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German Pages 636 [637] Year 2014
Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts – erörtert von den wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern
Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts – erörtert von den wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern
herausgegeben von
Yvonne Becker
Friederike Lange
Band 3
De Gruyter
ISBN 978-3-11-033452-4 e-ISBN 978-3-11-033463-0
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2014 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Datenkonvertierung/Satz: WERKSATZ Schmidt & Schulz GmbH, Gräfenhainichen Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ∞ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Geleitwort Dies ist bereits der dritte Band der von wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern verfassten „Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts“. Die erfreuliche Kontinuität spiegelt die gute Aufnahme der Reihe durch die wissenschaftlich und praktisch an der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts interessierte Öffentlichkeit. Diese gute Aufnahme hat ihre guten Gründe. Die Perspektive der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auf die Entscheidungen des Gerichts ist geprägt durch eine einzigartige Mischung aus Nähe und Distanz. Die wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Gerichts wirken in vielfältiger Weise an der Entstehung der Entscheidungen mit und beobachten die Richterinnen und Richter bei der täglichen Arbeit. Sie sind aber bei den Beratungen nicht dabei und können daher häufig nur erahnen, warum der Senat oder eine Kammer letztlich so und nicht anders entschieden haben. Das macht sie zu den kompetentesten Kritikern des Gerichts und zu hervorragenden Interpreten. Deshalb kann ich auch diesem Band nur viele geneigte Leserinnen und Leser wünschen. Karlsruhe, den 1. April 2014
Andreas Voßkuhle Präsident des Bundesverfassungsgerichts
Vorwort Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bewegt nicht nur diejenigen, die dort um Rechtsschutz ersuchen, sondern in besonderem Maße auch Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit. Mit dem vorliegenden dritten Band der „Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts“ werfen – wie bereits bei den beiden vorangegangenen Bänden – diejenigen einen Blick auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, die an ihrer „Quelle“ arbeiten, die Entscheidungen des Gerichts mit vorbereiten und die Leitentscheidungen der Senate bei ihrer täglichen Arbeit anwenden. Dabei zeigt sich erneut die Spannbreite der Themen, mit denen das Gericht bei seiner Arbeit befasst ist. Das Spektrum der in den Beiträgen behandelten Rechtsprechung reicht von „Dauerbrennern“ wie Fragen des Verfassungsprozessrechts und der Grundrechtslehren bis zu neuen Leitentscheidungen aus den Bereichen des Grundrechtsschutzes, der Staatsorganisation und – gerade auch seit dem letzten Band von besonderer Bedeutung und mit großer Präsenz in der öffentlichen Diskussion – Fragestellungen, die sich aus internationalen, insbesondere unionsrechtlichen Bezügen ergeben. Einige der Beiträge analysieren Jahrzehnte verfassungsrechtlicher Rechtsprechung, andere konzentrieren sich auf Leitentscheidungen zu aktuellen Konstellationen; bei aller Vielfalt eint sie die gemeinsame Perspektive. Dass der Blick dabei nicht nur wohlwollend, sondern auch kritisch ist, versteht sich von selbst: Damit wird gleichzeitig eine wesentliche Stärke des Gerichts offengelegt, dessen tägliche Arbeit vor allem auch von kritischer und sich selbst hinterfragender Auseinandersetzung und Reflexion bestimmt ist. Als Herausgeberinnen freuen wir uns außerordentlich, dass wiederum so viele Kolleginnen und Kollegen am „Linienband“ mitgewirkt haben. Die breite Beteiligung und die damit einhergehende inhaltliche Vielfalt sorgen dafür, dass die Linienbände immer wieder realistisch widerspiegeln, was das Bundesverfassungsgericht, diejenigen, die das Gericht anrufen, sowie Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit aktuell bewegt. Dem Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts, Prof. Dr. Andreas Voßkuhle, danken wir herzlich für sein freundliches Geleitwort. Die Beiträge befinden sich weitgehend auf dem Stand von Januar 2014. Wo es die aktuelle Rechtsprechungsentwicklung nach diesem Zeitpunkt erforderlich gemacht hat, konnten einzelne Beiträge noch aktualisiert werden. Arnsberg und Berlin, im April 2014
Yvonne Becker Friederike Lange
Inhalt Geleitwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
V VII
I. Verfassungsprozess und Verfassungsgerichtsbarkeit Yvonne Becker Die Entscheidungserheblichkeit im Verfahren der konkreten Normenkontrolle gemäß Art. 100 Abs. 1 GG . . . . . . . . . . . . .
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Erol Pohlreich Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu seinem Verhältnis zu den Landesverfassungsgerichten in Verfassungsbeschwerdeverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
37
Wolfgang Schenk Verfassungsprozessuale Nebenentscheidungen . . . . . . . . . . . . .
63
Mario von Häfen und Martin Kessen § 93 BVerfGG und Subsidiarität der Urteilsverfassungsbeschwerde .
93
II. Allgemeine Grundrechtslehren Christian Burkiczak Grundrechtswirkungen zwischen Privaten. Zur Drittwirkungsund Schutzpflichtenrechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts .
115
Sebastian Strohmayr Die Grundrechtsberechtigung juristischer Personen aus der Europäischen Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
143
X
Inhalt
III. Einzelne grundrechtliche und grundrechtsgleiche Gewährleistungen Susanne Berning Eingetragene Lebenspartnerschaft = Ehe? – Die Entwicklung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Rechtsinstitut der eingetragenen Lebenspartnerschaft . . . . . . . . . . . . . . . . .
167
Philip Hahn und Sebastian Müller Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Klageerzwingungsverfahren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
199
Thomas Hammer und Richard Wiedemann Das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . .
219
Friederike Lange Der beamtenrechtliche Konkurrentenstreit in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
241
Isabel Schübel-Pfister Additiv, alimentativ, attraktiv: Das „Triple A“ der Besoldung von Professoren und anderen Beamtengruppen im Lichte des Alimentationsprinzips . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
269
IV. Verfassungsrechtliche Grundlagen des Rechtsschutzes Lars Bechler Staatliche Justizgewährung in religionsgemeinschaftlichen Angelegenheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
297
Benedikt Grünewald Alles? Nichts? Oder? – Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur verwaltungsgerichtlichen Kontrolldichte . . . . . . . . .
317
Barbara Reiter und Christine Seban Richtervorbehalt und strafprozessuale Ermittlungsmaßnahmen . . .
337
Friedrich Schütter Neuere Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Verstoß gegen das Recht auf den gesetzlichen Richter bei Nichtvorlage an den EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
365
Inhalt
Daniel Volp Die Quadratur des Kreises. Versuch einer verfassungsgemäßen Verständigung im Strafverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
XI
389
V. Staatsorganisation und Finanzverfassung Johannes Gerberding Vermittlungsausschuss und Vermittlungsverfahren . . . . . . . . . . .
413
Holger Mann und Christian Pohl Die wahlrechtlichen Gleichheitssätze in der neueren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
435
André Niesler Die örtlichen Aufwandsteuern – Steuererfindung zwischen Vergnügen und Verdruss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
491
VI. Europäische und internationale Bezüge Dirk Diehm Die haushaltspolitische Gesamtverantwortung des Deutschen Bundestages . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
525
Jörg Peterek Rechtsschutz vor dem Bundesverfassungsgericht gegen Maßnahmen im Zusammenhang mit der „Eurorettung“ . . . . . . . . . . . . . . .
553
Christiane Schmaltz Die überlange Dauer von Gerichtsverfahren im Spiegel der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
583
Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verzeichnis der Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . .
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I. Verfassungsprozess und Verfassungsgerichtsbarkeit
Die Entscheidungserheblichkeit im Verfahren der konkreten Normenkontrolle gemäß Art. 100 Abs. 1 GG Yvonne Becker Leitentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (Senat) BVerfGE BVerfGE BVerfGE BVerfGE BVerfGE BVerfGE
22, 175 – Normenkontrolle III 46, 269 – Bayerisches Bodenreformgesetz 47, 146 – Schneller Brüter 63, 1 – Schornsteinfegerversorgung 94, 315 – Zwangsarbeiter 129, 186 – Investitionszulagengesetz Schrifttum (Auswahl)
E. Klein, Konkretes Normenkontrollverfahren, in: Benda/Klein/Klein, Verfassungsprozessrecht, 3. Auflage 2012, § 24; Geiger, Das Verhältnis von Bundesverfassungsgericht und vorlegendem Gericht im Falle der konkreten Normenkontrolle. Eine Kritik an der Entscheidung des BVerfG vom 18. April 1984 (1 BvL 43/81), EuGRZ 1984, S. 409 ff.; Heun, Richtervorlagen in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, AöR 122 (1997), S. 610 ff.; Löwer, Zuständigkeiten und Verfahren des Bundesverfassungsgerichts, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR III, 3. Auflage 2005, § 70; Schlaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 9. Auflage 2012, Teil 4, Abschnitt 4; Scholler/Broß, Zum Problem der Entscheidungserheblichkeit im Sinne des Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG, AöR 103 (1978), S. 148 ff. Inhalt I. II.
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zur Frage der Entscheidungserheblichkeit der vorgelegten Norm . . . . . . 1. Wann liegt eine „Entscheidung“ im Sinne des Art. 100 Abs. 1 GG vor? . . a) Verfahrensbeendende Urteile und Beschlüsse/Zwischenentscheidungen b) Beweisbeschlüsse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Beschlüsse in Eilverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Wann es auf die Gültigkeit eines Gesetzes „ankommt“ . . . . . . . . . . . a) Mittelbare und unmittelbare Entscheidungserheblichkeit . . . . . . . . b) Anwendungsvorrang des Unionsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Wann fällt eine Entscheidung bei Gültigkeit eines Gesetzes „anders“ aus als bei dessen Ungültigkeit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Entfallen der Entscheidungserheblichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Fallgruppen, in denen das Bundesverfassungsgericht die Entscheidungserheblichkeit eines Gesetzes verneint hat . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Die Entscheidungserheblichkeit im Verfahren der konkreten Normenkontrolle
a) 1. Fallgruppe: Auf die Gültigkeit des vorgelegten Gesetzes kommt es nicht an . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Offensichtliche Unhaltbarkeit des (einfachrechtlichen) Rechtsstandpunktes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Vollumfängliche Prüfung verfassungsrechtlicher Vorfragen . . . . . . cc) Umsetzung von Unionsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) 2. Fallgruppe: Fehlende Darlegungen des vorlegenden Gerichts . . . . . aa) Vorlagebeschluss aus sich heraus verständlich . . . . . . . . . . . . . bb) Erschöpfende Darlegung der rechtlichen Erwägungen . . . . . . . . cc) Erforderlichkeit von nachträglichen Ausführungen . . . . . . . . . . c) 3. Fallgruppe: Fehlende Aufklärung des Sachverhalts durch das vorlegende Gericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) 4. Fallgruppe: Fehlende Entscheidungsbefugnis des vorlegenden Gerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) 5. Fallgruppe: Fehlende Auseinandersetzung mit der Möglichkeit einer verfassungskonformen Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I. Einleitung Das Verfahren der konkreten Normenkontrolle aufgrund gerichtlicher Vorlage nach Art. 100 Abs. 1 GG stellt in der Praxis des Bundesverfassungsgerichts nach den Verfassungsbeschwerden die zweithäufigste Verfahrensart dar – wenn auch mit großem Abstand: Die Eingangsstatistik für die Geschäftsjahre 1951 bis 2012 weist 194.005 Verfassungsbeschwerden, aber nur 3539 konkrete Normenkontrollen aus.1 Wie bei dem Verfahren der Verfassungsbeschwerde hat der Gesetzgeber auch für das Verfahren der konkreten Normenkontrolle prozessuale Maßnahmen zur Entlastung des Bundesverfassungsgerichts vorgesehen.2 So wurde mit dem Fünften Gesetz zur Änderung des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht vom 2. August 19933 § 81a BVerfGG eingeführt, der vorsieht, dass das Bundesverfassungsgericht die Unzulässigkeit eines Antrags im Verfahren der konkreten Normenkontrolle durch einstimmigen Beschluss der Kammer feststellen kann; lediglich in Fällen, in denen der Antrag von einem Landesverfassungsgericht oder einem obersten Gerichtshof des Bundes gestellt wird, bleibt es auch bei Unzulässigkeit der Vorlage bei der Zuständigkeit des Senats. In den Jahren 2003 bis 2012 hat das Bundesverfassungsgericht in 97 Fällen von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, die Unzulässigkeit eines Antrags im Rahmen einer Kammerentscheidung festzustellen. Hinzu kommen noch einige der 68
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Jahresstatistik 2012, A.I.4, Gesamtübersichten seit 1951, Eingänge nach Verfahrensarten, unter www.bundesverfassungsgericht.de/organisation/statistik_2012.html. 2 Vgl. BTDrucks 12/3628. 3 BGBl I S. 1442.
Yvonne Becker
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im selben Zeitraum getroffenen Senatsentscheidungen,4 mit denen Anträge ebenfalls als unzulässig beurteilt worden sind.5 Diese Zahlen zeigen die große Bedeutung, die der Zulässigkeitsprüfung in der Praxis des Bundesverfassungsgerichts – nicht nur im Verfahren der Verfassungsbeschwerde, sondern gerade auch im Verfahren der konkreten Normenkontrolle – zukommt. Eine Analyse der „Unzulässigkeitsrechtsprechung“ im Verfahren der konkreten Normenkontrolle zeigt, dass die Frage der Entscheidungserheblichkeit des vorgelegten Gesetzes dabei den größten Raum einnimmt. Mit diesem Beitrag sollen daher die nur noch schwer zu überblickende Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu dieser Frage nachgezeichnet und die Anforderungen, denen sich ein vorlegendes Gericht gegenüber sieht, dargestellt werden.
II. Zur Frage der Entscheidungserheblichkeit der vorgelegten Norm Gemäß Art. 100 Abs. 1 GG ist ein gerichtliches Verfahren auszusetzen und die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts einzuholen, wenn ein Gericht ein Gesetz, auf dessen Gültigkeit es bei der Entscheidung ankommt, für grundgesetzwidrig hält. Das Erfordernis der Entscheidungserheblichkeit – es reicht nicht aus, dass ein Gericht ein Gesetz für verfassungswidrig hält, sondern es muss auch auf dessen Gültigkeit ankommen – ergibt sich damit unmittelbar aus dem Grundgesetz und macht die besondere Funktion der konkreten Normenkontrolle – gerade auch im Vergleich zur abstrakten Normenkontrolle gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG – deutlich. Während die Antragstellenden bei der abstrakten Normenkontrolle den Vorlagegegenstand relativ frei bestimmen können, ergibt sich der Umfang des zulässigen Vorlagegegenstandes bei der konkreten Normenkontrolle gemäß Art. 100 Abs. 1 GG aus dem dem Antrag zugrundliegenden Ausgangsverfahren. Das Bundesverfassungsgericht soll über die Verfassungsmäßigkeit einer Norm nur insoweit entscheiden, wie dies konkret für ein anhängiges Verfahren erforderlich ist.6
4 Jahresstatistik 2012, A.I.5, Gesamtübersichten seit 1951, Plenar-, Senats- und Kammerentscheidungen nach Verfahrensarten, unter www.bundesverfassungsgericht.de/ organisation/statistik_2012.html. 5 Vgl. etwa BVerfGE 121, 233; 124, 251; 127, 335; 129, 186; 131, 1; 131, 88; 132, 360. 6 Schlaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 9. Auflage 2012, Rn. 147; Heun, AöR 122 (1997), S. 610 (619). Dementsprechend schränkt das Bundesverfassungsgericht – ohne Erklärung der teilweisen Unzulässigkeit der Vorlage – die Vorlagefrage ein, wenn etwa eine Norm zur Überprüfung gestellt ist, nach der Konstellation im Ausgangsverfahren aber ersichtlich nur eine ihrer Tatbestandsalternativen Anwendung finden kann (vgl. etwa BVerfGE 126, 331 (354 f.); 126, 77 (97) jeweils m.w.N.); siehe ausführlich – auch zur Erweiterung der Vorlagefrage – E. Klein, Konkretes Normenkontrollverfahren, in: Benda/Klein/ Klein, Verfassungsprozessrecht, 3. Auflage 2012, § 24 Rn. 849 ff.
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Die Entscheidungserheblichkeit im Verfahren der konkreten Normenkontrolle
Im Folgenden wird der Frage der Entscheidungserheblichkeit anhand der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nachgegangen. Dabei wird zunächst untersucht, wann nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts eine „Entscheidung“ im Sinne des Art. 100 Abs. 1 GG vorliegt (1.), wann es auf die Gültigkeit eines Gesetzes „ankommt“ (2.) und wann eine einmal bestehende Entscheidungserheblichkeit nachträglich entfällt (3.). Schließlich sollen aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Fallgruppen herausgearbeitet werden, in denen das Bundesverfassungsgericht die Entscheidungserheblichkeit eines Gesetzes verneint hat (4.). 1. Wann liegt eine „Entscheidung“ im Sinne des Art. 100 Abs. 1 GG vor? a) Verfahrensbeendende Urteile und Beschlüsse/Zwischenentscheidungen Eine „Entscheidung“ im Sinne des Art. 100 Abs. 1 GG liegt nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zunächst bei das Verfahren beendenden Urteilen und Beschlüssen vor. Ausnahmsweise kann es sich bei der „Entscheidung“ aber auch um eine Zwischenentscheidung handeln.7 Zwar soll von einem Gericht in der Regel erwartet werden können, für eine von ihm für erforderlich gehaltene Zwischenentscheidung von der Verfassungsmäßigkeit eines entscheidungserheblichen Gesetzes – zumindest einstweilen – auszugehen und möglicherweise auch verfahrensrechtliche Vorkehrungen für den Fall zu treffen, dass sich die Verfassungswidrigkeit später herausstellen sollte. Eine Vorlage soll aber – ausnahmsweise – dann in Betracht kommen, wenn sie sich von der gegebenen Verfahrenslage her auch schon für eine gerichtliche Zwischenentscheidung als unerlässlich erweist. Die Vorlage soll sich in diesem Sinne als unerlässlich erweisen, wenn der in Rede stehenden Zwischenentscheidung (oder auch deren Unterbleiben) für den weiteren Ablauf und die weitere Gestaltung des Ausgangsverfahrens wesentliche Bedeutung zukommt und deshalb – nicht zuletzt mit Blick auf die Interessen der Verfahrensbeteiligten – eine Klärung der Verfassungsmäßigkeit des schon für die Zwischenentscheidung erheblichen Gesetzes dringend geboten erscheint.8 Diese eher unscharfen Voraussetzungen hat das Bundesverfassungsgericht zum Beispiel bei der Entscheidung eines Ermittlungsrichters über die Vernehmung einer Beschuldigten9 sowie bei der richterlichen Entscheidung über die Eröffnung des Hauptverfahrens als erfüllt angesehen.10 Ausscheiden müssen demgegenüber alle Zwischenentscheidun-
7 Siehe hierzu Löwer, Zuständigkeiten und Verfahren des Bundesverfassungsgerichts, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR III, 3. Auflage 2005, § 70 Rn. 83. 8 BVerfGE 63, 1 (21 f.). 9 BVerfGE 31, 43 (45). 10 BVerfGE 4, 352 (355).
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gen, die zwar zum Fortgang des Verfahrens beitragen, für die die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes, auf dessen Grundlage die spätere verfahrensbeendende Entscheidung ergehen würde, aber noch keine Rolle spielt. Ist ein Gericht beispielsweise von Gesetzes wegen – etwa nach § 71 OWiG in Verbindung mit § 411 Abs. 1 StPO – bei Vorliegen bestimmter Voraussetzungen verpflichtet, eine Hauptverhandlung anzuberaumen, hat es in diesem Verfahrensstadium noch keine Entscheidung auf Grundlage des möglicherweise vorzulegenden Gesetzes in der Sache zu treffen, so dass es für die Entscheidung über die Hauptverhandlung auf die Gültigkeit eines die Sachentscheidung betreffenden Gesetzes nicht ankommt.11 In diesem Fall handelt es sich bei der Anberaumung der Hauptverhandlung nicht um eine „Entscheidung“ im Sinne des Art. 100 Abs. 1 GG. Zweifel an der Einbeziehung von Zwischenentscheidungen in den Kreis der Entscheidungen nach Art. 100 Abs. 1 GG wecken allerdings Formulierungen in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, nach denen die Entscheidung der verfassungsrechtlichen Frage zur abschließenden Beurteilung des Falles unerlässlich sein soll beziehungsweise ein Gesetz entscheidungserheblich sein soll, wenn die Endentscheidung von der Gültigkeit des für verfassungswidrig gehaltenen Gesetzes abhängt.12 Anders als die Formulierung zunächst nahelegt, soll eine abschließende Entscheidung oder Endentscheidung nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts jedoch nicht nur bei verfahrensbeendenden Beschlüssen und Urteilen vorliegen. In einem Verfahren betreffend die vorläufige Festsetzung des Geschäftswertes hat das Bundesverfassungsgericht etwa die Zulässigkeit einer Vorlage bejaht, weil es sich auch bei dieser Entscheidung um eine abschließende Entscheidung handle.13 In einer späteren Entscheidung hat es ausdrücklich klargestellt, dass als eine Entscheidung im Sinn des Art. 100 Abs. 1 GG jede ein gerichtliches Verfahren ganz oder in einem in der Prozessordnung verselbständigten Verfahrensteil endgültig oder auch nur vorläufig beendende Gerichtshandlung zu verstehen ist, sofern nicht der weitere Verfahrensablauf dazu führen könne, dass es auf die Klärung der Verfassungsmäßigkeit der zur Prüfung vorgelegten Norm nicht mehr ankomme.14 b) Beweisbeschlüsse Nicht einfach zu beantworten ist die Frage, ob auch Beweisbeschlüsse „Entscheidungen“ im Sinne des Art. 100 Abs. 1 GG sind. Nach der Recht-
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BVerfGE 51, 401 (404 f.). BVerfGE 78, 201 (203); 104, 74 (82); BVerfGK 10, 199 (201). 13 BVerfGE 85, 337 (343 f.). 14 BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 14. Januar 2004 – 1 BvL 8/03 –, NJW 2004, S. 1233 (1233) unter Bezug auf BVerfGE 63, 1 (22). 12
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Die Entscheidungserheblichkeit im Verfahren der konkreten Normenkontrolle
sprechung des Bundesverfassungsgerichts müssen grundsätzlich zunächst der Sachverhalt vollständig aufgeklärt und erforderliche Beweisaufnahmen durchgeführt werden (siehe dazu die Fallgruppe unter 4.c)), so dass in diesem Verfahrensstadium in der Regel nicht davon ausgegangen werden kann, dass es auf die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes, auf dem die verfahrensbeendende Entscheidung beruht, ankommt (zu Ausnahmen siehe ebenfalls unter 4.c)). c) Beschlüsse in Eilverfahren Beschlüsse in Eilverfahren sind nur ausnahmeweise „Entscheidungen“ im Sinne des Art. 100 Abs. 1 GG. In der Regel wird es auf die Gültigkeit oder Ungültigkeit des Gesetzes für die Eilentscheidung des Gerichts nicht ankommen. Das dem Bundesverfassungsgericht vorbehaltene Verwerfungsmonopol hat zwar zur Folge, dass ein Gericht Folgerungen aus der (von ihm angenommenen) Verfassungswidrigkeit eines formellen Gesetzes – jedenfalls im Hauptsacheverfahren – erst nach deren Feststellung durch das Bundesverfassungsgericht ziehen darf. Es ist jedoch durch Art. 100 Abs. 1 GG nicht gehindert, schon vor der im Hauptsacheverfahren einzuholenden Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts auf der Grundlage seiner Rechtsauffassung vorläufigen Rechtsschutz zu gewähren, wenn dies im Interesse eines effektiven Rechtsschutzes geboten erscheint und die Hauptsacheentscheidung dadurch nicht vorweggenommen wird.15 Nimmt aber die beantragte vorläufige Zustandsregelung die Hauptsache vorweg, kommt es auf die Gültigkeit des Gesetzes bereits im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes an, so dass das in diesem Fall entscheidungserhebliche Gesetz dann auch bereits im Eilverfahren vorzulegen ist.16 2. Wann es auf die Gültigkeit eines Gesetzes „ankommt“ Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts kommt es auf die Gültigkeit eines Gesetzes im Sinne des Art. 100 Abs. 1 GG an, wenn das Gericht im Ausgangsverfahren bei Ungültigkeit des Gesetzes „anders“ entscheiden müsste als bei dessen Gültigkeit.17
15
BVerfGE 86, 382 (389); BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 25. August 1992 – 1 BvR 1502/91 u.a. –, juris Rn. 33; Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 12. Oktober 1993 – 2 BvQ 46/93 –, juris Rn. 3; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 16. November 1993 – 2 BvR 1587/92 –, juris Rn. 3; Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 19. Juli 1996 – 1 BvL 39/95 –, juris Rn. 11. 16 BVerfGE 46, 43 (51); siehe auch BVerfGE 63, 131 (141). 17 BVerfGE 22, 175 (176 f.); BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 16. September 1998 – 1 BvL 21/94 –, juris Rn. 32; Beschluss der 4. Kammer des Zweiten Senats vom 27. Februar 2000 – 2 BvL 8/95 –, juris Rn. 20.
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a) Mittelbare und unmittelbare Entscheidungserheblichkeit Erfasst sind dabei nicht nur Fälle der unmittelbaren Entscheidungserheblichkeit, das heißt Fälle, in denen das Gericht – im Falle der Gültigkeit des vorgelegten Gesetzes – unmittelbar auf Grundlage dieses Gesetzes entscheiden würde, sondern – ausnahmsweise – auch Fälle der mittelbaren Entscheidungserheblichkeit. Ein solcher Fall liegt vor, wenn das vorgelegte Gesetz selbst nicht die unmittelbare Grundlage für die zu treffende Entscheidung darstellt, von seiner Gültigkeit aber die Gültigkeit der unmittelbaren Rechtsgrundlage abhängt.18 Dies ist etwa anzunehmen, wenn aus einem Gesetz, das nicht unmittelbar Grundlage der Entscheidung ist, nur Schlüsse für die Auslegung oder den Fortbestand eines unmittelbar entscheidungserheblichen Gesetzes zu ziehen sind, mit der Folge, dass die zugrundeliegende Entscheidung bei Ungültigkeit des vorgelegten Gesetzes „anders“ ausfallen würde als bei seiner Gültigkeit.19 Beispiele für das Vorliegen einer mittelbaren Entscheidungserheblichkeit sind Fälle, in denen das unmittelbar entscheidungserhebliche Verordnungsrecht auf einer zur Nachprüfung gestellten gesetzlichen Ermächtigung beruht20 oder – wie das Bundesverfassungsgericht in einem Fall angenommen hat – in denen das vorgelegte Gesetz dem unmittelbar anzuwendenden Gesetz entgegen steht.21 b) Anwendungsvorrang des Unionsrechts Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts kommt es auf die Gültigkeit eines Gesetzes im Sinne von Art. 100 Abs. 1 GG nicht (mehr) an, wenn feststeht, dass das Gesetz dem Unionsrecht widerspricht und wegen des Anwendungsvorrangs des Unionrechts daher nicht angewandt werden darf.22 Dies ist konsequent, denn darf das Gesetz bereits wegen des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts nicht angewandt werden, dann kann der zugrundeliegende Rechtsstreit nicht (noch zusätzlich) von der „verfassungsbedingten“ (Un-)Gültigkeit des – ohnehin nicht anwendbaren – Gesetzes abhängen. Ist hingegen sowohl die unionsrechtliche als auch die verfassungsrechtliche Rechtslage strittig, gibt es nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts – zumindest aus Sicht des deutschen Verfassungs-
18
BVerfGE 43, 27 (32); vgl. auch BVerfGE 48, 29 (37). Vgl. BVerfGE 2, 341 (345); 49, 260 (270); 75, 166 (175 ff.); BVerfGK 8, 69 (71). 20 BVerfGE 30, 227 (240 f.); 32, 260 (266 f.). 21 BVerfGE 2, 341 (345). Zu weiteren Beispielen vgl. BVerfGK 8, 69 (74). 22 Vgl. BVerfGE 85, 191 (203 ff.); 106, 275 (295); 116, 202 (214); BVerfGK 14, 429 (433); BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 3. September 2013 – 1 BvL 7/12 –, juris; anders wohl bei einem Verstoß gegen die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK), siehe E. Klein, Konkretes Normenkontrollverfahren, in: Benda/Klein/Klein, Verfassungsprozessrecht, 3. Auflage 2012, § 24 Rn. 828. 19
10 Die Entscheidungserheblichkeit im Verfahren der konkreten Normenkontrolle
rechts – keine feste Rangfolge unter den von den Gerichten gegebenenfalls durchzuführenden Vorlageverfahren zum Europäischen Gerichtshof (Art. 267 AEUV)23 beziehungsweise zum Bundesverfassungsgericht (Art. 100 Abs. 1 GG). In dieser Situation kann es dann zwar dazu kommen, dass das Bundesverfassungsgericht ohne vorherige Klärung der europarechtlichen Fragen durch den Europäischen Gerichtshof die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes überprüft, das wegen des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts möglicherweise gar nicht angewandt werden darf, umgekehrt bliebe aber ohne Klärung der verfassungsrechtlichen Fragen durch das Bundesverfassungsgericht im Verfahren der Vorabentscheidung für den Europäischen Gerichtshof offen, ob die Vorabentscheidung eine nach innerstaatlichen Maßstäben im Übrigen gültige und deshalb entscheidungserhebliche Norm betrifft. In dieser Situation soll ein Gericht, das sowohl europarechtliche als auch verfassungsrechtliche Zweifel hat, nach eigenen Zweckmäßigkeitserwägungen gleichwohl (zuerst) das Bundesverfassungsgericht anrufen können.24 Legt ein Gericht dem Bundesverfassungsgericht hingegen ein Gesetz vor, das in Umsetzung von Rechtsakten der Europäischen Union ergangen ist, ist diese Vorlage wegen der vom Bundesverfassungsgericht in solchen Fällen praktizierten Zurücknahme der Ausübung seiner Gerichtsbarkeit nur dann entscheidungserheblich, wenn das Gesetz in Ausfüllung eines nationalen Umsetzungsspielraums ergangen ist. Ob das Unionsrecht im jeweiligen Streitfall einen derartigen Umsetzungsspielraum lässt, hat das Fachgericht im Rahmen seiner Vorlage zu klären; dabei muss sich mit den auftretenden Fragen hinreichend substantiiert auseinandersetzen.25 c) Wann fällt eine Entscheidung bei Gültigkeit eines Gesetzes „anders“ aus als bei dessen Ungültigkeit? Weiter stellt sich die Frage, wann eine Entscheidung bei Gültigkeit eines Gesetzes „anders“ ausfällt als bei dessen Ungültigkeit. Zunächst sind eindeutige Fälle denkbar: Einer Klage wird in dem einen Fall stattgegeben, im anderen Fall wird sie abgewiesen, ein Angeklagter wird in einem Fall freigesprochen, im anderen Fall verurteilt. Schwieriger wird es, wenn eine Entscheidung auf den ersten Blick nicht „anders“, sondern im Ergebnis gleich ausfällt, aber bei Gültigkeit des vorgelegten Gesetzes aus anderen Gründen ergehen würde als bei seiner Ungültigkeit, eine Klage also etwa als unzulässig statt als unbegründet abgewiesen würde.
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Siehe hierzu den Beitrag von Friedrich Schütter in diesem Band, S. 365 ff. BVerfGE 116, 202 (214); 129, 186 (203); vgl. auch BVerfGK 14, 429 (432 f.). 25 BVerfGE 129, 186 (205); siehe hierzu ausführlich Lenz/Hansel, BVerfGG, 2013, § 80 Rn. 84 ff. 24
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Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist grundsätzlich der Tenor der Entscheidung maßgeblich für die Beurteilung, ob eine Entscheidung „anders“ ausfallen würde. So hat das Bundesverfassungsgericht die Entscheidungserheblichkeit des vorgelegten Gesetzes in einem strafrechtlichen Verfahren verneint, in dem jedenfalls ein Freispruch ergangen wäre, der aber – je nach Gültigkeit beziehungsweise Ungültigkeit des vorgelegten Gesetzes – unterschiedlich zu begründen gewesen wäre.26 Eine unterschiedliche Begründung lässt aber dann eine Entscheidung „anders“ ausfallen, wenn die Begründung für Inhalt und Wirkung der Entscheidung eine eigenständige rechtliche Wirkung erlangt.27 Wann dies der Fall sein soll, hat das Bundesverfassungsgericht nicht weiter präzisiert, der Orientierung können aber bereits entschiedene Konstellationen dienen: So hat das Bundesverfassungsgericht beispielsweise die Zurückweisung einer Berufung als unzulässig oder aber aus sachlichen Gründen als „anders“ ausfallende Entscheidung betrachtet,28 ebenso die Abweisung einer Klage als unzulässig statt als unbegründet.29 Ein weiteres Beispiel bildet ein Fall, in dem ein Oberverwaltungsgericht die erstinstanzliche Entscheidung in jedem Fall aufheben wollte, in einem Fall, weil eine Genehmigung nicht erforderlich wäre, im anderen, weil sie erforderlich, aber zu Unrecht versagt worden wäre.30 Auch bejaht das Bundesverfassungsgericht die Entscheidungserheblichkeit trotz gleichbleibender Entscheidungsformel, wenn bei einer tragenden alternativen Begründung die Rechtskraftwirkungen einer Entscheidung im unklaren blieben und aus diesem Grund weiterer Rechtsstreit über künftiges Verhalten zwischen den Beteiligten zu erwarten wäre. Dies ist etwa der Fall bei verwaltungsgerichtlichen Urteilen, wenn sich ihre materielle Rechtskraft auf das Verhalten der Beteiligten auch für die Zukunft auswirkt. Gerade wenn es naheliegt, dass sich die Beteiligten für ihr künftiges Verhalten am Inhalt der ergangenen Entscheidung ausrichten, soll eine Vorlage geboten sein, da bei einer alternativen Begründung – einmal mit Annahme der Gültigkeit der Norm, einmal mit Annahme ihrer Ungültigkeit – die Rechtslage nicht ausreichend geklärt würde.31 Ein Sonderfall liegt vor, wenn Gegenstand des Ausgangsverfahrens eine (vermeintliche) Ungleichbehandlung ist. Da der Gesetzgeber einen Gleichheitsverstoß im Rahmen seines Gestaltungsspielraums in der Regel auf verschiedene Weise heilen kann32, kann nicht davon ausgegangen werden, dass – 26
BVerfGE 44, 297 (300). BVerfGE 44, 297 (301). 28 BVerfGE 22, 106 (109); 91, 118 (122); kritisch Scholler/Broß, AöR 103 (1978), S. 148 (161). 29 BVerfGE 19, 330 (336); 35, 65 (72). 30 BVerfGE 18, 353 (360). 31 BVerfGE 63, 1 (24 f.). 32 Vgl. BVerfGE 73, 40 (101); 78, 350 (363). 27
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etwa bei Beanstandung der Verfassungswidrigkeit des Ausschlusses eines Klägers von einer Begünstigung – im Fall des festgestellten Gleichheitsverstoßes die begehrte Begünstigung zu gewähren wäre. In diesen Fällen soll es für die Entscheidungserheblichkeit der Vorlage aber genügen, dass dem Kläger die Feststellung der Verfassungswidrigkeit der zur Prüfung gestellten Bestimmung die Chance offenhält, eine für ihn günstigere Regelung durch den Gesetzgeber zu erreichen.33 Dabei stellt die Aussetzung des Ausgangsverfahrens bis zu einer Neuregelung des Gesetzgebers zur Heilung des vom Bundesverfassungsgericht festgestellten Gleichheitsverstoßes eine Entscheidung dar, die anders ausfällt als die Entscheidung über die Klageabweisung im Falle der Vereinbarkeit der betreffenden Norm mit dem Grundgesetz.34 Unzulässig soll eine Vorlage hingegen sein, wenn der Kläger im Ausgangsverfahren einer begünstigten Gruppe angehört, das vorlegende Gericht das zugrunde liegende Gesetz aber für verfassungswidrig hält, weil andere Personengruppen gleichheitswidrig ausgeschlossen sind. Das Bundesverfassungsgericht hat in einem solchen Fall entschieden, dass der Anspruch des begünstigten Klägers durch die Verfassungswidrigkeit der vorgelegten Norm nicht berührt wird. Wäre eine Vorlage in einem solchen Fall dennoch zulässig, so hätte dies zur Folge, dass ein Gericht vom konkreten Anlass des Rechtsstreits absehen und im Wege einer Vorlage Gesetzesinitiativen zugunsten Dritter sogar dann auslösen könnte, wenn diese selbst gar keine Ansprüche erhöben. Dies sei aber gerade nicht Aufgabe der Gerichte und Sinn der konkreten – im Unterschied zur abstrakten – Normenkontrolle.35 3. Entfallen der Entscheidungserheblichkeit Eine einmal bestehende Entscheidungserheblichkeit kann infolge neu eintretender Umstände entfallen, so dass eine ursprünglich zulässige Vorlage unzulässig wird.36 Um einen solchen „neu eintretenden Umstand“ handelt es sich etwa, wenn die Parteien des zugrundeliegenden Rechtsstreits einen Ver-
33 BVerfGE 93, 386 (394); 121, 241 (252); BVerfG, Beschluss der 4. Kammer des Zweiten Senats vom 27. Februar 2000 – 2 BvL 8/95 –, juris Rn. 20. 34 BVerfG, Beschluss der 4. Kammer des Zweiten Senats vom 27. Februar 2000 – 2 BvL 8/95 –, juris Rn. 20. 35 BVerfGE 66, 100 (106 f.); siehe auch BVerfGE 67, 239 (244); kritisch E. Klein, Konkretes Normenkontrollverfahren, in: Benda/Klein/Klein, Verfassungsprozessrecht, 3. Auflage 2012, § 24 Rn. 848 m.w.N.; Schlaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 9. Auflage 2012, Rn. 150; Löwer, Zuständigkeiten und Verfahren des Bundesverfassungsgerichts, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR III, 3. Auflage 2005, § 70 Rn. 92; zustimmend Dollinger, in: Umbach/Clemens/Dollinger (Hrsg.), BVerfGG, 2. Auflage 2005, § 80 Rn. 67; Lenz/Hansel, BVerfGG, 2013, § 80 Rn. 83. 36 BVerfGK 10, 199 (201 f.).
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gleich schließen (auch, wenn sie vereinbaren, dass dadurch die Vorlage nicht beeinflusst werden soll).37 Hat sich ein Verfahren – beispielsweise durch Zeitablauf – erledigt, soll die Entscheidungserheblichkeit ebenfalls entfallen.38 In einem solchen Fall ist der Vorlagebeschluss durch das vorlegende Gericht aufzuheben, da das Bundesverfassungsgericht sonst die Unzulässigkeit der Vorlage feststellen wird.39 Bei Gesetzesänderungen ist zu differenzieren: Erfasst die Gesetzesänderung den streitgegenständlichen Zeitraum nicht, bleibt das vorgelegte Gesetz entscheidungserheblich.40 Dabei kann sich aufgrund der Gesetzesänderung ein konkretes Begehren zwar für die Zukunft erledigen, die Entscheidungserheblichkeit besteht jedoch fort, wenn im Ausgangsverfahren für den bereits vergangenen streitgegenständlichen Zeitraum zur Fortsetzungsfeststellungsklage übergegangen werden kann.41 Erfasst die Gesetzesänderung demgegenüber auch den streitgegenständlichen Zeitraum, tritt sie also rückwirkend in Kraft, entfällt die Entscheidungserheblichkeit des vorgelegten Gesetzes.42 Soll das Normenkontrollverfahren gleichwohl fortgeführt werden, muss das vorlegende Gericht die geänderte Fassung des vorgelegten Gesetzes ausdrücklich zum Gegenstand der Vorlage machen. Zwischenzeitliche Gesetzesänderungen, die den streitgegenständlichen Zeitraum betreffen, werden nur dann vom Bundesverfassungsgericht von Amts wegen in die Prüfung einbezogen, wenn die Begründung des Vorlagebeschlusses auch noch auf die neue Gesetzesfassung zutrifft, der sachliche Gehalt des vom Gericht vorgelegten Gesetzes also im Wesentlichen erhalten geblieben ist.43 4. Fallgruppen, in denen das Bundesverfassungsgericht die Entscheidungserheblichkeit eines Gesetzes verneint hat Nach den dargelegten Grundsätzen dürfte die Frage nach der Entscheidungserheblichkeit – also die Frage danach, ob es auf die Gültigkeit des für verfassungswidrig gehaltenen Gesetzes ankommt – das vorlegende Gericht
37 BVerfGE 46, 66 (71 f.); für weitere Beispiele siehe Dollinger, in: Umbach/Clemens/ Dollinger (Hrsg.), BVerfGG, 2. Auflage 2005, § 80 Rn. 88. 38 BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 13. November 2000 – 1 BvL 33/97 –, juris Rn. 2. 39 Vgl. BVerfGE 29, 325 (327); BVerfGK 18, 290 (291); ausführlich Lenz/Hansel, BVerfGG, 2013, § 80 Rn. 13 ff. 40 BVerfGE 44, 70 (88); 46, 55 (60); 47, 46 (64); 106, 275 (297); 123, 1 (14). 41 BVerfGE 106, 275 (297). 42 Siehe etwa BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 28. April 2003 – 1 BvL 4/01 –, juris Rn. 3. 43 BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 13. Dezember 1993 – 1 BvL 12/92 –, juris Rn. 44; Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 24. August 2000 – 1 BvL 2/98 –, juris Rn. 31 f.
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zumindest auf den ersten Blick nicht vor besondere Schwierigkeiten stellen. Gleichwohl scheitern Vorlagen in vielen Fällen aber bereits an der Frage der Entscheidungserheblichkeit. Dies liegt insbesondere auch daran, dass das Bundesverfassungsgericht bei der Prüfung dieser Frage einen strengen Maßstab anlegt.44 Das Anlegen dieses strengen Maßstabs wird vor allem mit der Funktion der konkreten Normenkontrolle begründet, deren Ziel es sein soll, eine Entscheidung in einem konkreten Rechtsstreit zu gewährleisten. So soll verhindert werden, dass der vom Gericht im Ausgangsverfahren zu treffenden Entscheidung mit der Verfassung nicht in Einklang stehendes Recht zugrunde gelegt wird.45 Demgemäß soll das – dem Bundesverfassungsgericht mit Art. 100 Abs. 1 GG zur Entscheidung zugewiesene – Zwischenverfahren dann geboten und zulässig sein, wenn es für die im Ausgangsverfahren zu treffende Entscheidung auf die Gültigkeit der zur Prüfung gestellten Norm ankommt.46 Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts entspricht es dabei nicht der Funktion eines Normenkontrollverfahrens und kann auch nicht Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts sein, Rechtsfragen zu entscheiden, die erkennbar für die Entscheidung der eigentlichen Streitfrage bedeutungslos sind.47 Zweck des Verfahrens soll nicht die Beantwortung hypothetischer Verfassungsfragen,48 und die konkrete Normenkontrolle soll auch kein Mittel einer allgemeinen Aufsicht über den Gesetzgeber sein.49 Zudem soll der „Grundsatz der Subsidiarität der Verfassungsgerichtsbarkeit“ gegenüber Verfahren, deren abschließende Beilegung in die Gerichtsbarkeit der Instanzgerichte gehört, zu beachten sein.50 Die mit der Durchführung des Normenkontrollverfahrens verbundene Inanspruchnahme oberster Verfassungsorgane soll sich daher nur dann rechtfertigen lassen, wenn sie zur Entscheidung eines bestimmten Rechtsstreits unerlässlich ist.51 Auch dürfen die von Verfassungs wegen zu beachtenden Unterschiede zwischen der konkreten Normenkontrolle gemäß Art. 100 Abs. 1 GG einer-
44 Vgl. BVerfGE 97, 49 (66); BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 30. Januar 2002 – 2 BvL 2/00 –, juris Rn. 52. 45 Vgl. BVerfGE 46, 268 (283); BVerfGK 1, 11 (13). 46 Vgl. hierzu bereits oben sowie BVerfGE 46, 268 (283). 47 BVerfGE 42, 42 (50); 46, 66 (71); 65, 265 (277); BVerfGK 1, 232 (234); BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 14. März 1996 – 2 BvL 19/94 –, juris Rn. 18. 48 BVerfGE 70, 173 (180). 49 BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 29. Juni 2004 – 2 BvL 8/02 –, NJW 2004, S. 3620 (3621). 50 BVerfGE 47, 146 (154); 63, 1 (22); BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 15. Mai 1994 – 2 BvL 12/94 –, NJW 1995, S. 772 (772); Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 14. August 1998 – 2 BvL 11/96 –, juris Rn. 14; Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 20. Mai 1998 – 1 BvL 34/94 u.a. –, juris Rn. 16. 51 BVerfGE 51, 161 (164); BVerfGK 1, 232 (235).
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seits und der abstrakten Normenkontrolle gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG andererseits (vgl. hierzu bereits oben) nicht verwischt werden.52 Da das Anlegen eines strengen Maßstabes durch das Bundesverfassungsgericht häufig dazu führt, dass auch Vorlagen von Gerichten, denen die dargestellten Anforderungen bei der Frage nach der Entscheidungserheblichkeit grundsätzlich bewusst sind, bereits an der Zulässigkeit der Vorlage und dort an der Frage der Entscheidungserheblichkeit scheitern, sollen im Folgenden Fallgruppen aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts herausgearbeitet werden, in denen das Bundesverfassungsgericht die Entscheidungserheblichkeit der Gültigkeit des vorgelegten Gesetzes – gerade auch mit Blick auf den jeweiligen Einzelfall – verneint hat. a) 1. Fallgruppe: Auf die Gültigkeit des vorgelegten Gesetzes kommt es nicht an Die erste und wahrscheinlich naheliegendste Fallgruppe, in der das Bundesverfassungsgericht die Entscheidungserheblichkeit verneint, sind Fälle, in denen es auf die Gültigkeit des Gesetzes – anders als vom vorlegenden Gericht angenommen – für die Entscheidung im Ausgangsverfahren nicht ankommen soll. Bei der Prüfung der Frage, ob es auf die Gültigkeit des vorgelegten Gesetzes ankommt, legt das Bundesverfassungsgericht in der Regel den (einfachrechtlichen) Rechtsstandpunkt des vorlegenden Gerichts zugrunde.53 Dadurch soll verhindert werden, dass das Bundesverfassungsgericht eine Sachentscheidung gemäß Art. 100 Abs. 1 GG nicht treffen kann, weil es seinem (einfachrechtlichen) Rechtsstandpunkt nach auf die Gültigkeit des angegriffenen Gesetzes bei der Entscheidung des vorlegenden Gerichts nicht ankommt, das vorlegende Gericht wiederum aber ohne die nach seinem (einfachrechtlichen) Rechtsstandpunkt als notwendig angesehene (verfassungsrechtliche) Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts eine Entscheidung im Ausgangsverfahren nicht fällen kann.54 Dieses Vorgehen entspricht der Arbeitsteilung zwischen Bundesverfassungsgericht und Instanzgerichten: 52 Vgl. BVerfGE 42, 42 (49 f.); 97, 49 (66 f.); BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 16. September 1998 – 1 BvL 21/94 –, juris Rn. 34; Scholler/Broß, AöR 103 (1978), S. 148 (151). 53 BVerfGE 2, 181 (190 f.); 8, 210 (214); 9, 250 (254); 13, 31 (35 f.); 14, 76 (87); 44, 297 (299); 46, 268 (283); 50, 108 (112); 56, 128 (136); 66, 226 (231); 68, 352 (358); 69, 150 (159); 70, 173 (179); 78, 25 (30); 79, 245 (249); 86, 52 (56); 88, 187 (194); 89, 132 (140); 94, 315 (323); 108, 186 (208); 129, 186 (203); BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 7. April 1997 – 1 BvL 11/96 –, NJW 1997, S. 2230 (2230); Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 16. September 1998 – 1 BvL 21/94 –, juris Rn. 33. 54 BVerfGE 2, 181 (191); Löwer, Zuständigkeiten und Verfahren des Bundesverfassungsgerichts, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR III, 3. Auflage 2005, § 70 Rn. 94; Geiger, EuGRZ 1984, S. 409 (415).
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Während letztere für die Auslegung und Anwendung des einfachen Rechts zuständig sind55, ist es Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts, die vorgelegte Verfassungsfrage zu entscheiden.56 Die Regel, dass das Bundesverfassungsgericht bei der Prüfung der Frage, ob es auf die Gültigkeit des vorgelegten Gesetzes ankommt, den Rechtsstandpunkt des vorlegenden Gerichts zugrunde legt,57 erfährt jedoch drei Ausnahmen58: Zum einen legt das Bundesverfassungsgericht die (einfachrechtliche) Rechtsauffassung des vorlegenden Gerichts der Prüfung nicht zugrunde, wenn diese Rechtsauffassung offensichtlich unhaltbar ist (aa)),59 zum anderen überprüft es verfassungsrechtliche Vorfragen, auf die es für diese Prüfung ankommt, in vollem Umfang (bb)).60 Als dritte – relativ neue – Ausnahme überprüft das Bundesverfassungsgericht den Rechtsstandpunkt des vorlegenden Gerichts unter bestimmten Umständen vollständig, wenn Gegenstand der Vorlage Unionsrecht umsetzendes nationales Recht ist (vgl. hierzu bereits oben sowie unter (cc)).61 aa) Offensichtliche Unhaltbarkeit des (einfachrechtlichen) Rechtsstandpunktes Während die zweite Ausnahme, nämlich der Vorbehalt des Bundesverfassungsgerichts, die Rechtsauffassung des vorlegenden Gerichts hinsichtlich verfassungsrechtlicher Vorfragen vollständig zu überprüfen, die genuine Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts zur Beurteilung verfassungsrecht-
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BVerfGE 1, 418 (420). BVerfGE 2, 181 (192); siehe auch Heun, AöR 122 (1997), S. 610 (622). 57 Vgl. BVerfGE 2, 181 (190 f.); 8, 210 (214); 9, 250 (254); 13, 31 (35 f.); 14, 76 (87); 44, 297 (299); 46, 268 (283); 50, 108 (112); 56, 128 (136); 66, 226 (231); 68, 352 (358); 69, 150 (159); 70, 173 (179); 78, 25 (30); 79, 245 (249); 86, 52 (56); 88, 187 (194); 89, 132 (140); 94, 315 (323); 108, 186 (208); 129, 186 (203); BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 7. April 1997 – 1 BvL 11/96 –, NJW 1997, S. 2230 (2230); Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 16. September 1998 – 1 BvL 21/94 –, juris Rn. 33. 58 Zu den Ausnahmen siehe auch die Kritik von Geiger, EuGRZ 1984, S. 409 (414 f.). 59 BVerfGE 3, 187 (195); 7, 171 (175); 8, 210 (214); 9, 250 (254); 13, 31 (35 f.); 15, 105 (111); 18, 274 (280 f.); 23, 276 (284); 24, 63 (67); 24, 268 (275); 27, 162 (166); 43, 27 (31); 44, 297 (299); 45, 376 (385); 46, 268 (283); 46, 299 (306); 50, 108 (112); 56, 128 (136); 62, 223 (229); 65, 132 (137); 66, 226 (231); 68, 352 (358); 69, 150 (159); 70, 173 (179); 78, 25 (30); 79, 245 (249); 84, 348 (357 f.); 86, 52 (56); 88, 187 (194); 89, 132 (140); 94, 315 (323); 108, 186 (208); 129, 186 (203); BVerfGK 2, 17 (21); BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 7. April 1997 – 1 BvL 11/96 –, NJW 1997, S. 2230 (2230); Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 16. September 1998 – 1 BvL 21/94 –, juris Rn. 33; Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 28. April 2003 – 1 BvL 4/01 –, juris Rn. 1; offen gelassen noch in BVerfGE 2, 181 (191). 60 Vgl. BVerfGE 46, 268 (284); 48, 29 (38); 69, 150 (159); 89, 144 (151 f.); Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 28. April 2003 – 1 BvL 4/01 –, juris Rn. 1. 61 BVerfGE 129, 186 (203). 56
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licher Fragen betrifft,62 weicht das Bundesverfassungsgericht mit der Prüfung der „Unhaltbarkeit“ des (einfachrechtlichen) Rechtsstandpunktes des vorlegenden Gerichts ein Stück weit von der bereits beschriebenen Aufgabenteilung mit den Instanzgerichten ab und nimmt im Ergebnis für sich in Anspruch, die Anwendung des einfachen Rechts durch das Instanzgericht – wenn auch eingeschränkt – überprüfen zu dürfen.63 Wann eine Rechtsauffassung „offensichtlich unhaltbar“ ist, wird vom Bundesverfassungsgericht nicht näher konkretisiert; in einigen Entscheidungen fragt es auch danach, ob die instanzgerichtliche Rechtsauffassung „vertretbar“ oder „nachvollziehbar“ ist,64 ohne dass dabei der genaue Prüfungsmaßstab deutlich würde. Wenn in der Literatur zum Teil angenommen wird, es handle sich um eine „Extremoder Evidenzkontrolle“,65 mag dies für frühere Entscheidungen noch zutreffen,66 angesichts oftmals seitenlanger Ausführungen zur „Unhaltbarkeit“ einer (einfachrechtlichen) Rechtsauffassung67 fällt es allerdings schwer, dies auch heute noch anzunehmen.68 Das Bundesverfassungsgericht spricht in diesem Zusammenhang auch durchaus selbst von einer „näheren Prüfung“.69 Eine einheitliche Linie hinsichtlich der Prüfungstiefe lässt sich dabei nicht feststellen.70 Unbedingt zu beachten ist, dass das „Unhaltbarkeitskriterium“
62 So auch Löwer, Zuständigkeiten und Verfahren des Bundesverfassungsgerichts, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR III, 3. Auflage 2005, § 70 Rn. 95; kritisch zu dieser Ausnahme, da das Bundesverfassungsgericht kein Monopol auf Verfassungsauslegung habe, E. Klein, Konkretes Normenkontrollverfahren, in: Benda/Klein/Klein, Verfassungsprozessrecht, 3. Auflage 2012, § 24 Rn. 838; der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zustimmend Dollinger, in: Umbach/Clemens/Dollinger (Hrsg.), BVerfGG, 2. Auflage 2005, § 80 Rn. 60; Lenz/Hansel, BVerfGG, 2013, § 80 Rn. 98. 63 Kritisch hierzu Wieland, in: Dreier (Hrsg.), GG, Bd. 3, 2. Auflage 2008, Art. 100 Rn. 21: Das Bundesverfassungsgericht laufe Gefahr, die Grenze zur genuinen Kompetenz der Fachgerichtsbarkeit zu überschreiten; die Zulässigkeitskriterien würden in fragwürdiger Weise zur Reduzierung der Verfahrenslast des Bundesverfassungsgerichts instrumentalisiert; Bedenken auch bei E. Klein, Konkretes Normenkontrollverfahren, in: Benda/ Klein/Klein, Verfassungsprozessrecht, 3. Auflage 2012, § 24 Rn. 764. 64 BVerfGE 4, 45 (48); 77, 308 (327); 99, 280 (288); 104, 74 (82); 110, 412 (429); 116, 164 (179). 65 Ulsamer, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge (Hrsg.), BVerfGG, § 80 Rn. 279 (Oktober 1985). 66 Vgl. etwa BVerfGE 7, 45 (49); 13, 31 (35 f.); siehe hierzu auch bereits Gerontas, DVBl 1981, S. 1089 (1092): „In neuen Entscheidungen des BVerfG zeichnet sich eine Wende von der bisherigen Extrem- und Evidenzkontrolle zugunsten einer sorgfältigen Überprüfung der Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefrage ab“. 67 Vgl. etwa BVerfGE 105, 61. 68 Zweifelnd auch E. Klein, Konkretes Normenkontrollverfahren, in: Benda/Klein/ Klein, Verfassungsprozessrecht, 3. Auflage 2012, § 24 Rn. 833. 69 Siehe BVerfGE 23, 146 (149). 70 So auch E. Klein, Konkretes Normenkontrollverfahren, in: Benda/Klein/Klein, Verfassungsprozessrecht, 3. Auflage 2012, § 24 Rn. 815 m. Fn. 21. Scholler/Broß, AöR 103 (1978), S. 148 (151) halten den Begriff der offensichtlichen Unhaltbarkeit für nicht hinrei-
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nicht nur die rechtliche, sondern auch die tatsächliche Würdigung betrifft,71 also nicht nur die (einfach-)rechtlichen Erwägungen des vorlegenden Gerichts, sondern auch die Subsumtion unter den von ihm zugrunde gelegten Maßstab überprüft werden.72 Sehr weit bei der Überprüfung der Rechtsauffassung des vorlegenden Gerichts ging das Bundesverfassungsgericht in einer vielkritisierten73 Entscheidung, in der im Ausgangsverfahren eine gesetzlich krankenversicherte Klägerin vor dem Sozialgericht beantragt hatte, ihre Krankenkasse dazu zu verpflichten, keine Leistungen für nicht aus medizinischen Gründen notwendige Schwangerschaftsabbrüche zu erbringen.74 Auf Vorlage des Sozialgerichts, das die Klage als zulässige Unterlassungsklage wertete, führte das Bundesverfassungsgericht aus, dass – da die Klage ausschließlich auf Bestimmungen des Verfassungsrechts gestützt sei –, sich die Zulässigkeit der Klage nicht allein nach dem für das Verfahren der Sozialgerichte geltenden Prozessrecht beurteilen lasse, sondern auch Verfassungsprozessrecht eine Rolle spiele. Die für das Ausgangsverfahren maßgebende Verfahrensordnung sei in ihrem Zusammenhang mit den Bestimmungen des Grundgesetzes und des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes über das Normenkontrollverfahren zu sehen. Da die verbindliche Auslegung der Bestimmungen des Verfassungs- und des Verfassungsprozessrechts dem Bundesverfassungsgericht obliege, sei dieses verpflichtet, die Zulässigkeit der im Ausgangsverfahren erhobenen Klage insoweit zu prüfen, als diese von der Auslegung der einschlägigen Bestimmungen des Verfassungsprozessrechts abhänge.75 Die demnach dem Bundesverfassungsgericht obliegende Prüfung der Zulässigkeit der im Ausgangsverfahren erhobenen Klage ergebe jedoch, dass die von der Klägerin im Ausgangsverfahren erhobene Klage als Popularklage unzulässig sei.76 Die Klägerin des Ausgangsverfahrens verlange eine chend bestimmt und plädieren für eine sorgfältige Prüfung der Entscheidungserheblichkeit, bei der das Bundesverfassungsgericht den Rechtsstreit (zunächst auch) anhand des einfachen Rechts prüft (a.a.O., S. 158 f.). Dies sei auch im Hinblick auf die gebotene richterliche Zurückhaltung gegenüber dem Gesetzgeber geboten (a.a.O., S. 162). Hieran entfesselt sich auch ein Großteil der Kritik der Literatur, die etwa annimmt, dass das Bundesverfassungsgericht über das Kriterium der Entscheidungserheblichkeit seinen Zugriff auf die Prüfungsgegenstände steuere, vgl. etwa Heun, AöR 122 (1997), S. 610 (610), und dem Bundesverfassungsgericht etwa „Beliebigkeit“ attestieren, vgl. Lenz/Hansel, BVerfGG, 2013, § 80 Rn. 124. 71 BVerfGE 13, 31 (35 f.), 81, 40 (49). 72 Siehe etwa BVerfGE 56, 128 (136 ff.), wo das Bundesverfassungsgericht die Annahme des vorlegenden Gerichtes, der Kläger im Ausgangsverfahren habe die Versäumung der Antragsfrist zu vertreten, als unhaltbar beurteilt hat. 73 Siehe etwa E. Klein, Konkretes Normenkontrollverfahren, in: Benda/Klein/Klein, Verfassungsprozessrecht, 3. Auflage 2012, § 24 Rn. 840 m.w.N.; scharfe Kritik bei Geiger, EuGRZ 1984, S. 409 ff. 74 BVerfGE 67, 26. 75 BVerfGE 67, 26 (34). 76 BVerfGE 67, 26 (36).
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Unterlassung, auf die sie sozialrechtlich keinen Anspruch habe, weil die gesetzlich normierte Kassenleistung an Dritte ihren persönlichen, durch das Mitgliedschaftsverhältnis zur Krankenkasse bestimmten Rechtskreis nicht berühre. Eine Klage, der kein individueller Rechtsanspruch zugrunde liege, sei jedoch unzulässig. Es könne dem Einzelnen nicht ermöglicht werden, über den Umweg der konkreten Normenkontrolle abstrakt die Verfassungsmäßigkeit von Rechtsnormen überprüfen zu lassen. Eine abstrakte Normenkontrolle könnten nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG gerade nur die Bundesregierung, eine Landesregierung oder ein Drittel der Mitglieder des Bundestages beantragen. Diese Entscheidung des Grundgesetzes würde unterlaufen, wenn es anderen als den verfassungsrechtlich vorgesehenen Antragsberechtigten ermöglicht würde, auf dem Umweg eines Sozialgerichtsprozesses und einer durch diesen ausgelösten konkreten Normenkontrolle ein Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht in Gang zu setzen, das sich in nichts von einer abstrakten Normenkontrolle unterschiede.77 Ob mit diesen Erwägungen tatsächlich die Frage der „Unhaltbarkeit“ der fachgerichtlichen Rechtsauffassung zur Zulässigkeit der Klage im Ausgangsverfahren behandelt wurde oder ob das Bundesverfassungsgericht nicht vielmehr einen eigenständigen Unzulässigkeitsgrund der Vorlage annehmen wollte,78 ist fraglich. Nachvollziehbarer dürfte die zweite Möglichkeit sein, denn von einer „Unhaltbarkeit“ der Auffassung des vorlegenden Sozialgerichts konnte wohl eher nicht die Rede sein.79 Der Hinweis des Bundesverfassungsgerichts, es sei zur vollständigen Überprüfung des Verfassungs- und Verfassungsprozessrechts berufen, der annehmen lassen könnte, das Bundesverfassungsgericht sei davon ausgegangen, dass die oben bereits angesprochene zweite Ausnahme (vgl. dazu unten 4.a)bb)) – die Beantwortung verfassungsrechtlicher Vorfragen – vorliege, hilft dabei ebenfalls nicht weiter, denn das Bundesverfassungsgericht hat ja gerade kein Verfassungsrecht, sondern das Prozessrecht des sozialgerichtlichen Verfahrens ausgelegt.80 Unabhängig von der konkreten Verortung dieses Problems ist der Ausschluss einer Vorlage in Verfahren, in denen es über den Umweg der konkreten Normenkontrolle eigentlich nur um die Durchführung einer Popularklage zur Frage der Nichtigkeit eines Gesetzes geht, angesichts der erforderlichen Abgrenzung der konkreten von der abstrakten Normenkontrolle aber sachgerecht.81 77
BVerfGE 67, 26 (37). Hierzu Schlaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 9. Auflage 2012, Rn. 156. 79 Siehe auch Löwer, Zuständigkeiten und Verfahren des Bundesverfassungsgerichts, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR III, 3. Auflage 2005, § 70 Rn. 96. 80 So aber Dollinger, in: Umbach/Clemens/Dollinger (Hrsg.), BVerfGG, 2. Auflage 2005, § 80 Rn. 60: Es sei im Ausgangsverfahren um die verfassungskonforme Auslegung der Zulässigkeitskriterien gegangen; diese falle aber letztverbindlich in die Kompetenz des Bundesverfassungsgerichts. 81 Ähnlich auch Schlaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 9. Auflage 2012, Rn. 156. 78
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Bietet die Prüfung der „Unhaltbarkeit“ der (einfachrechtlichen) Rechtsauffassung für das vorlegende Gericht damit durchaus Unwägbarkeiten, enthält die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts doch zumindest einige Anhaltspunkte dafür, welche Fehler vermieden werden können. So läuft eine Auslegung, die dem Wortlaut und/oder der Entstehungsgeschichte der Norm widerspricht, Gefahr, als unhaltbar betrachtet zu werden, dies zumindest dann, wenn das vorlegende Gericht sie nicht weiter begründet.82 Auch bei einer Rechtsauffassung, mit der das Gericht allein steht und die nicht von anderen Gerichten oder Literaturstimmen geteilt wird, liegt die Beurteilung als unhaltbar näher als in Fällen, in denen andere Gerichte dieselbe Auslegung einer Norm vertreten;83 in letzterem Fall muss es unter Umständen noch nicht einmal schaden, wenn die Rechtsauffassung im Widerspruch zur Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes steht.84 Auch zeigt sich hier bereits die Notwendigkeit hinreichender Darlegungen des vorlegenden Gerichtes zu der von ihm vertretenen (einfachrechtlichen) Rechtsauffassung (siehe dazu sogleich unten 4 c)), denn eine lediglich behauptete und nicht begründete (einfachrechtliche) Rechtsauffassung wird schneller als unhaltbar klassifiziert werden.85 bb) Vollumfängliche Prüfung verfassungsrechtlicher Vorfragen Soweit das vorlegende Gericht bei der Prüfung verfassungsrechtliche Vorfragen zu klären hat, überprüft das Bundesverfassungsgericht die Rechtsauffassung des Ausgangsgerichts in vollem Umfang, was wie bereits beschrieben konsequent ist, da dies der genuinen Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts entspricht. Auf die Prüfung einer verfassungsrechtlichen Vorfrage kommt es etwa dann an, wenn es sich um die Anwendung von Rechtssätzen durch das vorlegende Gericht handelt, die das Bundesverfassungsgericht aus dem Grundgesetz entwickelt hat.86 Dabei geht es nicht um die Verfassungswidrigkeit der vorgelegten Norm selbst, sondern vielmehr um Konstellationen, in denen das vorlegende Gericht zur Begründung, warum es bei Gültigkeit des Gesetzes zu einer anderen Entscheidung kommen würde als bei seiner Ungültigkeit, Verfassungsrecht heranziehen muss, etwa um einem Gesetz, das es im Falle der Ungültigkeit des vorgelegten Gesetzes stattdessen heranziehen würde, einen bestimmten Anspruchsinhalt zuzusprechen87 oder um zu begründen, warum das Fehlen einer gesetzlichen Grund82
BVerfGE 86, 52 (57 f.). Siehe etwa BVerfGE 8, 210 (214); 15, 105 (111); 18, 274 (282); 45, 376 (384 f.). 84 BVerfGE 15, 105 (111). 85 BVerfGE 27, 162 (166). 86 BVerfG, Beschluss der 4. Kammer des Zweiten Senats vom 27. Februar 2000 – 2 BvL 8/95 –, juris Rn. 21. 87 Vgl. BVerfGE 46, 268 (284); siehe auch BVerfGE 8, 28 (33). 83
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lage für eine Übergangszeit hinzunehmen wäre.88 An diese verfassungsrechtlichen Vorüberlegungen des vorlegenden Gerichts ist das Bundesverfassungsgericht nicht gebunden.89 Andererseits ist das Bundesverfassungsgericht zu einer entsprechenden Nachprüfung auch nicht verpflichtet, sondern kann von ihr absehen, wenn eine Auseinandersetzung hiermit zum Beispiel unzweckmäßig wäre, weil die Entscheidungserheblichkeit der vorgelegten Norm von der Klärung umfassender und schwieriger verfassungsrechtlicher Vorfragen abhinge, deren Nachprüfung (allein zur Klärung der Frage, ob die Vorlage zulässig ist) das Bundesverfassungsgericht gleichermaßen oder gar mehr belastete als eine Entscheidung über die Vorlage in der Sache.90 cc) Umsetzung von Unionsrecht Als dritte – wie bereits beschrieben – relativ neue Ausnahme überprüft das Bundesverfassungsgericht den Rechtsstandpunkt des vorlegenden Gerichts unter bestimmten Umständen auch dann vollständig, wenn Gegenstand der Vorlage Unionsrecht umsetzendes nationales Recht ist.91 Wie bereits dargestellt, geht das Bundesverfassungsgericht in derartigen Konstellationen davon aus, dass es auf die am Grundgesetz zu messende Gültigkeit beziehungsweise Ungültigkeit des Gesetzes nur ankommt, wenn das Gesetz in Ausfüllung eines nationalen Umsetzungsspielraums ergangen ist. Ob das Unionsrecht im jeweiligen Streitfall einen derartigen Umsetzungsspielraum lässt, hat zunächst das Fachgericht zu klären (vgl. bereits oben unter 2.b)). Seine diesbezügliche Rechtsauffassung prüft das Bundesverfassungsgericht dann jedoch vollumfänglich und nicht nur begrenzt auf ihre Vertretbarkeit nach. Nach Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts soll eine Beschränkung der Kontrolle der Rechtsauffassung des vorlegenden Gerichts in diesem Fall nämlich nicht gerechtfertigt sein, weil mit der Entscheidung über die Reichweite der unionsrechtlichen Bindung des nationalen Gesetzgebers zugleich über die Grenzen der verfassungsgerichtlichen Prüfung am Maßstab des Grundgesetzes befunden wird. Die Entscheidung eines Fachgerichts darüber, ob und inwieweit Unionsrecht dem Gesetzgeber einen Umsetzungsspielraum belässt, soll daher nicht nur einer Offensichtlichkeitskontrolle durch das Bundesverfassungsgericht unterworfen sein. Dem Bundesverfassungsgericht soll vielmehr gerade ein weitergehendes Überprüfungsrecht zustehen, da es anderenfalls das Fachgericht in der Hand hätte, auch mit einer nicht überzeugend begründeten Annahme eines dem nationalen Gesetzgeber verbleibenden Umsetzungsspielraums eine inhaltliche Prüfung durch das
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BVerfGE 48, 29 (37 f.). BVerfGE 46, 268 (284); 48, 29 (38); siehe zur Kritik an dieser Ausnahme oben, Fn. 62. BVerfGE 63, 1 (27 f.). Vgl. BVerfGE 129, 186 (203).
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Bundesverfassungsgericht zu veranlassen, sofern sie sich nicht bereits als offensichtlich unhaltbar erweist.92 b) 2. Fallgruppe: Fehlende Darlegungen des vorlegenden Gerichts Die zweite und wahrscheinlich wichtigste Gruppe von Fällen, in denen das Bundesverfassungsgericht die Zulässigkeit der Vorlage unter dem Aspekt der Entscheidungserheblichkeit verneint, sind Fälle, in denen die Darlegungen des vorlegenden Gerichts nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts nicht ausreichen, um abschließend zu entscheiden, ob es auf die Gültigkeit der vorgelegten Norm für die Entscheidung des Rechtsstreits tatsächlich ankommt. Unsicherheiten gehen dabei zu Lasten des vorlegenden Gerichts. Zwar enthält Art. 100 Abs. 1 GG keine Bestimmung darüber, wer die Entscheidungserheblichkeit der vorgelegten Norm darlegen muss; § 80 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG bestimmt jedoch, dass mit der Begründung des Vorlagebeschlusses angegeben werden muss, inwiefern von der Gültigkeit der Rechtsnorm die Entscheidung des Gerichts abhängig ist. In frühen Jahren legte das Bundesverfassungsgericht hinsichtlich dieses Begründungserfordernisses einen recht großzügigen Maßstab an. In einem Normenkontrollverfahren aus dem Jahr 1953 hatte das Bundesverfassungsgericht zum Beispiel den Einwand der im Verfahren angehörten Bundesregierung, das vorlegende Gericht habe nicht geprüft, ob es für die Entscheidung auf die Vereinbarkeit des vorgelegten Gesetzes mit dem Grundgesetz ankomme, mit dem Hinweis verworfen, es sei ersichtlich, dass die Entscheidung des Gerichts von der Gültigkeit des Gesetzes abhänge, was für die Zulässigkeit der Vorlage genüge. Art. 100 Abs. 1 GG fordere vom Vorlagebeschluss keine Ausführungen hierüber; auch § 80 Abs. 2 BVerfGG verpflichte das vorlegende Gericht nicht, alle sich im weiteren Verfahren ergebenden Entscheidungsmöglichkeiten darauf hin zu überprüfen, ob es in jedem Fall auf die Wirksamkeit der für nichtig angesehenen Gesetzesvorschrift ankomme.93 In weiteren frühen Entscheidungen hat das Bundesverfassungsricht überprüft, ob sich die Auffassung des vorlegenden Gerichts zu der Frage, wie es bei Gültigkeit beziehungsweise Ungültigkeit entscheiden würde, dem Vorlagebeschluss sinngemäß94 oder aus seinem Zusammenhang95 entnehmen lasse. Eine Ergänzung der Darlegungen des Gerichts aus Sinn und Zusammenhang des Vorlagebeschlusses sollte dabei allerdings nicht möglich sein, wenn sich dem Vorlagebeschluss zwar sinngemäß entnehmen ließ, wie das Gericht im Fall der Ungültigkeit der vorgelegten Norm ent-
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BVerfGE 129, 186 (203 f.). BVerfGE 2, 266 (271). Vgl. BVerfGE 2, 380 (389). Vgl. BVerfGE 7, 171 (174); 9, 250 (254); 22, 39 (42).
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scheiden würde, nicht aber, warum es im Fall ihrer Gültigkeit anders entscheiden würde.96 Ob es das Bundesverfassungsgericht auch heute noch als ausreichend betrachten würde, dass sich die Beantwortung einer Frage zur Entscheidungserheblichkeit dem Vorlagebeschluss sinngemäß entnehmen lässt, ist äußerst zweifelhaft. Zwar spricht die standardmäßige Formulierung des Bundesverfassungsgerichts, ein Vorlagebeschluss müsse „mit hinreichender Deutlichkeit erkennen lassen, dass das vorlegende Gericht bei Gültigkeit der Vorschrift zu einem anderen Ergebnis kommen würde als im Falle ihrer Ungültigkeit, und wie es dieses Ergebnis begründen würde“,97 nicht zwingend dagegen, dass das Bundesverfassungsgericht diese „hinreichende Deutlichkeit“ auch dann bejahen könnte, wenn sie sich sinngemäß aus dem Vorlagebeschluss ergeben würde. In jüngeren Entscheidungen finden sich derartige Ausführungen allerdings nicht mehr, und auch die seit der Entscheidung „Normenkontrolle III“ im 22. Band stets wiederholte Anforderung, das vorlegende Gericht müsse die „rechtlichen Erwägungen darlegen, nach denen es für die von ihm zu treffende Entscheidung auf die Gültigkeit der gesetzlichen Vorschrift ankommt“98, spricht dagegen, dass das Bundesverfassungsgericht es (noch) ausreichen lassen würde, dass die Entscheidungserheblichkeit sich sinngemäß dem Vorlagebeschluss entnehmen lässt. Das vorlegende Gericht sollte jedenfalls im eigenen Interesse ausdrückliche und umfassende Erwägungen zur Entscheidungserheblichkeit anstellen. Das Darlegungserfordernis dient nicht nur der Entlastung des Bundesverfassungsgerichts, sondern liegt auch im Interesse des vorlegenden Gerichts selbst. Zum einen kommt dem Erfordernis eine gewisse Warnfunktion zu: Da das vorlegende Gericht mit der Vorlage an das Bundesverfassungsgericht eine Entscheidung im Ausgangsverfahren verzögert, soll es sich angesichts des grundrechtlichen Justizgewährungsanspruchs gründlich vergewissert haben, dass die Aussetzung des Verfahrens tatsächlich notwendig ist und seine Entscheidung nicht auch ohne Vorlage ergehen kann.99 Den aus Sicht
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BVerfGE 7, 171 (174). BVerfGE 7, 171 (174); 25, 332 (335); 35, 303 (306); 36, 258 (263); 37, 328 (334); 65, 308 (315); 68, 311 (316); 78, 306 (316); 86, 52 (56); BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 5. September 1997 – 2 BvL 8/97 –, NJW 1998, 57 (57). 98 BVerfGE 22, 175 (177). 99 Siehe hierzu BVerfGE 78, 165 (178); BVerfGK 1, 11 (12); BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 29. Oktober 1997 – 1 BvL 3/96 –, juris Rn. 18; Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 27. Januar 1999 – 2 BvL 8/98 –, juris Rn. 46; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 28. März 2002 – 2 BvL 2/01 –, juris Rn. 1, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 13. Januar 2003 – 2 BvL 9/00 –, juris Rn. 9; Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 14. Januar 2004 – 1 BvL 8/03 –, NJW 2004, S. 1233 (1234); kritisch zu dieser Argumentation Pieroth, in: Jarass/Pieroth, GG, 12. Auflage 2012, Art. 100 Rn. 11. 97
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des vorlegenden Gerichtes wohl wichtigsten Grund, ausführliche Darlegungen zur Entscheidungserheblichkeit der vorgelegten Rechtsnorm zu machen, erwähnt das Bundesverfassungsgericht nicht ausdrücklich, er lässt sich seinen Entscheidungen jedoch entnehmen: Bei den Darlegungen zur Entscheidungserheblichkeit hat das vorlegende Gericht die Möglichkeit, seine Auffassung der einfachrechtlichen Rechtslage umfassend darzulegen. Es kann für seine Auffassung – mag sie auch von der herrschenden Meinung abweichen – werben und bei sorgfältiger Argumentation dem Verdikt der Unhaltbarkeit seines Rechtsstandpunktes entgehen (siehe hierzu bereits oben, 4.a)aa)). Dieser Zusammenhang drückt sich beispielsweise auch in der vom Bundesverfassungsgericht verwendeten Formulierung aus, es folge der Rechtsauffassung des vorlegenden Gerichts, soweit sich eine solche dem Vorlagebeschluss mit hinreichender Deutlichkeit entnehmen lasse.100 Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts dazu, was zur Darlegung der Entscheidungserheblichkeit erforderlich sein soll, ist kaum noch überschaubar und zumeist durch die Umstände des Einzelfalles geprägt. Dennoch sollen im Folgenden die vom Bundesverfassungsgericht formulierten Anforderungen zumindest im Sinne eines groben Leitfadens aufgezeigt werden: aa) Vorlagebeschluss aus sich heraus verständlich Zunächst gilt, dass der Vorlagebeschluss aus sich heraus und ohne Beiziehung der – nach § 80 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG beizufügenden – Akten verständlich sein muss.101 Das vorlegende Gericht hat den dem Ausgangsverfahren zugrundeliegenden Sachverhalt darzulegen, soweit er für die rechtliche Bewertung erforderlich ist.102 Der Sachverhalt muss dabei so geschildert werden, dass auch die rechtlichen Schlussfolgerungen des vorlegenden Gerichts
100 BVerfGE 105, 61 (67); BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 30. Januar 2002 – 2 BvL 2/00 –, juris Rn. 52. 101 BVerfGE 25, 213 (215); 37, 328 (333), 62, 223 (229); 65, 265 (277); 68, 311 (316); 70, 219 (228); 85, 165 (166); BVerfGK 1, 11 (11); 1, 232 (234); BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 14. August 1996 – 2 BvL 11/96 –, juris Rn. 13; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 21. Dezember 2001 – 2 BvL 3/01 –, juris Rn. 1; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 28. März 2002 – 2 BvL 2/01 –, juris Rn. 2; Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 30. Juni 2002 – 2 BvL 2/00 –, juris Rn. 52; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 23. Juli 2002 – 2 BvL 14/98 –, juris Rn. 56; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 17. Juli 2003 – 2 BvL 15/02 –, juris Rn. 12; Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 6. Februar 2007 – 1 BvL 10/06 –, juris Rn. 19; Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 6. September 2012 – 1 BvL 13/12 –, NVwZ 2013, S. 61 (62); Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 25. September 2012 – 1 BvL 6/11 –, juris Rn. 20. 102 Vgl. BVerfGE 22, 175 (177); 37, 328 (333); 48, 396 (400); 62, 223 (229); 64, 192 (200 ff.); 65, 265 (277); 65, 308 (314); 68, 311 (316); 70, 219 (228).
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nachvollziehbar sind.103 Ein bloßer Bezug auf die Klageschrift – oder andere Unterlagen – reicht nicht aus.104 Dies bedeutet jedoch nicht, dass das Bundesverfassungsgericht den Akteninhalt nicht zur Kenntnis nimmt; zum Beispiel überprüft es bei Zweifeln den dargestellten Sachverhalt auf Richtigkeit und Vollständigkeit hin.105 Das vorlegende Gericht kann es bei der Darstellung des Sachverhalts auch nicht bei unzureichenden Tatsachenfeststellungen belassen; vielmehr muss es unter Abwägung des Für und Wider zu einer exakten Tatsachenfeststellung gelangen und in einer für das Bundesverfassungsgericht nachprüfbaren Weise im Einzelnen die Tatsachen und Erwägungen angeben, die für seine Überzeugung maßgeblich gewesen sind.106 Es muss tragfähige Feststellungen treffen, die es seiner fach- und verfassungsrechtlichen Beurteilung zugrunde legt. Die ungeprüfte Übernahme von Parteivorbringen reicht dafür grundsätzlich nicht aus.107 bb) Erschöpfende Darlegung der rechtlichen Erwägungen Darüber hinaus muss das vorlegende Gericht seine rechtlichen Erwägungen „erschöpfend darlegen“.108 Dies betrifft sowohl die Auslegung der vorgelegten Norm109 als auch die Subsumtion unter diese Norm. Das Wort „erschöpfend“ deutet bereits auf eine Schwachstelle vieler Vorlagebeschlüsse hin: Im Rahmen des § 80 Abs. 2 BVerfGG reicht es nicht aus, die eigene Auffassung nachvollziehbar zu begründen. Vielmehr muss das vorlegende Gericht sich eingehend mit der Rechtslage auseinandersetzen und die in Literatur und Rechtsprechung entwickelten Rechtsauffassungen berücksichtigen, die für die Auslegung der zur Prüfung vorgelegten Norm von Bedeutung sind.110 Der bloße Hinweis auf bestimmte Fundstellen vermag die geforderte
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Vgl. BVerfGK 18, 222; 18, 308. BVerfGE 66, 265 (268 f.). 105 Vgl. etwa BVerfGE 65, 308. 106 BVerfGK 18, 222 (233); BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 17. Mai 1994 – 2 BvL 12/94 –, NJW 1995, S. 772 (772). 107 BVerfGE 87, 341 (346 f.); BVerfGK 15, 447 (452). 108 BVerfGE 48, 396 (400); 62, 223 (229); 64, 192 (201); 68, 311 (316); 70, 219 (228). 109 BVerfGE 37, 328 (335); 68, 311 (317); 88, 70 (74 f.). 110 BVerfGE 94, 315 (333); 97, 49 (60); 105, 48 (56); 131, 88 (117); BVerfGK 1, 11 (11 f.); 5, 309 (312); 18, 222 (233); BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 29. November 1996 – 2 BvL 21/93 –, juris Rn. 12; Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 5. September 1997 – 2 BvL 8/97 –, NJW 1998, S. 57 (57); Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 7. Juni 2000 – 1 BvL 1/99 u.a. –, juris Rn. 8; Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 11. Dezember 2000 – 1 BvL 15/00 –, NVwZ-RR 2001, S. 311 (312); Beschluss der 4. Kammer des Zweiten Senats vom 20. Juli 2001 – 2 BvL 8/00 –, juris Rn. 26; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 21. Dezember 2001 – 2 BvL 3/01 –, juris Rn. 1; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 28. März 2002 – 2 BvL 2/01 –, juris Rn. 2; Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 9. Juli 2002 – 1 BvL 5/99 –, juris Rn. 10; Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 19. Dezember 2002 – 104
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Auseinandersetzung nicht zu ersetzen.111 Das Gericht muss sich mit naheliegenden anderen Auslegungsmöglichkeiten ebenso auseinandersetzen wie auch gegebenenfalls die Entstehungsgeschichte der Norm berücksichtigen.112 Richten sich die Bedenken des vorlegenden Gerichts gegen eine Vorschrift, von deren Anwendung die Entscheidung nicht allein abhängt, muss es die weiteren, mit ihr in Zusammenhang stehenden Vorschriften jedenfalls dann in seine rechtlichen Erwägungen einbeziehen, wenn sie die zur Prüfung gestellte Norm in einer Weise ergänzen, dass sie nur zusammen mit ihr die entscheidungserhebliche Regelung bilden.113 Zur erforderlichen Auseinandersetzung mit der Rechtslage reicht es auch nicht aus, aufzuzeigen, dass der Fall des Ausgangsverfahrens – bei der gefundenen Auslegung – unter die vorgelegte Norm subsumiert114 werden kann. Vielmehr ist es Aufgabe des vorlegenden Gerichts, dem Bundesverfassungsgericht aufzuzeigen, wie es bei Ungültigkeit und bei Gültigkeit der Norm entscheiden würde. Hierzu muss es sowohl die Zulässigkeit115 – etwa Statthaftigkeit und Klagebefugnis – als auch die Begründetheit der Klage umfassend darstellen.116 Wenn die Auslegung zum Beispiel der Klageanträge unklar ist, muss das Gericht auch Ausführungen zu ihrer Auslegung machen.117 Auch eine eventuell vorzunehmende Abwägung muss das Gericht bereits nachvollziehbar darstellen,118 bei einer Ermessensvorschrift muss das Gericht darlegen, zu welchem Ergebnis es bei der Ausübung eingeräumten Ermes-
1 BvL 14/02 –, NJW 2003, S. 1382 (1383); Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 17. Juli 2003 – 2 BvL 15/02 –, juris Rn. 12; Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 20. Juni 2006 – 1 BvL 2/06 –, NJW-RR 2006, S. 1500 (1500), Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 6. Februar 2007 – 1 BvL 10/06 –, juris Rn. 19. 111 BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 29. November 1996 – 2 BvL 21/93 –, juris Rn. 12; Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 3. September 2013 – 1 Bv 7/12 –, juris Rn. 14. 112 BVerfGE 92, 277 (312). 113 BVerfGE 78, 306 (316); 86, 52 (56); 88, 187 (194); 89, 329 (337); 105, 48 (56); BVerfGK 5, 309 (312); BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 9. Juli 2002 – 1 BvL 5/99 –, juris Rn. 10; Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 22. Juli 2009 – 1 BvL 10/07 –, juris Rn. 26. 114 Siehe hierzu etwa BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 29. November 1996 – 2 BvL 21/93 –, juris Rn. 13. 115 Vgl. etwa BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 14. Oktober 2009 – 2 BvL 13/08 u.a. –, juris (Statthaftigkeit); Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 6. November 2009 – 2 BvL 4/07 –, juris (ladungsfähige Anschrift), Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 20. August 2013 – 2 BvL 7/11 –, juris (Statthaftigkeit); kritisch zur Prüfung der Zulässigkeit durch das Bundesverfassungsgericht Löwer, Zuständigkeiten und Verfahren des Bundesverfassungsgerichts, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR III, 3. Auflage 2005, § 70 Rn. 96. 116 Vgl. BVerfGE 37, 328 (334 f.), 78, 1 (6). 117 BVerfGE 22, 369 (372). 118 BVerfGE 25, 332 (335 f.).
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sens kommen würde und auf welchen Erwägungen dieses Ergebnis beruht.119 In Straf- und Bußgeldverfahren gehört zu den im Vorlagebeschluss zu erörternden Umständen auch die Darlegung, dass der Angeklagte in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht den äußeren und inneren Tatbestand erfüllt und die Tat schuldhaft begangen hat.120 Bei all diesen Ausführungen muss das Gericht sich mit Rechtsprechung und Literatur – insbesondere hinsichtlich problematischer Prüfungspunkte – auseinandersetzen. Die erforderlichen Ausführungen zur Begründetheit schließen auch die Berücksichtigung weiterer gesetzlicher Vorschriften ein, wenn dies für die Beurteilung der beanstandeten Norm wesentlich ist. In einem Fall hat das Bundesverfassungsgericht etwa entschieden, dass es bei der Frage, ob die Anordnung von Ersatzzwangshaft unverhältnismäßig ist, auch erforderlich ist, dass das Gericht sich mit den Schutzmöglichkeiten auseinandersetzt, die das Gesetz dem Schuldner gewährt, da – wenn diese eingriffen – die Vorschriften über den Erlass des Haftbefehls nicht entscheidungserheblich wären.121 Das vorlegende Gericht muss daher vor der Anrufung des Bundesverfassungsgerichts stets auch prüfen, ob ein verfassungswidriges Ergebnis auf andere Weise – etwa durch Heranziehung anderer Vorschriften – vermieden werden kann.122 Fehlt es an einer entsprechenden Begründung, so ist es dem Bundesverfassungsgericht verwehrt, die fehlende Begründung durch eigene Erwägungen zu ersetzen, denn die Darlegungen der Überzeugung des vorlegenden Gerichts von der Entscheidungserheblichkeit der Vorlage müssen Aufgabe des Fachgerichts bleiben.123 Als Faustformel lässt sich daher festhalten, dass das vorlegende Gericht den Fall, der dem Ausgangsverfahren zugrunde liegt, gewissermaßen doppelt – einmal unter Annahme der Gültigkeit, einmal unter Annahme der Ungültigkeit der vorgelegten Norm – lösen und diese doppelte Lösung auch jeweils nachvollziehbar darstellen muss.124 Bei einem in Rede stehenden Gleichheitsverstoß (vgl. dazu bereits oben 2.c)) stellt dies 119
BVerfGE 36, 258 (263). Vgl. BVerfGE 35, 303 (306); 51, 401 (403); 77, 364 (368); BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 14. August 1996 – 2 BvL 11/96 –, juris Rn. 13; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 28. März 2002 – 2 BvL 2/01 –, juris Rn. 4. 121 BVerfGE 48, 396 (400 ff.). 122 BVerfGE 88, 187 (194 f.); BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 13. August 1998 – 1 BvL 25/96 –, NJW 1998, S. 3557 (3558); Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 16. September 1998 – 1 BvL 21/94 –, juris Rn. 35. 123 BVerfGE 97, 49 (62); 105, 61 (67); BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 20. April 2000 – 1 BvL 18/98 –, juris Rn. 12; Beschluss der 4. Kammer des Zweiten Senats vom 27. März 2002 – 2 BvL 2/02 –, NJW 2002, 1709 (1709); Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 9. Juli 2002 – 1 BvL 5/99 –, juris Rn. 11; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 23. Juli 2002 – 2 BvL 14/98 –, juris Rn. 57. 124 Vgl. Schlaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 9. Auflage 2012, Rn. 148, und Heun, AöR 122 (1997), S. 610 (620): „durchspielen“. 120
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das vorlegende Gericht vor besondere Schwierigkeiten, denn angesichts des Spielraums, der dem Gesetzgeber zur Beseitigung eines Gleichheitsverstoßes verbleibt, kann es gerade nicht darlegen, dass die Klage im Fall der Verfassungswidrigkeit der Norm Erfolg haben würde. In einem solchen Fall verlangt das Bundesverfassungsgericht daher die Darlegung, welche Folgen sich aus der behaupteten Verfassungswidrigkeit der zur Prüfung gestellten Vorschrift für die Entscheidung des Ausgangsverfahrens ergeben würden und ob insbesondere eine der möglichen, dem Gesetzgeber bei der Herstellung einer verfassungsgemäßen Rechtslage offen stehenden Optionen der Klage zum Erfolg verhelfen würde.125 cc) Erforderlichkeit von nachträglichen Ausführungen Das Darlegungserfordernis endet auch nicht mit dem Absetzen des Vorlagebeschlusses. Zusätzliche – nachgereichte – Ausführungen sind etwa erforderlich, wenn sich der Sachverhalt im Ausgangsverfahren ändert, so dass sich Zweifel an der Entscheidungserheblichkeit ergeben, weil zum Beispiel eine beteiligte Gesellschaft erloschen ist und sich die Frage stellt, ob im Ausgangsverfahren noch eine Sachentscheidung zu treffen ist126 oder die Anwendung des vorgelegten Gesetzes aus anderen Gründen – beispielsweise weil aufgrund neuer Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs die Unanwendbarkeit der Norm aus unionsrechtlichen Gründen im Raum steht – zweifelhaft geworden ist.127 c) 3. Fallgruppe: Fehlende Aufklärung des Sachverhalts durch das vorlegende Gericht Eine weitere Fallgruppe, in der das Bundesverfassungsgericht die Entscheidungserheblichkeit regelmäßig verneint, bilden die Fälle, in denen das vorlegende Gericht den entscheidungserheblichen Sachverhalt (noch) nicht hinreichend aufgeklärt hat. Grundsätzlich muss das vorlegende Gericht den Sachverhalt so weit aufklären, dass die Entscheidungserheblichkeit der zu prüfenden Norm feststeht.128 Solange die Möglichkeit besteht, das Verfahren zu entscheiden, ohne die für verfassungswidrig gehaltene Norm anzuwen125 BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 20. April 2000 – 1 BvL 18/98 –, juris Rn. 12. 126 BVerfGE 82, 156 (158). 127 BVerfGE 85, 191 (203 ff.). 128 Vgl. etwa BVerfGE 13, 129 (334); BVerfGK 15, 447 (452); 18, 222 (233); BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 8. Dezember 1993 – 2 BvL 37/93 –, juris Rn. 18; Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 23. Juni 1999 – 1 BvL 28/97 u.a. –, juris Rn. 20; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 23. Juli 2002 – 2 BvL 14/98 –, juris Rn. 56, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 18. Dezember 2002 – 1 BvL 14/02 –, NJW 2003, S. 1382 (1383).
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den, fehlt es an deren Entscheidungserheblichkeit.129 Dies ist insbesondere dann relevant, wenn erst noch eine Beweisaufnahme durchgeführt werden muss (vgl. hierzu bereits oben 1.b)), um zu entscheiden, ob das Gericht im Fall der Ungültigkeit einer Norm tatsächlich zu einem anderen Ergebnis käme als bei ihrer Gültigkeit.130 Eine solche Situation liegt unter anderem vor, wenn noch nicht feststeht, ob ein Kläger die in der vorgelegten Norm enthaltenen Voraussetzungen tatsächlich erfüllt oder aber der Vortrag eines Asylsuchenden glaubhaft ist.131 Zwar könnte die Klärung des Sachverhalts grundsätzlich auch vom Bundesverfassungsgericht nachgeholt werden (§ 26 BVerfGG). Es führte jedoch zu einer Verkehrung der Aufgaben der Gerichte, wollte das vorlegende Gericht seiner Aufgabe, die tatsächlichen Zusammenhänge erschöpfend festzustellen, ausweichen und auf das Bundesverfassungsgericht abwälzen, dem in erster Linie die Klärung verfassungsrechtlicher Fragen, nicht aber die Ermittlung von Tatsachen aufgegeben ist.132 Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts kann dem auch nicht entgegen gehalten werden, dass es der Prozessökonomie entspreche, bei noch erforderlicher Beweisaufnahme vorab das Bundesverfassungsgericht anzurufen, da eine Beweisaufnahme unterbleiben kann, wenn das Bundesverfassungsgericht eine Norm für ungültig erklärt. Grundsätze der Prozessökonomie können an den Voraussetzungen des Art. 100 Abs. 1 GG und des § 80 Abs. 2 BVerfGG nichts ändern. Auch dürfen Aspekte der Prozessökonomie nicht allein vom Verfahren des vorlegenden Gerichts her beurteilt werden. Das Verfahren der Normenkontrolle erfordert schon wegen der Anhörungspflichten in §§ 77, 82 BVerfGG, aber auch wegen der allgemeinen Bedeutung der Entscheidung in aller Regel geraume Zeit. Die damit verbundene Inanspruchnahme des Bundesverfassungsgerichts und anderer oberster Verfassungsorgane soll sich daher nur rechtfertigen lassen, wenn sie zur Entscheidung eines konkreten gerichtlichen Verfahrens unerlässlich ist; Ziel des vorlegenden Gerichts kann nicht sein, sich eine Beweisaufnahme zu ersparen.133 129
Vgl. BVerfGE 64, 251 (254); BVerfGK 18, 222 (233). BVerfGE 11, 330; 58, 153 (157); BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 24. Februar 1994 – 2 BvL 12/91 u.a. –, NVwZ 1995, S. 158 (158 f.); Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 17. Mai 1994 – 2 BvL 12/94 –, NJW 1995, 772 (772); Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 14. August 1996 – 2 BvL 11/96 –, juris Rn. 14; Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 29. Oktober 1997 – 1 BvL 3/96 –, juris Rn. 20. 131 Vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 8. Dezember 1993 – 2 BvL 37/93 –, juris Rn. 18. 132 BVerfGK 18, 222 (233). 133 Vgl. insgesamt BVerfGE 11, 330 (335); siehe auch BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 24. Februar 1994 – 2 BvL 12/91 u.a. –, NVwZ 1995, 158 (158); Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 17. Mai 1994 – 2 BvL 12/94 –, NJW 1995, 772 (772); Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 14. August 1996 – 2 BvL 11/96 –, juris Rn. 14. 130
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Vielmehr hat das Gericht für die Beweisaufnahme von der Gültigkeit der Norm auszugehen und die verfassungsrechtliche Frage erst dann vorzulegen, wenn es für die Endentscheidung des Verfahrens auf die Gültigkeit der Norm ankommt.134 Unschädlich ist allerdings, wenn die Entscheidung eines Rechtsmittelgerichts über die Zurückverweisung der Sache an die Tatsacheninstanz von der Gültigkeit einer Norm abhängt, in der Tatsacheninstanz aber erst noch eine Beweisaufnahme stattfinden muss und daher nicht sicher vorhergesagt werden kann, ob die Gültigkeit der Norm sich letzten Endes auf den Rechtsstreit auswirken wird. Hier genügt es, dass die Entscheidung der Rechtsmittelinstanz – die nicht in der Lage ist, die erforderlichen Ermittlungen selbst durchzuführen – je nach Gültigkeit beziehungsweise Ungültigkeit der Norm anders ausfallen würde135. Auch muss die Beweisaufnahme nicht vor der Vorlage erfolgen, wenn die Beweisaufnahme nur bei Ungültigkeit der Norm durchzuführen wäre.136 Eine weitere Ausnahme vom Erfordernis der vorherigen Beweisaufnahme hat das Bundesverfassungsgericht im Verfahren „Schneller Brüter“ im Jahr 1978 gemacht. Das Bundesverfassungsgericht hatte dort zwar angenommen, dass das vorlegende Gericht bei Gültigkeit der vorgelegten Norm des § 7 AtomG ein abschließendes Urteil noch nicht würde fällen können, sondern zunächst Beweis über die tatbestandlichen Genehmigungsvoraussetzungen zu erheben hätte. Der Grundsatz, dass die Vorlage nicht dazu dienen könne, dass das vorlegende Gericht sich eine Beweisaufnahme erspare, greife aber nicht ein, wenn die Vorlagefrage, auf die es für eine Entscheidung des Gerichts des Ausgangsverfahrens ankomme, von allgemeiner und grundsätzlicher Bedeutung für das Gemeinwohl und die Entscheidung deshalb dringlich sei. Hierbei nahm das Bundesverfassungsgericht Bezug auf die Vorschrift des § 90 Abs. 2 BVerfGG, nach der eine Verfassungsbeschwerde bereits vor Erschöpfung des Rechtsweges zulässig ist, wenn die Sache von allgemeiner Bedeutung ist oder dem Beschwerdeführer sonst ein schwerer und unabwendbarer Nachteil entstünde. Wenn die Frage der Grundgesetzwidrigkeit von § 7 AtomG von „allgemeiner Bedeutung“ sei, so hätte der Kläger des Ausgangsverfahrens auch bereits gegen den Genehmigungsbescheid oder aber das Urteil des Verwaltungsgerichts – ohne vorherige Erschöpfung des Rechtswegs – Verfassungsbeschwerde erheben dürfen; im Rahmen dieses
134 Vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 14. August 1996 – 2 BvL 11/96 –, juris Rn. 14. 135 BVerfGE 24, 119 (133 f.); kritisch Scholler/Broß, AöR 103 (1978), S. 148 (153 ff.); siehe auch BVerfGE 106, 275 (296). 136 Vgl. BVerfGE 79, 256 (265 f.); 90, 263 (269) hinsichtlich der Einholung von Abstammungsgutachten; siehe auch E. Klein, Konkretes Normenkontrollverfahren, in: Benda/ Klein/Klein, Verfassungsprozessrecht, 3. Auflage 2012, § 24 Rn. 820.
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Beschwerdeverfahrens hätte das Bundesverfassungsgericht dann die Verfassungswidrigkeit oder Verfassungsmäßigkeit von § 7 AtomG feststellen können (§ 95 Abs. 3 Satz 2 BVerfGG), so dass nicht einleuchte, dass einem Gericht, das von der Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes überzeugt sei, auf dessen Gültigkeit es für seine Entscheidung ankomme, die entsprechende Möglichkeit – in Gestalt der Vorlage an das Bundesverfassungsgericht – versagt bleiben solle. Der „vorzeitige“ Zugang zum Bundesverfassungsgericht im Verfahren nach Art. 100 Abs. 1 GG ist daher nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts zu gestatten, wenn die Vorlagefrage von allgemeiner und grundsätzlicher Bedeutung für das Gemeinwohl und die Entscheidung deshalb dringlich ist. Ob und wann dies der Fall ist, soll nur anhand der jeweiligen Lage und der besonderen Umstände des Einzelfalls zu beurteilen sein. Die Langwierigkeit und Kostspieligkeit gebotener Beweiserhebungen sollen für sich allein ebenso wenig die allgemeine und grundsätzliche Bedeutung einer Vorlagefrage begründen wie der Umstand, dass es sich beim Ausgangsverfahren um einen sogenannten Musterprozess handeln mag. Damit eine Vorlage von allgemeiner und grundsätzlicher Bedeutung für das gemeine Wohl ist, soll es darüber hinausgehender, weitreichender und besonderer Gründe bedürfen, die vom vorlegenden Gericht auch in zureichender Weise darzulegen sind. Derartige Gründe hat das Bundesverfassungsgericht im zugrunde liegenden Fall angesichts der Bedeutung für die Gesundheit der gegenwärtigen und künftigen Bevölkerung und der Umwelt sowie angesichts von Gefährdungen der freiheitlichen Lebensordnung der Bundesrepublik Deutschland im Innern und ihrer Sicherheit nach außen bejaht.137 Diese Erwägungen dürften wohl auf die Besonderheiten des Einzelfalls zurückzuführen sein. In späteren Entscheidungen hat diese Ausnahmemöglichkeit nämlich keine große Bedeutung erlangt; vielmehr hat das Bundesverfassungsgericht einen vorzeitigen Zugang zur konkreten Normenkontrolle seitdem – soweit ersichtlich – nicht mehr gewährt. In späteren Verfahren hat es das Vorliegen der genannten Voraussetzungen für den vorzeitigen Zugang sogar ausdrücklich verneint, so etwa in Verfahren betreffend Mieterhöhungsvorschriften,138 Krankenhausförderung139 und Festbeträge für Sehhilfen.140 Eine weitere Ausnahme vom Erfordernis der vorherigen Beweiserhebung hat das Bundesverfassungsgericht anerkannt, wenn zwar nicht sämtliche für
137 BVerfGE 47, 146 (157 ff.); kritisch hierzu E. Klein, Konkretes Normenkontrollverfahren, in: Benda/Klein/Klein, Verfassungsprozessrecht, 3. Auflage 2012, § 24 Rn. 821; im Ergebnis zustimmend Heun, AöR 122 (1997), S. 610 (623). 138 BVerfGE 50, 108 (114). 139 BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 24. Februar 1994 – 2 BvL 12/91 u.a.–, NVwZ 1995, S. 158 f. 140 BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 29. Oktober 1997 – 1 BvL 3/96 –, juris.
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die Entscheidung wesentlichen Tatsachen festgestellt sind, die Vorlage sich aber unabhängig vom Ausgang der Beweisaufnahme ohnehin nicht vermeiden lässt, sich die Frage nach der Verfassungsmäßigkeit einer entscheidungserheblichen Norm also in jedem Fall stellt. Diese Voraussetzungen hat das Bundesverfassungsgericht in der sogenannten Hartz IV-Entscheidung141 bejaht. Gegenstand des Verfahrens vor dem vorlegenden Bundessozialgericht waren die Vorschriften über das Sozialgeld für Kinder. Zwar waren einzelne Elemente des anzurechnenden Elterneinkommens und der Kosten für Unterkunft und Heizung zur Berechnung des Sozialgelds der Kläger noch nicht geklärt, weshalb das Bundessozialgericht den Rechtsstreit in jedem Fall zur weiteren Aufklärung des Sachverhalts und zur endgültigen Entscheidung an das Berufungsgericht hätte zurückverweisen müssen. Da Basis der Berechnungen aber die vom Bundessozialgericht vorgelegte Norm über die Regelleistung war, stand nach dem Standpunkt des Bundessozialgerichts bereits im Revisionsverfahren unabhängig von den nachzuholenden Feststellungen zum Einkommen der Eltern und den Kosten für Unterkunft und Heizung fest, dass sich eine Vorlage an das Bundesverfassungsgericht nicht vermeiden lassen würde.142 Auch kommt wohl – jedenfalls in zivilgerichtlichen Verfahren – eine Vorlage in der Regel vor Durchführung der mündlichen Verhandlung noch nicht in Betracht. In diesem Verfahrensstadium ist häufig noch ungewiss, ob die Tatbestandsvoraussetzungen einer Norm vorliegen, weil noch nicht erkennbar ist, ob etwa eine Partei dem Vorbringen der anderen Partei entgegen treten wird. Ein Gericht kann aber nicht bereits dann vorlegen, wenn in einem gerade erst anlaufenden Verfahren eine Norm einmal erheblich werden könnte. Dies muss vielmehr mit einem solchen Grad von Wahrscheinlichkeit feststehen, wie er vor der ersten mündlichen Verhandlung regelmäßig nicht gegeben ist.143 d) 4. Fallgruppe: Fehlende Entscheidungsbefugnis des vorlegenden Gerichts Eine weitere Fallgruppe, in der das Bundesverfassungsgericht die Entscheidungserheblichkeit der Gültigkeit eines vorgelegten Gesetzes verneint, bilden Fälle, in denen ein – in der Regel untergeordnetes – Gericht aufgrund der Entscheidung eines übergeordneten Gerichts verpflichtet ist, eine bestimmte Entscheidung zu treffen, ohne dass es dabei darauf ankäme, ob das vorlegende Gericht die zugrundeliegende Norm als verfassungsgemäß betrachtet.144 Steht aufgrund der verbindlichen Entscheidung des übergeord-
141 142 143 144
BVerfGE 125, 175; kritisch Lenz/Hansel, BVerfGG, 2013, § 80 Rn. 75. BVerfGE 125, 175 (221). BVerfGE 15, 211 (213). BVerfGE 42, 91 (94 f.).
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neten Gerichts bereits fest, dass das vorlegende Gericht in einer bestimmten Weise verfahren muss, ist für eine neuerliche Entscheidung des vorlegenden Gerichts, bei der es auf die Gültigkeit einer Norm ankäme, kein Raum.145 Dies gilt insbesondere auch dann, wenn das untergeordnete Gericht an die Entscheidung des übergeordneten Gerichts, eine bestimmte Norm sei nach verfassungskonformer Auslegung verfassungsgemäß, gebunden ist, denn auch in diesem Fall kann es seine eigene Entscheidung angesichts der Bindungswirkung ohne Klärung der Verfassungsmäßigkeit durch das Bundesverfassungsgericht treffen.146 Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bestehen das Recht und die Pflicht eines Gerichts zur Aussetzung und Vorlage nach Art. 100 Abs. 1 GG nämlich nur dann, wenn die eigene Rechtsauffassung des Gerichts nach den prozessualen Vorschriften im gegebenen Verfahrensabschnitt für die Entscheidung noch maßgebend ist. Daran fehlt es aber, wenn ein übergeordnetes Gericht in einer zurückverweisenden, bindenden Entscheidung die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes ausdrücklich oder stillschweigend bejaht hat.147 e) 5. Fallgruppe: Fehlende Auseinandersetzung mit der Möglichkeit einer verfassungskonformen Auslegung In mehreren Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts wird auch die fehlende Erörterung der Möglichkeit einer verfassungskonformen Auslegung als nicht hinreichende Darlegung der Entscheidungserheblichkeit betrachtet. Ist eine verfassungskonforme Auslegung der Norm möglich, so soll für eine Vorlage mangels Entscheidungserheblichkeit kein Raum mehr bleiben.148 Voraussetzung für die Zulässigkeit einer konkreten Normenkon-
145
BVerfGE 42, 91 (94). BVerfGE 65, 132 (139 f.); 68, 352 (358 ff.). 147 BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 5. Mai 1994 – 2 BvL 52/92 –, juris Rn. 18 m.w.N. 148 Vgl. BVerfGE 90, 145 (170); BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 28. März 1995 – 2 BvL 62/92 –, juris Rn. 17; Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 8. Oktober 1996 – 1 BvL 3/95 –, NJW 1997, S. 792 (793); Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 7. April 1997 – 1 BvL 11/96 –, NJW 1997, S. 2230 (2230); Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 17. Juni 1997 – 1 BvL 23/95 –, juris Rn. 8 ff.; Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 26. August 1997 – 1 BvL 1/94 –, NJW-RR 1998, S. 783 (783); Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 29. Oktober 1997 – 1 BvL 4/93 –, juris Rn. 18; Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 20. Mai 1998 – 1 BvL 34/94 –, juris Rn. 13; Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 8. Februar 1999 – 1 BvL 25/97 –, juris Rn. 20 f.; Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 21. Mai 1999 – 1 BvL 22/98 –, juris Rn. 19; Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 6. April 2000 – 1 BvL 18/99 u.a. –, NVwZ 2000, S. 910 (910); Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 11. April 2000 – 1 BvL 2/00 –, juris Rn. 20; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 11. Dezember 2000 – 1 BvL 15/00 –, NVwZ-RR 2001, S. 311 (312). 146
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trolle sei nämlich, dass die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts für das anhängige gerichtliche Verfahren unerlässlich sei und nicht durch verfassungskonforme Auslegung der in Frage stehenden Vorschrift vermieden werden kann.149 Ob die Zuordnung dieses Gesichtspunktes zur Frage der Entscheidungserheblichkeit eigentlich zutreffend ist, ist jedoch zweifelhaft. Die Möglichkeit, eine Norm verfassungskonform auszulegen, ändert nämlich nichts daran, dass es für die zu treffende Entscheidung auf ihre Gültigkeit oder Ungültigkeit ankommt, denn die verfassungskonforme Auslegung erhält ja gerade die Gültigkeit der fraglichen Norm. Legt ein Gericht daher nicht dar, dass die vorgelegte Norm nicht verfassungskonform ausgelegt werden kann, so legt es nicht die Entscheidungserheblichkeit unzureichend da, sondern vielmehr seine Überzeugung von der Verfassungswidrigkeit der Norm,150 bei der es sich um ein weiteres Erfordernis einer erfolgreichen Vorlage handelt (vgl. Art. 100 Abs. 1 GG), das hier – da sich die vorliegende Darstellung auf die Frage der Entscheidungserheblichkeit konzentriert – nicht erörtert wird. Im Ergebnis macht die Zuordnung für ein vorlegendes Gericht aber keinen Unterschied; es muss in jedem Fall darlegen, dass eine verfassungskonforme Auslegung nicht in Betracht kommt. Das Bundesverfassungsgericht überprüft in einem solchen Fall dann im Übrigen auch, ob es – bei Verneinung der Möglichkeit der verfassungskonformen Auslegung – dieser Auslegung folgen kann.151
III. Fazit Die Anforderungen an die Entscheidungserheblichkeit – insbesondere an ihre Darlegung durch das vorlegende Gericht – sind hoch. Bei allen Zweifeln daran, ob sie von den Ausgangsgerichten (noch) erfüllt werden können152, ist nicht zu verkennen, dass sie jedenfalls zum großen Teil aus der Aufgabenteilung zwischen Bundesverfassungsgericht und Instanzgerichten herrühren:
149 Vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 17. Juni 1997 – 1 BvL 23/95 –, juris Rn. 10; Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 26. August 1997 – 1 BvL 1/94 –, NJW-RR 1998, S. 783 (783). 150 In diese Richtung wohl auch BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 7. Juni 2000 – 1 BvL 1/99 –, juris Rn. 8; Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 13. November 2000 – 1 BvL 33/97 –, juris; Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 28. April 2011 – 1 BvL 1/10 –, juris Rn. 6; Dollinger, in: Umbach/Clemens/Dollinger (Hrsg.), BVerfGG, 2. Auflage 2005, § 80 Rn. 55; Schlaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 9. Auflage 2012, Rn. 145; Wieland, in: Dreier (Hrsg.), GG, Bd. 3, 2. Auflage 2008, Art. 100 Rn. 19. 151 Vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 16. August 2001 – 1 BvL 6/01 –, NVwZ-RR 2002, S. 117 (118). 152 Vgl. etwa Wieland, in: Dreier (Hrsg.), GG, Bd. 3, 2. Auflage 2008, Art. 100 Rn. 22.
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Das vorlegende Gericht muss sich im Rahmen einer Vorlage so mit dem zu entscheidenden Fall auseinandersetzen, wie es das auch tun würde, wenn es nicht von der Verfassungswidrigkeit der anzuwendenden Norm überzeugt wäre und selbst entscheiden würde. Allerdings muss es sich doppelte Mühe machen, indem es den Fall zweimal – einmal unter Annahme der Gültigkeit, ein weiteres Mal unter Annahme der Ungültigkeit des vorgelegten Gesetzes – prüft. Eine solche Doppelprüfung ist mehr als anspruchsvoll. Zu bedenken ist allerdings, dass sich ein Gericht bei den dafür erforderlichen Feststellungen und rechtlichen Erwägungen auf seinem eigenen, ihm vertrauten rechtlichen Terrain befindet und insoweit nichts Unmögliches von ihm verlangt wird. Weder die Anforderung, das Vorliegen aller Tatbestandsmerkmale festzustellen sowie zu überprüfen, ob sich aus dem Zusammenspiel mit anderen Normen ein anderes Ergebnis ergeben würde, noch das Erfordernis, sich mit der Rechtsprechung und Literatur zu einer Norm auseinanderzusetzen und gegebenenfalls ihre Entstehungsgeschichte zu betrachten, sind für das vorlegende Gericht fremde Aufgaben, sondern häufig bereits Teil seiner täglichen Arbeit. In der Praxis dürfte daher wohl auch eher die Unvorhersehbarkeit der zumeist stark am Einzelfall orientierten Handhabung der Anforderungen an die Darstellung der Entscheidungserheblichkeit durch das Bundesverfassungsgericht problematisch sein. Kommt das vorlegende Gericht den dargestellten Anforderungen bei einer Vorlage sorgfältig nach, sollte es sich andererseits aber auch darauf verlassen können, dass das Bundesverfassungsgericht seinen Teil der Aufgabenteilung ebenso sorgfältig wahrnimmt, sich also insbesondere darauf konzentriert, über die sich stellenden Verfassungsfragen, nicht hingegen über die richtige Anwendung des einfachen Rechts durch das vorlegende Gericht in jeder erdenklichen Ausdifferenzierung zu befinden und auch keine überhöhten Anforderungen – etwa an die Vertretbarkeit der Rechtsauffassung des vorlegenden Gerichtes sowie die entsprechenden Darlegungen dazu – zu stellen. Denn nur eine klare Linie bei der vom Bundesverfassungsgericht wahrzunehmenden Aufgabe auf der einen und der von den Instanzgerichten wahrzunehmenden Aufgabe auf der anderen Seite, bei der auch nicht immer mehr am Einzelfall orientierte Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts den Instanzgerichten den Blick darauf verstellen, was tatsächlich für eine zulässige Vorlage von ihnen erwartet wird, gewährleistet, dass das Verfahren der konkreten Normenkontrolle seine von Art. 100 Abs. 1 GG vorgesehene Aufgabe erfüllen kann.
Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu seinem Verhältnis zu den Landesverfassungsgerichten in Verfassungsbeschwerdeverfahren Erol Pohlreich Leitentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (Senat) BVerfGE BVerfGE BVerfGE BVerfGE BVerfGE BVerfGE BVerfGE BVerfGE BVerfGE BVerfGE BVerfGE
6, 376 – Wahlrechtsbeschwerde 13, 132 – Bayerische Feiertage 22, 267 – Einheitliches Grundrecht 24, 289 – Hessisches Schulgebet 36, 342 – Niedersächsisches Landesbesoldungsgesetz 41, 88 – Gemeinschaftsschule 42, 312 – Inkompatibilität/Kirchliches Amt 60, 175 – Startbahn West 96, 231 – Müllkonzept 96, 345 – Landesverfassungsgerichte 103, 332 – Naturschutzgesetz Schleswig-Holstein Wichtige Kammerentscheidungen
BVerfGK 8, 169 – Verfassungsautonomie der Länder Schrifttum Bryde, Bundesverfassungsgericht und Landesverfassungsgerichte, NdsVBl 2005 Sonderheft, S. 5 ff.; A. Dittmann, Verfassungshoheit der Länder und bundesstaatliche Verfassungshomogenität, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, 3. Aufl. 2008, Bd. 6, § 127; Friesenhahn, Zur Zuständigkeitsabgrenzung zwischen Bundesverfassungsgerichtsbarkeit und Landesverfassungsgerichtsbarkeit, in: Starck (Hrsg.), Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz, Festgabe aus Anlass des 25jährigen Bestehens des Bundesverfassungsgerichtes, Bd. 1, 1976, S. 748 ff.; Gärditz, Das Strafrecht in der Rechtsprechung der Landesverfassungsgerichte, AöR 129 (2004), S. 584 ff.; Geiger, Die Bundesverfassungsgerichtsbarkeit in ihrem Verhältnis zur Landesverfassungsgerichtsbarkeit und ihre Einwirkung auf die Verfassungsordnung der Länder, in: Süsterhenn (Hrsg.), Verfassung und Verwaltung in Theorie und Wirklichkeit, Festschrift für Herrn Geheimrat Professor Dr. Wilhelm Laforet anlässlich seines 75. Geburtstages, 1952, S. 251 ff.; K.-E. Hain, Anmerkung, JZ 1998, S. 620 ff.; F. Kirchhof, Die Rolle der Landesverfassungsgerichte im deutschen Staat, VBlBW 2003, S. 137 ff.; K. Lange, Kontrolle bundesrechtlich geregelter Verfahren durch Landesverfassungsgerichte, NJW 1998, S. 1278 ff.; ders., Das Bundesverfassungsgericht und die Landesverfassungsgerichte, in: Badura/Dreier (Hrsg.), Festschrift – 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, Bd. 1, 2001, S. 289 ff.; W. Löwer, Bundesverfassungstextliche Ergänzungen der Landesverfassungen zur Gewinnung landesverfassungsgerichtlicher Prüfungsmaßstäbe,
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NdsVBl 2010, S. 138 ff.; Menzel, Verfahrensgrundrechte vor Landesverfassungsgerichten – Noch ein Kooperationsverhältnis?, NVwZ 1999, S. 1314 ff.; Möstl, Landesverfassungsrecht – zum Schattendasein verurteilt? Eine Positionsbestimmung im bundesstaatlichen und supranationalen Verfassungsverbund, AöR 130 (2005), S. 350 ff.; Oeter, Rechtsprechungskonkurrenz zwischen nationalen Verfassungsgerichten, Europäischem Gerichtshof und Europäischem Gerichtshof für Menschenrechte, VVDStRL 66 (2007), S. 361 ff.; Rinken, Landesverfassungsgerichtsbarkeit im Bundesstaat, NordÖR 2000, S. 89 ff.; H.-P. Schneider, Die Landesverfassungsbeschwerde – ein Stiefkind bundesstaatlichen Grundrechtsschutzes?, NdsVBl 2005 Sonderheft, S. 26 ff.; K. Schneider, Landesverfassungsbeschwerden trotz Bundesverfahrensrecht – Berechtigte Bedenken?, ZZP 115 (2002), S. 247 ff.; E. Schumann, Verfassungsbeschwerden zum Bundesverfassungsgericht gegen Entscheidungen des Bayerischen Verfassungsgerichtshofes. Zugleich ein Beitrag über die Mitwirkung des Bayerischen Senats in verfassungsgerichtlichen Verfahren, in: Bayerischer Verfassungsgerichthof (Hrsg.), Verfassung als Verantwortung und Verpflichtung, Festschrift zum 50-jährigen Bestehen des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs, 1997, S. 201 ff.; Sodan, Die Individualverfassungsbeschwerde in der Landesverfassungsgerichtsbarkeit, NdsVBl 2005 Sonderheft, S. 32 ff.; R. Steinberg, Landesverfassungsgerichtsbarkeit und Bundesrecht, in: Eichel/Möller (Hrsg.), 50 Jahre Hessische Verfassung. Eine Festschrift, 1997, S. 356 ff.; K. Stern, Der Aufschwung der Landesverfassungsbeschwerde im wiedervereinigten Deutschland, in: Bayerischer Verfassungsgerichtshof (Hrsg.), Verfassung als Verantwortung und Verpflichtung, Festschrift zum 50-jährigen Bestehen des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs, 1997, S. 241 ff.; Voßkuhle, Die Landesverfassungsgerichtsbarkeit im föderalen und europäischen Verfassungsgerichtsverbund. Am Beispiel des Staatsgerichtshofs der Freien Hansestadt Bremen, JöR N.F. 59 (2011), S. 215 ff.; Wallerath, Landesverfassungsgerichtsbarkeit in den „neuen“ Bundesländern, NdsVBl 2005 Sonderheft, S. 43 ff.; Wittreck, Das Bundesverfassungsgericht und die Kassationsbefugnis der Landesverfassungsgerichte – Anmerkungen zu BVerfGE 96, 345, DÖV 1999, S. 634 ff. Inhalt I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Zuständigkeit der Landesverfassungsgerichte für Verfassungsbeschwerden III. Folgen der Erhebung einer Landesverfassungsbeschwerde für die Bundesverfassungsbeschwerde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Trennung und Verschränkung der Verfassungsgerichtsebenen . . . . . . . 1. Trennungsgrundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Durchbrechungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Verfassungsbeschwerden gegen Landesverfassungsgerichtsentscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Irrelevanz der Art des landesverfassungsgerichtlichen Verfahrens und mangelnder Beteiligung hieran . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Kontrolle landesverfassungsgerichtlicher Verfahrensrechtsanwendung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Kontrolle der Beachtung der Grundrechte des Grundgesetzes . . b) Reichweite landesverfassungsgerichtlicher Prüfungsbefugnisse . . . . aa) Landesverfassungsgerichtlicher Prüfungsmaßstab . . . . . . . . . bb) Landesverfassungsgerichtlicher Prüfungsgegenstand . . . . . . . V. Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I. Einleitung Die Reaktionen der Literatur zu der in den vergangenen Jahren ergangenen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, die das Verhältnis des Gerichts zu den Landesverfassungsgerichten betraf, gingen denkbar weit auseinander. Während die einen in dieser Rechtsprechung „wichtige Wegmarken“ zur Stärkung der Landesverfassungsgerichtsbarkeit zu erkennen meinten,1 sahen andere die ohnehin nach allgemeiner Auffassung im „Schatten-“, „Schlummer-“ oder „Kümmerdasein“ beziehungsweise im „Dornröschenschlaf“2 zu verortenden Landesverfassungsgerichte nun endgültig „unrettbar im Würgegriff der Rechtsprechung des BVerfG“.3 Dieser Beitrag soll die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts betreffend sein Verhältnis zu den Landesverfassungsgerichten in Verfassungsbeschwerdeverfahren, der quantitativ am stärksten ins Gewicht fallenden Verfahrensart vor dem Bundesverfassungsgericht, würdigen und das Maß von Trennung und Verschränkung der Verfassungsgerichtsbarkeiten auf Landes- und Bundesebene bestimmen (III.) und bewerten (IV.). Vorab soll dargestellt werden, in welchem Umfang die Länder dem Bürger die Möglichkeit einer Verfassungsbeschwerde zum jeweiligen Landesverfassungsgericht eröffnen (I.) und welche Folgen ein Gebrauchmachen von dieser Möglichkeit für eine Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht hat (II.).
II. Zuständigkeit der Landesverfassungsgerichte für Verfassungsbeschwerden Seit der Errichtung des Schleswig-Holsteinischen Landesverfassungsgerichts im Jahr 20084 haben alle Länder von ihrer Befugnis, ein Landesverfassungsgericht zu errichten,5 Gebrauch gemacht. Doch nicht alle Länder 1
Möstl, AöR 130 (2005), S. 350 (357). Vgl. die entsprechenden Nachweise bei Möstl, a.a.O., S. 354. 3 Oeter, VVDStRL 66 (2007), S. 361 (368). 4 Vgl. Gesetz über das Schleswig-Holsteinische Landesverfassungsgericht vom 10. Januar 2008, GVBl 2008, S. 25. Zuvor hatte das Land Schleswig-Holstein dem Bundesverfassungsgericht gemäß Art. 99 GG durch Landesgesetz die Entscheidung von Verfassungsstreitigkeiten innerhalb seines Gebiets zugewiesen, so dass das Bundesverfassungsgericht alsdann im Wege der Organleihe als schleswig-holsteinisches Landesverfassungsgericht tätig war, vgl. Friesenhahn, Zur Zuständigkeitsabgrenzung zwischen Bundesverfassungsgerichtsbarkeit und Landesverfassungsgerichtsbarkeit, in: Starck (Hrsg.), Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz, FG BVerfG, Bd. 1, 1976, S. 748 (792 f.); Geiger, Die Bundesverfassungsgerichtsbarkeit in ihrem Verhältnis zur Landesverfassungsgerichtsbarkeit und ihre Einwirkung auf die Verfassungsordnung der Länder, in: Süsterhenn (Hrsg.), Verfassung und Verwaltung in Theorie und Wirklichkeit, FS Laforet, 1952, S. 251 (256 f.). 5 Vgl. BVerfGE 96, 345 (368 f.); 103, 332 (350). 2
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eröffnen dem Einzelnen die Möglichkeit, beim jeweiligen Landesverfassungsgericht Verfassungsbeschwerde zu erheben. In einigen Ländern können Verfassungsbeschwerden ausschließlich zum Bundesverfassungsgericht erhoben werden.6 Demgegenüber sieht die Mehrheit der Landesverfassungen die Möglichkeit einer Landesverfassungsbeschwerde vor – in Sachsen-Anhalt beschränkt auf die Rechtssatzverfassungsbeschwerde.7 Allerdings ist in einigen dieser Länder eine Landesverfassungsbeschwerde unzulässig, soweit auch Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht erhoben ist oder wird8 beziehungsweise soweit eine Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts gegeben ist.9 Man kann hier von einem „umgekehrten Subsidiaritätsverhältnis“ sprechen.10 Wer sich in seinen Grundrechten verletzt sieht, muss sich in diesen Ländern daher entscheiden, ob er Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht oder zum jeweiligen Landesverfassungsgericht erheben will. In Hessen ist die dort als „Grundrechtsklage“ bezeichnete Landesverfassungsbeschwerde trotz Erhebung einer Bundesverfassungsbeschwerde ausnahmsweise zulässig, wenn die Hessische Verfassung weitergehende Grundrechte als das Grundgesetz gewährleistet. Wer allerdings meint, bei seiner Wahl des Gerichts, zu dem er Verfassungsbeschwerde erheben will, absolut frei zu sein, läuft Gefahr, eine unzulässige Verfassungsbeschwerde zu erheben, weil er sich möglicherweise an das „falsche“, da für die Prüfung der vorgebrachten Rügen unzuständige Verfassungsgericht gewandt haben könnte. Nicht alle Beschwerdegenstände und Grundrechtsrügen fallen – wie nachfolgend darzustellen sein wird – automatisch in die Zuständigkeit beider Ebenen der Verfassungsgerichtsbarkeit. Die übrigen Länder haben auf die ausdrückliche Regelung des Verhältnisses zwischen der Landes- und der Bundesverfassungsbeschwerde ver6 Dies sind Bremen, Hamburg, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und SchleswigHolstein. 7 Vgl. Art. 75 Nr. 6 Verf ST, § 47 LVerfGG ST. 8 Dies ist der Fall in Baden-Württemberg (vgl. § 55 Abs. 1 StGHG BW), in Berlin (Art. 72 Abs. 2 Nr. 4 BlnVerf i.V.m. § 49 Abs. 1 VerfGHG BE), in Brandenburg (Art. 6 Abs. 2, Art. 113 Nr. 4 BbgVerf i.V.m. § 45 Abs. 1 VerfGHGBbg) sowie in Hessen (Art. 131 Abs. 1 HVerf i.V.m. § 43 Abs. 1 StGHG HE). 9 So in Mecklenburg-Vorpommern (Art. 53 Nr. 6, 7 MVVerf i.V.m. § 58 Abs. 3 LVerfGG M-V). Vgl. hierzu das Urteil des LVerfG M-V vom 27. November 2008 – LVerfG 7/07 –, NordÖR 2009, S. 20 ff.: Das Landesverfassungsgericht versteht § 58 Abs. 3 LVerfGG M-V so, dass die Zulässigkeit einer Landesverfassungsbeschwerde davon abhängt, dass der Beschwerdeführer die Verletzung von Grundrechten aus der Landesverfassung rügt, deren Gewährleistungsgehalt weiter geht als der des jeweiligen Bundesgrundrechts. Sind das Landesgrundrecht und das Bundesgrundrecht inhaltsgleich, ist die Landesverfassungsbeschwerde nach Auffassung des LVerfG M-V unzulässig. Mit § 58 Abs. 3 LVerfGG M-V wolle der Gesetzgeber Normkonflikte vermeiden, die im Rahmen einer Rechtskontrolle des Bundesverfassungsgerichts einerseits und des Landesverfassungsgerichts andererseits entstehen könnten. Siehe auch Wallerath, NdsVBl 2005 Sonderheft, S. 43 (50). 10 Bryde, NdsVBl 2005 Sonderheft, S. 5 (7).
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zichtet,11 so dass die Möglichkeit, Verfassungsbeschwerde zum Landesverfassungsgericht zu erheben, unbeschadet der Erhebung einer Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht besteht. Es ist in diesen Ländern also nicht ausgeschlossen, dass Akte der Landesgewalt, die der Grundrechtsbindung sowohl des Grundgesetzes (vgl. Art. 1 Abs. 3 GG) als auch der Landesverfassung (vgl. Art. 28 Abs. 3 und Art. 142 GG) unterliegen, Gegenstand von Parallelverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht und dem jeweiligen Landesverfassungsgericht sind.
III. Folgen der Erhebung einer Landesverfassungsbeschwerde für die Bundesverfassungsbeschwerde Ob ein Beschwerdeführer von einer Möglichkeit, Landesverfassungsbeschwerde zu erheben, Gebrauch gemacht hat, ist für die Erfolgsaussichten der Bundesverfassungsbeschwerde irrelevant. Gemäß § 90 Abs. 3 BVerfGG bleibt das Recht zur Erhebung einer Landesverfassungsbeschwerde vom Recht zur Erhebung einer Bundesverfassungsbeschwerde unberührt.12 Dementsprechend schadet die Rechtshängigkeit einer Landesverfassungsbeschwerde der Zulässigkeit einer außerdem erhobenen Bundesverfassungsbeschwerde nicht. Aus der Vorschrift folgt überdies, dass die Erhebung einer Landesverfassungsbeschwerde auch da, wo möglich, nicht zum Rechtsweg gehört, den ein Beschwerdeführer vor Erhebung seiner Bundesverfassungsbeschwerde erschöpft haben muss. Diese Schlussfolgerung verträgt sich auch
11 So in Bayern, wo gegen Einzelakte Verfassungsbeschwerde und gegen Gesetze Popularklage erhoben werden kann (vgl. Art. 66, 120, 98 Satz 4 Verf BY, Art. 2 Nr. 6 und 7, Art. 51, 55 VerfGHG BY), in Sachsen (Art. 81 Abs. 1 Nr. 4 Verf SN, § 27 SächsVerfGHG), in Sachsen-Anhalt (Art. 75 Nr. 6 Verf ST, § 47 LVerfGG ST), im Saarland (Art. 97 Nr. 4 SVerf i.V.m. § 55 SaarlVerfGHG) und in Thüringen (Art. 80 Abs. 1 Nr. 1 Verf TH, § 31 ThürVerfGHG). 12 Nach dem ursprünglichen Entwurf des BVerfGG sollte das Recht zur Erhebung einer Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht nur bestehen, soweit eine solche Beschwerde an das Landesverfassungsgericht nach dem Recht des Landes nicht statthaft war, vgl. § 84 des Regierungsentwurfs für das BVerfGG vom 28. Februar 1950, BRDrucks 125/50, S. 25. Begründet wurde dies mit dem Charakter der Bundesverfassungsbeschwerde als „letzte Zuflucht des Bürgers, der sich in seinen Grundrechten verletzt fühlt“, vgl. BRDrucks 125/50, S. 23 der Gesetzesbegründung. Krit. hinsichtlich dieser sich aus § 90 Abs. 3 BVerfGG ergebenden Möglichkeit parallelen Verfassungsrechtsschutzes Geiger, a.a.O. (Fn. 4), S. 259, auf den der Regierungsentwurf im Wesentlichen zurückging, vgl. Ruppert, in: Umbach/Clemens/Dollinger (Hrsg.), BVerfGG, 2. Aufl. 2005, § 90 Fn. 230. Zur Entlastung des BVerfG wird teilweise eine Streichung von § 90 Abs. 3 BVerfGG vorgeschlagen, was zur Folge hätte, dass das Bundesverfassungsgericht erst nach erfolglos erhobener Landesverfassungsbeschwerde angerufen werden könnte, vgl. Rinken, NordÖR 2000, S. 89 (92).
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mit dem im Wege induktiver Auslegung aus dem Rechtswegerschöpfungsgebot gewonnenen Subsidiaritätsgrundsatz,13 der bezweckt, dass der Beschwerdegegenstand vor der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts einer fach- und nicht einer verfassungsgerichtlichen Prüfung unterzogen wurde.14 Weil die in § 90 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG geforderte Rechtswegerschöpfung die Erhebung einer Landesverfassungsbeschwerde auch da, wo möglich, nicht einschließt, vermag die Erhebung einer Landesverfassungsbeschwerde nicht, die Verfassungsbeschwerdefrist nach § 93 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG offenzuhalten.15 Ein Beschwerdeführer, der sich zur Erhebung sowohl einer Landes- als auch einer Bundesverfassungsbeschwerde entschließt, muss also beide Verfassungsbeschwerden nach Bekanntgabe der letztinstanzlichen Fachgerichtsentscheidung parallel erheben, vorausgesetzt natürlich, dass das Landesrecht ihm diese Möglichkeit gibt. In der Möglichkeit, parallel zwei Verfassungsbeschwerden gegen fachgerichtliche Entscheidungen zu erheben, sind Probleme angelegt, die Geiger schon in den frühen Fünfzigerjahren16 ansprach, in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts teilweise heute noch nicht abschließend geklärt sind und sich wohl nur bis zu einem gewissen Grad durch offene Verständigung der Verfassungsgerichte klären lassen. Eines dieser Probleme resultiert aus der Befugnis des Bundesverfassungsgerichts, bis zur Entscheidung des Landesverfassungsgerichts sein Verfahren aussetzen (§ 33 Abs. 1 BVerfGG).17 Wenn auch das Landesverfassungsgericht über eine Aussetzungsbefugnis verfügt, könnten, so Geigers nicht ganz von der Hand zu weisende Befürchtung,18 beide Verfassungsgerichte, Bundes- und Landesverfassungsgericht, ihre Verfahren gleichzeitig aussetzen, um die Entscheidung des anderen abzuwarten. Schon deshalb sollte das Bundesverfassungsgericht ein bei ihm anhängiges Verfassungsbeschwerdeverfahren nur in Ausnahmefällen und nur dann aussetzen, wenn 13
Vgl. BVerfGE 112, 50 (60). Vgl. BVerfGE 107, 395 (414). 15 BVerfGK 8, 169 (171); BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 25. Juli 1990 – 1 BvR 1438/89 –, juris, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 18. Januar 1996 – 1 BvR 1375/95 –, NJW 1996, S. 1464, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 26. Januar 2006 – 2 BvR 2058/05 –, juris, Beschlüsse der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 5. Oktober 1996 – 2 BvR 1630/96 –, juris, und vom 30. März 1999 – 2 BvR 514/99 –, juris. Vgl. auch BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 24. Februar 1992 – 2 BvR 1122/90 –, juris. Vereinzelt wird demgegenüber vorgeschlagen, von Beschwerdeführern zur Wahrung des Subsidiaritätsgrundsatzes zu verlangen, vor Erhebung der Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht, wo möglich, Landesverfassungsbeschwerde erhoben zu haben, vgl. Bryde, NdsVBl 2005 Sonderheft, S. 5 (6 f.). 16 Vgl. Geiger, a.a.O. (Fn. 4), S. 265. 17 Eine Pflicht hierzu besteht allerdings nicht, vgl. Ruppert, in: Umbach/Clemens/Dollinger (Hrsg.), BVerfGG, 2. Aufl. 2005, § 90 Rn. 172. 18 Geiger, a.a.O. (Fn. 4), S. 265. 14
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sichergestellt ist, dass über die Landesverfassungsbeschwerde zeitnah entschieden wird. Demgegenüber erscheint die von Geiger aufgeworfene Frage, welche Entscheidung vorrangige Geltung beanspruchen kann, wenn Bundesund Landesverfassungsgericht in parallel erhobenen Verfassungsbeschwerdeverfahren einander widersprechende einstweilige Anordnungen erlassen,19 weniger problematisch. Entscheiden beide Verfassungsgerichte zeitgleich, wobei nur eines dem Eilantrag stattgibt, dürfte die ablehnende Entscheidung der Wirksamkeit und Verbindlichkeit der einstweiligen Anordnung keinen Abbruch tun. Sobald allerdings ein Verfassungsgericht dem Eilantrag stattgibt, dürfte dies das Rechtsschutzbedürfnis für den beim anderen Verfassungsgericht anhängigen Eilantrag entfallen lassen. Dasselbe gilt für das Hauptsacheverfahren: Gibt das Landesverfassungsgericht der Landesverfassungsbeschwerde statt und hebt die angegriffene fachgerichtliche Entscheidung auf, entfällt die Beschwer, so dass dem Beschwerdeführer das Rechtsschutzbedürfnis für das Bundesverfassungsbeschwerdeverfahren fehlt.20 Der Beschwerdeführer kann in einem solchen Fall die zum Bundesverfassungsgericht erhobene Verfassungsbeschwerde für in der Hauptsache erledigt erklären und einen Antrag nach § 34a Abs. 3 BVerfGG stellen.21 Hat ein Beschwerdeführer parallel Bundes- und Landesverfassungsbeschwerde erhoben, steht die Nichtannahme der Bundesverfassungsbeschwerde einem Erfolg der Landesverfassungsbeschwerde nicht entgegen.22 Umgekehrt ist das Bundesverfassungsgericht an einer stattgebenden Entscheidung nicht gehindert, wenn die Landesverfassungsbeschwerde keinen Erfolg hatte, weil das Landesverfassungsgericht die Zulässigkeit oder Begründetheit der zu ihm erhobenen Verfassungsbeschwerde verneint hat.23 19
Geiger, a.a.O. (Fn. 4), S. 265. Ruppert, in: Umbach/Clemens/Dollinger (Hrsg.), BVerfGG, 2. Aufl. 2005, § 90 Rn. 171. Die Unzulässigkeit der Bundesverfassungsbeschwerde lässt sich ebenso darauf stützen, dass nach erfolgreicher Landesverfassungsbeschwerde kein relevanter Akt öffentlicher Gewalt mehr vorliegt, vgl. Bethge, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge (Hrsg.), BVerfGG, § 90 Rn. 432 (Stand: März 2010). 21 BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 24. Februar 1992 – 2 BvR 1122/90 –, juris. 22 Dass eine parallele Erhebung sowohl der Landes- als auch der Bundesverfassungsbeschwerde zweimal Kosten verursacht, steht einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, die Erstattung der notwendigen Auslagen für das Bundesverfassungsbeschwerdeverfahren anzuordnen, jedenfalls dann, wenn der Erfolg der Landesverfassungsbeschwerde nicht mit Sicherheit vorauszusehen war, nicht entgegen, da es einem Beschwerdeführer nicht zum Nachteil gereichen darf, dass er von seinem in § 90 Abs. 3 BVerfGG gewährleisteten Recht Gebrauch gemacht hat. Vgl. BVerfGE 69, 112 (117); 96, 345 (359). 23 Vgl. die Beispiele hierzu bei E. Schumann, Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht gegen Entscheidungen des Bayerischen Verfassungsgerichtshofes. Zugleich ein Beitrag über die Mitwirkung des Bayerischen Senats in verfassungsgerichtlichen Verfahren, in: BayVerfGH (Hrsg.), Verfassung als Verantwortung und Verpflichtung, FS BayVerfGH, 1997, S. 200 (214). 20
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Dasselbe gilt, wenn das Landesverfassungsgericht die zu ihm erhobene Verfassungsbeschwerde für zulässig und begründet erachtet, sich aber gleichwohl außerstande sieht, die angefochtenen fachgerichtlichen Entscheidungen aufzuheben. Das Bundesverfassungsgericht kann der Bundesverfassungsbeschwerde stattgeben und die angegriffenen Akte der öffentlichen Gewalt aufheben.24
IV. Trennung und Verschränkung der Verfassungsgerichtsebenen 1. Trennungsgrundsatz Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu seinem Verhältnis zu den Landesverfassungsgerichten geht zurück auf den Beschluss „Landesgesetze über die Verwaltungsgerichtsbarkeit“,25 in dem das Bundesverfassungsgericht es für mit Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG vereinbar erachtete, dass eine Landesverfassung die Entscheidung über die Vereinbarkeit vorkonstitutionellen Landesrechts mit der Landesverfassung dem jeweiligen Landesverfassungsgericht vorbehält. Abgesehen davon, dass die Vorschrift als Mindeststandard eine Entscheidungskompetenz von Bundesverfassungsgericht und Landesverfassungsgerichten über die Frage der Verfassungsmäßigkeit von formellen nachkonstitutionellen Gesetzen sichere, sei die Befugnis der Gerichte, Gesetze wegen Verstoßes gegen höherrangige Normen nicht anzuwenden, vom Grundgesetz nicht nach jeder Richtung garantiert. Im Bundesstaat des Grundgesetzes stünden „die Verfassungsräume des Bundes und der Länder grundsätzlich selbständig nebeneinander. Das Grundgesetz gibt für die Verfassungen der Länder nur wenige Normativbestimmungen. Im Übrigen können die Länder ihr Verfassungsrecht und damit auch ihre Verfassungsgerichtsbarkeit nach eigenem Ermessen ordnen.“26 Knapp zwei Jahre nach diesem Beschluss übertrug das Bundesverfassungsgericht in der Entscheidung „Wahlrechtsbeschwerde“ die grundsätzliche Selbstständigkeit der Verfassungsräume von Bund und Ländern auf das Verhältnis der Verfassungsgerichtsbarkeiten des Bundes und der Länder.27 Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG sei zu entnehmen, dass die Nachprüfung von Landesgesetzen auf ihre Vereinbarkeit mit der Landesverfassung grundsätzlich Sache der Landesverfassungsgerichte sei.28 Auch in seiner späteren Judikatur betonte das Bundesverfassungsgericht die grundsätzliche Selbstständigkeit der Verfassungs-
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BVerfGE 22, 267 (270 ff.). BVerfGE 4, 178. BVerfG, a.a.O, S. 189. BVerfGE 6, 376. Vgl. BVerfG, a.a.O., S. 381 f.
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räume von Bund und Ländern.29 Der Bereich der Verfassungsgerichtsbarkeit der Länder müsse vom Bundesverfassungsgericht möglichst unangetastet bleiben und die Landesverfassungsgerichtsbarkeit dürfe von der Bundesverfassungsgerichtsbarkeit nicht in größere Abhängigkeit gebracht werden, als es nach dem Bundesverfassungsrecht unvermeidbar sei.30 Umgekehrt gibt es also Fälle, in denen eine Abhängigkeit der Landesverfassungsgerichte vom Bundesverfassungsgericht unvermeidbar ist und die Verfassungsräume ineinander übergreifen. 2. Durchbrechungen Ein solches Übergreifen manifestiert sich zum einen in der Möglichkeit, Landesverfassungsgerichtsentscheidungen mit der Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht anzugreifen. Zum anderen sind die Verfassungsräume insofern stellenweise miteinander verbunden, als das Bundesverfassungsrecht teilweise das Landesverfassungsrecht modifiziert und von daher von Landesverfassungsgerichten bei ihrer Entscheidungsfindung heranzuziehen sein kann. a) Verfassungsbeschwerden gegen Landesverfassungsgerichtsentscheidungen Da Entscheidungen der Landesverfassungsgerichte – wie andere Gerichtsentscheidungen – Akte der grundrechtsgebundenen öffentlichen Gewalt sind, können auch sie mit der Bundesverfassungsbeschwerde angegriffen und damit einer Prüfung auf Vereinbarkeit mit dem Maßstab des Grundgesetzes zugeführt werden.31 Dass sie regelmäßig auf einer Auslegung und Anwen29 Vgl. BVerfGE 22, 267 (270); 36, 342 (357); 41, 88 (118 f.); 96, 345 (368 f.); 103, 332 (350 f.). Vgl. auch Friesenhahn, a.a.O. (Fn. 4), S. 749 ff.; Geiger, a.a.O. (Fn. 4), S. 263 leitet die grundsätzliche Pflicht des Bundesverfassungsgerichts, die landesverfassungsgerichtliche Auslegung der Landesverfassung hinzunehmen, aus der Reziprozität der Pflicht von Bund und Ländern zu bundesfreundlichem Verhalten ab. Hinsichtlich der Einhaltung des Trennungsgrundsatzes durch das Bundesverfassungsgericht krit. R. Steinberg, Landesverfassungsgerichtsbarkeit und Bundesrecht, in: Eichel/Möller (Hrsg.), FS 50 Jahre Verfassung des Landes Hessen, 1997, S. 356 (357 ff., 363). 30 BVerfGE 36, 342 (357); 41, 88 (119); 60, 175 (209); 96, 231 (242); 107, 1 (10). 31 Vgl. BVerfGE 6, 445 (447); 13, 132 (140); 34, 81 (96); 60, 175 (208 ff.); 85, 148 (157); 96, 231 (242); 97, 298 (314 f.); BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 25. Juli 1990 – 1 BvR 1438/90 –, juris. Dass Entscheidungen der Landesverfassungsgerichte mit der Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht angegriffen werden können, wird in einigen Entscheidungen als selbstverständlich unterstellt, vgl. etwa BVerfGE 24, 289; 30, 112. Vgl. zur Angreifbarkeit landesverfassungsgerichtlicher Entscheidungen mit der Bundesverfassungsbeschwerde auch Bryde, NdsVBl 2005 Sonderheft, S. 5 (7). Wenn Bryde zufolge eine landesverfassungsgerichtliche Entscheidung sich auf die Feststellung eines Verstoßes gegen die Landesverfassung beschränkt und von daher nicht gegen das Grundgesetz
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dung der jeweiligen Landesverfassung beruhen, steht einer bundesverfassungsgerichtlichen Prüfung nicht kategorisch entgegen. Das Bundesverfassungsgericht hat allerdings mehrfach betont, „keine zweite Instanz über den Landesverfassungsgerichten [zu sein], die befugt wäre, deren Urteile in vollem Umfange zu überprüfen“.32 Zwar betont das Bundesverfassungsgericht auch hinsichtlich der Entscheidungen der Fachgerichte, keine Superrevisionsinstanz zu sein, die Entscheidungen am einfachen Recht auf objektive Fehlerhaftigkeit überprüft.33 Jedoch sind die auf Verfassungsbeschwerden gegen landesverfassungsgerichtliche Entscheidungen ergangenen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts regelmäßig von einer besonders schonenden Rücksichtnahme geprägt, die den Fachgerichten in diesem Umfang nicht zuteil wird. aa) Irrelevanz der Art des landesverfassungsgerichtlichen Verfahrens und mangelnder Beteiligung hieran Um gegen die Entscheidung eines Landesverfassungsgerichts Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht erheben zu können, ist es unerheblich, in welcher Verfahrensart die landesverfassungsgerichtliche Entscheidung ergangen ist und ob der Beschwerdeführer am Verfahren vor dem Landesverfassungsgericht beteiligt war, solange die landesverfassungsgerichtliche Entscheidung den Beschwerdeführer unmittelbar in seinen Rechten betrifft. Die Irrelevanz der Verfahrensart im landesverfassungsgerichtlichen Verfahren für die Zulässigkeit der Bundesverfassungsbeschwerde betonte das Bundesverfassungsgericht im Beschluss „Bayerische Feiertage“, mit dem es die Angreifbarkeit einer im Popularklageverfahren ergangenen Entscheidung des Bayerischen Verfassungsgerichtshofes mit der Verfassungsbeschwerde bejahte, weil der eine Popularklage Erhebende in parteiähnlicher Stellung am Popularklageverfahren beteiligt sei, die Bayerische Verfassung jedem Bürger ohne Rücksicht darauf, ob eigene Grundrechte verletzt seien, die Befugnis zur Rüge verfassungswidriger Grundrechtseinschränkungen durch Gesetze und Verordnungen einräume und sie demjenigen, der verfassungswidrige
verstoßen kann, schließt das nicht aus, dass das Landesverfassungsgericht – und insoweit dürfte ein Verstoß gegen das Grundgesetz in Frage kommen – durch seine Verfahrensführung Grundrechte eines Verfahrensbeteiligten – etwa dessen Gehörsanspruch – verletzt hat. Hinsichtlich einer Aufhebung landesverfassungsgerichtlicher Entscheidungen durch das Bundesverfassungsgericht zurückhaltend K. Lange, Das Bundesverfassungsgericht und die Landesverfassungsgerichte, in: Badura/Dreier (Hrsg.), FS BVerfG, Bd. 1, 2001, S. 289 (309). 32 Vgl. BVerfGE 6, 445 (449); 60, 175 (208). 33 Vgl. BVerfGE 18, 85 (92 f.); stRspr.
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Grundrechtseinschränkungen durch Gesetze und Verordnungen angreifen wolle, nur die Popularklage zur Seite stelle.34 Im Beschluss „Hessisches Schulgebet“35 bestimmte das Bundesverfassungsgericht, unter welchen Voraussetzungen eine von einem Nichtbeteiligten erhobene Verfassungsbeschwerde gegen eine landesverfassungsgerichtliche Entscheidung zulässig sein kann. Die Beschwerdeführerin wandte sich gegen das auf Grundrechtsklage ihres Mitschülers ergangene Schulgebetsurteil des Hessischen Staatsgerichtshofs,36 wonach ein Gebet vor Unterrichtsbeginn in einer öffentlichen Volksschule die negative Bekenntnisfreiheit von Schülern verletzen könne. Das Bundesverfassungsgericht verwarf die Verfassungsbeschwerde als unzulässig, weil die Beschwerdeführerin durch das Schulgebetsurteil nicht beschwert sei. Zwar könne auch ein am Ausgangsverfahren Nichtbeteiligter durch die darin ergangenen Entscheidungen beschwert sein. Das gelte außer für solche Fälle, in denen die Grundrechtsverletzung gerade im Inhalt oder in der Art der Formulierung der angefochtenen Entscheidung liege, dann, wenn durch die angefochtene Entscheidung eine Rechtsposition eines am Verfahren Nichtbeteiligten unmittelbar verändert werde. Dabei genüge es, wenn die Entscheidung selbst nur eine Gefährdung herbeigeführt habe, während die Veränderung erst durch ihren Vollzug eintrete. Für den Fall einer bloßen Gefährdung sei maßgebend, ob eine künftige Rechtsverletzung nicht auf andere Weise als durch die bereits erhobene Verfassungsbeschwerde zu beseitigen wäre.37 Vorliegend sei allerdings keine dieser Fallgruppen einschlägig. Inhalt des Urteils des Hessischen Staatsgerichtshofs seien formell Bescheide des Regierungspräsidenten und materiell die Unvereinbarkeit des Schulgebets mit der Hessischen Verfassung gewesen. Da der Hessische Staatsgerichtshof nicht zugleich konkret angeordnet habe, dass unmittelbar aufgrund des Urteils das Schulgebet in der damaligen Klasse der Beschwerdeführerin zu unterbleiben habe, sondern diese Entscheidung der Schulbehörde überlassen habe,38 stehe es der Beschwerdeführerin frei, die von ihr vorgetragene Verletzung von Grundrechten des Grundgesetzes geltend zu machen, insoweit des Rechtsweg zu beschreiten und erforderlichenfalls Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht zu erheben. Eine stattgebende Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ließe dann 34
BVerfGE 13, 132 (140 f.). BVerfGE 24, 289. 36 ESVGH 16, 1. 37 BVerfGE 24, 289 (295). 38 BVerfG, a.a.O., S. 296. Vgl. auch BVerfGE 30, 112 (123): Unzulässigkeit einer Verfassungsbeschwerde gegen eine Entscheidung des Bremischen Staatsgerichtshofs, in der ausschließlich eine Norm der Landesverfassung ausgelegt werde, weil diese Entscheidung – ungeachtet ihrer allgemeinverbindlichen Wirkung – durch ihren Inhalt und die Art ihrer Formulierung keine Grundrechte der Beschwerdeführer verletzen könne und keinerlei diese rechtlich beeinträchtigende Feststellungen enthalte. 35
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das Urteil des Hessischen Staatsgerichtshofs hinsichtlich seiner Bindungswirkung gegenstandslos werden.39 Die Art des Verfahrens vor dem Landesverfassungsgericht und die Frage, ob der Beschwerdeführer im Bundesverfassungsbeschwerdeverfahren bereits am landesverfassungsgerichtlichen Verfahren beteiligt war, erachtete das Bundesverfassungsgericht auch in späteren Entscheidungen für unerheblich. Ausreichend – aber auch erforderlich – sei eine von der landesverfassungsgerichtlichen Entscheidung ausgehende Beschwer für den Beschwerdeführer. Im „Wahlgleichheits“-Beschluss stellte das Bundesverfassungsgericht klar, dass selbst im Wahlprüfungsverfahren ergangene Entscheidungen ungeachtet ihres überwiegend objektiven Charakters und ungeachtet der Nichtbeteiligung des Beschwerdeführers am Verfahren mit der Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht angegriffen werden könnten, sofern der Beschwerdeführer durch diese Entscheidung unmittelbar rechtlich betroffen sei.40 In der Entscheidung „Inkompatbilität/Kirchliches Amt“ erachtete der Senat die zum Bundesverfassungsgericht erhobene Verfassungsbeschwerde der Bremischen Evangelischen Kirche gegen eine im Normenkontrollverfahren ergangene Entscheidung des Bremischen Staatsgerichtshofs, wonach eine kirchengesetzliche Inkompatibilitätsregelung mit der Landesverfassung unvereinbar sei,41 unter dem Gesichtspunkt einer möglichen Verletzung von Art. 4 GG für zulässig, obwohl auch hier die Beschwerdeführerin am Ausgangsverfahren nicht beteiligt war.42 bb) Kontrolle landesverfassungsgerichtlicher Verfahrensrechtsanwendung Das Bundesverfassungsgericht kontrolliert die landesverfassungsgerichtliche Verfahrensrechtsanwendung nicht immer auf ihre Vereinbarkeit mit den Bundesgrundrechten. Die Beurteilung eines Landesverfassungsgerichts, ob ein bei ihm anhängiges Verfahren die maßgeblichen Zulässigkeitsvoraussetzungen erfüllt, hinterfragt das Bundesverfassungsgericht nicht. Im Beschluss „Niedersächsisches Landesbesoldungsgesetz“, dem eine Divergenzvorlage nach Art. 100 Abs. 3 GG zugrundelag, lehnte das Bundesverfassungsgericht eine Prüfung der Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefrage ab, da das Landesverfassungsgericht als ein oberstes Verfassungsorgan innerhalb der Landesverfassungsordnung „Herr seiner Verfahren“ ebenso wie das Bundesverfassungsgericht Herr der bei ihm anhängigen Verfahren sei und damit über die prozessuale Zulässigkeit seiner Verfahren bestimmen könne, ohne vom Bundesverfassungsgericht korrigiert werden zu können.43 39 40 41 42 43
BVerfGE 24, 289 (298). BVerfGE 34, 81 (97). BremStGH, Entscheidung vom 15. Januar 1975 – St 3/1973 –, NJW 1975, S. 635 ff. BVerfGE 42, 312 (321 ff.). BVerfGE 36, 342 (357).
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Eine andere Frage ist, ob und inwieweit die Verfahrensführung durch das Landesverfassungsgericht bundesverfassungsgerichtlicher Kontrolle unterliegt. Hier kommt es auf die Art des Verfahrens vor dem Landesverfassungsgericht an. In der Entscheidung „Startbahn West“ wiederholte das Bundesverfassungsgericht seine Anerkennung der Eigenschaft jedes Landesverfassungsgerichts als „Herr seiner Verfahren“. Die „Gestaltung des Verfahrens, die Auslegung des Rechts und seine Anwendung auf den einzelnen Fall“ könne das Bundesverfassungsgericht nur bei einer Verletzung von spezifischem Bundesverfassungsrecht nachprüfen.44 Bei der sodann vorgenommenen Prüfung des angegriffenen Beschlusses des Hessischen Staatsgerichtshofs auf einen Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 und Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG ist – trotz der betonten landesverfassungsgerichtlichen Verfahrensherrschaft – eine besondere Zurückhaltung im Prüfungsmaßstab nicht erkennbar.45 Demgegenüber verwarf das Bundesverfassungsgericht mit dem „Müllkonzept“-Beschluss46 die gegen eine Volksentscheidprüfungsentscheidung des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs erhobene Verfassungsbeschwerde, soweit die Beschwerdeführerin, die Bürgeraktion „Das bessere Müllkonzept e.V.“, eine Verletzung von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG durch den Bayerischen Verfassungsgerichtshof gerügt hatte, als unzulässig. Hinsichtlich der Funktionen bei Ausübung des Landesgesetzgebungsrechts entscheide das Landesverfassungsgericht endgültig. Gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 GG und § 13 Nr. 8 BVerfGG sei in landesinternen Streitigkeiten der Rechtsweg zum Bundesverfassungsgericht nicht eröffnet, soweit hierfür die Zuständigkeit eines Landesverfassungsgerichts begründet sei.47 Anders liege der Fall, wenn Rügen der Verletzung von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG und Art. 103 Abs. 1 GG gegen eine im Popularklageverfahren ergangene landesverfassungsgerichtliche Entscheidung erhoben würden, weil ein Antragsteller im Popularklageverfahren demjenigen gleichzustellen sei, der eigene Grundrechte verteidige.48 Dass die Gewährleistungen des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG und Art. 103 Abs. 1 GG für jedes gerichtliche Verfahren gälten und von daher auch von Landesverfassungsgerichten zu beachten seien, ändere hieran nichts, weil bei abschließender landesverfassungsgerichtlicher Klärung einer Streitigkeit ein Übergreifen der Verfassungsgerichtsbarkeit des Bundes auf die des Landes vermeidbar sei.49 Das Grundgesetz erkenne mit Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 GG an, dass „ein
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BVerfGE 60, 175 (213 f.). Vgl. BVerfG, a.a.O, S. 210 ff., 214 f.; ähnliche Prüfungsdichte in BVerfGE 69, 112 (120 ff.). 46 BVerfGE 96, 231. 47 BVerfG, a.a.O., S. 242 f. 48 BVerfG, a.a.O., S. 243 unter Hinweis auf BVerfGE 13, 132 (142); 69, 112 (120). 49 BVerfGE 96, 231 (243 f.). 45
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Land interne – grundrechtlich geschützte Rechte nicht berührende – Streitigkeiten unter Funktionsträgern der Staatsgewalt im Land aufgrund eigener Verfassungsgerichtsbarkeit – ohne jede bundesverfassungsgerichtliche Einwirkung – in der Sache abschließend entscheiden“ könne. Die insoweit grundgesetzlich anerkannte „Unantastbarkeit der Landesverfassungsgerichtsbarkeit“ würde teilweise aufgehoben, wenn das Bundesverfassungsgericht die Einhaltung grundrechtsgleicher Gewährleistungen im landesverfassungsgerichtlichen Verfahren kontrollieren müsste. Bemerkenswert erscheint die nachfolgende Erwägung, dass ein Übergriff der Bundesverfassungsgerichtsbarkeit in die Gerichtsbarkeit eines Landes nicht geboten sei, „solange die Länder – wie dies in der Bundesrepublik Deutschland der Fall ist – bei der Einrichtung ihrer Landesverfassungsgerichte die Homogenitätsanforderungen des Art. 28 Abs. 1 GG beachten. Dazu gehört, dass sie ihre Verfassungsgerichte mit Richtern besetzen, die im Sinne des Art. 97 Abs. 1 GG unabhängig und nur dem Gesetz unterworfen sind, und dass sie ihre Verfassungsgerichtsbarkeit einer Bindung an die Prinzipien rechtsstaatlicher Verfahrensgestaltung unterwerfen. In diesem Rahmen brauchen daher landesverfassungsgerichtliche Verfahren unter Funktionsträgern des Landes nicht durch das Bundesverfassungsgericht auf die Beachtung der für das Verfahren geltenden grundrechtsgleichen Gewährleistungen kontrolliert zu werden.“50 cc) Kontrolle der Beachtung der Grundrechte des Grundgesetzes Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, inwieweit Entscheidungen der Landesverfassungsgerichte einer bundesverfassungsgerichtlichen Kontrolle auf ihre Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz unterliegen, ist teilweise widersprüchlich und tendierte in den vergangenen Jahrzehnten zu einer eingeschränkten Kontrolle, die sich bereits im „Gemeinschaftsschulen“Beschluss51 andeutete. Dort erteilte das Bundesverfassungsgericht dem Begehren der Beschwerdeführer, das Bundesverfassungsgericht möge die „richtige“ Anwendung von Landesverfassungsrecht durch das Landesverfassungsgericht kontrollieren, eine Absage. Unter Berufung auf Art. 2 Abs. 1 GG – und damit letztlich auf die Elfes-Konstruktion52 – hatten die Beschwerdeführer unter anderem die Unvereinbarkeit der die Gemeinschaftsschule einführenden Landesnormen mit dem Elternrecht in Art. 8 der nordrhein-westfälischen Landesverfassung geltend gemacht und auf diese Weise die Frage der Befugnis des Bundesverfassungsgerichts aufgeworfen, über Rügen einer Verletzung von Art. 2 Abs. 1 GG auch die Vereinbarkeit von Landesrecht mit Landesverfassungsrecht zu prüfen. Der Erste Senat ver-
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BVerfGE 96, 231 (244 f.). BVerfGE 41, 88. Vgl. BVerfGE 6, 32 (37 ff.).
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neinte diese Frage unter Rekurs auf den Trennungsgrundsatz, aus dem abzuleiten sei, dass die Nachprüfung von Landesgesetzen auf ihre Vereinbarkeit mit der Landesverfassung grundsätzlich den Landesverfassungsgerichten zukomme.53 Aus der grundsätzlichen Freiheit der Länder bei der Ausgestaltung ihrer Landesverfassung, die nur durch Art. 28 Abs. 1 GG oder andere besondere grundgesetzliche Bestimmungen durchbrochen werde, folgerte der Senat den Grundsatz, dass auch die Landesverfassungsgerichtsbarkeit vom Bundesverfassungsgericht soweit wie möglich unangetastet bleiben müsse und dass Landesverfassungsgerichte – abgesehen von Fällen des Art. 99 GG – frei von jeder bundesverfassungsgerichtlichen Zuständigkeit und „aufgrund eigener Verfassungsgerichtsbarkeit über die Vereinbarkeit der vom Landesgesetzgeber in vom Grundgesetz gewährter eigener Kompetenz erlassenen Gesetze mit der Landesverfassung entscheiden dürfen“.54 Dem Bundesverfassungsgericht über Art. 2 Abs. 1 GG die Überprüfung der Vereinbarkeit eines Landesgesetzes mit der jeweiligen Landesverfassung zuzubilligen, liefe, so der Senat, auf eine weitgehende Aushöhlung der Verfassungsgerichtsbarkeit der Länder hinaus. Außerdem begründete der Senat seine Auffassung damit, dass Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG die Frage der Vereinbarkeit von Landesrecht mit Landesverfassungsrecht nicht erwähne und dass nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4b GG bei einer Verletzung des Selbstverwaltungsrechts der Gemeinden durch ein Landesgesetz eine Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht nur gegeben sei, soweit nicht Beschwerde beim Landesverfassungsgericht erhoben werden könne.55 Im „Startbahn West“-Beschluss56 bestimmte das Bundesverfassungsgericht das Maß der von ihm zu beachtenden Freiräume der Landesverfassungsgerichte bei ihrer Überprüfung der Einhaltung grundgesetzlicher Gesetzgebungskompetenznormen. Gegenstand des Beschlusses waren eine Entscheidung der Hessischen Landesregierung, mit der ein Antrag auf Zulassung eines gegen die Erweiterung des Frankfurter Flughafens gerichteten Volksbegehrens abgelehnt worden war, und ein Beschluss des Hessischen Staatsgerichtshofs,57 der die gegen die Regierungsentscheidung gerichtete Beschwerde zurückgewiesen hatte, weil der mit dem Antrag auf Zulassung des Volksbegehrens vorgelegte Gesetzentwurf der Gesetzgebungskompetenz des Bundes vorbehalten sei und daher nicht als Hessisches Landesgesetz ergehen könne. Das Bundesverfassungsgericht betonte, dass die grundgesetzlichen Vorschriften zur Gesetzgebungskompetenzverteilung die „Grenze
53 BVerfGE 41, 88 (118 f.) unter Hinweis auf BVerfGE 6, 376 (382); 11, 89 (94). Vgl. auch BVerfGE 45, 400 (413); 60, 175 (209). Vgl. auch E. Schumann, a.a.O. (Fn. 23), S. 221. 54 BVerfGE 41, 88 (119). 55 BVerfG, a.a.O., S. 119 f. 56 BVerfGE 60, 175. 57 HessStGH, Beschluss vom 15. Januar 1982 – P.St. 947 –, NJW 1982, S. 1141 ff.
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der nach der Hessischen Landesverfassung grundsätzlich unbeschränkten Gesetzgebungsbefugnis der Landesstaatsgewalt“ bilde und dass von daher die Landesregierung zur Überprüfung der Wahrung der Gesetzgebungsbefugnis gehalten sei.58 Für den Staatsgerichtshof folge eine Prüfungsbefugnis schon aus Art. 100 Abs. 3 GG.59 Da die Nachprüfung von kompetenzgemäß erlassenen Landesgesetzen mit der Landesverfassung grundsätzlich Sache der Landesverfassungsgerichte sei,60 beschränkte sich das Bundesverfassungsgericht hinsichtlich der landesverfassungsgerichtlichen Verneinung der Gesetzgebungszuständigkeit auf eine – negativ ausgefallene – Willkürkontrolle.61 Demgegenüber stellte das Bundesverfassungsgericht in zwei Senatsentscheidungen klar, dass Landesverfassungsgerichte ungeachtet der im Übrigen bestehenden Verfassungshoheit der Landesstaatsgewalt gemäß Art. 1 Abs. 3 GG an die Grundrechte der Bundesverfassung gebunden seien, so dass sie, soweit der von ihnen zu beurteilende Gegenstand sich im Schutzbereich der Bundesgrundrechte bewege, sich bei Auslegung und Anwendung der Landesverfassung nicht in Widerspruch zu den Grundrechten der Bundesverfassung setzen dürften.62 Damit ist von den Landesverfassungsgerichten nicht gefordert, das Grundgesetz unmittelbar auf den Prüfungsgegenstand anzuwenden; gemeint ist vielmehr, dass die Landesverfassungsgerichte sicherstellen müssen, dass ihr landesverfassungsrechtlicher Prüfungsmaßstab mit den Grundrechten des Grundgesetzes vereinbar ist. In der Entscheidung „Inkompatbilität/Kirchliches Amt“63 verneinte das Bundesverfassungsgericht die Frage, ob eine Landesverfassung das Verhältnis von Staat und Kirche abweichend vom Grundgesetz bestimmen könne. Zwar sei das Bundesverfassungsgericht an die Auslegung einer landesverfassungsrechtlichen Vorschrift durch das jeweilige Landesverfassungsgericht gebunden, es falle indes in die Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts, etwaige Widersprüche zwischen der landesverfassungsgerichtlichen Auslegung der Landesverfassungsnorm und dem Grundgesetz festzustellen.64 Ein weiteres Beispiel dafür, dass die mangelnde Befugnis des Bundesverfassungsgerichts, die Richtigkeit der Auslegung der Landesverfassungsgericht durch das hierzu ausschließlich berufene Landesverfassungsgericht zu hinterfragen, nicht ausschließt, landesverfassungsgerichtliche Entscheidungen am Maßstab des Grundgesetzes zu messen, also dahin zu überprüfen, ob das Landesverfassungsgericht sich bei 58
BVerfGE 60, 175 (205). BVerfG, a.a.O., S. 206. 60 BVerfG, a.a.O., S. 209; vgl. auch H.-P. Schneider, NdsVBl 2005 Sonderheft, S. 26 (31). 61 BVerfG, a.a.O., S. 209, 213 f.; R. Steinberg, a.a.O. (Fn. 29), S. 365 erachtet die Annahme, Landesverfassungsgerichte dürften die Wahrung grundgesetzlicher Kompetenzbestimmungen prüfen, für verfehlt. 62 Vgl. BVerfGE 42, 312 (325); 97, 298 (314 f.). 63 BVerfGE 42, 312. 64 BVerfG, a.a.O., S. 325. 59
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Auslegung und Anwendung der Landesverfassung in Widerspruch zum Grundgesetz gesetzt hat, ist der Beschluss „extra-radio“,65 mit dem der Erste Senat einen Beschluss des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs mit der Begründung aufhob, dieser habe bei der Auslegung der bayerischen Rundfunkfreiheit Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG nicht beachtet und den privaten Rundfunkbewerbern damit den Schutz dieses Grundrechts vorenthalten.66 Dem Kammerbeschluss „Verfassungsautonomie der Länder“ aus dem Jahr 2006 liegt allerdings ein von den soeben dargestellten Senatsentscheidungen abweichendes Verständnis der Kontrolldichte zugrunde. Dort führte die Kammer aus, dass das Bundesverfassungsgericht die Interpretation von Landesgrundrechten durch das Landesverfassungsgericht auch dann nicht nachprüfe, wenn das Landesverfassungsgericht ein Landesgrundrecht enger ausgelegt habe als das entsprechende Grundrecht des Grundgesetzes, weil die Wirkungskraft des grundgesetzlichen Grundrechts durch eine solche Interpretation nicht berührt werde.67 Mit der soeben dargestellten Senatsrechtsprechung, wonach Landesverfassungsgerichte als Vorfrage die Vereinbarkeit ihres landesverfassungsrechtlichen Prüfungsmaßstabs mit dem Grundgesetz zu prüfen haben, passt dies nicht recht zusammen. Eingedenk der Gedanken der getrennten Verfassungsherrschaft und der grundsätzlichen Eigenständigkeit der Verfassungsgerichtsbarkeiten erscheint die im Kammerbeschluss vertretene Auffassung vorzugswürdig, zumal die den Senatsentscheidungen zugrundeliegende Auffassung leicht dem Vorwurf ausgesetzt ist, die Landesverfassungsgerichte zu bloßen Vorprüfungsinstanzen des Bundesverfassungsgerichts verkümmern zu lassen. Unvermeidbar ist ein Hineinwirken des grundgesetzlichen Grundrechtsschutzes in die Tätigkeit der Landesverfassungsgerichte im Sinne der Entscheidungen „Inkompatbilität/Kirchliches Amt“ und „extra-radio“ mitnichten: Einem Beschwerdeführer entsteht durch die Hinnahme hinter dem Grundrechtsschutz des Grundgesetzes zurückbleibenden Grundrechtsschutzes durch ein Landesverfassungsgericht kein Nachteil, weil er, anstatt das Landesverfassungsgericht anzurufen, Bundesverfassungsbeschwerde erheben kann. Der im Kammerbeschluss vertretenen Auffassung steht auch nicht Art. 142 GG entgegen, wenn man diese Vorschrift dahin versteht, dass sie einen vom grundgesetzlichen Grundrechtsschutz abweichenden – und damit auch einen zurückbleibenden – Schutz auf Landesebene zulässt.68
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BVerfGE 97, 298. Vgl. BVerfG, a.a.O., S. 314 f.; krit. Möstl, AöR 130 (2005), S. 350 (361 f.). 67 BVerfGK 8, 169 (172) unter Hinweis auf BVerfG, Beschlüsse der 1. Kammer des Ersten Senats vom 25. Juli 1990 – 1 BvR 1438/89 –, juris, und vom 19. April 1993 – 1 BvR 744/91 –, NVwZ 1994, S. 59 (60); Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 18. Januar 1996 – 1 BvR 1375/95 –, NJW 1996, S. 1464. 68 Hierzu näher unter Abschnitt III. 2. b) bb) (1). 66
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Der bundesverfassungsgerichtlichen Kontrolle entzogen ist seit dem Beschluss „Bayerische Kommunalwahlen“69 die Einhaltung des Grundsatzes der Wahlrechtsgleichheit bei Wahlen innerhalb eines Landes. Mit diesem Beschluss erkannte das Bundesverfassungsgericht den Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit in Art. 38 GG als Spezialnorm an, was zur Folge hat, dass mit der Bundesverfassungsbeschwerde eine Verletzung der Wahlrechtsgleichheit nur im Zusammenhang mit Bundestagswahlen erhoben werden kann. Mit der Aufgabe seiner vormaligen Rechtsprechung, wonach der Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit bei Landtags- und Kommunalwahlen ein Anwendungsfall des allgemeinen Gleichheitssatzes nach Art. 3 Abs. 1 GG und damit bundesverfassungsgerichtlicher Kontrolle zugänglich sei,70 hat das Bundesverfassungsgericht seine Kontrolle des Staatsorganisationsrechts der Länder beendet und die Eigenständigkeit der Landesverfassungsgerichtsbarkeit in diesem Bereich anerkannt. b) Reichweite landesverfassungsgerichtlicher Prüfungsbefugnisse aa) Landesverfassungsgerichtlicher Prüfungsmaßstab Im Ausgangspunkt haben Landesverfassungsgerichte die ihnen zugewiesenen Verfahren anhand der Landesverfassung zu beurteilen.71 Verschränkungen ergeben sich dort, wo Landesverfassungen grundgesetzliche Bestimmungen durch Verweisung ins Landesrecht inkorporieren,72 das heißt Grundrechte des Grundgesetzes in originäres Landesrecht transformieren mit der Folge, dass der Betroffene eine Verletzung dieser Grundrechte mit der Landesverfassungsbeschwerde rügen kann.73 Es wäre jedoch verfehlt, 69
BVerfGE 99, 1. Vgl. BVerfGE 103, 332 (353). S. auch K. Lange, a.a.O. (Fn. 31), S. 290 f. Vgl. die entsprechenden Nachweise zur vormaligen Rechtsprechung unter BVerfGE 99, 1 (9 f.). 71 BVerfGE 103, 332 (350 f.) m.w.N. 72 Näher zu den einzelnen Erscheinungsformen einer Inkorporierung von Bundesverfassungsrecht Voßkuhle, JöR N.F. 59 (2011), S. 215 (228 ff.). 73 Unklar ist, ob das Landesverfassungsgericht bei der Auslegung eines von der Landesverfassung inkorporierten Bundesgrundrechts ohne weiteres von der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Bundesgrundrecht abweichen kann. Es wird vertreten, das Landesverfassungsgericht lege in einem solchen Fall der Sache nach das Grundgesetz aus und unterliege daher, wenn es von der Grundgesetzauslegung des Bundesverfassungsgerichts oder eines anderen Landesverfassungsgerichts abweichen wolle, einer Vorlagepflicht aus Art. 100 Abs. 3 GG, vgl. Rühmann, in: Umbach/Clemens/Dollinger (Hrsg.), BVerfGG, 2. Aufl. 2005, § 85 Rn. 30 ff. Überzeugender erscheint jedoch – schon mit Blick auf den Trennungsgrundsatz – die Verneinung einer Vorlagepflicht, zumal durch die Inkorporierung Bundesrecht in originäres Landesrecht transformiert wird und wohl kaum an der Landesrechtsqualität und damit an der ausschließlichen Auslegungskompetenz des Landesverfassungsgerichts zu zweifeln wäre, wenn der Landesverfassungsgeber sich nicht für eine Verweistechnik entschieden hätte, sondern die zu rezipierenden Grundgesetzvorschriften bei der Redaktion des Landesverfassungstexts wortgleich „abgeschrieben“ hätte. Ebenso W. Löwer, NdsVBl 2010, S. 138 (139). 70
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abgesehen von diesen Inkorporierungsfällen in der Landesverfassung den alleinigen Prüfungsmaßstab für die Landesverfassungsgerichte zu erblicken. Schon in einer frühen Entscheidung hob das Bundesverfassungsgericht hervor, dass die „Verfassung der Gliedstaaten eines Bundestaates […] nicht in der Landesverfassungsurkunde allein enthalten“ sei, sondern in sie „auch Bestimmungen der Bundesverfassung“ hineinwirkten. „Beide Elemente zusammen“ machten erst die Landesverfassung aus.74 Die in der bundesverfassungsgerichtlichen Judikatur sodann erfolgten Konkretisierungen dieser Feststellung resümierte das Bundesverfassungsgericht im Beschluss „Naturschutzgesetz Schleswig-Holstein“75 in seiner damaligen Eigenschaft als Landesverfassungsgericht von Schleswig-Holstein (vgl. Art. 99 GG). Demnach hätten Landesverfassungsgerichte zu beachten, dass ihr landesrechtlicher Prüfungsmaßstab mit dem Grundgesetz vereinbar sei.76 Ferner schränke das Grundgesetz die Verfassungshoheit der Länder durch normative Vorgaben an die Landesverfassungen ein. Landesverfassungsgerichte hätten beispielsweise die in Art. 20 Abs. 3 GG normierte Bindung des Gesetzgebers an die verfassungsmäßige Ordnung, den grundgesetzlich in Art. 25 GG verankerten Primat des Völkerrechts vor innerstaatlichem Recht, Art. 21 GG und die Rundfunkfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 GG als verbindlichen Prüfungsmaßstab zu beachten.77 Die Gesetzgebungskompetenzverteilung in Art. 70 ff. GG müssten die Landesverfassungsgerichte bei ihren Entscheidungen dem-
74 BVerfGE 1, 208 (232). Siehe auch BVerfGE 27, 44 (55); 66, 107 (114); 103, 332 (352 f.). Die Formulierung ist leicht missverständlich und wird dahin zu verstehen sein, dass die Bundesverfassung auf das Landesverfassungsrecht einwirkt. So wohl auch A. Dittmann, Verfassungshoheit der Länder und bundesstaatliche Verfassungshomogenität, in: Isensee/ Kirchhof (Hrsg.), HStR VI, 3. Aufl. 2008, § 127 Rn. 10. 75 BVerfGE 103, 332. 76 BVerfG, a.a.O., S. 352. Hierzu s.o. unter III. 2. a) cc). Im Beschluss „Niedersächsisches Landesbesoldungsgesetz“ erkannte das Bundesverfassungsgericht für Recht, dass Art. 31 GG nur Landesverfassungsrecht, das inhaltlich mit dem Bundesverfassungsrecht unvereinbar sei, breche, BVerfGE 36, 342 (366 f.). Hieraus folge, dass Landesverfassungsgerichte „als Maßstab ihrer Prüfung nur die Landesverfassung besitzen und künftig also ihre Zuständigkeit und ihre materielle Prüfungsbefugnis auch aus den Landesverfassungsbestimmungen herleiten und entwickeln können, die mit Bestimmungen des Grundgesetzes inhaltlich übereinstimmen und keine Grundrechte sind. Das führt praktisch zu einer Erweiterung des doppelten Gerichtsschutzes, weil künftig auch in Fällen dieser Art Verfassungsbeschwerdeund Normenkontrollverfahren bei den Landesverfassungsgerichten nach Maßgabe des Grundgesetzes anhängig gemacht werden können. Dies wiederum kann dazu führen, dass gelegentlich einmal die Entscheidungen des Landesverfassungsgerichts und des Bundesverfassungsgerichts, die dieselbe Sache betreffen, auseinander gehen; in diesem Fall setzt sich letztlich die Auffassung des Bundesverfassungsgerichts durch. […] Dieses von manchen als ‚zu viel‘ an Gerichtsschutz bewertete, einer strengen Prozessökonomie nicht ganz entsprechende Ergebnis muss und kann im Bundesstaat in Kauf genommen werden“, BVerfGE 36, 342 (368 f.). 77 BVerfGE 103, 332 (353) m.w.N. Hierzu s. Abschnitt III. 2. a) cc).
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gegenüber nur dann als für sie verbindlichen Prüfungsmaßstab heranziehen, wenn die Landesverfassung insoweit auf das Grundgesetz deutlich Bezug nehme.78 Eine weitere Durchbrechung des Trennungsprinzips hat das Bundesverfassungsgericht in Art. 100 Abs. 3 GG erkannt, wonach ein Landesverfassungsgericht bei beabsichtigter Abweichung seiner Auslegung des Grundgesetzes von einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts oder eines anderen Landesverfassungsgerichts die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts einzuholen hat. Art. 100 Abs. 3 GG setze damit gerade voraus, dass die Auslegung des Grundgesetzes auch im landesverfassungsgerichtlichen Rechtsfindungsprozess eine Rolle spielen könne, und behalte die abschließende Entscheidungskompetenz in Fragen betreffend die Grundgesetzauslegung dem Bundesverfassungsgericht vor.79 Erscheint der dem Beschluss „Naturschutzgesetz Schleswig-Holstein“ zu entnehmende Entscheidungsspielraum der Landesverfassungsgerichte noch auf den ersten Blick stark eingeengt, so ist doch zu betonen, dass der Beschluss keine Aussage dazu trifft, inwieweit das Bundesverfassungsgericht über die Wahrung der in die Landesverfassung hineinwirkenden Bestimmungen des Grundgesetzes durch die Landesverfassungsgerichte wacht. Zwischen der Verbindlichkeit solchermaßen hineinwirkender Bundesbestimmungen für die Landesverfassungsgerichte und der Überwachung ihrer Einhaltung durch das Bundesverfassungsgericht dürfte ein Unterschied bestehen.80 bb) Landesverfassungsgerichtlicher Prüfungsgegenstand Landesverfassungsbeschwerden können nur gegen Akte der Landesstaatsgewalt erhoben werden. Ob dies allerdings für alle Akte der Landesstaatsgewalt gilt, ist noch nicht abschließend bundesverfassungsgerichtlich geklärt. Von der seitens der Landesverfassungsgerichte lange Zeit vertretenen Auffassung, die Kontrolle von Entscheidungen der Gerichte des Landes, die in Anwendung von Bundesrecht ergangen seien, sei mit Blick auf Art. 31 GG auf eine Willkürkontrolle beschränkt, weil den angegriffenen Entscheidungen dann in Wahrheit gar kein Bundesrecht mehr zugrunde liege,81 rückte erstmals der Berliner Verfassungsgerichtshof mit zwei Entscheidungen aus
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BVerfG, a.a.O., S. 357 f. BVerfG, a.a.O., S. 355 m.w.N.; krit hinsichtlich der Bindung der Landesverfassungsgerichte an die bundesverfassungsgerichtliche Grundrechtsauslegung Oeter, VVDStRL 66 (2007), S. 361 (368). 80 Vgl. etwa BVerfGE 96, 231 (243 f.). 81 Vgl. BayVerfGH, Beschluss vom 18. Mai 1973 – Vf. 31-VI-72 –, NJW 1973, S. 1644; HessStGH, ESVGH 20, 5 (7 f.); 34, 12 (13 ff.); 40, 1 (3); 40, 75. Vgl. auch Friesenhahn, a.a.O. (Fn. 4), S. 767. 79
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den frühen Neunzigerjahren ab82 und leitete damit für die Landesverfassungsgerichtsbarkeit einen Bedeutungswandel ein.83 Eine – zumindest teilweise – bundesverfassungsgerichtliche Klärung dieser Frage erfolgte, ausgelöst durch eine Divergenzvorlage des Sächsischen Verfassungsgerichtshofs nach Art. 100 Abs. 3 GG,84 im „Landesverfassungsgerichte“-Beschluss.85 Dem Verfahren vor dem Sächsischen Verfassungsgerichtshof lag eine auf die Rüge einer Gehörsverletzung gestützte Landesverfassungsbeschwerde gegen ein Zivilurteil zugrunde, die der Beschwerdeführer gleichzeitig mit einer zum Bundesverfassungsgericht erhobenen inhaltsgleichen Verfassungsbeschwerde erhoben hatte.86 (1) Kontrolle der Anwendung verfahrensrechtlicher Bundesvorschriften Mit dem „Landesverfassungsgerichte“-Beschluss erkannte das Bundesverfassungsgericht unter Ausführung der insoweit zu beachtenden Kautelen ein Recht der Landesverfassungsgerichte an, die Anwendung verfahrensrechtlicher Bundesvorschriften durch oberste Landesgerichte auf Einhaltung der Grundrechte der Landesverfassung zu prüfen. 82
LVerfGE 1, 44; 1, 56. So die hier geteilte Einschätzung von Wallerath, NdsVBl 2005 Sonderheft, S. 43 (48). 84 SächsVerfGH, Beschluss vom 21. September 1995 – Vf. 1-IV-95 –, NJW 1996, S. 1736 ff. 85 BVerfGE 96, 345. In einem kurz zuvor ergangenen Kammerbeschluss lehnte das Bundesverfassungsgericht gem. § 93a Abs. 2 BVerfGG die Annahme einer gegen ein Urteil des Berliner Verfassungsgerichtshofs gerichteten Verfassungsbeschwerde ab, weil der Verfassungsgerichtshof zivilgerichtliche Entscheidungen, in denen der Beschwerdeführerin unter Bejahung eines Verstoßes gegen § 3 UWG die Berufsbezeichnung als „Tierheilpraktikerin“ untersagt worden sei, nicht am Maßstab von Art. 12 Abs. 1 GG, sondern ausschließlich am Maßstab der – der tragenden Rechtsauffassung des Berliner Verfassungsgerichtshofs zufolge – weniger weitreichenden Berufsfreiheit in Art. 11 BlnVerf gemessen habe und der weitergehende Schutz des Art. 12 Abs. 1 GG hierdurch nicht geschmälert worden sei, vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 18. Januar 1996 – 1 BvR 1375/95 –, NJW 1996, S. 1464. Da der Berliner Verfassungsgerichtshof die zu ihm erhobene Verfassungsbeschwerde bereits für unzulässig erachtet hatte (vgl. BerlVerfGH, Urteil vom 31. Mai 1995 – 55/93 –, JR 1995, S. 146) und das Bundesverfassungsgericht in dem knapp begründeten Nichtannahmebeschluss auch nicht offenlegt, ob eine Prüfung von Art. 12 Abs. 1 GG zugunsten der Beschwerdeführerin ausgegangen wäre, lässt sich nicht sagen, ob das Bundesverfassungsgericht die Beurteilung der materiellen Bundesrechtsanwendung durch ein Landesverfassungsgericht gebilligt oder nicht gebilligt und die Nichtannahme möglicherweise schlicht deshalb gewählt hat, weil das Urteil des Verfassungsgerichtshofs auf einem etwaigen Verfassungsverstoß infolge der Beurteilung materieller Bundesrechtsanwendung anhand der Landesverfassung nicht beruht, da selbst eine Beachtung von Art. 12 Abs. 1 GG der Beschwerdeführerin nicht weiterhülfe. 86 Die zu ihm erhobene Verfassungsbeschwerde hatte das Bundesverfassungsgericht, bevor es im „Landesverfassungsgerichte“-Beschluss über die Divergenzvorlage entschied, durch nicht begründeten Beschluss nicht zur Entscheidung angenommen, vgl. insoweit die Darstellung der Verfahrensgeschichte in BVerfGE 96, 345 (348). 83
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Erstens müsse die verfassungsrechtliche Beschwer des Beschwerdeführers ausschließlich auf der Entscheidung eines Gerichts des Landes – und nicht auch des Bundes – beruhen.87 Eine Landesverfassungsbeschwerde sei insofern ausgeschlossen, wenn die hiermit angegriffene Entscheidung durch ein Bundesgericht ganz oder teilweise bestätigt worden oder nach Zurückverweisung unter Bindung an die Maßstäbe eines Bundesgerichts ergangen sei, weil die Beschwer des Betroffenen dann nicht allein auf der Ausübung der Landesstaatsgewalt beruhe.88 Die Landesverfassungsbeschwerde müsse zweitens ein Anwendungsfall für ein mit dem entsprechenden Bundesgrundrecht inhaltsgleiches Landesgrundrecht sein. Die Annahme, dass die Landesverfassungsgerichte den landesverfassungsrechtlichen Prüfungsmaßstab dahin überprüfen müssen, ob er mit dem Grundgesetz vereinbar ist, hat das Bundesverfassungsgericht bereits seinen Entscheidungen „Inkompatibilität/Kirchliches Amt“ und „extra-radio“ – dort gestützt auf die in Art. 1 Abs. 3 GG niedergelegte Grundrechtsbindung aller Staatsgewalt – zugrundegelegt.89 Im „Landesverfassungsgerichte“-Beschluss stützte das Bundesverfassungsgericht seine Auffassung auf Art. 142 GG.90 Danach blieben ungeachtet der Vorschrift des Art. 31 GG Bestimmungen der Landesverfassungen auch insoweit in Kraft, als sie in Übereinstimmung mit den Art. 1 bis 18 GG Grundrechte gewährleisteten. In Ansehung seines Normzwecks, Grundrechtsschutz durch die Landesverfassungsgerichte zu ermöglichen, müsse Art. 142 GG auch grundrechtsgleiche Gewährleistungen erfassen.91 Die von der Vorschrift geforderte Übereinstimmung bestehe dann, wenn die Gewährleistungsbereiche und Schranken der jeweiligen Grundrechte einander nicht widersprächen, wenn die Grundrechte also „den gleichen Gegenstand in gleichem Sinne, mit gleichem Inhalt und in gleichem Umfang“ regelten. Ein unterschiedliches Schutzniveau zwischen dem Grundrecht der Landesverfassung und dem grundgesetzlichen Grundrecht stehe der Annahme einer Inhaltsgleichheit indessen nicht entgegen, sofern „das jeweils engere Grundrecht als Mindest-
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BVerfGE 96, 345 (363). BVerfG, a.a.O., S. 371. Zust. Sodan, NdsVBl 2005 Sonderheft, S. 32 (33); abl. Möstl, AöR 130 (2005), S. 350 (381); Menzel, NVwZ 1999, S. 1314 (1315). Zweifelnd hinsichtlich der Frage, ob bei Entscheidungen, die in durch bundesrechtliche Verfahrensordnungen determinierten Gerichtsverfahren ergangen sind, überhaupt von Akten der Landesstaatsgewalt die Rede sein kann, K. Lange, NJW 1998, S. 1278 (1281 f.). K. Schneider, ZZP 115 (2002), S. 247 (250) weist darauf hin, dass der Bundesgesetzgeber von der ihm durch Art. 96 Abs. 5 GG eröffneten Möglichkeit, Landesgerichten die Ausübung von Bundesgerichtsbarkeit zu übertragen, Gebrauch gemacht habe und dass in diesen Fällen die von Landesgerichten getroffenen Entscheidungen nicht in Ausübung der Landesstaatsgewalt ergingen. 89 S.o. III 2. a) cc). 90 Die Heranziehung von Art. 142 GG abl. K.-E. Hain, JZ 1998, S. 620 (622). 91 BVerfGE 96, 345 (364). 88
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garantie zu verstehen ist und daher nicht den Normbefehl enthält, einen weitergehenden Schutz zu unterlassen“.92 Art. 142 GG betreffe allerdings nur das Verhältnis zwischen Landes- und Bundesverfassung; über das Verhältnis zwischen Landesverfassung und einfachem Bundesrecht treffe die Vorschrift keine Aussage. Dieses Verhältnis werde durch Art. 31 GG bestimmt, der eine einfache Widerspruchsfreiheit zwischen Bundes- und Landesgrundrecht nicht genügen lasse, sondern erfordere, dass beide Rechte „einen bestimmten Gegenstand in gleichem Sinne und mit gleichem Inhalt regeln“. Nach Art. 31 GG könnten auch Landesgrundrechte, die nach Art. 142 GG prinzipiell in Kraft blieben, verdrängt werden, weil ihr Regelungsgehalt mit einfachem Bundesrecht kollidiere. Eine Kollision des Landesgrundrechts mit Bundesrecht sei aber „jedenfalls [Hervorhebung des Verfassers] ausgeschlossen“, wenn Bundes- und Landesgrundrecht einen Gegenstand in gleichem Sinn und mit gleichem Inhalt regelten, wobei der Senat Inhaltsgleichheit als Ergebnisgleichheit begreift.93 Wer aufgrund der Verwendung des Wortes „jedenfalls“ annimmt, es kämen daneben weitere Fälle in Betracht, in denen eine Kollision ausgeschlossen sein könnte, dürfte angesichts der nachfolgenden Formulierungen im Beschlusstext irritiert sein. Ihnen zufolge sollen „nur [Hervorhebung des Verfassers] in diesem Sinne inhaltsgleiche Verfassungsrechte […] eine konkrete Rechtslage widerspruchsfrei gestalten [können]. Die Feststellung, dass die Rechtslage dem Bundesgrundrecht genügt, gilt dann auch für das Landesgrundrecht“.94 Es soll also die Inhaltsgleichheit der Verfassungsrechte nicht mehr „jedenfalls“ eine Möglichkeit sein, in der diese Rechte nicht miteinander kollidieren, sondern die einzige. Beide Aussagen stehen in einem unversöhnlichen Widerspruch zueinander und müssen von daher auf einem unglücklichen Redaktionsversehen beruhen. Tatsächlich dürfte es neben den Fällen der Inhaltsgleichheit der Grundrechtsverbürgung auf beiden Verfassungsebenen weitere Fälle der Widerspruchsfreiheit geben, 92 BVerfG, a.a.O., S. 365. Eingehend zu diesem Kriterium K. Lange, a.a.O. (Fn. 31), S. 297 ff.; hinsichtlich des Erfordernisses der Inhaltsgleichheit des Landes- und des Bundesgrundrechts krit F. Kirchhof, VBlBW 2003, S. 137 (142). 93 Dies verdeutlicht eine Lektüre der letzten Beschlusspassage, in der das von den Landesverfassungsgerichten zu bewältigende Prüfungsprogramm resümiert wird: Zur Feststellung der Inhaltsgleichheit müsse das Landesverfassungsgericht den Fall nach dem Maßstab der Landesverfassung und dem Maßstab des Grundgesetzes – insoweit wegen § 31 BVerfGG nach Maßgabe der einschlägigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts – prüfen; führe „das gerügte Landesverfassungsrecht im zu entscheidenden Fall zu demselben Ergebnis wie das Grundgesetz“, handele es sich um inhaltsgleiches Landesrecht, das Prüfungsmaßstab einer zulässigen Verfassungsbeschwerde sein könne, vgl. BVerfGE 96, 345 (373 ff.). A.A. K.-E. Hain, JZ 1998, S. 620 (622 f.). Zur Kritik, dass die Begründetheit einer Verfassungsbeschwerde auf diese Weise zur Zulässigkeitsvoraussetzung gemacht werde, siehe K. Lange, NJW 1998, S. 1278 (1280); Wittreck, DÖV 1999, S. 634 (636); Menzel, NVwZ 1999, S. 1314 (1316). 94 BVerfGE 96, 345 (365).
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die einem Landesverfassungsgericht eine Prüfung der Anwendung verfahrensrechtlicher Bundesvorschriften erlauben. Dass der Senat im weiteren Gang der Entscheidung und insbesondere am Ende nur noch auf die Inhaltsgleichheit abhebt, dürfte eine prozessuale Konsequenz aus der vom Sächsischen Verfassungsgerichtshof gestellten Vorlagefrage sein, die sich ja ausschließlich auf inhaltsgleiche Grundrechte bezog und die den Senat nicht davon abhalten musste, sich im Maßstabsteil der Entscheidung auch zu anderen Fällen berücksichtigungsfähiger Landesgrundrechte zu äußern.95 Neben den Fällen der Inhaltsgleichheit wird man eine Widerspruchsfreiheit in Fällen annehmen können, „in denen ein Bundesgrundrecht nur als Mindestgarantie zu verstehen ist und daher nicht den Normbefehl enthält, einen weitergehenden Schutz durch Landesgrundrechte zu unterlassen, und überdies auch sonstiges Bundesrecht dem durch das Landesgrundrecht gewährten weitergehenden Schutz nicht entgegensteht“.96 Wo eine einfachrechtliche Bundesnorm einen Sachverhalt abschließend regelt und damit gemäß Art. 31 GG eine denselben Sachverhalt regelnde Landesverfassungsnorm bricht, kann diese Landesverfassungsnorm nur dann über Art. 142 GG anwendbar sein, wenn sie inhaltsgleich mit dem jeweiligen Bundesverfassungsrecht ist, weil das Bundesverfassungsrecht seinerseits als höherrangiges Recht den abschließenden Charakter der einfachgesetzlichen Bundesnorm durchbricht oder modifiziert und auf diese Weise die Sperrwirkung des Art. 31 GG entfallen lässt. Dieses Verständnis der Entscheidung passt zu den dortigen Ausführungen, wonach einfaches Bundesrecht dann dem Landesgrundrecht widersprechen könne und gemäß Art. 31 GG allein gelte, wenn das Bundesrecht zwar dem „engeren Gewährleistungsbereich eines Bundesgrundrechts, nicht aber dem weiteren eines Landesgrundrechts“ genüge, wohingegen ein Landesgrundrecht, das mehr Schutz als das Grundgesetz gewähre, nicht mit einer bundesrechtlichen Regelung kollidiere, die Spielräume für die Berücksichtigung von weitergehendem Landesrecht lasse.97 Als dritte Voraussetzung leitete das Bundesverfassungsgericht aus der föderalen Kompetenzordnung ab, dass die Anordnung einer Kassationsbefugnis der Landesverfassungsgerichte nur unter der Voraussetzung zulässig sei, dass die Zulässigkeit der Landesverfassungsbeschwerde von vorgängiger Rechtswegerschöpfung abhänge und sie gegenüber fachgerichtlichem Rechtsschutz subsidiär sei. Nur unter dieser Voraussetzung sei das Übergreifen des Landesgesetzgebers in die Zuständigkeit des Bundes zur gesetzlichen Regelung von Rechts- und Bestandskraft gerichtlicher Entscheidungen (vgl. Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG) für die Erreichung des Zwecks der Landesverfas95
So auch K. Schneider, ZZP 115 (2002), S. 247 (255). K. Lange, a.a.O. (Fn. 31), S. 298 f.; vgl. aber noch ders., NJW 1998, S. 1278 f. Im hier vertretenen Sinne auch K. Schneider, ZZP 115 (2002), S. 247 (258). 97 BVerfGE 96, 345 (365 f.). 96
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sungsbeschwerde unerlässlich.98 Aufgrund des Subsidiaritätserfordernisses könne eine Landesverfassungsbeschwerde keinen Erfolg haben, wenn der Beschwerdeführer es versäumt habe, ein gegen die angegriffene Entscheidung statthaftes Rechtsmittel in der gehörigen Weise einzulegen.99 (2) Auf einer Anwendung materiellen Bundesrechts beruhende Akte der Landesstaatsgewalt Die Frage, ob dasselbe auch für die landesverfassungsgerichtliche Prüfung der Anwendung materiellen Bundesrechts gilt, hat das Bundesverfassungsgericht mit der Erwägung, dass sie zusätzlichen Prüfungsaufwand verlange, ausdrücklich offen gelassen,100 was Abgrenzungsprobleme hinsichtlich der Reichweite landesverfassungsgerichtlicher Prüfungsbefugnisse – etwa im Bereich des Strafverfahrensrechts – aufwirft. Beispielsweise ist unklar, ob es sich auch bei gerichtlichen Entscheidungen über die Rechtmäßigkeit strafprozessualer Ermittlungsmaßnahmen um Anwendung bundesrechtlichen Verfahrensrechts handelt.101 Während die nach dem „Landesverfassungsgerichte“-Beschluss veröffentlichte Literatur die landesverfassungsgerichtliche Prüfbarkeit der Anwendung auch materiellen Bundesrechts durch ein oberstes Landesgericht bejaht,102 sind einige Landesverfassungsgerichte insoweit zurückhaltend.103 In Rheinland-Pfalz hat der Gesetzgeber die vom Bun-
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BVerfGE 96, 345 (371 f.). BVerfG, a.a.O., S. 372. 100 BVerfG, a.a.O., S. 362 unter Hinweis auf K. Stern, Der Aufschwung der Landesverfassungsbeschwerde im wiedervereinigten Deutschland, in: BayVerfGH (Hrsg.), Verfassung als Verantwortung und Verpflichtung, FS BayVerfGH, 1997, S. 241 (255). Welches Problem den vom Senat angeführten Mehraufwand begründen soll, wird allerdings auch bei Lektüre der zitierten Fundstelle nicht deutlich. Die von K. Stern in der genannten Fundstelle gemachten Überlegungen zur Einwirkung der Landesverfassung auf die Anwendung materiellen Bundesrechts betreffen allein die Wirkungen von Art. 31 GG in diesem Zusammenhang. Mit den Wirkungen dieser Vorschrift hat sich der Senat im „Landesverfassungsgerichte“-Beschluss indessen eingehend befasst. 101 Dies ohne nähere Begründung bejahend Tiedemann, KJ 1998, S. 529 (534); Gärditz, AöR 129 (2004), S. 584 (604, 609). Überzeugender erscheint dagegen, diese Fallgruppe als Anwendung materiellen Rechts einzuordnen, zumal auch die gerichtliche Klärung der Inanspruchnahme einer polizeirechtlichen Befugnis der Polizei hierunter fiele und es sich nicht um die „Verfahrensgestaltung durch den Richter“ handelt, die das Bundesverfassungsgericht (vgl. BVerfGE 96, 345 (347)) vor Augen hatte; mit dieser Begründung einen Fall der materiellen Rechtsanwendung annehmend Möstl, AöR 130 (2005), S. 350 (362 f.). 102 K. Lange, a.a.O. (Fn. 31), S. 300; K.-E. Hain, JZ 1998, S. 620 (623); H.-P. Schneider, NdsVBl 2005 Sonderheft, S. 26 (31); Möstl, AöR 130 (2005), S. 350 (382 ff.); Voßkuhle, JöR N.F. 59 (2011), S. 215 (222 f.) m.w.N. 103 Vgl. BayVerfGH, VerfGHE BY 58, 37 (40 f.); 60, 14 (20 f.); BayVerfGH, Entscheidungen vom 27. Mai 2009 – Vf. 19-VI-08 –, BayVBl 2009, S. 574, und vom 26. Januar 2011 – Vf. 129-VI-09 –, BayVBl 2012, S. 482 (483). Dem Bayerischen Verfassungsgerichtshof zufolge sei die landesverfassungsgerichtliche Prüfung einer Entscheidung der Landes99
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desverfassungsgericht offen gelassene Frage mit der sogenannten „Bundesrechtsklausel“ in § 44 Abs. 2 RhPfVerfGHG dahin beantwortet, dass eine Landesverfassungsbeschwerde unzulässig ist, soweit die öffentliche Gewalt des Landes Bundesrecht ausführt oder anwendet, was indes nicht für die Durchführung des gerichtlichen Verfahrens gilt oder in Fällen, in denen die Landesverfassung weiter reichende Rechte als das Grundgesetz gewährleistet.104
V. Bewertung Von vereinzelten Ausnahmen abgesehen hat das Bundesverfassungsgericht die Landesverfassungsgerichtsbarkeit gestärkt, indem es bei der Bestimmung seines Verhältnisses zu den Landesverfassungsgerichten die Selbstständigkeit der Verfassungsgerichtsbarkeiten in den Vordergrund gerückt hat. Eine konsequente Beachtung des vom Bundesverfassungsgericht anerkannten Grundsatzes, wonach die Grenzen der Selbstständigkeit der Landesverfassungsgerichtsbarkeit durch das nach dem Grundgesetz Unvermeidbare bestimmt werden, birgt in sich die Potenz einer weiteren Stärkung der Landesverfassungsgerichte. Insbesondere eine Klärung der im „Landesverfassungsgerichte“-Beschluss offen gelassenen Frage, ob Landesverfassungsgerichte die Anwendung materiellen Bundesrechts am Maßstab der jeweiligen Landesverfassung kontrollieren dürfen, könnte nicht nur Fragen der Abgrenzung von Verfahrensrecht und materiellem Recht hinfällig machen, sondern zu einer Bedeutungsannäherung der Verfassungsgerichtsbarkeiten beitragen. Weiteres Stärkungspotential liegt in der dem Kammerbeschluss „Verfassungsautonomie der Länder“ zugrundeliegenden Auffassung, dass das Bundesverfassungsgericht die Interpretation von Landesgrundrechten durch das Landesverfassungsgericht auch dann nicht nachprüfe, wenn das Landesverfassungsgericht ein Landesgrundrecht enger ausgelegt habe als das entsprechende Grundrecht des Grundgesetzes, weil die Wirkungskraft des grundgesetzlichen Grundrechts durch eine solche Interpretation nicht berührt werde. Wegen des Widerspruchs dieser Auffassung mit den Senatsentscheidungen „Inkompatibilität/Kirchliches Amt“ und „extra-radio“ erscheint eine den Widerspruch klärende Senatsentscheidung begrüßenswert.
gewalt, die unter Anwendung materiellen Bundesrechts ergangen sei, darauf beschränkt, ob das Fachgericht willkürlich entschieden habe. Für ein Prüfungsrecht BerlVerfGH, LVerfGE 9, 45 (48 f.); 11, 80 (86 ff.); 13, 42 (50 ff.). 104 Eingehend hierzu RhPfVerfGH, Beschluss vom 15. November 2000 – VGH B 10/00 –, NJW 2001, S. 2621 f.
Verfassungsprozessuale Nebenentscheidungen – unter besonderer Berücksichtigung des Verfahrens der Verfassungsbeschwerde – Wolfgang Schenk 1 Wichtige Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts BVerfGE 1, 109 – Prozesskostenhilfe im Verfahren der Verfassungsbeschwerde BVerfGE 79, 252 – Prozesskostenhilfe im Verfahren der konkreten Normenkontrolle BVerfGE 79, 365 – Bemessung des Gegenstandswerts der anwaltlichen Tätigkeit im Verfahren der Verfassungsbeschwerde BVerfGE 88, 382 – Erstattungsfähigkeit der Kosten eines Rechtsgutachtens BVerfGE 98, 163 – Erstattungsfähigkeit der Kosten mehrerer Bevollmächtigter BVerfGE 132, 294 – Verfahrensgebühr BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 22. Januar 2013 – 1 BvR 367/12 –, www. bverfg.de – Erstattung von Auslagen nach Erledigungserklärung BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 19. März 2013 – 1 BvR 2635/12 –, www. bverfg.de – Ausschluss von der Ausübung des Richteramts BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 15. Oktober 2013 – 2 BvR 2628/10, 2 BvR 2883/10, 2 BvR 2155/11 – Gegenstandswert der anwaltlichen Tätigkeit im Verfahren über Absprachen im Strafprozess Schrifttum neben den Kommentierungen des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes und den Lehrbüchern des Verfassungsprozessrechts Jutzi, Billige Auslagenerstattung in Verfassungsbeschwerdeverfahren, NJW 2003, S. 492 ff.; E. Klein, Verfahrensgestaltung durch Gesetz und Richterspruch: Das „Prozeßrecht“ des Bundesverfassungsgerichts, in: Badura/Dreier (Hrsg.), Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, Bd. 1, 2001, S. 507 ff.; Knöpfle, Besetzung der Richterbank, insbesondere Richterausschließung und Richterablehnung, in: Starck (Hrsg.), Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz – Festgabe aus Anlaß des 25jährigen Bestehens des Bundesverfassungsgerichts, Bd. 1, 1976, S. 142 ff.; Stüer, 60 Jahre BVerfG: Die Verfassungsbeschwerde, DVBl 2012, S. 751 ff.; Zuck, Der Rechtsanwalt im Verfassungsbeschwerdeverfahren, NJW 2013, S. 2248 ff.
1 Das Manuskript wurde am 1. Dezember 2013 abgeschlossen. Soweit nicht anders vermerkt, handelt es sich bei den zitierten Entscheidungen um solche des Bundesverfassungsgerichts.
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Verfassungsprozessuale Nebenentscheidungen Inhalt
A. Begriff und Bestandsaufnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Hauptsacheentscheidungen und Nebenentscheidungen . . . . . . II. Rechtsgrundlagen verfassungsprozessualer Nebenentscheidungen B. Ausgewählte verfassungsprozessuale Nebenentscheidungen . . . . . . I. Die Entscheidung über einen Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Kostengrundentscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Die Festsetzung des Gegenstandswerts . . . . . . . . . . . . . . . IV. Die Auferlegung einer Missbrauchsgebühr . . . . . . . . . . . . .
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A. Begriff und Bestandsaufnahme I. Hauptsacheentscheidungen und Nebenentscheidungen Im Prozessrecht der Fachgerichte wird üblicherweise zwischen der Hauptsacheentscheidung und den Nebenentscheidungen unterschieden.2 Auch wenn eine derartige Unterscheidung für das Prozessrecht des Bundesverfassungsgerichts begrifflich nicht allgemein vorgenommen wird, so gilt für das Verfassungsprozessrecht selbstverständlich nichts anderes. Auch das Bundesverfassungsgericht trifft etwa Kostenentscheidungen, setzt Gegenstandswerte fest oder entscheidet über einen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Nebenentscheidungen stehen begrifflich neben der Hauptsacheentscheidung. Letztere ist die eigentliche Entscheidung über das an das Bundesverfassungsgericht herangetragene Begehren (Verfassungsbeschwerde, Antrag, Vorlage): die Stattgabe – auch durch die Kammer gemäß § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG – oder Zurückweisung der Verfassungsbeschwerde oder der Ausspruch der Verfassungsmäßig- oder Verfassungswidrigkeit einer Norm. Zu den Hauptsacheentscheidungen in diesem Sinne ist auch die – in aller Regel durch die zuständige Kammer erfolgende – Ablehnung der Annahme der Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung zu zählen (vgl. § 93b Satz 1 Alternative 1 BVerfGG3); denn auch aufgrund einer solchen Entscheidung ist das Verfahren der Verfassungsbeschwerde in der Sache abgeschlossen. Eine Hauptsacheentscheidung ist schließlich auch die Entscheidung über einen (isolierten oder mit dem Hauptsacheverfahren verbundenen) Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gemäß § 32 BVerfGG. Das Bundesver2
Vgl. nur Anders/Gehle, Das Assessorexamen im Zivilrecht, 11. Aufl. 2013, Rn. A-163. Nur sehr selten lehnt ein Senat gemäß § 93b Satz 2 BVerfGG die Annahme einer Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung ab. Vgl. allerdings kürzlich Beschluss des Ersten Senats vom 19. März 2013 – 1 BvR 2635/12 –, www.bverfg.de; kritisch hinsichtlich der Entscheidung durch den Senat Sachs, JuS 2013, S. 767 (768). 3
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fassungsgericht betont zwar, dass das Verfahren auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ein Nebenverfahren ist.4 Bei der Entscheidung handelt es sich indes um eine Sachentscheidung, die allerdings nur eine zeitlich befristete Regelung trifft. Der Versuch einer Systematisierung der verfassungsprozessualen Nebenentscheidungen ist zum Scheitern verurteilt. Nebenentscheidungen können zeitlich vor, zusammen mit oder nach der Hauptsacheentscheidung zu treffen sein oder getroffen werden. Der Bezug zu dieser kann ein recht enger – wie etwa bei der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand – oder ein eher entfernter – wie etwa bei der Bewilligung oder Ablehnung von Prozesskostenhilfe – sein. Die Auswahl der unter B. näher dargestellten Nebenentscheidungen erfolgt im Hinblick auf die ihnen nach Auffassung des Verfassers zukommende besondere Bedeutung in der verfassungsgerichtlichen Praxis; die Ausführungen zu den einzelnen Entscheidungen erheben natürlich nicht den Anspruch auf Vollständigkeit.
II. Rechtsgrundlagen verfassungsprozessualer Nebenentscheidungen 1. Ein Streifzug durch das Bundesverfassungsgerichtsgesetz führt zu den gesetzlichen Grundlagen einer Vielzahl verfassungsprozessualer Nebenentscheidungen. Beispiele sind: – § 14 Abs. 5 BVerfGG: Entscheidung über die Senatszuständigkeit durch den sogenannten Sechserausschuss.5 Solche Entscheidungen sind in der verfassungsgerichtlichen Praxis nur sehr selten zu treffen, denn in aller Regel ist die Senatszuständigkeit6 nicht zweifelhaft. Eine Abschrift des – nicht begründeten7 – Beschlusses wird zur Akte genommen. Die Geschäftsordnung des Bundesverfassungsgerichts (§ 47) sieht vor, dass der Senat, dessen Zuständigkeit durch einen Beschluss des Ausschusses begründet worden ist, in seiner Entscheidung auf den Beschluss hinweist. 4 Vgl. BVerfGE 31, 87 (90); jüngst Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 31. Juli 2013 – 1 BvQ 28/13 –, www.bverfg.de Rn. 4. 5 Vgl. auch §§ 43 ff. GO-BVerfG; zu der Entscheidung gemäß § 14 Abs. 5 BVerfGG siehe bereits Sattler, Die Zuständigkeit der Senate und die Sicherung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung (§§ 14, 16 BVerfGG), in: Starck (Hrsg.), Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz – Festgabe aus Anlaß des 25jährigen Bestehens des Bundesverfassungsgerichts, Band 1, 1976, S. 104 (121 ff.). 6 Vgl. § 14 Abs. 1 bis 3 BVerfGG sowie den auf der Grundlage des § 14 Abs. 4 BVerfGG ergangenen Beschluss des Plenums des Bundesverfassungsgerichts vom 5. November 1993 (BGBl I S. 2492) in der jeweils geltenden Fassung. 7 Vgl. § 46 Satz 2 GO-BVerfG.
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– § 18 Abs. 1 BVerfGG: Entscheidung über den Ausschluss von der Ausübung des Richteramts. Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts hat kürzlich betont, dass ein Senat von Amts wegen über seine ordnungsgemäße Besetzung zu befinden hat; das schließe die Entscheidung über einen kraft Gesetzes greifenden Mitwirkungsausschluss nach § 18 BVerfGG ein.8 Einen Mitwirkungsausschluss hat der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts vor nicht allzu langer Zeit – unter Hinweis auf § 18 Abs. 1 Nr. 2 BVerfGG und ohne nähere Begründung – hinsichtlich des Richters Müller angenommen, weil dieser Mitglied der verfahrensgegenständlichen 13. und 14. Bundesversammlung war.9 Keinen Mitwirkungsausschluss nahm hingegen der Erste Senat an in dem Fall, dass ein Richter an einer unanfechtbaren Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (im konkreten Fall an der Festsetzung einer Missbrauchsgebühr) mitgewirkt hatte, „wenn die Entscheidung folglich unzulässig vor einem Fachgericht angefochten worden ist und gegen dessen Prozessentscheidung anschließend Verfassungsbeschwerde erhoben wird“.10 – § 19 Abs. 1 BVerfGG: Entscheidung über ein Ablehnungsgesuch.11 Ablehnungsgesuche sind in aller Regel jedenfalls unbegründet.12 Als begründet sah der Zweite Senat im Jahr 1990 mehrheitlich die Ablehnung des Richters P. Kirchhof, weil dieser ein Gutachten erstattet hatte, bei dem „der Gutachtenauftrag … schon bei seiner Vergabe in einem spezifischen Erwartungshorizont der Landesregierung als dem Auftraggeber [stand]“13. – § 19 Abs. 3 BVerfGG: Entscheidung über die Selbstablehnung einer Richterin oder eines Richters.14 – § 22 Abs. 1 Satz 4 BVerfGG: Zulassung einer Person als Beistand.
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Beschluss vom 19. März 2013 – 1 BvR 2635/12 –, www.bverfg.de Rn. 5. Beschluss vom 18. April 2012 – 2 BvE 2/09, 2 BvE 2/10 –, www.bverfg.de. 10 Beschluss vom 19. März 2013 – 1 BvR 2635/12 –, www.bverfg.de. 11 Vgl. aus jüngerer Vergangenheit z.B. Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 31. August 2011 – 2 BvR 1979/08 –, www.bverfg.de Rn. 5 ff. und BVerfGE 131, 239 (252 ff.) (jeweils weil ausschließlich auf die Mitwirkung an früheren Entscheidungen gestütztes offensichtlich unzulässiges Ablehnungsgesuch). 12 Vgl. aus jüngerer Vergangenheit z.B. Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 11. Oktober 2011 – 2 BvR 1010/10, 2 BvR 1219/19 –, www.bverfg.de (unbegründete Ablehnung des Richters Di Fabio in Verfahren betreffend die „Rettung des Euro“). 13 BVerfGE 82, 30 (39). 14 Vgl. aus jüngerer Vergangenheit BVerfGE 109, 130 (begründete Selbstablehnung des Richters Di Fabio nach Tätigwerden als Bevollmächtigter in einem früheren Verfahren); ferner BVerfGE 102, 122 (begründete Selbstablehnung des damaligen Vizepräsidenten Papier nach Erstattung eines Rechtsgutachtens im Auftrag einer Beschwerdeführerin); BVerfGE 95, 189 (begründete Selbstablehnung des Richters Steiner, ebenfalls nach Tätigwerden als Bevollmächtigter in einem früheren Verfahren). 9
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Eine Zulassung kommt nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nur in Betracht, wenn sie objektiv sachdienlich15 und subjektiv erforderlich ist.16 In der verfassungsgerichtlichen Praxis dürfte das Vorliegen dieser Voraussetzungen selten angenommen werden.17 Ein Antrag auf Zulassung als Beistand bei einer Urteilsverfassungsbeschwerde muss innerhalb der Beschwerdefrist des § 93 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG gestellt werden.18 – § 23 Abs. 2 BVerfGG: sogenannte Zustellung. In der verfassungsgerichtlichen Praxis erfolgt bei Verfassungsbeschwerden eine Zustellung regelmäßig nur in den Fällen, in denen eine Entscheidung durch den Senat oder eine stattgebende Kammerentscheidung ernsthaft in Betracht kommt. Vor der Entscheidung über die Nichtannahme einer Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung bedarf es keiner Zustellung; in den wenigsten Fällen kommt es deshalb zu einer Zustellung, so dass etwa von einer angegriffenen Gerichtsentscheidung Begünstigte durch das Bundesverfassungsgericht regelmäßig überhaupt nicht über die Erhebung einer Verfassungsbeschwerde informiert werden. In der verfassungsgerichtlichen Praxis wird eine Verfassungsbeschwerde häufig nicht unmittelbar nach ihrer Erhebung darauf geprüft, ob sie zuzustellen ist. Zustellungen erfolgen deshalb regelmäßig nicht unverzüglich im Sinne des § 23 Abs. 2 BVerfGG. – § 25 Abs. 1 BVerfGG: Beschluss über die Anberaumung des Termins zur mündlichen Verhandlung. Die Anberaumung des Termins zur mündlichen Verhandlung in den Verfahren 1 BvR 3139/08 und 1 BvR 3386/0819 am 4. Juni 2013 beschloss der Erste Senat beispielsweise am 19. März 2013. Der Beschluss wird in der verfassungsgerichtlichen Praxis lediglich zur Akte genommen.20 Selbst beispielsweise der Beschwerdeführer erhält hiervon keine Ausfertigung oder Abschrift; er wird in der Ladung lediglich darauf hingewiesen, dass ein solcher Beschluss ergangen ist. Als andere Bestimmung im Sinne von § 25 Abs. 1 BVerfGG21 sieht § 94 Abs. 5 Satz 2 BVerfGG22 vor, dass das Bundesverfassungsgericht in Verfas15
BVerfGE 68, 360 (361). Beschluss des Zweiten Senats vom 4. Oktober 2011 – 2 BvC 9/11 –, juris Rn. 6; BVerfGK 13, 171 (180 f.). 17 Ablehnend aus jüngerer Vergangenheit z.B. Beschlüsse der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 27. September 2012 – 2 BvR 1766/12 –, www.bverfg.de Rn. 9 und vom 17. Januar 2013 – 2 BvR 2576/11 –, www.bverfg.de Rn. 4. 18 So jüngst Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 28. Dezember 2012 – 1 BvR 2620/11 –, www.bverfg.de Rn. 3. 19 Vgl. sodann Urteil des Ersten Senats vom 17. Dezember 2013 – 1 BvR 3139/08, 1 BvR 3386/08 –, www.bverfg.de. 20 Die Urschrift in das sogenannte Sonderheft, eine Abschrift in die eigentliche Akte. 21 Vgl. Lenz/Hansel, BVerfGG, 2013, § 25 Rn. 3. 22 Vgl. BVerfGE 35, 34 (35); 41, 228 (230). 16
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sungsbeschwerdeverfahren von mündlicher Verhandlung absehen kann, wenn von ihr keine Förderung des Verfahrens zu erwarten ist (und die zur Äußerung berechtigten Verfassungsorgane, die dem Verfahren beigetreten sind, auf mündliche Verhandlung verzichten). Von dieser Bestimmung macht das Gericht in aller Regel Gebrauch; nur die wenigsten Senatsentscheidungen in Verfassungsbeschwerdeverfahren ergehen aufgrund einer mündlichen Verhandlung (und damit als „Urteil“, § 25 Abs. 2 BVerfGG). Eine formale Entscheidung, nicht aufgrund einer mündlichen Verhandlung zu entscheiden, ergeht nicht. Dass über Verfassungsbeschwerden nur selten mündlich verhandelt wird, liegt insbesondere an der mangelnden Geeignetheit zahlreicher durch die Senate zu entscheidender Fälle – die Entscheidung hängt ausschließlich von der Beantwortung einer (Verfassungs-)Rechtsfrage ab (vgl. den Annahmegrund des § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG) – und an dem mit der Vorbereitung und Durchführung einer mündlichen Verhandlung verbundenen Aufwand.23 Eine andere Bestimmung enthält das BVerfGG auch hinsichtlich Kammerverfahren (§ 93d Abs. 1 Satz 1) und unzulässigen oder offensichtlich unbegründeten Anträgen (§ 24 Abs. 5 Satz 2). – § 30 Abs. 1 Sätze 3 und 4 BVerfGG: Festlegung des Termins zur Verkündung der Entscheidung. – § 33 BVerfGG: Aussetzung des Verfahrens. Förmliche Aussetzungsentscheidungen sind sehr selten. Gelegentlich sind Verfahren „faktisch ausgesetzt“. Eine förmliche oder faktische Aussetzung dürfte insbesondere in Betracht kommen, wenn eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte über eine gleichgelagerte Individualbeschwerde zu erwarten ist.24 – § 34 Abs. 2 BVerfGG: Auferlegung einer Missbrauchsgebühr (siehe unten B. IV.).
23 Der Erste Senat hat im Jahr 2011 keine und im Jahr 2012 vier mündliche Verhandlungen, der Zweite Senat im Jahr 2011 sieben und im Jahr 2012 drei mündliche Verhandlungen durchgeführt. In drei der vier mündlichen Verhandlungen des Ersten Senats im Jahr 2012 waren Verfassungsbeschwerden Verfahrensgegenstand, einmal zwei Verfassungsbeschwerden und zweimal eine Verfassungsbeschwerde. In drei der sieben mündlichen Verhandlungen des Zweiten Senats im Jahr 2011 waren Verfassungsbeschwerden Verfahrensgegenstand, einmal fünf Verfassungsbeschwerden, einmal drei Verfassungsbeschwerden und einmal eine Verfassungsbeschwerde. In zwei der drei mündlichen Verhandlungen des Zweiten Senats im Jahr 2012 waren Verfassungsbeschwerden Verfahrensgegenstand, einmal drei Verfassungsbeschwerden und einmal eine Verfassungsbeschwerde. In der dritten mündlichen Verhandlung waren fünf mit Verfassungsbeschwerden verbundene Anträge auf Erlass einer einstweiligen Anordnung Verfahrensgegenstand. 24 Vgl. EGMR, Entscheidung vom 16. Oktober 2012, Weyhe gegen Deutschland, Nr. 46531/08, EuGRZ 2013, S. 28.
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– § 34a BVerfGG: Kostengrundentscheidung (siehe unten B. II.). – § 93 Abs. 2 BVerfGG: Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bei Versäumung der Monatsfrist des § 93 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG.25 In der Kammerpraxis wird häufig nicht über einen Wiedereinsetzungsantrag entschieden, wenn die Verfassungsbeschwerde auch bei unterstellter Wiedereinsetzung nicht zur Entscheidung anzunehmen wäre. Im Tenor heißt es dann etwa: „Die Verfassungsbeschwerde wird, ohne dass über den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand entschieden zu werden braucht, nicht zur Entscheidung angenommen.“26 2. Eine besonders wichtige Nebenentscheidung, die Gegenstandswertfestsetzung (siehe unten B. III.), trifft das Bundesverfassungsgericht auf der Grundlage des Rechtsanwaltsvergütungsgesetzes (§ 37 Abs. 2 Satz 2). Nach § 104 Abs. 3 Satz 1 und § 567 Abs. 2 der Zivilprozessordnung in Verbindung mit § 11 Abs. 1 des Rechtspflegergesetzes haben die Verfassungsrichter zudem über sofortige Beschwerden gegen die Kostenfestsetzung durch die Rechtspflegerin oder den Rechtspfleger (siehe unten B. II.) zu entscheiden. 3. Beispielsweise die Gewährung oder Ablehnung der Bewilligung von Prozesskostenhilfe (siehe unten B. I.) ist gesetzlich überhaupt nicht ausdrücklich vorgesehen.
25 Vgl. aus jüngerer Vergangenheit z.B. Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 25. März 2010 – 1 BvR 2446/09 –, www.bverfg.de Rn. 9 (Telefaxübermittlung unmittelbar vor Fristablauf – Wiedereinsetzung gewährt); Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 19. Mai 2010 – 1 BvR 1070/10 –, www.bverfg.de (Telefaxübermittlung unmittelbar vor Fristablauf – Wiedereinsetzung abgelehnt); Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 7. Februar 2013 – 1 BvR 639/12 –, www.bverfg.de Rn. 10 ff. (Versäumung der Frist unverschuldet aufgrund eines fachgerichtlichen Fehlers); Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 25. März 2013 – 1 BvR 539/13 –, www.bverfg.de Rn. 3 ff. (Rechtsirrtum über Fristbeginn – Wiedereinsetzung abgelehnt); Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 5. Juni 2013 – 2 BvR 586/13 –, www.bverfg.de Rn. 10 (verzögerte Briefbeförderung – Wiedereinsetzung gewährt); Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 10. Juni 2013 – 2 BvR 1541/12 –, juris Rn. 20 (Fehler einer Büroangestellten bei der Übermittlung per Fax – Wiedereinsetzung gewährt). In der letztgenannten Entscheidung schreibt die Kammer erstaunlicherweise, dass die Verfassungsbeschwerde rechtzeitig erhoben sei (a.a.O. Rn. 18); Wiedereinsetzung in den vorigen Stand setzt allerdings denknotwendig voraus, dass die Verfassungsbeschwerde nicht rechtzeitig erhoben worden ist. 26 Vgl. z.B. Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 27. April 2011 – 1 BvR 791/11 –, www.bverfg.de; ferner BVerfGK 16, 473 („Die Verfassungsbeschwerde wird unbeschadet der Frage der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht zur Entscheidung angenommen.“); Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 30. Oktober 2009 – 1 BvR 2442/09 –, www.bverfg.de („Die Verfassungsbeschwerde wird – unbeschadet des Antrags auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand – nicht zur Entscheidung angenommen.“).
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B. Ausgewählte verfassungsprozessuale Nebenentscheidungen I. Die Entscheidung über einen Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe 1. Das Bundesverfassungsgerichtsgesetz sieht zwar die Bewilligung von Prozesskostenhilfe und die Beiordnung einer Rechtsanwältin oder eines Rechtsanwalts27 für ein verfassungsgerichtliches Verfahren nicht vor. Das Bundesverfassungsgericht geht jedoch in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass in Verfahren der Verfassungsbeschwerde für Beschwerdeführer die Bestimmungen der §§ 114 ff. ZPO über die Bewilligung von Prozesskostenhilfe entsprechend anzuwenden sind.28 Zur Begründung hat das Gericht kurz nach Aufnahme seiner Tätigkeit ausgeführt, aus dem Schweigen des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes könne nicht der Ausschluss der Bewilligung von Prozesskostenhilfe29 gefolgert werden.30 Denn das Gesetz enthalte keine erschöpfende Verfahrensregelung, sondern beschränke sich auf wenige, unbedingt erforderliche, den Besonderheiten des verfassungsgerichtlichen Verfahrens angepasste Bestimmungen. Im Übrigen sei es dem Gericht überlassen, die Rechtsgrundlagen für eine zweckentsprechende Gestaltung seines Verfahrens im Wege der Analogie zum sonstigen deutschen Verfahrensrecht zu finden.31 Grundsätzlich sähen alle Verfahren vor Gerichten des Bundes und der Länder die Möglichkeit der Bewilligung von Prozesskostenhilfe vor. Nach Art. 20 Abs. 1 und 3 GG sei die Bundesrepublik ein demokratischer und sozialer Rechtsstaat. Diesem Verfassungsgrundsatz würde es widersprechen, wenn eine Partei lediglich durch Armut daran gehindert werden könnte, ihre Rechte vor Gericht geltend zu machen, sofern sie nicht mutwillig handele und die Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg habe. Zulässig sind neben Anträgen auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für ein bereits eingeleitetes verfassungsgerichtliches Verfahren isolierte Anträge
27 Wegen § 34 Abs. 1 BVerfGG (siehe unten II.) „besteht das entscheidende Interesse der Partei gerade an dieser Beiordnung“ (so BVerfGE 1, 109 [112]). 28 Vgl. bereits BVerfGE 1, 109; weiterhin etwa BVerfGE 92, 122 (123). 29 Damals „Armenrecht“. 30 Vgl. BVerfGE 1, 109 (110 f.). 31 Ähnlich BVerfGE 46, 321 (323): Das Bundesverfassungsgericht entwickelt „sein besonderes Verfahrensrecht auch auf der Grundlage des geltenden sonstigen Prozessrechts. Der Rückgriff auf einzelne Grundsätze des Verwaltungsprozessrechts oder letztlich der Zivilprozessordnung kann aber kein schematischer, sondern nur ein durch die Besonderheiten des verfassungsgerichtlichen Verfahrens begrenzter sein.“ Vgl. zur Problematik des nicht erschöpfend geregelten Verfassungsprozessrechts E. Klein, Verfahrensgestaltung durch Gesetz und Richterspruch: Das „Prozeßrecht“ des Bundesverfassungsgerichts, in: Badura/Dreier (Hrsg.), Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, Bd. 1, 2001, S. 507 ff.
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auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe, d.h. solche für ein noch einzuleitendes Verfahren.32 2. Die verfassungsgerichtliche Praxis der Bewilligung von Prozesskostenhilfe ist restriktiv. Zur Begründung dafür, dass Prozesskostenhilfe im schriftlichen Verfahren nur unter strengen Voraussetzungen bewilligt wird, hat das Bundesverfassungsgericht auf die Kostenfreiheit des Verfahrens (vgl. § 34 Abs. 1 BVerfGG, siehe unten IV.) und die – im schriftlichen Verfahren bestehende – Möglichkeit, sich selbst zu vertreten (vgl. § 22 Abs. 1 BVerfGG), hingewiesen.33 Prozesskostenhilfe wird nur gewährt, wenn Beschwerdeführer nicht in der Lage sind, sich selbst zu vertreten.34 3. a) Bewilligt das Bundesverfassungsgericht Prozesskostenhilfe, so sieht es in aller Regel von einer Begründung gänzlich ab.35 b) Veröffentlichte Entscheidungen, mit denen das Bundesverfassungsgericht einen Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe mit einer aussagekräftigen Begründung ablehnt, finden sich nur selten.36 In einzelnen Entscheidungen nehmen die zuständigen Kammern für das Absehen einer (weiteren) Begründung § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG für sich in Anspruch.37 Angesichts dessen, dass diese Vorschrift für die „Ablehnung der Annahme der Verfassungsbeschwerde“ gilt, erscheint dieses Vorgehen eher bedenklich. c) Gelegentlich finden sich (Kammer-)Entscheidungen, mit denen der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe abgelehnt und die Verfas32 Vgl. etwa Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 10. Januar 2012 – 1 BvR 3069/11 –, www.bverfg.de. 33 Vgl. BVerfGE 27, 57; 92, 122 (123); Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 20. März 2012 – 1 BvR 3069/11 –, www.bverfg.de Rn. 5; auch BVerfGE 78, 7 (20). 34 So ausdrücklich BVerfGE 92, 122 (123); vgl. bereits BVerfGE 27, 57. Dass Beschwerdeführer durchaus in der Lage sind, sich selbst zu vertreten, zeigt die beachtliche Zahl stattgebender Entscheidungen in Verfassungsbeschwerdeverfahren nicht anwaltlich vertretener Beschwerdeführer (z.B. Beschlüsse der 1. Kammer des Ersten Senats vom 28. April 2011 – 1 BvR 2411/10 – und 8. August 2013 – 1 BvR 1314/13 –; dass die Beschwerdeführer in den genannten Fällen nicht anwaltlich vertreten waren, ergibt sich aus der Wiedergabe des Rubrums auf der Homepage des Bundesverfassungsgerichts). Trotz dieser Fälle sei jedem, der eine Verfassungsbeschwerde zu erheben in Erwägung zieht, die Beratung und gegebenenfalls die Vertretung durch eine Rechtsanwältin oder einen Rechtsanwalt, die oder der über Kenntnisse des Verfahrens der Verfassungsbeschwerde und Erfahrung mit diesem verfügt, eindringlich empfohlen. 35 Vgl. z.B. Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 10. September 2013 – 1 BvR 1691/13 –. Entsprechende Beschlüsse werden regelmäßig nicht veröffentlicht. 36 Hingegen finden sich häufiger Entscheidungen, in denen das Bundesverfassungsgericht die fachgerichtliche Praxis der Bewilligung von Prozesskostenhilfe beanstandet. Leitentscheidung ist insoweit BVerfGE 81, 347; aus jüngerer Zeit z.B. Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 21. März 2013 – 1 BvR 68/12, 1 BvR 965/12 –, juris. 37 Siehe Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 10. Januar 2012 – 1 BvR 3069/11 –, www.bverfg.de Rn. 2.
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sungsbeschwerde mit mehr oder weniger ausführlicher Begründung nicht zur Entscheidung angenommen wird. Jedenfalls in solchen Fällen, in denen sich die Kammer dazu veranlasst sieht, vertieft auf die geltend gemachte Verletzung von Grund- und grundrechtsgleichen Rechten einzugehen, erscheint die Ablehnung der Bewilligung von Prozesskostenhilfe jedenfalls sehr, teilweise sogar zu streng.38 „Krönt“ die Kammer ihre Entscheidung dann auch noch mit einer Pressemitteilung oder misst sie ihr eine solche Bedeutung zu, dass die Entscheidung in die Sammlung wichtiger Kammerentscheidungen „BVerfGK“ aufgenommen wird, so dürften die Anforderungen an die „hinreichende Erfolgsaussicht“ klar überspannt worden sein.39 d) Häufiger sieht das Bundesverfassungsgericht auch von einer isolierten Entscheidung über den Prozesskostenhilfeantrag ab und gibt der Verfassungsbeschwerde unter Anordnung der Auslagenerstattung gemäß § 34a Abs. 2 BVerfGG statt.40 Im Tenor der Entscheidung erfolgt dann zumeist der
38 Vgl. z.B. Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 5. Juli 2013 – 2 BvR 708/12 –, www.bverfg.de. Bezeichnenderweise führt die Kammer in dieser Entscheidung aus: „Da die Verfassungsbeschwerde keine Aussicht auf Erfolg hat, kommt die Bewilligung von Prozesskostenhilfe und die Beiordnung des Rechtsanwalts L nicht in Betracht, §§ 114, 121 ZPO.“ (a.a.O. Rn. 45); auch im verfassungsgerichtlichen Verfahren muss aber die hinreichende Aussicht auf Erfolg ausreichen. Im Fall des Erfolgs der Verfassungsbeschwerde ergeht ja eine Kostengrundentscheidung zugunsten des Beschwerdeführers (siehe unten II.). Vgl. ferner etwa Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 18. August 2013 – 2 BvR 1380/13 –, www.bverfg.de. Siehe auch Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 22. Dezember 2009 – 2 BvR 2365/09 –, www.bverfg.de Rn. 7 („Da der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ohne Erfolg bleibt, ist der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für dieses Verfahren abzulehnen [vgl. § 114 Satz 1 ZPO].“). 39 Vgl. etwa Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 13. August 2013 – 2 BvR 2660/06 –, www.bverfg.de mit Pressemitteilung Nr. 55/2013 vom 3. September 2013 („Keine Schadensersatzpflicht der Bundesrepublik Deutschland wegen ziviler Opfer eines NATO-Luftangriffs im Kosovo-Krieg“); in diesem Fall deutet auch die mehr als sechsjährige Verfahrensdauer auf die Schwierigkeiten hin, die der Fall bereitet hat. Weiterhin Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 16. März 2011 – 1 BvR 591/08, 1 BvR 592/08 –, www.bverfg.de = BVerfGK 18, 377 mit Pressemitteilung Nr. 27/2011 vom 14. April 2011 („Verfassungsbeschwerden gegen die volle Anrechnung der Verletztenrente auf ‚Hartz IV-Leistungen‘ erfolglos“); bei der Veröffentlichung in der Sammlung BVerfGK sind die Ausführungen zum Prozesskostenhilfeantrag entfallen. Ferner Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 23. Mai 2012 – 2 BvR 610/12, 2 BvR 625/12 –, www.bverfg.de mit Pressemitteilung Nr. 39/2012 vom 13. Juni 2012 („Verfassungsbeschwerden betreffend den Doppelvorsitz des 2. und 4. Strafsenats des Bundesgerichtshofs erfolglos“). 40 Vgl. BVerfGE 62, 392 (397); 69, 248 (256 f.); 71, 122 (136 f.); 105, 1 (17); 105, 239 (252); jüngst Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 19. Juni 2013 – 1 BvR 667/13 –, www.bverfg.de Rn. 17; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 5. Juli 2013 – 2 BvR 789/13 –, www.bverfg.de Rn. 28. Ähnlich bei einem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung z.B. Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 10. Dezember 2009 – 2 BvR 2767/09 –, www.bverfg.de Rn. 7.
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Hinweis, dass sich aufgrund der Anordnung der Erstattung der Auslagen der Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung einer Rechtsanwältin oder eines Rechtsanwalts erledige.41 4. Dem nach § 94 Abs. 3 BVerfGG Äußerungsberechtigten kann „unter besonderen Voraussetzungen“ Prozesskostenhilfe bewilligt werden.42 Ebenso wie bei dem Prozesskostenhilfegesuch eines Beschwerdeführers sei bei dem Gesuch eines Äußerungsberechtigten zu berücksichtigen, dass das Verfahren kostenfrei sei und außerhalb einer mündlichen Verhandlung kein Anwaltszwang bestehe.43 Hinzu kämen weitere Einschränkungen, die aus der besonderen Stellung des Äußerungsberechtigten folgten. Danach komme die Bewilligung der Prozesskostenhilfe erst nach Zustellung der Verfassungsbeschwerde gemäß § 94 Abs. 3 BVerfGG in Betracht. Denn bis dahin sei noch völlig offen, ob die Verfassungsbeschwerde überhaupt zur Entscheidung angenommen werde. Einer Äußerung bedürfe es in diesem Stadium nicht. Auch nach erfolgter Zustellung könne § 119 Satz 2 ZPO nicht entsprechend angewendet werden; denn das Bundesverfassungsgericht entscheide nicht als Gericht eines höheren Rechtszugs, vielmehr sei die Verfassungsbeschwerde ein außerordentlicher Rechtsbehelf. Andererseits könne aus der Zustellung noch nicht geschlossen werden, dass die Rechtsverteidigung keine Aussicht auf Erfolg habe. Die Prozesskostenhilfe sei nur zu bewilligen, wenn eine Stellungnahme zu den in der Verfassungsbeschwerde erhobenen Rügen aus der Sicht eines vernünftigen Äußerungsberechtigten angezeigt sei. Dies sei grundsätzlich aufgrund einer ex-ante-Betrachtung zu beurteilen, da die Prozesskostenhilfe nach ihrem Sinn und Zweck eine erst beabsichtigte Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung ermöglichen solle. Die Frage, ob die Vertretung durch einen Rechtsanwalt vernünftig und geboten sei, entscheide sich grundsätzlich nach den in der Verfassungsbeschwerde enthaltenen Angriffen. Wolle der Äußerungsberechtigte dazu neue Gesichtspunkte vorbringen, die für die verfassungsrechtliche Beurteilung von Bedeutung sein könnten, komme eine Bewilligung in Betracht. Dabei sei das Vorbringen des Äußerungsberechtigten im Prozesskostenhilfegesuch zu berücksichtigen. Werde mit dem Gesuch bereits die von einem Rechtsanwalt gefertigte Stellungnahme zur Verfassungsbeschwerde vorgelegt, sei diese in die Betrachtung einzubeziehen. Werde in einer solchen Äußerung kein Beitrag zur verfassungsrechtlichen Beurteilung geleistet, scheide eine Bewilligung aus. Gleiches gelte, wenn der Verfassungsverstoß evident sei und die Annahmevoraussetzungen des § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG ersichtlich vorlägen. 41 Siehe Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 19. Juni 2013 – 1 BvR 667/13 –, www.bverfg.de; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 5. Juli 2013 – 2 BvR 789/13 –, www.bverfg.de. 42 BVerfGE 92, 122. 43 BVerfGE 92, 122 (124 ff.).
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5. Die Bewilligung von Prozesskostenhilfe im Verfahren der konkreten Normenkontrolle setzt voraus, dass besondere Gründe eine Vertretung geboten erscheinen lassen oder zumindest von der Anhörung der Beteiligten des Ausgangsverfahrens in der mündlichen Verhandlung eine Förderung der Sachentscheidung zu erwarten ist.44 Die Besonderheiten des Normenkontrollverfahrens seien zu berücksichtigen.45 Dieses sei seinem Wesen nach ein von subjektiven Berechtigungen unabhängiges, objektives Verfahren zum Schutz der Verfassung, das der Prüfung von Rechtsnormen am Maßstab des Grundgesetzes diene. Den Beteiligten des Ausgangsverfahrens werde zwar Gelegenheit zur Äußerung gegeben; sie würden auch zur mündlichen Verhandlung geladen. Hierdurch würden sie aber nicht zu Verfahrensbeteiligten; ein Beitritt sei für sie im Gesetz nicht vorgesehen. Das vorlegende Gericht habe in seinem Beschluss den Sachverhalt aufzuarbeiten und die rechtlichen Gesichtspunkte herauszustellen, die nach seiner Ansicht die Nichtigkeit der vorgelegten Norm zur Folge hätten. Der konkrete Fall gewinne nur insoweit Bedeutung, als das Gericht ihn bei Gültigkeit der vorgelegten gesetzlichen Regelung anders entscheiden würde als im Fall ihrer Gültigkeit. Dennoch folge aus der Besonderheit des „objektiven“ Normenkontrollverfahrens nicht schlechthin, dass minderbemittelten Beteiligten des Ausgangsverfahrens keine Prozesskostenhilfe gewährt werden könne. Dem stehe schon der Wille des Gesetzgebers entgegen, auch ihnen Gelegenheit zur Äußerung zu geben, die jedenfalls in der mündlichen Verhandlung nicht ohne die in § 22 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG vorgeschriebene Vertretung möglich sei. Der Erste Senat hat jüngst anlässlich eines Aussetzungs- und Vorlagebeschlusses des Sozialgerichts Berlin die Bewilligung von Prozesskostenhilfe unter Beiordnung eines Rechtsanwalts abgelehnt. Besondere Gründe seien nicht ersichtlich.46 Ob eine mündliche Verhandlung stattfinde, stehe derzeit nicht fest. Werde eine solche anberaumt, bleibe es dem Kläger des Ausgangsverfahrens unbenommen, erneut ein Prozesskostenhilfegesuch zu stellen.
44 BVerfGE 79, 252; jüngst Beschluss des Ersten Senats vom 28. August 2013 – 1 BvL 12/12 –. Vgl. auch bereits BVerfGE 25, 295. Ohne Begründung hat der Erste Senat in einem Normenkontrollverfahren betreffend die Verfassungsmäßigkeit der Höhe der im Asylbewerberleistungsgesetz vorgesehenen existenzsichernden Leistungen (vgl. BVerfGE 132, 134) dem Kläger des Ausgangsverfahrens Prozesskostenhilfe bewilligt und eine Rechtsanwältin beigeordnet (Beschluss vom 13. Juni 2012 – 1 BvL 10/10 –, juris). 45 BVerfGE 79, 252 (254). 46 Beschluss vom 28. August 2013 – 1 BvL 12/12 –.
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II. Die Kostengrundentscheidung 1. § 34a Abs. 2 BVerfGG47 bestimmt, dass dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen ganz oder teilweise zu erstatten sind, wenn sich eine Verfassungsbeschwerde als begründet erweist. Der Erstattungspflichtige wird in der Vorschrift nicht ausdrücklich genannt. In aller Regel ist entweder die Bundesrepublik Deutschland oder ein Bundesland, zuweilen sind auch beide zu einem bestimmten Teil48 erstattungspflichtig. Dies ergibt sich daraus, dass die gesetzgebenden, verwaltenden oder rechtsprechenden Organe, deren Handeln (oder Unterlassen) beanstandet wird, regelmäßig ihnen zuzuordnen sind. Die vollständige Erstattung der notwendigen Auslagen hat das Bundesverfassungsgericht manchmal auch ausschließlich auf § 34a Abs. 2 BVerfGG gestützt, obwohl die Verfassungsbeschwerde nicht vollständig erfolgreich war.49 2. Interessanter ist die Anwendung des § 34a Abs. 3 BVerfGG durch das Bundesverfassungsgericht. Diese Bestimmung sieht vor, dass das Gericht in den übrigen Fällen volle oder teilweise Erstattung der Auslagen anordnen kann. a) Der praktisch bedeutsamste „übrige Fall“ dürfte die Anordnung der Erstattung der notwendigen Auslagen50 bei erfolgreichen Anträgen auf Erlass einer einstweiligen Anordnung sein.51 47 § 34a Abs. 1 BVerfGG hat keine nennenswerte praktische Bedeutung und bleibt deshalb außer Betracht. 48 Vgl. z.B. BVerfGE 131, 239 (267): „Die Auslagen sind dem Beschwerdeführer zu gleichen Teilen vom Land Hessen und vom Bund zu erstatten, weil die aufgehobenen Entscheidungen von Gerichten des Landes Hessen getroffen worden sind, der Grund der Aufhebung aber in der Verfassungswidrigkeit einer bundesrechtlichen Vorschrift liegt (vgl. auch BVerfGE 101, 106 [132]).“. 49 Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 28. September 2009 – 1 BvR 1702/09 –, www.bverfg.de Rn. 32 (Nichtannahme im Übrigen); Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 21. Dezember 2009 – 1 BvR 812/09 –, www.bverfg.de Rn. 27 (ebenfalls Nichtannahme im Übrigen); Beschluss des Ersten Senats vom 16. Juli 2013 – 1 BvR 3057/11 –, www.bverfg.de Rn. 44. In der letztgenannten Entscheidung beanstandet der Senat, dass ein Oberverwaltungsgericht unter Verstoß gegen Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG die Berufung gegen ein verwaltungsgerichtliches Urteil nicht zugelassen habe. Soweit sich die Verfassungsbeschwerde gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts und die behördliche Entscheidung wende, bedürfe es keiner Entscheidung; durch die Aufhebung der Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts sei der Rechtsweg vor den Fachgerichten wieder eröffnet und dadurch eine erneute fachgerichtliche Aufarbeitung des Ausgangsfalls möglich (a.a.O. Rn. 43). Wohl ein Versehen passiert ist der 1. Kammer des Ersten Senats, die bei einer teilweise erfolgreichen Verfassungsbeschwerde ausschließlich auf § 34a Abs. 3 BVerfGG verweist (Beschluss vom 8. November 2012 – 1 BvR 22/12 –, www.bverfg.de Rn. 28). 50 Auch wenn § 34a Abs. 3 BVerfGG eine entsprechende Beschränkung nicht vorsieht, so ordnet doch das Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung auf seiner Grundlage nur die Erstattungspflichtigkeit hinsichtlich der notwendigen Auslagen an; vgl.
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b) Das Bundesverfassungsgericht zieht § 34a Abs. 3 BVerfGG häufiger heran, wenn ein Beschwerdeführer seine Verfassungsbeschwerde für erledigt erklärt. Eine Erledigungserklärung sieht das Bundesverfassungsgerichtsgesetz zwar nicht ausdrücklich vor; ihre Abgabe erkennt das Bundesverfassungsgericht allerdings in aller Regel an.52 Die Grundsätze, die gelten, wenn der Beschwerdeführer die Anordnung der Erstattung seiner notwendigen Auslagen beantragt, hat der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts jüngst wie folgt zusammengefasst:53 Insbesondere dem Grund, der zur Erledigung geführt habe, komme wesentliche Bedeutung zu. Es sei billig, einem Beschwerdeführer die Erstattung seiner notwendigen Auslagen zuzuerkennen, etwa Beschluss des Ersten Senats vom 22. Januar 2013 – 1 BvR 367/12 –, www.bverfg.de Rn. 1; Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 1. Dezember 2010 – 1 BvR 1725/10 –, www.bverfg.de Rn. 2. 51 Vgl. nur BVerfGE 131, 47 (65 [in Verbindung mit dem Tenor]); Beschlüsse der 2. Kammer des Ersten Senats vom 23. November 2009 – 1 BvR 2709/09 –, www.bverfg.de Rn. 13 und vom 15. März 2010 – 1 BvR 722/10 –, www.bverfg.de Rn. 13; Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 28. November 2012 – 1 BvR 2366/12 –, www.bverfg.de Rn. 10. Nicht nachvollziehbar ist, dass Kammern gelegentlich zusätzlich auf § 34a Abs. 2 BVerfGG abstellen, vgl. z.B. Beschlüsse der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 13. November 2009 – 2 BvR 2603/09 –, www.bverfg.de Rn. 7 und vom 10. Dezember 2009 – 2 BvR 2767/09 –, www.bverfg.de Rn. 7. Wohl um ein Versehen handelt es sich auch, dass die 2. Kammer des Zweiten Senats hinsichtlich der Anordnung der Erstattung der notwendigen Auslagen für ein Verfassungsbeschwerde- und für ein Verfahren über den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ausschließlich auf § 34a Abs. 2 BVerfGG verweist (Beschluss vom 21. Februar 2011 – 2 BvR 1392/10 –, www.bverfg.de Rn. 23). 52 Vgl. etwa BVerfGE 85, 109 (113); 128, 224 (225 [unter Verweis auf BVerfGE 98, 218 zu Ausnahmen]). Die Entscheidung BVerfGE 98, 218 zur Rechtschreibreform erging trotz Rücknahme der Verfassungsbeschwerde. Vgl. auch BVerfGE 79, 255 (Beschluss über die Einstellung eines Verfahrens der abstrakten Normenkontrolle nach Rücknahme des Antrags und nicht gegebenen Gründen „für eine Fortführung des Verfahrens im öffentlichen Interesse“). 53 Beschluss des Ersten Senats vom 22. Januar 2013 – 1 BvR 367/12 –, www.bverfg.de Rn. 2. Vgl. weiterhin Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 1. Dezember 2010 – 1 BvR 1725/10 –, www.bverfg.de (Auslagenerstattung, nachdem die beanstandete gerichtliche Untätigkeit beendet war) sowie Beschlüsse der 3. Kammer des Ersten Senats vom 26. Januar 2011 – 1 BvR 1671/10 –, www.bverfg.de (Abhilfe der Beschwer durch ein Bundesland) und vom 13. April 2011 – 1 BvR 689/11 –, www.bverfg.de (keine Anordnung der Auslagenerstattung, weil die Verfassungsbeschwerde bei Einlegung mangels Erschöpfung des Rechtswegs unzulässig war). Ferner Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 4. November 2010 – 1 BvR 661/06 –, www.bverfg.de; in dieser Entscheidung zieht die Kammer die Grundsätze in einem Verfassungsbeschwerdeverfahren heran, in dem das Rechtsschutzbedürfnis für eine – nicht für erledigt erklärte Verfassungsbeschwerde – entfallen ist, weil der Gesetzgeber Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der angegriffenen Regelung zum Anlass nahm, diese vorsorglich zu streichen (a.a.O. Rn. 9): Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 20. August 2012 – 1 BvR 2780/10 –, www.bverfg.de (faktisches Eingeständnis eines Verfassungsverstoßes durch das Fachgericht, a.a.O. Rn. 9); Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 16. Oktober 2013 – 2 BvR 1446/12 –, juris (Hinweis auf die Zulässigkeit und offensichtliche Begründetheit der Verfassungsbeschwerde, a.a.O. Rn. 7).
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wenn die öffentliche Gewalt von sich aus den mit der Verfassungsbeschwerde angegriffenen Akt beseitige oder der Beschwer auf andere Weise abhelfe, weil in diesem Fall davon ausgegangen werden könne, dass sie das Begehren des Beschwerdeführers selbst für berechtigt erachtet habe.54 Im Hinblick auf die Funktion und die Tragweite der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts begegne es allerdings Bedenken, wenn im Falle einer Erledigung der Verfassungsbeschwerde über die Auslagenerstattung – analog den Regelungen in den Verfahrensordnungen für die Fachgerichte (§ 91a ZPO, § 161 Abs. 2 VwGO, § 138 Abs. 1 FGO) – aufgrund einer überschlägigen Beurteilung der Erfolgsaussichten der Verfassungsbeschwerde entschieden und dabei zu verfassungsrechtlichen Zweifelsfragen aufgrund einer lediglich kursorischen Prüfung Stellung genommen werden müsste. Diese Bedenken griffen allerdings nicht ein, wenn die Erfolgsaussicht der Verfassungsbeschwerde unterstellt werden könne oder wenn die verfassungsgerichtliche Lage – etwa durch eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts in einem gleichgelagerten Fall – bereits geklärt sei.55 Der Senat führt sodann aus, der zu entscheidende Fall sei denen einer bereits geklärten Verfassungsrechtslage vergleichbar.56 Das Bundesverfassungsgericht habe sich in seiner Entscheidung über den mit der Verfassungsbeschwerde verbundenen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung57 bereits in einer Weise zu den Erfolgsaussichten geäußert, die eine darauf gestützte Kostenentscheidung erlaube. c) Das Bundesverfassungsgericht zieht § 34a Abs. 3 BVerfGG gelegentlich zusätzlich zu § 34a Abs. 2 BVerfGG heran, um die volle Erstattung der notwendigen Auslagen anzuordnen, wenn eine Verfassungsbeschwerde nur teilweise Erfolg hat und im Übrigen zurückgewiesen oder nicht zur Entscheidung angenommen wird.58 3. Über die Notwendigkeit der Auslagen ist nicht im Rahmen der Kostengrundentscheidung zu befinden.59 Die Verfassungsrichterinnen und -richter
54 Hinweis auf BVerfGE 85, 109 (114 ff.); 87, 394 (397 f.). Vgl. auch BVerfGE 128, 224 (226) (Aufhebung des Bescheids, dessen sofortige Vollziehbarkeit Gegenstand der mit der Verfassungsbeschwerde angegriffenen Entscheidung war). 55 Hinweis auf BVerfGE 85, 109 (115 f.). 56 Beschluss des Ersten Senats vom 22. Januar 2013 – 1 BvR 367/12 –, www.bverfg.de Rn. 3. 57 BVerfGE 131, 47. 58 Z.B. BVerfGE 125, 104 (141); Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 27. August 2010 – 2 BvR 130/10 –, www.bverfg.de Rn. 50; Beschlüsse der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 5. Juli 2013 – 2 BvR 789/13 –, www.bverfg.de Rn. 28; Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 22. August 2013 – 1 BvR 1067/12 –, www.bverfg.de Rn. 50. 59 Vgl. aus jüngerer Zeit Beschluss des Ersten Senats vom 22. Januar 2013 – 1 BvR 367/12 –, www.bverfg.de Rn. 7.
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können sich hiermit erst beschäftigen, wenn ihnen eine sofortige Beschwerde gegen die Kostenfestsetzung, für die eine Rechtspflegerin oder ein Rechtspfleger zuständig ist (vgl. § 21 Abs. 1 Nr. 1 RflG analog60), vorliegt (siehe oben A. II. 2.). Gegenstände solcher Entscheidungen waren bislang etwa die Erstattung der Auslagen für mehrere Bevollmächtigte61, die Erstattungsfähigkeit der Kosten eines Rechtsgutachtens, das zur Unterstützung einer Verfassungsbeschwerde vorgelegt worden war,62 und jüngst die (verneinte) Anwendbarkeit von Nr. 3208 des Vergütungsverzeichnisses zum Rechtsanwaltsvergütungsgesetz63.64
III. Die Festsetzung des Gegenstandswerts 1. Nach § 37 Abs. 2 Satz 2 RVG ist der Gegenstandswert (nicht zuletzt in Verfassungsbeschwerdeverfahren und Verfahren über den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung) unter Berücksichtigung der in § 14 Abs. 1 RVG genannten Umstände nach billigem Ermessen zu bestimmen; er beträgt – seit Inkrafttreten des Zweiten Gesetzes zur Modernisierung des Kostenrechts65 am 1. August 2013 – mindestens 5.000 Euro; vor dem 1. August 2013 betrug der Wert 4.000 Euro. § 14 Abs. 1 RVG verhält sich zu den Rahmengebühren eines Rechtsanwalts. In § 14 Abs. 1 Satz 1 RVG sind als „Umstände“ ausdrücklich genannt: der Umfang und die Schwierigkeit der anwaltlichen Tätigkeit, die Bedeutung der Angelegenheit und die Einkommens- und Vermögensverhältnisse des Auftraggebers. 60 Siehe Beschluss des Ersten Senats vom 22. Januar 2013 – 1 BvR 367/12 –, www. bverfg.de Rn. 7. 61 BVerfGE 98, 163. In dieser Entscheidung führt der Zweite Senat aus, wenn in einem Verfassungsbeschwerdeverfahren mit einem umfangreichen und besonders schwierigen Verfahrensgegenstand eine mündliche Verhandlung stattfinde, zu der die dem Beschwerdeführer gegenüberstehenden Verfahrensbeteiligten für spezielle Rechtsgebiete besondere Kenner aufbieten, kann es unter dem Gesichtspunkt der „Waffengleichheit“ erforderlich sein, die Mandatierung mehrerer Rechtsanwälte für notwendig zu halten (a.a.O. S. 167). In dem konkreten Verfahren, das das sogenannte Flughafenverfahren betraf, hielt der Senat die Mandatierung von zwei Rechtsanwälten „für erforderlich, aber auch ausreichend“. Zuvor bereits BVerfGE 46, 321 (324). 62 BVerfGE 88, 382. Der Erste Senat vertrat die Auffassung, dass in dem zu entscheidenden Fall kein Grund für eine Ausnahme von der Regel bestehe, dass die Kosten für Rechtsgutachten, die eine Partei eingeholt habe, nicht erstattungsfähig seien (a.a.O. S. 383). Es wäre allein die Aufgabe des Bevollmächtigten der Beschwerdeführer gewesen, eine hinreichend begründete Verfassungsbeschwerde auszuarbeiten. Dass er sich diese Arbeit durch die Beifügung eines privaten Rechtsgutachtens erleichtert hätte, könne nicht zur Erstattungsfähigkeit der dafür entstandenen Kosten führen (a.a.O. S. 384). Vgl. ferner BVerfGE 96, 251 (258 f.). 63 BVerfGE 132, 294. 64 Vgl. ferner etwa BVerfGE 41, 228. 65 Vom 23. Juli 2013 (BGBl I S. 2586). Siehe Art. 8 Abs. 1 Nr. 20.
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Angesichts dieser „Umstände“, die „zu berücksichtigen“ sind, und dem ausdrücklich eingeräumten „billigen Ermessen“ verwundert es nicht, dass die Praxis der Gegenstandswertfestsetzung66, jedenfalls in nicht vermögensrechtlichen Streitigkeiten, wenig nachvollziehbar ist. Die Nachvollziehbarkeit wird zudem dadurch erschwert, dass das Bundesverfassungsgericht, obwohl für eine solche Handhabung eigentlich keine Rechtsgrundlage besteht, Gegenstandswertfestsetzungen häufig nur unter Verweis auf „§ 37 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit § 14 Abs. 1 RVG“ und „vgl. BVerfGE 79, 365 “ begründet.67 Die zitierte Entscheidung stammt aus dem Jahr 1989 und erging unter der Geltung von § 113 Abs. 2 Satz 3 BRAGO (siehe sogleich 3.); beide Senate entnehmen ihr auch unter Geltung des Rechtsanwaltsvergütungsgesetzes Aussagen zur Festsetzung der Gegenstandswerte. 2. Bevor die wesentlichen Ausführungen der Leitentscheidung wiedergegeben (siehe unten 3.) und Beispiele aus der jüngeren verfassungsgerichtlichen Praxis genannt (siehe unten 4.) werden, soll verdeutlicht werden, welche finanziellen Folgen sich für eine Rechtsanwältin oder einen Rechtanwalt aus der Festsetzung eines bestimmten Gegenstandswerts ergeben. Hinsichtlich der Vergütung verweist § 37 Abs. 2 Satz 1 RVG auf die Nummern 3206 ff. des Vergütungsverzeichnisses. Bei dem bisherigen Mindestgegenstandswert von 4.000 Euro betrug die Verfahrensgebühr 1,668 × 245 Euro = 392 Euro, bei dem nunmehrigen Mindestgegenstandswert von 5.000 Euro beträgt sie 1,6 × 303 Euro = 484,80 Euro. Bei Verdopplung des bisherigen Mindestgegenstandswerts erhöhte sie sich auf 1,6 × 412 Euro = 659,20 Euro, bei Verdopplung des nunmehrigen auf 1,6 × 558 Euro = 892,80 Euro. Bei höheren Gegenstandswerten ergibt sich Folgendes: Gegenstandswert 25.000 Euro 50.000 Euro 100.000 Euro 250.000 Euro 500.000 Euro
Verfahrensgebühr (1,6 × 788 Euro =) (1,6 × 1.163 Euro =) (1,6 × 1.503 Euro =) (1,6 × 2.253 Euro =) (1,6 × 3.213 Euro =)
1.260,80 Euro (zuvor 1.097,60 Euro) 1.860,80 Euro (zuvor 1.673,60 Euro) 2.404,80 Euro (zuvor 2.166,40 Euro) 3.604,80 Euro (zuvor 3.283,20 Euro) 5.140,80 Euro (zuvor 4.793,60 Euro)
3. In der Leitentscheidung aus dem Jahr 1989 zu § 113 Abs. 2 Satz 3 BRAGO
66 Diese Praxis ist zudem relativ überschaubar, da das Bundesverfassungsgericht regelmäßig nur bei stattgebenden Entscheidungen einen Gegenstandswert festsetzt (siehe sogleich 5.). 67 Vgl. nur BVerfGE 131, 239 (267); Beschluss des Ersten Senats vom 22. Januar 2013 – 1 BvR 367/12 –, www.bverfg.de Rn. 8; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 5. Juni 2013 – 2 BvR 586/13 –, www.bverfg.de Rn. 18. 68 Nr. 3206 des Vergütungsverzeichnisses, vgl. BVerfGE 132, 294 (297 ff. [Rn. 10 ff.]).
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Der Gegenstandswert ist unter Berücksichtigung aller Umstände, insbesondere der Bedeutung der Angelegenheit, des Umfangs und der Schwierigkeit der anwaltlichen Tätigkeit sowie der Vermögens- und Einkommensverhältnisse des Auftraggebers nach billigem Ermessen zu bestimmen, jedoch nicht unter 6000 Deutsche Mark.
führt das Bundesverfassungsgericht69 einleitend aus, mit den in der Vorschrift genannten Bemessungskriterien seien alle wesentlichen Gesichtspunkte aufgezählt. Praktische Relevanz dürfte weiteren Umständen kaum zukommen, weil die genannten Kriterien bei sachgerechter Auslegung weitere nicht ausdrücklich erwähnte Einzelumstände erfassten. Das gelte insbesondere für den Erfolg des Rechtsbehelfs, der gerade bei der Verfassungsbeschwerde nicht ohne Einfluss auf die Einschätzung der Bedeutung der Sache sei. a) Als „Ausgangspunkt der Bewertung“ benennt das Bundesverfassungsgericht „entsprechend der gesetzlichen Reihenfolge die Bedeutung der Angelegenheit“. Der Gegenstandswert richte sich vorrangig nach der Bedeutung, welche der Beschwerdeführer der Sache beimesse. Maßgeblich seien daher nicht nur die unmittelbar verfolgten Ziele des Beschwerdeführers, sondern auch die weiteren Auswirkungen auf seine wirtschaftlichen Verhältnisse, auf seine Stellung und sein Ansehen. Dabei müsse berücksichtigt werden, ob die angestrebte Entscheidung zu einer rechtlichen oder tatsächlichen Klärung weiterer vom Beschwerdeführer betriebener Angelegenheiten führen könne. Neben der „subjektiven Seite“ muss nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts „auch die objektive Bedeutung der Sache in die Bewertung Eingang finden“. Zwar sei die Verfassungsbeschwerde eine Einrichtung des individuellen Rechtsschutzes. Darin erschöpfe sich jedoch ihre Bedeutung nicht. Sie habe daneben die Aufgabe, das objektive Verfassungsrecht zu wahren sowie seiner Auslegung und Fortbildung zu dienen. Das allein rechtfertige allerdings noch nicht die Einbeziehung der objektiven Seite des Verfahrens in die Wertbestimmung; denn auch die Rechtsprechung der Fachgerichte, insbesondere der Revisionsgerichte, diene der Rechtswahrung, -vereinheitlichung und -fortbildung, ohne dass dort diese objektiven Wirkungen in die Wertfestsetzung einflössen. Ausschlaggebend für die Einbeziehung der objektiven Bedeutung seien die Eigenarten des Verfassungsbeschwerdeverfahrens, die es deutlich vom fachgerichtlichen Rechtsschutz abheben und ihren Ausdruck im Status des Bundesverfassungsgerichts sowie in den Wirkungen seiner Entscheidung finden würden. Habe die objektive Bedeutung neben dem subjektiven Interesse des Beschwerdeführers keinen eigenen oder nur einen sehr untergeordneten Stellenwert, könne sie die Wertfestsetzung allenfalls insoweit beeinflussen, als sie zu einer Verringerung des Einsatzwertes für die subjektive Bedeutung führen
69
BVerfGE 79, 365 (366 ff.).
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könne. Das komme etwa dann in Betracht, wenn die verfassungsgerichtliche Entscheidung in der Sache nicht abschließender Natur sei, also den Ausgangsstreit nicht endgültig erledige. Führe sie demgegenüber zur Beilegung des Ausgangsstreits, könne sich auch eine nur geringe objektive Bedeutung der Sache nicht wertmindernd auswirken, weil der subjektiven Beschwer dann in vollem Umfang Rechnung getragen werde. Weise die objektive Seite des Falles im Verhältnis zum subjektiven Interesse eigenständiges Gewicht auf, führe das regelmäßig zu einer Erhöhung des Ausgangswerts, und zwar – je nach Wichtigkeit – bis zu einer Vervielfachung. Dabei komme einer über den Fall hinausreichenden, allgemeinen Bedeutung größeres Gewicht zu als einer sich nur auf Parallelverfahren erstreckenden (Musterverfahren). Je stärker die Flächenwirkung der angestrebten Entscheidung sei und je größer die Zahl der denkbaren Fälle sei, für die sie relevant sein könne, desto höher werde ihr Wert zu veranschlagen sein. In diesem Zusammenhang sei auch der „Erfolg“ der Verfassungsbeschwerde zu sehen. Werde der Rechtsbehelf nicht zur Entscheidung angenommen, sei es im Regelfall nicht gerechtfertigt, über den Mindestwert70 hinauszugehen. In diesen Fällen bestehe kein Rechtsschutzinteresse für die Festsetzung des Gegenstandswerts. Die objektive Bedeutung einer Sache komme auch darin zum Ausdruck, ob über sie in der Kammer oder im Senat entschieden werde. Da eine stattgebende Kammerentscheidung nur zulässig sei, wenn die maßgebliche verfassungsrechtliche Frage bereits entschieden sei,71 dürfte einer solchen Sache regelmäßig kein über die subjektive Bedeutung hinausgehendes Gewicht zukommen. Gleichwohl müsse der Erfolg des Rechtsbehelfs gegenüber einer bloßen Nichtannahme-Entscheidung in der Wertfestsetzung seinen Ausdruck finden. b) Der Umfang und die Schwierigkeit der anwaltlichen Tätigkeit müssen – so das Bundesverfassungsgericht weiter – in Relation zu der bereits bewerteten Bedeutung der Sache gesehen werden. Da mit dem wachsenden Gewicht einer Sache regelmäßig auch die Belastung des Verfahrensbevollmächtigten steige, führte eine von der Bedeutung der Sache losgelöste Einschätzung der anwaltlichen Tätigkeit gleichsam zu einer zweifachen Berücksichtigung ein und desselben Gesichtspunkts. Sei der anwaltliche Arbeitsaufwand von Zeit und Intensität her der Bedeutung der Sache angemessen, müsse es daher bei der bisherigen Bewertung bleiben. Gehe der Aufwand darüber hinaus, bedingt entweder durch die Eigenart der Angelegenheit oder durch besonders sorgfältige oder gehaltvolle Arbeit, rechtfertige das eine Werterhöhung, wie auf der anderen Seite nachlässige Arbeit oder eine im Verhältnis zu ihrem Gewicht wenig Aufwand erfordernde Sache eine Wertreduzierung gebiete. 70 71
Damals 6.000 DM. Vgl. mittlerweile § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG.
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Das dürfe aber nicht dazu führen, dass bei der Bemessung des Gegenstandswerts die Bedeutung der Angelegenheit gegenüber der Bewertung der anwaltlichen Tätigkeit in den Hintergrund trete. Der „Wert“, den die Sache für den Rechtsbehelfsführer und die Allgemeinheit habe, müsse ausschlaggebendes Moment für die Wertfestsetzung bleiben. c) Das gelte auch hinsichtlich der in die Bewertung einfließenden Vermögens- und Einkommensverhältnisse des Beschwerdeführers. Auch dieser Gesichtspunkt diene nur der Korrektur des bereits gefundenen Wertes unter sozialen Aspekten – allerdings mit Ausnahme der Fälle, in denen wegen der Art des verfolgten Interesses die wirtschaftlichen Verhältnisse des Beschwerdeführers unmittelbaren Einfluss auf den Verfahrensgegenstand hätten; dort fänden sie bereits Eingang in die Bewertung der subjektiven Bedeutung der Angelegenheit. Durchschnittliche Vermögens- und Einkommensverhältnisse führten somit zu keiner Wertänderung, sondern nur solche, die deutlich aus dem Rahmen fielen. Das Bundesverfassungsgericht ermittele allerdings nicht von sich aus die wirtschaftlichen Verhältnisses des jeweiligen Beschwerdeführers, sondern verwerte nur die Informationen, die ihm anlässlich des Verfahrens oder dem Antrag auf Gegenstandswertfestsetzung zuteil geworden seien. 4. Die nachfolgend angeführten Beispiele sollen einen Einblick in die Praxis der Senate in die Handhabung der Leitentscheidung in jüngerer Vergangenheit vermitteln. a) Beispiele von Gegenstandswertfestsetzungen in vermögensrechtlichen Streitigkeiten: – Bei Festsetzung eines Gegenstandswerts in Höhe von 550.355 Euro für ein Verfassungsbeschwerdeverfahren betreffend die Verfassungsmäßigkeit steuerrechtlicher Übergangsregeln72 maß der Erste Senat den wirtschaftlichen Folgen für die Beschwerdeführerin letztlich ausschlaggebende Bedeutung zu.73 – 35.000 Euro setzte der Erste Senat für ein Verfassungsbeschwerdeverfahren betreffend die Erbschaftsteuer für eingetragene Lebenspartner74 fest und orientierte sich auch hierbei an den wirtschaftlichen Folgen für den Beschwerdeführer, deren Wert „zugleich der objektiven Bedeutung der Sache hinreichend Rechnung“ trägt.75 – Für das Verfassungsbeschwerdeverfahren betreffend Fragen der Gewährung einer Investitionszulage76 – die Beschwerdeführerin hatte eine solche 72 73 74 75 76
Vgl. BVerfGE 125, 1. Beschluss vom 19. August 2010 – 1 BvR 2192/05 –, juris. Vgl. BVerfGE 126, 400. Beschluss vom 10. November 2011 – 1 BvR 611/07 –, juris. Vgl. BVerfGE 129, 1.
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in Höhe von rund 180.000 Euro77 beantragt – setzte der Erste Senat ohne Begründung 120.000 Euro fest.78 – Im Verfassungsbeschwerdeverfahren betreffend die Ungleichbehandlung von verheirateten und in einer eingetragenen Lebenspartnerschaft lebenden Beamten beim Familienzuschlag setzte der Zweite Senat einen Gegenstandswert in Höhe von 25.000 Euro fest.79 – Den Gegenstandswert für die Verfassungsbeschwerde eines Unternehmens, das sogenannte Call-by-Call-Gespräche anbietet, gegen das übergangslose Inkrafttreten einer Preisansagepflicht bei solchen Gesprächen80 setzte der Erste Senat auf 500.000 Euro fest (und für den gleichzeitig gestellten Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung auf 250.000 Euro).81 b) Beispiele von Gegenstandswertfestsetzungen in nichtvermögensrechtlichen Streitigkeiten: – Gegenstandswerte von jeweils 250.000 Euro setzte der Erste Senat ohne Begründung in zwei Verfassungsbeschwerdeverfahren betreffend die sogenannte Vorratsdatenspeicherung82 fest.83 – Der Zweite Senat entschied sich ohne Begründung in drei Verfassungsbeschwerdeverfahren, über die er im sogenannten Lissabon-Urteil84 befand, für Gegenstandswerte in Höhe von 1.000.000 Euro85 sowie 750.000 Euro und 500.000 Euro.86 – Ohne Begründung setzte der Zweite Senat in einem Fall betreffend die Abschiebung eines Asylsuchenden nach Griechenland87 den Gegenstandswert auf 250.000 Euro fest.88 – Als Wert des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit für das Verfahren über den mit der Verfassungsbeschwerde gegen das Bayerische Versammlungsgesetz verbundenen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung89 hielt der Erste Senat ohne Begründung einen Betrag von 20.000 Euro für angemessen.90 77
Vgl. BVerfGE 129, 1 (10). Beschluss vom 18. Oktober 2011 – 2 BvR 857/07 –, juris. 79 BVerfGE 131, 239 (240). 80 Vgl. BVerfGE 131, 47. 81 Beschluss vom 22. Januar 2013 – 1 BvR 367/12 –, www.bverfg.de. 82 Vgl. BVerfGE 125, 260. 83 Beschluss vom 24. März 2010 – 1 BvR 256/08, 1 BvR 263/08 –, www.bverfg.de. 84 BVerfGE 123, 267. 85 Beschluss vom 13. Oktober 2010 – 2 BvR 1010/08 –, www.bverfg.de. 86 Beschluss vom 13. Oktober 2010 – 2 BvR 1022/08, 2 BvR 182/09 –, juris. 87 Vgl. BVerfGE 128, 224 (Einstellung des Verfahrens nach Erledigungserklärung des Beschwerdeführers). 88 Beschluss vom 14. April 2011 – 2 BvR 2015/09 –, juris. 89 Vgl. BVerfGE 122, 342. 90 Beschluss vom 1. August 2012 – 1 BvR 2492/08 –, www.bverfg.de. 78
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– In einem Verfassungsbeschwerdeverfahren gegen die Fortdauer der Sicherungsverwahrung91 setzte der Zweite Senat ohne Begründung einen Gegenstandswert in Höhe von 50.000 Euro fest.92 – Ohne Begründung setzte der Erste Senat den Gegenstandswert für das Verfassungsbeschwerdeverfahren gegen das Verbot der Sukzessivadoption durch eingetragene Lebenspartner93 auf 150.000 Euro fest.94 – Zu einem Gegenstandswert von 30.000 Euro gelangte der Erste Senat in einem Verfassungsbeschwerdeverfahren, in dem er sich mit Fragen der Zulässigkeit einer Verfassungsbeschwerde im Zusammenhang mit der Rüge der Verletzung des rechtlichen Gehörs und mit den Anforderungen an die Zulassung einer Berufung gegen ein verwaltungsgerichtliches Urteil beschäftigte.95 – Den Gegenstandswert für das Verfassungsbeschwerdeverfahren gegen das Antiterrordateigesetz96 setzte der Erste Senat auf 200.000 Euro fest; im Tenorausspruch weist er auf die „besondere objektive Bedeutung des Verfahrens“, aber auch auf die „begrenzte Förderung des Verfahrens durch die anwaltliche Tätigkeit“ hin.97 – Mit ausführlicher Begründung setzte der Zweite Senat mit Beschluss vom 15. Oktober 201398 Gegenstandswerte von 140.000 Euro, 180.000 Euro und 80.000 Euro in Verfahren betreffend den Deal im Strafverfahren99 fest. Er ging dabei von dem Mindestgegenstandswert in Höhe von 4.000 Euro aus.100 Die 180.000 Euro betrafen eine Verfassungsbeschwerde, die von zwei Beschwerdeführern gemeinschaftlich erhoben worden war. Im Hinblick auf diese Konstellation sah sich der Senat dazu veranlasst auszuführen, Verfassungsbeschwerden mehrerer Auftraggeber müssten, auch wenn sie gegen denselben Akt der öffentlichen Gewalt gerichtet seien und demgemäß im Antrag übereinstimmten, nicht denselben Gegenstandswert haben, denn mit der Verfassungsbeschwerde könne nur die subjektive 91 Vgl. Beschluss des Zweiten Senats vom 6. Februar 2013 – 2 BvR 2122/11, 2 BvR 2705/11 –, www.bverfg.de. 92 Beschluss des Zweiten Senats vom 19. Juni 2013 – 2 BvR 2705/11 –; entsprechend im Parallelverfahren 2 BvR 2122/11. 93 Vgl. Urteil des Ersten Senats vom 19 Februar 2013 – 1 BvL 1/11, 1 BvR 3247/09 –, www.bverfg.de. 94 Beschluss des Ersten Senats vom 27. Juni 2013 – 1 BvR 3247/09 –. 95 Beschluss des Ersten Senats vom 16. Juli 2013 – 1 BvR 3057/11 –, www.bverfg.de 96 Vgl. Urteil des Ersten Senats vom 24. April 2013 – 1 BvR 1215/07 –, www.bverfg.de. 97 Beschluss des Ersten Senats vom 16. September 2013 – 1 BvR 1215/07 –. Die Frage, ob ein solcher Seitenhieb angemessen ist, möge jeder für sich beantworten. 98 2 BvR 2628/10, 2 BvR 2883/10, 2 BvR 2155/11. 99 Urteil vom 19. März 2013 – 2 BvR 2628/10, 2 BvR 2883/10, 2 BvR 2155/11 –, www.bverfg.de. 100 Vgl. die Übergangsregelung des § 60 RVG.
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Beschwer des jeweiligen Beschwerdeführers in einem Grundrecht oder grundrechtsähnlichen Recht geltend gemacht werden. Diese subjektive verfassungsrechtliche Beschwer bestimme den Gegenstandswert des Verfahrens. Im Falle der Vertretung mehrerer Beschwerdeführer, die gemeinschaftlich Verfassungsbeschwerde erheben, handele es sich jedoch um dieselbe Angelegenheit, weshalb die Werte der jeweiligen subjektiven Interessen gemäß § 22 Abs. 1 RVG zusammengerechnet würden. Aufgrund der objektiven Bedeutung der Verfahren hält der Senat eine Vervierfachung der sich nach der subjektiven Bedeutung ergebenden Werte für gerechtfertigt. Weshalb eine solche – und nicht etwa eine Verdrei- oder Verfünffachung – angenommen wird, wird nicht begründet und ist eigentlich auch nicht begründbar. Im Hinblick auf die gesetzlich vorgesehene Terminsgebühr101 verwundert, dass der Senat in der Entscheidung den durch die mündliche Verhandlung zusätzlich entstandenen Aufwand bei der Gegenstandswertfestsetzung berücksichtigt. 5. Anträge auf Festsetzung eines Gegenstandswerts für Verfassungsbeschwerdeverfahren in Fällen, in denen die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen worden ist, verwirft das Bundesverfassungsgericht im Anschluss an die Leitentscheidung regelmäßig. Begründung: Der Antrag sei unzulässig, weil für die Festsetzung eines über den gesetzlichen Mindestwert hinausgehenden Wertes ein Rechtsschutzbedürfnis weder dargetan noch sonst erkennbar sei.102 Diese Praxis ist nicht unbedenklich. Das Bundesverfassungsgericht stellt an die Substantiierung durch Anwälte sehr hohe Anforderungen103, Anwälte müssen aber damit rechnen, dass das Gericht einen Gegenstandswert von – nunmehr – 5.000 Euro für angemessen hält, der zu einer recht geringen, wohl regelmäßig nicht kostendeckenden (siehe auch sogleich 6.) anwaltlichen Vergütung führt. 6. Bei einer stattgebenden Kammerentscheidung hat das Bundesverfassungsgericht unter Geltung des Mindestgegenstandswerts von 4.000 Euro über längere Zeit regelmäßig einen Gegenstandswert von 8.000 Euro festge101 Nr. 3210 des Vergütungsverzeichnisses; vgl. auch Hartmann, Kostengesetze, 43. Aufl. 2013, § 37 RVG Rn. 5. 102 Vgl. etwa Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 13. Januar 2010 – 2 BvR 2552/08 –, www.bverfg.de Rn. 1. Ferner Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 24. April 2008 – 1 BvR 206/08 –, www.bverfg.de Rn. 7. 103 Vgl. z.B. BVerfGE 131, 66 (79 ff.); Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 8. Dezember 2010 – 1 BvR 2704/10 –, www.bverfg.de Rn. 2; zu den Substantiierungsanforderungen auch Lübbe-Wolff, EuGRZ 2004, S. 669 (676 ff.); O. Klein/Sennekamp, NJW 2007, S. 945 (951 ff.); monografisch jüngst P. Lange, Darlegungs- und Substantiierungspflichten im Verfassungsbeschwerdeverfahren, 2012.
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setzt.104 Die erstattungsfähige Verfahrensgebühr für die anwaltliche Tätigkeit betrug dann – wie bereits erwähnt – 659,20 Euro. Für diesen Betrag dürften Anwälte regelmäßig nicht kostendeckend gearbeitet haben.105 In Fällen, in denen eine Gebührenvereinbarung106 geschlossen worden war, dürften Beschwerdeführer häufig auf einem (Groß-)Teil ihrer Kosten sitzengeblieben sein; ob sie hierüber der Erfolg der Verfassungsbeschwerde hinwegtröstet hat, mag dahingestellt bleiben. In jüngerer Zeit (bereits unter Geltung des bisherigen Mindestgegenstandswerts) sind gewisse Tendenzen erkennbar, höhere Gegenstandswerte bei stattgebenden Kammerentscheidungen festzusetzen. So hat die 1. Kammer des Ersten Senats beispielsweise ausgeführt, der Wert betrage 25.000 Euro, „weil der Verfassungsbeschwerde107 durch die Kammer stattgegeben wird“.108 (Positiv) überrascht gewesen sein dürfte der Bevollmächtigte eines Beschwerdeführers, der die Festsetzung eines Gegenstandswerts auf mindestens 20.000 Euro beantragt hatte,109 als die 2. Kammer des Ersten Senats – noch dazu mit ausführlicher Begründung – den Wert des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit auf 70.000 Euro festsetzte. 104 Vgl. z.B. Beschlüsse der 1. Kammer des Ersten Senats vom 25. März 2010 – 1 BvR 2446/09 –, www.bverfg.de und vom 8. Dezember 2010 – 1 BvR 381/10 –, www.bverfg.de; Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 26. Januar 2011 – 1 BvR 1671/10 –, www. bverfg.de Rn. 8; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 18. Oktober 2012 – 2 BvR 2776/10 –, www.bverfg.de; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 5. Juni 2013 – 2 BvR 586/13 –, www.bverfg.de; auch Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 1. Dezember 2010 – 1 BvR 1725/10 –, www.bverfg.de. 105 Wenn man davon ausgeht, dass der durchschnittliche Stundensatz eines Rechtsanwalts zumindest 100 Euro erreichen muss, damit er eine Kanzlei wirtschaftlich betreiben kann, so dürfte er sich für eine Verfassungsbeschwerde insgesamt nicht einmal einen Arbeitstag Zeit nehmen. Dabei dürften 100 Euro ohnehin deutlich zu wenig sein! 106 Zuck (NJW 2013, S. 2248 [2249]) meint, Gebührenvereinbarungen in Verfassungsbeschwerdeverfahren seien peinlich. Kleine-Cosack (Verfassungsbeschwerden und Menschenrechtsbeschwerde, 3. Aufl. 2013, Rn. 159) hingegen empfiehlt den Abschluss einer solchen Vereinbarung. 107 Sie betraf „die Anordnung einer Abstammungsbegutachtung im Rahmen eines familiengerichtlichen Umgangsverfahrens“. 108 Beschluss vom 23. Mai 2013 – 1 BvR 2059/12 –, www.bverfg.de Rn. 40. Vgl. ferner Beschlüsse der 3. Kammer des Ersten Senats vom 17. Juni 2013 – 1 BvR 2246/11 –, www. bverfg.de und vom 24. Juli 2013 – 1 BvR 444/13, 1 BvR 527/13 –, www.bverfg.de sowie vom 18. Juli 2013 – 1 BvR 1623/11 –, www.bverfg.de; eine Gegenvorstellung gegen die Festsetzung in letztgenannter Entscheidung hat die Kammer mit Beschluss vom 4. November 2013 zurückgewiesen. Vgl. aber auch Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 5. Juli 2013 – 1 BvR 1018/13 –, www.bverfg.de (8.000 Euro) und Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 18. Juli 2013 – 1 BvR 746/13 –, www.bverfg.de Rn. 29 („nicht erkennbar, dass der Beschwerdeführer ein über [den Betrag von 8.000 Euro] hinausgehendes Interesse hat“). 109 Vgl. Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 13. Juni 2013 – 1 BvR 2952/08 –, www.bverfg.de Rn. 4; ferner Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 13. Juni 2013 – 1 BvR 3236/08 –, www.bverfg.de (Festsetzung eines Werts von 84.000 Euro bei beantragten „mindestens“ 20.000 Euro).
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7. Gegenstandswerte für Verfahren über den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung fallen regelmäßig deutlich niedriger aus als in dem Verfassungsbeschwerdeverfahren, deren Sicherung der Antrag dient. Dies erklärt sich vor allem mit der Zielrichtung, eine (lediglich) vorläufige Regelung herbeizuführen.110 Unter Geltung des Mindestgegenstandswerts von 4.000 Euro setzte das Bundesverfassungsgericht häufig diesen fest.111 8. Insgesamt dürfte es nicht ganz unberechtigt sein, dem Bundesverfassungsgericht eine „Anwaltsferne“ beim Umgang mit dem Kostenrecht vorzuwerfen112. Auch aus diesem Grunde wäre es wünschenswert, dass in den Senaten Personen mit anwaltlichem Hintergrund vertreten wären. Allerdings muss auch festgehalten werden, dass der Gesetzgeber mit § 37 Abs. 2 Satz 2 RVG dem Bundesverfassungsgericht eine nahezu inhaltsleere Regelung beschert hat.
IV. Die Auferlegung einer Missbrauchsgebühr 1. Nach der – sprachlich wenig geglückten – Vorschrift des § 34 Abs. 1 BVerfGG ist das Verfahren des Bundesverfassungsgerichts kostenfrei. Die Vorschrift will eigentlich besagen, dass bei einem verfassungsgerichtlichen Verfahren keine Gerichtsgebühren anfallen und Auslagen des Gerichts nicht zu erstatten sind (vgl. etwa § 188 Satz 2 Halbs. 1 VwGO). Die Gerichtskostenfreiheit ist neben dem Recht der Beschwerdeführer, sich selbst vertreten zu dürfen, wesentlich für die Charakterisierung des Bundesverfassungsgerichts als ein „Bürgergericht“113. Dem Bundesverfassungsgericht ist allerdings die Möglichkeit eingeräumt, eine sogenannte Missbrauchsgebühr aufzuerlegen (§ 34 Abs. 2 BVerfGG): Das Gericht kann eine Gebühr bis zu 2.600 Euro auferlegen, wenn die Ein-
110 Vgl. BVerfGE 89, 91 (96); Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 26. Januar 2011 – 1 BvR 1671/10 –, www.bverfg.de Rn. 8. 111 Z.B. Beschluss des Zweiten Senats vom 21. November 2012 – 2 BvR 2500/09 und 2 BvR 1857/10 –, www.bverfg.de; Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 8. März 2012 – 1 BvR 206/12 –, www.bverfg.de. Vgl. auch Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 28. November 2012 – 1 BvR 2366/12 –, www.bverfg.de: 5.000 Euro in einem Verfahren, in dem die Kammer einen Kreis verpflichtete, für höchstens rund drei Monate die Kosten der Betreuung des Antragstellers in Höhe von knapp 4.000 Euro monatlich vorläufig als Darlehen zu übernehmen. Während der Zweite Senat im Lissabon-Verfahren 2 BvR 1010/08 einen Gegenstandswert von 1.000.000 Euro festsetzte (siehe oben Fn. 85), hielt er für das Verfahren des mit der Verfassungsbeschwerde verbundenen Antrags auf Erlass einer einstweiligen Anordnung lediglich einen Wert von 100.000 Euro für angemessen (Beschluss vom 13. Oktober 2010 – 2 BvR 1010/08 –, www.bverfg.de). 112 Zuck, NJW 2013, S. 2248 (2249). 113 Vgl. Schlaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 9. Aufl. 2012, Rn. 550.
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legung der Verfassungsbeschwerde (oder der Beschwerde nach Art. 41 Abs. 2 GG) einen Missbrauch darstellt oder wenn ein Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung (§ 32 BVerfGG) missbräuchlich gestellt ist.114 In den Jahren 2011 und 2012115 ist von dieser Möglichkeit in 71116 bzw. 54117 Fällen Gebrauch gemacht worden. Die Summe der Missbrauchsgebühren betrug 34.810 bzw. 29.950 Euro; bei in den Bundeshaushaltsplänen 2011 und 2012 für das Bundesverfassungsgericht vorgesehenen Ausgaben in Höhe von knapp 25 bzw. 30 Millionen Euro sind die Missbrauchsgebühren somit von keinerlei Bedeutung für die Finanzierung des Gerichts. Die Höhe der Gebühr lag im Jahr 2011 zwischen 20118 und 2.000119 Euro und im Jahr 2012 zwischen 50 und 2.500 Euro. 2. Das Bundesverfassungsgericht geht in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass eine Missbrauchsgebühr nicht nur dem Beschwerdeführer bzw. – im Falle eines Antrags auf Erlass einer einstweiligen Anordnung – dem Antragsteller, sondern auch oder sogar ausschließlich der oder dem tätig gewordenen Bevollmächtigten auferlegt werden darf.120 In der deutlich überwiegen114 Der zwischenzeitlich von Seiten des Bundesverfassungsgerichts teilweise geäußerte Wunsch nach Einführung einer sogenannten Mutwillensgebühr durch den Gesetzgeber (dazu Schluckebier, ZRP 2012, S. 133; kritisch dazu Zuck, ZRP 2012, S. 219 [Erwiderung auf Schluckebier], NVwZ 2012, S. 1292 und NJW 2013, S. 2248 [2250]; Foth, ZRP 2012, S. 251 [ebenfalls Erwiderung auf Schluckebier]; offen Stüer, DVBl 2012, S. 751 [756]) ist unerfüllt geblieben. Vgl. auch Neumeyer, DRiZ 2013, S. 52. Kritisch gegenüber dem Instrument der Missbrauchsgebühr etwa Zuck, NJW 1993, S. 2641 (2645). 115 Die folgenden Zahlen sind den Jahresstatistiken des Bundesverfassungsgerichts für die Jahre 2011 und 2012 entnommen (vgl. www.bverfg.de). 116 Davon 45mal durch den Ersten Senat und 26mal durch den Zweiten Senat. Der Erste Senat verhängte bei 1,40 % und der Zweite Senat bei 0,82 % der entschiedenen Verfassungsbeschwerden eine Missbrauchsgebühr. 117 Davon 38mal durch den Ersten Senat und 16mal durch den Zweiten Senat. Der Erste Senat verhängte bei 1,35 % und der Zweite bei 0,53 % der entschiedenen Verfassungsbeschwerden eine Missbrauchsgebühr. 118 Diesen – eigentlich sehr geringen – Betrag auferlegte die 3. Kammer des Zweiten Senats mit Beschluss vom 7. Dezember 2011 – 2 BvR 2449/11 –, www.bverfg.de einem in einer Maßregelvollzugsklinik untergebrachten Beschwerdeführer, der bereits in früheren Verfahren über die Möglichkeit der Auferlegung einer Missbrauchsgebühr belehrt worden war (a.a.O. Rn. 4), und mit Beschluss vom 14. Juni 2011 – 2 BvR 1150/11 –, www.bverfg.de einem inhaftierten Beschwerdeführer, dem hätte bewusst sein müssen, „dass der vorliegende Fall keinen Anlass für einen Rechtsstreit, geschweige denn für einen Rechtsstreit vor dem Bundesverfassungsgericht, bot“ (a.a.O. Rn. 6). 119 Diesen – recht hohen – Betrag auferlegte die 3. Kammer des Zweiten Senats mit Beschluss vom 13. April 2011 – 2 BvR 272/11 –, www.bverfge.de einem Bevollmächtigten, dem sich „angesichts des eindeutigen Wortlauts des Art. 93 Abs. 1 Nr. 4b GG und des § 91 Satz 1 BVerfGG … die Unzulässigkeit der Kommunalverfassungsbeschwerde … geradezu [hätte] aufdrängen müssen“ (a.a.O. Rn. 5). Vgl. ferner Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 12. Mai 2011 – 2 BvR 941/11 –, www.bverfge.de. 120 Es dürfte früher einmal Praxis gewesen sein, gleichzeitig mit der Auferlegung einer Missbrauchsgebühr an den Beschwerdeführer diesen auf die Möglichkeit eines Rückgriffs
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den Zahl der Fälle dürfte die Anordnung ausschließlich Bevollmächtigte treffen.121 3. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts liegt ein Missbrauch vor, wenn die Verfassungsbeschwerde offensichtlich unzulässig oder unbegründet ist und ihre Einlegung deshalb von jedem Einsichtigen als völlig aussichtslos angesehen werden muss.122 Regelmäßig nehmen die Kammern einen Missbrauch deshalb an, weil die von einer Rechtsanwältin oder einem Rechtsanwalt erhobene Verfassungsbeschwerde wegen völlig unzureichender Substantiierung bereits offensichtlich unzulässig ist.123 Gerade von einem Rechtsanwalt, der ein Mandat zur Führung eines Verfahrens vor dem Bundesverfassungsgericht annehme, sei zu verlangen, dass er sich mit den Zulässigkeitsvoraussetzungen einer Verfassungsbeschwerde auseinandersetze, die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu den aufgeworfenen Fragen prüfe, die Erfolgsaussichten einer beabsichtigten Verfassungsbeschwerde eingehend abwäge und sich entsprechend den Ergebnissen seiner Prüfung verhalte.124 Erbost gezeigt hat sich die 2. Kammer des Ersten Senats in einem Fall, in dem die Bevollmächtigten „trotz des zutreffenden Hinweises des Präsidialrats auf die Verfristung … auf einer Behandlung durch die Kammer [bestanden], wobei sie fälschlicherweise behaupteten, den maßgeblichen Satz der Entscheidung des Oberlandesgerichts ‚inhaltlich vollständig wiedergegeben‘ zu haben“.125 Die 3. Kammer des Zweiten Senats sprach auch schon von an den Haaren herbeigezogenen verfassungsrechtlichen Aspekten zur Begründung der Verfassungsbeschwerde.126 In Entscheidungen, mit denen Missbrauchsgebühren auferlegt werden, findet sich auch häufig die Formulierung, das Bundesverfassungsgericht müsse es nicht hinnehmen, an der Erfüllung seiner Aufgaben durch erkennbei seinem Bevollmächtigten hinzuweisen, vgl. Beschluss eines Vorprüfungsausschusses vom 5. Dezember 1984 – 2 BvR 568/84 –, NVwZ 1985, S. 335 und Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 26. Juni 1986 – 2 BvR 523/86 –, NVwZ 1986, S. 822. 121 Eine statistische Erfassung erfolgt insoweit nicht. Auf die Internetseite des Bundesverfassungsgerichts sind sieben Entscheidungen aus dem Jahr 2012 eingestellt, in denen eine Missbrauchsgebühr auferlegt wurde. In sechs Fällen traf sie den Bevollmächtigten. 122 Vgl. nur BVerfGK 6, 219; 10, 94 (97); Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 27. April 2011 – 1 BvR 791/11 –, www.bverfg.de Rn. 6. 123 Vgl. Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 24. August 2010 – 1 BvR 1584/10 –, www.bverfg.de Rn. 4; Beschlüsse der 1. Kammer des Ersten Senats vom 8. Dezember 2010 – 1 BvR 2704/10 –, www.bverfg.de Rn. 3 und vom 27. April 2011 – 1 BvR 791/11 –, www.bverfg.de Rn. 3. 124 Vgl. Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 24. August 2010 – 1 BvR 1584/10 –, www.bverfg.de Rn. 7; Beschlüsse der 1. Kammer des Ersten Senats vom 8. Dezember 2010 – 1 BvR 2704/10 –, www.bverfg.de Rn. 6 und vom 27. April 2011 – 1 BvR 791/11 –, www.bverfg.de Rn. 7. 125 Beschluss vom 23. August 2010 – 1 BvR 1443/10 –, www.bverfg.de Rn. 14. 126 BVerfGK 10, 94 (97).
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bar substanzlose Verfassungsbeschwerden gehindert zu werden, wodurch anderen Bürgern der ihnen zukommende Grundrechtsschutz nur verzögert gewährt werden könne.127 Ob dieser Hinweis wirklich tragfähig ist, ist zu bezweifeln. Denn der Aufwand, den eine Entscheidung, mit der eine Missbrauchsgebühr auferlegt wird, wegen der Notwendigkeit einer Begründung der Entscheidung mit sich bringt, ist höher als der Aufwand im Falle einer unbegründeten Nichtannahmeentscheidung (vgl. § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG). 4. Eine einheitliche Praxis bei der Auferlegung von Missbrauchsgebühren kann nicht festgestellt werden. Es ist auch kaum vorstellbar, dass das Gericht eine solche entwickeln könnte. Ausschlaggebend dafür, ob in einem bestimmten Fall von dem Instrument Gebrauch gemacht wird, dürften insbesondere die Person des zuständigen Berichterstatters und die Person der wissenschaftlichen Mitarbeiterin oder des wissenschaftlichen Mitarbeiters sein, der für die erste Bearbeitung des Verfahrens zuständig ist. Die Beobachtung, die Auferlegung einer Missbrauchsgebühr sei „genau genommen … nur Ausdruck persönlicher Verärgerung“128, dürfte nicht gänzlich unberechtigt sein. Häufig dürfte die Auferlegung einer Missbrauchsgebühr „fällig“ sein, wenn die Unzufriedenheit darüber, schon wieder mit einem völlig substanzlosen Begehren konfrontiert zu sein, einmal wieder besonders ausgeprägt ist. 5. Die Höhe der auferlegten Gebühr liegt bei Rechtsanwälten in der Regel zwischen 300 und 1.000 Euro. Höhere Gebühren werden regelmäßig nur in besonders krassen Fällen auferlegt. Legt das Bundesverfassungsgericht der Beschwerdeführerin oder dem Beschwerdeführer selbst eine Gebühr auf, so bewegt sich deren Höhe zumeist im Bereich bis zu 300 Euro. Bei Strafgefangenen oder auf Sozialleistungen Angewiesenen129 werden nur vergleichsweise geringe Beträge gewählt. 6. Dass die Auferlegung von Missbrauchsgebühren einen Abschreckungseffekt hat und infolgedessen weniger offensichtlich aussichtslose Verfahren
127 Vgl. BVerfGK 6, 219; 10, 94 (97); Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 27. April 2011 – 1 BvR 791/11 –, www.bverfg.de Rn. 6. 128 Zuck, NJW 2013, S. 2248 (2249). 129 In einem nicht veröffentlichten Beschluss vom 3. Juli 2013 (1 BvR 1792/13) hat die 1. Kammer des Ersten Senats einem auf Leistungen der Sozialhilfe angewiesenen Beschwerdeführer, der sich häufig an das Bundesverfassungsgericht wendet, eine Missbrauchsgebühr in Höhe von 30 Euro auferlegt; sie hat darauf hingewiesen, dass dieser Umstand der Auferlegung einer Missbrauchsgebühr nicht entgegenstehe; er sei vielmehr bei der Höhe der Gebühr berücksichtigt. Eine entsprechende Überlegung dürfte der Auferlegung der Missbrauchsgebühren in den in Fn. 118 genannten Beschlüssen zugrunde liegen.
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eingehen, kann nicht festgestellt werden.130 Häufig verursacht sie auch einen umfangreichen nachgerichtlichen Schriftwechsel. Gelegentlich mündet sie sogar in ein verwaltungsgerichtliches Verfahren.131
130 Auch die gelegentlichen Pressemitteilungen, mit denen auf die Auferlegung von Missbrauchsgebühren hingewiesen worden ist (vgl. Nr. 138/2000 vom 24. Oktober 2000 [„Verhängung von Missbrauchsgebühren“], Nr. 38/2006 vom 18. Mai 2006 [„Verhängung einer Missbrauchsgebühr gegen Rechtsanwalt“], Nr. 52/2006 vom 14. Juni 2006 [„Erneut Verhängung einer Missbrauchsgebühr gegen einen Rechtsanwalt“] Nr. 6/2009 vom 27. Januar 2009 [„Verhängung einer Missbrauchsgebühr“] und Nr. 19/2010 vom 31. März 2010 [„Bundesverfassungsgericht verhängt Missbrauchsgebühr in zwei Fällen“]) dürften den mit ihrer Erstellung verbundenen Aufwand kaum lohnen. 131 Vgl. Beschluss des Ersten Senats vom 19. März 2013 – 1 BvR 2704/10 –, www. bverfg.de; insbesondere Rn. 10: „Gegen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts ist fachgerichtlicher Rechtsschutz ausgeschlossen. Auch eine durch den Senat festgesetzte Missbrauchsgebühr ist vor den Fachgerichten nicht anfechtbar. Für stattgebende oder nichtannehmende Entscheidungen der Kammer statuiert das Gesetz ebenfalls deren Unanfechtbarkeit (§ 93d Abs. 1 Satz 2 BVerfGG) und stellt damit klar, dass richterlicher Rechtsschutz gegen eine solche Entscheidung im Rahmen der nationalen Rechtsordnung nicht mehr gegeben ist.“
§ 93 BVerfGG und Subsidiarität der Urteilsverfassungsbeschwerde Mario von Häfen und Martin Kessen Leitentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (Senat) BVerfGE 107, 395 (Plenum) – Fachgerichtlicher Rechtsschutz BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 16. Juli 2013 – 1 BvR 3057/11 –, NJW 2013, 3506 ff. Wichtige Kammerentscheidungen BVerfGK BVerfGK BVerfGK BVerfG,
19, 23 19, 262 19, 424 Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 21. April 2013 – 1 BvR 423/11 –, juris BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 20. Mai 2013 – 1 BvR 1024/12 –, juris BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 30. Mai 2013 – 2 BvR 885/13 –, juris Schrifttum Allgayer, Auswirkungen des Anhörungsrügeverfahrens auf die Zulässigkeit von Verfassungsbeschwerden?, NJW 2013, S. 3484 ff; Pohlreich, Zur Fristvorwirkung der Verfassungsbeschwerde im strafgerichtlichen Verfahren, StV 2011, S. 574 ff.; Thiemann, Die Anhörungsrüge als Zulässigkeitsvoraussetzung der Verfassungsbeschwerde, DVBl 2012, S. 1420 ff. Inhalt I. II.
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde und Anhörungsrüge . . . . . . . . 1. Die Erschöpfung des Rechtswegs als Erfordernis der Subsidiarität . . . . 2. Die Anhörungsrüge als fachgerichtlicher Rechtsbehelf . . . . . . . . . . . a) Fachgerichtliche Anforderungen an die Anhörungsrüge . . . . . . . . b) Umfang und Grenzen der Notwendigkeit, eine Anhörungsrüge zu erheben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Eigenständige Gehörsverletzung durch die letztinstanzliche Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Erforderlichkeit einer Anhörungsrüge, wenn mit der Verfassungsbeschwerde keine Gehörsverletzung geltend gemacht wird . . . .
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cc) Entbehrlichkeit der Anhörungsrüge trotz Rüge einer Gehörsverletzung mit der Verfassungsbeschwerde . . . . . . . . . . . . dd) Zulässigkeitsbegründende Teilrücknahme der Verfassungsbeschwerde? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Monatsfrist der Verfassungsbeschwerde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Darlegung der Fristeinhaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Anhörungsrüge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Fortdauernde Darlegungsanforderungen beim „Parken im AR“ . . . . . 4. Fristloser Rechtsbehelf und sogenannte Fristvorwirkung . . . . . . . . 5. Fristbeginn bei Abwesenheit des Angeklagten in der strafrechtlichen Revisionshauptverhandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Fristwahrung, Subsidiarität und Anhörungsrüge – Resümee und Ausblick
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I. Einleitung Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde und die Einhaltung der Verfassungsbeschwerdefrist1 stehen in einem engen Zusammenhang. Einerseits muss der Beschwerdeführer – um dem aus § 90 Abs. 2 BVerfGG hergeleiteten2 Grundsatz der Subsidiarität zu genügen – den Rechtsweg ausschöpfen und daher eine Anhörungsrüge3 erheben, wenn er eine Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör geltend machen will, andererseits wird durch die Erhebung einer offensichtlich aussichtslosen Anhörungsrüge4 die Frist zur Erhebung der Verfassungsbeschwerde nicht offengehalten. Eine zu eifrige Beachtung des Subsidiaritätsgrundsatzes kann also zur Verfristung der Verfassungsbeschwerde führen; die Frage, ob eine Anhörungsrüge erhoben werden muss oder darf, ist daher genau zu prüfen. Es soll nicht verheimlicht werden, dass es einen Ausweg aus dieser Zwickmühle gibt, indem der Beschwerdeführer seine Verfassungsbeschwerde im sogenannten Allgemeinen Register „parkt“5. Dies schmälert die systema-
1 Vgl. für die sog. Urteilsverfassungsbeschwerde, die sich gegen alle Formen gerichtlicher Entscheidungen richtet, § 93 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG. 2 Vgl. BVerfGE 107, 395 (414); 112, 50 (60); 129, 78 (92). 3 Der Begriff Anhörungsrüge wird hier und im Nachfolgenden als Oberbegriff für alle in den Verfahrensordnungen vorgesehenen Rechtsbehelfe verwendet, mit denen eine Nachholung rechtlichen Gehörs ermöglicht wird (z.B. § 33a StPO, § 356a StPO, § 321a ZPO, § 152a VwGO, § 78a ArbGG, § 44 FamFG; § 178a SGG, § 133a FGO). 4 StRspr, vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 21. April 2013 – 1 BvR 423/11 –, juris Rn. 8: „Die Anhörungsrüge gehört jedoch dann nicht zum Rechtsweg, wenn sie von vornherein aussichtslos und damit unzumutbar war (…). Aussichtslos ist ein Rechtsbehelf von vornherein, wenn er offensichtlich unstatthaft oder unzulässig ist (…), also hinsichtlich der Unstatthaftigkeit oder Unzulässigkeit nach dem Stand von Rechtsprechung und Lehre keine Ungewissheit besteht (…)“. 5 Der gut beratene Beschwerdeführer wird bereits zeitgleich mit der Anhörungsrüge die Verfassungsbeschwerde einlegen und in dieser auf die Anhörungsrüge hinweisen. Die Ver-
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tische Bedeutung der Problematik allerdings nicht, die auch – weil von dieser Möglichkeit nur vereinzelt Gebrauch gemacht wird6 – weiterhin von hoher praktischer Relevanz ist; zudem ergeben sich hieraus Folgeprobleme, weil das Fristerfordernis des § 93 BVerfGG auch bei diesem Verfahren Bedeutung behält. Die mit dieser Thematik verbundenen Fragen stellen sich bei einem hohen Anteil der Urteilsverfassungsbeschwerden und sind bei nahezu jeder Verfassungsbeschwerde zu bedenken. Es verwundert daher nicht, dass sie wiederholt Gegenstand veröffentlichter Entscheidungen waren, und es erscheint geboten, die jüngsten Entwicklungen nachzuzeichnen und kritisch zu beleuchten. Die nachfolgende Darstellung will den Versuch unternehmen, die Zulässigkeitsvoraussetzungen „Frist“ und „Subsidiarität“ – insbesondere im Hinblick auf die Anhörungsrüge – gemeinsam anhand der neueren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts herauszuarbeiten.
II. Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde und Anhörungsrüge 1. Die Erschöpfung des Rechtswegs als Erfordernis der Subsidiarität Das Bundesverfassungsgericht hat aus dem Zulässigkeitserfordernis der Erschöpfung des Rechtswegs (§ 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG) einen allgemeinen Grundsatz der Subsidiarität abgeleitet7, der auch im Verfahren des ver-
fassungsbeschwerde wird in einem solchen Fall zunächst in das „Allgemeine Register“ des Bundesverfassungsgerichts eingetragen, wo sie ein „AR“-Aktenzeichen erhält. Die Verfassungsbeschwerde wird dort gleichsam „geparkt“, bis über die Anhörungsrüge entschieden und dies dem Bundesverfassungsgericht mitgeteilt ist. Danach wird die Sache in das Verfahrensregister umgeschrieben, dort mit einem „BvR“-Aktenzeichen versehen und anschließend einer Entscheidung durch die Kammer zugeführt. Auf diese Weise erübrigt sich die Prüfung, ob es erforderlich war, eine Anhörungsrüge zu erheben, oder ob es erforderlich war, dies nicht zu tun. Vgl. zu diesem Verfahren eingehend Gertler, Neuere Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Anhörungsrüge, in: Emmenegger/Wiedmann (Hrsg.), Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, Bd. 2, 2011, S. 53 (72), die in einem solchen Vorgehen eine unnötige Belastung für Bürger und Gerichte erblickt und stattdessen die Erhebung der Anhörungsrüge nur dann nicht für notwendig erachten will, wenn diese für den Beschwerdeführer erkennbar unzulässig ist. 6 Die Praxis zeigt, dass diese Möglichkeit – trotz wiederkehrender Hinweise durch die Literatur (vgl. Sperlich, in: Umbach/Clemens/Dollinger, BVerfGG, 2. Aufl. 2005, § 90 Rn. 123; O. Klein, in: Benda/Klein/Klein, Verfassungsprozessrecht, 3. Aufl., 2012, Rn. 580, 607; Lenz/Hansel, BVerfGG, 2013, § 90 Rn. 405 f.; O. Klein/Sennekamp, NJW 2007, S. 945 (955); Thiemann, DVBl 2012, S. 1420 (1426); Allgayer, NJW 2013, S. 3484 (3486)) – nicht allgemein bekannt ist. 7 StRspr, vgl. u.a. BVerfGE 107, 395 (414); 112, 50 (60).
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fassungsrechtlichen Eilrechtsschutzes gilt 8. Es ist daher grundsätzlich9 insbesondere10 erforderlich, sämtliche von der jeweiligen Verfahrensordnung vorgesehenen Rechtsbehelfe einzulegen, um eine geltend gemachte Verletzung von Grundrechten11 abzuwenden. Zum einen soll auf diese Weise das Bundesverfassungsgericht entlastet werden – es soll mit weniger und durch die vorherige fachgerichtliche Prüfung besser aufgearbeiteten Verfahren befasst werden12 – zum anderen wird hierdurch der Aufgabenverteilung zwischen Bundesverfassungsgericht und den in erster Linie zur Entscheidung berufenen Fachgerichten Rechnung getragen13. Obwohl diese Grundsätze seit Langem anerkannt sind, bestand auch nach der Veröffentlichung des letzten Bandes der Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts wieder Gelegenheit für das Gericht und hier insbesondere für die Kammern, Detailfragen wie auch Grundsätzliches zu klären.
8 StRspr, vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 9. Dezember 2009 – 2 BvQ 84/09 –, juris, sowie Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 6. Juni 2013 – 2 BvQ 26/13 –, juris, und Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 23. Oktober 2013 – 2 BvQ 42/13 –, juris. 9 Zu Ausnahmen, die im Wesentlichen aus der Unzumutbarkeit (vgl. BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 16. Juli 2013 – 1 BvR 3057/11 –, NJW 2013, S. 3506 (3508, Rn. 28 m.w.N.)) hergeleitet werden, vgl. BVerfGE 79, 275 (279). Zu nennen ist insbesondere die Aussichtslosigkeit der Anrufung der Fachgerichte im Hinblick auf eine entgegenstehende Rechtsprechung (vgl. BVerfGE 55, 154 (157); 70, 180 (186)), die allerdings sehr eng verstanden wird. 10 Neben dieser formellen Subsidiarität hat der Subsidiaritätsgrundsatz auch eine materielle Komponente, die es dem Beschwerdeführer abverlangen kann, bereits im fachgerichtlichen Verfahren durch eine verfassungsrechtliche Argumentation die Fachgerichte zu einer entsprechenden Prüfung anzuhalten (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 17. April 2013 – 2 BvR 2411/12 –, juris; eingehend: Buermeyer, Die Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde in Strafsachen, in: Rensen/Brink (Hrsg.), Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, Bd. 1, 2009, S. 35 (46 ff.)). Der Umfang dieser Obliegenheit ist allerdings umstritten, vgl. Bethge, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, § 90 Rn. 419 (März 2010). Das Bundesverfassungsgericht hat hierzu ausgeführt, eine verfassungsrechtliche Argumentation könne im fachgerichtlichen Verfahren zur Wahrung der Subsidiarität in Fällen geboten sein, „in denen bei verständiger Einschätzung der Rechtslage und der jeweiligen verfahrensrechtlichen Situation ein Begehren nur Aussicht auf Erfolg haben kann, wenn verfassungsrechtliche Erwägungen in das fachgerichtliche Verfahren eingeführt werden. Das ist insbesondere der Fall, soweit der Ausgang des Verfahrens von der Verfassungswidrigkeit einer Vorschrift abhängt [Zitate weggelassen] oder eine bestimmte Normauslegung angestrebt wird, die ohne verfassungsrechtliche Erwägungen nicht begründbar ist“ (BVerfGE 112, 50 (62)). 11 Der Begriff Grundrechte wird hier und im Folgenden als Oberbegriff sowohl für die Grundrechte im engeren Sinne als auch für die grundrechtsgleichen Rechte nach Art. 20 Abs. 4, Art. 33, 38, 101, 103 und 104 GG (vgl. Art. 93 Abs. 2 Nr. 4a GG) verwendet. 12 Vgl. zu diesen Zwecken u. a. BVerfGE 51, 130 (139); 79, 1 (20); 97, 157 (165); 102, 197 (207); 114, 258 (279 f.). 13 Vgl. BVerfGE 86, 382 (386 f.); 112, 50 (63).
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Zu den Details gehört, dass auch ein Antrag auf Urteilsergänzung (§ 321 Abs. 1 ZPO) zu den Mitteln zählt, die vorrangig ergriffen werden müssen, um eine gerügte Grundrechtsverletzung zu beseitigen14. Das Bundesverfassungsgericht hatte auch Gelegenheit, seine Rechtsprechung fortzuführen, dass zum Rechtsweg eines fachgerichtlichen Verfahrens auf Eilrechtsschutz die Durchführung des Hauptsacheverfahrens gehört15, wenn die gerügten Grundrechtsverletzungen sich auf die Hauptsache beziehen16, und dass der Subsidiaritätsgrundsatz es verlangen kann, eine materiellrechtliche Rüge bereits im fachgerichtlichen Beschwerdeverfahren zu erheben17. Das am 3. Dezember 2011 in Kraft getretene „Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren“18 gab Anlass klarzustellen, dass aus dem Subsidiaritätsgrundsatz die Obliegenheit folgt, eine Verzögerungsrüge (§ 198 Abs. 3 GVG) zu erheben, bevor vor dem Bundesverfassungsgericht eine überlange Verfahrensdauer gerügt werden kann19; war das Verfahren bereits abgeschlossen, kann die Erhebung einer Entschädigungsklage gemäß § 198 GVG erforderlich sein20. Das kann sogar dann gelten, wenn das Gesetz zum Zeitpunkt der Erhebung der Verfassungsbeschwerde noch nicht in Kraft war. Es versteht sich von selbst, dass die Zulässigkeit einer Verfassungsbeschwerde zum Zeitpunkt der Entscheidung zu beurteilen ist und daher nachträglich entfallen kann. Dies gilt aber nicht nur für den Fall, dass die Beschwer nachträglich wegfällt21, sondern bedeutet auch, dass der Beschwerdeführer fortwirkend
14 BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 20. Mai 2013 – 1 BvR 1024/12 –, juris. 15 BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 3. September 2013 – 1 BvR 1282/13 –, juris. 16 BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 17. September 2013 – 1 BvR 1278/13 –, juris. 17 BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 17. April 2013 – 2 BvR 2411/12 –, juris, sowie oben Fn. 10. Vgl. auch BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 5. November 2013 – 2 BvR 2132/12 –, juris Rn. 4 f., zu der aus dem Subsidiaritätsprinzip folgenden Obliegenheit, auf einen Hinweisbeschluss im fachgerichtlichen Verfahren Stellung zu nehmen. 18 BGBl I vom 2. Dezember 2011, S. 2302 ff., zum 1. Januar 2012 geändert durch Art. 1 Nr. 5, 6 des Gesetzes über die Besetzung der großen Straf- und Jugendkammern in der Hauptverhandlung und zur Änderung weiterer gerichtsverfassungsrechtlicher Vorschriften sowie des Bundesdisziplinargesetzes, BGBl I vom 13. Dezember 2011, S. 2554 (2555). 19 BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 6. Juni 2013 – 2 BvQ 26/13 –, juris; Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 21. Dezember 2011 – 1 BvQ 44/11 –, juris. 20 BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 21. Dezember 2011 – 1 BvQ 44/11 –, juris; Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 5. September 2013 – 1 BvR 2447/11 –, juris; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 28. Januar 2013 – 2 BvR 1912/12 –, juris. 21 Vgl. BVerfGE 81, 138 (140) m.w.N.
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darum bemüht sein muss, seine Beschwer ohne Inanspruchnahme des Bundesverfassungsgerichts zu beseitigen. Die 2. Kammer des Ersten Senats hat nach diesen Grundsätzen eine Verfassungsbeschwerde wegen Nichtbeachtung des Subsidiaritätsgrundsatzes nicht zur Entscheidung angenommen, weil der Beschwerdeführer die (nachträglich eingeräumte) Möglichkeit einer Klage auf Entschädigung – trotz eines Hinweises des Bundesverfassungsgerichts – nicht genutzt hat22. 2. Die Anhörungsrüge als fachgerichtlicher Rechtsbehelf Dass auch die Anhörungsrüge zu den Rechtsbehelfen gehört, zu denen die Verfassungsbeschwerde subsidiär ist, ist in den beiden ersten Bänden der Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ausführlich erörtert worden23. Es gehört daher – nach Auffassung der Autoren – inzwischen zum juristischen Allgemeinwissen, dass derjenige, der eine Verletzung des rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) rügen möchte, zuvor eine Anhörungsrüge erheben muss. Dies gilt allerdings nur im Grundsatz, der daher einer näheren Betrachtung zu unterziehen ist. a) Fachgerichtliche Anforderungen an die Anhörungsrüge Um der Subsidiarität zu genügen, muss die Anhörungsrüge fristgemäß24 und in gehöriger Form erhoben werden. Dabei ist insbesondere darauf zu achten, dass nicht nur die Nichtberücksichtigung von Vortrag oder das Fehlen eines Hinweises auf die deshalb überraschende Rechtsansicht des Gerichts gerügt wird, sondern auch dargelegt wird, warum dieser Vortrag erheblich ist beziehungsweise (bei einem unterlassenen Hinweis) dass Erhebliches vorgetragen worden wäre – mit anderen Worten: dass die angegriffene Entscheidung auf der Gehörsverletzung beruht25. Wird die Anhörungsrüge 22
BVerfGK 19, 424 (427). Vgl. Buermeyer, Die Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde in Strafsachen, in: Rensen/Brink (Hrsg.), Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, Bd. 1, 2009, S. 35 (41 ff.); Jost, Verfassungsprozessuale Probleme der Anhörungsrüge, in: Rensen/Brink (Hrsg.), Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, Bd. 1, 2009, S. 59 ff.; Gertler, Neuere Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Anhörungsrüge, in: Emmenegger/Wiedmann (Hrsg.), Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, Bd. 2, 2011, S. 53 ff. 24 Dies schließt es ein, im Fall einer unverschuldeten Versäumung der Frist Wiedereinsetzung zu beantragen, vgl. BVerfGE 10, 274 (281); 42, 252 (256 f.); 77, 275 (282); BVerfGK 8, 303 (306) sowie Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 7. August 2013 – 2 BvR 1412/13 –, juris. 25 Vgl. BVerfGE 28, 17 (19 f.); Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 28. November 2007 – 1 BvR 1655/05 –, juris. Zu den entsprechenden Anforderungen bei der Rüge einer Gehörsverletzung im Verfassungsbeschwerdeverfahren vgl. Vollkommer, in: Zöller, ZPO, 30. Aufl. 2014, § 321a Rn. 12; Meyer-Holz, in: Keidel, FamFG, 17. Aufl. 2011, § 44 23
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diesen Voraussetzungen nicht gerecht und ist sie deshalb offensichtlich unzulässig, kann sogar die Verhängung einer Missbrauchsgebühr drohen. Die 3. Kammer des Zweiten Senats hat von dieser Möglichkeit in einem Fall Gebrauch gemacht, in dem mit der Anhörungsrüge „schon ihrer äußeren Form nach über weite Strecken nur Fehler des Gerichts und Fehlverhalten der im fachgerichtlichen Verfahren Beklagten, [behauptet wurden], statt, wie es einer Gehörsrüge entspräche, jeweils darzulegen, was genau die Beschwerdeführerin dem Gericht vorgetragen hatte und woraus sich ergeben soll, dass dieser Vortrag nicht berücksichtigt wurde. Soweit es sich zumindest ansatzweise anders verhält, liegt großenteils auf der Hand, dass die Beschwerdeführerin den Inhalt des Anspruchs auf rechtliches Gehör verkennt, da sie die Nichtberücksichtigung von Vorbringen rügt, auf das das Gericht sehr wohl – nur nicht mit dem von der Beschwerdeführerin gewünschten Ergebnis – eingegangen ist“.26 Eine weitere häufige Fehlerquelle besteht im Hinblick auf die Rügefähigkeit einer mangelnden Begründungstiefe von Rechtserwägungen27. Nicht selten wird mit einer Anhörungsrüge geltend gemacht, das Gericht habe eine höchstgerichtliche Entscheidung – oder einzelne Passagen daraus – nicht zur Kenntnis genommen, obwohl auf diese hingewiesen worden sei. Häufig wird auch gerügt, das Gericht habe sich mit bestimmten Argumenten des Beschwerdeführers nicht oder jedenfalls nicht hinreichend auseinandergesetzt. Dies kann allerdings nur ausnahmsweise Anlass für eine Anhörungsrüge sein, denn die rechtliche Beurteilung ist allein Aufgabe des Gerichts, das nicht gehalten ist, in seiner Begründung auf jedes Argument der Parteien einzugehen28. Gleichwohl kann auch insoweit eine Obliegenheit zur Erhebung einer Anhörungsrüge bestehen. Die 3. Kammer des Zweiten Senats hat wegen einer unterlassenen Anhörungsrüge eine Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen, weil sich das Beschwerdegericht nicht zu den zentralen Einwänden des Beschwerdeführers geäußert hatte, „die Aussetzung einer Unterbringung zur Bewährung [dürfe] nicht mit einer Auflage oder Weisung verbunden werden (…), deren Einhaltung ausschließlich vom Verhalten Dritter abhängig ist“29. Obwohl in einem solchen Fall das Ausgangsgericht die Anhörungsrüge vermutlich dahin bescheiden wird, es Rn. 31; Guckelberger, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 3. Auflage 2010, § 152a Rn. 21; MeyerGoßner, StPO, 56. Aufl. 2013, § 356a Rn. 3. 26 BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 5. November 2013 – 2 BvR 2132/12 –, juris Rn. 3. 27 (Fehlerhafte) Rechtserwägungen können nicht zum Gegenstand einer Anhörungsrüge gemacht werden. Eine hierauf gestützte Anhörungsrüge ist offensichtlich unzulässig und kann die Beschwerdefrist nicht offenhalten, vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 21. April 2013 – 1 BvR 423/11 –, juris Rn. 14. 28 StRspr, vgl. BVerfGE 5, 22 (24); 96, 205 (216 f.); BVerfGK 19, 262 (264). 29 BVerfGK 19, 262 (264).
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habe diesen Rechtsvortrag zur Kenntnis genommen, ihn aber für unerheblich und eine gesonderte Bescheidung nicht für erforderlich gehalten, hat das Bundesverfassungsgericht die Erhebung einer Anhörungsrüge gleichwohl für zumutbar angesehen. Da hier aber das entgegengesetzte Ergebnis (die Aussichtslosigkeit der Anhörungsrüge mit der Folge, dass diese die Beschwerdefrist nicht unterbricht) ebenso denkbar ist, kann in solchen Fällen nur der Weg über das Allgemeine Register30 die Gewähr für die Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde bieten. b) Umfang und Grenzen der Notwendigkeit, eine Anhörungsrüge zu erheben Der Grundsatz, dass eine Verletzung von Art. 103 Abs. 1 GG nur nach Erhebung einer Anhörungsrüge mit einer Verfassungsbeschwerde geltend gemacht werden kann, gilt einerseits nicht uneingeschränkt, so dass – wiederum nach unserer nicht repräsentativen Einschätzung – es mehr Fälle gibt, in denen eine Anhörungsrüge unnötig erhoben worden ist, als solche, in denen eine erforderliche Anhörungsrüge unterlassen worden ist. Andererseits ist der Satz nicht abschließend, weil es Fälle geben kann, in denen eine Anhörungsrüge auch dann erhoben werden muss, wenn mit der Verfassungsbeschwerde eine Gehörsverletzung nicht geltend gemacht wird. In einer Entscheidung vom 16. Juli 201331 konnte der Erste Senat grundsätzlich dazu Stellung nehmen, unter welchen Umständen die Erhebung einer Anhörungsrüge geboten und wann sie entbehrlich ist. aa) Eigenständige Gehörsverletzung durch die letztinstanzliche Entscheidung Zunächst ist wegen eines weit verbreiteten Missverständnisses darauf hinzuweisen, dass für eine Anhörungsrüge nur dann Raum ist, wenn eine eigenständige Gehörsverletzung durch die letztinstanzliche Entscheidung geltend gemacht werden soll32. Hat das letztinstanzliche Gericht lediglich einer in der/den Vorinstanze(n) begangenen Gehörsverletzung nicht abgeholfen, weil es rechtsirrig eine solche nicht festgestellt hat (sog. perpetuierter Gehörsverstoß), kann durch eine Anhörungsrüge keine Abhilfe geschaffen werden. Macht ein Gericht von der ihm durch die Verfahrensordnung eingeräumten Möglichkeit, auf eine Begründung einer letztinstanzlichen Entscheidung zu
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Vgl. oben Fn. 5. BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 16. Juli 2013 – 1 BvR 3057/11 –, NJW 2013, 3506 ff. 32 Vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 21. April 2013 – 1 BvR 423/11 –, juris Rn. 10. 31
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verzichten,33 Gebrauch, so ist es kaum möglich, eine eigenständige Gehörsverletzung durch dieses Gericht aufzuzeigen34. Eine Anhörungsrüge ist hier nur dann erforderlich (und möglich), wenn (ausnahmsweise) Anhaltspunkte für eine eigenständige Gehörsverletzung bestehen35. Da sich solche kaum aus dem Inhalt der Entscheidung ergeben können, ist insofern insbesondere an solche Fälle zu denken, in denen zu erkennen ist, dass ein Schriftsatz, obwohl rechtzeitig eingereicht, nicht zur Akte gelangt ist. Die Frage, ob eine Anhörungsrüge die Einlegungsfrist offenhalten kann, stellt sich jedoch nicht nur in den Fällen, in denen ein Beschwerdeführer erstmalig diesen Rechtsbehelf erhebt. So hatte das Bundesverfassungsgericht darüber zu entscheiden, ob diese Wirkung auch bei solchen Sachverhalten eintreten kann, in denen gegen einen Beschluss, mit dem eine Gehörsrüge zurückgewiesen wurde, eine erneute Anhörungsrüge eingelegt wird. Die 3. Kammer des Zweiten Senats lehnte eine fristwahrende Einlegung der wiederholten Gehörsrüge ab, weil eine solche „zweite“ Anhörungsrüge bereits einfachrechtlich unstatthaft und damit offensichtlich unzulässig ist.36 bb) Erforderlichkeit einer Anhörungsrüge, wenn mit der Verfassungsbeschwerde keine Gehörsverletzung geltend gemacht wird Die Erhebung einer Anhörungsrüge kann auch dann erforderlich sein, wenn der Beschwerdeführer mit der Verfassungsbeschwerde keine Gehörsverletzung geltend macht37. Dies mag auf den ersten Blick überraschen, betrifft aber insbesondere solche Fälle, in denen der Beschwerdeführer zwar nicht ausdrücklich, „der Sache nach“ aber gleichwohl eine Verletzung von Art. 103 Abs. 1 GG rügt und die (ausdrücklich) geltend gemachten Grundrechtsverletzungen in einem Anhörungsrügeverfahren hätten beseitigt werden können38. Es handelt sich also letztlich um Missbrauchsfälle, in denen der Beschwerdeführer seine Verfassungsbeschwerde lediglich deshalb nicht (auch) auf eine Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör stützt, weil er die Erhebung einer Anhörungsrüge versäumt hat. Soweit an dieser Rechtsprechung kritisiert wird, der Zugang zur Verfassungsbeschwerde werde hierdurch unzumutbar erschwert, weil es dem Be33 So etwa § 544 Abs. 4 Satz 2 Hs. 2 ZPO für die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision. 34 Vgl. BVerfGK 18, 301 (306). 35 Vgl. BVerfGK 18, 301 (307). 36 Vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 26. April 2011 – 2 BvR 597/11 –, juris Rn. 4 f. 37 BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 16. Juli 2013 – 1 BvR 3057/11 –, NJW 2013, 3506 (3507, Rn. 27). Kritisch zu der entsprechenden vorherigen Kammerrechtsprechung Thiemann, DVBl 2012, S. 1420 (1424 ff.). 38 BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 16. Juli 2013 – 1 BvR 3057/11 –, NJW 2013, 3506 (3508, Rn. 29); BVerfGK 19, 23 (24).
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schwerdeführer „auferlegt“ werde, „‚seinen‘ Fall vor Erhebung einer Verfassungsbeschwerde darauf ‚durchzumustern‘, ob nicht möglicherweise eine Gehörsverletzung vorliegt“39, erscheint dies wenig überzeugend. Denn es wird jedem Beschwerdeführer abverlangt, seinen Fall präzise zu durchdenken, aufzuzeigen, mit welchen verfassungsrechtlichen Anforderungen die angegriffene Maßnahme kollidiert40 und inwieweit durch die angegriffene Maßnahme das bezeichnete Grundrecht verletzt sein soll41; er muss obendrein die einfachgesetzliche Rechtslage darstellen und sich mit der einschlägigen verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung auseinandersetzen42. Dass die Verfassungsbeschwerde „jedermann“ offensteht, bedeutet infolgedessen nicht, dass auch jedermann ohne Inanspruchnahme fachlicher Hilfe in der Lage wäre, eine Verfassungsbeschwerde in einer § 23 Abs. 1 Satz 2, § 92 BVerfGG genügenden Weise zu begründen. Entsprechendes gilt bereits im fachgerichtlichen Verfahren43, und es ist schwerlich einzusehen, warum insofern für das Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht anderes gelten sollte. Gerade wenn man der Dispositionsbefugnis des Beschwerdeführers eine hohe Bedeutung beimisst44, ist für die Ausübung dieses Rechts eine eingehende Auseinandersetzung mit der angefochtenen Entscheidung erforderlich – einschließlich der Frage, ob diese den Vortrag des Beschwerdeführers im fachgerichtlichen Verfahren vollständig berücksichtigt hat. Anderenfalls droht dem Beschwerdeführer eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, die ebenfalls seinem Vortrag nicht gerecht wird und damit letztlich an der Sache vorbeigeht. Etwas anderes kann nur dann gelten, wenn der Beschwerdeführer die tatsächlichen Feststellungen der Fachgerichte ausdrücklich hinnimmt – in einem solchen Fall könnte er sein Begehren aber auch durch ein Anhörungsrügeverfahren nicht erreichen und wäre von der kritisierten Rechtsprechung ohnehin nicht betroffen.
39 So Thiemann, DVBl 2012, S. 1420 (1424) zur früheren gleichlautenden Kammerrechtsprechung. 40 Vgl. BVerfGE 108, 370 (386). 41 Vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 14. Dezember 2011 – 1430/11 –, juris Rn. 3. 42 Vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 4. Mai 2011 – 1 BvR 1502/08 –, juris Rn. 19 m.w.N. 43 Man denke nur an die Anforderungen an die Begründung einer Revision, namentlich einer Verfahrensrüge im strafprozessrechtlichen Revisionsverfahren oder eines Wiederaufnahmeantrags, die jeweils zu Protokoll der Geschäftsstelle erklärt werden können (§ 345 Abs. 2 bzw. § 366 Abs. 2 StPO). 44 Vgl. Thiemann, DVBl 2012, S. 1420 (1425).
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cc) Entbehrlichkeit der Anhörungsrüge trotz Rüge einer Gehörsverletzung mit der Verfassungsbeschwerde Neben den Fällen, in denen keine Gehörsverletzung durch das letztinstanzliche Gericht, sondern geltend gemacht wird, dass dieses einer vorangegangenen Verletzung von Art. 103 Abs. 1 GG nicht abgeholfen und diese vielmehr perpetuiert hat45, bedarf es einer Anhörungsrüge auch dann nicht, wenn der Beschwerdeführer zwar Art. 103 Abs. 1 GG namentlich als verletzt bezeichnet, Inhalt und Grenzen dieses Grundrechts aber verkennt und der Sache nach die Verletzung eines anderen Rechts geltend macht46. Dabei kommt insbesondere das Recht auf effektiven Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG) in Betracht, das es – soweit die Verfahrensordnungen Rechtsbehelfe vorsehen – verbietet, den Zugang zu diesen Rechtsbehelfen durch überhöhte Zulässigkeitsvoraussetzungen unangemessen einzuschränken und hierdurch diese Rechtsbehelfe uneffektiv zu machen47. Nicht wenige Beschwerdeführer halten in einem solchen Fall (auch) Art. 103 Abs. 1 GG für verletzt, weil das Rechtsmittelgericht ihren Vortrag zur Begründetheit nicht geprüft hat. Eine Anhörungsrüge, die keine Aussicht auf Erfolg hätte, weil sie auf eine bloße Überprüfung der rechtlichen Ansicht des Rechtsmittelgerichts zu den Zulässigkeitsvoraussetzungen hinausliefe, ist entbehrlich48; die falsche Bezeichnung des verletzten Rechts in der Verfassungsbeschwerde ändert an diesem Befund nichts und ist auch für das Verfassungsbeschwerdeverfahren unschädlich, weil das Bundesverfassungsgericht seine Prüfung nicht auf die namentlich bezeichneten Grundrechte beschränkt, sondern prüft, welches Grundrecht nach der Begründung der Verfassungsbeschwerde tatsächlich gemeint ist49. dd) Zulässigkeitsbegründende Teilrücknahme der Verfassungsbeschwerde? Schwieriger einzuordnen sind die Erörterungen in der jüngsten Entscheidung des Ersten Senats dazu, dass eine – mangels Erhebung einer Anhörungsrüge unzulässige – Verfassungsbeschwerde dadurch zulässig werden kann, dass Teile der ursprünglich erhobenen Rügen zurückgenommen wer45
Vgl. hierzu oben II. 2. b) aa). Vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 21. April 2013 – 1 BvR 423/11 –, juris Rn. 11. 47 Vgl. BVerfGE 125, 104 (137); BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 1. August 2013 – 1 BvR 2515/12 –, juris Rn. 10. 48 Sie wird zugleich im Hinblick auf die Fristwahrung schädlich sein, weil sie offensichtlich ohne Aussicht auf Erfolg wäre. 49 Vgl. eingehend O. Klein, Der Streitgegenstand der Verfassungsbeschwerde, in: Rensen/Brink (Hrsg.), Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, Bd. 1, 2009, S. 83 (95 f.). 46
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den. Mit diesen Ausführungen50 bezieht sich der Senat auf eine frühere Entscheidung, in der es hieß:51 „Jedenfalls ein nicht anwaltlich beratener Beschwerdeführer kann nicht auf die Erhebung einer Anhörungsrüge verwiesen werden, wenn er in der Verfassungsbeschwerde zwar Art. 103 Abs. 1 GG als verletztes Verfassungsrecht benennt, der Sache nach aber keine Gehörsverletzung, sondern unzureichenden Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 4 GG) rügt“.
Der Erste Senat hatte dies damals damit begründet, es sei unter diesen Umständen auszuschließen, dass eine Anhörungsrüge die geltend gemachte Grundrechtsverletzung beseitigt hätte, und offensichtlich aussichtslose fachgerichtliche Rechtsbehelfe müssten auch unter Berücksichtigung der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde nicht erhoben werden52, wobei offengeblieben war, warum dies nur „jedenfalls“ für nicht anwaltlich beratene Beschwerdeführer gelten sollte und ob anwaltlich beratenen Beschwerdeführern dagegen die Einlegung auch aussichtsloser Rechtsbehelfe abverlangt wird. Nach den oben dargestellten Grundsätzen wird die Verfassungsbeschwerde in einem solchen Fall allerdings nicht nachträglich zulässig, sondern war dies von Anfang an, weil die Erhebung einer Anhörungsrüge von vornherein nicht erforderlich war (vielmehr im Hinblick auf die Beschwerdefrist schädlich gewesen wäre) und das Bundesverfassungsgericht nicht daran gebunden ist, den als verletzt bezeichneten Art. 103 Abs. 1 GG zu prüfen, sondern ohnehin die Grundrechte hätte prüfen müssen, deren Verletzung der Beschwerdeführer „der Sache nach“ geltend macht53. Da diese Grundsätze in der Senatsentscheidung ausdrücklich anerkannt worden sind54, ist ein praktischer Anwendungsfall für die zulässigkeitsbegründende Teilrücknahme einer Verfassungsbeschwerde kaum vorstellbar.
III. Monatsfrist der Verfassungsbeschwerde 1. Darlegung der Fristeinhaltung Ein Beschwerdeführer muss die Monatsfrist des § 93 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG nicht nur einhalten, sondern diesen Umstand (sofern er nicht beispielsweise durch einen auf der angefochtenen Entscheidung aufgedruckten
50 BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 16. Juli 2013 – 1 BvR 3057/11 –, NJW 2013, 3506 (3507, Rn. 23). 51 BVerfGE 126, 1 (18). 52 BVerfGE 126, 1 (18). 53 Vgl. BVerfGK 19, 23 (24). 54 Vgl. BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 16. Juli 2013 – 1 BvR 3057/11 –, NJW 2013, 3506 (3507, Rn. 23).
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Kanzleieingangsstempel offensichtlich belegt ist) durch weiteren Sachvortrag darlegen.55 Dabei wird es im Regelfall nicht schwierig sein, den Zeitpunkt mitzuteilen, an dem der Beschwerdeführer und/oder sein Bevollmächtigter Kenntnis von der angefochtenen Entscheidung erhalten hat/haben. Unterlässt der Beschwerdeführer jedoch in nicht offensichtlichen Fällen diese Angabe, wird er – soweit die Verfassungsbeschwerde nicht schon aus anderen Gründen augenscheinlich unzulässig oder unbegründet ist – im Regelfall spätestens vom Berichterstatter mit einem Schreiben auf dieses Versäumnis hingewiesen und erhält auf diesem Weg Gelegenheit, seinen Vortrag zu ergänzen. Nutzt der Beschwerdeführer diese Möglichkeit nicht, führt dies zur Nichtannahme der Verfassungsbeschwerde wegen Unzulässigkeit. Der Beschwerdeführer, der eine Stellungnahme abzugeben beabsichtigt, muss sein Augenmerk darauf richten, dass der Inhalt Substanz aufweist. Geht ein Antwortschreiben beim Gericht ein, enthält der angemahnte ergänzende Vortrag jedoch keine zureichende Antwort auf die Frage des Bekanntgabezeitpunktes, sondern lässt beispielsweise durch widersprüchliche Schilderungen begründete Zweifel an der Fristwahrung aufkommen, kann dies über die für den Beschwerdeführer enttäuschende Nichtannahme der Verfassungsbeschwerde wegen Unzulässigkeit hinaus obendrein die unliebsame Auferlegung einer Missbrauchsgebühr nach § 34 Abs. 2 BVerfGG zur Folge haben.56 2. Anhörungsrüge Das Bundesverfassungsgericht hat mit seiner Plenumsentscheidung vom 30. April 2003 – 1 PBvU 1/02 –57 den Gesetzgeber dazu angehalten, für Fälle von entscheidungserheblichen Gehörsverletzungen eine fachgerichtliche Abhilfemöglichkeit zu schaffen. Die aufgezeigte Rechtsschutzlücke ist vom Gesetzgeber daraufhin durch die Einführung entsprechender Regelungen in den verschiedenen Prozessordnungen geschlossen worden.58 Mit der Anhörungsrüge als neuem Rechtsbehelf stellte sich im Verfassungsbeschwerdeverfahren die Frage, zu welchem Zeitpunkt die Einlegungsfrist von § 93 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG zu laufen beginnt. Sollte es weiterhin auf die eigentlich angegriffene fachgerichtliche Entscheidung ankommen
55 Vgl. Magen, in: Umbach/Clemens/Dollinger, BVerfGG, 2. Aufl. 2005, § 92 Rn. 19; Hömig, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, § 92 Rn. 32 (Mai 2011). 56 Vgl. BVerfG, Beschlüsse der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 11. Juli 2012 – 2 BvR 1142/12 –, vom 26. September 2012 – 2 BvR 1586/12 – und vom 30. Mai 2013 – 2 BvR 885/13 –, jeweils juris. 57 BVerfGE 107, 395. 58 Vgl. z.B. § 33a StPO, § 356a StPO, § 321a ZPO, § 152a VwGO, § 78a ArbGG, § 44 FamFG, § 178a SGG, § 133a FGO.
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oder die Bekanntgabe der Entscheidung über die Gehörsrüge das fristauslösende Ereignis darstellen? Das Bundesverfassungsgericht hat diese Frage dahin beantwortet, dass die Entscheidung über die fachgerichtliche Anhörungsrüge nur dann maßgeblich ist oder – mit anderen Worten – die Monatsfrist nur dann offenhalten kann, wenn der Rechtsbehelf zur für die Verfassungsbeschwerde grundsätzlich59 notwendigen Erschöpfung des Rechtsweges gehört. Das wiederum ist nur dann der Fall, wenn die Gehörsrüge nicht offensichtlich unzulässig oder aussichtslos ist.60 3. Fortdauernde Darlegungsanforderungen beim „Parken im AR“ Der Beschwerdeführer, der im Anschluss an die aus seiner Sicht nachteilige fachgerichtliche Entscheidung zutreffend – beziehungsweise aus Sicht des Bundesverfassungsgerichts zulässig – eine Anhörungsrüge erhoben und zur Vermeidung von Fristproblemen parallel beim Bundesverfassungsgericht die Verfassungsbeschwerde eingereicht hat, kann sich gleichwohl noch immer nicht in dem Glauben entspannt zurücklehnen, mit dem „Parken im AR“ alles Notwendige getan zu haben, um eine der ersten Hürden für eine zulässige Verfassungsbeschwerde genommen zu haben. Denn der Beschwerdeführer muss darüber hinaus im Blick haben, dass eine Verfassungsbeschwerde nicht nur innerhalb der Monatsfrist einzulegen, sondern nach § 93 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG auch binnen dieser Frist zu begründen ist61. Er muss daher innerhalb der Monatsfrist darlegen, dass der Rechtsweg erschöpft und die erstrebte Korrektur des gerügten Verfassungsverstoßes im fachgerichtlichen Verfahren unterblieben ist.62 Soweit hierfür die Erhebung einer Anhörungsrüge erforderlich gewesen sein sollte, ist der Beschwerdeführer vor dem Hintergrund der Rechtswegerschöpfung zur fristgemäßen Begründung der Verfassungsbeschwerde demnach gehalten, dem Bundesverfassungsgericht die Entscheidung über die Anhörungsrüge innerhalb der Frist des § 93 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG mitzuteilen, das heißt spätestens einen Monat nach Zu-
59 Die nach § 90 Abs. 2 S. 2 BVerfGG vorgesehene Möglichkeit der Vorabentscheidung kommt in der Praxis eher selten vor. 60 Vgl. hierzu im Einzelnen oben I. sowie unten IV. 61 Auch eine Erweiterung der Verfassungsbeschwerde ist nach Ablauf dieser Frist nicht mehr möglich, insbesondere kann neuer Sachverhalt nach Ablauf der Beschwerdefrist nicht mehr zum Gegenstand einer Verfassungsbeschwerde gemacht werden (vgl. BVerfGE 127, 87 (110); BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 20. Mai 2013 – 1 BvR 1024/12 –, juris Rn. 5). 62 Vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 6. Dezember 2011 – 1 BvR 1681/11 –, juris Rn. 4; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 30. Mai 2013 – 2 BvR 885/13 –, juris Rn. 2.
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gang.63 Dies gilt unabhängig davon, ob der Beschwerdeführer – über die eigentliche fachgerichtliche Entscheidung hinaus – ergänzend auch den Beschluss über die Anhörungsrüge angreifen will oder nicht.64 So wie in den bereits oben beschriebenen Fällen, in denen die Einhaltung der Monatsfrist des § 93 Abs. 1 BVerfGG nicht offensichtlich ist, ein Beschwerdeführer unaufgefordert mitteilen muss, wann ihm die angefochtene Entscheidung zugegangen ist65, hat er dem Gericht beim „Parken im AR“ in Zweifelsfällen das Zugangsdatum der Entscheidung über die Anhörungsrüge darzulegen. Denn ohne diese Angabe ist es dem Bundesverfassungsgericht dort wie hier nicht möglich, die Einhaltung der Monatsfrist des § 93 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG zu prüfen, was zur Unzulässigkeit führt.66 4. Fristloser Rechtsbehelf und sogenannte Fristvorwirkung Eine in der Literatur regelmäßig wiederkehrend behandelte Fallgestaltung beschäftigt sich mit der Frage, wann die Monatsfrist des § 93 Abs. 1 BVerfGG zu laufen beginnt, wenn vor Erhebung der Verfassungsbeschwerde ein fachgerichtlicher Rechtsbehelf eingelegt wurde, der selbst keiner Frist unterliegt.67 In der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts spielt diese Frage zwar spätestens seit den vom Gesetzgeber geschaffenen fachgerichtlichen Anhörungsrügeverfahren eine eher untergeordnete Rolle, weil diese im Regelfall fristgebunden ausgestaltet sind.68 Das Problem stellt sich indes weiterhin bei der Anhörungsrüge nach § 33a StPO. Ein Verfassungsbeschwerdeführer, der beispielsweise anlässlich eines im Rahmen von strafrechtlichen Ermittlungsmaßnahmen geführten Beschwerdeverfahrens eine Gehörsverletzung durch das Fachgericht beanstandet, wäre mittels einer verzögerten Rügeerhebung in der Lage, die Einlegungsfrist für
63 Vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 6. Dezember 2011 – 1 BvR 1681/11 –; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 30. Mai 2013 – 2 BvR 885/13 –, jeweils juris. 64 Vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 14. November 2012 – 2 BvR 2915/10 –, juris Rn. 3; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 30. Mai 2013 – 2 BvR 885/13 –, juris Rn. 2. 65 Vgl. die Ausführungen oben unter III. 1.). 66 Vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 14. November 2012 – 2 BvR 2915/10 –, juris Rn. 3; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 30. Mai 2013 – 2 BvR 885/13 –, juris Rn. 2. 67 Vgl. Lenz/Hansel, BVerfGG, 2013, § 93 Rn. 20; Lübbe-Wolff, EuGRZ 2004, S. 669 (673); Klein/Sennekamp, NJW 2007, S. 945 (954); Buermeyer, Die Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde in Strafsachen, in: Rensen/Brink (Hrsg.), Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, Bd. 1, 2009, S. 35 (44); Pohlreich, StV 2011, S. 574; Thiemann, DVBl 2012, S. 1420 (1423). 68 Vgl. zur Rechtsprechung vor Einführung der Anhörungsrüge die umfangreichen Nachweise bei: Lübbe-Wolff, EuGRZ 2004, S. 669 (673).
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das Verfassungsbeschwerdeverfahren so zu beeinflussen, dass diese möglicherweise erst viele Monate nach der im fachgerichtlichen Verfahren ergangenen und eigentlich von ihm angegriffenen Entscheidung zu laufen beginnt. Ebenso wäre es möglich, dass ein Beschwerdeführer, dessen Verfassungsbeschwerde deshalb nicht zur Entscheidung angenommen worden und erfolglos geblieben ist, weil das Bundesverfassungsgericht das Nichteinlegen einer nicht offensichtlich aussichtslosen Anhörungsrüge beanstandet hat, genau diese fehlende Anhörungsrüge vor dem Fachgericht nachholt.69 Auch wenn Entscheidungen des Gerichts – wohl – vor dem Hintergrund der nunmehr weitestgehend fristgebundenen Rechtsbehelfe selten geworden sind, lässt sich feststellen, dass das Bundesverfassungsgericht an dem Grundsatz festzuhalten scheint, die Monatsfrist werde nur dann offengehalten, wenn der nicht befristete Rechtsbehelf innerhalb der für das Verfassungsbeschwerdeverfahren geltenden Einlegungsfrist erhoben wird.70 Dieses nach zutreffender Ansicht richtige Ergebnis fügt sich mit dem durch die Einlegungsfrist für die Verfassungsbeschwerde verfolgten Ziel, „im Interesse der Rechtssicherheit und des Rechtsfriedens … dieses Verfahren nicht endlos hinauszuzögern“.71 5. Fristbeginn bei Abwesenheit des Angeklagten in der strafrechtlichen Revisionshauptverhandlung Weitgehend72 ungeklärt ist bislang die Frage, wann die Einlegungsfrist für die Verfassungsbeschwerde gegen ein strafrechtliches Revisionsurteil zu lau69 Vgl. Jost, Verfassungsprozessuale Probleme der Anhörungsrüge, in: Rensen/Brink (Hrsg.), Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, Bd. 1, 2009, S. 59 (68). 70 Vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 25. November 2009 – 1 BvR 2464/09 –, juris Rn. 2 (zur Erinnerung nach § 6 Abs. 2 BerHG); BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 9. Februar 2012 – 1 BvR 289/12 –, juris Rn. 10 (wobei in nicht die Entscheidung tragenden Ausführungen auf die Gegenvorstellung eingegangen wird). 71 Hömig, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, § 93 BVerfGG Rn. 37; so i.E. auch: O. Klein, in: Benda/Klein/Klein, Verfassungsprozessrecht, 3. Aufl., 2012, Rn. 604; Klein/Sennekamp, NJW 2007, S. 945 (954); Thiemann, DVBl 2012, S. 1420 (1423); a.A. Lenz/Hansel, BVerfGG, 2013, § 93 Rn. 20; Buermeyer, a.a.O. (Fn. 67), S. 44; Pohlreich, StV 2011, S. 574. 72 Soweit ersichtlich lag der Entscheidung des Ersten Senats vom 14. April 1970 – BVerfGE 28, 151 (159) – ein nicht vergleichbarer Sachverhalt vor. Der Verfassungsbeschwerde ging ein freisprechendes Strafurteil voraus und der nicht einen Antrag nach § 93 Abs. 1 S. 3 BVerfGG stellende Beschwerdeführer sah sich durch die schriftlichen Gründe beschwert. In der Entscheidung der 1. Kammer des Ersten Senats vom 1. März 2010 – 1 BvR 249/10 –, juris, hatte die Kammer die Verfassungsbeschwerde wegen Unzulässigkeit nicht zur Entscheidung angenommen, weil die Beschwerdeführer ihre Abwesenheit bei Verkündung des Urteils nicht dargelegt hatten. Die (knappen) Ausführungen für den Fall, dass die Beschwerdeführer abwesend waren, können daher nur als obiter dictum verstanden werden.
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fen beginnt, wenn der Beschwerdeführer bei der Verkündung zwar nicht selbst, wohl aber sein Verteidiger anwesend ist. Die Problemstellung wird verständlicher, wenn man sich das „Grundgerüst“ vor Augen führt: Die Verfassungsbeschwerde ist nach § 93 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG binnen eines Monats zu erheben und zu begründen. Diese Frist beginnt im Falle eines Revisionsbeschlusses (§ 349 StPO) nach § 93 Abs. 1 Satz 2 BVerfGG dann zu laufen, wenn dem Beschwerdeführer die gemäß § 35 Abs. 2 Satz 2 StPO ausreichende formlose Mitteilung der Entscheidung zugegangen ist. Anders ist der Fristbeginn zu beurteilen, wenn der Strafsenat nach mündlicher Verhandlung gemäß § 356 StPO ein Revisionsurteil verkündet. In diesen Fällen beginnt die Monatsfrist nach § 93 Abs. 1 Satz 3 BVerfGG bereits mit der Urteilsverkündung. Auch wenn die Revisionsverhandlung in der strafrechtlichen Praxis eher selten stattfindet73 und dabei in Anbetracht der Vorschrift des § 350 Abs. 2 Satz 2 StPO die Anwesenheit des Angeklagten eher die Ausnahme sein dürfte, sollen die Fälle, in denen der Angeklagte durch einen Verteidiger vertreten war, gleichwohl einer näheren Betrachtung unterzogen werden. In solchen Konstellationen stellt sich die Frage, ob für den Lauf der Frist erst das spätere Zustellungsdatum oder bereits der Tag der Verkündung entscheidend ist. Hierfür ist maßgeblich, ob die Strafprozessordnung eine im Sinne von § 93 Abs. 1 Satz 2 BVerfGG einfachgesetzliche Regelung der Zustellung oder formlosen Mitteilung der Entscheidung von Amts wegen vorsieht. Dies ist für den hier untersuchten Fall zu verneinen. Nach § 35 Abs. 1 StPO werden Entscheidungen durch Verkündung bekanntgemacht, soweit der Betroffene anwesend ist. Bei Nichtanwesenheit erfolgt die Bekanntmachung nach § 35 Abs. 2 StPO durch Zustellung oder formlose Mitteilung. In unserem Beispielsfall war der Beschwerdeführer selbst zwar nicht zugegen. Es stellt sich aber die Frage, ob die Anwesenheit seines Verteidigers für eine Bekanntmachung durch Verkündung nach § 35 Abs. 1 StPO genügen kann. Hierfür sprechen die in § 314 Abs. 2, 2. Halbsatz StPO für die Einlegung der Berufung und die in § 341 Abs. 2, 2. Halbsatz StPO für die Revisionseinlegung getroffenen Regelungen, nach denen in gesondert aufgezählten Fällen der Abwesenheit des Angeklagten (§ 234, § 387 Abs. 1, § 411 Abs. 2 und § 434 Abs. 1 Satz 1 StPO) die Berufungs- beziehungsweise Revisionseinlegungsfrist mit der Urteilsverkündung beginnt, wenn der Betroffene durch einen mit schriftlicher Vollmacht versehenen Verteidiger vertreten war.74 73 Beim BGH in ca. 5 % der Revisionsverfahren (vgl. die Angaben unter: http://www. bundesgerichtshof.de/DE/BGH/AufgabeOrganisation/Verfahren/verfahren.html, Stand 5. Dezember 2013). 74 Zum Zeitpunkt der Entscheidung der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 9. Oktober 2003 – 2 BvR 1351/03 –, juris, – danach beginnt die Frist bei Verkündung in Abwesenheit
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Die Regelung des § 350 Abs. 2 Satz 1 StPO gestattet für die Revisionsverhandlung, zu der der Betroffene nicht erscheinen muss aber kann, ebenfalls eine Vertretung durch einen schriftlich bevollmächtigten Verteidiger. Aus diesen Vorschriften lässt sich einfachrechtlich für die Strafprozessordnung – soweit die Ingangsetzung von Rechtsbehelfsfristen in Rede steht – auf ein Repräsentationsprinzip schließen: Der Betroffene gilt als anwesend, wenn er durch einen schriftlich bevollmächtigten Verteidiger vertreten ist. Dies hat zur Folge, dass in unserer Sachverhaltskonstellation richtigerweise die Einlegungsfrist bereits mit Verkündung des Urteils zu laufen beginnt und nicht erst mit dem Zugang der schriftlichen Entscheidung – sei es im Wege förmlicher Zustellung oder formloser Mitteilung.75 Diesem Ergebnis stehen keine schutzwürdigen Interessen des Betroffenen entgegen. Dass sich der Beschwerdeführer zur Begründung seiner Verfassungsbeschwerde mit den schriftlichen Urteilsgründen auseinander setzen muss, was naturgemäß erst nach Vorliegen eines solchen Urteils möglich ist, hindert nicht die Annahme einer fristauslösenden Verkündung bei Anwesenheit des Verteidigers. Nach § 93 Abs. 1 Satz 3 2. Halbsatz BVerfGG kann der Beschwerdeführer den Lauf der Einlegungsfrist dadurch unterbrechen, dass er – innerhalb der Monatsfrist76 – beim Fachgericht die Erteilung einer in vollständiger Form abgefassten Entscheidung beantragt.
IV. Fristwahrung, Subsidiarität und Anhörungsrüge – Resümee und Ausblick Wie gezeigt, kann die Erhebung einer Anhörungsrüge in manchen Fällen zwingend erforderlich und in anderen im Hinblick auf die zu wahrende Beschwerdefrist schädlich sein. Letzteres gilt, wenn die Anhörungsrüge offensichtlich aussichtslos war. Diese auf die „Aussichtslosigkeit“ abstellende Rechtsprechung ist nicht ohne Kritik in der Literatur geblieben. So lasse sich nicht zwischen offensichtlich aussichtslosen und nur einfach unbegründeten Anhörungsrügen sinnvoll unterscheiden.77 Überdies gewähre sich das Bundesverfassungsgericht bei der Beurteilung der Offensichtlichkeit einen für des Angeklagten mit der formlosen Mitteilung an den Verteidiger – waren diese Vorschriften noch nicht in Kraft. Sie wurden erst durch das Erste Gesetz zur Modernisierung der Justiz (1. Justizmodernisierungsgesetz) vom 24. August 2004 (BGBl. I, S. 2198 (2202 f.)) eingeführt. 75 Entgegen: Hömig, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, § 93 BVerfGG Rn. 20 (Stand: Juli 2013); Lenz/Hensel, BVerfGG, 2013, § 93 Rn. 32; Jahn, in: Jahn/Krehl/Löffelmann/Güntge, Die Verfassungsbeschwerde in Strafsachen, 2011, Rn. 268. 76 Vgl. Heusch/Sennekamp, in: Umbach/Clemens/Dollinger, BVerfGG, 2. Aufl. 2005, § 93 Rn. 31. 77 Thiemann, DVBl 2012, S. 1420 (1422).
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den Beschwerdeführer unberechenbaren Spielraum.78 Zudem ist eine Friktion zu diesen Grundsätzen nun darin gesehen worden, dass eine Anhörungsrüge dann (aber auch nur dann) erforderlich sein soll, wenn – wie der Erste Senat es formuliert hat – „den Umständen nach ein Gehörsverstoß durch die Fachgerichte naheliegt und zu erwarten wäre, dass vernünftige Verfahrensbeteiligte mit Rücksicht auf die geltend gemachte Beschwer bereits im gerichtlichen Verfahren einen entsprechenden Rechtsbehelf ergreifen würden“79. Darin ist eine Aufweichung der bisher geltenden Grundsätze zur Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde gesehen worden, weil hieraus abzuleiten sei, dass eine Anhörungsrüge stets dann erhoben werden müsse, wenn sie nicht offensichtlich aussichtlos ist80. Diese Kritik beruht auf der Prämisse, es müsse trennscharf zwischen beiden Fallkonstellationen unterschieden werden81. Ein derartiges „Entweder – Oder“ – nimmt man die Formulierungen des Ersten Senats wörtlich – besteht allerdings nicht; vielmehr gibt es Fälle, in denen eine Anhörungsrüge zwar aus Subsidiaritätsgründen nicht erforderlich, im Hinblick auf die Frist gleichwohl unschädlich ist. Es handelt sich um jene Sachverhalte, in denen die Erhebung einer Anhörungsrüge (noch) vertretbar ist. Dies kann etwa dann der Fall sein, wenn eine Formulierung in der letztinstanzlichen Entscheidung dahin missverstanden werden kann, dass das Gericht entscheidungserheblichen Sachvortrag des Beschwerdeführers nicht zur Kenntnis genommen hat. Als Beispiel lässt sich anführen, dass das Gericht in der angefochtenen Entscheidung auf das Fehlen eines Beweisangebots abstellt und der Beschwerdeführer mit der Anhörungsrüge geltend macht, Beweis angeboten zu haben, aber verkennt, dass sein Beweisangebot nicht alle Tatbestandsvoraussetzungen, die das Gericht in der ersten Entscheidung nicht einzeln aufgegliedert hatte, umfasste. Hier wird sich in der Entscheidung über die Anhörungsrüge zeigen, dass diese keinen Erfolg haben konnte – damit lag aber noch keine offensichtliche Unzulässigkeit vor. Gleichwohl hätte der Beschwerdeführer natürlich auch selbst erkennen können, dass sein Beweisangebot unzureichend war, und es wäre widersinnig von ihm zu verlangen, eine Anhörungsrüge zu erheben in der begründeten Überzeugung, diese werde keinen Erfolg haben. Bei diesem Verständnis wird dem Beschwerdeführer nicht abverlangt, zwischen einerseits offensichtlich und andererseits lediglich einfach aussichtslosen Anhörungsrügen zu unterscheiden. Eine Anhörungsrüge ist vielmehr nur dann erforderlich, wenn Anhaltspunkte für eine Gehörsverletzung durch die letztinstanzliche Ent78
Lenz/Hansel, BVerfGG, 2013, § 90 Rn. 400. Vgl. BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 16. Juli 2013 – 1 BvR 3057/11 –, NJW 2013, 3506 (3508, Rn. 28). 80 So Allgayer, NJW 2013, S. 3484 (3486). 81 Vgl. Thiemann, DVBl 2012, S. 1420 (1422). 79
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§ 93 BVerfGG und Subsidiarität der Urteilsverfassungsbeschwerde
scheidung vorliegen. Es bleibt aber zugleich der Grundsatz aufrecht erhalten, dass eine offensichtlich aussichtslose Anhörungsrüge die Frist zur Einlegung der Verfassungsbeschwerde nicht offenhalten kann. Dieser Grundsatz ist durch die Erwägung gerechtfertigt, dass ohne das Erfordernis des konkreten Aufzeigens einer möglichen Gehörsverletzung es einem Beschwerdeführer allein durch die unsubstantiierte Behauptung einer Gehörsverletzung möglich wäre, den Beginn der Frist aus § 93 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG zur Einlegung und Begründung der Verfassungsbeschwerde zu verschieben und damit den Zeitraum, binnen dessen der verfassungsgerichtliche Rechtsbehelf anzubringen und auszuführen ist, faktisch zu verlängern82.
82 Vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 29. März 2007 – 2 BvR 120/07 –, juris Rn. 11 unter Hinweis auf: Desens, NJW 2006, S. 1243 (1246); Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 31. August 2011 – 2 BvR 1979/08 –, juris Rn. 10.
II. Allgemeine Grundrechtslehren
Grundrechtswirkungen zwischen Privaten Zur Drittwirkungs- und Schutzpflichtenrechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Christian Burkiczak Leitentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts BVerfGE BVerfGE BVerfGE BVerfGE BVerfGE BVerfGE BVerfGE BVerfGE BVerfGE BVerfGE
7, 198 – Lüth 25, 256 – Blinkfüer 39, 1 – Schwangerschaftsabbruch I 46, 160 – Schleyer 81, 242 – Handelsvertreter 88, 203 – Schwangerschaftsabbruch II 89, 1 – Wohnbesitz als Eigentum 89, 214 – Bürgschaft 103, 89 – Ehevertrag 128, 226 – Fraport Schrifttum (Auswahl)
Böckenförde, Zur Lage der Grundrechtsdogmatik nach 40 Jahren Grundgesetz, 1990; Canaris, Grundrechte und Privatrecht, AcP 184 (1984), S. 201 ff.; ders., Grundrechte und Privatrecht, 1999; Classen, Die Drittwirkung der Grundrechte in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, AöR 122 (1997), S. 65 ff.; Di Fabio, Grundrechte als Argument – Drittwirkungslehre und Wertordnungsidee, in: Herdegen/Klein/Papier/Scholz (Hrsg.), Staatsrecht und Politik, Festschrift für Herzog, 2009, S. 35 ff.; Greve, Drittwirkung des grundrechtlichen Datenschutzes im digitalen Zeitalter, in: Franzius u.a. (Hrsg.), Beharren. Bewegen, Festschrift für Kloepfer, 2013, S. 665 ff.; P. M. Huber, Zur Drittwirkung von Grundrechten und Grundfreiheiten, in: Ruffert (Hrsg.), Dynamik und Nachhaltigkeit des Öffentlichen Rechts, Festschrift für M. Schröder, 2012, S. 335 ff.; Isensee, Vertragsfreiheit im Griff der Grundrechte, in: Hübner/Ebke (Hrsg.), Festschrift für Großfeld, 1999, S. 485 ff.; Krings, Die subjektiv-rechtliche Rekonstruktion der Schutzpflichten aus dem grundrechtlichen Freiheitsbegriff, in: Sachs/Siekmann (Hrsg.), Der grundrechtsgeprägte Verfassungsstaat, Festschrift für Stern, 2012, S. 425 ff.; ders., Grund und Grenzen grundrechtlicher Schutzansprüche, 2003; Ladeur, Die Drittwirkung der Grundrechte im Privatrecht – „Verfassungsprivatrecht“ als Kollisionsrecht, in: Calliess/Fischer-Lescano/Wielsch/Zumbansen (Hrsg.), Soziologische Jurisprudenz, Festschrift für Teubner, 2009, S. 543 ff.; Lenz/Leydecker, Privatrecht als Freiheitsordnung, ZG 2006, S. 407 ff.; Masing, Grundrechtsschutz trotz Privatisierung, in: Bäuerle/Dann/Wallrabenstein (Hrsg.), Demokratie-Perspektiven, Festschrift für Bryde, 2013, S. 409 ff.; Maultzsch, Die Konstitutionalisierung des Privatrechts als Entwicklungsprozess – Vergleichende Betrachtungen zum deutschen und amerikanischen Recht, JZ 2012, S. 1040 ff.; Merten, Art. 1 Abs. 3 GG als Schlüsselnorm des
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Grundrechtswirkungen zwischen Privaten
grundrechtsgeprägten Verfassungsstaates, in: Sachs/Siekmann (Hrsg.), Der grundrechtsgeprägte Verfassungsstaat, Festschrift für Stern, 2012, S. 483 ff.; Müller-Franken, Bindung Privater an Grundrechte?, Zur Wirkung der Grundrechte auf Privatrechtsbeziehungen, in: Detterbeck/Rozek/von Coelln (Hrsg.), Recht als Medium der Staatlichkeit, Festschrift für Bethge, 2009, S. 223 ff.; Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, 2001; Sachs, Grundrechtliche Schutzpflichten und wirtschaftliche Beziehungen Privater, in: Bauer/Czybulka/Kahl/Voßkuhle (Hrsg.), Wirtschaft im offenen Verfassungsstaat, Festschrift für R. Schmidt, 2006, S. 385 ff.; Schwabe, Bundesverfassungsgericht und „Drittwirkung“ der Grundrechte, AöR 100 (1975), S. 442 ff.; ders., Phantomjagd – Die Grundrechts-Drittwirkung in der neueren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, in: Osterloh/Schmidt/Weber (Hrsg.), Festschrift für Selmer, 2004, S. 247 ff.; ders., Die sogenannte Drittwirkung der Grundrechte, 1971. Inhalt I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Verfassungstextliche Ausgangslage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Drittwirkungsrechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Lüth (BVerfGE 7, 198) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Blinkfüer (BVerfGE 25, 256) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Konstitutionalisierung des Vertragsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Handelsvertreter (BVerfGE 81, 242) . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Bürgschaft (BVerfGE 89, 214) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Wohnsitz als Eigentum (BVerfGE 89, 1) . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Ehevertrag (BVerfGE 103, 89) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Schutzpflichtenrechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Schwangerschaftsabbruch I und II (BVerfGE 39, 1; 88, 203) . . . . . . . b) Schleyer (BVerfGE 46, 160) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Schutzpflichten gegenüber technischen Gefahren und Beeinträchtigungen d) Staatliches Handeln als schutzpflichtenauslösender Umstand? . . . . . . e) Rechtsprechungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Drittwirkung, Schutzpflichten und die Gleichheitsrechte . . . . . . . . . . 4. Ankündigungsrechtsprechung: Fraport (BVerfGE 128, 226) . . . . . . . . . IV. Offene Fragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Verhältnis von Drittwirkungs- und Schutzpflichtenrechtsprechung . . . . . 2. Subjektiver Schutzanspruch oder resubjektivierte objektive Schutzpflicht . 3. Privatisierung als Herausforderung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Fazit und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I. Einleitung Die Wirkung der Grundrechte des Grundgesetzes zwischen Privaten – das Ob und das Wie – gehört seit jeher zu den umstrittenen Themen der Grundrechtsdogmatik.1 Dass diese Diskussion trotz zahlreicher Judikate des Bun1 Zur Vorgeschichte der Drittwirkungsdiskussion etwa Stern, Staatsrecht III/1, 1988, S. 1511 ff.
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desverfassungsgerichts nicht zum Abschluss gekommen ist, belegen nicht nur eine anhaltende Debatte im verfassungsrechtlichen Schrifttum,2 sondern auch jüngere Rechtsprechungsentwicklungen des Bundesverfassungsgerichts, die Themen bei Gesprächen des Bundesverfassungsgerichts mit internationalen Gerichten 3 und nicht zuletzt Äußerungen aus den Reihen der Bundesverfassungsrichter selbst.4 Dies ist Anlass genug, im Folgenden im Anschluss an einen kurzen Verfassungstextbefund die zwei großen Stränge in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Grundrechtswirkung zwischen Privaten – die zur sog. mittelbaren Drittwirkung und die zu den grundrechtlichen Schutzpflichten – komprimiert nachzuzeichnen, Entwicklungen zu beleuchten und offene Fragen zu benennen.
II. Verfassungstextliche Ausgangslage Der Umfang, in dem sich Rechtsprechung und Literatur mit Grundrechtswirkungen zwischen Privaten befassen, steht in bemerkenswertem Kontrast zum kargen – damit aber keineswegs lückenhaften – grundgesetzlichen Textbefund. Art. 1 Abs. 3 GG ordnet die Bindung (lediglich) von Gesetzgebung, vollziehender Gewalt und Rechtsprechung an die Grundrechte an. Dies allein würde schon den Umkehrschluss rechtfertigen – wenn nicht gar erzwingen –, dass Private nicht grundrechtsverpflichtet sind.5 Bestätigt würde ein solcher Umkehrschluss durch die singuläre und bereichsspezifische Ausnahme von der ausschließlich staatsgerichteten Grundrechtsbindung des Art. 1 Abs. 3 GG: Art. 9 Abs. 3 Satz 2 GG 6 ordnet lediglich für die Grundrechtsgewährleistungen des Art. 9 Abs. 3 Satz 1 GG eine Drittwirkung an.7
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Siehe zum Teil die Nachweise im dem Beitrag vorangestellten Literaturverzeichnis. So war „der Grundrechtsschutz zwischen Privaten“ z.B. Thema beim Besuch des Bundesverfassungsgerichts beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte am 23.1. 2012 (Pressemitteilung Nr. 5/2012 des Bundesverfassungsgerichts vom 24.1.2012). 4 Siehe Baer, ZRP 2002, S. 290 ff.; dies., Verfassung und Geschlecht, in: B. Christensen (Hrsg.), Demokratie und Geschlecht, 1999, S. 101 (116); Gaier, Tatwaffe Herrschaftswissen, in: Süddeutsche Zeitung vom 13.3.2012; Masing, Grundrechtsschutz trotz Privatisierung, in: Bäuerle/Dann/Wallrabenstein (Hrsg.), Demokratie-Perspektiven, FS Bryde, 2013, S. 409 ff.; dens., NJW 2012, S. 2305 ff.; Paulus/Wesche, GRUR 2012, S. 112 (114). 5 Vgl. Pietzcker, in: Merten/Papier (Hrsg.), HGr V, 2013, § 125 Rn. 80; a.A. MüllerFranken, Bindung Privater an Grundrechte?, Zur Wirkung der Grundrechte auf Privatrechtsbeziehungen, in: Detterbeck/Rozek/von Coelln (Hrsg.), Recht als Medium der Staatlichkeit, FS Bethge, 2009, S. 223 (226). 6 Dazu Höfling/Burkiczak, RdA 2004, S. 263 ff. 7 Vgl. Merten, Art. 1 Abs. 3 GG als Schlüsselnorm des grundrechtsgeprägten Verfassungsstaates, in: Sachs/Siekmann (Hrsg.), Der grundrechtsgeprägte Verfassungsstaat, FS Stern, 2012, S. 483 (495); von Münch/Kunig, in: dies. (Hrsg.), GG, Bd. 1, 6. Aufl. 2012, Vorb Art. 1–19 Rn. 16; gegen einen derartigen Umkehrschluss Müller-Franken, Bindung 3
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Diese beredte Zurückhaltung, die das Grundgesetz gegenüber grundrechtlichen Verpflichtungen Privater walten lässt, wird durch die Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes untermauert.8 Während der Beratungen des Parlamentarischen Rates wurde wiederholt die Auffassung vertreten, dass die soziale Ordnung beziehungsweise „Lebensordnungen“, also das gesellschaftliche Leben, nicht Thema des Grundrechtekataloges sein sollte.9
III. Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Grundrechtliche Implikationen des Verhaltens zwischen Grundrechtsträgern untereinander werden vom Bundesverfassungsgericht grundsätzlich in zwei verschiedenen Konstruktionen bewältigt. Bereits in der Anfangszeit des Gerichts wurde die sog. mittelbare Drittwirkung oder Ausstrahlungswirkung der Grundrechte etabliert, während die Schutzpflichtenrechtsprechung erst in den 1970er Jahren hinzutrat, auch wenn in der Literatur bereits frühere Entscheidungen als Vorboten der Schutzpflichtenrechtsprechung angesehen werden.10 1. Drittwirkungsrechtsprechung a) Lüth (BVerfGE 7, 198) Fragen der Wirkung der Grundrechte im Verhältnis zwischen Privaten wurden erstmals im Lüth-Urteil aus dem Jahre 1958, dem „Quellcode heutiger Grundrechtsdogmatik“ 11, relevant. Der dem Urteil seinen Namen gebende Beschwerdeführer wandte sich gegen eine landgerichtliche Entscheidung, durch die ihm der Aufruf zum Boykott eines Films des Regisseurs Veit Harlan untersagt worden war. Das Bundesverfassungsgericht sah hierin eine Ver-
Privater an Grundrechte?, Zur Wirkung der Grundrechte auf Privatrechtsbeziehungen, in: Detterbeck/Rozek/von Coelln (Hrsg.), Recht als Medium der Staatlichkeit, FS Bethge, 2009, S. 223 (226). 8 Auch nach Müller-Franken, Bindung Privater an Grundrechte?, Zur Wirkung der Grundrechte auf Privatrechtsbeziehungen, in: Detterbeck/Rozek/von Coelln (Hrsg.), Recht als Medium der Staatlichkeit, FS Bethge, 2009, S. 223 (226), spricht die Entstehungsgeschichte der Grundrechte des Grundgesetzes eher gegen eine Anwendung der Grundrechte auf Private. 9 Vgl. JöR n.F. 1951, S. 119, 120. 10 So etwa Kaufhold, Die Lehrfreiheit – ein verlorenes Grundrecht?, 2006, S. 281 (in Fn. 380), die auf BVerfGE 1, 97 (104) – Hinterbliebenenrente; 9, 338 (347) – Hebammenaltersgrenze; 35, 79 (114) – Gruppenuniversität, verweist; eher gegen eine schutzpflichtenrechtliche Deutung dieser Entscheidungen Krings, Grund und Grenzen grundrechtlicher Schutzansprüche, 2003, S. 62 ff. 11 Jestaedt, VVDStRL 64 (2005), S. 298 (331).
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letzung von Art. 5 Abs. 1 GG.12 Es befand, dass die Grundrechte zwar in erster Linie Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat seien.13 Zugleich errichteten die Grundrechte aber auch eine objektive Wertordnung und beeinflussten so „selbstverständlich“ auch das bürgerliche Recht; keine bürgerlich-rechtliche Vorschrift dürfe im Widerspruch zum grundgesetzlichen Wertesystem stehen, jede müsse in seinem Geiste ausgelegt werden.14 Die Realisierung des Einflusses grundrechtlicher Wertmaßstäbe könne vorrangig durch die Anwendung der zivilrechtlichen Generalklauseln bewirkt werden.15 Der Richter habe von Verfassungs wegen zu prüfen, ob die von ihm anzuwendenden materiellen Normen des Zivilrechts grundrechtlich beeinflusst seien, und habe dies dann gegebenenfalls bei der Auslegung und Anwendung dieser Vorschriften zu beachten.16 Dies sei Sinn der Bindung auch des Zivilrichters an die Grundrechte (Art. 1 Abs. 3 GG).17 Verfehle der Zivilrichter diese Maßstäbe und beruhe sein Urteil auf der Außerachtlassung dieses verfassungsrechtlichen Einflusses auf die zivilrechtlichen Normen, so verstoße er nicht nur gegen objektives Verfassungsrecht, sondern gegen das Grundrecht des Bürgers.18 Das Lüth-Urteil war signal- und obersatzgebend für zahlreiche weitere Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, aber natürlich auch der Fachgerichte. Es bereitete die Grundlage für eine Ausdehnung der Grundrechtswirkung zwischen Privaten über die hier entschiedene Konstellation hinaus. Umstritten ist bis heute, ob die Begründung des Bundesverfassungsgerichts eine überschießende Tendenz hatte. Denn zu Recht wird in der Literatur die Frage aufgeworfen, ob nicht – jedenfalls bei einer verurteilenden zivilgerichtlichen Entscheidung – die Grundrechtsbindung des Zivilrichters nicht ohne Rückgriff auf eine – letztlich diffuse 19 – mittelbare Drittwirkung
12 BVerfGE 7, 198 (203 ff.); Hinweise zum zugrundeliegenden Votum bei Böckenförde, Zur Lage der Grundrechtsdogmatik nach 40 Jahren Grundgesetz, 1990, S. 26 f. 13 BVerfGE 7, 198 (204). 14 BVerfGE 7, 198 (205). 15 BVerfGE 7, 198 (206); kritisch zur Beschränkung auf die Generalklauseln Ladeur, Die Drittwirkung der Grundrechte im Privatrecht – „Verfassungsprivatrecht“ als Kollisionsrecht, in: Calliess/Fischer-Lescano/Wielsch/Zumbansen (Hrsg.), Soziologische Jurisprudenz, FS Teubner, 2009, S. 543 (545 f.). 16 BVerfGE 7, 198 (206); kritisch zu dieser Konzeption aus heutiger Sicht etwa Jestaedt, in: Merten/Papier (Hrsg.), HGr IV, 2011, § 102 Rn. 28 ff. 17 BVerfGE 7, 198 (206). 18 BVerfGE 7, 198 (206 f.). 19 So auch Müller-Franken, Bindung Privater an Grundrechte?, Zur Wirkung der Grundrechte auf Privatrechtsbeziehungen, in: Detterbeck/Rozek/von Coelln (Hrsg.), Recht als Medium der Staatlichkeit, FS Bethge, 2009, S. 223 (234) m.w.N.; Sachs, Grundrechtliche Schutzpflichten und wirtschaftliche Beziehungen Privater, in: Bauer/Czybulka/Kahl/Voßkuhle (Hrsg.), Wirtschaft im offenen Verfassungsstaat, FS R. Schmidt, 2006, S. 385.
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bereits unmittelbar aufgrund des Art. 1 Abs. 3 GG und abwehrrechtlich zu begründen gewesen wäre,20 weil es sich dann nämlich um einen staatlichen Eingriff handelt,21 unabhängig davon, ob er dem Schutz der Allgemeinheit oder dem Schutz individueller Rechte dient.22 (Teilweise unterzieht das Bundesverfassungsgericht denn auch zivilrechtliche Verurteilungen mittlerweile einer abwehrrechtlichen Prüfung.23) Dem wird entgegengehalten, dass die Grundrechtsbindung der Zivilrichter nicht bedeute, dass ein Privater sich vor Gericht auf Grundrechte gegenüber einem anderen Grundrechtsträger berufen könne: Das Gericht habe Grundrechte zu beachten, soweit sie gelten; sie würden nicht etwa nur deswegen gelten, weil ein Gericht entscheide.24 b) Blinkfüer (BVerfGE 25, 256) Auch der Blinkfüer-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 1969 hatte einen Boykottaufruf zum Gegenstand. Der Springer-Verlag hatte seine Geschäftspartner zum Boykott der westdeutschen Zeitschrift „Blinkfüer“ aufgefordert, weil diese auch die Rundfunk- und Fernsehprogramme der DDR-Sender abdruckte. Ein Unterlassungsbegehren des Herausgebers der Zeitschrift „Blinkfüer“ blieb vor dem Bundesgerichtshof ohne Erfolg. Auf seine Verfassungsbeschwerde hin entschied das Bundesverfassungsgericht
20 Siehe insbesondere Canaris, Grundrechte und Privatrecht, 1999, S. 31 f., 37, 47; Lübbe-Wolff, Die Grundrechte als Eingriffsabwehrrechte, 1988, S. 165 f.; Schwabe, Die sogenannte Drittwirkung der Grundrechte, 1971, S. 105 f.; dens., Probleme der Grundrechtsdogmatik, 1977, S. 213; weitere Nachweise bei Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG, Bd. I, 3. Aufl. 2013, Vorb. Rn. 99. 21 So auch Alexy, Theorie der Grundrechte, 1985, S. 486 f.; Canaris, Grundrechte und Privatrecht, 1999, S. 31 f.; Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, 2003, S. 204, 215 ff.; die Eingriffsqualität zivilgerichtlicher Verurteilungen wurde etwa von BVerfGE 84, 212 (223); 85, 248 (256); 111, 366 (374); 119, 1 (20, 22) ohne weiteres unterstellt; a.A. Lenz/Leydecker, ZG 2006, S. 407 (421). 22 Für eine am Schutzzweck orientierte Unterscheidung jedoch Müller-Franken, Bindung Privater an Grundrechte?, Zur Wirkung der Grundrechte auf Privatrechtsbeziehungen, in: Detterbeck/Rozek/von Coelln (Hrsg.), Recht als Medium der Staatlichkeit, FS Bethge, 2009, S. 223 (241 f.). 23 Siehe BVerfGE 85, 248 (256 ff.) – ärztliches Werbeverbot; BVerfGE 119, 1 (20 ff.) – Esra. 24 Klassisch Doehring, Staatsrecht, 3. Aufl. 1984, S. 209; im Anschluss daran Kaufhold, Die Lehrfreiheit – ein verlorenes Grundrecht?, 2006, S. 295; Müller-Franken, Bindung Privater an Grundrechte?, Zur Wirkung der Grundrechte auf Privatrechtsbeziehungen, in: Detterbeck/Rozek/von Coelln (Hrsg.), Recht als Medium der Staatlichkeit, FS Bethge, 2009, S. 223 (241); ähnlich Ladeur, Die Drittwirkung der Grundrechte im Privatrecht – „Verfassungsprivatrecht“ als Kollisionsrecht, in: Calliess/Fischer-Lescano/Wielsch/Zumbansen (Hrsg.), Soziologische Jurisprudenz, FS Teubner, 2009, S. 543 (548); Merten, Art. 1 Abs. 3 GG als Schlüsselnorm des grundrechtsgeprägten Verfassungsstaates, in: Sachs/Siekmann (Hrsg.), Der grundrechtsgeprägte Verfassungsstaat, FS Stern, 2012, S. 483 (499 f.); dagegen überzeugend Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, 2003, S. 218.
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indes, dass er in seinem Grundrecht aus Art. 5 Abs. 1 GG verletzt sei.25 Das Gericht stellte unter Hinweis auf seine Formulierung aus dem Lüth-Urteil auf die vom Grundgesetz in seinem Grundrechtsabschnitt aufgerichtete objektive Wertordnung ab, die die Auslegung der Privatrechtsordnung zu beeinflussen habe.26 Der Bundesgerichtshof habe die Reichweite der Meinungsfreiheit des Springer-Verlages zu weit ausgedehnt,27 die Pressefreiheit des Beschwerdeführers jedoch nicht berücksichtigt.28 Die Konstellation von Blinkfüer unterscheidet sich von derjenigen bei Lüth aus grundrechtsdogmatischer Perspektive dadurch, dass es bei Blinkfüer an einem staatlichen Eingriff in einen grundrechtlichen Schutzbereich fehlte, weil eine Verurteilung durch ein Zivilgericht gerade nicht erfolgt war. Der vor den Fachgerichten in letzter Instanz erfolglose Kläger sah sich nicht einer Beeinträchtigung seiner Rechtsposition durch ein Gericht ausgesetzt, sondern seine „Beschwer“ rührte daher, dass es das Gericht unterlassen hatte, einen Übergriff eines Dritten abzuwehren. Abwehrrechtlich lässt sich dieser Fall – anders als Lüth – nicht lösen, da ein staatliches Unterlassen keinen Eingriff darstellt.29 Aus heutiger Perspektive läge es nahe, hier eine Konstellation zu erkennen, die schutzpflichtenrechtlich zu bewältigen wäre.30 c) Konstitutionalisierung des Vertragsrechts Erheblich über die bis dahin bestehende Drittwirkungsrechtsprechung ging das Bundesverfassungsgericht in mehreren Entscheidungen Anfang der 1990er Jahre hinaus. War bislang nur deliktisches Handeln im Sinne echter Ingerenzen, nämlich in Gestalt von Übergriffen von Grundrechtsträgern in die grundrechtlich geschützten Bereiche anderer Grundrechtsträger, Gegenstand der Entscheidungen, konstitutionalisierte der Erste Senat nun auch das Vertragsrecht.31 Der spätere Bundesverfassungsrichter Steiner spricht
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BVerfGE 25, 256 (263 ff.). BVerfGE 25, 256 (263). 27 BVerfGE 25, 256 (264 ff.). 28 BVerfGE 25, 256 (267 ff.). 29 Vgl. Enders, in: Friauf/Höfling (Hrsg.), Berliner Kommentar zum GG, Art. 1 Rn. 171 (Januar 2011); anders Schwabe, Probleme der Grundrechtsdogmatik, 1977, S. 213. 30 So auch – unter Hinweis auf Blinkfüer – Alexy, Theorie der Grundrechte, 1985, S. 487; Enders, in: Friauf/Höfling (Hrsg.), Berliner Kommentar zum GG, Art. 1 Rn. 171 (Januar 2011); ebenso Canaris, Grundrechte und Privatrecht, 1999, S. 38; generell für eine ausschließliche Schutzpflichtenkonstellation im Privatrecht Lenz/Leydecker, ZG 2006, S. 407 ff.; übereinstimmend mit der hier vertretenen Auffassung wird gerichtliches Unterlassen (im Zwangsvollstreckungsverfahren) als schutzpflichtenrechtliches Problem (jedenfalls begrifflich) angesehen etwa von BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 21. November 2012 – 2 BvR 1858/12 –, juris Rn. 14. 31 Deutliche Kritik an dieser Rechtsprechung aus jüngerer Zeit etwa bei Brenner, in: Merten/Papier (Hrsg.), HGr V, 2013, § 115 Rn. 31 ff. m.w.N.; eher kritisch hierzu etwa auch 26
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davon, dass das Bundesverfassungsgericht als „oberstes Billigkeitsgericht“ tätig geworden sei.32 Die Handelsvertreter- und die Bürgschaftsentscheidungen knüpfen zwar überwiegend noch an die herkömmliche Drittwirkungsterminologie an, enthalten aber – etwa bezüglich des Gestaltungsspielraums des Gesetzgebers – auch schon Hinweise auf den Zusammenhang zu den grundrechtlichen Schutzpflichten, ohne das Wort „Schutzpflicht“ zu verwenden.33 Gleichwohl werden sowohl die Handelsvertreter- (dazu unter aa)) als auch die Bürgschaftsentscheidung (dazu unter bb)) in der Literatur teilweise als Schutzpflichtenproblematik diskutiert.34 aa) Handelsvertreter (BVerfGE 81, 242) Der Handelsvertreterbeschluss aus dem Jahr 1990 betraf das in § 90a Abs. 2 Satz 2 HGB a.F. enthaltene entschädigungslose Wettbewerbsverbot für Handelsvertreter. § 90a Abs. 1 HGB a.F. regelte unter anderem, dass eine Vereinbarung, die den Handelsvertreter nach Beendigung des Vertragsverhältnisses in einer gewerblichen Tätigkeit beschränkt, der Schriftform bedarf, höchstens für eine Dauer von zwei Jahren von der Beendigung des Vertragsverhältnisses an getroffen werden kann und dass der Unternehmer dem Handelsvertreter für die Dauer der Wettbewerbsbeschränkung eine angemessene Entschädigung zu zahlen hat. Nach § 90a Abs. 2 Satz 2 HGB a.F. bestand dieser Entschädigungsanspruch nicht, wenn der Unternehmer das Vertragsverhältnis aus wichtigem Grund wegen schuldhaften Verhaltens des Handelsvertreters gekündigt hatte. Eine entsprechende Regelung sah auch der Vertrag zwischen dem Unternehmer und dem beschwerdeführenden Handelsvertreter vor. Auf dieser Grundlage war er von den Zivilgerichten zur Wettbewerbsunterlassung verurteilt worden. Das Bundesverfassungsgericht sah in dieser Verurteilung und in § 90a Abs. 2 Satz 2 HGB a.F. eine Verletzung von Art. 12 Abs. 1 GG.35 Die angegriffenen Urteile unterlägen der verfassungsgerichtlichen Kontrolle, weil die Rechtsprechung wie jede staatliche Gewalt nach Art. 1 Abs. 3 GG an die Grundrechte gebunden sei.36 Allerdings finde die weitreichende berufliche
Jestaedt, VVDStRL 64 (2005), S. 298 (340); Merten, in: ders./Papier (Hrsg.), HGr IV, 2011, § 95 Rn. 116; instruktiv zur Rolle des Berichterstatters: Kauffmann, DRiZ 2008, S. 194 (195 ff.). 32 Steiner, VVDStRL 61 (2002), S. 191 (193). 33 Zur Ehevertragsentscheidung siehe aber bei Fußn. 90. 34 So etwa Singer, JZ 1995, S. 1133 (1136 ff.); Zuordnung zur Drittwirkungsrechtsprechung indes etwa bei Stern, in: ders./Becker (Hrsg.), Grundrechte-Kommentar, 2010, Einl. Rn. 43. 35 BVerfGE 81, 242 (252). 36 BVerfGE 81, 242 (253).
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Beschränkung, die aus der zivilgerichtlichen Verurteilung resultiere, ihre rechtliche Grundlage nicht primär in staatlichem Handeln; vielmehr habe der Beschwerdeführer der Verpflichtung vertraglich zugestimmt.37 Eine solche rechtsgeschäftliche Selbstbindung führe zwar zur Beschränkung beruflicher Mobilität, sei aber zugleich Ausübung individueller Freiheit.38 Der Staat habe die im Rahmen der Privatautonomie getroffenen Regelungen grundsätzlich zu respektieren.39 Privatautonomie bestehe indes nur im Rahmen der geltenden Gesetze, die ihrerseits an die Grundrechte gebunden seien.40 Das Grundgesetz wolle keine wertneutrale Ordnung sein, sondern habe in seinem Grundrechtsabschnitt objektive Grundentscheidungen getroffen, die für alle Bereiche des Rechts, also auch für das Zivilrecht, gälten.41 Keine bürgerlich-rechtliche Vorschrift dürfe in Widerspruch zu den Prinzipien stehen, die in den Grundrechten zum Ausdruck kämen.42 Das gelte vor allem für diejenigen Vorschriften des Privatrechts, die zwingendes Recht enthielten und damit der Privatautonomie Schranken setzten.43 Solche Schranken seien unentbehrlich, weil Privatautonomie auf dem Prinzip der Selbstbestimmung beruhe, also voraussetze, dass auch die Bedingungen freier Selbstbestimmung tatsächlich gegeben seien.44 Habe einer der Vertragsteile ein so starkes Übergewicht, dass er vertragliche Regelungen faktisch einseitig setzen könne, bewirke dies für den anderen Vertragsteil Fremdbestimmung.45 Wo es an einem annähernden Kräftegleichgewicht der Beteiligten fehle, sei mit den Mitteln des Vertragsrechts allein kein sachgerechter Ausgleich der Interessen zu gewährleisten.46 Wenn bei einer solchen Sachlage über grundrechtlich verbürgte Positionen verfügt werde, müssten staatliche Regelungen ausgleichend eingreifen, um den Grundrechtsschutz zu sichern.47 Gesetzliche Vorschriften, die sozialem und wirtschaftlichem Ungleichgewicht entgegenwirkten, verwirklichten hier die objektiven Grundentscheidungen des Grundrechtsabschnitts und zugleich das grundgesetzliche Sozialstaatsprinzip.48 Der Verfassung lasse sich nicht unmittelbar entnehmen, wann Ungleichgewichtslagen so schwer wögen, dass die Vertragsfreiheit durch zwingendes
37 38 39 40 41 42 43 44 45 46 47 48
BVerfGE 81, 242 (253 f.). BVerfGE 81, 242 (254). BVerfGE 81, 242 (254). BVerfGE 81, 242 (254). BVerfGE 81, 242 (254). BVerfGE 81, 242 (254). BVerfGE 81, 242 (254). BVerfGE 81, 242 (254 f.). BVerfGE 81, 242 (255). BVerfGE 81, 242 (255). BVerfGE 81, 242 (255). BVerfGE 81, 242 (255).
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Gesetzesrecht begrenzt oder ergänzt werden müsse.49 Auch ließen sich die Merkmale, an denen etwa erforderliche Schutzvorschriften ansetzen könnten, nur typisierend erfassen.50 Dem Gesetzgeber stehe dabei ein besonders weiter Beurteilungs- und Gestaltungsraum zur Verfügung.51 Allerdings dürfe er offensichtlichen Fehlentwicklungen nicht tatenlos zusehen.52 Er müsse dann aber beachten, dass jede Begrenzung der Vertragsfreiheit zum Schutze des einen Teils gleichzeitig in die Freiheit des anderen Teils eingreife.53 Werde die Zulässigkeit von Vertragsklauseln mit Rücksicht auf die Berufsfreiheit der für einen Unternehmer tätigen Vertragspartner eingeschränkt, bewirke das einen Eingriff in die Freiheit der Berufsausübung des Unternehmers.54 Der Gesetzgeber müsse diesen konkurrierenden Grundrechtspositionen ausgewogen Rechnung tragen. Auch insoweit besitze er eine weite Gestaltungsfreiheit.55 Selbst wenn der Gesetzgeber davon absehe, zwingendes Vertragsrecht für bestimmte Lebensbereiche oder für spezielle Vertragsformen zu schaffen, bedeute das keineswegs, dass die Vertragspraxis dem freien Spiel der Kräfte unbegrenzt ausgesetzt wäre.56 Vielmehr würden dann ergänzend solche zivilrechtlichen Generalklauseln eingreifen, die als Übermaßverbote wirkten.57 bb) Bürgschaft (BVerfGE 89, 214) An die Handelsvertreterentscheidung knüpfte der Erste Senat gut drei Jahre später im Bürgschaftsbeschluss an. Zunächst wiederholte und verstärkte der Senat sein Postulat, dass die Zivilgerichte bei der Auslegung und Anwendung der zivilrechtlichen Generalklauseln die Grundrechte als „Richtlinien“ zu beachten hätten.58 Er gab dann durch seine Auslegung des einschlägigen Grundrechtes – Art. 2 Abs. 1 GG – dem aber eine besondere Wendung. Er rügte gerade die fehlende Inhaltskontrolle eines Bürgschaftsvertrages durch den Bundesgerichtshof als Verkennung der grundrechtlich gewährleisteten Privatautonomie.59
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BVerfGE 81, 242 (255). BVerfGE 81, 242 (255). 51 BVerfGE 81, 242 (255). 52 BVerfGE 81, 242 (255). 53 BVerfGE 81, 242 (255). 54 BVerfGE 81, 242 (255). 55 BVerfGE 81, 242 (255). 56 BVerfGE 81, 242 (255 f.). 57 BVerfGE 81, 242 (256). 58 BVerfGE 89, 214 (229); kritische Anmerkungen zu dieser Entscheidung etwa bei Di Fabio, Grundrechte als Argument – Drittwirkungslehre und Wertordnungsidee, in: Herdegen/Klein/Papier/Scholz (Hrsg.), Staatsrecht und Politik, FS Herzog, 2009, S. 35 (43 f.). 59 BVerfGE 89, 214 (231). 50
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Der Gesetzgeber sei zur Ausgestaltung der Privatrechtsordnung verpflichtet.60 Da alle Beteiligten des Zivilrechtsverkehrs den Schutz des Art. 2 Abs. 1 GG genössen und sich gleichermaßen auf die grundrechtliche Gewährleistung ihrer Privatautonomie berufen könnten, dürfe nicht nur das Recht des Stärkeren gelten.61 Die kollidierenden Grundrechtspositionen seien in ihrer Wechselwirkung zu sehen und so zu begrenzen, dass sie für alle Beteiligten möglichst weitgehend wirksam würden.62 Im Vertragsrecht ergebe sich der sachgerechte Interessenausgleich aus dem übereinstimmenden Willen der Vertragspartner.63 Habe aber einer der Vertragsteile ein so starkes Übergewicht, dass er den Vertragsinhalt faktisch einseitig bestimmen könne, bewirke dies für den anderen Vertragsteil Fremdbestimmung.64 Allerdings könne die Rechtsordnung nicht für alle Situationen Vorsorge treffen, in denen das Verhandlungsgleichgewicht mehr oder weniger beeinträchtigt sei.65 Schon aus Gründen der Rechtssicherheit dürfe ein Vertrag nicht bei jeder Störung des Verhandlungsgleichgewichts nachträglich in Frage gestellt oder korrigiert werden.66 Handele es sich jedoch um eine typisierbare Fallgestaltung, die eine strukturelle Unterlegenheit des einen Vertragsteils erkennen lasse, und seien die Folgen des Vertrages für den unterlegenen Vertragsteil ungewöhnlich belastend, so müsse die Zivilrechtsordnung darauf reagieren und Korrekturen ermöglichen.67 Das folge aus der grundrechtlichen Gewährleistung der Privatautonomie und aus dem Sozialstaatsprinzip.68 Bereits das geltende Recht halte Instrumente bereit, die es möglich machten, auf strukturelle Störungen der Vertragsparität angemessen zu reagieren.69 Für die Zivilgerichte folge daraus die Pflicht, bei der Auslegung und Anwendung der Generalklauseln darauf zu achten, dass Verträge nicht als Mittel der Fremdbestimmung dienten.70 Hätten die Vertragspartner eine an sich zulässige Regelung vereinbart, so werde sich regelmäßig eine weitergehende Inhaltskontrolle erübrigen.71 Sei aber der Inhalt des Vertrages für eine Seite ungewöhnlich belastend und als Interessenausgleich offensichtlich unangemessen, so dürften sich die Gerichte nicht mit der Feststellung begnügen: „Vertrag ist
60 61 62 63 64 65 66 67 68 69 70 71
BVerfGE 89, 214 (232). BVerfGE 89, 214 (232). BVerfGE 89, 214 (232). BVerfGE 89, 214 (232). BVerfGE 89, 214 (232). BVerfGE 89, 214 (232). BVerfGE 89, 214 (232). BVerfGE 89, 214 (232). BVerfGE 89, 214 (232). BVerfGE 89, 214 (233 f.). BVerfGE 89, 214 (234). BVerfGE 89, 214 (234).
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Vertrag“.72 Sie müssten vielmehr klären, ob die Regelung eine Folge strukturell ungleicher Verhandlungsstärke sei, und gegebenenfalls im Rahmen der Generalklauseln des geltenden Zivilrechts korrigierend eingreifen.73 Ein Verstoß gegen die grundrechtliche Gewährleistung der Privatautonomie komme dann in Betracht, wenn das Problem gestörter Vertragsparität gar nicht gesehen oder seine Lösung mit untauglichen Mitteln versucht werde.74 Der Hinweis des Bundesgerichtshofs an die Beschwerdeführerin, sie sei volljährig gewesen und habe sich über die entstehenden Risiken selbst vergewissern müssen, reiche nicht aus.75 cc) Wohnbesitz als Eigentum (BVerfGE 89, 1) Nur wenige Monate zuvor hatte der Erste Senat entschieden, dass das durch einen Mietvertrag begründete Besitzrecht an einer Wohnung Eigentum im Sinne von Art. 14 Abs. 1 GG sei.76 Er verwies auf die mit dem Besitzrecht verbundenen privatrechtlichen Rechte sowie auf seine Funktion: Ein Großteil der Bevölkerung könne zur Deckung seines Wohnbedarfs nicht auf Eigentum zurückgreifen, sondern sei gezwungen, Wohnraum zu mieten.77 Das Besitzrecht des Mieters erfülle unter diesen Umständen Funktionen, wie sie typischerweise dem Sacheigentum zukämen.78 Die also gleichermaßen grundrechtlich geschützten Rechtspositionen – Eigentum des Vermieters, Besitz des Mieters – müsse der Gesetzgeber bei der Ausgestaltung des Mietrechts in ein ausgewogenes Verhältnis bringen.79 Ein Eigentumsschutz des Mieters für sein Besitzrecht diene dabei der Abwehr solcher Regelungen, die das Bestandsinteresse des Mieters gänzlich missachteten oder unverhältnismäßig beschränkten.80 Die Eigentumsgarantie bleibe also – hier wie auch sonst – staatsgerichtet.81 Der Eigentumsschutz des Mieters unterscheide sich in seiner Struktur nicht von demjenigen des Vermieters und Eigentümers.82 Die Fachgerichte hätten bei der Auslegung und Anwendung des Mietrechts ebenfalls die durch die Eigentumsgarantie gezogenen Grenzen zu beachten und müssten die im Gesetz aufgrund verfassungsmäßiger Grundlage zum Ausdruck kommende Interessenabwägung in einer Weise nachvollziehen, die
72 73 74 75 76 77 78 79 80 81 82
BVerfGE 89, 214 (234). BVerfGE 89, 214 (234). BVerfGE 89, 214 (234). BVerfGE 89, 214 (234). BVerfGE 89, 1 (5 f.); offen gelassen noch von BVerfGE 18, 121 (131); 83, 82 (88). BVerfGE 89, 1 (6 f.). BVerfGE 89, 1 (6). BVerfGE 89, 1 (8). BVerfGE 89, 1 (8). BVerfGE 89, 1 (8). BVerfGE 89, 1 (8).
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den beiderseitigen Eigentumsschutz beachte und unverhältnismäßige Eigentumsbeschränkungen vermeide.83 Bewirkt war damit ebenso wie in allen Entscheidungen zu Grundrechtswirkungen zwischen Privaten: 84 der unmittelbare Zugriff des Verfassungsgerichts auf eigentlich dem Gesetzgeber und im Rahmen der gesetzgeberischen Entscheidungen den Fachgerichten obliegende Materien.85 Vermutlich war die anhaltende Kritik in der Literatur 86 an dieser Entscheidung für den Ersten Senat des Bundesverfassungsgerichts Anlass, seine Position in der Garzweiler-Entscheidung Ende des Jahres 2013 zu bekräftigen,87 obwohl der Sachverhalt hierfür keinen Anlass gab. dd) Ehevertrag (BVerfGE 103, 89) An die Handelsvertreter- und Bürgschaftsentscheidungen knüpfte der Erste Senat im Jahre 2001 in einem Urteil zur gerichtlichen Kontrolle von Eheverträgen an und entnahm der Verfassung (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 6 Abs. 4 GG) eine Pflicht der Zivilgerichte zur Inhaltskontrolle von ehevertraglichen Vereinbarungen über nachehelichen Unterhalt.88 Das noch vom Berufungsgericht im Ausgangsverfahren vorgebrachte Argument, die Eheschließungsfreiheit stehe einer Inhaltskontrolle entgegen, ließ das Bundesverfassungsgericht nicht gelten.89 Interessant ist, dass der Senat hier – neben der Wiederholung der aus der Handelsvertreter- und Bürgschaftsentscheidung bekannten Obersätze – auch eine aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 6 Abs. 4 GG folgende Schutzpflicht erwähnt,90 ohne ansonsten aber die Entscheidung in schutzpflichtenrechtliche Kategorien einzukleiden. 83
BVerfGE 89, 1 (8). Siehe auch BVerfGE 90, 27 ff. – Parabolantenne. 85 Siehe auch bei Fußn. 184 ff. 86 Siehe etwa Becker, in: Stern/Becker (Hrsg.), Grundrechte-Kommentar, 2010, Art. 14 Rn. 54; Depenheuer, in: Merten/Papier (Hrsg.), HGr V, 2013, § 111 Rn. 59; Schwabe, Phantomjagd – Die Grundrechts-Drittwirkung in der neueren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, in: Osterloh/Schmidt/Weber (Hrsg.), Staat, Wirtschaft, Finanzverfassung, FS Selmer, 2004, S. 247 (250); jedenfalls gegen eine Relativierung der Eigentumsposition des Vermieters durch die Qualifizierung des Besitzrechts des Mieters als Eigentum im Sinne des Art. 14 Abs. 1 GG Wendt, in: Sachs (Hrsg.), GG, 6. Aufl. 2011, Art. 14 Rn. 139 f.; ähnlich Siekmann, in: Friauf/Höfling (Hrsg.), Berliner Kommentar zum GG, Art. 14 Rn. 44 (Oktober 2000); verteidigend hingegen etwa Gaier, Wohnungsmietrecht und Verfassung, in: Blaurock/Bornkamm/Kirchberg, FS Krämer, 2009, S. 29 ff.; Zustimmung etwa auch bei Dietlein, in: Stern, Staatsrecht IV/1, 2006, S. 2198 f. m.w.N.; Papier, in: Maunz/Dürig (Begr.), GG, Art. 14 Rn. 202 (Juli 2010); Wieland, in: Dreier (Hrsg.), GG, Bd. I, 3. Aufl. 2013, Art. 14 Rn. 34, 58. 87 BVerfG, Urteil des Ersten Senats vom 17. Dezember 2013 – 1 BvR 3139/08 u.a. –, juris Rn. 270, 329. 88 BVerfGE 103, 89 (100 ff.). 89 BVerfGE 103, 89 (101 f.). 90 BVerfGE 103, 89 (105). 84
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2. Schutzpflichtenrechtsprechung a) Schwangerschaftsabbruch I und II (BVerfGE 39, 1; 88, 203) In der ersten Abtreibungsentscheidung des Ersten Senats aus dem Jahre 1975, die insofern im Jahr 1993 durch den Zweiten Senat in der zweiten Abtreibungsentscheidung bestätigt wurde, entnahm das Bundesverfassungsgericht der in den Grundrechtsnormen, konkret in Art. 2 Abs. 2 Satz 1 und Art. 1 Abs. 1 GG, enthaltenen objektiven Wertordnung eine Schutzpflicht zugunsten des ungeborenen menschlichen Lebens.91 Diese umfassende Schutzpflicht gebiete dem Staat, das ungeborene Leben auch vor Übergriffen Dritter zu schützen,92 wobei – dies ist für die allgemeine Schutzpflichtendogmatik von Bedeutung – in erster Linie dem Gesetzgeber die Entscheidung zukomme, wie die Schutzpflicht zu erfüllen sei,93 und das Bundesverfassungsgericht nur prüfe, ob der Gesetzgeber im Rahmen der ihm zur Verfügung stehenden Möglichkeiten das Erforderliche getan habe.94 In der zweiten Abtreibungsentscheidung ist die Kontrolldichte dann durch den (zuvor in der Literatur geprägten95) Begriff des Untermaßverbotes konkretisiert – und wohl auch zurückgenommen – worden,96 der seitdem zum dogmatischen Repertoire beziehungsweise terminologischen Standard der Schutzpflichtenrechtsprechung gehört.97 Aufgrund der existenziellen Konstellation und des strafrechtlichen Kontextes scheinen die Abtreibungsentscheidungen nicht ohne weiteres zum Bereich „Grundrechtswirkungen zwischen Privaten“ zu gehören. Indes geht es auch hier darum, Verhalten von Grundrechtsträgern gegenüber anderen
91 BVerfGE 39, 1 (41 f.) mit Sondervotum Rupp-von Brünneck/Simon, S. 68 ff.; BVerfGE 88, 203 (251) mit Sondervoten Mahrenholz/Sommer, S. 338 ff., und Böckenförde, S. 359 ff. 92 BVerfGE 39, 1 (42); 88, 203 (251). 93 BVerfGE 39, 1 (44, 51); 88, 203 (254). 94 BVerfGE 39, 1 (51). 95 Canaris, AcP 184 (1984), S. 201 (228); ders., JuS 1989, S. 161 (163 f.); später ders., Grundrechte und Privatrecht, 1999, S. 39, 43 ff. 96 BVerfGE 88, 203 (254) unter Bezugnahme auf Isensee, in: ders./Kirchhof (Hrsg.), HStR V, 1992, § 111 Rn. 165 f. 97 BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 27. April 1995 – 1 BvR 729/93 –, NJW 1995, S. 2343; BVerfG, Beschuss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 29. November 1995 – 1 BvR 2203/95 –, NJW 1996, S. 651; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 15. Oktober 2009 – 1 BvR 3522/08 –, juris Rn. 27; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 26. Februar 2010 – 1 BvR 1541/09 u.a. –, NJW 2010, S. 1943 (1945, Rn. 26); weitere Nachweise aus dem Schrifttum bei Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifvertragsrechts, 2006, S. 181; vgl. zu der um das Untermaßverbot kreisenden Diskussion etwa: Cremer, Freiheitsgrundrechte, 2003, S. 310 ff.; Dietlein, ZG 1995, S. 131 ff.; Hain, ZG 1996, S. 75 ff.; O. Klein, JuS 2006, S. 960 ff.; Störring, Das Untermaßverbot in der Diskussion, 2009.
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Grundrechtsträgern98 einer staatlichen, grundrechtlich beeinflussten Regulierung zu unterwerfen. b) Schleyer (BVerfGE 46, 160) Eine der frühen Schutzpflichtenentscheidungen ist auch das unter dramatischen Umständen99 getroffene Urteil im Schleyer-Verfahren.100 Der Erste Senat wiederholte hier den Obersatz aus der ersten Abtreibungsentscheidung, wonach Art. 2 Abs. 2 Satz 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG den Staat verpflichte, jedes menschliche Leben auch vor Übergriffen Dritter zu schützen.101 Es obliege aber den zuständigen – hier: exekutiven – Organen die Entscheidung, auf welche Weise sie die Schutzpflicht, die nicht nur gegenüber dem Entführten, sondern auch gegenüber der Gesamtheit aller Bürger bestehe, erfülle.102 c) Schutzpflichten gegenüber technischen Gefahren und Beeinträchtigungen In weiteren Entscheidungen, die die Nutzung der Kernenergie beziehungsweise Fluglärm zum Gegenstand hatten, hat das Bundesverfassungsgericht wiederum aus den „objektivrechtliche[n] Wertentscheidungen der Verfassung“ beziehungsweise aus dem „objektiv-rechtlichen Gehalt“ der Grundrechte eine Schutzpflicht gegenüber dem Betrieb von Kernenergieanlagen beziehungsweise Flughäfen abgeleitet.103 d) Staatliches Handeln als schutzpflichtenauslösender Umstand? Werden in der Literatur bereits die oben dargestellten Handelsvertreterund Bürgschaftsentscheidungen als Ausdruck einer gewissen „Schutzpflichtenhypertrophie“ angesehen104, so muss dies wohl erst Recht für eine Entscheidung aus dem Jahr 2005 gelten. Während eigentlich Konsens besteht,
98 Ob der Nasciturus Grundrechtsträger ist, ist vom Bundesverfassungsgericht zwar offen gelassen worden (BVerfGE 39, 1 (41)), wird aber von der wohl herrschenden Lehre bejaht: Höfling, in: Sachs (Hrsg.), GG, 6. Aufl. 2011, Art. 1 Rn. 60 m.w.N. zum Streitstand; a.A. Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG, Bd. I, 3. Aufl. 2013, Art. 1 Rn. 68 m.w.N. zum Streitstand. 99 Zu den tatsächlichen Umständen Breloer, Todesspiel, 3. Aufl. 1997; o.V., Archiv der Gegenwart 1977, S. 21300 ff. 100 Zu diesem Urteil bereits Burkiczak, JA 2005, S. 25 ff. m.w.N. 101 BVerfGE 46, 160 (164). 102 BVerfGE 46, 160 (165). 103 BVerfGE 49, 89 (140 ff.) – Kalkar; BVerfGE 53, 30 (57) – Mülheim-Kärlich; BVerfGE 56, 54 (73 ff., 80 ff.) – Flughafen Düsseldorf; BVerfGK 16, 68 (71 ff.) – Flughafen BerlinSchönefeld; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 15. Oktober 2009 – 1 BvR 3522/08 –, juris Rn. 26 f. – Flughafen Leipzig/Halle. 104 So Krings, Grund und Grenzen grundrechtlicher Schutzansprüche, 2003, S. 347.
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dass grundrechtliche Schutzpflichten zwar den Staat verpflichten, nicht aber durch Handeln deutscher Staatsorgane aktiviert werden können,105 vertrat der Erste Senat nun die Auffassung, dass im konkreten Fall eine Norm, die eine bestimmte Materie der privatautonomen Regelung entzog (§ 14 Abs. 1 Satz 3 VAG), Schutzpflichten des Gesetzgebers auslöse,106 also nicht die abwehrrechtliche Grundrechtsdimension einschlägig sei. Noch augenfälliger ist dies in einer anderen Konstellation, die eindeutig abwehrrechtlich zu bewältigen gewesen wäre. So rekurriert eine Kammer des Ersten Senats im Gäfgen-Fall wiederholt auf die Schutzpflichten aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG,107 obwohl es um Verhalten von Polizisten in hoheitlicher Funktion und damit um eine klassische abwehrrechtliche Konstellation ging. e) Rechtsprechungsstand Die Existenz der schutzpflichtenrechtlichen Dimension der Grundrechte kann mittlerweile als kanonisiert gelten, auch wenn sie im Urteil des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts zur Sicherungsverwahrung aus dem Jahr 2011108 trotz ihrer offensichtlichen Einschlägigkeit und ihrer Thematisierung in der mündlichen Verhandlung 109 nicht erwähnt wird.110 Es besteht weithin Einigkeit, dass alle Freiheitsrechte des Grundgesetzes eine solche Dimension aufweisen,111 dass sie bei Übergriffen nichtstaatlicher Dritter in den Schutzbereich der jeweiligen Grundrechte aktiviert wird 112 und dass die 105 Vgl. Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG, Bd. 1, 3. Aufl. 2013, Vorb. Rn. 101; Isensee, in: ders./Kirchhof (Hrsg.), HStR IX, 3. Aufl. 2011, § 191 Rn. 247; Jarass, in: ders./Pieroth, GG, 12. Aufl. 2012, Vorb. vor Art. 1 Rn. 7. 106 BVerfGE 114, 1 (33 ff.); zu Recht kritisch Sachs, in: ders. (Hrsg.), GG, 6. Aufl. 2011, Vor Art. 1 Rn. 38; ausführlich ders., Grundrechtliche Schutzpflichten und wirtschaftliche Beziehungen Privater, in: Bauer/Czybulka/Kahl/Voßkuhle (Hrsg.), Wirtschaft im offenen Verfassungsstaat, FS R. Schmidt, 2006, S. 385 ff. 107 BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 19. Februar 2008 – 1 BvR 1807/07 –, NJW 2008, S. 1060 (1063). 108 BVerfGE 128, 326 ff. 109 Vgl. die Verhandlungsgliederung in der Pressemitteilung Nr. 117/2010 des Bundesverfassungsgerichts vom 16.12.2010. 110 Dazu auch Burkiczak, in: Kluth/Krings, Gesetzgebung, 2014, § 35 Rn. 115. 111 BVerfGE 92, 26 (46); Erichsen, Jura 1997, S. 85 (86) m.w.N.; Isensee, in: ders./Kirchhof (Hrsg.), HStR IX, 3. Aufl. 2011, § 191 Rn. 222; Merten, Grundrechtliche Schutzpflichten und Untermaßverbot, in: Stern/Grupp (Hrsg.), Gedächtnisschrift Burmeister, 2005, S. 227 (233); Murswiek, in: Sachs (Hrsg.), GG, 6. Aufl. 2011, Art. 2 Rn. 25; Sachs, in: ders. (Hrsg.), GG, 6. Aufl. 2011, Vor Art. 1 Rn. 35 m.w.N. aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts; so auch Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, 2001, S. 168: „mittlerweile überwiegende[...] Meinung“. 112 Statt aller Isensee, in: ders./Kirchhof (Hrsg.), HStR IX, 3. Aufl. 2011, § 191 Rn. 218, 225, 247; zur Frage, ob auch Naturgefahren und auswärtige öffentliche Gewalt grundrechtliche Schutzpflichten auslösen können, siehe dens., a.a.O., § 191 Rn. 206 f. beziehungsweise 208 f. m.w.N. zum Streitstand.
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Erfüllung der Schutzpflichten in erster Linie dem Gesetzgeber obliegt,113 der dabei einen weiten Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum hat.114 Dessen Entscheidungen können vom Bundesverfassungsgericht nur daraufhin kontrolliert werden, ob sie dem Untermaßverbot genügen,115 also eine Pflicht zur schutzpflichtengeleiteten Intervention nicht evident verletzen.116 Ebenso ist weithin anerkannt, dass grundrechtliche Schutzpflichten der einfachgesetzlichen Umsetzung bedürfen, um dem Staat schützendes Eingreifen in abwehrrechtlich geschützte Freiheiten der Bürger zu ermöglichen.117 3. Drittwirkung, Schutzpflichten und die Gleichheitsrechte Einer differenzierten Betrachtung bedarf die Frage, welche Rolle die Gleichheitsrechte des Grundgesetzes in privatrechtlichen Beziehungen spielen, wobei die Frage aufgrund ihrer europarechtlichen Überlagerung im Ergebnis ohnehin an Bedeutung verloren hat. Die unterschiedlichen Grundlagen und Zielrichtungen von Freiheitsrechten einerseits und Gleichheitsrechten andererseits verbieten eine undifferenzierte Erstreckung grundrechtsdogmatischer Erkenntnisse von dem einen auf den anderen Grundrechtstyp.118 Das besonders Prekäre an einer Einwirkung der Gleichheitsrechte auf vertragliche Regelungen ist klar: Soweit die Gleichheitsrechte wirken, ist für die Freiheitsrechte kein Raum mehr. Während es bei den Schutzpflichten im Rahmen der grundrechtlichen Freiheitsrechte um die Frage geht, ob der Staat die Freiheitsräume seiner Bürger und
113 BVerfGE 56, 54 (81); 85, 191 (212); BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 26. Februar 2010 – 1 BvR 1541/09 u.a. –, NJW 2010, S. 1943 (1944 f., Rn. 20). 114 BVerfGE 85, 191 (212); BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 27. April 1995 – 1 BvR 729/93 –, NJW 1995, S. 2343; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 29. November 1995 – 1 BvR 2203/95 –, NJW 1996, S. 651; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 15. Oktober 2009 – 1 BvR 3522/08 –, juris Rn. 27; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 26. Februar 2010 – 1 BvR 1541/09 u.a. –, NJW 2010, S. 1943 (1944 f., Rn. 20). 115 Siehe die Nachweise oben in Fußn. 96 und 97. 116 So der Sache nach, wenn auch in unterschiedlichen Formulierungen: BVerfGE 56, 54 (81); 77, 170 (214 f.); 79, 174 (202); 85, 191 (212); 92, 26 (46); BVerfGK 16, 68 (72); 17, 57 (61); BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 15. Oktober 2009 – 1 BvR 3522/08 –, juris Rn. 27; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 26. Mai 1998 – 1 BvR 180/88 –, NJW 1998, S. 3264 (3265); BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 26. Februar 2010 – 1 BvR 1541/09 u.a. –, NJW 2010, S. 1943 (1944 f., Rn. 20). 117 Dazu Burkiczak, Der Vorbehalt des Gesetzes als Instrument des Grundrechtsschutzes, in: Emmenegger/Wiedmann (Hrsg.), Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, Bd. 2, 2011, S. 129 (146 f.) m.w.N. 118 Ähnlich Classen, AöR 122 (1997), S. 65 (93).
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deren Sicherheit auch gegenüber nichtstaatlichen Eingriffen zu schützen hat, betrifft die Frage nach dem Schutzpflichtengehalt der Gleichheitsrechte die Frage nach Gleichheitsverwirklichung nicht nur gegenüber dem Staat, sondern auch in der Gesellschaft, und beruht damit tendenziell auf eher gegenläufigen Handlungsimpulsen.119 Die Anwendung insbesondere des allgemeinen Gleichheitssatzes im Privatrechtsverkehr höbe die Freiheit der Privatrechtssubjekte auf 120 und würde – wie der Bundesgerichtshof festgestellt hat – die Vertragsfreiheit weitgehend aushöhlen.121 Entsprechend bestimmt das Grundgesetz gleichsam zur Betonung des Art. 1 Abs. 3 GG in Art. 3 Abs. 1 GG nochmals ausdrücklich, dass es um den Anspruch auf gleiche Behandlung „vor dem Gesetz“ geht, nicht aber um gleiche Behandlung durch den Mitbürger. Die Formulierung „vor dem Gesetz“ unterstreicht, dass der allgemeine Gleichheitssatz nicht vor unsachgemäßer Differenzierung Privater schützen kann, denen die Handlungsform des Gesetzes versperrt ist.122 Entsprechend wird in der Literatur wohl überwiegend angenommen, dass der Rechtssetzungs- und Rechtsanwendungsgleichheit des Art. 3 Abs. 1 GG, die ausschließlich staatsbezogene Pflichten darstellen,123 keine Schutzpflicht gegenüber privatem Handeln entnommen werden kann.124 Der Zivilrechtsgesetzgeber muss zwar – aufgrund seiner unmittelbaren Grundrechtsbindung125 – die formale Gleichheit der Teilnehmer am Privatrechtsverkehr
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Krings, Grund und Grenzen grundrechtlicher Schutzansprüche, 2003, S. 22. Starck, in: von Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG, Bd. 1, 6. Aufl. 2010, Art. 3 Rn. 291 m.w.N.; ähnlich Classen, AöR 122 (1997), S. 65 (93); ambivalent Rüfner, in: Bonner Kommentar zum GG, Art. 3 Rn. 193 (Oktober 1992). 121 BGHZ 70, 313 (325); ähnlich Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, 2001, S. 175 m.w.N.; R. Schmidt, Wirtschaftspolitik und Verfassung, 1971, S. 245; siehe auch schon Doehring, Staatsrecht, 3. Aufl. 1984, S. 208. 122 So zutreffend Krings, Grund und Grenzen grundrechtlicher Schutzansprüche, 2003, S. 186; vgl. auch Depenheuer, ThürVBl. 1996, S. 270 (271); Leydecker, Der Tarifvertrag als exklusives Gut, 2005, S. 211; Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, 2003, S. 337 ff. 123 Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, 2003, S. 337 ff., bezieht dies auf alle Gleichheitsrechte. 124 Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, 2. Aufl. 2005, S. 84; Erichsen, Jura 1997, S. 85 (87); Isensee, in: ders./Kirchhof (Hrsg.), HStR IX, 3. Aufl. 2011, § 191 Rn. 222, 251; Krings, Grund und Grenzen grundrechtlicher Schutzansprüche, 2003, S. 186; Lenz/Leydecker, ZG 2006, S. 407 (411); Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, 2001, S. 175 f.; skeptisch gegenüber Schutzpflichten bei Gleichheitsrechten auch Sacksofsky, Das Grundrecht auf Gleichberechtigung, 2. Aufl. 1996, S. 201; in Bezug auf den allgemeinen Gleichheitssatz skeptisch auch Leydecker, Der Tarifvertrag als exklusives Gut, 2005, S. 211; Rüfner, in: Bonner Kommentar zum GG, Art. 3 Rn. 611 (Mai 1996); zurückhaltend auch Osterloh, in: Sachs (Hrsg.), GG, 6. Aufl. 2011, Art. 3 Rn. 67, nach der dem Gleichheitssatz jedenfalls nur eine flankierende Schutzfunktion im Rahmen der Freiheitsrechte zukomme. 125 Heun, in: Dreier (Hrsg.), GG, Bd. I, 3. Aufl. 2013, Art. 3 Rn. 70. 120
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gewährleisten,126 ist aber nicht grundrechtlich verpflichtet, die Privatrechtssubjekte ihrerseits zur gegenseitigen Gleichbehandlung anzuhalten.127 Anders verhält es sich mit dem besonderen Differenzierungsverbot des Art. 3 Abs. 2 GG. Die in Art. 3 Abs. 2 Satz 2 GG postulierte „tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung“ bietet die Grundlage dafür, Art. 3 Abs. 2 GG der Sache nach eine bereichsspezifische gleichheitsrechtliche Schutzpflicht zu entnehmen.128 Entsprechend hat auch das Bundesverfassungsgericht dem Art. 3 Abs. 2 GG einen Schutzpflichtengehalt entnommen.129 Art. 3 Abs. 2 GG stelle über das Differenzierungsverbot des Art. 3 Abs. 3 GG ein Gleichberechtigungsgebot auf, erstrecke dieses auch auf die gesellschaftliche Wirklichkeit und ziele auf die Angleichung der Lebensverhältnisse.130 Das Gericht stellt den Zusammenhang zur Schutzpflichtenlehre her, indem es ausführt, dass bei Vorschriften, die grundrechtliche Schutzpflichten erfüllen sollen, das maßgebende Grundrecht dann verletzt sei, wenn ihre Auslegung und Anwendung den vom Grundrecht vorgezeichneten Schutzzweck grundlegend verfehle.131 Indem das Bundesverfassungsgericht gerade im Schutzpflichtengehalt den Unterschied zwischen Art. 3 Abs. 2 GG und Art. 3 Abs. 3 GG sieht 132 und vor dem Hintergrund des diskrepanten Wortlauts, wird auch deutlich, dass Art. 3 Abs. 3 GG dem Anwendungsbereich grundrechtlicher Schutzpflichten verschlossen bleibt.133 Damit gilt für Art. 3 Abs. 3 GG, der eine Konkretisierung des allgemeinen Gleichheitssatzes aus Art. 3 Abs. 1 GG in der Weise darstellt,134 dass die dort genannten Eigenschaften keinen zulässigen Grund
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Krings, Grund und Grenzen grundrechtlicher Schutzansprüche, 2003, S. 186. Krings, Grund und Grenzen grundrechtlicher Schutzansprüche, 2003, S. 186; Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, 2003, S. 337 ff.; Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, 2001, S. 176; siehe auch Fußn. 137. 128 In diesem Sinne wohl Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, 2. Aufl. 2005, S. 84 f.; Erichsen, Jura 1997, S. 85 (87); anders Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, 2001, S. 180 f., der auf Art. 3 Abs. 2 Satz 1 i.V.m. Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG abstellt; anderer Ansicht Jestaedt, VVDStRL 64 (2005), S. 298 (345) – nur Staatszielbestimmung; Uerpmann-Wittzack, in: Merten/Papier (Hrsg.), HGr V, 2013, § 128 Rn. 30, nach dem Schutzpflichten wegen Gleichheitswidrigkeiten erst aktiviert werden, wenn die Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG verletzt ist. 129 BVerfGE 89, 276 (285 f.); siehe auch BVerfGE 88, 203 (260); 109, 64 (89 f.); Richter, in: Merten/Papier (Hrsg.), HGr V, 2013, § 126 Rn. 45. 130 BVerfGE 89, 276 (285); 92, 91 (109); 109, 64 (89); 113, 1 (15). 131 BVerfGE 89, 276 (286). 132 BVerfGE 89, 276 (285) beziehungsweise BVerfGE 92, 91 (109). 133 Krings, Grund und Grenzen grundrechtlicher Schutzansprüche, 2003, S. 187 f.; Uerpmann-Wittzack, in: Merten/Papier (Hrsg.), HGr V, 2013, § 128 Rn. 29 (allerdings anders – Rn. 30 –, wenn zugleich die Menschenwürde verletzt würde); a.A. wohl Sachs, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR VIII, 3. Aufl. 2010, § 182 Rn. 144. 134 Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, 2. Aufl. 2005, S. 84; Krings, Grund und Grenzen grundrechtlicher Schutzansprüche, 2003, S. 186. 127
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für eine Ungleichbehandlung bieten,135 hinsichtlich der Frage des Schutzpflichtengehaltes dasselbe wie für eben diesen allgemeinen Gleichheitssatz.136 Die Diskriminierungsverbote des Art. 3 Abs. 3 GG verpflichten den Staat also insbesondere nicht, Diskriminierungen durch Private zu unterbinden.137 4. Ankündigungsrechtsprechung: Fraport (BVerfGE 128, 226) Auf den ersten Blick keine Entscheidung zur Grundrechtswirkung zwischen Privaten ist das Fraport-Urteil des Ersten Senats aus dem Jahr 2010.138 Die Senatsmehrheit konstruiert die Entscheidung nämlich auf der Prämisse, dass die mehrheitlich in staatlicher beziehungsweise kommunaler Hand befindliche Fraport AG unmittelbar grundrechtsgebunden sei.139 Der Senat geht in Übereinstimmung mit der herrschenden Ansicht 140 zu Recht davon aus, dass der Staat sich nicht durch ein Handeln in privatrechtlicher Form seiner Grundrechtsbindung aus Art. 1 Abs. 3 GG entziehen könne.141 Entgegen der überwiegenden Lehrmeinung 142 hat die Senatsmehrheit aber darüber hinaus auch angenommen, dass nicht (nur) die öffentlichen Anteilseigner eines gemischtwirtschaftlichen Unternehmens, sondern das gemischtwirtschaftliche Unternehmen selbst grundrechtsgebunden sei, wenn es von den öffentlichen Anteilseignern beherrscht werde.143 Dabei vernachlässigt die Senatsmehrheit die grundrechtlichen Positionen der privaten Anteilseigner,144 die sie lediglich darauf verweist, sie könnten ihre Eigentumsanteile ja verkaufen145 – als ob sich grundrechtliche Gewährleistungen darin erschöpfen würden, Grundrechtsbeeinträchtigungen durch den Verzicht auf Grundrechtsausübung zu entgehen. 135 Rüfner, in: Bonner Kommentar zum GG, Art. 3 Rn. 541 (Mai 1996), misst Art. 3 Abs. 3 GG nur deklaratorische Bedeutung zu. 136 Ambivalent Rüfner, in: Bonner Kommentar zum GG, Art. 3 Rn. 606, 611 (Mai 1996). 137 Britz, VVDStRL 64 (2005), S. 351 (361 ff.) m.w.N.; Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, 2003, S. 337 ff.; Uerpmann-Wittzack, in: Merten/Papier (Hrsg.), HGr V, 2013, § 128 Rn. 37. 138 BVerfGE 128, 226 ff. mit Sondervotum Schluckebier, S. 269 ff. 139 BVerfGE 128, 226 (244 ff.). 140 Siehe etwa Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG, Bd. I, 3. Aufl. 2013, Art. 1 III Rn. 66 ff.; Höfling, in: Sachs (Hrsg.), GG, 6. Aufl. 2011, Art. 1 Rn. 104. 141 BVerfGE 128, 226 (245). 142 Enders, in: Friauf/Höfling (Hrsg.), Berliner Kommentar zum GG, Art. 1 Rn. 172 (Januar 2011); Herdegen, in: Maunz/Dürig (Begr.), GG, Art. 1 Abs. 3 Rn. 96 (Februar 2005); Höfling, in: Sachs (Hrsg.), GG, 6. Aufl. 2011, Art. 1 Rn. 104; Kempen, in: Merten/ Papier (Hrsg.), HGr II, 2006, § 54 Rn. 56; Rüfner, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR V, 2. Aufl. 2000, § 177 Rn. 49; a.A. Jarass, in: ders./Pieroth, GG, 12. Aufl. 2012, Art. 1 Rn. 40. 143 BVerfGE 128, 226 (246); kritisch Dreier, in: ders., GG, Bd. I, 3. Aufl. 2013, Art. 1 III Rn. 72; Enders, JZ 2011, S. 577 (578). 144 Kritisch etwa auch Rüfner, in: Isensee/Kirchhof, HStR IX, 3. Aufl. 2011, § 197 Rn. 82. 145 BVerfGE 128, 226 (247).
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Die hier nicht zuletzt zu Lasten des Eigentumsgrundrechts – früher vom Bundesverfassungsgericht noch als „elementares Grundrecht“ bezeichnet146 – zum Vorschein kommende Hierarchisierung der Grundrechte bricht sich in der Entscheidung auch an anderer Stelle und durchaus polemisch Bahn: Ein vom Elend der Welt unbeschwertes Gemüt der Bürger sei kein Belang, zu dessen Schutz der Staat Grundrechtspositionen einschränken dürfe.147 Bis dahin hatte man davon ausgehen dürfen, dass sich z.B. auch der Flughafenkunde, der möglichst ohne Verzug sein Flugzeug erreichen will, auf Grundrechte (zumindest die allgemeine Handlungsfreiheit) und damit Güter von Verfassungsrang berufen könne. Vor allem aber lassen die durch den zu beurteilenden Sachverhalt – gerade auf der erwähnten Prämisse der Senatsmehrheit – überhaupt nicht veranlassten Ausführungen zur möglichen Grundrechtsbindung Privater aufhorchen.148 So kündigt die Senatsmehrheit an, dass Private möglicherweise „– etwa im Wege der mittelbaren Drittwirkung – unbeschadet ihrer eigenen Grundrechte ähnlich oder auch genauso weit [sic!] durch die Grundrechte in Pflicht genommen werden, insbesondere wenn sie in tatsächlicher Hinsicht in eine vergleichbare Pflichten- und Garantenstellung hineinwachsen wie traditionell der Staat.“149 Die unmittelbare Grundrechtsbindung unterscheide sich von der in der Regel [sic!] nur mittelbaren Grundrechtsbindung, was aber nicht bedeute, dass die – sei es mittelbare, sei es unmittelbare [sic!] – Inpflichtnahme Privater in jedem Fall weniger weit reiche.150 Je nach Gewährleistungsinhalt und Fallgestaltung könne die mittelbare Grundrechtsbindung Privater einer Grundrechtsbindung des Staates vielmehr nahe oder auch gleich kommen.151 Wenn Letzteres ernst gemeint ist, wirft dies nicht zuletzt die Frage auf, welche Konsequenzen daraus folgen: Darf dann auch der Bürger nur noch auf gesetzlicher Grundlage tätig werden? Das Gericht ginge, wenn es diese Ankündigung umsetzen würde, übrigens weiter als selbst die Anhänger der unmittelbaren Drittwirkung der Grundrechte aus den frühen Jahren des Grundgesetzes, die den Grundrechten im Staat-Bürger-Verhältnis eine andere „Wirkungsstärke“ als in der BürgerBürger-Konstellation zubilligten.152 Die dahinter stehende Motivlage ist
146 BVerfGE 42, 64 (76); ebenso BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 8. März 2012 – 2 BvR 2537/11 –, juris Rn. 14. 147 BVerfGE 128, 226 (266); so auch bereits BVerfGE 102, 347 (364) – Benetton-Werbung. 148 Dazu kritisch auch das Sondervotum Schluckebier, BVerfGE 128, 226 (269 (274 f.)). 149 BVerfGE 128, 226 (248) – Hervorhebung hinzugefügt. 150 BVerfGE 128, 226 (249). 151 BVerfGE 128, 226 (249). 152 Siehe Nipperdey, Grundrechte und Privatrecht, in: ders. (Hrsg.), FS Molitor, 1962, S. 17 (27). Nach Alexy, Theorie der Grundrechte, 1985, S. 489 f., war dies die Auffassung aller Vertreter der Theorie der unmittelbaren Drittwirkung.
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nicht auf Detailfragen der Grundrechtslehren beschränkt, sondern reicht weiter: Es geht darum, „einer Privatisierung des öffentlichen Raums entgegenzuwirken.“153
IV. Offene Fragen 1. Verhältnis von Drittwirkungs- und Schutzpflichtenrechtsprechung In der Spruchpraxis des Bundesverfassungsgerichts stehen Drittwirkungsund Schutzpflichtenrechtsprechung grundsätzlich nebeneinander.154 Das schließt nicht aus, dass Elemente beider Rechtsprechungslinien miteinander vermengt werden.155 In der Literatur ist hingegen zu Recht erkannt worden, dass die Schutzpflichten nicht neben der mittelbaren Drittwirkung der Grundrechte stehen, sondern sich die mittelbare Drittwirkung durch die Anwendung der Schutzpflichtendimension verwirklicht,156 und dass sich alle Problemkonstellationen mit Hilfe der abwehrrechtlichen und schutzrechtlichen Grundrechtsdimensionen bewältigen lassen.157 Deutlich formuliert: Die „Unklarheiten, Unschärfen und Unstimmigkeiten“ des Konzepts der mittelbaren Drittwirkung beziehungsweise der Ausstrahlungswirkung können durch „jüngere, exaktere und transparentere grundrechtsdogmatische Kategorien“ ersetzt werden.158 Die Rede von der mittelbaren Drittwirkung erweist sich letztlich 153 So ausdrücklich Masing, Grundrechtsschutz trotz Privatisierung, in: Bäuerle/Dann/ Wallrabenstein (Hrsg.), Demokratie-Perspektiven, FS Bryde, 2013, S. 409 (421). 154 Parallel erwähnt etwa in BVerfGE 128, 226 (249) – Fraport. 155 So etwa bei BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 17. Juli 2013 – 1 BvR 3167/08 –, juris Rn. 17 ff., wo einerseits auf die Drittwirkungs- beziehungsweise Ausstrahlungsrechtsprechung Bezug genommen, andererseits aber auch von Schutzpflichten gesprochen, dann jedoch weder begrifflich noch der Sache nach mit dem Untermaßverbot operiert wird. 156 Enders, in: Friauf/Höfling (Hrsg.), Berliner Kommentar zum GG, vor Art. 1 Rn. 69 f. (Oktober 2000); Herdegen, in: Maunz/Dürig (Begr.), GG, Art. 1 Abs. 3 Rn. 64 (Februar 2005); Kaufhold, Die Lehrfreiheit – ein verlorenes Grundrecht?, 2006, S. 296 m.w.N.; Krings, in: Die subjektiv-rechtliche Rekonstruktion der Schutzpflichten aus dem grundrechtlichen Freiheitsbegriff, in: Sachs/Siekmann (Hrsg.), Der grundrechtsgeprägte Verfassungsstaat, FS Stern, 2012, S. 425 (439); ähnlich bereits Böckenförde, Zur Lage der Grundrechtsdogmatik nach 40 Jahren Grundgesetz, 1990, S. 37 f. 157 Canaris, Grundrechte und Privatrecht, 1999, S. 36 ff.; Jestaedt, in: Merten/Papier (Hrsg.), HGr IV, 2011, § 102 Rn. 29; Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, 2001, S. 88 ff., 252 ff., 553; tendenziell auch Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG, Bd. I, 3. Aufl. 2013, Vorb. Rn. 100. 158 Jestaedt, in: Merten/Papier (Hrsg.), HGr IV, 2011, § 102 Rn. 29; ähnlich Sachs, Grundrechtliche Schutzpflichten und wirtschaftliche Beziehungen Privater, in: Bauer/Czybulka/Kahl/Voßkuhle (Hrsg.), Wirtschaft im offenen Verfassungsstaat, FS R. Schmidt, 2006, S. 385.
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aufgrund ihrer Vagheit und fehlender konkreter Operationalisierbarkeit nicht als grundrechtsdogmatische Figur, sondern lediglich als nebulöse Beschreibung eines rechtlichen Zusammenhangs. Als dogmatische Kategorie ebenso untauglich erscheint die „Ausstrahlungswirkung“,159 weil auch dieser Begriff einen rationalen Problemlösungszugriff eher erschwert. Es ist ein Begriff, der Alles und Nichts sagt und letztlich jede gerichtliche Entscheidung zu rechtfertigen vermag.160 Maßstabslose „Maßstäbe“ sind aber als rechtsstaatliche Leitplanken gerichtlichen Handelns untauglich.161 Der Vorteil einer – je nach Sachverhalt – strengen abwehr- beziehungsweise schutzrechtlichen Bewältigung der jeweiligen Fallkonstellation besteht in der stärkeren Vorgabe der Prüfungsschritte und -maßstäbe im Vergleich zu einer allgemeinen Abwägungsjurisprudenz.162 Zwar entfaltet für Letztere gerade der abwehrrechtlich relevante Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne in der konkreten deutschen Justizpraxis ein besonderes Realisierungsrisiko.163 Jedoch stellt der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz immerhin überhaupt ein handhabbares Prüfprogramm zur Verfügung,164 während der allgemeine Verweis auf eine Auslegung privatrechtlicher Normen „im Lichte der Grundrechte“ eher zur Verdunklung des Verhältnisses von Privatrecht und Verfassungsrecht beiträgt. Dabei ist natürlich nicht die Verhältnismäßigkeit des Verhaltens von Grundrechtsträgern zu prüfen,165 sondern die Verhältnismäßigkeit staatlicher Reaktion auf privates Handeln.166 Deutlicher wird der mögliche Rationalitätsgewinn noch bei den Verfahren, die schutzpflichtenrechtlich einzuordnen sind. Indem hier das Untermaßverbot die gerichtliche Kontrolldichte bei richtiger Anwendung deutlich 159
Etwa BVerfGE 7, 198 (207); 73, 261 (269); 76, 143 (161); 115, 51 (67). Ähnlich Müller-Franken, Bindung Privater an Grundrechte?, Zur Wirkung der Grundrechte auf Privatrechtsbeziehungen, in: Detterbeck/Rozek/von Coelln (Hrsg.), Recht als Medium der Staatlichkeit, FS Bethge, 2009, S. 223 (234). 161 Ähnlich BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 7. März 2012 – 1 BvR 1209/11 –, juris Rn. 30, allerdings als Vorwurf gegenüber dem Fachgericht: Die Entscheidung des Berufungsgerichtes genüge nicht den sich aus Art. 12 Abs. 1 GG ergebenden Erfordernissen, weil das Verständnis eines bestimmten Begriffs des Berufungsgerichts so unbestimmt sei, „dass auf seiner Grundlage jede nachvollziehbare Subsumtion ausscheidet.“ 162 Kritisch zu einer grundrechtlichen „Wertabwägung“, weil diese „Verhüllungsformel für richterlichen beziehungsweise interpretatorischen Dezisionismus“ sei: Böckenförde, NJW 1974, S. 1529 (1534); kritisch gegenüber der „Nutzung von Grundrechten als Argument zur politischen Durchsetzung von Werteauffassungen“ auch Di Fabio, Grundrechte als Argument – Drittwirkungslehre und Wertordnungsidee, in: Herdegen/Klein/Papier/ Scholz (Hrsg.), Staatsrecht und Politik, FS Herzog, 2009, S. 35 (36). 163 Dazu etwa Hillgruber, JZ 2011, S. 861 (862). 164 A.A. in privatrechtlichen Konfliktlagen Maultzsch, JZ 2012, S. 1040 (1045). 165 Privates Handeln unterliegt nicht dem Verhältnismäßigkeitsprinzip; umfassend dazu Bieder, Das ungeschriebene Verhältnismäßigkeitsprinzip als Schranke privater Rechtsausübung, 2007, insbes. S. 27 ff. 166 Vgl. Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, 2003, S. 338. 160
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zurückführt, wird nicht nur der Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers geschützt, sondern nicht zuletzt der vom Grundgesetz gewollten Freiheit der Bürger gegenüber staatlichen Eingriffen auch und gerade in privaten Beziehungen größerer Raum belassen. 2. Subjektiver Schutzanspruch oder resubjektivierte objektive Schutzpflicht Nicht überzeugend erklärt ist in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bis heute, weshalb die Schutzpflichten Gegenstand eines objektivrechtlichen Gehalts der Grundrechte, gleichwohl aber Gegenstand subjektiver Rechte seien.167 Dieser Widerspruch haftet der Rechtsprechung an, weil das Bundesverfassungsgericht die grundrechtlichen Schutzpflichten den objektiv-rechtlichen Grundrechtsgehalten zuordnet,168 andererseits aber eine Rüge der Verletzung von Schutzpflichten im subjektiv-rechtlichen Verfassungsbeschwerdeverfahren zulässt.169 Eine tragfähige Lösung würde der in der Literatur vertretene Ansatz bieten, dass es sich auch bei den grundrechtlichen Schutzansprüchen – ebenso wie bei den Abwehrrechten – von vorneherein um subjektive Rechte und nicht um resubjektivierte objektive Grundrechtsgehalte handelt.170 Das gleiche Problem besteht auch für die sog. unmittelbare Drittwirkung,171 soweit man diese nicht ohnehin als Anwendungsfall der Schutzpflichten ansieht.172 3. Privatisierung als Herausforderung? Bisweilen wird in der Privatisierung bislang in staatlicher (regelmäßig monopolisierter) Hand befindlicher Aufgaben – also gerade in dem Verzicht auf Eingriffe insbesondere in die Berufsfreiheit – eine Herausforderung für 167 Siehe zum Problem etwa Böckenförde, Zur Lage der Grundrechtsdogmatik nach 40 Jahren Grundgesetz, 1990, S. 42 ff.; Enders, in: Friauf/Höfling (Hrsg.), Berliner Kommentar zum GG, vor Art. 1 Rn. 83 (Oktober 2000); Herdegen, in: Maunz/Dürig (Begr.), GG, Art. 1 Abs. 3 Rn. 28 (Februar 2005); Krings, in: Die subjektiv-rechtliche Rekonstruktion der Schutzpflichten aus dem grundrechtlichen Freiheitsbegriff, in: Sachs/Siekmann (Hrsg.), Der grundrechtsgeprägte Verfassungsstaat, FS Stern, 2012, S. 425 ff.; Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, 2001, S. 67, 237 ff. 168 BVerfGE 77, 170 (214); 85, 191 (212); 92, 26 (46). 169 BVerfGE 77, 170 (214); 79, 174 (201 f.); 125, 39 (78); BVerfGK 17, 57 (63); BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 27. April 1995 – 1 BvR 729/93 –, NJW 1995, S. 2343; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 26. Februar 2010 – 1 BvR 1541/09 u.a. –, NJW 2010, S. 1943 (1944, Rn. 13). 170 Dazu Krings, Grund und Grenzen grundrechtlicher Schutzansprüche, 2003, S. 235 ff.; ders., in: Die subjektiv-rechtliche Rekonstruktion der Schutzpflichten aus dem grundrechtlichen Freiheitsbegriff, in: Sachs/Siekmann (Hrsg.), Der grundrechtsgeprägte Verfassungsstaat, FS Stern, 2012, S. 425 (435 ff.). 171 Maultzsch, JZ 2012, S. 1040 (1044) m.w.N. 172 Dazu oben unter IV. 1.
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die Grundrechte gesehen.173 Dies bewegt auch das Bundesverfassungsgericht. So wird etwa in der Fraport-Entscheidung als – offenbar problematisches – Beispiel die Privatisierung der Post- und Telekommunikationsdienstleistungen genannt.174 Abgesehen davon, dass diese Ausführungen durch den Sachverhalt nicht veranlasst waren, ist auch daran zu erinnern, dass der Staat nicht wegen seiner früheren Funktion als Telekommunikationsdienstleister etwa an das Grundrecht aus Art. 10 GG gebunden war, sondern in erster Linie, weil man den Zugriff staatlicher Behörden insbesondere im Rahmen der Gefahrenabwehr und Strafverfolgung begrenzen wollte („postfremde Exekutive“).175 Daran hat sich aber durch die Privatisierung der früheren Bundespost nichts geändert, wovon ja nicht zuletzt die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 10 GG aus den letzten Jahren Zeugnis geben.176 Einschlägig kann in Fällen mit privaten Telekommunikationsunternehmen, die ja selbst Grundrechtsträger sind,177 nur die schutzpflichtenrechtliche Dimension der Grundrechte sein.178 Dies hatte der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts im Jahr 2002 mit Blick auf private Dritte auch noch so gesehen.179 Nichts anderes – keine Grundrechtsbindung – gilt auch für alle anderen Privatpersonen, unabhängig davon, ob sie auf Gebieten tätig sind, die früher durch den Staat beherrscht wurden.
V. Fazit und Ausblick Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Grundrechtswirkungen zwischen Privaten ist durch ihre kontinuierliche Ausweitung gekennzeichnet. Das Risiko der Anerkennung einer Grundrechtswirkung zwischen Privaten ist dabei klar und vielfach beschrieben: nämlich letztlich die Beschränkung grundrechtlich geschützter Freiheiten im Namen der Grund173 Vgl. Greve, Drittwirkung des grundrechtlichen Datenschutzes im digitalen Zeitalter, in: Franzius u.a. (Hrsg.), Beharren. Bewegen, FS Kloepfer, 2013, S. 665 ff.; Kloepfer, Verfassungsrecht II, 2010, § 50 Rn. 64; Masing, Grundrechtsschutz trotz Privatisierung, in: Bäuerle/Dann/Wallrabenstein (Hrsg.), Demokratie-Perspektiven, FS Bryde, 2013, S. 409 ff. 174 BVerfGE 128, 226 (249 f.). 175 Vgl. BVerfGE 67, 157 (171 f.). 176 BVerfGE 120, 274 ff. – Online-Durchsuchung; BVerfGE 124, 43 ff. – E-Mail-Beschlagnahme; BVerfGE 125, 260 ff. – Vorratsdatenspeicherung. 177 Die Grundrechtsträgerschaft der – überwiegend privatisierten – Deutschen Telekom AG wurde in BVerfGE 115, 205 (227 f.) zu Recht bejaht; ebenso BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 9. November 2009 – 1 BvR 2298/09 –, juris Rn. 12, zur überwiegend privatisierten Deutschen Post AG. 178 Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG, Bd. I, 3. Aufl. 2013, Art. 1 III Rn. 73; Herdegen, in: Maunz/Dürig (Begr.), GG, Art. 1 Abs. 3 Rn. 97 (Februar 2005); Stettner, in: Merten/Papier (Hrsg.), HGr IV, 2011, § 92 Rn. 48 ff. 179 BVerfGE 106, 28 (37).
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Grundrechtswirkungen zwischen Privaten
rechte selbst.180 Die Freiheitlichkeit des Gemeinwesens gewinnt durch eine Ausdehnung der – auch noch so mittelbaren – Grundrechtsbindung Privater nicht an Volumen. Das Freiheitsvolumen wird lediglich neu verteilt und zwar durch den Staat. Unabhängig vom Umverteilungsvolumen ist bereits der Umstand als solcher, dass der Staat in die Beziehungen Privater eingreift, freiheitsreduzierend.181 Letztlich muss sich der Bürger dann nämlich doch – erst vor den Zivilgerichten, spätestens vor dem Bundesverfassungsgericht – für sein grundrechtlich geschütztes Handeln rechtfertigen, obwohl der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts in seiner Fraport-Entscheidung zu Recht noch betont hat, dass der Bürger prinzipiell frei sei und sein Handeln nach subjektiven Präferenzen in privater Freiheit gestalten könne, ohne hierfür grundsätzlich rechenschaftspflichtig zu sein.182 Ist damit bereits jede sog. mittelbare Grundrechtsbindung Privater als tendenzielle Umgehung des Art. 1 Abs. 3 GG problematisch, lässt sich spätestens eine – im FraportUrteil bereits avisierte – Synchronität der Grundrechtsverpflichtungen des Staates und der Grundrechtsträger mit Art. 1 Abs. 3 GG nicht mehr vereinbaren.183 Mit der verfassungsrechtlichen Unterfütterung oder Überwölbung privat(rechtlich)er Beziehungen vollzieht sich – in den Worten Böckenfördes – die Entwicklung „vom parlamentarischen Gesetzgebungsstaat zum verfassungsgerichtlichen Jurisdiktionsstaat“.184 Der Berufung auf verfassungsrechtliche 180 Vgl. das Sondervotum Rupp-von Brünneck/Simon in BVerfGE 39, 1 (68 (73)); Brenner, in: Merten/Papier (Hrsg.), HGr V, 2013, § 115 Rn. 34; Greve, Drittwirkung des grundrechtlichen Datenschutzes im digitalen Zeitalter, in: Franzius u.a. (Hrsg.), Beharren. Bewegen, FS Kloepfer, 2013, S. 665 (672); Kloepfer, Verfassungsrecht II, 2010, § 50 Rn. 48; Isensee, Vertragsfreiheit im Griff der Grundrechte, in: Hübner/Ebke (Hrsg.), FS Großfeld, 1999, S. 485 (513). 181 Vgl. Ladeur, Die Drittwirkung der Grundrechte im Privatrecht – „Verfassungsprivatrecht“ als Kollisionsrecht, in: Calliess/Fischer-Lescano/Wielsch/Zumbansen (Hrsg.), Soziologische Jurisprudenz, FS Teubner, 2009, S. 543 (556 f.). Auch Di Fabio, Grundrechte als Argument – Drittwirkungslehre und Wertordnungsidee, in: Herdegen/Klein/Papier/ Scholz (Hrsg.), Staatsrecht und Politik, FS Herzog, 2009, S. 35 (38) spricht von „Verluste[n] in der Freiheitsbilanz.“ 182 BVerfGE 128, 226 (245); ähnlich P. M. Huber, Zur Drittwirkung von Grundrechten und Grundfreiheiten, in: Ruffert (Hrsg.), Dynamik und Nachhaltigkeit des Öffentlichen Rechts, FS M. Schröder, 2012, S. 335 (336); Masing, Grundrechtsschutz trotz Privatisierung, in: Bäuerle/Dann/Wallrabenstein (Hrsg.), Demokratie-Perspektiven, FS Bryde, 2013, S. 409 (410). 183 Kritisch zu einer Entwicklung, die auf die Unterscheidung zwischen unmittelbarer und mittelbarer Drittwirkung verzichtet, auch P. M. Huber, Zur Drittwirkung von Grundrechten und Grundfreiheiten, in: Ruffert (Hrsg.), Dynamik und Nachhaltigkeit des Öffentlichen Rechts, FS M. Schröder, 2012, S. 335 (339). 184 Böckenförde, Zur Lage der Grundrechtsdogmatik nach 40 Jahren Grundgesetz, 1990, S. 62; kritisch auch Di Fabio, Grundrechte als Argument – Drittwirkungslehre und Wertordnungsidee, in: Herdegen/Klein/Papier/Scholz (Hrsg.), Staatsrecht und Politik, FS Herzog, 2009, S. 35 (35 f.); Müller-Franken, Bindung Privater an Grundrechte?, Zur Wirkung
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Direktiven bedarf es nämlich nicht, soweit der Gesetzgeber bereits das Verhältnis zwischen Privaten geregelt hat. Der Mehrwert des Rückgriffs auf Verfassungsrecht besteht für die Gerichte darin, hieraus weitergehende Befugnisse zur Regulierung privater Beziehungen abzuleiten.185 Dies ist auch unter dem Gesichtspunkt der Gewaltenteilung problematisch, weil gerade die Pflicht zur Regelung konkurrierender Freiheitsausübung Aufgabe des Gesetzgebers ist.186 Der verfassungsrechtliche Impuls des Grundgesetzes zugunsten der Freiheit des Bürgers, dem Art. 1 Abs. 3 GG seine Strahlkraft verleiht, streitet daher auch für eine dogmatisch eingehegte, richterliche Dezision tendenziell erschwerende Konstruktion grundrechtlicher Wirkungen zwischen Privaten im Rahmen der abwehr- und schutzrechtlichen Dimensionen der Grundrechte. Die Entwicklung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts wird indes in eine andere Richtung gehen. Dass der Erste Senat in seinem FraportUrteil sogar von einer „Inpflichtnahme Privater“ spricht,187 geht über das bisherige Konzept der sog. mittelbaren Drittwirkung hinaus. Denn mittelbare Drittwirkung bedeutete nicht, dass die Bürger selbst zu Grundrechtsverpflichteten wurden.188 Dass die Rede von der sog. mittelbaren Drittwirkung zu solchen Missverständnissen einlädt, spricht denn auch zusätzlich für die Schutzpflichtenrechtskonstruktion, damit nicht in Vergessenheit gerät, dass auch dann, wenn es um ein Bürger-Bürger-Verhältnis geht, grundrechtsverpflichtet immer nur der Staat selbst ist.189
der Grundrechte auf Privatrechtsbeziehungen, in: Detterbeck/Rozek/von Coelln (Hrsg.), Recht als Medium der Staatlichkeit, FS Bethge, 2009, S. 223 (237 f.); R. Schmidt, Wirtschaftspolitik und Verfassung, 1971, S. 245. 185 Ähnliche Kritik bei Müller-Franken, Bindung Privater an Grundrechte?, Zur Wirkung der Grundrechte auf Privatrechtsbeziehungen, in: Detterbeck/Rozek/von Coelln (Hrsg.), Recht als Medium der Staatlichkeit, FS Bethge, 2009, S. 223 (237); Sachs, Grundrechtliche Schutzpflichten und wirtschaftliche Beziehungen Privater, in: Bauer/Czybulka/Kahl/Voßkuhle (Hrsg.), Wirtschaft im offenen Verfassungsstaat, FS R. Schmidt, 2006, S. 385 (393 f., 396, 401). 186 So noch BVerfGE 57, 295 (321); 83, 130 (142, 152); 108, 282 (311); siehe auch P. M. Huber, Zur Drittwirkung von Grundrechten und Grundfreiheiten, in: Ruffert (Hrsg.), Dynamik und Nachhaltigkeit des Öffentlichen Rechts, FS M. Schröder, 2012, S. 335 (339); R. Schmidt, Wirtschaftspolitik und Verfassung, 1971, S. 245 ff. 187 BVerfGE 128, 226 (249). 188 Herdegen, in: Maunz/Dürig (Begr.), GG, Art. 1 Abs. 3 Rn. 99 (Februar 2005); Rüfner, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR IX, 3. Aufl. 2011, § 197 Rn. 90. 189 Vgl. Höfling, in: Sachs (Hrsg.), GG, 6. Aufl. 2011, Art. 1 Rn. 112; Rüfner, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR IX, 3. Aufl. 2011, § 197 Rn. 90.
Die Grundrechtsberechtigung juristischer Personen aus der Europäischen Union Sebastian Strohmayr Leitentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts BVerfGE 129, 78 – „Cassina“, Designermöbel Urheberrecht Schrifttum (Auswahl) Bethge, Die Grundrechtsberechtigung juristischer Personen nach Art. 19 Abs. 3 Grundgesetz, 1985; Dreier, Art. 19 Abs. 3 GG, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. 1, 3. Aufl. 2013; Guckelberger, Zum Grundrechtsschutz ausländischer juristischer Personen, AöR 129 (2004), S. 618 ff.; Gundel, Der grundrechtliche Status der Ausländer, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. IX, 3. Aufl. 2011, § 198; Hillgruber, Anmerkung zum Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 19. Juli 2011, JZ 2011, S. 1118 ff.; Kotzur, Der Begriff der inländischen juristischen Personen nach Art. 19 Abs. 3 GG im Kontext der EU, DÖV 2001, S. 192 ff.; Kruchen, Europäische Niederlassungsfreiheit und „inländische“ Kapitalgesellschaften im Sinne von Art. 19 Abs. 3 GG, 2009; ders., Art. 19 III GG und die Sitztheorie – Konvergenzen von Verfassungs- und Internationalem Gesellschaftsrecht?, NZG 2012, S. 377 ff.; Ludwigs, Grundrechtsberechtigung ausländischer Rechtssubjekte, JZ 2013, S. 434 ff. ; Wernsmann, Grundrechtsschutz nach Grundgesetz und Unionsrecht vor dem BVerfG, NZG 2011, S. 1241 ff. Inhalt I. II.
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beschränkung der Grundrechtsberechtigung ausländischer juristischer Personen im Grundgesetz und in anderen Verfassungsrechtsordnungen . . . . . . . III. Die Entwicklung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts . . . . . 1. Grundrechtsberechtigung ausländischer juristischer Personen vor „Cassina“ 2. Die Entscheidung „Cassina“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Unionsrechtliche Vorgaben: Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs . 1. Die Rechtsfähigkeit von Gesellschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Das Diskriminierungsverbot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Begünstigte des Diskriminierungsverbots . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Der Anwendungsbereich der europäischen Verträge . . . . . . . . . . . c) Rechtfertigung von Diskriminierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Der Zugang zu Rechtsbehelfen und das Diskriminierungsverbot . . . . . . V. Stellungnahme zum „Cassina“-Beschluss aus unions- und verfassungsrechtlicher Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Erfüllung der unionsrechtlichen Anforderungen . . . . . . . . . . . . . . . a) Anwendungsbereich des Unionsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Grundrechtsberechtigung
b) Diskriminierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die „Staatsangehörigkeit“ juristischer Personen . . . . . . . . . . . . . . 2. Keine überschießende Europäisierung des Grundrechtsschutzes . . . . . . 3. Kein Übergriff in die Kompetenzen des verfassungsändernden Gesetzgebers 4. Die Anwendungserweiterung von Art. 19 Abs. 3 GG . . . . . . . . . . . . VI. Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I. Einleitung Eine der frühen Errungenschaften in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs ist, dass die Europäischen Verträge den Einzelnen Rechte verleihen, auf die sie sich unmittelbar gegenüber den Mitgliedstaaten berufen können.1 Neben dem Anwendungsvorrang des Unionsrechts gehört dieser Grundsatz der unmittelbaren Wirkung des Gemeinschafts- bzw. Unionsrechts zu den tragenden Grundlagen, welche die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft zu einer Rechtsgemeinschaft machten und dem Gemeinschaftsrecht sowie nunmehr dem Unionsrecht den Charakter einer supranationalen Rechtsordnung verliehen.2 Damit diese Verleihung von Rechten an Einzelne nicht leerläuft, müssen diese auch vor mitgliedstaatlichen Gerichten auftreten und sich auf ihre Rechte berufen können. Die grundsätzliche Rechts- und Parteifähigkeit von ausländischen juristischen Personen in Verfahren vor den deutschen Fachgerichten ist bereits seit langem höchstrichterlich anerkannt, so dass ihnen der volle Zugang zu deutschen Fachgerichten gewährleistet ist.3 Anders sah es dagegen lange hinsichtlich der Möglichkeit der Einlegung von Verfassungsbeschwerden aus. Grund dafür war die Vorschrift des Art. 19 Abs. 3 GG, wonach die Grundrechte auch für inländische juristische Personen gelten, soweit sie ihrem Wesen nach auf sie anwendbar sind. Von ausländischen juristischen Personen ist ausdrücklich nicht die Rede. Damit schien juristischen Personen aus der Europäischen Union der Weg nach Karlsruhe versperrt. Dies ist in der Literatur auf Zustimmung 4, aber auch früh schon
1 EuGH, Urteil vom 5. Februar 1963, Rs. 26/62, van Gend & Loos, Slg. 1963, S. 3 (24 ff.). 2 Vgl. Nettesheim, in: Oppermann/Classen/ders. (Hrsg.), Europarecht, 5. Aufl. 2011, § 9 Rn. 12; Voßkuhle, NVwZ 2010, S. 1 (5); siehe auch (ohne Erwähnung des Begriffs der Supranationalität) EuGH, Gutachten vom 14. Dezember 1991, 1/91, EWR-Abkommen, Slg. 1991, S. I-6079, Rn. 21; allgemein zu den Merkmalen supranationaler Rechtsordnungen Schroeder/Müller, Elements of Supranationality in the Law of International Organizations, in: Fastenrath u.a. (Hrsg.), From Bilateralism to Community Interest, FS Simma, 2011, S. 358 (361). 3 Siehe z.B. BGHZ 51, 27 (28); 97, 269 (271). 4 Siehe u.a. Bethge, Die Grundrechtsberechtigung juristischer Personen nach Art. 19 Abs. 3 Grundgesetz, 1985, S. 55 ff.; Quaritsch, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR V,
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auf Kritik5 gestoßen. Das Bundesverfassungsgericht hat nunmehr mit seinem Beschluss vom 19. Juli 20116 („Cassina“) Klarheit darüber geschaffen, dass juristische Personen aus der Europäischen Union sich im Anwendungsbereich des Unionsrechts unter den gleichen Voraussetzungen wie inländische juristische Personen auf Grundrechte berufen können, und ihnen damit den Weg nach Karlsruhe geöffnet. Der folgende Beitrag skizziert zunächst kurz die Regelung der Grundrechtsberechtigung ausländischer juristischer Personen im Grundgesetz und in anderen Rechtsordnungen (II.) und stellt anschließend die Entwicklung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bis zu dem Beschluss vom 19. Juli 2011 dar (III.). Auf die Darstellung der unionsrechtlichen Anforderungen an die Frage der Grundrechtsberechtigung juristischer Personen (IV.) folgt sodann eine Stellungnahme zum Beschluss vom 19. Juli 2011 aus unionsund verfassungsrechtlicher Perspektive (V.). Im abschließenden Ausblick wird insbesondere die durch den „Cassina“-Beschluss noch nicht ausdrücklich beantwortete Frage angesprochen, ob sich juristische Personen aus der EU auch auf die Deutschen-Grundrechte des Grundgesetzes berufen können (VI.)
II. Beschränkung der Grundrechtsberechtigung ausländischer juristischer Personen im Grundgesetz und in anderen Verfassungsrechtsordnungen Bei der Entstehung des Grundgesetzes und damit auch der Regelung des Art. 19 Abs. 3 GG spielten Anforderungen des Unionsrechts noch keine Rolle. Für einen grundrechtlichen Schutz ausländischer juristischer Personen wurde allgemein kein Bedürfnis gesehen.7 Als Begründung für die Begrenzung der Grundrechtsberechtigung auf inländische juristische Personen wurde später zum einen angegeben, ausländische juristische Personen erhielten ihre rechtliche Gestalt von ihrem Heimatstaat, unterlägen deshalb nur begrenzt den deutschen Gesetzen und könnten sich deren Kontrolle besser entziehen. Zum anderen wurde argumentiert, Deutschland würde sich ansonsten weithin der Verbürgung der Gegenseitigkeit für deutsche juristische Personen im Ausland begeben und dadurch den eigenen fremdenrechtlichen Aktionsspielraum einschränken.8 2. Aufl. 2000, § 120 Rn. 36 ff.; von Mutius, in: Dolzer (Hrsg.), Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 19 Abs. 3 Rn. 52 (April 1975). 5 Vgl. allgemein u.a. Ritter, NJW 1964, S. 279; speziell zur Grundrechtsberechtigung von juristischen Personen aus der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft Niessen, NJW 1968, S. 1017 ff.; Steinbrück, Grundrechtsschutz ausländischer juristischer Personen, 1981, S. 167 ff. 6 BVerfGE 129, 78. 7 Vgl. J.ö.R. n.F. 1 (1951), S. 182 f. 8 Ausführlich hierzu Bethge, Die Grundrechtsberechtigung juristischer Personen nach Art. 19 Abs. 3 Grundgesetz, 1985, S. 47 ff.; Stern, StR, Bd. III/2, 1988, S. 1136.
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Grundrechtsberechtigung
Die ausdrückliche Regelung einer auf inländische juristische Personen beschränkten Grundrechtsgeltung findet sich soweit ersichtlich in keiner anderen vergleichbaren Verfassungsordnung.9 Auch das Unionsrecht kennt keine grundsätzliche Beschränkung der von ihm verbürgten Grundrechte auf „inländische“ juristische Personen, also solche, die in einem der Mitgliedstaaten beheimatet wären. So enthält die Europäische Grundrechtecharta (GRC) keine allgemeinen Regeln zur Grundrechtsberechtigung. Die durch sie gewährleisteten Grundrechte sind – mit Ausnahme der in Titel V (Artikel 39 bis 46 GRC) enthaltenen Bürgerrechte sowie des in Art. 15 Abs. 2 GRC geregelten Rechts der Unionsbürger, in allen Mitgliedstaaten Arbeit zu suchen, zu arbeiten, sich niederzulassen und Dienstleistungen zu erbringen – Jedermannrechte, auf die sich auch Drittstaatsangehörige berufen können.10 Inwieweit die Grundrechte auch auf juristische Personen anwendbar sind, ist durch Auslegung der einzelnen Grundrechtsbestimmungen zu ermitteln.11 Dies gilt für juristische Personen aus Drittstaaten in gleicher Weise wie für solche aus der Europäischen Union. So hat das Europäische Gericht erster Instanz in zwei aktuellen Urteilen Grundrechtsbestimmungen der Charta auf juristische Personen nach iranischem Recht angewandt.12 Ähnliches gilt für die Europäische Menschenrechtskonvention. Art. 34 EMRK eröffnet neben natürlichen Personen auch nichtstaatlichen Organisationen und Personenvereinigungen den Rechtsbehelf der Individualbeschwerde, also allgemein juristischen Personen.13 Die Frage der Geltung der einzelnen Menschenrechtsbestimmungen für juristische Personen ist jeweils für die einzelne Verbürgung zu beantworten.14 Eine Begrenzung des persön-
9 Vgl. Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG, Bd. 1, 3. Aufl. 2013, Art. 19 III Rn. 24. In den Verfassungen von Italien und Portugal, auf die Dreier verweist, findet sich zwar jeweils eine Regelung zur Grundrechtsberechtigung juristischer Personen („formazioni sociali“ bzw. „pessoas colectivas“), es fehlt jedoch die Beschränkung auf inländische juristische Personen. Zum französischen Verfassungsrecht siehe Crones, Grundrechtlicher Schutz von juristischen Personen im Europäischen Gemeinschaftsrecht, 2002, S. 87 ff. 10 Jarass, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Aufl. 2013, Art. 51 Rn. 51; Streinz/Michl, in: Streinz (Hrsg.), EUV/AEUV, 2. Aufl. 2012, Art. 51 GRC Rn. 19. 11 Hatje, in: Schwarze/Hatje/Becker/Schoo (Hrsg.), EU-Kommentar, 3. Aufl. 2012, Art. 51 GRC Rn. 6; Streinz/Michl, a.a.O., Rn. 20. 12 EuG (4. Kammer), Urteil vom 29. Januar 2013, Rs. T-496/10, Bank Mellat, juris Rn. 36; Urteil vom 5. Februar 2013, Rs. T-494/10, Bank Saderat Iran, juris Rn. 34. 13 Meyer-Ladewig, Europäische Menschenrechtskonvention, 3. Aufl. 2011, Art. 34 Rn. 10. 14 So bejahte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in einer Entscheidung aus dem Jahr 2002 auf die Beschwerde einer französischen Gesellschaft einen Verstoß gegen ihr Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens in Form der Unverletzlichkeit der Geschäftsräume, Entscheidung vom 16. April 2002, Société Colas Est u.a. gg. Frankreich, Nr. 37971/97, Slg. 2002-III, S. 105.
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lichen Anwendungsbereichs der EMRK auf Angehörige der Mitgliedstaaten des Europarats oder auf juristische Personen aus den Mitgliedstaaten ist weder der EMRK noch der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu entnehmen. Eine solche stünde auch im Widerspruch zu Art. 1 EMRK, der die Vertragsparteien verpflichtet, allen ihrer Hoheitsgewalt unterstehenden Personen die Rechte und Freiheiten der EMRK zu sichern. Dies gilt unabhängig von der Staatsangehörigkeit.15
III. Die Entwicklung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts 1. Grundrechtsberechtigung ausländischer juristischer Personen vor „Cassina“ Ob bei der Frage der Grundrechtsberechtigung juristischer Personen aus dem EU-Ausland auch die Maßgaben des Unionsrechts zu berücksichtigen sind, wurde vom Bundesverfassungsgericht lange Zeit nicht in Erwägung gezogen. Das Gericht stellte in der Regel darauf ab, ob eine inländische oder ausländische juristische Person betroffen war, und differenzierte nicht zwischen juristischen Personen aus Mitgliedstaaten der Europäischen Union und aus Drittstaaten. So heißt es in einem Beschluss von 1967 noch lapidar, dass der Beschwerdeführerin, einer „Association cultuelle“ französischen Rechts mit Sitz in Frankreich, als ausländischer juristischer Person die gerügten Grundrechte gemäß Art. 19 Abs. 3 GG nicht zustünden.16 In manchen Entscheidungen wurde die Frage der Grundrechtsberechtigung ausländischer juristischer Personen mangels Entscheidungserheblichkeit offen gelassen.17 Aber noch im Jahre 1999 hieß es in einer Entscheidung pauschal, dass Art. 10 GG auf ausländische juristische Personen gemäß Art. 19 Abs. 3 GG keine Anwendung finde.18 Auch hier wurden eventuelle besondere Anforderungen des Unionsrechts nicht angesprochen. Diese Rechtsprechung beschränkte sich allerdings auf die Grundrechte des Ersten Abschnitts des Grundgesetzes. Hinsichtlich der Geltung der grundrechtsgleichen Rechte aus Art. 101 GG und Art. 103 GG war man bei ausländischen juristischen Personen – ähnlich wie bei inländischen juristischen Personen des öffentlichen Rechts – großzügiger. Diese Rechte stünden jedem zu, der an einem gerichtlichen Verfahren als Partei beteiligt sei, gleich-
15 Vgl. für natürliche Personen Peukert, in: Frowein/ders., Europäische Menschenrechtskonvention, 2009, Art. 34 Rn. 13. 16 BVerfGE 23, 229 (236). 17 Vgl. BVerfGE 12, 6 (8); 18, 441 (447); 34, 338 (340); 64, 1 (11). 18 BVerfGE 100, 313 (364).
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Grundrechtsberechtigung
gültig, ob er eine natürliche oder juristische, eine inländische oder ausländische Person sei.19 Ein möglicher Wandel deutete sich dann in drei jüngeren Kammerbeschlüssen an, in denen die Frage, ob Art. 19 Abs. 3 GG die Grundrechtsberechtigung auch für juristische Personen mit Sitz in der Europäischen Union ausschließt, ausdrücklich angesprochen, aber offen gelassen wurde.20 Auch in einem Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats aus dem Jahr 2009 ging es um die Begrenzung der Grundrechtsberechtigung auf inländische juristische Personen im Rahmen von Art. 19 Abs. 3 GG. Die Kammer gab der Verfassungsbeschwerde einer überörtlichen Rechtsanwaltssozietät mit Standorten in Deutschland gegen eine gemäß § 103 StPO angeordnete Durchsuchung ihrer Geschäftsräume in den beiden inländischen Standorten im Rahmen eines steuerstrafrechtlichen Verfahrens statt und stellte eine Verletzung der Sozietät in ihrem Recht aus Art. 13 GG fest.21 Die Rechtsform und der Sitz der Sozietät werden in dem Beschluss nicht ausdrücklich genannt, es handelte sich aber offenbar jedenfalls nicht um eine deutsche juristische Person. Angesichts ihrer Betroffenheit durch die Durchsuchungen sowie der organisatorisch eigenständigen Stellung und des inländischen Tätigkeitsmittelpunktes der Beschwerdeführerin an beiden Standorten sei die Verfassungsbeschwerde wie die von einer inländischen juristischen Person erhobene Verfassungsbeschwerde gemäß Art. 19 Abs. 3 GG zu behandeln.22 Im Verweis auf den inländischen Tätigkeitsschwerpunkt klingt zwar die Sitztheorie an, die in der deutschen Rechtsprechung regelmäßig zur Bestimmung der Staatszugehörigkeit einer juristischen Person angewendet wird.23 Dennoch hat die Kammer die Beschwerdeführerin offenbar nicht einfach unter Anwendung der Sitztheorie als inländische juristische Person qualifiziert, denn in diesem Fall hätte es die Verfassungsbeschwerde nicht nur „wie die von einer inländischen juristischen Person erhobene“ behandeln müssen. Speziell zur Frage der Grundrechtsberechtigung juristischer Personen aus der Europäischen Union sind dem Beschluss keine Hinweise zu entnehmen.
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Vgl. BVerfGE 12, 6 (8); 18, 441 (447); 21, 362 (373); 64, 1 (11). Beschlüsse der 2. Kammer des Ersten Senats vom 22. Dezember 2000 – 1 BvR 2043/00 –, NZA 2001, S. 491, vom 2. April 2004 – 1 BvR 1620/03 –, NJW 2004, S. 3031 und vom 27. Dezember 2007 – 1 BvR 853/06 –, NVwZ 2008, S. 670. 21 BVerfGK 15, 225. 22 BVerfGK 15, 225 (240). 23 Vgl. zur Sitztheorie im Rahmen von Art. 19 Abs. 3 GG P. M. Huber, in: von Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG, 6. Aufl. 2010, Art. 19 Abs. 3 Rn. 297 ff. 20
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2. Die Entscheidung „Cassina“ Dieses Mauerblümchendasein in der Verfassungsrechtsprechung hat die Frage der Grundrechtsberechtigung juristischer Personen aus der Europäischen Union mit dem Beschluss vom 19. Juli 2011 („Cassina“) schlagartig verlassen, in dem das Bundesverfassungsgericht juristische Personen aus der Europäischen Union für grundrechtsberechtigt erklärte.24 Die Firma Cassina, eine GmbH nach italienischem Recht mit Sitz in Italien, hatte Verfassungsbeschwerde gegen ein Urteil des Bundesgerichtshofs erhoben. Sie ist Inhaberin der urheberrechtlichen Nutzungsrechte an von dem Designer Le Corbusier entworfenen Möbeln und produziert diese. In dem der Verfassungsbeschwerde zugrundeliegenden Rechtsstreit verklagte sie eine Zigarrenherstellerin, die Zigarrenlounges mit nachgebildeten Le Corbusier-Möbeln ausstattete, dies zu unterlassen. Der Bundesgerichtshof wies die Klage letztinstanzlich ab, da es sich bei dem Aufstellen der nachgebildeten Möbel nicht um ein Verbreiten im urheberrechtlichen Sinne handle und damit das urheberrechtliche Nutzungsrecht der Beschwerdeführerin nicht beeinträchtigt werde.25 Das Bundesverfassungsgericht lehnte im Ergebnis eine Verletzung des Eigentumsgrundrechts aus Art. 14 Abs. 1 GG ab und wies die Verfassungsbeschwerde deshalb zurück. Es bejahte indes die Vorfrage, ob sich die Beschwerdeführerin als juristische Person nach italienischem Recht überhaupt auf Art. 14 GG berufen könne.26 Die Grundfreiheiten sowie das allgemeine Diskriminierungsverbot aus Art. 18 AEUV stünden im Anwendungsbereich des Unionsrechts einer Ungleichbehandlung in- und ausländischer Unternehmen aus der Europäischen Union hinsichtlich der Grundrechtsberechtigung entgegen. Zwar übersteige es die Wortlautgrenze, die insofern erforderliche unionsrechtskonforme Auslegung auf das Merkmal „inländisch“ zu stützen, indem dieses als „deutsche einschließlich europäische“ juristische Personen verstanden würde.27 Stattdessen nahm das Bundesverfassungsgericht eine Anwendungserweiterung des Art. 19 Abs. 3 GG vor.28 Damit reagiere es auf die europäische Vertrags- und Rechtsentwicklung und vermeide eine Kollision mit dem Unionsrecht. Die Anwendungserweiterung von Art. 19 Abs. 3 GG beachte den Grundsatz des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts. Vorliegend sei dieser hinsichtlich der unionsrechtlichen Diskriminierungsverbote durch die vertragliche Zustimmung der Bundesrepublik zu Art. 18 AEUV und den
24 25 26 27 28
BVerfGE 129, 78 (94 ff.). BGH, Urteil vom 22. Januar 2009 – I ZR 148/06 –, ZUM-RD 2009, S. 531. BVerfGE 129, 78 (94 ff.). BVerfG, a.a.O., S. 96. BVerfG, a.a.O., S. 97 ff.
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Grundfreiheiten unter Wahrung der verfassungsrechtlichen Anforderungen gemäß Art. 79 Abs. 2 und 3 und Art. 23 Abs. 1 Satz 2 und 3 GG gebilligt worden.29 Um einen gleichwertigen Schutz zu sichern, müssten juristische Personen aus der Europäischen Union über eine materielle Gleichwertigkeit im fachgerichtlichen Verfahren hinaus die Möglichkeit haben, ihre Rechte auch mit Hilfe des Bundesverfassungsgerichts durchzusetzen. Voraussetzung dafür sei, dass die betroffene juristische Person aus der Europäischen Union im Anwendungsbereich des Unionsrechts tätig werde. Dieser richte sich nach dem jeweiligen Stand des Primär- und Sekundärrechts der Europäischen Union und damit nach den ihr in den europäischen Verträgen übertragenen Hoheitsrechten. Insbesondere sei er bei der Verwirklichung der Grundfreiheiten und dem Vollzug des Unionsrechts eröffnet. Dies sei bei den Tätigkeiten der Beschwerdeführerin der Fall, die sich auf das unionsrechtlich (teil)harmonisierte Urheberrecht berufe, welches durch wirtschaftliche Aktivitäten in Deutschland verletzt worden sein solle. Ein hinreichender Inlandsbezug liege regelmäßig vor, wenn die ausländische juristische Person in Deutschland tätig werde und hier vor den Fachgerichten klagen und verklagt werden könne.30 Von einer Vorlage vor den Europäischen Gerichtshof gemäß Art. 267 AEUV sah das Bundesverfassungsgericht ab, da es selbst zur unionsrechtskonformen Auslegung des nationalen Rechts befugt sei und die richtige Auslegung des Unionsrechts vorliegend so offenkundig sei, dass ein „acte clair“ vorliege und damit eine Ausnahme von der Vorlagepflicht.31
IV. Unionsrechtliche Vorgaben: Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs Soweit ersichtlich hat sich der Europäische Gerichtshof noch nicht mit den Vorgaben des Unionsrechts für die Gewährung von Grundrechtsschutz nach nationalem Recht oder für die Zugänglichkeit von verfassungsgerichtlichem Rechtsschutz befasst. Dennoch lassen sich seiner Rechtsprechung genügend Aussagen mit Relevanz für die Frage der Grundrechtsberechtigung ausländischer juristischer Personen entnehmen, die die Einschätzung des Bundesverfassungsgerichts stützen, die Auslegung der unionsrechtlichen Diskriminierungsverbote sei insofern offenkundig.
29 30 31
BVerfG, a.a.O., S. 99 f. BVerfG, a.a.O., S. 98 f. BVerfG, a.a.O., S. 100.
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1. Die Rechtsfähigkeit von Gesellschaften In der Rechtssache „Überseering“ wurde dem Gerichtshof von einem deutschen Gericht im Vorabentscheidungsverfahren sinngemäß die Frage gestellt, ob es mit der Niederlassungsfreiheit vereinbar sei, Gesellschaften, die ihren Sitz aus einem anderen EU-Staat nach Deutschland verlegen, die Rechts- und damit die Parteifähigkeit zu versagen. Mit den zwingenden Gründen des Allgemeininteresses, die für eine Versagung der Rechtsfähigkeit vorgetragen wurden (Schutz der Gläubiger, der Minderheitsgesellschafter und der Arbeitnehmer), setzte sich der Gerichtshof in seinem auch vom Bundesverfassungsgericht im „Cassina“-Beschluss zitierten Urteil nicht im Einzelnen auseinander. Er stellte vielmehr lapidar fest, dass solche Gründe es nicht rechtfertigen könnten, einer Gesellschaft die Rechts- und Parteifähigkeit abzusprechen, da dies einer Negierung der Niederlassungsfreiheit gleichkomme.32 Mit dieser Rechtsprechung kann es hier jedoch nicht sein Bewenden haben, da ja nicht eine komplette Negierung der Rechtsfähigkeit in Frage steht, sondern lediglich die Grundrechtsberechtigung und der damit verbundene Zugang zum außerordentlichen Rechtsbehelf der Verfassungsbeschwerde. 2. Das Diskriminierungsverbot 33 Die für die hier diskutierte Frage relevanten unionsrechtlichen Anforderungen gehen über die Anerkennung der Rechtsfähigkeit hinaus. Gemäß Art. 18 AEUV ist im Anwendungsbereich der europäischen Verträge unbeschadet besonderer Bestimmungen jede Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit verboten. a) Begünstigte des Diskriminierungsverbots Dieses Verbot begünstigt nicht nur die Unionsbürger als natürliche Personen, sondern auch juristische Personen aus der Europäischen Union.34 Wie die Zugehörigkeit einer juristischen Person zu einem Mitgliedstaat zu bestimmen ist, wird in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs 32
EuGH, Urteil vom 5. November 2002, Rs. C-208/00, Slg. 2002, S. I-9919, Rn. 93. Die weitere Darstellung zu den Anforderungen des Unionsrechts wird hier auf das allgemeine Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit gemäß Art. 18 AEUV beschränkt, das ohnehin immer dann zur Anwendung gelangt, wenn nicht eine der Grundfreiheiten in ihrer Ausprägung als Diskriminierungsverbot direkt einschlägig ist. 34 Urteil vom 20. Oktober 1993, verb. Rs. C-92/92 u. C-326/92, Phil Collins, Slg. 1993, S. I-5145, Rn. 30; Urteil vom 10. Februar 1994, Rs. C-398/92, Mund & Fester, Slg. 1994, S. I-467, Rn. 16; Urteil vom 26. September 1996, Rs. C-43/95, Data Delecta und Forsberg, Slg. 1996, S. I-4661, Rn. 22. 33
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zu Art. 18 AEUV nicht näher ausgeführt. Hier kann aber zumindest auf die Definition des Art. 54 AEUV zurückgegriffen werden, der im Bereich der Niederlassungsfreiheit diejenigen juristischen Personen mit natürlichen Personen gleichstellt, die einen Erwerbszweck verfolgen, nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats gegründet wurden und ihren satzungsmäßigen Sitz, ihre Hauptverwaltung oder ihre Hauptniederlassung in der EU haben.35 Dies legt auch die Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Niederlassungsfreiheit nahe, wonach die in Art. 54 AEUV genannten Kriterien ebenso wie die Staatsangehörigkeit bei natürlichen Personen dazu dienen, die Zugehörigkeit einer Gesellschaft zur Rechtsordnung eines Mitgliedstaats zu bestimmen.36 b) Der Anwendungsbereich der europäischen Verträge Zur Frage, wann eine – möglicherweise diskriminierende – Regelung in den Anwendungsbereich der europäischen Verträge fällt, gibt es zahlreiche Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs. Umstritten ist insofern insbesondere, ob das Freizügigkeitsrecht der Unionsbürger gemäß Art. 21 AEUV diesen einen Anspruch auf Zugang zu Sozialleistungen des Aufenthaltsstaats unter gleichen Bedingungen wie Inländern gibt.37 Für juristische Personen, in der Regel Unternehmen, spielt aber eine wichtigere Rolle, dass der Gerichtshof den Anwendungsbereich des Unionsrechts in der Regel dann als eröffnet ansieht, wenn eine Regelung im Zusammenhang mit der Ausübung der Grundfreiheiten steht.38 Dabei finden sich je nach Fallgestaltung – und je nach einschlägiger Grundfreiheit – unterschiedliche Formulierungen. So hat der Gerichtshof einerseits Auswirkungen auf den innergemeinschaftlichen Austausch von Gütern und Dienstleistungen ausreichen lassen.39 Solche hat er namentlich für den Bereich des Urheber-
35 So auch Holoubek, in: Schwarze/Hatje/Becker/Schoo (Hrsg.), EU-Kommentar, 3. Aufl. 2012, Art. 18 AEUV Rn. 34; Kotzur, DÖV 2001, S. 192 (194); von Bogdandy, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, Art. 18 AEUV Rn. 29 (September 2010). 36 EuGH, Urteil vom 13. Juli 1993, Rs. C-330/91, Commerzbank AG, Slg. 1993, S. I-4017, Rn. 13. 37 Grundlegend dazu EuGH, Urteil vom 20. September 2001, Rs. C-184/99, Grzelczyk, Slg. 2001, S. I-6193; zum deutschen BAföG EuGH, Urteil vom 18. Juli 2013, verb. Rs. C-523/11 und 585/11, Prinz und Seeberger, NJW 2013, S. 2879 ff. Aus der Literatur P. M. Huber, ZaöRV 2008, S. 307 ff.; Tomuschat, ZaöRV 2008, S. 327 ff. 38 EuGH, Urteil vom 2. Oktober 1997, Rs. C-122/96, Saldanha, Slg. 1997, S. I-5325, Rn. 17; mit vielen Beispielen aus der Rechtsprechung Holoubek, in: Schwarze/Hatje/ Becker/Schoo (Hrsg.), EU-Kommentar, 3. Aufl. 2012, Art. 18 AEUV Rn. 27. 39 EuGH, Urteil vom 26. September 1996, Rs. C-43/95, Data Delecta und Forsberg, Slg. 1996, S. I-4671, Rn. 14.
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rechts und der verwandten Schutzrechte insgesamt bejaht.40 Andererseits bejahte er den Anwendungsbereich der Verträge hinsichtlich des Anspruchs eines britischen Unionsbürgers auf eine Entschädigungszahlung aus einem französischen Fonds für Verbrechensopfer, der nur französischen Staatsangehörigen zur Verfügung stand, weil dieser dadurch von seiner Arbeitnehmerfreizügigkeit und Niederlassungsfreiheit Gebrauch gemacht habe, dass er seit mehr als zwanzig Jahren in Frankreich arbeitete und wohnte.41 c) Rechtfertigung von Diskriminierungen Ob eine formelle Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit im Rahmen des Art. 18 AEUV einer Rechtfertigung zugänglich ist, ist in der Literatur umstritten.42 Im Urteil in der Rechtssache „Heinz Huber/Bundesrepublik“ hielt der Gerichtshof eine Rechtfertigung jedenfalls grundsätzlich für möglich, wenn die betreffende Regelung auf objektiven, von der Staatsangehörigkeit der Betroffenen unabhängigen Erwägungen beruhe und in einem angemessenen Verhältnis zu einem legitimerweise verfolgten Zweck stehe.43 3. Der Zugang zu Rechtsbehelfen und das Diskriminierungsverbot Bereits aus diesen allgemeinen Grundsätzen ergibt sich, dass juristische Personen aus der Europäischen Union, die in Deutschland eine Niederlassung betreiben, durch den Handel mit Waren und Dienstleistungen tätig werden oder Verletzungen von Urheberrechten geltend machen, sich bei allen damit im Zusammenhang stehenden Rechtsstreitigkeiten darauf berufen können, dass der Anwendungsbereich der Verträge eröffnet ist. Dass auch für Regelungen hinsichtlich des Zugangs zu Rechtsbehelfen das Diskriminierungsverbot nach Art. 18 AEUV gilt, hat der Europäische Gerichtshof in der Rechtssache „Data Delecta und Forsberg“ 44 bestätigt. In diesem Verfahren legte das oberste schwedische Gericht dem Gerichtshof die Frage vor, ob es einen Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot darstelle, dass nach schwedischem Prozessrecht von einer klagenden britischen juristischen Per-
40 EuGH, Urteil vom 20. Oktober 1993, verb. Rs. C-92/92 und C-326/92, Phil Collins u.a., Slg. 1993, I-5145, Rn. 27; Urteil vom 6. Juni 2002, Rs. C-360/00, Ricordi, Slg. 2002, I-5089, Rn. 24; Urteil vom 30. Juni 2005, Rs. C-28/04, Tod’s SpA u.a., Slg. 2005, S. I-5781, Rn. 18. 41 EuGH, Urteil vom 5. Juni 2008, Rs. C-164/07, James Wood, Slg. 2008, S. I-4157, Rn. 11 f. 42 Ausführlich zum Streitstand Holoubek, in: Schwarze/Hatje/Becker/Schoo (Hrsg.), EU-Kommentar, 3. Aufl. 2012, Art. 18 AEUV Rn. 21 ff. 43 EuGH, Urteil vom 16. Dezember 2008, Rs. C-524/06, Slg. 2008, S. I-9725, Rn. 75. 44 EuGH, Urteil vom 26. September 1996, Rs. C-43/95, Slg. 1996, S. I-4671.
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son auf Antrag des Beklagten eine Sicherheit wegen der Prozesskosten verlangt werden könne, von einer schwedischen juristischen Person jedoch nicht. Der Gerichtshof stellte fest, dass eine solche nationale Verfahrensvorschrift geeignet sei, die wirtschaftliche Betätigung der Wirtschaftsteilnehmer anderer Mitgliedstaaten auf dem Markt des betreffenden Staates zu beeinträchtigen, da sie bewirke, dass sich dieser Wirtschaftsteilnehmer hinsichtlich des Zugangs zu den Gerichten dieses Staates in einer weniger günstigen Lage befinde als dessen eigene Staatsangehörige.45 Dass die Vorschrift eine unmittelbare Diskriminierung darstelle, liege auf der Hand. Eine Rechtfertigung schloss der Gerichtshof aus. Das Urteil „Data Delecta und Forsberg“ ist aber auch insofern von Interesse, als der Gerichtshof hier einer Anknüpfung des Anwendungsbereichs der Verträge an die Zuweisung von Rechtsetzungszuständigkeiten an die Europäische Union eine Absage erteilte. Dass die Regelung der Verfahrensmodalitäten für Klagen mangels einer Regelung durch die Europäische Union Sache der internen Rechtsordnung der Mitgliedstaaten sei, ändere nichts daran, dass das Unionsrecht der Ausübung dieser Zuständigkeit Schranken etwa in Form des Diskriminierungsverbots setze.46 Angesichts dessen ist in Situationen, in denen juristische Personen aus der Europäischen Union vor deutschen Gerichten klagen oder verklagt werden, in aller Regel der Anwendungsbereich der europäischen Verträge eröffnet mit der Konsequenz, dass Beschränkungen im Rechtsschutz im Vergleich zu deutschen juristischen Personen am Diskriminierungsverbot des Art. 18 AEUV zu messen sind. Dies gilt auch für Art. 19 Abs. 3 GG, der nach seinem Wortlaut bewirkt, dass juristische Personen aus der Europäischen Union sich im Gegensatz zu deutschen juristischen Personen nicht auf die Grundrechte berufen können, und ihnen damit den Zugang zur Verfassungsbeschwerde verwehrt. Die Ungleichbehandlung ergibt sich hier ohne weiteres bereits aus dem Wortlaut der Regelung. Eine Rechtfertigung dieser Ungleichbehandlung ist nicht ersichtlich, selbst wenn mit der neueren Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs eine Rechtfertigung formeller Diskriminierungen nicht grundsätzlich ausgeschlossen wird. Die für die Beschränkung der Grundrechtsberechtigung auf inländische juristische Personen vorgebrachten Gründe stellen jedenfalls keine tragfähige Grundlage für die Ungleichbehandlung dar. Die Argumentation, dass juristische Personen aus anderen Staaten sich der Kontrolle durch die deutschen Gesetze besser entziehen könnten, ließ der Gerichtshof bereits in seinem Urteil in der Sache „Überseering“ nicht gelten.47 Im Übrigen ist fraglich, wieso dies gerade einen grundsätzlichen Ausschluss der Grundrechts45 46 47
EuGH, Urteil vom 26. September 1996, a.a.O., Rn. 13. EuGH, Urteil vom 26. September 1996, a.a.O., Rn. 12. EuGH, Urteil vom 5. November 2002, Rs. C-208/00, Slg. 2002, S. I-9919, Rn. 93.
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berechtigung rechtfertigen soll. Auch die Erwägung, dass sich Deutschland durch eine grundsätzliche Grundrechtsgeltung für ausländische juristische Personen der Möglichkeit begebe, im Verhältnis zu anderen Staaten auf eine gegenseitige Verbürgung hinzuwirken, ist im Unionsrecht nicht relevant.48 Denn die Mitgliedstaaten der Europäischen Union haben sich im Anwendungsbereich der Verträge in ihrem Verhältnis zueinander gerade aus der allgemeinen völkerrechtlichen Sphäre, in der Gegenseitigkeitserwägungen eine Rolle spielen dürfen, in eine supranationale Rechtsordnung begeben, in der sich der Einzelne unabhängig von einer gegenseitigen Verbürgung gegenüber den Mitgliedstaaten auf die ihm durch das Unionsrecht eingeräumten Rechte berufen kann. Dieses Ergebnis wird aus der Perspektive des Unionsrechts auch nicht dadurch in Frage gestellt, dass sich die Ungleichbehandlung zwischen deutschen juristischen Personen und solchen aus der Europäischen Union unmittelbar aus dem Grundgesetz ergibt. Denn nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs gilt der Anwendungsvorrang des Unionsrechts auch gegenüber Bestimmungen des nationalen Verfassungsrechts.49
V. Stellungnahme zum „Cassina“-Beschluss aus unions- und verfassungsrechtlicher Perspektive Die Feststellung der Grundrechtsberechtigung juristischer Personen aus der Europäischen Union im „Cassina“-Beschluss war ein überfälliger Schritt zur Verwirklichung der Gleichbehandlung von deutschen und europäischen Unternehmen auch auf verfassungsrechtlicher Ebene. Sie ist dementsprechend in der kommentierenden Literatur ganz weitgehend zustimmend aufgenommen worden.50 Dennoch soll im Einzelnen beleuchtet werden, inwieweit der Beschluss den Anforderungen des Unionsrechts sowie des Verfassungsrechts gerecht wird. 48 So lässt der Europäische Gerichtshof den Gegenseitigkeitseinwand, also die Rechtfertigung einer Vertragsverletzung durch den Vortrag der Missachtung des Unionsrechts durch einen anderen Mitgliedstaat, nicht gelten, vgl. Urteil vom 25. September 1979, Rs. 232/78, Kommission/Frankreich, Slg. 1979, S. 2729, Rn. 9; Urteil vom 14. Februar 1984, Rs. 325/82, Kommission/Deutschland, Slg. 1984, S. 777, Rn. 11; Urteil vom 6. Juni 1996, Rs. C-101/94, Kommission/Italien, Slg. 1996, S. I-2691, Rn. 27. 49 EuGH, Urteil vom 17. Dezember 1970, Rs 11/70, Internationale Handelsgesellschaft, Slg. 1970, S. 1125, Rn. 3. 50 Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG, Bd. 1, 3. Aufl. 2013, Art. 19 III Rn. 83 ff.; Enders, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), GG, 2. Aufl. 2013, Art. 19 Rn. 37; Jarass, in: ders./Pieroth (Hrsg.), GG, 12. Aufl. 2012, Art. 19 Rn. 23; Kruchen, NZG 2012, S. 377 ff.; Ludwigs, JZ 2013, S. 434 ff.; H.-P. Roth, Anmerkung zu BVerfG, Beschluss vom 19. Juli 2011 – Aktenzeichen 1 BvR 1916/09, ZUM 2011, S. 833 (834); Wernsmann, NZG 2011, S. 1241 (1242 f.); ablehnend lediglich Hillgruber, JZ 2011, S. 1118 ff.
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1. Erfüllung der unionsrechtlichen Anforderungen Zunächst ist festzustellen, dass die im „Cassina“-Beschluss aufgestellten Grundsätze für die Grundrechtsberechtigung juristischer Personen aus der Europäischen Union den Anforderungen des Unionsrechts in der Auslegung des Europäischen Gerichtshofs im Wesentlichen gerecht werden. a) Anwendungsbereich des Unionsrechts In enger Anlehnung an die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zum Diskriminierungsverbot nach Art. 18 AEUV macht das Bundesverfassungsgericht die Anwendungserweiterung von Art. 19 Abs. 3 GG davon abhängig, dass die betreffende juristische Person im Anwendungsbereich des Unionsrechts tätig wird. Durch den Verweis auf die Urteile des Gerichtshofs in den Rechtssachen „Phil Collins“ und „Ricordi“ stellt das Bundesverfassungsgericht letztlich entscheidend darauf ab, dass das Urheberrecht den Austausch von Waren und Dienstleistungen innerhalb der Europäischen Union berührt und damit automatisch in den Anwendungsbereich der Verträge im Sinne des Art. 18 AEUV fällt. Aus der Feststellung des Bundesverfassungsgerichts, dass das Urheberrecht eine unionsrechtlich (teil)harmonisierte Regelungsmaterie sei,51 kann nicht der Schluss gezogen werden, das Bundesverfassungsgericht mache den Anwendungsbereich des Unionsrechts und damit des Diskriminierungsverbots davon abhängig, dass in dem betroffenen Bereich die Verträge der Europäischen Union eine Harmonisierungskompetenz zuwiesen beziehungsweise diese von einer Harmonisierungskompetenz Gebrauch gemacht habe.52 Ein solches Verständnis fände keine Stütze in der Systematik des Unionsrechts53 und in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs. Es ist im Beschluss des Bundesverfassungsgerichts aber auch nicht angelegt. 51 BVerfGE 129, 78 (98). Im zu entscheidenden Fall ging es um die Auslegung der Richtlinie 92/100/EWG des Rates vom 19. November 1992 zum Vermietrecht und Verleihrecht sowie zu bestimmten dem Urheberrecht verwandten Schutzrechten im Bereich des geistigen Eigentums (ABl Nr. L 346 vom 27. November 1992, S. 61), mittlerweile abgelöst durch die Richtlinie 2006/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2006 (ABl Nr. L 376 vom 27. Dezember 2006, S. 28). Kernstück der Harmonisierung des Urheberrechts ist die Richtlinie 2001/29/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2001 zur Harmonisierung bestimmter Aspekte des Urheberrechts und der verwandten Schutzrechte in der Informationsgesellschaft (ABl Nr. L 167 vom 22. Juni 2001). 52 Für letzteres Verständnis des Anwendungsbereichs des Unionsrechts im Rahmen von Art. 18 AEUV aber Hillgruber, JZ 2011, S. 1118 f.; Ludwigs, JZ 2013, S. 434 (436). 53 Gerade die Vorschriften über die Grundfreiheiten enthalten zahlreiche Bestimmungen (u.a. Art. 36, 45 Abs. 3, 52 AEUV), die unter bestimmten Voraussetzungen Beschränkungen der Grundfreiheiten durch mitgliedstaatliche Regelungen z.B. zum Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, der Gesundheit oder des nationalen Kulturguts zulassen, in Rechtsgebieten also, in denen die Europäische Union keine oder nur sehr begrenzte Har-
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b) Diskriminierung Ansonsten lässt der „Cassina“-Beschluss keinen Zweifel daran, dass die Beschränkung der Grundrechtsberechtigung auf inländische juristische Personen eine Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit darstellt und mit Art. 18 AEUV nicht vereinbar ist. Zustimmung verdient deshalb auch, dass das Bundesverfassungsgericht insofern von einer Vorlage an den Europäischen Gerichtshof abgesehen hat. Eine abweichende Einschätzung dieser Frage durch den Gerichtshof war vernünftigerweise nicht vorstellbar. c) Die „Staatsangehörigkeit“ juristischer Personen Lediglich bei der Frage, welche juristischen Personen genau „aus der Europäischen Union“ sind und sich damit auf die Anwendungserweiterung des Art. 19 Abs. 3 GG berufen können, erscheint es nicht ausgeschlossen, dass die im „Cassina“-Beschluss formulierten Regeln bei der Anwendung auf bestimmte Fälle von den Vorgaben des Unionsrechts abweichen könnten. Das Bundesverfassungsgericht beantwortet die Frage nach der Bestimmung der „Staatsangehörigkeit“ einer juristischen Person in dem Beschluss nicht explizit. Dass es an mehreren Stellen von juristischen Personen, die ihren Sitz in der Europäischen Union haben, spricht54, legt aber nahe, dass das Gericht insofern der Sitztheorie folgt, die in der bisherigen Rechtsprechung bereits für die Definition der inländischen juristischen Person im Rahmen des Art. 19 Abs. 3 GG herangezogen wurde.55 Soweit man aber das Diskriminierungsverbot des Art. 18 AEUV auf juristische Personen nach Art. 54 AEUV anwendet, fallen auch solche darunter, die zwar ihren satzungsmäßigen Sitz in der Europäischen Union haben, nicht jedoch den tatsächlichen Mittelpunkt ihrer Tätigkeit im Sinne der Sitztheorie. Im Fall „Cassina“ hatte das Bundesverfassungsgericht keinen Anlass, auf diesen Aspekt des persönlichen Anwendungsbereichs des Diskriminierungsverbots einzugehen. Sollte sich eine solche Sonderkonstellation eines Tages ergeben, könnte dies ein willkommener Anlass zu einer Fortentwicklung und Konkretisierung der Rechtsprechung sein.
monisierungskompetenzen besitzt. Daraus ist zu schließen, dass die Grundfreiheiten in diesen Rechtsgebieten grundsätzlich Anwendung finden. Vgl. hierzu Strohmayr, Kompetenzkollisionen zwischen europäischem und nationalem Recht, 2005, S. 38 ff. 54 BVerfGE 129, 78 (95, 98). 55 Vgl. dazu BVerfGE 21, 207 (209); ausführlich P. M. Huber, in: von Mangoldt/Klein/ Starck (Hrsg.), GG, 6. Aufl. 2010, Art. 19 Abs. 3 Rn. 297 ff.
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2. Keine überschießende Europäisierung des Grundrechtsschutzes Das Bundesverfassungsgericht geht mit der Anwendungserweiterung von Art. 19 Abs. 3 GG nicht über das hinaus, was unionsrechtlich von ihm gefordert wird. Entscheidender Anknüpfungspunkt für die erforderliche Anwendungserweiterung ist, dass durch die Beschränkung der Grundrechtsberechtigung auf inländische juristische Personen in Art. 19 Abs. 3 GG juristischen Personen aus der Europäischen Union – abgesehen von der Berufung auf Prozessgrundrechte – die Möglichkeit, Verfassungsbeschwerde zu erheben, versagt wird. Diese Ungleichbehandlung kann auf keinem anderen Weg beseitigt werden, als juristischen Personen aus der Europäischen Union – im Anwendungsbereich des Unionsrechts – eine diskriminierungsfreie Berufung auf Grundrechte und damit den Zugang zur Verfassungsbeschwerde zu eröffnen. Das Argument, das unmittelbar anwendbare Unionsrecht verschaffe sich kraft seines Anwendungsvorrangs seine materiellrechtliche Wirkung selbst und bedürfe insoweit keines nationalrechtlichen Hilfsinstruments, auch nicht der mitgliedstaatlichen Grundrechte,56 geht deshalb fehl. Die Grundrechte des Grundgesetzes sind insofern gerade nicht irrelevant.57 Denn im Anwendungsbereich des Unionsrechts können sich die Unionsbürger und juristischen Personen nicht nur im fachgerichtlichen Verfahren auf ihre materiellen unionsrechtlichen Rechtspositionen berufen, sondern haben darüber hinaus einen Anspruch auf diskriminierungsfreie Anwendung sämtlicher mitgliedstaatlicher Vorschriften einschließlich der verfassungsrechtlichen Gewährleistungen.58 Der Vorwurf einer überschießenden Europäisierung des Grundrechtsschutzes trifft damit nicht zu. 3. Kein Übergriff in die Kompetenzen des verfassungsändernden Gesetzgebers Die Anwendungserweiterung von Art. 19 Abs. 3 GG auf juristische Personen aus der Europäischen Union durfte das Bundesverfassungsgericht selbst vornehmen. Es musste nicht darauf warten, dass der verfassungsändernde Gesetzgeber die unionsrechtlich geforderte Gleichstellung vornimmt. Die Auffassung, nur durch eine Verfassungsänderung könne eine etwa erforderliche Anpassung verfassungsrechtlicher Bestimmungen an die Vorgaben des Unionsrechts bewerkstelligt werden,59 verkennt den Charakter des Anwen-
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So Hillgruber, JZ 2011, S. 1118 (1119). So aber Hillgruber, a.a.O. 58 Vgl. BVerfGE 129, 78 (98): Juristische Personen aus der Europäischen Union müssen ihre Rechte auch mit Hilfe des Bundesverfassungsgerichts durchsetzen können. 59 Hillgruber, JZ 2011, S. 1118 (1120). 57
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dungsvorrangs des Unionsrechts. Auf dieses kann sich der Einzelne gerade unmittelbar, also ohne einen vorherigen Umsetzungsakt des mitgliedstaatlichen (Verfassungs-)Gesetzgebers berufen.60 Den Anwendungsvorrang des Unionsrechts vor deutschem Verfassungsrecht hat das Bundesverfassungsgericht selbst schon vor dem „Cassina“Beschluss anerkannt, auch wenn er nicht explizit benannt wurde.61 Zu folgern ist dies aus den Grenzen, die das Gericht für den Anwendungsvorrang formuliert: Dieser ist danach begrenzt durch das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung und die daraus resultierende Kompetenz des Bundesverfassungsgerichts zu einer Ultra-Vires-Kontrolle,62 durch die Gewährleistung eines im Wesentlichen dem deutschen Grundrechtsschutz gleichkommenden Schutzniveaus 63 und zuletzt durch den auch vom Verfassungsgesetzgeber nicht an die Europäische Union übertragbaren Bereich der Verfassungsidentität.64 Soweit letzterer allerdings nicht betroffen ist, hat auch deutsches Verfassungsrecht im Falle einer Kollision mit dem Unionsrecht unanwendbar zu bleiben. Dass die Geltung des Unionsrechts nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts letztlich auf die Integrationsermächtigung im nationalen Verfassungsrecht zurückgeht,65 hat nicht zur Folge, dass das Unionsrecht nicht in das Verfassungsrecht eingreifen kann.66 Denn die Integrationsermächtigung im Grundgesetz kann natürlich den Vorrang von Unionsrecht vor anderen Bestimmungen auf der gleichen (verfassungsrechtlichen) Ebene zulassen.67 Im Grundgesetz hat der Anwendungsvorrang des Unionsrechts vor deutschem Verfassungsrecht in Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG Ausdruck gefunden, wonach auch Änderungen der vertraglichen Grundlagen der Europäischen Union, durch die das Grundgesetz seinem Inhalt nach geändert oder ergänzt wird oder solche Änderungen oder Ergänzungen ermöglicht werden, von dem Gebot einer expliziten Verfassungsänderung gemäß Art. 79 Abs. 1 GG befreit sind.68 Eine teleologische Reduktion des insofern eindeutigen Wortlauts, wonach die Ausnahme nur die Übertragung von Hoheitsrechten als
60 EuGH, Urteil vom 5. Februar 1963, Rs. 26/62, van Gend & Loos, Slg. 1963, S. 3 (24 ff.); Nettesheim, in: Oppermann/Classen/ders. (Hrsg.), Europarecht, 5. Aufl. 2011, § 9 Rn. 14 ff. 61 Vgl. Classen, in: von Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG, 6. Aufl. 2010, Art. 23 Abs. 1 Rn. 48; Wernsmann, NZG 2011, S. 1241 (1243). 62 Dazu insbesondere BVerfGE 126, 286 (301 f.); s. auch BVerfGE 123, 267 (401 f.). 63 Vgl. BVerfGE 73, 339 (387); 102, 147 (162 f.); 118, 79 (95). 64 Vgl. BVerfGE 123, 267 (347 ff.); 126, 286 (301 f.). 65 Eingehend hierzu das „Lissabon“-Urteil, BVerfGE 123, 267 (347 ff.). 66 So aber Isensee, in: ders./Kirchhof (Hrsg.), HStR IX, 3. Aufl. 2011, § 199 Rn. 71; wie hier Ludwigs, JZ 2013, S. 434 (438). 67 Ebenso Kruchen, NZG 2012, S. 377 (379). 68 BVerfGE 129, 78 (100).
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solchen erfasse,69 entbehrt jeder Grundlage. Dass der verfassungsändernde Gesetzgeber in den Fällen des Zugangs von Frauen zum Dienst an der Waffe (Art. 12a Abs. 4 Satz 2 GG) sowie des kommunalen Wahlrechts für Unionsbürger (Art. 28 Abs. 1 Satz 3 GG) Vorgaben des Unionsrechts auch im Verfassungstext umgesetzt hat, hat lediglich deklaratorischen Charakter. Die Frage, ob auch vorliegend der Wortlaut des Art. 19 Abs. 3 GG geändert werden sollte, ist demnach keine verfassungsrechtliche, sondern eine verfassungspolitische.70 4. Die Anwendungserweiterung von Art. 19 Abs. 3 GG Auf die Frage, wie die Gleichstellung von juristischen Personen aus der EU im Rahmen des Art. 19 Abs. 3 GG hergestellt werden kann, wurden von den Befürwortern einer Gleichstellung vor dem „Cassina“-Beschluss mannigfaltige Antworten gegeben. Die Lösungsvorschläge reichten von einer erweiternden Auslegung des Begriffs „inländisch“ über den Anwendungsvorrang des Unionsrechts gegenüber der Beschränkung in Art. 19 Abs. 3 GG und eine unionsrechtskonforme Auslegung oder Rechtsfortbildung bis zu der These, dass zur Herstellung der Gleichstellung eine Verfassungsänderung erforderlich sei.71 Die Unterschiede zwischen diesen Lösungsvorschlägen sollten jedoch nicht überbewertet werden. Abgesehen von der These der Erforderlichkeit einer Verfassungsänderung, die allerdings mit dem Prinzip des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts gerade nicht in Einklang steht, bestehen jedenfalls im Rahmen der hier diskutierten Frage keine relevanten Unterschiede für die Rechtsanwendungspraxis, so dass im Ergebnis das gleiche Schutzniveau erreicht wird.72 Insoweit stellt es keinen Nachteil dar, dass sich das Bundesverfassungsgericht in seinem „Cassina“-Beschluss nicht eindeutig festlegt. Zwar stützt es die vorgenommene Anwendungserweiterung von Art. 19 Abs. 3 GG auf den Anwendungsvorrang. Andererseits spricht es im Zusammenhang mit der Frage der Erforderlichkeit einer Vorlage zum Europäischen Gerichtshof von seiner Befugnis zur unionsrechtskonformen Auslegung des nationalen Rechts. Im Vordergrund sollte hier nicht die Frage der techni69
So Hillgruber, a.a.O., S. 1120. Vgl. Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG, Bd. 1, 3. Aufl. 2013, Art. 19 III Rn. 83 (Fn. 334); Krebs, in: von Münch/Kunig (Hrsg.), GG, 6. Aufl. 2012, Art. 19 Rn. 39. Auch aus dem (unionsrechtlichen) Grundsatz der Rechtssicherheit bzw. der Loyalitätspflicht nach Art. 4 Abs. 3 EUV ergibt sich hier keine Pflicht zur Änderung des Art. 19 Abs. 3 GG; so aber Guckelberger, AöR 129 (2004), S. 618 (635 ff.); Ludwigs, JZ 2013, S. 434 (440 f.). 71 Ausführlich hierzu Kruchen, Europäische Niederlassungsfreiheit und „inländische“ Kapitalgesellschaften im Sinne von Art. 19 Abs. 3 GG, 2009, S. 120 ff. 72 So auch Gundel, ZUM 2011, S. 881 (883). Allgemein zum Verhältnis zwischen unmittelbarer Anwendung des Unionsrechts und unionsrechtskonformer Auslegung Jarass/ Beljin, JZ 2003, S. 768 ff. 70
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schen Umsetzung der Vorgaben des Unionsrechts stehen, sondern der Reichweite seiner Vorgaben, denn hiervon hängt es in der Sache ab, inwieweit sich juristische Personen aus der Europäischen Union auf die Grundrechte berufen können.
VI. Ausblick Mit dem „Cassina“-Beschluss ist nunmehr geklärt, dass juristische Personen aus anderen EU-Staaten Verfassungsbeschwerde erheben und sich dabei auf die Rechte des Grundrechteteils des Grundgesetzes berufen können. Auch in fachgerichtlichen Verfahren ist ihnen die Berufung auf Grundrechte in Zukunft möglich.73 Vollständig geklärt ist die Reichweite der Grundrechtsberechtigung von juristischen Personen aus der EU jedoch noch nicht. Dies liegt daran, dass im Verfahren „Cassina“ die Anwendbarkeit von Art. 14 Abs. 1 GG, also eines Jedermann-Grundrechts, fraglich war. Ein über die Frage des Art. 19 Abs. 3 GG und damit der grundsätzlichen Grundrechtsberechtigung hinausgehendes Problem ergibt sich aber bei den sogenannten Deutschen-Grundrechten. Für Unternehmen ist dabei insbesondere die Berufsfreiheit gemäß Art. 12 Abs. 1 GG von Bedeutung. Stand der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung ist insofern, dass sich Ausländer – wobei es stets um natürliche Personen ging – zwar nicht auf die Deutschen-Grundrechte, dafür aber in deren Schutzbereich jeweils auf die allgemeine Handlungsfreiheit des Art. 2 Abs. 1 GG als Auffanggrundrecht berufen können.74 Dabei wurde zwischen Unionsbürgern und Drittstaatsangehörigen bisher nicht differenziert. Angesichts der teilweise strengeren Anforderungen an die Rechtfertigung von Eingriffen in Deutschen-Grundrechte – man denke beispielsweise an die strengen Vorgaben für Eingriffe in die Deutschen vorbehaltene Freizügigkeit gemäß Art. 11 Abs. 2 GG – ist aus dem Diskriminierungsverbot des Art. 18 AEUV zu folgern, dass das grundrechtliche Schutzniveau für Unionsbürger und juristische Personen aus der Europäischen Union hier im Anwendungsbereich des Unionsrechts nicht hinter dem für Deutsche geltenden Schutzniveau zurückbleiben darf.75 73 Vor dem „Cassina“-Beschluss gab es soweit ersichtlich keine höchstgerichtlichen Entscheidungen zum Einfluss des Unionsrechts auf die Grundrechtsberechtigung nach Art. 19 Abs. 3 GG. Allerdings lehnten der Bundesgerichtshof und der Bundesfinanzhof allgemein eine Grundrechtsberechtigung ausländischer Gesellschaften ab, vgl. BGHZ 76, 375 (383 ff.); BFHE 195, 119 ff. Das Bundesverwaltungsgericht ließ die Frage offen, vgl. BVerwG, Urteil vom 29. Juni 2000 – 1 C 25/99 –, NVwZ 2000, S. 1424 (1425). 74 BVerfGE 35, 382 (399) – zur Freizügigkeit; 78, 179 (196 f.); 104, 337 (346) – zur Berufsfreiheit. 75 Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG, Bd. 1, 3. Aufl. 2013, Vorbem. Rn. 115; P. M. Huber, ZaöRV 68 (2008), S. 307 (311).
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Grundrechtsberechtigung
Fraglich ist allerdings, ob die erforderliche Gleichstellung in Form einer Anwendungserweiterung der Deutschen-Grundrechte zu erfolgen hat.76 Die unmittelbare Anwendung der Deutschen-Grundrechte wird – jedenfalls für juristische Personen aus der Europäischen Union – teilweise aus der Formulierung im „Cassina“-Beschluss gefolgert, dass diese durch die Anwendungserweiterung von Art. 19 Abs. 3 GG ebenso behandelt werden wie inländische juristische Personen.77 Zwingend erscheint die Lösung über eine Anwendungserweiterung der Deutschen-Grundrechte allerdings nicht. Voraussetzung für die Anwendungserweiterung war im Fall „Cassina“ bei Art. 19 Abs. 3 GG, dass ein gleichwertiger Schutz der Beschwerdeführerin nicht anderweitig gesichert war.78 Bei der Frage der Deutschen-Grundrechte könnte im Gegensatz dazu ein gleichwertiger Schutz grundsätzlich auch dadurch bewerkstelligt werden, dass sich Unionsbürger zwar „nur“ auf Art. 2 Abs. 1 GG berufen können, bei der Eingriffsrechtfertigung aber die Anforderungen des jeweils einschlägigen Deutschen-Grundrechts übertragen werden.79 Auch insofern sollte aber für die Rechtsanwendung weniger die Frage der technischen Umsetzung der unionsrechtlichen Vorgaben im Vordergrund stehen, sondern vielmehr die effektive Gewährleistung eines gleichwertigen Grundrechtsschutzes für Unionsbürger und juristische Personen aus der Europäischen Union durch das Bundesverfassungsgericht und die Fachgerichte. Auf die Frage, ob sich über die Mitgliedstaaten der Europäischen Union hinaus auch andere ausländische juristische Personen gemäß Art. 19 Abs. 3 GG auf die Grundrechte berufen können, ist dem „Cassina“-Beschluss ebenfalls keine Antwort zu entnehmen. Hier spielen insbesondere völkerrechtliche Verträge eine Rolle, in denen ausländischen Gesellschaften Inländerbehandlung garantiert wird, wie dies beispielsweise in Art. VI des Freundschafts-, Handels- und Schifffahrtsvertrags zwischen der BRD und den USA80 auch bezüglich des Zutritts zu den Gerichten explizit geschieht.81 Ein 76 Vgl. für die Berufsfreiheit Breuer, in; Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR VIII, 3. Aufl. 2010, § 170 Rn. 43; Jarass, in: ders./Pieroth (Hrsg.), GG, 12. Aufl. 2012, Art. 12 Rn. 12; Ruffert, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), GG, 2. Aufl. 2013, Art. 12 Rn. 37. 77 So Gundel, ZUM 2011, S. 881 (883 Fn. 28) unter Verweis auf BVerfGE 129, 78 (98 f.). 78 BVerfGE 129, 78 (98). 79 So Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG, Bd. 1, 3. Aufl. 2013, Vorbem. Rn. 116; Gundel, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR IX, 3. Aufl. 2011, § 198 Rn. 29; P. M. Huber, ZaöRV 68 (2008), S. 307 (311). 80 BGBl 1956 II, S. 488. 81 Ausführlich dazu und eine Grundrechtsberechtigung im Ergebnis ablehnend Kruchen, Europäische Niederlassungsfreiheit und „inländische“ Kapitalgesellschaften im Sinne von Art. 19 Abs. 3 GG, 2009, S. 333 ff. – Ludwigs, JZ 2013, S. 434 (437 f.), leitet eine teilweise Grundrechtsberechtigung von juristischen Personen aus Drittstaaten daraus ab, dass diese sich auf die Warenverkehrsfreiheit und die Freiheit des Kapitalverkehrs berufen könnten und auch insofern eine Ungleichbehandlung unionsrechtlich nicht gerechtfertigt sei.
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Unterschied zur Gleichstellung der juristischen Personen aus der Europäischen Union besteht insofern jedenfalls darin, dass es sich hier um ein (einfaches) völkerrechtliches Abkommen handelt, dem anders als dem Unionsrecht kein Vorrang vor dem deutschen Verfassungsrecht zukommt. Dennoch stellt der „Cassina“-Beschluss einen wichtigen Schritt zur Gleichberechtigung von juristischen Personen aus der Europäischen Union mit deutschen juristischen Personen in der deutschen Verfassungsrechtsordnung dar. Er ist damit ein praktisch bedeutsamer Beitrag zur Verwirklichung der Europarechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes.
III. Einzelne grundrechtliche und grundrechtsgleiche Gewährleistungen
Eingetragene Lebenspartnerschaft = Ehe? Die Entwicklung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Rechtsinstitut der eingetragenen Lebenspartnerschaft Susanne Berning Leitentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts BVerfGE BVerfGE BVerfGE BVerfGE
105, 313 – gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaft, Homo-Ehe 124, 199 – Betriebsrente, Homo-Ehe, Hinterbliebenenversorgung 126, 400 – Lebenspartnerschaft / Erbschaft- und Schenkungssteuergesetz 131, 239 – Familienzuschlag in Lebenspartnerschaften, Homo-Ehe Familienzuschlag BVerfGE 132, 179 – Grunderwerbsteuer Lebenspartnerschaft, Homo-Ehe Grunderwerbsteuer BVerfG, Urteil des Ersten Senats vom 19. Februar 2013 – 1 BVL 1/11 und 1 BvR 3247/09 –, juris BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 07. Mai 2013 – 2 BvR 909/06, 2 BvR 1981/06, 2 BvR 288/07 –, juris Wichtige Kammerentscheidungen BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 4. Oktober 1993 – 1 BvR 640/93 –, juris BVerfGK 12, 169 – Verheiratetenzuschlag eingetragene Lebenspartnerschaft, Familienzuschlag eingetragene Lebenspartnerschaft BVerfGK 13, 501 – Verheiratetenzuschlag, Homo-Ehe BVerfGK 17, 368 Schrifttum (Auswahl) Benedict, Die Ehe unter dem besonderen Schutz der Verfassung – Ein vorläufiges Fazit, JZ 2013, S. 477 ff.; Bömelburg, Die eingetragene Lebenspartnerschaft – ein überholtes Rechtsinstitut?, NJW 2012, S. 2753 ff.; Britz, Der Allgemeine Gleichheitssatz in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts – Anforderungen an die Rechtfertigung von Ungleichbehandlungen durch Gesetz, NJW 2014, S. 346 ff.; Brosius-Gersdorf, in: Dreier (Hrsg.), GG, Bd. 1, 3. Aufl. 2013, Art. 6; dies., Gleichstellung von Ehe und Lebenspartnerschaft, FamFR 2013, S. 169 ff.; Burgi, Schützt das Grundgesetz die Ehe vor der Konkurrenz anderer Lebensgemeinschaften?, Der Staat 39 (2000), S. 487 ff.; Chaussade-Klein/Henrich/
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Eingetragene Lebenspartnerschaft = Ehe?
Schönberger, Länderbericht Frankreich, in: Bergmann/Ferid/Henrich (Hrsg.), Internationales Ehe- und Kindschaftsrecht, Bd. 6, Art. 515-1 Cciv (Dezember 2013); Classen, Erwiderung zu Christian Hillgruber JZ 2010, 41: Der besondere Schutz der Ehe – aufgehoben durch das BVerfG?, JZ 2010, S. 411 ff.; Coester-Waltjen, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), GG, Bd. 1, 6. Aufl. 2012, Art. 6; Dethloff, Adoption durch gleichgeschlechtliche Paare, ZRP 2004, S. 195 ff.; dies., Regenbogenfamilien. Der Schutz von Eltern-Kind-Beziehungen in gleichgeschlechtlichen Partnerschaften, in: Söllner/Gitter/Waltermann/Giesen/Ricken (Hrsg.), Gedächtnisschrift Meinhard Heinze, 2005, S. 133 ff.; dies., Kindschaftsrecht des 21. Jahrhunderts – Rechtsvergleichung und Zukunftsperspektiven, ZKJ 2009, S. 141 ff.; dies., Adoption und Sorgerecht – Problembereiche für die eingetragenen Lebenspartner?, FPR 2010, S. 208 ff.; Dittberner, Lebenspartnerschaft und Kindschaftsrecht, 2004; Frank, in: Staudinger (Hrsg.), BGB, Bd. 4, 13. Aufl. 2007, § 1741; Frenz, Eheschutz ade? BVerfG stärkt gleichgeschlechtliche Paare, NVwZ 2013, S. 1200 ff.; Gade/Thiele, Ehe und eingetragene Lebenspartnerschaft: Zwei namensverschiedene Rechtsinstitute gleichen Inhalts?, DÖV 2013, S. 142 ff.; Gärditz, Gemeinsames Adoptionsrecht Eingetragener Lebenspartner als Verfassungsgebot?, JZ 2011, S. 930 ff.; Grehl, Das Adoptionsrecht gleichgeschlechtlicher Paare unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten, 2008; Grünberger, Die Gleichbehandlung von Ehe und eingetragener Lebenspartnerschaft im Zusammenspiel von Unionsrecht und nationalem Verfassungsrecht – Das Urteil des BVerfG zur VBL-Hinterbliebenenrente, FPR 2010, S. 203 ff.; Henkel, Fällt nun auch das „Fremdkindadoptionsverbot“?, NJW 2011, S. 259 ff.; Hillgruber, Anmerkung zu BVerfG, Beschluss vom 7.7.2009 – 1 BvR 1164/07 –, JZ 2010, S. 41 ff.; ders., Anmerkung zu BVerfG, Beschluss vom 7.5.2013 – 2 BvR 909/06, 2 BvR 11981/06 und 2 BvR 288/07 –, JZ 2013, S. 843 ff.; Hofmann, in Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hopfauf (Hrsg.), GG, 12. Aufl. 2011, Art. 6; Hoppe, Anmerkung zu BVerfG, Beschluss vom 7.7.2009 – 1 BvR 1164/07 – Ungleichbehandlung von Ehe und eingetragener Lebenspartnerschaft im Bereich der betrieblichen Hinterbliebenenrente (VBL) verfassungswidrig, DVBl 2009, S. 1516 ff.; ders., Ein Kind seiner Zeit – Lebenspartnerschaft und Adoption, StAZ 2010, S. 107 ff.; Ipsen, Ehe und Familie, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR VII, 3. Aufl. 2009, § 154; Jarras, in: Jarass/Pieroth (Hrsg.), GG, 12. Aufl. 2012, Art. 6; Kemper, in: Schulze u.a. (Hrsg.), BGB, 7. Aufl. 2012, § 1741; ders., Der zweite Schritt – Die Lebenspartnerschaft auf dem Weg vom eheähnlichen zum ehegleichen Rechtsinstitut, FF 2005, S. 88 ff.; Kischel, in Epping/Hillgruber (Hrsg.), Beck’scher Online Kommentar GG, Art. 3 (Dezember 2013); Krings, Vom Differenzierungsgebot zum Differenzierungsverbot – Hinterbliebenenversorgung eingetragener Lebenspartner, NVwZ 2011, S. 26 ff.; ders., Der besondere Eheschutz zwischen Verfassung und Verfassungsgericht – Der Wandel der Auslegung des Art. 6 Abs. 1 GG in der jüngeren Rechtsprechung des BVerfG, in: Höfling (Hrsg.), Kommentierte Verfassungsrechtsdogmatik, Festgabe für Karl Heinrich Friauf, 2011, S. 269 ff.; Maierhöfer, Homosexualität, Ehe und Gleichheit: Ein Missverständnis im Dialog der Gerichte – Die Urteile des BVerfG und des EGMR vom 19. Februar 2013, EuGRZ 2013, S. 105 ff.; Maurer, in: Säcker/Rixecker (Hrsg.), Münchener Kommentar zum BGB, 6. Auflage 2012, § 1744; ders., Zum Recht gleichgeschlechtlicher Partner auf Adoption – zugleich Besprechung der Urteile des BVerfG v. 19.2.2013 – 1 BvL 1/11 und 1 BvR 3247/09 –, und des EuGHMR v. 19.2.2013 – 19010/07 –, FamRZ 2013, S. 752 ff.; Merten, Eheliche und nichteheliche Lebensgemeinschaften, in: Isensee/Lecheler (Hrsg.), Freiheit und Eigentum, Festschrift für Walter Leisner zum 70. Geburtstag, 1999, S. 615 ff.; Michael, Lebenspartnerschaften unter dem besonderen Schutze einer (über-)staatlichen Ordnung – Legitimation und Grenzen eines Grundrechtswandels kraft europäischer Integration, NJW 2010, S. 3537 ff.; Muscheler, Das Recht der eingetragenen Lebenspartnerschaft, 2. Aufl. 2004; Pauly, Sperrwirkungen des verfassungsrechtlichen Ehebegriffs, NJW 1997, S. 1955 ff.; Pfizenmayer, Die Rechtsstellung gleichgeschlechtlicher Lebenspartner in der deutschen Rechtsordnung, 2007; Reimer/Jestaedt, Anmerkung zu BVerfG, Urteil des Ersten Senats vom 19. Februar 2013 – 1 BVL 1/11 und 1 BvR 3247/09 –, JZ 2013, S. 468 ff.;
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Sanders, Das Ehebild des Bundesverfassungsgerichts zwischen Gleichberechtigung, nichtehlicher Lebensgemeinschaft und Lebenspartnerschaft, in: Emmenegger/Wiedmann (Hrsg.), Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, Bd. 2, 2011, S. 352 ff.; dies., Auf dem Weg zur Ehe: Lebenspartnerschaften vor dem BVerfG, FF 2012, S. 391 ff.; dies., Ehegattensplitting für Lebenspartner vor dem BVerfG, NJW 2013, S. 2236 ff.; Scholz/Uhle, „Eingetragene Lebenspartnerschaft“ und Grundgesetz, NJW 2001, S. 393 ff.; Schüffner, Eheschutz und Lebenspartnerschaft, 2007; Sickert, Die lebenspartnerschaftliche Familie, 2005; Stern, Der Schutz von Ehe, Familie und der Eltern/Kind-Beziehung, in: Stern/Sachs/Dietlein (Hrsg.), StR IV/1, 2006, § 100; Süß, Frankreich: Einführung der gleichgeschlechtlichen Ehe, ZEV 2013, S. 546; Tucholski, Kinder in Regenbogenfamilien, 2010; Uhle, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), Beck’scher Online Kommentar GG, Art. 6 (Dezember 2013); v. Coelln, in: Sachs (Hrsg.), GG, 6. Aufl. 2011, Art. 6; von der Tann, Entwicklungen in der Rechtsstellung eingetragener Lebenspartnerschaften, FamFR 2012, S. 195 ff. Inhalt I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die bisherige Gesetzgebung im Lebenspartnerschaftsrecht . . . . . . . . . . . III. Die Entwicklung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu eingetragenen Lebenspartnerschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Verfassungsmäßigkeit der Institution der eingetragenen Lebenspartnerschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Das Urteil zur eingetragenen Lebenspartnerschaft . . . . . . . . . . . . . b) Ist das Rechtsinstitut der eingetragenen Lebenspartnerschaft fortan in Stein gemeißelt? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Gleichstellung der Lebenspartnerschaft mit der Ehe . . . . . . . . . . . a) Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Hinterbliebenenversorgung eingetragener Lebenspartner unter Einbeziehung der europäischen Rechtsprechungsentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Lebenspartner und ihr Anspruch auf Hinterbliebenenversorgung . . bb) Die Entwicklung der europäischen Rechtsprechung unter besonderer Berücksichtigung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte im Vergleich zur Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu eingetragenen Lebenspartnerschaften . . . . . b) Familienzuschlag für eingetragene Lebenspartner . . . . . . . . . . . . . c) Das Adoptionsrecht für eingetragene Lebenspartner . . . . . . . . . . . aa) Sukzessivadoption durch eingetragene Lebenspartner . . . . . . . . bb) Die gemeinschaftliche Adoption für eingetragene Lebenspartner . . (1) Einfachrechtliche Situation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Verfassungsrechtliche Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Vom Ehegattensplitting für eingetragene Lebenspartner zur Ehe für Lebenspartner? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Fazit und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I. Einleitung Seit seiner Schaffung im Jahr 2001 ist das Institut der eingetragenen Lebenspartnerschaft regelmäßig Gegenstand der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gewesen. In seinem grundlegenden Urteil zur eingetragenen Lebenspartnerschaft hatte das Gericht im Jahr 2002 zunächst darüber zu entscheiden, ob das Institut der eingetragenen Lebenspartnerschaft mit der Verfassung, insbesondere Art. 6 Abs. 1 GG, in Einklang steht.1 Nachdem der Gesetzgeber im Jahr 2005 – bestärkt durch die Bestätigung der Verfassungsmäßigkeit der ursprünglich getroffenen Regelungen – das Institut der eingetragenen Lebenspartnerschaft fortentwickelt und weitgehend der Ehe angeglichen hatte, stand fortan die dennoch in einzelnen Bereichen weiterhin bestehende Ungleichbehandlung zwischen eingetragenen Lebenspartnern und Ehegatten und deren mögliche Legitimierung über Art. 6 Abs. 1 GG als Differenzierungsgrund im Zentrum der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. So hatte das Gericht darüber zu entscheiden, ob es jeweils mit Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar ist, dass eingetragene Lebenspartner im Vergleich zu Ehegatten keinen Anspruch auf Hinterbliebenenversorgung hatten, sie im Beamten- und Steuerrecht Ehegatten gegenüber benachteiligt wurden und auch ihre Adoptionsrechte hinter denen von Ehegatten zurückblieben. Im Ergebnis wurde jeweils die Unvereinbarkeit der angegriffenen Regelung mit dem allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG festgestellt.2 Nachdem diese Fragen einer Klärung zugeführt worden sind, ist noch verfassungsgerichtlich ungeklärt, ob eingetragenen Lebenspartnern – ebenso wie Ehegatten – ein gemeinsames Adoptionsrecht zusteht. Darüber hinaus wird angesichts der zunehmenden Angleichung von Ehe und eingetragener Lebenspartnerschaft diskutiert, ob der Zugang zur Ehe für gleichgeschlechtliche Lebenspartner zu öffnen ist.3 Eine entsprechende Gesetzesinitiative des Bundesrats gab es bereits.4
II. Die bisherige Gesetzgebung im Lebenspartnerschaftsrecht Zum 1. August 2001 ist das Gesetz zur Beendigung der Diskriminierung gleichgeschlechtlicher Gemeinschaften: Lebenspartnerschaften (LPartDisBG) vom 16. Februar 20015 in Kraft getreten, das in Art. 1 das Gesetz über die
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BVerfGE 105, 313. BVerfGE 124, 199; 126, 400; 131, 239; 132, 179; BVerfG, Urteil des Ersten Senats vom 19. Februar 2013 – 1 BVL 1/11 und 1 BvR 3247/09 –, juris; BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 07. Mai 2013 – 2 BvR 909/06, 2 BvR 1981/06 und 2 BvR 288/07 –, juris. 3 So etwa Bömelburg, NJW 2012, S. 2753 (2758); Sanders, NJW 2013, S. 2236 (2239); Brosius-Gersdorf, FamFR 2013, S. 169 (171 f.); Grünberger, FPR 2010, S. 203 (208). 4 Vgl. BTDrucks 17/13426. 5 BGBl I S. 266. 2
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Eingetragene Lebenspartnerschaft (Lebenspartnerschaftsgesetz – LPartG) beinhaltet. Das LPartDisBG strebt ausweislich der Gesetzesbegründung den Abbau der Diskriminierung gleichgeschlechtlicher Paare und die Eröffnung der Möglichkeit, deren Lebensgemeinschaft ein rechtliches Gerüst zu geben, an. Hierzu sei mit der „Eingetragenen Lebenspartnerschaft“ ein familienrechtliches Institut für eine auf Dauer angelegte gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaft mit vielfältigen Rechtsfolgen geschaffen worden.6 Mit Einführung des Lebenspartnerschaftsgesetzes wurde die eingetragene Lebenspartnerschaft allerdings zunächst nur teilweise der Ehe angeglichen, da der Gesetzgeber beabsichtigte, im Hinblick auf das in der Literatur teilweise vertretene Abstandsgebot 7 Bedenken an der Verfassungsmäßigkeit des neuen Rechtsinstituts von vornherein auszuräumen.8 So wurde weder ein gesetzlicher Güterstand festgelegt noch im Falle der Aufhebung der Lebenspartnerschaft der Versorgungsausgleich geregelt. Auch diverse Begünstigungen für Ehegatten im Adoptionsrecht, im Rahmen der Hinterbliebenenversorgung und dem Steuerrecht wurden eingetragenen Lebenspartnern versagt.9 Bei dem sich anschließenden Gesetz zur Überarbeitung des Lebenspartnerschaftsrechts, welches am 1. Januar 2005 in Kraft getreten ist, hatte sich der Gesetzgeber hingegen zum Ziel gesetzt, das Lebenspartnerschaftsrecht nunmehr weitgehend an das Recht der Ehe anzugleichen.10 Auf die gesetzlichen Regelungen zur Ehe wurde in großem Umfang Bezug genommen, so wurde etwa das eheliche Güterrecht auf die Lebenspartnerschaft übertragen (§§ 6, 7 LPartG). Das Unterhaltsrecht (§§ 12, 16 LPartG) sowie die Aufhebungsgründe zur Beendigung der Lebenspartnerschaft (§ 15 LPartG) wurden ebenfalls weitgehend angeglichen. Der Versorgungsausgleich wurde auch für die Lebenspartnerschaft eingeführt (§ 20 LPartG) und die Stiefkindadoption wurde zugelassen (§ 9 Abs. 5–7 LPartG).
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Vgl. BTDrucks 14/3751, S. 33 f. Vgl. etwa Ipsen, Ehe und Familie, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR VII, 3. Aufl. 2009, § 154 Rn. 55; Stern, Der Schutz von Ehe, Familie und der Eltern/Kind-Beziehung, in: Stern/Sachs/Dietlein (Hrsg.), StR IV/1, 2006, § 100, S. 477; v. Coelln, in: Sachs (Hrsg.), GG, 6. Aufl. 2011, Art. 6 Rn. 18; Hofmann, in Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hopfauf (Hrsg.), GG, 12. Aufl. 2011, Art. 6 Rn. 19; Merten, Eheliche und nichteheliche Lebensgemeinschaften, in: Isensee/Lecheler (Hrsg.), Freiheit und Eigentum, FS Leisner, 1999, S. 615 (619), verwendet den Begriff „Privilegierungsgebot“; Burgi, Der Staat 39 (2000), S. 487 (501 f.), spricht insoweit von einem „Abbildungsgebot“, in dem Sinne, dass Gesetzgebung und Rechtsprechung verpflichtet seien, die Vorrangentscheidung zu respektieren und in ihren Maßnahmen wider zu spiegeln; Pauly, NJW 1997, S. 1955 (1956), der die Begriffe „Öffnungs-, Abbildungs- und Bezeichnungsverbot“ verwendet; Scholz/Uhle, NJW 2001, S. 393 (396); Gade/Thiele, DÖV 2013, S. 142 (150, m.w.N in Fn. 120). 8 Vgl. BTDrucks 14/3751, S. 33; Gade/Thiele, DÖV 2013, S. 142 (146); Kemper, FF 2005, S. 88 (89). 9 Vgl. Sanders, NJW 2013, S. 2236. 10 Vgl. BTDrucks 15/3445, S. 14. 7
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Eingetragene Lebenspartnerschaft = Ehe?
III. Die Entwicklung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu eingetragenen Lebenspartnerschaften Bereits vor Inkrafttreten des Lebenspartnerschaftsgesetzes hatte sich das Bundesverfassungsgericht im Jahr 1993 im Rahmen einer Kammerentscheidung mit der – derzeit wieder gesellschaftspolitisch hochaktuellen – Frage auseinanderzusetzen, ob gleichgeschlechtlichen Paaren der Zugang zur Eheschließung eröffnet werden muss. Diese Frage wurde damals unter Verweis auf die Nichteröffnung des Schutzbereiches von Art. 6 Abs. 1 GG aufgrund der Gleichgeschlechtlichkeit eingetragener Lebenspartner verneint.11 Als dann schließlich das Lebenspartnerschaftsgesetz erlassen worden war, bedurfte es zunächst der grundsätzlichen Klärung, ob das Gesetz in seiner damaligen Fassung mit der Verfassung vereinbar war.12 Nachdem das Bundesverfassungsgericht die Verfassungsmäßigkeit der eingetragenen Lebenspartnerschaft bestätigt hatte, hat es in mehreren Entscheidungen eine gesetzlich nicht vorgesehene Gleichbehandlung der eingetragenen Lebenspartnerschaft mit der Ehe eingefordert. 1. Die Verfassungsmäßigkeit der Institution der eingetragenen Lebenspartnerschaft a) Das Urteil zur eingetragenen Lebenspartnerschaft Nachdem einige Bundesländer ein abstraktes Normenkontrollverfahren gegen das LPartDisBG initiiert hatten, hat der Erste Senat in seinem Grundsatzurteil zur eingetragenen Lebenspartnerschaft festgestellt, dass diese weder die grundrechtlich geschützte Eheschließungsfreiheit noch die in Art. 6 Abs. 1 GG normierte Institutsgarantie verletze.13 Die eingetragene Lebenspartnerschaft stelle aufgrund ihrer Gleichgeschlechtlichkeit keine Ehe im Sinne von Art. 6 Abs. 1 GG dar und falle daher auch nicht in dessen Schutzbereich.14 Das Lebenspartnerschaftsgesetz verstoße auch nicht gegen das Gebot, der Ehe einen besonderen Schutz durch die staatliche Ordnung zu gewähren, da die Ehe durch das Gesetz weder beeinträchtigt noch geschädigt werde, denn schließlich sei das Institut der eingetragenen Lebenspartnerschaft für verschiedengeschlechtliche Paare gerade nicht zugänglich.15 Auch einen Verstoß gegen das Fördergebot des Art. 6 Abs. 1 GG sah das Gericht nicht als ge-
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Vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats – 1 BvR 640/93 –, juris. Vgl. BVerfGE 105, 313. Vgl. BVerfGE 105, 313 (342 ff.). Vgl. BVerfGE 105, 313 (345). BVerfGE 105, 313 (346 f.).
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geben an, da sich aus der Zulässigkeit, die Ehe gegenüber anderen Lebensformen zu begünstigen, kein Gebot entnehmen lasse, diese gegenüber der Ehe zu benachteiligen.16 In seinem Urteil brachte das Gericht zum Ausdruck, dass es das in der Literatur vielfach vertretene Abstandsgebot 17 ablehnte, indem es herausstellte, dass aus dem besonderen Schutz der Ehe nicht abgeleitet werden könne, dass andere Lebensgemeinschaften im Abstand zur Ehe zu gründen und mit geringeren Rechten auszustatten seien.18 Abweichende Ansichten hierzu vertraten Bundesverfassungsrichter Papier und Bundesverfassungsrichterin Haas in ihren Sondervoten, die den Bedeutungsgehalt der Institutsgarantie in der Entscheidung nicht hinreichend berücksichtigt sahen.19 b) Ist das Rechtsinstitut der eingetragenen Lebenspartnerschaft fortan in Stein gemeißelt? Nachdem das Bundesverfassungsgericht festgestellt hat, dass das Institut der eingetragenen Lebenspartnerschaft verfassungsrechtlich zulässig ist und nicht mit dem Schutz der Ehe kollidiert, drängt sich die Frage auf, ob hieraus auch eine Verpflichtung des Gesetzgebers, gleichgeschlechtlichen Paaren diese Möglichkeit der Eingehung einer rechtlich anerkannten dauerhaften Partnerschaft zu eröffnen, folgt.20 Ein solcher Anspruch auf Einrichtung eines eigenen Rechtsinstituts für homosexuelle Paare wird teilweise verneint.21 Hingegen ließen sich erste Anzeichen dafür, dass das Bundesverfassungsgericht einen solchen Anspruch als begründet ansehen könnte, der bereits erwähnten Kammerentscheidung aus dem Jahr 1993 entnehmen, als die Kammer vorsichtig andeutete, dass der Frage, ob der Gesetzgeber aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 und Art. 3 Abs. 1 GG verpflichtet sei, homosexuellen Paaren eine rechtliche Absicherung ihrer Partnerschaft zu ermöglichen, grundsätzliche Bedeutung zukommen könnte.22 Auch in seiner Entscheidung aus dem Jahr 2002 hat das Bundesverfassungsgericht angedeutet, dass gleichgeschlechtlichen Paaren von Verfassungs wegen ein Rechtsinstitut zum Zwecke der Persönlichkeitsentfaltung sowie zum Abbau von Diskrimi16
Vgl. BVerfGE 105, 313 (348). Vgl. Fn. 7. 18 Vgl. BVerfGE 105, 313 (348). 19 Vgl. BVerfGE 105, 313 (357 ff.). 20 Vgl. Sanders, Das Ehebild des Bundesverfassungsgerichts zwischen Gleichberechtigung, nichtehelicher Lebensgemeinschaft und Lebenspartnerschaft, in: Emmenegger/Wiedmann (Hrsg.), Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, Bd. 2, 2011, S. 352 (363). 21 Vgl. Pfizenmayer, Die Rechtsstellung gleichgeschlechtlicher Lebenspartner in der deutschen Rechtsordnung, 2007, S. 56 f. 22 Vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats – 1 BvR 640/93 –, juris Rn. 7. 17
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nierungen zur Verfügung gestellt werden müsse.23 Am deutlichsten kann ein solcher Anspruch jedoch aus den „Transsexuellenentscheidungen“ des Bundesverfassungsgerichts vom 6. Dezember 2005 24 und vom 11. Januar 201125 herausgelesen werden. Denn wie das Bundesverfassungsgericht dort ausführt, folge aus der von Art. 2 Abs. 1 GG geschützten freien Persönlichkeitsentfaltung das Recht jeder Person, mit einem frei gewählten Partner eine dauerhafte Beziehung einzugehen und diese in einem dafür gesetzlich geschaffenen Institut rechtlich abzusichern.26 Vor diesem Hintergrund dürfte es für den Gesetzgeber auch nicht möglich sein, das von ihm ins Leben gerufene Institut der eingetragenen Lebenspartnerschaft wieder abzuschaffen oder es mit geringeren Rechten zu versehen, es sei denn, er schüfe ein Äquivalent zur eingetragenen Lebenspartnerschaft in der derzeitigen Ausgestaltung und würde etwa gleichgeschlechtlichen Lebenspartnern die Heirat ermöglichen. 2. Die Gleichstellung der Lebenspartnerschaft mit der Ehe Während die Kammerrechtsprechung hinsichtlich der Gleichbehandlung eingetragener Lebenspartner mit Ehepaaren teilweise eine eher abwehrende Grundhaltung zum Ausdruck brachte,27 forderte der Erste Senat diese ab dem Jahr 2007 immer wieder ein.28 Besonders hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang die Entscheidung zur Hinterbliebenenversorgung eingetragener Lebenspartner, die die weitere Rechtsprechung der Senate zu eingetragenen Lebenspartnerschaften maßgeblich beeinflusste. Im Jahr 2012 schloss sich der Zweite Senat der Linie des Ersten Senates an.29 a) Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Hinterbliebenenversorgung eingetragener Lebenspartner unter Einbeziehung der europäischen Rechtsprechungsentwicklung Ein erster Schritt in Richtung Gleichbehandlung der eingetragenen Lebenspartnerschaft mit der Ehe erfolgte durch den Beschluss vom 7. Juli 2009 zur betrieblichen Hinterbliebenenversorgung für Arbeitnehmer des öffentlichen Dienstes.30 Das Gericht nahm in seiner Entscheidung Bezug auf europäische Rechtsprechung, die zur Begründung eines strengen Rechtfertigungsmaß-
23 24 25 26 27 28 29 30
Vgl. BVerfGE 105, 313 (346). BVerfGE 115, 1. Vgl. BVerfGE 128, 109. Vgl. BVerfGE 115, 1 (24); 128, 109 (125). Vgl. BVerfGK 12, 169; 13, 501; 17, 368. Vgl. BVerfGE 124, 199; 126, 400. Vgl. BVerfGE 131, 239; 132, 179. BVerfGE 124, 199.
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stabs für die Ungleichbehandlung eingetragener Lebenspartner und Ehegatten diente. Auch die nachfolgenden Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zu eingetragenen Lebenspartnerschaften haben sich wiederkehrend auf diesen strengen Prüfungsmaßstab gestützt und unter anderem dadurch die Gleichstellung zwischen gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaften und Ehepaaren vorangetrieben. Nach Darstellung der wesentlichen Inhalte der Senatsentscheidung soll diese daher – sozusagen als „Ursprungsentscheidung“ – zum Anlass genommen werden, die Entwicklung der europäischen Rechtsprechung zu gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften, insbesondere des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, nachzuzeichnen und einem Vergleich zur Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu unterziehen. aa) Lebenspartner und ihr Anspruch auf Hinterbliebenenversorgung In seinem Beschluss vom 7. Juli 2009 zur betrieblichen Hinterbliebenenversorgung für Arbeitnehmer des öffentlichen Dienstes 31 entschied der Erste Senat, dass es zu einer nicht gerechtfertigten Ungleichbehandlung zwischen Versicherten, die verheiratet seien, und solchen, die in einer eingetragenen Lebenspartnerschaft lebten, führe, wenn ein Anspruch auf Hinterbliebenenrente ausdrücklich nur für Ehegatten, nicht jedoch für Lebenspartner vorgesehen sei.32 Während nach Erlass des Urteils des Ersten Senats im Jahr 2002 33 der Zweite Senat in seiner Kammerentscheidung zum Familienzuschlag der in einer eingetragenen Lebenspartnerschaft lebenden Beamten im Jahr 2007 noch die Ansicht vertrat, aus dieser Entscheidung lasse sich keine Verpflichtung zur Gleichstellung der eingetragenen Lebenspartnerschaft mit der Ehe herleiten,34 unterwarf der Erste Senat Ungleichbehandlungen in seiner Entscheidung zur Hinterbliebenenversorgung einer strengen Rechtfertigungsprüfung und legte damit einen weiteren Grundstein für die Angleichung. So zeigte sich dieser Beschluss insofern als richtungsweisend, als er grundlegende Aussagen zum Prüfungsmaßstab im Hinblick auf die Rechtfertigung einer Ungleichbehandlung von Verheirateten und eingetragenen Lebenspartnern traf und die weitere Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts dadurch maßgeblich beeinflusste. In Anlehnung an die Rechtsentwicklung im Europarecht, unter anderem die Rechtsprechung des Europäischen Gerichts-
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BVerfG a.a.O. Vgl. BVerfG a.a.O., S. 219. BVerfGE 105, 313. Vgl. BVerfGK 12, 169.
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hofs für Menschenrechte,35 sah das Gericht einen gesteigerten Rechtfertigungsbedarf deshalb als gegeben an, da die Ungleichbehandlung von Eheleuten und eingetragenen Lebenspartnern das Kriterium der sexuellen Orientierung berühre und daher eine gewisse Nähe zu den in Art. 3 Abs. 3 GG genannten Persönlichkeitsmerkmalen aufweise.36 Der Entschluss einer Person, eine Ehe oder eine Lebenspartnerschaft einzugehen, sei unmittelbar an ihre sexuelle Orientierung geknüpft.37 Von Regelungen, die die Rechte eingetragener Lebenspartner berührten, würden regelmäßig gleichgeschlechtliche Personen erfasst, und von solchen, die die Rechte von Eheleuten berührten, verschiedengeschlechtliche Personen.38 Soweit das Gericht für die Begründung des strengen Prüfungsmaßstabs einen Bezug zu den Persönlichkeitsmerkmalen des Art. 3 Abs. 3 GG herstellte, stieß diese Vorgehensweise in der Literatur nicht nur auf Zustimmung.39 Dem Gericht wurde insoweit vorgeworfen, die Entscheidung des verfassungsändernden Gesetzgebers, das Merkmal der sexuellen Orientierung eben nicht als Merkmal für ein Differenzierungsverbot in den Katalog des Art. 3 Abs. 3 GG aufzunehmen,40 bewusst missachtet zu haben.41 Im Einklang mit dieser Auffassung hat auch noch die Erste Kammer des Zweiten Senats in ihrer Entscheidung zum Familienzuschlag im Jahr 2007 die Ansicht vertreten, dass Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG nicht berührt sei, da das Merkmal der sexuellen Orientierung nicht zu den in Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG genannten Differenzierungsmerkmalen gehöre.42 Unter Hinweis darauf, dass die Einfügung des Merkmals der sexuellen Identität zwischenzeitlich von der Bundestagsmehrheit mit dem Argument abgelehnt worden war, eine Erweiterung sei nicht erforderlich, da der Schutz vor Diskriminierungen wegen der sexuellen Identität durch Art. 3 Abs. 1 GG sich nach der Rechtsprechung des Bun35 Das Gericht bezog sich an dieser Stelle auf die Entscheidung des EGMR, Urteil vom 24. Juli 2003, Karner gg. Österreich, Nr. 40.016/98, ÖJZ 2004, S. 36 ff., die das Eintrittsrecht des Beschwerdeführers in den Mietvertrag seines verstorbenen homosexuellen Lebensgefährten betraf. Der Gerichtshof stellte im Rahmen der Prüfung von Art. 8 EMRK i.V.m. Art. 14 EMRK fest, dass Unterscheidungen, die sich auf die sexuelle Orientierung gründen, ebenso wie Differenzierungen aufgrund des Geschlechts, ernstliche Gründe als Rechtfertigung erforderten. 36 Vgl. BVerfGE 124, 199 (219 f.). 37 Vgl. BVerfG a.a.O., S. 222. 38 Vgl. BVerfG a.a.O. 39 Vgl. etwa Uhle, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), Beck’scher Online Kommentar GG, Art. 6 Rn. 36.3 (Dezember 2013); Kischel, in Epping/Hillgruber (Hrsg.), Beck’scher Online Kommentar GG, Art. 3 Rn. 42.1.f. (Dezember 2013); Hofmann, in: Schmidt-Bleibtreu/ Hofman/Hopfauf (Hrsg.), GG, 12. Aufl. 2011, Art. 6 Rn. 22a. 40 Vgl. Bericht der Gemeinsamen Verfassungskommission, BTDrucks 12/6000, S. 54. 41 So Krings, NVwZ 2011, S. 26; ders., Der besondere Eheschutz zwischen Verfassung und Verfassungsgericht – Der Wandel der Auslegung des Art. 6 Abs. 1 GG in der jüngeren Rechtsprechung des BVerfG, in: Höfling (Hrsg.), Kommentierte Verfassungsrechtsdogmatik, FS Friauf, 2011, S. 269 (273); Hillgruber, JZ 2010, S. 41 (43). 42 Vgl. BVerfGK 12, 169 (174).
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desverfassungsgerichts mittlerweile mit dem Schutz nach Art. 3 Abs. 3 GG decke,43 konnte der Zweite Senat in seiner späteren Entscheidung zum Familienzuschlag für Beamte, die in einer eingetragenen Lebenspartnerschaft leben, einen entgegenstehenden Willen des verfassungsändernden Gesetzgebers allerdings nicht mehr erkennen.44 Gemessen an dem strengen Prüfungsmaßstab konnte der Erste Senat sodann eine Rechtfertigung der Ungleichbehandlung nicht feststellen. Der bloße Verweis auf die Ehe und ihren besonderen staatlichen Schutz reiche zur Rechtfertigung einer Ungleichbehandlung nicht aus, hierfür erfordere es vielmehr einen „hinreichend gewichtigen Sachgrund“.45 Soweit die Rechtfertigung der Begünstigung der Ehe aus der dauerhaft übernommenen und rechtlich verbindlichen Verantwortung für den Ehegatten folge, sei ein Unterschied zwischen Ehe und eingetragener Lebenspartnerschaft nicht erkennbar, da beide auf Dauer ausgerichtet seien und eine gegenseitige Einstandspflicht begründeten.46 Insoweit setzte sich der Erste Senat über die Ansicht der Ersten Kammer des Zweiten Senats hinweg, die in ihrer Kammerentscheidung aus dem Jahr 2007 – unter Bezugnahme auf das Urteil des Ersten Senats aus dem Jahr 2002 – noch die Auffassung vertrat, aus Art. 6 Abs. 1 GG selbst folge der sachliche Differenzierungsgrund, der eine Ungleichbehandlung von verheirateten Beamten und in einer Lebenspartnerschaft lebenden Beamten in Bezug auf den Familienzuschlag rechtfertige.47 In der Literatur wurde die Entscheidung des Ersten Senats stark kritisiert 48 und ihm als Konsequenz seiner Rechtsprechung eine unvermeidliche Gleichstellung von Ehe und Lebenspartnerschaft vorgeworfen. Dem kann jedoch entgegen gehalten werden, dass lediglich die sachlichen Gründe für die Ungleichbehandlung im Einzelfall untersucht und das pauschalisierende Argument des besonderen Schutzes der Ehe nicht ohne weiteres als Rechtfertigungsgrund hingenommen, sondern vielmehr einer genaueren Prüfung unterzogen wurde.49 43
Unter Verweis auf BTDrucks 17/4775, S. 5. Vgl. BVerfGE 131, 239 (257). 45 Vgl. BVerfGE 124, 199 (224, 226). 46 Vgl. BVerfG a.a.O., S. 225. 47 Vgl. BVerfGK 12, 169 (177). 48 Vgl. hierzu etwa Krings, NVwZ 2011, S. 26: „Ohne ein einziges Wort der Begründung wird aus dieser Ablehnung eines Abstandsgebots auf das Bestehen eines davon kategorial verschiedenen Abstandsverbots geschlossen.“ Ebenso Hillgruber, JZ 2010, S. 41 (42), der das Erfordernis eines hinreichend gewichtigen Sachgrundes für eine gerechtfertigte Differenzierung zwischen Ehe und sonstiger ähnlich verfestigter Lebensgemeinschaft als „Scheinrationalität“ ansieht, da der besondere Schutz der Ehe keiner sachlichen Rechtfertigung bedürfe; Reimer/Jestaedt, JZ 2013, S. 468 (469), sprechen von einer „interpretatorischen Kaltstellung“ des Art. 6 Abs. 1 GG; Uhle, in: Beck’scher Online Kommentar GG, Art. 6 Rn. 36.3 (Dezember 2013), sieht die Grenze zu einer „unstatthaften verfassungskorrigierenden Norminterpretation“ als überschritten an. 49 Vgl. Classen, JZ 2010, S. 411. 44
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Das Gericht betrachtet in seiner Entscheidung außerdem ausdrücklich die Ehe losgelöst vom Schutz der Familie 50 und entwickelt damit einen neuen Begründungsansatz für den Schutz der Ehe, der nunmehr in der auf Dauer übernommenen und rechtlich verbindlichen Verantwortung der Ehegatten füreinander gesehen wird.51 Auf diese Weise wird das Gericht den gesellschaftlichen Realitäten gerecht, da das Institut der Ehe angesichts kinderloser Ehepaare auf der einen und nichtehelicher Lebensgemeinschaften mit Kindern auf der anderen Seite heutzutage nicht mehr nur darauf beschränkt werden kann, Basis einer Familienplanung zu sein.52 Zugleich distanziert sich der Erste Senat von der früheren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, wonach die Ehe die „alleinige Grundlage einer vollständigen Familiengemeinschaft“ bildet.53 bb) Die Entwicklung der europäischen Rechtsprechung unter besonderer Berücksichtigung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte im Vergleich zur Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu eingetragenen Lebenspartnerschaften Die Entscheidung zur Hinterbliebenenversorgung fügt sich in einen verstärkten europäischen Konsens über die rechtliche Anerkennung gleichgeschlechtlicher Paare und einer zunehmend toleranteren Einstellung gegenüber gleichgeschlechtlichen Paaren in der Gesellschaft ein. So hatte bereits der Europäische Gerichtshof mit Urteil vom 1. April 2008,54 das ebenfalls den Anspruch eines überlebenden eingetragenen Lebenspartners auf Hinterbliebenenversorgung betraf, entschieden, dass die Benachteiligung von Lebenspartnern gegenüber Ehegatten im Bereich der Hinterbliebenenversorgung eine unmittelbare Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung gemäß Art. 1 i.V.m. Art. 2 Abs. 2 Buchst. a der Rahmenrichtlinie 2000/78/EG darstelle, wenn sich der überlebende Ehegatte und der überlebende Lebenspartner in Bezug auf die Hinterbliebenenversorgung in einer vergleichbaren Situation befinden, wobei die Prüfung der Vergleichbarkeit den nationalen Gerichten obliege.55 Das Bundesverfassungsgericht
50
Vgl. BVerfGE 124, 199 (225); Henkel, NJW 2011, S. 259 (261) und Michael, NJW 2010, S. 3537 (3538) bezeichnen diese Vorgehensweise als „Entkopplung von Ehe und Familie“. 51 Vgl. Bömelburg, NJW 2012, S. 2753 (2755). 52 Vgl. Michael, NJW 2010, S. 3537 (3538); Henkel, NJW 2011, S. 259 (261); von der Tann, FamFR 2012, S. 195 (198); Bömelburg, NJW 2012, S. 2753 (2755). 53 Vgl. BVerfGE 76, 1 (51). 54 EuGH, Urteil vom 1. April 2008, Rs C-267/06, Tadao Maruko gg.Versorgungsanstalt der Deutschen Bühnen, EuZW 2008, S. 314 ff. 55 EuGH, Urteil vom 1. April 2008, Rs C-267/06, Tadao Maruko gg.Versorgungsanstalt der Deutschen Bühnen, EuZW 2008, S. 314 (317), Rn. 72 f.
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zieht diese Entscheidung bei seiner Begründung der Ungleichbehandlung aufgrund der sexuellen Orientierung heran.56 Die ebenfalls durch das Gericht zitierte Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte Karner gegen Österreich 57 repräsentiert gleichfalls diese gegenüber homosexuellen Paaren zunehmend tolerantere Einstellung. So vertritt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte zwischenzeitlich die Ansicht, dass sich die gesellschaftliche Haltung massiv geändert habe, weshalb auch gleichgeschlechtliche Paare einen Familienverband gründen könnten,58 während in der Entscheidung Mata Estevez gegen Spanien59 eine Benachteiligung Homosexueller zum Schutz der traditionellen Familie durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte noch geduldet wurde. Im Fall Fretté gegen Frankreich60 im Jahr 2002 hatte sich der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte mit der Frage einer Konventionsverletzung durch die Verweigerung der Genehmigung zur Durchführung eines Adoptionsverfahrens durch eine homosexuelle Einzelperson auseinander zu setzen, die er damals noch ablehnte. Im Jahr 2008 hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im Zusammenhang mit einer Einzeladoption durch eine homosexuelle Beschwerdeführerin dagegen ausgeführt, dass es besonders gewichtiger und überzeugender Gründe bedürfe, um eine Ungleichbehandlung bei Ausübung von Rechten nach Art. 8 EMRK zu rechtfertigen. Wenn sich die Gründe für eine Ungleichbehandlung allein auf Erwägungen zur sexuellen Orientierung der Beschwerdeführerin bezögen, liege eine Diskriminierung im Sinne der Konvention vor.61 Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Hinterbliebenenversorgung eingetragener Lebenspartner machte sich diese Haltung zu eigen, indem ein strenger Kontrollmaßstab bei einer auf die sexuelle Orientierung bezogenen Ungleichbehandlung für geboten erachtet wurde, der sich dem bei anderen Diskriminierungsverboten geltenden Maßstäben annähere.62 Die 56
Vgl. BVerfGE 124, 199 (222). EGMR, Urteil vom 24. Juli 2003, Karner gg. Österreich, Nr. 40.016/98, ÖJZ 2004, S. 36 ff. 58 EGMR, Urteil vom 24. Juni 2010, Schalk und Kopf gg. Österreich, Nr. 30141/04, NJW 2011, S. 1421 (1424). 59 EGMR, Urteil vom 10. Mai 2001, Mata Estevez gg. Spanien, Nr. 56501/00. 60 Vgl. EGMR, Urteil vom 26. Februar 2002, Fretté gg. Frankreich, Nr. 35615/97, FamRZ 2003, S. 149 ff. 61 Vgl. EGMR (GK), Urteil vom 22. Januar 2008, E.B gg. Frankreich, Nr. 43546/02, NJW 2009, S. 3637 (3639). 62 Vgl. BVerfGE 124, 199 (220); kritisch hierzu Hillgruber, JZ 2010, S. 41 (43), der die Berufung des Bundesverfassungsgerichts auf die Rechtsentwicklung im Europarecht als einen „ungenießbaren Brei von Rechtsquellen“ erachtet; a.A. Classen, JZ 2010, S. 411 (412), der annimmt, dass das Bundesverfassungsgericht mit dem Verweis auf europäische Rechtsprechung zu einer widerspruchsfreien Rechtsprechung beiträgt und damit willkürliche Rechtsprechung vermieden werden könne. 57
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nachfolgenden Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts führten diesen Gedanken fort.63 Auch die Entscheidung zur Sukzessivadoption bezieht die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ein, wenn sie bei der Prüfung, ob der Schutz des Familiengrundrechts sich auch auf eingetragene Lebenspartner erstreckt,64 auf das Urteil Schalk und Kopf gegen Österreich 65 Bezug nimmt, wonach der Gerichtshof erstmals anerkannt habe, dass gleichgeschlechtliche Paare von der Achtung des Familienlebens im Sinne von Art. 8 EMRK erfasst würden.66 Die Vermutung, es sei eine übereinstimmende Entwicklung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und der europäischen Rechtsprechung zu gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaften zu beobachten, liegt daher nahe. Bei genauerer Betrachtung – insbesondere der beiden Entscheidungen Gas & Dubois gegen Frankreich sowie X u.a. gegen Österreich 67 – könnte man allerdings den gegenteiligen Eindruck gewinnen. Das Verfahren Gas & Dubois gegen Frankreich betraf zwei Beschwerdeführerinnen, die zusammen mit einem Kind, das eine der Beschwerdeführerinnen im Wege der künstlichen Befruchtung empfangen hatte, in einer registrierten Partnerschaft (PACS) 68 in Frankreich lebten und dessen Adoption durch die Partnerin der Mutter des Kindes von den nationalen Fachgerichten verweigert wurde, da die Stiefkindadoption in Frankreich nur verheirateten Paaren offenstand.69 Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte konnte eine von den Beschwerdeführerinnen vorgebrachte ungerechtfertigte Ungleichbehandlung, da sie sich in einer vergleichbaren Situation zu Verheirateten befänden, nicht erkennen, da die Ehe einen besonderen Status für Ehegatten begründe. Die Ausübung des Rechts zu heiraten sei durch Art. 12
63 BVerfGE 126, 400 (419); 131, 239 (256); BVerfG, Urteil des Ersten Senats vom 19. Februar 2013 – 1 BvL 1/11 und 1 BvR 3247/09 –, juris Rn. 104; BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 07. Mai 2013 – 2 BvR 909/06, 2 BvR 1981/06, 2 BvR 288/07 –, juris Rn. 77. 64 S. dazu Punkt III.2.c)aa). 65 EGMR, Urteil vom 24. Juni 2010, Schalk und Kopf gg. Österreich, Nr. 30141/04, NJW 2011, S. 1421 ff. 66 BVerfG, Urteil des Ersten Senats vom 19. Februar 2013 – 1 BvL 1/11 und 1 BvR 3247/09 –, juris Rn. 66. 67 EGMR, Urteil vom 15. März 2012, Gas und Dubois gg. Frankreich, Nr. 25951/07, NJW 2013, S. 2171 ff.; EGMR (GK), Urteil vom 19. Februar 2013, X u.a. gg. Österreich, Nr. 19010/07, NJW 2013, S. 2173 ff. 68 Die PACS ist sowohl heterosexuellen als auch homosexuellen Paaren zugänglich, vgl. Art. 515-1 Cciv. (code civil), abgedruckt bei Chaussade-Klein/Henrich/Schönberger, Länderbericht Frankreich, in: Bergmann/Ferid/Henrich (Hrsg.), Internationales Ehe- und Kindschaftsrecht, Bd. 6, S. 122 (Dezember 2013). 69 Mittlerweile hat die Assemblée Nationale durch Einführung von Art. 143 Cciv. homosexuellen Paaren den Weg zur Eheschließung und damit auch zur Adoption von Kindern eröffnet, vgl. Süß, ZEV 2013, S. 546.
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EMRK geschützt und bringe soziale, persönliche und rechtliche Folgen mit sich, weshalb man nicht annehmen könne, dass sich die Beschwerdeführerinnen im Falle der Adoption durch den zweiten Elternteil in einer vergleichbaren rechtlichen Situation befänden wie Verheiratete.70 Eine Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung sei ebenfalls nicht gegeben, da auch nicht verheirateten heterosexuellen Paaren, die in einer PACS leben, die Stiefkindadoption verwehrt sei.71 Der Gerichtshof verneinte daher eine Verletzung von Art. 14 i.V.m. Art. 8 EMRK. Auf diese Entscheidung nahm der Gerichtshof in dem Verfahren X u.a. gegen Österreich Bezug und bekräftigte nochmals, dass die Ehe den Paaren, die sie schließen, eine besondere Rechtsstellung einräume 72 und sich die Beschwerdeführerinnen, die in einer festen gleichgeschlechtlichen Beziehung in Österreich lebten und ebenfalls eine Stiefkindadoption anstrebten, nicht in einer vergleichbaren Lage wie Ehegatten befänden.73 Folglich sei Art. 14 i.V.m. Art. 8 EMRK nicht verletzt.74 Hingegen sieht der Gerichtshof eine nicht gerechtfertigte Ungleichbehandlung aufgrund der sexuellen Orientierung und damit im Ergebnis eine Verletzung von Art. 14 i.V.m. Art. 8 EMRK insoweit als gegeben an, als unverheirateten heterosexuellen Paaren nach österreichischem Recht die Möglichkeit der Stiefkindadoption eröffnet ist, homosexuellen unverheirateten Paaren dagegen nicht.75 Indem der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in den genannten Verfahren die besondere Stellung der Ehe hervorhebt, zeigt sich, dass er gegebenenfalls ein im nationalen Recht eines Vertragsstaats zum Ausdruck kommendes Abstandsgebot akzeptiert. Auch wenn der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte zwischenzeitlich die Ansicht vertritt, dass sich die gesellschaftliche Haltung in Europa geändert habe, weshalb auch gleichgeschlechtliche Paare einen Familienverband gründen könnten und vereinzelt Diskriminierungen Homosexueller, etwa im Vergleich zu unverheirateten heterosexuellen Paaren, festgestellt wurden, so scheint sich der Gerichtshof einer Vergleichbarkeit des Instituts der Ehe und der gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaft jedenfalls derzeit noch zu verschließen.76
70 EGMR, Urteil vom 15. März 2012, Gas und Dubois gg. Frankreich, Nr. 25951/07, Rn. 68, NJW 2013, S. 2171 (2173). 71 EGMR, a.a.O., Rn. 69. 72 EGMR (GK), Urteil vom 19. Februar 2013, X u.a. gg. Österreich, Nr. 19010/07, Rn. 106, NJW 2013, S. 2173 (2176). 73 EGMR (GK), a.a.O. Rn. 109. 74 EGMR (GK), a.a.O. Rn. 110. 75 EGMR (GK), a.a.O. Rn. 153, S. 2179; diese Rechtsprechungslinie setzt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in seinem weiteren Verfahren zu gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaften, EGMR, Urteil vom 07. Mai 2013, B. und G.B. gg. Deutschland, Nr. 8017/11, Rn. 28, fort. 76 So auch Maierhöfer, EuGRZ 2013, S. 105 (113).
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b) Familienzuschlag für eingetragene Lebenspartner Nachdem die Rechtsprechungslinie des Bundesverfassungsgerichts zu eingetragenen Lebenspartnerschaften durch die Entscheidungen zum Erb 77und Grunderwerbssteuerrecht 78 bestätigt wurde, erfuhr die Rechtsprechung des Zweiten Senats durch die Entscheidung zum Familienzuschlag für Beamte 79 einen neuen Impuls. Die 1. Kammer des Zweiten Senates hatte das erste Mal in den Jahren 2007 und 2008 über zwei Verfassungsbeschwerden zu entscheiden,80 die die Frage betrafen, ob es mit dem Grundgesetz vereinbar ist, den Beamten, die eine eingetragene Lebenspartnerschaft geschlossen haben, den Familienzuschlag der Stufe 1, den verheiratete Beamte erhalten, nicht beziehungsweise nur unter weitergehenden Voraussetzungen zu gewähren. Damals vertrat die Kammer noch die Auffassung, dass die Beschränkung des Familienzuschlags der Stufe 1 auf verheiratete Beamte nicht gegen den allgemeinen Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 1 i.V.m. Art. 6 Abs. 1 GG verstoße und begründete dies damit, dass zwar eine Ungleichbehandlung, die unmittelbar an das Kriterium des Familienstands anknüpfe, gegeben sei.81 Die Begünstigung verheirateter Beamter sei jedoch nach Art. 6 Abs. 1 GG gerechtfertigt, da der verfassungsrechtliche Förderauftrag den Gesetzgeber ermächtige, die Ehe als Rechtsinstitut gegenüber anderen Lebensformen hervorzuheben und zu privilegieren.82 Zur Begründung zitierte die Kammer bemerkenswerterweise eine Passage in der Entscheidung zur Verfassungsmäßigkeit der eingetragenen Lebenspartnerschaft aus dem Jahr 2002,83 die wie bereits dargelegt den Anstoß für die Angleichung der eingetragenen Lebenspartnerschaft an die Ehe bildete. Sanders führt diese divergierenden Interpretationsweisen desselben Urteils auf eine unklare Formulierung in der Entscheidung BVerfGE 105, 313 zurück, aus der sich zwar ergebe, dass eine Begünstigung der Ehe erlaubt sei, ohne dafür allerdings die Konditionen klarzustellen.84 Eine Abkehr von der genannten Kammerrechtsprechung 85 nahm der Zweite Senat vor, als er im Jahr 2012 entschied, dass die Ungleichbehandlung von eingetragener Lebenspartnerschaft und Ehe beim beamtenrechtlichen Familienzuschlag (§ 40 Abs. 1 Nr. 1 BBesG) unvereinbar mit dem allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG ist.86 Während die 1. Kammer des 77 78 79 80 81 82 83 84 85 86
BVerfGE 126, 400. BVerfGE 132, 179. BVerfGE 131, 239. BVerfGK 12, 169; 13, 501. Vgl. BVerfGK 12, 169 (176); 13, 501 (502). Vgl. BVerfGK, 12, 169 (176 f.); 13, 501 (502). Nämlich BVerfGE 105, 313 (348). Vgl. Sanders, FF 2012, S. 391 (393 f.). BVerfGK 12, 169; 13, 501. BVerfGE 131, 239.
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Zweiten Senats es noch im Jahr 2007/2008 abgelehnt hatte, die Ungleichbehandlung am Merkmal der sexuellen Orientierung festzumachen,87 entschied der Zweite Senat, dass die Ungleichbehandlung von verheirateten und in einer eingetragenen Lebenspartnerschaft lebenden Beamten beim Familienzuschlag eine am allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG zu messende mittelbare Ungleichbehandlung wegen der sexuellen Orientierung darstelle, die durch den in Art. 6 Abs. 1 GG verankerten besonderen Schutz der Ehe nicht zu rechtfertigen sei.88 Soweit der Zweite Senat zur Frage, ob Beamtenehen finanzieller Unterstützung bedürften, um Kindern das Aufwachsen im Rahmen der ehelichen Lebensgemeinschaft zu eröffnen, ausführt, dass Kinder nicht nur in den „behüteten“ Verhältnissen einer Ehe aufwachsen könnten, sondern auch die „behüteten“ Verhältnisse in einer eingetragenen Lebenspartnerschaft das Aufwachsen von Kindern begünstigen könnten,89 wiederholt er einen ähnlich bereits in der Entscheidung zur Hinterbliebenenversorgung formulierten Gedanken,90 der später auch in der Entscheidung zur Sukzessivadoption aufgegriffen werden sollte. c) Das Adoptionsrecht für eingetragene Lebenspartner Eine der zögerlichsten Angleichungen der gesetzlichen Regelungen der eingetragenen Lebenspartnerschaft an die der Ehe dürfte im Bereich des Adoptionsrechts stattgefunden haben. Nachdem das Lebenspartnerschaftsgesetz aus dem Jahr 2002 zunächst überhaupt keine Regelungen zum Adoptionsrecht eingetragener Lebenspartner vorsah (die Einzeladoption ist seit jeher in § 1741 Abs. 2 Satz 1 BGB geregelt), wurde zwar mit dem Gesetz zur Überarbeitung des Lebenspartnerschaftsrechts im Jahr 2005 immerhin die Möglichkeit der Adoption des leiblichen Kindes des anderen Lebenspartners (§ 9 Abs. 7 Satz 1 LPartG) eingeführt und die bereits zulässige Einzeladoption von der Zustimmung des nicht adoptierenden Partners abhängig gemacht (§ 9 Abs. 6 Satz 1 LPartG), darüber hinausgehende Adoptionsmöglichkeiten wie die Sukzessivadoption (die Adoption eines angenommenen Kindes des anderen Lebenspartners) sowie die gemeinschaftliche Adoption blieben eingetragenen Lebenspartnern jedoch weiterhin verschlossen.
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Vgl. BVerfGK 12, 169 (174). Vgl. BVerfGE 131, 239 (258 f.); s. dazu auch Punkt III.2.a)aa). 89 Vgl. BVerfGE 131, 239 (264). 90 Vgl. BVerfGE 124, 199 (226): „Eine familienpolitische Intention […], dass Kinder möglichst mit verheirateten Eltern aufwachsen und daher Anreize zur Eheschließung gegeben werden sollten, ist nicht erkennbar und könnte zudem allenfalls eine Privilegierung gegenüber Paaren begründen, die eine Ehe eingehen könnten, also der heterosexuellen nichtehelichen Lebensgemeinschaft, nicht aber gegenüber der gleichgeschlechtlichen eingetragenen Lebenspartnerschaft.“ 88
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Im Rahmen einer großen Anfrage vom 2. Dezember 2010 betreffend die Verfassungsmäßigkeit der bestehenden Ungleichbehandlung eingetragener Lebenspartnerschaften gegenüber Ehen91 wurde die Frage aufgeworfen, welcher hinreichend gewichtige Sachgrund es aus Sicht der Bundesregierung rechtfertige, dass die Stiefkindadoption leiblicher Kinder des Lebenspartners erlaubt ist, die von adoptierten Kindern dagegen nicht. Auf die Anfrage antwortete die Bundesregierung am 21. Dezember 2011,92 eine Zweit- oder Kettenadoption für Lebenspartner sei durch Art. 6 Abs. 2 des für Deutschland verbindlichen Europäischen Abkommens über die Adoption von Kindern von 1967 93 verboten. Ob die Neufassung des Abkommens aus dem Jahre 2008 gezeichnet werden solle, werde derzeit geprüft.94 Von Bedeutung werde auch der Ausgang zweier beim Bundesverfassungsgericht anhängiger Verfahren sein, die die Frage der Verfassungsmäßigkeit des § 9 Abs. 7 LPartG zum Gegenstand hätten.95 aa) Sukzessivadoption durch eingetragene Lebenspartner In seinem Urteil vom 19. Februar 2013 entschied das Bundesverfassungsgericht, dass der Ausschluss der Sukzessivadoption von Kindern durch eingetragene Lebenspartner verfassungswidrig sei. Dem Gesetzgeber wurde aufgegeben, bis zum 30. Juni 2014 eine verfassungsgemäße Regelung zu treffen. Zwar seien weder das Recht des Kindes auf staatliche Gewährleistung elterlicher Pflege und Erziehung noch das Elterngrundrecht noch das Familiengrundrecht für sich genommen verletzt. § 9 Abs. 7 LPartG sei jedoch mit Art. 3 Abs. 1 GG unvereinbar, soweit danach die Annahme eines adoptierten Kindes des eingetragenen Lebenspartners nicht möglich sei, wohingegen die Annahme eines adoptierten Kindes des Ehepartners und die Annahme eines leiblichen Kindes des eingetragenen Lebenspartners zugelassen seien.96 Im Gegensatz zu den vorgenannten Entscheidungen, in deren Zentrum jeweils die Prüfung einer Ungleichbehandlung von eingetragenen Lebenspartnern im Vergleich zu Ehegatten stand, zeichnet sich diese Entscheidung dadurch aus, dass der Fokus insbesondere auf das betroffene Kind gelegt und mögliche Grundrechtsverletzungen nicht nur aus der Perspektive der betroffenen Lebenspartner, sondern auch aus der Sicht des betroffenen Kindes
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BTDrucks 17/4112. BTDrucks 17/8248. 93 Abrufbar unter http://conventions.coe.int/Treaty/ger/Treaties/Html/058.htm. 94 Die Neufassung, abrufbar unter http://conventions.coe.int/Treaty/en/Treaties/Html/ 202.htm, erlaubt ausdrücklich die Zulassung der Sukzessivadoption durch eingetragene Lebenspartner. 95 Vgl. BTDrucks 17/8248, S. 5. 96 BVerfG, Urteil des Ersten Senats vom 19. Februar 2013 – 1 BvL 1/11 und 1 BvR 3247/09 –, juris. 92
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geprüft wurden. Diese Vorgehensweise ist vor dem Hintergrund zu sehen, dass die Ausgangsverfahren maßgeblich die Rechte der zur Adoption freigegebenen Kinder berührten und nicht nur rein pekuniäre Interessen der gleichgeschlechtlichen Lebenspartner zum Gegenstand hatten. Die Prüfungsreihenfolge, die eine Prüfung der Freiheitsgrundrechte vor den Gleichheitsgrundrechten vorsieht und vereinzelt in der Literatur beanstandet wurde,97 orientiert sich an dem Grundsatz, dass der gleichheitsrechtliche Grundrechtsschutz im Vergleich zum freiheitsrechtlichen den schwächer ausgestalteten Schutz gewährt und daher in der Regel nachrangig zu prüfen ist.98 In seinem Urteil zur Sukzessivadoption hat der Erste Senat nicht nur seine bisherige Linie der Rechtsprechung zu Art. 3 Abs. 1 GG fortgesetzt, sondern seine bisherige Senatsrechtsprechung dahingehend fortentwickelt, dass er aus Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG ein Recht des Kindes auf staatliche Gewährleistung elterlicher Pflege und Erziehung hergeleitet hat,99 das er allerdings angesichts des weiten Entscheidungsspielraums des Gesetzgebers nicht als verletzt angesehen hat.100 Darüber hinaus hat der Erste Senat im Rahmen der Prüfung der Freiheitsgrundrechte bedeutende Feststellungen zur Elternschaft gleichgeschlechtlicher Lebenspartner sowie zum Schutz gleichgeschlechtlicher Lebenspartner mit Kind durch das Familiengrundrecht getroffen. Maierhöfer meint sogar, insoweit habe das Gericht wie schon in den „Transsexuellenentscheidungen“ den Boden für eine Entwicklung eines „Grundrechts auf rechtlich gesicherte Partnerschaft“ für jedes Paar, unabhängig vom Geschlecht der Partner, bereitet.101 So interpretiert der Erste Senat Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG erstmals in der Weise, dass dieser nicht nur verschiedengeschlechtliche Eltern schütze, sondern auch zwei gleichgeschlechtliche Elternteile in dessen Schutzbereich einbezogen seien, sofern das einfache Gesetzesrecht deren Elternstatus begründet. Für die Schutzbedürftigkeit des zum Wohle des Kindes gewährten Elternrechts gegenüber dem Staat sei es schließlich nicht von Belang, ob die Eltern gleichen oder verschiedenen Geschlechts seien.102 Wortlaut und divergierende Vorstellungen des Verfassungsgebers davon, was unter dem Begriff 97 Vgl. Reimer/Jestaedt, JZ 2013, S. 468 (470), die einen „ungewöhnlich großen Anteil von obiter dicta“ feststellten. 98 Vgl. Britz, NJW 2014, S. 346 (350). 99 Kritisch hierzu Reimer/Jestaedt, JZ 2013, S. 468 (471), die in dieser Interpretation „nichts weiter als ein Grundrecht auf Gestellung von Eltern“ erblicken. 100 Vgl. BVerfG, Urteil des Ersten Senats vom 19. Februar 2013 – 1 BvL 1/11 und 1 BvR 3247/09 –, juris Rn. 41 ff. 101 Vgl. Maierhöfer, EuGRZ 2013, S. 105 (110). 102 Vgl. BVerfG, Urteil des Ersten Senats vom 19. Februar 2013 – 1 BVL 1/11 und 1 BvR 3247/09 –, juris Rn. 48 f.
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„Eltern“ im Sinne des Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG zu verstehen sei, stünden dieser Auslegung nicht entgegen.103 Allerdings könne der eingetragene Lebenspartner eines Adoptivelternteils allein aufgrund seines sozialen Elternverhältnisses zum betroffenen Kind keinen Anspruch auf Einräumung des Rechts zur Sukzessivadoption begründen.104 Im Hinblick auf den Schutz gleichgeschlechtlicher Lebenspartner mit Kind durch das Familiengrundrecht (Art. 6 Abs. 1 GG) stellt der Erste Senat in Übereinstimmung mit der überwiegenden Ansicht in der Literatur 105 fest, dass auch die sozial-familiäre Gemeinschaft gleichgeschlechtlicher Lebenspartner mit einem Kind vom Schutzbereich des Art. 6 Abs. 1 GG erfasst sei,106 und führt insoweit konsequent die bisherige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts fort, wonach der verfassungsrechtliche Familienbegriff weder rechtliche Elternschaft voraussetzt107 noch eine in der Ehe begründete familiäre Beziehung.108 Letztlich wird jedoch ein aus Art. 6 Abs. 1 GG herrührender Anspruch auf Zulassung der Sukzessivadoption verneint, da der Gesetzgeber nicht gehalten sei, bei Bestehen einer faktischen Eltern-Kind-Beziehung dem sozialen Elternteil das volle Elternrecht zuzuweisen.109 Soweit der Erste Senat eine Verletzung von Art. 3 Abs. 1 GG prüft, vermag er überzeugende Rechtfertigungsgründe nicht festzustellen.110 Weder unterscheide die eingetragene Lebenspartnerschaft sich von der Ehe so wesentlich, dass sich der grundsätzlich einem legitimen Zweck folgende prinzipielle Ausschluss der Sukzessivadoption auch auf eingetragene Lebenspartner erstrecken könne,111 noch lasse sich die Verwehrung der Sukzessivadoption mit Kindeswohlbelangen rechtfertigen.112 Es gebe vielmehr zahlreiche Gründe, wie etwa
103
Vgl. BVerfG, a.a.O., Rn. 51, 54. BVerfG, a.a.O., Rn. 57. 105 Vgl. v. Coelln, in: Sachs, GG, 6. Aufl. 2011, Art. 6 Rn. 16 m.w.N.; Stern, Der Schutz von Ehe, Familie und der Eltern/Kind-Beziehung, in: Stern/Sachs/Dietlein, StR IV/1, 2006, § 100, S. 402 f.; Jarass, in: Jarass/Pieroth (Hrsg.), GG, 12. Aufl. 2012, Art. 6 Rn. 9; CoesterWaltjen, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), GG, Bd. 1, 6. Aufl. 2012, Art. 6 Rn. 11. 106 BVerfG, Urteil des Ersten Senats vom 19. Februar 2013 – 1 BVL 1/11 und 1 BvR 3247/09 –, juris Rn. 61 ff. 107 Vgl. BVerfGE 108, 82 (116). 108 Vgl. BVerfGE 108, 82 (112) m.w.N. 109 BVerfG, Urteil des Ersten Senats vom 19. Februar 2013 – 1 BVL 1/11 und 1 BvR 3247/09 –, juris Rn. 70. 110 BVerfG, a.a.O., Rn. 73 ff.; Brosius-Gersdorf, FamFR 2013, S. 169 (170) hätte indes die Ungleichbehandlung eingetragener Lebenspartner und Ehegatten bei der Familiengründung durch Adoption eher in Art. 6 Abs. 1 GG als speziellem Gleichheitssatz verankert, wäre im Rahmen der verfassungsrechtlichen Prüfung allerdings wohl auch zu keinem anderen Ergebnis gelangt. 111 Vgl. BVerfG, a.a.O., Rn. 75 ff. 112 Vgl. BVerfG, a.a.O., Rn. 78. 104
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die bessere Einbindung des Kindes in die Familiengemeinschaft und die Verbesserung der Rechtsstellung des Kindes bei Tod oder Trennung der Lebenspartner, die für die Zulassung der Sukzessivadoption sprächen.113 Mangels Vorliegens hinreichend gewichtiger rechtfertigender Sachgründe könne auch der Schutz der Ehe die Ungleichbehandlung nicht rechtfertigen.114 bb) Die gemeinschaftliche Adoption für eingetragene Lebenspartner Keine Entscheidung wurde bisher zu der Frage getroffen, ob die Verwehrung der gemeinschaftlichen Adoption durch eingetragene Lebenspartner verfassungswidrig ist. Während bei der Sukzessivadoption nur bereits bestehende Verhältnisse rechtlich abgesichert werden, wird im Wege der gemeinschaftlichen Adoption eine neue Familiengemeinschaft gegründet. Daher können Aussagen des Gerichts zur Sukzessivadoption nicht ohne weiteres auf die gemeinschaftliche Adoption durch eingetragene Lebenspartner übertragen werden. In seinem Urteil zur Sukzessivadoption hat der Erste Senat daher auch ausdrücklich offen gelassen, ob der Ausschluss der gemeinschaftlichen Adoption mit dem Grundgesetz vereinbar ist.115 Auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte musste sich bisher mit dieser Problematik nicht auseinandersetzen, wenngleich er bereits mehrere Verfahren zur Einzeladoption116 und Stiefkindadoption117 durch homosexuelle Lebenspartner zu entscheiden hatte. (1) Einfachrechtliche Situation Eingetragene Lebenspartner können nach derzeitiger Rechtslage gem. § 1741 Abs. 2 Satz 1 BGB ein Kind allein annehmen, unter der Bedingung, dass der andere Lebenspartner in die Adoption einwilligt (§ 9 Abs. 6 Satz 1 LPartG). Durch das Gesetz zur Überarbeitung des Lebenspartnerschaftsrechts wurde eingetragenen Lebenspartnern zudem die Möglichkeit eröffnet, das leibliche Kind ihres Partners als Kind anzunehmen (§ 9 Abs. 7 Satz 1 LPartG). Aufgrund der Entscheidung des Ersten Senats vom 19. Februar 2013118 ist es eingetragenen Lebenspartnern nunmehr auch möglich, das
113
Vgl. BVerfG, a.a.O., Rn. 83 ff. Vgl. BVerfG, a.a.O., Rn. 95 ff. 115 Vgl. BVerfG, a.a.O., Rn. 92. 116 Vgl. EGMR, Urteil vom 26. Februar 2002, Fretté gg. Frankreich, Nr. 35615/97, FamRZ 2003, S. 149 ff.; EGMR (GK), Urteil vom 22. Januar 2008, E.B gg. Frankreich, Nr. 43546/02, NJW 2009, S. 3637 ff. 117 Vgl. EGMR, Urteil vom 15. März 2012, Gas und Dubois gg. Frankreich, Nr. 25951/07, NJW 2013, S. 2171 ff.; EGMR (GK), Urteil vom 19. Februar 2013, X u.a. gg. Österreich, Nr. 19010/07, NJW 2013, S. 2173 ff. 118 BVerfG, Urteil des Ersten Senats vom 19. Februar 2013 – 1 BVL 1/11 und 1 BvR 3247/09 –, juris. 114
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durch den anderen Lebenspartner angenommene Kind zu adoptieren. Gemeinschaftliche Adoptionen sind hingegen gem. § 1741 Abs. 2 Satz 2 BGB Ehegatten vorbehalten und stellen den Regelfall einer Adoption dar.119 Dass eine gemeinschaftliche Adoption nur durch Ehegatten möglich ist, bringt § 1741 Abs. 2 Satz 1 BGB mit der Feststellung zum Ausdruck, dass Personen, die nicht miteinander verheiratet sind, ein Kind nur allein annehmen können.120 Der Gesetzgeber hat es bewusst unterlassen, die für Ehepartner existierende Ausnahmeregelung auf eingetragene Lebenspartner auszuweiten.121 Zwar kann nach der neueren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Sukzessivadoption eine „schrittweise gemeinschaftliche“ Adoption erreicht werden, indem die Partner nacheinander ein Kind adoptieren, es liegt jedoch auf der Hand, dass dies im Vergleich zur gemeinschaftlichen Adoption, bei der die Lebenspartner von Beginn an beide in die Elternstellung einrücken, mit Nachteilen für das Kind und die Eltern verbunden sein kann. (2) Verfassungsrechtliche Diskussion Der Ausschluss der gemeinschaftlichen Adoption für eingetragene Lebenspartner wirft in verfassungsrechtlicher Hinsicht – insbesondere im Hinblick auf die Entscheidung des Ersten Senats zur Sukzessivadoption – die Frage auf, ob eingetragenen Lebenspartnern dauerhaft die Möglichkeit der gemeinschaftlichen Adoption verwehrt werden kann. Vor dem Hintergrund, dass der Gesetzgeber bereits durch die bestehenden Adoptionsregeln Sorge dafür getragen hat, dass elternlose Kinder im Wege der Adoption in eine familiäre Gemeinschaft aufgenommen werden können, erscheint die Annahme der Verletzung eines dem Kind nach Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG zustehenden Rechts auf elterliche Pflege und Erziehung 122 durch die Verwehrung der gemeinschaftlichen Adoption eher abwegig. Durch das Urteil zur Sukzessivadoption wurde nunmehr klargestellt, dass sich der Schutzbereich des Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG auch auf gleichgeschlechtliche Paare als Eltern erstreckt.123 Insoweit könnte der Schutzbereich des Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG durch den Ausschluss der gemeinsamen Adoption für Lebenspartner betroffen sein, weil damit deren Einrücken in die einfachrechtliche Elternposition ausgeschlossen ist. Den Lebenspartnern würde
119
Vgl. Frank, in: Staudinger (Hrsg.), BGB, Bd. 4, 13. Aufl. 2007, § 1741 Rn. 36. BTDrucks 13/4899, S. 111. 121 Vgl. Kemper, in: Schulze u.a. (Hrsg.), BGB, 7. Aufl. 2012, § 1741 Rn. 9. 122 Vgl. BVerfG, Urteil des Ersten Senats vom 19. Februar 2013 – 1 BVL 1/11 und 1 BvR 3247/09 –, juris Rn. 42 m.w.N. 123 Vgl. BVerfG, a.a.O., Rn. 48 f. 120
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jedoch erst infolge der gemeinschaftlichen Adoption die Elternstellung vermittelt werden. Vor dem Hintergrund, dass es bereits heute nicht unüblich ist, homosexuellen Paaren Pflegekinder anzuvertrauen124 und einer Adoption regelmäßig eine Pflegezeit vorangeht (vgl. § 1744 BGB), die in der Regel mindestens ein Jahr andauert,125 wären die Lebenspartner vor Durchführung der Adoption in einfachrechtlicher Hinsicht zwar Pflegeeltern. Diese werden jedoch nicht als Träger des verfassungsrechtlichen Elternrechts angesehen.126 Auch die aufgrund eines Pflegeverhältnisses bestehende sozial-familiäre Beziehung zu einem potentiellen Adoptivkind dürfte demnach kein Recht auf Adoption begründen. Angesichts des dem Gesetzgeber zukommenden weiten Ausgestaltungsspielraums erscheint es auch zweifelhaft, ob das in Art. 6 Abs. 1 GG gewährte Familiengrundrecht durch die Verwehrung der gemeinschaftlichen Adoption verletzt ist. Wenn der Gesetzgeber bereits nicht aus Art. 6 Abs. 1 GG verpflichtet ist, in jedem Fall einer faktischen Eltern-Kind-Beziehung – wie sie sich aufgrund eines Pflegeverhältnisses entwickeln kann – das volle Elternrecht zu gewähren,127 könnte man annehmen, dass dies wohl erst recht gelten muss, wenn zwischen den Beteiligten zunächst gar kein Eltern-KindVerhältnis besteht. Hingegen wird vertreten, dass der Ausschluss der gemeinschaftlichen Adoption durch eingetragene Lebenspartner mit Art. 3 Abs. 1 GG unvereinbar ist, soweit danach die gemeinschaftliche Annahme eines Kindes durch eingetragene Lebenspartner nicht möglich ist, wohingegen Ehepartnern die gemeinschaftliche Adoption nach § 1741 Abs. 2 Satz 2 BGB erlaubt ist.128 Im Unterschied zur Sukzessivadoption ist das Ziel einer gemeinschaftlichen Adoption grundsätzlich nicht, ein bereits bestehendes faktisches Eltern-Kind-Verhältnis zusätzlich rechtlich abzusichern, sondern die erstmalige rechtliche Konstituierung eines Eltern-Kind-Verhältnisses zwischen zwei gleichgeschlechtlichen Lebenspartnern und einem Kind zu erreichen.
124 So lagen etwa den Verfahren der konkreten Normenkontrolle 1 BvL 2/13 und 1 BvL 3/13 zwei Adoptionsverfahren zugrunde, die ein in eingetragener Lebenspartnerschaft lebendes Paar im Hinblick auf zwei volljährige ehemalige Pflegekinder veranlasst hat, vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 23. Januar 2014 – 1 BvL 2/13 und 1 BvL 3/13 –, juris. 125 Vgl. Maurer, in: Säcker/Rixecker (Hrsg.), Münchener Kommentar zum BGB, 6. Auflage 2012, § 1744 Rn. 11. 126 Vgl. BVerfGE 79, 51 (60). 127 Vgl. BVerfG, Urteil des Ersten Senats vom 19. Februar 2013 – 1 BVL 1/11 und 1 BvR 3247/09 –, juris Rn. 70; a.A. Grehl, Das Adoptionsrecht gleichgeschlechtlicher Paare unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten, 2008, S. 152 ff.; Dittberner, Lebenspartnerschaft und Kindschaftsrecht, 2004, S. 166 f. 128 Vgl. etwa Hoppe, StAZ 2010, S. 107 ff.; a.A. Gärditz, JZ 2011, S. 930 (932 ff.).
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Diese Aussage besitzt jedoch nur begrenzt Gültigkeit. Wie bereits dargestellt, wachsen nicht selten Pflegekinder in gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften auf. Besteht das Pflegeverhältnis über einen längeren Zeitraum, kann sich daraus ebenfalls eine faktische Eltern-Kind-Beziehung zwischen den Pflegeeltern und dem Kind entwickeln. Ähnlich wie bei der Sukzessivadoption könnte es vor diesem Hintergrund dem Kindeswohl dienen, dieses Eltern-Kind-Verhältnis zu beiden Elternteilen auch in rechtlicher Hinsicht abzusichern, sofern eine Rückkehr des Kindes in seine Herkunftsfamilie ausgeschlossen ist.129 So ließe eine gemeinschaftliche Adoption im Falle der Trennung der Lebenspartner eine Sorgerechtsregelung unter Berücksichtigung des Kindeswohls zu, die die emotionale Bindung des Kindes zum anderen Lebenspartner berücksichtigen könnte.130 Dem anderen Lebenspartner käme dann etwa nicht nur ein Umgangsrecht nach § 1685 Abs. 2 BGB zu und seine nach § 9 Abs. 1 Satz 1 LPartG eingeräumten elternähnlichen Befugnisse entfielen (§ 9 Abs. 4 LPartG), sondern es wäre grundsätzlich von einem gemeinsamen Sorgerecht nach der Trennung auszugehen, das gegebenenfalls unter Berücksichtigung des Kindeswohls auf einen der Lebenspartner zur alleinigen Ausübung übertragen werden könnte (§ 1671 Abs. 1 Satz 1 BGB).131 Daneben würde das Kind auch in materieller, insbesondere in erbund unterhaltsrechtlicher Hinsicht von einer gemeinschaftlichen Adoption profitieren.132 So merkt etwa Dethloff an, dass kein tragfähiger Grund erkennbar sei, einerseits gleichgeschlechtlichen Paaren als Pflegeeltern ein Kind zur Betreuung anzuvertrauen, andererseits aus Kindeswohlgründen eine Adoption des Kindes zu verwehren, obwohl ein Aufwachsen des Kindes in der familiären Gemeinschaft mit den gleichgeschlechtlichen Pflegeeltern offensichtlich durch die Jugendämter als kindeswohldienlich erachtet wird.133 Bedenkt man zudem, dass einer Adoption regelmäßig eine Pflegezeit vorangeht, so kann auch bereits im Hinblick auf die derzeit zulässige Einzeladoption (§ 1741 Abs. 2 Satz 1 BGB) ein faktisches Eltern-Kind-Verhältnis zu beiden Lebenspartnern entstehen, wenn das Kind zur Vorbereitung der Einzeladoption bei bestehender eingetragener Lebenspartnerschaft in die familiäre Gemeinschaft der Lebenspartner aufgenommen und von beiden
129 Vgl. Dethloff, ZRP 2004, S. 195 (199); dies., ZKJ 2009, S. 141 (146); dies., FPR 2010, S. 208 (209); so bereits zur Sukzessivadoption BVerfG, Urteil des Ersten Senats vom 19. Februar 2013 – 1 BVL 1/11 und 1 BvR 3247/09 –, juris Rn. 84 ff. 130 So bereits zur Sukzessivadoption BVerfG, Urteil des Ersten Senats vom 19. Februar 2013 – 1 BVL 1/11 und 1 BvR 3247/09 –, juris Rn. 85. 131 So bereits zur Sukzessivadoption BVerfG, a.a.O., Rn. 85; Dethloff, NJW 2001, 2598 (2602). 132 So bereits zur Sukzessivadoption BVerfG, a.a.O., Rn. 86. 133 Vgl. Dethloff, ZRP 2004, S. 195 (199).
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Lebenspartnern betreut wird, obwohl nur einer der Lebenspartner das Kind später rechtlich annehmen kann.134 Aus Sicht des Kindes dürfte es auch in diesen Konstellationen lediglich rechtlich vorteilhaft sein, wenn es nicht nur zu dem einen Lebenspartner, sondern von vornherein zu beiden Lebenspartnern eine rechtlich abgesicherte Eltern-Kind-Beziehung hätte. Angesichts der zulässigen Einzeladoption kann durch den Ausschluss der gemeinschaftlichen Adoption auch nicht grundsätzlich verhindert werden, dass ein Kind aufgrund staatlicher Vermittlung in einer Familie mit einem gleichgeschlechtlichen Paar aufwächst, da Kinder bereits im Wege der Einzeladoption nach Durchlaufen der Kindeswohlprüfung nach § 1741 Abs. 1 Satz 1 BGB durch einen gleichgeschlechtlichen Lebenspartner angenommen werden können und dann faktisch mit dem Adoptivelternteil und dessen Lebenspartner in einer Gemeinschaft leben.135 Zudem könnten weder die Einzeladoption durch Homosexuelle noch das tatsächliche Zusammenleben eingetragener Lebenspartner mit dem Kind eines der beiden Partner unterbunden werden, ohne gegen das Grundgesetz und die Europäische Menschenrechtskonvention zu verstoßen.136 Soweit gegen das Aufwachsen eines Kindes in einer gleichgeschlechtlichen Elterngemeinschaft vielfältige Bedenken vorgebracht werden,137 wird eine solche Gefahr bereits vom Gesetzgeber nicht gesehen: Zum einen hat er bereits die Einzel- und Stiefkindadoption zugelassen und damit selbst das Aufwachsen von Kindern in gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften gefördert, zum anderen hat der Rechtsausschuss des Deutschen Bundestages in seinem Bericht zum Lebenspartnerschaftsgesetz erläutert, mit der Ausklammerung der Möglichkeit zur gemeinschaftlichen Adoption sei keine negative Aussage über die Erziehungsfähigkeit gleichgeschlechtlicher Personen beabsichtigt.138 Auch das Bundesverfassungsgericht hat bereits mehrfach betont, dass die „behüteten“ Verhältnisse einer eingetragenen Lebenspartnerschaft das Aufwachsen von Kindern ebenso fördern könnten wie die einer Ehe.139 Nicht zuletzt geht jeder Adoption eine Kindeswohlprüfung voraus,
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Vgl. Maurer, FamRZ 2013, S. 752 (757). So bereits zur Sukzessivadoption BVerfG, Urteil des Ersten Senats vom 19. Februar 2013 – 1 BVL 1/11 und 1 BvR 3247/09 –, juris Rn. 93. 136 Vgl. BVerfG, a.a.O., Rn. 81 mit Verweis auf EGMR (GK), Urteil vom 22. Januar 2008, E.B gg. Frankreich, Nr. 43546/02, NJW 2009, S. 3637 ff. 137 Vgl. die Zusammenstellungen bei Muscheler, Das Recht der eingetragenen Lebenspartnerschaft, 2. Aufl. 2004, Rn. 411; Tucholski, Kinder in Regenbogenfamilien, 2010, S. 11 ff.; Sickert, Die lebenspartnerschaftliche Familie, 2005, S. 35. 138 Vgl. BTDrucks 14/4550, S. 6. 139 Vgl. BVerfGE 131, 239 (264); BVerfG, Urteil des Ersten Senats vom 19. Februar 2013 – 1 BVL 1/11 und 1 BvR 3247/09 –, juris Rn. 80; BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 07. Mai 2013 – 2 BvR 909/06, 2 BvR 1981/06, 2 BvR 288/07 –, juris Rn. 100. 135
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bei der etwaige Gefahren einer gemeinschaftlichen Adoption Berücksichtigung finden würden (§ 1741 Abs. 1 BGB).140 Angesichts der bisherigen Rechtsprechungslinie des Bundesverfassungsgerichts ist schließlich auch nicht ersichtlich, weshalb der besondere Schutz der Ehe einen Rechtfertigungsgrund für eine Ungleichbehandlung eingetragener Lebenspartner und Ehegatten im Bereich der gemeinschaftlichen Adoption darstellen sollte. d) Vom Ehegattensplitting für eingetragene Lebenspartner zur Ehe für Lebenspartner? Mit 6 : 2 Stimmen hat der Zweite Senat schließlich auch noch die Ungleichbehandlung von Verheirateten und eingetragenen Lebenspartnern im Bereich des Ehegattensplittings unter Fortsetzung der seit dem Jahr 2009 ergangenen Rechtsprechungslinie mit dem allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG für unvereinbar erklärt.141 Man kann daher zwischenbilanzierend feststellen, dass eingetragene Lebenspartner mit Ehepartnern weitgehend gleichbehandelt werden. Was bedeutet diese Entwicklung der Rechtsprechung nun für das Rechtsinstitut der eingetragenen Lebenspartnerschaft? Ist es denkbar, dass als nächster Schritt die Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Lebenspartner folgt und das Rechtsinstitut der eingetragenen Lebenspartnerschaft damit obsolet wird? Der Erste Senat hat unter Bezugnahme auf frühere Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts die Ehe im verfassungsrechtlichen Sinne folgendermaßen definiert: „Zum Gehalt der Ehe, wie er sich ungeachtet des gesellschaftlichen Wandels und der damit einhergehenden Änderungen ihrer rechtlichen Gestaltung bewahrt und durch das Grundgesetz seine Prägung bekommen hat, gehört, dass sie die Vereinigung eines Mannes mit einer Frau zu einer auf Dauer angelegten Lebensgemeinschaft ist, begründet auf freiem Entschluss unter Mitwirkung des Staates, in der Mann und Frau in gleichberechtigter Partnerschaft zueinander stehen und über die Ausgestaltung ihres Zusammenlebens frei entscheiden können.“142
Danach wird die Ehe im Sinne von Art. 6 Abs. 1 GG zwar nicht mehr zwingend als Basis für die Gründung einer Familie angesehen,143 sie setzt jedoch nach wie vor die Verschiedengeschlechtlichkeit der Partner voraus. Gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften wird damit der Schutz der Ehe nach Art. 6 Abs. 1 GG verwehrt. 140
So bereits zur Sukzessivadoption BVerfG, Urteil des Ersten Senats vom 19. Februar 2013 – 1 BVL 1/11 und 1 BvR 3247/09 –, juris Rn. 91. 141 BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 07. Mai 2013 – 2 BvR 909/06, 2 BvR 1981/06, 2 BvR 288/07 –, juris. 142 BVerfGE 105, 313 (345). 143 Vgl. Punkt III.2.a)aa).
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Das nach wie vor aufrechterhaltene Erfordernis der Heterosexualität kommt in der Grundsatzentscheidung ebenfalls zum Ausdruck, wenn ausgeführt wird, dass die eingetragene Lebenspartnerschaft ein aliud zur Ehe darstelle, da sich in der eingetragenen Lebenspartnerschaft nicht Mann und Frau, sondern zwei gleichgeschlechtliche Partner binden könnten.144 Der eingetragenen Lebenspartnerschaft werde der Schutz von Art. 6 Abs. 1 GG verwehrt, da sie aufgrund ihrer Gleichgeschlechtlichkeit keine Ehe im Sinne von Art. 6 Abs. 1 GG darstelle.145 Gleichgeschlechtlichen Paaren könnten vielmehr im Rahmen des Instituts der eingetragenen Lebenspartnerschaft Rechte zuerkannt werden.146 In den nachfolgenden stattgebenden Entscheidungen betont das Bundesverfassungsgericht unter Verweis auf die zwischenzeitlich durch den Gesetzgeber ehegleich ausgestalteten Regelungen der eingetragenen Lebenspartnerschaft dagegen wiederholt die Vergleichbarkeit beider Rechtsinstitute und stellt darauf ab, dass sich eingetragene Lebenspartnerschaft und Ehe in der auf Dauer übernommenen, rechtlich verbindlichen Verantwortung für den Partner nicht unterschieden.147 Inzwischen genießt die eingetragene Lebenspartnerschaft über die konsequente Anwendung von Art. 3 Abs. 1 GG sogar einen vergleichbaren Schutz wie die Ehe nach Art. 6 Abs. 1 GG.148 Michael behauptet gar, das ehemalige Abstandsgebot sei in ein „Abstandsverbot“ zwischen Ehe und eingetragener Lebenspartnerschaft umgewandelt worden149 und Grünberger hält Ehe und eingetragene Lebenspartnerschaft für „seperate but equal“.150 Die Entwicklung der Gesetzgebung im Gleichklang mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zeigt, dass ein Unterschied zwischen Ehe und eingetragener Lebenspartnerschaft – abgesehen vom Differenzierungsmerkmal der Verschiedengeschlechtlichkeit – kaum noch erkennbar ist. Die Intention des Gesetzgebers, Diskriminierungen homosexueller Lebensgemeinschaften abzubauen, führt faktisch zu einer überwiegenden Beseiti-
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BVerfGE 105, 313 (351). Vgl. BVerfGE 105, 313 (345 f.). 146 Vgl. BVerfGE 105, 313 (346). 147 Vgl. BVerfGE 124, 199 (224 f.); 126, 400 (423); 131, 239 (261); 132, 179 (191); BVerfG, Urteil des Ersten Senats vom 19. Februar 2013 – 1 BVL 1/11 und 1 BvR 3247/09 –, juris Rn. 77; BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 07. Mai 2013 – 2 BvR 909/06, 2 BvR 1981/06, 2 BvR 288/07 –, juris Rn. 90 f.; Hillgruber, JZ 2010, S. 41 (42) merkt zu dieser Entwicklung kritisch an: „Einmal – mit verfassungsrechtlichem Segen etabliert –, ist von der Andersartigkeit der Lebenspartnerschaft keine Rede mehr, sondern wird im Gegenteil ihre Gleichartigkeit geltend gemacht […].“ 148 Vgl. Michael, NJW 2010, S. 3537. 149 Michael, NJW 2010, S. 3537; so auch Krings, NVwZ 2011, S. 26. 150 Grünberger, FPR 2010, S. 203 (208). 145
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gung der bisherigen Divergenzen zur Ehe.151 Es verwundert daher nicht, dass zunehmend die Frage aufgeworfen wird, mit welcher Begründung man diese mittlerweile fast künstlich anmutende Differenzierung zwischen Ehe und eingetragener Lebenspartnerschaft weiter aufrechterhalten sollte.152 In diesem Zusammenhang wird auch diskutiert, ob sich bereits eine schleichende Verfassungsänderung vollzogen hat.153 Nicht selten wird die Öffnung der Ehe für eingetragene Lebenspartner gefordert.154 Ein gewandeltes Rechtsverständnis kann Auswirkungen auf die Interpretation einer Verfassungsnorm haben. Eine Verfassungsbestimmung kann einen Bedeutungswandel erfahren, wenn in ihrem Bereich neue, nicht vorausgesehene Tatbestände sichtbar werden oder bekannte Tatbestände durch ihre Einordnung in den Gesamtablauf einer Entwicklung in neuer Beziehung oder Bedeutung erscheinen.155 Seit Erlass des Grundgesetzes sind Ehe und Familie tatsächlich tiefgreifende gesellschaftliche Änderungen widerfahren. So leben immer mehr Alleinerziehende in Deutschland.156 Viele verschiedengeschlechtliche Paare – auch mit Kindern – ziehen das Zusammenleben in einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft der Eheschließung vor. Bei einer Ehezeit von 25 Jahren wird jede dritte Ehe im Lauf dieser Zeit wieder geschieden157 und der Trend geht zur sogenannten „Patchworkfamilie“. Auf der anderen Seite bekommt längst nicht mehr jedes Ehepaar Kinder.158 Auch im Hinblick auf die Akzeptanz homosexueller Lebensgemeinschaften kann eine Veränderung in Gesellschaft und Gesetzgebung festgestellt werden. 1949 war männliche Homosexualität noch – anders als weibliche – in 151
Vgl. Frenz, NVwZ 2013, S. 1200. Vgl. etwa Sanders, Das Ehebild des Bundesverfassungsgerichts zwischen Gleichberechtigung, nichtehelicher Lebensgemeinschaft und Lebenspartnerschaft, in: Emmenegger/ Wiedmann (Hrsg.), Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, Bd. 2, 2011, S. 352 (361 ff.); Bömelburg, NJW 2012, S. 2753 (2758); Grünberger, FPR 2010, S. 203 (208); Hoppe, DVBl 2009, S. 1516 (1519). 153 Vgl. etwa Benedict, JZ 2013, S. 477 (481 ff.); Frenz, NVwZ 2013, S. 1200 (1201); Gade/Thiele, DÖV 2013, S. 142 (144 ff.). 154 Vgl. etwa Bömelburg, NJW 2012, S. 2753 (2758); Sanders, NJW 2013, S. 2236 (2239); Brosius-Gersdorf, FamFR 2013, S. 169 (171 f.); Grünberger, FPR 2010, S. 203 (208); Hoppe, DVBl 2009, S. 1516 (1519). 155 Vgl. BVerfGE 2, 380 (401); 3, 407 (422). 156 Laut Datenreport 2013 – Ein Sozialbericht für die Bundesrepublik Deutschland, Kapitel 2, Lebensformen, Familien und Kinder, S. 46, abrufbar unter https://www.destatis.de/ DE/Publikationen/Datenreport/Downloads/Datenreport2013Kap2.html, gab es im Jahr 2011 insgesamt 2,7 Millionen alleinerziehende Personen in Deutschland. 157 Vgl. Datenreport 2013 – Ein Sozialbericht für die Bundesrepublik Deutschland, Kapitel 2, Lebensformen, Familien und Kinder, S. 49, abrufbar unter https://www.destatis.de/ DE/Publikationen/Datenreport/Downloads/Datenreport2013Kap2.html. 158 Vgl. zur Entwicklung des Ehe- und Familienbildes auch Gade/Thiele, DÖV 2013, S. 142 (145). 152
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§§ 175, 175a StGB strafbewehrt. 1957 bestätigte das Bundesverfassungsgericht sogar noch die Vereinbarkeit der §§ 175 ff. StGB mit dem Grundgesetz.159 Die Tatbestandsvoraussetzungen sind dann im Laufe der Jahre mehrfach modifiziert worden. Durch Art. 1 Nr. 52 des Ersten Gesetzes zur Reform des Strafrechts vom 25. Juni 1969 160 wurde zunächst die generelle Strafbarkeit der Erwachsenenhomosexualität beseitigt. Mit dem Vierten Gesetz zur Reform des Strafrechts vom 23. November 1973161 wurde die Strafbarkeit auf homosexuelle Handlungen von Männern unter achtzehn Jahren beschränkt. Die Strafbewehrung entfiel schließlich mit dem 29. Strafrechtsänderungsgesetz vom 31. Mai 1994162 (zugunsten einer einheitlichen Jugendschutzvorschrift) gänzlich.163 Diese veränderte Einstellung wirkt sich auch in Zahlen messbar auf das Zusammenleben gleichgeschlechtlicher Paare aus. So gaben nach den Daten des Mikrozensus 2012 hochgerechnet insgesamt 73.000 Paare an, als gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften zusammen zu leben. Davon wohnten im Jahr 2012 in Deutschland rund 32.000 als eingetragene Lebenspartnerschaften in einem Haushalt zusammen. Seit dem Jahr 2006, als die Abfrage eingetragener Lebenspartnerschaften im Mikrozensus eingeführt wurde, hat sich die Zahl der eingetragenen Lebenspartnerschaften annähernd verdreifacht. 2006 gab es erst knapp 12.000 in einem Haushalt zusammen wohnende eingetragene Lebenspartnerschaften.164 Auch auf europäischer Ebene ist ein gesellschaftlicher Wandel zu verzeichnen. Das Europäische Parlament hat bereits 1994 mit seiner „Entschließung zur Gleichberechtigung von Schwulen und Lesben in der EG“ an die Mitgliedstaaten appelliert, „Maßnahmen zu treffen, die geeignet sind, die Gleichbehandlung aller Bürger der Gemeinschaft ungeachtet ihrer sexuellen Veranlagung zu gewährleisten und alle Formen der Ungleichbehandlung aufgrund einer solchen Veranlagung zu beseitigen“ und von der Kommission die Vorlage eines Entwurfs einer Empfehlung betreffend gleiche Rechte für Schwule und Lesben gefordert. Hiermit sollte auf die Gleichstellung gleichgeschlechtlicher Paare auch bezüglich des Kindschafts- und Adoptionsrechts hinge-
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BVerfGE 6, 389. BGBl I 1969, S. 645 (653). 161 BGBl I 1973, S. 1725 (1727). 162 BGBl I 1994, S. 1168 ff. 163 Zur Entwicklung des strafrechtlichen Unwerturteils gegenüber homosexuellem Verhalten seit Konstituierung des StGB vgl. auch die ausführliche Darstellung bei Schüffner, Eheschutz und Lebenspartnerschaft, 2007, S. 56 ff.; Sickert, Die lebenspartnerschaftliche Familie, S. 125 ff.; außerdem Pfizenmayer, Die Rechtsstellung gleichgeschlechtlicher Lebenspartner in der deutschen Rechtsordnung, 2007, S. 15 ff. 164 Vgl. Statistisches Bundesamt, Eingetragene Lebenspartnerschaften – Ergebnisse des Mikrozensus und des Zensus, abrufbar unter https://www.destatis.de/DE/ZahlenFakten/ GesellschaftStaat/Bevoelkerung/HaushalteFamilien/EingetrageneLebenspartnerschaften.html. 160
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wirkt werden.165 In seiner Entschließung vom 4. September 2003 zur Lage der Grundrechte in der Europäischen Union hat das Europäische Parlament erneut dazu aufgefordert, „jede Form der – gesetzlichen oder tatsächlichen – Diskriminierung abzuschaffen, unter der Homosexuelle insbesondere im Bereich des Rechts auf Eheschließung und auf Adoption von Kindern noch immer leiden“.166 Einige europäische Länder haben zwischenzeitlich die Ehe für homosexuelle Paare geöffnet167 oder stellen zumindest ein vergleichbares Rechtsinstitut für gleichgeschlechtliche Paare bereit.168 Vor diesem Hintergrund beabsichtigt auch der Bundesrat, gleichgeschlechtlichen Paaren den Zugang zur Ehe eröffnen, wozu er am 08. Mai 2013 eine entsprechende Ergänzung des BGB forderte.169 Zur Begründung des Gesetzentwurfs führt die Länderkammer aus, die Verweigerung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare bedeute für die Betroffenen eine „konkrete und symbolische Diskriminierung“. Angesichts des gesellschaftlichen Wandels gebe es „keine Gründe, homo- und heterosexuelle Paare unterschiedlich zu behandeln“.170 Diese Entwicklung war für den Verfassungsgeber nicht vorhersehbar. Das damalige, bei Erlass des Grundgesetzes gegebene Rechtsverständnis zur Homosexualität kann dann aber möglicherweise nicht dem veränderten, heutigen Rechtsverständnis entgegen gehalten werden. So wird vertreten, dass divergierende historische Vorstellungen davon, was unter dem Begriff „Ehe“ zu verstehen ist, einer geänderten Interpretation des Art. 6 Abs. 1 GG nicht entgegenstünden.171 Zwar hätten die Verfassungsgeber die Ehe zunächst als Lebensgemeinschaft von Mann und Frau definiert,172 diese Formulierung jedoch zwecks sprachlicher Vereinfachung letztlich nicht verwendet.173 Ebenso wie die Elternschaft gleichgeschlechtlicher Paare, die „schlicht außerhalb des damaligen Vorstellungshorizonts“174 gelegen habe, sei die Ehe gleichgeschlechtlicher Paare zur damaligen Zeit unvor165
Vgl. BTDrucks 12/7069, S. 3, 4. Vgl. Europäisches Parlament 2003–2004, Angenommene Texte, Sitzung vom 4. September 2003, 70/PE 334.393, Nr. 77, abrufbar unter http://lsvd.de/fileadmin/pics/ Dokumente/ep030904.pdf. 167 So etwa Niederlande, Belgien, Frankreich, Portugal, Schweden, Spanien, Island und Norwegen. 168 So etwa Dänemark, Finnland, Irland, Österreich, Slowenien, Tschechische Republik, Ungarn, Großbritannien, Liechtenstein und die Schweiz. 169 BTDrucks 17/13426. 170 Vgl. BTDrucks 17/13426, S. 1. 171 Vgl. Brosius-Gersdorf, FamFR 2013, S. 169 (172). 172 Vgl. Parlamentarischer Rat, Bd. V/II, S. 634 Fn. 28. 173 Brosius-Gersdorf, in: Dreier (Hrsg.), GG, Bd. 1, 3. Aufl. 2013, Art. 6 Rn. 19; dies., FamFR 2013, S. 169 (172). 174 BVerfG, Urteil des Ersten Senats vom 19. Februar 2013 – 1 BvL 1/11 und 1 BvR 3247/09 –, juris Rn. 55. 166
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stellbar gewesen, so dass in der Norm des Art. 6 Abs. 1 GG keine „bewusste Entgegensetzung“175 zur Anerkennung gleichgeschlechtlicher Ehepartner gelegen haben dürfte.176 Auch das Argument, die Ehe unterscheide sich grundsätzlich darin von der Lebenspartnerschaft, dass aufgrund ihrer Verschiedengeschlechtlichkeit Kinder aus ihr hervorgehen können,177 verliert zunehmend an Überzeugungskraft, um gleichgeschlechtlichen Paaren den Zugang zur Ehe zu verwehren, da verstärkt auch in gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften Kinder aufwachsen.178 Im Jahr 2010 gab es rund 7.000 minderjährige Kinder, die bei gleichgeschlechtlichen Paaren lebten.179 Wie das Bundesverfassungsgericht in jüngster Zeit zudem mehrfach festgestellt hat, können auch gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften einen entsprechenden Rahmen für ein Aufwachsen von Kindern in „behüteten“ Verhältnissen bieten.180 Realiter ist die „Homo-Ehe“ bereits durch die „Transsexuellenrechtsprechung“181 des Bundesverfassungsgerichts in Deutschland möglich. So kann etwa eine Ehe bestehen bleiben, wenn einer der Ehepartner sein Geschlecht (operativ) ändert, so dass die Ehepartner gleichgeschlechtlich sind.182 Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Kammerentscheidung 1993 noch keine hinreichenden Anhaltspunkte für einen grundlegenden Wandel des Eheverständnisses im Hinblick darauf, dass die Geschlechtsverschiedenheit nicht mehr von ausschlaggebender Bedeutung sei, erkennen können.183 Es hat sich allerdings einer Neuinterpretation von Art. 6 Abs. 1 GG aufgrund eines Wandels des Eheverständnisses für die Zukunft auch nicht verschlossen.
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BVerfG, a.a.O. Vgl. Brosius-Gersdorf, FamFR 2013, S. 169 (172). 177 So noch das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung vom 21. Juli 2010, BVerfGE 126, 400 (427). 178 Zu den verschiedenen Möglichkeiten, wie es zum Aufwachsen von Kindern in gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften kommen kann, vgl. Dehtloff, Regenbogenfamilien. Der Schutz von Eltern-Kind-Beziehungen in gleichgeschlechtlichen Partnerschaften, in: Söllner/Gitter/Waltermann/Giesen/Ricken (Hrsg.), GS Heinze, 2005, S. 133 (134). 179 Vgl. Statistisches Bundesamt, Wie leben Kinder in Deutschland?, Begleitmaterial zur Pressekonferenz am 3. August 2011, S. 9, abrufbar unter https://www.destatis.de/DE/ PresseService/Presse/Pressekonferenzen/2011/Mikro_Kinder/pressebroschuere_kinder. pdf?__blob=publicationFile. 180 Vgl. BVerfGE 131, 239 (264); BVerfG, Urteil des Ersten Senats vom 19. Februar 2013 – 1 BVL 1/11 und 1 BvR 3247/09 –, juris Rn. 80; BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 07. Mai 2013 – 2 BvR 909/06, 2 BvR 1981/06, 2 BvR 288/07 –, juris Rn. 100. 181 BVerfGE 49, 286; 115, 1; 121, 175; 128, 109. 182 BVerfGE 121, 175, 198 f. 183 Vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 4. Oktober 1993 – 1 BvR 640/93 –, juris Rn. 5. 176
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IV. Fazit und Ausblick Die Unterschiede zwischen Ehe und eingetragener Lebenspartnerschaft sind nur noch verschwindend gering. Die Weichen zu einer weitestgehenden Angleichung der Lebenspartnerschaft an die Ehe wurden bereits mit dem Grundsatzurteil zur eingetragenen Lebenspartnerschaft gestellt, als dem Abstandsgebot eine Absage erteilt wurde. Bundesverfassungsrichter Papier stellte insoweit vorausschauend in seinem Sondervotum zur Entscheidung aus dem Jahr 2002 fest, dass das Urteil keinerlei Grenzen für eine faktische Gleichstellung zwischen Lebenspartnerschaft und Ehe setze.184 Durch den Schutz der eingetragenen Lebenspartnerschaft über den allgemeinen Gleichheitssatz scheint der aus Art. 6 Abs. 1 GG hergeleitete Schutz der Ehe in der Folge seine herausgehobene Stellung eingebüßt zu haben.185 Welche Konsequenz folgt nun für den Gesetzgeber aus der Verfassungsrechtsprechung? Der Gesetzgeber wurde in vielen Bereichen durch die Rechtsprechung zur Angleichung der eingetragenen Lebenspartnerschaft an die Ehe aufgefordert, es gilt jedoch in Erinnerung zu rufen, dass die Feststellung einer Ungleichbehandlung nach Art. 3 Abs. 1 GG vom Gesetzgeber nicht verlangt, eine Ehegatten zugestandene Privilegierung auch auf eingetragene Lebenspartner auszuweiten. Dem Gesetzgeber steht es vielmehr frei, die Abschaffung der Begünstigung oder eine anderweitige gleichheitsgerechte Ausgestaltung der beanstandeten Regelung in Erwägung zu ziehen.186 Diskutiert wurde ein solches Vorgehen etwa für das Ehegattensplitting, das eine Umwandlung in ein Familiensplitting erfahren könnte.187 In absehbarer Zeit wird sich der Gesetzgeber zudem erneut der Diskussion stellen müssen, ob das Rechtsinstitut der eingetragenen Lebenspartnerschaft noch zeitgemäß ist und homosexuellen Paaren nicht vielmehr der Zugang zur Ehe eröffnet werden muss.
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Vgl. BVerfGE 105, 313 (359). Vgl. Benedict, JZ 2013, S. 477 (486); Sanders, NJW 2013, S. 2236 (2238); Gade/ Thiele, DÖV 2013, S. 142 (150). 186 So auch Hillgruber, JZ 2013, S. 843 (844). 187 Vgl. etwa FAZ vom 10.5.2013, S. 4. 185
Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Klageerzwingungsverfahren Philip Hahn und Sebastian Müller Schrifttum Alleweldt, Recht auf Leben, in: Dörr/Grote/Marauhn (Hrsg.), EMRK/GG Konkordanzkommentar, 2. Aufl. 2013, Band I, Kap. 10; Bethge, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/ Bethge (Hrsg.), BVerfGG, § 90 (März 2010); Graalmann-Scheerer, in: Löwe/Rosenberg, StPO, Bd. 5, 26. Aufl. 2008, § 172; Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, 5. Aufl. 2012; P. M. Huber, Natürliche Personen als Grundrechtsträger, in: Merten/Papier (Hrsg.), HGR II, 2006, § 49; ders., in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG, Bd. 1, 6. Aufl. 2010, Art. 19; Jahn/Krehl/Löffelmann/Güntge, Die Verfassungsbeschwerde in Strafsachen, 2011; Meyer-Goßner, Strafprozessordnung, 56. Aufl. 2013; Meyer-Ladewig, Europäische Menschenrechtskonvention, 3. Auflage 2011; Moldenhauer, in: Karlsruher Kommentar, StPO, 7. Aufl. 2013, § 172; Schulze-Fielitz, in: Dreier (Hrsg.), GG, Bd. 1, 3. Aufl. 2013, Art. 19 Abs. 4; Statistisches Bundesamt, Berichtsjahr 2012, Fachserie 10 (Rechtspflege); Wehnert, Rechtliche und rechtstatsächliche Aspekte des Klageerzwingungsverfahrens, 1988. Inhalt A. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Begründetheit der Verfassungsbeschwerde . . . . . . . . . . . . . . . . I. Strafverfolgungsanspruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Grundrechtliche Schutzpflicht als Anspruchsgrundlage . . . . . . 2. Prozessuale Durchsetzung durch Angehörige . . . . . . . . . . . II. Verfahrensgrundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Eröffnung des Schutzbereichs . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Auslegung und Anwendung von § 172 Abs. 3 Satz 1 StPO 2. Art. 103 Abs. 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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A. Einleitung Das in den §§ 172 ff. StPO geregelte Klageerzwingungsverfahren dient der Absicherung des Legalitätsprinzips,1 das die Staatsanwaltschaft verpflichtet, bei zureichenden tatsächlichen Anhaltspunkten wegen aller verfolgbaren 1 Vgl. nur Graalmann-Scheerer, in: Löwe/Rosenberg, StPO, Bd. 5, 26. Aufl. 2008, § 172 Rn. 1; Moldenhauer, in: Karlsruher Kommentar, StPO, 7. Aufl. 2013, § 172 Rn. 1; MeyerGoßner, StPO, 56. Aufl. 2013, § 172 Rn. 1.
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Die Rechtsprechung zum Klageerzwingungsverfahren
Straftaten einzuschreiten, § 152 Abs. 2 StPO, und unter den in § 170 Abs. 1 StPO genannten Voraussetzungen Anklage zu erheben. Gibt die Staatsanwaltschaft einem Antrag des Verletzten auf Erhebung der öffentlichen Klage (Strafantrag) keine Folge oder verfügt sie mangels Tatverdachts nach dem Abschluss der Ermittlungen die Einstellung des Verfahrens, steht dem Antragsteller die Beschwerde an die Generalstaatsanwaltschaft zu, § 172 Abs. 1 Satz 1 StPO. Gegen den ablehnenden Bescheid der Generalstaatsanwaltschaft kann der Antragsteller mit dem Klageerzwingungsantrag Entscheidung durch das Oberlandesgericht beantragen (§ 172 Abs. 2 Satz 1, Abs. 4 Satz 1 StPO). Das Oberlandesgericht entscheidet anhand des Klageerzwingungsantrags, ob entgegen der Einschätzung der Staatsanwaltschaft Anklage zu erheben ist. Ob das Oberlandesgericht – außerhalb von § 173 Abs. 3 StPO – auf Antrag des Verletzten weitere Ermittlungen anordnen kann oder gegebenenfalls muss, ist mit Blick auf den Wortlaut von § 175 StPO zweifelhaft; das Bundesverfassungsgericht hat dies offen gelassen.2 Der Anwendungsbereich des Klageerzwingungsverfahrens wird – entgegen Überlegungen bei der Erarbeitung der Reichsstrafprozessordnung 3 – dadurch begrenzt, dass allein der Verletzte einer Straftat antragsberechtigt ist (§ 172 Abs. 1 Satz 1 StPO), wobei im Interesse der umfassenden Absicherung des Legalitätsprinzips der Begriff des Verletzten aber weit ausgelegt wird, so dass etwa im Falle von Tötungsdelikten den Hinterbliebenen das Antragsrecht zusteht.4 Eine weitere Begrenzung erfährt das Verfahren dadurch, dass es, entsprechend seiner Funktion, das Legalitätsprinzip abzusichern, mit dessen Anwendungsbereich korrespondiert. Im Rahmen der in § 172 Abs. 2 Satz 3 StPO genannten Ausnahmen vom Legalitätsprinzip ist das Klageerzwingungsverfahren unzulässig; es kann allerdings geltend gemacht werden, diese Ausnahmen lägen nicht vor. Bleibt der Klageerzwingungsantrag erfolglos, kann der Antragsteller mit der Verfassungsbeschwerde geltend machen, dass die Entscheidung des Oberlandesgerichts ihn in seinen Grundrechten oder grundrechtsgleichen Rechten verletzt. Erfolgreiche Verfassungsbeschwerden im Zusammenhang mit Klageerzwingungsverfahren sind allerdings selten.5 Insofern ist zu beachten, dass dem durch eine Straftat Verletzten, der die Strafverfolgung eines Dritten mit Hilfe eines Antrags nach § 172 Abs. 2 Satz 1 StPO erzwingen will, von Verfassungs wegen nur das Recht zusteht, dass über sein Begehren
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Vgl. BVerfGK 17, 1 (8). Vgl. zur geschichtlichen Entwicklung des Klageerzwingungsverfahrens Wehnert, Rechtliche und rechtstatsächliche Aspekte des Klageerzwingungsverfahrens, 1988, S. 8 ff. 4 Vgl. nur Meyer-Goßner, Strafprozessordnung, 56. Aufl. 2013, § 172 Rn. 10 f. 5 Auch verglichen mit der generell geringen Erfolgsquote von Verfassungsbeschwerden; eine gesonderte Statistik über die Erfolgsquote von Klageerzwingungsverfahren wird aber nicht geführt. 3
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unter Beachtung der für das gerichtliche Verfahren geltenden Anforderungen des Grundgesetzes entschieden wird. Der Antragsteller kann verlangen, dass Form und Inhalt seines Antrags nicht überhöhten (Darlegungs-)Lasten unterworfen werden, sein Vorbringen zur Kenntnis genommen und erwogen wird und seine Ausführungen nicht in willkürlicher Weise gewürdigt werden.6 Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gibt es aber grundsätzlich keinen verfassungsrechtlich verbürgten Anspruch auf Strafverfolgung eines anderen.7 Im Folgenden werden einige Besonderheiten der Verfassungsbeschwerde im Zusammenhang mit Klageerzwingungsanträgen, getrennt nach Zulässigkeit (dazu unten B.) und Begründetheit (dazu unten C.) der Verfassungsbeschwerde, dargestellt. Der praktisch nicht relevante Fall der Verfassungsbeschwerde des Angezeigten wegen gegen ihn geführter Ermittlungen wird nicht behandelt.8
B. Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde Für die Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde gegen Entscheidungen im Klageerzwingungsverfahren gelten die allgemeinen Regeln: Die Verfassungsbeschwerde muss insbesondere fristgerecht erhoben (§ 93 BVerfGG) und hinreichend begründet (§ 23 Abs. 1 Satz 2, § 92 BVerfGG) werden; außerdem muss der Beschwerdeführer zuvor den fachgerichtlichen Rechtsweg ordnungsgemäß erschöpft haben (§ 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG). Dass bereits die Zulässigkeitshürde in der Praxis nur selten überwunden wird, beruht nicht allein auf der – jedenfalls im Grundsatz – strikten Auslegung und Anwendung der Zulässigkeitsanforderungen durch die Kammern und dem hohen Anteil nicht anwaltlich vertretener Beschwerdeführer,9 sondern wohl auch darauf, dass für den Klageerzwingungsantrag und für die Verfassungsbeschwerde vergleichbar strenge Begründungsanforderungen gelten: In beiden Fällen bedarf es nach ständiger Rechtsprechung einer aus sich heraus verständlichen, lückenlosen Darstellung des Sachverhaltes und aller für die Ent-
6 Vgl. BVerfG, Beschluss der 4. Kammer des Zweiten Senats vom 9. April 2002 – 2 BvR 710/01 –, NJW 2002, S. 2861 (2862). 7 Vgl. BVerfGE 51, 176 (187); BVerfGK 17, 1 (5); BVerfG, Beschluss der 4. Kammer des Zweiten Senats vom 9. April 2002 – 2 BvR 710/01 –, NJW 2002, S. 2861 (2861 f.). 8 Dazu Löffelmann, in: Jahn/Krehl/Löffelmann/Güntge, Die Verfassungsbeschwerde in Strafsachen, 2011, Rn. 786 ff. 9 Der besonders hohe Anteil nicht anwaltlich vertretener Beschwerdeführer dürfte auch erklären, warum von der Möglichkeit der Verhängung einer Missbrauchsgebühr nach § 34 Abs. 2 BVerfGG im Bereich des Klageerzwingungsverfahrens praktisch kein Gebrauch gemacht wird; vgl. als – soweit ersichtlich – einziges Beispiel BVerfG, Beschluss der 4. Kammer des Zweiten Senats vom 11. Oktober 2001 – 2 BvR 1271/01 –, juris Rn. 6.
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scheidung maßgeblichen Umstände; die bloße Bezugnahme auf den Inhalt der angegriffenen Entscheidung oder anderer Unterlagen ist unzulässig.10 Wer diese Begründungsanforderungen für den Klageerzwingungsantrag als überzogen ansieht – und das ist oft der alleinige Kern der verfassungsrechtlichen Rüge –, wird nicht ohne weiteres einsehen, sich ebenso strengen Vorgaben auch im Verfahren der Verfassungsbeschwerde unterwerfen zu müssen. So betreffen die (wenigen) Entscheidungen der Kammern zum Klageerzwingungsverfahren, die sich überhaupt zur Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde verhalten,11 vor allem die Begründungsanforderungen: Allgemein muss sich der Beschwerdeführer mit Inhalt und Grundlagen der angegriffenen Entscheidungen auseinandersetzen, soweit diese für seine Verfassungsbeschwerde erheblich sein können; nicht ausreichend ist insbesondere ein pauschaler Verweis auf bereits im fachgerichtlichen Verfahren vorgetragene Argumente.12 Wer rügt, das Oberlandesgericht habe über den Klageerzwingungsantrag vor Ablauf einer von ihm selbst gesetzten Frist zur Stellungnahme entschieden und damit gegen Art. 103 Abs. 1 GG verstoßen, muss darlegen, ob und mit welchem Inhalt er bis zu diesem Zeitpunkt Stellung genommen hat; ohne diese Angabe kann das Bundesverfassungsgericht nicht prüfen, ob die angegriffene Entscheidung auf dem gerügten Gehörsverstoß beruht.13 Die Begründungsanforderungen schließen außerdem die Vorlage – oder wenigstens inhaltliche Wiedergabe – bestimmter Unterlagen ein.14 10 Vgl. für den Antrag nach § 172 Abs. 2 Satz 1 StPO nur OLG Bamberg, Beschluss vom 8. März 2012 – 3 Ws 4/12 –, NStZ-RR 2012, S. 248 (249) m.w.N.; für die Verfassungsbeschwerde nur BVerfGE 79, 203 (209); BVerfGK 14, 402 (417), jeweils m.w.N. 11 Die weit überwiegende Zahl der Verfassungsbeschwerden – insbesondere der bereits unzulässigen – gegen Entscheidungen im Klageerzwingungsverfahren wird durch Beschluss ohne Begründung (vgl. § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG) nicht zur Entscheidung angenommen. 12 Vgl. BVerfG, Beschluss der 4. Kammer des Zweiten Senats vom 11. Oktober 2001 – 2 BvR 1271/01 –, juris, Rn. 4; BVerfGK 17, 1 (4). 13 Vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 3. Mai 1993 – 2 BvR 1975/92 –, juris Rn. 1. 14 Dass die jeweils angegriffenen Entscheidungen vorgelegt werden müssen, liegt dabei noch auf der Hand. Im Übrigen ist die Entscheidungspraxis nicht immer einheitlich: Während teilweise pauschal verlangt wird, der Beschwerdeführer müsse „etwa die Strafanzeige, den Einstellungsbescheid der Staatsanwaltschaft, die Beschwerdebegründung, den Bescheid der Generalstaatsanwaltschaft“ vorlegen (BVerfG, Beschluss der 4. Kammer des Zweiten Senats vom 11. Oktober 2001 – 2 BvR 1271/01 –, juris Rn. 4), soll die Vorlage der staatsanwaltschaftlichen Bescheide nach einem Beschluss aus dem Jahr 2005 ausdrücklich dann entbehrlich sein, wenn nur die Entscheidung des Oberlandesgerichts angegriffen wird (vgl. BVerfGK 5, 45 [47]). Zur Überprüfung der ordnungsgemäßen Rechtswegerschöpfung sowie gerügter Verstöße gegen Art. 19 Abs. 4 GG und Art. 103 Abs. 1 GG wird es jedenfalls aber geboten sein, die Antragsschrift nach § 172 Abs. 3 Satz 1 StPO vorzulegen (so BVerfG, Beschluss der 4. Kammer des Zweiten Senats vom 11. Oktober 2001 – 2 BvR 1271/01 –, juris Rn. 4; offenlassend hingegen BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 15. Dezember 2005 – 2 BvR 205/05 –, juris Rn. 8).
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In einem Fall ist die Unzulässigkeit der Verfassungsbeschwerde auch auf das Fehlen einer ordnungsgemäßen Rechtswegerschöpfung im Sinn von § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG gestützt worden.15 Soweit die Kammer hier jedoch zur Begründung allein darauf abgestellt hat, das Oberlandesgericht habe den Antrag des Beschwerdeführers auf gerichtliche Entscheidung „wegen prozessualer Nachlässigkeit als unzulässig verworfen“, ist zumindest Vorsicht geboten: Zwar wird es in der Regel an einer ordnungsgemäßen Rechtswegerschöpfung fehlen, wenn der Beschwerdeführer seinen Antrag auf gerichtliche Entscheidung nicht fristgerecht (§ 172 Abs. 2 Satz 1 StPO) erhoben oder nicht ordnungsgemäß begründet (§ 172 Abs. 3 Satz 1 StPO) hat. Ob ein Beschwerdeführer sich aber tatsächlich „prozessual nachlässig“ verhalten hat, dürfte allein durch die Verwerfung seines Klageerzwingungsantrages als unzulässig noch nicht hinreichend indiziert werden. Die weithin feststellbare Neigung der Oberlandesgerichte, Klageerzwingungsanträge – teilweise unter erheblicher Strapazierung der gesetzlichen Darlegungsanforderungen – „in die Unzulässigkeit zu zwingen“, mag man bei gleichzeitig fehlenden Erfolgsaussichten in der Sache noch als Ausdruck prozessualer Fürsorge deuten, um den Antragstellern eine Gerichtsgebühr (und den Justizkassen den Aufwand ihrer oft wenig aussichtsreichen Beitreibung) zu ersparen.16 Der Schluss jedoch, ein als unzulässig verworfener Klageerzwingungsantrag indiziere – oder gar: belege – bereits eine zur Unzulässigkeit auch der Verfassungsbeschwerde führende „prozessuale Nachlässigkeit“ des Beschwerdeführers im Rahmen des fachgerichtlichen Rechtsweges, dürfte sich ohne konkrete tatsächliche Anhaltspunkte für eine solche Nachlässigkeit verbieten.
C. Begründetheit der Verfassungsbeschwerde Viele Beschwerdeführer erblicken allein in der Tatsache, dass ihrem Strafantrag keine Folge geleistet wird, eine Grundrechtsverletzung. Das ist zwar nicht unter allen Umständen von vornherein ausgeschlossen (I.). Erfolg hatten Verfassungsbeschwerden bislang aber nur wegen der Verletzung von Verfahrensgrundgrundrechten (II.).
15 Vgl. BVerfG, Beschluss der 4. Kammer des Zweiten Senats vom 11. Oktober 2001 – 2 BvR 1271/01 –, juris Rn. 4. 16 Während bei Verwerfung des Klageerzwingungsantrages als unbegründet nach § 177 i.V.m. § 174 Abs. 1 StPO für den Antragsteller regelmäßig eine Gerichtsgebühr anfällt (vgl. Nr. 3200 KVGKG; das Gericht kann die Gebühr freilich bis auf 15,00 € herabsetzen oder sogar ganz von der Erhebung absehen), löst die Verwerfung als unzulässig von vornherein keine Gebühr aus. De lege ferenda scheint es sinnvoll, diese Differenzierung zu überdenken.
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I. Strafverfolgungsanspruch Das Bundesverfassungsgericht hat im Zusammenhang mit Tötungsdelikten einen grundrechtlichen Schutzanspruch auf wirksame Ahndung von Gewaltverbrechen anerkannt.17 Erörterungsbedürftig sind Voraussetzungen und Inhalt des Anspruchs (1.) sowie die Frage, wer ihn geltend machen kann (2.). 1. Grundrechtliche Schutzpflicht als Anspruchsgrundlage Zwar lehnt das Bundesverfassungsgericht einen verfassungsrechtlichen Anspruch auf Strafverfolgung eines anderen grundsätzlich ab.18 Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), dessen Rechtsprechung das Bundesverfassungsgericht als Auslegungshilfe bei der Bestimmung der grundrechtlichen Gewährleistungen berücksichtigt,19 hat allerdings aus der staatlichen Verpflichtung, das Recht auf Leben zu schützen, in Verbindung mit der allgemeinen staatlichen Verpflichtung aus Art. 1 EMRK, allen seiner Hoheitsgewalt unterstehenden Personen die in Abschnitt I der EMRK bestimmten Rechte und Freiheiten zuzusichern, die Pflicht der Vertragsstaaten der EMRK abgeleitet, wirksame Ermittlungen anzustellen, wenn ein Mensch durch Gewalteinwirkung durch Repräsentanten des Staates zu Tode gekommen ist.20 Diese Ermittlungspflicht hat in erster Linie objektiven Charakter und soll die Vertragsstaaten zu einer prompten, umfassenden, unvoreingenommenen und gründlichen Untersuchung verpflichten.21 Der EGMR erkennt aber an, dass die Angehörigen ihre Verletzung rügen können, und hat die Ermittlungspflicht damit subjektiviert.22 Zugleich hat er aber ausdrücklich klargestellt, dass nicht jeder Ermittlungsfehler Art. 2 EMRK verletzt, sondern nur solche Fehler, die den Untersuchungszweck gefährden, die Todesursache und die verantwortlichen Personen festzustellen.23 Der EGMR 17
Vgl. BVerfGK 17, 1 (5). Vgl. BVerfGE 51, 176 (187). 19 Vgl. BVerfGE 74, 358 (370); 83, 119 (128); 111, 307 (317); 128, 326 (366 ff.); 131, 268 (295). 20 Vgl. EGMR, Entscheidung vom 27. September 1995, Nr. 18984/91, McCann u.a./ Vereinigtes Königreich, Rn. 161. 21 Vgl. BVerfGK 17, 1 (7); Einzelheiten bei Alleweldt, in: Dörr/Grote/Marauhn (Hrsg.), EMRK/GG Konkordanzkommentar, 2. Aufl 2013, Band I, Kap. 10, S. 532 Rn. 106 ff.; Meyer-Ladewig, Europäische Menschenrechtskonvention, 3. Auflage 2011, Art. 2 Rn. 20 ff. 22 Z.B. EGMR, Entscheidung vom 14. Mai 2002, Nr. 22876/93, Semse Önen, Rn. 112. In EGMR, Entscheidung vom 2. September 1998, Nr. 22495/93, Yasa/Türkei, Rn. 66, wurde der Neffe eines Getöteten als selbst in seinem Recht aus Art. 2 Abs. 1 EMRK betroffen angesehen. 23 Vgl. EGMR, Entscheidung vom 27. September 1995, Nr. 18984/91, McCann u.a./ Vereinigtes Königreich, Rn. 157 ff.; Entscheidung vom 5. Oktober 1999, Nr. 33677/96, Grams/Deutschland, NJW 2001, S. 1989 (1989 f.). 18
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prüft insoweit nur, ob das Verfahren insgesamt fair und angemessen war; insbesondere die Beweiswürdigung ist Sache der staatlichen Behörden.24 Dieser Ansatz wurde mittlerweile auf weitere Fälle gewaltsamer oder auch sonst unklarer Todesfälle ausgedehnt.25 Bei Gewaltverbrechen lässt sich, noch über eine Ermittlungspflicht hinaus, ausnahmsweise auch ein verfassungsrechtlicher Anspruch auf Strafverfolgung begründen. Mit der aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG folgenden Pflicht des Staates, jedes menschliche Leben zu schützen, gewährleistet das Grundgesetz dem Einzelnen einen Anspruch auf Schutz des Lebens und auf körperliche Unversehrtheit. Der Staat muss sich schützend und fördernd vor das Leben stellen und es vor rechtswidrigen Eingriffen bewahren.26 Konkrete Anforderungen an Art und Maß des Schutzes lassen sich der Verfassung jedoch nicht entnehmen. Die staatlichen Organe haben bei der Ausgestaltung der Schutzpflicht einen Gestaltungsspielraum, der regelmäßig erst überschritten ist, wenn der Staat gänzlich untätig geblieben ist oder wenn die ergriffenen Maßnahmen offensichtlich völlig ungeeignet oder unzulänglich sind.27 Seiner Schutzpflicht genügt der Staat deshalb grundsätzlich bereits dadurch, dass er Verletzungshandlungen allgemein unter Strafe gestellt, an das Legalitätsprinzip gebundene Strafverfolgungsbehörden eingerichtet und ein rechtsstaatlich geordnetes Verfahren mit flankierend eingeräumten Rechtsbehelfen geschaffen hat.28 Ein Einschreiten des Staates und seiner Organe kann aber verlangt werden, wenn ernstlich zu besorgen ist, dass ein Verzicht auf eine effektive Untersuchung verdächtiger Todesfälle zu einem allgemeinen Klima der Rechtsunsicherheit und Gewalt oder im Einzelfall zu einer Gefahrenlage für Leben und Gesundheit führen kann. Mit Blick auf die Rechtsprechung des EGMR zur staatlichen Ermittlungspflicht hat das Bundesverfassungsgericht festgehalten, dass unter diesen Voraussetzungen auch ein Anspruch auf wirksame Ahndung von Straftaten bestehen kann.29
24
Vgl. EGMR, Entscheidung vom 27. September 1995, Nr. 18984/91, McCann u.a./Vereinigtes Königreich, Rn. 161; vom 5. Oktober 1999, 36677/96, NJW 2001, S. 1989 (1990) – Grams/Deutschland; BVerfGK 17, 1 (7); Meyer-Ladewig, Europäische Menschenrechtskonvention, 3. Auflage 2011, Art. 2 Rn. 26. 25 Vgl. EGMR, Entscheidung vom 2. September 1998, Nr. 22495/93, Yas¸a/Türkei, Rn. 100; EGMR, Entscheidung vom 22. März 2005, Nr. 28290/95, Güngör/Türkei, Rn. 67; Meyer-Ladewig, Europäische Menschenrechtskonvention; 3. Auflage 2011, Art. 2 Rn. 20 m.w.N.; Grabenwarter/Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, 5. Aufl. 2012, S. 154 ff. 26 Vgl. BVerfGE 46, 160 (164); 115, 320 (346); 121, 317 (356). 27 Vgl. BVerfGE 77, 381 (405); 101, 275 (288); 125, 39 (79). 28 Vgl. BVerfG, Beschluss der 4. Kammer des Zweiten Senats vom 8. März 2002 – 2 BvR 2104/01 –, NJW 2002, S. 2859 (860). 29 Vgl. BVerfGK 17, 1 (6).
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2. Prozessuale Durchsetzung durch Angehörige Ausdrücklich offengelassen hat das Bundesverfassungsgericht, ob und unter welchen Voraussetzungen Angehörige diesen Anspruch prozessual geltend machen können.30 Fraglich ist insofern schon, ob sie sich auf eine Rechtsposition stützen, die der Getötete zunächst als von der Schutzpflicht Begünstigter innehatte. Vorzugswürdig erscheint die Annahme eines originären Anspruchs der Angehörigen. Zwar äußert sich der postmortale Persönlichkeitsschutz gerade in der Respektierung der Menschenwürde eines Verstorbenen. Auch endet die in Art. 1 Abs. 1 GG aller staatlichen Gewalt aufgegebene Verpflichtung, dem Einzelnen Schutz gegen Angriffe auf seine Menschenwürde zu gewähren, nicht mit dem Tode.31 Da das Bundesverfassungsgericht eine Prozessstandschaft im verfassungsgerichtlichen Verfahren aber grundsätzlich ablehnt 32 und das postmortale Persönlichkeitsrecht nicht über die Figur der Prozessstandschaft realisiert wird,33 liegt es näher, dass die Angehörigen in die grundrechtliche Schutzpflicht einbezogen sind und deshalb aus eigenem Recht wirksame Ermittlungen einfordern können. Trotz der prinzipiellen Anerkennung eines Anspruchs auf wirksame Ahndung dürfte es aber praktisch kaum möglich sein, die Voraussetzungen eines Strafverfolgungsanspruchs – v.a. allgemeines Klima der Rechtsunsicherheit bzw. Gefahr für Leib und Leben ohne weitere Ermittlungen, vgl. oben 1. – substantiiert darzulegen.
II. Verfahrensgrundrechte Dass der Einzelne grundsätzlich keinen materiellen verfassungsrechtlichen Anspruch auf Durchführung eines Strafverfahrens gegen einen Dritten hat, heißt nicht, dass seine Verfassungsbeschwerde gegen die Entscheidung des Oberlandesgerichts über den Klageerzwingungsantrag von vornherein aussichtslos wäre. Vielmehr müssen die Oberlandesgerichte die allgemeinen Verfahrensgrundrechte – insbesondere die Rechtschutzgarantie und den Anspruch auf rechtliches Gehör, ggf. in Verbindung mit dem Willkürverbot – beachten. Dabei gibt es einige für das Klageerzwingungsverfahren spezifische Fallstricke und Problemfelder. Die Oberlandesgerichte zeigen – vielleicht gerade vor dem Hintergrund der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum grundsätzlichen Fehlen eines materiellen Anspruchs auf Straf30
Vgl. BVerfGK 17, 1 (5). Vgl. BVerfGE 30, 173 (194). 32 Vgl. BVerfGE 19, 323 (329); 25, 256 (263). 33 Vgl. Bethge, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge (Hrsg.), BVerfGG, § 90 Rn. 365 (März 2010); gegen postmortale Grundrechtsträgerschaft P. M. Huber, Natürliche Personen als Grundrechtsträger, in: HGR II, § 49 Rn. 22 ff. 31
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verfolgung – oftmals eine schwach ausgeprägte Neigung, in die Sachprüfung eines Antrages einzutreten. Dabei mag auch eine Rolle spielen, dass der Verletzte einer Straftat (mit Ausnahme der Privatklagedelikte) im Strafverfahren letztlich ein Fremdkörper ist, der im Verhältnis zwischen Gericht, Staatsanwaltschaft und dem Beschuldigten bzw. dessen Verteidiger eine „störende“ Rolle spielt. Zu beachten ist jedoch, dass der Gesetzgeber dem Verletzten diese Rolle bewusst übertragen hat, um für eine effektive Absicherung des Legalitätsprinzips zu sorgen. Die über das Anklagemonopol verfügenden Staatsanwaltschaften mögen die „unabhängigsten Behörden der Welt“ sein – sie bleiben doch immer weisungsgebundene Behörden. Insofern dient das Klageerzwingungsverfahren neben der einzelfallbezogenen Sicherung des Legalitätsprinzip auch dem Erhalt des Vertrauens der Allgemeinheit in die ordnungsgemäße Aufgabenerfüllung der Staatsanwaltschaften. 1. Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG Die Rechtschutzgarantie nach Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG ist das (Verfahrens-)Grundrecht, das bei Verfassungsbeschwerden gegen Entscheidungen über Klageerzwingungsanträge statistisch gesehen am häufigsten verletzt ist. a) Eröffnung des Schutzbereichs Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG gewährleistet den Rechtsweg im Rahmen der jeweiligen gesetzlichen Prozessordnungen34 und vermittelt insoweit einen Anspruch auf eine tatsächlich wirksame gerichtliche Kontrolle der angegriffenen Akte der öffentlichen Gewalt.35 Soweit dem Einzelnen subjektivöffentliche Rechte zustehen, wird ihm durch Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG garantiert, deren Verletzung gerichtlich überprüfen lassen zu können. Ein solches subjektives Recht begründen die §§ 158, 171 ff. StPO in Verbindung mit dem in § 152 Abs. 2 StPO verankerten Legalitätsprinzip für den Verletzten einer Straftat: Der Verletzte hat zwar grundsätzlich keinen verfassungsrechtlichen Anspruch auf eine strafrechtliche Verfolgung des Beschuldigten;36 er hat aber – als bemerkenswerte Abweichung von dem Grundsatz, dass das Strafverfahren ausschließlich öffentlichen Interessen dient – einen einfach-rechtlich begründeten Anspruch darauf, dass die Staatsanwaltschaft (§§ 170 f. StPO) und deren vorgesetzter Beamter (§ 172 Abs. 1 StPO) auf seine Strafanzeige hin die Voraussetzungen der Erhebung der öffentlichen Klage prüfen und, wenn 34 Vgl. nur BVerfGK 2, 45 (49); insofern ist der Schutzbereich von Art. 19 Abs. 4 GG – ähnlich dem des Art. 14 Abs. 1 GG – normgeprägt, vgl. P. M. Huber, in: v. Mangoldt/Klein/ Starck (Hrsg.), GG, Bd. 1, 6. Aufl. 2010, Art. 19 Rn. 368; Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Bd. 1, 3. Aufl. 2013, Art. 19 Abs. 4 Rn. 79. 35 Vgl. BVerfGE 35, 382 (401 f.); 93, 1 (13); 103, 142 (156); 118, 168 (207). 36 Dazu s.o. I.
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diese erfüllt sind, Anklage zum zuständigen Gericht erheben.37 Zur Durchsetzung dieses Anspruchs hat der Gesetzgeber mit § 172 Abs. 2 Satz 1 StPO für den Verletzten einer Straftat ausdrücklich den Rechtsweg zum Oberlandesgericht eröffnet, das die ablehnende Entscheidung der Staatsanwaltschaft auf ihre Rechtmäßigkeit zu überprüfen und ggf. aufzuheben hat (vgl. § 173 ff. StPO). Da nur eine Sachprüfung durch das Gericht dem Zweck des Klageerzwingungsverfahrens – der Durchsetzung und Absicherung des Legalitätsprinzips – entspricht, wird der objektive Schutzzweck des § 152 Abs. 2 StPO in der Person des Verletzten, in dessen Hände der Gesetzgeber den Schutz des Legalitätsprinzips gelegt hat, insofern subjektiviert. Der Schutzbereich von Art. 19 Abs. 4 GG ist also jedenfalls immer dann eröffnet, wenn der Antrag auf gerichtliche Entscheidung als unzulässig verworfen wird und eine inhaltliche Kontrolle der angegriffenen Bescheide damit unterbleibt.38 Nachdem die Verwerfung als unzulässig in der Praxis der Oberlandesgericht den Regelfall bildet, spielt die Prüfung einer Verletzung von Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG – gelegentlich in Kombination mit Art. 3 Abs. 1 GG39 – in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Klageerzwingungsverfahren eine exponierte Rolle. Verletzt ist Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG nach ständiger Rechtsprechung dann, wenn der Zugang zu den Gerichten und zu den vom Gesetzgeber eröffneten Instanzen in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert wird;40 dies müssen die Gerichte bei der Auslegung und Anwendung prozessualer Normen beachten.41 37
Der Schutzbereich von Art. 19 Abs. 4 Satz 1GG ist mangels einer geschützten subjektiven Rechtsposition des Verletzten folglich dann nicht eröffnet, wenn die Staatsanwaltschaft das Ermittlungsverfahren nach § 153a Abs. 1 StPO unter Erteilung von Auflagen und Weisungen einstellt, vgl. BVerfG, Beschluss der 4. Kammer des Zweiten Senats vom 5. November 2001 – 2 BvR 1551/01 –, NJW 2002, S. 815 (815 f.). 38 Vgl. auch BVerfG, Beschluss der 4. Kammer des Zweiten Senats vom 28. März 2002 – 2 BvR 2104/01 –, juris Rn. 17 (= NJW 2002, S. 2859 f. (gekürzt)), wonach die Gerichte dann „umfassenden und lückenlosen gerichtlichen Schutz“ gewähren, wenn sie einen Klageerzwingungsantrag nicht als unzulässig verwerfen, sondern eine Sachentscheidung treffen. 39 Vgl. etwa BVerfGK 14, 211 (214); BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 3. Mai 1993 – 2 BvR 1975/92 –, juris Rn. 2; vereinzelt hat das Gericht eine Überspannung der Darlegungsanforderungen aus § 172 Abs. 3 StPO auch nur am Maßstab des Art. 3 Abs. 1 GG in seiner Bedeutung als Willkürverbot geprüft: BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 16. April 1992 – 2 BvR 877/89 –, NJW 1993, S. 382 (382); Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 6. Juni 2003 – 2 BvR 1659/01 –, juris Rn. 5 ff.; Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 13. Dezember 2007 – 2 BvR 2318/07 –, juris Rn. 2. 40 StRspr, vgl. nur BVerfGE 40, 272 (274); 78, 88 (99); 88, 118 (124); für das Klageerzwingungsverfahren nur BVerfGK 2, 45 (49). 41 Vgl. BVerfGE 77, 275 (284); 88, 118 (125); BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 13. Februar 2008 – 2 BvR 2226/07 –, juris Rn. 12.
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b) Die Auslegung und Anwendung von § 172 Abs. 3 Satz 1 StPO Das wichtigste Konfliktfeld im Zusammenhang mit dem Klageerzwingungsverfahren bilden § 172 Abs. 3 Satz 1 StPO und die daraus abgeleiteten Anforderungen an die Begründung des Antrages auf gerichtliche Entscheidung. Dem Wortlaut des § 172 Abs. 3 Satz 1 StPO nach bedarf es insoweit nur der Angabe der für die Erhebung der öffentlichen Klage erforderlichen Tatsachen sowie der entsprechenden Beweismittel. Nach der gefestigten Auslegung dieser Bestimmung durch die Oberlandesgerichte muss der Antrag auf gerichtliche Entscheidung aber auch eine aus sich selbst heraus verständliche Schilderung des Sachverhalts enthalten, der bei Unterstellung des hinreichenden Tatverdachts die Erhebung der öffentlichen Klage in materieller und formeller Hinsicht rechtfertigt. Zudem muss der Antragsteller wenigstens in groben Zügen den Gang des Ermittlungsverfahrens sowie den Inhalt der angegriffenen Bescheide der Strafverfolgungsbehörden wiedergeben und nachvollziehbar begründen, warum er sie für fehlerhaft hält.42 Das Oberlandesgericht soll die „Schlüssigkeit“ des Antrages prüfen können, ohne sich die hierfür erforderlichen Informationen aus den Ermittlungsakten oder anderen Schriftstücken selbst zusammensuchen zu müssen.43 aa) Grundsätzliche Bedenken Diese strikte Auslegung der Darlegungsanforderungen nach § 172 Abs. 3 Satz 1 StPO wird – soweit ersichtlich – in der Literatur nicht in Frage gestellt 44 und ist nach ständiger (Kammer-)Rechtsprechung grundsätzlich mit Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG vereinbar.45 Sie ist dogmatisch aber eigentlich
42 Vgl. nur OLG Bamberg, Beschluss vom 8. März 2012 – 3 Ws 4/12 –, NStZ-RR 2012, S. 248 (249); vgl. auch Moldenhauer, in: Karlsruher Kommentar, StPO, 7. Aufl. 2013, § 172 Rn. 34 ff.; Meyer-Goßner, StPO, 56. Aufl. 2013, § 172 Rn. 27 f., jeweils m.w.N. 43 Vgl. etwa OLG Hamm, Beschluss vom 3. Dezember 1991 – 1 Ws 619/91 –, NStZ 1992, S. 250; OLG Celle, Beschluss vom 16. April 1997 – 3 Ws 95/97 –, NStZ 1997, S. 406; OLG Frankfurt a.M., Beschluss vom 19. Mai 2005 – 3 Ws 405/05 –, NStZ-RR 2005, S. 237 (237); OLG Celle, Beschluss vom 17. März 2008 – 1 Ws 105/08 –, NJW 2008, S. 2202 (2202). In der Literatur wird diese Rechtsprechung allgemein gebilligt, vgl. nur Graalmann-Scheerer, in: Löwe/Rosenberg, StPO, Bd. 5, 26. Aufl. 2008, § 172 Rn. 145 m.w.N. 44 Vgl. nur Moldenhauer, in: Karlsruher Kommentar, StPO, 7. Aufl. 2013, § 172 Rn. 34; Meyer-Goßner, StPO, 56. Aufl. 2013, § 172 Rn. 27a, jeweils m.w.N. 45 Vgl. BVerfGK 5, 45 (48); 9, 22 (25); 10, 244 (247); 14, 211 (214 f.); BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 14. März 1988 – 2 BvR 1511/87 –, NJW 1988, S. 1773; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 16. April 1992 – 2 BvR 877/89 –, NJW 1993, S. 382; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 28. November 1999 – 2 BvR 1339/98 –, NJW 2000, S. 1027; Beschluss der 4. Kammer des Zweiten Senats vom 31. Januar 2002 – 2 BvR 1087/00 –, juris Rn. 8; Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 27. April 2006 – 2 BvR 430/04 –, juris Rn. 6; Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 19. September 2006 – 2 BvR 1103/04 –, NStZ 2007, S. 272 (273).
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alles andere als zwingend: Das vom Gesetzeswortlaut nicht gedeckte, nicht näher begründete und (mutmaßlich) dem Zivilprozessrecht entlehnte Erfordernis der „Schlüssigkeit“ des Antrages ist nicht nur ein Fremdkörper in dem vom Ermittlungsgrundsatz geprägten Strafprozess, sondern auch, da ausschließlich auf die sachliche Berechtigung des Antrages bezogen, in Wahrheit keine Frage der Zulässigkeit. Das Schlüssigkeitserfordernis – wie es die Oberlandesgerichte verstehen und handhaben – läuft auf eine vom Gesetzgeber nicht vorgesehene summarische „Vorprüfung“ der Erfolgsaussichten des Antrages bei unterstelltem hinreichenden Tatverdacht hinaus, deren Sinn – zur „Effektivität des Rechtsschutzes“ beizutragen46 – weitgehend im Ungefähren bleibt und mehr behauptet als begründet wird.47 Abgesehen davon wäre es zudem Aufgabe allein des Gesetzgebers, einer drohenden Überlastung der Rechtspflege ggf. durch (zusätzliche) prozessuale Hürden entgegenzuwirken.48 Auch wenn zwischen einer Schlüssigkeits- und einer Begründetheitsprüfung zahlreiche Parallelen bestehen,49 unterscheiden sie sich in ihren Rechtswirkungen gravierend: Prüfen die Gerichte nach den §§ 173 ff. StPO die Begründetheit eines Klageerzwingungsantrages, so wird die Entscheidung der Staatsanwaltschaft auf formelle und materielle Fehler kontrolliert; das Gericht kann hierzu eigene Ermittlungen durchführen (§ 173 Abs. 3 StPO) und trifft im Anschluss eine (Sach-)Entscheidung, die auch im Fall der Verwerfung des Antrages als unbegründet einen (beschränkten) Strafklageverbrauch zur Folge hat (§ 174 Abs. 2 StPO) und insofern dem Schutz des Beschuldigten sowie dem Rechtsfrieden dient.50 Das Schlüssigkeitserfordernis bedeutet demgegenüber, dass die Gerichte nicht die Entscheidung der Staatsanwaltschaft, sondern den Klageerzwingungsantrag überprüfen. Wird dieser als unzulässig, weil unschlüssig verworfen, so hat dies keinerlei Rechts-
46 So etwa BVerfGK 2, 45 (49); 5, 45 (48); BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 28. November 1999 – 2 BvR 1339/98 –, NJW 2000, S. 1027. 47 Der Nachweis, dass den Oberlandesgerichten anderenfalls eine „Überlastung durch unsachgemäße und unsubstanziierte Anträge“ (BVerfGK 5, 45 [48]) drohte, ist jedenfalls bislang nicht geführt worden. Die insgesamt verhältnismäßig niedrigen Fallzahlen (bundesweit 2.926 Verfahren im Jahr 2012, vgl. Statistisches Bundesamt, Berichtsjahr 2012, Fachserie 10 [Rechtspflege], Reihe 2.3 (Strafgerichte), Kap. 6.2 Nr. 15) und der hohe Anteil von Verfahren geringer Komplexität legen vielmehr den Verdacht nahe, dass eine etwaige Überlastung der Oberlandesgerichte jedenfalls nicht an den Klageerzwingungsverfahren läge. 48 Vgl. BVerfGE 88, 118 (124). – Dass die Oberlandesgerichte die Einschränkung des Rechtsschutzes hier in der Sache mit ihrer eigenen Entlastung rechtfertigen, wirft zusätzlich ein schiefes Licht auf die Spruchpraxis. 49 Das Entlastungsargument der Oberlandesgerichte büßt nicht zuletzt dadurch an Überzeugungskraft ein, dass die Schlüssigkeitsprüfung – wo es auf sie ankommt – vielfach den Umfang einer vollen Begründetheitsprüfung annimmt. 50 Vgl. dazu BVerfGK 9, 22 (25 f.).
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kraft-51 und – wie die Erfahrung aus der Perspektive des Bundesverfassungsgerichts zeigt – oft genug auch keine Befriedungswirkung. Die Frage, ob ein Klageerzwingungsantrag als unzulässig oder als unbegründet verworfen wird, ist also keinesfalls rein akademischer Natur. Ob das Klageerzwingungsverfahren angesichts dieser weitgehend unbemerkten Transformation materieller Gesichtspunkte in formelle Darlegungsanforderungen seinem Zweck – der Kontrolle des Legalitätsprinzips – noch in hinreichendem Maße gerecht wird, ist fraglich.52 Verfassungsrechtliche Bedenken könnten sich insofern vor allem daraus ergeben, dass die Darlegungsanforderungen – wie alle prozessualen Formerfordernisse – nicht weiter gehen dürfen, als es durch ihren Zweck geboten ist.53 Auch wenn die Kammern bemüht sind festzustellen, dass die Darlegungsanforderungen nicht als „formalistischer Selbstzweck“ anzusehen sind,54 ist insgesamt zweifelhaft, ob die Praxis diesem Anspruch gerecht wird. bb) Die Begründungsanforderungen im Einzelnen Nach ständiger Rechtsprechung der Kammern begegnet es keinen verfassungsrechtlichen Bedenken, § 172 Abs. 3 Satz 1 StPO so auszulegen, dass der Klageerzwingungsantrag neben der schlüssigen Darstellung eines strafbaren Verhaltens in groben Zügen den Gang des Ermittlungsverfahrens, den Inhalt der angegriffenen Bescheide und die Gründe für deren Unrichtigkeit enthalten muss (dazu nachfolgend (a)).55 Grundsätzlich mit Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG vereinbar ist insbesondere das Erfordernis, die Wahrung der Beschwerdefrist nach § 172 Abs. 1 Satz 1 StPO darzulegen (dazu (b)). Allgemein gilt dabei, dass die Oberlandesgerichte die Begründungsanforderungen für jede angezeigte prozessuale Tat i.S.v. § 264 Abs. 1 StPO gesondert prüfen und beurteilen müssen: Erstreckt sich ein Klageerzwingungsantrag auf mehrere Lebenssachverhalte, darf er nicht insgesamt als unzulässig verworfen werden, wenn die Begründung nur im Hinblick auf einen der angezeigten Tatkomplexe Mängel aufweist.56
51
Vgl. Graalmann-Scheerer, in: Löwe/Rosenberg, StPO, Bd. 5, 26. Aufl. 2008, § 174 Rn. 15; Moldenhauer, in: Karlsruher Kommentar, StPO, 7. Aufl. 2013, § 174 Rn. 8; MeyerGoßner, StPO, 56. Aufl. 2013, § 174 Rn. 1 f. 52 Skeptisch insoweit auch Graalmann-Scheerer, in: Löwe/Rosenberg, StPO, Bd. 5, 26. Aufl. 2008, § 172 Rn. 146. 53 StRspr, vgl. BVerfGE 88, 118 (125); BVerfGK 10, 244 (247); 14, 211 (215); BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 19. September 2006 – 2 BvR 1103/04 –, NStZ 2007, S. 272 (273). 54 Vgl. nur BVerfGK 5, 45 (48) m.w.N. 55 Vgl. nur BVerfGK 2, 45 (50); 5, 45 (48); 14, 211 (214). 56 Vgl. BVerfGK 10, 244 (248 ff.).
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(1) Auseinandersetzung mit dem Gang des Ermittlungsverfahrens Insbesondere bestehen – gerade vor dem Hintergrund des für den Klageerzwingungsantrag geltenden Anwaltszwanges (§ 172 Abs. 3 Satz 2 Hs. 1 StPO) – grundsätzlich keine verfassungsrechtlichen Bedenken dagegen, im Klageerzwingungsantrag eine Wiedergabe des Verlaufs des staatsanwaltschaftlichen Verfahrens und des wesentlichen Ermittlungsergebnisses57 und eine inhaltliche Auseinandersetzung mit den Argumenten der Staatsanwaltschaft zu verlangen. Von einem Rechtsanwalt kann erwartet und verlangt werden, dass er sich mit den Argumenten der Staatsanwaltschaft eingehend auseinandersetzt.58 Das gilt jedoch nur, soweit den angegriffenen Bescheiden die Gründe für die Einstellung des Ermittlungsverfahrens auch tatsächlich zu entnehmen sind; vom Antragsteller kann nicht verlangt werden, sich erst im Wege der Akteneinsicht Kenntnis von Umständen zu verschaffen, die ihm nicht mitgeteilt wurden59, oder sich mit Erwägungen auseinanderzusetzen, auf die die angegriffenen Bescheide nicht gestützt sind.60 Die Obliegenheit zur inhaltlichen Auseinandersetzung darf auch nicht auf Umstände erstreckt werden, die für die Strafbarkeit des angezeigten Verhaltens rechtlich irrelevant sind.61 (2) Zickzack-Linie: Die Rechtsprechung zur Darlegung der Fristwahrung In einer längeren Reihe von Kammerentscheidungen hat sich das Bundesverfassungsgericht mit der Frage auseinandergesetzt, ob und in welchem Umfang vom Antragsteller verlangt werden kann, im Klageerzwingungsantrag zur Wahrung der zweiwöchigen Beschwerdefrist nach § 172 Abs. 1 Satz 1 StPO vorzutragen. Ausgehend von der – wenn auch fragwürdigen62 – Prämisse, dass dem Oberlandesgericht eine Beurteilung der „Schlüssigkeit“ des Antrages ohne Rückgriff auf die Ermittlungsakten möglich sein muss, sind sich die Oberlandesgerichte, die Literatur und das Bundesverfassungsgericht im Grundsatz einig, dass es nicht gegen Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG ver-
57 Vgl. BVerfGK 14, 211 (215); BVerfG, Beschluss der 4. Kammer des Zweiten Senats vom 31. Januar 2002 – 2 BvR 1087/00 –, juris Rn. 8. 58 Vgl. BVerfG (Vorprüfungsausschuss), Beschluss vom 26. Oktober 1978 – 2 BvR 684/78 –, NJW 1979, S. 364; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 16. April 1992 – 2 BvR 877/89 –, NJW 1993, S. 382 (382). 59 Das soll jedenfalls dann gelten, wenn die Begründung der angegriffenen Bescheide nicht erkennbar lückenhaft ist, vgl. BVerfGK 14, 211 (215); BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 28. November 1999 – 2 BvR 1339/98 –, NJW 2000, S. 1027. 60 Vgl. BVerfGK 10, 244 (248). 61 Vgl. BVerfGK 14, 211 (215); BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 19. September 2006 – 2 BvR 1103/04 –, NStZ 2007, S. 272 (273 f.). 62 Vgl. dazu oben C. II. a) bb) (1).
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stößt, vom Antragsteller die Darlegung der Einhaltung der Beschwerdefrist zu verlangen, da nur so überprüft werden könne, ob der Rechtsweg zum Oberlandesgericht überhaupt eröffnet sei.63 Auf die Frage, welche Details der Vortrag einschließen muss, hat das Bundesverfassungsgericht in der jüngeren Vergangenheit aber durchaus unterschiedliche Antworten gegeben. So blieb die – überaus strenge – Rechtsprechung einiger Oberlandesgerichte, wonach der Antragsteller dem Gericht nicht nur das Zugangsdatum des Einstellungsbescheides der Staatsanwaltschaft (§ 171 Satz 1 StPO), sondern auch das Eingangsdatum seiner Beschwerdeschrift bei der Staatsanwaltschaft – also einen nicht in seiner Sphäre liegenden Umstand – mitzuteilen habe, zunächst unbeanstandet. Im Hinblick auf den für den Klageerzwingungsantrag geltenden Anwaltszwang und die einmonatige Begründungsfrist sei es zumutbar, wenn sich der Antragsteller im Wege der Akteneinsicht bei der Staatsanwaltschaft Kenntnis vom dortigen Eingangsdatum verschaffen und dieses dem Gericht mitteilen müsse.64 In den 1990er Jahren wandte sich das Bundesverfassungsgericht in mehreren – in ihrer Richtung freilich nicht immer konsistenten – Schritten von dieser Rechtsprechung ab: Zunächst wurde eine willkürliche Handhabung des § 172 Abs. 3 Satz 1 StPO darin gesehen, dass ein Oberlandesgericht den Vortrag des Beschwerdeführers, er habe „an“ einem bestimmten Datum – das im konkreten Fall nur zwei Tage nach dem Zugang des Einstellungsbescheides lag – Beschwerde „erhoben“, für nicht ausreichend gehalten hatte. In diesem Fall sei „mangels besonderer Umstände, die zu einer anderen Erkenntnis hätten führen können“, davon auszugehen, dass die Beschwerdeschrift rechtzeitig beim Generalstaatsanwalt eingegangen sei.65 Nur zwei Jahre später hatte dieselbe Kammer in einem – soweit erkennbar – gleichgelagerten Fall aber keine verfassungsrechtlichen Bedenken, obwohl hier die Beschwerdeschrift sogar mit dem Hinweis „per Telefax vorab“ versehen war.66 Wiederum zwei Jahre später nahm eine andere Kammer die ursprünglichen Bedenken wieder auf: Wenn ein Antragsteller in seinem Klageerzwingungsantrag vortrage, er habe „mit“ einem bestimmten Datum Beschwerde
63 Vgl. nur OLG Bamberg, Beschluss vom 8. März 2012 – 3 Ws 4/12 –, NStZ-RR 2012, S. 248 (249) m.w.N.; vgl. auch Moldenhauer, in: Karlsruher Kommentar, StPO, 7. Aufl. 2013, § 172 Rn. 38; Meyer-Goßner, StPO, 56. Aufl. 2013, § 172 Rn. 27b; siehe ferner BVerfGK 2, 45 (47); 5, 45 (48). 64 Vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 14. März 1988 – 2 BvR 1511/87 –, NJW 1988, S. 1773; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 3. Mai 1993 – 2 BvR 1975/92 –, juris Rn. 2. 65 Vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 16. April 1992 – 2 BvR 877/89 –, NJW 1993, S. 382 (382). 66 Vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 11. Februar 1994 – 2 BvR 125/94 –, juris Rn. 2.
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eingelegt, so müsse das Oberlandesgericht dies bei lebensnaher, am allgemeinen Sprachgebrauch orientierter Auslegung so verstehen, dass die Beschwerdeschrift nicht nur an diesem Tag verfasst, sondern auch unverzüglich auf den Weg gebracht worden sei. Angesichts der im konkreten Fall noch zur Verfügung stehenden fünf Postbeförderungstage und mangels besonderer Umstände könnten keine vernünftigen Zweifel an einem fristgerechten Eingang der Beschwerde bestehen.67 Noch etwas weiter geht schließlich ein Beschluss aus dem Jahr 1999, wonach unter bestimmten Voraussetzungen auf die Mitteilung der jeweiligen Zugangsdaten sogar ganz verzichtet werden kann: Wenn der Antragsteller die Daten des Einstellungsbescheides der Staatsanwaltschaft und der Einlegung der Beschwerde mitteile und bei Annahme des frühestmöglichen Zugangsdatums des Einstellungsbescheides noch neun Tage Postlaufzeit für die Beschwerdeschrift verblieben, sei ebenfalls von einem fristgerechten Eingang beim Generalstaatsanwalt auszugehen.68 Sichtbar vom Willen geprägt, diese Rechtsprechung wieder einzuschränken, sind dagegen zwei Beschlüsse aus den Jahren 2003 und 2005: In den zugrunde liegenden Fällen hatten die Beschwerdeführer dem Oberlandesgericht zwar das Datum ihrer jeweiligen Beschwerdeschrift mitgeteilt, aber offenbar nicht zugleich das Wort „erhoben“ oder „eingelegt“ verwendet; hier befanden die Kammern nun, allein die Nennung des Datums der Beschwerdeschrift lege nicht hinreichend dar, dass diese noch am selben Tag zur Post gegeben oder per Telefax übermittelt worden sei. Von einem Rechtsanwalt dürfe „diesbezügliche sprachliche Sorgfalt“ erwartet werden.69 Insbesondere wenn das Datum der Beschwerdeschrift auf einen Freitag falle, dürften die Oberlandesgerichte willkürfrei von einer Versendung erst am darauffolgenden Montag ausgehen.70 Diese etwas pedantische und engherzige Rechtsprechung wurde in späteren Kammerentscheidungen aber nicht mehr weiterverfolgt. In mehreren Beschlüssen verfestigte sich schließlich die Linie, dass es im Hinblick auf Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG und den Zweck der Begründungsanforderungen ausreichen muss, wenn sich dem Klageerzwingungsantrag – ausdrücklich
67 Vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 5. Oktober 1996 – 2 BvR 502/96 –, juris Rn. 14. 68 Vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 18. Februar 1999 – 2 BvR 1201/98 –, juris Rn. 11; ähnlich auch BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 6. Juni 2003 – 2 BvR 1659/01 –, juris Rn. 7. 69 Vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 15. Dezember 2005 – 2 BvR 205/05 –, juris Rn. 11 ff. 70 Vgl. BVerfGK 2, 45 (48 f.). – Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass im konkret zu entscheidenden Fall die Beschwerdefrist bereits an diesem Montag ablief, also – anders als in den zuvor entschiedenen Verfahren – gerade kein zeitlicher „Sicherheitsabstand“ zur Verfügung stand, der einen fristgerechten Eingang nahegelegt hätte.
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oder mittelbar – das Datum des Posteinwurfs der Beschwerdeschrift entnehmen lässt und danach noch zwei Postbeförderungstage bis zum Ablauf der Beschwerdefrist verbleiben.71 (3) Anwaltszwang und Prozesskostenhilfe Dass der Klageerzwingungsantrag nach § 172 Abs. 3 Satz 2 Hs. 1 StPO von einem Rechtsanwalt unterzeichnet sein muss, begegnet im Hinblick auf in § 172 Abs. 3 Satz 2 Hs. 2 StPO vorgesehene Möglichkeit der Bewilligung von Prozesskostenhilfe keinen verfassungsrechtlichen Bedenken.72 Die Gerichte dürfen an den Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für einen noch zu stellenden Klageerzwingungsantrag aber nicht dieselben (strengen) Begründungsanforderungen anlegen wie an den Klageerzwingungsantrag selbst, wenn das Prozesskostenhilfeverfahren seinen Zweck erfüllen soll. Da der prozessuale Nachteil eines unbemittelten Antragstellers gerade darin besteht, dass er zunächst ohne rechtskundigen Beistand auskommen muss, hat das Oberlandesgericht den Prozesskostenhilfeantrag nach Möglichkeit so auszulegen, dass er sachlich Erfolg haben kann, zumindest aber nicht aus formalen Erwägungen abgelehnt wird.73 Insofern dürfte es ausreichend sein, den zugrunde liegenden Sachverhalt und die wesentlichen Beweismittel so darzulegen, dass das Gericht anhand dessen eine zumindest „hinreichende“ – das heißt aber eben nicht: eine „sichere“ – Erfolgsaussicht (vgl. § 172 Abs. 3 Satz 2 Hs. 2 StPO i.V.m. § 114 Satz 1 ZPO) des Klageerzwingungsantrages feststellen kann. 2. Art. 103 Abs. 1 GG Das Recht auf Gewährung rechtlichen Gehörs aus Art. 103 Abs. 1 GG ergänzt das Recht auf effektiven Rechtsschutz und war in der Rechtsprechungspraxis der Kammern ebenfalls wiederholt einschlägig. Art. 103 Abs. 1 GG verpflichtet die Gerichte, den Vortrag der Beteiligten zur Kennt-
71 Vgl. BVerfGK 5, 45 (48) – unter Hinweis auf § 2 Nr. 3 Satz 1 Post-Universaldienstverordnung; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 27. April 2006 – 2 BvR 430/04 –, juris Rn. 4 f. 72 Vgl. BVerfGE 2, 336 (340 f.); vgl. auch BVerfGE 81, 347 (356). – Wird der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe innerhalb der Monatsfrist nach § 172 Abs. 2 Satz 1 StPO gestellt und der Antrag abgelehnt, so ist ggf. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand für den Klageerzwingungsantrag zu gewähren, wenn der Antragsteller vernünftigerweise nicht mit der Ablehnung der Bewilligung von Prozesskostenhilfe rechnen musste, vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 23. September 1992 – 2 BvR 871/92 –, NJW 1993, S. 720. 73 Vgl. BVerfG, Beschluss der 4. Kammer des Zweiten Senats vom 6. Juli 2001 – 2 BvR 881/01 –, juris Rn. 5 f.
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nis zu nehmen und bei ihrer Entscheidung in Erwägung zu ziehen.74 In welcher Weise das rechtliche Gehör gewährt wird, ist jedoch Sache des Gesetzgebers oder liegt ggf. im Ermessen der Gerichte. Ein Anspruch auf persönliche (mündliche) Anhörung des Antragstellers 75 im Klageerzwingungsverfahren lässt sich aus Art. 103 Abs. 1 GG daher grundsätzlich nicht herleiten.76 Einen Gehörsverstoß haben die Kammern bei der Verwerfung eines Klageerzwingungsantrages als unzulässig vor allem dann festgestellt, wenn der Beschwerdeführer die zur Begründung der Verfahrenseinstellung herangezogenen Feststellungen der Staatsanwaltschaft substantiell bestritten oder als unzureichend gerügt hatte.77 Vereinfacht gesagt, messen die Kammern die rechtlichen Maßstäbe der Oberlandesgerichte an Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG, die tatsächlichen Feststellungen hingegen an Art. 103 Abs. 1 GG. Wird ein Klageerzwingungsantrag den inhaltlichen Darlegungsanforderungen gerecht, verwirft ihn das Oberlandesgericht aber dennoch mit der – sachlich unzutreffenden – Begründung, er enthalte keine aus sich heraus verständliche Sachverhaltsdarstellung oder keine ausreichenden Anhaltspunkte für ein strafbares Verhalten, so folgt daraus, dass das Gericht die Ausführungen des Beschwerdeführers entweder nicht zur Kenntnis genommen oder nicht erwogen hat.78 Das Bundesverfassungsgericht kontrolliert die tatsächlichen Feststellungen der Oberlandesgerichte dabei umfassend auf ihre Nachvollziehbarkeit und Richtigkeit und schließt – falls es diese verneint – auf einen Gehörsverstoß. So haben die Kammern einen Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG – wobei die Grenze zu Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG teilweise verschwimmt – etwa darin gesehen, dass ein Oberlandesgericht inhaltliche Bezugnahmen und Verweisungen innerhalb eines geordneten Sachvortrags für unzulässig gehalten und infolgedessen einen Darlegungsmangel festgestellt hatte.79 Auch eine allzu formalistische Anwendung der Darlegungsanforderungen aus § 172 Abs. 3 StPO birgt die Gefahr eines Gehörsverstoßes: Wenn sich der Klageerzwingungsantrag argumentativ eingehend mit der Begründung der angegriffenen Be-
74
StRspr, vgl. BVerfGE 83, 24 (35); 86, 133 (145 f.); BVerfGK 18, 83 (86) m.w.N. Eine persönliche Anhörung des Beschuldigten ist hingegen sowohl nach § 173 Abs. 2 und § 175 Satz 1 StPO als auch unmittelbar nach Art. 103 Abs. 1 GG geboten, bevor eine dem Klageerzwingungsantrag stattgebende Entscheidung ergeht, vgl. dazu BVerfGE 17, 356 (361 ff.); 42, 172 (175). 76 Vgl. BVerfGK 9, 22 (27). 77 Vgl. etwa BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 4. Mai 1998 – 2 BvR 1314/97 –, juris Rn. 22 ff. 78 Vgl. BVerfGK 18, 83 (87); BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 16. April 1992 – 2 BvR 877/89 –, NJW 1993, S. 382 (383); Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 6. Juni 2003 – 2 BvR 1659/01 –, juris Rn. 8 f. 79 Vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 19. September 2006 – 2 BvR 1103/04 –, NStZ 2007, S. 272 (273). 75
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scheide auseinandersetzt, darf dem Antragsteller nicht entgegengehalten werden, er habe im Rahmen der Sachverhaltsschilderung den Inhalt der Bescheide nicht ausreichend wiedergegeben.80 Damit die auf eine Verletzung von Art. 103 Abs. 1 GG gestützte Verfassungsbeschwerde Erfolg hat, muss die angegriffene Entscheidung schließlich auf dem Gehörsverstoß beruhen. Dies wird im praktischen Regelfall der Verwerfung des Klageerzwingungsantrags als unzulässig aber stets zu bejahen sein, da sich kaum ausschließen lässt, dass das Gericht bei Berücksichtigung des übergangenen Vorbringens nicht zumindest eigene Ermittlungen (§ 173 Abs. 3 StPO) angestellt und eine Sachentscheidung getroffen hätte.81
80 Vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 16. April 1992 – 2 BvR 877/89 –, NJW 1993, S. 382 (383). 81 Vgl. BVerfGK 18, 83 (89).
Das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit Thomas Hammer und Richard Wiedemann Leitentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts 1. BVerfGE 2. BVerfGE 3. BVerfGE 4. BVerfGE 5. BVerfGE 6. BVerfGE
69, 315 – Brokdorf 90, 241 – Holocaust-Leugnung 104, 92 – Wackersdorf- und Autobahnblockaden 111, 147 – Synagoge Bochum 124, 300 – Wunsiedel 128, 226 – Fraport Inhalt
I. II.
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Alte Linien – neue Entscheidungen: Kammerrechtsprechung . . . . . . . . . . 1. Schutzbereich: friedliche Zusammenkunft zur Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Sitzblockaden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zur Rechtsschutzgewährung im Eilrechtsschutz . . . . . . . . . . . . . . . a) Praktische Bedeutung des versammlungsrechtlichen Eilrechtsschutzes . b) Vorgaben des Verfassungsrechts für den fachgerichtlichen Eilrechtsschutz c) Der Eilrechtsschutz durch das Bundesverfassungsgericht . . . . . . . . . aa) Wesensmerkmal: Folgenabwägung und fehlende Akzessorietät der Hauptsache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Zur Überprüfbarkeit einer Gefahrenprognose im Eilrechtsschutz . . 4. „Gedenktagsrechtsprechung“? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Gegendemonstrationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Alte Probleme – neue Linien: Senatsentscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . 1. BVerfGE 124, 300: Wunsiedel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Das Sonderrechtsverbot des Art. 5 Abs. 2 GG und seine Ausnahme . . . aa) Der Sieg der Sonderrechtstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Eine Ausnahme für „die propagandistische Gutheißung des nationalsozialistischen Regimes in den Jahren zwischen 1933 und 1945“ . . . b) Rechtsgüterschutz als Voraussetzung eines Meinungsverbots . . . . . . . c) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. BVerfGE 128, 226: Fraport . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Zweierlei Fragen der Grundrechtsdogmatik . . . . . . . . . . . . . . . . b) Bekannte Linien: Selbstbestimmungsrecht der Versammlung . . . . . . . c) Kein pauschales Zutrittsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Abgrenzungsmerkmal: Öffnung für den allgemeinen öffentlichen Verkehr
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Das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit
I. Einleitung Im Rahmen dieses Beitrags kann ohne weiteres an die verdienstvollen wie auch akribischen Vorarbeiten von Mathias Hong 1 angeschlossen werden. In dem ersten Beitrag zur Versammlungsfreiheit in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts wurden grundlegende dogmatische Linien – ganz in der Ausfüllung der Überschrift des Werkes – dargestellt und wesentliche Kammer- sowie selbstverständlich Senatsentscheidungen systematisch aufbereitet. Auf diesen Beitrag baut der hiesige auf: die seit Veröffentlichung desselben ergangenen Entscheidungen werden in den bisherigen Kontext eingeordnet und aufgezeigt, ob man weiterhin von Linien sprechen kann oder ob nicht vielleicht doch an der einen oder anderen Stelle ein Bruch oder gar eine neue Linie zu sehen ist. Unangetastet bleibt das „Gravitationszentrum“ 2 des Grundrechts in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts: Sinn und Zweck des Versammlungsgrundrechts ist die Bedeutung des Sich-Versammelns für den demokratischen Prozess der Meinungsbildung. Als Freiheit zur kollektiven Meinungskundgabe ist die Versammlungsfreiheit für eine freiheitlich demokratische Staatsordnung schlechthin konstituierend.3 Die Versammlungsfreiheit steht damit mit der Meinungsfreiheit in einer engen Beziehung, sie dienen und fördern beide die Kommunikation in einem pluralistischen, demokratischen Gemeinwesen und sind maßgebliche Freiheiten auch zur Verwirklichung und Artikulation von oppositionellen Interessen wie von Interessen der Minderheiten in einer Gesellschaft.4 In einem ersten Abschnitt (II.) werden die Kammerentscheidungen des Gerichts – namentlich einer Kammer des Ersten Senats – in die bisherigen Linien eingeordnet und systematisiert. Der nachfolgende Abschnitt (III.) ist einer ausführlichen Würdigung der seit dem ersten Beitrag getroffenen Senatsentscheidungen in den Hauptsacheverfahren gewidmet – im Einzelnen handelt es sich um den Wunsiedel-Beschluss (1.) sowie das FraportUrteil (2.). Zwar ist erstgenannte Entscheidung primär eine solche zu Schutzbereich und Grenzen der grundrechtlich geschützten Meinungsfreiheit des Art. 5 Abs. 1 GG, jedoch stellen sich die dort aufgeworfenen Fragen immer wieder auch im Kontext von Versammlungen – die genannte Entscheidung ist das beste Beispiel –, zudem sind Meinungs- und Versammlungsfrei-
1 M. Hong, Die Versammlungsfreiheit in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, in: Brink/Rensen (Hrsg.), Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, Bd. 1, 2009, S. 155–197. 2 M. Hong, a.a.O., S. 155 (157). 3 Grundlegend: BVerfGE 69, 315 (344 f.); aus jüngerer Zeit vgl. nur BVerfGE 128, 226 (250). 4 Vgl. dazu bereits BVerfGE 68, 315 (346).
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heit als Kommunikationsfreiheiten eng aufeinander bezogen und können häufig in Einzelfällen schlechterdings nicht voneinander getrennt betrachtet werden. Auch die Entscheidung zum Bayerischen Versammlungsgesetz5 ist hier zu nennen, sie wird jedoch später keiner eigenständigen Würdigung unterzogen. Sie stellt insoweit eine Besonderheit dar, als diese Entscheidung im Zuge einer einstweiligen Anordnung nach § 32 BVerfGG die teilweise Außerkraftsetzung des Bayerischen Versammlungsgesetzes zum Gegenstand hatte. Die Außerkraftsetzung von Parlamentsgesetzen ist nach der Konstruktion des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes zwar möglich, stellt aber in der Praxis eine absolute Ausnahme dar. Insofern lohnt sich ein Blick auf die Entscheidung gerade im Zusammenhang mit der Rechtsschutzgewährung im Eilrechtsschutz.
II. Alte Linien – neue Entscheidungen: Kammerrechtsprechung 1. Schutzbereich: friedliche Zusammenkunft zur Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung Nach der feststehenden Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist der Schutzbereich des Versammlungsgrundrechts dann eröffnet, wenn es sich um eine örtliche Zusammenkunft mehrerer Personen zur gemeinschaftlichen, auf die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung gerichteten Erörterung oder Kundgebung handelt.6 Dieser grundrechtliche Schutz beschränkt sich nicht nur auf solche Demonstrationen, auf welchen argumentiert und gestritten wird, sondern er umfasst vielfältige Formen versammlungsspezifischer Zusammenkunft bis hin zu nicht verbalen Ausdrucksformen.7 Hierunter fallen auch solche Zusammenkünfte, bei denen das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit zum Zwecke plakativer oder aufsehenerregender Meinungskundgabe in Anspruch genommen wird.8 Wesensmerkmal einer Versammlung ist es, dass ihre Teilnehmer nach Außen – bereits durch ihre bloße Anwesenheit, die Art ihres Auftretens wie auch durch den Umgang miteinander oder sogar durch die Wahl des Versammlungsortes – „im eigentlichen Sinne des Wortes Stellung
5
BVerfGE 122, 342. Vgl. BVerfGE 104, 92 (104); BVerfK 11, 102 (108); BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 10. Dezember 2010 – 1 BvR 1402/06 –, juris Rn. 19. 7 BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 10. Dezember 2010 – 1 BvR 1402/06 –, juris Rn. 19. 8 S. dazu BVerfGE 69, 315 (342 f.); 87, 399 (406) sowie BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 10. Dezember 2010 – 1 BvR 1402/06 –, juris Rn. 19. 6
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nehmen und ihren Standpunkt bezeugen“.9 Ihren grundrechtlichen Schutz verliert eine Versammlung dann, wenn sie unfriedlich ist. Hierfür genügt nicht die Unfriedlichkeit einzelner Versammlungsteilnehmer, sondern die Versammlung muss im Ganzen einen unfriedlichen Verlauf nehmen oder der Veranstalter und sein Anhang müssen einen solchen Verlauf anstreben oder zumindest billigend in Kauf nehmen.10 Diese ständige Linie der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung zum Versammlungsrecht hat die zuständige Kammer des Ersten Senats in einem Kammerbeschluss aus dem Jahre 2010 noch einmal ausdrücklich bestätigt und kam auf diesem Weg zu dem zutreffenden Ergebnis, dass eine Versammlung auch dann vorliegt, wenn sich eine Gruppe einer bereits stattfindenden Versammlung non-verbal – als so genannter Schweigemarsch – gegenüberstellt und die Teilnehmer durch ihre bloße Anwesenheit („Gesichtzeigen“) nebst nach Außen klar getragener Gesinnung ihre Meinung kundgeben.11 In einer anderen Kammerentscheidung – der guten Ordnung halber sei dies mitgeteilt –, zumal in einem verfassungsgerichtlichen Eilverfahren, konnte die Frage offen gelassen werden, ob beziehungsweise unter welchen Bedingungen und in welchem Umfang die Entscheidung über ein Vereinsverbot die Versammlungsfreiheit von vormaligen verantwortlichen Personen des nunmehr verbotenen Vereins einschränken kann.12 2. Sitzblockaden Ein Dauerbrenner der straf- und verfassungsrechtlichen Judikatur ist die Beurteilung von Sitzblockaden.13 In einer Kammerentscheidung aus dem Jahre 2011 stand unter anderem die so genannte „Zweite-Reihe-Rechtsprechung“14 des Bundesgerichtshofes auf dem Prüfstand wie auch die Frage, welchen Einfluss das Versammlungsgrundrecht auf die Beurteilung von Sitzblockaden hat.15 9 BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 10. Dezember 2010 – 1 BvR 1402/06 –, juris Rn. 19; vgl. auch BVerfGE 69, 315 (345). Zu Sitzblockaden vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 7. März 2011 – 1 BvR 388/05 –, juris Rn. 32. 10 BVerfGE 69, 315 (361); BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 10. Dezember 2010 – 1 BvR 1402/06 –, juris Rn. 20. Vgl. auch BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 7. März 2011 – 1 BvR 388/05 –, juris Rn. 33. 11 BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 10. Dezember 2010 – 1 BvR 1402/06 –, juris Rn. 21 ff. 12 Vgl. hierzu BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 31. August 2012 – 1 BvR 1840/12 –, juris Rn. 6. 13 Hierzu bereits ausführlich: M. Hong, a.a.O. (Fn. 1), S. 157 (176 ff.) mit zahlreichen Nachweisen zur bislang ergangenen Rechtsprechung, insbesondere des Bundesverfassungsgerichts. 14 Vgl. hierzu insb. BGHSt 41, 182 (187); 41, 231 (241). 15 BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 7. März 2011 – 1 BvR 388/05 –, juris.
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Nach dieser Kammerentscheidung sind die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes und die Anwendung derselben durch die im konkreten Fall angegriffenen Gerichtsentscheidungen mit Blick auf das Analogieverbot des Art. 103 Abs. 2 GG verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.16 Handelt es sich bei den Blockadeaktionen um Versammlungen, so ist die Bedeutung des Versammlungsgrundrechts bei einem strafgerichtlichen Verfahren wegen Nötigung beziehungsweise wegen des Widerstandes gegen Vollstreckungsbeamte zu berücksichtigen. Das Strafrecht darf nicht dazu führen, dass eine grundrechtlich geschützte Verhaltensweise übermäßig sanktioniert wird, ohne dass eine entsprechende Abwägung der widerstreitenden Rechtspositionen und Rechtsgüter stattgefunden hat. Um diesen Ausgleich zu gewährleisten, hat das Bundesverfassungsgericht bereits früher in einer Senatsentscheidung für die Anwendung und Auslegung der Verwerflichkeitsklausel des § 240 Abs. 2 StGB besondere Anforderungen aufgestellt.17 Notwendig ist eine Orientierung der Zweck-Mittel-Relation am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.18 3. Zur Rechtsschutzgewährung im Eilrechtsschutz a) Praktische Bedeutung des versammlungsrechtlichen Eilrechtsschutzes Die Kammerrechtsprechung des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts zur Versammlungsfreiheit entsteht zu einem nicht geringen Anteil aus den versammlungsrechtlichen Eilverfahren. Ziel dieser versammlungsrechtlichen Eilverfahren ist es, seitens der Antragsteller beziehungsweise Beschwerdeführer die aufschiebende Wirkung eines zuvor eingelegten Widerspruchs oder einer Anfechtungsklage wiederherzustellen, insoweit unterscheidet sich der Eilrechtsschutz durch das Bundesverfassungsgericht im Wege des § 32 BVerfGG in seiner Zielrichtung nicht wesentlich von dem durch die Verwaltungsgerichte im Verfahren des § 80 Abs. 5 VwGO zu gewährenden vorläufigen Rechtsschutz. Als Ausdruck der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde muss der Beschwerdeführer zunächst vor den Fachgerichten um Eilrechtsschutz nachgesucht haben. Erst bei Erfolglosigkeit desselben steht der Weg zum Bundesverfassungsgericht offen.
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BVerfG, a.a.O., Rn. 18 ff. Vgl. BVerfGE 104, 92 (109 ff.), hieran anschließend nunmehr BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 7. März 2011 – 1 BvR 388/05 –, juris Rn. 39. 18 Näher hierzu die Nachweise in Fn. 15. 17
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b) Vorgaben des Verfassungsrechts für den fachgerichtlichen Eilrechtsschutz Auch hinsichtlich der fachgerichtlichen Prüfung von versammlungsrechtlichen Eilverfahren sind spezifische verfassungsrechtliche Vorgaben seitens der Fachgerichte zu beachten, wie das Bundesverfassungsgericht in einer Kammerentscheidung aus dem Jahre 2012 unmissverständlich klar gestellt hat.19 Dogmatische Grundlage für die dort entwickelten Vorgaben ist eine Zusammenschau von Art. 8 Abs. 1 GG und Art. 19 Abs. 4 GG. In einem Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes ist der Rechtsschutzanspruch des einzelnen Bürgers umso stärker, je schwerwiegender die ihm von der Verwaltung auferlegte Belastung ist und je mehr die angegriffenen Maßnahmen Unabänderliches bewirken.20 Diese Vorgaben bekommen im Zusammenhang mit versammlungsrechtlichen Maßnahmen besondere Bedeutung, da im Bereich des Versammlungsrechts das verwaltungsgerichtliche Eilverfahren – aufgrund der Zeitgebundenheit von Versammlungen – in vielen Fällen die Rolle des Hauptsacheverfahrens einnimmt und in gewisser Weise endgültig darüber entscheidet, ob die Versammlung an einem bestimmten Tag stattfinden kann und so das verfassungsrechtlich geschützte Selbstbestimmungsrecht der Versammlungsteilnehmer über Ort, Zeit und Modalitäten der beabsichtigten Versammlung gewahrt bleibt und effektiv durchgesetzt werden kann.21 Eilrechtsschutz ist primär durch die Fachgerichtsbarkeit – in Versammlungssachen namentlich die Verwaltungsgerichtsbarkeit – zu erlangen. Die einstweilige Anordnung im Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht als außerhalb der Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG liegender Rechtsbehelf kann nicht stellvertretend für die Fachgerichte deren Funktion einnehmen; das ist nicht die Aufgabe einer Verfassungsgerichtsbarkeit.22 Aus diesem Grunde müssen die Verwaltungsgerichte zum Schutz einer Versammlung, die auf einen einmaligen Anlass bezogen ist, bereits im Eilverfahren durch eine intensivere Prüfung dem Umstand Rechnung tragen, dass der Sofortvollzug der im Streit stehenden behördlichen Maßnahme in aller Regel zu einer endgültigen Verhinderung der Versammlung in der durch die Versammlungsleitung sowie die Versammlungsteilnehmer beabsichtigen Form führt.23
19 BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 20. Dezember 2012 – 1 BvR 2794/10 –, juris. 20 Vgl. BVerfGE 35, 382 (401 f.); nunmehr auch BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 20. Dezember 2012 – 1 BvR 2794/10 –, juris Rn. 18. 21 Vgl. hierzu BVerfGE 69, 315 (363); darauf Bezug nehmend: BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 20. Dezember 2012 – 1 BvR 2794/10 –, juris Rn. 18. 22 BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 20. Dezember 2012 – 1 BvR 2794/10 –, juris Rn. 18 mit dem Hinweis auf den sehr strengen Prüfungsmaßstab für den Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 32 Abs. 1 BVerfGG. 23 BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 20. Dezember 2012 – 1 BvR 2794/10 –, juris Rn. 18.
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Daraus folgt, dass die Verwaltungsgerichte – sofern dies in dem konkret zur Beurteilung stehenden Sachverhalt möglich ist – als Grundlage der verwaltungsprozessual gebotenen Interessenabwägung die behördliche Maßnahme in rechtlicher sowie tatsächlicher Hinsicht nicht nur einer lediglich summarischen Prüfung unterziehen dürfen.24 Ist den Verwaltungsgerichten diese vollumfängliche Prüfung nicht möglich, so haben sie jedenfalls eine sorgfältige Folgenabwägung vorzunehmen und ihre diesbezüglichen Erwägungen hinreichend substantiiert zu begründen, um dem hohen Schutzgehalt der Versammlungsfreiheit – gerade auch im Hinblick auf die Garantie eines wirksamen Rechtsschutzes im verwaltungsgerichtlichen Eilverfahren – ausreichend Genüge zu tun.25 c) Der Eilrechtsschutz durch das Bundesverfassungsgericht aa) Wesensmerkmal: Folgenabwägung und fehlende Akzessorietät der Hauptsache Wesensmerkmal im Verfahren über den Erlass einer einstweiligen Anordnung ist, dass für die Beurteilung des Eilbegehrens die Erfolgsaussichten der eingelegten oder einer hypothetischen Verfassungsbeschwerde regelmäßig außer Betracht bleiben, das Bundesverfassungsgericht nimmt lediglich eine Folgenabwägung vor.26 Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung bleibt jedoch jedenfalls dann ohne Erfolg, wenn eine Verfassungsbeschwerde unzulässig oder offensichtlich unbegründet wäre.27 Der Maßstab für die Folgenabwägung des Bundesverfassungsgerichts bleibt im Grundsatz entkoppelt von den Erfolgsaussichten einer etwaigen Verfassungsbeschwerde. Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung im Sinne des § 32 BVerfGG hat dann Aussicht auf Erfolg, wenn die Folgenabwägung für den Antragsteller streitet.28 Zu beachten ist, dass die Folgenabwägung in einem Sonderfall die Erfolgsaussichten einer Verfassungsbeschwerde beziehungsweise einer hypothetischen Verfassungsbeschwerde in den Blick nehmen muss. Ist eine solche Verfassungsbeschwerde in der Hauptsache nämlich zulässig und offensichtlich begründet, so entspricht es einer effektiven Rechtsschutzgewährung, wenn 24 BVerfGE 69, 315 (363 f.); 110, 77 (87); BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 20. Dezember 2012 – 1 BvR 2794/10 –, juris Rn. 18. 25 BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 20. Dezember 2012 – 1 BvR 2794/10 –, juris Rn. 18. 26 Vgl. BVerfGE 71, 158 (161); 111, 147 (152 f.); 117, 126 (135); aus jüngerer Zeit s. nur BVerfGE 122, 342 (361) sowie BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 10. August 2009 – 1 BvQ 34/09 –, juris Rn. 3. 27 S. die Nachweise in Fn. 4. 28 Zum strengen Maßstab bei der Außerkraftsetzung eines Parlamentsgesetzes s. nur BVerfGE 122, 342 (361 f.).
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die Folgenabwägung zu Gunsten des Beschwerdeführers ausfällt.29 Ergibt die Prüfung im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes, dass eine Verfassungsbeschwerde offensichtlich begründet wäre, wäre die Nichtgewährung einer einstweiligen Anordnung ein schwerer Nachteil im Sinne des § 32 Abs. 1 BVerfGG.30 Diese intendierte Folgenabwägung führte jüngst zu dem Erlass einer einstweiligen Anordnung.31 bb) Zur Überprüfbarkeit einer Gefahrenprognose im Eilrechtsschutz Es entspricht ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, dass – sofern die behördliche Verfügung auf eine unmittelbare Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung im Sinne des § 15 VersG gestützt wurde – die von der Behörde oder den befassten Gerichten angestellte Gefahrenprognose tatsächliche Anhaltspunkte erfordert, die bei verständiger Würdigung eine hinreichende Wahrscheinlichkeit des Gefahreneintritts ergeben, wohingegen bloße Verdachtsmomente und Vermutungen gerade nicht ausreichen.32 Diese Maßstäbe sind nicht speziell auf die Prüfung im verfassungsgerichtlichen Eilverfahren bezogen, sondern gelten allgemein für die Verfassungsmäßigkeitsprüfung einer versammlungsspezifischen Gefahrenprognose. Im Rahmen der eilrechtsschutzspezifischen Folgenabwägung kommt es demnach darauf an, ob die für die Beurteilung der Gefahrenlage herangezogenen Tatsachen unter Berücksichtigung des Schutzgehalts des Art. 8 GG in nachvollziehbarer Weise auf eine unmittelbare Gefahr hindeuten.33 Bedeutsam für die Folgenabwägung wie auch für die Prüfung der Erfolgsaussichten kann zudem werden, ob die Einschätzung der Erforderlichkeit einer Maßnahme durch das sach- und ortsnahe erstinstanzliche Gericht durch das Rechtsmittelgericht bestätigt worden ist oder ob bereits die mangelnde Übereinstimmung zwischen den Gerichten bei der Gefahrenbeurteilung auf be-
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Vgl. BVerfGE 111, 147 (153). Grundlegend: BVerfGE 111, 147 (153); aus jüngerer Zeit vgl. nur BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 4. September 2010 – 1 BvR 2298/10 –, juris Rn. 4. 31 BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 8. November 2013 – 1 BvQ 52/13 –, juris. Dazu sogleich. 32 Vgl. hierzu BVerfGE 69, 315 (353 f.); 87, 399 (409); aus der Kammerrechtsprechung: BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 7. November 2008 – 1 BvQ 43/08 –, juris Rn. 16; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 10. August 2009 – 1 BvQ 34/09 –, juris Rn. 9; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 12. Mai 2010 – 1 BvR 2636/04 –, juris Rn. 17; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 4. September 2010 – 1 BvR 2298/10 –, juris Rn. 6. 33 BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 26. Januar 2001 – 1 BvQ 8/01 –, NJW 2001, S. 1407 (1408 f.); BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 7. November 2008 – 1 BvQ 43/08 –, juris Rn. 16; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 10. August 2009 – 1 BvQ 34/09 –, juris Rn. 9. 30
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sondere Unsicherheiten der Prognose hinweist.34 Gibt es neben Anhaltspunkten für die von der Versammlungsbehörde oder den Fachgerichten zu Grunde gelegten Gefahrenprognosen auch Gegenindizien, so sind die Behörde wie auch die Gerichte dazu verpflichtet, sich – zur Wahrung eines angemessenen Grundrechtsschutzes – auch mit diesen Indizien auseinanderzusetzen.35 Im Grundsatz liegt – auch das ist bei der Beurteilung im Eilrechtsschutz zu berücksichtigen – die Darlegungs- und Beweislast für Verbots- und Auflagengründe bei der anordnenden Versammlungsbehörde.36 Das Bundesverfassungsgericht nimmt im Eilrechtsschutzverfahren lediglich eine vorläufige Prüfung vor, die in aller Regel die Tatsachenfeststellungen und Tatsachenwürdigungen in den angegriffenen Entscheidungen zugrunde legt. Etwas anderes gilt dann, wenn die Tatsachenfeststellungen der Fachgerichte offensichtlich fehlerhaft sind oder die Tatsachenwürdigung unter Berücksichtigung der betroffenen Grundrechtsnormen offensichtlich nicht trägt.37 Einstweiliger Rechtsschutz ist insbesondere zu gewähren, wenn die Behörde oder die Gerichte ihre Gefahrenprognose auf Umstände gestützt haben, deren Berücksichtigung dem Schutzgehalt des Art. 8 GG offensichtlich widerspricht.38 4. „Gedenktagsrechtsprechung“? In einer Eilentscheidung vom 27. Januar 2012 hatte die zuständige Kammer an eine vorherige Kammerentscheidung 39 – ebenfalls im Eilverfahren ergangen – angeknüpft.40 Gegenstand war die Frage, ob das Schutzgut der 34
S. dazu BVerfGK 8, 195 (199). BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 18. August 2000 – 1 BvQ 23/00 –, NJW 2000, S. 3053 (3055); BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 11. April 2002 – 1 BvQ 12/02 –, NVwZ-RR 2002, S. 500 (500); BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 7. November 2008 – 1 BvQ 43/08 –, juris Rn. 17; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 10. August 2009 – 1 BvQ 34/09 –, juris Rn. 9. 36 BVerfG, Beschluss der 1. Kammer der Ersten Senats vom 14. Juli 2000 – 1 BvR 1245/00 –, NJW 2000, S. 3051 (3053); BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 10. August 2009 – 1 BvQ 34/09 –, juris Rn. 13; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 12. Mai 2010 – 1 BvR 2636/04 –, juris Rn. 19. 37 Vgl. BVerfGE 110, 77 (87 f.); 111, 147 (153); BVerfGK 3, 97 (99). 38 BVerfG, Beschlüsse der 1. Kammer des Ersten Senats vom 18. August 2000 – 1 BvQ 23/00 –, NJW 2000, S. 3053 (3054); vom 1. September 2000 – 1 BvQ 24/00 –, NVwZ 2000, S. 1406 (1407); vom 6. Juni 2007 – 1 BvR 1423/07 –, NJW 2007, S. 2167 (2168); vgl. auch BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 12. Mai 2010 – 1 BvR 2636/04 –, juris Rn. 20. 39 BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 26. Januar 2001 – 1 BvQ 9/01 –, NJW 2001, S. 1409. 40 BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 27. Januar 2012 – 1 BvQ 4/12 –, NVwZ 2012, S. 749. 35
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öffentlichen Ordnung dazu geeignet sein kann, eine Versammlung zu verschieben beziehungsweise zunächst ein Verbot anzuordnen, wenn einem bestimmten Tag ein in der Gesellschaft eindeutiger Sinngehalt mit gewichtiger Symbolkraft zukommt, der bei der Durchführung eines Aufzugs an diesem Tag in einer Weise angegriffen wird, dass dadurch zugleich grundlegende soziale oder ethische Anschauungen in erheblicher Weise verletzt werden. Die Kammer hat jedoch festgehalten, dass diese frühere Entscheidung jedoch als eine auf eine konkrete Situation bezogene Einzelfallentscheidung ergangen sei und keinesfalls den pauschalen, jeglicher weiteren Begründung enthobenen Rückschluss erlaube, dass an Gedenktagen Versammlungen bereits dann nicht durchgeführt werden dürfen, wenn diese in irgendeinem Sinne als dem Gedenken entgegenlaufend zu beurteilen sind. Vielmehr sei nach der Überzeugung der Kammer die Feststellung erforderlich, dass von der konkreten Art und Weise der Durchführung der Versammlung Provokationen ausgehen, die das sittliche Empfinden der Bürgerinnen und Bürger erheblich beeinträchtigen.41 Die hierfür zu erbringende Begründungslast seitens der Verwaltung wie auch der Verwaltungsgerichte ist sehr hoch.42 Zu Recht: Eine Einschränkung von Versammlungen – und vor allem ihr Verbot – unter Rekurs auf die Öffentliche Ordnung ist nur in absoluten Ausnahmefällen zuzulassen. Eine grundsätzliche Klärung dieser Fragen – lies: durch eine entsprechende Senatsentscheidung – steht aber noch aus.43 5. Gegendemonstrationen Regelmäßig stellt sich in der fachgerichtlichen wie auch der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung die Frage, wie Gegendemonstrationen rechtlich zu beurteilen sind. Im Wesentlichen gelten hierbei – auch nach der neueren Kammerrechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts – die folgenden Maßgaben: Wenn sich der Veranstalter und die Versammlung als solche friedlich verhalten, demnach den Schutz des Art. 8 Abs. 1 GG genießen, und Störungen der öffentlichen Sicherheit und der öffentlichen Ordnung nur seitens der Gegendemonstration zu befürchten sind, so müssen sich versammlungsrechtliche Maßnahmen allem voran gegen die Gegendemonstration richten.44 Es ist die Aufgabe der zur Bewahrung der rechtsstaatlichen Ord41 BVerfGK 7, 221 (226 ff.); BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 7. November 2008 – 1 BvQ 43/08 –, juris Rn. 18; s. auch BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 26. Januar 2001 – 1 BvQ 9/01 –, NJW 2001, S. 1409 (1410). 42 Vgl. hierzu BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 8. November 2013 – 1 BvQ 52/13 –, juris. 43 Vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 27. Januar 2012 – 1 BvQ 4/12 –, NVwZ 2012, S. 749 (749). 44 BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 12. Mai 2010 – 1 BvR 2636/04 –, juris Rn. 18.
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nung berufenen und dem Gewaltmonopol verpflichteten Polizei beziehungsweise der entsprechenden Ordnungsämter, in unparteiischer sowie unvoreingenommener Weise auf die Verwirklichung wie auch Durchsetzung der Versammlungsfreiheit der erstangemeldeten Versammlung hinzuwirken.45 Gegen eine friedliche Versammlung, die lediglich den Anlass für Gegendemonstrationen bildet, darf nur unter den Voraussetzungen des polizeilichen Notstandes eingegriffen werden.46
III. Alte Probleme – neue Linien: Senatsentscheidungen 1. BVerfGE 124, 300: Wunsiedel Sicherlich eine der wichtigsten Entscheidungen, die das Bundesverfassungsgericht in den letzten Jahren im Bereich der Kommunikationsfreiheiten getroffen hat, ist die so genannte „Wunsiedel“-Entscheidung.47 Gegenstand war das Verbot einer jährlich wiederkehrend angemeldeten Veranstaltung 48 unter freiem Himmel mit dem Thema „Gedenken an Rudolf Hess“ in der Stadt Wunsiedel, dem Begräbnisort von Hess.49 Gestützt wurde das Verbot der Versammlung darauf, dass bei ihrer Durchführung mit der erforderlichen hohen Wahrscheinlichkeit 50 mit einer Verwirklichung des Volksverhetzungstatbestandes in der Variante des § 130 Abs. 4 StGB51 zu rechnen sei. Grund für das Verbot der Versammlung war damit der Inhalt der Meinung, die mit der Versammlung kundgegeben werden sollte. Wie fast immer, wenn Versammlungen wegen eines bestimmten Meinungsinhalts verboten, aufgelöst oder mit Auflagen belastet werden, stellte sich dem Bundesverfassungsgericht so die Problematik der Konkurrenz von Meinungs- und Ver45
BVerfG, a.a.O., Rn. 18. BVerfGE 69, 315 (360 f.); BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 1. September 2000 – 1 BvQ 24/00 –, NVwZ 2000, S. 1406 (1407); BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 12. Mai 2010 – 1 BvR 2636/04 –, juris Rn. 19. 47 S. dazu auch M. Hong, Das Sonderrechtsverbot als Verbot der Standpunktdiskriminierung – der Wunsiedel-Beschluss und aktuelle versammlungsgesetzliche Regelungen und Vorhaben, DVBl 2010, S. 1267 ff. 48 Dem Gedenken an Rudolf Hess gewidmete Versammlungen in Wunsiedel hatten das Bundesverfassungsgericht geradezu regelmäßig in Eilverfahren beschäftigt, vgl. nur BVerfGK 1, 320, 6, 101; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 14. August 2006 – 1 BvQ 25/06 –, BayVBl 2006, 760 f.; Beschluss vom 13. August 2007 – 1 BvR 2075/07 –, NVwZ-RR 2008, 73 f.; Beschluss vom 10. August 2009 – 1 BvQ 34/09 –, juris. 49 Zur Person von Hess, vgl. BVerfGE 124, 300 (316, 346 f.). 50 Vergleiche hierzu BVerfGE 90, 241 (251). 51 § 130 Abs. 4 StGB lautet: „Mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer öffentlich oder in einer Versammlung den öffentlichen Frieden in einer die Würde der Opfer verletzenden Weise dadurch stört, dass er die nationalsozialistische Gewalt- und Willkürherrschaft billigt, verherrlicht oder rechtfertigt.“ 46
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sammlungsfreiheit.52 Der Beschluss bekräftigt die Dogmatik zum Verhältnis von Art. 5 und Art. 8 aus den Beschlüssen zur Holocaustleugnung53 und zur NPD-Kundgebung in Bochum54; er hält daran fest, dass der Inhalt einer Meinungsäußerung, der im Rahmen des Art. 5 GG nicht verboten werden darf, nicht zur Rechtfertigung von Maßnahmen herangezogen werden kann, die das Grundrecht aus Art. 8 GG beschränken. Die Reichweite der Versammlungsfreiheit soll sich insoweit nach dem Umfang des von Art. 5 Abs. 1 und 2 GG gewährten Schutzes richten.55 Dementsprechend prüfte das Bundesverfassungsgericht anschließend vorrangig, inwieweit § 130 Abs. 4 StGB mit Art. 5 Abs. 1 und 2 GG vereinbar ist. Dies schmälert die Bedeutung der Entscheidung für das Versammlungsrecht aber nicht. Denn auch abgesehen vom entschiedenen Einzelfall des Gedenkens an Hess stellt sich die Problematik des Verbots einer Meinung wegen ihres Inhalts gerade im Zusammenhang mit Versammlungen immer wieder besonders virulent. Zum anderen muss der Beschluss auch im Kontext der Kontroverse zwischen Bundesverfassungsgericht und Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen zum Umgang mit rechtsextremistischen Versammlungen gesehen werden.56 Von grundsätzlicher Bedeutung für die Dogmatik der Meinungsfreiheit ist die Wunsiedel-Entscheidung in zweierlei Hinsicht: Zum einen leistet sie einen wesentlichen Beitrag zur Klärung der Schranke der „allgemeinen Gesetze“ in Art. 5 Abs. 2 (a) und zum anderen benennt sie Maßstäbe und legt hohe Anforderungen fest, die zu beachten sind, soll das Verbot einer Meinung verhältnismäßig sein (b). a) Das Sonderrechtsverbot des Art. 5 Abs. 2 GG und seine Ausnahme aa) Der Sieg der Sonderrechtstheorie Die Frage, wann ein Gesetz im Sinne des Art. 5 Abs. 2 GG „allgemein“ ist, hatte im Hinblick auf die identische Formulierung in Art. 118 WRV 57 bereits die Staatsrechtslehre der Weimarer Zeit beschäftigt.58 Bereits damals standen sich als Grundpositionen die Sonderrechtstheorie und die Abwägungslehre gegenüber.59 Beide Positionen griff das Bundesverfassungsgericht in der 52 Vergleiche zu den verschiedenen Konstellationen M. Hong, a.a.O. (Fn. 1), S. 155 ff. (188 ff.). 53 BVerfGE 90, 241 (146). 54 BVerfGE 111, 147 (154 f.). 55 BVerfGE 124, 300 (319). 56 Vgl. hierzu M. Hong, a.a.O. (Fn. 1), S. 155 (193 f. m.N.). 57 Anders als Art. 5 Abs. 2 GG hatte Art. 118 WRV freilich den Jugendschutz und das Recht der persönlichen Ehre nicht ausdrücklich erwähnt. 58 Vgl. hierzu im Überblick Herzog, in Maunz/Dürig, GG, Art. 5 Abs. 1, 2, Rn. 250 ff. (Nov. 1982). 59 S. zur Problematik und den unterschiedlichen Ansätzen bereits BVerfGE 7, 198 (209 ff.), s. auch H. Bethge, in: Sachs, GG, 6. Auflage 2011, Art. 5 Rn. 142 ff.
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Lüth-Entscheidung auf, indem es ausführte, dass es sich um ein allgemeines Gesetz im Sinne des Art. 5 Abs. 2 GG dann handele, wenn diese Gesetze nicht eine Meinung als solche verbieten, sich also nicht gegen die Äußerung einer solchen Meinung zielgerichtet wenden, sondern die vielmehr dem Schutz eines schlechthin, ohne Rücksicht auf eine bestimmte Meinung, zu schützenden Rechtsguts dienen.60 Dies ist der Hintergrund, vor dem die Ausführungen zum Begriff des allgemeinen Gesetzes in der Wunsiedel-Entscheidung zu verstehen sind. Dort nimmt das Bundesverfassungsgericht zwar zunächst auf die durch die Lüth-Entscheidung begründete ständige Rechtsprechung Bezug,61 führt dann aber weiter aus, Ausgangspunkt für die Prüfung, ob ein Gesetz ein allgemeines sei, sei zunächst die Frage, ob eine Norm an Meinungsinhalte anknüpfe. Keine Zweifel an der Allgemeinheit bestehen danach, wenn eine Norm Verhalten völlig unabhängig vom Inhalt einer Meinungsäußerung erfasst. Im Übrigen kommt es auf die Meinungsneutralität der Norm an, also inwieweit die Norm in Neutralität zu den verschiedenen politischen Strömungen und Weltanschauungen steht.62 Das Gericht betont, dass die Allgemeinheit des Gesetzes für Eingriffe in die Meinungsfreiheit ein spezifisches und striktes Diskriminierungsverbot gegenüber bestimmten Meinungen verbürgt und dass Gesetze, die an den Inhalt von Meinungsäußerungen anknüpfen und durch solche verursachte Rechtsgutsverletzungen unterbinden oder sanktionieren, nur unter strenger Neutralität und Gleichbehandlung zulässig seien.63 Dient eine Norm, die an den Inhalt einer Meinungsäußerung anknüpft, dem Schutz eines sonst in der Rechtsordnung geschützten Rechtsguts, wird vermutet, dass das Gesetz nicht gegen eine bestimmte Meinung gerichtet ist, sondern meinungsneutral ist und damit allgemein auf die Abwehr von Rechtsgutsverletzungen zielt.64 Allerdings handelt es sich dabei lediglich um ein Indiz für die Wahrung rechtsstaatlicher Distanz und die Einhaltung des Gebots der Meinungsneutralität. An der Allgemeinheit des Gesetzes fehlt es jedenfalls dann, wenn sich eine inhaltsbezogene Meinungsbeschränkung von vornherein nur gegen bestimmte Überzeugungen, Haltungen und Ideologien richtet. Entscheidende Frage ist, ob sich die Meinungsäußerung, die pönalisiert oder verboten werden soll, grundsätzlich aus verschiedenen politischen, religiösen oder weltanschaulichen Grundpositionen ergeben kann.65 In einer Gesamtsicht ist dabei insbesondere darauf abzustellen, in welchem Maß eine Norm sich auf abstrakt-inhaltsbezogene, für verschiedene Haltungen offene
60 61 62 63 64 65
BVerfGE 7, 198 (209 f.), die so genannte Kombinationsformel. BVerfGE 124, 300 (322). BVerfGE 124, 300 (323). BVerfGE 124, 300 (324). BVerfGE 124, 300 (322). BVerfGE 124, 300 (323 f.).
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Kriterien beschränkt oder konkret-standpunktbezogene, insbesondere ideologiebezogene Unterscheidungen zu Grunde gelegt werden. So kann insbesondere ein Indiz für Sonderrecht sein, wenn eine Norm anknüpfend an inhaltliche Positionen einzelner Gruppierungen so formuliert ist, dass sie im Wesentlichen nur diesen gegenüber zur Anwendung kommen kann.66 Je mehr eine Norm so angelegt ist, dass sie absehbar allein an eine bestimmte politische, religiöse oder weltanschauliche Auffassung anknüpft und damit auf den öffentlichen Meinungskampf einwirkt, desto mehr spricht dafür, dass die Schwelle zum Sonderrecht überschritten ist.67 Das Bundesverfassungsgericht hat damit zwar die Kombinationsformel, wie sie seit der Lüth-Entscheidung ständige Rechtsprechung war, nicht ausdrücklich verworfen. Es hat aber klargestellt, dass es im Wesentlichen der Sonderrechtstheorie folgt. Zentralbegriff und entscheidendes Kriterium für die Frage, ob eine meinungsbeschränkende Norm vor der als Sonderrechtsverbot verstandenen Anforderung der Allgemeinheit im Sinne des Art. 5 Abs. 2 GG bestehen kann, ist damit die Meinungsneutralität. Dabei hat das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich klargestellt, dass das Sonderrechtsverbot und damit das Erfordernis der Meinungsneutralität auch für die in Art. 5 Abs. 2 GG angesprochenen gesetzlichen Bestimmungen zum Schutz der Jugend und der persönlichen Ehre gelten.68 Bei der Anwendung dieser Grundsätze auf den konkreten Fall des § 130 Abs. 4 StGB kam das Bundesverfassungsgericht zu dem Ergebnis, dass die Norm kein allgemeines Gesetz im Sinne des Art. 5 Abs. 2 GG ist, weil sie zwar mit dem öffentlichen Frieden dem Schutz eines sonst in der Rechtsordnung geschützten Rechtsguts dient, dieser Schutz jedoch allein im Hinblick auf Meinungsäußerungen, die eine bestimmte Haltung zum Nationalsozialismus zum Ausdruck bringen, ausgestaltet und damit nicht meinungsneutral im oben dargestellten Sinne ist. Denn der Vorschrift fehlt es an der erforderlichen strikten „Blindheit“ 69 gegenüber den verschiedenen im Meinungskampf vertretenden Grundpositionen, weil sie bereits im Tatbestand auf konkrete standpunktbezogene Kriterien abstellt.70
66 67 68 69 70
BVerfGE 124, 300 (324 f.). BVerfGE 124, 300 (325). BVerfGE 124, 300 (326 f.). BVerfGE 124, 300 (324). BVerfGE 124, 300 (325 f.).
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bb) Eine Ausnahme für „die propagandistische Gutheißung des nationalsozialistischen Regimes in den Jahren zwischen 1933 und 1945“ Auf der Grundlage eines Verständnisses, das Art. 5 Abs. 2 GG als Sonderrechtsverbot interpretiert, und einer Subsumption, die § 130 Abs. 4 StGB als nicht-meinungsneutrales Sonderrecht deutet, hätte es nahe gelegen, die angegriffene Variante des Volksverhetzungsverbots verfassungswidrig zu erklären. Dogmatisch hätte es so mit einer klaren und systematisch wie teleologisch überzeugenden Interpretation von Art. 5 Abs. 2 GG sein Bewenden gehabt. Indes hat die Wunsiedel-Entscheidung einen anderen Weg beschritten und § 130 Abs. 4 StGB für verfassungsmäßig erachtet, obwohl es sich um Sonderrecht handelt, das den im Rahmen von Art. 5 Abs. 2 GG zu beachtenden Anforderungen an die Allgemeinheit des Gesetzes nicht genügt. Zur Begründung dieses Ergebnisses hat der Erste Senat den unsicheren Pfad der Annahme – um nicht zu sagen der Erfindung – einer ungeschriebenen, verfassungsimmanenten Ausnahme vom Verbot des Sonderrechts für meinungsbezogene Gesetze 71 beschritten. Anders als es der Ansatz des Oberverwaltungsgerichts Nordrhein-Westfalen ist, versucht das Bundesverfassungsgericht diese Ausnahme allerdings nicht aus einer Gesamtschau verschiedener, disparat über das ganze Grundgesetz verteilter und nicht im Zusammenhang mit der Meinungsfreiheit stehender Einzelbestimmungen des Grundgesetzes herzuleiten. Es verfolgt vielmehr einen historischen und politischen Begründungsansatz, mit dem es eine Ausnahme vom Erfordernis der Allgemeinheit meinungsbeschränkender Gesetze für solche Vorschriften rechtfertigt, „die auf die Verhinderung einer propagandistischen Affirmation der nationalsozialistischen Gewalt- und Willkürherrschaft zwischen den Jahren 1933 und 1945 zielen.“72 Es stellt dabei maßgeblich auf ein historisch geprägtes Verständnis des Grundgesetzes als „Gegenentwurf zu dem Totalitarismus des nationalsozialistischen Regimes“ und den historischen Willen der Verfassungsväter und der Alliierten ab, eine Wiederholung des nationalsozialistischen Unrechts ein für alle Mal auszuschließen.73 Zudem liegt der Entscheidung die These zu Grunde, die propagandistische Gutheißung der historischen nationalsozialistischen Gewalt- und Willkürherrschaft entfalte Wirkungen, die über die allgemeinen Spannungslagen des öffentlichen Meinungskampfes weit hinausgingen und deshalb auf der Grundlage der allgemeinen Regeln zu den Grenzen der Meinungsfreiheit nicht erfasst werden könnten, weil der Befürwortung dieser Herrschaft einerseits friedensbe-
71 72 73
BVerfGE 124, 300 (328). BVerfGE 124, 300 (328). BVerfGE 124, 300 (328).
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drohendes Potential nach innen zukomme und andererseits im Ausland tiefgreifende Beunruhigung auszulösen geeignet sei.74 Ersichtliches Anliegen des Bundesverfassungsgerichts ist es dabei aber, die Reichweite dieser Ausnahme möglichst eng zu begrenzen. Zum einen hebt es hervor, dass die in „einer geschichtlich begründeten Sonderkonstellation“75 wurzelnde Ausnahme in inhaltlicher Hinsicht nur Meinungsäußerungen umfassen kann, „die eine positive Bewertung des nationalsozialistischen Regimes in der geschichtlichen Realität zum Gegenstand haben“.76 Das Grundgesetz enthalte – anders als vom Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen angenommen – gerade kein allgemeines antinationalsozialistisches Grundprinzip, das ein Verbot der Verbreitung rechtsradikalen oder nationalsozialistischen Gedankengutes schon in Bezug auf die geistige Wirkung seines Inhalts erlaubte.77 Zum anderen betont das Gericht, dass es nicht um staatlichen Zugriff auf die Gesinnung geht, sondern Eingriffe nur dann zulässig sind, wenn die von der Ausnahme umfassten Meinungsäußerungen die rein geistige Sphäre des Für-richtig-Haltens verlassen und in Rechtsgutsverletzungen oder Gefährdungslagen umschlagen. Deshalb ist von Bestimmungen, die im Rahmen der Ausnahme vom Sonderrechtsverbot meinungsbeschränkend wirken, zu verlangen, dass sie an die spezifischen Wirkungen gerade solcher Äußerungen anknüpfen, dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz entsprechen und sich strikt an einem veräußerlichten Rechtsgüterschutz orientieren.78 b) Rechtsgüterschutz als Voraussetzung eines Meinungsverbots Nachdem das Bundesverfassungsgericht so die Hürde des Sonderrechtsverbots genommen hatte, kam es im weiteren Verlauf der Prüfung auch zum Ergebnis, dass § 130 Abs. 4 StGB verhältnismäßig ist. Wesentliches Augenmerk galt dabei der Frage nach dem legitimen Zweck, dem eine in die Meinungsfreiheit eingreifende Vorschrift dienen muss. Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist die Wechselwirkungslehre, die verlangt, dass die Zielsetzung von Eingriffen in Art. 5 Abs. 1 GG „nicht darauf gerichtet sein darf, Schutzmaßnahmen gegenüber rein geistig bleibenden Wirkungen von bestimmten Meinungsäußerungen zu treffen“, da die Absicht, Äußerungen mit schädlichem oder in ihrer gedanklichen Konsequenz gefährlichem Inhalt zu behindern, das Prinzip der Meinungsfreiheit selbst aufheben würde und daher illegitim ist.79 Dementsprechend soll die 74 75 76 77 78 79
BVerfGE 124, 300 (329). BVerfGE 124, 300 (329). BVerfGE 124, 300 (331). BVerfGE 124, 300 (330). BVerfGE 124, 300 (330 f.). BVerfGE 124, 300 (332).
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Abwehr einer Gefahr, die nur in der Abstraktion des Für-richtig-Haltens und im Austausch hierüber besteht, der freien geistigen Auseinandersetzung der verschiedenen gesellschaftlichen Strömungen anvertraut sein.80 Zulässig erachtet das Bundesverfassungsgericht hingegen meinungsbeschränkende Maßnahmen in Bezug auf den Inhalt von Äußerungen dann, wenn die Meinungen Rechtsgüter Einzelner oder Schutzgüter der Allgemeinheit erkennbar gefährden.81 Dies ist bei dem mit § 130 Abs. 4 StGB verfolgten Schutz des öffentlichen Friedens der Fall, sofern der Begriff des öffentlichen Friedens im Sinne einer Gewährleistung von Friedlichkeit verstanden wird. Nicht tragfähig wäre demgegenüber ein Verständnis des öffentlichen Friedens, das lediglich auf den Schutz vor subjektiver Beunruhigung der Bürger durch die Konfrontation mit provokanten Meinungen und Ideologien oder die Wahrung bestimmter Anschauungen zielte.82 Diesen Anforderungen wird § 130 Abs. 4 StGB nach Ansicht des Ersten Senats gerecht, weil die Strafandrohung der Vorschrift nicht lediglich an das Gutheißen von Ideen anknüpft, sondern es um die positive Bewertung eines Unrechtsregimes und seiner realen und geschichtlich einmaligen Verbrechen geht, die einerseits Widerstand oder Einschüchterung hervorruft und andererseits bei der angesprochenen Anhängerschaft solcher Auffassungen enthemmende Wirkung entfalten soll.83 Die Strafandrohung ist dabei streng auf die Gutheißung allein der historisch real gewordenen Gewalt- und Willkürherrschaft unter dem Nationalsozialismus begrenzt. Da der Tatbestand ergänzend verlangt, dass dieses Gutheißen in einer die Würde der Opfer verletzenden Weise erfolgt und zur Störung des öffentlichen Friedens führt, ist die Strafandrohung auch so hinreichend begrenzt, dass sie als verhältnismäßig im engeren Sinn gelten kann.84 c) Zwischenergebnis Insgesamt ergibt sich die Bedeutung der Wunsiedel-Entscheidung so nicht daraus, dass § 130 Abs. 4 StGB für verfassungsmäßig erklärt wurde. Für die Dogmatik der Meinungsfreiheit und damit verbunden auch die Praxis der Versammlungsfreiheit ist sie vielmehr deswegen eminent wichtig, weil das Gericht sich in ihr zur Sonderrechtstheorie bekannt hat und weil die Entscheidung die Meinungsneutralität einer Norm zum maßgeblichen Kriterium dafür gemacht hat, dass eine in die Meinungsfreiheit eingreifende Regelung als allgemeines Gesetz im Sinne des Art. 5 Abs. 2 GG gelten kann. Auch im Hinblick auf ungeschriebene Ausnahme vom Sonderrechtsverbot ergibt sich 80 81 82 83 84
BVerfGE 124, 300 (333). BVerfGE 124, 300 (333). BVerfGE 124, 300 (335). BVerfGE 124, 300 (335). BVerfGE 124, 300 (336).
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die bleibende Bedeutung der Entscheidung nicht aus dieser Ausnahme als solcher. Entscheidend ist vielmehr, dass das Bundesverfassungsgericht unmissverständlich deutlich gemacht hat, dass die in der Entscheidung anerkannte Ausnahme gerade nicht ausdehnbar und verallgemeinerungsfähig ist, und indem klargestellt wurde, dass das Grundgesetz gerade kein allgemeines antinationalsozialistisches Prinzip enthält und die Ausnahme inhaltlich auf die „positive Bewertung des nationalsozialistischen Regimes in der geschichtlichen Realität“ beschränkt hat. Angesichts dieser überaus deutlichen Einhegung der anerkannten Ausnahme spricht einiges dafür, dass diese Ausnahme das Sonderrechtsverbot nicht schwächt, sondern vielmehr sogar verstärkt hat, weil durch die hohen Anforderungen an eine Ausnahme der Entdeckung anderer Ausnahmen vom Sonderrechtsverbot de facto der Weg versperrt ist und die in der Wunsiedel-Entscheidung anerkannte Ausnahme wohl die einzige Durchbrechung des Sonderrechtsverbots bleiben wird. Nicht weniger wichtig ist allerdings auch, dass die Entscheidung bekräftigt, dass die Verhältnismäßigkeit – auch allgemeiner – meinungsbeschränkender Gesetze davon abhängt, dass diese dem Ziel eines äußerlichen Rechtsgüterschutzes dienen. Mit der Bekräftigung, dass ein Verbot einer Meinung allein wegen ihrer geistig bleibenden Wirkungen wegen der davon ausgehenden Gefahr für die Meinungsfreiheit als solche illegitim ist, bleibt das Gericht seiner überaus meinungsfreundlichen Grundtendenz treu. 2. BVerfGE 128, 226: Fraport a) Zweierlei Fragen der Grundrechtsdogmatik Die Entscheidung des Ersten Senates vom 22. Februar 2011 zu einer Versammlung betrifft im Grundsatz zwei – in der Betrachtung zu trennende – Fragen der Grundrechtsdogmatik: Zum einen beschäftigt sich der Senat im Rahmen der allgemeinen Grundrechtslehren mit der Grundrechtsverpflichtung von Unternehmen, die zu einem gewissen Anteil in staatlichem Anteilseigentum stehen und zum anderen wird die Frage entschieden, welcher Gewährleistungsgehalt dem Versammlungsgrundrecht des Art. 8 Abs. 1 GG in Bezug auf die Wahl des Ortes für eine Versammlung zu entnehmen ist. Die erstgenannte Frage soll in dieser Darstellung ausgeblendet werden.85 b) Bekannte Linien: Selbstbestimmungsrecht des Versammlung Das Bundesverfassungsgericht bekräftigt in dieser Entscheidung die Grundfesten des Versammlungsgrundrechts: Art. 8 Abs. 1 GG schütze die Freiheit, mit anderen Personen zum Zwecke einer gemeinschaftlichen, auf die Teil-
85
Siehe dazu bereits Th. Hammer, DÖV 2011, S. 761 (763 f.).
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habe an der öffentlichen Meinungsbildung gerichteten Erörterung oder Kundgebung örtlich zusammen zu kommen.86 Unter Rückgriff auf den Begriff von der „idealtypischen Ausformung“ wohne einer Versammlung „die gemeinsame körperliche Sichtbarmachung von Überzeugungen, bei der die Teilnehmer in der Gemeinschaft mit anderen eine Vergewisserung dieser Überzeugungen erfahren und andererseits nach außen – schon durch die bloße Anwesenheit, die Art des Auftretens und die Wahl des Ortes – im eigentlichen Sinne des Wortes Stellung nehmen und ihren Standpunkt bezeugen“ inne.87 In der Rechtsprechung des Gerichts war bereits geklärt 88, dass die Versammlungsfreiheit in ihrer Ausprägung als Abwehrrecht auch einen Schutz dahingehend entfaltet, dass der Veranstalter einer Versammlung auch bestimmen kann, „wann, wo und unter welchen Modalitäten eine Versammlung stattfinden soll“.89 Art. 8 Abs. 1 GG enthält so ein Selbstbestimmungsrecht über Ort, Zeitpunkt, Art und Inhalt der konkreten Versammlung.90 Die Bürger sollen damit selbst entscheiden können, wo sie ihr Anliegen – gegebenenfalls auch im Blick auf Bezüge zu bestimmten Orten oder Einrichtungen – am wirksamsten zur Geltung bringen können.91 Bis zu diesem Punkt der Entscheidungsbegründung gründet sich das Urteil auf bereits bekannte Linien, die als gesichert gelten durften. Die Frage, die im zur Beurteilung stehenden Sachverhalt jedoch aufgeworfen war, ist, wieweit diese Selbstbestimmung geht. Ist sogar von einem verfassungsrechtlichen Zutrittsrecht zu bestimmten Plätzen auszugehen? c) Kein pauschales Zutrittsrecht Zunächst stellt das Gericht in seinem Urteil klar, dass mit dem Selbstbestimmungsrecht der Versammlung über den Ort gerade kein allgemeines Zutrittsrecht zu beliebigen Orten gewährleistet ist.92 Damit wird deutlich, dass das Bundesverfassungsgericht das Selbstbestimmungsrecht als Teil der abwehrrechtlichen Konstruktion der Versammlungsfreiheit nicht zu einem zutrittsgewährenden Leistungsrecht der einzelnen Versammlungsteilnehmer ausweitet. Konsequenterweise gewährt das Selbstbestimmungsrecht damit keinen Zugang zu solchen Orten, die nicht für den allgemeinen Verkehr bestimmt sind, sondern die bereits nach den äußeren Umständen nur zu bestimmten Zwecken den Zugang erlauben.93 Demnach sei die Durchfüh86 87 88 89 90 91 92 93
Vgl. BVerfGE 104, 92 (104); 111, 147 (154 f.); 128, 226 (250). BVerfGE 128, 226 (250) unter Rückgriff auf BVerfGE 69, 315 (345). Vgl. insb. BVerfGE 69, 315 (343). Vgl. zu dieser kurzen Wendung nur BVerfGE 128, 226 (250 f.). BVerfGE 69, 315 (343). BVerfGE 128, 226 (251). BVerfGE 128, 226 (251). BVerfGE 128, 226 (251).
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rung von Versammlungen etwa in Verwaltungsgebäuden oder in eingefriedeten, der Allgemeinheit nicht geöffneten Anlagen durch Art. 8 Abs. 1 GG ebenso wenig geschützt wie etwa in einem öffentlichen Schwimmbad oder Krankenhaus.94 d) Abgrenzungsmerkmal: Öffnung für den allgemeinen öffentlichen Verkehr Unter Wahrung des Abwehrcharakters des Grundrechts führt das Gericht nun folgerichtig aus, dass die Versammlungsfreiheit jedoch dann die Durchführung von Versammlungen verbürge, wenn an dem beabsichtigten Versammlungsort nach dessen Widmung ein „allgemeiner öffentlicher Verkehr“ eröffnet ist.95 Zunächst betont das Bundesverfassungsgericht die Wichtigkeit des öffentlichen Straßenraums für die Betätigung der Versammlungsfreiheit.96 Dieser sei „das natürliche und geschichtlich leitbildprägende Forum, auf dem Bürger ihre Anliegen besonders wirksam in die Öffentlichkeit tragen und hierüber die Kommunikation anstoßen können“.97 Vor allem innerörtliche Straßen und Plätze werden heute als Stätten des Informations- und Meinungsaustausches sowie der Pflege menschlicher Kontakte angesehen.98 Die Betätigung als Versammlung im öffentlichen Straßenraum ist Ausdruck des kommunikativen Verkehrs.99 Die Ausübung der Versammlungsfreiheit ist aber nicht auf den öffentlichen Straßenraum beschränkt, sondern entfaltet auch dort Wirkung, wo in ähnlicher Weise ein öffentlicher Verkehr eröffnet ist und dadurch Orte der allgemeinen Kommunikation entstehen.100 Insofern ist das Versammlungsgrund entwicklungsoffen für neuartige Formen der öffentlichen Kommunikationskultur. Solche Verkehrsflächen können dann nicht von der Versammlungsfreiheit ausgenommen werden, soweit eine unmittelbare Grundrechtsbindung besteht oder Private im Wege der mittelbaren Drittwirkung in Anspruch genommen werden können.101 Orte des allgemeinen kommunikativen Verkehrs sind zunächst solche Orte, die der Öffentlichkeit allgemein zugänglich sind und dies auch ihrem Zweck entspricht.102 Ausgeschlossen 94
BVerfGE 128, 226 (251). BVerfGE 128, 226 (251). 96 BVerfGE 128, 226 (251). Wobei es hierbei nicht auf die Begrifflichkeiten des Straßenrechts ankommen soll, sondern vielmehr ein spezifisch grundrechtlicher Begriff des öffentlichen Straßenraums zu Grunde zu legen sei. 97 BVerfGE 128, 226 (251). 98 BVerfGE 128, 226 (251). 99 BVerfGE 128, 226 (251). 100 BVerfGE 128, 226 (252). 101 BVerfGE 128, 226 (252). 102 BVerfGE 128, 226 (252 f.). 95
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sind demgegenüber zum einen Orte, zu denen der Zugang individuell kontrolliert und nur für einzelne, begrenzte Zwecke gestattet wird.103 Wenn eine individuelle Eingangskontrolle wie an der Sicherheitsschleuse zum Abflugbereich für eine Einrichtung sicherstellt, dass nur bestimmte Personen Zutritt haben, ist dort kein allgemeiner Verkehr eröffnet.104 Darüber hinaus beantwortet sich die Frage, ob ein solcher außerhalb öffentlicher Straßen, Wege und Plätze liegender Ort als ein öffentlicher Kommunikationsraum zu beurteilen ist, nach dem Leitbild des öffentlichen Forums.105 Dieses ist dadurch charakterisiert, dass auf ihm eine Vielzahl von verschiedenen Tätigkeiten und Anliegen verfolgt werden kann und hierdurch ein vielseitiges und offenes Kommunikationsgeflecht entsteht.106 Abzugrenzen ist dies von Stätten, die der Allgemeinheit ihren äußeren Umständen nach nur zu ganz bestimmten Zwecken zur Verfügung stehen und entsprechend ausgestaltet sind.107 Bei letztgenannten Stätten ist das Versammlungsgrundrecht nach seinem sachlichen Schutzbereich nicht eröffnet.
103 104 105 106 107
BVerfGE 128, 226 (253). BVerfGE 128, 226 (253). BVerfGE 128, 226 (253). BVerfGE 128, 226 (253). BVerfGE 128, 226 (253).
Der beamtenrechtliche Konkurrentenstreit in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Friederike Valerie Lange Wichtige Kammerentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts BVerfGK BVerfGK BVerfGK BVerfGK BVerfG, BVerfG, BVerfGK BVerfG, BVerfG,
10, 474 – Richterplanstelle 11, 398 – effektiver Rechtsschutz 12, 184 – Stellenanforderungsprofil 12, 265 – Bewerberauswahl Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 24. September 2002 – 2 BvR 857/02 –, NVwZ 2003, S. 200 f. – Glaubhaftmachung Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 9. Juli 2009 – 2 BvR 706/09 –, NVwZ 2009, S. 1430 – Wartefrist 18, 423 – Auswahlmittel Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 25. November 2011 – 2 BvR 2305/11 –, NVwZ 2012, S. 368 ff. – Funktionsvorbehalt Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 4. Oktober 2012 – 2 BvR 1120/12 –, NVwZ 2013, S. 573 ff. – „Ausschöpfung“ dienstlicher Beurteilungen
Schrifttum (Auswahl) Battis, Neukonzeption des beamtenrechtlichen Konkurrentenstreits, DVBl 2013, S. 673 ff.; Höfling, Verfahrensrechtliche Garantien des Art. 33 II GG, ZBR 1999, S. 73 ff.; Laubinger, Die Konkurrentenklage im öffentlichen Dienst – eine unendliche Geschichte, ZBR 2010, S. 289 ff. (Teil 1) und 332 ff. (Teil 2); Munding, Die beamtenrechtliche Konkurrentenklage im Wandel der Rechtsprechung von BVerwG und BVerfG, DVBl 2011, S. 1512 ff.; v. Roetteken, Konkretisierung des Prinzips der Bestenauslese in der neueren Rechtsprechung, ZBR 2012, S. 230 ff.; Schefzig, Zum beamtenrechtlichen Konkurrentenstreit – vor und nach dem Urteil des BVerwG vom 04.11.2010 (– 2 C 16.09 –), VBlBW 2012, S. 411 ff.; Schenke, Neuestes zur Konkurrentenklage, NVwZ 2011, S. 321 ff.; Schnellenbach, Die dienstliche Beurteilung der Beamten und der Richter, Bd. 2, 3. Aufl., Losebl. (November 2013); Werres, Beamtenverfassungsrecht, 2011. Inhalt I. II.
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Stellenbesetzungsverfahren aus verfassungsrechtlicher Perspektive 1. Einrichtung und Zuschnitt von Dienstposten . . . . . . . . . . . . . 2. Das Anforderungsprofil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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a) Entscheidungsspielraum und Bindungen des Dienstherrn bei der Aufstellung des Anforderungsprofils . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Gerichtliche Kontrolle des Anforderungsprofils . . . . . . . . . . . . . . 3. Das Auswahlverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die Auswahlentscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Auswahlkriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Hauptkriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Hilfskriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Auswahlmittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Dienstliche Beurteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Besondere Bedeutung des Gesamtergebnisses . . . . . . . . . . . (2) Rolle des Statusamtes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Sonstige Auswahlmittel: Gespräche, Prüfungen, Assessment-Center c) Dokumentationspflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Schadensersatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Nach der Auswahlentscheidung: Wartepflicht des Dienstherrn . . . . . . . 6. Rechtsschutz gegen die Auswahlentscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . a) Bewerbungsverfahrensanspruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Recht auf fehlerfreie Auswahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Eigene Benachteiligung oder Bevorzugung von Mitbewerbern . (2) Einhaltung objektiver Rechtsnormen . . . . . . . . . . . . . . . bb) Glaubhaftmachung realer Auswahlchance nicht erforderlich . . . . cc) Kein Anspruch auf Ernennung/Beförderung . . . . . . . . . . . . . b) Prozedurale Fragen des Rechtsschutzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Ausgangspunkt: Vorläufiger Rechtsschutz zu den Fachgerichten . . bb) Die Verfassungsbeschwerde im Konkurrentenstreitverfahren . . . . (1) In der Regel: Verwaltungsgerichtliche Eilentscheidungen als Gegenstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Angriff auf Auswahlentscheidung selbst . . . . . . . . . . . . . . III. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I. Einleitung Das beamtenrechtliche Konkurrentenstreitverfahren hat in jüngerer Zeit infolge einer Grundsatzentscheidung des Bundesverwaltungsgerichts1 zum Rechtsschutz umwälzende Änderungen erfahren. Aber auch in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts – welches über Konkurrentenstreitverfahren in aller Regel auf Kammerebene entscheidet – hat sich einiges getan. Eine Reihe wichtiger Kammerentscheidungen ist insbesondere in der Zeit ab Mitte 2005 und in den letzten Jahren ergangen. Im Folgenden sollen anhand dieser Kammerentscheidungen die verfassungsrechtlichen „Fallstricke“ bei den verschiedenen Stationen eines Stellenbesetzungsverfahrens von der Ausbringung der Stelle bis zur Ernennung aufgezeigt werden. Gleichzeitig soll ein Eindruck davon vermittelt werden, welche Vorkomm-
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nisse im Bewerbungsverfahren mit Aussicht auf Erfolg im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde gerügt werden können und welche Gestaltungen vom Ermessen des Dienstherrn gedeckt oder – als allenfalls einfachrechtlich fehlerhaft – jedenfalls einer Prüfung durch das Bundesverfassungsgericht entzogen sind.
II. Das Stellenbesetzungsverfahren aus verfassungsrechtlicher Perspektive 1. Einrichtung und Zuschnitt von Dienstposten Eine maßgebliche Weichenstellung ist dem Einfluss eines potentiellen Bewerbers von vornherein entzogen: Die Entscheidung darüber, ob überhaupt und wenn ja, wie eine Stelle geschaffen wird. Niemand hat ein Recht auf Ausbringung einer bestimmten Planstelle.2 Das Bundesverfassungsgericht betont, dass über die Einrichtung und nähere Ausgestaltung von Dienstposten der Dienstherr nach organisatorischen Bedürfnissen und Möglichkeiten entscheidet, ohne dass darauf subjektive Rechte Einzelner bestünden.3 Begründet wird dies damit, dass die Schaffung von Stellen des öffentlichen Dienstes grundsätzlich allein dem öffentlichen Interesse an einer bestmöglichen Erfüllung der öffentlichen Aufgaben diene, nicht aber der Wahrnehmung einer Verpflichtung des Dienstherrn gegenüber den Beamten.4 Entschließt sich der Dienstherr, einen Dienstposten zu schaffen, so obliegt auch sein Zuschnitt seinem organisatorischen Ermessen.5 Dies gilt jedenfalls, soweit die Definition des Aufgabenbereichs eines Amtes nicht – wie etwa bei Ämtern in der Justiz – verfassungs- oder einfachrechtlich vorgegeben und damit insoweit seiner Organisationsgewalt entzogen ist.6 Die Organisationsgewalt bezieht sich – wie das Bundesverfassungsgericht in jüngerer Zeit präzisierte 7 – auch auf die Frage, ob eine Stelle so ausgestaltet wird, dass sie nur von Beamten ausgefüllt werden kann: Es gehöre zum Organisationsermessen einer Behörde, zu entscheiden, welche Aufgaben ihren einzelnen Unterglie-
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BVerfGK 12, 184 (187); 12, 265 (270); 12, 284 (288). BVerfGK 12, 184 (187); 12, 265 (270); 12, 284 (288); BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 25. November 2011 – 2 BvR 2305/11 –, NVwZ 2012, S. 368 (369). 4 BVerfGK 12, 184 (187); 12, 265 (270); 12, 284 (288). 5 Vgl. BVerfGK 12, 184 (187); 12, 265 (270); 12, 284 (288); BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 25. November 2011 – 2 BvR 2305/11 –, NVwZ 2012, S. 368 (369). 6 Vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 26. November 2010 – 2 BvR 2435/10 –, NVwZ 2011, S. 746 (747). 7 BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 25. November 2011 – 2 BvR 2305/11 –, NVwZ 2012, S. 368 (369 f.). 3
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derungen zugewiesen würden und inwieweit damit die Besetzung der dafür vorgesehenen Stellen dem Funktionsvorbehalt des Art. 33 Abs. 4 GG unterliege, nach dem die Ausübung hoheitsrechtlicher Befugnisse als ständige Aufgabe in der Regel Beamten zu übertragen ist. Schließlich steht es – so das Bundesverfassungsgericht im Anschluss an das Bundesverwaltungsgericht 8 – im organisatorischen Ermessen des Dienstherrn, ob eine Stelle im Wege der Versetzung oder der Beförderung vergeben wird.9 2. Das Anforderungsprofil Ist eine Stelle zu besetzen, so kann der Dienstherr die Kriterien für die Auswahl zwischen den Bewerbern vorab in einem Anforderungsprofil festlegen. a) Entscheidungsspielraum und Bindungen des Dienstherrn bei der Aufstellung des Anforderungsprofils Der Dienstherr hat bei der Aufstellung von Anforderungsprofilen einen Entscheidungsspielraum, der allerdings durch rechtliche Vorgaben begrenzt ist. Welche Anforderungen der Dienstherr der Bewerberauswahl zugrunde legen will, unterfällt grundsätzlich – wie der damit in engem Zusammenhang stehende Zuschnitt des fraglichen Dienstpostens – seinem organisatorischen Ermessen.10 Wie umfassend der dem Dienstherrn hierfür zuzubilligende Spielraum ist, lässt sich nicht abstrakt und allgemeingültig definieren.11 Jedenfalls ist die Organisationsgewalt des Dienstherrn hier nicht schrankenlos.12 Vorgaben können sich aus dem einfachen Recht (als Beispiel nennt das Bundesverfassungsgericht die Untersagung einer starren Festlegung auf Frauen oder Männer in den Beamtengesetzen) und den Grundrechten13, insbesondere aber auch aus dem Grundsatz der Bestenauslese, auch Leistungsgrundsatz genannt, ergeben.14 Dass öffentliche Ämter nach Maßgabe des Bestenauslesegrundsatzes zu besetzen sind, folgt aus Art. 33 Abs. 2 GG. Nach Art. 33
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Vgl. nur BVerwGE 122, 237 (242). BVerfGK 10, 355 (357); 12, 184 (187); 12, 265 (270); 12, 284 (288). 10 Vgl. BVerfGK 12, 184 (187). Zum Gestaltungsspielraum bei der Aufstellung von Eignungskriterien für ein Amt vgl. ferner BVerfGE 108, 282 (296). 11 Vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 26. November 2010 – 2 BvR 2435/10 –, NVwZ 2011, S. 746. 12 BVerfK 12, 184 (187); 12, 284 (286). 13 Vgl. BVerfGE 108, 282 (295 f.). 14 BVerfGK 12, 184 (187); 12, 265 (270). Mögliche Widersprüche zwischen Anforderungsprofil und Bestenauslesegrundsatz untersucht kritisch Zeiler, ZBR 2010, S. 191 ff. 9
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Abs. 2 GG hat jeder Deutsche nach seiner Eignung, Befähigung und fachlichen Leistung gleichen Zugang zu jedem öffentlichen Amt.15 Das Leistungsprinzip betrifft dabei nicht nur den erstmaligen Zugang zu einem öffentlichen Amt beim Eintritt in das Beamtenverhältnis, sondern gilt auch für Beförderungen, deren Anerkennung und rechtliche Absicherung – etwa gegenüber einer Übertragung von Führungsämtern nur auf Zeit – es zugleich gebietet16. b) Gerichtliche Kontrolle des Anforderungsprofils Das Anforderungsprofil unterliegt zumindest inzident gerichtlicher Kontrolle: So kann sich ein unterlegener Bewerber gegenüber der Auswahlentscheidung auf Mängel im Anforderungsprofil berufen.17 Die gerichtliche Überprüfbarkeit beruht auf der Erwägung, dass mit der Festlegung des Anforderungsprofils ein wesentlicher Teil der Auswahlentscheidung bereits vorweggenommen wird.18 Weil die Vorgaben im Anforderungsprofil als Maßstab für die Auswahlentscheidung fungieren, führen Fehler im Anforderungsprofil grundsätzlich auch zur Fehlerhaftigkeit des Auswahlverfahrens: Ist das Anforderungsprofil mit dem Bestenauslesegrundsatz unvereinbar, beruhen auch die Auswahlerwägungen auf sachfremden, nicht am Bestenauslesegrundsatz orientierten Gesichtspunkten.19 3. Das Auswahlverfahren Auf die etwaige Festlegung eines Anforderungsprofils folgt das Auswahlverfahren. Dieses beginnt in aller Regel 20 mit der Ausschreibung der Stelle. Fraglich ist, ob an eine Stellenausschreibung zwingend die Geltung des Bestenauslesegrundsatzes dergestalt gekoppelt ist, dass auch ein Versetzungs15 Zum Geltungsbereich des Bestenausleseprinzips für Einstellungen, Beförderungen und gegebenenfalls auch die Übertragung von bloßen (Beförderungs-)Dienstposten Schnellenbach, Die dienstliche Beurteilung der Beamten und der Richter, Bd. 2, 3. Aufl., Losebl. (November 2012), Rn. 76 f.; zur Dienstpostenkonkurrenz siehe ferner Laubinger, ZBR 2010, S. 332 (332 ff.). 16 Vgl. BVerfGE 117, 372 (382); 121, 205 (226); 130, 263 (296). 17 BVerfGK 12, 184 (187). 18 BVerfGK 12, 184 (187); 12, 265 (270); 12, 284 (288). 19 Vgl. BVerfGK 12, 184 (188); 12, 265 (271); 12, 284 (289); BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 26. November 2010 – 2 BvR 2435/10 –, NVwZ 2011, S. 746 (747); BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 25. November 2011 – 2 BvR 2305/11 –, NVwZ 2012, S. 368 (370). 20 Schilderung der gesetzlichen Vorgaben und der fachgerichtlichen Rechtsprechung zur Ausschreibungspflicht bei Schnellenbach, Die dienstliche Beurteilung der Beamten und der Richter, Bd. 2, 3. Aufl., Losebl. (November 2012), Rn. 197 ff.; Werres, Beamtenverfassungsrecht, 2011, Rn. 153. Für verfassungsrechtlich geboten erachtet eine Ausschreibung etwa Höfling, ZBR 1999, S. 73 (74 f.), m.w.N.
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bewerber nur bei höherer Qualifikation als die konkurrierenden Beförderungsbewerber übernommen werden darf.21 Das Bundesverfassungsgericht hat hierzu bislang lediglich entschieden, dass der Dienstherr grundsätzlich zwar frei ist, eine Stelle statt durch Beförderung durch eine Versetzung oder eine Umsetzung zu besetzen.22 Entscheidet er sich aber für ein Auswahlverfahren, an dem sowohl Beförderungsbewerber als auch Versetzungsbewerber unterschiedslos teilnehmen, so ist er aus Gründen der Gleichbehandlung gehalten, die sich aus Art. 33 Abs. 2 GG ergebenden Auswahlkriterien auch gegenüber den Versetzungsbewerbern anzuwenden.23 Eine Stellenausschreibung, welche sich nicht nur an Beamte, sondern auch an Beschäftigte richtete, hat das Bundesverfassungsgericht für verfassungsrechtlich unbedenklich erachtet.24 Ohne dass hierzu eine grundsätzliche Rechtspflicht bestünde, diene die Öffnung des Auswahlverfahrens auch für Angestellte der Mobilisierung eines umfassenden Bewerberfelds und damit dem Grundsatz der Bestenauslese. Diese Öffnung stehe nicht in Konflikt mit dem Strukturprinzip des Art. 33 Abs. 4 GG, wonach die ständige Ausübung hoheitlicher Befugnisse nicht in größerem Umfang auf Nichtbeamte übertragen werden dürfe. Denn eine solche Ausschreibung schließe noch nicht aus, dass dem ausgewählten Bewerber, sofern er Angestellter ist, die Funktion unter Berufung in das Beamtenverhältnis übertragen würde. Die konkrete Stellenausschreibung und das daran anschließende Auswahlverfahren dienen der verfahrensmäßigen Absicherung des Bewerbungsverfahrensanspruchs der Bewerber.25 An der einmal erfolgten Ausschreibung muss sich der Dienstherr daher grundsätzlich festhalten lassen. Das Bundesverfassungsgericht betont, dass eine Stellenausschreibung nicht nur als „Probe-Ausschreibung“ zur Sichtung von Bewerbern verwendet werden darf.26 Dies bedeutet zweierlei: Zum einen sind Änderungen im Fortgang des Stellenbesetzungsverfahrens Grenzen gesetzt. Eine nachträgliche Änderung der Auswahlkriterien mit der Folge einer Verengung des Bewerberkreises ist nur aus Gründen möglich, welche den Anforderungen des Art. 33 Abs. 2 GG gerecht werden. Führt die Änderung zu einer potentiellen Erweiterung des Bewerberkreises, so müssen mögliche Interessenten hiervon Kenntnis erhal-
21 Schnellenbach, Die dienstliche Beurteilung der Beamten und der Richter, Bd. 2, 3. Aufl., Losebl. (November 2012), Rn. 198, m.w.N. aus der fachgerichtlichen Rechtsprechung. 22 BVerfGK 10, 355 (357); 12, 106 (107). 23 BVerfGK 10, 355 (357); 12, 106 (107). 24 BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 25. November 2011 – 2 BvR 2305/11 –, NVwZ 2012, S. 368 (370). 25 BVerfGK 10, 355 (357); BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 28. November 2011 – 2 BvR 1181/11 –, NVwZ 2012, S. 366 (367). 26 BVerfGK 10, 355 (357).
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ten.27 Ansonsten würden die Zugangschancen derjenigen beeinträchtigt, welche „in Kenntnis der Verfehlung des [ursprünglichen] Anforderungsprofils“ von einer Bewerbung abgesehen hatten.28 Zum anderen ist der Abbruch eines eingeleiteten Bewerbungs- und Auswahlverfahrens nur eingeschränkt zulässig.29 Hinsichtlich der Beendigung eines Auswahlverfahrens besteht zwar ein weites organisations- und verwaltungspolitisches Ermessen des Dienstherrn.30 Da sich durch den Abbruch des Auswahlverfahrens jedoch die Zusammensetzung des Bewerberkreises steuern lässt, bedarf er eines sachlichen Grundes.31 Wird der Abbruch eines Auswahlverfahrens dieser Anforderung nicht gerecht, so darf von Verfassungs wegen keine Neuausschreibung erfolgen.32 Durch eine Auswahlentscheidung in einem neuen Auswahlverfahren würden die Bewerber des ursprünglichen Auswahlverfahrens in ihrem Bewerbungsverfahrensanspruch verletzt.33 Der maßgebliche Grund für den Abbruch muss jedenfalls dann, wenn er sich nicht evident aus dem Vorgang selbst ergibt, schriftlich dokumentiert werden.34 Erst diese schriftliche Fixierung der wesentlichen Erwägungen ermöglicht den Bewerbern hinreichende Rechtsschutzmöglichkeiten.35 Ein rechtswidrig abgebrochenes Auswahlverfahren ist fortzuführen und kann nur wiederum nach den allgemeinen Grundsätzen abgebrochen werden. 4. Die Auswahlentscheidung a) Auswahlkriterien Die Kriterien, auf denen eine Auswahlentscheidung rechtmäßigerweise basieren kann, lassen sich in Haupt- und Hilfskriterien einteilen. 27
Vgl. BVerfGK 10, 355 (358). Vgl. von Roetteken, ZBR 2012, S. 230 (233). 29 BVerfGK 10, 355 (358); BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 28. November 2011 – 2 BvR 1181/11 –, NVwZ 2012, S. 366. 30 BVerfG, Beschlüsse der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 19. Dezember 2008 – 2 BvR 627/08 –, NVwZ-RR 2009, S. 344 (345); vom 28. November 2011 – 2 BvR 1181/11 –, NVwZ 2012, S. 366 (367), jeweils unter Verweis auf die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts. 31 BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 28. November 2011 – 2 BvR 1181/11 –, NVwZ 2012, S. 366 (367), unter Verweis u. a. auf BVerfGK 10, 355 (358). 32 BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 28. November 2011 – 2 BvR 1181/11 –, NVwZ 2012, S. 366 (367). 33 BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 28. November 2011 – 2 BvR 1181/11 –, NVwZ 2012, S. 366 (367). 34 BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 28. November 2011 – 2 BvR 1181/11 –, NVwZ 2012, S. 366 (367); vgl. auch BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 12. Juli 2011 – 1 BvR 1616/11 –, IÖD 2011, S. 242 (243), zur Besetzung einer Professur. 35 Vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 28. November 2011 – 2 BvR 1181/11 –, NVwZ 2012, S. 366 (367). 28
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aa) Hauptkriterien Hauptkriterien für die Bewerberauswahl sind solche, die sich aus dem Prinzip der Bestenauslese36 des Art. 33 Abs. 2 GG ergeben. Die jeweils zuständige Kammer des Bundesverfassungsgerichts formuliert hierzu in ständiger Rechtsprechung: „Gemäß Art. 33 Abs. 2 GG hat jeder Deutsche nach seiner Eignung, Befähigung und fachlichen Leistung gleichen Zugang zu jedem öffentlichen Amt. Danach sind öffentliche Ämter nach Maßgabe des Bestenauslesegrundsatzes zu besetzen. Die Geltung dieses Grundsatzes wird nach Art. 33 Abs. 2 GG unbeschränkt und vorbehaltlos gewährleistet. (…) Art. 33 Abs. 2 GG gibt somit die entscheidenden Beurteilungsgesichtspunkte für die Bewerberauswahl zur Besetzung von öffentlichen Ämtern abschließend vor. Die von Art. 33 Abs. 2 GG erfassten Auswahlentscheidungen können grundsätzlich nur auf Gesichtspunkte gestützt werden, die unmittelbar Eignung, Befähigung und fachliche Leistung der Bewerber betreffen. Anderen Gesichtspunkten darf nur Bedeutung beigemessen werden, wenn ihnen ebenfalls Verfassungsrang eingeräumt wird (…).“ 37
Dabei zielt die Befähigung auf allgemein der Tätigkeit zugutekommende Fähigkeiten wie Begabung, Allgemeinwissen, Lebenserfahrung und allgemeine Ausbildung. Fachliche Leistung bedeutet Fachwissen, Fachkönnen und Bewährung im Fach. Eignung im engeren Sine erfasst insbesondere Persönlichkeit und charakterliche Eigenschaften, die für ein bestimmtes Amt von Bedeutung sind.38 Die Ermittlung des gemessen an den Kriterien der Eignung, Befähigung und fachlichen Leistung am besten geeigneten Bewerbers hat stets in Bezug auf das konkret angestrebte Amt zu erfolgen.39 Der Beurteilung wohnt insoweit ein Prognoseelement hinsichtlich der künftigen Amtstätigkeit des Betroffenen inne.40 Konkret heißt dies, dass die einzelnen Bewerber in Bezug auf den Aufgabenbereich des Amtes untereinander zu vergleichen sind und der Bewerber auszuwählen ist, von dem der Dienstherr im Rahmen einer Prognose erwarten darf, dass er den Anforderungen des konkret zu besetzenden Amtes am besten entsprechen wird.41 Aktuell in der Rechtsprechung behandelte Fragen von erheblicher Praxisrelevanz wirft in diesem Zusammenhang die Bündelung von Dienstposten auf. Problematisch ist insoweit etwa, ob – insbesondere in den Fällen einer
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S. auch BVerfGE 130, 263 (296). BVerfGK 12, 184 (186) und – mit leichten Variationen – die stRspr. 38 Zu allem BVerfGE 110, 304 (322); s. auch BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 27. Mai 2013 – 2 BvR 462/13 –, IÖD 2013, S. 182 (183). 39 Vgl. ferner BVerfGE 96, 205 (211); 108, 282 (296). 40 BVerfGE 108, 282 (296). 41 BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 7. März 2013 – 2 BvR 2582/12 –, ZBR 2013, S. 346 (347). 37
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Beförderung bei gleichbleibenden Dienstposten – die Anforderungen an die Wahrnehmung der Aufgaben des angestrebten Amtes als Grundlage eines Bewerbervergleichs noch hinreichend erkennbar sind.42 Zu diesem Fragenkreis ist eine Verfassungsbeschwerde anhängig, für welche das Bundesverfassungsgericht die Erfolgsaussichten als hinreichend offen erachtet und dem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung stattgegeben hat.43 bb) Hilfskriterien Da die maßgeblichen Auswahlkriterien durch Art. 33 Abs. 2 GG grundsätzlich abschließend vorgegeben sind, ist für die Heranziehung von Hilfskriterien – „Anciennitätsprinzip“, soziale Gesichtspunkte etc. – in der Regel kein Raum. Das Bundesverfassungsgericht hat aber die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts 44 gebilligt, wonach ausnahmsweise dann auf nicht leistungsbezogene Hilfskriterien abgestellt werden kann, wenn die konkurrierenden Bewerber im Wesentlichen gleich geeignet sind.45 Dies erfordert allerdings zunächst einen eingehenden Leistungsvergleich zwischen den Bewerbern. Keinesfalls dürfen Hilfskriterien daher „vorschnell“ herangezogen werden, wie das Bundesverfassungsgericht im Hinblick auf das Rangdienstalter als Auswahlkriterium entschieden hat.46 b) Auswahlmittel aa) Dienstliche Beurteilung Wichtigstes Auswahlmittel beim Bewerbervergleich sind dienstliche Beurteilungen. Das Bundesverfassungsgericht formuliert – in Anlehnung an das Bundesverwaltungsgericht 47 –, im öffentlichen Dienst seien bei der Bewertung der Eignung „vor allem zeitnahe Beurteilungen heranzuziehen“.48 Diese hätten aussagekräftig zu sein, müssten also hinreichend differenziert sein und
42 Vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 7. März 2013 – 2 BvR 2582/12 –, NVwZ 2013, S. 1603 (1603), unter Verweis auf BVerwGE 140, 83 (87 f.). 43 BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 16. Dezember 2013 – 2 BvR 1958/13 –, IÖD 2014, S. 52 f. 44 Vgl. BVerwGE 140, 83 (87 f.). 45 BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 7. März 2013 – 2 BvR 2582/12 –, ZBR 2013, S. 346 (348). 46 BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 7. März 2013 – 2 BvR 2582/12 –, ZBR 2013, S. 346 (348). 47 BVerwG, Urteil vom 21. August 2003 – 2 C 14.02 –, DVBl 2004, S. 317 (319) m.w.N. 48 BVerfGE 110, 304 (332); BVerfGK 18, 423 (427); s. ferner BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 4. Oktober 2012 – 2 BvR 1120/12 –, NVwZ 2013, S. 573 (574): „Der Vergleich der Bewerber im Rahmen einer Auswahlentscheidung hat vor allem anhand dienstlicher Beurteilungen zu erfolgen“.
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auf gleichen Bewertungsmaßstäben beruhen.49 Das Gebot der Zeitnähe hat das Bundesverfassungsgericht bislang nicht näher präzisiert.50 Beim Bewerbervergleich kann im Wesentlichen auf die aktuelle Beurteilung abgestellt werden, sofern diese verlässliche Bewertungen zur Frage der Eignung enthält.51 Zur Auswertung der dienstlichen Beurteilung im Bewerbervergleich hat sich das Bundesverfassungsgericht in jüngerer Zeit vor allem unter zwei Aspekten geäußert: der Bedeutung des Gesamtergebnisses und der Rolle des Statusamts. (1) Besondere Bedeutung des Gesamtergebnisses Die Funktion der dienstlichen Beurteilung als belastbares Auswahlmittel realisiert sich nur, wenn der Dienstherr die in der Beurteilung zum Ausdruck kommende, nicht selten fremde Bewertung auch adäquat in den Bewerbervergleich einstellt. Gerade bei Beurteilungen mit Fließtexten aus unterschiedlicher Feder ist der Vergleich anspruchsvoll. Bei der Interpretation und Gewichtung von Aussagen in Beurteilungen kommen dem Dienstherrn notwendigerweise gewisse Spielräume zu. Gleichzeitig muss er aber beim Vergleich gewissen Regeln unterliegen, damit seine Bindung an die Beurteilungen nicht leerläuft. Es darf es nicht zu einer „Rosinenpickerei“ kommen, bei welcher der Dienstherr einzelne Feststellungen einer Beurteilung besonders betont und sich damit über deren eigentlichen Duktus hinwegsetzt. Denn wäre es „allgemein zulässig, Teilelemente der Beurteilung höher oder niedriger zu gewichten oder einzelne Punkte aus dem Beurteilungstext herauszugreifen und unmittelbar zur Grundlage eines Bewerbervergleichs zu machen, so würde die Grenze zur Beliebigkeit leicht überschritten. Wenn der Charakter der Beurteilung als Gesamtbewertung auf diese Weise entscheidend geschwächt wird, verliert sie ihren Wert“.52 Angesichts dessen hat das Bundesverfassungsgericht vor kurzem die Grenzen des Spielraums des Dienstherrn verdeutlicht. Das Leistungsprinzip gebietet es, beim Vergleich dienstlicher Beurteilungen von deren Gesamtaussage auszugehen: Maßgeblich sei „in erster Linie das abschließende Gesamturteil, welches anhand einer Würdigung, Gewichtung und Abwägung der einzelnen leistungsbezogenen Gesichtspunkte gebildet wurde“53. Die Gesamtaussage der dienstlichen Beurtei-
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Vgl. BVerfGK 10, 474 (478), 12, 106 (108), unter Verweis auf BVerwGE 124, 99 (103). Näher zu möglichen Ansätzen von Roetteken, ZBR 2012, S. 230 (236). 51 BVerfGK 12, 106 (108). 52 BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 4. Oktober 2012 – 2 BvR 1120/12 –, NVwZ 2013, S. 573 (575). 53 BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 4. Oktober 2012 – 2 BvR 1120/12 –, NVwZ 2013, S. 573 (574), unter Verweis auf BVerwG, Beschlüsse vom 27. September 2011 – 2 VR 3/11 –, NVwZ-RR 2012, S. 71 (72), und von 25. Oktober 2011 – 2 VR 4/11 –, NVwZ-RR 2012, S. 241 (242). 50
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lung darf grundsätzlich nicht durch einen Rückgriff auf einzelne Textpassagen überspielt werden54 – auch, wenn sie auf eine besonders starke Ausprägung einzelner im Anforderungsprofil enthaltener Merkmale hinzudeuten scheinen. Hiermit verdeutlicht das Bundesverfassungsgericht gleichzeitig die Grenzen der in einer früheren Entscheidung 55 erarbeiteten Schlüsselrolle des Anforderungsprofils beim Bewerbervergleich. Der Dienstherr darf daher regelmäßig erst dann, wenn Bewerber in ihren jeweiligen Beurteilungen ein wesentlich gleiches Gesamtergebnis aufweisen, mit einem Vergleich der für das Beförderungsamt wesentlichen Einzelaussagen der dienstlichen Beurteilungen (sogenannte „Ausschöpfung“ oder „Ausschärfung“) 56 fortfahren.57 Darüber hinaus ist ein Rückgriff auf Einzelfeststellungen nur bei Vorliegen zwingender Gründe zulässig.58 Dem Gesamturteil müsste ausnahmsweise nur ein geringer Aussagewert für die im Rahmen der Auswahlentscheidung zu treffende Prognose zukommen: Denkbar ist dies – so beispielhaft das Bundesverfassungsgericht – etwa, wenn die Tätigkeit im angestrebten Amt in hohem Ausmaß „von einzelnen ganz spezifischen Anforderungen geprägt würde“ oder von der bisherigen Tätigkeit der Bewerber insgesamt besonders „weit entfernt“ wäre.59 Die Einschränkungen tragen der Tatsache Rechnung, dass der Bezugspunkt der Auswahlentscheidung nicht die in der dienstlichen Beurteilung bewertete Bewährung in der bisherigen Tätigkeit, sondern die Eignungsprognose für das angestrebte Amt ist. Der innerhalb einer Laufbahn grundsätzlich bestehende Zusammenhang zwischen erbrachter und zu erwartender Leistung erreicht seine Grenze dort, wo sich die Anforderungen kategorial unterscheiden. Gleichzeitig darf beim Bewerbervergleich aber nicht ausgeblendet werden, dass es sich beim „angestrebten Amt“ primär um ein Statusamt und erst in zweiter Linie um einen bestimmten Dienstposten handeln dürfte. (2) Rolle des Statusamtes Eine weitere Vorgabe für den Beurteilungsvergleich bezieht sich auf die Berücksichtigung des Statusamts. Seit 2007 heißt es zum Statusamt in der Kammerrechtsprechung: „Beziehen sich die Beurteilungen der konkurrie54 BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 4. Oktober 2012 – 2 BvR 1120/12 –, NVwZ 2013, S. 573 (574). 55 BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 26. November 2010 – 2 BvR 2435/10 –, NVwZ 2011, S. 746. 56 Zur fachgerichtlichen Rechtsprechung vgl. Weisel, DÖD 2012, S. 193 (194 ff.), m.N. 57 BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 4. Oktober 2012 – 2 BvR 1120/12 –, NVwZ 2013, S. 573 (574); vgl. auch schon BVerfGK 12, 106 (108). 58 BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 4. Oktober 2012 – 2 BvR 1120/12 –, NVwZ 2013, S. 573 (574). 59 BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 4. Oktober 2012 – 2 BvR 1120/12 –, NVwZ 2013, S. 573 (575).
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renden Bewerber auf unterschiedliche Statusämter, so wird in der Rechtsprechung vielfach (…) angenommen, dass bei formal gleicher Bewertung die Beurteilung des Beamten/Richters im höheren Statusamt grundsätzlich besser ist als diejenige des in einem niedrigeren Statusamt befindlichen Konkurrenten. Dem liegt die Überlegung zugrunde, dass an den Inhaber eines höheren statusrechtlichen Amtes von vornherein höhere Erwartungen zu stellen sind als an den Inhaber eines niedrigeren statusrechtlichen Amtes (…). Diese Rechtsprechung ist grundsätzlich mit den Vorgaben des Art. 33 Abs. 2 GG vereinbar.“60 Mit einem höheren Amt seien regelmäßig gesteigerte Anforderungen und ein größeres Maß an Verantwortung verbunden.61 Die Erwägung könne jedoch nicht schematisch angewandt werden; das zusätzlich zu berücksichtigende Gewicht einer Beurteilung aus einem höheren Statusamt hänge von den Umständen des Einzelfalls ab.62 An diese zunächst recht vorsichtig als mit dem Leistungsgrundsatz „vereinbar“ beschriebene Rolle des Statusamts wurden – nicht ganz untypisch für die Kammerrechtsprechung im Beamtenrecht – in jüngerer Zeit Weiterungen geknüpft. Sind mit einem höheren Amt gesteigerte Anforderungen verbunden, führt dies in aller Regel zu einem strengeren Maßstab bei der Beurteilung. Hat sich der Statusunterschied aber solchermaßen auf den Beurteilungsmaßstab ausgewirkt, so gebietet der Leistungsgrundsatz nach einer jüngeren Kammerentscheidung, den Statusunterschied in den Beurteilungsvergleich einzustellen.63 Dies bedeutet, dass bei einem Vergleich von Beurteilungen nicht allein auf das formale Gesamturteil abgestellt werden darf, sondern auch gefragt werden muss, ob bei einzelnen Beurteilungen ein durch einen Statusvorsprung bedingter strengerer Maßstab angelegt wurde, der zu einem Qualifikationsunterschied führt. Ein Bewerber in einem höheren Statusamt, an dessen gesteigerten Anforderungen er im Rahmen der Beurteilung gemessen wurde, hat nach dieser wertenden Betrachtung gegenüber einem Bewerber mit formal gleichem Gesamturteil im niedrigeren Statusamt die „bessere“ Beurteilung. Die Beurteilungen dürfen daher trotz formal gleicher Bewertung nicht als „wesentlich gleich“ behandelt werden.64 Dies hat Folgen unter anderem für die oben behandelte Frage, ob es zu einer „Ausschöpfung“ der Beurtei-
60 BVerfGK 10, 474 (478); 18, 423 (428); vgl. auch BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 4. Oktober 2012 – 2 BvR 1120/12 –, NVwZ 2013, S. 573 (574). 61 BVerfGK 10, 474 (478); 18, 423 (428); Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 4. Oktober 2012 – 2 BvR 1120/12 –, NVwZ 2013, S. 573 (574). 62 BVerfGK 10, 474 (478); 18, 423 (428). 63 BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 4. Oktober 2012 – 2 BvR 1120/12 –, NVwZ 2013, S. 573 (574). 64 BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 4. Oktober 2012 – 2 BvR 1120/12 –, NVwZ 2013, S. 573 (574).
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lungen, also zu einem unmittelbaren Vergleich einzelner Feststellungen kommen darf. Das zusätzlich zu berücksichtigende Gewicht der in einem höheren Statusamt erteilten Beurteilung hat jedoch – wie das Bundesverfassungsgericht klarstellte – auch seine Grenzen: „Ein Rechtssatz, dass dem Inhaber des höheren Statusamts auch bei formal schlechterer Beurteilung grundsätzlich der Vorzug gegeben werden muss, lässt sich Art. 33 Abs. 2 GG nicht entnehmen“.65 Ein Statusrückstand sei durch leistungsbezogene Kriterien kompensierbar. bb) Sonstige Auswahlmittel: Gespräche, Prüfungen, Assessment-Center Der Dienstherr darf sich bei der Auswahlentscheidung nach alledem zweifellos auf einen Vergleich dienstlicher Beurteilungen stützen, sofern sie aussagekräftig und hinreichend aktuell sind.66 Fraglich ist allerdings, ob er auf dienstliche Beurteilungen als Auswahlmittel beschränkt ist. Konkret betrifft dies die Frage, ob und inwieweit „moderne“ Personalauswahlinstrumente wie etwa Assessment-Center Erkenntnisquellen sein dürfen. In einer Kammerentscheidung aus dem Jahr 2011 hat das Bundesverfassungsgericht ausgeführt, der Dienstherr sei „verfassungsrechtlich nicht gezwungen, die Auswahlentscheidung allein nach Aktenlage zu treffen“.67 Vielmehr betont es einen Spielraum des Dienstherrn: „Anhand welcher Mittel die Behörden die Eignung, Befähigung und Leistung der Bewerber feststellen, ist durch Art. 33 Abs. 2 GG nicht im Einzelnen festgelegt. Die Heranziehung weiterer Hilfsmittel neben der dienstlichen Beurteilung ist daher nicht von vornherein ausgeschlossen, soweit diese hinreichend dokumentiert und gerichtlich überprüfbar sind“. Art. 33 Abs. 2 GG verbiete es daher nicht grundsätzlich, prüfungsähnliche Bestandteile in ein Beurteilungsverfahren zu integrieren. Hinsichtlich der Heranziehung und Gewichtung solcher weiterer Beurteilungsgrundlagen – das Bundesverfassungsgericht nennt beispielhaft Ergebnisse von Prüfungen und Tests oder Bewerbungsgespräche – komme dem Dienstherrn ein Beurteilungsspielraum zu. Nach der Formulierung des Bundesverfassungsgerichts kommt eine solche Heranziehung aber lediglich „ergänzend zur dienstlichen Beurteilung“ in Betracht.68 Für die Frage, ob die Heranziehung auf die Fälle beschränkt ist, in denen die dienstlichen Beurteilungen wesentlich gleich sind,69 lässt sich aus dieser Formulie-
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BVerfGK 18, 423 (428). Vgl. BVerfGK 10, 474 (478); 12, 106 (109). 67 BVerfGK 18, 423 (428). 68 Zu allem BVerfGK 18, 423 (428). 69 So BayVGH, Beschluss vom 17. Mai 2013 – 3 CE 12.2470 –, ZBR 2013, S. 383 (385); dagegen etwa Kathke, RiA 2013, S. 193 (195). 66
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rung wohl nichts ableiten. Für eine etwas größere Freiheit des Dienstherrn könnte allerdings sprechen, dass das Gericht den eigenverantwortlichen Spielraum des Dienstherrn bei der Heranziehung und Gewichtung weiterer Erkenntnismittel betont hat.70 Im Ergebnis kommt die Integration solcher prüfungsähnlicher Elemente in ein Auswahlverfahren danach durchaus in Betracht. Trotz denkbarer Manipulationsmöglichkeiten und der Probleme der Vergleichbarkeit bleibt die dienstliche Beurteilung aber ein unverzichtbares Mittel, um ein differenziertes und möglichst realitätsnahes Leistungsbild des Bewerberkreises zu gewinnen. Denn zum einen basiert sie nicht auf einer Momentaufnahme in einer bestimmten Situation, sondern schöpft ihre Erkenntnisse aus einem längeren Zeitraum anhand der Tätigkeit des Beurteilten.71 Zum anderen stellt die mit ihr einhergehende – auch einfachgesetzlich verankerte – besondere Formalisierung eine gewisse Sicherung des Bewerbungsverfahrensanspruchs der Beamten dar. Wo allerdings – etwa bei Einstellungsbewerbern – dienstliche Beurteilungen nicht vorhanden sind, dürfte dem Dienstherrn ein größerer Spielraum hinsichtlich seiner Erkenntnisquellen zukommen. Kann die Behörde nicht auf dienstliche Beurteilungen oder sonstige eigene Einschätzungen zurückgreifen, so darf sie sich etwa anhand eines Vorstellungsgesprächs der persönlichen Eignung eines Bewerbers vergewissern.72 Dass eine Bewerberin die erforderlichen Staatsexamina (konkret: für den Lehrerberuf) bestanden hat, ändert nach einer Kammerentscheidung von 2013 nichts an der Befugnis des Dienstherrn, sich hinsichtlich der persönlichen Eignung selbst ein Bild zu machen.73 c) Dokumentationspflichten Bei der Auswahlentscheidung unterliegt der Dienstherr bestimmten Dokumentationspflichten. Dies ist Teil der Vorwirkung von Art. 33 Abs. 2 GG in Verbindung mit Art. 19 Abs. 4 GG auf das Verwaltungsverfahren, wonach dem unterlegenen Bewerber gerichtlicher Rechtsschutz gegen die Auswahlentscheidung nicht unzumutbar erschwert werden darf. Da der Bewerber für die Fehlerhaftigkeit der Auswahlentscheidung darlegungspflichtig ist und sich dabei nur auf die in den Akten fixierten Auswahlerwägungen stützen kann, ist der Dienstherr verpflichtet, die wesentlichen
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Vgl. auch von Roetteken, ZBR 2012, S. 230 (237). Siehe auch Werres, Beamtenverfassungsrecht, 2011, Rn. 151. 72 Vgl. BVerfGK 6, 28 (34 f.); BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 27. Mai 2013 – 2 BvR 462/13 –, IÖD 2013, S. 182 (183). 73 BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 27. Mai 2013 – 2 BvR 462/13 –, IÖD 2013, S. 182 (183). 71
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Auswahlerwägungen schriftlich niederzulegen.74 Dies ermöglicht es dem unterlegenen Bewerber, mittels Akteneinsicht „sachgerecht darüber (zu) befinden, ob er die Entscheidung des Dienstherrn hinnehmen soll oder ob Anhaltspunkte für einen Verstoß gegen den Anspruch auf faire und chancengleiche Behandlung seiner Bewerbung bestehen und er daher gerichtlichen Eilrechtsschutz in Anspruch nehmen will. Darüber hinaus eröffnet erst die Dokumentation der maßgeblichen Erwägungen auch dem Gericht die Möglichkeit, die angegriffene Entscheidung eigenständig nachzuvollziehen (…)“.75 Als Nebenfolge vermag die Dokumentationspflicht auch die Rationalität der Auswahlentscheidung zu erhöhen und kann daher auch als „verfahrensbegleitende Absicherung der Einhaltung der Maßstäbe des Art. 33 Abs. 2 GG“ verstanden werden.76 Interne Vermerke zum Besetzungsverfahren, welche lediglich der Vorbereitung der Auswahlentscheidung der Hausspitze dienten, müssten den Bewerbern nach einer Kammerentscheidung von 2007 allerdings nicht zugänglich gemacht werden.77 Ob diese Ausnahme noch tragfähig ist, ist – nicht zuletzt in Anbetracht der allgemeinen Entwicklung hin zu mehr Transparenz staatlichen Handelns – fraglich, zumal auch solche Vermerke für die Frage einer fairen Behandlung einer Bewerbung aufschlussreich sein können. d) Schadensersatz Auf der Tertiärebene können aus einer rechtswidrigen Auswahlentscheidung unter Umständen Schadensersatzansprüche resultieren. Das Bundesverwaltungsgericht hat allerdings entschieden, dass ein Schadensersatzanspruch nicht besteht, wenn das Bewerbungsverfahren aufgrund der Rechtswidrigkeit der Auswahlentscheidung abgebrochen wird 78. Dass der aus der Verletzung des Bewerbungsverfahrensanspruchs folgende Schadensersatzanspruch eines übergangenen Bewerbers durch den Abbruch eines Auswahlverfahrens auch dann ausgeschlossen sein soll, wenn der Grund für den Abbruch (nämlich die Rechtswidrigkeit der Auswahlentscheidung) deckungsgleich ist mit der den Schadensersatzanspruch begründenden Pflichtverletzung, überzeugt wohl zwar dogmatisch wenig. Das Bundesverfassungsgericht hat die Entscheidung allerdings unter Hinweis auf die Befugnis des Bundesverwaltungsgerichts zur richterrechtlichen Konkretisierung der Voraussetzungen des Schadensersatzanspruchs unbeanstandet gelassen.79 74 BVerfGK 11, 398 (403); vgl. auch BVerfGK 12, 106 (110); BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 25. November 2011 – 2 BvR 2305/11 –, NVwZ 2012, S. 368 (369). 75 BVerfGK 11, 398 (403). 76 Vgl. BVerfGK 11, 398 (403). 77 BVerfGK 12, 106 (110). 78 BVerwG, Beschluss vom 31. März 2011 – 2 A 2/09 –, NVwZ 2011, S. 1528 f. 79 BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 3. Juli 2012 – 2 BvR 1541/11 –, IÖD 2013, S. 218.
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5. Nach der Auswahlentscheidung: Wartepflicht des Dienstherrn Ist ein Bewerber ausgewählt, so darf der Dienstherr ihn nicht unmittelbar ernennen. Vielmehr hat er den unterlegenen Bewerbern die Auswahlentscheidung zunächst mitzuteilen80 und vor der Aushändigung der Urkunde einen gewissen Zeitraum abzuwarten.81 Dem unterlegenen Bewerber soll ermöglicht werden, effektiven Rechtsschutz gegen die Auswahlentscheidung in Anspruch zu nehmen.82 Hierzu gehört nach der erstinstanzlichen Entscheidung auch die Beschwerde zum Oberverwaltungsgericht. Anschließend muss der Dienstherr – was teilweise als verfahrensrechtliche Anomalie betrachtet wird 83 – dem Bewerber grundsätzlich noch Gelegenheit geben, das Bundesverfassungsgericht anzurufen.84 Das Bundesverfassungsgericht gründet diese Pflicht auf den Bewerbungsverfahrensanspruch des unterlegenen Bewerbers in Zusammenschau mit der Fürsorgepflicht des Dienstherrn aus Art. 33 Abs. 5 GG sowie dem Gedanken des Rechtsmissbrauchs unter dem Gesichtspunkt der Vereitelung der Inanspruchnahme verfassungsgerichtlichen Rechtsschutzes.85 Wie lange die Wartefrist des Dienstherrn zur Ermöglichung einer Anrufung des Bundesverfassungsgerichts nach der Zustellung der letztinstanzlichen Eilentscheidung konkret beträgt, ist in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts allerdings noch nicht klar entschieden. In einer früheren Entscheidung hat die zuständige Kammer ausgeführt, es komme maßgeblich auf die Umstände des Einzelfalls an; dabei seien das Interesse des Beschwerdeführers an der Inanspruchnahme verfassungsgerichtlichen Rechtsschutzes und das Interesse des Dienstherrn an einer zeitnahen Stellenbesetzung gegeneinander abzuwägen.86
80 Vgl. schon BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 19. September 1989 – 2 BvR 1576/88 –, NJW 1990, S. 501 (501 f.). 81 Vgl. BVerfGK 11, 398 (402); 12, 206 (208); BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 9. Juli 2009 – 2 BvR 706/09 –, NVwZ 2009, S. 1430. 82 BVerfGK 11, 398 (402); 12, 206 (208). 83 Kritisch etwa Munding, DVBl 2011, S. 1512 (1519): „Die Einbeziehung des Eilrechtsschutzes vor dem BVerfG in die Systematik der nachträglichen Aufhebbarkeit der Ernennung überrascht auf den ersten Blick.“ Das Bundesverfassungsgericht sei nicht Teil des ordentlichen Rechtswegs und werde „hier im Widerspruch zu seiner eigentlichen Stellung im gerichtlichen Kompetenzgefüge zu einer weiteren Eilrechtsschutzinstanz.“ Ähnlich Schenke, NVwZ 2011, S. 321 (326). 84 Vgl. BVerfGK 11, 398 (402); 12, 206 (208); BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 9. Juli 2009 – 2 BvR 706/09 –, NVwZ 2009, S. 1430. 85 Vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 9. Juli 2009 – 2 BvR 706/09 –, NVwZ 2009, S. 1430. 86 BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 9. Juli 2009 – 2 BvR 706/09 –, NVwZ 2009, S. 1430.
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Die Wartefrist ist dabei nicht notwendig identisch mit der Verfassungsbeschwerdefrist. Zwar steht es dem Beschwerdeführer, soweit es um das Zulässigkeitskriterium der Frist geht, in rechtlicher Hinsicht frei, zur Erhebung und Begründung der Verfassungsbeschwerde die Monatsfrist des § 93 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG auszuschöpfen. Dies begründet jedoch nicht schon zugleich einen Anspruch darauf, dass sich sein Rechtsschutzziel in dieser Zeit nicht durch äußere Umstände erledigt. Dass ein Auseinanderfallen von Wartefrist und Verfassungsbeschwerdefrist durchaus denkbar ist, liegt an der besonderen Eigenart der Verfassungsbeschwerde: Sie stellt keinen zusätzlichen Rechtsbehelf zum fachgerichtlichen Verfahren dar, sondern einen außerordentlichen Rechtsbehelf, der den Eintritt der Rechtskraft der angegriffenen Entscheidung nicht hindert 87. Sie gewährleistet damit nicht, dass die Vollstreckung einer – möglicherweise die Grundrechte verletzenden – Entscheidung verhindert wird oder die Folgen des Vollzugs rückgängig gemacht werden88. Der Dienstherr ist mit rechtskräftigem Abschluss des fachgerichtlichen Verfahrens daher auch grundsätzlich berechtigt, die Ernennung des ausgewählten Mitbewerbers vorzunehmen. Dem Beschwerdeführer darf lediglich die faktische Möglichkeit, dies zu verhindern, nicht von vornherein genommen werden. Die Wartefrist des Dienstherrn muss daher so bemessen sein, dass der Beschwerdeführer die Erfolgsaussichten verfassungsgerichtlichen Eilrechtsschutzes prüfen – also einen juristischen Beistand finden und die fachgerichtlichen Entscheidungen aufarbeiten – und einen entsprechenden Antrag beim Bundesverfassungsgericht stellen kann. Das Bundesverfassungsgericht hat hierzu bisher lediglich ausgeführt, dass eine Frist von einem oder zwei Tagen jedenfalls nicht genüge 89. Die Fachgerichte halten in Analogie zu § 147 Abs. 1 VwGO überwiegend eine Wartefrist von zwei Wochen nach Zustellung der letztinstanzlichen Eilentscheidung für eine Prüfung und die Ankündigung der Anrufung des Bundesverfassungsgerichts gegenüber dem Dienstherrn für ausreichend90. Ist dies erfolgt, so kann der Beschwerdeführer die Verfassungsbeschwerdefrist voll ausschöpfen91: Sobald er Kenntnis von der beabsichtigten Antragstellung erlangt, dürfte der Dienstherr wegen Rechtsmissbräuchlichkeit einer Vereitelung der Inanspruchnahme verfassungsge87
BVerfGE 94, 166 (212 ff.); 107, 395 (413 f.); 115, 81 (92). BVerfGE 94, 166 (214 f.). 89 BVerfGK 11, 389 (402); BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 9. Juli 2009 – 2 BvR 706/09 –, NVwZ 2009, S. 1430; Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 2. Dezember 2010 – 2 BvR 1067/10 –, juris Rn. 2. 90 HessVGH, Beschluss vom 4. September 2007 – 1 TG 1208/07 –, juris Rn. 9. Ausführliche Prüfung bei BVerwG, Beschluss des 2. Senats vom 8. Dezember 2011 – 2 B 106/11 –, juris Rn. 6 ff. Vgl. auch zum Warten auf die Anrufung des Verwaltungsgerichts BVerwGE 138, 102 (112); OVG NRW, Beschluss vom 31. Oktober 2005 – 1 B 1450/05 –, juris Rn. 43. 91 BVerwG, Beschluss des 2. Senats vom 8. Dezember 2011 – 2 B 106/11 –, juris Rn. 10. 88
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richtlichen Rechtsschutzes gehalten sein, die Ausschöpfung der Verfassungsbeschwerdefrist sowie eine – zügige – Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über einen Eilantrag gemäß § 32 BVerfGG abzuwarten.92 6. Rechtsschutz gegen die Auswahlentscheidung Eine Reihe von Entscheidungen befasst sich mit den Rechtsschutzmöglichkeiten eines unterlegenen Bewerbers. Dabei ist anerkannt, dass die Auswahlentscheidung des Dienstherrn schon von Verfassungs wegen nur einer eingeschränkten gerichtlichen Kontrolle unterliegt.93 Art. 33 Abs. 2 GG eröffnet dem Dienstherrn mit den Begriffen „Eignung, Befähigung und fachliche Leistung“ einen Beurteilungsspielraum.94 Die Verwaltungsgerichte können nicht ihre eigene Beurteilung an die Stelle derjenigen des Dienstherrn setzen.95 Sie sind vielmehr – sofern der Dienstherr nicht von einem unrichtigen Sachverhalt ausgegangen ist oder den verfassungs- und einfachrechtlichen Rahmen verkannt hat – auf eine Willkürkontrolle und damit auf die Prüfung beschränkt, ob allgemein gültige Wertmaßstäbe missachtet oder sachfremde Erwägungen angestellt wurden.96 Rügen wie jene, dass der Dienstherr einzelne Befähigungsmerkmale anders hätte bewerten oder gewichten müssen, dürften angesichts des Beurteilungsspielraums des Dienstherrn und des nur eingeschränkten Prüfprogramms der Fachgerichte daher wenig aussichtsreich sein.97 a) Bewerbungsverfahrensanspruch aa) Recht auf fehlerfreie Auswahl In diesem Rahmen kann ein unterlegener Bewerber gegen die Auswahlentscheidung vor Gericht einwenden, sie verletze seinen Anspruch auf ermessens- und beurteilungsfehlerfreie Entscheidung über seine Bewerbung (Bewerbungsverfahrensanspruch) aus Art. 33 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 19 Abs. 4 GG.
92 Vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 9. Juli 2009 – 2 BvR 706/09 –, NVwZ 2009, S. 1430. 93 BVerfGK 18, 423 (427); BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 25. November 2011 – 2 BvR 2305/11 –, NVwZ 2012, S. 368 (370), jeweils m.w.N. Ein „gleichsam kompensatorisches Komplementärverhältnis zwischen grundrechtlich geprägtem Verwaltungsverfahren und (reduzierter) verwaltungsgerichtlicher Kontrolle“ konstatiert Höfling, ZBR 1999, S. 73 (74). 94 Vgl. BVerfGK 18, 423 (427), m.w.N. 95 Vgl. BVerfGE 39, 334 (354). 96 Vgl. BVerfGE 39, 334 (354); 108, 282 (296). 97 Vgl. BVerfGK 18, 423 (430).
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(1) Eigene Benachteiligung oder Bevorzugung von Mitbewerbern Ein unterlegener Bewerber kann dabei nicht nur geltend machen, dass seine Bewerbung durch eine unzutreffende Beurteilung seiner eigenen Qualifikation oder eine unzulässige Abwertung seiner Person im Leistungsvergleich benachteiligt worden sei. Vielmehr kann er sich auch darauf berufen, dass der ausgewählte Bewerber in seiner Qualifikation überschätzt oder im Leistungsvergleich unzulässigerweise bevorzugt worden sei.98 Wird etwa ein Bewerber ausgewählt, welchem die Eignung für die fragliche Stelle fehlt – etwa, weil er eine im Anforderungsprofil vorgesehene Mindestqualifikation nicht aufweist –, ist die Auswahlentscheidung fehlerhaft und verletzt den unterlegenen Bewerber in seinem Bewerbungsverfahrensanspruch.99 Gelegentlich wird im Konkurrentenstreitverfahren auch eine inzidente Überprüfung einer Beurteilung erforderlich.100 Dies ist etwa dann der Fall, wenn ein Bewerber die Beurteilung eines Konkurrenten beanstandet oder aber gegen seine eigene Beurteilung noch ein Rechtsbehelfsverfahren betreibt. Das Gericht muss sich mit den Einwänden beziehungsweise den Erfolgsaussichten des noch anhängigen Antrags101 auseinandersetzen. Denn wäre eine für den Bewerbervergleich herangezogene dienstliche Beurteilung rechtswidrig, so fehlt es grundsätzlich an einer tragfähigen Grundlage für die Auswahlentscheidung.102 Bei der Überprüfung ist jedoch die ebenfalls bereits von Verfassungs wegen begrenzte verwaltungsgerichtliche Befugnis zur Kontrolle dienstlicher Beurteilungen zu beachten.103 (2) Einhaltung objektiver Rechtsnormen Auch die Einhaltung objektiver Rechtsnormen kann inzident zu überprüfen sein, wenn ihnen Relevanz für den Anspruch auf fehlerfreie Entscheidung über die Bewerbung zukommt. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn sie maßgebend für die Eignung des ausgewählten Konkurrenten sind.104 Die subjektive Berechtigung zur Geltendmachung eines Verstoßes
98 St. Kammerrechtsprechung seit BVerfGK 12, 265 (269) in Anlehnung an die stRspr des Bundesverwaltungsgerichts. 99 BVerfGK 12, 265 (269); BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 25. November 2011 – 2 BvR 2305/11 –, NVwZ 2012, S. 368 (370). 100 Vgl. näher Werres, Beamtenverfassungsrecht, 2011, Rn. 140. 101 Zum Rechtsschutz gegen dienstliche Beurteilungen siehe ausführlich Schnellenbach, Die dienstliche Beurteilung der Beamten und der Richter, Bd. 2, 3. Aufl., Losebl. (November 2012), Rn. 428 ff. 102 Vgl. BVerfGK 12, 106 (109). 103 Vgl. BVerfGK 12, 106 (109). 104 Vgl. BVerfGK 12, 265 (271 f.); BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 25. November 2011 – 2 BvR 2305/11 –, NVwZ 2012, S. 368 (369).
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gegen objektives Recht folgt in diesem Fall nicht aus der unmittelbar verletzten objektiven Norm, sondern aus Art. 33 Abs. 2 GG.105 Die zuständige Kammer hatte einen solchen Eignungsbezug im Jahr 2007 für Art. 87a Abs. 2 GG (Verfassungsvorbehalt für den Streitkräfteeinsatz) angenommen und damit den Einwand für zulässig erachtet, der ausgewählte Mitbewerber – ein Soldat – dürfe auf der streitgegenständlichen Stelle bei einer zivilen Behörde nicht eingesetzt werden und sei daher nicht geeignet.106 Den gleichen Ausgangspunkt nimmt eine Entscheidung aus dem Jahr 2011107, welche im Ergebnis allerdings noch einmal differenziert. Die Beschwerdeführerin hatte im Hinblick auf Art. 33 Abs. 4 GG, wonach die ständige Ausübung hoheitlicher Befugnisse nicht in größerem Umfang auf Nichtbeamte übertragen werden darf, die Öffnung einer Stellenausschreibung auch für Angestellte beanstandet. In ihrer Entscheidung behielt die Kammer zwar den Maßstab hinsichtlich objektiver Rechtsnormen bei. Sie betonte aber, dass der Bewerbungsverfahrensanspruch grundsätzlich mit der Auswahlentscheidung ende und sich nicht auch auf den Status erstrecke, welcher dem ausgewählten Bewerber bei Übertragung des Dienstpostens zuerkannt werde. Müsse die in Rede stehende Tätigkeit von einem Beamten ausgeübt werden, so obliege es dem Dienstherrn, eine Verbeamtung des ausgewählten Bewerbers vorzunehmen (dass eine solche im konkreten Fall ausgeschlossen wäre, war nicht vorgetragen). Der Bewerbungsverfahrensanspruch von Mitbewerbern beziehe sich hierauf allerdings nicht mehr.108 bb) Glaubhaftmachung realer Auswahlchance nicht erforderlich Dass ein erneutes Auswahlverfahren einen für ihn günstigen Ausgang hätte, muss der unterlegene Bewerber nicht glaubhaft machen.109 Denn Verfahrensgegenstand ist ja nicht ein (zu sichernder) Anspruch auf Beförderung, sondern „allein das dahinter zurückbleibende Recht auf fehlerfreie Entscheidung über die Bewerbung“.110 Es reicht aus, dass die Auswahl des Beschwerdeführers bei einer Wiederholung des Auswahlverfahrens wenigstens „möglich erscheint“.111 105
BVerfGK 12, 265 (271). BVerfGK 12, 265 (297 f.). 107 BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 25. November 2 BvR 2305/11 –, NVwZ 2012, S. 368 ff. 108 BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 25. November 2 BvR 2305/11 –, NVwZ 2012, S. 368 (369 f.). 109 BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 24. September 2 BvR 857/02 –, NVwZ 2003, S. 200 (201). 110 BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 24. September 2 BvR 857/02 –, NVwZ 2003, S. 200 (201). 111 BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 24. September 2 BvR 857/02 –, NVwZ 2003, S. 200 (201); BVerfGK 9, 1 (6); 14, 455 (457). 106
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Einstweiliger Rechtsschutz wird folglich dann nicht gewährt, wenn die Auswahl des Beschwerdeführers in einem erneuten Auswahlverfahren ausgeschlossen wäre. Mit dieser Einschränkung des Grundsatzes, wonach ein Bewerber bei Verletzung seines Bewerbungsverfahrensanspruchs eine erneute Entscheidung über seine Bewerbung beanspruchen kann, wird – entsprechend dem Rechtsgedanken des § 46 VwVfG – verhindert, dass ein Auswahlverfahren auch dann wiederholt werden muss, wenn die Kausalität eines Fehlers im Auswahlverfahren für das Unterliegen des nicht zum Zuge gekommenen Bewerbers ausgeschlossen ist112. In Betracht kommt dies etwa bei bloßen Formfehlern ohne inhaltliche Folgen oder auch dann, wenn der Bewerber bereits unabhängig vom unterlaufenen Fehler aus sonstigen (laufbahnrechtlichen oder Eignungs-)Gründen von der Auswahl ausgeschlossen ist 113. Der Topos der „offensichtlichen Chancenlosigkeit der Bewerbung“ erlaubt es den Gerichten aber nicht, quasi „durch die Hintertür“ eigene Prognosen zu den Erfolgsaussichten einer Bewerbung oder gar zum Abschneiden des Bewerbers im Rahmen einer neu zu fertigenden dienstlichen Beurteilung abzugeben114. Eine Chancenlosigkeit des Bewerbers aufgrund von Mutmaßungen über eine künftige dienstliche Beurteilung beziehungsweise eine künftige Ermessensentscheidung des Dienstherrn im Auswahlverfahren anzunehmen, dürfte die Einschränkung des Bewerbungsverfahrensanspruchs überdehnen und die Rechtsschutzmöglichkeiten unterlegener Bewerber in verfassungswidriger Weise beschneiden.115 Tendenzen der Fachgerichte, zur Abkürzung ihrer Verfahren die Frage der Rechtmäßigkeit der Auswahlentscheidung unter Hinweis darauf offenzulassen, der Beschwerdeführer könne leistungsmäßig ohnehin nicht an den ausgewählten Bewerber heranreichen, so dass sich eine Wiederholung des Auswahlverfahrens erübrige, wären daher – insbesondere dort, wo der Auswahlentscheidung wegen der Fehlerhaftigkeit einer dienstlichen Beurteilung eine tragende Grundlage entzogen ist – bedenklich. cc) Kein Anspruch auf Ernennung/Beförderung Der Bewerbungsverfahrensanspruch erschöpft sich in einem Recht auf fehlerfreie Entscheidung über die Bewerbung. Leidet die Entscheidung über die Bewerbung an Ermessens- oder Beurteilungsfehlern des Dienstherrn, so
112
Vgl. Kühling, NVwZ 2004, S. 656 (658). Vgl. zu letzterem BVerfGK 14, 455 (457 f.). 114 Vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 24. September 2002 – 2 BvR 857/02 –, NVwZ 2003, S. 200 (201). 115 Vgl. aus der fachgerichtlichen Rechtsprechung etwa OVG Lüneburg, Beschluss des 5. Senats vom 20. Februar 2008 – 5 ME 505/07 –, juris Rn. 17 ff.; OVG Thüringen, Beschluss des 2. Senats vom 18. März 2011 – 2 EO 471/09 –, ThürVBl 2011, S. 24, juris Rn. 85; OVG Sachsen-Anhalt, Beschluss des 1. Senats vom 26. August 2009 – 1 M 52/09 –, juris Rn. 27 ff. 113
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können die Fachgerichte ihn folglich im Wege einstweiligen Rechtsschutzes an einer Umsetzung der Auswahlentscheidung hindern oder ihn in der Hauptsache verpflichten, erneut über die Bewerbung zu entscheiden. Einen Anspruch auf Übernahme in den öffentlichen Dienst, Beförderung oder Erhalt des begehrten Dienstpostens enthält der Bewerbungsverfahrensanspruch dagegen nicht.116 Auch bei einer fehlerhaften Auswahlentscheidung kann der unterlegene Bewerber daher „– von dem unwahrscheinlichen Fall einer Reduzierung des Beurteilungsspielraumes bzw. des Ermessens auf Null abgesehen – unter Berufung auf Art. 33 Abs. 2 GG nicht gerichtlich feststellen lassen, dass er an Stelle des ihm vorgezogenen Konkurrenten hätte ausgewählt werden müssen“.117 b) Prozedurale Fragen des Rechtsschutzes aa) Ausgangspunkt: Vorläufiger Rechtsschutz zu den Fachgerichten Nach der Rechtsprechung der Fachgerichte ist der Bewerbungsverfahrensanspruch in der Regel vor der Ernennung des ausgewählten Bewerbers im Wege einstweiligen Rechtsschutzes zu sichern. Nach einer langjährigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts trat mit einer Ernennung nahezu ausnahmslos Ämterstabilität ein. Dies bedeutete, dass das Amt dem erfolgreichen Bewerber mit der Ernennung rechtsbeständig zugewiesen wurde, so dass für den unterlegenen Bewerber ab diesem Zeitpunkt weder Eil- noch Hauptsacherechtsschutz gegen die Auswahlentscheidung und Stellenbesetzung zu erlangen war.118 Diese Rechtsprechung und die damit einhergehende Einschränkung der Rechtsschutzmöglichkeiten hat das Bundesverfassungsgericht „in Anbetracht des insoweit eingeschränkten Prüfungsmaßstabs“ des Gerichts verfassungsrechtlich nicht beanstandet.119 Dabei stellte es maßgeblich darauf ab, dass der unterlegene Bewerber die Schaffung vollendeter Tatsachen durch die Inanspruchnahme von Eilrechtsschutz verhindern könne.120 Es betonte allerdings, dass den Erfordernissen eines effektiven Rechtsschutzes im Eilverfah-
116 Vgl. bereits BVerfGE 39, 334 (354). Siehe ferner BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 24. September 2002 – 2 BvR 857/02 –, NVwZ 2003, S. 200 (201); BVerfGK 12, 184 (186). 117 St. Kammerrechtsprechung seit BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 24. September 2002 – 2 BvR 857/02 –, NVwZ 2003, S. 200 (201). 118 Vgl. BVerwGE 80, 127 (129 f.). Näher hierzu etwa Laubinger, ZBR 2010, S. 289 (292 ff.). 119 BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 19. September 1989 – 2 BvR 1576/88 –, NJW 1990, S. 501 (501); Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 24. September 2002 – 2 BvR 857/02 –, NVwZ 2003, S. 200 (200). 120 BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 19. September 1989 – 2 BvR 1576/88 –, NJW 1990, S. 501 (501).
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ren besonders Rechnung getragen werden müsse und insbesondere erforderlichenfalls eine eingehende tatsächliche und rechtliche Prüfung des Bewerbungsverfahrensanspruchs zu erfolgen habe.121 Mit Urteil vom 4. November 2010 änderte das Bundesverwaltungsgericht seine Rechtsprechung:122 Es geht nun von der ausnahmsweisen – auf die Fälle einer Rechtsschutzvereitelung durch den Dienstherrn beschränkten – Möglichkeit aus, eine einmal erfolgte Ernennung anzufechten.123 Die prozessuale Ausgestaltung im Einzelnen124 – insbesondere die von einzelnen Fachgerichten infolge des bundesverwaltungsgerichtlichen Urteils unterschiedlich beantwortete Frage, ob einstweiliger Rechtsschutz weiter nach § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO oder infolge der Verwaltungsaktsqualität der Auswahlentscheidung nach § 80 Abs. 5 VwGO zu beantragen ist125 –, ist grundsätzlich Sache der Fachgerichte.126 Die Rechtsprechungsänderung dürfte daher für das Bundesverfassungsgericht nur im Rahmen der Zulässigkeitsprüfung einer Verfassungsbeschwerde eine Rolle spielen: Hier kommt es bei der Prüfung der Rechtswegerschöpfung beziehungsweise der Subsidiarität darauf an, ob die Rechtsschutzmöglichkeiten zu den Fachgerichten in ihrer jeweils gegebenen Ausgestaltung ausgenutzt wurden.127 Schon, um dem Eintritt von Bestandskraft vorzubeugen, sollte der Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes durch einen Rechtsbehelf – in aller Regel einen Widerspruch – in Bezug auf die Auswahlentscheidung flankiert sein. Dessen Bearbeitung wird in der Praxis wohl regelmäßig bis zum Abschluss des Verfahrens im einstweiligen Rechtsschutz zurückgestellt.
121 BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 24. September 2002 – 2 BvR 857/02 –, NVwZ 2003, S. 200 (200). 122 BVerwGE 138, 102 (105 ff.). In einem obiter dictum hatte das Bundesverwaltungsgericht bereits früher eine Rechtsprechungsänderung erwogen (BVerwG, Urteil vom 13. September 2001 – 2 C 39/00 –, DVBl 2002, S. 203 (204)), sah aber seine Bedenken nach dem Kammerbeschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 24. September 2002 zunächst entkräftet (BVerwGE 118, 370 (372 f.)). Näher zur Entwicklung der Rechtsprechung Munding, DVBl 2011, S. 1512 (1514 f.); Battis, DVBl 2013, S. 673 (674 f.). 123 BVerwGE 138, 102 (113). Näher Schenke, NVwZ 2011, S. 321 (322 ff.); Schefzik, VBlBW 2012, S. 411 (413 ff.). 124 Zu denkbaren prozessualen Konsequenzen aus BVerwGE 138, 102 aufschlussreich von Roetteken, ZBR 2011, S. 73 ff. 125 Übersicht m.N. bei Schefzik, VBlBW 2012, S. 411 (415); Battis, DVBl 2013, S. 673 (676). 126 Vgl. auch Munding, DVBl 2011, S. 1512 (1515). 127 Vgl. nur BVerfGK 12, 206 (208 f.).
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bb) Die Verfassungsbeschwerde im Konkurrentenstreitverfahren (1) In der Regel: Verwaltungsgerichtliche Eilentscheidungen als Gegenstand Mit Konkurrentenstreitverfahren wird das Bundesverfassungsgericht in der Regel in Form einer Verfassungsbeschwerde gegen verwaltungsgerichtliche Entscheidungen befasst, welche dem Beschwerdeführer einstweiligen Rechtsschutz gegen die Auswahlentscheidung versagt haben. Eine solche Verfassungsbeschwerde ist meist mit einem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung durch das Bundesverfassungsgericht des Inhalts verbunden, dass dem Dienstherrn die einstweilige Freihaltung der jeweiligen Stelle aufgegeben werden soll. Ein solcher Antrag gewährleistet eine besonders zügige Vorlage der Akte an das zuständige Berichterstatterdezernat und eine vorrangige Bearbeitung. Sofern der Beschwerdeführer einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung stellt und nicht schon selbst – wie es empfehlenswert ist – bereits den Dienstherrn informiert und eventuell von diesem eine Zusage erhalten hat, dass einstweilen keine Ernennung vorgenommen wird, hat das Bundesverfassungsgericht die zuständige Behörde gelegentlich informell um einen Aufschub der Stellenbesetzung gebeten, um sich die für eine verfassungsgerichtliche Eilentscheidung notwenige Zeit zu verschaffen128. Diese Besonderheit bei Konkurrentenstreitverfahren (bei Verfassungsbeschwerden wird die Gegenseite grundsätzlich nur dann in das Verfahren einbezogen, wenn die Kammer nach ausführlicher rechtlicher Prüfung eine Stattgabe erwägt) nimmt Rücksicht auf die Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte zur Ämterstabilität. Sind die Annahmevoraussetzungen des § 93a Abs. 2 BVerfGG ersichtlich nicht erfüllt, so entscheidet die zuständige Kammer des Bundesverfassungsgerichts in der Regel unmittelbar über die Verfassungsbeschwerde. Mit der Nichtannahme der Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung erledigt sich – so die regelmäßige Tenorierung – der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung. Ist die Verfassungsbeschwerde dagegen weder von vornherein unzulässig noch offensichtlich unbegründet, entscheidet das Bundesverfassungsgericht – sofern der Dienstherr nicht zugesichert hat, mit der Ernennung zu warten – nach § 32 BVerfGG auf der Basis einer Folgenabwägung über den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung.129 Bei der Abwägung dürften sich die Belange des Antragstellers, welchem ein irreparabler Rechtsverlust droht, in der Regel gegenüber dem allgemeinen Interesse des 128 Vgl. auch zur Verfahrensweise bei bestimmten Fällen nach dem AsylVfG BVerfGE 94, 166 (212). 129 Siehe beispielsweise BVerfG, Beschlüsse der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 9. Juli 2002 – 2 BvQ 25/02 –, NVwZ 2002, S. 1367 f.; vom 7. Februar 2007 – 2 BvQ 62/06 –, BayVBl 2007, S. 368 f.; vom 16. Dezember 2013 – 2 BvR 1958/13 –, IÖD 2014, S. 52 f.
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Dienstherrn an einer schnellen Besetzung der ausgeschriebenen Stelle durchsetzen.130 Fraglich ist, ob ein Beschwerdeführer gegen fachgerichtliche Eilentscheidungen auch dann im Wege der Verfassungsbeschwerde weiter vorgehen kann, wenn der Dienstherr unter Missachtung seiner oben geschilderten Wartepflicht bereits eine Ernennung des Mitbewerbers vorgenommen hat. Grundsätzlich sind die mit der Verfassungsbeschwerde angegriffenen gerichtlichen Entscheidungen in diesem Fall prozessual überholt. In einem stattgebenden Beschluss von Juni 2007 hielt das Bundesverfassungsgericht in einer solchen Konstellation dennoch ein Rechtsschutzinteresse für eine Verfassungsbeschwerde gegen Eilentscheidungen im Konkurrentenstreitverfahren für gegeben.131 Da die Behörde durch die umgehende Ernennung des Mitbewerbers die Rechtsschutzmöglichkeiten des Beschwerdeführers vereitelt habe, geböte es Art. 19 Abs. 4 in Verbindung mit Art. 33 Abs. 2 GG, dass dem Beschwerdeführer die Weiterverfolgung der behaupteten Verletzung des Bewerbungsverfahrensanspruchs im Wege der Verfassungsbeschwerde möglich sein müsse.132 Auf den Rechtsweg in der Hauptsache (also eine Klage gegen die Stellenbesetzung) wollte man den Beschwerdeführer angesichts der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur Ämterstabilität133 offensichtlich nicht verweisen. Die Rechtsprechung der Kammer zur Möglichkeit, einen per Eilrechtsschutz verfolgten Bewerbungsverfahrensanspruch nach der Ernennung des Mitbewerbers im Wege der Verfassungsbeschwerde weiter geltend zu machen, änderte sich wenige Monate später. Weil das Bundesverwaltungsgericht in verschiedenen, der vorliegenden ähnelnden Konstellationen in Durchbrechung des Grundsatzes der Ämterstabilität die Durchführung eines Hauptsacheverfahrens trotz bereits erfolgter Ernennung für zulässig gehalten habe, sei dem Beschwerdeführer die vorgängige Durchführung des Hauptsacheverfahrens zumutbar.134 Dies ist nun ständige Kammerrechtsprechung.135 Verkürzt der Dienstherr nach einer vom Beschwerdeführer für fehlerhaft gehaltenen Auswahlentscheidung die Rechtsschutzmöglichkeiten des Beschwerdeführers, indem er unmittelbar einen Mitbewerber ernennt, so
130 Vgl. zuletzt BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 16. Dezember 2013 – 2 BvR 1958/13 –, juris Rn. 5. 131 BVerfGK 11, 398 (400). 132 BVerfGK 11, 398 (400), unter Verweis auf BVerfGK 5, 205 (210 f.). 133 Vgl. BVerwGE 118, 370 (372). 134 BVerfGK 12, 206 (209). Dass der Verweis auf den Hauptsacherechtsweg mit der prozessualen Überholung des einstweiligen Rechtsschutzes zusammenhing, wird wohl übersehen von Munding, DVBl 2011, S. 1512 (1519, 1520). 135 Vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 2. Dezember 2010 – 2 BvR 1067/10 –, juris Rn. 2; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 9. Juli 2009 – 2 BvR 706/09 –, juris Rn. 2.
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müsste der Beschwerdeführer zunächst vor den Fachgerichten im Hauptsacheverfahren gegen die erfolgte Ernennung vorgehen. Nach Erschöpfung des Hauptsacherechtswegs kann er Verfassungsbeschwerde erheben. (2) Angriff auf Auswahlentscheidung selbst Die Verfassungsbeschwerde gegen die verwaltungsgerichtlichen Eilentscheidungen kann in der Regel nicht mit einem Antrag auf Feststellung einer Rechtsverletzung durch die Auswahlentscheidung selbst verbunden werden. Um zulässigerweise gegen die Auswahlentscheidung selbst Verfassungsbeschwerde zu erheben, muss zunächst der Rechtsweg in der Hauptsache erschöpft sein. Das verwaltungsgerichtliche Eilverfahren führt hinsichtlich der Auswahlentscheidung nicht zu einer Rechtswegerschöpfung, weil sein Gegenstand nicht die Auswahlentscheidung selbst, sondern der Anspruch auf vorläufige Sicherung des Bewerbungsverfahrensanspruchs ist.136
III. Fazit Die Einwirkungsmöglichkeiten des Bundesverfassungsgerichts im beamtenrechtlichen Konkurrentenstreit sind stark und schwach zugleich. Einerseits ist die vom Bundesverfassungsgericht in Anspruch genommene Kontrolldichte doppelt zurückgenommen. Erstens ist der Art. 33 Abs. 2 GG immanente Beurteilungsspielraum des Dienstherrn zu berücksichtigen. Dieser hat zur Folge, dass die Fachgerichte lediglich eine beschränkte Prüfungspflicht trifft. Zweitens ist das Bundesverfassungsgericht – wie auch sonst – auf die Prüfung der Verletzung spezifischen Verfassungsrechts beschränkt. Infolgedessen sind auch die Tatsachenfeststellungen der Verwaltungsgerichte zugrunde zu legen, sofern sie nicht ihrerseits mit einer spezifisch verfassungsrechtlichen Argumentation angegriffen werden. In ihrer Kombination bedeuten diese beiden Einschränkungen, dass das Bundesverfassungsgericht nur einschreitet, wenn ein Verwaltungsgericht seine ohnehin begrenzte Prüfungspflicht in verfassungsrechtlich erheblicher Weise verkennt. Dies ist nur dann der Fall, wenn die Fachgerichte trotz des Spielraums des Dienstherrn die Auswahlentscheidung hätten beanstanden müssen und dies in qualifizierter Weise – unter Außerachtlassung oder grundlegender Verkennung verfassungsrechtlicher Anforderungen – unterlassen haben. Viele Rügen in Fällen, in denen aus der Perspektive der betroffenen Beamten auch ein anderer Ausgang der Auswahlentscheidung denkbar und angemessen gewesen wäre, nehmen diese doppelte Hürde nicht. Wo das Bundesverfassungsgericht stattgibt, liegt der Schwerpunkt vielmehr häufig auf der Missachtung formaler Vor136
BVerfGK 10, 474 (477); 18, 423 (426 f.).
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gaben (etwa Dokumentationspflichten) oder grundsätzlicher Leitlinien für den Bewerbervergleich (wie der Bindung an die Ausschreibung oder die dienstliche Beurteilung).137 Andererseits besteht angesichts der Vorgaben des Art. 33 Abs. 2 GG eine – verglichen mit anderen Rechtsgebieten – hohe Präsenz des Verfassungsrechts. Wegen dieser verfassungsrechtlichen Grundierung des Rechtsgebiets stellen sich den Verwaltungsgerichten und dem Bundesverfassungsgericht häufig vergleichbare Rechtsfragen. Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Rechtsprechung vielfach von den Fachgerichten erkannte Problemlagen oder entwickelte Grundsätze aufgegriffen, sie thematisiert oder gar in seine Auslegung von Art. 33 Abs. 2 GG integriert. Nicht selten fallen das verfassungsrechtlich Erlaubte und das verfassungsrechtlich Gebotene dabei in eins. Es ist daher nicht ungewöhnlich, wenn das Bundesverfassungsgericht eine bestimmte Rechtsfigur der Fachgerichte zunächst – eher vorsichtig – für nicht zu beanstanden erklärt und sie im Laufe der Zeit in seinen eigenen Maßstab der Vorgaben des Art. 33 Abs. 2 GG aufnimmt. Die Verwaltungsgerichte ihrerseits beziehen sich – so zumindest der Eindruck – gerade bei Konkurrentenstreitverfahren häufig auf die Kammerrechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts.138 Dies führt zu einem besonders fruchtbaren Zusammenspiel der Rechtsprechung. Für die notwendige nachhaltige, praxisnahe und auch neue Problemlagen aufnehmende Durchsetzung des Bestenauslesegrundsatzes bietet das keine schlechte Gewähr.
137
Zur Maßgeblichkeit der prozeduralen Absicherung der Zugangsgleichheit zu öffentlichen Ämtern etwa Höfling, ZBR 1999, S. 73 (73 f.). 138 Vgl. nur die Skizze der Vorwirkungen des Bewerbungsverfahrensanspruchs in BVerwGE 138, 102 (110 ff.) mit zahlreichen Bezugnahmen auf die Kammerrechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sowie Leitsatz 3 und die diesbezüglichen Ausführungen zur Wartefrist zwecks Ermöglichung der Anrufung des Bundesverfassungsgerichts.
Additiv, alimentativ, attraktiv: Das „Triple A“ der Besoldung von Professoren und anderen Beamtengruppen im Lichte des Alimentationsprinzips Isabel Schübel-Pfister Leitentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts BVerfGE 130, 263 – W-Besoldung der Professoren Schrifttum (Auswahl) Battis, Das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes zur W-2-Besoldung, Hintergrund und Folgen, Der Personalrat 2012, S. 197 ff.; Battis/Grigoleit, Reformansätze zur Professorenbesoldung bislang mangelhaft, ZBR 2013, S. 73 ff.; Brüning/Korn, Kompensation verfassungswidriger Alimentationsdefizite durch Ausgleichszahlungen der Universitäten?, ZBR 2013, S. 20 ff.; Budjarek, Spielräume einer Neuregelung der Professorenbesoldung, DÖV 2012, S. 465 ff.; Deja, Die Besoldung und Versorgung der Beamten nach den Maßstäben des Alimentationsprinzips als Landeskompetenz, 2012; Gawel, Konsumtionsregeln bei der Neuordnung der W-Besoldung: Formen und Auswirkungen, DÖV 2013, S. 285 ff.; N. Günther, Die Anpassung der Beamtenbesoldung an die allgemeinen wirtschaftlichen und finanziellen Verhältnisse, 1987; Knopp, Das Urteil des BVerfG vom 14. 2. 2012 zur W-Besoldung bei Hochschullehrern, LKV 2012, S. 145 ff.; Koch, Leistungsorientierte Professorenbesoldung, Rechtliche Anforderungen und Gestaltungsmöglichkeiten für die Gewährung von Leistungsbezügen der W-Besoldung, 2010; Lindner, Bindung des Besoldungsgesetzgebers an Tarifabschlüsse im öffentlichen Dienst?, ZBR 2014, S. 9 ff.; Sachs, Reform der W2-Besoldung – Konsumtion bereits erworbener Leistungsbezüge?, NWVBl. 2013, S. 309 ff.; Vetter, Zur Verfassungsmäßigkeit der Besoldung im Land Berlin nach der Föderalismusreform, LKV 2011, S. 193 ff.; Wahlers, Das Gesetz zur Reform der Professorenbesoldung und der Grundsatz der amtsangemessenen Alimentation, ZBR 2006, S. 149 ff.; Wild, Das Recht auf amtsangemessene Besoldung bei unverantwortlicher Haushaltspolitik, DÖV 2014, S. 192 ff.; Wolff, Der Kerngehalt des Alimentationsgrundsatzes als absolute Grenze für den Besoldungsgesetzgeber, ZRP 2003, S. 305 ff.; ders., Die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers im Besoldungsrecht, DÖV 2003, S. 494 ff.; ders., Die Verfassungswidrigkeit der W-Besoldung, Zugleich eine Urteilsanmerkung zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 14. Februar 2012, ZBR 2012, S. 145 ff.; ders., Die Reform der Professorenbesoldung – eine Zwischenbilanz, WissR 46 (2013), S. 126 ff.
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Alimentationsprinzip Inhalt
I. II.
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Alimentationsprinzip im Spiegel des Urteils zur W-Besoldung . . . . . 1. Materielle Anforderungen als erste Säule des Alimentationsprinzips . . . a) Inhalt und Bedeutung des Alimentationsprinzips . . . . . . . . . . . . b) Gestaltungsspielraum und Evidenzkriterium . . . . . . . . . . . . . . . 2. Prozedurale Anforderungen als zweite Säule des Alimentationsprinzips . 3. Entwicklungsfähigkeit des Alimentationsprinzips . . . . . . . . . . . . . 4. Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. „Additiv“: Folgerungen für die Besoldungsgesetzgebung im Wissenschaftsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Neuregelungen der Professorenbesoldung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Verfassungsrechtliche Würdigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. „Alimentativ“: Folgerungen für die Besoldungsgesetzgebung insgesamt . . . 1. Kompetenzrechtliche Ausgangslage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Anhängige verfassungsgerichtliche Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . a) Vor dem Bundesverfassungsgericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Auf Landesebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Verfassungsrechtliche Würdigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Materielle Anforderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Prozedurale Anforderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Entwicklungsfähigkeit des Alimentationsprinzips . . . . . . . . . . . . V. „Attraktiv“: Das Alimentationsprinzip und die Zukunft des Berufsbeamtentums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I. Einleitung In seinem Urteil zur W-Besoldung der Professoren vom 14. Februar 2012 1 hat das Bundesverfassungsgericht mit 6:1 Stimmen auf Vorlage des VG Gießen2 entschieden, dass die Besoldung der Professoren in Hessen aus der Besoldungsgruppe W 2 gegen das Alimentationsprinzip des Art. 33 Abs. 5 GG verstößt und daher verfassungswidrig ist. Das Urteil war mit Spannung erwartet worden, weil das Bundesverfassungsgericht in den vergangenen Jahrzehnten – mit Ausnahme seiner Rechtsprechung zur Alimentation kinderreicher Beamtenfamilien – nahezu keine stattgebenden Entscheidungen wegen Verletzung des Alimentationsprinzips getroffen hatte.3 Die vom Präsidenten und Senatsvorsitzenden in der mündlichen Verhandlung am 11. Oktober 2011 aufgeworfene Frage, ob angesichts des Gestaltungsspielraums des Gesetzgebers im Besoldungsrecht „das Alimentationsprinzip zum 1
BVerfGE 130, 263 mit abweichender Meinung des Richters Gerhardt, S. 313 ff. VG Gießen, Vorlagebeschluss vom 7. Oktober 2010 – 5 K 2160/10.Gl; inhaltlich identisch mit dem früheren Vorlagebeschluss vom 8. Dezember 2008 – 5 E 248/07 –, ZBR 2009, S. 211 ff. 3 BVerfGE 44, 249 (272 f.); 81, 363 (375 ff.); 99, 300 (315 ff.); vgl. des Weiteren die frühe stattgebende Entscheidung zur Teuerungszulage in BVerfGE 8, 1 (23, 26 f.). 2
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zahnlosen Tiger verkommt“,4 wurde im Urteil mit einem klaren Nein beantwortet. Die Entscheidung ist im rechtswissenschaftlichen Schrifttum – wie manche meinen, wenig überraschend – auf breite, nahezu einhellige Zustimmung gestoßen.5 Doch auch in Politik und Presse 6, in der Öffentlichkeit 7 sowie von den Vertretern der beamten- und richterrechtlichen Berufsverbände 8 wurde das Urteil begrüßt. Das Bundesverfassungsgericht hat die Richtervorlage zum Anlass genommen, Inhalt und Reichweite des Alimentationsprinzips, insbesondere die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Amtsangemessenheit der Alimentation und die diesbezüglichen Pflichten des Gesetzgebers, erneut zu durchdenken (II.). Die Bedeutung des Urteils erschöpft sich aber nicht in seinen Aussagen zu W 2-Besoldung in Hessen, sondern reicht darüber hinaus. Die in Umsetzung des Urteils auf Bundes- und Landesebene in Kraft getretenen bzw. geplanten Neuregelungen der Professorenbesoldung sind ihrerseits an den Vorgaben des Alimentationsprinzips zu messen (III.). Zudem stellt sich die Frage nach den potentiellen Auswirkungen des Urteils auf die Richterbesoldung und die allgemeine Beamtenbesoldung (IV.). Der Beitrag schließt mit einem Ausblick auf die Bedeutung des Alimentationsprinzips für die zukünftige Gesamtarchitektur des Berufsbeamtentums im europäischen Kontext (V.).
II. Das Alimentationsprinzip im Spiegel des Urteils zur W-Besoldung Gegenstand der Vorlagefrage ist die Besoldung eines Universitätsprofessors für physikalische Chemie in Hessen, der im Jahr 2005 auf eine W 2-Stelle an der Philipps-Universität Marburg ernannt wurde. Er unterfiel damit der im Jahr 2002 bundesweit eingeführten W-Besoldung, die – im Vergleich zu der nach Dienstaltersstufen gegliederten C-Besoldung – auf einem zweigliedrigen Vergütungssystem bestehend aus einem festen Grundgehalt und variablen Leistungsbezügen als weiteren Gehaltsbestandteilen beruht.9 Im 4
Zitiert in DER SPIEGEL Nr. 7/2012, S. 46. Vgl. Battis, Der Personalrat 2012, S. 197 ff.; Budjarek, DÖV 2012, S. 465 ff.; Epping, F&L 2012, S. 180 ff.; Gröpl, RiA 2012, S. 97 ff.; Knopp, LKV 2012, S. 145 ff.; Quapp, DVBl 2012, S. 428 ff.; Scheffel, DÖD 2012, S. 217 ff.; Schwabe, NVwZ 2012, S. 610 ff.; Wolff, ZBR 2012, S. 145 ff.; im Ergebnis zustimmend, aber hinsichtlich der Begründungsstränge kritischer Classen, JZ 2012, S. 465 ff.; Hartmer, F &L 2012, S. 184 ff. 6 Vgl. die Zusammenstellung der Reaktionen von Grigat, F &L 2012, S. 188 f. 7 So die Einschätzung von Hufen, JuS 2013, S. 91 (94). 8 Vgl. exemplarisch Sporré, DRiZ 2012, S. 102 ff. 9 Gesetz zur Reform der Professorenbesoldung (Professorenbesoldungsreformgesetz – ProfBesReformG) vom 16. Februar 2002, BGBl I S. 686; vgl. zum Inhalt der Neuregelungen im Einzelnen BVerfGE 130, 263 (270 ff.). 5
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Ergebnis kam es für die neu berufenen Professoren dazu, dass das W-Grundgehalt im Vergleich zur früheren C-Besoldung deutlich abgesenkt war. So erhielt der genannte W 2-Professor ein monatliches Grundgehalt von damals 3.890.03 € nebst Leistungsbezügen in Höhe von 23,72 €. Im Ausgangsverfahren klagte er auf die Feststellung der Verfassungswidrigkeit seiner Besoldung vor dem VG Gießen, das die relevanten Besoldungsnormen gemäß Art. 100 Abs. 1 GG dem Bundesverfassungsgericht vorlegte. Das Bundesverfassungsgericht hat – mit einem komplizierten Tenor, aber einer eindeutigen Entscheidung – die vorgelegten Normen für verfassungswidrig erklärt und den Gesetzgeber aufgefordert, verfassungskonforme Regelungen mit Wirkung spätestens vom 1. Januar 2013 zu treffen. Die vergleichsweise knappen Entscheidungsgründe10 beruhen im Wesentlichen auf folgenden Erwägungen: 1. Materielle Anforderungen als erste Säule des Alimentationsprinzips Prüfungsmaßstab für die Vorlagefrage ist das in Art. 33 Abs. 5 GG verankerte Alimentationsprinzip, das eine amtsangemessene Besoldung der Beamten gebietet. Das Alimentationsprinzip gehört zu den von Art. 33 Abs. 5 GG gewährleisteten hergebrachten Grundsätzen des Berufsbeamtentums, die der Gesetzgeber angesichts ihres grundlegenden und strukturprägenden Charakters nicht nur berücksichtigen muss, sondern zu beachten hat.11 Art. 33 Abs. 5 GG ist unmittelbar geltendes Recht; er enthält zugleich einen Regelungsauftrag an den Gesetzgeber, eine institutionelle Garantie des Berufsbeamtentums sowie ein grundrechtsgleiches Recht der betroffenen Beamten.12 a) Inhalt und Bedeutung des Alimentationsprinzips Das Bundesverfassungsgericht orientiert sich bei seiner Maßstabsbildung eng an der bisherigen Judikatur. Nach ständiger Rechtsprechung verpflichtet das Alimentationsprinzip den Dienstherrn, den Beamten und seine Familie lebenslang angemessen zu alimentieren und ihm nach seinem Dienstrang, nach der mit seinem Amt verbundenen Verantwortung und nach der Bedeutung des Berufsbeamtentums für die Allgemeinheit entsprechend der Entwicklung der allgemeinen wirtschaftlichen und finanziellen Verhältnisse und des allgemeinen Lebensstandards einen angemessenen Lebensunterhalt zu gewähren.13 Im Rahmen dieser Verpflichtung hat der Gesetzgeber – so die 10 So auch die Einschätzung von Wolff, ZBR 2012, S. 145 (146); a.A. Hufen, JuS 2013, S. 91 (92), der die Entscheidung als ungewöhnlich ausführlich begründet ansieht. 11 StRspr; vgl. BVerfGE 8, 1 (16); 117, 330 (349); 119, 247 (263, 269); 130, 263 (292). 12 BVerfGE 130, 263 (292) unter Hinweis (u.a.) auf BVerfGE 99, 300 (314); 117, 330 (344). 13 BVerfGE 130, 263 (292) und Ls. 1 unter Hinweis auf BVerfGE 8, 1 (14); 117, 330 (351); 119, 247 (269).
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bekannte ausführliche Formel, die vom Gericht wiederholt wird – die Attraktivität des Beamtenverhältnisses für überdurchschnittlich qualifizierte Kräfte, das Ansehen des Amtes in den Augen der Gesellschaft, die vom Amtsinhaber geforderte Ausbildung und seine Beanspruchung zu berücksichtigen.14 Bei der hiernach gebotenen Gesamtschau der relevanten Kriterien bzw. bei der Gegenüberstellung mit in Betracht kommenden Vergleichsgruppen unterscheidet das Gericht zwischen dem – primär maßgeblichen – systeminternen Besoldungsvergleich und einem systemexternen Gehaltsvergleich mit der Privatwirtschaft.15 Systemintern sind mit Blick auf das Abstufungsgebot Vergleiche nicht nur innerhalb einer Besoldungsordnung, sondern auch zwischen den verschiedenen Besoldungsordnungen möglich und geboten.16 Systemextern bestimmt sich die Amtsangemessenheit der Alimentation durch ihr Verhältnis zu den Einkommen, die für vergleichbare und auf der Grundlage vergleichbarer Ausbildung erbrachte Tätigkeiten außerhalb des öffentlichen Dienstes erzielt werden. Der Hinweis des Gerichts auf die Verpflichtung des Gesetzgebers, die Attraktivität des Beamtenverhältnisses für überdurchschnittlich qualifizierte Kräfte zu berücksichtigen, gewinnt vor dem Hintergrund der demographischen Entwicklung an Gewicht und Aktualität.17 b) Gestaltungsspielraum und Evidenzkriterium Der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts entspricht es weiter, dass dem Gesetzgeber im Besoldungsrecht ein weiter Entscheidungsspielraum eingeräumt wird.18 Dies gilt auch bei strukturellen Neuregelungen der Besoldung wie hier beim Systemwechsel von der C-Besoldung hin zur W-Besoldung. Da die Höhe der geschuldeten Besoldung der Verfassung nicht unmittelbar und als exakt bezifferter Betrag zu entnehmen ist, stellt die in Art. 33 Abs. 5 GG enthaltene Garantie lediglich eine den Besoldungsgesetzgeber in die Pflicht nehmende „verfassungsrechtliche Gestaltungsdirektive“ dar.19 Mit dem weiten Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers korreliert eine zurückhaltende, auf den Maßstab evidenter Sachwidrigkeit beschränkte Kontrolle der einfachgesetzlichen Regelung durch das Bundes-
14 BVerfGE 130, 263 (292 f.) unter Hinweis auf BVerfGE 44, 249 (265 f.); 99, 300 (315); 107, 218 (237); 114, 258 (288). 15 BVerfGE 130, 263 (293). 16 Zum Gebot der Amtsangemessenheit als Gebot der Systemgerechtigkeit Wolff, ZBR 2012, S. 145 (147). 17 Treffend Battis, Der Personalrat 2012, S. 197 (198); vgl. auch Sporré, DRiZ 2012, S. 102 (104) sowie unten V. 18 Vgl. BVerfGE 130, 263 (294) unter Hinweis auf BVerfGE 8, 1 (22 f.); 114, 258 (288); 117, 372 (381); 121, 241 (261). 19 Vgl. BVerfGE 130, 263 (294) unter Hinweis auf BVerfGE 117, 330 (352).
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verfassungsgericht.20 Im Ergebnis beschränkt sich die materielle Kontrolle auf die Frage, ob die dem Beamten gewährten Bezüge evident unzureichend sind. Dies ist der Fall, wenn der unantastbare Kerngehalt der Alimentation als Untergrenze nicht mehr gewahrt ist.21 Neben diesen absoluten Schutz tritt der relative Schutz des Alimentationsprinzips, der sich – etwa bei besoldungsrechtlichen Systemwechseln – darin äußert, dass es im Falle einer deutlichen Verringerung der Besoldung infolge einer veränderten gesetzgeberischen Neubewertung sachlicher Gründe bedarf.22 2. Prozedurale Anforderungen als zweite Säule des Alimentationsprinzips Angesichts der Schwierigkeit, das verfassungsrechtlich gebotene Besoldungsniveau anhand materieller Kriterien zu bestimmen, hält das Bundesverfassungsgericht – ein Novum in seiner Rechtsprechung zum Alimentationsprinzip – prozedurale Sicherungen zur Einhaltung der Gestaltungsdirektive des Art. 33 Abs. 5 GG für erforderlich. Zwar schuldet der Gesetzgeber von Verfassungs wegen grundsätzlich nur ein wirksames Gesetz und nicht auch die Erfüllung bestimmter methodischer Anforderungen.23 Dieser Grundsatz gilt aber nicht ausnahmslos. Anknüpfend an seine Rechtsprechung zu Prüfungs- und Begründungspflichten des Gesetzgebers in anderen Bereichen24 mobilisiert das Gericht als „zweite Säule“ des Alimentationsprinzips neben seiner auf die Evidenzkontrolle beschränkten materiellen Dimension mehrere prozedurale Anforderungen, die der Flankierung, Absicherung und Verstärkung dieses Prinzips dienen sollen.25 Diese prozeduralen Anforderungen in Form von Begründungs-, Überprüfungs-, Beobachtungs- und ggf. Nachbesserungspflichten des Gesetzgebers gelten nicht nur bei strukturellen Neuausrichtungen in Gestalt von Systemwechseln, sondern auch bei der kontinuierlichen Fortschreibung der Besoldungshöhe in Gestalt regelmäßiger Besoldungsanpassungen.26 Auch wenn dies einfachrechtlich bereits aus § 14 Abs. 1 BBesG folgt,27 liegt die Bedeutung des Prozeduralisierungsansatzes darin, die einfachgesetzlichen Vorgaben generalisierend „hochzuzonen“ und verfas20
Vgl. BVerfGE 130, 263 (294 f.) und Ls. 1; stRspr. Vgl. BVerfGE 44, 249 (263, 267 f.); 114, 258 (288 f.). 22 BVerfGE 130, 263 (295 f.) und Ls. 2; zum Erfordernis eines sachlichen Grundes bei Besoldungsabsenkungen näher unten IV.3.c); vgl. auch Battis, Der Personalrat 2012, S. 197 (198): „Warnsignal“ an den Gesetzgeber. 23 Vgl. Geiger, Gegenwartsprobleme der Verfassungsgerichtsbarkeit aus deutscher Sicht, in: Berberich u.a. (Hrsg.), Neue Entwicklungen im öffentlichen Recht, 1979, S. 131 (141). 24 Vgl. BVerfGE 125, 175 (226) zur Bestimmung des menschenwürdigen Existenzminimums; dazu statt vieler Nolte, Der Staat 52 (2013), S. 245 ff.; vgl. auch BVerfGE 95, 1 (22) zu prozeduralen Anforderungen bei Planungsmaßnahmen durch Gesetz. 25 BVerfGE 130, 263 (301). 26 BVerfGE 130, 263 (302) und Ls. 4. 27 So die kritische Anmerkung von Battis, Der Personalrat 2012, S. 197 (198). 21
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sungsrechtlich aufzuladen. Die Anwendung des Prozeduralisierungskonzepts auf die anhängigen Verfahren zur Beamten- und Richterbesoldung bedarf der Klärung.28 3. Entwicklungsfähigkeit des Alimentationsprinzips Unter dem Leitgedanken der „Entwicklungsfähigkeit des Alimentationsprinzips“ 29 verknüpft das Bundesverfassungsgericht die soeben dargelegten allgemeinen Anforderungen des Alimentationsprinzips mit der Zulässigkeit eines Systemwechsels hin zu einem leistungsorientierten Besoldungsrecht und mit den Besonderheiten des Wissenschaftsbereichs. Das Gericht stellt klar, dass der weite Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers auch die Einführung neuer und die Modifizierung bestehender Leistungselemente in der Besoldung abdeckt.30 Insoweit kommt es zu einer Überschneidung des Alimentationsprinzips mit dem Leistungsprinzip, das ebenfalls als hergebrachter Grundsatz des Berufsbeamtentums im Sinn des Art. 33 Abs. 5 GG zu beachten und hinsichtlich des Prinzips der Bestenauslese in Art. 33 Abs. 2 GG verankert ist.31 Unter Rückgriff auf die schon früher anerkannte Einführung unmittelbar leistungsbezogener Besoldungselemente 32 billigt das Gericht auch anders ausgestaltete leistungsbasierte Besoldungssysteme, auch und gerade für Professoren. Grenzen für die gesetzgeberische Gestaltungsfreiheit im Besoldungsrecht ergeben sich aber aus dem Alimentationsprinzip sowie aus den sonstigen verfassungsrechtlichen Vorgaben. So bedarf es mit Blick auf das Grundrecht der Wissenschaftsfreiheit aus Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG einer wissenschaftsadäquaten Ausgestaltung der Leistungskomponente.33 Um kompensatorische Wirkung für ein durch niedrige Grundgehaltssätze entstandenes Alimentationsdefizit entfalten zu können, müssen Leistungsbezüge für jeden Amtsträger zugänglich und hinreichend verstetigt sein.34 28
Dazu unten IV.3.b). BVerfGE 130, 263 Ls. 3. 30 BVerfGE 130, 263 (296). 31 BVerfGE 130, 263 (296) unter Hinweis auf BVerfGE 121, 205 (226); Battis, Der Personalrat 2012, S. 197 (198) sieht die „innovative“ Überschneidung von Leistungs- und Alimentationsprinzip als einen „Höhepunkt der Begründung“ an. 32 Durch das Gesetz zur Reform des öffentlichen Dienstrechts (Reformgesetz) vom 24. Februar 1997, BGBl I S. 322, wurden Leistungsstufen, -prämien und -zulagen eingeführt, dazu BVerfGE 110, 353 (366 ff.). 33 BVerfGE 130, 263 (299 f.) unter Bezugnahme auf BVerfGE 111, 333 (359); kritisch zur fehlenden Präzisierung wissenschaftsadäquater Leistungskriterien das Sondervotum Gerhardt, BVerfGE 130, 263 (317 f.); so auch Classen, JZ 2012, S. 465 (465, 467); Hartmer, F&L 2012, S. 184 (186); Quapp, DVBl 2012, S. 428 (429 f.). 34 BVerfGE 130, 263 (300 f.) und Ls. 3; Vorschläge für die „alimentative“ Ausgestaltung von Leistungsbezügen bei Scheffel, DÖD 2012, S. 217 (219 f.). 29
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4. Schlussfolgerungen Hieran gemessen stuft das Bundesverfassungsgericht die W 2-Besoldung der Professoren in Hessen als evident unzureichend ein.35 Im ersten Schritt seiner Subsumtion legt das Bundesverfassungsgericht die evidente Unangemessenheit der festen Grundgehaltssätze der W-Besoldung dar. Als Vergleichsmaßstab dienen – neben dem mitgedachten Orientierungswert der C-Besoldung – primär die Grundgehaltssätze der A-Besoldung und sekundär bestimmte Einkommen außerhalb des öffentlichen Dienstes. Was ins Auge fällt, bedarf bekanntlich nicht vieler Worte.36 Daher beschränkt sich das Gericht auf einige knappe Hinweise. So führt es beim Vergleich mit der Besoldungsordnung A aus, dass das Grundgehalt eines W 2-Professors nicht die Besoldung eines jungen Regierungs- bzw. Studiendirektors erreicht und unter dem Besoldungsniveau des Eingangsamtes des höheren Dienstes in der Endstufe liegt.37 Bei der Gegenüberstellung mit dem Einkommen verwandter Beschäftigtengruppen in der Privatwirtschaft anhand der Verdienststrukturerhebung 2006 des Statistischen Bundesamtes kommt das Gericht zum Ergebnis, dass die W 2-Professoren in der betreffenden Verdienstskala weit unten angesiedelt sind.38 In einem zweiten Schritt begründet das Gericht die fehlende Eignung der variablen Leistungsbezüge zur Aufstockung des Grundgehalts auf ein dem Alimentationsprinzip genügendes Niveau. Diese sind offensichtlich weder für jeden Amtsträger zugänglich noch hinreichend verstetigt. Einfachrechtlich besteht kein Anspruch auf die Gewährung von Leistungsbezügen; diese werden teilweise nur befristet oder als Einmalzahlung gewährt und schlagen sich nicht angemessen im Ruhegehalt nieder. Sie weisen in der dem Bundesverfassungsgericht zur Entscheidung gestellten Ausgestaltung lediglich additiven und keinen alimentativen Charakter auf.
III. „Additiv“: Folgerungen für die Besoldungsgesetzgebung im Wissenschaftsbereich 1. Neuregelungen der Professorenbesoldung Das Bundesverfassungsgericht hat die Unvereinbarkeit der gesetzlichen Grundlagen der W 2-Besoldung in Hessen mit dem Grundgesetz gemäß § 82 Abs. 1 i.V.m. § 79 Abs. 1 und § 31 Abs. 2 BVerfGG festgestellt und den Gesetzgeber zu verfassungskonformen Regelungen mit Wirkung spätestens vom 35
BVerfGE 130, 263 (302 ff.). Treffend Wolff, ZBR 2012, S. 145 (147). 37 BVerfGE 130, 263 (304); zu weiteren Berechnungsbeispielen Koch, Leistungsorientierte Professorenbesoldung, 2010, S. 62 ff.; Wahlers, ZBR 2006, S. 149 (155); kritisch zum durchgeführten Besoldungsvergleich die abweichende Meinung von Gerhardt, BVerfGE 130, 263 (315 f.). 38 BVerfGE 130, 263 (307). 36
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1. Januar 2013 aufgefordert.39 Auch wenn das Urteil unmittelbar nur das Land Hessen bindet, entfalten die darin enthaltenen Aussagen Ausstrahlungswirkung bzw. „Signalcharakter“40 für einen generellen Handlungsbedarf auf Bundes- wie auf Landesebene. Das Gericht hat drei „beamtenbesoldungsinterne“ Gestaltungsmöglichkeiten zur Beseitigung des verfassungswidrigen Alimentationsdefizits aufgezeigt:41 erstens die Rückkehr zum früheren System der C-Besoldung, zweitens die Beibehaltung des zweigliedrigen Vergütungssystems der W-Besoldung unter Sicherstellung eines amtsangemessenen Alimentationsniveaus über die Höhe der Grundgehaltssätze und drittens eine „alimentative“ Ausgestaltung der Leistungsbezüge zum Ausgleich der defizitären Grundgehaltssätze. Da eine (vorübergehende) Kompensation des Alimentationsdefizits durch „Ausgleichszahlungen“ des Dienstherrn ohne formell-gesetzliche Grundlage 42 bzw. in Ermangelung einer Vollstreckungsanordnung des Bundesverfassungsgerichts nach § 35 BVerfGG nicht in Betracht kommt,43 bedarf es entsprechender gesetzlicher Neuregelungen. Zur Umsetzung der gerichtlichen Vorgaben haben zunächst – jeweils mit Wirkung vom 1. Januar 2013 – Bayern44, Hessen 45 und der Bund 46 Neurege39 Vgl. zu den Wirkungen des Urteils in zeitlicher Hinsicht auch Sachs, NWVBl 2013, S. 309 (316 f.). Das OVG NRW hat, dem Bundesverfassungsgericht folgend, für die Zeit bis zum 30. Juni 2008 eine verfassungswidrig zu niedrige Professorenbesoldung in NordrheinWestfalen festgestellt (OVG NRW, Urteile vom 12. Februar 2014 – 3 A 155/09 und 3 A 156/09 –). Für die Zeit ab 1. Juli 2008 hat das Gericht die Verfahren ausgesetzt, um eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts einzuholen (OVG NRW, Vorlagebeschlüsse vom 12. Februar 2014 – 3 A 328/14 und 3 A 329/14). 40 Budjarek, DÖV 2012, S. 465 (465). 41 BVerfGE 130, 263 (311); zur „beamtenbesoldungsexternen“ Gestaltungsmöglichkeit s.u. V. 42 Vgl. zum Gesetzesvorbehalt für die Beamtenbesoldung BVerfGE 8, 28 (35); 81, 363 (386); 99, 300 (313); 130, 263 (299); zur Einstufung als hergebrachten Grundsatz des Berufsbeamtentums Summer, ZBR 2006, S. 120 ff. = DÖV 2006, S. 249 ff. 43 Dazu eingehend Brüning/Korn, ZBR 2013, S. 20 ff.; in seinem dritten Urteil zur Besoldung kinderreicher Beamtenfamilien hatte das Gericht erstmals von der Möglichkeit einer Vollstreckungsanordnung im Besoldungsrecht Gebrauch gemacht, vgl. BVerfGE 99, 300 (332). 44 Gesetz zur Änderung der Professorenbesoldung vom 11. Dezember 2012, GVBl I S. 624; vgl. dazu die Begründung zum Gesetzentwurf vom 9. Oktober 2012, LTDrucks 16/13863; vgl. zu Gestaltungsspielräumen für die neue Professorenbesoldung aus bayerischem Blickwinkel auch Budjarek, DÖV 2012, S. 465 ff. 45 Hessisches Professorenbesoldungsgesetz (HPBesG), verkündet als Art. 1 des Gesetzes zur Ersetzung von Bundesrecht auf dem Gebiet der Besoldung der Hochschullehrerinnen und Hochschullehrer vom 12. Dezember 2012, GVBl S. 647; vgl. dazu die Begründung zum Gesetzentwurf vom 28. August 2012, LTDrucks 18/6074. Zwischenzeitlich erfolgte eine Einbeziehung in die allgemeine Neuregelung des Dienst- und Besoldungsrechts, vgl. das Hessische Besoldungsgesetz (HBesG), verkündet als Art. 2 des Zweiten Dienstrechtsmodernisierungsgesetzes vom 27. Mai 2013, GVBl S. 218 (256). Vgl. speziell zur Neuregelung in Hessen Gawel, LKRZ 2013, S. 177 ff. und S. 239 ff. 46 Gesetz zur Neuregelung der Professorenbesoldung und zur Änderung weiterer dienstrechtlicher Vorschriften (Professorenbesoldungsneuregelungsgesetz) vom 11. Juni 2013,
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lungen der Professorenbesoldung erlassen, auf die sich die Erörterungen im Schrifttum – und auch die vorliegenden Ausführungen – konzentrieren. Andere Länder wie Brandenburg 47, Bremen48, Nordrhein-Westfalen 49, Rheinland-Pfalz 50, Schleswig-Holstein 51, Sachsen52 und Sachsen-Anhalt 53 sind nachgezogen. In weiteren Ländern gibt es entsprechende Gesetzentwürfe oder konkretisierte Neuregelungsabsichten.54 Die meisten Neuordnungen 55 haben sich für den – zumindest auf den ersten Blick einfachsten – Weg der grundsätzlichen Beibehaltung des „additiven“ Systems der Leistungsbezüge bei gleichzeitiger spürbarer Anhebung der Grundgehaltssätze entschieden. Dabei sind in verschiedener Form und unterschiedlichem Ausmaß Anrechnungen bisher gewährter Leistungsbezüge auf die erhöhten Grundgehaltssätze vorgesehen (sog. Konsumtion). Der Bund hat die Grundgehälter seiner Professoren bis zur Endstufe um rund 1.000 € (W 2) bzw. 830 € (W 3) angehoben 56 und zugleich Erfahrungsstufen zur Honorierung der beruflichen Entwicklung eingeführt.57 Die leistungsabhängigen Besoldungsbestandteile werden beibehalten; der Vergaberahmen mit der bisherigen besoldungsrechtBGBl I S. 1514; vgl. dazu die Begründung zum Gesetzentwurf vom 25. Februar 2013, BTDrucks 17/12455, S. 59 ff.; speziell zur Neuregelung des Bundes Gawel, NVwZ 2013, S. 1054 ff. 47 Gesetz zur Neuregelung des brandenburgischen Besoldungsrechts und des brandenburgischen Beamtenversorgungsrechts vom 20. November 2013, GVBl I Nr. 32 S. 1. 48 Gesetz zur Änderung dienstrechtlicher Vorschriften vom 1. Oktober 2013, GVBl S. 546. 49 Gesetz zur Erhöhung der Grundgehälter in den Besoldungsgruppen W 2 und W 3, verkündet als Art. 4 des Dienstrechtsanpassungsgesetzes für das Land Nordrhein-Westfalen vom 16. Mai 2013, GVBl S. 234 (238); vgl. aus nordrhein-westfälischer Perspektive auch Scheffel, DÖD 2012, S. 217 ff. 50 Landesgesetz zur Reform des finanziellen öffentlichen Dienstrechts vom 18. Juni 2013, GVBl S. 157. 51 Gesetz zur Änderung des Besoldungsgesetzes Schleswig-Holstein – strukturelle Änderung der Besoldung von Professorinnen und Professoren vom 14. Juni 2013, GVBl S. 272. 52 Sächsisches Besoldungsgesetz (SächsBesG), verkündet als Art. 2 des Gesetzes zur Neuordnung des Dienst-, Besoldungs- und Versorgungsrechts im Freistaat Sachsen (Sächsisches Dienstrechtsneuordnungsgesetz) vom 18. Dezember 2013, GVBl S. 970 (1005). 53 Gesetz zur Änderung landesbesoldungs- und beamtenrechtlicher Vorschriften vom 30. Juli 2013, GVBl S. 400. 54 Vgl. Battis/Grigoleit, ZBR 2013, S. 73 (73); Gawel, DÖV 2013, S. 285 (285 f.); Sachs, NWVBl 2013, S. 309 (309 f.) sowie die Übersicht des Deutschen Hochschulverbandes in seinem „W-Portal“, www.hochschulverband.de. 55 Anders Brandenburg, das die Grundgehaltssätze der W-Besoldung nicht erhöht hat, sondern einen Anspruch auf die Gewährung von Leistungsbezügen in Höhe von mindestens 644,30 € monatlich eingeführt hat, vgl. § 30 Abs. 2 Brandenburgisches Besoldungsgesetz (BbgBesG), GVBl I Nr. 32 S. 1 (16). Auch Bremen hat die Grundgehaltssätze nicht erhöht, sondern gewährt unbefristete Leistungsbezüge in Höhe von mindestens 600,00 € monatlich, vgl. § 3a Abs. des Bremischen Besoldungsgesetzes, GVBl S. 546 (547 f.). 56 Art. 1 Nr. 44 ProfBesNeurG – Anlage IV Nr. 3 zum Bundesbesoldungsgesetz (BBesG), BGBl I S. 1514 (1541). 57 Art. 1 Nr. 18 ProfBesNeurG – §§ 32a, 32b BBesG, BGBl I S. 1514 (1516 f.).
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lichen Begrenzung der Leistungsbezüge wird abgeschafft.58 Von den bisher vergebenen Leistungsbezügen werden nur die „grundgehaltsaffinen“ Berufungs- und Bleibeleistungsbezüge (bis zu einem Sockel von 30 %), nicht aber die Funktionsleistungsbezüge und die besonderen Leistungsbezüge auf die Grundgehaltserhöhung angerechnet.59 Auch die landesrechtlichen Regelungen stellen regelmäßig60 einen bestimmten Anteil der Leistungsbezüge anrechnungsfrei. So orientieren sich in Bayern die neuen Grundgehaltssätze für W 2 an der Besoldungsgruppe A 15 und für W 3 an der Besoldungsgruppe A 16, wobei zur Anerkennung des mit fortschreitender Professorentätigkeit einhergehenden Erfahrungszuwachses drei (Dienstzeit-)Stufen eingeführt wurden.61 Die Erhöhung der Grundgehaltssätze wird auf die in der Vergangenheit festgesetzten Leistungsbezüge bis maximal zur Hälfte dieser Leistungsbezüge angerechnet.62 Dieser „Halbteilungsschutz“ wird auch in Hessen gewährt,63 das ebenfalls eine substantielle Anhebung der Grundgehaltssätze in Anlehnung an die entsprechenden Gehälter der A-Besoldung sowie die Einführung professoraler Erfahrungszeiten unter Beibehaltung des Systems der variablen, leistungsabhängigen Besoldungsbestandteile vorsieht.64 2. Verfassungsrechtliche Würdigung Dass die in Bund und Ländern erhöhten Grundgehaltssätze den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts für ein amtsangemessenes Alimentationsniveau genügen, wird im Schrifttum nicht ernsthaft in Frage gestellt.65 Gleichwohl werden die Neuregelungen kontrovers diskutiert und insbesondere mit Blick auf die Konsumtionsvorschriften einer ausgesprochen kritischen Würdigung unterzogen.66 Diese Übergangsbestimmungen werden als verfassungsrechtlich 58
Art. 1 Nr. 20 ProfBesNeurG – Aufhebung des § 34 BBesG, BGBl I S. 1514 (1517). Art. 1 Nr. 37 ProfBesNeurG – Übergangsregelung des § 77a BBesG, BGBl I S. 1514 (1519 f.); zur „Grundgehaltsaffinität“ der verschiedenen Leistungsbezüge vgl. die Begründung zum Gesetzentwurf, BTDrucks 17/12455, S. 66 f. (zu Art. 1 Nr. 37 ProfBesNeurG – § 77a Abs. 2 neu). 60 Anders Schleswig-Holstein, vgl. § 39a des Besoldungsgesetzes Schleswig-Holstein (SHBesG), GVBl S. 272. 61 § 1 Nr. 3, Nr. 9, Nr. 10 ProfBesÄndG – Art. 42, 42a sowie Anlage 3 (Besoldungsordnung W) des Bayerischen Besoldungsgesetzes (BayBesG). 62 § 1 Nr. 9 ProfBesÄndG – Art. 107a Abs. 2 BayBesG, GVBl I S. 624 (625). 63 Vgl. im Einzelnen § 10 HPBesG, GVBl S. 647 (649) bzw. nunmehr § 39 HBesG, GVBl S. 218 (268). 64 Vgl. zunächst §§ 2, 3, 5 HPBesG sowie Anlage II zu § 2 Satz 2 HPBesG, GVBl S. 647 (647, 653); nunmehr §§ 32, 33, 35 HBesG sowie Anlage IV, GVBl S. 218 (266 f., 305). 65 Vgl. statt vieler Wolff, WissR 46 (2013), S. 126 (135) m.w.N.; zweifelnd freilich Gawel, NVwZ 2013, S. 1054 (1055). 66 Vgl. neben den differenzierten Ausführungen von Battis/Grigoleit, ZBR 2013, S. 73 ff.; Sachs, NWVBl 2013, S. 309 (316); Wolff, WissR 46 (2013), S. 126 (133 ff.) insbeson59
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nicht legitimierte Kürzung der bereits gewährten Leistungsbezüge verstanden.67 Sie führten zu einer durch fiskalische Gründe nicht gerechtfertigten Ungleichbehandlung von Alt- und Neufällen sowie zu einer ungleichen Belastung der Bezieher niedriger und mittlerer Leistungsbezüge einerseits und höherer Leistungsbezüge andererseits.68 Die Differenzierung nach der Art der Leistungsbezüge bei der Anrechnung unterstreiche die Dominanz des Fiskalmotivs und die Willkürlichkeit der Anrechnungsregeln.69 Die Konsumtionssperren, die eigentlich der Schonung der Bezüge dienen sollten, führten zu weiteren Verzerrungen.70 Die Einführung von Erfahrungsstufen, bei denen es sich de facto um Dienstaltersstufen handele, sei angesichts des gleichzeitigen Festhaltens am zweigliedrigen Vergütungsmodell systemwidrig 71 und stelle eine unzulässige Altersdiskriminierung dar.72 Es bedürfe daher einer erneuten (verfassungs-)gerichtlichen Überprüfung der W-Besoldung.73 Zur Frage der Altersdiskriminierung ist festzuhalten, dass diese in Bezug auf besoldungsrechtliche Lebensalters- und Dienstaltersstufen derzeit erhebliche gerichtliche Aufmerksamkeit erfährt.74 Ob die Ausgestaltung des Besoldungsdienstalters gemäß §§ 27, 28 BBesG a.F.75, d.h. die Besoldung nach Dienstaltersstufen auf der Grundlage des Einstellungslebensalters, gegen das unionsrechtliche Verbot der Altersdiskriminierung verstößt, wird in der deutschen Judikatur unterschiedlich beurteilt.76 Hier bleibt die weitere dere die plakativen Stellungnahmen von Gawel, DÖV 2013, S. 285 (287 ff.); dems., NVwZ 2013, S. 1054 (1056 f.); dems., LKVZ 2013, S. 177 ff. und S. 239 ff. 67 Battis/Grigoleit, ZBR 2013, S. 73 (74 ff.); Gawel, DÖV 2013, S. 285 (288); ders., NVwZ 2013, S. 1054 (1056 f.); a.A. bzw. differenzierend Sachs, NWVBl 2013, S. 309 (311 ff.); Wolff, WissR 46 (2013), S. 126 (133 ff.). 68 Battis/Grigoleit, ZBR 2013, S. 73 (75 f.). 69 Gawel, DÖV 2013, S. 285 (291 f.). 70 Gawel, DÖV 2013, S. 285 (292 f.); ders., NVwZ 2013, S. 1054 (1057); a.A. Sachs, NWVBl 2013, S. 309 (314 ff.); Wolff, WissR 46 (2013), S. 126 (140 ff.). 71 Battis/Grigoleit, ZBR 2013, S. 73 (78 f.); a.A. Wolff, WissR 46 (2013), S. 126 (136). 72 Battis/Grigoleit, ZBR 2013, S. 73 (78 f.); anders noch Battis, Der Personalrat 2012, S. 197 (199): „Rückkehr zum modifizierten System der Dienstaltersstufen (…) nicht ausgeschlossen“; vgl. auch Budjarek, DÖV 2012, S. 465 (468, 470), die eine aufsteigende Ausgestaltung aller Gruppen der W-Besoldung sogar für zwingend hält. 73 Gawel, NJW-Editorial Heft 30/2013; vgl. auch den Bericht von Müller, DÖV 2013, S. 599 (601 f.) zum 8. Deutschen Hochschulrechtstag „Die reformierte W-Besoldung – Der nächste Fall für Karlsruhe?“; inzwischen ist ein „Musterverfahren“ vor dem VG Gießen unter dem Az. 5 K 1802/13 Gl. anhängig. 74 Vgl. zum Problemkreis statt vieler Wolff, ZBR 2014, S. 1 (4 f.); vgl. auch Korn, ZBR 2013, S. 155 (157). 75 Bundesbesoldungsgesetz in der bis zum 30. Juni 2009 geltenden Fassung vom 6. August 2002, BGBl I S. 3020. 76 Bejaht z.B. von OVG Magdeburg, Urteil vom 11. Dezember 2012 – 1 L 9/12 –, LKV 2013, S. 270; dazu Maaß, LKV 2013, S. 249 ff.; OVG Bautzen, Urteil vom 23. April 2013 – 2 A 150/12 –, juris; VG Frankfurt, Urteil vom 20. August 2012 – 9 K 1175/11.F –, juris; VG Frankfurt, Urteil vom 20. August 2012 – 9 K 5034.11 F –, ZBR 2013, S. 172 ff. zur Richterbesoldung; VG Frankfurt, Urteil vom 25. Juli 2013, 9 K 1391.13.F –, juris; verneint z.B. von
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Rechtsprechungsentwicklung, insbesondere die Positionierung des Gerichtshofs der Europäischen Union, abzuwarten.77 Sollten sich die Dienstaltersstufen als (unions-)rechtswidrig erweisen, würde dies aber nicht zwangsläufig auch für Erfahrungsstufen gelten, wie sie im Zuge der Neuregelungen der Professorenbesoldung oder in anderen Besoldungsordnungen eingeführt worden sind. Bei entsprechender Ausgestaltung, etwa beim Verzicht auf einen Automatismus der Besoldungserhöhung, können Erfahrungsstufen durchaus zulässig sein.78 Die Einführung der Erfahrungsstufen ist – zusammen mit der Anhebung der Grundgehälter und der Umgestaltung der Leistungsbezüge – Teil einer umfassenden Neuordnung der Professorenbesoldung in Form einer Strukturreform, bei der dem Gesetzgeber ein weiter Gestaltungsspielraum zukommt.79 Die Neuregelungen dienen nicht (pauschal) der Haushaltsentlastung, sondern vielmehr der Beseitigung der im Urteil zur W-Besoldung als verfassungswidrig erkannten Unteralimentation. Die Umstrukturierung erfolgt zulässigerweise innerhalb des Systems der Professorenbesoldung selbst 80 und wird deshalb in gewissem Umfang an Konsumtionsregeln nicht vorbeikommen. Wird ein angemessener Mindestbehalt der erworbenen Leistungsbezüge durch eine nur anteilige Anrechnung gewährleistet, kommt es im Ergebnis für keinen einzigen Hochschullehrer zu finanziellen Verschlechterungen. Vielmehr tritt in jedem Einzelfall eine Besoldungserhöhung ein, bei der lediglich die Höhe der Zuwächse bzw. die Besoldungszusammensetzung und leistungsbezogene Spreizung unterschiedlich ausfallen können.81 Die anteilige Umwandlung eines flexiblen Leistungsbestandteils in einen festen Gehaltsbestandteil kann sich wegen seiner Beständigkeit und Ruhegehaltfähigkeit sogar positiv auf die Rechtsposition des Besoldungsempfängers auswirken.82 Dass es bei der Ausgestaltung der Übergangsregelungen im Einzelfall zu gewissen Nivellierungen und Unebenheiten in temporeller, personeller oder sachlicher Hinsicht kommen mag, dürfte verfassungsrechtlich noch nicht zu beanstanden sein. Schließlich führt das Bundesverfassungsgericht in ständiger VG Lüneburg, Urteil vom 15. Februar 2012 – 1 A 106.10 –, juris; VG Trier, Urteil vom 25. September 2012 – 1 K 858/12.TR –, juris; VG Weimar, Urteil vom 15. November 2011 – 4 K 1163/10 We –, juris; vgl. zuletzt die Zulassung der Revision zur Klärung dieser Frage durch BVerwG, Beschluss vom 24. September 2013 – 2 B 46.13 –, juris und BVerwG, Beschluss vom 26. November 2013 – 2 B 98.13 –, juris. 77 Generalanwalt Bot hat anlässlich mehrerer Vorlagebeschlüsse des VG Berlin einen Verstoß gegen das Verbot der Altersdiskriminierung bejaht, vgl. die Schlussanträge vom 28. November 2013, Rs C-501/12 u.a., Specht u.a./Land Berlin sowie Schmeel u.a./Bundesrepublik Deutschland, ZBR 2014, S. 35 ff. 78 Vgl. Wolff, WissR 46 (2013), S. 126 (129, 136 ff.) m.w.N. 79 Vgl. Wolff, WissR 46 (2013), S. 126 (144). 80 Vgl. Sachs, NWVBl 2013, S. 309 (314); Wolff, WissR 46 (2013), S. 126 (147). 81 Vgl. BTDrucks 17/12455, S. 67; für Bayern LTDrucks 16/13863, S. 1, 11; Wolff, WissR 46 (2013), S. 126 (144); dies räumt auch Gawel, DÖV 2013, S. 285 (288, 293) ein. 82 So zu Recht für Bayern LTDrucks 16/13863, S. 1, 11.
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Rechtsprechung aus, dass jede Regelung des Besoldungsrechts, das zwangsläufig generalisieren und typisieren muss, in der Abgrenzung unvermeidbare Härten mit sich bringen wird. Die sich bei Abgrenzungsfragen ergebenden Friktionen und Mängel sowie gewisse Benachteiligungen in besonders gelagerten Einzelfällen müssen in gewissen Grenzen hingenommen werden, sofern sich für die Gesamtregelung ein plausibler und sachlich vertretbarer Grund anführen lässt.83 Hierfür liefern die Gesetzesbegründungen zu den Übergangsregelungen auch in prozeduraler Sicht hinreichende Anhaltspunkte, indem sie etwa auf die Vermeidung eines Nebeneinanders zweier Besoldungssysteme und einer dauerhaften Besserstellung der Bestandsprofessoren 84, die Erhaltung bzw. Schaffung finanziellen Spielraums für die Vergabe von Leistungsbezügen 85, die Wahrung des Grundsatzes der funktionsgerechten Besoldung 86, die Verhinderung unerwünschter Mitnahmeeffekte bzw. einer Überalimentation87 sowie die Vermeidung von Störungen im Besoldungsgefüge insgesamt 88 hinweisen.
IV. „Alimentativ“: Folgerungen für die Besoldungsgesetzgebung insgesamt 1. Kompetenzrechtliche Ausgangslage Die Kernaussagen im Urteil zur W-Besoldung entfalten – über die Vorgaben für die strukturelle Neuausrichtung der Professorenbesoldung hinausgehend – Wirkungen für die Besoldungsgesetzgebung insgesamt.89 Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund der gewandelten besoldungsrechtlichen Gesetzgebungskompetenzen von Bund und Ländern, die den Besoldungsgesetzgebern im vergangenen Jahrzehnt neue Gestaltungsmöglichkeiten eröffnet haben.90 Die kompetenzrechtliche Situation hat sich von dem bis 2002 geltenden, im damaligen Art. 74a GG zum Ausdruck kommenden Grundsatz der bundeseinheitlichen Besoldung und Versorgung,91 der auch ein 83
Vgl. BVerfGE 76, 256 (295); 103, 310 (319 f.); 110, 353 (364 f.) jeweils m.w.N. So zur Neuregelung des Bundes BTDrucks 17/12455, S. 67; ähnlich für Bayern LTDrucks 16/13863, S. 11. 85 So zur Neuregelung des Bundes BTDrucks 17/12455, S. 67; ähnlich für Bayern LTDrucks 16/13863, S. 11; für Hessen LTDrucks 18/6074, S. 15. 86 So zur Neuregelung in Bayern LTDrucks 16/13863, S. 11. 87 Vgl. zu Bayern LTDrucks 16/13863, S. 1, 11; zu Hessen LTDrucks 18/6074, S. 15. 88 So zur Neuregelung in Hessen LTDrucks 18/6074, S. 16. 89 So z.B. auch die Einschätzung von Knopp, LKV 2012, S. 145 (148 ff.); Sporré, DRiZ 2012, S. 102 ff.; a.A. Quapp, DVBl 2012, S. 428 (431). 90 Zur historischen Entwicklung Deja, Die Besoldung und Versorgung der Beamten nach den Maßstäben des Alimentationsprinzips als Landeskompetenz, 2012, S. 17 ff. 91 Vgl. zuletzt das Bundesbesoldungsgesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 6. August 2002, BGBl I S. 3020, sowie das Beamtenversorgungsgesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 16. März 1999, BGBl I S. 322, 847, 2033. 84
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bundeseinheitliches Sonderzahlungsrecht einschloss,92 über eine geteilte Besoldungsgesetzgebungskompetenz von 2003 bis 2006, die den Ländern eigenständige Gestaltungsmöglichkeiten für das Sonderzahlungsrecht einräumte,93 bis hin zur vollständigen Föderalisierung der besoldungs-, versorgungs- und laufbahnrechtlichen Gesetzgebungskompetenz im Jahr 2006 entwickelt.94 Seither ist der Bund nur noch für Statusfragen zuständig,95 während Regelungen des finanziellen Dienstrechts nach der Streichung des Art. 74a GG ausschließlich Sache der Länder gemäß Art. 74 I Nr. 27 GG sind. Von der zwischen 2003 und 2006 bestehenden Möglichkeit, die jährliche Sonderzuwendung in eigener Zuständigkeit zu regeln, haben Bund und Länder für ihren jeweiligen Bereich in unterschiedlicher Art und Weise Gebrauch gemacht.96 Alle Dienstherren nutzten die Ermächtigung (auch) dafür, durch eine reduzierte oder gar gestrichene Sonderzahlung eine Entlastung ihrer Haushalte zu erreichen.97 Dies hat namentlich in Nordrhein-Westfalen zu zahlreichen Gerichtsverfahren geführt.98 Seit 2006 tragen die Länder für ihre Beamten – sowie der Bund für seine Beamten – die alleinige Verantwortung für die Gewährleistung einer amtsangemessenen Alimentation. Bund und Länder haben ihre (neuen) Gesetzgebungskompetenzen bereits umfangreich genutzt.99 Dabei unterliegen sie den Bindungen des Art. 33 Abs. 5 GG, der gleichzeitig mit der vollständigen Föderalisierung der Besoldung um die sogenannte Fortentwicklungsklausel ergänzt wurde.100 Die Fortentwick92 Gesetz über die Gewährung einer jährlichen Sonderzuwendung (SoZuwG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 16. Dezember 1998, BGBl I S. 3642; Gesetz über die Gewährung eines jährlichen Urlaubsgeldes (Urlaubsgeldgesetz – UrlGG) vom 15. November 1977, BGBl I S. 2117 (2120). 93 Vgl. die Aufhebung des bundeseinheitlichen Sonderzahlungsrechts und die Öffnung für landesrechtliche Sonderzahlungsregelungen in Art. 18 Abs. 1, Art. 13 Nr. 7 des Gesetzes über die Anpassung von Dienst- und Versorgungsbezügen in Bund und Ländern 2003/2004 sowie zur Änderung dienstrechtlicher Vorschriften (Bundesbesoldungs- und -versorgungsanpassungsgesetz 2003/2004 – BBVAnpG 2003/2004), BGBl I S. 1798. 94 Vgl. Art. 1 Nr. 7 und Nr. 8 des Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes vom 28. August 2006, BGBl I S. 2034. 95 Beamtenstatusgesetz (BeamtStG) vom 17. Juni 2008, BGBl I S. 1010. 96 Vgl. den Überblick bei Meier, ZBR 2005, S. 408 (412 ff.). 97 Vgl. exemplarisch das Gesetz über die Gewährung einer Sonderzahlung an Beamte, Richter und Versorgungsempfänger (Sonderzahlungsgesetz NRW – SZG-NRW) vom 20. November 2003, GVBl S. 696, mit dem die Sonderzahlung auf 50 % eines Monatsbezugs (mit einer sozialen Komponente für niedrige Besoldungsgruppen) begrenzt wurde. 98 Vorlagen des VG Düsseldorf zur Kürzung der Sonderzahlung für Beamten des Landes Nordrhein-Westfalen hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfGK 12, 234) ebenso als unzulässig beschieden wie spätere Vorlagen des VG Arnsberg, vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 14. Oktober 2009 – 2 BvL 3/08 u.a. –, juris. 99 Vgl. Deja, Die Besoldung und Versorgung der Beamten nach den Maßstäben des Alimentationsprinzips als Landeskompetenz, 2012, passim; Lorse, DÖV 2010, S. 829 ff. 100 Art. 1 Nr. 3 des Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes vom 28. August 2006, BGBl I S. 2034; dazu eingehend Deja, Die Besoldung und Versorgung der Beamten nach den Maßstäben des Alimentationsprinzips als Landeskompetenz, 2012, S. 50 ff.
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lungsklausel hat im Urteil zur W-Besoldung keine Rolle gespielt.101 Schon vor Einfügung der Fortentwicklungsklausel in Art. 33 Abs. 5 GG war eine stete Weiterentwicklung des Beamtenrechts und dessen Anpassung an veränderte Umstände der Staatlichkeit möglich.102 2. Anhängige verfassungsgerichtliche Verfahren a) Vor dem Bundesverfassungsgericht Derzeit sind beim Bundesverfassungsgericht mehrere Normenkontrollanträge von Verwaltungsgerichten anhängig, die allesamt den Gewährleistungsgehalt des Alimentationsprinzips betreffen.103 Nach der Professorenbesoldung steht nunmehr die Verfassungsmäßigkeit der Richterbesoldung und der allgemeinen Beamtenbesoldung auf dem Prüfstand. Dementsprechend hat der Senatsvorsitzende bereits in seiner Einführung zur mündlichen Verhandlung in Sachen Professorenbesoldung die Richtervorlage zur Besoldungsgruppe W 2 als ein – besonders anschauliches – „Pilotverfahren“ bezeichnet. In allen Verfahren stellt sich die Frage nach der Reichweite des Gestaltungsspielraums des Gesetzgebers, dessen besoldungsrechtliche Änderungen in den letzten Jahren teils schmerzhafte Einschnitte für die Beamtenschaft zur Folge hatten. Im Jahr 2009 hat das OVG NRW dem Bundesverfassungsgericht vier Verfahren vorgelegt, die verschiedene Besoldungsgruppen (R 1, A 9 und A 12/A 13 BBesO) der nordrhein-westfälischen Richter- und Beamtenbesoldung in den Jahren 2003/2004, also in der Phase der zwischen Bund und Ländern geteilten Besoldungskompetenz, betreffen.104 Des Weiteren wurden im Jahr 2012 vier Vorlagebeschlüsse des VG Halle zur Richterbesoldung (R 1) in Sachsen-Anhalt im Zeitraum 2008 bis 2010 beim Bundesverfassungsgericht anhängig.105 Hierbei handelt es sich um die ersten Richtervorlagen, die besol101
Vgl. BVerfGE 130, 263 (291). Vgl. BVerfGE 119, 247 (262); wiederholt in BVerfGE 130, 263 (297). 103 Eine Richtervorlage des VG Braunschweig (Beschluss vom 9. September 2008 – 7 A 357/05 –, PersV 2009, S. 65 ff.) betreffend die Besoldung aus der Besoldungsgruppe A 9 in Niedersachsen im Jahr 2005 wurde im Wege einer Kammerentscheidung als unzulässig beschieden, vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 3. Mai 2012 – 2 BvL 17/08 –, juris. 104 OVG NRW, Vorlagebeschluss vom 9. Juli 2009 – 1 A 373/08 –, juris, beim Bundesverfassungsgericht unter dem Az. 2 BvL 17/09 anhängig; OVG NRW, Vorlagebeschluss vom 9. Juli 2009 – 1 A 1416/08 (= 2 BvL 18/09) –, juris; OVG NRW, Vorlagebeschluss vom 9. Juli 2009 – 1 A 1525/08 (= 2 BvL 19/09) – juris; OVG NRW, Vorlagebeschluss vom 9. Juli 2009 – 1 A 1695/08 (= 2 BvL 20/09) – juris. 105 VG Halle, Vorlagebeschlüsse vom 28. September 2011 – 5 A 206/09 HAL u.a. (= 2 BvL 3-6/12) –, juris; dazu Sporré, DRiZ 2013, S. 56 ff.; vgl. zur Richterbesoldung auch die Plädoyers von Frank, NJW-Editorial Heft 48/2013; Heydemann, BDVR-Rundschreiben 2011, S. 123 ff.; Tappert, DRiZ 2013, S. 198 f. 102
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dungsrechtliche Regelungen nach dem Inkrafttreten der Föderalismusreform zum Gegenstand haben. Zudem hat das VG Koblenz im Jahr 2013 dem Bundesverfassungsgericht die Frage vorgelegt, ob die Besoldung nach Besoldungsgruppe R 3 in Rheinland-Pfalz seit dem 1. Januar 2012 verfassungswidrig zu niedrig bemessen ist.106 Prüfungsmaßstab ist in allen Fällen das Alimentationsprinzip nach Art. 33 Abs. 5 GG, wobei diese Verfassungsnorm für die Vorlagen des VG Halle und des VG Koblenz in Gestalt der Fortentwicklungsklausel einschlägig ist. Die vorlegenden Verwaltungsgerichte sind – anders als andere Verwaltungsgerichte107 – von der Verfassungswidrigkeit der vorgelegten Regelungen überzeugt und begründen dies im wesentlichen mit der „greifbaren Abkoppelung“ der Beamtenbesoldung von der allgemeinen Einkommensentwicklung.108 Das OVG NRW zieht hierbei die Einkommensentwicklung innerhalb und außerhalb des öffentlichen Dienstes im Zeitraum von 1991 bis 2003 heran;109 das VG Halle legt sogar den – freilich ausgesprochen langen und wechselvollen – Zeitraum ab dem „Basisjahr“ 1983 zugrunde.110 In den Vorlagen des OVG NRW wird, auch wenn infolge der „Gesamtbetrachtungslehre“ des Bundesverwaltungsgerichts111 die Gesamtheit der besoldungsrelevanten Vorschriften auf dem Prüfstand steht, zentral auf die Neuregelung des Sonderzahlungsrechts als das die Verfassungswidrigkeit der Alimentation
106 VG Koblenz, Vorlagebeschluss vom 12. September 2013 – 6 K 445/13.KO (= 2 BvL 1/14) –, DRiZ 2014, S. 102 ff. 107 Vgl. namentlich VG Berlin, Urteile vom 6. November 2012 – 28 K 5.12 –, juris, vom 9. November 2012 – 26 K 30/11 –, juris und vom 21. November 2012 – 26 K 255.09 –, juris, das die Verfassungswidrigkeit der zwischen September 2004 und Juli 2010 nicht angepassten Berliner Beamten- bzw. Richterbesoldung verneint; vgl. dazu die ablehnende Anmerkung von Battis, LKV 2013, S. 397 ff.; vgl. weiter Albrecht, LKV 2012, S. 61 (62, 64) und Vetter, LKV 2011, S. 193 (199), die von der Verfassungswidrigkeit der Berliner Besoldung ausgehen. 108 Vgl. OVG NRW, Vorlagebeschluss vom 9. Juli 2009 – 1 A 1525/08 (= 2 BvL 19/09) –, juris Rn. 396 ff.; zustimmend Knopp, LKV 2012, S. 145 (149 f.); VG Halle, Vorlagebeschluss vom 28. September 2011 – 5 A 206/09 HAL (= 2 BvL 3/12) –, juris Rn. 217 ff. 109 Vgl. OVG NRW, Vorlagebeschluss vom 9. Juli 2009 – 1 A 1525/08 (= 2 BvL 19/09) –, juris Rn. 333 ff. 110 Vgl. VG Halle, Vorlagebeschluss vom 28. September 2011 – 5 A 206/09 HAL (= 2 BvL 3/12) –, juris Rn. 84. 111 Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts bedarf es zur Ermittlung eines verfassungswidrigen Alimentationsdefizits der Gesamtbetrachtung aller besoldungsrelevanten Regelungen, die prozessual im Wege der Klage auf Feststellung einer generellen Unteralimentation geltend zu machen ist, vgl. BVerwGE 131, 20 (27 f.); BVerwG, Urteil vom 25. März 2010 – 2 C 52.08 –, NVwZ 2010, S. 1507; BVerwG, Urteil vom 28. April 2011 – 2 C 51.08 –, ZBR 2011, S. 379.
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„auslösende Moment“ abgestellt.112 Diese spielt auch in den Vorlagen des VG Halle, wenngleich in geringerem Umfang, eine Rolle.113 b) Auf Landesebene Neben dem Bundesverfassungsgericht sind auch die Verfassungsgerichte der Länder immer wieder mit der Prüfung der Verfassungsmäßigkeit besoldungsrechtlicher Normen befasst.114 Aufsehen hat im Sommer 2013 der nordrhein-westfälische Gesetzgeber erregt, als er die Besoldungsgruppen des höheren Dienstes von einer allgemeinen Bezügeerhöhung vollständig ausnahm.115 Ausweislich der Begründung zum Gesetzentwurf sollten die für die Tarifbeschäftigten vereinbarten Erhöhungen (linear 2, 65 % ab 1. Januar 2013 und weitere 2,95 % ab 1. Januar 2014) grundsätzlich auf die Besoldungsund Versorgungsempfänger übertragen werden.116 Dies sollte allerdings nur partiell und selektiv erfolgen, indem für die Besoldungsgruppen A 11 und A 12 lediglich eine anteilige Erhöhung von jeweils 1,00 % in den Jahren 2013 und 2014 vorgesehen war. Für die Besoldungsgruppen der Besoldungsordnung A ab A 13 sowie für die Besoldungsgruppen der Besoldungsordnungen B, R, C, H und W erfolgte überhaupt keine Anpassung des Grundgehalts; diese wurden für die Jahre 2013 und 2014 mit einer „doppelten Nullrunde“ belegt. Begründet wurde die Regelung ausschließlich mit fiskalischen Erwägungen.117 Bereits bei der öffentlichen Anhörung von Sachverständigen zum Gesetzentwurf zeichnete sich das nahezu einhellige Verdikt der Verfassungswidrigkeit der Neuregelung ab.118 In einer im weiteren Verlauf des Gesetz112 Vgl. OVG NRW, Vorlagebeschluss vom 9. Juli 2009 – 1 A 1525/08 (= 2 BvL 19/09) –, juris Rn. 36 ff. 113 Vgl. VG Halle, Vorlagebeschluss vom 28. September 2011 – 5 A 206/09 HAL (= 2 BvL 3/12) –, juris Rn. 169 ff. 114 Beispielsweise hatte der Bayerische Verfassungsgerichtshof, anders als später das Bundesverfassungsgericht, die W-Besoldung nicht beanstandet, vgl. BayVerfGH, Entscheidung vom 28. Juli 2008 – Vf. 25-VII-05 –, NVwZ 2009, S. 46 (48 f.). 115 Art. 1 § 2 Abs. 1 des Gesetzes zur Anpassung der Dienst- und Versorgungsbezüge 2013/2014 sowie zur Änderung weiterer dienstrechtlicher Vorschriften im Land Nordrhein-Westfalen vom 16. Juli 2013 (GVBl S. 486). 116 Begründung zum Entwurf der Landesregierung für ein Gesetz zur Anpassung der Dienst- und Versorgungsbezüge 2013/2014 sowie zur Änderung weiterer dienstrechtlicher Vorschriften im Land Nordrhein-Westfalen vom 7. Mai 2013, LTDrucks 16/2880, S. 1 ff. 117 Verweis auf die Verpflichtung zum Haushaltsausgleich und auf den Anteil der Personalausgaben an den Gesamtausgaben des Landeshaushalts, vgl. LTDrucks 16/2880, S. 2, 13 f. 118 Vgl. das Ausschussprotokoll des Landtags Nordrhein-Westfalen, Unterausschuss „Personal“ des Haushalts- und Finanzausschusses, Apr 16/276 vom 18. Juni 2013, insbesondere die sehr deutlichen Ausführungen von Battis (S. 9 f., 40 f.) und Schwarz (S. 44 f.). Von 21 geladenen Sachverständigen hat lediglich ein Sachverständiger – der Vertreter des Bundes der Steuerzahler – den Gesetzentwurf begrüßt.
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gebungsverfahrens nachgeschobenen Begründung heißt es knapp, dass die gestaffelte Übernahme nach Abwägung sämtlicher Alternativen, unter Berücksichtigung der allgemeinen wirtschaftlichen Entwicklung und unter Wahrung des Abstandsgebotes nicht den Kernbereich des Alimentationsprinzips verletze.119 Die betreffenden Bestimmungen sind Gegenstand eines abstrakten Normenkontrollverfahrens vor dem Verfassungsgerichtshof für das Land Nordrhein-Westfalen.120 3. Verfassungsrechtliche Würdigung a) Materielle Anforderungen In den Vorlagebeschlüssen des OVG NRW und des VG Halle geht es um die Frage der Unteralimentation infolge defizitärer Bezügeanpassungen an die allgemeinen wirtschaftlichen und finanziellen Verhältnisse und den allgemeinen Lebensstandard. Bei derartigen kontinuierlichen Entwicklungen über Jahre oder Jahrzehnte hinweg lässt sich die Feststellung einer materiellen Verletzung des Alimentationsprinzips naturgemäß weitaus schwerer treffen als bei strukturellen Neuregelungen wie der Einführung der W-Besoldung, die „auf einen Schlag“ zu einer deutlichen Verringerung des Besoldungsniveaus geführt hat. Die auf den Maßstab evidenter Sachwidrigkeit beschränkte materielle Kontrolle des Bundesverfassungsgerichts kommt erst zum Tragen, wenn der unantastbare Kerngehalt der Alimentation als Untergrenze nicht mehr gewahrt ist. Zur Präzisierung des unantastbaren Kerngehalts hat das Bundesverwaltungsgericht das Kriterium der „greifbaren Abkoppelung“ entwickelt. Nach dieser Formel ist die Besoldung nicht mehr amtsangemessen, wenn die finanzielle Ausstattung der Beamten greifbar hinter der allgemeinen Einkommensentwicklung zurückbleibt.121 Entgegen einer verbreiteten Ansicht 122 ist das Kriterium der „greifbaren Abkoppelung“ der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zumindest nicht explizit zu entnehmen.123 Im Urteil zur W-Besoldung bestand für eine Auseinandersetzung mit dieser Formel schon deswegen kein Anlass, 119 Stellungnahme des Finanzministeriums des Landes Nordrhein-Westfalen, 16/1014, vom 1. Juli 2013. 120 Vgl. den Normenkontrollantrag von 91 Mitgliedern des Landtags von NordrheinWestfalen vom 16. September 2013. 121 BVerwGE 117, 305 (309); 131, 20 (26). 122 Vgl. nur die diesbezüglichen Aussagen in den Richtervorlagen des OVG NRW, Vorlagebeschluss vom 9. Juli 2009 – 1 A 1525/08 (= 2 BvL 19/09) –, juris Rn. 396 f. und des VG Halle, Vorlagebeschluss vom 28. September 2011 – 5 A 206/09 HAL (= 2 BvL 3/12) –, juris Rn. 218. 123 Dies betrifft sowohl das – regelmäßig als Beleg zitierte – Urteil zum Versorgungsänderungsgesetz 2001 (BVerfGE 114, 258) sowie die weiteren Entscheidungen BVerfGE 117, 330 (354); BVerfGK 12, 253 (263 f.); BVerfGK 12, 289 (202).
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weil es um die strukturelle Neuausrichtung des Besoldungssystems und nicht um die Fortschreibung der Besoldungshöhe ging. Wann ein „greifbares“ Zurückbleiben der Besoldung hinter der allgemeinen Einkommensentwicklung vorliegen soll, ist bislang nicht geklärt. Die in der fachgerichtlichen Rechtsprechung 124 und in der Literatur 125 unternommenen Versuche einer prozentualen Bezifferung sind sowohl hinsichtlich der Zahlenangaben als auch hinsichtlich des Vergleichsmaßstabs und Bezugspunkts ausgesprochen heterogen. Das OVG NRW geht in seinen Vorlagebeschlüssen von einer greifbaren Abkoppelung bei Überschreitung einer „Marginalitätsgrenze“ von rund 1 % der Nettojahresbezüge aus.126 Seine Berechnungsbeispiele ergeben für das streitgegenständliche Jahr 2003 je nach Besoldungsgruppe eine Einkommensverringerung gegenüber dem Vorjahr um etwa 0,68 % bis 1,34 %, die im Wesentlichen auf die – nicht durch Besoldungsanpassungen des Bundesgesetzgebers kompensierte – landesrechtliche Kürzung der Jahressonderzahlung zurückzuführen ist.127 Das VG Halle bejaht eine greifbare Abkoppelung, weil im Verhältnis zum „Basisjahr“ 1983 die Erhöhung der Besoldung in den Jahren 2008 bis 2010 um 25 % bis 30 % geringer als die Entwicklung nach dem „Referenzsystem“ (allgemeine wirtschaftliche und finanzielle Verhältnisse) ausgefallen sei.128 Bereits diese Bandbreite der Präzisierungsansätze (Brutto- oder Nettoeinkommen, Vergleich mit der früheren Beamtenbesoldung oder mit den Einkommen anderer Berufsgruppen, Gehaltsvergleiche in absoluten Zahlen oder relative Vergleiche hinsichtlich der Besoldungsentwicklung, unterschiedliche Zeiträume und Referenzjahre) belegt die fehlende Operabilität der Formel von der „greifbaren Abkoppelung“ und der verschiedenen Modelle zur Konkretisierung der materiellen Untergrenze einer amtsangemessenen Alimenta124 Vgl. z.B. BerlVerfGH, Beschluss vom 2. April 2004 – VerfGH 212/03 –, ZBR 2004, S. 275 (276): Verletzung des Alimentationsprinzips bei Vermögenseinbuße von 5,08 % des Bruttojahresverdienstes verneint; so auch OVG BB, Beschluss vom 17. Januar 2007 – 4 N 76.05 –, DÖD 2007, S. 255 (256); VGH BW, Urteil vom 16. Oktober 2008 – 4 S 725/06 –, VBlBW 2009, S. 178 ff.: bei Vermögenseinbuße von 2,29 % des jährlichen Bruttoeinkommens bzw. von 1,62 % des jährlichen Nettoeinkommens verneint; OVG NRW, Urteil vom 20. Juni 2007 – 21 A 1634/05 –, NWVBl 2007, S. 474 (477): bei um 10 % höheren Lohnzuwächsen der Tarifbeschäftigten verneint. 125 Vgl. Wolff, ZRP 2003, S. 305 (308):Verletzung des Kerngehalts bei Besoldungseinschränkungen von 3 % gegenüber den Vorjahren verneint. 126 Vgl. etwa OVG NRW, Vorlagebeschluss vom 9. Juli 2009 – 1 A 1525/08 (= 2 BvL 19/09) –, juris Rn. 279. 127 Vgl. OVG NRW, Vorlagebeschluss vom 9. Juli 2009 – 1 A 373/08 (= 2 BvL 17/09) –, juris Rn. 276 ff.: 1,21 %; OVG NRW, Vorlagebeschluss vom 9. Juli 2009 – 1 A 1416/08 (= 2 BvL 18/09) –, juris Rn. 261 ff.: 1,14 %; OVG NRW, Vorlagebeschluss vom 9. Juli 2009 – 1 A 1525/08 (= 2 BvL 19/09) –, juris Rn. 272 ff.: 0,68 %; OVG NRW, Vorlagebeschluss vom 9. Juli 2009 – 1 A1695/08 (= 2 BvL 20/09) –, juris Rn. 252 ff.: 1,34 %. 128 Vgl. etwa VG Halle, Vorlagebeschluss vom 28. September 2011 – 5 A 206/09 HAL –, juris Rn. 164 ff.
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tion. Die „Abkoppelungsformel“ entfaltet daher gegenüber der „Evidenzformel“ des Bundesverfassungsgerichts keinen ersichtlichen Mehrwert. b) Prozedurale Anforderungen Bei den Anforderungen an die kontinuierliche Fortschreibung der Besoldungshöhe im Laufe der Jahre zeigt sich die „Inkongruenz“ 129 zwischen gesetzgeberischer Verpflichtung und verfassungsgerichtlicher Prüfung besonders deutlich. Hier entfaltet das vom Bundesverfassungsgericht im Urteil zur W-Besoldung entwickelte Prozeduralisierungskonzept als zweite Säule des Alimentationsprinzips seine eigentliche Bedeutung. Die prozeduralen Anforderungen an den Gesetzgeber kompensieren nicht nur die Schwierigkeit, das verfassungsrechtlich gebotene Besoldungsniveau anhand materieller Kriterien zu bestimmen, sondern stellen auch einen Ausgleich dafür dar, dass die Ausgestaltung des Beamtenverhältnisses einschließlich der Festlegung der Besoldungshöhe der einseitigen Regelungskompetenz des Gesetzgebers unterliegt.130 Dies gilt nicht nur bei strukturellen Neuausrichtungen in Gestalt von Systemwechseln, sondern auch und gerade bei der kontinuierlichen Fortschreibung der Besoldungshöhe in Gestalt von regelmäßigen Besoldungsanpassungen.131 Das Bundesverfassungsgericht wird zu klären haben, ob und ggf. inwieweit das Prozeduralisierungskonzept auf die anhängigen Verfahren Anwendung findet. Dabei muss es sich auch damit auseinandersetzen, dass die Vorlagen des VG Halle mit den Jahren 2008 bis 2010 einen Zeitraum betreffen, in dem allein die Länder imstande waren, für ihre Beamten ein verfassungskonformes Alimentationsniveau sicherzustellen bzw. ein etwaiges Alimentationsdefizit zu beheben,132 während sich die Vorlagen des OVG NRW auf den Zeitraum 2003/2004, also die Phase der „geteilten Alimentationsverantwortung“ zwischen Bund und Ländern beziehen, denen „gesamtschuldnerisch“ die Gewährleistung der amtsangemessenen Alimentation oblag. Die Abstimmung zwischen Bund und Ländern, die in unterschiedlichem Umfang und unterschiedlicher Form das Alimentationsniveau beeinflussen können, ist naturgemäß schwieriger als im Fall der Verantwortlichkeit eines einzigen Besoldungsgesetzgebers. Dies wirft Folgefragen für das Prozeduralisierungskonzept auf. c) Entwicklungsfähigkeit des Alimentationsprinzips In dem beim Verfassungsgerichtshof für das Land Nordrhein-Westfalen anhängigen Verfahren dürfte sich das Prozeduralisierungskonzept in beson-
129 130 131 132
Gröpl, RiA 2012, S. 97 (100). BVerfGE 130, 263 (301 f.). BVerfGE 130, 263 (302). Vgl. auch BVerwGE 131, 20 (28 f.); Leisner-Egensperger, ZBR 2008, S. 9 (16).
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ders griffiger und anschaulicher Weise fruchtbar machen lassen.133 Unabhängig von der Frage einer materiellen Verletzung des Alimentationsprinzips sind die angegriffenen Neuregelungen schon deshalb verfassungswidrig, weil sie einen Teil der Beamtenschaft ohne sachlichen Grund und ohne tragfähige Begründung von der allgemeinen Besoldungsanpassung ausnehmen.134 Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts,135 der sich die Literatur angeschlossen hat,136 verlangt das Alimentationsprinzip – neben dem absoluten Schutz des Kerngehalts als Untergrenze – für jede nachteilige Veränderung im Besoldungsrecht das Vorliegen eines sachlichen Grundes. Dieser relative Schutz ergibt sich aus der Begrenzungsfunktion des Alimentationsprinzips, die verhindert, dass der Gesetzgeber oberhalb der absoluten Grenze jegliche Kürzungen vornehmen und das Besoldungsniveau nach seinem Belieben bestimmen kann.137 Dementsprechend können Besoldungsabsenkungen aus systemimmanenten Gründen zulässig sein, nicht aber, wenn sie sich als Sonderopfer der Beamtenschaft oder gar bestimmter Gruppen innerhalb der Beamtenschaft darstellen.138 Finanzielle Gründe können eine ergänzende Rechtfertigungsfunktion für nachteilige Veränderungen im Besoldungsrecht einnehmen,139 nicht aber als alleiniger Rechtfertigungsgrund für Besoldungsabsenkungen dienen.140 Allenfalls denkbar sind Besoldungs133
Vgl. auch Lindner, ZBR 2014, S. 9 (10 f.): „Reaktionsbefassungspflicht“ des Besoldungsgesetzgebers. 134 So auch unter Bezugnahme auf Prozeduralisierungsanforderungen Schwarz, Ausschussprotokoll des Landtags Nordrhein-Westfalen, Unterausschuss „Personal“ des Haushalts- und Finanzausschusses, Apr 16/276 vom 18. Juni 2013, S. 44 f.; zur Verfassungswidrigkeit wegen der „Thesaurierungswirkung“ sämtlicher Eingriffe Wild, DÖV 2014, S. 192 ff. 135 Vgl. BVerfGE 8, 1 (12 ff.); 18, 159 (166 f.); 44, 269 (263); 114, 258 (288 f., 291); vgl. auch BVerfGE 130, 263 (295 f.) und Ls. 2 zum Erfordernis eines sachlichen Grundes bei Besoldungsverringerungen infolge gesetzgeberischer Neubewertungen eines Amtes. 136 Vgl. etwa Battis/Kersten, NVwZ 2000, S. 1337 (1340 f.); Günther, Die Anpassung der Beamtenbesoldung an die allgemeinen wirtschaftlichen und finanziellen Verhältnisse, 1987, S. 171 ff.; Lindner, ZBR 2014, S. 9 (13 f.); Wolff, DÖV 2003, S. 494 (495); Wolff, ZBR 2005, S. 361 (367). 137 Vgl. Gramlich, ZBR 1985, S. 37 (42, 44); Günther, Die Anpassung der Beamtenbesoldung an die allgemeinen wirtschaftlichen und finanziellen Verhältnisse, 1987, S. 172; Summer, ZBR 1990, S. 300 (300 f.); Wolff, ZRP 2003, S. 305 (307); ders., DÖV 2003, S. 494 (495). 138 Vgl. insbesondere BVerfGE 114, 258 (291 ff.): Zulässigkeit von Versorgungskürzungen angesichts entsprechender Rentenabsenkungen und der darin deutlich werdenden/ihnen zugrunde liegenden Entwicklungen; aus der Literatur näher Carl, NVwZ 1989, S. 510 (511); Lecheler, ZBR 1990, S. 1 (3 ff.); Wolff, DÖV 2003, S. 494 (495); ders., ZBR 2005, S. 361 (367). 139 Vgl. BVerfGE 76, 256 (311); 99, 300 (320); 114, 258 (291); 117, 372 (388); aus der Literatur etwa Bamberger, ZBR 2008, S. 361 (364); Battis/Kersten, ZBR 2008, S. 1337 (1341); Leisner, DÖV 2002, S. 763 (771); Wolff, DÖV 2003, S. 494 (498); ders., ZBR 2005, S. 361 (368); restriktiver Leisner-Egensperger, ZBR 1998, S. 259 (265); dies., ZBR 2008, S. 9 (13); ablehnend Frank/Heinicke, ZBR 2009, S. 34 (36); Lecheler, ZBR 1990, S. 1 (5); Summer/ Rometsch, ZBR 1981, S. 1 (13); Thiele, DÖD 1993, S. 271 (276). 140 Dies soll nach BVerfGE 114, 258 (291) zumindest „in aller Regel“ gelten; vgl. zu dieser als relativierend empfundenen Passage Hebeler, RiA 2003, S. 157 (160 f.).
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absenkungen zur Bewältigung eines Haushaltsnotstands, wenn sie in ein stimmiges Gesamtkonzept der Haushaltskonsolidierungsmaßnahmen eingebettet sind, das auch andere Staatsausgaben und finanzkräftige Pflichten einbezieht.141 Allein die Berufung auf die Haushaltsvorgaben bzw. die „Schuldenbremse“ aus Art. 109 Abs. 3 GG als kollidierendes Verfassungsrecht 142 genügt – bei aller Entwicklungsfähigkeit des Alimentationsprinzips – zur Rechtfertigung der Sparbemühungen nicht.143 Ausweislich der Begründung zum Gesetzentwurf wurde die Neuregelung in Nordrhein-Westfalen ausschließlich mit fiskalischen Erwägungen – der Verpflichtung zum Haushaltsausgleich und dem Anteil der Personalausgaben an den Gesamtausgaben des Landeshaushalts – gerechtfertigt.144 Für den pauschalen Ausschluss höherer Besoldungsgruppen von der allgemeinen Besoldungserhöhung hat der Gesetzgeber jede valide Begründung vermissen lassen. Ein Gesamtkonzept der Haushaltskonsolidierungsmaßnahmen, das auch andere Beschäftigtengruppen einbeziehen müsste, wird in der Begründung zum Gesetzentwurf nicht dargelegt und ist im Übrigen auch anderweitig nicht ersichtlich. Damit hat der Gesetzgeber – die Übertragbarkeit des Prozeduralisierungskonzepts der W-Besoldung auf die R-Besoldung unterstellt – gegen die ihm obliegenden prozeduralen Verpflichtungen verstoßen. Die nachgeschobene dürftige Begründung erschöpft sich in wenig stichhaltigen Gemeinplätzen und erweist sich schon aus diesem Grund als nicht geeignet, das Begründungsdefizit zu heilen. Indem sie allein auf die absolute Untergrenze des Kerngehaltsschutzes verweist, lässt sie vielmehr erkennen, dass dem Gesetzgeber die neben den absoluten Schutz tretende relative Dimension des Alimentationsprinzips überhaupt nicht bekannt ist.
V. „Attraktiv“: Das Alimentationsprinzip und die Zukunft des Berufsbeamtentums Wie soll man nun den drohenden Haushaltsnöten begegnen, die in mehr oder minder polemischer Form mit den Besoldungs- und Versorgungslasten für die Beamten in Zusammenhang gebracht werden? 145 Sicherlich nicht dadurch, dass Bund und Länder immer mehr Beamten immer weniger Besol141 Vgl. Carl, NVwZ 1989, S. 510 (511); Finger, ZBR 1990, S. 295 (297); Müller, Bestandsschutz des Unterhaltsrechts der Beamten im Grundgesetz, 1997, S. 191 ff.; Jachmann, ZBR 1993, S. 133 (135); Lindner, ZBR 2014, S. 9 (14); Wolff, DÖV 2003, S. 494 (496); ders., ZRP 2003, S. 305 (307). 142 Vgl. zu diesem Ansatz Albrecht, LKV 2012, S. 61 (63); Hebeler, RiA 2003, S. 157 (160 f.); ders., NVwZ 2006, S. 1254 (1256). 143 So auch Lindner, ZBR 2014, S. 9 (14). 144 Vgl. nochmals LTDrucks 16/2880, S. 2, 13 f. 145 Vgl. statt vieler Bohl, ZRP 2004, S. 91 f.; treffend zu der gegen das Berufsbeamtentum gerichteten Polemik Isensee, ZBR 1998, S. 295 ff.
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dungsleistungen gewähren, sondern vielmehr dadurch, dass zukünftig weniger Beamte eingestellt werden, diese aber mehr Geld erhalten, also amtsangemessen und attraktiv alimentiert werden. Mit dieser – freilich langfristig angelegten, von Bund und Ländern bislang nicht konsequent verfolgten – Zukunftsstrategie soll keinesfalls einer generellen Abschaffung des Berufsbeamtentums das Wort geredet werden, wie sie beispielsweise von der sogenannten Bull-Kommission propagiert worden ist.146 Derartigen Gedankenspielen steht – neben Art. 33 Abs. 5 GG – offensichtlich die institutionelle Garantie aus Art. 33 Abs. 4 GG entgegen,147 wonach die Ausübung hoheitsrechtlicher Befugnisse als ständige Aufgabe in der Regel Angehörigen des öffentlichen Dienstes zu übertragen ist, die in einem öffentlich-rechtlichen Dienst- und Treueverhältnis stehen.148 Art. 33 Abs. 4 GG normiert aber nicht nur einen Funktionsvorbehalt für Beamte, sondern weist darüber hinaus bzw. gleichsam spiegelbildlich einen gangbaren Weg: die Begründung neuer Beamtenverhältnisse nur dort, wo tatsächlich hoheitliche Befugnisse wahrgenommen werden.149 Auf diesen in Art. 33 Abs. 4 GG zum Ausdruck kommenden Gedanken nimmt unausgesprochen auch das Bundesverfassungsgericht Bezug,150 wenn es in seinem Urteil zur W-Besoldung geradezu beiläufig den Weg für ein zukunftsfähiges Berufsbeamtentum vorzeichnet. In einem obiter dictum verweist das Gericht darauf, dass neben den drei „beamtenbesoldungsinternen“ Gestaltungsmöglichkeiten zur Beseitigung des verfassungswidrigen Alimentationsdefizits 151 auch Veränderungen außerhalb des beamtenrechtlichen Besoldungssystems vorstellbar sind.152 Unter Bezugnahme auf seine Entscheidung zur Berufsgruppe der Lehrer 153 hält das Gericht hochschuldienstrechtliche Reformen – ohne Verstoß gegen Art. 33 Abs. 5 GG – auch dahingehend für denkbar, dass Neueinstellungen nicht im Beamten-, sondern im
146 Bericht der von der Landesregierung Nordrhein-Westfalen eingesetzten Kommission „Zukunft des öffentlichen Dienstes – öffentlicher Dienst der Zukunft“, 2003; dazu Bull, DÖV 2004, S. 155 ff. 147 Vgl. nur Voßkuhle, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts III, 2. Aufl. 2013, § 43 Rn. 113. 148 Dazu statt vieler Jarass/Pieroth, Art. 33 Rn. 40 m.w.N. 149 Vgl. dazu Voßkuhle, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts III, 2. Aufl. 2013, § 43 Rn. 114 ff. m. zahlr. Nachw. 150 Wolff, ZBR 2012, S. 145 (148) erblickt in der Entscheidung eine Abkoppelung der Anforderungen des Art. 33 Abs. 5 GG von Funktionsvorbehalt des Art. 33 Abs. 4 GG. 151 BVerfGE 130, 263 (311). 152 BVerfGE 130, 263 (297 f.); vgl. des Weiteren BVerfGE 130, 76 (115 f.) zu den aus Art. 33 Abs. 4 GG folgenden Privatisierungsschranken beim Maßregelvollzug. 153 BVerfGE 119, 247 (267); vgl. auch die Überlegungen zum Personalstatus für das wissenschaftliche Personal der Hochschulen und der außeruniversitären Forschungseinrichtungen im Bericht der Expertenkommission „Reform des Hochschuldienstrechts“ vom 7. April 2000, S. 10 ff.
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Angestelltenverhältnis erfolgen.154 Gleichzeitig stellt das Gericht klar, dass – wenn sich der Gesetzgeber für eine Verbeamtung der Professoren entscheidet –, das begründete Beamtenverhältnis auch den Bindungen des Art. 33 Abs. 5 GG, insbesondere den Anforderungen des Alimentationsprinzips, unterliegt. Ein „Rosinenpicken“ erlaubt die Verschiedenheit der Beschäftigungssysteme dem Gesetzgeber nicht.155 Die unausgesprochene Zurückführung des Berufsbeamtentums auf seinen Kernbereich, die Wahrnehmung hoheitlicher Befugnisse, liegt auf einer Linie mit der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union zu den Bereichsausnahmen der Grundfreiheiten für die Beschäftigung in der öffentlichen Verwaltung nach Art. 45 Abs. 4 AEUV bzw. für die Ausübung öffentlicher Gewalt nach Art. 51 Abs. 1 (ggf. i.V.m. Art. 62) AEUV.156 Darunter fallen nach unionsrechtlichem Verständnis nur die im engeren Sinne hoheitlichen Tätigkeiten, also generell die Eingriffsverwaltung in Gestalt von Polizei, Militär, Justiz und Finanzwesen, des Weiteren andere Verwaltungsbereiche in bestimmten Leitungspositionen, nicht aber das Gesundheitswesen, Verkehrs- und Transportdienste oder der Unterricht an öffentlichen Schulen und Hochschulen.157 Zudem vermeidet eine veränderte politische Präferenzsetzung hinsichtlich des Einsatzes von Beamten, die freilich mit einer entsprechenden Aufgabenreduzierung einhergehen muss, von vornherein Kollisionen mit der Judikatur des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte.158 Dieser will zwar aus der Europäischen Menschenrechtskonvention ein Streikrecht für Beamte ableiten,159 sieht Streikverbote aber jedenfalls dann 154 Sehr kritisch dazu Wahlers, ZBR 2013, S. 230 ff. sowie (zu Lehrern) Günther, ZBR 2014, S. 18 ff.; zum Problemkreis bereits Determann, NVwZ 2000, S. 1346 ff. 155 BVerfGE 130, 263 (298) unter Bezugnahme auf BVerfGE 119, 247 (267 f.); vgl. auch Landau, DVBl 2007, S. 133 (139). 156 Vgl. EuGH, Urteil vom 17. Dezember 1980, Rs 149/79, Kommission/Belgien, Slg. 1980, S. 3881; EuGH, Urteil vom 3. Juli 1986, Rs 66/85, Lawrie-Blum/Land Baden-Württemberg, Slg. 1986, S. 2121; vgl. auch Demmke, ZBR 2013, S. 217 (226 f.). 157 Vgl. Streinz, Europarecht, 9. Aufl. 2012, Rn. 902 m.w.N. 158 Zur Bedeutung der Europäischen Menschenrechtskonvention und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte für die deutsche Rechtsordnung grundlegend BVerfGE 128, 326; zum „Verfassungsgerichtsverbund“ bestehend aus Europäischem Gerichtshof für Menschenrechte, Gerichtshof der Europäischen Union und Bundesverfassungsgericht s. Voßkuhle, NVwZ 2010, S. 1 ff. 159 EGMR, Urteil vom 21. April 2009, Enerji Yapi-Yol Sen gg. Türkei, Nr. 68959/01, NZA 2010, S. 1423 ff. In einem sorgfältig begründeten, in Auseinandersetzung mit dieser Rechtsprechung ergangenen Urteil verneint das OVG NRW (Urteil vom 7. März 2012 – 3d A 317/11.O –, NVwZ 2012, S. 890 ff.) ein Streikrecht für Beamte (auch) aus der EMRK; ebenso daran anschließend OVG NS, Urteil vom 12. Juni 2012 – 20 BD 8/11 –, ZBR 2013, S. 57 ff. m. Anm. Baßlsperger. Vgl. zu der seit der EGMR-Entscheidung wieder aufgeflammten Diskussion über ein Streikrecht für Beamte umfassend Battis, Streikverbot für Beamte, 2013; Di Fabio, Das beamtenrechtliche Streikverbot, 2012; des Weiteren Battis, ZBR 2011, S. 397 ff.; Hebeler, ZBR 2012, S. 325 ff.; Lindner, DÖV 2011, S. 305 ff.
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als gerechtfertigt an, wenn Beamte bzw. Angehörige des öffentlichen Dienstes160 hoheitliche Befugnisse im Namen des Staates ausüben. Das Bundesverwaltungsgericht hat jüngst entschieden, dass das beamtenrechtliche Streikverbot weiterhin Geltung beansprucht, der Gesetzgeber aber die Kollision mit der Europäischen Menschenrechtskonvention auflösen muss, wobei die Zuerkennung eines Streikrechts auch Änderungen im Besoldungsrecht nach sich ziehen würde.161 Damit schließt sich der Kreis: Als Ausfluss der Treuepflicht geht das Streikverbot für Beamte Hand in Hand mit dem Alimentationsprinzip, das Schutz und Ausgleich für die fehlende Einflussmöglichkeit der Beamten auf die Höhe ihrer Bezüge bietet. Sowohl das Streikverbot als auch das Alimentationsprinzip stellen hergebrachte Grundsätze des Berufsbeamtentums dar. Das Alimentationsprinzip kann seinerseits nicht losgelöst von der grundgesetzlichen Architektur des Berufsbeamtentums insgesamt betrachtet werden, das ein ausbalanciertes und wohlaustariertes System gegenseitiger Rechte und Pflichten der Beamten einerseits und ihrer Dienstherren andererseits darstellt. Angesichts der Bedeutung des Berufsbeamtentums für die Allgemeinheit dient die amtsangemessene Alimentation nicht allein dem Lebensunterhalt des Beamten und des Richters, sondern entfaltet zugleich eine qualitätssichernde Funktion.162 Gerade in Zeiten des demographischen Wandels wird die Gewinnung qualifizierten Personals auf einem zunehmend umkämpften Arbeitsmarkt immer wichtiger. Dies sollte Grund genug sein, das Beamtenverhältnis – auch und gerade durch eine im „Marktwettbewerb“ attraktive Besoldung – weiterhin für überdurchschnittlich qualifizierte Kräfte ansprechend zu gestalten.
160 Zu Übersetzungsschwierigkeiten des in der französischen Originalfassung verwendeten Begriffs „fonctionnaire“ und den daraus resultierenden Auslegungsproblemen Hebeler, ZBR 2012, S. 325 (327 f.); generell zur Auslegung mehrsprachigen Rechts SchübelPfister, Sprache und Gemeinschaftsrecht, 2004. 161 BVerwG, Urteil vom 27. Februar 2014 – 2 C 1.13 –. 162 BVerfGE 130, 263 (293) unter Hinweis auf BVerfGE 114, 258 (294).
IV. Verfassungsrechtliche Grundlagen des Rechtsschutzes
Staatliche Justizgewährung in religionsgemeinschaftlichen Angelegenheiten Lars Bechler Leitentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (Senat) BVerfGE BVerfGE BVerfGE BVerfGE BVerfGE
18, 385 – Teilung einer Kirchengemeinde 42, 312 – Inkompatibilität/Kirchliches Amt 53, 366 – Konfessionelle Krankenhäuser 66, 1 – Konkursausfallgeld 70, 138 – Loyalitätspflicht Wichtige Kammerentscheidungen
BVerfG, Beschluss des Vorprüfungsausschusses des Zweiten Senats vom 28. November 1978 – 2 BvR 316/78 –, NJW 1980, S. 1041 BVerfG, Beschluss des Vorprüfungsausschusses des Zweiten Senats vom 6. April 1979 – 2 BvR 356/79 – NJW 1980, S. 1041 f. BVerfG, Beschluss des Vorprüfungsausschusses des Ersten Senats vom 12. Februar 1981 – 1 BvR 576/77 –, NJW 1983, S. 2570 BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 18. September 1998 – 2 BvR 1476/94 –, NJW 1999, S. 349 f. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 15. März 1999 – 2 BvR 2307/94 –, NVwZ 1999, S. 758 BVerfGK 14, 485 – Versetzung eines Pfarrers in den Ruhestand Schrifttum (Auswahl) v. Campenhausen/de Wall, Staatskirchenrecht, 4. Aufl. 2006, § 37; Droege, Neues zum „Quis judicabit?“ – oder: Ist das Bundesverfassungsgericht (k)ein staatliches Gericht?, ZevKR 49 (2004), S. 763 ff.; Germann, Staatliche und kirchliche Gerichtsbarkeit, in: Rees (Hrsg.), Recht in Kirche und Staat. Festschrift für Joseph Listl zum 75. Geburtstag, 2004, S. 627 ff.; ders., Die Nichtannahme einer Verfassungsbeschwerde gegen die Kirche: kein Grund zum Nachdenken über die Justizgewährung in kirchlichen Angelegenheiten, ZevKR 54 (2009), S. 214 ff.; Goos, Rechtsschutz in Kirchensachen – eine unendliche Geschichte?, ZBR 2004, S. 159 ff.; Grzeszick, Staatlicher Rechtsschutz und kirchliches Selbstbestimmungsrecht, AöR 129 (2004), S. 128 ff.; M. Heckel, Die Kirchen unter dem Grundgesetz, VVDStRL 26 (1968), S. 5 ff.; ders., Die staatliche Gerichtsbarkeit in Sachen der Religionsgesellschaften, in: Badura/Scholz (Hrsg.), Wege und Verfahren des Verfassungslebens. Festschrift für Peter Lerche zum 65. Geburtstag, 1993, S. 213 ff.; ders., Religionsfreiheit und Staatskirchenrecht in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, in: Badura/ Dreier (Hrsg.), Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, Bd. 2, 2001, S. 379 ff.; Hillgruber, Das Selbstbestimmungsrecht der Kirchen und die Jurisdiktionsgewalt des Staates,
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Justizgewährung in religionsgemeinschaftlichen Angelegenheiten
in: Muckel (Hrsg.), Kirche und Religion im sozialen Rechtsstaat. Festschrift für Wolfgang Rüfner zum 70. Geburtstag, 2003, S. 297 ff.; Hollerbach, Die Kirchen unter dem Grundgesetz, VVDStRL 26 (1968), S. 57 ff.; Kästner, Vergangenheit und Zukunft der Frage nach rechtsstaatlicher Judikatur in Kirchensachen, ZevKR 48 (2003), S. 301 ff.; Kirchberg, Staatlicher Rechtsschutz in Kirchensachen, NVwZ – Extra 10/2013, S. 1 ff.; Laubinger, Der Rechtsschutz kirchlicher Bediensteter, in: Baumeister/Roth/Ruthig (Hrsg.), Staat, Verwaltung und Rechtsschutz. Festschrift für Wolf-Rüdiger Schenke zum 70. Geburtstag, 2011, S. 975 ff.; Magen, Der Rechtsschutz in Kirchensachen nach dem materiell-rechtlichen Ansatz, NVwZ 2002, S. 897 ff.; Maurer, Kirchenrechtliche Streitigkeiten vor den allgemeinen Verwaltungsgerichten, in: Erichsen/Hoppe/v. Mutius (Hrsg.), System des verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutzes. Festschrift für Christian-Friedrich Menger zum 70. Geburtstag, 1985, S. 285 ff.; ders., Rechtsstaatliches Prozessrecht, in: Badura/Dreier (Hrsg.), Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, Bd. 2, 2001, S. 467 ff.; Steiner, Staatliche und kirchliche Gerichtsbarkeit, NVwZ 1989, S. 410 ff.; H. Weber, Kirchlicher Rechtsschutz und staatliche Gerichtsbarkeit, ZevKR 49 (2004), S. 385 ff.; ders., Der Rechtsschutz im kirchlichen Amtsrecht: Unrühmliches Ende einer unendlichen Geschichte?, NJW 2009, S. 1179 ff. Inhalt I.
Facetten einer Kontroverse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Problemstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Ein „enttäuschender“ Kammerbeschluss und seine Folgen . . . . . . . 3. Vorwürfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Bereichslehre in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts 1. Der Gemeindeteilungsbeschluss als Ausgangs- und Fixpunkt . . . . . 2. Abkehrtendenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Erschöpfung des kirchlichen Rechtswegs . . . . . . . . . . . . . . . b) Erschöpfung des staatlichen Rechtswegs . . . . . . . . . . . . . . . 3. Klarstellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Eine Hintertür bleibt offen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Die Bereichslehre im Spiegel der Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Willkürliche Abgrenzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Unberechtigte Ausgrenzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Fazit: Ausgleich durch Abwägung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I. Facetten einer Kontroverse 1. Problemstand Ob und inwieweit das Handeln der Religionsgemeinschaften von staatlichen Gerichten überprüft (und ggf. korrigiert) werden kann, zählt zu den umstrittensten Fragen des Staatskirchenrechts.1 Sie betrifft die Auflösung 1 Unverändert zutreffend Heckel, Die staatliche Gerichtsbarkeit in Sachen der Religionsgesellschaften, in: Badura/Scholz (Hrsg.), Wege und Verfahren des Verfassungslebens. Festschrift für Peter Lerche zum 65. Geburtstag, 1993, S. 213 (213): „Das viel traktierte Thema hat trotz mehr als vierzigjähriger Bemühung in Theorie und Praxis noch keine tragfähige Konsenslösung gefunden.“
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eines verfassungsrechtlichen Spannungsverhältnisses, auf dessen einer Seite die staatliche Verpflichtung zur Gewährung umfassenden Rechtsschutzes steht, verkörpert durch die Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG und den aus Art. 2 Abs. 1, Art. 92 GG sowie dem Rechtsstaatsprinzip abgeleiteten allgemeinen Justizgewährungsanspruch.2 Dieses Rechtsschutzversprechen kann in Konflikt geraten mit der ebenfalls verfassungsrechtlich garantierten Befugnis der Religionsgemeinschaften3, innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes ihre Angelegenheiten selbstständig, das heißt ohne Einmischung staatlicher Gerichte, zu regeln (Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 3 WRV). Hier ist wie folgt zu differenzieren:4 Unbestritten unterliegen die sich nach allgemeinen Gesetzen regelnden Rechtsbeziehungen der Religionsgemeinschaften zu Dritten (z.B. nach Arbeits- und sonstigem Vertragsrecht, nach Delikts- oder Nachbarschaftsrecht) der staatlichen Jurisdiktion.5 Dabei können die staatlichen Gerichte allerdings veranlasst sein, kirchliche Maßnahmen und Regelungen zu berücksichtigen, soweit diese für die Beantwortung der weltlichen Rechtsfrage (vor-) entscheidend sind.6 Soweit den Religionsgemeinschaften öffentlich-rechtliche Befugnisse des Staates übertragen wurden (z.B. im kirchlichen Steuerrecht oder im Recht der kirchlichen Ersatzschulen), üben sie Staatsgewalt aus und unterliegen als Kläger oder Beklagte der Rechtsprechung der (allgemeinen und besonderen) Verwaltungsgerichte.7 Ebenso eindeutig keine Aufgabe staatlicher Gerichte ist die Entscheidung theologischer oder rein innerkirchlicher Angelegenheiten (Vollzug geistlicher Amtshandlungen und religiöser Pflichten bzw. Akte innerkirchlicher Organisation, Normsetzung und Gerichtsbarkeit), da hier keine nach allgemeinem Recht zu beurteilenden Streitigkeiten vorliegen;8 Klagen gegen und von Religionsgemeinschaften sind insoweit von staatlichen Gerichten als unzulässig abzuweisen.9 Die Probleme kreisen um die Frage, was zum (nicht-justiziablen) innerkirchlichen Bereich gehört. 2
Eingehend hierzu Maurer, Rechtsstaatliches Prozessrecht, in: Badura/Dreier (Hrsg.), Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, Bd. 2, 2001, S. 467 (471 ff., 491 ff.). 3 Zum Begriff der Religionsgemeinschaft Pieroth/Görisch, JuS 2002, S. 937 (937 ff.). 4 Zum Folgenden eingehend Maurer, Kirchenrechtliche Streitigkeiten vor den allgemeinen Verwaltungsgerichten, in: Erichsen u.a. (Hrsg.), System des verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutzes. Festschrift für Christian-Friedrich Menger zum 70. Geburtstag, 1985, S. 285 (286 ff.). 5 Ehlers, in: Sachs (Hrsg.), GG, 6. Aufl. 2011, Art. 140 GG (Art. 137 WRV) Rn. 14; Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), GG, Art. 19 Abs. 4 Rn. 113 (Februar 2003). 6 Heckel, Gerichtsbarkeit (Fn. 1), S. 227; v. Campenhausen/de Wall, Staatskirchenrecht, 4. Aufl. 2006, S. 316. Zur Berücksichtigung des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts und Selbstverständnisses bei der Anwendung der allgemeinen Gesetze siehe Germann, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), BeckOK GG, Art. 140 Rn. 46 ff. (Januar 2013). 7 Ehlers, in: Schoch/Schneider/Bier (Hrsg.), VwGO, § 40 Rn. 108 (2012). 8 Ehlers, a.a.O., § 40 Rn. 122 (2012). 9 Heckel, Gerichtsbarkeit (Fn. 1), S. 221.
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Im Zentrum stehen dabei die Streitigkeiten zwischen den Kirchen und ihren Mitgliedern oder Bediensteten. Nach traditioneller Auffassung der (höchstrichterlichen) Rechtsprechung,10 insbesondere des Bundesverfassungsgerichts,11 aber nur noch vereinzelter Stimmen im Schrifttum,12 sollen die öffentlich-rechtlich ausgestalteten Dienstverhältnisse der Geistlichen und Kirchenbeamten dem innerkirchlichen Bereich zuzuordnen sein. Danach sind z.B. statusrechtliche Streitigkeiten über den (Fort-)Bestand des Dienstverhältnisses der Kontrolle staatlicher Gerichte entzogen.13 Ob immerhin vermögensrechtliche Ansprüche von Geistlichen und Kirchenbeamten (etwa auf Schadensersatz oder Zahlung des Gehalts) bei staatlichen Gerichten einklagbar sind, wird in der Rechtsprechung uneinheitlich beantwortet.14 Insoweit hat großes Aufsehen erregt, als ab dem Jahr 2000 zunächst der Bundesgerichtshof 15 und sodann der 7. Senat des Bundesverwaltungsgerichts16 der überwiegenden Ansicht in der Staatskirchenrechtswissenschaft darin folgten, dass das religionsgemeinschaftliche Selbstbestimmungsrecht nicht den Zugang zu staatlichen Gerichten ausschließe, sondern als Abwägungstopos bei der Sachentscheidung zu berücksichtigen sei.17 Danach kann auch in Statusklagen kirchlicher Bediensteter der Rechtsweg eröffnet sein.18 Hoffnungen auf eine entsprechende „Tendenzwende“19 in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts erfüllten sich allerdings bislang nicht. 2. Ein „enttäuschender“ Kammerbeschluss und seine Folgen Aus der Perspektive des auf eine Grundsatzentscheidung im Sinne der „Abwägungslösung“ drängenden Schrifttums20 musste der Nichtannahmebeschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 9. Dezember 200821 „ent10
Nachweise bei Germann (Fn. 6), Art. 140 Rn. 54.1 (Januar 2013). Hierzu sogleich II. 1. 12 Hillgruber, Das Selbstbestimmungsrecht der Kirchen und die Jurisdiktionsgewalt des Staates, in: Muckel (Hrsg.), Kirche und Religion im sozialen Rechtsstaat. Festschrift für Wolfgang Rüfner zum 70. Geburtstag, 2003, S. 297 (309). 13 Vgl. Korioth, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), GG, Art. 137 WRV Rn. 53 (Februar 2003). 14 Nachweise bei Ehlers (Fn. 7), § 40 Rn. 115. 15 BGH, Urteil vom 11. Februar 2000 – V ZR 271/99 –, NJW 2000, S. 1555 (1556); bestätigt und vertieft durch BGHZ 154, 306 (310 ff.). 16 BVerwGE 116, 86 (88); an der überkommenen Linie festhaltend dagegen der 2. Senat, vgl. BVerwGE 117, 145 (147 ff.). Das Urteil des 2. Senats des BVerwG vom 27. Februar 2014 – BVerwG 2 C 19.12 – konnte bis Drucklegung nicht mehr berücksichtigt werden. 17 Den Rechtsprechungswandel begrüßend v. Campenhausen, ZevKR 45 (2000), S. 622 (624 ff.); Kästner, NVwZ 2000, S. 889 (891); Nolte, NJW 2000, S. 1844 (1845). 18 Ehlers (Fn. 7), § 40 Rn. 122; Kopp/Schenke, VwGO, 18. Aufl. 2012, § 40 Rn. 39. 19 Kästner, NVwZ 2000, S. 889 (889). 20 v. Campenhausen, ZevKR 45 (2000), S. 622 (625); Kästner, NVwZ 2000, S. 889 (891); Nolte, NJW 2000, S. 1844 (1844). 21 BVerfGK 14, 485. 11
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täuschen“22. Der Beschwerdeführer, ein evangelischer Pfarrer, der gegen seinen Willen in den Ruhestand versetzt worden war, hatte sich unmittelbar gegen die kirchlichen Maßnahmen gewendet und geltend gemacht, das von den kirchlichen Behörden und Gerichten angewendete Kirchenrecht sei verfassungswidrig. Für die Nichtannahme der Verfassungsbeschwerde hätte es nicht mehr an Begründung bedurft, als dass kirchliche Entscheidungen keine Akte öffentlicher Gewalt im Sinne von Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG, § 90 Abs. 1 BVerfGG sind und eine unmittelbar dagegen gerichtete Verfassungsbeschwerde daher unzulässig ist.23 Stattdessen ergriff die Kammer die Gelegenheit, um sich generell zur Entscheidungsbefugnis staatlicher Gerichte in kirchlichen Angelegenheiten zu äußern. Insoweit heißt es apodiktisch, es gebe ein Spektrum rein innerkirchlicher Angelegenheiten, die gemäß Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 1 und 3 WRV dem Selbstbestimmungsrecht der Kirche unterlägen und dem staatlichen Zugriff – und damit auch staatlicher Gerichtsgewalt – generell entzogen seien.24 Diese Ausführungen knüpfen unmittelbar an den aus dem Jahr 1965 stammenden Gemeindeteilungsbeschluss25 und die darin vertretene Bereichs(scheidungs)lehre an, die von der Staatskirchenrechtswissenschaft in den vergangenen Jahrzehnten Stück für Stück historisiert worden ist.26 Auch der Wunsch, die mit dem Beschluss gesetzten Signale mögen immerhin kein Eigenleben im völker- und europarechtlichen Gefüge entwickeln,27 erfüllte sich nicht. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat unlängst über die Beschwerde eines evangelischen Pfarrers entschieden, der aufgrund eines Zerwürfnisses mit dem Kirchengemeinderat in den Wartestand28 versetzt worden war und dagegen erfolglos um Rechtsschutz bei staatlichen Gerichten nachgesucht hatte, darunter zweimal beim Bundesverfassungsgericht.29 In Straßburg hatte der Beschwerdeführer eine Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren (Art. 6 Abs. 1 EMRK) geltend gemacht; die von ihm begehrte Aufhebung der kirchlichen Entscheidungen sei ein zivilrechtlicher Anspruch im Sinne des Art. 6 Abs. 1 EMRK, weshalb die staatlichen Gerichte sich einer Sachentscheidung nicht hätten entziehen dürfen. Für die Beurteilung der Frage, ob ein zivilrechtlicher Anspruch gemäß
22 Weber, NJW 2009, S. 1179 (1179); siehe auch Kirchberg, NVwZ – Extra 10/2013, S. 1 (4). 23 Treffend Germann, ZevKR 54 (2009), S. 214 (214 f.). 24 Vgl. BVerfGK 14, 485 (486). 25 BVerfGE 18, 385; hierzu sogleich II. 1. 26 Beginnend mit Heckel, VVDStRL 26 (1968), S. 5 (31 ff.); siehe auch dens., Gerichtsbarkeit (Fn. 1), S. 218 ff. 27 Germann, ZevKR 54 (2009), S. 214 (217 f.). 28 Pfarrer im Wartestand befinden sich nicht (mehr) in einer Pfarrstelle. Der Wartestand ist in der Regel mit einer Reduzierung der Bezüge verbunden. 29 Näher dazu unter II. 2. b).
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Art. 6 Abs. 1 EMRK vorliegt, orientiert sich der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte am innerstaatlichen Recht und dessen Auslegung durch die innerstaatlichen Gerichte.30 Nicht zuletzt aufgrund des erwähnten Kammerbeschlusses vom 9. Dezember 2008 gelangte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte zu dem Ergebnis, dass das kirchliche Dienstrecht zu den innerkirchlichen Angelegenheiten zähle, hinsichtlich derer der Rechtsweg zu den staatlichen Gerichten nach deutschem Recht nicht gegeben sei.31 Die Beschwerde wurde zurückgewiesen und damit – nach resignierender Einschätzung des Prozessbevollmächtigten des Beschwerdeführers – der staatliche Rechtsschutz in Kirchensachen praktisch zum Erliegen gebracht.32 3. Vorwürfe Die „Rechtsschutzverweigerung“33 des Bundesverfassungsgerichts in religionsgemeinschaftlichen Angelegenheiten vollzieht sich in einer bemerkenswerten Frontstellung zur Staatskirchenrechtswissenschaft, die – obwohl tendenziell kirchenfreundlich34 – den allgemeinen Justizgewährungsanspruch gegenüber dem religiösen Selbstbestimmungsrecht zu stärken sucht. Dieses Phänomen ist mindestens deshalb erklärungsbedürftig, weil das Bundesverfassungsgericht andernorts die Garantie wirkungsvollen Rechtsschutzes als „wesentlichen Bestandteil des Rechtsstaates“ hervorhebt.35 Der vielgerühmte Dialog zwischen Bundesverfassungsgericht und Staats(kirchen)rechtslehre bei der Auslegung und Fortbildung des Verfassungsrechts36 trägt bei diesem Thema offenbar keine Früchte; es heißt, das Gericht ignoriere die fundamentale Kritik an seiner Rechtsprechung.37 Ein weiterer Vorwurf richtet sich gegen die angeblich mäandernde Kasuistik, die keine Leitfunktion für die Rechtspraxis entfalten könne; der fälligen Grundsatzentscheidung (zugunsten der Abwägungslösung) weiche das Bundesverfassungsgericht beharrlich aus.38 Im Folgenden soll der Frage nachgegangen werden, ob es in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts an einer eindeutigen Linie und da30
Vgl. Grabenwarter/Pabel, EMRK, 5. Aufl. 2012, § 24 Rn. 5 f. EGMR, Entscheidung vom 6. Dezember 2011, Baudler gegen Deutschland, Nr. 38254/04, juris Rn. 78 ff. In gleicher Weise entschied der EGMR das Parallelverfahren Nr. 39775/04. 32 Kirchberg, NVwZ – Extra 10/2013, S. 1 (5). 33 Kästner, ZevKR 48 (2003), S. 301 (301). 34 Vgl. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 4 (1945–1990), 2012, S. 338. 35 Vgl. BVerfGE 107, 395 (401), m.w.N. 36 Hierzu Lerche, BayVBl. 2002, S. 649 (650 ff.). 37 Kästner, NVwZ 2000, S. 889 (889 f.); Goos, ZBR 2004, S. 159 (169). 38 Vgl. Droege, ZevKR 49 (2004), S. 763 (771): „Strategie der Vermeidung einer Sachentscheidung“; Goerlich, JZ 2004, S. 793 (794): „verfassungspolitisches Versagen“. 31
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mit an Rechtssicherheit im Bereich der Justizgewährung in religionsgemeinschaftlichen Angelegenheiten fehlt. Anschließend ist den Gründen für die Einschränkung des allgemeinen Justizgewährungsanspruchs nachzuspüren und deren Plausibilität zu prüfen. Davon hängt ab, ob das Bundesverfassungsgericht von dem im Gemeindeteilungsbeschluss eingeschlagenen Pfad (abermals?) abrücken könnte – oder ob in dem Kammerbeschluss vom 9. Dezember 2008 das „unrühmliche Ende einer unendlichen Geschichte“ liegt, das Beobachter (paradoxerweise) mit ihm verbinden.39
II. Die Bereichslehre in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts 1. Der Gemeindeteilungsbeschluss als Ausgangs- und Fixpunkt Ausgangspunkt der Rechtsprechung zum staatlichen Rechtsschutz in religionsgemeinschaftlichen Angelegenheiten ist der Gemeindeteilungsbeschluss40 von 1965. Ausgehend von der Freiheit der Religionsgemeinschaften zur Ordnung und Verwaltung ihrer Angelegenheiten innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes (Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 3 WRV) postulierte das Bundesverfassungsgericht darin einen Bereich innerkirchlicher Maßnahmen, der jeder staatlichen Einwirkung – also auch einer Überprüfung durch staatliche Gerichte – entzogen sei. Zur Begründung hieß es, die „von der Verfassung anerkannte Eigenständigkeit und Unabhängigkeit der kirchlichen Gewalt würde geschmälert werden, wenn der Staat seinen Gerichten das Recht einräumen würde, innerkirchliche Maßnahmen, die im staatlichen Zuständigkeitsbereich keine unmittelbaren Rechtswirkungen entfalten, auf ihre Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz zu prüfen.“41 Was zum Innenbereich gehört, soll sich danach richten, „was materiell, der Natur der Sache oder Zweckbeziehung nach als eigene Angelegenheit der Kirche anzusehen ist.“42 Anhand dieser tautologischen Formel werden etwa das kirchliche Organisationsrecht43, das kirchliche Amtsrecht sowie das damit untrennbar verbundene Dienst- und Versorgungsrecht44 dem der staatlichen Gerichtsbarkeit entzogenen Innenbereich zugeordnet.45 Soweit eine kirchliche Maßnahme den kirchlichen Bereich überschreite und unmittelbare
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Vgl. Weber, NJW 2009, S. 1179 (1182). BVerfGE 18, 385. 41 BVerfGE 18, 385 (387 f.). 42 BVerfGE 18, 385 (387). 43 Vgl. BVerfGE 18, 385 (388). 44 Vgl. nachfolgend BVerfGE 42, 312 (334 f.). 45 Rechtsprechungsüberblick bei Ehlers (Fn. 7), § 40 Rn. 113 (2012); Schenke (Fn. 18), § 40 Rn. 39. 40
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Rechtswirkungen im staatlichen (Außen-)Bereich entfalte, unterliege sie dagegen der in Art. 140 GG i.V.m. § 137 Abs. 3 WRV genannten Schranke des für alle geltenden Gesetzes – und damit der staatlichen Jurisdiktionsgewalt.46 Diese „Bereichslehre“ entsprach dem Stand der Auslegung des Art. 137 WRV in der Staatskirchenrechtswissenschaft der 1960er Jahre.47 Der Bundesgerichtshof hatte sich diesem Ansatz bereits frühzeitig geöffnet,48 das Bundesverwaltungsgericht schloss sich unmittelbar nach dem Gemeindeteilungsbeschluss der Bereichslehre an.49 Auf den Gemeindeteilungsbeschluss des Ersten Senats folgte 1976 ein Beschluss des Zweiten Senats50, in dem es um die Frage der Inkompatibilität eines kirchlichen Amtes mit einem Abgeordnetenmandat ging. Der Zweite Senat bekräftigte die Bereichslehre und stellte klar, dass kirchliche Handlungen auch dann zum nicht-justiziablen innerkirchlichen Bereich zählen, wenn sie mittelbar in den staatlichen Zuständigkeitsbereich hineinwirken, was bei nahezu allen kirchlichen Handlungen der Fall sei.51 Auch die spätere Rechtsprechung des Zweiten Senats hielt an diesen Grundsätzen fest.52 In der Folgezeit hatten sich Vorprüfungsausschüsse und Kammern des Bundesverfassungsgerichts häufiger mit dem staatlichen Rechtsschutz im kirchlichen Amtsrecht zu beschäftigen,53 beginnend mit zwei Beschlüssen aus den Jahren 1978 und 1979. Im ersten Fall wendete sich ein Pfarrer gegen seine Entfernung aus dem Dienst im kirchlichen Disziplinarverfahren („Amtszuchtverfahren“);54 im anderen Fall ging ein Pfarrer gegen die im Lehrbeanstandungsverfahren getroffene Feststellung vor, er sei öffentlich durch Wort und Schrift in der Darbietung der christlichen Lehre in Widerspruch zum Bekenntnis der evangelisch-lutherischen Kirche getreten, halte daran beharrlich fest und sei deshalb nicht mehr fähig, eine amtliche Tätigkeit im kirchlichen Dienst auszuüben.55 Beide Verfassungsbeschwerden wurden 46 Vgl. BVerfGE 18, 385 (387); 42, 312 (334). Dem Außenbereich zuzurechnen seien danach u.a. die Verhängung eines Hausverbots für einen kirchlichen Kindergarten und das Läuten von Kirchenglocken. Rechtsprechungsnachweise bei Ehlers (Fn. 7), § 40 Rn. 114 (2012); Schenke (Fn. 18), § 40 Rn. 40. 47 Germann, ZevKR 54 (2009), S. 214 (215). 48 Vgl. BGHZ 34, 372 (374); 46, 96 (99). 49 Vgl. BVerwGE 25, 226 (229); 42, 312 (334 f.); 57, 220 (243); 66, 241 (242 ff.); 95, 379 (381). 50 BVerfGE 42, 312. 51 Vgl. BVerfGE 42, 312 (333 f.). 52 Vgl. BVerfGE 66, 1 (20); 72, 278 (289). 53 Siehe auch den Überblick bei Laubinger, Der Rechtsschutz kirchlicher Bediensteter, in: Baumeister/Roth/Ruthig (Hrsg.), Staat, Verwaltung und Rechtsschutz. Festschrift für Wolf-Rüdiger Schenke zum 70. Geburtstag, 2011, S. 975 (983 ff.). 54 BVerfG (Vorprüfungsausschuss), Beschluss vom 28. November 1978 – 2 BvR 316/78 –, NJW 1980, S. 1041. 55 BVerfG (Vorprüfungsausschuss), Beschluss vom 6. April 1979 – 2 BvR 356/79 – NJW 1980, S. 1041 f.
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nicht zur Entscheidung angenommen, weil das kirchliche Amtsrecht bzw. das Lehrbeanstandungsverfahren innerkirchlicher Natur seien und den staatlichen Rechtskreis nicht berührten. In gleichem Duktus zurückgewiesen wurden die Verfassungsbeschwerden – eines Rechtsanwalts, der von der Prozessvertretung vor einem kirchlichen Verwaltungsgericht ausgeschlossen wurde, weil er keiner evangelischen Kirche angehörte,56 – eines Pfarrers, der von seiner Kirche zunächst zwangsweise beurlaubt und dann versetzt worden war,57 – eines Kirchenbeamten, dessen beamtenrechtliche Versorgungsanwartschaften nicht unmittelbar von seiner Kirche gewährleistet wurden,58 – eines Pfarrers gegen seine Versetzung durch die Kirchenleitung,59 – des Rektors einer katholischen Schule, dessen Gehalt vom Diözesan-Disziplinargericht wegen eines Dienstvergehens gekürzt worden war,60 – eines Pfarrers, der nach Meinungsverschiedenheiten mit dem Kirchenvorstand in einem kirchlichen Disziplinarverfahren in den Wartestand versetzt worden war.61 2. Abkehrtendenzen Konnte man bis dahin von einer stringenten Rechtsprechung in den Bahnen der Bereichslehre ausgehen, deutete sich in den 1990er Jahren eine Wende an, nachdem das Bundesverfassungsgericht erstmals für 1995 und sodann für die Folgejahre öffentlichkeitswirksam angekündigt hatte, in vier aus den Jahren 1990 bis 1994 stammenden Verfassungsbeschwerden über die Frage zu entscheiden, „inwieweit Rechtsschutz durch staatliche Gerichte (Justizgewährungspflicht des Staates) im kirchlichen Bereich zu gewähren ist.“62 Zwar kam es nicht zu der erwarteten Grundsatzentscheidung, doch
56 BVerfG (Vorprüfungsausschuss), Beschluss vom 12. Februar 1981 – 1 BvR 576/77 –, NJW 1983, S. 2570. 57 BVerfG (Vorprüfungsausschuss), Beschluss vom 1. Juni 1983 – 2 BvR 453/83 –, NJW 1983, S. 2569. Die hiergegen gerichtete Beschwerde zur Europäischen Kommission für Menschenrechte (EKMR) blieb ohne Erfolg, vgl. NJW 1987, S. 1131. 58 BVerfG (Vorprüfungsausschuss), Beschluss vom 5. Juli 1983 – 2 BvR 514/83 –, NJW 1983, S. 2569 f. 59 BVerfG (Vorprüfungsausschuss), Beschluss vom 3. Februar 1984 – 2 BvR 95/84 –, juris. 60 BVerfG (Vorprüfungsausschuss), Beschluss vom 30. März 1984 – 2 BvR 1994/83 –, NVwZ 1985, S. 105. 61 BVerfG (Vorprüfungsausschuss), Beschluss vom 30. Oktober 1984 – 2 BvR 1318/84 –, NVwZ 1989, S. 452. 62 Vgl. Kirchberg, NVwZ 1999, S. 734 (734).
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deuteten bestimmte Formulierungen in Kammerbeschlüssen auf eine vorsichtige Distanzierung von der überkommenen Rechtsprechung hin.63 a) Erschöpfung des kirchlichen Rechtswegs Im ersten Fall64 hatten die Hinterbliebenen eines früheren evangelischen Pfarrers Versorgungsansprüche gegen die Nordelbische Kirche auf dem Verwaltungsrechtsweg eingeklagt. Die Klage blieb in allen Instanzen ohne Erfolg, weil nach Ansicht der Verwaltungsgerichte die Entscheidung des Rechtsstreits von der Klärung der Vorfrage abhing, ob die Beendigung des kirchlichen Dienstverhältnisses rechtmäßig bzw. rechtswirksam war; hierfür sei ein Kirchengericht zuständig. Die dagegen gerichtete Verfassungsbeschwerde wurde zwar – entsprechend der Bereichslehre – nicht zu Entscheidung angenommen. Neu war allerdings, dass die Kammer ausdrücklich den allgemeinen Justizgewährungsanspruch gegen das religionsgemeinschaftliche Selbstbestimmungsrecht in Stellung brachte. Beide stünden in „einem Wechselverhältnis, dem durch entsprechende Güterabwägung Rechnung zu tragen“ sei, wobei „dem Selbstverständnis der Kirchen besonderes Gewicht“ zukomme.65 Bei Bestehen einer kirchlichen Rechtsschutzmöglichkeit gebiete die verfassungsrechtlich geschuldete Rücksichtnahme gegenüber dem kirchlichen Selbstverständnis es allerdings, „über Fragen des kirchlichen Amtsrechts nach Maßgabe der allgemeinen Gesetze und in Erfüllung des Justizgewährungsanspruchs jedenfalls nicht vor Erschöpfung des insoweit gegebenen kirchlichen Rechtswegs zu entscheiden.“66 Dies konnte so verstanden werden, als sei staatlicher Rechtsschutz in innerkirchlichen Angelegenheiten – jedenfalls nach Erschöpfung des innerkirchlichen Rechtwegs – nicht mehr von vornherein ausgeschlossen.67 Dennoch erscheint es aus heutiger Sicht überspitzt, aus diesen Formulierungen eine Abkehr von der Bereichslehre herauszulesen. Zwar wurde der Gemeindeteilungsbeschluss darin nicht erwähnt, doch berief sich die Kammer ausdrücklich auf die Entscheidung des Zweiten Senats zur Inkompatibilität von Abgeordnetenmandat und kirchlichem Amt, in der die Grundsätze des Gemeindeteilungsbeschlusses bestätigt und präzisiert worden waren.68 Auch lag der Sonderfall vor, dass die Vermögensstreitigkeit kirchengesetzlich
63 v. Campenhausen, ZevKR 45 (2000), S. 622 (625); Laubinger, Rechtsschutz (Fn. 53), S. 984 f.; Weber, ZevKR 49 (2004), S. 385 (386). 64 BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 18. September 1998 – 2 BvR 1476/94 –, NJW 1999, S. 349 f. 65 BVerfG, a.a.O., S. 350. 66 BVerfG, a.a.O., S. 350. 67 Vgl. Kirchberg, NVwZ 1999, S. 734 (734); vorsichtiger Korioth (Fn. 13), Art. 137 Rn. 53 (Februar 2003). 68 Vgl. BVerfGE 42, 312 (333 ff.).
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den staatlichen Verwaltungsgerichten zur Entscheidung zugewiesen war. Soweit hierfür eine amtsrechtliche Vorfrage (also eine „innerkirchliche“ Angelegenheit) zu klären ist, erscheint es auch aus Sicht der Bereichslehre konsequent, vorab – soweit möglich – ein Kirchengericht nach kirchlichem Selbstverständnis darüber entscheiden zu lassen.69 b) Erschöpfung des staatlichen Rechtswegs Neue Hoffnungen auf eine Rechtsprechungswende waren mit einem Kammerbeschluss aus 199970 verknüpft. Wieder ging es um die disziplinarische Versetzung eines Pfarrers in den Wartestand aufgrund von Unstimmigkeiten mit der Kirchengemeinde. Die (unmittelbar) gegen die kirchlichen Entscheidungen gerichtete Verfassungsbeschwerde wurde nicht zur Entscheidung angenommen, weil der Beschwerdeführer den Rechtsweg zu den staatlichen Gerichten nicht erschöpft hatte (§ 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG). Die vor dem Hintergrund des prinzipiellen Rechtswegausschlusses der Bereichslehre an sich überflüssige Verweisung auf den Rechtsweg erklärt sich dadurch, dass der Beschwerdeführer die massive Kritik der Staatskirchenrechtswissenschaft und den dadurch ausgelösten Rechtsprechungswandel oberster Bundesgerichte aufgegriffen hatte und die Kammer zunächst den Fachgerichten Gelegenheit geben wollte, die Einwände gegen die Bereichslehre zu prüfen und ggf. zu berücksichtigen.71 Auch insoweit erscheint es freilich nicht zwingend, aus der Annahme der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde und dem an die Fachgerichte gerichteten „Prüfauftrag“ bereits eine Distanzierung von der Bereichslehre abzuleiten.72 Nachdem der Beschwerdeführer (erfolglos) den Rechtsweg durchschritten hatte, erhob er erneut Verfassungsbeschwerde gegen die zwangsweise Versetzung in den Wartestand. Hierbei rügte er u.a. eine Verletzung des allgemeinen Justizgewährungsanspruchs, weil die Fachgerichte seine Klage mangels Rechtswegeröffnung als unzulässig abgewiesen hatten. Doch anstelle der all-
69 Vgl. Korioth (Fn. 13), Art. 127 Rn. 55 (Februar 2003): „Da nun aber die Rechtsprechung vor dem Hintergrund der Bereichsscheidungslehre und mit Blick auf Art. 137 Abs. 3 Satz 2 WRV unmittelbare Statusklagen kirchlicher Bediensteter für unzulässig erachtet, sieht sie sich auch bei Klagen (vorausgesetzt sie sind zulässig, weil die Kirche ihr Einverständnis erklärt hatte), in deren Rahmen statusrechtliche Vorfragen einer vermögensrechtlichen Streitigkeit zu beantworten sind, an die Entscheidung des Kirchengerichts oder der Religionsgemeinschaft gebunden.“ 70 BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 15. März 1999 – 2 BvR 2307/94 –, NVwZ 1999, S. 758. 71 BVerfG, a.a.O., S. 758. 72 Schon früher hatte das BVerfG eine Verfassungsbeschwerde mangels Rechtswegerschöpfung nicht zur Entscheidung angenommen, soweit dort die vermögensrechtlichen Auswirkungen einer kirchlichen Disziplinarmaßnahme in Rede standen, vgl. BVerfG (Vorprüfungsausschuss), Beschluss vom 30. März 1984 – 2 BvR 1994/83 –, NVwZ 1985, S. 105.
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seits erwarteten Grundsatzentscheidung nahm das Bundesverfassungsgericht (diesmal in Gestalt des Zweiten Senats) die Verfassungsbeschwerde wiederum nicht zur Entscheidung an. Zur Begründung hieß es, der Beschwerdeführer habe nicht in Frage gestellt, dass die Versetzung in den Wartestand dem kirchlichen Amtsrecht und damit der autonomen Entscheidung der Kirche unterliege. Damit sei die Maßnahme auch nach der vom Beschwerdeführer präferierten Abwägungslösung nicht auf ihre Rechtmäßigkeit zu überprüfen, sondern lediglich auf ihre Wirksamkeit, woran kein Zweifel bestehe. Mithin sei ausgeschlossen, dass die angefochtenen Gerichtsentscheidungen im Ergebnis auf einer Verletzung des Justizgewährungsanspruchs beruhten.73 Dieser Beschluss hat dem Gericht erhebliche – auch gerichtsinterne – Kritik eingetragen.74 Die hypothetische Rechtmäßigkeitsprüfung (i.S.d. Wirksamkeit der Maßnahme) habe die Antwort auf die Frage nach der Justiziabilität innerkirchlicher Angelegenheiten vorweggenommen, über die der Senat angesichts des deutlichen Meinungswandels in der höchstrichterlichen Rechtsprechung und Literatur nach Annahme der Verfassungsbeschwerde hätte entscheiden müssen.75 Im Übrigen hätte die hypothetische Prüfung der angegriffenen Maßnahme – wäre sie angebracht und richtig – das Bundesverfassungsgericht schon bei der ersten Nichtannahmeentscheidung davon abhalten müssen, den Beschwerdeführer auf eine „absehbar sinnlose Schleife durch den Rechtsweg zu verweisen.“76 Die Kritik ist berechtigt. Der Senat hätte sich einer Sachentscheidung nicht mehr entziehen dürfen, nachdem der Rechtsweg vom Beschwerdeführer erschöpft worden war. Insbesondere war die Klärung der Frage nach den Grenzen der Justiziabilität kirchlicher Maßnahmen nicht deshalb entbehrlich, weil die (materielle) Beschwer des Beschwerdeführers auf jeden Fall bestehen geblieben wäre.77 Der umfassende Zugang zu staatlichen Gerichten, den der allgemeine Justizgewährungsanspruch verbürgt,78 setzt ein dem Kläger zustehendes subjektives Recht voraus, nicht dessen mögliche Verletzung; diese wird erst im Gerichtsverfahren geprüft.79 Dementsprechend verletzt ein Gericht, das eine Sachentscheidung mittels (hypothetischen) Vorgriffs auf materielle Kriterien des Entscheidungsinhalts verweigert, seine Pflicht zur Justizgewährung.80 Offen ist zudem, ob die vom Senat herangezogene Wirk73
Vgl. BVerfGE 111, 1 (4 ff.). Siehe hierzu vor allem das Sondervotum der Richterin Lübbe-Wolff, BVerfGE 111, 1 (7 ff.); ferner Droege, ZevKR 49 (2004), S. 763 (767 ff.); Goerlich, JZ 2004, S. 793 (794). 75 Lübbe-Wolff, a.a.O., S. 8 f. 76 Lübbe-Wolff, a.a.O., S. 7. 77 So aber Graßhof, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge (Hrsg.), BVerfGG, § 93a Rn. 65 mit Fn. 2 u. Rn. 86 mit Fn. 4 (März 2006). 78 Vgl. BVerfGE 107, 395 (401). 79 Droege, ZevKR 49 (2004), S. 763 (769 f.). 80 Germann, Staatliche und kirchliche Gerichtsbarkeit, in: Rees (Hrsg.), Recht in Kirche und Staat. Festschrift für Joseph Listl zum 75. Geburtstag, 2004, S. 627 (640 f.). 74
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samkeitskontrolle81 die Grenzen der Justiziabilität kirchlicher Maßnahmen überhaupt verfassungskonform bestimmt.82 Hier eine grundsätzliche Klärung herbeizuführen, wäre Aufgabe des Senats gewesen. 3. Klarstellungen Die – vorerst – letzte (Kammer-)Entscheidung zur Justizgewährung in religionsgemeinschaftlichen Angelegenheiten, der Nichtannahmebeschluss vom 9. Dezember 200883, ist frei von derlei Unsicherheiten. Apodiktisch wie einst im Gemeindeteilungsbeschluss heißt es hier, der Begriff der öffentlichen Gewalt im Sinne des § 90 Abs. 1 BVerfGG umfasse nicht rein innerkirchliche Maßnahmen. Diese seien keine Ausübung von Staatsgewalt, sondern Ausdruck kirchlicher Selbstbestimmung, in die der Staat nicht eingreifen dürfe.84 Interessanterweise wird diese Aussage mit zwei Argumenten gestützt, die offenkundig die Kritik an der Bereichslehre aufnehmen. Zunächst verteidigt die Kammer die Exemtion innerkirchlicher Angelegenheiten gegen den Vorwurf eines damit verbundenen rechtsfreien Raumes. Das kirchliche Selbstbestimmungsrecht bedeute keine Ausklammerung aus der staatlichen Rechtsordnung, sondern begründe im Gegenteil „eine die gemeinschaftliche Freiheitsausübung respektierende Sonderstellung innerhalb der staatlichen Rechtsordnung“, was nicht nur der durch Art. 4 GG geschützten gemeinschaftlichen Glaubens- und Religionsfreiheit geschuldet sei, sondern auch „eine institutionelle Sicherung der geforderten Staatsfreiheit der Kirchen im Sinne des Art. 137 Abs. 3 WRV“ darstelle.85 Das zweite Argument zielt auf die konkurrierende Abwägungslösung, nach der auf der Ebene der Begründetheit der Klage ein Ausgleich zwischen der betroffenen materiellen Rechtsposition und dem kirchlichen Selbstbestimmungsrecht zu schaffen ist: „Wenn staatliche Gerichte in der Sache über kirchliche Angelegenheiten zu entscheiden haben, bestimmen sie in diesen Angelegenheiten mit, und zwar selbst dann, wenn sie sich bemühen, der kirchlichen Eigenständigkeit bei der materiellen Entscheidung gerecht zu werden. Die konkrete Betrachtung der konfligierenden Interessen und Rechte im Einzelfall kann erfahrungsgemäß zu einer allmählichen
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Vgl. BVerfGE 111, 1 (5). Vgl. Kirchberg, NVwZ – Extra 10/2013, S. 1 (4): Die Wirksamkeitskontrolle anhand der Maßstäbe des allgemeinen Willkürverbots, der guten Sitten und des ordre public sei „gewissermaßen das Mindeste, was die nahezu einhellige Auffassung des rechtswissenschaftlichen Schrifttums bei seiner Auseinandersetzung mit der Bereichslehre und mit den sich daraus ergebenden Konsequenzen für den Rechtsschutz in Kirchensachen inzwischen für geboten erachtete.“ 83 BVerfGK 14, 485. 84 BVerfGK 14, 485 (486), unter Bezug auf BVerfGE 18, 385 (386). 85 BVerfGK 14, 485 (486 f.); literarischer Gewährsmann der Kammer ist Grzeszick, AöR 129 (2004), S. 168 (203). 82
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Steigerung der richterlichen Kontrolldichte führen und birgt so die Gefahr, dass die religiöse Legitimation kirchenrechtlicher Normen verkannt und damit gegen den Grundsatz der Neutralität des Staates in religiösen Dingen verstoßen wird. Das aber ist gerade in dem sensiblen Bereich der durch Art. 137 Abs. 3 Satz 2 WRV ausdrücklich gewährleisteten kirchlichen Ämterhoheit problematisch […].“86
Dass das Bundesverfassungsgericht die Kritik an seiner Rechtsprechung unbeeindruckt ließe, kann man danach wohl nicht behaupten. Auch die zahlreichen Rechtsprechungs- und Literaturnachweise, mit denen die Kammer ihre Position absichert,87 stützen den Befund des Problembewusstseins im Bereich der Justizgewährung in religionsgemeinschaftlichen Angelegenheiten.88 Wichtiger ist freilich die Frage, ob die Kammer einen eingeleiteten Rechtsprechungswandel (von der Bereichslehre zur Abwägungslösung) rückgängig gemacht und die dafür notwendige Senatsentscheidung „unterlaufen hat“89. Mit der Anknüpfung an den Gemeindeteilungsbeschluss wird man die Kammer beim Wort nehmen müssen, wie dies der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte90, die Verwaltungsgerichte91 und die meisten Interpreten im Schrifttum92 auch tun. Um einen Atavismus handelt es sich dabei keinesfalls. Die Kammerrechtsprechung hat sich stets in den Bahnen der Bereichslehre bewegt und ist trotz mehrdeutiger Formulierungen in einzelnen Beschlüssen davon nicht abgerückt.93 Für eine Abkehr von den Grundsätzen des Gemeindeteilungsbeschlusses wäre ohnedies eine Senatsentscheidung erforderlich; diese könnte wohl erst nach einer Anrufung des Plenums (§ 16 Abs. 1 BVerfGG) ergehen, da die Bereichslehre von beiden Senaten vertreten wird.94 Auch der Vorwurf der Inkonsistenz der (Kammer-)Rechtsprechung im Bereich der Justizgewährung in religionsgemeinschaftlichen Angelegenheiten verfängt nach alldem nicht – was freilich nicht bedeutet, dass damit Rechtssicherheit besteht.
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BVerfGK 14, 485 (487 f.), mit Verweisen auf das Schrifttum. Vgl. BVerfGE 14, 485 (486 ff.). 88 Siehe auch schon BVerfGE 42, 312 (333 ff.). 89 So der Vorwurf von Kirchberg, NVwZ – Extra 10/2013, S. 1(5). 90 Siehe oben I. 2. 91 Vgl. nur Nds.OVG, Beschluss vom 16. Dezember 2010 – 8 ME 276/10 –, juris Rn. 38; OVG NRW, Urteil vom 18. September 2012 – 5 A 1941/10 –, juris Rn. 56 ff.; VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 18. Dezember 2012 – 4 S 1540/12 –, juris Rn. 10. 92 Vgl. Kirchberg, NVwZ – Extra 10/2013, S. 1 (5); Laubinger, Rechtsschutz (Fn. 53), S. 986 f.; Weber, NJW 2009, S. 1179 (1182); weniger restriktiv Germann, ZevKR 54 (2009), S. 214 (217): „falsche Fährte“ der Kammer. 93 Siehe oben II. 2. 94 Vgl. BVerfGE 18, 385 (386 ff.); 42, 312 (333 f.). 87
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4. Eine Hintertür bleibt offen Auch der Kammerbeschluss vom 9. Dezember 2008 enthält trotz Unzulässigkeit der Verfassungsbeschwerde eine (hypothetische) Sachprüfung, wo eingehend dargelegt wird, weshalb die kirchenrechtlichen Vorschriften über die Versetzung eines Pfarrers in den Warte- bzw. Ruhestand und der damit verbundenen finanziellen Folgen weder gegen die Grundsätze des Art. 33 Abs. 5 GG verstießen, noch die Grenzen des grundrechtlichen Willkürverbots (Art. 3 Abs. 1 GG) überschritten.95 Derlei obiter dicta mögen im Einzelfall den betroffenen Kirchenbediensteten über den fehlenden Zugang zu staatlicher Gerichtskontrolle hinwegtrösten (und vielleicht das richterliche Gewissen beruhigen), doch taugen sie nicht dazu, das grundsätzliche Spannungsverhältnis zwischen dem allgemeinen Justizgewährungsanspruch und dem religionsgemeinschaftlichen Selbstbestimmungsrecht aufzulösen. Auch der Kammerbeschluss vom 9. Dezember 2008 lässt die Frage offen, wie das Bundesverfassungsgericht in einem gegenläufigen Fall entscheiden würde, also wenn ein Bediensteter einer Religionsgemeinschaft ohne sachlichen Grund, ohne geordnetes Verfahren und ohne Versorgung fristlos – kurzum willkürlich – entlassen wird. Muss dies, darf dies dem Staat gleichgültig sein?96 Doch bedarf es keines solchen Prüfsteins, um an der Überzeugungskraft der Bereichslehre zu zweifeln.
III. Die Bereichslehre im Spiegel der Kritik 1. Willkürliche Abgrenzung Mit der formalen Unterscheidung von inneren und äußeren Angelegenheiten der Religionsgemeinschaften bietet die Bereichslehre ein scheinbar eindeutiges Abgrenzungskriterium für justiziable und nicht-justiziable Maßnahmen. Das macht sie für den Rechtsanwender attraktiv.97 Eine derartige Unterscheidung liegt aber schon nach dem Wortlaut des Art. 137 Abs. 3 Satz 1 WRV nicht nahe, der sämtliche Angelegenheiten der Religionsgemeinschaften den Schranken des allgemeinen Gesetzes unterwirft.98 Dass ein Bereich „rein innerkirchlicher“ Angelegenheiten und ein die Sphäre des staatlichen Rechts und die Rechte anderer berührender „äußerer“ Bereich 95
Vgl. BVerfGK 14, 485 (488 ff.). Pointiert Germann, ZevKR 54 (2009), S. 214 (220), der zugleich darauf hinweist, dass die Problematik der Justizgewährung in religionsgemeinschaftlichen Angelegenheiten sich nicht auf die christlichen Kirchen beschränkt, sondern gleichermaßen die vielen anderen Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften betrifft, die Träger des Selbstbestimmungsrechts nach Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 3 WRV sind. 97 Morlok, in: Dreier (Hrsg.), GG, Bd. 3, 2. Aufl. 2008, Art. 137 WRV Rn. 62. 98 Maurer, Streitigkeiten (Fn. 4), S. 291; Ehlers (Fn. 7), § 40 Rn. 118. 96
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zudem kaum sinnvoll voneinander abgrenzbar sind, kann als staatskirchenrechtliches Allgemeingut gelten.99 Auch das Bundesverfassungsgericht konzediert, dass es kaum eine kirchliche Regelung gibt, die nicht hinüberwirkt in den Bereich des Öffentlichen und Gesellschaftlichen, dessen rechtliche Ausgestaltung dem Staat obliegt.100 Dies gilt auch für den Bereich des kirchlichen Amtsrechts. Die Versetzung eines Pfarrers in den Warte- oder Ruhestand betrifft nicht nur dessen Verhältnis zu seiner Kirche, sondern auch die Stellung des Pfarrers innerhalb der Gesellschaft (z.B. in vermögensrechtlicher Hinsicht).101 Aufgrund der Wirkungen kirchlicher Maßnahmen im weltlichen Bereich führt die „Rechtsschutzverweigerung“102 in religionsgemeinschaftlichen Angelegenheiten notwendigerweise zu rechts(schutz)freien Räumen bei Streitigkeiten zwischen den Kirchen und ihren Mitgliedern bzw. Bediensteten. Insoweit hebt die postulierte „Sonderstellung innerhalb der staatlichen Rechtsordnung“103 die Religionsgemeinschaften in Wirklichkeit aus dem staatlichen Rechtsrahmen heraus.104 2. Unberechtigte Ausgrenzung Die Bereichsscheidung beruht auf der Annahme, die religiösen Freiheitsgarantien ließen sich nur im Wege der kompetentiellen Abgrenzung staatlicher und religiöser Angelegenheiten mit sich wechselseitig ausschließenden Zuständigkeiten sichern.105 Nach diesem Ansatz ist schon die Entscheidungsbefugnis staatlicher Gerichte im Bereich der Angelegenheiten der Religionsgemeinschaften als eine Beeinträchtigung der verfassungsrechtlich garantierten Selbstbestimmtheit anzusehen.106 Hinzu kommen die spezifischen Schwierigkeiten und Unsicherheiten gerichtlicher Abwägungsentscheidungen, die sich im Hinblick auf das vom staatlichen Richter zu beachtende Neutralitätsgebot in religiösen Angelegenheiten noch verstärken.107 99 Vgl. Heckel, Gerichtsbarkeit (Fn. 1), S. 220 f.; dens., Religionsfreiheit und Staatskirchenrecht in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, in: Badura/Dreier (Hrsg.), Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, Bd. 2, 2001, S. 379 (413 mit Fn. 117); Maurer, Streitigkeiten (Fn. 4), S. 291; Steiner, NVwZ 1989, S. 410 (412); Laubinger, Rechtsschutz (Fn. 52), S. 997. 100 Vgl. BVerfGE 48, 312 (334 f.). 101 Vgl. Hollerbach, VVDStRL 26 (1968), S. 57 (72); Germann, ZevKR 54 (2009), S. 214 (219). 102 Kästner, ZevKR 48 (2003), S. 301 (301). 103 BVerfGK 14, 485 (486 f.), Hervorhebung nicht im Original. 104 v. Campenhausen, ZevKR 45 (2000), S. 622 (622 f.); Kästner, NVwZ 2000, S. 889 (889 f.). 105 Vgl. Grzeszick, AöR 129 (2004), S. 168 (203); dezidiert in dieser Richtung auch Hillgruber, Selbstbestimmungsrecht (Fn. 12), S. 301 ff. 106 Hillgruber, Selbstbestimmungsrecht (Fn. 12), S. 314; Goos, ZBR 2004, S. 159 (166). 107 Vgl. BVerfGK 14, 485 (487); Grzeszick, AöR 129 (2004), S. 168 (183 f., 204 f.); siehe auch Schmidt-Aßmann (Fn. 5), Art. 19 Abs. 4 Rn. 115 (Februar 2003).
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Die Bereichslehre ist in ihrer freiheitlichen Grundtendenz zu honorieren,108 doch liegt ihr ein problematisches weil ausgrenzendes Freiheitsverständnis zugrunde, nach dem sich religiöse Freiheit in erster Linie innerhalb der Religionsgemeinschaften entfaltet; doch Weltabkehr ist deren Ziel und Zweck gerade nicht.109 Art. 4 GG und Art. 137 WRV gewähren den Religionsgemeinschaften nicht nur Freiheit „vom Staat“, sondern auch Freiheit zum Wirken „im Staat“ durch Verkündigung, Diakonie, Erziehung usw.110 Wenn die Religionsgemeinschaften sich dafür in den weltlichen Bereich hineinbegeben, nehmen sie eigene Angelegenheiten wahr, unterliegen dabei aber wie alle anderen der staatlichen Justizhoheit. Aus der Justizgewährungspflicht des Staates folgt, dass die staatlichen Gerichte prinzipiell zur Entscheidung aller Rechtsfragen berufen sind, deren Beurteilung sich nach staatlichem Recht richtet.111 Der staatlichen Justizhoheit entzogen sind lediglich rein geistliche Gegenstände sowie binnenorganisatorische Maßnahmen und sonstige Regelungen ohne Bezug zur staatlichen Rechtsordnung, die ohnehin kaum Anlass zu Streitigkeiten vor den staatlichen Gerichten bieten.112 In sämtlichen auftretenden Konflikten dem religionsgemeinschaftlichen Selbstbestimmungsrecht gegenüber bürgerlichen Rechtspositionen a priori den Vorrang einzuräumen, wie dies auf Grundlage der Bereichslehre geschieht,113 setzt ein Verfassungsverständnis voraus, nach dem sich Kirche und Staat als souveräne Gewalten auf gleicher Ebene begegnen und ihre jeweiligen Autonomiebereiche im Wege der Koordination abstecken.114 Diese der geistigen Situation der Nachkriegszeit entstammende und in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik herrschende Koordinationslehre115 ist jedoch der Einsicht gewichen, dass auch die Kirchen und sonstigen Religionsgemeinschaften
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Heckel, Gerichtsbarkeit (Fn. 1), S. 217 f. Eindringlich Heckel, VVDStRL 26 (1968), S. 5 (40 f.); siehe auch dens., Gerichtsbarkeit (Fn. 1), S. 221: „Die beiden großen Kirchen und die mit ihnen konkurrierenden Religionsgemeinschaften leben eben nicht im Jenseits, sondern in dieser Welt, für die und in der ihnen zu wirken aufgetragen ist“. 110 Vgl. BVerfGE 70, 138 (163); Heckel, VVDStRL 26 (1968), S. 5 (34). 111 Germann, Gerichtsbarkeit (Fn. 80), S. 648 ff.; Maurer, Prozessrecht (Fn. 2), S. 491 f.; Steiner, NVwZ 1989, S. 410 (414); Kästner, ZevKR 48 (2003), S. 301 (305); Ehlers (Fn. 5), Art. 140 GG (Art. 137 WRV) Rn. 17. 112 Dies ist als zutreffender Gehalt der Bereichslehre allgemein anerkannt, vgl. Heckel, Gerichtsbarkeit (Fn. 1), S. 220 f.; Kästner, ZevKR 48 (2003), S. 301 (305); Weber, ZevKR 49 (2004), S. 384 (396); Germann (Fn. 6), Art. 140 Rn. 55 (Januar 2013). 113 Die sich nach Morlok (Fn. 97), Art. 137 WRV Rn. 62, damit als „verkappte Abwägungslehre“ darstellt. 114 Hierzu kritisch Germann (Fn. 6), Art. 140 Rn. 32.1 (Januar 2013). 115 Siehe hierzu Heckel, Gerichtsbarkeit (Fn. 1), S. 220 f.; dens., Religionsfreiheit (Fn. 98), S. 380 f.; Nachklänge bei Hillgruber, Selbstbestimmungsrecht (Fn. 12), S. 302 ff.; siehe auch Grzeszick, AöR 129 (2004), S. 168 (203, 210 ff.). 109
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der verfassungsstaatlichen Ordnung unterliegen und ihre Eigenständigkeit aus ihrer grundrechtlich gewährleisten Freiheit heraus gewinnen.116 3. Fazit: Ausgleich durch Abwägung Entfaltet sich die Freiheit der Religionsgemeinschaften aus den verfassungsrechtlichen Freiheitsgarantien, wird diese Freiheit durch die Schranke des allgemeinen Gesetzes (Art. 137 Abs. 3 WRV) notwendigerweise zugleich begrenzt. Der Staat hat bei der rechtlichen Ordnung der Gesellschaft die religiösen Freiheitsgarantien zu berücksichtigen und zu respektieren, muss diese aber in einen Ausgleich bringen mit den Rechten anderer und den unabdingbaren Gemeinwohlbedürfnissen.117 Die Schrankenklausel ist damit als „Abwägungsprogramm“118 zu verstehen, bei dem die widerstreitenden Rechtspositionen im Wege der Wechselwirkung möglichst schonend auszugleichen sind. Vor diese anspruchsvolle Aufgabe sehen sich die staatlichen Gerichte aufgrund ihrer Justizgewährleistungspflicht gestellt; ihnen obliegt es, eine verbindliche Sachentscheidung über die Einhaltung der Schranken von Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 3 WRV herbeizuführen.119 Auch das Bundesverfassungsgericht hat sich dem Prinzip der Güterabwägung in religionsgemeinschaftlichen Angelegenheiten längst geöffnet und ihm Konturen verliehen.120 Dass eine Abwägung der gegenseitigen Interessen auch im Bereich des kirchlichen Amtsrechts gelingen kann, zeigt nicht zuletzt das obiter dictum im Kammerbeschluss vom 9. Dezember 2008.121 Nach alldem ist der Rechtsweg stets eröffnet, wenn bei Streitigkeiten mit Religionsgemeinschaften die Verletzung staatlichen Rechts gerügt wird. Das religionsgemeinschaftliche Selbstbestimmungsrecht beschränkt nicht die Justizgewährungspflicht des Staates, sondern das Maß der Justiziabilität der
116 Heckel, VVDStRL 26 (1968), S. 5 (23 f., 41 f.); Hollerbach, VVDStRL 26 (1968), S. 57 (73 f.); Kästner, ZevKR 48 (2003), S. 301 (304 f.); Germann (Fn. 6), Art. 140 Rn. 16.3 (Januar 2013); a.A. freilich Hillgruber, Selbstbestimmungsrecht (Fn. 12), S. 302 f. 117 Maurer, Streitigkeiten (Fn. 4), S. 291. 118 Morlok (Fn. 97), Art. 137 WRV Rn. 63. 119 Grundlegend Heckel, VVDStRL 26 (1968), S. 5 (41 ff.); Hollerbach, VVDStRL 26 (1968), S. 57 (71 ff).; siehe ferner Heckel, Gerichtsbarkeit (Fn. 1), S. 222 ff.; dens., Religionsfreiheit (Fn. 99), S. 412 ff.; v. Campenhausen/de Wall (Fn. 6), S. 318 ff.; Germann, Gerichtsbarkeit (Fn. 80), S. 636 ff.; Steiner, NVwZ 1989, S. 410 (413 ff.); Kästner, ZevKR 48 (2003), S. 301 (307 ff.); Weber, ZevKR 49 (2004), S. 385 (395 ff.); Droege, ZevKR 49 (2004), S. 763 (768 f.); Ehlers (Fn. 5), Art. 140 GG (Art. 137 WRV) Rn. 17; Korioth (Fn. 13), Art. 137 WRV Rn. 56 ff. (Februar 2003); Morlok (Fn. 97), Art. 137 WRV Rn. 73. 120 Vgl. BVerfGE 53, 366 (399 ff.): Organisation kirchlicher Krankenhäuser; BVerfGE 66, 1 (19 ff.): Anwendung konkursrechtlicher Vorschriften auf Kirchen; BVerfGE 70, 138 (162 ff.): kirchliches Selbstbestimmungsrecht im privatrechtlichen Arbeitsverhältnis. 121 Vgl. BVerfGK 14, 485 (488 ff.); Germann, ZevKR 54 (2009), S. 214 (220).
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angegriffenen Entscheidung.122 Bei der Abwägung der widerstreitenden Rechtspositionen sind den Gerichten als Organen des säkularen und neutralen Staates spezifisch religiöse Bewertungen versagt; sie müssen daher die maßgeblichen religiösen Äußerungen ermitteln und ihrer Entscheidung zugrunde legen.123 Die Rücksichtnahme auf das religiöse Selbstverständnis gebietet ferner, die ggf. erforderliche Auslegung und Anwendung des kirchlichen Rechts zunächst den dazu berufenen kirchlichen Stellen zu überlassen; auch unter dem Gerichtspunkt effektiven Rechtsschutzes ist dem Betroffenen zumutbar, soweit möglich zunächst den kirchlichen Rechtsweg zu beschreiten.124 Derart vorgreifliche Entscheidungen sind von den staatlichen Gerichten zu respektieren, wenn sie sich dadurch nicht in einen Widerspruch zu Grundprinzipien der Rechtsordnung wie dem allgemeinen Willkürverbot (Art. 3 Abs. 1 GG), dem Begriff der „guten Sitten“ (§ 138 Abs. 1 BGB) und des ordre public (Art. 6 EGBGB) begeben.125 Freilich kann auch eine umfassende Berücksichtigung des religiösen Selbstverständnisses die Gefahr von Missdeutungen und Fehlgewichtungen der betroffenen Belange durch das staatliche Gericht nicht völlig bannen.126 Hierbei handelt es sich jedoch um ein generelles Problem der lediglich begrenzt rationalisierbaren Abwägung entgegenstehender verfassungsrechtlicher Belange.127 Religiöse Interessen von diesem allgemeinen „Abwägungsrisiko“ auszunehmen und damit gegenüber anderen verfassungsrechtlichen Werten zu privilegieren, ist mit der weltanschaulich-religiösen Neutralität des Staates unvereinbar. Auch liegt in der Komplexität der Abwägung zugleich ihre Stärke. Sie ermöglicht differenzierte Entscheidungen im Einzelfall, wo die Bereichsscheidung „nur der einen Seite alles, der anderen nichts geben kann.“128
122 Steiner, NVwZ 1989, S. 410 (415); Kästner, ZevKR 48 (2003), S. 301 (306 f.). Der materiell-rechtliche Prüfungsumfang ist freilich umstritten, vor allem im Hinblick darauf, ob die staatlichen Gerichte auch kirchliches Recht anzuwenden haben und dabei ggf. auf eine Wirksamkeitskontrolle beschränkt sind; vgl. hierzu (mit jeweils unterschiedlichen Akzenten) Heckel, Gerichtsbarkeit (Fn. 1), S. 227; Laubinger, Rechtsschutz (Fn. 53), S. 1001 ff.; Magen, NVwZ 2002, S. 897 (898 ff.); Schenke (Fn. 18), § 40 Rn. 40. 123 Vgl. BVerfGE 70, 138 (167 f.); Heckel, Gerichtsbarkeit (Fn. 1), S. 227 f.; Germann, Gerichtsbarkeit (Fn. 80), S. 652; Magen, NVwZ 2002, S. 897 (902 f.). 124 Vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 18. September 1998 – 2 BvR 1476/94 –, NJW 1999, S. 349 (350); Germann, Gerichtsbarkeit (Fn. 80), S. 654 f.; Kästner, ZevKR 48 (2003), S. 301 (309 f.); Magen, NVwZ 2002, S. 897 (903). 125 Vgl. BVerfGE 70, 138 (168); BGH, Urteil vom 11. Februar 2000 – V ZR 271/99 –, NJW 2000, S. 1555 (1556 f.); BGHZ 154, 306 (310 ff.); BVerwGE 116, 86 (88). 126 Vgl. BVerfGK 14, 485 (487); Grzeszick, AöR 129 (2004), S. 168 (183 f.). 127 Vgl. Riem, Abwägungsentscheidungen in der praktischen Rechtsanwendung, 2006, S. 61 ff., 193 ff., passim. 128 Germann, Gerichtsbarkeit (Fn. 80), S. 639; siehe auch Riem, a.a.O., S. 11 f.
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Justizgewährung in religionsgemeinschaftlichen Angelegenheiten
IV. Ausblick Kann man sich damit beruhigen, dass beide referierten Ansichten in der Regel zum gleichen Ergebnis kommen: Erfolglosigkeit des Rechtsbehelfs wegen Unzulässigkeit (Bereichslehre) bzw. Unbegründetheit (Abwägungslösung)?129 Drei Gründe sprechen dagegen. Zunächst ist zu bedenken, dass ein staatliches Gericht, das einen gegen die Maßnahme einer Religionsgemeinschaft gerichteten Rechtsbehelf als unzulässig zurückweist, den allgemeinen Justizgewährungsanspruch des Betroffenen verletzt.130 Auch eine hypothetische Sachprüfung kann den Grundrechtsverstoß nicht ausschließen. Dies gilt auch im Hinblick auf die persönliche Rechtsschutzgleichheit (Art. 3 Abs. 1 GG i.V.m. dem Rechtsstaatsprinzip), die den Zugang zu Gerichten jedem (das heißt auch Kirchenmitgliedern und -bediensteten) in gleicher Weise eröffnet und dementsprechend „Rechtsverweigerung“ verbietet.131 Als Gleichheitsproblem in umgekehrter Perspektive stellt sich – zweitens – die mit der Bereichslehre verbundene Privilegierung der Großkirchen dar, die von der staatlichen Gerichtsbarkeit weitgehend eximiert werden, während die kleineren Religionsgesellschaften ihr unterworfen bleiben. Mit der staatskirchenrechtlichen Vorgabe strikter Gleichheit der Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften (Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 1 bis 7 WRV) lässt sich das nicht in Einklang bringen.132 Schließlich gilt es zu erkennen, dass die Bereichslehre ihr Versprechen, das Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften zu achten und zu schützen, nicht einlöst; vielmehr verbannt sie die Religionsgemeinschaften in ein „rechtsfreies Abseits“133, wo ihre Freiheit verkümmern muss.134 Vor diesem Hintergrund ist zu wünschen, dass zum Rechtsschutz in religionsgemeinschaftlichen Angelegenheiten vom Bundesverfassungsgericht das letzte Wort noch nicht gesprochen wurde.
129 Laubinger, Rechtsschutz (Fn. 53), S. 1000, hält die Bereichslehre deshalb für die „ehrlichere“ Variante; siehe auch v. Campenhausen/de Wall (Fn. 6), S. 321. 130 Soweit nicht (ausnahmsweise) lediglich der „rein geistliche Kernbereich“ berührt ist. 131 Grundlegend Dürig, Gleichheit. Der Gleichheitssatz als Verfassungsrechtssatz, in: Schmitt Glaeser/Häberle (Hrsg.), Günter Dürig. Gesammelte Schriften 1952–1983, 1984, S. 384 (389); vgl. auch BVerfGE 81, 347 (357 f.); Bergner/Pernice, Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Anspruch auf Rechtsschutz- und Rechtswahrnehmungsgleichheit, in: Emmenegger/Wiedmann (Hrsg.), Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, Bd. 2, 2011, S. 241 (242 ff.). 132 Heckel, Gerichtsbarkeit (Fn. 1), S. 233 f. 133 Germann, ZevKR 54 (2009), S. 214 (216). 134 Heckel, VVDStRL 26 (1968), S. 5 (44 f.).
Alles? Nichts? Oder? Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur verwaltungsgerichtlichen Kontrolldichte Benedikt Grünewald Leitentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (Senat) BVerfGE 10, 264 – Bayerisches Kostengesetz BVerfGE 15, 275 – Kontrolldichte nach Art. 19 Abs. 4 GG BVerfGE 129, 1 – Investitionszulage Wichtige Kammerentscheidung BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 8. Dezember 2012 – 1 BvR 1932/08 – , NVwZ 2012, 694 – Regulierungsermessen der Bundesnetzagentur Schrifttum (Auswahl) Bachof, Beurteilungsspielraum, Ermessen und Verwaltungsgerichtsbarkeit, JZ 1955, S. 97 ff.; Badura, Gestaltungsfreiheit und Beurteilungsspielraum der Verwaltung, bestehend aufgrund und nach Maßgabe des Gesetzes, in: Püttner (Hrsg.), Festschrift für Otto Bachof zum 70. Geburtstag, 1984, S. 169 ff.; Bettermann, Die Rechtsweggarantie des Art. 19 Abs. 4 GG in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, AöR 96 (1971), S. 528 ff.; Eichberger, Die Rechtsschutzgarantie vor Bundesverwaltungs- und Bundesverfassungsgericht, NVwZ-Beilage 2013, S. 18 ff.; Geiger, Amtsermittlung und Beweiserhebung im Verwaltungsprozess, BayVBl. 1999, S. 321 ff.; Grünewald, Die Betonung des Verfahrensgedankens im deutschen Verwaltungsrecht durch das Gemeinschaftsrecht, 2010; Grünewald, Subjektive Verfahrensrechte als Folge der Europäisierung des Bauplanungsrechts, NVwZ 2009, S. 1520 ff.; Kellner, Zum Beurteilungsspielraum, DÖV 1962, S. 572 ff.; Kingreen, Gerichtliche Kontrolle von Kriterien und Verfahren im Gesundheitsrecht, MedR 2007, S. 457 ff.; F. Klein, Tragweite der Generalklausel im Art. 19 Abs. 4 des Bonner Grundgesetzes, VVDStRL 8 (1950), S. 67 ff.; Manssen, Das Telekommunikationsrecht als Herausforderung an die Verfassungs- und Verwaltungsrechtsdogmatik, ArchivPT 1998, S. 236 ff.; Ossenbühl, Gedanken zur Kontrolldichte in der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung, in: Bender/ Breuer/Ossenbühl/Sendler (Hrsg.), Rechtsstaat zwischen Sozialgestaltung und Rechtsschutz, Festschrift für Konrad Redeker, 1993, S. 55 ff.; P. M. Huber, in: von Mangoldt/ Klein/Starck, GG, 6. Aufl. 2010, Art. 19; Pache, Tatbestandliche Abwägung und Beurteilungsspielraum, 2001; Papier, Die Stellung der Verwaltungsgerichtsbarkeit im demokratischen Rechtsstaat, 1979; Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz (Hrsg.), GG, Art. 19 Abs. 4 (Februar 2003); Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Bd. 1, 3. Aufl. 2013, Art. 19 IV; Stettner, Der Verwaltungsvorbehalt, DÖV 1984, S. 611 ff.; Voßen, Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Rechtsweggarantie des Art. 19 Abs. 4 GG, 2002; Voßkuhle, Bruch mit einem Dogma: Die Verfassung garantiert Rechtsschutz gegen den Richter, NJW 2003, S. 2193 ff.
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Kontrolldichte nach Art. 19 Abs. 4 GG Inhalt
I. II.
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Art. 19 Abs. 4 GG als Grundrecht auf wirksamen und umfassenden Rechtsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Schutzbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Persönlicher Schutzbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Sachlicher Schutzbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Tatsächlich wirksamer Rechtsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Umfassender Rechtsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Ausnahmen kraft normativer Ermächtigung . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die normative Ermächtigungslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Ermessen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Beurteilungsspielräume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Grenzen der Amtsermittlungspflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Neuere Entscheidungen zur verwaltungsgerichtlichen Kontrolldichte . . a) Senatsbeschluss zur Investitionszulage . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Sachverhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Entscheidungsgründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Kammerbeschluss zum Regulierungsermessen der Bundesnetzagentur 5. Kritische Würdigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Pflicht zur vollständigen tatsächlichen Kontrolle – warum? . . . . . . b) Entwertung von Verwaltung und Verwaltungsverfahren . . . . . . . . III. Fazit und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I. Einleitung Das Schöne am Verwaltungsrichterdasein ist, dass man so viel lernt. Einem Verfahren im Zusammenhang mit einer Kerosinfernleitung hat der Verfasser unter anderem umfassendes Wissen im Bereich des kathodischen Korrosionsschutzes sowie die Erkenntnis zu verdanken, dass „Molch“ nicht nur eine Gruppe von Amphibien, sondern auch den kugelförmigen, in der Mitte taillierten Passkörper zum Austrieb von Medien aus Rohrleitungen beschreibt. Ließ er den juristisch nicht vorgebildeten Teil seines Freundeskreises an diesen und anderen Ergebnissen richterlicher Aufklärung teilhaben, war die Reaktion durchweg gleich. „Ich dachte, Du bist Richter und nicht Ingenieur??“ Weil er eben doch ersteres war, gab er zur Antwort: „Ich muss – die Verfassung will es so!“ Der vorliegende Beitrag geht also der Frage nach, warum die Verwaltungsgerichte behördliches Handeln so kontrollieren, wie sie es tun, und sucht die Antwort darauf in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts.1
1 Zum Verhältnis fachgerichtlicher und verfassungsgerichtlicher Kontrolle siehe auch Eichberger, NVwZ-Beilage 2013, S. 18 ff.
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II. Art. 19 Abs. 4 GG als Grundrecht auf wirksamen und umfassenden Rechtsschutz Die beispielhaft beschriebene Fort- und Weiterbildung ist insbesondere dem verwaltungsgerichtlichen Kontrolldichtekonzept nach den vom Bundesverfassungsgericht zu Art. 19 Abs. 4 GG entwickelten Grundsätzen zu verdanken. 1. Schutzbereich Art. 19 Abs. 4 GG formuliert ein eigenständiges Jedermann-Grundrecht, das schon früh treffend als „formelles Hauptgrundrecht“2 beschrieben wurde. Grundrechten wohnt nach dem Verständnis des Grundgesetzes schon durch ihre Existenz eine Abwehrfunktion inne. Dementsprechend garantiert Art. 19 Abs. 4 GG als Abschluss des ersten Teils die Existenz eines umfassenden Rechtsschutzsystems. Ob sich der Schutz nur gegen Eingriffe durch die vollziehende Gewalt richtet, ist umstritten. Insbesondere das Bundesverfassungsgericht schränkte Art. 19 Abs. 4 GG lange Zeit dahingehend ein.3 Im Jahr 2003 hat sich das Plenum des Bundesverfassungsgerichts von dieser Auffassung jedenfalls im Ergebnis verabschiedet.4 Der Streit im Detail soll hier dahinstehen, da jedenfalls im vorliegenden Zusammenhang nur die durch Behörden ausgeübte „öffentliche Gewalt“ Gegenstand der Betrachtung ist. Über seinen grundrechtlichen Schutzgehalt hinaus enthält Art. 19 Abs. 4 GG schließlich eine institutionelle Garantie der Gerichtsbarkeit als solcher, trifft jedoch keine Aussage über Art und Zahl der Rechtswege oder der Instanzen.5 a) Persönlicher Schutzbereich Jede natürliche und – in Verbindung mit Art. 19 Abs. 3 GG – jede juristische Person des Privatrechts sowie die teilrechtsfähigen Personenverbände können sich auf Art. 19 Abs. 4 GG berufen. Juristische Personen des Öffentlichen Rechts können aus Art. 19 Abs. 4 GG nach der Rechtsprechung des
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Klein, VVDStRL 8 (1950), S. 67 (74). Vgl. hierzu die Analyse und Übersicht von Voßen, Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Rechtsweggarantie des Art. 19 Abs. 4 GG, 2002, S. 96 ff. Zur Kritik der Literatur vgl. Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Bd. 1, 3. Aufl. 2013, Art. 19 IV, Rn. 48 f.; Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz (Hrsg.), GG, Art. 19 Abs. 4, Rn. 17a und 98 (Februar 2003); Krebs, in: von Münch/Kunig, GG, 6. Aufl. 2012, Art. 19, Rn. 61 ff. 4 BVerfGE 107, 395; vgl. hierzu Voßkuhle, NJW 2003, S. 2193 ff.; Kritik an der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts übte früh auch Papier, HStR VI, § 154, Rn. 34 ff. 5 Papier, a.a.O. (Fn. 4), Rn. 3 und 50. 3
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Bundesverfassungsgerichts grundsätzlich keine Rechte herleiten6; etwas anderes wird nur für solche öffentlich-rechtlichen Rechtspersonen vertreten, die selbst Grundrechtsträger sind wie etwa Universitäten oder Rundfunkanstalten.7 b) Sachlicher Schutzbereich Gegenstand richterlicher Kontrolle kann – nach der hier auf die Exekutive eingeschränkten Betrachtung – jedes behördliche Handeln sein. Als Maßstab haben die Gerichte das gesamte nationale Recht, aber auch das Unionsrecht heranzuziehen. Dies schließt die Pflicht ein, die anzuwendenden Maßstäbe inzident auf Wirksamkeit zu überprüfen und gegebenenfalls ein Vorlageverfahren zum Bundesverfassungsgericht nach Art. 100 GG einzuleiten beziehungsweise den Europäischen Gerichtshof im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 267 Abs. 3 AEUV anzurufen.8 aa) Tatsächlich wirksamer Rechtsschutz Verfassungsrechtlich genügt weder die bloße Eröffnung noch irgendeine Art von Rechtsschutz. Das Bundesverfassungsgericht spricht in diesem Zusammenhang von einer verfassungsrechtlich gewährleisteten „tatsächlich wirksamen Kontrolle“.9 Der Bürger hat danach einen Anspruch auf eine möglichst wirksame gerichtliche Kontrolle in allen ihm von der Prozessordnung zur Verfügung gestellten Instanzen, wobei es keinen Unterschied macht, ob es sich um Eingriffe in geschützte Rechtspositionen oder die Versagung gesetzlich eingeräumter Leistungsansprüche handelt.10 Die Gewährleistung tatsächlich wirksamen Rechtsschutzes verlangt beispielsweise grundsätzlich die Möglichkeit eines Eilverfahrens, wenn ohne sie dem Betroffenen eine erhebliche, über Randbereiche hinausgehende Verletzung in seinen Rechten droht, die durch die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr beseitigt werden kann. In diesen Fällen hat gerichtlicher Rechtsschutz soweit wie möglich der Schaffung vollendeter Tatsachen zuvorzukommen, die dann, wenn sich eine Maßnahme bei endgültiger richterlicher Prüfung als rechtswidrig erweist, nicht mehr rückgängig gemacht werden
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BVerfGE 21, 362 (369 f.); 45, 63 (78); 61, 82 (105). Zum Ganzen Schmidt-Aßmann, a.a.O. (Fn. 3), Art. 19 Abs. 4, Rn. 43 (Februar 2003). 8 Ibler, in: Berliner Kommentar zum GG, Art. 19 IV, Rn. 252 (X/2002); die unterlassene Vorlage an den Europäischen Gerichtshof wird vom Bundesverfassungsgericht allerdings als Problem des gesetzlichen Richters in Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG verortet, vgl. BVerfGE 82, 159. 9 BVerfGE 35, 282 (401 f.); 65, 1 (70); 77, 275 (284); 84, 34 (49); 93, 1 (13); 101, 106 (122); 107, 395 (401); 118, 168 (207); 129, 1 (20). 10 Vgl. m.w.N. aus der Rechtsprechung des Gerichts BVerfGE 129, 1 (20). 7
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können.11 Dabei ist es von Verfassungs wegen grundsätzlich nicht zu beanstanden, wenn sich die Gerichte in Eilverfahren auf eine summarische Prüfung beschränken. Der summarische Charakter des verwaltungsgerichtlichen Eilverfahrens folgt aus dem Wesen vorläufiger Rechtsschutzgewährung und steht mit Art 19 Abs. 4 GG nicht in Widerspruch.12 Die Garantie eines wirksamen Rechtsschutzes kann es aber auch erfordern, bereits im Eilverfahren eine Vollprüfung vorzunehmen. Dies gilt insbesondere, wenn das einstweilige Rechtsschutzverfahren vollständig die Bedeutung des Hauptsacheverfahrens übernimmt und eine endgültige Verhinderung der Grundrechtsverwirklichung eines Beteiligten droht.13 Entschließen sich die Gerichte zu einer Entscheidung auf dieser Grundlage, so dürfen sie die Anforderungen an die Glaubhaftmachung durch den Antragsteller des Eilverfahrens nicht überspannen. Die Anforderungen haben sich vielmehr am Rechtsschutzziel zu orientieren, das der Beschwerdeführer mit seinen Begehren verfolgt.14 Dies gilt insbesondere, wenn der Amtsermittlungsgrundsatz gilt. Außerdem müssen die Gerichte Fragen des Grundrechtsschutzes einbeziehen.15 Wo eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich ist, müssen die Gerichte eine Folgenabwägung vornehmen.16 bb) Umfassender Rechtsschutz Im Zentrum dieses Beitrags steht der Prüfungsumfang, die Frage also, wie genau Gerichte einen Prüfungsgegenstand auf Vereinbarkeit mit den Prüfungsmaßstäben kontrollieren müssen beziehungsweise dürfen. Nach allgemeiner Ansicht verpflichtet Art. 19 Abs. 4 GG die Gerichte grundsätzlich zur vollständigen Überprüfung einer behördlichen Entscheidung sowohl in tatsächlicher wie auch in rechtlicher Hinsicht. Bindungen des Gerichts an behördliche Sachverhaltsfeststellungen oder Wertungen und ebenso eine Reduzierung der gerichtlichen Prüfung auf bloße Vertretbarkeit der behörd-
11 BVerfGE 37, 150 (153); 65, 1 (70); 93, 1 (13); jüngst BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 8. November 2012 – 1 BvR 22/12 – , BayVBl. 2013, S. 389 ff. 12 BVerfGK 5, 237 (241 f.); BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 27. Mai 1998 – 2 BvR 378/98 –, NVwZ-RR 1999, S. 217 ff. 13 BVerfGK 1, 292 (296); BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 22. November 2002 – 1 BvR 1586/02 –, NJW 2003, S. 1236 (1237); Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 25. Juli 1996 – 1 BvR 638/96 –, NVwZ 1997, S. 479 (480); im konkreten Fall verneinend: BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 27. Mai 1998 – 2 BvR 378/98 –, NVwZ-RR 1999, S. 217 ff. 14 BVerfGK 1, 292 (296). 15 BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 25. Juli 1996 – 1 BvR 638/96 –, NVwZ 1997, S. 479 (480). 16 BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 4. Juli 2001 – 1 BvR 165/01 –, NVwZ-RR 2001, S. 694 (695); Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 25. Juli 1996 – 1 BvR 638/96 –, NVwZ 1997, S. 479 (480).
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lichen Entscheidung sind nach der herrschenden Meinung daher ausgeschlossen.17 Diese vollständige Kontrolle durch die Gerichte soll – wie es das Bundesverfassungsgericht in einer frühen Entscheidung formuliert hat – „die ‚Selbstherrlichkeit‘ der vollziehenden Gewalt im Verhältnis zum Bürger“ beseitigen.18 2. Ausnahmen kraft normativer Ermächtigung a) Die normative Ermächtigungslehre Nach Schmidt-Aßmann ist die Pflicht zur vollständigen Kontrolle insbesondere Folge der kraft Art. 20 Abs. 3 GG bestehenden Bindung von Verwaltung und Verwaltungsrechtspflege an das Gesetz. Indem die Verfassung in Kenntnis der unterschiedlichen Konkretisierungsleistungen von Justiz und Verwaltung in Art. 20 Abs. 3 GG von einer gleichmäßigen Gesetzesbindung beider Gewalten ausgehe und in Art. 19 Abs. 4 GG an eben diese Rechtsbindung und Rechtserkenntnis anknüpfe, zeige sie, dass eine generelle Festschreibung des Rechtsschutzauftrages auf die Bereiche der Gesetzesbestimmtheit und umgekehrt seine Begrenzung in allen Fällen unbestimmter Gesetzesbegriffe nicht ihrer Vorstellung entspreche.19 Aus dieser Strukturgleichheit und aus dem Gewaltenteilungsprinzip folgert Schmidt-Aßmann, dass es keinen grundsätzlichen Vorrang einer Gewalt gegenüber der anderen geben, das Vorliegen eines unbestimmten Rechtsbegriffs also auch nicht per se einen gerichtlicher Kontrolle unzugänglichen Spielraum behördlicher Auslegung mit sich bringen darf.20 Nicht ganz klar ist nach Ansicht des Verfassers, ob damit die umfassende Prüfungspflicht der Gerichte im Tatsächlichen wirklich begründet oder doch eher nur beschrieben wird. Das vorstehende Konzept beruht jedenfalls entscheidend darauf, dass Verwaltung und Justiz gleichermaßen und gewissermaßen gleichgewichtig an von ihnen zu konkretisierende Gesetze gebunden sind. Wenn aber der Gesetzgeber die Steuerungsfähigkeit des Rechts zurücknimmt, destabilisiert dies das Fundament des Kontrolldichtedogmas, da die Komplementarität von behördlicher Handlungs- und gerichtlicher Kontrollnorm beseitigt 17 So die ständige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts, vgl. BVerfGE 15, 275; 18, 203; 21, 191; 31, 113; 35, 263; 51, 304; 61, 82; 88, 40; 142; 129, 1; BVerwGE 62, 86; 94, 307; 99, 355; 100, 221; 106, 263. Ebenso die ganz h.M. in der Literatur, vgl. Schmidt-Aßmann, a.a.O. (Fn. 3), Rn. 181 ff.; P. M. Huber, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG, 6. Aufl. 2010, Art. 19, Rn. 506 ff.; Schultze-Fielitz, a.a.O. (Fn. 3), Rn. 116; Sachs, in: Sachs, GG, 6. Aufl. 2011, Art. 19, Rn. 145 ff.; Papier, a.a.O. (Fn. 4), Rn. 59 und 75. 18 BVerfGE 10, 264 (267). 19 Schmidt-Aßmann, a.a.O. (Fn. 3), Rn. 183. 20 Schmidt-Aßmann, ebd.
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wird.21 Dies ist grundsätzlich unbedenklich. Soweit der Gesetzgeber die verfassungsrechtlichen Grenzen, insbesondere des Bestimmtheitsgebotes und der Vorbehaltslehre beachtet, obliegt es ihm, über die rechtliche Durchdringung einer Materie zu entscheiden. Art. 19 Abs. 4 GG konstituiert kein Verrechtlichungsgebot.22 Es ist grundsätzlich Aufgabe und Vorrecht des Gesetzgebers als der unmittelbar demokratisch legitimierten Teilgewalt, im Einzelfall einen Vorrang der behördlichen Konkretisierung vor der gerichtlichen Kontrolle zu regeln. Nach einer gewissen Vorbereitung in der Literatur23 hat sich dieser Ansatz zunächst in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts24 und schließlich auch des Bundesverfassungsgerichts25 durchgesetzt. Er ist heute unter dem Begriff der normativen Ermächtigungslehre etabliert.26 Das Bundesverfassungsgericht verwendet dabei regelmäßig die Formel, die umfassende gerichtliche Kontrolle sei zwar der Grundsatz, dieser gelte aber unbeschadet normativ eröffneter Gestaltungs-, Ermessensund Beurteilungsspielräume.27 Hier soll es um die Ermessens- und Beurteilungsspielräume gehen. b) Ermessen Von Ermessen wird gesprochen, wenn der Verwaltung auf der Rechtsfolgenseite Vorrechte zustehen, wenn ihr also die Entscheidung, ob und/oder wie sie handeln möchte, überlassen ist. Diese Variante behördlicher Letztent21 Papier, Die Stellung der Verwaltungsgerichtsbarkeit im demokratischen Rechtsstaat, Berlin 1979, S. 33 f. 22 Schmidt-Aßmann, a.a.O. (Fn. 3), Rn. 13; Papier, a.a.O. (Fn. 4), Rn. 5; Maurer, Rechtsstaatliches Prozessrecht, in: Badura/Dreier (Hrsg.), FS 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, 2. Bd., 2001, S. 467 (476); P. M. Huber, a.a.O. (Fn. 17), Art. 19 Abs. 4, Rn. 475; a.A. Achterberg, Probleme der Funktionenlehre, 1970, S. 207; Zuleeg, VerwArch 1982, S. 384 (395). 23 Bachof, JZ 1955, S. 97 ff.; Kellner, DÖV 1962, S. 572 ff.; Bettermann, AöR 96 (1971), S. 528 ff.; Papier, a.a.O. (Fn. 21), S. 33 f.; Badura, Gestaltungsfreiheit und Beurteilungsspielraum der Verwaltung, bestehend aufgrund und nach Maßgabe des Gesetzes, in: Püttner (Hrsg.), FS Bachof, 1984, S. 169 ff.; Stettner, DÖV 1984, S. 611 ff. 24 BVerwGE 62, 86 (98). Im konkreten Fall hat das Gericht einen Beurteilungsspielraum allerdings verneint. 25 Grundlegend die sog. „Sasbach“-Entscheidung, BVerfGE 61, 82. 26 Zum Ganzen siehe auch Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 7, Rn. 31 ff.; ausführlich Brunner, Beurteilungsspielräume im neuen Jugendmedienschutzrecht, 2005, S. 54 ff.; kritisch Ossenbühl, Gedanken zur Kontrolldichte in der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung, in: Bender/Breuer/Ossenbühl/Sendler (Hrsg.), Rechtsstaat zwischen Sozialgestaltung und Rechtsschutz, FS Redeker, 1993, S. 55 (63 f.), der die Lehre als „eine Banalität“ bezeichnet, die „bei der Lösung des Problems letztlich nicht weiterhilft und deshalb aussagearm ist“. Ossenbühl verwechselt hier möglicherweise Ursache und Wirkung. Es liegt nicht an der in sich stimmigen Ermächtigungslehre, wenn der Gesetzgeber unklare Gesetze erlässt. 27 BVerfGE 15, 275 (282); 61, 82 (111); 84, 34 (50 ff.); 88, 40 (56); 103, 142 (157); 113, 273 (310); 129, 1 (22).
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scheidungsbefugnisse ist in Wissenschaft und Rechtsprechung verhältnismäßig gut rezipiert. Dies dürfte insbesondere daran liegen, dass es in der Regel normtextlich klar ist, ob der Verwaltung ein solches Vorrecht zukommt.28 Soweit es die Kontrolle durch die Verwaltungsgerichte angeht, hat der Gesetzgeber in § 114 VwGO ausdrücklich Regelungen getroffen, die von Wissenschaft und Rechtsprechung im Rahmen der sogenannten Ermessensfehlerlehre so mit Leben erfüllt sind, dass es heute keinen wirklichen Streit mehr darüber gibt, dass und wie weit sich die Gerichte bei der Kontrolle behördlicher Ermessensausübung zurücknehmen müssen. c) Beurteilungsspielräume Bei den Beurteilungsspielräumen auf Tatbestandsebene ist hingegen vieles unklar. Dies liegt insbesondere daran, dass regelmäßig ein Erkennungszeichen, wie es das „Ermessens-Kann“ auf Rechtsfolgenseite ist, fehlt.29 Maurer weist mit Recht auf dieses Problem der normativen Ermächtigungslehre hin.30 Die nicht immer hinreichend sorgfältige Arbeit des Gesetzgebers steht aber nicht per se der Existenz von Beurteilungsspielräumen entgegen. Schon gar nicht kann daraus auf die verfassungsrechtliche Unzulässigkeit solcher behördlicher Letztentscheidungsbefugnisse geschlossen werden. Fachgerichte und Verwaltungsrechtswissenschaft haben vielmehr die Aufgabe, eine Typologie der normativen Beurteilungsermächtigungen zu entwickeln und dem Gesetzgeber so Impulse zu geben.31 Sie ist bislang jedoch nicht erkennbar, allenfalls werden schon bisher anerkannte Fallgruppen anhand der normativen Ermächtigungslehre nachvollzogen.32 Mit dem Unionsrecht wird allerdings ein Akteur präsenter, der – nicht nur in diesem Bereich – katalytisch wirkt. Erinnert sei in diesem Zusammenhang etwa an die ausdrücklich eingeführten bauplanungsrechtlichen Beurteilungsspielräume in § 214 Abs. 2a Nr. 3 und 4 BauGB, die es ohne die gemeinschaftsrechtlichen Impulse wohl kaum gäbe.
28 Die Gesetze sprechen in diesen Fällen regelmäßig davon, dass die Behörde etwas regeln „kann“. 29 Schmidt-Aßmann, Das Allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, 2004, S. 4/66 ff. 30 Maurer, a.a.O. (Fn. 26), Rn. 34. 31 Schmidt-Aßmann, a.a.O. (Fn. 3), Rn. 187; Papier, Verwaltungsverantwortung und gerichtliche Kontrolle, in: Blümel/Merten/Quaritsch, Verwaltung im Rechtsstaat, FS Ule, 1987, S. 235 (247); Pache, Tatbestandliche Abwägung und Beurteilungsspielraum, 2001, S. 76; auf die fehlende Typologie zielt letztlich auch die oben schon angeführte Kritik Ossenbühls (siehe oben Fn. 26) ab, wenn er das Fehlen klarer Kriterien beklagt, die die Ermächtigungslehre erst anwendbar mache. 32 Pache, a.a.O. (Fn. 31), S. 76.
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3. Grenzen der Amtsermittlungspflicht Abseits behördlicher Letztentscheidungsbefugnisse aktualisiert sich die Pflicht zur umfassenden Kontrolle durch die Verwaltungsgerichte. Der in § 86 Abs. 1 Satz 1 VwGO festgelegte Amtsermittlungsgrundsatz ist denn auch nichts anderes als die einfachrechtliche Ausprägung des Art. 19 Abs. 4 GG33 und bringt Verwaltungsrichter dazu, zum schon erwähnten kathodischen Korossionsschutz zu ermitteln.34 Dieser ließ sich allerdings relativ schnell klären. Ungleich länger dauern regelmäßig Ermittlungen bei großen Infrastrukturentscheidungen. Da hier eine oft stattliche Zahl an Klägern auftritt, werden die jeweiligen Behördenentscheidungen meist Punkt für Punkt „durchgestritten“. Das erstinstanzliche Verfahren vor den Verwaltungsgerichten wird so zur „Verlängerung“ des Verwaltungsverfahrens. Wer vollständige rechtliche und tatsächliche Kontrolle hört, erwartet, dass die Richter die Uhr gewissermaßen auf Null und das verfahrensgegenständliche Vorhaben umfassend auf den Prüfstand stellen. Und tatsächlich zeichnen sich solche Großverfahren durch Länge und ausgesprochene Detailliertheit aus. Sie würden aber noch viel länger dauern, hätte die Rechtsprechung nicht Grundsätze zu den Grenzen der Amtsermittlungspflicht entwickelt. In der Sache geht es um die Kontrolle der tatsächlichen Seite von Verwaltungsentscheidungen und hierbei darum, wann ein Verwaltungsgericht verpflichtet ist, Beweis – etwa durch Einholung eines Sachverständigengutachtens – zu erheben. Hierzu hat die verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung zum einen die Wendung entwickelt, dass trotz Untersuchungsgrundsatz keine „ungefragte Fehlersuche“ stattfinden soll.35 Für die vorliegende Untersuchung bedeutender ist die Begrenzung des Amtsermittlungsgrundsatzes durch die Grundsätze zur Ablehnung von Beweisanträgen, hier insbesondere soweit es um die Einholung von (weiteren) Sachverständigengutachten geht. Der Bau eines Flughafens etwa führt deutlich vor Augen, wieviel Potential für sachverständig zu klärende Fragen in großen Genehmigungsverfahren steckt. In der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts begegnet dies unter der Überschrift des Gehörsverstoßes, der Verletzung von Art. 103 Abs. 1 GG also, da die Rüge eines
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Geiger, in: Eyermann, VwGO, 13. Aufl. 2010, § 86, Rn. 5. Geiger, BayVBl. 1999, S. 321 ff. 35 Die Formulierung findet sich erstmals in BVerwG, Urteil vom 7. September 1979 – 4 C 7.77 –, BayVBl. 1980, S. 183 ff.; ausführlich dann BVerwGE 116, 188 (196 f.). Diese Rechtsprechung war aber – soweit ersichtlich – noch nicht Gegenstand bundesverfassungsgerichtlicher Entscheidungen. Ein Fall lässt sich auch schwer denken. Einer Verfassungsbeschwerde, die geltend macht, ein Gericht habe Art. 19 Abs. 4 GG verletzt, weil es etwas nicht geprüft habe, was der Beschwerdeführer selbst fachgerichtlich gar nicht gerügt hat („ungefragt“), wird wohl regelmäßig die materielle Subsidiarität als Zulässigkeitshürde zum Verhängnis. 34
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Ermittlungsfehlers durch das Fachgericht nach der ständigen Rechtsprechung voraussetzt, dass der Rügende das Seine getan hat, um auf entsprechende Ermittlungen hinzuwirken, insbesondere durch das Stellen von Beweisanträgen. Die zu Unrecht erfolgte Ablehnung eines Beweisantrags wird dabei allgemein als Gehörsproblem verstanden. Verfassungsgerichtlich geklärt ist in diesem Zusammenhang, dass Art. 103 Abs. 1 GG in Verbindung mit den Grundsätzen des jeweiligen Prozessrechts gebietet, erhebliche Beweisanträge zu berücksichtigen. Ein Verstoß findet dort statt, wo die Ablehnung eines Antrags im Prozessrecht keine Stütze mehr findet, was jedenfalls dann der Fall ist, wenn sie sich als völlig unvertretbar und damit willkürlich darstellt.36 Soweit es um die Einholung weiterer Sachverständigengutachten geht, hat das Bundesverfassungsgericht die ständige Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts akzeptiert, wonach die Tatsachengerichte gemäß § 98 VwGO in Verbindung mit § 412 ZPO analog einen Beweisantrag auf Einholung eines Sachverständigengutachtens nach tatrichterlichem Ermessen ablehnen können, wenn zu einer Tatsache bereits ein verwertbares Gutachten vorliegt, das von ihnen für genügend erachtet wird.37 Dies gilt auch für ein im Laufe des Verwaltungsverfahrens eingeholtes Gutachten. Die Einholung eines weiteren Gutachtens ist nach diesen Rechtsprechungsgrundsätzen regelmäßig (nur) dann erforderlich, wenn sich dem Gericht eine weitere Beweiserhebung deshalb aufdrängen muss, weil bereits eingeholte Gutachten nicht ihren Zweck zu erfüllen vermögen, dem Gericht die zur Feststellung des entscheidungserheblichen Sachverhalts erforderliche besondere Sachkunde zu vermitteln und ihm dadurch die Bildung der für die gerichtliche Entscheidung notwendigen Überzeugung zu ermöglichen.38 4. Neuere Entscheidungen zur verwaltungsgerichtlichen Kontrolldichte Wie schon ausgeführt, hat sich das Bundesverfassungsgericht lange Zeit wiederkehrend mit der Formel begnügt, wonach die umfassende gerichtliche Kontrolle zwar der Grundsatz sei, dieser aber unbeschadet normativ eröffneter Gestaltungs-, Ermessens- und Beurteilungsspielräume gelte.39 Eine genauere Bestimmung der verfassungsrechtlichen Voraussetzungen und Grenzen für die Annahme von Beurteilungsspielräumen hat es dagegen erst in einer jüngeren Senatsentscheidung vorgenommen.
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BVerfGE 50, 32 (35); 60, 247 (249); 69, 141 (143 f.); BVerfGK 13, 296 (301). BVerfGK 13, 296 (301 f.). 38 Ständige Rechtsprechung seit BVerwGE 31, 149 (156); erneut bestätigt in BVerwG, Beschluss vom 28. März 2013 – 4 B 15/12 –, BauR 2013, S. 1248 ff. 39 Vgl. Nachweise oben Fn. 27. 37
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a) Senatsbeschluss zur Investitionszulage aa) Sachverhalt Mit Beschluss vom 31. Mai 2011 hat der Erste Senat eine Entscheidung des Bundesfinanzhofs aufgehoben, in der es um die Überprüfung der Gewährung von Investitionszulagen ging. Die Beschwerdeführerin bearbeitete Altasphalte und beantragte für die Anschaffung verschiedener Geräte und Maschinen eine Zulage nach dem Investitionszulagengesetz, wobei sie angab, dass ihr Betrieb dem verarbeitenden Gewerbe angehöre, was Voraussetzung für die Zulagengewährung war. Das Finanzamt lehnte den Antrag jedoch ab, weil der Betrieb nach der insoweit maßgeblichen, vom Statistischen Bundesamt geführten Klassifikation der Wirtschaftszweige nicht dem verarbeitenden Gewerbe, sondern der Gewinnung von Kies und Sand zuzuordnen sei. Das Finanzgericht stellte daraufhin in einem Zwischenurteil zunächst fest, dass der Betrieb doch dem verarbeitenden Gewerbe zuzuordnen sei. Der Bundesfinanzhof wiederum hob das finanzgerichtliche Urteil auf und stützte dies darauf, dass für die Auslegung des unbestimmten Rechtsbegriffs des verarbeitenden Gewerbes mangels gesetzlicher Begriffsbestimmung die vom Statistischen Bundesamt herausgegebene Klassifikation heranzuziehen sei. Die von den Statistik-Behörden vorgenommene Einordnung sei nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs für die Entscheidung über die Investitionszulage auch bindend, soweit sie nicht zu offensichtlich falschen Ergebnissen führe, was das Gericht für den Fall der Beschwerdeführerin aber verneinte. bb) Entscheidungsgründe Das Bundesverfassungsgericht hat der hiergegen gerichteten Verfassungsbeschwerde des Unternehmens wegen einer Verletzung von Art. 19 Abs. 4 GG stattgegeben.40 Gestützt hat es die Entscheidung darauf, dass es für die Annahme eines Beurteilungsspielrums an der gesetzlichen Grundlage fehle.41 Dem Gesetz könne man zwar – bei Lektüre der entsprechenden Passage der Entscheidung drängt sich einem auf: gerade noch – entnehmen, dass die Klassifikation für die Einordnung eines Betriebs im Rahmen von Investitionszulagenentscheidungen maßgeblich sein soll.42 Das Gesetz treffe aber nicht die Ausnahmeentscheidung einer nur eingeschränkten Nachprüfbarkeit dieser Klassifikation.43 40
BVerfGE 129, 1. Für den Leser bleibt allerdings unklar, ob der Senat eine Abgrenzung vornimmt oder sich etwas offenhält, wenn er auf die „Funktionsgrenzen“-Rechtsprechung hinweist, die es für möglich hält, Letztentscheidungsbefugnisse auch ohne gesetzliche Grundlage zu bejahen. Er stellt dann aber apodiktisch fest, dass ein solcher Fall offensichtlich nicht vorliege. 42 BVerfGE 129, 1 (23 ff.). 43 BVerfGE 129, 1 (28 ff.). 41
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Soweit so gut – wird sich auch mancher Leser dieser Entscheidung gedacht haben. Dass Beurteilungsspielräume durch Gesetz eingeräumt werden müssen und nicht von Behörden selbst geschaffen werden können, ist integraler Bestandteil der Ermächtigungslehre und letztlich auch nicht umstritten. Dies könnte ein Grund sein, warum die Entscheidung außerhalb steuerrechtlicher Kreise wenig Beachtung gefunden hat.44 Tatsächlich beinhaltet die Entscheidung nicht nur eine Zusammenfassung von Bekanntem, sondern auch grundlegende Weichenstellungen zum Thema Kontrolldichte.45 Dies beginnt schon mit der Formulierung der Notwendigkeit einer gesetzlichen Entscheidung für gerichtskontrollfreie Räume. Zwar konnte man die bisherige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts schon dahingehend verstehen46, eine definitive Aussage fehlte bislang jedoch. Mit dem Senatsbeschluss ist klargestellt, dass die Einräumung behördlicher Letztentscheidungsbefugnisse unter einem Gesetzesvorbehalt steht. Die Komplexität einer Materie oder die besondere Struktur einer Behörde können daher allenfalls bei der Untersuchung einer Norm auf einen entsprechenden gesetzgeberischen Willen herangezogen werden, für sich allein genommen aber keine Einschränkung der Vollkontrolle begründen. Eine nicht unbedeutende Fortentwicklung stellt es auch dar, dass es weder die Gesetzesbindung der Gerichte noch den Anspruch des Einzelnen auf wirksame gerichtliche Kontrolle beeinträchtigen soll, wenn die Konkretisierung unbestimmter Rechtsbegriffe durch gesetzliche Verweisung auf bestimmte Verwaltungsvorschriften oder sonstige untergesetzliche Vorschriften erfolgt oder wenn die konkretisierende Heranziehung solcher Vorschriften oder Regelwerke in vergleichbarer Weise auf einer ausreichenden gesetzlichen Grundlage beruht. Insbesondere die im Weiteren bejahte Möglichkeit, es könne sich dabei auch um einen dynamischen Verweis auf untergesetzliche (Verwaltungs)Vorschriften handeln, wurde in der Literatur bislang überwiegend abgelehnt.47 Der Senat beschreibt aber nicht nur die Möglichkeiten zur Schaffung kontrollfreier Räume, sondern setzt dem Gesetzgeber auch Grenzen. Er stellt fest, der Gesetzgeber sei bei der Einräumung behördlicher Letztentscheidungsbefugnisse nicht völlig frei, sondern durch die Grundrechte sowie
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Eine Ausnahme ist die Entscheidungsbesprechung von Sachs, JuS 2012, S. 189 ff. Dass auch der Erste Senat davon ausging, durchaus Grundlegendes entschieden zu haben, zeigen – jedenfalls indiziell – auch die fünf aus der Entscheidung „destillierten“ Leitsätze. Auf eine solche Zahl an Leitsätzen kommt in den anderen elf Entscheidungen des 129. Bands nur das Urteil zur Griechenlandhilfe (BVerfGE 129, 124). 46 Man nehme nur die klassische verfassungsgerichtliche Formulierung der „normativ eröffneten Gestaltungs-, Ermessens- und Beurteilungsspielräume“, vgl. Nachweise Fn. 27. 47 Vgl. die Nachweise bei Sachs, JuS 2012, 189 ff. (dort Fn. 1). 45
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das Rechtsstaats- und das Demokratieprinzip und die hieraus folgenden Grundsätze der Bestimmtheit und Normenklarheit gebunden. Er habe bei einer Rücknahme der gerichtlichen Kontrolle zu berücksichtigen, dass die letztverbindliche Normauslegung und auch die Kontrolle der Rechtsanwendung grundsätzlich den Gerichten vorbehalten sei. Deren durch Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG garantierte Effektivität dürfe auch der Gesetzgeber nicht durch zu zahlreiche oder weitgreifende Beurteilungsspielräume für ganze Sachbereiche oder gar Rechtsgebiete aushebeln. Zudem bedürfe die Freistellung der Rechtsanwendung von gerichtlicher Kontrolle eines hinreichend gewichtigen, am Grundsatz des wirksamen Rechtsschutzes ausgerichteten Sachgrunds.48 cc) Fazit Zusammengefasst lässt sich sagen, dass die Entscheidung – innerhalb des verfassungsgerichtlichen Prüfungsauftrags – einen Rahmen zieht, den der Gesetzgeber und die Fachgerichte füllen können. Der Senatsbeschluss benennt positive (ausdrückliche gesetzgeberische Entscheidung; hinreichend gewichtiger Sachgrund) sowie negative Voraussetzungen (keine Aushebelung der durch Art. 19 Abs. 4 garantierten Effektivität des Rechtsschutzes durch zu zahlreiche oder weitgreifende Ermächtigungen) und zeigt die Möglichkeit auf, auch untergesetzliche Regeln einzubinden. Im Ergebnis taugen diese Kriterien für eine Ausweitung wie auch eine Begrenzung von Letztentscheidungsbefugnissen gleichermaßen. Hierauf wird noch einzugehen sein. b) Kammerbeschluss zum Regulierungsermessen der Bundesnetzagentur Nicht oft besteht zwischen der Festlegung von Grundsätzen und ihrer Anwendung durch das Bundesverfassungsgericht ein so enger zeitlicher Zusammenhang wie zwischen der Entscheidung zur Investitionszulage und dem Beschluss zum Regulierungsermessen der Bundesnetzagentur.49 Beide Beschlüsse trennt gerade ein halbes Jahr, wobei die zeitlich spätere Entscheidung zum Telekommunikationsrecht auf deutlich größere – überwiegend ablehnende – Resonanz gestoßen ist50, obwohl sie im Wesentlichen nur anwendet, was bereits in der Investitionszulageentscheidung vorgeprägt wurde. Erklären lässt sich dies damit, dass das Telekommunikationsrecht aufgrund der wirtschaftlichen Bedeutung wie auch der handelnden Akteure unter stärkerer Beobachtung steht. Insbesondere ist gerade auf diesem Gebiet eine 48
BVerfGE 129, 1 (22 f.). BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 8. Dezember 2012 – 1 BvR 1932/08 –, NVwZ 2012, S. 694 ff. 50 Vgl. Durner, DVBl. 2012, S. 299 ff.; Winkler, MMR 2012, S. 188 ff.; Sachs, NVwZ 2012, S. 649 ff. 49
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große Neigung vorhanden, der Bundesnetzagentur in vielen Bereichen Letztentscheidungen zuzugestehen, was auch eine entsprechende Gegnerschaft erzeugt.51 In der Sache ging es um die Frage, ob das Bundesverwaltungsgericht in verfassungsrechtlich zu beanstandender Weise davon ausging, dass der Bundesnetzagentur bei der Marktdefinition und -analyse nach §§ 10, 11 TKG ein Beurteilungsspielraum eingeräumt ist. Die Kammer verneinte und begründete dies vor allem anhand der Kriterien in der vorerwähnten Senatsentscheidung. Zunächst arbeitet die Kammer das Kriterium des Gesetzesvorbehalts ab. § 10 Abs. 2 Satz 2 TKG regle ausdrücklich einen Beurteilungsspielraum zu Gunsten der Bundesnetzagentur. Angesichts der Gesetzessystematik sei es jedenfalls vertretbar, diesen über den unmittelbaren Anwendungsbereich der Norm (sog. Drei-Kriterien-Test nach § 10 Abs. 2 Satz 1 TKG) hinaus auch für die Entscheidung nach § 10 Abs. 1 TKG sowie für das Marktanalyseverfahren nach § 11 TKG anzunehmen. Dies ergebe sich aus der in der Entscheidung ausführlich dargestellten Entstehungsgeschichte der Normen. Für die Reduzierung der gerichtlichen Kontrolldichte bestünden auch tragfähige Sachgründe – das nächste Kriterium aus der Senatsentscheidung vom 31. Mai 2011. Die Kammer führt hier den prognostischen und wertenden Charakter der bei Marktdefinition und -analyse zu treffenden Entscheidungen an. Die erkennbaren Schwierigkeiten einer gerichtlichen Vollkontrolle der jeweiligen Tatbestandsmerkmale habe der Gesetzgeber im Rahmen seines Gestaltungsspielraums zum Anlass nehmen dürfen, einen Beurteilungsspielraum einzuräumen. Schließlich verneint das Bundesverfassungsgericht auch die Gefahr einer Aushebelung des wirksamen Rechtsschutzes durch die Gerichte und sieht auch keine Verletzung von Art. 12 Abs. 1 GG zu Lasten des beschwerdeführenden Telekommunikationsunternehmens. 5. Kritische Würdigung a) Pflicht zur vollständigen tatsächlichen Kontrolle – warum? „Die Bedeutung des Art. 19 Abs. 4 GG liegt vornehmlich darin, dass er die ‚Selbstherrlichkeit‘ der vollziehenden Gewalt im Verhältnis zum Bürger beseitigt; kein Akt der Exekutive, der in Rechte des Bürgers eingreift, kann richterlicher Nachprüfung entzogen werden.“52
51 Hierzu vor allem Mayen kritisch/warnend in seinem Referat anlässlich des 66. Deutschen Juristentags, Verhandlungen des 66. DJT, Band II/1, S. O 45 (52 f.); unverändert aktuell die Feststellung dogmatischer Defizite im Bereich des Telekommunikationsrechts von Manssen, ArchivPT 1998, S. 236 ff. 52 BVerfGE 10, 264 (267).
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Diese gravitätischen Worte aus dem Jahr 1960 zur Rücknahmefiktion bei nicht bezahltem Kostenvorschuss nach dem damaligen Bayerischen Kostengesetz liefern den einzigen wirklich greifbaren Begründungsansatz in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts dafür, dass eine umfassende Tatsachenkontrolle durch die Gerichte verfassungsrechtlich geboten ist. In den nachfolgenden Entscheidungen findet sich nur noch die bekannte Formulierung, wonach der durch Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG gewährleistete Rechtsweg die vollständige Nachprüfung des Verwaltungshandelns in rechtlicher wie tatsächlicher Hinsicht durch ein Gericht ermöglichen muss.53 Im Zusammenhang mit Art. 19 Abs. 4 GG begegnet diese Formulierung erstmals in einem Beschluss aus dem Jahr 1963.54 Eine Begründung sucht man auch dort vergebens. Bemerkenswerterweise zitiert das Bundesverfassungsgericht zum Beleg lediglich ein Urteil des Bundesfinanzhofs55 und eine Kommentarfundstelle. Zu einer echten Auseinandersetzung mit den denkbaren Kontrolldichtekonzepten kam es in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts jedoch soweit ersichtlich nie. Auch das zitierte Urteil des Bundesfinanzhofs ist wenig ergiebig, verweist es zum Beleg einer auch das Tatsächliche umfassend einschließenden Kontrolldichte doch lediglich auf das Referat Kleins anlässlich der Staatsrechtslehrertagung im Herbst des Jahres 1949.56 Und auch jener schließlich diskutiert das Problem nicht, sondern deutet nur an, dass die beschränkte Kontrolldichte hinsichtlich bestimmter zollrechtlicher Fragen in der damaligen US-Besatzungszone wohl nicht (dem zum Zeitpunkt von Kleins Referat gerade 5 Monate alten) Art. 19 Abs. 4 GG gerecht werde.57 Mangels vorhandener Entscheidungen kann man nur mutmaßen, warum sich die Lehre von der umfassenden Kontrolldichte zum Axiom der Verfassungsrechtsprechung entwickelt hat.58 Immerhin gibt es den Hinweis auf die „Selbstherrlichkeit“ der Behörden in der Entscheidung aus dem Jahr 196059, der im zeitgeschichtlichen Zusammenhang auch ohne Weiteres nachvollziehbar ist. Die Erinnerung an (führer)willfährige Behörden war noch präsent und auch die Erfahrungen mit Behörden vor 1933, insbesondere während des
53 Vgl. die Nachweise aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, oben in Fn. 17. 54 BVerfGE 15, 275 (282); BVerfGE 9, 256 (257) enthält die Formulierung zwar auch schon, aber ohne unmittelbaren verfassungsrechtlichen Bezug. 55 BFHE 60, 173. 56 Klein, a.a.O. (Fn. 2), S. 67 ff. 57 Klein, a.a.O. (Fn. 2), S. 67 (94 f.). 58 In der Literatur gibt es natürlich eine große Fülle an Untersuchungen und Darstellungen zu dem Thema, vgl. nur die Ausführungen und Nachweise von/bei Schmidt-Aßmann, a.a.O. (Fn. 3), Rn. 180 ff. und Pache, a.a.O. (Fn. 31), S. 56. Dabei wird auch auf die – wie gezeigt allerdings unergiebige – Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts verwiesen. 59 BVerfGE 10, 264 (267).
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Kaiserreiches, kann man zusammenfassend wohl so umschreiben, dass sie Anlass gegeben haben, den Schutz des Bürgers gegen Behördenentscheidungen zu stärken. Wer aber Behörden misstraut, dem stellt sich nicht die Frage, ob nur eine reine Rechtskontrolle auf von Behörden ermittelter Tatsachengrundlage stattfindet oder mehr. Wer Behörden misstraut, muss eine umfassende Tatsachenkontrolle durch Gerichte für erforderlich halten. b) Entwertung von Verwaltung und Verwaltungsverfahren Die These von der umfassenden Kontrolldichte blieb aber nicht folgenlos. Sie hat dem Gesetzgeber letztlich die weitgehende Entwertung des Verwaltungsverfahrens ermöglicht. Wo das Gericht umfassend kontrolliert, kommt es auf Verfahrensfehler in der Tat nur in ausgesprochenen Ausnahmefällen an. Dass den Bürger allerdings – insbesondere in Großverfahren – bisweilen das Gefühl beschleicht, nur eine Statistenrolle auszufüllen, wenn Gerichte bescheiden, dass sich etwa eine Verletzung von Beteiligungsrechten jedenfalls nicht auf das Ergebnis ausgewirkt habe, wird zunehmend als Problem wahrgenommen. Es ist aber – ausgelöst vor allem durch das Bahnprojekt „Stuttgart 21“ – ein ganz neuer Trend, der auch noch keine allgemeine Umorientierung – etwa bei den §§ 45, 46 VwVfG oder §§ 214 ff. BauGB – nach sich gezogen hat.60 Bis vor kurzem bestand das Universalrezept zur Verfahrensbeschleunigung darin, Verfahrensfehler für unbeachtlich zu erklären.61 Die Lehre von der umfassenden Kontrolltätigkeit der Gerichte war aber natürlich auch eine willkommene Einladung für Gesetzgeber und Regierungen, die Behörden zu verschlanken, insbesondere die personellen und finanziellen Ressourcen zu kürzen. Ketzerisch formuliert: Warum soll eine Behörde so ausgestattet werden, dass jede Entscheidung vollständig ausermittelt und durchgeprüft werden kann, wenn doch das Gericht dies auf Klage eines Betroffenen auch tut. Besonders deutlich wird das Problem nach Ansicht des Verfassers an Folgendem: Zur Schonung ihrer Haushalte behelfen sich Behörden in vielen Fällen durch „abgestimmte Gutachten“. Das sind Gutachten, die vom Vorhabenträger eingeholt (und bezahlt!) werden, nachdem mit der Behörde zuvor Gutachter und Gutachtensauftrag abgestimmt wurden. Diese Gutachten legen Behörden dann ihrer Entscheidung zu Grunde. Vorhabenträgern ist diese Praxis verständlicherweise nicht unwillkommen. Freilich werden auch sol-
60 Auch hier zwingt das Unionsrecht den Gesetzgeber aber immer öfter zum Handeln, vgl. jüngst die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs zu § 214 Abs. 2a Nr. 1 BauGB, EuGH (4. Kammer), Urteil vom 18. April 2013, Rs. C-463/11, NVwZ-RR 2013, S. 503 ff. 61 Allerdings ohne signifikante Auswirkungen auf die verwaltungsgerichtlichen Laufzeiten, vgl. Grünewald, Die Betonung des Verfahrensgedankens im deutschen Verwaltungsrecht durch das Gemeinschaftsrecht, 2010, S. 263 f.
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chen „abgestimmten“ Gutachtern ihre Testate nicht diktiert. Wer aber meint, dass ein von Vorhabenträgerseite in Auftrag gegebenes Gutachten in jedem Fall genauso ausgefallen wäre, wenn es von der Genehmigungsbehörde selbst veranlasst worden wäre, verschließt seine Augen vor der Realität.62 Problematisch wird dieses „Ermittlungsdefizit“ auf Behördenseite, wenn im Verwaltungsprozess Beweisanträge mit der Begründung abgelehnt werden, dass das Gericht die der Behördenentscheidung zu Grunde gelegten Gutachten sowohl für verwertbar als auch ausreichend halte. Eine solche Ablehnung eines Beweisantrags steht mit § 86 Abs. 2 VwGO und Art. 103 Abs. 1 GG grundsätzlich in Einklang.63 Tatsächlich stützt das Gericht dann aber seine Entscheidung auf eine Tatsachengrundlage, die weder von ihm noch von der Behörde ausermittelt wurde, sondern Gegenstand eines Gutachtens war, das vom Begünstigten der Behördenentscheidung in Auftrag gegeben wurde. Hier läuft die Pflicht zur umfassenden Kontrolle Gefahr, zum nicht eingelösten Versprechen zu werden.
III. Fazit und Ausblick Es bleibt spannend, wie sich Verwaltungsverfahren in den nächsten Jahren und Jahrzehnten entwickeln werden. Die Herausforderungen werden wachsen, insbesondere die sogenannte Energiewende wird ihren Teil dazu beitragen. Bei der Errichtung von neuen Anlagen und Energietrassen sind Konflikte mit einer Vielzahl Beteiligter vorprogrammiert. Der Beitrag, den Verwaltungsverfahren leisten können, sollte in diesem Zusammenhang nicht unterschätzt werden. Nur hier steht mit der Behörde ein unabhängiger Dritter zwischen Befürwortern und Gegnern eines Projekts und zwar zu einem Zeitpunkt echter Ergebnisoffenheit. Wenn sich der Gesetzgeber durchringen könnte, das Verwaltungsverfahren aufzuwerten und seinen „Eigenwert“64 wieder stärker in den Vordergrund zu stellen und im Gegenzug die Arbeit der Gerichte stärker auf echte Rechtskontrolle zu beschränken, wird dies bald 70 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs wohl kaum zu einer Renaissance behördlicher „Selbstherrlichkeit“ führen. Die Vermehrung behördlicher Letztentscheidungsbefugnisse, insbesondere von Beurteilungsspielräumen, bedeutet dabei keine Gefährdung von 62 Der Verfasser war vor seinem Wechsel in den Staatsdienst als Rechtsanwalt im Verwaltungsrecht tätig und hat mit „abgestimmten Gutachten“ Erfahrungen gemacht. 63 Hierzu oben unter II.3. 64 Aus der unerschöpflichen Literatur zum Eigenwert des Verfahrens siehe nur SchmidtAßmann, Das Allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, 2004; ders. Der Verfahrensgedanke in der Dogmatik des öffentlichen Rechts, in: Lerche/Schmitt Glaeser/SchmidtAßmann, Verfahren als staats- und verwaltungsrechtliche Kategorie, Heidelberg 1984; siehe auch die Versuche des Verfassers: Grünewald, a.a.O. (Fn. 60).
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Rechten Dritter – unter einer Bedingung: Wer die gerichtliche Kontrolle auf der materiellen Seite verringert, muss sie auf der anderen Seite – konkret: bei der Kontrolle des Verfahrens – verstärken.65 Extensive Heilungs- und Unbeachtlichkeitsvorschriften vertragen sich nicht mit behördlichen Letztentscheidungsbefugnissen.66 Der vom verfassungsrechtlichen Apriorismus der vollständigen Tatsachenkontrolle befreite Gesetzgeber gewinnt also nicht nur Freiheiten (zur Schaffung von Beurteilungsspielräumen etwa). Er wird im Verwaltungsverfahrensrecht deutlich stärker in die Pflicht genommen mit der Folge, dass zum einen die vorhandenen Fehlervorschriften so nicht bleiben können und zum anderen die Behörden auch entsprechend auszustatten sind.67 Sollte der Gesetzgeber – auch veranlasst durch das Unionsrecht – stärker in diese Richtung gehen, werden entsprechende Fragen über kurz oder lang auch das Bundesverfassungsgericht beschäftigen. Die Maßstäbe aus der Investitionszulagenentscheidung taugen dabei sowohl für eine Begrenzung wie auch die Hinnahme einer Ausweitung von Letztentscheidungsbefugnissen. Die Variablen des „ausreichenden Sachgrunds“ und der negativen Voraussetzung (keine Aushebelung der durch Art. 19 Abs. 4 garantierten Effektivität des Rechtsschutzes durch zu zahlreiche oder weitgreifende Ermächtigungen) eröffnen dem Gericht Spielräume, die es füllen wird. Interessant wird dabei insbesondere sein, wie sich das rechtfertigende Element des Sachgrundes und die Begrenzung durch das Verbot zuvieler Ermächtigungen zueinander verhalten. Was ist die Bezugsgröße für ein „Zuviel“ an Ermächtigung? Ist hier das gesamte materielle Verwaltungsrecht in den Blick zu nehmen, wird der Gesetzgeber wohl sehr lange nicht an Grenzen stoßen. Sollte eine sektorspezifische Betrachtung (des Umweltrechts, des Telekommunikationsrechts usw.) vorzunehmen sein, fragt sich, ob das qualitative Pro-Argument (gewichtiger Sachgrund) das quantitative Contra-Argument (zu viele Ermächtigungen) im Einzelfall zurückdrängen kann. Womöglich bietet ein Verfahren in spe auch Anlass für eine (dann erstmalig ausführliche) Erörterung, ob Art. 19 Abs. 4 GG wirklich den verfassungsrechtlichen Grundsatz der umfassenden Tatsachenkontrolle enthält oder ob es nicht vielmehr nur darauf ankommt, dass die Rechte des Einzelnen – und 65 Zur unzureichenden Verfahrenskontrolle im Gesundheitsrecht Kingreen, MedR 2007, S. 457 ff.; zu subjektiven Verfahrensrechten kraft Unionsrecht im Bauplanungsrecht Grünewald, NVwZ 2009, S. 1520 ff. 66 Dass dieses in den §§ 214 ff. BauGB über die Jahre nahezu perfektionierte System nicht mehr funktioniert, lernt der Gesetzgeber derzeit nach und nach durch das einwirkende Unionsrecht. Bemerkenswert ahnungsvoll hierzu der frühere Bundesverfassungsrichter Steiner: „Zwingt das Gemeinschaftsrecht den nationalen Gesetzgeber, wie jetzt im BauGB, zu einer anderen Fehlersystematik, werden die deutschen Juristen zu den Waffen gerufen“, BayVBl. 2009, S. 1 (2). 67 Überlegungen zu Reformansätzen bei Grünewald, a.a.O. (Fn. 60), S. 260 ff.
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zwar durchaus auch arbeitsteilig durch Behörden und Gerichte – gewahrt werden. Als Folge dieser Arbeitsteilung müsste der Verfasser bei einer erneuten Befassung mit Kerosinfernleitungen möglicherweise nur klären, ob die Behörde zur Klärung der „Molchfrage“ Brehms Tierleben aufschlug oder doch ingenieurfachliche Literatur zu Rate zog.
Richtervorbehalt und strafprozessuale Ermittlungsmaßnahmen Barbara Reiter und Christine Seban Leitentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (Senat) BVerfGE 103, 142 – Gefahr im Verzug, Wohnungsdurchsuchung BVerfGE 105, 239 – Abschiebungshaft Wichtige Kammerentscheidungen BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 3. Dezember 2002 – 2 BvR 1845/00 –, NJW 2003, S. 2303 ff. – Gefahr im Verzug, unzureichende nachträgliche richterliche Kontrolle einer polizeilichen Durchsuchungsanordnung BVerfGK 2, 176 – Gefahr im Verzug, Durchsuchungsanordnung BVerfGK 2, 310 – Gefahr im Verzug, Durchsuchungsanordnung BVerfGK 5, 74 – Gefahr im Verzug, Wohnungsdurchsuchung, Beschlagnahme eines Mobiltelefons BVerfGK 7, 87 – Castor-Blockade I BVerfGK 7, 392 – Gefahr im Verzug, Wohnungsdurchsuchung BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 12. Juni 2006 – 2 BvR 1395/05 –, juris – Castor-Blockade II BVerfGK 9, 287 – Durchsuchungsbeschluss, Gefahr im Verzug, Wohnungsdurchsuchung mit Drogenspürhund BVerfGK 10, 270 – Blutentnahme, effektiver Rechtsschutz BVerfGK 14, 107 – Beweisverwertungsverbot nach Blutentnahme, Richtervorbehalt BVerfGK 17, 340 – Blutentnahme, Richtervorbehalt BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 24. Februar 2011 – 2 BvR 1596/10 u.a. –, EuGRZ 2011, S. 183 ff. – Blutentnahme ohne richterliche Anordnung, Richtervorbehalt, Blutentnahme Schrifttum Asbrock, Der Richtervorbehalt – prozedurale Grundrechtssicherung oder rechtsstaatliches Trostpflaster?, ZRP 1998, S. 17 ff.; Beichel/Kieninger, „Gefahr im Verzug“ auf Grund Selbstausschaltung des erreichbaren, jedoch „unwilligen“ Bereitschaftsrichters?, NStZ 2003, S. 10 ff.; Brocke/Herb, Strafverfolgung nach Dienstschluss – Justiz im Dauereinsatz?, StraFo 2009, S. 46 ff.; dies., Richtervorbehalt und Gefahr im Verzug bei Blutentnahmen gem. § 81a StPO – Zugleich eine Erwiderung auf Fickenscher/Dingelstadt, NStZ 2009, 124 ff., NStZ 2009, S. 671 ff.; Fickenscher/Dingelstadt, Der Richtervorbehalt nach § 81a II StPO bei Trunkenheitsfahrten, NStZ 2009, S. 124 ff.; dies., Richterlicher Bereitschaftsdienst „rund um die Uhr“?, NJW 2009, S. 3473 ff.; Finke, Die Durchsuchung von Räumlichkeiten im Ermittlungsverfahren, 2009; Geppert, Kontroll- und Förderungspflicht des Ermittlungsrichters, DRiZ 1992, S. 405 ff.; Gusy, Überwachung der Telekommunikation unter Richtervorbe-
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halt – Effektiver Grundrechtsschutz oder Alibi?, ZRP 2003, S. 275 ff.; ders., Grundgesetzliche Anforderungen an Durchsuchungsbeschlüsse i.S.d. Art. 13 II GG, NStZ 2010, S. 353 ff.; Hofmann, Der „unwillige“ Bereitschaftsrichter und Durchsuchungsanordnungen wegen Gefahr im Verzug, NStZ 2003, S. 230 ff.; Jahn, Strafprozessuale Eingriffsmaßnahmen im Lichte der aktuellen Rechtsprechung des BVerfG – unter besonderer Berücksichtigung der in BVerfGK 1–5 veröffentlichten Entscheidungen –, NStZ 2007, S. 255 ff.; Krehl, Gefahr im Verzug – Konsequenzen aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 20.2.2001, JR 2001, S. 491 ff.; ders., Die Bindungswirkung verfassungsgerichtlicher Entscheidungen und richterlicher Bereitschaftsdienst bei Gefahr im Verzug – Eine Erwiderung auf Bittmann wistra 2001, 451 –, wistra 2002, S. 294 ff.; ders., Richtervorbehalt und Durchsuchungen außerhalb gewöhnlicher Dienstzeiten, NStZ 2003, S. 461 ff.; Kruis/Wehowsky, Verfassungsgerichtliche Leitlinien zur Wohnungsdurchsuchung, NJW 1999, S. 682 ff.; Lüdinghausen, Richtervorbehalt bei der Blutprobe: Weg damit!, ZRP 2009, S. 71 ff.; Meier, Richtervorbehalt bei der Blutprobe: Verzichtbare Belastung aller Verfahrensbeteiligten?, ZRP 2010, S. 223 ff.; Meyer-Goßner, StPO, 56. Aufl. 2013, § 105; Mosbacher, Aktuelles Strafprozessrecht, JuS 2009, S. 124 ff.; ders., Aktuelles Strafprozessrecht, JuS 2010, S. 127 ff.; Greven, in: Karlsruher Kommentar zur StPO, 7. Aufl. 2013, § 98; Nelles, Kompetenzen und Ausnahmekompetenzen in der Strafprozessordnung: Zur organisationsrechtlichen Funktion des Begriffs „Gefahr im Verzug“ im Strafverfahrensrecht, 1980; Pätzel, Durchsuchungen bei Gefahr im Verzug – Die Auswirkungen des Urteils des BVerfG vom 20.2.2001 –, DuD 26 (2002), S. 752 ff.; Schulz, Letztmals: Der „unwillige“ Bereitschaftsrichter und Durchsuchungsanordnungen wegen Gefahr im Verzug, NStZ 2003, S. 635 f.; Spaniol, Grundrechtsschutz im Ermittlungsverfahren durch qualifizierten Richtervorbehalt und wirksame gerichtliche Kontrolle, in: Arnold u.a. (Hrsg.), Menschengerechtes Strafrecht – Festschrift für Albin Eser, 2005, S. 473 ff.; Stadler, Der Richtervorbehalt – ein stumpfes Schwert oder ein rechtsstaatlich gebotenes Instrument?, ZRP 2013, S. 179 ff.; Trück, Mündliche Entscheidung des Ermittlungsrichters ohne Akten? – Überlegungen zu Zweck und Tragweite des strafprozessualen Richtervorbehalts am Beispiel von Durchsuchung und Blutprobenentnahme, JZ 2010, S. 1106 ff.; Voßkuhle, in: Merten/Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Band V, Grundrechte in Deutschland: Einzelgrundrechte II, 2013, § 131 Präventive Richtervorbehalte. Inhalt I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Das Institut des Richtervorbehalts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Entwicklung der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung . . . . . . . . . . . 1. Das Urteil des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 20. Februar 2001 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der Beschluss des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 15. Mai 2002 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Fortentwicklung der Senatslinien in der Kammerrechtsprechung . . . . a) BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 3. Dezember 2002 – 2 BvR 1845/00 –, NJW 2003, S. 2303 ff. – Gefahr im Verzug, unzureichende nachträgliche richterliche Kontrolle einer polizeilichen Durchsuchungsanordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) BVerfGK 2, 176 – Gefahr im Verzug, Durchsuchungsanordnung . . . . c) BVerfGK 2, 310 – Gefahr im Verzug, Durchsuchungsanordnung . . . . d) BVerfGK 5, 74 – Gefahr im Verzug, Wohnungsdurchsuchung, Beschlagnahme eines Mobiltelefons . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) BVerfGK 7, 87 – Castor-Blockade I . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) BVerfGK 7, 392 – Gefahr im Verzug, Wohnungsdurchsuchung . . . . . g) BVerfGK 10, 270 – Blutentnahme, effektiver Rechtsschutz . . . . . . . .
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Barbara Reiter und Christine Seban h) BVerfGK 14, 107 – Beweisverwertungsverbot nach Blutentnahme, Richtervorbehalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . i) BVerfGK 17, 340 – Blutentnahme, Richtervorbehalt . . . . . . . . . . . j) BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 24. Februar 2011 – 2 BvR 1596/10 u.a. –, EuGRZ 2011, S. 183 ff. – Blutentnahme ohne richterliche Anordnung, Richtervorbehalt, Blutentnahme IV. Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Das Erfordernis eines nächtlichen richterlichen Bereitschaftsdienstes . . . . a) Einfachrechtlich verankerter Richtervorbehalt und nächtlicher richterlicher Bereitschaftsdienst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Verfassungsrechtlich verankerter Richtervorbehalt und nächtlicher richterlicher Bereitschaftsdienst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Fortbestehen bzw. „Wiederaufleben“ der Eilkompetenz der Ermittlungsbehörden bei „unwilligem“ oder „umfassend prüfendem“ Ermittlungsbzw. Eilrichter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Befürworter eines Fortbestehens bzw. „Wiederauflebens“ einer ermittlungsbehördlichen Eilkompetenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Gegner eines Fortbestehens bzw. „Wiederauflebens“ einer ermittlungsbehördlichen Eilkompetenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Würdigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I. Einleitung Das Institut des Richtervorbehalts hat eine lange Tradition und beschäftigt daher sowohl Literatur1 als auch instanz2- und verfassungsgerichtliche3 Rechtsprechung schon seit geraumer Zeit. 1 Geppert, DRiZ 1992, S. 405 ff.; Asbrock, ZRP 1998, S. 17 ff.; Kruis/Wehowsky, NJW 1999, S. 682 ff.; Krehl, JR 2001, S. 491 ff.; ders., wistra 2002, S. 294 ff.; ders., NStZ 2003, S. 461 ff.; Hofmann, NStZ 2003, S. 230 ff.; ders., NStZ 2010, S. 416; Schulz, NStZ 2003, S. 635 f.; Beichel/Kieninger, NStZ 2003, S. 10 ff.; Gusy, ZRP 2003, S. 275 ff.; Spaniol, Grundrechtsschutz im Ermittlungsverfahren durch qualifizierten Richtervorbehalt und wirksame gerichtliche Kontrolle, in: Arnold u.a. (Hrsg.), Menschengerechtes Strafrecht – FS Eser, 2005, S. 473 ff.; Jahn, NStZ 2007, S. 255 ff.; Mosbacher, JuS 2009, S. 124 ff.; ders., JuS 2010, S. 127 ff.; Fickenscher/Dingelstadt, NStZ 2009, S. 124 ff.; Finke, Die Durchsuchung von Räumlichkeiten im Ermittlungsverfahren, 2009; Brocke/Herb, StraFo 2009, S. 46 ff.; dies., NStZ 2009, S. 671 ff.; Trück, JZ 2010, S. 1106 ff.; Stadler, ZRP 2013, S. 179 ff. 2 Vgl. insbesondere BGHSt 34, 39; 41, 42; 44, 243; 51, 285; BGH, Beschluss vom 11. August 2005 – 5 StR 200/05 –, NStZ 2006, S. 114; BGH, Beschluss vom 25. April 2007 – 1 StR 135/07 –, NStZ-RR 2007, S. 242 f.; BGH, Beschluss vom 19. Januar 2010 – 3 StR 530/09 –, wistra 2010, S. 231 f.; BGH, Beschluss vom 30. August 2011 – 3 StR 210/11 –, StV 2012, S. 1 ff.; OLG Köln, Urteil vom 27. Oktober 2009 – 81 Ss 65/09 –, StV 2010, S. 14 ff.; OLG Hamm, Beschluss vom 30. März 2010 – III-3 RVs 9/10, 3 RVs 9/10 –, juris; Brandenburgisches OLG, Beschluss vom 16. Juni 2010 – (1) 53 Ss 68/10 (34/10) –, juris; Thüringer OLG, Beschluss vom 28. Juli 2011 – 1 Ss 42/11 –, StraFo 2011, S. 351; OLG Köln, Beschluss vom 26. August 2011 – III-1 RBs 201/11, 1 RBs 201/11 –, StV 2012, S. 6 f.; Thüringer OLG, Beschluss vom 6. Oktober 2011 – 1 Ss 82/11 –, juris; OLG Köln, Beschluss vom 13. November 2012 – III-1 RVs 228/12, 1 RVs 228/12 –, juris; Schleswig-Holsteinisches OLG, Beschluss vom 13. März 2013 – 2 Ss 3/13 (5/13) –, juris. 3 Vgl. insbesondere BVerfGE 9, 89; 20, 162; 42, 212; 57, 346; 76, 83; 77, 1; 96, 44; 103,
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Bereits die Paulskirchenverfassung, welche am 28. März 18494 als Verfassung des Deutschen Reichs verkündet, jedoch nie umgesetzt wurde, garantierte etwa in § 140 5 die Unverletzlichkeit der Wohnung, gestattete jedoch Hausdurchsuchungen – außer in Ausnahmefällen – nur aufgrund einer Anordnung durch einen Richter. Ebenso war in § 1386 der Verfassung des Deutschen Reichs von 1849 eine den Art. 2 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. Art. 104 Abs. 1, Abs. 2 GG entsprechende Gewährleistung enthalten. Vergleichbare Richtervorbehalte fanden sich dagegen weder in der Reichsverfassung von 1871 noch der Weimarer Reichsverfassung.7 Auch die ursprüngliche Fassung der heutigen Strafprozessordnung, die Reichsstrafprozeßordnung vom 1. Februar 18778, die am 1. Oktober 1879 in Kraft trat, sah im Hinblick auf Durchsuchungen eine bis heute nahezu unverändert gebliebene Regelung hinsichtlich der Anordnungskompetenzen vor, wobei nach dem Gesetzeswortlaut ebenfalls die Anordnung der Durchsuchung durch den Richter der Regelfall war.9 142; 105, 239; BVerfGK 2, 176; 2, 310; 5, 74; 7, 87; 7, 392; 10, 270; 14, 107; 17, 340; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 3. Dezember 2002 – 2 BvR 1845/00 –, NJW 2003, S. 2303 ff.; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 12. Juni 2006 – 2 BvR 1395/05 –, juris; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer der Zweiten Senats vom 24. Juli 2011 – 2 BvR 1596/10 u.a. –, EuGRZ 2011, S. 183 ff. 4 RGBl 1849 S. 101. 5 § 140 der Verfassung des Deutschen Reichs von 1849 lautete: Die Wohnung ist unverletzlich. Eine Haussuchung ist nur zulässig: 1. an Kraft eines richterlichen, mit Gründen versehenen Befehls, welcher sofort oder innerhalb der nächsten vier und zwanzig Stunden dem Betheiligten zugestellt werden soll, 2. im Falle der Verfolgung auf frischer That, durch den gesetzlich berechtigten Beamten, 3. in den Fällen und Formen, in welchen das Gesetz ausnahmsweise bestimmten Beamten auch ohne richterlichen Befehl dieselbe gestattet. Die Haussuchung muß, wenn thunlich, mit Zuziehung von Hausgenossen erfolgen. Die Unverletzlichkeit der Wohnung ist kein Hinderniß der Verhaftung eines gerichtlich Verfolgten. 6 § 138 Abs. 1 bis Abs. 3 der Verfassung des Deutschen Reichs von 1849 lauteten: Die Freiheit der Person ist unverletzlich. Die Verhaftung einer Person soll, außer im Falle der Ergreifung auf frischer That, nur geschehen in Kraft eines richterlichen, mit Gründen versehenen Befehls. Dieser Befehl muß im Augenblicke der Verhaftung oder innerhalb der nächsten vier und zwanzig Stunden dem Verhafteten zugestellt werden. Die Polizeibehörde muß jeden, den sie in Verwahrung genommen hat, im Laufe des folgenden Tages entweder freilassen oder der richterlichen Behörde übergeben. 7 Die Reichsverfassung von 1871 kannte keine grundrechtlichen Gewährleistungen. Die Weimarer Reichsverfassung regelte zwar in Art. 115 die Unverletzlichkeit der Wohnung, verzichtete jedoch auf die Normierung eines Richtervorbehalts, vgl. hierzu auch BVerfGE 51, 97 (108 f.). 8 RGBl 1877 S. 253. 9 § 105 der Reichsstrafprozeßordnung von 1877 lautete: Die Anordnung von Durchsuchungen steht dem Richter, bei Gefahr im Verzug auch der
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Durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hat das Institut des Richtervorbehalts seine jetzigen Konturen angenommen. Die in der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung gewonnene Auslegung des Instituts prägt bis heute seine Entwicklung und die Auswirkungen auf verschiedenste strafprozessuale Ermittlungsmaßnahmen, unabhängig davon, ob der Richtervorbehalt verfassungs- oder einfachrechtlich verbürgt ist. Dieser Beitrag widmet sich im Folgenden lediglich der neueren Entwicklung der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung zum Richtervorbehalt bei strafprozessualen Ermittlungsmaßnahmen, welche ihren Ausgangspunkt in dem Urteil des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 20. Februar 200110 genommen hat. Ausgehend von diesem Urteil soll die Entwicklung der Rechtsprechung zu den wesentlichen Fragen des Richtervorbehalts anhand weiterer verfassungsgerichtlicher Entscheidungen dargestellt werden. Dabei wird festzustellen sein, dass nach wie vor nicht sämtliche – auch in der Literatur kontrovers diskutierte – Fragen einer endgültigen Klärung zugeführt werden konnten. Deshalb soll abschließend ein Ausblick auf mögliche Lösungen für zwei der nach wie vor offenen Fragen gegeben werden.
II. Das Institut des Richtervorbehalts Bevor auf einzelne Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zu Bedeutung und Reichweite des Richtervorbehalts im Zusammenhang mit strafprozessualen Ermittlungsmaßnahmen näher eingegangen werden soll, ist zunächst der Begriff des Richtervorbehalts näher zu beleuchten. Der Richtervorbehalt, der der verstärkten Sicherung der Grundrechte des Betroffenen dient, zielt auf eine vorbeugende Kontrolle exekutiver Eingriffsmaßnahmen durch eine unabhängige und neutrale Instanz.11 Das GrundgeStaatsanwaltschaft und denjenigen Polizei- und Sicherheitsbeamten zu, welche als Hülfsbeamte der Staatsanwaltschaft den Anordnungen derselben Folge zu leisten haben. Wenn eine Durchsuchung der Wohnung, der Geschäftsräume oder des befriedeten Besitzthums ohne Beisein des Richters oder des Staatsanwalts stattfindet, so sind, wenn dies möglich, ein Gemeindebeamter oder zwei Mitglieder der Gemeinde, in deren Bezirk die Durchsuchung erfolgt, zuzuziehen. Die als Gemeindemitglieder zugezogenen Personen dürfen nicht Polizei- oder Sicherheitsbeamte sein. Die in den vorstehenden Absätzen angeordneten Beschränkungen der Durchsuchung finden keine Anwendung auf die im § 104 Abs. 2 bezeichneten Wohnungen und Räume. Durchsuchungen in militärischen Dienstgebäuden erfolgen durch Ersuchen der Militärbehörde, und auf Verlangen der Civilbehörde (Richter, Staatsanwaltschaft) unter deren Mitwirkung. Des Ersuchens der Militärbehörde bedarf es jedoch nicht, wenn die Durchsuchung von Räumen vorzunehmen ist, welche in militärischen Dienstgebäuden ausschließlich von Civilpersonen bewohnt werden. 10 BVerfGE 103, 142. 11 Vgl. BVerfGE 20, 162 (223); 57, 346 (355 f.); 76, 83 (91); 103, 142 (150 f.); BVerfGK 5, 74 (77).
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setz geht davon aus, dass Richter aufgrund ihrer persönlichen und sachlichen Unabhängigkeit und ihrer strikten Unterwerfung unter das Gesetz (Art. 97 GG) die Rechte der Betroffenen im Einzelfall am besten und sichersten wahren können.12 Im strafrechtlichen Ermittlungsverfahren, das die Staatsanwaltschaft in eigener Verantwortung führt (§§ 158 ff. StPO), ist der Richter – entsprechend der Trennung von Anklagebehörde und Gericht im deutschen Strafprozess – unbeteiligter Dritter, der nur auf Antrag der Staatsanwaltschaft tätig wird (§ 162 StPO). Durch die Einschaltung des Richters soll grundsätzlich von vornherein, nicht erst nach vollzogenem Eingriff, sichergestellt werden, dass nicht aus reinen Gründen der Zweckmäßigkeit oder gar infolge von politischen oder sonstigen sachfremden Einflüssen in den Rechtskreis des Einzelnen in weiterem Umfang eingegriffen wird, als es der Zweck der Maßnahme erfordert.13 Sowohl bei strafprozessualen Überraschungsmaßnahmen (z.B. Wohnungsdurchsuchung, Inhaftierung) als auch beim Einsatz heimlicher Ermittlungsmethoden (z.B. Telefonüberwachung, Einsatz verdeckter Ermittler), die regelmäßig ohne vorherige Anhörung des Betroffenen angeordnet werden, soll die Einschaltung des Richters auch dafür sorgen, dass die Interessen des Betroffenen angemessen berücksichtigt werden.14 Der Richtervorbehalt gewährleistet in diesem Fall einen quasi kompensatorischen „vorbeugenden Grundrechtsschutz“, weil der Einzelne aufgrund der fehlenden Anhörung dem Grundrechtseingriff weitgehend „ausgeliefert“ ist. Der Richtervorbehalt setzt dabei eine eigenverantwortliche richterliche Prüfung der Eingriffsvoraussetzungen voraus. Die richterliche Anordnung ist keine bloße Formsache.15 Der Richter muss dafür Sorge tragen, dass die sich aus der Verfassung und dem einfachen Recht ergebenden Voraussetzungen der Ermittlungsmaßnahme genau beachtet werden.16
III. Entwicklung der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung Seit dem Jahr 2001 hatte sich das Bundesverfassungsgericht vermehrt mit Fragen der Bedeutung und Reichweite des Richtervorbehalts bei strafprozessualen Ermittlungsmaßnahmen, aber auch den insofern an die Praxis zu stellenden Anforderungen vor dem Hintergrund eines bestehenden „Spannungsverhältnisses zwischen Rechtsstaatlichkeit und Effektivität der Strafverfolgung“17 zu befassen. Grund hierfür war insbesondere die sich fort12
Vgl. BVerfGE 77, 1 (51); 103, 142 (151); BVerfGK 7, 392 (395). Vgl. BVerfGE 20, 162 (223). 14 Vgl. BVerfGE 9, 89 (97); 103, 142 (151); BVerfGK 2, 310 (314); BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 3. Dezember 2002 – 2 BvR 1845/00 –, NJW 2003, S. 2303 (2304); so auch Voßkuhle, in: Merten/Papier (Hrsg.), HGr V, 2013, § 131 Rn. 3. 15 Vgl. BVerfGE 57, 346 (355). 16 Vgl. BVerfGE 9, 89 (97); 57, 346 (355 f.); BVerfGK 2, 310 (314). 17 Geppert, DRiZ 1992, S. 405 (405). 13
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setzende „Hochkonjunktur“18 der Richtervorbehalte. Neben den bereits verfassungsrechtlich verankerten Richtervorbehalten (Art. 13 Abs. 2, Abs. 3, Abs. 4 GG und Art. 104 Abs. 2 GG) finden sich solche auch in einer Vielzahl einfachrechtlicher Vorschriften. Nur beispielhaft sollen hier einige einfachrechtlich geregelte Richtervorbehalte der Strafprozessordnung in der Fassung der Bekanntmachung vom 7. April 198719 erwähnt werden: § 81a Abs. 2 StPO (körperliche Untersuchung des Beschuldigten), § 81c Abs. 5 StPO (körperliche Untersuchung anderer Personen), § 81f Abs. 1 Satz 1 StPO (DNA-Analyse gemäß § 81e StPO), § 81g Abs. 3 Satz 1 StPO (DNA-Identitätsfeststellung), § 87 Abs. 4 Satz 1 StPO (Leichenöffnung und Ausgrabung einer beerdigten Leiche), § 98 Abs. 1 StPO (Beschlagnahmen nach §§ 94 ff. StPO), § 98b Abs. 1 Satz 1 StPO (Rasterfahndung nach § 98a StPO), § 100 Abs. 1 StPO (Postbeschlagnahme nach § 99 StPO), § 100b Abs. 1 Satz 1 StPO (Überwachung der Telekommunikation nach § 100a StPO) und § 105 Abs. 1 StPO (Durchsuchungen nach §§ 102, 103 StPO). 1. Das Urteil des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 20. Februar 2001 Mit seinem in Literatur und Rechtsprechung kontrovers diskutierten Urteil vom 20. Februar 200120 hat sich der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts umfassend mit dem Rangverhältnis der Anordnungskompetenzen zwischen Gericht und Staatsanwaltschaft (beziehungsweise deren Ermittlungspersonen) und damit der Bedeutung und Reichweite des Richtervorbehalts, aber auch dem Begriff der „Gefahr im Verzug“ im Zusammenhang mit Wohnungsdurchsuchungen beschäftigt. Gemäß Art. 13 Abs. 2, 2. Halbsatz GG dürften Durchsuchungen zwar bei Gefahr im Verzug auch durch die in den Gesetzen vorgesehenen anderen Organe – bei der strafprozessualen Durchsuchung gemäß § 105 Abs. 1 Satz 1, 2. Halbsatz StPO demnach durch die Staatsanwaltschaft und ihre Ermittlungspersonen (§ 152 StPO) – angeordnet werden. Schon Wortlaut und Systematik des Art. 13 Abs. 2 GG belegten jedoch, dass die richterliche Durchsuchungsanordnung, die Art. 13 Abs. 2, 1. Halbsatz GG vorsehe, die Regel, die nichtrichterliche Anordnung hingegen die Ausnahme sei.21 Nicht nur wegen des Ausnahmecharakters der nichtrichterlichen Anordnung, sondern vor allem wegen der grundrechtssichernden Schutzfunktion des Richtervorbehalts sei der Begriff „Gefahr im Verzug“ eng auszulegen.22 Ordneten die Strafverfolgungsbehör18 19 20 21 22
Stadler, ZRP 2013, S. 179 (179); Asbrock, ZRP 1998, S. 17 (17). BGBl 1987 I S. 1074. BVerfGE 103, 142. BVerfGE 103, 142 (153). BVerfGE 103, 142 (153).
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den die Durchsuchung an, so falle die präventive Kontrolle durch eine unabhängige und neutrale Instanz weg. Zudem fehle es bei der Durchführung der Durchsuchung wegen Gefahr im Verzug an der begrenzenden Wirkung der – in der Regel schriftlichen23 – richterlichen Durchsuchungsanordnung. Sowohl die Strafverfolgungsbehörden als auch die Ermittlungsrichter und die Gerichtsorganisation müssten daher im Rahmen des Möglichen sicherstellen, dass in der Masse der Alltagsfälle die in der Verfassung vorgesehene „Verteilung der Gewichte“24, nämlich die Regelzuständigkeit des Richters, gewahrt bleibe.25 Der Anordnung der Durchsuchung durch die Strafverfolgungsbehörden müsse daher in aller Regel der Versuch vorausgehen, eine Anordnung des instanziell und funktionell zuständigen Richters zu erlangen.26 Mit dieser regelmäßigen Verpflichtung korrespondiere die verfassungsrechtliche Verpflichtung der Gerichte, die Erreichbarkeit eines Ermittlungs- oder Eilrichters, auch durch die Einrichtung eines Eil- oder Notdienstes, zu sichern.27 Trotz der gebotenen engen Auslegung des Begriffs „Gefahr im Verzug“ dürfe jedoch der Zweck der von der Verfassung vorgesehenen Eilkompetenz nicht außer Betracht bleiben. Diese Kompetenz eröffne den nichtrichterlichen Organen die Möglichkeit eines Eingriffs, wenn Beweismittel ansonsten gefährdet würden. Sie solle ein schnelles und situationsgerechtes Handeln der Ermittlungsbehörden ermöglichen.28 Gefahr im Verzug sei demnach dann anzunehmen, wenn bereits die mit dem Versuch der Einholung einer richterlichen Anordnung verbundene Verzögerung den Erfolg der Durchsuchung gefährde.29 Schließlich stellte der Zweite Senat im Hinblick auf die Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG fest, dass diese einen Anspruch auf eine wirksame gerichtliche Kontrolle gewährleiste, woraus die grundsätzliche Pflicht der Gerichte folge, die angefochtenen Akte der öffentlichen Gewalt in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht vollständig zu überprüfen. Eine Bindung der Gerichte an von der Exekutive getroffene Feststellungen und Wertungen sei dem Grundgesetz fremd.30 Da Art. 13 Abs. 1, Abs. 2 GG den nichtrichterlichen Organen keine Gestaltungs-, Ermessens- und Beurteilungsspielräume bei der Auslegung und Anwendung des Begriffs „Gefahr im Verzug“ eröffne, sondern vielmehr eine unbeschränkte gerichtliche Kontrolle ver-
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BVerfGE 20, 162 (227). BVerfGE 95, 1 (15). BVerfGE 103, 142 (155). BVerfGE 103, 142 (155). BVerfGE 103, 142 (156). BVerfGE 103, 142 (154). BVerfGE 103, 142 (156). BVerfGE 103, 142 (156).
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lange, seien durch die Strafverfolgungsbehörden nicht nur das Ergebnis, sondern auch die Grundlagen ihrer Entscheidung und ihr Zustandekommen zu dokumentieren und zu begründen.31 Eine wirksame gerichtliche Nachprüfung einer nichtrichterlichen Durchsuchungsanordnung wegen Gefahr im Verzug setze voraus, dass der handelnde Beamte vor oder jedenfalls unmittelbar nach der Durchsuchung seine für den Eingriff bedeutsamen Erkenntnisse und Annahmen in den Ermittlungsakten dokumentiere.32 Insbesondere müsse er, unter Bezeichnung des Tatverdachts und der gesuchten Beweismittel, die Umstände darlegen, auf die er die Gefahr des Beweismittelverlusts stütze. Es müsse zudem erkennbar sein, ob der Beamte den Versuch unternommen habe, den Ermittlungsrichter zu erreichen.33 Der Richter dürfe im Rahmen seiner Überprüfung nicht seine – ohne zeitlichen Druck und unter Berücksichtigung der weiteren Ermittlungen gewonnene – nachträgliche Einschätzung der Lage an die Stelle der Einschätzung der handelnden Beamten setzen. Vielmehr müsse das konkrete Handlungsfeld der Beamten, das der Richter gegebenenfalls aufzuklären habe, Ausgangspunkt seiner Prüfung sein.34 2. Der Beschluss des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 15. Mai 2002 Auf das Urteil vom 20. Februar 200135 aufbauend, entschied der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts mit Beschluss vom 15. Mai 200236 erneut über Fragen im Zusammenhang mit dem Richtervorbehalt, diesmal jedoch zur Auslegung des Art. 104 Abs. 2 GG bei Festnahme und Ingewahrsamnahme im Rahmen einer Abschiebung. Er mahnte abermals, dass der verfassungsrechtlich verankerte Richtervorbehalt nicht zur Disposition des Gesetzgebers stehe37 und allen staatlichen Organen die Verpflichtung auferlege, dafür Sorge zu tragen, dass der Richtervorbehalt als Grundrechtssicherung praktisch wirksam werde.38 Aus dieser Organisationspflicht folge für den Staat die verfassungsrechtliche Verpflichtung, die Erreichbarkeit eines zuständigen Richters – jedenfalls zur Tageszeit (vgl. etwa § 188 Abs. 1 ZPO a.F.39, § 104 Abs. 3 StPO) – zu gewährleisten und ihm auch insoweit eine 31
BVerfGE 103, 142 (157 ff.). BVerfGE 103, 142 (160). 33 BVerfGE 103, 142 (160). 34 BVerfGE 103, 142 (159). 35 BVerfGE 103, 142. 36 BVerfGE 105, 239. 37 BVerfGE 10, 302 (323); 105, 239 (248). 38 BVerfGE 103, 142 (151 ff.); 105, 239 (248). 39 Der zitierte und inzwischen aufgehobene § 188 Abs. 1 ZPO in der Fassung vom 27. Juli 2001 (BGBl I S. 1887) lautete: 32
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sachangemessene Wahrnehmung seiner richterlichen Aufgaben zu ermöglichen.40 Nur der Richter habe über die Zulässigkeit und die Fortdauer einer Freiheitsentziehung zu entscheiden, welche grundsätzlich eine vorherige richterliche Anordnung voraussetze.41 Eine nachträgliche richterliche Entscheidung in Ausnahmefällen sei nur dann als ausreichend anzusehen, wenn der mit der Freiheitsentziehung verfolgte verfassungsrechtlich zulässige Zweck nicht erreichbar wäre, sofern der Festnahme die richterliche Entscheidung vorausgehen müsse.42 Ein unvermeidbares Hindernis hinsichtlich der von Art. 104 Abs. 2 Satz 2 GG sodann geforderten unverzüglichen Nachholung sei in diesem Fall nicht damit begründbar, dass ein Richter generell nicht habe erreicht werden können, weil eine Verpflichtung des Staates bestehe, der Bedeutung des Richtervorbehalts durch geeignete organisatorische Maßnahmen Rechnung zu tragen.43 3. Die Fortentwicklung der Senatslinien in der Kammerrechtsprechung Die sich auf Grundlage der beiden dargestellten Senatsentscheidungen in der Folgezeit herausbildende Kammerrechtsprechung verfeinerte die in Grundzügen festgeschriebenen Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Sie wird im Folgenden nicht nach behandelten Teilrechtsfragen, sondern chronologisch geordnet dargestellt, um einen besseren Überblick über die zeitliche Entwicklung zu ermöglichen. a) BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 3. Dezember 2002 – 2 BvR 1845/00 –, NJW 2003, S. 2303 ff. – Gefahr im Verzug, unzureichende nachträgliche richterliche Kontrolle einer polizeilichen Durchsuchungsanordnung Im Rahmen eines Beschlusses vom 3. Dezember 200244 setzte sich die 3. Kammer des Zweiten Senats insbesondere näher mit den an die nachträgliche richterliche Kontrolle einer polizeilichen Durchsuchungsanordnung wegen Gefahr im Verzug zu stellenden Anforderungen auseinander. Für die
Zur Nachtzeit sowie an Sonntagen und allgemeinen Feiertagen darf eine Zustellung, sofern sie nicht durch Aufgabe zur Post bewirkt wird, nur mit richterlicher Erlaubnis erfolgen. Die Nachtzeit umfaßt in dem Zeitraum vom 1. April bis 30. September die Stunden von neun Uhr abends bis vier Uhr morgens und in dem Zeitraum vom 1. Oktober bis 31. März die Stunden von neun Uhr abends bis sechs Uhr morgens. 40 BVerfGE 103, 142 (156); 105, 239 (248). 41 BVerfGE 22, 311 (317); 105, 239 (248). 42 BVerfGE 22, 311 (317); 105, 239 (249). 43 BVerfGE 103, 142 (151 ff., 156); 105, 239 (249). 44 BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 3. Dezember 2002 – 2 BvR 1845/00 –, NJW 2003, S. 2303 ff.
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durch die Gerichte vorzunehmende uneingeschränkte nachträgliche gerichtliche Kontrolle des Merkmals „Gefahr im Verzug“ und damit für die Überprüfung der behördlichen Prognoseentscheidung gelte das Freibeweisverfahren.45 Soweit das zuständige Gericht seiner sich insofern ergebenden Aufklärungspflicht nicht nachkomme, begründe dies einen Verstoß gegen Art. 13 Abs. 1 und Abs. 2 i.V.m. Art. 19 Abs. 4 GG. Ausdrücklich offen ließ die 3. Kammer des Zweiten Senats die Frage, ob dann, wenn die Ermittlungsbehörden nicht durch eine zeitnah zu den Akten gebrachte Dokumentation der maßgeblichen Umstände und ihrer behördlichen Bewertung ausreichende Hinweise für die Überprüfung gäben, stets davon auszugehen sei, dass mangels einer ausreichenden Dokumentation das Vorliegen der Voraussetzungen für die Annahme von Gefahr im Verzug zu verneinen sei.46 b) BVerfGK 2, 176 – Gefahr im Verzug, Durchsuchungsanordnung Mit Beschluss vom 10. Dezember 200347 entschied die 3. Kammer des Zweiten Senats erneut über eine nichtrichterliche Durchsuchungsanordnung, welche diesmal zur Nachtzeit ergangen und auf die staatsanwaltschaftliche Eilkompetenz gestützt worden war. Die 3. Kammer des Zweiten Senats stellte dabei fest, dass das Fehlen eines richterlichen Bereitschaftsdienstes im konkreten Fall keinen verfassungsrechtlichen Bedenken begegne, und die Maßnahme auf eine zwar nicht mangelfreie48, aber ausreichend überprüfbare Dokumentation gestützt worden sei.49 Unter Rückgriff auf die beiden Leitentscheidungen des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts stellte die 3. Kammer des Zweiten Senats dabei erneut heraus, dass zur notwendigen gerichtlichen Kontrolle einer Eilanordnung der Ermittlungsbehörden eine hinreichende Dokumentation der Eingriffssituation notwendig sei 50, und 45 Vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 3. Dezember 2002 – 2 BvR 1845/00 –, NJW 2003, S. 2303 (2305) unter Bezugnahme auf BVerfGE 103, 21 (35 f.). In der Entscheidung vom 3. Dezember 2002 hatte die 3. Kammer des Zweiten Senats das Freibeweisverfahren bereits im Hinblick auf die erforderliche zureichende richterliche Sachaufklärung vor der Abfassung einer tragfähig begründeten Entscheidung über die Anordnung einer DNA-Analyse gemäß § 81g StPO als einschlägig erachtet. 46 BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 3. Dezember 2002 – 2 BvR 1845/00 –, NJW 2003, S. 2303 (2305). 47 BVerfGK 2, 176. 48 Vorliegend hatte nicht der anordnende zuständige Staatsanwalt, sondern der ermittelnde Polizeibeamte die Umstände des Eingriffs in der Akte vermerkt. Dieser zeitnahe polizeiliche Vermerk sei jedoch aufgrund der Evidenz des Falles zur Information des Gerichts ausreichend gewesen, da sowohl Tatverdacht, Zielrichtung der Durchsuchung, tatsächliche Anhaltspunkte des Durchsuchungsverdachts als auch die die Eilbedürftigkeit begründenden Tatsachen niedergelegt worden seien. 49 BVerfGK 2, 176 (177 f.). 50 BVerfGK 2, 176 (177).
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überdies zur Sicherung der Regelzuständigkeit des Richters gemäß Art. 13 Abs. 2, 1. Halbsatz GG die verfassungsrechtliche Verpflichtung zur Einrichtung eines Eil- oder Notdienstes bestehe, um die Erreichbarkeit eines Ermittlungsrichters zu sichern.51 Dies bedeute jedoch nicht, dass auch zur Nachtzeit im Sinne des § 104 Abs. 3 StPO, unabhängig vom konkreten Bedarf, stets ein richterlicher Eildienst zur Verfügung stehen müsse.52 Vielmehr sei ein – gleichwohl wünschenswerter – nächtlicher Bereitschaftsdienst des Ermittlungsrichters von Verfassungs wegen erst dann zu fordern, wenn hierfür ein praktischer Bedarf bestehe, der über den Ausnahmefall hinausgehe.53 Dies sei aber in dem zu entscheidenden Verfassungsbeschwerdeverfahren nicht der Fall gewesen, weil es nur ganz vereinzelt zu nächtlichen Durchsuchungsanordnungen komme, und das Fehlen eines richterlichen Nachtdienstes die Regelzuständigkeit des Art. 13 Abs. 2 GG nicht gefährde.54 Erneut erinnerte die 3. Kammer des Zweiten Senats jedoch daran, dass im Gegensatz hierzu die Regelzuständigkeit des Ermittlungsrichters bei Tage uneingeschränkt gewährleistet sein müsse, weshalb der Richtervorbehalt aus Art. 13 Abs. 2, 1. Halbsatz GG die Länder verpflichte, sowohl innerhalb als auch außerhalb der üblichen Dienstzeiten für die Erreichbarkeit des Ermittlungsrichters Sorge zu tragen und ihm die notwendigen Hilfsmittel für eine sachangemessene Wahrnehmung seiner richterlichen Aufgaben zur Verfügung zu stellen.55 Nicht befasst hat sich die Entscheidung mit der Frage, in welchem Verhältnis der grundgesetzlich verankerte Richtervorbehalt des Art. 13 Abs. 2, 1. Halbsatz GG und das einfachrechtlich verankerte grundsätzliche Verbot der Durchführung von Wohnungsdurchsuchungen zur Nachtzeit des § 104 Abs. 1 StPO zueinander stehen. Da Durchsuchungen der Wohnung, der Geschäftsräume und des befriedeten Besitztums gemäß § 104 Abs. 1 StPO zur Nachtzeit nur bei Verfolgung auf frischer Tat, bei Gefahr im Verzug oder zur Wiederergreifung eines entwichenen Gefangenen zulässig sind, dürfte sich – unter Heranziehung der bisherigen Auslegung des Begriffs Gefahr im Verzug – ein praktischer Bedarf im Sinne dieser Entscheidung für die Einrichtung eines nächtlichen richterlichen Bereitschaftsdienstes insofern nicht ergeben. c) BVerfGK 2, 310 – Gefahr im Verzug, Durchsuchungsanordnung Im Rahmens eines weiteren Beschlusses vom 12. Februar 200456 hatte sich die 3. Kammer des Zweiten Senats erneut mit den sich aus Art. 13 Abs. 1, 51 52 53 54 55 56
BVerfGK 2, 176 (178). BVerfGK 2, 176 (178). BVerfGK 2, 176 (178). BVerfGK 2, 176 (178). Vgl. BVerfGK 2, 176 (178) mit Verweis auf BVerfGE 105, 239 (248). BVerfGK 2, 310.
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Abs. 2 i.V.m. Art. 19 Abs. 4 GG ergebenden Begründungs- und Dokumentationspflichten57 der Strafverfolgungsbehörden im Zusammenhang mit der Anordnung von Durchsuchungen wegen Gefahr im Verzug aufgrund ihrer verfassungsrechtlich und einfachrechtlich vorgesehenen Eilkompetenz zu beschäftigen. Die 3. Kammer des Zweiten Senats stellte aufgrund des dem Beschluss zugrunde liegenden Einzelfalles noch einmal ausdrücklich klar, dass die aufgrund des Nichtbestehens von Ermessensspielräumen der Strafverfolgungsbehörden erforderliche umfassende nachträgliche gerichtliche Kontrolle des Vorliegens der Voraussetzungen von Gefahr im Verzug eine Dokumentation der bedeutsamen Erkenntnisse für die Annahme der Voraussetzungen von Gefahr im Verzug durch die handelnden Beamten voraussetze. Dieser Verpflichtung würden die Strafverfolgungsbehörden durch ein bloß formularmäßiges Ankreuzen der Rubrik „Gefahr im Verzug“ ohne weitere Begründung nicht gerecht.58 Erforderlich sei vielmehr eine im zeitlichen Zusammenhang mit der Maßnahme gefertigte und über allgemeine Formulierungen hinausgehende Dokumentation, aus welcher sich ergebe, ob und auf welche Weise sich der handelnde Beamte in besonderem Maße der Rechtmäßigkeit seines Handelns vergewissert habe.59 Ob dabei eine Dokumentation verfassungsrechtlich auch dann geboten sei, wenn die Gründe, die zur Annahme von Gefahr im Verzug führten, „auf der Hand lägen“60, ließ die 3. Kammer des Zweiten Senats offen, da eine etwaige „Evidenz“ der Gefahr im Verzug, jedenfalls im konkret zu entscheidenden Einzelfall, nicht habe angenommen werden können. d) BVerfGK 5, 74 – Gefahr im Verzug, Wohnungsdurchsuchung, Beschlagnahme eines Mobiltelefons Zeitpunkt und Umfang der durch die Strafverfolgungsbehörden vorzunehmenden Dokumentation und die Zuständigkeit für die Erstellung derselben beschäftigten die 3. Kammer des Zweiten Senats auch in ihrem Beschluss vom 4. Februar 200561. Im Rahmen dieses Beschlusses stellte das Bundesverfassungsgericht nochmals62 heraus, dass die Dokumentation nicht durch den handelnden Polizeibeamten, sondern möglichst durch den – vorrangig verantwortlichen – Staatsanwalt zu erfolgen habe. Dieser habe dabei in einem vor der Durchsuchung oder unverzüglich danach zu fertigenden Vermerk vollständig die Bezeichnung des Tatverdachts und der gesuchten Beweismit57
Vgl. insoweit bereits BVerfGE 103, 142 (157 ff.). BVerfGK 2, 310 (316). 59 BVerfGK 2, 310 (316). 60 Vgl. insoweit die Stellungnahme des 1. Strafsenats des Bundesgerichtshofs im Verfassungsbeschwerdeverfahren 2 BvR 1444/00, vgl. BVerfGE 103, 142 (148). 61 BVerfGK 5, 74. 62 Vgl. insoweit bereits BVerfGK 2, 176 (177). 58
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tel, die tatsächlichen Umstände, auf die die Gefahr des Beweismittelverlusts gestützt werde, sowie die Bemühungen, einen Ermittlungsrichter zu erreichen, zu dokumentieren.63 Im Rahmen des Beschlusses stellte die 3. Kammer des Zweiten Senats zudem fest, dass eine solche Darlegung in der Dokumentation dann entbehrlich sein könne, wenn bereits die Beschreibung der tatsächlichen Umstände den Tatverdacht, die Zielrichtung der Durchsuchung und deren Dringlichkeit als evident erscheinen ließen.64 Eine ausnahmsweise vollständige Entbehrlichkeit der Dokumentation wurde damit allerdings gerade nicht festgestellt. e) BVerfGK 7, 87 – Castor-Blockade I Eine weitere Bestätigung der grundsätzlichen Linie aus den beiden Senatsentscheidungen und der Entscheidung der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 10. Dezember 2003 zur Bedeutung des Richtervorbehalts nahm die 2. Kammer des Zweiten Senats in ihrem Beschluss vom 13. Dezember 200565 bezüglich der Castor-Blockade vom 13. November 2001 vor. Anders als im Jahr 200366 beanstandete das Bundesverfassungsgericht im konkreten Fall jedoch – in Anbetracht der im Zusammenhang mit Castor-Transporten von vornherein zu erwartenden Massendemonstrationen – die Nichteinrichtung eines nächtlichen richterlichen Bereitschaftsdienstes für diese Tage, trotz des ersichtlich gegebenen praktischen Bedarfs.67 Unter Berücksichtigung der Vorkommnisse anlässlich des Castor-Transports im März 2001 habe gerade im nahen zeitlichen Zusammenhang mit dem Transport mit Masseningewahrsamnahmen gerechnet werden müssen, die nicht sämtlich zur Tageszeit hätten bewältigt werden können. Aus diesem Grund habe der richterliche Bereitschaftsdienst nicht auf die Tageszeit beschränkt werden dürfen, sondern habe wegen der Möglichkeit von Masseningewahrsamnahmen und des damit verbundenen Zeitaufwandes auch die Nachtzeit umfassen müssen.68 63
BVerfGK 5, 74 (78). BVerfGK 5, 74 (79). 65 Vgl. BVerfGK 7, 87 (98, 102 f.) unter Bezugnahme auf BVerfGE 103, 142 (151 ff., 156); 105, 239 (248) und BVerfGK 2, 176 (178). 66 Siehe oben III.3.b) (BVerfGK 2, 176). 67 BVerfGK 7, 87 (102). 68 Bereits ein halbes Jahr später befasste sich die 2. Kammer des Zweiten Senats erneut mit der Castor-Blockade vom 13. November 2001 und hob mit Beschluss vom 12. Juni 2006 (2 BvR 1395/05, juris) wiederum die fachgerichtlichen Entscheidungen wegen Verstoßes gegen Art. 2 Abs. 2 i.V.m. Art. 104 Abs. 2 GG und Art. 19 Abs. 4 GG auf. Zum wiederholten Male sprach die 2. Kammer des Zweiten Senats, unter Verweis auf die vorangegangene Entscheidung vom 13. Dezember 2005, aus, dass ein richterlicher Bereitschaftsdienst zur Nachtzeit zwar nur bei einem praktischem Bedarf erforderlich sei, der über den vereinzelten Ausnahmefall hinausgehe, jedoch im konkreten Fall – wie bereits mit der vorangegangenen Entscheidung festgestellt – eine solche Regelung erforderlich gewesen sei. 64
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f) BVerfGK 7, 392 – Gefahr im Verzug, Wohnungsdurchsuchung Trotz der beiden grundlegenden Senatsentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts vom 20. Februar 200169 und 15. Mai 200270 und der in der Folge ergangenen zahlreichen Kammerentscheidungen71, die die Linien der Senatsrechtsprechung gefestigt, aber auch weiter verfeinert haben, fanden die Feststellungen des Bundesverfassungsgerichts in der Praxis nur zögerlich und mit erheblichem zeitlichen Abstand eine Umsetzung. Mit Beschluss vom 8. März 200672 stellte die 3. Kammer des Zweiten Senats daher erneut die Verletzung eines Beschwerdeführers in seinem Grundrecht aus Art. 13 Abs. 1, Abs. 2 i.V.m. Art. 19 Abs. 4 GG fest, nachdem im Bereich des Landgerichtsbezirks Bad Kreuznach jedenfalls im Jahr 2004 die uneingeschränkte Erreichbarkeit eines Ermittlungsrichters bei Tage (§ 104 Abs. 3 StPO) – auch außerhalb der üblichen Dienstzeiten73 – noch nicht sichergestellt war. In dem zu entscheidenden Fall hatte die zuständige Staatsanwaltschaft fernmündlich zu einem nicht mehr genau feststellbaren Zeitpunkt nach 18:00 Uhr eine Wohnungsdurchsuchung aufgrund ihrer Eilkompetenz angeordnet, ohne zuvor den Versuch unternommen zu haben, einen Ermittlungsrichter zu erreichen, da dieser – mangels Einrichtung eines durchgehenden richterlichen Bereitschaftsdienstes tagsüber auch außerhalb der üblichen Dienstzeiten – um diese Zeit konkret nicht zu erreichen gewesen sei. Die Maßnahme wurde daraufhin zwischen 19:30 Uhr und 20:30 Uhr vollzogen.74 g) BVerfGK 10, 270 – Blutentnahme, effektiver Rechtsschutz Eine weitere Konkretisierung seiner bisherigen Rechtsprechung zu den Dokumentations- und Begründungspflichten im Zusammenhang mit ermittlungsbehördlichen Eilanordnungen nahm die 1. Kammer des Zweiten Senats mit Beschluss vom 12. Februar 200775 im Zusammenhang mit einer durch die Staatsanwaltschaft vorgenommenen Anordnung einer Blutentnahme gemäß
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BVerfGE 103, 142. BVerfGE 105, 239. 71 Von den seit dem Urteil des Zweiten Senats vom 20. Februar 2001 (BVerfGE 103, 142) zahlreich ergangenen Kammerentscheidungen des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts zu Bedeutung und Reichweite des Richtervorbehalts und hiermit einhergehenden weiteren Problemen konnten und sollten im Rahmen des hiesigen Beitrags nur die wichtigsten Entscheidungen und damit die Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts dargestellt werden. 72 BVerfGK 7, 392. 73 So bereits BVerfGE 103, 142 (152, 156); BVerfGK 2, 176 (178); 5, 74 (78). 74 Eine nahezu identische Entscheidung traf die 3. Kammer des Zweiten Senats mit Beschluss vom 28. September 2006 (BVerfGK 9, 287) für den fehlenden richterlichen Bereitschaftsdienst gegen 18:00 Uhr in einer Großstadt wie München. 75 BVerfGK 10, 270. 70
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§ 81a StPO vor. Das Gericht stellte insofern fest, dass ein (nachträgliches) Rechtsschutzbedürfnis im Falle der Erledigung eines Eingriffs aufgrund des Gebotes effektiven Rechtsschutzes jedenfalls dann bestehe, wenn gegen das Handeln der Exekutive, welches einen schwerwiegenden Grundrechtseingriff darstelle, oder die naheliegende Willkür eines Hoheitsträgers vor Erledigung der Maßnahme kein gerichtlicher Rechtsschutz erlangt werden könne und das entsprechende Handeln auf der Inanspruchnahme einer originär gerichtlichen Eingriffsbefugnis beruhe.76 In diesen Fällen erstrecke sich das Gebot effektiven Rechtsschutzes auch auf Dokumentations- und Begründungspflichten der anordnenden Stelle, die eine umfassende und eigenständige nachträgliche gerichtliche Überprüfung der Anordnungskompetenzen ermöglichen sollten.77 Diese Maßstäbe fänden auch dann Anwendung, wenn die betroffene Maßnahme nicht – wie die Wohnungsdurchsuchung – einem verfassungsrechtlichen, sondern nur einem einfachrechtlichen Richtervorbehalt unterliege78. Sie seien allerdings nicht ohne weiteres auf Maßnahmen übertragbar, die noch vor ihrer Erledigung gerichtlich überprüft werden könnten, wie z.B. Beschlagnahmeanordnungen.79 Dabei ließ die 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts allerdings offen, ob es sich bei der Anordnung einer Blutentnahme gemäß § 81a StPO um einen schwerwiegenden Grundrechtseingriff handle, da die Inanspruchnahme der staatsanwaltschaftlichen Eilkompetenz im konkreten Einzelfall jedenfalls ein objektiv willkürliches Vorgehen nahegelegt habe.80
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BVerfGK 10, 270 (272). Vgl. BVerfGK 10, 270 (272 f.) unter Verweis auf BVerfGE 103, 142 (156 ff.); BVerfGK 2, 310 (315 f.); BVerfG, Beschlüsse der 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 22. Januar 2002 – 2 BvR 1473/01 –, juris, Rn. 13, und vom 3. Dezember 2002 – 2 BvR 1845/00 –, NJW 2003, S. 2303 (2304). 78 Vgl. BVerfGK 10, 270 (274) mit Verweis auf BVerfGK 5, 74 (81), dort bereits genauso im Hinblick auf die verfahrensgegenständliche Anordnung einer Auskunft über die Telekommunikation, die ebenfalls nur unter einem einfachrechtlichen Richtervorbehalt gemäß § 100b Abs. 1, § 100h Abs. 1 Satz 3, § 100i Abs. 4 Satz 1 StPO steht. 79 Vgl. BVerfGK 10, 270 (273); so bereits BVerfGK 1, 65 (66), wonach die zur Eilkompetenz bei der Durchsuchung aus Art. 13 Abs. 2 GG entwickelten Maßstäbe nicht ohne weiteres auf die Beschlagnahme zu übertragen seien, da die Beschlagnahme gerade noch vor ihrer Erledigung im Verfahren gemäß § 98 Abs. 2 Satz 1 StPO richterlich überprüft und etwaige anfängliche Mängel bei der behördlichen Beschlagnahmeanordnung geheilt werden könnten; so auch BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 26. Oktober 2004 – 2 BvR 1714/04 –, juris, Rn. 3. 80 BVerfGK 10, 270 (273). 77
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h) BVerfGK 14, 107 – Beweisverwertungsverbot nach Blutentnahme, Richtervorbehalt Diese Feststellungen präzisierte die 2. Kammer des Zweiten Senats in ihrem Beschluss vom 28. Juli 200881. Ein Verstoß gegen Art. 19 Abs. 4 GG liege – sowohl bei verfassungsrechtlich als auch einfachrechtlich geregeltem Richtervorbehalt – vor, wenn das auf einer originär gerichtlichen Eingriffsbefugnis beruhende Handeln der Exekutive aufgrund einer mangelnden Dokumentation der anordnenden Stelle nachträglich gerichtlich nicht mehr überprüfbar sei, oder wenn das zu einer umfassenden, eigenverantwortlichen nachträglichen Prüfung berufene Gericht den gerichtlichen Rechtsschutz „leerlaufen“ lasse, indem es dem Betroffenen eine eigene Sachprüfung versage.82 In dem zu entscheidenden Fall verneinte die 2. Kammer des Zweiten Senats jedoch einen Verstoß gegen Art. 19 Abs. 4 GG trotz einer fehlenden Dokumentation der Gründe, die für die Annahme von Gefahr im Verzug durch die Polizei im Hinblick auf die vorgenommene Anordnung einer Blutentnahme gemäß § 81a StPO maßgeblich gewesen waren. Die Kammer stellte fest, dass sich die bisherige Rechtsprechung zu den Dokumentations- und Begründungspflichten der Ermittlungsbehörden nicht auf den Fall übertragen lasse, in dem durch die Gerichte die Rechtmäßigkeit der Ermittlungsmaßnahme nicht umfassend, sondern nur insofern zu überprüfen sei, als dies für die Entscheidung über das Vorliegen eines Beweisverwertungsverbotes von Bedeutung sei.83 Soweit die strafgerichtliche Rechtsprechung davon ausgehe, dass die fehlende Dokumentation alleine nicht zu einem Verwertungsverbot führe, sei dies verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.84 Darüber hinaus stellte die 2. Kammer des Zweiten Senats fest, dass der in § 81a StPO enthaltene einfachrechtliche Richtervorbehalt nicht zum rechtsstaatlichen Mindeststandard zu zählen sein dürfte, da das Grundgesetz ausdrückliche Richtervorbehalte zwar für Wohnungsdurchsuchungen (Art. 13 Abs. 2 GG) und Freiheitsentziehungen (Art. 104 Abs. 2 Satz 1 GG) enthalte, nicht jedoch für Eingriffe in die körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 und 3 GG).85 i) BVerfGK 17, 340 – Blutentnahme, Richtervorbehalt Die Bedeutung des Richtervorbehalts im Zusammenhang mit strafprozessualen Ermittlungsmaßnahmen betonte das Bundesverfassungsgericht erneut 81 82 83 84 85
BVerfGK 14, 107. BVerfGK 14, 107 (110). BVerfGK 15, 107 (110 f.). BVerfGK 14, 107 (112). BVerfGK 14, 107 (113).
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im Rahmen eines Beschlusses der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 11. Juni 201086. In dieser Entscheidung stellte das Bundesverfassungsgericht fest, dass ein Verstoß gegen Art. 19 Abs. 4 GG auch dann gegeben sei, wenn das Bestehen einer polizeilichen Eilkompetenz im Hinblick auf die Anordnung einer Blutentnahme gemäß § 81a StPO im Rahmen der nachträglichen gerichtlichen Überprüfung mit einer Begründung angenommen werde, die den einfachrechtlichen Richtervorbehalt des § 81a Abs. 2 StPO im Regelfall „leerlaufen“ lasse. Dies sei der Fall, wenn – wie im zu entscheidenden Fall – davon ausgegangen werde, dass richterliche Eilentscheidungen generell nur nach Vorlage schriftlicher Unterlagen getroffen werden könnten und dass dies wegen des zur Prüfung des Sachverhalts sowie zur Erstellung des Beschlusses notwendigen Zeitraums zwangsläufig mit der Gefährdung des Untersuchungszwecks einherginge. Eine solche Annahme führe dazu, dass Entscheidungen des Ermittlungs- oder Eilrichters zur Blutentnahme – etwa bei Verdacht auf Trunkenheit im Verkehr – in der überwiegenden Zahl der Fälle nicht mehr eingeholt werden würden, so dass der Richtervorbehalt des § 81a Abs. 2 StPO bedeutungslos würde. Die Gefährdung des Untersuchungserfolges durch die Einholung einer richterlichen Anordnung sei daher in jedem Einzelfall konkret zu überprüfen.87 j) BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 24. Februar 2011 – 2 BvR 1596/10 u.a. –, EuGRZ 2011, S. 183 ff. – Blutentnahme ohne richterliche Anordnung, Richtervorbehalt, Blutentnahme Auf die im Rahmen des Beschlusses der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 28. Juli 2008 angestellten Erwägungen zu dem in § 81a Abs. 2 StPO einfachrechtlich geregelten Richtervorbehalt unter dem Aspekt des rechtsstaatlichen Mindeststandards bezog sich schließlich die 1. Kammer des Zweiten Senats in ihrer derzeit letzten Entscheidung zur Thematik des Erfordernisses eines nächtlichen richterlichen Bereitschaftsdienstes vom 24. Februar 201188. Die Kammer bekräftigte, dass die Entscheidungen zur Notwendigkeit eines richterlichen Bereitschaftsdienstes zur Nachtzeit, welche zu den verfassungsrechtlich verankerten Richtervorbehalten ergangen seien, nicht schematisch auf den einfachrechtlichen Richtervorbehalt des § 81a StPO übertragen werden könnten, weil dieser gerade nicht als rechtsstaatlicher Mindeststandard geboten sei.89 Über die Entscheidung aus dem Jahr 2008 hinausgehend führte
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BVerfGK 17, 340. BVerfGK 17, 340 (346 f.). 88 BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 24. Februar 2011 – 2 BvR 1596/10 u.a. –, EuGRZ 2011, S. 183 ff. 89 BVerfG, a.a.O., S. 185. 87
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die 1. Kammer des Zweiten Senats zudem aus, dass sich auch aus der hohen Bedeutung des Grundrechts auf körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG keine verfassungsrechtliche Notwendigkeit dafür ergebe, dass die – zwingend von einem Arzt durchzuführende – Blutentnahme nur durch einen Richter angeordnet werden dürfe.90 Eine Blutentnahme zum Zwecke der Aufklärung des Sachverhalts taste das Grundrecht nicht in seinem Wesensgehalt an91 und stelle auch keinen so schwerwiegenden Eingriff dar, dass aus dem Gesichtspunkt der Eingriffstiefe heraus ein Richtervorbehalt von Verfassungs wegen zu verlangen sei.92 Der Richtervorbehalt des § 81a Abs. 2 StPO beruhe auf einer Entscheidung des Gesetzgebers und nicht auf zwingenden verfassungsrechtlichen Vorgaben.93 In dieser Entscheidung mahnte das Bundesverfassungsgericht jedoch auch an, dass die einfachrechtliche Entscheidung des Gesetzgebers dennoch verfassungsrechtliche Bedeutung erlangen könne, weil insoweit immer zu prüfen sei, ob die maßgeblichen strafrechtlichen Vorschriften unter Beachtung des Fairnessgrundsatzes und in objektiv vertretbarer Weise, also ohne Verstoß gegen das allgemeine Willkürverbot (Art. 3 Abs. 1 GG), ausgelegt und angewandt worden seien.94
IV. Ausblick Trotz der bereits zahlreich ergangenen und auszugsweise dargestellten Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zu Bedeutung und Reichweite des Richtervorbehalts bei strafprozessualen Ermittlungsmaßnahmen sind weiterhin einige Fragen in der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung ungeklärt. Sämtliche dieser Fragen, die anhand immer wieder aktueller Fälle und Entscheidungen in Rechtsprechung und Literatur kontrovers diskutiert werden, können hier nicht aufgezeigt werden. Dennoch soll ein kurzer Überblick über den Meinungsstand zu zwei dieser Fragen und mögliche Lösungen hierzu den Abschluss dieses Beitrags bilden. 1. Das Erfordernis eines nächtlichen richterlichen Bereitschaftsdienstes Insbesondere in der Praxis stellt sich immer wieder die Frage nach dem Erfordernis eines nächtlichen richterlichen Bereitschaftsdienstes. Während bei der Staatsanwaltschaft ein 24-stündiger Bereitschaftsdienst die Regel ist, existiert ein richterlicher Bereitschaftsdienst mittlerweile (wohl zumindest 90 91 92 93 94
BVerfG, a.a.O., S. 185. BVerfG, a.a.O., S. 185; BVerfGE 5, 13 (15). BVerfG, a.a.O., S. 185. BVerfG, a.a.O., S. 185. BVerfG, a.a.O., S. 185; BVerfGE 18, 85 (92 f.); BVerfGK 14, 107 (113).
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überwiegend) tagsüber zwar auch außerhalb der üblichen Dienstzeiten, allerdings nicht durchgängig 24 Stunden am Tag.95 Der richterliche Bereitschaftsdienst endet vielmehr in den meisten Bundesländern und dortigen Landgerichtsbezirken um 21:00 Uhr. Befürworter eines 24-stündigen richterlichen Bereitschaftsdienstes und damit auch eines regelmäßigen nächtlichen richterlichen Bereitschaftsdienstes, die sicherlich überwiegend in den Reihen der Staatsanwaltschaft oder Polizei zu suchen sind, werden mit Argumenten wie „Treten die Beschuldigtenrechte um 21:00 Uhr außer Kraft?“ oder „Wieso haben Richter andere Rechte als Staatsanwälte?“ gehört. Während es wohl nicht um die Rechte von Richtern oder Staatsanwälten – insbesondere auf Nachtruhe – gehen dürfte96, erscheint das Argument, welches auf die Beschuldigtenrechte im strafprozessualen Ermittlungsverfahren abstellt, nicht ohne weiteres von der Hand zu weisen. Dennoch ist die Frage, ob auch ein nächtlicher richterlicher Bereitschaftsdienst wünschenswert wäre97, von der Frage nach einer verfassungsrechtlichen Notwendigkeit desselben zu unterscheiden. Aus den bisherigen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts98 kann gefolgert werden, dass ein nächtlicher richterlicher Bereitschaftsdienst von Verfassungs wegen nicht uneingeschränkt und in jedem Falle, selbst bei den im Grundgesetz verankerten Richtervorbehalten (Art. 13 Abs. 2, Abs. 3, Abs. 4, Art. 104 Abs. 2 GG), gefordert wird.99 Die Entscheidungen der ein95 Vgl. BGH, Beschluß vom 25. April 2007 – 1 StR 135/07 –, NStZ-RR 2007, S. 242 mit Verweis auf BVerfGK 9, 287 zu einem solchen Fall der Nichterreichbarkeit eines Ermittlungsrichters in einer Stadt in der Größe Augsburgs um die Mittagszeit des 1. Weihnachtsfeiertages. 96 So sehr eindringlich Beichel/Kieninger, NStZ 2003, S. 10 (13, Fn. 44), die den Vergleich mit einem Bereitschaftsarzt anstellen, der die Behandlung eines eingelieferten Patienten dem Rettungsassistenten überlässt, weil er selbst lieber schlafen möchte. 97 So bereits BVerfGK 2, 176 (178). 98 BVerfGK 2, 176; 7, 87; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 12. Juni 2006 – 2 BvR 1395/05 –, juris. 99 So auch Bittmann, wistra 2001, S. 451 (453); Jahn, NStZ 2007, S. 255 (260); Trück, JZ 2010, S. 1106 (1116); Spaniol, Grundrechtsschutz im Ermittlungsverfahren durch qualifizierten Richtervorbehalt und wirksame gerichtliche Kontrolle, in: Arnold u.a. (Hrsg.), Menschengerechtes Strafrecht, FS Eser, 2005, S. 473 (480), wobei letztere die Notwendigkeit lediglich deshalb als „relativiert“ ansieht, weil sie in zu enger Auslegung der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung davon ausgeht, dass der in der Nacht mit einer Durchsuchungsanordnung befasste Ermittlungsrichter keine diesen Vorgaben genügende Durchsuchungsanordnung erlassen könne. Anders beurteilen dies wohl Einmahl, NJW 2001, S. 1393 (1394); Krehl, wistra 2002, S. 294 (296); Beichel/Kieninger, NStZ 2003, S. 10 (12), wobei insoweit zu bedenken ist, dass diese Auffassungen bereits aus einer Zeit vor den relevanten Kammerentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts stammen. Ebenso aber auch – unter einschränkender Auslegung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts – die neuere Ansicht von Fickenscher/Dingelstadt, NStZ 2009, S. 124 (128); dies., NJW 2009, S. 3473, welche in Anlehnung an die Kammerrechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bei gemeinsamer Betrachtung aller richterlichen Anordnungskompetenzen
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zelnen Kammern des Bundesverfassungsgerichts, die im Einzelfall die Einrichtung eines nächtlichen richterlichen Bereitschaftsdienstes forderten, bezogen sich vielmehr stets auf Ausnahmekonstellationen. a) Einfachrechtlich verankerter Richtervorbehalt und nächtlicher richterlicher Bereitschaftsdienst Die aufgezeigten Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, insbesondere die Kammerentscheidungen des Zweiten Senats100, zeigen, dass das Bundesverfassungsgericht die Einrichtung eines ständigen nächtlichen richterlichen Bereitschaftsdienstes jedenfalls im Hinblick auf die lediglich einfachrechtlich verankerten Richtervorbehalte, die gerade nicht zur Sicherung eines rechtsstaatlichen Mindeststandards erforderlich und deshalb auch nicht verfassungsrechtlich geboten seien, in den Grenzen einer willkürlichen Umgehung des Vorbehalts101, nicht für erforderlich erachtet. Die entsprechenden Richtervorbehalte beruhten allein auf einer entsprechenden Entscheidung des parlamentarischen Gesetzgebers.102 (z.B. Durchsuchungen, Blutentnahmen, Ingewahrsamnahmen, Unterbringungen und Abschiebemaßnahmen gegen Ausländer sowie Sicherheitsleistung bei Verkehrsverstößen durch ausländische Kraftfahrer) den Bedarf für die Einrichtung eines solchen Bereitschaftsdienstes immer dann annehmen wollen, wenn das Gegenteil nicht mit konkreten Zahlen belegt sei. 100 BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 24. Februar 2011 – 2 BvR 1596/10 u.a. –, EuGRZ 2011, S. 183 ff.; so bereits in Grundzügen BVerfGK 14, 107; zustimmend Brocke/Herb, NStZ 2009, S. 671 (677); ablehnend im Ergebnis Dallmeyer, StV 2010, S. 625 (626 f.), weil die Entscheidungen verkennen würden, dass das Gesetz beim Richtervorbehalt nicht zwischen Tages- und Nachtzeit differenziere. 101 BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 24. Februar 2011 – 2 BvR 1596/10 u.a. –, EuGRZ 2011, S. 183 (185). In der Folge wurden bei willkürlichen Verstößen gegen den – auch einfachrechtlichen – Richtervorbehalt in der fachgerichtlichen Rechtsprechung Beweisverwertungsverbote angenommen; vgl. zu den Voraussetzungen hierfür z.B. OLG Hamm, Beschluss vom 12. März 2009 – 3 Ss 31/09 –, juris, Rn. 19 ff.; KG, Beschluss vom 29. Dezember 2008 – 3 Ws (B) 467/08 –, NStZ-RR 2009, S. 243; BGH, Urteil vom 18. April 2007 – 5 StR 546/06 –, NJW 2007, S. 2269 ff.; BGH, Beschluss vom 30. August 2011 – 3 StR 210/11 –, NStZ 2012, S. 104 (105); offenlassend, ob bereits Organisationsmängel bei Nichteinrichtung eines nächtlichen Bereitschaftsdienstes trotz konkreten Bedarfs zu Beweisverwertungsverboten führen, BGH, Beschluss vom 19. Januar 2010 – 3 StR 530/09 –, juris; bereits aus diesem Grund ein Beweisverwertungsverbot annehmend OLG Hamm, Beschluss vom 12. März 2009 – 3 Ss 31/09 –, juris, Rn. 12 (allerdings nicht tragend); OLG Hamm, Urteil vom 18. August 2009 – 3 Ss 293/08 –, NJW 2009, S. 3109 ff.; ablehnend OLG Hamm, Beschluss vom 10. September 2009 – 4 Ss 316/09 –, juris, Rn. 6 (allerdings ebenfalls obiter dictum); OLG Köln, Beschluss vom 15. Januar 2010 – 83 Ss 100/09 –, juris, Rn. 15 ff.; LG Düsseldorf, Urteil vom 10. Februar 2011 – 29 Ns 19/11 –, juris, Rn. 27 ff. 102 Vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 24. Februar 2011 – 2 BvR 1596/10 u.a. –, EuGRZ 2011, S. 183 (185); vgl. auch Brocke/Herb, NStZ 2009, S. 671 (677), Lüdinghausen, ZRP 2009, S. 71 (73 f.); Meier, ZRP 2010, S. 223 (226), die für eine Abschaffung des Richtervorbehalts in § 81a Abs. 2 StPO eintreten.
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b) Verfassungsrechtlich verankerter Richtervorbehalt und nächtlicher richterlicher Bereitschaftsdienst Aber auch eine Abkehr von der bisherigen Rechtsprechung im Hinblick auf die verfassungsrechtlich verankerten Richtervorbehalte (Art. 13 Abs. 2, Abs. 3, Abs. 4, Art. 104 Abs. 2 GG) erscheint zumindest fraglich. Im Hinblick auf die Anordnung von Durchsuchungen, für die Art. 13 Abs. 2, 1. Halbsatz GG einen Richtervorbehalt vorsieht, erscheint die ständige Einrichtung eines richterlichen Bereitschaftsdienstes jedenfalls mit Blick auf die Regelung des § 104 StPO nicht (zwingend) erforderlich. Gemäß § 104 Abs. 1 StPO dürfen zur Nachtzeit die Wohnung, die Geschäftsräume und das befriedete Besitztum nur bei Verfolgung auf frischer Tat oder bei Gefahr im Verzug oder dann durchsucht werden, wenn es sich um die Wiederergreifung eines entwichenen Gefangenen handelt. In diesen Fällen bestünde allerdings – auch unter Beachtung der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Verhältnis der regelmäßig bestehenden richterlichen Kompetenz zur Anordnung von Durchsuchungen und der lediglich nachrangigen ausnahmsweisen Kompetenz der Ermittlungsbehörden – gerade keine Verpflichtung der Ermittlungsbehörden, jedenfalls den Versuch einer Kontaktaufnahme mit einem gegebenenfalls erreichbaren Ermittlungsrichter zu unternehmen, da in diesen Fallgestaltungen aufgrund der jeweils bereits tatbestandlich geforderten Eilsituation ein Beweismittelverlust drohen würde.103 103 Dies übersehen offenbar Beichel/Kieninger, NStZ 2003, S. 10 (12), die hinsichtlich der sich aus § 104 StPO ergebenden Begrenzung der Durchsuchungskompetenz zur Nachtzeit keine Ausführungen machen; dagegen erkennt Pätzel, DuD 26 (2002), S. 752 (754) das grundsätzliche Problem des § 104 StPO, geht jedoch davon aus, dass es auch zur Nachtzeit Durchsuchungen geben könne, die nicht ausschließlich auf die Eilkompetenz der Staatsanwaltschaft gestützt werden könnten. So nimmt er in einem von ihm gebildeten Beispiel (Kenntnis von einer in zwei Tagen stattfindenden größeren nächtlichen Drogenlieferung) an, dass die Anordnung einer Durchsuchung bereits deshalb nicht auf die Eilkompetenz gestützt werden könne, weil bereits zum Zeitpunkt der Kenntniserlangung durch die Staatsanwaltschaft (bei ausreichender Verdichtung der tatsächlichen Umstände) eine richterliche Anordnung für diesen in der Zukunft liegenden Zeitpunkt hätte beantragt werden können und müssen. Dem ist zuzustimmen. Beantragt die Staatsanwaltschaft die Durchsuchung nicht beim Richter, sondern wartet ab, bis die Lieferung tatsächlich eingetroffen ist, um dann die Anordnung auf die Eilkompetenz zu stützen, liegt ein Fall der vom Bundesverfassungsgericht angesprochenen unzulässigen Herbeiführung der „Gefahr im Verzug“ durch die Ermittlungsbehörden vor. Anders wird man gegebenenfalls einen Fall beurteilen müssen, in dem zwar die Kenntnis der Staatsanwaltschaft von einem zukünftig strafbaren Verhalten – welches noch nicht das Versuchsstadium erreicht hat und auch kein in den Anwendungsbereich des § 30 StGB fallendes Verbrechen darstellt – bereits besteht, jedoch aus den benannten rechtlichen Gründen die unmittelbare Beantragung einer richterlichen Durchsuchungsanordnung nicht möglich ist. Ob in diesem Fall von einer (bewussten) Umgehung des Richtervorbehalts durch eine unzulässige Herbeiführung von „Gefahr im Verzug“ auszugehen ist und ob diese einzelne Fallkonstellation geeignet erscheint, die Not-
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Eine Verpflichtung zur Kontaktierung eines Bereitschaftsrichters bestünde daher allenfalls in den Fällen des § 104 Abs. 2 StPO, das heißt bei vereinzelten nächtlichen Hausdurchsuchungen, mit Blick auf Art. 13 Abs. 2 GG oder bei Freiheitsentziehungen mit Blick auf den verfassungsrechtlichen Richtervorbehalt des Art. 104 Abs. 2 GG. Ob das Bundesverfassungsgericht unter Berücksichtigung dessen – wie in der Literatur bereits an verschiedenen Stellen gefordert104 – die Einrichtung eines ständigen richterlichen Bereitschaftsdienstes, der auch regelmäßig die Nachtzeit umfasst, für verfassungsrechtlich erforderlich und geboten erachten oder an der bisherigen Linie festhalten wird, wonach die Einrichtung eines solchen Bereitschaftsdienstes zwar wünschenswert, aber von Verfassungs wegen erst dann zu fordern ist, wenn hierfür ein konkreter praktischer Bedarf besteht, der über den Ausnahmefall hinausgeht105, wie etwa bei angekündigten Großdemonstrationen oder Castor-Transporten, bleibt abzuwarten. Da sich in der bisherigen verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung zudem – abgesehen von den Fällen der Castor-Blockade – weder Fallgruppen abzeichnen noch konkrete Vorgaben dazu gemacht wurden, ab wann ein konkreter „praktischer Bedarf“ für die Einrichtung eines nächtlichen richterlichen Bereitschaftsdienstes im Sinne der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts angenommen werden muss, bleibt abzuwarten, wie dieser Begriff zukünftig ausgefüllt werden wird.106 wendigkeit eines generellen nächtlichen richterlichen Bereitschaftsdienstes zu begründen, erscheint fraglich. Jedoch wird in diesem Fall (wohl) von einem konkreten praktischen Bedarf für die Einrichtung eines nächtlichen richterlichen Bereitschaftsdienstes im Einzelfall auszugehen sein. 104 Vgl. in neuerer Zeit Fickenscher/Dingelstadt, NStZ 2009, S. 124 (128); dies., NJW 2009, S. 3473. 105 Vgl. BVerfGK 2, 176 (178); zustimmend Jahn, NStZ 2007, S. 255 (260); Gusy, NStZ 2010, S. 353 (356); Trück, JZ 2010, S. 1106 (1116). 106 Die bislang als uneinheitlich zu bezeichnende fachgerichtliche Rechtsprechung geht teilweise davon aus, dass zur Ermittlung eines „praktischen Bedarfs“ im Sinne einer generellen Notwendigkeit für die Einrichtung eines nächtlichen richterlichen Bereitschaftsdienstes nicht auf die konkrete „Maßnahmeart“ (Durchsuchung, Blutentnahme oder Freiheitsentziehung) abgestellt werden könne, sondern insoweit alle – sowohl einfachrechtlich als auch verfassungsrechtlich mit einem Richtervorbehalt versehenen – Maßnahmen zusammen beurteilt werden müssten, vgl. insoweit etwa OLG Hamm, Urteil vom 18. August 2009 – 3 Ss 293/08 –, NJW 2009, S. 3109, welches sogar ein Beweisverwertungsverbot als Folge des Verstoßes annimmt (mit ablehnender Anmerkung von Rabe von Kühlewein, NStZ 2010, S. 167 ff.; differenzierend Trück, JZ 2010, S. 1106 (1116); zustimmend dagegen Brüning, ZJS 2010, S. 129; a.A. OLG Hamm, Beschluss vom 10. September 2009 – 4 Ss 316/09 –, juris; LG Düsseldorf, Urteil vom 10. Februar 2011 – 29 Ns 19/11 –, juris, Rn. 27, das auf einen konkreten sich im Vorhinein abzeichnenden Bedarf abstellt; ohne Festlegung, welche Maßnahmen einen praktischen Bedarf begründen, LG Limburg, Beschluss vom 4. August 2009 – 2 Qs 30/09 –, NStZ-RR 2009, S. 384 (385). Eine klärende Entscheidung des Bundesgerichtshofs mit allgemeinen Vorgaben zur Frage der Notwendigkeit der Einrichtung eines richterlichen Bereitschaftsdienstes für die
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2. Fortbestehen bzw. „Wiederaufleben“ der Eilkompetenz der Ermittlungsbehörden bei „unwilligem“ oder „umfassend prüfendem“ Ermittlungs- bzw. Eilrichter Eine weitere in der Literatur umfassend diskutierte107 Frage ist die nach dem Verhältnis zwischen Richtervorbehalt und Eilkompetenz der Ermittlungsbehörden in den Fällen, in denen der Ermittlungs- oder Eilrichter entweder aus offensichtlich sachfremden Erwägungen heraus schriftliche Unterlagen oder eine komplette Ermittlungsakte an- oder nachfordert, oder um die Durchführung offensichtlich nicht erforderlicher (Nach-)Ermittlungen ersucht. Teilweise wird in diesen Fällen, die weitläufig unter dem Begriff des „unwilligen Ermittlungsrichters“ diskutiert werden, angenommen, eine Eilkompetenz der Ermittlungsbehörden bestehe fort oder lebe wieder auf 108, teils wird eine solche abgelehnt109. Der Bundesgerichtshof hat zwischenzeitlich das Vorliegen der Voraussetzungen für eine rechtmäßige Inanspruchnahme der Eilkompetenz der Staatsanwaltschaft und ihrer Ermittlungspersonen jedenfalls zur Anordnung einer Durchsuchung bejaht, wenn der Ermittlungsrichter meint, ohne Aktenkenntnis nicht, auch nicht mündlich, entscheiden zu können, und der Verlust des Beweismittels zeitnah droht.110 a) Befürworter eines Fortbestehens bzw. „Wiederauflebens“ einer ermittlungsbehördlichen Eilkompetenz Diejenigen Stimmen, die ein Fortbestehen oder „Wiederaufleben“ der Eilkompetenz der Ermittlungsbehörden bejahen, bringen vor, die Weigerung des Ermittlungs- oder Eilrichters, auch bei einfach gelagerten Sachverhalten ohne Akten oder Schreibkraft zu entscheiden, sei nicht nur pflicht-, sondern auch verfassungswidrig, da sie mit den sich aus Art. 13 Abs. 2, 1. Halbsatz GG ergebenden verfassungsrechtlichen Pflichten des Richters unvereinbar Zeit zwischen 21:00 Uhr und 06:00 Uhr und deren Folgen für die Beweisverwertung existiert bislang nicht. In seinem Beschluss vom 19. Januar 2010 – 3 StR 530/09 –, juris, konnte der Bundesgerichtshof diese Frage unbeantwortet lassen. 107 Vgl. etwa Hofmann, NStZ 2003, S. 230 ff.; ders., NStZ 2010, S. 415 f.; Schulz, NStZ 2003, S. 635 f.; Krehl, NStZ 2003, S. 461 (463); Beichel/Kieninger, NStZ 2003, S. 10 (11 f.); Brocke/Herb, StraFo 2009, S. 46 (50); dies., NStZ 2009, S. 671 (674). 108 Vgl. Hofmann, NStZ 2003, S. 230 (231 f.); ders., NStZ 2010, S. 415 (416); Schulz, NStZ 2003, S. 635 (635 f.); Brocke/Herb, StraFo 2009, S. 46 (50); dies., NStZ 2009, S. 671 (674); Meyer-Goßner, StPO, 56. Aufl. 2013, § 105 Rn. 2; Greven, in: Karlsruher Kommentar zur StPO, 7. Aufl. 2013, § 98 Rn. 13. 109 Vgl. Beichel/Kieninger, NStZ 2003, S. 10 (13); Jahn, NStZ 2007, S. 255 (260); Mosbacher, JuS 2009, S. 124 (125); ders., JuS 2010, S. 127 (131); Spaniol, Grundrechtsschutz im Ermittlungsverfahren durch qualifizierten Richtervorbehalt und wirksame gerichtliche Kontrolle, in: Arnold u.a. (Hrsg.), Menschengerechtes Strafrecht, FS Eser, 2005, S. 473 (487). 110 Vgl. BGH, Beschluss vom 11. August 2005 – 5 StR 200/05 –, NStZ 2006, S. 114 (115).
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sei111 und in Wahrheit vielfach nur der „Verschleierung außerhalb des Strafverfahrens liegender Prioritäten“112 diene. Das „Recht, in Ruhe gelassen zu werden“ habe jedoch nur der Wohnungsinhaber, nicht hingegen der Ermittlungs- oder Eilrichter.113 Dessen verfassungsrechtliche Pflichten erforderten es, dass er während des Dienstes, aber auch während des Bereitschaftsdienstes, nicht nur erreichbar sei, sondern auch, dass er über einen Antrag der Staatsanwaltschaft innerhalb angemessener Zeit entscheide.114 Eine Sperrwirkung durch die bloße Kontaktierung des Richters könne in diesem Fall bereits deshalb nicht angenommen werden, da nach der Kompetenzregelung des Art. 13 Abs. 2 GG allein maßgeblich sei, ob eine richterliche Entscheidung nicht mehr innerhalb einer Zeit erwirkt werden könne, in welcher der Untersuchungszweck nicht gefährdet sei. Auf die Gründe, weshalb eine richterliche Entscheidung nicht mehr rechtzeitig erlangt werden könne, komme es hingegen nicht an.115 Etwas anderes gelte schließlich auch dann nicht, wenn der Ermittlungsrichter gar nicht erst erreicht werde, obwohl er auch in diesem Fall gegen die sich aus Art. 13 Abs. 2, 1. Halbsatz GG ergebenden Verpflichtungen verstoße.116 Es fehle in den Fällen, in denen der Ermittlungsrichter eine Entscheidung (mutwillig) verweigere, an einer eigenverantwortlichen richterlichen Prüfung, so dass die Eilkompetenz der Staatsanwaltschaft und ihrer Ermittlungspersonen bestehen bleibe, jedenfalls aber wiederauflebe.117 Der Richter habe bis zu diesem Zeitpunkt nur (vorgelagert) die Umstände geprüft, die sein Eintreten in die Sachprüfung erst ermöglichten118. Eine „Zuständigkeitsverweigerung“ sei nicht mit einer inhaltlichen Entscheidung gleichzusetzen.119 111
Vgl. Schulz, NStZ 2003, S. 635 (635). Hoffmann, NStZ 2003, S. 230 (231). 113 Vgl. Hofmann, NStZ 2003, S. 230 (231). 114 Vgl. Schulz, NStZ 2003, S. 635 (635); aus diesem Grund wird eine Eilkompetenz auch vielfach für den Fall der „Überschreitung der Prüffrist“ durch den mit der Sache befassten Ermittlungs- oder Eilrichter angenommen, d.h. für den Fall, in dem der erreichte Richter den durch die Staatsanwaltschaft gestellten Antrag zwar prüft, die Entscheidungsfindung allerdings einen derart langen Zeitraum in Anspruch nimmt, dass erst bedingt durch diese richterliche Prüfung die Gefahr eines Beweismittelverlusts eintritt, sowie für den Fall der berechtigten Nachforderung von Unterlagen, deren Erstellung allerdings aufgrund der damit verbundenen zeitlichen Verzögerung ebenfalls die Gefahr eines Beweismittelverlusts mit sich bringen würde, vgl. insofern Schulz, NStZ 2003, S. 635 (636); Krehl, NStZ 2003, S. 461 (462); ders., JR 2001, S. 491 (493); ders., wistra 2002, S. 294 (296); Trück, JZ 2010, S. 1106 (1115); Greven, in: Karlsruher Kommentar zur StPO, 7. Aufl. 2013, § 98 Rn. 13. 115 Vgl. Hofmann, NStZ 2003, S. 230 (232). 116 Vgl. Schulz, NStZ 2003, S. 635 (636); so auch im Ergebnis Hofmann, NStZ 2003, S. 230 (232). 117 Vgl. Greven, in: Karlsruher Kommentar zu StPO, 7. Aufl. 2013, § 98 Rn. 13; Brocke/ Herb, StraFo 2009, S. 46 (50) – zu § 81a Abs. 2 StPO. 118 Vgl. Brocke/Herb, NStZ 2009, S. 671 (674) – zu § 81a Abs. 2 StPO. 119 Vgl. Brocke/Herb, NStZ 2009, S. 671 (674) – zu § 81a Abs. 2 StPO. 112
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b) Gegner eines Fortbestehens bzw. „Wiederauflebens“ einer ermittlungsbehördlichen Eilkompetenz Diejenigen, die eine Eilkompetenz der Ermittlungsbehörden ablehnen, auch wenn der Ermittlungs- oder Eilrichter eine Entscheidung über den Antrag (mutwillig) verweigert, argumentieren dahingehend, dass für eine vom „unwilligen“ Richter aufgedrängte „gewillkürte Zuständigkeit“120 der Staatsanwaltschaft und ihrer Ermittlungspersonen ab dem Zeitpunkt der Befassung des Richters kein Raum mehr sei.121 Es dürfe weder in der Hand der Staatsanwaltschaft und ihrer Ermittlungspersonen noch in der des Richters liegen, die strikte Kompetenzverteilung des Grundgesetzes (Art. 13 Abs. 2 GG) und des einfachen Rechts (§ 105 Abs. 1 StPO) in eine gewillkürte zu verwandeln,122 zumal in der Mehrzahl der Fälle auch der Staatsanwaltschaft und ihren Ermittlungspersonen nicht mehr Informationen zur Verfügung stünden als dem Richter. Ob diese mündlich oder schriftlich vorlägen, sei irrelevant. Die Anordnungskompetenz der Staatsanwaltschaft und ihrer Ermittlungspersonen ende mit der Befassung des Richters, nicht erst mit dessen Entscheidung.123 Der Grundrechtsträger müsse sich aufgrund des Entscheidungszwangs des Richters nicht mit einer Unwilligkeit desselben abfinden.124 Er habe einen Anspruch darauf, dass dieser seine Aufgabe zu seinem Schutz wahrnehme.125 120
Beichel/Kieninger, NStZ 2003, S. 10. Vgl. Krehl, NStZ 2003, S. 461 (463); Mosbacher, JuS 2009, S. 124 (125); Nelles, Kompetenzen und Ausnahmekompetenzen in der Strafprozessordnung, 1980, S. 133; Spaniol, Grundrechtsschutz im Ermittlungsverfahren durch qualifizierten Richtervorbehalt und wirksame gerichtliche Kontrolle, in: Arnold u.a. (Hrsg.), Menschengerechtes Strafrecht, FS Eser, 2005, S. 473 (487), die allerdings eine Eilkompetenz der Staatsanwaltschaft und ihrer Ermittlungspersonen für den Fall bejaht, dass der erreichte Ermittlungs- oder Eilrichter von vornherein mitteilt, eine rechtzeitige Entscheidung sei (ihm) nicht möglich. Ob diese Konstellation – trotz der bereits erfolgten Befassung des Richters – zu einem „Wiederaufleben“ oder einer Neubegründung der Eilkompetenz der Staatsanwaltschaft und ihrer Ermittlungspersonen aufgrund neu eingetretener oder bekanntgewordener tatsächlicher Umstände führen kann, etwa unter dem Aspekt der „objektiven Unmöglichkeit“ einer zeitgerechten Herbeiführung einer richterlichen Entscheidung, stellt eine weitere noch offene Frage der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung dar. 122 Vgl. Beichel/Kieninger, NStZ 2003, S. 10 (13); so auch im Ergebnis Jahn, NStZ 2007, S. 255 (260), der ausführt, dass – soweit man den Grundsatz der Eigenverantwortung des Richters ernst nehme – eine Eilkompetenz der Staatsanwaltschaft und ihrer Ermittlungspersonen in dem Fall, in dem sich der telefonisch erreichte Ermittlungsrichter weigere, ohne Vorlage einer Ermittlungsakte ein Entscheidung zu treffen, nicht angenommen werden könne. 123 Vgl. Mosbacher, JuS 2009, S. 124 (125); ders., JuS 2010, S. 127 (131), jeweils im Zusammenhang mit der Anordnung einer Blutentnahme gemäß § 81a StPO, der in der Regel ein einfach gelagerter Sachverhalt zugrunde liegt. 124 Vgl. Beichel/Kieninger, NStZ 2003, S. 10 (13); so auch Spaniol, Grundrechtsschutz im Ermittlungsverfahren durch qualifizierten Richtervorbehalt und wirksame gerichtliche Kontrolle, in: Arnold u.a. (Hrsg.), Menschengerechtes Strafrecht, FS Eser, 2005, S. 473 (487). 125 Vgl. Beichel/Kieninger, NStZ 2003, S. 10 (13). 121
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Die Verfassung lasse ein Abweichen von der grundsätzlichen Zuständigkeit des Richters für die Anordnung einer Wohnungsdurchsuchung nur zu, wenn es aus zeitlichen Gründen nicht möglich sei, eine richterliche Entscheidung herbeizuführen. Davon könne indes keine Rede sein, wenn der Richter eine Befassung mit dem an ihn durch die Staatsanwaltschaft herangetragenen Antrag ablehne. In diesem Fall sei die Einholung einer richterlichen Entscheidung vor einem gegebenenfalls drohenden Beweismittelverlust tatsächlich möglich. Ordne der Richter eine Durchsuchung trotzdem nicht an und lehne die Prüfung der Anordnungsvoraussetzungen ab, wirke dies wie eine Ablehnung des Durchsuchungsantrags, die gleichermaßen den Weg für eine staatsanwaltschaftliche Eilanordnung sperre.126 Der „unwillige“ Richter stelle gerade kein Zeitproblem dar. Seine Entscheidungsunwilligkeit lasse sich eher mit dem Begriff des „Organversagens“ beschreiben. Greife sich aber der Verfassungsgeber in Art. 13 Abs. 2 GG den speziellen Fall eines Zeitkonflikts (und nur diesen) durch die Wahl des Begriffs „Gefahr im Verzug“ heraus und ermögliche nur hierfür den Grundrechtseingriff durch ein im Regelfall unzuständiges Organ, so liege schon aus Sicht der grundrechtssichernden Schutzfunktion des Richtervorbehalts eine enge, auf den erkennbaren Zweck beschränkte Auslegung näher, als eine erweiternde Auslegung, welche den Fall des „unwilligen“ Richters unter den Begriff der Nichterreichbarkeit einer Entscheidung bis zum Zeitpunkt eines drohenden Beweismittelverlusts subsumieren müsste.127 Der „unwillige“ Ermittlungs- oder Eilrichter sei schließlich auch nicht mit dem nicht erreichbaren Richter gleichzusetzen.128 Auch die Gewährleistung einer funktionsfähigen Strafrechtspflege werde im Falle der Ablehnung einer Eilkompetenz bereits ab dem Zeitpunkt der Befassung des Ermittlungs- oder Eilrichters, unabhängig von dessen weiterem Umgang mit dem Antrag, nicht in Frage gestellt, da der Staat grundsätzlich weiterhin die Möglichkeit habe, unter den in Verfassung und Gesetz festgeschriebenen Voraussetzungen Durchsuchungen zur Erlangung von Beweisstücken durchzuführen. Wirke eines der dabei beteiligten Organe – obwohl zuständig – nicht mit, handele es sich dabei um einen Fehler im staatlichen Bereich, der nicht durch das (insoweit nicht vorgesehene) Eintreten eines anderen Organs, das mit einer Beschränkung von Beschuldigtenrechten einherginge, kompensiert werden könne. Die „Gewährleistung einer funk126
Vgl. Krehl, NStZ 2003, S. 461 (463). Vgl. Beichel/Kieninger, NStZ 2003, S. 10 (11), die weiter ausführen, dass im Falle der Annahme einer derartigen Dispositionsbefugnis des Ermittlungs- bzw. Eilrichters auch eine Befugnis der Staatsanwaltschaft, die Entscheidung über die Anordnung der Durchsuchung auf die Polizeibeamten vor Ort zu übertragen, da diese auch gegenüber der Staatsanwaltschaft einen Informationsvorsprung hätten, nicht ausgeschlossen werden könne, was für den Grundrechtsträger allerdings nicht mehr hinnehmbar sei. 128 Vgl. Beichel/Kieninger, NStZ 2003, S. 10 (11). 127
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tionsfähigen Strafrechtspflege“ sei vielmehr nur ein Aspekt der verfassungsrechtlichen Gewährleistung einer rechtsstaatlich geordneten Rechtspflege, die sich auch auf die nachhaltige Sicherung der Rechte von Beschuldigten erstrecke.129 c) Würdigung In der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung ist die Frage nach dem Bestehen einer Eilkompetenz der Ermittlungsbehörden im Fall des „unwilligen“ Ermittlungsrichters noch nicht geklärt. Soweit man allerdings die bereits ergangenen Senats- und Kammerentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts heranzieht und die dortigen Linien fortzuentwickeln versucht, erscheint die Annahme eines Fortbestehens oder „Wiederauflebens“ der Eilkompetenz der Ermittlungsbehörden jedenfalls im Fall des „unwilligen“ Ermittlungsrichters aufgrund der immer wieder betonten erheblichen Bedeutung des Richtervorbehalts eher fraglich. Danach stellt die Anordnung der strafprozessualen Maßnahme durch den Richter, eine unabhängige und neutrale Instanz, gerade die Regel dar, die insbesondere dem Schutz der Rechte des von der Maßnahme Betroffenen dient, dem vor der Anordnung in der Mehrzahl der Fälle kein rechtliches Gehör gewährt wird. Die Anordnung durch die Ermittlungsbehörden bildet hingegen die Ausnahme, die ein schnelles und situationsgerechtes Handeln zur Abwendung eines drohenden Beweismittelverlusts ermöglichen soll.
V. Ergebnis Bereits dieser kurze Überblick über die Entwicklung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Bedeutung und Umfang des Richtervorbehalts zeigt, dass verfassungsrechtlich hohe Anforderungen sowohl an die Beachtung des Richtervorbehalts als auch an Ausnahmen von demselben zu stellen sind. Aufgrund der sich dennoch fortsetzenden „Hochkonjunktur“130 der Richtervorbehalte im einfachen Recht wird das insbesondere auch aus Kapazitätsproblemen in der Praxis resultierende „Spannungsverhältnis zwischen Rechtsstaatlichkeit und Effektivität der Strafverfolgung“131 das Bundesverfassungsgericht daher in Zukunft weiterhin beschäftigen und sicherlich auch zur Herausbildung einer verfassungsgerichtlichen Rechtsprechungslinie im Hinblick auf die noch offenen Fragestellungen führen.
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Vgl. Krehl, NStZ 2003, S. 461 (463). Stadler, ZRP 2013, S. 179 (179); Asbrock, ZRP 1998, S. 17 (17). Geppert, DRiZ 1992, S. 405 (405).
Neuere Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Verstoß gegen das Recht auf den gesetzlichen Richter bei Nichtvorlage an den EuGH Friedrich Schütter Leitentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (Senate) BVerfGE BVerfGE BVerfGE BVerfGE BVerfG,
82, 159 – Absatzfonds 126, 286 – Honeywell 128, 157 – Universitätsklinikum Gießen und Marburg 129, 78 – Le Corbusier Urteil des Zweiten Senats vom 28. Januar 2014 – 2 BvR 1561/12, 1562/12, 1563/12, 1564/12 –, www.bverfg.de – Filmförderungsabgabe Wichtige Kammerentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts
BVerfGK 17, 108 – Massenentlassungsrichtlinie BVerfGK 17, 533 – Urheberrechtsabgabe BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 5. Januar 2011 – 1 BvR 2870/10 –, NJW 2011, S. 1131 ff. – Altersgrenze von Notaren BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 24. Oktober 2011 – 2 BvR 1969/09 –, NVwZ 2012, S. 426 ff. – FreizügigkeitsG/EU 2004 Schrifttum (Auswahl) Bäcker, Altes und Neues zum EuGH als gesetzlichem Richter, NJW 2011, S. 270 ff.; Betz, Die verfassungsrechtliche Absicherung der Vorlagepflicht – zum Bedürfnis einer nationalen Nichtvorlagerüge, 2013; Breuer, Staatshaftung für judikatives Unrecht – eine Untersuchung zum deutschen Recht, zum Europa- und Völkerrecht, 2011; Britz, Verfassungsrechtliche Effektuierung des Vorabentscheidungsverfahrens, NJW 2012, S. 1313 ff.; Calliess, Der EuGH als gesetzlicher Richter im Sinne des Grundgesetzes – Auf dem Weg zu einer kohärenten Kontrolle der unionsrechtlichen Vorlagepflicht?, NJW 2013, S. 1905 ff.; Fastenrath, in: Brömher/Bieber/Calliess/Langenfeld/Weber/Wolf (Hrsg.), Internationale Gemeinschaft und Menschenrechte – Festschrift für Georg Ress zum 70. Geburtstag, 2005, S. 461 ff.; Haensle, Der Willkürmaßstab bei der Garantie des gesetzlichen Richters bei Nichtvorlagen: bewährter Maßstab oder gemeinschaftsrechtliche Notwendigkeit einer Neuausrichtung?, DVBl 2012, S. 811 ff.; Herz, Der EuGH als gesetzlicher Richter, DÖV 2013, S. 769 ff.; Hummert, Die Neubestimmung der acte-clair-Doktrin im Kooperationsverhältnis zwischen EG und Mitgliedstaat, 2006; Kokott/Henze/Sobotta, Die Pflicht zur Vorlage an den Europäischen Gerichtshof und die Folgen ihrer Verletzung, JZ 2006, S. 633 ff.; Michael, Grenzen einer verschärften Vorlagenkontrolle des Art. 267 Abs. 3 AEUV durch
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das BVerfG: unionsrechtsfreundliche oder grundrechtsfreundliche Modifizierungen des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG, JZ 2012, S. 870 ff.; Poelzig, Die „Vorlagerüge“ gemäß § 321a ZPO analog: zur Durchsetzung der Vorlagepflicht gemäß Art. 234 Abs. 3 EGV, ZZP 121 (2008), S. 233 ff.; Schoch, in: Bruns/Kern/Münch/Piekenbrock/Stadler/Tsikrikas (Hrsg.), Festschrift für Rolf Stürner zum 70. Geburtstag, 1. Teilband – Deutsches Recht, 2013, S. 43 ff.; M. Schröder, Die Vorlagepflicht zum EuGH aus europarechtlicher und nationaler Perspektive, EuR 2011, S. 808 ff.; Voßkuhle, Der europäische Verfassungsgerichtsverbund, NVwZ 2010, S. 1 ff.; Wernsmann, Grundrechtsschutz nach Grundgesetz und Unionsrecht vor dem BVerfG, NZG 2011, S. 1241 ff. Inhalt I. II.
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Vorlagepflicht gemäß Art. 267 Abs. 3 AEUV . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Vorlagepflicht letztinstanzlicher Gerichte. . . . . . . . . . . . . . . . . a) Letztinstanzliche Gerichte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Ausnahmen von der Vorlagepflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Vorlagepflicht des Bundesverfassungsgerichts . . . . . . . . . . . . . . a) Anerkennung der Vorlagepflicht des Bundesverfassungsgerichts . . . . . b) Vorlage oder Nicht-Vorlage? Das „OMT-Verfahren“ vor dem Bundesverfassungsgericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Neujustierung der Vorlagepflicht durch die Åkerberg FranssonEntscheidung des EuGH? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Individualrechtsschutz bei Verletzung der Vorlagepflicht jenseits der Verfassungsbeschwerde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG bei Nichtvorlage an den EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der EuGH als gesetzlicher Richter; Prüfungsmaßstab der Solange II-Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der Willkürmaßstab in der Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Was ist zu vertreten? Die Entscheidung BVerfGK 17, 108 – Massenentlassungsrichtlinie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Anders (?) – Die Honeywell-Entscheidung des Zweiten Senats . . . . . . . 5. Rechtsprechungsentwicklung seit der Honeywell-Entscheidung . . . . . . a) BVerfGK 17, 533 – Urheberrechtsabgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 5. Januar 2011 – 1 BvR 2870 –, NJW 2011, S. 1131 ff. – Altersgrenze von Notaren . . . c) BVerfGE 128, 157 – Universitätsklinikum Gießen und Marburg; 129, 78 – Le Corbusier; 129, 186 – Investitionszulagengesetz . . . . . . . . . d) BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 24. Oktober 2011 – 2 BvR 1969/09 –, NVwZ 2012, S. 426 ff . . . . . . . . . . . . . . . 6. Auf dem Weg ins Plenum? Reaktionen im Schrifttum . . . . . . . . . . . . 7. Urteil des Zweiten Senats vom 28. Januar 2014 – Filmförderungsabgabe . . V. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I. Einleitung Der europäische Gerichtsverbund1 lebt nicht von der Rhetorik allein, sondern von einer gelebten Zusammenarbeit europäischer und nationaler Gerichte. Wesentliches Element der Zusammenarbeit ist der Rechtsprechungsdialog, den die Gerichte mittels des Vorabentscheidungsverfahrens gemäß Art. 267 AEUV führen. Schon der Blick auf die Statistik zeigt die herausragende Bedeutung des Vorabentscheidungsverfahrens im europäischen Rechtsschutzgefüge. So machten die Vorabentscheidungsersuchen im Jahr 2012 annähernd zwei Drittel der neu eingegangen Rechtssachen beim Gerichtshof der Europäischen Union (im Folgenden: Gerichtshof) aus.2 Indes stellt das Rechtsschutzsystem des Unionsrechts dem Einzelnen mit Einschränkungen keinen Rechtsbehelf zur Seite, um im Rahmen des fachgerichtlichen Verfahrens vor den nationalen Gerichten eine Befassung des Gerichtshofs mit einer Vorlagefrage zu erwirken. Um den rechtsschutzsuchenden Bürger nicht alleine der – im Hinblick auf die Verlängerung des Gerichtsverfahrens nicht immer sehr ausgeprägten – Vorlagebereitschaft der Fachgerichte zu überlassen, eröffnet das Bundesverfassungsgericht die Möglichkeit, eine unterbliebene Vorlage eines letztinstanzlichen Gerichts mittels der Verfassungsbeschwerde zu rügen. Gegenstand dieses Beitrags sind die neueren Entwicklungen in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Verstoß gegen das Recht auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) wegen einer Nichtvorlage an den Gerichtshof. Besondere Aktualität gewinnt diese Thematik dadurch, dass spätestens seit dem Beschluss des Zweiten Senats in der Rechtssache Honeywell3 aus dem Jahr 2010 und drei Beschlüssen des Ersten Senats aus dem Jahr 2011 die Frage im Raum steht, ob die beiden Senate des Bundesverfassungsgerichts bei der Prüfung des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG im Fall der Nichtvorlage unterschiedliche Maßstäbe anlegen. Die jüngst ergangene Entscheidung des Zweiten Senats zur Erhebung einer Filmabgabe nach dem Filmförderungsgesetz bietet zusätzlichen Anlass zu einer Befassung mit der Thematik.4 Im Folgenden sollen zunächst die Voraussetzungen einer Vorlagepflicht gemäß Art. 267 Abs. 3 AEUV dargestellt werden. Dabei wird auch auf die wieder aufgeflammte Diskussion um die Reichweite einer Vorlagepflicht des Bundesverfassungsgerichts eingegangen (II.). Es folgt ein kurzer Überblick
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Vgl. dazu Voßkuhle, NVwZ 2010, S. 1 ff. Vgl. den Jahresbericht des Gerichtshofs der Europäischen Union für das Jahr 2012, S. 96, abgerufen unter www.curia.eu.int; vgl. auch die Übersicht über die Vorlagepraxis in den EU-Mitgliedstaaten bei Rösler, EuR 2012, S. 392 ff. 3 BVerfGE 126, 286. 4 Urteil des Zweiten Senats vom 28. Januar 2014 – 2 BvR 1561/12, 1562/12, 1563/12, 1564/12 –, www.bverfg.de. 2
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über alternative Rechtsschutzmöglichkeiten im deutschen Recht, im Unionsrecht und im Recht der Europäischen Menschenrechtskonvention bei Vorlagepflichtverletzungen (III.). Im Mittelpunkt steht die Darstellung des Maßstabs des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG bei einer Verletzung der Vorlagepflicht (IV.). Die Ausführungen schließen mit einem Fazit (V.).
II. Die Vorlagepflicht gemäß Art. 267 Abs. 3 AEUV Gegenstand eines Vorabentscheidungsersuchens können Fragen zur Auslegung des gesamten Primärrechts der Union (vgl. Art. 267 Abs. 1 Buchst. a) AEUV) sowie Fragen zur Auslegung und Gültigkeit des von den Unionsorganen, den EU-Einrichtungen oder sonstigen Stellen gesetzten Sekundärrechts sein (vgl. Art. 267 Abs. 1 Buchst. b) AEUV).5 Zweck dieses Zwischenverfahrens ist es insbesondere, die einheitliche Auslegung des Unionsrechts durch die mitgliedstaatlichen Gerichte zu gewährleisten.6 1. Die Vorlagepflicht letztinstanzlicher Gerichte a) Letztinstanzliche Gerichte Verpflichtet zur Vorlage entscheidungserheblicher 7 Vorlagefragen gemäß Art. 267 Abs. 3 AEUV sind grundsätzlich nur die letztinstanzlichen nationalen Gerichte.8 Dabei handelt es sich neben den obersten Gerichten auch um die Instanzgerichte, deren Entscheidungen in dem konkreten Verfahren nicht mehr mit ordentlichen Rechtsmitteln9 angefochten werden können.10 5 Ausführlich Karpenstein, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, Art. 267 Rn. 19 ff. (Mai 2013). 6 Vgl. EuGH, Urteil vom 16. Januar 1974, Rs. C-166/73, Rheinmühlen/Einfuhr- und Vorratsstelle Getreide, Slg. 1974, S. 33, Rn. 2; zu weiteren Funktionen des Vorabentscheidungsverfahrens vgl. statt vieler Thomy, Individualrechtsschutz durch das Vorabentscheidungsverfahren, 2009, S. 48 ff. 7 Zur Entscheidungserheblichkeit als Zulässigkeitsvoraussetzung einer Vorlage vgl. nur Karpenstein, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, Art. 267 Rn. 25 ff. (Mai 2013). 8 Zur Vorlagepflicht eines Instanzgerichtes, wenn dieses eine Vorschrift des Unionsrechts oder eine sonstige Handlung eines Gemeinschaftsorgans für ungültig hält vgl. EuGH, Urteil vom 22. Oktober 1987, Rs. C-314/85, Foto Frost, Slg. 1987, S. 4199, Rn. 14 f. 9 Zum Begriff des Rechtsmittels Middeke, in: Rengeling/Gellermann/Middeke (Hrsg.), Handbuch des Rechtsschutzes in der Europäischen Union, 3. Aufl. 2014, § 10 Rn. 58 f.; ein Rechtsmittel in diesem Sinne stellt neben der Revision jedenfalls hinsichtlich revisiblen Rechts auch die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision dar (vgl. BVerwG, Beschluss vom 10. Oktober 1997 – 6 B 32/97 –, NVwZ-RR 1998, 752 (754)). Ebenso begründet ein Gericht durch Ablehnung des Antrags auf Zulassung der Berufung seine
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b) Ausnahmen von der Vorlagepflicht In der C.I.L.F.I.T.-Entscheidung aus dem Jahr 1982 hat der Gerichtshof Fallkonstellationen benannt, in denen eine Vorlagepflicht entfällt. Dies ist zum einen der Fall, wenn die gestellte Frage bereits in einem gleichgelagerten Fall Gegenstand eines Vorabentscheidungsverfahrens gewesen ist11 beziehungsweise wenn eine gesicherte Rechtsprechung des Gerichtshofs vorliegt, durch die die betreffende Rechtsfrage bereits gelöst ist (sog. acte éclairé).12 Und zum anderen ist eine Vorlage entbehrlich, wenn die richtige Anwendung des Unionsrechts derart offenkundig ist, dass keinerlei Raum für einen vernünftigen Zweifel an der Entscheidung der gestellten Frage bleibt (sog. acte clair).13 In der Entscheidung Gaston Schul hat der Gerichtshof klargestellt, dass die C.I.L.F.I.T.-Rechtsprechung nicht auf Fragen nach der Gültigkeit von Gemeinschaftshandlungen ausgedehnt werden kann; die einheitliche
Letztinstanzlichkeit (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 25. August 2008 – 2 BvR 2113/06 –, NVwZ 2009, S. 519). Ausgenommen sind außerordentliche Rechtsbehelfe wie die Verfassungsbeschwerde oder das Wiederaufnahmeverfahren (vgl. Dauses, in: ders. (Hrsg.), Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts, P.II. Rn. 183 (32. EL 2013). 10 EuGH, Urteil vom 4. Juni 2002, Rs. C-99/00, Lyckeskog, Slg. 2002, S. I-4839, Rn. 14 f.; Urteil vom 15. September 2005, Rs. C-495/03, Intermodal Transports, Slg. S. I-8151, Rn. 30. 11 EuGH, Urteil vom 6. Oktober 1982, Rs. C-283/81, C.I.L.F.I.T., Slg. 1982, S. 3415, Rn. 13 unter Verweis auf EuGH, Urteil vom 27. März 1963, verb. Rs. 28-30/62, Da Costa en Schake NV, Slg. 1963, S. 65 (81). 12 EuGH, Urteil vom 6. Oktober 1982, Rs. C-283/81, C.I.L.F.I.T., Slg. 1982, S. 3415, Rn. 14. 13 EuGH, Urteil vom 6. Oktober 1982, Rs. C-283/81, C.I.L.F.I.T., Slg. 1982, S. 3415, Rn. 16; in diesem Fall muss das nationale Gericht überzeugt sein, dass für die Gerichte der anderen Mitgliedstaaten und den Gerichtshof die gleiche Gewissheit besteht (EuGH a.a.O.). Darüber hinaus verlangt der Gerichtshof vor der Entscheidung über die Nichtvorlage eine dreistufige Prüfung: Im ersten Schritt muss das nationale Gericht einen Vergleich der verschiedenen sprachlichen Fassungen des Unionsrechts vornehmen (EuGH a.a.O., Rn. 18). Dann ist die besondere Terminologie des Unionsrechts zu beachten (EuGH a.a.O., Rn. 19). Und schließlich ist jede Vorschrift des Unionsrechts in ihrem Zusammenhang zu sehen und im Lichte der gesamten Unionsrechts auszulegen (vgl. EuGH a.a.O., Rn. 20). Ausführlich zur acte clair-Doktrin Betz, Die verfassungsrechtliche Absicherung der Vorlagepflicht, 2013, S. 30 ff. Ungeachtet der im Schrifttum geäußerten Kritik an den hohen Anforderungen dieser Rechtsprechung, insbesondere wegen der Schwierigkeit, die Rechtsüberzeugung der Gerichte anderen Mitgliedstaaten festzustellen (vgl. nur Hess, RabelsZ 66 (2002), S. 470 (493); Schwarze, in: ders./Becker/Hatje/Schoo (Hrsg.), EU-Kommentar, 3. Aufl. 2012, Art. 267 Rn. 48; Wegener, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, 4. Aufl. 2011, Art. 267 Rn. 32), hält der Europäische Gerichtshof an diesen Kriterien fest (vgl. EuGH, Urteil vom 15. September 2005, Rs. C-495/03, Intermodal Transports, Slg. 2005, S. I-8151, Rn. 33 und 39).
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Anwendung des Gemeinschaftsrechts wäre gefährdet, wenn man den nationalen Gerichten insoweit eine Verwerfungskompetenz zubilligte.14 2. Die Vorlagepflicht des Bundesverfassungsgerichts Angesichts des bei dem Bundesverfassungsgericht anhängigen Verfahren im Zusammenhang mit dem Beschluss des Rates der Europäischen Zentralbank vom 6. September 2012 über Technical features of Outright Monetary Transactions (im Folgenden: OMT-Beschluss)15 und der Entscheidung des Gerichtshofs in der Rechtssache Åkerberg Fransson16 ist die Vorlagepflicht des Bundesverfassungsgerichts wieder in den Fokus gerückt. a) Anerkennung der Vorlagepflicht des Bundesverfassungsgerichts Bereits in der Solange I-Entscheidung hatte das Bundesverfassungsgericht seine Vorlageverpflichtung mit der Bemerkung, Inzidentfragen aus dem Gemeinschaftsrecht könne es selbst entscheiden, sofern nicht die Voraussetzungen des auch für das Bundesverfassungsgericht verbindlichen Art. 177 EGV (heute Art. 267 AEUV) vorlägen,17 anerkannt. Da das Bundesverfassungsgericht Akte der öffentlichen Gewalt ausschließlich am Maßstab des Grundgesetzes prüft, fehlt es regelmäßig an der Entscheidungserheblichkeit des Unionsrechts für den Verfassungsprozess.18
14 EuGH, Urteil vom 6. Dezember 2005, Rs. C-461/03, Gaston Schul Douane-Expediteur BV/Minister van Landbouw, Natuur en Voedselkwaliteit, Slg. 2005, S. I-10513, Rn. 19– 21. Vgl. zur Vorlagepflicht nicht-letztinstanzlicher Gerichte bei fraglicher Gültigkeit von Sekundärrecht die Foto Frost-Entscheidung (EuGH, Urteil vom 22. Oktober 1987, Rs. C-314/85, Slg. 1987, S. 4199, Rn. 15) und zu den weiteren Ausnahmen von der Vorlagepflicht für Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes Karpenstein, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Art. 267 Rn. 59 m.w.N. (Mai 2013). 15 2 BvR 2728/13, 2 BvR 2729/13, 2 BvR 2730/13, 2 BvR 2731/13 und 2 BvE 13/13; Gegenstand des Beschlusses ist der Ankauf von Staatsanleihen ausgewählter Mitgliedstaaten in unbegrenzter Höhe am Sekundärmarkt, wenn und solange diese Mitgliedstaaten zugleich an einem mit der Europäischen Finanzstabilisierungsfazilität oder dem Europäischen Stabilitätsmechanismus vereinbarten Reformprogramm teilnehmen. 16 EuGH, Urteil vom 7. Mai 2013, Rs. C-617/10, Åklagare/Hans Åkerberg Fransson, NJW 2013, S. 1415 ff. 17 BVerfGE 37, 271 (282); zum Vorlageverhalten anderer Verfassungsgerichte vgl. Poli, NordÖR 2013, 284 ff.; Warnke, Die Vorlagepflicht nach Art. 234 Abs. 3 EGV in der Rechtsprechungspraxis des BVerfG, 2004, S. 186 ff. 18 Vgl. Gerhardt, ZRP 2010, S. 160 (161 f.); exemplarisch aus der Rechtsprechung: BVerfGE 104, 214 (218) – NPD-Verbot; 125, 260 (308) – Vorratsdatenspeicherung; BVerfG, Urteil des Zweitens Senats vom 24. April 2013 – 1 BvR 1215/07 –, NJW 2013, S. 1499 (1500 f.) – Antiterrordatei; kritisch u.a. Schoch, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/ Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts Band III, 2. Aufl. 2013, § 50 Rn. 387.
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In Betracht kommt eine Vorlagepflicht jedoch in dem Fall einer unmittelbaren Rechtssatzverfassungsbeschwerde, in dem die Klärung der Auslegung beziehungsweise der Wirksamkeit des Unionsrechts eine notwendige Vorfrage ist.19 Klärungsbedürftig kann im Hinblick auf die Befugnis des Bundesverfassungsgerichts, die grundrechtskonforme Ausfüllung von Spielräumen bei der Umsetzung von Richtlinien und Rahmenbeschlüssen in nationales Recht zu prüfen, die Reichweite des Umsetzungsspielraums sein.20 Jenseits dieser prozessualen Sonderkonstellation, in der das Bundesverfassungsgericht als erste und letzte Instanz entscheidet, entspricht es der Aufgabenverteilung zwischen dem Bundesverfassungsgericht und den Fachgerichten, dass letztere die Vorlageverantwortung wahrnehmen.21 Nicht geklärt ist bisher, welche verfassungsprozessualen Möglichkeiten das Bundesverfassungsgericht hat, das Verfahren an ein Fachgericht „zurückzugeben“, wenn dort die Vorlage unterblieben ist. Denkbar wäre es, die Vorlagepflicht des Bundesverfassungsgerichts mangels Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefrage zu verneinen, weil die Verfassungsbeschwerde wegen der unterbliebenen Anregung einer Vorlage an den Gerichtshof durch den Beschwerdeführer im fachgerichtlichen Verfahren aus Subsidiaritätsgesichtspunkten unzulässig ist. Indes geht die 2. Kammer des Zweiten Senats davon aus, dass ein letztinstanzliches Gericht von Amts wegen zur Prüfung der Vorlage verpflichtet sei, weshalb ein Beschwerdeführer nicht gehalten sei, eine Vorlage von sich aus anzuregen.22 Aus diesem Grund vertrat auch der Erste Senat in der Le Corbusier-Entscheidung die Auffassung, dass einen Beschwerdeführer keine Obliegenheit treffe, einen Antrag auf Vorlage an den Gerichtshof zu stellen. Vielmehr werde dem Grundsatz der Subsidiarität genügt, wenn das Vorbringen bei rechtlicher Prüfung durch das Fachgericht eine Vorlage an den Gerichtshof als naheliegend erscheinen lasse.23 Im Fall der konkreten Normenkontrolle trifft das Bundesverfassungsgericht keine Vorlagepflicht, wenn die Vorlage gemäß Art. 100 Abs. 1 GG mangels Entscheidungserheblichkeit unzulässig ist. Dies ist der Fall, wenn
19 Vgl. BVerfGE 125, 260 (308); ebenso kommt eine Vorlage durch das Bundesverfassungsgericht in Betracht, wenn dieses wie im Verfahren der abstrakten Normenkontrolle oder dem Parteiverbotsverfahren (vgl. BVerfGE 104, 214 (218) – NPD-Verbot) als einzige Instanz zuständig ist. 20 Vgl. Kaiser/Schübel-Pfister, Der ungeschriebene Verfassungsgrundsatz der Europarechtsfreundlichkeit: Trick oder Treat?, in: Emmenegger/Wiedmann (Hrsg.), Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, Band 2, 2011, S. 545 (568); Kokott/Henze/ Sobotta, JZ 2006, S. 633 (634). 21 Britz, NJW 2013, S. 1313 (1317); in diese Richtung auch Frenz, VerwArch 101 (2010), S. 159 (165). 22 Vgl. Beschluss vom 21. November 2011 – 2 BvR 516/09 u.a. –, NJW 2012, 598 (599). 23 Vgl. BVerfGE 129, 78 (93 f.).
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das Fachgericht nicht zunächst geklärt hat, ob das nationale Gesetz in Ausfüllung eines unionsrechtlich gewährten Umsetzungsspielraums ergangen ist.24 b) Vorlage oder Nicht-Vorlage? Das „OMT-Verfahren“ vor dem Bundesverfassungsgericht Die Vorlagepflicht des Bundesverfassungsgerichts war eine zentrale Frage in dem Verfahren im Zusammenhang mit dem OMT-Beschluss der Europäischen Zentralbank.25 Seit der Honeywell-Entscheidung sieht sich das Bundesverfassungsgericht zur Einholung einer Vorabentscheidung des Gerichtshofs verpflichtet, bevor es einen „ultra vires“-Akt eines europäischen Organs beziehungsweise einer europäischen Einrichtung annimmt.26 Um abschließend entscheiden zu können, ob es sich bei dem OMT-Beschluss aus der Perspektive des Grundgesetzes um einen solchen ausbrechenden Rechtsakt handelt, hat das Bundesverfassungsgericht nun im Rahmen seines ersten Vorabentscheidungsersuchens dem Gerichtshof Gelegenheit zur Klärung der Frage gegeben, ob der Beschluss gegen das währungspolitische Mandat der Europäischen Zentralbank (vgl. Art. 119 und 127 ff. AEUV) oder gegen das Verbot monetärer Haushaltsfinanzierung (vgl. Art. 123 Abs. 1 AEUV) verstößt.27 c) Neujustierung der Vorlagepflicht durch die Åkerberg FranssonEntscheidung28 des EuGH? Fraglich ist, ob die Åkerberg Fransson-Entscheidung des Gerichtshofs vom 7. Mai 2013 zu einer Ausweitung der Vorlagepflicht des Bundesverfassungsgerichts, aber auch der Fachgerichte führt. In dieser Entscheidung legte der Gerichtshof die Vorschrift in Art. 51 Abs. 1 Satz 1 GrCh über den Anwendungsbereich der Charta großzügig dahingehend aus, dass „keine Fallgestaltungen denkbar [seien], die vom Unionsrecht erfasst würden, ohne dass diese Grundrechte anwendbar wären.“29 Damit fiele praktisch jedes Handeln mit Bezug zum Unionsrecht in den Anwendungsbereich der
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Vgl. BVerfGE 129, 186 (199 f.). 2 BvR 2728/13, 2 BvR 2729/13, 2 BvR 2730/13, 2 BvR 2731/13 und 2 BvE 13/13. 26 Vgl. BVerfGE 126, 286 (304). 27 BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 14. Januar 2014, 2 BvR 2728/13, 2 BvR 2729/13, 2 BvR 2730/13, 2 BvR 2731/13 und 2 BvE 13/13 –, juris. 28 EuGH, Urteil vom 7. Mai 2013, Rs. C-617/10, Åklagare/Hans Åkerberg Fransson, NJW 2013, S. 1415 ff. 29 Vgl. EuGH, Urteil vom 7. Mai 2013, Rs. C-617/10, Åklagare/Hans Åkerberg Fransson, NJW 2013, S. 1415 (1416, Rn. 21); vgl. dazu Thym, NVwZ 2013, S. 889 (890). 25
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Grundrechtecharta, was eine Zunahme der Vorabentscheidungsersuchen zur Auslegung der Grundrechtecharta nach sich ziehen würde. Der Erste Senat sah sich daher kurze Zeit später in dem Urteil zur Verfassungsmäßigkeit des Antiterrordateigesetzes zu dem Hinweis veranlasst, dass gerade nicht jeder sachliche Bezug einer Regelung zum bloß abstrakten Anwendungsbereich des Unionsrechts oder rein tatsächliche Auswirkungen auf das Unionsrecht für eine Anwendbarkeit der Charta ausreichen.30 Prüfungsmaßstab bleibe in diesen Fällen ausschließlich das Grundgesetz, weshalb für eine Vorlage an den Gerichtshof kein Anlass bestehe.31 Damit erteilt der Erste Senat einer extensiven Anwendung der Grundrechtecharta, die das seit der Solange-Rechtsprechung32 ausdifferenzierte System des Grundrechtsschutzes im europäischen Mehrebenensystem nivellieren würde, eine Absage und lehnt eine Ausweitung der eigenen Vorlagepflicht an dieser Stelle ab.33 Eine allzu exzessive Vorlagepraxis nationaler Gerichte würde im Übrigen wegen des erhöhten Arbeitsanfalls zu einer Überforderung des Gerichtshofs führen.34
III. Individualrechtsschutz bei Verletzung der Vorlagepflicht jenseits der Verfassungsbeschwerde Weder das Unionsrecht noch das deutsche Recht oder das Recht der Europäischen Menschenrechtskonvention halten jenseits des bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsschutzes einen effektiven Rechtsbehelf bei Missachtung der Vorlagepflicht bereit. Im Unionsrecht korrespondiert mit der Vorlagepflicht kein Antragsrecht des Einzelnen auf Vorlage an den Gerichtshof beziehungsweise keine
30 BVerfG, Urteil des Ersten Senats vom 24. April 2013 – 1 BvR 1215/07 –, NJW 2013, S. 1499 (1501). Aus Sicht von Gärditz, JZ 2013, S. 633 (636), kämpft das Bundesverfassungsgericht in der oben genannten Entscheidung gegen seinen relativen Bedeutungsverlust, der infolge der Åkerberg-Rechtsprechung droht; in diese Richtung auch Thym, NVwZ 2013, S. 889 (895 f.). 31 Vgl. BVerfG a.a.O., S. 1500 f.; in dem konkreten Fall verneinte der Erste Senat die Anwendbarkeit der Grundrechtecharta wegen fehlender unionsrechtlicher Determinierung der angegriffenen Vorschriften des Antiterrordateigesetzes ungeachtet dessen unionsrechtlicher Bezüge (BVerfG a.a.O.). 32 Vgl. zusammenfassend BVerfGE 129, 78 (90 f.). 33 Kritisch von Danwitz, EuGRZ 2013, S. 253 (261), der eine Vorlage zur Auslegung des Art. 51 Abs. 1 GrCh begrüßt hätte. 34 Vgl. Kokott in: Kube/Mellinghoff/Morgenthaler/Palm/Puhl/Seiler (Hrsg.), Leitgedanken des Rechts, 2013, Band I, § 103 (Zusammenwirken der Gerichte in Europa), S. 1097 (1104).
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Beschwerdemöglichkeit im Fall der Nichtvorlage.35 Das Vertragsverletzungsverfahren (Art. 258 AEUV) bietet ebenfalls keinen wirksamen Rechtsschutz.36 So steht dem Einzelnen kein einklagbares Recht auf Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens zu.37 Er kann eine Vertragsverletzung nur im Wege einer Anregung zur Kenntnis der Kommission bringen.38 Das Vertragsverletzungsverfahren ist des Weiteren nur darauf ausgerichtet, den mitgliedstaatlichen Verstoß festzustellen und im Rahmen des Art. 260 AEUV zu sanktionieren.39 Selbst wenn ein Verfahren eingeleitet wird, kann kein wirksamer Primärrechtsschutz geleistet werden, da das nationale Gericht aufgrund der Gewaltenteilung nicht zu einer Aufhebung eines rechtskräftigen Urteils gezwungen werden kann.40 Schließlich löst ein isolierter Verstoß gegen die Vorlagepflicht auch nicht einen unionsrechtlichen Staatshaftungsanspruch aus.41 Zum einen handelt es sich bei Art. 267 Abs. 3 AEUV nicht um eine individualschützende Norm des Unionsrechts im Sinne der KöblerEntscheidung des Gerichtshofs42, da dem Einzelnen kein Anspruch auf Einleitung eines Vorlageverfahrens zusteht.43 Zum anderen dürfte ein unmittelbarer Kausalzusammenhang zwischen der Vorlagepflichtverletzung und dem Schaden des Einzelnen praktisch nie nachzuweisen sein.44
35 Kritisch dazu Gundel, EWS 2004, S. 8 (14 f.); ablehnend gegenüber einer „Nichtvorlagebeschwerde“ Hummert, Die Neubestimmung der acte-clair-Doktrin im Kooperationsverhältnis zwischen EG und Mitgliedstaat, 2006, S. 148 f.; vgl. auch Beschlüsse zu dem 60. Deutscher Juristentag, NJW 1994, S. 3075 (3081). 36 In der Entscheidung Kommission/Italien (EuGH, Urteil vom 9. Dezember 2003, Rs. C-129/00, Slg. 2003, S. I-14637, Rn. 29) hat der Europäische Gerichtshof klargestellt, dass eine Vertragsverletzung unabhängig davon festgestellt werden kann, welches Staatsorgan einen Verstoß begangen hat. Dies schließt judikatives Unrecht ein. 37 Vgl. EuGH, Urteil vom 2. Februar 1989, Rs. C-247/87, Star Fruit/Kommission, Slg. 1989, S. I-289, Rn. 11. 38 Dazu Kokott/Henze/Sobotta, JZ 2006, S. 633 (640). 39 Gromitsaris, SächsVBl 2001, S. 157 (160). 40 Ehricke, in: Streinz (Hrsg.), EUV/AEUV, 2. Aufl. 2012, Art. 267 Rn. 49. 41 A.A.: Schilling, EuGRZ 2012, S. 133 (134); Schwarze, in: ders./Becker/Hatje/Schoo (Hrsg.), EU-Kommentar, 3. Aufl. 2012, Art. 267 Rn. 53. 42 EuGH, Urteil vom 30. September 2003, Rs. C-224/01, Köbler, Slg. 2003, S. I-10239. 43 So auch Betz, Die verfassungsrechtliche Absicherung der Vorlagepflicht, 2013, S. 43; Breuer, Staatshaftung für judikatives Unrecht, 2011, S. 449; Thomy, Individualrechtsschutz durch das Vorabentscheidungsverfahren, 2009, S. 163; auch die Möglichkeit der Rücknahme eines unionsrechtswidrigen Verwaltungsaktes nach der Entscheidung in Kühne & Heitz (EuGH, Urteil vom 13. Januar 2004, Rs. C-453/00, Slg. 2004, S. I-837, Rn. 28) knüpft nicht isoliert an eine Vorlagepflichtverletzung. 44 Vgl. Schlussanträge des Generalanwaltes Léger in der Rs. C-224/01, Köbler, Slg. 2003, S. I-10239, Rn. 151; Anagnostaras, ELRev 31 (2006), S. 735 (746); Classen, CMLRev 41 (2004), S. 813 (820); Obwexer, EuZW 2003, S. 726 (727); Sellman/Augsberg, DÖV 2006, S. 533 (541).
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Auch im deutschen Recht existiert kein eigenständiger Mechanismus zur Durchsetzung der Vorlagepflicht. Gegen eine Vorlagerüge in analoger Anwendung des § 321a ZPO45 spricht das Fehlen einer planwidrigen Regelungslücke, da der Gesetzgeber bei der Einführung dieser Verfahrensrüge bewusst nur den Fall eines Verstoßes gegen Art. 103 Abs. 1 GG geregelt hat.46 Eine Wiederaufnahme des Verfahrens gemäß § 580 Nr. 1 bis 8 ZPO analog bei Nichtvorlage47 begegnet Bedenken, da der Gesetzgeber sich im Jahr 2006 bei Einführung des Wiederaufnahmegrundes in § 580 Nr. 8 ZPO bewusst auf den Fall der Wiederaufnahme bei Feststellung eines Konventionsverstoßes durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte beschränkte.48 Die Möglichkeit einer Wiederaufnahme gemäß § 580 Nr. 8 ZPO beziehungsweise § 359 Nr. 6 StPO besteht indes, wenn der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Nichtvorlage als einen Verstoß gegen das Recht auf ein faires Verfahren gemäß Art. 6 Abs. 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention einstuft.49 Allerdings sind die Anforderungen an die Feststellung eines Konventionsverstoßes hoch. So verneint der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte einen Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention bereits, wenn das nationale Gericht die Ablehnung einer Vorlage ausreichend begründet hat.50
IV. Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG bei Nichtvorlage an den EuGH 1. Der EuGH als gesetzlicher Richter; Prüfungsmaßstab der Solange II-Entscheidung Lange Zeit ließ das Bundesverfassungsgericht die Frage, ob der Gerichtshof als gesetzlicher Richter im Sinne des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG anzusehen ist, mit dem Argument dahinstehen, das Unterlassen der Vorlage sei in dem konkreten Fall jedenfalls nicht willkürlich erfolgt.51 Eine Neuausrichtung
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Dafür Poelzig, ZZP 121 (2008), S. 233 (237 ff.). Vgl. BTDrucks 15/3706, S. 14; so im Ergebnis auch BGH NJW-RR 2009, S. 144; für die Einführung einer § 321a ZPO vergleichbaren Nichtvorlagerüge vgl. Betz, Die verfassungsrechtliche Absicherung der Vorlagepflicht, 2013, S. 217 ff. 47 Ggfs. i.V.m. §§ 79 ArbGG, 134 FGO, 179 SGG, 153 Abs. 1 VwGO. 48 BTDrucks 16/3038, S. 39. 49 Vgl. Kokott/Henze/Sobotta, JZ 2006, S. 633 (637) m.w.N. aus der Rechtsprechung. 50 Vgl. die aktuelle Entscheidung EGMR, Urteil vom 20. September 2011, Ullens de Schooten u. Rezabek gg. Belgien, Nr. 3989/07 und 38535/07, Nr. 61, NJOZ 2012, S. 2149 (2152); zustimmend Schilling, EuGRZ 2012, S. 133 (136 f.); kritisch Latzel/T. Streinz, NJOZ 2013, S. 97 (99). 51 BVerfGE 29, 198 (207); 31, 145 (169); 45, 142 (181). 46
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seines Verhältnisses zum Gerichtshof nahm das Bundesverfassungsgericht dann im Jahr 1986 in der Solange II-Entscheidung vor. Es schränkte seine Zuständigkeit zur Prüfung sekundären Gemeinschaftsrechts am Maßstab der Grundrechte zugunsten des Gerichtshofs ein.52 Gleichzeitig anerkannte es den Gerichtshof als gesetzlichen Richter53 und wirkte auf diesem Weg darauf hin, dass sich die Fachgerichte in Fragen des Grundrechtsschutzes nicht zum Nachteil des durch einen Sekundärrechtsakt betroffenen Bürgers sanktionslos einer Vorlage verweigern konnten.54 Nachdem das Bundesverfassungsgericht zunächst nur geprüft hatte, ob das Unterlassen der Vorlage auf Willkür beruht,55 arbeitete der Zweite Senat im Jahr 1990 in einer Entscheidung zum Absatzfondsgesetz drei Fallgruppen heraus, in denen „insbesondere“ von einer offensichtlich unhaltbaren Handhabung der Vorlagepflicht auszugehen sei: die grundsätzliche Verkennung der Vorlagepflicht seitens des Fachgerichts (Fallgruppe 1), das bewusste Abweichen von der Rechtsprechung des Gerichtshofs ohne Vorlagebereitschaft (Fallgruppe 2) und schließlich die Nichtvorlage bei Unvollständigkeit der Rechtsprechung des Gerichtshofs, insbesondere wenn mögliche Gegenauffassungen zu der entscheidungserheblichen Frage des Gemeinschaftsrechts gegenüber der vom Gericht vertretenen Meinung eindeutig vorzuziehen seien (Fallgruppe 3).56 Um dem Bundesverfassungsgericht eine Prüfung zu ermöglichen, hat das letztinstanzliche Gericht die Gründe mitzuteilen, aus denen es von einer Vorlage abgesehen hat.57 Seit einer Kammerentscheidung aus dem Jahr 2001 wird ein Fall der Verkennung der Vorlagepflicht auch angenommen, wenn ein Gericht sich hinsichtlich des europäischen Rechts nicht ausreichend kundig gemacht hat.58 Letzteres verlangt jedenfalls eine Auseinandersetzung mit der einschlägigen Judikatur des Gerichtshofs.59 In dem Fall der Unvollständigkeit der Rechtsprechung verneinten Kammern beider Senate einen Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG, wenn das Gericht die gemeinschaftsrechtliche Rechtsfrage in zumindest vertretbarer Weise beantwortet hatte.60 Im 52
Vgl. BVerfGE 73, 339 (387). BVerfG a.a.O., S. 366 f. 54 So später BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 9. Januar 2001 – 1 BvR 1036/99 –, NJW 2001, S. 1267 (1268). 55 BVerfG a.a.O., S. 369; BVerfGE 75, 223 (234). 56 BVerfGE 82, 159 (195 f.); so erstmals BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 9. November 1987 – 2 BvR 808/82 –, NJW 1988, S. 1456 (1457). 57 BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 22. Dezember 1992 – 2 BvR 557/88 –, NVwZ 1993, S. 883 (884). 58 BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 9. Januar 2001 – 1 BvR 1036/99 –, NJW 2001, S. 1267 (1268). 59 BVerfG a.a.O. 60 Vgl. nur BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 14. Mai 2007 – 1 BvR 2036/05 –, NVwZ 2007, S 942 (945); Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 20. September 2007 – 2 BvR 855/06 –, NJW 2008, S. 209 (212); Beschluss der 3. Kam53
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Jahr 2008 lehnten Kammern beider Senate noch einmal ausdrücklich eine Verschärfung des Willkürmaßstabs ab. Sie betonten bezüglich der Fallgruppe der Unvollständigkeit den Beurteilungsspielraum der Fachgerichte und verneinten einen Verstoß, wenn die Beantwortung der materiell-rechtlichen Frage des Gemeinschaftsrechts durch das Fachgericht möglicherweise zwar nicht offenkundig richtig (i.S. der C.I.L.F.I.T.-Kriterien), aber auch nicht offenkundig unrichtig (im Sinne des des Willkürmaßstabs) sei.61 Gegen eine gemeinschaftsrechtliche Verpflichtung zur Vollkontrolle spreche außerdem, dass auch das Gemeinschaftsrecht kein Gebot zu einer lückenlosen Nachprüfung der Vorlagepflicht kenne.62 2. Der Willkürmaßstab in der Kritik Der zurückgenommene Prüfungsmaßstab ist im Schrifttum auf Kritik gestoßen. Beanstandet wird, dass eine Rechtsschutzlücke entstehe, wenn nur die willkürliche, nicht aber jede unter Verstoß gegen Art. 267 AEUV unterbliebene Vorlage zur Aufhebung der angefochtenen Gerichtsentscheidung führe.63 Für eine Verschärfung des Prüfungsmaßstabs werden insbesondere europarechtliche Gründe angeführt. Das Gebot der praktischen Wirksamkeit des Unionsrechts, das insoweit auch in Art. 4 Abs. 3 UAbs. 2 EUV und Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV seinen Niederschlag finde, gebiete eine Vollkontrolle durch das Bundesverfassungsgericht unter Bindung an die Maßstäbe des C.I.L.F.I.T.-Urteils.64 Außerdem sei der Willkürmaßstab im Hinblick auf den unionsrechtlichen Grundsatz der Gleichwertigkeit bedenklich. So nehme das Bundesverfassungsgericht im Fall der Nichtvorlage im Rahmen des dem Vorlageverfahren mit Einschränkungen vergleichbaren Normenverifikationsverfahrens nach Art. 100 Abs. 2 GG weitgehend eine
mer des Ersten Senats vom 20. Februar 2008 – 1 BvR 2722/06 –, NVwZ 2008, S. 780 (781); Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 6. Mai 2008 – 2 BvR 1830/06 –, NJW 2008, S. 2325 (2326). 61 BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 6. August 2008 – 2 BvR 2419/06 –, NVwZ-RR 2008, S. 658 (659); Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 30. Juni 2008 – 1 BvR 1159/08 –, juris Rn. 6. 62 BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 6. August 2008 – 2 BvR 2419/06 –, NVwZ-RR 2008, S. 658 (659 f.); im Ergebnis ebenso BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 30. Juni 2008 – 1 BvR 1159/08 –, juris Rn. 3. 63 Kenntner, EuZW 2005, S. 235 (236 f.); für die Bejahung eines Verfassungsverstoßes nur in dem Fall, in dem eine Vorlage ohne sachlich einleuchtenden Grund unterblieben ist Vedder, NJW 1987, S. 526 (531). 64 So Schoch, in: Bruns/Kern/Münch/Piekenbrock/Stadler/Tsikrikas (Hrsg.), FS Stürner, 2013, S. 43 (56 f.); in diese Richtung auch Haensle, DVBl 2011, S. 811 (818); Hummert, Die Neubestimmung der acte-clair-Doktrin im Kooperationsverhältnis zwischen EG und Mitgliedstaat, 2006, S. 58 f.; Wernsmann, NZG 2011, S. 1241 (1244).
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Vollkontrolle vor.65 Schließlich spreche der Grundsatz der Europarechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes für eine schärfere Kontrolle.66 Abgelehnt wird auch ein „freischwebender Willkürmaßstab“ mit dem Argument, die Auslegung des Gerichtshofs zur Vorlagepflicht sei für das Bundesverfassungsgericht im Rahmen des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verbindlich.67 3. Was ist zu vertreten? Die Entscheidung BVerfGK 17, 108 – Massenentlassungsrichtlinie 20 Jahre nach der letzten Senatsentscheidung zum verfassungsrechtlichen Umgang mit der Vorlagepflicht geriet die Rechtsprechung im Jahr 2010 mit einer Entscheidung der 3. Kammer des Ersten Senats in Bewegung. Darin stellte die Kammer zunächst klar, dass die drei oben genannten Fallgruppen nicht abschließend seien, um dann darauf hinzuweisen, dass es für die Frage eines Verstoßes gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG nicht „in erster Linie“ auf die Vertretbarkeit der fachgerichtlichen Auslegung des Gemeinschaftsrechts ankomme, sondern auf die Vertretbarkeit des Unterlassens eines Vorabentscheidungsersuchens.68 Unter Bezugnahme auf die C.I.L.F.I.T.-Kriterien arbeitete die Kammer heraus, dass es für die Annahme einer Verletzung des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG maßgeblich sei, ob es nach Auswertung der entscheidungserheblichen Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts eine vertretbare Begründung dafür gebe, dass die maßgebliche Rechtsfrage durch den Gerichtshof bereits entschieden oder die richtige Antwort auf diese Rechtsfrage offenkundig sei.69 Ob aus Sicht der Kammer nicht nur im Fall einer vertretbaren Begründung des Vorliegens eines acte éclairé beziehungsweise acte clair das Recht auf den gesetzlichen Richter gewahrt sein soll, sondern auch wenn das Fachgericht die Frage des materiellen Unionsrechts vertretbar beantwortet, führte sie nicht abschließend aus. Jedenfalls sei die Anwendung des Art. 234 EGV (jetzt Art. 267 AEUV) nicht mehr verständlich, wenn das Fachgericht eine eigene Lösung entwickeln würde, die nicht auf die bestehende Rechtsprechung des Gerichtshofs zurückgeführt werden könne und auch nicht einer eindeutigen Rechtslage entspreche.70 In der Subsumtion ging die Kammer nicht näher darauf ein, ob Bezugspunkt der Vertretbarkeitsprü-
65
Classen, JZ 2010, S. 1186 f. m.w.N. aus der Rechtsprechung; ebenso Haensle, DVBl 2011, S. 811 (818); Roth, NVwZ 2009, S. 345 (351); Schoch, in: Bruns/Kern/Münch/Piekenbrock/Stadler/Tsikrikas (Hrsg.), FS Stürner, 2013, S. 43 (57 f.). 66 Vgl. Bäcker, NJW 2011, S. 270 (272); Calliess, NJW 2013, S. 1905 (1907); Schröder, EuR 2011, S. 808 (822 f.). 67 Fastenrath, in: FS Ress, 2005, S. 461 (481 f.). 68 BVerfGK 17, 108 (113). 69 BVerfG a.a.O., S. 114. 70 BVerfG a.a.O.
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fung die Auslegung materiellen Rechts oder die Anwendung der C.I.L.F.I.T.Kriterien ist. Vielmehr sah sie Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG schon als verletzt an, weil das Fachgericht nicht dargelegt habe, dass es sich hinsichtlich des europäischen Rechts kundig gemacht habe. Darin liege eine Verkennung der Vorlagepflicht (im Sinne der Fallgruppe 1).71 4. Anders (?) – Die Honeywell - Entscheidung des Zweiten Senats 72 In der Rechtssache Honeywell reagierte der Zweite Senat auf die Entscheidung in BVerfGK 17, 108 und auf die Forderung im Schrifttum nach einer europarechtskonformen Anwendung des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG. Gegenstand der zugrunde liegenden Verfassungsbeschwerde war ein Urteil des Bundesarbeitsgerichts, in dem dieses auf der Grundlage der Mangold-Entscheidung des Gerichtshofs73 § 14 Abs. 3 Satz 4 Teilzeitbefristungsgesetz (TzBfG)74 für unanwendbar hielt. Die Beschwerdeführerin, ein Unternehmen, rügte unter anderem einen Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG. Das Bundesarbeitsgericht habe die Frage vorlegen müssen, ob auch Vertragsverhältnisse erfasst seien, die vor der Mangold-Entscheidung abgeschlossen worden seien. Im Maßstabsteil stellte der Senat klar, dass das Bundesverfassungsgericht zu einer Vollkontrolle der Verletzung der Vorlagepflicht und Ausrichtung an der Rechtsprechung des Gerichtshofs zu Art. 267 Abs. 3 AEUV unionsrechtlich nicht verpflichtet sei, da das Unionsrecht selbst kein zusätzliches Rechtsmittel zur Überprüfung der Einhaltung der Vorlagepflicht verlange.75 Das Bundesverfassungsgericht sei auch kein „oberstes Vorlagenkontrollgericht“, sondern wache darüber, ob die Fachgerichte den Spielraum, der ihnen bei der Auslegung und Anwendung des Unionsrechts zukomme, wahren würden.76 Auf den Kontrollmaßstab aus der Entscheidung BVerfGK 17, 108 ging der Senat nicht ein und zitierte diese nur mit dem auslegungsfähigen Hinweis „anders“. Gleichzeitig präzisierte der Senat seine Rechtsprechung zu den drei oben genannten Fallgruppen. So sei bei Unvollständigkeit der Rechtsprechung des Gerichtshofs ein Verstoß gegen Art. 101
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BVerfG a.a.O. BVerfGE 126, 286. 73 EuGH, Urteil vom 22. November 2005, Rs. C-144/04, Slg. 2005, S. I-9981. 74 Diese Regelung erlaubte den Abschluss befristeter Arbeitsverträge mit Arbeitnehmern, die älter als 52 Jahre sind, uneingeschränkt, sofern nicht zu einem vorhergehenden unbefristeten Arbeitsvertrag mit demselben Arbeitgeber ein enger sachlicher Zusammenhang bestand. Der Europäische Gerichtshof (a.a.O.) stellte fest, dass Gemeinschaftsrecht und insbesondere Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78/EG einer nationalen Regelung wie der des § 14 Abs. 3 Satz 4 TzBfG entgegenstünden. 75 BVerfGE 126, 286 (316). 76 BVerfG a.a.O. 72
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Abs. 1 Satz 2 GG bereits dann zu verneinen, wenn das Gericht die entscheidungserhebliche Frage in zumindest vertretbarer Weise beantwortet habe.77 In der Sache verneinte der Senat einen Verfassungsverstoß. Dabei beschränkte er sich indes nicht darauf, die Würdigung der für den Fall maßgeblichen materiell-rechtlichen Frage der Unanwendbarkeit des § 14 Abs. 3 Satz 4 TzBfG durch das Bundesarbeitsgericht als vertretbar anzusehen. In Anlehnung an die hergebrachte Fallgruppen-Rechtsprechung aus dem 82. Band wies er darauf hin, dass der Gerichtshof die Frage der Unanwendbarkeit in der Mangold-Entscheidung mit der gebotenen Eindeutigkeit festgestellt habe, weshalb sich das Bundesarbeitsgericht nicht unter dem Gesichtspunkt der Unvollständigkeit der Rechtsprechung als zur Vorlage verpflichtet ansehen musste.78 5. Rechtsprechungsentwicklung seit der Honeywell-Entscheidung a) BVerfGK 17, 533 – Urheberrechtsabgabe Gut einen Monat nach der Honeywell-Entscheidung stellte die 2. Kammer des Ersten Senats unter Verweis auf BVerfGK 17, 108 klar, dass Bezugspunkt der Vertretbarkeitsprüfung vorrangig die Handhabung der Vorlagepflicht sei und nicht die fachgerichtliche Auslegung des Unionsrechts.79 Nicht auf den ersten Blick erschließt sich angesichts dessen der Hinweis der Kammer, dies entspreche dem Honeywell-Beschluss, der eine vertretbare Beantwortung der entscheidungserheblichen Frage verlange.80 Immerhin bezieht sich der Zweite Senat an der angesprochenen Stelle auf die materiell-rechtliche Auslegung des Unionsrechts, die nach dem Maßstab der Kammerentscheidung gerade nicht Kontrollgegenstand sein soll.81 Letztlich darf der Hinweis so verstanden werden, dass es auf die Vertretbarkeit der Handhabung der Zuständigkeitsregel des Art. 267 Abs. 3 AEUV nicht mehr ankommt, wenn bereits die Interpretation des materiellen Unionsrechts durch das Fachgericht nicht mehr verständlich ist. Auch in weiteren Kammerentscheidungen des Ersten Senats findet sich in unterschiedlichen Nuancen eine positive Bezugnahme auf den Honeywell-Beschluss.82
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BVerfG a.a.O., S. 317. BVerfG a.a.O., S. 317 f. 79 BVerfGK 17, 533 (544) unter Verweis auf BVerfGE 126, 286 (317). 80 BVerfGK 17, 533 (544). 81 So auch Britz, NJW 2012, S.1313 (1314). 82 Vgl. BVerfGK 18, 211 (218); BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 21. Dezember 2010 – 1 BvR 506/09 –, juris Rn. 16; Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 16. Mai 2012 – 1 BvR 96/09 u.a. –, NZG 2012, S. 907 (910) „der Sache nach ebenso gehandhabt in …“. 78
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b) BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 5. Januar 2011 – 1 BvR 2870/10 –, NJW 2011, S. 1131 – Altersgrenze von Notaren Die 2. Kammer des Ersten Senats ging im Januar 2011 noch einen Schritt weiter. Zwar hielt sie daran fest, dass vorrangig die Handhabung der Vorlagepflicht zu untersuchen sei. Dann nahm sie aber ausdrücklich Bezug auf den Honeywell-Beschluss des Zweiten Senats und wollte im Fall der Unvollständigkeit der Rechtsprechung (Fallgruppe 3) einen Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verneinen, wenn das nationale Gericht die entscheidungserhebliche Frage in zumindest vertretbarer Weise beantwortet habe.83 Umgekehrt liege eine Verletzung von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG insbesondere dann vor, wenn mögliche Gegenauffassungen zu der entscheidungserheblichen Frage des Unionsrechts gegenüber der vom Gericht vertretenen Meinung eindeutig vorzuziehen seien.84 Mit Einschränkungen bedarf es nach dieser Rechtsprechung nicht mehr der Prüfung, ob das Fachgericht willkürfrei die Zuständigkeitsvorschrift des Art. 267 Abs. 3 AEUV gehandhabt hat, das heißt im Rahmen seines Beurteilungsspielraums vertretbar davon ausging, dass die entscheidungserhebliche Frage bereits durch den Gerichtshof zweifelsfrei geklärt worden sei oder dass die Rechtslage eindeutig sei. Gleichzeitig verdeutlicht die Entscheidung, dass bei der Frage, ob Bezugspunkt der Vertretbarkeitsprüfung die Auslegung des materiellen Unionsrechts durch das Fachgericht oder der Umgang mit der Zuständigkeitsvorschrift des Art. 267 Abs. 3 AEUV ist, die Grenzen fließend sind.85 So verneinte die Kammer eine unhaltbare Handhabung des Art. 267 Abs. 3 AEUV mit der Begründung, der Bundesgerichtshof sei nicht bewusst von der Rechtsprechung des Gerichtshofs abgewichen (Fallgruppe 2), weil er nachvollziehbar ausgeführt habe, dass es sich bei der in §§ 47, 48a BNotO geregelten gesetzlichen Altersgrenze unter Berücksichtigung der bisherigen Rechtsprechung des Gerichtshofs offenkundig um eine zulässige Ungleichbehandlung im Sinne der Richtlinie 2000/78/EG handele.86 c) BVerfGE 128, 157 – Universitätsklinikum Gießen und Marburg; 129, 78 – Le Corbusier; 129, 186 – Investitionszulagengesetz In drei Beschlüssen aus dem Jahr 2011 griff der Erste Senat die Option, einerseits dahinstehen zu lassen, ob die Vorlagepflicht willkürfrei gehandhabt
83 BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 5. Januar 2011 – 1 BvR 2870/10 –, NJW 2011, S. 1131; ähnlich BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 10. März 2011 – 1 BvR 2891/07 –, juris Rn. 8. 84 BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 5. Januar 2011 – 1 BvR 2870/10 –, NJW 2011, S. 1131. 85 In der Sache ebenso Britz, NJW 2012, S. 1313 (1314). 86 BVerfG a.a.O., S. 1132.
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wurde, und andererseits unter Rückgriff auf eine materiell-rechtliche Prüfung einen Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG zu verneinen, nicht (mehr) auf. Vielmehr bekräftigt er die übrige Kammerrechtsprechung des Senats, wonach in erster Linie die Handhabung der Vorlagepflicht am Willkürmaßstab zu messen sei.87 In der Sache prüfte der Erste Senat in der Le Corbusier-Entscheidung, ob der Bundesgerichtshof die C.I.L.F.I.T.Kriterien willkürfrei gehandhabt hatte. So sei der Bundesgerichtshof vertretbar davon ausgegangen, dass der Gerichtshof die unionsrechtliche Frage vollständig geklärt habe und damit keine vernünftigen Zweifel an der Auslegung des Unionsrechts bestünden.88 In einem späteren Beschluss arbeitete die 3. Kammer des Erstens Senat den Zusammenhang zwischen den C.I.L.F.I.T.Kriterien des Unionsrechts und dem Willkürmaßstab des nationalen Rechts noch einmal deutlich heraus. Sie stellte klar, dass ein letztinstanzliches Gericht im Fall der Unvollständigkeit der Rechtsprechung seinen Beurteilungsspielraum nicht überschreite, wenn es vertretbar von einem acte éclairé oder von einem acte clair ausgehe.89 d) BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 24. Oktober 2011 – 2 BvR 1969/09 –, NVwZ 2012, S. 426 Auch in der Kammerrechtsprechung des Zweiten Senats finden sich Nuancierungen des Prüfungsmaßstabs. Ohne ausdrückliche Bezugnahme auf dessen Rechtsprechung betonte die 2. Kammer des Zweiten Senats in Anlehnung an den Ersten Senat, dass entscheidend sei, ob die Zuständigkeitsnormen durch die Fachgerichte unhaltbar gehandhabt worden seien. Demgegenüber sei das „Vorliegen einer eindeutig vorzugswürdigen Gegenauffassung [zu der entscheidungserheblichen Frage] […] nur ein90, wenn auch gewichtiger, Anhalt für eine Verletzung des Rechts aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG durch unterlassene Vorlage an den Gerichtshof“.91 In einem
87 BVerfGE 128, 157 (188) – Universitätsklinikum Gießen und Marburg; 129, 78 (106 f.) – Le Corbusier; 129, 186 (204) – Investitionszulagengesetz. 88 BVerfGE 129, 78 (107); in BVerfGE 128, 157 verneinte das Bundesverfassungsgericht bereits die Entscheidungserheblichkeit der unionsrechtlichen Frage (a.a.O., S. 192). Gegenstand von BVerfGE 129, 186 war eine konkrete Normenkontrolle gemäß Art. 100 Abs. 1 GG und die Ausführungen zu den Voraussetzungen des Art. 101 Abs.1 Satz 2 GG im Fall der Nichtvorlage erfolgten nur obiter dictum. 89 BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Erstens Senats vom 29. Mai 2012 – 1 BvR 3201/11 –, NZA 2013, S. 164 (166); ebenso BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 17. Januar 2013 – 1 BvR 121/11 u.a. –, NZG 2013, S. 464 (465); Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 23. Dezember 2013 – 1 BvR 512/11 –, www.bverfg.de, (S. 2 des Ausdrucks). 90 Hervorhebung des Verf. 91 BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 24. Oktober 2011 – 2 BvR 1969/09 –, NVwZ 2012, S. 426 (428).
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Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats aus dem Jahr 2008, auf den sich die 2. Kammer in der zitierten Entscheidung bezog, wurde dementsprechend ein Verfassungsverstoß angenommen, obwohl aus Sicht der Kammer dort die Gegenauffassung zu der des nicht vorlegenden Gerichtes nicht eindeutig vorzuziehen gewesen sei. Entscheidend sei, dass das Fachgericht sich bereits nicht ausreichend mit der Klärungsbedürftigkeit der unionsrechtlichen Frage befasst und deswegen seinen Beurteilungsspielraum überschritten habe.92 Auf den ergänzenden Hinweis, dass die eindeutige Vorzugswürdigkeit einer Gegenauffassung nur indizielle Bedeutung für das Vorliegen einer Verletzung des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG habe, ist die 2. Kammer des Zweiten Senats in einem wenige Wochen später ergangenen Beschluss, der sich an den Honeywell-Kriterien orientiert, nicht mehr eingegangen.93 6. Auf dem Weg ins Plenum? Reaktionen im Schrifttum Mit Blick auf die Entscheidungen zu Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG seit dem Honeywell-Beschluss gehen einige Autoren davon aus, dass inzwischen die Kontrollmaßstäbe der beiden Senate trotz gegenteiliger Bekundungen divergieren würden94 beziehungsweise in „offenkundigem Widerspruch“ zueinander stünden.95 Vor einem „Konflikt innerhalb des Gerichts“, der institutionelle Probleme in sich berge und zu Rechtsunsicherheit führe, wird gewarnt.96 Kritisiert werden in diesem Zusammenhang der Prüfungsmaßstab des Zweiten Senats97 sowie der Umstand, dass das Bundesverfassungsgericht entgegen unionsrechtlicher Anforderungen auf eine Vollkontrolle der Beachtung der Kriterien des Art. 267 Abs. 3 AEUV im Sinne der Rechtsprechung des Gerichtshofs verzichte.98 Andere Autoren messen Unterschieden in den Prüfungsmaßstäben der beiden Senate ein geringeres Gewicht bei.99 Zwar
92
Zum Ganzen BVerfGK 14, 143 (156). Vgl. BVerfGK 19, 197 (206). 94 Vgl. Haensle, DVBl 2012, S. 811 (817); von Ungern-Sternberg, AöR 138 (2013), S. 1 (43), die den Grund für die „Leugnung der Rechtsprechungsdivergenz“ im „horror pleni“ sieht (a.a.O., Fn. 193); Herresthal, EWiR 2013, S. 381 (382); Herz, DÖV 2013, S. 769 (771). 95 So Schoch, in: Bruns/Kern/Münch/Piekenbrock/Stadler/Tsikrikas (Hrsg.), FS Stürner, 2013, S. 43 (52 f.). 96 Schröder, EuR 2011, S. 808 (825). 97 Vgl. Herz, DÖV 2013, S. 769 (772); Fastenrath, JZ 2013, S. 299 (300 f.); Schröder, EuR 2011, S. 808 (820). 98 Kritisch Classen, JZ 2010, S. 1186 (1187); Haensle, DVBl 2012, S. 811 (818); Sauer, EuZW 2011, S. 94 (96) von Ungern-Sternberg, AöR 138 (2013), S. 1 (45). 99 Vgl. auch Michael, JZ 2012, S. 870 (871), der annimmt, die Distanzierung des Zweiten Senats in BVerfGE 126, 286 (316) („anders…) beruhe auf einer „missverständlichen Überinterpretation“ der Ausführungen in dem Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats (BVerfGK 17, 108). 93
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setze die Prüfung des Ersten Senats im Grundsatz bei der Frage an, ob die Zuständigkeitsnorm des Art. 267 AEUV willkürlich gehandhabt worden sei, was in der Regel der Fall sei, wenn das Ausgangsgericht eine eigene Lösung entwickelt habe, die nicht auf die bestehende Rechtsprechung des Gerichtshofs zurückgeführt werden könne. Demgegenüber sei in der Rechtsprechung des Zweitens Senats die Vertretbarkeit der Auslegung des materiellen Unionsrechts der vorrangige Anknüpfungspunkt.100 Ungeachtet dessen bestehe aber weitgehend Einigkeit zwischen den Senaten, dass bei einer offenkundig richtigen Auslegung des materiellen Rechts durch das letztinstanzliche Gericht kein Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG vorliege, während eine Verletzung zu bejahen sei, wenn eine Gegenauffassung zu der des Fachgerichts eindeutig vorzuziehen sei.101 Es könnten sich aber Differenzen zwischen den beiden Ansätzen ergeben, wenn für die vom Gericht gewählte – und der Nichtvorlage zu Grunde liegende – Auslegung des Unionsrechts ähnlich gute Gründe sprächen wie für die Gegenauffassung.102 7. Urteil des Zweiten Senats vom 28. Januar 2014 – Filmförderungsabgabe103 In die Diskussion um die Frage eines mögliches Auseinanderfallens der Prüfungsmaßstäbe der Senate dürfte nun die aktuelle Entscheidung des Zweiten Senats vom 28. Januar 2014 zur Verfassungsmäßigkeit der Erhebung einer Filmabgabe gemäß § 66 Filmförderungsgesetz eine gewisse Klarheit bringen, da der Senat in einigen Punkten seinen Maßstab ergänzte beziehungsweise präzisierte. Die Beschwerdeführer, mehrere Kinobetreiber, hatten unter anderem gerügt, das Bundesverwaltungsgericht habe sie ihrem gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) dadurch entzogen, dass es dem Gerichtshof nicht die entscheidungserhebliche Frage vorgelegt habe, ob Beihilfen zur Förderung der Kultur und der Erhaltung des kulturellen Erbes im Sinne des Art. 87 Abs. 3 Buchst. d EG (jetzt Art. 107 Abs. 3 Buchst. d AEUV) auch solche Beihilfen sein können, die aus nationalstaatlicher Sicht im Schwerpunkt überwiegend der Förderung der Wirtschaft dienen und nur in der Nebenfolge der Förderung der Kultur und der Erhaltung des kulturellen Erbes. Gleich zu Beginn der Ausführungen zu Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG überrascht der Senat mit dem Hinweis, dass ein Fall der Entziehung des gesetzlichen Richters auch gegeben sein könne, wenn ein deutsches Gericht ein Vorabentscheidungsersuchen stelle, obwohl eine Zuständigkeit des Gerichts-
100 101 102 103
Britz, NJW 2012, S. 1313 (1314); Calliess, NJW 2013, S. 1905 (1908). Britz a.a.O; Calliess a.a.O., S. 1909 f. jeweils m.w.N. So Britz a.a.O., S. 1315; zustimmend Calliess, a.a.O., S. 1909. 2 BvR 1561/12, 1562/12, 1563/12, 1564/12.
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hofs nicht gegeben sei.104 Dabei verweist er auf eine Passage in dem Urteil des Ersten Senats zum Antiterrordatei-Gesetz, in der der Senat eine Anwendbarkeit der Grundrechtecharta auch im Hinblick auf die Ausführungen des Gerichtshofs zur Reichweite des Art. 51 Abs. 1 Satz 1 GrCh in der Åkerberg Fransson-Entscheidung105 ablehnte und deswegen keine Notwendigkeit für eine Vorlage sah.106 In welchen prozessualen Konstellationen eine verfassungswidrige Vorlage eine Rolle spielen könnte, lässt der Senat offen. Mit Einschränkungen darf die oben genannte Ergänzung des Maßstabs auch als mahnender Hinweis an die Fachgerichte verstanden werden, nicht vorschnell auf der Grundlage des weitgehenden Verständnisses des Gerichtshofs vom Anwendungsbereich der Charta in Åkerberg Fransson ein Vorabentscheidungsersuchen vorzunehmen. Indirekt geht der Senat auch auf die Forderungen im Schrifttum107 ein, die Beachtung der Voraussetzungen des Art 267 Abs. 3 AEUV durch die Fachgerichte einer Vollkontrolle zu unterziehen und dabei die C.I.L.F.I.T.-Kriterien, die im Wesentlichen keinen Auslegungsspielraum belassen, zu übernehmen. Der Senat bekräftigt seine Auffassung, dass es den Fachgerichten obliege, die Befolgung der Zuständigkeitsregeln zu beachten, während das Bundesverfassungsgericht sich im Rahmen des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG entsprechend seinem Kontrollauftrag auf eine Willkürprüfung beschränke.108 Dementsprechend will der Senat auch weiterhin die Auslegung und Anwendung des Art. 267 Abs. 3 AEUV durch die Fachgerichte nur einer Willkürprüfung unterziehen und sich nicht zum „obersten Vorlagenkontrollgericht“ aufschwingen.109 Soweit er den Fachgerichten in diesem Kontext einen Beurteilungsspielraum einräumt, bezieht sich dies auf den Umgang mit den C.I.L.F.I.T.-Kriterien. Weiterhin hält der Senat an den bereits im 82. Band herausgearbeiteten Fallgruppen fest, wobei er im Gegensatz zu früheren Entscheidungen durch Weglassen des Wortes „insbesondere“ den Eindruck erweckt, diese Fallgruppen seien nunmehr abschließend.110 Hier wird die weitere Entwicklung der Rechtsprechung abzuwarten sein.
104 BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 28. Januar 2014 – 2 BvR 1561/12, 1562/12, 1563/12, 1564/12 –, www.bverfg.de, Rn. 177. 105 EuGH, Urteil vom 7. Mai 2013, Rs. C-617/10, Åklagare/Hans Åkerberg Fransson, NJW 2013, S. 1415. 106 BVerfG, Urteil des Ersten Senats vom 24. April 2013 – 1 BvR 1215/07 –, NJW 2013, S. 1499 (1501). 107 S.o. IV. 6. 108 BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 28. Januar 2014 – 2 BvR 1561/12, 1562/12, 1563/12, 1564/12 –, www.bverfg.de, Rn. 179. 109 BVerfG a.a.O., Rn. 180. 110 BVerfG a.a.O., Rn. 181.
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Die eigentliche Neuerung des Urteils findet sich dann in den Ausführungen zum Maßstabsteil bezüglich der Fallgruppe der Unvollständigkeit der Rechtsprechung. So stellt der Senat – parallel zur (Kammer-)Rechtsprechung des Erstens Senats111 – klar, dass eine unvertretbare Überschreitung des Beurteilungsrahmens jedenfalls anzunehmen sei, wenn die Fachgerichte das Vorliegen eines acte clair oder acte éclairé willkürlich bejahen würden. Der Senat hält die Gerichte zu diesem Zweck an, sich hinsichtlich des materiellen Unionsrechts hinreichend kundig zu machen. Einschlägige Rechtsprechung des Gerichtshofs sei auszuwerten und die Entscheidung daran zu „orientieren“.112 Auf dieser Grundlage müsse das Fachgericht unter Auslegung und Anwendung des materiellen Unionsrechts die vertretbare Überzeugung bilden, dass die Rechtslage entweder von vornherein eindeutig oder durch die Rechtsprechung in einer Weise geklärt sei, die keinen vernünftigen Zweifel offenlasse.113 Bejahe ein Fachgericht im Fall der Unvollständigkeit umgekehrt ohne sachlich einleuchtende Begründung eine von vornherein eindeutige oder zweifelsfrei geklärte Rechtslage, werde Art. 267 Abs. 3 AEUV unvertretbar gehandhabt.114 Der Senat verzichtet auf seine seit der Honeywell-Entscheidung kontrovers diskutierte Formulierung, dass ein Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG jedenfalls nicht gegeben sei, wenn die entscheidungserhebliche Frage des Unionsrechts in vertretbarer Weise beantwortet worden sei.115
V. Fazit Mit dem Urteil des Zweiten Senats zur Filmförderungsabgabe dürfte die Diskussion über unterschiedliche Kontrollmaßstäbe der beiden Senate vorläufig ihren Abschluss gefunden haben. Ohnehin wurden Differenzen in der Rechtsprechung in der Vergangenheit überbewertet. So herrschte zwischen den Senaten Einigkeit darüber, dass das Bundesverfassungsgericht wie in Fällen ohne Unionsrechtsbezug den Umgang der Fachgerichte mit Verfahrens- beziehungsweise Zuständigkeitsregeln lediglich einer Willkürkontrolle unterzieht. Eine Aufgabe der im 82. Band entwickelten Fallgruppen zugunsten einer Übernahme der C.I.L.F.I.T.-Kriterien erfolgte nicht. Des Weiteren räumten beide Senate im Fall der Unvollständigkeit der Rechtsprechung
111
BVerfG a.a.O., Rn. 183. BVerfG a.a.O., Rn. 184. 113 BVerfG a.a.O. 114 BVerfG a.a.O., Rn. 185; in der Sache verneinte der Senat eine Verletzung des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG, da das Bundesverwaltungsgericht willkürfrei vom Vorliegen eines acte clair ausgegangen sei (vgl. BVerfG a.a.O., Rn. 186). 115 Vgl. BVerfGE 126, 286 (317). 112
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(Fallgruppe 3) den Fachgerichten einen Spielraum bei der Auslegung und Anwendung des Unionsrechts ein. Nuancen bestanden hier bei der Frage, welcher Anknüpfungspunkt für die Vertretbarkeitsprüfung zu wählen ist beziehungsweise unter welchem Gesichtspunkt die fachgerichtliche Auslegung des Unionsrechts zu untersuchen ist. Indem der Erste Senat, etwa in der Kammerentscheidung zu der Altersgrenze von Notaren116 und in der Le Corbusier-Entscheidung117, darauf abstellte, ob das Fachgericht vertretbar begründet hatte, dass die (unionsrechtliche) Rechtslage eindeutig (acte clair) oder durch die Rechtsprechung geklärt (acte éclairé) sei, setzte er auch bei der fachgerichtlichen Interpretation des materiellen Unionsrechts an; dieser Ansatz unterscheidet sich primär konstruktiv von dem des Zweiten Senats im Honeywell-Beschluss.118 Mit dem Urteil des Zweiten Senats zur Filmförderungsabgabe erfolgte in diesem Punkt eine Anpassung der Maßstäbe. Freilich bleiben auch nach Konsolidierung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts angesichts der Fortgeltung des Willkürmaßstabes in Einzelfällen Verstöße gegen die Vorlagepflicht sanktionslos. Wer dies als unbefriedigend empfindet, darf nicht übersehen, dass im Unionsrecht beziehungsweise in anderen nationalen Prozessordnungen119 keine (effektiven) Rechtsschutzmöglichkeiten bei Vorlagepflichtverletzungen existieren. Die Beseitigung möglicher Rechtsschutzdefizite ist an dieser Stelle im Grundsatz nicht die Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts, sondern des Gesetzgebers, dem Änderungen des nationalen Rechts beziehungsweise des Unionsrechts in diesem Punkt freistehen. Das Bundesverfassungsgericht begleitet und unterstützt durch seine Rechtsprechung zu Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG den Dialog zwischen den nationalen Fachgerichten und dem Gerichtshof.
116 BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 5. Januar 2011 – 1 BvR 2870/10 –, NJW 2011, S. 1131 (1132). 117 BVerfGE 129, 78 (106 f.). 118 Vgl. Britz, NJW 2012, S. 1313 (1314); Michael, JZ 2013, S. 870 (873). 119 Vgl. die Übersicht bei Betz, Die verfassungsrechtliche Absicherung der Vorlagepflicht, 2013, S. 56 ff.
Die Quadratur des Kreises Versuch einer verfassungsgemäßen Verständigung im Strafverfahren Daniel Volp Leitentscheidung des Bundesverfassungsgerichts (Senat) BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 19. März 2013 – 2 BvR 2628/10, 2 BvR 2883/10, 2 BvR 2155/11 –, juris –Verständigung im Strafverfahren Kammerentscheidungen BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 27. Januar 1987 – 2 BvR 1133/86 –, NJW 1987, S. 2662 f. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 14. Mai 1999 – 2 BvR 592/99 –, juris BVerfGK 7, 71 BVerfGK 7, 140 BVerfGK 19, 318 BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 30. Juni 2013 – 2 BvR 85/13 –, NStZ-RR 2013, S. 315 f. Schrifttum (Auswahl) Altenhain, Zum künftigen Umgang mit „brauchbarer Illegalität“, in: Jahn/Nack (Hrsg.), Rechtsprechung in Strafsachen zwischen Praxis und Theorie – zwei Seiten einer Medaille?, Referate und Diskussionen auf dem 4. Karlsruher Strafrechtsdialog, 2013, S. 63 ff.; Beulke/ Stoffer, Bewährung für den Deal? – Konsequenzen des BVerfG-Urteils vom 19. März 2013 für die Verständigungspraxis in deutschen Gerichtssälen –, JZ 2013, S. 662 ff.; Ceffinato, Die Regelung zur Verständigung im Strafprozess im Lichte der Rechtsprechung der Bundesgerichte, JA 2013, S. 873 ff.; Deal (alias: Hans-Joachim Weider), Der strafprozessuale Vergleich, StV 1982, S. 545 ff.; Dießner, Der „Deal“ nach „alter Schule“ im Lichte des Verständigungsgesetzes – eine strafrechtliche Risikoanalyse, StV 2011, S. 43 ff.; Eidam, Diskussionsbericht, in: Jahn/Nack (Hrsg.), Rechtsprechung in Strafsachen zwischen Praxis und Theorie – zwei Seiten einer Medaille?, Referate und Diskussionen auf dem 4. Karlsruher Strafrechtsdialog, 2013, S. 79 ff.; Fezer, Vom (noch) verfassungsgemäßen Gesetz über den defizitären Vollzug zum verfassungswidrigen Zustand, HRRS 2013, S. 117 ff.; Fischer, Die Deal-Entscheidung – Polemik über die rasselnden Federn der Justiz, in: Esser u.a. (Hrsg.), Festschrift für Hans-Heiner Kühne zum 70. Geburtstag, 2013, S. 203; Hamm, Wie kann das Strafverfahren jenseits der Verständigung künftig praxisgerechter gestaltet werden – sind Reformen des Strafprozesses erforderlich?, StV 2013, S. 652 ff.; von Heintschel-Heinegg, BVerfG segnet „Handel mit der Gerechtigkeit“ grundsätzlich ab, JA 2013, S. 474; Ignor, Die
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Verständigung im Strafverfahren
Bedeutung der „schützenden Formen“ bei der Verständigung, in: Jahn/Nack (Hrsg.), Rechtsprechung in Strafsachen zwischen Praxis und Theorie – zwei Seiten einer Medaille?, Referate und Diskussionen auf dem 4. Karlsruher Strafrechtsdialog, 2013, S. 71 ff.; Jahn, Die gesetzliche Regelung der Verständigung ist – derzeit noch – verfassungsgemäß, JuS 2013, S. 659 ff.; ders., „Das mag in der Theorie richtig sein …“, in: Jahn/Nack (Hrsg.), Rechtsprechung in Strafsachen zwischen Praxis und Theorie – zwei Seiten einer Medaille?, Referate und Diskussionen auf dem 4. Karlsruher Strafrechtsdialog, 2013, S. 7 ff.; Knauer/Lickleder, Die obergerichtliche Rechtsprechung zu Verfahrensabsprachen nach der gesetzlichen Regelung – ein kritischer Überblick, NStZ 2012, S. 366 ff.; Knauer, Die Entscheidung des BVerfG zur strafprozessualen Verständigung – Paukenschlag oder Papiertiger?, NStZ 2013, S. 433 ff.; König/Harrendorf, „Deal“: Ein Freispruch auf Bewährung und seine Auswirkungen, AnwBl. 2013, S. 321 ff.; Kudlich, Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit – die Entscheidung des BVerfG zur strafprozessualen Verständigung, NStZ 2013, S. 379; ders., Nichtigkeit eines Strafurteils nach informeller Verständigung und fehlender Sachaufklärung, NJW 2013, S. 3216 ff.; Löffelmann, Anmerkung (zur Entscheidung des BVerfG vom 19. März 2013), JR 2013, S. 333 ff.; Meyer, Die faktische Kraft des Normativen – Das BVerfG und die Verständigung im Strafverfahren, NJW 2013, S. 1850 ff.; Murmann, Reform ohne Wiederkehr? – Die gesetzliche Regelung der Absprachen im Strafverfahren, ZIS 2009, S. 526 ff.; Neumann, Informelle Urteilsabsprachen aus Sicht des Angeklagten. Zugleich ein Beitrag zur Entscheidung des BVerfG (2 BvR 2628/10) vom 19.3.2013, NJ 2013, S. 240 ff.; Niemöller, Anmerkung zur Verfassungsmäßigkeit des Verständigungsgesetzes, StV 2013, S. 419 ff.; Peters, Die Verständigung im Strafprozess – Mauschelei vor deutschen Gerichten oder notwendige Beschleunigung des Strafverfahrens?, rescriptum 2013, S. 131 ff.; Scheinfeld, Entscheidungsbesprechung zur Verfassungsgemäßheit der Verständigung im Strafverfahren, ZJS 2013, S. 296 ff.; Schünemann, Ein deutsches Requiem auf den Strafprozess des liberalen Rechtsstaats, ZRP 2009, S. 104 ff.; Staudinger, „Du, du, du… böser Junge!“ Kleine Anmerkung zum Deal, myops 19/2013, S. 77 ff.; Stuckenberg, Entscheidungsbesprechung zur Verfassungsgemäßheit der Verständigung im Strafverfahren, ZIS 2013, S. 212 ff.; Sturm, Das Absprachen-Urteil des BVerfG: „Freispruch auf Bewährung“, in: Jahn/Nack (Hrsg.), Rechtsprechung in Strafsachen zwischen Praxis und Theorie – zwei Seiten einer Medaille?, Referate und Diskussionen auf dem 4. Karlsruher Strafrechtsdialog, 2013, S. 49 ff.; Weigend, Anmerkung zur Verfassungsmäßigkeit des Verständigungsgesetzes, StV 2013, S. 424 ff. Inhalt I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Vorgeschichte: Der „Deal“ kommt ans Licht . . . . . . . . . . . . . . . . III. Entwicklung der Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Das Urteil des Bundesgerichtshofes vom 28. August 1997 – 4 StR 240/97 – . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Der Beschluss des Großen Senats für Strafsachen des Bundesgerichtshofs vom 3. März 2005 – GSSt 1/04 – . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 27. Januar 1987 – 2 BvR 1133/86 – . . . . . . . . . . . . . . . 3. weitere Kammerrechtsprechung zu Verständigungen im Strafverfahren . . IV. Die Entscheidung des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 19. März 2013 – 2 BvR 2628/10, 2 BvR 2883/10, 2 BvR 2155/11 – . . . . 1. Das Verständigungsgesetz und die Verfassungsbeschwerden . . . . . . . . . 2. Die wesentlichen Gründe der Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Das Wesen des Strafprozesses unter dem Grundgesetz und die verfassungsrechtlich garantierten Prozessgrundsätze . . . . . . . . . . .
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Daniel Volp b) Das „Regelungskonzept“ des Verständigungsgesetzes c) Verfassungsmäßigkeit des Regelungskonzeptes . . . d) Das Vollzugsdefizit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Wie kam es zu dieser Entscheidung? . . . . . . . . . . . V. Die (bisherige) Rezeption der Entscheidung . . . . . . . . 1. Die veröffentlichte (Fach-)Meinung . . . . . . . . . . . a) Die Unterstützer der Entscheidung . . . . . . . . . . b) Die Kritiker der Entscheidung . . . . . . . . . . . . . c) Der Kompromisscharakter . . . . . . . . . . . . . . . 2. Erste gerichtliche Entscheidungen . . . . . . . . . . . . 3. Erste Bewertung der strafrechtlichen Praxis . . . . . . . VI. Und nun? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I. Einleitung „Nach diesen Maßstäben kann zum gegenwärtigen Zeitpunkt die Verfassungswidrigkeit der gesetzlichen Regelung der Verständigung im Strafverfahren nicht festgestellt werden“1. „Der in erheblichem Maße defizitäre Vollzug des Verständigungsgesetzes führt derzeit nicht zur Verfassungswidrigkeit der gesetzlichen Regelung“2. Und: „Auch wenn derzeit aus dem defizitären Vollzug des Verständigungsgesetzes nicht auf eine Verfassungswidrigkeit der gesetzlichen Regelung geschlossen werden kann, muss der Gesetzgeber die weitere Entwicklung sorgfältig im Auge behalten … Unterbliebe dies, träte ein verfassungswidriger Zustand ein“3. Harte Worte des Zweiten Senates des Bundesverfassungsgerichts über eine gesetzliche Regelung und noch viel mehr über die gerichtliche (!) Praxis. Wie konnte das passieren?
II. Die Vorgeschichte: Der „Deal“ kommt ans Licht Die Verständigung, die Absprache oder der „Deal“ im Strafverfahren ist spätestens seit dem legendären Aufsatz von „Detlef Deal“ (alias: HansJoachim Weider) aus „Mauschelhausen“ aus dem Jahr 19824 Thema heftiger Diskussionen über die Praxis an Strafgerichten, sich mit den Prozessbeteiligten über eine mögliche Verfahrensbeschleunigung und -beendigung auszutauschen. Bei solchen „Urteilsabsprachen“ ging es – grob gesagt – um folgenden Handel: Für ein verfahrensabkürzendes „Geständnis“ bot das Gericht
1 BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 19. März 2013 – 2 BvR 2628/10, 2 BvR 2883/10, 2 BvR 2155/11 – Verständigung im Strafverfahren, juris Rn. 64. 2 BVerfG, a.a.O., Rn. 116. 3 BVerfG, a.a.O., Rn. 121. 4 Detlef Deal (alias: Hans-Joachim Weider), StV 1982, S. 545 ff.
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eine milde(re) Bestrafung an5. Die Vorteile lagen dabei auf der Hand: Die Gerichte und die Staatsanwaltschaften wurden entlastet, der Angeklagte erhielt eine niedrige(re) Strafe (als er sonst befürchtete), die Strafverteidiger konnten mehr Fälle übernehmen und damit ihre Einnahmen erhöhen6. Die kurze und nicht aufreibende Hauptverhandlung, das abgekürzte Urteil, das letztlich nicht mehr überprüft wird – all das war die „Verheißung …, allen Beteiligten das Leben angenehmer zu machen“7. Die Gründe, die für diese Anfälligkeit der Justiz für – irgendwie geartete – Verständigungen angeführt werden, sind vielfältig. Der Zweite Senat zählt als mögliche Ursachen die stetig wachsende Arbeitsbelastung der Strafjustiz, die steigende Komplexität der Fallgestaltungen, die zunehmende Regelungsdichte des materiellen Strafrechts, eine gestiegene Differenzierung im Prozessrecht – etwa in der Rechtsprechung zu Beweisverwertungsverboten – und die extensive Nutzung von Verfahrensrechten durch eine (Konflikt-) Verteidigung, das Beschleunigungsgebot in Haftsachen und auch die Bewertung der Arbeitsleistung der Justiz anhand quantitativer Kriterien auf 8. Dies schaffe Anreize, eine möglichst rasche Verfahrenserledigung auch unter Inkaufnahme inhaltlicher Defizite anzustreben, zumal der steigenden Belastung der Strafjustiz nicht durch eine entsprechende personelle und sachliche Ausstattung begegnet werde9.
III. Die Entwicklung der Rechtsprechung Während sich das Bundesverfassungsgericht bis zur Entscheidung vom 19. März 2013 nur selten mit Verständigungen und Urteilsabsprachen im Strafverfahren befassen musste, war der Bundesgerichtshof häufig – und mit zunehmender Tendenz – mit diesem Thema beschäftigt und hat schließlich den Gesetzgeber dazu aufgefordert, hier eine gesetzliche Regelung zu schaffen. Es lohnt daher, sich auch kurz die fachgerichtliche Rechtsprechung anzuschauen, bevor die verfassungsgerichtlichen Entscheidungen in den Blick genommen werden.
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Scheinfeld, ZJS 2013, S. 296 ff. Peters, rescriptum 2013, S. 131. 7 Stuckenberg, ZIS 2013, S. 212 (214 ff.); Scheinfeld, ZJS 2013, S. 296 (296). 8 BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 19. März 2013 – 2 BvR 2628/10, 2 BvR 2883/10, 2 BvR 2155/11 –, juris Rn. 3 – Verständigung im Strafverfahren. 9 BVerfG, a.a.O., Rn. 3. 6
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1. Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes Der Bundesgerichtshof reagierte zunächst ablehnend auf die ihm vorgelegten Fälle, in denen es offenbar zu Absprachen – meist außerhalb oder am Rande der Hauptverhandlung – gekommen war10. Diese strenge Haltung gab er aber, vielleicht unter dem Druck des Faktischen, zunehmend auf. a) Das Urteil des Bundesgerichtshofs vom 28. August 1997 – 4 StR 240/97 – In seiner „Leitentscheidung“11 vom 28. August 1997 erklärte der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs eine in der Hauptverhandlung getroffene Verständigung für zulässig und letztlich verbindlich, auch wenn das Strafverfahren und die Prozessordnung grundsätzlich vergleichsfeindlich seien, wenn bestimmte Vorgaben eingehalten werden12: Der Schuldspruch sei nicht verhandelbar, das Geständnis müsse – gegebenenfalls durch notwendige Beweiserhebungen – auf seine Glaubhaftigkeit überprüft werden. All dies habe in der öffentlichen Hauptverhandlung zu erfolgen, wobei Vorgespräche außerhalb der Verhandlung möglich seien, alle Beteiligten seien einzubeziehen und das Ergebnis sei im Verhandlungsprotokoll festzuhalten. Die Willensfreiheit des Angeklagten müsse gewährt bleiben, so dass vor allem keine Androhung einer zu hohen Strafe oder das Versprechen eines gesetzlich nicht vorgesehenen Vorteils zur Geständniserlangung erfolgen dürften. Eine konkrete Strafzusage sei nicht zulässig, wohl aber die Zusage einer Strafobergrenze, an die das Gericht gebunden sei, wenn sich nicht schwerwiegende Umstände zu Lasten des Angeklagten ergäben, auf die hinzuweisen sei. Ein Rechtsmittelverzicht dürfe nicht vereinbart werden. Der Bundesgerichtshof unternahm damit den Versuch, das allgegenwärtige Absprechen von Strafurteilen beziehungsweise -verfahren in geregelte und möglichst prozessordnungsgemäße Bahnen zu lenken. b) Der Beschluss des Großen Senats für Strafsachen des Bundesgerichtshofs vom 3. März 2005 – GSSt 1/04 – Am 3. März 2005 hat dann der Große Strafsenat des Bundesgerichtshof einen „geradezu beschwörenden Appell an den Gesetzgeber gerichtet“13, „die grundsätzlichen Fragen der Gestaltung des Strafverfahrens und damit auch die Rechtsregeln, denen die Urteilsabsprache unterworfen sein soll,
10 Z.B. BGH, Urteil des 2. Strafsenats vom 5. September 1984 – 2 StR 347/84 –, StV 1984, S. 449; BGHSt 37, 298; BVerfG, a.a.O., Rn. 5 m.w.N. 11 So auch: BVerfG, a.a.O., Rn. 6. 12 BGHSt 43, 195. 13 Schünemann, ZRP 2009, S. 104.
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festzulegen“14 – quasi zur „Formalisierung des Informellen“15. Denn der Große Strafsenat sah sich genötigt festzustellen: „An den dem Bundesgerichtshof zur Entscheidung unterbreiteten Fällen wird deutlich, dass sich die Verständigung zwischen den Prozessbeteiligten zunehmend von einem mit der Strafprozessordnung problemlos zu vereinbarenden „offenen Verhandeln“ des Gerichts in Form der Bekanntgabe einer dem jeweiligen Verfahrensstand entsprechenden Prognose entfernt. Die Urteilsabsprache bewegt sich hingegen in die Richtung einer quasivertraglichen Vereinbarung zwischen dem Gericht und den übrigen Verfahrensbeteiligten. Die Strafprozessordnung in ihrer geltenden Form ist jedoch am Leitbild der materiellen Wahrheit orientiert, die vom Gericht in der Hauptverhandlung von Amts wegen zu ermitteln und der Disposition der Verfahrensbeteiligten weitgehend entzogen ist. Versuche der obergerichtlichen Rechtsprechung, Urteilsabsprachen, wie sie in der Praxis inzwischen in großem Umfang üblich sind, im Wege systemimmanenter Korrektur von Fehlentwicklungen zu strukturieren oder – wie die vorstehende Lösung zeigt – unter Schaffung neuer, nicht kodifizierter Instrumentarien ohne Bruch in das gegenwärtige System einzupassen, können daher nur unvollkommen gelingen und führen stets von neuem an die Grenzen zulässiger Rechtsfortbildung“16.
2. Der Beschluss 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 27. Januar 1987 – 2 BvR 1133/86 –17 Bereits vor diesen Leitentscheidungen des Bundesgerichtshofs hatte das Bundesverfassungsgericht im Jahr 1987 in einer Kammerentscheidung eine Verständigung im Strafverfahren unter den Gesichtspunkten des fairen Verfahrens, des Schuldprinzips und der Gewährleistung einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege geprüft und festgestellt, „die vom Beschwerdeführer gerügte, auf seine Initiative hin … erfolgte Verständigung zwischen Gericht, Staatsanwaltschaft und Verteidigung über den Rechtsfolgenausspruch, ein vom Beschwerdeführer in Aussicht gestelltes Geständnis … begegnet bei der hier gegebenen besonderen Sachverhaltsgestaltung keinen durchgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenken“18. Ausgeschlossen sei, „die Handhabung der richterlichen Aufklärungspflicht, die rechtliche Subsumtion und die Grundsätze der Strafbemessung in einer Hauptverhandlung, die letztlich mit einem Urteil zur Schuldfrage
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BGHSt 50, 40 (64). Ceffinato, JA 2013, S. 873 (874); von Heintschel-Heinegg, in: KMR-StPO, § 257c Rn. 8 (56. EL, November 2009). 16 BGHSt 50, 40 (64). 17 BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 27. Januar 1987 – 2 BvR 1133/86 –, NJW 1987, S. 2662 f. 18 BVerfG, a.a.O., S. 2662. 15
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abschließen soll, ins Belieben oder zur freien Disposition … zu stellen“19. Untersagt sei daher, „sich auf einen ‚Vergleich‘ im Gewande des Urteils, auf einen ‚Handel mit der Gerechtigkeit‘ einzulassen“20. 3. Weitere Kammerrechtsprechung zu Verständigungen im Strafverfahren In der Kammerrechtsprechung findet sich neben einer nicht hinreichend begründeten Verfassungsbeschwerde aufgrund einer fehlgeschlagenen Absprache, die nicht zur Entscheidung angenommen wurde21, und einer stattgebenden Entscheidung zu einem Haftfortdauerbeschluss, zu dem die Kammer unter anderem feststellt, dass das Fachgericht bei einem neuen Beschluss zu beachten habe, dass „die Strafjustiz darüber hinaus durch die in der Hauptverhandlung … getroffene und protokollierte Verständigung im Hinblick auf eine bedingte Entlassung des Beschwerdeführers zum Zwei-Drittel-Zeitpunkt einen Vertrauenstatbestand geschaffen“22 habe, vor allem ein Beschluss vom 8. Dezember 2005, also kurz nach dem „Appell“ des Bundesgerichtshofs an den Gesetzgeber. Unter der Überschrift „Verfassungsrechtliche Grenzen der Anforderungen an die Revisionsrüge bei Absprachen im Strafverfahren“ in der amtlichen Sammlung der Kammerentscheidungen ist ein stattgebender Beschluss23 wiedergegeben, der sich mit den – als verfassungsrechtlich zu hoch angesehenen – Anforderungen an das Rügevorbringen für die Zulässigkeit einer Verfahrensrüge befasst, wenn der Beschwerdeführer geltend macht, in seinem Recht auf effektiven Rechtsschutz verletzt worden zu sein: Hier sei der Zugang zum Revisionsgericht durch die Auslegung und Anwendung von § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO in einer Weise erschwert worden, die aus Sachgründen nicht zu rechtfertigen sei24. Denn die „gewollte oder geduldete Informalisierung des Verfahrens durch Absprachen im Strafverfahren [dürfe] nicht durch eine Überspannung der Anforderungen an den Vortrag zur Verfahrensrüge zum Ausschluss der rechtlichen Kontrolle dieser Verfahrensart praeter legem führen“25. Eine weitere Kammerentscheidung vom 5. März 2012 – und damit in der Zeit, in der die Verfassungsbeschwerden, die Gegenstand des Urteils des Zweiten Senats vom 19. März 2013 zur Verständigung im Strafverfahren
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BVerfG, a.a.O. S. 2663. BVerfG, a.a.O. 21 BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 14. Mai 1999 – 2 BvR 592/99 –, juris. 22 BVerfGK 7, 140 (163). 23 BVerfGK 7, 70. 24 BVerfGK 7, 70 (77 f.). 25 BVerfGE 7, 70 (80). 20
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wurden, bereits anhängig waren26 – legt zum „Umfang der richterlichen Sachaufklärungspflicht … hinsichtlich der Prüfung des Zustandekommens einer Verfahrensabsprache“27 fest, dass bei einer Rüge gegen die Art und Weise des Zustandekommens (also des „ob“) einer Verfahrensabsprache die Zweifel bei der Sachaufklärung nicht generell zu Lasten des Beschwerdeführer gehen dürften: Denn das „vom Angeklagten grundsätzlich zu tragende Risiko der Unaufklärbarkeit des Sachverhalts findet aber dort seine Grenze, wo die Unaufklärbarkeit des Sachverhalts und dadurch entstehende Zweifel des Gerichts ihre Ursache in einem Verstoß gegen eine gesetzlich angeordnete Dokumentationspflicht finden“28.
IV. Die Entscheidung des Zweiten Senats vom 19. März 201329 1. Das Verständigungsgesetz und die Verfassungsbeschwerden Der Gesetzgeber ist dem Appell des Großen Strafsenates des Bundesgerichtshofes mit einiger zeitlicher Verzögerung durch das Gesetz zur Regelung der Verständigung im Strafverfahren vom 29. Juli 2009 30 nachgekommen und hat vor allem einen § 257c StPO in die Prozessordnung eingeführt, der ausdrücklich (und schon in der Überschrift) eine „Verständigung“ erlaubt und durch weitere Verfahrensregelungen flankiert wurde. Im Wesentlichen hat der Gesetzgeber die Maßstäbe in Gesetzesform gegossen, die der Bundesgerichtshof zuvor in seiner Rechtsprechung zu Absprachen aufgestellt hat, ergänzt um umfangreiche Dokumentationspflichten (v.a. § 273 Abs. 1a Satz 3 StPO) und den Ausschluss eines Rechtsmittelverzichts (§ 302 Abs. 1 Satz 2 StPO)31. Nach Inkrafttreten des Verständigungsgesetzes war es nur eine Frage der Zeit, wann erste Verfahren mit Rügen gegen strafrechtliche Entscheidungen auf Grundlage des neuen Gesetzes Karlsruhe erreichen würden: Zunächst
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Und damit auch unter der Ägide desselben Berichterstatters. So die Überschrift in der amtlichen Sammlung der Kammerentscheidungen; BVerfGK 19, 318. 28 BVerfGK 19, 318 (326). 29 BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 19. März 2013 – 2 BvR 2628/10, 2 BvR 2883/10, 2 BvR 2155/11 –, juris. 30 BGBl I S. 2353 – „Verständigungsgesetz“. 31 Ob und inwieweit die gesetzliche Regelung im Wesentlichen nur die bestehende Rechtsprechung normativ eingefasst hat oder noch weiter über sie hinausgeht, ist nicht Gegenstand dieser Betrachtung; vgl. dazu: Knauer/Lickleder, NStZ 2012, 366 ff.; Dießner, StV 2011, S. 43 ff.; Murmann, ZIS 2009, S. 526 ff.; Sturm, Das Absprachen-Urteil des BVerfG: „Freispruch auf Bewährung“, in: Jahn/Nack (Hrsg.), Rechtsprechung in Strafsachen zwischen Praxis und Theorie – zwei Seiten einer Medaille?, Referate und Diskussionen auf dem 4. Karlsruher Strafrechtsdialog, 2013, S. 49 ff. 27
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den Bundesgerichtshof in der Innenstadt, danach das Bundesverfassungsgericht, zu diesem Zeitpunkt ausgelagert im Dienstsitz „Waldstadt“. Gegenstand der „Deal“-Entscheidung des Zweiten Senats vom 19. März 2013 waren drei Strafverfahren, in denen der Bundesgerichtshof die Revisionen gegen landgerichtliche Entscheidungen als unbegründet verworfen hatte32. In allen drei Fällen hat das Bundesverfassungsgericht Grundrechtsverletzungen festgestellt und die Sachen – in zwei Fällen an den Bundesgerichtshof, in einem Fall an das zuständige Landgericht – zurückverwiesen. Das Bundesverfassungsgericht hat aber einen Verstoß des § 257c StPO gegen das Grundgesetz „derzeit“33 nicht festgestellt. 2. Die wesentlichen Gründe der Entscheidung Ist dies nun, wie in zahlreichen Kommentaren bereits formuliert wird, ein „Freispruch auf Bewährung“34 für das Verständigungsgesetz, das nun unter „Bewährungsaufsicht“35 gestellt werde, oder nur (aber auch: jedenfalls) die „gelbe Karte“36 für die Praxis? Um diese Frage zu beantworten und damit – dem titelgebenden Anspruch dieser Schriftenreihe folgend – (möglichst) eine Linie der Rechtsprechung zu zeigen, sind zunächst die tragenden Gründe der Entscheidung kurz zu skizzieren37.
32 Zu den Verfahren siehe: BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 19. März 2013 – 2 BvR 2628/10, 2 BvR 2883/10, 2 BvR 2155/11 –, juris Rn. 25–30. 33 BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 19. März 2013 – 2 BvR 2628/10, 2 BvR 2883/10, 2 BvR 2155/11 –, juris Rn. 64; vgl. auch Rn. 116; Stuckenberg, ZIS 2013, S. 212 (213) betont den „sechsmalige[n] Gebrauch des Wortes ‚derzeit‘“. 34 Sturm, Das Absprachen-Urteil des BVerfG: „Freispruch auf Bewährung“, in: Jahn/ Nack (Hrsg.), Rechtsprechung in Strafsachen zwischen Praxis und Theorie – zwei Seiten einer Medaille?, Referate und Diskussionen auf dem 4. Karlsruher Strafrechtsdialog, 2013, S. 49; König/Harrendorf, AnwBl. 2013, S. 321 ff. 35 Niemöller, StV 2013, S. 419 (423); Hamm, StV 2013, S. 652 (654) spricht von einer „Bewährungszeit“. 36 von Heintschel-Heinegg, JA 2013, S. 474 (476). 37 Hier soll nicht das Urteil en détail referiert werden, da sich zum einen die Lektüre der Entscheidung für den interessierten Leser sowieso empfiehlt, zum anderen bereits zahlreiche (mehr oder weniger genaue, mehr oder minder interessenbezogene) Zusammenfassungen, meist als erste Urteilsanmerkungen, vorliegen, so etwa: Jahn, JuS 2013, S. 659 ff.; Knauer, NStZ 2013, S. 433 ff.; Löffelmann, JR 2013, S. 333 ff.; Peters, rescriptum 2013, S. 131 ff.; Scheinfeld, ZJS 2013, S. 296 ff.; Stuckenberg, ZIS 2013, S. 214 ff. Außerdem wäre eine solche Darstellung schlicht zu lang.
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a) Das Wesen des Strafprozesses unter dem Grundgesetz und die verfassungsrechtlich garantierten Prozessgrundsätze Der Zweite Senat führt zu Beginn der Entscheidungsgründe umfangreich und gänzlich abstrakt die wesentlichen strafrechtlichen und strafprozessualen Grundsätze auf und betont deren verfassungsrechtliche Natur und Bedeutung38: Das Strafrecht beruhe auf dem Schuldgrundsatz, der den gesamten Bereich staatlichen Strafen beherrsche, Verfassungsrang habe und in der Garantie der Würde und Eigenverantwortlichkeit des Menschen sowie im Rechtsstaatsprinzip verankert sei 39. Die in den folgenden Absätzen wuchtig platzierten Aussagen zum Schutz40 und zur Achtung41 der Menschenwürde, zu den „elementaren Prinzipien des Grundgesetzes“42, den „Verfassungsaufgaben“ der Strafrechtspflege43, den unverzichtbaren Elementen der Rechtsstaatlichkeit 44 und dem Verfassungsrang der Unschuldsvermutung45 beeindrucken und sollen wohl auch das verfassungsrechtliche Fundament des staatlichen Strafanspruches und seiner Limitierungen klar verdeutlichen: „Der etwas gravitätisch wirkende Ernst soll ersichtlich Eindruck machen“46, wie es ein Kommentator treffend formuliert, und ist wohl auch „als Appell an die Praxis zu verstehen, sich den immanenten verfassungsrechtlichen Wert der Vorschriften zu vergegenwärtigen“47. Besonders betont wird von dem Zweiten Senat die Bedeutung der Wahrheitsfindung als „zentrales Anliegen des Strafprozesses“48, dem die Suche nach der materiellen Wahrheit zugrunde liege und der nicht zur Disposition stehe – weder des Gesetzgebers noch der strafrechtlichen Praxis. b) Das „Regelungskonzept“ des Verständigungsgesetzes Der Zweite Senat stellt im zweiten Teil seiner Urteilsgründe ausführlich das „Regelungskonzept“ des Gesetzgebers bezüglich der gesetzlichen Regelungen zur Verständigung im Strafverfahren dar 49, das der Zweite Senat aus dem objektivierten Willen des Gesetzgebers ermittelt haben will 50. 38 BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 19. März 2013 – 2 BvR 2628/10, 2 BvR 2883/10, 2 BvR 2155/11 –, juris Rn. 53–63 und Leitsatz 1; s. Kudlich, NStZ 2013, S. 379 (380). 39 BVerfG, a.a.O., Rn. 53. 40 BVerfG, a.a.O., Rn. 54. 41 BVerfG, a.a.O., Rn. 60. 42 BVerfG, a.a.O., Rn. 55. 43 BVerfG, a.a.O., Rn. 57. 44 BVerfG, a.a.O., Rn. 59. 45 BVerfG, a.a.O., Rn. 61. 46 Fezer, HRRS 2013, S. 117. 47 Meyer, NJW 2013, S. 1850 (1851). 48 BVerfG, a.a.O., Rn. 56, s. a. Rn. 65, 67 f., 70 f., 73, 102 ff., 110. 49 BVerfG, a.a.O., Rn. 64–99. 50 BVerfG, a.a.O., Rn. 66.
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Gleich einleitend stellt der Zweite Senat fest, dass mit dem Verständigungsgesetz kein neues, „konsensuales“ Verfahrensmodell geschaffen werden sollte51. Die Verständigung sollte vielmehr in das geltende Strafprozessrechtssystem mit dem Ziel der Erforschung der materiellen Wahrheit und einer darauf aufbauenden schuldangemessenen Strafe integriert werden: Dies mache vor allem die Klarstellung des § 257c Abs. 1 Satz 2 StPO deutlich, nach der die Pflicht des Gerichts zur Aufklärung des Sachverhalts von Amts wegen gemäß § 244 Abs. 2 StPO unberührt bleibe52. Dem Gesetzgeber sei nämlich sehr bewusst gewesen, welcher Anreiz- und Verlockungssituation die Prozessbeteiligten ansonsten ausgesetzt wären53. Das verständigungsbasierte Geständnis müsse daher zwingend auf seine Richtigkeit überprüft werden. Diese Prüfung müsse durch Beweiserhebung in der öffentlichen Hauptverhandlung erfolgen, um so auch das (weitere) Grundanliegen des Gesetzgebers zu berücksichtigen, die Verständigung transparent und kontrollierbar zu machen54. Denn einen „Schwerpunkt“ des Regelungskonzeptes bilde die Gewährleistung von Transparenz und Dokumentation des Geschehens als Voraussetzung einer effektiven Kontrolle durch die Öffentlichkeit, die Staatsanwaltschaft und das Rechtsmittelgericht55. Der Gesetzgeber habe dazu spezifische, das Regelungskonzept prägende Schutzmechanismen vorgesehen, insbesondere die Öffentlichkeit der Hauptverhandlung: Die Verständigung müsse sich „im Lichte der öffentlichen Hauptverhandlung offenbaren“, zitiert der Zweite Senat die Gesetzesbegründung56. Dies bezöge auch eine Mitteilung des wesentlichen Inhaltes von Erörterungen außerhalb der Hauptverhandlung ein (§ 43 Abs. 4 StPO), die zu protokollieren sei (§ 273 Abs. 1a. Satz 2 StPO). Nur die offene Verständigung in der Hauptverhandlung ermögliche die gesetzlich gewünschte (und verfassungsmäßig gebotene) Kontrolle 57 in Form des Öffentlichkeitsgrundsatzes, der die demokratische Idee der öffentlichen
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BVerfG, a.a.O., Rn. 65. BVerfG, a.a.O., Rn. 68 ff. 53 BVerfG a.a.O., Rn. 68 mit Verweis auf die Begründung des Gesetzentwurfes der Bundesregierung, BTDrucks 16/12310, S. 13. 54 BVerfG, a.a.O., Rn. 71. 55 BVerfG, a.a.O., Rn. 80 mit Verweis auf die Begründung des Gesetzentwurfes der Bundesregierung, BT-Drucks 16/12310, S. 1, 8 f.; Ignor, Die Bedeutung der „schützenden Formen“ bei der Verständigung, in: Jahn/Nack (Hrsg.), Rechtsprechung in Strafsachen zwischen Praxis und Theorie – zwei Seiten einer Medaille?, Referate und Diskussionen auf dem 4. Karlsruher Strafrechtsdialog, 2013, S. 71, spricht von den „verfahrensrechtliche[n] Essentialia einer Verständigung“; s.a. Hamm, StV 2013, S. 652 (654). 56 BVerfG, a.a.O., Rn. 82, s.a. Rn. 87; Begründung des Gesetzentwurfes der Bundesregierung, BTDrucks 16/12310, S. 8, 12. 57 BVerfG, a.a.O., Rn. 86–98. 52
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Kontrolle gegen obrigkeitliche Willkür verwirklicht58, durch die Staatsanwaltschaft als zur Objektivität verpflichtete Garantin für Rechtsstaatlichkeit und gesetzmäßige Abläufe59 und das Rechtsmittelgericht, dem damit eine wirksame „vollumfängliche“ Kontrolle verständigungsbasierter Urteile erst ermöglicht wird60. Daraus folge auch, dass grundsätzlich ein Verstoß gegen Transparenz- und Dokumentationspflichten zur Rechtswidrigkeit einer dennoch getroffenen Verständigung führe. Ein Beruhen des dieser gesetzeswidrigen Verständigung folgenden Urteils auf dem Gesetzesverstoß sei dann regelmäßig nicht auszuschließen61. Kommt eine Verständigung nicht zustande und fehlt die gebotene Negativmitteilung (§ 243 Abs. 4 Satz StPO) oder das vorgeschriebene Negativattest (§ 273 Abs. 1a Satz 3 StPO), so wird nach diesem Regelungskonzept auch hierbei grundsätzlich ein Beruhen des Urteils auf einem Verstoß gegen § 257c StPO nicht auszuschließen sein, wenn nicht ausnahmsweise zweifelsfrei feststeht, dass es keine derartigen Gespräche gegeben hat62. Der Zweite Senat stellt zudem klar, dass mit den Vorschriften des Verständigungsgesetzes eine abschließende Regelung für zulässige Verständigungen getroffen worden ist und außerhalb des Regelungskonzeptes erfolgende „informelle“ Absprachen unzulässig sind63. c) Verfassungsmäßigkeit des Regelungskonzeptes Das so verstandene Regelungskonzept sei mit dem Grundgesetz vereinbar 64. Denn mit den oben dargestellten Regelungen habe es der Gesetzgeber vermocht, Verständigungen nicht schlechthin auszuschließen, sie aber mit ausreichenden Vorkehrungen zu verbinden, um sie im Rahmen der verfassungsrechtlichen Anforderungen an das Strafverfahren zu halten. Zwar trügen Verständigungen zwischen Gericht und Verfahrensbeteiligten das Risiko mit sich, dass die verfassungsrechtlichen Vorgaben65 zum Schuldprinzip, der damit verbundenen Pflicht zur Erforschung der materiellen Wahrheit, dem Grundsatz des fairen Verfahrens, der Unschuldsvermutung und der Neutralitätspflicht des Gerichts nicht im vollen Umfange beachtet würden. Gleichwohl aber sei dem Gesetzgeber nicht verwehrt, zur Vereinfachung von Verfahren auch Verständigungen zuzulassen, sofern diese mit
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BVerfG, a.a.O., Rn. 87 ff. BVerfG, a.a.O., Rn. 91 ff. BVerfG, a.a.O., Rn. 94 ff. BVerfG, a.a.O., Rn. 97. BVerfG, a.a.O., Rn. 98. BVerfG, a.a.O., Rn. 75, 115 und Leitsatz 4. BVerfG, a.a.O., Rn. 100–115 und Leitsätze 2 und 3. Vgl. oben und BVerfG, a.a.O., Rn. 105.
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ausreichenden Schutzvorkehrungen gegen dieses Risiko ausgestattet und begrenzt werden66. Das Verständigungsgesetz wahre den Schuldgrundsatz dadurch, dass eine Verfahrensverkürzung um den Preis der Erforschung der materiellen Wahrheit ausgeschlossen sei 67, aber auch durch die Bestimmungen zum Entfallen der Bindung des Gerichts an die Verständigung68 und schon durch den Ausschluss des Schuldspruches von einer Verständigung69. Hinzu komme die Belehrungspflicht des § 257c Abs. 5 StPO, der – vor allem angesichts der Frage eines Schuldeingeständnisses durch den Angeklagten – eine besondere Bedeutung mit revisionsrechtlicher Relevanz zukomme70. Auch treffe der Gesetzgeber umfangreiche Vorkehrungen, dass das maßgebliche Geschehen in die Hauptverhandlung einbezogen und dokumentiert werde. Damit würde den der möglichen Verfahrensverkürzung inhärenten Risiken einer „Motivationsverschiebung“ bei dem erkennenden Gericht und der Gefahr eines übermäßigen Anreizes für den Angeklagten, ein (falsches) Geständnis für eine wesentliche Strafmilderung abzugeben, begegnet 71. Jedenfalls in ihrem Zusammenwirken ließen die verfahrensrechtlichen Sicherungen erwarten, dass die mit Verständigungen verbundenen rechtsstaatlichen Risiken beherrscht würden72. d) Das Vollzugsdefizit Das Verständigungsgesetz leide aber unter einem erheblichen Vollzugsdefizit73. Dieser verfassungswidrige Verstoß von (großen) Teilen der Rechtsanwendungspraxis gegen die gesetzliche Regelung74 führe aber nur dann zu einer Grundrechtsverletzung durch die Regelung selbst, wenn die „verfassungswidrige Praxis auf die Vorschrift selbst zurückzuführen, mithin Ausdruck eines strukturbedingt zu dieser Praxis führenden normativen Regelungsdefizits“75 sei. Ein solches Defizit könne aber nicht schon darin gesehen werden, dass der Gesetzgeber Verständigungen überhaupt zugelassen habe, denn dann würden die umfangreichen flankierenden Schutzmechanismen 66
BVerfG, a.a.O., Rn. 107. BVerfG, a.a.O., Rn. 110. 68 BVerfG, a.a.O., Rn. 111. 69 BVerfG, a.a.O., Rn. 109. 70 BVerfG, a.a.O., Rn. 112 f. 71 BVerfG, a.a.O., Rn. 114. 72 Ebd. 73 BVerfG, a.a.O., Rn. 116–120, s. a. Leitsatz 3 (Satz 2). 74 Hier verweist die Entscheidung explizit auf eine empirische Erhebung von Prof. Dr. Altenhain, die breiten Raum in der mündlichen Verhandlung am 7. November 2012 einnahm; BVerfG, a.a.O., Rn. 117. 75 BVerfG, a.a.O., Rn. 118. 67
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ignoriert, die gerade die Einhaltung der verfassungsrechtlichen Vorgaben sicherstellen sollen76. Hier könne ein strukturelles Regelungsdefizit – gegenwärtig – nicht festgestellt werden77, vielmehr laufe nun das schwierige Unterfangen, eine langjährige Entwicklung in geordnete Bahnen zu lenken, das einige Zeit in Anspruch nehmen dürfte. Noch scheine in der Praxis insbesondere die Bedeutung der Schutzmechanismen nicht vollständig verinnerlicht zu sein, auch würden diese immer wieder als „praxisuntauglich“ kritisiert (und offenbar nicht angewandt). Dies verkenne, „dass im Rechtsstaat des Grundgesetzes das Recht die Praxis bestimmt und nicht die Praxis das Recht“78, wie an unscheinbarer Stelle des Urteils so prägnant wie grundsätzlich festgestellt wird. Dieser Satz, den ein Kommentator bereits – nach dem Berichterstatter im Verfahren – als „Landau-Formel“79 tituliert, hat wohl gute Chancen, ein Klassiker für Zitierfreunde zu werden80. Aus dem derzeit defizitären Gesetzesvollzug folge für den Gesetzgeber eine sorgfältige Beobachtungspflicht81. Sollte die Praxis weiterhin in erheblichem Umfang von dem Regelungskonzept abweichen, so müsse er der Fehlentwicklung durch geeignete Maßnahmen entgegenwirken. „Unterbliebe dies, träte ein verfassungswidriger Zustand ein“82. 3. Wie kam es zu dieser Entscheidung? „Ein echter Kompromiss“83, so steht es in einer Urteilsanmerkung. Und das trifft sicherlich zu, ebenso wie die Beschreibung des – sicherlich besonders kundigen – damaligen Mitarbeiters des Berichterstatters, der das Urteil „in die Reihe der für den Zweiten Senat nicht untypischen ‚Ja, aber‘-Entscheidungen einordnen“84 will. Denn tatsächlich fällt (mal wieder) auf, dass der Zweite Senat auf der einen Seite ausführlich und bedeutungsschwer verfassungsrechtliche Grundsätze und Maßstäbe betont, auf der anderen Seite 76
Ebd. m.w.N. BVerfG, a.a.O., Rn. 119. 78 Ebd., am Ende. 79 Jahn, „Das mag in der Theorie richtig sein …“, in: Jahn/Nack (Hrsg.), Rechtsprechung in Strafsachen zwischen Praxis und Theorie – zwei Seiten einer Medaille?, Referate und Diskussionen auf dem 4. Karlsruher Strafrechtsdialog, 2013, S. 7. 80 Meyer, NJW 2013, S. 1850 (1852) spricht von dem „Mantra des Urteils“; s.a. Knauer, NStZ 2013, S. 433. 81 BVerfG, a.a.O., Leitsatz 2 (Satz 4 und 5). 82 BVerfG, a.a.O., Rn. 121 mit zahlreichen Nachweisen zu Beobachtungs- und Nachbesserungspflichten des Gesetzgebers. 83 Löffelmann, JR 2013, S. 333. 84 Sturm, Das Absprachen-Urteil des BVerfG: „Freispruch auf Bewährung“, in: Jahn/ Nack (Hrsg.), Rechtsprechung in Strafsachen zwischen Praxis und Theorie – zwei Seiten einer Medaille?, Referate und Diskussionen auf dem 4. Karlsruher Strafrechtsdialog, 2013, S. 49 (50). 77
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dann aber doch große Spielräume (zu)lässt, wenn es um deren Umsetzung geht85. Grundsätzlich, auch wenn das (vor allem in der Berliner Wahrnehmung) manchmal anders erscheinen mag, will der Zweite Senat den Gesetzgeber erkennbar nicht aufheben, sondern gesetzgeberische Entscheidungen trotz verfassungsrechtlicher, aber dann nicht durchgreifender, Bedenken bestehen lassen86. So kommt es auch hier beim Lesen der Entscheidungsgründe zu der Situation, dass man nach dem „allgemeinen“ Teil der Gründe mit der breiten und gewichtigen Darlegung der verfassungsrechtlichen Bedeutung des Schuldgrundsatzes und seiner strafprozessualen Umsetzung87 den Eindruck gewinnen müsste, dass eine irgendwie geartete Verständigungsregelung damit kaum vereinbar sein dürfte. Danach wird aber – mit teilweise beeindruckender verfassungsrechtlicher Flexibilität – alles unternommen, um die Zulässigkeit von Absprachen nach dem Verständigungsgesetz trotz der offensichtlichen Praxisprobleme zu ermöglichen: Dem Gesetzgeber wird ein „Regelungskonzept“ konzediert, bei dem auf der einen Seite die Bedeutung einer Normverweisung (von § 257c Abs. 1 Satz 2 StPO auf § 244 Abs. 2 StPO) hervorgehoben und die flankierenden Maßnahmen zu einem strengen, revisionsrechtlich relevanten Schutzmechanismus aufgebaut werden, auf der anderen Seite die auffallend divergierende Praxis in der Strafjustiz als „in erheblichem Maße defizitärer Vollzug“ des Verständigungsgesetzes auf die Ebene der Umsetzung gezogen wird. Das mag daran liegen, dass die Senatsmitglieder – auch hier nicht zum ersten Mal – mit sehr unterschiedlichen Grundverständnissen an die Verfassungsbeschwerden herangegangen sein dürften88: So trafen wohl nicht nur die generell oft eher unterschiedlichen Vorstellungen und Herangehensweisen von Senatsmitgliedern, die aus den obersten Bundesgerichten stammen89, die eine akademische Laufbahn eingeschlagen haben oder die aus der politischen oder Verwaltungspraxis stammen, aufeinander, sondern auch verschiedene Auffassungen von der Funktionsweise eines Strafprozesses und überhaupt dem Alltag in der Strafjustiz. 85 Bestimmte Bereiche mögen hier eine Ausnahme bilden, so etwa die Rechtsprechung zu Wahlrechtsgrundsätzen, in denen der Zweite Senat mittlerweile mit einer gewissen Regelmäßigkeit den gesetzgeberischen Spielraum sehr eng begrenzt. 86 In den drei konkreten Verfassungsbeschwerden führte diese verfassungsgerichtliche Haltung nicht zu einem Nachteil für die Beschwerdeführer, da der Zweite Senat den Beschwerden stattgab. 87 BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 19. März 2013 – 2 BvR 2628/10, 2 BvR 2883/10, 2 BvR 2155/11 – Verständigung im Strafverfahren, juris Rn. 53–63. 88 So auch: Hamm, StV 2013, S. 652, der an der mündlichen Verhandlung teilgenommen hat. 89 Manchmal schlicht als „Richter-Richter“ bezeichnet; § 2 Abs. 3 Satz 1 BVerfGG bestimmt, dass jeweils drei Richter eines Senates von den obersten Bundesgerichten stammen müssen.
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Dies führte sicherlich dazu, dass die mündliche Verhandlung am 7. November 2012 einen großen Eindruck bei den Richtern hinterließ90. Die empirische Studie von Prof. Dr. Altenhain, die der Zweite Senat in Auftrag gegeben hatte, und die ein verheerendes Bild von der strafrechtlichen Absprachepraxis am Verständigungsgesetz vorbei zeichnete, nahm eine prominente Stellung während des ganzen Tages ein und wird auch noch im Urteil ausführlich zitiert91. Die gehörten Sachverständigen aus der Praxis bestätigten mehr oder weniger diesen Befund, so dass die Vertreter der Bundesregierung erkennbar in der Defensive waren. Die Einleitung der mündlichen Urteilsbegründung, „die vorliegenden Verfassungsbeschwerden haben den Senat intensiv beschäftigt“92, deutet an, dass im Zweiten Senat wohl durchaus kontrovers diskutiert worden sein dürfte. Dass ein einstimmiges Urteil ohne abweichende Meinung getroffen werden konnte, ist sicherlich Grund dafür, dass die Entscheidungsgründe die oben genannte Form, die zu Verwunderung führen kann, gefunden haben93.
V. Die (bisherige) Rezeption der Entscheidung Mit der „Ja, aber“-Entscheidung hat der Zweite Senat weder den Befürwortern noch den Gegner der Verständigung zum erhofften endgültigen Sieg in der jahrzehntealten, verbissen geführten Diskussion verholfen, sondern sich „in die ungemütliche Position zwischen den Fronten des vom Präsidenten des BVerfG in der mündlichen Verhandlung am 7. November 2012 mit einem ‚unversöhnlichen Glaubenskrieg‘ verglichenen Diskurses über die Verständigung begeben“94. 1. Die veröffentlichte (Fach-)Meinung Dies zeigt sich auch in der Flut von Meinungsäußerungen, die auf die Entscheidung in den Medien, der Fachliteratur und auf Tagungen und Symposien folgten und hier ganz nur kurz und unvollständig skizziert werden können. 90
S. dazu: Stuckenberg, ZIS 2013, S. 212 (213); von Heintschel-Heinegg, JA 2013, S. 474 (476). 91 BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 19. März 2013 – 2 BvR 2628/10, 2 BvR 2883/10, 2 BvR 2155/11 –, juris Rn. 48 f. 92 Voßkuhle, Pressetext zur Einführung in die Urteilsverkündung am 19. März 2013, S. 1. 93 So auch: Jahn, JuS 2013, S. 659 (659); vgl. Fezer, HRRS 2013, S. 117 (117). 94 Sturm, Das Absprachen-Urteil des BVerfG: „Freispruch auf Bewährung“, in: Jahn/Nack (Hrsg.), Rechtsprechung in Strafsachen zwischen Praxis und Theorie – zwei Seiten einer Medaille?, Referate und Diskussionen auf dem 4. Karlsruher Strafrechtsdialog, 2013, S. 49 (50).
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a) Die Unterstützer der Entscheidung „Die mit Spannung erwartete Entscheidung des BVerfG zur Zulässigkeit der Verständigung im Strafverfahren hat auf den ersten Blick die Erwartungen erfüllt“95, beginnt eine Urteilsanmerkung und zeigt damit auch gleich, dass auch die „lobenden“ Stellungnahmen meist – spätestens „auf den zweiten Blick“ – teilweise deutlich kritisch mit dem Urteil umgehen. Das Urteil sei pragmatisch, halte die verfassungsrechtlich geschützten Verfahrensgrundsätze hoch und achte den Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers96. Die Deutlichkeit, mit der die verfassungsrechtlich verankerten Verfahrensgrundsätze hervorgehoben werden, wird gelobt97, das Verbot schlichter Formalgeständnisse oder von Wahrheitsprüfungen allein am Akteninhalt98, ebenso die „ungewöhnlich deutliche[n] Worte zur gegenwärtigen Absprachepraxis“99. Positiv wird von vielen Kommentatoren zudem die klare Absage an ein „konsensuales“ Verfahrensmodell im Strafprozess gesehen100, die letztlich nahtlos an die Kammerrechtsprechung aus dem Jahr 1987 anknüpft101 und klarstellt, dass jenseits von Bagatelldelikten kein Raum für solche Verfahrenserledigungen besteht102. Somit habe das Bundesverfassungsgericht „durchaus das Notwendige zum Absprachegesetz gesagt“103 und hinreichend „unmissverständlich klargemacht, wie die Regelung in der Praxis umzusetzen ist – ohne Abstriche an den verfassungsrechtlichen Vorgaben“104.
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Löffelmann, JR 2013, S. 333. Ebd., S. 333 und S. 335; s.a. Kudlich, NStZ 2013, 379. 97 Fezer, HRRS 2013, S. 117 f.; Meyer, NJW 2013, S. 1850 (1851); s.a. Ignor, Die Bedeutung der „schützenden Formen“ bei der Verständigung, in: Jahn/Nack (Hrsg.), Rechtsprechung in Strafsachen zwischen Praxis und Theorie - zwei Seiten einer Medaille?, Referate und Diskussionen auf dem 4. Karlsruher Strafrechtsdialog, 2013, S. 71; Stuckenberg, ZIS 2013, S. 212 (218). 98 Stuckenberg, ZIS 2013, S. 212 (218). 99 Siehe nur: Stuckenberg, ZIS 2013, S. 212 (213). 100 Weigend, StV 2013, S. 424. 101 BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 27. Januar 1987 – 2 BvR 1133/86 –, NJW 1987, S. 2662 f. 102 Stuckenberg, ZIS 2013, S. 212 (218). 103 So etwa Pfister in einem Diskussionsbeitrag bei: Eidam, Diskussionsbericht, in: Jahn/Nack (Hrsg.), Rechtsprechung in Strafsachen zwischen Praxis und Theorie – zwei Seiten einer Medaille?, Referate und Diskussionen auf dem 4. Karlsruher Strafrechtsdialog, 2013, S. 79 (87). 104 Scheinfeld, ZJS 2013, S. 296 (300). 96
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b) Die Kritiker der Entscheidung Aber – und hier setzen die grundsätzlich positiven Stellungnahmen bereits an – die meisten Stellungnahmen sind sich sicher oder befürchten zumindest, dass auch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts nicht geeignet ist, die Praxis endlich in so geordnete Bahnen zu lenken, wie es der Zweite Senat ausdrücklich wünscht und als verfassungsgemäßes gesetzgeberisches Regelungskonzept angesehen hat105. Die Kritik beginnt bei einzelnen Aspekten der Begründung. So wird eine Inkonsistenz zwischen den im Urteil aufgeführten verfassungsrechtlichen Maßstäben und der späteren Subsumtion, zwischen denen eine „Kluft“ bestünde, ebenso kritisiert wie eine unzulängliche Verkürzung des Prüfungsgegenstandes, da der Zweite Senat sein Gesetzesverständnis der gesamten Prüfung zugrunde gelegt habe. Dies führe letztlich dazu, dass der Zweite Senat eine einfachrechtliche Auslegung des Verständigungsgesetzes mit verfassungsrechtlichem Geltungsanspruch versehe und damit den selbstgesetzten Rahmen überschreite, nach dem die Auslegung einfacher Gesetze allein Sache der Fachgerichte sei106. Auch dass der Zweite Senat das in der rechtswissenschaftlichen Diskussion allgegenwärtige Argument der Gewährleistung der Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege gar nicht aufnimmt, wird teilweise negativ gesehen107. Irritation herrscht auch, wie ein Gesetz, das zum Zeitpunkt der Prüfung verfassungsgemäß ist, dennoch wegen eines Vollzugsdefizites eine Beobachtungs- und Nachbesserungspflicht des Gesetzgebers auslösen könne, wenn doch der Vollzug des Gesetzes Aufgabe der Strafjustiz und diese damit einzig möglicher Adressat einer solchen Mahnung sei108. Denn – und dies nennen zahlreiche Kritiker – welche „geeigneten Maßnahmen“ könne der Gesetzgeber denn überhaupt ergreifen, wenn das Defizit bestehen bliebe109? Im Kern erfolgt die Kritik naturgemäß am Stärksten aus dem Lager der Verständigungsgegner, dem zum einen bereits die grundsätzliche Anerkennung von Absprachen im Strafprozess missfällt, die zum anderen aber konkret die – fast von allen Urteilsanmerkungen letztlich geteilte – Befürchtung haben, dass die „Ja, aber“-Lösung des Zweiten Senats dem „Dealen“ im Strafprozess keine wirksamen Grenzen setzen könne: „Alles werde gewiss so weitergehen wie zuvor, gaben Kenner des Geschäfts zu Protokoll“110. 105 u.a. Fezer, HRRS 2013, S. 117 (118 f.); von Heintschel-Heinegg, JA 2013, S. 474 (426); Stuckenberg, ZIS 2013, S. 212 (219); Weigend, StV 2013, S. 424 (426 f.); s.a. Beulke/Stoffer, JZ 2013, S. 662; Neumann, NJ 2013, S. 240 (241). 106 Niemöller, StV 2013, S. 419 (424). 107 Löffelmann, JR 2013, S. 333 (334 f.). 108 Niemöller, StV 2013, S. 419 (423). 109 Z.B. Knauer, NStZ 2013, S. 433 (434); Fezer, HRRS 2013, S. 117 (119). 110 Fischer, Die Deal-Entscheidung – Polemik über die rasselnden Federn der Justiz, in: Esser u.a. (Hrsg.), Festschrift für Hans-Heiner Kühne zum 70. Geburtstag, 2013, S. 203, verweist hier auf Bubrowski, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 21. März 2013.
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c) Der Kompromisscharakter Positiv gesehen, zeigt die ambivalente Reaktion tatsächlich den Kompromisscharakter des Urteils und wirkt daher vielleicht – um eine Aussage meiner Ausbilderin in der Zivilrechtsstation des Referendariats vor vielen Jahren aufzunehmen111 – wie ein zivilrechtliches Urteil, mit dem beide Parteien gleichermaßen unzufrieden sind, so dass sie sich über den gemeinsamen Groll auf das Gericht vertragen können. Negativ gewendet zeigt die bisherige Rezeption des Urteils, dass es gerade keine Befriedung bringen konnte: Denn schon jetzt kann man mehr erkennen als die Feststellung, dass es „ein Urteil zu einer Kontroverse solchen Ausmaßes … naturgemäß nicht allen Recht machen“112 kann. Vielmehr bestehen die alten Frontstellungen weiter und unverändert fort und zeigen sich in den Stellungnahmen und Anmerkungen zu dem Urteil. Letztlich bliebe durch die Beobachtungs- und Nachbesserungspflichten des Gesetzgebers die Rechtslage offen, die alten Grabenkämpfe können fortgeführt werden113. 2. Erste gerichtliche Entscheidungen Nach der Entscheidung vom 19. März 2013 hat sich das Bundesverfassungsgericht bislang nur in einer Kammerentscheidung mit einem Fall befasst, dem eine Verständigung gemäß § 257c StPO zugrunde lag114. In dem Verfahren fand die Verständigung ohne vorherige Belehrung gemäß § 257c Abs. 5 StPO statt, die Kammer folgt in dem stattgebenden Beschluss der klaren Vorgabe aus der Senatsentscheidung, nach der eine solche Verständigung den Angeklagten grundsätzlich in seinem Recht auf ein faires Verfahren und in seiner Selbstbelastungsfreiheit verletzt. Eine ganze Reihe von Revisionsentscheidungen zeigen, dass die Obergerichte versuchen, die verfassungsgerichtliche Deutung des Verständigungsgesetzes praktisch umzusetzen: So finden sich Beschlüsse des Bundesgerichtshofs, die die Pflicht des Gerichts zur Überprüfung des Geständnisses eines Angeklagten einfordern115, die fehlende ordnungsgemäße Belehrung116
111 Vielen Dank an Frau Richterin am Amtsgericht Schwerer-Schulz, Amtsgericht Langen (Hessen). 112 Stuckenberg, ZIS 2013, S. 212 (218). 113 Beulke/Stoffer, JZ 2013, S. 662 (663). 114 BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 30. Juni 2013 – 2 BvR 85/13 –, NStZ-RR, S. 315 f. 115 BGH, Beschluss des 2. Strafsenats vom 5. November 2013 – 2 StR 265/13 –, BeckRS 2013, 22100. 116 BGH, Beschluss des 5. Strafsenats vom 5. November 2013 – 5 StR 173/13 –, BeckRS 2013, 20754.
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beziehungsweise eine Nichtbelehrung117 oder Belehrungsfehler118 des Angeklagten rügen, unzureichende Beachtung von Mitteilungspflichten feststellen119 oder das fehlende Negativtestat120 monieren – und in der Folge der Revision zum Erfolg verhelfen. Eine originelle, nun selbst Gegenstand der rechtswissenschaftlichen Diskussion werdende Lösung fand das Oberlandesgericht München in einem Verfahren, in dem es die Nichtigkeit eines strafgerichtlichen Urteils unter anderem wegen einer informellen Verständigung aussprach121. Ob das Oberlandesgericht München mit diesem Beschluss zur Umsetzung der verfassungsgerichtlichen Vorgaben nicht über das Ziel hinausgeschossen ist, soll hier nicht erörtert werden. 3. Erste Bewertung der strafrechtlichen Praxis Die eben aufgeführten Entscheidungen können nicht darüber hinwegtäuschen, dass noch keine Aussage über die Aufnahme des Urteils vom 19. März 2013 in der Praxis getroffen werden kann. Sicher ist, dass vor allem bei den Tatrichtern große Verunsicherung darüber herrscht, welche Anforderungen im Einzelnen an sie gestellt werden, vor allem in Bezug auf die Mitteilungs- und Dokumentationspflichten122. Wo ist die Grenze zwischen einem offenen Kommunikationsstil und der Anbahnung einer Verständigung? Das – verfassungsgerichtlich ausgelegte – Gesetz erlaubt ganz offenbar nur einen kleinen, schmalen Weg für Absprachen, dessen Ränder nun ausgelotet werden würden (und müssten). Es sei daher kein ruhiges Fahrwasser für strafrechtliche Verständigungen zu erwarten123. 117 BGH, Beschluss des 1. Strafsenats vom 17. September 2013 – 1 StR 443/10 –, BeckRS 2013, 18102. 118 BGH, Beschluss des 1. Strafsenats vom 17. September 2013 – 1 StR 469/10 –, BeckRS 2013, 17791. 119 BGH, Beschluss des 5. Strafsenats vom 23. Oktober 2013 – 5 StR 411/13 –, NStZ 2013, 722. 120 BGH, Beschluss des 1. Strafsenats vom 3. September 2013 – 1 StR 237/13 –, NStZ 2013, 724. 121 OLG München, Beschluss vom 17. Mai 2013 – 2 Ws 1149/12 –, NJW 2013, 2371; s. dazu: Kudlich, NJW 2013, S. 3216. 122 Siehe Sturm, Das Absprachen-Urteil des BVerfG: „Freispruch auf Bewährung“, in: Jahn/Nack (Hrsg.), Rechtsprechung in Strafsachen zwischen Praxis und Theorie – zwei Seiten einer Medaille?, Referate und Diskussionen auf dem 4. Karlsruher Strafrechtsdialog, 2013, S. 49 (50); Ignor, Die Bedeutung der „schützenden Formen“ bei der Verständigung, in: Jahn/Nack (Hrsg.), Rechtsprechung in Strafsachen zwischen Praxis und Theorie – zwei Seiten einer Medaille?, Referate und Diskussionen auf dem 4. Karlsruher Strafrechtsdialog, 2013, S. 71. 123 Eidam, Diskussionsbericht, in: Jahn/Nack (Hrsg.), Rechtsprechung in Strafsachen zwischen Praxis und Theorie – zwei Seiten einer Medaille?, Referate und Diskussionen auf dem 4. Karlsruher Strafrechtsdialog, 2013, S. 79 (87), der Pfister zitiert.
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Und das Urteil gebe der Praxis „nur Steine statt Brot“, wie es ein Prozessteilnehmer aus einer Landesjustizverwaltung direkt nach der Urteilsverkündung etwas resigniert ausgedrückt hat.
VI. Und nun? Wie wird es nun mit der Verständigung im Strafverfahren weitergehen? Ohne die Gabe der Hellseherei kann dies letztlich nur aus den bisherigen Reaktionen aus Wissenschaft und Praxis sowie aus den Ansatzpunkten im Urteil selbst mit der Hoffnung auf eine gewisse Treffsicherheit geschlossen werden. Es steht zu befürchten, dass auch das Urteil vom 19. März 2013 das Schicksal anderer „Ja, aber“-Entscheidungen ereilen wird: Das Thema ist damit nicht gelöst und wird – früher oder später, explizit oder nur im Kontext mit anderen Fragen – das Bundesverfassungsgericht in einer Form beschäftigen, die den Senat zu einer erneuten Befassung zwingen. Zu deutlich ist der (weitgehende) Konsens der Kommentare: Das Bundesverfassungsgericht konnte keine endgültige Rechtssicherheit schaffen124, da es mit seinem Urteil letztlich den Zweck des Verständigungsgesetzes (und jeder Absprache), eine erhebliche Verfahrenserleichterung zu erreichen, erheblich erschwert hat125: „Der Senat hat den Widerspruch zwischen dem, was der Wortlaut der Norm sagt (‚§ 244 Abs. 2 bleibt unberührt‘) und dem, was die Norm bezwecken wollte (drastische Verfahrensabkürzung bei Konsens), damit gelöst, dass er die Praxis verpflichtete, das Gesetz beim Wort zu nehmen“126. Die Verpflichtung der Strafjustiz auf den Gesetzeswortlaut ist an sich nicht nur kein Problem, sondern eigentlich selbstverständlich, sie lässt aber – und gerade diesen Schluss hat der Zweite Senat verneint127 – das vielbeschworene strukturelle Problem außer Acht: Es dürfte sich zeigen, dass die spürbare Einengung des Raumes für Verständigungen entgegen der Entscheidungsgründe eben doch „Ausdruck einer unauflösbaren inneren Widersprüchlichkeit der Norm“128 des § 257c StPO ist, auf der einen Seite effektive Absprachemöglichkeiten zu schaffen, auf der anderen Seite aber die Regelungen des klassischen Strafprozesses und dabei vor allem die Verpflichtung zur Suche nach der materiellen Wahrheit vollständig beizubehalten.
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Siehe nur: Peters, rescriptum 2013, S. 131 (136). So auch: BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 19. März 2013 – 2 BvR 2628/10, 2 BvR 2883/10, 2 BvR 2155/11 –, juris Rn. 72. 126 Hamm, StV 2013, S. 652. 127 BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 19. März 2013 – 2 BvR 2628/10, 2 BvR 2883/10, 2 BvR 2155/11 –, juris Rn. 72. 128 Ebd. 125
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Denn die aktuelle Lage ist wie folgt: Hält sich die Praxis an das strenge Regelungskonzept, das die Senatsentscheidung den Verständigungen verpasst hat, dann verlieren diese gerade die von der Praxis gewünschte Funktion als „Druckablassventil“129 einer (subjektiv oder objektiv) überlasteten Strafjustiz. Denn letztlich würde „so etwas wie ein ‚justizphysikalisches Grundgesetz‘ seine Wirkung entfalten. Wie sich in der realen physikalischen Welt das Wasser immer einen Weg des geringsten Widerstandes sucht, um von oben nach unten zu fließen …, so wird auch die Strafjustiz immer ein Mittel finden, die durch die Erscheinungsformen ‚moderner‘ Straftatbestände steigende Prozessmasse zu ‚bewältigen‘“130. Der Widerstand, den – in zeitlicher Reihenfolge – Bundesgerichtshof, Gesetzgeber und Bundesverfassungsgericht dieser Flut entgegenstellen, ist nach Ansicht der meisten Beobachter nicht stark genug. Das liegt im Wesentlichen an Ursachen, die gar nicht im einzelnen Strafverfahren oder grundlegenden strafprozessualen Rechten selbst zu suchen sein dürften, sondern in der Überfrachtung der Strafjustiz mit Anforderungen durch Erweiterungen statt Begrenzungen von Verfahrensrechten von (immer mehr) Verfahrensbeteiligten bei gleichbleibender oder zurückgehender Personal- und Sachausstattung der Justiz und vor allem durch immer neue, immer umfangreichere Straftatbestände, die weder im Ermittlungs- noch im Erkenntnisverfahren mehr handhabbar scheinen. Den Versuch des Bundesverfassungsgerichts in seinem Urteil vom 19. März 2013, die Verständigung im Strafverfahren in geordnete, rechtsstaatliche und verfassungsgemäße Bahnen zu lenken, könnte dasselbe Schicksal ereilen wie die Leitentscheidungen des Bundesgerichtshofes und das Verständigungsgesetz131: Die Nichtbefolgung durch eine Strafjustiz, die – bei allem guten Willen und mit dem Glauben, im Sinne des Rechts und des Rechtssystems tätig zu sein132 – weiterhin einen für sie gangbaren Weg nimmt und sich irgendwie formlos verständigt133. 129
Meyer, NJW 2013, S. 1850 (1852); s.a. Hamm, StV 2013, S. 652 (654 f.). Hamm, a.a.O., S. 654 f. 131 Ironisch dazu: Staudinger, „Du, du du … böser Junge!“ Kleine Anmerkung zum Deal, myops 19/2013, S. 77 ff. 132 Siehe dazu: Altenhain, Zum künftigen Umgang mit „brauchbarer Illegalität“, in: Jahn/Nack (Hrsg.), Rechtsprechung in Strafsachen zwischen Praxis und Theorie – zwei Seiten einer Medaille?, Referate und Diskussionen auf dem 4. Karlsruher Strafrechtsdialog, 2013, S. 63 (65 ff.). Oder aber auch erschütternd trotzig und rechtsstaatlich bedenklich: Mehrfach wird eine Praktikertagung in Dresden zitiert, in der (offenbar bayerische OLG-) Richter kundgetan haben sollen, „dass Karlsruhe machen könne, was es wolle … man werde doch das machen, was man für nötig halte“, so das von Paeffgen in der Diskussion beschriebene Zitat bei Eidam, Diskussionsbericht, in: Jahn/Nack (Hrsg.), Rechtsprechung in Strafsachen zwischen Praxis und Theorie – zwei Seiten einer Medaille?, Referate und Diskussionen auf dem 4. Karlsruher Strafrechtsdialog, 2013, S. 79 (87); Rissing-van Saan beschreibt dieselbe „notorische Praktikertagung“ ebenfalls, ebd., S. 86. 133 Fezer, HRRS 2013, S. 117 (118), spricht davon, dass Bundesverfassungsgericht sei – wie zuvor Bundesgerichtshof und Gesetzgeber – „auf Grund gelaufen“. 130
V. Staatsorganisation und Finanzverfassung
Vermittlungsausschuss und Vermittlungsverfahren Johannes Gerberding Leitentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts BVerfGE BVerfGE BVerfGE BVerfGE BVerfGE BVerfGE BVerfGE
72, 175 – Wohnungsfürsorge 78, 249 – Fehlbelegungsabgabe 101, 297 – Häusliches Arbeitszimmer 106, 253 – Besetzung der Bundestagsbank (e.A.) 112, 118 – Besetzung der Bundestagsbank (Hauptsache) 120, 56 – Unternehmenssteuerreform 125, 104 – Haushaltsbegleitgesetz 2004 („Koch/Steinbrück-Papier“) Schrifttum
G. Axer, Die Kompetenz des Vermittlungsausschusses – zwischen legislativer Effizienz und demokratischer Legitimation, 2010; Bauer, Der Vermittlungsausschuß. Politik zwischen Konkurrenz und Konsens, 2005; Bergkämper, Das Vermittlungsverfahren nach Art. 77 II GG. Eine Zwischenbilanz, 2008; Bismarck, Grenzen des Vermittlungsausschusses, DÖV 1983, S. 269 ff.; Borowy, Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes zu den Kompetenzen des Vermittlungsausschusses. Auswirkungen auf die parlamentarische Praxis und Reformüberlegungen, ZParl 2010, S. 874 ff.; Burchardt/Putzer, Kompetenzen im deutschen und europäischen Vermittlungsverfahren, ZG 2011, S. 68 ff.; Burghart, Die Zusammensetzung des Vermittlungsausschusses als Gegenstand einer Regelung der Geschäftsordnung (Art. 77 Abs. 2 S. 2 GG), DÖV 2005, S. 815 ff.; Cornils, Politikgestaltung durch den Vermittlungsausschuss, DVBl 2002, S. 497 ff.; Dästner, Die Geschäftsordnung des Vermittlungsausschusses, 1995; Desens, Kompetenzgrenzen des Vermittlungsausschusses, NJW 2008, S. 2892 ff.; M. Dietlein, Der Dispositionsrahmen des Vermittlungsausschusses, NJW 1983, S. 80 ff.; ders., Vermittlung zwischen Bundestag und Bundesrat, in: Schneider/Zeh (Hrsg.), Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 57; Ernst/Johnsen, Spiegelbildlichkeit oder Mehrheitsprinzip? Die Besetzung der Bundestagsbank im Vermittlungsausschuss aus rechts- und politikwissenschaftlicher Sicht, ZParl 2005, S. 748 ff.; Franßen, Der Vermittlungsausschuss – politischer Schlichter zwischen Bundestag und Bundesrat? Bemerkungen zur Stellung des Vermittlungsausschusses im Gesetzgebungsverfahren, in: Vogel/Simon/Podlech (Hrsg.), Die Freiheit des Anderen, FS Hirsch, 1981, S. 273 ff.; Hasselweiler, Der Vermittlungsausschuß. Verfassungsgrundlagen und Staatspraxis. Eine Untersuchung der parlamentsrechtlichen und verfassungspolitischen Bedeutung des Ausschusses nach Art. 77 Abs. 2 des Grundgesetzes unter besonderer Berücksichtigung seiner Verfahrenspraxis, 1981; von der Heide, Der Vermittlungsausschuss. Praxis und Bewährung, DÖV 1953, S. 129 ff.; Henseler, Möglichkeiten und Grenzen des Vermittlungsausschusses, NJW 1982, S. 849 ff.; Huber/Fröhlich, Die Kompetenz des Vermittlungsausschusses und ihre Grenzen – am Beispiel von Art. 15 Haushaltsbegleitgesetz, DÖV 2005, S. 322 ff.; Kämmerer, Muss Mehrheit immer Mehrheit bleiben? Über die Kontroversen um die Besetzung des Vermittlungsausschusses, NVwZ 2003, S. 1166 ff.; P. Kirchhof, Demokratie ohne parlamentarische Gesetzgebung?, NJW 2001, S. 1332 ff.; Kluth, Der Vermittlungsausschuss, in: Isen-
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Vermittlungsausschuss und Vermittlungsverfahren
see/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts für die Bundesrepublik Deutschland, Bd. 3, 3. Aufl. 2005, § 60; ders., Gesetzgebung im Spannungsfeld von Parlamentarismus und Föderalismus – Reformperspektiven für das Vermittlungsverfahren, in: Baumeister/Roth/ Ruthig (Hrsg.), Staat, Verwaltung und Rechtsschutz. FS Schenke, 2011, S. 211 ff.; Koggel, Das Vermittlungsverfahren, in: Kluth/Krings (Hrsg.), Gesetzgebung. Rechtsetzung durch Parlamente und Verwaltungen sowie ihre gerichtliche Kontrolle, 2014, § 19; Lang, Spiegelbildlichkeit versus Mehrheitsprinzip?, NJW 2005, S. 189 ff.; W. G. Leisner, Die Erhöhung der Erbschaft- und Schenkungsteuer durch das Haushaltsbegleitgesetz 2004 – verfassungswidrig?, NJW 2004, S. 1129 ff.; Lovens, Die Besetzung der Bundestagsbank des Vermittlungsausschusses, ZParl 2003, S. 33 ff.; Merati-Kashani, Vermitteln im Vermittlungsausschuss – Mediation in der Bundesgesetzgebung?, NVwZ-Extra 2011, H. 7, S. 1 ff.; H. Meyer, Judex non calculat. Der Zweite Senat und die Besetzung des Vermittlungsausschusses, in: Kiesow/Ogorek/Simitis (Hrsg.), Summa. Dieter Simon zum 70. Geburtstag, 2005, S. 405 ff.; Möllers, Vermittlungsausschuss und Vermittlungsverfahren, JURA 2010, S. 401 ff.; Palm, Demokratie mit parlamentarischer Gesetzgebung, NVwZ 2008, S. 633 ff.; Redeker, Wege zur besseren Gesetzgebung, ZRP 2004, S. 160 ff.; W.-R. Schenke, Die verfassungsrechtlichen Grenzen der Tätigkeit des Vermittlungsausschusses. Dargestellt am Beispiel des 2. Haushaltsstrukturgesetzes, 1984; Spörndli, Diskurs und Entscheidung. Eine empirische Analyse kommunikativen Handelns im deutschen Vermittlungsausschuss, 2004; K. Stein, Die Besetzung der Sitze des Bundestages im Vermittlungsausschuss, NVwZ 2003, S. 557 ff.; Troßmann, Bundestag und Vermittlungsausschuß, JZ 1983, S. 6 ff. Inhalt I. II.
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zweck des Vermittlungsausschusses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der Vermittlungsausschuss als Instrument legislativer Effizienz . . . . . . . 2. Der Vermittlungsausschuss zwischen Formalität und Informalität . . . . . III. Zusammensetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Mitgliedschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Entsendeverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Der Besetzungsmodus der Bundestagsbank vor dem Bundesverfassungsgericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Entscheidung BVerfGE 112, 118 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Abweichende Meinungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Kompetenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der Inhalt des Einigungsvorschlags als verfassungsgerichtliches Problem . 2. Die Problembewältigung in der verfassungsrechtlichen Judikatur . . . . . . V. Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I. Einleitung Art. 77 Abs. 2 GG sieht für das Verfahren der Bundesgesetzgebung die Einrichtung eines „aus Mitgliedern des Bundestages und des Bundesrates für die gemeinsame Beratung von Vorlagen“ gebildeten Ausschusses vor. Dieser sogenannte Vermittlungsausschuss 1 ist bisher in zweierlei Hinsicht Gegen1 Die Bezeichnung „Vermittlungsausschuss“ findet sich im Grundgesetz nicht, wurde aber bereits unmittelbar nach der Grundgesetzgebung gebräuchlich, siehe die „Richtlinien
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stand verfassungsgerichtlicher Entscheidungen gewesen. Aussagen über seine Organisation und über Ziel und Gestalt des Vermittlungsverfahrens machte das Bundesverfassungsgericht, als es verfassungsrechtliche Vorgaben für die Besetzung der „Bundestagsbank“ des Vermittlungsausschusses entfaltete. Mehrere Entscheidungen des Gerichts betreffen die Frage, welchen verfassungsrechtlichen Grenzen der Inhalt des vom Vermittlungsausschuss beschlossenen Einigungsvorschlages unterliegt. Diese Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts strukturiert die folgende Darstellung. Sie soll im Kontext von Zweck (II.), Zusammensetzung (III.) und Kompetenzen (IV.) des Vermittlungsausschusses dargestellt werden.2 Abschließend erfolgt ein Ausblick (V.).
II. Zweck des Vermittlungsausschusses Das Gesetzgebungsverfahren nach dem Grundgesetz ermöglicht dem Bundesrat, das Zustandekommen eines zustimmungsbedürftigen Gesetzes zu verhindern (Art. 77 Abs. 2a GG) und eines Einspruchsgesetzes zumindest zu verzögern (Art. 77 Abs. 3 und 4 GG) und dadurch zu erschweren. Der Gegenstand des Einspruchs oder der Zustimmungsverweigerung ist der vom Bundestag gefasste Gesetzesbeschluss in seiner formellen Einheit.3 Der Bundesrat befindet sich in einer Ratifikationslage.4 Dem Interesse des Bundesrates an politischer Gestaltungsteilhabe 5 kann dieses grobschlächtige Instru-
für den Erlaß einer Geschäftsordnung des Vermittlungsausschusses“ des Juristischen Ausschusses der Ministerpräsidenten (abgedr. bei Dästner, Die Geschäftsordnung des Vermittlungsausschusses, 1995, S. 33 ff.). 2 Die zahlreichen (siehe Kluth, Der Vermittlungsausschuss, in: Isensee/Kirchhof [Hrsg.], HStR III, 3. Aufl. 2005, § 60 Rn. 3) verfassungsrechtlichen Probleme der Auslegung des Art. 77 Abs. 2 GG sind damit nur unvollständig, nämlich insoweit erfasst, als sie bereits Gegenstand verfassungsgerichtlicher Erörterung gewesen sind. Gleichsinnig etwa die Darstellung von Möllers, JURA 2010, S. 401 ff. Das Art. 77 Abs. 2 GG betreffende Schrifttum legt die These nahe, dass in der Regel erst eine verfassungsgerichtliche Entscheidung den Anstoß zur vertieften rechtswissenschaftlichen Behandlung eines verfassungsrechtlichen Problems gibt. 3 Für die Verfassungsrechtsprechung ist diese Thematik relevant geworden, um den Umfang des Zustimmungserfordernisses nach Art. 77 Abs. 2a GG zu bestimmen, siehe BVerfGE 24, 184 (198); 37, 363 (381); 55, 274 (326 f.); Lit. bei Kersten, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), GG, Art. 77 Rn. 100 (April 2012). 4 Masing, in: von Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG, 6. Aufl. 2010, Art. 77 Rn. 60. 5 Das Bundesverfassungsgericht hat (unter Verweis auf Franßen, Der Vermittlungsausschuß – politischer Schlichter zwischen Bundestag und Bundesrat? in: Vogel/Simon/ Podlech [Hrsg.], Die Freiheit des Anderen, FS Hirsch, 1981, S. 273 ff.) ausgesprochen, dass „die Möglichkeit politischer Mitgestaltung der Gesetzesinhalte“ durch den Bundesrat mit der Funktionenordnung des Grundgesetzes in Widerspruch geraten kann (BVerfGE 72, 175 [188 f.]). Dies kann nicht dahingehend verstanden werden, dass eine politische Mitgestal-
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ment ersichtlich nicht genügen, denn eine schlichte Wahrung des Regelungszustandes, der durch die Gesetzgebung des Bundestages geändert werden soll, dürfte der Bundesrat nur in den seltensten Fällen beabsichtigen. Diese Prämisse setzt das Bundesverfassungsgericht stillschweigend voraus, wenn es als Ziel des Vermittlungsverfahrens ausmacht, „ein konkretes Gesetzgebungsvorhaben zu einem positiven Abschluss zu bringen, indem entweder der Einspruch des Bundesrates vermieden oder die zunächst nicht erteilte Zustimmung zu einem Gesetzesbeschluss des Bundestages herbeigeführt wird.“6 Die Mitgestaltungsmöglichkeiten des Bundesrates aktualisieren sich in einem Zeitpunkt, zu dem im Gesetzgebungsverfahren bereits ein beachtlicher Aufwand betrieben worden ist.7 Ob ein neues Gesetzgebungsverfahren, in dem die Gesetzesvorlage den Ablehnungsgründen des Bundesrates Rechnung trägt, zu einem erfolgreichen Ende geführt werden kann, ist politisch und wegen des Grundsatzes der Diskontinuität auch rechtlich stets zweifelhaft. Die Ablehnung des Gesetzesbeschlusses durch den Bundesrat, insbesondere die Verweigerung der Zustimmung, schösse über das Ziel hinaus, hätte sie das sofortige Scheitern des Gesetzesvorhabens zur Folge.8 Sie würde auch den Interessen des Bundesrates nicht gerecht, bliebe es bei diesem grundgesetzlichen Regelungsmodell. 1. Der Vermittlungsausschuss als Instrument legislativer Effizienz Die „institutionelle Konsequenz“ 9 der verfassungsrechtlichen Ausgestaltung des Beteiligungsrechts des Bundesrates an der Gesetzgebung im Bund ist die Einrichtung des Vermittlungsausschusses nach Art. 77 Abs. 2 GG. Das Vermittlungsverfahren ermöglicht es dem Bundesrat, auf den Inhalt des beschlossenen Gesetzes Einfluss zu nehmen. Dies geschieht entweder auf eigene Initiative oder indem der Bundesrat durch den Bundestag oder die Bundesregierung an den Verhandlungstisch gerufen wird. Am Ende des Vermittlungsverfahrens steht dann womöglich eine Fassung des Gesetzesbeschlusses,
tung durch den Bundesrat ausgeschlossen, sondern dass sie rechtfertigungsbedürftig ist. Eine solche Rechtfertigung erfolgt aber gerade durch Art. 77 Abs. 2 GG. 6 BVerfGE 112, 118 (137) unter Verweis auf von der Heide, DÖV 1953, S. 129. 7 Das Beteiligungsverfahren nach Art. 76 Abs. 2 GG mindert diesen Aufwand kaum. Die Stellungnahme des Bundesrates ist bei Gesetzesinitiativen aus der Mitte des Bundestages nicht vorgesehen, zudem dürfte nicht jede Abweichung des Gesetzesbeschlusses von den Vorstellungen des Bundesrates (dessen Stellungnahme nicht bindend ist, siehe BVerfGE 3, 12 [17 f.]; Lit. bei Kersten, in: Maunz/Dürig [Hrsg.], GG, Art. 76 Rn. 73 [Januar 2011]), eine spätere Sanktionierung durch Verweigerung der Zustimmung oder Erhebung des Einspruchs nach sich ziehen. 8 M. Dietlein, Vermittlung zwischen Bundestag und Bundesrat, in: Schneider/Zeh (Hrsg.), Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 57 Rn. 1. 9 BVerfGE 112, 118 (138).
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die Aussicht darauf hat, von Bundestag und Bundesrat angenommen zu werden.10 In diesem Sinne kann davon gesprochen werden, dass der Vermittlungsausschuss der „Effizienz der Gesetzgebung“11 dient. Durch die Einrichtung des Vermittlungsausschusses soll die Bewältigung der Meinungsverschiedenheit zwischen Bundestat und Bundesrat verfahrensmäßig ausgestaltet werden, indem „auf höherer politischer Ebene und unter übergeordneten Gesichtspunkten ein Interessenausgleich gesucht wird.“12 Dabei kann es indessen nicht um die Erreichung eines bestimmten Gesetzesinhaltes mit möglichst geringem Mitteleinsatz gehen. Die Inhalte des Gesetzes, hinsichtlich dessen der Vermittlungsausschuss angerufen worden ist, stehen im Vermittlungsverfahren zur Disposition. Tritt das Gesetzgebungsverfahren in das Stadium des Vermittlungsverfahrens ein, wird das legislative Ziel selbst variabel;13 der für die Beurteilung der Effizienz des Mitteleinsatzes notwendige Bezugspunkt entfällt. Ein gemeinsamer Ausschuss zum Zwecke des Ausgleichs von Meinungsunterschieden zwischen zwei an der Gesetzgebung beteiligten Organen ist ein verfassungsgeschichtlich und im Verfassungsvergleich häufig anzutreffendes Phänomen. Eine notwendige Einrichtung des grundgesetzlichen Gesetzgebungsverfahrens ist der Vermittlungsausschuss indessen nicht. Schon das Grundgesetz selbst kennt als institutionelle Alternative die Letztentscheidungskompetenz eines an der Gesetzgebung beteiligten Organs: Dem Bundestag steht die Befugnis zu, den Einspruch des Bundesrates zurückzuweisen (Art. 77 Abs. 4 GG; allerdings ist diesem Verfahrensschritt wegen Art. 77 Abs. 3 Satz 1 GG ein Vermittlungsverfahren obligatorisch vorausgegangen). Im Verfassungsvergleich stellt die sofortige Einberufung des Vermittlungsausschusses nach Art. 77 Abs. 2 Satz 1 und 4 GG die Ausnahme dar.14 Verfassungsgeschichtlich ist ein vermittelnder Ausschuss auf der bundesstaatlichen Ebene eine Neuschöpfung des Grundgesetzes; auf der Ebene der deutschen Einzelstaaten wurden, sofern deren Verfassungsordnungen zwei Gesetzgebungsorgane vorsahen, auch Alternativen verwirklicht.15
10 BVerfGE 72, 175 (188); 101, 297 (306 f.); 112, 118 (137, 142 f., 145); 120, 56 (74 f.); 125, 104 (122). 11 BVerfGE 72, 175 (188); Henseler, NJW 1982, S. 849 (852); Palm, NVwZ 2008, S. 633; G. Axer, Die Kompetenz des Vermittlungsausschusses, 2010, S. 45 ff. 12 BVerfGE 112, 118 (137). 13 Missverständlich insoweit BVerfGE 72, 175 (188), wo als Zweck des Vermittlungsverfahrens die Verwirklichung des „Gesetzgebungszieles so weit wie möglich“ bestimmt wird. Eine juristisch gehaltvolle Unterscheidung von Gesetzesziel und Gesetzesinhalt dürfte aber nicht zu treffen sein. 14 Siehe die Übersicht bei Tsebelis/Money, Bicameralism, 1997, S. 40 ff. 15 Siehe Bergkämper, Das Vermittlungsverfahren nach Art. 77 II GG, 2008, S. 17 ff.
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2. Der Vermittlungsausschuss zwischen Formalität und Informalität Durch die grundgesetzliche Einrichtung des Vermittlungsausschusses findet eine teilweise Formalisierung informeller Abstimmungs- und Aushandlungsprozesse statt. Das „erfolgreiche“, das heißt mit der Verkündung eines Gesetzes endende Gesetzgebungsverfahren erfordert die Koordinierung der Interessen einer Vielzahl von Akteuren.16 Besonders augenfällige Beispiele sind die Herstellung grundsätzlicher Meinungsübereinstimmung zwischen der Bundesregierung und der sie tragenden Parlamentsmehrheit,17 zwischen der Fraktion im Plenum und der Fraktion im gesetzesberatenden Ausschuss des Bundestages sowie zwischen den die Regierung tragenden koalitionsbildenden Fraktionen.18 Die Entscheidungsfindung liegt hier im Wesentlichen in der Hand der politischen Parteien,19 deren machtvolle Stellung sich in den Bestimmungen des Grundgesetzes (vgl. Art. 21 Abs. 1 Satz 1 GG) nicht deutlich abbildet. Auch der Vermittlungsausschuss ist in erheblichem Ausmaß parteienstaatlich überformt. Denn in der Regel sind es nicht spezifisch föderale Interessen, die sich in ihm artikulieren, sondern Belange der jeweiligen Oppositionsparteien, die ihre Politikvorstellungen vermittels einer „Mehrheit“20 im Bundesrat umzusetzen versuchen.21 Sichtbar wird diese Prägung des Vermittlungsausschusses, wenn die Anzahl der Vermittlungsverfahren in Phasen politisch gleichgerichteter Mehrheiten einerseits und entgegengesetzter Mehrheiten andererseits verglichen wird, ist doch im ersten Fall die Durchführung eines Vermittlungsverfahrens ein deutlich selteneres Phänomen.22
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Vielrezipierte Darstellung von von Beyme, Der Gesetzgeber, 1997, S. 92 ff., 139 ff., 176 ff. Siehe ferner Schoch, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR III, 3. Aufl. 2005, § 37 Rn. 146 ff. 17 Scholz, Staatsleitung im parlamentarischen Regierungssystem, in: Badura/Dreier (Hrsg.), FS 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, 2001, Bd. 2, S. 663 (667 ff.); Schneider, Das parlamentarische System, in: Benda/Maihofer/Vogel (Hrsg.), HdbVerfR, 2. Aufl. 1994, § 13 Rn. 15; Schoch, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR III, 3. Aufl. 2005, § 37 Rn. 16. 18 Miller, Der Koalitionsausschuss, 2011. 19 Schoch, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR III, 3. Aufl. 2005, § 37 Rn. 16 f.; Morlok, VVDStRL 62 (2003), S. 37 (65). 20 Die Bedeutung solcher „Mehrheiten“ im Bundesrat spiegelt sich im politischen Sprachgebrauch, der „A-Länder“ und „B-Länder“ (und ggf. „C-Länder“) kennt, siehe Lehmbruch, ZParl 1998, S. 348 ff.; König/Bräuninger, ZParl 1998, S. 350 ff. 21 Koggel, Das Vermittlungsverfahren, in: Kluth/Krings (Hrsg.), Gesetzgebung, 2014, § 19 Rn. 46 ff; Kluth, Gesetzgebung im Spannungsfeld von Parlamentarismus und Förderalismus – Reformperspektiven für das Vermittlungsverfahren, in: Baumeister/Roth/Ruthig (Hrsg.), Staat, Verwaltung und Rechtsschutz, FS Schenke, 2011, S. 211 (217 f.). 22 Bauer, Der Vermittlungsausschuß, 1995, S. 157 ff.; M. Dietlein, Vermittlung zwischen Bundestag und Bundesrat, in: Schneider/Zeh (Hrsg.), Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 57 Rn. 4; ders., ZRP 1985, 322 (327), weist auf die grundsätzliche Substituierbarkeit verschiedener Abstimmungs- und Einigungsmechanismen hin.
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Angesichts der Allgegenwärtigkeit informeller, in der Hand der politischen Parteien liegender Interessenkoordinierung im Verfahren der Gesetzgebung erweist sich die Einrichtung des Vermittlungsausschusses durch das Grundgesetz als in hohem Maße kontingent. Dass die Arbeit des Vermittlungsausschusses „an Informalität nur schwer zu überbieten“23 ist, dürfte somit seiner vollständigen Ersetzbarkeit durch verfassungsrechtlich nicht ausdrücklich geregelte Kommunikationsbeziehungen geschuldet sein. Ein verfassungsgeschichtlicher Seitenblick stützt diesen Befund. Im Kaiserreich soll dem in aller Regel als preußisches Mitglied im Bundesrat sitzenden Reichskanzler eine vermittelnde Funktion zwischen Bundesrat und Reichstag zugekommen sein.24 Unter der Weimarer Reichsverfassung verhandelten Reichstag und Reichsrat informell miteinander.25 Vor dem Hintergrund dieser historischen Erfahrungen wurde die Notwendigkeit, einen Vermittlungsausschuss verfassungsrechtlich vorzusehen, von Mitgliedern des Parlamentarischen Rates zum Teil auch grundsätzlich in Zweifel gezogen.26 Die Nähe des Vermittlungsverfahrens zu informellen Entscheidungsverfahren wird durch die Geschäftsordnung des Vermittlungsausschusses belegt. Schon deren knapper Umfang deutet einen geringen Formalisierungsgrad des 23 Schoch, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR III, 3. Aufl. 2005, § 37 Rn. 152. Vgl. auch BVerfGE 112, 118 (143: „Die Entstehungsgeschichte des Vermittlungsausschusses zeigt, dass dieser vermittelnde Prozess in möglichst geringem Maße formalisiert werden … sollte)“; sowie Cornils, DVBl 2005, S. 497 („institutionalisierte Intransparenz“) und Herdegen, VVDStRL 62 (2003), S. 7 (20). 24 Möllers, JURA 2010, 401; Reinert, Vermittlungsausschuß und Conference Committees, 1965, S. 40 f. m.w.N. 25 Reinert, Vermittlungsausschuß und Conference Committees, S. 40 f. sowie die Bemerkungen des Abg. Fecht im Parlamentarischen Rat, in: Deutscher Bundestag/Bundesarchiv (Hrsg.), Der Parlamentarische Rat: 1948 – 1949. Akten und Protokolle, Bd. 13: Ausschuß für Organisation des Bundes/Ausschuß für Verfassungsgerichtshof und Rechtspflege, Teilbd. 1, Dok. Nr. 18, S. 527: „Wenn früher im Reichstag bezüglich der Ausübung des Vetorechts durch den Reichsrat Zweifel entstanden waren, so war es üblich, daß man sich noch einmal zusammensetzte, Parteiführer und Reichsratsvorstand, und versuchte, die Schwierigkeiten auszubügeln, und es ist sogar häufig gelungen“, sowie (wohl auf die Situation im Kaiserreich bezogen) derselbe S. 530: „Die Vertreter der beiden Häuser sind zusammengetreten; es waren drei Herren vom Bundesrat und Fraktionsführer der großen Parteien im Reichstag. Dann hat man sich darüber ausgesprochen und beraten. Kam ein Ausgleich zustande, war es gut, dann wurde das Gesetz angenommen und kein Veto eingelegt.“ 26 Siehe die Stellungnahme des Abg. Katz, in: Deutscher Bundestag/Bundesarchiv (Hrsg.), Der Parlamentarische Rat: 1948–1949. Akten und Protokolle, Bd. 13: Ausschuß für Organisation des Bundes/Ausschuß für Verfassungsgerichtshof und Rechtspflege, Teilbd. 1, Dok. Nr. 18, S. 528 f.: „[I]ch halte es für selbstverständlich, daß im Falle des Dissenses sozusagen Verbindungsausschüsse oder Vermittlungsausschüsse zusammentreten, die in der Verfassung gar nicht erwähnt zu werden brauchen. Das ist ein ganz selbstverständlicher Vorgang. (…) Ich würde nur sagen, daß im Falle des Dissenses beiderseitige Ausschüsse beraten, also ohne weitere Einzelheiten anzuführen; oder ich würde es überhaupt nicht erwähnen, weil ich es für selbstverständlich halte.“ Dem schloss sich der Abg. Mücke an (a.a.O., S. 529).
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Vermittlungsverfahrens an.27 Die Sitzungen des Vermittlungsausschusses finden „im Interesse der Effizienz seiner Arbeit unter Ausschluss der Öffentlichkeit“ 28 statt (vgl. § 3 Satz 3, § 5, § 6 GOVermA).29 Die Protokolle der Sitzungen des Vermittlungsausschusses werden bis zum Anbruch der dritten Wahlperiode nach deren Abschluss geheim gehalten.30 Schließlich kennt die politische Praxis eine Vielzahl informeller Koordinations-, Ausgleichs- und Aushandlungsprozesse, die vor der und parallel zur Durchführung des Vermittlungsverfahrens ablaufen.31 Für die Auslegung der den Vermittlungsausschuss und sein Verfahren konstituierenden Vorschriften folgt aus diesem Befund für sich genommen nichts. Schon weil sich an den Beschluss eines Einigungsvorschlags verfahrensrechtliche Folgen für den Fortgang des Gesetzgebungsverfahrens knüpfen,32 kommt eine verfassungsrechtliche Einordnung des Vermittlungsausschusses als eine im Grundgesetz lediglich erwähnte Erscheinungsform informeller politischer Macht nicht in Betracht.33 Zu warnen ist indessen vor einer Perspektive, nach der das Vermittlungsverfahren als besonders anrüchig erscheint.34 Denn durch die faktische Ausweichmöglichkeit auf gänzlich informelle Abstimmungs- und Aushandlungsmechanismen dürften einer Formalisierung und Transparenzsteigerung des Vermittlungsverfahrens Grenzen gezogen sein, die einer normativen Verschiebung nur schwer zugänglich sind. Zudem begründet die Einbettung des Vermittlungsverfahrens in eine Vielzahl 27 Vgl. Troßmann, JZ 1983, S. 6 (9); M. Dietlein, Vermittlung zwischen Bundestag und Bundesrat, in: Schneider/Zeh (Hrsg.), Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 57 Rn. 8; Hasselweiler, Der Vermittlungsausschuß, 1981, S. 41; Kersten, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), GG, Art. 77 Rn. 70 (April 2012). Der mit 35 Paragraphen deutlich umfangreichere „Entwurf Dörr“ vom 9. November 1949 zu einer Geschäftsordnung des Vermittlungsausschusses wurde daher im weiteren Normsetzungsverfahren nicht zum Referenzpunkt, siehe Dästner, Die Geschäftsordnung des Vermittlungsausschusses, 1995, S. 40. 28 BVerfGE 125, 104 (124); 120, 56 (74). 29 Verfassungsgerichtliche Billigung bereits in BVerfGE 96, 264 (284); 101, 297 (305 f.). Kritik etwa bei Redeker, ZRP 2004, S. 160 (163); Möllers, JURA 2010, S. 401 (406). 30 Verfassungsgerichtliche Billigung in BVerfGE 101, 297 (305 f.); 125, 104 (124); kritisch auch insoweit Möllers, JURA 2010, S. 401 (406). 31 Bergkämper, Das Vermittlungsverfahren nach Art. 77 II GG, 2008, S. 215 ff.; MeratiKashani, NVwZ-Extra 2011, H. 7, S. 1 (3 ff.); Schneider, Modernes Regieren und Konsens. Kommissionen und Beratungsregime in der deutschen Migrationspolitik, 2010, S. 96 f., 304 f.; Lehnguth, Die Entstehung und Entwicklung des Zuwanderungsgesetzes, in: Jochum/ Fritzemeyer/Kau (Hrsg.), Grenzüberschreitendes Recht – Crossing Frontiers, FS Hailbronner, 2013, S. 185 (198 f.); Schicha, Legitimes Theater? Inszenierte Politikvermittlung für die Medienöffentlichkeit am Beispiel der „Zuwanderungsdebatte“, 2007, S. 304 f.; Siefken, Expertenkommissionen im politischen Prozess. Eine Bilanz zur rot-grünen Bundesregierung 1998–2005, 2007, S. 177 f. – G. Axer, Die Kompetenz des Vermittlungsausschusses, 2010, S. 63 f., erachtet diese politischen Praktiken als Verstoß gegen Art. 77 Abs. 2 GG. 32 Zu ihnen siehe BVerfGE 112, 118 (139). 33 Möllers, JURA 2010, S. 401. 34 Vgl. M. Dietlein, NJW 1983, S. 80.
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informeller Verhandlungs- und Entscheidungsvorgänge Skepsis hinsichtlich einer scharf akzentuierten Gegenüberstellung zwischen einem konsensual, auf gegenseitiges Nachgeben und Kompromisse zielenden Vermittlungsverfahren einerseits 35 und einem sich im Modus der Dezision vollziehenden Gesetzgebungsverfahren im Übrigen andererseits.36 Auch das Gesetzgebungsverfahren kommt ohne eine Vielzahl von Aushandlungsprozessen nicht aus; auch der Vermittlungsausschuss trifft seine Entscheidung schließlich nach Maßgabe des Mehrheitsprinzips (§ 8 GOVermA).37
III. Zusammensetzung 1. Mitgliedschaft Bestimmungen des Grundgesetzes, die ausdrücklich die Zusammensetzung des Vermittlungsausschusses zum Gegenstand haben, sind spärlich. Art. 77 Abs. 2 Satz 1 GG ordnet eine Zusammensetzung aus Mitgliedern des Bundestages und des Bundesrates an; selbst an einer Bestimmung, wonach die Zusammensetzung paritätisch zu erfolgen hat, fehlt es hier.38 Art. 77 Abs. 2 Satz 3 GG legt ergänzend fest, dass die in den Ausschuss entsandten Mitglieder des Bundesrates nicht an Weisungen gebunden sind. Die Bestim35 So deutlich die abweichende Meinung des Richters Broß in BVerfGE 106, 253 (271); zurückhaltender formuliert dagegen die in Bezug genommene Entscheidung BVerfGE 72, 175 (188). Zur Kommunikation im Vermittlungsausschuss und den Voraussetzungen einer diskursiven Prägung der dortigen Debatte siehe (modellbildend und quantifizierend) Spörndli, Diskurs und Entscheidung, 2004, S. 92 ff. und zusammenfassend S. 176 ff. 36 So die Gegenüberstellung bei Masing, in: von Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG, 6. Aufl. 2010, Art. 77 Rn. 58. 37 Mit der Folge der Möglichkeit sogenannter unechter Einigungsvorschläge, die bei bloßer Betrachtung der Mehrheitsverhältnisse keine Aussicht auf Annahme in der anschließenden Beschlussfassung im Bundestag haben, siehe Dästner, ZParl 1999, S. 26 ff. 38 Das Bundesverfassungsgericht hatte bisher keine Veranlassung, zur Verfassungsnotwendigkeit einer paritätischen Zusammensetzung Stellung zu nehmen. In der Lit. ist die Frage umstritten. Von einem diesbezüglichen Verfassungsgebot gehen etwa aus Bryde, in: von Münch/Kunig (Hrsg.), GG, 6. Aufl. 2012, Art. 77 Rn. 12; Masing, in: von Mangoldt/ Klein/Starck (Hrsg.), GG, 6. Aufl. 2010, Art. 77 Rn. 67; a.A. etwa Kersten, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), GG, Art. 77 Rn. 35 (April 2012); Sannwald, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/ Hopfauf (Hrsg.), GG, 12. Aufl. 2011, Art. 77 Rn. 19; Jekewitz, in: AK-GG, 3. Aufl. 2001, Art. 77 Rn. 22. Dass dem Verfassungsgeber eine paritätische Zusammensetzung des Vermittlungsausschusses selbstverständlich erschien (so K. Stein, NVwZ 2003, S. 557 [558]); Opfermann, Der europäische Vermittlungsausschuss, in: Grawert [Hrsg.], Offene Staatlichkeit, FS Böckenförde, 1995, S. 177 [179]), wird man nicht annehmen können, siehe etwa die Wortmeldungen der Abg. Fecht und Lehr, in: Deutscher Bundestag/Bundesarchiv (Hrsg.), Der Parlamentarische Rat: 1948–1949. Akten und Protokolle, Bd. 13: Ausschuß für Organisation des Bundes/Ausschuß für Verfassungsgerichtshof und Rechtspflege, Teilbd. 1, Dok. Nr. 18, S. 530. Freilich war die Ausarbeitung des Geschäftsordnungsrechts des Vermittlungsausschusses von Anfang an vom Gedanken einer paritätischen Zusammensetzung getragen, siehe die „Richtlinien des Juristischen Ausschusses der Ministerpräsidenten“ (Fn. 1).
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mung beschränkt sich auf die Bundesratsmitglieder, weil das Verhalten der in den Vermittlungsausschuss entsandten Abgeordneten des Deutschen Bundestages von der Gewährleistung des freien Mandats gemäß Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG erfasst ist.39 Im Übrigen überantwortet das Grundgesetz die Organisation des Vermittlungsausschusses dessen Geschäftsordnung, die nicht autonom, sondern gemäß Art. 77 Abs. 2 Satz 2 GG vom Bundestag beschlossen wird und der Zustimmung des Bundesrates bedarf.40 Die 32 Mitglieder des Vermittlungsausschusses gehören je zur Hälfte dem Bundestag und dem Bundesrat an (§ 1 GOVermA). Für jedes Mitglied des Vermittlungsausschusses wird ein persönlicher Vertreter bestellt (§ 3 Satz 1 GOVermA), der zur Vertretung nur befugt ist, wenn dies notwendig ist (§ 3 Satz 3 GOVermA).41 Dies führt zu einer erheblichen Prägung des Gremiums durch die in ihm jeweils vertretenen Personen.42 Eine Abberufung eines Mitglieds des Vermittlungsausschusses oder seines Stellvertreters ist möglich, jedoch nur insgesamt viermal innerhalb der gleichen Wahlperiode des Bundestages zulässig (§ 4 GOVermA). Gezählt wird nur die Beendigung der Mitgliedschaft, die auf die Entscheidung des entsendenden Organs zurückzuführen ist.43 Von der Vorschrift nicht erfasst ist die Beendigung der Mitgliedschaft durch Tod oder infolge des Ausscheidens aus der entsendenden Gesetzgebungskörperschaft.44 2. Entsendeverfahren Das Entsendeverfahren regeln die Geschäftsordnungen von Bundestag und Bundesrat in § 54 Abs. 2, § 57 Abs. 1 Satz 1, § 12 Satz 1 GOBT und § 11 Abs. 4 GOBR.45 Der Bundesrat hat sich für die Zugrundelegung eines egali39
Masing, in: von Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG, 6. Aufl. 2010, Art. 77 Rn. 71. Die fehlende Geschäftsordnungsautonomie und die Bezeichnung als „Ausschuss“ werden meist als Ausgangspunkt gewählt, um die verfassungsrechtliche Stellung des Vermittlungsausschusses zu bestimmen. Das Bundesverfassungsgericht hat den Vermittlungsausschuss bestimmt als „ständiges und gemeinsames Unterorgan von Bundestag und Bundesrat“ (BVerfGE 112, 118 [137]), ohne dass an diese Feststellung Rechtsfolgen geknüpft wurden (siehe aber die abw. M. des Richters Broß in BVerfGE 106, 253 [274], wo einer Stellung des Vermittlungsausschusses als „Verfassungsorgan“ abwägungsdirigierendes Gewicht beigemessen wird). Die Auffassungen der Lit. zu dieser Thematik sind erschlossen bei Kluth, Der Vermittlungsausschuss, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR III, 3. Aufl. 2005, § 60 Rn. 3 ff. 41 Hierzu Dästner, Die Geschäftsordnung des Vermittlungsausschusses, 1995, § 3 Rn. 4. 42 BVerfGE 112, 118 (143). 43 M. Dietlein, Vermittlung zwischen Bundestag und Bundesrat, in: Schneider/Zeh (Hrsg.), Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 57 Rn. 13. 44 Siehe zur komplizierten Staatspraxis im Einzelnen Dästner, Die Geschäftsordnung des Vermittlungsausschusses, 1995, § 4 Rn. 3 ff. 45 Zweifel an der diesbezüglichen Geschäftsordnungsautonomie von Bundestag und Bundesrat bei Burghart, DÖV 2005, S. 815 ff. 40
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tären Staatengrundsatzes entschieden, wonach jedes Land über einen Sitz verfügt. Dieser Besetzungsmodus ist verfassungskonform.46 a) Der Besetzungsmodus der Bundestagsbank vor dem Bundesverfassungsgericht Als verfassungsrechtlich in hohem Maße kontrovers hat sich die Besetzung der Bundestagsbank erwiesen.47 Der Bundestag fasst zu Beginn jeder Wahlperiode einen Beschluss über das Zählverfahren, nach dem unter anderem die Sitzanteile der Fraktionen im Vermittlungsausschuss berechnet werden. In der Vergangenheit hat es mehrere Wechsel des Zählverfahrens gegeben. Im Nachgang zur Bundestagswahl 2002 hätte eine Anwendung der etablierten drei Zählverfahren (Hare/Niemeyer, d’Hondt, Sainte-Laguë/Schepers) ergeben, dass die knappe parlamentarische Mehrheit der regierungstragenden Fraktionen der SPD und von Bündnis 90/Die Grünen sich im Vermittlungsausschuss nicht fortgesetzt hätte. Der SPD- und der CDU/CSU-Fraktion hätten jeweils sieben Sitze zugestanden, der Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen und der FDP jeweils ein Sitz. Mit den Stimmen der regierungstragenden Fraktionen wurde daraufhin beschlossen,48 dass in dem Fall, dass weder die vorrangig anzuwendende Zuteilung nach Sainte-Laguë/Schepers noch die Zuteilung nach d’Hondt „zur Wiedergabe der parlamentarischen Mehrheit“ im zu besetzenden Ausschuss führen, die Anzahl der nach dem Zählverfahren zu verteilenden Sitze um einen reduziert wird, der vorab der stärksten Fraktion zugewiesen wird. In Anwendung dieses Beschlusses wurden acht Mitglieder der SPD-Fraktion, sechs Mitglieder der CDU/CSUFraktion und je ein Mitglied der Fraktionen von Bündnis 90/Die Grünen und der FDP in den Vermittlungsausschuss entsandt. Im Wege des Organstreits vor dem Bundesverfassungsgericht wandte sich die CDU/CSU-Fraktion gegen die Fassung dieses Beschlusses durch den Bundestag. Nachdem ihr Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung erfolglos geblieben war,49 verpflichtete das Gericht den Bundestag in der Hauptsacheentscheidung, über die Grundsätze, nach denen die Bundestagsmitglieder in den Vermittlungsausschuss entsandt werden, nach Maßgabe der Entscheidungsgründe erneut zu beschließen.50 Sowohl der Beschluss über den Erlass einer einstweiligen Anordnung als auch das Urteil in der Hauptsache lassen erkennen, dass die maßgeblichen Rechtsfragen innerhalb des
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BVerfGE 112, 118 (142 f.). Geschichtlicher Abriss bei Dästner, Die Geschäftsordnung des Vermittlungsausschusses, 1995, § 1 Rn. 6 ff.; K. Stein, NVwZ 2003, S. 557 (558). 48 PlenProt 15/5, S. 177; BTDrucks 15/17, S. 1. 49 BVerfGE 106, 253. 50 BVerfGE 112, 118. 47
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Senats in hohem Maße umstritten gewesen sind. Der Entscheidung im Eilverfahren ist ein Sondervotum,51 der Entscheidung in der Hauptsache sind zwei Sondervoten angeschlossen.52 b) Die Entscheidung BVerfGE 112, 118 Die verfassungsgerichtliche Entfaltung des Maßstabs vollzieht sich in drei Schritten. Sie beginnt mit einer Herleitung des für die Besetzung von Ausschüssen des Bundestages geltenden Grundsatzes der Spiegelbildlichkeit.53 Sodann wird dargelegt, dass die spezifische Prägung des Vermittlungsausschusses der Geltung des Spiegelbildlichkeitsprinzips für die Besetzung seiner Bundestagsbank nicht entgegensteht.54 Schließlich wird konturiert, inwieweit das Prinzip der Spiegelbildlichkeit durch den Belang einer Abbildung der regierungstragenden Parlamentsmehrheit in seinem Geltungsanspruch beschränkt werden kann.55 Für die Besetzung von Ausschüssen des Bundestages gilt nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts der Grundsatz der Spiegelbildlichkeit. Grundsätzlich muss „jeder Ausschuss ein verkleinertes Abbild des Plenums“56 sein.57 Vor dem Hintergrund der durch die Staatspraxis etablierten und verfassungsrechtlich anerkannten Gliederung des Plenums in Fraktionen fordert der Grundsatz der Spiegelbildlichkeit regelmäßig die Abbildung des relativen Sitzverhältnisses der Fraktionen (vgl. § 12 Satz 1 GOBT).58 Für die Abbildung stehen etablierte mathematische Verfahren zur Verfügung, deren Anwendung verfassungsrechtlich zulässig ist.59 Der Grundsatz der Spiegelbildlichkeit leitet sich her aus der in Art. 38 Abs. 1 GG festgelegten Freiheit und Gleichheit des Abgeordnetenmandats. Jeder Abge51
Abweichende Meinung des Richters Broß, BVerfGE 106, 253 (265 ff.). Abweichende Meinung der Richterin Osterloh und des Richters Gerhardt, BVerfGE 112, 118 (148 ff.); abweichende Meinung der Richterin Lübbe-Wolff, a.a.O., S. 153 ff. 53 BVerfGE 112, 118 (133 bis 137). 54 BVerfG, a.a.O., S. 137 bis 140. 55 BVerfG, a.a.O., S. 140 bis 145. 56 BVerfG, a.a.O., S. 133. 57 BVerfGE 80, 188 (222); 84, 304 (323); 130, 318 (353 ff.); 131, 230 (235); speziell für den Vermittlungsausschuss BVerfGE 96, 264 (282). 58 Mit Blick auf die Rechte von Gruppen und fraktionslosen einzelnen Abgeordneten (vgl. BVerfGE 84, 304 [324]) formuliert das Bundesverfassungsgericht zurückhaltender, dass sich im Ausschuss die „Zusammensetzung des Plenums in seiner konkreten, durch die Fraktionen geprägten Gestalt“ (BVerfGE 131, 230 [235]) abbildet und „Gremien auch in ihrer politischen Prägung dem Plenum entsprechen“ (BVerfGE 130, 318 [353]) müssen. Gleichwohl setzt der Grundsatz der Spiegelbildlichkeit eine erkennbare Binnengliederung des Plenums voraus, siehe BVerfGE 112, 118 (136). 59 BVerfGE 130, 318 (354 f.). Auch der Wechsel des Verfahrens ist bei Vorliegen eines sachlichen Grundes zulässig, wobei gerade der Belang der Mehrheitsabbildung einen solchen Grund darstellt, siehe BVerfGE 96, 264 (283). 52
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ordnete ist Vertreter des ganzen Volkes und deshalb gleich; in seiner Gleichheit setzt sich die Wahlrechtsgleichheit fort.60 Zu dem Status des Abgeordneten gehört das Recht auf gleiche Teilhabe am Prozess der parlamentarischen Willensbildung.61 Dabei kann der einzelne Abgeordnete „politischen Einfluss von Gewicht“62 nur im Fraktionszusammenschluss ausüben. Die Fraktionen werden somit zum maßgeblichen Bezugspunkt der vom Spiegelbildlichkeitsprinzip gebotenen Abbildung durch den Umstand, dass sie von den Abgeordneten gerade in Ausübung des freien Mandats gebildet werden.63 Der Grundsatz der Spiegelbildlichkeit gilt, so fährt das Bundesverfassungsgericht fort, auch für die Besetzung der Bundestagsbank des Vermittlungsausschusses, obwohl es sich bei diesem nicht um einen Ausschuss des Bundestages handelt. Bereits der Wortlaut des Art. 77 Abs. 2 Satz 1 GG legt es nahe, dass der Bundestag – und nicht etwa die regierungstragende Parlamentsmehrheit – im Vermittlungsausschuss repräsentiert ist. Die Repräsentation des Bundestages im Vermittlungsausschuss ist auch deshalb vonnöten, weil die Beschlussfassung des Bundestages durch die Tätigkeit des Vermittlungsausschusses präformiert wird; die Statusgleichheit der Bundestagsabgeordneten ist nur durch ihre statusgleiche Repräsentation im Vermittlungsausschuss gewahrt. Die Präformierung der Plenararbeit ist nicht allein faktischer Art,64 sondern vom Grundgesetz und in der Geschäftsordnung des Vermittlungsausschusses rechtlich vorgesehen.65 Der Bundestag kann einen Vorschlag des Vermittlungsausschusses nicht ändern.66 Der Bundestag ist gehalten, über den Vorschlag des Vermittlungsausschusses zur Änderung oder Aufhebung des Gesetzesbeschlusses alsbald erneut Beschluss zu fassen (§ 10 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1 GOVermA). Er findet sich in einer Ratifikationslage wieder und kann die Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses nur annehmen oder ablehnen. Andere Anträge zur Sache sind nicht zulässig (§ 10 Abs. 2 Satz 1 und 3 GOVermA). Sieht der Einigungsvorschlag mehrere Änderungen des Gesetzesbeschlusses vor, so bestimmt der Vermittlungsaus60
Vgl. insbes. BVerfGE 102, 224 (238). BVerfGE 112, 118 (134); 96, 264 (278); 80, 188 (218); 70, 324 (354); 43, 142 (149); BVerfGK 19, 40 (43). 62 BVerfGE 112, 118 (135). 63 BVerfGE 112, 118 (135); 80, 88 (219 f.). 64 Hierauf stellt maßgeblich die abweichende Meinung des Richters Broß im Verfahren über den Erlass einer einstweiligen Anordnung ab, BVerfGE 106, 253 (273); in diese Richtung bereits BVerfGE 72, 175 (188). Das Abstellen auf die faktische Bedeutung der Arbeit des Vermittlungsausschusses wirft allerdings die Frage auf, in welchen faktischen, sachzwangbegründenden Entscheidungsstrukturen der Anspruch auf gleiche Repräsentation noch zu verwirklichen ist bzw. weshalb der Vermittlungsausschuss insoweit einen Sonderfall darstellt. 65 BVerfGE 112, 118 (139). 66 Insbesondere hier setzen Vorschläge zur Reform des Vermittlungsverfahrens an, siehe Cornils, DVBl 2002, S. 497 (506 f.). 61
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schuss, ob und inwieweit im Bundestag über Änderungen gemeinsam abzustimmen ist (§ 10 Abs. 3 Satz 1 GOVermA). Neben dem Grundsatz der Spiegelbildlichkeit entnimmt das Bundesverfassungsgericht dem Grundgesetz einen Grundsatz, „dass bei Sachentscheidungen die die Regierung tragende parlamentarische Mehrheit sich auch in verkleinerten Abbildungen des Bundestages muss durchsetzen können“67. Es ist sicherzustellen, dass „Sachentscheidungen ermöglicht werden, die eine realistische Aussicht haben, mit dem Willen einer im Plenum bestehenden politischen ,Regierungsmehrheit‘ übereinzustimmen.“68 Anderenfalls litte die Funktionsfähigkeit des Parlaments,69 zudem würde eine Verwirklichung des Grundsatzes der Mehrheitsentscheidung nach Art. 42 Abs. 2 Satz 1 GG zweifelhaft.70 Üblicherweise lässt sich eine spiegelbildliche Abbildung der Mehrheitsverhältnisse dadurch herbeiführen, dass die Sitzzahl in dem betreffenden Ausschuss geringfügig erhöht wird. Für den Vermittlungsausschuss ist eine solche Lösung zwar denkbar,71 aber nur schwierig zu verwirklichen. Seine Größe ist nicht in das Belieben des Bundestages gestellt und die Notwendigkeit einer paritätischen Besetzung wird jedenfalls in der Staatspraxis nicht in Frage gestellt. Der Ausgleich von Spiegelbildlichkeits- und Mehrheitsgrundsatz muss für die Besetzung seiner Bundestagsbank auf andere Weise erfolgen. Wegen der dem Vermittlungsausschuss eigenen Organisation und seines Verfahrens kann nicht angenommen werden, dass der Belang spiegelbildlicher Abbildung im Zweifel hinter den Belang der Mehrheitsabbildung zurückzutreten habe. Die durch den Grundsatz der Staatengleichheit dirigierte Besetzung der Bundesratsbank 72 gewährleistet nicht, dass die dortige Mehrheit derjenigen im Bundesrat (vgl. Art. 51 Abs. 2 und 3 GG) entspricht. Zudem ist die Arbeit des Vermittlungsausschusses nicht notwendig darauf angelegt, in jedem Fall zu einer Entscheidung in der Sache zu gelangen (vgl. § 12 Abs. 1 und 2 GOVermA). Schließlich büßt die Bundestagsmehrheit ihre durch Art. 42 Abs. 2 Satz 1 GG garantierte politische Gestaltungsmacht ohnehin dadurch ein, dass im Vermittlungsausschuss nicht nach Bänken abgestimmt wird (§ 8 GOVermA). Die Anwendung dieses verfassungsrechtlichen Maßstabs 73 führte zum Erlass eines „Bescheidungsurteils“74. Zwar hat der Bundestag Rechte der 67
BVerfGE 112, 118 (140). BVerfG, a.a.O., S. 141. 69 Zur verfassungsrechtlichen Anerkennung dieses Belangs siehe BVerfGE 80, 188 (219); 84, 304 (321); 96, 264 (278); 99, 19 (32); 112, 118 (140); 118, 277 (324); 130, 318 (348). 70 BVerfGE 106, 253 (273); 112, 118 (141); 130, 318 (355). 71 BVerfGE 112, 118 (148). 72 Für die Besetzung der Ausschüsse des Bundesrates siehe § 42 Abs. 2 GOBR, für die Europakammer siehe indessen Art. 52 Abs. 3a, 2. Halbsatz GG. 73 BVerfGE 112, 118 (145 bis 148). 74 Möllers, JURA 2010, S. 403. 68
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Antragstellerin durch den Beschluss über das bei der Besetzung von Ausschüssen anzuwendende Zählverfahren nicht schlechthin verletzt. Die Abbildung der parlamentarischen Mehrheit mithilfe der Vorabzuteilung eines Sitzes an die stärkste Fraktion zieht jedoch gravierende Verzerrungen der politischen Kräfteverhältnisse im Bundestag nach sich. Diese können zur Wahrung der Funktionsfähigkeit der parlamentarischen Gesetzgebung zu Beginn einer Legislaturperiode, nicht aber auf Dauer hingenommen werden. Angesichts des Umstandes, dass nicht allein der konkrete Beschluss über das anzuwendende Verteilungsverfahren, sondern auch das eigene Geschäftsordnungsrecht (§§ 12, 57 GOBT) parlamentsautonom geändert werden kann, kommen alternative Gestaltungen in Betracht, die dem Spiegelbildlichkeitsgrundsatz in größerem Maße Rechnung tragen.75 c) Abweichende Meinungen Der Senatsentscheidung sind zwei Sondervoten angeschlossen. Das Sondervotum der Richterin Osterloh und des Richters Gerhardt geht von einer gegenüber der Senatsentscheidung weiterreichenden Parlamentsautonomie aus.76 Die durch den angegriffenen Beschluss herbeigeführte Abweichung vom Grundsatz der Spiegelbildlichkeit sei verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Dass allerdings der Bundestag „einseitig auf das Mehrheitsprinzip abgestellt, andere Gestaltungen nicht erörtert und damit bei seinen Verhandlungen erkennbar nicht im gebotenen Umfang nach einem schonenden Ausgleich zwischen dem Grundsatz der Spiegelbildlichkeit und dem Mehrheitsprinzip“77 gesucht habe, begründe den Verfassungsverstoß durch den Bundestag. Die von Verfassungs wegen erforderliche „problemadäquate Abwägung“78 habe nicht stattgefunden. Etwaige Besonderheiten von Organisation und Verfahren des Vermittlungsausschusses werden für diese Argumentation nicht bedeutsam. Während dieses Sondervotum nahe an der der Senatsentscheidung zugrunde liegenden Argumentation verbleibt und „lediglich“ die Reichweite der Parlamentsautonomie abweichend bestimmt, formuliert die abweichende Meinung der Richterin Lübbe-Wolff eine grundsätzliche Entscheidungskritik.79 Auf die Mehrheitsverhältnisse im Bundestag komme es bei der Besetzung der 75 Zumindest in Hinblick auf seine Begründung wurde das Urteil – soweit ersichtlich: allseits – kritisch aufgenommen, siehe die Stellungnahmen von Kämmerer, NJW 2003, S. 1166 ff.; K. Stein, NVwZ 2003, S. 577 ff.; Ernst/Johnsen, ZParl 2005, S. 748 ff.; Lang, NJW 2005, S. 189 ff.; Möllers, JURA 2010, S. 401 (404); H. Meyer, Judex non calculat, in: Kiesow/ Ogorek/Simitis (Hrsg.), Summa, FS Simon, S. 405 ff.; Masing, in: von Mangoldt/Klein/ Starck (Hrsg.), GG, 6. Aufl. 2010, Art. 77 Rn. 67 mit Fn. 15. 76 BVerfGE 112, 118 (148 f.). 77 BVerfG, a.a.O., S. 149. 78 BVerfG, a.a.O., S. 152. 79 BVerfG, a.a.O., S. 153 ff.
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Bundestagsbank im Vermittlungsausschuss nicht weniger an als bei der Besetzung von Ausschüssen des Bundestages. Das Sondervotum lehnt bereits den die Senatsentscheidung strukturierenden Ansatz ab, wonach Spiegelbildlichkeit und Mehrheitsabbildung zwei in Konkurrenz zueinander stehende und schonend auszugleichende Belange darstellen: „Das für den demokratischen Verantwortungszusammenhang wichtigste Element des abzubildenden Stärkeverhältnisses der Fraktionen sind deshalb die Mehrheitsverhältnisse“.80 Gerade der Umstand, dass der Bundestag den Einigungsvorschlag des Vermittlungsausschusses nur unverändert annehmen oder ablehnen könne, begründe die besondere Bedeutung des Belangs, die parlamentarische Mehrheit als Mehrheit abzubilden. Der Verweis auf das Verfahren der Bundesratsbankbesetzung sei nicht geeignet, das Recht des Bundestages zur Mehrheitsabbildung zu schmälern.81
IV. Kompetenzen Die wesentliche Kompetenz des Vermittlungsausschusses liegt darin, einen Einigungsvorschlag82 zu beschließen, obschon das Verfahren auch ohne Einigungsvorschlag beendet werden kann (§ 12 GOVermA). Der Einigungsvorschlag kann in der Empfehlung einer Bestätigung (§ 11 Satz 1 GOVermA), einer Änderung (§ 10 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1, Abs. 3 GOVermA) oder einer Aufhebung (§ 10 Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 GOVermA) des Gesetzesbeschlusses bestehen.83 Schlägt der Vermittlungsausschuss eine Änderung84 des Gesetzes80 BVerfG, a.a.O., S. 155. Die abweichende Meinung definiert in ihrem zweiten Teil (a.a.O., S. 157 ff.) das Ziel der möglichst proportionalen Abbildung der Stärkeverhältnisse im Plenum als Frage möglichst gleicher Quotienten von Sitzanteil in Ausschuss und Sitzanteil in Bundestag („Erfolgswert“, a.a.O., S. 154). Für den Vergleich der je nach angewandtem Zählverfahren sich ergebenden Abweichungen der Erfolgswerte von 1 (der exakt proportionalen Abbildung) seien der Verfassung nicht in jedem Fall Maßstäbe zu entnehmen. 81 BVerfG, a.a.O., S. 156 f. Maßgeblich für diese Annahme dürfte der Ausgangspunkt sein, wonach Spiegelbildlichkeits- und Mehrheitsprinzip nicht in Konkurrenz zueinander stünden. Ist der Bundestag nicht auf die Verwirklichung zweier Prinzipien in schonendem Ausgleich verpflichtet, so verliert der Verweis auf die Abstimmung gemäß § 8 GOVermA an Überzeugungskraft. 82 Das Grundgesetz spricht gleichbedeutend von einem „Vorschlag“ (Art. 77 Abs. 2 Satz 5, Abs. 2a GG). 83 BVerfGE 101, 297 (305, 307). Die Staatspraxis kennt zudem den Vorschlag auf anderweitige Erledigung des Verfahrens (siehe Dästner, Die Geschäftsordnung des Vermittlungsausschusses, 1995, § 10 Rn. 9 m.N.) und hat mit der Protokollerklärung der Bundesregierung ein Instrument gefunden, um nicht-legislatives Handeln (Erlass von Rechtsverordnungen oder Verwaltungsvorschriften, Abschluss von Verwaltungsabkommen) in die Kompromissfindung einzubeziehen (a.a.O., Rn. 26 f.). 84 Zwar dürfte der auf eine Aufhebung des Gesetzesbeschlusses zielende Einigungsvorschlag zwanglos unter die „Änderung“ i.S.d. Art. 77 Abs. 2 Satz 5 GG zu subsumieren sein,
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beschlusses vor, so hat der Bundestag erneut Beschluss zu fassen (Art. 77 Abs. 2 Satz 5 GG).85 1. Der Inhalt des Einigungsvorschlags als verfassungsrechtliches Problem Die Beschlusskompetenz des Vermittlungsausschusses unterliegt spezifischen verfassungsrechtlichen Beschränkungen; in der Gestaltung des Einigungsvorschlags ist er nicht frei. Drei Verfassungsgebote sind es, die zu einer Begrenzung seiner „Vermittlungskompetenz“ 86 führen.87 Erstens beschränkt das Grundgesetz den Kreis der zur Gesetzesinitiative Berechtigten auf Bundestag, Bundesrat und Bundesregierung (Art. 76 Abs. 1 GG). Mögen auch andere Verfassungsorgane am Gesetzgebungsverfahren beteiligt sein, hat dieses sein demokratisches Zentrum doch im Bundestag. Art. 77 Abs. 1 Satz 1 GG stellt dies deutlich heraus.88 Zweitens sind am Verfahren der Gesetzgebung alle Abgeordneten mit gleichen Rechten beteiligt (Art. 38 Abs. 1 GG). Ihnen steht unter anderem das Recht zu, über eine Gesetzesvorlage zu verhandeln (Art. 42 Abs. 1 GG). Hierfür muss den Abgeordneten die Möglichkeit eröffnet sein, „Gesetzesvorlagen zu erörtern, Meinungen zu vertreten, Regelungsalternativen vorzustellen und hierfür eine Mehrheit im Parlament zu suchen.“ 89 Drittens ist das Verfahren der Gesetzgebung öffentlich. Dadurch wird es der kritischen Begleitung und Kontrolle durch das Volk zugänglich (Art. 42 Abs. 1 Satz 1, Art. 20 Abs. 2 GG).90 Je größer der Innovationsehrgeiz ist, den der Vermittlungsausschuss in seinem Einigungsvorschlag an den Tag legt, desto weniger prägen diese drei Verfassungsgebote das betroffene Gesetzgebungsverfahren: Dem Bundestag wird eine Regelung zur „Ratifikation“ vorgelegt, die ihren formellen Ursprung bei keinem der grundgesetzlich vorgesehenen Gesetzgebungsinitianten
geschäftsordnungsrechtlich ist er dem Änderungsbeschluss indessen nebengeordnet und gleichgestellt (§ 10 Abs.1 Satz 1 Alt. 2 GOVermA). 85 Zu den Verfahrensfolgen im Einzelnen siehe BVerfGE 112, 118 (139). Die Anordnung einer „erneuten“ Beschlussfassung darf nicht zu der Annahme verleiten, es werde ein weiteres Mal über einen früheren Beschlussgegenstand abgestimmt; Gegenstand des Beschlusses nach Art. 77 Abs. 2 Satz 5 GG ist der Einigungsvorschlag, siehe Dästner, Die Geschäftsordnung des Vermittlungsausschusses, 1995, S. 35; Koggel, BAnz 2009 Nr. 190a, S. 4 (7). 86 Begriff nach G. Axer, Die Kompetenz des Vermittlungsausschusses, 2010, S. 56 ff. 87 Dieselbe Trias bei Burchardt/Putzer, ZG 2011, S. 68 (71 ff.); Differenzierung in Gewährleistungen des Art. 20 Abs. 2 GG (Demokratieprinzip) und Art. 42 Abs. 1 Satz 1 GG (Öffentlichkeit des parlamentarischen Verfahrens) bei Borowy, ZParl 2010, S 875 (876). 88 Vgl. m.w.N. Emmenegger, Die Stärkung des Parlaments in der neueren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, in: dies./Wiedmann (Hrsg.), Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, Bd. 2, 2011, S. 447 (459). 89 BVerfGE 125, 105 (123). 90 BVerfG, a.a.O., S. 123 f.; zum Grundsatz der Parlamentsöffentlichkeit siehe auch BVerfGE 40, 296 (327); 70, 324 (355); 84, 304 (329).
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genommen hat. Die Rechte jedes einzelnen Abgeordneten, auf die Regelung inhaltlich Einfluss zu nehmen, sind in dieser Situation empfindlich eingeschränkt. Ihre Gestalt hat diese Regelung in einem geheimen Verfahren der Konsensbildung gefunden. 2. Die Problembewältigung in der verfassungsgerichtlichen Judikatur In bisher fünf Entscheidungen hat das Bundesverfassungsgericht die Grenzen der Vermittlungskompetenz des Vermittlungsausschusses konturiert.91 Zur Prüfung gestellt waren jeweils Gesetze, die infolge einer Annahme eines auf Änderung des ursprünglichen Gesetzesbeschlusses lautenden Einigungsvorschlags durch den Bundestag zustande gekommen waren. Soweit der Stand der Verfassungsrechtsprechung abzubilden ist, erscheint es nicht sinnvoll, zwischen den einzelnen durch den Beschluss eines Einigungsvorschlags potentiell gefährdeten Verfassungsgarantien (Art. 76 Abs. 1, Art. 38 Abs. 1, Art. 42 Abs. 1 Satz 1 und Art. 20 Abs. 2 GG) zu differenzieren und jeder dieser Bestimmungen spezifische Vorgaben für den Inhalt des Einigungsvorschlags zu entnehmen. In der Sache erörtern die verfassungsgerichtlichen Entscheidungen sämtlich die Frage eines hinreichenden Zurechnungszusammenhangs zwischen dem Inhalt des Einigungsvorschlags einerseits und vorangegangenen parlamentarischen und außerparlamentarischen Vorgängen andererseits, dessen Voraussetzungen nicht differenziert durch einzelne der genannten Verfassungsbestimmungen konturiert werden.92 Die Abweichungen des Einigungsvorschlags vom zur Vermittlung gestellten Gesetzesbeschluss können in mannigfaltigen parlamentarischen oder außerparlamentarischen Vorgängen bereits erörtert oder erwähnt worden sein.93 Dass diese abweichenden Regelungen gerade nicht Inhalt des ursprünglichen Gesetzesbeschlusses geworden sind, führt zu der trivialen Feststellung, dass sie jedenfalls nicht ein vollständiges Gesetzgebungsverfahren im Bundestag durchlaufen haben. Ob ein bestimmter Einigungsvorschlag Regelungen enthält, die aus einem den Gewährleistungen des Grundgesetzes widersprechenden Verfahren hervorgegangen sind, hängt somit von der konkreten Gestalt, auch von Details der in den Blick zu nehmenden parlamenta-
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BVerfGE 72, 175; 78, 249; 101, 297; 120, 56; 125, 104. Vgl. etwa die Amalgamierung dieser Verfassungsbestimmungen in BVerfGE 120, 56
(73). 93 Borowy, ZParl 2010, S. 874 (889 f.) nennt insbesondere: Gesetzesentwürfe (§ 75 Abs. 1 Buchst. a GOBT); selbständige Anträge (§ 75 Abs.1 Buchst. d GOBT); Berichte und Materialien zur Unterrichtung des Bundestages (§ 75 Abs. 1 Buchst. e GOBT); Beschlussempfehlungen und Berichte der Ausschüsse (§ 75 Abs. 2 Buchst. a GOBT); Änderungsanträge in zweiter und dritter Lesung (§ 75 Abs. 2 Buchst. b i.V.m. § 82 Abs. 1, § 85 Abs. 1 GOBT); Entschließungsanträge (§ 75 Abs. 2 Buchst. c GOBT).
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rischen und außerparlamentarischen Vorgänge ab; Darstellungen der verfassungsgerichtlichen Entscheidungen erhalten daher einen stark aggregierenden Charakter. Das Bundesverfassungsgericht billigte in seinen ersten beiden, dasselbe Gesetzgebungsverfahren betreffenden Entscheidungen aus den Jahren 1986 und 1988, dass der Einigungsvorschlag Regelungen enthält, die in einem anderen Gesetzgebungsverfahren zwar in erster Lesung, aber noch nicht in zweiter und dritter Lesung behandelt worden und die deshalb im Anrufungsbegehren nicht zum Gegenstand der Vermittlungstätigkeit gemacht worden sind (und auch nicht gemacht werden konnten).94 Erforderlich sei lediglich ein Sachzusammenhang zwischen der im Einigungsvorschlag nunmehr enthaltenen Regelung und dem zur Vermittlung gestellten Gesetzesbeschluss des Bundestages; gerade bei einem heterogenen Artikelgesetz mit einem breiten, abstrakt gefassten Regelungszweck – der hier darin bestand, die Investitionstätigkeit anzuregen 95 – ist ein solcher Sachzusammenhang nicht schwer herstellbar. Die nächste Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts betraf eine im Einigungsvorschlag enthaltene Regelung, die auf den Antrag einer Oppositionsfraktion zurückzuführen war. Der Antrag hatte darauf gezielt, die Bundesregierung zur Ausarbeitung von steuerrechtlichen Regelungen mit bestimmter Zielsetzung aufzufordern.96 Er enthielt deshalb nicht selbst einen Gesetzesentwurf. Der Antrag war gemeinsam mit dem zur Vermittlung gestellten Gesetzesbeschluss im Bundestag beraten worden. Das Bundesverfassungsgericht billigte die Aufnahme einer dem Antrag entsprechenden Regelung in den Einigungsvorschlag des Vermittlungsausschusses.97 Die notwendige Verbindung zwischen dem Vorgang, in dem die im Einigungsvorschlag enthaltene Regelung ihren Ausgang genommen hatte, und dem zur Vermittlung gestellten Gesetzesbeschluss wird in der Entscheidung enger geknüpft. Dieser Vorgang 98 müsse Teil desselben Gesetzgebungsverfahrens gewesen sein, welches im Bundestag mit dem zur Vermittlung gestellten Gesetzesbeschluss sein Ende gefunden habe. Dass der Regelungsvorschlag anderweitig den Abgeordneten des Bundestages zur Kenntnis gebracht worden sei, etwa auch im Rahmen eines anderen Gesetzgebungsverfahrens, reiche nicht aus. Zudem müsse die im Einigungsvorschlag vorgesehene Ände-
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BVerfGE 72, 175 (190 f.); 78, 249 (271). BVerfGE 72, 175 (179, 191). 96 Siehe BTDrucks 13/936. Der Antrag zielte auf die Begrenzung der Absetzbarkeit der Kosten für ein häusliches Arbeitszimmer (§ 4 Abs. 5 Nr. 6b EStG i.d.F. des Jahressteuergesetzes 1996). 97 BVerfGE 101, 297 (309). 98 Das Bundesverfassungsgericht spricht von „Anträge[n] und Stellungnahmen“, siehe BVerfG, a.a.O., S. 307. 95
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Vermittlungsausschuss und Vermittlungsverfahren
rung durch das Anrufungsbegehren gedeckt sein, mithin zur Disposition des Vermittlungsausschusses gestellt worden sein.99 An diese Rechtsprechung knüpfte das Bundesverfassungsgericht im Jahre 2008 an und erklärte erstmalig eine steuerrechtliche Vorschrift für formell verfassungswidrig,100 weil der Vermittlungsausschuss seine Kompetenz überschritten habe.101 Dem Beschluss liegen die bereits in der vorgängigen Entscheidung entfalteten Maßstäbe zugrunde, die nunmehr detailreicher entfaltet werden.102 Das Gesetzgebungsverfahren werde inhaltlich konturiert nicht allein durch die von den Abgeordneten selbst eingebrachten Anträge und Stellungnahmen, sondern auch durch solche des Bundesrates und, im Falle einer Regierungsvorlage, gegebenenfalls durch solche der Bundesregierung. Es komme nicht darauf an, ob und in welcher Form der Bundestag die Anträge und Stellungnahmen in seinem Gesetzesbeschluss berücksichtigt habe. Entscheidend sei allein, dass sie im Gesetzgebungsverfahren vor dem Gesetzesbeschluss in einer Weise bekannt gegeben worden seien, die den Abgeordneten die Wahrnehmung ihrer Mitwirkungsrechte ermögliche.103 Dagegen würde durch eine Einbeziehung auch solcher „im parlamentarischen Prozess erkennbaren Willens- und Absichtsbekundungen außerhalb des konkreten Gesetzgebungsverfahrens die Förmlichkeit dieses Verfahrens untergraben“ 104. Diesem Maßstab genügte die zur verfassungsgerichtlichen Prüfung gestellte Regelung nicht, weil sie nicht Gegenstand des zum Einigungsvorschlag führenden Gesetzgebungsverfahrens gewesen sei, sondern im Vermittlungsverfahren selbst ihren Ursprung habe. In der jüngsten einschlägigen Entscheidung105 erlaubt die besonders detailreiche Betrachtung der besonderen Umstände des zugrunde liegenden Sach-
99 BVerfG, a.a.O., S. 307, fortgeführt in BVerfGE 120, 56 (74 f.). Die Bezugnahme auf das Anrufungsbegehren vermag den Bereich denkbarer Einigungsvorschläge lediglich zu begrenzen, nicht zu erweitern. Anderenfalls käme die Anrufung strukturell einer Gesetzesinitiative gleich (siehe BVerfGE 125, 105 [131]). Eine begrenzende Wirkung kann dem Anrufungsbegehren in der Staatspraxis dadurch genommen werden, dass es offen, das heißt auf eine grundlegende Überarbeitung des zur Vermittlung gestellten Gesetzesbeschlusses gerichtet ist. 100 Die betreffende Vorschrift blieb mangels Evidenz des Verfassungsverstoßes gültig, siehe BVerfGE 120, 56 (79 f.). 101 Zur Entscheidung BVerfGE 120, 56 siehe Desens, NJW 2008, S. 2892 ff.; Palm, NVwZ 2008, S. 633. 102 Siehe Borowy, ZParl 2010, S. 874 (878). 103 BVerfGE 120, 56 (75). 104 BVerfG, a.a.O., S. 79. 105 BVerfGE 125, 104. Siehe hierzu G. Axer, DStR 2010, S. 1057 ff.; ders., NVwZ 2010, S. 624 ff.; ders., Die Kompetenz des Vermittlungsausschusses, 2010, S. 320 ff. – In BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 7. November 2007 – 2 BvR 412/04 u.a. –, juris, bedurfte die Frage nach der formellen Verfassungswidrigkeit des Haushaltsbegleitgesetzes 2004 keiner Entscheidung.
Johannes Gerberding
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verhalts106 durch das Gericht die Einschätzung, dass die jeweiligen Verfahrensumstände – und nicht die spezifischen Konturen der thematisch betroffenen Verfassungsbestimmungen – die entscheidungserhebliche Prägkraft entfalten.107 Das Verfahren betraf eine Änderung des Personenbeförderungsgesetzes, die angeregt durch ein vorher zirkulierendes Papier zu Möglichkeiten des Subventionsabbaus („Koch/Steinbrück-Papier“) in den Einigungsvorschlag zum Haushaltsbegleitgesetz 2004 aufgenommen worden war. In Anknüpfung an seine beiden vorgängigen Entscheidungen erachtete das Bundesverfassungsgericht die vorherige parlamentarische Behandlung des Papiers für nicht hinreichend verknüpft mit dem Gesetzgebungsverfahren zum Haushaltsbegleitgesetz 2004, als dass der Vermittlungsausschuss eine auf das Papier zurückgehende Regelung hätte vorschlagen dürfen. Erstens seien die in dem Papier enthaltenen Vorschläge einer angemessenen parlamentarischen Beratung im Gesetzgebungsverfahren nicht zugänglich gewesen. Hierin liegt der maßgebliche Unterschied zur vorgängigen Entscheidung 108 aus dem Jahre 2000: Denn es ist zwar nicht erforderlich, dass die im Einigungsvorschlag enthaltene Regelung in das vorausgegangene Gesetzgebungsverfahren bereits ebenfalls in Gestalt einer ausformulierten Regelung eingeführt wurde. Von einem Antrag oder einer Stellungnahme im Gesetzgebungsverfahren wird man jedoch nur dann sprechen können, wenn dort bereits wesentliche Konkretisierungsleistungen erbracht worden sind. Den Abgeordneten müsse es möglich sein, so das Bundesverfassungsgericht weiter, den Antrag oder die Stellungnahme nicht lediglich pauschal zu debattieren, sondern deren Bedeutung gerade für das betreffende Gesetzgebungsverfahren zu erörtern.109 Die erforderliche Konkretisierungsleistung sei auch in der Arbeit der Ausschüsse und durch die Erwähnung des Papiers im Bundestagsplenum nicht erfolgt; auch insoweit sei den Abgeordneten die Bedeutung der in ihm enthaltenen Vorschläge allenfalls global, nicht jedoch in Hinblick auf angezeigte Änderungen einzelner Regelungen bewusst gewesen.110 Schließlich flicht das Gericht einen weiteren Argumentationsstrang, indem es
106 Verfassungsrechtliche Beurteilungen im Vorfeld der Entscheidung bei Huber/Fröhlich, DÖV 2005, S. 322 ff.; W. G. Leisner, NJW 2004, S. 1129 ff.; R. P. Schenke, FR 2004, S. 638 ff. 107 Auch die gemeinsame Abhandlung der einschlägigen Grundgesetzbestimmungen in einem einzelnen Maßstäbeteil (BVerfG, a.a.O., S. 121 bis 124) spricht für eine solche Deutung. 108 BVerfGE 101, 297. 109 BVerfGE 125, 105 (125 f.) und bereits BVerfGE 120, 56 (76). Die hier vorgenommene qualitative Einschränkung dürfte verfassungsrechtlich notwendig sein, um das Erfordernis einer parlamentarischen Behandlung in demselben Gesetzgebungsverfahren zu effektuieren. Anderenfalls wäre es möglich, den Gestaltungsspielraum des Vermittlungsausschusses durch eine vorgängige „Globalstellungnahme“ beliebig zu erweitern. 110 BVerfGE 125, 105 (126 f.).
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Vermittlungsausschuss und Vermittlungsverfahren
ausführt, dass die Einbringung des Koch/Steinbrück-Papiers in das Gesetzgebungsverfahren nicht den formellen Anforderungen an eine Bundesratsinitiative genügt.111
V. Ausblick Es ist zu erwarten, dass Vermittlungsausschuss und Vermittlungsverfahren auch in Zukunft auf ein beachtliches verfassungsrechtliches Interesse stoßen werden. Der spärliche Textbefund des Grundgesetzes betrifft einen Bereich, der ein durchaus attraktives Forum für den politischen Meinungswettstreit abgibt. Ferner weicht das Vermittlungsverfahren in besonders augenfälliger Weise vom Gesetzgebungsverfahren im Bundestag ab, wie es durch das Grundgesetz beschrieben wird. Vermittlungsverfahren geben damit einen besonders gut fassbaren Gegenstand für verfassungspolitische und -rechtliche Kritik ab; auch die Möglichkeit einer Skandalisierung liegt nicht fern. Schließlich liegt die Vermutung nahe, dass die Grenzen der Vermittlungskompetenz auch in künftigen Gesetzgebungsverfahren berührt, womöglich auch überschritten werden.112 Dies mag etwa der Fall sein, wenn sich ein wechselseitiges Nachgeben über einzelne Politikfelder – und damit häufig auch: Gesetzgebungsvorhaben – hinweg bereits im Einigungsvorschlag des Vermittlungsausschusses niederschlägt.113 Zudem dürften gerade neuartige Regelungsvorschläge zur Konsensstiftung besonders geeignet sein. Unmittelbare verfassungsrechtliche Folgen knüpfen sich an diese Zusammenhänge indessen nicht: „thinking outside the box“114 ist kein gangbarer Weg, wenn diese Box aus Verfassungsrecht gezimmert ist.
111 BVerfG, a.a.O., S. 129 bis 131. Angesichts des Umstandes, dass das Koch/SteinbrückPapier bereits inhaltlich nicht so gefasst war, dass es als (Beitrag zu einer) Gesetzesinitiative im Bundestag verwertbar gewesen wäre, wird man diese Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts nicht als tragend ansehen können. 112 Vgl. Möllers, JURA 2010, S. 401 (404): „verfassungsrechtliche[s] Dauerthema“. 113 Das politische „Streckengeschäft“ soll im Vermittlungsverfahren der Regelfall sein, siehe die von Merati-Kashani, NVwZ-Extra 2011, H. 7, S. 1 (4) geführten Interviews mit Mitgliedern des Vermittlungsausschusses: „Lösungen liegen oft auf einem anderen Feld als bei dem konkreten Legislativvorhaben“. Die Vermutung liegt nahe, dass die oft notierte Besetzung des Vermittlungsausschusses mit politischen „Schwergewichten“ auch dem Ziel dient, wechselseitiges Vertrauen in die zukünftige politische Durchsetzbarkeit solcher Kompromisse zu stiften. 114 Was Verhandlungsführern regelmäßig empfohlen wird, siehe Fisher/Ury, Getting to Yes. Negotiating Agreement Without Giving In, 7. Aufl. 2012, S. 56 ff.; Hilligsoe/Jakobsen, Negotiation. The Art of Reaching Agreement, 2009, S. 50 f.
Die wahlrechtlichen Gleichheitssätze in der neueren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Holger Mann und Christian Pohl Leitentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts BVerfGE BVerfGE BVerfGE BVerfGE BVerfGE BVerfGE
120, 82 – Fünf-Prozent-Sperrklausel Schleswig-Holstein 121, 266 – Überhangmandate, negatives Stimmengewicht 129, 300 – Fünf-Prozent-Sperrklausel Europawahlrecht 130, 212 – Minderjährigenanteile in Wahlkreisen 131, 316 – Überhangmandate; Negatives Stimmengewicht 132, 39 – Wahlberechtigung Auslandsdeutsche Schrifttum (Auswahl)
Dreier, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 2, 2. Aufl. 2006, Art. 20 (Demokratie); Felten, Zur Verfassungswidrigkeit des neuen Wahlrechts für Auslandsdeutsche, DÖV 2013, S. 466 ff.; Isensee, Funktionsstörung im Wahlsystem: das negative Stimmgewicht, DVBl. 2010, S. 269 ff.; Lenz, Die Wahlrechtsgleichheit und das Bundesverfassungsgericht, AöR 121 (1996), S. 337 ff.; ders., Ein einheitliches Verfahren für die Wahl des Europäischen Parlaments, 1995; Lindner, Das Bundestagswahlrecht aus Perspektive der Social Choice-Theorie, 2010; Lübbert, Sitzzuteilungsverfahren – wahlmathematische Systematik und Stand der Diskussion, 2009; Masing, Wahlkreiseinteilung und kommunale Gebietsgrenzen, 2001; Meyer, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. III, 3. Aufl. 2005, §§ 38 und 45; ders., Die Zukunft des Bundestagswahlrechts, 2010; Morlok Demokratie und Wahlen, in: Badura/Meyer (Hrsg.), Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, Bd. 2, 2001, S. 559 ff.; ders., Das BVerfG als Hüter des Parteienwettbewerbs, NVwZ 2005, S. 157 ff.; Papier, Überhangmandate und Verfassungsrecht, JZ 1996, S. 265 ff.; Pauly, Das Wahlrecht in der neueren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, AöR 123 (1998), S. 232 ff.; Schreiber, Kommentar zum Bundeswahlgesetz, 8. Aufl. 2009. Inhalt A. B.
Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gewährleistungsgehalt der wahlrechtlichen Gleichheitssätze . . . . . . . . . I. Gleichheit der Wahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Gewährleistungsgehalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Zulässigkeit von Differenzierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Verfassungsgerichtliche Kontrollkompetenz und Überprüfungspflicht des Gesetzgebers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Die wahlrechtlichen Gleichheitssätze II. Allgemeinheit der Wahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Chancengleichheit der Wahlbewerber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wahlberechtigung der Auslandsdeutschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Kommunikationsfunktion der Wahl als prinzipiell zulässiger Differenzierungsgrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Unmaßgeblichkeit der bisherigen verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung III. Bewertung (allein) von § 12 Abs. 2 Satz 1 BWG 2008 . . . . . . . . . . . . 1. Ungleichbehandlung bezüglich der Fähigkeit zu wählen . . . . . . . . 2. Keine Rechtfertigung durch die Legitimationsfunktion der Wahl . . . . 3. Keine Rechtfertigung durch die Kommunikationsfunktion der Wahl . a) Zielkonflikt zwischen Allgemeinheit und Kommunikationsfunktion der Wahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Unzureichende Auflösung des Zielkonflikts . . . . . . . . . . . . . . 4. Keine Rechtfertigung durch Aspekte der Wahltechnik . . . . . . . . . . Wahlkreiseinteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Wahlrechtlicher Gleichheitsmaßstab . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Bemessungsgrundlage der Wahlkreiseinteilung . . . . . . . . . . . . . . . 1. Wahlberechtigte als Bezugsgröße . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Verfassungsgerichtliche Kontrolle der Tatsachengrundlage . . . . . . . III. Repräsentationsprinzip als möglicher Rechtfertigungsgrund? . . . . . . . Sitzzuteilungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Effekt des negativen Stimmgewichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Wahlmathematische Qualitätsanforderungen an Verhältniswahlsysteme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Proportionalität und Monotonie als zwingende Axiome für jedes Verhältniswahlsystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Definierbare Axiome für ein mit der Personenauswahl verbundenes Verhältniswahlsystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Folgerungen für die verfassungsrechtliche Beurteilung . . . . . . . . 2. Das Urteil vom 3. Juli 2008 – Problemannäherung . . . . . . . . . . . . a) (Bloße) Subsumtion anhand der bisherigen Entscheidungsmaßstäbe . b) Rezeptionsschwierigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Maßgeblichkeit der das Urteil vom 3. Juli 2008 tragenden Begründungserwägung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Das Urteil vom 25. Juli 2012 – Lückenschließung . . . . . . . . . . . . a) Etablierung eines eigenständigen Submaßstabs der Wahlrechtsgleichheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Reichweite der verfassungsgerichtlichen Kontrolle . . . . . . . . . . II. Überhangmandate . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Überhangmandate und der Maßstab der Wahlrechtsgleichheit . . . . . a) Zuordnung zu einem Teilwahlsystem als entscheidungserhebliche Frage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Maßstabsfindung im Urteil vom 25. Juli 2012 . . . . . . . . . . . . . aa) Die Formel vom „Grundcharakter der Bundestagswahl als Verhältniswahl“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Anknüpfung an die bisherige Rechtsprechung . . . . . . . . (2) Keine systembezogene Maßstabsbildung . . . . . . . . . . . bb) Uneingeschränkte Geltung des Maßstabs der Erfolgswertgleichheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Entstehung von Überhangmandaten an der Schnittstelle von Mehrheits- und Verhältniswahlrecht . . . . . . . . . . . (2) Akzentverschiebung gegenüber der bisherigen Rechtsprechung
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Holger Mann und Christian Pohl 2. Grenzen der Zulässigkeit von Überhangmandaten . . . . . . . . . . . a) Verfassungsrechtliche Rechtfertigung einer Differenzierung . . . . aa) Rechtfertigungsbedürftigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Gründe für die Zulässigkeit einer Differenzierung . . . . . . . b) Grenzen der Rechtfertigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Feststellung der Verfassungswidrigkeit der gesetzlichen Regelung: Prognose zum künftigen Anfallen von Überhangmandaten . . . . III. Wahlrechtliche Sperrklauseln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Identische Entscheidungsmaßstäbe für sämtliche Wahlen . . . . . . . 2. Erfolgswertdifferenzierung von Wählerstimmen . . . . . . . . . . . . 3. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung der Differenzierung . . . . . . a) Sicherung der Funktionsfähigkeit einer Volksvertretung als verfassungslegitimes Ziel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Integrationsfunktion der Wahl als äußerste Grenze . . . . . . . . . c) Strikte Kontrolle der Erforderlichkeitsprognose . . . . . . . . . . . aa) Hinreichend wahrscheinliche Funktionsbeeinträchtigung . . . bb) Wirklichkeitsbezogene Prognose . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Ausrichtung an Aufgaben und Struktur der jeweiligen Volksvertretung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Überprüfungspflicht des Gesetzgebers . . . . . . . . . . . . . . . . . Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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A. Einführung Die Wahl ist im demokratischen Verfassungsstaat des Grundgesetzes der zentrale Vorgang, in dem das Volk die Staatsgewalt selbst ausübt (Art. 20 Abs. 2 GG) und die Legitimation für die weitere Ausübung durch die gewählten Organe in seinem Namen schafft.1 Alle Staatsbürger sind – unbeschadet der zwischen ihnen bestehenden Unterschiede – zu gleichen Teilen an der Staatsgewalt beteiligt. Ihre Gleichbehandlung beim Zugang zur Wahl und bei der Ausübung des Wahlrechts ist daher eine der wesentlichen Grundlagen der freiheitlich demokratischen Grundordnung, wie sie das Grundgesetz verfasst.2 Dieses egalitäre demokratische Prinzip bestimmt den Gehalt der von Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG gewährleisteten Grundsätze der Allgemeinheit und Gleichheit der Wahl.3 In den letzten Jahren hatte das Bundesverfassungsgericht Gelegenheit, sich zu verschiedenen Aspekten der Allgemeinheit und Gleichheit der Wahl – teilweise erneut – zu äußern und dabei die sich hieraus ergebenden verfassungsrechtlichen Anforderungen zu bestätigen, zu präzisieren und fortzuentwickeln. Insbesondere hat der Zweite Senat mit Urteil vom 25. Juli 2012 4 bislang offengebliebene Fragen zum Effekt des negativen Stimmgewichts und 1 2 3 4
BVerfGE 131, 316 (334). Vgl. BVerfGE 6, 84 (91); 11, 351 (360); 121, 266 (295); 123, 267 (340 ff.). Vgl. BVerfGE 41, 399 (413); 51, 222 (234); 85, 148 (157 f.); 99, 1 (13); 121, 266 (295). BVerfGE 131, 316.
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Die wahlrechtlichen Gleichheitssätze
zur Zulässigkeit von Überhangmandaten beantwortet. Dieser Beitrag will die neuere verfassungsgerichtliche Rechtsprechung zu den wahlrechtlichen Gleichheitssätzen systematisierend nachzeichnen. Hierzu wird zunächst der gegenwärtige Stand der Entscheidungsmaßstäbe aufgezeigt (unten B.). Deren Auswirkungen auf das Wahlverfahren zum Deutschen Bundestag veranschaulicht die anschließende Darstellung und Einordnung einzelner Senatsentscheidungen (unten C. bis E.).
B. Gewährleistungsgehalt der wahlrechtlichen Gleichheitssätze Das Bundesverfassungsgericht hatte die Grundsätze der Allgemeinheit und Gleichheit der Wahl zunächst als Anwendungsfälle des allgemeinen Gleichheitssatzes angesehen, die diesem gegenüber durch eine stärkere Formalisierung gekennzeichnet seien.5 In der Entscheidung vom 16. Juli 1998 6 hat der Zweite Senat seine Rechtsprechung geändert. Er begreift die wahlrechtlichen Gleichheitssätze seither als spezialgesetzliche Ausprägungen des allgemeinen Gleichheitssatzes mit der Folge, dass in ihrem Anwendungsbereich nicht auf Art. 3 Abs. 1 GG zurückgegriffen werden kann.7 Allgemeinheit und Gleichheit der Wahl unterscheiden sich nur graduell, nicht hingegen qualitativ. Beide Grundsätze sichern die vom Demokratieprinzip vorausgesetzte Egalität der Staatsbürger. Während die Allgemeinheit der Wahl den gleichen Zugang zur Wahl betrifft, oder genauer: die Gleichheit bezüglich der Fähigkeit zu wählen und gewählt zu werden,8 bedeutet Wahlrechtsgleichheit die Ausübung von aktivem und passivem Wahlrecht in formal möglichst gleicher Weise.9 Allgemeinheit und Gleichheit der Wahl weisen daher, von ihrem Gewährleistungsgehalt abgesehen, eine nahezu identische dogmatische Struktur auf (unten I. und II.). Ergänzt werden die wahlrechtlichen Gleichheitssätze durch den Grundsatz der Chancengleichheit der Wahlbewerber (unten III.).
I. Gleichheit der Wahl Die sich aus der Gleichheit der Wahl ergebenden verfassungsrechtlichen Anforderungen werden maßgeblich dadurch determiniert, dass Art. 38 Abs. 3 GG die Festlegung und konkrete Ausgestaltung des Wahlsystems dem 5 6 7 8 9
Vgl. BVerfGE 4, 375 (382); 28, 220 (225); 85, 148 (157). BVerfGE 99, 1. BVerfGE 99, 1 (10). BVerfGE 132, 39 (47). BVerfGE 93, 373 (376); 121, 266 (295).
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Gesetzgeber überantwortet 10 und dieser dabei nicht nur den Wahlrechtsgrundsätzen des Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG, sondern auch verschiedenen, teils gegenläufigen Wahlzielen 11 Rechnung zu tragen hat.12 Das Bundesverfassungsgericht konzediert dem Gesetzgeber daher einen weiten Gestaltungsspielraum, der es ihm erlaubt, das Wahlverfahren zum Deutschen Bundestag als Mehrheitswahl, als Verhältniswahl oder als Kombination von Elementen beider Wahlsysteme auszugestalten.13 Diese Wahlfreiheit hinsichtlich der Systemgestaltung wirft die Frage auf, ob der anzulegende Gleichheitsmaßstab für alle Wahlsysteme einheitlich vorgegeben ist oder ob er sich je nach dem vom Gesetzgeber gewählten Wahlsystem unterscheidet. Seit seinen Urteilen vom 10. April 1997 14 zu den Überhangmandaten und zur Grundmandatsklausel 15 beantwortet das Bundesverfassungsgericht diese Frage im erstgenannten Sinne. Dogmatischer Fixpunkt ist danach die für jedes Wahlsystem zu gewährleistende Erfolgschancengleichheit 16, die sich allerdings je nach Ausgestaltung des Wahlsystems unterschiedlich auswirken kann.17 Die Frage, ob eine wahlrechtlich relevante Ungleichheit vorliegt, lässt sich demgemäß nicht unabhängig vom jeweiligen Wahlsystem entscheiden.18 1. Gewährleistungsgehalt Mit Urteil vom 25. Juli 2012 19 hat der Zweite Senat diese Rechtsprechung bestätigt und präzisiert. Er hat die Einheitlichkeit des Gleichheitsmaßstabs nochmals ausdrücklich festgestellt, dessen übergeordneten, für alle Wahlsysteme gültigen Gewährleistungsgehalt definiert und sodann spezifische Ausformungen für einzelne gleichheitsrelevante Gestaltungselemente formuliert. Den Ausgangspunkt bildet die Feststellung, dass unabhängig von der jeweiligen Ausgestaltung des Wahlverfahrens alle Wähler bei der Art und Weise der Mandatszuteilung strikt gleich zu behandeln sind. Die Stimme eines jeden Wahlberechtigten muss grundsätzlich den gleichen Zählwert 20 10
Vgl. BVerfGE 1, 208 (246); 3, 19 (24); 95, 335 (349); 121, 266 (296). Zu den Zielfunktionen von Wahlsystemen s. Nohlen, ZfP 2011, S. 310 (314 ff.). 12 Dazu im Einzelnen BVerfGE 131, 316 (335). 13 BVerfGE 95, 335 (349 f.); 120, 82 (103); 121, 266 (296); 131, 316 (336). 14 Zur zuvor vertretenen „Unterwerfungsthese“ und der daran geäußerten Kritik s. Lenz, AöR 121 (1996), S. 337 (344 ff.). 15 BVerfGE 95, 335; 95, 408. 16 Explizit BVerfGE 95, 408 (417), wonach die Stimme eines jeden Wahlberechtigten im Rahmen des vom Gesetzgeber nach Art. 38 Abs. 3 GG festzulegenden Wahlsystems „die gleiche rechtliche Erfolgschance“ haben muss. 17 Vgl. BVerfGE 95, 335 (353 f.); 95, 408 (417); 121, 266 (295 f.); 124, 1 (18). 18 Vgl. BVerfGE 1, 208 (244); 13, 127 (128); 95, 335 (354, 372). 19 BVerfGE 131, 316 (336 ff.). 20 Zählwertgleichheit ist eine wahlsystemunabhängig bestehende notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung für Erfolgschancengleichheit, s. Pauly, AöR 123 (1998), S. 232 (247). 11
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und die gleiche rechtliche Erfolgschance haben. Alle Wähler sollen mit der Stimme, die sie abgeben, den gleichen Einfluss auf das Wahlergebnis nehmen können.21 Für den Wahlgesetzgeber folgen hieraus, gleich für welches Wahlsystem er sich entscheidet 22, zwei generelle Gebote: Er muss erstens die theoretische Stimmeneinflussgleichheit im gesamten Wahlgebiet gewährleisten. Zweitens muss das von ihm festgelegte Sitzzuteilungsverfahren in allen seinen Schritten seine Regeln auf jede Wählerstimme gleich anwenden und dabei auch die Folgen so ausgestalten, dass jeder Wähler den gleichen potentiellen Einfluss auf das Wahlergebnis erhält.23 Diese an jedes Wahlsystem zu stellenden Anforderungen hat der Zweite Senat für die sich dem Gesetzgeber bietenden essentiellen Gestaltungselemente spezifiziert. Der Wahlgesetzgeber steht stets vor den beiden Grundsatzfragen, ob er das Wahlgebiet in selbstständige Wahlkörper (regionale Wahlkreise) unterteilen oder aber alle Mandate in einem einzigen, das gesamte Wahlgebiet umfassenden Wahlkreis (Einheitswahlkreis) vergeben will, und ob die Mandate jeweils entsprechend dem Stimmergebnis auf alle Parteien und Einzelkandidaten verteilt (Verteilungsprinzip der Verhältniswahl) oder jeweils alle zu vergebenden Mandate einem, dem stärksten Wahlbewerber zugesprochen (Verteilungsprinzip der Mehrheitswahl) werden sollen. Je nach Verknüpfung dieser Möglichkeiten stehen ihm theoretisch vier Grundtypen von Wahlsystemen zur Verfügung,24 mit denen er durch entsprechende wahltechnische Gestaltung eine (mehr oder weniger) proportionale 25 oder (mehr oder weniger) konzentrierte 26 Zusammensetzung des Parlaments bewirken kann. Sie sichert vor der Wahl die Zuteilung einer gleichen Anzahl von Stimmen, bei der Wahl die gleiche Möglichkeit ihrer Abgabe und nach der Wahl die gleiche Berücksichtigung aller gültig abgegebenen Stimmen bei der Stimmenzählung, vgl. BVerfGE 95, 335 (369 f.). 21 BVerfGE 121, 266 (295); 131, 316 (337). 22 BVerfGE 131, 316 (336) nennt beispielhaft das Grabensystem oder ein mit der Personenauswahl verbundenes Verhältniswahlsystem. 23 BVerfGE 131, 316 (337); vgl. bereits BVerfGE 95, 335 (371). 24 Hierzu und zu den unterschiedlichen Auswirkungen, insbesondere nach dem Grad der erreichten Proportionalität, s. ausführlich Lenz, Ein einheitliches Verfahren für die Wahl des Europäischen Parlaments, 1995, S. 296 ff. 25 Der höchste Grad der Proportionalität wird bei der Wahl im Einheitswahlkreis nach dem Verteilungsprinzip der Verhältniswahl erzielt. Wenn alle Mandate in einem einzigen Wahlkreis vergeben werden und zugleich entsprechend dem Stimmenverhältnis der einzelnen Parteien, dann stimmen Stimmenanteil und Mandatsanteil weitestgehend überein; alle Stimmen haben tendenziell denselben Erfolgswert. Dieser Grundtyp wird daher auch als reine Verhältniswahl oder „neutrales Wahlverfahren“ bezeichnet, vgl. Meyer, in: Isensee/ Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. III, 3. Aufl. 2005, § 45 Rn. 26. 26 Der höchste Grad an Konzentration wird bei der Wahl in Ein-Personen-Wahlkreisen erzielt. Hier spielt das Verteilungsprinzip keine Rolle, denn es macht keinen Unterschied, ob der stärkste Wahlbewerber „alle“ Mandate erhält, oder ob die „Verteilung“ auf die Wahlbewerber entsprechend ihrem Stimmenanteil vorgenommen wird. Weil man bei einem
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Nimmt der Wahlgesetzgeber eine Aufteilung des Wahlgebietes in mehrere selbständige Wahlkörper vor, folgt aus dem generellen Gebot, die theoretische Stimmeneinflussgleichheit im gesamten Wahlgebiet zu gewährleisten, dass die Umstände, die den möglichen Einfluss einer Stimme prägen, in allen Wahlkörpern annähernd gleich sein müssen.27 Das Bundesverfassungsgericht fordert demgemäß für die Wahl von Abgeordneten in Ein-Personen-Wahlkreisen nach dem Verteilungsprinzip der Mehrheitswahl, dass alle Wahlberechtigten auf der Grundlage möglichst gleichgroßer Wahlkreise und damit mit annähernd gleichem Stimmgewicht am Kreationsvorgang teilnehmen können.28 Die zweite generelle Anforderung, dass jede Wählerstimme in allen Schritten des Wahlverfahrens die gleichberechtigte Einflussnahmemöglichkeit auf das Wahlergebnis haben muss, wirkt sich unterschiedlich aus, je nachdem, ob das Sitzzuteilungsverfahren – wie beim Verteilungsprinzip der Mehrheitswahl – bereits mit dem Auszählen, Gutschreiben und Addieren der Wählerstimmen beendet ist, oder ob sich – wie beim Verteilungsprinzip der Verhältniswahl – noch ein Rechenverfahren anschließt, welches das Verhältnis der Stimmen für Parteilisten zu den Gesamtstimmen feststellt und dem entsprechend die Sitzzuteilung regelt.29 Im ersten Fall kann jeder Wähler auf die Mandatsvergabe allein durch Abgabe seiner gleich zu zählenden Stimme Einfluss nehmen, so dass es bei der gleichen Zählung und Gutschreibung jeder gültig abgegebenen Wählerstimme und – im Falle der Aufteilung des Wahlgebietes in mehrere Wahlkreise – bei der Gewährleistung annähernd gleichgroßer Wahlkreise verbleibt. Im zweiten Fall erhält jeder Wähler die weitergehende Möglichkeit, mit seiner Stimme entsprechend dem Anteil der Stimmen „seiner“ Partei auch auf die Sitzzuteilung Einfluss zu nehmen. Die Erfolgschancengleichheit gebietet hier grundsätzlich, dass jede gültig abgegebene Stimme bei dem Rechenverfahren mit gleichem Gewicht mitbewertet wird, ihr mithin ein anteilsmäßig gleicher Erfolg zukommt.30 Zur Zählwertgleichheit tritt die Erfolgswertgleichheit hinzu.31 Im Übrigen wird der Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers dadurch beschränkt, dass das von ihm gewählte Wahlsystem ungeachtet verschiedener Ausgestaltungsmöglichkeiten in seinen Grundelementen folgerichtig zu gestalten ist 32, und dass im Falle der Schaffung von Teilwahlsystemen die Mandat aber nicht ernsthaft von einer „proportionalen Verteilung“ sprechen kann, wird dieses System allgemein als relative Mehrheitswahl bezeichnet, vgl. Lenz, Ein einheitliches Verfahren für die Wahl des Europäischen Parlaments, 1995, S. 297 f. 27 BVerfGE 131, 316 (337). 28 Vgl. BVerfGE 95, 335 (353); 124, 1 (18); 130, 212 (225 f.). S. noch unten D.I. 29 Vgl. BVerfGE 1, 208 (244); 95, 335 (370 f.). 30 BVerfGE 131, 316 (337 f.); vgl. auch schon BVerfGE 95, 335 (353, 372). 31 BVerfGE 120, 82 (103); 121, 266 (296). 32 Vgl. BVerfGE 120, 82 (103 f.). Hierzu eingehend Bausback, Verfassungsrechtliche Grenzen des Wahlrechts zum Deutschen Bundestag, 1998, S. 141 ff.
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Gleichheit der Wahl im jeweiligen System gewahrt werden muss, die Systeme sachgerecht zusammenwirken müssen und Unmittelbarkeit und Freiheit der Wahl nicht gefährdet werden dürfen.33 2. Zulässigkeit von Differenzierungen Der Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit unterliegt keinem absoluten Differenzierungsverbot. Allerdings folgt aus dem formalen Charakter des Grundsatzes, dass dem Gesetzgeber bei der Ordnung des Wahlrechts nur ein eng bemessener Spielraum für Differenzierungen bleibt.34 Differenzierungen bedürfen zu ihrer Rechtfertigung stets eines besonderen, sachlich legitimierten Grundes.35 Das bedeutet allerdings nicht, dass sich die Differenzierung von Verfassungs wegen als zwangsläufig oder notwendig darstellen muss, wie dies etwa in Fällen der Kollision der Wahlrechtsgleichheit mit den übrigen Wahlrechtsgrundsätzen oder anderen Grundrechten der Fall sein kann. Zur Rechtfertigung können auch Gründe herangezogen werden, die durch die Verfassung legitimiert und von mindestens gleichem Gewicht wie die Gleichheit der Wahl sind. Dabei ist es nicht erforderlich, dass die Verfassung diese Zwecke zu verwirklichen gebietet. Es genügen in diesem Zusammenhang auch „zureichende“, „aus der Natur des Sachbereichs der Wahl der Volksvertretung sich ergebende Gründe“, zu denen insbesondere die mit demokratischen Wahlen verfolgten Ziele der Sicherung des Charakters der Wahl als eines Integrationsvorgangs bei der politischen Willensbildung des Volkes oder die Gewährleistung der Funktionsfähigkeit der zu wählenden Volksvertretung zählen.36 Da der Gesetzgeber die im Rahmen des jeweiligen (Teil-)Systems geltenden Maßstäbe der Wahlgleichheit zu beachten hat,37 ist es allerdings
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Vgl. BVerfGE 121, 266 (296). Vgl. BVerfGE 6, 84 (91); 95, 335 (353); 120, 82 (106); 121, 266 (297). Hinter dieser Beschränkung der gesetzgeberischen Gestaltungsmacht stehen neben der besonderen Eigenart des Sachbereichs Wahlen und der Strenge demokratischer Egalität Erwägungen zur Missbrauchsanfälligkeit der Wahlgesetzgebung sowie dazu, dass von Verfassungs wegen Gestaltungsspielräume des Gesetzgebers in Sachfragen um so überzeugender legitimierbar sind, je strikter die Kontrolle der verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Grundlagen der Bildung der politischen Mehrheit ausfällt, vgl. Meyer, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. III, 3. Aufl. 2005, § 45 Rn. 38. 35 Vgl. BVerfGE 6, 84 (92); 51, 222 (236); 95, 408 (418); 121, 266 (297). Dabei ist das Bundesverfassungsgericht jüngst von der zuvor verwendeten Formulierung abgerückt, wonach ein „zwingender“ Grund gefordert wurde, vgl. BVerfGE 130, 212 (227); 131, 316 (338); 132, 39 (48), Rn. 25. 36 Vgl. BVerfGE 95, 408 (418); 120, 82 (107); 129, 300 (321). Grundrechtsdogmatisch lassen sich die „besonderen, sachlich legitimierten Gründe“ als verfassungsimmanente Schranken der Wahlrechtsgrundsätze des Art. 38 Abs. 1 GG begreifen. 37 BVerfGE 95, 335 (354); 120, 82 (103 f.). 34
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unzulässig, im Wege eines Erst-Recht-Schlusses Ungleichheiten bei der Verhältniswahl zuzulassen, nur weil die Mehrheitswahl viel größere – verfassungsrechtlich aber unbedenkliche – Nachteile für die Realisierbarkeit des Stimmerfolgs von Wählern hat.38 Weiterhin müssen differenzierende Regelungen zur Verfolgung ihrer Zwecke geeignet und erforderlich sein.39 Ihr erlaubtes Ausmaß richtet sich auch danach, mit welcher Intensität in das gleiche Wahlrecht eingegriffen wird. Ebenso können gefestigte Rechtsüberzeugung und Rechtspraxis Beachtung finden. Der Gesetzgeber muss sich bei seiner Einschätzung und Bewertung nicht an abstrakt konstruierten Fallgestaltungen, sondern an der politischen Wirklichkeit orientieren.40 Sofern die differenzierende Regelung an einem Ziel orientiert ist, das der Gesetzgeber bei der Ausgestaltung des Wahlrechts verfolgen darf, kann daher ein Verstoß gegen den Grundsatz der Gleichheit der Wahl nur festgestellt werden, wenn die Regelung zur Erreichung dieses Zieles nicht geeignet ist oder das Maß des zur Erreichung dieses Zieles Erforderlichen überschreitet.41 3. Verfassungsgerichtliche Kontrollkompetenz und Überprüfungspflicht des Gesetzgebers Für die verfassungsgerichtliche Kontrolle differenzierender Regelungen ist danach zu unterscheiden, ob sich die Überprüfung auf den vom Gesetzgeber vorausgesetzten Sachverhalt oder auf dessen Bewertung beziehungsweise eine darauf basierende Prognose bezieht. Die vom Gesetzgeber getroffenen Tatsachenfeststellungen, auch als Grundlage prognostischer Entscheidungen, kann das Bundesverfassungsgericht nach allgemeinen Regeln umfassend darauf prüfen, ob der vorausgesetzte Sachverhalt richtig und vollständig ist.42 Soweit es dagegen um die Überprüfung von Tatsachenbewertungen oder Prognosen geht, verfügt der Gesetzgeber prinzipiell über eine Einschätzungsprärogative und einen Prognosespielraum.43 38 BVerfGE 1, 208 (246); 6, 84 (90); 11, 351 (362); 95, 335 (372). Insoweit handelt es sich um eine von Anfang an kontinuierliche Rechtsprechung; vgl. auch Meyer, KritV 1994, S. 312 (334). 39 Für den Einbau einer Verhältnismäßigkeitsprüfung in den Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit spricht grundrechtsdogmatisch neben der normstrukturellen Ähnlichkeit der wahlrechtlichen Gleichheitssätze mit den Freiheitsrechten entscheidend der Gedanke praktischer Konkordanz, s. hierzu Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995, S. 28 Rn. 72. 40 BVerfGE 95, 408 (418 f.); 121, 266 (298). 41 BVerfGE 120, 82 (298); 121, 266 (298); 129, 300 (321); 131, 316 (339). 42 Vgl. BVerfGE 7, 377 (411 f.); 39, 210 (226); 106, 62 (150 f.); 120, 82 (113 f.); 129, 300 (324 ff.). 43 Grundlegend BVerfGE 50, 290 (332 f.); bestätigt in BVerfGE 57, 458 (471 f.); 77, 170 (215); 83, 130 (140 f.); 88, 87 (97); 88, 203 (262); 90, 145 (172 f.); 106, 62 (151 ff.).
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Für die Wahlrechtsgleichheit hat das Bundesverfassungsgericht dementsprechend in ständiger Rechtsprechung judiziert, dass es grundsätzlich Sache des Gesetzgebers ist, die der Rechtfertigung der Ungleichbehandlung dienenden Gründe und die betroffenen Wahlrechtsgrundsätze zum Ausgleich zu bringen.44 Bei der Überprüfung der vom Gesetzgeber gewählten Lösungen hat das Gericht diesen Gestaltungsspielraum zu achten. Es prüft lediglich, ob die Grenzen, die die Bedeutung des Wahlrechts und die Strenge demokratischer Egalität dem Gestaltungsspielraum setzen, überschritten sind, nicht aber, ob die innerhalb dieses Rahmens vom Gesetzgeber gefundene Lösung zweckmäßig oder rechtspolitisch erwünscht erscheint.45 Insbesondere kann das Bundesverfassungsgericht nicht die Aufgabe des Gesetzgebers übernehmen und alle zur Überprüfung relevanten tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkte selbst ermitteln und gegeneinander abwägen.46 Der Gesetzgeber ist allerdings auch verpflichtet, eine die Gleichheit der Wahl berührende Norm des Wahlrechts zu überprüfen und gegebenenfalls zu ändern, wenn die verfassungsrechtliche Rechtfertigung dieser Norm durch neue Entwicklungen in Frage gestellt wird, etwa durch eine Änderung der vorausgesetzten tatsächlichen oder normativen Grundlagen oder dadurch, dass sich die beim Erlass der Norm hinsichtlich ihrer Auswirkungen angestellte Prognose als irrig erwiesen hat.47
II. Allgemeinheit der Wahl Die Allgemeinheit der Wahl verbürgt – positiv – die aktive und passive Wahlberechtigung grundsätzlich aller Staatsbürger 48 und verbietet – negativ – dem Gesetzgeber, bestimmte Bevölkerungsgruppen von der Ausübung des Wahlrechts auszuschließen.49 Sie ist – wie die Wahlrechtsgleichheit – im Sinne einer strengen und formalen Gleichheit bei der Zulassung zur Wahl des Deutschen Bundestages zu verstehen.50 Für Differenzierungen hinsichtlich der aktiven oder passiven Wahlberechtigung, die verfassungsgerichtliche Kontrollkompetenz und die Überprüfungspflicht des Gesetzgebers gilt daher im Grundsatz nichts anderes als für die Wahlrechtsgleichheit. Dies hat
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Vgl. BVerfGE 51, 222 (236); 95, 408 (420); 120, 82 (113); 129, 300 (322); 131, 316 (338). BVerfGE 51, 222 (238); 95, 408 (420); 121, 266 (303 f.); 131, 316 (338 f.). 46 Vgl. BVerfGE 120, 82 (113). 47 Vgl. BVerfGE 82, 322 (338 f.); 107, 286 (294 f.); 120, 82 (108); 129, 300 (321 f.); 131, 316 (339). 48 BVerfGE 59, 119 (125); 132, 39 (47), Rn. 24. 49 BVerfGE 36, 139 (141); 58, 202 (205). 50 BVerfGE 132, 39 (47), Rn. 24; vgl. auch BVerfGE 28, 220 (225); 36, 139 (141); BVerfGE 129, 300 (319). 45
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das Bundesverfassungsgericht in seinem Beschluss vom 4. Juli 2012 51 ausdrücklich festgestellt. Zusätzlich hat der Zweite Senat dort erstmals ausgesprochen 52, dass der Gesetzgeber befugt ist, bei der Ausgestaltung der Wahlberechtigung unter Berücksichtigung der Grenzen, die die Bedeutung des Wahlrechts und die Strenge demokratischer Egalität seinem Gestaltungsspielraum setzen, Vereinfachungen und Typisierungen vorzunehmen, und die Anforderungen an typisierende Regelungen im Wahlrecht ausformuliert.53 Die Befugnis zur Typisierung bedeutet generell, dass Lebenssachverhalte im Hinblick auf wesentliche Gemeinsamkeiten normativ zusammengefasst und dabei Besonderheiten, die im Tatsächlichen durchaus bekannt oder absehbar sind, generalisierend vernachlässigt werden dürfen. Der Gesetzgeber darf sich grundsätzlich am Regelfall orientieren und ist nicht gehalten, allen Besonderheiten jeweils durch Sonderregelungen Rechnung zu tragen. Die gesetzlichen Verallgemeinerungen müssen allerdings von einer möglichst breiten, alle betroffenen Gruppen und Regelungsgegenstände einschließenden Beobachtung ausgehen. Insbesondere darf der Gesetzgeber für eine gesetzliche Typisierung keinen atypischen Fall als Leitbild wählen, sondern muss realitätsgerecht den typischen Fall als Maßstab zugrunde legen.54 Für das Wahlrecht im Besonderen gilt, dass sich der Gesetzgeber bei seinen Einschätzungen und Bewertungen nicht an abstrakt konstruierten Fallgestaltungen, sondern an der politischen Wirklichkeit zu orientieren hat.55
III. Chancengleichheit der Wahlbewerber Die wahlrechtlichen Gleichheitssätze stehen in engem Zusammenhang mit dem Grundsatz der Chancengleichheit der Wahlbewerber.56 Für die Parteien findet dieser Grundsatz seine Grundlage in Art. 21 Abs. 1 GG. Beruht die Demokratie auf der freien Konkurrenz von Meinungen und Interessen, so müssen die Parteien und Gruppen, die sich die unterschiedlichen Meinungen zu eigen machen, unter den gleichen Bedingungen, mit den gleichen Chancen 51
BVerfGE 132, 39 (48 ff.). In der Sache hatte das Bundesverfassungsgericht bereits zuvor anerkannt, dass das Wahlrecht zu den Bereichen gehört, in denen zur Ordnung von Massenerscheinungen auf typisierende Regelungen zurückgegriffen werden darf, vgl. BVerfGE 30, 227 (249); 124, 1 (23); BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 25. Juli 1997 – 2 BvR 1088/97 –, NVwZ 1997, S. 1207. 53 BVerfGE 132, 39 (49), Rn. 29. 54 BVerfGE 132, 39 (49), Rn. 29. Der Zweite Senat überträgt hier seine zum Steuerrecht ergangene Rechtsprechung zur Typisierungsbefugnis des Gesetzgebers, vgl. BVerfGE 126, 268 (278 f.), auf das Wahlrecht. 55 BVerfGE 132, 39 (49), Rn. 29. 56 Vgl. BVerfGE 82, 322 (337); 124, 1 (20); 131, 316 (339). 52
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am politischen Wettbewerb teilnehmen können. Das Recht auf Chancengleichheit der Parteien versteht sich deshalb als Bestandteil der demokratischen Grundordnung von selbst.57 Im Übrigen ist die Chancengleichheit der Wahlbewerber durch Art. 3 Abs. 1 GG gewährleistet.58 Inhaltlich verlangt der Grundsatz der Chancengleichheit, dass jeder Partei, jeder Wählergruppe und ihren Wahlbewerbern grundsätzlich die gleichen Möglichkeiten im gesamten Wahlverfahren und damit gleiche Chancen bei der Verteilung der Sitze eingeräumt werden. Wegen des engen Zusammenhangs mit der Wahlrechtsgleichheit ist in diesem Bereich – ebenso wie bei der durch die Wahlrechtsgleichheit verbürgten Gleichbehandlung der Wähler – Gleichheit in einem strikten und formalen Sinn zu fordern. Wenn die öffentliche Gewalt in den Parteienwettbewerb in einer Weise eingreift, die die Chancen der politischen Parteien verändern kann, sind ihrem Ermessen daher besonders enge Grenzen gezogen.59 Der Grundsatz der Chancengleichheit der Wahlbewerber stellt daher an das Wahlrecht in Bezug auf Differenzierungen, die sich auf den Wettbewerb um Wählerstimmen auswirken, identische Anforderungen wie die Wahlrechtsgleichheit.60 Auch insoweit bedarf es zudem einer strengen verfassungsgerichtlichen Kontrolle; dies insbesondere deshalb, weil mit Regelungen, die die Bedingungen der politischen Konkurrenz berühren, die jeweilige parlamentarische Mehrheit gewissermaßen in eigener Sache tätig wird.61
C. Wahlberechtigung der Auslandsdeutschen Das zur Wahl berufene „Volk“ wird nach den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zum Ausländerwahlrecht 62 von der Gesamtheit aller Deutschen im Sinne des Art. 116 Abs. 1 GG gebildet. Damit ist indes noch nicht beantwortet, ob – vorbehaltlich der sich aus Art. 38 Abs. 2 GG oder durch Ausschluss im Einzelfall 63 ergebenden Einschränkungen – von Verfassungs wegen jedem deutschen Staatsangehörigen das aktive Wahlrecht einzuräumen ist oder ob und gegebenenfalls unter welchen Voraussetzungen der Gesetzgeber den Kreis der Wahlberechtigten auf Personen beschränken darf, die zusätzlich eine gewisse – etwa durch Sesshaftigkeit im Staatsgebiet dokumentierte – „Nähe“ zu Deutschland aufweisen.64 57
Vgl. BVerfGE 1, 208 (242); 120, 82 (104). Vgl. BVerfGE 129, 300 (319). 59 BVerfGE 120, 82 (104 f.); 129, 300 (319). 60 Vgl. BVerfGE 82, 322 (337 f.); 95, 408 (417); 124, 1 (20); 129, 300 (320), 131, 316 (339). 61 Vgl. BVerfGE 120, 82 (105); 129, 300 (322 f.). 62 BVerfGE 83, 37; 83, 60. 63 Vgl. BVerfGE 36, 139 (142); 42, 312 (340 f.). 64 Der Gesetzgeber ist auch im Falle der Auslandsdeutschen an die Beachtung der Allgemeinheit der Wahl gebunden. Dies ergibt sich unmittelbar aus Art. 1 Abs. 3 GG, dem eine 58
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In seinem Beschluss vom 4. Juli 2012 65 hat sich das Bundesverfassungsgericht zu dieser Frage erneut 66 geäußert. Den Anlass boten Wahlprüfungsbeschwerden von zwei im Ausland lebenden Deutschen (Auslandsdeutsche), denen die Teilnahme an der Bundestagswahl 2009 versagt worden war, weil sie das vom Gesetzgeber als Voraussetzung der Wahlberechtigung aufgestellte Erfordernis eines früheren dreimonatigen Inlandsaufenthalts (§ 12 Abs. 2 Satz 1 Bundeswahlgesetz – BWG – 2008 67) nicht erfüllt hatten. Das Bundesverfassungsgericht hat festgestellt, dass der Gesetzgeber mit dieser Typisierung seinen Gestaltungsspielraum in Bezug auf Differenzierungen hinsichtlich der Wahlberechtigung überschritten hat.
I. Kommunikationsfunktion der Wahl als prinzipiell zulässiger Differenzierungsgrund Seiner Bewertung des § 12 Abs. 2 Satz 1 BWG 2008 stellt der Zweite Senat die abstrakte Billigung der sogenannten Kommunikationsfunktion der Wahl als zulässigen Differenzierungsgrund voran. Er leitet diese Wahlfunktion als Unterfall des Wahlziels, den Charakter der Wahl als Integrationsvorgang bei der politischen Willensbildung des Volkes zu sichern, unmittelbar aus dem Demokratieprinzip ab. Dieses setzt, soll es sich nicht in einem rein formalen Zurechnungsprinzip erschöpfen, eine beständige Rückkoppelung zwischen Staatsorganen und Wahlvolk voraus.68 Diese Rückkoppelung wiederum bedingt, dass die zur Wahl berufenen Staatsbürger dazu imstande sind, am politischen Willens- und Meinungsbildungsprozess mitzuwirken. Angesichts dessen kann es verfassungsrechtlich gerechtfertigt sein, bestimmte Personengruppen, bei denen Möglichkeit oder Fähigkeit zur kommunikativen Teilnahme nicht in hinreichendem Maße bestehen, vom aktiven Wahlrecht auszuschließen.69 Unterscheidung zwischen Inlands- und Auslandssachverhalten nicht zu entnehmen ist, vgl. BVerfGE 6, 290 (295); 57, 9 (23); 100, 313 (362). 65 BVerfGE 132, 39. 66 Vgl. zu früheren Ausgestaltungen der Wahlberechtigung der Auslandsdeutschen bereits BVerfGE 5, 2; 36, 139; 58, 202; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 2. November 1990 – 2 BvR 1266/90 –, NJW 1991, S. 689. 67 BGBl I S. 394. 68 Vgl. Dreier, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 2, 2. Aufl. 2006, Art. 20 (Demokratie) Rn. 82 f. 69 BVerfGE 132, 39 (50 f.), Rn. 32 ff. Den Vorschriften über den Wahlrechtsausschluss Minderjähriger (Art. 38 Abs. 2 GG, § 12 Abs. 1 Nr. 1 BWG) oder der unter Betreuung Stehenden (§ 13 Nr. 2 BWG) etwa liegt die Annahme zugrunde, dass politische Mündigkeit und damit die Fähigkeit einer bewussten und reflektierten Wahlentscheidung vor Vollendung des 18. Lebensjahres regelmäßig noch nicht, im Falle der Betreuerbestellung (§§ 1896 ff. BGB) nicht mehr in ausreichendem Maße gegeben ist, vgl. Schreiber, Kommentar zum Bundeswahlgesetz, 8. Aufl. 2009, § 12 Rn. 9, § 13 Rn. 10.
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II. Unmaßgeblichkeit der bisherigen verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung Den Ausgangspunkt der anschließenden verfassungsgerichtlichen Kontrolle bildet die Feststellung, dass Aussagen zu früheren Ausgestaltungen der Wahlberechtigung der Auslandsdeutschen nicht ohne Weiteres zur Beurteilung der aktuellen Rechtslage herangezogen werden können.70 § 12 Abs. 2 Satz 1 BWG 2008 hatte seit der letzten Bewertung im Jahre 1990 71 zwei wesentliche Änderungen erfahren. Die seinerzeit für Auslandsdeutsche außerhalb der Mitgliedstaaten des Europarats bestehende Fortzugsfrist von zehn Jahren war zunächst (1998 72) auf 25 Jahre heraufgesetzt und sodann (2008) vollständig gestrichen worden. Darüber hinaus haben moderne Informations- und Kommunikationsmittel seitdem eine Entwicklung genommen, die es nach Einschätzung des Gesetzgebers inzwischen grundsätzlich jedem interessierten Auslandsdeutschen, unabhängig von seinem Aufenthaltsort, ermöglicht, sich über die Vorgänge in Deutschland zu informieren und daran Anteil zu nehmen.73 Aus Sicht des Zweiten Senats bedurfte es daher einer an den gegenwärtigen Verhältnissen orientierten Bewertung des § 12 Abs. 2 Satz 1 BWG 2008. Mit anderen Worten: Die Überprüfungspflicht des Gesetzgebers determiniert auch den Umfang der verfassungsgerichtlichen Kontrolle.
III. Bewertung (allein) von § 12 Abs. 2 Satz 1 BWG 2008 Ausgehend hiervon äußert sich der Zweite Senat nicht zu jeder denkbaren Ausgestaltung der Wahlberechtigung der Auslandsdeutschen, sondern allein zur ihm vorliegenden Regelung des § 12 Abs. 2 Satz 1 BWG 2008.74 1. Ungleichbehandlung bezüglich der Fähigkeit zu wählen Er konstatiert zunächst, dass § 12 Abs. 2 Satz 1 BWG 2008 eine Differenzierung innerhalb der Gruppe der Auslandsdeutschen vorsah. Während Auslandsdeutsche, die das Erfordernis eines früheren dreimonatigen Inlands-
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BVerfGE 132, 39 (50), Rn. 31. Vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 2. November 1990 – 2 BvR 1266/90 –, NJW 1991, S. 689. 72 BGBl I S. 706. 73 Dies war ausschlaggebend für den Gesetzgeber, die frühere Differenzierung zwischen Auslandsdeutschen innerhalb und außerhalb der Mitgliedstaaten des Europarats aufzugeben, vgl. BTDrucks 16/7461, S. 16. 74 BVerfGE 132, 39 (51), Rn. 35. 71
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aufenthalts erfüllten, wahlberechtigt waren, blieben die übrigen Auslandsdeutschen von der Wahlberechtigung ausgeschlossen. Die Regelung bewirkte mithin eine Ungleichbehandlung bezüglich der Fähigkeit zu wählen.75 2. Keine Rechtfertigung durch die Legitimationsfunktion der Wahl Sodann lässt der Zweite Senat ausdrücklich offen, ob diese Ungleichbehandlung unter Verweis auf Unterschiede hinsichtlich der Betroffenheit durch deutsche Hoheitsakte, das Fehlen einer Korrelation von Rechten und Pflichten oder potenzielle Interessen- oder Loyalitätskonflikte gerechtfertigt werden kann.76 Zwar ist – wenngleich im Hinblick auf die eingangs genannte Grundaussage 77 begründungsbedürftig – nicht von vornherein ausgeschlossen, dass diese Gesichtspunkte in legitimatorischer Hinsicht 78 zulässige Differenzierungsgründe für die Wahlteilnahme abgeben können. Indes stellt die Anknüpfung der Wahlberechtigung an einen früheren dreimonatigen Inlandsaufenthalt ein insoweit untaugliches Differenzierungskriterium dar. Auslandsdeutschen, die das Erfordernis des § 12 Abs. 2 Satz 1 BWG 2008 erfüllten, hatte der Gesetzgeber das Wahlrecht ohne Rücksicht darauf zuerkannt, ob sie aktuell der deutschen Hoheitsgewalt unterlagen, ob der Staat sie durch Ehrenämter, durch Steuern oder auf andere Weise in die Pflicht nehmen konnte oder ob sie sich infolge von Interessen- oder Loyalitätskonflikten bei Wahlen zum Deutschen Bundestag in einer deren Sinn und Zweck zuwiderlaufenden Weise hätten verhalten können.79 Auslandsdeutschen, die sich in Deutschland nicht mindestens drei Monate ununterbrochen aufgehalten haben, durfte daher das Wahlrecht nicht aus diesen Erwägungen heraus versagt werden. 75
BVerfGE 132, 39 (51 f.), Rn. 36. BVerfGE 132, 39 (52 f.), Rn. 38. 77 Vgl. BVerfGE 83, 37 (51 f.). 78 Die Legitimation staatlicher Gewaltausübung ist eine zentrale Funktion der Parlamentswahl, die nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts vom Gesetzgeber als verfassungslegitimes Differenzierungsziel herangezogen werden kann, vgl. BVerfGE 95, 408 (418); 123, 39 (68). 79 Ohne eine Anknüpfung an die aktuellen Verhältnisse dürfte auch ein normatives Gegenkonzept, das als maßgebend für die Ausgestaltung der Wahlberechtigung der Auslandsdeutschen nicht die Kommunikationsfunktion, sondern die Legitimationsfunktion der Wahl ansieht, s. Richterin Lübbe-Wolff in ihrer abweichenden Meinung zum Beschluss vom 4. Juli 2012, BVerfGE 132, 39 (64 ff.), Rn. 63 ff.; Felten, DÖV 2013, S. 466 (473 ff.), nicht auskommen. Denn bei Auslandsdeutschen, die lediglich im Inland geboren wurden oder das Land schon vor langer Zeit verlassen haben, wird man schwerlich sagen können, dass gegenwärtig eine „reale Verbindung zur Bundesrepublik Deutschland“ (Lübbe-Wolff, a.a.O. S. 64, Rn. 63) beziehungsweise eine „effektive Staatsangehörigkeit“ (Felten, a.a.O. S. 475 f.) bestünde, durch die gewährleistet werden könnte, dass es sich beim Wahlakt (noch) um einen Akt demokratischer Selbstbestimmung handelt, vgl. Meyer, in: Isensee/ Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. III, 3. Aufl. 2005, § 46 Rn. 5. 76
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3. Keine Rechtfertigung durch die Kommunikationsfunktion der Wahl Den Kern des Beschlusses vom 4. Juli 2012 bilden die anschließenden Ausführungen zur Heranziehung der Kommunikationsfunktion der Wahl als – im Ergebnis unzureichender – Rechtfertigungsgrund.80 a) Zielkonflikt zwischen Allgemeinheit und Kommunikationsfunktion der Wahl Der Zweite Senat konzediert dem Gesetzgeber, dass er die Allgemeinheit der Wahl nicht voll verwirklichen muss, da diese bei Auslandsdeutschen, die sich nicht oder keinen nennenswerten Zeitraum in der Bundesrepublik Deutschland aufgehalten haben, in ein Spannungsverhältnis zur Kommunikationsfunktion der Wahl gerät. Die hierzu vorgenommenen Einschätzungen des Gesetzgebers, die (technischen) Möglichkeiten, sich vom Ausland her über die politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Vorgänge in Deutschland zu informieren 81, reichten für sich genommen nicht aus, Auslandsdeutsche zur Teilnahme am Kommunikationsprozess zwischen Volk und Staatsorganen zu befähigen, hinzutreten müsse ein Mindestmaß an persönlich und unmittelbar erworbener Vertrautheit mit dem politischen System der Bundesrepublik Deutschland, die sich erst nach einem ununterbrochenen Aufenthalt von einer gewissen – mit drei Monaten allerdings eher knapp bemessenen – Mindestdauer einstelle 82, hält der Senat für nachvollziehbar.83 Ergänzend fügt er an, dass der Gesetzgeber auch dem Umstand Rechnung tragen darf, dass das Staatsangehörigkeitsrecht im Wesentlichen auf dem „ius sanguinis“ beruht, bei dem die Staatsangehörigkeit durch Abstammung vermittelt wird und auch durch langen Auslandsaufenthalt nicht verloren geht, was zur Folge haben kann, dass Personen, deren Vorfahren seit mehreren Generationen im Ausland leben, die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen, darüber hinaus aber zu Deutschland keine Beziehung haben.84 b) Unzureichende Auflösung des Zielkonflikts Gleichwohl vermag der Zweite Senat der Kommunikationsfunktion der Wahl in concreto keine rechtfertigende Wirkung zuzusprechen, da § 12 Abs. 2 Satz 1 BWG 2008 mangels realitätsgerechter Typisierung das Gebot verfehlt, die Wahlfunktion mit der Allgemeinheit der Wahl zu einem schonenden Ausgleich zu bringen.85 Zum einen kann das erklärte Ziel des Gesetzgebers, 80 81 82 83 84 85
BVerfGE 132, 39 (53 ff.). Vgl. dazu BTDrucks 13/9686, S. 5, 15/6015, S. 7 f., 16/7461, S. 16 und 17/5260, S. 4. BTDrucks 9/1913, S. 10 f. BVerfGE 132, 39 (53 f.), Rn. 41. BVerfGE 132, 39 (54), Rn. 42. BVerfGE 132, 39 (54 f.), Rn. 43.
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die für die Wahlteilnahme vorauszusetzende Vertrautheit mit den politischen Verhältnissen in der Bundesrepublik Deutschland zu sichern, allein mit dem Erfordernis eines früheren dreimonatigen Inlandsaufenthalts nicht erreicht werden. Denn wegen des Fehlens einer Mindestaltersgrenze, nach der die eigenen Erfahrungen gemacht worden sein mussten, sowie einer die Aktualität der erworbenen Erfahrungen absichernden Fortzugsfrist gestattete § 12 Abs. 2 Satz 1 BWG 2008 einer nicht vernachlässigbaren Zahl von Auslandsdeutschen die Wahlteilnahme, obwohl dieser Personenkreis hiervon nach dem Normzweck ebenfalls ausgeschlossen sein müsste.86 Zum anderen verfehlte – so der Senat weiter 87 – § 12 Abs. 2 Satz 1 BWG 2008 auch das Ziel, Auslandsdeutsche ohne jede Beziehung zu Deutschland von der Wahlteilnahme fernzuhalten, weil zugleich in Widerspruch hierzu Auslandsdeutsche, die zwar zu keinem Zeitpunkt für mindestens drei Monate in Deutschland ansässig gewesen, jedoch typischerweise mit den politischen Verhältnissen vertraut und von ihnen betroffen waren 88, vom aktiven Wahlrecht ausgeschlossen blieben, obwohl sie nach der zugrundeliegenden Wertung gleichfalls zu den Wahlen zum Deutschen Bundestag hätten zugelassen werden müssen. Die mit der zweiten Feststellung verbundene Aussage, dass der genannte Personenkreis nicht im Wege der Typisierung hätte vernachlässigt werden dürfen, stellt den Schwachpunkt des ansonsten konsistenten Beschlusses vom 4. Juli 2012 dar.89 Der Sache nach verlangt das Bundesverfassungsgericht vom Gesetzgeber – will dieser die bisherige Typisierung realitätsgerecht eingegrenzt aufrechterhalten – die zusätzliche Aufnahme einer Härteklausel in
86 BVerfGE 132, 39 (55 f.), Rn. 44 ff. Die zugleich gegebenen Hinweise für eine realitätsgerechte Eingrenzung der Typisierung hat der Gesetzgeber inzwischen aufgegriffen und in § 12 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 BWG 2013 (BGBl I S. 962) eine zusätzliche Altersgrenze und eine Fortzugsfrist aufgenommen. Der gegen die Altersgrenze von 14 Jahren erhobene Einwand einer Inkompatibilität mit Art. 38 Abs. 2 GG, vgl. Felten, DÖV 2013, S. 466 (470 f.), trifft nicht, da Bezugspunkt der Bewertung, ab wann eine hinreichende Reife und Einsichtsfähigkeit vorliegt, nicht die Wahlentscheidung selbst, sondern lediglich der für eine Vertrautheit mit den aktuellen politischen Verhältnissen in der Bundesrepublik Deutschland notwendige Erfahrungserwerb ist. Die Wertung des Gesetzgebers, dass hierfür wie hinsichtlich der Strafund Religionsmündigkeit bereits ein Alter von 14 Jahren genüge (BTDrucks 17/11820, S. 5), hält sich innerhalb seines vom Bundesverfassungsgericht zu respektierenden Einschätzungsspielraums. 87 BVerfGE 132, 39 (56 f.), Rn. 48 f. 88 BVerfGE 132, 39 (57), Rn. 48 nennt beispielhaft „Grenzgänger“ oder Auslandsdeutsche, die durch ihr Engagement in Verbänden, Parteien und sonstigen Organisationen in erheblichem Umfang am politischen und gesellschaftlichen Leben der Bundesrepublik Deutschland teilnehmen. 89 Insoweit treffend Richterin Lübbe-Wolff in ihrer abweichenden Meinung zum Beschluss vom 4. Juli 2012, BVerfGE 132, 39 (68 ff.).
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Form einer Inklusionsnorm.90 Härteklauseln machen indes einen Teil der mit der Typisierung verbundenen Vorteile wieder zunichte, da sie eine Einzelfallprüfung verlangen und in der Regel mit unbestimmten Rechtsbegriffen und Ermessensspielräumen verbunden sind, wodurch das Ergebnis ihrer Anwendung nur schwer vorhersehbar wird. Verfassungsrechtliche Grenzen werden dem Gesetzgeber insoweit nicht nur durch den Grundsatz der Normbestimmtheit gesetzt 91, sondern auch durch die formale Strenge der Allgemeinheit der Wahl.92 Der Gesetzgeber kann im Übrigen nur zur Aufnahme solcher Härteklauseln verpflichtet werden, die bei einer sinngerechten Anwendung ein Ergebnis gestatten, das dem Regelergebnis in seiner grundsätzlichen Zielsetzung gleichwertig ist.93 Schließlich dürfen Billigkeitsmaßnahmen aufgrund einer Härteklausel nicht ein derartiges Ausmaß erreichen, dass die allgemeine Geltung des Gesetzes aufgehoben wird.94 Angesichts dieser engen verfassungsrechtlichen Grenzen erscheint der gegen den Beschluss vom 4. Juli 2012 erhobene Einwand, dass sich der vom Zweiten Senat in den Blick genommene Personenkreis nicht mit praktikablen Abgrenzungskriterien erfassen lasse95, durchaus berechtigt.96 4. Keine Rechtfertigung durch Aspekte der Wahltechnik Schließlich verneint der Zweite Senat eine Rechtfertigung des § 12 Abs. 2 Satz 1 BWG 2008 auch im Hinblick auf Aspekte der Wahltechnik, weil das Kriterium des früheren Aufenthalts zur Erreichung des Ziels, eine Häufung der Wahlberechtigten in bestimmten Wahlkreisen und eine nennenswerte 90
Härteklauseln sind durch ihre Anbindung an eine Regelnorm charakterisiert, deren Tragweite sie „offene“ Grenzen setzen. Eine Inklusionsnorm lässt zur Effektivierung des gesetzlichen Zielgedankens die Einbeziehung eines an sich nicht erfassten Falles in den Regelungsbereich einer begünstigend wirkenden Regelnorm zu, vgl. Pernice, Billigkeit und Härteklauseln im öffentlichen Recht, 1991, 214 ff. 91 Vgl. BVerfGE 89, 69 (84); 103, 111 (135); 123, 39 (78 f.). 92 Felten, DÖV 2013, S. 466 (472). 93 Pernice, Billigkeit und Härteklauseln im öffentlichen Recht, 1991, 215, Fn. 42. 94 BVerfGE 48, 102 (116). 95 Richterin Lübbe-Wolff in ihrer abweichenden Meinung zum Beschluss vom 4. Juli 2012, BVerfGE 132, 39 (69), Rn. 69. S. auch Felten, DÖV 2013, S. 466 (472 f.), der die in § 12 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 BWG 2013 aufgenommene Generalklausel für verfassungswidrig hält, weil diese den Anforderungen des Bestimmtheitsgebots in Verbindung mit der Allgemeinheit der Wahl nicht genüge. 96 § 12 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 BWG 2013 begegnet denn auch verfassungsrechtlichen Bedenken, da die Ergebnisse der Normanwendung kaum vorhersehbar sind, sich ihre Äquivalenz mit dem Regelergebnis nach § 12 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 BWG 2013 kaum beurteilen lässt und in letzter Konsequenz eine Aufhebung der allgemeinen Geltung des Gesetzes droht. Die in der Begründung des Gesetzentwurfs (BTDrucks 17/11820, S. 10) vorgenommenen Erläuterungen, was „andere Gründe“ im Sinne des § 12 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 BWG 2013 sein können, dürfte nicht genügen, dieses Konkretisierungsdefizit zu kompensieren.
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Änderung der Wählerstruktur zu vermeiden, weder geeignet noch erforderlich war.97 Zum einen vermag der Senat mangels tatsachengestützter Aktualisierung der durch den Verzicht auf eine Fortzugsfrist erschütterten Annahme, die Wählerstruktur in den Wahlkreisen habe sich seit dem Wegzug der Auslandsdeutschen nicht nennenswert geändert 98, für § 12 Abs. 2 Satz 1 BWG 2008 nicht festzustellen, dass dadurch eine gleichmäßige Verteilung der wahlberechtigten Auslandsdeutschen auf die Wahlkreise zuverlässig hätte gesichert werden können.99 Zum anderen kamen andere Anknüpfungsmerkmale für eine geregelte Zuordnung der Auslandsdeutschen zu den Wahlkreisen in Betracht, mit denen das vom Gesetzgeber verfolgte Ziel schonender hätte verfolgt werden können.100
D. Wahlkreiseinteilung Das Wahlsystem nach dem Bundeswahlgesetz sieht eine Vergabe der Wahlkreismandate nach dem Verteilungsprinzip der Mehrheitswahl vor (vgl. § 5 Satz 2 BWG). Besondere Bedeutung kommt deshalb der Wahlkreiseinteilung zu; denn von der Größe der Wahlkreise – im Sinne der Bevölkerungszahl 101 – hängt ab, wie viele Stimmen ein Wahlkreiskandidat auf sich vereinigen muss, um ein Mandat zu erringen. In seinem Beschluss vom 31. Januar 2012 102 hat sich das Bundesverfassungsgericht erneut 103 mit der Wahlkreiseinteilung befasst, insbesondere mit der Frage, inwieweit hierbei der Anteil der Minderjährigen an der Bevölkerung zu berücksichtigen ist.
I. Wahlrechtlicher Gleichheitsmaßstab Aus der Entscheidung, die Wahlkreismandate nach dem Verteilungsprinzip der Mehrheitswahl zu vergeben, folgt für den Gesetzgeber, dass er neben der Zählwertgleichheit der Stimmen zu gewährleisten hat, dass die Wahlkreise annähernd gleich groß sind.104 Dieses Erfordernis stellt sicher, dass die
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BVerfGE 132, 39 (57 ff.). Vgl. BTDrucks 9/1913, S. 11. 99 BVerfGE 132, 39 (58 f.), Rn. 52 f. 100 BVerfGE 132, 39 (59), Rn. 54. 101 Genauer: von der Zahl der Wahlberechtigten in einem Wahlkreis; die Frage, ob zwischen beiden Größen ein ausreichend proportionaler Zusammenhang besteht, ist Gegenstand des Senatsbeschlusses vom 31. Januar 2012. Das konkrete Gewicht einer Erststimme richtet sich letztlich nach der Zahl der Wähler, die allerdings erst nach der Wahl feststeht und die daher bei der Wahlkreiseinteilung keine berücksichtigungsfähige Größe darstellt. 102 BVerfG 130, 212. 103 Vgl. bereits BVerfGE 16, 141; 95, 335 (363 ff.). 104 Vgl. oben B.I.1. 98
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Wähler mit annähernd gleichem Stimmgewicht am Kreationsvorgang teilnehmen können.105 Es beansprucht sowohl im Vergleich der einzelnen Wahlkreise untereinander als auch in Bezug auf die Zahl der Wahlkreise der Länder und deren jeweiliger Bevölkerung Geltung.106 Soweit es die Zahl der Wahlkreise eines Landes betrifft, ist außerdem zu berücksichtigen, dass das Anfallen von Überhangmandaten in einem Land begünstigt wird, wenn dieses infolge der unterdurchschnittlichen Größe seiner Wahlkreise mehr Wahlkreise umfasst, als seinem Anteil an der Bevölkerung des Bundesgebietes entspricht 107; denn die vergleichsweise geringe Anzahl von Wahlberechtigten in den Wahlkreisen hat dann zur Folge, dass zur Erringung eines Mandats eine niedrigere Zahl an Stimmen erforderlich ist. Bei einer Häufung derartiger Abweichungen in einem Land gewinnen die Wahlkreismandate dort gegenüber dem Zweitstimmenergebnis insgesamt an Gewicht, und die Wahrscheinlichkeit nimmt zu, dass Überhangmandate entstehen.108 Geht man von einer Verpflichtung des Gesetzgebers aus, die Zahl der Überhangmandate – ungeachtet der für diese geltenden konkreten verfassungsrechtlichen Vorgaben 109 – jedenfalls möglichst gering zu halten, so folgt auch hieraus das Gebot, annähernd gleich große Wahlkreise zu bilden.110 Die Strenge des für die Wahlkreiseinteilung geltenden wahlrechtlichen Gleichheitserfordernisses wird allerdings unter verschiedenen Aspekten abgemildert. Zum einen verhindern Bevölkerungsschwankungen sowie die eine Rundung erfordernde, stets nur zu vergebende ganze Zahl an Sitzen von vornherein eine mathematisch exakte Ausrichtung der Wahlkreisgröße an der Bevölkerung. Weit über diese Randunschärfen hinaus hat das Bundesverfassungsgericht auch größere Schwankungen toleriert und insbesondere die Regelung des § 3 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 BWG nie beanstandet, wonach Abweichungen der Bevölkerungszahl eines Wahlkreises von der durchschnittlichen Bevölkerungszahl aller Wahlkreise von bis zu 25 % zulässig sind.111 In die-
105 BVerfGE 130, 212 (225 f.), unter Bezugnahme auf BVerfGE 95, 335 (353); 121, 266 (295 f.); 124, 1 (18). 106 BVerfGE 16, 130 (141); 95, 335 (363); 130, 212 (226). 107 BVerfGE 16, 130 (139). 108 BVerfGE 130, 212 (226), unter Bezugnahme auf die Stellungnahme des Bundeswahlleiters in BVerfGE 95, 335 (346). 109 S. dazu unten E.II. 110 BVerfGE 130, 212 (226); ebenso bereits BVerfGE 16, 130 (139 f.), hinsichtlich der Überhangmandate mit der restriktiven Aussage, diese seien nur solange verfassungsrechtlich unbedenklich, als sie notwendige Folge des besonderen Charakters der mit der Personenwahl verbundenen Verhältniswahl seien. 111 Vgl. BVerfGE 16, 130 (140); 95, 335, (353) sowie BVerfG, Beschluss der 4. Kammer des Zweiten Senats vom 18. Juli 2001 – 2 BvR 1252-57/99 –, NVwZ 2002, S. 71 (72), wo – allerdings ohne explizite Klärung der Frage – jeweils von einer Verfassungsmäßigkeit des § 3 Abs. 1 BWG ausgegangen wird.
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sem Zusammenhang hat der Zweite Senat anerkannt, dass insbesondere das Anliegen der Personenwahl, eine engere Bindung der direkt gewählten Abgeordneten zu ihrem Wahlkreis zu gewährleisten, eine gewisse Kontinuität im Zuschnitt der Wahlkreise erfordert, die – ebenso wie das Ziel der Wahrung historischer Verwaltungsgrenzen und von Gebietszusammenhängen – geeignet ist, Abweichungen in der Wahlkreisgröße zu rechtfertigen.112 Dahinter steht die Überlegung, dass die Erststimme im System der mit der Personenwahl verbundenen Verhältniswahl (§ 1 Abs. 1 Satz 2 BWG) regelmäßig 113 keine Auswirkung auf die Zusammensetzung des Parlaments hat, weil das Bundeswahlgesetz nach der Vergabe der Wahlkreismandate einen abschließenden Verhältnisausgleich vorsieht.114 Auf diese Weise werden Unterschiede beim Stimmgewicht der Erststimme, die wegen der nach § 3 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 BWG zugelassenen Abweichungen teilweise erheblich ausfallen können, relativiert. Explizit ausgesprochen hat der Zweite Senat diese Erwägung erst in seinem das Sitzzuteilungsverfahren betreffenden Urteil vom 25. Juli 2012, wo er darauf verweist, dass die für die Beurteilung von Unterschieden in der Wahlkreisgröße zugrunde gelegten Maßstäbe erheblich strenger ausfallen müssten, wenn das Wahlsystem insgesamt nicht durch das Prinzip der Verhältniswahl geprägt wäre, sondern es sich dem Grundcharakter nach um ein Mehrheitswahlsystem handelte.115
II. Bemessungsgrundlage der Wahlkreiseinteilung 1. Wahlberechtigte als Bezugsgröße Das Bundeswahlgesetz nennt als Bezugsgröße der Wahlkreiseinteilung die Bevölkerungszahl (§ 3 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 und 3 BWG), bei deren Ermittlung nach § 3 Abs. 1 Satz 2 BWG lediglich Ausländer im Sinne des § 2 Abs. 1 AufenthG, nicht hingegen Minderjährige oder aus anderen Gründen nicht wahlberechtigte deutsche Staatsangehörige (vgl. Art. 38 Abs. 2 GG, §§ 12, 13 BWG) unberücksichtigt bleiben. Dies ist unter dem Aspekt der Wahlrechtsgleichheit problematisch, weil deren Bezugspunkt die Wahlberechtigten sind, nicht hingegen die (deutsche) Wohnbevölkerung. Art. 38 Abs. 1 GG knüpft an die Trägerschaft einer Rechtsposition – des Wahlrechts – an. Das verfassungsrechtlich gewährleistete Gleichheitserfordernis beansprucht Geltung im Verhältnis (allein) der Wahlberechtigten untereinander.116 Daher gebietet
112 113 114 115 116
Vgl. BVerfGE 95, 335 (364); 130, 212 (228 f., 238). Zur Problematik der Überhangmandate s. unten E.II. § 6 Abs. 4 Satz 1 BWG 2013 (unverändert). BVerfGE 131, 316 (361). Vgl. Masing, Wahlkreiseinteilung und kommunale Gebietsgrenzen, 2001, S. 28.
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die Wahlrechtsgleichheit eine Einteilung der Wahlkreise auf der Grundlage der Zahl nur der Wahlberechtigten.117 Die gesetzliche Regelung genügt allerdings solange dem Gleichheitserfordernis, wie der Anteil der Minderjährigen an der deutschen Wohnbevölkerung in allen Wahlkreisen annähernd gleich hoch ist.118 Bei einer gleichmäßigen Verteilung der Minderjährigen über das Wahlgebiet stehen die Zahl der Wahlberechtigten und die Bevölkerungszahl zueinander in einem proportionalen Verhältnis, so dass es im Ergebnis keinen Unterschied macht, auf welche der beiden Größen bei der Wahlkreiseinteilung zurückgegriffen wird. 2. Verfassungsgerichtliche Kontrolle der Tatsachengrundlage Die zentrale Frage, die der Zweite Senat in seinem Beschluss vom 31. Januar 2012 zu klären hatte, ist somit tatsächlicher Natur: Erweist sich die Annahme des Gesetzgebers, dass sich der Anteil der Minderjährigen an der deutschen Bevölkerung regional nur unerheblich unterscheidet,119 als haltbar? Zu diesem Ergebnis war die Reformkommission zur Größe des Deutschen Bundestages bei ihrer Untersuchung in den Jahren 1995 bis 1997 gelangt.120 Seither hatte der Gesetzeber, ohne seine Annahme erneut in Frage zu stellen, der Wahlkreiseinteilung jeweils die aktuellen Bevölkerungszahlen zugrunde gelegt.121 Der Zweite Senat unterzieht in Wahrnehmung der von ihm beanspruchten Kontrollkompetenz 122 die regionalen Bevölkerungsanteile der Minderjährigen einer umfassenden Realanalyse.123 Er gelangt dabei zu dem Ergebnis, die Annahme einer im Wesentlichen gleichmäßigen Verteilung der minderjährigen Deutschen treffe im Vergleich zwischen den Ländern – den die Reformkommission zur Größe des Deutschen Bundestages allein untersucht hatte – nach wie vor zu, sei jedoch in Bezug auf die Wahlkreise nicht haltbar.124 Allerdings hält der Senat die Abweichungen nach Anzahl und Ausmaß (noch) nicht für so erheblich, dass bereits ein Verstoß gegen die Wahlrechtsgleichheit festzustellen wäre.125 Für die Zukunft nimmt er den Gesetzgeber in die Pflicht und erinnert ihn daran, dass er gleichheitsrelevante Regelungen des Wahlrechts zu überprüfen und gegebenenfalls an117
BVerfGE 130, 212 (230). BVerfGE 130, 212 (230). 119 BVerfGE 130, 212 (231 f.). 120 Vgl. Reformkommission zur Größe des Deutschen Bundestages, Zwischenbericht vom 8. Mai 1996, BTDrucks 13/4560, S. 13 f.; Schlussbericht vom 17. Juni 1997, BTDrucks 13/7950, S. 14 f.; hierauf nimmt BVerfGE 130, 212 (231 f.) Bezug. 121 Vgl. BVerfGE 130, 212 (232). 122 Vgl. oben B.I.3. 123 BVerfGE 130, 212 (232 ff.). 124 S. im Einzelnen BVerfGE 130, 212 (232 ff.). 125 BVerfGE 130, 212 (236). 118
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zupassen hat, soweit eine Änderung der vorausgesetzten tatsächlichen Grundlagen die Verfassungsmäßigkeit der Regelung in Frage stellt.126 Für die Wahlkreiseinteilung konkretisiert der Senat die Beobachtungspflicht dahingehend, dass diese sowohl die Wahlkreisgröße als auch die zu ihrer Bemessung herangezogenen Kriterien127 – und damit auch den jeweiligen Minderjährigenanteil – betrifft. Diesen hat der Gesetzgeber nach dem Beschluss vom 31. Januar 2012 künftig bei der Wahlkreiseinteilung mit in den Blick zu nehmen; bei einer Entwicklung hin zu einer erheblichen Ungleichverteilung hat er eine Änderung der gesetzlichen Bemessungsgrundlage zu prüfen.128
III. Repräsentationsprinzip als möglicher Rechtfertigungsgrund? Mangels Entscheidungserheblichkeit offengelassen hat der Zweite Senat in seinem Beschluss vom 31. Januar 2012 die Frage, ob eine mögliche Beeinträchtigung der Wahlrechtsgleichheit bei der Wahlkreiseinteilung durch das in Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG verankerte Prinzip demokratischer Repräsentation zu rechtfertigen wäre.129 Die Frage ist richtigerweise zu verneinen. Hintergrund der Problemstellung ist die These, Wahlrechtsgleichheit und Repräsentationsgedanke seien gleichrangige Verfassungsprinzipien, die jedoch an die Bemessungsgrundlage für die Wahlkreiseinteilung gegenläufige Forderungen stellten130, weshalb die Beeinträchtigung des einen mit dem jeweils anderen Prinzip zu rechtfertigen sei.131 Der Annahme eines derartigen Spannungsverhältnisses liegt jedoch eine unzutreffende Interpretation des Repräsentationsprinzips zugrunde. Aus diesem lässt sich insbesondere nicht die 126
BVerfGE 130, 212 (227, 236 f.). BVerfGE 130, 212 (227). 128 BVerfGE 130, 212 (236 f.). 129 BVerfGE 130, 212 (231, 234). 130 Illustriert an zwei fiktiven Wahlkreisen mit exakt gleich großer deutscher Wohnbevölkerung, jedoch einem erheblich unter- (Wahlkreis A) beziehungsweise überdurchschnittlichen Minderjährigenanteil (Wahlkreis B) würde dies bedeuten: In beiden Wahlkreisen „repräsentiert“ der jeweilige Wahlkreisabgeordnete die gleiche Zahl deutscher Staatsangehöriger. Dem – so verstandenen – Repräsentationsgedanken ist in idealer Weise Rechnung getragen, während die Wahlgleichheit beeinträchtigt ist: Für die Erringung des Mandats in Wahlkreis A ist angesichts der höheren Zahl an Wahlberechtigten eine erheblich größere Zahl an Stimmen erforderlich als im Wahlkreis B. Gestaltete man hingegen die beiden Wahlkreise so, dass sie exakt dieselbe Zahl an Wahlberechtigten umfassen, so wäre die Bevölkerung im Wahlkreis A aufgrund des unterdurchschnittlichen Minderjährigenanteils deutlich kleiner als im Wahlkreis B. Bei idealer Verwirklichung der Wahlrechtsgleichheit würde der Wahlkreisabgeordnete des Wahlkreises A eine deutlich geringere Zahl an Staatsangehörigen „repräsentieren“ als der Abgeordnete des Wahlkreises B. 131 Vgl. Badura, in: Deutscher Bundestag, Stenographischer Bericht zur 5. Sitzung der Reformkommission zur Größe des Deutschen Bundestages, 28. Februar 1996, S. 38; Schreiber, Kommentar zum Bundeswahlgesetz, 8. Aufl. 2009, § 3 Rn. 23 und 30. 127
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Forderung herleiten, jeder Wahlkreisabgeordnete solle möglichst gleich viele deutsche Staatsangehörige „repräsentieren“; denn jeder einzelne Abgeordnete repräsentiert das Volk in seiner Gesamtheit (vgl. Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG) und damit weder nur die Wahlberechtigten noch allein die Bevölkerung eines einzelnen Wahlkreises.132 Dieser ist der Wahlkreisabgeordnete zwar durch seine persönliche Beziehung zu „seinem“ Wahlkreis besonders verbunden.133 Diese Anbindung ändert jedoch nichts an der Legitimations- und Verantwortungsbeziehung des Wahlkreisabgeordneten zum gesamten Staatsvolk.134 Hinzu kommt, dass der Gedanke der Repräsentation der Wahlrechtsgleichheit – auch historisch betrachtet – vorgelagert ist. Er bedeutete ursprünglich eine Rekrutierung des Parlaments aus lokalen Einheiten im Sinne eigenständiger Wahlkörper135, bei denen die Frage der Gleichheit im Sinne gleicher Größe oder Bevölkerungszahl gänzlich außen vor blieb. Der Abgeordnete repräsentierte nicht die in dem Wahlkreis lebende Bevölkerung, sondern den Wahlkörper als solchen. Mit dem Erstarken des Gleichheitsgedankens im Wahlrecht trat diese Form der Repräsentation zunehmend in den Hintergrund.136 Die Maßstäbe der Repräsentationsgleichheit sind daher heute regelmäßig allein den Grundsätzen der Wahlrechtsgleichheit und der Chancengleichheit der Parteien zu entnehmen.137
E. Sitzzuteilungsverfahren Die Vergabe der Mandate an die Landeslisten der politischen Parteien erfolgt nach dem Verteilungsprinzip der Verhältniswahl (vgl. § 6 Abs. 2 BWG). Allerdings werden Bundestagswahlen seit jeher auf der Grundlage eines Wahlsystems durchgeführt, das die Verhältniswahl mit einer Personenwahl verbindet. Das Bundeswahlgesetz sieht einen Verhältnisausgleich vor, nach dem die in den Wahlkreisen mit relativer Mehrheit der Erststimmen gewonnenen Mandate auf die nach dem Verhältnis der Zweitstimmen ermittelten Landeslistensitze einer Partei angerechnet werden.138 Ein solches Wahl-
132
BVerfGE 121, 266 (305); 131, 316 (342). So besteht der mit der Direktwahl verfassungslegitim verfolgte Zweck gerade darin, eine enge Anbindung des Wahlkreisabgeordneten an seinen Wahlkreis sowie eine Rückkoppelung bezüglich der örtlichen Belange zu erreichen, die exemplarisch die gesellschaftlichen Belange insgesamt beleuchten können, vgl. Löwer, Aktuelle wahlrechtliche Verfassungsfragen, Rechtsgutachten erstattet dem Deutschen Bundestag, 1996, S. 27 f.; Masing, Wahlkreiseinteilung und kommunale Gebietsgrenzen, 2001, S. 29; s. auch BVerfGE 131, 316 (342 f.). 134 Vgl. hierzu auch BVerfGE 131, 316 (342). 135 Vgl. Meyer, Die Zukunft des Bundestagswahlrechts, 2010, S. 8, m.w.N. 136 Vgl. Meyer, ebenda. 137 Vgl. BVerfGE 131, 316 (342). 138 Vgl. BVerfGE 95, 335 (337 f.); 131, 316 (321, 357 f.). 133
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system kann je nach seiner konkreten Ausgestaltung widersinnige Effekte bei der Sitzzuteilung (unten I.) sowie das Anfallen von Überhangmandaten (unten II.) bewirken. Zudem steht der Gesetzgeber stets vor der Frage, ob er zur Erreichung einer konzentrierteren Zusammensetzung des Parlaments eine Sperrklausel in das Wahlgesetz aufnimmt (unten III.).
I. Effekt des negativen Stimmgewichts Mit dem Effekt des negativen Stimmgewichts hat sich das Bundesverfassungsgericht erstmals 139 im Urteil vom 3. Juli 2008 140 befasst. Die Mandatszuteilung nach § 7 Abs. 3 Satz 2 in Verbindung mit § 6 Abs. 4 und 5 BWG 1993141 konnte bewirken, dass ein Zuwachs an Zweitstimmen einer Partei zu einem Verlust an Sitzen der Landeslisten dieser Partei oder ein Verlust an Zweitstimmen zu einem Zuwachs an Sitzen der Landeslisten führte.142 Das Bundesverfassungsgericht sah die Regelungen, soweit durch sie das Auftreten dieses Effekts ermöglicht wurde, als mit der Wahlrechtsgleichheit unvereinbar an und erklärte sie insoweit für verfassungswidrig.143 Zugleich gab es dem Gesetzgeber die Änderung des Regelungskomplexes auf.144 Der Gesetzgeber kam dem Regelungsauftrag mit § 6 Abs. 1 BWG 2011 145 nach. Danach war vorgesehen, dass die den Landeslisten jeweils zustehende Sitzzahl ohne die Möglichkeit von Listenverbindungen separat in den einzelnen Ländern ermittelt wird, wobei die Zahl der regulären Bundestagssitze nach der Wählerzahl auf die Länder verteilt werden sollte.146 Mit Urteil vom 25. Juli 2012 147 hat das Bundesverfassungsgericht auch diese Regelung als mit der Wahlrechtsgleichheit (und der Chancengleichheit der Parteien) unverein-
139 Das Problem war bereits zuvor bekannt, wurde im Urteil vom 10. April 1997 jedoch ohne inhaltliche Würdigung nur als Beteiligtenvortrag referiert, vgl. BVerfGE 95, 335 (343). 140 BVerfGE 121, 266. 141 BGBl I S. 1594, vgl. dazu BVerfGE 121, 266 (270 ff.). 142 Vgl. zu den Einzelheiten BVerfGE 121, 266 (274 ff.): Das mögliche Auftreten dieses Effekts des negativen Stimmgewichts basierte auf dem Zusammenspiel von Überhangmandaten und der zweistufigen Vornahme der Zuteilung der Zweitstimmenmandate: zunächst einer Oberverteilung an die fingierte Verbindung aller Landeslisten einer Partei, sodann einer Unterverteilung an die einzelnen Landeslisten dieser Partei. 143 BVerfGE 121, 266 (266 f.). 144 Vgl. BVerfGE 121, 266 (315): Im Hinblick darauf, dass der Effekt des negativen Stimmgewichts untrennbar mit den Überhangmandaten und der Möglichkeit von Listenverbindungen zusammenhing, hielt das Bundesverfassungsgericht ein Ansetzen sowohl beim Entstehen der Überhangmandate als auch bei der Verrechnung von Wahlkreismandaten mit den Listenmandaten oder auch bei der Möglichkeit der Listenverbindungen für möglich. 145 BGBl I S. 2313. 146 Vgl. BTDrucks 17/6290, S. 6 f. 147 BVerfGE 131, 316.
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bar angesehen, weil die Bildung der Ländersitzkontingente nach der Wählerzahl dazu führen konnte, dass in bestimmten Konstellationen abgegebene Zweitstimmen für Landeslisten einer Partei insofern negativ wirken, als diese Partei in einem anderen Land Mandate verliert oder eine andere Partei Mandate gewinnt, oder umgekehrt die Nichtabgabe einer Wählerstimme der zu unterstützenden Partei dienlich ist.148 Aus den Urteilen des Bundesverfassungsgerichts gehen zwei Dinge hervor: Erstens ist der Effekt des negativen Stimmgewichts kein singuläres Phänomen, sondern kann je nach Ausgestaltung des Sitzzuteilungsverfahrens auf unterschiedliche Art und Weise auftreten. Zweitens waren die konkret zu beurteilenden Effekte des negativen Stimmgewichts jeweils das Ergebnis eines die verhältnismäßige Sitzzuteilung regelnden Rechenverfahrens.149 Bevor die vom Bundesverfassungsgericht herangezogenen Entscheidungsmaßstäbe nachgezeichnet werden können (unten 2. und 3.), bedarf es deshalb zunächst der Klärung, welche Anforderungen aus wahlmathematischer Sicht an ein Sitzzuteilungsverfahren nach dem Verteilungsprinzip der Verhältniswahl überhaupt gestellt werden können (unten 1.). Dabei ist auch in Rechnung zu stellen, dass es sich beim Wahlsystem nach dem Bundeswahlgesetz seit jeher um eine mit der Personenwahl verbundene Verhältniswahl handelt. 1. Wahlmathematische Qualitätsanforderungen an Verhältniswahlsysteme Ein Sitzzuteilungsverfahren nach dem Verteilungsprinzip der Verhältniswahl (Verhältniswahlsystem) hat aus wahlmathematischer Sicht – oder genauer: aus Sicht der Social Choice-Theorie 150 – mehrere Qualitätsanforderungen zu erfüllen, zu denen die Proportionalitätsbedingung und die Monotoniebedingung gehören. Für ein mit der Personenauswahl verbundenes Ver148 Vgl. zu den Einzelheiten BVerfGE 131, 316 (347 ff.): Dieser Effekt des negativen Stimmgewichts konnte auftreten, weil sich wegen der Anknüpfung an die flexible Größe der Wählerzahl ein Zweitstimmenverlust oder Zweitstimmengewinn einer Landesliste nicht zwingend allein in dem betreffenden Land auswirkte, sondern mit der Verringerung oder Erhöhung der Wählerzahl in diesem Land in dem Umfang einhergehen konnte, dass sich das Sitzkontingent dieses Landes zugunsten eines anderen Landes vermindert oder erhöht. 149 Bei einem Sitzzuteilungsverfahren nach dem Verteilungsprinzip der Mehrheitswahl, in dem eine Wählerstimme äußerstenfalls nicht mitbewertet wird, kann es die Fälle, dass eine abgegebene Stimme dem unterstützten Wahlbewerber schadet oder eine nichtabgegebene Stimme diesem nützt, von vornherein nicht geben, vgl. auch BVerfGE 121, 266 (300). 150 Die Social Choice-Theorie, auch „Theorie kollektiver Entscheidungsfindung“ genannt, beschäftigt sich mit Gruppenentscheidungen durch Aggregation individueller Präferenzen/Entscheidungen zu einer kollektiven Präferenz/Entscheidung in Form von Abstimmungen und Wahlen, mit dem Auftreten und der Wahrscheinlichkeit damit verbundener Probleme sowie mit Strategien zu deren Vermeidung und Bewältigung, vgl. Lindner, Das Bundestagswahlrecht aus Perspektive der Social Choice-Theorie, 2010, S. 2 f. m.w.N.
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hältniswahlsystem lassen sich zudem je nach Präferenz weitere Axiome definieren. Hieraus sind Folgerungen für die verfassungsrechtliche Beurteilung des Bundestagswahlsystems zu ziehen. a) Proportionalität und Monotonie als zwingende Axiome für jedes Verhältniswahlsystem Geradezu selbstverständlich erscheint die an jedes „vernünftige“ Sitzzuteilungsverfahren zu stellende Forderung, dass das Verfahren für alle möglichen Ergebnisse, das heißt alle möglichen Fälle, wie Stimmen abgegeben werden können, definiert ist.151 Wäre diese Forderung verletzt, so würde dies bedeuten, dass ein Sitzzuteilungsverfahren bei bestimmten Wahlausgängen nicht anwendbar ist, also nicht definiert ist, wie in solchen Fällen die Sitzverteilung lautet. Im juristischen Kontext handelte es sich um eine „Regelungslücke“ des Wahlrechts. Das Sitzzuteilungsverfahren nach dem Bundeswahlgesetz ist nicht in diesem Sinne lückenhaft. Ein Verhältniswahlsystem muss zudem der Forderung nach Proportionalität genügen. Die Parteien müssen im Parlament mit Mandatszahlen vertreten sein, die dem Grad der Zustimmung in der Wählerschaft entsprechen, also der Zahl der zu ihren Gunsten abgegebenen Stimmen proportional sind. Idealerweise sollte der Stimmenanteil unter den Wählern dem Mandatsanteil der Partei im Parlament entsprechen; dies ist der so genannte Idealanspruch (Quote). Da die Quote in der Regel keine ganze Zahl ist, Sitzbruchteile jedoch nicht vergeben werden können, ist der Idealanspruch regelmäßig nicht erfüllbar.152 Von Verhältniswahlsystemen kann deshalb maximal verlangt werden, dass die zugeteilte Sitzzahl für jede Partei nicht mehr als jeweils einen ganzen Sitz von der Quote abweicht (Quotenbedingung). Eine weitere Qualitätsanforderung ist die Monotoniebedingung. Der Begriff der Monotonie entstammt der Mathematik: Eine Zuordnungsvorschrift („Funktion“), die jeder Eingabe einen Ausgabewert zuordnet, heißt monoton, wenn sie für größere Eingabewerte immer auch größere Ausgabewerte ergibt – oder zumindest gleich große, niemals aber kleinere.153 Auf Sitzzuteilungsverfahren ist diese Forderung mehrfach anwendbar. So sollte ein Zuteilungsverfahren garantieren, dass etwa eine Erhöhung der Gesamtzahl der Parlamentssitze für keine Partei zu einem Sitzverlust führen kann (HausMonotonie). Auch sollte – bei gleicher Gesamtsitzzahl – ein Stimmenzuwachs für eine einzelne Partei bei gleichbleibender Stimmenzahl aller
151
Lindner, Das Bundestagswahlrecht aus Perspektive der Social Choice-Theorie, 2010,
S. 9 f. 152
Vgl. BVerfGE 95, 335 (372); 121, 266 (299 f.). Lübbert, Sitzzuteilungsverfahren – wahlmathematische Systematik und Stand der Diskussion, 2009, S. 26. 153
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anderen Parteien niemals dazu führen, dass diese Partei einen Sitz verliert (Stimmen-Monotonie). Die Monotoniebedingung verlangt mithin, vereinfacht ausgedrückt, dass sich die Sitzzahl nicht gegenläufig zur Stimmentwicklung verändern darf.154 Ein Sitzzuteilungsverfahren, das gegenläufige Wirkungszusammenhänge zwischen Stimmabgabe und Stimmerfolg herbeiführen kann, verletzt die Monotoniebedingung; insoweit kann auch von einer Monotoniestörung gesprochen werden. Gängige Stimmenverrechnungsverfahren lassen sich unterteilen in Quotenverfahren, wie etwa das Verfahren der mathematischen Proportion nach Hare/Niemeyer, und Divisorverfahren, wie zum Beispiel das Divisorverfahren nach Sainte-Laguë/Schepers.155 Die Quotenbedingung wird lediglich von Quotenverfahren erfüllt; allerdings sind diese Verfahren anfällig für verschiedene Paradoxa wie das Alabama-Paradoxon 156, das Wählerzuwachsparadoxon157 oder das Sperrklauselparadoxon 158. Divisorverfahren vermeiden diese Paradoxa, können jedoch theoretisch die Quotenbedingung verletzen. Es kann daher konstatiert werden, dass die Wahl zwischen einem Quotenund einem Divisorverfahren der Wahl zwischen der Vermeidung verschiedener Paradoxa und der Verletzung der Quotenbedingung gleich kommt. (Allein 159) Dies ist die Aussage des Unmöglichkeitstheorems von Balinski und Young.160 Der Gesetzgeber des Bundestagswahlrechts hat sich hinsichtlich der Sitzzuteilung der Zweitstimmenmandate für das Divisorverfahren nach Sainte154 Behnke, KritV 2010, S. 3 (8): s. auch Lübbert, Sitzzuteilungsverfahren – wahlmathematische Systematik und Stand der Diskussion, 2009, S. 4 f., 26 f. 155 Zur Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers bei der Wahl des Stimmenverrechnungsverfahrens vgl. BVerfGE 79, 169 (170 f.). 156 Eine Partei kann bei identischen Stimmzahlen für alle Parteien einen Sitz verlieren, wenn die Gesamtzahl der zu vergebenden Sitze hypothetisch erhöht wird – die Monotoniebedingung ist verletzt, vgl. Hesse, Gutachten zum neuen Bundeswahlrecht, 2012, S. 9. 157 Fiktive Stimmenzuwächse oder -verluste einer Partei können eine Sitzverschiebung zwischen zwei anderen Parteien bewirken, vgl. Hesse, Gutachten zum neuen Bundeswahlrecht, 2012, S. 9. 158 Eine Partei erhält trotz Stimmenzuwachses weniger Sitze zugeteilt, weil komplementär eine andere Partei unter die Sperrklausel fällt und deshalb an der Sitzzuteilung nicht teilnimmt – die Monotoniebedingung ist verletzt, vgl. Lindner, Das Bundestagswahlrecht aus Perspektive der Social Choice-Theorie, 2010, S. 5. 159 Missverständlich Hesse, Gutachten zum neuen Bundeswahlrecht, 2012, S. 9, und ihm folgend die Verfahrensbevollmächtigten des Deutschen Bundestages und der Bundesregierung, vgl. BVerfGE 131, 316 (329), die unpräzise den Eindruck vermitteln, dass sich das Unmöglichkeitstheorem nicht auf die Stimmenverrechnungsverfahren, sondern auf das gesamte Sitzzuteilungsverfahren unter Einbeziehung der sonstigen Einflussgrößen beziehe. 160 Danach kann kein ganzzahliges Sitzzuteilungsverfahren bei fester Gesamtsitzzahl gleichzeitig die Quotenbedingung erfüllen und frei vom Wählerzuwachsparadoxon sein, vgl. Lindner, Das Bundestagswahlrecht aus Perspektive der Social Choice-Theorie, 2010, S. 6; Lübbert, Sitzzuteilungsverfahren – wahlmathematische Systematik und Stand der Diskussion, 2009, S. 5 f., 27 f.
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Laguë/Schepers entschieden und damit einer Vermeidung der vorgenannten Paradoxa den Vorzug gegenüber einer praktisch äußerst seltenen Verletzung der Quotenbedingung gegeben.161 Die Herbeiführung einer Monotoniestörung allein durch das bei der Sitzzuteilung verwendete Stimmenverrechnungsverfahren ist mithin ausgeschlossen.162 Stattdessen kommt es entscheidend auf die Größen an, die neben dem Verrechnungsverfahren die Sitzzuteilung beeinflussen. Bei der Sitzzuteilung nach § 7 Abs. 3 Satz 2 in Verbindung mit § 6 Abs. 4 und 5 BWG 1993 waren dies die Anzahl der pro Landesverband errungenen Wahlkreismandate und die Anzahl der jeweils errungenen Zweitstimmen.163 Das Sitzzuteilungsverfahren nach § 6 Abs. 1 BWG 2011 gab zusätzlich einer dritten Größe Einfluss auf das Ergebnis der Sitzverteilung: der Wahlbeteiligung beziehungsweise der „Zahl der Wähler“, von der die Größe des jeweiligen Ländersitzkontingents, das heißt die Hausgröße für die länderinterne Sitzzuteilung, abhing.164 b) Definierbare Axiome für ein mit der Personenauswahl verbundenes Verhältniswahlsystem Neben diesen an jedes Verhältniswahlsystem zu stellenden Anforderungen lassen sich für ein Verhältniswahlsystem, das dem Wähler neben der Bestimmung der parteipolitischen Zusammensetzung des Parlaments auch die Möglichkeit gibt, unmittelbar auf die personelle Auswahl der Abgeordneten Einfluss zu nehmen, weitere Axiome definieren. So lässt sich als Bedingung aufstellen, dass das Parlament unabhängig vom Wahlausgang immer die gleiche Größe haben soll.165 Diese Bedingung ist für ein Verhältniswahlsystem keineswegs zwingend. Beispielsweise war die Zahl der Abgeordneten im Wahlsystem der Weimarer Republik wegen der auto-
161 Vgl. BTDrucks 16/7461, S. 9 ff. mit ausführlichen Rechenbeispielen zu den mit dem Verfahren der mathematischen Proportion nach Hare/Niemeyer verbundenen Paradoxa (S. 9–12) sowie der eingehend begründeten Feststellung, dass die Quotenbedingung bei Anwendung des Divisorverfahrens nach Sainte-Laguë/Schepers auf die Bundestagswahlen 1990 bis 2005 praktisch nicht verletzt worden wäre (S. 12). 162 Vgl. Lübbert, Sitzzuteilungsverfahren – wahlmathematische Systematik und Stand der Diskussion, 2009, S. 44 f. 163 Vgl. BVerfGE 121, 266 (274 f.); dazu Lindner, Das Bundestagswahlrecht aus Perspektive der Social Choice-Theorie, 2010, S. 5, 6 f., der am Beispiel der damaligen Sitzverteilung auf die Landeslisten verdeutlicht, dass der Effekt des negativen Stimmgewichts unabhängig vom zur Umwandlung der Zweitstimmen in Mandate verwendeten Rechenverfahren bewirkt werden kann und notwendig voraussetzt, dass infolge der Anwendung von § 7 Abs. 3 Satz 2 in Verbindung mit § 6 Abs. 4 und 5 BWG 1993 Überhangmandate entstehen. 164 Vgl. BVerfGE 131, 316 (349). 165 Lindner, Das Bundestagswahlrecht aus Perspektive der Social Choice-Theorie, 2010, S. 11.
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matischen Methode der Sitzzuteilung – auf je 60.000 Stimmen entfiel ein Abgeordneter – beweglich und stieg infolge des stetigen Bevölkerungswachstums beständig an.166 Auch das Bundestagswahlrecht sieht keine feste Parlamentsgröße vor; der Deutsche Bundestag besteht nach § 1 Abs. 1 Satz 1 BWG lediglich „vorbehaltlich der sich aus dem Gesetz ergebenden Abweichungen“ aus 598 Abgeordneten. Eine solche Abweichung ergibt sich etwa daraus, dass das Bundeswahlgesetz seit jeher die Entstehung von Überhangmandaten zulässt 167 und nunmehr zu deren Kompensation die Zuteilung von Ausgleichsmandaten anordnet. Für das mit Erst- und Zweitstimme operierende Bundestagswahlsystem lässt sich weiter die Forderung aufstellen, dass jeder Wahlkreissieger immer auch ins Parlament einzieht; der Gesetzgeber hat dies in § 6 Abs. 4 Satz 2 BWG 2013 168 (zuvor § 6 Abs. 5 Satz 2 BWG 1993) normiert.169 Führt diese Forderung bezogen auf das Gesamtergebnis einer Partei im Wahlgebiet zur Entstehung von Überhangmandaten, ist ihre Erfüllung zwingend mit einer Verletzung der Proportionalitätsbedingung verbunden.170 Andererseits handelt es sich auch bei dieser Bedingung um keine wahlmathematisch notwendige Eigenschaft eines Wahlsystems. Genauso gut könnte man, will man den Bedingungen von Proportionalität oder einer festen Parlamentsgröße den Vorzug geben, die Zahl der ins Parlament einziehenden Wahlkreiskandidaten in Abhängigkeit vom Ergebnis der Sitzzuteilung nach Zweitstimmen begrenzen.171 Allgemein ist festzuhalten, dass die Festlegung weiterer Axiome die Erfüllung der zwingenden Qualitätsanforderungen an ein Verhältniswahlsystem erschwert. Es gibt kein mit der Personenwahl verbundenes Verhältniswahlsystem, das sämtliche der genannten Bedingungen – uneingeschränkter Definitionsbereich, Proportionalität, Monotonie, feste Parlamentsgröße, Parlamentseinzug des Wahlkreissiegers – erfüllt.172 Deshalb ist die Frage zu klären, 166 167 168 169
Vgl. Seifert, Bundeswahlrecht, 3. Auf. 1976, Einl. S. 15. Vgl. unten E.II. BGBl I S. 1082. Lindner, Das Bundestagswahlrecht aus Perspektive der Social Choice-Theorie, 2010,
S. 10. 170 Vgl. Lindner, Das Bundestagswahlrecht aus Perspektive der Social Choice-Theorie, 2010, S. 13, 15. S. noch unten E.II.1. 171 Lindner, Das Bundestagswahlrecht aus Perspektive der Social Choice-Theorie, 2010, S. 16 (Fn. 7); s. auch Meyer, Die Zukunft des Bundestagswahlrechts, 2010, S. 83 ff., der aus juristischer Perspektive diesen Vorschlag unterbreitet, um die Entstehung von auf das gesamte Wahlgebiet bezogenen – Meyer spricht von externen – Überhangmandaten zu verhindern. 172 Vgl. Lindner, Das Bundestagswahlrecht aus Perspektive der Social Choice-Theorie, 2010, S. 16 f., der zuvor eine Reihe von Modifikationsmöglichkeiten des bisherigen Bundestagswahlsystems auf die Erfüllung der Bedingungen untersucht hat (S. 12–15). Dabei ist zu berücksichtigen, dass Lindner bei Prüfung des Vorschlags „Verteilung auf Länderebene“
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welchen dieser Bedingungen der Vorzug zu geben ist beziehungsweise von welchen am ehesten Abstriche gemacht werden können. c) Folgerungen für die verfassungsrechtliche Beurteilung Für die verfassungsrechtliche Beurteilung des Bundestagswahlsystems bedeutet dieser Befund, dass die wahlmathematischen Qualitätsanforderungen an ein mit der Personenauswahl verbundenes Verhältniswahlsystem in verfassungsrechtliche Kategorien zu übersetzen und im Falle eines Zielkonflikts zu gewichten und gegeneinander abzuwägen sind. Die hierfür maßgeblichen Vorgaben hat das Bundesverfassungsgericht für die Proportionalitätsbedingung bereits in seiner bisherigen Rechtsprechung aufgestellt – diese Bedingung entspricht der verfassungsrechtlichen Forderung nach Erfolgswertgleichheit in einem Verhältniswahlsystem 173 und ist nur zur erforderlichen Verfolgung eines durch die Verfassung legitimierten Grundes von mindestens gleichem Gewicht Einschränkungen zugänglich 174. Mit seinen Entscheidungen zum Effekt des negativen Stimmgewichts hat das Bundesverfassungsgericht Entsprechendes nun auch für die Monotoniebedingung formuliert. 2. Das Urteil vom 3. Juli 2008 – Problemannäherung In seinem Urteil vom 3. Juli 2008 hat der Zweite Senat (noch) davon abgesehen, eigenständige Entscheidungsmaßstäbe für den Effekt des negativen Stimmgewichts zu formulieren, insbesondere eine abstrakt-generelle Begriffsklärung vorzunehmen. Er hat sich darauf beschränkt, das mögliche Auftreten des Effektes bei der Sitzzuteilung nach § 7 Abs. 3 Satz 2 in Verbindung mit § 6 Abs. 4 und 5 BWG 1993 an der Wahlrechtsgleichheit 175 zu messen, was Rezeptionsschwierigkeiten im wahlrechtlichen Schrifttum zur Folge hatte. a) (Bloße) Subsumtion anhand der bisherigen Entscheidungsmaßstäbe Der Zweite Senat stellt im Einzelnen fest, dass der nicht nur in seltenen, zu vernachlässigenden Ausnahmefällen entstehende 176 Effekt des negativen Stimmgewichts eine unterschiedliche Behandlung von Wählerstimmen be-
von festen, das heißt von der Wahlbeteiligung unabhängigen Ländersitzkontingenten ausgegangen ist (S. 13); seine Feststellung, dass dieser Vorschlag die Monotoniebedingung erfülle, ist daher für den auf die Wählerzahl abstellenden § 6 Abs. 1 Satz 1 BWG 2011 ohne Aussagekraft. 173 S. oben B.I.1. 174 S. oben B.I.2. 175 Darüber hinaus hat das Gericht einen Verstoß gegen die Unmittelbarkeit der Wahl geprüft und im Ergebnis ebenfalls bejaht, vgl. BVerfGE 121, 266 (307 f.). 176 Vgl. BVerfGE 121, 266 (301 f.).
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wirkt,177 die sowohl die Erfolgswertgleichheit als auch die übergeordnete Erfolgschancengleichheit verletzt.178 Zentrale Begründungselemente sind dabei, dass ein Wahlsystem, das in typischen Konstellationen zulässt, dass eine Wählerstimme für eine Partei eine Wirkung gegen diese Partei hat, zu willkürlichen Ergebnissen führt und den demokratischen Wettbewerb um Zustimmung bei den Wahlberechtigten widersinnig erscheinen lässt.179 Diese Ungleichbehandlung kann – so der Senat weiter – nicht durch einen verfassungskräftigen Grund gerechtfertigt werden.180 Schließlich konstatiert der Zweite Senat, dass der Effekt des negativen Stimmgewichts keine zwangsläufige Folge des geltenden Wahlsystems ist, sondern der Gesetzgeber verfassungskonform durch entsprechende wahltechnische Gestaltung eine mit der Personenwahl verbundene Verhältniswahl ohne diesen Effekt anordnen kann und muss.181 b) Rezeptionsschwierigkeiten Infolge des Verzichts auf eine abstrakt-generelle Begriffsklärung bestand im wahlrechtlichen Schrifttum Uneinigkeit darüber 182, ob der Wahlrechtsgleichheit prinzipiell sämtliche Effekte des inversen Erfolgswerts, die mit einem Sitzzuteilungsverfahren verbunden sein können, widersprechen,183 oder ob diesem Verdikt nur bestimmte Effekte des inversen Erfolgswerts unterliegen. Vielfach wurde vertreten, dass dem Begriff des negativen Stimmgewichts nur solche Effekte des inversen Erfolgswerts unterfallen, in denen der Gewinn von Zweitstimmen einer Partei zu einem Mandatsverlust oder umgekehrt der Verlust von Zweitstimmen einer Partei zu einem Mandatsgewinn bei genau dieser Partei führen kann;184 es handele sich mit anderen Worten um einen monokausalen (zu betrachtende Einflussgröße seien lediglich die Zweitstimmen) und einen unilateralen (betroffen sei nur eine Partei) Wirkungszusammenhang. Zur Begründung dieser Auffassung wurden Tenor und Entscheidungsgründe des Urteils vom 3. Juli 2008 in Anspruch genommen. Bei genauerer Betrachtung der Urteilsgründe erweist sich eine solche am bloßen Urteilstext orientierte Betrachtung indes als zur Begriffsklärung unergiebig. Was den ersten Punkt betrifft, ist zwar richtig, dass der Zweite Senat
177
Vgl. BVerfGE 121, 266 (298 f.). Vgl. BVerfGE 121, 266 (299 ff.). 179 BVerfGE 121, 266 (299 f.). 180 Vgl. BVerfGE 121, 266 (302 ff.). 181 Vgl. BVerfGE 121, 266 (306 f.). 182 S. Nachweise bei Schreiber, DÖV 2012, S. 125 (131). 183 Eine verfassungsrechtliche Hinnehmbarkeit einzelner Effekte des inversen Erfolgswerts ließe sich dann nur noch damit begründen, dass es sich um abstrakt konstruierte Fallgestaltungen handele, die der Gesetzgeber vernachlässigen dürfe, s. oben B.I.2. 184 Strohmeier, ZfP 2011, S. 393 (398 f.); Schreiber, DÖV 2012, S. 125 (130). 178
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seinerzeit als variable Größe lediglich die für die Landesliste einer Partei abgegebenen Zweitstimmen betrachtet hat,185 während er für seine Bewertung die Zahl der pro Landesverband errungenen Wahlkreismandate konstant gehalten hat.186 Indes lässt sich hieraus nicht folgern, dass bei der Prüfung, ob der Effekt des negativen Stimmgewichts auftreten kann, andere Größen, die Einfluss auf die Sitzverteilung haben können, stets beiseite zu lassen sind. Im damals geltenden Wahlrecht hing das Ergebnis der Sitzzuteilung allein von der Anzahl der pro Landesverband errungenen Wahlkreismandate und der Anzahl der jeweils errungenen Zweitstimmen ab. Andere Größen – wie etwa die Wahlbeteiligung oder die genaue Zahl an Erststimmen, mit der ein Bewerber in einem Wahlkreis die Mehrheit errang – hatten keinen Einfluss auf das Ergebnis.187 Sie konnten folgerichtig bei der Identifizierung negativer Stimmgewichte ausgeblendet werden; das insoweit etablierte Analyseverfahren beschränkte sich auf die relevanten Einflussgrößen und versuchte zudem, diese jeweils einzeln und separat voneinander zu betrachten, um ihren kausalen Einfluss zu isolieren und so das Gewicht einzelner Stimmen zu identifizieren.188 Der Senat hatte angesichts dessen keine Veranlassung, eine andere Größe als die für eine Parteiliste abgegebenen Zweitstimmen als variabel zu betrachten. Da er sich auch nicht hypothetisch mit der Frage beschäftigt hat, wie mit etwaigen weiteren relevanten Einflussgrößen umzugehen ist, kann dem Urteil vom 3. Juli 2008 dafür, dass es sich beim Effekt des negativen Stimmgewichts stets um einen monokausalen Wirkungszusammenhang handelt, nichts entnommen werden. In Bezug auf den zweiten Punkt (unilateraler Wirkungszusammenhang) wiederum wurde das Urteil bereits falsch aufgefasst. Der Senat hat in den Urteilsgründen der Konstellation, dass ein Stimmenzuwachs einer Partei zu einem Mandatsverlust dieser Partei führt, die Fallgestaltung, dass für den Wahlvorschlag einer Partei insgesamt mehr Mandate erzielt werden, wenn auf einen konkurrierenden Vorschlag mehr Stimmen entfallen, explizit gleichgestellt.189 Dass es sich beim Effekt des negativen Stimmgewichts stets um einen unilateralen, nur auf eine Partei bezogenen Wirkungszusammenhang handelt, lässt sich dem Urteil daher gleichfalls nicht entnehmen.190 185
Vgl. BVerfGE 121, 266 (266 f., 274 ff., 299 ff.). Explizit BVerfGE 121, 266 (275). 187 Lübbert, Zur Berechnung negativer Stimmgewichte, 2011, S. 14. 188 Für eine solche Vorgehensweise wird in der Ökonomie und anderen empirischen Wissenschaften üblicherweise der Begriff „ceteris-paribus-Simulation“ verwendet, der ein Szenario bezeichnet, in dem „alles andere“ konstant gehalten und nur eine einzelne Größe variiert wird, vgl. Lübbert, Zur Berechnung negativer Stimmgewichte, 2011, S. 15. 189 BVerfGE 121, 266 (299). 190 Der gegen das Urteil vom 25. Juli 2012 erhobene Einwand, das Bundesverfassungsgericht habe den Begriffsgehalt im Vergleich zum Urteil vom 3. Juli 2008 „ausgedehnt“, vgl. etwa Strohmeier, ZParl 2013, 629 (638), trifft daher nicht. 186
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c) Maßgeblichkeit der das Urteil vom 3. Juli 2008 tragenden Begründungserwägung Ausschlaggebend für die verfassungsrechtliche Beurteilung des Effekts des negativen Stimmgewichts ist mithin allein die das Urteil vom 3. Juli 2008 tragende Erwägung, dass eine Wählerstimme der gewählten Partei nicht schaden darf, eine Partei also für mehr Stimmen nicht weniger Sitze erhalten darf.191 Dabei lassen die Begründungselemente – vor allem die Bezugnahme auf Sinn und Zweck einer demokratischen Wahl und das Erfordernis eines willkürfreien Wahlsystems – nur den Schluss zu, dass jede Verletzung dieser Forderung eine rechtserhebliche Beeinträchtigung der Wahlrechtsgleichheit darstellt. Die Erfolgschancengleichheit gebietet, dass ein Sitzzuteilungsverfahren, mit dem Wählerstimmen in Mandate umgesetzt werden, von Paradoxien, die einen gegenläufigen Wirkungszusammenhang zwischen Stimmabgabe und Stimmerfolg herbeiführen können, prinzipiell, das heißt so weit irgend möglich befreit ist. Solche Paradoxien sind lediglich dann verfassungsrechtlich hinnehmbar, wenn sie mit dem vom Gesetzgeber gewählten Wahlsystem zwangsläufig verbunden sind 192 oder wenn ihr Auftreten praktisch so unwahrscheinlich ist, dass sie bei der Bewertung des Wahlrechts vernachlässigt werden können193. 3. Das Urteil vom 25. Juli 2012 – Lückenschließung Im Urteil vom 25. Juli 2012 hat der Zweite Senat auf die Rezeptionsschwierigkeiten des Urteils vom 3. Juli 2008 reagiert und in Anknüpfung an dessen tragende Begründungserwägung erstmals abstrakt-generelle Vorgaben für die verfassungsrechtliche Einordnung und Bewertung der Monotoniebedingung aufgestellt. a) Etablierung eines eigenständigen Submaßstabs der Wahlrechtsgleichheit In einem ersten Schritt überführt der Zweite Senat das bisherige Begründungselement, dass das Verfahren der Mandatszuteilung grundsätzlich frei von willkürlichen oder widersinnigen Effekten sein muss, in den allgemeinen Maßstabsteil.194 Dabei etabliert er, indem er diese Anforderung vor seine Ausführungen zu den unterschiedlichen Auswirkungen der Erfolgschancengleichheit stellt, für den Effekt des negativen Stimmgewichts zugleich einen eigenständigen, der Erfolgswertgleichheit vorgelagerten Submaßstab der Wahlrechtsgleichheit. Den Gewährleistungsgehalt dieses Maßstabs präzisiert 191 192 193 194
Vgl. BVerfGE 121, 266 (300 f.). Vgl. BVerfGE 121, 266 (306 f.). Vgl. BVerfGE 121, 266 (298, 301 f.) Vgl. BVerfGE 131, 316 (336).
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er im Subsumtionsteil des Urteils. Die Verteilung der Mandate auf die Parteien entsprechend dem Verhältnis der Summen der Wählerstimmen darf danach im Grundsatz nicht dazu führen, dass die Sitzzahl einer Partei erwartungswidrig negativ mit der auf diese oder positiv mit der auf eine konkurrierende Partei entfallenden Stimmenzahl korreliert.195 Gesetzliche Regelungen, die derartige Effekte nicht nur in seltenen und unvermeidbaren Ausnahmefällen hervorrufen, sind mit der Wahlrechtsgleichheit nicht zu vereinbaren.196 Schließlich konstatiert der Senat, dass bei der Feststellung, ob ein Verhältniswahlsystem solche Effekte herbeiführen kann, jede Größe zu berücksichtigen ist, deren Einfluss auf das Ergebnis der Sitzzuteilung im Wahlsystem angelegt ist.197 b) Reichweite der verfassungsgerichtlichen Kontrolle Die anschließende Subsumtion des in § 6 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 BWG 2011 geregelten Sitzzuteilungsverfahrens unter diese Vorgaben verdeutlicht198, worum es bei der verfassungsgerichtlichen Kontrolle von gesetzlichen Regelungen, die Effekte des negativen Stimmgewichts ermöglichen, geht: um die Identifizierung dieser Effekte, die Bewertung der Wahrscheinlichkeit ihres Auftretens und die Prüfung, ob sie zwangsläufige Folge des jeweiligen Wahlsystems sind. Ein etwaiger Zielkonflikt mit der Forderung nach Erfolgswertgleichheit darf dabei regelmäßig nicht zu Lasten der Forderung, dass ein Sitzzuteilungsverfahren frei von willkürlichen oder widersinnigen Effekten sein muss, aufgelöst werden.199 Dem entsprechend konstatiert der Zweite Senat im Urteil vom 25. Juli 2012: Die Bildung der Ländersitzkontingente nach der Wählerzahl (§ 6 Abs. 1 Satz 1 BWG 2013) bewirkt den Effekt des negativen Stimmgewichts 200 nach Analysen, die Wählerzahl und Zweitstimmenzahl gleichzeitig variieren – also unterstellen, dass ein Wähler, der seine Zweitstimme nicht einer bestimmten Partei gegeben hätte, der Wahl ganz fern geblieben wäre –, mit beachtlicher Auftretenswahrscheinlichkeit.201 Die Annahme, dass ein Wähler, der seine Zweitstimme nicht einer bestimmten Partei gegeben hätte, der Wahl ganz fern geblieben wäre, kann nicht als der politischen Wirklichkeit widersprechend vernachlässigt werden.202 Der Effekt des negativen Stimmgewichts
195 BVerfGE 131, 316 (346 f.). Mit dieser Anforderung hat der Senat, kenntlich gemacht durch einen Klammerzusatz, zugleich den Effekt des negativen Stimmgewichts definiert. 196 BVerfGE 131, 316 (347). 197 BVerfGE 131, 316 (349). 198 S. bereits oben E.I.2.a). 199 BVerfGE 131, 316 (352); s. bereits BVerfGE 121, 266 (306 f.). 200 BVerfGE 131, 316 (347 ff.). 201 BVerfGE 131, 316 (350 f.). 202 BVerfGE 131, 316 (349 f.)
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ist keine zwangsläufige Folge einer mit der Personenwahl verbundenen Verhältniswahl in Listenwahlkreisen. Die Einbußen an Erfolgswertgleichheit im Wahlgebiet bei Verzicht auf eine Bildung der Ländersitzkontingente nach der Wählerzahl sind nicht gewichtig genug, um die massive Beeinträchtigung der Wahlrechtsgleichheit durch den Effekt des negativen Stimmgewichts zu überwiegen.203
II. Überhangmandate Herzstück des Urteils des Zweiten Senats vom 25. Juli 2012 ist die Entscheidung zu den Überhangmandaten.204 Ausgehend von der an die bisherige Rechtsprechung anknüpfenden Feststellung, dass das Wahlsystem des Bundeswahlgesetzes den Grundcharakter einer Verhältniswahl trägt, hat das Bundesverfassungsgericht nunmehr § 6 Abs. 5 BWG 2011205 als mit der Wahlrechtsgleichheit und der Chancengleichheit der Parteien unvereinbar erklärt, soweit er das ausgleichslose Anfallen von Überhangmandaten in einem Umfang zuließ, der diesen Grundcharakter aufheben konnte.206 Die Grenze hat der Senat dahingehend konkretisiert, dass von einem Gleichheitsverstoß auszugehen ist, wenn die Zahl der Überhangmandate etwa die Hälfte der für die Bildung einer Fraktion erforderlichen Zahl von Abgeordneten überschreitet.207 Wenngleich die politische Diskussion mit der Entscheidung des Gesetzgebers, die nach § 6 Abs. 4 BWG 2013 weiterhin anfallenden Überhangmandate trotz ihrer verfassungsgerichtlich bestätigten grundsätzlichen Zulässigkeit künftig vollständig auszugleichen (§ 6 Abs. 5 und 6 BWG 2013), vorläufig 208 einen Abschluss gefunden hat, lohnt sich ein Blick auf die Entscheidung: Das Urteil spricht erstmals 209 abstrakt-generell aus, dass die Überhangmandate an dem für die Verhältniswahl geltenden Maßstab der
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BVerfGE 131, 316 (352). BVerfGE 131, 316 (357 ff.). 205 Die Wahlgesetze zum Deutschen Bundestag enthielten seit jeher eine inhaltlich entsprechende Vorschrift, vgl. BVerfGE 131, 316 (321). 206 BVerfGE 131, 316 (357). 207 BVerfGE 131, 316 (369 f.). 208 Bei der Bundestagswahl am 22. September 2013 waren, maßgeblich bedingt durch das knappe Scheitern der FDP und der AfD an der Fünf-Prozent-Sperrklausel, 29 Ausgleichmandate erforderlich, um die lediglich vier angefallenen Überhangmandate zu kompensieren. Sollte bei künftigen Wahlen eine höhere Zahl an Ausgleichsmandaten notwendig werden und den Bundestag deutlich vergrößern, ist zu erwarten, dass die Frage nach dem Sitzzuteilungsverfahren politisch erneut gestellt werden wird; vgl. dazu auch Holste, NVwZ 2013, 529 (533). 209 BVerfGE 131, 316 (360). 204
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Erfolgswertgleichheit zu messen sind (unten 1.). Dies wirft als Folgeproblem die Frage auf, ob und gegebenenfalls inwieweit die mit dem ausgleichslosen Anfall von Überhangmandaten verbundene Ungleichbehandlung von Wählerstimmen zu rechtfertigen ist. Ein Großteil der (fach-)öffentlichen Aufmerksamkeit, die dem Urteil zuteil geworden ist, richtete sich auf die vom Zweiten Senat insoweit gezogene Grenze der Zulässigkeit von Überhangmandaten (unten 2.).
1. Überhangmandate und der Maßstab der Wahlrechtsgleichheit a) Zuordnung zu einem Teilwahlsystem als entscheidungserhebliche Frage Da sich die Wahlrechtsgleichheit je nach Wahl des Verteilungsprinzips unterschiedlich auswirkt 210, kommt es für die Beantwortung der Frage, an welchem konkreten Gleichheitsmaßstab Überhangmandate zu messen sind, entscheidend darauf an, welchem der beiden Teilwahlsysteme, die der Gesetzgeber im Bundeswahlgesetz kombiniert hat, die Überhangmandate zuzuordnen sind. Wären Überhangmandate alleiniges Resultat der Bestimmung der Wahlkreisabgeordneten nach dem Verteilungsprinzip der Mehrheitswahl (§ 5 BWG), verbliebe es bei dem Erfordernis der Zählwertgleichheit im Sinne einer gleichen Zählung und Gutschreibung jeder gültig abgegebenen Wählerstimme. Sieht man Überhangmandate hingegen als Ergebnis eines die verhältnismäßige Sitzzuteilung regelnden Rechenverfahrens an, so wäre der Maßstab der Erfolgswertgleichheit heranzuziehen. b) Maßstabsfindung im Urteil vom 25. Juli 2012 Zur Beantwortung der Zuordnungsfrage knüpft der Zweite Senat zunächst an die ständige Rechtsprechung des Gerichts an, wonach das vom Gesetzgeber geschaffene Wahlsystem den Grundcharakter einer Verhältniswahl trägt.211 Anschließend spricht er erstmals aus, dass Überhangmandate als Folge eines nur unvollständig durchgeführten abschließenden Verhältnisausgleichs entstehen und daher uneingeschränkt dem Maßstab der Erfolgswertgleichheit unterworfen sind.
210
Vgl. nur BVerfGE 95, 335 (353); s. bereits oben B.I.1. Vgl. BVerfGE 6, 84 (90); 13, 127 (129); 16, 130 (139); 66, 291 (304); 95, 335 (357 f.); 121, 266 (297); wenngleich zunächst noch ohne Verwendung der Begrifflichkeit des „Grundcharakters“. 211
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aa) Die Formel vom „Grundcharakter der Bundestagswahl als Verhältniswahl“ (1) Anknüpfung an die bisherige Rechtsprechung Die Aussage vom Grundcharakter der Bundestagswahl als Verhältniswahl, die der Zweite Senat maßgeblich auf eine Darstellung des gesetzlichen Sitzzuteilungsverfahrens 212 stützt, beinhaltet zunächst nur die Feststellung, dass das zu beurteilende Wahlsystem auf einen abschließenden Verhältnisausgleich angelegt war, der jedoch in den Fällen unvollständig blieb, in denen eine Partei in einem Land mehr Wahlkreismandate errungen hatte, als ihr nach dem Zweitstimmenergebnis an Sitzen zustanden.213 Den auf den in dieser Konstellation entstehenden Überhang an Mandaten anzuwendenden Gleichheitsmaßstab leitet der Zweite Senat daraus noch nicht her. Allerdings lässt die Hervorhebung des Grundcharakters der Wahl als Verhältniswahl bei der Konkretisierung des Gleichheitsmaßstabes die klare Absicht erkennen, die neue – und im Ergebnis bahnbrechende – Entscheidung zu den Überhangmandaten an die bisherige Rechtsprechung anzubinden. Insbesondere nimmt der Zweite Senat Bezug auf das grundlegende Urteil vom 10. April 1997 2 14, in welchem die Verfassungsmäßigkeit ausgleichsloser Überhangmandate zuletzt auf dem Prüfstand gestanden hatte. Wenngleich das damalige Urteil bei Stimmengleichheit keine Verfassungswidrigkeit der gesetzlichen Regelung festgestellt hatte,215 hebt der Zweite Senat nunmehr vor allem die Gemeinsamkeiten mit jener Entscheidung hervor. Auch dort war – wenngleich bei den damaligen tatsächlichen Verhältnissen 216 mit gegenteiligem Ergebnis auf der Ebene der Rechtfertigung – der Grundcharakter der Wahl als Verhältniswahl betont 217 und ausgeführt worden, das Wahlsystem sei darauf angelegt, die Ergebnisse der vorgeschalteten Personenwahl zu erhalten, ohne dadurch bedingte Proporzstörungen zu vermeiden oder zu neutralisieren.218 Wie im Urteil vom 25. Juli 2012 wurde seinerzeit als Grenze für die Zulässigkeit von Überhangmandaten formuliert, deren Zahl müsse sich (lediglich) in einem Rahmen halten, der den Grundcharakter der Bundestagswahl als einer am Ergebnis der für die Parteien
212 Das zum Zeitpunkt der Entscheidung geltende Zuteilungsverfahren ist dargestellt in BVerfGE 131, 316 (325 f.). 213 Zum Mechanismus der Entstehung von Überhangmandaten nach § 6 Abs. 4 und 5 BWG 1993 s. BVerfGE 131, 316 (358 f.). 214 BVerfGE 95, 335. 215 Vgl. § 15 Abs. 3 Satz 3 BVerfGG. 216 Es waren bei regulär 656 Parlamentssitzen 16 Überhangmandate angefallen; vgl. BVerfGE 131, 316 (370). 217 BVerfGE 95, 335 (357 f.). 218 BVerfGE 95, 335 (356 f.).
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abgegebenen Stimmen orientierten Verhältniswahl nicht aufhebe.219 Damit wird zugleich deutlich, dass in der Herausstellung des Grundcharakters einer Verhältniswahl auch ein Vorgriff auf die Entscheidung über die Rechtfertigung ausgleichsloser Überhangmandate und deren Grenzen liegt 220. Der Grundcharakter wird auf jener Ebene insoweit wieder relevant, als der Gesetzgeber an seiner Grundentscheidung festgehalten und es ihm untersagt wird, Überhangmandate in einem Umfang zuzulassen, der diesen Grundcharakter aufheben kann. (2) Keine systembezogene Maßstabsbildung Mit seinen Ausführungen zum Grundcharakter der Wahl als Verhältniswahl erteilt der Zweite Senat Auffassungen eine Absage, die aus der Unvollständigkeit des abschließenden Verhältnisausgleichs herleiten wollen, dass der Maßstab der Erfolgswertgleichheit auf die Überhangmandate ebenfalls nur eingeschränkt anzuwenden sei.221 Insbesondere die Argumentation, der ausgleichslose Anfall von Überhangmandaten sei nicht Fremdkörper im System einer ansonsten weitestgehend 222 verwirklichten Verhältniswahl, sondern – gleichrangig neben der Verrechnung der Wahlkreismandate mit dem Zweitstimmenergebnis – das ein Mischsystem konstituierende Charakteristikum des Bundestagswahlrechts, in welchem der Anspruch der Personenwahl vorherrschend sei, weil alle direkt Gewählten ein Mandat erhielten,223 findet im Urteil vom 25. Juli 2012 keine Stütze.224 Eine systembezogene Herleitung des konkret anzuwendenden Gleichheitsmaßstabes wäre auch angreifbar, weil sie letztlich nicht über eine hermeneutische Schlussfolgerung von einer einfachgesetzlichen Regelung auf ein „System“ hinausführte. Zudem ließe sie außer Betracht, dass der Gesetzgeber ungeachtet seiner prinzipiellen Wahlfreiheit hinsichtlich der Systemgestaltung 225 kein von jeglichen verfassungsrechtlichen Vorgaben befreiter Systemgeber ist, sondern je nach Entscheidung für ein bestimmtes Wahlsystem spezifischen Anforderungen der Wahlrechtsgleichheit unterliegt.226 Schließlich ließe sich ein solcher Ansatz auch nicht mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Sperrklausel nach § 6 Abs. 6 Satz 1 BWG 1993
219
BVerfGE 95, 335 (361). Vgl. dazu unten E.II.2. 221 Vgl. etwa Haug, ZParl 2012, S. 658 (673). 222 Wegen der Differenzierung durch die Sperrklausel s. sogleich sowie unten E.III. 223 Vgl. hierzu Papier, JZ 1996, 265 (270). 224 Die in diese Richtung tendierende Begründung der das Urteil vom 10. April 1997 tragenden Richter (BVerfGE 95, 335 [356 f.]) greift das Urteil vom 25. Juli 2012 trotz prinzipieller Anknüpfung an diese Entscheidung nicht mehr auf. 225 S. oben B.I. 226 S. oben B.I.1. 220
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(unverändert: § 6 Abs. 3 Satz 1 BWG 2013) in Einklang bringen, die ebenfalls die strikte Ausrichtung der Sitzverteilung am Zweitstimmenergebnis durchbricht. Das Bundesverfassungsgericht sieht in dem Fünf-Prozent-Quorum in ständiger Rechtsprechung eine rechtfertigungsbedürftige Ungleichgewichtung des Erfolgswerts der Wählerstimmen 227 und nicht etwa eine systemprägende und Grundentscheidung des Gesetzgebers, die unabhängig von der Höhe der Sperrklausel keine Rechtfertigung erforderte.228 Eine abweichende Einordnung der Überhangmandate wäre kaum zu begründen. bb) Uneingeschränkte Geltung des Maßstabs der Erfolgswertgleichheit (1) Entstehung von Überhangmandaten an der Schnittstelle von Mehrheits- und Verhältniswahlrecht Zu den zentralen Aussagen des Urteils vom 25. Juli 2012 gehört, dass der abschließende, unvollständig bleibende Verhältnisausgleich, der zum Anfallen von Überhangmandaten führt, unbeschränkt den Anforderungen an die spezifische Erfolgswertgleichheit unterliegt.229 Der Zweite Senat leitet diese Feststellung maßgeblich daraus ab, an welcher Stelle und auf welche Weise im Verfahren der Sitzzuteilung ein Überhang entsteht.230 Ausschlaggebend für ihn ist insoweit die Erkenntnis, dass Überhangmandate als solche erst infolge der Verrechnung der Wahlkreismandate mit den Listenmandaten anfallen.231 Überhangmandate konnten – und können 232 – dadurch entstehen, dass die Zahl der nach dem Verteilungsprinzip der Mehrheitswahl errungenen Wahlkreismandate (§ 5 Satz 1 und 2 BWG) von der für jede Landesliste der jewei-
227
S. unten E.III.1. Vgl. dazu Möllers, Zur verfassungsrechtlichen Zulässigkeit von Überhangmandaten im Bundestagswahlrecht, 2011, S. 35 f. Grundsätzliche Einwände gegen die Herleitung einer Obergrenze für Sperrklauseln durch das BVerfG erhebt Lenz, AöR 121 (1996), S. 337 (348 ff.). 229 BVerfGE 131, 316 (361). 230 Gänzlich außer Betracht bleiben dabei Begrifflichkeiten, auf die in der Literatur teilweise zur Argumentation zurückgegriffen wird. Das Urteil vom 25. Juli 2012 differenziert weder zwischen „externen“ und „internen“ Überhangmandaten (abhängig davon, an welcher Stelle im Sitzzuteilungsverfahren ein Überhang auftritt; vgl. hierzu etwa Meyer, Die Zukunft des Bundestagswahlrechts, 2010, S. 37 f., Fn. 101; S. 45), noch geht es auf die Frage ein, ob Überhangmandate als Wahlkreis- oder als Listenmandate zu qualifizieren sind (vgl. BVerfGE 95, 335 [361] einerseits, BVerfGE 95, 335 [374] andererseits). Zur Klärung der verfassungsmäßigen Zulässigkeit von Überhangmandaten tragen diese Begrifflichkeiten nur höchst eingeschränkt bei, zumal sie nicht durchgehend einheitlich definiert werden und nicht unproblematische Kategorisierungen enthalten. 231 BVerfGE 131, 316 (361). 232 Holste, NVwZ 2013, 529, spricht hinsichtlich der neuen Rechtslage von „Sitze(n), die man bislang als Überhangmandate bezeichnete“. 228
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ligen Partei ermittelten Sitzzahl abgerechnet wird (unverändert: § 6 Abs. 4 Satz 1 BWG 2013). Sofern dabei eine Partei in den Wahlkreisen mehr Sitze errungen hat, als nach dem Zweitstimmenergebnis auf sie entfallen, verbleiben ihr diese nach § 6 Abs. 4 Satz 2 BWG 2013 (zuvor: § 6 Abs. 5 Satz 1 BWG 1993) gleichwohl. Erst an dieser Stelle kommt es zu einem Überhang an Mandaten.233 Das Vorhandensein eines Überhangs stellt sich damit erst nach der Ermittlung des verhältnismäßigen Anteils aller Parteien an den 598 regulären Sitzen heraus, die – vorbehaltlich des Abzugs nach § 6 Abs. 1 Satz 2 BWG 1993 – entsprechend dem Zweitstimmenanteil zu verteilen sind. Hingegen kann kein Wähler allein durch die Abgabe seiner Erststimme im Zusammenhang mit dem Wahlverhalten der anderen Wähler den Kandidaten eines Überhangsitzes bestimmen; denn alle 299 von den Wählern in relativer Mehrheitswahl gewählten Wahlkreissieger haben ihr Mandat nach § 5 BWG bereits vor der Durchführung des Verhältnisausgleichs – und damit unabhängig vom Anfallen von Überhangmandaten – erhalten. Die zusätzlichen Bundestagssitze, die über die 598 regulären Mandate hinaus zugeteilt werden, werden daher nicht nach den Regeln der Mehrheitswahl vergeben und unterliegen deshalb auch nicht den für die Mehrheitswahl geltenden Anforderungen der Wahlrechtsgleichheit.234 Der Überhang ist vielmehr erst Ergebnis eines Rechenschritts, mit dem der Gesetzgeber die Wahlkreismandate auf die Listenmandate anrechnet und mit welchem er insgesamt eine Sitzverteilung im Bundestag anstrebt, die das Verhältnis der Zweitstimmen widerspiegelt. Daher müssen die Überhangmandate auch den für die Verhältniswahl geltenden Gleichheitsmaßstäben unterliegen. (2) Akzentverschiebung gegenüber der bisherigen Rechtsprechung Mit seiner Maßstabsbildung auf der Grundlage des Sitzzuteilungsverfahrens löst sich der Zweite Senat – ungeachtet der hervorgehobenen Gemeinsamkeiten – teilweise von der bisherigen Rechtsprechung. Wenngleich er auch insoweit insbesondere auf die Entscheidung vom 10. April 1997 Bezug nimmt 235, ist seine Feststellung einer uneingeschränkten Anwendbarkeit der Erfolgswertgleichheit in dieser Form ein Novum. Zwar hatte auch das Urteil aus dem Jahr 1997 den abschließenden Verhältnisausgleich, soweit dieser nicht vollständig durchführbar ist, den Anforde233 Dies gilt auch nach neuem Recht: Während sich allerdings bisher die Gesamtzahl der Mandate um den Unterschiedsbetrag vergrößerte (§ 6 Abs. 5 Satz 2 BWG 1993), ist nunmehr in einem weiteren Schritt ein Ausgleichsverfahren zur Wiederherstellung des Proporzes vorgesehen (§ 6 Abs. 5 BWG 2013). 234 Vgl. insoweit bereits BVerfGE 95, 335 (373 f., 381) – abweichende Meinung. 235 BVerfGE 131, 316 (361) verweist neben BVerfGE 1, 208 (246 f.) und 6, 84 (90) auf BVerfGE 95, 335 (386).
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rungen der Erfolgswertgleichheit nicht entzogen – hierauf weist der Zweite Senat im Urteil vom 25. Juli 2012 zutreffend hin.236 Die das Urteil vom 10. April 1997 tragenden Richter hielten insoweit an der früheren Rechtsprechung fest, wonach Überhangmandate den „verhältniswahlrechtlich verstandenen Erfolgswert der Wählerstimmen“ differenzierten, was jedoch als notwendige Folge des besonderen Charakters der personalisierten Verhältniswahl grundsätzlich mit der Wahlgleichheit vereinbar sei.237 Unmittelbar im Anschluss erläutern die das Urteil tragenden Richter jedoch, die verfassungsrechtlichen Anforderungen der verhältniswahlrechtlichen Erfolgswertgleichheit erschöpften sich im Rahmen des festgelegten Wahlsystems in der gebotenen Abrechnung; der Gewinn der Wahlkreismandate liege dieser Abrechnung ebenso voraus wie die Sitzzuteilung nach den für die Listen abgegebenen Zweitstimmen, die als solche der spezifischen Erfolgswertgleichheit der Verhältniswahl unterliege.238 Der verhältniswahlrechtlichen Erfolgswertgleichheit aller Stimmen komme mit der Entscheidung des Gesetzgebers, die Hälfte der Abgeordneten in den Wahlkreisen, die andere Hälfte über Parteilisten – und zwar vorgeschaltet vor den Verhältnisausgleich – wählen zu lassen, nur eine von vornherein begrenzte Tragweite zu.239 Damit wird deutlich, dass die das Urteil vom 10. April 1997 tragenden Richter die Überhangmandate gerade nicht uneingeschränkt am Maßstab der Erfolgswertgleichheit messen wollten. Hinsichtlich des Mechanismus des Anfallens von Überhangmandaten folgen sie allerdings einer Argumentationslinie, die außer Acht lässt, dass der Überhang erst im Rahmen des abschließenden Verhältnisausgleichs entsteht, mit dem er untrennbar verbunden ist, weil sich erst dann, wenn man die Zahl der Wahlkreismandate der einer Partei nach dem Zweitstimmenergebnis zustehenden Sitzzahl gegenüberstellt, überhaupt feststellen lässt, ob die erstgenannte Zahl die zweitgenannte übersteigt. In seinem Urteil vom 25. Juli 2012 vermeidet der Zweite Senat gleichwohl einen offenen Bruch mit dieser Rechtsprechung. Vielmehr knüpft er an das Ergebnis der das Urteil vom 10. April 1997 tragenden Richter an, indem er wie diese davon ausgeht, dass das vom Gesetzgeber geschaffene Wahlsystem darauf angelegt ist, bei einem nur unvollständig möglichen Verhältnisausgleich die Ergebnisse der vorgeschalteten Personenwahl ohne Wiederherstellung des Proporzes zu erhalten, und dass dieser Umstand geeignet ist, die Differenzierung des Erfolgswerts jedenfalls partiell zu rechtfertigen.240 Damit wählt der Senat auch einen Mittelweg zwischen der Auffassung der das Urteil vom 10. April 1997 tragenden und der es nicht tragenden Richter und 236 237 238 239 240
BVerfGE 131, 316 (361 f.), unter Verweis auf BVerfGE 95, 335 (358). BVerfGE 95, 335 (357 f.). BVerfGE 95, 335 (358). BVerfGE 95, 335 (358). BVerfGE 131, 316 (361 f.); vgl. zur Rechtfertigung sogleich unten E.II.2.
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führt die seinerzeit scheinbar unvereinbaren Fronten zusammen. Den das Urteil nicht tragenden Richtern folgt er insoweit, als diese sich mit Blick auf die Überhangmandate für eine strikte Gleichbehandlung aller Wähler im Sinne einer vollständigen Erfolgschancengleichheit ausgesprochen 241 und dies auf die Entstehung des Überhangs (erst) im Rahmen der nicht vollständig durchführbaren abschließenden Verrechnung der Wahlkreismandate mit den nach Zweitstimmen zu vergebenden Sitzen zurückgeführt haben.242 Hingegen bejaht der Senat mit den das Urteil vom 10. April 1997 tragenden Richtern die Möglichkeit einer Rechtfertigung, solange der Grundcharakter einer Verhältniswahl gewahrt bleibt, und erteilt der wesentlich engeren Auffassung der das Urteil nicht tragenden Richter eine Absage, die eine Rechtfertigung nur durch einen zwingenden Grund gelten lassen wollten, den sie hier angesichts der Möglichkeit eines Ausgleichs des Überhangs als verfassungsfreundlichere Maßnahme für nicht gegeben hielten.243 2. Grenzen der Zulässigkeit von Überhangmandaten a) Verfassungsrechtliche Rechtfertigung einer Differenzierung aa) Rechtfertigungsbedürftigkeit Unmittelbare Konsequenz einer uneingeschränkten Geltung des Maßstabs der Erfolgswertgleichheit ist die Feststellung, dass die Zuteilung von Überhangmandaten außerhalb des Proporzes den Erfolgswert aller abgegebenen Stimmen differenziert. Denn beim Anfallen von Überhangmandaten bleibt der mit der Anrechnung der Wahlkreismandate auf die Listenmandate einer Partei grundsätzlich herbeigeführte Verhältnisausgleich unvollkommen, der ansonsten sicherstellt, dass jeder Wähler nur einmal – mit seiner Zweitstimme – Einfluss auf die proportionale Zusammensetzung des Parlaments nehmen kann, während die Erststimme ohne Auswirkung auf die Verteilung der Mandate auf die politischen Parteien bleibt.244 Entsteht ein Überhang, so trägt ein Teil der Wähler mit der Erststimme zum Gewinn von Wahlkreismandaten bei, die nicht mehr mit Listenmandaten verrechnet werden können und die daher den auf der Grundlage des Zweitstimmenergebnisses ermittelten Proporz verändern245. Damit ist nicht mehr gewährleistet, dass alle Wähler gleichermaßen Einfluss auf die politische Zusammensetzung des Par-
241
BVerfGE 95, 335 (369 f.) – abweichende Meinung. BVerfGE 95, 335 (374) – abweichende Meinung. 243 BVerfGE 95, 335 (376 f.; 386 f.; 399) – abweichende Meinung. 244 Vgl. bereits BVerfGE 79, 161 (167). 245 Außer Betracht bleiben kann der rein hypothetische Fall, dass bei allen Parteien Überhangmandate (zufällig) in einer insgesamt den Zweitstimmenproporz wahrenden Zahl anfallen. 242
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laments nehmen können.246 Zugleich benötigen Parteien, die Überhangmandate errungen haben, weniger Zweitstimmen für ein Mandat als Parteien, denen dies nicht gelungen ist, so dass auch die Chancengleichheit der Parteien beeinträchtigt ist.247 Deshalb bedarf das ausgleichslose Bestehenbleiben von Überhangmandaten der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung.248 bb) Gründe für die Zulässigkeit einer Differenzierung Der Zweite Senat verwirft hierbei zunächst eine Rechtfertigung durch mehrere im Verfahren vorgetragene Gründe und stellt klar, dass Überhangmandate nicht bereits deshalb hinzunehmen sind, weil ihr Entstehen dem vom Gesetzgeber gewählten System einer personalisierten Verhältniswahl immanent ist.249 Zur Wahrung des föderalen Proporzes 250 oder zur Sicherung stabiler Mehrheiten im Parlament 251 besteht kein ausreichender kausaler Zusammenhang, so dass diese Aspekte sich ebenfalls nicht zur Rechtfertigung ausgleichsloser Überhangmandate eignen. Allerdings erkennt der Senat an, dass das besondere Anliegen der mit der Personenwahl verbundenen Verhältniswahl hinreichend gewichtig ist, um die ausgleichslose Zuteilung von Überhangmandaten im Grundsatz zu rechtfertigen.252 Damit stellt er sich abermals in die Tradition der das Urteil vom 10. April 1997 tragenden Richter.253 Die Wahl von Persönlichkeiten soll demnach eine engere Bindung zumindest der Hälfte der Abgeordneten zu ihrem Wahlkreis gewährleisten.254 Dafür ist es erforderlich, dass die Wahlkreisgewinner ihr Mandat auch dann erhalten, wenn eine Verrechnung nicht möglich ist, weil das Sitzkontingent bereits ausgeschöpft ist. Den Einwand, dass dieses Anliegen der personalisierten Verhältniswahl zwar das Entstehen von Überhangmandaten bedinge, nicht jedoch einen Verzicht auf deren Kompensation verlange,255 lässt der Zweite Senat nicht gelten. Er stellt darauf ab, dass eine vollständige Wiederherstellung des Proporzes durch Zuteilung von Ausgleichsmandaten eine kaum vorhersehbare Vergrößerung der Sitzzahl im Deutschen Bundestag zur Folge hätte, so dass die Wahlkreismandate angesichts eines verringerten Anteils an der – unter Umständen stark erhöhten –
246
BVerfGE 131, 316 (363). BVerfGE 131, 316 (363). 248 Vgl. oben B.I.2. 249 BVerfGE 131, 316 (364). 250 BVerfGE 131, 316 (364 f.). 251 BVerfGE 131, 316 (365). 252 BVerfGE 131, 316 (365 f.). 253 BVerfGE 95, 335 (358). 254 BVerfGE 131, 316 (366); vgl. dazu auch oben D.III. 255 Vgl. etwa BVerfGE 95, 335 (394 f.) – abweichende Meinung; Meyer, in: Isensee/ Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. III, 3. Aufl. 2005, § 38 Rn. 32. 247
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Gesamtzahl der Sitze an Gewicht verlören. Diesen Zielkonflikt zwischen einer starken direkten Repräsentation und einer möglichst exakt proportionalen Sitzverteilung darf der Gesetzgeber – so das Urteil vom 25. Juli 2012 – dahingehend auflösen, dass er Überhangmandate in einem gewissen Umfang zulässt.256 b) Grenzen der Rechtfertigung Damit wird zugleich deutlich, dass die Zulässigkeit der Ungleichgewichtung von Wählerstimmen durch ausgleichslose Überhangmandate nicht unbegrenzt weit reichen kann: Der Gesetzgeber hat sich bei seiner Regelung in einem Rahmen zu bewegen, der die gegenläufigen Ziele in einen angemessenen Ausgleich bringt.257 An dieser Stelle greift der Zweite Senat den bei der Maßstabsbildung herausgearbeiteten Grundcharakter der Wahl als Verhältniswahl wieder auf und hält den Gesetzgeber an seiner Entscheidung für ein Wahlrecht fest, welches für den Regelfall einen abschließenden Verhältnisausgleich vorsieht.258 Der Grundcharakter der Wahl als Verhältniswahl bildet demnach die äußerste Grenze für eine Differenzierung des Erfolgswerts der Wählerstimmen. Hieraus lassen sich allerdings – wie bereits bei der Maßstabsfindung – keine konkreten Vorgaben herleiten. Die Festlegung der genauen Grenze, an der Überhangmandate den Grundcharakter der Wahl als Verhältniswahl aufheben, entzieht sich einer rein rechtlichen Betrachtung. Der Zweite Senat verweist insoweit zunächst auch auf den prinzipiellen Gestaltungsvorrang des Gesetzgebers 259 und dessen Überprüfungspflicht hinsichtlich der tatsächlichen und normativen Grundlagen.260 Damit knüpft der Senat nochmals an
256
BVerfGE 131, 316 (366). BVerfGE 131, 316 (368 f.). 258 BVerfGE 131, 316 (367 f.). 259 BVerfGE 131, 316 (367). Weitgehend unbeachtet geblieben ist der in diesem Zusammenhang gegebene Hinweis, dass der Gesetzgeber „Alternativen zum geltenden Wahlrecht ins Auge zu fassen“ hat, sofern eine angemessene Regelung zum Ausgleich der Überhangmandate nicht gefunden werden kann. Der Senat deutet damit an, dass möglicherweise tatsächliche Verhältnisse eingetreten sind, unter denen eine verfassungskonforme Lösung für die Problematik der Überhangmandate innerhalb des gegenwärtigen Wahlsystems nicht mehr zu finden ist. Dieses scheint ungeachtet der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers insoweit an eine tatsächliche Grenze gelangt zu sein, als es zunehmend schwerer wird, die vielfältigen Zielsetzungen, die der Gesetzgeber in dem Sitzzuteilungsverfahren verwirklicht wissen will – neben der direkten Repräsentation und der proportionalen Sitzverteilung auf die Parteien vor allem die Schaffung stabiler Mehrheiten, die Vermeidung verfahrensmäßiger Nachteile für kleine Parteien sowie die Wahrung des föderalen Proporzes zwischen den Landeslisten einer Partei –, alle gleichermaßen zu verwirklichen. Letzte Konsequenz wäre die Entscheidung für ein grundlegend neues Wahlsystem, die politisch aber ebenfalls kaum durchsetzbar sein dürfte. 260 BVerfGE 131, 316 (368). 257
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das Urteil vom 10. April 1997 an, welches dem Gesetzgeber bereits eine Anpassung des Wahlrechts für den Fall aufgetragen hatte, dass sich Verhältnisse einstellen, in denen Überhangmandate von Wahl zu Wahl regelmäßig in größerer Zahl anfallen, wobei die das Urteil tragenden Richter als Orientierungspunkt noch auf die Fünf-Prozent-Sperrklausel Bezug genommen hatten.261 Im Urteil vom 25. Juli 2012 verwirft der Zweite Senat mit Blick auf die Zielsetzung der Sperrklausel die Herleitung der damaligen Grenzziehung, geht allerdings von dem – zahlenmäßig gleichen – Prozentanteil an Abgeordneten aus, der nach § 10 Abs. 2 der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages für die Bildung einer Fraktion und damit einer eigenständigen politischen Kraft im Parlament erforderlich ist.262 In einem letzten Schritt erinnert der Senat daran, dass es um einen Ausgleich zwischen den gegenläufigen Zielen der Personenwahl und des Verhältnisausgleichs geht, den er nur solange als angemessen betrachtet, wie die Zahl der Überhangmandate nicht eine halbe Fraktionsstärke – und damit etwa 15 Sitze – übersteigt.263 Mit dieser Grenzziehung hat sich der Zweite Senat erklärtermaßen 264 auf das Feld nicht mehr vollständig begründbarer (verfassungs-)gerichtlicher Gesetzesauslegung begeben. Wenngleich sie sich auf nachvollziehbare Erwägungen stützt, so ist doch nicht zu leugnen, dass die Herleitung der Grenzziehung nicht allein mit dem (Grund-)Gesetz zu begründen und erst recht nicht zwingend ist. Das Urteil nimmt diesen möglichen Kritikpunkt vorweg und beruft sich rechtfertigend auf die Notwendigkeit, künftigen Wahlen eine verlässliche verfassungsrechtliche Grundlage zu geben und insbesondere der Gefahr einer Auflösung des Deutschen Bundestages im Wege des Wahlprüfungsverfahrens entgegenzuwirken.265 Diesem Umstand mag die öffentliche Aufmerksamkeit 266 und auch die Kritik267 geschuldet sein, die das Urteil hinsichtlich der Grenzziehung erfahren hat. c) Feststellung der Verfassungswidrigkeit der gesetzlichen Regelung: Prognose zum künftigen Anfallen von Überhangmandaten Als weitere Besonderheit des Urteils vom 25. Juli 2012 verdient eine prognostische Komponente der Hervorhebung, die sich auf den ersten Blick wie ein Fremdkörper in der Systematik der verfassungsgerichtlichen Kontrolle 261
BVerfGE 95, 335 (366). BVerfGE 131, 316 (368 f.). 263 BVerfGE 131, 316 (369 f.). 264 BVerfGE 131, 316 (370). 265 BVerfGE 131, 316 (368, 370). 266 Vgl. etwa Bannas, Die goldene Fünfzehn, F.A.Z. vom 26. Juli 2012. 267 Vgl. Haug, ZParl 2012, S. 658 (671 f.) mit Verweis insbesondere auf das Prinzip der Gewaltenteilung. S. auch Strohmeier, ZParl 2013, 629 (632 ff.) unter Bezugnahme auf die in BVerfGE 95, 335 (366) lediglich als möglicher „Orientierungspunkt“ angedeutete Grenze von fünf Prozent. 262
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gesetzgeberischer Entscheidungen im Wahlrecht ausnimmt: Der Zweite Senat stellt abschließend (eigene) Erwägungen dazu an, dass und aus welchen Gründen Überhangmandate künftig in einem Umfang zu erwarten sind, der den Bereich des nach den entwickelten Vorgaben Hinnehmbaren absehbar deutlich übersteigen wird.268 Diese Prognose stützt er auf eine Realanalyse, die zunächst eine steigende Tendenz bei den vergangenen Wahlen – insbesondere seit dem Jahr 1990 und bis hin zu einer Zahl von 24 Überhangmandaten bei der Bundestagswahl 2009 – konstatiert 269, um dann auszuführen, dass eine Umkehr dieser Entwicklung in Zukunft nicht zu erwarten sei.270 Diese eigenen Prognoseerwägungen des Gerichts sind deshalb bemerkenswert, weil es regelmäßig Aufgabe des Gesetzgebers und nicht des Bundesverfassungsgerichts ist, die zur Überprüfung eines Normkonzepts relevanten Gesichtspunkte zu ermitteln und gegeneinander abzuwägen.271 Eine Abweichung von diesem Grundsatz ist hier erforderlich geworden, weil zur Frage der tatsächlichen Entwicklung der Zahl der Überhangmandate keine Erwägungen des Gesetzgebers dokumentiert waren, die das Bundesverfassungsgericht einer – dann eingeschränkten – Nachprüfung hätte unterziehen können. Trotz des bereits im Urteil vom 10. April 1997 erteilten Auftrags zur Beobachtung der tatsächlichen Verhältnisse und erforderlichenfalls zur Korrektur des Wahlrechts272 hatte der Gesetzgeber auch nach der Bundestagswahl 2009 nicht reagiert. Der Zweite Senat exkulpiert den Gesetzgeber zwar mit der Erwägung, dass die konkreten wahlrechtlichen Gleichheitsanforderungen erst im Urteil vom 25. Juli 2012 formuliert worden sind, so dass auch ein gesetzgeberisches Handeln erst jetzt erforderlich geworden ist.273 Die zu dieser Erkenntnis erforderliche Analyse der tatsächlichen Verhältnisse musste der Zweite Senat jedoch in der Konsequenz selbst vornehmen.274
268
BVerfGE 131, 316 (370 ff.). BVerfGE 131, 316 (371). 270 BVerfGE 131, 316 (371 f.). 271 S. oben B.I.3. 272 BVerfGE 95, 335 (365 f.). 273 BVerfGE 131, 316 (372). 274 Vgl. im Einzelnen BVerfGE 131, 316 (370 ff.). Diese Prognose wird nachträglich nicht dadurch in Frage gestellt, dass bei der Bundestagswahl 2013 erstmals seit 1990 wieder nur vier Parteien in den Deutschen Bundestag eingezogen und – vor Ausgleich – lediglich vier Überhangmandate angefallen sind. Abgesehen davon, dass es sich um neue Tatsachen handelt, auf die sich die Prognose noch nicht stützen konnte, dürfte das Wahlergebnis – angesichts des jeweils knappen Scheiterns einer bislang etablierten (FDP) und einer erstmalig an einer Bundestagswahl teilnehmenden Partei (AfD) – bis auf Weiteres als Sonderfall zu werten sein, der auch aus heutiger Perspektive noch keine abweichende Prognose rechtfertigt. Problematisch dürfte daher eher die hohe Zahl an Ausgleichsmandaten werden, die erforderlich werden, sollte die Zahl der Überhangmandate künftig wieder deutlich höher liegen als bei der Wahl zum 18. Deutschen Bundestag, vgl. Holste, NVwZ 2013, 529 (531). 269
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III. Wahlrechtliche Sperrklauseln Sperrklauseln sind ein wahltechnisches Gestaltungselement, mit dem der Wahlgesetzgeber beim Sitzzuteilungsverfahren nach dem Verteilungsprinzip der Verhältniswahl eine konzentriertere Zusammensetzung des Parlaments bewirken kann. Erreicht wird dies durch Aufrichtung einer gesetzlichen 275 Zugangshürde zur Sitzzuteilung. Die für eine Partei abgegebenen Wählerstimmen sind danach nur dann zuteilungsberechtigt, wenn sie bezogen auf alle gültig abgegebenen Wählerstimmen ein bestimmtes Quorum 276 erreichen. Parteien, die diese Schwelle nicht überschreiten, werden von der Volksvertretung ferngehalten, auch wenn die auf sie entfallenden Wählerstimmen mathematisch für die Zuteilung eines oder mehrerer Mandate ausgereicht hätten.277 Mit der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit von Sperrklauseln hatte sich das Bundesverfassungsgericht seit seinem Bestehen immer wieder zu befassen. Im Zentrum stand dabei weniger, dass und weshalb Sperrklauseln die Wahlrechtsgleichheit und die Chancengleichheit der Wahlbewerber beeinträchtigen (unten 2.). Die eigentlichen Probleme liegen auf der Ebene der Rechtfertigung, konkret bei den Fragen, unter welchen Voraussetzungen der Gesetzgeber das verfassungslegitime Ziel, die Funktionsfähigkeit der Volksvertretung zu sichern 278, verfolgen darf, und wie sich seine generelle Überprüfungspflicht 279 auswirkt (unten 3.). Der Zweite Senat hat hierzu in seinen Urteilen vom 13. Februar 2008 280 und 9. November 2011281 erneut Stellung bezogen und seine – trotz unterschiedlicher verfassungsrechtlicher Anknüpfung für sämtliche Wahlen identischen (unten 1.) – Entscheidungsmaßstäbe durch Anwendung auf die Kommunalwahl in Schleswig-Holstein und die Wahl des deutschen Abgeordnetenkontingents im Europaparlament verdeutlicht. 275 Von dieser explizit postulierten Zugangshürde zu unterscheiden ist das bei geringer Zahl der in einem Wahlkreis zu vergebenden Mandate implizit zustande kommende natürliche Quorum („faktische Sperrwirkung“), vgl. Lenz, Ein einheitliches Verfahren für die Wahl des Europäischen Parlaments, 1995, S. 299; Pukelsheim/Maier/Leutgäb, NWVBl. 2009, S. 85 (87 f.). Überschreitet das natürliche Quorum infolge wahltechnischer Gestaltung ein gesetzlich angeordnetes Quorum, ist es seinerseits vor der Wahlrechtsgleichheit und der Chancengleichheit der Parteien rechtfertigungsbedürftig, vgl. BVerfGE 13, 242 (247 f.); 34, 81 (101), 131, 316 (345). 276 Das Bundeswahlgesetz und die Landeswahlgesetze sehen seit jeher ein Fünf-Prozent-Quorum vor. Für die Wahl des deutschen Abgeordnetenkontingents im Europaparlament bestimmte § 2 Abs. 7 EuWG 2013 (BGBl. I S. 3749) ein Quorum von drei Prozent. 277 Zum Sonderfall, dass der Gesetzgeber den Zugang zur Sitzzuteilung trotz Unterschreitung des Quorums eröffnet, wenn eine Partei eine bestimmte Zahl von Wahlkreismandaten errungen hat (Grundmandatsklausel), vgl. BVerfGE 95, 408. 278 S. oben B.I.2. 279 S. oben B.I.3. 280 BVerfGE 120, 82. 281 BVerfGE 129, 300.
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1. Identische Entscheidungsmaßstäbe für sämtliche Wahlen Die zur verfassungsrechtlichen Beurteilung wahlrechtlicher Sperrklauseln heranzuziehenden Entscheidungsmaßstäbe ergeben sich lediglich für die Bundestagswahl unmittelbar aus Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG.282 Gleichwohl kann auch für die Wahlen in den Ländern und die Europawahl auf die hierzu ergangene verfassungsgerichtliche Rechtsprechung zurückgegriffen werden. Zum einen hat das Grundgesetz die für den Deutschen Bundestag geltende Wahlrechtsgleichheit auch den Ländern für die Wahl der Landesparlamente und der kommunalen Volksvertretungen verpflichtend auferlegt; das Wahlrecht in den Ländern muss insofern mit dem Bundestagswahlrecht homogen sein (Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG).283 Zum anderen entnimmt das Bundesverfassungsgericht für die Wahl der deutschen Abgeordneten des Europäischen Parlaments Art. 3 Abs. 1 GG „in seiner Ausprägung als Gebot formaler Wahlgleichheit“ 284 inhaltlich identische Vorgaben 285. Dieser Rückgriff auf den allgemeinen Gleichheitssatz steht nicht in Widerspruch zur Entscheidung vom 16. Juli 1998 286, da der Anwendungsbereich der Art. 28 Abs. 1 Satz 2, Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG für die Europawahl nicht eröffnet ist. 2. Erfolgswertdifferenzierung von Wählerstimmen Das Bundesverfassungsgericht sieht Sperrklauseln seit jeher als vor der wahlrechtlichen Erfolgswertgleichheit und der Chancengleichheit der Wahlbewerber rechtfertigungsbedürftig an, da sie eine Ungleichgewichtung der Wählerstimmen bewirken.287 Während der Zählwert aller Wählerstimmen von der Sperrklausel unberührt bleibt, werden die Wählerstimmen hinsichtlich ihres Erfolgswerts ungleich behandelt, je nachdem, ob die Stimme für eine Partei abgegeben wurde, die das Quorum erreicht hat, oder für eine Partei, der dies nicht gelungen ist. Diejenigen Wählerstimmen, welche für Parteien abgegeben worden sind, die die gesetzlich festgelegte Mindestquote an Stimmen erhalten haben, haben unmittelbaren Einfluss auf die Sitzvertei282
S. oben B.I. Vgl. BVerfGE 120, 82 (102). 284 BVerfGE 129, 300 (317), unter Verweis auf BVerfGE 51, 222 (234 f.). 285 Die Vorfrage, ob die verfassungsgerichtliche Prüfung der deutschen Sperrklausel durch verbindliche unionsrechtliche Vorgaben eingeschränkt ist, hat das Gericht mit der Begründung verneint, dass der einschlägige Direktwahlakt vom 20. September 1976 (BGBl. 1977 II S. 733) den Mitgliedstaaten trotz der darin vorgesehenen Möglichkeit, ein Quorum von landesweit maximal fünf Prozent festzulegen, nur einen Gestaltungsrahmen für den Erlass nationaler Wahlrechtsbestimmungen vorgibt, vgl. BVerfGE 129, 300 (317). 286 S. eingangs B. 287 Vgl. BVerfGE 1, 208 (247 ff.); 6, 104 (112); 14, 121 (123 f.); 24, 300 (340); 34, 81 (99); 41, 399 (421); 51, 222 (235 ff.); 71, 81 (97 ff.); 95, 335 (366); 95, 408 (417 ff.); 107, 286 (294); 120, 82 (105 f., 113 ff.); 129, 300 (319 f.). 283
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lung nach dem Verhältnisausgleich. Dagegen bleiben diejenigen Wählerstimmen, die für Parteien abgegeben worden sind, die an der Sperrklausel gescheitert sind, ohne Erfolg.288 Im Urteil vom 9. November 2011 hat das Bundesverfassungsgericht zudem festgestellt, dass die im Unionsrecht vorgesehene degressiv-proportionale Kontingentierung der auf die Mitgliedstaaten entfallenden Sitze Abstriche vom Gebot der Erfolgswertgleichheit für die Wahl des deutschen Abgeordnetenkontingents im Europaparlament weder verlangt noch rechtfertigt.289 3. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung der Differenzierung a) Sicherung der Funktionsfähigkeit einer Volksvertretung als verfassungslegitimes Ziel Im Ausgangspunkt ebenfalls anerkannt ist die prinzipielle Möglichkeit, die mit einer Sperrklausel verbundenen Ungleichheiten damit 290 zu rechtfertigen, dass dadurch die Funktionsfähigkeit einer Volksvertretung sichergestellt wird.291 Das dem Verhältniswahlsystem eigene Prinzip, den politischen Willen der Wählerschaft in der zu wählenden Körperschaft möglichst wirklichkeitsnah abzubilden, kann eine Aufspaltung der Volksvertretung in viele kleine Gruppen zur Folge haben, die die Bildung einer – vor allem für die Aufgaben der Gesetzgebung und Regierungsbildung notwendigen – stabilen Mehrheit erschweren oder verhindern würde. Soweit es zur Sicherung der Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit des Parlaments geboten ist, darf der Gesetzgeber deshalb bei der Verhältniswahl den Erfolgswert der Stimmen unterschiedlich gewichten.292 b) Integrationsfunktion der Wahl als äußerste Grenze Andererseits muss der Gesetzgeber auch die Funktion der Wahl als eines Vorgangs der Integration politischer Kräfte sicherstellen und zu verhindern suchen, dass gewichtige Anliegen im Volk von der Volksvertretung ausgeschlossen bleiben.293 Seinem Gestaltungsspielraum hinsichtlich der Aufrich288
BVerfGE 120, 82 (105 f.); 129, 300 (319). BVerfGE 129, 300 (318 f.). 290 Die Anliegen, verfassungsfeindliche oder „parlamentsunwürdige“ Parteien von der Beteiligung an der Volksvertretung fernzuhalten, scheiden hingegen als Rechtfertigungsgründe aus, da es sich hierbei um verfassungsillegitime Zielsetzungen handelt, vgl. BVerfGE 120, 82 (109 f.); 129, 300 (340); s. auch BVerfGE 111, 382 (403 ff.). 291 Vgl. BVerfGE 1, 208 (247 f.); 4, 31 (40); 6, 84 (92, 93 f.); 51, 222 (236); 82, 322 (338); 120, 82 (110); 129, 300 (321). 292 BVerfGE 51, 222 (236); 82, 322 (338); 120, 82 (111). 293 Vgl. BVerfGE 51, 222 (236); 95, 408 (419); 131, 316 (335). 289
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tung einer gesetzlichen Zugangshürde zur Sitzzuteilung wird durch diese Wahlfunktion eine äußerste Grenze gesetzt. Entschließt er sich zur Einführung einer Sperrklausel, darf er in aller Regel kein höheres als ein Fünfprozentquorum – bezogen auf das jeweilige Wahlgebiet – begründen.294 Innerhalb dieser Grenze unterliegt es seiner Entscheidung, wie weit er diese Möglichkeit zur Differenzierung ausschöpft 295 und ob er – im Falle der Aufteilung des Wahlgebiets in regionale Listenwahlkreise – das Quorum auf das gesamte Wahlgebiet oder nur auf den Listenwahlkreis bezieht.296 c) Strikte Kontrolle der Erforderlichkeitsprognose Dieser Gestaltungsspielraum ist indes nur eröffnet, wenn und soweit der Einsatz der Sperrklausel zur Erreichung des Ziels, die Funktionsfähigkeit der Volksvertretung zu sichern, erforderlich ist. Dies verlangt eine Einschätzung des Gesetzgebers von der Wahrscheinlichkeit des Einzugs von Splitterparteien, dadurch zu erwartender Funktionsstörungen und deren Gewichts für die Aufgabenerfüllung der Volksvertretung.297 Da die Gefahr besteht, dass die jeweilige Parlamentsmehrheit sich dabei statt von gemeinwohlbezogenen Erwägungen vom Ziel des eigenen Machterhalts leiten lässt,298 unterwirft das Bundesverfassungsgericht die Prognoseentscheidung des Gesetzgebers einer strikten Kontrolle. In seinen Urteilen vom 13. Februar 2008 und 9. November 2011 hat der Zweite Senat seine Prüfungsmaßstäbe für das Kommunalund das Europawahlrecht konkretisiert. aa) Hinreichend wahrscheinliche Funktionsbeeinträchtigung Der Zweite Senat stellt klar, dass der Gesetzgeber sich weder auf die Feststellung der rein theoretischen Möglichkeit einer Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit der Volksvertretung beschränken noch frei darüber befinden darf, von welchem Wahrscheinlichkeitsgrad an er Funktionsbeeinträchtigungen in Betracht ziehen will, da andernfalls eine effektive Überprüfung eines gemeinwohlbezogenen Einsatzes der Sperrklausel unmöglich wäre.299 Die allgemeine und abstrakte Behauptung, durch den Verzicht auf die Sperrklausel werde der Einzug kleinerer Parteien oder Wählergemeinschaften in die Vertretungsorgane erleichtert und dadurch die Willensbildung in diesen Organen erschwert, kann deshalb einen Eingriff in die Wahlrechtsgleichheit
294 295 296 297 298
BVerfGE 95, 408 (419); vgl. bereits BVerfGE 1, 208 (256); 51, 222 (237); 82, 322 (338). Vgl. BVerfGE 6, 84 (94); 51, 222 (237 f.); 82, 322 (339); 95, 408 (419). BVerfGE 6, 84 (94); 34, 81 (100); 131, 316 (344). BVerfGE 120, 82 (113). Vgl. BVerfGE 120, 82 (113); 129, 300 (322 f.), s. auch Morlok, NVwZ 2005, S. 157
(158). 299
Vgl. BVerfGE 120, 82 (113 f.); 129, 300 (323).
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und die Chancengleichheit nicht rechtfertigen. Vielmehr bedarf es – über eine bloße „Erleichterung“ oder „Vereinfachung“ der Beschlussfassung hinaus – der mit einiger Wahrscheinlichkeit zu erwartenden Beeinträchtigung der Funktionen der Vertretungsorgane.300 Andererseits darf der Begriff der Funktionsbeeinträchtigung nicht auf Funktionsunfähigkeit im Sinne einer völligen Handlungsunfähigkeit verengt werden, da die effektive Arbeitsweise der Volksvertretung sonst niemals normativ abgesichert werden könnte.301 bb) Wirklichkeitsbezogene Prognose Weiterhin hebt der Zweite Senat in Anknüpfung an seine bisherige Rechtsprechung 302 hervor, dass sich der Gesetzgeber bei seiner Prognose an der gegenwärtigen politischen Wirklichkeit zu orientieren hat.303 Eine einmal als zulässig angesehene Sperrklausel darf von ihm nicht als für alle Zeiten verfassungsrechtlich unbedenklich eingeschätzt werden. Die Auswirkungen einer Wahlrechtsbestimmung hängen von den jeweiligen tatsächlichen Umständen ab. Je nachdem, wie sich die politischen Gegebenheiten – etwa die Zahl der politischen Parteien oder der Aufgabenzuschnitt der zu wählenden Volksvertretung (dazu sogleich) – verändern, kann sich eine Sperrklausel anders auswirken.304 Maßgeblich für die Beurteilung ihrer Erforderlichkeit sind deshalb allein die aktuellen Verhältnisse.305 cc) Ausrichtung an Aufgaben und Struktur der jeweiligen Volksvertretung Schließlich – und letztlich ausschlaggebend – muss der Gesetzgeber seine Erforderlichkeitsprognose an den spezifischen Aufgaben und der konkreten Struktur der jeweiligen Vertretungskörperschaft ausrichten.306 Die Aufgaben einer Volksvertretung lassen sich vier Funktionen eines Parlaments zuordnen: der Gesetzgebungs-, Kreations-, Willensbildungs- und Kontrollfunktion.307 Je nach Vertretungskörperschaft variiert die Gewichtung und Ausprägung dieser Kategorien, weshalb die Zuständigkeitsbereiche für jede Art der Vertretung gesondert in den Blick zu nehmen sind. Von Bedeutung sind zudem die für die Vertretungskörperschaft vorgesehenen Regelungen, um
300
BVerfGE 120, 82 (114 f.); 129, 300 (323). Morlok/Kühr, JuS 2012, S. 385 (390). Insoweit treffend die Richter Di Fabio und Mellinghoff in ihrer abweichenden Meinung zum Urteil vom 9. November 2011, vgl. BVerfGE 129, 300 (353). 302 Vgl. BVerfGE 1, 208 (259); 7, 63 (75); 82, 322 (338, 344); 95, 408 (418 f.). 303 BVerfGE 120, 82 (107, 115); 129, 300 (321). 304 S. Morlok/Kühr, JuS 2012, S. 385 (389 f.). 305 Vgl. BVerfGE 120, 82 (108); 129, 300 (322). 306 Vgl. BVerfGE 6, 104 (115); 120, 81 (112); 129, 300 (321). 307 S. Morlok/Kühr, JuS 2012, S. 385 (390). 301
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Entscheidungsausfälle zu vermeiden und Störungen durch kleinere Parteien zu begegnen.308 Das Bundesverfassungsgericht arbeitet dem entsprechend in seinen Urteilen vom 13. Februar 2008 und 9. November 2011 detailliert den besonderen Aufgabenzuschnitt und die spezifischen Arbeitsbedingungen einer kommunalen Vertretung 309 beziehungsweise des Europäischen Parlaments310 heraus und bezieht seine Kontrolle der gesetzgeberischen Prognoseentscheidung jeweils konkret darauf. Im Ergebnis stellt es in beiden Fällen fest, dass hinreichende Gründe, die eine Beibehaltung der Fünf-Prozent-Sperrklausel zur Sicherung der Funktionsfähigkeit der Volksvertretung nach den rechtlichen und tatsächlichen Voraussetzungen erforderlich machen, nicht ersichtlich sind.311 Ausschlaggebend ist dabei neben den gegenwärtigen Funktionsbedingungen der Volksvertretung und den in der bisherigen Rechtspraxis gemachten Erfahrungen312 der Umstand, dass das wesentliche Kriterium für die Rechtfertigung der Sperrklausel bei der Bundestagswahl – nämlich, dass die Bildung einer stabilen Mehrheit für die Wahl einer handlungsfähigen Regierung und deren fortlaufende Unterstützung nötig ist und dieses Ziel durch eine Zersplitterung des Parlaments in viele kleine Gruppen gefährdet wird313 – weder auf kommunaler noch auf europäischer Ebene einschlägig ist.314 4. Überprüfungspflicht des Gesetzgebers Die strikte Kontrolle der Erforderlichkeitsprognose wird prozedural durch die Überprüfungspflicht des Gesetzgebers hinsichtlich der tatsächlichen und normativen Grundlagen flankiert. Das Bundesverfassungsgericht 308
Vgl. BVerfGE 120, 82 (115). BVerfGE 120, 82 (115 ff.). Bei seiner Realanalyse hat das Gericht im Wesentlichen auf die nach Einführung der Direktwahl von Bürgermeister und Landrat eingeschränkte Kreationsfunktion, die Gewährleistung der Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit durch Regelungen in der Gemeinde- und Kreisordnung sowie die von vornherein begrenzte Auswirkung einer Sperrklausel auf die Zusammensetzung der Kommunalvertretung abgestellt. 310 BVerfGE 129, 300 (324 ff.). Bei seiner Realanalyse hat das Gericht im Wesentlichen auf das Fehlen eines parlamentarischen Regierungssystems, die große Anzahl der schon im Parlament vertretenen Parteien, den faktischen Druck, sich in bestehende Fraktionen einzugliedern, die Integrationskraft der Fraktionen sowie auf die dauerhafte Dominanz der beiden großen Fraktionen abgestellt. 311 Vgl. BVerfGE 120, 82 (115, 116); 129, 300 (325, 327). 312 Vgl. BVerfGE 120, 82 (122 f.); 129, 300 (328 f., 331). 313 BVerfGE 102, 82 (111); 129, 300 (335 f.); vgl. bereits BVerfGE 6, 84 (94). 314 Vgl. BVerfGE 120, 82 (117 f.); 129, 300 (336 ff.). Daran hat auch die vom Gesetzgeber als einziger Grund für die Einführung der Drei-Prozent-Sperrklausel in § 2 Abs. 7 EuWG 2013 angegebene „Wahl des Kommissionspräsidenten und weiterer Mitglieder der Kommission aus den Reihen des Europäischen Parlaments“ (BTDrucks 17/13705, S. 12) nichts geändert, weshalb sich seine neuerliche Erforderlichkeitsprognose ebenfalls nicht als verfassungsrechtlich tragfähig erwiesen hat; vgl. BVerfG, Urteil vom 26. Februar 2014 – 2 BvE 2/13 u.a. 309
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hat schon früh betont, dass eine Wahlrechtsbestimmung in dem einen Staat zu einem bestimmten Zeitpunkt gerechtfertigt sein kann und in einem anderen Staat oder zu einem anderen Zeitpunkt nicht.315 Der Wahlgesetzgeber hat daher seine Prognoseentscheidung fortlaufend zu aktualisieren. Findet er wesentlich veränderte Umstände vor, so muss er ihnen Rechnung tragen.316 Dabei steht es ihm grundsätzlich frei, auf die Sperrklausel zu verzichten, deren Höhe herabzusetzen oder andere geeignete Maßnahmen zu ergreifen; allerdings muss sich das mildere Mittel seinerseits mit der Wahlrechtsgleichheit und der Chancengleichheit vereinbaren lassen.317
F. Fazit Eine Analyse der neueren Entscheidungen zu den wahlrechtlichen Gleichheitssätzen zeigt, dass das Bundesverfassungsgericht seine Rechtsprechung abgerundet, lose Fäden zusammengeführt und dogmatisch auf ein – in früheren Entscheidungen nicht immer sichtbares – stimmiges Gesamtkonzept zurückgeführt hat. Dieses einheitliche Grundkonzept an Maßstäben stellt absehbar einen verlässlichen „Werkzeugkasten“ für künftige Streitfragen zur Verfügung. Dabei nimmt sich nur auf den ersten Blick überraschend aus, dass das Gericht bei seinen Bewertungen von § 12 Abs. 2 Satz 1 BWG 2008 318, § 6 Abs. 5 BWG 2011 319 und § 2 Abs. 7 EuWG 1994 320 von früheren Entscheidungen abgewichen ist.321 Bei genauerem Hinsehen offenbaren sich hierin die besondere Abhängigkeit der Wahlgesetzgebung – und dementsprechend auch der verfassungsgerichtlichen Kontrolle – von den jeweiligen Rahmenbedingungen sowie die vom Bundesverfassungsgericht zunehmend wahrgenommene Rolle als „Hüter des Parteienwettbewerbs“ 322. Denn zum einen gehen fast alle 323 Änderungen bei der verfassungsgerichtlichen Bewertung auf (Ver-)Änderungen der rechtlichen oder tatsächlichen Verhältnisse zu-
315
BVerfGE 1, 208 (259); 82, 322 (338); 120, 82 (108); 129, 300 (322). BVerfGE 120, 82 (108); 129, 300 (322). 317 BVerfGE 82, 322 (338). 318 S. oben C.III. 319 S. oben E.II. 320 BGBl I S. 424, s. oben E.III. 321 Strohmeier, ZParl 2013, S. 629 (643) spricht mit Blick auf den Beschluss vom 4. Juli 2012 und das Urteil vom 25. Juli 2012 von „beinahe artistischen Kehrtwenden“. 322 Morlok, NVwZ 2005, S. 157. 323 Lediglich die Entscheidung zu den Überhangmandaten ist zusätzlich dadurch motiviert, die seit Jahrzehnten bestehende Ungewissheit hinsichtlich ihrer verfassungsrechtlichen Zulässigkeit zu beenden, um künftigen Wahlen eine verlässliche Grundlage zu geben, s. oben E.II.2. 316
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rück, denen der Gesetzgeber nicht oder nur unzureichend Rechnung getragen hat; die teilweise aufgestellte Forderung nach Verlässlichkeit der Rechtsprechung im Sinne einer Ergebniskontinuität 324 ist deshalb von vornherein nur bedingt einlösbar. Zum anderen wird in der jüngeren Rechtsprechung die Bereitschaft des Gerichts sichtbar, seine stets beanspruchte Kontrollkompetenz hinsichtlich der vom Gesetzgeber zugrunde gelegten Tatsachen und darauf basierender Prognosen ernst zu nehmen und dort, wo am Ziel des eigenen Machterhalts ausgerichtete Regelungen drohen, korrigierend mit gesteigerter Kontrollintensität zu Werke zu gehen.325 Andererseits bleibt das Bundesverfassungsgericht bei aller Nähe zu politischen Fragestellungen und trotz teilweiser Überschreitung der Grenze zu diesen letztlich ein Gericht. Es kann – und soll – wegen der durch den jeweiligen Streitgegenstand gesetzten Grenzen nur sehr eingeschränkt Aussagen zu nicht zur Entscheidung stehenden Ausgestaltungen eines Wahlsystems treffen. Seine Rechtsprechung ist daher naturgemäß im Fluss und kann je nach Anlassfall Ergänzungen und Neuerungen erfordern, die im Zeitpunkt früherer Entscheidungen noch nicht absehbar waren. Beispielhaft hat das Gericht in seinem Urteil vom 3. Juli 2008 mangels hinreichend kritischer Masse noch davon abgesehen, eigenständige Entscheidungsmaßstäbe für den Effekt des negativen Stimmgewichts zu formulieren, insbesondere eine abstrakt-generelle Begriffsklärung vorzunehmen; hierzu bestand erst im Urteil vom 25. Juli 2012 Anlass und Notwendigkeit. Dem Gesetzgeber kann angesichts dessen nur empfohlen werden, seine Pflichten zur Vornahme realitätsgerechter Prognosen sowie zur fortlaufenden Überprüfung und gegebenenfalls Korrektur der Wahlrechtsbestimmungen wahrzunehmen. Was die Grenzen seines Gestaltungsspielraums angeht, erscheint es zudem angebracht, eine an den Maßstäben und deren Geist orientierte Rezeption der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts vorzunehmen, statt – wie in der Vergangenheit teilweise geschehen 326 – „Kaffeesatzleserei“ in einzelnen Begriffen zu betreiben. Bei Beherzigung dieser Ratschläge sollten sich weitere Überraschungen aus Karlsruhe vermeiden lassen.
324
S. etwa Strohmeier, ZParl 2013, S. 629 (629 f.). Zur Zulässigkeit eines „judicial activism“ in Fällen, in denen die legislative Entscheidung in einer Materie ergeht, in welcher es im Gesetzgebungsprozess am korrigierenden Element gegenläufiger politischer Interessen fehlt, vgl. Morlok, NVwZ 2005, S. 157 (157) m.w.N. 326 Vgl. nur Strohmeier, ZfP 2011, S. 393 (zum Urteil vom 3. Juli 2008); ders., ZParl 2013, S. 629 (zu den Urteilen vom 3. Juli 2008 und vom 25. Juli 2012); Frenz, NVwZ 2013, S. 1059 (zum Urteil vom 9. November 2011). 325
Die örtlichen Aufwandsteuern Steuererfindung zwischen Vergnügen und Verdruss André Niesler Leitentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (Senat) 1. BVerfGE 2. BVerfGE 3. BVerfGE 4. BVerfGE 5. BVerfGE 6. BVerfGE 7. BVerfGE 8. BVerfGE 9. BVerfGE 10. BVerfGE 11. BVerfGE
7, 244 – Badische Weinabgabe 13, 181 – Schankerlaubnissteuer 16, 64 – Einwohnersteuer 16, 306 – Getränke- und Speiseeissteuer 40, 52 – Vergnügungsteuergesetz Hessen 40, 56 – Vergnügungsteuergesetz Nordrhein-Westfalen 49, 343 – Kommunalabgabengesetz Schleswig-Holstein 65, 325 – Zweitwohnungsteuer Überlingen 98, 106 – Kommunale Verpackungsteuer 114, 316 – Zweitwohnungsteuer Hannover und Dortmund 123, 1 – Spielgerätesteuer Wichtige Kammerentscheidungen
1. BVerfGK 17, 44 – Zweitwohnungsteuer in „Kinderzimmerfällen“ 2. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 17. Februar 2010 – 1 BvR 2664/09 –, NVwZ-RR 2010, S. 457 ff. – Zweitwohnungsteuerpflicht eines Beamten mit Residenzpflicht 3. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 1. März 1997 – 2 BvR 1599/89 u.a. –, NVwZ 1997, S. 573 ff. – Spielautomatensteuer 4. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 29. Juni 1995 – 1 BvR 1800/94 u.a. –, NVwZ 1996, S. 57 f. – Kapitalanlagen 5. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 10. August 1989 – 2 BvR 1532/88 –, NVwZ 1989, S. 1152 f. – Jagdsteuer Schrifttum (Auswahl) Bayer, 25 Jahre Zweitwohnungsteuer in Deutschland, KStZ 1998, S. 1 ff.; Betzinger/ Müller, Kommunale Verbrauch- und Aufwandsteuerinnovationen, KStZ 2012, S. 101 ff.; Czisnik, Die Gleichartigkeit von Steuern im System der Finanzverfassung, DÖV 1989, S. 1065 ff.; Küssner, Die Abgrenzung der Kompetenzen des Bundes und der Länder im Bereich der Steuergesetzgebung sowie der Begriff der Gleichartigkeit von Steuern, 1992; Rutemöller, Hotelsteuern und Kulturförderabgaben, ZRP 2010, S. 108 f.; Tolkmitt/Berlit, Not macht erfinderisch – Möglichkeiten und Grenzen einer Kultur(förder)abgabe der Gemeinden, LKV 2010, S. 385 ff.; Wernsmann, Übernachtungsteuern als örtliche Aufwandsteuern, NVwZ 2013, S. 124 ff.
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Die örtlichen Aufwandsteuern Inhalt
I. II.
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Begriff der örtlichen Verbrauch- beziehungsweise Aufwandsteuer . . . . . . . 1. Steuerbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Begriffstradition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Verfassungsrechtliche Aufladung des tradierten Steuerbegriffs . . . . . . aa) Herleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Gehalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Steuertatbestand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. „Steuern mit örtlich bedingtem Wirkungskreis“ und Finanzreform 1969 . . 3. Verbrauchsteuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Aufwandsteuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Allgemeine Aufwandsteuerformel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Präzisierung der allgemeinen Aufwandsteuerformel . . . . . . . . . . . . aa) Das Merkmal der Besonderheit als immanenter Bestandteil der allgemeinen Aufwandsteuerformel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Die „Besonderheit“ und ihre Folgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Stillschweigende Aufgabe des Besonderheitskriteriums? . . . . . . . dd) Besonderer Aufwand als Indikator der besonderen wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Kammerbeschluss vom 10. August 1989: Aufwandsteuerpflicht von Gemeinden? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Aufwandsteuerbarkeit von Erwerbsvorgängen . . . . . . . . . . . . . . . aa) Referenzgebiet Zweitwohnungsteuer . . . . . . . . . . . . . . . . . aaa) „Überlingen-Beschluss“ vom 6. Dezember 1983: Erwerbszweitwohnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bbb) Kammerbeschluss vom 29. Juni 1995: Kapitalanlagewohnungen ccc) Senatsbeschluss vom 11. Oktober 2005: Ehegattenerwerbszweitwohnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Bekenntnis zur Maßgeblichkeit des objektiven Konsumgeschehens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Teilweise Einschränkung des „Überlingen-Diktums“ . . . (3) Einblick in den Belastungsgrund . . . . . . . . . . . . . . . bb) Folgerung: Abgrenzung über das Unmittelbarkeitskriterium . . . . III. Örtlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Gleichartigkeitsverbot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der „herkömmliche Gleichartigkeitsbegriff“ . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der „neue Gleichartigkeitsbegriff“ des Art. 105 Abs. 2a Satz 1 GG . . . . . a) Dualitätstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Fragmentarische Begriffsbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Senatsbeschluss vom 4. Juni 1975: Herkömmlichkeitsprivileg und „weite Dualitätstheorie“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) „Überlingen-Beschluss“ vom 6. Dezember 1983: Erst-Recht-Schluss als Behelfsformel bei neuen Steuern . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Kammerbeschluss vom 1. März 1997: „Enge Dualitätstheorie“? . . . dd) „Verpackungsteuer-Urteil“ vom 7. Mai 1998: Neujustierung der Gleichartigkeitsbegriffe? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Kritik und Vorschlag zur Begriffsbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . aa) Bekenntnis zur „engen Dualitätstheorie“ . . . . . . . . . . . . . . . bb) Keine Synchronisierung mit Charakteridentitätsverbot des Art. 401 MwStSystRL . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I. Einleitung Die Länder haben nach Art. 105 Abs. 2a Satz 1 GG die ausschließliche Gesetzgebungskompetenz über die örtlichen Verbrauch- und Aufwandsteuern, solange und soweit sie nicht bundesgesetzlich geregelten Steuern gleichartig sind. Die meisten Länder1 delegieren diese Besteuerungskompetenz auf die Gemeinden 2, denen damit neben der Ertragshoheit (Art. 106 Abs. 6 Satz 1 GG) auch die Regelungshoheit zukommt. Sie haben hier ein „unechtes Steuererfindungsrecht“3, mit dem sie den jeweiligen Verbrauchoder Aufwandsteuertyp festlegen dürfen.4 Dabei dürfen sie nicht nur auf herkömmliche Modelle wie die Vergnügungsteuer zurückgreifen, sondern auch neue Varianten wie die Zweitwohnung- oder jüngst die Bettensteuer 5 erfinden.6 Das Steuererfindungsrecht aus Art. 105 Abs. 2a Satz 1 GG steht in einem Spannungsverhältnis zum finanzverfassungsrechtlichen Prinzip der Formenklarheit und Formenbindung. Dieses verbietet in seiner Strenge sogar das analoge Anwenden finanzverfassungsrechtlicher Vorschriften7, weshalb der den Ländern und Gemeinden zustehende Erfindungsspielraum eindeutige Grenzen benötigt. Diese aber stehen nach wie vor nicht fest. Das hat ernst zu nehmende, die effektive Steuererfindung hemmende Rechtsunsicherheiten zur Folge, die das Bundesverfassungsgericht durch seine stellenweise changierende Spruchpraxis teilweise mitverursacht hat. Gegenstand des vorliegenden Beitrags ist es deshalb, die Entwicklungslinien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Gesetzgebungskompetenz8 über die örtlichen Verbrauch- und Aufwandsteuern zu analysieren, Kontinuitäten und Brüche aufzuzeigen, generalisierbare Aussagen herauszuarbeiten und an geeigneter Stelle Vorschläge für ein Justieren oder Fortentwickeln der bisherigen Rechtsprechung zu unterbreiten. 1
Siehe Betzinger/Müller, KStZ 2012, S. 101 (101). Zur verfassungsrechtlichen Zulässigkeit der Übertragung siehe BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 1. März 1997 – 2 BvR 1599/89 u.a. –, NVwZ 1997, S. 573 (574). 3 Schwarz/Reimer, JuS 2007, S. 119 (124). 4 Schwarz/Reimer, JuS 2007, S. 119 (124). 5 Zum Begriff „Bettensteuer“ siehe Dürrschmidt, KStZ 2013, S. 1 (1); Tolkmitt/Berlit, LKV 2010, S. 385 (385); geläufig ist u.a. auch die Bezeichnung als „Hotelsteuer“ (Rutemöller, ZRP 2010, S. 108 [108]) oder „Kulturförderabgabe“ (Rutemöller, ZRP 2010, S. 108 [108]; Tolkmitt/Berlit, LKV 2010, S. 385 [385]). 6 Zur Diskussion um die Einführung einer kommunalen Pferdesteuer siehe Dietlein/ Peters, LKV 2013, S. 1 ff.; zu den Plänen der Freien und Hansestadt Hamburg betreffend die Einführung einer Bartsteuer siehe Castan, DStR 1996, S. 254 ff. 7 BVerfGE 105, 185 (193 f.). 8 Zu einer Rechtsprechungsänderung aus tatsächlichen Gründen im Bereich des Gebots der Besteuerungsgleichheit (Art. 3 Abs. 1 GG) siehe BVerfGE 123, 1 (27 ff.). 2
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II. Begriff der örtlichen Verbrauch- beziehungsweise Aufwandsteuer 1. Steuerbegriff Die ausschließliche Gesetzgebungskompetenz aus Art. 105 Abs. 2a Satz 1 GG gilt nur für den Abgabentypus der Steuer, der von den Vorzugslasten (Gebühren und Beiträgen) 9 und der parafiskalischen Sonderabgabe10 abzugrenzen ist. a) Begriffstradition Den Begriff der Steuer 11 setzt das Grundgesetz voraus, definiert ihn aber nicht.12 Schon im Rechtsgutachten vom 16. Juni 1954 über die Zuständigkeit des Bundes zum Erlass eines Baugesetzes13 argumentierte das Bundesverfassungsgericht mit einer vom Grundgesetz aufgegriffenen Begriffstradition. Die auf Otto Mayer zurückgehende14, in § 1 der Reichsabgabenordnung (RAO) enthaltene Legaldefinition des Steuerbegriffs gelte nach § 8 RAO „für alle Steuern des Bundes (früher Reichs), der Länder, der Gemeinden, der Gemeindeverbände und der Religionsgesellschaften des öffentlichen Rechts“15, sei in der Steuerrechtswissenschaft etabliert und daher in diesem Sinne auch den Steuerkompetenzvorschriften des Grundgesetzes zugrunde zu legen.16 Dementsprechend definiert das Bundesverfassungsgericht Steuern im Sinne der Finanzverfassung in ständiger Rechtsprechung als „einmalige oder laufende Geldleistungen, die nicht eine Gegenleistung für eine besondere Leistung darstellen und von einem öffentlich-rechtlichen Gemeinwesen zur Erzielung von Einkünften allen auferlegt werden, bei denen der Tatbestand zutrifft, an den das Gesetz die Leistungspflicht knüpft.“17 b) Verfassungsrechtliche Aufladung des tradierten Steuerbegriffs aa) Herleitung Nachdem das Bundesverfassungsgericht den finanzverfassungsrechtlichen Steuerbegriff zunächst noch ohne Vorbehalte mit dem von § 1 RAO verwen9
BVerfGE 3, 407 (435); 49, 343 (352 f.); Birk, Steuerrecht, 15. Aufl. 2012, Rn. 117 ff. BVerfGE 92, 91 (113 f.). 11 Zur Etymologie des Begriffs „Steuer“ siehe Schmölders, Allgemeine Steuerlehre, 1958, S. 49 (dort Fn. 1). 12 BVerfGE 67, 256 (282). 13 BVerfGE 3, 407. 14 Waldhoff, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR V, 3. Aufl. 2007, § 116 Rn. 85. 15 BVerfGE 3, 407 (435). 16 BVerfGE 7, 244 (251); 67, 256 (282) m.w.N. 17 BVerfGE 3, 407 (435); 7, 244 (251); 49, 343 (353); 65, 325 (344). 10
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deten einfachrechtlichen Steuerbegriff gleichgesetzt hatte18, schrieb es ihm nach einer ersten vorsichtigen Distanzierung19 von dieser „Identitätsthese“ 20 einen eigenen Bedeutungsgehalt zu. Dieser gehe über das „Konzentrat einfach-gesetzlicher Normen“ 21 hinaus und sei daher nicht deckungsgleich mit der Begriffsdefinition der Reichsabgabenordnung beziehungsweise der Abgabenordnung (AO). Der finanzverfassungsrechtliche Steuerbegriff müsse „dem Funktionszusammenhang der bundesstaatlichen Finanzverfassung ebenso Rechnung tragen, wie der Notwendigkeit, daß die Steuer in der modernen Industriegesellschaft zwangsläufig auch zum zentralen Lenkungsinstrument aktiver staatlicher Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik geworden ist, wobei der Zweck, Einkünfte für die Bestreitung allgemeiner Staatsaufgaben zu erzielen, sogar als Nebenzweck nicht selten völlig in den Hintergrund tritt.“22 bb) Gehalt Ein substantieller Unterschied zwischen dem der Reichsabgabenordnung beziehungsweise der Abgabenordnung zugrunde liegenden traditionellen und dem finanzverfassungsrechtlichen Steuerbegriff wird darin gesehen, dass das Bundesverfassungsgericht es für die Qualifizierung einer Abgabe als Steuer genügen lasse, wenn sie neben einem hauptsächlich verfolgten Lenkungszweck zumindest auch einen fiskalischen Zweck verfolge. Damit habe es sich von dem der Reichsabgabenordnung Vorbild gewesenen Steuerverständnis Otto Mayers distanziert, der in der Einnahmenerzielung die einzige Funktion der Steuer gesehen habe.23 Das Bundesverfassungsgericht hat den Lenkungszweck jedoch schon sehr früh als ein bekanntes Phänomen der Steuer-
18 Vogel/Waldhoff, in: Dolzer/Vogel/Graßhof (Hrsg.), BK-GG, Vorb. Art. 104a–115 Rn. 365 (81. Lfg. November 1997); siehe z.B. BVerfGE 29, 402 (408 f.): „In diesem Sinne [§ 1 Abs. 1 Satz 1 RAO] wird der Begriff ‚Steuer‘ auch im Grundgesetz verwendet (vgl. BVerfGE 3, 407 [435]); er liegt deshalb auch den im Grundgesetz enthaltenen Kompetenzvorschriften für die Gesetzgebung zugrunde (vgl. BVerfGE 7, 244 [251]).“ 19 BVerfGE 38, 61 (79 f.): „Wie das Bundesverfassungsgericht wiederholt ausgesprochen hat, verwendet das Grundgesetz den Begriff ‚Steuer‘ grundsätzlich [Hervorhebung durch den Autor] in demselben Sinne, in dem er in § 1 Abs. 1 Satz 1 AO umschrieben ist […]; er liegt auch den im Grundgesetz enthaltenen Kompetenzvorschriften für die Gesetzgebung zugrunde.“ 20 Kloepfer, Verfassungsrecht I, 2011, § 26 Rn. 14; vgl. auch Vogel/Waldhoff, in: Dolzer/ Vogel/Graßhof (Hrsg.), BK-GG, Vorb. Art. 104a–115 Rn. 372 (81. Lfg. November 1997). 21 BVerfGE 55, 274 (299); 67, 256 (282); jeweils mit Verweis auf Lerche, Werbung und Verfassung, 1967, S. 33 f. 22 BVerfGE 55, 274 (299); ähnlich BVerfGE 67, 256 (282). 23 Kronisch, NVwZ 1990, S. 322 (323); Vogel/Waldhoff, in: Dolzer/Vogel/Graßhof (Hrsg.), BK-GG, Vorb. Art. 104a–115 Rn. 365 (81. Lfg. November 1997); Wernsmann, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler (Hrsg.), AO, § 3 Rn. 36 (213. Lfg. 2011).
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gesetzgebung identifiziert, ohne ihn im Lichte verschiedener Steuerbegriffe zu problematisieren: „Steuern, die dem Pflichtigen ein bestimmtes wirtschaftliches Verhalten nahelegen sollen, ohne ihn dazu rechtlich zu zwingen, hat es“, so das Bundesverfassungsgericht im Jahr 1963, „seit je gegeben.“24 Im Lenkungszweck sieht es also offenbar keinen entscheidenden Unterschied zwischen dem finanzverfassungsrechtlichen und dem tradierten einfachgesetzlichen Steuerbegriff. Umgekehrt sieht das Gericht jedenfalls „die wesentlichen Merkmale des Steuerbegriffs der Abgabenordnung“, also die Tatbestandsmerkmale des § 3 Abs. 1 AO 25, als Bestandteil des finanzverfassungsrechtlichen Steuerbegriffs an.26 Das gilt aber nur insoweit, als die dort genannten wesentlichen Merkmale, wie in der derzeit gültigen Fassung des § 3 Abs. 1 AO, noch mit denjenigen übereinstimmen, die bei der Schaffung der Finanzverfassung vorgefunden und dieser zugrunde gelegt wurden.27 Aus dem so beschriebenen Verhältnis zwischen dem finanzverfassungsrechtlichen und dem einfachgesetzlichen Steuerbegriff ergibt sich die Funktion des § 3 Abs. 1 AO in der derzeit geltenden Fassung als Auslegungshilfe 28, wonach bei Vorliegen aller seiner Tatbestandsmerkmale zugleich die konstitutiven Elemente des finanzverfassungsrechtlichen Steuerbegriffs gegeben sind.29 Ob eine Abgabe danach als Steuer qualifiziert werden kann, richtet sich nach ihrem materiellen Gehalt. Wie der Gesetzgeber sie bezeichnet, ist unerheblich.30 c) Steuertatbestand Das Bundesverfassungsgericht und die Literatur bezeichnen die steuerkonstituierenden Merkmale nicht einheitlich. Substantielle Unterschiede gibt es dabei zwar nicht, aber die Divergenzen können auf den ersten Blick irritieren. Eine Steuer wird durch den jeweiligen Steuertatbestand geprägt (vgl. § 38 AO). Dieser beschreibt nach der steuerrechtlichen Literatur das Steuer-
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BVerfGE 16, 147 (161). Vgl. BVerfGE 67, 256 (282 f., 286 f.). 26 BVerfGE 67, 256 (282). 27 Vogel/Waldhoff, in: Dolzer/Vogel/Graßhof (Hrsg.), BK-GG, Vorb. Art. 104a–115 Rn. 371 (81. Lfg. November 1997); Wernsmann, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler (Hrsg.), AO, § 3 Rn. 37 (213. Lfg. 2011). 28 Birk, Steuerrecht, 15. Aufl. 2012, Rn. 114; Waldhoff, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR V, 3. Aufl. 2007, § 116 Rn. 85. 29 Birk, Steuerrecht, 15. Aufl. 2012, Rn. 114; Vogel/Waldhoff, in: Dolzer/Vogel/Graßhof (Hrsg.), BK-GG, Vorb. Art. 104a–115 Rn. 371 (81. Lfg. November 1997); Wernsmann, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler (Hrsg.), AO, § 3 Rn. 37 (213. Lfg. 2011). 30 BVerfGE 7, 244 (251 f.); 49, 343 (353); 65, 325 (344); 92, 91 (114); 108, 1 (13). 25
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objekt 31, das Steuersubjekt, den Steuermaßstab und den Steuersatz sowie etwaige Steuerbefreiungen und regelt damit die Voraussetzungen für das Entstehen des Steueranspruchs in seiner konkreten Höhe.32 Das Bundesverfassungsgericht hingegen pflegt eine andere Terminologie. Diese variiert je nachdem, ob es den Charakter der jeweiligen Steuer als Verbrauch- oder Aufwandsteuer prüft oder aber deren Vereinbarkeit mit dem Gleichartigkeitsverbot. Im erstgenannten Fall der Charakterisierung der Steuer als Verbrauchoder Aufwandsteuer fragt das Gericht „nach ihrem Steuertatbestand, Steuermaßstab und ihrer wirtschaftlichen Auswirkung“.33 Im Gegensatz zur steuerrechtlichen Literatur behandelt es den Steuermaßstab hier also nicht als Element des Steuertatbestandes, sondern als eigene danebenstehende Größe. Bei der Prüfung der Vereinbarkeit einer Verbrauch- oder Aufwandsteuer mit dem Gleichartigkeitsverbot hebt es dagegen auf einen Vergleich der „steuerbegründenden Tatbestände“ ab.34 „Dabei ist“, so das Bundesverfassungsgericht, „neben anderen Gesichtspunkten wie Steuergegenstand, Steuermaßstab, Art der Erhebungstechnik, wirtschaftliche Auswirkungen, insbesondere darauf abzustellen, ob die eine Steuer dieselbe Quelle wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit ausschöpft wie die andere“.35 Eine ähnliche Begriffswahl pflegt das Gericht auch dort, wo es dem „Gesetzgeber bei der Auswahl des Steuergegenstandes und bei der Bestimmung des Steuersatzes einen weitreichenden Entscheidungsspielraum“ 36 zubilligt. 2. „Steuern mit örtlich bedingtem Wirkungskreis“ und Finanzreform 1969 Den Begriff der „örtlichen Verbrauch- und Aufwandsteuern“ verwendet das Grundgesetz erst seit der Finanzreform im Jahr 1969.37 Er löst die vom Bundesverfassungsgericht als „mißlungen“ 38 kritisierte Formulierung der Vorgängervorschrift des Art. 105 Abs. 2 Nr. 1 GG a.F. ab, der dem Bund die konkurrierende Gesetzgebungskompetenz über die Verbrauch- und Verkehrsteuern zuwies, aber nur „mit Ausnahme der Steuern mit örtlich bedingtem Wirkungskreis“, die er in die ausschließliche Gesetzgebungskompetenz
31 Geläufig ist auch der z.B. von Bayer, KStZ 1998, S. 1 (8) verwendete Begriff des „Steuergegenstandes“. 32 Birk, Steuerrecht, 15. Aufl. 2012, Rn. 100; Koenig, in: Pahlke/Koenig (Hrsg.), AO, 2. Aufl. 2009, § 38 Rn. 7; vgl. auch Bayer, KStZ 1998, S. 1 (7). 33 BVerfGE 14, 76 (91); siehe auch BVerfGE 123, 1 (16). 34 BVerfGE 7, 244 (260); 13, 181 (193); 40, 56 (62); 49, 343 (355); 65, 325 (351). 35 BVerfGE 65, 325 (351). 36 BVerfGE 127, 224 (245) m.w.N. 37 BVerfGE 65, 325 (345); 123, 1 (15). 38 BVerfGE 16, 306 (317).
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der Länder stellte.39 Zu den Verbrauchsteuern im Sinne des Art. 105 Abs. 2 Nr. 1 GG a.F. zählte auch die Aufwandsteuer 40, so dass sich mit ihrer ausdrücklichen Erwähnung in Art. 105 Abs. 2a Satz 1 GG keine grundlegende Neuerung ergab.41 3. Verbrauchsteuer Verbrauchsteuern im Sinne des Art. 105 Abs. 2a Satz 1 GG, auf deren Merkmale hier nicht näher einzugehen ist, definiert das Bundesverfassungsgericht als „Warensteuern, die den Verbrauch vertretbarer, regelmäßig zum baldigen Verzehr oder kurzfristigen Verbrauch bestimmter Güter des ständigen Bedarfs belasten.“42 Es macht sich ausdrücklich die in der Begründung der Bundesregierung zum Entwurf eines Finanzreformgesetzes aus dem Jahr 1954 enthaltene Begriffsbestimmung zu eigen 43 und wiederholt, anders als in der „Einwohnersteuer-Entscheidung“ 44, nicht mehr die schwer zugängliche Definition des Bundesfinanzhofs, wonach es bei Verbrauchsteuern auf „den Übergang einer Sache aus dem steuerlichen Nexus in den nichtgebundenen Verkehr“ 45 ankomme. 4. Aufwandsteuer Das Grundgesetz definiert den Begriff der Aufwandsteuer nicht, sondern setzt ihn voraus.46 Auch eine einfachgesetzliche Definition gibt es nicht, weshalb Rechtsprechung und Literatur aufgefordert sind, eine Begriffsbestimmung zu erarbeiten. Dabei lässt es sich nicht vermeiden, gelegentlich gewissermaßen in verkehrter Reihenfolge den Charakter der Aufwandsteuer mithilfe des „herkömmlichen Bild[s]“ 47 anerkannter Aufwandsteuerarten zu bestimmen.48
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BVerfGE 40, 56 (60 f.). BVerfGE 14, 76 (90); 16, 64 (74); Leibholz/Rinck, GG, 2. Aufl. 1966, Art. 105 Anm. 5. 41 BVerfGE 123, 1 (15); BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 1. März 1997 – 2 BvR 1599/89 u.a. –, NVwZ 1997, S. 573 (574). 42 BVerfGE 98, 106 (123). 43 BVerfGE 98, 106 (123 f.). 44 BVerfGE 16, 64. 45 BVerfGE 16, 64 (74) mit Verweis auf BFHE 57, 473 (489). 46 BVerfGE 65, 325 (345); 114, 316 (334). 47 BVerfGE 123, 1 (18); BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 1. März 1997 – 2 BvR 1599/89 u.a. –, NVwZ 1997, S. 573 (574). 48 Vgl. BVerfGE 14, 76 (90 f.). 40
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a) Allgemeine Aufwandsteuerformel Anders als der Begriff der „Steuern mit örtlich bedingtem Wirkungskreis“ 49 hat die Aufwandsteuer ein Vorbild im vorkonstitutionellen Recht. Sie fand sich erstmals im Preußischen Kommunalabgabengesetz vom 14. Juli 1893, das die Aufwandsteuer in § 23 Abs. 2 Satz 1 50 als Gemeindesteuer klassifizierte.51 Sie wurde auch dort nicht legaldefiniert, aber allgemein als „umfassende Einkommensverwendungsteuer“ angesehen.52 Nachdem den Ländern und Gemeinden in der Weimarer Republik die Erhebung solcher Steuern verboten worden war, die die fiskalischen Interessen des Reiches hätten beeinträchtigen können, verlor sie an Bedeutung und wurde 1921 gestrichen.53 Die Aufwandsteuern im Sinne der Finanzverfassung definiert das Bundesverfassungsgericht seit der „Einwohnersteuer-Entscheidung“ aus dem Jahr 1963 in ständiger Rechtsprechung 54 als „Steuern auf die in der Einkommensverwendung für den persönlichen Lebensbedarf zum Ausdruck kommende wirtschaftliche Leistungsfähigkeit. Maßgebend für den Charakter einer Steuer als Aufwandsteuer ist es also, daß die in der Einkommensverwendung zum Ausdruck kommende wirtschaftliche Leistungsfähigkeit getroffen werden soll“ 55 (allgemeine Aufwandsteuerformel).
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BVerfGE 16, 306 (317). § 23 Abs. 2 Satz 1 Preußisches Kommunalabgabengesetz vom 14. Juli 1893: „Die Einkommensteuer kann zum Teil durch Aufwandsteuern ersetzt werden.“ (zit. nach Grotefend/Cretschmar [Hrsg.], Preussisch-deutsche Gesetzes-Sammlung 1806–1904, Bd. I.2, 4. Aufl. 1905, S. 700). 51 Elmenhorst, Zweitwohnungsteuer und verfassungsrechtlicher Aufwandsteuerbegriff, in: Birtel/Bourgon/Merbecks (Hrsg.), Wirtschafts- und Steuerordnung auf dem Prüfstand, 1998, S. 103 (109); Küssner, Die Abgrenzung der Kompetenzen des Bundes und der Länder im Bereich der Steuergesetzgebung sowie der Begriff der Gleichartigkeit von Steuern, 1992, S. 127. 52 Küssner, Die Abgrenzung der Kompetenzen des Bundes und der Länder im Bereich der Steuergesetzgebung sowie der Begriff der Gleichartigkeit von Steuern, 1992, S. 127. 53 Elmenhorst, Zweitwohnungsteuer und verfassungsrechtlicher Aufwandsteuerbegriff, in: Birtel/Bourgon/Merbecks (Hrsg.), Wirtschafts- und Steuerordnung auf dem Prüfstand, 1998, S. 103 (109 f.). 54 BVerfGE 16, 64 (74); 49, 343 (354); 65, 325 (346); 114, 316 (334). 55 BVerfGE 16, 64 (74). Das Gericht verneinte die Qualität der dort in Rede stehenden Einwohnersteuer als Aufwandsteuer, weil sie allein auf das Wohnen in der Gemeinde abgestellt habe und nicht darauf, ob dafür finanzielle Mittel aufgewendet werden. 50
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b) Präzisierung der allgemeinen Aufwandsteuerformel aa) Das Merkmal der Besonderheit als immanenter Bestandteil der allgemeinen Aufwandsteuerformel Bei dieser allgemeinen Begriffsbestimmung ist das Bundesverfassungsgericht aber nicht stehen geblieben. Schon im „Überlingen-Beschluss“ vom 6. Dezember 1983 berief sich der Zweite Senat auf die Überlegungen Günter Schmölders’ und referierte dessen Zuspitzung des Wesens der Aufwandsteuer als Abgaben, die der Abschöpfung „jener besonderen wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit dienen, die sich in der Verwendung von Einkommensteilen für aufwendige Verbrauchsgüter oder Dienstleistungen im Bereich des persönlichen Lebensbedarfs äußert.“56 Aus dieser Erwägung destillierte Schmölders und darauf aufbauend der Zweite Senat die allgemeine Aufwandsteuerformel heraus.57 Weil sie das Kriterium der Besonderheit der zu besteuernden Leistungsfähigkeit nicht aufnimmt, gibt sie das Wesen der Aufwandsteuer aber nicht präzise wieder und kann so als Grundlage eines ausufernden Aufwandsteuerbegriffs missverstanden werden, wonach jede Einkommensverwendung für den persönlichen Lebensbedarf aufwandsteuerbar sei.58 Tatsächlich aber baut die allgemeine Aufwandsteuerformel ausweislich der im „Überlingen-Beschluss“ referierten Begriffsgenese auf dem Merkmal der Besonderheit auf, setzt dieses also als unausgesprochenes Wesensmerkmal voraus. Daran ändert auch die vom Senat für erforderlich gehaltene Justierung des Begriffs der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit nichts.59 Diese beschränkt sich darauf, die zu besteuernde Einkommensverwendung „nicht auf die Verwendung von Einkommen im steuerrechtlichen oder finanzwissenschaftlichen Sinn“ zu begrenzen, sondern auf „die Verwendung jeglicher finanzieller Mittel“ zu erstrecken und von einer Feststellung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit im Einzelfall abzusehen.60 Das wiederum erhellt, weshalb die 2. Kammer des Zweiten Senats in ihrem Beschluss vom 10. August 1989 das darin erstmals ausdrücklich in die Aufwandsteuerdefinition aufgenommene Besonderheitskriterium nicht hergeleitet, sondern hierfür allein auf den „Überlingen-Beschluss“ und die diesem vorangegangenen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts verwiesen hat.61 Auch die 1. Kammer des Ersten Senats verstand im Beschluss vom 17. Februar 2010 die „Besonderheit“ offenbar als ein die allgemeine Aufwandsteuer56
BVerfGE 65, 325 (345). BVerfGE 65, 325 (345 f.). 58 Vgl. Siekmann, in: Sachs (Hrsg.), GG, 6. Aufl. 2011, Art. 105 Rn. 39. 59 Vgl. BVerfGE 65, 325 (346). 60 BVerfGE 65, 325 (346 f.). 61 BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 10. August 1989 – 2 BvR 1532/88 –, NVwZ 1989, S. 1152 (1152). 57
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formel nicht ergänzendes, sondern dieser seit jeher immanentes, wenn auch unausgesprochenes Kriterium. Im Anschluss an die Präsentation der allgemeinen Aufwandsteuerdefinition62 schloss sie mit der Feststellung, danach sei „deutlich, dass Belastungsgrund für den steuerbaren Aufwand allein der im Konsum bestimmter Güter zum Ausdruck kommende äußere Eindruck einer besonderen Leistungsfähigkeit ist, ohne Rücksicht auf den persönlichen Anlass, den Grund oder das Motiv für den betriebenen Aufwand.“63 Danach beschränken sich die Unterschiede zwischen der allgemeinen Aufwandsteuerformel des Bundesverfassungsgerichts und der von ihm nur gelegentlich64 verwendeten Definition unter Zuhilfenahme des Besonderheitskriteriums auf den Sprachgebrauch. Inhaltliche Differenzen gibt es nicht. bb) Die „Besonderheit“ und ihre Folgen Das auch von den Fachgerichten in ständiger Rechtsprechung 65 anerkannte Kriterium der Besonderheit des Aufwands bewirkt, dass nicht jede Einkommensverwendung für den persönlichen Lebensbedarf aufwandbesteuert werden kann, sondern nur eine gehobene, „also eine über die Befriedigung des allgemeinen Lebensbedarfs hinausgehende Verwendung von Einkommen oder Vermögen“66. Damit ist die Aufwandsteuer eine qualifizierte Einkommensverwendungsteuer, die nur eine gesteigerte Leistungsfähigkeit anzapft. Besonders kostspielig oder luxuriös muss der Aufwand dabei nicht sein.67 Die praktische Bedeutung des Besonderheitskriteriums zeigt sich eindrucksvoll am Modell der allgemeinen Wohnungsteuer, die das preußische Recht als Aufwandsteuer kannte68, und die als solche auch unter Art. 105
62 BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 17. Februar 2010 – 1 BvR 2664/09 –, NVwZ-RR 2010, S. 457 (458, Rn. 50). 63 BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 17. Februar 2010 – 1 BvR 2664/09 –, NVwZ-RR 2010, S. 457 (458, Rn. 51). 64 BVerfGK 17, 44 (50); BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 10. August 1989 – 2 BvR 1532/88 –, NVwZ 1989, S. 1152 (1152); Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 1. März 1997 – 2 BvR 1599/89 u.a. –, NVwZ 1997, S. 573 (575); Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 17. Februar 2010 – 1 BvR 2664/09 –, NVwZ-RR 2010, S. 457 (458, Rn. 51). 65 Siehe nur BVerwGE 99, 303 (304 f.); 143, 301 (303, Rn. 13); BVerwG, Urteil vom 29. November 1991 – BVerwG 8 C 107.89 –, NVwZ 1992, S. 1098 (1098); Urteil vom 6. Dezember 1996 – BVerwG 8 C 49.95 –, NVwZ 1998, S. 178 (178); Urteil vom 17. September 2008 – BVerwG 9 C 17.07 –, NJW 2009, S. 1097 (1098, Rn. 15); BFH, Urteil vom 17. Februar 2010 – II R 5/08 –, NVwZ 2010, S. 1047 (1048, Rn. 14). 66 BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 10. August 1989 – 2 BvR 1532/88 –, NVwZ 1989, S. 1152 (1152). 67 BVerwGE 143, 301 (304, Rn. 15); BFH, Urteil vom 17. Februar 2010 – II R 5/08 –, NVwZ 2010, S. 1047 (1048, Rn. 16). 68 Küssner, Die Abgrenzung der Kompetenzen des Bundes und der Länder im Bereich der Steuergesetzgebung sowie der Begriff der Gleichartigkeit von Steuern, 1992, S. 127.
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Abs. 2a Satz 1 GG zulässig wäre, wenn es allein „auf die in der Einkommensverwendung für den persönlichen Lebensbedarf zum Ausdruck kommende wirtschaftliche Leistungsfähigkeit“69 ankäme. Einem so weitreichenden Verständnis vom steuerbaren Aufwand hat sich das Bundesverwaltungsgericht unter Berufung auf den Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 10. August 1989 jedoch entgegengestellt. Die Inanspruchnahme von (Erst-) Wohnraum sei nicht aufwandsteuerbar, weil Wohnen ein Grundbedürfnis sei und deshalb mit dem Innehaben einer Erstwohnung nicht die erforderliche gesteigerte Leistungsfähigkeit besteuert werde.70 Diese Schlussfolgerung zog am 17. Februar 2010 auch die 1. Kammer des Ersten Senats, als sie mit Blick auf das Besonderheitskriterium eine „Abgrenzung zwischen Erst- und Zweitwohnung“ als notwendig ansah.71 cc) Stillschweigende Aufgabe des Besonderheitskriteriums? Weil das Bundesverfassungsgericht das Besonderheitskriterium nur gelegentlich und, soweit ersichtlich, allein in vier Kammerentscheidungen ausdrücklich hervorgehoben hat, wird bezweifelt, ob es hierin überhaupt noch ein Wesensmerkmal der Aufwandsteuer sieht. Namentlich dem Beschluss des Ersten Senats vom 11. Oktober 2005 betreffend die Zweitwohnungsteuersatzungen der Städte Hannover und Dortmund, der nicht explizit auf die Besonderheit des Aufwands abgestellt hatte 72, entnimmt Helmut Siekmann die Tendenz des Gerichts zum Verzicht auf dieses Merkmal.73 Tatsächlich rückt das Bundesverfassungsgericht die Besonderheit des Aufwands nur sporadisch ins Licht. Hieraus folgt aber nicht, dass es das Besonderheitskriterium als Element des Aufwandsteuerbegriffs aufgegeben hat. Dagegen spricht bereits dessen Genese, nach der das Merkmal der Besonderheit eine der allgemeinen Aufwandsteuerformel des Bundesverfassungsgerichts seit jeher immanente, wenngleich häufig ungeschriebene Komponente ist. Zudem zitierte der von Siekmann herangezogene Beschluss des Ersten Senats vom 11. Oktober 2005 ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichts, das wiederum einen besonderen Aufwand verlangt hatte.74 Im Beschluss des Ersten Senats vom 4. Februar 2009 fehlte dann zwar jeder Hinweis auf das Besonderheitskriterium75, aber es fand ein Jahr später wieder
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BVerfGE 65, 325 (346). BVerwG, Urteil vom 29. November 1991 – BVerwG 8 C 107.89 –, NVwZ 1992, S. 1098 (1098 f.). 71 BVerfGK 17, 44 (50). 72 BVerfGE 114, 316 (334). 73 Siekmann, in: Sachs (Hrsg.), GG, 6. Aufl. 2011, Art. 105 Rn. 39. 74 BVerfGE 114, 316 (334) mit Verweis auf BVerwG, Urteil vom 6. Dezember 1996 – BVerwG 8 C 49.95 –, NVwZ 1998, S. 178 (178). 75 BVerfGE 123, 1 (15). 70
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Eingang in gleich zwei Kammerbeschlüsse.76 Anlass für ein Neujustieren des Aufwandsteuerbegriffs bestand seither nicht, so dass ihm das Kriterium der Besonderheit nach wie vor immanent ist. Gleichwohl ist im Interesse der Rechtssicherheit zu wünschen, dass das Bundesverfassungsgericht auf die Irritationen infolge seiner uneinheitlichen Terminologie und die daran anknüpfende Kritik an der letztlich unzureichenden allgemeinen Aufwandsteuerformel 77 reagiert und, wie von den Fachgerichten bereits praktiziert, sich konsequent und ausdrücklich zum weichenstellenden Besonderheitskriterium bekennt. dd) Besonderer Aufwand als Indikator der besonderen wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit Das Bundesverfassungsgericht verlangt von den Ländern und Gemeinden nicht, sicherzustellen, dass die gesteigerte wirtschaftliche Leistungsfähigkeit in jedem Einzelfall vorliegt, sondern gestattet ihnen die Typisierung.78 Wegen „der Vielfalt der wirtschaftlichen Vorgänge und rechtlichen Gestaltungsmöglichkeiten wäre die Erhebung einer Steuer, die nicht an die Entstehung des Einkommens, sondern an dessen Verwendung anknüpft, nicht praktikabel, wenn in jedem Fall die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des Steuerpflichtigen festgestellt werden müßte. Ausschlaggebendes Merkmal ist der Konsum in Form eines äußerlich erkennbaren Zustandes, für den finanzielle Mittel verwendet werden. Der Aufwand im Sinne von Konsum“, so das Bundesverfassungsgericht weiter, „ist typischerweise Ausdruck und Indikator der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit, ohne daß es darauf ankäme, von wem und mit welchen Mitteln dieser finanziert wird und welchen Zwecken er des Näheren dient. Im Konsum äußert sich in der Regel die Leistungsfähigkeit. Ob der Aufwand im Einzelfall die Leistungsfähigkeit überschreitet, ist für die Steuerpflicht unerheblich.“79 Maßgeblich ist also der objektive Vorgang eines besonderen Aufwandes, von dem regelhaft auf eine gesteigerte wirtschaftliche Leistungsfähigkeit geschlossen werden kann. Zwar entbindet das Bundesverfassungsgericht sich und die Fachgerichte damit ein Stück weit von der Pflicht zur Prüfung, ob tatsächlich eine aufwandsteuerwürdige gesteigerte Leistungsfähigkeit vorliegt. Einen Zirkel-
76 BVerfGK 17, 44 (50); BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 17. Februar 2010 – 1 BvR 2664/09 –, NVwZ-RR 2010, S. 457 (458). 77 Siekmann, in: Sachs (Hrsg.), GG, 6. Aufl. 2011, Art. 105 Rn. 39. 78 Wernsmann, Möglichkeiten und Grenzen der gemeindlichen Steuerautonomie: Steuererfindungsrechte sowie örtliche Aufwand- und Verbrauchsteuern, in: Wieland (Hrsg.), Kommunalsteuern und -abgaben, 2012, S. 95 (110) nimmt sogar eine „gesetzgeberische Typisierungspflicht“ an. 79 BVerfGE 65, 325 (347 f.); siehe auch BVerfGE 114, 316 (334); BVerfGK 17, 44 (47 f.).
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schluss 80 vollzieht es aber nicht. Der Gesetz- beziehungsweise Satzungsgeber hat bei der Auswahl des Aufwandsteuergegenstandes einen Gestaltungsspielraum 81 und darf typisieren. Dabei aber müssen „die steuerlichen Vorteile der Typisierung im rechten Verhältnis zu der mit der Typisierung notwendig verbundenen Ungleichheit der steuerlichen Belastung stehen […]. Außerdem darf eine gesetzliche Typisierung keinen atypischen Fall als Leitbild wählen, sondern muss sich realitätsgerecht am typischen Fall orientieren“.82 Der Gesetz- beziehungsweise Satzungsgeber muss also sorgfältig prüfen, ob der von ihm gewählte Steuergegenstand regelhaft einen besonderen Aufwand erfasst, der seinerseits die mit der Aufwandsteuer zu treffende besondere wirtschaftliche Leistungsfähigkeit objektiv zum Ausdruck bringt. Unterläuft ihm dabei ein Fehler mit der Folge, dass eine gesteigerte wirtschaftliche Leistungsfähigkeit in nicht nur atypischen Fällen verfehlt wird 83, bewegt er sich – anders als bei einer bloßen Überhöhung oder untauglichen Bemessung der Steuer 84 – außerhalb der Kompetenzgrundlage des Art. 105 Abs. 2a Satz 1 GG.85 Nicht anders ist die Typisierungsformel des „Überlingen-Beschlusses“ zu verstehen, denn das Bundesverfassungsgericht sah dort ein Fehlen oder Überschreiten der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit nur „im Einzelfall“ als unschädlich an.86
80 Siekmann, in: Sachs (Hrsg.), GG, 6. Aufl. 2011, Art. 105 Rn. 39: Die Definition des Bundesverfassungsgerichts habe „keine abgrenzende Kraft mehr“ und grenze „an einen Zirkelschluss“. 81 Siehe dazu BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 3. Mai 2001 – 1 BvR 624/00 –, NVwZ 2001, S. 1264 (1264). 82 BVerfGE 123, 1 (19) m.w.N. 83 Einen Grenzbereich illustriert der Streit, ob das Innehaben einer Zweitwohnung durch Studierende auch dann noch typischerweise Ausdruck einer besonderen wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit ist, wenn diese ihren Erstwohnsitz in der elterlichen Wohnung haben, für diese typischerweise keine finanziellen Mittel aufwenden und die Zweitwohnung für sie daher die erste mit eigenen Mitteln gehaltene Wohnung ist: bejahend BVerfGK 17, 44 (52 f.); BVerwG, Urteil vom 17. September 2009 – BVerwG 9 C 17.07 –, NJW 2009, S. 1097 (1098 f., Rn. 15–18); a.A. Manten, LKRZ 2009, S. 201 (202 ff.); Wernsmann, Jura 2000, S. 175 (177 f.); ders., RdJB 2009, S. 500 (503); krit. auch Siekmann, in: Sachs (Hrsg.), GG, 6. Aufl. 2011, Art. 105 Rn. 40. 84 Siehe dazu BVerfGE 123, 1 (18), wo das Bundesverfassungsgericht die Irrelevanz eines fehlerhaften Steuermaßstabs für die Einordnung einer Spielgerätesteuer (Vergnügungsteuer) als Aufwandsteuer unter der Voraussetzung feststellte, dass der Steuermaßstab den Typus der Steuer nicht verändert, weil er „dem herkömmlichen Bild der Vergnügungsteuer“ entspricht. 85 Vgl. BVerwGE 143, 216 (217, Rn. 8); a.A. Wernsmann, Möglichkeiten und Grenzen der gemeindlichen Steuerautonomie: Steuererfindungsrechte sowie örtliche Aufwand- und Verbrauchsteuern, in: Wieland (Hrsg.), Kommunalsteuern und -abgaben, 2012, S. 95 (102). 86 BVerfGE 65, 325 (348).
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c) Kammerbeschluss vom 10. August 1989: Aufwandsteuerpflicht von Gemeinden? Die eigenständige Bedeutung des Zuschnitts der aufwandsteuerbaren Einkommensverwendung auf den „persönlichen Lebensbedarf“ illustriert der Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 10. August 1989. Dieser hatte eine Aufwandsteuer in Gestalt der Jagdsteuer zum Gegenstand. Der beschwerdeführende Jagdpächter rügte eine Verletzung des allgemeinen Gleichheitssatzes aus Art. 3 Abs. 1 GG wegen der Unterscheidung zwischen privaten Eigenjagdbezirken und Jagdbezirken der Gebietskörperschaften bei der Jagdwertermittlung. Der Kammerbeschluss enthält keine explizite Aussage zur Aufwandsteuerpflicht von Gebietskörperschaften, sondern nur zum allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG), dessen Verletzung die Kammer verneinte. Dabei sah sie die Rechtfertigung der Ungleichbehandlung der Jagdsteuerschuldner in der atypischen Konstellation, dass Gemeinden „grundsätzlich Steuergläubiger“ seien und sich damit „rechtserheblich von den übrigen Steuerschuldnern“ unterschieden.87 Wie das Bundesverwaltungsgericht mit Urteil vom 27. Juni 201288 entschieden hat, ist der Beschluss vom 10. August 1989 aber nicht so zu verstehen, dass die Kammer implizit die Fähigkeit von Gemeinden anerkannt hätte, einen steuerbaren Aufwand zu betreiben. Die Kammer konnte die Aufwandsteuerpflicht von Gemeinden nicht bejahen, weil Gemeinden finanzielle Mittel nicht für ihren persönlichen Lebensbedarf verwenden, sondern in Erfüllung öffentlich-rechtlicher Aufgaben tätig werden.89 Ihre Aufwandsteuerpflicht könnte deshalb nur anerkannt werden, wenn entgegen der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts die „Einkommensverwendung für die Erfüllung öffentlicher Aufgaben“ in den Aufwandsteuerbegriff einbezogen würde.90 Dieser Schritt wäre aber von der Entscheidungskompetenz der Kammer nicht gedeckt gewesen (vgl. § 93b Abs. 2 Satz 1 BVerfGG a.F.91). Anders als der Kammerbeschluss vom 10. August 1989 nahelegen könnte, sind Gemeinden also nicht aufwandsteuerpflichtig, weil sie finanzielle Mittel nicht für den persönlichen Lebensbedarf verwenden.
87 BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 10. August 1989 – 2 BvR 1532/88 –, NVwZ 1989, S. 1152 (1152). 88 BVerwGE 143, 216. 89 BVerwGE 143, 216 (218, Rn. 10). 90 BVerwGE 143, 216 (219, Rn. 11). 91 § 93b Abs. 2 Satz 1 BVerfGG i.d.F. vom 12. Dezember 1985.
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d) Aufwandsteuerbarkeit von Erwerbsvorgängen Das Kriterium der Einkommensverwendung unterscheidet die Aufwandsteuer von Einkommenserzielung- und Vermögensbestandsteuern.92 Eine eindeutige Abgrenzung ist jedoch nicht immer möglich. Probleme bereiten, wie jüngst bei der Bettensteuer93, Mischfälle der „Einkommensverwendung zum Zweck der Einkommenserzielung“. Die Zuordnung zur Einkommensverwendung oder zur Einkommenserzielung kann entweder anhand einer wertenden Gesamtbetrachtung erfolgen oder über eine Kategorisierung, die den Vorgang ohne Wertung von vornherein einer bestimmten Ebene zuweist. Die fachgerichtliche Kasuistik ist vielfältig. Das Bundesverwaltungsgericht hat einen steuerbaren Aufwand z.B. beim Innehaben einer „Erwerbszweitwohnung“ 94 bejaht 95, ihn hingegen beim Halten einer als reine Kapitalanlage dienenden Zweitwohnung96, eines Diensthundes 97 und bei berufsbedingten entgeltlichen Übernachtungen in Beherbergungsbetrieben (Bettensteuer)98 verneint. Auch der Heranziehung einer juristischen Person zur Zweitwohnungsteuer hat es sich entgegengestellt, weil deren Aufwand mangels Privatsphäre ihrer Geschäftstätigkeit und damit der Einkommenserzielung zuzuordnen sei.99 aa) Referenzgebiet Zweitwohnungsteuer Eine eindeutige Methodik des Bundesverfassungsgerichts bei der Einordnung der Mischfälle der „Einkommensverwendung zur Einkommenserzielung“ ist auf den ersten Blick nicht erkennbar. Deshalb lohnt eine nähere Untersuchung seiner Rechtsprechung mit dem Ziel, das verbindende Element und damit ein verallgemeinerungsfähiges Zuordnungskriterium herauszufiltern. Als Referenzgebiet ist dabei allein die Zweitwohnungsteuer in den Blick zu nehmen, weil das Gericht nur hier über Mischfälle zu entscheiden hatte. Rainer Wernsmann weist zwar zutreffend darauf hin, dass es im „Ökosteuer-Urteil“ die Belastung eines gewerblichen Verbrauchers mit einer Verbrauchsteuer, die ebenso wie die Aufwandsteuer die in der Einkommens- und
92 Wernsmann, Möglichkeiten und Grenzen der gemeindlichen Steuerautonomie: Steuererfindungsrechte sowie örtliche Aufwand- und Verbrauchsteuern, in: Wieland (Hrsg.), Kommunalsteuern und -abgaben, 2012, S. 95 (101). 93 Siehe BVerwGE 143, 301 (304 ff., Rn. 16 ff.). 94 Krit. ggü. dieser Begriffsschöpfung des Bundesverwaltungsgerichts: Elmenhorst, ZKF 2001, S. 126 (128). 95 BVerwGE 111, 122 (126). 96 BVerwGE 99, 303 (305). 97 BVerwG, Urteil vom 16. Mai 2007 – BVerwG 10 C 1.07 –, NVwZ 2008, S. 91 (92). 98 BVerwGE 143, 301 (304 ff., Rn. 16 ff.). 99 BVerwG, Urteil vom 27. September 2000 – BVerwG 11 C 4.00 –, NVwZ 2001, S. 439 (440).
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Vermögensverwendung gezeigte steuerliche Leistungsfähigkeit abschöpft100, nicht beanstandet hat.101 Allerdings hat sich das Bundesverfassungsgericht dabei im Kern nur zur Möglichkeit der wirtschaftlichen Abwälzbarkeit verhalten und nicht explizit zu der Frage, inwieweit Vorgänge der Einkommenserzielung überhaupt verbrauch- beziehungsweise aufwandsteuerbar sind. aaa) „Überlingen-Beschluss“ vom 6. Dezember 1983: Erwerbszweitwohnungen Erstmals im „Überlingen-Beschluss“ setzte sich der Zweite Senat ausdrücklich damit auseinander, ob Vorgänge des Erwerbslebens aufwandsteuerbar sind. Mit Blick auf aus beruflichen Gründen gehaltene Zweitwohnungen stellte er sich auf den Standpunkt, dass es für den steuerbaren Konsum nicht darauf ankomme, „welchen Zwecken er des Näheren dient“.102 Entscheidend sei allein das objektive Moment des Konsums, das auch im Halten einer Erwerbszweitwohnung verwirklicht werde. Daran anknüpfend stellte er einen Verstoß gegen den Grundsatz der Steuergerechtigkeit (Art. 3 Abs. 1 GG) fest, weil die Überlinger Zweitwohnungsteuersatzung eine Ausnahme von der Zweitwohnungsteuerpflicht für diejenigen vorgesehen hatte, die aus beruflichen Gründen oder zu Ausbildungszwecken in der Stadt wohnen. Dies sei eine sachwidrige Ungleichbehandlung aller Aufwandsteuerpflichtigen: „Das Wesen der Aufwandsteuer schließt es aber aus, für die Steuerpflicht von vornherein auf eine wertende Berücksichtigung der Absichten und verfolgten ferneren Zwecke, die dem Aufwand zugrunde liegen, abzustellen. Maßgeblich darf allein der isolierte Vorgang des Konsums als Ausdruck und Indikator der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit sein. Die unterscheidende Berücksichtigung der Gründe für den Aufenthalt zum Zwecke der Abgrenzung des Kreises der Steuerpflichtigen ist damit im Rahmen der Aufwandsteuer ein sachfremdes Kriterium und hat vor Art. 3 Abs. 1 GG keinen Bestand.“103 bbb) Kammerbeschluss vom 29. Juni 1995: Kapitalanlagewohnungen Mit Beschluss vom 29. Juni 1995 widmete sich die 1. Kammer des Ersten Senats der Frage nach der Zweitwohnungsteuerpflicht bei Kapitalanlagewohnungen. Die Beschwerdeführerinnen waren Eigentümerinnen von Ferien-
100 BVerfGE 110, 274 (297); Pieroth, in: Jarass/Pieroth (Hrsg.), GG, 12. Aufl. 2012, Art. 105 Rn. 27. 101 BVerfGE 110, 274 (295 f.); Wernsmann, NVwZ 2013, S. 124 (125). Soweit Wernsmann außerdem auf die Kfz-Steuer abhebt, muss er sich aber entgegenhalten lassen, dass – worauf er selbst aufmerksam macht – der Bundesfinanzhof diese Steuer nicht als Verbrauch- beziehungsweise Aufwandsteuer qualifiziert (Urteil vom 27. Juni 1973 – II R 179/71 –, NJW 1974, S. 471 [471 f.]). 102 BVerfGE 65, 325 (347). 103 BVerfGE 65, 325 (357); krit. J. Ipsen, Der Gemeindehaushalt 1984, S. 49 (49).
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wohnungen auf Amrum und Föhr. Die Zweitwohnungsteuersatzungen legten als Steuergegenstand jeweils das „Innehaben einer Zweitwohnung im Gemeindegebiet“ fest (§ 2 Abs. 1 der Satzungen) und definierten die Zweitwohnung als „jede Wohnung, die jemand neben seiner Hauptwohnung für seinen persönlichen Lebensbedarf oder den persönlichen Lebensbedarf seiner Familienmitglieder innehat. Eine Wohnung verliert die Eigenschaft einer Zweitwohnung nicht dadurch, daß ihr Inhaber sie zeitweilig zu anderen als den vorgenannten Zwecken nutzt“ (§ 2 Abs. 2 der Satzungen).104 Das jeweils beklagte Amt zog die Beschwerdeführerinnen zur Zweitwohnungsteuer heran, weil ihnen eine ganzjährige Vermietung nicht gelungen sei und sie in der vermietungsfreien Zeit die Möglichkeit zur Eigennutzung gehabt hätten. Die Kammer gab den Verfassungsbeschwerden wegen einer Verletzung des Grundrechts aus Art. 2 Abs. 1 GG statt. Zwar sei das Heranziehen der Beschwerdeführerinnen zur Zweitwohnungsteuer, soweit die Zweitwohnungen keine reine Kapitalanlage seien, sondern dem persönlichen Lebensbedarf dienen, verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Es sei jedoch unverhältnismäßig, an den fehlenden Nachweis der ganzjährigen Vermietung die unwiderlegbare Vermutung der Nutzung für den persönlichen Lebensbedarf zu knüpfen und daraus die Zweitwohnungsteuerpflicht abzuleiten.105 Diese Begründung ist bemerkenswert. Die Kammer argumentierte nicht damit, dass das Halten einer reinen Kapitalanlagewohnung trotz der damit einhergehenden Einkommensverwendung in Gestalt des Aufbringens der Haltungskosten dem Schwerpunkt nach ein Vorgang der Einkommenserzielung sei. Vielmehr verneinte sie, insoweit vom Satzungstext ausgehend, nur die Zurechnung zum persönlichen Lebensbedarf. ccc) Senatsbeschluss vom 11. Oktober 2005: Ehegattenerwerbszweitwohnungen Mit Beschluss vom 11. Oktober 2005 betreffend die Zweitwohnungsteuersatzungen der Städte Hannover und Dortmund schrieb der Erste Senat die Zweitwohnungsteuerrechtsprechung des Zweiten Senats fort, schränkte sie an entscheidender Stelle aber auch ein. (1) Bekenntnis zur Maßgeblichkeit des objektiven Konsumgeschehens Zunächst wiederholte der Senat die im „Überlingen-Beschluss“ herausgehobene Unbeachtlichkeit des mit dem besteuerten Aufwand verfolgten Zwecks. Erklärend fügte er die aufschlussreiche Aussage hinzu, es sei uner104
Zit. nach BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 29. Juni 1995 – 1 BvR 1800/94 u.a. –, NVwZ 1996, S. 57 (57). 105 BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 29. Juni 1995 – 1 BvR 1800/94 u.a. –, NVwZ 1996, S. 57 (58).
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heblich, „[d]ass das Innehaben der Zweitwohnung durch die Berufsausübung an einem anderen Ort als dem der Hauptwohnung veranlasst worden ist und daher die Kosten der Zweitwohnung bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 5 EStG als Werbungskosten geltend gemacht werden können“.106 (2) Teilweise Einschränkung des „Überlingen-Diktums“ Die zentrale Aussage des Zweiten Senats im „Überlingen-Beschluss“, das Halten von Erwerbszweitwohnungen sei aufwandsteuerbar und dürfe wegen Art. 3 Abs. 1 GG nicht von der Zweitwohnungsteuerpflicht ausgenommen werden, schränkte der Erste Senat mit Blick auf Ehegatten ein: „Die Erhebung der Zweitwohnungsteuer auf die Innehabung von Erwerbszweitwohnungen durch Verheiratete stellt eine gegen Art. 6 Abs. 1 GG verstoßende Diskriminierung der Ehe dar.“107 Das Innehaben einer Zweitwohnung sei „die notwendige Konsequenz der Entscheidung zu einer gemeinsamen Ehewohnung an einem anderen Ort“. Dabei zwinge das Melderecht die Ehegatten, sogar eine vorwiegend genutzte Wohnung am Beschäftigungsort als Zweitwohnsitz anzumelden, mit der Folge, dass sie anders als Nichtverheiratete der Aufwandsteuerpflicht nicht durch Verlegung ihres Hauptwohnsitzes entgehen könnten.108 (3) Einblick in den Belastungsgrund Aufschlussreich ist der Beschluss vom 11. Oktober 2005 auch deshalb, weil der Erste Senat offenlegte, worin er den besonderen Aufwand des Haltens der Erwerbszweitwohnung sah, wohingegen ihn der Zweite Senat im „Überlingen-Beschluss“ nur apodiktisch behauptet hatte. „Indem die Zweitwohnungsteuer an das Halten einer Wohnung anknüpft, die im melderechtlichen Sinne eine Zweitwohnung ist, liegt ihr daher“, so der Erste Senat, „ein Steuergegenstand zugrunde, in dem sich das eheliche Zusammenleben in spezifischer Weise verwirklicht. Steuerlich belastet wird die Entscheidung, die gemeinsame eheliche Wohnung nicht aufzulösen und bei Wahrung des Fortbestands der gemeinsamen Wohnung am bisherigen Ort nur eine Zweitwohnung zu begründen. […] Von der steuerlichen Belastung durch die Zweitwohnungsteuer werden solche Personen nicht erfasst, die nicht infolge einer ehelichen Bindung von der Verlegung ihres Hauptwohnsitzes an ihren Beschäftigungsort abgehalten werden.“109 106 BVerfGE 114, 316 (334); wiederholt in BVerfGK 17, 44 (48); BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 17. Februar 2010 – 1 BvR 2664/09 –, NVwZ-RR 2010, S. 457 (458, Rn. 50). 107 BVerfGE 114, 316 (335). 108 BVerfGE 114, 316 (336). 109 BVerfGE 114, 316 (336).
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Der Senat verschränkte den kompetenzrechtlichen Aufwandbegriff mit einer wertenden Betrachtung im Lichte des Art. 6 Abs. 1 GG und formte daraus der Sache nach das „vermeidbare Innehaben einer Zweitwohnung“ als allein zulässigen Steuergegenstand.110 Damit verschob er den Anknüpfungspunkt der Zweitwohnungsteuer vom objektiven Innehaben einer (Erwerbs-) Zweitwohnung hin zum subjektiven Verzicht auf das mögliche und zumutbare Aufgeben oder Verlegen des Erstwohnsitzes. Vor diesem Hintergrund wird im Beschluss vom 11. Oktober 2005 die Abkehr von der im „Überlingen-Beschluss“ herausgearbeiteten These von der Unbeachtlichkeit des mit dem Aufwand verfolgten Zwecks gesehen.111 Das ist insofern richtig, als der Erste Senat erstmals die Berücksichtigung der subjektiven Komponente des Innehabens der Zweitwohnung insoweit verlangte, als eine eheliche Entscheidung dahintersteht. Diese Ausnahme folgte aber aus dem besonderen Schutz von Ehe und Familie gemäß Art. 6 Abs. 1 GG, also aus grundrechtlichen Erwägungen. Eine grundlegende Neuausrichtung des kompetenzrechtlichen Begriffs des Aufwands im Sinne des Art. 105 Abs. 2a Satz 1 GG ging damit nicht einher; vielmehr hielt der Senat ausdrücklich an der Maßgeblichkeit des objektiven Konsumgeschehens für die Feststellung des Aufwandes fest.112 Gleichwohl zeigt diese Senatsentscheidung, dass die verfassungsrechtliche Rechtfertigung der Zweitwohnungbesteuerung nicht gänzlich ohne Rücksicht auf subjektive Umstände auskommt. bb) Folgerung: Abgrenzung über das Unmittelbarkeitskriterium Das Bundesverfassungsgericht legt seiner Rechtsprechung zur Aufwandsteuerbarkeit des Innehabens einer (Erwerbs-)Zweitwohnung keine einheitliche Begründungsstruktur zugrunde. Dennoch lässt sich ein verbindendes Element ausmachen. Erhellend ist dabei die erstmals im Senatsbeschluss vom 11. Oktober 2005 getroffene und in zwei Kammerbeschlüssen aus dem Jahr 2010 wiederholte Feststellung, dass das Innehaben einer Zweitwohnung selbst dann aufwandsteuerbar sei, wenn die hierfür verwendeten finanziellen Mittel gemäß § 9 Abs. 1 EStG als Werbungskosten abgesetzt werden könnten113, sie also der Einnahmeerzielung dienten114. Das Bundesverfassungsgericht grenzt die Aufwandsteuer von Einkommenserzielungsteuern also
110 BVerwGE 143, 301 (305, Rn. 17); Betzinger/Müller, KStZ 2012, S. 101 (104); Waldhoff, JZ 2013, S. 49 (50). 111 Groh, FR 2007, S. 334 (336 f.); Oelschläger, DStR 2008, S. 590 (591). 112 BVerfGE 114, 316 (334). 113 BVerfGE 114, 316 (334); wiederholt in BVerfGK 17, 44 (48); BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 17. Februar 2010 – 1 BvR 2664/09 –, NVwZ-RR 2010, S. 457 (458, Rn. 50). 114 Thürmer, in: Blümich (Hrsg.), EStG/KStG/GewStG, § 9 EStG Rn. 101 (121. Erg.Lfg. 2014).
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offenbar über das Kriterium der Unmittelbarkeit ab. Es ordnet die „Einkommensverwendung zum Zweck der Einkommenserzielung“ kategorisch der Aufwandbesteuerung zu. Nur die eigentliche Einkommenserzielung, d.h. den Einkommenszufluss, weist es von vornherein der Einkommenserzielungbesteuerung zu. In dieses Bild passen seine Aussagen von der Unbeachtlichkeit des mit dem Aufwand verfolgten Zwecks115 und die Entscheidung zur Kapitalanlagezweitwohnung. Kapitalanlagewohnungen ermöglichen keine unmittelbare Einkommenserzielung, sondern nur mittels einer gleichzeitigen Einkommensverwendung in Gestalt der Haltungskosten. Die Aufwandsteuerpflicht hat das Bundesverfassungsgericht hier nicht mangels Einkommensverwendung verneint, sondern mangels Zurechenbarkeit zum persönlichen Lebensbedarf, den es offenbar als Eigennutzungskriterium versteht.116 Das Gericht zieht dabei aber nicht in Erwägung, dass dem Merkmal des persönlichen Lebensbedarfs aus guten Gründen eine darüber hinausgehende Steuerungsfunktion dergestalt beigemessen werden kann, dass es in Kombination mit dem Einkommensverwendungskriterium die Aufwandsteuer auf die rein private Lebensführung in Abgrenzung zum Erwerbsleben ausrichtet und damit zur Einordnung der Mischfälle eine wertende Gesamtbetrachtung erforderlich macht.
III. Örtlichkeit Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Kriterium der Örtlichkeit 117 ist von Kontinuität geprägt. Den Vorgängerbegriff des „örtlich bedingten Wirkungskreises“ im Sinne des Art. 105 Abs. 2 Nr. 1 GG a.F. hatte es im „Getränke- und Speiseeissteuer-Beschluss“ grundsätzlich geklärt. Verbrauch- und Verkehrsteuern mit örtlich bedingtem Wirkungskreis seien nur solche Steuern, „die an örtliche Gegebenheiten, vor allem an die Belegenheit einer Sache oder an einen Vorgang, im Gebiet der steuererhebenden Gemeinde anknüpfen und wegen der Begrenzung ihrer unmittelbaren Wirkungen auf das Gemeindegebiet nicht zu einem die Wirtschaftseinheit berühren-
115 BVerfGE 65, 325 (347, 357); 114, 316 (334); BVerfGK 17, 44 (48); BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 17. Februar 2010 – 1 BvR 2664/09 –, NVwZ-RR 2010, S. 457 (458, Rn. 50). 116 Vgl. BVerfGE 114, 313 (334); BVerfGK 17, 44 (48); BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 29. Juni 1995 – 1 BvR 1800/94 u.a. –, NVwZ 1996, S. 57 (58); Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 17. Februar 2010 – 1 BvR 2664/09 –, NVwZ-RR 2010, S. 457 (458, Rn. 50). 117 Zur jüngsten Diskussion über die Örtlichkeit der Hundesteuer siehe (bejahend) BVerwG, Beschluss vom 25. April 2013 – BVerwG 9 B 41.12 –, NVwZ 2013, S. 1426 (1427); a.A. Decker, KStZ 2012, S. 66 ff.; siehe auch Selmer, JuS 2014, S. 188 (189).
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den Steuergefälle führen können.“118 An dieser Definition hält es auch für das von Art. 105 Abs. 2a Satz 1 GG verwendete Kriterium der Örtlichkeit, das sich inhaltlich nicht vom Begriff des „örtlich bedingten Wirkungskreises“ unterscheidet 119, fest.120
IV. Gleichartigkeitsverbot Die ausschließliche Gesetzgebungskompetenz des Art. 105 Abs. 2a Satz 1 GG für die örtlichen Verbrauch- und Aufwandsteuern steht den Ländern nur zu, „solange und soweit sie nicht bundesgesetzlich geregelten Steuern gleichartig sind“. Die Reichweite dieses Gleichartigkeitsverbots ist nach wie vor nicht geklärt. 1. Der „herkömmliche Gleichartigkeitsbegriff“ Das Verbot der Gleichartigkeit von Steuern ist ein Traditionsbegriff des deutschen Steuerrechts, der auf § 2 Abs. 1 des Finanzausgleichsgesetzes vom 27. April 1926121 zurückgeht und dem das Bundesverfassungsgericht nicht nur „unter der Geltung der Weimarer Reichsverfassung eindeutig verfassungsrechtlichen Bezug“ zuspricht, sondern den es auch als ungeschriebenes gesetzgebungskompetenzbegrenzendes Merkmal in Art. 72 Abs. 1 GG hineinliest.122 Der Gehalt dieses „herkömmlichen Gleichartigkeitsbegriffs“123 wird nicht nur in der Steuerrechtswissenschaft seit jeher kontrovers diskutiert124, sondern hat auch dem Bundesverfassungsgericht einige Mühe bereitet. Seine Rechtsprechung hierzu ist nur insoweit konstant, als es in einen „Vergleich der steuerbegründenden Tatbestände“125 eintritt. Die dabei anzulegenden Prüfparameter hat es jedoch, wie der Zweite Senat im Beschluss vom 4. Juni 1975 herausgestellt hat126, sukzessive ausdifferenziert. Im „Badische Weinabgabe-Beschluss“ vom 4. Februar 1958 hob das Gericht auf den Steuergegenstand, den Steuermaßstab, die Erhebungstechnik 118
BVerfGE 16, 306 (327). BVerfGE 40, 56 (61); 65, 325 (349). 120 BVerfGE 65, 325 (349); BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 15. Dezember 1989 – 2 BvR 436/88 –, NVwZ 1990, S. 356 (356). 121 § 2 Abs. 1 FAG: „Die Inanspruchnahme von Steuern für das Reich schließt die Erhebung gleichartiger Steuern durch die Länder und Gemeinden (Gemeindeverbände) aus, wenn nicht reichsgesetzlich ein anderes vorgeschrieben ist“ (zit. nach BVerfGE 40, 56 [62]). 122 BVerfGE 7, 244 (258 f.); 40, 56 (62). 123 BVerfGE 65, 325 (351). 124 Siehe nur Czisnik, DÖV 1989, S. 1065 ff.; Hahn, DStR 1980, S. 215 (217); Tipke, StuW 1975, S. 242 ff. 125 BVerfGE 13, 181 (193); 16, 64 (75); 40, 56 (62); 49, 343 (355); 65, 325 (351). 126 BVerfGE 40, 56 (62 f.). 119
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und die wirtschaftlichen Auswirkungen ab. Einen Verstoß gegen das „herkömmliche Gleichartigkeitsverbot“ nahm es dabei schon bei der Gleichartigkeit von Steuergegenstand und Steuermaßstab an.127 Mit dem „Schankerlaubnissteuer-Beschluss“ vom 30. Oktober 1961 trat dann das Kriterium der „Quelle wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit“ auf die Bühne128, das beide Senate offenbar noch nicht als autonomes Kriterium verstanden, sondern als ein im Wesentlichen durch den Steuergegenstand und den Steuermaßstab geprägtes Merkmal.129 Mit Beschluss vom 4. Juni 1975 verselbstständigte der Zweite Senat das Kriterium der „Quelle der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit“ und stellte fest, dass ihm „gegenüber anderen in Betracht kommenden Gesichtspunkten – Steuergegenstand, Steuermaßstab, Art der Erhebungstechnik […] –, insbesondere soweit diese lediglich eine formale, äußerliche Abweichung der steuerlichen Anknüpfungsmerkmale erkennen lassen, schließlich die für die Kompetenzabgrenzung entscheidende Bedeutung“ zukomme.130 Aus dem so erarbeiteten Verhältnis der einzelnen Komponenten zueinander entwickelte der Zweite Senat im Jahr 1978 die im „ÜberlingenBeschluss“ fünf Jahre später erneut angewendete Gleichartigkeitsformel. Einzubeziehen in den notwendigen Vergleich der steuerbegründenden Tatbestände seien danach „Steuergegenstand, Steuermaßstab, Art der Erhebung, wie auch die wirtschaftlichen Auswirkungen der zu vergleichenden Steuern, insbesondere die Frage, ob die beiden Steuern dieselbe Quelle wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit ausschöpfen“.131 Das unterschiedliche Formulieren der Steuergegenstände oder marginale Unterschiede in den einzelnen Merkmalen gewährleisten dabei noch nicht die Ungleichartigkeit der zu vergleichenden Steuern.132 Diese sukzessive aufgebaute Gleichartigkeitsformel griff der Zweite Senat im „Verpackungsteuer-Urteil“ vom 7. Mai 1998 nicht wieder auf. Die einzelnen Aspekte der Gleichartigkeitsprüfung gab er nur noch schlagwortartig wieder, bezeichnete das Gleichartigkeitsverbot als Verbot des Anknüpfens an „denselben Belastungsgrund“, um sodann, nur kursorisch begründend, das Ausschöpfen „verschiedene[r] Quellen steuerlicher Belastbarkeit“ zu verneinen.133
127
BVerfGE 7, 244 (263). BVerfGE 13, 181 (193). 129 Vgl. BVerfGE 13, 181 (193 ff.); 16, 64 (75 ff.). 130 BVerfGE 40, 56 (62 f.). 131 BVerfGE 49, 343 (355); ähnlich BVerfGE 65, 325 (351); krit. ggü. der Handhabung der Gleichartigkeitskriterien durch das Bundesverfassungsgericht: Czisnik, DÖV 1989, S. 1065 (1066 f.). 132 BVerfGE 65, 325 (351). 133 BVerfGE 98, 106 (125). 128
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2. Der „neue Gleichartigkeitsbegriff“ des Art. 105 Abs. 2a Satz 1 GG a) Dualitätstheorie Mit Wirkung zum 1. Januar 1970 wurde in Art. 105 Abs. 2a Satz 1 GG ein geschriebenes Verbot der Gleichartigkeit örtlicher Verbrauch- und Aufwandsteuern mit bundesgesetzlich geregelten Steuern aufgenommen („neues Gleichartigkeitsverbot“). Dieses sei, so der Zweite Senat im Beschluss vom 4. Juni 1975, mit dem „herkömmlichen Gleichartigkeitsverbot“ nicht identisch. Es habe vielmehr „eine auf die Besonderheiten dieser Norm zugeschnittene und auf ihren Anwendungsbereich beschränkte eigenständige Bedeutung“.134 Diese Aussage, die als „Dualitätstheorie“ bezeichnet werden kann, ist der Grundstein für eine bis heute andauernde Diskussion über den vom Bundesverfassungsgericht noch immer nicht grundsätzlich geklärten Gehalt des „neuen Gleichartigkeitsbegriffs“. b) Fragmentarische Begriffsbestimmung aa) Senatsbeschluss vom 4. Juni 1975: Herkömmlichkeitsprivileg und „weite Dualitätstheorie“ Den „neuen Gleichartigkeitsbegriff“ hat das Gericht bislang nur fragmentarisch bestimmt. In der Ausgangsentscheidung, im Beschluss vom 4. Juni 1975, stellte der Zweite Senat zunächst fest, dass das Gleichartigkeitsverbot des Art. 105 Abs. 2a Satz 1 GG selbstständig neben dem Erfordernis der örtlichen Radizierung stehe und die Gleichartigkeit mithin nicht schon dann verneint werden könne, wenn die jeweilige Verbrauch- oder Aufwandsteuer eine „örtliche“ sei.135 Weiter führte er aus, dass im Fall der Identität des „neuen“ mit dem „herkömmlichen Gleichartigkeitsbegriff“ einige herkömmliche örtliche Verbrauch- und Aufwandsteuern verfassungswidrig seien, „weil sie dieselbe Quelle wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit ausschöpfen wie Bundessteuern“.136 Das habe der Verfassungsgeber „ersichtlich nicht gewollt“.137 Deshalb unterstünden „herkömmliche“, d.h. bei Inkrafttreten des Art. 105 Abs. 2a Satz 1 GG am 1. Januar 1970 üblicherweise bestehende138, örtliche Verbrauch- und Aufwandsteuern wie die Vergnügungsteuer einem kompetenzwahrenden Bestandsschutz.139 Zugleich ließ der Senat anklingen, 134
BVerfGE 40, 56 (63). BVerfGE 40, 56 (61). 136 BVerfGE 40, 56 (63). 137 BVerfGE 40, 56 (63 f.). 138 BVerfGE 40, 52 (55); zur Unschädlichkeit einer nur zeitweisen oder beschränkten Erhebung einer solchen herkömmlichen Steuer, solange sie dem tradierten Bild entspreche, siehe Lammers, DVBl 2013, S. 348 (352). 139 BVerfGE 40, 56 (64); siehe auch BVerfGE 40, 52 (55); 42, 38 (41); 69, 174 (183); BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 1. März 1997 – 2 BvR 1599/89 u.a. –, NVwZ 1997, S. 573 (575). 135
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dass dies möglicherweise nicht der einzige Unterschied zwischen dem „herkömmlichen“ und dem „neuen Gleichartigkeitsverbot“ des Art. 105 Abs. 2a Satz 1 GG sei („weite Dualitätstheorie“), vertiefte dies aber nicht.140 bb) „Überlingen-Beschluss“ vom 6. Dezember 1983: Erst-Recht-Schluss als Behelfsformel bei neuen Steuern Im „Überlingen-Beschluss“ unterstrich der Zweite Senat die im Beschluss vom 4. Juni 1975 aufgestellte Dualitätstheorie. Das „neue Gleichartigkeitsverbot“ habe „gegenüber dem entsprechenden traditionellen steuerrechtlichen Begriff einen engeren Sinn. Seine Voraussetzungen sind nicht so streng wie im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung, weil andernfalls die ausschließliche Gesetzgebungsbefugnis der Länder für die örtlichen Verbrauchund Aufwandsteuern leerliefe“.141 Die in Rede stehende Zweitwohnungsteuer sei zwar keine „herkömmliche Aufwandsteuer“ und mithin nicht bestandsgeschützt, gleichwohl müsse der neue Gleichartigkeitsbegriff noch nicht im Einzelnen geklärt werden. „Denn“, so der Senat weiter, „an den Gleichartigkeitsbegriff des Art. 105 Abs. 2 a GG sind jedenfalls keine strengeren Anforderungen zu stellen als an den herkömmlichen Gleichartigkeitsbegriff.“ Werde eine Steuer dessen strengen Maßstäben gerecht, „so hat sie auch vor dem Gleichartigkeitsverbot des Art. 105 Abs. 2 a GG Bestand.“142 Mit dieser Wortwahl wendete der Senat nicht nur behelfsmäßig einen ErstRecht-Schluss an, um das „neue Gleichartigkeitsverbot“ bis zu dessen näherer Bestimmung handhaben zu können. Zugleich hielt er sich die Option offen, die „weite Dualitätstheorie“ entweder festzuschreiben oder aber zu einer „engen Dualitätstheorie“ überzugehen, wonach sich der inhaltliche Unterschied beider Gleichartigkeitsbegriffe auf den Bestandsschutz der herkömmlichen örtlichen Verbrauch- und Aufwandsteuern reduziert („nicht so streng wie im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung“143) und im Übrigen
140 BVerfGE 40, 56 (64): „Das zwingt zu dem Schluß, daß der Verfassunggeber dem Begriff der Gleichartigkeit in Art. 105 Abs. 2a GG einen eigenständigen Inhalt gegeben hat, der von dem Inhalt des Begriffes abweicht, den das Bundesverfassungsgericht zur Abgrenzung der Zuständigkeiten im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung verwendet. Indessen bedarf es hier keiner abschließenden Entscheidung, wie der Begriff ‚gleichartig‘ in Art. 105 Abs. 2a GG im einzelnen zu definieren ist; dies wäre erst dann geboten, wenn das Bundesverfassungsgericht zu prüfen hätte, ob eine von einem Land erfundene neue örtliche Steuer gegen das Gleichartigkeitsverbot verstößt. Hier genügt vielmehr die Feststellung, daß […] die herkömmlichen örtlichen Verbrauch- und Aufwandsteuern […] mit bundesrechtlich geregelten Steuern nicht gleichartig sind.“ 141 BVerfGE 65, 325 (350 f.). 142 BVerfGE 65, 325 (351). 143 BVerfGE 65, 325 (350). Hierfür berief sich der Senat auf BVerfGE 40, 56 (63), wo primär die Notwendigkeit eines Bestandsschutzes für die herkömmlichen örtlichen Verbrauch- und Aufwandsteuern herausgestellt worden war.
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dieselben Kriterien anzulegen sind („jedenfalls keine strengeren Anforderungen“144). cc) Kammerbeschluss vom 1. März 1997: „Enge Dualitätstheorie“? Im Beschluss vom 1. März 1997 befasste sich die 3. Kammer des Zweiten Senats erneut mit dem Gleichartigkeitsverbot des Art. 105 Abs. 2a Satz 1 GG. Ohne weitere Überlegungen zur unterschiedlichen Strenge des „herkömmlichen“ und des „neuen Gleichartigkeitsverbots“ anzustellen, beschränkte sie sich auf die Feststellung, dass die herkömmlichen örtlichen Verbrauch- und Aufwandsteuern nicht im Sinne des Art. 105 Abs. 2a Satz 1 GG gleichartig mit bundesgesetzlich geregelten Steuern seien.145 Hieraus wird der Schluss gezogen, dass das Bundesverfassungsgericht seine „weite Dualitätstheorie“ aufgegeben und sich für die „enge Dualitätstheorie“ entschieden habe.146 Hiergegen spricht aber nicht nur, dass diese weitreichende Begriffsbestimmung von der Entscheidungskompetenz der Kammer nicht mehr gedeckt gewesen sein dürfte (vgl. § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG147). Vielmehr hatte sie sich auch nur mit einer herkömmlichen örtlichen Aufwandsteuer in Gestalt der Vergnügungsteuer zu befassen und konnte ihre Entscheidung daher auf den in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bereits geklärten Bestandsschutz herkömmlicher Steuern stützen, ohne sich mit dem Inhalt des „neuen Gleichartigkeitsbegriffs“ im Übrigen auseinandersetzen zu müssen. dd) „Verpackungsteuer-Urteil“ vom 7. Mai 1998: Neujustierung der Gleichartigkeitsbegriffe? Ein Jahr nach dem Kammerbeschluss vom 1. März 1997 entschied der Zweite Senat im „Verpackungsteuer-Urteil“ mit Blick auf Art. 105 Abs. 2a Satz 1 GG in aller Kürze, die „üblichen örtlichen Verbrauch- und Aufwandsteuern“ blieben unberührt, bei neuen dagegen dürfe der steuerbegründende Tatbestand nicht „denselben Belastungsgrund“ erfassen wie eine bundesgesetzlich geregelte Steuer. Sie müssten sich „in Gegenstand, Bemessungsgrundlage, Erhebungstechnik und wirtschaftlicher Auswirkung von der Bundessteuer unterscheide[n]“.148 Mit Ausnahme der Bestandsschutzklausel
144
BVerfGE 65, 325 (351). BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 1. März 1997 – 2 BvR 1599/89 u.a. –, NVwZ 1997, S. 573 (575). 146 Henneke, Möglichkeiten und Grenzen der kommunalen Steuerautonomie (Steuererfindungs- und -hebesatzrechte, örtliche Verbrauch- und Aufwandsteuern), in: Wieland (Hrsg.), Kommunalsteuern und -abgaben, 2012, S. 117 (138). 147 § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG i.d.F. vom 11. August 1993. 148 BVerfGE 98, 106 (125). 145
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legte der Senat also im Rahmen des Art. 105 Abs. 2a Satz 1 GG im Wesentlichen dieselben Kriterien zugrunde, die das Gericht zum „herkömmlichen Gleichartigkeitsverbot“ entwickelt hatte. Wie auch aus dem Kammerbeschluss vom 1. März 1997 wird hieraus der Schluss gezogen, dass das Bundesverfassungsgericht die „weite Dualitätstheorie“ zugunsten der „engen“ aufgegeben habe.149 Dagegen spricht aber die Bezugnahme des „Verpackungsteuer-Urteils“ auf den „Überlingen-Beschluss“, der die Dualität beider Gleichartigkeitsbegriffe noch hervorgehoben hatte.150 Das schließt ein verdecktes Angleichen der Gleichartigkeitsbegriffe zwar nicht gänzlich aus, zumal das „Verpackungsteuer-Urteil“ nur diejenige Passage des „Überlingen-Beschlusses“ zitiert, mit der sich der Zweite Senat ein Anpassen beider Gleichartigkeitsbegriffe jenseits des Herkömmlichkeitsprivilegs offen gehalten hatte („jedenfalls keine strengeren Anforderungen“).151 Nimmt man das „Verpackungsteuer-Urteil“ beim Wort, hätte der Senat dann aber beide Gleichartigkeitsbegriffe nicht nur angeglichen, sondern ohne Begründung sogar verschärft.152 Denn nunmehr verlangte er eine Verschiedenheit in sämtlichen Kriterien (Steuergegenstand, Bemessungsgrundlage, Erhebungstechnik und wirtschaftliche Auswirkung), wohingegen er sie zuvor in eine wertende Gesamtbetrachtung eingestellt und damit weniger strikte Anforderungen gestellt hatte.153 Zudem konzentrierte sich der Zweite Senat im „Verpackungsteuer-Urteil“ auf das Gebot der Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung und maß daher dem Gleichartigkeitsverbot, offenbar auch in der Terminologie, keine maßgebliche Bedeutung bei. Es spricht deshalb Überwiegendes dafür, dass er die Rechtsprechung zum Inhalt und zur Dualität der Gleichartigkeitsbegriffe mit dem „Verpackungsteuer-Urteil“ nicht geändert hat.154 c) Kritik und Vorschlag zur Begriffsbestimmung Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum „neuen Gleichartigkeitsbegriff“ des Art. 105 Abs. 2a Satz 1 GG ist im Fluss und eine klare Linie kaum erkennbar. Sicher ist allein der Bestandsschutz herkömmlicher örtlicher Verbrauch- und Aufwandsteuern. Darüber hinaus ist aber zweifelhaft, ob und inwieweit sich der „herkömmliche“ und der „neue Gleichartig-
149
Siekmann, in: Sachs (Hrsg.), GG, 6. Aufl. 2011, Art. 105 Rn. 44. BVerwGE 143, 301 (309, Rn. 24). 151 BVerfGE 98, 106 (125) mit Verweis auf BVerfGE 65, 325 (351). 152 OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 17. Mai 2011 – 6 C 11337/10.OVG –, LKRZ 2011, S. 299 (302). 153 BVerfGE 40, 56 (62 f.); OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 17. Mai 2011 – 6 C 11337/10.OVG –, LKRZ 2011, S. 299 (302). 154 BVerwGE 143, 301 (309, Rn. 24); OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 17. Mai 2011 – 6 C 11337/10.OVG –, LKRZ 2011, S. 299 (302). 150
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keitsbegriff“ nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts unterscheiden. Eine grundsätzliche Klärung hat es auf den Fall einer neuen örtlichen Verbrauch- oder Aufwandsteuer vertagt, sofern deren Vereinbarkeit mit dem Gleichartigkeitsverbot des Art. 105 Abs. 2a Satz 1 GG nicht mithilfe eines Erst-Recht-Schlusses aus dem „herkömmlichen Gleichartigkeitsverbot“ festgestellt werden kann.155 Dem Gericht ist kein Vorwurf daraus zu machen, dass es sich auf das Beantworten entscheidungserheblicher Rechtsfragen beschränkt und deshalb auch mehr als vierzig Jahre nach Inkrafttreten des Art. 105 Abs. 2a Satz 1 GG noch keinen Anlass gesehen hat, den „neuen Gleichartigkeitsbegriff“ mit Inhalt zu füllen.156 Als „Erstinterpret“157 des Art. 105 Abs. 2a Satz 1 GG tragen ohnehin die Länder und Gemeinden das Risiko des ersten Versuchs. An der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum „neuen Gleichartigkeitsverbot“ ist aber zu kritisieren, dass es inhaltliche Unterschiede zum „herkömmlichen Gleichartigkeitsbegriff“ behauptet, sich dabei auf nicht weiterführende Andeutungen beschränkt und seine Terminologie ohne erkennbaren Grund variiert.158 Damit verstellt es eher den Blick auf den Kern des „neuen Gleichartigkeitsverbots“ und hemmt so die Aufwandsteuererfindung. aa) Bekenntnis zur „engen Dualitätstheorie“ Sobald eine neue örtliche Verbrauch- oder Aufwandsteuer mit dem „herkömmlichen Gleichartigkeitsverbot“ unvereinbar ist, wird das Bundesverfassungsgericht Gelegenheit zur grundsätzlichen Klärung des Gleichartigkeitsbegriffs im Sinne des Art. 105 Abs. 2a Satz 1 GG haben.159 Der Wortlaut des 155
BVerfGE 40, 56 (64); 65, 325 (351). Siehe demgegenüber Vogel/Walter, in: Dolzer/Vogel/Graßhof (Hrsg.), BK-GG, Art. 105 Rn. 124b (112. Aktualisierung Juli 2004), die das „Zögern des Gerichts“ damit erklären, dass es beim Gleichartigkeitsverbot nur um die Beschreibung einer „Methode“ zum Zwecke eines „wertenden Gesamtvergleichs“ gehen könne und es deshalb „subsumtionsfähige Kriterien – und damit eine Definition – schlechterdings nicht geben“ könne. 157 P. Kirchhof, NJW 1996, S. 1497 (1504); ders., ZRP 2006, S. 269 (270); jeweils bezogen auf den Gesetzgeber als „Erstinterpret der Verfassung“. 158 BVerfGE 40, 56 (63 f.) sprach von einer „eigenständige[n] Bedeutung“, die über das Bestandsprivileg wohl hinausgehend noch „im einzelnen zu definieren“ sei; BVerfGE 65, 325 (350 f.) bot gleich zwei Möglichkeiten an, wonach die Voraussetzungen des „neuen Gleichartigkeitsverbots“ des Art. 105 Abs. 2a Satz 1 GG „nicht so streng“ wie die des „herkömmlichen“ seien (S. 350), aber „jedenfalls keine strengeren Anforderungen zu stellen“ seien (S. 351); BVerfGE 98, 106 (124 f.) ging auf etwaige, über das Bestandsprivileg hinausgehende Unterschiede nicht mehr ein. 159 Zu den Vorschlägen aus dem Schrifttum siehe nur Birk, Steuerrecht, 15. Aufl. 2012, Rn. 142 und Seer, in: Tipke/Lang (Hrsg.), Steuerrecht, 21. Aufl. 2013, § 2 Rn. 51, die die Verschiedenheit beider Gleichartigkeitsbegriffe auf den Bestandsschutz für herkömmliche örtliche Verbrauch- und Aufwandsteuern reduzieren; Küssner, Die Abgrenzung der Kom156
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Art. 105 Abs. 2a Satz 1 GG und die Entstehungsgeschichte sind dabei wenig hilfreich.160 Aus letzterer lässt sich aber zumindest die Absicht entnehmen, die Erfindung „eine[r] Gemeindeumsatzsteuer oder so etwas Ähnliches“161 zu verhindern. Dem dahinterstehenden Verbot der „Doppelbelastung derselben Steuerquelle“162 hat das Bundesverfassungsgericht im Beschluss vom 4. Juni 1975 bereits Rechnung getragen. Dort rechtfertigte der Zweite Senat die Notwendigkeit eines vom „herkömmlichen Gleichartigkeitsbegriff“ abweichenden Verständnisses mit der Annahme, dass „einige der herkömmlichen örtlichen Verbrauch- und Aufwandsteuern […] dieselbe Quelle wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit ausschöpfen wie Bundessteuern“.163 Der daraus folgende Verstoß gegen das Gleichartigkeitsverbot sei zur Erhaltung des Art. 105 Abs. 2a Satz 1 GG als taugliches Steuererhebungsinstrument zu vermeiden. Hieraus zog der Senat aber nicht die Konsequenz, das für den „herkömmlichen Gleichartigkeitsbegriff“ herausgearbeitete Leitkriterium „derselben Quelle wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit“ aufzugeben oder zu modifizieren. Stattdessen konstruierte er den Bestandsschutz rechtstechnisch – später deutlich so formuliert 164 – als Fiktion der Ungleichartigkeit herkömmlicher örtlicher Verbrauch- und Aufwandsteuern. Er sah also die Quelle der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit als entscheidendes Kriterium auch des „neuen Gleichartigkeitsverbots“ an. Dann aber wird man auch nicht auf die aus dem „herkömmlichen Gleichartigkeitsbegriff“ bekannten Vergleichskriterien verzichten können. Für einen über das Herkömmlichkeitsprivileg hinausgehenden Unterschied zwischen den beiden Gleichartigkeitsbegriffen bleibt daher kein Raum.
petenzen des Bundes und der Länder im Bereich der Steuergesetzgebung sowie der Begriff der Gleichartigkeit von Steuern, 1992, S. 313, der neue Verbrauchsteuern „wegen einer Gleichartigkeit mit der bundesgesetzlich geregelten Umsatzsteuer“ als unzulässig, Aufwandsteuern hingegen grundsätzlich als zulässig ansieht; Holst, Das Gleichartigkeitsverbot in Art. 105 Abs. 2 und 2 a GG, 1990, S. 279, der nach einer Beeinträchtigung von Bundesinteressen fragt, „wobei das wirtschaftliche Gewicht der traditionellen Gemeindesteuern den Maßstab für eine (noch) zulässige Inanspruchnahme einer bereits vom Bund ausgeschöpften Quelle steuerlicher Leistungsfähigkeit“ bilde. 160 Zur Entstehungsgeschichte siehe Bökelmann, Die örtlichen Steuern und das Gleichartigkeitsverbot in Artikel 105 Abs. 2a Grundgesetz, 1974, S. 170 ff. 161 Zit. nach Bökelmann, Die örtlichen Steuern und das Gleichartigkeitsverbot in Artikel 105 Abs. 2a Grundgesetz, 1974, S. 177 m.w.N. 162 BVerfGE 98, 106 (124 f.). 163 BVerfGE 40, 56 (63). 164 BVerfGE 69, 174 (183): „Die herkömmlichen örtlichen Verbrauch- und Aufwandsteuern gelten [Hervorhebung durch den Autor] jedenfalls als nicht mit bundesrechtlich geregelten Steuern gleichartig im Sinne des Art. 105 Abs. 2 a GG.“
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Die örtlichen Aufwandsteuern
bb) Keine Synchronisierung mit Charakteridentitätsverbot des Art. 401 MwStSystRL Die Kriterien des Gleichartigkeitsverbots des Art. 105 Abs. 2a Satz 1 GG sind nicht dynamisch, hängen also nicht von der jeweils in Rede stehenden bundesgesetzlich geregelten Steuer ab. Namentlich bei der Prüfung der Gleichartigkeit einer örtlichen Aufwandsteuer mit der Umsatzsteuer muss das Gleichartigkeitsverbot des Art. 105 Abs. 2a Satz 1 GG nicht unionsrechtlich modifiziert am Charakteridentitätsverbot des Art. 401 MwStSystRL165 ausgerichtet werden.166 Nach dieser Bestimmung hindert die MwStSystRL unbeschadet anderer unionsrechtlicher Vorschriften die Mitgliedstaaten „nicht daran, Abgaben auf Versicherungsverträge, Spiele und Wetten, Verbrauchsteuern, Grunderwerbsteuern sowie ganz allgemein alle Steuern, Abgaben und Gebühren, die nicht den Charakter von Umsatzsteuern haben, beizubehalten oder einzuführen, sofern die Erhebung dieser Steuern, Abgaben und Gebühren im Verkehr zwischen den Mitgliedstaaten nicht mit Formalitäten beim Grenzübertritt verbunden ist.“ Ob eine mitgliedstaatliche Steuer den Charakter einer Mehrwertsteuer im Sinne der MwStSystRL hat, prüft der Europäische Gerichtshof durch einen Abgleich anhand der wesentlichen Merkmale der Mehrwertsteuer. Diese sind nach dessen Rechtsprechung die allgemeine Geltung der Mehrwertsteuer für alle sich auf Gegenstände oder Dienstleistungen beziehenden Geschäfte, die Proportionalität, die Erhebung auf jeder Produktionsstufe sowie der Abzug der auf den vorhergehenden Produktions- und Vertriebsstufen bereits entrichteten Beträge von der vom Steuerpflichtigen geschuldeten Mehrwertsteuer.167 Auf die Quelle der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit stellt der Europäische Gerichtshof nicht ab. Art. 401 MwStSystRL steht der Anwendbarkeit des Art. 105 Abs. 2a Satz 1 GG einschließlich der hierzu vom Bundesverfassungsgericht entwickelten Prüfparameter nicht entgegen. Etwas anderes wäre allenfalls bei einem Anwendungsvorrang des Art. 401 MwStSystRL anzunehmen. Die hierfür erforderliche Kollision zwischen nationalem Recht und Unionsrecht käme aber nur in Betracht, wenn das Unionsrecht zur Einführung einer nach Art. 105 Abs. 2a Satz 1 GG verfassungswidrigen Steuer oder umgekehrt Art. 105 Abs. 2a Satz 1 GG zur Einführung einer gegen Art. 401 MwStSystRL verstoßenden Steuer zwingen würde. Dies ist aber nicht der Fall, weshalb das verfassungsrechtliche Gleichartigkeitsverbot und das unionsrechtliche Cha-
165 Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem. 166 A.A. Rutemöller, ZRP 2010, S. 108 (109). 167 EuGH, Beschluss vom 27. November 2008 – Rs. C-156/08 –, DStR 2009, S. 223 (225, Rn. 31).
André Niesler
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rakteridentitätsverbot des Art. 401 MwStSystRL zwei selbstständige, auf verschiedenen Normebenen angesiedelte Schranken des Steuererfindungsrechts aus Art. 105 Abs. 2a Satz 1 GG sind.
V. Fazit Die Länder und Gemeinden sind für ein effektives Ausüben ihres Aufwandsteuererfindungsrechts auf Rechtsklarheit und Rechtssicherheit angewiesen. Diese haben sie nur teilweise. Die „herkömmlichen“ Steuern wie die Vergnügungsteuer sind als Aufwandsteuertypen anerkannt und mit Blick auf das Gleichartigkeitsverbot unter Bestandsschutz gestellt. Insoweit bewegen sich die Länder und Gemeinden auf sicherem Boden. Bei der Erfindung neuer Aufwandsteuerarten können sie sich hinsichtlich des Aufwandsteuerbegriffs an einer vom Bundesverfassungsgericht gespannten, allerdings nicht immer klar erkennbaren Richtschnur orientieren. Danach kann nur ein besonderer Aufwand, „also eine über die Befriedigung des allgemeinen Lebensbedarfs hinausgehende Verwendung von Einkommen oder Vermögen“168 besteuert werden. Weiter werden die Länder und Gemeinden davon ausgehen dürfen, dass das Gericht die aufwandsteuerbare Einkommensverwendung von Vorgängen der Einkommenserzielung über das Kriterium der Unmittelbarkeit abgrenzt. Können sie die Vereinbarkeit der neuen Aufwandsteuer mit dem Gleichartigkeitsverbot des Art. 105 Abs. 2a Satz 1 GG nicht mithilfe eines Erst-Recht-Schlusses aus dem „herkömmlichen Gleichartigkeitsverbot“ feststellen, werden sie und die Fachgerichte jedoch eigene Vorschläge zur inhaltlichen Bestimmung des „neuen Gleichartigkeitsverbots“ erarbeiten müssen. Die Andeutungen des Bundesverfassungsgerichts über das Verhältnis der Gleichartigkeitsbegriffe zueinander und seine ohne erkennbaren Grund variierende Terminologie werden ihnen dies eher erschweren als erleichtern. Eine grundsätzliche Klärung durch das Bundesverfassungsgericht, mit der es die Spekulationen über die „Ungleichartigkeit der Gleichartigkeitsbegriffe“ 169 beendet, wird dann mit Spannung zu erwarten sein.
168 BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 10. August 1989 – 2 BvR 1532/88 –, NVwZ 1989, S. 1152 (1152). 169 Vgl. Henneke, Möglichkeiten und Grenzen der kommunalen Steuerautonomie (Steuererfindungs- und -hebesatzrechte, örtliche Verbrauch- und Aufwandsteuern), in: Wieland (Hrsg.), Kommunalsteuern und -abgaben, 2012, S. 117 (138).
VI. Europäische und internationale Bezüge
Die haushaltspolitische Gesamtverantwortung des Deutschen Bundestages Dirk Diehm Leitentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (Senat) BVerfGE BVerfGE BVerfGE BVerfGE BVerfGE BVerfGE BVerfG,
89, 155 – Vertrag von Maastricht 123, 267 – Vertrag von Lissabon 129, 124 – Griechenlandhilfe/Euro-Rettungsschirm 130, 318 – Beteiligungsrechte Bundestag EFSF (Hauptsache) 131, 152 – ESM/Euro-Plus-Pakt 132, 195 – ESM- und SKSV-Vertrag (eA) Urteil des Zweiten Senats vom 18. März 2014 – 2 BvR 1390/12 u.a. – juris – ESMund SKSV-Vertrag (Hauptsache) Schrifttum (Auswahl)
Achterberg/Schulte, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 2, 6. Aufl. 2010, Art. 45c; Badura, Die Entscheidung über die Staatsaufgaben und ihre Finanzierung in der parlamentarischen Demokratie, in: Osterloh/Selmer (Hrsg.), Staat, Wirtschaft, Finanzverfassung – Festschrift für Peter Selmer zum 70. Geburtstag, 2004, S. 19 ff.; ders., Die Talfahrt der öffentlichen Finanzen und die verfassungsrechtlichen Grenzen von Staatsausgaben und Sanierungsmaßnahmen, in: Grupp/Hufeld (Hrsg.), Recht – Kultur – Finanzen – Festschrift für Reinhard Mußgnug zum 70. Geburtstag, 2005, S. 149 ff.; Bentham, Taktik oder Theorie des Geschäftsgangs in deliberierenden Volksversammlungen, 1817; Berg, in: Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 8, Art. 45a (April 1986); Emmenegger, Die Stärkung des Parlaments in der neueren Rechtsprechung des BVerfG, in: Emmenegger/Wiedmann (Hrsg.), Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, Bd. 2, 2011, S. 447 ff.; Gröpl, in: Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 15, Art. 110 GG (Dezember 2001), Art. 112 GG (März 2003); ders., Haushaltsrecht und Reform, 2001; Heintzen, in: von Münch/Kunig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 2, 6. Aufl. 2012, Art. 110, 112, 115; Henle, Haushaltsordnung nach der Haushaltsreform, DÖV 1970, S. 289 ff.; Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995; Heun, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz – Kommentar, Bd. 3, 2. Aufl. 2008, Art. 110; Hilf/Classen, Der Vorbehalt des Gesetzes im Recht der Europäischen Union, in: Osterloh/Schmidt/Weber (Hrsg.), Staat, Wirtschaft, Finanzverfassung – Festschrift für Peter Selmer zum 70. Geburtstag, 2004, S. 71 ff.; H. Hofmann/Dreier, Repräsentation, Mehrheitsprinzip und Minderheitenschutz, in: Schneider/Zeh (Hrsg.), Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, S. 165 ff.; Huber, Das Verständnis des Bundesverfassungsgerichts vom Kompetenzgefüge, in: Möllers/Zeitler (Hrsg.), Europa als Rechtsgemeinschaft – Währungsunion und Schuldenkrise, 2013, S. 229 ff.; Hufen, Gesetzesgestaltung und Gesetzesanwendung im Leistungsrecht, VVDStRL 47 (1989), S. 142 ff.; Isensee, Budgetrecht des Parlaments zwischen Schein und Schein, JZ 2005, S. 971 f.: ders., Plebiszit
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Die haushaltspolitische Gesamtverantwortung
unter Finanzvorbehalt, in: Grupp/Mußgnug (Hrsg.), Recht – Kultur – Finanzen – Festschrift für Reinhard Mußgnug zum 70. Geburtstag, 2005, S. 101 ff.; P. Kirchhof, Die Steuerung des Verwaltungshandelns durch Haushaltsrecht und Haushaltskontrolle, NVwZ 1983, S. 505 ff.; ders., Das Parlament als Mitte der Demokratie, in: Huber/Brenner/Möstl (Hrsg.), Der Staat des Grundgesetzes – Kontinuität und Wandel – Festschrift für Peter Badura zum siebzigsten Geburtstag, 2004, S. 237 ff.; F. Klein, Die Finanz- und Haushaltsreform, 1969; H. H. Klein, Stellung und Aufgaben des Bundestages, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 3, 3. Aufl. 2005, § 50; Köttgen, Fondsverwaltung in der Bundesrepublik Deutschland, 1965; Kretschmer, in: Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 7, Art. 45 (Oktober 2006); Kube, Nationale Budgethoheit und Europäische Integration, AöR 137 (2012), S. 205 ff.; ders., in: Maunz/Dürig (Hrsg.), GG, Art. 112 (Dezember 2007), Art. 115 (Oktober 2009); Lepsius, Die erkenntnistheoretische Notwendigkeit des Parlamentarismus, in: Bertschi/Gächter/Hurst (Hrsg.), Demokratie und Freiheit – 39. Tagung der Wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Fachrichtung „Öffentliches Recht“, 1999, S. 123 ff.; Lüder, Bedarf es einer Reform des staatlichen Rechnungswesens in der Bundesrepublik Deutschland?, DÖV 1989, S. 1005 ff.; Meermagen, Die Rechtstellung des Deutschen Bundestages im wehrverfassungsrechtlichen Organstreit unter besonderer Berücksichtigung von Inlandsverwendungen der Streitkräfte, in: Emmenegger/Wiedmann (Hrsg.), Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, Bd. 2, 2011, S. 471 ff.; Moench/Ruttloff, Verfassungsrechtliche Grenzen für die Delegation parlamentarischer Entscheidungsbefugnisse – Zugleich Besprechung von BVerfG, Urteil vom 28.02.2012, 2 BvE 8/11, „Beteiligungsrechte des Bundestages/EFSF“, DVBl 2012, S. 1261 ff.; Morlok, Informalisierung und Entparlamentarisierung politischer Entscheidungen als Gefährdung der Verfassung?, VVDStRL 62 (2003), S. 37 ff.; MüllerFranken, Plebiszitäre Demokratie und Haushaltsgewalt, Der Staat 44 (2005), S. 19 ff.; ders., Anmerkung zum Urteil des BVerfG vom 12.09.2012 (2 BvR 1390/12, NJW 2012, 3145) – Zur Frage der Zulässigkeit über Eilanträge gegen die Ratifikation von ESM-Vertrag und Fiskalpakt, NJW 2012, S. 3161 f.; Patzelt, Parlamentskommunikation, in: Jarrem/Sarcinelli/ Saxer (Hrsg.), Politische Kommunikation in der demokratischen Gesellschaft – Ein Handbuch mit Lexikonteil, 1998, S. 431 ff.; Peiner, Reform des Haushalts- und Rechnungswesens auf Landesebene, in: Pünder (Hrsg.), Neues öffentliches Finanzmanagement – das doppische Haushalts- und Rechnungswesen: Reform und erste Erfahrungen, 2007, S. 27 ff.; Peuker, Die demokratische Auslegung des Völkerrechts – Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu ESM-Vertrag und Fiskal-Pakt vom 12. September 2012, EuR 2013, S. 75; Pünder, Staatsverschuldung, in: Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 5, 3. Aufl. 2007, § 123; Puhl, Budgetflucht und Haushaltsverfassung, 1996; Reimer, Das Parlamentsgesetz als Steuerungsmittel und Kontrollmaßstab, in: Baer/Burgi/Eifert (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. 1, 2. Aufl. 2012, S. 585 ff.; Rodi, Die Subventionsrechtsordnung, 2000; Sachs, Staatsorganisationsrecht: Haushaltspolitische Gesamtverantwortung des gesamten Deutschen Bundestags, JuS 2012, S. 955 ff.; Sarcinelli, Politische Kommunikation in Deutschland – Medien und Politikvermittlung im demokratischen System, 3. Aufl. 2011; Schmidt, Die Geschäftsordnungen der Verfassungsorgane als individuell-abstrakte Regelungen des Innenrechts, AöR 128 (2003), S. 609 ff.; Schwarz, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 3, 6. Aufl. 2010, Art. 112; Vocke, in: Pleticha (Hrsg.), Weltgeschichte, Bd. 8, 1996, S. 290 ff.; Waldhoff, Grundzüge des Finanzrechts des Grundgesetzes, in: Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 5, 3. Aufl. 2007, § 116; Wendt, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 3, 6. Aufl. 2010, Art. 115.
Dirk Diehm
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Inhalt I. II.
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die europäische Integration und die Finanz- und Staatsschuldenkrise . . . . . 1. Vertrag von Maastricht (BVerfGE 89, 155) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Vertrag von Lissabon (BVerfGE 123, 267) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Griechenlandhilfe (BVerfGE 129, 124) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Beteiligungsrechte Bundestag EFSF (BVerfGE 130, 318) . . . . . . . . . . . 5. ESM/Euro-Plus-Pakt (BVerfGE 131, 152) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. ESM- und SKSV-Vertrag (eA) (BVerfGE 132, 195) . . . . . . . . . . . . . . 7. ESM- und SKSV-Vertrag (Hauptsache) (BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 18. März 2014 – 2 BvR 1390/12 u.a. –, juris) . . . . . . . . . . . . . . . III. Die Linie(n) der haushaltspolitischen Gesamtverantwortung . . . . . . . . . . 1. Der Deutsche Bundestag und der Staatshaushalt . . . . . . . . . . . . . . . a) Der Bundestag als „besonderes Organ“ (Art. 20 Abs. 2 GG) . . . . . . . b) Der Haushaltsplan als staatslenkender Akt . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die haushaltspolitische Gesamtverantwortung . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die haushaltspolitische Gesamtverantwortung „im Außenverhältnis“ . . . a) Unzulässigkeit eines autonomen Haftungsautomatismus . . . . . . . . . b) Keine Haftung für fremde Ausgabenentscheidungen . . . . . . . . . . . c) Sicherstellung einer hinreichenden parlamentarischen Einflussnahme . . d) Einschätzungsspielraum des Gesetzgebers . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Quantifizierbarkeit „roter Linien“? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Anfängliche Prärogative und nachfolgende Beobachtungspflicht . . . . . g) Vorsorgepflicht des Deutschen Bundestages . . . . . . . . . . . . . . . . h) Handlungspflicht des Deutschen Bundestages . . . . . . . . . . . . . . . i) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die haushaltspolitische Gesamtverantwortung „im Innenverhältnis“ . . . . a) Das Plenum und der einzelne Abgeordnete . . . . . . . . . . . . . . . . b) Das Selbstorganisationsrecht und seine Grenzen . . . . . . . . . . . . . . c) Grundlagenentscheidungen und Folgeentscheidungen im haushaltspolitischen Umfeld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I. Einleitung Das Budgetrecht gilt als das vornehmste Recht – das „Königsrecht“1 – des Parlaments. Selbst absolutistische Herrscher wie Louis XVI., der Enkel des „Sonnenkönigs“, mussten zur Erhöhung der Steuern die Generalstände einberufen, deren Verweigerung, dem Landesherrn mehr Einnahmen zuzugestehen, letztlich auch zur französischen Revolution und dem Beginn der Demokratie auf dem europäischen Kontinent geführt hat 2.
1
ThürVerfGH, NVwZ-RR 2013, S. 905 (906); Kube, AöR 137 (2012), S. 205 (206). Gröpl, in: BK-GG, Bd. 15, Art. 110 Rn. 10 (Dezember 2001); weiterführend Vocke, in: Pleticha, Weltgeschichte, Bd. 8, 1996, S. 290 ff. 2
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Die haushaltspolitische Gesamtverantwortung
Das Grundgesetz räumt das Budgetrecht ausschließlich dem Deutschen Bundestag ein, wie die Kernbestimmung des Haushaltsverfassungsrechts, Art. 110 GG, belegt.3 Die hoheitliche Finanzgewalt ist so durch die parlamentarische Verankerung in den demokratischen Rechtsstaat eingebunden.4 Dabei steht dem Parlament, nicht zuletzt aufgrund der von der Föderalismuskommission II im März 2009 vorgeschlagenen5 und mit der notwendigen Zwei-Drittel-Mehrheit im Bundestag sowie im Bundesrat beschlossenen „Schuldenbremse“ (Art. 109 Abs. 3, Art. 115 Abs. 2, Art. 143d GG)6, bei der Ausübung des Budgetrechts keine grenzenlose Freiheit zu. Schon zuvor hatten seit der Haushaltsreform 1967/697 die Bestimmungen über die zulässige Neuverschuldung in Höhe der Summe der Investitionsausgaben (Art. 115 Abs. 1 Satz 2 GG a.F.8) eine grenzenlose Ausgabenpolitik verhindert.9 Das Sozialstaatsprinzip sowie die Grundrechte wiederum verlangen ein Mindestmaß an sozialstaatlichen Aufwendungen und Wohlfahrtsleistungen.10 Und schließlich entfaltet die haushaltspolitische Gesamtverantwortung als ungeschriebenes Verfassungsprinzip in ganz unterschiedlicher Weise Vorgaben und Grenzen für die Ausübung der Budgethoheit, die ihrerseits letztlich die Staatsleitung durch das Parlament als aus der Volkssouveränität folgend gewährleistet.11
3 BVerfGE 79, 311 (329); Gröpl, in: BK-GG, Bd. 15, Art. 110 Rn. 5 (Dezember 2001); Heintzen, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), GG, Bd. 2, 6. Aufl. 2012, Art. 110 Rn. 1; Maunz, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), GG, Bd. 15, Art. 110 Rn. 1, 3 (Dezember 2001). 4 Isensee, Budgetrecht des Parlaments zwischen Schein und Schein, JZ 2005, S. 971 f.; P. Kirchhof, Die Steuerung des Verwaltungshandelns durch Haushaltsrecht und Haushaltskontrolle, NVwZ 1983, S. 505. 5 Deutscher Bundestag/Bundesrat (Hrsg.), Die gemeinsame Kommission von Bundestag und Bundesrat zur Modernisierung der Bund-Länder-Finanzbeziehungen – Die Beratungen und ihre Ergebnisse, 2010, S. 51 ff.; BTDrucks 16/12410, S. 5. 6 Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes (Art. 91c, 91d, 104b, 109, 109a, 115, 143d) vom 29. Juli 2009, BGBl I S. 2248. 7 F. Klein, Die Finanz- und Haushaltsreform, 1969. 8 Art. 115 GG in der Fassung des 20. Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes vom 12. Mai 1969, BGBl I S. 357. 9 Heintzen, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), GG, 6. Aufl. 2012, Bd. 2, Art. 115 Rn. 5; Kube, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), GG, Art. 115 Rn. 27 f. (Oktober 2009). 10 BVerfGE 82, 60 (80); 110, 412 (445); 123, 267 (362). 11 Badura, Die Entscheidung über die Staatsaufgaben und ihre Finanzierung in der parlamentarischen Demokratie, in: Osterloh/Selmer (Hrsg.), Staat, Wirtschaft, Finanzverfassung – Festschrift für Peter Selmer zum 70. Geburtstag, 2004, S. 19 (20); Isensee, Plebiszit unter Finanzvorbehalt, in: Grupp/Mußgnug (Hrsg.), Recht – Kultur – Finanzen – Festschrift für Reinhard Mußgnug, 2005, S. 101 (107 f.); Müller-Franken, Plebiszitäre Demokratie und Haushaltsgewalt, Der Staat 44 (2005), S. 19 (25 ff., 34 ff.); Waldhoff, in: Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 5, 3. Aufl. 2007, § 116 Rn. 154.
Dirk Diehm
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II. Die europäische Integration und die Finanzund Staatsschuldenkrise Die Bedeutung der haushaltspolitischen Gesamtverantwortung hatte das Bundesverfassungsgericht bereits im Zuge der Europäischen Integration als Bestandteil des von der „Ewigkeitsklausel“ des Art. 79 Abs. 3 GG geschützten Identitätskerns des Grundgesetzes als Komponente des Demokratieprinzips des Art. 20 Abs. 1 GG aufgezeigt. Neben der Subjektivierung des Wahlrechts des einzelnen Bürgers aus Art. 38 Abs. 1 GG12 und der Notwendigkeit der Erhaltung von „Aufgaben und Befugnissen von substantiellem Gewicht“13 folgte ein Ausschluss der Übertragbarkeit des Budgetrechts, sei es durch direkte Übertragung oder nur mittelbar durch Entäußerung der Ausgabenzuständigkeit, wenn hieraus eine Gefährdung der Gestaltungsfähigkeit des Haushaltsgesetzgebers folgt14. Mit der im Jahre 2007 ausgebrochenen Finanz- und Staatsschuldenkrise, die sich zunächst als Krise im Zusammenhang mit Immobilienkrediten in den USA gebildet hatte, spätestens seit 2009 jedoch in ganz Europa zu allgemeiner Verunsicherung im Bankensektor geführt hatte und schließlich auch Zweifel an der Solvenz und Bonität einzelner Mitgliedstaaten der Europäischen Union aufbrachte, ist dem Bundesverfassungsgericht sodann wiederholt die Aufgabe zugekommen, Inhalt und Grenzen der haushaltspolitischen Gesamtverantwortung anhand konkreter Anlässe zu konturieren und zugleich zu kontrollieren.15 1. Vertrag von Maastricht (BVerfGE 89, 155) In seiner „Maastricht“-Entscheidung hatte das Bundesverfassungsgericht über die Weiterentwicklung der damaligen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) zur supranationalen Europäischen Gemeinschaft (EG) und der Gründung der daneben bzw. „darüber“ befindlichen Europäischen Union als „Staatenverbund“ durch den „Vertrag über die Europäische Union“ (Vertrag von Maastricht)16 zu entscheiden. Verfahrensgegenständlich waren insoweit Fragen, ob und inwieweit die Übertragung von Hoheitsrechten, ins-
12
BVerfGE 89, 155 (171 f.). BVerfGE 89, 155 (205). 14 BVerfGE 123, 267 (361 f.). 15 Moench/Ruttloff, Verfassungsrechtliche Grenzen für die Delegation parlamentarischer Entscheidungsbefugnisse – Zugleich Besprechung von BVerfG, Urteil vom 28.02. 2012, 2 BvE 8/11, „Beteiligungsrechte des Bundestages/EFSF“, DVBl 2012, S. 1261; Sachs, Staatsorganisationsrecht: Haushaltspolitische Gesamtverantwortung des gesamten Deutschen Bundestags, JuS 2012, S. 955. 16 ABl EG Nr. C 191 vom 29. Juli 1992, S. 1. 13
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Die haushaltspolitische Gesamtverantwortung
besondere die Einführung der Wirtschafts- und Währungsunion, durch das deutsche Zustimmungsgesetz17 mit dem Grundgesetz zu vereinbaren sind. 2. Vertrag von Lissabon (BVerfGE 123, 267) In der Entscheidung über den (Reform-)Vertrag von Lissabon18 und die Gültigkeit des deutschen Zustimmungsgesetzes19 war erneut, anlässlich der Reformbestrebungen der Europäischen Union, die mittlerweile auf 27 Mitgliedsstaaten angewachsen war, über die Grenzen der Europäischen Integration und den notwendigen Erhalt eines ausreichenden Raums zur politischen Gestaltung der wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Lebensverhältnisse zu befinden. 3. Griechenlandhilfe (BVerfGE 129, 124) In der „Griechenlandhilfe“-Entscheidung stand sodann der „erste“ Rettungsschirm, die „Europäische Finanzstabilisierungsfazilität“ (EFSF), zur Entscheidung an. Die Mitgliedstaaten der Europäischen Union, deren Währung der Euro ist, hatten sich auf die Einrichtung einer zwischenstaatlichen Einrichtung, organisiert nach Luxemburger Gesellschaftsrecht, verständigt. Die EFSF sollte durch reine Gewährleistungsübernahmen als „Brandmauer“ gegen das Überspringen der Marktskepsis gegenüber der Hellenischen Republik auf andere (Peripherie-)Staaten der Eurozone dienen. Im Zentrum der Rechtsprechung stand die Frage, ob und inwieweit der Deutsche Bundestag einer solchen Einrichtung, die für die Bundesrepublik Deutschland im Extremfall Zahlungsverpflichtungen von deutlich über 100 Mrd. € auslösen kann, zustimmen darf. 4. Beteiligungsrechte Bundestag EFSF (BVerfGE 130, 318) Nach der Ratifizierung und dem Inkrafttreten des Übereinkommens über die EFSF, bezüglich derer es bereits zuvor den Erlass einer einstweiligen Anordnung gegeben hatte,20 hatte das Bundesverfassungsgericht im Zuge eines Intra-Organstreits zwischen der Fraktion DIE LINKE und dem Bundestag darüber zu befinden, ob und inwieweit ein eigens für die Funktion und Instrumente der EFSF im Bundestag errichtetes Sondergremium, das sogenannte „Neunergremium“, Aufgaben und Beschlüsse anstelle von Plenum oder wenigstens Haushaltsausschuss übernehmen durfte. 17 18 19 20
BGBl II 1992, S. 1251. ABl EG Nr. C 306 vom 17. Dezember 2007, S. 1. BGBl II 2007, S. 1038. BVerfGE 129, 284 ff.
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5. ESM/Euro-Plus-Pakt (BVerfGE 131, 152) In der Entscheidung zu den Beteiligungsrechten des Deutschen Bundestages im Zusammenhang mit der Errichtung des zweiten „Rettungsschirms“, des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM), hatte das Bundesverfassungsgericht im Zuge eines Organstreits zwischen dem Deutschen Bundestag und der Bundesregierung die Frage zu beantworten, ob und inwieweit die Bundesregierung unter Verstoß gegen Art. 23 Abs. 2 Satz 2 GG dem Parlament Informationen und Materialien im Zusammenhang mit der Errichtung dieses „dauerhaften Rettungsmechanismus“ vorenthalten hatte. Der Vorwurf einer mangelhaften Unterrichtung über den „Euro-Plus-Pakt“, aus dem später unter anderem das sogenannte „Sixpack“21 hervorging, ist ebenfalls Gegenstand dieser Entscheidung gewesen. 6. ESM- und SKSV-Vertrag (eA) (BVerfGE 132, 195) Das Urteil über die Zulässigkeit der Ratifikation des ESM-Vertrags und die damit verbundenen Haftungsrisiken der Bundesrepublik Deutschland sowie die Ratifikation des Vertrags über die Stabilität, Koordinierung und Steuerung in der Wirtschafts- und Währungsunion (SKSV) reiht sich sodann ebenfalls in die Folge der „Euro-Rettungsentscheidungen“ ein. In einem neu entwickelten „summarischen Verfahren“22 wurden über die normale Prüfung einer nicht offensichtlich fehlenden Begründetheit der Verfassungsbeschwerden sowie des Organstreits in der Hauptsache hinausgehend rechtliche Aspekte vorweg genommen, die einer nachfolgenden Hauptsacheentscheidung nicht mehr zugänglich sind. 7. ESM- und SKSV-Vertrag (Hauptsache) (BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 18. März 2014 – 2 BvR 1390/12 u.a. –, juris) Einen vorläufigen23 Abschluss der Rechtsprechung zur Finanz- und Staatsschuldenkrise des Bundesverfassungsgerichts stellt das HauptsacheUrteil zur Vereinbarkeit von ESM-Vertrag und SKSV mit dem Grundgesetz dar. In diesem sind die im Urteil über die einstweilige Verfügung aus dem Jahre 201224 offen gelassenen Fragen, unbeschadet der zwischenzeitlichen Ratifikation beider Verträge25, abschließend geklärt worden. Zugleich sind hier Fragen zur haushaltspolitischen Gesamtverantwortung des Deutschen
21 22 23 24 25
Zum Inhalt BVerfGE 131, 152 (176). BVerfGE 132, 195 (233), Rn. 88 f. Stand: 31. März 2014. BVerfGE 132, 195 ff. BGBl II 2012 S. 981 (ESMV); BGBl II 2012 S. 1006 (SKSV).
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Die haushaltspolitische Gesamtverantwortung
Bundestages im Hinblick auf die mit dem ESM-Vertrag eingegangenen finanziellen Verpflichtungen und einer dafür gegebenenfalls zu treffenden Risikovorsorge beantwortet worden.
III. Die Linie(n) der haushaltspolitischen Gesamtverantwortung Im Folgenden wird aufzuzeigen sein, dass die haushaltspolitische Gesamtverantwortung mehr als nur das materiell-rechtliche Pendant zum formellen Budgetrecht – der Zuweisung der Haushaltsgesetzgebung durch das Grundgesetz an den Deutschen Bundestag – ist, welches das Parlament zu einer „nachhaltigen“ Haushaltsführung verpflichtet. Der im Bund und den meisten Ländern immer noch vorherrschende Kameralismus verhindert in der öffentlichen Haushaltsführung unverändert eine risikogerechte(re) Darstellung und Berücksichtigung künftiger haushalterischer Verpflichtungen.26 Die haushaltspolitische Gesamtverantwortung entfaltet zunächst eine notwendige Korrektivfunktion, die eine uferlose Eingehung von Risiken und Verpflichtungen mit in Ausmaß und Zeitpunkt ungewisser Realisierung entgegensteht. Zwar kann sie die Entstehung und Realisierung derartiger Risiken per se nicht verhindern. Jedoch wohnt ihr, wenn auch im Spannungsfeld zwischen Einschätzungsprärogative des Haushaltsgesetzgebers und bundesverfassungsgerichtlicher Kontrollkompetenz angesiedelt, das Potential inne, diese wenigstens zu limitieren. Neben hieraus folgenden Schranken für den (Haushalts-)Gesetzgeber „im Außenverhältnis“, also bei inter- und supranationalem Handeln, bei dem jede haushaltswirksame Verpflichtung der Bundesrepublik Deutschland letztlich zu einer Berührung und gegebenenfalls unzulässigen Beeinträchtigung der haushaltspolitischen Gesamtverantwortung führen kann, wird zugleich auch die Selbstorganisationsfreiheit des Deutschen Bundestages im „Innenverhältnis“ limitiert. Aufgrund der dem Parlament als Ganzem obliegenden haushaltspolitischen Gesamtverantwortung bei Angelegenheiten, welche das Budgetrecht in struktureller Weise betreffen, erfährt die von Verfassungs wegen eingeräumte Selbstorganisationsfreiheit (Art. 40 Abs. 1 Satz 2 GG), die insbesondere auch die Einrichtung von Ausschüssen und Sondergremien zur Erhaltung der Funktionsfähigkeit des Parlaments umfasst, dahingehend eine Beschränkung,
26 Lüder, Bedarf es einer Reform des staatlichen Rechnungswesens in der Bundesrepublik Deutschland?, DÖV 1989, S. 1005 (1007); Peiner, Reform des Haushalts- und Rechnungswesens auf Landesebene, in: Pünder (Hrsg.), Neues öffentliches Finanzmanagement – das doppische Haushalts- und Rechnungswesen: Reform und erste Erfahrungen, 2007, S. 27 (28 ff).; Pünder, in: Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 5, 3. Auf. 2007, § 123 Rn. 97.
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dass eine „Entleibung“ des Plenums durch Übertragung wesentlicher Entscheidungen auf nachgeordnete Teile des Parlaments nicht stattfinden darf. Dies kann insbesondere bedeuten, dass auch Entscheidungen, welche nicht unmittelbar haushaltspolitische Auswirkungen durch Bewilligung oder Genehmigung von Ausgaben oder das Eingehen von Verpflichtungen zum Gegenstand haben, gleichwohl dem Plenum vorbehalten bleiben, wenn diese Entscheidungen wiederum in unmittelbarer Weise über die Entstehung und Fälligkeit von dem Grunde nach bereits mit Zustimmung des Plenums eingegangenen Verpflichtungen Einfluss nehmen können, haushaltspolitische Belastungen gleichsam konkretisieren können. 1. Der Deutsche Bundestag und der Staatshaushalt Die Entwicklung und Ausprägung der haushaltspolitischen Gesamtverantwortung des Deutschen Bundestages kann und muss im Gesamtzusammenhang mit der Stärkung des deutschen Parlaments durch die neuere Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts insgesamt betrachtet werden.27 Der Deutsche Bundestag übt neben seiner Kontrollfunktion gegenüber der Verwaltung28 insbesondere auch die Gesetzgebungsfunktion im Rechtsstaat aus, die als zentrales Steuerungselement29 über den Vorbehalt des Gesetzes umfassend abgesichert ist 30. Zugleich bildet das Parlament das Repräsentationsorgan für das Staatsvolk. a) Der Bundestag als „besonderes Organ“ (Art. 20 Abs. 2 GG) Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts übt der Deutsche Bundestag in seiner Stellung als „besonderes Organ“ (Art. 20 Abs. 2 GG) als unmittelbares Repräsentationsorgan des Volkes die von die27 Hierzu vertiefend Emmenegger, Die Stärkung des Parlaments in der neueren Rechtsprechung des BVerfG, in: Emmenegger/Wiedmann (Hrsg.), Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, Bd. 2, 2011, S. 447 ff., sowie Meermagen, Die Rechtstellung des Deutschen Bundestages im wehrverfassungsrechtlichen Organstreit unter besonderer Berücksichtigung von Inlandsverwendungen der Streitkräfte, in: Emmenegger/Wiedmann (Hrsg.), Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, Bd. 2, 2011, S. 471 ff. 28 BVerfGE 67, 100 (130); 124, 78 (114); BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 17. September 2013 – 2 BvE 6/08, 2 BvR 2436/10 –, juris, Rn. 101. 29 Emmenegger, Die Stärkung des Parlaments in der neueren Rechtsprechung des BVerfG, in: Emmenegger/Wiedmann (Hrsg.), Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, Bd. 2, 2011, S. 447 (459); weiterführend Hufen, Gesetzesgestaltung und Gesetzesanwendung im Leistungsrecht, VVDStRL 47 (1989), S. 142 ff. (144, 147); Reimer, in: Baer/Burgi/Eifert (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. 1, 2. Aufl. 2012, § 9 Rn. 24 ff. 30 Hierzu etwa Hilf/Classen, Der Vorbehalt des Gesetzes im Recht der Europäischen Union, in: Osterloh/Schmidt/Weber (Hrsg.), Staat, Wirtschaft, Finanzverfassung – Festschrift für Peter Selmer zum 70. Geburtstag, 2004, S. 71 ff.
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sem ausgehende Staatsgewalt aus.31 Dem Bundestag kommt im konstitutionellen Gefüge des Grundgesetzes somit eine „zentrale Position“32 zu, indem er den „institutionellen Mittelpunkt des politischen Lebens der Bundesrepublik“33 bildet und als „Schlüsselinstitution demokratischer Willensbildung und Entscheidungsfindung“34 eine „zentrale politische Kommunikationsagentur“35 darstellt. Die Repräsentationsfunktion kann dabei nur durch den Bundestag in seiner Gesamtheit, also durch die Mitwirkung aller seiner Mitglieder, und nicht durch einzelne Abgeordnete, eine Gruppe von Abgeordneten oder die parlamentarische Mehrheit wahrgenommen werden.36 Es ist somit das Plenum, das mit allen in die parlamentarische Zuständigkeit fallenden Aufgaben und Vorgängen befasst werden muss. Insbesondere die politische Willensbildung kann grundsätzlich nur im gesamten Parlament und nicht in Teilgruppierungen erfolgen. Grenzen kann dieser „Plenarvorbehalt“ nur im Verhältnis zur Funktionsfähigkeit des Parlaments und dessen Recht zur Selbstorganisation erfahren.37 b) Der Haushaltsplan als staatslenkender Akt Innerhalb der parlamentarischen Aufgaben und Befugnisse kommt der dem Deutschen Bundestag vorbehaltenen Kompetenz zur Aufstellung des Haushaltsplans (Art. 110 Abs. 2 GG) eine besondere Bedeutung zu, nachdem der Bundestag selbst insoweit unter den anderen hieran beteiligten Verfassungsorganen, insbesondere der Regierung,38 eine hervorgehobene Stellung einnimmt.39 Der Haushaltsplan stellt dabei eine wirtschaftliche Grundsatzentscheidung für zentrale Politikbereiche dar,40 indem er mit der Entschei-
31
BVerfGE 44, 308 (316); 56, 396 (405); 80, 188 (217); 130, 318 (342). H. H. Klein, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 3, 3. Aufl. 2005, § 50 Rn. 16; vgl. auch P. Kirchhof, in: Brenner/Huber/ Möstl (Hrsg.), Der Staat des Grundgesetzes – Kontinuität und Wandel, Festschrift für Peter Badura zum 70. Geburtstag, 2004, S. 237 ff. 33 Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995, Rn. 574; vgl. auch H. Hofmann/Dreier, Repräsentation, Mehrheitsprinzip und Minderheitenschutz, in: Schneider/Zeh (Hrsg.), Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 5 Rn. 24; Lepsius, Die erkenntnistheoretische Notwendigkeit des Parlamentarismus, in: Bertschi/Gächter/Hurst (Hrsg.), Demokratie und Freiheit, 1999, S. 123 (149 ff.). 34 Sarcinelli, Politische Kommunikation in Deutschland – Medien und Politikvermittlung im demokratischen System, 3. Aufl. 2011, S. 317. 35 Patzelt, Parlamentskommunikation, in: Jarrem/Sarcinelli/Saxer (Hrsg.), Politische Kommunikation in der demokratischen Gesellschaft – Ein Handbuch mit Lexikonteil, 1998, S. 431. 36 BVerfGE 44, 308 (316); 56, 396 (405); 80, 188 (218); 130, 318 (342). 37 BVerfGE 102, 224 (236); 130, 318 (348). 38 BVerfGE 119, 96 (119). 39 BVerfGE 130, 318 (342). 40 BVerfGE 45, 1 (32); 70, 324 (355). 32
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dung über Einnahmen und Ausgaben der öffentlichen Hand als Ausfluss der demokratischen Selbstgestaltungsfähigkeit im Verfassungsstaat 41 ein zentrales Element der demokratischen Willensbildung zum Ausdruck bringt.42 Seine Funktion beschränkt sich nicht nur auf die eines reinen Wirtschaftsplans, sondern erhebt sich zu der eines staatsleitenden Hoheitsaktes in Gesetzesform.43 Auch wenn ihm in erheblichem Maße ein Prognoseelement zu Eigen ist,44 muss er neben dem Grundsatz der Vollständigkeit45 auch dem Grundsatz der Budgetwahrheit46 genügen. Seine Aufstellung, ein Ausdruck der Hoheit über den Haushalt und damit auch ein Ort konzeptioneller politischer Entscheidungen, muss durch öffentliches Verhandeln und den Widerstreit von Argument und Gegenargument geprägt sein, da erst so die Möglichkeit eröffnet wird, „Schattenhaushalte“47 zu verhindern und der Oberaufsicht des Publikums48 den nötigen Raum zu verschaffen.49 Entsprechendes gilt über die grundsätzlich einmalige Aufstellung des zeitlich begrenzten und aufgabenbezogenen Haushaltsplans hinaus für alle wesentlichen Entscheidungen des Bundestags, die seine haushaltspolitische Gesamtverantwortung berühren.50 c) Die haushaltspolitische Gesamtverantwortung Dies gilt im Falle der Feststellung des Haushaltsplans und der damit verbundenen Entscheidungen über Einnahmen und Ausgaben der öffentlichen Hand umso mehr, weil der Haushaltsgesetzgeber die wirtschaftlichen Grundsatzentscheidungen für zentrale Bereiche der Politik trifft.51 Erst die Beschlussfassung über den Haushaltsplan als „Plan der Pläne“52 nach der Ausarbeitung der Einzelpläne, die nach der Ressortzuständigkeit durch die einzelnen Ministerien in Zusammenarbeit mit dem Bundesministerium der
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BVerfGE 123, 267 (359); 129, 124 (177). BVerfGE 70, 324 (355 f.); 79, 311 (329); 129, 124 (177); 130, 318 (342 f.). 43 BVerfGE 45, 1 (32); 79, 311 (328); 129, 124 (178); 130, 318 (342). 44 BVerfGE 30, 250 (263); 113, 167 (234); 119, 96 (130). 45 BVerfGE 93, 319 (342 f.); 108, 1 (16 f.); 108, 186 (215 f.); 110, 370 (387 f.); 113, 128 (147); 123, 132 (141); Gröpl, Haushaltsrecht und Reform, 2001, S. 469 f. 46 BVerfGE 119, 96 (118 f.); Gröpl, in: BK-GG, Art. 110 Rn. 114 f. (Dezember 2011); Heun, in: Dreier (Hrsg.), GG, Bd. 3, 2. Aufl. 2008, Art. 110 Rn. 21; Siekmann, in: Sachs (Hrsg.), GG, 6. Aufl. 2011, Art. 110 Rn. 55. 47 Puhl, Budgetflucht und Haushaltsverfassung, 1996, S. 230 (Fn. 617). 48 Bentham, Taktik oder Theorie des Geschäftsgangs in deliberierenden Volksversammlungen, 1817, S. 10. 49 BVerfGE 85, 386 (493 f.); 95, 267 (307 f.); 108, 282 (312); 130, 318 (344). 50 BVerfGE 130, 318 (345). 51 BVerfGE 45, 1 (32); 70, 324 (355); 130, 318 (342). 52 So schon Köttgen, Fondsverwaltung in der Bundesrepublik Deutschland, 1965, S. 25; ihm folgend etwa Rodi, Die Subventionsrechtsordnung, 2000, S. 543 Fn. 285. 42
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Finanzen aufgestellt werden, verleiht diesem die für seinen Vollzug durch die Exekutive erforderliche Gesetzesqualität. Das Parlament ist, wie bei jedem „normalen“ Gesetzesentwurf auch, hierbei an den Entwurf der Regierung nicht gebunden. Andernfalls könnte sein Budgetrecht auch nur schwerlich oder gar nicht das Fundament der demokratischen Selbstgestaltungsfähigkeit im Staate des deutschen Grundgesetzes darstellen.53 In einer modernen Demokratie dient dagegen die parlamentarische Festlegung von Einnahmen und deren Verwendung als staatliche Ausgaben nicht nur einer umfassenden Regierungskontrolle, sondern stellt vielmehr auch ein zentrales Element der demokratischen Willensbildung selbst dar.54 So aktualisiert die Festlegung des Haushaltsplans und die Beschlussfassung über die Haushaltsgesetze stetig einen wesentliche Ausprägung rechtsstaatlicher Demokratie, indem die zur Einnahmeerzielung den Bürgern auferlegten öffentlichen Lasten in Form von Abgaben nach dem Grundsatz der Gleichheit zu erfolgen hat.55 2. Die haushaltspolitische Gesamtverantwortung „im Außenverhältnis“ Auch wenn die haushaltspolitische Gesamtverantwortung infolge des vom Bundesverfassungsgericht hierüber ausgesprochenen Verbots ihrer Entäußerung durch das Parlament nicht grenzenlos ist, so dient doch letztlich gerade diese Beschränkung dem dauerhaften Erhalt der staatlichen Gestaltungsmöglichkeiten.56 Nur indem der jeweils für vier Jahre (Art. 39 Abs. 1 Satz 1 GG) neu gewählte Bundestag in seinen Entscheidungen über Ausgaben, aber auch Verpflichtungen mit erst in der Zukunft fällig werdenden Verbindlichkeiten beschränkt ist, kann verhindert werden, dass ein zukünftiges Parlament aufgrund von in der Vergangenheit getroffenen Entscheidungen irreversibel in seiner Handlungsfähigkeit, zumindest, soweit diese mit fiskalischen Belastungen verbunden wäre, eingeschränkt sein wird. Diese verfassungsimmanenten Schranken, die im Budgetrecht ihrerseits einer parlamentarischen Selbstbeschränkung entgegen stehen,57 schließen indessen nicht von vornherein größere ausgabenwirksame Entscheidungen auf nationaler wie aber auch inter- und supranationaler Ebene aus. Andernfalls würde aus der haushaltspolitischen Gesamtverantwortung letztlich eine mit der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes und erst recht mit der Europarechtsfreundlichkeit sowie dem Auftrag zur Mitwirkung an der Europäischen Integration (Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG) im Widerspruch stehende Beschränkung auf all
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BVerfGE 123, 267 (359); 129, 124 (177); 130, 318 (343). BVerfGE 70, 324 (355 f.); 79, 311 (329); 129, 124 (177); 130, 318 (343). BVerfGE 55, 274 (302 f.); 130, 318 (343). BVerfGE 129, 124 (179). BVerfGE 89, 155 (172); 97, 350 (368 f.); 129, 124 (179).
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diejenigen Politik- und Rechtsgebiete bestehen, die allenfalls zu einer „ausgabenneutralen“ Beteiligung führen könnten. a) Unzulässigkeit eines autonomen Haftungsautomatismus Für den inter- und supranationalen Raum gibt es allerdings verfassungsimmanente Grenzen, die der Bundestag im Hinblick auf die haushaltspolitische Gesamtverantwortung im Zusammenhang mit einer völkerrechtlichen Beteiligung der Bundesrepublik Deutschland beachten und einhalten muss. So wäre neben der völligen Entäußerung der Budgetverantwortung, deren Übertragung etwa an die Europäische Union den von der „Ewigkeitsklausel“ (Art. 79 Abs. 3 GG) geschützten Identitätskern der Verfassung verletzen würde,58 auch schon eine Beteiligung an einem „Haftungsautomatismus“ verfassungswidrig.59 Als „Haftungsautomatismus“ wird dabei eine – (völker-)vertragliche – Konstruktion verstanden, bei der die Bundesrepublik Deutschland als Völkerrechtssubjekt oder sonstige Vertragspartei nach ihrem Beitritt in grundsätzlich nicht mehr auflösbarer Weise an eingegangene Verpflichtungen und Verbindlichkeiten gebunden wäre, ohne dass deren Entstehung und Entwicklung hinreichend kontrolliert werden kann.60 Gerade das Fehlen von unverrückbaren Obergrenzen für Zahlungsverpflichtungen, sei es in Gestalt eines Gesamtbetrags oder, bei wiederkehrenden Leistungsverpflichtungen, durch deren Zahl, Frequenz und Einzelhöhe, könnte somit zu einer Verletzung der haushaltspolitischen Gesamtverantwortung führen, wenn zu befürchten oder auch nur nicht hinreichend ausgeschlossen ist, dass eine jederzeitige einseitige Loslösung von derartigen Einrichtungen nicht möglich ist. Die haushaltspolitische Gesamtverantwortung verbietet dem Parlament insoweit „Experimente“ im Hinblick auf völkerrechtliche Unsicherheiten, deren „Fehlschlag“ mittelbar auf eine dauerhafte Beschränkung oder sogar Entäußerung der demokratisch notwendigen und durch Art. 79 Abs. 3 GG geschützten Gestaltungsmöglichkeiten hinausliefe.61 b) Keine Haftung für fremde Ausgabenentscheidungen Ebenso ließe sich unter demokratischen Aspekten eine Beteiligung an einem völkerrechtlichen Mechanismus, dessen Ausgabeentscheidungen nicht hinreichend an die Zustimmung des Bundestags als besonderes, vom deutschen Staatsvolk ermächtigtes Organ rückgebunden wären, nicht hinnehmen. Insoweit würden auch Höchstgrenzen für eingegangene, gegenwärtige oder zukünftige, Verpflichtungen eine Beteiligung hieran nicht legitimieren. 58 59 60 61
BVerfGE 123, 267 (361). BVerfGE 129, 124 (180). BVerfGE 129, 124 (180). BVerfGE 132, 195 (257), Rn. 149.
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Denn die haushaltspolitische Gesamtverantwortung erschöpft sich nicht nur in einer – betragsmäßig ex ante ohnehin kaum fassbaren – Dimension (vgl. unten II.2.e)), sondern steht unmittelbar mit der demokratischen Legitimation staatlicher Entscheidungen in unauflösbarem Konnex. Der Bundestag darf daher bei zumindest nicht nur unerheblichen Zahlungsverpflichtungen nicht von den Willensentscheidungen Dritter, Staaten wie sonstiger Akteure, dahingehend abhängig sein, dass die einmal in gleich welcher rechtlichen Form eingegangenen Haftungs- und Zahlungsverpflichtungen zu einer bloßen „Abrufermächtigung“ für Andere verkümmert.62 Dies bedeutet freilich nicht, dass der Bundesrepublik Deutschland insgesamt jegliche Beteiligung an völkerrechtlichen Einrichtungen untersagt wäre, die zu einem vorübergehenden, insbesondere eher geringfügigen, Ausgabenaufwand führen. Nicht hingenommen werden kann lediglich, dass erst durch Entscheidungen Dritter konkrete Zahlungsverpflichtungen, beispielsweise aus bloßen Gewährleistungsübernahmen und Bürgschaften, folgen könnten, über deren Entstehung, Höhe und Fälligkeit der Bundestag als „Hüter des Bundeshaushalts“ nur noch in den bloßen „Nachvollzug“63 gedrängt wäre.64 c) Sicherstellung einer hinreichenden parlamentarischen Einflussnahme Auch „unterhalb“ der Schwelle einer Haftungsübernahme für die Willensentscheidungen fremder Staaten, die von struktureller Bedeutung für den innerstaatlichen Haushalt wären, muss der Bundestag „um seiner selbst willen“ ein Mindestmaß an Möglichkeit zur parlamentarischen Einflussnahme auf eine – völkerrechtliche – Institution ausüben können, wenn diese in nicht nur unerheblicher Weise durch den deutschen Staatshaushalt finanziert wird. Zwar fordern die haushaltspolitische Gesamtverantwortung und das Demokratieprinzip keine lückenlose Einwirkung auf Klein- und Kleinstentscheidungen. Auch kann, nicht zuletzt unter dem Blickwinkel des Selbstorganisationsrechts des deutschen Parlaments und der Notwendigkeit einer Aufgabenverteilung zur effektiven Arbeitserledigung 65, eine Delegation innerhalb des Bundestags vom Plenum auf Ausschüsse und andere Gremien erfolgen (hierzu unter II.3.). In keinem Fall darf sich der Bundestag auf die einmalige demokratische Legitimation in Gestalt eines Zustimmungsgesetzes zur Errichtung eines völkerrechtlichen Mechanismus beschränken. Vielmehr muss auch „im laufenden Betrieb“ zumindest bei Ausgabeentscheidungen von Größenordnungen, in deren Folge der Bundeshaushalt in nicht nur ver-
62 BVerfGE 129, 124 (180); 132, 195 (241), Rn. 110; BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 18. März 2014 – 2 BvR 1390/12 u.a. –, juris, Rn. 165. 63 BVerfGE 129, 124 (178 f.); 130, 318 (344 f.). 64 BVerfGE 132, 195 (241), Rn. 110. 65 BVerfGE 40, 308 (317); 130, 318 (350).
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nachlässigbarer Weise belastet wird oder werden könnte, eine Einbindung des Parlaments mit echten Mitwirkungs- und Mitbestimmungsmöglichkeiten bestehen.66 Gerade bei fortlaufenden, nicht nur einmaligen, Ausgabeermächtigungen würde andernfalls eine Entkopplung der künftigen Entwicklung von der unverzichtbaren demokratischen Legitimation staatlicher Ausgabeentscheidungen eintreten und der Bundestag auch insoweit in die Rolle des bloßen Nachvollzugs gedrängt, indem bis zur festgelegten Obergrenze Verbindlichkeiten zu erfüllen wären, deren Entstehung außerhalb parlamentarischer und damit demokratischer Verantwortlichkeiten läge.67 d) Einschätzungsspielraum des Gesetzgebers Wie bei allen legislativen Tätigkeiten steht dem Gesetzgeber auch bei der Aufstellung des Haushaltsplans (Art. 110 Abs. 2 GG) ein weiter Einschätzungs- und Beurteilungsspielraum zu.68 Eine minutiöse Überprüfung ausgabenwirksamer Entscheidungen, seien sie unmittelbar oder nur mittelbar auf eine künftige Belastung des Bundeshaushalts gerichtet, wäre weder mit dem Prinzip der Gewaltenteilung noch der Haushaltsautonomie des Parlaments vereinbar. Völlig unabhängig und injustitiabel stellen sich jedoch auch die Entscheidungen des Gesetzgebers im Hinblick auf die Wahrung der haushaltspolitischen Gesamtverantwortung nicht dar. So darf sich das Parlament insoweit nicht nur auf die einmalige Beurteilung möglicher unmittelbarer Belastungen für den Bundeshaushalt beschränken, sondern ist vielmehr zu einer ganzheitlichen Betrachtung der einzugehenden Verpflichtungen angehalten. Dies bedeutet indessen nicht, dass jede auch nur theoretisch vorstellbare „worst-case-Variante“, insbesondere, wenn sie jeglicher Tatsachen- und Erfahrungsgrundlage entbehrt, zwingend zum Gegenstand des Einschätzungs- und Beurteilungsspielraum des Haushaltsgesetzgebers gemacht werden müsste.69 Sinn und Zweck der haushaltspolitischen Gesamtverantwortung und der aus ihr folgenden Schranken liegt gerade darin, dass unter keinen ernsthaft erwartbaren und nicht nur rein spekulativen Umständen eine derartige Zahlungsverpflichtung gegenüber der Bundesrepublik Deutschland entsteht, die, dem Grundsatz pacta sunt servanda und der Völkerrechtstreue Deutschlands folgend, selbst dann nicht abweisbar wären, wenn sie zu einer massiven (Neu-)Verschuldung des Bundes, gegebenenfalls auch über die der verfassungs- und europarechtlich zulässigen Grenzen hinaus, führt.70 Gerade soweit im Zusammenhang mit neuen Handlungsinstrumenten im
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BVerfGE 129, 124 (180 f.); 132, 195 (241), Rn. 110. BVerfGE 129, 124 (180 f.); 130, 318 (345); 132, 195 (262), Rn. 162. BVerfGE 129, 124 (182 f.); 132, 195 (243), Rn. 113. BVerfGE 50, 290 (335); 95, 267 (314 f.); 110, 117 (194); 123, 180 (242). Vgl. auch BVerfGE 129, 284 (299).
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inter- und supranationalen Rechtsraum belastbare Vorerfahrungen seitens des Gesetzgebers und hieraus ableitbare Erfahrungssätze und Einschätzungen fehlen, müssen „rein theoretische Entwicklungen“, die vertraglich vorgesehen oder zumindest nicht ausgeschlossen sind, nicht bereits zwingend ex ante im Sinne einer „bestmöglichen Vorsorge für alle auch nur denkbaren Fälle“ berücksichtigt werden, da dies letztlich auf eine Reduzierung des Beurteilungsspielraums „auf Null“, nämlich auf den „schlimmst-anzunehmenden Fall“ führen würde.71 Notwendig ist vielmehr eine die Möglichkeit auch derartiger Entwicklungen zumindest mit umfassende Beobachtung und rechtzeitige Reaktion durch den (Haushalts-)Gesetzgeber,72 deren Intensität und „Sensibilität“ umso größer ausfallen muss, je schwerwiegender mögliche Folgen aus dem Eintritt einer anfänglich eher hoch oder sogar höchst unwahrscheinlichen erschienenen Situation wären. Dies insbesondere dann, wenn einmal eingegangene völkerrechtliche Verpflichtungen gerade bei Eintreten unerwarteter Umstände zu einer irreversiblen Beseitigung der demokratisch unverzichtbaren Gestaltungsfreiheit des vom Volk gewählten und zur Ausübung der Staatsgewalt berufenen Parlaments führen könnten, womit eine unvertretbare Verletzung der Verfassungsidentität eintreten würde.73 Indem derartige Entwicklungsmöglichkeiten, mögen sie auch ex ante fernliegend erscheinen, bereits die Verfassungsidentität berühren und zumindest abstrakt gefährden könnten, muss der Bundestag dem von Anfang an entgegentreten und gegebenenfalls die Zustimmung zur Ratifikation und die Verabschiedung des Zustimmungsgesetzes zu völkerrechtlichen Verträgen durch Vorbehalte einschränken oder sogar verweigern.74 e) Quantifizierbarkeit „roter Linien“? Die bisherigen Entscheidungen zur EFSF 75 und zum ESM 76 betrafen Einrichtungen, bei denen der Bundestag über weitgehend konkretisierte Zahlungsverpflichtungen, sei es in gegenwärtiger Gestalt von Gewährleistungsermächtigungen oder als sukzessive fällig werdende Zahlungsverpflichtungen, zu entscheiden hatte. Wiederholt stellte sich die Frage, ob und gegebenenfalls wie eine Quantifizierung der Grenzen der Leistungsfähigkeit des Bundeshaushalts und dessen Zukunftsfähigkeit erreicht werden könnte. Bei der „Griechenlandhilfe“-Entscheidung war diese Problematik unter Verweis auf den strukturellen Unterschied zwischen Kreditaufnahmen und
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Vgl. BVerfGE 129, 124 (182); 132, 195 (242), Rn. 113. BVerfGE 50, 290 (335); 95, 267 (314 f.); 110, 117 (194); 123, 180 (242). BVerfGE 132, 124 (256), Rn. 147. BVerfGE 132, 124 (257), Rn. 149. BVerfGE 129, 124 ff. BVerfGE 132, 195 ff.
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Gewährleistungsermächtigungen77 ausdrücklich offen gelassen worden.78 Dies auch deshalb, weil der Einschätzungs- und Beurteilungsspielraum des Haushaltsgesetzgebers, den das Bundesverfassungsgericht bei seiner auf evidente Verletzungen der haushaltspolitischen Gesamtverantwortung zurückgenommenen Kontrolle zu respektieren hat,79 einer betragsgenauen Festlegung von „roten Linien“, insbesondere bei hochkomplexen und multikausalen Entwicklungsmöglichkeiten80, von vornherein entgegenstehen dürfte.81 Differenziert werden muss dabei zwischen „roten Linien“ für die Gesamtbelastung einerseits und, wie dies vom Bundesverfassungsgericht bereits angedeutet worden ist 82, zwischen „roten Linien“ für die relative Belastung einzelner Teilmaßnahmen andererseits. Eine Definition einer „roten Linie“ für die zulässigerweise vom Parlament eingehbare Gesamtbelastung für den Haushalt begegnet indessen schon aufgrund der Dynamik der Finanz- und Haushaltslage im Bund, die ihrerseits wieder maßgeblich vom nationalen Steueraufkommen und der allgemeinen Wirtschafts- und Beschäftigungslage abhängig ist, massiven Schwierigkeiten. Nicht ohne Grund sah schon der bisherige Versuch, eine uferlose Ausgabenpolitik durch verfassungsrechtliche Vorgaben einzuhegen, eine „fließende“ Grenze vor, indem die Neuverschuldung auf die Höhe der Investitionen (Art. 115 Abs. 1 Satz 2 GG a.F.) grundsätzlich beschränkt worden war. Mit der Schuldenbremse, vergleichbar mit dem Konvergenz-Kriterium des Maastricht-Vertrags (Art. 1 des Protokolls Nr. 12), erfolgt dies nunmehr in Relation zum Bruttoinlandsprodukt. Überlegungen, dass die Zinsen für künftige Staatsschulden, die zur Begleichung eingegangener Zahlungsverpflichtungen aufgenommen werden müssten, nicht dazu führen dürften, dass der als „frei verfügbar“ anzusehende Anteil am Gesamtbudget aufgezehrt würde, erscheinen zwar prima facie verlockend. Bei näherer Betrachtung stößt ein solcher Ansatz jedoch auf erhebliche Schwierigkeiten. Denn dies würde auf die Einbeziehung gleich mehrerer Unbekannter, etwa des künftigen Zinsniveaus für Staatsanleihen sowie der als „frei verfügbar“ anzusehende Etatanteil, dessen Existenz bei fortdauernder Notwendigkeit neuer Staatsschulden ohnehin definitorisches Streitpotential in sich trägt, und schließlich der Höhe der neu aufzunehmen-
77 BVerfGE 129, 124 (182); Kube, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), GG, Art. 115 Rn. 78, 124, 241 f. (Oktober 2009); Wendt, in: Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG, 6. Aufl. 2010, Art. 115 Rn. 26. 78 BVerfGE 132, 195 (242), Rn. 112; Müller-Franken, NJW 2012, S. 3161 (3162). 79 BVerfGE 129, 124 (182). 80 BVerfGE 95, 267 (314 f.) zu finanziellen Belastungen aus der Deutschen Einheit. 81 Vgl. BVerfGE 132, 195 (242), Rn. 112; vgl. auch BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 18. März 2014 – 2 BvR 1390/12 u.a. –, juris, Rn. 174. 82 BVerfGE 129, 124 (180 f.); 130, 318 (345).
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den Schulden selbst hinauslaufen. Die Überprüfbarkeit der dafür notwendigen Annahme, soll nicht der Einschätzungs- und Beurteilungsspielraum des Haushaltsgesetzgebers negiert werden, würde sich absehbar selbst einer Evidenzkontrolle entziehen. Der Ansatz des Bundesverfassungsgerichts, eine Gesamteinschätzung des Bundestages für die künftige Tragfähigkeit des Bundeshaushalts und des wirtschaftlichen Leistungsvermögens der Bundesrepublik Deutschland insgesamt zu verlangen und diese auf offensichtliche Unzulänglichkeiten zu überprüfen,83 bietet nicht nur ein flexibleres Konzept. Es enthebt vielmehr zugleich auch den Bundestag als besonderes Organ der deutschen Staatsorganisation nicht seiner eigenen Verpflichtung, einen möglichst schonenden, nachhaltigen Umgang mit den beim einzelnen Bürger erhobenen Abgaben zu unternehmen, ohne sich auf eine genau definierte Freigrenze berufen zu können. Ähnlich verhält es sich mit der Quantifizierbarkeit von „roten Linien“ für die im Einzelnen zu bewilligenden Teilmaßnahmen, die unbeschadet der Gesamtbewilligung nach dem Grundsatz der haushaltspolitischen Gesamtverantwortung ebenfalls vom Bundestag zu verantworten sind, wenn sie eine Größenordnung erreichen, die für die Ausübung des gegenwärtigen wie auch künftigen Budgetrechts von struktureller Bedeutung sein kann.84 Die Grenze zwischen „untergeordneten“ Maßnahmen85 und Maßnahmen von struktureller Bedeutung, bei denen für die Verwendung von nur mit hinreichender demokratischer Legitimation erhobenen Steuereinnahmen auch auf der Ausgabenseite eine ausreichende demokratische Rückkoppelung erforderlich ist, lässt sich ihrerseits nicht vorab genau beziffern. f) Anfängliche Prärogative und nachfolgende Beobachtungspflicht Die haushaltspolitische Gesamtverantwortung des Parlaments umfasst nicht nur die jeweilige „Grundentscheidung“ über die Beteiligung und Mitwirkung an einer (völkerrechtlichen) Einrichtung, die zu bedeutsamen Zahlungsverpflichtungen führt oder führen könnte. Dies käme andernfalls einer, wenn auch „freiwilligen“, so dennoch gleichermaßen unzulässigen „Verabschiedung“ des Parlaments in die Rolle des bloßen Nachvollzugs gleich. Vor einer solchen, auch bewusst herbeigeführten, Selbstbeschränkung, die nur noch auf die fortlaufende Bewilligung der fällig werdenden Ausgaben im Haushaltsgesetz hinausliefe, schützt gerade die verfassungsrechtlich verankerte haushaltspolitische Gesamtverantwortung als Ausfluss des unwandelbaren Demokratieprinzips (Art. 79 Abs. 3 GG).
83 84 85
BVerfGE 129, 124 (182 f.); 132, 195 (242), Rn. 113. BVerfGE 129, 124 (180 f.); 130, 318 (345); 132, 195 (251), Rn. 137. BVerfGE 129, 124 (180); 132, 195 (275), Rn. 190.
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Vergleichbar mit der Integrationsverantwortung, die dem Bundestag hinsichtlich der Wahrnehmung und Ausübung von an die Europäische Union übertragenen Kompetenzen eine Beobachtungspflicht auferlegt 86, muss das Parlament vielmehr auch die weitere Entwicklung einer ausgaberelevanten Einrichtung und deren Verhalten im Hinblick auf mögliche hieraus resultierende Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland im Blick haben,87 wenn auch gegebenenfalls nur durch Delegation auf den Haushaltsausschuss 88. Denn mit der Erkenntnis einer fehlerhaften Prognose würden ex nunc Handlungspflichten für den Bundestag aus dessen Verfassungsauftrag, die Allgemeinheit vor Schaden zu schützen, resultieren.89 Die verfassungsrechtliche Forderung nach einem hinreichenden parlamentarischen Einfluss auf die Art und Weise des Umgangs mit den zu Lasten des Bundeshaushalts zur Verfügung gestellten Mitteln90 (vgl. oben II.2.c)) ist folglich kein Selbstzweck. Vielmehr dient gerade diese Schranke dem Schutz des Parlaments, sich in einem Akt der „Selbstentleibung“ jeglicher zukünftigen Beherrschbarkeit eingegangener Verpflichtungen von struktureller haushalterischer Bedeutung zu entäußern. Ebenso eröffnet sich dadurch die Möglichkeit, Entwicklungen zu verhindern, die ihrerseits Zahlungsverpflichtungen zur Folge haben könnten, welche die künftige haushalterische Handlungsmöglichkeit beseitigen. Der anfänglich weite Einschätzungs- und Beurteilungsspielraum, den der Gesetzgeber bei der Eingehung und Begründung einer Gesamtverpflichtung noch haben kann, solange er auf Erwägungen beruht, die vernünftigerweise Grundlage legislativer Maßnahmen und Entscheidungen sein können91, dürfte sich folglich dahingehend verengen, dass bei nachfolgenden Einzelmaßnahmen eine deutlich intensivere Kontrolle der Einhaltung der haushaltspolitischen Gesamtverantwortung erfolgen müsste, die insbesondere auch bereits eingegangene und haushalterisch wirksam gewordene Verpflichtungen in den Blick nehmen müsste. Die einmalige Zustimmung zu einer Obergrenze stellt folglich keinen „Freibrief“ dar, mit dem alle weiteren Entscheidungen, die zu einem sukzessiven Anstieg der Verpflichtungen bis zur zulässigen Gesamthöhe führen, von vornherein unbedenklich wären.
86
BVerfGE 123, 267 (356 ff.). BVerfGE 129, 124 (181); 132, 195 (241), Rn. 110; BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 18. März 2014 – 2 BvR 1390/12 u.a. –, juris, Rn. 165. 88 BVerfGE 129, 124 (186); zu Recht zurückhaltend Huber, Das Verständnis des Bundesverfassungsgerichts vom Kompetenzgefüge, in: Möllers/Zeitler (Hrsg.), Europa als Rechtsgemeinschaft – Währungsunion und Schuldenkrise, 2013, S. 229 (241). 89 BVerfGE 50, 290 (335 f.); 95, 267 (314 f.); 110, 177 (194); 123, 180 (242). 90 BVerfGE 129, 124 (180 f.); 132, 195 (241), Rn. 110; BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 18. März 2014 – 2 BvR 1390/12 u.a. –, juris, Rn. 165. 91 BVerfGE 77, 84 (106); 87, 363 (383); 90, 145 (183); 113, 167 (252 f.). 87
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g) Vorsorgepflicht des Deutschen Bundestages Die haushaltspolitische Gesamtverantwortung kann zunächst den Gesetzgeber zur vorsorglichen Bereitstellung von Mitteln verpflichten, um jederzeit in angemessenem Umfang auf das bevorstehende Fälligwerden von eingegangenen Zahlungsverpflichtungen reagieren zu können, wenn deren Fälligkeit hinreichend sicher erscheint.92 Dies umso mehr, wenn im Zusammenhang mit eingegangenen Zahlungsverpflichtungen und deren nicht rechtzeitiger oder nicht vollständiger Erfüllung Nachteile für die Bundesrepublik Deutschland drohen, die gegebenenfalls sogar die unverzichtbare demokratische Rückkoppelung tangieren könnten.93 Der dem Parlament auch insoweit zustehende Einschätzungs- und Beurteilungsspielraum lässt dem Haushaltsgesetzgeber zwar Freiräume und Prognosemöglichkeiten, erfordert jedoch eine zumindest valide Prognosebegründung im Zusammenhang mit der (Nicht-)Vorhaltung entsprechender Mittel oder Ermächtigungen.94 Die Aufstellung eines Nachtragshaushalts nach Art. 110 Abs. 3 GG95 und erst recht das in Art. 112 GG vorgesehene subsidiäre Notbewilligungsrecht der Exekutive gegenüber des dem Parlament vorbehaltenen Budgetrechts96 dürfen nur in Konstellationen zur Anwendung kommen, in denen ein rechtzeitiges Handeln des Haushaltsgesetzgebers trotz sorgfältiger und ex ante nicht zu beanstandender Prognose nicht erwartet werden kann, zugleich aber unaufschiebbarer Bedarf an zusätzlichen Ausgabebewilligungen besteht.97 Die Aufstellung einer „gültigen“ Prognose98 darf folglich gerade nicht unter der Prämisse erfolgen, dass unvermeidbare Unsicherheiten99 gegebenenfalls durch eben diese außerordentlichen Instrumente der staatlichen Haushaltsgestaltung jederzeit aufgefangen werden könnten.100 Vielmehr müssen bereits 92 BVerfGE 132, 195 (263), Rn. 164 f.; BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 18. März 2014 – 2 BvR 1390/12 u.a. –, juris, Rn. 200. 93 BVerfGE 129, 124 (177 ff.); 132, 195 (260 ff.), Rn. 157 ff.; BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 18. März 2014 – 2 BvR 1390/12 u.a. –, juris, Rn. 194 ff., jeweils zu Art. 4 Abs. 8 ESM-Vertrag und der Möglichkeit eines vollständigen Stimmrechtsverlustes. 94 BVerfGE 132, 195 (264), Rn. 167; BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 18. März 2014 – 2 BvR 1390/12 u.a. –, juris, Rn. 184 f. 95 BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 18. März 2014 – 2 BvR 1390/12 u.a. –, juris, Rn. 201 f. 96 BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 18. März 2014 – 2 BvR 1390/12 u.a. –, juris, Rn. 208. 97 BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 18. März 2012 – 2 BvR 1390/12 u.a. –, juris, Rn. 207; Kube, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), GG, Art. 112 Rn. 3 (Dezember 2007); Heintzen, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), GG, Bd. 2, 6. Aufl. 2012, Art. 112 Rn. 1. 98 BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 18. März 2014 – 2 BvR 1390/12 u.a. –, juris, Rn. 210. 99 BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 18. März 2012 – 2 BvR 1390/12 u.a. –, juris, Rn. 211. 100 BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 18. März 2012 – 2 BvR 1390/12 u.a. –, juris, Rn. 208 f.
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dem Grunde nach absehbare Zahlungsverpflichtungen als Ansatz im Haushaltsplan vorgesehen werden, da anderenfalls die Grundsätze der Vollständigkeit und der Wahrheit des Haushalts verletzt wären.101 Dies insbesondere dann, wenn, wie im Falle des ESM, sowohl die Leistungsverpflichtung als solche dem Grunde wie auch der absoluten Höhe nach seit dem Inkrafttreten des ESMV für die Bundesrepublik Deutschland im Wesentlichen102 unverrückbar feststehen und an sich nur noch die zur jeweiligen Fälligkeit führenden Umstände im Ungewissen liegen, zugleich aber die Ermächtigung zur Übernahme von „Gewährleistungen“ in § 1 Abs. 2 Satz 2 ESMFinG keine haushalterische Absicherung darstellt.103 Eine Prognose, die sich von vornherein auf die Absicherung des „worstcase“-Szenarios durch die außerordentlichen Instrumente der Haushaltsgestaltung mit der Folge stützen würde, dass nur die als sicher anzusehenden Verbindlichkeiten überhaupt erst erfasst werden würden, liefe auf eine unzulässige Eröffnung eigener finanzieller Spielräume für die Exekutive bei der Ausgabengestattung, wenn auch in einem sachlich stark eingegrenzten Bereich, hinaus.104 Dabei würde allein schon die Heranziehung des Nothaushaltsrechts durch den Haushaltsgesetzgeber im Zuge seiner Prognose belegen, dass auch das Parlament, wenn auch gegebenenfalls nur mit geringer Wahrscheinlichkeit, die Notwendigkeit einer solchen Notfallmaßnahme für grundsätzlich möglich hält. Damit wäre aber, auch wenn ein vorsorglicher Haushaltsansatz für derartige Zahlungsbedürfnisse als nicht erforderlich verneint worden ist, ein später eintretender Ausgabenbedarf nicht mehr „unvorhersehbar“ im Sinne des Art. 112 GG.105 h) Handlungspflicht des Deutschen Bundestages Darüber hinaus kann die haushaltspolitische Gesamtverantwortung aber auch zu einer Handlungspflicht des Gesetzgebers dahingehend führen, Modifikationen an einer bestehenden Einrichtung herbeizuführen, wenn deren Konzeption Lücken aufweisen sollte. Am Beispiel der als Stabilitätsunion ausgestalteten Wirtschafts- und Währungsunion könnte dies, soweit 101 BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 18. März 2012 – 2 BvR 1390/12 u.a. –, juris, Rn. 210. 102 Zu einem gleichwohl bestehenden Kündigungs- oder Austrittsrecht BVerfGE 132, 195 (268), Rn. 175; BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 18. März 2014 – 2 BvR 1390/12 u.a. –, juris, Rn. 222. 103 BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 18. März 2014 – 2 BvR 1390/12 u.a. –, juris, Rn. 206. 104 BVerfGE 45, 1 (37 f.); Gröpl, in: Bonner Kommentar, Bd. 15, Art. 112 GG Rn. 27 (März 2003); Kube, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), GG, Art. 112 Rn. 6, 38 (Dezember 2007). 105 Gröpl, in: Bonner Kommentar, Bd. 15, Art. 112 Rn. 31 (März 2003); Kube, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), GG, Art. 112 Rn. 41 (Dezember 2007); Schwarz, in: v. Mangoldt/ Klein/Starck (Hrsg.), GG, Bd. 3, 6. Aufl. 2010, Art. 112 Rn. 20.
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eine notwendig erscheinende Änderung des Unionsrechts nicht durchsetzbar sein sollte, sogar den Austritt aus der Währungsunion erfordern.106 Die Weite des dem Deutschen Bundestag in einem solchen Fall zustehenden Einschätzungs- und Beurteilungsspielraums dürfte indessen wohl nicht mit dem Einschätzungs- und Beurteilungsspielraum vergleichbar sein, der zu Beginn der jeweiligen Entwicklung, etwa des Beitritts zur Währungsunion oder auch zum ESM, bestanden hat. Spätestens dann, wenn künftig drohende Zahlungsverpflichtungen aus Maßnahmen resultieren könnten, die so von Anfang an nicht oder nicht in der bevorstehenden Dimension von der jeweiligen Vertragskonzeption umfasst gewesen sind, könnte sich die Einschätzungsprärogative des Deutschen Bundestages erheblich, gegebenenfalls sogar bis hin zu einer Reduzierung auf Null, einengen. Dies deshalb, weil die anfängliche Überprüfung der Einhaltung der haushaltspolitischen Gesamtverantwortung nur diejenigen Risiken umfassen kann, die aus der Ausübung von übertragenen Kompetenzen resultieren können. Käme es indessen zu einer Kompetenzanmaßung oder einer Überschreitung von Befugnissen, wäre dies möglicherweise von der anfänglichen Prognose nicht mehr gedeckt. Damit wäre dann aber dem Parlament bei sich abzeichnenden Risiken für die haushalterische Entscheidungsfreiheit wohl ebenso wenig ein weiter Einschätzungs- und Beurteilungsspielraum eröffnet, wie dies dann der Fall sein dürfte, wenn bereits von Anfang an derart weite und an sich so nicht vorgesehene Entwicklungen im Zeitpunkt des Beitritts zur jeweiligen Institution, etwa Währungsunion oder ESM, abgezeichnet in die Überlegungen miteinbezogen hätten werden müssen. i) Zusammenfassung Zusammenfassend kann zunächst festgestellt werden, dass die haushaltspolitische Gesamtverantwortung den Deutschen Bundestag als besonderes Organ (Art. 20 Abs. 2 GG) im Hinblick auf die für eine funktionierende Demokratie notwendige Gestaltungsfreiheit im Zusammenhang mit staatlichen Ausgaben Grenzen auferlegt, die gerade dem Erhalt einer dauerhaften Haushalts- und Gestaltungsfreiheit dienen. Die aus der Verfassung resultierende Schranke gegenüber einer Selbstbeschränkung des Parlaments in zukünftigen Haushaltsjahren durch irreversibel eingegangene Zahlungsverpflichtungen von nicht mehr hinnehmbaren Größenordnungen ist zugleich eine aus dem Wahlrecht des einzelnen Bürgers aus Art. 38 Abs. 1 GG resultierende Notwendigkeit, da nur so eine bewusste und gewollte „Selbstaufgabe“ des Parlaments noch durch den Volkssouverän selbst verhindert werden kann. Zudem obliegen dem Parlament auch nach der Eingehung von zulässigen und mit der haushaltspolitischen Gesamtverantwortung (noch) zu 106
BVerfGE 89, 155 (205); 97, 350 (369); 132, 195 (244), Rn. 118.
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vereinbaren Zahlungsverpflichtungen und Verbindlichkeiten Vorsorgepflichten, die namentlich ein „Zuwarten“ sehenden Auges bis zum Ernstfall bei gleichzeitig drohendem Verlust demokratisch unverzichtbarer Mitsprachemöglichkeiten von vornherein verbieten. 3. Die haushaltspolitische Gesamtverantwortung „im Innenverhältnis“ Neben der auf das „Außenverhältnis“ der Bundesrepublik Deutschland gerichteten Dimension der haushaltspolitischen Gesamtverantwortung, die es dem Parlament untersagt, in beliebiger Weise Verpflichtungen einzugehen, die gegebenenfalls die demokratisch unverzichtbare Gestaltungsfreiheit des Haushaltsgesetzgebers beeinträchtigen, schlimmstenfalls sogar irreversibel beseitigen könnten, entfaltet die haushaltspolitischen Gesamtverantwortung weiterhin auch eine „nach innen“ gerichtete Begrenzung für das Parlament. So darf der Bundestag die Wahrnehmung der haushaltspolitischen Gesamtverantwortung nicht beliebig auf Ausschüsse oder andere Sondergremien delegieren, weil mit jeder Delegation ein Ausschluss der in die jeweiligen Gremien nicht gewählten Abgeordneten einherginge. Mit dem Wesen der haushaltspolitischen Gesamtverantwortung wäre eine Entäußerung der Plenarzuständigkeit zu Gunsten einzelner Abgeordneter unter gleichzeitigem Ausschluss aller übrigen in den Bundestag gewählter Abgeordneter, die erst in ihrer Gesamtheit den Volkssouverän repräsentieren, unvereinbar. Im Spannungsfeld zwischen Selbstorganisationsrecht des Parlaments und Erhalt dessen Arbeitsfähigkeit einerseits sowie haushaltspolitischer Gesamtverantwortung des Deutschen Bundestages als Verfassungsorgan andererseits sind erneut nach Maßgabe der Bedeutung einzelner Entscheidungen differenzierte Möglichkeiten möglich. Denn die haushaltspolitische Gesamtverantwortung gebietet keine bis ins Kleinste gehende Zustimmung des Parlaments zu jeglicher ausgabenwirksamen Entscheidung.107 a) Das Plenum und der einzelne Abgeordnete In der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist die Rolle des einzelnen Abgeordneten gegenüber dem Plenum und gegenüber dem von diesem repräsentierten Staatsvolk wiederholt dahingehend festgestellt worden, dass nur der Deutsche Bundestag in seiner Gesamtheit die vom Volk ausgehende Staatsgewalt ausübt.108 Dabei kommt dem einzelnen Abgeordneten mit seinen in Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG gewährleisteten Rechten ein innerparlamentarischer Anspruch auf Teilhabe an den Befugnissen, insbesondere etwa am Rederecht109, am Stimmrecht sowie am Frage- und Informations107 108 109
BVerfGE 129, 124 (180). BVerfGE 44, 308 (316); 56, 396 (405); 80, 188 (217); 130, 318 (342). BVerfGE 10, 4 (12); 60, 374 (379); 80, 188 (218).
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recht110 zu.111 Ebenso muss es jedem Abgeordneten möglich sein, sich an parlamentsinternen Wahlen zu beteiligen und sich mit anderen Abgeordneten zu einer Fraktion zusammenzuschließen.112 Grenzen finden die Rechte des einzelnen Abgeordneten durch andere Rechtsgüter von Verfassungsrang, wie es bei der Funktionsfähigkeit des Parlaments der Fall ist.113 b) Das Selbstorganisationsrecht und seine Grenzen Im Rahmen der vom Grundgesetz verliehenen Geschäftsordnungsautonomie (Art. 40 Abs. 1 Satz 2 GG) und der damit übertragenen Selbstorganisationsbefugnis darf der Deutsche Bundestag insbesondere auch den parlamentarischen Geschäftsgang regeln.114 Vor dem Hintergrund einer zunehmenden Komplexität von Regelungsbedürfnissen ist es dabei unverzichtbar, dass der Bundestag Strategien zum arbeitsteiligen Zusammenwirken und der Koordination der politischen Willensbildung entwickelt.115 Zugleich kann erst durch die Ausübung der Selbstorganisation durch das Parlament die Art und Weise der Rechtewahrnehmung durch die einzelnen Abgeordneten erreicht werden.116 Ebenso stellt damit aber auch der Status des einzelnen Abgeordneten eine Begrenzung des für das Plenum mit weitem Gestaltungsspielraum versehenen Selbstorganisationsrechts dar. Die Steigerung von Effektivität und Effizienz parlamentarischer Vorgänge muss dem Prinzip der Beteiligung aller Abgeordneten an den Entscheidung des Deutschen Bundestages Rechnung tragen,117 weil insbesondere jede Aufgabenübertragung an einen beschließenden Ausschuss zum Ausschluss aller nicht im Ausschuss befindlichen Abgeordneten von der dortigen Mitwirkung führt. Soweit nicht bereits das Grundgesetz selbst die Übertragung von Befugnissen des Plenums auf Ausschüsse zur selbständigen und plenarersetzenden Wahrnehmung vorsieht (so etwa bei dem Petitionsausschuss nach Art 45c GG oder dem Parlamentarischen Kontrollgremium nach Art. 45d GG), ist die Übertragung von staatsleitenden oder sonstigen wesentlichen Entscheidungen auf Ausschüsse ungeklärt118, wenngleich dies eher zu verneinen sein wird.119 Dane110
BVerfGE 13, 123 (125); 57, 1 (5); 67, 100 (129); 70, 324 (355). BVerfGE 130, 318 (342). 112 BVerfGE 43, 142 (149); 70, 324 (354); 130, 318 (342). 113 BVerfGE 80, 188 (219); 884, 304 (321); 96, 264 (278); 99, 264 (278); 99, 19 (32); 112, 118 (140); 118, 277 (324); 130, 318 (348). 114 BVerfGE 44, 308 (315), 80, 188 (218 f.); 130, 318 (348). 115 BVerfGE 102, 224 (236); 130, 318 (348). 116 BVerfGE 80, 188 (219); 130, 318 (348). 117 BVerfGE 80, 188 (219); 130, 318 (350). 118 BVerfGE 130, 318 (351). 119 Achterberg/Schulte, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), Bd. 2, 6. Aufl. 2010, Art. 45c, Rn. 30; Berg, in: BK-GG, Bd. 8, Art. 45a Rn. 61 (April 1986); Kretschmer, in: BKGG, Bd. 7, Art. 45 Rn. 211 (Oktober 2006); Morlok, Informalisierung und Entparlamenta111
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ben steigt aber „unterhalb“ dieser Schwelle mit zunehmender Eingriffstiefe in die Statusrechte des einzelnen Abgeordneten bei Organisationsmaßnahmen des Deutschen Bundestages die Intensität der verfassungsgerichtlichen Kontrolle.120 Entsprechend erfordern Übertragungen von Entscheidungsbefugnissen auf Ausschüsse oder sonstige Untergremien mit plenarersetzender Funktion, die nicht bereits vom Grundgesetz vorgegeben sind, einer besonderen Rechtfertigung, die über die normalen Anforderungen an die Funktionsfähigkeit des Parlaments hinausgehen müssen, wie dies etwa in den Fällen besonderer Eilbedürftigkeit oder Vertraulichkeit der Fall ist.121 c) Grundlagenentscheidungen und Folgeentscheidungen im haushaltspolitischen Umfeld Im Kontext von Entscheidungen, die über die Entstehung von strukturell bedeutsamen Zahlungsverpflichtungen (mit-)bestimmen, bedeutet dies für den Bundestag, dass eine Delegation auf Ausschüsse oder sonstige Untergremien aufgrund der grundsätzlich nur vom Plenum wahrnehmbaren haushaltspolitischen Gesamtverantwortung nicht in Betracht kommen kann. Dabei beschränkt sich das Delegationsverbot nicht nur auf die jeweilige „Grundentscheidung“, also etwa ein Zustimmungsgesetz. Vielmehr können auch Folgeentscheidungen, die als notwendiges Korrelat zur Möglichkeit parlamentarischer Einflussnahme auf einen „in Betrieb befindlichen“ Rettungsmechanismus vorhanden sein müssen (vgl. oben II.2.c), vom Delegationsverbot erfasst sein. Zwar entspricht es der – vom Bundesverfassungsgericht nicht in Frage gestellten – Staatspraxis, dass das Plenum den Haushaltsplan und damit auch die Höhe der einzelnen Etatposten und deren Verwendungszweck festlegt, die bewilligten Mittel jedoch in bestimmten Fällen an eine Freigabe durch den Bundestag bindet (vgl. § 22 Satz 1 und Satz 3, § 36 Satz 2 BHO), über die regelmäßig nicht das Plenum, sondern der Haushaltsausschuss entscheidet122. Auch kann im Fall einer besonders gelagerten, an gesetzlich bestimmte Voraussetzungen gebundenen, streng konditionierten und zeitlich eng befristeten Gewährleistungsübernahme gebilligt werden, dass die grundsätzlich dem Plenum vorbehaltene Zustimmung durch den Haushaltsausschuss erteilt wird123. Dies gilt jedoch nur bei in Rede stehenden Garantien und Zahlungen, die aufgrund ihrer Größenordnung nicht für das Budgetrecht von struktureller risierung politischer Entscheidungen als Gefährdung der Verfassung?, VVDStRL 62 (2003), S. 37 (59); Schmidt, Die Geschäftsordnungen der Verfassungsorgane als individuell-abstrakte Regelungen des Innenrechts, AöR 128 (2003), S. 609 (624). 120 BVerfGE 94, 351 (367); 130, 318 (352 f.). 121 BVerfGE 90, 286 (388); 121, 135 (162 f.); 130, 318 (359). 122 BVerfGE 130, 318 (351). 123 BVerfGE 129, 124 (185 f.).
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Bedeutung sein können. Der Bundestag hat an sich über jede ausgabenwirksame Maßnahme des Bundes größeren Umfangs sowie grundsätzliche Fragen der Art und Weise des Umgangs mit den zur Verfügung gestellten Mitteln im Plenum zu entscheiden.124 Der Haushaltsausschuss oder ein anderes Gremium darf zu verbindlichen und plenarersetzenden Beschlüssen lediglich bei untergeordneten oder durch das Entscheidungsprogramm der überstaatlichen Organisation ausreichend vorherbestimmten Entscheidungen ermächtigt werden. Anders gewendet: Je offener die Handlungsbefugnis formuliert ist und je weniger sich die budgetwirksamen Risiken durch die Ausübung dieser Handlungsbefugnis überschauen lassen, desto eher ist der Bundestag in seiner Gesamtheit zur Entscheidung berufen. Die einmalige Zustimmung des Plenums des Deutschen Bundestages zur Errichtung einer inter- oder supranationalen Einrichtung, deren Entstehung und Funktion mit Zahlungsverpflichtungen verbunden ist, die für den Bundeshaushalt von struktureller Bedeutung sind oder sein können, erschöpft somit nicht die haushaltspolitische Gesamtverantwortung aller Abgeordneten. Eine regelmäßig zum Ausschluss eines Großteils der Abgeordneten im Parlament führende Delegation von nachfolgenden Entscheidungen auf Ausschüsse oder sonstige Untergremien erfordert, dass die wesentlichen Parameter für die Art und Weise der Verwendung der in der Regel nur bis zu einer Höchstgrenze bewilligten Haushaltsmittel zuvor ebenfalls durch das Plenum gebilligt worden sind. Sieht der jeweilige Mechanismus indessen nach seiner Gründung erst die Erarbeitung von Leitlinien und abstrakten Konzepten vor, die maßgeblich über die Entstehung und Fälligkeit von bei den Mitgliedsstaaten abrufbaren Mitteln entscheiden, liegen damit naturgemäß grundlegende Entscheidungen über die Verwendung von Haushaltsmitteln vor.125 d) Zusammenfassung Für die Bedeutung der haushaltspolitischen Gesamtverantwortung im „Innenverhältnis“, also insbesondere der Selbstorganisation des Parlaments, kann folglich festgehalten werden, dass zumindest hier die strukturelle Bedeutsamkeit einzelner Ausgabeentscheidungen einen der Wesentlichkeitstheorie vergleichbaren „Vorbehalt des Plenums“ auslöst. Dies deshalb, weil die exkludierende Übertragung von wesentlichen Entscheidungen, die den gegenwärtigen oder einen künftigen Haushalt betreffen, auf einen Ausschuss oder ein sonstiges Gremium dazu führen würde, dass ein (Groß-)Teil der übrigen, nicht in diesem Gremium zur Mitwirkung berufenen Abgeordneten, von ihren verfassungsrechtlichen Mitwirkungsmöglichkeiten und -pflichten ausgeschlossen wären. 124 125
BVerfGE 132, 195 (274), Rn. 190. BVerfGE 130, 318 (347); 132, 195 (274 f.), Rn. 190.
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IV. Ausblick Eine Überwindung der Finanz- und Staatsschuldenkrise in Europa lässt sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht absehen, wenn auch vereinzelt Anzeichen für eine Verbesserung der Finanz- und Haushaltslage in einigen Mitgliedsstaaten erkennbar sind. Ob und inwieweit es doch noch zu einer Inanspruchnahme der bereits eingegangenen Zahlungsverpflichtungen gegenüber der Bundesrepublik Deutschland kommen kann, ist somit ungewiss. Für den Bundestag und den einzelnen Abgeordneten bedeutet die hier aufgezeigte Rechtsprechung jedoch zumindest eine Stärkung seiner Rolle im Verfassungsgefüge.126 Denn während die Aushandlung von Verträgen über Rettungsmechanismen und die Mitwirkung in deren Geschäftstätigkeit weitestgehend Angelegenheit der Bundesregierung war und ist, muss der Bundestag und die Gesamtheit der Abgeordneten zur Wahrung der ihnen obliegenden haushaltspolitischen Gesamtverantwortung auch künftig in allen maßgeblichen Entscheidungen eingebunden werden. Damit müssen alle noch anstehenden, gegebenenfalls auch über die bisherigen Rettungsbemühungen hinausgehenden, Maßnahmen aus dem Kreis der Mitgliedsstaaten der Europäischen Union einer entsprechenden parlamentarischen Kontrollierbarkeit und damit einer demokratischen Legitimation genügen.
126 So auch Peuker, Die demokratische Auslegung des Völkerrechts – Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu ESM-Vertrag und Fiskal-Pakt vom 12. September 2012, EuR 2013, S. 75 (85).
Rechtsschutz vor dem Bundesverfassungsgericht gegen Maßnahmen im Zusammenhang mit der „Eurorettung“ Jörg Peterek Leitentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts BVerfGE BVerfGE BVerfGE BVerfGE BVerfGE BVerfGE
89, 155 – Maastricht-Urteil 123, 267 – Lissabon-Urteil 129, 124 – Griechenlandhilfe/Euro-Rettungsschirm 130, 318 – Neunergremium EFSF 131, 152 – Euro-Plus-Pakt 132, 195 – ESM-Vertrag/Fiskalpakt Schrifttum (Auswahl)
Bethge, Die Grenzen grundrechtlicher Subjektivierung objektiven Verfassungsrechts – Zum aktuellen Stellenwert der Elfes-Konstruktion, in: Depenheuer/Heintzen/Jestaedt/ Axer (Hrsg.), Staat im Wort – Festschrift für Josef Isensee, 2007, S. 613 ff.; Bieber, Beschwerden über die Verfassung als Verfassungsbeschwerden? – Zur verfassungsgerichtlichen Kontrolle des Vertrages über die Europäische Union, NJ 1993, S. 241 ff.; Bryde, Das Maastricht-Urteil des Bundesverfassungsgerichts – Konsequenzen für die weitere Entwicklung der europäischen Integration, 1993; Cremer, Rügbarkeit demokratischer Kompetenzverschiebungen im Wege der Verfassungsbeschwerde?, NJ 1995, S. 5 ff.; Forkel, Staatsschuldenkrise, Geldentwertung, Grundgesetz: Gibt es einen Grundrechtsschutz gegen staatlich herbeigeführte Inflation?, ZRP 2011, S. 140 ff.; Gärditz/Hillgruber, Volkssouveränität und Demokratie ernst genommen – Zum Lissabon-Urteil des BVerfG, JZ 2009, S. 872 ff.; Gassner, Kreation und Repräsentation – Zum demokratischen Gewährleistungsgehalt von Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG, Der Staat 34 (1995), S. 429 ff.; Herrmann, Währungshoheit, Währungsverfassung und subjektive Rechte, 2010; E. Klein, Grundrechtsdogmatische und verfassungsprozessuale Überlegungen zur Maastricht-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, in: Randelzhofer/Scholz/Wilke (Hrsg.), Gedächtnisschrift für Eberhard Grabitz, 1995, S. 271 ff.; König, Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Vertrag von Maastricht – ein Stolperstein auf dem Weg in die europäische Integration?, ZaöRV 54 (1994), S. 17 ff.; Kokott, Deutschland im Rahmen der Europäischen Union – zum Vertrag von Maastricht, AöR 119 (1994), S. 207 ff.; Kröger/Gas, Das Grundrecht auf Preisstabilität nach Art. 14 Abs. 1 GG – Unter Berücksichtigung der Euro-Entscheidung des BVerfG, VersR 1998, S. 1338 ff.; Lepsius, ESM-Vertrag, Fiskalpakt und das BVerfG, EuZW 2012, S. 761 f.; Nettesheim, Ein Individualrecht auf Staatlichkeit? Die Lissabon-Entscheidung des BVerfG, NJW 2009, S. 2867 ff.; ders., „Euro-Rettung“ und Grundgesetz, EuR 2011, S. 765 ff.; Pache, Das Ende der europäischen Integration? Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Vertrag von Lissabon, zur Zukunft Europas und der Demokratie, EuGRZ 2009, S. 285 ff.; Papier, Die Entwicklung des Verfassungsrechts seit der Einigung
554 Rechtsschutz gegen Maßnahmen im Zusammenhang mit der „Eurorettung“ und seit Maastricht, NJW 1997, S. 2841 ff.; Peuker, Die demokratische Auslegung des Völkerrechts – Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu ESM-Vertrag und Fiskal-Pakt vom 12. September 2012, EuR 2013, S. 75 ff.; Ruffert, Die europäische Schuldenkrise vor dem Bundesverfassungsgericht – Anmerkung zum Urteil vom 7. September 2011 –, EuR 2011, S. 842 ff.; Schönberger, Die Europäische Union zwischen „Demokratiedefizit“ und Bundesstaatsverbot – Anmerkungen zum Lissabon-Urteil des Bundesverfassungsgerichts, Der Staat 48 (2009), S. 535 ff.; Schorkopf, in: Dolzer/Vogel/Graßhof (Hrsg.), Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 6, Art. 23 (August 2011); Schwarze, Europapolitik unter deutschem Verfassungsrichtervorbehalt – Anmerkungen zum Maastricht-Urteil des BVerfG vom 12.10.1993, NJ 1994, S. 1 ff.; Terhechte, Souveränität, Dynamik und Integration – making up the rules as we go along? Anmerkungen zum Lissabon-Urteil des Bundesverfassungsgerichts, EuZW 2009, S. 724 ff.; Tomuschat, Die Europäische Union unter der Aufsicht des Bundesverfassungsgerichts, EuGRZ 1993, S. 489 ff.; ders., Anmerkung zum Urteil des BVerfG vom 12.09.2012 – 2 BvR 1390/12 u.a. – Verhinderung der Ratifikation von ESM-Vertrag und Fiskalpakt überwiegend erfolglos, DVBl 2012, S. 1431 ff.; Thym, Anmerkung zum Urteil vom 7. September 2011, JZ 2011, S. 1011 ff.; ders., Euro-Rettungsschirm: zwischenstaatliche Rechtskonstruktion und verfassungsgerichtliche Kontrolle, EuZW 2011, S. 167 ff.; von Kielmansegg, Parlamentarische Informationsrechte in der EuroRettung – Anmerkung zum ersten ESM-Urteil des BVerfG vom 19.06.2012, EuR 2012, S. 654 ff. Inhalt I. II.
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verfassungsbeschwerde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Beschwerdegegenstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Maßnahmen von Organen der Europäischen Union . . . . . . . . . . . aa) Erweiterung des verfassungsgerichtlichen Kontrollzugriffs . . . . bb) Betroffenheit durch die nichtdeutsche Hoheitsgewalt als einschränkendes Korrektiv . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Ausbrechende Rechtsakte als Gegenstand der Verfassungsbeschwerde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Unterlassen deutscher Staatsorgane . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Beschwerdebefugnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Art. 38 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2, Art. 79 Abs. 3 GG . . aa) Dogmatische Herleitung der Beschwerdebefugnis . . . . . . . . . bb) Kritik des Schrifttums und Reaktion des Bundesverfassungsgerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Rügefähige Inhalte des Demokratieprinzips . . . . . . . . . . . . . (1) Schutz vor „Entleerung“ des Wahlrechts . . . . . . . . . . . . (2) Schutz vor einer unbestimmten Übertragung von Hoheitsbefugnissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Schutz vor unzureichender demokratischer Legitimation der Europäischen Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (4) Schutz vor „Entstaatlichung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . (5) Schutz vor Verletzung demokratiebedeutsamer Staatsstrukturprinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (6) Schutz vor Entleerung des parlamentarischen Budgetrechts (haushaltspolitische Gesamtverantwortung) . . . . . . . . . . (7) Wahl des vereinfachten Vertragsänderungsverfahrens . . . . . b) Art. 14 Abs. 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Art. 20 Abs. 4 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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III.
IV.
V. VI. VII.
d) Art. 23 Abs. 2 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Sonderfall: Ultra-vires-Rüge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Substantiierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Art. 38 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2, Art. 79 Abs. 3 GG . . b) Art. 14 Abs. 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Schutzpflichtverletzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Antrag im Organstreitverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Antragsberechtigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Prozessstandschaft einer Fraktion des Deutschen Bundestages für den Deutschen Bundestag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Prozessstandschaft eines Abgeordneten des Deutschen Bundestages für den Deutschen Bundestag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Antragsgegenstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Antragsbefugnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Art. 38 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2, Art. 79 Abs. 3 GG . . b) Art. 23 Abs. 2 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Frist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Rechtsschutzbedürfnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Verhältnis des Organstreitverfahrens zur Verfassungsbeschwerde . . . . . a) Geltendmachung von Abgeordnetenrechten . . . . . . . . . . . . . . . b) Umdeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung . . . . . . . . . . . . . . . 1. Allgemeiner Prüfungsmaßstab . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. „Neuer“ Prüfungsmaßstab . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vollstreckungsanordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Auswahl von Pilotverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I. Einleitung Die Finanzmarkt- und Staatsschuldenkrise hat eine beispiellose Serie von Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts mit sich gebracht. Während die grundsätzlichen verfassungsrechtlichen Fragestellungen zur weiteren Vertiefung der europäischen Integration zuvor aus Anlass von Vertragsänderungen im Abstand von mehreren Jahren beantwortet wurden, haben Maßnahmen im Zusammenhang mit der – vermeintlich „alternativlosen“ – „Eurorettung“ in gut zwei Jahren zu sieben Senatsentscheidungen geführt.1 Diese hohe Zahl von Entscheidungen, die das Bundesverfassungsgericht zu treffen hatte, ist dadurch bedingt, dass die „Euro-Rettungspolitik“ politischer Konsens nahezu aller im Deutschen Bundestag vertretenen Parteien ist. 1 Vgl. von Kielmansegg, EuR 2012, S. 654 (655); der Zweite Senat hat drei Hauptsacheentscheidungen und vier Entscheidungen in Verfahren über den Antrag auf Erlass einstweiliger Anordnungen getroffen. Hinzu kommen eine Entscheidung über eine Vollstreckungsanordnung und eine Kammerentscheidung, mit der ein weiterer Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abgelehnt wurde. Zahlreiche Parallelverfahren kommen hinzu.
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Daher wenden sich die Bürger, gelegentlich aber auch einzelne Abgeordnete oder oppositionelle Fraktionen, in zunehmendem Umfang an das Bundesverfassungsgericht. Dieses kann indes nur im Rahmen seiner Zuständigkeit und nur aufgrund eines zulässigen „Antrags“ – wie § 23 BVerfGG allgemein formuliert – tätig werden. Die nachfolgenden Ausführungen gehen der Frage nach, welche Rechtsschutzmöglichkeiten die von der „Eurorettung“ Betroffenen vor dem Bundesverfassungsgericht haben.
II. Verfassungsbeschwerde Gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, § 13 Nr. 8a, §§ 90 ff. BVerfGG kann jedermann mit der Behauptung, durch die öffentliche Gewalt in einem seiner Grundrechte oder einem grundrechtsgleichen Recht verletzt zu sein, Verfassungsbeschwerde erheben. Diese an sich einfache gesetzliche Regelung wirft im Zusammenhang mit Maßnahmen zur „Eurorettung“ einige Zulässigkeitsfragen auf, über die zum Teil im Schrifttum Streit besteht und deren weitere Entwicklung im Übrigen noch im Fluss begriffen ist. 1. Beschwerdegegenstand In der Regel richten sich die Angriffe gegen Gesetze des Deutschen Bundestages – wie etwa das Währungsunion-Finanzstabilitätsgesetz2 und das Gesetz zur Übernahme von Gewährleistungen im Rahmen eines europäischen Stabilisierungsmechanismus3 im Griechenlandhilfe/Euro-Rettungsschirm-Verfahren oder die Zustimmungsgesetze zu völkerrechtlichen Verträgen wie im Lissabon- oder ESM-Verfahren4 – oder dessen sonstige Beschlüsse.5 Dies sind Akte deutscher öffentlicher Gewalt im Sinne des § 90 BVerfGG und daher selbstverständlich mit der Verfassungsbeschwerde angreifbar.6 In den Griechenlandhilfe/Euro-Rettungsschirm- und ESM/EZBVerfahren haben die Beschwerdeführer jedoch auch Maßnahmen nichtdeutscher Hoheitsgewalt angegriffen und ein diesbezügliches verfassungswidriges Unterlassen deutscher Staatsorgane gerügt. a) Maßnahmen von Organen der Europäischen Union Auch Maßnahmen von Organen der Europäischen Union können ein tauglicher Beschwerdegegenstand der Verfassungsbeschwerde sein. 2 3 4 5 6
BGBl 2010 I, S. 537. BGBl 2010 I, S. 627. Vgl. BVerfGE 123, 267 (328). Vgl. BVerfGE 130, 318 (347). Vgl. BVerfGE 129, 124 (167).
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aa) Erweiterung des verfassungsgerichtlichen Kontrollzugriffs Während das Bundesverfassungsgericht zunächst davon ausging, dass mit einem Akt öffentlicher Gewalt nur ein Akt der deutschen Staatsgewalt gemeint sein könne,7 hat es diese Auffassung im Maastricht-Urteil aufgegeben,8 da auch Akte einer besonderen, von der Staatsgewalt der Mitgliedstaaten geschiedenen öffentlichen Gewalt einer supranationalen Organisation die Grundrechtsberechtigten in Deutschland betreffen können und damit die Gewährleistungen des Grundgesetzes und die Aufgaben des Bundesverfassungsgerichts berühren, die den Grundrechtsschutz in Deutschland zum Gegenstand haben.9 Grundlage für die Ausweitung des verfassungsgerichtlichen Kontrollzugriffs war zum einen die materielle Gewährleistung des Wesensgehalts der Grundrechte des Grundgesetzes auch bei der Übertragung von Hoheitsrechten auf inter- und supranationale Träger öffentlicher Gewalt und zum anderen die Erwägung, dass die fortschreitende Übertragung von Hoheitsrechten mitunter zu spürbaren Rechtsschutzlücken führen könne. Eingriffe in den Wesensgehalt der Grundrechte und/oder spürbare Rechtsschutzlücken wären jedoch mit der umfassenden Grundrechtsbindung aller staatlichen Gewalt (Art. 1 Abs. 3 GG), die auch bei der Übertragung von Hoheitsrechten ein Mindestmaß an Grundrechtsschutz und Rechtsschutz sicherstellen muss,10 unvereinbar. Die dem Bundesverfassungsgericht übertragene Aufgabe, den Grundrechtsschutz zu gewährleisten, erstreckt sich wegen der vergleichbaren Gefährdungslage daher auf Akte solcher Organisationen, denen die Bundesrepublik Deutschland Hoheitsgewalt mit Wirkung auf ihr Staatsgebiet übertragen hat. Ein in diesem Sinne funktionales Verständnis der öffentlichen Gewalt ist auch deshalb geboten, weil es andernfalls zu einer – verfassungswidrigen (vgl. Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG) – Flucht in organisatorisch verselbstständigte Einheiten auf der zwischenstaatlichen Ebene kommen könnte.11
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Vgl. BVerfGE 1, 10 (11); 22, 293 (297); 58, 1 (27). Anderer Ansicht noch BVerfGE 58, 1 (27) – Eurocontrol; kritisch zu dieser Rechtsprechungsänderung E. Klein, Grundrechtsdogmatische und verfassungsprozessuale Überlegungen zur Maastricht-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, in: Randelzhofer u.a. (Hrsg.), GedS Grabitz, 1995, S. 271 (276 ff.); König, ZaöRV 54 (1994), S. 17 (22 ff.); dagegen mit Blick auf eine Ultra-vires-Kontrolle grundsätzlich zustimmend Ruffert, EuR 2011, S. 842 (846 f.). 9 Vgl. BVerfGE 89, 155 (174 f.); seither stRspr, vgl. BVerfGE 102, 147 (161 ff.); 123, 267 (353 f.); 126, 286 (302 f.); BVerfGK 6, 368 (370); 8, 61 (63); 266 (268); 325 (328); 16, 509 (513); BVerfG, Beschluss der 4. Kammer des Zweiten Senats vom 4. April 2001 – 2 BvR 2368/99 –, NJW 2001, S. 2705 (2705). 10 Vgl. BVerfGE 37, 271 (279 f.); 73, 339 (376); 123, 267 (335). 11 Vgl. BVerfG, Beschluss der 4. Kammer des Zweiten Senats vom 4. April 2001 – 2 BvR 2368/99 –, NJW 2001, S. 2705 (2705). 8
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bb) Betroffenheit durch die nichtdeutsche Hoheitsgewalt als einschränkendes Korrektiv Die Verfassungsbeschwerde gegen Akte von Organen der Europäischen Union und anderen supranationalen Organisationen unterliegt allerdings besonderen Anforderungen. Sie kann sich nicht allein auf die behauptete Rechtswidrigkeit einer Maßnahme stützen, denn die Verfassungsbeschwerde ist kein Mittel zur Durchsetzung einer allgemeinen Rechtmäßigkeitskontrolle.12 Vielmehr muss dargelegt werden, dass sich die angegriffene Maßnahme begrenzend auf die Rechtsstellung des Einzelnen auswirkt. Für die Angreifbarkeit eines nicht der deutschen Hoheitsgewalt entstammenden Rechtsakts im Wege der Verfassungsbeschwerde reicht es nicht aus, dass der erlassenden Organisation generell supranationale Befugnisse eingeräumt wurden. Vielmehr muss gerade der konkret beanstandete Rechtsakt supranationaler Natur sein, die Organisation also zum Durchgriff ermächtigt sein mit der Möglichkeit, auf die Rechtsstellung des Einzelnen einzuwirken. Nur dann liegt ein Rechtsakt vor, der den Grundrechtsberechtigten in Deutschland im Sinne der Maastricht-Rechtsprechung „betrifft“ und ist zur Vermeidung von Rechtsschutzlücken Grundrechtsschutz in der Bundesrepublik Deutschland geboten.13 Vor diesem Hintergrund wird eine zunächst missverständlich erscheinende Passage aus dem Griechenlandhilfe/Euro-Rettungsschirm-Urteil verständlich. Dort heißt es mit Blick auf die von den Beschwerdeführern angegriffenen Akte europäischer Organe, namentlich einiger Beschlüsse des Rates der Europäischen Union sowie Staatsanleihekäufe durch die Europäische Zentralbank, bei diesen Akten handele „es sich – unbeschadet anderweitiger Überprüfungsmöglichkeiten auf ihre Anwendbarkeit in Deutschland hin (vgl. BVerfGE 89, 155 , 126, 286 ) – nicht um von den Beschwerdeführern angreifbare Hoheitsakte deutscher öffentlicher Gewalt“.14 Damit ist keine (stillschweigende) Aufgabe der im Maastricht-Urteil begonnenen Rechtsprechung verbunden, denn andernfalls wäre die Parenthese mit den Zitaten der einschlägigen Passagen aus dem Maastricht- und dem Lissabon-Urteil nicht sinnvoll. Das Bundesverfassungsgericht ging vielmehr von einer Überprüfbarkeit der in Rede stehenden Maßnahmen im Hinblick auf ihre Anwendbarkeit in Deutschland aus, verneinte dies jedoch im konkreten Fall, da der Vortrag der Beschwerdeführer den soeben dargestellten Darlegungsanforderungen nicht gerecht wurde und so unspezifisch war, dass eine Betroffenheit von Grundrechtsberechtigten in Deutschland nicht erkennbar war und ihr Vorbringen in der Sache auf einen allgemeinen Gesetzesvollzie-
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Vgl. zum Organstreitverfahren BVerfGE 118, 244 (271). BVerfGK 8, 61 (63); 8, 266 (269 f.); 8, 325 (329); 16, 509 (514). BVerfGE 129, 124 (175 f.)
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hungsanspruch gegenüber Organen der Europäischen Union hinauslief. Ohne einen entsprechenden spezifischen Vortrag liegt – um keine rechtliche Vollkontrolle der Organe der Europäischen Union zu etablieren – kein prüfungsfähiger Beschwerdegegenstand vor. cc) Ausbrechende Rechtsakte als Gegenstand der Verfassungsbeschwerde In der Kontinuität dieser Rechtsprechung wäre es folgerichtig, auch Ultravires-Akte als taugliche Gegenstände einer Verfassungsbeschwerde anzusehen.15 Ausbrechende Rechtsakte betreffen die Grundrechtsberechtigten in Deutschland in ihrem grundrechtsgleichen Recht aus Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG, aus dem ein Recht jedes Wählers folgt, mit der Verfassungsbeschwerde die Übertragung von Hoheitsrechten auf europäische oder internationale Organisationen auf ihre Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz überprüfen zu lassen.16 Das muss für ausbrechende Rechtsakte, denen es an einer demokratisch hinreichend legitimierten Grundlage fehlt, erst recht gelten. Für die Beeinträchtigung des Wahlrechts kann es keinen entscheidenden Unterschied machen, ob sich der Beschwerdeführer wie in den Maastricht- und LissabonVerfahren gegen eine Übertragung von Hoheitsrechten nach Art. 23 Abs. 1 GG wendet oder dagegen, dass eine solche Übertragung in Ansehung eines Rechtsaktes gar nicht stattgefunden hat. Das gilt für die zu weitgehende Inanspruchnahme einer wirksam übertragenen Kompetenz (HoneywellKonstellation) ebenso wie für die „Usurpation“ einer von vornherein nicht übertragenen Zuständigkeit. Daher ist die Behauptung, die Organe der Europäischen Union maßten sich eine Kompetenz an, in gleichem Maße geeignet, Gegenstand einer Verfassungsbeschwerde zu sein, wie sonstige Ultravires-Rügen. Die grundsätzliche Kontrolle darüber, ob ein Organ der Europäischen Union die Grenzen des Integrationsprogramms einhält, kann den deutschen Staatsorganen nicht entzogen sein.17 Dementsprechend ging der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts in seinem Urteil vom 12. September 2012 von der verfassungsgerichtlichen Kontrollmöglichkeit von Maßnahmen der Europäischen Zentralbank aus, wenn es dort heißt: „Soweit die Antragsteller zu II. gegen Maßnahmen der Europäischen Zentralbank zur Eurorettung, insbesondere den Ankauf von Staatsanleihen am Sekundärmarkt, einwenden, diese seien ausbrechende Rechtsakte, ist ihr entsprechender Feststellungsantrag bei verständiger Auslegung nicht von dem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung mitumfasst und bleibt damit einer Prüfung im Hauptsacheverfahren vorbehalten“.18 Der Vorbehalt, diese Maßnah15 Vgl. BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 14. Januar 2014 – 2 BvR 2728/13 u.a. –, Rn. 23. 16 Vgl. BVerfGE 89, 155 (172); 97, 350 (368 f.); 129, 124 (168). 17 Vgl. BVerfGE 123, 267 (349 f., 398). 18 BVerfGE 132, 195 (236), Rn. 98.
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men in der Hauptsache zu prüfen, kann vernünftigerweise nicht so verstanden werden, als sei eine Prüfung in der Hauptsache von vornherein ausgeschlossen. b) Unterlassen deutscher Staatsorgane Ein Unterlassen eines Staatsorgans kann zum Gegenstand einer Verfassungsbeschwerde gemacht werden, soweit sich aus dem Grundgesetz eine – nicht notwendigerweise konkrete – Handlungspflicht ableiten lässt, deren Missachtung behauptet wird.19 Solche Handlungspflichten können sich etwa aus den Grundrechten ergeben und den Staat verpflichten, sich dort schützend und fördernd vor die betroffenen Interessen des Einzelnen zu stellen, wo dieser nicht selbst für ihre Integrität sorgen kann. Die Verletzung einer derartigen Schutzpflicht kann mit der Verfassungsbeschwerde geltend gemacht werden,20 auch wenn sich den Grundrechten regelmäßig keine konkreten Anforderungen an die Art und das Maß des gebotenen Schutzes entnehmen lassen.21 Ob sich auf Grundlage dieser Rechtsprechung eine entsprechende Schutzpflicht auch mit Blick auf das grundrechtsgleiche Recht des Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG begründen lässt, ist in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts noch nicht abschließend geklärt. Dies dürfte jedoch anzunehmen sein, weil sich die Grundrechte der Art. 1 bis 19 GG, für die die Existenz von Schutzpflichten anerkannt ist, und das grundrechtsgleiche Recht des Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG im Hinblick auf ihre Funktion nicht grundlegend unterscheiden. Dienen die traditionellen Grundrechte der bereichsspezifischen Sicherung der in Art. 1 Abs. 1 GG verankerten Würde des Menschen, so soll das durch Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG geschützte Wahlrecht das ebenfalls in der Würde des Menschen verankerte Recht des Einzelnen auf politische Selbstbestimmung sicherstellen. Es bildet den Kern des grundgesetzlichen Demokratieprinzips,22 dem nur dann Rechnung getragen wird, wenn die politische Selbstbestimmung der Wähler auch tatsächlich realisiert werden kann. Das Wahlrecht gewährleistet jedem Einzelnen die Grundsätze des Demokratiegebots im Sinne von Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 GG.23 Gewährleistet wird den wahlberechtigten Deutschen damit das subjektive Recht, an der Wahl des Deutschen Bundestages teilzunehmen und dadurch an der Legitimation der Staatsgewalt durch das Volk auf Bundesebene mitzuwirken und auf ihre Ausübung Einfluss zu nehmen.24 Vor diesem Hintergrund ist 19 20 21 22 23 24
Vgl. BVerfGE 46, 160 (164 f.). Vgl. BVerfGE 125, 39 (78). Vgl. BVerfGE 92, 26 (46); 96, 56 (64); 117, 202 (227); 125, 39 (79). BVerfGE 5, 85 (204); 44, 125 (142); 107, 59 (92). Vgl. BVerfGE 123, 267 (340); 129, 124 (177); 132, 195 (238), Rn. 104. BVerfGE 89, 155 (171 f.).
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eine staatliche Schutzpflicht denkbar, wenn die Substanz des Wahlrechts von dritter Seite – etwa von Organen der Europäischen Union – bedroht oder beeinträchtigt wird.25 Freilich wird eine Verletzung dieser Schutzpflicht erst dann in Betracht kommen, wenn die staatlichen Organe gänzlich untätig geblieben sind oder offensichtlich ist, dass die getroffenen Maßnahmen völlig ungeeignet oder unzulänglich sind.26 2. Beschwerdebefugnis Die Beschwerdebefugnis setzt die Behauptung des Beschwerdeführers voraus, durch die angegriffenen Maßnahmen der öffentlichen Gewalt in einem nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG und § 90 Abs. 1 BVerfGG beschwerdefähigen Grundrecht oder grundrechtsgleichen Recht selbst, unmittelbar und gegenwärtig verletzt zu sein.27 a) Art. 38 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2, Art. 79 Abs. 3 GG aa) Dogmatische Herleitung der Beschwerdebefugnis Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gewährleistet Art. 38 GG nicht nur das subjektive Recht, unter Einhaltung der verfassungsrechtlichen Wahlgrundsätze an der Wahl der Abgeordneten des Deutschen Bundestages teilzunehmen,28 sondern darüber hinaus auch ein „Grundrecht auf Mitwirkung an der demokratischen Selbstherrschaft des Volkes“.29 Vom Wahlrecht mitumfasst ist der grundlegende demokratische Gehalt des Wahlrechts,30 mithin die Gewährleistung wirksamer Volksherrschaft. Mit der Wahl wird die Staatsgewalt auf Bundesebene nicht nur nach Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 GG legitimiert, sondern zudem bestimmender Einfluss genommen, wie diese ausgeübt wird.31 Der Wahlakt verlöre seinen Sinn, wenn das gewählte Staatsorgan nicht über ein hinreichendes Maß an Aufgaben und Befugnissen verfügte, in denen die legitimierte Handlungsmacht wirken kann.32 Das Grundgesetz hat diesen legitimatorischen Zusammenhang zwischen dem Wahlberechtigten und der Staatsgewalt durch Art. 23 Abs. 1 Satz 3 in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3 und Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 GG für
25
Hierzu nunmehr BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 14. Januar 2014 – 2 BvR 2728/13 u.a. –, Rn. 50 ff. 26 Vgl. BVerfGE 56, 54 (71, 80 ff.); 77, 170 (214 f.); 77, 381 (405). 27 BVerfGE 123, 267 (329) m.w.N. 28 BVerfGE 47, 253 (269); 89, 155 (171); 123, 267 (330); 129, 124 (167 f.). 29 BVerfGE 129, 124 (168); vgl. zuvor bereits BVerfGE 89, 155 (172); 123, 267 (330). 30 BVerfGE 89, 155 (171); 123, 267 (330); 129, 124 (168). 31 BVerfGE 89, 155 (172); 123, 267 (330). 32 BVerfGE 123, 267 (330).
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unantastbar erklärt. Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG schließt es somit im Anwendungsbereich des Art. 23 GG aus, die durch die Wahl bewirkte Legitimation von Staatsgewalt und Einflussnahme auf deren Ausübung durch die Verlagerung von Aufgaben und Befugnissen des Bundestages auf die europäische Ebene so zu entleeren, dass das Demokratieprinzip verletzt wird.33 bb) Kritik des Schrifttums und Reaktion des Bundesverfassungsgerichts Diese Rechtsprechung ist im Schrifttum von Anfang an auf Kritik gestoßen. So wurde eingewandt, Art. 38 GG schütze nur das Recht auf Teilnahme an der Wahl der Abgeordneten des Deutschen Bundestages, nicht aber die Kompetenzen des gewählten Organs. Deren Schutz sei Sache des Bundestages und seiner Mitglieder, nicht aber die des einzelnen Bürgers. Es gehe zu weit, wenn auf diesem Wege die Verletzung von Kompetenznormen und staatsorganisationsrechtlichen Regelungen ermöglicht werde.34 Wahlen sollten keine über den formalen Akt der Stimmabgabe hinausgehende inhaltliche Bindung des Parlaments vermitteln.35 In Angelegenheiten der Europäischen Union sei zudem – der ohne Grund übergangene – Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG spezieller.36 Weiter wurde kritisiert, das Bundesverfassungsgericht habe gegen die Übertragung von Hoheitsrechten eine Popularbeschwerde eröffnet.37 Dies habe zur Folge, dass über den Beitritt zu „wesentlichen“ internationalen oder supranationalen Verträgen weder das Volk noch der parlamentarische Gesetzgeber, sondern das Bundesverfassungsgericht auf Beschwerde jedes Wahlberechtigten endgültig und letztverbindlich entscheiden könne.38 Das wiederum begründe die Gefahr, dass der einzelne Bürger, nunmehr zum Wächter des demokratischen Prinzips, zum Verteidiger der Organkompetenzen und zum Wahrer der staatlichen Substanz erhoben, mit dieser Rolle überfordert sei.39 Jedenfalls aber sei die Anreicherung des materiellen Gehalts 33
BVerfGE 89, 155 (172); 123, 267 (330); 129, 124 (169). Bryde, Das Maastricht-Urteil des Bundesverfassungsgerichts – Konsequenzen für die weitere Entwicklung der Integration, 1993, S. 4; Bieber, NJ 1993, S. 241 (242); König, ZaöRV 54 (1994), S. 17 (27); Papier, NJW 1997, S. 2841 (2844); Nettesheim, NJW 2009, S. 2867 (2869); kritisch auch E. Klein, a.a.O. (Fn. 8), S. 271 (272, Fn. 5): „bislang nie in diesem Sinn verstanden worden“ sowie Bethge, Die Grenzen grundrechtlicher Subjektivierung objektiven Verfassungsrechts, in: Depenheuer u.a. (Hrsg.), FS Isensee, 2007, S. 613 (624): „Der Demokratiegrundsatz ist kein Grundrecht“. 35 Gassner, Der Staat 34 (1995), S. 429 (432). 36 Cremer, NJ 1995, S. 5 (6 f.); Schönberger, Der Staat 48 (2009), S. 535 (542). 37 Tomuschat, EuGRZ 1993, S. 489 (491); ders., DVBl 2012, S. 1431; König, ZaöRV 54 (1994), S. 17 (27); Gassner, Der Staat 34 (1995), S. 429 (430); E. Klein, a.a.O. (Fn. 8), S. 271 (275); Kokott, AöR 119 (1994), S. 207 (211); Schönberger, Der Staat 48 (2009), S. 535 (542); Nettesheim, EuR 2011, S. 765 (768 f.); Thym, JZ 2011, S. 1011; Lepsius, EuZW 2012, S. 761 (762). 38 Kokott, AöR 119 (1994), S. 207 (211). 39 E. Klein, a.a.O. (Fn. 8), S. 271 (274 f.). 34
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des Art. 38 GG bei dessen gleichzeitiger Subjektivierung dogmatisch unzureichend hergeleitet und begründet.40 Es dränge sich der Eindruck auf, das Bundesverfassungsgericht habe unbedingt eine Sachentscheidung herbeiführen wollen41 und dabei zugleich seine Kompetenzen erheblich zu Lasten der Exekutive ausgedehnt.42 Das Bundesverfassungsgericht hat zu dieser Kritik im Griechenlandhilfe/ Euro-Rettungsschirm-Urteil Stellung genommen und sie zurückgewiesen.43 Der letztlich in der Würde des Menschen wurzelnde Anspruch des Bürgers auf Demokratie44 wäre hinfällig, wenn das Parlament Kernbestandteile politischer Selbstbestimmung aufgäbe und damit dem Bürger dauerhaft seine demokratischen Einflussmöglichkeiten entzöge. Das Grundgesetz habe den Zusammenhang zwischen Wahlrecht und Staatsgewalt für unantastbar erklärt. Der verfassungsändernde Gesetzgeber habe bei der Neufassung des Art. 23 GG deutlich gemacht, dass der Auftrag zur Entwicklung der Europäischen Union an die dauerhafte Einhaltung bestimmter verfassungsrechtlicher Strukturvorgaben gebunden (Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG) und dass hier durch Art. 79 Abs. 3 GG eine absolute Grenze zum Schutz der Identität der Verfassung gesetzt sei (Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG). Gegen eine mit Art. 79 Abs. 3 GG unvereinbare Entäußerung von Kompetenzen durch das Parlament müsse sich der Bürger verfassungsgerichtlich zur Wehr setzen können. Die Auffassung des Bundesverfassungsgerichts ist vorzugswürdig. Aus dem Demokratieprinzip folgt, dass grundsätzlich jegliches Handeln der öffentlichen Gewalt der demokratischen Legitimation bedarf und letztlich auf eine Wahlentscheidung des Volkes zurückgeführt werden können muss. Kern des Demokratieprinzips ist das aus der Würde des Menschen fließende Recht auf politische Selbstbestimmung.45 Insoweit ist das Demokratieprinzip des Grundgesetzes nicht nur ein objektives Verfassungsprinzip, sondern über Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG für den Einzelnen durchsetzbar. Die Kritiker bleiben eine schlüssige, dogmatisch unangreifbare Alternative schuldig. Die europäische Integration in ihrer nahezu alle Lebenssachverhalte durchdrin-
40 Gassner, Der Staat 34 (1995), S. 429 (430; 433); Terhechte, EuZW 2009, S. 724 (726): „schwer nachvollziehbarer ‚Kunstgriff‘“; Peuker, EuR 2013, S. 75 (78). 41 König, ZaöRV 54 (1994), S. 17 (28); Schwarze, NJ 1994, S. 1 (1 f.); Papier, NJW 1997, S. 2841 (2844); Nettesheim, NJW 2009, S. 2867 (2869); kritisch auch Pache, EuGRZ 2009, S. 285 (287): „die verfassungsgerichtliche Überprüfung wird zum Regelfall und die verfassungsrechtliche Billigung durch das Bundesverfassungsgericht zur Regelvoraussetzung weiterer deutscher Mitwirkung bei der Fortentwicklung der Europäischen Union“ sowie Schönberger, Der Staat 48 (2009), S. 535 (541): „Die Verschiebung von der Normenkontrolle zur Verfassungsbeschwerde hat einen klaren politischen Sinn“. 42 König, ZaöRV 54 (1994), S. 17 (29); Papier, NJW 1997, S. 2841 (2844). 43 BVerfGE 129, 124 (169 f.). 44 Vgl. BVerfGE 123, 267 (341). 45 Vgl. BVerfGE 5, 85 (204 f.); 123, 267 (341).
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genden „Totalität“ betrifft schlicht alle Bürger. Ein Rückgriff auf die im Schutzbereich sektoral begrenzten Freiheitsgrundrechte – wie etwa die Eigentumsgarantie – würde dem nicht gerecht. Ein vergleichbarer Schutz wäre allenfalls über die Menschenwürdegarantie zu erreichen, die geeignet ist, hoheitliche Eingriffe in sämtlichen Lebensbereichen zu verhindern. Es gäbe aber – jedenfalls politisch – ein verheerendes Bild ab, jeden weiteren Integrationsschritt direkt an Art. 1 Abs. 1 GG zu messen. Diejenigen, welche die dogmatische Konstruktion über das Wahlrecht deshalb für überflüssig halten, weil Organstreit- und Normenkontrollverfahren möglich seien,46 lassen außer Acht, dass diese Verfahren nur von politischen Akteuren, nicht aber vom einzelnen Bürger eingeleitet werden können. Der Bürger ist jedoch Hauptbetroffener der europäischen Integration; die Mitwirkungsmöglichkeit des Einzelnen durch die Eröffnung von Individualrechtsschutz mobilisiert die Bürger für die demokratische Sache und stärkt damit letztlich auch den Integrationsprozess.47 cc) Rügefähige Inhalte des Demokratieprinzips Für die Beschwerdebefugnis des Einzelnen kommt es auf den genauen Inhalt der Wahlrechtsrügen an.48 (1) Schutz vor „Entleerung“ des Wahlrechts Der materielle Gehalt des Wahlrechts schützt die wahlberechtigten Bürger zunächst vor einem Substanzverlust ihrer im verfassungsstaatlichen Gefüge maßgeblichen Herrschaftsgewalt durch weitreichende oder gar umfassende Übertragungen von Aufgaben und Befugnissen des Bundestages.49 Die abwehrrechtliche Dimension des Art. 38 Abs. 1 GG kommt daher in Konstellationen zum Tragen, in denen offensichtlich die Gefahr besteht, dass die Kompetenzen des gegenwärtigen oder künftigen Bundestages auf eine Art und Weise ausgehöhlt werden, die eine parlamentarische Repräsentation des Volkswillens, gerichtet auf die Verwirklichung des politischen Willens der Bürger, rechtlich oder praktisch unmöglich macht.50 Eine solche Rügemöglichkeit beschränkt sich von vornherein auf Strukturveränderungen im staatsorganisationsrechtlichen Gefüge.51
46 Bryde, a.a.O. (Fn. 33), S. 7; Schönberger, Der Staat 48, S. 535 (540); Terhechte, EuZW 2009, S. 274 (726). 47 Vgl. Gräditz/Hillgruber, JZ 2009, S. 872 (872 f.). 48 BVerfGE 123, 267 (329); 129, 124 (167). 49 BVerfGE 89, 155 (172); 123, 267 (330); 129, 124 (168). 50 BVerfGE 129, 124 (170). 51 BVerfGE 89, 155 (172); 123, 267 (341); 129, 124 (168 f.).
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Im Maastricht-Urteil und im Lissabon-Urteil hatte das Bundesverfassungsgericht insoweit einen Schutz vor zu weitreichender Übertragung von Hoheitsrechten auf supranationale Einrichtungen anerkannt.52 Im Griechenlandhilfe/Euro-Rettungsschirm-Urteil hat es den Schutzbereich ausgeweitet und bestätigt, dass nichts anderes für vergleichbare völkervertraglich eingegangene Bindungen gelte, die im institutionellen Zusammenhang mit der supranationalen Union stehen, wenn dadurch die demokratische Selbstregierung des Volkes dauerhaft derart eingeschränkt wird, dass zentrale politische Entscheidungen nicht mehr selbstständig getroffen werden können.53 Im Schrifttum war die Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerden mit Blick auf eben diese neue rechtliche Konstruktion außerhalb des Rechtsrahmens der Europäischen Union in Frage gestellt worden.54 Das Bundesverfassungsgericht hat durch die folgerichtige Erweiterung des Schutzbereichs jedoch deutlich gemacht, dass es eine Verkürzung des verfassungsgerichtlichen Rechtsschutzes durch ungewöhnliche rechtliche Konstruktionen keineswegs hinnehmen wird.55 Der Schutz, den Art. 38 GG insoweit gewährt, ist jedoch nicht grenzenlos. Demokratie setzt eine ständige freie Auseinandersetzung zwischen sich begegnenden sozialen Kräften, Interessen und Ideen voraus, in der sich auch politische Ziele klären und wandeln und aus der heraus eine öffentliche Meinung den politischen Willen vorformt. Solche – vorrechtlichen – Verfassungsvoraussetzungen werden von Art. 38 Abs. 1 GG nicht gewährleistet.56 Er vermittelt insbesondere kein Recht der Bürger, demokratische Mehrheitsentscheidungen auf ihre Rechtmäßigkeit hin durch das Bundesverfassungsgericht kontrollieren zu lassen, da das Wahlrecht nicht der inhaltlichen Kontrolle demokratischer Prozesse dient, sondern auf deren Ermöglichung gerichtet ist.57 (2) Schutz vor einer unbestimmten Übertragung von Hoheitsbefugnissen Das Demokratieprinzip gebietet ferner, dass der Deutsche Bundestag über die Mitgliedschaft Deutschlands in der Europäischen Union, ihren Fortbestand und ihre Entwicklung bestimmt. Das Grundgesetz untersagt daher
52
BVerfGE 89, 155 (172); 123, 267 (330). BVerfGE 129, 124 (168). 54 Thym, EuZW 2011, S. 267 (269 f.). 55 Auf dieser Linie liegt auch die weite Auslegung des Begriffs der „Angelegenheiten der Europäischen Union“ (Art. 23 Abs. 2 Satz 1 GG) im Euro-Plus-Pakt-Urteil, vgl. BVerfGE 131, 152 (199 ff.). 56 BVerfGE 97, 350 (369). 57 BVerfGE 129, 124 (168); BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 17. April 2013 – 2 BvQ 17/13 –, NVwZ 2013, S. 858 (859), Rn. 25; vgl. auch BVerfGE 97, 350 (368). 53
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sowohl die Übertragung der Kompetenz-Kompetenz auf die Europäische Union oder im Zusammenhang mit ihr geschaffene Einrichtungen als auch die Erteilung von Blankettermächtigungen zur Ausübung öffentlicher Gewalt.58 Das Zustimmungsgesetz zu einem völkerrechtlichen Vertrag und die innerstaatliche Begleitgesetzgebung müssen so beschaffen sein, dass die europäische Integration weiter nach dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung erfolgt (vgl. Art. 5 EUV) und die Integrationsverantwortung der Gesetzgebungsorgane sich hinreichend entfalten kann.59 Weder die Europäische Union noch im Zusammenhang mit ihr geschaffene Einrichtungen dürfen die Möglichkeit besitzen, sich der Kompetenz-Kompetenz zu bemächtigen oder sonst die integrationsfeste Verfassungsidentität des Grundgesetzes zu verletzen.60 (3) Schutz vor unzureichender demokratischer Legitimation der Europäischen Union Ein Beschwerdeführer kann – als wahlberechtigte Person – verfassungsrechtlich relevante Defizite der demokratischen Legitimation der Europäischen Union aus demselben Recht rügen wie Defizite der durch die europäische Integration im Kompetenzumfang betroffenen innerstaatlichen Demokratie. Die ursprünglich allein innerstaatlich bedeutsame Wechselbezüglichkeit zwischen Art. 38 Abs. 1 Satz 1 und Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 GG hat durch die fortschreitende europäische Integration schrittweise eine Erweiterung erfahren. Infolge der Übertragung von Hoheitsrechten nach Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG werden Entscheidungen, die den Bürger unmittelbar betreffen, auf die europäische Ebene verlagert. Vor dem Hintergrund des über Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG rügefähigen Demokratieprinzips kann es aber, wenn Hoheitsrechte auf die Europäische Union übertragen werden, nicht ohne Bedeutung sein, ob die auf europäischer Ebene ausgeübte Hoheitsgewalt auch demokratisch legitimiert ist (vgl. Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG).61 (4) Schutz vor „Entstaatlichung“ Ein Beschwerdeführer kann auch geltend machen, es drohe der Verlust der Staatlichkeit der Bundesrepublik Deutschland. Die Schaffung eines Bundesstaates auf Ebene der Europäischen Union und die damit einhergehende Umbildung der Bundesrepublik Deutschland zu einem Gliedstaat eines europäischen Bundesstaates bedeutete einen Identitätswechsel, über den nur die wahlberechtigten Bürger Deutschlands „in freier Entscheidung“ befinden 58 59 60 61
BVerfGE 132, 195 (238 f.), Rn. 105 m.w.N. Vgl. BVerfGE 123, 267 (353); 132, 195 (238 f.), Rn. 105. BVerfGE 132, 195 (238 f.), Rn. 105. BVerfGE 123, 267 (331).
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können. Art. 146 GG schafft insoweit ein Teilhaberecht, das Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG ergänzt. Art. 146 GG formuliert neben den materiellen Anforderungen des Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG die äußerste Grenze der Mitwirkung der Bundesrepublik Deutschland an der europäischen Integration. Es ist allein die verfassungsgebende Gewalt, die berechtigt ist, den durch das Grundgesetz verfassten Staat freizugeben, nicht aber die verfasste Gewalt.62 (5) Schutz vor Verletzung demokratiebedeutsamer Staatsstrukturprinzipien Art. 38 GG kann verletzt sein, wenn zwischen einem Staatsstrukturprinzip – etwa dem Sozialstaats-, Rechtsstaats- oder Gewaltenteilungsprinzip – und dem Demokratieprinzip ein Zusammenhang besteht und die demokratischen Gestaltungsmöglichkeiten des Deutschen Bundestags durch die Zuständigkeiten der Europäischen Union insoweit derart beschränkt werden, dass der Bundestag die aus Art. 23 Abs. 1 Satz 3 in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3 GG folgenden Mindestanforderungen des betroffenen Staatsstrukturprinzips nicht mehr erfüllen könnte.63 (6) Schutz vor Entleerung des parlamentarischen Budgetrechts (haushaltspolitische Gesamtverantwortung) Art. 38 Abs. 1 GG wird verletzt, wenn sich der Deutsche Bundestag seiner parlamentarischen Haushaltsverantwortung64 dadurch entäußert, dass er oder zukünftige Bundestage das Budgetrecht nicht mehr in eigener Verantwortung ausüben können.65 Die Entscheidung über Einnahmen und Ausgaben der öffentlichen Hand ist grundlegender Teil der demokratischen Selbstgestaltungsfähigkeit im Verfassungsstaat. Der Deutsche Bundestag muss deshalb dem Volk gegenüber verantwortlich über Einnahmen und Ausgaben entscheiden. Insofern stellt das Budgetrecht ein zentrales Element der demokratischen Willensbildung dar.66 Auch in einem System intergouvernementalen Regierens müssen die gewählten Abgeordneten des Deutschen Bundestages als Repräsentanten des Volkes die Kontrolle über grundlegende haushaltspolitische Entscheidungen behalten67 und dürfen ihre Budgetverantwortung nicht durch unbestimmte haushaltspolitische Ermächtigungen auf andere Akteure übertragen.68 Für die Einhaltung der Grundsätze der 62
BVerfGE 123, 267 (332). BVerfGE 123, 267 (332 f.); dort wurden die Verfassungsbeschwerden mit Blick auf das Sozialstaatsprinzip für zulässig erachtet, im Übrigen als unzulässig. 64 Vertiefend hierzu Diehm, Die haushaltspolitische Gesamtverantwortung des Deutschen Bundestages, in diesem Band, S. 525. 65 BVerfGE 129, 124 (177); 132, 195 (239), Rn. 106. 66 BVerfGE 132, 195 (239), Rn. 106. 67 BVerfGE 129, 124 (178); 132, 195 (239), Rn. 107. 68 BVerfGE 129, 124 (179); 132, 195 (240), Rn. 108. 63
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Demokratie kommt es entscheidend darauf an, dass der Deutsche Bundestag der Ort bleibt, an dem eigenverantwortlich über Einnahmen und Ausgaben entschieden wird.69 Der Wahlakt wäre entwertet, wenn der Deutsche Bundestag nicht länger über diejenigen Gestaltungsmittel zur Erfüllung ausgabenwirksamer Staatsaufgaben und zum Gebrauch seiner Befugnisse verfügte, für deren Inanspruchnahme seine Handlungsmacht durch die Wähler legitimiert wird.70 Zwar kann der Deutsche Bundestag seine haushaltspolitische Gesamtverantwortung nicht ohne ausreichende Informationen über die von ihm zu verantwortenden Entscheidungen von haushaltsrechtlicher Bedeutung wahrnehmen, weshalb das Demokratieprinzip des Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 GG gebietet, dass er an diejenigen Informationen gelangen kann, die er für eine Abschätzung der wesentlichen Grundlagen und Konsequenzen seiner Entscheidung benötigt; in seinem Kern ist dieser parlamentarische Unterrichtungsanspruch deshalb auch in Art. 79 Abs. 3 GG verankert.71 Das Bundesverfassungsgericht hat jedoch im Zusammenhang mit der Zypern-Hilfe klargestellt, dass die Subjektivierung des materiellen Gehalts von Art. 38 GG hier an ihre Grenzen stößt. Die Rüge, der Deutsche Bundestag sei gezwungen, auf unzureichender Tatsachengrundlage und ohne hinreichende Information durch die Bundesregierung eine Entscheidung zu treffen, kann nicht auf Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG gestützt werden. Die Prüfung, ob der Deutsche Bundestag auf einer vollständigen und zutreffenden Tatsachengrundlage entscheidet oder welche Qualität die ihm von der Bundesregierung zur Verfügung gestellten Informationen haben, liefe auf eine inhaltliche Kontrolle des demokratischen Prozesses hinaus, die Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG gerade nicht ermöglicht.72 (7) Wahl des vereinfachten Vertragsänderungsverfahrens Nach Art. 48 Abs. 3 Unterabsatz 2 EUV kann der Europäische Rat mit einfacher Mehrheit nach Zustimmung des Europäischen Parlaments beschließen, für eine Vertragsänderung im ordentlichen Verfahren keinen Konvent einzuberufen, wenn seine Einberufung aufgrund des Inhalts oder Umfangs der geplanten Änderungen nicht gerechtfertigt ist. Wie sich aus der Zusammenschau mit Art. 48 Abs. 3 Unterabsatz 1 Satz 2 EUV ergibt, gilt das auch für institutionelle Änderungen im Währungsbereich. Das Recht der Europäischen Union sieht für die Parlamente der Mitgliedstaaten jedoch
69
BVerfGE 129, 124 (177); 130, 318 (344); 131, 152 (205 f.); 132, 195 (239 f.), Rn. 107. BVerfGE 129, 124 (170 f.; 177 ff.). 71 BVerfGE 132, 195 (241 f.), Rn. 111. 72 BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 17. April 2013 – 2 BvQ 17/13 –, NVwZ 2013, S. 858 (859), Rn. 23 f. und 26. 70
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keine Mitwirkungsbefugnisse bei der Auswahl des Änderungsverfahrens vor.73 Wenn aber durch die Wahl des vereinfachten Vertragsänderungsverfahrens keine Rechte des Deutschen Bundestages betroffen sein können, kann durch eine vermeintlich fehlerhafte Wahl des vereinfachten Vertragsänderungsverfahrens auch nicht das Recht, die Abgeordneten des Deutschen Bundestages in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl zu wählen (Art. 38 Abs. 1 GG), entleert werden.74 b) Art. 14 Abs. 1 GG Nicht entschieden hat das Bundesverfassungsgericht bislang, ob sich ein Beschwerdeführer (ergänzend) auf den Schutz der Eigentumsgarantie berufen kann.75 Offengelassen wurde insbesondere, ob und, wenn ja, unter welchen näheren Umständen die Kaufkraft des Geldes vom Schutzbereich des Art. 14 Abs. 1 GG mitumfasst ist.76 Dasselbe gilt im Hinblick auf den grundrechtlichen Schutz gegenüber eindeutig staatlich induzierten inflatorischen Wirkungen, die möglicherweise konjunkturpolitisch erwünscht sind.77 Unentschieden blieb schließlich auch, inwiefern die staatsorganisationsrechtliche Bestimmung des Art. 88 Satz 2 GG durch die objektivrechtliche Unabhängigkeitsanforderung und durch die Verpflichtung auf Preisstabilität auch dem Ziel des subjektiven Eigentumsschutzes dient.78 Zu bedenken bleibt bei der Auslegung der Eigentumsgarantie, dass der Geldwert nicht nur im nationalstaatlichen Kontext, sondern auch im Hinblick auf in Angelegenheiten der Europäischen Union erfolgende Stützungsmaßnahmen in besonderer Weise gemeinschaftsbezogen und gemeinschaftsabhängig ist.79 Auch darf nicht außer Acht gelassen werden, dass die Europäische Zentralbank ihre Verpflichtung zur Wahrung der Preisstabilität als erfüllt ansieht, wenn die Inflationsrate etwa 2 % beträgt; zudem betrug die Inflationsrate in den 1970er und 1980er-Jahren in der Bundesrepublik lange Zeit über 5 %, teilweise über 7 %, ohne dass der Vorwurf der Verfassungswidrigkeit laut geworden wäre.
73
BVerfGE 132, 195 (237), Rn. 100 f. BVerfGE 132, 287 (291 f.), Rn. 9. 75 BVerfGE 129, 124 (173); 132, 195 (236), Rn. 96; eine Verletzung des Art. 14 Abs. 1 verneinend Thym, JZ 2011, S. 1011; grundsätzlich befürwortend dagegen Ruffert, EuR 2011, S. 842 (846). 76 BVerfGE 97, 350 (370 f.); 129, 124 (173). 77 BVerfGE 129, 124 (173); einen Schutz vor staatlich geförderter Inflation durch Art. 14 GG befürwortend Herrmann, Währungshoheit, Währungsverfassung und subjektive Rechte, 2010, S. 345 ff.; Kröger/Gas, VersR 1998, S. 1338 (1338 ff.); Forkel, ZRP 2011, S. 140 (142). 78 BVerfGE 89, 155 (174); 97, 350 (376); 129, 124 (173). 79 BVerfGE 97, 350 (371), 129, 124 (174). 74
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c) Art. 20 Abs. 4 GG Auf Art. 20 Abs. 4 GG können sich Beschwerdeführer jedenfalls dann nicht berufen, wenn sie sich gegen Maßnahmen der „Eurorettung“ mit dem Mittel der Verfassungsbeschwerde wenden. Das Widerstandsrecht nach Art. 20 Abs. 4 GG ist ein subsidiäres Ausnahmerecht, das als ultima ratio von vornherein nur dann in Betracht kommt, wenn alle von der Rechtsordnung zur Verfügung gestellten Rechtsbehelfe so wenig Aussicht auf wirksame Abhilfe bieten, dass die Ausübung des Widerstandes das letzte Mittel zur Erhaltung oder Wiederherstellung des Rechts ist. Eine Verletzung von Art. 20 Abs. 4 GG kann danach nicht in einem Verfahren gerügt werden, in dem gegen die behauptete Beseitigung der verfassungsmäßigen Ordnung gerade gerichtliche Abhilfe gesucht wird. Daran ändert die Erwähnung des Art. 20 Abs. 4 GG in Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG nichts. Der subsidiäre Charakter dieses Rechts bleibt von der Ausformung als – auch prozessual – grundrechtsgleiches Recht unberührt.80 d) Art. 23 Abs. 2 GG Die Verletzung von Art. 23 Abs. 2 Satz 2 GG kann nicht mit der Verfassungsbeschwerde gerügt werden, was schon daraus folgt, dass die Vorschrift nicht in Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, § 90 Abs. 1 BVerfGG aufgeführt ist.81 e) Sonderfall: Ultra-vires-Rüge Bislang ungeklärt ist, ob ein ausbrechender Rechtsakt unter Berufung auf Art. 38 GG mit der Verfassungsbeschwerde angegriffen werden kann. Aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts lassen sich zu dieser Frage nur wenige verallgemeinerungsfähige Ansätze übernehmen. Die Ultravires-Rüge steht selbständig neben der Identitätsrüge.82 Ihr Gegenstand ist die Behauptung, Rechtsakte der Europäischen Union hielten sich nicht innerhalb der dieser übertragenen Kompetenzen oder beträfen nicht übertragbare Kompetenzen.83 Sie darf jedoch nicht zu einer allgemeinen Rechtmäßigkeitskontrolle von Handlungen der Organe der Europäischen Union führen.84 Jedenfalls dürfte eine Ultra-vires-Rüge, die sich auf Art. 38 GG stützt, zuzulassen sein, wenn das Ultra-vires-Handeln die Verfassungsiden-
80 BVerfGE 123, 267 (333); 132, 195 (236), Rn. 97; zustimmend Pache, EuGRZ 2009, S. 285 (288). 81 BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 17. April 2013 – 2 BvQ 17/13 –, NVwZ 2013, S. 858 (859), Rn. 27 m.w.N. 82 BVerfGE 123, 267 (353 f.). 83 Vgl. BVerfGE 89, 155 (187 f.); 123, 267 (352 ff.); 126, 286 (302). 84 Vgl. BVerfGE 118, 244 (271).
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tität berührt. Denn wäre die in Anspruch genommene Kompetenz nicht übertragbar – was im Rahmen des Zustimmungsgesetzes nach Art. 38 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2, Art. 79 Abs. 3 GG hätte geprüft werden können –, muss die „Usurpation“ einer solchen Kompetenz ebenfalls angreifbar sein.85 3. Substantiierung Verfassungsbeschwerden gegen Maßnahmen im Zusammenhang mit der „Eurorettung“ scheitern in großer Zahl an nicht hinreichender Substantiierung. Ein Beschwerdeführer muss hinreichend substantiiert darlegen, dass eine Verletzung in eigenen Rechten möglich erscheint.86 a) Art. 38 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2, Art. 79 Abs. 3 GG An eine auf die Verletzung von Art. 38 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2, Art. 79 Abs. 3 GG gestützte Rüge sind strenge Anforderungen an die Darlegung einer Grundrechtsverletzung zu stellen.87 Sie ist nur zulässig, wenn der Beschwerdeführer darlegt, dass sein Wahlrecht entleert sein könnte.88 b) Art. 14 Abs. 1 GG An die Rüge einer Verletzung der Eigentumsgarantie stellt das Bundesverfassungsgericht außerordentlich hohe Darlegungsanforderungen. Um eine Verletzung von Art. 14 Abs. 1 GG im Hinblick auf inflationäre Entwicklungen möglich erscheinen zu lassen, muss der Beschwerdeführer hinreichende Tatsachen vortragen, die eine evidente Minderung des Geldwerts oder eine von den angegriffenen Maßnahmen ausgehende objektive Beeinträchtigung der Kaufkraft des Euro von erheblichem Umfang89 im Sinne einer entsprechend intentionalen staatlichen Konjunkturpolitik90 besorgen lassen. Der Umstand, dass die angegriffenen Maßnahmen möglicherweise budgetpolitisch für die Bundesrepublik Deutschland beträchtliche Herausforderungen mit sich bringen, ist für sich genommen noch kein hinreichender Sachvortrag.91 Dies folgt aus dem insoweit zurückgenommenen verfassungsgerichtlichen Prüfungsmaßstab, nach dem die Kontrolle wirtschafts- und finanzpo85 In diesem Sinne und möglicherweise noch weitgehender nunmehr BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats von 14. Januar 2014 – 2 BvR 2728/13 u.a. –, Rn. 51 ff. 86 BVerfGE 123, 267 (329) m.w.N. 87 BVerfGE 129, 124 (171); Thym, JZ 2011, S. 1011. 88 BVerfGE 129, 124 (170); 132, 195 (235), Rn. 94. 89 BVerfGE 129, 124 (174); 132, 195 (236), Rn. 96. 90 BVerfGE 129, 124 (173). 91 BVerfGE 129, 124 (174).
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litischer Maßnahmen auf negative Folgen für die Geldwertstabilität durch das Bundesverfassungsgericht allenfalls in Fällen einer evidenten Minderung des Geldwerts in Betracht kommt.92 c) Schutzpflichtverletzung Im ESM/EZB-Verfahren machen einige Beschwerdeführer der Sache nach die Verletzung einer aus Art. 38 GG abgeleiteten Schutzpflicht geltend. Eine Verfassungsbeschwerde, die auf eine Verletzung von Schutzpflichten gestützt wird, muss, um den Mindestanforderungen an die Begründung einer Verfassungsbeschwerde zu genügen, schlüssig dartun, dass die öffentliche Gewalt Schutzvorkehrungen entweder überhaupt nicht getroffen hat, oder dass die getroffenen Regelungen und Maßnahmen offensichtlich gänzlich ungeeignet oder völlig unzulänglich sind, das Schutzziel zu erreichen. Will ein Beschwerdeführer geltend machen, dass die öffentliche Gewalt ihrer Schutzpflicht allein dadurch genügen kann, dass sie eine ganz bestimmte Maßnahme ergreift, muss er auch dies und die Art der zu ergreifenden Maßnahme schlüssig darlegen.93 Dabei hat der Beschwerdeführer zu berücksichtigen, dass nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts dem Gesetzgeber bei der Erfüllung von Schutzpflichten grundsätzlich ein weiter Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum zukommt, der auch Raum lässt, etwa konkurrierende öffentliche und private Interessen zu berücksichtigen.94 Die Entscheidung, welche Maßnahmen geboten sind, kann vom Bundesverfassungsgericht deshalb nur begrenzt nachgeprüft werden. Es kann hier erst dann eingreifen, wenn der Gesetzgeber die Schutzpflicht evident verletzt hat. Nur unter besonderen Umständen kann sich diese Gestaltungsfreiheit in der Weise verengen, dass allein durch eine bestimmte Maßnahme der Schutzpflicht Genüge getan werden kann.95 Im Übrigen hat der Gesetzgeber nur das Untermaßverbot zu beachten. Die Vorkehrungen des Gesetzgebers müssen für einen angemessenen und wirksamen Schutz ausreichend sein und zudem auf sorgfältigen Tatsachenermittlungen und vertretbaren Einschätzungen beruhen. Die Verfassung gibt lediglich den Schutz als Ziel vor, nicht jedoch seine Ausgestaltung im Einzelnen. Das Bundesverfassungsgericht prüft, ob der Gesetzgeber seinen Einschätzungsspielraum vertretbar gehandhabt hat.96 92
BVerfGE, 129, 124 (174); 132, 195 (236), Rn. 96. BVerfGE 77, 170 (214 f.); BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 18. Februar 2010 – 2 BvR 2502/08 –, NVwZ 2010, S. 702 (704). 94 BVerfGE 121, 317 (360); BVerfGK 10, 208 (211). 95 BVerfGE 56, 54 (80 f.); 77, 170 (214 f.); 79, 174 (202); BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 20. Februar 2008 – 1 BvR 2722/06 –, NVwZ 2008, S. 780 (784). 96 BVerfGE 88, 203 (254, 262 f.); BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 29. Juli 2009 – 1 BvR 1606/08 –, NVwZ 2009, S. 1494 (1495); BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 15. Oktober 2009 – 1 BvR 3522/08 –, juris Rn. 27. 93
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III. Antrag im Organstreitverfahren Das Bundesverfassungsgericht entscheidet zudem im Organstreitverfahren gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG, § 13 Nr. 5, §§ 63 ff. BVerfGG über die Auslegung des Grundgesetzes aus Anlass von Streitigkeiten über den Umfang der Rechte und Pflichten eines obersten Bundesorgans oder anderer Beteiligter, die durch dieses Grundgesetz oder in der Geschäftsordnung eines obersten Bundesorgans mit eigenen Rechten ausgestattet sind. Da es der Grundkonzeption der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts entspricht, dem Deutschen Bundestag eine maßgebliche Rolle bei der Integration Deutschlands in die Europäische Union zuzuweisen, werden häufig Fragen der parlamentarischen Beteiligung an das Gericht herangetragen. 1. Antragsberechtigung a) Prozessstandschaft einer Fraktion des Deutschen Bundestages für den Deutschen Bundestag Eine Fraktion des Deutschen Bundestages ist im Organstreitverfahren nicht nur parteifähig,97 sondern zugleich berechtigt, Rechte des Bundestages im Wege der Prozessstandschaft geltend zu machen.98 Dabei handelt es sich nicht um einen verbotenen Insichprozess. Die in § 64 Abs. 1 BVerfGG vorgesehene Prozessstandschaft stellt den Organstreit in die Wirklichkeit des politischen Kräftespiels, in der sich Gewaltenteilung in erster Linie in der Einrichtung von Oppositions- und Minderheitenrechten verwirklicht. Sinn und Zweck der Prozessstandschaft liegen deshalb darin, der Parlamentsopposition und -minderheit die Befugnis zur Geltendmachung der Rechte des Bundestages nicht nur dann zu erhalten, wenn dieser seine Rechte, insbesondere im Verhältnis zu der von ihm getragenen Bundesregierung, nicht wahrnehmen will, sondern auch dann, wenn die Parlamentsminderheit Rechte des Bundestages gegen die die Bundesregierung politisch stützende Parlamentsmehrheit geltend machen will.99 Das ist sowohl Ausdruck der Kontrollfunktion des Parlaments als auch ein Instrument des Minderheitenschutzes.100 Eine Fraktion des Deutschen Bundestages ist daher befugt, für diesen geltend zu machen, durch die angegriffenen Gesetze entäußere er sich seiner haushaltspolitischen Gesamtverantwortung.101
97 98 99 100 101
BVerfGE 123, 267 (337 f.) m.w.N. BVerfGE 131, 152 (190) m.w.N. BVerfGE 123, 267 (338 f.). BVerfGE 131, 152 (190) m.w.N. BVerfGE 132, 195 (238), Rn. 102; von Kielmansegg, EuR 2012, S. 654 (656).
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b) Prozessstandschaft eines Abgeordneten des Deutschen Bundestages für den Deutschen Bundestag Ein Abgeordneter des Deutschen Bundestages ist dagegen nur antragsbefugt, wenn er eine eigene Rechtsverletzung geltend macht; ihm ist es nicht möglich, Rechte des Deutschen Bundestages in Prozessstandschaft für diesen geltend zu machen.102 Die Prozessstandschaft ist eine Ausnahme von dem allgemeinen verfahrensrechtlichen Grundsatz, dass Verfahrensbeteiligte nur eigene Rechte geltend machen können, und bedarf daher einer ausdrücklichen gesetzlichen Gestattung. Eine solche liegt nicht vor, da sich § 63, § 64 Abs. 1 BVerfGG nur auf die Prozessstandschaft eines Organteils für das Gesamtorgan beziehen und der Abgeordnete kein Organteil ist. Solche sind nur die nach der Geschäftsordnung ständig vorhandenen Gliederungen des Bundestages. Der einzelne Abgeordnete ist indes keine solche „Gliederung“.103 2. Antragsgegenstand Auch ein Unterlassen kann Gegenstand eines Organstreitverfahrens sein. Dies stellt § 64 Abs. 1 BVerfGG – insoweit anders als § 90 BVerfGG – ausdrücklich klar.104 Dementsprechend war es zulässig, im Euro-Plus-Pakt-Verfahren das Unterlassen der Bundesregierung, dem Bundestag ausreichende Informationen zu den Vertragsverhandlungen zukommen zu lassen, zum Streitgegenstand eines Organstreits zu machen.105 3. Antragsbefugnis Die Antragsbefugnis ist nur gegeben, wenn die als verletzt geltend gemachte Rechtsposition in einem Verfassungsverhältnis gründet, in dem sich auf beiden Seiten Verfassungsorgane gegenüber stehen und um verfassungsrechtliche Positionen streiten;106 die Verletzung einfachen Rechts kann im Organstreit nicht geltend gemacht werden.107 a) Art. 38 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2, Art. 79 Abs. 3 GG Die Rüge, der Deutsche Bundestag werde in seinem Recht verletzt, die haushaltspolitische Gesamtverantwortung wahrzunehmen, kann Gegen-
102 103 104 105 106 107
Vgl. BVerfGE 123, 267 (337) m.w.N. BVerfGE 123, 267 (337). Vgl. von Kielmansegg, EuR 2012, S. 654 (656). BVerfGE 131, 152 (191). BVerfGE 131, 152 (191). BVerfGE 104, 151 (193 f.); 118, 277 (319), 131, 152 (191).
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stand eines Organstreitverfahrens sein. Der Prüfungsmaßstab entspricht insoweit demjenigen der Verfassungsbeschwerde (Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 i.V.m. Art. 79 Abs. 3 GG).108 b) Art. 23 Abs. 2 GG Bei den Unterrichtungsrechten des Bundestages nach Art. 23 Abs. 2 Satz 2 GG handelt es sich ebenfalls um Organrechte, die im Organstreitverfahren eingefordert werden können.109 Macht der Deutsche Bundestag eine Verletzung der Unterrichtungspflicht der Bundesregierung aus Art. 23 Abs. 2 Satz 2 GG geltend, korrespondiert damit ein Recht auf Unterrichtung.110 Bislang noch nicht entschieden ist, ob eine Verletzung von Art. 23 Abs. 2 GG auch von einzelnen Abgeordneten des Deutschen Bundestages oder einer seiner Fraktionen geltend gemacht werden kann.111 Weitere beim Bundesverfassungsgericht anhängige Organstreitverfahren werden möglicherweise Anlass bieten, diese Fragen zu klären. c) Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG geht nicht so weit, dass aus ihm ein Recht des Deutschen Bundestages oder einer der in ihm vertretenen Fraktionen folgt, an einem Konvent im Rahmen des ordentlichen Vertragsänderungsverfahrens nach Art. 48 Abs. 2 bis Abs. 5 EUV teilzunehmen. Die Wahl des vereinfachten Vertragsänderungsverfahrens verletzt einen Antragsteller daher grundsätzlich nicht in seinen Rechten. Aus dem Grundgesetz kann kein Recht des Deutschen Bundestages oder einer seiner Fraktionen zur Teilnahme an einem Konvent nach Art. 48 EUV abgeleitet werden.112 4. Frist Der Antrag im Organstreitverfahren ist fristgebunden. Problematisch ist dabei allein die Fristberechnung im Fall eines behaupteten Unterlassens. Nach der gesetzlichen Regelung muss der Antrag „binnen sechs Monaten, nachdem die beanstandete Unterlassung bekannt geworden ist, gestellt werden“ (§ 64 Abs. 3 BVerfGG). Zum Beginn des Fristlaufs hat das Bundesverfassungsgericht seine bislang noch nicht eindeutige Rechtsprechung113 kon108
BVerfGE 132, 195 (247), Rn. 125. BVerfGE 131, 152 (191); vgl. auch BVerfGE 92, 203 (227; 230 ff.); von Kielmansegg, EuR 2012, S. 654 (656). 110 Vgl. BVerfGE 131, 152 (191). 111 Vgl. BVerfGE 123, 267 (336); Schorkopf, in: Dolzer/Vogel/Graßhof (Hrsg.), Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 6, Art. 23 Rn. 222 f. (August 2011). 112 BVerfGE 132, 195 (236 f.), Rn. 100 f. 113 BVerfGE 92, 80 (89). 109
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kretisiert und anlässlich des Euro-Plus-Pakt-Verfahrens ausdrücklich klargestellt, es sei eine eindeutige Verweigerung der begehrten Maßnahme durch die Spitze des zuständigen Ministeriums erforderlich; die Ablehnung durch nachgeordnete Ebenen der Ministerialverwaltung sei nicht ausreichend.114 5. Rechtsschutzbedürfnis Das Rechtsschutzbedürfnis im Organstreitverfahren entfällt grundsätzlich nicht deshalb, weil eine beanstandete Rechtsverletzung abgeschlossen ist.115 Ob besondere Umstände im Sinne eines „Fortsetzungsfeststellungsinteresses“ erforderlich sind, damit über eine in der Vergangenheit liegende und abgeschlossene Rechtsverletzung entschieden werden kann, hat das Bundesverfassungsgericht – wie bereits zuvor – auch im Euro-Plus-Pakt-Verfahren offenlassen können, weil aufgrund der vorprozessual und während des Verfahrens vertretenen Rechtsauffassung der Antragsgegnerseite derartige Umstände in Form eines objektiven Interesses an der Klärung der Reichweite der Unterrichtungspflichten aus Art. 23 Abs. 2 Satz 2 GG und in Form einer Wiederholungsgefahr vorgelegen haben.116 6. Verhältnis des Organstreitverfahrens zur Verfassungsbeschwerde a) Geltendmachung von Abgeordnetenrechten Ein Abgeordneter des Deutschen Bundestages kann – wie jeder Bürger – Verfassungsbeschwerde erheben, wenn er sich nicht auf seinen verfassungsrechtlichen Status gegenüber einem Verfassungsorgan beruft, sondern eine Verletzung von Grundrechten durch die öffentliche Gewalt geltend macht.117 Er kann jedoch nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht im Wege der Verfassungsbeschwerde um seine Abgeordnetenrechte mit einem Staatsorgan streiten,118 da die Verfassungsbeschwerde kein Mittel zur Austragung von Meinungsverschiedenheiten zwischen Staatsorganen ist.119 Derartige Streitigkeiten bleiben dem Organstreitverfahren vorbehalten.120 Etwas anderes kann nur ausnahmsweise in besonders gelagerten Fällen gelten, etwa wenn, wie im Ramelow-Verfahren, der Beschwerdeführer
114 BVerfGE 131, 151 (191 ff.); so auch schon BVerfGE 21, 312 (319 f.); vgl. auch von Kielmansegg, EuR 2012, S. 654 (656 f.). 115 BVerfGE 131, 152 (193) m.w.N. 116 BVerfGE 131, 152 (193 f.); von Kielmansegg, EuR 2012, S. 654 (657). 117 BVerfGE 123, 267 (328 f.). 118 Vgl. BVerfGE 32, 157 (162); 43, 142 (148, 150); 64, 301 (312); 99, 19 (29). 119 BVerfGE 15, 298 (302); 43, 142 (148); 64, 301 (312). 120 Vgl. etwa BVerfGE 130, 318 (340).
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sich unter Berufung auf Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG gegen ein verwaltungsgerichtliches Urteil wendet; dann betrifft dieses Urteil nicht sein Verhältnis zu einem anderen Verfassungsorgan, sondern sein Verhältnis zu einer Bundesoberbehörde.121 b) Umdeutung Das Bundesverfassungsgericht hat eine Umdeutung von Verfassungsbeschwerden, die Abgeordnete unter Berufung auf eine Verletzung ihrer aus dem Abgeordnetenstatus abgeleiteten Rechte erhoben hatten, in ein Organstreitverfahren bereits wiederholt erwogen.122 Für die Frage, ob eine Umdeutung einer unzulässigen Verfassungsbeschwerde in einen zulässigen Antrag im Organstreitverfahren in Betracht kommt, kommt es auf die Form des Schriftsatzes, insbesondere auf den Wortlaut der verfahrenseinleitenden Schrift, die Formulierung des Rubrums und der Anträge sowie ihre Begründung und darauf an, ob ein Antrag im Organstreitverfahren überhaupt zulässigerweise gestellt werden könnte.123 Das Bundesverfassungsgericht hat insoweit stets – nicht nur bei der Auslegung unklarer Anträge – den eigentlichen Sinn des mit einem Antrag verfolgten Begehrens zu erfassen und diesem, soweit prozessual möglich, Geltung zu verschaffen.124 So hat es in einem der bislang entschiedenen Fälle die Umdeutung einer Verfassungsbeschwerde in einen Antrag im Organstreitverfahren vor allem deshalb für nicht möglich erachtet, weil diese „sinnlos“ gewesen wäre, da die Antragsteller als Landtagsabgeordnete gemäß § 63 BVerfGG ohnehin nicht antragsberechtigt gewesen wären.125
IV. Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung Nach § 32 Abs. 1 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht sowohl im Rahmen eines Verfassungsbeschwerdeverfahrens als auch im Rahmen eines Organstreitverfahrens126 einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Im Zusammenhang mit Maßnahmen zur „Eurorettung“ ist dieser vorläufige Rechtsschutz für die Beschwerdeführer und 121 BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 17. September 2013 – 2 BvR 2436/10, 2 BvE 6/08 –, NVwZ 2013, S. 1468 (1469), Rn. 86. 122 Vgl. BVerfGE 43, 142 (149 f.); 64, 301 (315). 123 Vgl. BVerfGE 43, 142 (149 f.). 124 Vgl. BVerfGE 54, 53 (64); 68, 1 (64). 125 Vgl. BVerfGE 43, 142 (150). 126 BVerfGE 129, 284 (298 f.).
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Antragsteller von großer Bedeutung, weil sie sich regelmäßig gegen die Ratifikation von primärem Unionsrecht oder völkerrechtlichen Verträgen wenden. Sind diese erst einmal ratifiziert, ist die völkerrechtliche Bindung der Bundesrepublik Deutschland eingetreten und droht die Gefahr, dass die völkerrechtliche Rechtslage und das verfassungsrechtlich Zulässige divergieren. Dies gilt es zu vermeiden. 1. Allgemeiner Prüfungsmaßstab Bei der Prüfung, ob die Voraussetzungen des § 32 Abs. 1 BVerfGG gegeben sind, ist wegen der weittragenden Folgen einer einstweiligen Anordnung regelmäßig ein strenger Maßstab anzulegen,127 der noch weiter verschärft wird, wenn eine Maßnahme mit völkerrechtlichen oder außenpolitischen Auswirkungen in Rede steht.128 Bei der Entscheidung über die einstweilige Anordnung haben die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit der angegriffenen Maßnahmen vorgetragen werden, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben, es sei denn, der in der Hauptsache gestellte Antrag wäre von vornherein unzulässig oder offensichtlich unbegründet.129 Erweist sich der Ausgang des Hauptsacheverfahrens als offen, hat das Bundesverfassungsgericht grundsätzlich lediglich im Rahmen einer Folgenabwägung die Nachteile abzuwägen, die einträten, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde oder der Antrag im Organstreitverfahren aber in der Hauptsache Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, in der Hauptsache aber der Erfolg zu versagen wäre.130 Diesen „allgemeinen“ Maßstab hat das Bundesverfassungsgericht noch seinen beiden ersten Eilentscheidungen im Griechenlandhilfe/Euro-Rettungsschirm-Verfahren zugrunde gelegt131 und die beiden Anträge auf Erlass einstweiliger Anordnungen aufgrund einer Folgenabwägung abgelehnt. 2. „Neuer“ Prüfungsmaßstab Im ESM-Urteil ist das Bundesverfassungsgericht von diesem Prüfungsmaßstab abgerückt und hat – in Anknüpfung an seine Rechtsprechung zum Grundlagenvertrag – statt einer Folgenabwägung eine summarische Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache vorgenommen. Nach dem „neuen“ Prüfungsmaßstab wird, falls im Hauptsacheverfahren das Zustimmungs127 128 129 130 131
Vgl. BVerfGE 132, 195 (232), Rn. 86 m.w.N. Vgl. BVerfGE 35, 193 (196 f.); 125, 385 (393); 126, 158 (167); 132, 195 (232), Rn. 86. BVerfGE 132, 195 (232), Rn. 87 m.w.N.; stRspr. BVerfGE 125, 385 (393); 126, 158 (168); 132, 195 (232), Rn. 87; stRspr. BVerfGE 125, 385 (392 f.); 126, 158 (167 f.).
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gesetz zu einem völker- oder unionsrechtlichen Vertrag zur Prüfung gestellt wird, bereits im Verfahren nach § 32 Abs. 1 BVerfGG summarisch geprüft, ob die für die Verfassungswidrigkeit des angegriffenen Vertragsgesetzes vorgetragenen Gründe mit einem hohen Grad an Wahrscheinlichkeit erwarten lassen, dass das Bundesverfassungsgericht das Vertragsgesetz für verfassungswidrig erklären wird.132 Auch begleitende gesetzliche Regelungen können diesem Prüfungsmaßstab unterfallen, wenn ein enger Sachzusammenhang mit der zugleich angegriffenen völkerrechtlichen Vereinbarung besteht.133 Den Wechsel des Prüfungsmaßstabs begründet das Bundesverfassungsgericht mit zwei Argumenten. Es könne so sichergestellt werden, dass die Bundesrepublik Deutschland keine völkerrechtlichen Bindungen eingehe, die mit dem Grundgesetz nicht vereinbar sind. Dies ist zwar zutreffend, hätte aber keine Änderung des Maßstabs erfordert, weil auch der Erlass einer einstweiligen Anordnung aufgrund einer Folgenabwägung dies verhindert hätte, wobei im Rahmen der Folgenabwägung eben dieser Gesichtspunkt als drohender Nachteil eingestellt hätte werden können und den Erlass bereits als solchen gerechtfertigt hätte.134 Auch könne – so das Bundesverfassungsgericht weiter – auf diese Weise verhindert werden, dass eine mögliche Rechtsverletzung bei Verweigerung einstweiligen Rechtsschutzes nicht mehr rückgängig gemacht werden könnte, die Entscheidung in der Hauptsache also zu spät käme. Eine summarische Prüfung sei insbesondere geboten, wenn eine Verletzung der Schutzgüter des Art. 79 Abs. 3 GG in Rede stehe. Ergebe die summarische Prüfung, dass eine behauptete Verletzung von Art. 79 Abs. 3 GG mit hoher Wahrscheinlichkeit gegeben sei, läge in der Nichtgewährung von Rechtsschutz ein schwerer Nachteil für das gemeine Wohl im Sinne des § 32 Abs. 1 BVerfGG. Auch das zweite Argument entpuppt sich als Scheinargument. Der von den Antragstellern begehrte Rechtsschutz war gerade der Erlass einer einstweiligen Anordnung; dieser wurde nicht gewährt. Das Gericht legt seinen Gedankengang unfreiwillig offen, indem mit der Verweigerung einstweiligen Rechtsschutzes argumentiert wird. Indes hätte die Verfassungsidentität nicht effektiver als mit dem Erlass einer einstweiligen Anordnung und einem gründlichen, nicht unter immensem Zeitdruck135 stehenden Verfahren geschützt werden können. So wenig überzeugend der „neue“ Prüfungsmaßstab sein mag, so wenig wird das Bundesverfassungsgericht in künftigen Verfahren hinter ihn zu-
132
Vgl. BVerfGE 35, 193 (196 f.); 132, 195 (233), Rn. 88. BVerfGE 132, 195 (233 f.), Rn. 89. 134 Kritisch auch Tomuschat, DVBl 2012, S. 1431 (1432): „widersprüchliche Begründung“. 135 Dieser resultierte nicht zuletzt daraus, dass der neugewählte Bundespräsident Gauck entgegen der bisherigen Staatspraxis mit seiner Unterschrift nicht bis Erlass der Entscheidung in der Hauptsache gewartet hat. 133
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rücktreten können. In Verfahren im Zusammenhang mit der „Eurorettung“ – und darüber hinaus auch in Verfahren, welche die Änderung der Unionsverträge zum Gegenstand haben – wird aufgrund der dogmatischen Konstruktion der Beschwerdebefugnis stets eine Verletzung von Art. 79 Abs. 3 GG behauptet werden. Die summarische Prüfung wird zum Regelfall werden und das Bundesverfassungsgericht läuft damit Gefahr, das Hauptsacheverfahren in das Verfahren über den einstweiligen Rechtsschutz zu verlagern, sich dabei selbst unter unnötigen Zeitdruck zu setzen und selbstverschuldet an die Grenzen seiner Belastbarkeit zu führen.
V. Vollstreckungsanordnung Hat der Beschwerdeführer oder Antragsteller – wie mit dem ESM-Vertrag/Fiskalpakt-Urteil – eine ganz oder teilweise stattgebende Entscheidung erreicht, kann das Bundesverfassungsgericht von Amts wegen136 oder auf Antrag137 eine Vollstreckungsanordnung gemäß § 35, 2. Halbsatz BVerfGG erlassen. Danach trifft das Gericht alle Anordnungen, die erforderlich sind, um seinen verfahrensabschließenden Sachentscheidungen Geltung zu verschaffen. Dabei hängen die Art, das Maß und der Inhalt der Vollstreckungsanordnungen einmal vom Inhalt der Sachentscheidung ab, die vollstreckt werden soll, zum anderen von den konkreten Verhältnissen, die in Einklang mit der Entscheidung zu bringen sind, insbesondere von dem Verhalten der Personen, Organisationen, Behörden und Verfassungsorgane, an die oder gegen die sich die Entscheidung richtet.138 Voraussetzung ist jedoch, dass entweder aus dem Vorbringen der Verfahrensbeteiligten oder aus sonstigen von Amts wegen zu berücksichtigenden Umständen zu erkennen ist, dass es zur Durchsetzung des Urteils einer solchen Anordnung bedarf.139 Dies hat das Bundesverfassungsgericht mit Blick auf die von ihm geforderten völkerrechtlichen Vorkehrungen im ESM-Vertrag/Fiskalpak -Urteil zu Recht verneint.
VI. Auswahl von Pilotverfahren Das Bundesverfassungsgericht muss, um eine sachgerechte Bearbeitung der verfassungsrechtlichen Fragestellung und eine zügige Entscheidung über diese sicher zu stellen, notwendigerweise einige wenige „Pilot- oder Muster136 137 138 139
juris.
BVerfGE 6, 300 (303). Vgl. BVerfGE 52, 63 (94); 68, 132 (140); 100, 263 (265). BVerfGE 68, 132 (140). BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 26. September 2012 – 2 BvR 1390/12 –,
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verfahren“ aus der Vielzahl der anhängigen Verfahren auswählen. Derartige verfahrensleitende Entscheidungen, mit denen eine vorrangige Bearbeitung durch den Senat, nicht notwendigerweise aber zugleich die Anberaumung einer mündlichen Verhandlung einhergeht,140 stehen grundsätzlich im pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts.141 Ein Rechtsanspruch der Beteiligten auf eine bestimmte Entscheidung besteht insoweit nicht.142 Das Bundesverfassungsgericht hat es im Übrigen gebilligt, dass ein Gericht für eine mündliche Verhandlung von zahlreichen bei ihm anhängigen Verfahren einige wenige auswählt und die Verhandlung der anderen einstweilen zurückstellt. Für diejenigen, deren Verfahren vorerst zurückgestellt werden, wird der durch Art. 19 Abs. 4 GG gewährleistete effektive Rechtsschutz dadurch nicht in verfassungsrechtlich unzulässiger Weise erschwert, denn ihnen stehen nach dem Ergehen der „Musterurteile“ noch alle prozessualen Möglichkeiten offen, umfassenden gerichtlichen Schutz zu erlangen.143 Der Gesetzgeber hat diese Rechtsprechung später in § 93a VwGO kodifiziert. Aber auch, soweit es für ein solches Vorgehen an einer besonderen gesetzlichen Ermächtigung fehlt, stößt dies nicht auf verfassungsrechtliche Bedenken.144 Die Auswahl von Musterverfahren verletzt auch nicht Art. 3 Abs. 1 GG, weil es typischerweise sachliche Gründe dafür gibt, zunächst nur für einige Verfahren eine mündliche Verhandlung anzuberaumen. Diese Gründe bedürfen grundsätzlich keiner weiteren Darlegung. In der Praxis kann auf gezielte Nachfrage mit einem Berichterstatterschreiben reagiert werden. Schließlich wird der Anspruch der Beschwerdeführer oder Antragsteller auf rechtliches Gehör durch die Auswahl anderer Verfahren als Pilotverfahren nicht berührt, denn rechtliches Gehör ist im jeweiligen Verfahren zu gewähren.145 Da die Auswahlentscheidung somit keine Rechtspositionen der Betroffenen verkürzt und keine rechtlichen oder tatsächlichen Nachteile mit sich bringt, muss diesen hierzu auch kein rechtliches Gehör gewährt werden.
VII. Fazit Die vorstehenden Ausführungen mögen drei grundsätzliche Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts veranschaulichen: Erstens ist die dogmatische Konstruktion, die das Bundesverfassungsgericht seiner Rechtsprechung zugrunde legt, um den Rechtsschutzsuchenden 140 141 142 143 144 145
Vgl. BVerfGE 129, 37 ff. Vgl. BVerfGE 35, 34 (35); 51, 384 (385 f.). Vgl. BVerfGE 51, 384 (385 f.). Vgl. BVerfGE 54, 39 (41 f.); vgl. auch BVerfGK 16, 406 (408). Vgl. BVerfGE 54, 39 (42). BVerfGE 51, 384 (386).
582 Rechtsschutz gegen Maßnahmen im Zusammenhang mit der „Eurorettung“
effektiven Rechtsschutz gegen Maßnahmen im Zusammenhang mit der „Eurorettung“ zu gewährleisten, keineswegs einfach zu durchdringen. Durch sie ist aber zugleich manche – in der Öffentlichkeit deshalb schwer zu vermittelnde – „ja, aber“-Entscheidung bedingt. Die Brücke, die das Bundesverfassungsgericht dem Bürger gebaut hat, ist schmal; manches an das Gericht herangetragene Rechtsschutzziel trägt sie nicht. Gut möglich und wahrscheinlich erscheint jedoch, dass die Subjektivierung des Art. 38 GG weiter vorangetrieben wird. Noch nicht entschieden ist etwa, ob, und wenn ja, unter welchen Voraussetzungen Verfassungsbeschwerden gegen außervertragliche Änderungen des primären Unionsrechts auf Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG gestützt werden können.146 Daneben ist in Anbetracht des ESM/EZBVerfahrens auch eine teilweise Subjektivierung der Integrationsverantwortung und eine auf Art. 38 in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3 GG gestützte Ultra-vires-Rüge vorstellbar. Zweitens ist die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts keineswegs integrationsfeindlich, sondern demokratiefreundlich. In ihrem Zentrum steht der Deutsche Bundestag als das von den Bürgen gewählte Repräsentationsorgan. Der Rechtsschutz, den das Gericht bieten will, ist daher weniger ein Rechtsschutz gegen bestimmte Inhalte, sondern eine Sicherung des – demokratischen – Verfahrens. Weitere Integrationsschritte sind folglich keineswegs undenkbar. Voraussetzung ist allerdings, dass sie unter Beteiligung des Deutschen Bundestages erfolgen und dem Demokratieprinzip des Grundgesetzes hinreichend Rechnung tragen. Drittens verfolgt die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts das Ziel, den Primat des Rechts gegenüber den Finanz- und Wirtschaftswissenschaften und/oder faktischen Zwängen durchzusetzen und sicherzustellen, dass die Bundesrepublik Deutschland ein Rechtsstaat und die Europäische Union eine „Rechtsgemeinschaft“ (Walter Hallstein) bleibt.
146 Vgl. BVerfGE 123, 267 (351); 129, 124 (172). Falls auch insoweit eine materielle Anreicherung des Art. 38 GG bei gleichzeitiger Subjektivierung dieses demokratischen Gehalts in der Zukunft anerkannt werden sollte, wird der Beschwerdeführer immens hohe Darlegungslasten zu erfüllen haben, vgl. BVerfGE 129, 124 (172 f.). Insoweit kritisch gegenüber „einer weiteren Überdehnung der Beschwerdebefugnis“ Ruffert, EuR 2011, S. 842 (846).
Die überlange Dauer von Gerichtsverfahren im Spiegel der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte Christiane Schmaltz Wichtige Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts BVerfGE 54, 39 – Musterverfahren BVerfGE 55, 349 – Hess-Entscheidung BVerfG, Beschluss des Vorprüfungs-Ausschusses des Zweiten Senats vom 29. April 1981 – 2 BvR 348/81 –, EuGRZ 1982, S. 75 f. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 6. Mai 1997 – 1 BvR 711/96 –, juris BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 20. Juli 2000 – 1 BvR 352/00 –, juris BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 14. Dezember 2010 – 1 BvR 404/10 –, juris
Wichtige Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte EGMR (Plenum), Urteil vom 28. Juni 1978, König gg. Deutschland, Nr. 6232/73, EGMR-E 1, S. 278 ff. EGMR (GK), Urteil vom 27. Juni 2000, Frydlender gg. Frankreich, Nr. 30979/96 EGMR (GK), Urteil vom 26. Oktober 2000, Kudła gg. Polen, Nr. 30210/96, NJW 2001, S. 2694 ff. EGMR (GK), Urteil vom 8. Juni 2006, Sürmeli gg. Deutschland, Nr. 75529/01, NJW 2006, S. 2389 ff. EGMR, Urteil vom 2. September 2010, Rumpf gg. Deutschland, Nr. 46344/06, NJW 2010, S. 3355 ff.
Schrifttum (Auswahl) Brett, Verfahrensdauer bei Verfassungsbeschwerden im Horizont der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK, 2009; Breuer, Staatshaftung für judikatives Unrecht, 2011; Britz/Pfeifer, Rechtsbehelf gegen unangemessene Verfahrensdauer im Verwaltungsprozess, DÖV 2004, S. 245 ff.; Guckelberger, Der neue staatshaftungsrechtliche Entschädigungsanspruch bei überlangen Gerichtsverfahren, DÖV 2012, S. 289 ff.; P. Kirchhof, Verfassungsrechtliche Maßstäbe für die Verfahrensdauer und für die Rechtsmittel, DStZ 1989, S. 55 ff.; Schlette, Der Anspruch auf gerichtliche Entscheidung in angemessener Frist, 1999; Steinbeiß-Winkelmann, Überlange
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Überlange Dauer von Gerichtsverfahren
Gerichtsverfahren – der Ruf nach dem Gesetzgeber, ZRP 2007, S. 177 ff.; Tiwisina, Rechtsfragen überlanger Verfahrensdauer nach nationalem Recht und der EMRK, 2010 Inhalt I. II.
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts . . . . . . . . . . . . . . . 1. Beginn einer Rechtsprechung zur überlangen Verfahrensdauer . . . . . 2. Sachgebietsbezogene Differenzierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Familienrechtliche Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Zivilrechtliche Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Sozialrechtliche Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte . . . 1. Beginn einer Rechtsprechung zur überlangen Verfahrensdauer . . . . . a) Komplexität des Verfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Bedeutung für die Beteiligten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Prozessförderungspflicht der Gerichte . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Verhalten der Parteien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Art. 13 EMRK und die Rechtsprechung zur überlangen Verfahrensdauer a) Die Urteile in Kudła und Scordino . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Urteile in Sürmeli, Herbst und Rumpf . . . . . . . . . . . . . . . c) Die Entscheidungen in Bock und Dudek . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Die Angemessenheit der Verfahrensdauer . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Zurückhaltung bei der fachgerichtlichen Verfahrensgestaltung . . . . . 2. Details der Prüfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Vorschlag eines Prüfungsschemas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Beurteilungszeitraum – insgesamt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Beurteilungszeitraum – konkret . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Angemessenheit des Beurteilungszeitraums . . . . . . . . . . . . . . VI. Das Gesetz vom 24. November 2011 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Erste Konsequenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I. Einleitung “Justice delayed, is justice denied”; “justice rétive, justice fautive” – diese Sprichwörter bringen die Problematik der unangemessenen Dauer von Gerichtsverfahren auf den Punkt: Zeitlich verzögerter Rechtsschutz schafft tatsächlich und nicht selten auch für die rechtliche Beurteilung unumkehrbare Fakten. Die gegnerische Partei meldet Insolvenz an1, die Klageforderung wird wertlos; das Kindeswohl spricht wegen Entfremdung mangels Umgangs während des Verfahrens gegen die begehrte Erweiterung des
1 Vgl. zu einem solchen Fall BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 22. August 2013 – 1 BvR 1067/12 –, juris.
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Umgangsrechts.2 Auch die Rechtssicherheit leidet, wenn streitige Rechtsverhältnisse nicht innerhalb angemessener Zeit geklärt werden.3 Doch die Sprichwörter gibt es auf Englisch, Französisch – nicht aber in deutscher Sprache.4 Im Gegenteil bringt die Rede vom „kurzen Prozess“ die Furcht zum Ausdruck, es werde vorschnell und ohne die für ein „gutes“ Urteil notwendige Zeit entschieden.5 Dennoch ist in Deutschland eine überlange Dauer gerichtlicher Verfahren keineswegs die Ausnahme; seit dem 3. Dezember 2011 gibt es auch einen Rechtsbehelf dagegen. Das Bundesverfassungsgericht und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte müssen sich immer wieder mit Beschwerden gegen die (zu) lange Dauer fachgerichtlicher Verfahren beschäftigen. Vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ist die überlange Dauer von Gerichtsverfahren sogar das am häufigsten gerügte Konventionsrecht.6 Von den insgesamt 15.947 Urteilen7 aus den Jahren 1959 bis 2012 betrafen mehr als 5.000 Urteile (ca. 32 %) das Recht auf eine „Verhandlung innerhalb angemessener Zeit“ aus Art. 6 Abs. 1 der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK).8 Die Zahl der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zur überlangen Verfahrensdauer ist im Verhältnis dazu überschaubar9. Das liegt unter anderem daran, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die 2 Siehe zu weiteren Beispielen Schlette, Der Anspruch auf gerichtliche Entscheidung in angemessener Frist, 1999, S. 14 f.; P. Kirchhof, DStZ 1989, S. 55; Würdinger, Der Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren: Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte als Motor einer langen Reise in die prozessuale Moderne, in: Stamm (Hrsg.), Festschrift für Helmut Rüßmann, 2013, S. 651. 3 Vgl. dazu z.B. BVerfGE 60, 253 (269); 88, 118 (124). 4 Breuer, Staatshaftung für judikatives Unrecht, 2011, S. 320, sieht den Grund dafür darin, dass die Länge der Verfahrensdauer im deutschsprachigen Raum nicht als Problem angesehen wurde. 5 Siehe zu diesem Gedanken Schlette, a.a.O. (Fn. 2), S. 24, insbesondere Fn. 30; ebenso Breuer, a.a.O. 6 Jacobs/White/Ovey, The European Convention on Human Rights, 5. Aufl. 2010, S. 272. 7 Einschließlich 1.060 Nichtverletzungsurteile. 8 ECHR, Overview 1959–2012, S. 7, http://www.echr.coe.int/Documents/Overview_ 19592012_ENG.pdf. Dagegen gab es z.B. „nur“ 3.883 Verurteilungen wegen Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren (Art. 6 EMRK) und 2.693 wegen Verletzung des Eigentumsrechts (Art. 1 des Ersten Protokolls). 9 Eine mit der EGMR-Statistik vergleichbare Einzelstatistik gibt es für das Bundesverfassungsgericht nicht. Eine Recherche der juris-Datenbank zur Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu „effektiver Rechtsschutz“ und „Verfahrensdauer“ ergibt 126 Treffer aus den Jahren 1979–2013, nur zu „Verfahrensdauer“ 338 Treffer aus den Jahren 1973–2013. Das ist auch im Verhältnis zu Entscheidungen betreffend andere Verfahrensgrundrechte wenig. Eine Recherche zu „rechtliches Gehör“ ergibt zum Beispiel 2.570 Treffer aus den Jahren 1952–2013, zu „effektiver Rechtsschutz“ 1.547 Treffer aus den Jahren 1958–2013.
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Verfassungsbeschwerde seit 2006 nicht mehr als effektives Rechtsmittel gegen überlange Gerichtsverfahren ansah.10 Beschwerdeführende konnten und mussten zur Wahrung der 6-Monatsfrist des Art. 35 Abs. 1 EMRK ohne den „Umweg“ über Karlsruhe direkt nach Straßburg gehen.11 Auch zuvor war indes bekannt, dass die Verfassungsbeschwerde gegen die überlange Dauer von Gerichtsverfahren wegen der in diesem Fall beschränkten Möglichkeiten des Bundesverfassungsgerichts ein stumpfes Schwert ist. Viele Verfassungsbeschwerden erledigten sich auch deshalb bereits mit Zustellung oder einem telefonischen Hinweis an das Fachgericht, weil dies häufig zur Anberaumung eines Termins und Rücknahme der Verfassungsbeschwerde führte, so die ehemalige Bundesverfassungsrichterin Renate Jaeger12. Jenseits einer Kostenerstattung konnten die Beschwerdeführenden von einer stattgebenden Entscheidung des Verfassungsgerichts auch nicht mehr erwarten. Der Beitrag zeichnet die Entwicklung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zum Anspruch auf ein Gerichtsverfahren innerhalb angemessener Zeit anhand ausgewählter Entscheidungen nach.13 Aus der Rechtsprechung beider Gerichte kann ein Prüfprogramm abgeleitet werden, an dem sich Anwaltschaft und Fachgerichte orientieren können, die nach dem Inkrafttreten des Gesetzes über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren14 nunmehr den ersten Zugriff auf die Beurteilung der Angemessenheit der Verfahrensdauer haben.
II. Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Im Gegensatz zur ausdrücklichen Garantie in Art. 6 Abs. 1 EMRK und auch zu jener in Art. 47 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union15 enthält das Grundgesetz keinen expliziten Anspruch auf ein Ge10 EGMR (GK), Urteil vom 8. Juni 2006, Sürmeli gg. Deutschland, Nr. 75529/01, NJW 2006, S. 2389 ff. Siehe dazu ausführlich unten III.2.b). Ob sich das mit dem Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren vom 24. November 2011 (BGBl I S. 2302) ändern wird, bleibt abzuwarten. 11 Nach Inkrafttreten des neuen Gesetzes (Fn. 10) müssen nunmehr zunächst wieder die innerstaatlichen Rechtsbehelfe einschließlich der Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht erschöpft werden. 12 Richterin des Bundesverfassungsgerichts i.R. (1994–2004), ehemalige Richterin am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (2004–2010), Schlichterin der Schlichtungsstelle der Rechtsanwaltschaft (seit 2011) in einem Gespräch im Oktober 2013. 13 Im Mittelpunkt stehen dabei „zivilrechtliche“ Verfahren im Sinne des Art. 6 Abs. 1 EMRK. Die Dauer von Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht erörtert der Beitrag nicht; siehe dazu z.B. Barczak, AöR 138 (2013), S. 536 (550 ff.); zu der Problematik insgesamt vgl. auch Ohrloff, Der Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren, 2014. 14 Siehe Fn. 10. 15 Art. 8 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte garantiert einen allgemeinen „Anspruch auf wirksamen Rechtsschutz“.
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richtsverfahren innerhalb angemessener Zeit. Das Bundesverfassungsgericht leitet jedoch in ständiger Rechtsprechung einen Anspruch auf – auch zeitlich – effektiven Rechtsschutz in öffentlich-rechtlichen Streitigkeiten aus der Rechtsweggarantie des Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG ab.16 Für bürgerlich-rechtliche Streitigkeiten sowie für Ordnungswidrigkeiten- und Strafverfahren17 wird der Anspruch auf eine angemessene Verfahrensdauer dem allgemeinen Justizgewährungsanspruch entnommen, der insoweit aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG folgt.18 1. Beginn einer Rechtsprechung zur überlangen Verfahrensdauer Die ersten Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts zum zeitlichen Aspekt der Rechtsschutzgarantie19, finden sich in einem Beschluss des Zweiten Senats vom 28. Oktober 1975: „Das verwaltungsgerichtliche Vorverfahren darf allerdings die Anrufung der Gerichte nicht zeitlich unzumutbar lange hinauszögern. Denn dass eine sachliche Entscheidung durch die Gerichte noch „zur rechten Zeit“ erlangt werden kann, ist eine wesentliche Bedingung für die Wirksamkeit des durch Art. 19 Abs. 4 GG gewährleisteten Rechtsschutzes.“20
Die dort genannte Grenze der zeitlichen Zumutbarkeit ist zumindest bei krassen Verfahrensverzögerungen erreicht; eine „offenkundige Verschleppung“ verstoße gegen das „Gebot der Gewährung eines effektiven Gerichtsschutzes“21. So drückte es der Zweite Senat im Jahr 1977 in einem Beschluss zu einem Disziplinarverfahren gegen einen Lehrer aus. Das Disziplinarverfahren selbst wurde als ein Verfahren eingestuft, das seiner „Natur nach mit der gebotenen Beschleunigung durchzuführen“ ist22. Konkrete Ausführungen zum Einfluss von Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG auf die den Fachgerichten obliegende Verfahrensgestaltung sowie zur notwendigen Einzelfallbetrach-
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BVerfGE 40, 237 (256); stRspr. Vgl. BVerfGE 63, 45 (60); BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 19. März 1992 – 2 BvR 1/91 –, NJW 1992, S. 2472 ff. 18 Vgl. z.B. BVerfGE 88, 118 (124); stRspr. Zur früheren Rechtsprechung vgl. Tiwisina, Rechtsfragen überlanger Verfahrensdauer nach nationalem Recht und der EMRK, 2010, S. 66 ff.; vgl. zur Herleitung des verfassungsrechtlichen Anspruchs auf angemessene Verfahrensdauer auch Breuer, a.a.O. (Fn. 4), S. 318 ff. 19 Zwei Jahre zuvor hatte das Bundesverfassungsgericht bereits Ausführungen zum Beschleunigungsgrundsatz in Untersuchungshaftsachen (§ 121 Abs. 1 StPO) gemacht, BVerfGE 36, 264. 20 BVerfGE 40, 237 (257); 1980 heißt es dann schon in der heute gebräuchlichen Terminologie, Art. 19 Abs. 4 GG erfordere „die Durchführung eines gerichtlichen Verfahrens innerhalb angemessener Zeit“, BVerfGE 54, 39 (40 f.). 21 BVerfGE 46, 17 (28 f.). 22 BVerfGE 46, 17 (29). 17
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tung bei der Beurteilung der Verfahrensdauer finden sich in der „Hess-Entscheidung“ des Zweiten Senats: „Die Entscheidung darüber, wann im einzelnen Verfahren ein Termin zur mündlichen Verhandlung anberaumt wird, obliegt in erster Linie dem mit der Sache befassten Gericht im Rahmen des ihm im Hinblick auf die Verfahrensführung durch die einschlägige Prozessordnung eingeräumten Ermessens. (…) Dabei darf es freilich das aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG folgende Gebot eines wirkungsvollen Rechtsschutzes nicht außer Acht lassen. (…) Wirksamer Rechtsschutz bedeutet zumal auch Rechtsschutz innerhalb angemessener Zeit. Die Angemessenheit der Dauer eines Verfahrens ist nach den besonderen Umständen des einzelnen Falles zu bestimmen.“23
Diese Entscheidung erging in zeitlicher Nähe zur ersten Verurteilung Deutschlands durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte wegen überlanger Dauer eines verwaltungsgerichtlichen Verfahrens24. Ob das der Auslöser für die klaren Formulierungen des deutschen Gerichts war, bleibt allerdings reine Spekulation.25 In der Folge sind die Kammern auf die einzelnen Kriterien für die Angemessenheit der Verfahrensdauer näher eingegangen. Erstmals vertieft erörtert wurden zwei dieser Kriterien vom Vorprüfungs-Ausschuss26 des Zweiten Senats in einem später mehrfach zitierten27 Nichtannahmebeschluss28. In der Sache ging es um einen seit fünf Jahren anhängigen Rechtsstreit auf Erteilung eines Vertriebenenausweises. Der Ausschuss wies wiederum darauf hin, dass zwar die zeitliche Verfahrensgestaltung den Fachgerichten obliege, diese 23 BVerfGE 55, 349 (369); auf diesen Beschluss scheint sich die soweit ersichtlich erste Entscheidung des Ersten Senats zum Rechtsschutz innerhalb angemessener Zeit zu beziehen: BVerfG, Entscheidung des Ersten Senats vom 18. Juni 1984 – 1 BvR 770/84 –, juris (Kurztext). 24 EGMR (Plenum), Urteil vom 28. Juni 1978, König gg. Deutschland, Nr. 6232/73, EGMR-E 1, S. 278 ff. (Hauptsache); Urteil vom 10. März 1980, EGMR-E 1, S. 311 ff. (Entschädigung); siehe dazu näher unten III.1. 25 Von einer Beeinflussung des Bundesverfassungsgerichts durch das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte wird in der Literatur durchaus ausgegangen: vgl. Brett, Verfahrensdauer bei Verfassungsbeschwerdeverfahren im Horizont der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK, 2009, S. 258 f.; Tiwisina, a.a.O. (Fn. 18), S. 62; Breuer, a.a.O. (Fn. 4), S. 326; siehe auch Schlette, a.a.O. (Fn. 2), S. 25, Fn. 36, der darauf verweist, dass es vorher in der deutschen Literatur keine Stellungnahmen zu dem zeitlichen Aspekt der Rechtsschutzgarantie gegeben habe. 26 § 93a Abs. 2 BVerfGG in der bis zum 31. Dezember 1985 geltenden Fassung. 27 Z.B. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 5. April 1990 – 1 BvR 32/89 –, juris (Kurztext); Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 30. April 1992 – 1 BvR 406/89 –, juris Rn. 4; Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 26. April 1999 – 1 BvR 467/99 – juris Rn. 6. 28 Beschluss des Vorprüfungs-Ausschusses des Zweiten Senats vom 29. April 1981 – 2 BvR 348/81 –, EuGRZ 1982, S. 75 f.
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dabei aber das Gebot wirkungsvollen Rechtsschutzes nicht außer Acht lassen dürften. Dabei sei insbesondere der „Bedeutung des Rechtsstreits für den Betroffenen“ Rechnung zu tragen. Für die Beurteilung der Angemessenheit der Dauer des gerichtlichen Verfahrens müssten zudem die „Ursachen für etwaige Verzögerungen“ in den Blick genommen werden. 2. Sachgebietsbezogene Differenzierung Anhand einiger Entscheidungen aus dem Familien-, Zivil- und Sozialrecht kann nachvollzogen werden, wie das Bundesverfassungsgericht diese Kriterien im Laufe der Zeit mit Leben gefüllt und weiter ausdifferenziert hat. a) Familienrechtliche Verfahren Verfassungsbeschwerden wegen überlanger Verfahrensdauer vor den Familiengerichten betreffen häufig sorge- und umgangsrechtliche Verfahren. Das Zeitelement ist hier für die Beteiligten wegen einer drohenden Entfremdung zwischen Eltern und Kind von besonderer Bedeutung. Das spiegelt sich im Beschleunigungsgebot des § 155 Abs. 1 FamFG wider und spielt auch in den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts eine zentrale Rolle. 1997 setzte sich die 1. Kammer des Ersten Senats mit der Dauer eines seit mehr als sechseinhalb Jahren erstinstanzlich anhängigen Verfahrens über Umgangsregelungen eines nichtehelichen Vaters mit seinem Kind auseinander. Die Kammer wies darauf hin, dass es keine verbindlichen Richtlinien für eine (noch) angemessene Verfahrensdauer gebe; vielmehr sei jeweils eine Abwägung im Einzelfall notwendig. Etwas anderes sei auch der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte nicht zu entnehmen. Unter Verweis auf ein Urteil des Plenums des Straßburger Gerichtshofs29 hielt die Kammer die Dauer des streitgegenständlichen Verfahrens jedenfalls für zu lang: „Insbesondere bei Streitigkeiten um das Sorge- und Umgangsrecht ist bei der Frage, welche Verfahrensdauer noch als angemessen betrachtet werden kann, zu berücksichtigen, dass jede Verfahrensverzögerung wegen der eintretenden Entfremdung häufig schon rein faktisch zu einer (Vor-)Entscheidung führt, noch bevor ein richterlicher Spruch vorliegt.“30
Die Kammer erkannte zwar an, dass Art und Umfang der Ermittlungen grundsätzlich im pflichtgemäßen Ermessen des Fachgerichts stehen, mahnte das Gericht aber, nunmehr „unverzüglich geeignete Maßnahmen zu ergrei29
EGMR (Plenum), Urteil vom 8. Juli 1987, W. gg. Vereinigtes Königreich, Nr. 9749/82, Rn. 69, EGMR-E 3, S. 542 (561). 30 BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 6. Mai 1997 – 1 BvR 711/96 –, juris Rn. 36.
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fen, um dem Verfahren Fortgang zu geben und auf dessen raschen Abschluss hinzuwirken“31. In einem weiteren Beschluss zur Dauer eines Umgangsverfahrens hat das Bundesverfassungsgericht diese Maßstäbe konkretisiert.32 Bei der Bestimmung der „angemessenen Zeit“ für diese Verfahren sei zu berücksichtigen, dass „nicht von den objektiven Zeitmaßstäben eines Erwachsenen ausgegangen werden [kann]. Einzubeziehen ist vielmehr, dass sich das kindliche Zeitempfinden von dem eines Erwachsenen unterscheidet: (…) Kleinere Kinder empfinden (…) den Verlust einer Bezugsperson schneller als endgültig als ältere Kinder oder gar Erwachsene. Deswegen ist die Gefahr einer faktischen Präjudizierung hier besonders groß. In kindschaftsrechtlichen Verfahren ist nach alledem eine besondere Sensibilität für die Problematik der Verfahrensdauer erforderlich.“33
Aber nicht nur das kindliche Zeitempfinden bringe die Notwendigkeit einer beschleunigten Bearbeitung mit sich. Auch die Belastungen, die mit einem gerichtlichen Verfahren einhergingen, seien bei der Beurteilung der angemessenen Verfahrensdauer zu berücksichtigen: „Insbesondere in umgangsrechtlichen Verfahren, in denen es meist darum geht, ob und gegebenenfalls wann ein Elternteil sein leibliches Kind sehen darf, offenbart sich die Tragweite eines solchen gerichtlichen Verfahrens – und damit auch seine Bedeutung für die Verfahrensbeteiligten – in besonderem Maße.“34
Die Gefahr der faktischen (Vor-)Entscheidung wegen einer eintretenden Entfremdung aufgrund von Verfahrensverzögerungen betonte die 2. Kammer des Ersten Senats im Jahr 200835 erneut. b) Zivilrechtliche Verfahren Die Bedeutung des Zeitelements im Zivilprozess variiert erheblich. Rein finanzielle Nachteile können über die Verzinsung (§§ 288, 291 BGB) zum Teil kompensiert werden – nach Abschluss des Verfahrens. Bei finanzschwachen Parteien gefährdet ein langwieriger Prozess dann schnell die Existenz. Und nach Verkehrsunfällen oder Körperverletzungen kann ein langer Schmerzensgeldprozess Traumatisierungen vertiefen. 31 BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 6. Mai 1997 – 1 BvR 711/96 –, juris Rn. 39. 32 Eine Zusammenfassung der Maßstäbe findet sich auch in BVerfGK 2, 140 (142). 33 BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 11. Dezember 2000 – 1 BvR 661/00 –, juris Rn. 15. 34 BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 11. Dezember 2000 – 1 BvR 661/00 –, juris Rn. 16. 35 BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 24. Juli 2008 – 1 BvR 547/06 –, juris, unter Verweis auf BVerfGE 46, 17 (29) und BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 6. Mai 1997 – 1 BvR 711/96 –, juris.
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Im von der Dispositionsmaxime und dem Beibringungs- oder Verhandlungsgrundsatz geprägten Zivilprozess obliegt neben den Parteien (vgl. §§ 277, 282 ZPO) insbesondere den Gerichten eine Prozessförderungspflicht (vgl. § 139 ZPO sowie §§ 272, 273 ZPO). Kommen sie dieser nicht hinreichend nach, verletzen sie den grundrechtlich gesicherten Anspruch auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG. So befasste sich das Bundesverfassungsgericht im Jahr 2000 mit einem Schadensersatzprozess, in dem ein Anspruch aus öffentlich-rechtlicher culpa in contrahendo geltend gemacht wurde. Nach fast zehnjähriger Verfahrensdauer erging, nach zweimaliger Zurückverweisung durch den Bundesgerichtshof, ein Grundurteil. Nach 15 weiteren Jahren war ein Schlussurteil über die Schadenshöhe noch nicht ergangen. Die 1. Kammer des Ersten Senats erteilte starren Fristen für die Beurteilung der Angemessenheit der Dauer eines gerichtlichen Verfahrens (erneut) eine Absage: „Bei der verfassungsrechtlichen Beurteilung dieser Frage sind vielmehr stets alle Umstände des Einzelfalls, insbesondere die Bedeutung der Sache für die Parteien, die Schwierigkeit der Sachmaterie, das den Parteien zuzurechnende Verhalten sowie die gerichtlich nicht zu beeinflussenden Tätigkeiten von Dritten, wie etwa Sachverständigen, einzubeziehen. Allerdings haben die Gerichte im Rahmen ihrer Verfahrensführung auch die Gesamtdauer des Verfahrens zu berücksichtigen. Mit zunehmender Dauer des Verfahrens insgesamt oder in der jeweiligen Instanz verdichtet sich die mit dem Justizgewährleistungsanspruch verbundene Pflicht des Gerichts, sich nachhaltig um eine Beschleunigung des Verfahrens und dessen Beendigung zu bemühen.“36
Die Kammer stellte zwar keine schlichte Nichtbearbeitung der Sache durch die Fachgerichte fest37; die „Pflicht zur nachhaltigen Beschleunigung“ sei indes nicht hinreichend beachtet worden. Es sei zwar nicht Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts, den Fachgerichten bestimmte Maßnahmen zur Förderung des Verfahrens vorzuschreiben. Doch hätte dieses Verfahren beschleunigt werden können. Bereits bei der Auswahl der Sachverständigen sei die besondere Eilbedürftigkeit zu berücksichtigen. Die gutachterliche Tätigkeit müsse überwacht werden, gegebenenfalls seien Bearbeitungsfristen zu setzen. Bei mehreren Gutachten sei eine gleichzeitige Begutachtung (Anfertigung von Zweitakten38) zu erwägen. Eine mögliche Verfahrensverkürzung durch eine andere rechtliche Bewertung des Falles könne dagegen
36 BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 20. Juli 2000 – 1 BvR 352/00 –, juris Rn. 11. 37 Vgl. zu einer solchen Konstellation BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 17. November 1999 – 1 BvR 1708/99 –, juris. 38 Vgl. dazu auch BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 30. Juli 2009 – 1 BvR 2662/06 –, juris Rn. 30.
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regelmäßig keine Verletzung des Anspruchs auf effektiven Rechtsschutz begründen.39 Häufig führt tatsächlich gerade die unzureichende Leitung der Tätigkeit von Sachverständigen gemäß § 404a ZPO, insbesondere der späte Rückgriff auf Fristsetzungen sowie als ultima ratio auch die Androhung und Festsetzung eines Ordnungsgeldes gemäß § 411 Abs. 1 und 2 ZPO, zu einer nicht mehr angemessenen Verfahrensdauer. Fehlende Bearbeitungsfristen für die Erstellung des Sachverständigengutachtens kritisierte die 3. Kammer des Ersten Senats dann auch in drei weiteren Beschlüssen40. Jüngst wies dieselbe Kammer ausdrücklich auf die Möglichkeit der Androhung eines Ordnungsgeldes nach § 411 Abs. 2 ZPO hin.41 Das bedeutet zwar nicht, dass die Androhung eines Ordnungsgeldes gegenüber Sachverständigen regelmäßig bei der ersten Fristüberschreitung erfolgen muss, um dem Justizgewährungsanspruch der Parteien Genüge zu tun. Der zu zögerliche Rückgriff der Fachgerichte42 auf das Ordnungsgeld erweist sich dagegen als verfassungsrechtlich problematisch. Für die zivilgerichtliche Praxis ist daher zwar weiterhin ein behutsamer Umgang mit § 411 Abs. 2 ZPO angeraten, um das Verhältnis zwischen Gericht und Sachverständigen nicht unnötig zu belasten. Der Anspruch auf eine gerichtliche Entscheidung innerhalb angemessener Zeit darf dabei aber nicht aus dem Blick verloren werden. Auch die tatsächliche und rechtliche Komplexität eines Falles kann Einfluss auf die verfassungsrechtliche Beurteilung der Verfahrensdauer haben. 2004 führten seit fast drei Jahren anhängige Schadensersatzklagen im Zusammenhang mit dem Börsengang der Deutschen Telekom AG zu einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts.43 Die 2. Kammer des Ersten Senats berücksichtigte bei ihrer Entscheidung unter anderem die ständig steigende Zahl der Klagen zum selben Fragenkomplex, die es erforderlich machten, einen Weg zu finden, in einigen wenigen „Musterverfahren“ die gesamte
39 BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 20. Juli 2000 – 1 BvR 352/00 –, juris Rn. 15 ff.; nachgehend bejahte der EGMR trotz dieser Entscheidung die Opfereigenschaft, stellte eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK fest und sprach eine Entschädigung in Höhe von 45.000 € zu: EGMR, Urteil vom 5. Oktober 2006, Gräßer gg. Deutschland, Nr. 66491/01, EuGRZ 2007, S. 268 ff. 40 BVerfG, Beschlüsse der 3. Kammer des Ersten Senats vom 20. September 2007 – 1 BvR 775/07 –, juris Rn. 11 f.; vom 2. September 2009 – 1 BvR 3171/08 –, juris Rn. 35; vom 23. Juni 2010 – 1 BvR 324/10 –, juris Rn. 10. 41 BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 23. Mai 2012 – 1 BvR 359/09 –, juris Rn. 11. 42 Genaue Zahlen fehlen. Eine Recherche der juris-Datenbank zu Rechtsprechung zu „§ 411 ZPO“ und „Ordnungsgeld“ ergibt allerdings lediglich 63 Treffer aus den Jahren 1972–2013. 43 BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 27. Juli 2004 – 1 BvR 1196/04 –, juris.
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Bandbreite des Falles zu entscheiden.44 Auch im Ausgangsverfahren habe die steigende Zahl der Klägerinnen und Kläger immer wieder neue richterliche Verfügungen und Fristbestimmungen notwendig gemacht. Nach Auffassung der Kammer war die Dauer des Ausgangsverfahrens daher noch hinnehmbar. Das Landgericht sei nunmehr aber gehalten, dem Verfahren beschleunigt Fortgang zu geben.45 Schließlich kann auch eine lange Anhängigkeit verbunden mit längeren Zeiträumen gerichtlicher Untätigkeit und unabhängig von möglichen Verzögerungen durch die Beteiligten als Grund für eine Verletzung von Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG ausreichen.46 Die Aussetzung eines Verfahrens führt regelmäßig zu einer Verzögerung und ist in bestimmten Konstellationen auch ein Verfassungsverstoß. Eine stattgebende Kammerentscheidung vom 5. August 201347 betraf ein mehrfach ausgesetztes und seit mehr als 20 Jahren anhängiges arbeitsgerichtliches und damit besonders beschleunigungsbedürftiges (§ 9 Abs. 1 ArbGG) Verfahren. Verzögerungen von mindestens zwölf Jahren beruhten dabei auf den Aussetzungsbeschlüssen. In Anbetracht der Verfahrensdauer und der gerichtlichen Verantwortung für ein zügiges Verfahren kam es für die Entscheidung auf die vom Beschwerdeführer verursachten Verzögerungen nicht mehr an. c) Sozialrechtliche Verfahren Rechtzeitiger Rechtsschutz ist in sozialrechtlichen Verfahren von besonderer Bedeutung, insofern dort existenzsichernde Leistungen im Streit stehen. Damit fallen diese Verfahrensarten neben Disziplinarverfahren, Verfahren vor den Arbeitsgerichten und umgangsrechtlichen Verfahren in die Kategorie der beschleunigungsbedürftigen Verfahren. Insofern betonte auch die 3. Kammer des Ersten Senats in einer stattgebenden Entscheidung48, dass Sozialhilfesachen – aber auch Prozesskostenhilfeverfahren – zu den Rechtsangelegenheiten gehören, die ihrer Natur und ihrer Bedeutung für die 44 BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 27. Juli 2004 – 1 BvR 1196/04 –, juris Rn. 8. 45 BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 27. Juli 2004 – 1 BvR 1196/04 –, juris Rn. 9. Siehe aber auch die Beschlüsse der 3. Kammer des Ersten Senats vom 17. November 2011 – 1 BvR 3155/09 –, juris und vom 2. Dezember 2011 – 1 BvR 314/11 –, juris (18 bzw. 22 Jahre für die erste Instanz), in denen die Kammer die Dauer aktienrechtlicher Spruchverfahren für nicht mehr verfassungskonform hielt. 46 Vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 6. Dezember 2004 – 1 BvR 1977/04 –, juris (15 Jahre in der ersten Instanz). 47 BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 5. August 2013 – 1 BvR 2965/10 –, juris. 48 BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 14. Oktober 2003 – 1 BvR 901/03 –, juris.
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Betroffenen wegen einer gewissen Eilbedürftigkeit unterliegen.49 Das Recht auf effektiven Rechtsschutz leitete die Kammer auch für das Prozesskostenhilfeverfahren aus Art. 19 Abs. 4 GG ab und wies auf die entsprechenden Anforderungen des Art. 6 Abs. 1 EMRK sowie die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte hin50. Ein solcher Verweis auf die Europäische Menschenrechtskonvention ist grundsätzlich sinnvoll und hilfreich, in dem konkreten Verfahren allerdings irreführend: Art. 6 Abs. 1 EMRK findet auf Prozesskostenhilfeverfahren nur Anwendung, wenn es um die Frage des Zugangs zu Gericht geht.51 Auf die Dauer eines Prozesskostenhilfeverfahrens ist Art. 6 Abs. 1 EMRK dagegen nicht anwendbar.52 Nicht unmittelbar nachvollziehbar ist darüber hinaus der Verweis gerade auf das Urteil Probstmeier gegen Deutschland 53. Dieses Individualbeschwerdeverfahren betraf die Länge eines konkreten Normenkontrollverfahrens vor dem Bundesverfassungsgericht und mithin weder ein Prozesskostenhilfeverfahren noch ein Verfahren vor den Fachgerichten. In einer weiteren Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts umfasste der zu beanstandende Zeitabschnitt in einem Statusverfahren fast drei Jahre von der Verfügung ins Terminsfach bis zur Ladung zur mündlichen Verhandlung. Während dieser Zeit wurden vorrangig ältere Verfahren abgearbeitet. Die 3. Kammer des Ersten Senats stellte hier eine Verletzung von Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG fest.54 Die vom Justizministerium vorgetragene hohe Verfahrensbelastung der Sozialgerichte stelle keinen Rechtfertigungsgrund dar.55 Schließlich lassen sich weitere konkrete Hinweise auf Grundrechtsverletzungen durch überlange sozialrechtliche Verfahren aus dem stattgebenden Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 14. Dezember 201056 entnehmen. Er enthält einen ungewöhnlich detaillierten Sachverhalt sowie eine präzise Zuordnung von Verzögerungszeiträumen zur Beschwerdeführerin.57 49 BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 14. Oktober 2003 – 1 BvR 901/03 –, juris Rn. 11. 50 Nämlich EGMR, Urteil vom 1. Juli 1997, Probstmeier gg. Deutschland, Nr. 20950/92, NJW 1997, S. 2809 (2810). 51 EGMR, Urteil vom 12. September 2003, Gutfreund gg. Frankreich, Nr. 45681/99, Rn. 38–46; siehe auch Schäfer, in: Karpenstein/Mayer, EMRK, 1. Aufl. 2012, Art. 35 Rn. 109; Meyer-Ladewig, EMRK, 3. Aufl. 2011, Art. 6 Rn. 13. 52 Vgl. EGMR, Entscheidung vom 14. Oktober 2004, Harder-Herken u.a. gg. Deutschland, Nr. 45584/99, juris Rn. 132. 53 EGMR, Urteil vom 1. Juli 1997, Probstmeier gg. Deutschland, Nr. 20950/92, NJW 1997, S. 2809 (2810). 54 BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 24. August 2010 – 1 BvR 331/10 –, juris. 55 BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 24. August 2010 – 1 BvR 331/10 –, juris Rn. 14. 56 BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 14. Dezember 2010 – 1 BvR 404/10 –, juris. 57 Rn. 13–15 und 17–18.
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Die Entscheidungsgründe erinnern damit an die früheren Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Längeverfahren58, bevor diese Verfahren nach dem Inkrafttreten von Protokoll 14 am 1. Juni 2010 gemäß Art. 28 Abs. 1 (b) EMRK dem Ausschuss mit drei Richterinnen und Richtern zugewiesen wurden, der in seinen Urteilen die Subsumtion nur noch sehr formelhaft vornimmt59. Im teilweise stattgebenden Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 27. September 2011 schließlich werden Streitigkeiten aus dem Grundsicherungsrecht in die Kategorie der besonders eilbedürftigen Verfahren aufgenommen, weil sie der Sicherung eines menschenwürdigen Existenzminimums dienen und damit von erheblicher Bedeutung sind.60
III. Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte Nach Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK hat jede Person „ein Recht darauf, dass über Streitigkeiten (…) in einem fairen Verfahren, öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt wird.“
Ob den Mitgliedsstaaten bei Unterzeichnung der Konvention bewusst war, dass gerade dieses Recht so schwierig einzuhalten sein und den Gerichtshof in Straßburg am häufigsten beschäftigen würde, erscheint zweifelhaft. Es dauerte nach Inkrafttreten der Konvention am 3. September 1953 auch noch fast 25 Jahre, bis das erste Mal ein Staat – Deutschland – wegen Verletzung dieses Rechts in einem „zivilrechtlichen“ Verfahren verurteilt wurde. 1. Beginn einer Rechtsprechung zur überlangen Verfahrensdauer Das erste einschlägige Verfahren, König gegen Deutschland 61, ist in erster Linie allerdings dafür bekannt, dass der Europäische Gerichtshof für Men58 Siehe z.B. EGMR, Urteil vom 20. Dezember 2001, Janssen gg. Deutschland, Nr. 23959/94; Urteil vom 29. Juni 2006, Nold gg. Deutschland, Nr. 27250/02. 59 Vgl. z.B. EGMR (Ausschuss), Urteil vom 22. Dezember 2009, Kressin gg. Deutschland, Nr. 21061/06, Rn. 24–26; Urteil vom 30. März 2010, Volkmer gg. Deutschland, Nr. 54188/07, Rn. 41-43; Urteil vom 21. Oktober 2010, Träxler gg. Deutschland, Nr. 32936/09, Rn. 26–28. Siehe dazu auch unten III.1.a). 60 Vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 27. September 2011 – 1 BvR 232/11 –, juris Rn. 18. 61 EGMR (Plenum), Urteil vom 28. Juni 1978, König gg. Deutschland, Nr. 6232/73, EGMR-E 1, S. 278 ff.; aus dem Sachverhalt der Entscheidung geht hervor, dass der Beschwerdeführer im Laufe des Verfahrens drei Verfassungsbeschwerden erhoben hatte, die das Bundesverfassungsgericht mit Beschlüssen vom 28. November 1973, 30. Mai 1974 und 10. Juli 1975 jeweils nicht zur Entscheidung annahm (vgl. Rn. 58, 60 und 64).
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schenrechte deutlich machte, dass er Rechtsbegriffe autonom interpretiert. So betrachtete er den Entzug von Approbation und Betriebserlaubnis für eine Klinik als zivilrechtliche Ansprüche im Sinne von Art. 6 Abs. 1 EMRK – im Vordergrund stand also die Anwendbarkeit von Art. 6 Abs. 1 EMRK. Erst in zweiter Linie ging es um die Länge des Verfahrens und dabei zunächst um die Frage, wann der für Art. 6 Abs. 1 EMRK relevante Zeitraum beginnt. Weil der Beschwerdeführer ein behördliches Vorverfahren (§ 68 VwGO) durchführen musste, bevor er sich an die Gerichte wenden konnte, ging der Gerichtshof davon aus, dass die „angemessene Frist“ im Sinne von Art. 6 Abs. 1 EMRK ab Erhebung des Widerspruchs lief. Zur Frage der Angemessenheit der Länge des Rechtsschutzverfahrens führte der Gerichtshof aus: „Die Angemessenheit der Dauer eines Verfahrens nach Art. 6 Abs. 1 der Konvention muss jeweils nach den Umständen des Einzelfalls beurteilt werden. Bei der Prüfung (…) hat der Gerichtshof u.a. in Betracht gezogen: die Komplexität des Verfahrens, das Verhalten des Bf. sowie die Art und Weise, in der das Verfahren von den Verwaltungs- und Justizbehörden durchgeführt worden ist (…) Bei einer umfassenden Bewertung der verschiedenen Umstände und unter Berücksichtigung der Tatsache, dass es bei dem Rechtsstreit um die berufliche Existenz Dr. Königs ging, kommt der Gerichtshof zu der Entscheidung, dass ungeachtet der dem Verhalten des Bf. zuzurechnenden Verzögerungen die Ermittlungen in der Sache nicht mit der erforderlichen Zügigkeit durchgeführt worden sind.“62
Von diesen Kriterien – Komplexität des Verfahrens, Verhalten der beteiligten Personen und Behörden sowie Bedeutung der Sache – geht der Gerichtshof bis heute bei der Beurteilung der Verfahrensdauer aus.63 a) Komplexität des Verfahrens Bei der Beurteilung der Komplexität des Verfahrens stellt der Gerichtshof unter anderem auf den Umfang der Akten64 sowie darauf ab, ob Zeugen oder Sachverständige zu hören waren65. In Ausnahmekonstellationen wird auch berücksichtigt, ob rechtliche Fragen von einiger Schwierigkeit zu beantwor-
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EGMR (Plenum), Urteil vom 28. Juni 1978, König gg. Deutschland, Nr. 6232/73, Rn. 99, 111, EGMR-E 1, S. 278 (302 f., 308). 63 Vgl. die Leitentscheidung EGMR (GK), Urteil vom 27. Juni 2000, Frydlender gg. Frankreich, Nr. 30979/96, Rn. 43. Siehe dazu insgesamt auch den Practical Guide to Article 6 – Civil Limb, 2013, S. 50 ff., http://www.echr.coe.int/Documents/Guide_ Art_6_ ENG.pdf. 64 Vgl. z.B. EGMR, Entscheidung vom 29. Juni 2010, Bauer gg. Deutschland, Nr. 29035/06. 65 Vgl. z.B. EGMR, Urteil vom 26. März 2009, Vaas gg. Deutschland, Nr. 20271/05, Rn. 64; Urteil vom 11. Januar 2007, Herbst gg. Deutschland, Nr. 20027/02, Rn. 76, NVwZ 2008, S. 289 (291).
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ten waren; so zum Beispiel bei vom Bundesverfassungsgericht im Zuge der Wiedervereinigung entschiedenen eigentumsrechtlichen Fällen.66 Das Oberverwaltungsgericht des Landes Sachsen-Anhalt will der Straßburger Rechtsprechung fünf verschiedene Komplexitätsstufen entnehmen: nicht sonderlich komplex, gewisse Komplexität, erhebliche Komplexität, sehr komplex, sehr große Komplexität.67 Der Gerichtshof verwendet diese Begriffe zwar; für eine gezielte Differenzierung, die über eine bloße unterschiedliche Bezeichnung hinausgeht, finden sich in seiner Rechtsprechung dagegen keine Anhaltspunkte. Es ist zumindest nicht ersichtlich, welche Konsequenzen der Gerichtshof für die Beurteilung der Angemessenheit der Verfahrensdauer aus diesen Abstufungen zieht. Die jüngeren Urteile zur überlangen Verfahrensdauer68 erschöpfen sich nach dem Obersatz in der Regel in einer formelhaften Subsumtion ohne konkreten Bezug zum Fall: “The Court has frequently found violations of Article 6 § 1 of the Convention in cases raising issues similar to the one in the present case. Having examined all the material submitted to it, the Court considers that the Government have not put forward any fact or argument capable of persuading it to reach a different conclusion in the present case.”69
Diese geringe Begründungstiefe beruht auf den mit Protokoll 14 eingeführten Entlastungsmaßnahmen. So dürfen seitdem die Ausschüsse des Gerichtshofs mit drei Richterinnen und Richtern nicht mehr nur (wie zuvor) Beschwerden für unzulässig erklären, sondern in Fällen, zu denen es gefestigte Rechtsprechung des Gerichtshofs gibt, wie bei Beschwerden gegen die unangemessene Dauer von Gerichtsverfahren, Urteile über die Begründetheit fällen (Art. 28 Abs. 1 (b) EMRK). Angesichts des engen Rahmens, in dem diese Praxis stattfindet, stößt eine derartige Entlastungsmaßnahme nicht auf rechtsstaatliche Bedenken. b) Bedeutung für die Beteiligten Auch nach der Rechtsprechung des Straßburger Gerichtshofs gibt es Verfahrensarten, die beschleunigt zu behandeln sind.70 Wie im deutschen Recht 66 Vgl. z.B. EGMR (GK), Entscheidung vom 2. März 2005, Maltzan u.a. gg. Deutschland, Nrn. 71916/01, 71917/01 und 10260/02, Rn. 131, NJW 2005, S. 2530 (2536). Weitere Beispiele bei Brett, a.a.O. (Fn. 25), S. 262 f. 67 OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 25. Juli 2012 – 7 KE 1/11 –, juris Rn. 40 ff. So auch Barczak, a.a.O. (Fn. 13), S. 552; vgl. zu einem ähnlichen Ansatz auch Brett, a.a.O. (Fn. 25), S. 263 f. 68 Siehe dazu bereits oben, Fn. 59. 69 EGMR (Ausschuss), Urteil vom 30. März 2010, Volkmer gg. Deutschland, Nr. 54188/07, Rn. 42 f. 70 Das besondere Beschleunigungsgebot in Haftsachen ergibt sich schon aus Art. 5 Abs. 3 EMRK. Im deutschen Recht ergibt sich die Beschleunigungsverpflichtung insofern aus Art. 104 Abs. 2 Satz 2 und Abs. 3 Satz 2 GG.
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sind danach arbeitsrechtliche Streitigkeiten und insbesondere Kündigungsschutzklagen (vgl. insofern auch § 61a ArbGG) besonders eilbedürftig.71 Im Familienrecht müssen vor allem Umgangs- und Sorgerechtsstreitigkeiten zügig bearbeitet werden.72 Schließlich bewertet der Gerichtshof auch Personenstandssachen und Fragen der Geschäftsfähigkeit als besonders eilbedürftig.73 Daneben wird die subjektive Bedeutung der Sache für den Beschwerdeführer oder die Beschwerdeführerin berücksichtigt. So kann der in einem Arzthaftungsverfahren geltend gemachte Schmerzensgeldanspruch „eilbedürftiger“ werden, wenn die Beschwerdeführerin aufgrund des Behandlungsfehlers berufsunfähig geworden ist.74 c) Prozessförderungspflicht der Gerichte Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hatte bereits im Jahr 1981 klargestellt, dass die Gerichte auch in Verfahren, die der Parteimaxime unterliegen, gehalten seien, das Verfahren zu beschleunigen.75 Danach gilt auch im deutschen Zivil- und Arbeitsgerichtsprozess eine Prozessförderungspflicht des Gerichts. Ende 2001 betonte der Gerichtshof erneut: „[Der Gerichtshof] weist auch darauf hin, dass selbst in Rechtssystemen, in denen der Grundsatz der Prozessführung durch die Parteien (Parteimaxime) verankert ist, wie es im deutschen Zivilverfahren der Fall ist, das Verhalten der Betroffenen die Richter nicht von der Verpflichtung befreit, für die gemäß Artikel 6 Abs. 1 der Konvention gebotene Zügigkeit Sorge zu tragen (…).“76
Ebenso wie das Bundesverfassungsgericht musste sich in diesem Zusammenhang auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte mit der Frage befassen, inwiefern dem Staat Verzögerungen zugerechnet werden können, die durch Sachverständige verursacht worden sind. Die Antwort ist eindeutig: 71 Vgl. EGMR (GK), Urteil vom 27. Juni 2000, Frydlender gg. Frankreich, Nr. 30979/96, Rn. 45; EGMR, Urteil vom 28. Juni 1990, Obermeier gg. Österreich, Nr. 11761/85, Rn. 72, EuGRZ 1990, S. 209 (210 f.). 72 Vgl. EGMR, Urteil vom 27. Februar 2003, Niederböster gg. Deutschland, Nr. 39547/98, Rn. 39; Urteil vom 19. September 2000, Glaser gg. Vereinigtes Königreich, Nr. 32346/96, Rn. 93; Urteil vom 27. Juni 2000, Nuutinen gg. Finnland, Nr. 32842/96, Rn. 110. 73 Vgl. EGMR, Urteil vom 7. Februar 2002, Mikulić gg. Kroatien, Nr. 53176/99, Rn. 44; Urteil vom 29. März 1989, Bock gg. Deutschland, Nr. 11118/84, Rn. 49, EGMR-E 4, S. 249 (259). 74 Vgl. EGMR, Urteil vom 21. Oktober 2010, Grumann gg. Deutschland, Nr. 43155/08, Rn. 29, NJW 2011, S. 1055 (1056). 75 EGMR, Urteil vom 6. Mai 1981, Buchholz gg. Deutschland, Nr. 7759/77, Rn. 50, EGMR-E 1, S. 521 (530). 76 EGMR, Urteil vom 20. Dezember 2001, Bayrak gg. Deutschland, Nr. 27937/95, Rn. 28; siehe auch EGMR, Urteil vom 4. April 2002, Volkwein gg. Deutschland, Nr. 45181/99, juris Rn. 36; EGMR, Urteil vom 17. Oktober 2002, Thieme gg. Deutschland, Nr. 38365/97, Rn. 46 (Verfahren vor den Arbeitsgerichten).
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„In diesem Zusammenhang hebt der Gerichtshof hervor, dass er sich der Argumentation der Regierung nicht anschließen kann, mit der diese die Verantwortlichkeit des Amtsgerichts für die durch den Sachverständigen verursachte Verzögerung in Abrede zu stellen versucht. Seines Erachtens ist es die Aufgabe des Richters, selbst wenn sich im Verlauf eines Verfahrens die Mitarbeit eines Sachverständigen als notwendig erweist, für die ordnungsgemäße und zügige Durchführung des Verfahrens Sorge zu tragen (…).“77
Die Pflicht, das Verfahren zu fördern und auf einen zügigen Abschluss hinzuwirken, obliegt dem Gericht ebenso in Fällen, in denen der Sachverständige weder ein Gutachten erstattet noch die Akten wieder herausgibt und erst die Androhung der Vollstreckung ihn veranlasst, die Akten zurückzugeben.78 Die Notwendigkeit, Sachverständigen Fristen zu setzen und sie zu kontrollieren, betont der Gerichtshof im Urteil Bozlar gegen Deutschland 79. Geschieht dies und sind keine Phasen ernsthafter Untätigkeit der Gerichte erkennbar, folgt aus einer längeren Verfahrensdauer nicht zwingend eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK.80 Bereits in dem Urteil König gegen Deutschland hat der Gerichtshof die Anfertigung eines Aktendoppels gefordert, wenn die Akten im Laufe des Verfahrens versendet werden müssen.81 In einem Verfahren, dem ein Arzthaftungsprozess zu Grunde lag, machte der Straßburger Gerichtshof konkrete Vorschläge zur Beschleunigung der Beweiserhebung: die gesamte Krankenakte hätte zu Beginn des Verfahrens angefordert und ein Beweisbeschluss früher erlassen werden können. Der Sachverständige hätte zudem für die Erstattung eines mündlichen Gutachtens bereits zur ersten Verhandlung oder aber später zur Erläuterung eines zuvor eingeholten schriftlichen Gutachtens geladen werden können.82 d) Verhalten der Parteien Nicht nur die Prozessleitung des Gerichts, sondern auch das (prozessuale) Verhalten der Parteien kann zu Verfahrensverzögerungen führen. Dabei ist 77 EGMR, Urteil vom 4. April 2002, Volkwein gg. Deutschland, Nr. 45181/99, juris Rn. 39. 78 EGMR (Ausschuss), Urteil vom 21. Oktober 2010, Ewald gg. Deutschland, Nr. 2693/07, Rn. 24. 79 EGMR, Urteil vom 5. März 2009, Bozlar gg. Deutschland, Nr. 7634/05, EuGRZ 2009, S. 207 ff. 80 Vgl. EGMR, Urteil vom 26. März 2009, Vaas gg. Deutschland, Nr. 20271/05, Rn. 69. Anders dagegen EGMR, Urteil vom 10. Januar 2008, Glüsen gg. Deutschland, Nr. 1679/03, Rn. 83, wo der Gerichtshof wegen Verfahrensverzögerungen durch fünf Gutachten eine Verletzung feststellte. 81 EGMR (Plenum), Urteil vom 28. Juni 1978, König gg. Deutschland, Nr. 6232/73, Rn. 104, 110, EGMR-E 1, S. 278 (305, 307 f.); siehe auch EGMR, Urteil vom 6. Oktober 2005, Gisela Müller gg. Deutschland, Nr. 69584/01, Rn. 85. 82 Vgl. EGMR (Ausschuss), Urteil vom 21. Oktober 2010, Grumann gg. Deutschland, Nr. 43155/08, Rn. 28, NJW 2011, S. 1055 (1056) (mit Anmerkung Schneider/Schmaltz).
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allerdings zu berücksichtigen, dass zulässiges prozessuales Verhalten – z.B. Ablehnungsanträge oder das Ausschöpfen von Fristen – nicht zu Lasten einer Prozesspartei ausgelegt werden darf. Andererseits darf deren Verhalten bei der Beurteilung der Angemessenheit der Verfahrensdauer nicht dem Staat angelastet werden.83 Werden beispielsweise häufig Anwälte gewechselt und übermäßig häufig Anträge auf Fristverlängerung oder Terminsverlegung gestellt und trägt dieses Verhalten zur Verfahrensverzögerung bei, werden diese dem Beschwerdeführer oder der Beschwerdeführerin zugerechnet.84 Dies gilt insbesondere, wenn das Verhalten querulatorische Züge annimmt. Die Schwelle zur Querulanz ist indes hoch. In Gromzig gegen Deutschland 85 war diese Schwelle mit 16 Klagerweiterungen, 14 Anwaltswechseln und 18 Ablehnungsanträgen überschritten. 2. Art. 13 EMRK und die Rechtsprechung zur überlangen Verfahrensdauer Art. 13 EMRK garantiert ein Recht auf wirksame Beschwerde gegen Konventionsverletzungen. Die Verknüpfung von Art. 13 EMRK mit dem Recht aus Art. 6 Abs. 1 EMRK seit der Rechtsprechungsänderung in Kudła gegen Polen im Jahr 2000 (dazu sogleich) führte zu Urteilen, die nicht nur eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK, sondern auch eine Verletzung von Art. 13 EMRK feststellten. Für die Vertragsstaaten war das ein klares Signal: Es muss ein Rechtsbehelf geschaffen werden, um dem Problem bereits auf nationaler Ebene zu begegnen. Damit hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte dem Subsidiaritätsgedanken Rechnung getragen und darüber hinaus versucht, der stetig steigenden eigenen Belastung entgegenzuwirken. a) Die Urteile in Kudła und Scordino Im Verfahren Kudła gegen Polen86 änderte der Gerichtshof seine Rechtsprechung zum Verhältnis von Art. 13 EMRK zu Art. 6 Abs. 1 EMRK. Nachdem er früher Art. 13 EMRK in Fällen der überlangen Verfahrensdauer wegen der Spezialität des Art. 6 Abs. 1 EMRK nicht geprüft hatte87, sah er 83
EGMR, Urteil vom 29. Juni 2006, Nold gg. Deutschland, Nr. 27250/02, Rn. 104. Vgl. EGMR, Urteil vom 8. Oktober 2009, Yildiz gg. Deutschland, Nr. 23279/06, Rn. 50; EGMR, Urteil vom 6. Oktober 2005, Gisela Müller gg. Deutschland, Nr. 69584/01, Rn. 81. 85 EGMR, Urteil vom 4. Februar 2010, Gromzig gg. Deutschland, Nr. 13791/06, Rn. 84; vgl. auch EGMR, Urteil vom 7. Januar 2010, von Koester gg. Deutschland, Nr. 40009/04, Rn. 142. 86 EGMR (GK), Urteil vom 26. Oktober 2000, Kudła gg. Polen, Nr. 30210/96, Rn. 146 ff., NJW 2001, S. 2694 (2699). 87 EGMR, Urteil vom 26. Februar 1993, Pizetti gg. Italien, Nr. 12444/86, Rn. 21; Urteil vom 7. Dezember 1999, Bouilly gg. Frankreich, Nr. 38952/97, Rn. 27; Urteil vom 25. Januar 2000, Giuseppe Tripodi gg. Italien, Nr. 40946/98, Rn. 15. 84
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nun – auch angesichts der steigenden Zahl der Beschwerden – die Notwendigkeit gekommen, Art. 13 EMRK neben der Feststellung einer Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK zu prüfen88. Mit diesem Urteil hat die Große Kammer dem Beschleunigungsgebot des Art. 6 Abs. 1 EMRK die darüber hinausgehende Pflicht zur Schaffung eines Rechtsbehelfs gegen überlange Verfahren aus Art. 13 EMRK zur Seite gestellt.89 In dem Urteil werden auch die Anforderungen des Art. 13 EMRK an die Ausgestaltung von Rechtsbehelfen gegen eine überlange Verfahrensdauer konturiert. Die Frage der „Wirksamkeit“ eines solchen Rechtsbehelfs beantwortet der Gerichtshof dahingehend, dass „entweder die behauptete Verletzung oder ihre Fortdauer“ verhindert „oder angemessene Abhilfe für schon geschehene Verletzungen“ geschaffen wird. Konkreter wird er sechs Jahre später in dem Urteil Scordino gegen Italien (Nr. 1)90. Die beste Lösung sei grundsätzlich die Vorbeugung. Ein Rechtsbehelf auf Wiedergutmachung reagiere nur nachträglich auf eine bereits eingetretene Verletzung. Da die Konventionsstaaten aber einen Gestaltungsspielraum hätten, sei ein auf Wiedergutmachung gerichteter Rechtsbehelf nicht automatisch unvereinbar mit Art. 13 EMRK. b) Die Urteile in Sürmeli, Herbst und Rumpf Die Möglichkeit, in Beschwerden wegen überlanger Verfahrensdauer nicht nur eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK, sondern auch einen Verstoß gegen Art. 13 EMRK zu rügen, hatte für Deutschland erhebliche Folgen. Früher hatten die Konventionsorgane (Kommission und Gerichtshof) ohne vertiefte Prüfung die Auffassung vertreten, die Verfassungsbeschwerde sei ein wirksamer Rechtsbehelf gegen eine überlange Verfahrensdauer; für eine ordnungsgemäße Erschöpfung des nationalen Rechtswegs (Art. 35 Abs. 1 EMRK) musste mithin die Verfahrensdauer vor dem Bundesverfassungsgericht gerügt werden.91 Seit der Rechtsprechungsänderung in Kudła prüfte der Gerichtshof die Frage der Wirksamkeit eines Rechtsbehelfs gegen die überlange Verfahrensdauer unter Art. 13 EMRK demgegenüber genauer.92
88 EGMR (GK), Urteil vom 26. Oktober 2000, Kudła gg. Polen, Nr. 30210/96, Rn. 149, NJW 2001, S. 2694 (2699). 89 Vgl. Britz/Pfeifer, DÖV 2004, S. 245. 90 EGMR (GK), Urteil vom 29. März 2006, Scordino gg. Italien (Nr. 1), Nr. 36813/97, Rn. 183–187, NJW 2007, S. 1259 (1263). 91 Vgl. EGMR, Entscheidung vom 4. Oktober 2001, Teuschler gg. Deutschland, Nr. 47636/99. 92 EGMR, Entscheidung vom 2. Oktober 2001, Belinger gg. Slowenien, Nr. 42320/98; vgl. auch EGMR, Urteil vom 31. Juli 2003, Doran gg. Irland, Nr. 50389/99, Rn. 55 ff.
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Diese vertiefte Prüfung erfolgte im Verfahren Sürmeli gegen Deutschland 93. Die Kammer hatte das Verfahren wegen der beabsichtigten Rechtsprechungsänderung an die Große Kammer abgegeben (Art. 30 EMRK). Diese kam zu dem Ergebnis, dass es in Deutschland an einem effektiven Rechtsbehelf im Sinne von Art. 13 EMRK gegen noch anhängige überlange Zivilverfahren mangele: Weder Verfassungsbeschwerde noch Dienstaufsichtsbeschwerde, (außerordentliche) Untätigkeitsbeschwerde oder Amtshaftungsklage genügten den Anforderungen an einen effektiven Rechtsbehelf im Sinne von Art. 13 EMRK. Dass dies ebenso für bereits abgeschlossene Verfahren gilt, wurde ein halbes Jahr später mit dem Kammerurteil Herbst gegen Deutschland 94 bestätigt. Entgegen der Ankündigung der deutschen Regierung im Verfahren Sürmeli gegen Deutschland 95 wurde der vom Gerichtshof geforderte Rechtsbehelf auch im Nachgang zu diesem Urteil nicht geschaffen. Das lag vor allem an der Kritik der richterlichen Interessenverbände, die teils schon gar keinen Regelungsbedarf, vor allem aber die richterliche Unabhängigkeit in Gefahr sahen.96 Diese Kritik spiegelte sich in politischem Widerstand gegen den neuen Rechtsbehelf wider.97 Mit dem Piloturteil98 Rumpf gegen Deutschland 99 hat der Gerichtshof im Jahr 2010 die Forderung nach einem Rechtsbehelf unterstrichen. Aufgrund der Vielzahl der Verurteilungen Deutschlands wegen überlanger Verfahrensdauer konstatierte der Gerichtshof insofern ein systemisches und strukturelles Problem. Mit starken Worten rügte er die Regierung für ihr „so gut wie
93 EGMR (GK), Urteil vom 8. Juni 2006, Sürmeli gg. Deutschland, Nr. 75529/01, Rn. 103–115, NJW 2006, S. 2389 (2390 ff.). 94 EGMR, Urteil vom 11. Januar 2007, Herbst gg. Deutschland, Nr. 20027/02, Rn. 63–68, NVwZ 2008, S. 289 (290 f.). 95 Vgl. EGMR (GK), Urteil vom 8. Juni 2006, Sürmeli gg. Deutschland, Nr. 75529/01, Rn. 138, NJW 2006, S. 2389 (2394). 96 Vgl. z.B. die Stellungnahme des Deutschen Richterbundes vom Oktober 2005, http://drb.de/cms/index.php?id=310&L=0&0=; siehe auch Steinbeiß-Winkelmann, ZRP 2007, S. 177 (180) m.w.N.; dies., NJW 2008, S. 1783 m.w.N.; Roller, ZRP 2008, S. 122. 97 Breuer, a.a.O. (Fn. 4), S. 358 ff. 98 Zur Piloturteilstechnik vgl. Breuer, in: Karpenstein/Meyer, EMRK, 1. Aufl. 2012, Art. 46 Rn. 20 ff.; Schmahl, EuGRZ 2008, S. 369. Kritisch zu Piloturteilen F. Kirchhof, Leistungsurteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte?, in: Durner/Peine/Shirvani (Hrsg.), Freiheit und Sicherheit in Deutschland und Europa, FS Papier, 2013, S. 333 (336 ff.), der allerdings die Entschließung des Ministerkomitees vom 12. Mai 2004 (Res(2004)3) unerwähnt lässt. Der Gerichtshof war darin aufgefordert worden, strukturelle Probleme zu benennen, um den Staaten die Urteilsumsetzung und dem Ministerkomitee deren Überwachung zu erleichtern. 99 EGMR, Urteil vom 2. September 2010, Rumpf gg. Deutschland, Nr. 46344/06, NJW 2010, S. 3355 ff.
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vollkommenes Widerstreben“,100 gemäß Art. 46 EMRK101 Konsequenzen aus dem Urteil Sürmeli gegen Deutschland zu ziehen. Schließlich wird Deutschland im Tenor aufgegeben, unverzüglich, spätestens innerhalb eines Jahres ab Rechtskraft des Urteils102, einen wirksamen Rechtsbehelf gegen überlange Gerichtsverfahren zu schaffen.103 c) Die Entscheidungen in Bock und Dudek Schließlich gibt es noch zwei erwähnenswerte Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte aus dem Jahr 2010, die Beschwerden als missbräuchlich und damit unzulässig gemäß Art. 35 Abs. 3 (a), Abs. 4 EMRK zurückwiesen, obwohl die angegriffenen Verfahren unzweifelhaft zu lang gedauert hatten. In der Entscheidung Bock gegen Deutschland 104 rügte der ökonomisch gut situierte Beschwerdeführer die Länge eines verwaltungsgerichtlichen Verfahrens, in dem es um die Frage der Beihilfefähigkeit von Magnesiumtabletten ging, die in handelsüblichen Mengen zum Preis von 7,99 € zu erhalten waren. In den Verfahren Dudek gegen Deutschland 105 ging es um Abzüge von zahnärztlichen Honoraren in Höhen von 71,05 € bis 312,17 €, um die der Beschwerdeführer vor den Sozialgerichten stritt. Der Gerichtshof führte in seinen Entscheidungen aus, dass die ausgiebige Inanspruchnahme gerichtlicher Verfahren zur Überlastung der nationalen Gerichte und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte beigetragen habe. Zudem bezog er sich auf den Grundsatz de minimis non curat praetor: Weder sei den Beschwerdeführern ein erheblicher Nachteil entstanden noch würden die Ver-
100 EGMR, Urteil vom 2. September 2010, Rumpf gg. Deutschland, Nr. 46344/06, Rn. 72, NJW 2010, S. 3355 (3358). 101 Art. 46 Abs. 1 EMRK lautet: „Die Hohen Vertragsparteien verpflichten sich, in allen Rechtssachen, in denen sie Partei sind, das endgültige Urteil des Gerichtshofs zu befolgen.“ 102 Die Bundesregierung hat keinen Antrag nach Art. 43 Abs. 1 EMRK (Verweisung an die Große Kammer) gestellt, so dass das Urteil seit dem 2. Dezember 2010 rechtskräftig ist. 103 Der Vorwurf betraf dabei den fehlenden Rechtsbehelf, nicht die absolute Zahl überlanger Gerichtsverfahren. Im Gegensatz zu anderen Pilotverfahren – z.B. gegen die Ukraine wegen der Nichtvollstreckung rechtskräftiger Urteile (EGMR, Urteil vom 15. Oktober 2009, Yuriy Nikolayevich Ivanov gg. Ukraine, Nr. 40450/04, Rn. 83) – ging es nicht um hunderte von Parallelfälle, sondern um rund 40 Verurteilungen in 50 Jahren. Die Zahl der Verletzungsurteile war in den Jahren zuvor allerdings deutlich angestiegen (2009 waren es 13 Verurteilungen, 2011 bereits 19). Letzteres lag auch daran, dass der Gerichtshof seit ca. 2008/2009 keine gütlichen Einigungen nach Art. 39 EMRK in Längeverfahren mehr angeregt hatte. 104 EGMR, Entscheidung vom 19. Januar 2010, Bock gg. Deutschland, Nr. 22051/07, NJW 2010, S. 1581 ff. 105 EGMR, Entscheidung vom 23. November 2010, Dudek gg. Deutschland, Nrn. 12977/09, 15856/09, 15890/09, 15892/09 und 16119/09, NJW 2011, S. 3145.
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fahren grundsätzliche Fragen aufwerfen. Damit nutzte der Gerichtshof ein Argument, das an die Regelungen über die Annahme der Verfassungsbeschwerde in § 93a Abs. 2 BVerfGG erinnert.
IV. Zwischenergebnis Die Übersicht über die Rechtsprechung beider Gerichte zeigt, dass diese bei der Frage, wann ein Verfahren wegen überlanger Dauer das Gebot effektiven Rechtsschutzes verletzt, von denselben Grundsätzen ausgehen, aber doch betonen, dass jeweils der Einzelfall zu berücksichtigen sei. Trotz unterschiedlicher Formulierungen im Einzelfall106 konzentrieren sich beide Gerichte auf die Bedeutung des Verfahrens für die Beschwerdeführenden, das Verhalten der Parteien und Gerichte sowie auf die Komplexität der streitigen Materie. Ob das Bundesverfassungsgericht sich bei der Entwicklung seiner Prüfungskriterien an der Rechtsprechung des Straßburger Gerichtshofs orientiert hat, der diese drei Kriterien bereits im Urteil König gegen Deutschland 107 aufgestellt hat, ist durchaus denkbar, aber nicht sicher festzustellen.108 Die Berücksichtigung auch der Anforderungen aus Art. 6 Abs. 1 EMRK sowie der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ist jedenfalls seit längerem ständige Praxis.109 Soweit das Bundesverfassungsgericht in diesem Zusammenhang ausführt, verbindliche Richtlinien könnten auch der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte nicht entnommen werden110, bedeutet das nicht, dass eine Über-
106 Vgl. zu den Kriterien des Bundesverfassungsgerichts: BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 27. September 2011 – 1 BvR 232/11 –, juris Rn. 16 sowie BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 5. Oktober 2001 – 1 BvR 772/10 –, juris Rn. 12. Vgl. zu den Kriterien des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte die Leitentscheidung EGMR (GK), Urteil vom 27. Juni 2000, Frydlender gg. Frankreich, Nr. 30979/96, Rn. 43. 107 S.o. Fn. 24. 108 Einen Anschluss an die Rechtsprechung des EGMR vermuten zum Beispiel Brett, a.a.O. (Fn. 25), S. 258 f.; Guckelberger, DÖV 2012, S. 289 (290); Tiwisina, a.a.O. (Fn. 18), S. 62; Breuer, a.a.O. (Fn. 4), S. 326; siehe dazu auch Schlette, a.a.O. (Fn. 2), S. 25, Fn. 36. 109 Vgl. z.B. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 23. Mai 2012 – 1 BvR 359/09 –, juris Rn. 9; Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 5. August 2013 – 1 BvR 2965/10 –, juris Rn. 18. Der fehlende Hinweis auf die EMRK und die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 13. August 2012 – 1 BvR 1098/11 –, juris Rn. 16 dürfte eine Ausnahme sein. 110 Vgl. z.B. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 6. Mai 1997 – 1 BvR 711/96 –, juris Rn. 35; zuletzt BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 22. August 2013 – 1 BvR 1067/12 –, juris Rn. 30.
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nahme der Prüfungsmaßstäbe des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte abgelehnt wird111. Vielmehr harmoniert das Bundesverfassungsgericht mit seiner Betonung der Einzelfallbetrachtung gerade (auch) mit der Rechtsprechung des Straßburger Gerichts, das ebenfalls keine konkreten Vorgaben für die maximale Dauer von Gerichtsverfahren macht.112 Nichts anderes folgt aus dem Hinweis des Bundesverfassungsgerichts, die Europäische Menschenrechtskonvention genieße keinen Verfassungsrang und die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte diene dem Bundesverfassungsgericht nur als Auslegungshilfe.113 Trotz ihres einfachrechtlichen Rangs gehört die Menschenrechtskonvention in ihrer Ausprägung durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte damit de facto seit langem zum Prüfungsmaßstab des Bundesverfassungsgerichts, muss aber den „Umweg“ über die Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes nehmen.114
V. Die Angemessenheit der Verfahrensdauer Der Einzelfall und die Gesamtabwägung sind für die Überprüfung der Angemessenheit der Verfahrensdauer also ausschlaggebend. Damit sind der Rechtsprechung beider Gerichte Eckpfeiler der Prüfung zu entnehmen, die zu einem Prüfungsschema zusammengesetzt werden können. 1. Zurückhaltung bei der fachgerichtlichen Verfahrensgestaltung Sowohl das Bundesverfassungsgericht als auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte verstehen sich nicht als „Vierte Instanz“; sie sind ausschließlich für „spezifisches Verfassungsrecht“ beziehungsweise „spezifi111
So aber die Interpretation von Tiwisina, a.a.O. (Fn. 18), S. 79 unter Verweis auf BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 6. Mai 1997 – 1 BvR 711/96 –, juris Rn. 35. Ebenso Breuer, a.a.O. (Fn. 4), S. 326. 112 Eindeutiger insofern BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 17. November 2011 – 1 BvR 3155/09 –, juris Rn. 7: „Es gibt keine allgemein gültigen Zeitvorgaben; davon geht auch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte aus (…)“; ebenso BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 23. Mai 2012 – 1 BvR 359/09 –, juris Rn. 9: „(…) weder das Bundesverfassungsgericht noch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte machen in ihrer Rechtsprechung insofern allgemein gültige Zeitvorgaben (…)“. 113 Vgl. z.B. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 6. Mai 1997 – 1 BvR 711/96 –, juris Rn. 35, unter Verweis auf BVerfGE 74, 358 (370). 114 Vgl. BVerfGE 111, 307 (329 f.); 128, 326 (366 ff.); vgl. auch Jaeger/Schmaltz, Die deutsche Rechtsprechung und der EGMR, in: Leutheusser-Schnarrenberger (Hrsg.), Vom Recht auf Menschenwürde, 2013, S. 97 (106); Schlette, a.a.O. (Fn. 2), S. 33., spricht von einer „indirekten Konstitutionalisierung der EMRK“.
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sches Konventionsrecht“ zuständig. Beide Gerichte betonen regelmäßig, die Verfahrensgestaltung sowie die Auslegung des einfachen beziehungsweise nationalen Rechts sei grundsätzlich Aufgabe der Fachgerichte beziehungsweise der nationalen Gerichte.115 Diese Zurückhaltung gilt auch für die Beurteilung der Angemessenheit der Verfahrensdauer.116 Vor diesem Hintergrund überrascht es, dass beide Gerichte sich bei der Beweiserhebung durch Sachverständige nicht unerheblich in die Verfahrensgestaltung der Fachgerichte einmischen. Beide haben dazu bereits konkrete Handlungsanleitungen gegeben und beispielsweise das Anlegen eines Aktendoppels, die Androhung von Ordnungsgeld oder die Erstattung eines mündlichen Gutachtens gefordert.117 Eine Erklärung für diese detaillierte Judikatur könnte sein, dass gerade Sachverständigengutachten eine häufige Quelle für Verfahrensverzögerungen sind und die Fachgerichte nur zögerlich von dem Instrumentarium Gebrauch machen, das der Gesetzgeber zur Kontrolle und Beschleunigung der Sachverständigentätigkeit bereitgestellt hat. Das Bundesverfassungsgericht prüft den Verfahrensablauf vor den Fachgerichten und die konkrete rechtliche Fragestellung detaillierter als der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte. Dazu passt eine verfassungsgerichtliche Kammerentscheidung aus jüngster Zeit, die nur noch von einem „gewissen Spielraum bei der Verfahrensgestaltung“ spricht, der den Fachgerichten verbleibe.118 2. Details der Prüfung Was genau im Einzelfall geprüft wird, erschließt sich jedenfalls beim Bundesverfassungsgericht aus Entscheidungen der Kammern nicht in Gänze, da Nichtannahmeentscheidungen vollständig ohne Begründung ergehen können (§ 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG) und die explizite Begründungstiefe auch sonst, wie bei allen Gerichten, variiert. Soweit ersichtlich, betont das Bundesverfassungsgericht in seiner Judikatur wie erwähnt bestimmte Rechtsgebiete oder allgemein die Komplexität. In familienrechtlichen Umgangs- oder
115 Vgl. z.B. BVerfGE 18, 85 (92). Siehe auch BVerfGE 13, 318 (325); BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 10. November 2009 – 1 BvR 1178/07 –, juris Rn. 47; vgl. EGMR (GK), Urteil vom 21. Januar 1999, García Ruiz gg. Spanien, Nr. 30544/96, Rn. 28, NJW 1999, S. 2429 (2430). 116 Vgl. z.B. Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 21. Dezember 2004 – 1 BvR 2401/04 –, juris; EGMR, Urteil vom 9. Oktober 2008, Bähnk gg. Deutschland, Nr. 10732/05, Rn. 36. 117 Vgl. dazu die Ausführungen oben unter II.2.b) und III.1.c). Siehe zur Beschleunigungspflicht im Rahmen des Sachverständigenbeweises jüngst auch BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 22. August 2013 – 1 BvR 1067/12 –, juris Rn. 41 ff. 118 BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 22. August 2013 – 1 BvR 1067/12 –, juris Rn. 31.
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Sorgerechtsverfahren spricht das Bundesverfassungsgericht regelmäßig zunächst die (objektive) Beschleunigungsbedürftigkeit dieser Verfahren an, um maßgeblich an diesem Kriterium die tatsächliche Dauer verfassungsrechtlich zu überprüfen.119 Auch in sozialrechtlichen Verfahren wird die Bedeutung des Verfahrens häufig zu Beginn erwähnt.120 Sonst ist allgemein die Komplexität des Falles von Bedeutung. Ist Verfahrensgegenstand ein Zivilprozess, wird teils auf vorliegende121 beziehungsweise fehlende122 rechtliche oder tatsächliche Schwierigkeiten hingewiesen, um dann zu prüfen, ob die Gerichte ihrer Pflicht zur nachhaltigen Beschleunigung – insbesondere bei bereits länger andauernden Verfahren und vor allem bei besonderer subjektiver Bedeutung für die betroffene Partei123 – nachgekommen sind124. Die Bedeutung der Komplexität zeigt sich auch daran, dass im Einzelfall eine vom Ministerium behauptete rechtliche Komplexität des streitgegenständlichen Verfahrens mit detaillierten Ausführungen widerlegt wird.125 Mitunter erfolgt eine sehr differenzierte Prüfung des gesamten Verfahrens und eine Abhandlung aller für die Beurteilung der Verfahrensdauer maßgeblichen Kriterien.126 Dem beklagten Land, den Beschwerdeführenden und dem Gericht werden dann konkrete Verzögerungszeiträume zugeordnet, und es wird festgestellt, dass eine Tätigkeit Dritter nicht zu der Verfahrensdauer beigetragen habe.127 Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte orientiert sich bei der Prüfung an dem Obersatz aus dem Leiturteil der Großen Kammer Frydlen-
119 Vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 6. Mai 1997 – 1 BvR 711/96 –, juris Rn. 36 ff.; Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 11. Dezember 2000 – 1 BvR 661/00 –, juris Rn. 14 ff.; Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 24. Juli 2008 – 1 BvR 547/06 –, juris Rn. 30 ff. 120 Vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 24. August 2010 – 1 BvR 331/10 –, juris Rn. 13; Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 27. September 2011 – 1 BvR 232/11 –, juris Rn. 18. 121 Vgl. z.B. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 2. September 2009 – 1 BvR 3171/08 –, juris Rn. 24. 122 Vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 17. November 1999 – 1 BvR 1708/99 –, juris Rn. 9. 123 Vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 20. Juli 2000 – 1 BvR 352/00 –, juris Rn. 12 ff. 124 Vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 2. September 2009 – 1 BvR 3171/08 –, juris Rn. 26 ff.; Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 23. Juni 2010 – 1 BvR 324/10 –, juris Rn. 8 ff.; Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 23. Mai 2012 – 1 BvR 359/09 –, juris Rn. 14 ff. 125 BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 27. September 2011 – 1 BvR 232/11 –, juris Rn. 18 ff. 126 Vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 14. Dezember 2010 – 1 BvR 404/10 –, juris. 127 BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 14. Dezember 2012 – 1 BvR 404/10 –, juris Rn. 13 ff.
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der gegen Frankreich128 und prüft nach Ausführungen zum relevanten Zeitraum die Komplexität der Sache, das Verhalten der Beteiligten sowie die Bedeutung des Rechtsstreits für die Beteiligten. Auch wenn das Straßburger Gericht somit regelmäßig alle Kriterien anspricht, variiert auch hier die Begründungstiefe; häufig erschöpft sich die Subsumtion in einigen wenigen Sätzen. Was genau die Gesamtabwägung beeinflusst hat, ist nur selten wirklich ersichtlich.129 Diese, soweit aus den Urteilen ersichtlich, deutlich geringere Prüfungstiefe korrespondiert mit der Stellung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte als internationales Gericht. Es ist nicht dazu berufen und wäre auch nicht in der Lage, Verfahren vor den nationalen Gerichten im Detail und die jeweils streitigen Rechtsfragen auf ihre rechtliche Schwierigkeit hin zu überprüfen. Dafür fehlt es schon an der Aktenkenntnis. Dem Gerichtshof liegen die Akten der nationalen Verfahren nicht vor. Vielmehr hat die Regierung in der Vergangenheit in Längefällen „Verfahrenskalender“ vorgelegt, die allein den zeitlichen Ablauf des Verfahrens – Fristverlängerungs- und Terminsverlegungsanträge, Wiedervorlageverfügungen etc. – widerspiegeln. Damit wird der Schwerpunkt bei der Prüfung der Komplexität auf die zeitliche Dimension und auf die tatsächliche Schwierigkeit eines Falles gelegt. Dafür sind objektive Kriterien wie der Umfang der Akten, die Zahl der Zeugen und Sachverständigen ausschlaggebend, die per se zu einer längeren Bearbeitungszeit führen (können). Die Schwierigkeit einer Rechtsfrage ist damit – von Ausnahmekonstellationen abgesehen – bereits aufgrund des großen Abstands zum nationalen Rechtssystem kein Kriterium für die Prüfung der Angemessenheit der Verfahrensdauer durch das Straßburger Gericht. 3. Vorschlag eines Prüfungsschemas Die Angemessenheit der Verfahrensdauer, so heißt es durchgängig, widersetzt sich einem starren Prüfungsschema ebenso wie absoluten Zeitgrenzen. Es bedarf vielmehr einer Gesamtabwägung, in die eine Vielzahl von Kriterien einfließen kann, die damit aber ebenso flexibel wie auch immer etwas unscharf bleiben wird. Allerdings erscheint es sinnvoll und möglich, die für die Gesamtabwägung zu berücksichtigenden Kriterien einheitlich so darzustellen, dass nachvollziehbar ist, was das Ergebnis beeinflusst hat.
128
EGMR (GK), Urteil vom 27. Juni 2000, Nr. 30979/96, Rn. 43. Zur „reduzierten Begründungsableitung aus umfänglichem Tatsachenvortrag“ vgl. auch Jaeger/Schmaltz, a.a.O. (Fn. 114), S. 100. 129
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a) Beurteilungszeitraum – insgesamt Um den Rahmen für die Gesamtabwägung abzustecken, muss zunächst der Zeitraum bestimmt werden, dessen Angemessenheit überprüft werden soll, der Beurteilungszeitraum130. Dieser beginnt in zivilrechtlichen Verfahren regelmäßig mit Klageerhebung und endet in der Regel131 mit Zustellung oder Zugang der (letztinstanzlichen) Entscheidung. In verwaltungs- und sozialrechtlichen Streitigkeiten beginnt der Beurteilungszeitraum nach der Rechtsprechung des Straßburger Gerichts bereits mit Erhebung des Widerspruchs.132 § 198 Abs. 1 GVG n.F. spricht dagegen ausdrücklich nur von der „unangemessenen Dauer eines Gerichtsverfahrens“, worunter das behördliche Widerspruchsverfahren – nach Wortlaut und Gesetzesbegründung133 – nicht fällt. In seinen ersten Entscheidungen zu § 198 GVG n.F. hat das Bundesverwaltungsgericht daher auch das Vorverfahren nicht in die Überprüfung miteinbezogen. Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte stehe dem nicht entgegen, weil es nunmehr einen Rechtsbehelf im Sinne von Art. 13 EMRK gebe und im Vorverfahren mit der Untätigkeitsklage (§ 75 VwGO) ein gesonderter Rechtsbehelf zur Verfügung stehe.134 Diese behauptete Übereinstimmung mit der Straßburger Rechtsprechung überzeugt zwar nicht, weil der neue Rechtsbehelf nichts mit der Notwendigkeit des Vorverfahrens zu tun hat – der Grund, weshalb der Gerichtshof das Widerspruchsverfahren in den Beurteilungszeitraum einbezieht – und die Möglichkeit der Untätigkeitsklage in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte nicht automatisch dazu führt, dass das Vorverfahren nicht in die Überprüfung miteinbezogen wird135. Angesichts des eindeutigen Gesetzeswortlauts ist eine andere Auslegung aber trotz der entgegenstehenden Rechtsprechung aus Straßburg nicht möglich.
130 Der EGMR spricht von period under consideration, vgl. EGMR, Urteil vom 7. Januar 2010, von Koester gg. Deutschland, Nr. 40009/04, bspw. Rn. 152. 131 Auf die Frage, ob Kostenfestsetzungsverfahren miteinzubeziehen sind (so EGMR, Urteil vom 4. Februar 2010, Gromzig gg. Deutschland, Nr. 13791/06, Rn. 78 f.; anders LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 6. März 2013 – L 15 SF 4/12 EK AS –, juris Rn. 18 ff.), kann hier aus Platzgründen nicht eingegangen werden. 132 Vgl. EGMR (Plenum), Urteil vom 28. Juni 1978, König gg. Deutschland, Nr. 6232/73, EGMR-E 1, S. 278 ff. 133 BTDrucks 17/3802, S 17. 134 BVerwG, Urteil vom 11. Juli 2013 – 5 C 23.12 D –, juris, Rn. 20 ff.; Urteil vom 11. Juli 2013 – 5 C 27.12 D –, juris, Rn. 12 ff.; ebenso LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 13. September 2012 – L 38 SF 73/12 EK AS –, juris Rn. 17 f.; Hessisches LSG, Urteil vom 6. Februar 2013 – L 6 SF 6/12 EK U –, juris Rn. 63 (Revision zugelassen und noch anhängig beim BSG, B 10 ÜG 1/12 RH). 135 Das Bundesverwaltungsgericht beruft sich auf EGMR, Urteil vom 10. Januar 2008, Glüsen gg. Deutschland, Nr. 1679/03, Rn. 67; siehe dazu aber auch Urteil vom 16. September 2010, Breiler gg. Deutschland, Nr. 16386/07, Rn. 19.
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b) Beurteilungszeitraum – konkret Um ein Gefühl für die tatsächliche Beschwer zu entwickeln, ist es sinnvoll, bereits in einem nächsten Schritt von dem ermittelten Beurteilungszeitraum die der Partei zuzurechnenden Verzögerungen zu ermitteln und abzuziehen. Dazu können zum Beispiel Fristverlängerungs- und Verlegungsanträge gehören, aber auch die verspätete Einzahlung von Gerichtskosten, eine Erweiterung des Beweisantrags, die Klageänderung oder -erweiterung sowie die Bitte um Aussetzung des Verfahrens. Für die tatsächliche Beschwer ist auch die Anzahl der Instanzen von Bedeutung. Es ist ein Unterschied, ob die Dauer eines Verfahrens auf ein, zwei oder weitere Instanzen zu „verteilen“ ist. c) Angemessenheit des Beurteilungszeitraums Die letztendlich entscheidende Frage der Angemessenheit des ermittelten konkreten Beurteilungszeitraums ist eine Wertungs- und Gewichtungsfrage, wobei das Verfahren in seiner Gesamtheit in den Blick genommen werden muss. Dabei müssen die objektiven Charakteristika des Verfahrens, die subjektive Bedeutung des Verfahrens für die Partei sowie das Verhalten der Gerichte und – erneut – das Verhalten der Partei berücksichtigt werden. Zu den objektiven Charakteristika gehört die Frage, ob das Verfahren prima facie beschleunigungsbedürftig ist, also zum Beispiel eine Streitigkeit im Sorge- oder Umgangsrecht betrifft. Die von der Rechtsprechung bislang aufgestellte „Liste“ ist allerdings nicht abschließend. Ob es weitere Verfahrenskonstellationen gibt, die einer besonderen Beschleunigung bedürfen, bleibt immer eine Frage des Einzelfalls. Auch die tatsächliche Schwierigkeit, die Komplexität der Sache, muss beurteilt werden: Musste umfangreiches Aktenmaterial durchgearbeitet werden? Wurden Zeugen – möglicherweise im Ausland – gehört oder Sachverständigengutachten eingeholt? All diese Umstände tragen zu einer längeren Bearbeitungszeit bei. Grundsätzlich kann auch die rechtliche Schwierigkeit eines Verfahrens eine Rolle spielen. Hängt die rechtliche Lösung lediglich an der Beweisfrage, ob ein Vertrag geschlossen wurde oder nicht, wirft der Fall keine schwierigen Rechtsfragen auf, die eine längere Verfahrensdauer rechtfertigen könnten. Geht es dagegen um eine in Literatur und Rechtsprechung noch umstrittene Frage, bedarf die Entscheidung zumindest eines erhöhten Begründungsaufwands. Allerdings kann nach hier vertretener Auffassung eine verzögerte Bearbeitung regelmäßig gerade nicht mit der rechtlichen Schwierigkeit eines Falles begründet werden. Die Lösung und Entscheidung rechtlicher Fragestellungen ist Kernaufgabe der Fachgerichte. Dafür sind Richterinnen und Richter ausgebildet, und dafür – auch für den notwendigen „inneren Prozess
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des Nachdenkens“136 – bietet eine angemessene Verfahrensdauer ausreichend Zeit. Bei der Beurteilung der Angemessenheit der Verfahrensdauer muss ferner die subjektive Bedeutung des Verfahrens für den Beschwerdeführer oder die Beschwerdeführerin bewertet werden. So kann ein „normaler“ zivilrechtlicher Schadensersatz- oder Schmerzensgeldanspruch, der grundsätzlich keiner besonderen Beschleunigung bedarf, eilbedürftig(er) werden, wenn die klagende Partei dringend auf das Geld angewiesen ist. Sind solche Aspekte für das Gericht nicht offenkundig, müssen sie von der Partei vorgetragen werden. Schließlich ist das Verhalten der Gerichte und – erneut – das Verhalten der Beschwerdeführerin oder des Beschwerdeführers zu beurteilen. Die Partei darf grundsätzlich alle prozessualen Möglichkeiten ergreifen, solange es keinen Missbrauch darstellt. Verzögerungen, die dadurch entstehen, dürfen nicht bereits bei Bestimmung des konkreten Beurteilungszeitraums als von der Partei verschuldet abgezogen werden. Andererseits können Verzögerungen, die zum Beispiel durch Befangenheitsanträge oder das vollständige Ausschöpfen von Fristen entstehen, nicht den Gerichten angelastet werden; sie verlängern vielmehr die „Angemessenheit“ einer Verfahrensdauer. Die Gerichte haben grundsätzlich ihrer Prozessförderungspflicht Rechnung zu tragen, und zwar sowohl in Verfahren mit Amtsermittlungsgrundsatz als auch in Verfahren mit Parteimaxime. Das Bundesverfassungsgericht hat darauf hingewiesen, dass die Anforderungen an die Beschleunigungspflicht des Gerichts sich mit der Dauer des Verfahrens erhöhen.137 Der Staat kann sich nicht auf eine „chronische Überlastung eines Gerichts, länger bestehende Rückstände oder eine allgemein angespannte Personalsituation“138 berufen. Bei der Einholung von Sachverständigengutachten ist das Gericht für die Überwachung verantwortlich und muss, wenn erforderlich, Fristen setzen oder Ordnungsmittel androhen.
VI. Das Gesetz vom 24. November 2011 Mit dem Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren wird nun – endlich – den Fachgerichten die Rechtsschutzaufgabe übertragen, die bislang in Ermangelung einer gesetzlichen Regelung und entgegen dem Grundsatz der Subsidiarität
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Schlette, a.a.O. (Fn. 2), S. 32. Vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 20. Juli 2000 – 1 BvR 352/00 –, juris Rn. 11. 138 Vgl. BTDrucks 17/3802, S. 19. 137
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der Verfassungsbeschwerde (§ 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG) gezwungenermaßen das Bundesverfassungsgericht übernehmen musste. 1. Erste Konsequenzen Erste mittelbare, aber durchaus beabsichtigte Effekte des neuen Gesetzes waren bereits kurz nach seinem Inkrafttreten zu spüren139. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte stellte die Bearbeitung der bei ihm anhängigen Längeverfahren gegen Deutschland unmittelbar im Anschluss an das Inkrafttreten zurück und forderte die Beschwerdeführenden auf, nunmehr zunächst von dem neuen innerstaatlichen Rechtsbehelf Gebrauch zu machen.140 Grund dafür war die Übergangsvorschrift des Art. 23 des neuen Gesetzes. Danach konnten Beschwerdeführende, deren Individualbeschwerde beim Gerichtshof anhängig war oder noch werden konnte, bei innerstaatlich noch anhängigen Verfahren Verzögerungsrüge, bei innerstaatlich bereits abgeschlossenen Verfahren bis zum 3. Juni 2012 Klage gemäß § 201 GVG erheben. Mit zwei Unzulässigkeitsentscheidungen vom 29. Mai 2012141 stellte der Gerichtshof klar, dass von dem neu geschaffenen Rechtsbehelf vor einer Entscheidung durch den Gerichtshof gemäß Art. 35 Abs. 1 EMRK Gebrauch gemacht werden muss. Anlass, an der Wirksamkeit des neuen Rechtsbehelfs zu zweifeln, sah der Gerichtshof – zumindest zum Zeitpunkt dieser Entscheidungen – nicht. Allerdings betonte er, diese Position müsse künftig überprüft werden, was insbesondere von der Fähigkeit der innerstaatlichen Gerichte abhängen werde, eine konsistente und den Erfordernissen der Konvention entsprechende Rechtsprechung zu dem neuen Rechtsbehelf zu entwickeln. Die Beweislast für die praktische Wirksamkeit des neuen Rechtsbehelfs liege bei der Regierung.142 Auch das Bundesverfassungsgericht wies Beschwerdeführende, deren fachgerichtliche Verfahren unter die Übergangsvorschrift des Art. 23 fielen, auf den neu geschaffenen Rechtsbehelf hin und stellte anheim, die Verfassungsbeschwerde zurückzunehmen. Neue Verfassungsbeschwerden gegen die überlange Dauer von fachgerichtlichen Verfahren wies das Bundesverfassungsgericht nachfolgend teils unter Hinweis auf die fehlende Rechtswegerschöpfung, teils unter Hinweis auf den Grundsatz der materiellen Subsidiarität zurück, weil die Beschwerdeführenden zuvor nicht von der Mög139
Vgl. dazu auch Schmaltz, verdikt 1.12, S. 16 (18). Vgl. die Ausführungen in EGMR, Entscheidungen vom 29. Mai 2012, Taron gg. Deutschland, Nr. 53126/07, juris Rn. 16; Garcia Cancio gg. Deutschland, Nr. 19488/09, Rn. 20. 141 Siehe Fn. 140; siehe auch die weitere Unzulässigkeitsentscheidung vom 10. Juli 2012, Dudek u.a. gg. Deutschland, Nr. 23056/09 u.a., juris Rn. 15 ff., unter Verweis auf Taron gg. Deutschland. 142 EGMR, Entscheidung vom 29. Mai 2012, Taron gg. Deutschland, Nr. 53126/07, juris Rn. 21. 140
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lichkeit der Verzögerungsrüge und Entschädigungsklage nach dem neuen Gesetz Gebrauch gemacht hatten.143 Der neue Rechtsbehelf kann zudem die Wiederholungsgefahr beseitigen und steht dann einem Rechtsschutzbedürfnis nach Abschluss eines überlangen Verfahrens entgegen.144 2. Ausblick Es bleibt abzuwarten, ob der neue Rechtsbehelf und dessen Anwendung durch die Fachgerichte145 den verfassungsrechtlichen Anforderungen aus Art. 19 Abs. 4 GG bzw. Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG sowie an eine „wirksame Beschwerde“ im Sinne von Art. 13 EMRK tatsächlich gerecht wird. Weder vom Bundesverfassungsgericht noch vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte sind dazu bis einschließlich März 2014 Sachentscheidungen ergangen.146 In erster Linie ist es daher nun an den Fachgerichten, die Rechtsprechung aus Karlsruhe und Straßburg in ihren Entscheidungen nach § 198 GVG umzusetzen. Auch wenn die insofern angezeigte direkte Anwendung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte neben der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts für manche Obergerichte Neuland sein dürfte147, ist auch hier auf den konstruktiven, grund- und menschenrechtlichen Dialog der Gerichte zu vertrauen. 143 Vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 21. Dezember 2011 – 1 BvQ 44/11 –, juris Rn. 2; Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 30. Mai 2012 – 1 BvR 2292/11 –, juris Rn. 8 ff., die auf die fehlende Rechtswegerschöpfung abstellen. Die Beschlüsse der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 20. Juni 2012 – 2 BvR 1565/11 –, juris Rn. 16 sowie der 2. Kammer des Ersten Senats vom 5. September 2013 – 1 BvR 2447/11 –, juris Rn. 12 ff., stellen dagegen auf die materielle Subsidiarität ab. Nicht eindeutig BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 28. Januar 2013 – 2 BvR 1912/12 –, juris Rn. 4. 144 BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 13. August 2012 – 1 BvR 1098/11 –, juris Rn. 20. 145 Ein Überblick über die bisherige Rechtsprechung der Fachgerichte findet sich im Revised action report der Regierung vom 12. November 2013, veröffentlicht auf der Internetseite des Ministerkomitees, www.coe.int/CM, sowie bei Steinbeiß-Winkelmann/Sporrer, NJW 2014, S. 177 ff. 146 Das Bundesverfassungsgericht nahm z.B. die Verfassungsbeschwerde 1 BvR 2505/12 gegen ein Entschädigungsurteil nicht zur Entscheidung an (unveröffentlicht); die nachfolgende Individualbeschwerde ist beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte noch anhängig (Nr. 11921/13). Über drei Verzögerungsbeschwerden gegen überlange Verfahrensdauer vor dem Bundesverfassungsgericht hat die Beschwerdekammer dagegen bereits entschieden: BVerfG, Beschluss vom 1. Oktober 2012 – 1 BvR 170/06 – Vz 1/12 –, juris (die Individualbeschwerde gegen diesen Beschluss hat der EGMR am 3. Juni 2013 zugestellt, Nr. 68919/10); Beschluss vom 3. April 2013 – 1 BvR 2256/10 – Vz 32/12 –, juris; Beschluss vom 30. Juli 2013 – 2 BvE 2/09 – Vz 2/13, 2 BvE 2/10 – Vz 3/13 –, juris. 147 Vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 13. Juni 2013 – 1 BvR 1942/12 –, juris Rn. 8.
Sachregister Abbruch des Auswahlverfahrens 247, 255 Abgeordnete des Deutschen Bundestages 574 ff. Ablehnungsgesuch 66 Absatzfondsgesetz 376 Absprache 391, 393 ff., 400, 403 ff. Abstandsgebot 173 Abwägungslehre 230, 300 f., 314 ff. Abwehrrechte 119, 121 acte clair 369 acte éclairé 369 Adoptionsrecht 183 Åkerberg Fransson-Entscheidung 372 Akteneinsicht 212 Akte deutscher öffentlicher Gewalt 43 ff., 556 f., 558 Akte europäischer Organe 558 Alimentationsprinzip 269 f. Allgemeines Register 94 Allgemeinheit der Wahl 444 Ämterstabilität 262 ff. Amtsangemessenheit der Alimentation 271 Anforderungsprofil 244 f. Angehörige 206 Angelegenheiten, innerkirchliche 299 f. Angemessenheit der Verfahrensdauer 584 ff. Anhörung 342 Anhörungsrüge 98 Anordnung – einer Wohnungsdurchsuchung 363 – einstweilige 43, 264 ff., 577 – nichtrichterliche 343 – richterliche 344, 346, 354 – von Durchsuchungen 349, 358, 360 Anordnungskompetenz 340, 352 – der Staatsanwaltschaft 362 Anrufungsbegehren 432 Anspruch, vermögensrechtlicher 300 Anspruch auf Strafverfolgung 205 Anwaltszwang 213
Anwendungsvorrang des Unionsrechts 149, 158 f. Arbeitsteilung zwischen Bundesverfassungsgericht und Instanzgerichten 15, 17, 29, 34 Assessment-Center 253 Aufwandsteuer 493 f., 497 ff. Ausgabebewilligung 544 Auslagen 43, 75 Auslegung, unionsrechtskonforme 149, 160 Anwendungserweiterung 149, 158, 160 Auslandsdeutsche 446 Ausschluss von der Ausübung des Richteramts 66 Ausschüsse 547 Aussetzung des Verfahrens 42, 68 Ausstrahlungswirkung 118, 136 Auswahl von Pilotverfahren 580 Bayerisches Versammlungsgesetz 221 Beamtenbesoldung 271, 284 Begründungsanforderungen 201 f., 215, 349 Beistand 67 Bereichslehre 303 ff., 311 ff. Bereitschaftsdienst 347 ff. Berufsbeamtentum 272, 291 Beschleunigungsverbot in Haftsachen 392 Beschuldigtenrechte 356, 363 f. Beschwer 47, 58 Beschwerdebefugnis 561, 564 Beschwerdefrist 211 f. Beschwerdegegenstand 556, 559 Besitzrecht 126 Besoldung von Professoren 269 Bestenausleseprinzip 248 Betroffene 364 Bettensteuer 493, 506 Beurteilungsspielraum 258, 318 ff. Beweismittel 209
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Sachregister
Beweismittelverlust, drohender 358, 360, 363 f. Beweisverwertungsverbot 353, 392 Beweiswürdigung 205 Bewerbungsverfahrensanspruch 242 ff., 258 ff. Blankettermächtigung 566 Budgetrecht 567 Bündelung von Dienstposten 248 f. Bundesrat 415 ff. Bundestagswahlen 54 Bundesverwaltungsgericht 242, 262 ff. C.I.L.F.I.T. – Entscheidung 369 Chancengleichheit der Wahlbewerber 445 Charakteridentitätsverbot 520 Darlegungsanforderungen 22 ff., 201 f., 209, 216 Dauer von Gerichtsverfahren – überlange 583, 585 f., 603 f., 612 – unangemessene 597, 584, 609 Deal 390 f., 397, 406 Delegationsverbot 549 Demokratieprinzip 542, 564 Deutsche-Grundrechte 161 Dienstherr 242 ff. Dienstliche Beurteilung 249 ff., 259 – Ausschöpfung 251 ff. Dienstposten 243 f. Dienstverhältnis, kirchliches 300, 304 f., 312 Dienstzeiten, außerhalb der üblichen 348, 351, 356 Differenzierungsverbot 133 Diskriminierungsverbot (EU) 149, 151, 156 Divergenzvorlage 48, 57 Divisorverfahren nach Sainte-Laguë/ Schepers 462 Dokumentation 347, 349 f., 353, 399 Dokumentationspflicht 247, 254 f., 345, 350 ff., 396, 400, 408 Drittwirkung 117 ff., 122, 135 f., 138, 141 Durchsuchung 340, 343 ff., 348, 363 Durchsuchungsanordnung 343 ff.
Effizienz, legislative 416 Ehe 172 – Schutz der 177 Ehegattensplitting 192 Eigentum 126, 135 Eilanordnung 347 – ermittlungsbehördliche 351 Eilantrag 43 Eildienst, richterlicher 348 Eilkompetenz 344 ff., 360 ff. Eilrechtsschutz 223 Eingriff, schwerwiegender 352, 355 Eingriffsbefugnis 352 f. Einnahmen und Ausgaben der öffentlichen Hand 567 Einschätzungs- und Beurteilungsspielraum 539, 541, 543 f. Einschätzungsprärogative 532 Einstellungsbescheide 214 Eltern-Kind-Verhältnis, faktisches 189 Elternrecht 185 Entscheidungserheblichkeit 1 ff., 49 Entscheidungszwang des Richters 362 Entstaatlichung 566 Erfolgsaussicht 215 Erfolgschancengleichheit 439 Erfolgswert, inverser 466 Ermessen 317 f., 323, 326, 329 Ermittlungsakten 212 Ermittlungsergebnisse 212 Ermittlungs- oder Eilrichter 344 ff., 351, 363 Ermittlungsmaßnahmen, strafprozessuale 61, 337, 341 Ermittlungsmethoden – heimliche 342 – strafprozessuale 355 Ermittlungspflicht 204 f. Ermittlungsverfahren 212 Europäische Finanzstabilisierungsfazilität 530 Europäische Integration 536 Europäische Menschenrechtskonvention 146, 301 f., 583 ff., 594, 605 Europäische Union 529 Europäische Wirtschaftsgemeinschaft 529 Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte 204, 583 ff., 588 f., 594 f., 598, 600, 603 ff., 612 f.
Sachregister
Europäischer Stabilitätsmechanismus 531 Euro-Plus-Pakt 531 Eurorettung 553 ff., 570 f., 577, 580, 582 Ewigkeitsklausel 529, 537 Familienzuschlag 175 Festnahme und Ingewahrsamnahme 345 Filmförderungsabgabe 384 Finanzmarkt- und Staatsschuldenkrise 529, 555 Fördergebot 172 Fortsetzungsfeststellungsinteresse 576 Forum, öffentliches 239 Fraktion 573, 575 Fraport 134, 139, 220, 236 Freiheitsentziehungen 353 Freiheitsrecht 130 f. Fristvorwirkung 107 Fristwahrung 212 Funktionsfähigkeit des Parlaments 482, 484, 548 Funktionsvorbehalt 244, 246, 260 Gedenktagsrecht 227 Gefahr im Verzug 343 ff. Gegendemonstration 228 Gegenstandswert 78 Gehör, rechtliches 215 Gehörsverstoß 216 Geldwert 569, 571 Gemeindeteilungsbeschluss 303 f. Generalstaatsanwalt 214, 200 Gerichtsverfahren, überlange 586, 603, 611 Gesamtverantwortung, haushaltspolitische 531, 537, 542, 545, 547, 567 f., 573 f. Geschäftsordnungsautonomie 548 Gesetzesvollziehungsanspruch, allgemeiner 558 Gesetzgebungskompetenz 51 f. Gesetzgebungsverfahren 415 ff. Gestaltungsfreiheit 540 Geständnis 391, 393, 401, 405, 407 Gewalt, öffentliche 301 Gewaltverbrechen 205 Gleichartigkeitsverbot 497, 512 ff.
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Gleichgeschlechtlichkeit 193 Gleichheit der Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften 315 f. Gleichheit der Wahl 438 Gleichheitsrecht 131 Grundfreiheiten (EU) 149 Grundrechtecharta (EU) 146 Grundrechtsbindung 120, 135, 140 Grundrechtseingriff, schwerwiegender 352 Grundrechtsklage 40 Grundrechtsschutz, vorbeugender 342 Gute Sitten 315 Haftungsautomatismus 537 Handlungspflicht 560 Hauptsacheverfahren 43 Hauptverhandlung 392 ff., 399, 401 Hausdurchsuchung 340 Haushaltsausschuss 530 Haushaltsgesetzgeber 545, 547 Haushaltsgesetzgebung 532 Haushaltsplan 534, 545 Haushaltsverfassungsrecht 528 Hinterbliebenenversorgung 174 Homo-Ehe 197 Homogenität 50 Honeywell-Entscheidung 379 Hundesteuer 506, 511 Identitätskern 529 Inflationsrate 569 Informalität 418 ff. Ingewahrsamnahme 350 Inhaftierung 342 Inhaltsgleichheit 58 ff. Insichprozess 573 Institutsgarantie 172 Integrationsfunktion der Wahl 484 Integrationsprogramm 559 Integrationsverantwortung 543, 566 Intra-Organstreit 530 Ja, aber-Entscheidung 402, 404, 409 Jagdsteuer 505 Justizgewährungsanspruch, allgemeiner 299, 308, 313 ff. Kameralismus 532 Kapitalanlage 506 ff., 511
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Sachregister
Kaufkraft des Geldes 569 Klageerzwingungsantrag 201 f., 207, 210, 216 f. Klageerzwingungsverfahren 199 ff. Kommunalwahlen 54 Kommunikation 220 Kommunikationsfunktion der Wahl 447 Kompetenz 344, 358 – zur Anordnung von Durchsuchungen 358 Kompetenz-Kompetenz 566 Kompetenzverteilung des Grundgesetzes 362 Konkrete Normenkontrolle 1 ff. Konkurrentenstreit 242 ff. Konsumtion 278 Kontaktierung eines Richters 359, 361 Kontrolldichte 266, 317 f., 326, 328, 330 ff. Kontrolle – des demokratischen Prozesses 568 – gerichtliche 344 f., 347 – nachträgliche 347, 349 – präventive 341, 344 Kontrollgremium, parlamentarisches 548 Konvent 575 Konvergenz-Kriterium 541 Koordinationslehre 313 f. Kostengrundentscheidung 75 Landau-Formel 402 Ländersitzkontingente 460 Landesverfassungsgericht 37 Landtagswahlen 54 Lebenspartnerschaft, eingetragene 170 Lebenspartnerschaftsgesetz 172 Legalitätsprinzip 199 f., 205, 207 f., 211 Legitimation, demokratische 566 Linien, rote 541 Maastricht-Entscheidung 529 Mandat, freies 424 Maßnahmen – geeignete organisatorische 346 – von Organen der Europäischen Union 556
Mehrheitsentscheidung 426 f. Mehrheitswahl 441 Meinungsfreiheit 220, 229 Meinungsinhalt 229 Meinungsneutralität 231, 235 Mieter 126 Minderheit 220 Mindeststandard, rechtsstaatlicher 353 f., 357 Missbrauchsgebühr 87, 99 Monatsfrist der Verfassungsbeschwerde 104, 257 Monotoniebedingung 461 Nachprüfung, wirksame gerichtliche 345 Nachtdienst, richterlicher 348, 350 Nachtragshaushalt 544 Nachtzeit 347 f., 350, 358 f. Nachvollzug 538, 542 Nationalsozialismus 233 f., 236 Negativattest 400 Negativtestat 408 Neubegründung 362 Neunergremium 530 Neutralität, weltanschaulich-religiöse 315 Nichterreichbarkeit 361 Normenkontrollverfahren 48 Notbewilligungsrecht 544 Oberlandesgericht 200 Öffentlichkeitsgrundsatz 399 OMT-Beschluss 370, 372 Orde public 315 Ordnung, öffentliche 228 Organ, besonderes 533 Organisationspflicht 345 Organversagen 363 Orientierung, sexuelle 176 Örtlichkeit 511 pacta sunt servanda 539 Parken im AR 106 Parteienstaatlichkeit 418 Parteifähigkeit 573 Personenwahl 478 Persönlichkeitsschutz, postmortaler 206 Petitionausschuss 548 Pfarrer 301 f., 306 f., 312
Sachregister
Pflegeeltern 189 Pilot- oder Musterverfahren 580 Piloturteil 602 Plan der Pläne 535 Planstelle 243 f. Popularbeschwerde 562 Prüffrist 361 Popularklage 46 Popularklageverfahren 49 Postbeförderungstage 214 f. Preisstabilität 571 Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung 566 Privatautonomie 123 ff. Privatisierung 138 Prognose 544 Prognoseentscheidung 347 Proportionalitätsbedingung 460 Prozeduralisierung 289 Prozessgrundsätze 390, 398 Prozesskostenhilfe 70, 215 Prozessstandschaft 206, 573 f. Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache, summarische 578 Prüfung, eigenverantwortliche richterliche 342, 361 Quotenbedingung 461 Rangverhältnis der Anordnungskompetenzen 343 Rechtmäßigkeitskontrolle, allgemeine 558, 570 Rechtsakte, ausbrechende 559, 570 Rechtsanwalt 212 Rechtsgüterschutz 234 f. Rechtshängigkeit 41 Rechtsmittelverzicht 393, 396 Rechtsordnung, supranationale 144, 155 Rechtsschutz – effektiver 262 f., 315, 587 ff., 592, 594, 604 – einstweiliger 262 ff. Rechtsschutzbedürfnis 43 Rechtschutzgarantie 207 Rechtsschutzgleichheit 315 f. Rechtsweg 201, 207 – kirchlicher 306 f., 315 Rechtswegerschöpfung 42, 60, 203, 263, 266, 315
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Regelzuständigkeit des Richters/Ermittlungsrichters 344, 348 Reichsrat 419 Reichstag 419 Religionsgemeinschaft 298 ff. Repräsentationsorgan 533 Repräsentationsprinzip 457 Richter – gesetzlicher 375 – unwilliger 362 f. Richterbesoldung 271, 284 Richtervorbehalt 337 ff., 354 f., 360, 363 f. – Bedeutung und Reichweite 355 – einfachrechtlicher 343, 352 ff., 357 – verfassungsrechtlich verankerter 343, 348, 353 ff. Sachentscheidung 217 Sachverhaltsschilderung 217 Schadensersatz 255 Schattenhaushalte 535 Schlüssigkeit 209 f. Schuldenbremse 528, 541 Schuldgrundsatz 401, 403 Schuldprinzip 394, 400 Schutzanspruch 204 Schutzpflicht 117 f., 121 f., 127 ff., 136, 138, 141, 205, 560 f., 572 Schweigemarsch 222 Selbstbestimmungsrecht, religionsgemeinschaftliches 299, 303 ff., 312 ff. Selbstorganisationsfreiheit 532 Selbstorganisationsrecht 547 Selbstverständnis, religiöses 315 Selbstzweck, formalistischer 211 Senatszuständigkeit 65 Sitzblockaden 222 Sitztheorie 157 Sitzzuteilungsverfahren 458 Sixpack 531 Solange I-Entscheidung 370 Solange II-Entscheidung 376 Sondergremien 530, 547 Sonderrechtstheorie 230 Sozialstaatsprinzip 123, 125 Spannungsverhältnis zwischen Rechtsstaatlichkeit und Effektivität der Strafverfolgung 342, 364 Sperrklauseln, wahlrechtliche 482
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Sachregister
Sperrwirkung 361 Spiegelbildlichkeit, Grundsatz der 424 ff. Staatsanwaltschaft 199 f., 210, 212, 216 Staatsstrukturprinzipien, demokratiebedeutsame 567 Statusamt 251 ff. Statusklage 300 Stellenausschreibung 245 f. Steuerbegriff 494 ff. Steuererfindungsrecht 493, 521 Stimmgewicht, negatives 459 Strafe, schuldangemessene 399 Strafklageverbrauch 210 Strafobergrenze 393 Strafprozessordnung 394 Strafrechtspflege 363 f., 394, 567 Strafverfolgung 201 Strafzusage 393 Streikverbot 293 Subsidarität 40, 42, 60 f., 95 Substantiierung 571 Sukzessivadoption 180 Tageszeit 345, 350 Tatsachenkontrolle 266, 331 f., 334 Telefax 213 Transparenz 399 f. Trennungsgrundsatz 44 Überhangmandate 470 Übermaßverbot 124 Überprüfung, gerichtliche 352, 354 Überraschungsmaßnahmen 342 Übertragung von Hoheitsrechten 557, 559, 562, 566 Ultra-vires-Akte/-Handeln 559, 570 Ultra-vires-Rügen 559, 570 Umdeutung von Verfassungsbeschwerden 577 Unfriedlichkeit 222 Unmöglichkeit 362 Unschuldsvermutung 400 Unterlassen 574 f. – deutscher Staatsorgane 554, 560 Untermaßverbot 128, 137 Unternehmen, gemischtwirtschaftliches 134 Unterrichtungsrechte des Bundestages 575
Untersuchungszweck 354, 361 Urheberrecht 149, 156 Urteilsabsprache 391 ff. Usurpation 559, 571 Verbrauchsteuer 498 Vereinsverbot 222 Verfahren – faires 394, 400, 407 – summarisches 531 Verfahrensabsprache 396 Verfahrensart 46 Verfahrensbeschleunigung 391 Verfahrensdauer 583, 590, 593, 596 – angemessene 589, 611 – überlange 584, 587, 595, 597, 600 ff., 613 – unangemessene 583, 592 Verfahrensrechtsanwendung 48 Verfassungsänderung 194 Verfassungsbeschwerdefrist 42, 257 f. s. auch Monatsfrist Verfassungsidentität 540 Verfassungsräume 45 Vergnügungsteuer 493, 504, 514, 516, 521 Verhältnismäßigkeitsgrundsatz 137 Verhältniswahl 441, 472, 479 Verhandlung, mündliche 67 Verhandlungsprotokoll 393 Verkehr, kommunikativer 238 Verlust der Staatlichkeit der Bundesrepublik Deutschland 566 Vermittlungsausschuss 413 ff. – Beschlusskompetenz 429 ff. – Einigungsvorschlag 425, 428 ff. – Entsendeverfahren 422 ff. – Kompetenzen 428 ff. – Mitgliedschaft 422 – Vermittlungskompetenz 429 ff. – Zusammensetzung des 421 ff. Vermittlungsverfahren 413 ff. Versammlungsort 221, 236 f. Verschiedengeschlechtlichkeit 192 Verständigung 391 ff. – im Strafverfahren 391 ff., 405 Verständigungsgesetz 390 f., 396 ff. Vertrag über die Stabilität, Koordinierung und Steuerung in der Wirtschafts- und Währungsunion 531
Sachregister
Vertrag von Lissabon 530 Vertragsänderungsverfahren – ordentliches 575 – vereinfachtes 568 Verwaltungsverfahren 318, 325 f., 332 f. Verwertungsverbot 353 Verzögerung 344 Verzögerungsrüge 97 Volksbegehren 51 Volksentscheidprüfung 49 Volkssouveränität 528, 546 Volksverhetzung 233 Vollstreckungsanordnung 580 Vorabentscheidungsersuchen 368 Vorabentscheidungsverfahren 150, 367 Vorlagepflicht 54 – letztinstanzlicher Gerichte 368 Vorstellungsgespräch 254 Wahlberechtigung der Auslandsdeutschen 446 Wahlgleichheit 48 Wahlkreiseinteilung 453 Wahlmathematische Qualitätsanforderungen an Verhältniswahlsysteme 460 Wahlprüfungsverfahren 48 Wahlrecht, grundlegend demokratischer Gehalt des 561 – Entleerung 564 Wahlrechtsgleichheit 54
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Wahrheit, materielle 398 ff., 409 Wartepflicht 256 ff. W-Besoldung der Professoren 270 f. Weimarer Reichsverfassung 419 Wertordnung, objektive 119, 121, 128 Wesensgehalt 355 Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte 223 Widerstandsrecht 570 Wiederaufleben 360 ff., 364 Wiedereinsetzung in den vorigen Stand 69, 215 Willkür 52, 56 Willkürmaßstab 377 Willkürverbot 315 Wirtschafts- und Währungsunion 530, 545 Wohnungsdurchsuchung 342 f., 348, 351 ff. Wunsiedel-Beschluss 220 Zahlungsverpflichtungen 545 Zeit, angemessene 590 Zivilverfahren, überlange 602 Zuständigkeit – grundsätzliche des Richters 363 – gewillkürte 362 Zuständigkeitsverweigerung 361 Zustellung 67 Zweitwohnungsteuer 493, 504, 506 ff., 515
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren Bechler, Lars, Dr. iur., Richter am Verwaltungsgericht Halle, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Bundesverfassungsgericht bei Bundesverfassungsrichter Dr. Michael Gerhardt seit November 2011, zuvor abgeordnet an das Justizministerium Sachsen-Anhalt. Becker, Yvonne, Richterin am Verwaltungsgericht Arnsberg, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Bundesverfassungsgericht bei Bundesverfassungsrichterin Prof. Dr. Gertrude Lübbe-Wolff von Februar 2011 bis Dezember 2013. Berning, Susanne, Richterin am Amtsgericht Göppingen, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Bundesverfassungsgericht bei Bundesverfassungsrichterin Prof. Dr. Gabriele Britz von Juni 2011 bis Mai 2014. Burkiczak, Christian, Dr. iur., November 2006 bis Juli 2009 Richter (Sozialgericht Reutlingen), Juli 2009 bis Juni 2013 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Bundesverfassungsgericht bei Vizepräsident Prof. Dr. Ferdinand Kirchhof, seit Juli 2013 Richter am Sozialgericht (Sozialgericht Karlsruhe). Diehm, Dirk, Dr. iur. utr., LL.M. Eur., Staatsanwalt bei der Staatsanwaltschaft Würzburg, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Bundesverfassungsgericht bei Bundesverfassungsrichter Prof. Dr. Peter M. Huber seit Februar 2011. Gerberding, Johannes, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Bundesverfassungsgericht bei Präsident Prof. Dr. Andreas Voßkuhle von Februar 2011 bis Januar 2014, seit Februar 2014 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Öffentliches Recht, insbesondere Verwaltungsrecht (Prof. Dr. Martin Eifert) an der Humboldt-Universität zu Berlin. Grünewald, Benedikt, Dr. iur., wissenschaftlicher Mitarbeiter am Bundesverfassungsgericht bei Bundesverfassungsrichter Prof. Dr. Michael Eichberger seit 1. März 2013, zuvor Rechtsanwalt und Richter (Verwaltungsgericht München). von Häfen, Mario, Richter am Oberlandesgericht Oldenburg, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Bundesverfassungsgericht bei Bundesverfassungsrichterin Dr. Sibylle Kessal-Wulf von März 2012 bis Januar 2014. Hahn, Philip, Dr. iur., Oberregierungsrat, derzeit Landratsamt München, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Bundesverfassungsgericht bei Bundesverfassungsrichter Prof. Dr. Dr. h.c. UII Siegfried Broß von September bis November 2010
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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
und bei Bundesverfassungsrichter Prof. Dr. Peter M. Huber von November 2010 bis Dezember 2013, zuvor Richter (Verwaltungsgericht Ansbach). Hammer, Thomas, Forschungsreferent am Deutschen Forschungsinstitut für öffentliche Verwaltung Speyer, seit Januar 2013 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Bundesverfassungsgericht bei Bundesverfassungsrichter Prof. Dr. Johannes Masing. Kessen, Martin, Dr. iur., LL.M. (Univ. of Texas), Richter am Oberlandesgericht Köln, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Bundesverfassungsgericht bei Bundesverfassungsrichterin Dr. Sibylle Kessal-Wulf von April 2012 bis April 2014. Lange, Friederike Valerie, Dr. iur., Oberregierungsrätin im Bayerischen Ministerium des Innern, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Bundesverfassungsgericht bei Präsident Prof. Dr. Andreas Voßkuhle seit Februar 2011, zuletzt persönliche Referentin des Präsidenten; zuvor Richterin (Verwaltungsgericht München). Mann, Holger, Dr. iur., Richter am Landgericht Berlin, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Bundesverfassungsgericht bei Bundesverfassungsrichter Dr. Michael Gerhardt von März 2011 bis März 2013, zuvor abgeordnet an die Senatsverwaltung für Justiz in Berlin. Müller, Sebastian, Dr. iur., LL.M., Regierungsdirektor im Bundesministerium der Finanzen, seit Juni 2012 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Bundesverfassungsgericht bei Bundesverfassungsrichter Prof. Dr. Peter M. Huber. Niesler, André, Dr. iur., Richter am Verwaltungsgericht Neustadt a.d.W., wissenschaftlicher Mitarbeiter am Bundesverfassungsgericht bei Bundesverfassungsrichter Wilhelm Schluckebier seit Februar 2013, zuvor abgeordnet an das Bundesverwaltungsgericht. Peterek, Jörg, Dr. iur., Staatsanwalt bei der Staatsanwaltschaft Würzburg, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Bundesverfassungsgericht bei Bundesverfassungsrichter Prof. Dr. Peter M. Huber seit November 2010. Pohl, Christian, LL.M. oec., Richter am Verwaltungsgericht Karlsruhe, wissenschaftlicher Mitarbeiter bei Bundesverfassungsrichter Dr. Michael Gerhardt von Februar 2010 bis Februar 2013, zuvor abgeordnet an das Justizministerium Baden-Württemberg. Pohlreich, Erol, Dr. iur., Habilitand am Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht, europäisches Strafrecht und neuere Rechtsgeschichte der Humboldt-Universität zu Berlin (Prof. Dr. Martin Heger), wissenschaftlicher Mitarbeiter am Bundesverfassungsgericht bei Bundesverfassungsrichterin Prof. Dr. Gertrude Lübbe-Wolff von September 2011 bis August 2013.
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
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Reiter, Barbara, Staatsanwältin bei der Staatsanwaltschaft München I, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Bundesverfassungsgericht bei Bundesverfassungsrichter Prof. Dr. Reinhard Gaier seit Oktober 2011. Schenk, Wolfgang, Dr. iur., Richter am Verwaltungsgericht Stuttgart, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Bundesverfassungsgericht bei Bundesverfassungsrichter Prof. Dr. Michael Eichberger seit November 2009, zuvor Proberichter am Verwaltungsgericht Karlsruhe. Schmaltz, Christiane, Dr. iur., LL.M. (Univ. of Virg.), Richterin am Oberlandesgericht, seit September 2011 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Bundesverfassungsgericht bei Bundesverfassungsrichterin Prof. Dr. Susanne Baer, LL.M., zuvor abgeordnet an die Kanzlei des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Schübel-Pfister, Isabel, Dr. iur., wissenschaftliche Mitarbeiterin am Bundesverfassungsgericht bei Präsident Prof. Dr. Andreas Voßkuhle von August 2008 bis Mai 2012, persönliche Referentin des Präsidenten von März 2011 bis Mai 2012, zuvor Oberregierungsrätin, seit Mai 2014 Richterin am Bayer. VG Bayreuth, Lehrbeauftragte an der Universität Bayreuth. Schütter, Friedrich, Dr. iur., Staatsanwalt bei der Staatsanwaltschaft Offenburg, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Bundesverfassungsgericht bei Präsident Prof. Dr. Andreas Voßkuhle seit Juni 2012. Seban, Christine, Dr. iur., Staatsanwältin bei der Staatsanwaltschaft Fulda, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Bundesverfassungsgericht bei Bundesverfassungsrichter Peter Müller seit April 2012. Strohmayr, Sebastian, Dr. iur., seit März 2013 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Bundesverfassungsgericht im Dezernat von Bundesverfassungsrichter Prof. Dr. Andreas Paulus, zuvor zuletzt als Staatsanwalt bei der Staatsanwaltschaft Darmstadt tätig. Volp, Daniel, M.A., Oberstaatsanwalt bei der Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt am Main, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Bundesverfassungsgericht bei Bundesverfassungsrichter Peter Müller seit April 2012. Wiedemann, Richard, Dr. iur., Richter (VG Augsburg), seit Mai 2011 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Bundesverfassungsgericht bei Bundesverfassungsrichter Prof. Dr. Johannes Masing.