenossen

 Vgl. BVerfGE 59, 280 (282 f.); 63, 332 (337); 108, 129 (136); 140, 317 (355).  Vgl. BVerfGE 35, 202 (235 f.); 36, 174 (188); 45, 187 (238 f.); 98, 169 (200 f.).  Theile, StV 2002, S. 670 (671); dahingehend auch Kretschmer, NStZ 2005, S. 251 (254).

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zwangsläufig mit, welche Bücher und Zeitschriften der Gefangene lese, an wen er Briefe schreibe, von wem er diese empfange oder wie es um dessen familiäre Situation bestellt sei. Auf lange Sicht gesehen würden bei Personen, die auf diese Weise in eine staatlich herbeigeführte Zwangsgemeinschaft auf engstem Raume gezwungen seien, die natürlichen Impulse zur Wahrung der seelischen Identität und Integrität hinter dem Eingliederungszwang zurücktreten.⁹⁸ Auch träten durch die längerfristige Unterbringung in einer mehrfachbelegten Zelle schädliche Folgen ein, die der Resozialisierung entgegenstünden. Denn die Wahrung von Identität und Integrität sei die Voraussetzung dafür, nach Verlassen der Haftanstalt aufgrund eigener Entscheidungen wieder Bindung an die Gemeinschaft zu suchen.⁹⁹ Anerkanntermaßen dient der Strafvollzug dem Zweck, die Grundlage für die Resozialisierung zu schaffen.¹⁰⁰ Dabei sind gerade auch soziale Kompetenzen von grundlegender Bedeutung für eine erfolgreiche(re) Teilnahme am gesellschaftlichen Zusammenleben. Es erscheint offenkundig, dass die Entwicklung und Stärkung dieser Fähigkeiten nicht dadurch befördert wird, dass mehrere Personen auf engstem Raum in künstlichen sozialen Extremsituationen zusammenleben müssen, die keine normale soziale Interaktion ermöglichen. Vielmehr dürfte dies dazu beitragen, dass die sozialen Kompetenzen (weiter) verkümmern.¹⁰¹ Die vorgeschlagene Herleitung bietet einen Ausweg aus dem dargelegten Konflikt. Entgegen der bisher stets angenommenen Herleitung der räumlichen Mindeststandards aus Art. 1 Abs. 1 GG, dürften diese zwar auch, aber nicht hauptsächlich, aus der Menschenwürdegarantie, sondern vielmehr aus dem Resozialisierungsgrundrecht und dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht folgen. Dies hat zur Folge, dass Art. 1 Abs. 1 GG weiterhin einen absoluten Schutz vor menschenwürdewidrigen Haftbedingungen gewährt, der im nationalen wie auch im transnationalen Kontext gleichermaßen Anwendung findet. Der konkrete Gewährleistungsgehalt von Art. 1 Abs. 1 GG ist dabei unverändert schwer zu ermitteln, denn die Bestimmung einer jeden numerischen Mindestfläche würde sich stets dem Vorwurf der Beliebigkeit aussetzen. Möglich wäre es jedoch – unter diesen Vorzeichen methodisch zulässig und in Konformität mit Art. 53 EMRK –, den aus Art. 1 Abs. 1 GG folgenden Mindeststandard an die räumlichen Verhältnisse in mehrfachbelegten Hafträumen im Rahmen einer völkerrechtsfreundli-

 Theile, StV 2002, S. 670 (671).  Theile, StV 2002, S. 670 (673).  Vgl. bereits BVerfGE 35, 202 (235).  Dahingehend auch bereits BVerfGK 12, 417 (420).

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chen Auslegung in Anlehnung an Art. 3 EMRK und die auch vom EuGH übernommene Rechtsprechung des EGMR zu bestimmen.¹⁰² Gleichzeitig eröffnet diese Herangehensweise die Möglichkeit, für den nationalen Strafvollzug höhere Standards in Anschlag zu bringen, die aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG herzuleiten sind. Diese würden dann im Auslieferungsverkehr, in dem nur die unabdingbaren Grundsätze des Verfassungsrechts (sowie der völkerrechtliche Mindeststandard) gewährleistet sein müssen, keine Anwendung finden. Hierdurch würden zum einen für Auslieferungen rechtssichere Mindeststandards festgestellt, die eine fachgerichtliche und behördliche Handhabung ermöglichen und den Auslieferungsverkehr nicht vollständig ins Stocken bringen, aber gleichzeitig den Anforderungen des EGMR gerecht werden. Zum anderen würden die Mindestgewährleistungen im nationalen Kontext gegenüber der Rechtsprechung der Oberlandesgerichte und der bisherigen verfassungsgerichtlichen Kammerrechtsprechung nicht abgesenkt, sondern verfassungsrechtlich lediglich anders hergeleitet.

IV. Ausblick Die aufgeworfene Problemstellung wird sich dem Bundesverfassungsgericht in nicht allzu ferner Zukunft erneut stellen, denn – dahingehend ist der Kritik an der kürzlich ergangenen Rumänien I-Entscheidung des Zweiten Senats zuzustimmen – eine Klarstellung der praxisrelevanten Frage nach verfassungsrechtlichen Maßstäben für Haftraumgrößen im nationalen und transnationalen Kontext steht weiterhin aus. Im allgemeinen und unionsrechtlich determinierten Auslieferungsverkehr hat die bestehende Rechtsunsicherheit eine uneinheitliche obergerichtliche Rechtsprechungspraxis zur Folge. Dies ist schon angesichts des außenpolitischen Zusammenhangs problematisch, weil deutsche Gerichte derzeit widersprüchliche Botschaften an Zielstaaten von Auslieferungen senden. Es bleibt abzuwarten, wie das Bundesverfassungsgericht und die deutschen Fachgerichte den Balanceakt zwischen Strafvollzugsgewährleistungen und Auslieferungsverkehr zukünftig bewältigen. Dabei erhalten sie durch die häufigere Einbindung des EuGH im Rahmen von Vorabentscheidungsverfahren¹⁰³ verstärkt Schützenhilfe aus Luxemburg. Der EuGH hat mit seinen aktuellen Entscheidungen bereits einen deutlichen Beitrag zur weiteren Klärung der rechtlichen Rah Dies hätte zur Folge, dass die Indizgrenze von 3 m² aus der Muršić-Rechtsprechung auf die Menschenwürdegarantie aus Art. 1 Abs. 1 GG übertragbar wäre.  Etwa OLG Hamburg, Vorlagebeschluss vom 8. Februar 2018 – Ausl 81/16 –; OLG Bremen, Vorlagebeschluss vom 27. März 2018 – 1 Ausl A 21/17 –, juris.

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menbedingung geleistet. Dass sich durch die neuen Entscheidungen wiederum auch dem Bundesverfassungsgericht neue Fragen stellen,¹⁰⁴ ist unausweichlich. Die Entwicklung wird dazu führen, dass die bisweilen noch unklaren Anforderungen an Auslieferungen im Anwendungsbereich des Rahmenbeschlusses zukünftig im Diskurs zwischen den Gerichten weiter konturiert werden.

 Der EuGH ist etwa der Ansicht, dass Gerichte nicht jede Haftanstalt prüfen müssen, in der die betroffene Person im Zielstaat möglicherweise inhaftiert werden könnte. So seien etwa Haftanstalten, in die eine Person möglicherweise später verlegt werde, von der Prüfung ausgenommen. Eine vollständige Prüfung sei schon im Rahmen der vorgegebenen Fristen nicht möglich.Vielmehr reiche es in Anbetracht des gegenseitigen Vertrauens, diejenigen Haftanstalten zu prüfen, in denen die betroffene Person nach den vorliegenden Informationen konkret inhaftiert werden solle, siehe EuGH, Urteil vom 25. Juli 2018, M.L., C-220/18 PPU, Rn. 84 ff. Damit wird sich dem Bundesverfassungsgericht die Frage stellen, ob aus der verfahrensrechtlichen Komponente der Menschenwürdegarantie über die europarechtlichen Vorgaben hinausgehende Pflichten zur Sachverhaltsaufklärung hinsichtlich der Haftbedingungen im Zielstaat folgen.

Jessica Kriewald

Der Status des Kindes in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts¹ Leitentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (Senat) BVerfGE 24, 119 – Adoption I BVerfGE 31, 194 – Verkehrs-/Umgangsrecht BVerfGE 55, 171 – Kindesanhörung BVerfGE 60, 79 – Trennung Eltern/Kind BVerfGE 72, 122 – Sorgerechtsentzug BVerfGE 108, 82 – Anfechtungsrecht biologischer Vater BVerfGE 121, 69 – Umgang unter Zwang BVerfGE 133, 59 – Sukzessivadoption BVerfGE 135, 48 – Behördenanfechtung BVerfGE 136, 382 – Vormundauswahl

Wichtige Kammerentscheidungen BVerfG Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 3. Februar 2017 – 1 BvR 2569/16 –, juris BVerfG Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 7. Dezember 2017 – 1 BvR 1914/17 –, juris BVerfG Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 13. Juli 2017 – 1 BvR 1202/17 –, juris BVerfG Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 22. Januar 2018 – 1 BvR 2616/17 –, juris BVerfG Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 22. März 2018 – 1 BvR 399/18 –, juris BVerfG Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 23. April 2018 – 1 BvR 383/18 –, juris BVerfG Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 30. April 2018 – 1 BvR 393/18 –, juris

Schrifttum (Auswahl) Benassi, Kinderrechte ins Grundgesetz – alternativlos!, ZRP 2015, 24; Benassi/Eichholz, Grundgesetz und Kinderrechte, DVBl 2017, 614; Britz, Das Grundrecht des Kindes auf staatliche Gewährleistung elterlicher Pflege und Erziehung – jüngere Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, JZ 2014, 1069; dies., Kindesgrundrechte und Elterngrundrecht: Fremdunterbringung von Kindern in der verfassungsgerichtlichen Kontrolle, FamRZ 2015, 793; Coester, Elternautonomie und Staatsverantwortung bei der Pflege und Erziehung von Kindern, FamRZ 1996, 1181; Dethloff/Maschwitz, Kinderrechte in Europa – wo stehen wir?, FPR 2012, 190; Höfling, Zur Stärkung von Kinderrechten im Grundgesetz, ZKJ 2017, 354; Hohmann-Dennhardt, Kinderrechte

 Der Beitrag ist ebenfalls erschienen in: Scheiwe/Schröer/Wapler/Wrase (Hrsg.), Der Rechtsstatus junger Menschen im Kinder- und Jugendhilferecht, Beiträge des 1. Forums Kinder- und Jugendhilferecht 2018. https://doi.org/10.1515/9783110599916-009

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ins Grundgesetz – warum?, FPR 2012, 185; Jestaedt, Elternpflicht als Kindesrecht?, ZKJ 2010, 32; Luthe, Kinderrechte ins Grundgesetz?, ZKJ 2014, 96; Peschel-Gutzeit, Kinderrechte ins Deutsche Grundgesetz? Chancen und Herausforderungen – Bestandsaufnahme und offene Fragen, in: Müller-Magdeburg (Hrsg.), Verändertes Denken – zum Wohle der Kinder, Festschrift für Jürgen Rudolph, 2009, 25; Plettenberg/Löhnig, Kinderwürde, Kinderrechte, Kindeswohl – Eine Orientierung, in: Drerup/Schickhardt (Hrsg.), Kinderethik, Aktuelle Perspektiven – Klassische Problemvorgaben, 2017, 89; Schuler-Harms, Kinder in den Mittelpunkt – und ins Grundgesetz, KJ 2009, Beiheft 1, 133; Wapler, Kinderrechte und Kindeswohl, 2015.

Inhalt 154 I. Einleitung II. Das Kind im Grundgesetz 155 . Kinder als Grundrechtsträger 155 . Kinder als besonders unterstützungs- und schutzbedürftige Menschen 156 . Verhältnis von Kindern, Eltern und Staat 157 a) Elternrecht 158 b) Staatliches Wächteramt 159 III. Der Schutzanspruch des Kindes 161 161 . Das Recht des Kindes auf Gewährleistung elterlicher Pflege und Erziehung a) Auswirkungen im Bereich des Kinder- und Jugendschutzes 162 b) Gesetzliche Gestaltung rechtlicher Elternschaft 163 . Das Recht des Kindes auf Schutz vor den Eltern 164 IV. Verfassungsrechtliche Anforderungen an Kinder betreffende familiengerichtliche Entscheidungen 165 165 . Materiell-rechtliche Anforderungen . Verfahrensrechtliche Anforderungen 167 168 . Die Trennung des Kindes von den Eltern, Art.  Abs.  GG a) Materiell-rechtliche Anforderungen 169 b) Verfahrensrechtliche Anforderungen 170 c) Spezifische Anforderungen im Eilverfahren 171 V. Die Grundrechte des Kindes in der Verfassungsbeschwerde 172 . Prüfung der Grundrechte des Kindes im Verfassungsbeschwerdeverfahren 172 . Aktive Geltendmachung der Grundrechte des Kindes im Verfassungsbeschwerdeverfahren 172 VI. Fazit 174

I. Einleitung Die Grundrechte von Kindern sind, nicht zuletzt seitdem sich die große Koalition im Koalitionsvertrag für die 19. Legislaturperiode vorgenommen hat, Kinderrechte im Grundgesetz ausdrücklich zu verankern und ein Kindergrundrecht zu schaf-

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fen,² in aller Munde.³ Dieser Beitrag soll und will zu dieser – rechtspolitischen – Frage keine Stellung nehmen. Er soll vielmehr dazu dienen, den verfassungsrechtlichen Status von Kindern anhand der Senatsrechtsprechung und jüngeren Kammerrechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu skizzieren und dogmatisch einzuordnen.

II. Das Kind im Grundgesetz Das Grundgesetz erwähnt in seinem Grundrechtsteil Kinder ausdrücklich nur in Art. 6 Abs. 2, 3 und 5 GG. Sowohl aus dem grundsätzlichen Fehlen gesonderter Regelungen als auch aus der punktuellen Erwähnung in Art. 6 GG lassen sich jedoch allgemeine Schlussfolgerungen für die verfassungsrechtliche Stellung von Kindern ziehen.

1. Kinder als Grundrechtsträger Kinder sind nach allgemeiner Auffassung nicht nur Objekte des Schutzes und der Fürsorge, sondern eigenständige Subjekte des Verfassungsrechts⁴ und Grundrechtsträger.⁵ Der Grundrechtskatalog macht – mit Ausnahme von Art. 38 GG – die Grundrechtsträgerschaft nicht von einem Mindestalter abhängig. Die Grundrechtsfähigkeit kommt damit ohne weiteres auch Kindern und Jugendlichen

 Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD für die 19. Legislaturperiode, S. 21, https://www. bundesregierung.de/Content/DE/_Anlagen/2018/03/2018-03-14-koalitionsvertrag.pdf.  Vgl. Benassi/Eichholz, Grundgesetz und Kinderrechte, DVBl 2017, 614; Benassi, Kinderrechte ins Grundgesetz – alternativlos!, ZRP 2015, 24; Dethloff/Maschwitz, Kinderrechte in Europa – wo stehen wir?, FPR 2012, 190; Höfling, Zur Stärkung von Kinderrechten im Grundgesetz, ZKJ 2017, 354; Hohmann-Dennhardt, Kinderrechte ins Grundgesetz – warum?, FPR 2012, 185; Luthe, Kinderrechte ins Grundgesetz?, ZKJ 2014, 96; Peschel-Gutzeit, Kinderrechte ins Deutsche Grundgesetz? Chancen und Herausforderungen – Bestandsaufnahme und offene Fragen, in: MüllerMagdeburg (Hrsg.), Verändertes Denken – zum Wohle der Kinder, 2009, S. 25; Plettenberg/Löhnig, Kinderwürde, Kinderrechte, Kindeswohl – Eine Orientierung, in: Drerup/Schickhardt (Hrsg.), Kinderethik, Aktuelle Perspektiven – Klassische Problemvorgaben, 2017, S. 89; Schuler-Harms, Kinder in den Mittelpunkt – und ins Grundgesetz, KJ 2009, Beiheft 1, 133.  Wapler, Kinderrechte und Kindeswohl, 2015, S. 89 f.  BVerfGE 24, 119 (144); 47, 46 (73); 121, 69 (92).

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zu.⁶ Davon zu unterscheiden sind Fragen der Grundrechtswahrnehmung und der Geltendmachung von Grundrechten im Verfassungsprozess (dazu unten V). Da Kindern dieselben Grundrechte wie Erwachsenen zustehen, kommen in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts verschiedenste Grundrechte als Grundrechte von Kindern zum Tragen. Beispielhaft seien hier die Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG)⁷, das Recht auf Leben (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG)⁸, das Recht auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 GG)⁹, das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2 Abs. 1 GG)¹⁰ und das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i.V. m. Art. 1 Abs. 1 GG)¹¹ genannt. Neben den vorgenannten Grundrechten, die Kindern und Erwachsenen gleichermaßen zustehen, ergeben sich für Eltern aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG und für Kinder aus Art. 2 Abs. 1 i.V. m. Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG eigenständige subjektive Rechtspositionen, die spezifisch aus dem Elternsein und aus dem Kindsein erwachsen (dazu unten 3 a und unten III).

2. Kinder als besonders unterstützungs- und schutzbedürftige Menschen Aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG lässt sich ablesen, dass das Grundgesetz Kinder nicht in allen Belangen mit Erwachsenen gleich setzt, sondern sie als unreife, nicht bzw. nur eingeschränkt selbstbestimmungsfähige und in der Entwicklung befindliche Menschen betrachtet.¹² Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG fasst den damit verbundenen kindlichen Bedarf, aber auch die Abhängigkeit und das spezifische Unterworfensein mit dem Begriffspaar „Pflege und Erziehung“ zusammen. Demnach bedürfen Kinder des Schutzes und der Hilfe, um sich zu eigenverantwortlichen Persönlichkeiten innerhalb der sozialen Gemeinschaft entwickeln und gesund

 Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, 15. Aufl. 2018, Art. 19 Rn. 10; Sachs, in: Sachs, GG, 8. Aufl. 2018, Vor Art. 1 Rn. 70 f.  BVerfGE 24, 119 (144); 55, 171 (179); vgl. auch BVerfGE 39, 1 (36); 88, 203 (251).  BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 3. Februar 2017– 1 BvR 2569/16 –, juris, Rn. 40 m.w.N.  BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 3. Februar 2017– 1 BvR 2569/16 –, juris, Rn. 40 m.w.N.  BVerfGE 55, 171 (179); BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 7. Dezember 2017 – 1 BvR 1914/17 –, juris, Rn. 27; Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 22. März 2018 – 1 BvR 399/18 –, juris, Rn. 12.  BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 7. Oktober 1993 – 1 BvR 1651/93 –, juris, Rn. 2.  Vgl. Wapler, Kinderrechte und Kindeswohl, 2015, S. 99 ff.

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aufwachsen zu können.¹³ Den Staat trifft insoweit nicht nur eine objektive Verpflichtung, Lebensbedingungen des Kindes zu sichern, die für seine Entwicklung und sein gesundes Aufwachsen erforderlich sind¹⁴, sondern das Kind hat, abgeleitet aus den Rechten auf freie Entfaltung der Persönlichkeit, auf Leben und auf körperliche Unversehrtheit, ein Grundrecht auf Schutz und Unterstützung der Persönlichkeitsentfaltung (der sog. Schutzanspruch des Kindes, unten III).¹⁵ Die von den Grundrechten vermittelten Rechtspositionen sind bei Kindern, die sich naturgemäß noch nicht selbst zu schützen vermögen,¹⁶ besonders auf die Gewährleistung von Schutz und Hilfe durch den Staat gerichtet. Dogmatisch übersetzt bedeutet das, dass bei Kindern die schutz- und leistungsrechtliche Dimension der Grundrechte deutlich ausgeprägter ist als bei Erwachsenen.¹⁷ Dennoch kommt auch der abwehrrechtlichen Dimension der Grundrechte bei Kindern hohe Bedeutung zu, beispielsweise, wenn es um die Aufhebung eines Eltern-KindVerhältnisses durch Anfechtung der Vaterschaft¹⁸ oder um einen staatlichen Eingriff in die tatsächliche Wahrnehmung der Pflege- und Erziehungsaufgabe durch die Eltern¹⁹ geht.

3. Verhältnis von Kindern, Eltern und Staat Die vom Gesetzgeber näher auszugestaltende Schutzverantwortung für die Persönlichkeitsentwicklung des Kindes teilt das Grundgesetz in Art. 6 Abs. 2 GG zwischen Eltern und Staat auf.²⁰

 BVerfGE 24, 119 (144); 107, 104 (117); 121, 69 (92 f.); 133, 59 (73 Rn. 42); BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 3. Februar 2017 – 1 BvR 2569/16 –, juris, Rn. 40.  BVerfGE 24, 119 (144 f.); 57, 361 (383); 133, 59 (73 f. Rn. 42).  BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 3. Februar 2017 – 1 BvR 2569/16 –, juris, Rn. 40.  BVerfGE 24, 119 (144).  Vgl. Britz, JZ 2014, 1069 (1070).  Vgl. BVerfGE 135, 48 (85 Rn. 101 f.).  Vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 7. April 2014 – 1 BvR 3121/13 –, juris, Rn. 22.  BVerfGE 133, 59 (74); BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 3. Februar 2017– 1 BvR 2569/16 –, juris, Rn. 40.

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a) Elternrecht In erster Linie ist sie den Eltern zugewiesen, Pflege und Erziehung sind die „zuvörderst“ den Eltern obliegende Pflicht.²¹ Dies beruht auf dem Gedanken, dass in aller Regel den Eltern das Wohl des Kindes mehr am Herzen liegt als irgendeiner anderen Person oder Institution.²² Das Elternrecht ist also um des Kindes willen gegen Eingriffe des Staates geschützt.²³ Das Kindeswohl ist damit wesensbestimmender Bestandteil des Art. 6 Abs. 2 GG.²⁴ Ebenso bildet das Kindeswohl Richtschnur für jedes das Elternrecht berührende staatliche Tätigwerden.²⁵ Art. 6 Abs. 2 GG schützt Eltern nicht nur vor staatlichen Eingriffen bei der Ausübung ihres Erziehungsrechts²⁶, sondern verbindet mit dem Recht zur Pflege und Erziehung der Kinder zugleich die Pflicht zu dieser Tätigkeit. Die Verknüpfung von Rechten und Pflichten unterscheidet das Elternrecht in Art. 6 Abs. 2 GG von allen anderen Grundrechten; hierbei ist die Pflicht nicht lediglich eine das Recht begrenzende Schranke, sondern ein wesensbestimmender Bestandteil dieses „Elternrechts“, das insoweit treffender als „Elternverantwortung“ bezeichnet werden kann.²⁷ Grundrechtsdogmatisch ist das pflichtgebundene Elternrecht allerdings nicht ausschließlich fremdnützig in dem Sinne, dass es sich hierbei lediglich um eine in Form eines subjektiven Rechts der Eltern erfolgte Ausgestaltung eines (wie auch immer zu definierenden) objektiven Kindeswohls handeln würde, sondern auch eigennütziges Recht der Eltern.²⁸ Dementsprechend sind die Eltern in Ausübung des Elternrechts zunächst auch zu einer eigenständigen Bestimmung dessen, was sie positiv unter kindeswohlorientierter Pflege und Erziehung des Kindes verstehen, berufen. Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG sichert ihnen einen Freiheitsraum zu, innerhalb dessen sie die Erziehung ihrer Kinder hinsichtlich der Ziele wie Methoden frei gestalten können.²⁹ Die freie Entscheidung der Eltern darüber, wie sie ihrer Elternverantwortung gerecht werden wollen, ist durch Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG gegen staatliche Eingriffe geschützt, soweit solche Eingriffe nicht durch das  BVerfGE 133, 59 (74); ein wesentlicher hiervon ausgenommener Bereich stellt jedoch das Schulwesen dar, Art. 7 GG.  BVerfGE 59, 360 (376).  BVerfGE 59, 360 (376 f.); 61, 358 (371 f.).  BVerfGE 108, 82 (102).  Vgl. BVerfGE 31, 194 (208 f.).  BVerfGE 31, 194 (204).  BVerfGE 24, 119 (143); 56, 363 (381 f.).  Vgl. BVerfGE 10, 59 (76); 101, 361 (382); von Coelln, in: Sachs, GG, 8. Aufl. 2018, Art. 6 Rn. 74; Robbers, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG I, Art. 6 Abs. 2 GG Rn. 188 f.  Wapler, Kinderrechte und Kindeswohl, 2015, S. 112.

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Wächteramt der staatlichen Gemeinschaft im Sinne des Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG gedeckt sind.³⁰ Damit nimmt die Verfassung in Kauf, dass das Kind durch einen Entschluss der Eltern Nachteile erleidet, die im Rahmen einer nach objektiven Maßstäben getroffenen Erziehungsentscheidung vielleicht vermieden werden könnten, die aber für sich genommen noch keine Kindeswohlgefährdung begründen.³¹

b) Staatliches Wächteramt Allerdings trägt die staatliche Gemeinschaft nach Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG eine Kontroll- und Sicherungsverantwortung dafür, dass sich ein Kind in der Obhut seiner Eltern tatsächlich zu einer eigenverantwortlichen Persönlichkeit entwickeln kann.³² Diese Verpflichtung des Staates folgt nicht allein aus dem legitimen Interesse der staatlichen Gemeinschaft an der Erziehung des Nachwuchses, aus sozialstaatlichen Erwägungen oder etwa aus allgemeinen Gesichtspunkten der öffentlichen Ordnung; sie ergibt sich in erster Linie daraus, dass das Kind als Grundrechtsträger selbst Anspruch auf den Schutz des Staates hat.³³ Der dem Staat so auferlegte Gewährleistungsauftrag verpflichtet ihn, das „Wie“ und das „Ob“ elterlicher Pflichtenwahrnehmung in Ausrichtung auf das Kindeswohl zu sichern.³⁴ Zu dieser dem Staat verbleibenden Verantwortung gehört auch, die – von der Verfassung vorausgesetzte – spezifisch elterliche Hinwendung zu den Kindern³⁵ dem Grunde nach zu ermöglichen und zu sichern.³⁶ Das staatliche Wächteramt sowie die allgemeine Befriedungsfunktion des Rechts ermächtigen und verpflichten den Staat überdies, selbst für den Ausgleich widerstreitender elterlicher Interessen zu sorgen und im Falle des Konflikts über die Ausübung der Elternverantwortung klare und am Wohl des Kindes orientierte Regelungen zu treffen.³⁷ Die Einbeziehung aller Eltern in den Schutzbereich des

 BVerfGE 4, 52 (57); 7, 320 (323); 24, 119 (138/143 f.); 31, 194 (204); vgl. auch Jestaedt, ZKJ 2010, 32 (34).  BVerfGE 34, 165 (184); BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 29. Januar 2010 – 1 BvR 374/09 –, juris, Rn. 33.  Vgl. BVerfGE 101, 361 (385 f.); 121, 69 (93 f.); 133, 59 (74); BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 3. Februar 2017 – 1 BvR 2569/16 –, juris, Rn. 40.  BVerfGE 24, 119 (144).  BVerfGE 133, 59 (74).  Vgl. BVerfGE 101, 361 (385 f.).  BVerfGE 133, 59 (74) m.w. N.  BVerfGE 31, 194 (205); vgl. Wapler, Kinderrechte und Kindeswohl 2015, S. 150 ff.; Coester, FamRZ 1996, 1181 (1182).

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Art. 6 Abs. 2 GG bedeutet jedoch nicht, dass allen Müttern und Vätern stets die gleichen Rechte im Verhältnis zu ihrem Kind eingeräumt werden müssen.³⁸ Für den Fall, dass die Voraussetzungen für eine gemeinsame Wahrnehmung der Sorge fehlen, bedarf das Elternrecht der gesetzlichen Ausgestaltung.³⁹ Dabei hat der Staat aufgrund seines ihm durch Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG auferlegten Wächteramtes sicherzustellen, dass sich die Wahrnehmung des Elternrechts am Kindeswohl ausrichtet und bei der Ausübung der Elternverantwortung die Rechte des Kindes Beachtung finden.⁴⁰ Weil die gemeinsame Ausübung der Elternverantwortung eine tragfähige soziale Beziehung zwischen den Eltern voraussetzt und ein Mindestmaß an Übereinstimmung zwischen ihnen erfordert, darf der Gesetzgeber einem Elternteil die Hauptverantwortung für das Kind für den Fall zuordnen, dass die Voraussetzungen für eine gemeinsame Wahrnehmung der Elternverantwortung fehlen.⁴¹ Die Gerichte setzen dies im Einzelfall unter Berücksichtigung der widerstreitenden Grundrechte durch die konkrete Regelung des Sorgerechts um.⁴² Dabei ist es von Verfassungs wegen nicht geboten, der gemeinsamen Sorge gegenüber der alleinigen Sorge einen Vorrang einzuräumen.⁴³ Die mit der Aufhebung der gemeinsamen Sorge verbundene Übertragung der Sorge auf einen Elternteil zur alleinigen Ausübung muss am Wohl des Kindes ausgerichtet sein, eine Kindeswohlgefährdung, wie sie nach ständiger Rechtsprechung bei einer Trennung des Kindes von seinen Eltern nach Art. 6 Abs. 3 GG bestehen müsste, braucht hingegen nicht vorzuliegen.⁴⁴ Den ihm im Bereich der Ausgestaltung von Elternverantwortung zustehenden Gestaltungsspielraum überschreitet der Gesetz-

 Vgl. BVerfGE 92, 158 (178 f.); 107, 150 (169).  Vgl. BVerfGE 92, 158 (178 f.); 107, 150 (169/173); zuletzt BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 22. März 2018 – 1 BvR 399/18 –, juris, Rn. 11; stRspr.  Vgl. BVerfGE 127, 132 (146); zuletzt BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 22. März 2018 – 1 BvR 399/18 –, juris, Rn. 11; stRspr.  BVerfGE 107, 150 (169); 127, 132 (146 f.).  BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 7. Dezember 2017 – 1 BvR 1914/17 –, juris, Rn. 26 m.w. N.; Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 22. März 2018 – 1 BvR 399/ 18 –, juris, Rn. 11.  BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 18. Dezember 2003 – 1 BvR 1140/03 –, juris, Rn. 10; Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 7. Dezember 2017 – 1 BvR 1914/17 –, juris, Rn. 26; Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 22. März 2018 – 1 BvR 399/18 –, juris, Rn. 11.  BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 4. August 2015 – 1 BvR 1388/15 –, juris, Rn. 5; Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 7. Dezember 2017 – 1 BvR 1914/17 –, juris, Rn. 27; Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 22. März 2018 – 1 BvR 399/18 –, juris, Rn. 12.

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geber auch nicht dadurch, dass er für Kinder getrennt lebender Eltern die Anordnung einer paritätischen Betreuung nicht als Regelfall vorsieht.⁴⁵

III. Der Schutzanspruch des Kindes In dem dargelegten gestuften Verantwortungssystem des Grundgesetzes ist das Kind nicht bloß Objekt elterlichen oder staatlichen Handelns, sondern Träger eigener Grundrechte. Das Grundgesetz verweist somit das Kind nicht passiv darauf, dass die Eltern über das ihnen zustehende Elternrecht und der Staat über das ihm obliegende Wächteramt schon für Schutz und Gewährleistung notwendiger Entwicklungsbedingungen sorgen werden. Dem Kind steht vielmehr nach Art. 2 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 GG in Verbindung mit Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG ein eigener subjektiver Anspruch auf Schutz und Unterstützung der Persönlichkeitsentfaltung gegenüber dem Staat zu (Schutzanspruch des Kindes).⁴⁶

1. Das Recht des Kindes auf Gewährleistung elterlicher Pflege und Erziehung Aus dem Zusammenspiel dieses Schutzanspruchs aus Art. 2 Abs. 1 GG mit der verfassungsrechtlichen Grundentscheidung des Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG, die Pflege und Erziehung von Kindern zuvörderst in die Hände ihrer Eltern zu legen, folgt, dass der Schutzanspruch des Kindes in erster Linie darauf gerichtet ist, die elterliche Pflege und Erziehung zu gewährleisten.⁴⁷ Das Kind hat danach einen Anspruch auf staatliche Gewährleistung elterlicher Pflege und Erziehung.⁴⁸

 BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 24. Juni 2015 – 1 BvR 486/14 –, juris, Rn. 12; Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 22. Januar 2018 – 1 BvR 2616/17 –, juris, Rn. 7.  Vgl. BVerfGE 24, 119 (144); 60, 79 (88); 72, 122 (134); 107, 104 (117); BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 3. Februar 2017 – 1 BvR 2569/16 –, juris, Rn. 37/41.  Britz, JZ 2014, 1069 (1070).  BVerfGE 133, 59 (73 f.); 135, 48 (84 f.); 136, 382 (387); BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 7. April 2014 – 1 BvR 3121/13 –, juris, Rn. 22; Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 3. Februar 2017 – 1 BvR 2569/16 –, juris, Rn. 43.

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a) Auswirkungen im Bereich des Kinder- und Jugendschutzes Dieses Recht wirkt sich zum einen im Bereich des Kinder- und Jugendschutzes aus, insbesondere bei der Gefährdung von Kindern auf Grund mangelnder Erziehungsfähigkeit der Eltern. Der Staat ist im Falle einer Gefährdung des Kindes im elterlichen Haushalt zunächst verpflichtet, die Gefährdung möglichst durch unterstützende Maßnahmen im elterlichen Haushalt abzuwenden, d. h. die Eltern in die Lage zu versetzen, ihrer Verantwortung gegenüber dem Kind wieder gerecht zu werden.⁴⁹ Dies gilt grundsätzlich auch nach bereits erfolgter Herausnahme eines Kindes aus dem elterlichen Haushalt. Der Staat hat die im konkreten Einzelfall bei Inanspruchnahme geeigneter öffentlicher Hilfen als nicht kindeswohlgefährdend angesehene Rückkehr des Kindes in den elterlichen Haushalt durch Gewährung ebensolcher Hilfen zu ermöglichen.⁵⁰ Dies setzen §§ 27 ff. SGB VIII auf einfach-rechtlicher Ebene um.⁵¹ Eine Auflage an die Eltern, ambulante Hilfen zur Erziehung in Anspruch zu nehmen (§ 1666 Abs. 3 Nr. 1 BGB), oder andere beispielhaft in § 1666 Abs. 3 Nr. 2– 6 BGB aufgeführte Eingriffe in das Sorgerecht, sind, wenn sie geeignet sind, die dem Kind drohende Gefahr abzuwehren, einer Fremdunterbringung des Kindes nicht nur deswegen vorzuziehen, weil der Eingriff in das Elternrecht wegen der geforderten strikten Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes⁵² möglichst gering zu halten ist (vgl. § 1666a BGB), sondern auch weil das Grundrecht des Kindes auf Gewährleistung elterlicher Pflege und Erziehung dies gebietet. Der Staat darf und muss also zunächst versuchen, durch helfende, unterstützende, auf Herstellung oder Wiederherstellung eines verantwortungsgerechten Verhaltens der Eltern gerichtete Maßnahmen sein Ziel zu erreichen.⁵³ Darüber hinaus ist – spiegelbildlich zum Elternrecht – die Wertung des Art. 6 Abs. 3 GG auch bei Entscheidungen über die Herausnahme des Kindes aus dem elterlichen Haushalt zu berücksichtigen.⁵⁴ Denn es liegt im durch das Grundrecht auf Gewährleistung elterlicher Pflege und Erziehung geschützten Interesse des

 Britz, JZ 2014, 1069 (1072).  BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 22. Mai 2014 – 1 BvR 2882/13 –, juris, Rn. 35; Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 14. Juni 2014, – 1 BvR 725/14 –, juris, Rn. 20.  Britz, JZ 2014, 1069 (1072).  BVerfGE 60, 79 (89); zuletzt: BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 23. April 2018 – 1 BvR 383/18 –, juris, Rn. 16; stRspr.  BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 3. Februar 2017 – 1 BvR 2569/16 –, juris, Rn. 43.  Vgl. Britz, JZ 2014, 1069 (1072).

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Kindes, von einer unberechtigten Trennung von den Eltern verschont zu bleiben.⁵⁵ Die strengen verfassungsrechtlichen Anforderungen aus Art. 6 Abs. 3 GG an eine Trennung des Kindes von den sorgeberechtigten Eltern gelten danach auch hinsichtlich des Grundrechts des Kindes.⁵⁶ Zugleich gebietet das Grundrecht des Kindes auf Gewährleistung elterlicher Pflege und Erziehung, bei der Auswahl eines Vormunds oder Ergänzungspflegers nahe Verwandte zu berücksichtigen, wenn dies die Aufrechterhaltung der Verbindung zu den Eltern begünstigt und dies im Interesse des Kindes ist.⁵⁷ Darüber hinaus ist bzw. bleibt das Recht auf staatliche Gewährleistung elterlicher Pflege und Erziehung auch dann von Bedeutung, wenn das Kind nicht (mehr) im elterlichen Haushalt lebt, beispielsweise bei der Regelung des Umgangs des Pflegekindes mit seinen leiblichen Eltern, denn geschützt wird neben dem Zusammenleben mit den Eltern auch die spezifische elterliche Hinwendung zum Kind.⁵⁸

b) Gesetzliche Gestaltung rechtlicher Elternschaft Das Recht auf staatliche Gewährleistung elterlicher Pflege und Erziehung kommt ferner bei der Begründung und Auflösung rechtlicher Eltern-Kind-Verhältnisse zum Tragen. So schützt es Kinder dagegen, durch staatliche Maßnahmen, hier durch behördliche Anfechtung der Vaterschaft, von der spezifisch elterlichen Hinwendung abgeschnitten zu werden.⁵⁹ Umgekehrt folgt aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG auch ein auf die tatsächliche Pflichtenwahrnehmung durch Eltern gerichtetes subjektives Gewährleistungsrecht des Kindes gegenüber dem Staat, das diesen dazu verpflichtet, rechtliche Vorkehrungen dafür zu treffen, dass in Fällen, in denen die leiblichen Eltern nicht bereit oder nicht in der Lage sind, die elterlichen Funktionen wahrzunehmen, elterliche Verantwortung von anderen Personen übernommen werden kann.⁶⁰ Wie der Staat diese Verpflichtung zu einem effektiven Grundrechtsschutz erfüllt, ist aber in

 BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 7. April 2014 – 1 BvR 3121/13 –, juris, Rn. 22.  BVerfGE 136, 382 (391); BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 3. Februar 2017 – 1 BvR 2569/16 –, juris, Rn. 43.  BVerfGE 136, 382 (387).  BVerfGE 121, 69 (93 f.); vgl. auch BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 29. November 2012 – 1 BvR 335/12 –, juris, Rn. 21 f.  BVerfGE 135, 48 (85).  BVerfGE 133, 59 (73 ff.).

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erster Linie vom Gesetzgeber zu entscheiden.⁶¹ Ihm kommt in Bezug auf die normative Umsetzung und Erfüllung einer grundsätzlich bestehenden Schutzpflicht ein Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum zu.⁶²

2. Das Recht des Kindes auf Schutz vor den Eltern Werden Eltern der ihnen durch die Verfassung zugewiesenen Verantwortung nicht gerecht, weil sie nicht bereit oder in der Lage sind, ihre Erziehungsaufgabe wahrzunehmen, oder können sie ihrem Kind den erforderlichen Schutz und die notwendige Hilfe aus anderen Gründen nicht bieten, kommt das Wächteramt des Staates nach Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG zum Tragen.⁶³ Der Schutzanspruch des Kindes aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 6 Abs. 2 Satz 2 und Abs. 3 GG gebietet in diesen Fällen ein staatliches Einschreiten im Sinne eines Rechts auf Schutz vor den Eltern. Der Staat ist dementsprechend bei einer nachhaltigen Gefährdung des Kindeswohls nicht nur berechtigt, sondern dem Kind gegenüber auch verpflichtet, im äußersten Fall Pflege, Erziehung und Schutz des Kindes auch durch eine Herausnahme aus dem elterlichen Haushalt oder durch Aufrechterhaltung einer bereits erfolgten Trennung sicherzustellen.⁶⁴ Dabei endet der Schutzauftrag des Staates nicht bei der Entscheidung über das „Ob“ der Herausnahme, denn dieser gebietet im Falle der Herausnahme aus dem elterlichen Haushalt auch, dafür Sorge zu tragen, dass das Kind die Lebensbedingungen erhält, die für seine Entwicklung und sein gesundes Aufwachsen erforderlich sind.⁶⁵ Ebenso wie die Verfassungsmäßigkeit des mit dem Sorgerechtsentzug verbundenen Eingriffs in das Elternrecht von der Wahl des Vormunds/Ergänzungspflegers und der von diesem beabsichtigten konkreten Unterbringungsmaßnahme abhängt,⁶⁶ gilt dies auch für die Beurteilung der hinreichenden Gewährleistung des kindlichen Schutzanspruches. Dementsprechend wird die Auswahl eines Vormunds dann nicht den verfassungsrechtlichen

 BVerfG, a.a.O.(75).  BVerfG, a.a.O. (76).  BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 3. Februar 2017 – 1 BvR 2569/16 –, juris, Rn 41.  BVerfGE 60, 79 (88); BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 3. Februar 2017– 1 BvR 2569/16 –, juris, Rn 42.  BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 30. April 2018 – 1 BvR 393/18 –, juris, Rn. 7.  Vgl. BVerfGE 136, 382 (386 f.); BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 8. März 2012 – 1 BvR 206/12 –, juris, Rn. 22 ff.

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Anforderungen des Schutzanspruches des Kindes gerecht, wenn der Vormund nicht geeignet ist.⁶⁷

IV. Verfassungsrechtliche Anforderungen an Kinder betreffende familiengerichtliche Entscheidungen Das Bundesverfassungsgericht hat aus den Grundrechten der Eltern, den Grundrechten des Kindes und aus der aus dem Wächteramt herrührenden Verantwortung des Staates für das Kind umfangreiche materiell-rechtliche (unten 1) und verfahrensrechtliche (unten 2) Anforderungen an alle Arten von Hoheitsakten, von denen Kinder betroffenen sind, insbesondere für die vor dem Bundesverfassungsgericht besonders häufig zur Überprüfung gestellten kindschaftsrechtlichen Entscheidungen, abgeleitet. Zusätzliche Anforderungen gelten nach Art. 6 Abs. 3 GG für Entscheidungen, die die Trennung des Kindes von den Eltern gegen den Willen der sorgeberechtigten Eltern zum Ziel haben (dazu unten 3). Die Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts beschränkt sich außerhalb des Anwendungsbereichs von Art. 6 Abs. 3 GG regelmäßig darauf, zu prüfen, ob die Fachgerichte eine auf das Wohl des Kindes ausgerichtete Entscheidung getroffen und dabei die Tragweite der Grundrechte aller Beteiligten nicht grundlegend verkannt haben.⁶⁸

1. Materiell-rechtliche Anforderungen Zentrale verfassungsrechtliche Anforderung an alle in Ausübung des Wächteramts getroffenen familiengerichtlichen Entscheidungen ist die Ausrichtung auf das Kindeswohl und die Berücksichtigung der Grundrechte aller Beteiligter, insbesondere auch der Grundrechte der Kinder: „Jede gerichtliche Lösung eines Konflikts zwischen Eltern, die sich auf die Zukunft des Kindes auswirkt, muss auf

 BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 30. April 2018 – 1 BvR 393/18 –, juris, Rn. 7.  BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 7. Juni 2016 – 1 BvR 519/16 –, juris, Rn. 3; Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 22. März 2018 – 1 BvR 399/18 –, juris, Rn. 14; allgemein: BVerfGE 18, 85 (92); 42, 143 (147 ff.); 49, 304 (314).

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das Wohl des Kindes ausgerichtet sein und das Kind in seiner Individualität als Grundrechtsträger berücksichtigen.“⁶⁹ Die Ausrichtung auf das Kindeswohl und die grundrechtliche Stellung des Kindes erfordern grundsätzlich eine Berücksichtigung des Willens des Kindes, soweit dieser mit seinem Wohl vereinbar ist.⁷⁰ Denn mit der Kundgabe seines Willens macht das Kind von seinem Recht zur Selbstbestimmung Gebrauch. Hat der Kindeswille bei einem Kleinkind noch eher geringes Gewicht, so kommt ihm im zunehmenden Alter des Kindes vermehrt Bedeutung zu.⁷¹ Zugleich lässt der geäußerte Kindeswille regelmäßig Rückschlüsse auf die Bindungen des Kindes, als einem weiteren wesentlichen Aspekt für eine am Kindeswohl orientierte Entscheidung, zu und kann umgekehrt dann außer Acht zu lassen sein, wenn er die wirklichen Bindungsverhältnisse nicht zutreffend beschreibt.⁷² Eine gerichtliche Entscheidung ist dann nicht mehr als am Wohl des Kindes ausgerichtet anzusehen, wenn sie, wie zuletzt im Fall der über das Sorgerecht streitenden Eltern eines geschlechtsdysphorischen Kindes, ausschließlich eine langfristige Perspektive in den Blick nimmt und keine Feststellungen zur aktuellen Kindeswohlsituation und deren kurz- und mittelfristig zu prognostizierender Entwicklung nimmt.⁷³ Anhand derselben verfassungsrechtlichen Obersätze⁷⁴ hat das Bundesverfassungsgericht umgekehrt einen Verfassungsverstoß bei Übertragung des Sorgerechts für zwei 15 und 17 Jahre alte Jugendliche auf die Mutter zur alleinigen Ausübung verneint, da das Oberlandesgericht geprüft hatte, ob zwischen den Eltern die notwendige Konsensfähigkeit besteht, dies jedoch aufgrund des konfliktbehafteten Verhältnisses der Eltern und des seit mehr als einem Jahr andauernden Kommunikationsstillstandes vertretbar verneint hatte, zumal auch kein Kontakt mehr zwischen dem Vater und den Söhnen bestand und die Sorgerechtsübertragung dem geäußerten Willen der Kinder entsprach.⁷⁵

 BVerfGE 55, 171 (179); BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 7. Dezember 2017 – 1 BvR 1914/17 –, juris, Rn. 27; Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 22. März 2018 –1 BvR 399/18 –, juris; Rn. 12; stRspr.  BVerfGE 55, 171 (182).  BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 7. Dezember 2017 – 1 BvR 1914/17 –, juris, Rn. 28.  BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 2. April 2001 – 1 BvR 212/98 –, juris, Rn. 4.  BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 7. Dezember 2017 – 1 BvR 1914/17 –, juris, Rn. 34.  BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 22. März 2018 – 1 BvR 399/18 –, juris, Rn. 11 ff.  BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 22. März 2018 – 1 BvR 399/18 –, juris, Rn. 16 f.

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Die Ausrichtung auf das Kindeswohl und Berücksichtigung der grundrechtlichen Stellung aller Beteiligten, auch derjenigen des Kindes, gelten aber nicht nur für Fallgestaltungen, in denen es in erster Linie um die Schlichtung eines Konfliktes zwischen den Eltern geht, sondern auch für solche, in denen es um Interventionen zum Schutz von Kindern geht. Auf einfach-rechtlicher Ebene setzt § 1666 BGB diese Anforderungen, auch unterhalb der Ebene der Trennung des Kindes von den Eltern (Art. 6 Abs. 3 GG), verfassungsgemäß um.⁷⁶

2. Verfahrensrechtliche Anforderungen Der Grundrechtsschutz von Kindern wird zudem durch Beteiligungs- und Anhörungsrechte im Verfahren gewährleistet. Schon dem einzelnen familiengerichtlichen Verfahren vorgelagert trifft den Staat wegen der sich aus Art. 6 Abs. 2 Satz 2 und Art. 2 Abs. 1 GG ergebenden Schutzpflichten die Verpflichtung, auch in verfahrensrechtlicher Hinsicht normative Regelungen zu schaffen, die eine hinreichende Berücksichtigung der grundrechtlichen Stellung des betroffenen Kindes, insbesondere für sorgerechtliche Verfahren, garantieren.⁷⁷ Die gesetzlichen Regelungen über die Bestellung eines Verfahrensbeistands nach § 158 FamFG und die persönliche Anhörung des Kindes nach § 159 FamFG setzen diese verfassungsrechtlichen Anforderungen im Bereich des Verfahrensrechts um. Die fehlende Durchführung einer Kindesanhörung im Verfahren kann dessen Recht auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG verletzen. Eltern können das Unterbleiben einer Kindesanhörung wegen des verfahrensrechtlichen Gehalts von Art. 6 Abs. 2 Satz 1 und Abs. 3 GG als eigene Grundrechtsverletzung geltend machen.⁷⁸ Da die zunächst für das Elternrecht aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG entwickelten Anforderungen spiegelbildlich auch für den Schutzanspruch des Kindes aus Art. 2 Abs. 1 GG i.V. m. Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG gelten,⁷⁹ dürfte der verfahrensrechtliche Gehalt des Schutzanspruchs des Kindes durch eine fehlende Kindesanhörung ebenfalls berührt sein.

 Vgl. BVerfGE 4, 52 (57).  BVerfGE 55, 171 (179); 79, 51 (66 f.); 99, 145 (157).  BVerfGE 99, 145 (163 f.); 107, 150 (167).  Vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 3. Februar 2017– 1 BvR 2569/16 –, juris, Rn. 43 ff.

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3. Die Trennung des Kindes von den Eltern, Art. 6 Abs. 3 GG Besondere verfassungsrechtliche Anforderungen gelten gemäß Art. 6 Abs. 3 GG für die staatlich angeordnete Trennung des Kindes von seinen sorgeberechtigten Eltern. Art. 6 Abs. 3 GG enthält einen qualifizierten Gesetzesvorbehalt für diesen bestimmten, auf Grund des staatlichen Wächteramts in Betracht kommenden Eingriff in das Elternrecht.⁸⁰ Seine Voraussetzungen gelten in der Sache aber auch für die Rechtfertigung des mit der Herausnahme des Kindes aus dem elterlichen Haushalt zugleich verbundenen Eingriffs in das Recht des Kindes auf Gewährleistung elterlicher Pflege und Erziehung.⁸¹ Darüber hinaus können die Voraussetzungen des Art. 6 Abs. 3 GG auch zur Bestimmung der Reichweite des kindlichen Schutzanspruches herangezogen werden. Denn, wenn der Staat verfassungsrechtlich gemäß Art. 6 Abs. 3 GG berechtigt ist, zur Wahrung des Kindeswohls die räumliche Trennung des Kindes von den Eltern zu veranlassen oder aufrechtzuerhalten, ist er hierzu gemäß Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG auch verpflichtet.⁸² Das Kind hat insoweit einen grundrechtlichen Anspruch auf den Schutz des Staates.⁸³ Alle im Zusammenhang mit Art. 6 Abs. 3 GG getroffenen – positiven oder negativen – gerichtlichen Entscheidungen, d. h. sowohl die Anordnung eines zum Zwecke der Herausnahme eines Kindes aus dem elterlichen Haushalt angeordneten Sorgerechtsentzugs als auch die Aufrechterhaltung einer solchen Kindesschutzmaßnahme sowie die Nichtanordnung oder Aufhebung solcher Schutzmaßnahmen zum Zwecke des Verbleibs des Kindes im elterlichen Haushalt oder der Rückführung dorthin, unterliegen wegen des besonderen Eingriffsgewichts und der existentiellen Bedeutung der Frage der Trennung von Kind und Eltern einer besonders intensiven verfassungsgerichtlichen Überprüfung.⁸⁴ Diese beschränkt sich nicht darauf, ob eine angegriffene Entscheidung Fehler erkennen lässt, die auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung des Grundrechts beruht, sondern erstreckt sich auch auf einzelne Auslegungsfehler

 Vgl. BVerfGE 24, 119 (138 f.); Jestaedt, in: Bonner Kommentar 1995, Art. 6 Abs. 2 und 3 Rn. 250.  BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 3. Februar 2017 – 1 BvR 2569/16 –, juris, Rn. 43; Britz, JZ 2014, 1069 (1072).  Vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 3. Februar 2017– 1 BvR 2569/16 –, juris, Rn. 41 und 44.  BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 3. Februar 2017 – 1 BvR 2569/16 –, juris, Rn. 41.  BVerfGE 72, 122 (138 f.); BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 3. Februar 2017 – 1 BvR 2569/16 –, juris, Rn. 52.

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sowie auf deutliche Fehler bei der Feststellung und Würdigung des Sachverhalts.⁸⁵

a) Materiell-rechtliche Anforderungen aa) Nachhaltige Kindeswohlgefährdung Art. 6 Abs. 3 GG erlaubt einen auf die Trennung des Kindes von seinen sorgeberechtigten Eltern abzielenden staatlichen Eingriff nur auf Grund eines Gesetzes und nur, wenn die Erziehungsberechtigten versagen oder die Kinder aus anderen Gründen zu verwahrlosen drohen. Das Bundesverfassungsgericht legt dies in ständiger Rechtsprechung dahingehend aus, dass ein schwerwiegendes – auch unverschuldetes – Fehlverhalten und entsprechend eine erhebliche Gefährdung des Kindeswohls vorliegen müssen.⁸⁶ Das heißt, nicht jedes Versagen oder jede Nachlässigkeit der Eltern berechtigten oder verpflichten den Staat auf der Grundlage seines ihm nach Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG zukommenden Wächteramts, die Eltern von der Pflege und Erziehung ihres Kindes auszuschalten oder gar selbst diese Aufgabe zu übernehmen.⁸⁷ Um eine Trennung des Kindes von den Eltern zu rechtfertigen und von einer verfassungsrechtlichen Verpflichtung zur Herausnahme des Kindes ausgehen zu können, muss das elterliche Fehlverhalten vielmehr ein solches Ausmaß erreicht haben, dass das Kind bei einem Verbleib in der Familie oder bei einer Rückkehr dorthin in seinem körperlichen, geistigen oder seelischen Wohl nachhaltig gefährdet ist.⁸⁸ Die nachhaltige Gefährdung ist selbstverständlich dann zu bejahen, wenn ein Schaden des Kindes bereits eingetreten ist, im Übrigen dann, wenn eine gegenwärtige, in einem solchen Maß vorhandene Gefahr vorliegt, dass sich bei der weiteren Entwicklung der Dinge eine erhebliche Schädigung des geistigen oder leiblichen Wohls des Kindes mit ziemlicher Sicherheit voraussehen lässt.⁸⁹ Die familiengerichtliche Praxis legt in ständiger Rechtsprechung §§ 1666 Abs. 1 und Abs. 3 Nr. 6, 1666a BGB entspre-

 BVerfGE 136, 382 (391); BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 3. Februar 2017 – 1 BvR 2569/16 –, juris, Rn. 52.  BVerfGE 60, 79 (91).  BVerfGE 24, 119 (144 f.); 60, 79 (91).  BVerfGE 60, 79 (91); 72, 122 (140); 136, 382 (391); stRspr.  BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 29. September 2015 – 1 BvR 1292/15 –, juris, Rn. 17 m.w. N.; vgl. auch BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 13. Juli 2017 – 1 BvR 1202/17 –, juris, Rn. 16; Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 3. Februar 2017 – 1 BvR 2569/16 –, juris, Rn. 44; stRspr.

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chend dieser verfassungsrechtlichen Anforderungen aus, wenn es um die Frage des Sorgerechtsentzugs zum Zwecke der Trennung von Eltern und Kindern geht.⁹⁰

bb) Verhältnismäßigkeit Auch darf eine räumliche Trennung des Kindes von seinen Eltern gegen deren Willen nur unter strikter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes erfolgen beziehungsweise aufrechterhalten werden.⁹¹ Auf einfachrechtlicher Ebene sichert insbesondere § 1666a BGB die Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit ab.⁹² Aus ihm folgt, dass die Auflage zur Inanspruchnahme ambulanter Hilfen zur Erziehung grundsätzlich gegenüber einer Herausnahme des Kindes aus dem elterlichen Haushalt vorrangig ist (vgl. oben II, 1 a). Darüber hinaus dürfen nicht nur die mit der Herausnahme des Kindes und dem Wegfall von Gefährdungsmomenten verbundenen Vorteile, sondern müssen im Wege einer Gesamtbetrachtung alle mit der Fremdunterbringung verbundenen Konsequenzen in den Blick genommen werden. Eine Herausnahme aus dem elterlichen Haushalt ist danach erst dann gerechtfertigt, wenn sich die Situation des Kindes in der Gesamtbetrachtung verbessert.⁹³ Bei gleicher Eignung ist eine Unterbringung bei nahen Verwandten und deren Bestellung als Vormund als milderes Mittel einer Fremdunterbringung vorzuziehen.⁹⁴

b) Verfahrensrechtliche Anforderungen Die Familiengerichte haben das Verfahren so zu gestalten, dass es geeignet ist, eine möglichst zuverlässige Grundlage für eine am Kindeswohl orientierte und die Individualität des Kindes als Grundrechtsträger berücksichtigende Entschei-

 Vgl. BGHZ 213, 107 (110) = FamRZ 2017, 212 (213); BGH FamRZ 2016, 1752 (1753).  BVerfGE 60, 79 (89); zuletzt: BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 23. April 2018 – 1 BvR 383/18 –, juris, Rn. 16; stRspr.  Vgl. BVerfGE 60, 79 (88 ff.); 72, 122 (138).  BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 24. März 2014 – 1 BvR 160/14 –, juris, Rn. 38; Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 22. Mai 2014 – 1 BvR 3190/13 –, juris, Rn. 31; Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 23. April 2018 – 1 BvR 383/18 –, juris, Rn. 16.  BVerfGE 136, 382 (390).

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dung zu erlangen.⁹⁵ Als gerichtliche Ermittlungsmaßnahmen kommen unter anderem die persönliche Anhörung der Eltern und des Kindes, die Einholung von Stellungnahmen des Jugendamtes sowie des Verfahrensbeistands und die Einholung von Sachverständigengutachten in Betracht. Die gerichtliche Beurteilung des erzieherischen Bedarfs eines Kindes, der Erziehungsfähigkeit der Eltern sowie der Art und Wahrscheinlichkeit eines möglichen Schadenseintritts wird in vielen, bei weitem aber nicht in allen Fällen die Einholung eines Sachverständigengutachtens erforderlich machen. Einzelne Mängel eines Gutachtens führen nicht ohne weiteres zur Verfassungswidrigkeit einer darauf beruhenden Entscheidung, soweit das Gericht in seiner Begründung die Mängel thematisiert, die fachliche Qualifikation des Sachverständigen näher klärt und nachvollziehbar darlegt, inwiefern Aussagen aus dem Gutachten gleichwohl verwertbar sind und zur Entscheidungsfindung beitragen können.⁹⁶ Selbst bei völliger Unverwertbarkeit einer sachverständigen Begutachtung hält eine Entscheidung verfassungsgerichtlicher Kontrolle stand, wenn sich das Vorliegen einer die Trennung von Kind und Eltern rechtfertigenden Kindeswohlgefährdung aus den Entscheidungsgründen auch ohne Einbeziehung der sachverständigen Aussagen hinreichend nachvollziehbar ergibt.⁹⁷

c) Spezifische Anforderungen im Eilverfahren Im Hinblick auf die hohe Intensität des mit einem Sorgerechtsentzug verbundenen Grundrechtseingriffs gelten die strengen verfassungsrechtlichen Anforderungen des Art. 6 Abs. 3 GG auch für fachgerichtliche Eilentscheidungen. Das bedeutet allerdings nicht, dass die für eine Entscheidung im Hauptsacheverfahren geltenden Anforderungen an die Ausermittlung des Sachverhalts und die Sicherheit der gerichtlichen Tatsachenfeststellungen hier in demselben Maß gelten würden. Vielmehr besteht bei Entscheidungen im einstweiligen Anordnungsverfahren die auch aus anderen Bereichen des Gefahrenabwehrrechts bekannte Korrelation von Eingriffsschwere, Wert des Schutzguts, Schadensrisiko, Dringlichkeit und Prognosesicherheit, d. h. die Anforderungen an die Sachverhaltsermittlung sind umso höher, je geringer der möglicherweise eintretende

 BVerfGE 55, 171 (182); BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 19. August 2015 – 1 BvR 1084/15 –, juris, Rn. 19; Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 23. April 2018 – 1 BvR 383/18 –, juris, Rn. 18; stRspr.  BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Senats vom 27. April 2017 – 1 BvR 563/17 –, juris, Rn. 19.  BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Senats vom 27. April 2017 – 1 BvR 563/17 –, juris, Rn. 19; Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 19. November 2014 – 1 BvR 1178/14 –, juris, Rn. 35 f.

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Schaden des Kindes wiegt, in je größerer zeitlicher Ferne der zu erwartende Schadenseintritt liegt und je weniger wahrscheinlich dieser ist.⁹⁸ Verfassungsrechtlich entscheidend ist demnach, ob die zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung vorhandenen Erkenntnisse über Ausmaß und Wahrscheinlichkeit der Gefährdung bereits derart verdichtet waren, dass ein sofortiges Einschreiten auch ohne weitere gerichtliche Ermittlungen geboten war.⁹⁹

V. Die Grundrechte des Kindes in der Verfassungsbeschwerde 1. Prüfung der Grundrechte des Kindes im Verfassungsbeschwerdeverfahren Die Grundrechte des Kindes werden, sei es ausdrücklich, sei es als Bestandteil des verfassungsgerichtlichen Zentralbegriffs des Kindeswohls, in jedem Verfassungsbeschwerdeverfahren geprüft, das einen ein Kind betreffenden Hoheitsakt zum Gegenstand hat, insbesondere bei allen Verfassungsbeschwerden gegen familiengerichtliche Entscheidungen unter Beteiligung eines Kindes. Die Prüfungsstruktur und -reihenfolge hängt jedoch von der jeweiligen Fallkonstellation, insbesondere von der Person des Beschwerdeführers, ab. In der Mehrzahl der durch das Bundesverfassungsgericht zu entscheidenden Fälle handelt es sich um Verfassungsbeschwerden der Eltern, die sich gegen eine Fremdunterbringung ihres Kindes richten. Hier werden die Grundrechte des Kindes in der Regel auf der Ebene der Rechtfertigung eines Eingriffs in das Elternrecht geprüft.¹⁰⁰

2. Aktive Geltendmachung der Grundrechte des Kindes im Verfassungsbeschwerdeverfahren Kinder können auch selbst Beschwerdeführer im Verfassungsbeschwerdeverfahren sein. Das wirft unweigerlich Fragen nach der Vertretung des minderjähri-

 BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 7. April 2014 – 1 BvR 3121/13 –, juris, Rn. 23; Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 13. Juli 2017– 1 BvR 1202/17–, juris, Rn. 19.  BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 23. April 2018 – 1 BvR 383/18 –, juris, Rn. 18.  Britz, FamRZ 2015, 793 (794).

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gen Kindes im Verfahren und nach der selbstständigen Wahrnehmung der Grundrechte durch das Kind auf. Die sorgeberechtigten Eltern können gemeinsam als gesetzliche Vertreter im Namen des Kindes Verfassungsbeschwerde einlegen. Sie sind nicht automatisch wegen eines – nicht auszuschließenden – Interessenwiderstreits von der Vertretung des Kindes im Verfassungsbeschwerdeverfahren ausgeschlossen.¹⁰¹ Auch der Vormund ist als gesetzlicher Vertreter des Kindes zur Einlegung einer Verfassungsbeschwerde im Namen des Kindes berechtigt. Allein die gesetzliche Vertretung des Kindes ist jedoch nicht ausreichend, um in jedem Fall die Möglichkeit einer aktiven Geltendmachung der Grundrechte Minderjähriger zu gewährleisten. Auf Grund der sich aus Art. 6 Abs. 2 Satz 2 und Art. 2 Abs. 1 GG ergebenden Schutzpflichten ist der Staat indes auch in verfahrensrechtlicher Hinsicht verpflichtet ist, normative Regelungen zu schaffen, die eine hinreichende Berücksichtigung der grundrechtlichen Stellung des betroffenen Kindes garantieren.¹⁰² Bei einem Interessenkonflikt zwischen dem Kind und dem sorgeberechtigten Elternteil ist die ordnungsgemäße Vertretung des Kindes durch Bestellung eines Ergänzungspflegers sicher zu stellen.¹⁰³ Dies ist beispielsweise dann der Fall, wenn das Familiengericht von der Anordnung eines Sorgerechtsentzugs absieht oder einen solchen aufhebt, so dass das Kind im elterlichen Haushalt verbleibt oder in diesen zurückkehren soll, denn die Eltern haben in dieser Konstellation naturgemäß kein Interesse an einer verfassungsgerichtlichen Überprüfung der Entscheidung.¹⁰⁴ Ebenso kann die Bestellung eines Ergänzungspflegers bei widerstreitenden Interessen zwischen Pflegekind und Vormund¹⁰⁵ oder auch bei widerstreitenden Interessen der gemeinsam sorgeberechtigten Eltern¹⁰⁶ in Betracht kommen. Neben der Ergänzungspflegschaft stellt in verfahrensrechtlicher Hinsicht die Verfahrensbeistandschaft das wichtigste Institut zur Sicherstellung der aktiven Geltendmachung der Grundrechte von Kindern dar. Der Verfahrensbeistand ist im Rahmen seiner Bestellung befugt, im eigenen Namen aber im Interesse des  BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 23. Mai 2013 – 1 BvR 2059/12 –, juris, Rn. 14; anders noch BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 2. April 2009 – 1 BvR 683/09 –, juris, Rn. 8; Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 17. Juni 2009 – 1 BvR 467/ 09 –, juris, Rn. 15.  BVerfGE 55, 171 (179); 72, 122 (134).  BVerfGE 72, 122 (135 f.).  Vgl. BVerfGE 72, 122 (133 ff.); 75, 201 (214 f.).  BVerfGE 79, 51 (58); BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 13. Oktober 1994 – 1 BvR 1799/94 –, juris, Rn. 21.  BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 18. Juli 2006 – 1 BvR 1465/05 –, juris, Rn. 26.

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Kindes Verfassungsbeschwerde einzulegen.¹⁰⁷ Tatsächlich wird diese Möglichkeit in der verfassungsgerichtlichen Praxis auch in zunehmendem Umfang von Verfahrensbeiständen genutzt. Die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit der Nichtanordnung von kindesschutzrechtlichen Maßnahmen, die aus Sicht des Verfahrensbeistands zum Schutz des Kindes unerlässlich und daher durch den grundrechtlichen Schutzanspruch des Kindes geboten sind, erfolgt in diesen Fällen ausgehend von dem Schutzanspruch des Kindes.¹⁰⁸ Das Bundesverfassungsgericht hat darüber hinaus in eng begrenzten Ausnahmefällen auch die Erhebung einer Verfassungsbeschwerde durch Pflegeeltern oder durch einen lediglich mit-sorgeberechtigten Elternteil im Namen des Kindes für zulässig erachtet, wenn dem Kind unmittelbar ein ganz erheblicher Schaden drohte und die Bestellung eines Ergänzungspflegers zwar beantragt, in der Kürze der Zeit aber nicht zu erlangen war.¹⁰⁹ Ob das minderjährige Kind selbst Verfassungsbeschwerde gegen Entscheidungen, die seine Person betreffen, erheben kann, insbesondere ob die verfahrensrechtliche Altersgrenze des § 60 FamFG (früher § 59 FGG) von 14 Jahren hier entsprechend anzuwenden ist, brauchte das Bundesverfassungsgericht bislang nicht zu entscheiden.¹¹⁰ In der Literatur wird eine Verfassungsprozessfähigkeit Minderjähriger jedenfalls dann bejaht, wenn etwa mit der gesetzlichen Vertretung ein effektiver Rechtsschutz nicht möglich sei, weil es gerade die gesetzlichen Vertreter waren, gegen die sie ihre Interessen im fachgerichtlichen Verfahren durchsetzen wollten.¹¹¹

VI. Fazit Die Grundrechte von Kindern spielen in Verfassungsbeschwerdeverfahren, insbesondere solchen aus dem Bereich des Kindschaftsrechts, eine zentrale Rolle. Das Bundesverfassungsgericht hat zur Bestimmung des verfassungsrechtlichen

 BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 3. Februar 2017 – 1 BvR 2569/16 –, juris, Rn. 35; Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 30. April 2018 – 1 BvR 393/18 –, juris, Rn. 4.  Vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 3. Februar 2017 – 1 BvR 2569/ 16 –, juris, Rn. 37 ff.  BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 13. Oktober 1994 – 1 BvR 1799/94 –, juris, Rn. 21; Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 18. Juli 2006 – 1 BvR 1465/05 –, juris, Rn. 26.  Offen gelassen in: BVerfGE 72, 122 (133).  Hellmann, in: Barczak, BVerfGG, 1. Aufl. 2018, § 90 BVerfGG Rn. 90 m.w. N.

Der Status des Kindes

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Verhältnisses von Kindern, Eltern und Staat eine umfangreiche Dogmatik entwickelt, die nicht nur das Kindeswohl als zentralen Maßstab und Entscheidungskriterium enthält, sondern ausdrücklich auch auf die eigenen verfassungsmäßigen Rechte von Kindern abstellt. Diese stets ausreichend im Blick zu behalten, bleibt Aufgabe und Anspruch der familiengerichtlichen Praxis.

Philipp Wittmann

Die Rechtsfigur der „Polizeifestigkeit der Versammlung“ in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts – geklärte und ungeklärte Fragen Leitentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (Senat) BVerfGE 69, 315 – Brokdorf BVerfGE 104, 92 – Wackersdorf BVerfGE 122, 342 – Bayerisches Versammlungsgesetz (einstweilige Anordnung)

Wichtige Kammerentscheidungen BVerfGK 4, 154 – Spontanversammlung BVerfGK 11, 102 – Platzverweis, Versammlungsrecht BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 10. Dezember 2010 – 1 BvR 1402/06, juris – Unerlaubte Ansammlung, Platzverweis BVerfG, Nichtannahmebeschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 2. November 2016 – 1 BvR 289/15, juris – Blockupy Frankfurt

Schrifttum Bünnigmann, Polizeifestigkeit im Versammlungsrecht, JuS 2016, S. 695 ff.; Hettich, Platzverweis und Ingewahrsamnahme nach Auflösung der Versammlung, DÖV 2011, S. 954 ff.; Hong, Die Versammlungsfreiheit, in: Peters/Janz, Handbuch Versammlungsrecht, 2015, S. 27 ff.; Kötter/Nolte, Was bleibt von der „Polizeifestigkeit des Versammlungsrechts“?, DÖV 2009, S. 399 ff.; Schwabe, Desaster im Versammlungsrecht: Zwei irreführende Kammerentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, DÖV 2010, S. 720 ff.; Schwabe, Schlusswort: Replik auf Matthias Hettich, DÖV 2011, S. 961 ff.

Der Autor ist Richter am Verwaltungsgericht Karlsruhe, Wissenschaftlicher Mitarbeiter des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts (Dezernat BVR Prof. Dr. Masing) und Lehrbeauftragter an den Universitäten Freiburg i. Br. und Heidelberg. Für Anregungen, Hinweise und die kritische Lektüre sei Frau RinaVG Dr. Julia Sandner, Herrn RaVG Dr. Martin Diesterhöft und Herrn PD Dr. Mathias Hong herzlich gedankt. Die hier wiedergegebenen Auffassungen spiegeln ausschließlich die Auffassung des Verfassers wider. https://doi.org/10.1515/9783110599916-010

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Inhalt I. Einleitung 179 II. Einschlägige Senatsrechtsprechung 181 . BVerfGE ,  – Brokdorf () 181 . BVerfGE ,  – Wackersdorf () 182 . BVerfGE ,  – Bayerisches Versammlungsgesetz (einstweilige Anordnung) 183 183 III. Einschlägige Kammerrechtsprechung . BVerfGK ,  – Spontanversammlung () 184 185 . BVerfGK ,  – Platzverweis, Versammlungsrecht () . BVerfG, Beschluss der . Kammer des Ersten Senats vom . Dezember  –  BvR / – Unerlaubte Ansammlung, Platzverweis 185 . BVerfG, Beschluss der . Kammer des Ersten Senats vom . November  –  BvR / – Blockupy Frankfurt 186 IV. Offene und geklärte Fragen 186 . Herleitung des Grundsatzes der Polizeifestigkeit der Versammlung 187 a) Mögliche Begründungsansätze 187 aa) Polizeifestigkeit der Versammlung als Anwendungsfall des allgemeinen „lex 187 specialis“-Grundsatzes bb) Polizeifestigkeit der Versammlung als Anwendungsfall des kompetenziellen Spezialitätsgrundsatzes 188 cc) Verfassungsunmittelbare Herleitung des Grundsatzes der Polizeifestigkeit der Versammlung 190 b) Bedeutung der Begründungsansätze in der Rechtsprechung des 191 Bundesverfassungsgerichts aa) BVerfGK ,  – Spontanversammlung () 192 bb) BVerfGK ,  – Platzverweis, Versammlungsrecht () 193 cc) BVerfG, Beschluss der . Kammer des Ersten Senats vom . Dezember  –  BvR / – Unerlaubte Ansammlung, Platzverweis 197 dd) Nichtannahmebeschluss vom . November  –  BvR / – Blockupy Frankfurt 198 c) Zwischenfazit zum Stand der Rechtsprechung 200 . Geltungsbereich der Sperrwirkung des Versammlungsrechts 201 a) Sperrwirkung gegenüber polizeirechtlichen Eingriffsermächtigungen 201 b) Keine Sperrwirkung gegenüber materiellen Strafrechtsnormen 202 c) Keine Sperrwirkung gegenüber Eingriffsnormen der Strafprozessordnung 202 d) Ungesicherter Stand der Rechtsprechung zu nicht versammlungsspezifischen 204 Gefahren . Umfang der Sperrwirkung in sachlicher Hinsicht 207 a) BVerfGK ,  – Spontanversammlung () 207 b) BVerfGK ,  – Platzverweis, Versammlungsrecht () 208 c) BVerfG, Beschluss der . Kammer des Ersten Senats vom . Dezember  –  BvR / – Unerlaubte Ansammlung, Platzverweis 210 d) Bewertung 210 . Durchbrechung der Sperrwirkung durch sog. „Minusmaßnahmen“? 213 a) BVerwGE ,  213 b) Keine Billigung der Rechtsfigur durch die „Brokdorf“-Entscheidung 213

Die Rechtsfigur der „Polizeifestigkeit der Versammlung“

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c) Teilweise Unvereinbarkeit mit der Kammerrechtsprechung 214 d) Bewertung 216 . Exkurs: Umdeutung teilnahmebeschränkender Maßnahmen in eine Auflösungs- oder Ausschlussverfügung? 217 218 a) BVerfGK ,  – Spontanversammlung () b) BVerfGK ,  – Platzverweis, Versammlungsrecht () 218 c) Bewertung 218 . Durchbrechung der Sperrwirkung durch Vollstreckung von Auflagen? 220 220 a) BVerfGK ,  – Spontanversammlung () b) BVerfGK ,  – Platzverweis, Versammlungsrecht () 221 c) BVerfGE ,  – Bayerisches Versammlungsgesetz (einstweilige Anordnung) 221 d) Bewertung 222 V. Fazit 224

I. Einleitung Die Rechtsfigur der „Polizeifestigkeit der Versammlung“, die Grenzen der Zulässigkeit des Rückgriffs auf Ermächtigungsgrundlagen des allgemeinen Polizeirechts für Eingriffe in das laufende Versammlungsgeschehen beschreibt, gehört als solche zum seit Jahrzehnten gesicherten Bestand in rechtswissenschaftlicher Literatur und verwaltungsgerichtlicher Rechtsprechung.¹ Bei näherem Hinsehen zeigt sich jedoch, dass die vom Bundesverwaltungsgericht im Jahr 2010 kühn aufgestellte These, dass die Frage nach dem Umfang der Sperrwirkung des Versammlungsrechts gegenüber allgemeinen polizeirechtlichen Eingriffsnormen „in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungs- und des Bundesverfassungsgerichts geklärt“ sei,² einer kritischen Betrachtung jedenfalls aus verfassungsrechtlicher Perspektive kaum standhalten kann: So fällt zunächst auf, dass die Rechtsfigur der „Polizeifestigkeit der Versammlung“ in der Senatsrechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bislang keine³ und in der Kammerrechtsprechung auch nur vereinzelt Erwähnung gefunden hat, ohne dass eine umfassende Herleitung

 Vgl. Hettich, DÖV 2011, S. 954 (956). Vgl. auch schon Ott, VersG, 4. Aufl. 1983, Einf. Rn. 16 („allgemein anerkannter Grundsatz“) sowie Wittmann, in: Ridder/Breitbach/Deiseroth, Versammlungsrecht, 2. Aufl., § 15 VersammlG, Rn. 16 f. zu historischen Ursprüngen des Grundsatzes vor Inkrafttreten des Grundgesetzes bzw. des Versammlungsgesetzes des Bundes.  BVerwG, Beschluss vom 16. November 2010 – 6 B 58/10 –, juris, Rn. 5 (zur Frage der Sperrwirkung gegenüber Maßnahmen zur Abwehr nicht versammlungsspezifischer Gefahren).  Unten II.

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und Konturierung der Rechtsfigur aus verfassungsrechtlicher Sicht erfolgt wäre.⁴ Da auch eine der jüngeren Leitentscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts keiner verfassungsgerichtlichen Sachprüfung unterlag⁵ und eine in der Rechtsprechung als Beleg für die Möglichkeit der Durchbrechung des Grundsatzes der Polizeifestigkeit der Versammlung herangezogene Leitentscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts⁶ vier Jahre älter ist als der für das Versammlungsrecht grundlegende Brokdorf-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts,⁷ erweist sich die Frage nach den verfassungsrechtlichen Grundlagen und wesentlichen Dimensionen des Grundsatzes der „Polizeifestigkeit der Versammlung“ vielmehr als in weiten Teilen ungeklärt.⁸ Der mittlerweile dritte spezifisch dem Versammlungsrecht gewidmete Beitrag zu „Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts“ soll daher – in Ergänzung der bereits erschienenen Beiträge von Mathias Hong zur „Versammlungsfreiheit in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts“⁹ und von Thomas Hammer und Richard Wiedemann zum „Grundrecht auf Versammlungsfreiheit“¹⁰ – aufzeigen, inwieweit die Rechtsfigur der „Polizeifestigkeit des Versammlungsrechts“ auf „Linien“ in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zurückgeführt werden kann, welche Schlussfolgerungen die einschlägigen Entscheidungen erlauben und bzw. inwieweit weiter Klärungsbedarf für den Senat, die Kammer oder – soweit es sich letztlich um Fragen des einfachen Rechts handelt – die fachgerichtliche Rechtsprechung besteht.¹¹

 Vgl. nur BVerfGK 4, 154, BVerfGK 11, 102 und BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 10. Dezember 2010 – 1 BvR 1402/06 –, juris. Vgl. hierzu unten III.  Eine Verfassungsbeschwerde gegen den Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 16. November 2011 (Fn. 2) wurde ohne Begründung nicht zur Entscheidung angenommen (BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 10. November 2011 – 1 BvR 3200/10 – [unveröffentlicht]). Eine Sachaussage über die verfassungsrechtliche Tragfähigkeit der angegriffenen Entscheidung ist mit der Nichtannahme jedoch nicht notwendigerweise verbunden, weil die Annahmegründe des § 93a Abs. 2 BVerfGG u. a. auch bei Unzulässigkeit der Verfassungsbeschwerde nicht vorliegen.  BVerwG, Beschluss vom 16. November 2010 – 6 B 58/10 –, juris, Rn. 6 verweist insoweit auf die Urteile vom 25. Juli 2007 (– 6 C 39/06 –, BVerwGE 129, 142), vom 23. März 1999 (– 1 C 12/97 – Buchholz 402.44 VersG Nr. 12) und vom 8. September 1981 (– I C 88.77 –, BVerwGE 64, 55).  BVerfGE 69, 315.  Unten V.  Hong, Die Versammlungsfreiheit in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, in: Rensen/Brink, Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, Band 1, 2009, S. 156 ff.  Hammer/Wiedemann, Grundrecht auf Versammlungsfreiheit, in: Becker/Lange, Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, Band 3, 2014, S. 219 ff.  Eine eigene Stellungnahme zu den Rechtsfragen soll an dieser Stelle bewusst weitgehend unterbleiben, da der Aufsatz spezifisch dem Stand der aktuellen Rechtsprechung gewidmet ist.

Die Rechtsfigur der „Polizeifestigkeit der Versammlung“

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II. Einschlägige Senatsrechtsprechung In der Rechtsprechung des für auf Art. 8 GG gestützte Verfassungsbeschwerden zuständigen Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts¹² wurden bislang u. a. Fragen der Verfassungsmäßigkeit einzelner Vorschriften des Versammlungsgesetzes,¹³ der Strafbarkeit von Sitzdemonstrationen bzw. Blockadeaktionen,¹⁴ der Zulässigkeit von Versammlungsverboten¹⁵ und des Rechtmäßigkeitszusammenhangs bei der Sanktionierung von Verletzungen versammlungsrechtlicher Ge- und Verbote¹⁶ behandelt. Die Zulässigkeit von Eingriffen in das Versammlungsrecht auf Grundlage nicht versammlungsspezifischer Ermächtigungsgrundlagen war jedoch – soweit ersichtlich – noch nicht unmittelbarer Gegenstand eines Senatsverfahrens,¹⁷ so dass es an direkt einschlägiger Senatsrechtsprechung fehlt.

1. BVerfGE 69, 315 – Brokdorf (1985) So enthält die sog. Brokdorf-Entscheidung, die als „Fundament“ der versammlungsrechtlichen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgericht verstanden werden muss,¹⁸ zwar die allgemeine Aussage, dass der Gesetzgeber „bei allen begrenzenden Regelungen […] die in Art. 8 GG verkörperte verfassungsrechtliche Grundentscheidung zu beachten“ habe, so dass er „die Ausübung der Versammlungsfreiheit nur zum Schutz gleichgewichtiger anderer Rechtsgüter unter strikter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit begrenzen“ dürfe.¹⁹ Bei der Auslegung und Anwendung der grundrechtsbeschränkenden Gesetze

Vergleiche hierzu aber demnächst Wittmann, in: Ridder/Breitbach/Deiseroth, Versammlungsrecht, 2. Aufl., § 15 VersammlG, Rn. 15 ff.  Vgl. zur Zuständigkeit § 14 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG sowie Spalte 3 der Gesamtübersicht über die originären Sachgebiete gem. I. 1. des Geschäftsverteilungsbeschlusses des Ersten Senats vom 1. Dezember 2017 für das Geschäftsjahr 2018.  BVerfGE 69, 315 (Brokdorf); BVerfGE 85, 69 (Eilversammlung).  BVerfGE 73, 206 (Sitzblockade I), BVerfGE 76, 211 (Sitzblockade II, General Bastian); BVerfGE 82, 236 (Startbahn West); BVerfGE 92, 1 (Sitzblockade III) und BVerfGE 104, 92 (Wackersdorf).  BVerfGE 124, 300 (Wunsiedel); BVerfGE 128, 226 (Fraport), BVerfGE 143, 161 (Tanzverbot).  BVerfGE 87, 399 (Versammlungsauflösung).  Vgl. zu den in BVerfGE 122, 342 (Bayerisches Versammlungsgesetz [eA]) enthaltenen Ausführungen allerdings unten II. 3. sowie IV. 6. c).  Vgl. Hong, Die Versammlungsfreiheit in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, in: Rensen/Brink, Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, Band 1, 2009, S. 156 ff.  BVerfGE 69, 315 (348 f.) = juris, Rn. 69.

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hätten die staatlichen Organe die grundrechtsbeschränkenden Gesetze zudem stets im Lichte der grundlegenden Bedeutung dieses Grundrechts auszulegen und sich bei ihren Maßnahmen auf das zum Schutz gleichwertiger Rechtsgüter Notwendige zu beschränken.²⁰ Im engeren Sinne entscheidungserheblich waren hier jedoch ausschließlich Vorschriften des Versammlungsgesetzes, so dass für weitergehende Aussagen zu Eingriffen auf Grundlage versammlungsrechtsfremder Ermächtigungsgrundlagen kein Anlass bestand.²¹ Zwar enthält die Entscheidung darüber hinaus die Wendung, dass „Verbot oder Auflösung […] als ultima ratio voraus[setzten], daß das mildere Mittel der Auflagenerteilung ausgeschöpft [sei]“. Angesichts des auf Eingriffstatbestände des Versammlungsrechts beschränkten Gegenstands der Entscheidung erscheint es jedoch fernliegend, dem in diesem Zusammenhang eher beiläufigen Hinweis auf eine Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts²² auch eine Aussage zur Polizeifestigkeit des Versammlungsrechts – oder gar eine Billigung der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur Möglichkeit der Durchbrechung der Sperrwirkung des Versammlungsrechts durch sog. „Minusmaßnahmen“ – entnehmen zu wollen.²³

2. BVerfGE 104, 92 – Wackersdorf (2001) Im Übrigen ist die Senatsrechtsprechung im Hinblick auf den Grundsatz der Polizeifestigkeit der Versammlung jedoch ebenso unergiebig, wie schon das weitgehende Fehlen von Nachweisen zur Senatsrechtsprechung in der ersten einschlägigen Kammerentscheidung zeigt.²⁴ In BVerfGE 104, 92 (Wackersdorf) findet sich zwar der Hinweis, dass „die behördliche Entscheidung über die Versammlungsauflösung […] die Rechte und Pflichten der Versammlungsteilnehmer konkretisiere“ und „vor der Auflösung der Versammlung […] nicht in einer rechtsstaatlichen Anforderungen genügenden Weise festgestellt [sei], dass die

 BVerfGE 69, 315 (349) = juris, Rn. 70.  BVerfGE 69, 315 (349) = juris, Rn. 71.  Vgl. BVerfGE 69, 315 (353) = juris, Rn. 79: „So auch BVerwGE 64, 55“ (ohne spezifische Seitenangabe).  Vgl. unten IV. 4. b). So aber J.-P. Schneider, in: Epping/Hillgruber, GG, Art. 8 Rn. 41; Brenneisen/ Wilksen, Versammlungsrecht, S. 351; Schwabe, DÖV 2010, 720 (722).  BVerfGK 4, 154 zitiert zwar die Entscheidungen vgl. BVerfGE 69, 315 (342 ff., 350 f.) (Brokdorf), BVerfGE 85, 69 (74 f.) (Eilversammlung), BVerfGE 87, 399 (409) (Versammlungsauflösung) und BVerfGE 104, 92 (104, 105 f.) (Wackersdorf), verweist in ihrer zentralen Passage auf S. 158 ff. aber nur auf fachgerichtliche Rechtsprechung und Literaturfundstellen. Auch das BVerwG verweist im Beschluss vom 16. November 2010 – 6 B 58/10 –, juris, Rn. 6 nur auf die einschlägigen Kammerbeschlüsse.

Die Rechtsfigur der „Polizeifestigkeit der Versammlung“

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Versammlung nicht mehr unter dem Schutz des Art. 8 GG steh[e]“.²⁵ Die Passage betrifft allerdings die Notwendigkeit der Berücksichtigung der Versammlungsfreiheit bei Anwendung der Verwerflichkeitsklausel des § 240 Abs. 2 StGB²⁶ und lässt daher allenfalls mittelbare Schlüsse auf den Grundsatz der Polizeifestigkeit der Versammlung zu.²⁷

3. BVerfGE 122, 342 – Bayerisches Versammlungsgesetz (einstweilige Anordnung) Nichts anderes ergibt sich aus der im Nachgang zu den beiden – sogleich zu behandelnden²⁸ – Kammerentscheidungen der Jahre 2004²⁹ und 2007³⁰ ergangenen Senatsrechtsprechung: Zwar enthält die Entscheidung über die Aussetzung des Vollzuges einzelner Vorschriften der Neufassung des Bayerischen Versammlungsgesetzes im Wege einer einstweiligen Anordnung³¹ im Rahmen der Folgenabwägung bemerkenswerte Aussagen zur Möglichkeit der Vollstreckung versammlungsrechtlicher Auflagen;³² zur Frage der Polizeifestigkeit der Versammlung ist die – im Wesentlichen Bußgeldregelungen und die Zulässigkeit der Videoüberwachung von Versammlungen betreffende³³ – Entscheidung hingegen unergiebig.

III. Einschlägige Kammerrechtsprechung In der fachgerichtlichen Rechtsprechung werden zu Fragen der Polizeifestigkeit der Versammlung daher üblicherweise die Kammerentscheidungen BVerfGK 4, 154 und BVerfGK 11, 102 zitiert, wohingegen die weitere Kammerstattgabe vom

 BVerfGE 104, 92 (106) = juris, Rn. 50.  BVerfGE 104, 92 (108 ff.) = juris, Rn. 56 ff.  Vgl. Hong, Die Versammlungsfreiheit in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, S. 156, in: Rensen/Brink, Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, Band 1, 2009, S. 156 (180).  Unten III. 1., 2.  BVerfGK 4, 154.  BVerfGK 11, 102.  BVerfGE 122, 342.  Vgl. hierzu unten IV. 6. c).  BVerfGE 122, 342 (360, 362) = juris, Rn. 114, 117.

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10. Dezember 2010³⁴ weitgehend übersehen oder nicht als bedeutsam angesehen wird.³⁵ Daneben ist vor allem eine im Jahr 2016 ergangene Nichtannahmeentscheidung zur Blockupy-Demonstration in Frankfurt³⁶ von Bedeutung, obwohl – bzw. gerade weil – der Grundsatz der Polizeifestigkeit der Versammlung hier keine ausdrückliche Erwähnung findet.³⁷

1. BVerfGK 4, 154 – Spontanversammlung (2004) Gegenstand der – soweit ersichtlich³⁸ – ersten einschlägigen Kammerentscheidung war die Durchsetzung eines polizeilichen Platzverweises gegen den Teilnehmer einer Gegendemonstration durch Ingewahrsamnahme des Betroffenen.³⁹ Dieser hatte dabei – aus einer größeren Gruppe von Gegendemonstranten heraus – lautstark gegen einen Informationsstand der NPD protestiert, war deswegen zunächst des Platzes verwiesen und schließlich – aufgrund seiner Weigerung, den Platzverweis zu befolgen – in Gewahrsam genommen worden. Nachdem die ordentlichen Gerichte die auf Art. 17 Abs. 1 Nr. 2 bzw. Nr. 3 BayPAG a.F.⁴⁰ gestützte Maßnahme im Rahmen eines Antrags auf Feststellung der Rechtswidrigkeit der Freiheitsentziehung für rechtmäßig erklärt hatten, gab die 1. Kammer des Ersten Senats der Verfassungsbeschwerde statt: Das Landgericht habe verkannt, dass der Beschwerdeführer als Teilnehmer einer unangemeldeten Spontanversammlung unter dem Schutz des Versammlungsrechts gestanden habe. Da eine Auflösung der Versammlung nicht erfolgt sei und die Voraussetzungen für einen (ggf. konkludenten) Versammlungsausschluss nicht vorgelegen hätten, habe ein Platzverweis nicht auf Eingriffsnormen des allgemeinen Polizeirechts gestützt werden können. Die angegriffene Vollstreckungsmaßnahme sei daher rechtswidrig.⁴¹

 BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 10. Dezember 2010 – 1 BvR 1402/06 –, juris.  Vgl. z. B. BVerwG, Beschluss vom 16. November 2010 – 6 B 58/10 –, juris, Rn. 6.  BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 2. November 2016 – 1 BvR 289/15 –, juris.  Vgl. hierzu ausführlicher unten III. 4., IV. 1. b) dd) sowie IV. 2. c).  Das Bundesverfassungsgericht zitiert hier selbst nur fachgerichtliche Rechtsprechung und die einschlägige Literatur, aber keine Senats- oder Kammerrechtsprechung. Vgl. auch Hettich, DÖV 2011, S. 954 (956).  BVerfGK 4, 154 (154 ff.) = juris, Rn. 2 ff.  BayPAG in der Fassung vom 14.9.1990 (GVBl 1990, S. 397).  BVerfGK 4, 154 (157 ff.) = juris, Rn. 12 ff.

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2. BVerfGK 11, 102 – Platzverweis, Versammlungsrecht (2007) Der der zweiten Kammerentscheidung zur Polizeifestigkeit der Versammlung zugrundeliegende Sachverhalt betraf eine Verurteilung wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte im Zusammenhang mit einer weiteren Spontanversammlung.⁴² Der Beschwerdeführer war Teil einer Gruppe von Gegendemonstranten gewesen, deren Protest gegen eine Wahlveranstaltung unter Beteiligung des hessischen Innenministers unterbunden werden sollte. Nachdem der Beschwerdeführer die Herausgabe eines Megaphons verweigert hatte, kam es im Zuge der Beschlagnahme des Megaphons und der darauffolgenden Ingewahrsamnahme des Beschwerdeführers zu einem Handgemenge, bei dem der Einsatzleiter durch einen Fußtritt am Kopf verletzt wurde. Die 1. Kammer des Ersten Senats hob die Verurteilung wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte und gefährlicher Körperverletzung auf, da die Ingewahrsamnahme des Beschwerdeführers dessen Teilnahme an der Versammlung beendet habe, ohne dass die Versammlung aufgelöst oder der Beschwerdeführer auf versammlungsrechtlicher Grundlage von der Versammlung ausgeschlossen worden sei.⁴³

3. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 10. Dezember 2010 – 1 BvR 1402/06 – Unerlaubte Ansammlung, Platzverweis Auch die dritte Kammerentscheidung zur Polizeifestigkeit der Versammlung betraf Maßnahmen im Zusammenhang mit der Durchführung einer Gegendemonstration: Der Beschwerdeführer hatte sich in Begleitung von ca. 40 Gesinnungsgenossen entlang der Route einer angemeldeten Demonstration postiert, um – angetan mit Bomberjacke, Springerstiefeln und einschlägiger Szenekleidung – gegen die Inhalte der linksgerichteten Demonstration „Gesicht zu zeigen“.⁴⁴ Da der Wortführer der Gruppe den wiederholt ausgesprochenen polizeilichen Platzverweis zunächst missachtet hatte, wurde er vom Amtsgericht wegen Teilnahme an einer unerlaubten Ansammlung nach § 113 OWiG zu einer Geldbuße verurteilt. Die 1. Kammer des Ersten Senats hob die Entscheidung auf, da das Amtsgericht das Vorliegen einer Versammlung mit nicht tragfähigen Gründen verneint und

 BVerfGK 11, 102 (103 f., 108) = juris, Rn. 3 ff., 19.  BVerfGK 11, 102 (114) = juris, Rn. 40.  BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 10. Dezember 2010 – 1 BvR 1402/06 –, juris, Rn. 3 ff.

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infolgedessen verkannt habe, dass ein Platzverweis gegen nicht ausgeschlossene Teilnehmer der nicht aufgelösten Versammlung nicht auf Bestimmungen des allgemeinen Polizeirechts habe gestützt werden können.⁴⁵

4. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 2. November 2016 – 1 BvR 289/15 – Blockupy Frankfurt In der jüngsten einschlägigen Entscheidung hatte die 3. Kammer des Ersten Senats über die Rechtmäßigkeit einer polizeilichen Einkesselung von Versammlungsteilnehmern zum Zweck der Identitätsfeststellung nach strafprozessualen Vorschriften zu entscheiden. Die Kammer nahm die Verfassungsbeschwerde mangels Erfolgsaussichten⁴⁶ nicht zur Entscheidung an, da die angegriffenen Entscheidungen der Fachgerichte, die die Rechtmäßigkeit der ohne vorherige Auflösung der Versammlung erfolgten Maßnahmen bestätigt hatten, den Beschwerdeführer nicht in seinen Rechten verletzt hätten. Denn das unter Gesetzesvorbehalt stehende Grundrecht der Versammlungsfreiheit schließe es nicht aus, gegen Teile der Versammlung repressive Maßnahmen der Strafverfolgung zu ergreifen, solange sich die Maßnahmen auf das zum Schutz gleichwertiger Rechtsgüter Notwendige beschränkten. Diesen Maßgaben würden die angegriffenen Entscheidungen gerecht.⁴⁷

IV. Offene und geklärte Fragen Schon die geringe Anzahl der einschlägigen Judikate lässt – nicht minder als die relative Kürze der unmittelbar einschlägigen Passagen – daran zweifeln, ob sämtliche verfassungsrechtliche Fragen des Grundsatzes der Polizeifestigkeit der Versammlung als geklärt angesehen werden können. Dieser Eindruck wird durch eine nähere Analyse des sachlichen Gehalts der einschlägigen Entscheidungen nicht zerstreut, sondern im Gegenteil weit überwiegend bestätigt.

 BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 10. Dezember 2010 – 1 BvR 1402/06 –, juris, Rn. 13 ff.  Vgl. zur hiervon unabhängigen Problematik der Grundsatzbedeutung unten V.  BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 2. November 2016 – 1 BvR 289/15 –, juris, Rn. 14.

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1. Herleitung des Grundsatzes der Polizeifestigkeit der Versammlung Von zentraler Bedeutung für das Verständnis der Rechtsfigur der „Polizeifestigkeit der Versammlung“ ist zunächst, ob diese unmittelbar dem Verfassungsrecht entspringt oder lediglich dem einfachen Gesetzesrecht zuzuordnen ist. Hierbei lässt der Umstand, dass die Kammer die in BVerfGK 4, 154, BVerfGK 11, 102 und dem Beschluss vom 10. Dezember 2010 angegriffenen fachgerichtlichen Entscheidungen jeweils unter Berufung auf einen Verstoß gegen den Grundsatz der Polizeifestigkeit der Versammlung aufgehoben hatte, noch keinen sicheren Schluss auf eine verfassungsunmittelbare Herleitung dieses Rechtsgrundsatzes zu: Zwar prüft das Bundesverfassungsgericht grundsätzlich nicht die Auslegung der einfachen Gesetze und deren Anwendung auf den einzelnen Fall, so dass eine Aufhebung fachgerichtlicher Entscheidung alleine wegen unrichtiger Anwendung einfachen Rechts nicht in Betracht kommt.⁴⁸ Jedoch kann die Verkennung der einfachgesetzlichen Ausgestaltung des Grundrechts zugleich eine Verletzung spezifischer Grundrechtspositionen begründen.⁴⁹ Von Interesse ist daher zunächst, welchen oder welche der denkbaren – sich nicht notwendigerweise ausschließenden – Begründungsansätze für den Grundsatz der Polizeifestigkeit der Versammlung das Bundesverfassungsgericht seinen bisherigen Entscheidungen zugrunde gelegt hat.

a) Mögliche Begründungsansätze aa) Polizeifestigkeit der Versammlung als Anwendungsfall des allgemeinen „lex specialis“-Grundsatzes Einfachgesetzlich lässt sich der Grundsatz der Polizeifestigkeit der Versammlung zunächst als Ausprägung des allgemeinen Spezialitätsgrundsatzes verstehen: Wo das einschlägige Fachrecht – hier also das Versammlungsgesetz des Bundes bzw. die teilweise an dessen Stelle getretenen Versammlungsgesetze der Länder – abschließende Sonderregelungen trifft, können allgemeinere Eingriffsgrundlagen keine ergänzende Anwendung finden.⁵⁰ Da Gefahrenabwehrmaß-

 BVerfGE 18, 85 (93); 30, 173 (196 f.); 57, 250 (272); 74, 102 (127); stRspr.  Sogleich Fn. 53 f.  So z. B. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 20. März 1986 – 1 S 2654/85 –, VBlBW 1986, 299 (304); VG Hamburg, VG Hamburg, Urteil vom 30. Oktober 1986 – 12 VG 2442/86 –, NVwZ 1987, 829 (831).Vgl. aus der Literatur u. a. Pieroth/Schlink/Kniesel, Polizei- und Ordnungsrecht, 9. Aufl. 2016, § 20 Rn. 14; Bünnigmann, JuS 2016, S. 695; Meßmann, JuS 2007, S. 524 (525).

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nahmen gegen (öffentliche) Versammlungen mithin in der Regel nicht auf Ermächtigungsgrundlagen des allgemeinen Polizeirechts gestützt werden können,⁵¹ aus verfassungsrechtlicher Sicht aber einer gesetzlichen Grundlage bedürfen,⁵² kann die Verkennung des einfachgesetzlich begründeten Spezialitätsverhältnisses ggf. zugleich eine Verletzung spezifischen Verfassungsrechts darstellen. Sie könnte daher gegebenenfalls selbst dann zur Aufhebung der jeweiligen Gerichtsentscheidung wegen Verletzung spezifischen Verfassungsrechts führen, wenn der Grundsatz der Polizeifestigkeit der Versammlung selbst nicht unmittelbar aus Art. 8 Abs. 1 GG hergeleitet werden könnte.⁵³ Dies gilt jedenfalls dann, wenn man – wie das Bundesverfassungsgericht⁵⁴ – die im Versammlungsgesetz besonders geregelten Voraussetzungen für beschränkende Maßnahmen als Ausprägungen des Grundrechts der Versammlungsfreiheit begreift.⁵⁵

bb) Polizeifestigkeit der Versammlung als Anwendungsfall des kompetenziellen Spezialitätsgrundsatzes Als weiterer Begründungsansatz kommt die grundgesetzliche Kompetenzverteilung in Betracht: Da Art. 74 Nr. 3 Alt. 2 GG a.F. eine konkurrierende Gesetzge Vgl. zum im Grundsatz abschließenden Charakter des Versammlungsgesetzes des Bundes im Hinblick auf öffentliche Versammlungen BVerwG, Urteil vom 23. März 1999 – 1 C 12/97 –, juris, Rn. 21 m.w. N. Tendenziell strenger noch Kniesel/Poscher, in: Lisken/Denninger, Handbuch des Polizeirechts, 5. Aufl. 2012, Kap. K Rn. 19, 28 ff.  Art. 8 Abs. 2, Art. 20 Abs. 3 GG.  Wollte man dies anders sehen, so ließen sich die verfassungsgerichtlichen Stattgabeentscheidungen tatsächlich wohl nur als Ausdruck eines unmittelbaren, von der einfachgesetzlichen Ausgestaltung des Versammlungsrechts unabhängigen Verfassungsranges des Grundsatzes der Polizeifestigkeit der Versammlung verstehen. Diese Auffassung wird von der weit überwiegenden Literatur jedoch nicht geteilt oder auch nur ernsthaft erwogen (unten Fn. 76); zudem müsste man Teile der Landesversammlungsgesetze der Länder, die – wie § 10 Abs. 2 NVersG oder § 9 Abs. 1, § 15 Abs. 1 VersFG SH – den Grundsatz der Polizeifestigkeit der Versammlung aufweichen, dann wohl als verfassungswidrig ansehen.  BVerfGK 4, 154 (158) = juris, Rn. 18.  Vgl. zur Möglichkeit der grundrechtlichen Aufladung verfassungsrechtlich nicht zwingend vorgeschriebener, aber einfachgesetzlich im Interesse effektiver Grundrechtsverwirklichung gewährleisteter Rechtspositionen BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 28. Juni 2014 – 1 BvR 1837/12 –, juris, Rn. 13 (Missachtung eines einfachgesetzlichen Richtervorbehalts), BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 25. Juni 2015 – 1 BvR 367/15 –, juris, Rn. 7 (Recht auf Durchführung einer einfachgesetzlich vorgeschriebenen mündlichen Verhandlung), BVerfGE 69, 615 (372) (Verkürzung einfachgesetzlicher Rechtspositionen, die allgemeine verfassungsrechtliche Prinzipien konkretisieren) sowie BVerfGE 65, 76 (90) und BVerfGE 96, 27 (39) zum Recht auf wirksame gerichtliche Kontrolle im Rahmen eines einfachgesetzlich eröffneten Instanzenzugs. Vgl. auch Nolte, NVwZ 2018, S. 521 (527) mit weiteren Beispielen.

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bungskompetenz des Bundes für die Sachmaterie des Versammlungsrechts begründete, von der der Bundesgesetzgeber – jedenfalls im Hinblick auf versammlungsspezifische Gefahren öffentlicher Versammlungen⁵⁶ – durch Erlass des Versammlungsgesetzes vom 24. Juli 1953⁵⁷ grundsätzlich abschließend Gebrauch gemacht hatte,⁵⁸ kam die ergänzende oder alternative Anwendung landesrechtlicher Vorschriften auf im Versammlungsgesetz geregelte Sachverhalte nicht in Betracht.⁵⁹ Zwar ist der Kompetenztitel des Art. 74 Abs. 1 Nr. 3 Alt. 2 GG mit Inkrafttreten des Art. 74 GG i. d. F. vom 28. August 2006 (Föderalismusreform I)⁶⁰ entfallen, so dass das Argument einer kompetenziellen Spezialität in Zukunft an Bedeutung verlieren dürfte.⁶¹ In den 2004 und 2007 ergangenen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts konnte dies jedoch noch keine Berücksichtigung finden, da das erste Landesversammlungsgesetz erst am 1. Oktober 2008 in Kraft trat;⁶² überdies gilt das Versammlungsgesetz des Bundes bislang in den meisten Bundesländern – abgesehen von Bayern, Niedersachsen,⁶³ Sachsen,⁶⁴ SachsenAnhalt,⁶⁵ Schleswig-Holstein⁶⁶ – ganz oder zumindest teilweise⁶⁷ als Bundesrecht fort (Art. 125a Abs. 1 Satz 1 GG). Auch nach diesem Begründungsansatz kommt der Rechtsfigur der Polizeifestigkeit des Versammlungsrechts jedenfalls kein unmittelbarer Verfassungsrang zu: Zwar ist bei Anwendung einer Ermächtigungsgrundlage stets zu prüfen, ob diese mit der verfassungsrechtlichen Kompetenzordnung in Einklang steht,⁶⁸ die aus der Kompetenzordnung für den Einzelfall abzuleitende Rechtsfolge eines

 Vgl. BVerwG, Urteil vom 23. März 1999 – 1 C 12/97 –, juris, Rn. 20 f.; Beschluss vom 16. November 2010 – 6 B 58/10 –, juris, Rn. 6.  BGBl. I, S. 684 ff.  BVerwG, Urteil vom 23. März 1999 – 1 C 12/97 –, juris, Rn. 20 f.; Kniesel/Poscher, in: Lisken/ Denninger, Handbuch des Polizeirechts, 5. Aufl. 2012, Kap. K Rn. 18; Enders/Koll, AL 2016, S. 187, 190 f.  Vgl. zu diesem Begründungsansatz BVerwG, Beschluss vom 14. Januar 1987 – 1 B 219/86 –, juris, Rn. 10 sowie Kötter/Nolte, DÖV 2009, S. 399 (401).  BGBl. I, S. 2034.  Kötter/Nolte, DÖV 2009, S. 399 (401).  Bayerisches Versammlungsgesetz vom 22. Juli 2008 (GVBl. S. 421).  Niedersächsisches Versammlungsgesetz vom 7. Oktober 2010 (Nds. GVBl, S. 465, ber, S. 532).  Gesetz über Versammlungen und Aufzüge im Freistaat Sachsen vom 25. Januar 2012 (GVBl, S. 54).  Landesversammlungsgesetz Sachsen-Anhalt vom 3. Dezember 2009 (GVBl. LSA S. 558).  Versammlungsfreiheitsgesetz Schleswig-Holstein vom 18. Juni 2015 (GVOBl. Schl.-H, S. 135).  Vgl. die auf die Ersetzung von § 19a VersG beschränkte Teilregelung des Berliner Gesetzes über Aufnahmen und Aufzeichnungen von Bild und Ton bei Versammlungen unter freiem Himmel und Aufzügen vom 23. April 2013 (GVBl, S. 103).  Vgl. BVerfGE 6, 32 (41) = juris, Rn. 34.

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Vorrangs der Bundesregelungen vor den landesrechtlichen Regelungen des Gefahrenabwehrrechts beruht jedoch letztlich auf der einfachrechtlichen Ausgestaltung des Versammlungsrechts und vermag ein grundrechtsunmittelbares – d. h. von der einfachgesetzlichen Ausgestaltung des Fachrechts unabhängiges – Gebot der Polizeifestigkeit der Versammlung nicht zu begründen.⁶⁹

cc) Verfassungsunmittelbare Herleitung des Grundsatzes der Polizeifestigkeit der Versammlung Eine verfassungsunmittelbare Herleitung des Grundsatzes der Polizeifestigkeit der Versammlung könnte demgegenüber unmittelbar an den Funktionen ansetzen, die die Rechtsprechung der Auflösung der Versammlung beigemessen hat: Diese dient nicht nur dazu, die Rechte und Pflichten der Versammlungsteilnehmer zu konkretisieren und in einer rechtsstaatlichen Anforderungen genügenden Weise festzustellen, dass die Versammlung nicht mehr unter dem Schutz des Art. 8 GG steht,⁷⁰ sondern soll auch der Polizei in besonderem Maße Anlass geben, sich über das Ziel ihrer Maßnahmen Rechenschaft zu geben und die rechtlichen Voraussetzungen des Ausschlusses zu bedenken.⁷¹ Tatsächlich hatte etwa das VG Stuttgart in einer jüngeren Entscheidung aus der zentralen Bedeutung der Versammlungsfreiheit in der Demokratie eine Sperrwirkung des Versammlungsrechts auch gegenüber strafprozessualen Maßnahmen hergeleitet, soweit diese sich gegen von der Versammlungsfreiheit geschütztes Verhalten richten.⁷² Mit dieser sei es unvereinbar, die Strafprozessordnung zu einem Instrument der Einschränkung der Versammlungsfreiheit „umzufunktionieren“, das – anders als die präventiven Ermächtigungsgrundlagen des allgemeinen Polizeirechts – auch schon vor Auflösung der Versammlung bzw. dem Ausschluss des betroffenen Versammlungsteilnehmers zur Verfügung stehe.⁷³ In vergleichbarer Weise hatte das OVG des Saarlandes dem Vorrang des Versammlungsgesetzes in einer älteren Entscheidung einen „materiellen Hintergrund“ beigemessen und hierzu ausgeführt, dass diese Rechtsfigur dem Zweck

 Vgl. Kötter/Nolte, DÖV 2009, 399 (400), die allerdings dennoch zwischen einem „verfassungsrechtlichen“ (kompetenziellen) und einem „verwaltungsrechtlichen“ (auf den allgemeinen Spezialitätsgrundsatz gestützten) Begründungsansatz unterscheiden.  BVerfGE 104, 92 (106) = juris, Rn. 50.  BVerfGK 11, 102 (116) = juris, Rn. 47. Vgl. zu aus der Wesentlichkeitslehre in Verbindung mit dem Zitiergebot abzuleitenden weitergehenden Anforderungen aber Wittmann, in: Ridder/Breitbach/Deiseroth, Versammlungsrecht, 2. Aufl., § 15 VersammlG, Rn. 25 ff.  VG Stuttgart, Urteil vom 12. Juni 2014 – 5 K 808/11 –, juris, Rn. 38.  Vgl. VG Stuttgart, Urteil vom 12. Juni 2014 – 5 K 808/11 –, juris, Rn. 38 f.

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diene, „den Schutz[bereich] des Grundrechts auf Versammlungsfreiheit nach Art. 8 GG besonders zu sichern“, der erst mit förmlicher Auflösung der Versammlung entfalle.⁷⁴ Das OVG Nordrhein-Westfalen hatte schließlich in einem Eilbeschluss erwogen, die Sperrwirkung des Versammlungsrechts auch auf Maßnahmen nach der StPO zu erstrecken, sich aber letztlich mit der Feststellung begnügt, dass Maßnahmen nach der StPO (konkret: die Einkesselung einer Versammlung zum Zweck der Identitätsfeststellung) „mit Blick auf die verfassungsrechtlich geschützte Versammlungsfreiheit und den rechtsstaatlichen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nur in besonders gelagerten Ausnahmefällen in Betracht [kämen]“.⁷⁵ Auch in der Literatur wird teilweise angenommen, dass der hohe Rang der Versammlungsfreiheit grundsätzlich besondere, auf die Anforderungen des Versammlungsgrundrechts zugeschnittene Gewährleistungs- und Beschränkungsregelungen verlange, die dem Vorrang der Eigenverantwortung der Grundrechtsträger und der strikten Subsidiarität des behördlichen Eingreifens Rechnung trügen.⁷⁶ Auch der Gesetzgeber dürfe einen Rückgriff auf die Instrumentarien des allgemeinen Polizeirechts deshalb nur insoweit vorsehen, als dadurch der besondere Freiheitsschutz für Versammlungen nicht in Frage gestellt werde.⁷⁷

b) Bedeutung der Begründungsansätze in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Nachfolgend soll nunmehr untersucht werden, inwieweit das Bundesverfassungsgericht seine Rechtsprechung zum Grundsatz der Polizeifestigkeit der Versammlung tatsächlich auf einen oder mehrere der o.g. Begründungsansätze gestützt hat bzw. sich zumindest Ansätze entsprechender Begründungsversuche in der Kammerrechtsprechung finden.

 OVG des Saarlandes, Urteil vom 27. Oktober 1988 – 1 R 169/86 –, juris, Rn. 31.  OVG NRW, Beschluss vom 2. März 2001 – 5 B 273/01 –, juris, Rn. 23.  Hong, in: Peters/Janz, Handbuch Versammlungsrecht, 2015, Teil B I., Rn. 88; ähnlich Hoffmann-Riem, in: Merten/Papier, HGR IV, § 106 Rn. 101 ff. Gegen eine verfassungsunmittelbare Herleitung des Grundsatzes der Polizeifestigkeit der Versammlung aber z. B. Neuner, Zulässigkeit und Grenzen polizeilicher Verweisungsmaßnahmen, 2003, S. 193; Hettich, Versammlungsrecht in der Praxis, 2. Aufl. 2018, Rn. 41; Zeitler, Grundriss des Versammlungsrechts, 2015, Rn. 385; Depenheuer, in: Maunz-Dürig, Grundgesetz, Art. 8 Rn. 138 (78. EL 2016); J.-P. Schneider, in: Epping/ Hillgruber, GG, Art. 8 Rn. 40; Kniesel, NJW 2000, S. 2857 (2863, Fn. 84); Bünnigmann, JuS 2016, S. 695 (697).  Hong, in: Peters/Janz, Handbuch Versammlungsrecht, 2015, Teil B I., Rn. 88; ähnlich Hoffmann-Riem, in: Merten/Papier, HGR IV, § 106 Rn. 101 ff.

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aa) BVerfGK 4, 154 – Spontanversammlung (2004) In seiner ersten Entscheidung zur Polizeifestigkeit der Versammlung hatte die 1. Kammer des Ersten Senats zunächst – wenngleich unter Berufung auf den verfassungsrechtlichen Gesetzesvorbehalt – in der Sache rein einfachrechtlich argumentiert und dabei – unter Bezugnahme auf Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, des OVG Bremen, des VGH Baden-Württemberg und eine Kommentierung zum Bayerischen Polizeirecht – festgestellt, dass das Versammlungsgesetz als Spezialgesetz dem allgemeinen Polizeirecht vorgehe und ein auf allgemeines Polizeirecht gegründeter Platzverweis folglich ausscheide, solange der Anwendungsbereich des Versammlungsgesetzes eröffnet sei.⁷⁸ Bemerkenswert erscheint in diesem Zusammenhang insbesondere, dass die hier zunächst in Bezug genommene Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts den Vorrang des Versammlungsrechts auf den kompetenziellen Spezialitätsgrundsatz – d. h. das Vorliegen einer abschließenden Regelung der Sachmaterie „Versammlungsrecht“ im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung – gestützt hatte,⁷⁹ während das vom Bundesverwaltungsgericht bestätigte OVG Bremen zur Begründung auf Literaturfundstellen und eine Entscheidung des VGH Baden-Württemberg verwiesen hatte, die jeweils auf dem allgemeinen „lex specialis“-Grundsatz fußten.⁸⁰ Da die Kammer ergänzend auf weitere Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts und des VGH Baden-Württemberg verweist, die den Vorrang des Versammlungsrechts jeweils auf den allgemeinen Spezialitätsgrundsatz gestützt hatten,⁸¹ dürfte sie hier ebenfalls diesem Begründungsansatz gefolgt sein. Da die Entscheidung sämtliche der vorgenannten Entscheidungen allerdings nur mittelbar („vgl.“) in Bezug nimmt und die einzige von der Kammer zitierte Literaturfundstelle⁸² keine nähere Begründung für die Sperrwirkung des Versammlungsgesetzes enthält, wird aus der ersten einschlägigen

 BVerfGK 4, 154 (158) = juris, Rn. 18.  BVerwG, Beschluss vom 14. Januar 1987 – 1 B 219/86 –, juris, Rn. 10.  OVG Bremen, Urteil vom 4. November 1986 – 1 BA 15/86 –, NVwZ 1987, 235 (235 f.) unter Verweis auf VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 20. März 1986 – 1 S 2654/85 – VBlBW 1986, 299 (304) sowie Dietel/Gintzel, Demonstrations- und Versammlungsrecht, 8. Aufl. 1985, § 13 Rn. 39; Ott, VersG, 4. Aufl. 1983, Einf. Rn. 16; Pieroth/Schlink, Grundrechte, 1985, Rn. 39. Dass auch die Entscheidung des VGH ausschließlich auf den lex-specialis-Grundsatz gestützt ist, wird insbesondere bei Auswertung der vom VGH zitierten weiteren Literatur (u. a. Schwäble, Das Grundrecht der Versammlungsfreiheit, 1975, S. 175; Brohm, JZ 1985, S. 501 [508 f.]) deutlich.  BVerwGE 82, 34 (38); VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 26. Januar 1998 – 1 S 3280/96 –, DVBl 1998, 837 (839) = juris, Rn. 39.  Schmidbauer, in: Schmidbauer/Steiner/Roese, Bayerisches Polizeiaufgabengesetz mit Polizeiorganisationsgesetz, 1999, Art. 16 PAG Rn. 32.

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Leitentscheidung letztlich nicht deutlich, ob diese nicht jedenfalls ergänzend auf den kompetenziellen Spezialitätsgrundsatz gestützt war. Daneben enthält die Entscheidung allerdings auch Indizien für eine verfassungsunmittelbare Herleitung des Grundsatzes der Polizeifestigkeit der Versammlung. So bezeichnete die Kammer die „im Vergleich zum allgemeinen Polizeirecht besonderen Voraussetzungen für beschränkende Maßnahmen“ zunächst als „Ausprägungen des Grundrechts der Versammlungsfreiheit“ und zog dies als zumindest verstärkendes Argument für die Spezialität des Versammlungsrechts gegenüber dem allgemeinen Polizeirecht heran.⁸³ An späterer Stelle führte die Kammer aus, dass „der Schutz der Versammlungsfreiheit [es] erforder[e], dass die Auflösungsverfügung, deren Nichtbefolgung nach § 26 VersG strafbewehrt [sei], eindeutig und nicht missverständlich formuliert [sei] und für die Betroffenen erkennbar zum Ausdruck bring[e], dass die Versammlung aufgelöst [sei]“.⁸⁴ Diese Formulierung ist allerdings nicht eindeutig, weil die Bezugnahme auf die einfachgesetzliche Strafnorm des § 26 VersG Bezüge zu strafrechtlichen Bestimmtheitsund Vorhersehbarkeitsanforderungen herstellt, die auf nicht strafbewehrte Sachverhalte nicht notwendigerweise entsprechende Anwendung finden müssen.⁸⁵ Letztlich bleibt daher unklar, ob und inwieweit das Bundesverfassungsgericht die Anwendung allgemeiner polizeirechtlicher Eingriffsnormen hier – auch unabhängig von strafrechtlichen Sanktionsdrohungen bzw. der einfachgesetzlichen Ausgestaltung des Versammlungsrechts – im Interesse der Rechtssicherheit und Vorhersehbarkeit des behördlichen Handelns von der vorherigen Auflösung der Versammlung bzw. dem vorherigen Ausschluss des Versammlungsteilnehmers abhängig machen wollte.⁸⁶

bb) BVerfGK 11, 102 – Platzverweis, Versammlungsrecht (2007) Nicht weniger ambivalent fällt die zweite einschlägige Kammerentscheidung aus: Die Entscheidung BVerfGK 11, 102 beginnt zunächst mit der unmittelbar auf BVerfGK 4, 154 und einzelne fachgerichtliche Entscheidungen gestützten

 BVerfGK 4, 154 (158) = juris, Rn. 18 („dementsprechend geht das Versammlungsgesetz als Spezialgesetz dem allgemeinen Polizeirecht vor“ [Hervorhebung durch den Verfasser]).  BVerfGK 4, 154 (159) = juris, Rn. 20.  Vgl. zum besonderen Eingriffsgewicht unmittelbar bußgeldbewehrter Pflichten der Versammlungsteilnehmer BVerfGE 122, 342 (362 f., 365) = juris, Rn. 119 f., 123 (eA zum bayerischen Versammlungsgesetz).  Vgl. zur „rechtsstaatlichen Funktion“ des Verwaltungsakts im Kontext des Versammlungsrechts BVerfGE 122, 342 (363 f.) = juris, Rn. 121 f. (eA zum bayerischen Versammlungsgesetz). Vgl. hierzu auch Hong, NJW 2009, S. 1458 (1458 f.).

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Rechtsbehauptung der Rechtswidrigkeit versammlungsbeendender Maßnahmen vor Auflösung der Versammlung bzw. vor Ausschluss des Teilnehmers von der Versammlung auf versammlungsrechtlicher Grundlage.⁸⁷ Eine unmittelbare Herleitung dieser These findet sich an dieser Stelle jedoch nicht. Auch die zitierten Fundstellen erweisen sich insoweit als zumindest uneindeutig: So handelt es sich bei der zitierten Entscheidung des OVG Bremen zwar um jene auch schon in der ersten Kammerentscheidung zitierte Entscheidung, die zur Begründung auf eine auf den „lex specialis“ gestützte Entscheidung des VGH Baden-Württemberg verwiesen hatte.⁸⁸ Letztere Entscheidung findet in der Kammerentscheidung jedoch ebenso wenig Erwähnung wie die auf den kompetenziellen Spezialitätsgrundsatz gestützte Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts, die noch in der ersten Kammerentscheidung zitiert worden war. Diese „Streichung“ kann dabei möglicherweise durchaus als bewusste Distanzierung von diesem Begründungsansatz des Bundesverwaltungsgerichts verstanden werden: Zwar bezieht sich die vom Bundesverfassungsgericht anschließend zitierte Entscheidung des OVG des Saarlandes in Randnummer 30 wiederum auf die vorgenannte Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts;⁸⁹ die Kammerentscheidung verweist jedoch – möglicherweise bewusst – nur auf die Randnummern 31 ff. der zitierten Entscheidung. In diesen geht das Oberverwaltungsgericht zwar implizit von der in Randnummer 30 festgestellten Geltung des Grundsatzes der Polizeifestigkeit der Versammlung aufgrund des (allgemeinen oder kompetenziellen)⁹⁰ Spezialitätsgrundsatzes aus, stützt diesen aber ergänzend auf materiell-grundrechtliche Erwägungen.⁹¹ Andeutungen einer solchen materiellrechtlichen Herleitung der Polizeifestigkeit der Versammlung finden sich schließlich auch in der ebenfalls zitierten Entscheidung des OVG NordrheinWestfalen, die sogar eine – mit einfachgesetzlichen Spezialitätserwägungen kaum begründbare⁹² – Sperrwirkung des Versammlungsrechts gegenüber Eingriffsgrundlagen der StPO in Erwägung gezogen hatte.⁹³

 BVerfGK 11, 102 (114) = juris, Rn. 40.  OVG Bremen, Urteil vom 4. November 1986 – 1 BA 15/86 –, NVwZ 1987, 235 (236) unter Verweis auf VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 20. März 1986 – 1 S 2654/85 – VBlBW 1989, 299.  Saarl. OVG, Urteil vom 27. Oktober 1988 – 1 R 169/86 –, juris, Rn. 30 unter Verweis auf BVerwG, Beschluss vom 14. Januar 1987 – 1 B 219/86 –.  Die Entscheidung ist insoweit unergiebig, weil sie wiederum sowohl auf BVerwG, Beschluss vom 14. Januar 1987 – 1 B 219/86 –, NJW 1988, 250 als auch auf OVG Bremen, Urteil vom 4. November 1986 – 1 BA 15/86 –, NVwZ 1987, 235 verweist.  Saarl. OVG, Urteil vom 27. Oktober 1988 – 1 R 169/86 –, juris, Rn. 31.  Siehe hierzu unten IV. 2. c).  OVG NRW, Beschluss vom 2. März 2001 – 5 B 273/01 –, juris, Rn. 23.

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Ob das Bundesverfassungsgericht sich diese materiellrechtlichen Begründungsansätze dabei zu eigen machte, ist der Entscheidung aber letztlich nicht zu entnehmen: So verweist der Beschluss zunächst nur auf Seite 315 der Entscheidung des OVG Nordrhein-Westfalen, dessen materiell-grundrechtliche Erwägungen sich aber ausschließlich auf Seite 316 der Entscheidung finden. Die Überlegungen des OVG des Saarlandes zum „materiellen Hintergrund“ des Vorrangs des Versammlungsrechts nimmt die Kammer allerdings sogar ausdrücklich in Bezug,⁹⁴ und gibt sie – wenn auch nur im Kontext der Prüfung der Anforderungen an eine ordnungsgemäße Versammlungsauflösung – sogar teilweise wortgleich wieder.⁹⁵ Derlei Ambiguitäten setzen sich in den weiteren Randnummern der Entscheidung fort: Zwar schließt sich unmittelbar an die Ausführungen zur Sperrwirkung des Versammlungsrechts der Hinweis an, dass „Art. 8 GG gebiete[…], diese für den Schutz des Grundrechtsträgers wesentlichen Förmlichkeiten nicht geringer zu gewichten als die Förmlichkeiten, deren Verletzung eine Bestrafung nach § 113 StGB in anderen Fällen ausschließ[e]“, da es sich „um Anforderungen der Erkennbarkeit und damit der Rechtssicherheit [handele], deren Beachtung für die Möglichkeit einer Nutzung des Grundrechts der Versammlungsfreiheit wesentlich [sei]“.⁹⁶ Indes spricht vieles dafür, dass diese Bezugnahme auf Erfordernisse der „Erkennbarkeit und […] Rechtssicherheit“ nicht der materiellgrundrechtlichen Abstützung des Grundsatzes der Polizeifestigkeit der Versammlung diente, sondern – wie auch schon in einer vergleichbaren Passage der Entscheidung BVerfGK 4, 154⁹⁷ – dem Umstand geschuldet ist, dass eine strafrechtliche Sanktionierung versammlungsbezogenen Verhaltens in Rede stand und (auch) nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts nur die Verletzung „wesentlicher Förmlichkeiten“ eine Bestrafung nach § 113 StGB (im konkreten Fall wegen der Gegenwehr gegen die vor dessen Ausschluss begonnene Ingewahrsamnahme eines Versammlungsteilnehmers) ausschließt.⁹⁸ Hierfür spricht auch die weitere Erläuterung, dass „in Versammlungen […] häufig Situationen rechtlicher und tatsächlicher Unklarheit [entstünden]“ und die Unsicherheit, ab wann der Schutz der Versammlungsfreiheit ende bzw. ob der einzelne Versammlungs-

 BVerfGK 11, 102 (114) = juris, Rn. 40 verweist ausdrücklich auf Rn. 31 ff. der nur bei juris veröffentlichten Entscheidung Saarl. OVG, Urteil vom 27. Oktober 1988 – 1 R 169/86 –.  BVerfGK 11, 102 (115 f.) = juris, Rn. 47 unter Verweis auf Saarl. OVG, Urteil vom 27. Oktober 1988 – 1 R 169/86 –, juris, Rn. 32 [gemeint ist wohl Rn. 34].  BVerfGK 11, 102 (114) = juris, Rn. 41.  Vgl. oben IV. 1. b) aa).  Dies betont auch einer der drei an der Entscheidung beteiligten Richter. Vgl. Papier, BayVBl 2010, S. 225 (232).

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teilnehmer wegen Verhaltens sanktioniert werden könne, das seiner Ansicht nach von der Versammlungsfreiheit geschützt sei, Versammlungsteilnehmer einschüchtern und von der Ausübung des Grundrechts abhalten könne.⁹⁹ Eine – bei einem von strafrechtlichen Sanktionen unabhängigen, weiteren Verständnis an sich naheliegendere – Bezugnahme auf eine allgemeiner formulierte Passage der Senatsentscheidung BVerfGE 104, 92¹⁰⁰ fehlt hingegen, so dass die Ausführungen der Kammer nicht notwendigerweise dahingehend verstanden werden können, dass Art. 8 Abs. 1 GG generell – d. h. unabhängig von einfachgesetzlichen Spezialitätserwägungen oder der einfachrechtlichen Ausgestaltung des Versammlungsrechts – aus Gründen der Rechtssicherheit eine Versammlungsauflösung bzw. einen Versammlungsausschluss fordert, bevor Zwangsmaßnahmen gegen Teilnehmer einer Versammlung ergriffen werden können. Für ein rein auf den Spezialitätsgrundsatz gestütztes Verständnis des Grundsatzes der Polizeifestigkeit der Versammlung sprechen schließlich auch die weiteren Ausführungen auf Seite 115 (juris, Rn. 43) der Entscheidung. Hier führt die Kammer aus, dass sich Maßnahmen der Gefahrenabwehr gegen Versammlungen nach dem Versammlungsgesetz richteten, das in seinem Anwendungsbereich als Spezialgesetz dem allgemeinen Polizeirecht vorgehe.¹⁰¹ Hieraus – d. h. nicht unmittelbar aus der Verfassung, sondern aus der grundrechtskonkretisierenden Ausgestaltung des einfachen Rechts – ergäben sich besondere Anforderungen für einen polizeilichen Zugriff auf Versammlungsteilnehmer, wohingegen eine auf allgemeines Polizeirecht gegründete Maßnahme, die das Recht zur Teilnahme an der Versammlung beschränke, aufgrund der Sperrwirkung der versammlungsgesetzlichen Regelungen ausscheide.¹⁰² Eher für eine verfassungsunmittelbare Herleitung spricht dann jedoch die Passage auf Seite 115 (Rn. 45) der Entscheidung: Die Kammer führt hier – insoweit zunächst unter Wiedergabe der ihrerseits allerdings uneindeutigen Passage aus BVerfGK 4, 154 – aus, dass „der Schutz der Versammlungsfreiheit [es] erforder[e], dass die Auflösungsverfügung eindeutig […] erkennbar zum Ausdruck bring[e], dass die Versammlung aufgelöst sei […]“. Dieses Erfordernis solle „den Beteiligten Klarheit darüber verschaffen, dass nunmehr der Grundrechtsschutz [entfalle].“ Die Auflösung sei „insofern eine förmliche Voraussetzung der Rechtmäßigkeit

 BVerfGK 11, 102 (114) = juris, Rn. 41.  Vgl. BVerfGE 104, 92 (107): „Die behördliche Entscheidung konkretisiert die Rechte und Pflichten der Versammlungsteilnehmer. Vor der Auflösung der Versammlung ist nicht in einer rechtsstaatlichen Anforderungen genügenden Weise festgestellt, dass die Veranstaltung nicht mehr unter dem Schutz des Art. 8 GG steht.“  BVerfGK 11, 102 (115) = juris, Rn. 43.  BVerfGK 11, 102 (115) = juris, Rn. 43.

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darauf aufbauender Handlung[en]“. Zum Ausschluss aus der Versammlung – als individualbezogenes Pendant zur Auflösung der Versammlung – ist schließlich ausgeführt, dass dieser besondere Bedeutung für die Sicherung der Versammlungsfreiheit zukomme, da ihre Notwendigkeit der Polizei Anlass gebe, sich über das Ziel ihrer Maßnahmen Rechenschaft zu geben und die rechtlichen Voraussetzungen des Ausschlusses zu prüfen, sie vor allem aber dazu diene, dem Teilnehmer bewusst werden zu lassen, dass der versammlungsrechtliche Schutz der Teilnahme ende. Ihm solle damit auch Gelegenheit gegeben werden, die Grundrechtsausübung ohne unmittelbaren Polizeizwang zu beenden.¹⁰³ Letztlich erweist sich daher auch die zweite einschlägige Kammerentscheidung als uneindeutig: Zwar spricht insbesondere die letztgenannte Passage eher für als gegen eine verfassungsunmittelbare Radizierung des Grundsatzes der Polizeifestigkeit der Versammlung. Da sich diese aber auch um bei verfassungskonformer Auslegung des einfachen Rechts zu beachtende Anforderungen an die Rechtmäßigkeit der – wiederum einfachgesetzlich vorgeschriebenen – Auflösungsverfügung statt um verfassungsunmittelbare Voraussetzungen für gegen Versammlungsteilnehmer gerichtete Einzelmaßnahmen handeln kann und die übrigen Passagen der Entscheidung eher für eine einfachgesetzliche Herleitung des Grundsatzes sprechen, kann eine eindeutige Aussage aus der Entscheidung nicht gewonnen werden.

cc) BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 10. Dezember 2010 – 1 BvR 1402/06 – Unerlaubte Ansammlung, Platzverweis Auch die dritte einschlägige Kammerentscheidung bietet insoweit keine Klarheit, da ihre Begründung keine Ausführungen zur Funktion der „Polizeifestigkeit der Versammlung“ enthält, die Kammer zum Beleg für die Rechtsfigur alleine BVerfGK 4, 154 heranzieht¹⁰⁴ und auf weitere Rechtsprechungs- oder Literaturnachweise verzichtet.¹⁰⁵ Zwar betont die Kammer erneut, dass es sich bei den im Versammlungsgesetz geregelten, im Vergleich zum allgemeinen Polizeirecht besonderen Voraussetzungen für beschränkende Verfügungen um Ausprägungen des Grundrechts der Versammlungsfreiheit handele, bringt aber zugleich wiederholt zum Ausdruck, dass die Polizeifestigkeit der Versammlung jedenfalls

 BVerfGK 11, 102 (115) = juris, Rn. 45.  Ein Verweis auf BVerfGK 11, 102 (115 f.) findet sich nur im Hinblick auf die Beendigung der Polizeifestigkeit der Versammlung durch Ausschluss- oder Auflösungsverfügung.  BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 10. Dezember 2010 – 1 BvR 1402/ 06 –, juris, Rn. 28.

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auch auf dem allgemeinen Spezialitätsgrundsatz beruht.¹⁰⁶ Ob die Versammlungsfreiheit neben der Beachtung der bereits im Brokdorf-Beschluss¹⁰⁷ – ohne Bezugnahme auf den Grundsatz der Polizeifestigkeit der Versammlung¹⁰⁸ – geforderten erhöhten Eingriffsschwellen auch die gesetzliche Normierung einer eindeutigen Zäsur zwischen versammlungsbezogenem Auflagenregime und teilnehmerbezogenem Eingriffsregime gebietet, wird aus der Entscheidung daher nicht deutlich, da der so verstandene Grundsatz der Polizeifestigkeit der Versammlung auch als Folge der derzeitigen einfachrechtlichen Ausgestaltung des Versammlungsrechts angesehen werden kann. Zwar führt das Gericht an späterer Stelle ergänzend aus, dass sich ein Rückgriff auf die Bestimmungen des allgemeinen Polizeirechts „aus Rücksicht auf die Versammlungsfreiheit“ verbiete;¹⁰⁹ auch dies kann jedoch allenfalls als Indiz für eine (auch) materiell-verfassungsrechtliche Herleitung des Grundsatzes der Polizeifestigkeit der Versammlung gewertet werden.

dd) Nichtannahmebeschluss vom 2. November 2016 – 1 BvR 289/15 – Blockupy Frankfurt Mittelbare Klarheit¹¹⁰ über die von der Kammer bevorzugte Herleitung des Grundsatzes der Polizeifestigkeit der Versammlung verschafft ausgerechnet eine Entscheidung aus dem Jahr 2016, die den Grundsatz der Polizeifestigkeit der Versammlung in ihrer Begründung – der Beschwerdeführer hatte sich hingegen zumindest im Hinblick auf in Betracht kommende polizeirechtliche Ermächtigungsgrundlagen ausdrücklich auf den Grundsatz der Polizeifestigkeit berufen¹¹¹ – überhaupt nicht erwähnt. Vielmehr führte die Kammer ohne weitere Erörterungen aus, dass „es die unter Gesetzesvorbehalt stehende Versammlungsfreiheit nicht [ausschließe], gegen Teile der Versammlung repressive Maßnahmen der Strafverfolgung zu ergreifen“, auch wenn „die staatlichen Organe […]

 BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 10. Dezember 2010 – 1 BvR 1402/ 06 –, juris, Rn. 28.  BVerfGE 69, 315 (352 f.).  Oben II. 1. sowie unten IV. 4. b).  BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 10. Dezember 2010 – 1 BvR 1402/ 06 –, juris, Rn. 30.  Lediglich mittelbare Klarheit auch insofern, als auch begründete Nichtannahmeentscheidungen nach § 93a BVerfGG keine rechtliche Bindungswirkung entfalten und daher allenfalls durch ihre Argumentationsführung faktisch überzeugen können (vgl. Graßhof, in: Maunz/ Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, 25. EL (März 2006), § 93a Rn. 47 f., 50 ff.).  BVerfG, Nichtannahmebeschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 2.11. 2016 – 1 BvR 289/15 –, juris, Rn. 9.

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die grundrechtsbeschränkenden Normen der StPO im Lichte der grundlegenden Bedeutung der Versammlungsfreiheit im freiheitlich demokratischen Staat auszulegen und sich bei ihren Maßnahmen auf das zu beschränken [hätten], was zum Schutz gleichwertiger Rechtsgüter notwendig [sei].¹¹²“ Zum Beleg dieser These zog die Kammer ausschließlich die Brokdorf-Entscheidung heran,¹¹³ die – wie dargelegt¹¹⁴ – im Hinblick auf den Grundsatz der Polizeifestigkeit der Versammlung unergiebig ist. Diese Knappheit der Begründung vermag dann unmittelbar zu überzeugen, wenn man den Grundsatz der Polizeifestigkeit der Versammlung alleine aus dem – allgemeinen oder kompetenziellen – Spezialitätsgrundsatz herleiten will. Denn insoweit bedarf es keiner näheren Begründung, dass gefahrenabwehrrechtliche Regelungen des Bundesrechts keine Sperrwirkung gegenüber ebenfalls dem Bundesrecht angehörenden strafprozessualen Ermächtigungsgrundlagen entfalten können.¹¹⁵ Hält man hingegen – wie z. B. in Teilen der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung¹¹⁶ und der Kommentarliteratur (nicht zuletzt vom für Versammlungsrecht zuständig gewesenen früheren Berichterstatter des Ersten Senats)¹¹⁷ zumindest teilweise vertreten¹¹⁸ und auch in vorangegangenen Kammerentscheidungen zumindest angedeutet¹¹⁹ – auch eine unmittelbar grundrechtliche Herleitung des Grundsatzes der Polizeifestigkeit der Versammlung¹²⁰ für möglich, so muss diese Knappheit der Begründung verwundern: Denn für die von der Ausübung des Versammlungsgrundrechts abschreckende Wirkung ist letztlich nicht von Bedeutung, ob sich der Versammlungsteilnehmer überraschend strafprozessualen oder gefahrenabwehrrechtlichen Eingriffsmaßnahmen  BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 2. November 2016 – 1 BvR 289/15 –, juris, Rn. 14.  BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 2. November 2016 – 1 BvR 289/15 –, juris, Rn. 14 unter Verweis auf BVerfGE 69, 315 (349).  Oben II. 1. sowie unten IV. 4. b).  Vgl. OLG München, Urteil vom 20. Juni 1996 – 1 U 3098/94 –, juris, Rn. 75 unter Verweis auf Meyer/Köhler, Das neue Demonstrations- und VersammlungsR, 3. Aufl. (1990), Art. 8 GG Nr. 5.Vgl. auch Deger, NVwZ 1999, S. 265 (267).  Oben Fn. 69 ff.  Hoffmann-Riem, in: Merten/Papier, HGR IV, § 106 Rn. 101 ff. BVR Prof. Dr. Hoffmann-Riem gehörte dem Ersten Senat vom 16. Dezember 1999 bis zum 2. April 2008 an und war zuständiger Berichterstatter u. a. für auf Art. 8 GG gestützte Verfassungsbeschwerden.  Vgl. hierzu oben Fn. 73.  Vgl. oben IV. 1. b) aa) – cc).  Genauer: Des Erfordernisses einer hinreichend deutlich erkennbaren Warnung, ab wann der besondere Schutz des Versammlungsgrundrechts endet und die Versammlungsteilnehmer individuelle Eingriffsmaßnahmen nach Maßgabe der allgemeinen Rechtsordnung gewärtigen müssen.

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ausgesetzt sieht. Da die Kammer die vom Beschwerdeführer zumindest angedeutete Problematik schwerlich vollständig übersehen haben kann, dürfte die Entscheidung vom 2. November 2016 letztlich als implizite Absage an eine unmittelbare grundrechtliche Herleitung des Grundsatzes der Polizeifestigkeit der Versammlung zu verstehen sein: Zwar erkennt die Kammer ausdrücklich an, dass der Schutz der Versammlungsfreiheit eine grundrechtsschonende Anwendung auch der strafprozessualen Ermächtigungsgrundlagen gebietet, hält darüber hinausgehende formale Schutzmechanismen aber schlussendlich nicht für erforderlich.¹²¹

c) Zwischenfazit zum Stand der Rechtsprechung Letztlich dürfte die in den vorausgehenden Kammerentscheidungen zumindest offen gebliebene Frage, ob der Grundsatz der Polizeifestigkeit der Versammlung auch verfassungsunmittelbar aus Art. 8 Abs. 1 GG hergeleitet werden kann, durch die Kammerentscheidung vom 2. November 2016 im negativen Sinne geklärt sein.¹²² Zwar entfaltet die Nichtannahmeentscheidung – als der Entscheidung über die Zulässigkeit und Begründetheit der Verfassungsbeschwerde vorgelagerte Entscheidung – keinerlei rechtliche Bindungswirkung.¹²³ Dass die Kammer das Vorliegen der Annahmevoraussetzungen jedoch verneinte, ohne den Annahmegrund der grundsätzlichen verfassungsrechtlichen Bedeutung (§ 93a Abs. 2 Nr. 1 BVerfGG) überhaupt zu erörtern,¹²⁴ spricht entscheidend dafür, dass die Kammer die Frage nach der „StPO-Festigkeit der Versammlung“ – und damit mittelbar auch die Möglichkeit einer verfassungsrechtlichen Herleitung der Polizeifestigkeit – als im negativen Sinne geklärt ansieht. Zugleich zeigt eine Auswertung der Kammerrechtsprechung, dass das Bundesverfassungsgericht den Grundsatz der Polizeifestigkeit der Versammlung zuvörderst aus dem allgemeinen Spezialitätsgrundsatz hergeleitet hat, wohingegen der insbesondere vom Bundesverwaltungsgericht angeführte kompetenzielle Spezialitätsgrundsatz zwar zumindest mittelbar zitiert wird, argumentativ aber allenfalls eine Nebenrolle spielt. Letzterer dürfte in der Praxis ohnehin an Be-

 BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 2. November 2016 – 1 BvR 289/15 –, juris, Rn. 14 f.  Eine solche materiell-grundrechtliche Radizierung verneinend u. a. auch Depenheuer, in: Maunz-Dürig, Grundgesetz, Art. 8 Rn. 138 (78. EL 2016).  Vgl. Graßhof, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, 25. EL (März 2006), § 93a Rn. 47 f., 50 ff.  Vgl. hierzu unten VI.

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deutung verlieren, da die Landesgesetzgeber zunehmend von ihrer durch Art. 125a Abs. 1 Satz 1 GG eröffneten Ersetzungsbefugnis Gebrauch machen und ein Landesversammlungsgesetz gegenüber Ermächtigungsgrundlagen des Landespolizeirechts jedenfalls in kompetenzieller Hinsicht keine Sperrwirkung entfalten kann.¹²⁵ Letztlich kann die Frage nach der Bedeutung des kompetenziellen Spezialitätsgrundsatzes für den Grundsatz der Polizeifestigkeit der Versammlung jedoch dahinstehen, da der auf Kompetenzüberlegungen gestützte Begründungsansatz die von der Kammerrechtsprechung jedenfalls gebilligte, auf den allgemeinen Spezialitätsgrundsatz gestützte Herleitung des Grundsatzes der Polizeifestigkeit der Versammlung nicht ausschließt und die Reichweite der Sperrwirkung nach beiden spezialitätsbezogenen Begründungsansätzen davon abhängt, inwieweit der Gesetzgeber das jeweilige Versammlungsrecht abschließend ausgestaltet hat.

2. Geltungsbereich der Sperrwirkung des Versammlungsrechts Mit der Frage nach dem Geltungsgrund des Grundsatzes der Polizeifestigkeit der Versammlung unmittelbar verknüpft ist die Frage danach, auf welche Regelungsbereiche sich die Sperrwirkung des Versammlungsrechts erstreckt.War diese Frage jedoch noch im Jahr 2014 umstritten oder zumindest ungeklärt, so darf sie – jedenfalls aus verfassungsrechtlicher Perspektive – infolge der Kammerentscheidung vom 2. November 2016 mittlerweile als weitgehend geklärt angesehen werden.

a) Sperrwirkung gegenüber polizeirechtlichen Eingriffsermächtigungen Eindeutig ist dabei zunächst, dass die Regelungen des Versammlungsrechts gegenüber Maßnahmen des Gefahrenabwehrrechts auf Grundlage des allgemeinen Polizeirechts – wenngleich in im Einzelnen unklarem Umfang¹²⁶ – Sperrwirkung entfalten. Gegenüber Versammlungsteilnehmern dürfen Maßnahmen wie der Platzverweis oder die Ingewahrsamnahme auf Grundlage allgemeiner polizeirechtlicher Eingriffsnormen daher nur ergehen, nachdem die Versammlung

 Vgl. zum zunehmenden Bedeutungsverlust des kompetenziellen Spezialitätsgrundsatzes im Versammlungsrecht schon Kötter/Nolte, DÖV 2009, S. 399 (401).  Unten III. 3.

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aufgelöst oder der einzelne Versammlungsteilnehmer auf versammlungsrechtlicher Grundlage von der Versammlung ausgeschlossen wurde.¹²⁷

b) Keine Sperrwirkung gegenüber materiellen Strafrechtsnormen Demgegenüber entfaltet das Versammlungsrecht keine Sperrwirkung gegenüber der Anwendung materieller Strafrechtsnormen. Zwar setzt z. B. eine Bestrafung wegen der Weigerung, sich unverzüglich von einer aufgelösten Versammlung zu entfernen, die Rechtmäßigkeit der Auflösungsverfügung voraus.¹²⁸ Im Übrigen kann das Verhalten eines Versammlungsteilnehmers aber auch dann nach allgemeinen Strafnormen sanktioniert werden, wenn die Versammlung nicht aufgelöst und der Versammlungsteilnehmer nicht von der Versammlung ausgeschlossen wurde.¹²⁹ Insoweit genügt es, die Normen des Strafrechts unter Beachtung der Wertentscheidungen der Grundrechte auszulegen und anzuwenden.¹³⁰

c) Keine Sperrwirkung gegenüber Eingriffsnormen der Strafprozessordnung Bis vor kurzem ungeklärt war hingegen die Frage, ob Maßnahmen gegen einzelne Versammlungsteilnehmer auf strafprozessualer Grundlage auch schon vor Auflösung der Versammlung bzw. ohne vorherigen Ausschluss des betroffenen Versammlungsteilnehmers ergehen können. Zwar hatte etwa das OLG München in einer Entscheidung aus dem Jahr 1996 festgestellt, dass das Versammlungsgesetz versammlungsbezogene Eingriffe auf Grundlage polizeirechtlicher Eingriffsbefugnisse zwar ausschließe, der lex specialis-Grundsatz der Anwendung strafprozessualer Maßnahmen gegenüber Versammlungsteilnehmern aber nicht entgegenstehe;¹³¹ auch in der – insoweit spärlichen – Literatur wurde eine „StPO-

 BVerfGK 11, 102 (114) = juris, Rn. 40; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 10. Dezember 2010 – 1 BvR 1402/06 –, juris, Rn. 28.  BVerfGE 87, 399 (408 ff.) = juris, Rn. 51 ff.  Vgl. BVerfGE 104, 92 (106 ff., 114) = juris, Rn. 50, 52 ff., 69 f.; Bünnigmann, JuS 2016, S. 695 (697).  BVerfGE 104, 92 (103, 111 f.) = juris, Rn. 38, 63.  OLG München, NJW-RR 1997, 297 (281) unter Verweis auf Meyer/Köhler, Das neue Demonstrations- und VersammlungsR, 3. Aufl. 2001, Art. 8 GG Nr. 5.

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Festigkeit der Versammlung“ überwiegend abgelehnt.¹³² In der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung galt die Rechtsfrage aber als ungeklärt,¹³³ zumal das OVG Nordrhein-Westfalen sie im Jahr 2001 ausdrücklich offen gelassen hatte.¹³⁴ Im Jahr 2014 entschied daraufhin das VG Stuttgart, dass die Sperrwirkung des Versammlungsrechts einer Anwendung strafprozessualer Eingriffsnormen gegenüber Versammlungsteilnehmern vor Auflösung der Versammlung aufgrund der grundlegenden Bedeutung der verfassungsrechtlich geschützten Versammlungsfreiheit – d. h. aus materiellrechtlichen Gründen – entgegenstehe, soweit das als strafbar angesehene Verhalten unter dem Schutz des Versammlungsgrundrechts stehe.¹³⁵ Nur so könne sichergestellt werden, dass die StPO z. B. bei demonstrativen Sitzblockaden nicht zu einem Instrument der Einschränkung der Versammlungsfreiheit umfunktioniert werden könne.¹³⁶ Diesem Ansatz hat die Kammerentscheidung vom 2. November 2016 aber wohl implizit den Boden entzogen. Zwar nahm die Kammer an, dass der grundsätzlichen Bedeutung der Versammlungsfreiheit im freiheitlich demokratischen Staat durch Auslegung der grundrechtsbeschränkenden Normen der StPO im Lichte der Versammlungsfreiheit und durch Beschränkung der Maßnahmen auf das zum Schutz gleichwertiger Rechtsgüter Notwendige Rechnung zu tragen sei;¹³⁷ eine formale Sperrwirkung des Versammlungsrechts gegenüber der Anwendung von Eingriffsmaßnahmen auf strafprozessualer Grundlage liegt hierin jedoch – unabhängig davon, ob das als strafbar angesehene Verhalten unter dem Schutz des Versammlungsgrundrechts steht – nicht.¹³⁸

 Vgl. Ullrich, Das Demonstrationsrecht, 2015, S. 385 ff.; Brenneisen/Wilksen, Versammlungsrecht, 4. Aufl. 2011, S. 362; Meyer/Köhler, Das neue Demonstrations- und VersammlungsR, 3. Aufl. 2001, Art. 8 GG Nr. 5; Knape/Kiworr, Allgemeines Polizei- und Ordnungsrecht für Berlin, 10. Aufl. 2009, S. 246; Deger, NVwZ 1999, S. 265 (267) m.w. N. Ähnlich auch Trurnit, Die Polizei 2010, S. 341 (345). Bünnigmann, JuS 2016, 695 (697) und Ullrich, Das Demonstrationsrecht, 2015, S. 385 bezeichnen dies sogar als „allgemeine“ bzw. „einhellige“ Ansicht, verkennen dabei aber die nachfolgend zitierte verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung.  So jedenfalls VG Stuttgart, Urteil vom 12. Juni 2014 – 5 K 808/11 –, juris, Rn. 37.  OVG NRW, Beschluss vom 2. März 2001 – 5 B 273/01 –, juris, Rn. 23.  VG Stuttgart, Urteil vom 12. Juni 2014 – 5 K 808/11 –, juris, Rn. 38; ähnlich später VG Karlsruhe, Urteil vom 13. Februar 2015 – 4 K 395/13 –, juris, Rn. 45.  VG Stuttgart, Urteil vom 12. Juni 2014 – 5 K 808/11 –, juris, Rn. 38.  BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 2. November 2016 – 1 BvR 289/15 –, juris, Rn. 14.  Vgl. zu aus dem Wesentlichkeitsgrundsatz abzuleitenden Anforderungen an strafprozessuale Eingriffsermächtigungen aber Wittmann, in: Ridder/Breitbach/Deiseroth, Versammlungsrecht, 2. Aufl., § 15 VersammlG, Rn. 53.

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d) Ungesicherter Stand der Rechtsprechung zu nicht versammlungsspezifischen Gefahren Nicht gesichert ist hingegen die Rechtsprechung zur Frage, inwieweit der Grundsatz der Polizeifestigkeit der Versammlung der Bekämpfung nicht versammlungsspezifischer Gefahren auf Grundlage allgemeiner Gefahrenabwehrermächtigungen entgegensteht. Zwar hatte der VGH Baden-Württemberg in einer Entscheidung aus dem Jahr 2010 einen Rückgriff auf die polizeiliche Generalklausel zur Bekämpfung nicht versammlungsspezifischer Gefahren – im konkreten Fall der Gefahren der Durchführung einer konzertähnlichen Versammlung in einem brandschutztechnisch hierfür nicht geeigneten Kellerraum – für zulässig erachtet und dabei seine frühere Rechtsprechung, dass der Eingriff nicht jedenfalls auch eine Einschränkung des Versammlungsrechts bezwecken dürfe, aufgegeben.¹³⁹ Den hiergegen gerichteten Antrag auf Revisionszulassung verwarf das Bundesverwaltungsgericht mit Entscheidung vom 16. November 2010, da die Frage, ob Eingriffe in die Versammlungsfreiheit auch auf das allgemeine Polizeirecht gestützt werden könnten, in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungs- und Bundesverfassungsgerichts geklärt sei.¹⁴⁰ Aus dem nicht abschließenden Charakter des Versammlungsgesetzes ergebe sich ohne Weiteres, dass auf das allgemeine Polizeirecht auch insoweit zurückgegriffen werden könne, als es um die Verhütung von Gefahren gehe, die allein aus der Ansammlung einer Vielzahl von Menschen an einem dafür ungeeigneten Ort – unabhängig vom Versammlungscharakter der Veranstaltung – entstünden.¹⁴¹ Die zum Beleg dieser Auffassung herangezogenen bundesverwaltungsgerichtlichen Entscheidungen vermögen diese Behauptung allerdings kaum zu stützen: So betraf die zunächst zitierte Entscheidung BVerwGE 64, 55 die Zulässigkeit sogenannter „Minusmaßnahmen“, d. h. die Bekämpfung versammlungsspezifischer Gefahren durch auf § 15 Abs. 2 (nunmehr: Abs. 3) VersG i.V. m. den jeweiligen polizeilichen Eingriffsbefugnissen des Bundes- oder Landesrechts gestützte Maßnahmen mit im Vergleich zur Auflösung geringerer Eingriffsintensität.¹⁴² Ungeachtet möglicher Zweifel an der einfachrechtlichen oder verfas-

 VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 12. Juli 2010 – 1 S 349/10 –, juris, Rn. 60; unter Abkehr von der noch in VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 26. Januar 1998 – 1 S 3280/96 –, juris, Rn. 39 vertretenen Auffassung.  BVerwG, Beschluss vom 16. November 2010 – 6 B 58/10 –, juris, Rn. 5.  BVerwG, Beschluss vom 16. November 2010 – 6 B 58/10 –, juris, Rn. 6.  BVerwGE 64, 55 (58).

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sungsrechtlichen Tragfähigkeit dieser Argumentation¹⁴³ erscheint die Entscheidung daher kaum geeignet, Aussagen zur Möglichkeit der Bekämpfung nicht versammlungsspezifischer Gefahren durch Auflösung der Versammlung unter unmittelbarem Rückgriff auf allgemeine polizeirechtliche Ermächtigungsgrundlagen zu tragen. Aber auch die weiteren vom Bundesverwaltungsgericht angeführten Entscheidungen, die die Zulässigkeit von Meldeauflagen im Vorfeld einer Versammlung¹⁴⁴ bzw. ein Verbot einer nichtöffentlichen Versammlung auf polizeirechtlicher Grundlage¹⁴⁵ betreffen, tragen zwar die These vom nicht (vollständig) abschließenden Charakter des Versammlungsgesetzes, nicht aber die pauschale Behauptung der Zulässigkeit des Rückgriffs auf polizeirechtliche Ermächtigungsgrundlagen gerade zur Bekämpfung nicht versammlungsspezifischer Gefahren öffentlicher Versammlungen. Im Gegenteil scheint sie der – allerdings ihrerseits nicht vollständig widerspruchsfreien – Entscheidung BVerfGK 4, 154 zu widersprechen, der zufolge sich „Maßnahmen der Gefahrenabwehr gegen Versammlungen“ – scheinbar unabhängig von der Art bzw. dem spezifischen Versammlungsbezug der abzuwehrenden Gefahren – „nach dem Versammlungsgesetz richten“ bzw. eine auf allgemeines Polizeirecht gestützte Maßnahme deshalb ausscheide, „solange sich eine Person in einer Versammlung befindet und sich auf die Versammlungsfreiheit berufen kann“.¹⁴⁶ Auch in der teilweise restriktiver formulierten Entscheidung BVerfGK 11, 102 findet sich kein Hinweis, dass der Umfang der Sperrwirkung des Versammlungsrechts vom Zweck der Maßnahme bzw. von der Natur der abzuwehrenden Gefahr abhängt.¹⁴⁷ Dementsprechend muss es überraschen, dass der Beschluss vom 10. Dezember 2010 in seinem Maßstäbeteil den – nicht näher belegten oder erläuterten – Hinweis enthält, dass sich „[v]ersammlungsspezifische Maßnahmen der Gefahrenabwehr […] nach den hierfür speziell erlassenen Versammlungsgesetzen“ richteten.¹⁴⁸ Da die Abwehr nicht versammlungsspezifischer Gefahren in allen drei Entscheidungen – ebenso wie in den vom Bundesverwaltungsgericht angeführten Entscheidungen – jedoch nicht in Rede stand und der Begriff der „versammlungsspezifischen Maßnahmen“ nicht notwendigerweise eine Beschränkung auf die Abwehr „versammlungsspezifischer Gefah-

 Vgl. unten III. 4. c) und d) sowie ausführlich Wittmann, in: Ridder/Breitbach/Deiseroth, Versammlungsrecht, 2. Aufl., § 15 VersammlG, Rn. 39 ff.  BVerwGE 129, 142 (147) = juris, Rn. 30.  BVerwG, Urteil vom 23. März 1999 – 1 C 12/97 –, juris, Rn. 19 ff.  BVerfGK 4, 154 (158) = juris, Rn. 18.  Vgl. BVerfGK 11, 102 (115 f.) = juris, Rn. 40, 43.  BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 10. Dezember 2010 – 1 BvR 1402/ 06 –, juris, Rn. 28 ff.

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ren“ enthält,¹⁴⁹ lässt sich letztlich auch den einschlägigen Kammerentscheidungen keine eindeutige Aussage zu dieser Frage entnehmen. Eine solche Aussage kann insbesondere auch nicht dem – nicht begründeten – Beschluss vom 10. November 2011, mit der die 1. Kammer des Ersten Senats die gegen die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts gerichtete Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen hat,¹⁵⁰ entnommen werden. Denn ungeachtet der fehlenden Bindungswirkung derartiger Nichtannahmeentscheidungen¹⁵¹ kann es an den in § 93a Abs. 2 BVerfGG geregelten Annahmevoraussetzungen der grundsätzlichen verfassungsrechtlichen Bedeutung bzw. der Angezeigtheit zur Durchsetzung individueller Rechte u. a. dann fehlen, wenn die Verfassungsbeschwerde aus nicht in der Sache liegenden Gründen – z. B. wegen Verfristung oder mangelnder Rechtswegerschöpfung – unzulässig ist. Ob dies im konkreten Fall der Fall war, ist der nicht begründeten Nichtannahmeentscheidung nicht zu entnehmen, liegt angesichts der oben skizzierten bisherigen Rechtsprechungslage aber zumindest nicht fern.¹⁵² Letztlich muss die Frage nach der Zulässigkeit auf allgemeines Polizeirecht gestützter Eingriffsmaßnahmen zur Abwehr nicht versammlungsspezifischer Gefahren als verfassungsrechtlich ungeklärt angesehen werden. Zwar spricht angesichts der von der Kammer wohl bevorzugten, lediglich auf der einfachgesetzlichen Ausgestaltung des Versammlungsrechts beruhenden Herleitung des Grundsatzes der Polizeifestigkeit der Versammlung¹⁵³ und möglicher Andeutungen im Beschluss vom 10. Dezember 2010¹⁵⁴ manches dafür, dass das Bundesverfassungsgericht die vom Bundesverwaltungsgericht entwickelte Fallgruppe als zulässige Auslegung des einfachgesetzlichen Versammlungsrechts¹⁵⁵ billigen und sich – wie auch in der Begründung zur Entscheidung vom 2. November 2016¹⁵⁶ –

 Vgl. zur Möglichkeit der Berücksichtigung versammlungsspezifischer Gefahren bei Anwendung nicht versammlungsspezifischer Normen des BGB BVerfGE 128, 226 (257 ff.).  BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 10. November 2011 – 1 BvR 3200/10 – [unveröffentlicht].  Vgl. BVerfGE 23, 191 (207); 92, 91 (107).  Die stets bei den Akten befindlichen Voten unterliegen als unmittelbare Entscheidungsgrundlage dem Beratungsgeheimnis, so dass auch hieraus keine – auch nur mittelbaren – Rückschlüsse auf die Gründe der Nichtannahmeentscheidung gezogen werden können.  Oben IV. 1. c).  BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 10. Dezember 2010 – 1 BvR 1402/ 06 –, juris, Rn. 28.  Vgl. zur einfachrechtlichen Kritik an dieser Auslegung aber Wittmann, in: Ridder/Breitbach/ Deiseroth, Versammlungsrecht, 2. Aufl., § 15 VersammlG, Rn. 49 f.  Vgl. zu BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 2. November 2016 – 1 BvR 289/15 –, juris, Rn. 14 („Blockupy Frankfurt“) oben III. 4.

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mit einer (auch von der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung geforderten)¹⁵⁷ Berücksichtigung des besonderen Grundrechtsbezuges bei der Auslegung und Anwendung der polizeirechtlichen Eingriffsvoraussetzungen begnügen wird. Vollständige Klarheit hierzu kann letztlich jedoch nur eine – bislang ausstehende – Sachentscheidung des Senats oder der zuständigen Kammer vermitteln.

3. Umfang der Sperrwirkung in sachlicher Hinsicht Nicht abschließend geklärt ist schließlich auch, in welchem Umfang der Grundsatz der Polizeifestigkeit der Versammlung einem Rückgriff auf gefahrenabwehrrechtliche Ermächtigungsgrundlagen des allgemeinen Polizeirechts entgegensteht.

a) BVerfGK 4, 154 – Spontanversammlung (2004) In BVerfGK 4, 154 hatte die Kammer hierzu zunächst allgemein ausgeführt, dass sich „Maßnahmen der Gefahrenabwehr gegen Versammlungen“ nach dem Versammlungsgesetz richteten, dessen im Vergleich zum allgemeinen Polizeirecht besondere Voraussetzungen für „beschränkende Maßnahmen“ Ausprägungen des Grundrechts der Versammlungsfreiheit darstellten.¹⁵⁸ Hieraus folgerte die Kammer anschließend, dass ein auf allgemeines Polizeirecht gegründeter Platzverweis (und die hierauf aufbauende Ingewahrsamnahme) deshalb ausscheide, solange die Versammlung nicht aufgelöst oder der Betroffene von einer Teilnahme ausgeschlossen worden sei.¹⁵⁹ Der Begriff der „beschränkenden Maßnahmen“ – und damit Umfang und Tragweite des Grundsatzes der Polizeifestigkeit der Versammlung in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts – blieb in diesem Zusammenhang jedoch unerklärt: Zwar stellte das Bundesverfassungsgericht abschließend erneut klar, dass ein Platzverweis nicht auf polizeirechtliche Ermächtigungsgrundlagen hatte gestützt werden können, weil das Versammlungsrecht auf „Maßnahmen gegenüber dem Beschwerdeführer […] weiterhin anwendbar“ gewesen sei¹⁶⁰ (und

   

VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 12. Juli 2010 – 1 S 349/10 –, juris, Rn. 60, 70. BVerfGK 4, 154 (158) = juris, Rn. 18. BVerfGK 4, 154 (158 f.) = juris, Rn. 18 f. BVerfGK 4, 154 (160) = juris, Rn. 27.

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insinuierte so eine vollständige Sperrwirkung jedenfalls im Hinblick auf gegen Versammlungsteilnehmer gerichtete Maßnahmen)¹⁶¹. Zugleich hielt es den Erlass einer Ausschlussverfügung im konkreten Fall allerdings u. a. deswegen für rechtswidrig, weil gegenüber der Ausschlussverfügung mildere Mittel – wie etwa die polizeiliche (!) Verfügung, ausreichend Abstand zum Informationsstand der konkurrierenden politischen Gruppierung zu halten – verfügbar gewesen seien, deren Missachtung „weitere Maßnahmen“ gegen den Beschwerdeführer ermöglicht hätten.¹⁶² Der offenkundige Widerspruch zwischen beiden Passagen bleibt in der Entscheidung letztlich – wohl mangels Entscheidungserheblichkeit – unerklärt.¹⁶³

b) BVerfGK 11, 102 – Platzverweis, Versammlungsrecht (2007) Demgegenüber ist die – allerdings unmittelbar auf BVerfGK 4, 154 gestützte – Entscheidung BVerfGK 11, 102 im Eingang weit restriktiver formuliert: So findet sich hier zunächst der Hinweis auf die Rechtwidrigkeit von „Maßnahmen, die die Teilnahme an einer Versammlung beenden – wie ein Platzverweis oder eine Ingewahrsamnahme – […], solange nicht die Versammlung […] aufgelöst oder der Teilnehmer auf versammlungsrechtlicher Grundlage von der Versammlung ausgeschlossen“ worden sei.¹⁶⁴ Anschließend gibt die Kammer zwar die einschlägigen Passagen aus BVerfGK 4, 154 wieder, folgert hieraus aber anschließend, dass „eine auf allgemeines Polizeirecht gegründete Maßnahme, durch welche das Recht zur Teilnahme an der Versammlung beschränkt [werde], aufgrund der Sperrwirkung der versammlungsgesetzlichen Regelungen aus[scheide]. Für Beschränkungen der Versammlungsteilnahme [stünden] der Polizei lediglich die abschließend versammlungsgesetzlich geregelten teilnehmerbezogenen Maßnahmen zu Gebote […]“.¹⁶⁵ Diese Bezugnahme – lediglich – auf „Beschränkungen des Rechts zur Versammlungsteilnahme“, „Beschränkungen der Versammlungsteilnahme“ bzw. auf „die Versammlungsteilnahme beendende“ Maßnahmen

 Vgl. zu einer solchen Deutung dieser Entscheidung auch BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 10. Dezember 2010 – 1 BvR 1402/06 –, juris, Rn. 28, die auf BVerfGK 4, 154 (158) verweist.  BVerfGK 4, 154 (160) = juris, Rn. 26.  Kritisch hierzu schon Schwabe, DÖV 2010, S. 720 (723). Vgl. zur möglichen Deutung als nachträgliche, ggf. nach allgemeinem Vollstreckungsrecht vollstreckbare Auflage allerdings unten IV. 6. a).  BVerfGK 11, 102 (114) = juris, Rn. 40.  BVerfGK 11, 102 (115) = juris, Rn. 43 (Hervorhebungen nicht im Original).

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(anstatt auf „Maßnahmen der Gefahrenabwehr gegen Versammlungen“ bzw. „beschränkende Maßnahmen“ allgemein) scheint dabei durchaus intendiert: Denn in der Tat prüft das Bundesverfassungsgericht in diesem Zusammenhang nicht allgemein das Vorliegen eines versammlungsbezogenen Eingriffs, sondern stellt fest, dass die Ingewahrsamnahme „nicht mehr allein auf die Verhinderung des Megaphoneinsatzes“, sondern auf die „Beendigung der Versammlungsteilnahme insgesamt“ gerichtet gewesen sei.¹⁶⁶ Diese Passage lässt sich daher kaum anders verstehen, als stünde der Grundsatz der Polizeifestigkeit der Versammlung einer auf polizeirechtliche Ermächtigungsgrundlagen gestützten Ingewahrsamnahme alleine zum Zweck der Verhinderung des weiteren Megaphoneinsatzes nicht entgegen. Schon der nächste Absatz der Entscheidung zieht diesen Befund jedoch wieder in Zweifel, da hier allgemein von der Spezialität des Versammlungsgesetzes gegenüber dem allgemeinen Polizeirecht, aus der sich besondere Anforderungen für einen „polizeilichen Zugriff auf Versammlungsteilnehmer“ ergäben, die Rede ist. Hieraus folgert die Kammer wiederum allgemein, dass eine auf allgemeines Polizeirecht gegründete Maßnahme, durch welche das Recht zur Teilnahme an der Versammlung „beschränkt“ werde, ausscheide bzw. der Polizei für „Beschränkungen der Versammlungsteilnahme“ lediglich die abschließend versammlungsrechtlich geregelten teilnehmerbezogenen Maßnahmen zu Gebote stünden.¹⁶⁷ Die hier festzustellenden begrifflichen Unklarheiten setzen sich schließlich an späterer Stelle der Entscheidung fort: Auf Seite 116 f. findet sich der Hinweis, dass der polizeiliche Einsatzleiter „das Erfordernis einer versammlungsrechtlichen Auflösung […] vor der Durchführung von Vollstreckungsmaßnahmen verkannt“ habe. Dieser Fehler beruhe „auf einer grundsätzlichen Verkennung der rechtlichen Voraussetzungen versammlungsbezogener Maßnahmen, also auch des Erfordernisses einer Versammlungsauflösung […] vor dem Eingreifen von Maßnahmen zur Realisierung von Auflösung und Ausschluss“.¹⁶⁸

 BVerfGK 11, 102 (114 f.) = juris, Rn. 42.  BVerfGK 11, 102 (115) = juris, Rn. 43.  BVerfGK 11, 102 (116 f.) = juris, Rn. 50 (Hervorhebungen nicht im Original).

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c) BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 10. Dezember 2010 – 1 BvR 1402/06 – Unerlaubte Ansammlung, Platzverweis Eine vermittelnde Position zwischen beiden vorgenannten Entscheidungen nimmt die Kammerentscheidung vom 10. Dezember 2010 ein. Denn das Gericht führt hier aus, dass auf Bestimmungen des allgemeinen Polizeirechts gestützte Maßnahmen gegen eine Person ausschieden, solange sich diese in einer Versammlung befinde.¹⁶⁹ Der hier gewählte Begriff der „Maßnahmen gegen eine Person“ ist dabei deutlich weiter gefasst als der noch in BVerfGK 11, 102 geprägte Begriff der „teilnahmebeendenden“ oder „teilnahmebeschränkenden“ Maßnahmen,¹⁷⁰ zumal die Kammer den Platzverweis hier ausdrücklich nur als eine von mehreren Formen der „Maßnahmen gegen eine Person“ benennt;¹⁷¹ er knüpft aber nahtlos an die hier ebenfalls verwendete Formel des „polizeilichen Zugriffs auf Versammlungsteilnehmer“¹⁷² an. Zugleich ist er jedoch enger gefasst als die in BVerfGK 4, 154 verwendete Formel der „beschränkenden Maßnahmen“ bzw. der „Maßnahmen der Gefahrenabwehr gegen Versammlungen“¹⁷³.

d) Bewertung Letztlich vermitteln die o.g. Kammerentscheidungen ein sehr unterschiedliches Bild von der Tragweite des Grundsatzes der Polizeifestigkeit der Versammlung: So bleibt zunächst unklar, ob die Kammer die Begriffe der „teilnahmebeendenden Maßnahmen“, der „Beschränkungen des Rechts zur Versammlungsteilnahme“ und der „Beschränkungen der Versammlungsteilnahme“ als Synonyme begreift bzw. wie diese ggf. von sonstigen „Maßnahmen der Gefahrenabwehr gegen Versammlungen“ bzw. „beschränkenden Maßnahmen“ abzugrenzen wären.¹⁷⁴ Dies ist jedoch entscheidend für die Frage, ob die in BVerfGK 11, 102 verwendeten Formulierungen in der Sache eine Rücknahme des Umfangs der in BVerfGK 4, 154 sehr allgemein formulierten Sperrwirkung des Versammlungsrechts darstellen¹⁷⁵

 BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 10. Dezember 2010 – 1 BvR 1402/ 06 –, juris, Rn. 28.  Vgl. oben III. 3. b).  BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 10. Dezember 2010 – 1 BvR 1402/ 06 –, juris, Rn. 28.  BVerfGK 11, 102 (115) = juris, Rn. 43.  BVerfGK 4, 154 (158) = juris, Rn. 18.  Kritisch hierzu schon Schwabe, DÖV 2010, S. 720 (724).  I. E. gegen ein solches Verständnis der Entscheidung Schwabe, DÖV 2010, S. 720 (724).

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oder lediglich eine Beschränkung auf die in beiden Fällen unmittelbar in Rede stehenden Eingriffe – jeweils polizeiliche Platzverweise bzw. Ingewahrsamnahmen – zum Ausdruck bringen sollen, die die rechtliche Bewertung anderer Maßnahmen offen lässt. Die Bedeutung dieser Frage wurde zwar dadurch gemildert, dass die Entscheidung vom 10. Dezember 2010 die Sperrwirkung des Grundsatzes der Polizeifestigkeit wieder allgemein auf „Maßnahmen gegen eine Person“ erstreckt und dabei ausdrücklich – nur¹⁷⁶ – auf BVerfGK 4, 154 Bezug genommen hat; die rechtliche Bewertung sonstiger „Maßnahmen der Gefahrenabwehr gegen Versammlungen“¹⁷⁷ auf Grundlage allgemeinen Polizeirechts bleibt jedoch auch auf Grundlage dieser Entscheidung offen. Dies ist umso misslicher, als eine Beschränkung auf schwerwiegende Eingriffe auf Grundlage einer materiell-grundrechtlichen Herleitung des Grundsatzes der Polizeifestigkeit zwar ohne weiteres begründbar wäre, den das Bundesverfassungsgericht jedoch wohl nicht zugrunde legt.¹⁷⁸ Eine auf den (allgemeinen oder kompetenziellen) Spezialitätsgrundsatz gestützte Herleitung des Grundsatzes der Polizeifestigkeit der Versammlung kann ein an der Schwere des Grundrechtsingriffs orientiertes Verständnis des Umfangs der Sperrwirkung hingegen kaum begründen, da der Umfang der Sperrwirkung dann letztlich von der einfachgesetzlichen Ausgestaltung des Fachrechts abhängig sein müsste.¹⁷⁹ Hier müsste man – mit BVerfGK 4, 154 – daher an sich davon ausgehen, dass „Maßnahmen der Gefahrenabwehr gegen Versammlungen“ grundsätzlich nur dann auf allgemeines Polizeirecht gestützt werden können, wenn die Versammlung zuvor aufgelöst oder der Betroffen von der Teilnahme ausgeschlossen wurde.¹⁸⁰ Dies entspricht in der Tat dem Verständnis des Grundsatzes der Polizeifestigkeit in Literatur und fachgerichtlicher Rechtsprechung,¹⁸¹ geht über den restriktiveren Wortlaut von BVerfGK 11, 102 und der Entscheidung vom 10. Dezember 2010 aber hinaus. Eine zwischen „Maßnahmen gegen eine Person“ bzw. „teilnahmebeschränkenden Maßnahmen“ einerseits und (sonstigen) „versammlungsbeschränkenden“ Maßnahmen andererseits differenzierende Anwendung des Grundsatzes der Polizeifestigkeit der Versammlung würde hingegen nur durch eine Auslegung des einfachen Gesetzesrechts ermöglicht, die Versammlungsteil-

 Oben III. 3.  Zu dieser in BVerfGK 4, 154 (158) verwendeten Formulierung oben III. 1.  Oben IV. 1. c).  Vgl. zur Zulässigkeit sog. „Minusmaßnahmen“ aber unten IV. 4.  Vgl. BVerfGK 4, 154 (158 f.) = juris, Rn. 18 f.  Vgl. OLG München, Urteil vom 20. Juni 1996 – 1 U 3098/94 –, juris, Rn. 75; VGH BadenWürttemberg, Urteil vom 26. Januar 1998 – 1 S 3280/96 –, juris, Rn. 34, 40; Schwabe, DÖV 2010, S. 720 (722, 724).

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nehmer gegen polizeilichen Zugriff immunisiert, Eingriffe in das äußere Versammlungsgeschehen aber ermöglicht.¹⁸² Zum gesicherten Bestand der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung darf daher letztlich lediglich zählen, dass der (einfachrechtlich hergeleitete) Grundsatz des Polizeifestigkeit der Versammlung aus Sicht des Verfassungsrechts jedenfalls „teilnahmebeendende Maßnahmen“ (wie z. B. Platzverweise oder polizeiliche Ingewahrsamnahmen) bzw. „Beschränkungen der Versammlungsteilnahme“ sowie Vollstreckungsmaßnahmen¹⁸³ zur Durchsetzung derartiger Maßnahmen auf polizeirechtlicher Grundlage ausschließt, solange kein Ausschluss bzw. keine Auflösung auf versammlungsrechtlicher Grundlage erfolgt ist. Zur Zulässigkeit weniger eingriffsintensiver Eingriffe in das Versammlungsgrundrecht auf Grundlage des allgemeinen Polizeirechts – wie etwa die Beschlagnahme von Transparenten, die Feststellung der Identität oder das Zurückdrängen von Demonstranten mit dem Schlagstock –, bei denen es sich nur bei einem sehr weiten Begriffsverständnis um „Beschränkungen der Versammlungsteilnahme“, aber nichtsdestotrotz um nicht unerhebliche Grundrechtsbeeinträchtigungen handelt, findet sich in der Kasuistik hingegen keine eindeutige Aussage. Zwar spricht vieles dafür, dass jedenfalls letztere als „Maßnahmen gegen eine Person“¹⁸⁴ bzw. „polizeilicher Zugriff auf Versammlungsteilnehmer“¹⁸⁵ nach der Kammerrechtsprechung ebenfalls der Sperrwirkung des Versammlungsrechts unterfallen dürften; Funktion und Bedeutung des in BVerfGK 4, 154 verwendeten allgemeineren Begriffs der „beschränkenden Maßnahmen“¹⁸⁶ im Verhältnis zu den in BVerfGK 11, 102 verwendeten Begriffen der „teilnahmebeendenden“ bzw. „versammlungsbeschränkenden Maßnahmen“¹⁸⁷ bleiben jedoch auch bei dieser Deutung weitgehend im Dunkeln.

 Vgl. zu einem solchen Vorschlag unten IV. 6. d).  Vgl. aber unten IV. 6.  BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 10. Dezember 2010 – 1 BvR 1402/ 06 –, juris, Rn. 28.  BVerfGK 11, 102 (115) = juris, Rn. 43.  Vgl. BVerfGK 4, 154 (158) = juris, Rn. 18.  Vgl. BVerfGK 11, 102 (114 f.) = juris, Rn. 40, 43.

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4. Durchbrechung der Sperrwirkung durch sog. „Minusmaßnahmen“? Eng verwandt mit der Frage nach dem sachlichen Umfang der Sperrwirkung ist die Frage nach der Möglichkeit einer Durchbrechung des Grundsatzes der Polizeifestigkeit der Versammlung durch sog. „Minusmaßnahmen“.

a) BVerwGE 64, 55 In der Sache geht die Rechtsfigur der sog. „Minusmaßnahmen“ auf eine Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts aus dem Jahr 1981 zurück. In dieser hatte das Bundesverwaltungsgericht die polizeiliche Beschlagnahme zweier Spruchbänder aus der Mitte einer nicht aufgelösten Versammlung auf der Grundlage von § 15 Abs. 2 [nunmehr Abs. 3] VersG i.V. m. § 32 PolG NRW für rechtmäßig erachtet und erklärt, dass § 15 Abs. 1 VersG mit der Bezugnahme auf „bestimmte Auflagen“ auf den Katalog der der Behörde zur Abwehr unmittelbarer Gefahren zustehenden – auch landesrechtlichen – Befugnisse verweise, so dass auch § 15 Abs. 2 [nunmehr Abs. 3] VersG einen Rückgriff auf die zur Abwehr unmittelbarer Gefahren bestimmten polizeilichen Befugnisse ermögliche. Vorrangig vor Versammlungsverbot und –auflösung sei daher – jeweils geknüpft an das aus § 15 Abs. 1 VersG folgende Erfordernis einer „unmittelbaren“ Gefahr – das im Einzelfall verhältnismäßige polizeiliche Eingriffsinstrument zur Gefahrenabwehr einzusetzen.¹⁸⁸

b) Keine Billigung der Rechtsfigur durch die „Brokdorf“-Entscheidung In Rechtsprechung und Fachliteratur wird teilweise angenommen, dass das Bundesverfassungsgericht diese Rechtsfigur in seiner Brokdorf-Entscheidung gebilligt habe.¹⁸⁹ Dem kann jedoch nicht gefolgt werden, auch wenn die o.g. Rechtsprechung dem Senat bei Abfassung der Entscheidung ohne Zweifel bekannt war. Zwar findet sich in der Brokdorf-Entscheidung in der Tat der Hinweis, dass Verbot oder Auflösung einer Versammlung als ultima ratio voraussetzten,  BVerwGE 64, 55 = juris, Rn. 37 f.  BVerwG, Beschluss vom 23. 8.1991 – 1 B 77/91 –, juris, Rn. 4; J.-P. Schneider, in: Epping/ Hillgruber, GG, Art. 8 Rn. 41; Brenneisen/Wilksen,Versammlungsrecht, S. 351; Schwabe, DÖV 2010, S. 720 (722). Zu Recht vorsichtiger aber z. B. Neuner, Zulässigkeit und Grenzen polizeilicher Verweisungsmaßnahmen, 2003, S. 194 f.

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dass das mildere Mittel der Auflagenerteilung ausgeschöpft sei; zudem verweist der Senat an dieser Stelle mit dem pauschalen Verweis „so auch BVerwGE 64, 55“ auf die einschlägige Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts.¹⁹⁰ Indes liegt es näher, die – ohnehin ohne konkrete Seitenangabe versehene – Bezugnahme als Hinweis auf die Bedeutung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes und die Möglichkeit des Erlasses nachträglicher Auflagen zu verstehen, die – ohne selbst Minusmaßnahmen zu sein – bei entsprechender (allerdings umstrittener) Auslegung des Fachrechts unmittelbar auf versammlungsrechtliche Ermächtigungsgrundlagen gestützt werden können.¹⁹¹ Eine verfassungsrechtliche Relevanz des Grundsatzes der Polizeifestigkeit der Versammlung hatte das Bundesverfassungsgericht zu diesem Zeitpunkt überdies noch nicht herausgearbeitet, zumal in der – zu Recht als „Fundament“ der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung zur Versammlungsfreiheit begriffenen¹⁹² – Brokdorf-Entscheidung kein Anlass für eine Befassung mit der Frage der Anwendbarkeit polizeirechtlicher Eingriffsnormen bestand.¹⁹³ Dementsprechend stützt auch die einschlägige Kammerrechtsprechung ihre Ausführungen zum Grundsatz der Polizeifestigkeit der Versammlung nicht auf die Brokdorf-Entscheidung und geht auch auf die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur Durchbrechung der Sperrwirkung durch sog. „Minusmaßnahmen“ nicht ein.¹⁹⁴

c) Teilweise Unvereinbarkeit mit der Kammerrechtsprechung Im Gegenteil spricht manches dafür, dass die Rechtsfigur der Minusmaßnahmen bislang keine Billigung durch die Kammerrechtsprechung gefunden hat. So formuliert etwa BVerfGK 4, 154, dass ein Platzverweis „erst nach Auflösung der Versammlung gemäß § 15 Abs. 2 VersG oder nach versammlungsrechtlich begründetem Ausschluss des Teilnehmers aus der Versammlung“ in Betracht komme bzw. „ein auf allgemeines Polizeirecht […] gegründeter Platzverweis [ausscheide], solange sich eine Person in einer Versammlung befinde[…] und sich auf die Versammlungsfreiheit berufen [könne]“, da „das Versammlungsgesetz

 BVerfGE 69, 315 (353) = juris, Rn. 79.  So auch Dietel/Gintzel/Kniesel, VersG, § 15 Rn. 209; Kötter/Nolte, DÖV 2009, S. 399 (404 mit Fn. 54).  Vgl. Hong, Die Versammlungsfreiheit in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, in: Rensen/Brink, Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, Band 1, 2009, S. 156 ff.  Siehe schon oben II. 1.  Oben III.

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als Spezialgesetz dem allgemeinen Polizeirecht vor[gehe]“.¹⁹⁵ Noch weitergehender formuliert die Kammer in BVerfGK 11, 102, dass eine „auf allgemeines Polizeirecht gegründete Maßnahme, durch welche das Recht zur Teilnahme an der Versammlung beschränkt [werde], […] aufgrund der Sperrwirkung der versammlungsgesetzlichen Regelungen aus[scheide]“.¹⁹⁶ „Für Beschränkungen der Versammlungsteilnahme [stünden] der Polizei lediglich die abschließend versammlungsgesetzlich geregelten teilnehmerbezogenen Maßnahmen zu Gebote, für die im Interesse des wirksamen Grundrechtsschutzes strengere Anforderungen [bestünden] als für polizeirechtliches Einschreiten allgemein“.¹⁹⁷ Die Annahme des Bundesverwaltungsgerichts, dass der in § 15 Abs. 1 VersG verwendete und in § 15 Abs. 3 VersG jedenfalls mittelbar in Bezug genommene Begriff der „Auflage“ den vollständigen Rückgriff auf das vollständige polizeirechtliche Instrumentarium eröffne, erscheint hiermit kaum vereinbar.¹⁹⁸ Zwar wäre das Ergebnis der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts mit der Entscheidung BVerfGK 11, 102 zu vereinbaren, da die Beschlagnahme einzelner Transparente jedenfalls keine teilnahmebeendende und wohl auch keine teilnahmebeschränkende Maßnahme im Sinne dieser Entscheidung darstellt.¹⁹⁹ Tatsächlich könnte die Formulierung, dass die Ingewahrsamnahme des Beschwerdeführers „nicht mehr allein auf die Verhinderung des Megaphoneinsatzes [gezielt]“²⁰⁰ habe, sogar als Billigung nicht unmittelbar personenbezogener Minusmaßnahmen – wie der Beschlagnahme von Transparenten oder Megaphonen – verstanden werden. Da das Bundesverfassungsgericht teilnahmebeendende bzw. -beschränkende Maßnahmen in der Entscheidung jedoch ausdrücklich vom Vorliegen einer Versammlungsauflösung bzw. eines Versammlungsausschlusses abhängig macht²⁰¹ und darüber hinaus in Zweifel zieht, ob und ggf. unter welchen Voraussetzungen ein möglicherweise intendierter Platzverweis in einen konkludenten Versammlungsausschluss umgedeutet werden könnte,²⁰² erscheint der vom Bundesverwaltungsgericht für möglich gehaltene Rückgriff auf sämtliche polizeirechtlichen Ermächtigungsgrundlagen hingegen ausgeschlossen.

 BVerfGK 4, 154 (158) = juris, Rn. 17 f.  BVerfGK 11, 102 (115) = juris, Rn. 43.  BVerfGK 11, 102 (115) = juris, Rn. 43 (Hervorhebung nicht im Original).  So letztlich auch – wenngleich im Ergebnis kritisch – Schwabe, DÖV 2010, S. 720 (722); Schwabe, DÖV 2011, S. 961 (962) sowie J.-P. Schneider, in: Epping/Hillgruber, GG, Art. 8 Rn. 41.  Vgl. zur – im Einzelnen unklaren – begrifflichen Unterscheidung oben IV. 3. d).  BVerfGK 11, 102 (114 f.) = juris, Rn. 42.  BVerfGK 11, 102 (114, 115) = juris, Rn. 40, 43.  BVerfGK 11, 102 (116) = juris, Rn. 48 unter Verweis auf BVerfGK 4, 154 (154, 159).

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Auch mit der älteren Entscheidung BVerfGK 4, 154 erscheint ein derart weites Verständnis der Rechtsfigur der versammlungsbezogenen „Minusmaßnahmen“ unvereinbar. Zwar könnte der dort enthaltene Verweis auf die Möglichkeit einer polizeilichen Abstandsverfügung²⁰³ als Hinweis auf die Zulässigkeit nicht teilnahmebeschränkender Minusmaßnahmen verstanden werden;²⁰⁴ näher liegt jedoch auch hier – wie schon in der Brokdorf-Entscheidung – eine Deutung als Hinweis auf die Möglichkeit des Erlasses nachträglicher Auflagen unmittelbar auf Grundlage des Versammlungsgesetzes.²⁰⁵ Der Erlass teilnahmebeendender Minusmaßnahmen auf Grundlage des allgemeinen Polizeirechts ist nach den Ausführungen der Kammer jedoch jedenfalls unzulässig; zudem sprechen die in der Entscheidung im Übrigen enthaltenen, gegenüber BVerfGK 11, 102 tendenziell weiter gefassten Formulierungen für ein umfassenderes Verständnis der Sperrwirkung des Versammlungsrechts, das jegliche „Minusmaßnahmen“ vor Erlass einer Auflösungs- oder Ausschlussverfügung ausschlösse.²⁰⁶ Entsprechendes gilt nach dem Beschluss vom 10. Dezember 2010 jedenfalls für „Maßnahmen gegen die Person“ eines (nicht ausgeschlossenen) Versammlungsteilnehmers.²⁰⁷

d) Bewertung Letztlich muss daher festgehalten werden, dass die Auffassung, dass das Versammlungsrecht unter den Voraussetzungen des § 15 Abs. 1 VersG einen Rückgriff auf teilnahmebeendende bzw. -beschränkende Ermächtigungsgrundlagen des allgemeinen Polizeirechts eröffne, mit der Kammerrechtsprechung nicht vereinbar ist.²⁰⁸ Im Übrigen kommt es für die Beantwortung der Frage, ob die in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts entwickelte Rechtsfigur der „Minusmaßnahmen“ die Billigung des Bundesverfassungsgerichts gefunden hat, auf die Deutung der einschlägigen Kammerentscheidungen an: Geht man davon aus, dass die Entscheidung BVerfGK 11, 102 den Umfang der in BVerfGK 4, 154 sehr allgemein skizzierten Sperrwirkung des Versammlungsrechts auf eine Sperrwirkung nur gegenüber teilnahmebeschränkenden bzw. -beendenden Maßnahmen

 BVerfGK 4, 154 (160) = juris, Rn. 26.  Vgl. Schwabe, DÖV 2010, S. 720 (723).  Vgl. Schwabe, DÖV 2011, S. 961 (962 mit Fn. 1); Kötter/Nolte, DÖV 2009, S. 399 (404 mit Fn. 54).  Vgl. schon oben IV. 3.  BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 10. Dezember 2010 – 1 BvR 1402/ 06 –, juris, Rn. 28.  Schwabe, DÖV 2010, S. 720 (722); Hong, in: Peters/Janz, Handbuch Versammlungsrecht, 2015, Teil B I., Rn. 87. Vgl. zur Möglichkeit der Umdeutung aber sogleich IV. 5.

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beschränkt hat (oder eine weit verstandene Sperrwirkung in BVerfGK 4, 154 von vorneherein nicht intendiert war), sind nicht personenbezogene bzw. nicht teilnahmebeendende oder -beschränkende Minusmaßnahmen mit der Kammerrechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts vereinbar. Der Beschluss vom 10. Dezember 2010 legt jedoch – ebenso wie eine entsprechend formulierte Passage in BVerfGK 11, 102 – die Annahme nahe, dass neben teilnahmebeschränkenden Maßnahmen sämtliche „Maßnahmen gegen die Person“ – gedacht sei etwa an das Zurückdrängen mit einem Schlagstock oder die Einkesselung der Versammlungsteilnehmer – der Polizeifestigkeit der Versammlung unterfallen, so dass lediglich Maßnahmen wie die Beschlagnahme von Transparenten als Minusmaßnahmen denkbar wären.²⁰⁹ Geht man hingegen davon aus, dass sich der Aussagegehalt von BVerfGK 11, 102 auf die (Un‐)Zulässigkeit der dort konkret in Rede stehenden (teilnahmebeendenden) Maßnahme beschränkt und die weiter gefassten Formulierungen der Entscheidung BVerfGK 4, 154 weiterhin Bestand haben, so wären Minusmaßnahmen auf Grundlage der allgemeinen polizeirechtlichen Bestimmungen – entgegen der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts – sogar vollständig ausgeschlossen.²¹⁰ Von einer Klärung in der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung kann daher ebenso wenig die Rede sein wie von einer Übereinstimmung zwischen bundesverwaltungsgerichtlicher und bundesverfassungsgerichtlicher Rechtsprechung.

5. Exkurs: Umdeutung teilnahmebeschränkender Maßnahmen in eine Auflösungs- oder Ausschlussverfügung? In der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung nicht minder offen geblieben ist die Frage, ob eine – nach dem Vorstehenden unzulässigerweise – versammlungsbeendende Maßnahme auf Grundlage des allgemeinen Polizeirechts in eine rechtmäßige Auflösungs- oder Ausschlussverfügung nach Maßgabe des jeweiligen Versammlungsgesetzes umgedeutet werden kann.

 Oben IV. 3. d).  So Schwabe, DÖV 2010, S. 720 (724); Müller-Franken, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, 14. Aufl. 2017, Art. 8 Rn. 57. Vgl. zur praktischen Umsetzbarkeit dieses Modells Koll, Liberales Versammlungsrecht (2015), S. 93 f.

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a) BVerfGK 4, 154 – Spontanversammlung (2004) Eine solche Umdeutung hatte das Bundesverfassungsgericht erstmals in der Entscheidung BVerfGK 4, 154 erwogen. Auf Seite 159 (Rn. 23) findet sich hier der Hinweis, eine Ausschlussverfügung müsse – nicht anders als eine Auflösungsverfügung – hinreichend bestimmt sein und dem Versammlungsteilnehmer unmissverständlich zu erkennen geben, dass gerade er mit dem Ausschluss gemeint sei. Ob der an den Beschwerdeführer gerichtete, auf Art. 16 BayPAG gestützte Platzverweis diesen Inhalt haben könne, obwohl die Behörde selbst nicht vom Vorliegen eines Platzverweises ausgegangen sei, könne indes offenbleiben, da die versammlungsrechtlichen Voraussetzungen für den Erlass einer Ausschlussverfügung offensichtlich nicht vorgelegen hätten.²¹¹

b) BVerfGK 11, 102 – Platzverweis, Versammlungsrecht (2007) Auch in BVerfGK 11, 102 blieb die Frage nach der Möglichkeit der Umdeutung einer teilnahmebeschränkenden polizeirechtlichen Maßnahme in eine versammlungsrechtliche Ausschlussverfügung offen: Die Kammer begnügte sich insoweit mit dem Hinweis, dass auch keine als Platzverweis intendierte Verfügung mit vergleichbarem Inhalt ergangen sei, so dass die Frage nach dem Ausreichen einer solchen Maßnahme keiner Entscheidung bedürfe.²¹²

c) Bewertung Strukturell dürfte an sich wenig dagegen sprechen, z. B. einen Platzverweis unter Beachtung der in § 47 (L)VwVfG kodifizierten Anforderungen²¹³ in einen Ausschluss auf Grundlage des Versammlungsgesetzes umzudeuten²¹⁴: Bei einem Platzverweis handelt es sich um einen – aufgrund der Polizeifestigkeit der Versammlung gegenüber teilnahmebeschränkenden Maßnahmen fehlerhaften – Verwaltungsakt, der nicht anders als die versammlungsrechtliche Ausschluss-

 BVerfGK 4, 154 (159) = juris, Rn. 23.  BVerfGK 11, 102 (116) = juris, Rn. 48.  Vgl. zur Rechtsnatur der Umdeutung als Rechtserkenntnisakt BVerwGE 157, 187 = juris, Rn. 17 ff.  Eine Auslegung als konkludente Ausschluss- bzw. Auflösungsverfügung dürfte aufgrund der Anforderungen an die Bestimmtheit und Eindeutigkeit der Maßnahme hingegen ausscheiden; vgl. VGH Hessen, Urteil vom 17. März 2011, juris, Rn. 50; Neumann, Jura 2013, S. 139 (144).

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verfügung auf die Abwehr versammlungsspezifischer Gefahren bzw. Ordnungsstörungen durch Beschränkung bzw. Beendigung der Teilnahme des jeweiligen Adressaten gerichtet ist (vgl zum Erfordernis der Zielidentität § 47 Abs. 1 [L]VwVfG). Problematisch sind indes die sachlichen Voraussetzungen für den Erlass einer teilnahmebeendenden Verfügung, denen nach § 47 Abs. 1 auch der umzudeutende Verwaltungsakt genügen muss: Zwar mag z. B. ein polizeilicher Platzverweis im Einzelfall den speziellen Anforderungen an die Bestimmtheit teilnahmebeendender Maßnahmen genügen, die die Rechtsprechung aus Art. 8 Abs. 1 GG entwickelt hat;²¹⁵ auch kann im Einzelfall das Tatbestandsmerkmal einer „unmittelbaren Gefahr“ für polizeiliche Schutzgüter (§ 15 Abs. 1 VersG)²¹⁶ bzw. einer „gröblichen Störung der Ordnung“ (§§ 18 Abs. 3, 19 Abs. 4 VersG) erfüllt sein, obwohl das Polizeirecht für Platzverweise i. d. R. eine nicht näher qualifizierte „Gefahr“ genügen lässt.²¹⁷ Auf Rechtsfolgenseite steht der Erlass eines Versammlungsausschlusses allerdings im pflichtgemäßen Ermessen²¹⁸ der zuständigen Behörde,²¹⁹ bei dessen Ausübung die Bedeutung der grundrechtlich geschützten Versammlungsfreiheit im Rahmen einer Güterabwägung besonders zu berücksichtigen ist.²²⁰ Hieran wird die Umdeutung einer auf polizeirechtliche Ermächtigungsgrundlagen gestützten Verfügung regelmäßig scheitern, weil gerade die Heranziehung polizeirechtlicher Ermächtigungsgrundlagen das fehlende

 Vgl. BVerfG 4, 154 (159) = juris, Rn. 20, 23; BVerfGK 11, 102 (115 f.) = juris, Rn. 45, 47. Vgl. zur „rechtsstaatlichen Funktion“ konkretisierender Verwaltungsakte auch BVerfGE 122, 342 (363 f.) = juris, Rn. 121 f.  BVerfG 4, 154 (159 f.) = juris, Rn. 24 prüft hier zunächst das Erfordernis einer „gröblichen Störung“ der Ordnung der Versammlung nach Innen (§ 18 Abs. 3, § 19 Abs. 4 VersG) und im Anschluss – ohne konkreten normativen Anknüpfungspunkt – das Vorliegen einer „Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung“ (kritisch hierzu Schwabe, DÖV 2010, S. 720 (722)). Für die Prüfung qualifizierter Gefahrenanforderungen bestand hier jedoch schon deswegen kein Anlass, weil schone eine Gefahr offensichtlich nicht vorlag (vgl. BVerfG 4, 154 (159) = juris, Rn. 23).  Vgl. stellvertretend § 9 des Musterentwurfs eines einheitlichen Polizeigesetzes (1975).  Dies betonend schon BVerfGK 4, 154 (158) = juris, Rn. 16.  Zu beachten ist in diesem Zusammenhang auch, dass die Zuständigkeit für den Erlass polizeirechtlicher Gefahrenabwehrverfügungen nicht der Zuständigkeit für den Vollzug des Versammlungsgesetzes entspricht. Vgl. in Baden-Württemberg z. B. § 60 Abs. 1 – 3 PolG BW mit § 1 VersGZustVO BW.  BVerfGE 69, 315 (353) = juris, Rn. 79; BVerfGE 87, 399 (409) = juris, Rn. 52, BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 21. April 1998 – 1 BvR 2311/94 –, juris, Rn. 25; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 6. April 1990 – 1 BvR 958/88 –, juris, Rn. 11, 13. Vgl. zur Auflösung auch BVerfGE 104, 92 (106 f.) = juris, Rn. 51. Vgl. auch Weber KommJur 2009, 97 (100).

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Bewusstsein für die besonderen Anforderungen des Versammlungs(grund)rechts dokumentiert.²²¹

6. Durchbrechung der Sperrwirkung durch Vollstreckung von Auflagen? In der versammlungsrechtlichen Literatur außerordentlich umstritten ist die Frage, ob aus versammlungsrechtlichen Auflagen unmittelbar im Wege der Verwaltungsvollstreckung vollzogen werden kann²²² oder Verstöße gegen vollziehbare Auflagen lediglich – wie § 15 Abs. 3 VersG es nahelegt – durch die Auflösung oder den Ausschluss aus der Versammlung sanktioniert werden können.²²³ Für die Deutung des verfassungsgerichtlichen Verständnisses des versammlungsrechtlichen Eingriffsregimes ist diese Frage von erheblicher Bedeutung, da die Vollstreckung von Auflagen – wie z. B. die Entfernung eines volksverhetzenden Teilnehmers aus der Versammlung im Wege des unmittelbaren Zwanges – ggf. an die Stelle verfassungsrechtlich unzulässiger Minusmaßnahmen treten könnte.

a) BVerfGK 4, 154 – Spontanversammlung (2004) Als uneindeutig erweist sich insoweit die erste einschlägige Entscheidung BVerfGK 4, 154: Zwar findet sich hier der Hinweis, dass der Erlass einer Abstandsverfügung als milderes Mittel im Vergleich zu einem (hypothetischen) Versammlungsausschluss anzusehen gewesen sei, zumal Verstöße des Beschwerdeführers hiergegen „weitere Maßnahmen“ ermöglicht hätten.²²⁴ Indes wird aus der Entscheidung nicht deutlich, ob sich die Kammer hier auf eine verwaltungsvollstreckungsrechtliche Vollziehung des Abstandsgebots, den Erlass

 Skeptisch insoweit auch BVerfG 4, 154 (159) = juris, Rn. 23: „Es kann dahinstehen, ob die an den Beschwerdeführer gerichtete Verfügung diesen Inhalt haben konnte, obwohl die Behörde gar nicht vom Vorliegen einer Versammlung ausging.“  Sächsisches OVG, Urteil vom 17. August 2016 – 3 A 64/14 –, juris, Rn. 51 ff.; Schwabe, DÖV 2010, S. 720 (723 f.).  BVerwGE 80, 164 (170); Kötter/Nolte, DÖV 2009, S. 399 (404); Neumann, Jura 2013, S. 139 (143); Sadler, in: Sadler, VwVG/VwZG, 9. Aufl. 2014, § 6 Rn. 30.  BVerfGK 4, 154 (160) = juris, Rn. 26.

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auf polizeirechtliche Eingriffsnormen gestützter Minusmaßnahmen²²⁵ oder den Erlass einer Ausschlussverfügung bezieht.

b) BVerfGK 11, 102 – Platzverweis, Versammlungsrecht (2007) Gegen die Möglichkeit einer verwaltungsverfahrensrechtlichen Vollstreckung versammlungsrechtlicher Auflagen vor Auflösung der Versammlung spricht indes die Entscheidung BVerfGK 11, 102. Denn die Kammer monierte hier ausdrücklich, dass der Einsatzleiter „Vollstreckungsmaßnahmen gegen den Beschwerdeführer als Teilnehmer einer Versammlung durchgeführt [habe], ohne diese zuvor aufgelöst oder den Beschwerdeführer aus der Versammlung ausgeschlossen zu haben.“ Versammlungsbeendende Maßnahmen seien rechtswidrig, solange nicht die Versammlung gemäß § 15 Abs. 3 VersG aufgelöst oder der Teilnehmer auf versammlungsrechtlicher Grundlage von der Versammlung ausgeschlossen worden sei.²²⁶ Zwar hatte die Entscheidung keine Vollstreckung einer versammlungsrechtlichen Auflage zum Gegenstand, so dass gewisse Restzweifel verbleiben könnten; der abschließende Charakter der Aufzählung der Voraussetzung für versammlungsbeendende Maßnahmen spricht jedoch dagegen, dass die Kammer eine verwaltungsvollstreckungsrechtliche Entfernung aus dem Versammlungsgeschehen für rechtmäßig gehalten haben könnte.

c) BVerfGE 122, 342 – Bayerisches Versammlungsgesetz (einstweilige Anordnung) In eine andere Richtung weist indes die einstweilige Anordnung des Ersten Senats zum Bayerischen Versammlungsgesetz (BVerfGE 122, 342). Im Rahmen der durch § 32 Abs. 1 BVerfGG gebotenen Folgeabwägung führte der Senat aus, dass eine Aussetzung einzelner Bußgeldbestimmungen nicht mit erheblichen Nachteilen verbunden sei, da eine Verletzung der bußgeldbewehrten versammlungsrechtlichen Verbote und Pflichten – u. a. die Pflichten des Versammlungsleiters zum Vorgehen gegen gewalttätige Versammlungsteilnehmer, das Uniformverbot und diverse Anzeigepflichten des Versammlungsleiters – nicht nur Anlass für nachträgliche Beschränkungen oder Verbote nach § 15 Abs. 1 BayVersG sein, sondern

 Dies ist angesichts der insoweit skeptischen Haltung der übrigen Entscheidungsteile allerdings nur wenig wahrscheinlich.  BVerfGK 11, 102 (114) = juris, Rn. 40.

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auch nach Maßgabe des Verwaltungsvollstreckungsrechts durchgesetzt werden könnten.²²⁷ Zwar handelt es sich bei den in Bezug genommenen versammlungsrechtlichen Pflichten teilweise um solche, die einer Vollstreckung während einer laufenden Versammlung kaum zugänglich sind und mit dem Grundsatz der Polizeifestigkeit der Versammlung daher von vorneherein nicht in Konflikt geraten können; jedenfalls das Uniformverbot des Art. 7 BayVersG bezieht sich jedoch eindeutig auf ein konkretes Versammlungsgeschehen und könnte – eine Konkretisierung durch Verwaltungsakt vorausgesetzt – strukturell ohne Weiteres im Wege des gestreckten Verwaltungszwangsverfahrens vollzogen werden. Vertiefende Ausführungen zu dieser Frage enthält allerdings auch diese Entscheidung – angesichts des Kontextes der Passage wenig überraschend –nicht.

d) Bewertung Insgesamt muss nach der – im Vergleich zu BVerfGK 11, 102 – deutlich jüngeren und als Senatsentscheidung auch formal gewichtigeren Entscheidung BVerfGE 122, 342 zwar davon ausgegangen werden, dass der Senat keine grundsätzlichen verfassungsrechtlichen Bedenken gegen die Vollziehung versammlungsrechtlicher Auflagen mit Mitteln des allgemeinen Vollstreckungsrechts hegt. Mit Bindungswirkung inter omnes entschieden ist diese Rechtsfrage damit indes nicht. Denn Entscheidungen im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzes sind zwar – insbesondere im Versammlungsrecht – durchaus geeignet, die Bindungswirkung des § 31 Abs. 1 BVerfGG auszulösen;²²⁸ auch ließe sich zumindest gut vertreten, die Ausführungen zur Möglichkeit der Vollstreckung versammlungsrechtlicher Auflagen den tragenden Gründen der Interessenabwägung in BVerfGE 122, 342 zuzurechnen.²²⁹ Indes erfasst die Bindungswirkung verfassungsgerichtlicher Judikate nur die Auslegung verfassungsrechtlicher Normen,²³⁰ so dass die Auslegung einfachen Rechts an der Bindungswirkung nur dann teilnimmt, wenn das Gericht die Verfassungswidrigkeit einer einfachrechtlichen Bestimmung feststellt oder eine bestimmte Normauslegung für verfassungswidrig erklärt.²³¹ Dies ist im Hinblick auf die Zulässigkeit der verwaltungsvollstreckungsrechtlichen Vollzie-

 BVerfGE 122, 342 (365 f.) = juris, Rn. 124.  Vgl. zur Bindungswirkung materiellrechtlicher Aussagen in versammlungsrechtlichen Eilentscheidungen BVerfGK 7, 229 (236 f.) = juris, Rn. 29 ff.  Vgl. zur Beschränkung der Bindungswirkung auf die tragenden Gründe MSKB/Bethge (52. EL September 2017), BVerfGG, § 31 Rn. 96, 102.  BVerfGK 7, 229 (237) = juris, Rn. 31.  BVerfGE 72, 119 (121) (Nichtannahmebeschluss).

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hung versammlungsrechtlicher Auflagen jedoch nicht der Fall, da der Senat eine entsprechende Auslegung des Fachrechts zwar – aus verfassungsgerichtlicher Perspektive – für möglich gehalten, aber nicht als verfassungsrechtlich zwingend erachtet hat. Ob vollstreckungsrechtliche Ermächtigungsgrundlagen daher unmittelbar zur Vollstreckung versammlungsrechtlicher Auflagen herangezogen werden können und der Grundsatz der Sperrwirkung des Versammlungsrechts daher insoweit durchbrochen wird, bedarf folglich auch weiterhin der fachgerichtlichen Klärung.²³² Hierbei stellt sich zunächst die Frage, ob die Normstruktur des § 15 VersG, dessen Abs. 3 als Folge der Verletzung von Auflagen selbst – jedenfalls ausdrücklich – nur die Auflösung vorsieht, verwaltungsvollstreckungsrechtliche Minusmaßnahmen ermöglicht. Dies erscheint normsystematisch zwar nicht ausgeschlossen, hätte aber zur Folge, dass die konkretisierende Funktion des versammlungsbeschränkenden Verwaltungsakts jedenfalls im Hinblick auf den konkret betroffenen Versammlungsteilnehmer teilweise verloren ginge. Strukturell stellt sich zudem die Frage, ob vollstreckungsrechtliche Eingriffe in das Versammlungsgrundrecht bereits dann zulässig sind, wenn – wie derzeit bundesweit der Fall²³³ – zwar das einschlägige Versammlungsgesetz, nicht aber das jeweilige Verwaltungsvollstreckungsgesetz den Vorgaben des Zitiergebots (Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG) entspricht. Dies dürfte allenfalls bei Maßnahmen in Betracht kommen, die – wie z. B. die Beschlagnahme bereits per Auflagenverfügung verbotener Transparente – nicht über das in der Grundverfügung geregelte Maß hinaus in die Versammlungsfreiheit eingreifen,²³⁴ nicht aber z. B. bei der Festnahme eines Redners zur Durchsetzung eines Redeverbots.²³⁵ Insoweit böte ein Rückgriff auf die Vollstreckung versammlungsrechtlicher Auflagen Potential

 Vgl. hierzu auch Sächsisches OVG, Urteil vom 17. August 2016 – 3 A 64/14 –, juris, Rn. 54 (Revisionszulassung wg. Grundsatzbedeutung der Rechtsfrage). Nach Auskunft des OVG wurde kein Rechtsmittel eingelegt.  Vgl. § 16 Abs. 1 S. 2 VwVG, Art. 40 BayVwZVG, § 8 Abs. 1 S. 1 VwVfG BE, § 40 VwVGBbg, § 21 BremVwVG, § 38 HmbVwVG, § 13 HessVwVG, § 113 SOG M-V, § 75 NVwVG, § 79 VwVG NRW, § 24 LVwVG R-Pf, § 12 SaarlVwVG, § 28 SächsVwVG, § 75 VwVG LSA, § 227 LVwG S-H, § 55 ThürVwZVG.  Vgl. zu diesem Argumentationsansatz BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 7. Dezember 1998 – 1 BvR 831/89 –, juris, Rn. 32 [Nichtannahmebeschluss]. Die Passage enthält allerdings keine Nachweise auf frühere Entscheidungen und entfaltet als Teil einer Nichtannahmeentscheidung auch keine formale Bindungswirkung. In diese Richtung aber wohl auch Stamm, Die Prinzipien und Strukturen des Zwangsvollstreckungsrechts (2007), S. 76 (mit Fn. 61).  Hierin läge dann auch eine – in BVerfGK 11, 102 (116 f.) missbilligte – versammlungsbeendende Vollstreckungsmaßnahme vor Auflösung der Versammlung bzw. Ausschluss des Versammlungsteilnehmers.

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für eine Harmonisierung mit der Rechtsprechung zur Zulässigkeit polizeirechtlicher Minusmaßnahmen, da nicht teilnahmebeschränkende bzw. -beendende „Minusmaßnahmen“ so ohne den – konstruktiv höchst zweifelhaften²³⁶ – Rückgriff auf landesrechtliche Ermächtigungsgrundlagen durch (ggf. nachträgliche)²³⁷ Auflagenverfügungen realisiert²³⁸ und bei Nichtbeachtung ggf. vollstreckt werden könnten. In der Rechtsprechung wurden diese Fragen bislang jedoch jedenfalls nicht ausdrücklich erörtert, so dass von einem „Geklärtsein“ in der Rechtsprechung auch in dieser Hinsicht nicht die Rede sein kann bzw. könnte.

V. Fazit Eine Gesamtschau auf die – wie dargelegt spärliche – Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Grundsatz der Polizeifestigkeit der Versammlung offenbart gleich mehrere überraschende Befunde: ‒ In der Rechtsprechung lassen sich mit dem allgemeinen Spezialitätsgrundsatz,²³⁹ dem kompetenziellen Spezialitätsgrundsatz²⁴⁰ und einem materiellverfassungsrechtlichen Ansatz²⁴¹ insgesamt drei konkurrierende bzw. sich ergänzende Erklärungsansätze für den Grundsatz der „Polizeifestigkeit der Versammlung“ nachweisen. Die – als Nichtannahmeentscheidung indes formal nicht bindende – Kammerentscheidung „Blockupy Frankfurt“²⁴² legt dabei allerdings den Schluss nahe, dass der materiell-verfassungsrechtliche Ansatz nach dem Vorverständnis der Kammer jedenfalls keine tragende Rolle (mehr) spielt.²⁴³ ‒ Hieraus folgt – wenngleich ebenso ohne formale Bindungswirkung entschieden – unmittelbar, dass der Grundsatz der Polizeifestigkeit der Versammlung nach Auffassung der Kammer nur im Rahmen des Gefahrenabwehrrechts Geltung beansprucht, er Eingriffen auf Grundlage der Strafprozessordnung  Vgl. Schnur, VR 2000, S. 114 (116 ff.); Butzer, VerwArch 93 (2002), S. 506 (533); Kötter/Nolte, DÖV 2009, S. 399 (403 f.); Neumann, Jura 2013, S. 139 (144); Wefelmeyer, NdsVBl 2013, S. 209 (211).  Vgl. zur Problematik nachträglicher Auflagen allerdings Kötter/Nolte, DÖV 2009, S. 399 (404).  Vgl. Kötter/Nolte, DÖV 2009, S. 399 (403 f.).  Oben IV. 1. a) aa).  Oben IV. 1. a) bb).  Oben IV. 1. a) cc).  BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 2. November 2016 – 1 BvR 289/15 –, juris.  Oben IV. 1. b) dd); IV. 1. c).

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     

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(oder einer Ahndung strafbaren Verhaltens im Rahmen einer nicht aufgelösten Versammlung) aber nicht entgegengehalten werden kann.²⁴⁴ Hier verbleibt es letztlich – nicht anders als bei Anwendung materieller Strafrechtsnormen²⁴⁵ – bei einem Gebot der Berücksichtigung der Wertungen des Art. 8 GG auf Tatbestands- und Rechtsfolgenseite.²⁴⁶ Nicht abschließend geklärt ist indes, in welchem Umfang der Grundsatz der Polizeifestigkeit der Versammlung der Anwendung polizeirechtlicher Ermächtigungsgrundlagen auf das Versammlungsgeschehen entgegensteht. Während die erste einschlägige Kammerentscheidung BVerfGK 4, 154 hier allgemein von „Maßnahmen der Gefahrenabwehr gegen Versammlungen“ bzw. „beschränkenden Maßnahmen“ spricht, scheint die Entscheidung BVerfGK 11, 102 die Sperrwirkung nur auf teilnahmebeschränkende oder -beendende Maßnahmen zu beziehen.²⁴⁷ Ob hierin in der Sache eine Rücknahme des sachlichen Umfangs der Sperrwirkung gegenüber der vorangegangenen Entscheidung gesehen werden muss, bleibt jedoch unklar, weil die Bedeutung des Begriffs der „teilnahmebeschränkenden“ Maßnahmen in der Entscheidung nicht näher erklärt wird und insbesondere die Abgrenzung zu (sonstigen) „beschränkenden Maßnahmen“ nicht eindeutig erscheint.²⁴⁸ Der Beschluss vom 11. Dezember 2010 deutet insoweit eine vermittelnde Lösung an, nimmt zu den teilweise engeren Formulierungen in BVerfGK 11, 102 aber nicht ausdrücklich Stellung.²⁴⁹ Infolgedessen bleibt unklar, ob die einschränkenden Formulierungen der Entscheidung BVerfGK 11, 102 als (partielle) Konzession an die bundesverwaltungsgerichtliche Rechtsprechung zur Zulässigkeit von Minusmaßnahmen verstanden werden kann: Sieht man den Umfang der Sperrwirkung des Versammlungsrechts auf teilnahmebeschränkende gefahrenabwehrrechtliche Maßnahmen – wie Platzverweise, Ingewahrsamnahmen etc. – beschränkt, so wären sonstige, i. d. R. nicht unmittelbar personenbezogene Minusmaßnahmen – wie die Beschlagnahme von Spruchbändern, verbotenen Gegenständen oder Akustikausrüstung – verfassungsrechtlich unbedenklich. Dies entspräche angesichts der von der Kammer wohl bevorzugten rein fachrechtsakzessorischen Herleitung des Grundsatzes der Polizeifestigkeit der Versammlung allerdings einer Auslegung des einfachgesetzlichen

Oben IV. 2. c). Oben IV. 2. b). Oben IV. 2. c). Oben IV. 2. b). Oben IV. 3. b), d). Oben IV. 3. c), d).

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Fachrechts, die so bislang jedenfalls nicht herrschend ist.²⁵⁰ In negativer Hinsicht ist hingegen geklärt, dass die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur Zulässigkeit von „Minusmaßnahmen“ im Übrigen nicht mit der Kammerrechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts vereinbar ist, da teilnahmebeendende oder -beschränkende Eingriffe nicht auf Normen des allgemeinen Polizeirechts gestützt werden können.²⁵¹ Zwar spricht vieles dafür, dass – nach dem Vorstehenden zwingend rechtswidrige – teilnahmebeschränkende Maßnahmen auf Grundlage allgemeiner polizeirechtlicher Bestimmungen unter Anwendung der in § 47 (L)VwVfG kodifizierten allgemeinen Grundsätze im Einzelfall in eine Auflösung oder einen Teilnehmerausschluss umgedeutet werden könnten.²⁵² Da die herausgehobene Bedeutung des Art. 8 GG hier jedoch stets sowohl im Hinblick auf die Bestimmtheit der Verfügung als auch im Hinblick auf die individuellen Ermessenserwägungen Berücksichtigung finden müssen, wird dies in der Praxis nur äußerst ausnahmsweise in Betracht kommen.²⁵³ Verfassungsgerichtlich geklärt ist allerdings auch diese Frage nicht. Ob sich – wie von der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung angenommen – die Sperrwirkung des Versammlungsrechts nur auf solche Gefahrenabwehrmaßnahmen erstreckt, die der Abwehr versammlungsspezifischer Gefahren dienen,²⁵⁴ könnte angesichts einzelner in der Kammerrechtsprechung enthaltener Formulierungen zweifelhaft sein. Da die Frage nie unmittelbar Gegenstand einer Kammerentscheidung war und es sich letztlich – jedenfalls bei Ablehnung des o.g. materiell-verfassungsrechtlichen Ansatzes – alleine um eine Frage der Auslegung des Fachrechts handelt, dürfte die Rechtsprechung jedoch voraussichtlich keinen durchgreifenden verfassungsrechtlichen Einwendungen begegnen.²⁵⁵ Soweit man die Frage als rein

 Vgl. zu dieser Auffassung Schnur, VR 2000, S. 114 (119), Butzer, VerwArch 93 (2002), S. 506 (534 ff.) sowie umfassend Neuner, Zulässigkeit und Grenzen polizeilicher Verweisungsmaßnahmen, 2003, S. 193 ff., 204 ff.; Höfling, in: Sachs, GG, 8. Aufl. 2018, Art. 8 Rn. 62. Dagegen aber z. B. Müller-Franken, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, 14. Aufl. 2017, Art. 8 Rn. 57; Kniesel/Poscher, in: Lisken/Denninger, Handbuch des Polizeirechts, 5. Aufl. 2012, Kap. K Rn. 19, 28 ff.; Enders, Jura 2003, S. 34 (39), Kötter/Nolte, DÖV 2009, S. 399 (404); Enders/Koll, AL 2016, S. 187 (191 f.) sowie (wenngleich kritisch zu den Folgen dieses Verständnisses) Schwabe, DÖV 2010, S. 720 (722).  BVerfGK 11, 102 (115) = juris, Rn. 43.  Oben IV. 5. c).  Oben IV. 5. c).  Oben Fn. 136 ff.  Vgl. oben IV. 2. d).

Die Rechtsfigur der „Polizeifestigkeit der Versammlung“



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einfachrechtlich determiniert begreift, besteht insoweit auch kein verfassungsgerichtlicher Klärungsbedarf. Als offen bezeichnet werden muss die Frage, ob und in welchem Umfang versammlungsrechtliche Auflagen einer Vollstreckung auf Grundlage des allgemeinen Verwaltungsvollstreckungsrechts zugänglich sind. Zwar enthält die Senatsentscheidung zum Bayerischen Versammlungsgesetz (BVerfGE 122, 342) insoweit eine eindeutige Positivaussage,²⁵⁶ die mit früheren Aussagen der Kammer aber potentiell in Konflikt steht²⁵⁷ und zudem selbst keine Bindungswirkung für die Auslegung des einschlägigen Fachrechts entfaltet.²⁵⁸ Von verfassungsrechtlicher Tragweite ist dabei allerdings die Frage, ob das Zitiergebot einer verwaltungsverfahrensrechtlichen Vollstreckung versammlungsrechtlicher Auflagen derzeit generell entgegensteht oder eine Vollstreckung zumindest in jenen Fällen ermöglicht, in denen die Beeinträchtigung der Versammlungsfreiheit bereits unmittelbar im zu vollstreckenden Verwaltungsakt angelegt ist.²⁵⁹ Von einer Klärung kann insoweit aber ebenfalls keine Rede sein.

Zusammenfassend lässt sich daher feststellen, dass Geltungsgrund und -umfang des Grundsatzes der Polizeifestigkeit der Versammlung jedenfalls in der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung kaum geklärt sind und insbesondere die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur Zulässigkeit von „Minusmaßnahmen“ unter Rückgriff auf allgemeine polizeirechtliche Bestimmungen jedenfalls in ihrer Absolutheit verfassungsrechtlich auf tönernen Füßen steht. Da auch andere Grundannahmen der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung zur „Polizeifestigkeit der Versammlung“ bislang nicht Gegenstand der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung waren, kann – auch wenn einiges für die Vereinbarkeit dieser Rechtsprechung mit verfassungsrechtlichen Grundsätzen sprechen mag – entgegen vereinzelter Andeutungen in der Rechtsprechung kaum von einer endgültigen Klärung der in diesem Zusammenhang aufgeworfenen Rechtsfragen gesprochen werden. Auf die – letztlich auf einen spezifischen Fall bezogene – Grundaussage des Bundesverwaltungsgerichts zum Stand der Klärung von Grundsatzfragen des Grundsatzes der Polizeifestigkeit der Versammlung darf sich die akademische Kritik – zumal in einem Sammelband, der „Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts“ gewidmet ist – allerdings nicht beschränken. Zwar    

Oben IV. 6. c). Vgl. zu BVerfGK 11, 103 oben IV. 6. c). Oben IV. 6. d). Oben IV. 6. d).

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mag die von der Kammer zuletzt wohl bevorzugte Lösung, den Grundsatz der Polizeifestigkeit der Versammlung ausschließlich aus dem allgemeinen bzw. kompetenziellen Spezialitätsgrundsatz herzuleiten²⁶⁰ und daher nicht auf das Verhältnis zwischen strafprozessualen und versammlungsrechtlichen Ermächtigungsgrundlagen zu erstrecken,²⁶¹ im Ergebnis zutreffend sein.²⁶² Angesichts der gegenteiligen Andeutungen in früheren Kammerentscheidungen²⁶³ und der teilweise abweichenden fachgerichtlichen Rechtsprechung²⁶⁴ lässt sich jedoch daran zweifeln, ob der Frage nicht grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung zugekommen wäre, die – unabhängig von den Erfolgsaussichten der Verfassungsbeschwerde – eine Befassung der Kammer an Stelle des zur Entscheidung von Grundsatzfragen berufenen Senats ausgeschlossen hätte (§ 93a Abs. 2 lit. a), § 93b Satz 2 BVerfGG). Diese Grundsatzbedeutung dürfte durch die Kammerentscheidung indes nicht entfallen sein, da die Begründung der in Form der Nichtannahmeentscheidung – d. h. nicht als Sachentscheidung – ergangenen Kammerentscheidung nach § 31 BVerfGG keinerlei formale Bindungswirkung entfaltet²⁶⁵ und daher – unabhängig von ihrer inhaltlichen Überzeugungskraft – zur Klärung grundsätzlich bedeutsamer Rechtsfragen nicht beitragen kann. Insoweit mag daher auch für das Bundesverfassungsgericht in Zukunft Anlass bestehen, zur weiteren Klärung der Grundlagen des Grundsatzes der Polizeifestigkeit der Versammlung beizutragen. Deutet man den Grundsatz der Polizeifestigkeit der Versammlung als Ausfluss alleine des allgemeinen bzw. kompetenziellen Spezialitätsprinzips, so stünden schließlich vorrangig die Gesetzgebungsorgane in der Pflicht: Da das einfache Recht auf eine Vielzahl der hier aufgeworfenen Fragen jedenfalls keine eindeutigen Antworten liefert und das Versammlungsgesetz des Bundes schon seit geraumer Zeit als unzureichend in der Kritik steht,²⁶⁶ stünde es dem Gesetzgeber gut zu Gesicht, die offenen Streitfragen eindeutig zu regeln und der materiellen Bedeutung des Versammlungsgrundrechts hierbei schon im Rahmen der Normsetzung angemessen Rechnung zu tragen. Hierzu böte die mittlerweile schon über  Oben IV. 1. b), dd), IV. 1. c).  Oben IV. 2. c).  Vgl. hierzu allerdings Wittmann, in: Ridder/Breitbach/Deiseroth, Versammlungsrecht, 2. Aufl., § 15 VersammlG, Rn. 19 ff., 25 ff. sowie 52 ff.  Oben IV. 1. a) aa) – cc).  Oben Fn. 130 ff.  Graßhof, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, 25. EL (März 2006), § 93a Rn. 47 f., 50 ff.  Schwabe, DÖV 2010, S. 720 (721); Wefelmeyer, NdsVBl 2013, S. 209 (214); Ullrich, Das Demonstrationsrecht, 2015, S. 515 f.; im Ansatz auch Bünnigmann, JuS 2016, S. 695 (698) und Robrecht, in: Schwier (Hrsg.), Zum aktuellen Stand des Versammlungsrechts, 2017, S. 159 (174).

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ein Jahrzehnt zurückliegende Föderalismusreform I zugleich Anreiz und Anlass für die jeweiligen Landesgesetzgeber, die verschiedenen denkbaren Regelungstechniken aufzugreifen und so ihre eigenen Vorstellungen von der Versammlungsfreiheit als zentrales Grundelement des demokratischen Rechtsstaats zu verwirklichen.²⁶⁷ Die Abgrenzung der Zuständigkeitsbereiche zwischen Gesetzgebung (Normsetzung), fachgerichtlicher Rechtsprechung (Norminterpretation) und dem Bundesverfassungsgericht (Auslegung und Anwendung verfassungsrechtlicher Normen) – und damit die jeweilige Aufgabenwahrnehmung der Akteure an sich – könnte hiervon nur profitieren.

 Vgl. BVerfGE 69, 315 (345 f.).

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Art. 14 GG und Sozialrecht – Der verfassungsrechtliche Eigentumsschutz sozialrechtlicher Ansprüche und Anwartschaften Leitentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (Senat) BVerfGE 53, 257 – Versorgungsausgleich BVerfGE 64, 87 – Rentenanpassung BVerfGE 69, 272 – beitragsfreie Krankenversicherung, Krankenversicherungsbeitrag BVerfGE 72, 9 –Arbeitslosengeld BVerfGE 76, 200 – Leistungskürzung im Rehabilitationsrecht BVerfGE 97, 271 – Hinterbliebenenrente BVerfGE 97, 378 –Krankengeldanspruch BVerfGE 100, 1 – Rentenanwartschaften der DDR BVerfGE 116, 96 – Fremdrentengesetz BVerfGE 128, 90 – Abschaffung der Arbeitslosenhilfe

Wichtige Kammerentscheidungen BVerfGK 11, 465 – Rentenanpassung BVerfGK 14, 287 – Krankenversicherung der Rentner, Beitrag zur sozialen Pflegeversicherung BVerfGK 18, 377 – Anrechnung der Verletztenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung auf das Arbeitslosengeld II BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 26. März 2014 – 1 BvR 1133/17 –, juris – Pflegesachleistung und Pflegegeld BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 3. Juni 2014 – 1 BvR 79/09, u. a. –, juris – Ausbleiben der Rentenerhöhung im Jahr 2005

Schrifttum (Auswahl) Adam, Eigentumsschutz in der gesetzlichen Rentenversicherung, 2009; Axer/Wiegand, Eigentumsschutz und Vertrauensschutz in der sozialen Pflegeversicherung, SGb 2015, S. 477 ff.; F. Kirchhof, Die Entwicklung des Sozialverfassungsrechts, NZS 2015, S. 1 ff.; Steiner, Sozialstaatsfragen in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, in: Freiheit und Sicherheit in Deutschland und Europa, Festschrift für Hans-Jürgen Papier zum 70. Geburtstag, S. 389 ff.

https://doi.org/10.1515/9783110599916-011

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Inhalt A. Einleitung 232 B. Der grundgesetzliche Eigentumsschutz 233 I. Schutzbereich 233 II. Eigentumsrechtlich relevantes hoheitliches Handeln 234 C. Der Schutz einzelner sozialrechtlicher Ansprüche und Anwartschaften 235 I. Voraussetzungen des verfassungsrechtlichen Eigentumsschutzes von 236 sozialrechtlichen Ansprüchen und Anwartschaften 236 . Ausschließlichkeitsrecht . Nicht unerhebliche Eigenleistung 237 . Zweck der Existenzsicherung 237 II. Die einzelnen sozialrechtlichen Ansprüche und Anwartschaften 238 . Gesetzliche Rentenversicherung 238 a) Renten aus eigener Versicherung 238 b) Anwartschaft auf eine Rente aus eigener Versicherung 239 c) Hinterbliebenenrenten 239 d) Rentenanpassung 240 240 e) DDR-Renten f) Fremdrenten 241 g) Rehabilitationsleistungen 243 . Gesetzliche Unfallversicherung 243 . Gesetzliche Krankenversicherung 244 . Soziale Pflegeversicherung 244 245 . Gesetzliche Arbeitslosenversicherung . Steuerfinanzierte Sozialleistungen 245 . Zwischenergebnis 246 D. Verfassungsrechtlicher Eigentumsschutz gegenüber Erstattungsansprüchen 246 I. Die Pflicht zur Rückübereignung von gegenständlichen Sozialleistungen 247 II. Die Pflicht zur Erstattung von Sach- und Dienstleistungen in Geld 248 . Die Rechtsprechung des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts 248 . Die Rechtsprechung des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts 249 . Die rechtswissenschaftliche Literatur 250 . Stellungnahme 251 III. Folgen 252 E. Fazit 253

A. Einleitung Das Grundgesetz enthält kein eigenes Sozialverfassungsrecht und – im Gegensatz zu einigen Landesverfassungen¹ – auch keine sozialen Grundrechte. Zum Sozi Etwa das Recht auf Arbeit und Fürsorge nach Art. 28 der Verfassung des Landes Hessen oder das Recht auf Wohnung nach Art. 14 der Verfassung der Freien Hansestadt Bremen.

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alrecht lassen sich dem Text des Grundgesetzes² nur wenige Vorgaben entnehmen.³ Das Sozialverfassungsrecht wird deshalb aus den allgemeinen grundrechtlichen Gewährleistungen – insbesondere aus den Art. 1 bis 3 und Art. 14 GG – durch die Dritte Gewalt formuliert.⁴ Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts – vornehmlich die Senatsrechtsprechung, aber auch die Kammerrechtsprechung – hat für die Entwicklung des Sozialverfassungsrechts eine herausragende Bedeutung. Dieser Beitrag widmet sich einem Teil des Sozialverfassungsrechts, dem Schutz sozialrechtlicher Ansprüche und Anwartschaften durch die verfassungsrechtliche Eigentumsgarantie nach Art. 14 Abs. 1 GG. Allgemeinen Ausführungen zum grundgesetzlichen Eigentumsschutz (B.) schließt sich die Darstellung der einschlägigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts an (C.). Abschließend wird der Frage nachgegangen, ob die grundgesetzlich gewährleistete Eigentumsfreiheit auch dann betroffen ist, wenn der Sozialleistungsberechtigte zunächst in Erfüllung seines durch Art. 14 Abs. 1 GG geschützten Sozialleistungsanspruchs eine Sozialleistung erhalten hat, er jedoch nachfolgend einem Anspruch auf Erstattung dieser Leistungen ausgesetzt ist (D.). Mit dieser Frage hat sich das Bundesverfassungsgericht in seiner bisherigen Rechtsprechung – soweit ersichtlich – nicht befasst.

B. Der grundgesetzliche Eigentumsschutz Zunächst werden in der gebotenen Kürze grundsätzliche Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts zum Schutzbereich des verfassungsrechtlich garantierten Eigentums dargestellt. Dem schließt sich ein Überblick über das eigentumsrechtlich relevante hoheitliche Handeln an.

I. Schutzbereich Das nach Art. 14 Abs. 1 GG gewährleistete Eigentum ist von besonderer Bedeutung für den sozialen Rechtsstaat.⁵ Der Eigentumsgarantie kommt im Gefüge der

 Art. 20 Abs. 1, Art. 28 Abs. 1 Satz 1, Art. 74 Abs. 1 Nrn. 7 und 12, Art. 87 Abs. 2, Art. 91e, Art. 120 Abs. 1 Satz 4 GG.  F. Kirchhof, NZS 2015, S. 1 (1); Steiner, Freiheit und Sicherheit in Deutschland und Europa, S. 389 (390).  F. Kirchhof, NZS 2015, S. 1 (1).  BVerfGE 14, 263 (277); 143, 246 (323 Rn. 216).

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Grundrechte insbesondere die Aufgabe zu, dem Träger des Grundrechts einen Freiheitsraum im vermögensrechtlichen Bereich zu sichern. Das verfassungsrechtlich gewährleistete Eigentum ist durch seine Privatnützigkeit und die grundsätzliche Verfügungsbefugnis des Eigentümers über den Eigentumsgegenstand gekennzeichnet.⁶ Es soll als Grundlage privater Initiative und in eigenverantwortlichem privatem Interesse von Nutzen sein.⁷ Dabei genießt das Eigentum einen besonders ausgeprägten Schutz soweit es um die Sicherung der persönlichen Freiheit des Einzelnen geht.⁸ Zugleich soll der Gebrauch des Eigentums dem Wohl der Allgemeinheit dienen (vgl. Art. 14 Abs. 2 Satz 2 GG).⁹ Der Eigentumsschutz im Bereich des Privatrechts betrifft grundsätzlich alle vermögenswerten Rechte, die dem Berechtigten von der Rechtsordnung in der Weise zugeordnet sind, dass er die damit verbundenen Befugnisse nach eigenverantwortlicher Entscheidung zu seinem privaten Nutzen ausüben darf. Damit schützt die Eigentumsgarantie nicht nur dingliche oder sonstige gegenüber jedermann wirkende Rechtspositionen, sondern auch schuldrechtliche Forderungen. Die der Gewährleistung des Eigentums zukommende sichernde und abwehrende Bedeutung gilt in besonderem Maße für schuldrechtliche Ansprüche, die den Charakter eines Äquivalents für Einbußen an Lebenstüchtigkeit besitzen.¹⁰ Ein öffentlich-rechtlicher Anspruch nimmt dann am verfassungsrechtlichen Eigentumsschutz teil, wenn der ein subjektiv-öffentliches Recht begründende Sachverhalt dem Einzelnen eine Rechtsposition verschafft, die derjenigen des Eigentümers entspricht.¹¹

II. Eigentumsrechtlich relevantes hoheitliches Handeln Im Rahmen des Art. 14 GG kann der Gesetzgeber in dreifacher Weise eigentumsrechtlich relevante Vorschriften erlassen: Das Eigentum als Zuordnung eines Rechtsguts an einen Rechtsträger bedarf, um im Rechtsleben praktikabel zu sein, notwendigerweise der rechtlichen Ausformung. Demgemäß hat das Grundgesetz in Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG dem Ge-

 BVerfGE 31, 229 (240); 50, 290 (339); 52, 1 (30); 100, 226 (241); 102, 1 (15); 143, 246 (323 Rn. 216); stRspr.  BVerfGE 100, 226 (241).  BVerfGE 50, 290 (340); 143, 246 (323 Rn. 216).  BVerfGE 134, 242 (290 f. Rn. 167 f.); 143, 246 (323 Rn. 216).  BVerfGE 112, 93 (107).  BVerfGE 53, 257 (289).

Verfassungsrechtlicher Eigentumsschutz sozialrechtlicher Ansprüche

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setzgeber die Aufgabe übertragen, den Inhalt und die Schranken des Eigentums zu bestimmen. Solche Normen legen generell und abstrakt die Rechte und Pflichten des Eigentümers fest, bestimmen also den Inhalt des Eigentums. Der Gesetzgeber schafft damit auf der Ebene des objektiven Rechts diejenigen Rechtssätze, welche die Rechtsstellung des Eigentümers begründen und ausformen; sie können privatrechtlicher oder öffentlich-rechtlicher Natur sein. Im Weiteren hat der Gesetzgeber nach Art. 14 Abs. 3 Satz 2 GG die Möglichkeit, durch Gesetz einem bestimmten oder bestimmbaren Personenkreis konkrete Eigentumsrechte zu entziehen, die aufgrund der allgemein geltenden Gesetze im Sinne des Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG erworben worden sind (Legalenteignung). Schließlich kann der Gesetzgeber – ebenfalls nach Art. 14 Abs. 3 Satz 2 GG – der Exekutive die Ermächtigung erteilen, konkretes Eigentum Einzelner zu entziehen (Administrativenteignung).¹² Eine Enteignung nach Art. 14 Abs. 3 GG setzt den Entzug des Eigentums durch die Änderung der Eigentumszuordnung voraus. Den Streit, ob eine Enteignung darüber hinaus der Güterbeschaffung dienen muss, hat das Bundesverfassungsgericht nunmehr in seinem Urteil zum Atomausstieg entschieden: „Die Enteignung im Sinne des Art. 14 Abs. 3 GG setzt weiterhin zwingend voraus, dass der hoheitliche Zugriff auf das Eigentumsrecht zugleich eine Güterbeschaffung zugunsten der öffentlichen Hand oder des sonst Enteignungsbegünstigten ist.“¹³ Einschränkungen der Nutzungs- und Verfügungsbefugnis über das Eigentum sind dagegen Inhalts- und Schrankenbestimmungen im Sinne von Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG; führen sie dabei – ohne der Güterbeschaffung zu dienen – zu einem Entzug konkreter Eigentumspositionen, sind gesteigerte Anforderungen an deren Verhältnismäßigkeit zu stellen.¹⁴

C. Der Schutz einzelner sozialrechtlicher Ansprüche und Anwartschaften Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Rechtsprechung die notwendigen allgemeinen Voraussetzungen für den verfassungsrechtlichen Eigentumsschutz von sozialrechtlichen Ansprüchen und Anwartschaften definiert. Diese Voraussetzungen werden zunächst dargestellt und erläutert. Anschließend wird auf die bundesverfassungsgerichtliche Rechtsprechung eingegangen, die zu einer Kon-

 BVerfGE 58, 300 (330 f.).  BVerfGE 143, 246 (333 f. Rn. 246).  BVerfGE 143, 246 (332 f. Rn. 243).

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kretisierung dieser allgemeinen Voraussetzungen in den einzelnen Bereichen des Sozialrechts geführt hat.

I. Voraussetzungen des verfassungsrechtlichen Eigentumsschutzes von sozialrechtlichen Ansprüchen und Anwartschaften Das Bundesverfassungsgericht hat im Jahr 1985 erstmals die allgemeinen Voraussetzungen definiert, die erfüllt sein müssen, damit sozialrechtliche Ansprüche und Anwartschaften am Schutzbereich der grundgesetzlichen Eigentumsgarantie teilhaben: „Voraussetzung für einen Eigentumsschutz sozialversicherungsrechtlicher Positionen ist eine vermögenswerte Rechtsposition, die nach Art eines Ausschließlichkeitsrechts dem Rechtsträger als privatnützig zugeordnet ist; diese genießt den Schutz der Eigentumsgarantie dann, wenn sie auf nicht unerheblichen Eigenleistungen des Versicherten beruht und zudem der Sicherung seiner Existenz dient. Liegen diese Voraussetzungen nicht vor, dann kommt bei gesetzlichen Eingriffen in sozialversicherungsrechtliche Positionen zwar ein Schutz durch andere Grundrechte, nicht aber aus Art. 14 GG in Betracht. Ein darüber hinausgehender Schutz durch die Eigentumsgarantie würde ihrer Aufgabe im Gesamtgefüge der Verfassung nicht mehr gerecht.“¹⁵

Maßgeblich für den grundgesetzlichen Eigentumsschutz sind demnach die Kriterien des Ausschließlichkeitsrechts (1.), der nicht unerheblichen Eigenleistung (2.) und des Zwecks der Existenzsicherung (3.).

1. Ausschließlichkeitsrecht Es muss eine vermögenswerte Rechtsposition bestehen, die nach Art eines Ausschließlichkeitsrechts dem Rechtsträger als privatnützig zugeordnet ist. Die in Betracht kommende Rechtsposition muss ein subjektiv-öffentliches Recht auf Leistung begründen, das dem Einzelnen eine Rechtsposition verschafft, die derjenigen eines Eigentümers entspricht. Das ist der Fall, wenn der Berechtigte davon ausgehen kann, dass es sich um „seine“, ihm ausschließlich zustehende Rechtsposition handelt. Solche Rechtspositionen sind von denjenigen zu unterscheiden, bei denen die Leistung vom Ermessen des Versicherungsträgers ab-

 BVerfGE 69, 272 (300).

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hängt oder auf die nach der jeweiligen Gesetzeslage lediglich eine Aussicht besteht, die anders als eine Anwartschaft nicht allein durch die Erfüllung weiterer Voraussetzungen, etwa des Ablaufs einer Wartezeit und des Eintritts des Versicherungsfalls, zum Vollrecht erstarken kann.¹⁶

2. Nicht unerhebliche Eigenleistung Der sozialrechtlichen Rechtsposition muss weiterhin eine nicht unerhebliche Eigenleistung des Versicherten zugrunde liegen. Der Eigentumsschutz beruht im Wesentlichen darauf, dass die in Betracht kommende Rechtsposition durch die persönliche Arbeitsleistung des Versicherten, wie diese vor allem in den einkommensbezogenen Eigenleistungen Ausdruck findet, mitbestimmt ist. Der Annahme einer nicht unerheblichen Eigenleistung steht es nicht entgegen, wenn die Rechtsposition auch oder überwiegend auf staatlicher Gewährung beruht. Dies schließt den Eigentumsschutz ebenso wenig von vornherein aus wie bei Sachgütern, die mit Hilfe von Subventionen oder Steuererleichterungen erworben wurden. Der Umfang der Eigenleistung ist vor allem für die weitere Frage wesentlich, inwieweit der Gesetzgeber Inhalt und Schranken (vgl. Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG) einer unter die Eigentumsgarantie fallenden sozialrechtlichen Position regeln kann.¹⁷ Als eigene Leistungen des Versicherten sind nicht nur die von ihm selbst bezahlten Beiträge, sondern in der Regel auch solche Beiträge zu berücksichtigen, die von Dritten zu seinen Gunsten dem Träger der Sozialversicherung zugeflossen sind. Hierzu gehören etwa Arbeitgeberanteile im Bereich der gesetzlichen Rentenund Krankenversicherung, die den eigentumsrelevanten Eigenleistungen des Arbeitnehmers zuzurechnen sind.¹⁸

3. Zweck der Existenzsicherung Ein weiteres konstituierendes Merkmal für den verfassungsrechtlichen Eigentumsschutz sozialrechtlicher Ansprüche und Anwartschaften ist schließlich deren Zweck, der Existenzsicherung des Berechtigten zu dienen.

 BVerfGE 69, 272 (300 f.).  BVerfGE 69, 272 (301).  BVerfGE 69, 272 (302).

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Die große Mehrzahl der Staatsbürger erlangt ihre wirtschaftliche Existenzsicherung weniger durch privates Sachvermögen als durch den Arbeitsertrag und die daran anknüpfende solidarisch getragene Daseinsvorsorge. Es würde zu einem mit dem Schutz des Eigentums schwerlich zu vereinbarenden Funktionsverlust führen, wenn die Eigentumsgarantie solche vermögensrechtlichen Positionen nicht umfasste. Es ist unerheblich, ob ein Grundrechtsträger nach seinem individuellen Vermögensstand mehr oder weniger auf den Bezug einer sozialrechtlichen Leistung angewiesen ist. Vielmehr ist die objektive Zielsetzung der öffentlich-rechtlichen Sozialleistung zur Existenzsicherung des Leistungsberechtigten von Bedeutung.¹⁹

II. Die einzelnen sozialrechtlichen Ansprüche und Anwartschaften Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner nachfolgenden Rechtsprechung diese soeben dargestellten grundsätzlichen und allgemeinen Voraussetzungen für den verfassungsrechtlichen Eigentumsschutz von sozialrechtlichen Ansprüchen und Anwartschaften auf die einzelnen Teilgebiete des Sozialrechts angewandt und teilweise weiter konkretisiert.

1. Gesetzliche Rentenversicherung Häufiger Gegenstand der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung im Bereich des Sozialrechts war die gesetzliche Rentenversicherung. Neben dem allgemeinen Gleichheitssatz nach Art. 3 Abs. 1 GG war Gegenstand dieser Rechtsprechung vornehmlich der grundgesetzliche Eigentumsschutz.

a) Renten aus eigener Versicherung Bereits im Jahr 1980 und demnach noch vor der Aufstellung der bereits genannten allgemeinen Voraussetzungen für den verfassungsrechtlichen Eigentumsschutz sozialrechtlicher Positionen hat das Bundesverfassungsgericht die Ansprüche auf eine Rente aus eigener Versicherung²⁰ in der gesetzlichen Rentenversicherung dem

 BVerfGE 69, 272 (303 f.).  Renten wegen Alters (vgl. § 33 Abs. 2 SGB VI) und verminderter Erwerbsfähigkeit (vgl. § 33 Abs. 3 SGB VI).

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Schutzbereich des Art. 14 GG unterstellt. Nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts erfüllen diese Ansprüche Funktionen, deren Schutz die Aufgabe der Eigentumsgarantie sei, und weisen konstituierende Merkmale des durch Art. 14 GG geschützten Eigentums auf.²¹

b) Anwartschaft auf eine Rente aus eigener Versicherung Im Rahmen der vorgenannten Entscheidung aus dem Jahr 1980 hat das Bundesverfassungsgericht nicht nur Rentenansprüche aus eigener Versicherung, sondern auch Anwartschaften auf diese Renten als von der verfassungsrechtlichen Eigentumsgarantie geschützt angesehen.²² Den Begriff der Rentenanwartschaft hat das Bundesverfassungsgericht hierbei als Rechtsposition des Versicherten nach Begründung des Rentenversicherungsverhältnisses definiert, die bei Erfüllung weiterer Voraussetzungen, etwa des Ablaufs der Wartezeit und des Eintritts des Versicherungsfalls, zum Vollrecht erstarken kann.²³

c) Hinterbliebenenrenten Ansprüche von Versicherten in der gesetzlichen Rentenversicherung auf Versorgung ihrer Hinterbliebenen²⁴ nehmen hingegen nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht am grundgesetzlichen Eigentumsschutz nach Art. 14 Abs. 1 GG teil.²⁵ Zur Begründung hat das Bundesverfassungsgericht ausgeführt, dass nach der Konzeption des Gesetzgebers die Hinterbliebenenversorgung dem Versicherten nicht als Rechtsposition privatnützig zugeordnet sei. Sie erstarke nach § 46 Abs. 1 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch (SGB VI) nicht mit Ablauf der Wartezeit und Eintritt des Versicherungsfalls zum Vollrecht. Die Hinterbliebenenversorgung stehe vielmehr unter der Voraussetzung, dass der Versicherte zum Zeitpunkt des Eintritts des Versicherungsfalls nach Ablauf der Wartezeit in einer gültigen Ehe lebt.²⁶ Auch beruhe die Hinterbliebenenversorgung nicht auf einer dem Versicherten zurechenbaren Eigenleistung. Denn während der Versichertenrente Beiträge zugrunde lägen, werde die Hinterbliebenenrente ohne

 BVerfGE 53, 257 (289 f.).  BVerfGE 53, 257 (289 f.).  BVerfGE 53, 257 (289 f.); vgl. zur Rentenanwartschaft auch Adam, Eigentumsschutz in der gesetzlichen Rentenversicherung, S. 104 ff.  Renten wegen Todes (vgl. § 33 Abs. 4 Nrn. 1, 2 und 4 SGB VI).  BVerfGE 97, 271 (283).  BVerfGE 97, 271 (284).

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eigene Beitragsleistung des Rentenempfängers und ohne erhöhte Beitragsleistung des Versicherten gewährt.²⁷

d) Rentenanpassung Das Bundesverfassungsgericht hat bislang ausdrücklich offen gelassen, ob die jährliche Rentenanpassung²⁸ dem grundgesetzlichen Eigentumsschutz unterfällt.²⁹ Eine Einbeziehung in den Schutzbereich des Art. 14 Abs. 1 GG könnte nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts dann in Betracht zu ziehen sein, wenn eine unterlassene Rentenanpassung bei zugleich steigendem Einkommen der Versicherten in ihrer Wirkungsweise einer Rentenkürzung gleichkomme. Die Beschränkung der Eigentumsgarantie lediglich auf den einmal bewilligten Rentenzahlbetrag würde in diesem Fall den für die Versichertenrente verbürgten Schutz nach Art. 14 GG in kurzer Zeit leerlaufen lassen.³⁰ Zugleich weist das Bundesverfassungsgericht aber darauf hin, dass selbst wenn durch das Unterlassen der jährlichen Rentenanpassung in den Schutzbereich der grundgesetzlichen Eigentumsgarantie eingegriffen würde, dieses Unterlassen sich im Ergebnis als verfassungsmäßige Inhalts- und Schrankenbestimmung des Eigentums im Sinne des Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG darstellen könnte.³¹

e) DDR-Renten In der DDR begründete und im Zeitpunkt ihres Beitritts zur Bundesrepublik bestehende Rentenanwartschaften nehmen nach der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung als Rechtspositionen, die der Einigungsvertrag grundsätzlich anerkannt hat, am Schutzbereich des Art. 14 GG teil. Das Bundesverfassungsgericht hat insofern zunächst betont, dass Art. 14 GG seine Schutzwirkung nur im Geltungsbereich des Grundgesetzes entfaltet. Dieser Geltungsbereich habe sich vor der Vereinigung der beiden deutschen Staaten nicht auf das Gebiet der DDR erstreckt und das Grundgesetz sei mit dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik dort auch nicht rückwirkend in Kraft getreten. Bis

 BVerfGE 97, 271 (284 f.).  Vgl. § 68 Abs. 1 Satz 3 SGB VI.  BVerfGE 64, 87 (97); 100, 1 (44); BVerfGK 11, 465 (469), BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 3. Juni 2014 – 1 BvR 79/09, u. a. –, juris, Rn. 53.  BVerfGE 64, 87 (97 f.).  BVerfGK 11, 465 (470); BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 3. Juni 2014 – 1 BvR 79/09, u. a. –, juris, Rn. 54.

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zum Beitritt hätten daher die in der DDR erworbenen Rentenansprüche und Rentenanwartschaften nicht am Schutz von Art. 14 Abs. 1 GG teilgenommen. Mit dem Beitritt und der Anerkennung durch den Einigungsvertrag seien diese Ansprüche und Anwartschaften jedoch wie andere vermögenswerte Rechtspositionen dem Schutzbereich der verfassungsrechtlichen Eigentumsgarantie unterstellt worden.³² Der verfassungsrechtliche Eigentumsschutz kommt den Rentenansprüchen und Rentenanwartschaften – so das Bundesverfassungsgericht im Weiteren – aber nur in der Form zu, die sie aufgrund der Regelungen des Einigungsvertrages erhalten haben. Auch für rentenversicherungsrechtliche Rechtspositionen gelte, dass sich die konkrete Reichweite der Eigentumsgarantie erst aus der Bestimmung von Inhalt und Schranken des Eigentums ergebe, die nach Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG Sache des Gesetzgebers sei. Der Gesetzgeber genieße dabei aber keine völlige Freiheit. Denn er müsse bei der Inhalts- und Schrankenbestimmung die grundsätzliche Privatnützigkeit und Verfügungsbefugnis, die zum Begriff des Eigentums gehörten, achten und dürfe diese nicht unverhältnismäßig einschränken. Sein Spielraum variiere hierbei je nach dem Anteil personaler und sozialer Komponenten des Eigentumsobjekts. Diese Grundsätze fänden auch Anwendung auf die Ausgestaltung von Eigentumspositionen durch den Einigungsvertrag, die auf Arbeits- und Beitragsleistungen in der DDR zurückgingen. Zwar seien diese Rechtspositionen erst aufgrund des Einigungsvertrages und mit seinem Wirksamwerden dem Schutz von Art. 14 Abs. 1 GG unterstellt worden. Das ändere aber nichts daran, dass der Gesetzgeber bei der Ratifikation des Einigungsvertrages an das Grundgesetz gebunden war. Inhalts- und Schrankenbestimmungen, die mit Art. 14 Abs. 1 GG unvereinbar gewesen wären, habe der Gesetzgeber deshalb nicht erlassen dürfen.³³

f) Fremdrenten Das Fremdrentengesetz regelt, inwiefern für im Ausland zurückgelegte Versicherungszeiten durch einen Träger der Deutschen Rentenversicherung eine Rente geleistet wird. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts³⁴ nehmen durch das Fremdrentengesetz begründete Rentenanwartschaften und Rentenansprüche dann nicht am Schutz des Art. 14 Abs. 1 GG teil, wenn ihnen ausschließlich Beitrags- und Beschäftigungszeiten zugrunde liegen, die in den

 BVerfGE 100, 1 (37).  BVerfGE 100, 1 (37).  BVerfGE 29, 22 (23 f.); 116, 96 (122 f.).

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Herkunftsgebieten erbracht oder zurückgelegt wurden. Im Fall der durch das Fremdrentengesetz begründeten Rechte fehle es am Erfordernis der an einen Versicherungsträger in der Bundesrepublik Deutschland erbrachten Eigenleistung, die für die Anerkennung einer sozialversicherungsrechtlichen Rechtsposition als Eigentum im Sinne von Art. 14 Abs. 1 GG unverzichtbar sei. Nur als Äquivalent einer nicht unerheblichen eigenen Leistung, die der besondere Grund für die Anerkennung als Eigentumsposition sei, komme rentenversicherungsrechtlichen Ansprüchen und Anwartschaften der Schutz des Art. 14 Abs. 1 GG zu. Wenn der Gesetzgeber sich entschließe, die in den Herkunftsländern zurückgelegten Beitrags- und Beschäftigungszeiten wie Zeiten zu behandeln, welche die Berechtigten im System der gesetzlichen Rentenversicherung der Bundesrepublik zurückgelegt haben, so sei dies ein Akt besonderer staatlicher Fürsorge. Der Gesetzgeber verfolge damit das legitime Ziel, insbesondere Vertriebene, Aussiedler und Spätaussiedler, die in die Bundesrepublik übersiedeln, soweit als möglich mit Hilfe auch der Sozialversicherung zu integrieren, ohne zu dieser Lösung durch Art. 116 GG und das Sozialstaatsprinzip verfassungsrechtlich verpflichtet zu sein. Eigentumsgeschützte Rechtspositionen im Sinne des Art. 14 Abs. 1 GG werden aber mangels Eigenleistung der Berechtigten durch das Fremdrentengesetz nicht begründet. Soweit die nach dem Fremdrentengesetz Berechtigten Beiträge zur Rentenversicherung in den Herkunftsländern gezahlt hätten, seien diese Beiträge nicht den Versicherungsträgern der Bundesrepublik zugeflossen, deren gesetzliche Aufgabe es sei, die Rentenleistungen an die nicht mehr erwerbstätige Generation zu finanzieren. Die für den Eigentumsschutz erforderliche Eigenleistung könne auch nicht in der von den Berechtigten in deren Herkunftsländern persönlich geleisteten Arbeit bestehen, da diese Arbeitsleistung in einem anderen Rechts-, Wirtschafts- und Sozialsystem als dem der Bundesrepublik erbracht wurde. Sie sei Wertschöpfung, die nicht innerhalb der zur Leistung verpflichteten Solidargemeinschaft erfolgt und ihr auch nicht zu Gute gekommen sei. Es sei im Übrigen auch nichts dafür ersichtlich, dass der Gesetzgeber mit der Gewährung von Rechtsansprüchen auf der Grundlage seiner Entscheidung für das rentenversicherungsrechtliche Eingliederungsprinzip Eigentum im Sinne des Art. 14 Abs. 1 GG habe begründen wollen. Über die Frage, ob die nach dem Fremdrentengesetz anerkannten rentenrechtlichen Rechtspositionen dem Eigentumsschutz nach Art. 14 Abs. 1 GG dann unterliegen, wenn sie sich zusammen mit den in der gesetzlichen Rentenversicherung der Bundesrepublik erworbenen Rentenanwartschaften zu einer rentenrechtlichen Gesamtrechtsposition verbinden, hat das Bundesverfassungsge-

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richt bislang noch nicht entschieden.³⁵ Die nach dem Fremdrentengesetz erworbenen und die später hinzukommenden (bei einem Rentenversicherungsträger der Bundesrepublik erworbenen) Rentenanwartschaften lassen sich aber auch zu einem späteren Zeitpunkt teilen und sind deshalb durchaus einem unterschiedlichen rechtlichen Schicksal zugänglich. Im Ergebnis dürfte deshalb auch die Verbindung von Rentenanwartschaften nicht zu einer Erweiterung des grundgesetzlichen Eigentumsschutzes auf die nach dem Fremdrentengesetz anerkannten Rentenanwartschaften führen.

g) Rehabilitationsleistungen Das Erbringen von Leistungen der medizinischen oder beruflichen Rehabilitation steht nach § 13 Abs. 1 Satz 1 SGB VI im Ermessen der Träger der Rentenversicherung. Ist die Leistungserbringung aber von dem Ermessen des Leistungsträgers abhängig, erwächst nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts dem Versicherten hieraus keine Rechtsposition, die als Eigentum anzusehen ist und nach Art. 14 GG geschützt sein könnte.³⁶

2. Gesetzliche Unfallversicherung Inwiefern Ansprüche aus der gesetzlichen Unfallversicherung und Anwartschaften hierauf am grundgesetzlichen Eigentumsschutz teilhaben, hat das Bundesverfassungsgericht bislang nicht entschieden. Hinsichtlich der Verletztenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung hat es diese Frage ausdrücklich offen gelassen.³⁷ Es ist jedoch nicht ersichtlich, welche Erwägungen gegen die Einbeziehung des Verletztengeldes (vgl. §§ 45 ff. Sozialgesetzbuch Siebtes Buch ) und der Verletztenrente (vgl. §§ 56 ff. SGB VII) aus der gesetzlichen Unfallversicherung in die verfassungsrechtliche Eigentumsgarantie sprechen könnten. Nach den oben genannten Kriterien (vgl. C. I.) nehmen sozialrechtliche Ansprüche und Anwartschaften dann am verfassungsrechtlichen Eigentumsschutzes teil, wenn sie aus einer vermögenswerten Rechtsposition bestehen, die nach Art eines Ausschließlichkeitsrechts dem Rechtsträger als privatnützig zugeordnet ist (1.), ihnen eine nicht unerhebliche Eigenleistung des Versicherten zugrunde liegt (2.)

 BVerfGE 116, 96 (124).  BVerfGE 63, 152 (174).  BVerfGK 18, 377 (389).

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und sie der Existenzsicherung des Berechtigten dienen (3.). Diese Kriterien sind sowohl hinsichtlich des Verletztengeldes als auch hinsichtlich der Verletztenrente erfüllt. Als Einwand im Hinblick auf die Notwendigkeit einer nicht unerheblichen Eigenleistung des Versicherten könnte man zwar anführen, dass der Versicherte formal keinen Beitrag zu tragen hat, weil die Beiträge zur gesetzlichen Unfallversicherung allein vom Unternehmer aufzubringen sind. Wirtschaftlich betrachtet sind die Beiträge aber eine Leistung des Versicherten, weil dieser sie durch seinen Arbeitsplatz erwirtschaftet.³⁸

3. Gesetzliche Krankenversicherung Ob Ansprüche und Anwartschaften aus der gesetzlichen Krankenversicherung am verfassungsrechtlichen Eigentumsschutz teilnehmen, hat das Bundesverfassungsgericht ebenso wie für den Bereich der gesetzlichen Unfallversicherung (vgl. C. II. 2.) bislang nicht entschieden. Die Frage der Einbeziehung des Anspruchs auf Krankengeld (vgl. §§ 44 ff. Sozialgesetzbuch Fünftes Buch ) in den Schutzbereich des Art. 14 Abs. 1 GG hat das Bundesverfassungsgericht offen gelassen.³⁹ Entsprechend den obigen Ausführungen zum Verletztengeld und zur Verletztenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung ergeben sich jedoch keine durchgreifenden Bedenken gegen die Einbeziehung des Krankengeldanspruchs in den Schutzbereich des verfassungsrechtlichen Eigentumsschutzes.⁴⁰

4. Soziale Pflegeversicherung Hinsichtlich der sozialen Pflegeversicherung hat das Bundesverfassungsgericht ausgeführt, dass „pflegeversicherungsrechtliche Positionen“ von Art. 14 Abs. 1 GG geschützt werden.⁴¹ Im Hinblick auf die unterschiedliche Höhe von Pflegesachleistung einerseits und Pflegegeld andererseits hat das Bundesverfassungsgericht hingegen einen Verstoß gegen Art. 14 Abs. 1 GG abgelehnt: Art und Ausmaß der Leistungen, die die Pflegeversicherung gewähre, hänge alleine davon ab, dass der Pflegebedürftige in  LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 12. März 2014 – L 3 U 4813/13 –, juris, Rn. 88.  BVerfGE 97, 378 (385).  So auch LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 30. Oktober 2009 – L 4 KR 4766/08 –, juris, Rn. 30; SG Karlsruhe, Urteil vom 20. März 2018 – S 4 KR 3300/16 –, juris, Rn. 24.  BVerfGK 14, 287 (291).

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der Pflegeversicherung versichert oder mitversichert sei, und nicht davon, in welchem Umfang er Beiträge entrichtet habe. Es sei deshalb nicht ersichtlich, in welche vermögenswerte Position durch die unterschiedliche Höhe der Leistungen bei gleichen Beitragszahlungen eingegriffen werde.⁴² Aufgrund dieser Rechtsprechung wird teilweise in der rechtswissenschaftlichen Literatur als Voraussetzung des verfassungsrechtlichen Eigentumsschutzes von sozialrechtlichen Ansprüchen eine Beitragsäquivalenz zwischen der Höhe des Beitrags und der Höhe der Leistung in der Weise gefordert, dass höhere Beiträge höhere Leistungen zur Folge haben müssen.⁴³

5. Gesetzliche Arbeitslosenversicherung Der Anspruch auf Arbeitslosengeld und die Rechtspositionen solcher in der gesetzlichen Arbeitslosenversicherung Versicherten, die innerhalb der gesetzlichen Rahmenfrist die Anwartschaftszeit erfüllt haben (vgl. §§ 138 Abs. 1 Nr. 3, 142 Abs. 1 Satz 1, 143 Abs. 1 Sozialgesetzbuch Drittes Buch ) – mithin eine Anwartschaft auf Arbeitslosengeld erworben haben –, unterliegen nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts dem Eigentumsschutz.⁴⁴ Ebenso unterfällt dem Eigentumsschutz der Anspruch auf Übergangsgeld (vgl. § 119 SGB III).⁴⁵ Von der verfassungsrechtlichen Eigentumsgarantie war auch der bis zum Jahr 2005 bestehende Anspruch auf Unterhaltsgeld geschützt (vgl. § 153 ff. SGB III a. F.),⁴⁶ der zwischenzeitlich durch den Anspruch auf Arbeitslosengeld bei beruflicher Weiterbildung ersetzt wurde (vgl. § 136 Abs. 1 Nr. 2 SGB III) und nunmehr als solcher dem grundgesetzlichen Eigentumsschutz unterfällt.

6. Steuerfinanzierte Sozialleistungen Steuerfinanzierte Sozialleistungen, wie die Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch,⁴⁷ die Sozialhilfe nach dem Sozialge-

 BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 26. März 2014 – 1 BvR 1133/17 –, juris, Rn. 25.  Axer/Wiegand, Eigentumsschutz und Vertrauensschutz in der sozialen Pflegeversicherung, SGb 2015, S. 477 (479 f.).  BVerfGE 72, 9 (18).  BVerfGE 76, 220 (235).  BVerfGE 76, 220 (235).  BVerfGK 18, 377 (389).

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setzbuch Zwölftes Buch oder das Elterngeld nach dem Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetz, sind keine von Art. 14 Abs. 1 GG geschützten Rechtspositionen. Sie sind kein Äquivalent einer nicht unerheblichen Eigenleistung, sondern beruhen auf staatlicher Gewährung.⁴⁸

7. Zwischenergebnis Das Bundesverfassungsgericht hat im Jahr 1985 die Voraussetzungen für den verfassungsrechtlichen Eigentumsschutz von sozialrechtlichen Ansprüchen und Anwartschaften definiert. Im Zuge seiner weiteren Rechtsprechung hat es diese Vorgaben auf die einzelnen Teilgebiete des Sozialrechts angewandt. Dies hat insbesondere hinsichtlich der Ansprüche und Anwartschaften aus der gesetzlichen Rentenversicherung zu einer ausdifferenzierten Konkretisierung des grundgesetzlichen Eigentumsschutzes geführt. Teilweise hat das Bundesverfassungsgericht aber auch die Frage der Eröffnung des Schutzbereichs des Art. 14 Abs. 1 GG ausdrücklich offen gelassen, weil, selbst wenn der Schutzbereich eröffnet wäre, die den sozialrechtlichen Anspruch oder die sozialrechtliche Anwartschaft betreffende hoheitliche Maßnahme als Inhalts- und Schrankenbestimmung im Sinne des Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG jedenfalls gerechtfertigt wäre. Für diese Vorgehensweise spricht ihr Pragmatismus. Denn aufgrund der großen Bedeutung der Sicherung der Funktionsfähigkeit des Systems der Sozialversicherung und der damit einhergehenden Notwendigkeit der Sicherung der finanziellen Stabilität dieses Systems wird das Handeln des Gesetzgebers im Hinblick auf den ihm zustehenden weiten Gestaltungsspielraum häufig gerechtfertigt sein.⁴⁹

D. Verfassungsrechtlicher Eigentumsschutz gegenüber Erstattungsansprüchen Der Beitrag hat sich bislang mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Frage, inwiefern sozialrechtliche Ansprüche und Anwartschaften am verfassungsrechtlichen Eigentumsschutz teilhaben, befasst. Das Gegenstück zu einem Leistungsanspruch, der actus contrarius, ist der Erstattungsanspruch. Er

 BVerfGE 128, 90 (101).  Vgl. auch Axer/Wiegand, Eigentumsschutz und Vertrauensschutz in der sozialen Pflegeversicherung, SGb 2015, S. 477 (478).

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beinhaltet die Verpflichtung, das zunächst (zu Unrecht) Erlangte wieder herauszugeben. Neben spezielleren Erstattungsansprüchen⁵⁰ ergibt sich aus § 50 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) ein allgemeiner sozialrechtlicher Erstattungsanspruch. Demnach sind Sozialleistungen nach Aufhebung des sie bewilligenden Verwaltungsakts (vgl. § 50 Abs. 1 Satz 1 SGB X) zu erstatten. Sozialleistungen sind auch zu erstatten, wenn sie zu Unrecht ohne Verwaltungsakt erbracht worden sind (vgl. § 50 Abs. 2 Satz 1 SGB X). Sach- und Dienstleistungen sind in Geld zu erstatten (§ 50 Abs. 1 Satz 2 SGB X). Das Bundesverfassungsgericht hat – soweit ersichtlich – bislang nicht über die Frage entschieden, ob ein Erstattungsanspruch, der sich auf eine sozialrechtliche Position bezieht, die von der verfassungsrechtlichen Eigentumsgarantie geschützt ist, eine Inhalts- und Schrankenbestimmung nach Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG oder eine Enteignung nach Art. 14 Abs. 3 GG darstellt. Der vorliegende Beitrag untersucht im Folgenden diese Fragestellung unter Berücksichtigung der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sowie der rechtswissenschaftlichen Literatur und unterbreitet abschließend einen Lösungsvorschlag.

I. Die Pflicht zur Rückübereignung von gegenständlichen Sozialleistungen Der Inhalt des sozialrechtlichen Erstattungsanspruchs nach § 50 SGB X ist grundsätzlich – auch bei zu Unrecht erbrachten Sachleistungen – die Verpflichtung, das zu Unrecht Erlangte in Geld zu erstatten (vgl. § 50 Abs. 1 Satz 2 SGB X). Nach der ganz überwiegend vertretenen Ansicht kann die Erstattung von Sachleistungen aber auch in Form der Rückübereignung der Sache selbst erfolgen. Denn der Gesetzgeber ist bei der Schaffung des § 50 SGB X davon ausgegangen, dass Sachleistungen, die längerlebig sind und an deren Rückgabe deshalb ein Interesse des Sozialversicherungsträgers besteht, dem Versicherten nicht übereignet, sondern nur leihweise überlassen werden. Die Rückgabe dieser Sachen ist nach Ansicht des Gesetzgebers keine Erstattung im Sinne des § 50 SGB X, sondern nur die Aufgabe der Gebrauchsvorteile für die Zukunft. Wenn eine gegenständliche Sozialleistung aber ausnahmsweise übereignet wurde, kommt die Erstattung auch in Form der Rückübertragung des Eigentums in Betracht. Zu-

 Etwa § 118 Abs. 4 Satz 1 SGB VI oder § 96 Abs. 4 Satz 1 SGB VII.

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sätzlich oder stattdessen ist grundsätzlich noch eine Geldleistung als Erstattung des Gebrauchsvorteils möglich.⁵¹ Eine solche Pflicht zur (Rück‐)Übereignung einer nach zivilrechtlichen Grundsätzen (vgl. § 903 ff. Bürgerliches Gesetzbuch ) im Eigentum stehenden Sache greift in die grundgesetzliche Eigentumsfreiheit ein. Denn der Schutz des Eigentums nach Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG umfasst das zivilrechtliche Eigentum an einer Sache, deren Besitz und die Möglichkeit, sie zu nutzen.⁵²

II. Die Pflicht zur Erstattung von Sozialleistungen in Geld Weitaus häufiger in der Praxis ist jedoch die Pflicht zur Erstattung von zu Unrecht erhaltenen Sozialleistungen in Geld – etwa die Erstattung einer überzahlten Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung. Dem Sozialleistungsempfänger wird durch den Erstattungsanspruch somit eine staatliche Geldleistungspflicht auferlegt. Diese staatlich auferlegte Geldleistungspflicht ist ein Eingriff in das Vermögen des zur Erstattung Verpflichteten. Inwiefern der Schutzbereich des Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG in dieser Konstellation betroffen ist, beurteilten der Erste und der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts nicht einheitlich.

1. Die Rechtsprechung des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts Nach der Rechtsprechung des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts fallen unter den Schutz der Eigentumsgarantie zwar grundsätzlich alle vermögenswerte Rechte, die dem Berechtigten von der Rechtsordnung in der Weise zugeordnet sind, dass er die damit verbundenen Befugnisse nach eigener Entscheidung zu seinem privaten Nutzen ausüben darf. Kein Eigentum im Sinne von Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG ist aber das Vermögen, das selbst kein Recht ist, sondern den Inbegriff aller geldwerten Güter einer Person darstellt.⁵³ Allein die Auferlegung einer Geldleistungspflicht berührt – so der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts im Weiteren – das verfassungsrechtlich geschützte Eigentum deshalb grundsätzlich nicht. Denn die Geldleistungspflicht ist nicht mittels eines bestimmten Eigentumsobjekts zu erfüllen, sondern kann aus

 Baumeister, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB X, 2. Auflage 2017 (Stand: 1.12. 2017), § 50 SGB X, Rn. 110; KassKomm/Steinwedel, 97. EL Dezember 2017, § 50 SGB X, Rn. 26.  BVerfGE 97, 350 (370); 101, 54 (75); 105, 17 (30); 110, 141 (173); BVerfGE 143, 246 (327 Rn. 228).  BVerfGE 78, 232 (243); 91, 207 (220); 95, 267 (300).

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dem fluktuierenden Vermögen bestritten werden. Etwas anderes komme nur dann in Betracht, wenn die Geldleistungspflicht den Betroffenen übermäßig belastet und seine Vermögensverhältnisse so grundlegend beeinträchtigt, dass sie eine erdrosselnde Wirkung hat.⁵⁴

2. Die Rechtsprechung des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts hat hingegen bei der Auferlegung von staatlichen Geldleistungspflichten in Form von Steuern einen Eingriff in den Schutzbereich von Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG bejaht:⁵⁵ Art. 14 Abs. 1 GG gewährleiste das Recht, die geschützten vermögenswerten Rechte innezuhaben, zu nutzen, zu verwalten und über diese zu verfügen. Diese verfassungsrechtlichen Gewährleistungen sind nach Ansicht des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts nicht nur dann betroffen, wenn etwa – wie im Gefahrenabwehrrecht – dem Bürger aufgrund seiner Eigentümerstellung die Kosten einer Sanierungsmaßnahme auferlegt werden, sondern jedenfalls auch dann, wenn Steuerpflichten – wie im Einkommen- und Gewerbesteuerrecht – an den Hinzuerwerb von Eigentum anknüpften. Staatliche Polizeigewalt und Finanzgewalt gehörten gleichermaßen zu den Materien des klassischen Eingriffsrechts und bildeten den Hintergrund für die so genannte klassische Formel vom Eingriff in Freiheit und Eigentum als Gegenstand des Vorbehalts des Gesetzes. Wenn es Sinn der Eigentumsgarantie sei, das private Innehaben und Nutzen vermögenswerter Rechtspositionen zu schützen, greife auch ein Steuergesetz als rechtfertigungsbedürftige Inhalts- und Schrankenbestimmung (vgl. Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG) in den Schutzbereich der Eigentumsgarantie ein, wenn der Steuerzugriff tatbestandlich an das Innehaben von vermögenswerten Rechtspositionen anknüpfe und so den privaten Nutzen der erworbenen Rechtspositionen zugunsten der Allgemeinheit einschränke. Art. 14 GG schütze zwar nicht den Erwerb, wohl aber den Bestand des Hinzuerworbenen. Dass die Zahlungspflicht für sich genommen dem Steuerpflichtigen die Wahl lasse, aus welchen Mitteln er den staatlichen Steueranspruch erfülle, ändere nichts daran, dass das Hinzuerworbene tatbestandlicher Anknüpfungspunkt der belastenden Rechtsfolge sei.⁵⁶

 BVerfGE 78, 232 (243); 95, 267 (300).  BVerfGE 87, 153 (169); 93, 121 (137); 115, 97 (111).  BVerfGE 115, 97 (112 f.).

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3. Die rechtswissenschaftliche Literatur In der rechtswissenschaftlichen Literatur⁵⁷ wird vertreten, den staatlichen Zugriff durch Abgaben auf das Vermögen des Einzelnen an der Eigentumsgarantie zu messen: Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG schütze das Eigentum mit dem Ziel, die ökonomische Freiheitssphäre des Menschen vor dem Staat abzuschirmen, damit er über seine Lebensgestaltung auch im wirtschaftlichen Bereich eigenverantwortlich entscheiden könne. Durch Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG werde danach weniger Eigentums-, sondern Eigentümerfreiheit gewährleistet. Durch Abgaben greife der Staat in diese Freiheitssphäre ein, indem er das Volumen der Wirtschaftsgüter des Grundrechtsträgers mindere. Abgaben wirkten sich in gleicher Weise wie eine Belastung oder ein Entzug konkreter Eigentumsgegenstände aus. Das Schutzbedürfnis des Bürgers sei identisch, denn nicht die Rechtstechnik des Zugriffs, sondern seine Wirkungen auf das Freiheitsgrundrecht bestimmten den Eingriff.⁵⁸ Anschaulich werde dies, wenn man nicht nur auf die staatliche Geldforderung, sondern auch auf deren Vollstreckung abstelle. Denn die Vollstreckung beziehe sich auf konkrete Eigentumsgegenstände. Dieser Fall unterscheide sich nicht mehr vom klassischen Staatszugriff.⁵⁹ Als weiteres Argument wird angeführt, für einen Kraftfahrzeughändler mache es kaum einen Unterschied, ob der Staat ihm nach der Veräußerung von 100 Fahrzeugen 13 andere Fahrzeuge wegnehme oder ob er seinen Umsatz mit 13 % Steuern belaste.⁶⁰ Im Weiteren unterstelle das Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung auch zivilrechtliche Ansprüche und sogar den Anspruch auf Steuererstattung dem verfassungsrechtlichen Eigentumsschutz. Wenn der Zugriff auf finanzielle Ansprüche eines Individuums aus dem öffentlichen Recht jedoch unter den Eigentumsbegriff falle, dann könne der gegenläufige Vorgang der Belastung seiner wirtschaftlichen Freiheit durch öffentlich-rechtliche Geldleistungsansprüche kaum anders gewertet werden. Begründung und Erlöschen von Ansprüchen stünden komplementär zueinander.⁶¹

 Birk/Desens/Tappe, Steuerrecht, Rn. 200 f.; F. Kirchhof, HGR III, § 59, Rn. 48 ff.; P. Kirchhof, VVDStRL 39 (1981), S. 213 (234 ff.); Lehner, DStR 2009, S. 185 (190).  F. Kirchhof, HGR III, § 59, Rn. 49; P. Kirchhof, VVDStRL 39 (1981), S. 213 (236); Lehner, DStR 2009, S. 185 (190).  F. Kirchhof, HGR III, § 59, Rn. 51.  P. Kirchhof, VVDStRL 39 (1981), S. 213 (236).  F. Kirchhof, HGR III, § 59, Rn. 52.

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4. Stellungnahme Im Hinblick auf die vorgenannten Erwägungen gibt es gute Argumente dafür, die Eingriffsqualität des sozialrechtlichen Erstattungsanspruchs in das grundgesetzlich geschützte Eigentum dann zu bejahen, wenn das Objekt der Erstattungspflicht zunächst infolge der Erfüllung eines sozialrechtlichen Anspruchs, der selbst am Schutz der verfassungsrechtlichen Eigentumsgarantie teilnimmt, erlangt wurde. Hierfür sprechen auch die (dogmatischen) Grenzen, an welche die bisherige Rechtsprechung des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts stößt. Denn nach der Rechtsprechung des Ersten Senats ist grundsätzlich die Auferlegung von Geldleistungspflichten nicht relevant für den Schutzbereich des Art. 14 Abs. 1 GG. Dieser Grundsatz soll aber dann eine Ausnahme erfahren, wenn die Geldleistungspflicht den Betroffenen übermäßig belastet und seine Vermögensverhältnisse so grundlegend beeinträchtigt, dass ihr eine erdrosselnde Wirkung zukommt.⁶² Dogmatisch lässt sich aber nicht erklären, warum der Schutzbereich der verfassungsrechtlich gewährten Eigentumsfreiheit nur dann eröffnet sein soll, wenn die Geldleistungspflicht – der Eingriff in den Schutzbereich – besonders schwer wiegt. Die Schwere des Eingriffs mag insbesondere für die Frage der Rechtfertigung des Eingriffs und hier vor allem im Rahmen der Verhältnismäßigkeit von Bedeutung sein. Der Grundrechtsdogmatik ist es jedoch grundsätzlich fremd, die Frage der Eröffnung des Schutzbereichs im Wege der Eingriffsintensität zu bestimmen. Eine Bestimmung des Schutzbereichs infolge der Schwere des Eingriffs wäre gegebenenfalls bei bloßen bagatellartigen Belastungen denkbar, aber auch dann dogmatisch unsauber. Für die Frage des Eigentumsschutzes ist es nach der hier vertretenen Ansicht irrelevant, ob die Erstattung durch die Rückübereignung der gegenständlichen Sozialleistung oder in Geld (vgl. § 50 Abs. 1 Satz 2 SGB X) erfolgt. Folgende Überlegungen sollen die Unerheblichkeit der Erstattungsform nochmals verdeutlichen: Wird der (von Art. 14 Abs. 1 GG) geschützte Sozialleistungsanspruch durch die Übereignung einer Sache erfüllt, dann erwirbt der Sozialleistungsempfänger verfassungsrechtlich geschütztes Eigentum an der Sozialleistung.Wird die Sozialleistung dann durch Rückübereignung erstattet, liegt unzweifelhaft ein Eingriff in das durch Art. 14 Abs. 1 GG geschützte Sacheigentum vor. Eine abweichende Betrachtung ist weder infolge der Art der Erfüllung des sozialrechtlichen Anspruchs – statt in Sachform durch Auszahlung eines Geldbetrages – noch infolge der Art der Erfüllung des Erstattungsanspruchs – statt durch Rückübereignung der gegenständlichen Sozialleistung durch Erstattung des entsprechen-

 BVerfGE 78, 232 (243); 95, 267 (300).

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den Geldbetrages – gerechtfertigt. Denn im Sozialrechtlich hängt es häufig von durch den Sozialleistungsberechtigen nicht beeinflussbaren Faktoren ab, ob sein Anspruch durch eine Sach- oder Geldleistung erfüllt wird. So erhalten die in der gesetzlichen Krankenversicherung versicherten Personen Leistungen grundsätzlich als Sach- und Dienstleistungen (vgl. § 2 Abs. 2 Satz 1 SGB V). Wenn die Krankenkasse aber eine unaufschiebbare Leistung nicht rechtzeitig erbringt oder wenn sie eine Leistung zu Unrecht abgelehnt hat und infolge der Selbstbeschaffung der Leistung der versicherten Person Kosten entstanden sind, dann hat die Krankenkasse die Kosten in der entstandenen Höhe zu erstatten, soweit die selbstbeschaffte Leistung notwendig war (vgl. § 13 Abs. 3 Satz 1 SGB V). Der versicherten Person würde bei einer Sachleistung grundsätzlich der Schutz des Art. 14 Abs. 1 GG zukommen. Wenn der Sozialleistungsträger, in diesem Fall die Krankenkasse, seiner Leistungspflicht aber nicht rechtzeitig nachkommt oder sogar seine Leistungspflicht zu Unrecht ablehnt, wandelt sich hingegen der Sachleistungsanspruch in einen Geldleistungsanspruch. Es hinge in dieser Konstellation somit von Zufälligkeiten ab, ob bei der Aufhebung der Leistungsbewilligung derjenige, der zur Erstattung verpflichtet ist, sich auf den verfassungsrechtlichen Eigentumsschutz berufen kann.

III. Folgen Sofern man – wie die hier vertretene Ansicht – dem sozialrechtlichen Erstattungsanspruch zumindest dann im Hinblick auf den Schutzbereich des Art. 14 Abs. 1 GG Relevanz beimisst, wenn er der actus contrarius zu einem sozialrechtlichen Anspruch ist, dem verfassungsrechtlicher Eigentumsschutz zukommt, stellt sich die Folgefrage, ob der Erstattungsanspruch eine Inhalts- und Schrankenbestimmung des Eigentums (vgl. Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG) oder eine Enteignung (vgl. Art. 14 Abs. 3 GG) ist. Nach der bereits dargestellten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts⁶³ (vgl. B.) setzt eine Enteignung den Entzug des Eigentums durch die Änderung der Eigentumszuordnung und stets auch eine Güterbeschaffung zugunsten des Staates voraus. Diese Kriterien sind im Hinblick auf den sozialrechtlichen Erstattungsanspruch auf den ersten Blick erfüllt. Denn die Änderung der Eigentumszuordnung erfolgt aufgrund einer staatlichen Pflicht, des Erstattungsanspruchs. Dieser Anspruch kann gegebenenfalls mit den Mitteln der Verwaltungsvollstreckung zwangsweise durchgesetzt werden. Der Sozialleistungsträger,

 BVerfGE 143, 246 (332 f. Rn. 243).

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mithin der Staat, beschafft sich hierdurch Güter (zurück), da er infolge der Erfüllung des Erstattungsanspruchs das Eigentum an dem Erstattungsobjekt erlangt. Eine Rechtmäßigkeitsvoraussetzung der Enteignung ist jedoch, dass sie nur durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes erfolgen darf, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt (vgl. Art. 14 Abs. 2 Satz 2 GG; sog. Junktimklausel). Das – sinnwidrige – Ergebnis wäre somit, dass derjenige, der den Erstattungsanspruch erfüllen muss, zugleich einen Anspruch auf Entschädigung hätte. Die Funktion des Erstattungsanspruchs würde hierdurch ad absurdum geführt. Der Erstattungsanspruch ist deshalb – wie der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts zur Steuerpflicht überzeugend ausführt⁶⁴ – als generell-abstrakte Festlegung von Rechten und Pflichten durch den Gesetzgeber stets eine – verfassungsmäßige oder verfassungswidrige – Inhalts- und Schrankenbestimmung des Eigentums (vgl. Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG). Inhalt des durch Art. 14 Abs. 1 GG an der Sozialleistung bestehenden Eigentums ist demnach immer das Bestehen eines Rechtsgrundes für das Behaltendürfen der Sozialleistung. Hat dieser Rechtsgrund nie bestanden oder wurde er – etwa durch Rücknahme oder Widerruf des den Rechtsgrund bildenden Verwaltungsakts (vgl. §§ 45 ff. SGB X) – nachträglich beseitigt, dann ist der sozialrechtliche Erstattungsanspruch nach § 50 SGB X im Grundsatz eine verfassungsrechtlich zulässige Inhalts- und Schrankenbestimmung des Eigentums.

E. Fazit Zum verfassungsrechtlichen Eigentumsschutz sozialrechtlicher Ansprüche und Anwartschaften besteht eine ausdifferenzierte Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Ziel des vorliegenden Beitrags war es, diese Rechtsprechung im Sinne einer Zusammenfassung aufzubereiten, aber auch die Gebiete des Sozialrechts aufzuzeigen, zu denen das Bundesverfassungsgericht im Hinblick auf den verfassungsrechtlichen Eigentumsschutz bislang noch keine Entscheidung getroffen hat. Nachdem das Bundesverfassungsgericht teilweise dazu übergegangen ist, die Frage der Eröffnung des Schutzbereichs der verfassungsrechtlichen Eigentumsgarantie ausdrücklich offenzulassen, weil – selbst wenn der Schutzbereich eröffnet wäre – der Eingriff in den sozialrechtlichen Anspruch oder die sozialrechtliche Anwartschaft als Inhalts- und Schrankenbestimmung im Sinne des Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG jedenfalls gerechtfertigt wäre, kann mit einer Klärung der offenen Fragen wohl in naher Zukunft nicht gerechnet werden.

 BVerfGE 115, 97 (111 f.).

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Über die Frage der Eröffnung des Schutzbereichs des Art. 14 Abs. 1 GG im Hinblick auf den sozialrechtlichen Erstattungsanspruch nach § 50 SGB X hatte das Bundesverfassungsgericht bislang noch nicht zu entscheiden. Es ist denkbar, dass das Bundesverfassungsgericht, wenn diese Frage zur Entscheidung stünde, sich dann zur Eröffnung des Schutzbereichs nicht abschließend äußern wird, wenn der Erstattungsanspruch als Inhalts- und Schrankenbestimmung jedenfalls verfassungsrechtlich gerechtfertigt ist.

IV. Abgaben-, Steuer- und Finanzrecht

Esther Reiche

Das Gebot der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit Leitentscheidung des Bundesverfassungsgerichts (Senat) BVerfGE 133, 143 – Festsetzungsverjährung Bayerisches Kommunalabgabengesetz

Wichtige Kammerentscheidungen BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 3. September 2013 – 1 BvR 1282/13 –, juris – Altanschließer Brandenburg BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 12. November 2015 – 1 BvR 2961/14, 1 BvR 3051/14 –, juris – Altanschließer Brandenburg BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 21. Juli 2016 – 1 BvR 3092/15 –, juris – Steuerfestsetzungsfristen

Schrifttum Bücken-Thielmeyer/Fenzel, Rechtsstaatliche Grenzen der Beitragserhebung in Sachsen-Anhalt, LKV 2014, S. 241 ff.; Driehaus, Zeitliche Grenzen für die Erhebung kommunaler Abgaben, KStZ 2014, S. 181 ff.; Martensen, Schützenswertes Vertrauen in die Einmaligkeit der Beitragserhebung?, LKV 2014, S. 446 ff.; M. Martini, Zeitliche Höchstgrenzen der Forderungsdurchsetzung im öffentlichen Recht als Herausforderung für den Rechtsstaat, NVwZ-Extra 23/2014, S. 1 ff.; P. Martini, Zeitliche Grenzen der Erhebung von Anschlussbeiträgen, jM 2018, S. 161 ff.; Petermann, Die Änderung des Verjährungsrechts im Thüringer Kommunalabgabengesetz vom 20.03. 2014, ThürVBl. 2014, S. 241 ff.; Schmitt, Die kommunalabgabenrechtliche Festsetzungsverjährung auf dem Prüfstand des Grundgesetzes, KommJur 2013, S. 367 ff.; Schmitt, Aktuelle Entwicklungen zum Gebot der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit, KommJur 2016, S. 86 ff.; Schmitt/Wohlrab, Neues zum Gebot der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit, KommJur 2014, S. 447 ff.

Inhalt I. Einleitung 258 II. Grundsatzentscheidung vom . März  –  BvR / –, BVerfGE ,  . Gegenstand der Entscheidung 259 260 . Kein Verstoß gegen das Rückwirkungsverbot . Rechtssicherheit und Vertrauensschutz 261 . Reaktion des Gesetzgebers 263 III. Folgeentscheidungen 264 . „Altanschließerproblematik“ Brandenburg 264 https://doi.org/10.1515/9783110599916-012

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. Steuerfestsetzungsfristen 266 IV. Rezeption durch die Fachgerichte 267 . Altanschließer Mecklenburg-Vorpommern 267 . Wechsel zwischen privatrechtlicher und öffentlich-rechtlicher Ausgestaltung der 270 Wasserversorgung . Sanierungsrechtlicher Ausgleichsbetrag 272 V. Ausblick 275

I. Einleitung Das in der jüngeren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts entwickelte Gebot der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit betrifft die Frage, innerhalb welcher zeitlichen Grenzen (kommunale) Beiträge erhoben werden dürfen. Die im Rechtsstaatsprinzip verankerten Verfassungsgrundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes verlangen die Sicherstellung, dass Abgaben zum Vorteilsausgleich nicht zeitlich unbegrenzt nach Erlangung des Vorteils festgesetzt werden können. Es obliegt dem Gesetzgeber, einen Ausgleich zu schaffen zwischen dem Interesse der Allgemeinheit an Beiträgen für solche Vorteile einerseits und dem Interesse des Beitragsschuldners andererseits, irgendwann Klarheit zu erlangen, ob und in welchem Umfang er zu einem Beitrag herangezogen werden kann. Die Frage, innerhalb welches Zeitraums eine (kommunale) Abgabe erhoben werden darf, ist grundsätzlich in den Vorschriften der Abgabenordnung – AO – über die Verjährung geregelt, welche nach den einschlägigen Regelungen der Kommunalabgabengesetze der Länder auch auf kommunale Abgaben entsprechende Anwendung finden. Gemäß § 169 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AO beträgt die Festsetzungsfrist regelmäßig vier Jahre. Sie beginnt mit Ablauf des Kalenderjahres, in dem die Abgabe entstanden ist, vgl. § 170 Abs. 1 AO. Ist zwar eine abzugeltende Vorteilslage gegeben, mangelt es aber an einer weiteren Beitragsentstehungsvoraussetzung wie etwa dem Vorliegen einer wirksamen Abgabensatzung und verschiebt sich hierdurch der Beginn der Festsetzungsverjährung auf unbestimmte Zeit nach hinten, kann dies zu einer Verletzung des Gebots der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit führen.¹ Das Gebot der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit ist ursprünglich in Bezug auf die Heranziehung zu Kanalherstellungsbeiträgen entwickelt worden,

 Vgl. Driehaus, KStZ 2014, S. 181 (182).

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lässt sich aber grundsätzlich auf vergleichbare Fallkonstellationen anwenden.² Dementsprechend werden Verfassungsbeschwerden im Bereich des (kommunalen) Abgabenrechts mit steter Regelmäßigkeit auf eine (vermeintliche) Verletzung des Gebots der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit gestützt, wobei allerdings nicht wenige von ihnen schon nicht den hohen Anforderungen an die Zulässigkeit einer Verfassungsbeschwerde genügen. Der vorliegende Beitrag soll – ausgehend von der Grundsatzentscheidung BVerfGE 133, 143 und anhand der nachfolgenden Kammerrechtsprechung – aufzeigen, in welchen Fallgestaltungen das Gebot der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit virulent werden kann. Dabei soll auch die seither ergangene Rechtsprechung der Instanzgerichte in den Blick genommen werden.

II. Grundsatzentscheidung vom 5. März 2013 – 1 BvR 2457/08 –, BVerfGE 133, 143 Erstmals hergeleitet und als solches benannt hat das Bundesverfassungsgericht das Gebot der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit in dem Beschluss des Ersten Senats vom 5. März 2013 – 1 BvR 2457/08 –, BVerfGE 133, 143. Die Entscheidung betrifft die Zulässigkeit der Erhebung von Beiträgen zum Vorteilsausgleich durch Gemeinden in Fällen, in denen die Vorteilslage in Form des Anschlusses beziehungsweise der Anschlussmöglichkeit an eine öffentliche Einrichtung – hier: der Abwasserversorgung – bereits vor vielen Jahren erfolgte, eine wirksame Satzung zur Beitragserhebung allerdings erst wesentlich später in Kraft trat.

1. Gegenstand der Entscheidung Der Beschwerdeführer war von 1992 bis 1996 Eigentümer eines an die öffentliche Entwässerungseinrichtung angeschlossenen, bebauten Grundstücks. Im Jahre 2004 zog ihn die Beklagte des Ausgangsverfahrens auf Grundlage ihrer Beitragsund Gebührensatzung zur Entwässerungssatzung vom 5. Mai 2000 erstmals zu einem Kanalherstellungsbeitrag heran. Im Laufe des Widerspruchsverfahrens erwies sich diese Beitrags- und Gebührensatzung – wie zuvor bereits sämtliche Vorgängersatzungen – als unwirksam. Daraufhin erließ die Beklagte die Beitrags Vgl. Driehaus, in: ders., Kommunalabgabenrecht, § 8 Rn. 223b (März 2018); Beispiele auch bei Driehaus, KStZ 2014, S. 181 (183).

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und Gebührensatzung zur Entwässerungssatzung vom 18. April 2005 und setzte sie rückwirkend zum 1. April 1995 in Kraft. In dem mit der Verfassungsbeschwerde angegriffenen Beschluss³ war der Bayerische Verwaltungsgerichtshof der Auffassung, die Beitragsforderung sei trotz des langen Zeitablaufs nicht verjährt, da nach Art. 13 Abs. 1 Nr. 4 Buchstabe b Doppelbuchstabe cc Spiegelstrich 2 des Bayerischen Kommunalabgabengesetzes – BayKAG – in der Fassung vom 28. Dezember 1992 (GVBl S. 775) (a. F.) im Falle der Ungültigkeit einer Satzung die vierjährige Festsetzungsfrist erst mit Ablauf des Kalenderjahres zu laufen beginne, in dem die gültige Satzung bekanntgemacht worden sei. Eine wirksame Abgabensatzung habe erstmals im Jahre 2005 vorgelegen. Bei fehlgeschlagenem Satzungsrecht müsse ein bisher nicht veranlagter Beitragspflichtiger damit rechnen, noch zu einem späteren Zeitpunkt herangezogen zu werden.

2. Kein Verstoß gegen das Rückwirkungsverbot Die Vorschrift des Art. 13 Abs. 1 Nr. 4 Buchstabe b Doppelbuchstabe cc Spiegelstrich 2 BayKAG a. F. wurde zwar nicht rückwirkend in Kraft gesetzt, wirkte aber faktisch auf solche Sachverhalte zurück, bei denen die Vorteilslage zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der Regelung am 1. Januar 1993 bereits verwirklicht war. Sie zögerte den Beginn der Verjährungsfrist für die Festsetzung von Beiträgen hinaus, die auf Abgabensatzungen gestützt sind, welche eine frühere unwirksame Satzung wirksam heilen. Ein Verstoß gegen das in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts entwickelte Rückwirkungsverbot ist hierin jedoch nicht zu sehen. Der rechtsstaatliche Vertrauensschutz begrenzt die Befugnis des Gesetzgebers, Rechtsänderungen vorzunehmen, die in einen in der Vergangenheit begonnenen, aber noch nicht abgeschlossenen Sachverhalt eingreifen.⁴ In dem vom Ersten Senat im Beschluss vom 5. März 2013 entschiedenen Fall hatte die Verjährungsfrist bei Inkrafttreten der Regelung des Art. 13 Abs. 1 Nr. 4 Buchstabe b Doppelbuchstabe cc Spiegelstrich 2 BayKAG a.F. allerdings noch gar nicht zu laufen begonnen. Denn eine hierfür erforderliche wirksame Satzung hatte zu diesem Zeitpunkt noch nicht vorgelegen und ist auch später nicht rückwirkend zum oder vor dem 1. Januar 1993 in Kraft gesetzt worden. Folglich entfaltete die Regelung dem Beschwerdeführer gegenüber schon gar keine Rückwirkung – weder in echter noch in unechter Hinsicht.

 BayVGH, Beschluss vom 16. Mai 2008 – 20 ZB 08.903 –, n.v.  BVerfGE 95, 64 (86 f.); 101, 239 (263); 126, 369 (393); 133, 143 (156 Rn. 36).

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3. Rechtssicherheit und Vertrauensschutz Allerdings verletzt eine Regelung, die es erlaubt, Beiträge zeitlich unbegrenzt nach dem Eintritt der Vorteilslage festzusetzen, das in Art. 20 Abs. 3 GG verankerte Rechtsstaatsprinzip. Insoweit knüpft der Erste Senat in seiner Entscheidung vom 5. März 2013 zunächst an die bisherige Rechtsprechung an, wonach Rechtssicherheit und Vertrauensschutz als wesentliche Elemente des Rechtsstaatsprinzips im Zusammenwirken mit den Grundrechten die Verlässlichkeit der Rechtsordnung als wesentliche Voraussetzung für die Selbstbestimmung über den eigenen Lebensentwurf und seinen Vollzug gewährleisten.⁵ Die Bürgerinnen und Bürger sollen die ihnen gegenüber möglichen staatlichen Eingriffe voraussehen und sich dementsprechend einrichten können.⁶ Dabei knüpft der Grundsatz des Vertrauensschutzes an ihr berechtigtes Vertrauen in bestimmte Regelungen an. Er besagt, dass sie sich auf die Fortwirkung bestimmter Regelungen in gewissem Umfang verlassen dürfen. Diese altbekannten Grundsätze entwickelt der Erste Senat in dem Beschluss vom 5. März 2013 nun dahingehend fort, dass das Rechtsstaatsprinzip unter bestimmten Umständen Rechtssicherheit auch dann gewährleistet, wenn keine Regelungen bestehen, die Anlass zu spezifischem Vertrauen geben, oder wenn Umstände einem solchen Vertrauen sogar entgegenstehen. In seiner Ausprägung als Gebot der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit schützt das Rechtsstaatsprinzip davor, dass lange zurückliegende, in tatsächlicher Hinsicht abgeschlossene Vorgänge unbegrenzt zur Anknüpfung neuer Lasten herangezogen werden können.⁷ Dem Gesetzgeber obliegt es, einen Ausgleich zu schaffen zwischen dem Interesse der Allgemeinheit an der umfassenden und vollständigen Realisierung von Beiträgen für die Erlangung eines individuellen Vorteils einerseits und dem Interesse des Beitragsschuldners andererseits, irgendwann Klarheit zu erlangen, ob und in welchem Umfang er zu einem Beitrag herangezogen werden kann.⁸ Bei dieser Abwägung stehen sich auf Seiten des Staates der Grundsatz der richtigen Rechtsanwendung, der materiellen Gerechtigkeit (Belastungsgleichheit) sowie fiskalische Gründe und auf Seiten des Bürgers der Grundsatz der Rechtssicherheit gegenüber. Dem Ausgleich dieser gegenläufigen Interessen dienen beispielsweise Verjährungsvorschriften, aber auch andere Regelungen, die sicherstellen, dass staatliche Geldleistungsansprüche nicht unbe-

   

BVerfGE 60, 253 (267 f.); 63, 343 (357); 132, 302 (317); 133, 143 (158 Rn. 41). BVerfGE 13, 261 (271); 63, 215 (223); 133, 143 (158 Rn. 41). BVerfGE 133, 143 (158 Rn. 41). BVerfGE 133, 143 (159 Rn. 42).

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grenzt festgesetzt werden können. Sie sind verfassungsrechtlich erforderlich, weil der Einzelne auch dem Staat gegenüber die Erwartung hegen darf, irgendwann nicht mehr mit einer Geldforderung überzogen zu werden, wenn der berechtigte Hoheitsträger über einen längeren Zeitraum seine Befugnis nicht wahrgenommen hat.⁹ Der Bürger würde sonst hinsichtlich eines immer weiter in die Vergangenheit rückenden Vorgangs dauerhaft im Unklaren gelassen, ob er noch mit Belastungen rechnen muss. Dies ist ihm im Laufe der Zeit immer weniger zumutbar. Der Grundsatz der Rechtssicherheit gebietet vielmehr, dass ein Vorteilsempfänger in angemessener Zeit Klarheit darüber gewinnen kann, ob und in welchem Umfang er die erlangten Vorteile durch Beiträge ausgleichen muss.¹⁰ Die Aufgabe, den Interessenkonflikt zwischen Staat und Bürger in einen angemessenen Ausgleich zu bringen, obliegt dem Gesetzgeber, dem dabei ein weiter Gestaltungsspielraum zukommt.¹¹ Es liegt auf der Hand, dass sich eine einseitige Lösung zu Lasten des Bürgers verfassungsrechtlich verbietet. Fehlt es an einer Regelung, die der Erhebung einer Abgabe eine bestimmte zeitliche Grenze setzt, wird das Ziel eines angemessenen Interessenausgleichs verfehlt.Vor diesem Hintergrund hat das Bundesverfassungsgericht die Regelung des Art. 13 Abs. 1 Nr. 4 Buchstabe b Doppelbuchstabe cc Spiegelstrich 2 BayKAG a.F. für verfassungswidrig erklärt. Die Regelung ermöglichte es den Gemeinden im Fall des Erlasses einer unwirksamen Satzung, den Beginn der Festsetzungsverjährung ohne zeitliche Obergrenze bis zum Ablauf des Kalenderjahres hinauszuschieben, in dem eine gültige Satzung bekanntgemacht worden ist. Auf diese Weise konnte die Verjährung gegebenenfalls erst Jahrzehnte nach Eintritt der beitragspflichtigen Vorteilslage beginnen.¹² Das Risiko der – in der Praxis vor allen Dingen aus formalen Gründen nicht seltenen¹³ – Nichtigkeit einer kommunalen Satzung trug damit nicht mehr die dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung verpflichtete Gemeinde, sondern der Bürger. Eine Gemeinde, die eine nichtige Satzung erlassen hatte, wurde letztlich sogar privilegiert, da ihr für den Erlass der Beitragsbescheide deutlich mehr Zeit blieb, als wenn sie eine wirksame Beitragssatzung erlassen hätte.¹⁴ Klarstellend weist der Erste Senat in dem Beschluss vom 5. März 2013 darauf hin, dass der Beitragsschuldner der Abgabenforderung in der Regel nicht den

 BVerfGE 133, 143 (159 Rn. 44).  BVerfGE 133, 143 (160 Rn. 45).  BVerfGE 133, 143 (160 Rn. 46).  BVerfGE 133, 143 (161 Rn. 47).  BVerfGK 16, 162 (168).  Vgl. M. Martini, NVwZ-Extra 23/2014, S. 1 (11).

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Einwand der Verwirkung entgegenhalten kann, da es insoweit regelmäßig am erforderlichen Umstandsmoment fehlt.¹⁵

4. Reaktion des Gesetzgebers In Anbetracht der diversen vom Ersten Senat aufgezeigten Möglichkeiten einer verfassungskonformen Neuregelung¹⁶ hat sich der bayerische Gesetzgeber für die Normierung einer Ausschlussfrist entschieden, wonach die Festsetzung eines Beitrags ohne Rücksicht auf die Entstehung der Beitragsschuld spätestens 20 Jahre – bei Verletzung einer Mitwirkungspflicht 25 Jahre – nach Ablauf des Jahres, in dem die Vorteilslage eintrat, nicht mehr zulässig ist, vgl. Art. 13 Abs. 1 Nr. 4 Buchstabe b Doppelbuchstabe bb Spiegelstrich 1 BayKAG in der Fassung vom 11. März 2014 (GVBl S. 70). Für Beiträge, die vor dem 1. April 2014 durch nicht bestandskräftigen Bescheid festgesetzt sind, gilt Art. 13 Abs. 1 Nr. 4 Buchstabe b Doppelbuchstabe bb Spiegelstrich 1 mit der Maßgabe, dass die Frist einheitlich 30 Jahre beträgt, Art. 19 Abs. 2 BayKAG. In diesem Zusammenhang ist verschiedentlich die Frage aufgeworfen worden, wie lang eine derartige Ausschlussfrist mindestens sein muss beziehungsweise maximal sein darf.¹⁷ Der Staat wird grundsätzlich ein Interesse an einer möglichst langen, der Bürger hingegen an einer möglichst kurzen Frist haben. Mit dieser Problematik hat sich das Bundesverfassungsgericht bislang in der Sache noch nicht beschäftigt. In der Literatur wird in Anlehnung an § 197 BGB eine Frist von 30 Jahren als absolute Obergrenze angesehen.¹⁸ Mit Blick darauf, dass den Gemeinden die Finanzierung ihrer öffentlichen Einrichtungen nicht unangemessen erschwert werden dürfe und dass der mit der Beitragserhebung abzugeltende Vorteil typischerweise für einen länger andauernden Zeitraum bestehe, solle die Ausschlussfrist 15 Jahre nicht unterschreiten.¹⁹

 BVerfGE 133, 143 (161 Rn. 48).  BVerfGE 133, 143 (162 Rn. 50); ausführlich hierzu M. Martini, NVwZ-Extra 23/2014, S. 1 (6 ff.).  Ausführlich zu den Neuregelungen in Brandenburg, Sachsen, Bayern, Thüringen, SachsenAnhalt, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern und Niedersachsen Driehaus, in: ders., Kommunalabgabenrecht, § 8 Rn. 223e ff. (September 2017); kritisch zur Neuregelung in Thüringen Petermann, ThürVBl. 2014, S. 241 (242); zu den Handlungsmöglichkeiten des Gesetzgebers vgl. auch Bücken-Thielmeyer/Fenzel, LKV 2014, S. 241 ff.  Bücken-Thielmeyer/Fenzel, LKV 2014, S. 241 (244); wohl auch Driehaus, in: ders., Kommunalabgabenrecht, § 8 Rn. 223d (März 2018); zu Recht kritisch M. Martini, NVwZ-Extra 23/2014, S. 1 (10).  Driehaus, KStZ 2014, S. 181 (185).

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III. Folgeentscheidungen Im Nachgang zu der Senatsentscheidung vom 5. März 2013 war das „neue“ Gebot der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit verschiedentlich Gegenstand von Kammerentscheidungen zum (kommunalen) Abgabenrecht.

1. „Altanschließerproblematik“ Brandenburg Bereits wenige Monate nach dem Grundsatzbeschluss zur Festsetzungsverjährung im Bayerischen Kommunalabgabengesetz beschäftigte sich die 2. Kammer des Ersten Senats mit einer ähnlich gelagerten Problematik im Kommunalabgabengesetz für das Land Brandenburg – KAG Bbg –, welche die sogenannten „Altanschließer“ betrifft. Damit sind die Eigentümer solcher Grundstücke in den neuen Bundesländern gemeint, die bereits vor dem 3. Oktober 1990 an die Schmutzwasserkanalisation angeschlossen waren beziehungsweise über eine entsprechende Anschlussmöglichkeit verfügten. Die Altanschließer wurden nicht nur in Brandenburg, sondern auch in den anderen neuen Bundesländern noch viele Jahre nach der Wiedervereinigung zu Kanalanschlussbeiträgen herangezogen. Das Kommunalabgabengesetz für das Land Brandenburg enthält zwar keine dem Art. 13 Abs. 1 Nr. 4 Buchstabe b Doppelbuchstabe cc Spiegelstrich 2 BayKAG a. F. vergleichbare Sonderregelung des Beginns der Festsetzungsverjährung. § 8 Abs. 7 Satz 2 Halbsatz 1 KAG Bbg fordert allerdings für das Entstehen der Anschlussbeitragspflicht neben dem Eintritt der Vorteilslage das Inkrafttreten einer „rechtswirksamen“ Satzung, die nicht bereits zum Zeitpunkt des Entstehens der Vorteilslage in Kraft sein muss; sie kann vielmehr nach § 8 Abs. 7 Satz 2 Halbsatz 2 KAG Bbg einen späteren Zeitpunkt für das Entstehen der Beitragspflicht bestimmen. Mit dieser Regelung wollte der Gesetzgeber Beitragsausfällen entgegenwirken, die sich daraus ergaben, dass es vielen Kommunen teilweise über Jahre hinweg nicht gelang, wirksame Beitragssatzungen zu erlassen.²⁰ Die Regelung des § 12 Abs. 3a KAG Bbg bestimmt, dass bei der Erhebung eines Beitrages für den Anschluss an eine leitungsgebundene Einrichtung oder Anlage im Bereich der Wasserversorgung und Abwasserbeseitigung nach § 8 Abs. 7 KAG Bbg oder die Möglichkeit eines solchen Anschlusses die Festsetzungsfrist frühestens mit Ablauf des 31. Dezember 2011 endet, soweit die Festsetzungsverjährung zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Dritten Gesetzes zur Änderung des Kommunalabgabengesetzes für das Land Brandenburg vom 2. Oktober 2008 (GVBl I S. 218)  Vgl. LTDrucks 3/6324, S. 25 f.

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noch nicht eingetreten ist. Mit dieser Regelung wollte der Gesetzgeber sich selbst und den Gemeinden und Zweckverbänden Zeit für die Lösung der sogenannten „Altanschließerproblematik“ verschaffen.²¹ In ihrem Beschluss vom 3. September 2013 – 1 BvR 1282/13 –, juris, lässt die 2. Kammer des Ersten Senats offen, ob die nach § 8 Abs. 7 Satz 2 KAG Bbg mögliche und durch § 12 Abs. 3a KAG Bbg jedenfalls nicht durch eine zeitliche Obergrenze gedeckelte Festsetzung von Anschlussbeiträgen nach Erlangung des Vorteils mit dem Grundsatz der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit vereinbar ist. Denn die Verfassungsbeschwerde, die gegen zwei in einem Eilverfahren ergangene verwaltungsgerichtliche Entscheidungen gerichtet war, war mangels Erschöpfung des Rechtswegs in der Hauptsache unzulässig. Auch in der Folge hatte das Bundesverfassungsgericht bis dato keine Gelegenheit die brandenburgischen Regelungen, einschließlich der in Reaktion auf den Beschluss des Ersten Senats vom 5. März 2013 neu in das Gesetz eingefügten zeitlichen Obergrenze für den Vorteilsausgleich in § 19 KAG Bbg²² unter dem Gesichtspunkt des Gebots der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit auf ihre Verfassungsmäßigkeit zu überprüfen. Die diesbezüglich erhobenen Verfassungsbeschwerden waren insoweit entweder mangels Grundrechtsfähigkeit der Beschwerdeführerin²³ oder mangels hinreichender Substantiierung²⁴ unzulässig. In der Sache gelöst hat die 2. Kammer des Ersten Senats die Altanschließerproblematik in Brandenburg dann über das Rückwirkungsverbot.²⁵

 Vgl. LTDrucks 4/6422, S. 8.  § 19 Zeitliche Obergrenze für den Vorteilsausgleich (1) Abgaben zum Vorteilsausgleich dürfen mit Ablauf des 15. Kalenderjahres, das auf den Eintritt der Vorteilslage folgt, nicht mehr festgesetzt werden. Die §§ 169 Absatz 1 Satz 3 und 171 der Abgabenordnung gelten in der in § 12 Absatz 1 Nummer 4 Buchstabe b angeordneten Weise entsprechend. Aufgrund der Sondersituation nach der Deutschen Einheit ist der Lauf der Frist bis zum 3. Oktober 2000 gehemmt. (2) – (3) …  Vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 2. November 2015 – 1 BvR 1530/ 15, 1 BvR 1531/15 –, juris, Rn. 4 ff.  Vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 12. November 2015 – 1 BvR 2961/ 14, 1 BvR 3051/14 –, juris, Rn. 37 f.  Vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 12. November 2015 – 1 BvR 2961/ 14, 1 BvR 3051/14 –, juris, Rn. 39 ff.; vgl. auch M. Martini, NVwZ-Extra 23/2014, S. 1 (14 ff.).

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2. Steuerfestsetzungsfristen Eine weitere Kammerentscheidung zum Gebot der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit betrifft die zulässige Dauer der Ablaufhemmung von Steuerfestsetzungsfristen im Falle von Außenprüfungen. Die Durchführung einer Außenprüfung hemmt nach Maßgabe der in § 171 Abs. 4 Satz 1 AO beschriebenen Bedingungen den Ablauf der Steuerfestsetzungsfrist. Nach § 171 Abs. 4 Satz 3 AO endet die Festsetzungsfrist für Steuerbescheide spätestens, wenn seit Ablauf des Kalenderjahres, in dem die Schlussbesprechung (§ 201 AO) stattgefunden hat, oder, wenn die Schlussbesprechung unterblieben ist, seit Ablauf des Kalenderjahres, in dem die letzten Ermittlungen im Rahmen der Außenprüfung stattgefunden haben, die in § 169 Abs. 2 AO genannten Fristen verstrichen sind. In ihrem Beschluss vom 21. Juli 2016 – 1 BvR 3092/15 –, juris, stellt die 1. Kammer des Ersten Senats klar, dass es mit dem Gebot der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit nicht vereinbar wäre, wenn die Finanzverwaltung durch Hinauszögern der Schlussbesprechung den Ablauf der Festsetzungsfrist nach eigenem Gutdünken bestimmen und so letztlich beliebig verlängern könnte. Sowohl unbegrenzte Festsetzungsfristen als auch eine freie Verfügbarkeit der Finanzbehörden über deren Lauf wären als verfassungswidrig anzusehen.²⁶ Im Falle der Durchführung einer Außenprüfung hat es der Steuerpflichtige indes selbst in der Hand, den Ablauf der Festsetzungsfrist nach § 169 AO herbeizuführen. Denn er verfügt gemäß § 201 Abs. 1 Satz 1 AO über die Möglichkeit, auf die Schlussbesprechung zu verzichten. Gegen den Willen des Steuerpflichtigen darf die Finanzbehörde keine Schlussbesprechung durchführen und kann so auch nicht den Fristablauf ab der letzten Ermittlungshandlung gegen den Willen des Steuerpflichtigen verhindern.²⁷ Jedenfalls dann, wenn seit der letzten Ermittlungshandlung im Rahmen der Außenprüfung im Sinne des § 171 Abs. 4 Satz 3 AO die Festsetzungsverjährung nach § 169 AO ohne Berücksichtigung dieser Ablaufhemmung bereits abgelaufen wäre, kann der Steuerpflichtige grundsätzlich ohne Rechtsnachteil, insbesondere ohne dass sein Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt würde, auf die Schlussbesprechung verzichten.²⁸ Der Verzicht führt in diesen Fällen unmittelbar zum Eintritt der Verjährung und damit zum Erlöschen des Steueranspruchs.

 Vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 21. Juli 2016 – 1 BvR 3092/15 –, juris, Rn. 10.  Vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 21. Juli 2016 – 1 BvR 3092/15 –, juris, Rn. 12.  Vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 21. Juli 2016 – 1 BvR 3092/15 –, juris, Rn. 15.

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Bemerkenswert an diesem Beschluss ist, dass eine etwaige Verletzung des Gebots der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit nicht wie in den früheren Entscheidungen in Bezug auf einen Beitrag zum Vorteilsausgleich geprüft wird, sondern hinsichtlich einer Steuerfestsetzung. Dies ist aber nur folgerichtig, da die dahinterstehende Problematik vergleichbar ist. Vereinfacht lässt sich festhalten, dass eine Verletzung des Gebots der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit dann naheliegt, wenn es allein in der Hand des Staates liegt, die Geltendmachung einer Forderung der öffentlichen Hand gegen den Bürger ohne zeitliche Begrenzung hinauszuzögern, und der Pflichtige hierdurch dauerhaft im Unklaren darüber gelassen wird, ob und in welchem Umfang er zu der Abgabe herangezogen wird. Welchen Ursprungs diese Geldforderung ist, insbesondere ob mit ihr eine Vorteilslage ausgeglichen werden soll, ist dann letztlich – wie es auch in dem Beschluss zu den Steuerfestsetzungsfristen anklingt – nicht entscheidend.²⁹

IV. Rezeption durch die Fachgerichte Seit der Grundsatzentscheidung des Ersten Senats vom 5. März 2013 war das Gebot der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit wiederholt Gegenstand diverser Entscheidungen der Fachgerichte. Dabei zeichnet sich allerdings – zumindest teilweise – eine gewisse Tendenz ab, selbst nur schwer mit dem Rechtsstaatsprinzip zu vereinbarende Gesetzesregelungen mit verfassungsrechtlich nicht unproblematischen Argumentationsansätzen für verfassungsgemäß zu erklären.³⁰ Zu Richtervorlagen an das Bundesverfassungsgericht kommt es nur in seltenen Fällen.³¹ Ob den verfassungsrechtlichen Vorgaben stets in hinreichendem Maße Rechnung getragen wird, erscheint daher fraglich, was anhand der nachfolgend exemplarisch dargestellten verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung verdeutlicht werden soll.

1. Altanschließer Mecklenburg-Vorpommern Eher widerwillig – so hat es jedenfalls den Anschein – ist das Gebot der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit durch das Oberverwaltungsgericht Meck Einen Überblick über denkbare Fallkonstellationen bietet M. Martini, NVwZ-Extra 23/2014, S. 1 (16 ff.).  Kritisch auch Schmitt, KommJur 2016, S. 86 (86, 89).  Vgl. aber etwa VG Gera, Beschluss vom 29. November 2017 – 2 K 159/16 Ge –, juris; BVerwG, Beschluss vom 6. September 2018 – 9 C 15.17 –, noch n.v.

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lenburg-Vorpommern in mehreren Entscheidungen³² wiederum zur Altanschließerproblematik aufgenommen worden. Die Kläger waren Eigentümer eines bebauten Grundstücks, das bereits vor der Wiedervereinigung über einen Anschluss an eine Abwasserentsorgungseinrichtung verfügte. Nachdem in der Vergangenheit sämtliche Beitragssatzungen des beklagten Wasserversorgungs- und Abwasserzweckverbands nichtig gewesen waren, wurden die Kläger im Jahre 2005 auf Grundlage der ersten wirksamen Satzung von 2004 zu einem Beitrag für die Herstellung der zentralen Schmutzwasserbeseitigungsanlage herangezogen. In Mecklenburg-Vorpommern ist das Entstehen der sachlichen Beitragspflicht für Anschlussbeiträge in § 9 Abs. 3 Kommunalabgabengesetz für das Land Mecklenburg-Vorpommern – KAG MV – geregelt. Danach entsteht die sachliche Beitragspflicht, sobald das Grundstück an die Einrichtung angeschlossen werden kann, frühestens jedoch mit dem In-Kraft-Treten der ersten wirksamen Satzung, wobei diese einen späteren Zeitpunkt bestimmen kann. Die Festsetzungsfrist beträgt gemäß § 12 Abs. 2 Satz 1 Halbsatz 1 KAG MV in der hier maßgeblichen Fassung der Bekanntmachung vom 12. April 2005 (GVBl S. 146) (a. F.) vier Jahre. Sie beginnt mit dem Ablauf des Kalenderjahres, in dem die Beitragsschuld entstanden ist (§ 12 Abs. 1 KAG MV in Verbindung mit § 170 Abs. 1 AO) und endet nach § 12 Abs. 2 Satz 1 Halbsatz 2 KAG MV a. F. frühestens mit Ablauf des 31. Dezember 2008. Nach Auffassung des Oberverwaltungsgerichts Mecklenburg-Vorpommern verstößt die Regelung des § 9 Abs. 3 Satz 1 KAG MV nicht gegen das Gebot der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit. Eigentümern bereits zu DDR-Zeiten angeschlossener Grundstücke sei erstmals und frühestens unter dem neuen Rechtsregime nach der Wiedervereinigung der rechtlich gesicherte Vorteil geboten worden, ihr Schmutzwasser mittels einer öffentlichen Einrichtung entsorgen zu können. In die Beitragskalkulation zur Abgeltung dieses Vorteils flössen zudem nur sogenannte „Nachwendeinvestitionen“ ein. Eigentümer, die gegebenenfalls bereits in der Vergangenheit Zahlungen geleistet hätten, würden daher nicht „doppelt“ zu denselben Kosten herangezogen. Die „Verflüchtigungsrechtsprechung“ des Bundesverfassungsgerichts sei auf die Erhebung von Anschlussbeiträgen nach Maßgabe des Kommunalabgabengesetzes Mecklenburg-Vorpommern nicht anwendbar.³³

 Es handelt sich um diverse Parallelentscheidungen, nachfolgend wird auf das vollständig in juris dokumentierte Urteil vom 1. April 2014 – 1 L 142/13 – abgestellt.  OVG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 1. April 2014 – 1 L 142/13 –, juris, Rn. 64 ff.

Das Gebot der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit

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Diese Entscheidung hat das Bundesverwaltungsgericht – wenn auch nicht im Ergebnis, so aber doch hinsichtlich der Begründung – korrigiert.³⁴ Zutreffend stellt das Bundesverwaltungsgericht fest, dass die im Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 5. März 2013 entwickelten Grundsätze Geltung für das gesamte Beitragsrecht beanspruchen und daher entgegen der Auffassung des Oberverwaltungsgerichts Mecklenburg-Vorpommern selbstverständlich auch auf die Erhebung von Anschlussbeiträgen auf Grundlage des Kommunalabgabengesetzes Mecklenburg-Vorpommern Anwendung finden. Zu Recht kommt das Bundesverwaltungsgericht nach diesen Maßgaben zu dem Ergebnis, dass § 9 Abs. 3 Satz 1 Halbsatz 2 KAG MV, wonach die sachliche Beitragspflicht frühestens mit dem In-Kraft-Treten der ersten wirksamen Satzung entsteht, mit dem Gebot der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit nicht zu vereinbaren ist. Wenn eine Beitragsschuld ohne wirksame Satzung nicht entstehen und dementsprechend nicht verjähren kann, können nämlich bei unterbliebenem oder fehlerhaftem Erlass einer Beitragssatzung Beiträge zeitlich unbegrenzt nach Vorteilserlangung festgesetzt werden.³⁵ Soweit der Gesetzgeber in § 12 Abs. 2 Satz 1 Halbsatz 2 KAG MV a. F. bestimmt hat, dass die Festsetzungsverjährung frühestens mit Ablauf des 31. Dezember 2008 ende, wird hiermit – wie das Bundesverwaltungsgericht zu Recht festhält – lediglich eine zeitliche Mindest-, nicht aber eine Höchstgrenze festgelegt, wie sie zur Wahrung des Gebots der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit erforderlich wäre. Eine derartige Höchstgrenze lässt sich auch nicht im Wege der Analogie zu bestehenden Verjährungsregelungen, in Anwendung des Grundsatzes von Treu und Glauben oder durch verfassungskonforme Auslegung des § 9 Abs. 3 Satz 1 Halbsatz 2 KAG MV herleiten.³⁶ Allerdings wirkte sich die Verfassungswidrigkeit in dem vom Bundesverwaltungsgericht zu entscheidenden Fall nicht aus, da die angefochtenen Bescheide vor dem 31. Dezember 2008 erlassen worden waren mit der Folge, dass die Kläger damit rechnen mussten, jedenfalls bis zu diesem Zeitpunkt zu Anschlussbeiträgen herangezogen werden zu können. Sie seien daher über die Dauer der Möglichkeit der Beitragserhebung nicht dauerhaft im Unklaren gewesen.³⁷

 BVerwG, Urteile vom 15. April 2015 – 9 C 15.14 bis 9 C 22.14 –; nachfolgend zitiert nach der vollständig in juris dokumentierten Entscheidung 9 C 19.14.  BVerwG, Urteil vom 15. April 2015 – 9 C 19.14 –, juris, Rn. 10.  BVerwG, Urteil vom 15. April 2015 – 9 C 19.14 –, juris, Rn. 13.  BVerwG, Urteil vom 15. April 2015 – 9 C 19.14 –, juris, Rn. 14.

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2. Wechsel zwischen privatrechtlicher und öffentlich-rechtlicher Ausgestaltung der Wasserversorgung Als im Hinblick auf das Gebot der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit ebenfalls nicht ganz unproblematisch erweist sich das Urteil des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg vom 31. März 2014 – 2 S 2366/13 –, juris. Die Entscheidung hat die Erhebung eines Wasserversorgungsbeitrags auf Grundlage des Kommunalabgabengesetzes Baden-Württemberg – KAG BW – zum Gegenstand. Der Kläger war seit 1977 Eigentümer eines unbebauten Grundstücks im Gebiet der beklagten Gemeinde. In den Jahren 1982/83 wurde im Zuge der Erschließung des Gebietes die Wasserversorgungsleitung in der vor dem Grundstück des Klägers verlaufenden öffentlichen Straße verlegt. Dabei wurde auch ein „Blindanschluss“ für das Grundstück des Klägers hergestellt. Die Beklagte hatte die Entgeltzahlungen für die Versorgung mit Trinkwasser seit Mitte der 1970er Jahre privatrechtlich geregelt. Im November 2006 beschloss der Gemeinderat der Beklagten eine Satzung über den Anschluss an die öffentliche Wasserversorgungsanlage und die Versorgung der Grundstücke mit Wasser, die am 1. Januar 2007 in Kraft trat. Seither betreibt die Beklagte die Wasserversorgung als öffentliche Einrichtung. Auf dieser Grundlage erhebt sie zur teilweisen Deckung ihres Aufwands für die Anschaffung, Herstellung und den Ausbau der öffentlichen Wasserversorgungsanlagen nunmehr einen Wasserversorgungsbeitrag und zog hierzu im Jahre 2011 auch den Kläger heran. Gemäß § 32 Abs. 1 KAG BW entsteht die Beitragsschuld für Anschlussbeiträge unter anderem, sobald das Grundstück an die Einrichtung (§ 20 Abs. 1 KAG BW) angeschlossen werden kann, frühestens jedoch mit In-Kraft-Treten der Satzung, die auch einen späteren Zeitpunkt bestimmen kann. Die Festsetzungsfrist beträgt nach § 3 Abs. 1 Nr. 4 Buchstabe c KAG BW in Verbindung mit § 169 Abs. 2 Satz 1 AO vier Jahre. Sie beginnt mit Ablauf des Kalenderjahres, in dem der Beitrag entstanden ist und endet im Falle der Ungültigkeit einer Satzung nicht vor Ablauf eines Jahres nach Bekanntmachung einer neuen Satzung, § 3 Abs. 1 Nr. 4 Buchstabe c KAG BW in Verbindung mit § 170 Abs. 1 bis 3, § 171 Abs. 1 bis 3, Abs. 3a AO. Der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg hat entschieden, dass im Falle des Klägers noch keine Festsetzungsverjährung eingetreten sei. Die abstrakte Beitragsschuld sei erst am 1. Januar 2007 entstanden, da erst an diesem Tage die hierfür erforderliche satzungsrechtliche Grundlage in Kraft getreten sei mit der Folge, dass die Festsetzungsfrist erst am 31. Dezember 2011 geendet habe. Dass die tatsächliche Anschlussmöglichkeit bereits seit fast 30 Jahren existiere, stehe der Beitragserhebung nicht entgegen. Zwar lasse sich dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 5. März 2013 (BVerfGE 133, 143) möglicherweise der allgemeine Rechtsgedanke entnehmen, dass es regelmäßig eine absolute

Das Gebot der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit

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zeitliche Obergrenze für eine Beitragserhebung geben müsse. Da die Beklagte die Entgelte für die Leistungen der Wasserversorgung seit Anfang 2007 nicht mehr einem privatrechtlichen, sondern einem öffentlich-rechtlichen Regime unterstellt habe, sei eine derartige Obergrenze der Beitragserhebung im vorliegenden Einzelfall nicht überschritten. In dem Zeitraum zwischen der tatsächlichen Schaffung der Anschlussmöglichkeit und dem Inkrafttreten der Wasserversorgungssatzung der Beklagten sei die Geltendmachung eines öffentlich-rechtlichen Wasserversorgungsbeitrags durch die Beklagte in rechtlicher Hinsicht schon im Ansatz nicht möglich gewesen.³⁸ Daher ließen sich in Bezug auf diesen Zeitraum, in dem die Entgelte für die Wasserversorgung noch auf privatrechtlicher Basis erhoben worden seien, die tragenden Erwägungen in dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts nicht auf den vorliegenden Fall übertragen. Hier fehle es schon an der Erwartung des Grundstückseigentümers, nicht mehr zu einer Kostenbeteiligung für die Herstellung der Wasserversorgungseinrichtung herangezogen zu werden. Unter der Geltung des Privatrechts habe jedem Grundstückseigentümer vielmehr bewusst sein müssen, dass er ein entsprechendes Entgelt leisten müsse, sobald er sein Grundstück bebaue und an die Wasserversorgung anschließe. Anders als im öffentlich-rechtlichen Beitragsrecht habe die Gemeinde zudem keine Befugnis gehabt, bereits bei Bestehen einer tatsächlichen Vorteilslage ein solches Entgelt zu fordern, sodass ihr auch nicht entgegenzuhalten sei, dass sie eine ihr zustehende Befugnis nicht wahrgenommen hätte.³⁹ Würde die Umstellung von einer privatrechtlichen Entgeltregelung zu einer Finanzierung über öffentlich-rechtliche Abgaben dazu führen, dass für viele unbebaute, aber bebaubare Grundstücke keine Beiträge mehr erhoben werden dürften, würde dies die Organisationshoheit der Gemeinden unverhältnismäßig einschränken. Eine Rückkehr ins öffentliche Recht wäre dann mit erheblichen finanziellen Risiken für die Gemeinden verbunden, ohne dass dies durch die überwiegenden Interessen der Betroffenen geboten wäre.⁴⁰ Dass das Gebot der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit auf einen Wechsel von einer privatrechtlichen zu einer öffentlich-rechtlichen Ausgestaltung der Wasserversorgung keine Anwendung finden soll, vermag kaum zu überzeugen.⁴¹ Soweit das Urteil maßgeblich darauf abstellt, dass unter Geltung der privatrechtlichen Regelungen jeder Grundstückseigentümer damit habe rechnen müssen, zu Wasserversorgungsbeiträgen herangezogen zu werden, ist dem entgegenzuhalten, dass das Bundesverfassungsgericht in der Grundsatzentschei   

VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 31. März 2014 – 2 S 2366/13 –, juris, Rn. 49. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 31. März 2014 – 2 S 2366/13 –, juris, Rn. 50. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 31. März 2014 – 2 S 2366/13 –, juris, Rn. 52. So auch M. Martini, NVwZ-Extra 23/2014, S. 1 (23).

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dung vom 5. März 2013 die zeitliche Begrenzung der Beitragserhebung gerade nicht mit der Frage verknüpft hat, ob im Einzelfall ein schutzwürdiges Vertrauen besteht oder nicht. Vielmehr hat der Erste Senat in diesem Zusammenhang ausdrücklich erklärt, dass das Rechtsstaatsprinzip Rechtssicherheit auch dann gewährleiste, wenn keine Regelungen bestehen, die Anlass zu spezifischem Vertrauen geben, oder wenn Umstände einem solchen Vertrauen sogar entgegenstehen.⁴² Den für die Auferlegung vorteilsausgleichender Beitragspflichten verfassungsrechtlich gebotenen Verjährungsregelungen sei es eigen, dass sie ohne individuell nachweisbares oder typischerweise vermutetes, insbesondere ohne betätigtes Vertrauen greifen.⁴³ Es erschließt sich auch nicht ohne Weiteres, warum die Gemeinde bei privatrechtlicher Ausgestaltung des Nutzungsverhältnisses ihre Nutzungsbedingungen nicht so auszugestalten vermag, dass sie die einzelnen Nutzer bereits für die Schaffung der Anschlussmöglichkeit zu einem Entgelt heranziehen kann. Zwar leuchtet ein, dass ein – grundsätzlich rechtlich zulässiger – Wechsel zwischen privatrechtlicher und öffentlich-rechtlicher Ausgestaltung der Nutzungsbedingungen die Organisationshoheit der Gemeinde beeinträchtigt, wenn hiermit finanzielle Einbußen einhergehen. Gleichwohl darf ein solcher Wechsel nach Maßgabe des Gebots der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit nicht dazu führen, dass die Gemeinde einzelne Grundstückseigentümer auch Jahrzehnte nach Schaffung der tatsächlichen Vorteilslage noch zu einem Beitrag heranziehen kann, nur weil sie eine bis dato privatrechtliche Ausgestaltung des Nutzungsverhältnisses durch eine öffentlich-rechtliche ersetzt. Anderenfalls hätte sie es in der Hand, die Beitragserhebung ohne zeitliche Begrenzung beliebig hinauszuzögern. Beabsichtigt die Gemeinde einen Wechsel des Rechtsregimes, muss sie die damit verbundenen Vor- und Nachteile gegeneinander abwägen. Ihrer Grundrechtsbindung darf sie sich nicht durch eine Flucht ins Privatrecht entziehen.

3. Sanierungsrechtlicher Ausgleichsbetrag In verfassungsrechtlicher Hinsicht nicht ganz unproblematisch erscheint schließlich auch das Urteil des 4. Senats des Bundesverwaltungsgerichts vom 20. März 2014 – 4 C 11.13 –, BVerwGE 149, 211. Die Entscheidung betrifft die Festsetzung sanierungsrechtlicher Ausgleichsbeträge. Auch hier wird die Pro-

 BVerfGE 133, 143 (158 Rn. 41).  BVerfGE 133, 143 (159 Rn. 44).

Das Gebot der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit

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blematik der Möglichkeit einer zeitlich unbegrenzten Abgabenerhebung virulent. Der Eigentümer eines im förmlich festgelegten Sanierungsgebiet gelegenen Grundstücks hat zur Finanzierung der Sanierung an die Gemeinde einen Ausgleichsbetrag in Geld zu entrichten, § 154 Abs. 1 Satz 1 BauGB. Die Festsetzung ist nicht mehr zulässig, wenn die Festsetzungsfrist abgelaufen ist. Gemäß § 154 Abs. 3 Satz 1 BauGB ist der Ausgleichsbetrag nach Abschluss der Sanierung (§§ 162, 163 BauGB) zu entrichten, was dann der Fall ist, wenn die Gemeinde die Sanierungssatzung förmlich aufhebt oder die Sanierung für ein Grundstück für abgeschlossen erklärt. Sind die Voraussetzungen des § 162 Abs. 1 Satz 1 BauGB erfüllt, ist die Gemeinde zwar zur rechtsförmlichen Aufhebung der Sanierungssatzung verpflichtet mit der Folge, dass die Frist zur Festsetzung des sanierungsrechtlichen Ausgleichsbetrags mit Ablauf des Jahres zu laufen beginnt, in dem die Sanierungssatzung förmlich aufgehoben worden ist. Das galt nach der früheren Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts selbst dann, wenn die Gemeinde die Aufhebung der Sanierungssatzung rechtswidrig unterlässt, obwohl die Voraussetzungen der Aufhebung vorliegen.⁴⁴ In seiner Entscheidung vom 20. März 2014 stellt der 4. Senat des Bundesverwaltungsgerichts zunächst zutreffend klar, dass die Anknüpfung der Festsetzungsverjährung an die rechtsförmliche Aufhebung der Sanierungssatzung mit Blick auf das Gebot der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit nicht zur Folge haben dürfe, dass es die Gemeinde in der Hand hat, durch rechtswidriges Unterlassen der Aufhebung der Sanierungssatzung den Eintritt der Festsetzungsverjährung auf Dauer oder auf unverhältnismäßig lange Zeit zu verhindern.⁴⁵ Eine Verfassungswidrigkeit der Regelungen über den Ausgleichsbetrag vermag der 4. Senat gleichwohl nicht zu erkennen. Denn der Einhaltung des Gebots der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit könne über den auch im öffentlichen Recht geltenden Grundsatz von Treu und Glauben hinreichend Rechnung getragen werden.⁴⁶ Einschlägig sei allerdings nicht – wie das Bundesverfassungsgericht im Beschluss vom 5. März 2013 klargestellt habe – die Fallgruppe der Verwirkung. Der Geltendmachung eines sanierungsrechtlichen Ausgleichsbetrags, der den betroffenen Eigentümer in dem rechtsstaatlichen Gebot der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit verletzt, stehe jedoch der Einwand der unzulässigen Rechtsausübung entgegen.⁴⁷ Der bloße Umstand, dass die Gemeinde die Sanierungssatzung entgegen ihrer Pflicht aus § 162 Abs. 1 BauGB nicht rechtzeitig

   

Vgl. BVerwGE 149, 211 (214 Rn. 14). Vgl. BVerwGE 149, 211 (214 Rn. 15). Vgl. BVerwGE 149, 211 (221 ff.). Vgl. BVerwGE 149, 211 (222 Rn. 31).

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aufgehoben hat, lasse die Abgabenerhebung allerdings noch nicht treuwidrig erscheinen. Treuwidrigkeit sei vielmehr erst dann anzunehmen, wenn es aufgrund der Pflichtverletzung der Gemeinde unter Berücksichtigung der gesamten Umstände des Einzelfalls nicht mehr zumutbar erscheine, den Bürger mit der Abgabenerhebung zu konfrontieren, wobei ein enger Maßstab gelte.⁴⁸ In Anlehnung an die Wertungen allgemeiner Verjährungsvorschriften sei die Erhebung sanierungsrechtlicher Ausgleichsbeträge mehr als 30 Jahre nach Entstehen der Vorteilslage generell ausgeschlossen.⁴⁹ Diese Rechtsprechung, der sich inzwischen nicht wenige Verwaltungsgerichte angeschlossen haben,⁵⁰ begegnet mit Blick auf den Beschluss des Ersten Senats vom 5. März 2013 verfassungsrechtlichen Bedenken. Der Rückgriff des Bundesverwaltungsgerichts auf den Grundsatz von Treu und Glauben erscheint kaum vereinbar mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, wonach es Aufgabe des Gesetzgebers ist, einen Ausgleich zu schaffen zwischen dem Interesse der Allgemeinheit an der umfassenden und vollständigen Realisierung von Beiträgen für die Erlangung eines individuellen Vorteils einerseits und dem Interesse des Beitragsschuldners andererseits, irgendwann Klarheit zu erlangen, ob und in welchem Umfang er zu einem Beitrag herangezogen werden kann. Der Rückgriff auf den Grundsatz von Treu und Glauben vermag zwar möglicherweise in Einzelfällen eine wirksame zeitliche Begrenzung der Abgabenerhebung zu bewirken, kann aber kaum eine grundlegende gesetzgeberische Entscheidung ersetzen. Der Bürger muss sich auf Abgabenbelastungen einstellen und entsprechend disponieren können. Eine hinreichende Berechenbarkeit ist ihm indes nicht möglich, wenn auf allgemeine, nicht hinreichend in der Rechtsordnung verankerte normative Grundsätze verwiesen wird.⁵¹ Der – im Übrigen vom Bundesverfassungsgericht gerade nicht als Lösungsmöglichkeit aufgeworfene – Ansatz, auf den Grundsatz von Treu und Glauben zur Wahrung des Gebots der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit abzustellen, ist daher zu Recht auf Kritik gestoßen,⁵² und wird auch von dem für das Abgabenrecht zuständigen 9. Senat des Bundesverwaltungsgerichts ausdrücklich nicht geteilt.⁵³

 Vgl. BVerwGE 149, 211 (223 Rn. 32).  Vgl. BVerwGE 149, 211 (223 f. Rn. 34).  Vgl. etwa VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 27. Januar 2015 – 2 S 1840/14 –, juris, Rn. 50; Urteil vom 20. März 2015 – 2 S 1327/14 –, juris, Rn. 52 ff.; VG Neustadt (Weinstraße), Urteil vom 28. April 2015 – 5 K 935/13.NW –, juris, Rn. 51 ff.; OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 16. Februar 2017 – 6 A 10137/14 –, juris, Rn. 40 ff.  Vgl. M. Martini, NVwZ-Extra 23/2014, S. 1 (6).  Vgl. Schmitt/Wohlrab, KommJur 2014, S. 447 (449 ff.); zustimmend hingegen Martensen, LKV 2014, S. 446 (450); ablehnend auch Martini, NVwZ-Extra 2014, S. 1 (18 f.), der allerdings die Pro-

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Die maßgeblichen Regelungen über die Festsetzung sanierungsrechtlicher Ausgleichsbeträge waren zwar bereits mittelbar Gegenstand einer Verfassungsbeschwerde. Diese wurde jedoch mit (nicht veröffentlichtem) Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 6. Dezember 2017 – 1 BvR 3034/15 – mangels Zulässigkeit nicht zur Entscheidung angenommen.

V. Ausblick Das erst in jüngerer Zeit durch das Bundesverfassungsgericht entwickelte Gebot der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit berührt komplexe und nicht leicht zu lösende Rechtsfragen im Bereich des Abgabenrechts. Da es immer wieder Gegenstand verfassungsrechtlicher Streitigkeiten ist und sich auch in der Rechtsprechung der Instanzgerichte inzwischen nicht wenige Entscheidungen zu dieser Thematik finden, ist zu erwarten, dass es noch weitere Konturierung durch die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung erfahren wird. Bereits die bisherige Entwicklung zeigt, dass keineswegs ausschließlich die Erhebung kommunaler Beiträge am Maßstab des Gebots der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit zu messen ist, sondern dass dies im Grundsatz für alle Arten von Forderungen der öffentlichen Hand gilt.

blematik – wie in der Vorinstanz das OVG Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 30. April 2013 – 14 A 208/11 –, juris, Rn. 50 ff.) – im Wege verfassungskonformer Auslegung löst.  Vgl. BVerwG, Urteil vom 15. April 2015 – 9 C 19.14 –, juris, Rn. 13; vgl. aber wiederum BVerwG, Urteil vom 15. März 2017 – 10 C 1.16 –, juris, Rn. 29.

Matthias Modrzejewski

Die Bedeutung des Gebots der Folgerichtigkeit für die gleichheitsrechtliche Maßstabsbildung im Steuerrecht Leitentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts BVerfGE 84, 239 – Zinsbesteuerung BVerfGE 93, 121 – Vermögensteuer BVerfGE 105, 73 – Rentenbesteuerung BVerfGE 117, 1 – Erbschaftsteuer BVerfGE 122, 210 – Pendlerpauschale BVerfGE 126, 268 – Häusliches Arbeitszimmer BVerfGE 137, 350 – Luftverkehrsteuer BVerfGE 138, 136 – Erbschaftsteuer BVerfGE 145, 106 – Verlustverrechnung BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 10. April 2018 – 1 BvR 1236/11 –, juris – Gewerbesteuer

Schrifttum (Auswahl) Eichberger, Verfassungsrechtliche Rahmenbedingungen, in: Sieker (Hrsg.), Steuerrecht und Wirtschaftspolitik, Veröffentlichungen der Deutschen Steuerjuristischen Gesellschaft, Band 39 (2016), S. 97 ff.; Hey, Zur Geltung des Gebots der Folgerichtigkeit im Unternehmensteuerrecht, DStR 2009, S. 2561 ff.; Kempny, Steuerverfassungsrechtliche Sonderdogmatik zwischen Verallgemeinerung und Zurückführung, in: Baer/Lepsius u. a. (Hrsg.), Jahrbuch des Öffentlichen Rechts der Gegenwart, Band 64 (2016), S. 477 ff.; Kischel, Gleichheitssatz und Steuerrecht, in: Mellinghoff/Palm (Hrsg.), Gleichheit im Verfassungsstaat, Symposium für Paul Kirchhof, 2008, S. 175 ff.; Lepsius, Anmerkung [zu BVerfGE 122, 210 – Pendlerpauschale], JZ 2009, S. 260 ff.; Osterloh, Folgerichtigkeit, in: Bäuerle/Dann/Wallrabenstein (Hrsg.), Demokratie-Perspektiven, Festschrift für Brun-Otto Bryde, 2013, S. 429 ff.; Schmehl, Steuersystematik, Steuerausnahmen und Steuerreform, in: Bäuerle/Dann/Wallrabenstein (Hrsg.), Demokratie-Perspektiven, Festschrift für Brun-Otto Bryde, 2013, S. 457 ff.; Schön, Grundrechtsschutz gegen den demokratischen Steuerstaat, in: Baer/ Lepsius u. a. (Hrsg.), Jahrbuch des Öffentlichen Rechts der Gegenwart, Band 64 (2016), S. 515 ff.; Thiemann, Das Folgerichtigkeitsgebot als verfassungsrechtliche Leitlinie der Besteuerung, in: Emmenegger/Wiedmann (Hrsg.), Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, Band 2 (2011), S. 179 ff.

https://doi.org/10.1515/9783110599916-013

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Inhalt I. Einleitung 278 II. Genese der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Maßstab des allgemeinen Gleichheitssatzes im Steuerrecht 279 . Vom Willkürmaßstab zur Stufenlos-Formel 279 . Das Gebot der Folgerichtigkeit 283 a) Bedeutung des Gebots der Folgerichtigkeit für die Maßstabsbildung im Rahmen des 283 allgemeinen Gleichheitssatzes 284 b) Rechtsprechung des Zweiten Senats aa) Entwicklung bis zur Entscheidung zur Pendlerpauschale 284 bb) Die Entscheidung zur Pendlerpauschale (BVerfGE , ) 286 cc) Die Entwicklung nach der Entscheidung zur Pendlerpauschale 288 c) Rechtsprechung des Ersten Senats 290 d) Fazit 292 III. Inhaltliche Bedeutung des Gebots der Folgerichtigkeit in der neueren Rechtsprechung 293 . Rechtsprechung des Ersten Senats 293 293 a) Kein maßstabsverschärfendes Potential des Gebots der Folgerichtigkeit b) Bestätigung der neu akzentuierten Maßstabsbildung durch den Senat 296 . Rechtsprechung des Zweiten Senats 298 . Fazit 299 IV. Ausblick: Zur Zukunft des Gebots der Folgerichtigkeit 300

I. Einleitung Die verfassungsgerichtliche Kontrolle materieller Steuergesetze findet aufgrund der Wirkschwäche der Freiheitsrechte im Steuerrecht¹ im Wesentlichen unter zwei Gesichtspunkten statt: Die Prüfung auf Verstöße gegen den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG und auf Verstöße gegen den Vertrauensschutz der Steuerpflichtigen wegen rückwirkend belastender Gesetze. Beide verfassungsrechtlichen Kernthemen des Steuerrechts wurden bereits in einem Beitrag zu den Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts näher beleuchtet. Marc Desens hat sich im ersten Band aus dem Jahr 2009 mit dem „Vertrauen in das Steuergesetz“ auseinandergesetzt.² Die im Anschluss hieran ergangenen –

 Vgl. zur Maßlosigkeit des Finanzzwecks, der eine freiheitsrechtliche Verhältnismäßigkeitsprüfung regelmäßig ins Leere laufen lässt Vogel, Diskussionsbeitrag, in: VVDStRL 47 (1989), S. 66; vgl. auch Hey, in: Tipke/Lang, Steuerrecht, 23. Auflage 2018, § 3 Rn. 182 ff.; Kempny, in: JöR, Band 64, S. 477 (478); F. Kirchhof, BB 2017, S. 662 (665); Lepsius, JZ 2009, S. 260 (260 f.).  Desens, in: Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, Band 1, 2009, S. 329 ff.

Die Bedeutung des Gebots der Folgerichtigkeit für die Maßstabsbildung

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und als Paradigmenwechsel bezeichneten³ – Entscheidungen des Zweiten Senats vom 7. Juli 2010⁴, aber auch die vieldiskutierte⁵ Entscheidung des Ersten Senats zu § 43 Abs. 18 KAGG⁶ liefern genug Material für eine erneute Beschäftigung mit diesen Rechtsprechungslinien. Da im Problemfeld der unechten Rückwirkung allerdings weitere Entscheidungen des Zweiten Senats – namentlich das Verfahren zu den Erbbauzinsen⁷ und die Verfahren zu den Organschaften⁸ – anstehen, sollte ein Fortzeichnung dieser Rechtsprechungslinien einem späteren Band vorbehalten bleiben. Auch zur verfassungsrechtlichen Überprüfung steuerrechtlicher Vorschriften anhand des allgemeinen Gleichheitssatzes ist bereits ein Beitrag in den Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts erschienen. Christian Thiemann hat sich im zweiten Band aus dem Jahr 2011 mit dem „Folgerichtigkeitsgebot als verfassungsrechtliche[r] Leitlinie der Besteuerung“⁹ auseinandergesetzt und die Grundlagen dieses Gebots aufbereitet. Seitdem hat es bedeutsame Weiterentwicklungen in der Rechtsprechung beider Senate des Bundesverfassungsgerichts gegeben und zwar insbesondere in Bezug auf die maßstabsbildende Bedeutung des Gebots der Folgerichtigkeit. Diese regen dazu an, die Thematik unter diesem Aspekt erneut aufzugreifen.

II. Genese der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Maßstab des allgemeinen Gleichheitssatzes im Steuerrecht 1. Vom Willkürmaßstab zur Stufenlos-Formel Der Maßstab, an dem durch Steuerrechtsnormen bewirkte Ungleichbehandlungen zu messen sind, unterlag in der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung einer stetigen Weiterentwicklung. Diese Entwicklung führte von einer bloßen

 Birk, FR 2011, S. 1 (2).  BVerfGE 127, 1; BVerfGE 127, 31; BVerfGE 127, 61.  Vgl. nur Osterloh, StuW 2015, S. 201; Hey, NJW 2014, S. 1564; Lepsius, JZ 2014, S. 488.  BVerfGE 135, 1.  Az. 2 BvL 1/11.  Az. 2 BvL 7/13 und 2 BvL 18/14.  Thiemann, in: Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, Band 2, 2011, S. 179 ff.

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Überprüfung auf Verstöße gegen das Willkürverbot¹⁰ hin zur sog. „Neuen Formel“¹¹ und schließlich zum Übergang zur sog. „Stufenlos-Formel“. Dieser stufenlose Prüfungsmaßstab besagt, dass sich aus dem allgemeinen Gleichheitssatz je nach Regelungsgegenstand und Differenzierungsmerkmalen unterschiedliche Grenzen für den Gesetzgeber ergeben, die von bloßen Bindungen an das Willkürverbot bis hin zu strengen Verhältnismäßigkeitserfordernissen reichen können.¹² Im Hinblick auf die Maßstabsbildung heißt es in diesen Entscheidungen im Anschluss (mit jeweils sprachlichen Variationen): „Eine strengere Bindung des Gesetzgebers kann sich aus den jeweils betroffenen Freiheitsrechten ergeben […]. Zudem verschärfen sich die verfassungsrechtlichen Anforderungen, je weniger die Merkmale, an die die gesetzliche Differenzierung anknüpft, für den Einzelnen verfügbar sind […] oder je mehr sie sich denen des Art. 3 Abs. 3 GG annähern […].“¹³

Außerhalb des Steuerrechts führen die drei angeführten Kriterien häufig zu einem strengen Kontrollmaßstab. In den Entscheidungen zum Hamburgischen Passivraucherschutzgesetz¹⁴ und zu den Spielhallen¹⁵ leitete der Erste Senat dies aus einer erheblichen Beeinträchtigung des Grundrechts der Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) ab, in der Entscheidung zum Bayerischen Landeserziehungsgeldgesetz¹⁶ aus der Betroffenheit des Elternrechts (Art. 6 Abs. 2 GG) und in der Entscheidung zur Grundsicherung für Arbeitssuchende¹⁷ wegen eines Bezugs zum  Danach ist der Gleichheitssatz nur verletzt, wenn sich ein vernünftiger, sich aus der Natur der Sache ergebender oder sonst wie sachlich einleuchtender Grund für die gesetzliche Differenzierung nicht finden lässt, BVerfGE 1, 14 (52); BVerfGE 46, 55 (62); BVerfGE 49, 260 (271); BVerfGE 61, 138 (147); BVerfGE 68, 237 (250); BVerfGE 71, 255 (271); BVerfGE 89, 132 (141).  Danach ist der Gleichheitssatz verletzt, wenn eine Gruppe von Normadressaten im Vergleich zu anderen Normadressaten anders behandelt wird, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, dass sie die ungleiche Behandlung rechtfertigen könnten, BVerfGE 55, 72 (88); BVerfGE 81, 108 (118); BVerfGE 92, 26 (52); BVerfGE 92, 277 (318); BVerfGE 93, 386 (397); BVerfGE 95, 39 (45); BVerfGE 95, 143 (154 f.); BVerfGE 96, 315 (325); BVerfGE 97, 332 (344); BVerfGE 98, 365 (389); BVerfGE 99, 367 (389); BVerfGE 100, 195 (205); BVerfGE 110, 274 (291); BVerfGE 122, 151 (174); BVerfGE 124, 199 (219 f.).  BVerfGE 129, 49 (69); BVerfGE 130, 131 (142); BVerfGE 132, 179 (188 Rn. 31); BVerfGE 133, 1 (14 Rn. 45); BVerfGE 133, 59 (86 f. Rn. 72); BVerfGE 134, 1 (20 Rn. 56); BVerfGE 137, 1 (20 Rn. 47); BVerfGE 138, 136 (180 Rn. 123 f.); BVerfGE 139, 1 (12 Rn. 38); BVerfGE 139, 285 (309 Rn. 70); BVerfGE 141, 1 (38 Rn. 93); BVerfGE 142, 353 (385 Rn. 69); BVerfGE 145, 20 (86 f. Rn. 171); BVerfGE 145, 106 (142 Rn. 98).  Exemplarisch BVerfGE 138, 136 (180 f. Rn. 121 f.); BVerfGE 145, 106 (145 Rn. 105); BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 10. April 2018 – 1 BvR 1236/11 –, juris, Rn. 104.  BVerfGE 130, 131 (143).  BVerfGE 145, 20 (87 Rn. 173).  BVerfGE 130, 240 (254).  BVerfGE 142, 353 (386 Rn. 71).

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Selbstbestimmungsrecht des Kindes (Art. 2 Abs. 1 GG) sowie zum Grundrecht auf freie Gestaltung des familiären Zusammenlebens (Art. 6 Abs. 1 GG). In den beiden letztgenannten Entscheidungen nahm der Senat zudem eine Maßstabsverschärfung aufgrund der kaum gegebenen Verfügbarkeit über die Staatsangehörigkeit¹⁸ bzw. der fehlenden Verfügbarkeit über das Lebensalter¹⁹ an. Bei der gleichheitsrechtlichen Überprüfung steuerrechtlicher Vorschriften führen diese drei Kriterien hingegen nur in Randbereichen zu einer Maßstabsverschärfung. Zwar greifen solche Vorschriften in aller Regel in Freiheitsrechte – jedenfalls²⁰ in Art. 2 Abs. 1 GG – ein. Würde dieser Umstand für eine strengere Bindung des Gesetzgebers genügen, wären steuerrechtliche Vorschriften grundsätzlich anhand eines strengeren Maßstabes zu überprüfen.²¹ Diesen Weg ist das Bundesverfassungsgericht nicht gegangen. Freiheitsrechte werden vielmehr maßgeblich in den Fällen zum sog. subjektiven Nettoprinzip herangezogen. Die Steuerfreistellung des Existenzminimums wird auf Art. 1 Abs. 1 GG i.V. m. dem Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1 GG) gestützt und unter Rückgriff auf den Subsidiaritätsgedanken freiheitsrechtlich begründet.²² Aus Art. 6 Abs. 1 GG wird abgeleitet, dass auch das Existenzminimum sämtlicher Familienmitglieder steuerfrei zu belassen ist.²³ Dass auch bei höheren Einkommen die Steuerfreistellung des Existenzminimums zu gewährleisten ist, wird schließlich aus Art. 3 Abs. 1 GG hergeleitet, „wobei die in Art. 6 Abs. 1 GG enthaltene Grundsatzentscheidung für den Schutz der Familie mit zu beachten ist“.²⁴ Eine Annäherung an die Merkmale des Art. 3 Abs. 3 GG führte in den steuerrechtlichen Fällen zur eingetragenen Lebenspartnerschaft zu einer Maßstabsverschärfung. Beide Senate gingen in ihren Entscheidungen davon aus, dass bei Differenzierungen nach der sexuellen Orientierung die Gefahr droht, dass es zu einer Diskriminierung von Minderheiten kommt und daher eine Nähe zu den

 BVerfGE 130, 240 (255).  BVerfGE 142, 353 (386 Rn. 71).  Die Diskussion, ob auch der Schutzbereich der Eigentumsgarantie (Art. 14 GG) eröffnet ist, hat in diesem Zusammenhang mithin nur akademischen Charakter, vgl. hierzu BVerfGE 87, 153 (169) und BVerfGE 115, 97 (110 ff.) sowie aus der Literatur statt vieler Hey, in: Tipke/Lang, Steuerrecht, 23. Auflage 2018, § 3 Rn. 189 ff.  Vgl. zu dieser Forderung nach einem (stets) strengen Maßstab Hey, DStR 2009, S. 2561 (2567); für eine zurückhaltende Anwendung dieses Kriteriums, da nahezu jede staatliche Maßnahme eine geschützte Freiheit berühre Britz, NJW 2014, S. 346 (349).  BVerfGE 82, 60 (85); BVerfGE 87, 153 (169 ff.); BVerfGE 99, 246 (259).  BVerfGE 82, 60 (85); BVerfGE 99, 246 (260).  BVerfGE 82, 60 (86); vgl. zum daraus resultierenden strengen Maßstab bei der Überprüfung der Ungleichbehandlung auch BVerfGE 99, 246 (260 ff.).

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personenbezogenen Merkmalen des Art. 3 Abs. 3 GG besteht.²⁵ Infolge dessen galt für die Rechtfertigung von Ungleichbehandlungen ein strenger Maßstab und Differenzierungen im Erbschaftsteuerrecht²⁶, bei der Grunderwerbsteuer²⁷ und im Einkommensteuerrecht²⁸ wurden für mit Art. 3 Abs. 1 GG unvereinbar befunden. Spätestens das Gesetz zur Einführung des Rechts auf Eheschließung für Personen gleichen Geschlechts²⁹ führt deutlich vor Augen, dass eine Annäherung an die Merkmale des Art. 3 Abs. 3 GG in der steuerrechtlichen Rechtsprechung keine entscheidende Bedeutung mehr haben dürfte.³⁰ Auch das Kriterium der Verfügbarkeit führt im steuerrechtlichen Kontext regelmäßig nicht zu einer Maßstabsverschärfung. Grundlage des modernen Steuerstaates ist es, dass die Bürger ihre erwerbswirtschaftliche Freiheit nutzen und der Staat einen Teil der durch die Verwirklichung dieser Freiheit erzielten Einnahmen beansprucht.³¹ Auf nicht oder kaum verfügbare persönliche Merkmale wie etwa Alter oder Staatsangehörigkeit stellt das Steuerrecht regelmäßig nicht ab. Nur in besonders gelagerten Fällen hat das Bundesverfassungsgericht daher eine fehlende Verfügbarkeit der Differenzierungsmerkmale im Steuerrecht angenommen. In der Entscheidung zur Erbschaftsteuer wurde darauf abgestellt, dass die potentiell mit Erbschaftsteuer belasteten Erben nicht darüber verfügen können, ob sie privilegiertes Betriebsvermögen oder aber Privatvermögen erben.³² In der Entscheidung zu § 8c KStG wurde – da nicht entscheidungserheblich – offengelassen, ob der Umstand, dass die die Körperschaftsteuer schuldende Kapitalgesellschaft regelmäßig nicht darauf einwirken kann, ob es zu einem schädlichen Beteiligungserwerb kommt, zu einer Maßstabsverschärfung führt.³³ Beide Beispiele sind durch den eher atypischen Fall gekennzeichnet, dass die Steuerbelastung entscheidend von der nicht wirksam beeinflussbaren Entscheidung eines Dritten abhängt. Diese besonderen Konstellationen ändern nichts an der grundsätzlich freien Gestaltbarkeit der für das Steuerrecht maßgeblichen Um-

 Vgl. BVerfGE 133, 377 (408 Rn. 77).  BVerfGE 126, 400.  BVerfGE 132, 179.  BVerfGE 133, 377.  BGBl. I 2017, 2787.  Unmittelbar auf Art. 3 Abs. 3 GG bzw. Art. 3 Abs. 2 GG gestützt wird in Teilen der Literatur das Ehegattensplitting wegen einer mittelbarer Diskriminierung verheirateter Frauen für verfassungswidrig erachtet. Vgl. zu dieser rechtspolitisch nachvollziehbaren, aber verfassungsrechtlich nicht überzeugenden Position Modrzejewski, Existenzsicherung in Ehe und Familie im Einkommensteuerrecht, 2018, S. 276 ff.  Vgl. P. Kirchhof, in: Kirchhof, EStG, 17. Auflage 2018, Einleitung Rn. 1.  BVerfGE 138, 136 (185 f. Rn. 132).  BVerfGE 145, 106 (150 Rn. 120).

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stände. Diese Freiheit wurde vom Ersten Senat sogar dahingehend gewürdigt, dass im Rahmen einer Ungleichbehandlung belastungsmindernd zu berücksichtigen sei, dass Steuerpflichtige – im konkreten Fall durch Gründung einer Schwesterpersonengesellschaft³⁴ – einer Belastung ausweichen können.

2. Das Gebot der Folgerichtigkeit a) Bedeutung des Gebots der Folgerichtigkeit für die Maßstabsbildung im Rahmen des allgemeinen Gleichheitssatzes Vor dem eben beschriebenen Hintergrund kommt der Frage, ob im Steuerrecht auch aufgrund anderer Kriterien bei der Prüfung von Art. 3 Abs. 1 GG eine Maßstabsverschärfung vorzunehmen ist, erhebliche Bedeutung zu. Ein solches Kriterium bei der verfassungsgerichtlichen Kontrolle von Steuergesetzen könnte das Gebot der Folgerichtigkeit sein. Gedanklich liegt dem Gebot der Folgerichtigkeit eine Differenzierung zwischen grundlegenden Entscheidungen des Steuergesetzgebers und nachgeordneten oder nachfolgenden Entscheidungen zugrunde.³⁵ Folgerichtigkeit bedeutet in diesem Zusammenhang, dass die nachgeordneten bzw. nachfolgenden mit den grundlegenden Entscheidungen in Einklang stehen.³⁶ Ist dies nicht der Fall und zugleich eine Ungleichbehandlung feststellbar, stellt sich die Frage, ob sich bereits aufgrund dieser Abweichung von einer grundlegenden Entscheidung erhöhte Rechtfertigungsanforderungen im Rahmen des allgemeinen Gleichheitssatzes ergeben. In der Literatur wird eine solche Maßstabsverschärfung teilweise als Kerngehalt des Gebots der Folgerichtigkeit angesehen.³⁷ Die Rechtsprechungslinien beider Senate werden im Folgenden vollständig nachvollzogen, um die Entwicklungen, die das Gebot der Folgerichtigkeit in der Entscheidungspraxis des Bundesverfassungsgerichts genommen hat, aufzuzeigen.

 BVerfGE 120, 1 (53); vgl. auch BVerfGE 125, 1 (33).  Kempny, in: JöR, Band 64, S. 477 (484); Osterloh, in: Festschrift für Brun-Otto Bryde, 2013, S. 429 (440).  Vgl. P. Kirchhof, in: Maunz-Dürig, GG, Art. 3 Abs. 1 Rn. 317 (75. Lieferung, September 2015).  Thiemann, in: Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, Band 2, 2011, S. 179 (189 f.) in Anknüpfung an die Rechtsprechung zur Systemwidrigkeit; vgl. auch Kischel, in: Gleichheit im Verfassungsstaat, Symposium für Paul Kirchhof, 2008, S. 175 (185); Kempny, in: JöR, Band 64, S. 477 (484 f.).

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b) Rechtsprechung des Zweiten Senats aa) Entwicklung bis zur Entscheidung zur Pendlerpauschale Erstmals³⁸ bezog der Zweite Senat im sog. Zinsurteil vom 27. Juni 1991³⁹ den Gedanken der Folgerichtigkeit in die Maßstabsbildung beim allgemeinen Gleichheitssatz mit ein: „Aus dem Gebot der möglichst gleichmäßigen Belastung aller Steuerpflichtigen folgt: Der Gesetzgeber hat zwar bei der Auswahl des Steuergegenstandes und bei der Bestimmung des Steuersatzes einen weitreichenden Entscheidungsspielraum. Bei der Ausgestaltung dieses Ausgangstatbestandes hat er die einmal getroffene Belastungsentscheidung dann aber folgerichtig im Sinne der Belastungsgleichheit umzusetzen.“⁴⁰

Diese Entscheidung als „Geburtsstunde“ der sich später entwickelnden Folgerichtigkeitsdogmatik in allen Bereichen des Steuerrechts zu bezeichnen, wäre allerdings zu hoch gegriffen. Zu deutlich bezieht sich der Zweite Senat nämlich in der Folge auf das der Entscheidung zugrundeliegende spezifische Problem des Gesetzesvollzugs: „Das materielle Steuergesetz ist […] von Verfassungs wegen auf rechtliche Vorkehrungen zu seiner Durchsetzung angewiesen. Deshalb hat das Gebot, den materiellen Anspruch auf gleiche Belastung aller Steuerschuldner in einer darin begründeten Pflicht zum dementsprechenden Gesetzesvollzug folgerichtig fortzuführen, auch gegenüber Erfordernissen des Kapitalmarkts Bestand.“⁴¹

In der Folge differenzierte der Zweite Senat in zahlreichen Entscheidungen zwischen der weiten Auswahlbefugnis des Gesetzgebers hinsichtlich des Steuergegenstandes und der notwendigen folgerichtigen Umsetzung dieses Ausgangstatbestandes.⁴² In der Entscheidung zum Verlustabzug vom 30. September 1998 formulierte der Senat dabei erstmals, dass es zur Rechtfertigung von Ungleichbehandlungen bei der Umsetzung des Ausgangstatbestandes besonderer sachli-

 Zwar ist von „Folgerichtigkeit“ oder „folgerichtig“ bereits in früheren Entscheidungen beider Senate des Bundesverfassungsgerichts die Rede, allerdings kam den Begrifflichkeiten in diesem Kontext nicht die hier gegenständliche maßstabsbildende Bedeutung zu, vgl. etwa das Urteil des Ersten Senats zur Zweigstellensteuer, BVerfGE 19, 101 (116).  BVerfGE 84, 239.  BVerfGE 84, 239 (271).  BVerfGE 84, 239 (274).  BVerfGE 93, 121 (136); BVerfGE 99, 88 (95); BVerfGE 99, 280 (290); BVerfGE 101, 132 (138); BVerfGE 101, 151 (155).

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cher Gründe bedürfe.⁴³ In keiner der vier Entscheidungen aus dem 99. und 101. Band vermochte der Zweite Senat einen solchen besonderen sachlichen Grund zur Rechtfertigung der Ungleichbehandlung zu erkennen. Beginnend mit dem Urteil zur Rentenbesteuerung vom 6. März 2002 entwickelte der Senat seine Rechtsprechung zum Folgerichtigkeitsgebot begrifflich fort und ging davon aus, dass die Freiheit des Gesetzgebers – insbesondere für den Bereich des Einkommensteuerrechts – durch „zwei eng miteinander verbundene Leitlinien“ begrenzt werde: durch das Gebot der Ausrichtung der Steuerlast an der finanziellen Leistungsfähigkeit und durch das Gebot der Folgerichtigkeit.⁴⁴ Sofern der Senat eine Grundentscheidung des Gesetzgebers ausfindig machen konnte, mussten Ausnahmen von der folgerichtigen Umsetzung weiterhin⁴⁵ von besonderen sachlichen Gründen getragen werden.⁴⁶ Einen solchen, die Ungleichbehandlung rechtfertigenden besonderen sachlichen Grund vermochte der Senat weder in der Entscheidung zur Rentenbesteuerung (Grundentscheidung: Besteuerung in der Nacherwerbsphase in Abhängigkeit von der steuerlichen Be-

 BVerfGE 99, 88 (95); im Anschluss hieran BVerfGE 99, 280 (290); BVerfGE 101, 132 (139); BVerfGE 101, 151 (156).  BVerfGE 105, 73 (125); im Anschluss hieran zunächst BVerfGE 107, 27 (46); BVerfGE 110, 412 (433); BVerfGE 116, 164 (180); BVerfGE 121, 108 (119). Ohne Nennung der „Leitlinien“ erging in dieser Zeit nur der Beschluss zur steuerlichen Berücksichtigung der Kranken- und Pflegeversicherung, vgl. BVerfGE 120, 125 (155). Diese Entscheidung erging zum subjektiven Nettoprinzip und konnte daher auf die (maßgeblich aus Art. 1 Abs. 1 GG i.V. m. dem Sozialstaatsprinzip abgeleitete) Steuerfreiheit des Existenzminimums gestützt werden, sodass dem allgemeinen Gleichheitssatz in dieser Entscheidung nur ergänzende Funktion zukam.  Die Passage, dass Ausnahmen von einer folgerichtigen Umsetzung eines besonderen sachlichen Grundes bedürfen, findet sich erstmals ausdrücklich in BVerfGE 105, 73 (126), allerdings mit Verweis auf die o.g. Entscheidungen aus dem 99. Band, die diesen Umstand der Sache nach bereits vorgesehen hatten, sprachlich jedoch jeweils mit Bezug zu der konkreten Grundentscheidung.  BVerfGE 105, 73 (126, 128); BVerfGE 107, 27 (47, 56); BVerfGE 116, 164 (180 f., 183). Keine Erwähnung fand das Erfordernis eines besonderen sachlichen Grundes in zwei besonders gelagerten Fällen. In der Entscheidung zum Teilkindergeldausschluss von Grenzgängern (BVerfGE 110, 412), der maßgeblich sozialrechtliche Kriterien zugrunde lagen, vermochte der Zweite Senat bereits keine Grundentscheidung zu identifizieren, die folgerichtig hätte umgesetzt werden müssen, vgl. BVerfGE 110, 412 (436). Auch der Maßstab, an dem die Ungleichbehandlung zu messen war, wurde explizit offengelassen, BVerfGE 110, 412 (440). Auch in der Entscheidung zur ungleichen Behandlung von kommunalen Wählervereinigungen und Parteien im Erbschaft- und Schenkungsteuerrecht (BVerfGE 121, 108) wird nicht auf das Erfordernis eines besonderen sachlichen Grundes abgestellt. Der Art. 3 Abs. 1 GG entnommene Grundsatz der Chancengleichheit im politischen Wettbewerb erfordere schon aufgrund des Demokratieprinzips, dass Differenzierungen anhand eines strengen Maßstabs zu überprüfen seien und nur ein zwingender Grund eine solche rechtfertigen könne, vgl. BVerfGE 121, 108 (122).

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handlung in der Erwerbsphase⁴⁷) noch zur steuerlichen Abzugsfähigkeit von Mehraufwendungen für die doppelte Haushaltsführung (Grundentscheidung: Objektives Nettoprinzip⁴⁸; im Subsumtionsteil konkreter: kein „Werkstorprinzip“ im deutschen Einkommensteuerrecht⁴⁹) zu erkennen. Lediglich in der Entscheidung zur Tarifbegrenzung für gewerbliche Einkünfte (Grundentscheidung: verschiedene Arten von Einkünften repräsentieren die gleiche Leistungsfähigkeit⁵⁰) identifizierte der Senat einen Grund, der die Ungleichbehandlung rechtfertigen konnte. Die Besserstellung gewerblicher Einkünfte beim Tarifverlauf sei durch den „hinreichenden Grund“ gerechtfertigt, dass diese Einkünfte zusätzlich mit Gewerbesteuer belastet würden und insofern eine Kompensation statthaft sei.⁵¹

bb) Die Entscheidung zur Pendlerpauschale (BVerfGE 122, 210) Als Höhepunkt der Rechtsprechung zum Gebot der Folgerichtigkeit kann das Urteil des Zweiten Senats zur Pendlerpauschale aus dem Jahr 2008 bezeichnet werden.⁵² Der Entscheidung zur Pendlerpauschale lag – stark verkürzt – folgender Sachverhalt zugrunde: Mit Wirkung zum Veranlagungszeitraum 2007 ordnete der Gesetzgeber in § 9 Abs. 2 Satz 1 EStG an, dass Aufwendungen des Arbeitnehmers für die Wege zwischen Wohnung und regelmäßiger Arbeitsstätte – entgegen einer fast hundertjährigen Tradition im EStG – keine Werbungskosten sind. Nach Satz 2 dieser Vorschrift sollten aber Aufwendungen ab dem 21. Entfernungskilometer („wie Werbungskosten“) abziehbar bleiben. Der Zweite Senat setzte sich mit der Frage auseinander, ob der Ausschluss des Werbungskostenabzugs für die ersten zwanzig Entfernungskilometer mit dem allgemeinen Gleichheitssatz vereinbar ist. Er führte seine Rechtsprechung fort, wonach die gesetzgeberische Freiheit (insbesondere) im Einkommensteuerrecht durch die zwei eng miteinander verbundenen Leitlinien des Gebots der Ausrichtung der Steuerlast an der finanziellen Leistungsfähigkeit und des Gebots der Folgerichtigkeit begrenzt sei.⁵³ Als Grundentscheidung des Einkommensteuerrechts identifizierte der Senat das einfachrechtliche objektive Nettoprinzip und

 BVerfGE 105, 73 (127 f.).  BVerfGE 107, 27 (48).  BVerfGE 107, 27 (50).  BVerfGE 116, 164 (181).  BVerfGE 116, 164 (184).  BVerfGE 122, 210; Leitsatz: Zu den Anforderungen an eine folgerichtige Abgrenzung von Erwerbsaufwendungen im Einkommensteuerrecht.  BVerfGE 122, 210 (230 f.).

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verlangte wiederum, dass Ausnahmen von der folgerichtigen Umsetzung besonderer sachlicher Gründe bedürfen.⁵⁴ Im Ergebnis werde die Neuregelung mangels hinreichender sachlicher Gründe den verfassungsrechtlichen Anforderungen an eine folgerichtige Umsetzung einkommensteuerrechtlicher Belastungsentscheidungen nicht gerecht.⁵⁵ Im Subsumtionsteil stellte der Zweite Senat dabei nicht zunächst eine Ungleichbehandlung verschiedener Steuerpflichtiger fest; vielmehr resultierte die Notwendigkeit einer Rechtfertigung daraus, dass § 9 Abs. 1 Sätze 1 und 2 EStG von dem nach dem Nettoprinzip maßgeblichen Veranlassungsprinzip abweiche.⁵⁶ Der zu rechtfertigende Umstand wurde mithin in der Abkehr von einem Prinzip – dem Veranlassungsprinzip – gesehen, das wiederum prägend für ein Grundprinzip – nämlich das objektive Nettoprinzip – sei. Eine Rechtfertigung für diesen Umstand vermochte der Senat nicht zu erkennen. Der Einnahmeerzielungszweck sowie Förderungs- und Lenkungszwecke wurden dabei mit kurzen, teils formalen Ausführungen⁵⁷ als ungeeignet zur Rechtfertigung angesehen.⁵⁸ Obwohl der Senat die gesetzgeberische Zuordnung der Wegekosten zu den gemischt veranlassten Aufwendungen als verfassungsrechtlich unbedenklich einstufte und dem Gesetzgeber für deren Behandlung im Einkommensteuerrecht erhebliche Typisierungsspielräume zusprach, wurde einer Rechtfertigung der Neuregelung unter dem Aspekt der Typisierungsbefugnis des Gesetzgebers eine klare Absage erteilt. Die Neuregelung sei nicht das Ergebnis eines Typisierungsvorgangs, vielmehr habe der Gesetzgeber von seiner Typisierungsbefugnis keinen Gebrauch gemacht.⁵⁹ Die Neuregelung versuche nicht, die Veranlassungsbeiträge pauschalierend zu erfassen und stehe in „keiner Beziehung“ zu dem zu regelnden Sachverhalt der gemischten Veranlassung der Aufwendungshöhe.⁶⁰ Die aufgrund der Neuregelung entscheidende Mindestdistanz zwischen Wohnung und Arbeitsplatz sei für eine typisierende Bewertung „offenkundig ungeeignet“.⁶¹ Im

 BVerfGE 122, 210 (234).  BVerfGE 122, 210 (235).  BVerfGE 122, 210 (235).  Vgl. zur Notwendigkeit einer erkennbaren gesetzgeberischen Entscheidung bei Förderungsund Lenkungszwecken BVerfGE 122, 210 (237 f.) sowie zur Bedeutung dieser Figur in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Kempny, in: JöR, Band 64, S. 477 (480 ff.).  BVerfGE 122, 210 (236 ff.).  BVerfGE 122, 210 (240).  BVerfGE 122, 210 (240 f.).  BVerfGE 122, 210 (241). Angesichts dieser Ausführungen drängt sich die Frage auf, ob die starke Fokussierung auf das Gebot der Folgerichtigkeit in der Entscheidung zur Pendlerpauschale erforderlich gewesen ist oder ob nicht bereits ein gelockerter Maßstab ausgereicht hätte, um die Unvereinbarkeit der Regelung mit dem allgemeinen Gleichheitssatz zu begründen.

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Anschluss prüfte der Senat, ob der Gesetzgeber aufgrund eines grundlegenden Systemwechsels von den Anforderungen an hinreichende Folgerichtigkeit befreit sei und verneinte dies.⁶² Hier wird ein letztes Mal die besondere Bedeutung des Gebots der Folgerichtigkeit in dieser Entscheidung deutlich, da danach gefragt wurde, ob die Neuregelung – unabhängig von der zugrundeliegenden Ungleichbehandlung – aufgrund eines Systemwechsels Bestand haben kann.

cc) Die Entwicklung nach der Entscheidung zur Pendlerpauschale Auch nach der Entscheidung zur Pendlerpauschale hielt der Zweite Senat – mit Ausnahme der jüngsten Entscheidung zum Verlustabzug nach § 8c KStG⁶³ – im Maßstabsteil an der Formulierung der „zwei eng miteinander verbundene Leitlinien“ fest.⁶⁴ In den Entscheidungen kam dem Gebot der Folgerichtigkeit aber aus verschiedenen Gründen – mit Ausnahme der Entscheidung zum häuslichen Arbeitszimmer⁶⁵ – keine wesentliche Bedeutung zu: ‒ Im Beschluss zu den Jubiläumsrückstellungen fehlte es nach Ansicht des Senats bereits an einer hinreichend tragfähigen Grundentscheidung des Gesetzgebers, die auf eine folgerichtige Umsetzung hin hätte überprüft werden können.⁶⁶ ‒ Der Beschluss zur Steuerpflicht bei Kindesunterhalt hatte die aus dem subjektiven Nettoprinzip abgeleitete Steuerfreiheit des Existenzminimums zum Gegenstand, für die aufgrund der lediglich ergänzenden Funktion des Art. 3 Abs. 1 GG – wiederum⁶⁷ – keine Ausführungen zur Bedeutung des Gebots der Folgerichtigkeit im konkreten Fall erforderlich waren.⁶⁸  BVerfGE 122, 210 (241 ff.).  BVerfGE 145, 106; vgl. unter III. 2.  BVerfGE 123, 111 (120); BVerfGE 124, 282 (295); BVerfGE 126, 268 (277 f.); BVerfGE 127, 1 (28); BVerfGE 141, 1 (39 f. Rn. 95); anders nur die Entscheidung zum Ehegattensplitting für eingetragene Lebenspartnerschaften (BVerfGE 133, 377), bei der sich ein strenger Maßstab für die Rechtfertigung bereits aufgrund der mittelbaren Ungleichbehandlung wegen der sexuellen Orientierung ergab. Die Entscheidung zum Mantelkauf (BVerfGE 136, 127) hatte nur die Unzulässigkeit der Richtervorlage zum Gegenstand.  BVerfGE 126, 268.  BVerfGE 123, 111 (123 f.) wonach weder die Maßgeblichkeit der handelsrechtlichen Grundsätze ordnungsgemäßer Buchführung noch die Maßgeblichkeit des handelsrechtlichen Vorsichtsprinzips für die Bildung von Rückstellungen in der Steuerbilanz als solche Grundentscheidungen angesehen werden können. Die Grundentscheidung für das (einfachgesetzliche) objektive Nettoprinzip sei durch das Rückstellungsverbot, das nur den Zeitpunkt der Berücksichtigung von Aufwand betreffe, nicht durchbrochen, vgl. BVerfGE 123, 111 (125 f.).  Vgl. bereits BVerfGE 120, 125.  BVerfGE 124, 282 (294).

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Der Beschluss zur Veräußerungsfrist bei Spekulationsgeschäften befasste sich im Wesentlichen mit der Frage nach Vertrauensschutz bei rückwirkenden Gesetzesänderungen. Anschließend entschied der Senat zudem, dass die Verlängerung der Veräußerungsfrist mit Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar ist.⁶⁹ Dem Gebot der Folgerichtigkeit kam hierbei – über die Nennung in den Maßstäben hinaus – keine Bedeutung zu. Hinsichtlich der Differenzierung zwischen Privat- und Betriebsvermögen fehle es bereits an einer Grundentscheidung dahingehend, dass Wertsteigerungen gleich zu behandeln seien. Vielmehr gebe es die gegenläufige „Grundkonzeption“, dass Wertsteigerungen grundsätzlich nur im Betriebsvermögen zu versteuern seien.⁷⁰ Auch im Beschluss zum Treaty Override kommt dem Gebot der Folgerichtigkeit keine Bedeutung für die Entscheidung zu; es findet lediglich eine Wiedergabe der Maßstäbe statt, ohne dass diese für die Subsumtion herangezogen werden.⁷¹

Lediglich im Beschluss zum häuslichen Arbeitszimmer war das Gebot der Folgerichtigkeit ein weiteres Mal von zentraler Bedeutung. Wie in der Entscheidung zur Pendlerpauschale konnte sich der Senat auf das durch das Veranlassungsprinzip konkretisierte objektive Nettoprinzip als Grundentscheidung des Gesetzgebers berufen und für die Ausnahme von der folgerichtigen Umsetzung dieser Belastungsentscheidung besondere, sachlich rechtfertigende Gründe einfordern.⁷² Solche rechtfertigenden Gründe für eine Abweichung vom objektiven Nettoprinzip konnte der Senat in den Fällen, in denen für die berufliche Tätigkeit kein anderweitiger Arbeitsplatz zur Verfügung stand, auch nicht im erheblichen Typisierungsspielraum des Gesetzgebers erkennen.⁷³

 BVerfGE 127, 1 (27 ff.). Dabei spielte einerseits die Differenzierung zwischen Betriebs- und Privatvermögen, andererseits aber auch die Differenzierung innerhalb des Privatvermögens (Grundstücke vs. sonstige Wirtschaftsgüter) eine Rolle.  BVerfGE 127, 1 (29): „Dieser Dualismus der Einkunftsarten gehört zum historisch gewachsenen Bestand des deutschen Einkommensteuerrechts […] und liegt als Grundentscheidung innerhalb des Gestaltungsspielraums, der dem Gesetzgeber bei der Erschließung von Steuerquellen zukommt […].“  BVerfGE 141, 1 (39 ff. Rn. 95 ff.).  BVerfGE 126, 268 (279 f.).  BVerfGE 126, 268 (281 f.).

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c) Rechtsprechung des Ersten Senats Der Erste Senat griff erstmals in seiner Entscheidung zur Erbschaftsteuer vom 7. November 2006⁷⁴ die steuerrechtliche Folgerichtigkeits-Rechtsprechung des Zweiten Senats auf. Er übernahm die Formulierung, wonach die grundsätzliche Freiheit des Gesetzgebers bei der Bestimmung der Sachverhalte, die das Gesetz als rechtlich gleich qualifiziert, durch zwei eng miteinander verbundenen Leitlinien begrenzt werde. Diese Leitlinien seien die „Prinzipien der finanziellen Leistungsfähigkeit und der Folgerichtigkeit“.⁷⁵ Ebenso wie der Zweite Senat wurde für Ausnahmen von der folgerichtigen Umsetzung in den Maßstäben ein besonderer sachlicher Grund eingefordert.⁷⁶ Als Grundentscheidung der Erbschaftsteuer wurde das Ziel genannt, die Bereicherung des Erben – die anhand des gemeinen Wertes des Vermögenszuwachses zu bestimmen sei – zu besteuern.⁷⁷ Im Rahmen der Subsumtion wurde an verschiedenen Stellen ausgeführt, dass diese Grundentscheidung in Bezug auf verschiedene Vermögensarten nicht folgerichtig umgesetzt sei.⁷⁸ Ob der Erste Senat dem Prinzip der Folgerichtigkeit aber maßstabsverschärfende Bedeutung zugesprochen hat, bleibt unklar. Hinsichtlich der wesentlichen Arten von Vermögen wurden die Abweichungen vom gemeinen Wert bereits als willkürlich angesehen,⁷⁹ sodass es eines strengen Rechtfertigungsmaßstabes nicht bedurfte. In der Entscheidung zur Gewerbesteuerfreiheit vom 15. Januar 2008 griff der Senat erneut die Folgerichtigkeitsrechtsprechung auf, allerdings sprach er nicht von zwei eng miteinander verbundenen Leitlinien, sondern schlicht von „begrenzenden Leitlinien“⁸⁰. Als Grundentscheidung, die folgerichtig umzusetzen  BVerfGE 117, 1.  BVerfGE 117, 1 (30); in der Rechtsprechung des Zweiten Senats war nicht von Prinzipien, sondern Geboten die Rede, vgl. erstmals BVerfGE 105, 73 (125).  BVerfGE 117, 1 (31).  BVerfGE 117, 1 (31).  BVerfGE 117, 1 (38).  BVerfGE 117, 1 (42 ff.) in Bezug auf Betriebsvermögen; BVerfGE 117, 1 (52 ff.) in Bezug auf bebaute Grundstücke und Grundstücke im Zustand der Bebauung, unklar in Bezug auf mit Erbbaurechten belastete und unbebaute Grundstücke; BVerfGE 117, 1 (62) in Bezug auf Anteile an Kapitalgesellschaften; BVerfGE 117, 1 (64) in Bezug auf land- und forstwirtschaftliches Vermögen.  BVerfGE 120, 1 (44). Die Entscheidung beinhaltet zwei unterschiedliche Fragen, nämlich erstens die Frage nach der Gewerbesteuerpflicht nur für Gewerbetreibende und zweitens die Frage nach der Zulässigkeit der sog. Abfärberegelung, wonach bei Personengesellschaften regelmäßig sämtliche Einkünften solche aus Gewerbebetrieb sind (und damit der Gewerbesteuer unterfallen), auch wenn die Personengesellschaft nur einen geringen Teil ihrer Einkünfte aus gewerblicher Tätigkeit erzielt. Dass Selbständige sowie Land- und Forstwirte nicht zur Gewerbesteuer herangezogen werden, sah der Senat als Entscheidung des Gesetzgebers über die Ausgestaltung des

Die Bedeutung des Gebots der Folgerichtigkeit für die Maßstabsbildung

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sei, stellte der Senat dabei auf das – auch für die Gewerbesteuer geltende – Leistungsfähigkeitsprinzip ab, wonach aus Gründen der Steuergerechtigkeit „gleich Leistungsfähige auch gleich hoch zu besteuern“ seien.⁸¹ Konsequenterweise formulierte der Senat, dass die gesetzliche Belastungsentscheidung „folgerichtig im Sinne von Belastungsgleichheit“ umzusetzen sei und Ausnahmen von dem „Gebot gleicher Besteuerung bei gleicher Ertragskraft“ eines besonderen sachlichen Grundes bedürften.⁸² Der erhöhte Rechtfertigungsbedarf ergab sich mithin nicht aufgrund einer Abweichung von einer (einfachgesetzlichen) Grundentscheidung, sondern aufgrund des (aus Art. 3 Abs. 1 GG abgeleiteten) Leistungsfähigkeitsprinzips.⁸³ Der Sache nach nahm der Senat im Subsumtionsteil entsprechend dieser erhöhten Rechtfertigungsanforderungen eine Verhältnismäßigkeitsprüfung vor.⁸⁴ Im Beschluss zur Erbschaft- und Schenkungsteuer bei eingetragener Lebenspartnerschaft vom 21. Juli 2010 sprach der Senat – in Abweichung von seiner letzten Entscheidung – davon, dass die Freiheit des Gesetzgebers von zwei Leitlinien, nämlich dem Gebot der Ausrichtung der Steuerlast am Prinzip der finanziellen Leistungsfähigkeit und dem Gebot der Folgerichtigkeit begrenzt werde.⁸⁵ Entscheidende Auswirkungen auf den Rechtfertigungsmaßstab hatte das Gebot der Folgerichtigkeit wiederum nicht.⁸⁶ Eine strenge Verhältnismäßigkeitsprüfung wurde nämlich unter dem Aspekt für geboten erachtet, dass die Differenzierung jedenfalls mittelbar an die sexuelle Orientierung anknüpfe.⁸⁷

Steuergegenstandes an, sodass das Gebot der Folgerichtigkeit von vorneherein bei der Rechtfertigung der Ungleichbehandlung keine Rolle spielen konnte.  BVerfGE 120, 1 (44).  BVerfGE 120, 1 (44).  Die zwei Leitlinien sind insofern zu einer Leitlinie geworden, als das Leistungsfähigkeitsprinzip (als Grundentscheidung) gilt und das Folgerichtigkeitsprinzip (darauf aufbauend) für Ausnahmen vom Leistungsfähigkeitsprinzip besondere sachliche Gründe einfordert.  BVerfGE 120, 1 (51 ff.).  BVerfGE 126, 400 (417).  BVerfGE 126, 400 (419). Zunächst führte der Senat aus, dass unter dem Gesichtspunkt der Leistungsfähigkeit und Folgerichtigkeit zu berücksichtigen sei, dass eine „gravierend“ unterschiedliche Steuerbelastung bei Ehegatten und Lebenspartnern eintrete und „daneben“ eine am Verhältnismäßigkeitsprinzip orientierte Gleichheitsprüfung wegen der Anknüpfung an personenbezogene Merkmale nötig sei, BVerfGE 126, 400 (417). Einen strengen Maßstab leitete der Senat mithin bereits aus dem Leistungsfähigkeitsprinzip und Folgerichtigkeitsgebot ab, allerdings nicht bezogen auf die grundsätzliche Bedeutung des Folgerichtigkeitsgebots, wonach nach Grundentscheidung und folgerichtiger Ausgestaltung zu fragen ist.  Vgl. zur Bedeutung dieses Umstandes für die Maßstabsbildung die Ausführungen unter II. 1. Parallel gelagert ist die zwei Jahre später ergangene Entscheidung des Senats zur Ungleichbehandlung eingetragener Lebenspartnerschaften bei der Grunderwerbsteuer (BVerfGE 132, 179).

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Im Beschluss zu § 8b KStG führte der Senat im Rahmen der Maßstäbe zwar seine Rechtsprechung zum Gebot der Folgerichtigkeit fort,⁸⁸ differenzierte bei der Subsumtion aber sogar gliederungstechnisch zwischen einem Verstoß gegen das Leistungsfähigkeitsprinzip und einem Verstoß gegen das Gebot der Folgerichtigkeit.⁸⁹ Mehrwert kam dieser Differenzierung, die im Übrigen dadurch relativiert wurde, dass auch bei der Prüfung eines Verstoßes gegen das Leistungsfähigkeitsprinzip wiederum auf Folgerichtigkeitsgesichtspunkte abgestellt wurde,⁹⁰ allerdings nicht zu. Denn soweit der Senat „keine dem objektiven Nettoprinzip entsprechende Besteuerung“⁹¹ bzw. „Abweichungen von dem Grundsatz der Folgerichtigkeit“⁹² erkennen konnte, verwies er zur Rechtfertigung auf die Befugnis des Gesetzgebers zur Pauschalierung.⁹³

d) Fazit Bis ins Jahr 2012 hinein war das Gebot der Folgerichtigkeit – zuletzt als Leitlinie der Besteuerung – fester Bestandteil der Maßstäbe zu Art. 3 Abs. 1 GG in der Rechtsprechung beider Senate. Regelmäßig wurde in den dargestellten Entscheidungen auch die maßgebliche Grundentscheidung identifiziert und – jedenfalls sprachlich – nach besonderen sachlichen Gründen zur Rechtfertigung gesucht. Entscheidende Bedeutung kam dem Gebot der Folgerichtigkeit allerdings regelmäßig nicht zu. Zu keiner Zeit konnte sich eine Rechtsprechungslinie herausbilden, die es ermöglicht hätte, die Bedeutung des Gebots der Folgerichtigkeit in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts als geklärt anzusehen.

Die abweichende und – aufgrund des Bezugs zu Steuergegenstand und Steuersatz – nicht eindeutige Formulierung hinsichtlich der „zwei Leitlinien“ ist aufgrund der nachfolgenden identischen Ausführungen ersichtlich nicht als Neuakzentuierung zu verstehen, vgl. BVerfGE 132, 179 (189).  BVerfGE 127, 224 (245).  BVerfGE 127, 224 (247 ff.).  BVerfGE 127, 224 (248 f.).  BVerfGE 127, 224 (251).  BVerfGE 127, 224 (253).  Damit ist gegenüber der Vorgehensweise nichts gewonnen, in der das Gebot der Folgerichtigkeit als an das objektive Nettoprinzip anknüpfender Umstand (jedenfalls sprachlich) bei der Maßstabsbildung herangezogen wird, vgl. die o.g. Entscheidungen des Zweiten Senats zum objektiven Nettoprinzip.

Die Bedeutung des Gebots der Folgerichtigkeit für die Maßstabsbildung

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III. Inhaltliche Bedeutung des Gebots der Folgerichtigkeit in der neueren Rechtsprechung In der jüngeren Rechtsprechung hat sich der Erste Senat hinsichtlich der Bedeutung des Gebots der Folgerichtigkeit zunehmend klar positioniert. Er ist von der ursprünglich vom Zweiten Senat entwickelten Rechtsprechungslinie abgewichen und hat die Maßstabsbildung im Rahmen des allgemeinen Gleichheitssatzes neu akzentuiert, ohne dass dies allerdings bisher zu einer in der Rechtsprechung der Senate einheitlichen Handhabung geführt hat.

1. Rechtsprechung des Ersten Senats a) Kein maßstabsverschärfendes Potential des Gebots der Folgerichtigkeit Beginnend mit dem Urteil zur Luftverkehrsteuer vom 5. November 2014 formuliert der Senat zum Gebot der Folgerichtigkeit in den Maßstäben: „Gleichheitsrechtlicher Ausgangspunkt im Steuerrecht ist der Grundsatz der Lastengleichheit. Die Steuerpflichtigen müssen dem Grundsatz nach durch ein Steuergesetz rechtlich und tatsächlich gleichmäßig belastet werden […]. Der Gleichheitssatz belässt dem Gesetzgeber einen weitreichenden Entscheidungsspielraum sowohl bei der Auswahl des Steuergegenstandes als auch bei der Bestimmung des Steuersatzes […]. Abweichungen von der mit der Wahl des Steuergegenstandes einmal getroffenen Belastungsentscheidung müssen sich indessen ihrerseits am Gleichheitssatz messen lassen (Gebot der folgerichtigen Ausgestaltung des steuerrechtlichen Ausgangstatbestands […]). Demgemäß bedürfen sie eines besonderen sachlichen Grundes […], der die Ungleichbehandlung zu rechtfertigen vermag.“⁹⁴

Neben der Frage nach der zulässigen Auswahl des Steuergegenstandes,⁹⁵ für die das Gebot der Folgerichtigkeit keine Rolle spielt, hatte der Senat auch über einzelne, im Luftverkehrsteuergesetz angelegte Ungleichbehandlungen bei der Ausgestaltung des Steuertatbestandes zu entscheiden.⁹⁶ Einleitend stellte er hierzu klar, dass der Gesetzgeber engeren Bindungen unterliege und es zur Rechtfertigung dieser Ungleichbehandlungen besonderer sachlicher Gründe be-

 BVerfGE 137, 350 (366 Rn. 41).  BVerfGE 137, 350 (368 ff. Rn. 45 ff.).  BVerfGE 137, 350 (370 ff. Rn. 53 ff.).

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dürfe.⁹⁷ Im Folgenden legte der Senat allerdings einen gelockerten Maßstab an, sprach von der großen Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers bei der Verfolgung von Förderzwecken und ließ es ausreichen, dass sich der Gesetzgeber nicht auf eine der Lebenserfahrung widersprechende Würdigung stützt. Gleich zweimal betont der Senat – allerdings nur als Ergänzung der vorangegangenen Argumentation – dass das Ausmaß der Steuerbefreiung nur äußerst gering sei.⁹⁸ Eine signifikante Fortentwicklung des Prüfungsmaßstabs des allgemeinen Gleichheitssatzes formulierte der Senat erstmals deutlich in der Entscheidung zur Erbschaftsteuer vom 17. Dezember 2014. Im Anschluss an die oben wiedergegebenen Ausführungen zum Gebot der Folgerichtigkeit ergänzte der Senat: „Dabei steigen die Anforderungen an den Rechtfertigungsgrund mit Umfang und Ausmaß der Abweichung (vgl. dazu BVerfGE 117, 1 [32]).“⁹⁹ Damit wurde das Kriterium des Ausmaßes der Ungleichbehandlung, das noch im Verfahren zur Luftverkehrsteuer lediglich im Rahmen der Subsumtion ergänzend angeführt wurde, neben den bereits bekannten Kriterien zur Maßstabsbildung herangezogen. Dieses neue Kriterium (und nicht das Gebot der Folgerichtigkeit) führte dazu, dass der Senat die Rechtfertigung von Ungleichbehandlungen anhand eines strengen Verhältnismäßigkeitsmaßstabes überprüfte: „Der große Spielraum, über den der Gesetzgeber bei der Entscheidung darüber verfügt, ob und welche Sachverhalte, Personen oder Unternehmen er durch eine Verschonung von einer bestimmten Steuer fördern und welche Gemeinwohlziele er damit verfolgen will, schließt allerdings nicht aus, dass die nähere Ausgestaltung solcher Verschonungsregelungen einer strengeren verfassungsgerichtlichen Kontrolle unterliegt. Neben den bereits genannten Merkmalen der Verfügbarkeit, der freiheitsrechtlichen Relevanz oder der Nähe des Differenzierungsgrundes zu Art. 3 Abs. 3 GG kann die Freiheit des Gesetzgebers im Steuerrecht durch das Ausmaß der mit der Steuerverschonung bewirkten Ungleichbehandlung und durch deren Auswirkung auf die gleichheitsgerechte Erhebung dieser Steuer insgesamt eingeschränkt sein. Je nach Intensität der Ungleichbehandlung kann dies zu einer strengeren Kontrolle der Förderziele durch das Bundesverfassungsgericht führen. […] Die durch die Verschonungsregelungen bewirkte Ungleichbehandlung zwischen Erwerbern begünstigten und sonstigen Vermögens ist enorm (a). Der Gesetzgeber unterliegt

 BVerfGE 137, 350 (370 f. Rn. 53).  BVerfGE 137, 350 (372 Rn. 56 f.).  BVerfGE 138, 136 (181 Rn. 123). Der Verweis auf BVerfGE 117, 1 (32) läuft insofern ins Leere, als in den dortigen Maßstäben keine Rede davon ist, dass Umfang und Ausmaß Bedeutung für die Maßstabsbildung haben. Lediglich in der Subsumtion wird auf das Ausmaß der Ungleichbehandlung abgestellt, daraus aber kein strengerer Rechtfertigungsmaßstab abgeleitet, was hinsichtlich der überwiegend für willkürlich erachteten Differenzierungen allerdings auch nicht ergebnisrelevant gewesen wäre.

Die Bedeutung des Gebots der Folgerichtigkeit für die Maßstabsbildung

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insoweit einer über eine bloße Willkürprüfung hinausgehenden strengeren Kontrolle am Maßstab der Verhältnismäßigkeit (b).“¹⁰⁰

Die vom Senat im obigen Zitat in einem Zuge wiedergegebenen vier Kriterien, die zu einer strengeren verfassungsrechtlichen Kontrolle des Gesetzgebers führen können, wurden in den zuvor ausgeführten Maßstäben nicht zusammenhängend erläutert. Vielmehr wurden die drei klassischen Kriterien in den allgemeinen Ausführungen zu Art. 3 Abs. 1 GG genannt, wohingegen das neue Kriterium bei den auf das Steuerrecht zugeschnittenen Maßstäben unmittelbar an die Ausführungen zum Gebot der Folgerichtigkeit angefügt wurde.¹⁰¹ Dass das Gebot der Folgerichtigkeit nicht als ein solcher, potentiell maßstabsverschärfender Umstand angeführt wurde, deckt sich mit weiteren Ausführungen des Senats: „Abweichungen von der mit der Wahl des Steuergegenstandes einmal getroffenen Belastungsentscheidung müssen sich indessen ihrerseits am Gleichheitssatz messen lassen (Gebot der folgerichtigen Ausgestaltung des steuerrechtlichen Ausgangstatbestands […]).“¹⁰²

Das Gebot der Folgerichtigkeit besagt danach nichts weiter, als dass sich Abweichungen von Belastungs(grund)entscheidungen ihrerseits am Gleichheitssatz messen lassen müssen. Damit wird diesen Abweichungen gerade keine maßstabsbildende Funktion zugeordnet, vielmehr ist an die allgemeinen – nun durch Ausmaß und Umfang erweiterten – Kriterien anzuknüpfen.¹⁰³ Diese Maßstäbe zog der Senat auch in der Subsumtion heran, ohne sich erneut auf das Gebot der Folgerichtigkeit zu beziehen.¹⁰⁴

 BVerfGE 138, 136 (182 f. Rn. 126 f.). Ein strengerer Maßstab soll sich zudem ausnahmsweise (vgl. oben II. 1.) aus der fehlenden Verfügbarkeit der Unterscheidungskriterien ergeben.  BVerfGE 138, 136 (180 f. Rn. 122 f.).  BVerfGE 138, 136 (181 Rn. 123); vgl. bereits BVerfGE 137, 350 (366 Rn. 41).  Auch in der Leseart des damaligen Berichterstatters ist diese Entscheidung als Rückführung des Gebots der Folgerichtigkeit in allgemeine Gleichheitsgrundsätze zu verstehen, vgl. die bei Schüler-Täsch/Schulze, DStR 2015, S. 1137 (1140) wiedergegebene Wortmeldung von Bundesverfassungsrichter Eichberger; vgl. auch Eichberger, in: Steuerrecht und Wirtschaftspolitik, DStJG Band 40 (2016), S. 97 (114).  BVerfGE 138, 136 (183 ff. Rn. 128 ff.).

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b) Bestätigung der neu akzentuierten Maßstabsbildung durch den Senat In der Entscheidung zur Grunderwerbsteuer bei Baulandumlegung führte der Senat seine Rechtsprechung fort¹⁰⁵ und überprüfte die Ungleichbehandlung von (grunderwerbsteuerfreier) amtlicher Baulandumlegung und (grunderwerbsteuerpflichtiger) freiwilliger Baulandumlegung lediglich anhand eines großzügigen Prüfungsmaßstabs, da er keines der vier maßstabsverschärfenden Kriterien für einschlägig erachtete: „Die zur Grunderwerbsteuerpflicht führende Teilnahme an einer nach § 11 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 BauGB als städtebaulicher Vertrag oder in sonstiger Weise vertraglich geregelten Umlegung erfolgt grundsätzlich freiwillig und ist damit für den Steuerschuldner verfügbar. Die Besteuerung von Grundstücksübertragungsvorgängen im Sinne des § 1 GrEStG entfaltet im Vergleich zu der hier in Rede stehenden Grunderwerbsteuerbefreiung nach § 1 Abs. 1 Nr. 3 Satz 2 Buchstabe b GrEStG auch weder freiheitseinschränkende Wirkung noch weist sie eine Nähe zu den Diskriminierungsverboten des Art. 3 Abs. 3 GG auf. Diese Befreiung erreicht schließlich auch kein solches Ausmaß, dass die Differenzierung einen strengeren Prüfungsmaßstab erforderte. Der Gesetzgeber verfügt bei der Ausgestaltung der Befreiungstatbestände von der Grunderwerbsteuer somit über einen beträchtlichen Spielraum.“¹⁰⁶

Dem Gebot der Folgerichtigkeit kam erneut keine Bedeutung bei der Maßstabsbildung zu. Ausgangspunkt der Prüfung des Senats war der Aspekt, dass es sich bei der Grunderwerbsteuer um eine Rechtsverkehrsteuer handele, die die private Vermögensverwendung belaste,¹⁰⁷ sodass maßgeblich aufgrund des Kriteriums der Freiwilligkeit der Teilnahme an der Baulandumlegung die Ungleichbehandlung gerechtfertigt sei. Ergänzend stellte der Senat fest, dass sich dieses Ergebnis auch dann nicht ändere, wenn eine andere Belastungsentscheidung, nämlich die Abschöpfung einer sich in der Vermögensverwendung äußernden Leistungsfähigkeit, zugrunde gelegt werde.¹⁰⁸ Hier wird zwar das vom Senat geforderte „Gebot der folgerichtigen Ausgestaltung des steuerrechtlichen Ausganstatbestandes“¹⁰⁹ betont, aber gerade nicht in dem Sinne, dass sich alleine aufgrund dieses Gebots erhöhte Rechtfertigungsanforderungen ergeben.¹¹⁰

 BVerfGE 139, 1. Im selben Band findet sich eine weitere Entscheidung des Senats zur Grunderwerbsteuer, die sich dieser Rechtsprechungslinie zuordnen lässt, vgl. BVerfGE 139, 285.  BVerfGE 139, 1 (14 Rn. 41).  BVerfGE 139, 1 (14 f. Rn. 43).  BVerfGE 139, 1 (18 f. Rn. 50 ff.).  BVerfGE 139, 1 (13 Rn. 40).  Vgl. BVerfGE 139, 1 (18 f. Rn. 51 f.).

Die Bedeutung des Gebots der Folgerichtigkeit für die Maßstabsbildung

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Auch die jüngsten Entscheidungen des Senats vom 10. April 2018 zur Grundsteuer¹¹¹ und zur Gewerbesteuer¹¹² fügen sich in die neue Rechtsprechungslinie ein. Entscheidendes Kriterium für die Maßstabsbildung im Rahmen des Art. 3 Abs. 1 GG war die Intensität der Ungleichbehandlung, wobei der Senat nicht mehr von „Umfang und Ausmaß“ der Abweichung von der einmal getroffenen Belastungsentscheidung spricht, sondern davon, dass „die Anforderungen an den Rechtfertigungsgrund mit dem Ausmaß der Abweichung und ihrer Bedeutung für die Verteilung der Steuerlast insgesamt [steigen]“.¹¹³ In der Entscheidung zur Grundsteuer ging der Senat von flächendeckenden, zahlreichen und in ihrem Ausmaß vielfach erheblichen Wertverzerrungen bei der Einheitsbewertung des Grundvermögens aus, sodass ein strenger Maßstab für die Rechtfertigung von Ungleichbehandlungen galt.¹¹⁴ Im Urteil zur Gewerbesteuer wird ein weiteres Mal besonders deutlich, dass der Senat dem Gebot der Folgerichtigkeit keine maßstabsbildende Funktion zuspricht. Zu entscheiden war u. a. darüber, dass nach § 7 Satz 2 Nr. 2 GewStG zwar die Gewinne aus der Veräußerung von Anteilen an einer Mitunternehmerschaft gewerbesteuerpflichtig sind, das Gesetz aber eine Ausnahme für natürliche Personen als unmittelbar beteiligte Mitunternehmer vorsieht. Der Senat differenzierte zunächst zwischen „Grundsatzentscheidung“ und „Binnendifferenzierung“. Diese Differenzierung hatte allerdings keine unmittelbare Auswirkung auf den zu bestimmenden Maßstab, vielmehr stellte er wiederum darauf ab, dass keines der (vier) maßstabsverschärfende Kriterien einschlägig und daher keine strenge Verhältnismäßigkeitskontrolle vorzunehmen sei; konkret führte der Senat aus: „Die Grundsatzentscheidung des Gesetzgebers, auch die Gewinne aus der Veräußerung und Aufgabe von Betrieben, Teilbetrieben und von Anteilen daran in Mitunternehmerschaften in Abweichung von einer jahrzehntelangen Übung […] der Gewerbesteuer zu unterwerfen, kann als Teil der Bestimmung des Steuergegenstandes gesehen werden, bei der dem Gesetzgeber ein besonders weiter Spielraum zukommt […]. Hingegen betrifft die von der Beschwerdeführerin hier beanstandete Ungleichbehandlung die Binnendifferenzierung zwischen und innerhalb von Mitunternehmerschaften je nach Gesellschafterstruktur und dadurch ausgelöster Gewerbesteuerpflicht. Auch insoweit bietet allerdings keines der Kriterien, die zu einer

 BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 10. April 2018 – 1 BvL 11/14 u. a. –, juris.  BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 10. April 2018 – 1 BvR 1236/11 –, juris.  BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 10. April 2018 – 1 BvL 11/14 u. a. –, juris, Rn. 96; BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 10. April 2018 – 1 BvR 1236/11 –, juris, Rn. 105. Durch den Verweis auf die Entscheidungen zur Erbschaftsteuer (BVerfGE 138, 136) und zur Grunderwerbsteuer (BVerfGE 139, 285) wird ersichtlich, dass es sich bei dieser neuen Formulierung um eine sprachliche Konkretisierung und nicht um eine inhaltliche Änderung handeln wird.  BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 10. April 2018 – 1 BvL 11/14 u. a. –, juris, Rn. 127 f.

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strengeren Verhältnismäßigkeitskontrolle einer Ungleichbehandlung führen […], Anlass, den Differenzierungsspielraum des Gesetzgebers substantiell einzuschränken. Dass die Mitunternehmerschaft als Steuerschuldnerin durch diese Unterscheidung bei der Steuerbarkeit von Veräußerungsgewinnen in ihren Freiheitsrechten betroffen sein könnte, ist nicht erkennbar. Die nun grundsätzlich auch bei der Veräußerung von Betrieben, Teilbetrieben oder Anteilen daran bestehende Gewerbesteuerbarkeit von Veräußerungsgewinnen mag die Gestaltungsinteressen der an der Mitunternehmerschaft Beteiligten beeinflussen; eine erhebliche Beeinträchtigung grundrechtlicher Freiheitsrechte, durch die eine strengere Gleichheitsprüfung veranlasst sein könnte, liegt darin jedoch nicht. Das Differenzierungskriterium – mittelbar oder unmittelbar beteiligt – entzieht sich grundsätzlich auch nicht der Verfügbarkeit der von der Ungleichbehandlung nachteilig betroffenen Mitunternehmerschaft. Die Besserstellung der Mitunternehmerschaften mit unmittelbar beteiligten natürlichen Personen in § 7 Satz 2 Hs. 2 GewStG begründet insbesondere keine strukturelle Ungleichbehandlung erheblichen Ausmaßes […]. Sie nimmt bei der Belastung von Mitunternehmerschaften mit Gewerbesteuer lediglich den besonderen Fall der unmittelbar beteiligten natürlichen Person aus. Diese Ungleichbehandlung kann zwar im Einzelfall durchaus erheblich sein. Jedoch dürften die Veräußerungen durch unmittelbar beteiligte natürliche Personen im Vergleich zu Veräußerungen durch beteiligte Kapital- und Personengesellschaften dem Volumen nach tendenziell eher geringere Transaktionen betreffen. Dies verlangt jedenfalls keine strengere Verhältnismäßigkeitskontrolle.“¹¹⁵

2. Rechtsprechung des Zweiten Senats Der Zweite Senat hat sich in seiner Entscheidung vom 29. März 2017 zu § 8c KStG der neueren Rechtsprechung des Ersten Senats insofern nicht angeschlossen, als er das (mit der Entscheidung zur Erbschaftsteuer¹¹⁶ eingeführte) maßstabsverschärfende Kriterium des Umfangs und Ausmaßes der Abweichung nicht übernommen hat. Vielmehr hat er die drei klassischen maßstabsverschärfenden Kriterien angeführt und explizit die Frage nach der Bedeutung des Gebots der Folgerichtigkeit für die Maßstabsbildung aufgeworfen: „Ausnahmen von einer belastungsgleichen Ausgestaltung der mit der Wahl des Steuergegenstandes getroffenen gesetzgeberischen Entscheidung (folgerichtigen Umsetzung des steuerrechtlichen Ausgangstatbestandes) bedürfen eines besonderen sachlichen Grundes, der die Ungleichbehandlung nach Art und Ausmaß zu rechtfertigen vermag […]. Unabhängig von der Frage, ob sich allein aus dem Erfordernis eines „besonderen sachlichen Grundes“ für Abweichungen von einem steuerrechtlichen Ausgangstatbestand erhöhte Begründungsanforderungen gegenüber einem bloßen „sachlich einleuchtenden Grund“ für die Differenzierung im Sinne des Willkürverbots ergeben […], steigen allgemein die Anforderungen an

 BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 10. April 2018 – 1 BvR 1236/11 –, juris, Rn. 116.  BVerfGE 138, 136.

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Rechtfertigungsgründe für gesetzliche Differenzierungen in dem Maße, in dem sich die Ungleichbehandlung von Personen oder Sachverhalten auf die Ausübung grundrechtlich geschützter Freiheiten auswirken kann […]. Zudem verschärfen sich die verfassungsrechtlichen Anforderungen an den rechtfertigenden Sachgrund, je weniger die Merkmale, an die die gesetzliche Differenzierung anknüpft, für den Einzelnen verfügbar sind […] oder je mehr sie sich denen des Art. 3 Abs. 3 GG annähern […].“¹¹⁷

Den Formulierungen könnte auf den ersten Blick eine Annäherung an die vom Ersten Senat aufgestellten Maßstäbe entnommen werden. Der Senat führt aus, dass Ausnahmen von der folgerichtigen Umsetzung des steuerrechtlichen Ausgangstatbestandes durch einen besonderen sachlichen Grund gerechtfertigt sein müssen, der die Ungleichbehandlung nach „Art und Ausmaß zu rechtfertigen vermag“.¹¹⁸ Auch wird die vom Ersten Senat eingeführte Darstellung mithilfe eines Klammerzusatzes – wenn auch mit abweichendem Inhalt – übernommen. Den Kern der neuen Rechtsprechungslinie des Ersten Senats, dass Umfang und Ausmaß¹¹⁹ der Abweichung entscheidende Bedeutung für die Maßstabsbildung zukommt, hat der Zweite Senat allerdings nicht übernommen.Vielmehr bleibt die aufgeworfene Frage nach der Bedeutung des Erfordernisses eines „besonderen sachlichen Grundes“ entscheidend.

3. Fazit Als Ergebnis lässt sich festhalten, dass dem Gebot der Folgerichtigkeit in der neueren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts keine maßstabsverschärfende Bedeutung zukam. Der Erste Senat hat sich deutlich gegen eine solche Bedeutung ausgesprochen.¹²⁰ Er hat mit dem „Ausmaß der Abweichung und ihrer

 BVerfGE 145, 106 (144 f. Rn. 104 f.).  Die diesen Ausführungen nachfolgend zitierten Fundstellen aus der Rechtsprechung des Gerichts beginnen mit der Entscheidung zur Rentenbesteuerung (BVerfGE 105, 73), beziehen sich mithin nicht im Besonderen auf die neuere Rechtsprechung des Ersten Senats, sondern auf die gesamte „Leitlinien-Rechtsprechung“.  Seit den Entscheidungen vom 10. April 2018 (1 BvL 11/14 u. a. sowie 1 BvR 1236/11): Ausmaß der Abweichung und ihre Bedeutung für die Verteilung der Steuerlast.  Bemerkenswert ist neben den bereits genannten Entscheidungen der Beschluss zur sachgrundlosen Befristung. Im Rahmen der Prüfung des allgemeinen Gleichheitssatzes, der für diese Entscheidung eher nebensächliche Bedeutung gehabt haben dürfte, führt der Senat exkursorisch aus, vgl. BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 6. Juni 2018 – 1 BvL 7/14 –, juris, Rn. 70: „Etwas anderes ergibt sich entgegen der Ansicht des vorlegenden Gerichtes auch nicht aus dem Gebot der Folgerichtigkeit […]. Im Steuerrecht müssen sich etwaige Abweichungen von der mit der Wahl des Steuergegenstandes einmal getroffenen Belastungsentscheidung ihrerseits am Gleichheitssatz

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Bedeutung für die Verteilung der Steuerlast insgesamt“¹²¹ ein flexibles Kriterium geschaffen, an das eine Maßstabsverschärfung im Rahmen des Art. 3 Abs. 1 GG anknüpfen kann.¹²² Der Zweite Senat hat die Frage nach der maßstabsverschärfenden Bedeutung des Gebots der Folgerichtigkeit offengelassen. Entschieden werden muss die Frage erst, wenn eine Konstellation vorliegt, in der erstens eine Ungleichbehandlung zwar anhand des Willkürmaßstabes, nicht aber anhand eines strengeren Maßstabes gerechtfertigt werden kann und zweitens kein Kriterium außer dem Gebot der Folgerichtigkeit einschlägig ist, das zu einer Maßstabsverschärfung führt.

IV. Ausblick: Zur Zukunft des Gebots der Folgerichtigkeit Solange im Gebot der Folgerichtigkeit kein maßstabsverschärfender Umstand gesehen wird, beschränkt sich dessen Mehrwert maßgeblich darauf, die im Rahmen des Art. 3 Abs. 1 GG vorzunehmende Vergleichsgruppenbildung zu strukturieren.¹²³ Die Identifikation einer Grundentscheidung ermöglicht es, von dieser ausgehend Vergleichsgruppen zu bilden, bei denen sich die Ungleichbehandlung als besonders problematisch darstellt. So legt etwa im Beispiel der Pendlerpauschale die traditionelle Zuordnung zum Erwerbsaufwand¹²⁴ nahe, einen Vergleich mit ande-

messen lassen […]. Das wird auch als Gebot folgerichtiger Ausgestaltung bezeichnet, geht aber über die Anforderungen aus Art. 3 Abs. 1 GG, die hier erfüllt sind […], nicht hinaus.“  BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 10. April 2018 – 1 BvL 11/14 u. a. –, juris Rn. 96 mit Anknüpfung an die Entscheidung zur Erbschaftsteuer (BVerfGE 138, 136).  Kehrseite dieser Flexibilität ist die nur schwer vorhersehbare Maßstabsbildung im Einzelfall, vgl. etwa BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 10. April 2018 – 1 BvR 1236/11 –, juris, Rn. 117: „Die Besserstellung der Mitunternehmerschaften mit unmittelbar beteiligten natürlichen Personen in § 7 Satz 2 Hs. 2 GewStG begründet insbesondere keine strukturelle Ungleichbehandlung erheblichen Ausmaßes […]. Diese Ungleichbehandlung kann zwar im Einzelfall durchaus erheblich sein. Jedoch dürften die Veräußerungen durch unmittelbar beteiligte natürliche Personen im Vergleich zu Veräußerungen durch beteiligte Kapital- und Personengesellschaften dem Volumen nach tendenziell eher geringere Transaktionen betreffen. Dies verlangt jedenfalls keine strengere Verhältnismäßigkeitskontrolle.“  Vgl. Ismer, Bildungsaufwand im Steuerrecht, S. 111 der einerseits die Bedeutung des Systemgedankens auf eine Strukturierung der Gleichheitsprüfung beschränkt wissen will, andererseits aber für Binnendifferenzierungen eine sich am Verhältnismäßigkeitsprinzip orientierende Rechtfertigung verlangt.  BVerfGE 122, 210 (212).

Die Bedeutung des Gebots der Folgerichtigkeit für die Maßstabsbildung

301

ren, aber abzugsfähigen erwerbsbedingten Aufwendungen vorzunehmen.¹²⁵ Mehr als eine Vereinfachung der Gleichheitsprüfung dürfte damit aber nicht gewonnen sein. Denn wenn sich eine identifizierte Grundentscheidung nicht auf Ausgangsund Vergleichssachverhalt bezieht, wird darin regemäßig ein Umstand zu sehen sein, der eine Differenzierung rechtfertigen kann. Vergleicht man die Pendelkosten beispielsweise unter dem weiten (und nicht durch Identifikation einer Grundentscheidung gewonnen) Oberbegriff des „Aufwands“ mit abziehbarem privatem Aufwand, liegt eine Rechtfertigung auf der Hand: Der private Aufwand ist wegen der (anderweitigen) Grundentscheidung für das subjektive Nettoprinzips zu berücksichtigen; für Pendelkosten kann diese nicht fruchtbar gemacht werden, was dem Gesetzgeber die Möglichkeit der Differenzierung eröffnet.¹²⁶ Auch wenn gezeigt werden konnte, dass sich der Erste Senat hinsichtlich der Bedeutung des Gebots der Folgerichtigkeit für die Maßstabsbildung im Rahmen des Art. 3 Abs. 1 GG festgelegt hat, kann dessen Zukunft als offen bezeichnet werden. Zwar sind einerseits die Schwächen dieses Gebots hinreichend bekannt,¹²⁷ andererseits bleibt abzuwarten, ob sich die Neuausrichtung der Rechtsprechung des Ersten Senats bewähren wird. Soweit zwar nicht das Gebot der Folgerichtigkeit, aber das Kriterium des Umfangs und Ausmaßes der Abweichung potentiell maßstabsverschärfend sein soll, wird sich zeigen müssen, ob damit – jenseits klar gelagerter Fälle¹²⁸ – im Ansatz voraussehbare Ergebnisse erzielt werden können.¹²⁹ Keine signifikante Veränderung dürfte sich dadurch ergeben, dass die kaum voneinander abgrenzbaren Begriffe des Umfangs und Ausmaßes jüngst durch die Formulierung ersetzt wurden, dass „die Anforderungen an den Rechtfertigungsgrund mit dem Ausmaß der Abweichung und ihrer Bedeutung für die Verteilung der Steuerlast insgesamt [steigen]“.¹³⁰ Insbesondere vor dem Hintergrund, dass das Gebot der Folgerichtigkeit im Einkommensteuerrecht seinen

 Vgl. O’Hara, Konsistenz und Konsens, 2018, S. 144 f. zu den Schwierigkeiten bei der Vergleichsgruppenbildung, wenn nicht anderweitige Erwerbsaufwendungen miteinbezogen werden.  Bowitz, Das objektive Nettoprinzip als Rechtfertigungsmaßstab im Einkommensteuerrecht, 2016, S. 180 sieht den wesentlichen Mehrwert des Gebots der Folgerichtigkeit in dessen sprachlicher Klarheit, der rechtspolitische Signalwirkung zukommen könne.  Vgl. Kischel, in: Gleichheit im Verfassungsstaat, Symposium für Paul Kirchhof, 2008, S. 175 (184 f.); Thiemann, in: Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, Band 2, 2011, S. 179 (191); instruktiv in Bezug auf die körperschaftsteuerliche Verlustverrechnung Schmehl, in: Festschrift für Brun-Otto Bryde, 2013, S. 457 (472 ff.).  Wie etwa in der Entscheidung zur Erbschaftsteuer, BVerfGE 138, 136.  Teilweise wird dem Gebot der Folgerichtigkeit zugutegehalten, dass es für eine vorhersehbare Ausgestaltung des Steuertatbestandes von Nutzen ist, vgl. Hey, DStR 2009, S. 2561 (2566).  BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 10. April 2018 – 1 BvL 11/14 u. a. –, juris, Rn. 96; BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 10. April 2018 – 1 BvR 1236/11 –, juris, Rn. 105.

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Hauptanwendungsbereich hatte,¹³¹ bleibt abzuwarten, wie sich der hierfür zuständige Zweite Senat positionieren wird. Auf den ersten Blick schwer vorstellbar scheint dabei, dass sich der Senat einerseits hinsichtlich der Bedeutung des Gebots der Folgerichtigkeit dem Ersten Senat anschließt, aber andererseits neben die drei klassischen Kriterien kein weiteres maßstabsverschärfendes stellt. Dann wären steuerrechtliche Vorschriften in der Zukunft regelmäßig nur zurückhaltend auf Gleichheitsverstöße hin zu überprüfen. Wie ein solcher Zustand zu bewerten wäre, dürfte maßgeblich von der zugrundeliegenden (rechts‐)politischen Prägung der Beobachter abhängen, und zwar insbesondere in Abhängigkeit von dem Vertrauen, das dem demokratischen Gesetzgebungsprozess entgegengebracht wird.¹³²

 Vgl. Osterloh, in: Festschrift für Brun-Otto Bryde, 2013, S. 429 (441).  Lepsius, JZ 2009, S. 260 (261) hält eine solche zurückhaltende Kontrolle für ausreichend, da das Steuerrecht besonders ausgeprägten Kompromisszwängen unterliege und dadurch eine Kontrolle durch den politischen Prozess gewährleistet sei. Schön, in: JöR, Band 64, S. 515 (523 ff.) plädiert aufgrund einer tiefgreifenden Skepsis gegenüber dem politischen Entscheidungsprozess für strenge verfassungsrechtliche Maßstäbe.

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Steuerliche Systembildung und Systemwechsel in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts

Jüngere Leitentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (Senat) BVerfGE 105, 73 – Rentenbesteuerung BVerfGE 107, 27 – Doppelte Haushaltsführung BVerfGE 108, 1 – Rückmeldegebühr BVerfGE 116, 164 – Tarifbegrenzung für gewerbliche Einkünfte BVerfGE 117, 1 – Erbschaftsteuer BVerfGE 122, 210 – Pendlerpauschale BVerfGE 125, 1 – Körperschaftsteuerminderungspotential, Halbeinkünfteverfahren BVerfGE 126, 268 – Häusliches Arbeitszimmer BVerfGE 127, 1 – Rückwirkung im Steuerrecht I BVerfGE 127, 31 – Rückwirkung im Steuerrecht III BVerfGE 127, 61 – Rückwirkung im Steuerrecht II BVerfGE 135, 1 – KAGG BVerfGE 136, 127 – „Mantelkauf“ BVerfGE 138, 136 – Erbschaftsteuer BVerfGE 145, 106 – Verlustabzug nach schädlichem Beteiligungserwerb BVerfGE 145, 171 – Kernbrennstoffsteuer

Wichtige Kammerentscheidungen BVerfGK 5, 71 – Gewerblicher Grundstückshandel BVerfGK 6, 20 – Formeller Bilanzzusammenhang, Gewinnbesteuerung BVerfGK 13, 551 – Notar Geschäftsprüfungsgebühr BVerfGK 20, 9 – Insolvenzsicherungsabgabe BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 17. Dezember 1992 – 1 BvR 4/87– , juris BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 8. Januar 1999 – 1 BvL 14/98 –, juris BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 29. September 2015 – 2 BvR 2683/11 –, juris BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 14. Juni 2016 – 2 BvR 290/10 –, juris BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 31. Oktober 2016 – 1 BvR 871/13 –, juris

Schrifttum (Auswahl) Bumke, Relative Rechtswidrigkeit: Systembildung und Binnendifferenzierungen im öffentlichen Recht, 2004; Degenhart, Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers als Verfassungspostulat, 1976; Drüen, Das Unternehmenssteuerrecht unter verfassungsgerichtlicher Konhttps://doi.org/10.1515/9783110599916-014

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trolle – Zur Gestaltungsfreiheit des Steuergesetzgebers zwischen Folgerichtigkeit und Systemwechsel, Ubg 2009, S. 23 ff.; Lang, Prinzipien und Systeme der Besteuerung von Einkommen, in: DStJG Band 24 (2001), S. 49 ff.; Kloepfer, Übergangsgerechtigkeit bei Gesetzesänderungen und Stichtagsregelungen, DÖV 1978, S. 225 ff.; Mellinghoff, Der Beitrag der Rechtsprechung zur Systematisierung des Steuerrechts am Beispiel des Gebots der Folgerichtigkeit, Ubg 2012, S. 369 ff.; Pieroth, Rückwirkung und Übergangsrecht, 1981; Snelting, Übergangsgerechtigkeit beim Abbau von Steuervergünstigungen und Subventionen: Untersuchung eines finanzwissenschaftlichen und staatsrechtlichen Problems, 1997; Tappe, Festlegende Gleichheit – folgerichtige Gesetzgebung als Verfassungsgebot?, JZ 2016, S. 27 ff.; Tipke, Steuergerechtigkeit unter besonderer Berücksichtigung des Folgerichtigkeitsgebots, StuW 2007, S. 201 ff.

Inhalt 305 I. Einleitung II. Steuern im Abgabensystem des Grundgesetzes 306 . Prinzip des Steuerstaats 306 307 . Offenheit des grundgesetzlichen Abgabensystems III. Das Steuersystem des Grundgesetzes 308 . Verhältnis verschiedener Steuerarten im Rahmen der heterogenen Finanzverfassung 308 . Gesetzgeberischer Gestaltungsspielraum bei der Erschließung verfassungsrechtlich eröffneter Steuerarten 309 a) Weitgehende gesetzgeberische Gestaltungsfreiheit bei der erstmaligen Auswahl des 310 Steuergegenstands b) Grenzen gesetzgeberischer Gestaltungsfreiheit nach erfolgter Auswahl des Steuergegenstands 317 . Gesetzgeberischer Gestaltungsspielraum bei der Erschließung neuer Steuerarten durch ein Steuererfindungsrecht? 318 IV. Steuerliche Systembildung in der verfassungsgerichtlichen Prüfung 320 . Bedeutung gesetzgeberischer Grundentscheidungen für die Prüfung des Bundesfassungsgerichts 320 . Identifizierung gesetzgeberischer Grundentscheidungen 321 V. Steuerliche Systemwechsel in der verfassungsgerichtlichen Prüfung 324 . Keine Selbstbindung des Steuergesetzgebers an frühere Grundentscheidungen bei steuerlichen Systemwechseln 324 325 . Verfassungsrechtliche Voraussetzungen eines echten „Systemwechsels“ . Verfassungsrechtliche Anforderungen an systemwechselbedingte Übergangsregelungen 326 a) Gebotener Vertrauensschutz? 327 b) Drohende Unverhältnismäßigkeit durch Erstreckung der Neuregelung auf Altfälle? 328 c) Drohender Gleichheitsverstoß im Zuge der Neuregelung? 329 . Verfassungsrechtlich zulässige Übergangsregimes 330 VI. Implikationen für das verfassungsgerichtliche Verfahren 332 . Rüge der fehlenden Kompetenzgrundlage einer Steuer 333

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. Rüge der fehlenden Abstimmung innerhalb des finanzverfassungsrechtlichen Steuersystems 333 . Rüge der gleichheitswidrigen Auswahl und Ausgestaltung des Steuergegenstands 334 336 . Rüge der Verfassungswidrigkeit eines steuerlichen „Systemwechsels“ . Rüge der Verfassungswidrigkeit einer (fehlenden) Übergangsregelung 337 VII. Fazit 338

I. Einleitung Das deutsche Steuerrecht folgt trotz häufig geübter Kritik als unsystematisch und unstrukturiert doch grundsätzlichen Belastungs-, Struktur- und Wertungsentscheidungen, wenngleich diese angesichts einer Vielzahl von Regel-AusnahmeRückausnahme-Strukturen teilweise schwerlich erkennbar werden. Dabei ist das Interesse an der Herausarbeitung dieser Grundentscheidungen nicht nur auf die systematische und teleologische Auslegung des einfachen Rechts beschränkt oder gar nur von akademischem Interesse. Vielmehr haben die Stellung von Steuern im Abgabensystem des Grundgesetzes (dazu II.), das Verhältnis der im Verfassungstext genannten Steuerarten zueinander (dazu III.) sowie die Frage der Systembildung innerhalb einzelner Steuerarten (dazu IV.) erheblichen Einfluss für die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur kompetenzrechtlichen Zulässigkeit einzelner Steuern, zur verfassungsrechtlichen Notwendigkeit einer Abstimmung verschiedener Steuerarten aufeinander sowie zur Selbstbindung des Gesetzgebers bei (vermeintlich) von einfachrechtlichen Grundentscheidungen abweichenden Teil- oder Neuregelungen. Eng mit der Frage steuerlicher Systembildung verbunden sind schließlich Fragen zur verfassungsrechtlichen Zulässigkeit und verfassungskonformen Ausgestaltung steuerlicher Systemwechsel (dazu V.). Trotz aktuell eher partieller Ergänzungen und punktueller Anpassungen im Rahmen etablierter Besteuerungssysteme nehmen Rechtsfragen im Zusammenhang mit steuerlichen Systemwechseln in der Praxis des Bundesverfassungsgerichts nach wie vor einigen Raum ein, da die verfassungsgerichtliche Aufarbeitung grundlegender Steuerreformen noch nicht abgeschlossen ist und gerade in Verfassungsbeschwerdeverfahren häufig unverhältnismäßige Steuerbelastungen, gleichheitswidrige Besteuerungsergebnisse oder rückwirkende Entwertungen bereits abgeschlossener oder langfristig laufender Sachverhalte im Zusammenhang mit neuen steuerlichen Regelungen gerügt werden. Der vorliegende Beitrag unternimmt den Versuch, die hierzu erkennbaren Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sowie die daraus resultierenden verfahrensrechtlichen Implikationen (dazu VI.) aufzuzeigen.

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II. Steuern im Abgabensystem des Grundgesetzes 1. Prinzip des Steuerstaats Bei der Bestimmung der Stellung von Steuern im Abgabensystem des Grundgesetzes hilft der reine Verfassungstext nicht weiter, da er den Begriff „System“ lediglich im Rahmen des Art. 24 Abs. 2 GG im Zusammenhang mit der Einordnung des Bundes in ein „System gegenseitiger kollektiver Sicherheit“ sowie in Art. 91c GG zur Regelung der Verwaltungszusammenarbeit von Bund und Ländern „bei der Planung, der Errichtung und dem Betrieb der für ihre Aufgabenerfüllung benötigten informationstechnischen Systeme“ benutzt. Im Rahmen der finanzverfassungsrechtlichen Regelungen der Art. 104a ff. GG finden sich die Begriffe „Abgabensystem“ oder „Steuersystem“ hingegen nicht. Das Grundgesetz regelt in Art. 105 ff. GG die bundesstaatliche Verteilung der Gesetzgebungs-, Ertrags- und Verwaltungskompetenzen neben den Zöllen und Finanzmonopolen im Wesentlichen nur für das Finanzierungsmittel der Steuer.¹ In ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts knüpft der „Steuer“Begriff des Grundgesetzes an die einfachrechtliche Steuerdefinition in § 1 Abs. 1 RAO vom 22. Mai 1931 an² und legt diese auch den Kompetenzvorschriften der Art. 105 ff. GG zugrunde.³ Nach der dem heutigen § 3 Abs. 1 AO entsprechenden Definition sind Steuern „einmalige oder laufende Geldleistungen, die nicht eine Gegenleistung für eine besondere Leistung darstellen und von einem öffentlichrechtlichen Gemeinwesen zur Erzielung von Einkünften allen auferlegt werden, bei denen der Tatbestand zutrifft, an den das Gesetz die Leistungspflicht knüpft“. Der grundgesetzlichen Finanzverfassung liegt damit die Vorstellung zugrunde, dass die Finanzierung der staatlichen Aufgaben bzw. der Gemeinlasten in Bund und Ländern einschließlich der Gemeinden in erster Linie aus dem Ertrag der in Art. 105 ff. GG geregelten Einnahmequellen, mithin aus Steuern erfolgt (Prinzip des Steuerstaats).⁴ Dass das Steueraufkommen gemäß Art. 110 Abs. 1 GG ausnahmslos als Einnahme in den Haushaltsplan einzustellen ist, ist nicht nur

 BVerfGE 108, 1 (15); 110, 370 (387); BVerfGK 20, 9 (16).  RGBl. I 1931, S. 161.  Vgl. BVerfGE 3, 407 (435); 4, 7 (13 f.); 7, 244 (251); 8, 274 (317 f.); 29, 402 (408 f.); 36, 66 (70); 38, 61 (79 f.); 42, 223 (228); 49, 343 (353); 55, 274 (301 f.); 67, 256 (282).  BVerfGE 78, 249 (266 f.); 82, 159 (178).

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eines der wesentlichen Instrumente parlamentarischer Regierungskontrolle⁵, sondern aktualisiert auch den fundamentalen Grundsatz der Gleichheit der Bürger bei der Auferlegung öffentlicher Lasten und gewährleistet die regelmäßige und vollständige Budgetplanung und -entscheidung von Parlament und Regierung. Das Bundesverfassungsgericht sprach in Entscheidungen zwischen 1980 und 1990 gar von einem „Institut der Steuer“, das insbesondere von der ebenfalls voraussetzungslos, d. h. ohne staatliche Gegenleistung erhobenen Sonderabgabe abzugrenzen sei.⁶

2. Offenheit des grundgesetzlichen Abgabensystems Trotz der Wertungsentscheidung des Grundgesetzes für die prinzipielle Staatsfinanzierung durch Erhebung von Steuern ist die Erhebung nichtsteuerlicher Abgaben daneben nicht verfassungsrechtlich ausgeschlossen⁷, da das Grundgesetz keinen abschließenden Kanon zulässiger Abgabentypen enthält.⁸ Jedenfalls zur Möglichkeit der Erhebung von Gebühren finden sich entsprechende Hinweise in Art. 74 Abs. 1 Nr. 22 und Art. 80 Abs. 2 GG, zur Zulässigkeit weiterer Entgelte in Art. 73 Abs. 1 Nr. 6a, Art. 74 Abs. 1 Nr. 22 und Art. 80 Abs. 2 GG. Die 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts sprach daher in zwei Entscheidungen ausdrücklich – und zu begrüßend – von einem „Abgabensystem“.⁹ Die Erhebung nichtsteuerlicher Abgaben ist allerdings nur ausnahmsweise, d. h. unter besonderen Voraussetzungen zulässig. Könnten Bund oder Länder unter Rückgriff auf ihre Sachgesetzgebungskompetenzen nichtsteuerliche Abgaben beliebig und unter Umgehung der finanzverfassungsrechtlichen Verteilungsregeln begründen, verlöre die grundgesetzliche Finanzverfassung ihren Sinn und ihre Funktion.¹⁰ Dies vertrüge sich einerseits nicht mit der objektiven Ordnungsfunktion dieser bundesstaatlichen Finanzverfassung und liefe andererseits den Erfordernissen des Individualschutzes zugunsten der Abgabepflichtigen zuwider.¹¹ Daher wird die Auferlegung nichtsteuerlicher Abgaben begrenzt durch das Erfordernis eines besonderen sachlichen Rechtfertigungsgrundes, der einer-

 Vertiefend: Diehm, in: Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, Band 3, 2014, S. 525 ff.  BVerfGE 55, 274 (301 f.); 67, 256 (274 f.); 78, 249 (267); 81, 156 (186 f.).  BVerfGE 108, 1 (15); 110, 370 (387); BVerfGK 20, 9 (16).  BVerfGE 108, 1 (15); 108, 186 (215); BVerfGK 20, 9 (16).  BVerfGK 13, 551 (554); 20, 9 (16).  BVerfGE 78, 249 (266); 93, 319 (342); 108, 1 (16).  BVerfGE 55, 274 (301 ff.); 67, 256 (275 f.); 108, 1 (16).

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seits eine deutliche Unterscheidung gegenüber der Steuer ermöglicht und andererseits auch im Hinblick auf die zusätzliche Belastung neben den Steuern geeignet ist, der Belastungsgleichheit der Abgabepflichtigen Rechnung zu tragen.¹² Die Abgrenzung zwischen steuerlichen und nichtsteuerlichen Abgaben erfolgt nach dem tatbestandlich bestimmten materiellen Gehalt der Abgabe¹³, ohne dass es darauf ankommt, wie das Abgabengesetz selbst die öffentlich-rechtliche Abgabe klassifiziert, wie diese konkret haushaltsmäßig durch den Gesetzgeber behandelt wird¹⁴ oder ob sie unzulässig überhöht bemessen ist. Diese Formenklarheit dient die Trennung zwischen Begriff und Zulässigkeitsvoraussetzungen von Steuern und nichtsteuerlichen Abgaben.¹⁵ Zugleich erleichtert sie die Prüfung der kompetenzrechtlichen Zuständigkeiten: Während Art. 105 GG als spezielle finanzverfassungsrechtliche Norm Gesetzgebungskompetenzen für Steuern begründet, richtet sich die Gesetzgebungskompetenz für öffentlich-rechtliche Abgaben, die keine Steuern sind (nichtsteuerliche Abgaben), nach den allgemeinen Regeln über die Sachgesetzgebungskompetenzen nach den Art. 70 ff. GG.¹⁶

III. Das Steuersystem des Grundgesetzes 1. Verhältnis verschiedener Steuerarten im Rahmen der heterogenen Finanzverfassung Im Verfassungstext findet sich in Art. 106 GG zwar eine Auflistung verschiedener Steuerarten, die dort jedoch weiter definiert werden und ohne dass sich Regelungen zum Verhältnis dieser Steuerarten zueinander finden. Entsprechend dürftig fällt die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Steuersystem des Grundgesetzes aus; konkrete verfassungsgerichtliche Aussagen finden sich, soweit erkennbar, nur in einer vereinzelt gebliebenen Kammerentscheidung: Danach sei die Finanzverfassung heterogen und ohne einheitliches Steuersystem, da bereits der Verfassungstext eine Vielzahl von Steuern aufführe. Es gebe keinen Verfassungsrechtssatz des Inhalts, dass alle Steuern aufeinander abgestimmt

 Vgl. BVerfGE 123, 132 (141); 124, 235 (243) m.w.N.; BVerfGK 20, 9 (16).  BVerfGE 7, 244 (256); 49, 343 (352); 92, 91 (114); 108, 1 (13); 108, 186 (212); 110, 370 (384); 113, 128 (145 f.); 122, 316 (333); 123, 1 (17). 124, 348 (364); 137, 1 (17 Rn. 40); 145, 171 (207 Rn. 103).  BVerfGE 55, 274 (305).  BVerfGE 105, 185 (193 f.); 108, 1 (14).  St.Rspr. seit BVerfGE 4, 7 (13); 110, 370 (384); 113, 128 (145).

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werden müssten, sodass keine Lücken entstehen dürften bzw. mehrfache Belastungen vermieden werden müssten.¹⁷ Das geltende Steuersystem ist also durch eine Steuervielfalt gekennzeichnet.¹⁸ In der Literatur werden die fehlende Abgestimmtheit von Steuern und die dadurch ausgelösten Steuerkonkurrenzen oder Steuerkollissionen bisweilen kritisch diskutiert.¹⁹ Auch wenn der Steuergesetzgeber nicht verfassungsrechtlich dazu verpflichtet ist, so ist es ihm umgekehrt auch nicht verwehrt, einfachrechtliche Nachteile einer Steuerart oder außerhalb des Steuerrechts und ein dadurch bedingtes Kompensationsbedürfnis als rechtfertigenden Grund für eine Steuervergünstigung in einer anderen Steuerart anzusehen. Dabei entfällt der nachvollziehbare Grund für eine ungleich wirkende steuerliche Vergünstigung jedoch, wenn ein Mindestmaß an gegenseitiger Abstimmung zwischen den ausgleichsbedürftigen Nachteilen einerseits und den begünstigenden Ausgleichswirkungen des Vergünstigungstatbestands andererseits fehlt.²⁰

2. Gesetzgeberischer Gestaltungsspielraum bei der Erschließung verfassungsrechtlich eröffneter Steuerarten In einer bis in die Anfänge seiner Judikatur zurückreichenden Rechtsprechungslinie betont das Bundesverfassungsgericht stets eine grundsätzlich weitgehende Gestaltungsfreiheit des Steuergesetzgebers bei der Erschließung einzelner, durch Art. 105 und 106 GG anerkannter und eröffneter Steuerquellen, die dem Gesetzgeber eine weitgehend freie Ausgestaltung der Einzelsteuergesetze ermöglicht und das Bundesverfassungsgericht auf eine reine Willkürprüfung beschränkt. Als systematische Ausnahme hiervon sieht das Bundesverfassungsgericht diesen weiten gesetzgeberischen Gestaltungsspielraum jedoch durch die Gebote der Folgerichtigkeit und der leistungsfähigkeitsgerechten Besteuerung einschließlich der Gleichmäßigkeit des Steuervollzugs²¹ als beschränkt an.

 BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 8. Januar 1999 – 1 BvL 14/98 –, juris, Rn. 36.  Hey, in: Tipke/Lang, Steuerrecht, 23. Aufl. 2018, § 3 Rn. 54 und 94: „Vielsteuersystem“.  Vgl. etwa Friauf, StuW 1977, S. 59 ff.; Kirchhof, in: Kirchhof/Söhn/Mellinghoff (Hrsg.), EStG, 290. AL 8/2018, § 2 Rn. A 176 ff.  So für Kompensation außersteuerlicher Nachteile: BVerfGE 105, 73 (113).  Vertiefend: Werth, in: Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, Band 1, 2009, S. 411 ff.

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a) Weitgehende gesetzgeberische Gestaltungsfreiheit bei der erstmaligen Auswahl des Steuergegenstands Für das Verständnis der in Art. 105 und Art. 106 GG begrifflich bezeichneten Steuerarten kommt es nach st. Rspr des BVerfG im Rahmen einer Typusbildung auf die Sicht des traditionellen deutschen Steuerrechts an.²² Es sind diejenigen Merkmale zu ermitteln, die eine Steuer oder Steuerart nach dem herkömmlichen Verständnis typischerweise aufweist und die – mit Blick auf die abgrenzende Funktion der Einzelsteuerbegriffe – zu ihrer Unterscheidung von anderen Steuern oder Steuerarten notwendig sind.²³ Im Rahmen seiner in Art. 105 i.V. m. Art. 106 GG bestimmten Gesetzgebungskompetenz hat der Gesetzgeber²⁴ bei der Auswahl des Steuergegenstands und bei der Bestimmung des Steuersatzes²⁵, also hinsichtlich der Erschließung²⁶ sowie der Beibehaltung von Steuerquellen²⁷, eine weitgehende Gestaltungsfreiheit. Grundsätzlich ist es Sache des Gesetzgebers, zu entscheiden, welche Sachverhalte er als „gleich“ im Sinne des Art. 3 Abs. 1 GG werten will.²⁸ Er kann sich in

 BVerfGE 7, 244 (252); 14, 76 (91); 26, 302 (309); 31, 314 (332); 110, 274 (296); 123, 1 (16); 145, 171 (193 Rn. 66).  BVerfGE 145, 171 (193 Rn. 66).  Die nachstehenden Grundsätze auch auf kirchensteuerberechtigte Religionsgemeinschaften erstreckend und ein Recht zur Entwicklung eines eigenen Besteuerungssystems der Kirchensteuer oder zur Ausgestaltung als Zuschlagsteuer erkennend: BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 19. August 2002 – 2 BvR 443/01 –, juris, Rn. 67.  BVerfGE 84, 239 (271); 93, 121 (136); 99, 88 (23); 105, 17 (46 f.); BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 17. November 1998 – 1 BvL 10/98 –, juris, Rn. 17; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 8. Januar 1999 – 1 BvL 14/98 –, juris, Rn. 18.  BVerfGE 21, 54 (63 ff.); 26, 302 (310); 27, 58 (66 f.); 29, 327 (335); 31, 8 (26); 49, 343 (360); 50, 57 (77); 50, 386 (391 f.); 65, 325 (354); 74, 182 (200); 81, 108 (118); 84, 239 (271); 93, 165 (177 f.); 105, 17 (46 f.); 122, 210 (230); 127, 1 (29), 127, 61 (85 f.); BVerfG, Beschluss des Dreierausschusses des Ersten Senats vom 4. Mai 1981 – 1 BvR 77/81 –, juris, Orientierungssatz Nr. 1; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 10. August 1989 – 2 BvR 1532/88 –, juris, Rn. 8 ff.; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 22. Juli 1991 – 1 BvR 829/89 –, juris, Rn. 6; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 9. Juli 1993 – 2 BvR 1527/92 –, juris, Rn. 2; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 17. Dezember 1992 – 1 BvR 4/87–, juris, Rn. 10 – 12; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 24. April 1995 – 1 BvR 231/89 –, juris, Rn. 15; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 3. Mai 1995 – 1 BvR 1176/88 –, juris, Rn. 6; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 17. November 1998 – 1 BvL 10/98 –, juris, Rn. 17.  BVerfGE 50, 57 (77).  BVerfGE 85, 238 (245 ff.); BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 3. Mai 1995 – 1 BvR 1176/88 –, juris, Rn. 6; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 24. April 1995 – 1 BvR 231/89 –, juris, Rn. 15.

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der Ausübung dieser Gestaltungsfreiheit etwa von finanzpolitischen, volkswirtschaftlichen, sozialpolitischen oder steuertechnischen Erwägungen leiten lassen²⁹ oder das Maß der Ausnutzung möglicher Steuerquellen von der Größe seines Finanzbedarfs abhängig machen.³⁰ Entscheidet sich der Gesetzgeber, eine bestimmte Steuerquelle zu erschließen, andere Steuerquellen aber nicht auszuschöpfen, so ist der allgemeine Gleichheitssatz schon dann nicht verletzt, wenn finanzpolitische, volkswirtschaftliche, sozialpolitische oder steuertechnische Erwägungen die verschiedene Behandlung motivieren bzw. rechtfertigen.³¹ In – nicht näher durch das Bundesverfassungsgericht bezeichneten – Sonderfällen konnten auch interventionspolitische Erwägungen³² oder währungs- und konjunkturpolitische Zwecke die Unterscheidung rechtfertigen.³³ Dabei genügt es, wenn einer der genannten Gründe die verschiedene Behandlung trägt.³⁴ Der weite gesetzgeberische Gestaltungsspielraum gilt auch und gerade beim Abbau von Steuerbegünstigungen, besonders, wenn dieser im Rahmen eines Gesamtprogramms mit dem Ziel der Herstellung eines ausgeglichenen Haushalts erfolgt. Derartige Streichungen bewirken grundsätzlich nicht die Herbeiführung einer neuen Ungleichheit, sondern die Herstellung größerer Gleichheit und könnten deshalb nur dann verfassungsrechtlich beanstandet werden, wenn sich aus dem Grundgesetz ausnahmsweise eine Pflicht zur Ungleichbehandlung ableiten ließe.³⁵ Gegen die verfassungsrechtliche Zulässigkeit solcher Streichungen kann auch nicht eingewandt werden, dass Haushaltssanierungen durch eine generelle Erhöhung der Steuertarife auf sehr viel einfachere und gleichmäßigere Weise erreicht werden könnten. Dem Gesetzgeber muss es unbenommen bleiben, die Notwendigkeit allgemeiner Steuererhöhungen so weit wie irgend möglich

 BVerfGE 6, 55 (81); 13, 181 (202 f.); 21, 54 (63 ff.); 50, 386 (391 f.).  BVerfGE 13, 181 (202 f.).  BVerfGE 13, 181 (202 f.); 49, 343 (360); 65, 325 (354); 81, 108 (118); 85, 238 (245 ff.); 105, 17 (46); BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 17. Dezember 1992 – 1 BvR 4/87 –, juris, Rn. 10 ff.; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 24. April 1995 – 1 BvR 231/89 –, juris, Rn. 15; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 3. Mai 1995 – 1 BvR 1176/88 –, juris, Rn. 6.  BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 10. August 1989 – 2 BvR 1532/88 –, juris, Rn. 8 – 10.  BVerfGE 19, 119 (127).  Vgl. BVerfGE 13, 181 (203); 65, 325 (354).  BVerfGE 81, 108 (118); 105, 17 (48); BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 9. Oktober 1989 – 1 BvR 644/89 –, juris, Orientierungssatz Nr. 1.

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dadurch auszuschließen oder wenigstens abzumildern, dass er zunächst Vergünstigungen beseitigt, die er nicht oder nicht mehr für gerechtfertigt hält.³⁶ Behandelt der Steuergesetzgeber verschiedene Sachverhalte gleich, kann eine Grundrechtsverletzung nach diesen Maßstäben nur dann vorliegen, wenn Gerichte im Wege der Auslegung gesetzlicher Vorschriften ausnahmsweise zu dem Ergebnis gelangt sind, dass dem Gesetzgeber eine Differenzierung verwehrt ist.³⁷ Weicht umgekehrt die Regelung eines Lebenssachverhalts für ein Steuerart von der Regelung desselben Lebenssachverhalts für eine andere Steuerart ab, prüft das Bundesverfassungsgericht im Rahmen der gleichheitsrechtlichen Vergleichsgruppenbildung, inwiefern die Grundsätze und Prinzipien einer Steuerart überhaupt auf die andere übertragbar sind.³⁸ Die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers bei der Auswahl des Steuergegenstands endet in Anwendung von Art. 3 Abs. 1 GG erst dort, wo die gleiche oder ungleiche Behandlung der geregelten Sachverhalte nicht mehr mit einer am Gerechtigkeitsgedanken orientierten Betrachtungsweise vereinbar ist, wo also kein einleuchtender Grund mehr für die Gleichbehandlung oder Ungleichbehandlung besteht.³⁹ Nur die Einhaltung dieser äußersten Grenzen der gesetzgeberischen Freiheit ist vom Bundesverfassungsgericht nachzuprüfen, nicht aber, ob der Gesetzgeber im Einzelfall die jeweils zweckmäßigste, vernünftigste und gerechteste Lösung gefunden hat.⁴⁰ Das Bundesverfassungsgericht hat diese Grundsätze in Entscheidungen zu allen Ebenen des Steuertatbestands⁴¹ entfaltet und eine Vielzahl einzelner Ausgestaltungen des Steuersystems in der weit überwiegenden Zahl der Fälle als verfassungskonform angesehen:

 BVerfGE 81, 108 (118 f.).  BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 17. Dezember 1992 – 1 BvR 4/87 –, juris, Rn. 10 ff.  BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 13. Juni 1997 – 1 BvR 201/97 –, juris, Rn. 2.  BVerfGE 26, 302 (310); 27, 58 (66 f.); 29, 327 (335); 31, 8 (26); 31, 119 (130); 49, 343 (360 f.); 50, 386 (391 f.); 65, 325 (354); BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 9. Juli 1993 – 2 BvR 1527/92 –, juris, Rn. 2.  BVerfGE 26, 302 (310); 27, 58 (66 f.); 27, 111 (127 f.); 31, 119 (130); 49, 343 (360); 50, 57 (77); 50, 386 (391 f.); 65, 325 (354); 81, 108 (118); 105, 17 (47), BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 9. Juli 1993 – 2 BvR 1527/92 –, juris, Rn. 2.  Grundlegend zur tatbestandliche Struktur des Steuerzugriffs: P. Kirchhof, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band 5, 3. Auflage 2007, § 118 Rn. 220 ff.

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Persönliche Steuerpflicht: ‒ Gegen die Anknüpfung der unbeschränkten Einkommensteuerpflicht gemäß § 1 Abs. 1 Satz 1 EStG an den Wohnsitz im Inland lassen sich keine verfassungsrechtliche Bedenken begründen. Vielmehr darf der Gesetzgeber in typisierender Weise davon ausgehen, dass eine Person mit Wohnsitz im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland einerseits im besonderen Maße die Leistungen dieses Staates in Anspruch nimmt bzw. nehmen kann, andererseits aber auch im besonderen Maße zur Deckung des öffentlichen Finanzbedarfs im Rahmen der Einkommensteuerpflicht herangezogen werden darf.⁴² ‒ Der Gesetzgeber darf in Ausübung seiner politischen Gestaltungsfreiheit die Einführung einer Ersatzerbschaftsteuer für Familienstiftungen auch auf Altstiftungen erstrecken, da er anderenfalls für längere Zeit unterschiedliche Rechtssituationen für vergleichbare Sachverhalte geschaffen hätte, die zu erheblichen Ungleichheiten auf wirtschaftlichem Gebiet innerhalb des Kreises der Familienstiftungen geführt und auch vor dem Gedanken der Steuergerechtigkeit Bedenken hervorgerufen hätten.⁴³ ‒ Mangels einleuchtender Gründe nicht zu rechtfertigen ist hingegen die Ausgestaltung einer Zweitwohnungsteuer, die nur die auswärtigen Inhaber von Zweitwohnungen besteuert, die weder aus beruflichen Gründen noch zu Ausbildungszwecken im Stadtgebiet wohnen, während sie einheimische Zweitwohnungsinhaber generell nicht zur Steuer heranzieht.⁴⁴ Sachliche Steuerpflicht / Besteuerungsgegenstand: ‒ Die Abgrenzung zwischen Erwerbsaufwendungen (Werbungskosten oder Betriebsausgaben) und Kosten der Lebensführung obliegt dem Steuergesetzgeber. Das Bundesverfassungsgericht könnte nur eingreifen und eine vom Gesetzgeber getroffene Lösung beanstanden, wenn sich der Gesetzgeber bei der Abgrenzung evident nicht mehr vom Gerechtigkeitsdenken leiten ließe, sondern willkürlich verfahren würde.⁴⁵ ‒ Die grundsätzliche Abzugsfähigkeit der Kosten einer betrieblich oder beruflich begründeten doppelten Haushaltsführung als Betriebsausgaben oder Werbungskosten ist traditioneller Teil der Grundentscheidung des deutschen Einkommensteuerrechts, die steuerrechtlich erhebliche Berufssphäre nicht

 BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 22. Juli 1991 – 1 BvR 829/89 –, juris, Rn. 6.  BVerfGE 63, 312 (330).  BVerfGE 65, 325 (354).  BVerfGE 47, 1 (23).

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      

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erst „am Werkstor“ beginnen zu lassen.⁴⁶ Die gesetzgeberische Entscheidung, dass angesichts der regelmäßig „privaten“ Wahl des Wohnorts die Aufwendungen für die Wege zwischen Wohnung und regelmäßiger Arbeitsstätte nicht ausschließlich beruflich, sondern auch privat mitveranlasst sind, ist aufgrund der verfassungsrechtlich zulässigen gesetzgeberischen Bewertung und Gewichtung multikausaler und multifinaler Wirkungszusammenhänge, die für die unterschiedlichen Lebenssachverhalte im Schnittbereich zwischen beruflicher und privater Sphäre kennzeichnend sind, nicht zu beanstanden.⁴⁷ Ist die steuermindernde Berücksichtigung erwerbsbedingter Kinderbetreuungskosten verfassungsrechtlich geboten, steht es dem Gesetzgeber grundsätzlich frei, ob er solche Aufwendungen wegen ihrer Veranlassung durch die Erwerbstätigkeit den Werbungskosten bzw. Betriebsausgaben zuordnet oder durch eine spezielle Norm wie § 33c EStG 1997 als „außergewöhnliche Belastungen“ fingiert und damit die private (Mit‐)Veranlassung der elterlichen Entscheidung für Kinder, die eine Betreuung erst erforderlich macht, systematisch in den Vordergrund stellt.⁴⁸ Da der Gesetzgeber auch an der Besteuerung von Gewinnen aus der Veräußerung von Gegenständen des Privatvermögens nicht gehindert wäre, ist es verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, dass die Veräußerung einer im Privatvermögen gehaltenen Beteiligung nach § 17 EStG nur ab Überschreiten einer Beteiligungsgrenze von 25 %⁴⁹ bzw. 10 %⁵⁰ unabhängig von der Einhaltung einer Haltefrist zu steuerbaren Einkünften führt. Die Besteuerung der Gewinne aus der Veräußerung von Grundstücken des Privatvermögens ist verfassungsrechtlich unbedenklich, weil der Gesetzgeber auch an der Besteuerung von Gewinnen aus der Veräußerung von allen anderen Gegenständen des Privatvermögens nicht gehindert wäre.⁵¹ Aufgrund der gesetzgeberischen Gestaltungsfreiheit sind auch die unterschiedlichen Spekulationsfristen des § 23 EStG für Grundstücke einerseits und andere Wirtschaftsgüter andererseits verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.⁵² Es ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, eine Leistung in dem Umfang als unentgeltlich anzusehen, wie ihr Wert über eine hierfür erbrachte

BVerfGE 107, 27 (50). BVerfGE 122, 210 (238 f.). BVerfGE 112, 268 (281 f.). BVerfGE 27, 111 (127 f.). BVerfGE 127, 61 (85 f.). BVerfGE 26, 302 (312); 127, 61 (85 f.). BVerfGE 127, 1 (29).

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Gegenleistung hinausgeht, und sie insoweit der Erbschaftsteuer zu unterwerfen.⁵³ Es verstößt nicht gegen Art. 3 Abs. 1 GG, wenn die Erhebung der Vergnügungsteuer auf Spielautomaten mit gewaltdarstellenden Spielen auf die Darbietung in Spielhallen beschränkt ist, während Darstellungen von Gewalt auf Videofilmen, in Filmtheatern etc. nicht erfasst werden. Der steuerliche Gleichheitssatz steht auch der unterschiedlichen Besteuerung von „Gewaltspielautomaten“ einerseits und sonstigen Spielgeräten andererseits nicht entgegen.⁵⁴ Es verstößt nicht gegen Art. 3 Abs. 1 GG, wenn die Jagdausübung mit einer Jagdsteuer belastet wird, während andere Freizeitaktivitäten, die ebenfalls einen besonderen Aufwand erfordern, nicht besteuert werden. Die traditionelle Besteuerung eines besonderen Aufwandes darf ohne Verstoß gegen Art. 3 GG jedenfalls so lange aufrechterhalten werden, als sich nicht ein entsprechender Aufwand bei der Mehrzahl der übrigen Freizeitaktivitäten für eine Besteuerung aufdrängt. Dass die Ausübung des Fischereirechts eine der Ausübung des Jagdrechts vergleichbare Betätigungsform ist, aber keiner Steuer unterliegt, ist gerechtfertigt, da die Besteuerung der Ausübung des Fischereirechts nach dem erheblichen Rückgang des Fischbestandes in den Fließgewässern des Landes mit sachlich einleuchtender Begründung aufgehoben wurde.⁵⁵ Wenn der Gesetzgeber die Gewerbesteuer in der Weise ausgestaltet, dass er als Besteuerungsgrundlage den Ertrag und daneben das Gewerbekapital sowie die Lohnsumme gewählt hat, so passt die Lohnsummensteuer in das System der Gewerbesteuer und bewirkt keinen Gleichheitsverstoß.⁵⁶ Das Sozialstaatsprinzip verbietet es nicht, Objektsteuern zu erheben, die von der Leistungsfähigkeit des Inhabers der zu besteuernden Wirtschaftseinheit abstrahieren, zumal wenn eine solche Objektsteuer im Rahmen eines Steuersystems erhoben wird, das der persönlichen Leistungsfähigkeit der Steuerpflichtigen in vielfältiger Weise Rechnung trägt.⁵⁷

 BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 9. Juli 1993 – 2 BvR 1527/92 –, juris, Rn. 2.  BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 3. Mai 2001 – 1 BvR 624/00 –, juris, Rn. 19 f.  BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 10. August 1989 – 2 BvR 1532/88 –, juris, Rn. 8 ff.  BVerfGE 21, 54 (63 ff.).  BVerfGE 26, 1 (7).

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Steuerpflicht / Steuerfreiheit: ‒ Mit der Aufhebung einer Steuerbefreiung (hier: § 3a EStG) hat der Gesetzgeber die verfassungsrechtlichen Grenzen seiner Gestaltungsfreiheit nicht überschritten.⁵⁸ Ermittlungsvorschriften / Bemessungsgrundlage: ‒ Der sog. Dualismus der Einkunftsarten gemäß § 2 Abs. 2 EStG mit seiner Unterscheidung zwischen Gewinn- und Überschusseinkünften liegt als Grundentscheidung innerhalb des Gestaltungsspielraums, der dem Gesetzgeber bei der Erschließung von Steuerquellen zukommt. Es besteht kein verfassungsrechtliches Gebot, den Wertzuwachs bei Vermögensgegenständen im Privatvermögen ebenso wie den Wertzuwachs bei Vermögensgegenständen im Betriebsvermögen ohne zeitliche Begrenzung der Besteuerung zu unterwerfen.⁵⁹ ‒ Eine Nominalwertbesteuerung von Zinsen, die inflationsbedingte Wertverluste unberücksichtigt lässt, ist aus Gründen der Rechtssicherheit in Kauf zu nehmen.⁶⁰ ‒ Die Kürzung ansatzfähiger Pauschalen (hier: Kilometer-Pauschale) lässt sich mit finanzpolitischen und steuertechnischen Erwägungen rechtfertigen. Der Gesetzgeber darf daher im Rahmen seines gesetzgeberischen Ermessens nach steuersystematischen sowie nach verkehrs- und finanzpolitischen Gesichtspunkten bestimmen, dass die Aufwendungen für Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte nur in der im Gesetz vorgesehenen Höhe als Werbungskosten berücksichtigt werden dürfen.⁶¹ ‒ Es ist sachlich gerechtfertigt, wenn der höhere Wert eines bebauten Grundstücks zu einer höheren Grunderwerbsteuer führt als der geringere Wert eines unbebauten Grundstücks.⁶² ‒ Es ist nicht verfassungswidrig, die Vergnügungsteuer mit einem Pauschalsatz in einer Höhe zu erheben, die aus den durchschnittlichen Bruttogewinnen eines Glückspiels gedeckt werden kann.⁶³

 BVerfGE 105, 17 (47).  BVerfGE 127, 1 (29); 127, 61 (85 f.).  BVerfGE 50, 57 (77 f.).  BVerfGE 27, 58 (66 f.).  BVerfG, Beschluss des Dreierausschusses des Ersten Senats vom 4. Mai 1981 – 1 BvR 77/81 –, juris, Orientierungssatz Nr. 1.  BVerfGE 31, 8 (26).

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Steuersatz: ‒ Der Gesetzgeber hat eine weitgehende Gestaltungsfreiheit, wenn es darum geht, bestehende Steuersätze zu erhöhen.⁶⁴ ‒ Für die Einführung eines Progressionsvorbehalts können wirtschaftliche Gründe bestehen, sodass darin keine Überschreitung der Grenzen steuerlicher Gestaltungsfreiheit liegt.⁶⁵ ‒ Die Streichung einer tariflichen Begünstigung mit der Folge der Anwendung des allgemeinen Steuertarifs ist zur Herstellung größerer Gleichheit grundsätzlich gerechtfertigt.⁶⁶ ‒ Nur wo die gleiche oder ungleiche Behandlung der geregelten Tatbestände, an die verschiedene Steuersätze geknüpft werden, nicht mit der am Gerechtigkeitsgedanken orientierten Betrachtungsweise vereinbar ist, endet die gesetzgeberische Gestaltungsfreiheit.⁶⁷ ‒ Unterschiedliche Umsatzsteuertarife für Leistungen von Taxi- und Mietwagenunternehmern sind zulässig, da insbesondere aufgrund des belastenden Kontrahierungszwangs für Taxi-Unternehmen hinreichende verkehrspolitische Gründe für einen niedrigeren Steuersatz für Taxifahrten bestehen, der diese Nachteile ausgleichen soll.⁶⁸ b) Grenzen gesetzgeberischer Gestaltungsfreiheit nach erfolgter Auswahl des Steuergegenstands Hat der Gesetzgeber in Ausübung seines weiten Spielraums den Steuergegenstand einfachrechtlich durch ein konkretes Einzelsteuergesetz ausgewählt und ausgestaltet, ist er anschließend vor allem durch zwei eng miteinander verbundene Leitlinien – die Ausrichtung der Steuerlast an den Prinzipien der finanziellen Leistungsfähigkeit und der Folgerichtigkeit – begrenzt⁶⁹: Zum einen muss er seine Belastungsentscheidung folgerichtig, d. h. konsequent⁷⁰ bzw. sachgerecht⁷¹ um-

 BVerfGE 27, 58 (66 f.).  BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 24. April 1995 – 1 BvR 231/89 –, juris, Rn. 15; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 3. Mai 1995 – 1 BvR 1176/88 –, juris, Rn. 6.  BVerfGE 81, 108 (118).  BVerfGE 29, 327 (335).  BVerfGE 85, 238 (245 ff.).  BVerfGE 105, 73 (125); 107, 27 (47); 110, 412 (433), 116, 164 (180); 117, 1 (30 f.); 120, 1 (29); 122, 210 (230 f.); 132, 179 (189); BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 14. Juni 2016 – 2 BvR 290/10, juris, Rn. 33.  Eckhoff, in: FS Steiner, 2009, 118 (128 ff.).

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setzen. Das Bundesverfassungsgericht orientierte sich dabei zumeist am Prüfungsmaßstab der bloßen Willkürkontrolle. Lediglich in den Formulierungen einer einzigen, nicht wiederholten Kammerentscheidung finden sich Ansätze, dass ein Verfassungsverstoß in Ausübung der gesetzgeberischen Gestaltungsfreiheit auch nach den Grundsätzen einer strengen Verhältnismäßigkeit zu prüfen sein könnte.⁷² In der Literatur ist dieser Ansatz teilweise positiv⁷³, teilweise kritisch gesehen worden.⁷⁴ Zum anderen muss der Gesetzgeber seine Einzelsteuergesetze leistungsfähigkeitsgerecht ausgestalten und dabei auch Maßnahmen zur Herstellung tatsächlicher Belastungsgleichheit ergreifen, um so das Steuerverfahren zu erleichtern, die Steuerquellen vollständig zu erfassen und eine gesetzmäßige, d. h. insbesondere gleichmäßige Besteuerung sicherzustellen. Diese im Rechtsstaatsprinzip und dem Gleichbehandlungsgebot verankerten öffentlichen Interessen haben einen Rang, der über das nur fiskalische Interesse an der Sicherung des Steueraufkommens hinausgeht.⁷⁵

3. Gesetzgeberischer Gestaltungsspielraum bei der Erschließung neuer Steuerarten durch ein Steuererfindungsrecht? Von besonderer rechtspolitischer Bedeutung ist die Frage nach Spielräumen des Gesetzgebers bei der Erschließung neuer Steuerquellen durch Erfindung neuer, nicht in Art. 105 f. GG genannter Steuerarten. Während das Bundesverfassungsgericht in frühen Entscheidungen zunächst ein Recht der Länder angenommen hatte, außerhalb des in Art. 105 f. GG zugunsten der ausschließlichen oder konkurrierenden Kompetenz des Bundes aufgeführten Steuerkatalogs neue Landessteuern zu erfinden⁷⁶, ließ es die Frage in seiner Entscheidung zur Erhebung landesrechtlicher Öko-Abgaben ausdrücklich offen.⁷⁷ In seinem Beschluss vom

 Hey, in: Tipke/Lang, Steuerrecht, 23. Aufl. 2018, § 3 Rn. 118.  BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 17. Dezember 1992 – 1 BvR 4/87– , juris, Rn. 10 ff.  Statt vieler etwa: Schön, StuW 2013, 289 (293 ff.).  Statt vieler etwa: Kischel, AöR 124 (1999), 174 (187), Wieland, DStJG Band 24 (2001), 29 (37 ff. und 44 ff.); Droege, StuW 2011, 105 ff.  BVerfGE 67, 100 (140); 84, 239 (280 f.).  BVerfGE 13, 181 (203); 16, 64 (77).  BVerfGE 98, 83 (101).

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13. April 2017 zur Verfassungsmäßigkeit der „Kernbrennstoffsteuer“⁷⁸ sprach sich der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts jüngst mehrheitlich⁷⁹ gegen ein Steuererfindungsrecht sowohl des Bundes als auch der Länder aus, da die Ertragshoheit für solche Steuern offen bliebe: Gegen ein solches Steuererfindungsrecht sprechen zum einen systematische Gesichtspunkte: So kann der Ertrag nicht genannter Steuern nicht derjenigen Steuer oder Steuerart im Sinne des Art. 106 GG zugeordnet werden, der die erfundene Steuer am ähnlichsten ist, weil diese Methode immer dann versagt, wenn sich eine „ähnliche“ Steuer nicht finden lässt. Die Ertragshoheit folgt weder als Annex zur Gesetzgebungszuständigkeit aus Art. 105 Abs. 2 GG noch kann es Aufgabe des einfachen Gesetzgebers sein, den Steuerertrag zu verteilen, weil Art. 105 und 106 GG die Ertragsverteilung nicht zur Disposition des Bundesgesetzgebers stellen. Eine generelle Ertragshoheit der Länder für eine vom Bund erfundene Steuer aus Art. 30 GG herzuleiten, ist aus systematischen Erwägungen ebenfalls ausgeschlossen. Es bleibt deshalb nur der Weg einer Ergänzung des Art. 106 GG im Wege des verfassungsändernden Gesetzes. Zum anderen sprechen teleologische Gesichtspunkte gegen ein allgemeines Steuererfindungsrecht des Bundes. Das geschlossene System der Art. 105 f. GG zur Verteilung des Steueraufkommens und des Ertrags der Finanzmonopole zwischen Bund, Ländern und Gemeinden, dem eine zentrale Bedeutung zukommt, wäre bei der Möglichkeit zur Erfindung vollständig neuer Steuern oder Steuerarten gefährdet. Jede Unsicherheit bei der Zuordnung von Erträgen kann zu erheblichen Verwerfungen innerhalb der Finanzverfassung führen und ihrer Befriedungsfunktion widersprechen. Jede neue Steuer wäre grundsätzlich geeignet, das Aufkommen anderer, in der Finanzverfassung ausdrücklich vorgesehener Steuern zu schmälern, indem sie etwa bei der Ermittlung des zu versteuernden Einkommens als Betriebsausgabe in Abzug gebracht werden kann. Insoweit bestünde die Gefahr einer Verschiebung des Steueraufkommens. Die Geschlossenheit und Ordnungsfunktion der Finanzverfassung sichert indes gerade das Vertrauen der Bürger darauf, nur in dem durch die Finanzverfassung vorgegebenen Rahmen belastet zu werden. Art. 105 und Art. 106 GG kommt insoweit eine eigenständige individualschützende Funktion zu, wenn die in der Finanzverfassung ausdrücklich genannten Steuern und Steuerarten ihrer begrenzenden Funktion entkleidet würden. Eines allgemeinen Steuererfindungsrechts des Bundes bedarf es auch

 BVerfGE 145, 171 (199 ff. Rn. 80 bis 87); hierzu weiterführend und vertiefend in diesem Werk: Roderburg/Schlosser, in: Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, Band 5, 2019, S. 365 ff.  Sondervotum der Richter Prof. Dr. Huber und Müller: BVerfGE 145, 171 (230 ff.).

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nicht, um ein Steuererfindungsrecht der Länder entsprechend einzuhegen, weil bereits ein solches allgemeines Steuererfindungsrecht der Länder nicht besteht.⁸⁰

IV. Steuerliche Systembildung in der verfassungsgerichtlichen Prüfung 1. Bedeutung gesetzgeberischer Grundentscheidungen für die Prüfung des Bundesfassungsgerichts Während das Bundesverfassungsgericht der Frage, ob eine gesetzgeberische Grundentscheidung folgerichtig oder systemgerecht umgesetzt wurde, in seiner Rechtsprechung außerhalb des Steuerrechts allenfalls eine Indizwirkung für einen Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz zumisst⁸¹, leitet es für das Steuerrecht aus Art. 3 Abs. 1 GG das Gebot einer folgerichtigen tatbestandlichen Ausgestaltung steuerlicher Belastungsgrundentscheidungen ab.⁸² Ausnahmen von dieser Belastungsgrundentscheidung des Steuergesetzgebers bedürfen deshalb – jedenfalls nach der bisherigen Rechtsprechungslinie des Gerichts⁸³ – eines besonderen sachlichen Grundes, um den Anforderungen des allgemeinen Gleichheitssatzes gemäß Art. 3 Abs. 1 GG zu genügen.⁸⁴ Schon daraus resultiert das Erfordernis einer steuerlichen Systembildung sowie einer Identifizierung wesentlicher Grundentscheidungen. Daneben ist die Herausarbeitung einfachrechtlicher Grundentscheidungen im Rahmen richterlicher Rechtsfortbildung durch die Fachgerichte und ihrer verfassungsgerichtlichen Überprüfung relevant. Zwar darf das Bundesverfassungsgericht die rechtlicheWürdigung der Fachgerichte grundsätzlich nicht durch seine eigene ersetzen. Allerdings eröffnet und verlangt das Verfassungsrecht eine Kontrolle, inwiefern eine im Wege richterlicher Rechtsfortbildung gefundene Entscheidung nicht nur den anerkannten Methoden der Gesetzesauslegung folgt,

 BVerfGE 145, 171 (199 ff. Rn. 80 bis 87).  BVerfGK 20, 9 (26) und Fn. 69.  BVerfGE 105, 73 (112) m.w. N.  Zu den Einzelheiten der verfassungsgerichtlichen Folgerichtigkeitsrechtsprechung im Steuerrecht und den Rechtfertigungsanforderungen vgl. Thiemann, in: Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, Band 2, 2011, S. 179 ff.; Zu möglichen Tendenzen der Folgerichtigkeitsrechtsprechung vgl. in diesem Werk: Modrzejewski, in: Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, Band 5, 2019, S. 301 ff.  BVerfGE 107, 27 (48 und 54); 126, 268 (280).

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sondern insbesondere die gesetzgeberische Grundentscheidung und dessen Ziele respektiert.⁸⁵ Die Identifizierung einer Belastungsgrundentscheidung macht zunächst eine Binnenanalyse einfachrechtlicher Steuergesetze in einer eigenständigen Auswertung des Bundesverfassungsgerichts erforderlich. Sodann prüft das Gericht, ob sich der Gesetzgeber von der derart identifizierten Belastungsgrundentscheidung wieder gelöst oder sogar strukturell Brüche und Wertungswidersprüche des gesamten Regelungssystems angelegt hat. Abweichungen von Belastungsgrundentscheidungen sind schließlich auf ihre Rechtfertigung zu überprüfen.⁸⁶

2. Identifizierung gesetzgeberischer Grundentscheidungen Das Bundesverfassungsgericht hatte sich bereits vielfach mit (vermeintlichen) Grundentscheidungen des Gesetzgebers zu befassen. Es hat dabei maßgebliche Grundentscheidungen namentlich aus der konkreten Ausgestaltung des einfachen Steuerrechts, aber auch aus zivilrechtlichen Regelungen⁸⁷ oder unmittelbar aus der Verfassung selbst abgeleitet⁸⁸: Da das Gericht seine Methode zur Identifizierung gesetzgeberischer Grundentscheidungen zumeist nicht besonders begründet, war die „Erbschaftsteuer“Entscheidung BVerfGE 138, 136 deshalb besonders instruktiv, weil der erkennende Senat – soweit erkennbar: erstmals – ausführte, dass die gesetzliche Grundentscheidung diejenige Regelung sei, die – abgesehen von tatbestandlichen Erweiterungen, Ausnahmen und Gegenausnahmen – anzuwenden ist.⁸⁹ Eine Auswertung der ergangenen Entscheidungen mit steuerrechtlichen Bezügen zeigt, dass das Bundesverfassungsgericht als primären Anknüpfungspunkt der steuerlichen Binnensystembildung an das jeweilige Einzelsteuergesetz und die dort gewählte Systematik der Regelungen zum Steuersubjekt (Steuerschuldner, Steuerpflichtiger etc.), Steuerobjekt bzw. Steuergegenstand (Steuerbarkeit und

 BVerfGE 78, 20 (24); 111, 54 (82); für das Steuerrecht ausdrücklich: BVerfGK 5, 71 (72); 6, 20 (22); BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 25. November 2005 – 2 BvR 629/03 –, juris, Rn. 5; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 16. Februar 2012 – 1 BvR 127/ 10 –, juris, Rn. 23; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 17. September 2013 – 1 BvR 1928/12 –, juris, Rn. 34; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 31. Oktober 2016 – 1 BvR 871/13 –, juris, Rn. 22.  Vgl. BVerfGE 117, 1 (34 f.).  BVerfGE 116, 164 (199); 127, 224 (250 f.); 145, 106 (148).  BVerfGE 13, 290 (295); 47, 1 (43); 116, 164 (201); 126, 400 (420); 131, 239 (259); 133, 377 (409 ff.).  BVerfGE 138, 136 (227 Rn. 234).

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Steuerpflicht), Bemessungsgrundlage und Steuersatz anknüpft. Das Gericht spricht insofern von einem „Einkommensteuersystem“⁹⁰, „Lohnsteuersystem“⁹¹, „Umsatzsteuersystem“⁹² oder „System des Erbschaftsteuerrechts“.⁹³ Wo die verfassungsrechtliche Überprüfung dies erfordert, bleibt die Prüfung des Bundesverfassungsgerichts jedoch nicht auf einzelne Steuergesetze beschränkt, sondern berücksichtigt auch einfachgesetzlich angelegte Bezüge verschiedener Einzelsteuergesetze zueinander. So hob das Bundesverfassungsgericht etwa auf ein „System der Besteuerung gewerblicher Einkünfte“ ab, das aufgrund der Verschiedenartigkeit von Körperschaft- und Einkommensteuer, ihrer teilweisen Kumulierung und ihrer Querverbindungen zur Gewerbesteuer insgesamt zu einer verschärften Besteuerung bei der juristischen Person führe⁹⁴, oder bezog sich auf ein „System der Ertragsbesteuerung der Körperschaften“, das anhand „komplexer Regelungssysteme“ des Anrechnungs- bzw. später des Halbeinkünfteverfahrens durch Anrechnungs- bzw. Steuerbefreiungsregelungen eine Doppelbelastung körperschaftlicher Erträge durch Körperschaftsteuer auf Ebene der Körperschaft und Einkommen- bzw. Körperschaftsteuer auf Ebene der Anteilseigner vermeiden sollte.⁹⁵ Auf diese Weise arbeitete das Gericht eine Vielzahl einfachgesetzlicher steuerlicher Grundentscheidungen heraus: Eine gesetzgeberische Grundentscheidung erkennend: ‒ Für die Grundentscheidung des EStG, dass Subjekte der Einkommensteuer trotz der Teil(steuer)rechtsfähigkeit von Personengesellschaften allein die Gesellschafter sind⁹⁶ ‒ Für die Grundentscheidung des in § 2 Abs. 2 EStG angelegten Dualismus der Einkunftsarten⁹⁷

 BVerfGE 82, 60 (90).  BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 15. Februar 1993 – 1 BvR 1754/92 –, juris, Rn. 7.  BVerfGE 21, 12 (26 und 30); 36, 321 (329); BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 13. Juni 1997 – 1 BvR 201/97 –, juris, Rn. 2; vgl. auch BVerfGE 31, 314 (345): „System der deutschen Umsatzsteuer“.  BVerfGE 126, 400 (425).  BVerfGE 13, 331 (353 f.); 123, 111 (121); BVerfGE 126, 268 (279 f.), BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 14. Juni 2016 – 2 BvR 323/10 –, juris, Rn. 49.  BVerfGE 125, 1 (5 und 23).  BVerfGK 20, 333 (335 f.).  BVerfGE 127, 1 (29); 127, 61 (85 f.).

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Für die Grundentscheidung der in § 2 Abs. 7, § 25 Abs. 1, § 36 Abs. 1 EStG angelegten Bemessung der Einkommensteuer nach der Höhe des Jahreseinkommens⁹⁸ Für die Grundentscheidung des objektiven Nettoprinzips⁹⁹ Für die Grundentscheidung des EStG, die steuerrechtlich erhebliche Berufssphäre nicht erst „am Werkstor“ beginnen zu lassen¹⁰⁰ Für die Grundentscheidung zur Berücksichtigung von Beiträgen selbständiger Steuerpflichtiger zu privaten Kranken- und Pflegeversicherungen ausschließlich über den Sonderausgabenabzug¹⁰¹ Für die Grundentscheidung einer von den Anteilseignern getrennten Besteuerung der Körperschaft durch das KStG, sodass die Verlustnutzung in der Folge auch bei Eigentümerwechsel zulässig und eine Ausnahme hiervon rechtfertigungsbedürftig ist¹⁰² Für die in § 8b KStG angelegte Grundentscheidung, dass Bezüge und Veräußerungsgewinne innerhalb gesellschaftlicher Beteiligungsstrukturen nur einmal auf der Entstehungsebene und dann erst wieder auf der Gesellschafterebene anteilig als Einkommen versteuert werden¹⁰³ Für die Rechtsformneutralität von Unternehmen im Umsatzsteuerrecht¹⁰⁴ Für die Grundentscheidung („maßgebende Bestimmungsgröße“) des Familienprinzips für das System des Erbschaftsteuerrechts¹⁰⁵ Für die „systemtragende“ Grundentscheidung des BewG, dass der Erbbauzins nicht in den Einheitswert des Grundvermögens einzurechnen, sondern gesondert zu bewerten ist¹⁰⁶

Eine gesetzgeberische Grundentscheidung nicht erkennend: ‒ Gegen eine Grundentscheidung zur Gleichstellung der gewerbesteuerlichen Vorbelastung der Gewinnausschüttung mit der eigenen Gewerbesteuerbelastung des Anteilseigners¹⁰⁷

 BVerfGE 127, 1 (29).  BVerfGE 99, 280 (290); 107, 27 (48); 116, 164 (180 f.); 117, 1 (31); 122, 210 (231); 123, 111 (121); 126, 268 (279 f.); BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 14. Juni 2016 – 2 BvR 323/ 10 –, juris, Rn. 49.  BVerfGE 107, 27 (50).  BVerfGE 120, 125 (158).  BVerfGE 145, 106 (165).  BVerfGE 127, 224 (249 f.).  BVerfGE 101, 151 (156 f.); 116, 164 (199 f.).  BVerfGE 126, 400 (425).  Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 17. August 1995 – 1 BvR 62/87 –, juris, Rn. 16.  BVerfGE 116, 164 (201).

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Gegen eine Grundentscheidung zur Maßgeblichkeit der handelsrechtlichen Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung für die steuerliche Gewinnermittlung¹⁰⁸

Nach welchen Kriterien die Identifizierung von Grundentscheidungen im Einzelnen erfolgt, ist in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht näher ausgeführt. Jedenfalls gilt es, die einfachrechtlich geschaffenen, prägenden Strukturelemente zu identifizieren, die nicht nur die Erhebungsweise beeinflussen, sondern zugleich auch auf das materielle Belastungsergebnis durchschlagen.¹⁰⁹ Insofern sollen die allgemeinen Grundsätze zur inneren Systembildung im Recht gelten.¹¹⁰ Bei der Bestimmung des konkreten Verfahrens- und Prüfungsgegenstands unterscheidet das Bundesverfassungsgericht danach, ob klar begrenzte Einzelfragen eines Einzelsteuergesetzes oder das Gesamtproblem der Verfassungsmäßigkeit einer Steuerart zur verfassungsgerichtlichen Prüfung gestellt sind.¹¹¹ Geprüft wird die von Gesetzgeber konkret gewählte Regelung. Inwieweit dem Gesetzgeber noch andere steuersystematische Lösungen zur Ausgestaltung einer Regelung zur Verfügung gestanden hätten oder für künftige Regelungen zur Verfügung stehen, spielt für die Prüfung einer folgerichtigen Ausgestaltung keine Rolle.¹¹²

V. Steuerliche Systemwechsel in der verfassungsgerichtlichen Prüfung 1. Keine Selbstbindung des Steuergesetzgebers an frühere Grundentscheidungen bei steuerlichen Systemwechseln In konsequenter Fortführung seiner Grundsätze zur weiten gesetzgeberischen Gestaltungsfreiheit bei der erstmaligen Auswahl des Besteuerungsgegenstands gesteht das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber auch und gerade bei der Umgestaltung steuerlicher Regelungssysteme einen weiten Gestaltungsspiel-

    

BVerfGE 123, 111 (123 f.). Vgl. Friauf, DStJG Band 12 (1989), S. 3 (12). Hey, in: Tipke/Lang, Steuerrecht, 23. Aufl. 2018, § 3 Rn. 9 ff. m.w.N. BVerfGE 21, 12 (26). BVerfGE 120, 125 (158).

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raum zu¹¹³: Der Steuergesetzgeber ist zu einem vollständigen Systemwechsel¹¹⁴ bzw. Strukturwandel¹¹⁵ kraft der ihm zustehenden Gestaltungsfreiheit befugt, ohne durch die Grundsätze des aus Art. 3 Abs. 1 GG abgeleiteten Folgerichtigkeitsgebots an seine früheren Grundentscheidungen gebunden zu sein.¹¹⁶ Bei einem Systemwechsel entfällt damit zum einen die Selbstbindung des Steuergesetzgebers an seine früheren Belastungsgrundentscheidungen. Das Bundesverfassungsgericht unterzieht den materiell-rechtlichen Teil der Neuregelung daher einer Folgerichtigkeitsprüfung nur anhand der dort eigenständig getroffenen, neuen Belastungsgrundentscheidung.¹¹⁷ Insofern reicht die gesetzgeberische Gestaltungsfreiheit noch deutlich weiter als bei der – ohnehin bereits weitreichend möglichen – Änderung von Einzelsteuergesetzen, die (noch) nicht die Qualität eines Systemwechsels erreichen. Zum anderen ist der Gesetzgeber während einer mit dem Systemwechsel verbundenen Übergangsphase noch nicht durch das Folgerichtigkeitsgebot zur umfassenden Anwendung der Neuregelung verpflichtet. Denn die Übergangsphase dient gerade dazu, den Systemwechsel erst nach und nach zu vollziehen. Dabei ist unvermeidlich, dass während des Übergangszeitraums auch Nachteile fortdauern können und dürfen, die mit der früheren Belastungsgrundentscheidung verbunden waren.¹¹⁸

2. Verfassungsrechtliche Voraussetzungen eines echten „Systemwechsels“ Materielle Voraussetzung für eine derart weitreichende Lösung des Steuergesetzgebers von seiner Selbstbindung durch das Folgerichtigkeitsgebot ist jedoch, dass er mit einer Änderungs- oder Neuregelung wirklich ein neues Regelwerk schafft. Anderenfalls ließe sich jedwede Ausnahmeregelung als (Anfang einer) Neukonzeption deklarieren. Diese weitgehend bindungslose Gestaltungsfreiheit  BVerfGE 125, 1 (23) m.w.N.  BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 29. September 2015 – 2 BvR 2683/ 11 –, juris, Rn. 68; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 30. September 2015 – 2 BvR 1066/10 –, juris, Rn. 74.  BVerfGE 125, 1 (20).  BVerfGE 122, 210 (242); 125, 1 (20); BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 29. September 2015 – 2 BvR 2683/11 –, juris, Rn. 68; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 30. September 2015 – 2 BvR 1066/10 –, juris, Rn. 74.  Vgl. BVerfGE 136, 127 (142 f. Rn. 47).  BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 14. Juni 2016 – 2 BvR 290/10 –, juris, Rn. 68.

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kann vom Gesetzgeber daher nicht in Anspruch genommen werden, wenn die von ihm erlassene Neuregelung nicht nach Ziel und Wirkung die Orientierung an alternativen Prinzipien erkennen lassen. Einen zulässigen Systemwechsel kann es also ohne ein Mindestmaß an neuer System- oder Prinzipienorientierung bzw. an konzeptioneller Neuorientierung nicht geben. Dies gilt insbesondere, wenn bei im Übrigen unveränderten Grundentscheidungen eine hiervon abweichende Belastungsentscheidung getroffen wird, die lediglich in einem schmalen Teilbereich Anwendung findet und mit der Behauptung eines Systemwechsels begründet wird. Insofern bedarf es greifbarer Anhaltspunkte für einen Systemwechsel, etwa für die Einbettung in ein nach und nach zu verwirklichendes Grundkonzept, um die resultierende Ungleichbehandlung vor Art. 3 Abs. 1 GG rechtfertigen zu können.¹¹⁹ ‒ Als erfüllt angesehen hat das Bundesverfassungsgericht diese Voraussetzungen etwa beim Wechsel zur nachgelagerten Besteuerung der Alterseinkünfte¹²⁰ oder beim Wechsel in der Körperschaftsteuer vom Anrechnungszum Halbeinkünfteverfahren (später Teileinkünfteverfahren).¹²¹ ‒ Keinen Systemwechsel erkannte das Bundesverfassungsgericht hingegen bei der Neuregelung der Pendlerpauschale, wonach eine Entfernungspauschale für Wege zwischen Wohnung und Arbeitsstätte nicht noch generell als Werbungskosten, sondern nur noch ab dem 21. Entfernungskilometer „wie Werbungskosten“ steuermindernd angesetzt werden konnte.¹²²

3. Verfassungsrechtliche Anforderungen an systemwechselbedingte Übergangsregelungen Die Frage, ob der Steuergesetzgeber im Zusammenhang mit steuerlichen Systemwechseln ein Übergangsregime vorsehen muss, beantwortete das Bundesverfassungsgericht in frühen Entscheidungen pauschal dahingehend, dass ein übergangsloser Wechsel des Steuersystems verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden sei.¹²³ Mit fortschreitender Judikatur, insbesondere ausgehend von Entscheidungen zur Neuregelung des Zugangs zur steuerlichen Beraterschaft¹²⁴, entwickelte das  BVerfGE 122, 210 (242).  BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 14. Juni 2016 – 2 BvR 290/10 –, juris, Rn. 68 m.w.N.  BVerfGE 125, 1 (20); 127, 224 (250); 135, 1 (3 Rn. 5).  BVerfGE 122, 210 (242).  BVerfGE 37, 38 (54); Vgl. auch BVerfGE 19, 119 (127)  BVerfGE 21, 173 (182 f.); 22, 275 (276); 55, 185 (201).

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Bundesverfassungsgericht jedoch strengere verfassungsrechtliche Anforderungen an Übergangsregeln bei steuerlichen Systemwechseln.

a) Gebotener Vertrauensschutz? Danach ist der weite gesetzgeberische Gestaltungsraum gerade im Hinblick auf die Art und das Maß vertrauensschützender Übergangsregelungen nicht unbegrenzt.¹²⁵ Wenn der Gesetzgeber die Rechtsfolge eines der Vergangenheit zugehörigen Verhaltens nachträglich belastend ändert, bedarf dies nach allgemeinen Grundsätzen der Rückwirkungsdogmatik einer besonderen Rechtfertigung vor dem Rechtsstaatsprinzip und den Grundrechten des Grundgesetzes, unter deren Schutz Sachverhalte „ins Werk gesetzt“ worden sind¹²⁶ bzw. Vertrauen – etwa durch Erwerb eines später veräußerten Wirtschaftsguts oder Abschluss einer Vereinbarung – „betätigt“ wurde.¹²⁷ Insbesondere im Bereich langfristig angelegter Sozialversicherungssysteme wie dem der Alterssicherung kann der Gesetzgeber darauf angewiesen sein, Neuregelungen treffen zu können, die sich wechselnden Erfordernissen anpassen. Ein vollständiger Systemwechsel kann es gerade im Bereich der Besteuerung von Alterseinkünften wegen des regelmäßig langen Zeitraums zwischen Beitragsleistung und Rentenbezug erforderlich machen, auch bereits „ins Werk gesetzte“ Sachverhalte in die Neuregelung einzubeziehen. Der Einzelne kann sich demgegenüber nicht auf Vertrauensschutz berufen, wenn sein Vertrauen auf den Fortbestand einer bestimmten gesetzlichen Regelung eine Rücksichtnahme durch den Gesetzgeber billigerweise nicht beanspruchen kann¹²⁸, d. h. wenn sein Vertrauen in den Fortbestand einer Rechtslage hinter das gesetzgeberische Interesse an der Neuregelung zurücktritt. In jedem Fall ist die Besteuerung von Vorsorgeaufwendungen für die Alterssicherung und die Besteuerung von Bezügen aus dem

 BVerfGE 105, 73 (134); vgl. zur Prüfung von Vertrauensschutzaspekten im Zusammenhang mit einem möglichen verfassungsrechtlichen Gebot einer Übergangsregelung auch BVerfGK 13, 431 (438).  Vgl. BVerfGE 45, 142 (167 f.); 63, 343 (356 f.); 72, 200 (242); 97, 67 (78 f.); 127, 1 (16); 131, 20 (38); 132, 303 (317); 135, 1 (21); vertiefend: Desens, in: Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, Band 1, 2009, S. 329 ff.  Vgl. BVerfGE 127, 1 (21); 127, 61 (79).  BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 29. September 2015 – 2 BvR 2683/ 11 –, juris, Rn. 68; BVerfG, Beschluss der Zweiten Kammer des Zweiten Senats vom 30. September 2015 – 2 BvR 1066/10 –, juris, Rn. 74; vgl. auch BVerfGE 102, 68 (97 f.).

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Ergebnis der Vorsorgeaufwendungen aber so aufeinander abzustimmen, dass eine doppelte Besteuerung vermieden wird.¹²⁹

b) Drohende Unverhältnismäßigkeit durch Erstreckung der Neuregelung auf Altfälle? Das Bundesverfassungsgericht sah den gesetzgeberischen Spielraum bei der Ausgestaltung von Übergangsregelungen in Entscheidungen zur Berufsfreiheit und der Eigentumsgarantie dahingehend als beschränkt an, dass der Gesetzgeber bei der Aufhebung oder Modifizierung geschützter Rechtspositionen – auch dann, wenn der Eingriff an sich verfassungsrechtlich zulässig ist – aufgrund des rechtsstaatlichen Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit eine angemessene Übergangsregelung prüfen und ggf. treffen muss. Das Gericht sah die sich hieraus ergebenden Anforderungen indes als nicht auf den Bereich der Berufsfreiheit und der Eigentumsgarantie beschränkt an¹³⁰ und erstreckte sie in der Folge auf verschiedene Rechtsgebiete.¹³¹ Der Zweite Senat sprach insoweit zeitweise in einer auf Kloepfer ¹³² zurückgehenden Formulierung von einer „Übergangsgerechtigkeit“.¹³³ Eine echte Entfaltung dieser Grundsätze findet sich jedoch in Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zu steuerlichen Übergangsregelungen, soweit erkennbar, bislang weder ausdrücklich noch in der Sache. Dies mag zum einen daran liegen, dass die allgemeine Erwartung, das geltende Recht werde auch in Zukunft unverändert bleiben, in ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts keinen besonderen verfassungsrechtlichen Schutz genießt.¹³⁴ Allein das Vertrauen in den Fortbestand einer gesetzlichen Lage ist also nicht schutzwürdig.¹³⁵ Zum anderen sieht das Bundesverfassungsgericht die Funktion steuerlicher Übergangsregelungen ihrerseits ohnehin schon darin, Härten zu vermeiden oder zumindest geringzuhalten. Dass diese nicht völlig ausgeschlossen  BVerfGE 105, 73 (134); BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 14. Juni 2016 – 2 BvR 290/10 –, juris, Rn. 68.  BVerfGE 43, 242 (288), 67, 1 (15 f.).  BVerfGE 31, 275 (284 ff.); 43, 242 (288 ff.); 51, 356 (368); 68, 272 (284 ff.); 71, 255 (275)); 109, 133 (187); 145, 20 (89 ff. Rn. 178 ff.).  Kloepfer, DÖV 1987, 225.  BVerfGE 105, 17 (45); 107, 27 (58); 109, 133 (187).  Vgl. BVerfGE 132, 302 (319 f. Rn. 45) m.w. N.; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 20. September 2016 – 1 BvR 1299/15 –, juris, Rn. 24.  BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 13. Dezember 2016 – 1 BvR 713/13 –, juris, Rn. 16.

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werden könnten, liege in der Natur jeder Rechtsänderung, die in bestehende Lebensplanungen eingreife. Insbesondere sieht das Gericht den Gesetzgeber auch bei Übergangsregelungen als befugt an, zu typisieren und von untypischen Ausnahmefällen abzusehen.¹³⁶ Problematisch wäre die Forderung nach im engeren Sinne verhältnismäßigen Übergangsregelungen jedenfalls aufgrund der materiell-rechtliche Friktionen, wenn der Gesetzgeber im Rahmen einer gleichheitsrechtlichen Prüfung lediglich an den Willkür-Maßstab, im Rahmen der freiheitsrechtlichen Prüfung hingegen an eine strenge Verhältnismäßigkeitsprüfung gebunden wäre.

c) Drohender Gleichheitsverstoß im Zuge der Neuregelung? Schließlich machten der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts in einer vereinzelt gebliebenen Senatsentscheidung¹³⁷ und die 1. Kammer des Zweiten Senats in einer darauf Bezug nehmenden Kammerentscheidung¹³⁸ auch Art. 3 Abs. 1 GG als Maßstab für die verfassungsrechtliche Überprüfung von Übergangsregelungen fruchtbar: Danach solle der dem Gesetzgeber – gerade bei der Umgestaltung komplexer Regelungssysteme – zustehende weite Gestaltungsspielraum ihn nicht von der vollständigen Bindung an den Gleichheitssatz befreien. Eine erhebliche mit dem steuerlichen Systemwechsel verbundene Ungleichbehandlung, die jeglichen sachlichen Grundes entbehre, weil alle vom Gesetzgeber angestrebten Regelungsziele auch unter Vermeidung der ungleichen Belastung und ohne Inkaufnahme anderer Nachteile erreicht werden könnten, brauche von den Betroffenen nicht hingenommen zu werden. Als verfassungsrechtlich legitim angesehene Zwecke für die konkrete Ausgestaltung einer Übergangsregelung erkannte der Zweite Senat insbesondere das Bestreben des Gesetzgebers am schnellen Vollzug und der einfachen Abwicklung einer Systemumstellung, die Erhaltung bereits verfestigter vermögenswerter (Steuer)Vorteile, die Vermeidung von Abstimmungsproblemen und Verzerrungen maßgebliche Kenngrößen sowie der Vollzug des Systemwechsels gerade in steuerlichen Massenverfahren. Im Rahmen der Prüfung arbeitete der Senat sodann verschiedene Regelungsalternativen heraus, die der Gesetzgeber im konkreten Fall zur Erreichung seiner gesetzgeberischen Ziele habe ergreifen können, und bewertete diese den Steuerpflichtigen weniger belastenden Maßnahmen als vorzugswürdig. Ausweich- oder Gestaltungsmöglichkeiten Betroffener zur Ver BVerfGE 75, 246 (282).  BVerfGE 125, 1 (23, 29 und 32 ff.).  BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 14. Juni 2016 – 2 BvR 290/10 –, juris, Rn. 42.

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meidung einer gleichheitswidrigen Besteuerung könnten aus rechtsstaatlichen Gründen nur dann belastungsmindernd berücksichtigt werden, wenn das in Frage kommende Verhalten zweifelsfrei legal sei, keinen unzumutbaren Aufwand für den Steuerpflichtigen bedeute und ihn auch sonst keinem nennenswerten finanziellen oder rechtlichen Risiko aussetze. In der Sache gehen der Zweite Senat bzw. die 1. Kammer des Zweiten Senats damit – trotz der vermeintlichen Verankerung am Merkmal des fehlenden Sachgrunds – über eine reine Willkürprüfung der Übergangsregelung hinaus, würden sie inhaltlich eine Angemessenheitsprüfung vornehmen. Insofern fügt sich die Entscheidung schwerlich in die in ständiger Rechtsprechung entwickelten Maßstäbe zum weiten Gestaltungsspielraum bei der Ausgestaltung steuerlicher Grundentscheidungen und die Selbstbeschränkung der Prüfung anhand eines reinen Willkürmaßstabs ein.

4. Verfassungsrechtlich zulässige Übergangsregimes Ist der Steuergesetzgeber nach den vorstehenden Maßstäben im Zusammenhang mit einem steuerlichen Systemwechsel zur Schaffung einer Übergangsregelung berechtigt oder gar verpflichtet, so steht ihm für die Überleitung bestehender Rechtslagen, Berechtigungen und Rechtsverhältnisse ein breiter Gestaltungsspielraum zur Verfügung.¹³⁹ Ob und in welchem Umfang Übergangsregelungen notwendig sind, muss einer Abwägung des gesetzlichen Zwecks mit den Beeinträchtigungen der Betroffenen entnommen werden.¹⁴⁰ Zwischen der sofortigen, übergangslosen Inkraftsetzung des neuen Rechts und dem ungeschmälerten Fortbestand begründeter subjektiver Rechtspositionen sind vielfache Abstufungen denkbar.¹⁴¹ Die verfassungsrechtliche Prüfung von Stichtags- und Übergangsvorschriften durch das Bundesverfassungsgericht beschränkt sich also darauf, ob der Gesetzgeber den ihm zukommenden Spielraum in sachgerechter Weise genutzt hat, ob er die für die zeitliche Anknüpfung in Betracht kommenden Faktoren hinreichend gewürdigt hat und die gefundene Lösung im Hinblick auf den Sachverhalt und das System der Gesamtregelung sachlich vertretbar erscheint.¹⁴² Dies läuft in der Sache auf eine reine Willkürprüfung hinaus.

   

BVerfGE 43, 242 (288); 67, 1 (15 f.); BVerfGK 13, 372 (382). BVerfGK 13, 372 (382). BVerfGE 43, 242 (288). BVerfGE 136, 127 (142 f. Rn. 47).

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Im Rahmen dieser Würdigung ist zu berücksichtigen, dass eine Stichtagsregelung zwar eine einmalige Zäsur in zeitlicher Hinsicht begründet, dadurch aber auch bewirkt, dass die nach dem maßgeblichen Zeitpunkt liegenden Vorgänge, anders als vor der Neuregelung, allesamt gleichbehandelt werden. Mit der Zeit verliert deshalb ein Stichtag an Bedeutung. Demgegenüber kann eine parallele Geltung von Alt- und Neuregelung immer neue Ungleichbehandlungen begründen.¹⁴³ ‒ So kann eine schonende Übergangsregelung entbehrlich und eine Neuregelung auch für Altfälle übergangslos durchzusetzen sein, wenn es sich bei den Altfällen um auslaufende Lebenssachverhalte handelt und die gesetzgeberischen Ziele der Neuregelung nicht hinreichend zeitnah erreicht werden können.¹⁴⁴ ‒ Die Anwendung unterschiedlicher Bewertungsmaßstäbe für Alt- und NeuFälle kann für einen Übergangszeitraum ebenso verfassungsrechtlich gerechtfertigt sein¹⁴⁵ wie eine unvollständige Abstimmung, die durch zugrundeliegende Typisierungs- und Vereinfachungserfordernisse begründet werden kann.¹⁴⁶ ‒ Schließlich kann die Fortgeltung der Altregelung für einzelne Steuerpflichtige für eine Übergangszeit ausnahmsweise gerechtfertigt sein, etwa wenn die Rückgängigmachung einer erst kurz vor Inkrafttreten der Neuregelung gewährten Steuervergünstigung nicht mehr durchführbar erscheint¹⁴⁷ oder wenn Wettbewerbsverzerrungen im Interesse einer reibungslosen Einführung eines neuen Steuersystems insgesamt liegen und hingenommen werden können. In diesem Fall trifft den Steuergesetzgeber jedoch die Pflicht zur späteren Überprüfung der Übergangsregelung, sodass ein Verfassungsverstoß daraus erwachsen kann, dass der Gesetzgeber eine spätere Überprüfung und fortschreitende Differenzierung trotz ausreichenden Erfahrungsmaterials für eine sachgerechte Lösung unterlässt.¹⁴⁸

 BVerfGE 37, 38 (55 f.).  BVerfGE 105, 17 (45).  Vgl. BVerfGE 58, 81 (128 f.).  BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 14. Juni 2016 – 2 BvR 323/10 –, juris, Rn. 77.  BVerfGE 23, 146 (152).  BVerfGE 37, 38 (56 f.).

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VI. Implikationen für das verfassungsgerichtliche Verfahren Effektiv justiziabel werden die vorstehenden verfassungsrechtlichen Grundsätze zu den Anforderungen und den Grenzen steuerlicher Systembildung und Systemwechsel erst, wenn sie auch substantiiert in einer Verfassungsbeschwerdebzw. Antragsschrift bzw. einem Vorlagebeschluss entfaltet werden. So setzt eine den Begründungserfordernissen gemäß § 23 Abs. 1 Satz 2, § 92 BVerfGG genügende Verfassungsbeschwerde voraus, dass der die Rechtsverletzung enthaltende Vorgang substantiiert und schlüssig vorgetragen wird.¹⁴⁹ Liegt zu den mit der Verfassungsbeschwerde aufgeworfenen Verfassungsfragen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bereits vor, der die angegriffenen Gerichtsentscheidungen folgen, so ist der behauptete Grundrechtsverstoß in Auseinandersetzung mit den vom Bundesverfassungsgericht entwickelten Maßstäben zu begründen.¹⁵⁰ Im Rahmen einer konkreten Normkontrolle muss das vorlegende Gericht von der Verfassungswidrigkeit einer entscheidungserheblichen Rechtsnorm überzeugt sein und die für diese Überzeugung maßgeblichen Erwägungen nachvollziehbar und erschöpfend darlegen.¹⁵¹ Der Vorlagebeschluss muss den verfassungsrechtlichen Prüfungsmaßstab angeben, die naheliegenden tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkte erörtern, sich eingehend sowohl mit der einfachrechtlichen als auch mit der verfassungsrechtlichen Rechtslage auseinandersetzen, dabei die in der Literatur und Rechtsprechung entwickelten Rechtsauffassungen berücksichtigen und insbesondere auf die maßgebliche Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts eingehen.¹⁵² Für andere Verfahrensarten gelten diese Grundsätze entsprechend. Die Rüge einzelner Aspekte steuerlicher Systembildung oder Systemwechsel als verfassungswidrig stellt dabei jeweils eigenständige Begründungserfordernisse an die Beschwerde- bzw. Antragsschrift oder an den Vorlagebeschluss:

 Vgl. BVerfGE 81, 208 (214); 89, 155 (171); 99, 84 (87); 108, 370 (386 f.); 113, 29 (44).  Vgl. BVerfGE 77, 170 (214 ff.); 99, 84 (87); 101, 331 (345 f.); 123, 186 (234); 130, 1 (21).  BVerfGE 78, 165 (171 f.); 86, 71 (78); 88, 70 (74); 88, 198 (201); 93, 121 (132).  BVerfGE 76, 100 (104); 79, 240 (243 f.); 85, 329 (333); 86, 52 (57); 86, 71 (77 f.); 88, 187 (194); 88, 198 (202); 94, 315 (326).

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1. Rüge der fehlenden Kompetenzgrundlage einer Steuer Wenn Beschwerde-, Antrags- oder Vorlageberechtigte die fehlende Kompetenzgrundlage des Bundes oder eines Landes für ein von ihnen erlassenes „Steuer“Gesetz rügen, prüft das Bundesverfassungsgericht mit besonderem Schwerpunkt die kompetenzrechtliche Grundlage der Abgabe. Dies erfordert zunächst die substantiierte Darlegung durch den Beschwerde-, Antrags- oder Vorlageberechtigten, inwiefern es sich bei der betreffenden Abgabe überhaupt um eine „Steuer“ im Sinne der Art. 105 ff. GG. handelt. Erfüllt die Abgabe alle Merkmale des finanzverfassungsrechtlichen „Steuer“-Begriffs, sind substantiierte Ausführungen zur möglichen Einordnung der Steuer in eine der in Art. 105 i.V. m. 106 GG genannten Steuerarten anzuschließen. Dies erfordert insbesondere eine Auseinandersetzung mit den Grundsätzen der jüngsten Entscheidung BVerfGE 145, 171 zur Kernbrennstoffsteuer. Schlägt die Einordnung der betreffenden Abgabe als Steuer oder Steuerart gemäß Art. 105 i.V.m. Art. 106 GG fehl, dürfte der verfassungsgerichtliche Rechtsbehelf in der Regel erfolgreich sein, nachdem das Bundesverfassungsgericht dem Grundgesetz kein Steuererfindungsrecht von Bund und Ländern entnehmen konnte.

2. Rüge der fehlenden Abstimmung innerhalb des finanzverfassungsrechtlichen Steuersystems Die Grundsätze zur Abstimmung verschiedener Steuerarten untereinander werden zum Prüfungsgegenstand des Bundesverfassungsgerichts, wenn eine (vermeintlich verfassungswidrige) Besteuerungslücke bzw. Doppelbesteuerung gerügt wird. Soweit einer derartigen Rüge angesichts des dem Steuergesetzgeber in ständiger Rechtsprechung eingeräumten weiten Gestaltungsspielraums bei der Auswahl des Steuergegenstands und der Abstimmung verschiedener Steuern zueinander überhaupt Erfolgsaussichten zukämen, würde sie jedenfalls eine besondere Argumentation erfordern, warum die Abstimmung verschiedener Steuerarten zueinander ausnahmsweise – etwa zur Wahrung einer leistungsfähigkeitsgerechten Besteuerung oder zur Vermeidung einer unverhältnismäßiger Übermaßbesteuerung – ausnahmsweise zwingend geboten sein soll. Es wäre also substantiiert darzustellen, dass eine Besteuerungslücke verfassungsrechtlich zwingend durch Erstreckung der „Nichtbesteuerung“ auf alle Steuerpflichtigen zu schließen bzw. dass eine Doppelbesteuerung zwingend durch eine Steuerbefreiung o. Ä. zugunsten betroffener Steuerpflichtiger zu beseitigen ist.

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Hierzu dürfte es nicht nur erforderlich sein, in der Beschwerde- oder Antragsschrift bzw. im Vorlagebeschluss die jeweilige Steuerbelastung nach den verschiedenen Einzelsteuergesetzen darzustellen. Vielmehr müsste gerade die gesamte rechtliche und effektive Steuerbelastung infolge der lückenhaften Besteuerung bzw. aus der Doppelbesteuerung bei kumulativer Anwendung verschiedener Steuerarten zueinander aufgezeigt und rechtlich gewürdigt werden. Zudem wären mögliche außersteuerliche Gründe zur vom Gesetzgeber gewählten steuerlichen Behandlung aufzuzeigen und umfassend zu würdigen. Dabei wäre insbesondere darzulegen, inwiefern (vermeintliche) steuerliche Nachteile nicht an anderer Stelle durch (außer)steuerliche Vorteile ausgeglichen werden. Schließlich wären substantiiert die verfassungsrechtlichen Maßstäbe zu entfalten, aus denen sich im konkreten Fall eine Beschränkung des grundsätzlich weiten gesetzgeberischen Spielraums im Sinne einer verfassungsrechtlichen Pflicht zur Schließung einer Besteuerungslücke bzw. zur Vermeidung der Doppelbesteuerung – und dies in internationalen Konstellationen gerade durch den deutschen Steuergesetzgeber – ergibt.

3. Rüge der gleichheitswidrigen Auswahl und Ausgestaltung des Steuergegenstands Soweit eine Besteuerung – wie in steuerlichen Verfahren beim Bundesverfassungsgericht häufig – als gleichheitswidrig gerügt wird, weil einzelne Lebensbereiche besteuert werden, während (vermeintlich) vergleichbare andere Lebensbereiche steuerlich unbelastet bleiben, oder weil ein Beteiligter die Anwendung einer für ihn günstiger (Teil)Regelungen begehrt bzw. die Nichtanwendung einer für ihn belastenden (Teil)Regelung verlangt, setzen die Bearbeitungserfordernisse des BVerfGG zunächst eine substantiierte Herausarbeitung der Vergleichsgruppen von Steuerpflichtigen oder Besteuerungssachverhalten voraus. In der Beschwerde- oder Antragsschrift bzw. im Vorlagebeschluss muss also herausgearbeitet werden, welches die beiden Vergleichsgruppen sein sollen und inwiefern diese wesentlich gleich oder ungleich sind, weil sie gerade auf gleichen bzw. ungleichen gesetzgeberischen Grundentscheidungen beruhen. Hierauf ist besonderes Augenmerk zu legen, weil die Vergleichsgruppenbildung wesentlich das Ergebnis der gleichheitsrechtlichen Prüfung bestimmt. Sodann ist unter Einbeziehung aller steuerlichen und ggf. auch außersteuerlichen Effekte darzustellen, inwiefern diese Vergleichsgruppen steuerlich wesentlich ungleich bzw. wesentlich gleichbehandelt werden. Soweit Wechselwirkungen oder Mehrfachbelastungen durch verschiedene Steuerarten – etwa durch

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die steuerliche Abzugsfähigkeit einer Steuerzahlung von der Bemessungsgrundlage einer anderen Steuerart oder durch Selbstminderungs-, Progressions- oder Zinseffekte – bestehen, sind auch diese einzubeziehen. Ist nach diesen Grundsätzen eine steuerliche Ungleichbehandlung wesentlich gleicher bzw. eine Gleichbehandlung wesentlich ungleicher Lebenssachverhalte bei der Bestimmung des Steuergegenstands („Ob“ der Besteuerung) herausgearbeitet, so ist für die Prüfung einer möglichen Rechtfertigung der Prüfungsmaßstab aufzuzeigen, der nach der bisherigen Rechtsprechung auf eine reine Willkürkontrolle reduziert ist. Hierbei hat zunächst eine Auseinandersetzung mit der grundsätzlich weiten Gestaltungsfreiheit des Steuergesetzgebers bei der Erschließung und der Beibehaltung von Steuerquellen sowie bei der Rücknahme steuerlicher Ausnahmen zu erfolgen. Sodann ist herauszuarbeiten, warum die gesetzgeberische Entscheidung willkürlich war, d. h. warum kein einziger verfassungsrechtlich legitimer Sachgrund für die beanstandete (fehlende) Differenz bestand. Soweit sich die Gesetzesbegründung zu gesetzgeberischen Gründen verhält, muss dies in der Beschwerde- oder Antragsschrift bzw. im Vorlagebeschluss aufgegriffen und einer besonderen sachlichen Würdigung unterzogen werden. Ausführungen zu anderen (theoretischen) Regelungsmöglichkeiten sind hingegen weder erforderlich noch bedeutsam für die Willkürprüfung, weil der Gesetzgeber zur Verfolgung legitimer Sachgründe zwischen verschiedenen geeigneten Regelungsmöglichkeiten wählen kann. Richten sich die erhobenen verfassungsrechtlichen Bedenken hingegen gegen die konkrete Ausgestaltung eines Steuergegenstands („Wie“ der Besteuerung), so ist bei der Rüge fehlender Folgerichtigkeit einer (Teil)Regelung zunächst die gesetzgeberische Grundentscheidung herauszuarbeiten. Sodann ist aufzuzeigen, welche gesetzlichen Regelungen (vermeintlich) mit dieser Grundentscheidung brechen, indem sie etwa die Grundentscheidung unterlaufen oder divergierende Wertungen bewirken. Schließlich ist zu prüfen, inwiefern die gesetzgeberische Ausnahme von der Grundentscheidung mit sachlichen Gründen gerechtfertigt werden kann. Werden schließlich verfassungsrechtliche Bedenken gegen das Gebot der leistungsfähigkeitsgerechten Besteuerung auch im tatsächlichen Vollzug und Belastungserfolg eines formal gleichheitsgerecht ausgestalteten Steuergesetzes erhoben, sind die für ein strukturelles Vollzugsdefizit sprechenden tatsächlichen Umstände zu benennen und ggf. zu belegen.

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4. Rüge der Verfassungswidrigkeit eines steuerlichen „Systemwechsels“ Soll eine Rechtsänderung verfassungsrechtlich überprüft werden, so liegen die Änderung steuerlicher Einzelgesetze oder gar die Entscheidung für einen grundsätzlichen steuerlichen Systemwechsel im weiten Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers. Die Bewertung einer Neuregelung als steuerlicher Systemwechsel ist insbesondere bedeutsam für die Grenzen zulässiger Vergleichsgruppenbildung: Liegt ein steuerlicher Systemwechsel vor und wird ein Steuerpflichtiger bei gleicher wirtschaftlicher Brutto-Leistungsfähigkeit nach dem Systemwechsel anders behandelt als nach der Altregelung, dürfte es sich insofern nicht um wesentlich gleiche, sondern gerade um wesentlich ungleiche Sachverhalte handeln, die auch – verfassungsrechtlich grundsätzlich unbedenklich – einer unterschiedlichen Besteuerung zugeführt werden können. Nach einer Darstellung der Vergleichsgruppen ist sodann im Rahmen der Ausführungen zu den verfassungsrechtlichen Maßstäben darzustellen, inwiefern die Neuregelung noch über den Folgerichtigkeitsmaßstab des Art. 3 Abs. 1 GG an den Grundentscheidungen der Altregelung zu messen ist. Hierfür sind umfassende Ausführungen erforderlich, inwiefern mit der Neuregelung (k)ein steuerlicher Systemwechsel mit einem Mindestmaß an neuer System- oder Prinzipienorientierung bzw. an konzeptioneller Neuorientierung verbunden ist. In der Beschwerde- bzw. Antragsschrift oder im Vorlagebeschluss sind die jeweiligen Grundentscheidungen in einer konkreten methodischen Analyse einzelner Teilregelungen herauszuarbeiten, wobei die Ausführungen des Gesetzgebers im Gesetzgebungsverfahren als Indiz ausgewertet werden müssen, aber nicht ausschließlich maßgeblich sind. Sollte der materiell-rechtliche Teil einer Neuregelung keine neuen Grundentscheidung enthalten und daher keinen Systemwechsel darstellen, ist der Gesetzgeber über das Folgerichtigkeitsgebot weiter an die Grundentscheidungen der Altregelung gebunden. Daher ist bei der gegenwärtigen Folgerichtigkeitsrechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts darzulegen, inwiefern die Neuregelung der bisherigen Grundentscheidung zuwiderläuft und ob dies gerechtfertigt werden kann. Erfüllt der materiell-rechtliche Teil der Neuregelung hingegen die Voraussetzungen eines steuerlichen Systemwechsels, so ist die Neuregelung allein anhand der mit der Neuregelung eigenständig getroffenen, neuen Grundentscheidungen auf ihre innere Folgerichtigkeit zu prüfen.

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5. Rüge der Verfassungswidrigkeit einer (fehlenden) Übergangsregelung Soweit ein verfassungsrechtlicher Rechtsbehelf auf die bloße Überprüfung einer Übergangsvorschrift beschränkt ist, ist die Beschwerde des Antrags oder Vorlagefrage durch das Bundesverfassungsgericht zunächst auch auf die materiellrechtliche Bestimmung zu erweitern, auf die sie sich bezieht. Anderenfalls wäre die Übergangsregelung einer sinnvollen Prüfung nicht zugänglich.¹⁵³ Richten sich die verfassungsrechtlichen Bedenken im Kern gegen die Übergangsregelung, sollte in der Beschwerde- bzw. Antragsschrift oder dem Vorlagebeschluss klar herausgearbeitet werden, ob noch die Anwendung der Altregelung, bereits die Anwendung der Neuregelung oder eine gänzlich modifizierte Übergangsregelung als geboten angesehen wird. Neben einer Darstellung der grundsätzlichen gesetzgeberischen Gestaltungsfreiheit auch im Zusammenhang mit der Ausgestaltung von Übergangsregelungen sind sodann substantiierte Ausführungen zum verfassungsrechtlichen Prüfungsmaßstab erforderlich. Es ist darzustellen, inwiefern eine Altregelung gegebenenfalls schutzwürdiges Vertrauen in den Fortbestand der Rechtslage begründen konnte und daher eine für Altfälle günstige Übergangsregelung durch Vertrauensschutzgesichtspunkte geboten war, oder inwiefern eine Verhältnismäßigkeitsprüfung vorzunehmen ist, bei der die Anwendung der Neuregelung für Altfälle auf unverhältnismäßige Belastungsergebnisse überprüft wird. Zudem ist substantiiert auszuführen, inwiefern der Gesetzgeber bei der Regelung des steuerlichen Systemwechsels gegebenenfalls gleichheitswidrig gehandelt, etwa Übergangsregelungen sachwidrig getroffen, willkürlich außer Acht gelassen oder in einer Weise ausgestaltet hat, die gleichheitsrechtlichen Maßstäben der Willkürprüfung, der Folgerichtigkeit bzw. der Leistungsfähigkeit nicht gerecht werden. In diesem Zusammenhang ist auch die Frage zu behandeln, ob der Prüfungsmaßstab der bloßen Willkürkontrolle oder der strengen Verhältnismäßigkeitsprüfung anzuwenden ist. Kann nach diesen Maßstäben keine Überschreitung des breiten Gestaltungsspielraums verschiedener Übergangsregelungen festgestellt werden, kann eine Verletzung von Verfassungsrecht dann nur noch mit Fehlern bei der Ermittlung der Einzelbelange gerügt werden. Dies erfordert jedoch substantiierte Ausführungen hierzu, die ausgewogen sein müssen und nicht nur einseitig die Interessen des Gesetzgebers oder des Steuerpflichtigen in den Blick nehmen dürfen.

 BVerfGE 69, 272 (295 f.); 127, 1 (14 f.).

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VII. Fazit Der vorstehende Beitrag unternimmt den Versuch, die Rechtsprechungslinien des Bundesverfassungsgerichts zur Einordnung von Steuern in ein Abgaben-, Gesamtsteuer- und Einzelsteuersystem sowie zu den hieran jeweils zu stellenden verfassungsrechtlichen Anforderungen aufzuzeigen. Dabei wird deutlich, dass die in der Wissenschaft problematisierten Systemfragen des geltenden sowie eines möglichen künftigen Steuerrechts keineswegs nur von akademischem Interesse, sondern von unmittelbarer Bedeutung für die Bestimmung, Anwendung und Überprüfung verfassungsrechtliche Maßstäbe zur gesetzgeberischen Ausgestaltung steuerrechtlicher (Neu)Regelungen ist. Der Steuergesetzgeber ist damit zur steuerlichen Systembildung aufgerufen, zugleich jedoch durch die von ihm selbst einfachrechtlich ausgestalteten Einzelund ggf. auch Gesamtsteuersysteme sowie durch die dort getroffenen Grundentscheidungen – jedenfalls nach bisher ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts – durch das Folgerichtigkeitsgebot gebunden. Nur im Fall eines steuerlichen Systemwechsels ist der Gesetzgeber von dieser Bindung befreit. In dieser Rechtsprechung liegen Chance und Risiko der steuerlichen Systembildung zugleich: Einerseits lässt das Verfassungsrecht dynamische Anpassungen einzelner Steuergesetze und gerade bei politischen Richtungswechseln auch grundlegende Veränderungen im Rahmen eines Steuergesetzes oder des Gesamtsteuersystems zu. Andererseits kann der Gesetzgeber dadurch auch zu häufigen, umfassenden Systemwechseln angereizt sein, allein um seinen verfassungsrechtlichen Gestaltungsspielraum zu vergrößern. Derart häufige Systemwechsel lägen kaum im Interesse einer gleichheitsgerechten, vorhersehbaren und berechenbaren Besteuerung und würden Rechtsanwender angesichts der komplexen einfach- wie verfassungsrechtlichen Fragen im Zusammenhang mit steuerlichen Systemwechseln vor kaum lösbare Herausforderungen stellen. Die vorstehenden Ausführungen zeigen zugleich, dass das Bundesverfassungsgericht dem Steuergesetzgeber große Freiheiten bei der Ausgestaltung des Gesamtsteuersystems sowie der Einzelsteuergesetze auf allen Ebenen des Steuertatbestands lässt. Das Gericht beschränkt sich, jedenfalls in der weit überwiegenden Zahl der Fälle, auf eine reine Willkürprüfung. Theoretisch bestehende verfassungsrechtliche Grenzen dieser Gestaltungsfreiheit wirken sich deshalb praktisch nur äußerst selten zugunsten von Steuerpflichtigen aus. Interessant erscheint, dass das Bundesverfassungsgericht in seiner Senatsentscheidung zur Erbschaftsteuer vom 17.12. 2014¹⁵⁴ erstmals eine konkretere  BVerfGE 138, 136.

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Vorgabe zur Identifizierung der gesetzlichen Grundentscheidung gemacht hat: Eine Grundentscheidung ergibt sich danach aus der steuerlichen Regelung, die – abgesehen von tatbestandlichen Erweiterungen, Ausnahmen und Gegenausnahmen – anzuwenden ist. Diese – bislang einmalig gebliebene – Konkretisierung führt sicherlich für sich genommen noch nicht unmittelbar zur konkreten Grundentscheidung des Einzelsteuergesetzes, sondern kann nur einen Maßstab zur künftigen Bestimmung entsprechender Grundentscheidungen vorgeben. Wenn dieser jedoch auch in künftigen Entscheidungen klar und wirkungsvoll entfaltet würde, könnte er die häufigen – und im Ergebnis zumeist kaum begründbaren – Abgrenzungsfragen vereinfachen, ob eine Regelung eine besonders rechtfertigungsbedürftige Ausnahme von einer vorgelagerten Grundentscheidung darstellt oder eine gänzlich neue Grundentscheidung des Gesetzgebers für ein eigenständiges Untersystem der Besteuerung begründet. Ein dahingehender Beitrag zur Effektivierung des Grundrechtschutzes im Steuerrecht wäre zu begrüßen. Zugleich wird der erhebliche Begründungsaufwand erkennbar, den Beschwerde-, Antrags- oder Vorlageberechtigte betreiben müssen, wenn die Prüfung des Bundesverfassungsgerichts die strengen Zulässigkeitshürden überwinden und zum Kern der materiell-rechtlichen Überprüfung einer steuerlichen (Neu)Regelung vordringen soll. In den hier bisweilen liegenden Versäumnissen gerade bei Beschwerdeschriften mag ein Grund dafür liegen, dass die vielfältig an das Bundesverfassungsgericht herangetragenen Fälle im Zusammenhang mit steuerlichen Systemfragen und -wechseln nur selten mit einer für Außenstehende erkennbaren materiell-rechtlichen Sachentscheidung abgeschlossen werden. Hieraus erklärt sich auch der geringe Umfang einschlägiger Kammerverfahren mit Aussagen zur Verfassungsmäßigkeit eines steuerlichen Systemwechsels. Insofern vermag der vorliegende Beitrag möglicherweise, hilfreiche Anregungen zu geben.

Dominik Roderburg, André Schlosser

Die Kernbrennstoffsteuer im Lichte der Finanzverfassung – Anmerkungen zur Entscheidung des BVerfG Leitentscheidungen des Bundesverfassungsgericht BVerfGE 4, 7 – Investitionshilfe BVerfGE 7, 244 – Badische Weinabgabe BVerfGE 14, 76 – Gewinnspielautomat I BVerfGE 16, 64 – Einwohnersteuer BVerfGE 16, 306 – Speiseeissteuer BVerfGE 26, 302 – Spekulationsgeschäfte BVerfGE 31, 8 – Gewinnspielautomat II BVerfGE 55, 274 – Berufsausbildungsabgabe BVerfGE 67, 256 – Investitionshilfeabgabe BVerfGE 78, 249 – Fehlbelegungsabgabe BVerfGE 91, 186 – Kohlepfennig BVerfGE 98, 83 – Landesabfallabgabengesetz BVerfGE 98, 106 – Kommunale Verpackungsteuer BVerfGE 101, 141 – Ausgleichsfonds BVerfGE 110, 274 – Ökosteuer BVerfGE 108, 1 – Rückmeldegebühr Baden-Württemberg BVerfGE 123, 1 – Spielgerätesteuer BVerfGE 135, 126 – Zweitwohnungsteuertarif

Schrifttum (Auswahl) Birk/Förster, DB Beilage Nr. 17 zum Heft 30 1985, S. 1 ff.; Eiling, Verfassungs- und europarechtliche Vorgaben an die Einführung neuer Verbrauchsteuern, 2014; Englisch, Wettbewerbsgleichheit im grenzüberscheitenden Handel, 2008; Förster, Die Verbrauchsteuern, 1989; Gärditz, Die Richtervorlage des Finanzgerichts Hamburg zum Kernbrennstoffsteuergesetz, ZfZ 2014, S. 18 ff.; Henneke, Anmerkung zu BVerfG, Beschl. v. 13.04. 2017 – 2 BvL 6/13 – Nichtigkeit des Kernbrennstoffsteuergesetzes, DVBl 2017, S. 897 ff.; Hey, Schutz vor Steuerwildwuchs auch für Unternehmen! Kernbrennstoffsteuer verfassungswidrig, DB vom 23. Juni 2017, Heft 25, M4 f.; Jobs, Steuern auf Energie als Element einer ökologischen Steuerreform, 1999; Kirchhof, Die steuerliche Doppelbelastung der Zigaretten, 1990; Ludwigs, Die Kernbrennstoffsteuer vor dem BVerfG – Rückschlag der Energiewende oder Sieg des Rechtsstaats?, NVwZ 2017, S. 1509 ff.; Martini, Die Kernbrennstoffsteuer – ein steuerrechtlicher Störfall? Offene verfassungs- und unionsrechtliche Fragen, ZUR 2012, S. 219 ff.; Möckel, Umweltabgaben zur Ökologisierung der Landwirtschaft, 2006; ders., Anmerkung [zu BVerfGE 145, 171 – Kernbrennstoffsteuer], NVwZ 2017, S. 1055 ff.; Osterloh, „Öko-Steuern“ und verfassungsrechtlicher Steuerbegriff – Alte Fragen zum staatlichen Steuererfindungsrecht neu gestellt, NVwZ 1991, S. 823 ff.; Schaumburg, Das Leistungsfähigkeitsprinzip im Verkehr- und https://doi.org/10.1515/9783110599916-015

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Dominik Roderburg, André Schlosser

Verbrauchsteuerrecht, in: Paul Kirchhof / Hans Nieskens (Hrsg.), Festschrift für Wolfgang Reiß zum 65. Geburtstag, 2008, S. 25 ff.; Schmidt, Das Steuerfindungsrecht der Hoheitsträger, StuW 2015, S. 171 ff.; Schmölders, Zur Begriffsbestimmung der Verbrauchsteuern, 1955; Seer, Vorläufiger Rechtsschutz bei ernstlichen Zweifeln an der Verfassungsmäßigkeit eines Steuergesetzes – Aussetzung der Vollziehung der Kernbrennstoffsteuerfestsetzung wegen fehlender Gesetzgebungskompetenz des Bundes, DStR 2012, S. 325 ff.; Söhn, Umweltsteuern und Finanzverfassung, in: Joachim Burmeister (Hrsg.), Verfassungsstaatlichkeit – Festschrift für Klaus Stern zum 65. Geburtstag, 1997, S. 587 ff.; Tappe, Das Scheitern der Kernbrennstoffsteuer, EurUP 2017, S. 186 ff.; Tipke, Die Steuerrechtsordnung II, 2. Aufl. 2003; Van Heek, in: van Heek/Lehmann, Die Kernbrennstoffsteuer als „Verbrauchsteuer“?, 2012; Waldhoff/von Aswege, Kernenergie als „goldene Brücke“, 2010; Wernsmann, Anmerkung [zu BVerfGE 145, 171 – Kernbrennstoffsteuer], JZ 2017, S. 954 ff.; Weschpfennig, Anmerkung zu BVerfG, Beschl. v. 13.04. 2017– 2 BvL 6/13 – Nichtigkeit des Kernbrennstoffsteuergesetzes, DVBl 2017, S. 899 ff.; Wienbracke, BB-Kommentar „Kein Steuererfindungsrecht des einfachen Gesetzgebers“, BB 2017, S. 1831 ff.

Inhalt 342 I. Einleitung II. Finanzverfassungsrechtliche Grundlagen 343 III. Der Verbrauchsteuerbegriff 345 . Verfassungsrechtliche Ausgangslage 345 . Die bisherigen Leitentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts . Die Kernbrennstoffsteuer-Entscheidung 349 349 a) Typusbegriff b) Anknüpfung an die private Einkommensverwendung 350 c) Produktionsmittelsteuer 354 IV. Das Steuererfindungsrecht 356 . Verfassungsrechtliche Ausgangslage 356 . Die bisherigen Leitentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts . Die Kernbrennstoffsteuer-Entscheidung 363 a) Wortsinn des Begriffs „übrige“ Steuern 364 b) Verfassungshistorie 364 c) Keine Regelung der Ertragshoheit 367 d) Individualschützende Funktion der Finanzverfassung 370 V. Fazit 372

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I. Einleitung Mit seiner Entscheidung vom 13. April 2017¹ hat das Bundesverfassungsgericht die Verfassungswidrigkeit des zu diesem Zeitpunkt bereits „ausgelaufenen“

 BVerfGE 145, 171.

Die Kernbrennstoffsteuer im Lichte der Finanzverfassung

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Kernbrennstoffsteuergesetzes festgestellt. Dem Bund habe es bereits an der Kompetenz zum Erlass eines solchen Steuergesetzes gefehlt. Das Gericht stellte aufgrund dieser formellen Rechtswidrigkeit nicht lediglich die Unvereinbarkeit mit dem Grundgesetz (§ 82 Abs. 1 i.V. m. § 79 Abs. 1 und § 31 Abs. 2 BVerfGG) fest, das Kernbrennstoffsteuergesetz wurde für nichtig erklärt (§ 82 Abs. 1 i.V. m. 78 BVerfGG). Der Gesetzgeber habe sich nicht auf seine Finanz- und Haushaltsplanung verlassen dürfen, weil das Steuergesetz von Anfang an mit erheblichen finanzverfassungsrechtlichen Unsicherheiten belastet gewesen sei. Die Entscheidung machte damit die Rückzahlung der entrichteten Kernbrennstoffsteuer nebst Zinsen in Höhe von insgesamt über 7 Milliarden Euro² notwendig, die allerdings in 2017 zu – jedenfalls im Grundsatz – steuerwirksamen Betriebseinnahmen³ bei den Kernkraftwerksbetreibern geführt hat. Von entsprechend erhöhten Körperschafts- und Gewerbesteuern hätten, aufgrund der gemeinsamen Ertragshoheit bei den Ertragssteuern (Art. 106 Abs. 3 GG) neben dem Bund die Länder und über die Gewerbesteuer auch die Gemeinden (Art. 106 Abs. 6 GG) profitiert. Diese waren durch die allein dem Bund zustehende Kernbrennstoffsteuer wegen deren Abzugsfähigkeit bei Körperschaft- und Gewerbesteuer finanziell belastet worden.⁴ Die Strenge des Gerichts bei der Wahl der Rechtsfolge wurde von manchen Autoren als „Sieg des Rechtsstaats“⁵ begrüßt, während andere herausstellten, die Mittel würden für die notwendige Endlagerung der Brennelemente fehlen.⁶ Die Entscheidung des Gerichts und deren Grundlagen sollen im Folgenden in einigen ausgewählten Argumentationslinien nachgezeichnet werden.

II. Finanzverfassungsrechtliche Grundlagen Die Finanzverfassung (Art. 104a GG bis Art. 115 GG) ist „Eckpfeiler der bundesstaatlichen Ordnung“⁷. Sie soll eine Finanzordnung sicherstellen, die den Gesamtstaat und die Gliedstaaten am Gesamtertrag der Volkswirtschaft angemessen

 Vgl. BTDrucks 19/170, S. 123; BMF vom 12. Januar 2018, Vorläufiger Haushaltsabschluss 2017.  BTDrucks 19/189, S. 25.  Wernsmann, JZ 2017, S. 954 (956).  Ludwigs, NVwZ 2017, S. 1509 (1513); zustimmend auch Hey, DB vom 23. Juni 2017, Heft 25, M4 und Henneke, DVBl 2017, S. 897.  Möckel, NVwZ 2017, S. 1055; die finanzielle Belastung durch Zinslasten wäre durch eine vorausschauende Haushaltsplanung wohl vermeidbar gewesen, BTDrucks 19/170, S. 123 f.  Ständige Rechtsprechung, vgl. etwa BVerfGE 101, 141 (147).

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beteiligt.⁸ Die finanzverfassungsrechtliche Gesetzgebungskompetenz (Art. 105 und 106 GG) geht in ihrem Anwendungsbereich den allgemeinen Sachgesetzgebungskompetenzen der Art. 70 ff. GG als speziellere Kompetenzgrundlage vor.⁹ Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass sich das Bundesverfassungsgericht in der Vergangenheit bereits mehrfach mit der Finanzverfassung, insbesondere mit dem verfassungsrechtlichen Steuerbegriff im Allgemeinen, den in der Finanzverfassung genannten Steuerarten und den damit verbundenen Gesetzgebungskompetenzen zu befassen hatte. Zuletzt stand die vom Bundesgesetzgeber mit Gesetz vom 8. Dezember 2010¹⁰ erlassene Kernbrennstoffsteuer auf dem verfassungsgerichtlichen Prüfstand. Bei der Kernbrennstoffsteuer handelte es sich nach Auffassung des Gesetzgebers um eine „Verbrauchsteuer im Sinn der Abgabenordnung“ (§ 1 Abs. 1 S. 2 KernbrStG). Hieraus leitete der Bundesgesetzgeber sowohl seine Gesetzgebungszuständigkeit (Art. 105 Abs. 2 1. Alt. GG), als auch seine Ertragshoheit ab (Art. 106 Abs. 1 Nr. 2 GG).¹¹ Der Steuer unterlag Kernbrennstoff, der zur gewerblichen Erzeugung von elektrischem Strom verwendet wurde. Die Kernbrennstoffsteuer war mithin nicht als Steuer auf produzierten Strom konzipiert, sondern als Steuer auf den Verbrauch des Brennmaterials im Rahmen der Gewinnung von Atomstrom. Bereits an dieser Stelle wird der verfassungsrechtlich neuralgische Punkte der Kernbrennstoffsteuer deutlich: Denn die Kernbrennstoffsteuer sollte – anders als die anderen aktuell erhobenen Verbrauchsteuern – im Ergebnis nicht die Endverbraucher belasten, sondern Gewinne der Kernkraftwerkbetreiber abschöpfen¹². Die Erhebung der Kernbrennstoffsteuer war von Beginn an zeitlich befristet: Das Kernbrennstoffsteuergesetz sollte Besteuerungsvorgänge erfassen, bei denen die sich selbsttragende Kettenreaktion vor dem 1. Januar 2017 ausgelöst wurde. Steuerschuldner waren die Betreiber von Kernkraftwerken. Die Klägerin des finanzgerichtlichen Ausgangsverfahrens setzte im Jahr 2011 in den Reaktor eines von ihr betriebenen Kernkraftwerks neue Brennelemente ein, löste eine sich selbsttragende Kettenreaktion aus und führte nach entsprechender Steueranmeldung einen Steuerbetrag in Höhe von rund 96 Millionen Euro ab. Daraufhin erhob sie gegen die Steueranmeldung Klage, worauf das Finanzgericht Hamburg das Verfahren aussetzte und dem Bundesverfassungsgericht die Frage vorlegte, ob das Kernbrennstoffsteuergesetz mit dem Grundgesetz vereinbar sei. ¹³

 BVerfGE 108, 1 (15).  Vgl. BVerfGE 4, 7 (13).  BGBl. I S. 1804.  BTDrucks 17/3054, S. 5.  Martini, ZUR 2012, S. 219 (228).  FG Hamburg, Beschluss vom 29. Januar 2013 – 4 K 270/11 –, juris.

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Mit hier im Folgendem besprochenem Beschluss hat das Bundesverfassungsgericht das Kernbrennstoffsteuergesetz für unvereinbar mit Art. 105 Abs. 2 GG in Verbindung mit Art. 106 Abs. 1 Nr. 2 GG und für nichtig erklärt. Dem Bundesgesetzgeber habe die Gesetzgebungskompetenz zu seinem Erlass gefehlt. Die Zuweisung von Gesetzgebungskompetenzen an Bund und Länder durch Art. 105 GG in Verbindung mit Art. 106 GG sei abschließend. Der einfache Gesetzgeber dürfe nur solche Steuern einführen, deren Ertrag durch Art. 106 GG dem Bund, den Ländern oder Bund und Ländern gemeinschaftlich zugewiesen werde. Nur innerhalb der durch Art. 105 und Art. 106 GG vorgegebenen Typusbegriffe stehe es dem Gesetzgeber offen, neue Steuern zu „erfinden“ und bestehende Steuergesetze zu verändern. Ein freies Steuererfindungsrecht komme weder dem Bund noch den Ländern zu (unten IV.). Ferner handle es sich bei der Kernbrennstoffsteuer nicht um eine Verbrauchsteuer im Sinne von Art. 106 Abs. 1 Nr. 2 GG (unten III.).

III. Der Verbrauchsteuerbegriff 1. Verfassungsrechtliche Ausgangslage Das Grundgesetz enthält keine Definition des Begriffs der „Verbrauchsteuer“ oder des „Verbrauchs“. Die Reichsverfassungen von 1871 und 1919, aus denen der Begriff der Verbrauchsteuer übernommen worden war, lassen eine Definition ebenfalls vermissen. Entsprechendes gilt für die Materialien des Parlamentarischen Rates aus dem Jahre 1949.¹⁴ Das Gericht konnte die verfassungsrechtliche Einordnung der Steuer auch nicht auf der Grundlage der durch den einfachen Gesetzgeber gewählten Bezeichnung der Steuer als „Verbrauchsteuer“ (vgl. § 1 Abs. 1 S. 2 KernbrStG) vornehmen. Denn in diesem Fall wäre es in das Belieben des jeweiligen Gesetzgebungsorgans gestellt, durch ausdrückliche Festlegung eine Steuer bindend in eine der in Art. 105 GG unterschiedenen Steuerarten einzureihen, um dadurch die Kompetenz zu sichern. Vielmehr ist auf die tatsächliche Ausgestaltung der Steuer und ihren materiellen Gehalt abzustellen.¹⁵

 Vgl. BVerfGE 145, 171 (211 Rn. 11).  BVerfGE 145, 171 (207 Rn. Rn. 103); 55, 274 (304 f.); 65, 325 (344); 92, 91 (114).

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2. Die bisherigen Leitentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Auf die fehlende Definition der Verbrauchsteuer im Grundgesetz ist zurückzuführen, dass sich das Bundesverfassungsgericht schon in seiner frühen Rechtsprechung mit dem Begriff der Verbrauchsteuer befassen musste. Die den frühen Entscheidungen jeweils zugrundeliegende Rechtsfrage, ob es sich bei einer Steuer um eine Verbrauchsteuer im verfassungsrechtlichen Sinne handelt, beantwortete das Bundesverfassungsgericht dahingehend, dass es im Wesentlichen auf die (vorkonstitutionelle) Herkömmlichkeit der Steuer ankomme¹⁶; die maßgebenden Kriterien seien dem traditionellen deutschen Steuerrecht zu entnehmen.¹⁷ In seiner (ersten) Entscheidung zur Vergnügungsteuer – einer örtlichen Verbrauch- und Verkehrsteuer i. S. d. Art. 105 Abs. 2 Nr. 1 GG a.F. [1955] – rekurrierte das Bundesverfassungsgericht zunächst auf seine bisherige Rechtsprechung, indem es bei der Begriffsbestimmung auf das „herkömmliche Bild“ der betreffenden Steuer abstellte und hierauf aufbauend prüfte, ob die zur Überprüfung gestellte Vergnügungsteuer nach ihrem Steuertatbestand, Steuermaßstab und ihrer wirtschaftlichen Auswirkung die Merkmale der traditionellen Vergnügungsteuer erfüllt.¹⁸ Diese Voraussetzung konkretisierte es – unter Fortentwicklung der bisherigen Rechtsprechung – dahingehend, dass dazu unter anderem gehöre, dass die Steuer nicht unmittelbar bei dem sich Vergnügenden, den sie im Grunde treffen solle, sondern bei dem Veranstalter des Vergnügens erhoben werde¹⁹ und der Veranstalter den von ihm gezahlten Steuerbetrag auf die Benutzer der Veranstaltung abwälze.²⁰ Hierzu führte es weiter aus:²¹ „Es liegt im Sinne der herkömmlichen Vergnügungssteuer [sic], daß der Veranstalter den von ihm gezahlten Steuerbetrag auf die Benutzer der Veranstaltung abwälzt; denn die Vergnügungssteuer wird nur zur Vereinfachung der Erhebung dem Veranstalter des Vergnügens auferlegt; ihrer Idee nach soll sie letztlich den treffen, der sich vergnügt, hier den Spieler. Darüber, in welcher Weise die Veranstalter ihre steuerliche Belastung im Wege der Überwälzung an die Benutzer der Veranstaltung weitergeben, enthält das herkömmliche Vergnügungssteuerrecht ebensowenig Bestimmungen wie regelmäßig andere die Überwälzung beabsichtigende Steuergesetze, insbesondere die Verbrauchsteuergesetze (Bühler, Steuerrecht I, 1951 S. 226). Die Überwälzbarkeit einer Steuer hat demnach nicht zum Inhalt, daß

 Vgl. BVerfGE 26, 302 (309) zum Einkommensteuerrecht und BVerfGE 40, 52 (55); 44, 216 (226); 69, 174 (183) zur örtlichen Verbrauch- und Aufwandsteuer.  BVerfGE 7, 244 (252); ferner BVerfGE 14, 76 (91); 16, 306 (317); 26, 302 (309).  Vgl. BVerfGE 14, 76 (91).  Vgl. BVerfGE 14, 76 (91).  Vgl. BVerfGE 14, 76 (95 f.); vgl. ferner BVerfGE 27, 375 (384).  Vgl. BVerfGE 14, 76 (95 f.); vgl. ferner BVerfGE 27, 375 (384).

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dem Steuerschuldner die rechtliche Gewähr geboten wird, er werde den als Steuer gezahlten Geldbetrag – etwa wie einen durchlaufenden Posten – von der vom Steuergesetz der Idee nach als Steuerträger gemeinten Person auch ersetzt erhalten. Die Steuerüberwälzung ist ein wirtschaftlicher Vorgang; das Gesetz überläßt es dem Steuerschuldner, den Steuerbetrag in die Kalkulation einzubeziehen und die Wirtschaftlichkeit seines Unternehmens auch dann zu wahren; letztlich hängt es von der Marktlage ab, ob dem Steuerzahler die Überwälzung gelingt […]. Ob ein Vergleich der Lage des Aufstellers vor und nach der Steuererhöhung die Abwälzbarkeit bestätigt, ist hiernach nicht ausschlaggebend.“

In der Entscheidung vom 7. Mai 1963 hat das Bundesverfassungsgericht die Einwohnersteuer nicht unter den Begriff der Verbrauchsteuer im Sinne des Art. 105 Abs. 2 Nr. 1 GG a.F. subsumiert, weil diese nicht an den Übergang einer Sache aus dem steuerlichen Nexus in den nicht gebundenen Verkehr anknüpfe.²² In seiner (zweiten) Vergnügungsteuer-Entscheidung bestätigte das Bundesverfassungsgericht die in der ersten Vergnügungsteuer-Entscheidung aufgestellten Maßstäbe und stellte für die Verteilung der Gesetzgebungskompetenz entscheidend auf die traditionellen Merkmale der Steuer – insbesondere deren Abwälzbarkeit – ab.²³ In der Entscheidung zur kommunalen Verpackungsteuer unternahm das Bundesverfassungsgericht einen weiteren Anlauf, den für die kompetenzielle Einordnung maßgebenden Begriff der Verbrauchsteuer weiter zu konturieren und lehnte sich dabei an die im Rahmen der Gesetzesbegründung zum Finanzverfassungsgesetz vom 23. Dezember 1955 verwendete Definition der Verbrauchsteuer an²⁴: „Verbrauchsteuern sind Warensteuern, die den Verbrauch vertretbarer, regelmäßig zum baldigen Verzehr oder kurzfristigen Verbrauch bestimmter Güter des ständigen Bedarfs belasten (vgl. Begründung der Bundesregierung zum Entwurf eines Gesetzes zur Änderung und Ergänzung der Finanzverfassung BTDrucks 2/480, S. 107 Tz. 160; vgl. auch BVerfGE 16, 64 ). Als Besteuerung des Verbrauchs werden sie in der Regel bei demjenigen Unternehmer erhoben, der das Verbrauchsgut für die allgemeine Nachfrage anbietet, sind aber auf Überwälzung auf den Verbraucher angelegt (vgl. RFHE 7, 266 ; vgl. auch BVerfGE 27, 375 ; BVerwGE 6, 247 ). Die Verbrauchsteuer knüpft an das Verbringen des Verbrauchsgutes in den allgemeinen Wirtschaftsverkehr an, ohne aber – wie die Verkehrsteuern – im Tatbestand beide Seiten, insbesondere beide Vertragspartner zu erfassen.“

 Vgl. BVerfGE 16, 64 (74).  Vgl. BVerfGE 31, 8 (19 f.); ferner BVerfGE 44, 216 (227); 69, 174 (183).  Vgl. BVerfGE 98, 106 (123 f.).

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In der Entscheidung zur Strom- und Mineralölsteuer („Öko-Steuer“) konkretisierte das Bundesverfassungsgericht insbesondere den „Überwälzungs-Gedanken“ weiter:²⁵ Es reiche aus, wenn die Steuer auf eine Überwälzung der Steuerlast vom Steuerschuldner auf den Steuerträger angelegt sei, auch wenn die Überwälzung nicht in jedem Einzelfall gelinge. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass das Bundesverfassungsgericht²⁶ jedenfalls solche Steuern unter den Typusbegriff einer Einzelsteuer gefasst hat, die zum Zeitpunkt des Erlasses des Grundgesetzes oder einer Neubefassung des verfassungsgebenden Gesetzgebers mit den in Rede stehenden Steuertatbeständen dieser herkömmlich zugeordnet waren. Dabei beließ es das Bundesverfassungsgericht meist bei der bloßen Feststellung der Herkömmlichkeit des betreffenden Steuergesetzes,²⁷ ohne noch in eine wertende Gesamtbetrachtung einzutreten. Wenngleich diese Entscheidungen zumeist die Frage der „Gleichartigkeit“ im Sinne des Art. 105 Abs. 2a GG betrafen, gilt dies nicht ausnahmslos. In der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 9. Juli 1969 heißt es: „Die Gesetzgebungszuständigkeit des Bundes für die Besteuerung von Einkünften aus Spekulationsgeschäften nach § 23 Abs. 1 EStG ergibt sich aus Art. 105 Abs. 2 Nr. 2 GG. Danach hat der Bund die konkurrierende Gesetzgebung über „die Steuern vom Einkommen“. Das Grundgesetz knüpft zur Unterscheidung der verschiedenen Steuerarten an das traditionelle deutsche Steuerrecht an (BVerfGE 7, 244 (252); 14, 76 (91); 16, 306 (317)). Für die Steuern vom Einkommen bedeutet dies, daß zumindest diejenigen Steuertatbestände, die bereits bei Inkrafttreten des Grundgesetzes herkömmlich dem Einkommensteuerrecht zugeordnet waren, unter den Begriff der „Steuern vom Einkommen“ im Sinne des Art. 105 Abs. 2 Nr. 2 GG fallen. § 23 EStG erfüllt diese Voraussetzung. Wie oben ausgeführt, geht diese Bestimmung in ihrem Kern zurück auf § 42 EStG 1925 und ist seit dem Einkommensteuergesetz 1934 Bestandteil des deutschen Einkommensteuerrechts geblieben.“

Darüber, welche Verbrauchsteuern sich nun in concreto als herkömmlich erweisen, geben die Materialien zum Grundgesetz und die des Finanzverfassungsgesetzes vom 23. Dezember 1955²⁸ indes nicht ausdrücklich Aufschluss. Es ist jedoch, führt man sich die Auflistung aus der Gesetzesbegründung²⁹ des Finanzverfassungsgesetzes vom 23. Dezember 1955³⁰ mit Tabak-, Kaffee-, Tee-, Zu-

 Vgl. BVerfGE 110, 274 (295 ff.).  Vgl. BVerfGE 26, 302 (309); 40, 52 (55); vgl. auch: BVerfGE 40, 56 (64); 44, 216 (226); 69, 174 (183); BVerfGE 123, 1 (14 f.).  Vgl. BVerfGE 26, 302 (309); 40, 52 (55); 40, 56 (64); 44, 216 (226); 69, 174 (183).  BGBl I S. 817.  BTDrucks II/480, S. 107 f.  BGBl I S. 817.

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cker-, Salz-, Branntwein-, Mineralöl-, Schaumwein-, Essigsäure-, Zündwaren-, Leuchtmittel-, Spielkarten- und Süßstoffsteuer sowie die Kohlenabgabe als Verbrauchsteuern vor Augen, davon auszugehen, dass die Kernbrennstoffsteuer nicht zu den herkömmlichen Verbrauchsteuern zu rechnen ist. Als „neue“ Verbrauchsteuer musste sie sich deshalb daran messen lassen, ob sie dem „herkömmlichen Bild“ (Typus) der Verbrauchsteuer entspricht.

3. Die Kernbrennstoffsteuer-Entscheidung Anders als der Gesetzgeber (vgl. § 1 Abs. 1 S. 2 KernbrStG)³¹ fasst das Bundesverfassungsgericht die Kernbrennstoffsteuer nicht unter den Typus der Verbrauchsteuern. Mit dieser Rechtsprechung ist das Gericht überwiegend auf Zustimmung gestoßen.³²

a) Typusbegriff Das Gericht ist von der Notwendigkeit einer weiten Interpretation der Typusbegriffe des Art. 106 GG – und damit auch des Begriffs der „Verbrauchsteuern“ – ausgegangen. Hiermit solle der „Gefahr einer Erstarrung der finanzverfassungsrechtlichen Kompetenzverteilung“³³ entgegengewirkt werden. Die einzelnen Steuertypen seien nach ihrem herkömmlichen, durch das traditionelle deutsche Steuerrecht vorgegebenen – allerdings einer ständigen Weiterentwicklung unterliegenden – Begriffsverständnis zu bilden.³⁴

 Eine nähere Begründung lässt sich der Gesetzesbegründung (vgl. BTDrucks 17/3054) nicht entnehmen, vgl. aber BTDrucks 19/170, S. 123.  Seer, in: Tipke/Lang, Steuerrecht, 23. Auflage 2018, § 2 Rn. 6; Englisch, in: Tipke/Lang, Steuerrecht, 23. Auflage 2018, § 18 Rn. 118; Burghart, in: Leibholz/Rinck, Grundgesetz (76. Lieferung Mai 2018), Art. 106 Rn. 29 f.; Drüen, in: Tipke/Kruse, AO/FGO (153. Lieferung August 2018), § 169 AO Rn. 5; Ludwigs, NVwZ 2017, S. 1509; Weschpfennig, DVBl 2017, S. 899 (900 f.); ablehnend: Möckel, NVwZ 2017, S. 1055; kritisch auch Wernsmann, JZ 2017, S. 954 (956).  BVerfGE 145, 171 (212 Rn. 114), vgl. auch aaO, 171 (205 f. Rn. 98).  Zustimmend: Seiler, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar (83. EL April 2018), Art. 106 Rn. 90; Kube, DStR 2017, S. 1792 (1794).

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b) Anknüpfung an die private Einkommensverwendung aa) Für den Typus der Verbrauchsteuern im Sinne des traditionellen deutschen Steuerrechts sei die Abgrenzung zu den Unternehmensteuern zentral:³⁵ „Die Verbrauchsteuern sind aber von den Unternehmensteuern abzugrenzen, die nicht die Einkommensverwendung durch den Erwerb von Waren, sondern die Einkommenserzielung zum Ausgangspunkt nehmen. Die Trennlinie ist demnach bei der Anknüpfung an den Gewinn der Unternehmer einerseits und der Einkommensverwendung der Endverbraucher andererseits zu ziehen: Eine Steuer, die gezielt auf den unternehmerischen Gewinn oder einen typisierend vermuteten unternehmerischen Gewinn zugreift anstatt auf die Einkommensverwendung, ist nicht als Verbrauchsteuer, sondern als Unternehmensteuer einzuordnen.“

Einem solchen Verständnis ist in der Literatur entgegengehalten worden, das Gericht habe es versäumt, „alte Zöpfe“ abzuschneiden, es sei ein moderneres Verständnis notwendig, welches auch rechtspolitische Notwendigkeiten berücksichtige und „eine gemeinwohlgerechtere Verteilung der Steuerlasten zwischen privaten Einkommen und unternehmerischen Gewinnen sowie Ressourcenbeanspruchungen“ ermögliche.³⁶ Dies gebiete es, die „unternehmerische Einkommensverwendung“³⁷ zum möglichen Anknüpfungspunkt von Verbrauchsteuern zu machen. Eine solche Auslegung überzeugt allerdings nicht.³⁸ So sinnvoll die geschilderten Belange im Einzelfall auch sein mögen, erschließt sich nicht ohne Weiteres, wie auf einer solchen Basis eine Abgrenzung zwischen den einzelnen Steuertypen möglich sein soll. Die Notwendigkeit einer „randscharfen“³⁹ Abgrenzung kann jedoch nicht in Abrede gestellt werden:⁴⁰ Während das Aufkommen der Verbrauchsteuern (Art. 106 Abs. 1 Nr. 2 GG) ausschließlich dem Bund zugewiesen ist, steht das Aufkommen bestimmter Steuern auf die Einkommenbeziehungsweise Gewinnerzielung Bund und Ländern gemeinsam zu (vgl. Art. 106 Abs. 3 S. 1 GG). Die gewollte Anknüpfung an eine „unternehmerische Einkommensverwendung“ erscheint zudem durchaus zweifelhaft. Verbrauch-

 BVerfGE 145, 171 (212 f. Rn. 116.)  Möckel, NVwZ 2017, S. 1055 (1056).  Möckel, aaO.  Gegen die Berücksichtigung solcher Anliegen: Hey, DB vom 23. Juni 2017, Heft 25, M4.  BVerfGE 145, 171 (226 Rn. 152).  Vgl. etwa Ludwigs, NVwZ 2017, S. 1509 (1512); Seiler, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar (83. EL April 2018), Art. 106 Rn. 93 „in Abgrenzung zur Einkommensentstehung“. Auf den Zusammenhang mit der Festsetzungsfrist nach § 169 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO weist etwa Paetsch, in: Gosch, Abgabenordnung/Finanzgerichtsordnung, 1. Auflage 1995, 141. Lieferung, § 169 AO Rn. 36 hin.

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steuern besteuern typischerweise den Konsum⁴¹, die Betreiber der Kernkraftwerke als juristische Personen konsumieren jedoch nicht.⁴² Darüber hinaus dürfte der unternehmerische Verbrauch auch keine Leistungsfähigkeit des Unternehmens anzeigen, da er der Gewinnerzielung erst dient und Gewinnen – als Indikator unternehmerischer Leistungsfähigkeit – damit vorgelagert ist.⁴³ Aus diesem Grunde ist der Aufwand für den entsprechenden Verbrauch – und die ihn belastende Verbrauchsteuer⁴⁴ – nach allgemeiner Auffassung als Betriebsausgabe steuerlich abziehbar.⁴⁵ Jedenfalls schöpfen an eine unternehmerische „Einkommensverwendung“ anknüpfende Steuern – wie es das Gericht auch festgehalten hat⁴⁶ – typisierend angenommene unternehmerische Gewinne ab. Es handelt sich dann nicht um Verbrauchsteuern, sondern um Ertragsteuern.⁴⁷ Ein so verstan-

 Birk/Desens/Tappe, Steuerrecht, 17. Auflage 2014, § 1 Rn. 82; Seer, in: Tipke/Lang, Steuerrecht, 23. Auflage 2018, § 2 Rn. 6.  Vgl. Hey in: Tipke/Lang, Steuerrecht, 23. Aufl. 2018, § 3 Rn. 50 f.  Schaumburg, in: Festschrift für Wolfgang Reiß, 2008, S. 25 (41); Englisch, Wettbewerbsgleichheit im grenzüberscheitenden Handel, 2008, S. 591 (Hervorhebung nicht im Original): „Kein sachgerechter Indikator steuerlicher Konsumleistungsfähigkeit sind hingegen Vermögensaufwendungen zu erwerbswirtschaftlichen Zwecken, insbesondere unternehmerische Investitionen. Sie verkörpern keinen endgültigen Vermögensverbrauch in Gestalt des physischen Verbrauchs von Gegenständen, der Inanspruchnahme von Nutzungsvorteilen oder dem Genuss von Dienstleistungen jeweils zur privaten Bedürfnisbefriedigung. Stattdessen sollen sie der Wertschöpfung dienen und letztlich Einkommen generieren. Sie bilden daher ein Element der Bestimmung von Einkommensleistungsfähigkeit.“; im Ergebnis ähnlich: Reiß, DStJG 13 (1999) S. 3 (24 f.). A.A.: Möckel, DÖV 2012, S. 266 (271).  Vgl. zu Einzelheiten: Weber-Grellet, in: Schmidt, Einkommensteuergesetz, 37. Auflage 2018, § 5 Rn. 259 mwN.  Zum Gewinn als Indikator steuerlicher Leistungsfähigkeit vgl. Hey, in: Herrmann/Heuer/ Raupach, EStG/KStG, 282. Lieferung Oktober .2017, Einführung zum EStG Rn. 44: „Steuerliche Leistungsfähigkeit vermittelt nur das für die StZahlung disponible Einkommen. Beträge, die zur Erzielung des Einkommens aufgewendet werden (Erwerbsaufwendungen […]), repräsentieren keinen Zuwachs an Leistungsfähigkeit.“  BVerfGE 145, 171 (213, 225 Rn. 116, 151).  Seiler, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar (83. EL April 2018), Art. 106 Rn. 102: „Die Kernbrennstoffsteuer erwies sich damit als besondere Unternehmensteuer, die darauf abzielte, den unternehmerischen Ertrag abzuschöpfen. Kompetenzrechtlich wäre dies allenfalls im Rahmen der Einkommen- oder Körperschaftsteuer statthaft gewesen, deren Aufkommen nach Art. 106 Abs. 3 GG Bund und Ländern gemeinsam zusteht“; Zitzelsberger, BB 1995, S. 1769 (1776); Schaumburg, in: Festschrift für Wolfgang Reiß, 2008, S. 25 (42); Tipke, Die Steuerrechtsordnung II, 2. Auflage 2003, S. 1054 f.; Kirchhof, Die steuerliche Doppelbelastung der Zigaretten, 1990, S. 31; auf den kategorialen Unterschied hatte bereits Schmölders, Zur Begriffsbestimmung der Verbrauchsteuern, 1955, S. 83 f. hingewiesen: „Im modernen Steuersystem, aus dem die Einkommens- und Vermögensbesteuerung als die eine tragende Säule des Steueraufkommens nicht mehr fortzudenken ist, wird es zur Aufgabe der Verbrauchsteuern, im Gegensatz zu den an die Ein-

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dener Verbrauchsteuertypus wäre ein völlig neuer Typus, der eines Tätigwerdens des verfassungsgebenden Gesetzgebers bedürfte. Damit kristallisiert sich als zentrales Typusmerkmal jeder Verbrauchsteuer die Anknüpfung an die „in der Einkommens- und Vermögensverwendung zu Tage tretende steuerliche Leistungsfähigkeit des Endverbrauchers“⁴⁸ heraus, die nach dem „Regelungsanliegen des Gesetzes“⁴⁹ durch die Steuer abgeschöpft werden soll. Diese „Idee“⁵⁰ oder dieses „Konzept“⁵¹ des Gesetzgebers, den Endverbraucher zu belasten, sei nach „der subjektiven Zielsetzung des Gesetzgebers, dem objektiven Regelungsgehalt des betreffenden Gesetzes und etwaigen flankierenden Maßnahmen“ zu ermitteln.⁵² Hier macht das Gericht einen bereits aus der Kohlepfennig-Entscheidung⁵³ bekannten Maßstab fruchtbar. Die Anknüpfung an den Willen des Gesetzgebers und nicht an den der Unternehmer sei zwingend, weil jeder Unternehmer versuchen werde, sämtliche seiner Kosten und Steuern an den Verbraucher weiterzugeben.⁵⁴ Weil letztlich jede Steuer am Ende einer Handelskette „irgendwie“ durch den Verbraucher getragen wird, fordert das Gericht, dass der Gesetzgeber durch die konkrete Steuer „zielgerichtet“ und nicht nur „irgendwie“ den Verbraucher besteuern will.⁵⁵ Neben den Gesetzesmaterialien sind bei der Abgrenzung alle „objektiv feststellbaren Indizien in den Blick zu nehmen“⁵⁶. Ein – dann ohnehin eher vorgeschobener – Wille des Gesetzgebers, den Verbraucher zu belasten, ist allerdings nicht maßgeblich, wenn die Weitergabe der Steuer im Allgemeinen tatsächlich oder rechtlich ausgeschlossen ist.⁵⁷ Dabei macht das Gericht lediglich auf den ersten Blick den altbekannten Maßstab der „Abwälzbarkeit“ fruchtbar. Dieser sollte jedenfalls bereits dann erfüllt sein, wenn eine „kalkulatorische Abwälz-

kommensentstehung anknüpfenden Gewinn-, Ertrags- und Vermögenssteuern, die steuerliche Leistungsfähigkeit der Zensiten auszuschöpfen, wie sie in seiner [sic] Einkommensverwendung zum Ausdruck kommt. In dieser Absicht des Gesetzgebers liegt das wesentliche Merkmal des Begriffs der Verbrauchsteuer, mit dem ihre Zuordnung zur Gesetzgebungs- und/oder Ertragshoheit im Sinne der Finanzverfassung steht und fällt […].“ A.A. Wernsmann, JZ 2017, S. 954 (956 f.) der nicht von zwei sich ausschließenden Kategorien ausgeht.  BVerfGE 145, 171 (214 Rn. 119).  BVerfGE 145, 171 (214 Rn. 120).  BVerfGE 110, 274 (298).  BVerfGE 14, 76 (96).  BVerfGE 145, 171 (215 Rn. 121).  BVerfGE 91, 186 (203).  BVerfGE 145, 171 (214 Rn. 120).  BVerfGE 145, 171 (225 f. Rn. 150, 152).  BVerfGE 145, 171 (215 Rn. 121).  BVerfGE 145, 171 (215 Rn. 124); vgl. auch BVerfGE 27, 375 (384).

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barkeit“ geben sei, also für den steuerpflichtigen Unternehmer generell die Möglichkeit bestehe, den von ihm geschuldeten Steuerbetrag in die Kalkulation seiner Selbstkosten einzusetzen und hiernach die zur Aufrechterhaltung der Wirtschaftlichkeit seines Unternehmens geeigneten Maßnahmen – Preiserhöhung, Umsatzsteigerung oder Senkung der sonstigen Kosten – zu treffen.⁵⁸ Die Voraussetzung einer kalkulatorischen Abwälzbarkeit sei danach zumindest so lange gegeben, wie der Umsatz nicht nur den Steuerbetrag und die sonstigen notwendigen Unkosten decke, sondern in der Regel sogar noch Gewinn abwerfe.⁵⁹ Allerdings hat das Gericht in der aktuellen Entscheidung, noch bevor es die Abwälzbarkeit-Leitlinie dargelegte, zwei Einschränkungen vorgenommen: Die kalkulatorische Abwälzbarkeit ist allenfalls ein Indiz für einen Willen des Gesetzgebers zur Anknüpfung an die private Einkommensverwendung und kann sich nicht gegen einen anderweitig feststellbaren Willen des Gesetzgebers durchsetzen.⁶⁰ Das Gericht scheint sodann den bisherigen Maßstab der kalkulatorischen Abwälzbarkeit aus der Kompetenzfrage zurückdrängen und in die (materielle) Leistungsfähigkeitsprüfung integrieren zu wollen:⁶¹ „Allerdings kann der Einsatz eines besteuerten Gegenstandes selbst dann noch Gewinn abwerfen, wenn gerade die durch die Verbrauchsteuer begründeten Kostenpositionen nicht abgewälzt werden können. Das Merkmal der kalkulatorischen Abwälzbarkeit hat in diesem Fall nicht nur für den Typus einer Verbrauchsteuer Bedeutung, sondern ist auch auf materieller Ebene erheblich (vgl. BVerfGE 123, 1 ; vgl. auch BVerfGE 135, 126 ; BVerfGK 17, 44 […]). Dort sichert es die Besteuerung nach dem Leistungsfähigkeitsprinzip im Einzelfall. Da Verbrauchsteuern an die Leistungsfähigkeit der wirtschaftlich hiervon betroffenen Konsumenten und nicht an die des rechtlichen Steuerschuldners anknüpfen sollen, ist immer dann, wenn eine Abwälzung der Steuer durch den rechtlichen Steuerschuldner auf den Konsumenten wirtschaftlich im Einzelfall nicht möglich ist, die materielle Frage der Besteuerung nach dem Leistungsfähigkeitsprinzip aufgeworfen.“

 BVerfGE 145, 171 (216 Rn. 125); BVerfGE 31, 8 (20); 110, 274 (295); 123, 1 (35).  Vgl. nur BVerfGE 31, 8 (20); zum Gewinn als Indikator unternehmerischer Leistungsfähigkeit vgl. Schaumburg, in: Festschrift für Wolfgang Reiß, 2008, S. 25 (41); Englisch, Wettbewerbsgleichheit im grenzüberscheitenden Handel, 2008, S. 591.  BVerfGE 145, 171 (215 Rn. 122 f.); vgl. auch Seiler, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar (83. EL April 2018), Art. 106 Rn. 91.  BVerfGE 145, 171 (216 Rn. 126); vgl. auch BFH, Urteil vom 21. Februar 2018 – II R 21/15 –, juris, Rn. 28; BFH, Urteil vom 25. April 2018 – II R 42/15 –, juris, Rn. 19; BFH, Urteil vom 25. April 2018 – II R 43/15 –, juris, Rn. 19; anders: BVerwG, Beschluss vom 23. November 2017 – 9 BN 2/17 –, juris, Rn. 14; Seiler, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar (83. EL April 2018), Art. 106 Rn. 91; in diesem Sinne auch Möckel, NVwZ 2017, S. 1055 (1056 f.). Für den Fall einer Aufwandsteuer vgl. bereits BVerfGE 123, 1 (16) und 135, 126 (142); vgl. auch Tappe, EurUP 2017, S. 186 (193).

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Eine solche Anpassung der Rechtsprechung würde überzeugen. Der Maßstab der kalkulatorischen Abwälzbarkeit ist zur Abgrenzung der Besteuerung von privater Einkommensverwendung und unternehmerischer Gewinnerzielung nicht stets hinreichend geeignet. Hinter der Rechtsprechung zur kalkulatorischen Abwälzbarkeit und dem Bezug auf einen unternehmerischen Gewinn dürfte der Gedanke stehen, dass der Unternehmer, der seine Preise nicht oder nicht in der Höhe der Steuer erhöhen kann, seine vormalige Gewinnspanne teilweise durch eine Steuerzahlung „ersetzt“ und die privaten Konsumenten damit die Steuer statt des Gewinns zahlen.⁶² Wirtschaftlich⁶³ wird in diesem Fall die Steuer allerdings aus dem Gewinn des Unternehmens (der hierdurch ersetzt wird) getragen. Besteuert wird dann nicht die Einkommensverwendung der Verbraucher, sondern die Einkommenserzielung der Unternehmer ohne dass es zu einer Belastung der Verbraucher kommt. Eine so verstandene „Abwälzbarkeit“ ist allerdings nicht geeignet, den gewünschten Fall – die gezielte Anknüpfung an die Einkommensverwendung der Verbraucher – zu erfassen und abzugrenzen. bb) Auf Basis dieser Maßstäbe war die Ablehnung des Verbrauchsteuercharakters der Kernbrennstoffsteuer zwingend.⁶⁴ Letztlich hatte der Gesetzgeber selbst eingeräumt, nicht gezielt die Verbraucher besteuern zu wollen. In der Gesetzesbegründung wird ausgeführt, dass eine „Überwälzung der den Stromerzeugern entstehenden zusätzlichen Kosten nur in geringem Umfang möglich sein wird“⁶⁵. Der Gesetzgeber war ferner von einer Belastung der Unternehmen mit „bis zu 2,3 Milliarden Euro“ ausgegangen.⁶⁶ Diese Summe ist wiederum identisch mit dem damals angenommenen Steueraufkommen.⁶⁷

c) Produktionsmittelsteuer Weit über die Kernbrennstoffsteuer hinaus und insbesondere für zukünftige – einzelne Produktionsmittel belastende – „Umweltsteuern“⁶⁸ relevant, sind die  Im Falle von Verlusten soll eine Abwälzbarkeit nicht mehr gegeben sein.  Zur Maßgeblichkeit der wirtschaftlichen Betrachtungsweise im Steuerrecht vgl. Drüen, in: Tipke/Kruse, AO/FGO (153. Lieferung August 2018), § 4 AO Rn. 320 ff.  Vgl. Englisch, in: Tipke/Lang, Steuerrecht, 23. Auflage 2018, § 18 Rn. 118: „verkappte, finanzverfassungsrechtlich nicht vorgesehene Sondergewinnsteuer“; vgl. auch Büdenbender, DVBl 2017, S. 1449 (1454); zweifelnd und zusätzlich objektive Anhaltspunkte heranziehend: Ludwigs, NVwZ 2017, S. 1509 (1512 f.).  BTDrucks 17/3054, S. 1.  BTDrucks 17/3054, S. 5.  Vgl. BTDrucks 17/3054, S. 1.  Vgl. etwa Söhn, in: Festschrift für Klaus Stern, 1997, S. 587.

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Ausführungen des Gerichts zu reinen Produktionsmittelsteuern. Eine Anknüpfung der Besteuerung an ausschließlich in der Produktion und nicht wenigstens „auch“ für den privaten Konsum nutzbare Güter (vgl. unten Ziffer aa)) ist danach einerseits – gemessen an den herkömmlichen Verbrauchsteuern – typusfremd (vgl. unten Ziffer bb)) und andererseits auch mit dem von dem Gericht in das Zentrum des Verbrauchsteuertypus gestellten Merkmal der gesetzgeberischen Intention zur steuerlichen Belastung der privaten Einkommensverwendung nicht zu vereinbaren (vgl. unten Ziffer cc)). aa) Das Gericht ist von einem konsumtiv nicht nutzbaren Gut ausgegangen. Dies liegt für die Kernbrennstäbe (bzw. die enthaltenen Elemente Uran und Plutonium) auf der Hand und kann letztlich auch nicht mit der Überlegung in Frage gestellt werden, es werde eine frühere Produktionsstufe des Konsumgutes „Strom“ besteuert, weil das Verbrauchsgut in dem Endverbrauchsgut „Strom“ enthalten sei. Verbrauchsgüter des Kernbrennstoffsteuergesetzes sind das in Kernbrennstäben enthaltene Uran und Plutonium.⁶⁹ Diese sind allerdings in dem durch Kernkraftwerke erzeugten, den Verbrauchern zugeleiteten Strom körperlich nicht enthalten, sondern allenfalls deren energetisches Potential. Dass dieses nicht besteuert wird, hatte bereits der Europäische Gerichtshof entschieden und festgehalten, dass nicht einmal eine mittelbare Besteuerung des Verbrauchs von Strom vorliege.⁷⁰ bb) Mit einer bis in das Kaiserreich zurückreichenden Untersuchung der Verbrauchsteuern hat das Gericht dargelegt, dass eine stetige Entwicklung des – ohnehin nur seltenen – Steuerzugriffs weg von reinen Produktionsmittelsteuern stattgefunden hat.⁷¹ Schlussendlich seien reine Produktionsmittel lediglich noch in vereinzelten Ausnahmefällen zum Schutz geschlossener Besteuerungssystemen besteuert worden. In den Vordergrund stellte das Bundesverfassungsgericht – mit einer im Vergleich zur Ökosteuer-Entscheidung⁷² veränderten Akzentuierung – die Maischebesteuerung⁷³ und stellte fest, dass diese zwar ursprünglich an ein reines Produktionsmittel anknüpfte, sodann aber durch die Biersteuer⁷⁴ ersetzt wurde, die nicht mehr ein Produktionsmittel, sondern das – zum privaten Konsum nutzbare – Endprodukt zum Anknüpfungspunkt nahm. Für die Besteuerung der nicht konsumtiv nutzbaren Alkohole Propanol-1 und Pro-

 § 1 Abs. 1 i.V. m. § 2 Nr. 1 KernbrStG.  EuGH, Urteil vom 04.06. 2015, C-5/14, Celex-Nr. 62014CJ0005, Rn. 66 f.  BVerfGE 145, 171 (221 ff. Rn. 141 ff.); vgl. auch Förster, Die Verbrauchsteuern, 1989, S. 58 ff.  Vgl. BVerfGE 110, 274 (296).  Vgl. § 1 des Gesetzes wegen Erhebung der Brausteuer in der Fassung vom 31. Mai 1872, RGBl S. 153.  Vgl. das Biersteuergesetz in der Fassung vom 26. Juli 1918, RGBl S. 863.

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panol-2 sowie Methanol im Rahmen eines Produktionsprozesses für „Riech- und Schönheitsmitteln“⁷⁵ nahm das Gericht einen nicht typusbildenden Einzelfall zur Sicherung eines geschlossenen Steuersystems an. Die „Ökosteuer“⁷⁶ habe von vornherein keine ausschließlich produktiv nutzbare Güter betroffen. cc) Die Anknüpfung an ein reines Produktionsmittel ist mit einer zielgerichteten Besteuerung der Verbraucher durch eine konkrete Steuer auf ein konkretes Gut im Regelfall nicht zu vereinbaren. Eine solche Steuer wird den Verbraucher regelmäßig erst nach einer Weitergabe über mehrere Produktionsstufen erreichen. Dies lässt das Gericht aber im Sinne einer „randscharfen Abgrenzung zwischen einer Besteuerung der unternehmerischen Einkommenserzielung einerseits und der privaten Einkommensverwendung andererseits“ nicht genügen.⁷⁷ Die Anknüpfung an ein reines Produktionsmittel oder einen Produktionsschrift führt vielmehr stets zu einer Besteuerung eines typisierend angenommenen unternehmerischen Gewinns.⁷⁸ Etwas anderes gilt – neben dem nicht vorliegenden Fall eines körperlichen Vorhandenseins des Produktionsmittels im für den privaten Konsum vorgesehenen Endprodukt – allenfalls dann, wenn die Steuer der Schaffung eines in sich geschlossenen Besteuerungssystems – etwa durch die Verhinderung von Ausweichverhalten in Richtung von nichtbesteuerten Substituten – dient.⁷⁹ Auch dies war für die Kernbrennstoffsteuer nicht der Fall.

IV. Das Steuererfindungsrecht 1. Verfassungsrechtliche Ausgangslage Das Bestehen eines Steuererfindungsrechts des Bundes sowie dessen Inhalt und Grenzen waren vor der Kernbrennstoffsteuer-Entscheidung in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht geklärt und in der Literatur umstritten. Es handelte sich um eine der großen noch offenen Fragen im Finanzverfassungsrecht, sodass der Entscheidung insoweit „grundlegende Bedeutung“ zukommt.⁸⁰ Zwar gingen Birk und Förster im Jahr 1985 noch davon aus, es sei die „heute

 Vgl. Art. 2 Ziffer 7 [§ 103b] des Mineralöl- und Branntweinsteuer-Änderungsgesetzes 1981 [MinöBranntwStÄndG 1981] vom 20. März 1981, BGBl I S. 301.  Vgl. Gesetz zum Einstieg in die ökologische Steuerreform vom 24. März 1999, BGBl I S. 378.  BVerfGE 145, 171 (226 Rn. 152).  BVerfGE 145, 171 (212, 225 Rn. 116, 151).  Zu einem solchen Fall vgl. BVerfGE 145, 171 (224 Rn. 147).  Wienbracke, BB 2017, S. 1831.

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nahezu unbestrittene Auffassung“⁸¹, dass „Art. 106 GG eine erschöpfende und abschließende Regelung für die Steuerverteilung trifft und dass Steuern, die unter diesen Katalog nicht subsumiert werden können, verfassungsrechtlich unzulässig sind“⁸², jedoch erfuhr die Diskussion in der Literatur – insbesondere im Zuge der Einführung von Umweltsteuern und -abgaben⁸³ – eine erste Belebung⁸⁴ und wurde im Rahmen neuer Steuern wie etwa der Luftverkehrsteuer, der Finanztransaktionsteuer und insbesondere der Kernbrennstoffsteuer wieder aktuell⁸⁵. Ausgangspunkt der Fragestellung⁸⁶ ist die durch das Finanzreformgesetz vom 12. Mai 1969⁸⁷ in Art. 105 Abs. 2 GG eingefügte Formulierung, dass der Bund „die konkurrierende Gesetzgebung über die übrigen Steuern [hat], wenn ihm das Aufkommen dieser Steuern ganz oder zum Teil zusteht oder die Voraussetzungen des Artikels 72 Abs. 2 vorliegen.“

Durch das Finanzreformgesetz wurden tiefgreifende Änderungen der Finanzverfassung umgesetzt, die u. a. die Regelung der Gesetzgebungszuständigkeit durch Art. 105 Abs. 2 GG a. F. [1955] betrafen. „Bemerkenswert“⁸⁸ im Zusammenhang mit dem Finanzverfassungsgesetz vom 23. Dezember 1955⁸⁹ ist die im Gesetzesentwurf der Bundesregierung vorgeschlagene – später im Vermittlungsausschuss⁹⁰ nicht mehr weiterverfolgte – Einführung eines Art. 106d GG⁹¹ be-

 Birk/Förster, DB Beilage Nr. 17 zum Heft 30 1985, S. 1 (10).  Birk/Förster, aaO.  Hidien, in: Bonner Kommentar, Art. 106 Rn. 1351 (November 2002) mwN. nennt als weitere mögliche Fälle: Maschinensteuern, kommunale Wertschöpfungsteuern, Bürgersteuern, Kopfsteuern, Kinderlosensteuern, Einwohnersteuern, Personensteuern, kommunale Unternehmernsteuern, Betriebsteuern, Energiesteuern, Konsumeinkommensteuern und Nahverkehrsabgaben. Diese Aufzählung ist nicht abschließend.  Vgl. etwa: Breuer, DVBl. 1992, S. 485 (490); Kloepfer/Thull, DVBl. 1992, S. 195 (202); Köck, JZ 1991, S. 692 (696); Höfling, StuW 1992, S. 242 (244); Osterloh, NVwZ 1991, S. 823 (827 ff.); Bach, StuW 1995, 264 (271); Franke, StuW 1990, 217 (224); Möckel, Umweltabgaben zur Ökologisierung der Landwirtschaft, 2006, S. 219 ff.  Vgl. Schoenfeld, AW-Prax 2011, S. 415 (419); Wernsmann, NVwZ 2011, S. 1367 f.; Wernsmann, ZfZ 2012, S. 29 (30); Waldhoff, ZfZ 2012, S. 57 (59); Martini, ZUR 2012, S. 219 (225 f.); Möckel, DÖV 2012, S. 265 ff.; Seer, DStR 2012, S. 325 (330); Lüdicke, DB 2013, Beilage Nr. 28; Fischer, ZfZ 2013, S. 192 (193); Gärditz, ZfZ 2014, S. 18 (19 f.); Waldhoff/von Aswege, Kernenergie als „goldene Brücke“, 2010, S. 11 f.; van Heek, in: van Heek/Lehmann, Die Kernbrennstoffsteuer als „Verbrauchsteuer“?, 2012, S. 29 ff.  Vgl. etwa: Vogel/Walter, in: Bonner Kommentar, Art. 105 Rn. 63 ff. (2004).  BGBl I S. 359.  Hidien, in: Bonner Kommentar, Art. 106 Rn. 1360 (November 2002).  BGBl I S. 817.  BTDrucks II/1254, S. 2 f; BTDrucks II/1819, S. 2 f.

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treffend neuer, zum Zeitpunkt der Verfassungsänderung noch nicht erhobener Steuern. Der Entwurf des Art. 106d GG wurde durch die Bundesregierung wie folgt begründet:⁹² „Die Art. 106a bis 106c regeln zunächst die Verteilung der im Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Entwurfs erhobenen Steuern; sie erfassen nicht alle denkbaren Steuern. Eine verfassungsrechtliche Regelung der Steuerertragshoheit muß aber ihrer Natur nach erschöpfend sein und daher auch Bestimmungen über die Zuteilung solcher Steuern treffen, die künftig eingeführt werden (vgl. Nr. 43). Da die Wesensmerkmale und das finanzielle Gewicht etwaiger neuer Steuern nicht im Voraus bestimmbar sind, müssen sich die Vorschriften über die Ertragshoheit insoweit auf die Normierung von Grundsätzen beschränken, soweit sich die Zuweisung einer neuen Steuer nicht bereits zwangsläufig aus den Art. 106a bis 106c ergibt.“

Während das Bundesverfassungsgericht⁹³ Art. 105 Abs. 2 GG a. F. [1955] noch – eine sehr weitgehende Gesetzgebungskompetenz der Länder entnommen hatte, sollte der neue Art. 105 Abs. 2 GG dem Bund nunmehr – entgegen der vorgenannten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts – eine weitgehende konkurrierende Gesetzgebungskompetenz einräumen.⁹⁴ Von einer solchen Gesetzgebungszuständigkeit seien bereits der Parlamentarische Rat und später auch das Bundesverwaltungsgericht ausgegangen. Erst das Bundesverfassungsgericht habe dies – so der Reformgesetzgeber⁹⁵ – in sein Gegenteil verkehrt. In der Begründung des Gesetzesentwurfs des Finanzreformgesetzes vom 12. Mai 1969⁹⁶ durch die Bundesregierung heißt es insoweit:

 Entwurf des Artikels 106d GG: „Die Artikel 106 bis 106c gelten auch für Steuern, die nach dem 31. Dezember 1954 eingeführt werden, wenn sie einer der in diesen Vorschriften allgemein bezeichneten Steuerarten zuzurechnen oder einer der dort bezeichneten Steuern gleichartig sind und sie ersetzen. Das Aufkommen anderer Steuern, die nach dem 31. Dezember 1954 durch Bundesgesetz eingeführt werden, steht den Ländern zu, sofern die Belastungswirkung sich im Wesentlichen auf die einzelnen Länder beschränkt, in denen die Steuern erhoben werden, andernfalls steht das Aufkommen dem Bund zu“. Auf Art. 106d GG stellt Tappe, EurUP 2017, S. 186 (190) zentral für die Ablehnung eines „großen“ Steuererfindungsrechts ab. Um Steuern zu verhindern, für die keine Gesetzgebungszuständigkeit besteht, sollen danach die Steuertypen hinreichend weit ausgelegt werden. Wernsmann, JZ 2017, S. 954 (956) weist dagegen zu Recht darauf hin, dass der fehlenden Kompetenz für Bund und Länder Verbotscharakter zukommt.  BTDrucks II/480, S. 110 (Ziff. 164) und 229; ähnlich auch der Schriftliche Bericht des Ausschusses für Finanz- und Steuerfragen des Bundestages (BTDrucks II/960, S. 3).  BVerfGE 16, 64 (78 f.).  BTDrucks V/2861, S. 32 (Ziff. 127 ähnlich auch Ziff. 128).  BTDrucks V/2861, S. 94.  BGBl I S. 359.

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„Mit der jetzt vorgeschlagenen Änderung soll entsprechend dem Willen des Verfassungsgebers sichergestellt werden, das der Bund immer dann ein konkurrierendes Gesetzgebungsrecht im Steuerrecht besitzt, wenn dies im Hinblick auf die Interessen der Gesamtheit und die Rechts- und Wirtschaftseinheit, insbesondere die Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse im Bundesgebiet notwendig ist.“ ⁹⁷

Die in Art. 105 GG nunmehr festgehaltenen Steuern und Steuerarten seien abschließend: „Die Abgrenzung der Gesetzgebungskompetenz geht von der Abgrenzung aus, dass mit den in Art. 105 Abs. 2 GG aufgeführten Steuerarten alle denkbaren Steuern erfasst sind, deren einheitliche Gestaltung für die Wahrung der Rechts- und Wirtschaftseinheit erforderlich sein könnte. […] Diese Änderung beruht auf der Erwägung, daß es sachlich nicht begründet ist, die Gesetzgebung des Bundes auf bestimmte Steuerkategorien zu beschränken. Für die Notwendigkeit einer bundeseinheitlichen Gesetzgebung können nur die Voraussetzungen des Artikel 72 Abs. 2 GG maßgebend sein. Das Abstellen auf einzelne Steuerkategorien erscheint daneben nicht sachgemäß.“⁹⁸

Darüber hinaus verhält sich die Gesetzesbegründung ausdrücklich lediglich zu einem Steuererfindungsrecht der Länder: „Außerhalb der bundesgesetzlich geregelten Steuern bleibt das Steuererfindungsrecht der Länder erhalten.“⁹⁹ […] „Durch die von der Bundesregierung vorgeschlagene Fassung des Artikels 105 Abs. 2 GG wird das Steuererfindungsrecht der Länder nicht beseitigt. Der Bund kann jedoch, wenn eine von den Ländern erfundene Steuer wegen der Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse bundeseinheitlich geregelt werden muss, dass konkurrierende Gesetzgebungsrecht wahrnehmen. […]“¹⁰⁰

Insoweit bot sich dem Gericht Interpretationsraum dafür, ob mit der Formulierung der „übrigen Steuern“ sämtliche staatlich auferlegten Geldleistungsverpflichtungen erfasst sind, die sich als „Steuern“ qualifizieren, oder nur solche, deren Ertrag durch Art. 106 GG verteilt wurde, da andernfalls Steuern entstehen könnten, deren Erträge „freischwebend“¹⁰¹ wären.

 BTDrucks V/2861, S. 94.  BTDrucks V/2861, S. 32 (Ziff. 128).  BTDrucks V/2861, S. 33.  BTDrucks V/2861, S. 94.  Etwa: Kloepfer, Finanzverfassungsrecht, 2014, S. 137.

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2. Die bisherigen Leitentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Das Bundesverfassungsgericht geht in ständiger Rechtsprechung grundsätzlich davon aus, dass der Gesetzgeber bei der Auswahl des Steuergegenstandes einen weitreichenden Entscheidungsspielraum habe.¹⁰² Ob und inwieweit der Gesetzgeber unter der Geltung der Finanzverfassung in der Form des Finanzreformgesetzes vom 12. Mai 1969¹⁰³ hingegen eine Steuer einführen darf, die in Art. 106 GG nicht genannt ist, wurde vor der Kernbrennstoffsteuer-Entscheidung nicht ausdrücklich entschieden. Die insoweit gelegentlich angeführten Entscheidungen vom 10. Mai 1962¹⁰⁴ und vom 7. Mai 1963¹⁰⁵ beziehen sich auf die Jahre 1962/1963 und können zu dieser Frage keine Aussage enthalten. Die Entscheidung vom 12. Oktober 1978¹⁰⁶ wurde durch die spätere Entscheidung vom 7. Mai 1998¹⁰⁷, die diese Frage ausdrücklich offenließ, überholt. Die Rechtsprechungslinie lässt sich im Einzelnen wie folgt nachzeichnen: In der noch vor dem Finanzreformgesetz vom 12. Mai 1969¹⁰⁸ ergangenen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 7. Mai 1963¹⁰⁹ wird ein Steuererfindungsrecht der Länder aus Art. 70 GG hergeleitet, soweit Art. 105 GG a. F. [1955] hierzu Raum gab. Aufgrund der Änderungen der Art. 105 ff. GG durch das Finanzreformgesetz vom 12. Mai 1969¹¹⁰ ist eine hinreichende Vergleichbarkeit der dieser Entscheidung zugrundeliegenden Verfassungslage mit der heutigen Lage nicht gegeben. Für Bund und Länder finden sich klar umrissene Kompetenztatbestände, die für Art. 70 GG keinen Anwendungsbereich lassen.¹¹¹ Dementsprechend hat das Bundesverfassungsgericht die Frage eines Steuererfindungsrechts der Länder in einer späteren Entscheidung¹¹² – nach Implementierung des Finanzreformgesetzes vom 12. Mai 1969¹¹³ – erneut aufgeworfen, konnte diese dort aber offenlassen.¹¹⁴

 BVerfGE 122, 210 (230 f.); ähnlich: BVerfGE 137, 350 (366 f.); vgl. auch Waldhoff/von Aswege, Kernenergie als „goldene Brücke“, 2010, S. 12; Waldhoff, Die Verwaltung 48 (2015), S. 85 (98 f.).  BGBl I S. 359.  BVerfGE 14, 76 (91).  BVerfGE 16, 64 (78 f.).  BVerfGE 49, 343 (354).  BVerfGE 98, 83 (101).  BGBl I S. 359.  BVerfGE 16, 64 (78).  BGBl I S. 359.  Vogel/Walter, in: Bonner Kommentar, Art. 105 Rn. 62 (2004).  BVerfGE 98, 83 (101).  BGBl I S. 359.

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Auch aus der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 12. Oktober 1978¹¹⁵ ergibt sich keine Aussage zu einem möglichen Steuererfindungsrecht. Dort ging es erneut um die Gesetzgebungskompetenz eines Landes: „Die Gesetzgebungskompetenz für eine derartige Steuer ergibt sich aus Art. 105 Abs. 2 iVm Art. 72 Abs. 1 GG. Die Abgabe nach § 9 KAG gehört nicht zu den „örtlichen Verbrauch- und Aufwandsteuern“ im Sinne des Art. 105 Abs. 2a GG. Sie ist keine Verbrauchsteuer. Die Abgabe entspricht auch nicht dem Bild einer Aufwandsteuer. Sie gehört zu den „übrigen Steuern“ im Sinne des Art. 105 Abs. 2 GG, für die eine konkurrierende Gesetzgebungskompetenz des Bundes besteht.“

Die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zu nichtsteuerlichen Abgaben geben über die Auffassung des Gerichts hinsichtlich eines über die in Art. 106 GG genannten Steuern hinausgehenden Steuererfindungsrechts des Bundes ebenfalls keinen eindeutigen Aufschluss. Der sog. „Kanon“-Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, mithin die Aussage, das Grundgesetz enthalte „keinen abschließenden Kanon zulässiger Abgabetypen“¹¹⁶, lässt schon nach dem Kontext der Formulierung keine Rückschlüsse auf ihre Position zum Steuererfindungsrecht des Bundes zu. In der Gesamtschau ist zu erkennen, dass in den Entscheidungen zu nichtsteuerlichen Abgaben vielmehr der Schutz der Finanzverfassung vor einer Umgehung gerade durch nichtsteuerliche – auf die Art. 72 ff. GG gestützte – Abgaben und ihrer Funktion in den Vordergrund gestellt werden.¹¹⁷ So hat das Bundesverfassungsgericht etwa mit Urteil vom 10. Dezember 1980¹¹⁸ die Bedeutung einer Beachtung der Ertragszuständigkeit hervorgehoben¹¹⁹ und dies auch in folgenden Entscheidungen immer wieder betont¹²⁰: „Die grundgesetzliche Finanzverfassung (Art. 104a bis Art. 108 GG) stellt eine in sich differenzierte, Gesamtstaat und Gliedstaaten in ihrem Anteil am Gesamtertrag der Volkswirtschaft sorgsam ausbalancierende Regelung dar, die ein Eckpfeiler der bundesstaatlichen Ordnung ist (BVerfGE 55, 274 (300)). Sie verlöre ihren Sinn und ihre Funktion, wenn unter Rückgriff auf die Sachgesetzgebungskompetenzen von Bund und Ländern daneben beliebig Abgaben unter Umgehung der bundesstaatlichen Verteilung der Finanzen erhoben werden

 BVerfGE 98, 83 (101).  BVerfGE 49, 343 (354).  BVerfGE 137, 1 (17 f.); ; BVerfGE 123, 132 (141); BVerfGE 122, 316 (333); 113, 128 (146 f.); 110, 370 (387); 108, 186 (215); 108, 1 (15); 93, 319 (342); BVerfGK 15, 168 (174 f.); 20, 9 (16).  BVerfGE 108, 186 (215).  BVerfGE 55, 274 (300 f.).  Die durch das Bundesverfassungsgericht herausgestellte Beachtung der Zuständigkeitsbereiche bezieht sich insbesondere auf die Ertragszuständigkeit, wie die Bezugnahme auf die sachgerechte Mittelausstattung zeigt.  BVerfGE 78, 249 (266 f.).

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könnten und damit zugleich ein weiterer Zugriff auf die keineswegs unerschöpflichen Ressourcen der Bürger eröffnet würde (vgl. BVerfGE a.a.O., S. 300 bis 304). Ihr liegt die Vorstellung zugrunde, daß die Finanzierung der staatlichen Aufgaben in Bund und Ländern einschließlich der Gemeinden grundsätzlich aus dem Ertrag der in Art. 105 ff. GG geregelten Einnahmequellen erfolgt und nur ausnahmsweise, d. h. unter besonderen Voraussetzungen, Einnahmen außerhalb des von der Finanzverfassung erfaßten Bereichs erschlossen werden dürfen.“

Auf die Bedeutung der Ertragszuständigkeit rekurrierte das Bundesverfassungsgericht zudem bereits in seiner Entscheidung vom 6. November 1984¹²¹. Aus dieser Entscheidung lassen sich drei wesentliche Punkte herausarbeiten:¹²² Zum einen spricht das Bundesverfassungsgericht von einem „numerus clausus der Leistungspflichten der Art. 105 f. GG“ und dass „die Regelung des X. Abschnittes des Grundgesetzes […] aus zwingenden bundesstaatsrechtlichen Gründen als eine für Bund und Länder abschließende Regelung verstanden werden“ muss.¹²³ Ferner betont es erneut den Zusammenhang zwischen Gesetzgebungskompetenz und Steuerertragsverteilung und sieht die Finanzverfassung zugleich als geschlossene Regelung an, deren System des Ausgleichs und der Verteilungs nicht einseitig verändert werden dürfe. Insoweit stellt es zudem auf die Rahmenfunktion ab, die die Bürger schützen und den politischen Prozess entlasten und fördern soll. Des Weiteren hebt das Gericht hervor, dass es grundsätzlich Aufgabe des verfassungsändernden Gesetzgebers (und nicht der Verfassungsgerichtsbarkeit) sei, die Finanzverfassung zu gestalten und ggf. umzugestalten und die hierzu erforderlichen Abwägungen anzustellen.¹²⁴ In der Gesamtschau lässt sich der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts vor der Kernbrennstoffsteuer-Entscheidung keine eindeutige Präferenz für oder gegen die Annahme eines über die in Art. 106 GG genannten Steuern hinausgehenden Steuererfindungsrechts entnehmen.

 BVerfGE 67, 256 (282 ff.); vgl. auch BVerfGE 105, 185 (193 f.).  Die Bedeutung der Entscheidung für den vorliegenden Zusammenhang ist bestritten; vgl. Söhn, in: Festschrift für Klaus Stern, 1997, S. 587 (599), der der Entscheidung keine Relevanz für die Frage eines Steuererfindungsrechts zuerkennen will, weil diese sich ausdrücklich lediglich zum finanzverfassungsrechtlichen Steuerbegriff verhalte.  Vgl. hierzu auch BVerfGE 105, 185 (193).  Vgl. hierzu auch BVerfGE 105, 185 (194 f.).

Die Kernbrennstoffsteuer im Lichte der Finanzverfassung

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3. Die Kernbrennstoffsteuer-Entscheidung In der Kernbrennstoffsteuer-Entscheidung bejaht die Senatsmehrheit ein „kleines“ Steuererfindungsrecht des Bundesgesetzgebers.¹²⁵ Diesem stehe innerhalb der Typusbegriffe des Art. 106 GG ein freies Steuererfindungsrecht zu. Für die Verbrauchsteuern hat der Bundesgesetzgeber in der Vergangenheit hiervon auch kreativ Gebrauch gemacht und Steuern auf Salz, Tabak, verschiedene Alkoholika, Essig, Zucker, Leuchtmittel, Spielkarten, Zündwaren, verschiedene Energieerzeugnisse, Mineralwasser, Süßstoffe, Fette, Kaffee und Tee „erfunden“.¹²⁶ Dies widerlegt zugleich die gelegentlich angeführte Gefahr einer „Versteinerung der Finanzverfassung“¹²⁷, der der Senat zudem mit dem Grundsatz einer weiten Auslegung¹²⁸ der in Art. 105, 106 GG genannten Typusbegriffe begegnet ist. Außerhalb des von der Finanzverfassung vorgegebenen Rahmens bestehe allerdings kein „großes“ – allgemeines – Steuererfindungsrecht, der Gesetzgeber müsse sich innerhalb der ihm durch die Finanzverfassung vorgegebenen Grenzen bewe-

 Zustimmend: Hey, DB vom 23. Juni 2017, Heft 25, M4: „deutliche Absage an steuerlichen Wildwuchs“; Seer, in: Tipke/Lang, Steuerrecht, 23. Auflage 2018, § 2 Rn. 4; Montag in: Tipke/Lang, Steuerrecht, 23. Auflage 2018, § 12 Rn. 2; Ludwigs, NVwZ 2017, S. 1509; Siekmann, in Sachs, Grundgesetz, 8. Auflage 2018, Art. 105 Rn. 49 ff.; Wernsmann, JZ 2017, S. 954 (955 f.); Henneke, DVBl 2017, S. 897; Weschpfennig, DVBl 2017, S. 899 (901); Jachmann-Michel/Vogel, in: Mangoldt/Klein/ Stark, 7. Auflage 2018, Art. 105 Rn 32; K.-A. Schwarz in: Mangoldt/Klein/Stark, 7. Auflage 2018, Art. 106 Rn. 18; kritisch etwa: Heun, in Dreier, GG, 3. Auflage 2018, Art. 105 Rn. 33.  Vgl. insbesondere die ab dem Jahre 1952 schrittweise begonnenen Neufassungen (mit Ausnahme des Gesetzes über das Branntweinmonopol und des Süßstoffsteuergesetzes) der bis dahin bestehenden Verbrauchsteuergesetze: Biersteuer: Biersteuergesetz in der Fassung vom 14. März 1952, BGBl. I 1952, S. 149; Schaumweinsteuer: Schaumweinsteuergesetz in der Fassung vom 1. November 1952, BGBl. I 1952, S. 730; Tabaksteuer: Tabaksteuergesetz in der Fassung vom 6. Mai 1953, BGBl. I 1953, S. 169; Mineralölsteuer: Mineralölsteuergesetz in der Fassung vom 21. Mai 1953, BGBl. I 1953, S. 234; Teesteuer: Teesteuergesetz in der Fassung vom 30. Juli 1953, BGBl. I 1953, S. 710; Kaffeesteuer: Kaffeesteuergesetz in der Fassung vom 30. Juli 1953, BGBl. I 1953, S. 708; Leuchtmittelsteuer: Leuchtmittelsteuergesetz in der Fassung vom 22. Juli 1959, BGBl. I 1959, S. 613; Zuckersteuer: Zuckersteuergesetz in der Fassung vom 19. August 1959, BGBl. I 1959, S. 645; Salzsteuer: Salzsteuergesetz in der Fassung vom 25. Januar 1960, BGBl. I 1960, S. 50; Spielkartensteuer: Spielkartensteuergesetz in der Fassung vom 3. Juni 1961, BGBl. I 1961, S. 681; Zündwarensteuer: Zündwarensteuergesetz in der Fassung vom 9. Juni 1961, BGBl. I 1961, S. 729. Zum Ganzen vgl. BVerfGE 145, 171 (206 Rn. 98); vgl. etwa für das Jahr 1949 Höpker-Aschoff, AöR 1949, S. 306 (313).  BVerfGE 145, 171 (206 Rn. 98); Siekmann, in Sachs, Grundgesetz, 8. Auflage 2018, Art. 105 Rn. 50a.  BVerfGE 145, 171 (212 Rn. 114).

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gen.¹²⁹ Der Bund durfte danach lediglich innerhalb der in Art. 106 GG normierten Steuertypen neue Steuern „erfinden“. Diese Voraussetzung war für die Kernbrennstoffsteuer nicht erfüllt.

a) Wortsinn des Begriffs „übrige“ Steuern Keine zwingende Bedeutung scheint die Senatsmehrheit einer Wortlautanalyse des Begriffs der „übrigen“ Steuern beigemessen zu haben.¹³⁰ Dies überzeugt. Auch wenn man den Wortsinn von „übrigen“ in den „verbleibenden“ oder „restlichen“ – also bislang in Art. 105 GG noch nicht genannten – Steuern sieht¹³¹, ist hiermit keine zwingende Aussage dazu verbunden, ob die Steuern im Sinne des Art. 105 GG nur die in Art. 106 GG genannten Steuertypen sind. Gehören zu den Steuern im Sinne des Art. 105 GG von vornherein nur solche, die in Art. 106 GG genannt sind, dann bleiben als Teilmenge der „übrigen Steuern“ alle in Art. 105 GG nicht ausdrücklich genannten, jedoch von Art. 106 GG erfassten Steuern übrig. Ob Art. 106 GG in Art. 105 GG hineinzulesen ist, lässt sich dann als eine rechtliche Frage verstehen und würde über den Begriffsinhalt von „übrigen“ nicht beantwortet.

b) Verfassungshistorie Eine eindeutige Antwort im Hinblick auf ein „großes“ Steuererfindungsrecht lässt sich auch nicht aus der oben darstellten Verfassungshistorie ableiten. Dies hat die Senatsmehrheit umfassend und sorgfältig begründet herausgearbeitet.¹³² Die Historie ist vielmehr „ambivalent“ ¹³³, sodass sowohl Befürworter als auch Gegner eines „großen“ Steuererfindungsrechts sich ihrer bedienen können. Die auf ein Steuererfindungsrecht von Bund und Ländern hindeutenden Passagen der Gesetzesbegründung lassen sich bereits nicht stets mit ihrem weiteren Inhalt in Einklang bringen.¹³⁴ Insbesondere die Einführung des Art. 105

 Vgl. Montag, in: Tipke/Lang, Steuerrecht, 23. Auflage 2018, §12 Rn. 2, der dem Gericht zugutehält, „die verfassungsrechtlichen Grenzen des Gesetzgebers bei der Steuerfindung erfreulicherweise klar konkretisiert“ zu haben.  Vgl. auch Siekmann, in Sachs, Grundgesetz, 8. Auflage 2018, Art. 105 Rn. 49.  BVerfGE 145, 171 (231 Rn. 5).  So auch Hey, DB vom 23. Juni 2017, Heft 25, M4.  BVerfGE 145, 171 (195 Rn. 71).  Hidien, in: Bonner Kommentar, GG, Art. 106 Rn. 1363 (November 2002).

Die Kernbrennstoffsteuer im Lichte der Finanzverfassung

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Abs. 2a GG wird in der Literatur dafür in Anspruch genommen, dass ein Steuererfindungsrecht (der Länder) nicht mehr bestehen könne, da es hierdurch gerade „ausgeschaltet“¹³⁵ werden sollte. Der aus der Verfassungshistorie sicher herleitbare abschließende Charakter des Art. 105 GG ist ebenfalls kein eindeutiges Indiz für die eine oder andere Auffassung. Insoweit ist die Folgefrage aufgeworfen, ob sich diese abschließende Wirkung auf die gesamte Finanzverfassung und damit auch auf Art. 106 GG bezieht. Die in der Gesetzesbegründung des Finanzreformgesetzes vom 12. Mai 1969¹³⁶ vorhandene Erwähnung eines Steuererfindungsrechts der Länder, in das der Bund – sollte es die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet oder die Wahrung der Rechts- und Wirtschaftseinheit erforderlich machen – eintreten könne, deutet ebenfalls allenfalls „auf den ersten Blick“ darauf hin, dass der verfassungsändernde Gesetzgeber von einem „großen“ Steuererfindungsrecht ausging.¹³⁷ Es lässt sich bereits nicht feststellen, ob der Gesetzgeber den Begriff des „Steuererfindungsrechts“ im Hinblick auf ein „großes“ oder „kleines“ Steuererfindungsrecht verstanden hat, weil der Begriff dort nicht definiert wird.¹³⁸ Eine fundierte Erörterung, ob und in welchem Umfang ein Steuererfindungsrecht anzuerkennen ist, lassen die Materialien des Finanzreformgesetzes vom 12. Mai 1969 nicht erkennen.¹³⁹ Die Begriffsverwendung ist in Rechtsprechung und Literatur uneinheitlich und erlaubt ebenfalls keinen Schluss auf eine bestimmte Verwendung des Begriffs. Der Begriff des „Steuererfindungsrechts“ wird auch dann verwendet wenn dieses finanzverfassungsrechtlichen Restriktionen unterliegt.¹⁴⁰ Das Bundesverwaltungsgericht¹⁴¹ nutzt den Begriff etwa im Zusammenhang mit Art. 105 Abs. 2a GG, obwohl dieses von dessen Voraussetzungen (örtliche Aufwand- oder Verbrauchsteuer) beschränkt und keineswegs „frei“ ist.¹⁴² Der Bund hat sich – soweit ersichtlich – niemals auf ein „großes“ Steuererfindungsrecht berufen. In einer Stellungnahme des Bundesfinanzministeriums

 Heintzen, in: v. Münch/Kunig, GG, 6. Auflage 2012, Art. 105 Rn. 46; vgl. auch Kloepfer, Finanzverfassungsrecht, 2014, S. 138.  Vgl. BTDrucks V/2861, S. 32 f. (Ziff. 128 und 131), S. 94.  BVerfGE 145, 171 (196 Rn. 74).  BVerfGE 145, 171 (197 Rn. 76); zweifelnd etwa Hidien, in: Bonner Kommentar, GG, Art. 106 Rn. 1363 (November 2002).  Vgl. Hidien, in: Bonner Kommentar, GG, Art. 106 Rn. 1364 (November 2002).  Vgl. etwa Schmidt, StuW 2015, S. 171 ff.  BVerwG, Urteil vom 11. Juli 2012 – 9 CN 1/11 –, juris, Rn. 25.  Vgl. auch Schmidt, StuW 2015, S. 171 ff.; zum Ganzen: BVerfGE 145, 171 (197 Rn. 76).

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vom 19. Oktober 2010¹⁴³ wird ein solches Steuererfindungsrechts sogar abgelehnt. Dort wird ausgeführt, die Einführung einer Finanzaktivitätsteuer erfordere eine Änderung der Verfassung, da Art. 106 GG einen abschließend bestimmten Katalog zulässiger und möglicher Steuern vorgebe und ein uneingeschränktes Steuererfindungsrecht des Bundes nicht bestehe.¹⁴⁴ Die Senatsmehrheit hat auch bei ihrer Analyse der Verfassungshistorie die fehlende Regelung der Ertragszuständigkeit in den Vordergrund gestellt.¹⁴⁵ Das Finanzreformgesetz vom 12. Mai 1969 sollte „ein dauerhaftes und überschaubar gestaltetes Steuerverteilungssystem, das entsprechend der finanziellen Bedeutung der Aufgaben das Verhältnis zwischen Steuerbedarf und Steuereinnahmen bei Bund und Ländern möglichst im Zustand des Gleichgewichts erhält […]“¹⁴⁶, schaffen. An anderer Stelle der Gesetzesbegründung wird hervorgehoben, durch die (neue) Finanzverfassung sollten „unnötige Auseinandersetzungen zwischen Bund und Ländern vermieden werden“¹⁴⁷. Dem widerspreche – so die Senatsmehrheit – ein „großes“ Steuererfindungsrecht ohne klare Zuordnung Steuern.¹⁴⁸ Die Bedeutung, die der verfassungsgebende Gesetzgeber der Zuteilung von Steuererträgen durch die Verfassung – und nicht durch einfaches Gesetz – zuerkannt habe, ergebe sich auch aus der Gesetzesbegründung des Finanzverfassungsgesetzes vom 23. Dezember 1955¹⁴⁹. Dort sei festgehalten, dass die verfassungspolitische Bedeutung, die das Grundgesetz der Verteilung der bundesstaatlichen Steuerertragshoheit beimesse, es nicht zulasse, „die Zuteilung der Einnahmen aus künftigen Steuern der einfachen Bundesgesetzgebung zu überlassen“¹⁵⁰. Es sei nicht ersichtlich, dass der verfassungsgebende Gesetzgeber des Finanzverfassungsgesetzes von 1969 etwas anderes angenommen habe.

 Az. IV D 4 – S 1900/10/10039:007, S. 1 f.; abrufbar unter www.axel-troost.de/serveDocument.php?id=1493&file=f/1/1fd9.pdf.  Vgl. bereits den entsprechenden Hinweis auf die Stellungnahme durch das FG München mit Beschluss vom 4. Oktober 2011 – 14 V 2155/11 –, juris.  BVerfGE 145, 171 (197 ff. Rn. 77 ff.).  BTDrucks V/2861, S. 33 (Ziff. 134).  BTDrucks V/2861, S. 11 f. (Ziff. 12).  BVerfGE 145, 171 (197 ff. Rn. 77 ff.); zustimmend Wernsmann, JZ 2017, S. 954 (955); Ludwigs, NVwZ 2017, S. 1509 (1511).  BGBl I S. 817.  Vgl. BTDrucks II/480, S. 40 (Ziff. 43).

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c) Keine Regelung der Ertragshoheit aa) Die ungelöste Problematik der Ertragshoheit für erfundene Steuern lässt sich weder innerhalb der Finanzverfassung noch durch Rückgriff auf Rechtsinstrumente außerhalb lösen.¹⁵¹ Einer Wiederholung der ausführlichen Erwägungen des Kernbrennstoffsteuer-Beschlusses bedarf es insoweit nicht. Von besonderem Gewicht ist allerdings die im Sondervotum¹⁵² vorgeschlagene Lösung einer Annexkompetenz. Eine solche ist in zwei „Spielarten“ denkbar: ‒ die Ertragshoheit folgt als Annex aus der Gesetzgebungszuständigkeit ‒ der zuständige (einfache) Gesetzgeber darf den Ertrag frei zuweisen¹⁵³. Gegen beide Ansätze lassen sich allerdings gewichtige Bedenken anführen:¹⁵⁴ (1.) Gegen die Annahme einer Ertragshoheit als Annex zur Gesetzgebungszuständigkeit lässt sich einwenden, im Rahmen der Finanzverfassung folge – anders als im Bereich der nichtsteuerlichen Abgaben – die Ertragshoheit nicht aus der Gesetzgebungskompetenz.¹⁵⁵ Gegen eine solche Annexkompetenz wird in der Literatur zudem die Gefahr eines in seinem Ergebnis nicht überzeugenden und der Gesetzessystematik widersprechenden Zirkelschlusses angeführt: Aus dem Steuererfindungsrecht folgte danach die Gesetzgebungszuständigkeit, aus dieser die Ertragshoheit, wobei das Bestehen der Ertragshoheit sodann wiederum das Steuererfindungsrecht rechtfertigen würde.¹⁵⁶

 BVerfGE 145, 171 (199 Rn. 80); Seer, in: Tipke/Lang, Steuerrecht, 23. Auflage 2018, § 2 Rn. 4.  BVerfGE 145, 171 (241 ff. Rn. 28 ff).  BVerfGE 145, 171 (242 f. Rn. 31 f.).  Vgl. BVerfGE 145, 171 (199 ff. Rn. 83 ff.).  BVerfGE 145, 171 (192, 199 f. Rn. 63, 83); vgl. Hidien, in: Bonner Kommentar, Art. 106 Rn. 1368 (November 2002); in jüngerer Zeit Schmidt, StuW 2015, S. 171 (177); Siekmann, in Sachs, Grundgesetz, 8. Auflage 2018, Art. 105 Rn. 50b.  Van Heek, in: van Heek/Lehmann, in: Die Kernbrennstoffsteuer als „Verbrauchsteuer“?, 2012, S. 34. Dieser Zirkelschluss wird auf Grundlage einer Lehrmeinung (vgl. etwa: Vogel/Walter, in: Bonner Kommentar, Art. 105 Rn. 77 (Juli 2004); vgl. auch den Überblick bei: Heintzen, in: von Münch/Kunig, GG, 6. Aufl. 2012, Art. 105 Rn. 49), die entgegen des Wortlautes des Art. 105 Abs. 2 GG eine ausschließliche Gesetzgebungskompetenz des Bundes annimmt, wenn ihm der Ertrag einer Steuer teilweise zusteht, noch deutlicher. Ob diese Konstellation in dem hier gegebenen Fall vorliegt, ist unklar, da die Gesetzgebungskompetenz und Ertragszuständigkeit von Bund und Ländern nebeneinander – aber auf das Aufkommen bezogen ungeteilt – besteht und kein „Gemeinschaftsertrag“ (Vogel/Walter, in: Bonner Kommentar, Art. 105 Rn. 77 (Juli 2004)) vorliegt. Auf den vorliegenden Fall angewendet, führt dies möglicherweise dazu, dass über die konkurrierende Gesetzgebungszuständigkeit des Art. 105 Abs. 2 2. Alt. GG eine „Auch“-Ertragszuständigkeit gewonnen würde (die die Zuständigkeit der 1. Alt. aktiviert) mit der Folge einer ausschließlichen Gesetzgebungskompetenz des Bundes.

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(2.) Die Annahme einer Ertragszuweisungsbefugnis des einfachen Gesetzgebers lässt sich nicht ohne Weiteres in die bisherige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, wonach die finanzverfassungsrechtlich eingeräumten Rechte nicht disponibel sind, einfügen¹⁵⁷ und dürfte dem oben geschilderten Willen des verfassungsgebenden Gesetzgebers¹⁵⁸ widersprechen. Eine solche Kompetenz wirft auch einige bislang nicht sicher gelöste Folgefragen auf. Wenn die gesetzgebungsbefugte Einheit den Ertrag verteilen darf, stellt sich die Frage, wie dann Art. 105 Abs. 1 1. Alt („wenn [dem Bund] das Aufkommen dieser Steuer ganz oder zum Teil zusteht“) gehandhabt wird. Eine freie Verteilungsmöglichkeit bedürfte ferner der Einpassung in das System des Finanzausgleichs. Dessen einzelne Stufen (vertikal, horizontal) sind nicht frei austauschbar.¹⁵⁹ Innerhalb der einzelnen Stufen bestehen spezielle Verteilungsmechanismen,¹⁶⁰ die nicht ohne Weiteres durch die Etablierung eines freien Umverteilungsrecht auf anderer Ebene umgangen werden dürfen. Aus Art. 106 Abs. 3, 4 GG ergeben sich weitere Bedenken. Wenn schon eine Umverteilung des bloßen Anteils am zugewiesenen Ertrag an der Umsatzsteuer an detaillierte Vorgaben geknüpft ist, wären für ein freies Ertragsverteilungsrecht des einfachen Gesetzgebers ähnliche Maßstäbe zu erwarten.¹⁶¹ Zudem erscheint es zweifelhaft, ob die „differenzierte Umsatzsteuerverteilungsregelung“¹⁶² durch die Einführung eines freien allgemeinen Umverteilungssystems auf anderer Ebene überschrieben werden darf, soll diese nicht „leer laufen“¹⁶³.¹⁶⁴ (3.) Durch die Anerkennung eines „großen“ Steuererfindungsrechts würden letztlich durch die Verfassung nicht ausdrücklich vorgesehene und in ihrem Bestand und Umfang höchst umstrittene Ertragsrechte gleichsam originär verteilt. Da die Finanzverteilung zwischen Bund und Ländern in besonderer Weise der politischen Auseinandersetzung und Kompromissfindung unterliegt,¹⁶⁵ dürfte hierfür der Aufgabenbereich des verfassungsändernden Gesetzgebers eröffnet

 BVerfGE 55, 274 (302); vgl. auch BVerfGE 67, 256 (289).  Vgl. BTDrucks II/480, S. 40 (Ziff. 43); BVerfGE 145, 171 (197, 200 Rn 77, 84); zustimmend: Ludwigs, NVwZ 2017, S. 1509 (1511 f.).  BVerfGE 72, 330 (383).  BVerfGE 101, 158 (214 ff.).  Schmidt, StuW 2015, S. 171 (177); vgl. auch Siekmann, in Sachs, Grundgesetz, 8. Auflage 2018, Art. 105 Rn. 50b.  Schmidt, StuW 2015, S. 171 (177); vgl. auch Siekmann, in Sachs, Grundgesetz, 8. Auflage 2018, Art. 105 Rn. 50b.  Vgl. Siekmann, in Sachs, Grundgesetz, 8. Auflage 2018, Art. 105 Rn. 50b.  Vgl. Siekmann, aaO. Schmidt, StuW 2015, S. 171 (177).  Vgl. Jobs, Steuern auf Energie als Element einer ökologischen Steuerreform, 1999, S. 168; Gärditz, ZfZ 2014, S. 18 (19).

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sein.¹⁶⁶ Ein „großes“ Steuererfindungsrecht würde zudem in Konkurrenz zu den in Art. 105 und 106 GG geregelten Steuern und deren Ertragsverteilung treten. Eine Lösung für dieses Konkurrenzproblem ist nicht ersichtlich. bb) Eine sichere Lösung der Verteilung des Ertrages erfundener Steuern wäre danach zwingend erforderlich, um ein „großes“ Steuererfindungsrecht in die Finanzverfassung integrieren zu können. Seer¹⁶⁷ spricht insoweit zutreffend von der „fundamentalen Schwäche der Gegenmeinung“. Ohne eine Lösung dieser Frage bleibt die Ordnungs- und Befriedungsfunktion der Finanzverfassung unvollendet. Dem geschlossenen System der Art. 105 f. GG zur Verteilung des Steueraufkommens und des Ertrages der Finanzmonopole zwischen Bund, Ländern und Gemeinden hat das Gericht daher eine zentrale Bedeutung zugemessen; jede Unsicherheit bei der Zuordnung von Erträgen könne zu erheblichen Verwerfungen innerhalb der Finanzverfassung führen, ihrer Befriedungsfunktion widersprechen und ihr Ziel, unnötige Auseinandersetzungen zwischen Bund und Ländern zu vermeiden, verfehlen.¹⁶⁸ Dies wiegt umso schwerer, als die Steuer des Einen, die des Anderen schmälern kann:¹⁶⁹ „So wäre etwa jede „neue“ Steuer, die an eine bestimmte betriebliche Tätigkeit anknüpft, grundsätzlich geeignet, das Aufkommen anderer in der Finanzverfassung ausdrücklich vorgesehener Steuern zu schmälern, indem sie etwa bei der Ermittlung des zu versteuernden Einkommens als Betriebsausgabe in Abzug gebracht werden kann. Insoweit bestünde die Gefahr einer Verschiebung des Steueraufkommens von den gemäß Art. 106 Abs. 3 in Verbindung mit Art. 107 Abs. 1 GG Bund und Ländern gemeinsam zustehenden Steuern (sog. Gemeinschaftsteuern) hin zu Bund oder Ländern ausschließlich zustehenden Steuern.“

Soweit das Gericht in seiner UMTS-Entscheidung¹⁷⁰ die (erheblichen) Auswirkungen des Betriebsausgabenabzugs auf andere Steuern als für die Kompetenzfrage nicht für relevant gehalten hat, deutet jedoch bereits die Existenz des Verfahrens auf die „Sprengkraft“ solcher Wechselwirkungen auf das Verhältnis zwischen Bund und Ländern hin. Für die Kernbrennstoffsteuer hatte der Bundesrat mit Beschluss vom 26. November 2010¹⁷¹ auf Antrag der Länder Sachsen

 Vgl. BVerfGE 67, 256 (282 ff.); 105, 185 (194 f.).  Seer, in: Tipke/Lang, Steuerrecht, 23. Auflage 2018, § 2 Rn. 4; vgl. auch Jachmann-Michel/ Vogel, in: Mangoldt/Klein/Stark, 7. Auflage 2018, Art. 105 Rn. 32; K.-A. Schwarz in: Mangoldt/ Klein/Stark, 7. Auflage 2018, Art. 106 Rn. 18.  BVerfGE 145, 171 (202 f. Rn. 91).  BVerfGE 145, 171 (203 Rn. 91).  BVerfGE 105, 185.  BR-Drucks 687/10 (Beschluss), S. 1 ff.

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und Baden-Württemberg vom 24. November 2010¹⁷² Kompensationen des Bundes gefordert.¹⁷³ Der Finanzverfassung kann schließlich auch nicht deshalb eine Ordnungsfunktion abgesprochen werden, weil dem Gesetzgeber innerhalb des Art. 106 GG durch eine Änderung der Steuertarife oder durch Aufhebung von den Ländern zustehender Steuern so weitreichende Regelungskompetenzen zur Verfügung stehen, dass er das vorgesehene Verteilungssystem mindestens ebenso nachhaltig zu stören vermöchte, wie durch die Erfindung von Steuern.¹⁷⁴ Der Verweis auf wirkungsähnliche Maßnahmen betrifft bereits nicht die zentrale Frage der Ertragsverteilung: Werden Steuern gesenkt, verändert oder abgeschafft, bleibt die Ertragshoheit dennoch stets klar.¹⁷⁵

d) Individualschützende Funktion der Finanzverfassung Neben der fehlenden Zuordnung des Ertrages erfundener Steuern hat das Gericht für die Ablehnung eines „großen“ Steuererfindungsrechts auch auf teleologische Argumente zurückgegriffen.¹⁷⁶ Hierbei hat die Senatsmehrheit die individualschützende Funktion der Finanzverfassung in den Vordergrund gerückt,¹⁷⁷ mit der ein „großes“ Steuererfindungsrecht nicht zu vereinbaren sei:¹⁷⁸ „Der Schutz der Bürger vor einer unübersehbaren Vielzahl von Steuern ist ein originärer und eigenständiger Zweck der Kompetenznormen der Finanzverfassung, mit dem die Annahme eines Steuererfindungsrechts nicht in Einklang zu bringen wäre. Es könnten beliebig „neue“ Steuern und Steuerarten eingeführt werden. Die steuerliche Art des Zugriffs auf die Ressourcen des Bürgers wäre damit weitgehend unbeschränkt; insbesondere die in der Finanzverfassung ausdrücklich genannten Steuern und Steuerarten würden ihrer begrenzenden Funktion entkleidet.“

 BR-Drucks 687/2/10, S. 1 f.  Die Bundesregierung ist – soweit erkennbar – der entsprechenden Aufforderung nicht nachgekommen. Auf einen Antrag nach Art. 77 Abs. 2 GG (vgl. BR-Drucks 687/1/10) mit dem Ziel eine Kompensation herbeizuführen, hatte der Bundesrat verzichtet (vgl. BR-Drucks 687/10 (Beschluss), S. 1); auf die Wechselwirkungen der Kernbrennstoffsteuer weist auch Wernsmann, JZ 2017, S. 954 (955 f.) hin, hält diese aber für die Kompetenzfrage für unbeachtlich.  Vgl. Bach, StuW 1995, S. 264 (271); van Heek, in: van Heek/Lehmann, Die Kernbrennstoffsteuer als „Verbrauchsteuer“?, 2012, S.31 f.; Häde, Finanzausgleich, 1996, S. 162 f.  Vgl. auch K.-A. Schwarz, in: Mangoldt/Klein/Stark, 7. Auflage 2018, Art. 106 Rn. 19.  BVerfGE 145, 171 (202 ff. Rn. 90 ff.).  BVerfGE 145, 171 (203 f. Rn. 93).  BVerfGE 145, 171 (203 f. Rn. 93); vgl. auch Ludwigs, NVwZ 2017, S. 1509 (1511 f.); Weschpfennig, DVBl 2017, S. 899 (901).

Die Kernbrennstoffsteuer im Lichte der Finanzverfassung

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Eine individualschützende Komponente der Finanzverfassung hatte das Gericht bereits in frühen Entscheidungen angesprochen.¹⁷⁹ In mehreren weiteren Entscheidungen hatte das Gericht im Anschluss entschieden, dass die Finanzverfassung „auch den Bürger schützt“¹⁸⁰ bzw. „eine den Bürger schützende Funktion“¹⁸¹ hat. In einer weiteren Entscheidung wird diese Rechtsprechung zu der „Begrenzungs- und Schutzfunktion der bundesstaatlichen Finanzverfassung (Art. 104a ff. GG)“ als „ständige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts“¹⁸² bezeichnet. Die Finanzverfassung soll danach eine Begrenzung des steuerlichen Zugriffs und das Vertrauen der Steuerzahler sichern, nur in dem durch die Finanzverfassung vorgegebenen Rahmen belastet zu werden.¹⁸³ Dabei handelt es sich um einen über den durch die Grundrechte¹⁸⁴ gewährten Schutz hinausgehenden originären und eigenständigen Schutzzweck der Kompetenznormen der Finanzverfassung.¹⁸⁵ Könnten Bund und Länder – mit der Gefahr eines entsprechenden „Wettlaufs“¹⁸⁶ – beliebig „neue“ Steuern und Steuerarten einführen, könnte die Finanzverfassung diese Funktion nicht mehr erfüllen, es würde ein nur durch die sehr weiten Grenzen des materiellen Rechts begrenzter „Flickenteppich“¹⁸⁷ an Steuerarten im Bund und den einzelnen Ländern drohen. In der Literatur wird als schillerndes Beispiel für die Kreativität bei der Entdeckung neuer Besteuerungsmöglichkeiten – allesamt auf kommunaler Ebene – etwa auf Diskussionen um Mobilfunkmasten-, Betten-, Boots-, Camping-, Pferde-, Sauna-, Solariums-, Schusswaffenbesitz-, und Sexsteuern verwiesen.¹⁸⁸ Genau vor einem solchen „steuerlichen Wildwuchs“¹⁸⁹ soll aber die Finanzverfassung schützen.¹⁹⁰ Diese Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist auch nicht auf nichtsteuerliche Abgaben beschränkt. Sie findet ihren Ausgangspunkt gerade in

 BVerfGE 55, 274 (302); 67, 256 (290); 93, 319 (342 f.).  BVerfGE 108, 1 (16); zuletzt erneut: BVerfGE 123, 132 (141).  BVerfGE 132, 334 (349 Rn. 49).  BVerfGE 124, 348 (364); vgl. auch Ludwigs, NVwZ 2017, S. 1509 (1511 f.).  Waldhoff, Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer, Band 66, 2006, S. 216 (235 f.); Birk/Förster, DB Beilage Nr. 17 zum Heft 30 1985, S. 1 (11).  Insbesondere den Grundsatz der Gleichmäßigkeit der Besteuerung.  Vgl. etwa Ludwigs, NVwZ 2017, S. 1509 (1511 f.).  Seer, DStR 2012, S. 325 (330); Seer, in: Tipke/Lang, Steuerrecht, 23. Auflage 2018, § 2 Rn. 4; vgl. auch Eiling, Verfassungs- und europarechtliche Vorgaben an die Einführung neuer Verbrauchsteuern, 2014, S. 66: „Gate opener-Stellung“.  Lüdicke, DB 2013, Beilage Nr. 28.  Vgl. etwa: Seer, in: Tipke/Lang, Steuerrecht, 23. Aufl. 2018, § 2 Rn. 54.  Hey, DB vom 23. Juni 2017, Heft 25, M4.  BVerfGE 123, 132 (141); vgl. auch BVerfGE 108, 1 (16) mwN.

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Dominik Roderburg, André Schlosser

der individualschützenden Funktion der Kompetenznormen der Finanzverfassung:¹⁹¹ „Die finanzverfassungsrechtliche Verteilung der steuerbezogenen Gesetzgebungs-, Ertragsund Verwaltungskompetenzen verlöre ihren Sinn und ihre auch den Bürger schützende Funktion wenn nichtsteuerliche Abgaben beliebig unter Umgehung dieser Verteilungsregeln begründet werden könnten“.

Die Schutzfunktion der Finanzverfassung wird danach – gleichsam nach außen¹⁹² – auf die nichtsteuerlichen Abgaben projiziert und muss daher, dies hat die Senatsmehrheit nunmehr ausdrücklich festgehalten, auch „innerhalb“ der Finanzverfassung für Steuern gelten.

V. Fazit Mit seinem Kernbrennstoffsteuerbeschluss hat das Bundesverfassungsgericht Klarheit in eine der umstrittensten Fragen der aktuellen Finanzverfassung gebracht und zugleich einer uferlosen Ausdehnung des Verbrauchsteuerbegriffs einen Riegel vorgeschoben. Damit sichert das Gericht die Befriedungsfunktion der Finanzverfassung auf staatlicher Ebene und schützt die Bürger vor einer Belastung mit einer unübersehbaren Vielfalt an immer neuen Steuerarten. Zugleich hat das Gericht einer Einordnung der Finanzverfassung in den Bereich des „soft law“ eine klare Absage erteilt. Hierin dürfte eine Grundaussage der Entscheidung liegen. Der dem Gesetzgeber gleichzeitig belassene weite Interpretationsspielraum gibt ihm auch in der Zukunft hinreichende Möglichkeiten zur „Erfindung“ für notwendig gehaltener neuer Steuern, wie die bereits kurz nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts von politischen Akteuren erhobenen Forderungen nach einer Wiedereinführung einer „verfassungskonformen“ Kernbrennstoffbesteuerung belegen.¹⁹³

 BVerfGE 132, 334 (349 Rn. 48) und BVerfGE 144, 369 (397 Rn. 63).  So auch Weschpfennig, DVBl 2017, S. 899.  BTDrucks 19/3288, S. 73; BTDrucks 19/3029, S. 9 ff.; BTDrucks 19/3041, S. 2; BTDrucks 19/3042, S. 2; BTDrucks 19/1731, S. 4; vgl. auch BTDrucks 19/170, S. 123.

V. Staatsorganisation

Thomas Kliegel

Das zweite NPD-Verbotsverfahren Leitentscheidungen BVerfGE 2, 1 – Verbotsurteil gegen die SRP BVerfGE 5, 85 – Verbotsurteil gegen die KPD BVerfGE 91, 262 – Verbotsverfahren gegen die Nationale Liste (NL) BVerfGE 91, 276 – Verbotsverfahren gegen die Freiheitliche Deutsche Arbeiterpartei (FAP) BVerfGE 107, 339 – Einstellung des ersten NPD-Verbotsverfahrens BVerfGE 144, 20 – Urteil im zweiten NPD-Verbotsverfahren

Schrifttum (Auswahl der in Zusammenhang mit dem zweiten NPD-Verbotsverfahren erschienenen Beiträge) Emek, Die Europäisierung des Parteiverbots – dargelegt am NPD-Urteil des Bundesverfassungsgerichts, RuP 2017, S. 174; Gusy, Verfassungswidrig, aber nicht verboten!, NJW 2017, S. 601; Ipsen, Verfassungswidrig, aber nicht verboten – Das NPD-Urteil des Bundesverfassungsgerichts, RuP 2017, S. 3; Jacob, Das NPD-Urteil des BVerfG, jM 2017, S. 110; Kloepfer, Parteienfinanzierung und NPD-Urteil – Zum Ausschluss der staatlichen Teilfinanzierung für verfassungsfeindliche Parteien, NVwZ 2017, S. 913; Laubinger, Verfassungswidrigkeit politischer Parteien – Entscheidung durch den Bundestagspräsidenten?, ZRP 2017, S. 55; Leggewie/Lichdi/Meier, „Hohe Hürden“ sehen anders aus – Das abermalige Verbotsverfahren gegen die NPD, Kritik des Urteils (Teil 3), RuP 2017, S. 145; Leggewie/Lichdi/Meier, „Hohe Hürden“ sehen anders aus – Das abermalige Verbotsverfahren gegen die NPD, Kritik des Urteils (Teil 4 / Schluss), RuP 2017, S. 324; Lichdi, Zur Abschaffung der Chancengleichheit der Parteien, RuP 2017, S. 456; Linke,Verbotsunwürdige Verfassungsfeinde, streitbare, aber wertarme Demokratie und problematische Sanktionsalternativen, DÖV 2017, S. 483; Morlok, Kein Geld für verfassungsfeindliche Parteien?, ZRP 2017, S. 66; Schwarz, Der Ausschluss verfassungsfeindlicher Parteien von der staatlichen Parteienfinanzierung, NVwZBeilage 2017, S. 39; Uhle, Das Parteiverbot gem. Art. 21 II GG – Eine Wiederbesichtigung nach der Entscheidung des BVerfG zum NPD-Verbotsantrag, NVwZ 2017, S. 583; van Ooyen, Rechtspolitik durch verfassungsgerichtliche Maßstabsverschiebung, RuP 2017, S. 468; Volp, Parteiverbot und wehrhafte Demokratie, NJW 2016, S. 459; Warg, Nur der Kern des demokratischen Rechtsstaats – die Neujustierung der fdGO im NPD-Urteil vom 17.1. 2017, NVwZ-Beilage 2017, S. 42; Wolter, Parteiverbote in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, EuGRZ 2016, S. 92.

https://doi.org/10.1515/9783110599916-016

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Thomas Kliegel

Inhalt I. Einleitung 376 II. Verfahrenshindernisse 377 . Staatsfreiheit der Führungsebenen 379 . Quellenfreiheit der Beweismittel 381 . Ausspähen der Prozessstrategie 384 386 III. Der Tatbestand . Die freiheitliche demokratische Grundordnung 388 a) Menschenwürde b) Demokratieprinzip 389 c) Rechtsstaatsprinzip 390 . Beeinträchtigen und Beseitigen 391 . Ziele und Verhalten der Anhänger 391 . Darauf Ausgehen 394 a) Rechtliche Bewertung 394 b) Tatsächliche Bewertung in Sachen NPD c) Resümee und Ausblick 401 . Keine ungeschriebenen Tatbestandsmerkmale . Verbotsrechtsprechung des EGMR 406 IV. Beweis- und Verfahrensrecht 409 V. Das Finanzierungsausschlussverfahren 415 VI. Fazit 420

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398 404

I. Einleitung Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts hat mit seinem einstimmigen Urteil im zweiten NPD-Verbotsverfahren das in Art. 21 Abs. 2 GG geregelte Parteiverbotsverfahren einer umfassenden Revision unterworfen. Er hat nicht nur neue, präzise Maßstäbe im Bereich der materiellen Tatbestandsvoraussetzungen aufgestellt, sondern das in Teilen der Literatur bereits totgesagte Verfahren insgesamt handhabbar gestaltet und dadurch neuer praktischer Relevanz zugeführt.¹ Dabei hat er sich mit verschiedensten Aspekten des Verfahrens auseinandergesetzt und insoweit Rechtsklarheit geschaffen.² Des Weiteren hat das Urteil Anlass zur Schaffung eines neuen verfassungsgerichtlichen Verfahrens, des Finanzierungsausschlussverfahrens, gegeben.³ Der vorliegende Beitrag setzt sich mit den

 So auch Jacob, jM 2017, S. 110 (116); Uhle, NVwZ 2017, S. 583 (584 f.); vgl. auch Kloepfer, NVwZ 2017, S. 913 (914).  Ebenso Gusy, NJW 2017, S. 601; Uhle, NVwZ 2017, S. 583 f.; vgl. auch Jacob, jM 2017, S. 110 (116); Warg, NVwZ-Beilage 2017, S. 42 (43).  Vgl. Uhle, NVwZ 2017, S. 583 (590).

Das zweite NPD-Verbotsverfahren

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wichtigsten Neuerungen auseinander und erörtert gerade auch mit Blick auf die Zukunft die Durchführbarkeit und die Anforderungen an kommende Verbotsbzw. Finanzierungsausschlussverfahren.

II. Verfahrenshindernisse Eine der entscheidenden Fragen im zweiten Verbotsverfahren war von vornherein die nach dem etwaigen Vorliegen von – dem ersten Verbotsantrag zum Verhängnis gewordenen – Verfahrenshindernissen in Bezug auf die staatliche Beobachtung der NPD. Während der Antragsteller seinen Vortrag hierzu zunächst sehr knapp gestaltete, wohl auch, um dieser Problematik nicht bereits von sich aus zu viel Bedeutung zu geben, setzte die Antragsgegnerin bis zur mündlichen Verhandlung konsequent auf das Vorliegen von Verfahrenshindernissen und lehnte jeden Sachvortrag unter Hinweis auf das angebliche Ausspähen ihrer Prozessstrategie ab.⁴ Der Senat stand vor der Aufgabe, entweder aus den inhaltlich erheblich divergierenden Voten im ersten Verbotsverfahren allgemeingültige Maßstäbe zu bilden oder einen eigenen Weg zu beschreiten. Im Ergebnis hat er sich an das Votum der entscheidungstragenden Senatsminderheit angelehnt, dessen Strenge jedoch im Sinne der damaligen (nicht entscheidungstragenden) Senatsmehrheit abgemildert und im Übrigen Unklarheiten und Widersprüchlichkeiten beseitigt.⁵ Die grundsätzliche Existenz von Verfahrenshindernissen im Verfassungsprozess hat der Senat unter Rückgriff auf die Entscheidung im ersten NPD-Verbotsverfahren bestätigt.⁶ Er hat allerdings betont, dass ein zur Verfahrenseinstellung führendes Hindernis lediglich als ultima ratio in Betracht kommt und im Parteiverbotsverfahren einen Verfassungsverstoß von erheblichem Gewicht voraussetzt.⁷ Ein solcher liege insbesondere vor, wenn gegen das aus Art. 21 Abs. 1 und 2 i.V. m. Art. 20 Abs. 3 GG folgende Gebot freier und selbstbestimmter Willensbildung und Selbstdarstellung der Partei vor dem Bundesverfassungsgericht verstoßen werde.⁸ Dieses Gebot strikter Staatsfreiheit werde durch den Einsatz

 Vgl. hierzu den Sachbericht in BVerfGE 144, 20 (50 ff., Rn. 12 ff.).  Vgl. auch Klein, in: Maunz/Dürig, GG-Kommentar, Art. 21 Rn. 548a (Januar 2018).  BVerfGE 144, 20 (158 f., Rn. 402 f.).  BVerfGE 144, 20 (159, Rn. 404).  BVerfGE 144, 20 (159 f., Rn. 405), unter Bezugnahme auf die entscheidungstragende Senatsminderheit im ersten NPD-Verbotsverfahren.

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Thomas Kliegel

von V-Leuten oder Verdeckten Ermittlern⁹ auf den Führungsebenen der Partei während des laufenden Verbotsverfahrens – hierfür verwendet der Senat den Fachterminus „Staatsfreiheit“ – ebenso verletzt¹⁰ wie durch einen Verbotsantrag, der im Wesentlichen auf Materialien und Sachverhalte gestützt werde, deren Zustandekommen durch staatliche Quellen beeinflusst worden sei – hierfür verwendet der Senat den Fachterminus „Quellenfreiheit“¹¹. Ein Verfassungsverstoß von erheblichem Gewicht liege schließlich auch dann vor, wenn ein mit dem Grundsatz des fairen Verfahrens unvereinbares Ausspähen der Prozessstrategie der betroffenen Partei mit nachrichtendienstlichen Mitteln erfolge.¹² Mit der Feststellung eines Verfassungsverstoßes von erheblichem Gewicht ist nach Auffassung des Senats aber nur die erste Prüfungsstufe, das Vorliegen eines Verfahrenshindernisses, erfüllt. Auf einer zweiten Prüfungsstufe ist anschließend eine Abwägung zwischen den rechtsstaatlichen Verfahrensanforderungen einerseits und dem Präventionszweck des Verbotsverfahrens andererseits durchzuführen.¹³ Hier geht es letztlich um die Frage der (Un‐)Behebbarkeit des Verfahrenshindernisses, d. h. ob das Verbotsverfahren trotz des Verfahrenshindernisses fortzusetzen ist. Das ist – vereinfacht gesprochen – je eher der Fall, desto weniger schwer der Verfassungsverstoß wiegt und desto größer die von der betroffenen Partei ausgehende Gefahr für die freiheitliche demokratische Grundordnung ist.¹⁴ Hiermit etabliert der Senat unter Rückgriff auf das dem Grundgesetz innewohnenden Prinzip der „wehrhaften“ oder „streitbaren Demokratie“¹⁵ ein RegelAusnahme-Verhältnis in Bezug auf die Wirkung von Verfahrenshindernissen und behält es sich vor, abhängig vom konkreten Einzelfall zu entscheiden.  Der Senat benutzt in seinem Urteil – anders als die Entscheidung im ersten NPD-Verbotsverfahren und der Verbotsantrag – eine einheitliche und aus der Polizei- und Strafrechtswissenschaft gebräuchliche Terminologie: V-Leute sind Personen, die, ohne einer (Strafverfolgungs‐)Behörde anzugehören, bereit sind, diese bei der Aufklärung von Straftaten auf längere Zeit vertraulich zu unterstützen, und deren Identität grundsätzlich geheim gehalten wird (vgl. nur Bruns, in Karlsruher Kommentar zur StPO, 7. Aufl. 2013, § 110a Rn. 9; Schmitt, in Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 61. Aufl. 2018, § 110a Rn. 4a; RiStBV Anlage D.I.). Verdeckte Ermittler sind im Unterschied dazu Beamte des Polizeidienstes, die unter einer ihnen verliehenen, auf Dauer angelegten, veränderten Identität (Legende) ermitteln (vgl. nur § 110a Abs. 2 StPO; RiStBVAnlage D.II).Weiterer Kategorien, wie z. B. „Undercover-Agents“ oder „eingeschleuste V-Leute“, bedarf es nicht, diese stiften vielmehr nur Verwirrung.  BVerfGE 144, 20 (160 f., Rn. 406 ff.).  BVerfGE 144, 20 (162 f., Rn. 410 ff.).  BVerfGE 144, 20 (163 ff., Rn. 415 ff.).  BVerfGE 144, 20 (166, Rn. 425); Uhle, NVwZ 2017, S. 583 (585), lobt diesen zweiten Prüfungsschritt als von „besonderem Augenmaß“ zeugend.  Vgl. BVerfGE 144, 20 (166 f., Rn. 426).  Diesen Grundsatz generell ablehnend Lichdi, RuP 2017, S. 456 (463).

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1. Staatsfreiheit der Führungsebenen Mit dem Gebot strikter Staatsfreiheit unvereinbar ist der Einsatz von V-Leuten oder Verdeckten Ermittlern auf den Führungsebenen der Partei während des laufenden Verbotsverfahrens. Auf eine tatsächliche Einflussnahme kommt es dabei nicht an.¹⁶ Der Zweite Senat hat mit dieser Feststellung die entscheidungstragende Senatsminderheit im ersten NPD-Verbotsverfahren bestätigt, die Anforderungen an das Vorliegen eines solchen Einsatzes mit Blick auf die Definition der „Abschaltung“, den von dieser notwendig umfassten Zeitraum, das Verbot der Nachsorge sowie die betroffenen Ebenen aber präzisiert und damit für künftige Verfahren Rechtsklarheit geschaffen. Ein künftiger Antragsteller kann sich daran ohne weiteres orientieren und hat es selbst in der Hand, einen Verstoß ausschließen.¹⁷ Die „Abschaltung“ von V-Leuten bzw. der Rückzug von Verdeckten Ermittlern muss spätestens mit der öffentlichen Bekanntmachung der Absicht, einen Verbotsantrag zu stellen, erfolgen.¹⁸ Dabei handelt es sich regelmäßig um die Entschließung in dem Entscheidungsgremium des jeweiligen Antragstellers, also im Bundestag, Bundesrat oder in der Bundesregierung, bei Beschränkung der Partei auf ein Bundesland auch in einer Landesregierung (§ 43 Abs. 2 BVerfGG).¹⁹ Die „Abschaltung“ muss endgültig sein, die gewöhnlich stattfindende „Nachsorge“ fällt aus. Zufällige Kontakte mit den abgeschalteten V-Personen, Kontaktversuche von diesen oder Kontakte, die dem unmittelbaren Schutz von Leib und Leben der Quellen dienen, begründen noch keinen Verfassungsverstoß von erheblichem Gewicht, diese sind aber zu dokumentieren.²⁰ Mit sofortiger Wirkung abzuschalten sind schließlich auch V-Leute, die nach dem genannten Zeitpunkt in eine Führungsebene aufrücken.²¹

 BVerfGE 144, 20 (160, Rn. 407).  Zu dem in diesem Zusammenhang geltenden Grundsatz organfreundlichen Verhaltens s.u. II.3.  BVerfGE 144, 20 (161, Rn. 408).  Vgl. Kliegel, in: Barczak, Mitarbeiterkommentar zum BVerfGG, 2018, § 43 Rn. 23.  Vgl. BVerfGE 144, 20 (178, Rn. 456 f.).  Vgl. BVerfGE 144, 20 (174, Rn. 446). Abwegig war indes der Vortrag der Antragsgegnerin (BVerfGE 144, 20 ), wonach auch „eingeschleuste V-Leute“ – damit waren SzeneSympathisanten gemeint, die mit dem konkreten Auftrag, sich in eine Führungsebene wählen zu lassen, angeworben wurden – aus dem jeweiligen Vorstand zurückzuziehen seien. Ungeachtet der Konstruiertheit dieses Vortrags hat die handelnde Behörde gegenüber V-Leuten – anders als gegenüber Verdeckten Ermittlern – keine Weisungsbefugnis, mehr als eine Abschaltung kann von ihr daher nicht gefordert werden (als Druckmittel bliebe nur die – unverhältnismäßige – Enttarnung).

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Abzuschalten sind alle V-Leute und Verdeckten Ermittler, die im Bundes- oder in einem Landesvorstand der Partei oder einer Teilorganisation der Partei tätig sind. Zu den Führungsebenen in diesem Sinne zählen somit weder Bezirks-, Kreisund Ortsverbände, kommunale Mandatsträger, Mitglieder der Landtagsfraktionen und deren Mitarbeiterstäbe noch die Delegierten von Bundes- oder Landesparteitagen.²² Im Hinblick auf Letztere ist zwar festzustellen, dass der Parteitag gemäß § 9 Abs. 1 S. 1 PartG das oberste Organ der Partei ist, dieser bestimmt jedoch erst mit der Wahl des Parteivorstands das führende Organ der Partei.²³ Das Vorstandswahlrecht macht die Wähler nicht selbst zu Mitgliedern der Führungsebene. Es wäre behördlicherseits auch kaum zu kontrollieren, ob eine V-Person zum Parteitagsdelegierten wird. Denn bekommt die V-Person die Anweisung von ihrem V-Mann-Führer, ein solches Angebot abzulehnen, so macht sie sich möglicherweise verdächtig, insbesondere, wenn die Verbotsrechtsprechung eine solche Teilnahme untersagen würde.²⁴ Durch diese der Staatsfreiheit dienenden Maßnahmen ist die Arbeit der Verfassungsschutzbehörden auch nicht – wie der Senat zutreffend feststellt – in einer Weise beeinträchtigt, die eine Überwachung der Partei nunmehr völlig ausschließen und sie jeder staatlichen Kontrolle entziehen würde. Staatliche Überwachung ist vielmehr weiterhin durch den Einsatz von V-Leuten und Verdeckten Ermittlern auf unteren Ebenen der Partei oder durch andere nachrichtendienstliche Mittel möglich.²⁵ Auch führt das Vorhandensein einer einzigen nicht abgeschalteten V-Person in einem – beispielhaft gesprochen – wenig bedeutsamen Landesvorstand der wenig bedeutsamen Jugendorganisation der betroffenen Partei nicht zwangsläufig zu einem unbehebbaren Verfahrenshindernis und damit zur Einstellung des Verbotsverfahrens. Zunächst ist auf der zweiten Prüfungsstufe die angesprochene Abwägung zwischen den rechtsstaatlichen Verfahrensanforderungen und dem Präventionszweck des Verfahrens vorzunehmen. Hierbei wird neben der von der Partei ausgehenden Gefahr eine Rolle spielen, ob es sich nur um eine einzige VPerson handelt, ob der Staat die Abschaltung vorsätzlich oder fahrlässig unterlassen hat, inwiefern diese tatsächlichen Einfluss auf die politische Ausrichtung

 BVerfGE 144, 20 (171 f., Rn. 439 f.).  BVerfGE 144, 20 (171 f., Rn. 440).  Die Partei könnte auf diese Weise sogar gezielt V-Personen enttarnen. Ein solches Problem stellt sich z. B. im Rahmen der Ermittlungen zu digital verbreiteter Kinderpornographie. Hier ist den Tätern mittlerweile bekannt, dass ein Verdeckter Ermittler selbst keine Bilder verbreiten darf, weshalb durch ein entsprechendes Verlangen häufig eine „Überprüfung“ vorgenommen wird.  BVerfGE 144, 20 (161, Rn. 409); i.E. auch Uhle, NVwZ 2017, S. 583 (585).

Das zweite NPD-Verbotsverfahren

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der Partei hatte und seit wann sie Teil der Führungsebene welcher (Teil‐)Organisation war.²⁶

2. Quellenfreiheit der Beweismittel Ebenso wenig mit dem Gebot strikter Staatsfreiheit zu vereinbaren ist es, wenn die Begründung eines Verbotsantrags auf Beweismaterialien gestützt wird, deren Entstehung zumindest teilweise auf das Wirken von V-Leuten oder Verdeckten Ermittlern zurückzuführen ist.²⁷ Anders als bei der Staatsfreiheit der Führungsebenen führt die Kontamination des Beweismaterials durch staatliche Quellen aber erst dann zu einem unbehebbaren Verfahrenshindernis, wenn die restliche (staatsfreie) Tatsachengrundlage für die Durchführung des Verfahrens nicht mehr ausreicht.²⁸ Im Übrigen gilt, dass Beweise, die durch staatliche Stellen beeinflusst worden sind, im Verbotsverfahren nicht verwertbar sind, genauer gesagt, der Partei nicht zugerechnet werden können.²⁹ Hinsichtlich der Frage, wann ein Beweismittel als kontaminiert zu gelten hat, ist zu differenzieren:³⁰ Einfach gestaltet sich der Fall, dass eine V-Person während ihrer Tätigkeit für den Staat eine Handlung vornimmt bzw. eine Äußerung tätigt, auf die der Verbotsantrag in belastender Weise gestützt wird. Hier ist die Verwertung – ohne weitere Nachprüfung des konkreten Einzelfalls – ausgeschlossen. Ähnliches gilt für Handlungen bzw. Äußerungen, hinter denen keine Einzelperson, sondern eine Gruppe, z. B. ein Gremium, steht. Fallen diese in einen Zeitraum, in dem ein Mitglied dieser Gruppe einer V-Mann-Tätigkeit nachgegangen ist, so führt auch dies grundsätzlich zur Unverwertbarkeit (zur Ausnahme sogleich). Das Gebot strikter Staatsfreiheit betrifft mit Blick auf die Quellenfreiheit alle denkbaren Beweismittel, insbesondere Verhaltensweisen und Äußerungen bzw.

 Vgl. BVerfGE 144, 20 (166 f., Rn. 426).  BVerfGE 144, 20 (162 f., Rn. 410 ff.).  BVerfGE 144, 20 (162 f., Rn. 414). Selbst die Unverwertbarkeit des Parteiprogramms muss nicht zur Einstellung des Verfahrens führen (181 f., Rn. 473). Der Senat bezieht sich hier auf die insoweit großzügigere nicht entscheidungstragende Senatsmehrheit im ersten NPD-Verbotsverfahren (dort BVerfGE 107, 339 ).  Die Frage der Zurechnung ist daher auch nicht im Rahmen der Verfahrenshindernisse zu prüfen, sondern im Zusammenhang mit dem jeweiligen materiellen Prüfungspunkt, in dem das Beweismittel als Beleg angeführt wird, vgl. BVerfGE 144, 20 (250 ff., Rn. 647 ff.) für das Parteiprogramm. Vgl. hierzu auch unten IV.  Bereits der Antragsteller differenzierte in den von ihm vorgelegten Testaten zwischen diesen beiden Kategorien, BVerfGE 144, 20 (180, Rn. 467 f.).

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Verlautbarungen von Parteifunktionären oder -gremien. Dazu gehört, geradezu selbstverständlich, auch das Parteiprogramm, das – bei aller im extremen Milieu üblichen „Verdeckung der wahren Absichten“ – die zentrale politische Überzeugung der Partei widerspiegelt und damit regelmäßig ein Hauptbeweismittel darstellt.³¹ Problematisch daran ist nach der soeben dargestellten Differenzierung, dass das Parteiprogramm häufig vom Parteitag beschlossen wird, auf dem in einer als verfassungsfeindlich unter Beobachtung stehenden Partei aller Wahrscheinlichkeit nach V-Leute anwesend sind, was wiederum regelmäßig zur Unverwertbarkeit des Parteiprogramms in Verbotsverfahren führen würde. Dies erschiene angesichts der großen Gruppe der „Verantwortlichen“ für das Parteiprogramm unverhältnismäßig und mit Blick auf den im Nachhinein bestätigenden Umgang der Partei mit ihrem Programm auch in der Sache nicht richtig, weshalb eine Zurechnung unter bestimmten Voraussetzungen zulässig ist: Die Frage der Zurechenbarkeit ist zunächst abhängig von der Anzahl der VLeute, die als Delegierte über das Programm abgestimmt haben, im Verhältnis zu den übrigen Abstimmenden. Erreichen diese einen signifikanten Anteil, über den wohl ab einer zweistelligen Prozentzahl nachzudenken wäre,³² so dürfte – vorbehaltlich einer Gesamtwürdigung, insbesondere eines späteren Zueigenmachens – vieles für die Unverwertbarkeit des Parteiprogramms sprechen. Noch entscheidender ist allerdings die Frage, ob die anwesenden V-Leute prägenden Einfluss auf das Programm genommen haben.³³ Dies wäre z. B. der Fall, wenn sie Mitglied einer Programmkommission oder eines das Programm besonders prägenden Landesvorstands gewesen waren oder auf dem Parteitag selbst durch Anträge erfolgreich auf den Inhalt des Programms Einfluss genommen haben. Im letzteren Fall wäre auch die Art der Einflussnahme bzw. der Anträge zu prüfen. Die Zurechnung kann jedoch, wie im Falle des NPD-Parteiprogramms, auch unabhängig von dem tatsächlichen Einfluss von V-Leuten erfolgen, wenn die Parteiführung das Programm wiederholt bestätigt und jegliche Distanzierung im Nachhinein ausbleibt.³⁴ Die NPD hat an ihrem 2010 verabschiedeten Programm nie wieder gerüttelt, sondern dieses beim Bundeswahlleiter hinterlegt und auch

 BVerfGE 144, 20 (251, Rn. 648). Der Versuch des Antragstellers, das Parteiprogramm aus der Beweismittelkategorisierung herauszuhalten (91, Rn. 151), war wenig überzeugend und vermischte die Problemkreise „Staatsfreiheit der Führungsebenen“ und „Quellenfreiheit der Beweismittel“.  Auf dem NPD-Programmparteitag waren 9 von 187 Delegierten V-Leute, BVerfGE 144, 20 (91, Rn. 151). Das Urteil enthält keine konkreten Angaben zu prozentualen Grenzen. Letztlich ist die Frage der Verwertbarkeit eine des konkreten Einzelfalls und einer Gesamtwürdigung.  Vgl. BVerfGE 144, 20 (251 f., Rn. 650).  Vgl. BVerfGE 144, 20 (251 f., Rn. 651).

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im Verbotsverfahren selbst immer wieder auf dieses verwiesen. Änderungsbestrebungen gab es nicht.³⁵ Das Parteiprogramm in einem solchen Fall nicht als Ausdruck eigenständiger unbeeinflusster Willensbildung der Partei anzusehen, wäre sinnwidrig. Ähnliches gilt für alle Verlautbarungen von Gruppen bzw. Gremien, an denen ein V-Mann beteiligt war. Werden diese im Nachhinein zu zentralen und nicht in Frage gestellten Dokumenten der Partei, kann es auf eine etwaige ursprüngliche Kontamination nicht mehr ankommen. Das Dokument entspricht in einem solchen Fall ganz offenbar dem aktuellen Parteiwillen und ist damit jedenfalls im Nachhinein Ausdruck eigenständiger unbeeinflusster Willensbildung der Partei geworden. Im Hinblick auf Beweismittel, die einer einzigen Person inhaltlich zugeordnet werden können, kommt hinzu, dass eine V-Mann-Tätigkeit nicht sämtliche Handlungen und Äußerungen der Person für alle Zeit kontaminiert. Handlungen und Äußerungen aus der Zeit vor der Anwerbung und nach der Abschaltung können grundsätzlich verwertet werden. Hinsichtlich letzterer spricht der Senat allerdings von einem ausreichenden zeitlichen Abstand zur V-Mann-Tätigkeit, der Loyalitätskonflikte ausschließen soll.³⁶ Dies ist nachvollziehbar, da kein Grund ersichtlich ist, warum Äußerungen oder Handlungen eines überzeugten Extremisten, der für Geld seine Partei eine Zeit lang gegenüber dem Staat verrät, dann selbsttätig aufhört oder staatlicherseits abgeschaltet wird, jedoch weiter für seine Partei eintritt, dieser nicht zugerechnet werden sollten. Ein solches Verständnis entspricht auch Sinn und Zweck der „wehrhaften Demokratie“, weil eine „lebenslange Kontamination“ den Einsatz von V-Leuten mit Blick auf künftige Verbotsverfahren insgesamt in Frage stellen würde. Insoweit sollte ein zeitlicher Abstand von mindestens zwei Jahren genügen, um auszuschließen, dass die ehemalige V-Person weiterhin zugunsten eines zukünftigen Verbotsantrags die Partei durch besonders verfassungsfeindliche Handlungen oder Äußerungen belasten will.³⁷ Auch bei Beweismitteln, die einem Personenkreis inhaltlich zuzuordnen sind, sollte ein zeitlicher Abstand von mindestens zwei Jahren eingehalten werden, da mit Blick auf eine mögliche Beeinflussung des Beweismittels durch die V-Person auch nach ihrer Abschaltung nichts anderes gilt als bei unmittelbarer Urheberschaft.³⁸ Dass aufgrund des größeren Personenkreises dadurch mehr Beweismittel

 Dies teilte der Parteivorsitzende Franz auf geschickte Nachfrage des Senats in der mündlichen Verhandlung selbst mit, vgl. BVerfGE 144, 20 (251 f., Rn. 651).  BVerfGE 144, 20 (162, Rn. 412).  Vgl. BVerfGE 144, 20 (181, Rn. 470).  Der Antragsteller hat insoweit in seinen Testaten ohne nähere Begründung differenziert, was jedoch nicht überzeugt. Auch beim Parteiprogramm hätte daher gefragt werden müssen, ob

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kontaminiert werden, ist hinzunehmen. Zudem kann eine Zurechnung hier auch durch fehlende Distanzierung oder Bestätigung, insbesondere Zueigenmachen durch Parteiorgane, stattfinden. Der Senat sieht auch in Sachen Quellenfreiheit eine zweite Prüfungsstufe, also eine Abwägung zwischen den rechtsstaatlichen Verfahrensanforderungen und dem Präventionszweck des Verfahrens, vor.³⁹ Anders als bei der Staatsfreiheit dürfte der zweiten Prüfungsstufe hier jedoch nur selten Relevanz zukommen, da im Fall der Kontamination von Beweismitteln ein unbehebbares Verfahrenshindernis ohnehin erst vorliegt, wenn das Verbotsverfahren auf Grundlage der verbleibenden Tatsachen nicht mehr durchführbar ist.

3. Ausspähen der Prozessstrategie Der Grundsatz des fairen Verfahrens garantiert den Schutz vor Maßnahmen, die den freien Kontakt zwischen der Partei und ihrem Verfahrensbevollmächtigten behindern, und steht einer Verwendung von Informationen über die Prozessstrategie der Partei, die mit nachrichtendienstlichen Mitteln erhoben wurden, entgegen.⁴⁰ Wird die Verfahrensstrategie der betroffenen Partei im Verbotsverfahren gezielt ausgeforscht oder werden Kenntnisse über diese zufällig durch den Einsatz nachrichtendienstlicher Mittel erlangt und sodann verwendet, führt dies grundsätzlich – die Erheblichkeit des Verfassungsverstoßes vorausgesetzt – zu einem unbehebbaren Verfahrenshindernis. Der Grundsatz des fairen Verfahrens soll jedoch keineswegs die im Sinne der „wehrhaften Demokratie“ regelmäßig notwendige nachrichtendienstliche Beobachtung einer verfassungsfeindlichen Partei im Verbotsverfahren ausschließen.⁴¹ Vielmehr sind in Anlehnung an das strafrechtliche Ermittlungsverfahren Vorkehrungen zu treffen, dass Erkenntnisse zur Verfahrensstrategie der Partei nicht erhoben werden und dass solche, falls sie dennoch zufällig erlangt werden, nicht zu ihren Lasten verwendet werden.⁴² Vorkehrungen können dergestalt getroffen werden, dass die Sicherheitsbehörden des Bundes und der Länder spätestens mit Bekanntmachung der Absicht,

weitere Parteitagsdelegierte in den (zwei) Jahren zuvor V-Leute gewesen waren. Darauf kam es aufgrund des späteren Zueigenmachens des Programms durch die Partei jedoch ohnehin nicht mehr an.  BVerfGE 144, 20 (165 ff., Rn. 424 ff.).  BVerfGE 144, 20 (163, Rn. 415).  BVerfGE 144, 20 (163 f., Rn. 418).  BVerfGE 144, 20 (164, Rn. 419).

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einen Verbotsantrag zu stellen (s. II.1.), angewiesen werden, keine die Prozessstrategie der Antragsgegnerin betreffende Informationen zu beschaffen oder entgegenzunehmen und jeden Versuch einer entsprechenden Erkenntniszuführung zurückzuweisen sowie die Zurückweisung zu dokumentieren.⁴³ Gleiches gilt für die Sicherstellung der privilegierten Stellung des oder der jeweiligen Verfahrensbevollmächtigten ab dem Zeitpunkt der Anzeige ihrer Bevollmächtigung insbesondere im Hinblick auf die in § 3b Abs. 1 G 10 und § 160a Abs. 1 StPO normierten Einschränkungen.⁴⁴ Da der Antragsteller dies regelmäßig mangels Weisungsbefugnis nicht selbst veranlassen kann, ist er insoweit im Rahmen organfreundlichen Verhaltens durch die entsprechend weisungsbefugten Organe zu unterstützen.⁴⁵ Praktisch erfolgt die Umsetzung in ähnlicher Weise wie bei polizeilichen Ermittlungen, beispielhaft gesprochen: Der Ermittlungsbeamte muss sich beim Abhören eines Telefonats – wie bei Privatgesprächen – immer dann ausklinken, wenn die Verfahrensstrategie besprochen wird. Kommt er nicht umhin, Kenntnisse zu erlangen, hat er diese zu ignorieren. Sind hinreichende Weisungen zeitig erfolgt, so führen Verstöße gegen diese, soweit mit diesen konsequent umgegangen wird, nicht notwendig zu einem Verstoß gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens. So wurde im NPD-Verbotsverfahren entgegen der Weisungslage in Brandenburg durch eine G 10-Maßnahme eine Randerkenntnis zum Verbotsverfahren erlangt und an andere Verfassungsschutzbehörden weitergeleitet.⁴⁶ Die Informationen wurden jedoch vernichtet bzw. gesperrt und – das ist das Entscheidende – nicht an den Antragsteller bzw. seine Verfahrensbevollmächtigten weitergereicht und damit nicht verwendet.⁴⁷ Denn für den Verstoß gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens ist ein „Verwenden“ der Informationen erforderlich. Dass erhobene Informationen nicht verwendet wurden, ist allerdings vom Antragsteller zu beweisen (vgl. u. IV.). Nach Feststellung eines Verstoßes gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens ist ebenfalls eine zweite Prüfungsstufe durchzuführen. Hier dürfte im Rahmen

 BVerfGE 144, 20 (183, Rn. 477). G 10-Maßnahmen sollten hier eingeschlossen und die Weisungen insoweit näher präzisiert werden.  Vgl. BVerfGE 144, 20 (183 f., Rn. 479).  So hat bspw. der Bundesrat schon nur begrenzte Einflussmöglichkeiten auf die Behörden der Länder, insbesondere, wenn einige Länder den Verbotsantrag nicht mittragen, mit Blick auf Bundesbehörden ist er zur Gänze auf die Mitwirkung der weisungsbefugten Stellen angewiesen. Hierzu sind diese verpflichtet, sie dürfen den Verbotsantrag eines Antragstellers nicht auf diesem Wege torpedieren, vgl. Kliegel, a. a.O., § 43 Rn. 23.  BVerfGE 144, 20 (89, Rn. 145).  Die Verfahrensbevollmächtigten des Antragstellers haben im zweiten NPD-Verbotsverfahren ausdrücklich versichert, keinerlei Informationen zur Prozessstrategie der Antragsgegnerin erhalten zu haben, BVerfGE 144, 20 (183, Rn. 478).

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der beschriebenen Abwägung neben der von der Partei ausgehenden Gefahr von Bedeutung sein, inwiefern die Kenntnisse zufällig oder gezielt erlangt wurden, ob diese sich überhaupt eigneten, zum Nachteil der betroffenen Partei verwendet zu werden, und ob im Anschluss überhaupt der Versuch einer nachteiligen Verwendung gemacht wurde.

III. Der Tatbestand Der Zweite Senat hat, bevor er sich den einzelnen Tatbestandsvoraussetzungen zugewandt hat, klargestellt, dass das Parteiverbot Teil des „verfassungsrechtlichen Parteienrechts“ ist und weder gegen das in Art. 20 Abs. 2 GG verankerte Demokratieprinzip verstößt, noch Art. 146 GG widerspricht.⁴⁸ Letzterer greift nicht dem Inkrafttreten einer neuen Verfassung vor, d. h. auf dem Weg zu einer freien Entscheidung des deutschen Volkes gelten die Garantien des Grundgesetzes.⁴⁹ Das Bundesverfassungsgericht betont an dieser Stelle die Bedeutung der „wehrhaften Demokratie“, die auf die bekannte wie prägnante Kurzformel „keine unbedingte Freiheit den Feinden der Freiheit“ gebracht wird.⁵⁰ Eine Absage erteilt der Senat ebenso denjenigen, die dem Parteiverbot lediglich transitorischen Charakter zumessen wollen.⁵¹ Hierfür ergeben sich – wie der Senat zutreffend feststellt – keine Anhaltspunkte. Dogmatisch würde die Annahme eines Verlustes des Geltungsanspruchs einer Norm allein aufgrund der Veränderung der gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse zudem die unübersehbare Gefahr willkürlicher Gesetzes- und hier sogar Verfassungsinterpretationen begründen. Wie volatil tatsächlich scheinbar gefestigte Verhältnisse außerdem sind, zeigt die Entwicklung starker rechtspopulistischer und europakritischer Strömungen in vielen Staaten, die in diesem Ausmaß noch vor zehn Jahren von vielen für unrealistisch gehalten worden wären. Stattdessen ordnet der Senat das Parteiverbot als Norm mit absolutem, demokratieverkürzendem Ausnahmecharakter ein, bei dessen Auslegung den verfassungsrechtlichen Grundentscheidungen für die Offenheit des Prozesses der politischen Willensbildung, die Meinungsfreiheit und die Parteienfreiheit⁵² Rech-

 BVerfGE 144, 20 (195 ff., Rn. 515 ff.); ebenso Klein, a. a.O., Art. 21 Rn. 493a.  BVerfGE 144, 20 (197 f., Rn. 518).  BVerfGE 144, 20 (195, Rn. 514).  BVerfGE 144, 20 (198 f., Rn. 519 f.); vgl. hierzu auch Volp, NJW 2016, S. 459.  Zwischen Art. 21 Abs. 1 und Art. 21 Abs. 2 GG besteht demnach ein Regel-Ausnahme-Verhältnis, BVerfGE 144, 20 (200, Rn. 524).

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nung zu tragen ist.⁵³ Dem kommt der Senat dann auch nach, indem er betont, dass die Tatbestandsmerkmale restriktiv auszulegen seien und infolgedessen für die Annahme ungeschriebener tatbestandserweiternder Merkmale kein Raum sei.⁵⁴ Nur ein solches Verständnis wird der zwingenden Rechtsfolge der mit der Feststellung der Verfassungswidrigkeit verbundenen Auflösung der Partei gerecht. In diesem Zusammenhang zeigt der Senat aber dem verfassungsändernden Gesetzgeber die Möglichkeit auf, Sanktionen für verfassungsfeindliche Parteien auch unterhalb des Verbots zu schaffen (vgl. u. V.). Hinsichtlich des eigentlichen Tatbestands schafft der Senat im Folgenden Rechtsklarheit in Bezug auf sämtliche Tatbestandsmerkmale, vor allem das „Darauf Ausgehen“ (1. – 4.), und schließt ungeschriebene Tatbestandsmerkmale konsequent aus (5.). Dabei findet die Rechtsprechung des EGMR in seinen Überlegungen Berücksichtigung (6.). Außen vor bleibt die weitere Tatbestandsalternative, das „Gefährden des Bestands der Bundesrepublik Deutschland“, auf die sich der Verbotsantrag nicht erstreckte. Auch diese dürfte von den neuen Maßstäben jedoch betroffen sein.⁵⁵

1. Die freiheitliche demokratische Grundordnung Der Zweite Senat hat den in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zwar konkretisierten, aber gleichzeitig ausgeuferten Begriff der „freiheitlichen demokratischen Grundordnung“ wieder auf seinen Kern zurückgeführt. Das kritische Hinterfragen einzelner Elemente der Verfassung soll weiter möglich sein, ohne dass dadurch ein Parteiverbot ausgelöst werden kann.⁵⁶ Der Senat grenzt den Begriff daher auch von den Elementen des Art. 79 Abs. 3 GG, ausdrücklich dem Republik- und dem Bundesstaatsprinzip, ab.⁵⁷ So wird man Ländern mit konstitutioneller Monarchie, wie z. B. Großbritannien, oder Zentralstaaten, wie z. B. Frankreich, eine freiheitliche demokratische Grundordnung nicht absprechen wollen. Der Kern dieser Grundordnung besteht daher aus der Garantie der Menschenwürde, dem Demokratieprinzip und dem Rechtsstaatsprinzip.⁵⁸ Aus diesen Grundprinzipien leiten sich weitere Gewährleistungen und Grundrechte

 BVerfGE 144, 20 (200, Rn. 524).  Hierunter fällt insbes. die sog. Wesensverwandtschaft einer Partei mit der NSDAP, s.u. III.5.  Hierzu Kliegel, a. a.O., § 46 Rn. 16.  BVerfGE 144, 20 (205, Rn. 535).  BVerfGE 144, 20 (206, Rn. 537); ebenso Warg, NVwZ-Beilage 2017, S. 42 (43).  Diese Reduktion befürwortend Uhle, NVwZ 2017, S. 583 (586); Warg, NVwZ-Beilage 2017, S. 42; vgl. auch van Ooyen, RuP 2017, S. 468.

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ab, wobei im Rahmen des Tatbestands des Art. 21 Abs. 2 S. 1 GG immer auf die Auswirkungen bestimmter Handlungen auf die Kerngarantie abzustellen ist. Nicht jede Äußerung, die ein Grundrecht verletzt, verletzt notgedrungen die Menschenwürde.

a) Menschenwürde Die Garantie der Menschenwürde umfasst insbesondere die Wahrung personaler Individualität, Identität und Integrität sowie die elementare Rechtsgleichheit.⁵⁹ Sie ist immer dann verletzt, wenn ein Mensch zum bloßen Objekt staatlichen Handelns gemacht oder im Vergleich zu anderen Menschen in demütigender Weise ungleich behandelt bzw. ihm – insbesondere nach Maßgabe der Diskriminierungsverbote des Art. 3 Abs. 3 GG – nur ein rechtlich abgewerteter Status zugebilligt wird. Im Hinblick auf den Verbotstatbestand werden daher vor allem Parteien erfasst, die das Kollektiv über den einzelnen Menschen stellen oder bestimmte Gruppen von Menschen als minderwertig betrachten.⁶⁰ Während die Unterordnung unter ein Kollektiv extreme Strömungen von rechts, links wie auch religiöse Fanatiker auszeichnet, ist die Ungleichbehandlung ein besonderes Merkmal nationalistischer bzw. faschistischer politischer und auch religiöser Bewegungen. Das politische Programm der NPD verletzt mit seinem Konzept der „Volksgemeinschaft“ sowohl die Subjektqualität des Menschen, da sie das Kollektiv über den Einzelnen stellt, als auch die elementare Rechtsgleichheit, da der Rechtsstatus von ethnisch Nichtdeutschen gegenüber ethnisch Deutschen abgewertet werden soll. Dabei hat der Senat sich auch nicht von dem nur schwer greifbaren Parteiprogramm der NPD täuschen lassen (vgl. u. IV.).⁶¹ Es ist – gerade aufgrund der Existenz des Art. 21 Abs. 2 GG – nicht damit zu rechnen, dass extreme Parteien ihre verfassungsfeindlichen Ziele offen im Parteiprogramm formulieren, weshalb das tatsächlich Gewollte durch Auslegung zu ermitteln ist. Das hierdurch gefundene Ergebnis ist dann mit den weiteren Beweisergebnissen abzugleichen. So bekennt sich das Parteiprogramm der NPD zwar ausdrücklich zur Würde und Gleichheit des Menschen, lässt im Folgenden aber erkennen, dass die Geltendmachung dieser Werte nur den ethnisch Deutschen zukommt. Auch  BVerfGE 144, 20 (207, Rn. 539).  Gusy, NJW 2017, S. 601, bezeichnet das Grund- und Bürgerrechtskonzept folgerichtig als inklusiv und leitet daraus ebenso zutreffend ab, dass das Schutzgut dynamisch sei und den erreichten Grundrechtsstand in Deutschland und Europa konkretisiere.  Vgl. BVerfGE 144, 20 (247 ff., Rn. 637 ff.).

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wenn im Programm eingebürgerten Deutschen nicht ausdrücklich ihr „Deutschsein“ abgesprochen wird, so deutet vieles auf diese Haltung hin, die durch zahlreiche Äußerungen und Verlautbarungen von Parteifunktionären bzw. -gremien bestätigt wird.

b) Demokratieprinzip Das Demokratieprinzip fordert in seinem Kern die Möglichkeit gleichberechtigter Teilnahme am Prozess der politischen Willensbildung sowie die Rückbindung der Ausübung der Staatsgewalt an das Volk (Volkssouveränität).⁶² Hiergegen wird insbesondere verstoßen, wenn Einzelne von der Mitwirkung am Willensbildungsprozess ausgeschlossen werden bzw. die Legitimationskette vom Volk zur Staatsgewalt unterbrochen wird. Der Senat lässt im Hinblick auf eine Missachtung des Grundsatzes der Volkssouveränität bereits die Verächtlichmachung des geltenden (parlamentarischen) Systems ausreichen, wenn keine (demokratische) Alternative aufgezeigt wird. Vom Verbotstatbestand erfasst werden daher vor allem Parteien, die entweder bestimmte Menschen vom demokratischen Prozess, z. B. aufgrund der in Art. 3 Abs. 3 GG genannten Merkmale ausschließen, und/ oder die Staatsgewalt vom Volkswillen abkoppeln, z. B. ein Einparteiensystem einrichten, Wahlen und Abstimmungen abschaffen wollen etc. Während der Ausschluss bestimmter Gruppen von der Teilnahme an der Willensbildung wiederum häufig ein Kriterium nationalistischer Parteien bzw. religiöser Extremisten ist, wird die Volkssouveränität regelmäßig von extremen Parteien jedweder Couleur bedroht. Dem NPD-Parteiprogramm selbst war eine klare Missachtung des Demokratieprinzips trotz Auslegung nicht zu entnehmen.⁶³ Weder reichte das fehlende Bekenntnis zu demokratischen Grundwerten allein für eine Vollendung des Tatbestands aus, noch konnte der geforderte, diffus bleibende „Nationalstaat“ mit hinreichender Sicherheit als demokratiefeindlich charakterisiert werden. Allerdings war unter Berücksichtigung des auch im Programm vertretenen Konzepts der Volksgemeinschaft sowie zahlreicher der NPD zurechenbarer Äußerungen und Publikationen sowohl die Missachtung einer gleichberechtigten Teilhabe aller an der Willensbildung als auch des Grundsatzes der Volkssouveränität festzustellen.⁶⁴ So unterschied der NPD-Funktionär Gansel in der mündlichen

 BVerfGE 144, 20 (208 ff., Rn. 543 ff.).  BVerfGE 144, 20 (283 f., Rn. 759 f.).  BVerfGE 144, 20 (284 ff., Rn. 761 ff.).

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Verhandlung zwischen Volks- und Bevölkerungsherrschaft und bestätigte damit die u. a. dem Parteiprogramm zu entnehmende Haltung, dass gleichberechtigt an der Willensbildung nur Mitglieder der Volksgemeinschaft teilhaben sollen, nicht etwa eingebürgerte ethnisch Nichtdeutsche. Eindeutig zu belegen war hingegen die Verachtung und Verächtlichmachung des Parlamentarismus durch die NPD.⁶⁵ Die Volksgemeinschaft wird dabei unter Beschränkung auf die ethnisch Deutschen dem Parlamentarismus gegenübergestellt. Der an das Deutsche Reich anknüpfende Nationalstaat aller ethnisch Deutschen ist das durch revolutionäre Umwälzung zu schaffende Ziel, anschließend sollen die heute Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden. Die demokratische Legitimation dieses „Nationalstaates“ wird nicht erläutert, dessen Interessen sind aber nach den vorgelegten Belegen zweifellos gegenüber dem Demokratieprinzip vorrangig.

c) Rechtsstaatsprinzip Das Rechtsstaatsprinzip steht als Ausprägung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung insbesondere für die Rechtsbindung der öffentlichen Gewalt sowie die Kontrolle dieser Bindung durch unabhängige Gerichte und das Gewaltmonopol des Staates.⁶⁶ Hiergegen verstößt eine Partei, die der Staatsgewalt uferlose Befugnisse außerhalb eines kontrollierbaren Rechtsrahmens einräumt oder in die Unabhängigkeit der Gerichte eingreift. Das Gewaltmonopol des Staates missachten vor allem (terroristische) politische und religiöse Bewegungen, die ihre Forderungen mit Gewalt durchzusetzen versuchen bzw. eigene bewaffnete Verbände oder Schlägertruppen aufstellen. Der NPD war eine solche Missachtung des Rechtsstaatsprinzips aufgrund des vorliegenden Beweismaterials nicht sicher nachzuweisen. Weder das Programm noch andere Publikationen oder Äußerungen enthalten Hinweise darauf, in welchem Rechtsrahmen der „Nationalstaat“ sich bewegen soll. An dem Fortbestand einer unabhängigen dritten Gewalt wird nicht – jedenfalls nicht gerichtsfest nachweisbar – gerüttelt, auch wird von der NPD zumindest nach außen kein „Führerprinzip“ vertreten. Die NPD hält sich zudem an das staatliche Gewaltmonopol und fordert keinen gewaltsamen Umsturz. Sie unterhält auch keine bewaffneten Verbände oder steht in Zusammenhang mit terroristischen Aktivitäten.

 BVerfGE 144, 20 (286 ff., Rn. 768 ff.).  BVerfGE 144, 20 (210, Rn. 547).

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2. Beeinträchtigen und Beseitigen Der Zweite Senat hat außerdem erstmals die Begriffe des „Beseitigens“ und „Beeinträchtigens“ der freiheitlichen demokratischen Grundordnung definiert und damit differenziert.⁶⁷ Unter Beseitigen ist demgemäß die Abschaffung zumindest eines der Wesenselemente der freiheitlichen demokratischen Grundordnung oder deren Ersetzung durch eine andere Verfassungsordnung oder ein anderes Regierungssystem zu verstehen.⁶⁸ Unter dem weniger weitgehenden „Beeinträchtigen“ ist eine spürbare Gefährdung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung zu verstehen, die vor allem in dem (strukturierten) Bekämpfen einzelner ihrer Wesenselemente zu erkennen ist.⁶⁹ Der Senat hat gleichzeitig zutreffend festgestellt, dass es sich bei dem Tatbestandsmerkmal „Beeinträchtigen“ nicht um ein bloßes Redaktionsversehen des Verfassungsgebers handelt.⁷⁰ Für das Urteil in Sachen NPD hatte die Abgrenzung keine Bedeutung, da der Senat aufgrund der beabsichtigten Schaffung eines an der ethnischen „Volksgemeinschaft“ ausgerichteten „Nationalstaats“ eine Missachtung der Menschenwürde mit Blick auf diejenigen, die der sog. „Volksgemeinschaft“ nicht angehören, und des Demokratieprinzips in einem Ausmaß feststellte, dass von einer angestrebten Beseitigung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung auszugehen war.⁷¹

3. Ziele und Verhalten der Anhänger Die einzigen Erkenntnisquellen für die Feststellung des Tatbestands des Art. 21 Abs. 2 S. 1 GG sind die Ziele und das Verhalten der Anhänger der betroffenen Partei. Hinsichtlich der Ziele einer Partei bezieht der Senat sich auf die Definitionen des KPD-Urteils, wonach sie der Inbegriff dessen sind, was eine Partei politisch anstrebt, unabhängig davon, ob es sich um Zwischen- oder Endziele, Nahoder Fernziele, Haupt- oder Nebenziele handelt.⁷² Sie ergeben sich nicht nur aus

 BVerfGE 144, 20 (211, Rn. 549).  BVerfGE 144, 20 (211, Rn. 550).  BVerfGE 144, 20 (213 f., Rn. 556), wobei eine einzelne verfassungswidrige Forderung noch kein Bekämpfen eines Wesenselements darstellt.  BVerfGE 144, 20 (211 ff., Rn. 552 ff.).  BVerfGE 144, 20 (306, Rn. 844).  BVerfGE 144, 20 (214, Rn. 558), unter Hinweis auf BVerfGE 5, 85 (143 ff.).

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dem Parteiprogramm oder anderen offiziellen Verlautbarungen der Partei, sondern auch aus Schriften oder Reden. Es geht dabei um die wirklichen und nicht die vorgegebenen Ziele, die womöglich den Anschein der Verfassungsmäßigkeit wahren sollen.⁷³ Den Begriff des Parteianhängers definiert der Senat unter Rückgriff auf das SRP-Urteil als alle Personen umfassend, die sich für eine Partei einsetzen und sich zu ihr bekennen, auch wenn sie nicht Mitglied der Partei sind.⁷⁴ Allerdings schränkt der Senat den Begriff dahingehend ein, dass eine Zurechnung dann ausscheidet, wenn die Partei keine Möglichkeit hat, das Verhalten eines Anhängers zu beeinflussen.⁷⁵ Unproblematisch zurechenbar ist die Tätigkeit der Organe der Partei oder ihrer Teilorganisationen sowie der Publikationsorgane.⁷⁶ Bei einfachen Mitgliedern ist entscheidend, ob die Tätigkeit im politischen Kontext steht und von der Partei gebilligt oder geduldet wird.⁷⁷ Bei einem organisatorischen Zusammenhang der Tätigkeit mit einer Parteiveranstaltung ist von der Partei eine Distanzierung zu verlangen, im Übrigen ist der Partei Kenntnis von der Handlung oder Äußerung nachzuweisen und sie muss mögliche und zumutbare Gegenmaßnahmen unterlassen haben. Bei Nichtmitgliedern, also bloßen Anhängern, ist (grundsätzlich) Voraussetzung für eine Zurechnung, dass die Partei das Verhalten beeinflusst oder gebilligt hat.⁷⁸ Hierfür müssen konkrete Tatsachen vorliegen, das bloße nachträgliche Gutheißen reicht nur aus, wenn diesem ein ausdrückliches Zueigenmachen innewohnt. Das bedeutet jedoch nicht, dass eine Partei sich und ihre „Hardliner“ dadurch unangreifbar machen kann, dass diese nicht Mitglieder der Partei werden und die Partei deren Äußerungen und Handlungen schlicht nicht kommentiert. Ist offensichtlich, dass es sich um einen Anhänger handelt, der mit Wissen und Wollen der Partei tätig wird, vielleicht sogar organisatorische Aufgaben innerhalb der Parteistrukturen übernimmt, so greift diese allgemeine Formel nicht. So konnten der NPD die Äußerungen eines parteilosen Kreisrats zugerechnet werden, der auf der Liste der NPD zum Bundestag kandidiert hatte sowie als ihr Kandidat in den Kreistag und schließlich auch in den Vorstand ihrer Teilorgani-

 BVerfGE 144, 20 (215, Rn. 559); so auch Uhle, NVwZ 2017, S. 583 (587); vgl. Klein, a. a.O., Art. 21 Rn. 536.  BVerfGE 144, 20 (215, Rn. 560), unter Hinweis auf BVerfGE 2, 1 (22); die Zurechnungskonzeption befürwortend Uhle, NVwZ 2017, S. 583 (587).  BVerfGE 144, 20 (215, Rn. 561).  BVerfGE 144, 20 (215 f., Rn. 562).  BVerfGE 144, 20 (216, Rn. 563).  BVerfGE 144, 20 (216, Rn. 564).

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sation „Kommunalpolitische Vereinigung“ gewählt wurde.⁷⁹ Unabhängig von der Mitgliedschaft in der Partei handelte es sich hier um einen Funktionär in einer Führungsebene der Partei, dessen Äußerungen dieser ohne weiteres zuzurechnen waren. Straftaten von Parteianhängern spielen im Verbotsverfahren nur dann eine Rolle, wenn es sich um politische Straftaten handelt, die sich gegen die Schutzgüter des Art. 21 Abs. 2 S. 1 GG richten, und diese Ausdruck des Parteiwillens sind.⁸⁰ Dies ist bei einfachen Mitgliedern oder bloßen Anhängern nur bei entsprechender Beeinflussung durch die Partei oder fehlender Distanzierung bzw. Gutheißen der Straftaten der Fall. Der Senat stellte auch klar, dass eine pauschale Zurechnung von Straf- und Gewalttaten ohne konkreten Zusammenhang, sondern nur aufgrund der Schaffung oder Unterstützung eines bestimmten politischen Klimas, ausscheidet.⁸¹ Der Antragsteller hatte hier den Versuch gemacht, der NPD den Anstieg rechtsextremer Straftaten insgesamt zur Last zu legen. Dies ist schon deswegen fernliegend, weil die NPD nicht der einzige Akteur der rechtsextremen Szene ist und auch keinen kontrollierenden Einfluss auf diese ausübt (vgl. u. IV.).⁸² In Bezug auf parlamentarische Äußerungen hat der Senat hingegen die Zurechnung mit guten Gründen bejaht.⁸³ Der Grundsatz der Indemnität soll keinen Schutz vor einem Parteiverbot bieten; seine Zweckrichtung ist nicht, jegliches Beweismaterial für ein späteres Verbotsverfahren auszuschließen, sondern eine gerichtliche oder dienstliche Verfolgung eines Abgeordneten aufgrund seiner Äußerungen auszuschließen.⁸⁴ Die mittelbare Verwertung der Äußerungen im Verbotsverfahren fällt zwar grundsätzlich in den Schutzbereich des Art. 46 Abs. 1 S. 1 GG, weil dem Abgeordneten bei einem auf seine Äußerungen gestützten Verbot der Mandatsverlust droht.⁸⁵ Allerdings ist hier ein Ausgleich zum Prinzip der „wehrhaften Demokratie“ im Sinne praktischer Konkordanz herzustellen, denn die Anwendung des Indemnitätsgrundsatzes würde den Raum für politische

 BVerfGE 144, 20 (260, Rn. 678).  BVerfGE 144, 20 (217, Rn. 565); so auch Klein, a. a.O., Art. 21 Rn. 540.  BVerfGE 144, 20 (217, Rn. 566); ebenso Leggewie/Lichdi/Meier, RuP 2017, S. 324 (328 ff.); wohl a.A. Gusy, NJW 2017, S. 601 (602), der die Zurechnung als „Nachweisfrage“ kritisiert, damit aber Gefahr läuft, einer mehr oder minder willkürlichen Zurechnung das Wort zu reden.  Vgl. BVerfGE 144, 20 (337 ff., Rn. 926 ff.); ebenso Leggewie/Lichdi/Meier, RuP 2017, S. 324 (328 ff.).  BVerfGE 144, 20 (217 ff., Rn. 567 ff.); ebenso Klein, a. a.O., Art. 21 Rn. 540.  Anderes mag für einen anschließenden Mandatsverlust gelten, BVerfGE 144, 20 (218 f., Rn. 569).  Zur zweifelhaften Konformität des automatischen Mandatsverlusts mit der EMRK siehe Kliegel, a. a.O., § 46 Rn. 40 ff.

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Äußerungen einer Partei schlechthin, das Parlament, zur unverwertbaren Zone für Verbotsverfahren erklären. Es reicht dementsprechend aus, den Indemnitätsschutz bei der Entscheidung über den Mandatsverlust des jeweiligen Abgeordneten zu berücksichtigen. Im Verbotsverfahren sind seine parlamentarischen Äußerungen hingegen verwertbar.

4. Darauf Ausgehen a) Rechtliche Bewertung Zentrales Tatbestandsmerkmal des Verbotstatbestands im Sinne einer eigentlichen „Tathandlung“ ist das „Darauf Ausgehen“. Dieses hat der Zweite Senat neu definiert und die Schwelle im Vergleich zu den früheren Verbotsurteilen angehoben. Er definiert das „Darauf Ausgehen“ als planvolles Handeln, das im Sinne einer qualifizierten Vorbereitungshandlung auf die Beeinträchtigung oder Beseitigung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung oder auf die Gefährdung des Bestandes der Bundesrepublik Deutschland gerichtet ist. Weiter bedarf es konkreter Anhaltspunkte von Gewicht, die einen Erfolg dieses Handelns zumindest möglich erscheinen lassen (sog. Potentialität).⁸⁶ Der Senat stellt zunächst in der Linie der früheren Verbotsurteile klar, dass es sich bei dem Parteiverbot nicht um ein Gesinnungs- oder Weltanschauungsverbot, sondern ein Organisationsverbot handelt.⁸⁷ Wie im Strafrecht ist der „böse Gedanke“ an sich nicht zu ahnden, vielmehr muss ein aktives Handeln festgestellt werden. Die Partei muss vom „Bekennen“ ihrer verfassungsfeindlichen Ziele zum „Bekämpfen“ des Schutzgutes übergehen. Im KPD-Urteil sprach das Bundesverfassungsgericht – insoweit vergleichbar – von einer aktiv kämpferischen, aggressiven Haltung gegenüber der bestehenden Ordnung.⁸⁸ Für die Feststellung eines planvollen Vorgehens ist nach Auffassung des Senats daher – in Anlehnung an das KPD-Urteil⁸⁹ – erforderlich, dass kontinuierlich auf die Verwirklichung eines der freiheitlichen demokratischen Grundordnung widersprechenden politischen Konzeptes hingearbeitet wird.⁹⁰ Davon kann nur ausgegangen werden, wenn die einzelne Handlung Ausdruck einer der Partei zuzurechnenden Grundtendenz ist. Als qualifizierte Vorbereitung im Hinblick auf die Erreichung der     

BVerfGE 144, 20 (219 ff., Rn. 570 ff.). BVerfGE 144, 20 (220, Rn. 573). BVerfGE 5, 85 (141). BVerfGE 144, 20 (221, Rn. 576), unter Hinweis auf BVerfGE 5, 85 (143). Befürwortend Uhle, NVwZ 2017, S. 583 (587).

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gegen die Schutzgüter des Art. 21 Abs. 2 S. 1 GG gerichteten Ziele stellt sich das Handeln dar, wenn ein zielorientierter Zusammenhang zwischen eigenen Handlungen und der Beseitigung oder Beeinträchtigung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung zu erkennen ist.⁹¹ Schließlich sind – nunmehr in ausdrücklicher Abkehr vom KPD-Urteil – konkrete Anhaltspunkte von Gewicht festzustellen, die es zumindest möglich erscheinen lassen, dass das gegen die Schutzgüter gerichtete Handeln der Partei erfolgreich sein kann.⁹² Dieses als Potentialität bezeichnete Kriterium liegt nur dann vor, wenn eine Partei über hinreichende Wirkungsmöglichkeiten verfügt, die ein Erreichen der von ihr verfolgten verfassungsfeindlichen Ziele nicht völlig aussichtslos erscheinen lassen, und wenn sie von diesen Wirkungsmöglichkeiten auch Gebrauch macht.⁹³ Damit kehrt der Senat die Definition im KPD-Urteil, wonach eine Partei auch dann verfassungswidrig sein könne, wenn nach menschlichem Ermessen keine Aussicht darauf bestehe, dass sie ihre verfassungswidrige Absicht in absehbarer Zukunft werde verwirklichen können,⁹⁴ um und räumt mit diesem zu weitgehenden Verständnis des Verbotstatbestands, das die „wehrhafte Demokratie“ auch gegen ihr vollkommen ungefährliche Randund Kleinstparteien in Marsch setzen will, zu Recht auf. Er hat damit nicht nur den höheren Anforderungen des EGMR Rechnung getragen, sondern auch klargestellt, dass es in einer starken Demokratie der schärfsten und überdies zweischneidigen Waffe des demokratischen Rechtsstaats schlicht nicht bedarf, wenn das Erreichen der von der Partei verfolgten verfassungsfeindlichen Ziele völlig aussichtslos erscheint. Dies ist – anders als manche Kritiker behaupten (dazu sogleich III.4.c.) – weder naiv noch zu zögerlich gedacht. Das in diesem Zusammenhang immer wieder angeführte „Wehret den Anfängen“ wird dabei durchaus beachtet,⁹⁵ nur ist mit diesem schlagwortartigen Argument keine Partei zu verbieten, die zu einem solchen „Anfang“ gar nicht erst imstande ist. Gerade die rund 50 Jahre existierende, im Niedergang befindliche NPD ist das beste Beispiel dafür, dass gar keine abwehrfähigen „Anfänge“, die auf eine tatsächliche Beeinträchtigung des Schutzgutes hinauslaufen könnten, feststellbar sind.

 BVerfGE 144, 20 (221, Rn. 577).  BVerfGE 144, 20 (225, Rn. 586), unter Hinweis auf BVerfGE 5, 85 (143); Ipsen, RuP 2017, S. 3 (5), spricht insoweit von einem ad hoc entwickelten – zusätzlichen – Tatbestandsmerkmal, obwohl der Senat lediglich das auslegungsbedürftige Merkmal des „Darauf Ausgehens“ näher bestimmt hat; kritisch auch Kloepfer, NVwZ 2017, S. 913.  BVerfGE 144, 20 (225, Rn. 586).  BVerfGE 5, 85 (143).  Ausdrückliche Erwähnung in BVerfGE 144, 20 (224, Rn. 584).

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Soweit in diesem Zusammenhang angeführt wird, dass man – angesichts der langen Verfahrensdauer – auf den schnellen Erfolg einer extremen Partei nicht rechtzeitig reagieren und schließlich vor vollendete Tatsachen gestellt werden könnte, liegt dem zum einen ein grundlegendes Missverständnis über die Arbeitsweise des Bundesverfassungsgerichts wie auch über die Übertragbarkeit der Verfahrensdauer des zweiten NPD-Verbotsverfahrens auf zukünftige Verfahren zugrunde. Das zweite NPD-Verbotsverfahren hat aus verschiedenen Gründen lange gedauert, die sich in kommenden Verfahren so nicht wiederholen werden (hierzu s.u. VI.); hinzu kommt, dass von der NPD während des gesamten Verfahrens keine akute Gefahr für das Schutzgut ausging, besondere Eile – insbesondere auf Kosten einer umfassenden Tatsachenermittlung – war also nicht geboten. Zum anderen gehört zur Frage der Potentialität gerade auch die Analyse, ob der betroffenen Partei ein solcher schneller Aufstieg zuzutrauen ist. Ist dies angesichts bestimmter Umstände der Fall, wäre die Potentialität zu bejahen. Ob „Potentialität“ vorliegt, ist im Rahmen einer wertenden Gesamtbetrachtung festzustellen.⁹⁶ Dabei sind die Situation der Partei (Mitgliederbestand und -entwicklung, Organisationsstruktur, Mobilisierungsgrad, Kampagnenfähigkeit, finanzielle Lage), ihre Wirkkraft in die Gesellschaft (Wahlergebnisse, Publikationen, Bündnisse, Unterstützerstrukturen), ihre Vertretung in Ämtern und Mandaten, die von ihr eingesetzten Mittel, Strategien und Maßnahmen sowie alle sonstigen aussagekräftigen Umstände zu berücksichtigen. Erforderlich ist ein hinreichendes Maß an konkreten und gewichtigen Anhaltspunkten. Dabei sind sowohl ihre politischen (parlamentarischen) Erfolgschancen als auch Versuche, ihre Ziele mit sonstigen Mitteln durchzusetzen, in Rechnung zu stellen. Damit wird auch deutlich, dass ein strafrechtlich relevantes Handeln gerade nicht erforderlich ist, um das Vorliegen des Tatbestandsmerkmals festzustellen.⁹⁷ Der Senat weist zu Recht darauf hin, dass es sich um eine Norm mit Präventivcharakter handelt, die gerade auch „legale Revolutionen“, also solche, die sich die Freiheiten der Demokratie für ihre Zwecke zunutze machen, bekämpfen soll.⁹⁸ Daraus folgt, dass als Beweismittel auch solche Verhaltensweisen dienen können, die grundrechtlich geschützte Freiheiten wahrnehmen bzw. missbrauchen.⁹⁹ Ist allerdings der Partei strafbares Handeln zurechenbar, so kann dies durchaus das Vorliegen eines „Darauf Ausgehen“ bekräftigen.¹⁰⁰ Das gilt insbesondere, dann,

 BVerfGE 144, 20 (225 f., Rn. 587).  BVerfGE 144, 20 (221 f., Rn. 578).  Ablehnend Leggewie/Lichdi/Meier, RuP 2017, S. 145 (159).  BVerfGE 144, 20 (222 f., Rn. 579).  BVerfGE 144, 20 (223, Rn. 580); das ist Leggewie/Lichdi/Meier, RuP 2017, S. 145 (155), zu wenig, sie übersehen aber auch, dass „illegale Kampfmethoden“ allein ausreichen können.

Das zweite NPD-Verbotsverfahren

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wenn eine Partei versucht, mit Gewalt und Terror an die Macht zu gelangen. Handelt es sich hierbei um ein planvolles Vorgehen und nicht nur einen Einzelfall, ist das Tatbestandsmerkmal regelmäßig erfüllt, denn die Missachtung des staatlichen Gewaltmonopols indiziert auch immer eine gewisse Potentialität.¹⁰¹ Unterhalb des strafrechtlich relevanten Verhaltens ist die Potentialität zu bejahen, wenn es der Partei gelingt, in bestimmten Räumen den Prozess der politischen Willensbildung beispielsweise durch die Schaffung einer „Atmosphäre der Angst“ oder Bedrohung zu stören. Das ist dann der Fall, wenn Bürger ihre politischen Teilhaberechte aufgrund der Beeinträchtigungen und Bedrohungen durch die Partei nicht mehr oder nur mit Rücksicht auf den Parteiwillen ausüben. Im Zusammenhang mit der NPD wurden an dieser Stelle immer die sog. „national befreiten Zonen“ angeführt, von deren angeblicher Existenz der Antragsteller im Laufe des Verfahrens allerdings selbst abgerückt ist.¹⁰² Festzuhalten ist, dass bereits einzelne regionale Beeinträchtigungen für die Potentialität ausreichen können, da jeder in seinen politischen Teilhaberechten beeinträchtigte Bürger aus Sicht des Schutzgutes bereits inakzeptabel ist. Ein Parteiverbot kann daher auch eine nur in einzelnen Regionen erfolgreiche Partei treffen; die Potentialität bezieht sich nicht allein auf einen möglichen Erfolg auf Bundesebene.¹⁰³ Allerdings sind solche Beeinträchtigungen demokratischer Teilhaberechte durch den jeweiligen Antragsteller nachzuweisen, der Vortrag (abstrakter) subjektiver Bedrohungsempfindungen reicht hierfür nicht aus (vgl. IV.). Erforderlich ist eine prägende Einflussnahme auf den politischen Prozess, sei es auch bloß regional, alle Einschüchterungs- und Bedrohungsversuche, die diese Schwelle nicht überschreiten, fallen – so leidvoll dies für die jeweiligen Betroffenen ist – in die Zuständigkeit des präventiven Polizeirechts und des repressiven Strafrechts.¹⁰⁴ Der Staat kann und muss die Freiheit des politischen Prozesses und die jeweils Betroffenen in diesen Fällen schützen, nicht aber mit einem Parteiverbot, welches an lokalen Aktionen extremer Gruppierungen ohnehin wenig ändern würde.

 BVerfGE 144, 20 (226, Rn. 588); vgl. auch Klein, a. a.O., Art. 21 Rn. 534.  BVerfGE 144, 20 (97, Rn. 176).  Vgl. BVerfGE 144, 20 (226, Rn. 588). Daher liegt Gusy, NJW 2017, S. 601 (602), falsch, wenn er meint, regionale Sachverhalte können i. S.v. § 46 Abs. 2 BVerfGG nur dort ein Verbot rechtfertigen. Dies ist lediglich dann der Fall, wenn der jeweilige Gebietsverband autark von der Bundespartei handelt, was bei der NPD zu verneinen war und nur in seltenen Ausnahmefällen zu bejahen sein dürfte, vgl. weiterführend Kliegel, a. a.O., § 46 Rn. 21.  BVerfGE 144, 20 (368, Rn. 1008); skeptisch Gusy, NJW 2017, S. 601 (603).

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Eine konkrete Gefahr, so betont der Senat, ist gerade nicht erforderlich und unterstreicht damit die Maxime „Wehret den Anfängen“.¹⁰⁵ Zum einen bezieht sich das Tatbestandsmerkmal „Gefährden“ allein auf die Alternative „Bestand der Bundesrepublik Deutschland“, außerdem sprechen andere Vorschriften ausdrücklich von einer drohenden Gefahr mit Blick auf das Schutzgut (Art. 11, 87a Abs. 4 S. 1, 91 GG). Zum anderen droht bei Abwarten des Eintritts einer konkreten Gefahr, vor vollendete Tatsachen gestellt zu werden, weil die zu verbietende Partei bereits faktisch zu stark ist, um ein Verbot noch durchzusetzen. Das Parteiverbot zielt nicht auf die Abwehr bereits vorliegender, sondern auf die Verhinderung möglicherweise entstehender Gefahren für die freiheitliche demokratische Grundordnung.

b) Tatsächliche Bewertung in Sachen NPD Im Urteil stellte der Senat fest, dass die NPD zwar planvoll und mit hinreichender Intensität auf die Erreichung ihrer verfassungsfeindlichen Ziele hinarbeite, weshalb sich ihr Handeln durchaus als qualifizierte Vorbereitung der angestrebten Beseitigung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung darstelle, es aber an konkreten Anhaltspunkten von Gewicht fehle, die es zumindest möglich erscheinen ließen, dass dieses Handeln der Antragsgegnerin auch zum Erfolg führe.¹⁰⁶ Das planvolle Handeln im Sinne qualifizierter Vorbereitung belegt der Senat sodann mit der Organisation und Struktur der NPD, ihren Mandatsträgern und der intensiven Öffentlichkeitsarbeit sowie dem Vorliegen eines strategischen Konzepts, das auf allen Ebenen planmäßig umzusetzen versucht werde. Dieses Handeln sei jedoch nicht von einer Qualität, dass von einer auch nur entfernten Möglichkeit der Umsetzung ihrer Ziele in die Realität gesprochen werden könne.¹⁰⁷ Zudem sei nicht festzustellen, dass die Ziele durch illegale Mittel bzw. eine Beeinträchtigung der politischen Willensbildung zu erreichen versucht würden. Der Senat stützte sich hinsichtlich der Wirkmächtigkeit der NPD zuallererst auf ihre parlamentarischen (Miss‐)Erfolge, der es selbst in politisch für sie grundsätzlich „günstigen Zeiten“ mit einer Flüchtlingskrise und einem Aufkommen nationaler und populistischer Bewegungen in ganz Europa, nicht gelungen war, davon zu profitieren.¹⁰⁸ Im Gegenteil gingen ihr Stimmen vor allem an die populistische, weniger weit „rechts“ positionierte AfD verloren, die es offenbar    

BVerfGE 144, 20 (223 f., Rn. 581 ff.). BVerfGE 144, 20 (307 ff., Rn. 845 ff.). BVerfGE 144, 20 (325 ff., Rn. 896 ff.). BVerfGE 144, 20 (325 ff., Rn. 898 ff.).

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besser verstand, frustrierte und auch „nationale“ Wähler an sich zu binden. Die NPD bewegte sich im Bundesdurchschnitt um die 1 %-Marke. Selbst in ihren ehemaligen „Stammländern“ Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen schied sie aus den Landesparlamenten aus. Dieser vom Senat offenbar richtig beurteilte Negativtrend setzte sich auch nach dem Urteil fort: Das NPD-Ergebnis bei der Bundestagswahl 2017 war mit 0,4 % eines der schlechtesten seit ihrer Gründung (ein Minus von 0,9 Prozentpunkten im Vergleich zu 2013). In der Geschichte der NPD gab es zwar schon immer Höhen und Tiefen, aber keinen einzigen Bundestagseinzug bzw. dauerhaften Erfolg auf regionaler Ebene. Auch auf der vom Antragsteller besonders hervorgehobenen kommunalen Ebene handelte es sich bei genauer Prüfung nur um einzelne Mandate ohne jeglichen Einfluss in irgendwelchen Gremien.¹⁰⁹ Ein positiver Trend war auch hier nicht zu erkennen. Aber auch außerparlamentarisch konnte der Senat potentielle Erfolgschancen der NPD nicht feststellen.¹¹⁰ Der Organisationsgrad und der Mitgliederbestand der NPD waren tendenziell rückläufig, intern zeichnete sie sich eher durch Streitereien und finanzielle Probleme aus. Die politische Aktionsfähigkeit war laut der zitierten Verfassungsschutzberichte, die in gewissem Widerspruch zum Vortrag des die Länder repräsentierenden Antragstellers standen, stark bis erheblich eingeschränkt.¹¹¹ Die gesellschaftliche Wirkmächtigkeit war nur schwach ausgeprägt, was auch die „Sachverständigen“¹¹² Jesse und Kailitz bestätigten.¹¹³ Selbst der ehemalige, im Unfrieden geschiedene NPD-Vorsitzende Apfel sprach von einer sich größer – als die Realität – machenden Partei.¹¹⁴ Laut der Verfassungsschutzberichte lagen die Teilnehmerzahlen bei NPD-Veranstaltungen regelmäßig unterhalb der 100, während die Zahl der Gegendemon-

 Die insoweit trügerischen Zahlen des Antragstellers suggerierten einen viel größeren Einfluss. So standen z. B. die 27,2 % Stimmen in Blesewitz letztlich für einen Ort mit 235 Einwohnern, während die NPD auf Kreisebene mit maximal 6,6 % der Stimmen vertreten war, BVerfGE 144, 20 (328 f., Rn. 906 f.). Einen Mandatsträger erhielt sie dadurch nicht.  BVerfGE 144, 20 (330 ff., Rn. 910 ff.); Gusy, NJW 2017, S. 601 (602), sieht hier eine – von hier aus nicht nachvollziehbare – Verengung des Urteils auf Straftaten. Soweit er auf angebliche Schwächen des Antrags hinweist und mutmaßt, dass die Sicherheitsbehörden der Länder mit unterschiedlicher Intensität Material beigesteuert haben, ist darauf hinzuweisen, dass die Verfassungsschutzberichte die NPD im Gegensatz zum Antragsteller sogar eher klein reden (vgl. nur BVerfGE 144, 20 (333 ff., Rn. 918 ff.); Leggewie/Lichdi/Meier, RuP 2017, S. 145 (162), stützen die Subsumtion hingegen.  BVerfGE 144, 20 (331 ff., Rn. 913 ff., 918).  Siehe zur Einordnung als „sachkundige Dritte“ unten IV.  BVerfGE 144, 20 (332 f., Rn. 917).  BVerfGE 144, 20 (332 f., Rn. 917).

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stranten meist um ein Vielfaches höher war.¹¹⁵ Diese Strukturdefizite konnte die NPD auch nicht anderweitig, insbesondere durch Öffentlichkeitsarbeit, „Graswurzelarbeit“, Anti-Asyl-Veranstaltungen oder Zusammenarbeit mit parteiungebundenen rechtsextremen Kräften, in relevantem Maße ausgleichen.¹¹⁶ Vielmehr sanken Einfluss und Beteiligung immer dann, wenn die NPD als solche und nicht unter dem Deckmantel bestimmter Plattformen auftrat.¹¹⁷ Umgekehrt kommt ihr keine Führungsrolle im bewegungsförmigen Rechtsextremismus zu, weil die „freien Kameradschaften“ sich von ihr nicht vereinnahmen lassen.¹¹⁸ Im Ergebnis wird die bürgerliche Mitte von der NPD nicht erreicht. Dass die NPD die Beseitigung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung auf illegalen Wegen oder durch die Schaffung einer „Atmosphäre der Angst“ anstrebe, konnte der Senat ebenso wenig feststellen.¹¹⁹ Die zunächst aufgestellte Behauptung der Existenz „national befreiter Zonen“ hatte der Antragsteller auf den Hinweisbeschluss des Senats bereits zurückgezogen,¹²⁰ die verbleibenden Beispiele waren schlicht ungeeignet, um einen Dominanzanspruch zu belegen: Am Rande zur Lächerlichkeit bewegte sich – bei allem Verständnis für die Betroffenen – das Beispiel des Dorfes Jamel in Mecklenburg-Vorpommern mit 30 erwachsenen Einwohnern.¹²¹ Ein solches Dorf zu dominieren, ist selbst für Kleinstbewegungen durch Ansiedlung weniger Familien möglich. Deren Umtriebe sind durch die Mittel der präventiven Polizeigewalt konsequent zu bekämpfen und die übrigen Anwohner zu schützen – als Beleg für einen Dominanzanspruch der Partei im Rahmen eines Verbotsverfahrens taugt dieses Beispiel indes nicht. Hinsichtlich der weiteren vorgetragenen Beispiele Anklam und Lübtheen handelt es sich zwar um größere Orte, hier fehlte es bei jeweils nur rund 10 % Stimmenanteilen bei den letzten lokalen Wahlen und auch im Übrigen geringer Durchschlagskraft jedoch an der nötigen Dominanz.¹²² Präsenz allein führt noch nicht zu Dominanz, sondern erst der Eingriff in die Möglichkeit freier und selbstbestimmter Willensbildung. Eine Grundtendenz der NPD, ihre Ziele durch Gewalt bzw. Straftaten zu erreichen, konnte der Senat ebenso wenig feststellen.¹²³ Die Gesamtentwicklung

        

BVerfGE 144, 20 (333 f., Rn. 918). BVerfGE 144, 20 (334 ff., Rn. 920 ff.). Vgl. BVerfGE 144, 20 (336 f., Rn. 925). BVerfGE 144, 20 (337 ff., Rn. 926 ff.). BVerfGE 144, 20 (340 ff., Rn. 933 ff.). BVerfGE 144, 20 (97, Rn. 176). BVerfGE 144, 20 (341 f., Rn. 936 ff.). BVerfGE 144, 20 (343 f., Rn. 942 ff.). BVerfGE 144, 20 (346 ff., Rn. 951 ff.).

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ausländerfeindlicher Straftaten konnte der Partei nicht zugerechnet werden, weil sie diese nicht nachweislich gefördert oder gutgeheißen hatte.¹²⁴ Eine solche pauschale Zurechnung ist in dem unter demokratischen Gesichtspunkten zweischneidigen, endgültige Konsequenzen nach sich ziehenden Parteiverbotsverfahren nicht zu rechtfertigen (vgl. u. IV.). Die Zahl der von Funktionären begangenen politischen Straftaten bewegt sich zudem nicht in einer verbotsrelevanten Größenordnung. Schließlich konnten viele der vom Antragsteller vorgetragenen Angriffe, Anschläge und Ausschreitungen der Partei als solcher nicht zugerechnet werden, während die übrigen nachweisbaren Gewalttaten sich auf eine sehr überschaubare Anzahl innerhalb eines langen Zeitraums beliefen.¹²⁵ Nicht festgestellt werden konnte auch, dass das Handeln der NPD in bestimmten Regionen zu einer „Atmosphäre der Angst“ und damit zu einer Einschränkung der politischen Willensbildung geführt hätte.¹²⁶ Dafür hätte das ihr zurechenbare Handeln objektiv geeignet sein müssen, die freie und gleichberechtigte Teilhabe am Prozess der politischen Willensbildung zu beeinträchtigen. Bereits die Zurechenbarkeit stellte sich problematisch dar: Weder konnten der Partei anonymisierte subjektive Bedrohungserfahrungen noch Handlungen anderer rechtsextremer Gruppen zugerechnet werden (vgl. u. IV.). Die bloße Teilnahme am politischen Meinungskampf, die die Grenze des Zulässigen nicht überschreitet, ist ihrerseits ein neutraler Umstand. Demonstrationen und Kundgebungen im üblichen Rahmen können einer Partei nicht entgegengehalten werden. In Sachen NPD verblieben daher nur wenige Einzelfälle, in denen die Grenze des politischen Meinungskampfes überschritten war.¹²⁷ Diese führten jedoch entweder nicht zu einer feststellbaren „Atmosphäre der Angst“ oder waren schlicht zu vereinzelt, um von einer Grundtendenz der Partei ausgehen zu können.

c) Resümee und Ausblick Die erhöhten Anforderungen für das Vorliegen des „Darauf Ausgehens“ wurden in den ersten Reaktionen auf das Urteil zum Teil als „zu hohe Hürde“ kritisiert.

 BVerfGE 144, 20 (346 f., Rn. 952).  20 Sachverhalte innerhalb von 10 Jahren, von denen nur in Einzelfällen von einem geplanten und gezielten Einsatz von Gewalt zur Durchsetzung politischer Ziele gesprochen werden konnte, vgl. BVerfGE 144, 20 (225, Rn. 586).  BVerfGE 144, 20 (357 ff., Rn. 977 ff.).  BVerfGE 144, 20 (365 ff., Rn. 1002 ff.).

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Das Gericht warte darauf, dass eine Partei bereits gefährlich sei und komme damit zu spät.¹²⁸ Dieser Kritik ist aus verschiedenen Gründen entgegenzutreten. Zunächst beruht der neue Maßstab auf dogmatisch richtigen Erwägungen. Nach der alten Verbotsrechtsprechung reichte das planvolle Handeln einer Partei aus, auch wenn dieses sich in vollkommener Bedeutungslosigkeit abspielte. Dafür ist das schärfste Schwert des demokratischen Rechtsstaats nicht geschaffen worden. Bekämpft werden sollen nur mögliche, d. h. irgendwie vorstellbare Gefahren für die freiheitliche demokratische Grundordnung. Gefahrszenarien, die nach menschlichem Ermessen niemals Gestalt annehmen werden, müssen nicht präventiv bekämpft werden. Hinzu kommt, dass die frühere Verbotsrechtsprechung sich nicht auf der Linie der EGMR-Rechtsprechung bewegte, nach der ein „dringendes soziales Bedürfnis“ für ein Verbot erforderlich ist.¹²⁹ Für das Verbot einer Partei, die keinerlei Aussicht auf Erfolg hat, besteht im Regelfall gerade kein dringendes soziales Bedürfnis (dazu sogleich III.6.). Des Weiteren beruht die Kritik auf unbewussten und – wohl auch – bewussten Missverständnissen. Denn die Hürde der Potentialität ist alles andere als hoch, vielmehr genügt die bloße Möglichkeit einer Realisierung der verfassungswidrigen Zielsetzung.¹³⁰ Dafür kann bereits der Einzug in den Bundestag

 Vgl. Uhle, NVwZ 2017, S. 583 (588).  So auch Klein, a. a.O., Art. 21 Rn. 540a.  Wie hier: van Ooyen, RuP 2017, S. 468 (469); ähnlich Klein, a. a.O., Art. 21 Rn. 540d; Leggewie/ Lichdi/Meier, RuP 2017, S. 145 (146), und Leggewie/Lichdi/Meier, RuP 2017, S. 324 (336 ff.), die allerdings aus rechtspolitischen Gründen Parteiverbote und das Prinzip der wehrhaften Demokratie generell ablehnen. Dagegen wird in der Literatur immer wieder von „Wahrscheinlichkeit“ gesprochen, die aber gerade nicht erforderlich ist, so z. B. Gusy, NJW 2017, S. 601 (602). Dies verführt zu der Annahme einer hohen Hürde; ähnlich Linke, DÖV 2017, S. 483 (490). In keiner Weise nachvollziehbar ist die Behauptung von Ipsen, RuP 2017, S. 3 (5), dass der Senat in Wahrheit eine konkrete Gefahr geprüft habe, dies aber mit dem Begriff der Potentialität camoufliert habe. Eine konkrete Gefahr liegt vor, wenn bei ungehindertem Geschehensablauf mit hinreichender Wahrscheinlichkeit in naher Zukunft mit einem Schadenseintritt zu rechnen ist. Potentialität liegt im Gegensatz dazu bereits vor, wenn konkrete Anhaltspunkte von Gewicht einen Erfolg (Schaden) zumindest möglich erscheinen lassen.Wer behauptet, dies sei ein und dasselbe, kann ebenso gut behaupten, der Anfangsverdacht und der dringende Tatverdacht im Strafrecht befänden sich auf der gleichen Stufe. Diesem Missverständnis – insoweit konsequent – folgend behauptet Ipsen weiter (S. 8), dass die Hürde kaum zu überwinden sei, weil keiner wisse, welche Zahl an Wählerstimmen oder Mitgliedern, welche menschenverachtenden Publikationen und Äußerungen und welche Tätigkeiten eine Potentialität begründen könnten. Liest man indes das Urteil aufmerksam, so gewinnt man einen recht guten Eindruck davon, was ausreichen könnte (insoweit wird auf die weiteren Ausführungen im Text verwiesen); Laubinger, ZRP 2017, S. 55 (56), kritisiert

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und/oder in mehrere Landesparlamente genügen. So würde, beispielhaft gesprochen, der bisherige Erfolg der AfD ohne weiteres für eine Bejahung des Tatbestandsmerkmals „Darauf Ausgehen“ genügen.¹³¹ Weitere Feststellungen wären im Rahmen des Merkmals „Darauf Ausgehen“ dann nicht mehr zu treffen. Die detaillierte Untersuchung von Einzelfällen erübrigt sich, wenn bereits der parlamentarische Erfolg allein die Potentialität belegt. Daher kommt das Bundesverfassungsgericht in Verbotsverfahren auch nicht zu spät, weil plötzliche Wahlerfolge sehr schnell und problemlos unter dem Tatbestandsmerkmal „Darauf Ausgehen“ subsumiert werden können. Auf der anderen Seite können auch Parteien verboten werden, die zwar parlamentarisch erfolglos sind, ihre Ziele aber mit Gewalt durchzusetzen versuchen.¹³² So wäre ein Verbot von Parteien, die einen terroristischen Arm unterhalten bzw. mit einer terroristischen Organisation verbunden sind, bei entsprechenden Nachweisen schnell auszusprechen, weil hier regelmäßig auch die Beeinträchtigung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung aufgrund der Missachtung des staatlichen Gewaltmonopols sowie des Demokratieprinzips indiziert wäre. So wäre z. B. bei den baskischen, mit der Terrororganisation ETA verbundenen politischen Organisationen das Merkmal des „Darauf Ausgehens“ ohne weiteres erfüllt. Soweit das Prognoserisiko als Argument gegen eine erhöhte Schwelle angeführt wird,¹³³ ist dem zu entgegen, dass dieses Risiko in der Möglichkeitsprognose bereits eingepreist ist. Eine Potentialität wird immer schon dann anzunehmen sein, wenn das Prognoserisiko – z. B. aufgrund einer volatilen Entwicklung der die Potentialität ohne nähere Begründung – und damit auch substanzlos – als „tollkühne Konstruktion“.  Dort fehlt es allerdings, jedenfalls bei grober, auf der aktuellen herrschenden Parteilinie beruhender Beurteilung, an der Zielsetzung eines Beseitigens oder Beeinträchtigens der freiheitlichen demokratischen Grundordnung; a.A. offenbar Leggewie/Lichdi/Meier, RuP 2017, S. 324 (340 ff.), die sich allerdings zu sehr auf die extremen Vertreter der Partei konzentrieren.  Dies offenbar missverstehend Leggewie/Lichdi/Meier, RuP 2017, S. 145 (155).  So z. B. Uhle, NVwZ 2017, S. 583 (588), der meint, der präventive Charakter des Art. 21 Abs. 2 GG spreche deutlich mehr dafür, eine Partei mit antidemokratischer Zielsetzung von vornherein zu verbieten. Das Entstehen von Gefahren müsse mit größtmöglicher Effizienz unterbunden werden. Hierbei übersieht er jedoch, dass die Potentialität jede denkbare Gefahr bereits erfasst. Nur wenn eine Gefahr unter keinen vorstellbaren Umständen möglich erscheint, ist diese zu verneinen. Das Kriterium der Potentialität geht gerade nicht ins Risiko, sondern schließt lediglich die risikofreien Fälle aus. Solange tatsächliche Risiken bestehen, ist die Potentialität zu bejahen. Auch Uhles Beispiel, dass gleichzeitig mehrere verfassungsfeindliche Parteien nebeneinander bestehen, denen es isoliert an Potentialität fehlt, die aber in der Summe das Schutzgut gefährden, würde bei der Prognose der Potentialität erfasst werden, weil in diesem Fall eine Umsetzung der Ziele – sei es auch nur im Schulterschluss mit Dritten – eben möglich erscheint.

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betroffenen Partei – hoch ist. Das ist gerade der Unterschied der bloßen Möglichkeit zum Vorliegen einer abstrakten oder konkreten Gefahr. Außerdem darf nicht übersehen werden, dass – wie im Fall der NPD – bei plötzlichen Wahlerfolgen mit gewisser Breitenwirkung sofort ein neuer Verbotsantrag gestellt werden kann, dem § 41 BVerfGG aufgrund der „neuen Tatsachen“ nicht entgegensteht. Da durch die Wahlerfolge das Merkmal des „Darauf Ausgehens“ ohne weiteres erfüllt wäre, wäre nur noch die Zielsetzung der Partei mit Blick auf das Schutzgut zu prüfen. Bei der NPD lägen insoweit noch die Ergebnisse des hiesigen Verbotsverfahrens vor, weshalb nur etwaige Neuentwicklungen seit dem letzten Urteilsspruch zu prüfen wären.¹³⁴ Aber auch bei anderen Parteien könnte das Gericht aufgrund der nunmehr vorliegenden eindeutigen Maßstäbe zügig zu einem Urteil kommen. Das Verständnis des Senats vom Merkmal des „Darauf Ausgehens“ entspringt somit gerade dem Prinzip der „wehrhaften Demokratie“, die ihre Feinde rechtzeitig und mit aller Härte (präventiv) bekämpft, sobald diese auch nur ansatzweise ernst zu nehmen sind.

5. Keine ungeschriebenen Tatbestandsmerkmale Der Zweite Senat hat zurecht festgestellt, dass der Verbotstatbestand keine ungeschriebenen Tatbestandsmerkmale enthält. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz kann schon aufgrund des Wortlauts des Art. 21 Abs. 2 S. 1 GG, der bei Vorliegen der verfassungsrechtlich normierten Tatbestandsvoraussetzungen kein Ermessen einräumt, keine Anwendung finden.¹³⁵ Das dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz innewohnende Grundprinzip, das Übermaßverbot, hat der Senat – wenn man so will – bei der Auslegung des Tatbestandsmerkmals „Darauf Ausgehen“ berücksichtigt.¹³⁶ Denn der verschärfte Maßstab verhindert, dass vollkommen bedeutungslose und auch auf lange Sicht ungefährliche Parteien mit dem scharfen Schwert des Art. 21 Abs. 2 GG bekämpft werden, wenn auch „mildere Mittel“ – politische und zivilgesellschaftliche Auseinandersetzung, Polizei-, Strafverfolgungs- und Verfassungsschutzbehörden, das neue Finanzierungsausschlussverfahren etc. – die von der Partei ausgehen-

 Allein die Aufrechterhaltung des gegen die Menschenwürde verstoßenden Parteiprogramms dürfte für die erneute Annahme eines Willens zur Beseitigung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung ausreichen.  BVerfGE 144, 20 (231 f., Rn. 600); ebenso Uhle, NVwZ 2017, S. 583 (590).  Vgl. BVerfGE 144, 20 (232, Rn. 602); auch Klein, a. a.O., Art. 21 Rn. 540a; van Ooyen, RuP 2017, S. 468 (469); s. auch Ipsen, RuP 2017, S. 3 (5), der aber deutlich über das Ziel hinausschießt, wenn er dies als offenen Widerspruch charakterisiert.

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den Störungen für Bürger und Staat hinreichend beseitigen können.¹³⁷ Schließlich steht der Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes auch die Entstehungsgeschichte der Norm entgegen.¹³⁸ Einem Fehlschluss unterliegt auch, wer meint, aufgrund der Einführung des Finanzierungsausschlussverfahrens sei nun ein milderes Mittel zum Parteiverbot vorhanden, weshalb der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nunmehr Anwendung findet.¹³⁹ Hierbei wird übersehen, dass Art. 21 Abs. 2 GG eine zwingende Rechtsfolge vorsieht, wenn seine Voraussetzungen vorliegen. Ist also das „Darauf Ausgehen“ zu bejahen, darf das Gericht nicht lediglich einen Finanzierungsausschluss verhängen, selbst wenn es diesen für ebenso geeignet hält, die von der Partei ausgehende „Gefahr“ abzuwenden. Auch das aus der Vereinsverbotsrechtsprechung bekannte Merkmal der „Wesensverwandtschaft mit dem Nationalsozialismus“ hat keine tatbestandsersetzende Wirkung.¹⁴⁰ Gegen eine solche „belastende Analogie“ spricht bereits der Wortlaut der Norm, die eindeutige, verfassungsrechtlich normierte Voraussetzungen hat, die nicht, auch nicht vom Bundesverfassungsgericht, schlicht durch andere Tatbestandsvoraussetzungen ersetzt werden können.¹⁴¹ Entgegenzutreten ist auch der immer wieder artikulierten Auffassung, Art. 21 Abs. 2 GG richte sich vor allem gegen nationale bzw. rechtsextreme Parteien. Vielmehr beinhaltet die Norm im Interesse bestmöglichen Schutzes der freiheitlichen demokratischen Grundordnung eine Absage an totalitäre Bestrebungen jeglicher Art.¹⁴² Fraglos wird eine der NSDAP wesensverwandte Partei Kernbestandteile der freiheitlichen demokratischen Grundordnung missachten, insbesondere die Menschenwürde und das Demokratieprinzip. Ob für eine solche Feststellung innerhalb der Prüfung des Art. 21 Abs. 2 S. 1 GG der Umweg über die Prüfung der Wesensverwandtschaft nötig ist, erscheint allerdings zweifelhaft. Die Missachtung von Menschenwürde und Demokratieprinzip kann auch ohne Ideologievergleich anhand der Ziele und dem Verhalten der Anhänger der Partei festgestellt werden. Der Zweite Senat hat in seinem Urteil neben den Verletzungen der Menschenwürde und des Demokratieprinzips auch die Wesensverwandtschaft der NPD mit dem Nationalsozialismus geprüft und festgestellt.¹⁴³ Dies war angesichts der bereits festgestellten Missachtung des Schutzgutes im Grunde redundant

 Letzteres ist jedoch – wie der Senat zutreffend feststellt – eine Frage politischer Opportunität und nicht des Art. 21 Abs. 2 GG, vgl. BVerfGE 144, 20 (233, Rn. 606).  BVerfGE 144, 20 (232, Rn. 601).  So aber Kloepfer, NVwZ 2017, S. 913 (919).  BVerfGE 144, 20 (227 f., Rn. 593); ebenso Uhle, NVwZ 2017, S. 583 (590).  BVerfGE 144, 20 (228 f., Rn. 595).  BVerfGE 144, 20 (229 f., Rn. 597).  BVerfGE 144, 20 (295 ff., Rn. 805 ff.).

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und – da es sich nicht um ein Tatbestandsmerkmal handelt – auch nicht der Vollständigkeit halber geboten. Die Prüfung hätte allenfalls mit Blick auf die Rechtsprechung des EGMR, der im Rahmen des Tatbestandsmerkmals „dringendes soziales Bedürfnis“ auch die historischen Erfahrungen und Entwicklungen in dem betreffenden Konventionsstaat berücksichtigt (s. III.6.), bei einem Verbot der NPD eine gewisse Berechtigung gehabt. Aber auch diesen historischen Erfahrungen und Entwicklungen könnte im Rahmen der Prüfung des Schutzgutes hinreichend Rechnung getragen werden. Der Mehrwert einer gesonderten Prüfung der Wesensverwandtschaft einer Partei mit dem Nationalsozialismus ist daher – vor allem mit Blick auf zukünftige Verfahren – nicht erkennbar.

6. Verbotsrechtsprechung des EGMR Der Zweite Senat hat seine neuen Maßstäbe an den Anforderungen, die der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte an Parteiverbote stellt,¹⁴⁴ gemessen und ist zu dem Ergebnis der Konventionskonformität gekommen.¹⁴⁵ Selbstverständlich obliegt die endgültige Prüfung, ob Maßstäbe bzw. ein sich darauf stützendes Verbot konventionskonform ist, dem EGMR selbst; der Senat wollte jedoch betonen, sich mit den aus der EMRK abgeleiteten, auch in Deutschland Geltung beanspruchenden Rechten einer politischen Partei auseinandergesetzt zu haben, um bei möglichen zukünftigen Parteiverboten auf konventionskonforme Maßstäbe zurückgreifen zu können. Der Senat stellt zutreffend fest, dass der EGMR mangels speziellerer Regelungen Parteiverbote an Art. 11 Abs. 2 S. 1 EMRK misst.¹⁴⁶ Danach darf die in Art. 11 Abs. 1 EMRK – nicht ausdrücklich, aber inhärent – gewährte Parteienfreiheit nur eingeschränkt werden, wenn dies gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist für die nationale oder öffentliche Sicherheit, zur Aufrechterhaltung der Ordnung oder zur Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit oder der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer. Der EGMR erklärt Parteiverbote damit zu einem grundsätzlich legitimen Mittel. Über den Wortlaut der Vorschrift hinaus muss aber ein dringendes soziales Bedürfnis für ein Verbot bestehen.¹⁴⁷ Ein solches liegt vor, wenn entweder die Partei Ziele verfolgt, die mit den fundamentalen Grundsätzen der Demokratie und    

Allgemein hierzu auch Wolter, EuGRZ 2016, S. 92; Emek, RuP 2017, S. 174. BVerfGE 144, 20 (234 ff., Rn. 607 ff.). BVerfGE 144, 20 (234 ff., Rn. 608 ff.). BVerfGE 144, 20 (235 f., Rn. 611 ff.).

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des Menschenrechtsschutzes nicht vereinbar sind, oder wenn die Mittel, die die Partei einsetzt, nicht rechtmäßig und demokratisch sind, insbesondere wenn sie zur Gewalt aufruft oder deren Einsatz billigt. Der EGMR erkennt demnach auch die Zulässigkeit eines präventiven Vorgehens an, da ein Staat nicht zuwarten muss, bis die Partei an die Macht gekommen ist und konkrete Maßnahmen zur Umsetzung ihrer demokratiewidrigen Politik ergreift, obwohl die Gefahr dieser Politik hinreichend nachgewiesen und unmittelbar ist.¹⁴⁸ Die konkrete Prüfung, ob ein dringendes soziales Bedürfnis vorliegt, ist laut EGMR vom Einzelfall abhängig. Dabei werden insbesondere die historischen Erfahrungen und Entwicklungen des verbietenden Staates berücksichtigt.¹⁴⁹ Auf der Rechtsfolgenseite prüft der Gerichtshof schließlich, ob das Verbot angemessen ist, das heißt, ob die sich aus dem nationalen Recht ergebenden Folgen des Parteiverbots außer Verhältnis zur Schwere der unter dem Punkt dringendes soziales Bedürfnis festgestellten Bedrohung für die Demokratie stehen.¹⁵⁰ Die Angemessenheit hat der EGMR allerdings bisher nur in Ausnahmefällen verneint. Im Anschluss an die Darstellung seines Verständnisses der EGMR-Rechtsprechung misst der Senat seine eigenen Maßstäbe an denen des EGMR und kommt zum Ergebnis der Konventionskonformität.¹⁵¹ Zweifellos gebe es mit Art. 21 Abs. 2 GG eine hinreichende gesetzliche Regelung und auch stellten beide Schutzgüter legitime Zwecke dar. Die neue Definition des Merkmals des „Darauf Ausgehens“ entspreche zudem einem „dringenden sozialen Bedürfnis“. Zutreffend geht der Senat auch davon aus, dass nach der Rechtsprechung des EGMR nicht bereits eine konkrete Gefahr für die freiheitliche demokratische Ordnung eingetreten sein¹⁵² und ein Erfolg der verfassungsfeindlichen Bestrebungen der Partei nicht unmittelbar bevorstehen muss, damit ein Verbot vor Art. 11 Abs. 2 EMRK Bestand hat.¹⁵³ Dies würde der soeben beschriebenen Rechtsprechung widersprechen, nach der das Parteiverbot eine Präventivmaßnahme darstellt, deren Zeitpunkt in ein weites Ermessen des betreffenden Staates gestellt ist, und bereits die Billigung von Gewalt ein Verbot – wie bei den ETA-nahen Parteien in Spanien – rechtfertigen kann.

 BVerfGE 144, 20 (236, Rn. 613).  BVerfGE 144, 20 (236, Rn. 614).  BVerfGE 144, 20 (237, Rn. 615).  BVerfGE 144, 20 (237 ff., Rn. 617 ff.); so auch Klein, a. a.O., Art. 21 Rn. 540a.  A.A. Lichdi, RuP 2017, S. 456 (465), ohne nähere Begründung.  Dies wird unter Verweis auf das Urteil in Sachen Refah Partisi z.T. vertreten, EGMR , Refah Partisi and Others v. Turkey, Urteil vom 13. Februar 2003, Nr. 41340/98 u. a., § 102; vgl. hierzu BVerfGE 144, 20 (238 f., Rn. 619 f.) m.w. N.

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Ein (zukünftiges) Parteiverbot nach den neuen Maßstäben des Senats zu Art. 21 Abs. 2 S. 1 GG dürfte damit nicht der Gefahr ausgesetzt sein, vor dem EGMR für konventionswidrig erklärt zu werden.¹⁵⁴ Auch hier steht und fällt die Prüfung mit der Verschärfung des Tatbestandsmerkmals „Darauf Ausgehen“. Die nunmehr geforderte Potentialität der Umsetzung der verfassungsfeindlichen Ziele der Partei steht in Einklang mit der vom EGMR geforderten „Gefahr“, die dieser allerdings nicht genauer definiert. In die Prüfung, ab wann eine solche „Gefahr“ bzw. Potentialität vorliegt, wird und kann der EGMR nicht in aller Tiefe einsteigen, denn diese Feststellung ist Sache der Tatsacheninstanz, also hier des Bundesverfassungsgerichts. Nur wenn dessen Würdigung unzureichend oder unplausibel ist, wird er ein Verbot am „dringenden sozialen Bedürfnis“ scheitern lassen. Spekulationen, dass der Senat aus „Sorge“ vor einer Überprüfung eines Verbots der NPD vor dem EGMR seine Maßstäbe angehoben und dadurch eine Überprüfung schließlich ganz „vermeiden konnte“, gehen indes fehl.¹⁵⁵ Der Senat hat vielmehr aus eigener Überzeugung – dafür steht bereits das Urteil selbst – die Maßstäbe des Art. 21 Abs. 2 S. 1 GG in das 21. Jahrhundert einer starken und selbstbewussten deutschen Demokratie überführt und im Zuge dessen das Prinzip der „wehrhaften Demokratie“ maßvoll einfließen lassen. Denn einer Wehrhaftigkeit bedarf es richtigerweise nicht gegenüber völlig untauglichen Angriffsversuchen. Hierdurch würde ein Staat mehr Schwäche denn Stärke zeigen. Dass dieses neue Verständnis zudem mit den Anforderungen des EGMR übereinstimmt, zeigt nur, dass der Senat sich mit seinem aktualisierten Verständnis des Parteiverbots in der guten Gesellschaft der Auslegung der EMRK durch den EGMR befindet. Die genannten Spekulationen übersehen im Übrigen, dass die NPD – ganz unabhängig von dem Verständnis des „Darauf Ausgehens“ – ein Sonderfall ist. Richtig ist, dass die Definition des KPD-Urteils, nach der nach menschlichem Ermessen keine Aussicht auf einen Erfolg der Partei im Sinne einer Umsetzung ihrer Ziele zu bestehen brauchte, nur schwer mit dem laut EGMR erforderlichen „dringenden sozialen Bedürfnis“ hätte übereingebracht werden können. Übersehen wird jedoch, dass der EGMR in seiner Rechtsprechung den historischen Erfahrungen und Entwicklungen der Konventionsstaaten eine ganz erhebliche

 So auch Jacob, jM 2017, S. 110 (114); die Maßstäbe als unterhalb der des EGMR einordnend van Ooyen, RuP 2017, S. 468 (469).  Diese fanden sich vor allem in der Presse; vgl. außerdem Laubinger, ZRP 2017, S. 55 (56); Uhle, NVwZ 2017, S. 583 (589), spricht lediglich von einer „konventionsinspirierten“ Interpretation; ähnlich van Ooyen, RuP 2017, S. 468 (469); Emek, RuP 2017, S. 174.

Das zweite NPD-Verbotsverfahren

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Bedeutung beimisst.¹⁵⁶ Dass nun das Verbot einer Partei in Deutschland, von der zwar keine „Gefahr“ für den deutschen Staat ausgeht, die aber nachweislich wesensverwandt mit der NSDAP ist, vom EGMR als konventionswidrig gerügt würde, war wenig realistisch. Vielmehr war zu erwarten, dass der EGMR das „dringende soziale Bedürfnis“ gerade aus der Wesensverwandtschaft einer Partei in Deutschland mit dem (deutschen) Nationalsozialismus herleiten würde, anstatt sich selbst „Geschichtsvergessenheit“ vorwerfen zu lassen. Tatsächliche „Sorge“ vor einer anderslautenden Entscheidung des EGMR im Fall eines Parteiverbots bestand daher bei genauer Betrachtung nicht – erst recht war dies nicht handlungsleitend –, weshalb diese auch nicht Grund für die neuen Maßstäbe des Senats war.

IV. Beweis- und Verfahrensrecht¹⁵⁷ In vielen Anmerkungen bzw. Kritiken zum Urteil des Zweiten Senats im zweiten NPD-Verbotsverfahren spielt die Frage nach dem im Parteiverbotsverfahren anzuwendenden Beweis- und Verfahrensrecht eine bemerkenswert geringe Rolle. Das mag darauf zurückzuführen sein, dass Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht bis auf wenige Ausnahmen lediglich die rechtliche Frage einer Verfassungsverletzung zum Gegenstand haben, nicht aber die Tatsachen für ihre Entscheidung erst selbst schaffen müssen;¹⁵⁸ auch der wissenschaftliche Blick konzentriert sich zumeist auf das materielle Verfassungsrecht. Gerecht wird das der Bedeutung dieser Frage im Fall des Verbotsverfahrens allerdings nicht, denn hiervon hängt entscheidend ab, in welcher Form und mit welcher Art von Beweisantritt der jeweilige Antragsteller seinen Verbotsantrag zu stellen hat, und in welcher Form und mit welcher Art von Gegenbeweisantritt die jeweilige Antragsgegnerin dem Verbotsantrag begegnen kann. Erst auf dieser Grundlage formt sich die später nach materiellem Verfassungsrecht zu bewertende Tatsachengrundlage. Werden hier Fehler gemacht oder wird unzureichend vorgetragen, kann dies bereits das Ende des Verbotsverfahrens bedeuten, ohne dass die vorgetragenen Tatsachen überhaupt materiellrechtlich gewürdigt worden sind.

 Darauf weist auch Uhle, NVwZ 2017, S. 583 (589), zu Recht hin; vgl. auch Emek, RuP 2017, S. 174 (181 f.).  Siehe allgemein hierzu auch Kliegel, a. a.O., § 45 Rn. 13 ff.  Das sind neben dem Verbotsverfahren lediglich die Verfahren der Grundrechtsverwirkung, der Präsidenten- und Richteranklage und der Nichtanerkennung von politischen Parteien sowie neuerdings das Finanzierungsausschlussverfahren (§ 13 Nr. 1, 2, 2a, 3a, 4, 9 BVerfGG).

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Die Frage nach dem geltenden Verfahrens- und Beweisrecht stellt sich insbesondere bei den Verfahrenshindernissen – hier muss der Antragsteller den letztlich unmöglichen Beweis eines Unterlassens führen – sowie im Rahmen des die materiellen Tatbestandsvoraussetzungen belegenden Sachvortrags. Insoweit sind Gemeinsamkeiten, aber auch Unterschiede zu erkennen: Von entscheidender Bedeutung ist die, alle Abschnitte und Fragen des Verfahrens betreffende Feststellung des Senats, dass im Verbotsverfahren allein die Vorschriften des BVerfGG (§§ 26 – 29) und im Übrigen das Freibeweisverfahren Anwendung finden und nicht etwa eine analog anzuwendende StPO oder VwGO.¹⁵⁹ So können bestimmte Tatsachen auch durch schlichte Glaubhaftmachung bewiesen werden. Besondere Bedeutung kam diesem Umstand mit Blick auf die Beweisführung des Antragstellers hinsichtlich des Nichtvorhandenseins von Verdeckten Ermittlern und V-Leuten auf den Führungsebenen der Antragsgegnerin, der Quellenfreiheit der vorgelegten Beweismittel sowie der (Nicht‐) Ausspähung der Prozessstrategie der Antragsgegnerin zu. Die von den Innenministern und -senatoren des Bundes und der Länder sowie von den für die jeweiligen Behörden zuständigen Präsidenten (BfV, BND, BKA und Bundespolizei) bzw. von den Staatssekretären des BMF (Zoll) und des BMVg (MAD) abgegebenen Testate, die letztendlich nichts anderes als schriftliche Erklärungen von Zeugen darstellten, konnten daher verwertet werden. Wäre es der NPD gelungen, deren Glaubhaftigkeit zu erschüttern,¹⁶⁰ so hätte der Senat die Anforderungen an die Beweisführung stufenweise höherschrauben können, von eidesstattlichen Versicherungen bis hin zur Zeugenvernehmung in der mündlichen Verhandlung. Dies hat der Senat jedoch zu Recht nicht für nötig befunden, da kein Anlass Bestand, an der Glaubhaftigkeit dieser – im Hinblick auf das erhebliche persönliche dienstliche bzw. politische Risiko – mit Sicherheit nicht leichtfertig abgegebenen Erklärungen zu zweifeln.¹⁶¹ Zusätzlich zu den Testaten hat der Antragsteller auf Hinweis des Senats die die V-Leute betreffenden Akten und Anweisungsschreiben der Behörden vorgelegt sowie die Weisungslage hinsichtlich der Nichtausspähung der Prozessstrategie

 BVerfGE 144, 20 (169, Rn. 431); vgl. auch Kliegel, a. a.O., § 45 Rn. 13 f., unter Bezugnahme auf den ausdrücklichen Hinweis des Senatsvorsitzenden in seiner Terminsladung zur mündlichen Verhandlung.  BVerfGE 144, 20 (169, Rn. 432).  BVerfGE 144, 20 (169, Rn. 432). Zutreffend wurde auch kein Unterschied zwischen Ministern, Staatssekretären und Behördenpräsidenten gemacht. Es kommt hierbei nicht auf den Rang oder die „demokratische Legitimation“ des Testierenden, sondern auf seine inhaltliche Zuständigkeit für die betreffende Frage und seine persönliche Glaubwürdigkeit an, die hier nicht in Frage standen (172 f., Rn. 441).

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der Antragsgegnerin anhand der entsprechenden Schreiben offengelegt. Dass insoweit zum Teil Akten geschwärzt werden mussten, ist mit Blick auf die entgegenstehenden Persönlichkeitsrechte verbunden mit der Gefahr einer Enttarnung nachvollziehbar und beweisrechtlich unproblematisch, wenn die Akten – wie hier – in sich verständlich bleiben und die jeweilige Antragsgegnerin nicht die Beweisführung durch tatsachen- oder indiziengestützten Vortrag ihrerseits erschüttern kann.¹⁶² Die Beweismittel müssen zudem nicht mühsam in die mündliche Verhandlung eingeführt werden, sondern können nach angemessener Frist zur Kenntnisund Stellungnahme bereits durch Vorlage im Vorverfahren bzw. rechtzeitig vor der mündlichen Verhandlung zum Verfahrensgegenstand gemacht werden.¹⁶³ Auch dies ist letztlich Ausfluss der „wehrhaften Demokratie“, denn ein Verbotsverfahren nach StPO-Regeln könnte bei entsprechender „Konfliktverteidigung“ auf Jahre verschleppt werden und damit den richtigen Zeitpunkt eines Verbots verpassen. Dies ist auch nicht unter dem Gesichtspunkt eines fairen Verfahrens zu beanstanden, denn es handelt sich beim Verbotsverfahren nicht um eine repressive Sanktion, für die keine besondere Eile im Sinne einer Gefahrenabwehr geboten ist,¹⁶⁴ sondern um eine präventive Maßnahme. Formvorschriften dienen im Strafverfahren außerdem dazu, dem Revisionsgericht eine effektive Kontrolle zu ermöglichen. Dieser Zweck der Instanzkontrolle spielt im Parteiverbotsverfahren, in dem das Bundesverfassungsgericht gleichzeitig erste und letzte Instanz ist, keine Rolle. Hinzu kommt, dass es im Verbotsverfahren nicht mit dem Nachweis einer oder mehrerer konkreter Taten getan ist, sondern die politischen Ziele einer Partei und das Verhalten ihrer Anhänger sowie konkrete Anhaltspunkte von Gewicht nachzuweisen sind, die einen Erfolg des gegen die Schutzgüter des Art. 21 Abs. 2 GG gerichteten Handelns zumindest möglich erscheinen lassen, also ein gewaltiges Beweisprogramm. Daraus darf jedoch nicht – wie etwa vom Verfahrensbevollmächtigten der Antragsgegnerin in der mündlichen Verhandlung – der umgekehrte Schluss gezogen werden, dass Regeln der StPO grundsätzlich keine Anwendung finden. Im Gegenteil kann das Bundesverfassungsgericht – im Wege eines Erst-RechtSchlusses – auf Verfahrensvorschriften oder geübte Praktiken des Strafverfahrens zurückgreifen, wenn es dies für sinnvoll erachtet, denn die StPO ist die den Betroffenen am stärksten schützende Verfahrensordnung. Anders gesagt, wenn eine  BVerfGE 144, 20 (175 f., Rn 448 f.).  Einen entsprechenden Hinweis erteilte der Senatsvorsitzende bereits mit der Terminsladung zur mündlichen Verhandlung.  Anderes gilt – insbesondere unter Berücksichtigung des Beschleunigungsgrundsatzes – selbstverständlich für den Angeklagten.

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bestimmte Verfahrensweise im Strafverfahren zulässig ist und das faire Verfahren nicht verletzt, so ist diese auch im Verbotsverfahren erlaubt. Eine solche (doppelt) analoge Anwendung fand in der mündlichen Verhandlung mit Blick auf § 29 Abs. 2 StPO statt, als der Senat die Entscheidung über die zu Anfang der Verhandlung gestellten Ablehnungsanträge der NPD (sog. „5 vor 9 Ablehnungen“) bis zur nächsten Unterbrechung zurückstellte, weil die diesen Anträgen zugrunde liegenden Tatsachen bereits seit langem bekannt waren, die Anträge also vor allem einer Verfahrensverzögerung dienen sollten.¹⁶⁵ Der Partei bleibt es dabei selbstverständlich unbenommen, bestimmte Beweismittel zu bestreiten und Gegenbeweisanträge zu stellen. Dies führt zum nächsten, den Verfahrensablauf erheblich erleichternden Punkt: Das Bundesverfassungsgericht ist nicht zur förmlichen Bescheidung von Beweisanträgen verpflichtet bzw. gar den Anforderungen des § 244 StPO unterworfen, sondern behandelt „Beweisanträge“ als Beweisanregungen, über die es nach eigenem Ermessen befindet.¹⁶⁶ Für diese aus dem Bundesverfassungsgerichtsgesetz hergeleitete erleichterte Verfahrensführung ist anzuführen, dass der Gesetzgeber dem Bundesverfassungsgericht als gleichzeitig erster und letzter Instanz vertraut, rechtstaatliche Verfahrensgrundsätze einzuhalten und zu wahren. Dies ist ureigene Aufgabe des höchsten deutschen Gerichts und diesem Vertrauen wurde der Senat im zweiten NPD-Verbotsverfahren auch gerecht, wie die nicht nur vereinzelte Zurückweisung bzw. Nichtberücksichtigung unzureichend belegten Tatsachenvortrags des Antragstellers zeigte: So stellte der Senat klar, dass der NPD nicht pauschal rechtsextreme Straftaten zugerechnet werden können.¹⁶⁷ Beweisrechtlich sollte dies im Grunde selbstverständlich sein, aber der Antragsteller wollte die NPD mit der recht diffusen Argumentation, sie habe ein ausländerfeindliches Klima geschaffen, für sämtliche Straftaten des rechtsextremen Milieus mitverantwortlich machen. Zutreffend stellte der Senat fest, dass belastende Tatsachen im Verbotsverfahren eine konkrete Zurechnung erfordern, im vorliegenden Fall hätte also belegt werden müssen, dass die NPD die Straftaten entweder veranlasst, durch Funktionäre bzw. Mitglieder begangen oder im Nachhinein gutgeheißen hat. Ohne entsprechende Nachweise scheidet eine Zurechnung aus, was angesichts der vielen verschiedenen Gruppierungen im rechtsextremen Lager auch richtig ist. Ebenso  S. hierzu m.w. N. Kliegel, a. a.O., § 19 Rn. 18.  Diesen Hinweis erteilte der Senatsvorsitzende direkt zu Beginn der mündlichen Verhandlung.  BVerfGE 144, 20 (346 f., Rn. 952); befürwortend Leggewie/Lichdi/Meier, RuP 2017, S. 324 (328 ff.).

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wenig können Handlungen oder Äußerungen von unabhängigen Gruppen der Partei zugerechnet werden, auch wenn sie dieser ideologisch vielleicht nahestehen.¹⁶⁸ Hierbei ist der Begriff des Anhängers (s.o. III.3.) sauber zu prüfen und nur wenn die betroffenen Gruppen bspw. als militanter Arm der Partei agieren oder deren Taten nachträglich von dieser gebilligt werden, kommt eine Zurechnung in Betracht. Die (angebliche) Bereitschaft der NPD zur Anwendung von Gewalt oder zur Begehung von Straftaten als Mittel zur Durchsetzung ihrer verfassungswidrigen Ziele hätte der Antragsteller zwar grundsätzlich auf eine allgemein mangelhafte Rechtstreue ihrer Anhänger stützen können, dies hätte er jedoch ausreichend belegen müssen. Sicher nicht ausreichen konnte dafür eine anonymisierte Statistik des Bundesamts für Verfassungsschutz zur Straffälligkeit der Vorstandsmitglieder der Antragsgegnerin und ihrer Teilorganisationen, der nicht zu entnehmen war, inwiefern die aufgeführten Delikte politisch motiviert waren und als Ausdruck des Parteiwillens angesehen werden konnten.¹⁶⁹ Aber auch belegte Straftaten von Funktionären müssen einen politischen Hintergrund haben, um als Teil der verfassungsfeindlichen Bestrebungen einer Partei angesehen werden zu können – „Alltagskriminalität“ kann hierfür nicht ausreichen.¹⁷⁰ Ebenso sind der Zeitrahmen, d. h. für wie viele (politische) Straftaten sind Funktionäre der Partei in welchem Zeitraum verantwortlich, und die Schwere der Straftaten zu berücksichtigen. Auch Straftaten bei denen lediglich die Vermutung besteht, die NPD könnte in die Tat verwickelt sein, können dieser nicht zugerechnet werden,¹⁷¹ erforderlich sind regelmäßig rechtskräftige strafrechtliche Verurteilungen¹⁷² oder aber die Billigung durch die Partei.¹⁷³ Von der Partei organisierte Demonstrationen, die erst im Nachgang in gewalttätige Auseinandersetzungen münden, können nicht pauschal zugerechnet werden, sondern die Partei muss für die Gewalt in irgendeiner Form – z. B. durch den Aufruf hierzu oder die nachträgliche Billigung – verantwortlich gewesen sein.¹⁷⁴ Eine Zurechnung durch nachträgliche Billigung

 BVerfGE 144, 20 (358, Rn. 979); ebenso Leggewie/Lichdi/Meier, RuP 2017, S. 324 (328 ff.).  BVerfGE 144, 20 (347, Rn. 954).  BVerfGE 144, 20 (347 f., Rn. 955).  Vgl. BVerfGE 144, 20 (349 ff., 359, 364 f.; Rn. 960 ff., 982, 999).  Natürlich kann auch ein nicht abgeschlossenes Strafverfahren verwertet werden, wenn z. B. ein richterliches Geständnis vorliegt.  Umgekehrt kann die Partei sich von Straftätern aus ihren Reihen erfolgreich distanzieren, vgl. BVerfGE 144, 20 (351, Rn. 963).  So etwa in Dresden, Heidenau oder Schneeberg,vgl. BVerfGE 144, 20 (351 ff., 358 f.; Rn. 965 ff., 981).

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muss zudem zweifelsfrei erfolgen, verklausulierte oder „ironische“ Bemerkungen, die keine eindeutige Gutheißung enthalten, reichen nicht aus.¹⁷⁵ Auf der Hand liegt im Grunde auch, dass eine Liste mit anonymen Angaben zu nicht konkretisierten Bedrohungserfahrungen keinen substantiierten Vortrag darstellt und nicht zulasten der Antragsgegnerin, die sich gegen solche Vorwürfe schlicht nicht verteidigen kann, verwertet werden darf.¹⁷⁶ Die vorangestellten Ausführungen zeigen, dass bei aller erleichterten Verfahrensführung die rechtsstaatlichen Verfahrensgrundsätze weiter Geltung beanspruchen, insbesondere der Zweifelsgrundsatz. Das Parteiverbot belastet die betroffene Partei in maximalem Ausmaß, weshalb der Senat durch Vortrag des Antragstellers oder im Wege der Amtsermittlung Tatsachen sicher feststellen muss, bevor er diese zulasten der Partei verwerten kann. Dies gilt für die Quellenfreiheit eines Beweismittels ebenso wie für dessen Glaubhaftigkeit bzw. Zurechenbarkeit.¹⁷⁷ Eine gesetzliche Ausnahme der erleichterten Verfahrensführung ist der in § 28 Abs. 1 BVerfGG enthaltene explizite Verweis auf die StPO bei Vernehmung von Zeugen und Sachverständigen. Der Senat hat die entsprechende Anwendung der StPO-Vorschriften jedoch dadurch „umgangen“, dass er sowohl potentielle Sachverständige (die Politikwissenschaftlicher Borstel, Jesse und Kailitz) als auch potentielle Zeugen (die aktuellen und ehemaligen NPD-Funktionäre Apfel, Cremer, Gansel, Pastörs und Voigt sowie die Journalistin Röpke) als sachkundige Dritte bzw. Auskunftspersonen gemäß § 27a BVerfGG geladen hat. Ob diese – auch in anderen Verfassungsverfahren üblichen – „Umgehung“ dem eigentlichen Sinn und Zweck des § 27a BVerfGG entspricht, neben Fakten auch verschiedene soziale Strömungen und Blickwinkel über Personen in das Verfahren einzuführen, die über einen überdurchschnittlichen Informationsstand über Tatsachen oder Zusammenhänge verfügen, die einen Erkenntnisgewinn für das Verfahren versprechen,¹⁷⁸ bleibt indes fraglich.¹⁷⁹ Der Vorteil, eine „freie“ Beweiserhebung, liegt auf der Hand, der Nachteil aber ebenso, denn erzwingen lässt sich das Kommen und die Auskunft eines sachkundigen Dritten, anders als bei Zeugen oder Sachverständigen, nämlich nicht.¹⁸⁰

 Vgl. BVerfGE 144, 20 (353 f., Rn. 969).  BVerfGE 144, 20 (357 f., Rn. 978; ähnlich auch 358, Rn. 980).  Vgl. BVerfGE 144, 20 (162, Rn. 413).  So Meskouris, in: Barczak, Mitarbeiterkommentar zum BVerfGG, 2018, § 27a Rn. 12 m.w. N.  Hierzu auch Kliegel, a. a.O., § 45 Rn. 15 m.w. N.  Diese Erkenntnis haben womöglich auch die NPD-Funktionäre Cremer und Pastörs gewonnen, die zu ihrer Aussage – ohne weitere Konsequenzen – schlicht nicht erschienen sind.

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Ausgeschlossen bleibt auch weiterhin ein „in-camera-Verfahren“.¹⁸¹ Eine Beschlagnahme und Inaugenscheinnahme sämtlicher die NPD betreffender Akten der Sicherheitsbehörden, wie diese beantragt hatte, war angesichts der eindeutigen Beweislage nicht erforderlich. Aber selbst wenn eine derartige Einsicht in vertrauliche staatliche Unterlagen erforderlich gewesen wäre, wäre zum Schutz von personenbezogenen Daten nur eine Vorlage unter Schwärzungen in Betracht gekommen, nicht aber ein Verfahren unter Ausschluss der Antragsgegnerin. Ein solches Verfahren verstieße gegen das in Art. 103 Abs. 1 GG umfassend verbürgte Gehörsrecht. Eine entsprechende Anwendung von § 99 Abs. 2 VwGO scheitert bereits daran, dass das dort geregelte „in-camera-Verfahren“ lediglich der in einem Zwischenverfahren zu treffenden Feststellung dient, ob die Verweigerung der Vorlage von Urkunden und Akten rechtmäßig erfolgt ist. Davon ist eine Verwertung von Akten und Urkunden im Hauptverfahren zu trennen.¹⁸² Im Hinblick auf die Beweiswürdigung selbst ist festzustellen, dass sich der Senat zurecht nicht von den vagen Andeutungen und Zielvorstellungen des Parteiprogramms der NPD hat täuschen lassen, sondern unter Zuhilfenahme weiterer Beweismittel dessen wahren Sinngehalt herausgearbeitet hat. Dies ist ein in Verbotsverfahren häufig auftretendes Problem, da die betroffenen extremen Parteien selten in ihren öffentlichen Äußerungen offensichtlich und eindeutig verfassungsfeindliche Ziele verfolgen. Vielmehr benutzen sie Begrifflichkeiten, die – in anderen Zusammenhängen – legal sind und auch von anderen, über jeden Verdacht erhabenen Parteien oder Institutionen benutzt werden, auf die sie sich dann rechtfertigend berufen.

V. Das Finanzierungsausschlussverfahren Das zweite NPD-Verbotsverfahren hat schließlich Anlass gegeben, eine eigenständige verfassungsgerichtliche Verfahrensart, das Finanzierungsausschlussverfahren, zu schaffen.¹⁸³ Denn der Senat hat in seinem Urteil gleich an zwei Stellen angedeutet, dass das grundgesetzliche Regelungskonzept des Art. 21 GG, nach dem ein administratives Einschreiten gegen den Bestand einer politischen

 So bereits die entscheidungstragende Minderheit im ersten NPD-Verbotsverfahren, BVerfGE 107, 339 (371); vgl. hierzu auch Kliegel, a. a.O., § 45 Rn. 16.  Vgl. BVerfGE 115, 205 (240), sowie die weiterführende Erläuterung bei Kliegel, a. a.O., § 45 Fn. 55.  Vgl. Uhle, NVwZ 2017, S. 583 (590); Barczak, in: ders., Mitarbeiterkommentar zum BVerfGG, 2018, § 46a Rn. 2; Morlok, ZRP 2017, S. 66; Kloepfer, NVwZ 2017, S. 913 (916); Schwarz, NVwZ-Beilage 2017, S. 39; Laubinger, ZRP 2017, S. 55 (56).

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Partei bis zur Feststellung der Verfassungswidrigkeit schlechthin ausgeschlossen ist, diese sich also bis zu ihrem Verbot auf alle Privilegien berufen kann (sog. Sperrwirkung),¹⁸⁴ nicht in Stein gemeißelt sei. Vielmehr sei eine Modifizierung dieses Regelungskonzepts, etwa hinsichtlich der Schaffung von Möglichkeiten gesonderter Sanktionierung im Fall der Erfüllung einzelner Tatbestandsmerkmale des Art. 21 Abs. 2 S. 1 GG unterhalb der Schwelle des Parteiverbots, dem verfassungsändernden Gesetzgeber vorbehalten.¹⁸⁵ Im Rahmen des Abgleiches seiner neuen Maßstäbe mit den Anforderungen des EGMR bezieht sich der Senat sogar konkret auf die Parteienfinanzierung, wenn er schreibt, dass unterhalb der Ebene des Parteiverbots liegende Sanktionen – etwa die Kürzung oder Streichung staatlicher Finanzmittel – nach der geltenden Verfassungslage ausgeschlossen und entsprechende Änderungen dem verfassungsändernden Gesetzgeber vorbehalten seien.¹⁸⁶ Noch deutlicher formulierte es der Senatsvorsitzende in seinem Eingangsstatement zur Urteilsbegründung, der angesichts des „unbefriedigenden Ergebnisses“, dass eine Partei, die die Beseitigung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung anstrebe, sich dennoch vollumfänglich auf das Parteiprivileg berufen könne, die Frage aufwarf, ob in einer solchen Situation auch andere Reaktionsmöglichkeiten sinnvoll seien, wie zum Beispiel der Entzug der staatlichen Finanzierung. Dies habe jedoch nicht das Bundesverfassungsgericht, sondern der verfassungsändernde Gesetzgeber zu entscheiden. Für Karlsruher Verhältnisse war dies im Grunde keine Andeutung, sondern ein „Wink mit dem Zaunpfahl“,¹⁸⁷ dem auch in kürzester Zeit Rechnung getragen wurde. Nicht durchsetzen konnte sich ein nach nicht einmal einem Monat vorgelegter Entwurf des Landes Niedersachsens, der die Entscheidung über den Ausschluss einer Partei von der Finanzierung in die Hände des Bundestagspräsidenten legen wollte.¹⁸⁸ Dabei handelte es sich ganz offenbar um einen „Schnellschuss“, da – nach den Andeutungen des Senats – für den Ausschluss von der Parteienfinanzierung immerhin ein Teil der Verbotsvoraussetzungen vorliegen muss und durch den Ausschluss in schwerwiegender, einem Verbot sehr nahe kommender Weise in die Parteienfreiheit eingegriffen wird. Hierzu konnte nur das Bundesverfassungsgericht selbst berufen werden, nicht aber ein Organ

 Hierzu ausführlich Klein, a. a.O., Art. 21 Rn. 571 ff.  BVerfGE 144, 20 (201 f., Rn. 527); die Notwendigkeit einer Verfassungsänderung in Frage stellend Kloepfer, NVwZ 2017, S. 913 (917).  BVerfGE 144, 20 (242, Rn. 625).  So auch Barczak, a. a.O., § 46a Rn. 2; anders Ipsen, RuP 2017, S. 3 (7), der den Hinweis offenbar als nicht ganz so eindeutig empfand.  BR-Drucks. 113/17.

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der Legislative oder Exekutive,¹⁸⁹ bei dem sich mit Blick auf die Gefahr, vollendete Tatsachen zu schaffen und evtl. Wahlen zu beeinflussen, zusätzlich noch das Problem etwaiger aufschiebender Wirkung von Rechtsmitteln gestellt hätte.¹⁹⁰ Diese Einsicht wurde jedoch schnell gewonnen¹⁹¹ und mit Gesetz vom 13. Juli 2017 wurde Art. 21 GG dergestalt geändert, dass zwei neue Absätze 3 und 4 eingefügt wurden, die einen Finanzierungsausschluss einer Partei vorsehen, die darauf ausgerichtet ist, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen oder den Bestand der Bundesrepublik Deutschland zu gefährden. Das BVerfGG erfuhr entsprechende Änderungen, wesentliche Verfahrensnorm ist der § 46a BVerfGG, der durch Gesetz vom 18. Juli 2017¹⁹² eingefügt wurde. Auch § 18 PartG wurde entsprechend geändert. Dem Senat wurde wegen seiner Andeutungen zum Teil vorgeworfen, er sei zu solchen Vorschlägen nicht berufen, er habe sich zum „politischen Akteur“ aufgeschwungen und damit dem verfassungsändernden Gesetzgeber letztlich „ein Angebot gemacht, das dieser nicht ablehnen konnte“.¹⁹³ Diese Kritik erscheint sehr dogmatisch geprägt und führt in der Sache nicht weiter. Der Senat begegnete mit seinen Andeutungen einer weit verbreiteten Meinung in der Staatsrechtswissenschaft, nach der Art. 21 Abs. 1 und 2 GG ein unabänderliches Regel-Ausnahme-Prinzip darstellen. Jede Grundgesetzänderung hätte sich ohne die Klarstellung des Senats der Gefahr ausgesetzt, vom Bundesverfassungsgericht als verfassungswidriges, gegen Art. 79 Abs. 3 GG verstoßendes Verfassungsrecht aufgehoben zu werden. Denn ob die Chancengleichheit der Parteien für das Demokratieprinzip nun vom Bundesverfassungsgericht als konstitutiv oder nur als bloße Konkretisierung angesehen würde, stellte letztlich ein unkalkulierbares Risiko dar.¹⁹⁴ Damit bestand ein erhebliches politisches Risiko, nach zwei gescheiterten Verbotsanträgen auch mit einer Grundgesetzänderung gegen verfassungsfeindliche Parteien zu scheitern. Dieses Risiko ist nach der impliziten verfassungsrechtlichen Einschätzung des Senats entfallen.

 So zutreffend auch Barczak, a. a.O., § 46a Rn. 4; Morlok, ZRP 2017, S. 66 (67); Laubinger, ZRP 2017, S. 55 (57); Emek, RuP 2017, S. 174 (185); vgl. auch Schwarz, NVwZ-Beilage 2017, S. 39 (41); a. A. offenbar Ipsen, RuP 2017, S. 3 (8), der es – ohne weitere Begründung – als „geradezu grotesk“ bezeichnet, die Feststellung der „Verfassungsfeindlichkeit“ ebenfalls dem Bundesverfassungsgericht zu überantworten.  In diesem Sinne auch die Gesetzesbegründung BT-Drucks. 18/12357, S. 7.  Zur Entstehungsgeschichte instruktiv Barczak, a. a.O., § 46a Rn. 1 ff.  BGBl. I S. 2730.  So etwa Barczak, a. a.O., Einl Rn. 21 und § 46a Rn. 6 m.w. N.  Hierzu m.w. N. Barczak, a. a.O., § 46a Rn. 5; vgl. auch Schwarz, NVwZ-Beilage 2017, S. 39 (41); sowohl verfassungswidriges Verfassungsrecht als auch einen Verstoß gegen die EMRK sehend Lichdi, RuP 2017, S. 456 (462, 465 f.).

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Dem Gesetzgeber stand es aber auch nach diesen Andeutungen weiter frei, ein solches Verfahren einzuführen oder zunächst abzuwarten. Es handelte sich daher auch nicht um ein „Angebot, das man nicht ablehnen konnte“, denn bereits der Verbotsantrag selbst hatte mehr Kritik als Lob erfahren. Die regierende große Koalition hätte sich eines gewissen Drucks durchaus zu erwehren gewusst – gerade die Ratschläge, selten sogar die Fristen des Bundesverfassungsgerichts werden nicht immer goutiert und schon gar nicht befolgt. Hier trafen die Andeutungen jedoch auf fruchtbaren Boden, der lediglich aus Angst vor einem Scheitern vor dem Bundesverfassungsgericht noch nicht bestellt war. Der Senat hat also keineswegs den Gesetzgeber zu einer ungewollten Gesetzgebung genötigt, eher nahm er einem omnimodo facturus die Sorge vor gerichtlicher Aufhebung. Auch die materielle Kritik an der neuen Verfahrensart geht größtenteils fehl. Ein befürchtetes „Zweiklassensystem“ von Parteien¹⁹⁵ gibt es bereits allein aufgrund der neuen Maßstäbe des Urteils im zweiten NPD-Verbotsverfahren, nämlich Parteien, die zwar verfassungsfeindlich, aber zu unbedeutend sind, sie zu verbieten, und verfassungstreue Parteien. Über den verfassungsfeindlichen Parteien, wie nun der NPD, schwebt mit dem Urteilsspruch das Damoklesschwert des Verbots. Denn der Urteilsspruch bedeutet nichts anderes als „ändert Euch oder bleibt erfolglos“. Erringt eine solche Partei deutliche Stimmengewinne, kann sie fest mit einem neuen, nun erfolgreichen Verbotsantrag gegen sich rechnen.¹⁹⁶ An dieser Stelle setzt das Finanzierungsausschlussverfahren an: Denn es wäre widersinnig, die verfassungsfeindliche Partei, der jeglicher Erfolg verboten ist, mit Geldern zu fördern und womöglich gerade dadurch zum Erfolg und damit auch zur „Verbotswürdigkeit“ zu führen.¹⁹⁷ Insofern hilft das Finanzierungsausschlussverfahren dem unbefriedigenden Ergebnis des Fortbestehens einer verfassungsfeindlichen Partei ab und ergänzt die neuen Maßstäbe zu Art. 21 Abs. 2 S. 1 GG, denn es sagt der betroffenen Partei „Ihr seid zwar zu unbedeutend für ein Verbot, aber weil Ihr verfassungsfeindlich seid, hilft Euch der Staat nicht dabei, bedeutender zu werden“. Der Ausweg für die Partei ist allein die Änderung ihrer politischen Haltung und genau dies entspricht dem Prinzip der wehrhaften Demokratie, von der man die finanzielle Unterstützung einer sie abschaffen wollenden Partei nicht erwarten kann. Auch wenn die Potentialität einer solchen Partei – unter Berücksich So Barczak, a. a.O., § 46a Rn. 6; vgl. auch Linke, DÖV 2017, S. 483 (492).  § 41 BVerfGG greift aufgrund der neuen Tatsache (Wahlerfolge) nicht ein, vgl. Kliegel, a. a.O., § 41 Rn. 6 ff.  Befürwortend Kloepfer, NVwZ 2017, 913; Emek, RuP 2017, S. 174 (184 f.); die paradoxe Situation ebenfalls anerkennend, aber dennoch kritisch Morlok, ZRP 2017, S. 66 (66 f.).

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tigung einer fortbestehenden Parteienfinanzierung – verneint worden ist, ist nicht ersichtlich, warum die Vergabe öffentlicher Gelder an verfassungsfeindliche Parteien ein „Ausdruck der wehrhaften Gelassenheit“ des Grundgesetzes sein soll;¹⁹⁸ hier klingt eher ein nostalgisch verklärter Rückblick auf die alte Verfassungslage an. Vielmehr muss man sich gerade auch anhand des Urteils in Sachen NPD vor Augen halten, wie viel Unheil die NPD mit diesen Geldern bereits anrichtet und wie viele persönlich Betroffene es gibt. Diese Vorfälle reichen zwar nicht für ein Verbot, jedoch ist jeder Vorfall einer zu viel, insbesondere, wenn öffentliche Gelder dessen Durchführung noch erleichtert haben. Schließlich handelt es sich bei dem Finanzierungsausschlussverfahren auch keineswegs um eine „lex NPD“,¹⁹⁹ vielmehr sind mehrere verfassungsfeindliche, aber für ein Verbotsverfahren zu unbedeutende Parteien bekannt, die auf diese Weise bekämpft werden können.²⁰⁰ Dass hiervon nicht nur Mikroparteien betroffen sein müssen, zeigt just das Beispiel der NPD. In diese Größenordnung können durchaus auch andere Parteien von rechts oder links – oder zukünftig auch aus dem islamistischen Bereich – aufwachsen. Hinzu kommt, dass der Antrag auf einen Finanzierungsausschluss gemäß § 43 Abs. 1 S. 2 BVerfGG auch als Hilfsantrag zu einem Verbotsantrag gestellt werden kann, damit also in jedem kommenden Verbotsverfahren von Bedeutung sein dürfte.²⁰¹ Hinsichtlich der verfahrensrechtlichen Regeln des Finanzierungsausschlussverfahrens kann umfassend auf das Parteiverbotsverfahren verwiesen werden. Gleiches gilt für das Vorliegen von Verfahrenshindernissen²⁰² sowie die materiellen Voraussetzungen des Art. 21 Abs. 3 GG, die eine Teilmenge des Art. 21 Abs. 2 GG enthalten. Einzig zu klären ist die Frage, ob die Formulierung „Darauf Ausgerichtet Sein“ einen eigenen Sinngehalt hat oder schlicht das Merkmal „Darauf Ausgehen“ semantisch ersetzt. Nach der Gesetzesbegründung sind Parteien darauf ausgerichtet, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen, wenn dies ihrer politischen Zielsetzung entspricht und sie durch aktives Handeln und planvolles Vorgehen im Sinne einer qualifizierten Vorbereitungshandlung auf die Beeinträchtigung der genannten Schutzgüter hinwirken und so die Schwelle zur Bekämpfung der freiheitlichen demokrati-

 So aber Barczak, a. a.O., § 46a Rn. 6.  So aber Barczak, a. a.O., § 46a Rn. 6; Lichdi, RuP 2017, S. 496 (497).  Hierzu muss nur ein Blick in den aktuellen Verfassungsschutzbericht geworfen werden, Verfassungsschutzbericht 2017, Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat, Stand: Juli 2018.  So auch Klein, a. a.O., Art. 21 Rn. 540d.  So auch Lichdi, RuP 2017, S. 456.

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schen Grundordnung überschreiten.²⁰³ Damit ist das Merkmal „Darauf Ausgerichtet Sein“ nicht inhaltslos, sondern erfasst eine Teilmenge des „Darauf Ausgehens“ in Art. 21 Abs. 2 GG. Lediglich auf die Potentialität, also das Vorliegen konkreter Anhaltspunkte von Gewicht, die einen Erfolg des Handelns zumindest möglich erscheinen lassen, wird verzichtet (vgl. oben III.4.a.). Im Grunde handelt es sich bei dem Finanzierungsausschlussverfahren damit um ein Verbotsverfahren ohne Potentialität im Rahmen des „Darauf Ausgehens“ und mit einer auf sechs Jahre befristeten und keiner endgültigen Wirkung (vgl. § 46a BVerfGG).

VI. Fazit Selten dürfte die Zurückweisung eines Antrags in einem verfassungsgerichtlichen Verfahren so fruchtbringend für kommende Verfahren gewesen sein, wie im Fall des zweiten NPD-Verbotsverfahrens.²⁰⁴ Der Senat hat klare Regeln und Grenzen für den Umgang mit verfassungsfeindlichen Parteien gesetzt und das Verbotsverfahren wieder praktisch durchführbar gestaltet, was insbesondere seit der Entscheidung im ersten NPD-Verbotsverfahren angezweifelt wurde.²⁰⁵ Unter Zuhilfenahme seiner Ausführungen zum Gebot strikter Staatsfreiheit kann eine Partei in Zukunft weiter staatlicherseits beobachtet werden, ohne dass ein Verfahrenshindernis in einem späteren Verbots- oder Finanzierungsausschlussverfahren droht. Ferner sind die tatbestandlichen Voraussetzungen derart konkretisiert worden, dass zukünftige Anträge sich daran mühelos orientieren können. Die Anhebung der Verbotsschwelle durch das neu eingeführte Kriterium der Potentialität spiegelt dabei Verfassungswirklichkeit, Selbstverständnis und die Wehrhaftigkeit der deutschen Demokratie im 21. Jahrhundert wider und steht in Einklang mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte.²⁰⁶ Entgegenzutreten ist damit auch der Auffassung, dass das Parteiverbotsverfahren mit dem Urteil „praktisch tot“ sei.²⁰⁷ Das Gegenteil ist der Fall: Die kla-

 Vgl. BT-Drucks. 18/12357, S. 6.  So auch Uhle, NVwZ 2017, S. 583 (585, 590).  Ähnlich Gusy, NJW 2017, S. 601; zu den Pressereaktionen vgl. Leggewie/Lichdi/Meier, RuP 2017, S. 145 (147 ff.).  Ähnlich Jacob, jM 2017, S. 110 (114); vgl. auch Linke, DÖV 2017, S. 483 (487).  Wie hier Jacob, jM 2017, S. 110 (116); Uhle, NVwZ 2017, S. 583 (585); a. A. Barczak, a. a.O., § 46a Rn. 6, der die Auffassung vertritt, dass verfassungsfeindliche Parteien, die über einen entsprechenden Rückhalt in der Bevölkerung verfügen, aus politischer Raison nicht verboten werden könnten. Dem ist zu widersprechen: Der Senat hat die Schwelle der Potentialität niedrig genug

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ren und eindeutigen Maßstäbe sind genaue Leitlinien für kommende Verfahren, seien es Verbotsverfahren, Finanzierungsausschlussverfahren oder eine Kombination der beiden als Haupt- und Hilfsantrag.²⁰⁸ Angesichts der stärker werdenden rechts- und linkspopulistischen Strömungen auch in Deutschland und der damit einhergehenden Erweiterung des Parteienspektrums sollte dieser Pfeil im Köcher der wehrhaften Demokratie nicht unterschätzt werden. Das Urteil war insofern auch ein klarer Hinweis an Parteien, in denen extremistische Ausfälle immer wieder vorkommen bzw. die vielleicht sogar extremistische Flügel dulden, dass ihnen Äußerungen und Handlungen ohne weiteres zugerechnet werden können und ein Verbotsverfahren alles andere als ein stumpfes Schwert ist. Soweit im Hinblick auf die Dauer des Verfahrens²⁰⁹ Kritik auch dahingehend geäußert wurde, dass ein Urteil bei einer wirklich gefährlichen Partei viel zu spät komme, ist klarzustellen, dass hierfür verschiedene Gründe verantwortlich waren, die sich nicht auf kommende Verfahren übertragen lassen. So kam es während des laufenden Verfahrens zu einem Berichterstatterwechsel im Zweiten Senat, außerdem musste der Antragsteller in verschiedener Hinsicht zur Nachbesserung und Ergänzung seines Antrags aufgefordert werden. Letzteres war u. a. auch darauf zurückzuführen, dass die Maßstäbe unklar waren; in Zukunft hat ein Antragsteller aufgrund des Urteils jedoch ein sehr genaues Bild von dem, was er zu liefern hat. Zudem war es zeitaufwendig, neue (einstimmige) Maßstäbe sowohl im Bereich der Verfahrenshindernisse als auch der materiellen Tatbestandsvoraussetzungen aufzustellen. Auch dieser Schritt entfällt bei kommenden Verfahren, in denen direkt in die Beweiswürdigung und sodann die Subsumtion eingestiegen werden kann. Schließlich bestand für das Gericht aufgrund der „Harmlosigkeit“ der NPD auch kein Anlass, mit besonderer Eile vorzugehen und zu entscheiden. Insofern sollte man unbesorgt sein, dass das Gericht einer drohenden Gefahr für die Demokratie durch eine deutlich beschleunigte Sachbehandlung – auch unter Zurückstellung anderer Verfahren und Eröffnung weiterer Kapazitäten – Rechnung tragen würde.

angesetzt, um eine Partei zu verbieten, wenn ihr Rückhalt gerade noch nicht groß genug ist, um von sich aus ein Verbot zu verhindern (s. auch oben III.4.c.); vgl. auch Ipsen, RuP 2017, S. 3 (8), der sich auf die hohen Hürden bezieht (s.o. III.4.c.); Kluth, in BeckOK-GG (Stand 15.02. 2018), Art. 21 Rn. 212d.  So auch Klein, a. a.O., Art. 21 Rn. 540d.  Z.B. Linke, DÖV 2017, S. 483 (490); Kloepfer, NVwZ 2017, S. 913, kritisiert die Länge des Urteils, übersieht dabei aber, dass das Bundesverfassungsgericht im Verbotsverfahren als Tatsachen- und Rechtsinstanz tätig wird, allein aufgrund der wiederzugebenden und zu würdigenden Tatsachengrundlage daher – wie in größeren Strafverfahren – ein gewisser Umfang unvermeidbar ist.

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Das Ergebnis an sich ist zum Teil als in sich widersprüchlich, schwer verständlich bzw. nicht nachvollziehbar kritisiert worden.²¹⁰ Es mag zunächst paradox klingen, eine verfassungsfeindliche Partei, die planvoll darauf hinarbeitet, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beseitigen, bestehen zu lassen. Jedoch ist genau dies Charakteristikum der wehrhaften Demokratie, die nicht in Putativnotwehr mit „Kanonen auf Spatzen schießt“, sondern – immerhin auf Kosten elementarer demokratischer Rechte – die ihr gefährlichen Feinde von den ungefährlichen separiert und Letztere mit aller Macht, notfalls mit dem Verbot, bekämpft. Die bekannte Losung müsste daher richtigerweise heißen: „keine unbedingte Freiheit den der Freiheit gefährlichen Feinden“. Hinzu kommt, dass das Ergebnis durchaus Wirkung zeigt. Die betroffene Partei, vorliegend die NPD, ist von nun an „zum Verlieren verdammt“, sollte sie ihre Grundpositionen nicht glaubhaft ändern. An dieser Stelle setzt auch das Finanzierungsausschlussverfahren an, welches die entstandene Lücke zwischen Verfassungsfeindlichkeit und Verfassungswidrigkeit füllt. Es ist zu hoffen, dass das öffentliche Diktum der Verfassungsfeindlichkeit zudem dazu beiträgt, dass die betroffene Partei weiter an Zuspruch verliert. Schließlich ist zu fragen, welche Wirkung das Verbot einer kleinen, der deutschen Demokratie ungefährlichen Partei, in der Welt gehabt hätte. Mit Sicherheit hätte man sich in Ländern, die ihren Rechtsstaat nach und nach außer Kraft setzen und manipulieren (man denke nur an Polen, Ungarn und die Türkei), mit Genuss auf ein deutsches Parteiverbot bezogen, wenn im eigenen Land das Verbot einer Oppositionspartei beantragt worden wäre. Dies ist sicherlich kein alleine schlagendes Argument für das Nichtverbot der NPD, jedoch sollten Außenwirkung und Vorbildfunktion der Entscheidungen des höchsten deutschen Gerichts im Ausland nicht unterschätzt werden.

 Z.B. Laubinger, ZRP 2017, S. 55 (56); vgl. im Grundsatz dennoch befürwortend Kloepfer, NVwZ 2017, 913; Morlok, ZRP 2017, S. 66 (66 f.). Zu besonders wilden „Mutmaßungen“ versteigt sich Ipsen, RuP 2017, S. 3 (6), der spekuliert, die Stimmung im Senat sei eher ablehnend gegenüber einem Verbot gewesen, aber aufgrund der Fülle des von Antragstellerseite vorgetragenen Materials sei eine Zurückweisung im Vorverfahren nicht möglich gewesen. Hieran ist im Grunde alles falsch: Zunächst hat der Senat den Antragsteller selbst in einem Hinweisbeschluss zur Nachbesserung des Antrags aufgefordert, weil der Vortrag und die mitgeteilten Tatsachen nicht ausreichend waren. Er hat es sich also gerade nicht leicht gemacht und den Antrag gemäß § 45 BVerfGG zurückgewiesen, sondern einen – im Verfahrensrecht gar nicht vorgesehenen – Hinweis erteilt (vgl. Kliegel, a. a.O., § 45 Rn. 8), um dem Prinzip der wehrhaften Demokratie Genüge zu tun. Des Weiteren hat der Senat, wie es § 45 BVerfGG vorsieht, zum Zeitpunkt der Entscheidung über die Durchführung der Verhandlung ein Verbot für wahrscheinlicher gehalten als eine Zurückweisung. Die mündliche Verhandlung mit dem (desolaten) Auftreten der NPD hat schließlich den Ausschlag für die Zurückweisung gegeben.

Sascha D. Peters

Die Aufgabengarantie der Gemeinden nach Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG Leitentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts: BVerfGE 79, 127 – Rastede BVerfGE 107, 1 – Verwaltungsgemeinschaften BVerfGE 110, 370 – Klärschlamm BVerfGE 119, 331 – Hartz IV-Arbeitsgemeinschaften BVerfGE 137, 108 – Optionskommunen (Art. 91e GG) BVerfGE 138, 1 – Schulnetzplanung Sachsen BVerfGE 147, 185 – Kinderförderungsgesetz Sachsen-Anhalt

Schrifttum (Auswahl) Brüning, Die Verfassungsgarantie der kommunalen Selbstverwaltung aus Art. 28 Abs. 2 GG, Jura 2015, S. 592 ff.; Clemens, Kommunale Selbstverwaltung und institutionelle Garantie: Neue verfassungsrechtliche Vorgaben durch das BVerfG, NVwZ 1990, S. 834 ff.; Dietlein/Peters, Kommunale Selbstverwaltung im Föderalstaat, 2017; Ehlers, Die verfassungsrechtliche Garantie der kommunalen Selbstverwaltung, DVBl. 2000, S. 1301 ff.; Engels, Die Verfassungsgarantie kommunaler Selbstverwaltung, 2014; Gern/Brüning, Deutsches Kommunalrecht, 4. Aufl. 2019, Kapitel 3; Heusch/Dickten, Zum verfassungsrechtlichen Status der Kommunen, NVwZ 2018, S. 1265 ff.; K. Lange, Kommunalrecht, 2013, Kapitel 1; K. Lange,Von der Steuerungskraft des Art. 28 Abs. 2 GG, ZG 2018, S. 75 ff.; Knemeyer/Wehr, Die Garantie der kommunalen Selbstverwaltung nach Art. 28 Abs. 2 GG in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, VerwArch. 92 (2001), S. 317 ff.; Püttner, Kommunale Selbstverwaltung, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, 3. Aufl. 2008, § 144; Ritgen, Aufgabenverteilung im kreisangehörigen Raum, ZG 2016, S. 263 ff.; Röhl, Kommunalrecht, in: Schoch, Besonderes Verwaltungsrecht, 2018, S. 301 ff.; Schmidt-Aßmann, Die Garantie der kommunalen Selbstverwaltung, in: Badura/Dreier, Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, 2001, Band 2, S. 803 ff.; Schoch, Neukonzeption der kommunalen Selbstverwaltungsgarantie durch das Bundesverfassungsgericht?, DVBl. 2008, S. 937 ff.

https://doi.org/10.1515/9783110599916-017

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Inhalt I. Einleitung 424 II. Dogmatische Grundkonstruktion und Gewährleistungsebenen von Art.  Abs.  Satz  GG 426 III. Verfassungsunmittelbare Aufgabengarantie als Gewährleistungselement der gemeindlichen Selbstverwaltungsgarantie 430 IV. Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft als Gewährleistungsinhalt der 432 Aufgabengarantie 433 . Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft . Gemeindliche Allzuständigkeit hinsichtlich aller örtlichen Angelegenheiten 438 V. Gesetzesvorbehalt als grundgesetzlich gebundene Befugnis zur Aufgabenhochzonung 440 . Beeinträchtigung des verfassungsrechtlich garantierten gemeindlichen Aufgabenbestands 440 a) Aufgabenhochzonung als „klassische“ Eingriffsform 441 b) Erweiterungen des Eingriffsbegriffs im Bereich der Aufgabengarantie 441 c) Qualitative Anforderungen an die Eingriffsschwelle? 444 445 d) Selbstverwaltungsbezug der Beschränkungsregelung? . Rechtfertigungsanforderungen 446 a) Formelle Anforderungen an die Eingriffsrechtfertigung 446 b) Materielle Anforderungen der Eingriffsrechtfertigung 449 VI. Fazit 462

I. Einleitung Die Garantie der kommunalen Selbstverwaltung aus Art. 28 Abs. 2 GG ist Ausdruck der grundgesetzlichen Entscheidung für eine dezentral organisierte und bürgerschaftlich getragene Verwaltung.¹ Das grundgesetzliche Bild der kommunalen Selbstverwaltung wird maßgeblich vom Grundsatz der Dezentralität und dem Prinzip der Partizipation geprägt: Die Einwohner der Gemeinden sollen zur eigenverantwortlichen Erfüllung der sie betreffenden lokalen Verwaltungsaufgaben aktiviert werden; kommunale Selbstverwaltung dient so dem Aufbau der Demokratie von unten nach oben.² Damit die Gemeinden diesem Bild gerecht  Vgl. BVerfGE 138, 1 (18 Rn. 51); 147, 185 (222 Rn. 76); Dreier, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 28 Rn. 76; Püttner, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, 3. Aufl. 2008, § 144 Rn. 9 ff.; zur Unterscheidung zwischen Selbstverwaltung im politischen Sinn und Selbstverwaltung im juristischen Sinn vgl. Gern/Brüning, Deutsches Kommunalrecht, 4. Aufl. 2019, Rn. 67.  BVerfGE 11, 266 (275); 79, 127 (149); 91, 228 (244); 138, 1 (18 Rn. 52); 147, 185 (222 Rn. 77); Knemeyer/ Wehr, VerwArch 92 (2001), S. 317 (327 ff.); Mann, in: Kahl/Waldhoff/Walter, Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 28 Rn. 132 ff. (Februar 2018); Nierhaus/Engels, in: Sachs, GG, 8. Aufl. 2018, Art. 28 Rn. 34 f.

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werden können, fordert Art. 28 Abs. 2 GG eine mit wirklicher Verantwortlichkeit ausgestattete Einrichtung der Selbstverwaltung, die den Bürgern eine effektive Mitwirkung an den Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft ermöglicht.³ Neben Art. 28 Abs. 2 GG ist die kommunale Selbstverwaltung auch landesverfassungsrechtlich gewährleistet.⁴ Bei Aufnahme gemeindlicher Selbstverwaltungsgarantien in die Landesverfassungen belässt das Grundgesetz den Ländern ganz erhebliche Spielräume,⁵ was zu einer eigenständigen Ausformung und Auslegung der landesverfassungsrechtlichen Parallelgewährleistungen führen kann.⁶ Die Geltendmachung einer Verletzung von Art. 28 Abs. 2 GG vor dem Bundesverfassungsgericht im Wege einer Kommunalverfassungsbeschwerde nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4b GG, § 91 BVerfGG ist zudem grundsätzlich ausgeschlossen, sofern auch die Möglichkeit besteht, die Verletzung des (landesverfassungsrechtlichen) Rechts auf kommunale Selbstverwaltung vor dem Landesverfassungsgericht zu rügen.⁷ Wegen dieses prinzipiellen Vorrangs des Rechtsschutzes vor den Landesverfassungsgerichten ist die Anzahl der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zur kommunalen Selbstverwaltungsgarantie begrenzt geblieben.⁸ Da aber Art. 28 Abs. 2 GG auch die Länder bindet und bundesweit einheitlich bestimmte Mindeststandards an bürgerschaftlicher Selbstbestimmung garantiert,⁹ kommt der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur grundgesetzlichen Selbstverwaltungsgarantie eine maßgebliche Leitfunktion zu.¹⁰

 Vgl. BVerfGE 79, 127 (150); 91, 228 (238); 107, 1 (11); 138, 1 (18 f. Rn. 52); 147, 185 (222 Rn. 77).  Art. 71 Bad.-Württ.-Verf.; Art. 10 f. BayVerf. i.V. m. Art. 83 BayVerf.; Art. 97 Bbg.-Verf.; Art. 144 BremVerf.; Art. 137 HessVerf.; Art. 72 M-V Verf.; Art. 57 Nds.-Verf.; Art. 78 NRW-Verf.; Art. 49 RhPfVerf.; Art. 117 ff. Saarl.-Verf.; Art. 84 ff. SächsVerf.; Art. 2 Abs. 3 i.V. m. Art. 87 LSA-Verf.; Art. 54 ff. Schl.-Holst Verf.; Art. 91 ff. ThürVerf. Allein die Stadtstaaten Berlin und Hamburg verzichten auf eine eigenständige Gewährleistungsnorm bzw. erklären – wie Art. 4 Abs. 1 HmbVerf. – die Untrennbarkeit von staatlichen und gemeindlichen Tätigkeiten.  Vgl. BVerfGE 147, 185 (211 ff. Rn. 49 ff. und 216 Rn. 60); vgl. Dietlein/Peters, Kommunale Selbstverwaltung im Föderalstaat, 2017, S. 32 ff.; Lindner, DÖV 2018, S. 235 (236 ff.).  Zu den Grenzen vgl. BVerfGE 147, 185 (211 f. Rn. 48 f.).  Vgl. zur Subsidiarität der Kommunalverfassungsbeschwerde grundlegend BVerfGE 147, 185 (209 ff. Rn. 44 ff.); vgl. zur Thematik auch Dietlein/Peters, Kommunale Selbstverwaltung im Föderalstaat, 2017, S. 57 ff.; Henneke, DVBl. 2018, S. 42 (44 f.); kritisch insofern K. Lange, ZG 2018, S. 75 (81 ff.).  Vgl. zu diesem Befund auch Schwarz, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, 7. Aufl. 2018, Art. 28 Rn. 137.  BVerfGE 147, 185 (211 f. Rn. 49); Schwarz, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, 7. Aufl. 2018, Art. 28 Rn. 136 und 143.  Knemeyer/Wehr, VerwArch 92 (2001), S. 317 (318).

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Das Bundesverfassungsgericht hat seine Rechtsprechung zu Art. 28 Abs. 2 GG kontinuierlich weiterentwickelt und konsolidiert. Hierbei stand die Selbstverwaltungsgarantie der Gemeinden nach Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG besonders im Fokus.¹¹ In seinen Entscheidungen zur sächsischen Schulnetzplanung¹² im Jahre 2014 und zum Kinderförderungsgesetz Sachsen-Anhalt¹³ im Jahre 2017 hatte das Gericht über die Reichweite der Garantie des alle Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft umfassenden eigenen Aufgabenbereichs der Gemeinden zu befinden, die es in seiner Rastede-Entscheidung aus dem Jahre 1983¹⁴ bereits grundlegend ausgeformt und konturiert hatte. Dies bietet Anlass, nach einem kurzen Überblick über die dogmatische Grundkonstruktion und die Gewährleistungsebenen von Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG die Entwicklung der gemeindlichen Aufgabengarantie in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts näher zu analysieren. Die gemeindeverbandliche Selbstverwaltungsgarantie des Art. 28 Abs. 2 Satz 2 GG muss – ebenso wie die sonstigen Gewährleistungsebenen der gemeindlichen Selbstverwaltungsgarantie – einer gesonderten Untersuchung vorbehalten bleiben.

II. Dogmatische Grundkonstruktion und Gewährleistungsebenen von Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG Nach Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG muss den Gemeinden das Recht gewährleistet sein, alle Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft im Rahmen der Gesetze in eigener Verantwortung zu regeln. Die Vorschrift beinhaltet ein objektives Staatsaufbauprinzip:¹⁵ Die Gemeinden sind ein wesentlicher Bestandteil der staatlichen Gesamtorganisation; sie sind in den staatlichen Aufbau integriert und innerhalb dessen mit eigenen Rechten ausgestattet.¹⁶ Insofern handelt es sich bei der

 Zur Selbstverwaltungsgarantie der Gemeindeverbände nach Art. 28 Abs. 2 Satz 2 GG vgl. BVerfGE 119, 331 (352 ff.); 137, 108 (156 ff. Rn. 114 ff.).  BVerfGE 138, 1 ff.  BVerfGE 147, 185 ff.  BVerfGE 79, 127 ff.  Dietlein/Peters, Kommunale Selbstverwaltung im Föderalstaat, 2017, S. 15; Püttner, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, 3. Aufl. 2008, § 144 Rn. 3; Schwarz, in: v. Mangoldt/ Klein/Starck, GG, 7. Aufl. 2018, Art. 28 Rn. 160.  BVerfGE 79, 127 (148 f.); 83, 37 (54); 107, 1 (10); 138, 1 (18 Rn. 52); 147, 185 (222 Rn. 77); Dreier, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 28 Rn. 76. Dabei bleiben die Kommunen im zweistufigen Bundesstaat

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gemeindlichen Selbstverwaltungsgarantie unter dem Grundgesetz – anders als noch in der (freilich nie in Kraft getretenen) Frankfurter Reichsverfassung von 1849 (Art. XI § 184), in der Weimarer Reichsverfassung von 1919 (Art. 127)¹⁷ oder auf Landesebene etwa in der Bayerischen Verfassung (Art. 11) – nicht um eine grundrechtliche Gewährleistung.¹⁸ Vielmehr normiert Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG nach dem Verständnis des Bundesverfassungsgerichts eine institutionelle Garantie der kommunalen Selbstverwaltung,¹⁹ die auf Ausgestaltung und Formung durch den Gesetzgeber („im Rahmen der Gesetze“) angewiesen ist.²⁰ Verpflichtungsadressaten von Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG sind Bund und Länder; die Vorgaben der grundgesetzlichen Selbstverwaltungsgarantie der Gemeinden sind für Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung auf beiden bundesstaatlichen Ebenen unmittelbar geltendes und anwendbares Recht.²¹ Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG überlässt dem Gesetzgeber die gebotene Ausgestaltung und Formung der kommunalen Selbstverwaltung jedoch nicht beliebig.²² Ihm

grundsätzlich Teil der Länder und bilden keine dritte staatliche Ebene, vgl. BVerfGE 39, 96 (109); 119, 331 (364); 137, 108 (147 Rn. 90); Knemeyer/Wehr, VerwArch 92 (2001), S. 317 (322 ff.).  Zu den historischen Vorläufern von Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG vgl. im Überblick Mann, in: Kahl/ Waldhoff/Walter, Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 28 Rn. 116 ff. (Februar 2018).  Vgl. BVerfGE 138, 1 (18 Rn. 52); 147, 185 (222 Rn. 77); Dreier, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 28 Rn. 76 f.; Schwarz, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, 7. Aufl. 2018, Art. 28 Rn. 130. Zur mangelnden Grundrechtsberechtigung von Gemeinden – jenseits von Prozessgrundrechten und dem Gebot willkürfreier Rechtsanwendung – vgl. nur BVerfGE 45, 63 (78 f.); 61, 82 (100 ff.); 137, 108 (154 Rn. 107).  Vgl. BVerfGE 9, 268 (289); 11, 266 (276); 56, 298 (312); 59, 216 (227); 79, 127 (142); 138, 1 (18 Rn. 52); 147, 185 (222 Rn. 77); in Ansätzen auch schon BVerfGE 1, 167 (173 ff.); aus der Literatur Clemens, NVwZ 1990, S. 834 (834 f.); Dreier, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 28 Rn. 78; Hellermann, in: Epping/Hillgruber, BeckOK-GG, Art. 28 Rn. 33 (Mai 2018); K. Lange, Kommunalrecht, 2013, Kapitel 1 Rn. 3; Mann, in: Kahl/Waldhoff/Walter, Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 28 Rn. 149 ff. (Februar 2018); Schwarz, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, 7. Aufl. 2018, Art. 28 Rn. 130 und 155.  Vgl. nur BVerfGE 79, 127 (143); 83, 363 (381); 107, 1 (10); kritisch gegenüber einer ausschließlichen Einordnung der gemeindlichen Selbstverwaltungsgarantie als institutionelle Garantie aber etwa Ehlers, DVBl. 2000, S. 1301 (1304 ff.); auch Dietlein, Systematische Einführung zum Kommunalrecht Deutschlands, in: Dietlein/Heusch, BeckOK-Kommunalrecht Nordrhein-Westfalen, Rn. 31.2, 36 f. (Juni 2018).  Vgl. nur BVerfGE 147, 185 (211 f. Rn. 48 f.); Mann, in: Kahl/Waldhoff/Walter, Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 28 Rn. 144 (Februar 2018); Röhl, Kommunalrecht, in: Schoch, Besonderes Verwaltungsrecht, 2018, S. 301 (312); a.A. aber wohl Krausnick, in: Engels/Krausnick, Kommunalrecht, 2015, § 3 Rn. 47, der Art. 28 Abs. 2 GG als eine auf den Bund begrenzte Bindungsnorm interpretiert; dagegen Dietlein/Peters, Kommunale Selbstverwaltung im Föderalstaat, 2017, S. 18 f. und 26 ff.  BVerfGE 79, 127 (142).

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kommt keine ungebundene Gestaltungsfreiheit zu;²³ vielmehr ist er an die normativen Vorgaben der Verfassungsgarantie des Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG, die konstitutive Elemente der gemeindlichen Selbstverwaltung selbst festlegt, gebunden.²⁴ Der Gesetzgeber muss insofern die Entscheidung des Grundgesetzes für eine dezentral organisierte und bürgerschaftlich getragene Verwaltung beachten.²⁵ Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG lassen sich verschiedene Gewährleistungselemente entnehmen.²⁶ Zunächst ist die Institution der Gemeinde garantiert; der Staat darf den Bestand von Gemeinden²⁷ nicht vollständig beseitigen und durch unselbständige staatliche Verwaltungseinheiten ersetzen.²⁸ Soweit das Bundesverfassungsgericht betont, dass sich Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG – dem Wesen der institutionellen Garantie entsprechend – nicht auf die individuelle Gemeinde bezieht,

 BVerfGE 110, 370 (400); 138, 1 (17 Rn. 50); 147, 185 (221 f. Rn. 75).  BVerfGE 79, 127 (154); Hellermann, in: Epping/Hillgruber, BeckOK-GG, Art. 28 Rn. 33.1 f. (Mai 2018); Knemeyer/Wehr, VerwArch 92 (2001), S. 317 (332).  Zurückhaltender aber BVerfGE 79, 127 (143); 107, 1 (11): „berücksichtigen“.  In der Literatur hat sich zur Systematisierung der Schutzdimensionen von Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG ein maßgeblich von Klaus Stern geprägtes „Schichten-Modell“ etabliert, das in seiner klassischen Form zwischen der institutionellen Rechtssubjektsgarantie als Gewährleistung der Existenz von Gemeinden, der objektiven Rechtsinstitutionsgarantie als Gewährleistung eines gemeindlichen Aufgabenbestandes und der Eigenverantwortlichkeit der Aufgabenwahrnehmung als Grundbedingungen wirksamer gemeindlicher Selbstverwaltung sowie der subjektiven Rechtsstellungsgarantie als subjektiv-rechtlichem Schutzanspruch einzelner Gemeinden unterscheidet, vgl. Stern, in: Dolzer/Vogel/Graßhof, Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 28 Rn. 62 ff. (Dezember 1964); dies aufnehmend auch Dreier, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 28 Rn. 90 ff.; Hellermann, in: Epping/Hillgruber, BeckOK-GG, Art. 28 Rn. 34 ff. (Mai 2018); K. Lange, Kommunalrecht, 2013, Kapitel 1 Rn. 3 f.; Mann, in: Kahl/Waldhoff/Walter, Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 28 Rn. 149 ff. (Februar 2018); Nierhaus/Engels, in: Sachs, GG, 8. Aufl. 2018, Art. 28 Rn. 40 ff.; Schmidt-Aßmann, Die Garantie kommunaler Selbstverwaltung, in: Badura/ Dreier, Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, 2001, Band 2, S. 803 (812 ff.); Schwarz, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, 7. Aufl. 2018, Art. 28 Rn. 155 ff. Das Bundesverfassungsgericht hat sich dieses Schichtenmodell nur sehr zurückhaltend zueigen gemacht und verfolgt zumeist eine unmittelbar am Wortlaut von Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG orientierte Prüfung. Teilweise nimmt das Gericht aber auch ausdrücklich die Kategorisierungen des Schichten-Modells in Bezug, vgl. etwa BVerfGE 137, 108 (155 Rn. 109); 138, 1 (32 Rn. 88), wo das Gericht ausdrücklich von der subjektiven Rechtsstellungsgarantie spricht. Zur notwendigen Weiterentwicklung des Schichtenmodells vgl. Dietlein/Peters, Kommunale Selbstverwaltung im Föderalstaat, 2017, S. 19 ff.  Zu den begriffskonstituierenden Elementen einer Gemeinde vgl. nur Dietlein, Systematische Einführung zum Kommunalrecht Deutschlands, in: Dietlein/Heusch, BeckOK-Kommunalrecht Nordrhein-Westfalen, Rn. 41 ff. (Juni 2018); Dreier, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 28 Rn. 80.  Dreier, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 28 Rn. 91; Mann, in: Kahl/Waldhoff/Walter, Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 28 Rn. 150 (Februar 2018); Nierhaus/Engels, in: Sachs, GG, 8. Aufl. 2018, Art. 28 Rn. 41; Pieroth, in: Jarass/Pieroth, GG, 15. Aufl. 2018, Art. 28 Rn. 19.

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sondern abstrakt-generell zu verstehen ist,²⁹ folgt daraus nur, dass die kommunale Selbstverwaltungsgarantie der Auflösung einzelner Gemeinden nicht generell entgegensteht.³⁰ Auch wenn damit kein absoluter Bestandsschutz einzelner Gemeinden gegen Auflösung, Fusion, Eingliederung oder Gebietsänderung besteht, so gewährleistet Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG diesen doch einen beschränkt individuellen Schutz dahingehend, dass gesetzgeberische Zugriffe auf den Gemeindebestand nur unter Beachtung verfahrensrechtlicher Anforderungen erfolgen dürfen und durch Gemeinwohlgründe gerechtfertigt werden müssen.³¹ Neben der Gewährleistung der Existenz von Gemeinden bedarf es der Sicherung der notwendigen Bedingungen einer wirksamen Selbstverwaltung. Denn die Selbstverwaltungsgarantie könnte ansonsten auch bei einem formellen Fortbestehen der Gemeinden durch weitgehende Einengung des ihnen offenstehenden Aufgabenkreises und staatliche Determinierung ihrer Aufgabenwahrnehmung inhaltlich ausgehöhlt werden und nur noch formal existieren.³² Deshalb garantiert Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG einen grundsätzlich alle Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft umfassenden eigenen Aufgabenbereich der Gemeinden – die im Folgenden näher untersuchte Aufgabengarantie – sowie die Befugnis der Gemeinden zur eigenverantwortlichen Aufgabenerfüllung und Führung der Geschäfte.³³ Daneben gewährleistet Art. 28 Abs. 2 Satz 3 Halbsatz 1 GG den Gemeinden die Grundlagen finanzieller Eigenverantwortung. Dazu gehört insbesondere die Finanzhoheit als Garantie einer eigenverantwortlichen gemeindlichen Einnahmen- und Ausgabenwirtschaft;³⁴ das Bundesverfassungsgericht leitet aus Art. 28 Abs. 2 Satz 3 GG zudem die Pflicht des Staates ab,  Vgl. BVerfGE 138, 1 (19 Rn. 53); 147, 185 (223 Rn. 78).  Brüning, Jura 2015, S. 592 (594); Dreier, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 28 Rn. 92; Nierhaus/ Engels, in: Sachs, GG, 8. Aufl. 2018, Art. 28 Rn. 42; Röhl, Kommunalrecht, in: Schoch, Besonderes Verwaltungsrecht, 2018, S. 301 (314).  Vgl. Dietlein, Systematische Einführung zum Kommunalrecht Deutschlands, in: Dietlein/ Heusch, BeckOK-Kommunalrecht Nordrhein-Westfalen, Rn. 35, 50 ff. (Juni 2018); Dietlein/Peters, Kommunale Selbstverwaltung im Föderalstaat, 2017, S. 20 f.; Dreier, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 28 Rn. 92; Ehlers, DVBl. 2000, S. 1301 (1305); K. Lange, Kommunalrecht, 2013, Kapitel 1 Rn. 11 f.; Mann, in: Kahl/Waldhoff/Walter, Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 28 Rn. 150 (Februar 2018); Röhl, Kommunalrecht, in: Schoch, Besonderes Verwaltungsrecht, 2018, S. 301 (314).  BVerfGE 79, 127 (148); Brüning, Jura 2015, S. 592 (594 f.); Dreier, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 28 Rn. 93; Mann, in: Kahl/Waldhoff/Walter, Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 28 Rn. 152 (Februar 2018).  BVerfGE 21, 117 (128); 23, 353 (365); 26, 228 (237 f.); 50, 195 (201); 56, 298 (312); 59, 516 (226); 79, 127 (143); 83, 363 (382); 91, 228 (236); 103, 332 (358); 107, 1 (11 f.); 110, 370 (400); 137, 108 (176 Rn. 163); 138, 1 (16 Rn. 44 und 19 Rn. 52); 147, 185 (220 Rn. 69 und 222 f. Rn. 77).  Vgl. BVerfGE 125, 141 (159); Pieroth, in: Jarass/Pieroth, GG, 15. Aufl. 2018, Art. 28 Rn. 27.

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den Gemeinden „gegebenenfalls“³⁵ die Mittel zur Verfügung zu stellen, die sie zur Erledigung ihrer Aufgaben benötigen.³⁶ Hinsichtlich der genannten Elemente kommt der einzelnen Gemeinde ein subjektiver Schutzanspruch zu, der sich insbesondere³⁷ in gerichtlichen Rechtsschutzmöglichkeiten ausdrückt.³⁸

III. Verfassungsunmittelbare Aufgabengarantie als Gewährleistungselement der gemeindlichen Selbstverwaltungsgarantie Integraler Bestandteil des der gemeindlichen Selbstverwaltungsgarantie innewohnenden Autonomieversprechens³⁹ ist die Gewährleistung eines den Gemeinden verfassungsunmittelbar zugewiesenen Aufgabenbereichs, der alle Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft umfasst.⁴⁰ Nach der „klassischen“, einrichtungsrechtlichen Lesart des Bundesverfassungsgerichts statuiert Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG hinsichtlich dieser Angelegenheiten ein verfassungsrechtliches Aufgabenverteilungsprinzip zugunsten der Gemeinden.⁴¹ Nach diesem Verständnis besteht ein grundsätzlicher Vorrang der gemeindlichen Aufgabenzuständigkeit im Bereich der

 Diese Einschränkung dürfte sich allein darauf beziehen, dass den Gemeinden auch die eigene Einnahmengenerierung und die Einräumung entsprechender Befugnisse durch den Staat grundgesetzlich gewährleistet sind und Finanzzuweisungen des Staates an die Gemeinden daneben treten, sofern die selbst generierten Finanzmittel nicht ausreichen, vgl. dazu BVerfGE 125, 141 (159).  BVerfGE 138, 1 (19 Rn. 53); 147, 185 (223 Rn. 78); vgl. dazu auch Brüning, NVwZ 2018, S. 155; Nierhaus/Engels, in: Sachs, GG, 8. Aufl. 2018, Art. 28 Rn. 46; Pieroth, in: Jarass/Pieroth, GG, 15. Aufl. 2018, Art. 28 Rn. 28.  Daneben wird aus der subjektiven Rechtsstellungsgarantie teilweise das interkommunale Gleichbehandlungsgebot bei Verteilungsentscheidungen von Bund und Ländern zwischen Gemeinden und/oder Gemeindeverbänden sowie das Gebot gemeindefreundlichen Verhaltens abgeleitet, vgl. dazu BVerfGE 137, 108 (154 Rn. 107); 138, 1 (32 Rn. 88); Dreier, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 28 Rn. 95 f.  Vgl. Dreier, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 28 Rn. 94; Hellermann, in: Epping/Hillgruber, BeckOK-GG, Art. 28 Rn. 37 (Mai 2018); Nierhaus/Engels, in: Sachs, GG, 8. Aufl. 2018, Art. 28 Rn. 45; Schwarz, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, 7. Aufl. 2018, Art. 28 Rn. 158.  Vgl. nur BVerfGE 79, 127 (145 f.): identitätsbestimmendes Merkmal der gemeindlichen Selbstverwaltung; Schoch, DVBl. 2018, 1; kritisch zum Begriff der Autonomie Püttner, in: Isensee/ Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, 3. Aufl. 2008, § 144 Rn. 26 f.  BVerfGE 26, 228 (237 f.); 56, 298 (312); 59, 216 (226); 79, 127 (150); 119, 331 (355).  BVerfGE 79, 127 (150); 107, 1 (13); 137, 108 (156 f. Rn. 114); 138, 1 (19 Rn. 54); 147, 185 (223 Rn. 79).

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Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft.⁴² Zwar wird der Aufgabenkreis der Gemeinden durch die Vorgaben des Gesetzgebers bestimmt und kann von diesem auch verändert werden; der Gesetzgeber muss bei der Zuordnung einer örtlichen Aufgabe aber den grundsätzlichen Vorrang gemeindlicher Aufgabenerfüllung berücksichtigen.⁴³ Die traditionell gewachsene Betonung des einrichtungsrechtlichen Charakters von Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG hat das Bundesverfassungsgericht im Zusammenhang mit dem Entzug von Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft in seiner jüngeren Rechtsprechung nicht unerheblich fortentwickelt. Zwar knüpft das Gericht weiter ausdrücklich an eine „Ausgestaltung durch den Gesetzgeber“ an, die vor dem Hintergrund des „Aufgabenverteilungsprinzips“ auf ihre Vereinbarkeit mit dem grundsätzlichen Zuständigkeitsvorrang zu Gunsten der Gemeinden zu prüfen ist.⁴⁴ Allerdings wandelt sich, wenn der Entzug einer Aufgabe der örtlichen Gemeinschaft im Raum steht, die für institutionelle Garantien typische Ausgestaltungsbefugnis des Gesetzgebers praktisch zum Gesetzesvorbehalt.⁴⁵ Der Entzug einer solchen Aufgabe durch den Gesetzgeber wird nunmehr ausdrücklich als „Eingriff“⁴⁶ in die den Gemeinden vom Grundgesetz gegenüber dem Staat zugewiesenen Rechte qualifiziert, der „strengen Rechtfertigungsanforderungen unterliegt“.⁴⁷ In der Sache erlangt die Aufgabengarantie so letztlich über die rein institutionelle Gewährleistungsdimension des Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG hinaus abwehrrechtlichen Charakter.⁴⁸

 So BVerfGE 137, 108 (177 Rn. 163); 138, 1 (18 Rn. 50); 147, 185 (221 f. Rn. 75).  BVerfGE 79, 127 (150, 152 und 154); 83, 363 (382); 107, 1 (12 f.); 110, 370 (400); 137, 108 (177 Rn. 163).  BVerfGE 138, 1 (20 Rn. 55 f.); 147, 185 (223 f. Rn. 80 f.); von einer Betonung des institutionellen Charakters in letzterer Entscheidung ausgehend Lindner, DÖV 2018, 235 (Fn. 2).  BVerfGE 138, 1 (20 Rn. 56); 147, 185 (224 Rn. 81); vgl. auch schon BVerfGE 110, 370 (402); Dreier, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 28 Rn. 109. Zwar enthalten auch die früheren Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zur Aufgabengarantie des Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG teilweise den Begriff des Gesetzesvorbehalts, vgl. etwa BVerfGE 79, 127 (143 und 145 f.); 107, 1 (12). Dort wird in der Sache aber lediglich auf die gesetzgeberische Ausgestaltungsmöglichkeit Bezug genommen, die Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG ausdrücklich durch die Formulierung „im Rahmen der Gesetze“ zum Ausdruck bringe, nicht aber auf ein daraus folgendes (quasi‐)abwehrrechtliches Verständnis der Aufgabengarantie rekurriert.  BVerfGE 138, 1 (19 Rn. 55); 147, 185 (223 f. Rn. 80); vgl. zum Begriff des Eingriffs auch schon BVerfGE 110, 370 (402).  BVerfGE 138, 1 (19 Rn. 54); vgl. auch BVerfGE 147, 185 (223 f. Rn. 80).  So auch Dietlein, Systematische Einführung zum Kommunalrecht Deutschlands, in: Dietlein/ Heusch, BeckOK-Kommunalrecht Nordrhein-Westfalen, Rn. 37, 58.2 und 87 (Juni 2018); Dietlein/ Peters, Kommunale Selbstverwaltung im Föderalstaat, 2017, S. 21 ff.; vgl. auch Dreier, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 28 Rn. 98; P. Lange, RdJB 2018, S. 112 (114); Mehde, in: Maunz/Dürig, GG,

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IV. Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft als Gewährleistungsinhalt der Aufgabengarantie Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG beschreibt die den Gemeinden zugewiesenen Aufgaben selbst und überantwortet diese Beschreibung nicht – wie etwa bei den Gemeindeverbänden in Art. 28 Abs. 2 Satz 2 GG – dem Gesetzgeber.⁴⁹ Der verfassungsunmittelbar garantierte Aufgabenbereich der Gemeinden erstreckt sich auf alle Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft. Anders als manche Landesverfassungen⁵⁰ erfasst die Aufgabengarantie des Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG damit nur solche Aufgaben, denen ein örtlicher Bezug innewohnt.⁵¹ Hinsichtlich dieser Angelegenheiten kommt den Gemeinden ein umfassendes Zugriffsrecht (sog. Allzuständigkeit) zu.

Art. 28 Abs. 2 Rn. 97 (November 2012); eher kritisch gegenüber Tendenzen der eingriffsbezogenen Ausrichtung Schmidt-Aßmann, Die Garantie kommunaler Selbstverwaltung, in: Badura/Dreier, Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, 2001, Band 2, S. 803 (808, 817), der aber zugleich die Ausstattung der Gemeinden mit eigenen (Abwehr‐)Rechten anerkennt; zu einer anderen, prinzipientheoretischen Interpretation von Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG und der darin enthaltenen Aufgabengarantie vgl. Engels, Die Verfassungsgarantie kommunaler Selbstverwaltung, 2014, S. 103 ff. und 453 ff.  Vgl. BVerfGE 119, 331 (352 f.).  In den landesverfassungsrechtlichen Garantien kommunaler Selbstverwaltung werden die Gemeinden teilweise als alleinige Träger der öffentlichen Verwaltung und damit als Träger sämtlicher im Gemeindegebiet anfallender öffentlicher Aufgaben bezeichnet (vgl. Art. 71 Abs. 2 Bad.-Württ.-Verf, Art. 137 Abs. 1 HessVerf., Art. 57 Abs. 3 Nds.-Verf.; Art. 78 Abs. 2 NRW-Verf., Art. 49 Abs. 1 RhPf-Verf., Art. 84 Abs. 1 SächsVerf., Art. 87 Abs. 2 LSA-Verf., Art. 54 Abs. 1 Schl.-Hst.-Verf.), vgl. dazu Dreier, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 28 Rn. 81 und 101; Püttner, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, 3. Aufl. 2008, § 144 Rn. 22; zurückhaltend hinsichtlich dieser Erweiterung des den Gemeinden garantierten Aufgabenkreises und für eine restriktive Auslegung entsprechender landesverfassungsrechtlicher Garantien Dietlein/Peters, Kommunale Selbstverwaltung im Föderalstaat, 2017 S. 12 f.  Insofern unterscheidet sich die Aufgabengarantie nach Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG nicht unerheblich von der Garantie der eigenverantwortlichen Aufgabenwahrnehmung, die das Bundesverfassungsgericht jedenfalls teilweise (im organisatorischen Bereich) auch auf den Gemeinden durch den Gesetzgeber zugewiesene Aufgaben des „übertragenen“, also nicht originär gemeindlichen Wirkungskreises erstreckt hat, vgl. etwa BVerfGE 110, 370 (401); dazu Knemeyer/ Wehr, VerwArch 92 (2001), S. 317 (336 f.); Nierhaus/Engels, in: Sachs, GG, 8. Aufl. 2018, Art. 28 Rn. 57.

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1. Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft Die materielle Reichweite der Aufgabengarantie des Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG ist maßgeblich geprägt durch den Begriff der Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft. Es handelt sich um einen unbestimmten Rechtsbegriff,⁵² der in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nähere Ausformung erhalten hat. Nach der in der Rastede-Entscheidung geprägten „klassischen“ Definition sind Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft diejenigen Bedürfnisse und Interessen, die in der örtlichen Gemeinschaft wurzeln oder auf sie einen spezifischen Bezug haben, die also den Gemeindeeinwohnern gerade als solche gemeinsam sind, indem sie das Zusammenleben und -wohnen der Menschen in der (politischen)⁵³ Gemeinde betreffen.⁵⁴ Seit seiner Entscheidung zur sächsischen Schulnetzplanung⁵⁵ nutzt das Gericht eine verkürzte Definition, nach der Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft solche „Aufgaben⁵⁶ [sind], die das Zusammenleben und -wohnen der Menschen vor Ort betreffen oder einen spezifischen Bezug darauf haben“.⁵⁷ Maßgebliche Fortschritte – jenseits der etwas „griffigeren“ Formulierung – bringt die neue Definition freilich nicht;⁵⁸ eine im Sinne eines konkreten Aufgabenkatalogs inhaltlich umrissene Aufgabengarantie enthält Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG nicht.⁵⁹ Es bleibt dabei, dass sich die örtlichen

 BVerfGE 79, 127 (154): „unbestimmter Verfassungsbegriff“; vgl. auch Clemens, NVwZ 1990, S. 834 (841).  Nur in BVerfGE 79, 127 (151 f.).  BVerfGE 79, 127 (151 f.); 110, 370 (400); 137, 108 (176 f. Rn. 163); ausschließlich auf den ersten Teil der Definition stellen ab BVerfGE 8, 122 (134); 50, 195 (201); 52, 95 (120); 86, 148 (220).  BVerfGE 138, 1 ff.  Den Begriff „Aufgabe“ nutzte das Bundesverfassungsgericht schon in seiner frühen Rechtsprechung im Zusammenhang mit den Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft, vgl. etwa BVerfGE 8, 122 (134); 50, 195 (201), 52, 95 (120). Zwischenzeitlich ersetzte das Gericht den Begriff durch die Wendung „Bedürfnisse und Interessen“, vgl. BVerfGE 79, 127 (151); 86, 148 (220); 110, 370 (400); 137, 108 (176 Rn. 163). In den jüngsten Entscheidungen zur Aufgabengarantie stellt das Gericht dagegen wieder auf den Begriff der Aufgabe ab, vgl. BVerfGE 138, 1 (16 Rn. 45); 147, 185 (220 Rn. 70). Es dürfte sich insofern freilich lediglich um eine terminologische Frage handeln, die keine nähere Bedeutung für die Bestimmung des materiellen Gehalts der Aufgabengarantie hat, vgl. K. Lange, Kommunalrecht, 2013, Kapitel 1 Rn. 20.  Vgl. BVerfGE 138, 1 (16 Rn. 45); 147, 185 (220 Rn. 70).  Vgl. K. Lange, ZG 2018, S. 75 (77).  So BVerfGE 137, 108 (157 Rn. 114); 138, 1 (16 Rn. 45); 147, 185 (220 Rn. 70); durch den Verweis auf BVerfGE 79, 127 (146); 107, 1 (12) wird deutlich, dass mit „inhaltlich umrissen“ gemeint ist, dass der den Gemeinden mit den Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft zugewiesene Aufgabenkatalog nicht gegenständlich bestimmt oder nach feststehenden Merkmalen bestimmbar ist.

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Bezüge einer Aufgabe nicht an scharf konturierten Merkmalen feststellen lassen.⁶⁰ Nicht unerhebliche Bedeutung bei der Bestimmung des örtlichen Bezugs einer Aufgabe misst das Bundesverfassungsgericht der geschichtlichen Entwicklung und den verschiedenen historischen Erscheinungsformen der Selbstverwaltung zu.⁶¹ Es spricht für die Zuordnung einer Aufgabe zu den Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft, wenn die Aufgabe für das Bild der typischen Gemeinde charakteristisch ist.⁶² Insofern stellt das Bundesverfassungsgericht häufig darauf ab, ob die Wahrnehmung einer Aufgabe durch die Gemeinde der überkommenen Zuständigkeitsverteilung entspricht und zum historisch gewachsenen Aufgabenbestand der Gemeinden zählt: Wenn eine Aufgabe schon seit jeher von den Gemeinden erfüllt wurde, kann dies ein unter Umständen entscheidendes Indiz für deren Zugehörigkeit zur Garantie der kommunalen Selbstverwaltung sein.⁶³ Das Bundesverfassungsgericht betont aber zugleich, dass die Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft einer gewissen Dynamik unterliegen können.⁶⁴ Sie bilden keinen ein für alle Mal feststehenden Aufgabenkreis, da sich die örtlichen Bezüge einer Angelegenheit mit ihren sozialen, wirtschaftlichen oder technischen Rahmenbedingungen wandeln können. Das geschichtliche Erscheinungsbild ist danach ein gegebenenfalls hinreichendes, aber kein notwendiges Kriterium für die Einordnung als Aufgabe des örtlichen Wirkungskreises.⁶⁵ Der örtliche Bezug kann deshalb auch bei neuen Aufgaben gegeben sein, die keine historischen Vorläufer kennen.⁶⁶ Der Umstand, dass eine Aufgabe nur für eine begrenzte Zeit von den Gemeinden wahrgenommen wurde, spielt danach für  Vgl. BVerfGE 138, 1 (16 Rn. 45); 147, 185 (220 f. Rn. 71); zur Problematik der Feststellung eines örtlichen Bezugs im Einzelfall auch Clemens, NVwZ 1990, S. 834 (841); K. Lange, Kommunalrecht, 2013, Kapitel 1 Rn. 21 ff.; K. Lange, ZG 2018 S. 75 (77).  BVerfGE 138, 1 (16 f. Rn. 46); 147, 185 (220 f. Rn. 71); die Entscheidungen nehmen insofern eine Formulierung in Bezug, die das Bundesverfassungsgericht für die Bestimmung des Gegenstands des Kernbereichs der Selbstverwaltung verwendet, vgl. BVerfGE 50, 195 (201); 59, 216 (226); 91, 228 (238); 125, 141 (167).  BVerfGE 138, 1 (16 f. Rn. 46); 147, 185 (220 f. Rn. 71); Brüning, Jura 2015, S. 592 (595).  BVerfGE 138, 1 (23 Rn. 63); 147, 185 (236 f. Rn. 113).  Vgl. BVerfGE 110, 370 (401); 138, 1 (16 f. Rn. 47); 147, 185 (221 Rn. 72 und 236 f. Rn. 113); dazu eingehend K. Lange, Kommunalrecht, 2013, Kapitel 1 Rn. 25; Stern, in: Dolzer/Vogel/Graßhof, Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 28 Rn. 87 (Dezember 1964).  BVerfGE 147, 185 (236 f. Rn. 113, noch stärker die Bedeutung der historischen Betrachtung relativierend 238 Rn. 118: „nicht von ausschlaggebender Bedeutung“); vgl. zu den Schwächen der historischen Betrachtung auch Mehde, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 28 Abs. 2 Rn. 51 (November 2012) m.w. N.  So ausdrücklich BVerfGE 147, 185 (236 f. Rn. 113); vgl. auch Dietlein/Peters, Kommunale Selbstverwaltung im Föderalstaat, 2017, S. 12 f.

Die Aufgabengarantie der Gemeinden nach Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG

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die Zuordnung zum Gewährleistungsbereich von Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG ebenfalls keine Rolle.⁶⁷ Umgekehrt sichert ein einmal erreichter Aufgabenbestand nicht die Zuordnung der Aufgabe zu den Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft, da bestimmte Aufgaben aus ihrem örtlichen Bezug „herauswachsen“ können.⁶⁸ Weil die historische Aufgabenträgerschaft Indiz, nicht aber allein tragfähiges Argument für eine Zuordnung zum grundgesetzlich garantierten gemeindlichen Wirkungskreis bleibt, unternimmt das Bundesverfassungsgericht für diese Zuordnung auch bei maßgeblichem Rekurs auf den historisch gewachsenen gemeindlichen Aufgabenbestand noch die (nachgelagerte) „Kontrollüberlegung“, ob einer Aufgabe ein örtlicher Bezug eigen ist.⁶⁹ In Abkehr von seiner früheren Rechtsprechung⁷⁰ nimmt das Bundesverfassungsgericht seit der Rastede-Entscheidung an, dass es für den örtlichen Bezug einer Aufgabe nicht darauf ankommt, ob die Leistungsfähigkeit und Verwaltungskraft einer Gemeinde für die Bewältigung der Aufgabe tatsächlich ausreicht.⁷¹ Die mangelnde Leistungsfähigkeit oder Verwaltungskraft kann aber gegebenenfalls ein Rechtfertigungsgrund für die Hochzonung der Aufgabe an einen anderen Verwaltungsträger sein,⁷² wobei freilich der vom Bundesverfassungsgericht postulierte Vorrang der kooperativen Wahrnehmung örtlicher Aufgaben durch mehrere Gemeinden zu beachten ist.⁷³ Allerdings betont das Bundesverfassungsgericht zugleich, dass die gemeindlichen Aufgaben mit Blick auf die Vielgestaltigkeit der Gemeinden hinsichtlich ihrer Einwohnerzahl, flächenmäßi-

 Vgl. BVerfGE 147, 185 (238 Rn. 118).  BVerfGE 79, 127 (156); 138, 1 (16 f. Rn. 47); 147, 185 (221 Rn. 72) jeweils unter Verweis auf BVerfGE 78, 331 (340); vgl. in diesem Sinne auch Dietlein, Systematische Einführung zum Kommunalrecht Deutschlands, in: Dietlein/Heusch, BeckOK-Kommunalrecht Nordrhein-Westfalen, Rn. 88 (Juni 2018); Dreier, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 28 Rn. 104; Mehde, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 28 Abs. 2 Rn. 51 (November 2012).  So etwa BVerfGE 138, 1 (24 Rn. 65) für die Trägerschaft von Schulen, die ausschließlich der Erfüllung der allgemeinen Schulpflicht dienen.  Vgl. BVerfGE 8, 122 (134); 50, 195 (201); 52, 95 (120); jeweils mit der Anforderung, dass die Aufgaben auch „von der örtlichen Gemeinschaft eigenverantwortlich und selbständig bewältigt werden können“.  BVerfGE 79, 127 (152); 110, 370 (400); 138, 1 (19 Rn. 53 und 27 Rn. 73); 147, 185 (223 Rn. 78); vgl. Dreier, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 28 Rn. 101; Nierhaus/Engels, in: Sachs, GG, 8. Aufl. 2018, Art. 28 Rn. 46; kritisch Gern/Brüning, Deutsches Kommunalrecht, 4. Aufl. 2019, Rn. 83.  Dazu ausführlich unten V. 2. b) bb) (1).  BVerfGE 138, 1 (28 Rn. 74); 147, 185 (226 Rn. 86); vgl. auch Dietlein, Systematische Einführung zum Kommunalrecht Deutschlands, in: Dietlein/Heusch, BeckOK-Kommunalrecht NordrheinWestfalen, Rn. 88 (Juni 2018); differenzierend Ritgen, ZG 2016, S. 263 (269 f.).

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gen Ausdehnung und Struktur nicht für alle Gemeinden gleich sein können.⁷⁴ Eine Aufgabe muss sich danach nicht für alle Gemeinden als eine Angelegenheit der örtlichen Gemeinschaft darstellen, sondern kann vielmehr nur für bestimmte – größere – Gemeinden als örtlich anzusehen sein und im Übrigen als überörtlich.⁷⁵ Für das Bestehen eines örtlichen Bezugs soll es insofern darauf ankommen, ob die betreffende Aufgabe in gemeindlicher Trägerschaft bei typisierender Betrachtung eine sachangemessene, für die spezifischen Interessen der Einwohner und die Wahrnehmung anderer Gemeindeaufgaben förderliche Erledigung finden kann.⁷⁶ Damit kann sich der Schutz der Aufgabengarantie des Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG in Bezug auf manche Aufgaben nur auf Teile der Gemeinden erstrecken. Das Bundesverfassungsgericht gesteht dem Gesetzgeber in diesem Zusammenhang neben der Typisierungsbefugnis auch eine Einschätzungsprärogative zu.⁷⁷ Ebenso wie die Verwaltungskraft hat auch die Finanzkraft einzelner Gemeinden auf den örtlichen Bezug einer Aufgabe keinen Einfluss.⁷⁸ Der Umstand, dass die Erfüllung einer Aufgabe mit örtlichem Bezug die Gemeinden finanziell vor Herausforderungen stellt oder gar überfordert, lässt den Schutz von Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG nicht entfallen. Das Bundesverfassungsgericht betont in diesem Zusammenhang die aus Art. 28 Abs. 2 Satz 3 GG folgende Pflicht des Staates, den Gemeinden gegebenenfalls die Mittel zur Verfügung zu stellen, die sie zur Erfüllung ihrer Aufgaben benötigen.⁷⁹ Typisierungsbefugnisse dürften dem Gesetzgeber hier mit Blick auf die ihn treffende finanzielle Gewährleistungspflicht nicht zukommen. Auch in anderer Hinsicht lässt das Bundesverfassungsgericht in seiner neueren Rechtsprechung Differenzierungen erkennen: So geht es davon aus,

 Vgl. BVerfGE 79, 127 (152); 110, 370 (401); 138, 1 (20 Rn. 57); 147, 185 (224 f. Rn. 83); Nierhaus/ Engels, in: Sachs, GG, 8. Aufl. 2018, Art. 28 Rn. 47.  BVerfGE 79, 127 (153 f.); 83, 363 (383 f.); 110, 370 (401); dazu auch Ritgen, ZG 2016, S. 263 (268 f.).  BVerfGE 147, 185 (223 Rn. 78); vgl. auch BVerfGE 138, 1 (18 Rn. 53), wo das Gericht freilich anstelle von „förderlicher Erledigung“ noch von „notwendiger Erledigung“ spricht. Vgl. zu den Typisierungsbefugnissen in diesem Bereich auch schon BVerfGE 79, 127 (153 f.); 110, 370 (401); dazu auch Dreier, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 28 Rn. 102; Nierhaus/Engels, in: Sachs, GG, 8. Aufl. 2018, Art. 28 Rn. 46.  BVerfGE 79, 127 (153 f.); 110, 370 (401); 138, 1 (19 Rn. 53); Dreier, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 28 Rn. 102; Mann, in: Kahl/Waldhoff/Walter, Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 28 Rn. 176 (Februar 2018); Schwarz, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, 7. Aufl. 2018, Art. 28 Rn. 169.  BVerfGE 138, 1 (19 Rn. 53); 147, 185 (223 Rn. 78); Nierhaus/Engels, in: Sachs, GG, 8. Aufl. 2018, Art. 28 Rn. 46.  BVerfGE 138, 1 (19 Rn. 53); 147, 185 (223 Rn. 78); vgl. auch ThürVerfGH, Urteil vom 21. Juni 2005 – VerfGH 28/03 –, NVwZ-RR 2005, S. 665 (666 f.).

Die Aufgabengarantie der Gemeinden nach Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG

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dass eine Aufgabe sich nicht hinsichtlich aller ihrer Teilaspekte als eine Angelegenheit der örtlichen Gemeinschaft darstellen muss, sondern durchaus zugleich örtliche und überörtliche Aspekte aufweisen kann.⁸⁰ Der Umstand, dass eine Aufgabe nur teilweise als eine solche der örtlichen Gemeinschaft anzusehen ist und im Übrigen überörtlicher Natur ist, führt aber nicht dazu, dass die Aufgabe aus dem Schutzbereich von Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG herausfällt.⁸¹ Vielmehr wird solchen „Aufgaben mit örtlich-überörtlichem Substanzgemisch“⁸² zumeist durch eine Abschichtung in einzelne Teilaufgaben mit jeweils schwerpunktmäßig örtlichem bzw. überörtlichem Bezug Rechnung getragen werden können.⁸³ Scheidet eine solche Aufgabenteilung im Einzelfall aus, kann der Gesetzgeber die Aufgabe der Gemeindeebene oder einem anderen Verwaltungsträger zuweisen, muss dabei jedoch die Bedeutung des der Aufgabe innewohnenden örtlichen Bezugs berücksichtigen;⁸⁴ lediglich wenn die Aufgabe keinerlei relevanten örtlichen Charakter hat, ist er bei der Zuweisung an einen überörtlichen Verwaltungsträger von den Rechtfertigungsanforderungen der Aufgabengarantie dispensiert.⁸⁵ Hier kommt dem Gesetzgeber wiederum eine Typisierungsbefugnis sowie ein Einschätzungsspielraum zu.⁸⁶ Soweit eine Aufgabe dem gemeindlichen Wirkungskreis zuzurechnen ist, kommt es für den Schutz durch Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG nicht darauf an, dass der Gesetzgeber den Gemeinden die Aufgabe zugewiesen und sie zu ihrer Wahrneh-

 BVerfGE 110, 370 (401); 138, 1 (17 Rn. 48); 147, 185 (221 Rn. 73); vgl. in diese Richtung schon BVerfGE 79, 127 (153 f.); auch Clemens, NVwZ 1990, S. 834 (840); Nierhaus/Engels, in: Sachs, GG, 8. Aufl. 2018, Art. 28 Rn. 47.  BVerfGE 138, 1 (17 Rn. 48); 147, 185 (221 Rn. 73).  Ritgen, ZG 2016, S. 263 (270); teilweise wird auch von „Gemengelagen“ gesprochen, vgl. Röhl, Kommunalrecht, in: Schoch, Besonderes Verwaltungsrecht, 2018, S. 301 (318).  So auch Clemens, NVwZ 1990, S. 834 (841); Gern/Brüning, Deutsches Kommunalrecht, 4. Aufl. 2019, Rn. 91; Püttner, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, 3. Aufl. 2008, § 144 Rn. 29; Schwarz, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, 7. Aufl. 2018, Art. 28 Rn. 176.  BVerfGE 138, 1 (17 Rn. 48); 147, 185 (221 Rn. 73); Gern/Brüning, Deutsches Kommunalrecht, 4. Aufl. 2019, Rn. 93 mit der zutreffenden Betonung, dass Doppelkompetenzen ausgeschlossen bleiben müssen; Ritgen, ZG 2016, S. 263 (270); vgl. auch Püttner, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, 3. Aufl. 2008, § 144 Rn. 29; kritisch Dietlein, Systematische Einführung zum Kommunalrecht Deutschlands, in: Dietlein/Heusch, BeckOK-Kommunalrecht Nordrhein-Westfalen, Rn. 88.3 (Juni 2018).  Vgl. BVerfGE 147, 185 (224 Rn. 82); Gern/Brüning, Deutsches Kommunalrecht, 4. Aufl. 2019, Rn. 126; Mann, in: Kahl/Waldhoff/Walter, Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 28 Rn. 257 (Februar 2018).  BVerfGE 79, 127 (153 f.); 110, 370 (401); 138, 1 (19 Rn. 53); Dreier, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 28 Rn. 102; Nierhaus/Engels, in: Sachs, GG, 8. Aufl. 2018, Art. 28 Rn. 47.

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mung verpflichtet hat.⁸⁷ Es handelt sich dann um eine „pflichtige“ Selbstverwaltungsaufgabe, für die der Gemeinde im Unterschied zu „freien“ Selbstverwaltungsaufgaben lediglich das Recht genommen ist, von einer Wahrnehmung der Aufgabe abzusehen.⁸⁸ Auch inhaltliche Vorgaben des Gesetzgebers hinsichtlich der Art und Weise der Aufgabenwahrnehmung stehen bei einem örtlichen Bezug der Aufgabe dem Schutz durch die Aufgabengarantie des Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG nicht entgegen. Keine Auswirkung auf die Zuordnung einer Aufgabe zum gemeindlichen Wirkungskreis hat es deshalb auch, dass die betreffende Aufgabe bundesrechtlich determiniert ist.⁸⁹

2. Gemeindliche Allzuständigkeit hinsichtlich aller örtlichen Angelegenheiten Innerhalb des von Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG mit dem Begriff der Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft umrissenen gemeindlichen Wirkungskreises sind die der Wahrnehmung durch die Gemeinden offenstehenden Aufgaben nicht sachlich-gegenständlich beschränkt; der Aufgabenkreis ist umfassend.⁹⁰ Den

 BVerfGE 147, 185 (238 Rn. 117).  Vgl. dazu Dreier, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 28 Rn. 105; Mann, in: Kahl/Waldhoff/Walter, Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 28 Rn. 250 (Februar 2018); Nierhaus/Engels, in: Sachs, GG, 8. Aufl. 2018, Art. 28 Rn. 71; zur Rechtfertigungsbedürftigkeit der Übertragung von Aufgaben des staatlichen Wirkungskreises auf die Gemeinden unter dem Gesichtspunkt eines Eingriffs in die Garantie der eigenverantwortlichen Wahrnehmung von Aufgaben des eigenen Wirkungskreises, vgl. nur BVerfGE 119, 331 (354).  BVerfGE 147, 185 (239 Rn. 120); Dreier, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 28 Rn. 105. Mit Einführung von Art. 84 Abs. 1 Satz 7 GG im Zuge der Föderalismusreform I ist es nunmehr dem Bund ohnehin untersagt, eine Aufgabe unmittelbar an die Gemeinden oder Gemeindeverbände zuzuweisen; auch einer Zuständigkeitsverteilung von Aufgaben zwischen der Gemeinde- und Kreisebene durch den Bund ist damit ein Riegel vorgeschoben, vgl. BVerfGE 119, 331 (359); 147, 185 (240 Rn. 123). Weiter möglich bleibt freilich die inhaltliche Determinierung einer Sachaufgabe durch den Bundesgesetzgeber; es liegt dann am Landesgesetzgeber, die Zuständigkeiten so zu regeln, dass den Anforderungen der Aufgabengarantie des Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG genüge getan ist. Gibt es aus der Zeit vor der Geltung von Art. 84 Abs. 1 Satz 7 GG bundesgesetzliche Vorgaben über die Zuständigkeiten, prüft das Bundesverfassungsgericht zwar, ob diese Zuständigkeitsregelungen einer Wahrnehmung der Sachaufgabe durch die Gemeinden entgegenstehen, vgl. BVerfGE 147, 185 (239 ff. Rn. 121 ff.); auch diese bundesrechtliche Zuständigkeitszuweisung wird freilich nicht den an sich gegebenen örtlichen Bezug einer Aufgabe entfallen lassen.  BVerfGE 83, 37 (54).

Die Aufgabengarantie der Gemeinden nach Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG

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Gemeinden obliegt die Allzuständigkeit⁹¹ hinsichtlich aller örtlichen Angelegenheiten.⁹² Ihnen kommt auch ohne einen speziellen Kompetenztitel das Zugriffsrecht⁹³ auf alle Aufgaben mit örtlichem Bezug zu, sofern diese nicht den Anforderungen von Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG entsprechend anderen Verwaltungsträgern zugewiesen sind.⁹⁴ Dazu gehört insbesondere die Befugnis, sich neuer Aufgaben mit örtlichem Bezug anzunehmen („Aufgabenerfindungsrecht“).⁹⁵ Die Aufgabengarantie erfasst dabei das gemeindliche Zugriffsrecht auf Aufgaben mit örtlichem Bezug als solches; die Erfüllungsmodalitäten hinsichtlich dieses Aufgabenkreises sind dagegen der ebenfalls von Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG geschützten Eigenverantwortlichkeit der Aufgabenwahrnehmung zuzurechnen.⁹⁶ Auch die freie Entscheidung darüber, eine dem gemeindlichen Wirkungskreis unterfallende Aufgabe nicht wahrzunehmen, fällt unter die Gewährleistung der Eigenverantwortlichkeit.⁹⁷

 Vgl. zur vorkonstitutionellen Geschichte des Begriffs der Allzuständigkeit BVerfGE 79, 127 (146); das Bundesverfassungsgericht nutzt ihn zur Charakterisierung der Aufgabengarantie bereits seit Anbeginn, vgl. BVerfGE 1, 167 (175); 8, 122 (134); 11, 266 (273); 21, 117 (128); 50, 195 (201); 56, 298 (312); 58, 177 (196); 79, 127 (146); 83, 37 (54); 83, 60 (76); 91, 228 (240); 138, 1 (17 Rn. 49); 147, 185 (227 Rn. 88); Dreier, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 28 Rn. 101. Teilweise wird statt von der Allzuständigkeit auch von der Universalität des gemeindlichen Wirkungskreises gesprochen, vgl. etwa BVerfGE 79, 127 (146).  BVerfGE 138, 1 (17 Rn. 49).  Zum Verständnis des Begriffs der Allzuständigkeit im Sinne eines Aufgabenzugriffsrechts vgl. BVerfGE 79, 127 (148 f.).  Vgl. BVerfGE 79, 127 (147); 83, 37 (54); 83, 363 (385); 119, 331 (334); Dreier, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 28 Rn. 101; Schwarz, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, 7. Aufl. 2018, Art. 28 Rn. 216; etwas anders wohl Röhl, Kommunalrecht, in: Schoch, Besonderes Verwaltungsrecht, 2018, S. 301 (317 f.), der davon ausgeht, die Allzuständigkeit für Aufgaben der örtlichen Gemeinschaft müsse den Gemeinden vom Gesetzgeber zugewiesen werden; so für Fälle, in denen die Wahrnehmung örtlicher Aufgaben mit Eingriffen in Grundrechte einhergeht Clemens, NVwZ 1990, S. 834 (837 f.).  Brüning, Jura 2015, S. 592 (596); Dreier, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 28 Rn. 103.  Nierhaus/Engels, in: Sachs, GG, 8. Aufl. 2018, Art. 28 Rn. 53; Schmidt-Aßmann, Die Garantie kommunaler Selbstverwaltung, in: Badura/Dreier, Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, 2001, Band 2, S. 803 (821); dazu und zu den Wechselbezüglichkeiten zwischen Aufgabengarantie und Garantie der Eigenverantwortlichkeit vgl. auch Mehde, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 28 Abs. 2 Rn. 49, 57 und 139 (November 2012).  Ehlers, DVBl. 2009, S. 1456; Schoch, DVBl. 2009, S. 1533 (1535 f.); a.A. zum Teil aber wohl BVerwG, Urteil vom 27. Mai 2005 – 8 C 10/08 –, NVwZ 2009, S. 1305 (1306 f.).

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V. Gesetzesvorbehalt als grundgesetzlich gebundene Befugnis zur Aufgabenhochzonung Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG garantiert die gemeindliche Selbstverwaltung nur im Rahmen der Gesetze. Dieser Gesetzesvorbehalt⁹⁸ bezieht sich nicht lediglich auf die Gewährleistung der eigenverantwortlichen Aufgabenwahrnehmung, sondern auch auf die Aufgabengarantie.⁹⁹ Die gesetzgeberische Beschränkung des Rechts einer Gemeinde, auf eine Angelegenheit der örtlichen Gemeinschaft zuzugreifen, unterliegt besonderen Rechtfertigungsanforderungen, die das Bundesverfassungsgericht im Rechtsprechungsverlauf näher konkretisiert und weiterentwickelt hat.

1. Beeinträchtigung des verfassungsrechtlich garantierten gemeindlichen Aufgabenbestands Der den Gemeinden durch Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG verfassungsrechtlich garantierte Aufgabenbestand kann in verschiedener Hinsicht beeinträchtigt werden. Dabei wird es im Zusammenhang mit der Aufgabengarantie regelmäßig nicht um „individuelle“ Eingriffe gehen, die lediglich gegen einzelne Gemeinden gerichtet sind,¹⁰⁰ sondern um abstrakt-generelle Regelungen des Aufgabenzugriffs, die alle Gemeinden oder jedenfalls bestimmte Gemeindetypen gleichermaßen betreffen.¹⁰¹

 Vgl. zum Begriff BVerfGE 79, 127 (143, 145 f.); 107, 1 (12); 110, 370 (402); 138, 1 (20 Rn. 56); 147, 185 (224 Rn. 81); aus der Literatur etwa Mann, in: Kahl/Waldhoff/Walter, Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 28 Rn. 244 (Februar 2018); Pieroth, in: Jarass/Pieroth, GG, 15. Aufl. 2018, Art. 28 Rn. 38.  BVerfGE 79, 127 (143 ff.) mit ausführlichen Erwägungen zu Wortlaut („lapidare Sprachgestalt“), Systematik, Telos und dem rechtlichen und historischen Umfeld der Entstehung von Art. 28 Abs. 2 GG; auch BVerfGE 107, 1 (12); zuvor schon ohne nähere Begründung BVerfGE 22, 180 (204 ff.); 23, 353 (365 f.); 50, 195 (201).  Vgl. zu solchen Fällen und den dazu vom Bundesverfassungsgericht entwickelten gesteigerten Rechtfertigungsanforderungen aufgrund des spezifischen Sonderbelastung der betroffenen Gemeinden BVerfGE 26, 228 (239); 56, 298 (312 ff. und 317 ff.); 76, 107 (119); 95, 1 (26 f.); 103, 332 (366); Knemeyer/Wehr, VerwArch 92 (2001), S. 317 (338); Nierhaus/Engels, in: Sachs, GG, 8. Aufl. 2018, Art. 28 Rn. 43; Schmidt-Aßmann, Die Garantie kommunaler Selbstverwaltung, in: Badura/ Dreier, Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, 2001, Band 2, S. 803 (815 f.).  Zur Anknüpfung an bestimmte Gemeindetypen – etwa an typische Größenklassen, wie sie regelmäßig in den Kommunalverfassungsgesetzen der Länder geregelt sind – vgl. etwa Ritgen, ZG

Die Aufgabengarantie der Gemeinden nach Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG

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a) Aufgabenhochzonung als „klassische“ Eingriffsform Der „klassische“ Eingriff in die gemeindliche Aufgabengarantie erfolgt durch die gesetzgeberisch veranlasste¹⁰² Hochzonung einer örtlichen Aufgabe auf einen anderen Verwaltungsträger. Die Hochzonung hat den vollständigen Wegfall der Befugnis der Gemeinde zur Folge, die betreffende Aufgabe wahrzunehmen. Die Aufgabe fällt nicht mehr in die Zuständigkeit der Gemeinde, sodass diese sich der Aufgabe nicht mehr in Ausübung ihres freien Befassungsrechts annehmen darf. Die Aufgabengarantie der Gemeinden gilt nach ständiger Rechtsprechung auch gegenüber den Kreisen (und sonstigen Gemeindeverbänden).¹⁰³ Da Art. 28 Abs. 2 Satz 2 GG den Gemeindeverbänden gerade keinen bestimmten Aufgabenbereich sichert, folgt aus der in Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG vorgesehenen Allzuständigkeit der Gemeinden ein prinzipieller Vorrang der Gemeindeebene vor der Kreisebene.¹⁰⁴ Deshalb stellt auch eine Zuweisung örtlicher Aufgaben an die Kreise durch den Gesetzgeber einen rechtfertigungsbedürftigen Aufgabenentzug dar.¹⁰⁵

b) Erweiterungen des Eingriffsbegriffs im Bereich der Aufgabengarantie Neben dieser klassischen Form der Aufgabenhochzonung können auch andere staatliche Reglementierungen, die nicht das Maß eines vollständigen Entzugs einer örtlichen Aufgabe erreichen, den gemeindlichen Zugriff auf Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft hindern und rechtfertigungsbedürftige Eingriffe in die Aufgabengarantie darstellen.¹⁰⁶ So geht das Bundesverfassungsgericht inzwischen davon aus, dass gesetzliche Regelungen schon dann am Maßstab der Aufgabengarantie zu messen sind, wenn sie „Bezüge zu den Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft aufweisen“.¹⁰⁷ Wenn es durch gesetzliche Regelungen zu

2016, S. 263 (268 f.). Besondere Relevanz erhält in lediglich auf bestimmte Gemeindetypen beschränkten Eingriffssituationen das interkommunale Gleichbehandlungsgebot.  Wird die Aufgabe dagegen von den Gemeinden selbst freiwillig übertragen, soll ein Eingriff in die Aufgabengarantie von vornherein ausscheiden, vgl. Nierhaus/Engels, in: Sachs, GG, 8. Aufl. 2018, Art. 28 Rn. 68; Pieroth, in: Jarass/Pieroth, GG, 15. Aufl. 2018, Art. 28 Rn. 35.  BVerfGE 79, 127 (150 f.); 138, 1 (15 Rn. 41); 147, 185 (226 Rn. 85); Heusch/Dickten, NVwZ 2018, S. 1265.  BVerfGE 79, 127 (150 f.); 138, 1 (15 Rn. 41); 147, 185 (226 Rn. 85).  BVerfGE 79, 127 (150 f.); 138, 1 (15 Rn. 41); 147, 185 (226 Rn. 85).  Vgl. auch Pieroth, in: Jarass/Pieroth, GG, 15. Aufl. 2018, Art. 28 Rn. 34: alle belastenden Regelungen gemeindlicher Angelegenheiten.  So BVerfGE 138, 1 (20 Rn. 56); 147, 185 (224 Rn. 81 und 249 Rn. 147).

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Einschränkungen des Aufgabenfeldes der Gemeinden kommt und die Chance der Aufgabenwahrnehmung durch die Gemeinden beschränkt wird, ist der Gewährleistungsbereich der Aufgabengarantie berührt und deshalb vom Vorliegen eines Eingriffs auszugehen.¹⁰⁸ In Anwendung dieses erweiterten Eingriffsmaßstabs hat das Gericht in seiner Entscheidung zu Hartz IV-Arbeitsgemeinschaften vom 20. Dezember 2007 festgestellt, dass auch die verbindliche Anordnung der gleichzeitigen Aufgabenwahrnehmung durch verschiedene Verwaltungsbehörden die gemeindliche Selbstverwaltung betrifft und eines rechtfertigenden Grundes bedarf.¹⁰⁹ In diesem Fall besteht der maßgebliche Unterschied zur „klassischen“ Aufgabenhochzonung darin, dass die Gemeinde die Wahrnehmungszuständigkeit für die Aufgabe nicht vollständig verliert, sondern diese zwar weiterhin, allerdings nicht mehr alleine, sondern nur noch „gleichzeitig“ mit einem anderen Verwaltungsträger wahrnehmen kann. Dieser Effekt kann etwa dadurch bewirkt werden, dass die Wahrnehmung einer örtlichen Aufgabe durch die Gemeinde im Wege der gesetzlichen Regelung mit der Wahrnehmung einer überörtlichen Aufgabe durch einen anderen Verwaltungsträger derart untrennbar verbunden wird, dass beide Aufgaben nur noch gemeinsam und ganzheitlich wahrgenommen werden können.¹¹⁰ Zwar hat das Bundesverfassungsgericht in dieser Konstellation mit Blick auf die fehlende eindeutige Aufgaben- und Verantwortungszuordnung auf eine Beeinträchtigung der Garantie der eigenverantwortlichen Aufgabenwahrnehmung der kommunalen Träger abgestellt;¹¹¹ ein Eingriff in die gemeindliche Aufgabengarantie selbst wurde nicht näher in Betracht gezogen.¹¹² Die Aufgabenwahrnehmung gemeinsam mit einem anderen Verwaltungsträger kann neben dem unbestreitbar gravierenden Verlust an Eigenständigkeit hinsichtlich der Erfüllungsmodalitäten aber auch zu einer Beeinträchtigung der Aufgabengarantie führen. Denn zählt zur Aufgabengarantie die Befugnis der Gemeinden, ohne speziellen Kompetenztitel auf die Aufgabe zuzugreifen und diese wahrzunehmen, so steht der Gemeinde dieses Recht im Falle der gemeinsamen Aufgabenwahrnehmung nicht mehr ohne weiteres zu, da das Befassungsrecht nur in Koopera-

 Vgl. BVerfGE 137, 108 (157 f. Rn. 115); 147, 185 (241 f. Rn. 126).  BVerfGE 119, 331 (363).  Vgl. BVerfGE 119, 331 (368 f., 373 ff.) sowie kritisch zur Untrennbarkeit das Sondervotum des Richters Broß, der Richterin Osterloh und des Richters Gerhardt BVerfGE 119, 386 ff.  BVerfGE 119, 331 (363).  Das dürfte freilich nicht zuletzt in dem Umstand begründet liegen, dass die Kommunalverfassungsbeschwerde ausschließlich von Kreisen und damit Gemeindeverbänden erhoben worden war, sodass die Aufgabengarantie des Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG nicht aktiviert werden konnte.

Die Aufgabengarantie der Gemeinden nach Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG

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tion mit dem anderen Verwaltungsträger ausgeübt werden kann. Ob neben diesem Fall der gesetzlichen Anordnung einer gemeinsamen Aufgabenwahrnehmung auch die parallele und unabhängige Befassung oder Betrauung eines anderen Verwaltungsträgers mit einer Aufgabe des gemeindlichen Wirkungskreises, die daneben gleichzeitig noch eigenständig von der Gemeinde wahrgenommen werden darf, einen Eingriff in die Aufgabengarantie des Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG bewirkt,¹¹³ ist jedenfalls in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bislang nicht geklärt.¹¹⁴ Auch in anderen Zusammenhängen sind Tendenzen zu einer differenzierten Eingriffsbetrachtung zu erkennen. So hat das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung zur sächsischen Schulnetzplanung einen Eingriff in den gemeindlichen Aufgabenbestand bejaht, wenn der Gesetzgeber die Befugnis der Gemeinden, eine Angelegenheit der örtlichen Gemeinschaft in eigener Verantwortung wahrzunehmen, weitgehend aushöhlt.¹¹⁵ Dies sah es dadurch als gegeben an, dass die Wahrnehmung der mit der Schulträgerschaft für Grund- und Hauptschulen verbundenen Aufgaben der Gemeinden, insbesondere die Entscheidung über Bestand, Standort und inhaltliche Akzentsetzung dieser Schulen, maßgeblich durch einen nach der gesetzlichen Neuregelung auf Kreisebene zu erstellenden Schulnetzplan gesteuert wurde und das formell fortbestehende Recht der Gemeinden, sich der Aufgabe der Schulträgerschaft anzunehmen, infolge dieser staatlichen Determinierung weitgehend entleert wurde.¹¹⁶ Das Bundesverfassungsgericht hat hier aber letztlich nicht auf die Beeinträchtigung der gemeindlichen Trägerschaft von Grund- und Hauptschulen abgestellt, sondern in der den Zugriff auf diese Aufgabe steuernden Schulnetzplanung eine eigenständige Aufgabe mit örtlichem Bezug gesehen, die den Gemeinden vollständig entzogen wurde, und insofern einen Fall der klassischen Aufgabenhochzonung angenommen.¹¹⁷ Diesen Ansatz hat das Gericht in seiner Entscheidung zum Kinderförderungsgesetz Sachsen-Anhalt konsolidiert und im Zusammenhang mit der Wahrnehmung von Kinderbetreuungsaufgaben durch die Gemeinden eine als eigenständige gemeindliche Aufgabe einzuordnende Planungs- und Koordinie-

 So etwa Dietlein, Systematische Einführung zum Kommunalrecht Deutschlands, in: Dietlein/ Heusch, BeckOK-Kommunalrecht Nordrhein-Westfalen, Rn. 87 (Juni 2018).  Gegen einen Eingriff für den Fall, dass der Landesgesetzgeber private Konkurrenz zu einer gemeindlichen Aufgabe zulässt BayVerfGH, Entscheidung vom 4. Juli 1996 – Vf. 16-VII-94 u. a. –, NVwZ 1997, S. 481 (483).  BVerfGE 138, 1 (28 Rn. 75).  BVerfGE 138, 1 (28 Rn. 76).  BVerfGE 138, 1 (28 f. Rn. 75, 77; zur Auffächerung der Schulträgerschaft in verschiedene Teilaufgaben vgl. auch 25 Rn. 67); kritisch dazu Ritgen, ZG 2016, S. 263 (278 f.).

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rungsaufgabe anerkannt.¹¹⁸ Die isolierte Übertragung dieser Planungs- und Koordinierungsaufgabe auf die Kreisebene war an den Maßstäben für eine Aufgabenhochzonung zu rechtfertigen, obwohl die Möglichkeit einer Trägerschaft von Kindertageseinrichtungen bei den Gemeinden verblieb.¹¹⁹ Die aufgefächerte Bestimmung von gemeindlichen Aufgaben reflektiert die Vielschichtigkeit einzelner Sachaufgaben und gewährleistet einen wirksamen Schutz der Aufgabengarantie. Allerdings ist gerade bei der Anerkennung isolierter Planungs- und Koordinierungsaufgaben stets – etwa im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung – zu berücksichtigen, dass der Verlust der Planungsverantwortlichkeit Rückwirkungen auf die Wahrnehmung der bei den Gemeinden verbleibenden (Teil‐)Aufgaben haben kann und das gemeindliche Zugriffsrecht auf diese formal bei der Gemeinde verbliebene Aufgabe mittelbar mitbeeinträchtigt. Sollte im Einzelfall eine Abschichtung von Aufgabenteilbereichen nicht möglich sein, bleibt es dabei, dass auch die nicht in einen vollständigen Aufgabenentzug mündende gesetzgeberische Beeinträchtigung des Aufgabenzugriffsrechts als Eingriff in die Aufgabengarantie anzusehen ist und damit einer Rechtfertigung bedarf.

c) Qualitative Anforderungen an die Eingriffsschwelle? Ob und inwieweit im Bereich der Aufgabengarantie qualitative Anforderungen an die Intensität der Beeinträchtigung des gemeindlichen Aufgabenzugriffsrechts zu stellen sind, um von einem rechtfertigungsbedürftigen Eingriff ausgehen zu können, ist nicht abschließend geklärt. Im Bereich der Garantie der eigenverantwortlichen Aufgabenwahrnehmung hat das Bundesverfassungsgericht in seiner Kammerrechtsprechung angenommen, dass gesetzliche Regelungen eine gewisse Intensität erreichen müssen, um die Eingriffsschwelle zu überschreiten.¹²⁰ Auch im Zusammenhang mit der Aufgabengarantie finden sich in der Rechtsprechung jedenfalls Anhaltspunkte dafür, dass gesetzgeberische Regelungen unterhalb der Schwelle einer Aufgabenhochzonung, die Auswirkungen auf das Aufgabenzugriffsrecht der Gemeinden haben, eine bestimmte Intensität erreichen müssen, um als rechtfertigungsbedürftiger Eingriff eingeordnet werden zu kön-

 BVerfGE 147, 185 (227 ff. Rn. 89 ff., insbes. Rn. 95 ff.).  BVerfGE 147, 185 (241 f. Rn. 126).  Vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 7. Januar 1999 – 2 BvR 929/97–, NVwZ 1999, S. 520 (521); vgl. auch K. Lange, Kommunalrecht, 2013, Kapitel 1 Rn. 51.

Die Aufgabengarantie der Gemeinden nach Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG

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nen.¹²¹ Dabei dürften freilich nur Maßnahmen mit kaum spürbaren Auswirkungen auf das Aufgabenzugriffsrecht schon auf der Eingriffsebene ausgesondert werden können; regelmäßig wird der geringen Eingriffsintensität auf Rechtfertigungsebene im Rahmen der Prüfung der Verhältnismäßigkeit zureichend Rechnung getragen werden können.¹²²

d) Selbstverwaltungsbezug der Beschränkungsregelung? Daneben kann sich die Frage stellen, ob ein rechtfertigungsbedürftiger Eingriff in die Aufgabengarantie nur dann anzunehmen ist, wenn die das gemeindliche Aufgabenzugriffsrecht beeinträchtigende gesetzliche Regelung einen spezifischen Bezug auf das Selbstverwaltungsrecht der Gemeinden hat, oder ob jede faktische Beeinträchtigung des gemeindlichen Aufgabenzugriffsrechts ausreicht. Das betrifft etwa Fälle, in denen der Aufgabenzugriff nicht unmittelbar als solcher durch den Gesetzgeber reglementiert wird, aber gleichwohl durch staatliche Regulierung mittelbar erschwert wird. In der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gibt es gewisse Anhaltspunkte, dass ein Eingriff in die Aufgabengarantie nur dann anzunehmen ist, wenn die Regelung einen spezifischen Bezug zu den Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft aufweist.¹²³ Wie genau dieser Bezug ausgestaltet sein muss, ist vom Gericht allerdings noch nicht näher konturiert worden. Entschieden wurde bislang nur, dass die reflexhafte Berührung der gemeindlichen Rechtsstellung für einen Eingriff in Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG nicht ausreicht.¹²⁴ In der landesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung wird in diesem Zusammenhang davon ausgegangen, dass im Falle von Reflexwirkungen ein Eingriff angenommen werden kann, wenn sich die Norm, von der die beeinträchtigende Wirkung auf den Auf-

 Vgl. etwa BVerfGE 21, 117 (129), wo eine Verletzung von Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG mit der Erwägung abgelehnt wird, die (für die Eigentümer von Familienheimen vorgesehene) gesetzliche Regelung zur vorzeitigen Ablösung von öffentlichen Baudarlehen habe für die Kommunen nicht so erhebliche finanzielle Verluste zur Folge, dass sie dazu genötigt seien, sich von der Aufgabe der Förderung des örtlichen Wohnungsbaues zurückzuziehen.  Dazu unten V. 2. b) bb) (2).  So ausdrücklich BVerfGE 138, 1 (20 Rn. 56); 147, 185 (224 Rn. 81). Vgl. im Zusammenhang mit der Garantie der Eigenverantwortlichkeit der Aufgabenwahrnehmung auch BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 7. Januar 1999, NVwZ 1999 – 2 BvR 929/97 –, S. 520 (521); in diese Richtung auch schon BVerfGE 83, 363 (385 ff.); BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 27. November 1986 – 2 BvR 1241/82 –, NVwZ 1987, S. 123 (124); vgl. dazu auch K. Lange, Kommunalrecht, 2013, Kapitel 1 Rn. 51.  BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 19. September 2018 – 2 BvF 1/15 u. a. –, juris, Rn. 187.

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gabenbestand der Gemeinden ausgeht, nach ihrer Bedeutung und Zielrichtung (auch) an die Gemeinde richtet.¹²⁵ Ein ausreichender Bezug zu den Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft soll auch dann gegeben sein, wenn ein Gesetz durch seine mittelbaren, nicht notwendigerweise gezielten Auswirkungen die gemeindliche Selbstverwaltung in einem Bereich innerlich aushöhlt.¹²⁶ Inwieweit ein Eingriff jenseits des Falls der bloßen Reflexwirkung einen spezifischen Bezug zur Aufgabengarantie aufweisen muss, bedarf noch der weiteren Klärung. Dabei erscheint der Ansatz, Regelungen von der Rechtfertigungsbedürftigkeit auszuschließen, die gemeindliche Handlungsmöglichkeiten lediglich ebenso einschränken, wie die anderer Rechtssubjekte, zwar im Ausgangspunkt plausibel.¹²⁷ Allerdings dürfte gerade im Bereich der Aufgabengarantie ein selbstverwaltungsspezifischer Bezug der gesetzlichen Regelung im Ergebnis nur sehr selten zu verneinen sein.

2. Rechtfertigungsanforderungen Liegt ein Eingriff in die Aufgabengarantie des Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG vor, unterliegt dieser sowohl formellen als auch materiellen Rechtfertigungsanforderungen.¹²⁸

a) Formelle Anforderungen an die Eingriffsrechtfertigung aa) Gesetzesvorbehalt In formeller Hinsicht fordert Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG für Beeinträchtigungen der Aufgabengarantie zunächst, dass diese durch Gesetz erfolgen. Den Begriff „Ge-

 Vgl. VerfGH NRW, Urteil vom 9. Juni 1997 – VerfGH 20/95 u. a. –, NVwZ-RR 1998, S. 473 (474) unter Verweis auf BVerfGE 6, 273 (277 f.); 13, 230 (232 f.); 50, 290 (320); 53, 1 (14 f.); 78, 350 (354 f.); Mann, in: Kahl/Waldhoff/Walter, Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 28 Rn. 246 (Februar 2018); Mehde, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 28 Rn. 102 (November 2012).  Vgl. BayVerfGH, Entscheidung vom 4. Juli 1996 – Vf. 16-VII-94 u. a. –, NVwZ 1997, S. 481 (483); Mann, in: Kahl/Waldhoff/Walter, Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 28 Rn. 246 (Februar 2018); Mehde, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 28 Rn. 102 (November 2012).  Vgl. K. Lange, Kommunalrecht, 2013, Kapitel 1 Rn. 51.  Die Rechtfertigungsanforderungen sind dabei identisch, unabhängig davon, ob ein Aufgabenentzug auf die staatliche Ebene oder auf die Kreisebene in Rede steht; kritisch insoweit K. Lange, ZG 2018, S. 75 (79) und Ritgen, ZG 2016, S. 263 (280 ff.), die es für naheliegend halten, eine Aufgabenverlagerung auf die Kreise weniger strengen Rechtfertigungsanforderungen zu unterwerfen.

Die Aufgabengarantie der Gemeinden nach Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG

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setze“ in Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG sieht das Bundesverfassungsgericht nicht auf Gesetze im formellen Sinne beschränkt an.¹²⁹ Vielmehr sind nach der Rechtsprechung auch Rechtsverordnungen¹³⁰ und sonstige (nur) materielle Gesetze, wie etwa Raumordnungsprogramme¹³¹ und Satzungen anderer Verwaltungsträger¹³², erfasst.¹³³

bb) Gemeindliche Beteiligungsrechte beim Aufgabenentzug Neuerdings betont das Bundesverfassungsgericht auch im Zusammenhang mit der Aufgabengarantie zusätzliche prozedurale Erfordernisse. Aus dem auf Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG übertragbaren Gedanken des Rechtsgüterschutzes durch Verfahren könne sich ein Mitwirkungsrecht der betroffenen Gemeinden ergeben,  BVerfGE 107, 1 (14); ob auch Gewohnheitsrecht Einschränkungen der Aufgabengarantie legitimieren kann, ist umstritten, vgl. dafür Dreier, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 28 Rn. 109 m.w. N.; dagegen Mann, in: Kahl/Waldhoff/Walter, Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 28 Rn. 245 (Februar 2018).  BVerfGE 26, 228 (237); 56, 298 (309); 107, 1 (14) jeweils mit der Forderung, dass die landesgesetzliche Verordnungsermächtigung den Anforderungen des Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG genügen muss; kritisch zur Bindung an Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG K. Lange, Kommunalrecht, 2013, Kapitel 1 Rn. 86. Im Falle einer gegen eine Rechtsverordnung gerichteten Kommunalverfassungsbeschwerde prüft das Bundesverfassungsgericht auch deren gesetzliche Ermächtigungsgrundlage, vgl. BVerfGE 71, 25 (36); 107, 1 (15).  Vgl. BVerfGE 76, 107 (114); Dreier, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 28 Rn. 109.  So BVerwG, Beschluss vom 24. April 1996 – 7 NB 2.95 –, BVerwGE 101, 99 (111 f.); vgl. auch Dreier, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 28 Rn. 109; Pieroth, in: Jarass/Pieroth, GG, 15. Aufl. 2018, Art. 28 Rn. 39; Schwarz, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, 7. Aufl. 2018, Art. 28 Rn. 186; kritisch zur Erstreckung des Gesetzesvorbehalts auf materielle Gesetze im Bereich der Aufgabengarantie Dietlein/Peters, Kinderbetreuung und kommunale Selbstverwaltung, 2015, S. 30.  In verfassungsprozessualer Hinsicht ist zu beachten, dass das Bundesverfassungsgericht im Rahmen einer Kommunalverfassungsbeschwerde ein Gesetz nicht insgesamt auf seine Verfassungsmäßigkeit prüft; vielmehr erweitert es den Prüfungsrahmen nur insoweit über Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG hinaus, wie die Verletzung von anderen Grundgesetznormen gerügt ist, die ihrem Inhalt nach das Bild der Selbstverwaltung mitzubestimmen geeignet sind, vgl. BVerfGE 1, 167 (181); 56, 298 (310); 71, 25 (37); 91, 228 (242); 119, 331 (357); K. Lange, Kommunalrecht, 2013, Kapitel 1 Rn. 144; umfassend Lück, Der Beitrag der Kommunalverfassungsbeschwerde nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4b GG, § 91 BVerfGG zum Schutz der kommunalen Selbstverwaltungsgarantie, 2014, S. 285 ff.; Mann, in: Kahl/Waldhoff/Walter, Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 28 Rn. 143 (Februar 2018); kritisch gegenüber dieser Beschränkung und für eine weitere Ausdehnung des Prüfungsumfangs der Kommunalverfassungsbeschwerde in Anknüpfung an den Gedanken des Elfes-Urteils mit guten Gründen Stern, AfK 1964 S. 81 (92); Wernsmann, Die Garantie der kommunalen Selbstverwaltung als Prüfungsmaßstab der kommunalen Verfassungsbeschwerde, in Detterbeck/Rozek/ v. Coelln, Recht als Medium der Staatlichkeit, Festschrift für Herbert Bethge zum 70. Geburtstag, 2009, S. 601 (605 ff.).

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wenn Aufgaben mit relevanter kommunaler Bedeutung auf eine andere staatliche Ebene verlagert werden.¹³⁴ Diese prozedurale Absicherung soll dann greifen, wenn und soweit eine aus dem Selbstverwaltungsrecht abgeleitete Rechtsposition durch die Aufgabenwahrnehmung anderer Verwaltungsträger gegenwärtig oder künftig betroffen werden kann.¹³⁵ Durch die Einräumung von Mitwirkungsrechten soll die bestmögliche Verwirklichung der materiell-rechtlichen Rechtspositionen der Gemeinden gewahrt werden.¹³⁶ Die konkreten Folgewirkungen für die Rechtfertigung von Eingriffen in die Aufgabengarantie sind noch nicht abschließend geklärt. Eine vorgelagerte Anhörung der Gemeinde dürfte jedenfalls dann erforderlich sein, wenn in das Aufgabenzugriffsrecht einer einzelnen Gemeinde eingegriffen und ihr hierdurch im Vergleich zu anderen Gemeinden ein Sonderopfer auferlegt wird.¹³⁷ Das wird freilich eher selten der Fall sein. Ob und inwieweit über die spezifische Belastung einzelner Gemeinden hinaus beim „allgemeinen“¹³⁸ Entzug örtlicher Aufgaben eine vorherige Beteiligung der Gemeindeebene – gegebenenfalls vermittelt durch die kommunalen Spitzenverbände – erforderlich ist, ist einstweilen noch unklar. Der Verweis des Bundesverfassungsgerichts auf seine Rechtsprechung zu Anhörungs- und Begründungspflichten im Rahmen gemeindlicher Neugliederungen¹³⁹ dürfte Beteiligungserfordernisse jedenfalls bei besonders belastungsintensiven Wirkungen der Aufgabenhochzonung auf die kommunale Selbstverwaltungsgarantie andeuten. Dabei ist das konkret geforderte Maß der Beteiligung vom Gewicht der Beeinträchtigung und vom jeweiligen Regelungsgegenstand abhängig.¹⁴⁰ Als denkbare Beteiligungsinstrumente verweist das Bundesverfassungsgericht insofern auf Anhörungs-, Mitberatungs- oder Vorschlagsrechte,¹⁴¹ die als vorgelagerte Beteiligungserfordernisse im Zusammenhang mit Eingriffen in die Aufgabengarantie regelmäßig im Gesetzgebungsverfahren einzuräumen sein werden.

 BVerfGE 138, 1 (22 Rn. 60); vgl. auch Dreier, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 28 Rn. 96; Nierhaus/Engels, in: Sachs, GG, 8. Aufl. 2018, Art. 28 Rn. 73a; Pieroth, in: Jarass/Pieroth, GG, 15. Aufl. 2018, Art. 28 Rn. 36.  BVerfGE 138, 1 (22 Rn. 60).  BVerfGE 107, 1 (23).  Vgl. BVerfGE 56, 298 (313, 319 ff.); 76, 107 (119, 122 f.); 107, 1 (23); 138, 1 (22 Rn. 60).  Vgl. zur Differenzierung zwischen allgemeinem und (ausschließlich) die einzelne Gemeinde betreffendem Eingriff BVerfGE 76, 107 (119) und oben V. 1.  Vgl. nur BVerfGE 137, 108 (156 Rn. 112); 138, 1 (22 Rn. 60) unter Verweis auf BVerfGE 56, 298 (319 ff.); 76, 107 (122); 86, 90 (107 f.); 107, 1 (24 f.); vgl. zu Anhörungs- und Begründungserfordernissen in diesem Zusammenhang auch BVerfGE 50, 50 (50); 50, 195 (202).  BVerfGE 138, 1 (22 Rn. 60).  BVerfGE 138, 1 (22 Rn. 60).

Die Aufgabengarantie der Gemeinden nach Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG

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Neben dem formellen Erfordernis vorgelagerter Beteiligungsrechte der Gemeinden hat das Bundesverfassungsgericht der Einräumung gemeindlicher Mitwirkungsrechte auch für die Beurteilung der Angemessenheit des Eingriffs in die Aufgabengarantie Bedeutung zugemessen; hier wird es regelmäßig um die einem Aufgabenentzug nachgelagerte Beteiligung bei der Wahrnehmung der auf einen anderen Verwaltungsträger übertragenen Aufgabe gehen.¹⁴²

b) Materielle Anforderungen der Eingriffsrechtfertigung aa) Kernbereichsschutz Eine absolute Grenze für den Entzug von Aufgaben des gemeindlichen Wirkungskreises sieht das Bundesverfassungsgericht seit jeher im Kernbereich der Selbstverwaltungsgarantie.¹⁴³ Dieser ist „unantastbar“.¹⁴⁴ Der Gesetzgeber darf die identitätsbestimmenden Merkmale gemeindlicher Selbstverwaltung weder faktisch noch rechtlich beseitigen;¹⁴⁵ der „Wesensgehalt¹⁴⁶ der gemeindlichen Selbstverwaltung“ darf nicht ausgehöhlt werden.¹⁴⁷ Bei der Bestimmung des Kernbereichs ist in besonderer Weise der geschichtlichen Entwicklung und den verschiedenen Erscheinungsformen der Selbstverwaltung Rechnung zu tragen.¹⁴⁸ Im Zusammenhang mit der Aufgabengarantie des Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG geht das Bundesverfassungsgericht davon aus, dass der Kernbereich nicht durch einen gegenständlich bestimmten oder nach feststehenden Merkmalen be-

 Vgl. etwa BVerfGE 138, 1 (31 ff. Rn. 83 ff.); 147, 185 (226 f. Rn. 87 und 249 f. Rn. 149 f.); ausführlich dazu unten V. 2. b) bb) (2). Dort dürfte auch die in den Entscheidungen ebenfalls genannte Möglichkeit einer kondominialen Verwaltung Bedeutung erlangen, die bei vorgelagerten Beteiligungsrechten nicht greifen kann.  Vgl. BVerfGE 79, 127 (143); 107, 1 (12); 137, 108 (159 Rn. 119); 138, 1 (19 Rn. 54 und 21 Rn. 59); 147, 185 (223 Rn. 79 und 227 Rn. 88).  BVerfGE 138, 1 (19 Rn. 54); 147, 185 (223 Rn. 79).  BVerfGE 107, 1 (12); Mann, in: Kahl/Waldhoff/Walter, Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 28 Rn. 252 (Februar 2018); Nierhaus/Engels, in: Sachs, GG, 8. Aufl. 2018, Art. 28 Rn. 64.  Zur spezifischen Abgrenzung von der grundrechtlichen Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG vgl. Dreier, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 28 Rn. 115.  Vgl. BVerfGE 1, 167 (174 f.); 38, 258 (279); 76, 107 (118); 79, 127 (143).  BVerfGE 7, 358 (364); 11, 266 (274); 17, 172 (182); 22, 180 (205); 26, 228 (238); 50, 195 (200); 59, 216 (226); 76, 107 (118); 79, 127 (145); 91, 228 (238); 137, 108 (159 Rn. 119); Dreier, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 28 Rn. 115; vgl. zur Notwendigkeit der Berücksichtigung aktueller Entwicklungen bei der Kernbereichsbestimmung Mann, in: Kahl/Waldhoff/Walter, Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 28 Rn. 255 (Februar 2018).

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stimmbaren Aufgabenkatalog definiert wird.¹⁴⁹ Maßgebliches Element des Kernbereichsschutzes ist vielmehr das Institut der Allzuständigkeit.¹⁵⁰ Damit ist indes nicht zugleich gesagt, dass jeder Eingriff in die Allzuständigkeit, etwa jeder Entzug örtlicher Aufgaben, den Kernbereich der Selbstverwaltungsgarantie berührte. Zum Kernbereich gehört vielmehr die gemeindliche Allzuständigkeit in ihrem identitätsbestimmenden Gehalt.¹⁵¹ Das betrifft das grundsätzliche Recht des Aufgabenzugriffs im eigenen Ermessen; allein der Umstand, dass eine bestimmte Aufgabe dem gemeindlichen Zugriff infolge des Aufgabenentzugs nicht mehr (oder nur noch unter erschwerten Bedingungen) offensteht, berührt diesen identitätsbestimmenden Gehalt für sich genommen regelmäßig noch nicht, denn er betrifft nicht das Zugriffsrecht als solches, sondern nur dessen möglichen Anwendungsbereich.¹⁵²

bb) Materielle Rechtfertigungsanforderungen jenseits des Kernbereichs In seinen frühen Entscheidungen hat das Bundesverfassungsgericht angenommen, gesetzliche Beschränkungen der kommunalen Selbstverwaltung seien jedenfalls insoweit mit Art. 28 Abs. 2 GG vereinbar, als sie dessen Kernbereich unangetastet ließen.¹⁵³ Diesen sehr zurückhaltenden Ansatz hat das Bundesverfassungsgericht bereits in seiner Rastede-Entscheidung aufgegeben und geht seither in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass auch die Entziehung von gemeindlichen Aufgaben jenseits des Kernbereiches einer Rechtfertigung bedarf.¹⁵⁴

 BVerfGE 79, 127 (146); 107, 1 (12); 138, 1 (21 Rn. 59); 147, 185 (227 Rn. 88); näher zur Bestimmung des Kernbereichs etwa Clemens, NVwZ 1990, S. 834 (837 f.); vgl. auch Dreier, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 28 Rn. 103 und 115; Nierhaus/Engels, in: Sachs, GG, 8. Aufl. 2018, Art. 28 Rn. 64; wegen der schwierigen Bestimmbarkeit der Eingrenzung des zum Kernbereich gehörenden Aufgabenbestands kritisch gegenüber der Kernbereichskonzeption als solcher etwa Ehlers, DVBl. 2000, S. 1301 (1307).  BVerfGE 79, 127 (146); 107, 1 (12); 138, 1 (21 f. Rn. 59); 147, 185 (227 Rn. 88).  Vgl. insoweit BVerfGE 79, 127 (155).  BVerfGE 79, 127 (155); kritisch gegenüber dieser engen Bestimmung des Kernbereichs Gern/ Brüning, Deutsches Kommunalrecht, 4. Aufl. 2019, Rn. 120 f.  BVerfGE 22, 180 (205); 26, 228 (238); vgl. – freilich nicht im Zusammenhang mit Aufgabenhochzonungen – auch BVerfGE 1, 167 (175); 9, 268 (289 f.); 17, 172 (182); 21, 117 (130); 23, 353 (365); 38, 258 (278); 52, 95 (116 f.); 56, 298 (312); 59, 216 (226).  Grundlegend dazu BVerfGE 79, 127 (147); der Schutz der gemeindlichen Aufgabengarantie geht damit weiter, als der den Gemeindeverbänden zuteil werdende Schutz nach Art. 28 Abs. 2 Satz 2 GG, vgl. dazu etwa BVerfGE 137, 108 (177 Rn. 164).

Die Aufgabengarantie der Gemeinden nach Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG

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In Anknüpfung an sein zunächst rein institutionelles Verständnis von Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG¹⁵⁵ hat das Gericht in der Rastede-Entscheidung die maßgeblichen Rechtfertigungsanforderungen für Eingriffe in die Aufgabengarantie jenseits des Kernbereichs unmittelbar aus dem verfassungsrechtlichen Aufgabenverteilungsprinzip abgeleitet. Bei Veränderungen des Aufgabenzugriffsrechts der Gemeinden muss der Gesetzgeber danach stets den Vorrang berücksichtigen, den Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG der Gemeindeebene in Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft einräumt.¹⁵⁶ Der Entscheidungsspielraum des Gesetzgebers ist insofern durch das Aufgabenverteilungsprinzip normativ gebunden.¹⁵⁷ Aus dem in Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG festgeschriebenen Regel-Ausnahme-Verhältnis folgt, dass der Gesetzgeber den Gemeinden örtliche Aufgaben nur aus Gründen des Gemeinwohls entziehen darf; zudem müssen die den Aufgabenentzug tragenden Gründe gegenüber dem verfassungsrechtlichen Aufgabenverteilungsprinzip überwiegen.¹⁵⁸ In der Sache zeigten sich schon in dieser Entscheidung deutliche Bezüge zu einer Verhältnismäßigkeitsprüfung,¹⁵⁹ zumal für die erforderliche Güterabwägung sogar gesteigerte Anforderungen gegenüber der im Rahmen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes vorzunehmenden Abwägung herangezogen wurden.¹⁶⁰ Denn im Rahmen der klassischen Angemessenheitsprüfung reicht es aus, dass die bewirkten Nachteile „nicht außer Verhältnis“ zu den verfolgten Gemeinwohlzielen stehen, ein Maßstab, der deutlich hinter dem Erfordernis des Überwiegens der zur Eingriffslegitimation herangezogenen Gemeinwohlgründe zurück bleibt.¹⁶¹ Freilich vermied das Bundesverfassungsgericht – wohl mit Rücksicht auf das einrichtungsrechtliche Verständnis von Art. 28 Abs. 2 Satz 1  Vgl. oben II. und III.  Vgl. BVerfGE 79, 127 (154); 137, 108 (177 Rn. 163).  BVerfGE 79, 127 (154); vgl. auch BVerfGE 147, 185 (224 Rn. 82).  BVerfGE 79, 127 (154).  Ansätze einer Verhältnismäßigkeitsprüfung fanden sich auch schon in der frühen Rechtsprechung zu Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG, vgl. etwa BVerfGE 26, 228 (239). In der Literatur war die Anwendbarkeit des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes nach der Rastede-Entscheidung äußerst umstritten, vgl. dazu nur Brüning, Jura 2015, S. 592 (599); Burgi, Kommunalrecht, 5. Aufl. 2015, § 6 Rn. 39; Clemens, NVwZ 1990, S. 834 (835 f.); Dietlein, Systematische Einführung zum Kommunalrecht Deutschlands, in: Dietlein/Heusch, BeckOK-Kommunalrecht Nordrhein-Westfalen, Rn. 34.1, 37.1 und 90 f. (Juni 2018); Ehlers, DVBl. 2000, S. 1301 (1303 f. und 1307 f.); Frenz, Die Verwaltung 28 (1995), S. 33 (36 ff.); Knemeyer/Wehr, VerwArch 92 (2001), S. 317 (341 f.); Mehde, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 28 Abs. 2 Rn. 118 ff. (November 2012); Schmidt-Aßmann, Die Garantie kommunaler Selbstverwaltung, in: Badura/Dreier, Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, 2001, Band 2, S. 803 (807 f., 818 f.); Schoch, VerwArch 81 (1990), S. 18 (32 ff.).  So ausdrücklich BVerfGE 103, 332 (367).  Zu einem konkreten Vergleich K. Lange, Kommunalrecht, 2013, Kapitel 1 Rn. 103; vgl. auch Gern/Brüning, Deutsches Kommunalrecht, 4. Aufl. 2019, Rn. 123.

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GG – eine ausdrückliche Bezugnahme auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und leitete die materiellen Anforderungen unmittelbar aus Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG und dem darin zum Ausdruck kommenden Aufgabenverteilungsprinzip ab.¹⁶² Mit der Weiterentwicklung des Aufgabenverteilungsprinzips des Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG zur (quasi‐)abwehrrechtlichen Aufgabengarantie hat das Bundesverfassungsgericht die dogmatische Verankerung der materiellen Rechtfertigungsanforderungen modifiziert. So geht es seit der Entscheidung zur sächsischen Schulnetzplanung davon aus, dass Eingriffe in die Aufgabengarantie den Anforderungen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes unterliegen.¹⁶³ Dieser aus dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) abzuleitende Grundsatz findet auch im Staatsorganisationsrecht Anwendung, wenn – wie im Rahmen von Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG – Träger öffentlicher Gewalt mit Rechten gegenüber dem Staat ausgestattet sind.¹⁶⁴ Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz tritt dabei freilich nicht ergänzend neben die in der Rastede-Entscheidung aus dem Aufgabenverteilungsprinzip abgeleiteten Anforderungen eines Aufgabenentzugs.¹⁶⁵ Vielmehr wird der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zum maßgeblichen Rechtfertigungsstandard, wobei die Rastede-Kriterien in die Prüfung der Verhältnismäßigkeit integriert werden.¹⁶⁶ Die den gemeindlichen Zugriff auf örtliche Aufgaben beschränkende Regelung muss damit einem legitimen Gemeinwohlzweck dienen und zur Erreichung dieses Zweckes geeignet, erforderlich und zumutbar sein.¹⁶⁷ Dabei hat das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung zum Kinderförderungsgesetz Sachsen-Anhalt ausdrücklich klargestellt, dass im Rahmen der in der Zumutbarkeit vorzunehmenden Güterabwägung an den in der Rastede Vgl. Dreier, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 28 Rn. 114 und 118; Mann, in: Kahl/Waldhoff/ Walter, Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 28 Rn. 258 (Februar 2018); Nierhaus/Engels, in: Sachs, GG, 8. Aufl. 2018, Art. 28 Rn. 72; Püttner, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, 3. Aufl. 2008, § 144 Rn. 33; Schmidt-Aßmann, Die Garantie kommunaler Selbstverwaltung, in: Badura/Dreier, Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, 2001, Band 2, S. 803 (807); Schoch, VerwArch 81 (1990), S. 18 (32 f.).  BVerfGE 138, 1 (19 f. Rn. 55); 147, 185 (224 f. Rn. 83).  BVerfGE 138, 1 (19 f. Rn. 55); 147, 185 (224 f. Rn. 83); grundlegend Heusch, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Staatsorganisationsrecht, 2003, S. 185 ff.  So aber wohl das Verständnis bei K. Lange, Kommunalrecht, 2013, Kapitel 1 Rn. 106: Anwendbarkeit des Übermaßverbots neben dem Aufgabenverteilungsprinzip; in diese Richtung auch Mann, in: Kahl/Waldhoff/Walter, Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 28 Rn. 244 (Februar 2018).  So auch Dreier, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 28 Rn. 114; a.A. aber wohl K. Lange, ZG 2018, S. 75 (80 f.), der von einem in der Rechtsprechung ungeklärten Verhältnis zwischen beiden Rechtsinstituten ausgeht und die Vermengung beider Prüfungen kritisiert.  BVerfGE 147, 185 (245 Rn. 135); Mehde, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 28 Abs. 2 Rn. 120 f. (November 2012).

Die Aufgabengarantie der Gemeinden nach Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG

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Entscheidung entwickelten, gesteigerten Abwägungserfordernissen festzuhalten ist.¹⁶⁸ Eine Hochzonung (oder eine sonstige Beschränkung des gemeindlichen Aufgabenzugriffsrechts) ist nur zulässig, wenn die hierfür in Ansatz gebrachten Gemeinwohlgründe gegenüber der verfassungsrechtlich vorgegebenen Zuordnung der Aufgabe örtlichen Charakters zur gemeindlichen Ebene überwiegen.¹⁶⁹ Die materielle Rechtfertigung von Eingriffen in die Aufgabengarantie erfordert nach neuerer Rechtsprechung damit die Verfolgung eines legitimen Gemeinwohlzwecks und die Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes. Daneben können im Einzelfall das interkommunale Gleichbehandlungsgebot und das Willkürverbot, der Grundsatz des Vertrauensschutzes und das Rückwirkungsverbot sowie der Bestimmtheitsgrundsatz die Eingriffsbefugnisse des Gesetzgebers in die Aufgabengarantie des Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG begrenzen.¹⁷⁰

(1) Legitimer Gemeinwohlzweck Der Gesetzgeber darf den Gemeinden Aufgaben der örtlichen Gemeinschaft nur aus Gründen des Gemeinwohls entziehen.¹⁷¹ Die Gemeinwohlbindung besteht auch bei sonstigen Beschränkungen des gemeindlichen Aufgabenzugriffsrechts. Dabei steht außer Frage, dass der Gemeinwohlbezug der betreffenden Sachaufgabe selbst nicht ausreicht; es bedarf vielmehr eines spezifisch auf die Zuweisung der örtlichen Aufgabe an einen überörtlichen Verwaltungsträger bezogenen Gemeinwohlgrundes.

 In der Entscheidung zur sächsischen Schulnetzplanung (BVerfGE 138, 1 ff.), mit der die Anwendbarkeit des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im Rahmen der Aufgabengarantie erstmals ausdrücklich anerkannt wurde, fand sich eine entsprechende Klarstellung noch nicht, sodass zunächst ungewiss war, ob damit eine Absenkung des Rechtfertigungsstandards beabsichtigt war.  BVerfGE 147, 185 (224 Rn. 82). Insofern wird in der Literatur teilweise bezweifelt, dass der Übergang zur Verhältnismäßigkeitsprüfung einen substantiellen Rationalitätsgewinn bringt, vgl. etwa Mann, in: Kahl/Waldhoff/Walter, Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 28 Rn. 259 f. (Februar 2018) m.w. N.; für eine Schutzverstärkung durch Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes aber wohl Dietlein, Systematische Einfü hrung zum Kommunalrecht Deutschlands, in: Dietlein/Heusch, BeckOK-Kommunalrecht Nordrhein-Westfalen, Rn. 90 (Juni 2018); Dreier, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 28 Rn. 118; Hellermann, in: Epping/Hillgruber, BeckOK-GG, Art. 28 Rn. 48.1 (Mai 2018).  Mehde, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 28 Abs. 2 Rn. 125 ff. (November 2012); vgl. auch Dreier, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 28 Rn. 117.  BVerfGE 79, 127 (153); 138, 1 (21 Rn. 58 und 29 Rn. 78); auch BVerfGE 147, 185 (225 Rn. 84 und 241 f. Rn. 125 und 127, wobei das Gericht in Rn. 125 und 127 freilich von „hinreichenden sachlichen Gründen“ spricht); vgl. auch Mann, in: Kahl/Waldhoff/Walter, Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 28 Rn. 257 (Februar 2018).

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Hinreichende Gemeinwohlgründe für einen Eingriff in das gemeindliche Aufgabenzugriffsrecht sieht das Bundesverfassungsgericht vor allem dann als gegeben an, wenn die ordnungsgemäße Aufgabenerfüllung anders nicht sicherzustellen wäre.¹⁷² Bei der Bewertung, ob dies der Fall ist, billigt das Gericht dem Gesetzgeber in ständiger Rechtsprechung eine Einschätzungsprärogative zu.¹⁷³ Die gerichtliche Kontrolle der gesetzgeberischen Einschätzung ist dabei nicht auf eine Willkürkontrolle beschränkt, sondern erstreckt sich neben der Überprüfung auf sachfremde Erwägungen auch auf die Vertretbarkeit der gesetzgeberischen Annahmen.¹⁷⁴ Zudem ist die Reichweite der Einschätzungsprärogative davon abhängig, wie stark die Selbstverwaltungsgarantie der Gemeinden infolge der gesetzlichen Regelung eingeschränkt wird; kommt es zu belastungsintensiven Beschränkungen der Aufgabengarantie, unterliegt der Gesetzgeber einer strengeren verfassungsgerichtlichen Kontrolle.¹⁷⁵ Hinsichtlich der Bewertung, ob eine ordnungsgemäße Aufgabenerfüllung bei einem Belassen der Aufgabe bei den Gemeinden nicht sichergestellt wäre, lässt allein der Umstand, dass Gemeinden im Einzelfall oder überwiegend eine in ihrem Wirkungskreis liegende Aufgabe nicht wahrnehmen, nicht den Schluss zu, dass sie dazu nicht in der Lage wären.¹⁷⁶ Auch muss das Verdikt, die ordnungsgemäße Aufgabenerfüllung durch die Gemeinden sei nicht mehr sichergestellt, nicht alle Gemeinden betreffen.¹⁷⁷ Damit wird der Unterschiedlichkeit der Gemeinden in Einwohnerzahl, Ausdehnung und Struktur Rechnung getragen.¹⁷⁸ Hieraus lassen sich zwei Konsequenzen ableiten: Einerseits steht dem Gesetzgeber bei der Beurteilung, ob eine ordnungsgemäße Aufgabenerfüllung nicht mehr sichergestellt ist, eine Typisierungsbefugnis zu: Er muss nicht jeder einzelnen Gemeinde und auch nicht jeder insgesamt gesehen unbedeutenden Gruppe von Gemeinden Rechnung tragen.¹⁷⁹ Selbst wenn einzelne Gemeinden zu einer ordnungsgemäßen Aufgabenerfüllung in der Lage sind, darf er die Aufgabe flächendeckend allen Gemeinden entziehen, solange sich die ordnungsgemäße Aufgabenerfüllung auf einzelne Gemeinden oder unbedeutende Gruppen von

 BVerfGE 79, 127 (153); 138, 1 (21 Rn. 58); 147, 185 (225 Rn. 84).  BVerfGE 79, 127 (154); 138, 1 (20 Rn. 56); 147, 185 (224 Rn. 81).  So ausdrücklich BVerfGE 79, 127 (154); vgl. auch Dreier, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 28 Rn. 117; Nierhaus/Engels, in: Sachs, GG, 8. Aufl. 2018, Art. 28 Rn. 70.  BVerfGE 79, 127 (154 f.); 138, 1 (20 Rn. 56); 147, 185 (224 Rn. 81).  BVerfGE 138, 1 (31 Rn. 84); vgl. auch BbgVerfG, Beschluss vom 17. Juli 1997 – VfGBbg 1/97 –, LKV 1997, S. 449 (453).  BVerfGE 138, 1 (20 Rn. 57); 147, 185 (224 f. Rn. 83).  Vgl. BVerfGE 138, 1 (20 Rn. 57); 147, 185 (224 f. Rn. 83).  Vgl. BVerfGE 138, 1 (20 Rn. 57); 147, 185 (224 f. Rn. 83) unter Verweis auf BVerfGE 79, 127 (153 f.).

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Gemeinden beschränkt. Andererseits muss der Gesetzgeber den Umstand, dass einzelne größere Gemeinden eine bestimmte Aufgabe des örtlichen Wirkungskreises ordnungsgemäß zu erfüllen vermögen, während die Aufgabe in anderen – regelmäßig kleineren – Gemeinden auf örtlicher Ebene nicht ordnungsgemäß erfüllbar ist, bei der Reichweite der gesetzlich verfügten Aufgabenentziehung berücksichtigen. Sofern die ordnungsgemäße Aufgabenerfüllung nicht nur einer unbedeutenden Gemeindegruppe, sondern einer relevanten Gruppe von Gemeinden gelingt, enden die Typisierungsbefugnisse des Gesetzgebers. Er muss den unterschiedlichen Gegebenheiten dann mit einer auf die Gruppe der „leistungsschwachen“ Gemeinden beschränkten Aufgabenhochzonung begegnen,¹⁸⁰ der in diesen Fällen – zumal mit Blick auf den Erforderlichkeitsgrundsatz – der Vorrang vor einer flächendeckenden Hochzonung gebührt. Die Ziele der Verwaltungsvereinfachung oder der Zuständigkeitskonzentration scheiden nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Rechtfertigung eines Aufgabenentzugs aus.¹⁸¹ Auch das Ziel der Steigerung der Übersichtlichkeit der Verwaltung kann eine Aufgabenhochzonung nicht rechtfertigen.¹⁸² Denn diese Ziele sind von der grundgesetzlich vorgesehenen dezentralen Aufgabenansiedelung auf der Ebene der Gemeinden gerade nicht gewollt.¹⁸³ Gründe der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit der öffentlichen Verwaltung rechtfertigen einen Aufgabenentzug grundsätzlich ebenfalls nicht; dass andere Verwaltungsträger – gerade in größeren Erledigungsräumen – dieselbe Aufgabe im Einzelfall wirtschaftlicher erledigen könnten,¹⁸⁴ ermöglicht keine Übertragung der Aufgabe auf diese Verwaltungsträger.¹⁸⁵ Gründe der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit können eine Aufgabenhochzonung aber legiti-

 Zur Zulässigkeit einer nicht flächendeckenden, sondern in ihrer Reichweite auf bestimmte Gemeinden oder Gemeindegruppen beschränkten Aufgabenhochzonung schon oben V. 1.  BVerfGE 79, 127 (153); 138, 1 (21 Rn. 58); 147, 185 (225 Rn. 84); auch Dreier, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 28 Rn. 117.  BVerfGE 79, 127 (153); 138, 1 (21 Rn. 58); 147, 185 (225 Rn. 84).  BVerfGE 79, 127 (153); 138, 1 (21 Rn. 58); 147, 185 (225 Rn. 84); Gern/Brüning, Deutsches Kommunalrecht, 4. Aufl. 2019, Rn. 123.  Das Bundesverfassungsgericht geht insofern davon aus, dass eine zentralistisch organisierte Verwaltung in vielerlei Hinsicht rationeller und billiger arbeiten könnte, als dies bei einer dezentralen Aufgabenwahrnehmung durch die Gemeinden der Fall ist, vgl. BVerfGE 79, 127 (153); 138, 1 (21 Rn. 58); 147, 185 (225 Rn. 84); kritisch dazu Dietlein, Systematische Einführung zum Kommunalrecht Deutschlands, in: Dietlein/Heusch, BeckOK-Kommunalrecht Nordrhein-Westfalen, Rn. 57 (Juni 2018).  BVerfGE 79, 127 (153); 138, 1 (21 Rn. 58); 147, 185 (225 f. Rn. 84).

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mieren, wenn ein Belassen der Aufgabe bei den Gemeinden zu einem unverhältnismäßigen Kostenanstieg führen würde.¹⁸⁶ Daneben hat das Bundesverfassungsgericht inzwischen festgestellt, dass auch die Gefahr einer rechtswidrigen Aufgabenerfüllung durch die Gemeinden eine Verlagerung örtlicher Aufgaben auf einen anderen Verwaltungsträger grundsätzlich nicht rechtfertigen kann.¹⁸⁷ Vielmehr stehen mit dem Mittel der Rechtsaufsicht regelmäßig ausreichende Möglichkeiten zu Gebote, die Rechtmäßigkeit des gemeindlichen Handelns zu überprüfen und die Kommunen zu einem gesetzmäßigen Aufgabenvollzug anzuhalten.¹⁸⁸ Allerdings lässt das Gericht wohl auch hier Ausnahmen zu, wenn die Beachtung der gesetzlichen Anforderungen im Rahmen des gemeindlichen Aufgabenvollzugs mit der Rechtsaufsicht nicht mehr wirksam sichergestellt werden kann.¹⁸⁹ Mit Blick auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Kinderförderungsgesetz Sachsen-Anhalt ist allerdings festzustellen, dass diese tradierten Grundsätze eine gewisse Relativierung erfahren haben. Das Gericht stellte zur Rechtfertigung der Aufgabenhochzonung auf das Ziel der „Konzentration der Aufgaben der Jugendhilfe“ bei den Kreisen ab, die es ermögliche, die Leistungen der Kinderbetreuung aus einer Hand anzubieten.¹⁹⁰ Ausdrücklich nahm es dabei das vom Landesgesetzgeber vorgetragene Ziel in Bezug, durch die gemeinsame Wahrnehmung der Aufgaben der Kinderbetreuung, des Kinderschutzes und der Hilfe zur Erziehung durch die Kreise „Synergieeffekte zu erzielen“.¹⁹¹ Auch die Zusammenführung von bundes- und landesrechtlichen Gewährleistungspflichten zur Bereitstellung von Kinderbetreuungsplätzen in der Hand desselben (überörtlichen) Trägers sah das Bundesverfassungsgericht als legitimen Zweck an.¹⁹² Die Anerkennung dieser gesetzgeberischen Ziele zur Legitimierung einer Aufgabenhochzonung fügt sich jedenfalls nicht bruchlos in die bisherigen Grundsätze

 BVerfGE 79, 127 (153); 138, 1 (21 Rn. 58); 147, 185 (225 Rn. 84), wo jeweils betont wird, dass der Staat vorrangig sicherzustellen habe, dass die Gemeinden ihre Angelegenheiten nach den Grundsätzen der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit erfüllen.  BVerfGE 147, 185 (248 Rn. 144); vgl. auch Dietlein, Systematische Einführung zum Kommunalrecht Deutschlands, in: Dietlein/Heusch, BeckOK-Kommunalrecht Nordrhein-Westfalen, Rn. 89 (Juni 2018).  BVerfGE 138, 1 (31 Rn. 84); 147, 185 (248 Rn. 144).  BVerfGE 138, 1 (31 Rn. 84); 147, 185 (248 Rn. 144). Insofern ergeben sich strukturell gewisse Bezüge zwischen Fragen des Vorliegens eines legitimen Gemeinwohlzwecks als solchem und Fragen der Wahrung der Erforderlichkeit im Rahmen der Verhältnismäßigkeit.  BVerfGE 147, 185 (242 f. Rn. 129).  BVerfGE 147, 185 (242 f. Rn. 129) unter Bezugnahme auf § 24 Abs. 2 und 3 SGB VIII und § 3 Abs. 1 und 2 KiFöG LSA.  BVerfGE 147, 185 (244 f. Rn. 133 f.).

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zu den legitimen Gemeinwohlzielen im Rahmen der Aufgabengarantie des Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG ein. Denn sie stellen in ihrer konkreten Anwendung letztlich auf Erwägungen ab, die einen Aufgabenentzug nach den tradierten und auch in der Entscheidung referierten Rechtfertigungsanforderungen jedenfalls ohne das Vorliegen einer nicht mehr ordnungsgemäßen Aufgabenerfüllung oder eines unverhältnismäßigen Kostenanstiegs nicht legitimieren könnten.¹⁹³ Dasselbe gilt, soweit das Gericht – mit Blick auf die im Bereich der Kinderbetreuung bundesgesetzlich vorgesehene Gewährleistung einer kontinuierlichen Qualitätsentwicklung – auch das Ziel der Qualitätssteigerung als rechtfertigenden Gemeinwohlbelang für die Hochzonung von Aufgaben von der Gemeinde- auf die Kreisebene in Ansatz gebracht hat. So hat es das Gericht als legitime Anliegen der Qualitätssicherung anerkannt, einer möglichen Missbrauchsgefahr vorzubeugen, die sich aus der Wettbewerbssituation zwischen Gemeinden und freien Trägern von Kindertageseinrichtungen ergeben könne, möglichen Fehlentscheidungen in der Zukunft zu begegnen und die Rechtmäßigkeit von Vergabeentscheidungen zu sichern.¹⁹⁴ Die nachfolgende Betonung des Gerichts, die Gefahr einer rechtswidrigen Aufgabenerfüllung komme als einen Aufgabenentzug legitimierendes Gemeinwohlziel grundsätzlich nicht in Betracht,¹⁹⁵ wird in gewisser Weise entwertet, wenn diese Erwägungen unter der Zielsetzung der Qualitätssteigerung letztlich doch in Ansatz gebracht werden können.¹⁹⁶ Freilich erscheint noch offen, ob die genannten Erwägungen auf Besonderheiten des konkret betroffenen Aufgabenfeldes der Kinder- und Jugendbetreuung beruhen, das materiell-rechtlich in weiten Teilen auch bundesrechtlich spezifisch vorgeprägt ist,¹⁹⁷ oder ob mit der Entscheidung allgemein eine Erweiterung der legitimierenden Gemeinwohlziele im Bereich der Aufgabengarantie einher geht.

 So auch K. Lange, ZG 2018, S. 75 (79).  BVerfGE 147, 185 (243 f. Rn. 131 f.). Dabei kam es im Zusammenhang mit dem legitimen Zweck nicht einmal darauf an, ob sich bei der vormaligen Aufgabenerfüllung durch die Gemeinden bereits Anhaltspunkte für eine strukturelle Fehlentwicklung gezeigt hatten. Das Gericht billigte dem Gesetzgeber vielmehr zu, ausschließlich mit Blick auf das normativ vorgegebene Nebeneinander von gemeindlichen und freien Trägern von Kindertageseinrichtungen die Prognose anzustellen, dass der Vorrang privater Träger nach § 4 Abs. 2 SGB VIII durch eine gemeindliche Koordinierung der Vergabe von Kinderbetreuungsplätzen unterlaufen werden könne und gewährte ihm, dieser prognostizierten Gefahr unter dem Ziel der Qualitätssicherung entgegenzusteuern und sich zur Hochzonung der Koordinierungsaufgabe auf die Kreise als örtliche Träger der Jugendhilfe auf diese Erwägungen zu berufen.  BVerfGE 147, 185 (248 f. Rn. 144 f.).  Kritisch insofern auch K. Lange, ZG 2018, S. 75 (80).  Dies begegnet freilich jedenfalls insofern gewissen Zweifeln, als das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich festgestellt hat, dass das Bundesrecht nicht vorgibt, dass die Aufgaben der

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(2) Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Nach der zwischenzeitlichen Anerkennung der Geltung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit¹⁹⁸ muss die den Aufgabenbestand der Gemeinden betreffende gesetzliche Regelung zur Erreichung des legitimen Gemeinwohlziels geeignet, erforderlich und angemessen sein.¹⁹⁹ Damit ist zu prüfen, ob der Aufgabenentzug (oder die sonstige Beschränkung des gemeindlichen Aufgabenzugriffsrechts) das vom Gesetzgeber angestrebte Gemeinwohlziel in irgendeiner Weise fördert,²⁰⁰ ob die konkret gewählte Art der Beschränkung des gemeindlichen Aufgabenzugriffsrechts unter verschiedenen, zur Zweckerreichung gleich geeigneten Mitteln das mildeste darstellt,²⁰¹ und ob die vom Gesetzgeber verfolgten Ziele gegenüber der verfassungsrechtlich vorgegebenen Zuordnung der Aufgabe örtlichen Charakters zur gemeindlichen Ebene überwiegen.²⁰² Auch im Rahmen der Verhältnismäßigkeit billigt das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber eine Einschätzungsprärogative zu; die Intensität der gerichtlichen Kontrolldichte steigert sich dabei wiederum proportional mit dem Substanzverlust für die gemeindliche Selbstverwaltung.²⁰³ Freilich ist zu konstatieren, dass das Bundesverfassungsgericht in der Subsumtion die einzelnen Ebenen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes nicht immer deutlich abgeschichtet prüft.²⁰⁴ So postuliert das Gericht in der Entscheidung zum Kinderförderungsgesetz Sachsen-Anhalt im Maßstabsteil zwar den Verhält-

öffentlichen Jugendhilfe zwingend von demselben Verwaltungsträger wahrzunehmen sind, vgl. BVerfGE 147, 185 (240 f. Rn. 123 f.).  Oben V. 2. b) bb).  Vgl. zu diesem Prüfungsprogramm BVerfGE 147, 185 (245 Rn. 135).  Vgl. BVerfGE 63, 88 (115); 67, 157 (175); 90, 145 (172); 96, 10 (23); 100, 313 (373); 103, 293 (307); 115, 276 (308); 145, 20 (78 Rn. 149).  Vgl. BVerfGE 100, 313 (375); 102, 197 (218); 110, 141 (164); 115, 276 (309); 145, 20 (80 Rn. 153).  BVerfGE 79, 127 (154); 147, 185 (224 Rn. 82).  BVerfGE 147, 185 (249 Rn. 147).  Kritisch insofern auch Heusch/Dickten, NVwZ 2018, S. 1265 (1266). So wird in der Entscheidung zur sächsischen Schulnetzplanung zwar der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als Maßstab postuliert; in der Subsumtion stellt das Bundesverfassungsgericht dann aber schon das Fehlen eines legitimen Gemeinwohlzwecks fest, vgl. BVerfGE 138, 1 (29 ff. Rn. 78 ff.).Während dies für sich genommen schon zu einem Scheitern der Rechtfertigung führen muss, stellt das Bundesverfassungsgericht – wohl in einem obiter dictum – im Anschluss noch ausdrücklich fest, die Schulnetzplanung auf Kreisebene für die Grund- und Mittelschulen sei mit Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG (nur) vereinbar, wenn sie den kreisangehörigen Gemeinden ein wirksames Mitentscheidungsrecht einräume, vgl. BVerfGE 138, 1 (31 ff. Rn. 85 ff.). Eine Zuordnung dieser Erwägung zur (wohl passenden) Stufe der Angemessenheit findet nicht statt, ebensowenig wird näher dargelegt, wie eine Verhältnismäßigkeitsprüfung ohne Relation zu einem legitimen Gemeinwohlziel überhaupt tragfähig durchgeführt werden kann.

Die Aufgabengarantie der Gemeinden nach Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG

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nismäßigkeitsgrundsatz als maßgebliche Rechtfertigungsanforderung und nennt auch ausdrücklich dessen einzelne Prüfungsstufen²⁰⁵, in der Anwendung auf den Fall orientiert es die Prüfung aber nicht strikt an dessen Ebenen. So spricht es die Geeignetheit der Aufgabenhochzonung gar nicht mehr an und thematisiert etwa der Erforderlichkeit zuzuordnende Aspekte unter dem Stichwort der Angemessenheit.²⁰⁶ Auch die eigentliche Güterabwägung fällt zuweilen sehr knapp aus.²⁰⁷ Einige spezifisch im Zusammenhang mit der Aufgabengarantie nach Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG bedeutsame Aspekte der Verhältnismäßigkeitsprüfung seien besonders hervorgehoben: Im Rahmen der Erforderlichkeit hat das Bundesverfassungsgericht in seiner jüngeren Rechtsprechung der Möglichkeit der interkommunalen Zusammenarbeit Bedeutung beigemessen: Auch wenn Leistungsfähigkeit und Verwaltungskraft einer (einzelnen) Gemeinde nicht genügen, um kommunale Aufgaben in einer Weise wahrzunehmen, die die ordnungsgemäße Aufgabenerfüllung sicherstellt, hat die von Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG ebenfalls gewährleistete Möglichkeit der interkommunalen Zusammenarbeit Vorrang vor der Hochzonung gemeindlicher Aufgaben auf andere Verwaltungsträger.²⁰⁸ Erst wenn auch durch gemeindliche Kooperation die Erfüllung örtlicher Aufgaben nicht sichergestellt werden kann, darf der Staat die davon betroffenen Zuständigkeiten an sich ziehen.²⁰⁹ Anderenfalls ist der Entzug örtlicher Aufgaben nicht erforderlich. Im Rahmen der Angemessenheit bedarf es einer Güterabwägung, bei der die widerstreitenden Belange in einen „vertretbaren Ausgleich“ zu bringen sind.²¹⁰ Sie ist auch unter der Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes an den in der Rastede-Entscheidung aufgestellten gesteigerten Anforderungen vorzunehmen.²¹¹ Da die Güterabwägung an die Intensität des Eingriffs und den Grad

 BVerfGE 147, 185 (245 Rn. 135); Steiner, BayVBl. 2018, S. 397 (Fn. 6) spricht hinsichtlich des Maßstabsteils mit Blick auf die folgende Subsumtion vom „palliativen Teil“ der Entscheidung.  Vgl. BVerfGE 147, 185 (248 f. Rn. 143 ff.) für das von den Beschwerdeführerinnen angesprochene mildere Mittel der Rechtsaufsicht; kritisch insofern K. Lange, ZG 2018, S. 75 (80).  Vgl. BVerfGE 147, 185 (249 ff. Rn. 146 ff.), wo sich die Prüfung der Angemessenheit letztlich nur auf die konkrete Bestimmung der Eingriffsintensität der Aufgabenhochzonung beschränkt und eine Abwägung mit den für den Aufgabenentzug vom Gesetzgeber vorgebrachten Gemeinwohlinteressen nicht vorgenommen wird. Insbesondere wird das zuvor in den Maßstäben geforderte Überwiegen des zur Rechtfertigung herangezogenen Gemeinwohlgrundes in der Entscheidung weder festgestellt, noch näher dargelegt; kritisch dazu Heusch/Dickten, NVwZ 2018, S. 1265 (1266); kritisch auch K. Lange, ZG 2018, S. 75 (80 f.).  BVerfGE 138, 1 (28 Rn. 74); 147, 185 (226 Rn. 86).  BVerfGE 138, 1 (28 Rn. 74); 147, 185 (226 Rn. 86).  BVerfGE 138, 1 (20 Rn. 57); 147, 185 (224 f. Rn. 83).  Vgl. dazu oben V. 2. b) bb).

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der Erreichung des verfolgten Gemeinwohlziels anknüpft, ist vorgelagert die nähere Konkretisierung dieser Elemente von Bedeutung.²¹² Vor der eigentlichen Abwägung ist insofern zu prüfen, wie schwer der mit der gesetzlichen Regelung einhergehende Substanzverlust für das gemeindliche Aufgabenfeld wiegt.²¹³ Das Bundesverfassungsgericht untersucht deshalb die konkrete Reichweite des Aufgabenentzugs und das Gewicht der hochgezonten Aufgabe für die Garantie der kommunalen Selbstverwaltung.²¹⁴ Dafür finden sich in der Rechtsprechung unterschiedliche Ansätze: Regelmäßig wird auf das konkrete Gewicht der entzogenen Aufgabe abgestellt; teilweise nimmt das Gericht aber auch eine gesamtheitliche Betrachtung des vom Aufgabenentzug betroffenen Aufgabenfeldes vor und stellt heraus, für welche Aufgaben des eigenen Wirkungskreises die Gemeinden in diesem Aufgabenfeld nach der konkret zur Prüfung gestellten Aufgabenhochzonung zuständig bleiben.²¹⁵ Dabei berücksichtigt das Gericht auch, ob den Gemeinden im Zusammenhang mit dem Aufgabenentzug neue Aufgaben übertragen wurden, die das betreffende Aufgabenfeld erweitern.²¹⁶ In der jüngeren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hat im Rahmen der konkreten Bewertung der Eingriffstiefe die kompensatorische Einräumung von Beteiligungs- und Mitentscheidungsrechten besondere Aufmerksamkeit er-

 Soweit die Eingriffstiefe im grundrechtlichen Zusammenhang schon auf der Ebene der Erforderlichkeit bei der Bewertung, ob ein alternatives, gleich wirksames Mittel weniger eingriffsintensiv ist, Bedeutung erlangt, dürfte dies im Rahmen der Aufgabengarantie nur selten praktisch relevant werden, da die unterschiedliche Eingriffstiefe der alternativen Regelungsoptionen zumeist offensichtlich sein dürfte. Im Einzelfall kann es aber auch bei der Bewertung der Verhältnismäßigkeit eines Eingriffs in die Aufgabengarantie erforderlich sein, die Eingriffstiefe bereits auf der Ebene der Erforderlichkeit zu thematisieren.  BVerfGE 147, 185 (249 Rn. 147 f.).  Vgl. zum Gewicht einer Aufgabe für die Garantie der kommunalen Selbstverwaltung etwa BVerfGE 138, 1 (15 Rn. 46); 147, 185 (220 f. Rn. 71).  BVerfGE 147, 185 (245 ff. Rn. 136 ff. und 249 Rn. 148); soweit das Gericht in Rn. 68 die Notwendigkeit einer verfassungskonformen Auslegung andeutet, kommt die Entscheidung darauf ausdrücklich nicht mehr zurück. Nicht ausgeschlossen erscheint, dass die restriktive Bestimmung der Reichweite der Aufgabenhochzonung, die mit der Beschreibung des bei den Gemeinden verbleibenden Aufgabenbereichs angesprochen ist, Produkt einer unausgesprochen vorgenommenen verfassungskonformen Auslegung ist.  BVerfGE 147, 185 (248 Rn. 142). Nicht ganz unproblematisch erscheint es freilich, wenn das Bundesverfassungsgericht dabei die Auferlegung neuer Pflichtaufgaben in die Betrachtung einbezieht, da damit nach der allgemeinen Dogmatik der kommunalen Selbstverwaltungsgarantie in der Sache jedenfalls auch Belastungen für die Gemeinden einher gehen, die einen eigenständigen rechtfertigungsbedürftigen Eingriff in Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG begründen, vgl. oben IV. 2.

Die Aufgabengarantie der Gemeinden nach Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG

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langt.²¹⁷ Das Gericht stellt bei der Prüfung der Angemessenheit des Aufgabenentzugs darauf ab, ob den Gemeinden im Zuge der Verlagerung örtlicher Aufgaben auf einen anderen Verwaltungsträger Mitwirkungsrechte bei der zukünftigen Entscheidungsfindung eingeräumt wurden.²¹⁸ So kann es die Eingriffsintensität verringern, wenn der Gesetzgeber für die Wahrnehmung der hochgezonten Aufgabe durch den staatlichen Verwaltungsträger wirksame gemeindliche Mitentscheidungsbefugnisse vorsieht. Der Eingriff in die Aufgabengarantie bleibt zwar rechtfertigungsbedürftig; allerdings wird bei der Prüfung der Angemessenheit für die Abwägung (beziehungsweise für die vorgelagerte Bewertung der konkreten Eingriffsintensität) die Einräumung von gemeindlichen Mitwirkungsrechten berücksichtigt.²¹⁹ Das wird insbesondere dann von Bedeutung sein, wenn die Wahrnehmung der hochgezonten Aufgabe durch staatliche Verwaltungsträger das gemeindliche Selbstverwaltungsrecht auch zukünftig fortgesetzt betreffen kann, wie etwa bei der Wahrnehmung von Planungs- und Koordinierungsaufgaben auf der Kreisebene.²²⁰ Hier kann der Einräumung von Einvernehmenserfordernissen oder Zustimmungsvorbehalten wesentliche Bedeutung für die Angemessenheitsprüfung zukommen.²²¹ Demgegenüber werden Benehmensregelungen allenfalls eine sehr geringe kompensatorische Wirkung haben, da hier kein echtes Mitentscheidungsrecht der Gemeinden begründet wird.²²² Im Einzelfall – insbesondere bei schon für sich genommen nicht besonders schwerwiegenden Eingriffen in die Aufgabengarantie – kann die kompensatorische Einräumung von Benehmenserfordernissen ein ergänzendes Mittel sein, um die Angemessenheit der Aufgabenhochzonung zu wahren.²²³

 Vgl. dazu grundlegend K. Lange, Kommunalrecht, 2013, Kapitel 1 Rn. 78 ff. und 108 ff., dort auch zur wichtigen Abgrenzung zu einem funktionalen Selbstverwaltungsverständnis; kritisch Brüning, NVwZ 2018, S. 155, der befürchtet, das Gericht sehe die Mitwirkungsrechte an der Aufgabenerfüllung anderer Verwaltungsträger als Äquivalent eigener Zuständigkeiten.  BVerfGE 138, 1 (31 ff. Rn. 83 ff.); 147, 185 (226 f. Rn. 87 und 249 ff. Rn. 149 f.); vgl. dazu auch K. Lange, Kommunalrecht, 2013, Kapitel 1 Rn. 80 und 108 ff.  K. Lange, Kommunalrecht, 2013, Kapitel 1 Rn. 80 und 108; dabei kann die eingeräumte Mitentscheidungsbefugnis der Gemeinden freilich rechtlich gebunden werden oder geregelt sein, dass die Erteilung des Einvernehmens bei einer rechtswidrigen Verweigerung durch die Aufsichtsbehörde ersetzt werden kann, vgl. BVerfGE 138, 1 (33 Rn. 88).  Vgl. BVerfGE 138, 1 (22 Rn. 60).  BVerfGE 138, 1 (31 ff. Rn. 85 ff.); 147, 185 (249 ff. Rn. 149 f.).  BVerfGE 138, 1 (22 Rn. 87); 147, 185 (226 f. Rn. 87).  So BVerfGE 147, 185 (250 f. Rn. 150) im Zusammenhang mit der Konzentration der Kinderbetreuungsplanung bei den Kreisen.

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VI. Fazit Das Bundesverfassungsgericht hat die in Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG gewährleistete Aufgabengarantie zugunsten der Gemeinden im Verlauf seiner Rechtsprechung maßgeblich geprägt und fortentwickelt. Gerade die Anerkennung des abwehrrechtlichen Charakters der Aufgabengarantie und der Anwendbarkeit des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes gewährleisten einen wirksamen Schutz des den Gemeinden grundgesetzlich überantworteten Aufgabenbestands. Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG schützt die Gemeinden letztlich gegen eine rechtsgrundlose und unverhältnismäßige Entziehung von Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft.²²⁴ In der konkreten Effektuierung dieses Schutzes im Einzelfall bedarf die Rechtsprechung teilweise freilich noch einer gewissen Schärfung. Auch die Erfassung von sonstigen Beeinträchtigungen des Aufgabenzugriffsrechts der Gemeinden – sei es im Wege der abgeschichteten Prüfung von Teilaufgaben oder in Bezug auf sonstige, das gemeindliche Aufgabenfeld einschränkende gesetzlichen Regelungen – führt zu einer Stärkung der Aufgabengarantie und damit letztlich der gemeindlichen Selbstverwaltung. Neue Herausforderungen zeichnen sich auf Ebene der Eingriffsrechtfertigung ab, wo die tradierte Bestimmung legitimer Gemeinwohlzwecke gewisse Relativierungen erfahren hat; insofern wird freilich erst die Zukunft zeigen, ob es sich dabei um fallspezifische Erwägungen handelt, oder ob die staatlichen Zugriffsmöglichkeiten auf Aufgaben des örtlichen Wirkungskreises insgesamt erweitert werden sollen.

 BVerfGE 147, 185 (236 Rn. 111).

VI. Verfassungsrechtliche Grundlagen des Rechtsschutzes

Alfred Rust

Die zu Unrecht unterbliebene mündliche Verhandlung und der Anspruch auf rechtliches Gehör im Verfahren nach § 495a der Zivilprozessordnung Leitentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (Senat) BVerfGE 55, 1 – Flughafenverfahren BVerfGE 107, 395 (Plenum) – Fachgerichtlicher Rechtsschutz

Wichtige Kammerentscheidungen: BVerfGK 19, 377 BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 25. Juni 2015 – 1 BvR 366/15 –, NJW 2015, 3779 BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 25. Juni 2015 – 1 BvR 367/15 –, juris BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 2. März 2017 – 2 BvR 977/16 –, NJW-RR 2017, S. 690 BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 8. Juni 2018 – 1 BvR 701/17 –, juris BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 13. Juni 2018 – 1 BvR 1040/17 –, juris

Schrifttum (Auswahl) Arning, Das Bagatellverfahren im deutschen Zivilprozessrecht der Neuzeit vor dem Hintergrund der Einführung des Verfahrens nach § 495a ZPO durch das Rechtspflegevereinheitlichungsgesetz vom 17.12.1990, Diss. Bochum 1994; Augsberg/Burkiczak, Der Anspruch auf rechtliches Gehör gemäß Art. 103 I GG als Gegenstand der Verfassungsbeschwerde, JA 2008, S. 59 ff.; Bergerfurth, Das neue „Bagatellverfahren“ nach § 495a ZPO, NJW 1991, S. 961 ff.; Fischer, § 495a ZPO – eine Bestandsaufnahme des „Verfahrens nach billigem Ermessen“, MDR 1994, S. 978 ff.; Hennrichs, Verfassungswidrigkeit des neuen § 495a ZPO, NJW 1991, S. 2815 f.; Kunze, Das amtsgerichtliche Bagatellverfahren nach § 495a ZPO, Bielefeld 1995; Stollmann, Zur Verfassungsmäßigkeit des neuen § 495a ZPO, NJW 1991, S. 1719 ff.; Thum, Der Antrag auf mündliche Verhandlung im Verfahren nach billigem Ermessen, NJW 2014, S. 3198 ff.; Zuck, Neues zum rechtlichen Gehör?, NVwZ 2012, S. 479 ff.

https://doi.org/10.1515/9783110599916-018

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Inhalt I. Einleitung 466 II. Rechtliches Gehör und mündliche Verhandlung 468 . Nach dem Maßstab des Grundgesetzes 468 a) Ausgestaltung durch den Gesetzgeber 468 b) Gewährung durch das Gericht 469 . Nach dem Maßstab des Art.  Abs.  der Europäischen 472 Menschenrechtskonvention 474 III. Entscheidungserheblichkeit der Gehörsverletzung . Feststellungen zum hypothetischen Verfahrensverlauf . Vermutung des Beruhens 476 . Subjektstellung des Verfahrensbeteiligten 478 . Darlegung in der Verfassungsbeschwerde 481 IV. Heilung des Gehörsverstoßes 482 V. Zusammenfassung 484

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I. Einleitung Nach § 128 Abs. 1 ZPO verhandeln die Parteien über den Zivilrechtsstreit vor dem erkennenden Gericht mündlich. Die Frage, ob es sachgerecht sei, in Verfahren mit geringen Streitwerten im Interesse der Verfahrensbeschleunigung und der Wirtschaftlichkeit des Verfahrens Vereinfachungen von dieser Regel zuzulassen, hat der deutsche Gesetzgeber in der Vergangenheit unterschiedlich beantwortet. Das seit 1950 in § 510c Abs. 1 ZPO a. F. bei einem Streitwert von bis zu 50 DM vorgesehene Schiedsurteil, dessen Verfahren das Gericht nach freiem Ermessen bestimmen konnte,¹ schaffte das Gesetz zur Vereinfachung und Beschleunigung gerichtlicher Verfahren (Vereinfachungsnovelle)² im Jahr 1976 wieder ab. Dem Gericht blieb fortan nach § 128 Abs. 3 ZPO a. F. die Möglichkeit, in Verfahren mit einem Streitwert von bis zu 500 DM von Amts wegen anzuordnen, dass schriftlich zu verhandeln sei, wenn eine Vertretung durch einen Rechtsanwalt nicht geboten und einer Partei das Erscheinen vor Gericht wegen großer Entfernung oder aus sonstigen Gründen nicht zuzumuten war. Schon 1990 kehrte dann mit dem Rechtspflege-Vereinfachungsgesetz³ in § 495a ZPO eine dem Schiedsurteil vergleichbare Vorschrift in die Zivilprozessordnung zurück. Sie soll den Amtsgerichten ermöglichen, im Rahmen niedriger Streitwerte ihr Verfahren einfacher

 Dazu Arning, Das Bagatellverfahren im deutschen Zivilprozessrecht, 1994, S. 32 ff.; eingehend: Kunze, Das amtsgerichtliche Bagatellverfahren nach § 495a ZPO, 1995, S. 42 ff.  Vom 3. Dezember 1976, BGBl. I S. 3281.  Vom 17. Dezember 1990, BGBl. I S. 2847.

Anspruch auf rechtliches Gehör im Verfahren nach § 495a ZPO

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gestalten zu können und den aus Sicht des Gesetzgebers bei niedrigen Streitwerten häufig außer Verhältnis stehenden Aufwand durch flexible Regelungen in rechtsstaatlich unbedenklicher Weise zu mindern.⁴ Die Vorschrift erlaubt dem Gericht, sein Verfahren bei einem Streitwert von mittlerweile bis zu 600 Euro nach billigem Ermessen zu bestimmen. Einschränkend legt § 495a Satz 2 ZPO jedoch fest, dass auf Antrag mündlich verhandelt werden muss. Kein Streit besteht darüber, dass § 495a ZPO in seiner derzeitigen Form verfassungskonform ist.⁵ Mit der Auslegung und Anwendung der Vorschrift durch die Gerichte haben sich die Kammern des Bundesverfassungsgerichts dagegen wiederholt beschäftigt.⁶ Mehrfach waren Entscheidungen Gegenstand einer Verfassungsbeschwerde, die Amtsgerichte entgegen § 495a Satz 2 ZPO ohne vorherige mündliche Verhandlung getroffen hatten, obwohl die in dem Rechtsstreit unterlegene Partei zuvor einen entsprechenden Antrag gestellt hatte.⁷ Gerügt wurde in diesen Fällen hauptsächlich eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG. Die Kammern haben den Verfassungsbeschwerden durchweg nach § 93c Satz 1 BVerfGG stattgegeben. Ungeachtet der Übereinstimmung im Ergebnis zeigen die Entscheidungen aber, dass die Fälle einer gehörswidrig unterbliebenen mündlichen Verhandlung in der Rechtsprechung der Kammern beider Senate unterschiedlich gehandhabt werden.

 So die Gesetzesbegründung in BTDrucks. 11/4155, S. 10 f.  Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, Zivilprozessordnung, 76. Aufl. 2018, § 495a Rn. 1; Reuschle, in: Wieczorek/Schütze, Zivilprozessordnung, 4. Aufl. 2014, § 495a Rn. 7; Hennrichs, NJW 1991, S. 2815 (2815); Stollmann, NJW 1991, S. 1719 (1720); Bedenken wurden lediglich gegen die zunächst in § 495a Abs. 2 ZPO a.F. enthaltenen, durch das ZPO-Reformgesetz von 2001 in § 313a ZPO übertragenen Vereinfachungen bei Abfassung des Urteils erhoben, vgl. dazu Stollmann, NJW 1991, S. 1719 (1720 f.).  Neben den eingangs genannten Entscheidungen etwa BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 18. November 2008 – 2 BvR 290/08 –, NJW-RR 2009, S. 562; Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 18. Januar 2011 – 1 BvR 2441/10 –, juris; Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 6. Mai 2015 – 1 BvR 2724/14 –, JZ 2015, S. 1053 f.; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 14. Dezember 2015 – 2 BvR 3073/14 –, juris; Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 29. Juli 2016 – 1 BvR 1225/15 –, juris; Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 19. März 2018 – 1 BvR 2313/17 –, juris; Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 8. Juni 2018 – 1 BvR 896/17 –, juris.  BVerfGK 19, 377; BVerfG, Beschlüsse der 1. Kammer des Ersten Senats vom 25. Juni 2015 – 1 BvR 366/15 –, NJW 2015, S. 3779 und – 1 BvR 367/15 –, juris; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 2. März 2017– 2 BvR 977/16 –, NJW-RR 2017, S. 690; Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 8. Juni 2018 – 1 BvR 701/17 –, juris; Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 13. Juni 2018 – 1 BvR 1040/17 –, juris.

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II. Rechtliches Gehör und mündliche Verhandlung Einigkeit besteht im Ausgangspunkt darüber, dass bei aller Berechtigung des Grundgedankens, dem Richter bei niedrigen Streitwerten eine prozessökonomische Gestaltung des Verfahrens nach Lage des Einzelfalls zu ermöglichen,⁸ auch ein nach billigem Ermessen gestaltetes Verfahren rechtstaatlichen Anforderungen genügen und insbesondere das rechtliche Gehör der Parteien wahren muss.⁹

1. Nach dem Maßstab des Grundgesetzes Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist rechtliches Gehör nicht nur ein prozessuales Urrecht, sondern auch ein objektivrechtliches Verfahrensprinzip, das für ein rechtsstaatliches Verfahren schlechthin konstitutiv ist.¹⁰ Der Einzelne soll nicht bloßes Objekt des Verfahrens sein, sondern vor einer Entscheidung, die seine Rechte betrifft, zu Wort kommen, um Einfluss auf das Verfahren und sein Ergebnis nehmen zu können.¹¹ Der Anspruch auf rechtliches Gehör steht in einem funktionalen Zusammenhang mit der Rechtsschutzgarantie und der Justizgewährungspflicht des Staates.¹² Während die Rechtschutzgarantie den Zugang zum Verfahren sichert, zielt der Anspruch auf rechtliches Gehör auf einen angemessenen Ablauf des Verfahrens. Wer bei Gericht formell ankommt, soll auch inhaltlich wirklich gehört werden.¹³

a) Ausgestaltung durch den Gesetzgeber In seiner Ausgestaltung ist Art. 103 Abs. 1 GG ein normgeprägtes Grundrecht.¹⁴ Es entspricht gefestigter Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, dass Art und Weise der Gehörsgewährung vor Gericht ihre Konkretisierung durch den

 Berger, in: Stein/Jonas, Zivilprozessordnung, 23. Aufl. 2015, § 495a Rn. 4.  BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 4. August 1993 – 1 BvR 279/93 –, NJW 1994, S. 254 (255); Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 21. März 2006 – 2 BvR 1104/05 –, NJW 2006, S. 2248 (2249 Rn. 16 f.).  BVerfGE 55, 1 (6); 70, 180 (188); 107, 395 (408); BVerfGK 12, 111 (115).  BVerfGE 84, 188 (190); 86, 133 (144 ff.); 89, 28 (35); 107, 395 (409); BVerfGK 19, 377 (381).  BVerfGE 81, 123 (129); 107, 395 (409); 119, 292 (295 f.); BVerfGK 12, 111 (115); 19, 377 (381).  BVerfGE 107, 395 (409); 119, 292 (296).  Schulze-Fielitz, in: Dreier, Grundgesetz, 3. Aufl. 2018, Art. 103 Rn. 27; Nolte/Aust, in: von Mangoldt/Klein/Starck, Grundgesetz, 7. Aufl. 2018, Art. 103 Rn. 8.

Anspruch auf rechtliches Gehör im Verfahren nach § 495a ZPO

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Gesetzgeber erfahren.¹⁵ Einschränkungen unterliegt der Gesetzgeber lediglich insoweit, als er die von Art. 103 Abs. 1 GG gewährleisteten Mindeststandards nicht unterschreiten darf.¹⁶ Damit steht aber nicht zugleich fest, dass eine diesen Mindeststandards genügende einfachgesetzliche Regelung den Umfang des zu gewährenden rechtlichen Gehörs verbindlich festlegt. Anerkannt ist, dass die in den einfachrechtlichen Verfahrensordnungen enthaltenen Gewährleistungen des rechtlichen Gehörs über das spezifisch verfassungsrechtlich geforderte Ausmaß an rechtlichem Gehör hinausreichen können. Eine Verletzung einfachrechtlicher Bestimmungen durch die Gerichte stellt danach nicht in jedem Fall zugleich einen Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG dar.¹⁷ Erforderlich ist vielmehr, dass das Gericht bei der Auslegung oder Anwendung der einfachrechtlichen Vorschriften die Bedeutung und Tragweite des Grundrechts auf rechtliches Gehör verkannt hat.¹⁸ Verletzt ein Gericht also einfachgesetzliche Bestimmungen, bedarf es im Einzelfall der Prüfung, ob dadurch zugleich das unabdingbare Maß verfassungsrechtlich verbürgten rechtlichen Gehörs verkürzt worden ist.¹⁹

b) Gewährung durch das Gericht Dass ein Gericht ohne vorangegangene mündliche Verhandlung entscheidet, begründet nach diesen Maßstäben für sich genommen noch keinen Gehörsverstoß. Die vom Gesetzgeber einzuhaltenden Mindeststandards des rechtlichen Gehörs erfordern nicht, dass einer gerichtlichen Entscheidung notwendigerweise eine mündliche Verhandlung vorauszugehen hat. Unmittelbar aus Art. 103 Abs. 1 GG folgt kein Anspruch auf eine mündliche Verhandlung.²⁰ Vielmehr ist es Sache des Gesetzgebers zu entscheiden, in welcher Weise rechtliches Gehör gewährt werden soll.²¹

 BVerfGE 9, 89 (95 f.); 60, 175 (201 f.); 67, 208 (211); 74, 1 (5); 89, 381 (391).  BVerfGE 7, 53 (56 f.); 21, 132 (137); 60, 7 (14); 107, 395 (411 ff.); 119, 292 (296).  BVerfGE 60, 305 (310 f.); BVerfGK 19, 377 (381).  BVerfGE 60, 305 (310 f.); BVerfGK 19, 377 (381).  BVerfGE 60, 305 (310); BVerfGK 19, 377 (382).  BVerfGE 5, 9 (11); 21, 73 (77); 36, 85 (87); 60, 175 (210); 89, 381 (391); 112, 185 (206); BVerfGK 19, 377 (382); BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 25. Juni 2015 – 1 BvR 366/15 –, NJW 2015, S. 3779 (3379 Rn. 7); Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 2. März 2017 – 2 BvR 997/16, NJW-RR 2017, S. 690 (691 Rn. 7); Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 8. Juni 2018 – 1 BvR 701/17 –, juris, Rn. 7.  BVerfGE 5, 9 (11); 9, 89 (95 f.); 60, 175 (210 f.); 67, 208 (211); 74, 1 (5); 89, 381 (391); BVerfGK 4, 83 (86); 19, 377 (382); BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 25. Juni 2015 – 1 BvR 366/15 –, NJW 2015, S. 3779 (3379 Rn. 7); Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 2. März

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Es entspricht zugleich gesicherter Kammerrechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, dass in Fällen, in denen eine mündliche Verhandlung von Gesetzes wegen stattzufinden hat, der Anspruch der Verfahrensbeteiligten auf rechtliches Gehör ein Recht auf Äußerung in der mündlichen Verhandlung und damit zugleich auf deren Durchführung begründet.²² Das gilt auch im Verfahren nach billigem Ermessen. Hat das Gericht auf Antrag eines Verfahrensbeteiligten nach § 495a Satz 2 ZPO eine mündliche Verhandlung durchzuführen, so verletzt eine Entscheidung ohne eine vorangegangene mündliche Verhandlung den Anspruch auf rechtliches Gehör. Ob dabei im Einzelfall die unabdingbaren Grenzen des verfassungsrechtlich verbürgten rechtlichen Gehörs verletzt sind,²³ prüfen die Kammerentscheidungen mittlerweile nicht mehr. Lediglich eine frühe Entscheidung greift auf den Gesichtspunkt einer gehörswidrigen Überraschungsentscheidung zurück. Sie überträgt den aus dem Anspruch auf rechtliches Gehör abgeleiteten Schutz des Vertrauens der Verfahrensbeteiligten²⁴ auf die Verfahrensgestaltung durch die Gerichte: Für die Verfahrensbeteiligten sei es überraschend, wenn eine mündliche Verhandlung von Gesetzes wegen stattfinden müsse, einem Verfahrensbeteiligten aber die gesetzlich vorgesehene Möglichkeit der Äußerung in der mündlichen Verhandlung versagt werde, weil das Gericht ohne mündliche Verhandlung entscheide. Eine derartige Anwendung von Verfahrensbestimmungen, welche die Durchführung einer mündlichen Verhandlung vorschreiben, verkenne die Bedeutung oder Tragweite des Anspruchs auf rechtliches Gehör schon deshalb, weil die Verfahrensbeteiligten bei vorgeschriebener Verhandlung darauf vertrauen dürften, ihr von Art. 103 Abs. 1 GG geschütztes Recht auf Äußerung in dieser Verhandlung wahrnehmen zu können. Unterbleibe die mündliche Verhandlung, werde dieses prozessuale Vertrauen in grober Weise enttäuscht.²⁵ Die Konkretisierung des rechtlichen Gehörs durch den Gesetzgeber verknüpft den Gehörsverstoß mit Vorgaben des einfachrechtlichen Verfahrensrechts. Die unterbliebene mündliche Verhandlung verletzt nur dann den Anspruch auf 2017 – 2 BvR 997/16, NJW-RR 2017, S. 690 (691 Rn. 7); Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 8. Juni 2018 – 1 BvR 701/17 –, juris, Rn. 7.  BVerfGK 19, 377 (382); BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 25. Juni 2015 – 1 BvR 366/15 –, NJW 2015, S. 3779 (3379 Rn. 7); Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 2. März 2017 – 2 BvR 977/16 –, NJW-RR 2017, S. 690 (691 Rn. 7); Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 8. Juni 2018 – 1 BvR 701/17 –, juris, Rn. 7; Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 13. Juni 2018 – 1 BvR 1040/18 –, juris, Rn. 8.  BVerfGE 60, 305 (310).  BVerfGE 84, 188 (190); 86, 133 (144 f.); 98, 218 (263); BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 29. März 2007 – 2 BvR 547/07 –, juris, Rn. 5.  BVerfGK 19, 377 (382).

Anspruch auf rechtliches Gehör im Verfahren nach § 495a ZPO

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rechtliches Gehör, wenn der nach § 495a Satz 2 ZPO erforderliche Antrag wirksam gestellt ist. Die verfassungsrechtliche Grenze bildet auch hier das unabdingbare Maß des rechtlichen Gehörs, das durch Auslegung und Anwendung einfachrechtlicher Vorschriften nicht verkürzt werden darf. Die einfachrechtliche Ausgestaltung des Verfahrensrechts und die Handhabung des gerichtlichen Verfahrens im Einzelfall müssen das rechtliche Gehör in effektiver Form gewährleisten.²⁶ Dementsprechend darf das Gericht das Antragsrecht der Verfahrensbeteiligten nicht durch seine Verfahrensgestaltung einschränken.²⁷ Beabsichtigt es, im Verfahren nach billigem Ermessen zu entscheiden, muss das Gericht die Verfahrensbeteiligten rechtzeitig vor seiner Entscheidung darauf hinweisen, um ihnen die Möglichkeit zu geben, einen Antrag auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu stellen.²⁸ Die vom Bundesverfassungsgericht bislang noch nicht entschiedene Frage, ob darüber hinaus ein ausdrücklicher Hinweis des Gerichts erforderlich ist, dass nach § 495a Satz 2 ZPO eine mündliche Verhandlung beantragt werden kann,²⁹ wird nach diesen Maßstäben nur im Einzelfall mit Blick auf die Verständnismöglichkeiten der Verfahrensbeteiligten beantwortet werden können.³⁰ Dementsprechend braucht das Gericht ohne besonderen Anlass nicht nachzufragen, ob die Verfahrensbeteiligten einen Antrag auf mündliche Verhandlung stellen wollen.³¹ Auch die Anforderungen an den Inhalt des Antrags sind verfassungsrechtlich nicht abschließend geklärt. Die Erklärung, der Verfahrensbeteiligte werde einer „Entscheidung nach Aktenlage“ nicht zustimmen, hat das Bundesverfassungsgericht ausreichen lassen, denn darin liege erkennbar ein Antrag auf eine mündliche Verhandlung.³² Demgegenüber soll einem Antrag auf Vernehmung eines Zeugen nicht zugleich der Antrag auf Durchführung einer

 BVerfGE 55, 1 (5 f.); 60, 305 (310); 74, 228 (233); 89, 28 (35).  BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 18. November 2011– 2 BvR 290/08 –, NJW-RR 2009, S. 562 (562 Rn. 10).  BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 4. August 1993 – 1 BvR 279/93 –, NJWRR 1994, S. 254 (255); Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 21. März 2006 – 2 BvR 1104/05 –, NJW-RR 2006, S. 2248 (2249 Rn. 17, 19); Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 18. November 2011 – 2 BvR 290/08 –, NJW-RR 2009, S. 562 (562 Rn. 10); vgl. auch BayVerfGH, Entscheidung vom 2. April 2008 – Vf. 90-VI-07 –, NJW-RR 2008, S. 1312 zu Art. 91 Abs. 1 BayVerf.  Verneinend BayVerfGH, Entscheidung vom 23. März 2011 – Vf. 108-VI-09 –, NJW-RR 2011, S. 1211 (1213) zu Art. 91 Abs. 1 BayVerf; ebenso Deppenkemper, in: MüKo-ZPO, 5. Aufl. 2016, § 495a Rn. 39; Fischer, MDR 1994, S. 978 (982); für eine unbedingte Hinweispflicht dagegen Reuschle, in: Wieczorek/Schütze, Zivilprozessordnung, 44. Aufl. 2014, § 495a Rn. 41.  Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, Zivilprozessordnung, 76. Aufl. 2018, § 495a Rn. 19.  Reuschle, in: Wieczorek/Schütze, Zivilprozessordnung, 44. Aufl. 2014, § 495a Rn. 39.  BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 2. März 2017 – 2 BvR 977/16 –, NJWRR 2017, S. 690 (691 Rn. 9).

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mündlichen Verhandlung zu entnehmen sein.³³ Nach diesen Maßstäben muss der Antrag zwar nicht ausdrücklich gestellt werden.³⁴ Das Vorbringen muss aber erkennen lassen, dass der Verfahrensbeteiligte unabhängig von der Verfahrensgestaltung des Gerichts eine mündliche Verhandlung wünscht, um dem Gericht tatsächliche oder rechtliche Gesichtspunkte vortragen zu können. Die Ansicht, allein in der Klagschrift formularmäßig enthaltene Anträge auf mündliche Verhandlung oder Ankündigungen, im Termin zur mündlichen Verhandlung Anträge zu stellen, mangels konkreten Bezugs zum Verfahren nicht genügen zu lassen,³⁵ dürfte nach diesen Maßstäben verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden sein.

2. Nach dem Maßstab des Art. 6 Abs. 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention Nach der Gesetzesbegründung soll das Antragsrecht in § 495a Satz 2 ZPO der Bestimmung des Art. 6 Abs. 1 der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten Rechnung tragen, nach der jedermann Anspruch darauf hat, dass seine Sache in billiger Weise vor Gericht öffentlich gehört wird.³⁶ Für das Bundesverfassungsgericht ist die Konvention allerdings grundsätzlich kein Prüfungsmaßstab. Ihr innerstaatlicher Rang entspricht dem eines Bundesgesetzes. Sie steht damit unter dem Grundgesetz. Ihre Verletzung kann ein Beschwerdeführer mit einer Verfassungsbeschwerde nicht unmittelbar rügen.³⁷ In ständiger Rechtsprechung geht das Bundesverfassungsgericht gleichwohl davon aus, dass die Gewährleistungen der Konvention verfassungsrechtliche Bedeutung besitzen, indem sie die Auslegung der Grundrechte und rechtsstaatlichen Grundsätze des Grundgesetzes beeinflussen. Der Text der Konvention und die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte dienen danach auf der Ebene des Verfassungsrechts als Auslegungshilfe für die Bestimmung von Inhalt und Reichweite von Grundrechten und

 BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 23. Juli 1998 – 1 BvR 2419/97 –, juris, Rn. 2.  Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, Zivilprozessordnung, 76. Aufl. 2018, § 495a Rn. 17; Reuschle, in: Wieczorek/Schütze, Zivilprozessordnung, 44. Aufl. 2014, § 495a Rn. 39; Thum, NJW 2014, S. 3198 (3199).  Deppenkemper, in: MüKo-ZPO, 5. Aufl. 2016, § 495a Rn. 40; Fischer, MDR 1994, S. 978 (982); Thum, NJW 2014, S. 3198 (3199).  BTDrucks. 11/4155, S. 11.  BVerfGE 74, 358 (370); 82, 106 (120); 111, 307 (316 f.); 128, 326 (366 f.).

Anspruch auf rechtliches Gehör im Verfahren nach § 495a ZPO

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rechtsstaatlichen Grundsätzen.³⁸ Dies rechtfertigt einen Blick auf das Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK zu entnehmende Recht einer Person, dass über Streitigkeiten in Bezug auf ihre zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen in einem fairen Verfahren öffentlich verhandelt wird. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte geht in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass der durch Art. 6 Abs. 1 EMRK gewährte Anspruch auf eine öffentliche Verhandlung notwendigerweise das Recht auf eine mündliche Verhandlung umfasst.³⁹ In der Konsequenz kommt damit der Mündlichkeit der Verhandlung eine über die Möglichkeit der Verfahrensbeteiligten, im Einzelfall dem Gericht ihr Anliegen mündlich vortragen zu können, hinausgehende Bedeutung zu. Denn die Öffentlichkeit der Verhandlung dient aus der Sicht des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte der Sicherung eines fairen Verfahrens. Sie verhindert, dass Gerichtsentscheidungen einer Kontrolle durch die Öffentlichkeit entzogen werden, was zugleich das Vertrauen der Bevölkerung in die Rechtsprechung sichert.⁴⁰ Dessen ungeachtet erkennt auch der Gerichtshof Ausnahmen vom Gebot der mündlichen Verhandlung an. Nationale Verfahrensvorschriften dürfen unter den Gesichtspunkten der Verfahrensbeschleunigung sowie der Effektivität und Wirtschaftlichkeit vorsehen, dass ohne mündliche Verhandlung entschieden werden darf.⁴¹ Darüber hinaus entnimmt der Gerichtshof weder dessen Wortlaut noch dessen Sinn und Zweck, dass Art. 6 Abs. 1 EMRK einen Verfahrensbeteiligten daran hindere, wirksam auf seinen Anspruch auf eine mündliche Verhandlung zu verzichten. Der Verzicht könne ausdrücklich oder durch schlüssiges Verhalten erklärt werden, müsse aber auf freiem Willen beruhen, eindeutig sein und dürfe gewichtigen öffentlichen Interessen nicht widersprechen.⁴² In Verfahren, die üblicherweise ohne mündliche Verhandlung entschieden werden, könne ein solcher eindeutiger Verzicht schlüssig darin gesehen werden, dass ein Verfah-

 BVerfGE 74, 358 (370); 83, 119 (128); 111, 307 (317); 120, 180 (200 f.); 128, 326 (367); BVerfGK 3, 4 (7 f.); 10, 66 (77 f.); 11, 153 (159 ff.); 12, 37 (40).  Ausdrücklich etwa EGMR, Urteil vom 19. Februar 1998 – 16970/90 –, Jacobsson ./. Schweden, Rn. 46; Urteil vom 12. September 2002 – 28394/95 –, Döry ./. Schweden, Rn. 37.  EGMR, Urteil vom 5. Juli 2005 – 48962/99 –, Exel ./. Tschechien, Rn. 45.  EGMR, Urteil vom 29. Oktober 1991 – 11274/84 –, Andersson ./. Schweden, Rn. 27; Urteil vom 5. Dezember 2002 – 28422/95 –, Hoppe ./. Deutschland, Rn. 63; vgl. auch Entscheidung vom 6. Dezember 2001 – 31178/96 –, Petersen ./. Deutschland.  EGMR, Urteil vom 21. Februar 1990 – 11855/85 –, Hakansson und Sturesson ./. Schweden, Rn. 66; Urteil vom 24. Juni 1993 – 14518/89 –, Schuler-Zgraggen ./. Schweiz, Rn. 58.

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rensbeteiligter keinen Antrag stelle und sich auch sonst nicht um eine mündliche Verhandlung bemühe.⁴³ Nach den Maßstäben des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte mag der Anspruch auf rechtliches Gehör aus Art. 6 Abs. 1 EMRK in Einzelfragen höhere Anforderungen als Art. 103 Abs. 1 GG an die Verfahrensgestaltung durch die Gerichte stellen. Das Bundesverfassungsgericht hat gleichwohl bislang bei der Beurteilung, ob das Unterbleiben einer einfachrechtlich gebotenen mündlichen Verhandlung den Anspruch eines Verfahrensbeteiligten auf rechtliches Gehör verletzt, nicht auf die Europäische Menschenrechtskonvention zurückgegriffen und auch nicht zurückgreifen müssen. Eine Gehörsverletzung liegt in diesen Fällen bereits nach den Maßstäben des Grundgesetzes vor, ohne dass Art. 6 Abs. 1 EMRK insoweit Anlass zu einer abweichenden Bewertung gibt.

III. Entscheidungserheblichkeit der Gehörsverletzung Im Verfahren über die Verfassungsbeschwerde kann eine Rüge der Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör grundsätzlich nur Erfolg haben, wenn die angegriffene gerichtliche Entscheidung auf der Verletzung des Art. 103 Abs. 1 GG beruht.⁴⁴ Die ständige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts fordert dafür, dass nicht ausgeschlossen werden kann, dass die Berücksichtigung des gehörswidrig übergangenen Gesichtspunkts das Gericht zu einer anderen Beurteilung des Sachverhalts oder in einem wesentlichen Punkt zu einer anderen Würdigung veranlasst oder im Ganzen zu einer anderen, dem Beschwerdeführer günstigeren Entscheidung geführt hätte.⁴⁵. Dies wirkt sich jedenfalls im Ergebnis als Vermutungsregel zugunsten des sich auf den Gehörsverstoß berufenden Verfahrensbeteiligten aus.⁴⁶ Anhand des in seiner Rechtsprechung entwickelten Maßstabs prüft das Bundesverfassungsgericht nicht das Beruhen, sondern, ob im Einzelfall Umstände vorliegen, die ein Beruhen ausgeschlossen erscheinen lassen. Faktisch beschränkt sich diese Prüfung darauf, ob das gehörswidrig unbeachtet gebliebene Vorbringen eines Verfahrensbeteiligten nach einfachem Recht

 EGMR, Urteil vom 21. Februar 1990 – 11855/85 –, Hakansson und Sturesson ./. Schweden, Rn. 67; Urteil vom 24. Juni 1993 – 14518/89 –, Schuler-Zgraggen ./. Schweiz, Rn. 58.  BVerfGE 7, 95 (99); 18, 147 (150); 28, 17 (19 f.); 86, 133 (147); 92, 158 (184 f.) 112, 185 (206).  BVerfGE 7, 95 (99); 7, 239 (241); 62, 392 (396); 89, 381 (392 f.); 112, 185 (206); BVerfGK 6, 334 (342).  Augsberg/Burkiczak, JA 2008, S. 59 (61).

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schlüssig oder erheblich und nach dem Prozessrecht des Ausgangsverfahrens zu beachten oder möglicherweise präkludiert gewesen ist.⁴⁷ Liegt der Gehörsverstoß darin, dass eine mündliche Verhandlung entgegen § 495a Satz 2 ZPO unterblieben ist, führt dies zu Problemen. Der vom Bundesverfassungsgericht entwickelte Prüfungsmaßstab setzt nämlich voraus, dass das gehörswidrig unbeachtet gebliebene Vorbringen ermittelt werden kann. Dementsprechend wären Feststellungen zum Ablauf einer hypothetischen mündlichen Verhandlung zu treffen, also zu ermitteln, was die Verfahrensbeteiligten in der Verhandlung vorgetragen hätten und wie das Gericht darauf reagiert hätte. Es kommt hinzu, dass nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts eine auf einen Gehörsverstoß gestützte Verfassungsbeschwerde nur dann ausreichend im Sinne von § 92 BVerfGG begründet ist, wenn dargelegt wird, was im Fall der Gewährung rechtlichen Gehörs vorgetragen worden wäre.⁴⁸ Die Kammern der beiden Senate des Bundesverfassungsgerichts haben jeweils Wege entwickelt, um der damit einhergehenden Gefahr zu begegnen, den sich auf eine Gehörsverletzung berufenden Verfahrensbeteiligten vor kaum überwindbare Darlegungsanforderungen zu stellen.

1. Feststellungen zum hypothetischen Verfahrensverlauf Die Kammerentscheidungen des Zweiten Senats prüfen anhand des jeweiligen Sachverhalts, ob die angegriffene Entscheidung auf der unterbliebenen mündlichen Verhandlung beruht. Sie legen dabei jedoch einen großzügigen Maßstab an. Danach beruht die angegriffene Entscheidung auf der unterbliebenen mündlichen Verhandlung, wenn in der Verfassungsbeschwerde Umstände dargelegt werden, aufgrund derer ersichtlich ist, dass eine mündliche Verhandlung zu einer Beweisaufnahme geführt hätte.⁴⁹ Entsprechendes gilt, wenn nach den Darlegungen in der Verfassungsbeschwerde naheliegt, dass das Amtsgericht die Verfahrensbeteiligten in der mündlichen Verhandlung nach § 141 Abs. 1 Satz 1 ZPO angehört hätte.⁵⁰ Die Kammern nehmen also eine auf die Darlegungen in der Verfassungsbeschwerde gegründete Prognose vor, welche weiteren Verfahrensschritte das Gericht im Ausgangsverfahren aufgrund einer mündlichen Verhandlung unternom-

 Augsberg/Burkiczak, JA 2008, S. 59 (61 f.).  BVerfGE 28, 17 (20); 66, 155 (175); 72, 122 (132).  BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 18. November 2008 – 2 BvR 290/08 –, NJW-RR 2009, S. 562 (562 f. Rn. 11).  BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 2. März 2017 – 2 BvR 977/16 –, NJWRR 2017, S. 690 (691 Rn. 10).

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men hätte. Zu welchem Ergebnis diese Schritte geführt hätten, prüfen sie nicht. Ob sich die Beweisaufnahme oder die Anhörung der Verfahrensbeteiligten inhaltlich auf die Entscheidung des Ausgangsverfahrens ausgewirkt hätte, bleibt danach für die Frage des Beruhens außer Betracht. Es genügt, dass eine weitere Sachverhaltsaufklärung vorzunehmen gewesen wäre, weil deren Ergebnis im Vorhinein in aller Regel nicht abzusehen ist. Darüber hinaus hat eine Kammer des Zweiten Senats sogar in einem Fall ein Beruhen angenommen, in dem das Amtsgericht zuvor dargelegt hatte, dass es durch das Vorbringen der Verfahrensbeteiligten in einer mündlichen Verhandlung nicht zu einer abweichenden Entscheidung bewogen worden wäre. Gleichwohl hat die Kammer angenommen, dass die amtsgerichtliche Entscheidung auf der unterbliebenen mündlichen Verhandlung beruht. Ihr erschien zumindest denkbar, dass der Kläger des Ausgangsverfahrens in einer mündlichen Verhandlung seine Klage erweitert und dann, gegebenenfalls nach Verweisung des Rechtsstreits an ein anderes Gericht, obsiegt hätte.⁵¹ Sowohl die Möglichkeit einer Verweisung des Rechtsstreits als auch eine mögliche Klageerweiterung hatte das Amtsgericht im Ausgangsverfahren jedoch in seiner Entscheidung über die nach § 321a Abs. 1 Satz 1 ZPO eingelegte Anhörungsrüge ausdrücklich verneint.⁵² Eine am Verfahrensverlauf orientierte Prognose hätte also gerade nicht zu einer anderen Entscheidung geführt. Damit genügte letztlich die abstrakte Möglichkeit, dass das Gericht im Ausgangsrechtsstreit nach mündlicher Verhandlung abweichend entschieden hätte, um ein Beruhen der Entscheidung auf der unterbliebenen mündlichen Verhandlung anzunehmen. Eine solche Möglichkeit wird aber nur in wenigen Fällen zu verneinen sein.

2. Vermutung des Beruhens Kammerentscheidungen des Ersten Senats begründen demgegenüber das Beruhen unabhängig von Feststellungen zum hypothetischen Verfahrensverlauf. Sie gehen stattdessen davon aus, dass bei gehörswidrigem Unterbleiben einer einfachrechtlich zwingend gebotenen mündlichen Verhandlung vermutet wird, dass die Entscheidung auf dem Gehörsverstoß beruht.⁵³

 BVerfGK 19, 377 (383).  BVerfGK 19, 377 (380).  BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 25. Juni 2015 – 1 BvR 367/15 –, juris, Rn. 9; Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 25. Juni 2015 – 1 BvR 366/15 –, NJW 2015, S. 3779 (3779 Rn. 9); vgl. auch: BSG, Beschluss vom 26. Juni 2007 – B 2 U 55/07 B –, juris, Rn. 7;

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In solchen Fällen könne in aller Regel nicht ausgeschlossen werden, dass bei Durchführung der Verhandlung eine andere Entscheidung ergangen wäre. Feststellungen dazu, was die Verfahrensbeteiligten in der mündlichen Verhandlung vorgetragen hätten, hält die Kammer für entbehrlich. Die mündliche Verhandlung habe grundsätzlich den gesamten Streitstoff in prozessrechtlicher und materiellrechtlicher Hinsicht zum Gegenstand. Sie könne in Abhängigkeit von der Lage des Verfahrens, vom Verhalten der Gegenseite und von Hinweisen des Gerichts zu weiterem Sachvortrag, Beweisanträgen und Prozesserklärungen führen, ohne dass dies im Einzelnen sicher vorhersehbar wäre.⁵⁴ Daraus leitet die Kammer eine Beruhensvermutung ab, die lediglich im Einzelfall entkräftet werden könne. Für Ausführungen dazu, welche Anforderungen an ein Widerlegen der Vermutung zu stellen sind, boten die Sachverhalte der Kammerentscheidungen des Ersten Senats bislang keine Veranlassung. Diese hatten lediglich die vom Gericht des Ausgangsverfahrens gegebene Begründung zu prüfen, die sich auf den pauschalen Hinweis beschränkte, eine mündliche Verhandlung habe an der Sachentscheidung letzten Endes nichts ändern können. Es versteht sich, dass diese Begründung die Vermutung nicht entkräften kann.⁵⁵ Für die Entscheidung von Fällen, in denen sich das Gericht des Ausgangsrechtsstreits eingehender mit möglichem Vorbringen der Verfahrensbeteiligten in einer mündlichen Verhandlung auseinandersetzt, wird auf die für die Beruhensvermutung gegebene Begründung zurückzugreifen sein. Ist das Ergebnis einer mündlichen Verhandlung im Einzelnen nicht vorhersehbar, weil die Verhandlung grundsätzlich den gesamten Streitstoff in prozessrechtlicher und materiell-rechtlicher Hinsicht zum Gegenstand hat, kann die Vermutung nicht mit der Unschlüssigkeit oder Unerheblichkeit etwa zu erwartenden Tatsachenvortrags, dessen fehlender Substanz oder einem fehlenden Beweisangebot entkräftet werden.⁵⁶ In Betracht kommt allenfalls, dass etwaiges Vorbringen in der mündlichen Verhandlung aus Gründen des Verfahrensrechts, etwa wegen Verspätung

VerfGH Berlin, Beschluss vom 23. Januar 2013 – 9/12-, WuM 2013, S. 288 (290); ebenso Barczak, in: Barczak, Mitarbeiterkommentar zum BVerfGG, 2018, § 92 Rn. 73.  BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 25. Juni 2015 – 1 BvR 367/15 –, juris, Rn. 9; Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 25. Juni 2015 – 1 BvR 366/15 –, NJW 2015, S. 3779 (3779 Rn. 9); vgl. auch BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 8. Juni 2018 – 1 BvR 701/17 –, juris, Rn. 9; Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 13. Juni 2018 – 1 BvR 1040/17 –, juris, Rn. 10.  BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 25. Juni 2015 – 1 BvR 367/15 –, juris, Rn. 9; Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 25. Juni 2015 – 1 BvR 366/15 –, NJW 2015, S. 3779 (3779 Rn. 9).  So im Ergebnis auch BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 13. Juni 2018 – 1 BvR 1040/17 –, juris, Rn. 11.

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nach § 296 Abs. 1 ZPO,⁵⁷ ausnahmsweise von vorneherein unberücksichtigt bleiben muss. Um dies beurteilen zu können, muss das Gericht aber den Inhalt des möglicherweise verspäteten Vorbringens kennen.⁵⁸ Dieser hängt wiederum vom hypothetischen Ablauf der mündlichen Verhandlung ab, den das Gericht in aller Regel nicht vorhersehen kann. Letztlich dürfte die Beruhensvermutung auch mit Blick auf eine Zurückweisung von Vorbringen wegen Verspätung nur in wenigen Fällen widerlegt werden können. Im Übrigen liegt die Annahme, dass Ablauf und Ergebnis einer mündlichen Verhandlung angesichts ihrer Unwägbarkeiten kaum sicher zu prognostizieren sind, ersichtlich sowohl der von der Kammerrechtsprechung des Ersten Senats entwickelten Beruhensvermutung, als auch dem weit gehaltenen Prüfungsmaßstab in der Kammerrechtsprechung des Zweiten Senats zugrunde. Wenngleich im Ausgangspunkt verschieden, nähert sich die Kammerrechtsprechung beider Senate damit im Ergebnis stark an.⁵⁹ Dem entspricht es, dass die beiden jüngsten Kammerentscheidungen des Ersten Senats⁶⁰ den Vortrag der Verfahrensbeteiligten, den diese ihren Angaben nach in einer mündlichen Verhandlung gehalten hätten, auf seine Entscheidungserheblichkeit prüfen, ohne dabei deutlich zu machen, ob sie die Voraussetzungen des Beruhens oder die Entkräftung eines vermuteten Beruhens im Blick haben.

3. Subjektstellung des Verfahrensbeteiligten Nach der soeben dargestellten Kammerrechtsprechung beider Senate beschränkt sich die Prüfung der Entscheidungserheblichkeit einer gehörswidrig unterbliebenen mündlichen Verhandlung auf eine Ergebniskontrolle anhand des hypothetischen Verfahrensverlaufs. Der Anspruch auf rechtliches Gehör soll aber nicht allein der Gewährleistung sachlich richtiger Entscheidungen durch ein rechtsstaatliches Verfahren dienen. Er sichert darüber hinaus, dass der Einzelne nicht

 BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 8. Juni 2018 – 1 BvR 701/17 –, juris, Rn. 10; Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom13. Juni 2018 – 1 BvR 1040/17–, juris, Rn. 11.  Zu § 296 Abs. 1 ZPO vgl. BGH, Urteil vom 3. Juli 2012 – VI ZR 120/11 –, NJW 2012, S. 2808 (2809 Rn. 11); Thole, in: Stein/Jonas, Zivilprozessordnung, 23. Aufl. 2018, § 296 Rn. 46 f.; Weth, in: Wieczorek/Schütze, Zivilprozessordnung, 4. Aufl. 2013, § 296 Rn. 100.  In diesem Sinne auch VerfGH Berlin, Beschluss vom 23. Januar 2013 – 9/12 –,WuM 2013, S. 288 (290).  BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 8. Juni 2018 – 1 BvR 701/17 –, juris, Rn. 10; Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 13. Juni 2018 – 1 BvR 1040/17–, juris, Rn. 11.

Anspruch auf rechtliches Gehör im Verfahren nach § 495a ZPO

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lediglich Objekt richterlicher Entscheidung ist,⁶¹ sondern vor einer Entscheidung, die seine Rechte betrifft, zu Wort kommen kann, um als Subjekt Einfluss auf das Verfahren und sein Ergebnis nehmen zu können.⁶² Auch der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Entscheidungserheblichkeit eines Gehörsverstoßes ist dieser Gedanke nicht fremd.⁶³ Zwar ist er bei Unterbleiben einer mündlichen Verhandlung im Zivilverfahren, soweit ersichtlich, noch nicht herangezogen worden. Im Strafvollstreckungsverfahren verletzt ein Gericht aber nach ständiger Kammerrechtsprechung des Zweiten Senats den Anspruch auf rechtliches Gehör, wenn es dem Verurteilten, bevor es eine für ihn ungünstige Entscheidung trifft, keine Gelegenheit gibt, zu einer von der Justizvollzugsanstalt, der Staatsanwaltschaft oder dem zuständigen Fachministerium im Verfahren vorgelegten Stellungnahme seinerseits Stellung zu nehmen. Gerade weil der Anspruch auf rechtliches Gehör über die Gewährleistung einer sachlich richtigen Entscheidung hinaus auch der Wahrung der Subjektstellung der Beteiligten im gerichtlichen Verfahren dienen soll, bestehe der Anspruch auf Kenntnisnahme unabhängig davon, ob unter den gegebenen Umständen von der Möglichkeit auszugehen ist, dass eine etwaige Äußerung Einfluss auf das Entscheidungsergebnis gewinnt oder nicht.⁶⁴ Ergänzend blicken die Kammerentscheidungen für ihre Auffassung auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Art. 6 Abs. 1 EMRK.⁶⁵ Dieser misst in Fällen, in denen ein nationales Gericht für seine Entscheidung ein Dokument heranzieht, ohne dieses zuvor den Verfahrensbeteiligten zur Kenntnis zu geben, der Frage der Entscheidungserheblichkeit dieses Verstoßes keine wesentliche Bedeutung zu.⁶⁶ Art. 6 Abs. 1 EMRK soll nach seinem

 BVerfGE 7, 275 (278 f.); 9, 89 (95); 84, 188 (190).  BVerfGE 107, 395 (409).  Vgl. BVerfGE 55, 1 (5 f.).  BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 2. März 2011 – 2 BvR 43/10 u.w. –, juris, Rn. 2; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 21. März 2011 – 2 BvR 301/11 –, juris, Rn. 2; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 6. Juni 2011 – 2 BvR 2076/08 –, juris, Rn. 3; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 24. Juli 2014 – 2 BvR 1489/14 –, juris, Rn. 2; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 22. Oktober 2015 –, juris, Rn. 5 ff.  BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 2. März 2011 – 2 BvR 43/10 u.w.–, juris, Rn. 2; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 21. März 2011 – 2 BvR 301/11 –, juris, Rn. 2; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 6. Juni 2011 – 2 BvR 2076/08 –, juris, Rn. 3; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 24. Juli 2014 – 2 BvR 1489/14 –, juris, Rn. 2.  EGMR, Urteil vom 18. Februar 1997– 18990/91 –, Nideröst-Huber ./. Schweiz, Rn. 27; Urteil vom 28. September 2001 – 37292/97 –, F.R. ./. Schweiz, Rn. 37; vom 21. Februar 2002 – 33499/96 –, Ziegler ./. Schweiz, Rn. 38; Urteil vom 19. Mai 2005 – 63151/00 –, Steck-Risch u. a. ./. Liechtenstein, Rn. 57; Urteil vom 18. Oktober 2007 – 12316/04 –, Asnar ./. Frankreich, Rn. 24.

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Verständnis, auch im Zivilrecht,⁶⁷ das Vertrauen der Verfahrensbeteiligten in die Funktionsfähigkeit der Justiz schützen. Dieses Vertrauen werde nach Ansicht des Gerichtshofs auch dadurch gewährleistet, dass den Verfahrensbeteiligten die Möglichkeit offenstehe, zu jedem im Verfahren vorgelegten Dokument vor einer Entscheidung Stellung zu nehmen.⁶⁸ Es müsse hinter dem Interesse an einer Beschleunigung des Verfahrens nicht zurückstehen.⁶⁹ Im Licht dieser Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte beurteilt die Kammerrechtsprechung im Strafvollstreckungsverfahren auch die Entscheidungserheblichkeit eines Gehörsverstoßes nach Art. 103 Abs. 1 GG. Danach muss nicht festgestellt werden, ob eine angegriffene Entscheidung auf dem Gehörsverstoß beruht, soweit der Anspruch auf rechtliches Gehör in seiner Funktion als Grundlage für das Vertrauen der Verfahrensbeteiligten in die Arbeit der Justiz betroffen ist.⁷⁰ Im Anwendungsbereich dieser Kammerrechtsprechung scheint damit das Erfordernis der Entscheidungserheblichkeit eines Gehörsverstoßes aufgegeben.⁷¹ Das ist nicht ohne Kritik geblieben. Der Kammerrechtsprechung ist eine weder nach den Maßstäben des Grundgesetzes noch aufgrund der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschrechte zu Art. 6 Abs. 1 EMRK notwendige Veränderung der Sichtweise auf Art. 103 Abs. 1 GG vorgeworfen worden.⁷² Ob dieser Vorwurf zutrifft, kann für die Frage, unter welchen Voraussetzungen eine Entscheidung auf einer gehörswidrig unterbliebenen mündlichen Verhandlung beruht, offenbleiben. Zu fragen ist stattdessen, ob der Anspruch auf rechtliches Gehör über die Möglichkeit der inhaltlichen Einflussnahme auf das Verfahren hinaus gerade auch Anforderungen an die Art und Weise der Einflussnahmemöglichkeit stellt. Ist mit anderen Worten im Zivilverfahren die Möglichkeit, sein Anliegen dem Gericht in einer Verhandlung mündlich vorzutragen,

 EGMR, Urteil vom 18. Februar 1997– 18990/91 –, Nideröst-Huber ./. Schweiz, Rn. 28; Urteil vom 18. Oktober 2007 – 12316/04 –, Asnar ./. Frankreich, Rn. 24.  EGMR, Urteil vom 18. Februar 1997– 18990/91 –, Nideröst-Huber ./. Schweiz, Rn. 29; Urteil vom 28. September 2001 – 37292/97–, F.R. ./. Schweiz, Rn. 39; Urteil vom 21. Februar 2002 – 33499/96 –, Ziegler ./. Schweiz, Rn. 38; Urteil vom 19. Mai 2005 – 63151/00 –, Steck-Risch u. a. ./. Liechtenstein, Rn. 57; Urteil vom 3. Juli 2008 – 20728/05 –, Vokoun ./. Tschechien, Rn. 25; Urteil vom 18. Oktober 2007 – 12316/04 –, Asnar ./. Frankreich, Rn. 25.  EGMR, Urteil vom 18. Februar 1997– 18990/91 –, Nideröst-Huber ./. Schweiz, Rn. 30; Urteil vom 28. September 2001 – 37292/97–, F.R. ./. Schweiz, Rn. 40; Urteil vom 21. Februar 2002 – 33499/96 –, Ziegler ./. Schweiz, Rn. 39.  BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 6. Juni 2011 – 2 BvR 2076/08 –, juris, Rn. 3.  Zuck, NVwZ 2012, S. 479 (480).  Zuck, NVwZ 2012, S. 479 (480).

Anspruch auf rechtliches Gehör im Verfahren nach § 495a ZPO

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Grundlage für das Vertrauen der Verfahrensbeteiligten in die Arbeit der Justiz? Dafür spricht einiges. Die mündliche Verhandlung bildet nach § 128 Abs. 1 ZPO einen wesentlichen Abschnitt des Zivilverfahrens. Gemäß § 495a Satz 2 ZPO ist ihre Durchführung als einziges der Verfahrensgestaltung des Gerichts nach billigem Ermessen entzogen. Hinzu kommen praktische Gesichtspunkte. Erfahrungsgemäß kommt mündlichem Vorbringen eine andere Überzeugungskraft zu als schriftsätzlichem Vortrag. In Verfahren, die in den Anwendungsbereich des § 495a ZPO fallen, liegt zudem aufgrund der geringen Streitwerthöhe eine Vertretung durch einen Rechtsanwalt nicht nahe. Den anwaltlich nicht vertretenen, häufig gerichtsunerfahrenen Parteien bleibt damit regelmäßig allein die mündliche Verhandlung, um ihr Anliegen dem Gericht sachgerecht vorzutragen und damit bei diesem substantiell anzukommen und wirklich gehört zu werden.⁷³ Auf dieser Grundlage ist eine gehörswidrig ohne mündliche Verhandlung ergangene Entscheidung unabhängig davon aufzuheben, was die Verfahrensbeteiligten in einer Verhandlung vorgetragen hätten und wie diese Verhandlung verlaufen wäre. Das Erfordernis der Entscheidungserheblichkeit des Gehörsverstoßes muss dafür nicht aufgegeben werden.Vielmehr beruht die Entscheidung bereits deswegen auf dem Gehörsverstoß, weil die Verfahrensbeteiligten mit ihrem Vorbringen zwar möglicherweise inhaltlich, aber nicht in der durch § 495a Satz 2 ZPO vorgeschriebenen Weise bei Gericht angekommen sind.

4. Darlegung in der Verfassungsbeschwerde Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist eine Verfassungsbeschwerde innerhalb der Monatsfrist des § 93 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG nicht nur einzulegen, sondern auch zu begründen.⁷⁴ Eine ordnungsgemäße Begründung umfasst Darlegungen dazu, dass die angegriffene Entscheidung auf dem Gehörsverstoß beruht.⁷⁵ Ausgehend von den vorstehend dargestellten unterschiedlichen Prüfungsmaßstäben der Entscheidungserheblichkeit ergeben sich jeweils voneinander abweichende Anforderungen an die Beschwerdebegründung. Die Prüfung anhand des hypothetischen Ablaufs der mündlichen Verhandlung setzt grundsätzlich entsprechende Angaben dazu voraus, was der die mündliche Verhandlung beantragende Verfahrensbeteiligte ergänzend vorgetra-

 Vgl. BVerfGE 107, 395 (409).  BVerfGE 21, 359 (361); 107, 395 (402).  BVerfGE 28, 17 (20); 72, 122 (132).

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gen, welche Beweisanträge er gestellt und welche Prozesserklärungen er abgegeben hätte. Zu berücksichtigen ist jedoch der in der Kammerrechtsprechung des Zweiten Senats entwickelte großzügige Prüfungsmaßstab. Danach muss es für eine ordnungsgemäße Begründung genügen, dass die Verfassungsbeschwerde jedenfalls die Möglichkeit erkennen lässt, dass das Gericht das Ergebnis der unterbliebenen mündlichen Verhandlung im Hinblick auf weiteren Sachvortrag der Parteien, Beweisanträge oder Prozesserklärungen im Einzelfall nicht sicher vorhersehen kann. Unter der Annahme einer Vermutung des Beruhens sind substantiierte Darlegungen dazu, welcher entscheidungserhebliche Vortrag durch die unterbliebene mündliche Verhandlung abgeschnitten worden ist, entbehrlich.⁷⁶ Bislang nicht entschieden ist, inwieweit der Beschwerdeführer darzulegen hat, dass die Vermutung nicht widerlegt ist. Entsprechende Darlegungen dürften ihm indessen richtigerweise nicht abzuverlangen sein. Soll die Vermutung die Beschwerdeführer von substantiierten Darlegungen zum Beruhen entlasten, wäre es widersprüchlich, stattdessen Darlegungen zur fehlenden Widerlegung der Beruhensvermutung zu verlangen. Ebenfalls noch nicht entschieden ist, welche Auswirkungen eine auf die Subjektstellung des Beschwerdeführers gestützte Entscheidungserheblichkeit des Gehörsverstoßes auf die Anforderungen an deren Darlegung in der Verfassungsbeschwerde hat. Beruht eine Entscheidung unabhängig von etwaigem Vorbringen der Verfahrensbeteiligten schon deswegen auf dem Gehörsverstoß, weil die verfahrensrechtlich gebotene mündliche Verhandlung nicht stattgefunden hat, müssen aber folgerichtig darüberhinausgehende Darlegungen zum Beruhen entbehrlich sein.

IV. Heilung des Gehörsverstoßes Soll ein Gehörsverstoß mit der Verfassungsbeschwerde gerügt werden, gehört zum Rechtsweg, der gemäß § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG vor Erhebung der Verfassungsbeschwerde zu erschöpfen ist, die Anhörungsrüge nach § 321a Abs. 1 Satz 1 ZPO.⁷⁷ Das Anhörungsrügeverfahren eröffnet dem Gericht die Möglichkeit, einen begangenen Gehörsverstoß zu heilen.⁷⁸

 BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 25. Juni 2015 – 1 BvR 366/15 –, NJW 2015, S. 3779 (3779 Rn. 5); Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 25. Juni 2015 – 1 BvR 367/15 –, juris, 9.  BVerfGE 122, 190 (198); BVerfGK 5, 337 (338).

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Dafür reicht es grundsätzlich aus, dass das Gericht den gehörswidrig übergangenen Vortrag, soweit dieser mit der Anhörungsrüge dargelegt wird, zur Kenntnis nimmt und in seine Erwägungen betreffend die Entscheidung über die Anhörungsrüge einbezieht.⁷⁹ Will es dagegen den gehörswidrig als übergangen gerügten Vortrag aus Gründen des Verfahrensrechts unbeachtet lassen, läuft es Gefahr, dass seine Entscheidung über die Anhörungsrüge ihrerseits gehörswidrig ergeht. Zwar steht eine unzutreffende Anwendung des einfachen Rechts allein einer Heilung grundsätzlich nicht entgegen.⁸⁰ Insbesondere die Anwendung der Vorschriften über den Ausschluss verspäteten Vorbringens, auf die sich die Amtsgerichte häufig berufen, sind aber wegen der einschneidenden Folgen für die Verfahrensbeteiligten einer strengeren verfassungsgerichtlichen Kontrolle zu unterziehen als dies üblicherweise bei der Anwendung einfachen Rechts geschieht.⁸¹ Danach führt es bereits zu einem Verfassungsverstoß, wenn das Gericht im Ausgangsfall die einfachrechtlichen Bestimmungen unzutreffend anwendet, den Gründen der Entscheidung oder den übrigen Umständen des Falls aber nicht zu entnehmen ist, ob dies mit verfassungsrechtlichen Anforderungen vereinbar ist.⁸² Wird der Gehörsverstoß im Anhörungsrügeverfahren solcherart vertieft, scheidet eine Heilung aus. Dass das Gericht des Ausgangsverfahrens lediglich den übergangenen Vortrag zur Kenntnis nimmt und in seine Erwägungen einbezieht, reicht zudem nicht in jedem Fall, um den Gehörsverstoß zu heilen. Rügt der Verfahrensbeteiligte etwa, dass in der gehörswidrig unterbliebenen mündlichen Verhandlung eine Anhörung der Beteiligten oder eine Beweisaufnahme durchzuführen gewesen sei, und kann die danach geforderte weitere Aufklärung des Sachverhalts in mündlicher Verhandlung nicht aus Gründen des Verfahrensrechts unterbleiben, muss für eine Heilung des Gehörsverstoßes die Verhandlung im Rahmen der Entscheidung über die Anhörungsrüge nachgeholt werden. Unter der Annahme, dass die Durchführung einer nach § 495a Satz 2 ZPO gebotenen mündlichen Verhandlung den Anspruch auf rechtliches Gehör in sei BVerfGE 107, 395 (411 f.); BVerfGK 15, 116 (120); BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 19. Dezember 2016 – 2 BvR 1997/15 –, juris, Rn. 21.  BVerfGK 15, 116 (120); BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 24. Februar 2009 – 1 BvR 182/09 –, juris, Rn. 27; Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 7. Oktober 2009 – 1 BvR 178/09 –, juris, Rn. 10.  BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 7. Oktober 2009 – 1 BvR 178/09 –, juris, Rn. 10; Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 29. Juli 2016 – 1 BvR 1225/15 –, juris, Rn. 12.  BVerfGE 75, 302 (312); BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 23. Juni 2000 – 1 BvR 990/99 –, juris, Rn. 14.  BVerfGE 81, 97 (106).

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ner Funktion als Grundlage für das Vertrauen der Verfahrensbeteiligten in die Arbeit der Justiz berührt, rechtliches Gehör demgemäß auch im Zivilverfahren gerade durch die mündliche Darlegung des eigenen Rechtsstandpunkts gegenüber dem Gericht gewährt wird, kann eine allein auf schriftlichem Vorbringen beruhende Entscheidung im Anhörungsrügeverfahren den Gehörsverstoß von vorneherein nicht heilen. Erforderlich ist stattdessen ebenfalls, dass das Gericht den Gehörsverstoß heilt, indem es die mündliche Verhandlung im Rahmen seiner Entscheidung über die Anhörungsrüge nachholt.

V. Zusammenfassung Übersieht ein Amtsgericht im Verfahren nach billigem Ermessen den gemäß § 495a Satz 2 ZPO gestellten Antrag und entscheidet ohne mündliche Verhandlung, liegt darin eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör. Dieser Verstoß ist jedoch im Verfahren über die Anhörungsrüge nach § 321a Abs. 1 Satz 1 ZPO heilbar. Dabei sollte aber von der Möglichkeit, die Entscheidung allein auf schriftliches Vorbringen der Verfahrensbeteiligten zu stützen, nur zurückhaltend Gebrauch gemacht werden. Prognosen über den hypothetischen Verlauf einer mündlichen Verhandlung sind notwendigerweise mit erheblichen Unsicherheiten belastet. In aller Regel kann daher ein Beruhen der Entscheidung auf der unterbliebenen mündlichen Verhandlung nicht auf die fehlende Entscheidungserheblichkeit des Parteivorbringens gestützt werden. Entsprechendes gilt für Versuche, etwaigen neuen Vortrag der Parteien unter Rückgriff auf § 296 Abs. 1 ZPO als verspätet zurückzuweisen, da die Voraussetzungen hierfür häufig bereits nach einfachem Recht nicht erfüllt sind. Abgesehen von eindeutigen Fällen fehlender Entscheidungserheblichkeit neuen Vorbringens, die allerdings die Ausnahme bleiben dürften, sollten die Gerichte daher die versehentlich unterbliebene mündliche Verhandlung im Verfahren der Anhörungsrüge nachholen. Dem der Verfahrensvereinfachung nach § 495a ZPO zugrundeliegenden Beschleunigungs- und Effizienzgedanken widerspricht dies nicht. Eine im Anschluss gegebenenfalls erforderliche Beweisaufnahme hätte das Gericht bei ordnungsgemäßer Berücksichtigung des Antrags auf mündliche Verhandlung ohnehin durchführen müssen. Demgegenüber ermöglicht eine im Verfahren über die Anhörungsrüge nachgeholte mündliche Verhandlung den Parteien, ihr Anliegen dem Gericht in einem angemessenen Rahmen vortragen zu können. Dies trägt der Bedeutung der mündlichen Verhandlung im Zivilverfahren Rechnung und verhindert, dass das

Anspruch auf rechtliches Gehör im Verfahren nach § 495a ZPO

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Verfahren nach billigem Ermessen gemäß § 495a ZPO auch mit Blick auf die Gewährung rechtlichen Gehörs zu einem Zivilverfahren zweiter Klasse⁸³ wird.

 Vgl. LG München I, Beschluss vom 20. Februar 2001 – 15 T 2842/01 –, NJW-RR 2002, S. 425 (426).

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Die Anforderungen aus Art. 19 Abs. 4 GG an den sozialgerichtlichen einstweiligen Rechtsschutz Leitentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (Senat)

BVerfGE 46, 166 – Vorläufiger Rechtsschutz nach dem SGG BVerfGE 79, 69 – Eidespflicht BVerfGE 93, 1 – Kruzifix BVerfGE 126, 1 – Lehrfreiheit für Fachhochschullehrer

Wichtige Kammerentscheidungen BVerfGK 5, 237 – Grundsicherung BVerfGK 15, 133 – Elektrorollstuhl BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 6. August 2014 – 1 BvR 1453/12 –, SGb 2015, 175 BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 27. Juli 2016 – 1 BvR 1241/16 –, NZS 2016, 863 BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 12. September 2016 – 1 BvR 1630/16 –, juris BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 1. August 2017 – 1 BvR 1910/12 –, NJW 2017, 3142

Schrifttum (Auswahl) Breitkreuz, Verfassungsrechtliche Vorgaben für das sozialgerichtliche Verfahren, SRa 2009, S. 124 ff.; Burkiczak, BVerfG stellt klar: Summarische Prüfung auch im Eilverfahren wegen Grundsicherungsleistungen zulässig, SGb 2015, S. 151 ff.; Hannappel, Umfang und Grenzen summarischer Prüfung im sozialgerichtlichen Verfahren, SGb 2008, S. 85 ff.; Hölzer, Der einstweilige gerichtliche Rechtsschutz bei Streitigkeiten nach dem SGB II – Bilanz und Perspektiven der sozialgerichtlichen Rechtsprechung, info also 2010, S. 99 ff.; Krodel, Maßstab der Eilentscheidung und Existenzsicherung, NZS 2006, S. 637 ff.; ders./ Feldbaum, Das sozialgerichtliche Eilverfahren, 4. Aufl. 2017; Schoch, Gerichtliche Verwaltungskontrollen, in: Hoffmann-Riem/ Schmidt-Aßmann/ Voßkuhle, Grundlagen des Verwaltungsrechts (GVwR), Bd. III, 2. Aufl. 2013, § 50; Windthorst, Der verwaltungsgerichtliche einstweilige Rechtsschutz. Zugleich eine Untersuchung des Erkenntnis- und Steuerungspotenzials der Rechtsdogmatik, 2009.

https://doi.org/10.1515/9783110599916-019

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Inhalt I. Einführung und Hintergründe 488 II. Die jüngere Kammerrechtsprechung im Überblick 491 . Zum Verhältnis der Maßstäbe der Folgenabwägung und der Erfolgsaussichten in der Hauptsache 491 . Anforderungen an die Prüfung des Anordnungsanspruchs am Maßstab der 494 Erfolgsaussichten in der Hauptsache . Anforderungen an die Prüfung des Anordnungsgrundes 496 . Das Problem der Vereinbarkeit der einfachgesetzlichen Rechtslage mit höherrangigem 498 Recht III. Die Interpretation der Kammerrechtsprechung durch Wissenschaft und Praxis: Zur These der Folgenabwägung als „Ultima Ratio“ 500 IV. Fazit 507

I. Einführung und Hintergründe Die Ausdifferenzierung der Anforderungen aus Art. 19 Abs. 4 GG an die Auslegung und Anwendung der Vorschriften über den sozialgerichtlichen einstweiligen Rechtsschutz, wie sie aus dem Stand der bundesverfassungsgerichtlichen Kammerrechtsprechung abgeleitet und diskutiert¹ wird, erklärt sich nicht von selbst. Liegt doch die Bedeutung des Art. 19 Abs. 4 GG vornehmlich darin, dass „er die ‚Selbstherrlichkeit‘ der vollziehenden Gewalt im Verhältnis zum Bürger beseitigt“.² Die Anforderungen an die Prozessrechtsanwendung durch die Dritte Gewalt beim einstweiligen Rechtsschutz resultieren aber nicht in erster Linie aus der damit angesprochenen Kontrollfunktion der öffentlich-rechtlichen Fachgerichtsbarkeiten, sondern vor allem aus dem Effektivitätspostulat: Der aus Art. 19 Abs. 4 GG folgenden Anspruch umfasst eine tatsächlich wirksame gerichtliche Kontrolle, d. h. effektiven, nicht nur formalen Rechtsschutz.³ Die Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes verlangt grundsätzlich die Möglichkeit eines Eilverfahrens, wenn ansonsten dem Betroffenen eine erhebliche, über Randbereiche hinausgehende Verletzung seiner Rechte droht, die durch die Entscheidung in der Hauptsache

 An der Diskussion beteiligten sich bereits in der Vergangenheit einige ehemalige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Bundesverfassungsgerichts. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit: Bernsdorff, SGb 2001, S. 465, Bittner, SGb 2016, S. 399; Breitkreuz, SRa 2009, S. 141; Burkiczak, SGb 2015, S. 151; ders. NZS 2017, S. 75; ders. in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, (Stand 22. Mai 2018), § 86b; Hannappel, SGb 2008, S. 85; Hölzer, info also 2010, S. 99.  So die vielzitierte Passage in BVerfGE 10, 264 (267).  BVerfGE 35, 263 (274); die Gegenüberstellung von nicht nur formal und effektiv findet sich erstmals in BVerfGE 35, 382 (385) bereits im Kontext des einstweiligen Rechtsschutzes.

Verfassungsrechtliche Anforderungen an den sozialgerichtlichen Rechtsschutz

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nicht mehr beseitigt werden kann.⁴ Die Entscheidungen dürfen sowohl auf eine Folgenabwägung wie auch auf eine summarische Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache gestützt werden; hierbei ist dem Gewicht der in Frage stehenden und gegebenenfalls miteinander abzuwägenden Grundrechte Rechnung zu tragen, um eine etwaige Verletzung von Grundrechten nach Möglichkeit zu verhindern.⁵ Droht danach einem Antragsteller bei Versagung des einstweiligen Rechtsschutzes eine erhebliche, über Randbereiche hinausgehende Verletzung in seinen Grundrechten, die durch eine der Klage stattgebende Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr beseitigt werden kann, so ist – erforderlichenfalls unter eingehender tatsächlicher und rechtlicher Prüfung des im Hauptsacheverfahren geltend gemachten Anspruchs – einstweiliger Rechtsschutz zu gewähren, es sei denn, dass ausnahmsweise überwiegende, besonders gewichtige Gründe entgegenstehen.⁶ Hieraus ergeben sich für die Fachgerichte Anforderungen an die Auslegung und Anwendung der jeweiligen Normen über den Eilrechtsschutz.⁷ Nun kommt hinzu, dass die im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes geltend gemachten sozialrechtlichen Leistungsansprüche ihrerseits häufig grundrechtlich fundiert sind, so der Anspruch auf Arbeitslosengeld II, Sozialhilfe und Asylbewerberleistungen in Art. 1 Abs. 1 GG i.V. m. Art. 20 Abs. 1 GG⁸ sowie der Anspruch auf die Behandlung lebensbedrohlicher oder regelmäßig tödlicher Erkrankungen mit vom regulären Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung nicht umfassten Methoden in Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip und Art. 2 Abs. 2 GG.⁹ Die Betonung der Effektivität des Rechtsschutzgebots durch das Bundesverfassungsgericht ist auf Kritik gestoßen.¹⁰ Für die hier behandelte Materie sind zwei Aspekte bedeutsam: Erstens führe das Effektivitätsgebot aufgrund seiner Konstruktion aus dem Bürger-Staat-Verhältnis heraus zu einer Hypostasierung der Position des Rechtsschutzsuchenden auf Kosten der anderen Prozessbeteiligten; es verleite zudem zu einem Fehlverständnis als Optimierungsgebot.¹¹ Zweitens

 BVerfGE 79, 69 (74), Hervorhebung des Verfassers. Zur gebotenen analogen Anwendung von § 123 VwGO vor Inkrafttreten von § 86b Abs. 2 SGG vgl. auch BVerfGE 46, 166.  BVerfGE 126, 1 (27 f.).  BVerfGE 79, 69 (75); 94, 166 (216).  Siehe z. B. zum Anordnungsgrund bei der einstweiligen Anordnung nach § 123 VwGO: BVerfGE 93, 1 (13 f.).  BVerfGE 125, 175; 132, 134; 137;34; 142, 353.  Grundlegend BVerfGE 115, 25; zur weiteren Konkretisierung siehe insbesondere BVerfGE 140, 229 (236).  Zuletzt Windthorst, Der verwaltungsgerichtliche einstweilige Rechtsschutz, S. 497 ff. m.w. N.  Zusammenfassung der Kritik bei Windthorst, Der verwaltungsgerichtliche einstweilige Rechtsschutz, S. 499 – 502 m.w. N.; vgl. bereits Schmidt-Aßmann,VVDStRL 34 (1976), S. 221 (234 ff).

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billige das Bundesverfassungsgericht unter Bezugnahme auf Art. 19 Abs. 4 GG dem Fachgericht die Möglichkeit zu, auf der Grundlage einer Interessenabwägung zu entscheiden. Dies führe dazu, dass vorläufiger Rechtsschutz ohne substantielle rechtliche Verwaltungskontrolle gewährt werden könne; der so konzipierte vorläufige Rechtsschutz diene in erster Linie der interimistischen Freiheitssicherung oder Befriedung, kaum jedoch der Verwaltungskontrolle am Maßstab des materiellen Rechts.¹² Speziell der Kammerbeschluss vom 12. Mai 2005,¹³ der ersten stattgebenden bundesverfassungsgerichtlichen Entscheidung zum einstweiligen Rechtsschutz in Angelegenheiten der Grundsicherung für Arbeitsuche nach dem SGB II, der als Ausweitung eines Gebots zur Folgenabwägung interpretiert wurde, wurde im Hinblick auf einen Konflikt mit der Bindung der Richterinnen und Richter an Gesetz und Recht (Art. 20 Abs. 3 GG) kritisiert:¹⁴ Die Bindung an Gesetz und Recht verlange nach gerichtlichen Entscheidungen, die sich auch im Eilverfahren möglichst an der materiellen Rechtslage orientierten, während bei einer Folgenabwägung die materielle Rechtslage gerade keine Bedeutung habe. Von der Gesetzesbindung könne aber auch Art. 19 Abs. 4 GG nicht dispensieren: Die Rechtsschutzgarantie solle die Gesetzesbindung sicherstellen, nicht aber sie überwinden. Die in diesem Beitrag vorgestellte jüngere Kammerrechtsprechung zum sozialgerichtlichen einstweiligen Rechtsschutz soll daher auch daraufhin untersucht werden, inwieweit diese Kritik berechtigt ist. Die hiesige Referenzmaterie weist die Besonderheit auf, dass den fachgerichtlichen Verfahren regelmäßig Eilanträge zugrunde lagen, die auf vorläufige Leistungsgewährung gerichtet waren. Der Schwerpunkt der folgenden Darstellung liegt daher auf der § 123 VwGO nachgebildeten einstweiligen Anordnung nach § 86b Abs. 2 SGG. Durchaus häufig anzutreffen sind dabei Fallgestaltungen, in denen die Vorwegnahme der Hauptsache durch Art. 19 Abs. 4 GG infolge des Gewichts der betroffenen Grundrechte gerade geboten sein kann.¹⁵

 Schoch, in: GVwR Bd. III, 2. Aufl. 2013, § 50 Rn. 228 f.; ders. in: ders./Schneider/Bier (Hrsg.), VwG0, (33. EL Juni 2017), § 80 Rn. 378 ff.  BVerfGK 5, 237.  Zum Folgenden insbesondere Burkiczak, SGb 2015, S. 151 (152); für eine zurückhaltende Deutung von BVerfGK 5, 237 auch Hannappel, SGb 2008, S. 85 (87 f.).  BVerfGK 5, 237; BVerfGK 15, 133.Vgl. zum Gebot der vorläufigen Vorwegnahme der Hauptsache Hong, NVwZ 2012, S. 468 (470 f.).

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II. Die jüngere Kammerrechtsprechung im Überblick 1. Zum Verhältnis der Maßstäbe der Folgenabwägung und der Erfolgsaussichten in der Hauptsache Grundsätzlich ist bei der Entscheidung über die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes eine summarische Prüfung verfassungsrechtlich unbedenklich; die notwendige Prüfungsintensität steigt jedoch mit der drohenden Rechtsverletzung, die bis dahin reichen kann, dass die Gerichte unter besonderen Umständen – wenn sie sich an den Erfolgsaussichten der Hauptsache orientieren – dazu verpflichtet sein können, die Sach- und Rechtslage nicht nur summarisch, sondern „eingehend“ oder „abschließend“ zu prüfen.¹⁶ Dabei variieren in den Kammerentscheidungen die Formulierungen hinsichtlich der Prüftiefe. So wird teilweise eine „eingehende“ Prüfung unter Bezugnahme auf BVerfGE 79, 69 (74 f.) verlangt¹⁷, teilweise aber auch eine „abschließende“¹⁸ Prüfung. In der Senatsrechtsprechung außerhalb des Sozialrechts findet sich noch die Formulierung „erschöpfend“.¹⁹ Nicht in jeder Entscheidung wird dabei deutlich, ob die Formulierungsunterschiede bewusst gewählt sind und oberhalb der einfach-summarischen Prüfung noch mehrere Abstufungen der Prüftiefe gesehen werden.²⁰ Durch diese Unklarheit droht allerdings keine Rechtsunsicherheit, denn maßgeblich ist allein, dass die notwendige Prüfungsintensität mit der drohenden Rechtsverletzung steigt. Ist eine der drohenden Grundrechtsverletzung entsprechende Klärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich – etwa weil es dafür weiterer, in der Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit nicht zu verwirklichender tatsächlicher Aufklärungsmaßnahmen bedürfte –, ist es von Verfassungs wegen

 BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 6. August 2014 – 1 BvR 1453/12 –, juris, Rn. 10; vgl. auch BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 14. September 2016 – 1 BvR 1335/13 –, juris, Rn. 20, beide unter Bezugnahme auf BVerfGE 79, 69 (74 f.).  BVerfGK 15, 133 (136); BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 6. Februar 2013 – 1 BvR 2366/12 –, juris, Rn. 2.  BVerfGK 5, 237 (242); Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 27. Juli 2016 – 1 BvR 1241/ 16 –, juris, Rn. 11.  BVerfGE 67, 43 (62).  Z.B. außerhalb des sozialgerichtlichen Eilrechtsschutzes BVerfG, Beschluss der 1. Kammer der Ersten Senats vom 14. September 2016 – 1 BvR 1335/13 –, juris, Rn. 20, wo eine „abschließende“ Prüfung gefordert wird „unter eingehender tatsächlicher und rechtlicher Prüfung des im Hauptsacheverfahren geltend gemachten Anspruchs“.

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„nicht zu beanstanden“, wenn die Entscheidung über die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes dann auf der Grundlage einer Folgenabwägung erfolgt.²¹ In der hier zu besprechenden, jüngeren Kammerrechtsprechung gab es keinen Anlass, die Anforderungen an die Folgenabwägung näher zu präzisieren. Jedenfalls sind die grundrechtlichen Belange der Antragstellenden umfassend in die Abwägung einzustellen.²² Die Frage nach dem Entscheidungsmaßstab beantwortet sich also zunächst nach dem Gewicht der drohenden (Grund‐)Rechtsverletzung und der Möglichkeit, die danach erforderliche Prüftiefe auch im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes sicherzustellen. Aus dieser Konzeption folgt trotz der teilweise vorsichtigen Formulierungen, dass die Entscheidung am einen oder anderen Maßstab „unbedenklich“ oder „nicht zu beanstanden“ sei, dass sich die Wahl des Entscheidungsmaßstabs zu einer aus Art. 19 Abs. 4 GG folgenden Pflicht verdichten kann,²³ je nach Konstellation eine Pflicht zur Folgenabwägung oder zur Prüfung am Maßstab der Erfolgsaussichten in der Hauptsache.²⁴ Dem Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 6. August 2014 – 1 BvR 1453/12 – lag ein Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung, gerichtet auf Gewährung existenzsichernder Leistungen nach dem SGB II, zu Grunde. Dort konnte das Landessozialgericht ohne Verstoß gegen Art. 19 Abs. 4 GG am Maßstab der Erfolgsaussichten in der Hauptsache entscheiden, obwohl das Gewicht einer möglichen Verletzung von Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG zu berücksichtigen war. Eine eidesstattliche Versicherung über fehlende Einnahmen aus einem Gewerbebetrieb ab Oktober 2011 erwies sich nach nicht zu beanstan BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 6. Februar 2013 – 1 BvR 2366/12 –, juris, Rn. 3; Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 6. August 2014 – 1 BvR 1453/12 –, juris, Rn. 10.  So bereits BVerfGK 5, 237 (242). In der Literatur werden allgemein Parallelen zu § 32 BVerfGG gezogen, so Windthorst, Der verwaltungsgerichtliche einstweilige Rechtsschutz, S. 639 m.w. N. Danach gilt: Erweist sich der Ausgang des Hauptsacheverfahrens als offen, so hat das Gericht im Rahmen einer Folgenabwägung die Nachteile abzuwägen, die einträten, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, der Rechtsschutz in der Hauptsache Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Hauptsache aber der Erfolg zu versagen wäre, stRspr BVerfGE 76, 253 (255); jüngst Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 8. Juni 2018 – 2 BvR 1094/18 –, juris, Rn. 2.  Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 27. Juli 2016 – 1 BvR 1241/16 –, juris, Rn. 11: „Ist die abschließende Prüfung nicht möglich, ist eine Folgenabwägung durchzuführen.“; vgl. bereits BVerfGK 5, 237 (242); BVerfGK 15, 133 (136). Zur methodischen Frage, wie dieses verfassungsrechtliche Erfordernis in die Prüfung nach § 86b Abs. 2 SGG integriert werden kann, siehe z. B. Krodel, in: ders./Feldbaum, Das sozialgerichtliche Eilverfahren, Rn. 367 ff.  Zur letztgenannten Variante vgl. außerhalb des Sozialrechts BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 14. September 2016 – 1 BvR 1335/13 –, juris; ausführlich dazu unten III.1.

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denden Feststellungen des Landessozialgerichts, wonach noch Einkünfte im November 2011 erwirtschaftet wurden, „in einem wesentlichen Punkt als unzutreffend“.²⁵ Der Schluss auf das Fehlen der Bedürftigkeit nach Februar 2012 überspannte nicht die Anforderungen an die Glaubhaftmachung des Anordnungsanspruchs. Zur Begründung verwies die Kammer darauf, dass bei den Anforderungen an die Glaubhaftmachung des Anspruchs zu berücksichtigen ist, dass der elementare Lebensbedarf eines Menschen in dem Augenblick befriedigt werden muss, in dem er entsteht. Dies ergibt sich aus dem Grundrecht auf Gewährleistung des menschenwürdigen Existenzminimums. Umstände aus der Vergangenheit dürfen nur insoweit herangezogen werden, als sie eindeutige Erkenntnisse über die gegenwärtige Lage ermöglichen. Nach Auffassung der Kammer habe das Landessozialgericht, bei der Prüfung der (bedarfsmindernden) Einkommensverhältnisse im streitgegenständlichen Zeitraum nicht allein auf vergangene Ereignisse abgestellt. Auch wenn die Kammer die Prüfung des Landessozialgerichts als „summarische“ Prüfung bezeichnete, so prüfte sie an einem strengen, durch das Gewicht des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums geprägten Maßstab, insbesondere bei den Anforderungen an die Würdigung der Glaubhaftmachung. Nur weil die Würdigung der Glaubhaftmachung des Anordnungsanspruchs bei dessen Verneinung durch das Landessozialgericht diesem Maßstab genügte, verblieb für die Frage, ob eine Folgenabwägung geboten gewesen wäre „kein Raum“ mehr. Auf dieser Linie liegt auch der Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 26. Juni 2018 – 1 BvR 733/18 – zur Versorgung mit Medizinalcannabis. Findet eine gemessen am Gewicht der geltend gemachten Grundrechtsverletzungen genügend intensive Durchdringung der Sach- und Rechtslage statt, kann es unschädlich sein, wenn das Fachgericht den Ausgang des Hauptsacheverfahrens gleichwohl als offen einschätzt und die von ihm vorgenommene Prüfung selbst als summarisch bezeichnet, ohne auf eine Folgenabwägung abzustellen.²⁶ Dabei muss nur deutlich werden, dass das Fachgericht den Ausgang des Hauptsacheverfahrens für weitgehend zuverlässig prognostizierbar hält.²⁷ Wie die einleitende Formulierung der Kammer deutlich macht, hängt das Maß für die „weitgehend zuverlässige Prognose“ wiederum vom Gewicht der geltend gemachten Grundrechtsverletzung ab.

 BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 6. August 2014 – 1 BvR 1453/12 –, juris, Rn. 12.  Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 26. Juni 2018 – 1 BvR 733/18 –, juris, Rn. 4. Ähnl. bereits BVerfGK 20, 196 (197 f.).  Vgl. Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 26. Juni 2018 – 1 BvR 733/18 –, juris, Rn. 4.

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Bereits mit dem Kammerbeschluss vom 6. August 2014 wurde klargestellt²⁸, dass auch im Bereich grundrechtlich fundierter Anspruchsnormen, die für den Anordnungsanspruch in Betracht kommen, nicht stets eine Folgenabwägung stattfinden muss, wenn der Sachverhalt insgesamt noch nicht am Maßstab des Hauptsacheverfahrens ausermittelt ist. BVerfGK 5, 237 wurde zuvor teilweise ein sehr weitgehendes Gebot der Folgenabwägung entnommen²⁹, da dort formuliert wurde, dass anhand einer Folgenabwägung zu entscheiden „ist“; dabei wurde in der Rezeption nicht immer hinreichend beachtet, dass diese Pflicht zur Folgenabwägung nur für den Fall angenommen wurde, dass die wegen des Gewichts der drohenden Grundrechtsverletzung zunächst bestehende Pflicht zur „vollständigen“³⁰ Aufklärung der Sach- und Rechtslage nicht erfüllt werden kann. Es bleibt daher insbesondere möglich, aufgrund „summarischer“ bis „abschließender“ Prüfung einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung, gerichtet auf Bewilligung existenzsichernder Leistungen, zurückzuweisen, solange die aus dem betroffenen Grundrecht folgenden Anforderungen an die Prüftiefe und Beweiswürdigung nicht außer Acht gelassen werden.³¹

2. Anforderungen an die Prüfung des Anordnungsanspruchs am Maßstab der Erfolgsaussichten in der Hauptsache Entschließen sich die Gerichte zu einer Entscheidung auf Grundlage der Erfolgsaussichten der Hauptsache, so dürfen sie insbesondere die Anforderungen an die Glaubhaftmachung durch die Antragstellenden in den Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes nicht überspannen.³² Übernimmt das einstweilige Rechtsschutzverfahren vollständig die Bedeutung des Hauptsacheverfahrens und droht eine endgültige Verhinderung der Grundrechtsverwirklichung der Beteiligten, müssen die Gerichte bei den Anforderungen an die Glaubhaftmachung zur Begründung von Leistungen zur Existenzsicherung in den Verfahren des einst-

 Siehe dazu auch Burkiczak, SGb 2015, S. 151, (153 f.).  Vgl. Krodel, NZS 2006, S. 637 (638 f.).  BVerfGK 5, 237 (242).  Dies jüngst hervorhebend BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 26. Juni 2018 – 1 BvR 733/18 –, www.bverfg.de, Rn. 4; siehe bereits Breitkreuz, SRa 2009, S. 124 (127).  Vgl. bereits BVerfGK 5, 237 (242).

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weiligen Rechtsschutzes dem Gewicht des Grundrechts aus Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG Rechnung tragen.³³ Aus Art. 19 Abs. 4 GG ergeben sich also nicht nur Anforderungen – wie eben gesehen – an die Prüftiefe bzw. Prüfintensität, sondern auch an andere einfachgesetzlichen Vorgaben des Prozessrechts, hier: an die Würdigung der Glaubhaftmachung. Im bereits erwähnten Beschluss vom 6. August 2014 – 1 BvR 1453/ 12 – bestätigte die 3. Kammer des Ersten Senats die aus Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG folgenden Anforderungen, wie sie bereits in BVerfGK 5, 237 herausgearbeitet wurden: Aus dem Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums ergibt sich, dass der elementare Lebensbedarf eines Menschen in dem Augenblick befriedigt werden muss, in dem er entsteht. Bei der Prüfung der Hilfebedürftigkeit als Voraussetzung eines Anspruchs auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II ist daher auf die gegenwärtige tatsächliche Situation der Antragstellenden abzustellen; Umstände aus der Vergangenheit dürfen nur insoweit herangezogen werden, als sie eindeutige Erkenntnisse über die gegenwärtige Lage ermöglichen.³⁴ Weitere bereichsspezifische³⁵ Anforderungen an die Glaubhaftmachung des Anordnungsanspruchs hat das Bundesverfassungsgericht für das sozialgerichtliche Eilverfahren bislang nicht formuliert. Wie auch die unter II.1. bereits dargestellte Subsumtion im Kammerbeschluss vom 6. August 2014 zeigt, ist es insbesondere unbedenklich, eine Entscheidung auf der Grundlage der Verteilung der materiellen Beweislast zu treffen, wenn sich der Sachverhalt aus Gründen, die in der Sphäre der antragstellenden Person liegen, nicht weiter aufklären lässt. Gleiches gilt, wenn entsprechende Mitwirkungsobliegenheiten bei der Aufklärung des Sachverhalts nicht erfüllt werden.³⁶

 Vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 6. August 2014 – 1 BvR 1453/12 –, juris, Rn. 10, dort allerdings mit einer hinsichtlich des Gewichts des Grundrechts verkürzt geratenen Formulierung.  BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 6. August 2014 – 1 BvR 1453/12 –, juris, Rn. 12 unter Bezugnahme auf BVerfGK 5, 237 (243).  Solche bereichsspezifischen Anforderungen sind keine Besonderheit des Sozialrechts und der dort bedeutsamen Grundrechte, vgl. z. B. zu Art. 14 Abs. 1 GG zuletzt BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 14. September 2016 – 1 BvR 1335/13 –, juris, Rn. 21.  Dazu bereits BVerfG Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 1. Februar 2010 – 1 BvR 20/10 –, juris, Rn. 2.

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3. Anforderungen an die Prüfung des Anordnungsgrundes In zwei stattgebende Kammerentscheidungen aus den Jahren 2016 und 2017 wurden die Anforderungen aus Art. 19 Abs. 4 GG an die Prüfung der Darlegung und Glaubhaftmachung eines Anordnungsgrundes konkretisiert. Ausgangspunkt ist in beiden Entscheidungen der Rechtssatz der Senatsrechtsprechung, dass Fachgerichte gehalten sind, vorläufigen Rechtsschutz zu gewähren, wenn Antragstellenden sonst eine erhebliche, über Randbereiche hinausgehende Verletzung in ihren Rechten droht, die durch die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr beseitigt werden kann, es sei denn, dass ausnahmsweise überwiegende, besonders gewichtige Gründe entgegenstehen.³⁷ Hinsichtlich des fachrechtlich begründeten Erfordernisses der Glaubhaftmachung eines Anordnungsgrundes bedeute dies, dass die Anforderungen an dessen Vorliegen nicht überspannt werden dürften.³⁸ Die dem Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 12. September 2016 – 1 BvR 1630/16 – zugrunde liegende Verfassungsbeschwerde richtete sich gegen Beschlüsse in einem sozialhilferechtlichen Eilverfahren, gerichtet auf die Erhöhung des Persönlichen Budgets zur Beschäftigung von Assistenzkräften im Rahmen der Eingliederungshilfe, um das Leben in der eigenen Wohnung sicherzustellen. Sozialgericht und Landessozialgericht lehnten den Erlass einer einstweiligen Anordnung mit der Begründung ab, der Antragsteller habe einen Anordnungsgrund nicht glaubhaft gemacht. Die Kammer bejahte, dass dem Antragsteller eine erhebliche, über den Randbereich hinausgehende Verletzung in seinen Rechten drohte.³⁹ Bei der Prüfung der Glaubhaftmachung der Eilbedürftigkeit sei entscheidend auf die gegenwärtige Situation des Bedürftigen abzustellen, weshalb Umstände aus der Vergangenheit nur insoweit herangezogen werden dürften, als sie eindeutige Erkenntnisse über die gegenwärtige Lage ermöglichten.⁴⁰ „Daher überschreitet das

 BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 12. September 2016 – 1 BvR 1630/16 –, juris, Rn. 9 unter Bezugnahme auf BVerfGE 93, 1 (13 f.); BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 1. August 2016 – 1 BvR 1910/12 –, juris, Rn. 12 unter Bezugnahme auf BVerfGE 93, 1 (13 f.); 126, 1 (27 f.).  BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 12. September 2016 – 1 BvR 1630/16 –, juris, Rn. 9; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 1. August 2017 – 1 BvR 1910/ 12 –, juris, Rn. 13.  BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 12. September 2016 – 1 BvR 1630/16 –, juris, Rn. 11.  BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 12. September 2016 – 1 BvR 1630/16 –, juris, Rn. 12 unter Bezugnahme auf BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 6. August 2014 – 1 BvR 1453/12 –, juris, Rn. 12.

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Gericht jedenfalls dann die Grenze des nach Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG Zulässigen, wenn die Erfüllung der finanziellen Verpflichtung über einen längeren Zeitraum in der Vergangenheit den Schluss auf die mangelnde Eilbedürftigkeit deshalb nicht zulässt, weil sich den Ausführungen des Betroffenen gewichtige Anhaltspunkte dafür entnehmen lassen, dass die finanziellen Kapazitäten nunmehr vollständig ausgeschöpft sind.“⁴¹ Der Beschluss liegt ganz auf der Linie der bisherigen Kammerrechtsprechung, dem Gewicht der drohenden Grundrechtsverletzung durch bereichsspezifische Anforderungen an die Prüfung der Glaubhaftmachung Rechnung zu tragen; die in BVerfGK 5, 237 und dem oben genannten Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 6. August 2014 formulierten Konkretisierungen zur Frage der Überspannung der Anforderungen an die Glaubhaftmachung eines Anordnungsanspruchs sind auf die Glaubhaftmachung eines Anordnungsgrundes zu übertragen. Im Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 1. August 2017 – 1 BvR 1910/12 – musste sich das Bundesverfassungsgericht zum wiederholten Male⁴² mit der seinerzeit in der Sozialgerichtsbarkeit im Vordringen befindliche These auseinandersetzen, ein Anordnungsgrund bestehe bei einem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung auf vorläufige Gewährung von Leistungen für Kosten der Unterkunft und Heizung grundsätzlich erst bei fristloser Kündigung des Mietverhältnisses und Rechtshängigkeit einer Räumungsklage. Dies gab Anlass, die Anforderungen aus Art. 19 Abs. 4 GG an die Auslegung und Anwendung des Begriffs des „wesentlichen Nachteils“ in § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG herauszuarbeiten. Die Kammer sah die Anforderungen an die Glaubhaftmachung eines Anordnungsgrundes gleich in zweierlei Hinsicht überspannt: Die erste Verletzung des Art. 19 Abs. 4 GG betrifft die Qualität des wesentlichen Nachteils: „Relevante Nachteile können nicht nur in einer Wohnungs- beziehungsweise Obdachlosigkeit liegen (…). § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II gibt vielmehr die Übernahme der ‚angemessenen‘ Kosten vor und dient im Zusammenwirken mit anderen Leistungen dazu, über die Verhinderung der bloßen Obdachlosigkeit hinaus das Existenzminimum sicherzustellen (vgl. BVerfGE 125, 175 ). Dazu gehört es, den gewählten Wohnraum in einem bestehenden sozialen Umfeld nach Möglichkeit zu erhalten (…). Daher ist bei der Prüfung, ob ein Anordnungsgrund für den Eilrechtsschutz vorliegt, im Rahmen der wertenden Betrachtung zu berücksichtigen,  BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 12. September 2016 – 1 BvR 1630/16 –, juris, Rn. 12.  In BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 18. April 2016 – 1 BvR 704/16 – waren der drohenden Wohnungslosigkeit vorgelagerte nennenswerte Beeinträchtigungen nicht erkennbar.

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welche negativen Folgen finanzieller, sozialer, gesundheitlicher oder sonstiger Art ein Verlust gerade der konkreten Wohnung für die Betroffenen hätte.“⁴³ Der zweite Verstoß betrifft das zeitliche Moment effektiven Rechtsschutzes: Das Landessozialgericht überspannte die Anforderungen an den Anordnungsgrund nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG auch dadurch, dass es schematisch auf die Räumungsklage und damit auf einen starren und späten Zeitpunkt abstellt, zu dem eine erhebliche Beeinträchtigung der Rechtsstellung der Betroffenen bereits eingetreten ist.⁴⁴ Auch in dieser Kammerentscheidung werden also zunächst die Anforderungen in Zusammenschau mit dem möglicherweise betroffenen Grundrecht herausgearbeitet: Da das Grundrecht auf die Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums und der das Grundrecht ausgestaltende Anspruch des § 22 SGB II hinsichtlich des Wohnbedarfs nicht nur vor Obdachlosigkeit schützt, dürfen die Tatsachen, die beim drohenden wesentlichen Nachteil vom Fachgericht in den Blick genommen werden, auch nicht auf solche, die die Obdachlosigkeit betreffen, beschränkt werden. Das zeitliche Moment der Überspannung der Anforderungen wurde vor allem in der schematischen Handhabung gesehen. Aus den entsprechenden Ausführungen im Beschluss kann daher nicht der Umkehrschluss gezogen werden, dass stets schon vor der Erhebung einer Räumungsklage ein Anordnungsgrund zu bejahen ist. Es ist nämlich nicht auszuschließen, dass im Einzelfall nie eine erhebliche Beeinträchtigung der Rechtsstellung des Betroffenen zu besorgen ist, etwa, weil trotz Verzuges bei der Zahlung des Mietzinses nichts darauf hindeutet, dass die vermietende Person etwas unternimmt, um das Mietverhältnis zu beenden.

4. Das Problem der Vereinbarkeit der einfachgesetzlichen Rechtslage mit höherrangigem Recht Art. 19 Abs. 4 GG gewährleistet nicht selbst die materielle Rechtsstellung, gegen deren Verletzung Rechtsschutz in Anspruch genommen wird, sondern setzt sie nach Maßgabe der Rechtsordnung im Übrigen voraus.⁴⁵ Dies hat insbesondere Folgen für die Reichweite des Gebots der Gewährung effektiven Rechtsschutzes bei der Unvereinbarkeit einer den Anordnungsanspruch ausschließenden sozialrechtlichen Regelung mit Verfassungsrecht oder Unionsrecht.  BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 1. August 2016 – 1 BvR 1910/12 –, juris, Rn. 16.  BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 1. August 2016 – 1 BvR 1910/12 –, juris, Rn. 18.  Vgl. BVerfGE 61, 81 (110); Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, 14. Aufl. 2016, Art. 19 Rn. 36.

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Was hier im Falle der Verfassungswidrigkeit eines sozialrechtlichen Leistungsausschlusses angesichts des Verwerfungsmonopols des Bundesverfassungsgerichts gilt, ist eine nur im Ansatz geklärte Frage.⁴⁶ Sie soll und kann hier auch in Ermangelung neuerer Senats- und Kammerentscheidungen nicht weiter vertieft werden. Am Rande widmet sich der Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 4. Oktober 2016 – 1 BvR 2778/13 – den Anforderungen aus Art. 19 Abs. 4 GG an die Durchsetzung des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts. Das der Verfassungsbeschwerde zugrunde liegende sozialgerichtliche Eilverfahren betraf die von der Antragstellerin angeführte Verfassungs- und Unionsrechtswidrigkeit des Leistungsausschlusses in § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II. Während die Verfassungswidrigkeit des materiellen Rechts am Maßstab von Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG sowie Art. 3 Abs. 1 GG nicht substantiiert gerügt wurde, betraf die zulässige Rüge Art. 19 Abs. 4 GG. Allerdings lagen insoweit die Voraussetzungen zur Annahme der Verfassungsbeschwerde nach § 93 Abs. 2 Buchst. b BVerfGG nicht vor, da wegen einer Änderung der Rechtsprechung des Gerichtshofes der Europäischen Union absehbar war, dass das Landessozialgericht auch im Falle einer Zurückverweisung über den Leistungsanspruch im Eilverfahren nicht anders entscheiden würde. Im Rahmen der Begründung der positiven Prozesskostenhilfeentscheidung verwies die Kammer auf die bisherige Kammerrechtsprechung zu unionsrechtlichen Fragestellungen im Zusammenhang mit Art. 19 Abs. 4 GG, insbesondere auf die sog. Sportwetten-Entscheidung in BVerfGK 5, 196.⁴⁷ Im dortigen Ausgangsverfahren wandte sich der Beschwerdeführer gegen die sofortige Vollziehung einer Untersagungs- und Einstellungsverfügung betreffend den Betrieb einer Annahmestelle zur Vermittlung von Sportwetten: Soll im Rahmen von § 80 Abs. 5 VwGO das Vorliegen eines besonderes öffentliches Interesse mit der Untersagung strafbaren Verhaltens begründet werden, so setzt dies voraus, dass die Strafbarkeit des in Rede stehenden Verhaltens im Rahmen der verfassungsrechtlich gebotenen Abwägung mit hinreichender Wahrscheinlichkeit an-

 Zur Vorlagepflicht oder Vorlagemöglichkeit des Fachgerichts im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes oder zur Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes im Vorgriff auf eine konkrete Normenkontrolle nach Art. 100 Abs. 1 GG vgl. einerseits BVerfG 86, 382 (389) andererseits BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 30. Oktober 2010 – 1 BvR 2037/10 – (unveröffentlicht); Bittner, SGb 2016, S. 399 (401 f.); Wündrich, SGb 2009, S. 267 (274); siehe auch allgemein Bode,VerwArch 107 (2016), S. 206; Froese/Kempny/Schiffbauer, DÖV 2017, S. 261; Schenke, JuS 2017, S. 1141.  Vgl. die Bezugnahme in BVerfG, der Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 4. Oktober 2016 – 1 BvR 2778/13 –, juris, Rn. 14 auf BVerfGK 5, 196 und den Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 9. Juli 2009 – 2 BvR 1119/05, 2 BvR 1120/05, 2 BvR 1497/05 –, juris, Rn. 46 ff.

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genommen werden kann.⁴⁸ Es verletzt Art. 19 Abs. 4 GG, ein besonderes öffentliches Vollzugsinteresses zu bejahen, wenn erhebliche Zweifel an der unionsrechtlichen Vereinbarkeit einer Strafnorm auch nicht ohne Verstoß gegen das Willkürverbot ausgeschlossen werden bzw. wenn die Bejahung des besonderen Vollzugsinteresses aufgrund einer Rechtsauffassung zum Unionsrecht vertreten würde, die im Hauptsacheverfahren zu einer Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union führen müsste.⁴⁹ Die 3. Kammer des Ersten Senats musste nichts weiter dazu ausführen, wie diese Wertungen auf die Anforderungen an den Erlass einer einstweiligen Anordnung zu übertragen sind. Hierbei dürfte zu berücksichtigen sein, dass in BVerfGK 5,196 die Unionsrechtswidrigkeit wohl nur mittelbar die materielle Rechtmäßigkeit des zugrunde liegenden Verwaltungsakts, sondern primär das öffentliche Vollzugsinteresse betraf – also unmittelbar den Prüfungsmaßstab der sofortigen Vollziehung einer Untersagungs- und Einstellungsverfügung. Damit war die Beachtung von Art. 19 Abs. 4 GG bei der Auslegung und Anwendung der Vorschriften über den verwaltungsgerichtlichen Eilrechtsschutz angesprochen und eben nicht die Auslegung des bei den Erfolgsaussichten in der Hauptsache zu prüfenden materiellen Rechts. Weitere denkbare dogmatische Anknüpfungspunkte zur effektiven Durchsetzung des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts sind das ebenso aus Art. 19 Abs. 4 GG folgende Gebot einer wirksamen gerichtlichen Kontrolle ohne Verstoß gegen das Willkürverbot⁵⁰ oder die Frage der verfassungsrechtlich gebotenen Prüftiefe der Rechtslage am Maßstab der Erfolgsaussichten in der Hauptsache.

III. Die Interpretation der Kammerrechtsprechung durch Wissenschaft und Praxis: Zur These der Folgenabwägung als „Ultima Ratio“ Aufgrund der jüngeren Kammerrechtsprechung ist zwar Einiges zum Verhältnis der Prüfung am Maßstab der Erfolgsaussichten zur Folgenabwägung geklärt worden, ein einfaches Prüfungsschema zur Maßstabswahl für die Fachrichterinnen und Fachrichter ist aus ihr dennoch nicht ableitbar. Während Missverständ BVerfGK 5, 196 (203).  Vgl. BVerfGK 5, 196 (204).  So BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 9. Juli 2009 – 2 BvR 1119/05, 2 BvR 1120/05, 2 BvR 1497/05 –, juris, Rn. 46 ff. Zu diesem Gehalt des Art. 19 Abs. 4 GG siehe auch BVerfGE 143, 216 (230 ff., Rn. 32 ff., insbesondere Rn. 41).

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nisse zur Reichweite von BVerfGK 5, 237 zur Folge hatten, dass zu schnell unter Verzicht auf weitere Sachverhaltsaufklärung am Maßstab der Folgenabwägung einstweilige Anordnungen ergingen, wird in jüngerer Zeit in der Literatur und fachgerichtlichen Praxis versucht, auch unter Bezugnahme auf die neuere Kammerrechtsprechung gegenzusteuern: Eine Folgenabwägung sei „Ultima Ratio“:⁵¹ Unter Berücksichtigung des Zweckes des Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG, die Gesetzesbindung der Verwaltung sicherzustellen, hätten sich die Sozialgerichte in erster Linie an der materiellen Rechtslage zu orientieren, die sie grundsätzlich summarisch, je nach Streitgegenstand auch eingehender zu prüfen hätten. Allenfalls in engen Ausnahmefällen, in denen insbesondere wegen eines in der zur Verfügung stehenden Zeit nicht aufklärbaren Sachverhaltes eine Prüfung der Rechtslage nicht möglich sei, könnten die Gerichte auf eine Interessen- bzw. Folgenabwägung ausweichen.⁵² Im Folgenden soll gezeigt werden, dass sich die „Ultima Ratio“-Formel bei im Wesentlichen zutreffenden Ausgangserwägungen als zu eng und unterkomplex erweist, um den Sozialrichterinnen und -richtern als Handlungsnorm zu dienen (dazu 1.). Die Auflösung des vermeintlichen Konflikts von Gesetzesbindung und Effektivität des Rechtsschutzes im Sinne einer „Ultima Ratio“ der Folgenabwägung würdigt zudem nicht hinreichend die in der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung angelegten Prognoseelemente der Maßstabswahl (dazu 2.). 1. Richtig ist, dass es kein „freies“ Ermessen bei der Wahl des Maßstabs gibt.⁵³ Nur wenn der Hauptsacheerfolg zumindest möglich erscheint, kann auch eine Folgenabwägung verfassungsrechtlich geboten sein.⁵⁴ Ausgangspunkte sind – wie bereits dargestellt – das Gewicht einer drohenden Grundrechtsverletzung und die Möglichkeit, der daraus folgenden erforderlichen Prüftiefe auch im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes gerecht zu werden.⁵⁵ Hiernach gibt es insbesondere bei existenzsichernden Leistungen und bei Gesundheitsleistungen Konstellationen, in denen eine „einfach-summarische“ Prüfung dem Gewicht der drohenden Grundrechtsverletzung nicht entspräche, eine „eingehende“ oder „vollständige“ Aufklärung aber wegen der Dringlichkeit „justice denied“ wäre.

 Udsching/Groth, in: Krasney/Udsching, Handbuch des sozialgerichtlichen Verfahrens, 7. Aufl.2016, 5. Kap. Rn. 41; Burkiczak, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, (Stand 22. Mai 2018), § 86b Rn. 64; ähnl. bereits Hannappel, SGb 2008, S. 85 (88); Wündrich, SGb 2009, S. 267 (274).  Burkiczak, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, (Stand 22. Mai 2018), § 86b Rn. 64; SG Dortmund, Beschluss vom 27. November 2017 – S 32 AS 4747/17 ER –, juris, Rn. 33.  So schon Hölzer, info also 2010, S. 99 (104 f.).  Vgl. auch die Analyse der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung bei Krodel, in: ders./Feldbaum, Das sozialgerichtliche Eilverfahren, Rn. 369.  Zustimmend in der Literatur z. B. Krodel, NZS 2006, S. 637 (638 f.).

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Dieser Zeitfaktor ist seinerseits Gewährleistungsgehalt von Art. 19 Abs. 4 GG: Wirksamer Rechtsschutz bedeutet auch Rechtsschutz innerhalb angemessener Zeit.⁵⁶ Anders ausgedrückt: Die Antwort auf die Frage, ob eine Sachaufklärung im Eilverfahren möglich ist, um eine Entscheidung am Maßstab der Erfolgsaussichten in der Hauptsache zu treffen, hängt ab von der Antwort auf die Frage, ob das Gewicht der drohenden Grundrechtsverletzung eine „einfach-summarische“, eine „eingehende“ oder „abschließende“ Prüfung erfordert.Vom Fachgericht sind also zwei Bewertungen zur Gestaltung des Verfahrens vorzunehmen, nämlich die Einschätzung des Gewichts der drohenden Grundrechtsverletzung und die Bemessung der angemessenen Zeitspanne für die Sachverhaltsaufklärung, um beurteilen zu können, ob die nach dem Gewicht der drohenden Grundrechtsverletzung geforderte Prüftiefe geleistet werden kann. Die beiden für die These der Folgenabwägung als „Ultima Ratio“ angeführten Kammerentscheidungen enthalten keine Aussagen, die sich für ein solches Gebot verallgemeinern ließen. Der Kammerbeschluss vom 6. August 2014 – 1 BvR 1453/ 12 – hat nicht allgemein die Zulässigkeit einer „gegebenenfalls intensiven“ summarischen Prüfung bestätigt, neben der für eine Folgenabwägung „kein Platz“ sei.⁵⁷ Die ablehnende Beschwerdeentscheidung des Landessozialgerichts war nicht zu beanstanden, weil die Würdigung der Glaubhaftmachung im konkreten Fall hinsichtlich der Prüftiefe dem Gebot einer eingehenden Prüfung entsprach und auch im Übrigen den spezifischen Anforderungen aus Art. 19 Abs. 4 GG an die Glaubhaftmachung eines Anordnungsanspruchs genügte.⁵⁸ Nach dem Zitat der Beweiswürdigung in der Entscheidung dürften die Widersprüche zwischen den eidesstattlich versicherten Einkommensangaben und anderen vorgelegten Unterlagen über Gewinn aus selbständiger Tätigkeit auch am Beweismaßstab eines Hauptsacheverfahrens nicht auszuräumen gewesen sein. Allein weil in der konkreten Situation in der gebotenen Kürze ein so klares Bild gewonnen werden konnte, blieb für eine Folgenabwägung „kein Raum“. Ginge man davon aus, dass eine Folgenabwägung bereits dann nicht in Betracht komme, wenn lediglich eine summarische, aber keine abschließende Prüfung der Rechtslage möglich sei,⁵⁹ würde die verfassungsrechtliche Bedingtheit des Gebots der eingehenden oder abschließenden Prüfung ignoriert, einschließlich der daraus folgenden Probleme für eine Entscheidung binnen gebotener Zeit. Auch die Kammerentscheidung vom 14. September 2016 – BvR 1335/13 – ist insbesondere für die Bestimmung des Anwendungsbereichs von Folgenabwägungen auf der Grundlage von § 86b Abs. 2    

BVerfGE 93, 1 (13). So aber wohl Burkiczak, NZS 2017, S. 75 (75); ähnl. bereits ders., SGb 2015, S. 151 (154). Ausführlich oben II.1. und II.2. So noch Burkiczak, SGb 2015, S. 151 (154); enger nunmehr ders., NZS 2017, S. 75 (75).

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SGG nicht ertragreich. Das zugrunde liegende Eilverfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO betraf die sofortige Vollziehung einer bergrechtlichen vorzeitigen Besitzeinweisung bezüglich eines Grundstücks des Antragstellers zur Erweiterung eines Braunkohletagebaus. Es ist evident, dass eine Ablehnung des Eilantrags aufgrund einer Folgenabwägung gegen Art. 19 Abs. 4 GG verstößt, wenn das Gewicht der betroffenen Grundrechte – hier Art. 14 Abs. 1 GG – zur offensichtlich möglichen „eingehenden“ oder „abschließenden“ Prüfung zwingt und durch die sofortige Vollziehung zudem vollendete Tatsachen geschaffen werden. Hieraus lassen sich aber keine Rückschlüsse auf die im sozialgerichtlichen Eilverfahren des Grundsicherungs- oder Krankenversicherungsrechts zu beantwortende Frage ziehen, wann das Gewicht der drohenden Grundrechtsverletzung gerade zur Folgenabwägung zwingt. Der hier typische Konflikt zwischen gebotener Prüftiefe und der Möglichkeit der Entscheidung binnen gebotener Zeit bestand in dem genannten Verfahren nicht. Die Grenzen, die Art. 19 Abs. 4 GG dem Bemühen setzt, im Zusammenspiel mit der Gesetzesbindung der Judikative eine verfahrensrechtliche Handlungsnorm für die Maßstabswahl im sozialgerichtlichen Eilverfahren zu entwickeln, zeigen sich auch darin, dass die bundesverfassungsgerichtliche Kontrolle nur in bestimmten Konstellationen aufgerufen wird und auch nur dann Art. 19 Abs. 4 GG als Kontrollnorm konkretisiert wird. Dies folgt bereits aus der eingangs genannten, zu einem gewissen Grad unvermeidliche Fixierung auf die Position des Rechtsschutzsuchenden: So kann sich von vornherein kein vollständiges Bild vom Spannungsverhältnis zwischen Gesetzesbindung und effektivem Rechtsschutz entwickeln, denn eine stattgebende fachgerichtliche Entscheidung aufgrund einer möglicherweise nicht nach Art. 19 Abs. 4 GG gebotenen Folgenabwägung wird wohl niemals einer verfassungsgerichtlichen Überprüfung unterzogen, weil der Antragsgegner als Hoheitsträger grundsätzlich nicht grundrechtsberechtigt sein kann.⁶⁰ Hinzu kommt, dass Art. 19 Abs. 4 GG auch für ein bestimmtes Ergebnis, nämlich für den Erlass einer einstweiligen Anordnung streiten kann, etwa wenn eine irreparable Grundrechtsverletzung droht und keine besonders gewichtigen Gründe entgegenstehen.⁶¹ 2. Die „Ultima Ratio“-These würdigt zudem nur unzureichend den Prognosecharakter der Einschätzung des Gewichts der drohenden Grundrechtsverletzung. Dies kommt insbesondere in der Kritik an BVerfGE 5, 237 zum Ausdruck,

 Im hiesigen Kontext Hölzer, info also 2010, S. 99 (104 f.); allgemein Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, 14. Aufl. 2016, Art. 19 Rn. 48; Schultze-Fielitz, in: Dreier, GG I, 3. Aufl. 2013, Art. 19 Abs. 4 Rn. 83, auch zu denkbaren Ausnahmefällen.  Vgl. BVerfGE 93, 1 (13 f.) m.w. N.

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dem dort formulierten Gebot der Folgenabwägung hafteten zirkelschlüssige bzw. spekulative Elemente an, da sich die Richtigkeit der Prämisse, es bestünde eine Gefahr für das Existenzminimum des Grundrechtsträgers gerade nicht feststellen lasse.⁶² Demgegenüber gehen Senats- und Kammerrechtsprechung ersichtlich davon aus, dass es sich bei der Frage der Einschätzung des Gewichts der drohenden Rechtsverletzung um eine Prognose handelt. Dies folgt bereits aus dem Wort „drohend“, aber auch aus dem Kontext des Senatsrechtssatzes, wonach auch bei einer Folgenabwägung („hierbei“) dem Gewicht der in Frage stehenden Grundrechte Rechnung zu tragen ist, um eine etwaige Verletzung von Grundrechten nach Möglichkeit zu verhindern.⁶³ Es liegt in der Natur einer Interessen- oder Folgenabwägung bei offenem Ausgang des Rechtsstreits in der Hauptsache, dass zum Zeitpunkt ihrer Vornahme gerade nicht sicher feststeht, ob im Falle der Versagung einstweiligen Rechtsschutzes tatsächlich Grundrechte verletzt werden. Das Gebot effektiven Rechtsschutzes wird in dieser Situation dadurch verwirklicht, dass das Fehlentscheidungsrisiko durch eine Interimsregelung in Gestalt einer einstweiligen Anordnung minimiert wird.⁶⁴ Der Hinweis der Vertreter der „Ultima Ratio“-These auf die Bindung an Recht und Gesetz hilft in dieser Situation nicht weiter. Es besteht nämlich regelmäßig so etwas wie eine Pflichtenkollision zwischen der Bindung an das materielle Recht und der Bindung an das Prozessrecht, denn eine Subsumtion unter die anspruchsbegründende Norm ist zu diesem Zeitpunkt nicht möglich, da sich der Sachverhalt nicht in verfassungsrechtlich gebotener Tiefe aufklären lässt. Wegen des Dilemmas, dass Rechtsverwirklichung zeitgebunden ist, muss vielmehr das Risiko minimiert werden, dass sich ex post die vorläufige Regelung oder Nichtregelung als unvereinbar mit Recht und Gesetz erweisen. Dabei unterliegt die Gewichtung der drohenden Rechtsverletzung, die Grundlage der Maßstabsbildung ist, ebenso zu einem gewissen Maß der verfassungsgerichtlichen Kontrolle⁶⁵ wie die Beurteilung der Möglichkeit oder Unmög-

 Burkiczak, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, (Stand 22. Mai 2018), § 86b Rn. 56.  Siehe BVerfGE 126, 1 (28).  Vgl. auch Schoch, in: Schoch/Schneider/Bier,VwGO, (33. EL Juni 2017), § 80 Rn. 37 ff. und § 123 Rn. 149 ff., allerdings kritisch zur Folgenabwägung, § 80 Rn. 378 ff. und § 123 Rn. 64a ff.  Siehe insbesondere die beiden unter II.3. vorgestellten Entscheidungen und BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 12. September 2016 – 1 BvR 1630/16 –, juris, Rn. 11: „Das Landessozialgericht hat die Anforderungen an das Vorliegen eines (…) Anordnungsgrundes in einer am Maßstab von Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG nicht hinnehmbaren Weise überspannt. Dem Beschwerdeführer droht hier ganz offensichtlich eine über Randbereiche hinausgehende Verletzung in eigenen Rechten, wenn er im Eilverfahren unterliegt, in der Hauptsache aber obsiegt.“

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lichkeit der eingehenden Prüfung.⁶⁶ Ausdrückliche Präzisierungen zur Kontrolldichte fehlen in der Kammerrechtsprechung. Ausgangspunkt für die Bestimmung der Kontrolldichte ist zunächst die Überlegung, dass die Auslegung und Anwendung des Prozessrechts des Eilrechtsschutzes vom Bundesverfassungsgericht nur dann beanstandet werden kann, wenn sie Fehler erkennen lässt, die auf einer grundsätzlich unrichtigen Auffassung von der Bedeutung der Grundrechte des jeweiligen Antragstellers und seines Anspruchs auf effektiven Rechtsschutz beruhen.⁶⁷ Dies kommt auch in der häufig gebrauchten Formulierung zum Ausdruck, dass Anforderungen nicht „überspannt“ werden dürfen. Darüber hinaus folgt aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG auch, dass Fachgerichte gehalten sind, vorläufigen Rechtsschutz zu gewähren, wenn sonst dem Antragsteller eine erhebliche, über Randbereiche hinausgehende Verletzung in seinen Rechten droht, die durch die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr beseitigt werden kann, es sei denn, dass ausnahmsweise überwiegende, besonderes gewichtige Gründe entgegenstehen.⁶⁸ Das Fachgericht darf hierbei zumindest die Bedeutung und Tragweite der potentiell betroffenen Grundrechte nicht verkennen, wobei auf eine gesteigerte Kontrolldichte hindeutet, dass das Fachgericht eine einstweilige Anordnung erlassen muss, wenn eine irreparable Grundrechtsverletzung droht und keine besonders gewichtigen Gründe entgegenstehen. Effektiver Rechtsschutz bedeutet – gleichsam als „erste Ableitung“ aus Art. 19 Abs. 4 GG – also auch effektiver materieller Grundrechtsschutz.⁶⁹ Hier zeigt sich wieder die Funktion interimistischer Freiheits- oder Grundrechtssicherung (Schoch), die ihre Bedeutung gerade auch in Fällen irreparabler Bedarfsunterdeckungen beim menschenwürdigen Existenzminimum entfalten muss.⁷⁰ In diesem Rahmen verbleibt ein fachrichterlicher Spielraum bei der Maßstabsfindung oder auch eine Akzeptanz „tatrichterlicher Würdigung“⁷¹ durch das Bundesverfassungsgericht. Dies gilt insbesondere für die Abwägung des Gewichts der drohenden Grundrechtsverletzung gegen das Zeitmoment effektiven Rechtsschutzes bei einer eigentlich gebotenen eingehenden oder abschließenden Prüfung.

 Vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 14. September 2016 – 1 BvR 1335/ 13 –, juris, Rn. 13.  BVerfGE 79, 69 (74).  BVerfGE 93, 1 (13 f.);vgl. auch BVerfGE 79, 69 (74 f.).  Maurer, JZ 1989, S. 294 (295) spricht in seiner Anmerkung zu BVerfGE 79, 69 (74) von einem „weiteren Kriterium der Grundrechtsrelevanz“; vgl. auch Urban, NVwZ 1989, S. 433 (434).  Vgl. dazu auch BVerfGE 125, 175 (177, Tenor zu 3., 259 f.).  So trotz anderem Ausgangspunkt auch Burkiczak, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, (Stand 22. Mai 2018), § 86b Rn. 62.

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3. Nach alledem fordert Art. 19 Abs. 4 GG vom Gericht zur Maßstabsfindung zunächst eine Einschätzung des Gewichts der drohenden Grundrechtsverletzung und auf dieser Basis eine Prognoseentscheidung hinsichtlich der Möglichkeit oder Unmöglichkeit, am Maßstab einer einfach-summarischen bis abschließenden Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache binnen gebotener Zeit entscheiden zu können. Dieses Ergebnis der Maßstabsfindung kann im Laufe des Verfahrens und zunehmender Wissensgenerierung gegebenenfalls auch zu korrigieren sein. So kann sich aus unterschiedlichsten Gründen herausstellen, dass statt einer ursprünglich aus Art. 19 Abs. 4 GG als geboten angesehenen Entscheidung aufgrund eingehender Prüfung der Erfolgsaussichten mangels einer zeitnah möglichen hinreichenden Sachverhaltsaufklärung eine Entscheidung aufgrund einer Folgenabwägung notwendig wird. Dabei unterliegt zwar der verfassungsgerichtlichen Überprüfung, ob das Fachgericht bei der Gewichtung der drohenden Rechtsverletzung und der darauf beruhende Beurteilung der Möglichkeit oder Unmöglichkeit der eingehenden Prüfung Anforderungen „überspannt“ bzw. die Bedeutung und Tragweite der potentiell betroffenen Grundrechte verkennt. Jedenfalls dürfte dem Fachgericht aber bei der Abwägung des Gewichts der drohenden Grundrechtsverletzung gegen das Zeitmoment effektiven Rechtsschutzes eine Einschätzungsprärogative zukommen. Hierin kommt zwar ein gewisser Vorrang der Prüfung am Maßstab der Erfolgsaussichten in der Hauptsache auch verfassungsrechtlich zum Ausdruck, der sich bereits aus der einfachgesetzlichen Ausgestaltung der einstweiligen Anordnung in § 86b Abs. 2 SGG ergibt. Die Kombination aus Abwägungs- und Prognoseentscheidungen bei der vom Fachgericht geforderten Maßstabswahl wird mit „Ultima Ratio“ jedoch wenig treffend beschrieben. „Ultima Ratio“ suggeriert eine Stufung der Maßstabswahl, die der Entscheidungsstruktur der Maßstabsfindung, der Schutzrichtung von Art. 19 Abs. 4 GG und der verbleibenden Einschätzungsprärogative des Fachgerichts nicht gerecht wird. Der Kritik an der ersten Kammerentscheidung in Grundsicherungsangelegenheiten vom 12. Mai 2005 (BVerfGK 5, 237) kommt gleichwohl das Verdienst zu, den Blick dafür zu schärfen, wann eine Entscheidung am Maßstab der Erfolgsaussichten in der Hauptsache noch möglich ist. Denn ein vermeintlich offener Ausgang der Hauptsache kann sich auf den zweiten Blick auch als fehlende Glaubhaftmachung eines Anordnungsanspruchs darstellen, insbesondere wenn die antragstellende Person ihren prozessualen Mitwirkungsobliegenheiten nicht nachkommt und kein weiterer Anlass zur Amtsermittlung besteht.⁷² Zudem droht nicht in jedem grundsicherungsrechtlichen oder krankenversicherungsrechtli-

 Burkiczak, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, (Stand 22. Mai 2018), § 86b Rn. 419, 422.

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chen Eilverfahren eine Rechtsverletzung von solchem Gewicht, das einer nur einfach-summarischen Prüfung entgegenstünde.⁷³

IV. Fazit Die Analyse der jüngeren Kammerbeschlüsse zu Art. 19 Abs. 4 GG, die sozialgerichtliche Entscheidungen im einstweiligen Rechtsschutz zum Gegenstand hatten, ergibt ein differenziertes Bild: Die Grundrechtsfundierung sozialrechtlicher Anordnungsansprüche kann strenge Anforderungen an die Prüftiefe zur Folge haben. Insbesondere aus Art. 1 Abs. 1 i.V. m. Art. 20 Abs. 1 GG haben die Kammern bereichsspezifische Konkretisierungen entwickelt, wann die Anforderungen zur Glaubhaftmachung von Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund überspannt werden. Zwei stattgebende Beschlüsse aus den Jahren 2016 und 2017 zu den Anforderungen an den Anordnungsgrund können das Bewusstsein für das in Art. 19 Abs. 4 GG angelegte Zeitmoment der Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes schärfen und einer zu engen Sichtweise der zu berücksichtigenden Nachteile künftig vorbeugen (siehe II.3.). Für die Sozialgerichte bleiben diese Anforderungen handhabbar.⁷⁴ Sie führen in der Breite auch nicht zu Ergebnissen, die die Befürchtung bestätigten, das Effektivitätspostulat provoziere eine überschießende Optimierung des Rechtschutzes zugunsten der Antragstellenden und zu Lasten der Sozialleistungsträger als Antragsgegner ohne Grundrechtsschutz. Insbesondere muss eine zurückweisende Entscheidung am Maßstab der Erfolgsaussichten in der Hauptsache nicht bereits wegen des Gewichts der möglicherweise betroffenen Grundrechte automatisch gegen Art. 19 Abs. 4 GG verstoßen (siehe oben II.1. und II.2.). Bei der fachgerichtlichen Maßstabswahl gibt es auch bei aus Grundrechten abgeleiteten Leistungsansprüchen weder ein allgemeines Gebot der Folgenabwägung anstelle einer summarischen Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache noch ist die Folgenabwägung „Ultima Ratio“ (siehe III.). Die drohende Gefahr der Grundrechtsverletzung wegen der Vereitelung eines grundrechtsbasierten Anspruchs kann sowohl für eine eingehende Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache als auch für die Folgenabwägung streiten. Art. 19 Abs. 4 GG fordert vom Fachgericht zur Maßstabsfindung zunächst eine Einschätzung des Gewichts der drohenden Grundrechtsverletzung und auf dieser Basis eine Prognoseentscheidung  Vgl. bereits Hölzer, info also 2010, S. 99 (105). Deutlich in jüngerer Zeit auch BVerfGK 20, 196 (197 f.); Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 26. Juni 2018 – 1 BvR 733/18 –, juris, Rn. 4.  Vgl. auch die Anmerkungen aus der richterlichen Praxis von Wunder, SGb 2017, S. 645; Kainz, NZS 2018, S. 32.

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hinsichtlich der Möglichkeit oder Unmöglichkeit, mit der hiernach gebotenen Prüftiefe am Maßstab der Erfolgsaussichten in der Hauptsache binnen gebotener Zeit entscheiden zu können.

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Konsequenzen der Prozessunfähigkeit im Sozial- und Verwaltungsgerichtsprozess aus fach- und verfassungsrechtlicher Perspektive Leitentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (Senat) BVerfGE 107, 395 – Fachgerichtlicher Rechtsschutz BVerfGE 129, 1 – Investitionszulage BVerfGE 133, 1 – Kartellgeldbuße BVerfGE 143, 216 – Telekommunikationsgesetz Entgeltregulierung

Wichtige Kammerentscheidungen BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 16. August 2017 – 1 BvR 1547/17 –, juris BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 16. August 2017 – 1 BvR 1584/17 –, juris

Wichtige Rechtsprechung anderer Gerichte BSG, Urteil vom 28. Mai 1957 – 3 RJ 98/54 –, juris; Urteil vom 5. November 2012 – B 8 SO 23/11 R –, juris; Beschluss vom 17. Dezember 2014 – B 8 SO 83/14 B –, juris; Beschluss vom 12. Oktober 2016 – B 4 AS 639/15 B –, juris; Beschluss vom 30. Mai 2017 – B 8 SO 31/17 S –, juris; BVerwG, BVerwGE 7, 66; Urteil vom 3. Dezember 1965 – VII C 90.61 –, NJW 1966, 1883; Urteil vom 31. August 1966 – V C 223.65 –, juris; Beschluss vom 9. Dezember 1986 – 2 B 127/86 –, juris; Beschluss vom 22. Januar 1991 – 1 CB 47.90 –, juris; BGH, Beschluss vom 9. November 2010 – VI ZR 249/09 –, juris; BAG, Beschluss vom 28. Mai 2009 – 6 AZN 17/09 –, juris

Schrifttum (Auswahl) Arndt, in: Breitkreuz/Fichte (Hrsg.), SGG – Kommentar, 2. Aufl. 2014, § 72; Bier, in: Schoch/ Schneider/Bier (Hrsg.), Verwaltungsgerichtsordnung, Stand: 32. EL, § 62 VwGO; Bittner, NZSJahresrevue Verfassungsrecht, NZS 2018, 1; Loytved, Zur Bedeutung der Art. 12 und 13 UN-BRK für sozialrechtliche Verwaltungs- und Gerichtsverfahren, SGb 2018, 86; Roller, in: Schlegel/Voelzke (Hrsg.), Sozialgerichtsgesetz, Stand: 17. Mai 2018 bzw. 4. April 2018, §§ 71, 72; Schenke, in: Kopp/ Schenke (Hrsg.),Verwaltungsgerichtsordnung, 24. Aufl. 2018, § 61; B. Schmidt, in: Meyer-Ladewig/ u. a. (Hrsg.), Sozialgerichtsgesetz, 12. Aufl. 2017, § 72.

https://doi.org/10.1515/9783110599916-020

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Inhalt I. Einleitung 510 II. Die Beschlüsse vom . August  511 III. Klageabweisung mangels Prozessfähigkeit / Fortführung des Verfahrens unter Bestellung eines Vertreters 513 . Sozialgerichtliches Verfahren 513 515 . Verwaltungsgerichtliches Verfahren . Art.  Abs.  Satz  GG 516 517 a) Verfassungsrechtlicher Maßstab b) Konkretisierung des verfassungsrechtlichen Maßstabes 517 c) Sozial- und verwaltungsgerichtliche Praxis am verfassungsrechtlichen Maßstab 519 . Art.  Abs.  GG 520 a) Verfassungsrechtlicher Maßstab 520 b) Konkretisierung des verfassungsrechtlichen Maßstabes 520 c) Sozial- und verwaltungsgerichtliche Praxis am verfassungsrechtlichen Maßsab 521 522 IV. Linien: Verfassungsrechtliche Beurteilung von vermeintlichen „Alternativen“ . Art.  Abs.  Satz  GG 523 a) Verfassungsrechtlicher Maßstab 523 b) Entscheidungen des Sozialgerichts in den Eilverfahren 523 c) Entscheidung des Sozialgerichts im Prozesskostenhilfeverfahren 525 . Art.  Abs.  GG 526 526 V. Schluss

I. Einleitung Die Beschlüsse der 2. Kammer des Ersten Senats vom 16. August 2017– 1 BvR 1547/ 17 und 1 BvR 1584/17 –¹ (II.) bieten die Gelegenheit, die fachrechtlichen Konsequenzen einer Prozessunfähigkeit für das sozial- und das als Vergleichsmaterie geeignet e verwaltungsgerichtliche Verfahren, außerdem die verfassung srechtlichen Vorgaben aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG und Art. 103 Abs. 1 GG hierfür zu erörtern (III.).² Vor diesem Hintergrund sollen die verfassungsrechtlichen Linien nachgezeichnet werden, die den nur knapp begründeten Beschlüsse vom 16. August 2017 zu Grunde liegen dürften (IV.). Der vorliegende Beitrag hat dabei allerdings nicht zum Gegenstand, welche Obliegenheiten das Gericht hinsichtlich der Frage trifft, ob ein für ein Verfahren bestellter besonderer Vertreter seine  BVerfG, Beschlüsse der 2. Kammer des Ersten Senats vom 16. August 2017– 1 BvR 1547/17– und – 1 BvR 1584/17 –, jeweils juris; nachfolgend: „Beschlüsse vom 16. August 2017“.  Weiterführend zu den völkerrechtlichen Implikationen, insbesondere zu Art. 12, 13 UN-BRK vgl. Loytved, SGb 2018, 86 (89).

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Aufgaben pflichtgemäß wahrnimmt.³ Außerdem werden Konstellationen ausgeblendet, in denen die prozessunfähige Person selbst für eine ordnungsgemäße Vertretung sorgt, bzw. sie bereits unter Betreuung steht oder jedenfalls noch vor einer Entscheidung unter Betreuung gestellt werden kann.⁴ Das Thema ist schließlich dahingehend einzugrenzen, dass hier im Kern lediglich die Linien erörtert werden sollen, die den vom Bundesverfassungsgericht in seinen Beschlüssen vom 16. August 2017 zum Ausdruck gebrachten verfassungsrechtlichen Bedenken zu Grunde liegen dürften, nicht hingegen jene, die für die Entscheidung maßgeblich gewesen sein könnten, die Verfassungsbeschwerden trotz der Bedenken nicht zur Entscheidung anzunehmen. Den Gegenstand der Erörterung weiter konturierend ist abschließend hinzuzufügen, dass die nachfolgend sprachlich zu Grunde gelegte Perspektive der „Klage“ bzw. des „Klägers“ oder der „Klägerin“ stellvertretend auch für andere aktive Beteiligungsformen im sozialund verwaltungsgerichtlichen Verfahren steht.

II. Die Beschlüsse vom 16. August 2017 Die Beschwerdeführerin hatte sich – offenbar zum wiederholten Male – mit sozialhilferechtlichen Grundsicherungsleistungsbegehren an das Sozialgericht gewandt, darunter einerseits mit einem Prozesskostenhilfeantrag, andererseits mit auf Übernahme von Kosten gerichteten Eilanträgen. Das Sozialgericht lehnte diese – ausgehend von der Annahme einer auf querulatorischen Neigungen beruhenden Prozessunfähigkeit⁵ – ab. Bezüglich des Prozesskostenhilfebegehrens⁶ verneinte das Sozialgericht die Erfolgsaussichten. Der in der Hauptsache angegriffene Ausführungsbescheid sei in Umsetzung eines Urteils ergangen. Er entspreche diesem und enthalte deshalb keine eigenständige Regelung. Ein besonderer Vertreter im Sinne von § 72 Abs. 1 SGG sei nicht beizuordnen. Es sei bereits ein Klageverfahren vorausgegangen. Die Beschwerdeführerin richte sich gegen den Umsetzungsbescheid, obwohl sie zudem Berufung eingelegt habe. Dieser Fall sei damit vergleichbar, dass ein Vorbringen bereits mehrfach Gegenstand

 Vgl. dazu BSG, Beschluss vom 14. November 2013 – B 9 SB 84/12 B –, juris, Rn. 8, 10; Loytved, SGb 2018, 86 (89) m.w. N.  Vgl. hierzu ausführlich Roller, in: Schlegel/Voelzke, Sozialgerichtsgesetz, Stand: 17. Mai 2018, § 71, Rn. 61.  Davon geht in Bezug auf Beschwerdeführerin auch das BSG aus, vgl. Beschluss vom 30. Mai 2017 – B 8 SO 31/17 S –, juris, Rn. 3, unter Verweis auf BSG, Beschluss vom 21. September 2016 – B 8 SO 116/15 B –, juris.  SG Osnabrück, Beschluss vom 16. Februar 2017 – S 16 AS 534/13 –.

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gerichtlicher Entscheidungen gewesen sei. Bezüglich der Eilanträge⁷ führte das Sozialgericht jeweils aus, das Begehren entbehre jeglicher Grundlage, weil die Beschwerdeführerin keinen Leistungsanspruch nach dem SGB XII habe. Trotz der evidenten Prozessunfähigkeit der Beschwerdeführerin werde von der Beiordnung eines besonderen Vertreters im Interesse einer noch zeitnahen bzw. einer kurzfristigen Entscheidung abgesehen. Nachdem die Beschwerdeführerin erfolglos weitere Instanzen bemüht hatte, erhob sie die Verfassungsbeschwerde und machte eine Verletzung von Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG und Art. 103 Abs. 1 GG geltend. Die Kammer nahm die Verfassungsbeschwerden nicht zur Entscheidung an, weil die Voraussetzungen des § 93a Abs. 1 BVerfGG nicht vorlagen. Dabei ging sie davon aus, dass kein besonders schwerer Nachteil im Sinne von § 93a Abs. 2b) BVerfGG drohte,⁸ so dass sie Frage der Verletzung der gerügten Grundrechte im Ergebnis offenlassen konnte. Sie ließ allerdings Zweifel an der beanstandeten Praxis erkennen. In dem das Prozesskostenhilfebegehren betreffenden Verfahren führte sie in Bezug auf Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG aus, gegen die Annahme, dass die Voraussetzungen vorlagen, unter denen nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts ausnahmsweise von der Bestellung eines besonderen Vertreters abgesehen werden durfte, bestünden Bedenken.⁹ In dem die Eilanträge betreffenden Verfahren führte sie in Bezug auf Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG aus, die Begründung, im Interesse einer noch zeitnahen Entscheidung werde von der Bestellung eines besonderen Vertreters abgesehen, setze sich ohne ausdrückliche oder sonst erkennbare Begründung in deutlichen Widerspruch zu der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts.¹⁰ In beiden Verfahren schloss sie mit dem Hinweis, es könne dahingestellt bleiben, ob die angegriffenen Entscheidungen möglicherweise auf Erwägungen gegründet worden seien, zu denen die Beschwerdeführerin mangels Prozessfähigkeit nicht in einer Art. 103 Abs. 1 GG genügenden Weise habe Stellung nehmen können.¹¹

 SG Osnabrück, Beschlüsse vom 27. Dezember 2016 – S 4 SO 181/16 –, vom 9. März 2017 – S 4 SO 35/17 ER –, vom 13. März 2017 – S 4 SO 49/17 ER –.  BVerfG, Beschlüsse vom 16. August 2017, jeweils Rn. 2.  BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 16. August 2017 – 1 BvR 1547/17 –, juris, Rn. 3.  BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 16. August 2017 – 1 BvR 1584/17 –, juris, Rn. 3.  BVerfG, Beschlüsse vom 16. August 2017, jeweils Rn. 4.

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III. Klageabweisung mangels Prozessfähigkeit / Fortführung des Verfahrens unter Bestellung eines Vertreters Ausgehend von der Klage einer prozessunfähigen Person hat ein befasstes Sozialund Verwaltungsgericht grundsätzlich zwei Möglichkeiten ((1) und (2)). Die Entscheidung zwischen ihnen wird maßgeblich von Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG (3) und Art. 103 Abs. 1 GG (4) beeinflusst.

1. Sozialgerichtliches Verfahren Im Sozialgerichtsprozess sind Klagen prozessunfähiger Personen grundsätzlich mangels Prozessfähigkeit als unzulässig abzuweisen.¹² Die praktische Bedeutung dieses Grundsatzes wird im Sozialgerichtsprozess allerdings ganz erheblich durch den in § 72 Abs. 1 SGG vorgesehenen Mechanismus relativiert.¹³ Danach kann der Vorsitzende für einen nicht prozessfähigen Beteiligten ohne gesetzlichen Vertreter bis zum Eintritt eines Vormundes, Betreuers oder Pflegers für das Verfahren einen besonderen Vertreter bestellen, dem alle Rechte (…) zustehen. Die sozialgerichtliche Rechtsprechung hat auf dieser Grundlage ein vergleichsweise großzügiges Beiordnungserfordernis entwickelt. Das offen formulierte „kann“ begründe ein Ermessen im Grunde nur in Bezug auf die Person des zu bestellenden Vertreters.¹⁴ Von einer Vertreterbestellung könne insoweit nur dann abgesehen werden, wenn unter Anlegung eines strengen Maßstabs das Rechtsmittel eines Prozessunfähigen „offensichtlich haltlos“ sei.¹⁵ Dies sei bei absurden Klagebegehren ohne jeden Rückhalt im Gesetz oder bei offensichtlich unschlüssigem Vorbringen anzunehmen, etwa wenn kein konkreter Streitgegenstand erkennbar sei, nur allgemeine Ausführungen ohne irgendeinen Bezug zum materiellen Recht geäußert würden oder wenn das Vorbringen bereits mehrmals Gegenstand gerichtlicher Entschei-

 Roller, in: Schlegel/Voelzke, Sozialgerichtsgesetz, Stand: 17. Mai 2018, § 71, Rn. 4; ein anderes Regel-Ausnahme-Verhältnis nimmt allerdings an Loytved, SGb 2018, 86 (89).  Dau, jurisPR-SozR 19/2016 Anm. 4, ordnet § 72 Abs. 1 SGG als Ausdruck einer „spezifischen Rechtskultur“ in der Sozialgerichtsbarkeit ein, die durch besondere Fürsorglichkeit gekennzeichnet sei.  Vgl. B. Schmidt, in: Meyer-Ladewig/u. a. (Hrsg.), Sozialgerichtsgesetz, 12. Auflage 2017, § 72, Rn. 2b; Arndt, in: Breitkreuz/Fichte (Hrgs.), SGG – Kommentar, 2. Auflage 2014, § 72, Rn. 11; die Frage hingegen offenlassend BSG, Urteil vom 15. November 2012 – B 8 SO 23/11 R –, juris, Rn 9.  BSG, Urteil vom 28. Mai 1957 – 3 RJ 98/54 –, juris, Rn. 15.

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dungen gewesen sei.¹⁶ In diesen Fällen sei schon der Schutzbereich von Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG nicht betroffen.¹⁷ Hiervon sei auch der Fall umfasst, in dem ein eingelegtes Rechtsmittel unter keinem Gesichtspunkt statthaft sei.¹⁸ In einem solchen Fall könne der Schutzzweck von § 72 Abs. 1 SGG – neben der Prozessökonomie vor allem die Verwirklichung prozessualer Rechte Prozessunfähiger durch Sicherstellung des Rechtsschutzes¹⁹ – unter keinem erdenklichen Gesichtspunkt verwirklicht werden; auch ein besonderer Vertreter sei nicht in der Lage, einen zulässigen Rechtsmittelantrag zu stellen. Hierin könnte man allerdings auch ein Anzeichen für eine Aufweichung der im Grundsatz strengen Rechtsprechung zu § 72 Abs. 1 SGG sehen, denn ein unstatthaftes Rechtsmittel ist noch nicht zwingend unschlüssig oder absurd, nicht zwingend ohne erkennbaren Streitgegenstand, enthält nicht zwingend nur allgemeine Ausführungen ohne irgendeinen Bezug zum materiellen Recht. Vielmehr ist es bei Anwendung der maßgeblichen prozessrechtlichen Vorschriften schlicht nicht möglich, das Rechtsmittel in zulässiger Weise einzulegen. Dieser wenngleich in den meisten Fällen eher anspruchslose Subsumtionsvorgang könnte einer Qualifizierung als offensichtlich haltlos im oben genannten Sinne entgegenstehen, wenngleich es insoweit sicher nur um Nuancen geht. Das SG Osnabrück bekennt sich demgegenüber neuerdings, in Auseinandersetzung mit den Beschlüssen vom 16. August 2017, ausdrücklich zu einer Neujustierung des Maßstabes aus § 72 Abs. 1 SGG; es spricht sich für eine Parallelisierung der offensichtlichen Haltlosigkeit mit dem Maßstab der hinreichenden Erfolgsaussichten im Prozesskostenhilfeverfahren (vgl. § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO) aus.²⁰ Die Auffassung des Bundessozialgerichts führe dazu, so begründet es seine Entscheidung, dass die Antragstellerin mit den aus der Bestellung eines besonderen Vertreters nach § 72 SGG resultierenden Kosten belastet werde, ohne dass dafür Prozesskostenhilfe bewilligt werden könne, weil die Sache auch unter Berücksichtigung des großzügigen, für die Prozesskostenhilfe geltenden Maßstabes offensichtlich aussichtslos sei. Die Notwendigkeit der Bestellung eines besonderen Vertreters rechtfertige nicht die Bewilligung von

 BSG, Urteil vom 5. November 2012 – B 8 SO 23/11 R –, juris, Rn 10; Beschluss vom 17. Dezember 2014 – B 8 SO 83/14 B –, juris, Rn. 8; Beschluss vom 12. Oktober 2016 – B 4 AS 639/15 B –, juris; vgl. auch Roller, in: Schlegel/Voelzke, Sozialgerichtsgesetz, Stand: 4. April 2018, § 72 Rn. 23; anders allerdings SG Osnabrück, Beschluss vom 6. September 2017 – S 4 SO 169/17 ER –.  BSG, Urteil vom 5. November 2012 – B 8 SO 23/11 R –, juris, Rn 10.  BSG, Beschluss vom 30. Mai 2017 – B 8 SO 31/17 S –, juris, Rn. 3.  B. Schmidt, in: Meyer-Ladewig/u. a. (Hrsg.), Sozialgerichtsgesetz, 12. Auflage 2017, § 72, Rn. 1a mwN.  Vgl. SG Osnabrück, Beschluss vom 6. September 2017 – S 4 SO 169/17 ER –, unter Verweis auf LSG Hessen, Beschluss vom 29. April 2016 – L 4 SO 86/14 ZVW –, juris, Rn. 41.

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Prozesskostenhilfe ohne Berücksichtigung des Antragsvorbringens im Übrigen. Auch in sonstiger Weise lasse sich die Übernahme der Kosten des besonderen Vertreters nicht sicherstellen, zumal in dem besonderen Fall die Bestellung eines Rechtsanwaltes geboten wäre. Damit bedeute die Bestellung eines besonderen Vertreters entweder die Belastung der Antragstellerin mit Kosten oder die Bestellung in dem Wissen, dass der Vertreter die Kosten seiner Tätigkeit nicht würde erlangen können. Eine solche wissentliche Verpflichtung zu Lasten Dritter halte die Kammer für bedenklich.

2. Verwaltungsgerichtliches Verfahren Im verwaltungsgerichtlichen Verfahren sind Klagen prozessunfähiger Personen ebenfalls grundsätzlich mangels Prozessfähigkeit abzuweisen.²¹ Dieser Grundsatz gilt allerdings auch vor den Verwaltungsgerichten nicht uneingeschränkt.²² So sieht § 62 Abs. 4 VwGO i. V. m. § 57 Abs. 1 ZPO vor, dass der Vorsitzende des Prozessgerichts, wenn eine nicht prozessfähige Partei verklagt werden soll, die ohne gesetzlichen Vertreter ist, auf Antrag bis zu dem Eintritt des gesetzlichen Vertreters einen besonderen gesetzlichen Vertreter zu bestellen hat, falls mit dem Verzug Gefahr verbunden ist. Allerdings bildet diese verwaltungsprozessuale Bestimmung die Problematik allenfalls partiell ab²³, schon weil sie explizit nur den prozessunfähigen Beklagten erfasst, der im Verwaltungsprozess aus strukturellen Gründen eher selten vorkommt.²⁴ Das Bundesverwaltungsgericht hat daher in verschiedenen Konstellationen Ausnahmen von dem Grundsatz anerkannt, dass die Klage einer prozessunfähigen Person als unzulässig abzuweisen ist.Vor allem hat es bei Klagen gegen Akte der Eingriffsverwaltung eine strukturell § 57 Abs. 1 ZPO ähnliche Konstellation anerkannt, die zur Beiordnung eines Ver-

 Schenke, in: Kopp/Schenke (Hrsg.), Verwaltungsgerichtsordnung, 24. Auflage 2018, § 62, Rn. 16.  In der Bewertung m. E. zu scharf Dau, jurisPR-SozR 19/2016 Anm. 4, wonach Prozessunfähige vor den Verwaltungsgerichten grundsätzlich keinerlei Unterstützung erwarten können.  Vgl. Bier, in: Schoch/Schneider/Bier (Hrsg.),Verwaltungsgerichtsordnung, 32. EL, § 62, Rn. 16; Schenke, in: Kopp/Schenke (Hrsg.), Verwaltungsgerichtsordnung, 24. Auflage 2018, § 62, Rn. 12 f.; ausführlich zur Reichweite von § 57 Abs. 1 ZPO BFH, Beschluss vom 10. März 2016 – X S 47/15 –, juris, Rn. 14.  Eine analoge Anwendung auf andere Konstellation befürwortet BAG, Beschluss vom 28 Mai 2009 – 6 AZN 17/09 –, juris, Rn. 12.

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treters verpflichtet.²⁵ Des Weiteren wurde – als die Zuständigkeit für sozialhilferechtliche Angelegenheiten noch bei der Verwaltungsgerichtsbarkeit lag – Personen, deren Behinderung nicht nur Ursache für die Prozessunfähigkeit, sondern auch für die sozialhilferechtliche Hilfsbedürftigkeit war, in Anwendung der den § 72 Abs. 1 SGG und § 57 Abs. 1 ZPO zugrundeliegenden Erwägungen ein Vertreter beigeordnet.²⁶ Schließlich hat das Bundesverwaltungsgericht eine Ausnahme anerkannt, wo das materielle Recht gerade auch prozessunfähigen Personen ohne Rücksicht auf ihre gesetzliche Vertretung in eine besondere Pflichtenstellung einweist und deshalb die mit der besonderen Pflichtenstellung korrespondierende Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG die Fähigkeit zur Vornahme von Prozesshandlungen erfordert.²⁷ Auf dieser Grundlage wurde etwa die Prozessfähigkeit des minderjährigen Wehrpflichtigen in dem Rechtsstreit über seine Wehrpflicht anerkannt.²⁸ Eine Ausnahme vom Erfordernis der Beiordnung wird – in Anlehnung an die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts – ausdrücklich nur – soweit ersichtlich – vom Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg anerkannt.²⁹ Zusammenfassend ist jedenfalls festzuhalten, dass in den erstgenannten Konstellationen der Weg über die Beiordnung eines Vertreters gegangen wird, während in der zuletzt genannten Konstellation die prozessunfähige Person schlicht „als prozessfähig“ behandelt wird.

3. Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG Bei der Entscheidung, ob eine Klage mangels Prozessfähigkeit als unzulässig abgewiesen werden kann, oder ob das Verfahren unter Beiordnung eines besonderen Vertreters fortzuführen ist, ist den Vorgaben von Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG Rechnung zu tragen.

 BVerwG, Beschluss vom 9. Dezember 1986 – 2 B 127/86 –, juris, Rn. 5; Urteil vom 3. Dezember 1965 – VII C 90.61 –, NJW 1966, 1883; vgl. außerdem VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 13. Mai 2014 – 2 S 873/14 –, juris, Rn 6.  Vgl. BVerwG, Urteil vom 31. August 1966 – V C 223.65 –, juris, Rn. 13.  BVerwG, Urteil vom 31. August 1966 – V C 223.65 –, juris, Rn. 13.  BVerwGE 7, 66.  VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 13. Mai 2014 – 2 S 873/14 –, juris, Rn 6.

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a) Verfassungsrechtlicher Maßstab Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG garantiert jedem den Rechtsweg, der geltend macht, durch die öffentliche Gewalt in eigenen Rechten verletzt zu sein. Das Bundesverfassungsgericht versteht diese Vorgabe in ständiger Rechtsprechung dahingehend, dass sowohl der Zugang zu den Gerichten als auch die Wirksamkeit des Rechtsschutzes gewährleistet werde. Die Bürgerinnen und Bürger hätten einen Anspruch auf eine möglichst wirksame gerichtliche Kontrolle in allen von der Prozessordnung zur Verfügung gestellten Instanzen.³⁰ Hieraus folgt allerdings nicht, dass Beschränkungen von Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG unzulässig sind. Vielmehr führt das Bundesverfassungsgericht insoweit regelmäßig aus, dass der Rechtsweg, den Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG den Rechtsuchenden gewährleiste, der Ausgestaltung durch den Gesetzgeber bedürfe. Rechtsschutz sei eine staatliche Leistung, deren Voraussetzungen erst geschaffen, deren Art näher bestimmt und deren Umfang im Einzelnen festgelegt werden müssten. Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG gebe dem Gesetzgeber dabei nur die Zielrichtung und die Grundzüge der Regelung vor, lasse ihm im Übrigen aber einen beträchtlichen Gestaltungsspielraum. Doch dürfe er die Notwendigkeit einer umfassenden Nachprüfung des Verwaltungshandelns in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht und eine dem Rechtsschutzbegehren angemessene Entscheidungsart und Entscheidungswirkung nicht verfehlen. Damit seien Begrenzungen des Anspruchs auf effektiven Rechtsschutz nicht ausgeschlossen. Die Ausgestaltung müsse aber dem Schutzzweck des Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG Genüge tun.³¹

b) Konkretisierung des verfassungsrechtlichen Maßstabes Die Klageabweisung mangels Prozessfähigkeit beeinträchtigt den Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG zu entnehmenden Anspruch auf effektiven Rechtsschutz, weil sie die betreffende Person von einer wirksamen gerichtlichen Überprüfung ausschließt. Eine Ausnahme hiervon wird man mit dem Bundessozialgericht und dem Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg in Fällen annehmen können, in denen im Sinne der Rechtsprechung zur offensichtlichen Haltlosigkeit schon kein Rechtsschutzbegehren erkennbar wird.³² Hingegen verhilft die Fortführung des Verfahrens unter Beiordnung eines besonderen Vertreters dem Rechtsschutzan Vgl. BVerfGE 129, 1 (20) m.w. N.; BVerfGE 143, 216 (224 Rn. 20); stRspr.  BVerfGE 133, 1 (23 Rn. 69), m.w. N.; BVerfGE 143, 216 (225 Rn. 21); stRspr.  BSG, Urteil vom 5. November 2012 – B 8 SO 23/11 –, juris, Rn. 10; VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 13. Mai 2014 – 2 S 873/14 –, juris, Rn. 6.

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spruch zur Geltung. Vor diesem Hintergrund muss insbesondere die Entscheidung, die Klage mangels Prozessfähigkeit als unzulässig abzuweisen, jedenfalls wenn das Begehren die genannte Hürde der offensichtlichen Haltlosigkeit überwindet, Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG Genüge tun. Dabei dürften ihr ganz grundsätzlich legitime Zwecke zu Grunde liegen. Sie schont nicht nur die Rechtspflege, sondern schützt auch den Prozessunfähigen selbst vor Prozessrisiken und damit vor finanziellen und sonstigen Belastungen, die mit einem gerichtlichen Verfahren verbunden sein können. Sie muss allerdings auch dem Schutzzweck von Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG angemessen Rechnung tragen. Dies dürfte nur dann zu bejahen sein, wenn sich das öffentliche Interesse an der Schonung der Rechtspflege und am Schutz des Betroffenen vor Prozessrisiken auch im Einzelfall gegen die Rechtsschutzinteressen des Betroffenen durchsetzt. Insoweit dürfte es vor allem auf die Qualität des Rechtsschutzbegehrens der prozessunfähigen Person ankommen. Je gehaltvoller, je erfolgsgeneigter ein Begehren, desto gewichtiger dürfte das Bedürfnis nach Rechtsschutz sein und desto weniger dürfte das Interesse an der Schonung der Rechtspflege und am Schutz des Betroffenen vor Prozessrisiken zu tragen vermögen. Die Abweisung einer im Übrigen zulässigen und begründeten Klage mangels Prozessfähigkeit, dürfte mit Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG kaum in Einklang zu bringen sein, jene eines nicht nachvollziehbaren Begehrens ohne substantiellen Gehalt hingegen schon. Die Bestimmung der genauen Grenze dürfte im Einzelfall vorzunehmen sein, wobei die Erfolgsaussichten, die Klarheit und Nachvollziehbarkeit eines Begehrens, die strukturelle Unterbzw. Überlegenheit der Beteiligten, die Komplexität der aufgeworfenen Rechtsfragen, das Gewicht der Betroffenheit und zusätzlich gegebenenfalls auch das konkrete Kosten- und sonstige Prozessrisiko herangezogen werden könnten. Von Verfassungs wegen dürfte es insoweit grundsätzlich wohl nicht zu beanstanden sein, wenn man – mit dem SG Osnabrück³³ – den Maßstab der Erfolgsaussichten aus dem Prozesskostenhilferecht zu Grunde legen würde.³⁴ Mit Blick auf den Rechtsschutzanspruch macht es in der Tat keinen entscheidenden Unterschied, ob das Zugangshindernis in der finanziellen Leistungsfähigkeit oder in der Prozessunfähigkeit begründet liegt.

 SG Osnabrück, Beschluss vom 6. September 2017 – S 4 SO 169/17 ER –.  Anders Bittner, NZS-Jahresrevue Verfassungsrecht, NZS 2018, 1 (8), wo die Beschlüsse vom 16. August 2017 als dahingehender „Fingerzeig“ gedeutet werden, dass der durch die Rechtsprechung des BSG gesetzte Standard als verfassungsrechtlich geboten angesehen wird.

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c) Sozial- und verwaltungsgerichtliche Praxis am verfassungsrechtlichen Maßstab Die verwaltungsprozess- und sozialgerichtsprozessrechtliche Praxis dürften den aufgezeigten Grenzen aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG im Wesentlichen Rechnung tragen. Ausgehend von der durch die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zu § 72 Abs. 1 SGG begründeten großzügigen Beiordnungspraxis dürfte die Klageabweisung mangels Prozessfähigkeit vor den Sozialgerichten ohnehin eher die Ausnahme bleiben. Angesichts des aus der weitgehenden Gerichtskostenfreiheit (§ 183 SGG) folgenden geringen Kostenrisikos im Sozialgerichtsprozess erscheint eine solche im Grundsatz großzügige Praxis auch verfassungsrechtlich induziert. Weil gehaltvolle, erfolgsgeneigte Begehren zudem in aller Regel das Kriterium der „offensichtlichen Haltlosigkeit“ passieren dürften, erscheint ein Zurückbleiben hinter dem verfassungsrechtlich gebotenen Minimum insoweit unwahrscheinlich. Vielmehr scheint die sozialgerichtliche Beiordnungspraxis in vielen Bereichen sogar über das verfassungsrechtliche Minimum deutlich hinauszugehen.³⁵ Denn zahlreiche nicht schon offensichtlich haltlose Anliegen dürften eben wohl gleichwohl eher geringe Erfolgsaussichten haben. Die Grenze der „offensichtlichen Haltlosigkeit“ eines Begehrens vermag – dies ist allerdings verfassungsrechtlich unbedenklich – das Gewicht des Interesses an der Schonung der Rechtspflege und am Schutz des Betroffenen nicht vollständig zu relativieren. Vor den Verwaltungsgerichten stellt sich die Situation hingegen etwas anders dar. Von einer vergleichbar großzügigen Beiordnungspraxis kann dort eher keine Rede sein. Soweit es um klassische Eingriffsverwaltung geht, scheinen allerdings auch die Verwaltungsgerichte in der Regel beizuordnen. Die damit insgesamt eher zurückhaltende Beiordnungspraxis findet eine Stütze sicher im grundsätzlich etwas größeren Kostenrisiko, weil bei den Verwaltungsgerichten in aller Regel Gerichtskosten erhoben werden. Freilich kann dieses Argument in jenen Verfahren keine Geltung beanspruchen, die auch vor den Verwaltungsgerichten kostenfrei sind.³⁶ Vor diesem Hintergrund kann in der Praxis der Verwaltungsgerichte, wenn sie jenseits der klassischen Eingriffsverwaltung nicht mit der nötigen Umsicht angewandt wird, vor allem deshalb ein verfassungsrechtliches Problem liegen, weil die Erfolgsaussichten eines Begehrens für die Beiordnung im Grunde keine entscheidende Rolle zu spielen scheinen. Es wäre nämlich – wie oben ausgeführt – wohl mit Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG kaum zu vereinbaren, eine Klage

 Anders eben Bittner, NZS-Jahresrevue Verfassungsrecht, NZS 2018, 1 (8).  Siehe § 188 Satz 2 VwGO.

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wegen Prozessunfähigkeit als unzulässig abzuweisen, gleichwohl sie voraussichtlich Erfolg haben kann.

4. Art. 103 Abs. 1 GG Bei der Entscheidung, ob eine Klage mangels Prozessfähigkeit als unzulässig abgewiesen werden kann, oder ob das Verfahren unter Beiordnung eines besonderen Vertreters fortzuführen ist, ist darüber hinaus auch Art. 103 Abs. 1 GG Rechnung zu tragen.

a) Verfassungsrechtlicher Maßstab Art. 103 Abs. 1 GG verpflichtet die Gerichte dazu, die Ausführungen der Beteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen.³⁷ Garantiert ist den Parteien ein Recht auf Information, Äußerung und Berücksichtigung mit der Folge, dass sie ihr Verhalten im Prozess eigenbestimmt und situationsspezifisch gestalten können. Der Einzelne soll nicht nur Objekt der richterlichen Entscheidung sein, sondern vor einer Entscheidung, die seine Rechte betrifft, zu Wort kommen.³⁸

b) Konkretisierung des verfassungsrechtlichen Maßstabes Die Gerichte dürfen ihre Entscheidungen lediglich auf solche Erwägungen stützen, hinsichtlich derer dem Betroffenen die Gelegenheit zur Stellungnahme eingeräumt worden ist. Mit der Klageabweisung mangels Prozessfähigkeit begibt man sich deshalb grundsätzlich auf ein mit Blick auf diese Garantie wackeliges Terrain, weil eine prozessunfähige Person gerade nicht zur selbstbestimmten Einwirkung auf das Verfahren in der Lage scheint, mithin gewichtige Zweifel auch in Bezug auf ihre Fähigkeit bestehen, sich zu der die Entscheidung tragenden Frage der Prozessfähigkeit zu verhalten. Das Bundesverwaltungsgericht geht in einem Beschluss allerdings davon aus, dass einem Kläger durch die Nichtbestellung eines Prozesspflegers auch nicht rechtliches Gehör versagt worden sei.³⁹  BVerfGE 42, 364 (367 f.); 47, 182 (187).  Vgl. BVerfGE 107, 395 (409); BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 29. November 2005 – 1 BvR 1542/05 –, juris; stRspr.  BVerwG, Beschluss vom 22. Januar 1991 – 1 CB 47.90 –, juris, Rn. 10.

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Der Anspruch auf rechtliches Gehör nach Art. 103 Abs. 1 GG verpflichte das Gericht, sein Urteil nur auf Tatsachen und Beweisergebnisse zu stützen, zu denen sich die Beteiligten äußern konnten. Er gebiete aber nicht, bei Klagen Prozessunfähiger durch Bestellung eines Prozesspflegers auch außerhalb der gesetzlich gebotenen Fälle in der Sache selbst einen Vortrag und eine Entscheidung zu ermöglichen. Der Kläger habe auch ausreichend Gelegenheit gehabt, im Berufungsverfahren zur Frage seiner Prozessfähigkeit und den damit in Zusammenhang stehenden Rechtsfragen Stellung zu nehmen. Dem ist zuzustimmen, allerdings nur, wenn und soweit dem aus Sicht des Gerichtes dazu fähigen Kläger im konkreten Fall auch hinreichend Gelegenheit gegeben wurde, selbst für eine Vertretung zu sorgen. Nur dann wird einem Betroffenen am Maßstab von Art. 103 Abs. 1 GG ausreichend Gelegenheit gegeben, sich zu den die Entscheidung tragenden Erwägungen zu verhalten. Insoweit führt etwa der Bundesgerichtshof in einer Entscheidung⁴⁰ aus, das Gericht habe den Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG in entscheidungserheblicher Weise verletzt, indem es die Klage wegen mangelnder Prozessfähigkeit des Klägers als unzulässig abgewiesen habe, ohne ihm Gelegenheit zu geben, die Bestellung eines Betreuers durch das Vormundschaftsgericht nach § 1896 BGB zu erwirken und dadurch seine prozessualen Rechte wahrzunehmen. Sei eine Partei prozessunfähig, könne sie sich nicht eigenverantwortlich äußern. Ihr könne rechtliches Gehör wirksam deshalb nur durch die Anhörung eines gesetzlichen Vertreters gewährt werden. Die Beteiligung allein des Prozessunfähigen reiche zur Wahrung des rechtlichen Gehörs nicht aus.

c) Sozial- und verwaltungsgerichtliche Praxis am verfassungsrechtlichen Maßstab Die sozial- und verwaltungsgerichtlichen Regelungen und die sich in deren Grenzen vollziehende Praxis, wie sie oben skizziert worden ist, begegnen, solange sie die genannten Vorgaben berücksichtigen, keinen Bedenken. Einem aus Sicht des Gerichtes dazu fähigen Kläger muss vor der Abweisung der Klage mangels Prozessfähigkeit Gelegenheit gegeben werden, für eine Vertretung zu sorgen, weil andernfalls sein Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt werden dürfte. Einem dazu nicht fähigen Kläger muss hingegen ein besonderer Vertreter bestellt wer-

 BGH, Beschluss vom 9. November 2010 – VI ZR 249/09 –, juris, Rn. 7 und 9; im Anschluss an BAG, Beschluss vom 28. Mai 2009 – 6 AZN 17/09 –, juris.

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den, weil das letztlich der einzige Weg ist, dem Anspruch auf rechtliches Gehör Genüge zu tun.

IV. Linien: Verfassungsrechtliche Beurteilung von vermeintlichen „Alternativen“ Die Beschlüsse vom 16. August 2017 betreffen allerdings Entscheidungen, die sich teils gerade nicht in den aufgezeigten Bahnen vollziehen. So wird in ihnen – abweichend von der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zu § 72 Abs. 1 SGG – ein Fall offensichtlicher Haltlosigkeit nicht erst bei absurden oder offensichtlich unschlüssigen Begehren, sondern auf Grundlage einer freilich eher kursorischen Prüfung der Erfolgsaussichten angenommen, sowie die Ablehnung der Anträge nicht auf die Prozessunfähigkeit, sondern zumindest zusätzlich auch auf andere Unzulässigkeit- oder Unbegründetheitsgründe gestützt. Auf den ersten Blick erscheint ein solch alternativer Ansatz beim Umgang mit prozessunfähigen Beteiligten nachvollziehbar. Aus Sicht eines befassten Gerichtes dürfte der mit der Wahrung der dargestellten fach- und verfassungsrechtlichen Vorgaben verbundene Aufwand nicht selten unverhältnismäßig erscheinen. Die Bestellung eines besonderen Vertreters scheint zudem insbesondere praktische Probleme aufzuwerfen, weil sich auch mangels Vergütungsmöglichkeiten außerhalb des Prozesskostenhilferechts häufig keine geeigneten und willigen Personen für die Vertretung finden lassen.⁴¹ Ganz abgesehen davon zögert sich das Verfahren in jedem Fall in die Länge.⁴² Selbst wenn ein Begehren aber im Sinne der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts offensichtlich haltlos oder – vor den Verwaltungsgerichten – nicht hinreichend erfolgsgeneigt sein sollte, dürfte die mit Blick auf Art. 103 Abs. 1 GG virulente Antwort auf die Frage schwer fallen, ob eine prozessunfähige Person dazu in der Lage ist, sich um einen Vertreter zu bemühen. So nachvollziehbar es aus diesen Gründen sein mag, nach Alternativen zu suchen, so sieht sich eine solche Praxis verfassungsrechtlichen Bedenken ausgesetzt, die den Beschlüssen vom 16. August 2017 zu Grunde liegen dürften.

 Vgl. Bittner, NZS-Jahresrevue Verfassungsrecht, NZS 2018, 1 (8); dahingehend auch SG Osnabrück, Beschluss vom 6. September 2017 – S 4 SO 169/17 ER –.  Dahingehend auch SG Osnabrück, Beschluss vom 6. September 2017 – S 4 SO 169/17 ER –.

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1. Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG Die Entscheidungen des Sozialgerichts begegnen, soweit in ihnen – ausgehend von der Prozessunfähigkeit der Beschwerdeführerin – die Beiordnung eines Bevollmächtigten auf Grundlage von § 72 Abs. 1 SGG mit verschiedenen Begründungen abgelehnt wird, Bedenken am Maßstab von Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG.

a) Verfassungsrechtlicher Maßstab Der in Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG verankerte Anspruch auf effektiven Rechtsschutz gegen Akte öffentlicher Gewalt überlässt die nähere Ausgestaltung des durch die Vorschrift garantierten Rechtsweges zwar der jeweiligen Prozessordnung. Bei der Auslegung und Anwendung der vom Gesetzgeber im Rahmen seines Spielraums geschaffenen Rechtsschutzregeln, einschließlich der gesetzlichen Voraussetzungen dafür, dass über den mit einer Klage unterbreiteten Sachverhalt überhaupt zur Sache entschieden werden darf, dürfen die Gerichte aber den Zugang zu den dem Rechtssuchenden eingeräumten Instanzen nicht in unzumutbarer Weise erschweren.⁴³ So folgt beispielsweise aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG, dass die Anforderungen an die Voraussetzungen für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bei der Auslegung und Anwendung der maßgeblichen Vorschriften nicht überspannt werden.⁴⁴ Nichts anderes dürfte für die Voraussetzungen von § 72 Abs.1 SGG gelten.

b) Entscheidungen des Sozialgerichts in den Eilverfahren Soweit das Sozialgericht in seinen Entscheidungen über die Eilbegehren der Beschwerdeführerin zu § 72 Abs. 1 SGG ausgeführt hat, von der Bestellung eines besonderen Vertreters sei im Interesse einer kurzfristigen Entscheidung abgesehen worden, hat es die Anforderungen an § 72 Abs. 1 SGG im Sinne des Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG überspannt. Zwar mag der Wortlaut von § 72 Abs. 1 SGG in der Tat ein Verständnis seines Regelungsgehaltes zulassen, das auch Raum für solche Effizienzerwägungen lassen könnte. Denn es heißt darin ausdrücklich, dass ein besonderer Vertreter beigeordnet werden „kann“ – nicht muss. Vor dem Hintergrund dieser scheinbar Ermessen eröffnenden Wortwahl könnte grundsätzlich

 BVerfGE 104, 220 (232); stRspr.  Vgl. BVerfGE 40, 88 (91); 67, 208 (212 f.); 69, 381 (385); 110, 339 (342); stRspr.

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Raum sein für die vom Sozialgericht angestellte Überlegung, zumal es sich um Anträge nach § 86b SGG, also um ihrer Natur nach eilbedürftige Verfahren gehandelt hat. Schon dieser Umstand könnte, so ließe sich sicher vertreten, einer Qualifizierung der angegriffenen Entscheidungen als Verstoß gegen Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG entgegenstehen. Die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts und Kommentarliteratur weisen allerdings deutlich in eine andere Richtung.⁴⁵ Beide legen bei der Interpretation von § 72 Abs. 1 SGG einen demgegenüber deutlich strengeren Maßstab zu Grunde. Ausnahmen von der Vertreterbestellung werden danach nur für zulässig erachtet, wenn das Rechtsmittel der prozessunfähigen Person „offensichtlich haltlos“ ist. Dies sei – wie oben ausgeführt – nur bei absurden Klagebegehren ohne jeden Rückhalt im Gesetz oder bei offensichtlich unschlüssigem Vorbringen anzunehmen, etwa wenn kein konkreter Streitgegenstand erkennbar sei, nur allgemeine Ausführungen ohne irgendeinen Bezug zum materiellen Recht geäußert würden oder wenn das Vorbringen bereits mehrmals Gegenstand gerichtlicher Entscheidungen gewesen sei.⁴⁶ Vor diesem Hintergrund kommt es maßgeblich auf die Qualität des Rechtsschutzbegehrens an, so dass für Effizienzerwägungen kein Raum besteht. Bezugspunkt des Vorwurfs der Überspannung der Anforderungen im Sinne von Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG dürfte zwar grundsätzlich § 72 Abs. 1 GG und der durch die Bestimmung eröffnete Spielraum sein, so dass das Sozialgericht sich insoweit (noch) innerhalb des aufgezeigten Rahmens hielte. Denn dass Gerichte bei unterschiedlichen Interpretationsmöglichkeiten zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen, ist von Verfassungs wegen grundsätzlich nicht nur nicht zu beanstanden und hinzunehmen, sondern dient im Übrigen auch der Fortentwicklung des Rechts. Allein das Abweichen von anderen Entscheidungen begründet also noch keine Verletzung von Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG. Bezugspunkt des Vorwurfs der Überspannung der Anforderungen kann im Einzelfall aber auch eine entgegenstehende höchstrichterliche Rechtsprechung sein. Eine solche kann jedenfalls insoweit maßgebliche Bedeutung erlangen, als sie ein Befassungs- und Auseinandersetzungsgebot begründet.⁴⁷ Diesem Gebot ist das Sozialgericht hier nicht gerecht geworden, weil es die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zu Grunde gelegt, sich in der Sache aber substantiell von ihr entfernt hat. Es fehlt mithin an einer ausdrücklichen Distanzierung, einer nachvollziehbaren und begründeten Auseinandersetzung.⁴⁸ Dieses Ergebnis wird auch nicht dadurch in Frage gestellt, dass das Sozialgericht  S.o.  BSG, Urteil vom 15. November 2012 – B 8 SO 23/11 R –, juris, Rn 10.  Vgl. auch BVerfGE 112, 185 (215), dort allerdings im Rahmen der Prüfung einer Willkürrüge.  Anders hingegen dann in SG Osnabrück, Beschluss vom 6. September 2017 – S 4 SO 169/17 ER –.

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gleichzeitig seine Überzeugung zum Ausdruck gebracht hat, das Begehren entbehre jeglicher Grundlage. Denn damit hat es erkennbar lediglich die Ablehnung der Eilanträge in der Sache begründet. Dass es diese Erwägung auch seiner Entscheidung zu § 72 Abs. 1 SGG zu Grunde gelegt hätte, ist nicht ersichtlich. Selbst wenn dies aber so wäre, so ließe die Entscheidung aber eine Auseinandersetzung mit dem der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zu entnehmenden Maßstab der offensichtlichen Haltlosigkeit des Rechtsschutzbegehrens vermissen. Schließlich greift auch der gegebenenfalls sogar zutreffende Einwand, dass Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG in dieser Konstellation nicht zwingend eine Beiordnung verlangt, nicht durch. Denn der Gesetzgeber hat mit § 72 Abs. 1 SGG eine Regelung getroffen, die zwar möglicherweise weitergeht als der Schutz von Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG, deren Anwendung gleichzeitig aber vom Schutz des verfassungsrechtlichen Gebots effektiven Rechtsschutzes überwölbt und geprägt wird.

c) Entscheidung des Sozialgerichts im Prozesskostenhilfeverfahren Auch soweit das Sozialgericht von der Beiordnung eines besonderen Vertreters mit der Begründung abgesehen hat, es sei bereits ein Klageverfahren vorausgegangen, die Beschwerdeführerin richte sich gegen den Umsetzungsbescheid, obwohl sie zudem Berufung eingelegt habe, und dieser Fall dürfe damit vergleichbar sein, dass ein Vorbringen bereits mehrfach Gegenstand gerichtlicher Entscheidungen gewesen sei, überspannt es im Sinne von Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG die Anforderungen an § 72 Abs. 1 SGG. Zwar nimmt das Sozialgericht in der Sache auf die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts Bezug und gibt vor, diese anzuwenden. Es verschiebt aber auch hier die Substanz dieses Maßstabes derart, dass es Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG insoweit nicht gerecht wird. Das Rechtsschutzbegehren der Beschwerdeführerin ist alles andere als im Sinne dieser Rechtsprechung offensichtlich haltlos, also absurd, unschlüssig, ohne konkreten Streitgegenstand, ohne Bezug zum materiellen Recht oder bereits mehrfach Gegenstand gerichtlicher Entscheidung gewesen. Zwar mag das Sozialgericht im Ergebnis nicht die für einen Prozesskostenhilfeantrag erforderlichen hinreichenden Erfolgsaussichten erkannt haben. Dies allein kann nach der genannten Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zur Begründung einer Ausnahme von der Pflicht zur Bestellung eines Vertreters aber nicht ausreichen. Vielmehr muss eben die Haltlosigkeit des Begehrens hinzukommen, wie sie oben näher definiert worden ist. Dies war hier – entgegen der Auffassung des Sozialgerichts – nicht der Fall. So hat das Sozialgericht das Begehren der Beschwerdeführerin ohne Weiteres als ein ganz bestimmtes rechtliches Begehren formulieren und so seiner Prozesskostenhilfeentscheidung – also der Prüfung der hinreichenden Erfolgsaus-

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sichten – zu Grunde legen können. Weiter erforderte die Begründung der fehlenden Erfolgsaussichten hier eine feinsinnige und differenzierende Betrachtung nicht nur des Bescheides, sondern auch des Urteils, in dessen Umsetzung er ergangen war. Das Argument des Gerichts, es liege hier ein der Konstellation vergleichbarer Fall vor, in dem ein Gegenstand bereits mehrfach Gegenstand gerichtlicher Entscheidung gewesen sei, vermag nicht zu überzeugen. Weder mit der ursprünglich erhobenen Klage, noch mit der gegen diese Entscheidung offenbar erhobenen Berufung ist es der Beschwerdeführerin möglich, die Abweichung des Ausführungsbescheides von den aus der Verurteilung folgenden Pflichten geltend zu machen. Es handelt sich insoweit um einen sachlich zusammengehörenden, erkennbar aber nicht um den gleichen Streitgegenstand im rechtlichen Sinne. Die hiernach bei der Befassung mit dem Begehren der Beschwerdeführerin insgesamt erforderlichen rechtlichen Wertungen stehen dessen Qualifizierung als offensichtlich haltlos ebenso entgegen wie der Umstand, dass das konkrete Begehren eben nicht zum wiederholten, sondern zum ersten Mal zum Gegenstand eines Gerichtsverfahrens gemacht worden ist.

2. Art. 103 Abs. 1 GG Ferner dürften die Entscheidungen auch Art. 103 Abs. 1 GG verletzen, weil die Anträge und Beschwerden der Beschwerdeführerin nicht mit der Begründung abgelehnt wurden, die Beschwerdeführerin sei prozessunfähig, sondern sich hierfür auf andere Gründe gestützt haben. Der Beschwerdeführerin war vor der Entscheidung aber nicht hinreichend Gelegenheit zur Stellungnahme zu diesen Gründen gegeben worden. Zwar konnte sie sich in tatsächlicher Hinsicht dazu verhalten; weil sie aber nicht prozessfähig war, hätte ein Vertreter gehört werden müssen, was nicht geschehen ist. In einer solchen Konstellation, in der ein Gericht, das von der Prozessunfähigkeit überzeugt ist, die Abweisung aber auf andere Gründe stützt, wird die betroffene Person nicht als Subjekt, sondern in der Tat als Objekt des Verfahrens behandelt.

V. Schluss Zusammenfassend ist festzustellen, dass bei der verwaltungs- und sozialgerichtlichen Entscheidung darüber, ob eine Klage mangels Prozessfähigkeit abgewiesen werden soll oder ob das Verfahren unter Beiordnung eines Vertreters fortzuführen ist, neben den fachrechtlichen Vorgaben insbesondere Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG, aber auch Art. 103 Abs. 1 GG Rechnung zu tragen ist. Danach sind einerseits im

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Kern die Erfolgsaussichten eines Begehrens zu berücksichtigen, andererseits die Frage, ob der Betreffende dazu in der Lage ist, sich um einen Vertreter zu bemühen. So nachvollziehbar sie aus praktischen Gründen sein mögen: Versuchen, der Prozessunfähigkeit auf anderem Wege zu begegnen, werden durch Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG und Art. 103 Abs. 1 GG enge Grenzen gezogen. Ein substanzielles Abweichen von dem in der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zu § 72 Abs. 1 SGG etablierten Standard bedarf jedenfalls einer offenen Distanzierung und einer nachvollziehbaren Begründung. Eine Entscheidung auf andere Erwägungen zu stützen, verletzt bei nicht erfolgter Beiordnung Art. 103 Abs. 1 GG. Der sich hieraus ergebende Befund, dass die Sozialgerichte durch die strenge Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zu § 72 Abs. 1 SGG in ein Dilemma gebracht werden, könnte Anlass dafür sein, den fachrechtlichen Maßstab zu § 72 Abs. 1 SGG zu überdenken.⁴⁹ Besser als eine im Wesentlichen auf Praktikabilitätserwägungen beruhende Rechtsprechungsänderung wäre, den Herausforderungen bei der Suche nach geeigneten und willigen Vertretern würde durch Schaffung einer adäquaten Vergütungsmöglichkeit begegnet.⁵⁰ In der fehlenden Vergütung liegt ein strukturelles Defizit, dessen Behebung dem Gesetzgeber im Geiste der oben erörterten Grundrechte ein Anliegen sein sollte.

 Dahingehend SG Osnabrück, Beschluss vom 6. September 2017 – S 4 SO 169/17 ER –.  Dahingehend auch Bittner, NZS-Jahresrevue Verfassungsrecht, NZS 2018, 1 (8).

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren Barczak, Tristan, Dr. iur., LL.M., Akademischer Rat a. Z. und Habilitand am Institut für Öffentliches Recht und Politik (Prof. Dr. Fabian Wittreck) an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, von Oktober 2014 bis November 2017 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Bundesverfassungsgericht bei Bundesverfassungsrichter Prof. Dr. Johannes Masing. Greve, Holger, Dr. iur., Oberregierungsrat im Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Bundesverfassungsgericht bei Bundesverfassungsrichter Prof. Dr. Peter M. Huber von September 2017 bis Dezember 2018. Habermann, Stefan, Dr. iur., Richter am Verwaltungsgericht Koblenz, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Bundesverfassungsgericht bei Präsident Prof. Dr. Dr. h.c. Andreas Voßkuhle seit Oktober 2016. Jacob, Thomas, Dr. iur., Richter am Verwaltungsgericht Köln, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Bundesverfassungsgericht bei Präsident Prof. Dr. Dr. h.c. Andreas Voßkuhle seit November 2016, ab Januar 2018 zugleich persönlicher Referent des Präsidenten. Kliegel, Thomas, Dr. iur., Richter am Landgericht Essen, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Bundesverfassungsgericht bei Bundesverfassungsrichter Peter Müller von April 2013 bis Mai 2016. Kriewald, Jessica, Dr. iur., Richterin am Amtsgericht Frankfurt am Main, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Bundesverfassungsgericht bei Bundesverfassungsrichterin Prof. Dr. Gabriele Britz von April 2017 bis Juli 2018 und bei Bundesverfassungsrichter Prof. Dr. Henning Radtke seit Juli 2018. Modrzejewski, Matthias, Dr. iur., Assessor, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Bundesverfassungsgericht bei Bundesverfassungsrichterin Monika Hermanns seit August 2016, zuvor wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Steuerrecht der Universität zu Köln. Naumann, Kolja, Dr. iur., Richter am Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Bundesverfassungsgericht bei Bundesverfassungsrichter Dr. Ulrich Maidowski von November 2015 bis Februar 2018. Nusser, Julian, Dr. iur., Richter am Verwaltungsgericht Karlsruhe, seit September 2017 Rechtsreferent am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Bundesverfassungsgericht bei Bundesverfassungsrichter Prof. Dr. Michael Eichberger von Mai 2015 bis August 2017. Peters, Sascha, Akademischer Rat a. Z. am Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Verwaltungslehre (Prof. Dr. Johannes Dietlein) an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, seit Januar 2017 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Bundesverfassungsgericht bei Bundesverfassungsrichter Prof. Dr. Andreas L. Paulus.

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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Reiche, Esther, Dr. iur., Richterin am Verwaltungsgericht Karlsruhe, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Bundesverfassungsgericht bei Bundesverfassungsrichter Prof. Dr. Andreas L. Paulus von Oktober 2014 bis Dezember 2017, zuvor Richterin am Verwaltungsgericht Hamburg. Roderburg, Dominik, Dr. iur., Richter am Landgericht Köln, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Bundesverfassungsgericht bei Bundesverfassungsrichterin Dr. Sibylle Kessal-Wulf von Januar 2016 bis Juni 2018, Rechtsanwalt (von September 2008), Fachanwalt für Steuerrecht (von Februar 2012) und Steuerberater (von April 2012) bis Dezember 2012. Rust, Alfred, Richter am Landgericht Itzehoe, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Bundesverfassungsgericht bei Bundesverfassungsrichterin Dr. Yvonne Ott seit August 2017. Salomon, Tim René, Dr. iur., LL.M. (Glasgow), Oberregierungsrat im Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Verteidigung, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Bundesverfassungsgericht bei Bundesverfassungsrichterin Prof. Dr. König, M.C.L. (Miami) seit Februar 2017. Schlosser, André, Richter am Amtsgericht, Dipl. Finanzwirt (FH), derzeit wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof, von Januar 2016 bis Januar 2018 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Bundesverfassungsgericht bei Bundesverfassungsrichterin Dr. Kessal-Wulf. Schmidt, Christoph, Richter am Finanzgericht Rheinland-Pfalz, Diplom-Kaufmann, DiplomVolkswirt, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Bundesverfassungsgericht bei Bundesverfassungsrichterin Monika Hermanns von Januar 2017 bis Dezember 2018, zuvor Staatsanwalt bei der Staatsanwaltschaft Kaiserslautern, Zentralstelle für Wirtschaftsstrafsachen. Schreiber, Frank, Dr. iur., Richter am Hessischen Landessozialgericht in Darmstadt, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Bundesverfassungsgericht bei Bundesverfassungsrichterin Prof. Dr. Dr. h.c. Susanne Baer, LL.M., von Juli 2015 bis einschließlich Juli 2017. Senger, Jens, Dr. iur., Richter am Sozialgericht Karlsruhe, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Bundesverfassungsgerichts bei Vizepräsident Prof. Dr. Ferdinand Kirchhof von März 2016 bis November 2018 und bei Vizepräsident Prof. Dr. Harbarth seit Dezember 2018. Wittmann, Philipp, Dr. iur, Richter am Verwaltungsgericht Karlsruhe, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Bundesverfassungsgericht bei Bundesverfassungsrichter Prof. Dr. Johannes Masing seit September 2016. Lehrbeauftragter an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg im Breisgau und der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg.

Index Abgaben 258 Ablaufhemmung 266 Abschaltung 379 AEUV 125, 134 Alimentationsprinzip 107, 117 Altanschließer 264, 267 Anfechtungsklage 21 Annahmevoraussetzungen – Grundsätzliche Bedeutung 228 Anwendungsvorrang des Unionsrechts 79, 87, 96, 499 f. Arbeitskampf 101 Art. 6 Abs. 1 EMRK 472, 479 Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG 510 Art. 103 Abs. 1 GG 510 Aufgabengarantie Siehe Kommunale Selbstverwaltungsgarantie Ausschlussfrist 263 Ausspähen der Prozessstrategie 384 Beachtenspflichten 107 Beamtenrecht 106 Beamtenstreik 115 Befangenheit 412 Begründungsanforderungen 63 Beitragserhebung 259 Belastungsklarheit und –vorhersehbarkeit 257 Berufsbeamtentum 104 Beruhensvermutung 477, 482 Besoldung 53, 64 f., 68, 103 Beweisrecht 409 Bindungswirkung 228 Bundespräsident – Äußerungsbefugnisse 379, 381, 384 Bundesrat 412 – Antragsteller 377, 399 Charta der Grundrechte 129, 132 f. Darauf Ausgehen 394 Darauf Ausgerichtet Sein

Datenschutzgrundverordnung 78 Demokratieprinzip 389 Dialog der Gerichte 49, 119 dringendes soziales Bedürfnis 406 Effektivitätspostulat 488, 507 EGMR 101, 124, 126, 129, 135, 143 – 148, 150, 406 Eigentumsschutz 231 Eingriff 441 Einschätzungsprärogative 57, 436 f., 454 einstweilige Anordnung 492, 505 Elternrecht 158 EMRK 102, 126, 129, 133, 135, 143 – 145, 147, 149 Entscheidungserheblichkeit der Gehörsverletzung 474 Ergänzungspfleger 173 Erstattungsanspruch 246 EuGH 125, 129, 131 f., 134, 144, 150 f. Existenzminimum 53, 59 f., 62, 493, 495, 497 f., 504 f. Fachgerichtsbarkeit – Verhältnis zur 19, 21, 25 – 27, 39 – 41, 43 f., 47 Festsetzungsverjährung 258 Feststellungsklage (negative) 20 f., 27 – 49 Finanzierungsausschlussverfahren 415 Finanzverfassung 343 Finanzverfassung, individualschützende Funktion 370 Flüchtlingseigenschaft 78 Folgenabwägung 489 – 493, 500 – 504, 506 f. Fortsetzungsfeststellungsinteresse 7 Freibeweisverfahren 410 Fremdunterbringung 162

78, 80 – 82, 97 f.,

419

Gebot der Folgerichtigkeit 283 Gemeinden Siehe Kommunale Selbstverwaltungsgarantie Gesetzesbegründung 63 f., 66

532

Index

Gesetzesverfassungsbeschwerde Siehe Rechtssatzverfassungsbeschwerde Gesetzesvorbehalt 440 Gesetzliche Arbeitslosenversicherung 245 Gesetzliche Krankenversicherung 244 Gesetzliche Rentenversicherung 238 Gesetzliche Unfallversicherung 243 Glaubhaftmachung 410 Grundrechtsräume 78, 80, 92, 94, 96 f. Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit 111 Grundsatz des Berufsbeamtentums 101 Grundsatz des fairen Verfahren 384 Hauptberuflichkeit 107 Heilung des Gehörsverstoßes Hinweisbeschluss 400, 422

482

– Eigenverantwortliche Aufgabenerfüllung 429 – Eingriff 440 – Finanzielle Eigenverantwortung 429 – freie Selbstverwaltungsaufgaben 438 – Hochzonung 435, 441 – Interkommunale Zusammenarbeit 459 – Kernbereich 449 – pflichtige Selbstverwaltungsaufgaben 438 – Randbereich 450 – Rechtfertigung 446 – Verhältnismäßigkeit 452, 458 Kommunalverfassungsbeschwerde 425 Konfrontationsobliegenheit 9 Kontextualisierung 118 Kooperationsverhältnis 85, 88

Identitätskontrolle 86 – 88, 128, 130 – 132, 135 f. Identitätsrüge 88 in-camera-Verfahren 415 Indemnität 393 institutionelle Garantie 427

Landesverfassung 425 Landesverfassungsgericht 425 Lebenszeitprinzip 107 Leistungsfähigkeit 435 Leistungsklage 21 Leit- und Orientierungsfunktion 118

judical self-restraint

materielle Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde 24, 41, 43 Menschenwürde 59, 125, 127 f., 132, 136 – 142, 147 – 149, 388 Mitwirkungsrechte 447, 460

13

Kampfmaßnahmen 103 Kernbereichsbeamte 113 Kernbereichsformel 105 Kernbrennstoffsteuer 341 Kinder 155 Kinderrechte 154 Kindeswille 166 Kindeswohl 165 Kindeswohlgefährdung 169 Koalition 105 Koalitionsfreiheit 101, 115 Kollisionslage 112 Kommunale Selbstverwaltungsgarantie 424 – Allzuständigkeit 439 – Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft 432 – Aufgabenerfindungsrecht 439 – Aufgabengarantie 429 – Aufgabenverteilungsprinzip 430, 451

Nettoprinzip 281, 285 – 289, 292, 301 Normenkontrolle – inzidente 19, 21, 23 f., 31, 39, 41 f., 48 – prinzipale 19 f., 23, 28, 42 Normenkontrolle nach § 47 Abs. 1 Nr. 2 VwGO 20, 31, 33, 45 f. NPD-Verbotsverfahren 375 organfreundliches Verhalten 385 Orientierungs- und Leitfunktion 111 „Parken im AR“ 45 Parteienfinanzierung 416 Parteiverbotsverfahren 375 Partizipation 424

Index

Polizeifestigkeit der Versammlung – Herleitung 224 – Minusmaßnahmen 217, 225 – Umdeutung polizeilicher Verfügungen 226 – Umfang der Sperrwirkung 212 – Versammlungsspezifische Gefahren 225 f. Potentialität 395, 402 Produktionsmittelsteuer 354 Prozeduralisierung 53 f., 65, 69, 71 f. Prozessunfähigkeit 509 Quellenfreiheit

381

Randbereichsbeamte 113 Rationalität 59 rechtliches Gehör 468 Rechtssatzverfassungsbeschwerde 20 f., 23, 25, 31, 34 – 36, 41, 45, 47 – formelles Bundesgesetz 36 – formelles Landesgesetz 34 – Jahresfrist 44 – 47 – Rechtsverordnung 31 Rechtsschutz, effektiver 505 Rechtsschutzbedürfnis 5 Rechtssicherheit 261 Rechtsstaatsprinzip 390 Rechtswegerschöpfung 20, 23, 44 f. Reflexwirkung 445 Rehabilitationsinteresse 8 Resozialisierung 148 f. Rückwirkungsverbot 260 Rügeobliegenheit 43 sachkundige Dritte 414 Sachverständige 414 Sanierungsrechtlicher Ausgleichsbetrag 272 Schutzanspruch 157 Solange 75, 83 f., 87, 89 Sorgerecht 160 Soziale Pflegeversicherung 244 Sozialgerichtliches Verfahren 513 Sozialrecht 231 Sozialstaatsprinzip 59 Staatliches Wächteramt 159 Staatsfreiheit 379 Staatsverwaltung 108

533

Steuererfindungsrecht 356 Steuerfestsetzungsfristen 266 Strafprozessordnung 412 Streikrecht für Beamte 102 Streikverbot 102 streitbare Demokratie 378 Subjektstellung des Verfahrensbeteiligten 479 summarische Prüfung 501 f., 506 f. Tarifautonomie 101 Tarifbezogenheit 116 Tariffähigkeit 116 Tarifverträge 105 Treu und Glauben 273 Treuepflicht 107 Typisierungsbefugnis 436 f., 454 Ultima Ratio 500 – 504, 507 Umsetzungsspielraum 82, 89, 92 – 94, 96 unabdingbare Grundsätze der deutschen verfassungsrechtlichen Ordnung 127, 130, 133, 148, 150 Unionsgrundrechte 48, 79, 81 – 83 Unterlassungsklage 23, 28, 34, 39, 42 Unterstützungsstreik 116 V-Leute 379, 381 Verbotsverfahren 375 Verbrauchsteuer 345 Verdeckte Ermittler 379, 381 Verfahrensbeistand 173 Verfahrensbelastung 41 Verfahrenshindernisse 377 Verfahrensrationalität 54 Verfahrensrecht 409 verfassungsfeindlich 418 Verfassungsorgantreue 13 Verfassungsschutz 380 Vermögen 248 Vermutung der Entscheidungserheblichkeit 477, 482 Verpflichtungsklage 21 Versammlungsfreiheit – Gesetzesvorbehalt 187 f. – StPO-Festigkeit 225 – Strafrecht 202

534

Index

– Vollstreckbarkeit von Auflagen 224, 227 – Zitiergebot 223, 227 Vertrauensschutz 261 Verwaltungsgerichtliches Verfahren 515 Verwaltungsgerichtsbarkeit 21 f., 30, 33, 41, 47 Verwaltungsvereinfachung 455 Völkerrecht 108 völkerrechtlicher Mindeststandard 126 f., 130, 133, 150 völkerrechtsfreundliche Auslegung 126, 146, 148, 150

Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH 48 Vorlagepflicht 125, 129 f. Vorrang des Unionsrechts 78, 82, 98 Vorteilsausgleich 258 Wächteramt 160 wehrhafte Demokratie

395, 418, 422

Zeugen 414 Zitiergebot 223, 227 Zurechnung 381, 392, 401, 412 f.