Liebe und Arbeit: Geschlechterbeziehungen im 19. und 20. Jahrhundert 9783205792789, 9783205795353


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German Pages [320] Year 2014

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Liebe und Arbeit: Geschlechterbeziehungen im 19. und 20. Jahrhundert
 9783205792789, 9783205795353

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Edith Saurer

Liebe und Arbeit Geschlechterbeziehungen im 19. und 20. Jahrhundert herausgegeben von Margareth Lanzinger

BÖHLAU VERLAG WIEN · KÖLN · WEIMAR



Gefördert durch die Forschungsplattform „Neuverortung der Frauen- und Geschlechter­ geschichte im veränderten europäischen Kontext“ Gedruckt mit Unterstützung der Universität Wien

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Umschlagabbildung: Objekt von Erwin Thorn, Ohne Titel, 2002 (Ausschnitt) Foto: Georg Kargl, Fine Arts, Vienna

© 2014 by Böhlau Verlag Ges.m.b.H & Co. KG, Wien Köln Weimar Wiesingerstraße 1, A-1010 Wien, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Umschlaggestaltung: Michael Haderer, Wien Satz: Bettina Waringer, Wien Korrektorat: Jörg Eipper-Kaiser, Graz Druck und Bindung: Finidr, Cesky Tesin Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in the EU ISBN 978-3-205-79535-3

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 TEIL 1: VOM FRÜHEN 19. JAHRHUNDERT BIS ZUM ERSTEN WELTKRIEG.. . . . 21

1.

„Sie konnten zueinander nicht kommen ...“. . . . 1.1 „Corinna“ und die Macht der Liebesverbote. . 1.2 Die nahe stehen und draußen bleiben. . . . . 1.3 Das Reformprogramm: Geschlechterliebe, Liebe als kognitive Kraft. . . . . . . . . . . . 1.4 Die Ordnung des Besitzens. . . . . . . . . .

. . . . . . . . . . 21 . . . . . . . . . 22 . . . . . . . . . . 34

2.

Gesicherte Verhältnisse.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Geschlechtertrennung, Arbeitsplatz und väterliche Liebe. 2.2 Unterhalt und Schutz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Lohn und der Wunsch nach selbständigem Leben. . . . . 2.4 Der Wunsch nach dem Kinde. . . . . . . . . . . . . . . 2.5 Migrationen, Trennungen und Verbindungen. . . . . . .

3.

Gefährdete und gefährliche Beziehungen.. . . . . . . . . . . . . . 3.1 Ehe, Ehekritik und Ehebruch. . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Die großen Leidenschaften und Skandale. . . . . . . . . . . . 3.3 Die käufliche Liebe. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4 Der Aufstieg der Sexualwissenschaften – Devianz und Norm .. 3.5 Geschlechterkampf und Erster Weltkrieg. . . . . . . . . . . .

. . . . . . . . . 47 . . . . . . . . . . 63 . . . . . .

. . . . . .

. . . . . .

. . . .

75 75 81 95 104 119 133 133 145 152 164 173

TEIL II: VOM FRÜHEN 20. JAHRHUNDERT BIS IN DIE GEGENWART. . . . . . .

185

4.

185 185 193 201 210 224

Verbote und Vernichtung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 „… nicht das Ergebnis von Aberglauben und Tradition“. . 4.2 Der Kult des gesunden Paares. . . . . . . . . . . . . . . 4.3 ‚Rassenideologie‘ und Liebesverbote. . . . . . . . . . . . 4.4 ‚Blutschande‘ und ‚Rassenmischehe‘. . . . . . . . . . . . 4.5 Zwangsarbeit und Segregation. . . . . . . . . . . . . . .

. . . . . .

. . . . . .

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6

5. Die Zeit der Versprechungen.. . . . . . . . . . . . 5.1 Der schwierige Weg der Gleichberechtigung und der Kalte Krieg um die Ehe. . . . . . . . . 5.2 Die Herausforderungen interkultureller Geschlechterbeziehungen. . . . . . . . . . . . 5.3 Nachdenken über Gefühle.. . . . . . . . . . . 5.4 Selbstbestimmung und „Sexuelle Revolution“. .

Inhalt

. . . . . . . . 233 . . . . . . . . 233 . . . . . . . . 246 . . . . . . . . 260 . . . . . . . . 266

Ausblick.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 Quellen- und Literaturverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . Autobiographische Texte, Korrespondenzen, Tagebücher.. Literarische, philosophische, politische, soziologische u. a. Schriften und Texte.. . . . . . . . . . Rechtsquellen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . . . 277 . . . . . 277 . . . . . 278 . . . . . 283 . . . . . 286

Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

313

Vorwort

Die Arbeit an diesem Buch hat Edith Saurer (1942–2011) viele Jahre ihres Lebens begleitet. Ursprünglich sollte es in der Fischer-Reihe „Europäische Geschichte“ erscheinen; doch dafür ist es nicht rechtzeitig fertig geworden. Von dem einst vorgesehenen Ort blieb das ambitionierte Konzept: Liebe und Arbeit und damit Geschlechterbeziehungen aus einer europäischen Perspektive darzustellen und dabei gesellschafts- und diskursprägende politische und soziale, rechtliche und kulturelle Phänomene des 19. und 20. Jahrhunderts zum Thema zu machen und zu analysieren. Schon früh, als Emotionen noch kaum einen Gegenstand der historischen Forschung darstellten, hat Edith Saurer begonnen, sich intensiv mit der Geschichte der Liebe auseinanderzusetzen. Deren Verknüpfung mit Arbeit schien ihr essenziell, denn sie war, wie sie Anfang 2006 in einem Schreiben an den Verlag ausführte, überzeugt von der „überragenden Bedeutung“ dieser beiden Aspekte, da sie, zusammen genommen, weit über die Geschlechterbeziehungen hinausführten. Die Herausforderung lag vor allem darin, diese drei Felder, die jeweils ihre eigene Historiographie haben, in einem Narrativ zu integrieren. Dies erreicht Edith Saurer in ihrem Buch, indem sie Liebe, Arbeit und Geschlechterbeziehungen in unterschiedlichen Figurationen, Gewichtungen und Kontexten immer wieder neu und manchmal auf überraschende Weise in Bezug zueinander setzt und auf Verflechtungen verweist. Dementsprechend verbindet sie historisch-anthropologische mit sozial- und geschlechtergeschichtlichen Ansätzen. Vielfältig sind so auch ihre Quellenbezüge: In der Diskussion der unterschiedlichen Vorstellungen und Konzepte zum Verhältnis von Liebe und Arbeit und zu deren Auswirkungen auf Geschlechterbeziehungen greift sie auf literarische und autobiographische Texte, auf Korrespondenzen, philosophische und soziologische, politische und psychoanalytische Schriften zurück. Edith Saurer konnte das Buch nicht mehr abschließen. Es war ihr Wunsch an mich, es druckfertig zu machen – ein ehrenvoller, wenngleich nicht immer einfacher Auftrag. Die Einleitung und vier der fünf Kapitel lagen inhaltlich ausgearbeitet vor. Im letzten Kapitel fehlte ein Abschnitt. An dessen Stelle steht nun ein Ausblick, der auf Grundlage ihrer Notizen jene Aspekte kurz skizziert, die darin hätten thematisiert werden sollen. Die Hauptarbeit an der Fertig-

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Vorwort

stellung des Buches bestand in einem behutsamen Lektorat und der bisweilen detektivischen Sinn erfordernden Vervollständigung der Anmerkungen. Mein Dank gilt der der Universität Wien, die über die Forschungsplattform „Neuverortung der Frauen- und Geschlechtergeschichte im veränderten europäischen Kontext“ (2006–2012), deren Leitung Edith Saurer bis zu ihrem Tod innehatte, einen finanziellen Beitrag für die Fertigstellung des Buches bereit gestellt hat, sowie dem Vizerektorat für Forschung, insbesondere der Vizerektorin Susanne Weigelin-Schwiedrzik, für die Übernahme der Druckkosten. Danken möchte ich des Weiteren Ruth Wodak für ihr Engagement, Lisa Dopke und Jessica Prenzyna von der Leibniz Universität Hannover für ihre tatkräftige Unterstützung während der intensivsten Bearbeitungsphase bzw. bei der Erstellung des Personenregisters sowie Birgitta Bader-Zaar, Brigitte Rath und Annemarie Steidl für Hinweise zum einen oder anderen verwaisten Zitat. Edith Saurer hat Kollegen und Kolleginnen, Freunden und Freundinnen während des Schreibprozesses immer wieder Auszüge des Buches zum Lesen und Kommentieren gegeben. Sie hätte ihnen an dieser Stelle sicher gerne für ihre kritischen Anmerkungen und Anregungen nochmals gedankt. Wien, im Juli 2013 Margareth Lanzinger

Einleitung

Als Stendhal über den Misserfolg seiner 1822 erschienenen Schrift „Über die Liebe“ nachdachte, führte er ihn auf die wissenschaftliche Darstellung des Werkes zurück. Von 1822 bis 1837 hatten sich nur 17 Käufer gefunden, die bereit waren, die Leidenschaft der Liebe „schlicht, vernünftig und sozusagen mathematisch“ vorgestellt zu bekommen.1 Stendhal hatte also keinen Roman geschrieben, sondern seine Notizen veröffentlicht, die er 1820 in Mailand angefertigt hatte. Er hatte sie auf Gelegenheitspapiere, Konzertprogramme etwa, geschrieben: „Ich schrieb sie mit Blei auf Papierstücke, die ich mir in den Salons nahm, in denen ich die Geschichten erzählen hörte. Alsbald suchte ich nach einem allgemeinen Gesetz, um die verschiedenen Stufen der Liebe zu bestimmen.“2 Ein literarisches Sprechen über Liebe als die dem Gegenstand angemessene Vermittlungsform, das von Stendhals potentieller Leserschaft erwartet worden war, hatte Julia Kristeva in ihren „Geschichten von der Liebe“ erwogen. Und doch: Der „lyrischen Beschwörung oder psycho-pornographischen Beschreibung“ zieht sie die „einigermaßen historische Sprache des Nachträglichen“ vor. Das ist auch „Angst vor dem Feuer“.3 Schwelt also ein Konflikt der Disziplinen, zwischen Literatur und Wissenschaft, um das Sprechen über Liebe? Er ist schon entschieden worden: Das Feld ist offen, alle schreiben, literarisch und wissenschaftlich. Dennoch prägen Traditionen, denn sie produzieren Texte. Stellen Literatur, bildende Kunst und Musiktheater wahre Füllhörner für eine Geschichte der Liebe dar, so nimmt sich im Vergleich dazu der wissenschaftliche Beitrag noch immer äußerst bescheiden aus. Das Umgekehrte gilt für Arbeit. Dass ein „feiner Romanheld […] selbstverständlich nicht [arbeitet]“, schrieb Jochen Hörisch.4 Von einem notwendigen Zusammenhang zwischen Arbeit und literarischem Schreiben wird kaum gesprochen. Hingegen ist Arbeit schon lange ein Thema von Öko1 2 3 4

Stendhal, Über die Liebe, hg. von Carsten Peter Thiede, Berlin 1981 [1822], Viertes Vorwort, 43–48, 46; Zweites Vorwort, 34–41, Zitat: 38. Stendhal, Über die Liebe, Viertes Vorwort, 44. Julia Kristeva, Geschichten von der Liebe, Frankfurt a. M. 1989, 9. Jochen Hörisch, Wer schuftet, ist ein Schuft – Warum literarische Helden so ungern arbeiten, in: Neuer Zürcher Zeitung, Beilage „Literatur und Kunst“ (4.–5. Mai 1996), 69.

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Einleitung

nomie und Sozialgeschichte, Liebe erst seit kurzem ein Faszinosum, vor allem für die Kulturgeschichte. Diese unterschiedliche Verankerung in wissenschaftlichen Traditionen hat dazu geführt, dass Liebe und Arbeit analytisch selten zusammengedacht und beschrieben wurden. Sigmund Freud hat das getan, wenn auch zunächst nur in einem „kryptischen Satz“, der mündlich kolportiert wurde, in dem er die Definition von menschlicher Reife an die Fähigkeit zu Liebe und Arbeit band. 5 In seiner 1929/30 verfassten Schrift „Das Unbehagen in der Kultur“ hat er diesen Satz nicht aufgegriffen, wenn er auch den Raum deutlich absteckt, den die beiden Dimensionen im Leben von Menschen einnehmen. Er stellt die große Verführungskraft von Liebe dar: Denn „alle Befriedigung aus dem Lieben und Geliebtwerden“ zu erwarten, sei eine „psychische Einstellung“, die „uns allen nahe“ genug läge.6 Die geschlechtliche Liebe könne so überwältigende Lustempfindungen vermitteln, dass dieser Weg zum Glück immer wieder gesucht würde. Die Schwachstelle dieses Weges aber liege darin, so Freud, dass er auch die größten Leiden verursachen könne, denn nichts mache unglücklicher als ein Verlust des/der Geliebten.7 Im Unterschied dazu diene Arbeit der Leidabwehr; am leichtesten sei dies für Künstler und Wissenschaftler durchzuführen. „Das Schicksal“, meint er, „kann einem dann wenig anhaben.“8 Die Freude des Künstlers am Schaffen, des Forschers an der Problemlösung und an der Wahrheitserkenntnis vermittelt eine sichere Befriedigung, die gegen Leiden abschirmt. Sie kann jedoch für alle gelten, die einer Berufsarbeit nachgehen. „Es ist nicht möglich, die Bedeutung der Arbeit für die Libidoökonomie im Rahmen einer knappen Übersicht ausreichend zu würdigen. Keine andere Technik der Lebensführung bindet den einzelnen so fest an die Realität als die Betonung der Arbeit, die ihn wenigstens in ein Stück der Realität, in die menschliche Gemeinschaft sicher einfügt.“9 Freud sieht Liebe – die zumindest ihrem Ursprung nach Geschlechterliebe ist – als (prekäres) Lust- und Glücksgefühl an, Arbeit hingegen als ein Prinzip, das Menschen an die Realität bindet. Er schließt damit nicht aus, dass auch Liebe eine Realitätsfunktion besitzt und Arbeit ein Lustgefühl vermittelt. Neil J. Smelser, der bei Freud anknüpft, ortet zahlreiche Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Lebensdimensionen: Sie umfassen libidinöse Bindun5 6 7 8 9

Neil J. Smelser, Issues in the Study of Work and Love in Adulthood, in: ders. u. Erik H. Erikson (Hg.), Themes of Work and Love in Adulthood, Cambridge, Mass. 1980, 1–26, 4. Sigmund Freud, Das Unbehagen in der Kultur, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 14, London 1948, 419–506, 441. Freud, Das Unbehagen, 441. Freud, Das Unbehagen, 438. Freud, Das Unbehagen, 438, Anm. 1.

Einleitung

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gen an Dinge und Personen, sie enthalten Elemente von Sublimierung und sind die Basis für Identität. Beide beruhen auf interpersonellen Beziehungen und können durch ein Re-Arrangement von Prioritäten auch substituierbar sein. Deshalb erachtet es Smelser als gerechtfertigt, Lieben und Arbeiten als „zwei unterschiedliche Namen für den ähnlichen Prozess menschlicher Anpassung zu sehen, die beide eine Verschmelzung unterschiedlicher psychischer Faktoren – Impuls, Disziplin oder Kontrolle, Integration und Objektbindung – beinhalten“.10 Für Smelser konstituieren Lieben und Arbeiten Herausforderungen an die Anpassungsfähigkeit von Menschen. Freuds und Smelsers Darlegung von Funktion und (psychischer) Ökonomie von Liebe und Arbeit beziehen historische Aspekte nur in einem sehr allgemeinen Maße ein, etwa in dem Verweis auf die mit der Zivilisation wachsende Triebsublimierung. Auf ihre sich verändernden gesellschaftlichen, kulturellen und geschlechtsspezifischen Bedeutungen und historisch bedingten Verschränkungen und Überschneidungen verweisen andere Arbeiten. So haben Gisela Bock und Barbara Duden in ihrem Aufsatz „Arbeit aus Liebe – Liebe als Arbeit“ das Entstehen der Hausarbeit seit dem 17. bzw. 18. Jahrhundert aus einer Familienökonomie dargestellt, in der zwischen den unterschiedlichen Formen von Arbeit – Hausarbeit, Kindererziehung, Selbstversorgung, Handwerkstätigkeit etwa und Arbeit für den Markt – nicht unterschieden worden war.11 Ihre Rechtfertigung erhielt die unbezahlte und idealiter unsichtbare Hausarbeit dadurch, dass sie zur Liebestätigkeit erklärt wurde. Arbeit aus Liebe bedarf keiner Belohnung. Zur Überschneidung von Arbeit und Liebe kommt es in der Figur der (Haus-)Frau. Von ihr wird selbstlose Liebe zu Ehemann und Kindern erwartet und sie erwartet diese selbst. Für die Sicherung ihres Unterhalts setzt sie ihre physische Arbeitsleistung und die sexuelle Verfügbarkeit ein. Die Autorinnen arbeiten die Instrumentalisierung von Liebe durch Rechtsverhältnisse und den Ehemann heraus. Das Buch von Angelika Krebs „Arbeit und Liebe. Die philosophischen Grundlagen sozialer Gerechtigkeit“ knüpft nur scheinbar an diesen Ansatz an.12 Sie nimmt zwar auch daran Anstoß, dass Familienarbeit – Kindererziehung und die Pflege Alter und Kranker, ausgeführt zum Großteil von Frauen – nicht entlohnt wird, tut dies jedoch nicht mit dem Verweis auf die Instru10 Smelser, Issues in the Study, 5. 11 Gisela Bock u. Barbara Duden, Arbeit aus Liebe – Liebe als Arbeit. Zur Entstehung der Hausarbeit im Kapitalismus. in: Gruppe Berliner Dozentinnen (Hg.), Frauen und Wissenschaft. Beiträge zur Berliner Sommeruniversität für Frauen, Juli 1976, Berlin 1977, 118–199. 12 Angelika Krebs, Arbeit und Liebe. Die philosophischen Grundlagen sozialer Gerechtigkeit, Frankfurt a. M. 2002.

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mentalisierung von Liebe, sondern indem sie darauf dringt, Liebe nicht nur altruistisch zu fassen. Liebestätigkeit, so ihre Argumentation, schließt Entlohnung nicht aus, im Gegenteil. Es sei notwendig, sie als Arbeit anzuerkennen, denn in einer Arbeitsgesellschaft sei soziale Zugehörigkeit an Arbeit gebunden. „Das Recht auf soziale Zugehörigkeit nimmt auch die Form eines Rechtes auf Anerkennung von Arbeit an. Menschen, die ihren Arbeitsbeitrag zum gesellschaftlichen Leistungsaustausch leisten, aber behandelt werden, als arbeiteten sie gar nicht, werden sozial ausgeschlossen. Ihre Menschenwürde wird verletzt. Das Recht auf Anerkennung von Arbeit ist nur die andere Seite des Rechtes auf Arbeit.“13 Diese Diskussion um Liebe und Arbeit führt uns mitten in gesellschaftspolitische Debatten hinein, denn diese sind es, die Angelika Krebs aus der Perspektive der Philosophie erörtert. Gisela Bock und Barbara Duden haben neben einer Entlohnung der Hausarbeit auch ihre Abschaffung ins Auge gefasst. Liebe und Arbeit, so können wir aus diesen Diskussionen schließen, befinden sich im Bereich des Haushalts in einer Gemengelage, die die Position von Hausfrauen marginalisiert. Dieser Gegensatz, der hier zwischen Liebe und Arbeit gezogen wird, ist nur auf der Basis einer Gesellschaft zu verstehen, in der der Geldnexus und damit die Unterscheidung zwischen Arbeit und Erwerbsarbeit von überragender Bedeutung ist. Es ist allerdings nicht nur dieser Gegensatz, in dem Liebe und Arbeit in den Geschlechterbeziehungen wirksam werden, wenn er auch, wie die Diskussion zeigt, latent stets vorhanden ist. Beide Elemente begründen Beziehungen, begleiten sie, halten sie aufrecht. Nicht jede Liebesbeziehung stellt sich auch als direkte Arbeitsbeziehung dar, wie im Falle des von Heide Wunder so bezeichneten „Arbeitspaares“ der Frühen Neuzeit14 oder des Wissenschaftlerehepaares Beatrice und Sydney Webb, die ihr gemeinsames Leben eine „Arbeitsgemeinschaft“ nannten.15 In ihrem Fall handelte es sich auch um eine Arbeitsgemeinschaft mit politischem Anspruch. Das ist das Gegenteil von Hannah Arendts Liebeskonzept, auf das sie kurz in ihrer Schrift „Vita Activa oder Vom tätigen Leben“ zu sprechen kommt: „Was die Liebenden von der Mitwelt trennt, ist, daß sie weltlos sind, daß die Welt zwischen den Liebenden verbrannt ist. [...] Die Liebe ist ihrem Wesen nach nicht nur weltlos, sondern sogar weltzerstörend, und daher nicht 13 Krebs, Arbeit und Liebe, 210f. 14 Heide Wunder, „Er ist die Sonn’, sie ist der Mond“. Frauen in der Frühen Neuzeit, München 1992, insbes. Kap. 4. 15 Beatrice Webb schreibt, ihre Beziehung zu Sydney Webb sei vor allem „eine Arbeitsgemeinschaft“ gewesen, „die in gemeinsamer Überzeugung gründete und durch Ehe vollkommen wurde“. Beatrice Webb, Meine Lehrjahre – Eine Autobiographie, Frankfurt a. M. 1988 [orig.: Beatrice Potter Webb, My Apprenticeship, New York u. a. 1926], 443.

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nur apolitisch, sondern sogar antipolitisch – vielleicht die mächtigste aller antipolitischen Kräfte.“16 Die verschiedenen Bausteine, Stadien, Zeiten und Kontexte von Liebe machen sie zu einem in sich und in ihrer Wirkung widersprüchlichen Element. Zudem gilt, sowohl in Hinblick auf Liebe als auch auf Arbeit, dass Gefühl, Äußerungsweisen, Handlungen, der Zusammenhang mit Selbst- und Beziehungsverständnis und die Organisationsformen dieser beiden Dimensionen des Lebens einem historischen Wandel unterliegen, der generelle Aussagen erschwert. Als generelle Aussage lässt sich jedoch formulieren, dass sowohl Liebe als auch Arbeit im 19. und 20. Jahrhundert eine Bedeutung in dem Sinne erhalten haben, dass sie als Grundpfeiler des Lebens verstanden werden. Recht auf Liebe und Recht auf Arbeit, implizit und explizit gefordert, umfassen unterschiedliche Rechte, ein nicht kodifizierbares und ein kodifizierbares. Beide wurden mit Zivilisation gleichgesetzt. Der Wilde könne nicht lieben, meinte Stendhal: „Die Liebe ist ein Wunder der Kultur. Bei wilden und barbarischen Völkern findet man nur die roheste Sinnenliebe. Erst das Schamgefühl leiht der Liebe den Beistand der Einbildungskraft und gibt ihr damit das Leben.“17 Dem Wilden bedeute Arbeit nichts, so der Staatswissenschaftler Friedrich List.18 Die Geschlechterbeziehungen sind ein großes Thema der Sozialwissenschaften, groß im Sinne von breit aufgegriffen, aber auch in jenem einer Makroperspektive, denn sie stellen eine ideale Figur dar, um gesellschaftliche und kulturelle Entwicklungen exemplarisch festzumachen. Unter Verweis auf das Projekt und das Wirken der Moderne werden in den letzten Jahrzehnten die Veränderungen in den Geschlechterbeziehungen als Prozess zunehmender Individualisierung verstanden, nämlich zunehmender Freiheit einerseits und Abhängigkeit von Marktkonstellationen andererseits. Moderne und Tradition werden zwar noch als nebeneinander existierend angesehen, doch sind die alten Geschlechterbeziehungen, die „geschlechtsständische“ Ordnung zerbrochen und es folgte „das ganz gewöhnliche, ganz alltägliche Chaos der Liebe“19 mit all den Problemen, die eine allzu große Hochschätzung von Liebe begleiten. Anthony Giddens sieht das viel positiver. In der Gegenwart sei eine Gefühls- und Beziehungskultur entstanden, die er mit dem Begriff der „reinen Beziehung“ umschreibt, eine ‚aufgeklärte‘ Paarbeziehung, die, befreit von materiellen Zwän16 Hannah Arendt, Vita Activa oder Vom tätigen Leben, München 1992 [orig.: The Human Condition, Chicago 1958], 237f. 17 Stendhal, Über die Liebe, 105. 18 Friedrich List, Art. „Arbeit“, in: Carl von Rotteck u. Carl Welcker (Hg.), Staats-Lexikon oder Encyklopädie der Staatswissenschaften, Bd. 1, Altona 1834, 644–651, 644. 19 Ulrich Beck u. Elisabeth Beck-Gernsheim, Einleitung, in: dies., Das ganz normale Chaos der Liebe, Frankfurt a. M. 1990, 7–19, 8.

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gen, männlicher Vorherrschaft und dem Diktat der Geschlechterrollen, einen radikalen Bruch mit der Tradition bedeute.20 Giddens sieht in ihr eine sexuell und emotional gleichberechtigte Beziehung, die in der romantischen Liebe ihre Wurzeln habe, die allerdings gegenwärtig durch jene Entwicklungen unterlaufen würde, „die sie selbst in Gang gebracht hat“.21 Würde der Stellenwert der Emotionalität in der gegenwärtigen Gesellschaft jenen der Maximierung ökonomischen Wachstums übertreffen, könnte ein revolutionärer Prozess eingeleitet werden. Muss Emotionalität dem Wirtschaftswachstum entgegengesetzt werden? Ist sie nicht auch Teil wirtschaftlicher Entwicklungen? Die Wasserscheide zwischen der modernen, aufgeklärten Beziehung und der traditionellen, von Ungleichheiten und dem Zwang zur Heterosexualität geprägten, stellt in diesen Entwürfen die Zeit um 1800 dar. Die Individualisierungstheorien verstehen Geschlechterbeziehungen als Liebesbeziehungen. Die Ehe, die von den bürgerlichen Gesetzbüchern als Basis der Gesellschaft und als Garant ihrer Ordnung verstanden wurde und teilweise noch wird, hat hier ihre gesellschaftliche Bedeutung verloren. Ein gewisser Pragmatismus gegenüber der Ehe hatte sich allerdings auch schon im Jahre 1840 dort breit gemacht, wo man es nicht vermuten würde, nämlich in der Einleitung zur Konkordanz bürgerlicher Gesetzbücher in Europa. „Die Vereinigung von Mann und Frau formt die Basis der Gesellschaft; sie ist nicht durch sich selbst eine politische oder religiöse Institution, aber Kirche und Staat müssen in Bezug auf das, was sie jeweils betrifft, die Bedingungen dieser Vereinigung regeln.“22 Dieser Pragmatismus war allerdings ausreichend, um die Ehe ins Zentrum von Recht, Religion und auch Politik zu stellen. Für die Forschung, die Historische Demographie, Rechtsgeschichte und Familiengeschichte, bot sie aus diesem Grund auch einen Ausgangspunkt für breite interkulturelle Vergleiche, wie dies auf die bekannten Hajnal’schen „European marriage patterns“ zutrifft, die die Geschichte Westeuropas von der Praxis der späten Eheschließung und des verbreiteten Ledigenstatus – von der Frühen Neuzeit bis etwa 1940 – geprägt sehen, ganz im Unterschied zu jener Osteuropas und der übrigen Welt.23 Die westeuropäische Praxis, so die These, hätte zur Bildung von Vermögen geführt, wie umgekehrt Vermögen späte Heirat zur Folge gehabt hätte. Diese Erklärung geht daher nicht nur von einer Zweiteilung Europas in Hinblick auf eine niedrige bzw. hohe Gebur20 Anthony Giddens, Wandel der Intimität. Sexualität, Liebe und Erotik in modernen Gesellschaften, Frankfurt a. M. 1993, 10. 21 Giddens, Wandel der Intimität, 69. 22 Concordance entre les codes civils étrangers et le code Napoléon, hg. von Anthoine de Saint-Joseph, Paris/Leipzig 1840, XI. 23 John Hajnal, European Marriage Patterns in Perspective, in: D.V. Glass u. D.E.C. Eversley (Hg.), Population in History. Essays in Historical Demography, London 1965, 101–143.

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tenrate und deren Folgen für ökonomisches Wachstum aus, sondern auch von der Bedeutung der Ehe für gesellschaftliche Entwicklungen. Die Familiengeschichte hat neben der Historischen Demographie einen kontinuierlichen Beitrag zur Geschichte der Geschlechterbeziehungen geleistet, teilweise bereits vor dem Entstehen der Frauen- und Geschlechtergeschichte. In seiner Auseinandersetzung mit dem „europäischen Sonderweg“ unterstreicht Michael Mitterauer, dass die „westliche Familie“ eine von Verwandtschaftsbindungen weitgehend unabhängige Haus- und Haushaltsgemeinschaft darstelle. Die Erfüllung bestimmter Arbeitsrollen durchzuführen, wurde als wichtiger erachtet, als das Zusammenleben von Verwandten in einer Abstammungsgemeinschaft zu arrangieren. Hinzu käme, dass Verwandtschaft bilateral konzipiert sei, die weibliche Linie daher gleichermaßen Bedeutung erhalte wie die männliche und auf diese Weise eine „gattenzentrierte Haushaltsorganisation“ garantiere.24 Die Frauen- und Geschlechtergeschichte, die seit den 1970er Jahren die Geschlechterbeziehungen auf vielfältige und methodisch äußerst reflektierte Weise thematisiert hat, sieht im Unterschied zur Individualisierungsthese keinen Anlass für einen Triumph bzw. für eine Erfolgsgeschichte. Lynn Hunt hat zwar präzisiert, dass die Geschlechtergeschichte ein Metanarrativ der Moderne benötige und dass diese Frauen mehr Optionen für Selbstrealisierung gebracht habe, als sie zuvor besessen hätten. Dennoch sei die Moderne nicht als Monolith zu betrachten, der ein Zeitalter der Unterdrückung von einem der Emanzipation trenne.25 Diese Sichtweise beruht auf den spezifischen Forschungsinteressen der Frauen- und Geschlechtergeschichte, die Fragen der Ungleichheit, der Asymmetrien und Differenzen sowie die Gewaltförmigkeit von Beziehungen in den Vordergrund gerückt hat. Sie hat ein methodisches Instrumentarium entwickelt, das es erlaubt, diese Beziehungskonstellation, nämlich die Zugehörigkeit zu einem Geschlecht, als das zentrale Element von Ungleichheit und Differenz herauszuarbeiten und über diese Konstellation gleichzeitig hinauszugehen. Im Zuge der Formulierung dessen, was die Forschung als die Kategorie Geschlecht bezeichnen sollte, hat sich die Anwendung dieser Kategorie verallgemeinert bzw. universalisiert. Klasse und Ethnizität waren schon zuvor als Kategorien der Ungleichheit und gesellschaftlicher Ordnung entwickelt worden. 24 Michael Mitterauer, Warum Europa? Mittelalterliche Grundlagen eines Sonderwegs, München 2003, 72. 25 Lynn Hunt, The Challenge of Gender. Deconstruction of Categories and Reconstruction of Narratives in Gender History, in: Hans Medick u. Anne-Charlott Trepp (Hg.), Geschlechtergeschichte und Allgemeine Geschichte. Herausforderungen und Perspektiven, Göttingen 1998, 57–97, insbes. 82–89.

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Jene von Geschlecht war aus der Auseinandersetzung mit der Geschichte von Frauen entstanden, die als relational in Hinblick auf die Geschichte von Männern verstanden wurde. Sehr bald ging sie in ihrer Anwendung und Wirkung jedoch über eine Geschichte der Geschlechterbeziehungen hinaus bzw. erweiterte das Konzept von Beziehung. In einer einflussreichen Sichtweise wurde sie als „konstitutives Element von gesellschaftlichen Beziehungen“ und als „wesentliche Weise, in der Machtbeziehungen Bedeutung verliehen“ wird, verstanden.26 Sie wurde demnach auf Gesellschaft, Kultur, Wissenschaft, Politik und Ökonomie angewandt, weil hier auch Felder gegeben sind, die die Funktion von Geschlecht als Kategorie der Ungleichheit und der Zuschreibungen deutlich machen können. Geschlechterbeziehungen im engen Sinne, nämlich als Beziehungen zwischen Männern und Frauen – in Form von Liebesbeziehungen, in verschiedensten Formen des Zusammenlebens in- und außerhalb der Ehe – sind in den Hintergrund der Forschungsinteressen getreten. Diese Themenstellungen bzw. diese nicht gestellten Themen haben die Frage nach der wachsenden Individualisierung gar nicht aufwerfen lassen. Dazu kommt eine rasante Entwicklung von Fragestellungen und Themen, die nicht zuletzt beeinflusst durch die Gender Studies entstanden sind. Das betrifft in erster Linie die Gay and Lesbian Studies wie auch die Männergeschichte. Diese sind zwar als eigene Forschungsrichtungen zu betrachten, haben jedoch die Fragestellungen an eine Geschichte der Geschlechterbeziehungen zugespitzt, indem sie die Bedeutungsgewichte verschoben, wie Stefan Hirschauer dies mit seiner Formulierung zum Ausdruck gebracht hat: „Die Zweigeschlechtlichkeit ist eine selbsttragende soziale Konstruktion, innerhalb deren selbst eine so monolithisch scheinende Einrichtung wie die Ehe nur einen kleinen Baustein bildet.“27 Das Forschungsinteresse bewegt sich tendenziell weg von Institutionen. Aus der Sichtweise einer Historikerin, die über die Geschlechterbeziehungen Europas im 19. und 20. Jahrhundert schreibt, lässt sich diese Formulierung vom „kleinen Baustein“ allerdings nicht aufgreifen. Die Ehe hat auch dann eine geschlechterhistorische und gesellschaftliche Bedeutung, wenn sie kritisch kommentiert und abgelehnt wird. Sie stellt zunächst einen rechtlichen Rahmen dar, der nicht nur auf der Heterosexualität basiert und dieser eine Legitimität verleiht, sondern der die äußeren und inneren Bereiche einer Beziehung 26 Joan W. Scott, Gender: Eine nützliche Kategorie der historischen Analyse, in: Nancy Kaiser (Hg.), Selbst Bewusst. Frauen in den USA, Leipzig 1994 [1986], 27–75, 52f. 27 Stefan Hirschauer, Wie sind Frauen, wie sind Männer? Zweigeschlechtlichkeit als Wissenssystem, in: Christiane Eifert u. a. (Hg.), Was sind Frauen? Was sind Männer? Geschlechterkonstruktionen im historischen Wandel, Frankfurt a. M. 1996, 240–256, 249f.

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regelt. Die Kämpfe um die Gestaltung der inneren und äußeren Beziehungen der Ehe haben nicht nur Politik und Religion beschäftigt, sondern mit ihnen und durch sie auch die Betroffenen. In den Rechtsbestimmungen zur Ehe, die primär das Zivilrecht, aber auch das Strafrecht umfassten, artikulierten sich gesellschaftliche Normvorstellungen, die auf die Geschlechterbeziehungen exemplarisch angewendet wurden und von diesen aus weiterwirken sollten. Die Ehe ist ein Mikrokosmos, der gesellschaftliche Ordnungsvorstellungen ebenso widerspiegelt wie er sie wirksam machen soll. Gesellschaftliche Veränderungen gingen daher an der Ehe nicht vorbei bzw. wurden von den Betroffenen vorangetrieben: von Frauen, die seit dem frühen 19. Jahrhundert jene Institutionen anprangerten, die sie unterdrückten, oder von Paaren, die heiraten wollten und es nicht konnten, weil Eheverbote verschiedenster Art es unmöglich oder nur erschwert möglich machten. Das erste Kapitel der vorliegenden Studie „Sie konnten zueinander nicht kommen …“ setzt sich mit Beziehungsverboten, Liebeskonzepten und Eigentumsordnungen auseinander. Eine Geschichte der Liebe kann nicht nur von literarischen Quellen ihren Ausgangspunkt nehmen, ungeachtet des Reichtums an Aussagen, die sie einer Analyse erschließen – wie etwa im Falle von Niklas Luhmanns „Liebe als Passion“.28 Literarische Texte, vor allem Romane, vermitteln der Geschichtswissenschaft Einblick in Bedeutungen, Konstruktionen und Sprachwelten. Emotionen sind allerdings wie materielle und immaterielle Interessen auch Bestandteil und Produkt sozialer Beziehungen. Hans Medick und David Sabean haben darauf aufmerksam gemacht, dass „Emotionen […] in ihrem Kern sozial bestimmt“ und daher nicht nur als „Ausdruck und Niederschlag subjektiver Erfahrungen“ anzusehen seien, sondern „vielmehr ihrerseits in höchst eigenständiger Weise Determinanten von Erfahrung und Praxis“ darstellten. Emotionen wie gesellschaftliche Interessen haben ihren Ort in der „gleichen Matrix gesellschaftlicher Beziehungen“. Einer dieser Orte ist das Eigentum, ein „soziales Beziehungsidiom“, das „Emotionen und emotionale Bedürfnisse ebenso strukturiert, wie es von ihnen strukturiert wird“.29 Emotionen, Eigentumsordnungen und, mit diesen verbunden, Arbeitsordnungen sind als voneinander abhängige Teile sozialer Beziehungen zu betrachten. Es ist nicht davon auszugehen, dass Geschlechterbeziehungen erst in der späten Neuzeit, im 19. und 20. Jahrhundert, ein „umstrittener Bereich“ statt 28 Niklas Luhmann, Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität, Frankfurt a. M. 1982. 29 Hans Medick u. David Sabean, Emotionen und materielle Interessen in Familie und Verwandtschaft: Überlegungen zu neuen Wegen und Bereichen einer historischen und sozialanthropologischen Familienforschung, in: dies. (Hg.), Emotionen und materielle Interessen. Sozialanthropologische und historische Beiträge zur Familienforschung, Göttingen 1984, 27–54, 17f.

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eine „Sphäre kultureller Reproduktion“30 geworden sind. Vermutlich waren sie immer beides. Aber sicherlich waren sie in diesem Zeitraum ein wachsend umkämpfter Bereich. Die „Trennung von Erwerbs- und Familienleben“ formte, wie Karin Hausen aufgezeigt hat, die Vorstellungen von den Geschlechtscharakteren, die zu einer Gleichsetzung von Frauen mit Liebe und von Männern mit Gerechtigkeit, Recht und Moral führten.31 Sie enthielten jedoch auch ein Spannungspotential, das sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts vergrößerte. Um 1800 trat der hohe gesellschaftliche Stellenwert von Geldentlohnung und Lohnhöhe für Sozialprestige und gesellschaftliche Macht hinzu. Im zweiten Kapitel „Gesicherte Verhältnisse“ werden diese Zusammenhänge erörtert. Lohnarbeit ist keine Erfindung des 19. Jahrhunderts, sondern war schon zuvor eine wichtige Erwerbsquelle für Männer und Frauen, wenn auch für letztere meistens unter sehr prekären Verhältnissen. Erwerbsarbeit im breiten Sinne wurde nun aber in wachsendem Ausmaß, zumindest idealiter, der wichtigste Zugang zu Ressourcen. Umso umkämpfter war damit der Zugang zu diesen. Die Kriterien des expliziten Zutrittsverbotes umfassten das Geschlecht und den Zivilstand und bis weit in das 19. Jahrhundert hinein auch die Religion. Gerade in diesem Fall zeigt sich die enge Verbindung von Geschlechterordnung und Rechtsverhältnissen, denn letzere legitimierten die Ausschlüsse. Die Frauenbewegung hat diese Ausschlüsse bekämpft. Die Auslagerung der Produktion aus dem Haushalt und das Entstehen der Konsumgesellschaft sind allerdings keinesfalls nur darauf zurückzuführen, auch wenn manche, auch anregende Forschungsmeinungen, dies vertreten.32 „Unsere Zivilisation besitzt“, so Michel Foucault, „zumindest auf den ersten Blick, keine ars erotica. Dafür ist sie die einzige, die eine scientia sexualis betreibt.“33 Sexualität war aus den Liebeskonzepten des frühen 19. Jahrhunderts nicht ausgeklammert, aber kein großes Thema. Die Sexualwissenschaften entstanden in zahlreichen europäischen Ländern im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts und beanspruchten auf dem Gebiet der Geschlechterbeziehungen eine breite Definitionsmacht. Im dritten Kapitel „Gefährdete und gefährliche Beziehungen“, das zeitlich bis in die Zwischenkriegszeit reicht, wird 30 Manuel Castells, Das Informationszeitalter: Wirtschaft – Gesellschaft – Kultur, Bd. 1: Der Aufstieg der Netzwerkgesellschaft, Opladen 2001, 2. 31 Karin Hausen, Die Polarisierung der „Geschlechtscharaktere“. – Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienarbeit, in: Werner Conze (Hg.), Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas, Stuttgart 1976, 363–393. 32 Vgl. Jan de Vries, The Industrial Revolution and the Industrious Revolution, in: The Journal of Economic History 54, 2 (1994), 249–270, 261f. 33 Michel Foucault, Sexualität und Wahrheit, Bd. 1: Der Wille zum Wissen, Frankfurt a. M. 1983, 75.

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einem ihrer zentralen Themen, nämlich der käuflichen Liebe nachgegangen. Wissenschaft und Medien intervenierten zunehmend in die Narrative der Geschlechterbeziehungen. Sexuelle Gewalt, Ehebruch, Eifersucht und Mord waren nicht nur Themen, die Medien aufgriffen und für ein breites Publikum aufbereiteten,34 sondern sie erlangten dadurch zugleich eine spezifische Wirkung. Judith Walkowitz hat die Rolle der Medien als Erweiterung des gesellschaftlichen Interesses für Sexualität nachgewiesen.35 Hier ließe sich an Peter Gays Konzept der „Sexualisierung der Moderne“ anknüpfen.36 Galten die Bemühungen des frühen 19. Jahrhunderts der Möglichkeit, freie Ehe- und Liebesbeziehungen durchzusetzen, so zählten dazu auch jene zwischen unterschiedlichen ethnischen Gruppierungen. Allerdings gab es durch die nationalen Bewegungen bald einen Einbruch, und zumindest die „Feindesliebe“ wurde zu einem literarisch und gesellschaftlich geahndeten Tabubruch. Seit dem frühen 20. Jahrhundert haben der neue Rassismus, ‚Rassenlehre‘, ‚Rassenkunde‘ und Kolonialismus die Situation radikal verschärft, die im Nationalsozialismus zu Ausschluss und Vernichtung jener führte, die Verbote übertraten. Im vierten Kapitel „Verbote und Vernichtung“ wird dieser Entwicklung nachgegangen. Sie verweist darauf, dass von einer kontinuierlichen Veränderung europäischer Geschlechterbeziehungen nicht gesprochen werden kann. Diskontinuität und Brüche kennzeichnen vielmehr ihre Geschichte; die Eroberung neuer Bewegungsräume kann rückgängig gemacht werden. Diese Brüche bleiben in einem kollektiven Bewusstsein jedoch präsent, im Sinne eines Scheiterns. Taugt denn ein Liebeskonzept als gesellschaftliches Modell, wie es im frühen 19. Jahrhundert vorgestellt wurde? Liebe ist vermutlich kein oder nur selten ein „politischer Motor“, wie der italienische Philosoph Gian Domenico Romagnosi meinte,37 aber es kann auf sie auch nicht verzichtet werden – nicht im Sinne einer Gratisarbeit, sondern im Sinne der Fähigkeit, sich über Leiden zu empören. Grenzüberschreitungen und Transgressionen sind ein zentrales Interessensfeld der Studie. Grenzen sind jene sichtbaren und unsichtbaren, formellen und informellen Barrieren, die überwunden werden müssen, um verbotene 34 Michela di Giorgio, Raccontare un matrimonio moderno, in: dies. u. Christiane KlapischZuber (Hg.), Storia del matrimonio, Roma 1996, 307–390, 351. 35 Judith R. Walkowitz, City of Dreadful Delight. Narratives of Sexual Desire in Late Victorian London, Chicago 1992. 36 Peter Gay, Die zarte Leidenschaft. Liebe im bürgerlichen Zeitalter, München 1987, 314– 329. 37 Gian Domenico Romagnosi, Discorso. Sull’amore delle donne, considerato come motore precipuo della Legislazione [1789], in: Alessandro de Giorgi (Hg.), Opere di G[ian] D[omenico] Romagnosi, Bd. 3, Teil 1, Milano 1842, 821–839, 829.

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Beziehungen zu realisieren, vor Verfolgung Schutz zu suchen bzw. Arbeitsmöglichkeiten zu finden. Sie sind aber auch jene Bewegungen, aus denen Europa immer wieder hergestellt wird, jenseits nationaler Grenzen. Das letzte Kapitel „Die Zeit der Versprechungen“ beschreibt eine Zeit, in der Verbote im Bereich heterosexueller Beziehungen selten geworden sind. Eva Illouz sieht in dem Wegfall einer repressiven sozialen Ordnung den Niedergang der Liebe: „lover’s posthumous victory“.38 Allerdings haben sich die Konfliktfelder verlagert, und Repressionen treten an neuen Stellen auf. Geschlechterordnungen werden von Migrationen nicht unbeeinflusst gelassen. Dies gilt für die Migranten und Migrantinnen selbst, aber auch für das Zusammenleben mit jenen, die sich schon zuvor am Ort befunden haben. Die Angst vor ‚Vermischung‘, ‚Mischungen‘ und ‚Mischehen‘ ist ein immer wiederkehrendes Trauma Europas. Die Geschlechterbeziehungen bzw. die Ehe wurden von Staat, Religion, Gesellschaft und Verwandtschaft als Riegel verstanden, um Mischungen verschiedener Elemente – religiöser, ethnischer, sozialer – zu verhindern. Doch überschritten Männer und Frauen jene Grenzen immer wieder, was als Vernetzungsprozess europäischer Geschichte bezeichnet werden kann. Europa wird in der Studie als ein Kontinent verstanden, der auf diese Weise in Bewegung ist, der sich durch Migrationen, Begegnungen und Erfahrungen, durch Schreiben und Lesen konstituiert, denn – wie Luisa Passerini festhält: „It may be argued that in a way Europe was also created through corre­ spondence between expatriates and migrants and their relatives and friends at home.“39 Die Grenzen Europas werden nicht messerscharf gezogen und können sich in der Zeit des Kolonialismus auch nicht auf den Kontinent selbst beschränken. Der Blickwinkel der Studie richtet sich auf transnationale Beziehungen, auf Transfers von Emotionen via Buch. Als methodisches Instrumentarium wird auch der Vergleich eingesetzt, der insbesondere für die Ehegesetzgebung sehr aufschlussreich ist. Die Studie befindet sich am Schnittpunkt von Frauen- und Geschlechtergeschichte, Sozial- und Kulturgeschichte. Sie unterstreicht mit einer Betonung der Brüche in der europäischen Geschichte ihren Verzicht auf eine große Metatheorie. Doch hat sie sich nicht ganz davon verabschiedet, insofern als sie den Widerständen gegen Marginalisierungen und Ausschlüsse einen besonderen Stellenwert einräumt und mit ihnen den vielfältigen Wegen in die Moderne. 38 Eva Illouz, Consuming the Romantic Utopia. Love and the Cultural Contradictions of Capitalism, Berkeley u. a. 1997, 291. 39 Luisa Passerini, Europe in Love. Love in Europe. Imagination and Politics between the Wars, London 1999, 13.

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1. „Sie konnten zueinander nicht kommen ...“

Im Nachdenken über die Geschichte der Geschlechterbeziehungen in Europa öffnet sich eine Erinnerung an Texte, an Bruchstücke, deren Zusammenhang durch eine große Klage hergestellt wird. Sie handelt vom Leid der Liebenden, die sich nicht lieben dürfen. Die Klage klingt im Ohr: „Es waren zwei Königskinder, die hatten einander so lieb, sie konnten zueinander nicht kommen, denn das Wasser war viel zu tief.“ Es reihen sich Texttorsi aneinander, die nicht minder beredt sind, als die ganze Erzählung es wäre. Sie sind Bausteine der Erinnerung und sie stellen die Kontinuität in der Diskontinuität her. Der Stoff von den Königskindern, die zueinander nicht kommen können, ist vielfältig erzählbar und erfahrbar. Die Möglichkeit der Trennung durch Verbote, unheilvolle Einflüsse und Schicksalsmächte bleibt durch die erinnerte Erzählung eine Folie des Sprechens über Liebe. Vermutlich gibt es keinen Bereich der Geschichte, der im Alltagsleben so stark von der Möglichkeit des Rückgriffs auf bekannte Texte Gebrauch macht, wie dies auf die Geschichte der Liebe als eine (Erzähl-)Form der Geschichte der Geschlechterbeziehungen zutrifft. Sie nimmt daher einen privilegierten Platz in den Kulturwissenschaften ein, die von der Theorie ausgehen, dass das Gefühl ein Ergebnis des Codes, der „medialen Mächte“ sei. „Der Code ermutigt, entsprechende Gefühle zu bilden. Ohne ihn würden die meisten [...] gar nicht zu solchen Gefühlen finden“, schrieb Niklas Luhmann.1 Der Code, das sind Roman- und Musikliteratur, Rechtsnormen, bildende Kunst, Traktate, Texte mit und ohne Autoren und Autorinnen, zahllose Texte. Der Liebende selbst, so Roland Barthes, der den Diskurs der Liebe „vom Verlangen, vom Imaginären und von der Liebeserklärung“ führt, schreibt, ohne es zu wissen, ein Buch.2 Es gäbe daher unzählige Liebesgeschichten, denn jeder füllt den Code auf seine Weise aus. Eine radikale Position hingegen sieht die Aufga1 2

Luhmann, Liebe als Passion, 9. Roland Barthes, Fragmente einer Sprache der Liebe, Frankfurt a. M. 1984, 16f.

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be des – „postmodernen“ – Wissenschaftlers darin, Leute und ihre Liebesgeschichten „als Effekte der Medien zu zeigen“.3 Die Liebesgeschichten sind jedoch vorzüglich auch Bestandteile politischer und religiöser Vergemeinschaftungen, von Arbeitsbeziehungen, von Familien- und Verwandtschaftsordnungen, „Effekte“ von Rechtsverhältnissen, Verboten, Einsprüchen und Zusprüchen und den damit verbundenen Erfahrungen. Sie finden einen Rahmen vor, der nicht nur die Handlungsmöglichkeiten bestimmt, sondern mit ihnen auch in das Gefühlsleben eingreift. Für Religionen und Staaten galten die Geschlechterbeziehungen als Basis der Gesellschaft: „Die Vereinigung von Mann und Frau bildet die Basis der ganzen Gesellschaft.“4 Umso mehr sollte diese nicht, oder zumindest nicht unkontrolliert, konkurrierenden Ordnungsinteressen überlassen werden, wie etwa familiären oder verwandtschaftlichen Strategien oder der Gefühlswelt Liebender. Die Ehe- und Strafgesetze europäischer Staaten des frühen 19. Jahrhunderts haben – wenn auch in unterschiedlicher Weise – in Fortführung traditionsreicher kanonischer und staatlicher Gesetze des Ancien Régime zahlreiche Eheund Liebesverbote festgelegt, die mit einer Geschlechterordnung auch eine gesellschaftliche Ordnung absichern sollten. Wie sehr diese Ordnung nicht nur eine äußere, sondern auch eine mentale, verinnerlichte ist, zeigt ein Roman, der als europäisch in Hinblick auf seine Thematik und seine frühe europaweite Rezeption zu bezeichnen ist. 1.1 „Corinna“ und die Macht der Liebesverbote

Madame de Staëls „Corinna ou l’Italie“ wurde im April 1807 auf Französisch erstveröffentlicht und im selben Jahr von Dorothea Schlegel ins Deutsche und von Isabel Hill ins Englische übersetzt, ein Jahr später ins Holländische und Italienische. 1819 erschien der Roman auf Spanisch. In den Jahren 1809 und 1810 wurden Teile ins Russische übersetzt, zwischen 1819 und 1828 Fragmente ins Polnische, 1857 schließlich der gesamte Roman.5 Die schnelle Übersetzung 3 4 5

Friedrich Kittler, Der programmierte Eros. Die Liebe im Zeitalter technischer Medien, in: Neue Zürcher Zeitung 143 (23.–24. Juni 2001), 49f. Concordance entre les codes civils, XI. Zu den Übersetzungsjahren vgl. Axel Blaeschke, „The First Female Writer of the Age“: Zur Staël-Rezeption in England, in: Udo Schöning u. Frank Seemann (Hg.), Madame de Staël und die Internationalität der europäischen Romantik. Fallstudien zur interkulturellen Vernetzung, Göttingen 2003, 29–50, 36; Udo Schöning, Interkulturelle Vernetzung als Praxis und Programm: Zur Staël-Rezeption in Italien, in: ebd., 203–227, 206, Anm. 15; Horst Nitschack, Die Rezeption Mme de Staëls in Spanien und Hispanoamerika, in: ebd., 135–172, 136; Ulrike Jekutsch, Zur Rezeption Mme de Staëls im russischen kulturellen

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in zahlreiche europäische Sprachen ist umso bemerkenswerter, als Französisch von der europäischen Oberschicht gelesen wurde. Die Übertragung in die Landessprache verweist demnach auf ein weitreichendes gesellschaftliches Interesse. Das gilt insbesondere für England, das, wie Franco Moretti nachgewiesen hat, im Verlauf des 19. Jahrhunderts seine Freude an Übersetzungen französischer Romane verlor.6 „Corinna“ wurde begeistert rezipiert. Das beruhte auch auf der Persönlichkeit und dem Ruhm der Autorin selbst, der Verfasserin breit diskutierter kulturtheoretischer Schriften, einer Intellektuellen und Kulturvermittlerin, politisch aktiv und verfolgt, die für ihr eigenes Leben die Vereinbarkeit von künstlerischer und intellektueller Kreativität mit Liebesbeziehungen einforderte.7 Dies ist auch ein Thema des Romans, der Frauen auf andere Werte verwies, als sie die Heldin englischer Romane der Zeit vertrat, „die sich in Selbstverleugnung, disziplinierter Sinnlichkeit und reduzierter Körperlichkeit“ zurücknahm.8 Corinna, eine in ganz Italien bekannte Dichterin, wird von der Bevölkerung geliebt und gefeiert, weil sie genial ist, an Wissen reich und generös; darauf beruht ihre erotische Ausstrahlungskraft. Ihre Liebesbeziehung zu einem englischen Lord scheitert jedoch, und sie stirbt an diesem Scheitern. Der Roman eröffnet uns nicht nur einen Einblick in die Probleme einer interkulturellen Zweierbeziehung und einer Geschlechterbeziehung, die traditionelle Asymmetrien vermeiden könnte, sondern auch in die Geschichte der Liebes- und Eheverbote der Zeit. Corinna hat einen englischen Vater und eine italienische Mutter und lebt zur Zeit ihrer Begegnung mit Oswald in Rom. Sie repräsentiert italienische Kultur, deren Gegenwart und Vergangenheit sie Oswald nahe bringt. Er ist Engländer und Adeliger von Geburt und Profession. Beide verlieben sich, wenn auch Oswald immer wieder über Corinnas Ruhm und freien Geist stolpert. Oswalds Vater hat die Eheschließung seines Sohnes mit einer Engländerin als nationale Verpflichtung aufgefasst und dies auch schriftlich festgehalten, ehe er starb: „Ein Mann, der das Glück hat, als Bürger unseres edlen Vaterlandes geboren zu sein, muß vor Allem seine Pflichten als solcher erfüllen,

6 7 8

Diskurs des frühen 19. Jahrhunderts um die Begründung einer romantischen Literatur, in: ebd., 75–110, 83, Anm. 29; Brigitte Schultze, Zwischen Inspiration und Schieflagen: Mme de Staël in der polnischen ‚Kulturnation‘, in: ebd., 229–255, 242. Franco Moretti, Atlas des europäischen Romans. Wo die Literatur spielte, Köln 1999, 192–196. Zu ihrer Person vgl. Sabine Appelt, Madame de Staël. Biografie einer großen Europäerin, Düsseldorf 2006. Ina Schabert, Eros und Erotik. Das Modell Corinne, in: Andrea Gutenberg u. Ralf Schneider (Hg.), Gender – Culture – Poetics. Zur Geschlechterforschung in der Literatur- und Kulturwissenschaft, Trier 1999, 13–30, 16.

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muß vor Allem Engländer sein […].“9 Durch eine Ehe mit Corinna, einer Ausländerin, hingegen würde er „in seinem Hause fremde Sitten einführen, und wie bald verlöre er dann den nationalen Sinn und jene Vorurtheile [...], die uns untereinander verbinden, die aus unserer Nation ein Ganzes, eine freie, unauflösbare Genossenschaft machen, eine Verbrüderung, die nur mit dem Letzten von uns zu Grunde gehen kann“.10 Der Vater erhebt ein Verdikt gegen binationale Ehen, denn sie gefährden die Homogenität nationaler Kulturen und damit den nationalen Zusammenhang. Corinna ist für ihn eine hybride Gestalt, eine Frucht eben dieser gefährlichen Beziehungen. Für Oswald gibt es keinen Zweifel: „[S]olchem Befehl zu trotzen, hieße sein Gedächtnis entehren.“11 Er gehorcht der posthumen väterlichen Gewalt und ordnet ihr die Liebesbeziehung unter, die ihn allerdings schon in seinem Selbstverständnis als Mann mehrfach herausgefordert, die ihm allerdings auch neues Wissen und Sensibilitäten eröffnet hat. Trotzdem: Oswald stellt zwar einen Adeligen und Held dar, der Menschen vor Feuer oder vor dem Ertrinken rettet, aber seine Stellung im sozialen und kulturellen Raum Roms ist im Vergleich zu jener Corinnas bescheiden. Sie wurde am Kapitol in Rom zur Dichterfürstin gekrönt, sie ist der Cicerone, der ihn durch die italienischen Städte führt, und sie leistet alle Übersetzungen, um ihm die italienische Kultur nahezubringen. Er ist Offizier und denkt: „Wie ausgezeichnet ein Mann auch sei, vielleicht erfreut er sich nie ohne ein gewisses Mißbehagen der Ueberlegenheit einer Frau.“12 Er dachte hiermit ganz wie sein Vater, der die englische Geschlechterordnung als Ergebnis der politischen bestimmt hatte: „[I]n Ländern, wo die politischen Institutionen den Männern die ehrenvollste Gelegenheit zur Thätigkeit, zu öffentlichem Hervortreten geben, sollen die Frauen im Schatten bleiben.“13 Corinna ist als Frau zur Unterordnung bereit, um Oswalds Vorrang zu retten. Sie beginnt, auf ihr literarisches Ansehen weniger Wert zu legen, „um jenen bescheidenen und zurückgezogenen Frauen ähnlicher zu werden, von welchen Oswalds Heimat die Vorbilder liefert“.14 Dennoch setzt sich die Macht des Vaters durch. Oswald heiratet eine (ganze) Engländerin, Corinna stirbt an gebrochenem Herzen, aber auch Oswald kann nicht glücklich werden. Liebesbeziehungen, so de Staëls Botschaft, müssen sich vom väterlichen Einspruch ebenso befreien wie vom nationalen Kalkül und dem Anspruch des Mannes auf sozialen und kulturellen Vorrang vor der Frau. Frauen haben ein 9 10 11 12 13 14

Frau von Staël’s Corinna oder Italien, Leipzig/Wien o. J., 421. Frau von Staël’s Corinna, 421. Frau von Staël’s Corinna, 450. Frau von Staël’s Corinna, 169. Frau von Staël’s Corinna, 421. Frau von Staël’s Corinna, 388.

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Recht auf eine Weiblichkeit, die auf Kreativität und Wissen beruht. Auf diese Welt der Arbeit – und als solche ist Dichtung auch zu bezeichnen – darf nicht verzichtet werden. Liebe ist im Verständnis von de Staël ein universales Phänomen, das Angehörige verschiedener Nationen und Konfessionen verbinden kann und auf Offenheit anderen Kulturen gegenüber beruht. Ein Verzicht auf diese Möglichkeiten, zu denen auch die Liebesehe zählt, hat schicksalshafte Folgen: Überdruss am Leben und Tod. Der Roman wurde nicht nur unmittelbar nach seinem Erscheinen in zahlreiche Sprachen übersetzt, sondern auch mit großer Leidenschaft und Empathie gelesen, vor allem von Frauen. Engländerinnen waren vom Charakter seiner Titelheldin und der „story“ stark beeindruckt: „I almost broke my foolish heart over the end of the third volume, and my father acknowledges he never read anything more pathetic“, so eine zeitgenössische Leserin.15 In der Folge sollten zahlreiche englische Schriftstellerinnen, wie Ina Schabert herausgearbeitet hat, den Weg einschlagen, den „Corinna“ geebnet hat. Manche Romanheldin hält den Band in der Hand. In Russland wurde „Korinna“ eine Ehrenbezeichnung für Schriftstellerinnen; in Spanien gab er die Vorlage für mehrere populäre Romane und er führte, so die Literaturwissenschaft, zur Entstehung eines „romantischen Gefühlskultes beim weiblichen Publikum“.16 In Europa, meint Franco Moretti, gibt es einen „gemeinsamen Markt der Literatur“ und er bezieht sich dabei auf das frühe 19. Jahrhundert.17 Die Romane, die gelesen wurden, sind Übersetzungen englischer und französischer Bücher, die in der Folge den nationalen Romanen als Vorbild dienten. „Corinna“ ist allerdings mehr als ein französischer Roman; er wurde auf Französisch geschrieben, die Handlungsräume sind Italien und England, und am Horizont zeichnet sich ein Bedeutungsverlust des Nationalen ab, ungeachtet der nationalen Stereotypien, die Oswald auferlegt sind. „Corinna“ hat europäischen Lesern, vor allem Leserinnen, ein neues Liebeskonzept eröffnet. In diesem Sinne sind Liebesgeschichten tatsächlich „Effekte der Medien“. Das Liebeskonzept hat sich auf eine translatorische Reise begeben, die auch in den Alltag der Lesenden Einzug halten musste. Hier waren jene Liebes- und Eheverbote in Geltung, deren Aufhebung de Staël gefordert hatte bzw. von deren Absenz sie ausgegangen war. Den Romantext als solchen konsequent zu lesen, war die große Herausforderung für das Publikum. 15 Maria Edgeworth, The Life and the Letters of Maria Edgeworth, Bd. 1, Teddington 2007, 88. 16 Schabert, Eros und Erotik; Robert C. Whitford, Madame de Staël’s Literary Reputation in England, Urbana 1918, 18; Jekutsch, Zur Rezeption Mme de Staëls, 84; Nitschack, Die Rezeption Mme de Staëls, 148. 17 Moretti, Atlas des europäischen Romans, 206.

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Das betraf zunächst die Religion. In einem längeren Gespräch haben Corinna und Oswald über Religionen und Konfessionen diskutiert und beide die Auffassung vertreten, „dass es nur eine Gottesverehrung gebe“.18 Das religiöse Gefühl bindet Menschen aneinander und trennt sie nicht. Mit dieser Sichtweise befand sich das Paar zwar im Konsens mit dem aufgeklärten Europa, nicht jedoch mit der Ehegesetzgebung seiner Zeit. De Staëls Interpretation der Funktion von Religion war weit von der europäischen religiösen Praxis entfernt. Die sichtbaren und unsichtbaren Grenzen, die um 1800 das Zusammenleben von Frauen und Männern bestimmten, waren nicht nur politische, ökonomische und administrative, sondern auch, und das in einem starken Maße, religiöse Grenzen. 1870 wurde das letzte europäische Ghetto, das römische, aufgelöst. Mit der rechtlichen Gleichstellung von Juden und dem Fall der Ghettomauern war zwar die sichtbarste Form der Ausgrenzung gefallen, nicht jedoch das Verbot interreligiöser Verbindungen zwischen den Geschlechtern. Es war offensichtlich leichter, die Gleichberechtigung der Religionen auf politischer Ebene zu vollziehen, als diese auf das Privatrecht auszuweiten. Hier dominierte die Angst vor ‚Vermischung‘ der Angehörigen unterschiedlicher Religionen und auch Konfessionen. Seit der Constitutio criminalis Theresiana von 1769, dem Strafrecht der Habsburgerin Maria Theresia, war Zeit vergangen, in der die Säkularisierung in den europäischen Staaten vorangetrieben worden war. Ihre strafrechtlichen Bestimmungen hatten den Geschlechtsverkehr zwischen Christen und Nichtchristen geahndet. „Die gemeine Hurerey, so zwischen einem ledigen Juden, Türken, oder anderen Unglaubigen, und einer ledigen Christin, oder im Gegenspiel zwischen einem Christen, und einer Jüdin, Türkin, oder anderen unglaubigen Weibsperson verübet würde, sollen beyde Verbrecher mit öffentlicher Auspeitschung, und Verweisung aus unseren Erblanden gestraffet.“19 Die Constitutio bestrafte auch den vorehelichen Geschlechtsverkehr, „gemeine Hurerei“ genannt, zwischen Christen, jedoch bedeutend milder, denn die sexuellen Beziehungen zwischen Christen und Nichtchristen galten den Verfassern des Gesetzes als besonders „abscheulich“. Diese Vorstellung von der „Abscheulichkeit“ interreligiöser Geschlechterbeziehungen, die es nicht geben sollte, wurde auch in die Privatrechtskodifikationen, die in der Zeit um 1800 entstanden, als Eheverbot der disparitas cultus, der Religionsverschiedenheit, aufgenommen, sofern nicht die Zivilehe bereits eingeführt war. Diese hatte das Verbot hinweggefegt, wie in Frankreich seit 1792 und in England, wo 18 Frau von Staël’s Corinna, 241. 19 Constitutio criminalis Theresiana, Wien 1769, Art. 82.

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seit 1836 (neuerlich) die Möglichkeit ziviler Eheschließungen bestand. Zahlreiche europäische Länder, die die Zivilehe erst im Verlauf des 20. Jahrhunderts einführten, hielten jedoch daran fest: „Eheverträge zwischen Christen und Personen, welche sich nicht zur christlichen Religion bekennen, können nicht gültig eingegangen werden.“ So formulierte es das Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch Österreichs von 1811 (ABGB, Erster Teil, zweites Hauptstück, § 64). Im Allgemeinen Landrecht Preußens von 1794 war die Formulierung vager, aber das Ergebnis dasselbe.20 Ab 1847 gab es dort die Möglichkeit der zivilen Eheschließung zwischen „Dissidenten“, Angehörigen geduldeter Religionsgemeinschaften,21 in Österreich seit 1868 die Notzivilehe (RGBl 47). Innerhalb der rechtlichen und religiösen Vorstellungswelt, die Verbote als geeignete Maßnahme zur Verhinderung interreligiöser Ehen vorsah, begegnen Variationsbreiten. In Russland waren für die Eheschließung die jeweiligen Geistlichen der verschiedenen Religionsgemeinschaften zuständig. Der Staat erlaubte darüber hinaus Ehen zwischen Protestanten und Juden oder Moslems unter der Voraussetzung, dass die Ehe von einem protestantischen Geistlichen geschlossen würde, die Kinder christlich erzogen würden und die Muslime monogam blieben. Für die Orthodoxie bestanden diese Möglichkeiten nicht.22 Das Verbot interreligiöser Ehen war nicht nur im Interesse der betroffenen Religionen selbst, sondern stellte den Staat vor allem vor die Aufgabe, Entscheidungen über die religiöse Kindererziehung zu treffen. In der Türkei hat bis zu den Reformen Kemal Atatürks das Scheriatsrecht geherrscht. Dieses erlaubt, dass Christinnen und Jüdinnen Muslime heiraten, eine Muslimin darf aber weder Christen noch Juden heiraten, denn es ist die Religion des Vaters, der die Kinder zu folgen haben.23 Die Praxis war dennoch differenzierter, wie die moslemisch-christlichen Ehen in manchen Regionen der europäischen Türkei zeigen. Im Epirus, so der Reisende William Martin Leake, gab es Ehen zwischen einem Türken und einer Griechin. Die Söhne wurden zu Moslems 20 „Ein Christ kann mit solchen Personen keine Heirath schliessen, welche nach den Grundsätzen der Religion, sich den christlichen Ehegesetzen zu unterwerfen gehindert werden.“ Adolph Julius Mannkopff (Hg.), Allgemeines Landrecht für die Preussischen Staaten in Verbindung mit den ergänzenden Verordnungen, Bd. 3, Berlin 1837, Zweiter Teil, Erster Titel, § 36. 21 Vgl. Arne Duncker, Gleichheit und Ungleichheit in der Ehe. Persönliche Stellung von Frau und Mann im Recht der ehelichen Lebensgemeinschaft 1700–1914, Köln 2003, 204, Anm. 856. 22 Vgl. J. Engelmann, Russland, in: Franz Leske u. William Loewenfeld (Hg.), Das Eherecht der europäischen Staaten und ihrer Kolonien, Berlin 1904, 711–764, 714–717; vgl. auch Erik Amburger, Geschichte des Protestantismus in Rußland, Stuttgart 1961, 98–107. 23 Vgl. E. R. Salem, Türkei, in: Leske/Loewenfeld, Das Eherecht der europäischen Staaten, 931–969, 931 u. 944.

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erzogen, die Töchter zu Christinnen. Schweinefleisch und Schaffleisch wurden am selben Tisch gegessen, schrieb er.24 Im frühen 19. Jahrhundert schwand jedoch die Akzeptanz dieses Verbots – nicht unbedingt deshalb, weil ein Säkularisierungsprozess die Bedeutung von Religion verringert hätte, sondern vor allem deshalb, weil die Religionsausübung als individuelles Recht wahrgenommen wurde und sich andere konkurrierende Vergesellschaftungsformen vordrängten. Aufgrund des Verbots jedoch mussten viele, vor allem Juden und Jüdinnen, zum Christentum konvertieren, um einen andersreligiösen Partner heiraten zu können. Konversionen vom Christentum zum Judentum waren in manchen Ländern wie der Habsburgermonarchie bis über die Mitte des 19. Jahrhunderts hinaus verboten. Manche weigerten sich zu konvertieren, denn sie wollten den Partner ebenso frei wählen können wie ihre Religion praktizieren. Zu diesen zählte der Königsberger Arzt Ferdinand Falkson, der, mosaischer Religion, 1844 seine evangelische Braut Friederike Möller heiraten wollte. In Preußen fand sich kein Geistlicher bereit, sie einzusegnen. Das Paar heiratete schließlich in England.25 Andere hatten diese Möglichkeit nicht, lebten im sogenannten Konkubinat und ­waren obrigkeitlichen Schikanen ausgesetzt – wie in den 1820er Jahren das Paar Anne-Catherine Lübbings und Salomon Jacob Kronenberg, das zwei Kinder hatte und ins Visier der Mindener Regierung geriet.26 Die Vorstellung von den „Mischlingen“ als „leichtfüßiges, zuchtloses, treuloses Geschlecht“27 galt für interreligiöse Ehen und Liebesbeziehungen wie in der Folge für interethnische. Aber auch interkonfessionelle standen vor Problemen. Wenn es in diesem Fall auch kein explizites Verbot gab, so waren dennoch kirchliche Dispense nötig, und der Staat beanspruchte das letzte Wort über die konfessionelle Zugehörigkeit der Kinder. Einen Kulturkampf um die Ordnung der konfessionell gemischten Ehen gab es in Ungarn, wo die Eltern die Kindererziehung nicht frei wählen konnten, sondern diese dem Geschlecht entsprechend zu erfolgen hatte.28 Das Allgemeine Landrecht Preußens hat hin24 William Martin Leake, Travels in Northern Greece, Bd. 1, London 1835, 49. 25 Vgl. Kerstin Meiring, Die christlich-jüdische Mischehe in Deutschland 1840–1933, Hamburg 1998, 19. 26 Vgl. Donate Strathmann, Ein „ungeheuerlicher und anstössiger Vorfall“: Konversionen zum Judentum und jüdisch-christliche Eheschließungen in Westfalen (1816–1846): Die Mischehenproblematik zwischen politischer Restauration und Judenemanzipation, in: Aschkenas 9, 1 (1999), 67–108, 87–93. 27 So der Schriftsteller Ernst Moritz Arndt, zit. nach Meiring, Die christlich-jüdische Mischehe, 17. 28 Vgl. Victor Karady, Vers une théorie sociologique des mariages interconfessionnels. Le cas de la nuptialité hongroise sous l’Ancien régime, in: Actes de la Recherche en Sciences Sociales 57/58 (1985), 47–68, 48.

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gegen das Selbstbestimmungsrecht der Eltern vorgesehen: Bei Uneinigkeit sollten die Söhne der Konfession des Vaters, die Töchter jener der Mutter folgen. Diese Bestimmung wurde jedoch 1803 aufgehoben, und die Konfession des Vaters als allein maßgebende festgelegt, um nicht den „Religions-Unterschied in den Familien zu verewigen, und dadurch Spaltungen zu erzeugen, die nicht selten die Einigkeit unter den Familiengliedern zum großen Nachtheile derselben untergraben“ würden.29 Diese Lösung war jedoch nur mit Schwierigkeiten durchzusetzen. Es entstanden jahrzehntelange Konflikte mit der katholischen Kirche, die im Rheinland protestantische Beamte und Offiziere katholische Bürgertöchter ehelichen sah. Der Anteil der interkonfessionellen Ehen war bescheiden: In den Jahren zwischen 1840 und 1852 betrug er in Preußen 3,7 %, 1900 waren es 8,5 % aller Eheschließungen.30 Dennoch war die symbolische Bedeutung hoch, nicht nur im Sinne einer numerischen Machtfrage, sondern auch im Sinne der Möglichkeit oder Unmöglichkeit eines ehelichen Zusammenlebens von Angehörigen unterschiedlicher Religionen. Ungeachtet kirchlicher und politischer Interventionen und oft auch des sozialen Umfeldes, die dieses Zusammenleben verhindern wollten, konnten diese Liebesbeziehungen nicht verhindert werden. Das traf auch für das konfessionell sehr homogene Venedig zu. Antonia Bau, Katholikin, „von einer schändlichen Leidenschaft besiegt“, heißt es in den Akten, war von Angelo Pontamione, einem Griechisch-Orthodoxen, trotz des Protestes der ­Eltern und der Gerichte nicht zu trennen und schwanger geworden. 1820 erhielt sie den kirchlichen Dispens.31 Die rechtlich verankerte Gehorsamspflicht der Ehefrau gegenüber dem Ehemann erstreckte sich nicht auf das konfessionelle Bekenntnis. Viele Leserinnen und Leser „Corinnas“ wurden mit einer Leseerfahrung konfrontiert, die sie weit von gesellschaftlichen Praktiken ihres Umfeldes wegführte; das traf sicherlich auf ihre Reflexion zu Religion zu. Mit der Macht und dem Einspruch des Vaters hingegen, die ein zentrales und kritisch erörtertes Themenfeld von „Corinna“ darstellen, werden viele in Berührung gekommen sein. Die klassische Figur des römischen Rechts, die patria potestas, die mit 29 Declaration v. 21. Novbr 1803, wegen des den Kindern aus Ehen zwischen Personen verschiedenen Glaubensbekenntnisses zu ertheilenden Religionsunterrichts, siehe Mannkopff, Allgemeines Landrecht für die Preussischen Staaten, Bd. 3, Zweiter Teil, Zweiter Titel, § 77. 30 Vgl. Tilmann Bendikowski, „Eine Fackel der Zwietracht“. Katholisch-protestantische Mischehen im 19. und 20. Jahrhundert, in: Olaf Blaschke (Hg.), Konfessionen im Konflikt. Deutschland zwischen 1800 und 1970: ein zweites konfessionelles Zeitalter, Göttingen 2002, 215–241, 222. 31 Archivio di Stato di Venezia (ASV), Governo, 2a dom. Austr., Sezione Politica 1820 14/17.

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souveräner Gewalt über die Familienmitglieder bestimmt hatte, war während der Französischen Revolution in ihrem Machtumfang reduziert worden. Diese Beschneidung traditionsreicher Verfügungen und Rechte war Ausdruck einer veränderten Auffassung der Vater- bzw. Eltern-Kinderbeziehung und des Umfanges von Gewalt, die eine Einzelperson über andere auszuüben berechtigt sein sollte. Das war nicht auf Frankreich beschränkt. Im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts sahen die meisten Autoren im deutschen Naturrecht, so Dietrich Berding, Kinder nicht mehr als Eigentum ihrer Eltern bzw. ihres Vaters an.32 Die Kindesrechte traten in den Vordergrund. Franz von Zeiller, der Verfasser des Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuches, war der Auffassung, dass der „Gesetzgeber einer cultivierten Nation“ Kinder nicht als „Machwerk ihrer Aeltern“ betrachte und dass Väter nicht als „Despoten über die Person und das Vermögen ihrer Kinder“ eingesetzt seien. „Ein weiser Gesetzgeber betrachtet die Familien als Pflanzschule, in denen brauchbare Bürger des Staates gebildet werden sollen.“33 Daher hat auch der Staat einen begründeten Einfluss genommen, der sich insbesondere auf die Schule erstreckte, jedoch auch darüber hinausging. Der väterliche Einfluss endete im ABGB 1811 mit der Volljährigkeit, nämlich mit dem 24. Lebensjahr der Kinder. Das waren gewichtige Einschnitte, denn die ältere Gesetzgebung, sofern sie das römische und germanische Recht umfasste, hatte den Einfluss des Vaters über die Volljährigkeit hinaus an den Rechtsakt der „Emanzipation“ oder der „Abschichtung“ gebunden, der den Sohn meistens dann aus der väterlichen Gewalt entließ, wenn dieser finanziell unabhängig geworden war – das konnte früh oder spät sein. Für die Tochter galt die Eheschließung als dementsprechender Lebenseinschnitt.34 Diese Regelung hatte Väter legitimiert, in zentrale Lebensentscheidungen und Verfügungsmöglichkeiten ihrer Kinder über deren Volljährigkeit hinaus einzugreifen. Dies bezog sich nicht zuletzt auf die Partnerwahl. Der Code civil von 1804 hat die „starke Kommandostruktur“ in der Familie, nämlich die Vorrechte des Vaters, wieder eingeführt. Söhne und Töchter

32 Dietrich Berding, Elterliche Gewalt, Kindesrechte und Staat im deutschen Naturrecht um 1800, in: Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte 22 (2000), 52–68, 52. 33 Franz von Zeiller, Abhandlung über die Principien des allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuches für die gesammten deutschen Erbländer der österreichischen Monarchie, Wien 1816–1820, hg. von Wilhelm Brauneder, Wien 1986, 180f. 34 Vgl. Werner Ogris, Das Erlöschen der väterlichen Gewalt nach deutschen Rechten des Mittelalters und der Neuzeit, in: ders., Elemente europäischer Rechtskultur. Rechtshistorische Aufsätze aus den Jahren 1961–2003, hg. von Thomas Olechowski, Wien/Köln/ Weimar 2003, 547–573, 555f, 559f [zuerst erschienen in: L’Enfant II: Europe médiévale et moderne (Receuils de la Société Jean Bodin pour l’histoire comparative des institutions 36) Bruxelles 1976, 417–452].

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bedurften bis zur Volljährigkeit (bis zum 25. bzw. 21. Lebensjahr) der elter­ lichen Erlaubnis zur Eheschließung, die im Falle des Dissenses zwischen den Eltern, der Vater allein erteilte. Darüber hinaus mussten Söhne bis zum 30. und Töchter bis zum 25. Lebensjahr die Eltern in einem Akt des Respekts, acte respectueux, vor Notaren und Zeugen um Eheerlaubnis bitten. Im Falle einer Ablehnung der Eltern wurde dieser Akt zweimal wiederholt, ehe die Ehe­ willigen die Heiratserlaubnis erhielten. Über das 30. Lebensjahr hinaus war nur mehr ein Respektsakt vorgesehen. Standesbeamte, die die Trauung ohne Einhaltung dieser Vorschriften vornahmen, wurden mit Gefängnis bestraft. Enterbung durch die Eltern hingegen war als Strafmaßnahme nicht vorgesehen. Erst 1933 wurden die allerdings schon modifizierten Akte des Respekts zur Gänze abgeschafft.35 Die Staaten, die unter französischer Herrschaft standen und den Code Napoléon übernommen hatten, wie die italienischen Staaten, Holland und die Rheinlande, griffen diese Bestimmungen auf, haben sie jedoch nach dem Ende der napoleonischen Herrschaft teilweise verschärft. So reichte in der Toskana nach 1814 die Verfügungsgewalt des Vaters über seine Kinder bis zum 30. Lebensjahr des Sohnes und dem 40. (ab 1838 auf 30 gesenkt) der Tochter. In Sardinien erlosch die patria potestas erst mit dem Tod des Vaters, sofern es zuvor nicht zu einer Emanzipation gekommen war.36 Auch das Allgemeine Landrecht Preußens von 1794 verpflichtete Söhne und Töchter gleichermaßen, lebenslang das elterliche Einverständnis für die Eheschließung zu suchen, was auch für Verwitwete und Geschiedene galt. Im Falle einer Ablehnung konnte allerdings das Gericht angerufen werden.37 Im russischen Zivilrecht wurde noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts das Einverständnis der Eltern zur Eheschließung der Kinder ungeachtet deren Alters gefordert: Wer ohne Einwilligung oder gegen den Willen der Eltern heiratet, „unterliegt auf Antrag derselben einer Gefängnisstrafe von 4–8 Monaten […] und verliert das Erbrecht in das Vermögen des Parens, gegen dessen Verbot er gehandelt hat“.38 Hier erstreckte sich die Bestrafung auf die Enterbung. Nicht verboten war die Enterbung auch in England; hier stellte sie das wichtigste Instrumentarium der Sanktionierung unbotmäßiger Kinder durch den Vater dar. Das common law hatte dem Vater nie große Einspruchsrechte in die Partnerentscheidungen seiner Kinder eingeräumt. Seit der Mitte des 18. 35

Vgl. Art. „Patria potestà“, in: Enciclopedia del diritto, Bd. 32, Milano 1982, 242–263, Zitat: 252; Concordance entre les codes civils, Art. 148, Art. 151–154. 36 Vgl. Paolo Ungari, Storia del diritto di famiglia in Italia (1796–1975), Bologna 20022, 136. 37 Mannkopff, Allgemeines Landrecht für die Preussischen Staaten, Bd. 3, Zweiter Teil, erster Titel, §§ 45–46, § 68. 38 Engelmann, Russland, 719.

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Jahrhunderts endeten sie mit deren Volljährigkeit; dennoch wurde er als Hüter seiner Kinder „by nature and for nurture“ angesehen,39 und dabei half ihm das Erbrecht. Während der Code civil oder das ABGB für Söhne und Töchter einen Pflichtteil vorsahen, war dies in England nicht der Fall. Edward Barrett, der Vater der Schriftstellerin Elizabeth Barrett, die vierzigjährig gezwungen war, von zu Hause zu flüchten, um Robert Browning heiraten zu können, hat nicht nur sie enterbt, sondern auch ihre Geschwister, die ebenfalls nur gegen seinen Willen heiraten konnten.40 Die Möglichkeiten, über die Väter verfügten, um Einfluss auf die Partnerwahl ihrer Kinder auszuüben, hingen nicht nur vom direkten, rechtlich garantierten Einspruchsrecht ab, sondern auch von den ökonomischen und symbolischen Sanktionsmöglichkeiten. Der Code civil hat das Recht der Eltern und insbesondere des Vaters, über die Eheschließung der Kinder bis zu deren Verheiratung Einfluss zu nehmen, symbolisch ausgestattet. In England fehlte dieses Symbol; mächtig war hier das ökonomisch wirksame Instrumentarium der Enterbung. Ökonomie und Tradition stärkten die Macht des Vaters auch dort, wo ihn das Recht nicht mit weitreichenden Interventionsmöglichkeiten ausstattete. Das trifft auf die Lebensgeschichte von Elisavet Moutzan-Martinengou zu, die sich mit einem kulturellen Erbe auseinandersetzen musste, das ihr die freie Wahl einer Lebensform nicht gestattete. Sie war 1801 auf der ionischen Insel Zakynthos in eine adelige Familie geboren. Die Insel, jahrhundertelang unter venezianischer Herrschaft, hatte nach 1797 verschiedene Herrscher, darunter bis 1815 die Franzosen, danach die Engländer. Die Gesetze der Venezianer hatten keine Geltung mehr, aber Elisavet Martinengou konnte nur beschränkt gegen die Tradition patriarchaler Verfügungsgewalt kämpfen. Gegen den Willen ihres Vaters widmete sie sich den Studien, nachdem sie sich selbst Lesen und Schreiben beigebracht und mehrere Sprachen erlernt hatte. Sie wurde Schriftstellerin, deren Manuskripte unveröffentlicht blieben. In ihrer Autobiographie – von ihrem Sohn lange nach ihrem Tode herausgegeben – erzählt sie von ihrem Kampf um Bildung und gegen eine Eheschließung. Sie wollte lesen, schreiben und studieren können und nicht unglücklich in einer Ehe werden. Die Krise der Ehe, von der um 1800 viel gesprochen wurde, hat sie, wie sie schreibt, an den unglücklichen Verbindungen in ihrer engeren Umgebung wahrgenommen.41 Im Alter von zwanzig Jahren informier39 Mauricette Craffe, La puissance paternelle en droit anglais. Évolution historique, solutions traditionelles, Paris 1971, 58, 7. 40 Vgl. Craffe, La puissance paternelle, 117, Anm. 61; vgl. auch Daniel Karlin (Hg.), Robert Browning and Elizabeth Barrett: The Courtship Correspondence 1845–1856, Oxford 1989. 41 Elisavet Moutzan-Martinengou, My Story, Athens/London 1989, 12.

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te sie ­Vater und Onkel von diesem Wunsch, dessen schriftliche Artikulation in deren Augen einen Akt der Rebellion darstellte. Sie meint dazu: „Ja, es ist die Pflicht der Kinder nicht ihre eigene Meinung darzulegen, sondern ihren Eltern zu gehorchen, aber es gehört zu ihren Rechten, darüber zu entscheiden, ob sie heiraten oder unverheiratet bleiben oder in ein Kloster eintreten wollen.“42 Eltern sollten nicht über das „Naturrecht“, die Wahl der Lebensform ihrer Kinder bestimmen dürfen. Mit knapp 29 Jahren musste sie heiraten, einen Mann, den sie nie zuvor gesehen hatte und dem vor allem an einer hohen Mitgift gelegen war. Zwei Jahre später starb sie nach der Geburt eines Sohnes. Die Macht des Vaters bzw. der männlichen Familienmitglieder wuchs mit der sozialen Isolation Elisavets. Über rechtliche Möglichkeiten, der Volljährigen ihre Selbstbestimmung zu verbieten, verfügten sie nicht, aber Tradition und Ökonomie gaben ihnen nicht weniger wirksame in die Hand. Ein bezeichnendes Gegenstück zu Elisavet Martinengou ist Clara Wieck. Sie ist 1819 geboren und verfolgte schon seit ihrem elften Lebensjahr eine von ihrem Vater geförderte, zunehmend erfolgreichere internationale Pianistinnenkarriere. Um Robert Schumann heiraten zu können, brauchte sie in Sachsen das Einverständnis ihrer Eltern, das der Vater jedoch verweigerte. Als berechtigte Gründe für die Verweigerung galten der Mangel künftigen Unterhalts, „grobe Laster und Ausschweifungen“, „zu große Ungleichheit des Standes oder des Alters“. Clara Wieck musste, um heiraten können, den Rechtsweg einschlagen und sie konnte Robert Schumann nach einem einjährigen Prozess schließlich ehelichen. Sie war 20 Jahre alt.43 Clara Wieck wurde im Unterschied zu Elisavet Martinengou nicht isoliert im Haus ihrer Familie festgehalten, sondern sie bereiste als Pianistin Europa und verfügte über wichtige soziale Kontakte. Dies ermächtigte sie, den Rechtsweg erfolgreich zu nutzen. Das europäische Privatrecht hat auf die Rechtsfigur der väterlichen Gewalt nicht verzichtet, wenn es sie auch in ihrem Umfang beschnitt. Die ökonomische, rechtliche und kulturelle Gewalt, mit der der pater familias gegenüber seinen Söhnen und Töchtern ausgestattet war, konnte zu dramatischen Situationen führen, die Konflikte, Verletzungen, Enterbungen oder erzwungene Eheschließungen zur Folge hatten. Sie wurden in dem Maße virulent, als diese Macht hinterfragt und in Frage gestellt wurde. Das Naturrecht der freien Partnerwahl, von dem Elizavet Martinengou sprach, wurde von vielen eingefordert. Die europäischen Gesetzgebungen haben diesen Wünschen in unterschiedlichem Maße Rechnung getragen. Der Code civil beharrte lange 42 Moutzan-Martinengou, My Story, 35. 43 Beatrix Borchard, Clara Wieck und Robert Schumann. Bedingungen künstlerischer Arbeit in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Kassel 1992, 169ff.

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auf dem moralischen und symbolischen Recht des Vaters, Einfluss auf die Partnerwahl seiner Nachkommen zu nehmen. Aber die patria potestas ist mehr als eine mit Rechten ausgestattete Figur, sie ist eine Tradition, ein Machtverhältnis, eine symbolische Kraft, deren Wirksamkeit umfassender ist als deren rechtliche Möglichkeiten. Insofern stellt ihre Geschichte um 1800 Bruch und Kontinuität gleichermaßen dar: In großen Teilen Europas hat das Privatrecht die Macht des Vaters eingeschränkt, in anderen Teilen nicht, aber wirksam war sie in beiden Fällen. „Corinna“ hat dies aufgezeigt. 1.2 Die nahe stehen und draußen bleiben

Das Recht des Vaters in die Partnerentscheidungen seiner Söhne und Töchter zu intervenieren, stellten die Betroffenen zunehmend in Frage. Liebespaare sahen religiöse Barrieren nicht mehr als unüberwindbar an, auch wenn es sich dabei um einen langsamen Prozess handelte. Die Überschreitung ‚klassischer‘ Grenzen war jedoch in keinem Verbotsbereich so rasant und radikal erfolgt wie im Bereich der Verwandtenehen. Tabus wurden hinweggefegt. Staat und Kirche, die Instanzen von denen die Verbotsgesetze getragen wurden, mussten eine Neudefinition von Verwandtschaft zur Kenntnis nehmen. Das kanonische Verbot von Ehen zwischen Verwandten, das Endogamieverbot, basierte auf einem extensiven Verständnis von Verwandtschaft, sowohl in Hinblick auf den generationellen Umfang als auch auf die Stiftungselemente dieser Beziehungsform selbst. Im 13. Jahrhundert wurde das Verbot von sieben auf vier Grade in den Seitenlinien und unbeschränkt in der direkten Linie festgelegt. Das waren Normen, die in der katholischen Kirche bis ins frühe 20. Jahrhundert Geltung besaßen. Sie bezogen sich auf Blutsverwandtschaft und Schwägerschaft, denn das Ehepaar wurde als tamquam una caro, als gleichsam ein Fleisch, betrachtet. Ein Ehehindernis war auch die spirituelle Verwandtschaft, die durch Patenschaft hergestellt wurde. Verwandtschaft war für Religionen und Staat eine Struktur, über die entscheidende Zugriffe auf die Gestaltung von Geschlechterbeziehungen und auf die Normierung sozialer Beziehungen erfolgen konnten. Mit ihnen war auch das Inzestverbot verbunden, das eines der großen Tabus in den Geschlechterbeziehungen darstellt. Es veränderte sich mit den Verschiebungen innerhalb der Endogamieverbote bzw. mit den Bestimmungen des Strafrechts. In der Exogamie, der Heirat außerhalb der Gruppe – und damit jenseits der Inzestgrenze –, sah Claude Lévi-Strauss eine Regel, „welche die Existenz der Gruppe als Gruppe sichert“, denn sie beruhe auf dem Prinzip der Gegenseitigkeit, vermittelt über den „Frauentausch“, der auf diese Weise gesellschaftlichen Zusammen-

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hang herstelle und garantiere.44 Andere Ethnologen, wie Robin Fox, sahen in der Exogamie eine friedensstiftende Institution, denn sie bedeute, „unsere Feinde zu heiraten“.45 Theologen und Privatrechtskompilatoren im 19. Jahrhundert haben die Exogamie ihrerseits mit der Notwendigkeit der Vermeidung „engherziger, egoistischer Verwandtenliebe“ und mit der Ehe als einem „Liebesband der Societät“ argumentiert, das auf neuen Allianzen gründen sollte.46 Vereinzelte Stimmen zu Gefahren der „Degeneration“ gab es früh. In Frankreich wurde im Kontext der Diskussion um den Code civil bereits 1801 von „Degeneration der Rassen“ als einem Ergebnis der Verwandtenehen gesprochen.47 Ein großes Thema wurden mögliche Folgeschäden aber erst gegen Ende des Jahrhunderts. Über die Gründe für die weitreichenden kanonischen Endogamieverbote gibt es Forschungskontroversen, die mit den Erbschaftsinteressen der Kirche, ihrem Versuch, die Macht großer Familien einzudämmen, und mit religiösen Abgrenzungsstrategien argumentieren.48 Sollte es im Interesse der Kirche gewesen sein, mit diesen Maßnahmen die Entstehung großer Verwandtschaftsverbände und deren Macht zu verhindern, so ist dies, zumindest bis ins späte 18. Jahrhundert, missglückt. Die Verbotspalette bewirkte vielmehr ein umfassendes genealogisches Gedächtnis und schärfte das damit verbundene Kalkül, Eheschließungen in den fünften Grad der Verwandtschaft oder durch andere, das Verbot vermeidende Formen zu realisieren. So konnten umfängliche Allianzen geschlossen werden, wie Gérard Delille für Süditalien aufgezeigt hat.49 Die Ehen waren das Instrument dieses Allianzsystems.

44 Claude Lévi-Strauss, Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft, Frankfurt a. M. 1993 [orig.: Les structures élémentaires de la parenté, Paris 1949], 642, zu den Logiken des Tausches 639–645. 45 Robin Fox, Kinship and Marriage. An Anthropological Perspective, Cambridge 1967, 236. 46 Johann Weber, Die kanonischen Ehehindernisse nach dem geltenden gemeinen Kirchenrechte, Freiburg i. Br. 1872, 45; vgl. auch Johann Kutschker, Das Eherecht der katholischen Kirche nach seiner Theorie und Praxis. Mit besonderer Berücksichtigung der in Österreich bestehenden Gesetze, Bd. 3, Wien 1856, 304. 47 Discussions du code civil dans le conseil d’etat. Précédées des articles correspondans du texte et du projet, avec des notes …, Bd. 1, Paris 1805, 261. 48 Vgl. Jack Goody, Die Entwicklung von Ehe und Familie in Europa, Frankfurt a. M. 1989; Jochen Martin, Zur Anthropologie von Heiratsregeln und Besitzübertragung. 10 Jahre nach den Goody-Thesen, in: Historische Anthropologie 1, 1 (1993), 149–162. 49 Gérard Delille, Éxchanges matrimoniaux entre lignées alternées et systéme européen de l’alliance: une première approche, in: Jean-Luc Jamard, Emmanuel Terray u. Margarita Xanthakou (Hg.), En substances. Textes pour Françoise Héritier, Paris 2000, 219–252; ders., Famille et propriété dans le Royaume de Naples (XVe–XIXe siècle), Rome/Paris 1985, 225–227; ders., Le maire et le prieur. Pouvoir central et pouvoir local en Méditerranéen occidentale (XVe–XVIIIe siècle), Paris/Rome 2003, 187.

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Ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts änderte sich diese Situation radikal in ganz Europa. Die Akzeptanz des Verbotssystems verlor an Terrain. Die staatliche Ehegesetzgebung sekundierte diese Entwicklung, indem sie die kanonischen Verbote, die bislang in den katholischen Staaten Geltung besessen hatten, beschnitt. 1783 fielen in Österreich die Verbote, die sich auf den dritten und vierten Grad der Seitenlinie bezogen. Nun konnten Cousins und Cousinen zweiten und dritten Grades heiraten; ebenso wurde das Ehehindernis der durch Patenschaft hergestellten geistlichen Verwandtschaft aufgehoben.50 Neun Jahre später war die Französische Revolution noch radikaler und beschränkte die Verbote ausschließlich auf Blutsverwandtschaft und Schwägerschaft in direkter Linie und auf die Geschwister. Heiraten konnten nun Cousins und Cousinen ersten Grades, der Schwager die Schwägerin, der Onkel die Nichte, nicht aber der Stiefvater die Stieftochter. Diese Freiheiten sind den Verfassern des Code civil von 1804 zu weit gegangen. Dieser schränkte sie wiederum ein: Der Schwager konnte die Schwägerin nicht mehr ohne Dispens ehelichen, ebensowenig Onkel und Tanten ihre Nichten und Neffen. Erlaubt blieb jedoch die dispensfreie Ehe im dritten und vierten Grad der Seitenlinien.51 In England war schon seit Heinrich VIII. die Ehe zwischen Cousins und Cousinen erlaubt, jene zwischen Schwager und Schwägerin hingegen verboten, wobei die Ehe der Schwester der Frau mit dem Schwager, das Sororat, als besonders anstößig galt.52 In der Orthodoxie wurde das Endogamieverbot unterschiedlich gehandhabt. In Russland erstreckte es sich bis zum zweiten Grad,53 in Griechenland hingegen bis zum sechsten/siebten Grad der Seitenlinien nach römischer Zählung, der bis zu Cousin und Cousine dritten Grades reichte.54 Im Judentum und im Islam gab es ebenfalls Verbotsregelungen, zugleich aber auch gewisse Privilegierungen spezifischer Formen von Verwandtenehen, wie jene mit der Parallelcousine in islamischen Gesellschaften.55 Die 50 Vgl. Edith Saurer, Stiefmütter und Stiefsöhne. Endogamieverbote zwischen kanonischem und zivilem Recht am Beispiel Österreichs (1790–1850), in: Ute Gerhard (Hg.), Frauen in der Geschichte des Rechts. Von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart, München 1997, 345–366, 345, 351. 51 Vgl. Saurer, Stiefmütter und Stiefsöhne, 346. 52 Vgl. Nancy F. Anderson, Cousin Marriage in Victorian England, in: Journal of Family History 11, 3 (1986), 285–301, 285; dies., The „Marriage with a Deceased Wife’s Sister Bill“ Controversy: Incest Anxiety and the Defense of Family Purity in Victorian England, in: Journal of British Studies 21, 2 (1982), 67–86. 53 Vgl. Engelmann, Russland, 719. 54 Vgl. Georg Diobouniotis, Griechenland, in: Leske/Loewenfeld, Das Eherecht der europäischen Staaten, 849–861, 851. 55 Vgl. dazu Jürg-Christian Hürlimann, Die Eheschließungsverbote zwischen Verwandten und Verschwägerten, Bern u. a. 1987, 50–54, 61–63; Michael Mitterauer, Christentum und

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Vielfalt von Regelungen verweist auf unterschiedliche Architekturen von Verwandtschaft, die den Verboten sexueller Beziehungen zwischen Gruppen von Verwandten jeweils zugrunde lagen. Das rigide Endogamieverbot der katholischen Kirche sollte durch die Möglichkeit eines Dispenses gemildert werden. Diese Ausnahmeregelungen machen deutlich, wie hoch der Stellenwert der Ehe ist und wie zentral und statisch die Funktion von Frauen wahrgenommen wurde. So sollten Dispense dann gewährt werden, wenn der Wohnort der Frau zu klein war (angustia loci), um einen anderen Partner als einen Verwandten zu finden, oder wenn ihre Mitgift ihr eine standesgemäße Ehe unmöglich machen würde. Ein vorgerücktes Alter der Braut (über 24 Jahre), die Gefahr des Abfalls vom Katholizismus, Schwangerschaft und Verwitwung waren weitere Gründe. Ende des 18. Jahrhunderts stieg die Anzahl der Dispensanträge rasant in die Höhe, und so sollte es bis in die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg bleiben.56 Aber nicht nur die Quantität, sondern vor allem die ‚Qualität‘, die Art der ‚Vermischungen‘, die nahen Grade von Blutsverwandtschaft und Schwägerschaft, die nicht mehr als Tabu für eine Eheschließung galten, verweisen auf große Veränderungen. Die Stiefmutter möchte den Stiefsohn heiraten, der Schwager die Schwägerin, der Onkel die Nichte, der Cousin ersten Grades seine Cousine. Verwandtschaft schrumpfte zusammen wie „Chagrinleder“;57 vor allem die Gleichsetzung von Schwägerschaft mit Blutsverwandtschaft verlor an Plausibilität. Die Ehewilligen stellten Dispensanträge. Mehr als verzehnfacht haben sich diese in Frankreich von der Mitte des 18. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts,58 eine Entwicklung, die auch in anderen Teilen Europas zu beobachten war: in Italien, Österreich, Deutschland, Schweden, Spanien, Belgien oder England. Die Päpste klagten: In Deutschland scheine es „für Schwäger [...] keine anderen Weiber zu geben als Schwägerinnen“ und sprachen von einer Vervierfachung der Zahl der zur Heirat entschlossenen Verschwägerten ersten Grades.59 In Neckarhausen in Württemberg, von David Sabean untersucht, stieg

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Endogamie, in: ders., Historisch-Anthropologische Familienforschung. Fragestellungen und Zugangsweisen, Wien/Köln 1990, 41–85. Vgl. Saurer, Stiefmütter und Stiefsöhne, 358f. Delille, Famille et propriété, 365. Vgl. Jean-Marie Gouesse, Mariages de proches parents (XVIe –XXe siècle). Esquisse d’une conjoncture, in: Le modèle familial Européen. Normes, déviances, contrôle du pouvoir. Actes des séminaires organisés par l’École française de Rome et l’Università di Roma, Roma 1986, 31–61, 49–52. Johann Kutschker, Das Eherecht der katholischen Kirche nach seiner Theorie und Praxis mit besonderer Berücksichtigung der in Österreich zu Recht bestehenden Gesetze, Bd. 5, Wien 1857, 78; vgl. dazu auch Saurer, Stiefmütter und Stiefsöhne, 358.

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die Zahl der Ehen, die auf Blutsverwandtschaft beruhten, zwischen 1740 und 1870 um 400 %.60 In England feierte die Ehe zwischen Cousins und Cousinen ersten Grades, die nicht verboten war, wahre Triumphe. Was war geschehen? Die Forschung hat eine Reihe von Gründen herausgearbeitet. Die Aufhebung der Fideikommisse und die Ausweitung der Freiteilbarkeit des Grundbesitzes, die Realteilung als Ergebnis gleichen Erbrechts für die Nachkommen, wie es etwa der Code civil festgelegt hatte, hat Familien oder Paare an eine Zusammenführung des Grundbesitzes über die Ehe mit einem verwandten Partner denken lassen. Die Aufteilung des Vermögens sollte verhindert und damit auch Klasseninteressen und Klassenbildung gestärkt werden. An der Erhaltung von ungeteiltem Besitz waren nicht nur Familien interessiert. So wollte denn ein niederösterreichischer Bauer im Jahr 1825 mit Einverständnis der Eltern der Frau, der Grundobrigkeiten und sogar des Pfarrers, seine Stiefenkelin heiraten. Die gesellschaftliche Akzeptanz wurde durch die ökonomischen Interessen hergestellt oder konnte auf diese Weise hergestellt werden.61 In vielen Fällen, in denen es sich um die Versorgung von Witwen, um Haushaltsprobleme von Witwern, um Erziehungsleistungen von Schwägerinnen oder Stieftöchtern handelte, war diese Akzeptanz viel geringer. Für die Betroffenen aber waren solche situativen Bedarfslagen oft mit jahrelangem Zusammenleben verbunden. Die ledige Schwester oder der ledige Bruder lebte mit in der Familie: so im Falle des Scherenschleifers Puppa, der im Königreich Neapel gekämpft hatte und 1814 in das Haus seines Bruders, ebenfalls Scherenschleifer, nach Venedig gezogen war. Ein Jahr später starb der Bruder und Puppa und seine Schwägerin wurden ein Liebespaar.62 Erst viel später reichten sie aufgrund der Insistenz eines Pfarrers einen Dispensantrag ein und konnten heiraten. Für die italienischen Pfarrer hatte die Eheschließung meistens Vorrang vor einer ebenfalls möglichen Ablehnung und polizeilichen Trennung des Paares, wie dies in Niederösterreich etwa praktiziert wurde.63 Katholizismus allein erklärt nicht die Praxis der Ehe. Die endogamen Ehen folgten nicht selten ökonomischen Kalkülen, sie beruhten aber auch auf einer spezifischen Partnerwahl, die nicht mit Liebe in ei60 David Warren Sabean, Kinship in Neckarhausen, 1700–1870, Cambridge 1998, 431. 61 Vgl. Niederösterreichisches Landesarchiv St. Pölten, Cultusakten 4, 57867 ex 1825, Dispensgesuch des Simon Herndl und der Theresia Heher; Saurer, Stiefmütter und Stiefsöhne, 345, 363. 62 ASV, Governo Austriaco XLIV, 14/2, 24. Mai 1820. 63 Vgl. dazu Edith Saurer, Formen von Verwandtschaft und Liebe – Traditionen und Brüche. Venetien und Niederösterreich im frühen 19. Jahrhundert, in: Margareth Lanzinger u. dies. (Hg.), Politiken der Verwandtschaft. Beziehungsnetze, Geschlecht und Recht, Göttingen 2007, 255–271.

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nem Zusammenhang stehen musste, dies aber oft tat. Auf die Frage von Klaus Theweleit, ob „anwesende Körper besser liebbar“ seien „als abwesende“,64 wäre hier klar zu antworten: Anwesende Körper übten eine besondere Anziehung aus. Schwager und Schwägerin, Stiefmutter und Stiefsohn lebten oft im selben Haus. Die englischen Cousins und Cousinen, die einander ohne Dispens heiraten konnten, empfanden sich, wie Nancy F. Anderson aufgezeigt hat, als Geschwister. „Cousins are almost the same as brothers, and yet they may be lovers“, schrieb Anthony Trollope in „The Vicar of Bullhampton“.65 David Sabean sieht die endogamen Ehen im Zusammenhang mit dem Suchen nach dem „Vertrauten“; sie lenkten „die Neigung zum Spiegelbild des eigenen Selbst“.66 So kam zu es einer Privilegierung der Homogamie; die Suche galt dem Gleichen und nicht dem „Fremden“. Die Suche nach dem Gleichen hat in den nationalen Bewegungen und ihrem Kult der Liebe zum Konnationalen eine weitere, wenn auch spezifische Ausprägung erfahren. Diese Liebe zum Anderen als Liebe zum eigenen Selbst, zum Nahen, steht jedoch nicht außerhalb gewaltförmiger Zusammenhänge und auch nicht außerhalb der Logik des ökonomischen Kalküls – wie im Falle des Stiefgroßvaters, der seine Stiefenkelin heiraten möchte. Diese Überschreitung vor allem traditionsreicher kirchlicher Verbote, auch wenn sie oft über den Weg eines Dispenses legalisiert wurde, verweist dennoch auf eine zunehmende Distanz zur kirchlichen Gebotswelt. Jedenfalls sind zumindest in manchen Ländern fest verankerte Tabus in Frage gestellt worden. Dazu zählt etwa die Beziehung zwischen Stiefeltern und Stiefkindern. Eine Sonderstellung nahm die Beziehung zwischen Stiefmutter und Stiefsohn ein. Katharina und Josef Arthaber waren schon zu Lebzeiten der Mutter des Josef ein Liebespaar, noch minderjährig erhielten sie von den Eltern jedoch keine Heiratserlaubnis. Nach dem Tod von Josefs Mutter hat der Witwer, ein reicher Mann, dann Katharina geheiratet, offensichtlich gegen ihren Willen. Als er stirbt, eröffnet sich für das Paar neuerlich keine Möglichkeit einer Ehe, denn ein kurz zuvor erlassenes Gesetz verbietet die Ehe zwischen Stiefmüttern und Stiefsöhnen.67 Die Rechtsungleichheit nicht nur zwischen den europäischen 64 Klaus Theweleit, Objektwahl (All You Need Is Love…). Über Paarbildungsstrategien & Bruchstück einer Freudbiographie, Basel 1990, 27. 65 Anthony Trollope, The Vicar of Bullhampton, New York 1978, 94f [1870], zit. nach Anderson, Cousin Marriage, 287. 66 David Sabean, Inzestdiskurse vom Barock bis zur Romantik, in: L’Homme. Z.F.G. 13, 1 (2002), 7–28, 24. 67 Vgl. Edith Saurer, Belles-mères et beaux-fils. Au sujet du choix du partenaire en Autriche vers 1800, in: Annales de démographie historique (1998), 59–71, 63f; dies., Stiefmütter und Stiefsöhne, 362.

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Staaten, sondern auch innerhalb dieser, ermöglichte es dem Paar schließlich jedoch, in Ungarn zu heiraten. Heute können solche Paare in zahlreichen europäischen Staaten eine Zivilehe eingehen. Verwandte heirateten in allen Teilen des Bürgertums, bei vermögenden und weniger vermögenden Bauern, bei ländlichen und städtischen Unterschichten, im Adel. Der Versuch, über Partnerwahl den Klassenstatus zu festigen, blieb allerdings nicht auf diesen Heiratstypus beschränkt. So wurden im Verlauf des 19. Jahrhunderts Eheschließungen zwischen vermögensungleichen Partnern immer weniger. Eine Analyse der Beibringensinventare von Neuvermählten der Industrie- und Verwaltungsstadt Nürtingen von 1750 bis 1899 zeigt eine wachsende Gleichheit der Vermögen von Mann und Frau. „So als ob kein Zufall existierte, heiratete man weiterhin nur einen finanziell ebenbürtigen Partner.“68 Im frühen 18. Jahrhundert hingegen – und dies gilt für Neckarhausen, ganz in der Nähe von Nürtingen gelegen – hatte es häufig Partnerbildungen zwischen Vermögensungleichen gegeben.69 Das ist auch als Teil einer Politik von Allianzbildung zwischen Verwandtschaftsverbänden zu verstehen, die die Herstellung gegenseitiger Verpflichtungen höher bewertete als die direkte Vermehrung von Vermögen. Das trifft für das späte 18. und für das 19. Jahrhundert nun nicht mehr zu. Die Höhe der Mitgift stieg rasant. Es ist kein Zufall, dass das in einer Zeit geschah, die das Verbot standesungemäßer Ehen kaum noch kannte. Eine Ausnahme war Preußen, wo solche Ehen ohne die Zustimmung des Landesherren oder dreier Standesgenossen ungültig waren. Adelige Frauen hingegen verloren bei einer Eheschließung mit einem Bürgerlichen ihren Adel: „Denn das Weib folgt allezeit der Würde des Mannes.“70 Das Verbot standesungemäßer Ehen fiel in Preußen 1869.71 In den meisten anderen Staaten haben Adelsfamilien versucht, unbotmäßige Liebespaare über eigene Familiengesetze zu disziplinieren. Adelige überschritten allerdings zunehmend die alten Ordnungen und wählten ihre Partnerinnen und Partner selbst aus, ohne auf Familieninteressen Rücksicht zu nehmen. Dass eine Eheschließung auch unter diesen Voraussetzungen mit Arbeit verbunden ist, zeigt der Fall des Zürcher Professors für Anatomie Jacob Henle. Er 68 Peter Borscheid, Geld und Liebe. Zu den Auswirkungen des Romantischen auf die Partnerwahl im 19. Jahrhundert, in: ders. u. Hans J. Teuteberg (Hg.), Ehe, Liebe, Tod. Zum Wandel der Familie, der Geschlechts- und Generationsbeziehungen in der Neuzeit, Münster 1983, 112–134, 121ff. 69 Vgl. Sabean, Kinship in Neckarhausen, 94f. 70 Johann Michael von Loen, Der Adel, Ulm 1752, 361. 71 Vgl. dazu Stephan Buchholz, Standesungleichheit als Ehehindernis im 19. Jahrhundert, in: Aspekte europäischer Rechtsgeschichte. Festgabe für Helmut Coing zum 70. Geburtstag, Frankfurt a. M. 1982, 29–64, 49f.

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lässt sich als „außergewöhnlich normal“72 bezeichnen, denn er eröffnet einen Einblick in ein ungewöhnliches Vorgehen, das allerdings auf weit verbreiteten Erwartungen und Handlungsvorstellungen beruht. In den 1840er Jahren lernte er bei Freunden eine Näherin kennen, in die er sich verliebte und die er beschloss zu heiraten. Sie schien keine Einwendungen zu machen. „Das Problem bestand aber darin, daß weder ihre Sprache noch ihre Bewegungen anmutig genug waren, um ihn als Ehegattin zu repräsentieren.“73 Elise Egloff wurde deshalb einem Erziehungsprozess unterworfen und akzeptierte ihn offensichtlich, wenn er auch unter großen Schwierigkeiten erfolgte. Sie kam mit 22 Jahren in ein Mädchenpensionat, um Geschichte, Französisch und Mythologie zu lernen, ein Studium, das es ihr ermöglichen sollte, an Konversationen im Haus ihres zukünftigen Mannes teilzunehmen. Mit einem längeren Aufenthalt bei der Schwester des Anatomen folgte jener Teil der Erziehung, der sie auf die Gestaltung der Beziehung zu ihrem Mann vorbereiten sollte – „der auf mein spezielles Wohl berechnete“, wie dieser meinte.74 Drei Jahre sollte das Paar zusammenleben, ehe Elise im Kindbett starb. Diese Pygmalionerzählung aus dem 19. Jahrhundert verweist auf die Bedeutung von Bildung, von Ausdruck und Bewegung des Körpers für eine bürgerliche Ehe, die Geselligkeit, Treffen mit Freunden, Verwandten und Kollegen als Verpflichtung konzipiert. Darüber hinaus markiert sie den Anspruch des Ehemannes auf die Schaffung seiner Partnerin: Der französische Historiker Jules Michelet hat dieses Konzept in seinem Buch über die Liebe deutlich formuliert: „Es ist nötig“, schrieb er an einen jungen Mann gewandt, „dass Du Deine Frau erschaffst, sie will nichts anderes.“75 Das war ein Anspruch, der sich aus der rechtlich untergeordneten Rolle der Ehefrauen ergab, aber auch aus einem Liebeskonzept, das auf der Vorstellung des Schutzes beruhte. Jacob Henle ‚erschuf‘ seine Frau aber nicht alleine, sondern mit Hilfe seiner Familienangehörigen. Ihre ‚Neugeburt‘ war eine gemeinsame Leistung. Fünfzig Jahre später hat sich eine junge Sardin, die viel las und schrieb, in einen jungen Lehrer verliebt, der ebenfalls viel las und schrieb. Ihre Familie 72 Zum „außergewöhnlich Normalen“ als einem methodischen Konzept der italienischen Mikrogeschichte vgl. Edoardo Grendi, Micro-analisi e storia sociale, in: Quaderni storici 12, 35 (1977), 506–520, 512. 73 David Sabean, Die Ästhetik der Heiratsallianzen. Klassencodes und endogame Eheschließung im Bürgertum des 19. Jahrhunderts, in: Josef Ehmer, Tamara K. Hareven u. Richard Wall (Hg.), Historische Familienforschung. Ergebnisse und Kontroversen, Frankfurt a. M./New York 1997, 157–170, 160. 74 Elise Egloff, Die Geschichte einer Liebe in ihren Briefen, hg. von Paula Rehberg, Zürich 1937, 137; vgl. auch Sabean, Die Ästhetik der Heiratsallianzen, 162. 75 Jules Michelet, L’amour, Paris 1873, 84.

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hielt ihn für zu arm; sie selbst aber schätzte ihn als intellektuell und sozial entwicklungsfähig ein, vor allem auch als Literaten. „Avanti, […] sempre avanti!“, war ihr Ratschlag an ihn. Nach acht Jahren resignierte sie. „Ach, ach, auch ich bin überzeugt, dass er zu arm, zu einfach ist […], um mein Mann zu werden … Nun ist er verloren in einem elenden Dorf und ich … in einem Meer von Verzweiflung“.76 Grazia Deledda wusste ihre Familie hinter sich, aber sie wollte ihren emotionalen Weg selbst ausloten, der mit ihren schriftstellerischen Ambitionen konform gehen sollte. Von „Produktionssexualität“ spricht Klaus Theweleit in umgekehrten Geschlechter-Konstellationen.77 Die Paare hatten ihre eigenen kulturellen und geschlechtsspezifischen Raster entwickelt, die sie anlegten. Viele aber bekamen dazu gar keine Möglichkeit, wie die besitzlosen städtischen und ländlichen Unterschichten in Teilen der Habsburgermonarchie, in Süddeutschland und in mehreren Kantonen der Schweiz. Mit dem Instrument des politischen Ehekonsenses verhinderten die Gemeinden deren Eheschließung,78 mit einem unmissverständlichen Argument: „Durch die Verehelichung ganz mittelloser, träger, zum Erwerbe unfähiger, pflichtvergessener Unterthanen kann der staatsbürgerliche Verein nicht gewinnen. Die Mittellosen fallen bald sammt ihrer Familie den Mitbürgern zur Last. Die arbeitsscheuen Müßiggänger schmarotzen sammt ihrer Brut an dem sauren Ersparniß der Fleißigen, und geben ihnen dafür Anleitung zu Lastern zum Lohne.“79 Im Hintergrund dieser Maßnahmen standen die Interessen der (Heimat-)Gemeinden, in deren Obliegenheit die Versorgung der Armen fiel und die durch Eheverbote die Anzahl der Armen zu verringern meinten. Nicht verhindern konnten sie jedoch, dass jene, die fern von ihrer Heimatgemeinde verarmten, per Schub zwangsweise dorthin gebracht wurden. Für Ehefrauen bzw. Witwen führte dies unter Umständen zu einer traumatischen Situati76 Grazia Deledda, Lettere inedite, Milano 1966, 477, zit. nach di Giorgio, Raccontare un matrimonio moderno, 310. 77 Klaus Theweleit u. Paolo Bianchi, „Male Couple“ oder der Künstler und sein Frauenopfer. Das „Buch der Könige. Orpheus und Eurydike“; ein paar briefliche Antworten auf ein paar briefliche Fragen zum Thema der „Produktionssexualität“, in: Kunstforum International 107 (1990), 91–96. 78 Vgl. Klaus-Jürgen Matz, Pauperismus und Bevölkerung. Die gesetzlichen Ehebeschränkungen in den süddeutschen Staaten während des 19. Jahrhunderts, Stuttgart 1980; AnneLise Head-König, Forced Marriages and Forbidden Marriages in Switzerland: State Control of the Formation of Marriages in Catholic and Protestant Cantons in the Eighteenth and Nineteenth Centuries, in: Continuity and Change 8 (1993), 441–465; Edith Saurer, Reglementierte Liebe. Staatliche Ehehindernisse in der vormärzlichen Habsburgermonarchie, in: Sozialwissenschaftliche Information 24, 4 (1995), 245–252. 79 Franz Herzog, Systematische Darstellung der Gesetze über den Ehe-Consens im Kaiser­ thume Österreich, Wien 1829, 195f.

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on, da sie das Heimatrecht ihrer Ehemänner hatten übernehmen müssen. Sie konnten daher zwangsweise in Orte deportiert werden, wo niemand oder wenige ihre Muttersprache sprachen und sie keinerlei Möglichkeit fanden, ihren Beruf auszuüben. Frauen und Kinder waren von diesem System daher besonders betroffen.80 Die Gemeinden waren in ihrer Eheverbotsstrategie erfolgreich. Mitte des 19. Jahrhunderts wurden in manchen Städten Tirols 50 % der Ehegesuche abgelehnt.81 Zwei Drittel der ledigen Mütter Kiebingens, einem Dorf in Schwaben, hatten vergeblich um Eheerlaubnis angesucht.82 Viele Paare haben deshalb auf eine Heirat verzichtet und gar nicht versucht, eine Genehmigung zu bekommen. Andere heirateten im Ausland. Berühmt waren die „Römerehen“.83 Für den Großteil aber, nämlich für jene, die nicht heiraten durften und sich nicht trennen wollten, war die Lebenssituation dadurch verschärft, dass unverheiratetes Zusammenleben, „Konkubinat“ genannt, in mehreren Ländern verboten war – so in Staaten und Städten des Deutschen Bundes84 und der Schweiz, etwa im Kanton Zürich. Hier wurden beim erstmaligen Vergehen eine fünftägige Gefängnisstrafe und eine Geldbuße verhängt, beim dritten Mal eine dreimonatige Gefängnisstrafe und eine entsprechend höhere Geldbuße. Die Paare konnten auch wiederholt polizeilich getrennt werden.85 Im Kirchenstaat galt „Konkubinat“ als Verbrechen und wurde mit Gefängnis geahndet. Die Moralpolizei äugte nach den „Konkubinariern“, ertappte sie „in flagranti“ und brachte sie umgehend in den Kerker – allerdings mit dem Ziel, sie von dort möglichst schnell vor den Traualtar zu stellen. Ehe war hier und in den anderen italienischen Staaten kein Privileg der Vermögenden, sondern eine kulturelle Pflicht.86 In Frankreich wurden unverheiratete Paare seit 1810 80 Vgl. Harald Wendelin, Schub und Heimatrecht, in: Waltraud Heindl u. Edith Saurer (Hg.), Grenze und Staat. Paßwesen, Staatsbürgerschaft, Heimatrecht und Fremdengesetzgebung in der österreichischen Monarchie 1750–1867, Wien/Köln/Weimar 2000, 173–343, 219. 81 Vgl. Elisabeth Mantl, Heirat als Privileg. Obrigkeitliche Heiratsbeschränkungen in Tirol und Vorarlberg 1820–1920, Wien/München 1997, 167. 82 Vgl. Wolfgang Kaschuba u. Carola Lipp, Dörfliches Überleben. Zur Geschichte materieller und sozialer Reproduktion ländlicher Gesellschaften im 19. und frühen 20. Jahrhundert, Tübingen 1982, 316f. 83 Vgl. Christa Pelikan, Aspekte der Geschichte des Eherechts in Österreich, Dissertation Universität Wien 1981, 105. 84 Vgl. Karin Gröwer, Wilde Ehen im 19. Jahrhundert. Die Unterschichten zwischen städtischer Bevölkerungspolitik und polizeilicher Repression. Hamburg – Bremen – Lübeck, Berlin 1999, 486ff. 85 Vgl. Eva Sutter, „Ein Act des Leichtsinns und der Sünde“. Illegitimität im Kanton Zürich: Recht, Moral und Lebensrealität (1800–1860), Zürich 1995, 112. 86 Vgl. Margherita Pelaja, Scandali, sessualità e violenza nella Roma dell’Ottocento, Roma 2002.

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nur im Falle der „Erregung öffentlichen Ärgernisses“ bestraft,87 eine gesetzliche Regelung, die von den europäischen Staaten im Verlauf des 19. Jahrhunderts übernommen wurde und die legistische Maßnahmen gegen nicht eheliches Zusammenleben obsolet machte. In manchen europäischen Ländern war die Armengesetzgebung anders organisiert, so etwa in England mit dem „Act of settlement“, der die Armenversorgung an den Wohnort band. Das bedeutet nicht, dass alle heiraten konnten (oder auch wollten), denn die Kosten für eine Eheschließung waren hoch. Die englischen Arbeiter, Arbeiterinnen und Unterschichten erfanden eigene Rituale für einen rite de passage, die eine soziale Geltung beanspruchen konnten, wie die „besom marriage“, eine Selbsthochzeit, bei der Braut und Bräutigam über einen Besen springen mussten. Im Falle einer Scheidung sprangen sie zurück.88 Vielleicht liegt ein Ergebnis der unterschiedlichen europäischen Gesetzgebung gegenüber den Heiratswünschen besitzloser Unterschichten darin, dass die Repression den Wunsch nach einer ‚echten‘ Eheschließung vor staatlichen oder kirchlichen Instanzen verstärkte. Wenn es auch den Anschein hat, dass die Repression in Mitteleuropa am stärksten ausgeprägt war, so gab es darüber hinaus zahlreiche mehr oder weniger versteckte Formen von Autorisierung der Eheschließung durch Arbeitgeber bzw. Grundbesitzer. Eine Eheerlaubnis mussten etwa italienische „mezzadri“, die Halbpächter, noch in den 1920er Jahren bei ihrem Grundbesitzer einholen.89 In dieser Zeit fielen auch die letzten Hochburgen des politischen Ehekonsenses, namentlich in Tirol. Die Ehehindernisse und Eheverbote, die das europäische Eherecht lange geprägt haben, waren im 19. Jahrhundert in Bewegung geraten. Die Gesetzgeber mussten ein verändertes Heiratsverhalten zur Kenntnis nehmen. Sicherlich war dieses auch von der Vorstellung getragen, dass es ein individuelles Recht auf die Gestaltung von Liebesbeziehungen gibt. Das trifft insbesondere auf die Abwehr der Interventionen des Vaters zu, der seine traditionsreiche Macht, die patria potestas, bis ins 20. Jahrhundert ausüben konnte. Allerdings sind auch die ökonomischen Verhältnisse und die Klasseninteressen vor allem des Bürgertums in ihrem Einfluss auf Gefühlslagen und Heiratsverhalten als starke Bestimmungsfaktoren anzusehen. Das trifft insbesondere auf die Verwandtenehen zu, die die Liebe zum Nahen kultivierten. Über diese Bereiche neuer 87 Vgl. Edith Saurer, Über die Beziehung von Schamhaftigkeit, Öffentlichkeit und Geschlecht, in: Wolfgang Müller-Funk (Hg.), Macht Geschlechter Differenz. Beiträge zur Archäologie der Macht im Verhältnis der Geschlechter, Wien 1994, 63–90, 80. 88 Vgl. John R. Gillis, For Better, for Worse. British Marriages, 1600 to the Present, New York 1985, 198. 89 Vgl. Marzio Barbagli, Sotto lo stesso tetto. Mutamenti della famiglia in Italia dal XV al XX secolo, Bologna 1988, 68.

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Beziehungskultur und ihre Auswirkungen auf die Rechtsverhältnisse wurde ein breiter und intensiver Diskurs geführt, in den zahlreiche Akteure und Akteurinnen eingebunden waren. Das Polygamieverbot, sicher einer der wichtigsten Bausteine europäischer ehelicher Verhältnisse und einer Gefühlskultur, die damit von einer Zweierbeziehung auszugehen hatte, blieb im Schatten der großen Diskussionen, auch weil es wenig angefochten war. Dennoch zeigt ein genauer Blick, dass es nicht unhinterfragt blieb. Die Infragestellung hatte eine lange Tradition, denn die Auseinandersetzung mit Polygynie war ein „fester Bestandteil der patristischen, scholastischen, humanistischen und naturrechtlichen Eheliteratur“ der Frühen Neuzeit gewesen. Ende des 18. Jahrhunderts wurde die Vielehe in den Debatten rund um die Einführung des Allgemeinen Preußischen Landrechts und des österreichischen Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuches „zur Entlastung der Ehefrauen“ empfohlen.90 Auch Giuseppe Compagnoni hat 1797 in den Diskussionen der Repubblica Cisalpina, der norditalienischen Republik, über die Neugestaltung des Eherechts patriotische Begründungen für die ,Vielweiberei‘ gefunden: Je größer die Anzahl der (Ehe-)Frauen, desto größer sei jene der Söhne, die der Republik zur Hilfe eilen könnten.91 Populationismus und die programmatische Verortung von Frauen als Gebärerinnen haben diese Einschätzung von Polygamie ebenso bestimmt wie die Position, dass diese nicht gegen die natürliche Ordnung verstoße. Dieser Auffassung war auch Etienne Pivert de Sénancour, der in seiner 1806 erschienenen Schrift „De l’amour“ der Polygamie einige Vorteile abgewinnen konnte. Er argumentierte mit der biologischen Überlegenheit der Männer, denn in einem Alter, in dem die Frauen „die Fähigkeiten ihres Geschlechts verlieren“, verfügten die Männer noch über fast alle ihre Kräfte. Männer sollten diesen biologischen Vorsprung verwerten können. Allerdings schränkte er diese biologische Perspektive wieder ein, denn die Polygamie bewirke eine Unterjochung der Frauen.92 Das Zusammenleben von Frauen mit Männern führe auch dazu, dass letztere ihre (sexuelle) Phantasie besser zügeln könnten.93 Die Angst vor einem Ausufern der (männlichen) Sexualität hat nicht nur den französischen Autor beschäftigt. 90 Stephan Buchholz, Erunt tres aut quattuor in carne sua. Aspekte der neuzeitlichen Polygamiediskussion, in: Heinz Mohnhaupt (Hg.), Zur Geschichte des Familien- und Erbrechts. Politische Implikationen und Perspektiven, Frankfurt a. M. 1987, 71–91, 71, 90f. 91 Vgl. Anna Lucia Ballini, Le riforme di diritto privato nelle discussioni dell’assemblea Cisalpina, in: Rivista di storia del diritto italiano 21/22 (1943), 322–337, 327. 92 Etienne Pivert de Sénancour, De l’amour, selon les lois primordiales, et selon les convenances des sociétés modernes, Paris 18293 [1806], 280f. 93 Vgl. Sénancour, De l’amour, 282f.

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Hat also die monogame Ehe einen Disziplinierungseffekt, den Sénancour offensichtlich für überzeugend hielt, so sah er sie dennoch nicht als Zeichen zivilisatorischer Überlegenheit. Die Auffassung von der zivilisatorischen Überlegenheit der Monogamie hat sich jedoch bei Zeitgenossen Sénancours durchgesetzt,94 aber auch bei ehekritischen Publizisten wie Friedrich Engels. Er sah in der Einzelehe einen großen geschichtlichen Fortschritt, mit dem allerdings auch die „Unterjochung“ der Frau durch den Mann – der erste „Klassengegensatz, der in der Geschichte auftritt“ – eingesetzt habe. Die Monogamie sei allerdings auch die einzig mögliche Form, aus der sich die „moderne Geschlechtsliebe“ habe entwickeln können.95 Engels hebt die Ambivalenz der Monogamie hervor, die zwar zur Kultivierung einer spezifischen Liebesbeziehung führen kann, die aber auch auf Hierarchien beruht und Frauen in die Position der unterdrückten Klasse verweist. Die Monogamie und mit ihr die Zweierbeziehung waren, ungeachtet der Zwischenrufe, die rechtliche und gesellschaftliche Norm. Auch Moslems, die um 1800 Europa bereisten, wie Mirza Abu Taleb, ein Inder persischer Abstammung, sahen in der Einehe den Vorteil von geringerem Hader, der „die Glückseligkeit einer mohammedanischen Familie so oft beeinträchtigt, deren Abkömmlinge doch vielleicht einem Dutzend Mütter entstammen“.96 Dennoch konnte das Modell nicht immer voll durchgesetzt werden, zumindest wenn wir uns an die rechtliche Definition halten. Bigamie ist zwar mit Polygamie nicht gleichzusetzen, da sie auf zwei synchronen Zweierbeziehungen beruht, vom Gesetzgeber wurde sie jedoch gleichgesetzt. Ginger Frost hat nachgewiesen, dass Bigamie im 19. Jahrhundert eine verbreitete Praxis englischer Unterschichten – primär männlicher – war und dies in die Tradition von Selbstscheidung und Selbstheirat gestellt.97 Diese Fälle von gesellschaftlich tolerierter Bigamie bestätigen allerdings den Vorrang der Zweierbeziehung, denn sie ersetzten jeweils Zweierbeziehungen, die aus verschiedenen Gründen bereits aufgelöst waren. War das Polygamieverbot kein großes Thema im 19. Jahrhundert, so trifft das noch viel mehr auf die Heterosexualität als Voraussetzung der Ehe zu. In 94 Vgl. Franz von Zeiller, Commentar über das allgemeine bürgerliche Gesetzbuch für die gesammten Deutschen Erbländer der Oesterreichischen Monarchie, Bd. 1, Wien/Triest 1811, 209. 95 Friedrich Engels, Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats. Karl Marx u. Friedrich Engels Gesamtausgabe (MEGA), 1. Abt.: Werke, Artikel, Entwürfe, Bd. 29, Berlin 1990, 35–41, Zitate: 36, 39. 96 Mirza Abu Taleb, Reisen in Asien, Afrika und Europa, hg. von Manfred Rudolph, Leipzig 1987 [1813], 132. 97 Ginger Frost, Bigamy and Cohabitation in Victorian England, in: Journal of Family History 3, 22 (1997), 286–306.

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den Ehegesetzen des 19. Jahrhunderts gab es kein ausdrückliches Eheverbot der Gleichgeschlechtlichkeit. Ausreichend schien die Bestimmung, dass in ­einem Ehevertrag „zwei Personen verschiedenen Geschlechts gesetzmäßig ihren Willen, in unzertrennlicher Gemeinschaft zu leben, Kinder zu zeugen, sie zu erziehen, und sich gegenseitig Beistand zu leisten“ erklärten (ABGB, § 44). In manchen Gesetzen fehlt auch dieser Passus. Der Code civil von 1804 verfügte lapidar (Art. 144): „L’homme avant dix-huit ans révolus, la femme avant quinze ans révolu, ne peuvent contracter mariage.“ Wenn auch in der Frühen Neuzeit Eheschließungen zwischen zwei Frauen vorgekommen sind, so beruhten diese darauf, dass eine Partnerin sich als Mann ausgab bzw. als solcher wahrgenommen wurde.98 Die Zweigeschlechtlichkeit konnte also nur umgangen werden, indem sie zumindest fingiert wurde. Das Strafrecht war eindeutiger, denn es bestrafte in mehreren Ländern die „Unzucht wider die Natur“, nämlich „Unzucht“ mit „Personen desselben Geschlechts“ als Verbrechen. Allerdings gilt das nicht für Frankreich, denn hier wurde 1791 das Verbrechen „Sodomie“ abgeschafft, was das napoleonische Strafrecht von 1810 beibehielt und im Einflussbereich des Code civil verbreitete. Heterosexualität blieb die Norm von Liebesbeziehungen, und innerhalb der Prozesse der Herstellung dieser Norm nimmt die Ehe als ein Rechtsverhältnis, das im 19. Jahrhundert als Basis der Gesellschaft verstanden wurde, einen zentralen Rang ein. Insofern ist die Feststellung von Stefan Hirschauer, dass „[d]ie Zweigeschlechtlichkeit […] eine selbsttragende soziale Konstruktion [ist], innerhalb deren selbst eine so monolithisch scheinende Einrichtung wie die Ehe nur einen kleinen Baustein bildet,“99 historisch jedenfalls unzutreffend. Die Ehe war jene Beziehungsform, in der Staat, Kirchen, Familien und andere Institutionen einen Zugriff auf gesellschaftliche und politische Entwicklungen nehmen wollten und auch genommen haben. Im Kontext einer Geschichte der Geschlechterbeziehungen stellt die Ehe zwar nur einen Baustein dar, aber keinen kleinen. 1.3 Das Reformprogramm: Geschlechterliebe, Liebe als kognitive Kraft

Die zahlreichen Traktate, die um 1800 über Liebe geschrieben wurden, haben, ohne dies zu hinterfragen, Geschlechterliebe thematisiert. Sie folgten damit einer Entwicklung, die im frühen 19. Jahrhundert einen Abschluss fand und die 98 Vgl. beispielsweise die Studie von Angela Steidele, In Männerkleidern. Das verwegene Leben der Catharina Margaretha Linck alias Anastasius Lagrantinus Rosenstengel, hingerichtet 1721. Biographie und Dokumentation, Köln/Weimar/Wien 2004. 99 Hirschauer, Wie sind Frauen, 249f.

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in der Hierarchie der Liebesformen die Gottesliebe durch die Geschlechterliebe ersetzte. Die Liebe zwischen Mann und Frau wurde zum Hauptelement des Liebesbegriffs.100 Die Traktate sind Teil der Aufmerksamkeit, die Liebe als kulturelle Macht und soziale Beziehung erhielt, und sie sind selbst Ausdruck dieser Entwicklung. Die vielfach in Frankreich verfassten Traktate präsentieren reformorientierte Liebeskonzepte als Teil der Geschlechterordnung mit gesellschaftlichen und teilweise auch politischen Bezügen. Sie formulieren Theorien der Liebe, teils moralischer, teils gesellschaftlicher Natur. So unterschiedlich sie in ihren Aussagen sind, so sind sie jedoch sparsam in der Entwicklung einer Gefühls­ choreographie; vor allem lassen sie sich nicht als ars erotica bezeichnen. Michel Foucault hat auf diese Charakteristik der abendländischen Liebeskultur verwiesen, die keine ars erotica hervorgebracht habe, wohl aber eine scientia sexualis. Allerdings, differenziert er: „Unsere Zivilisation besitzt, zumindest auf den ersten Blick, keine ars erotica.“101 Sein zweiter Blick gilt Nischen im Katholizismus, nämlich Phänomenen wie Besessenheit und Ekstase, in denen er Elemente einer Kunst der Erotik findet, in Orten allerdings, die dafür kulturell nicht vorgesehen waren, wenn auch die Beziehung zwischen Liebe und Religion eine spezifische war. Jedenfalls ist die Intention der Autoren, der Autorin, das Thema phänomenologisch und philosophisch zu erfassen und darzustellen. Stendhal insistierte darauf, dass seine Schrift „Über die Liebe“ eine Wissenschaft der Liebe sei. Er verwies dabei implizit auf seine ethnographische Methode und sein Interesse an der Erklärung des Phänomens Liebe.102 Letzteres wollten alle, viele forderten aber auch Reformen und entwickelten implizite und explizite Utopien. Die Liebesbeziehungen zwischen den Geschlechtern können durch Gesetzesänderungen optimiert werden, sie sind veränderbar und gesellschaftlich nützlich – das war eine wichtige Botschaft der Traktate. Der gesellschaftliche und rechtliche Rahmen, innerhalb dessen sie verfasst wurden, definierte nicht nur gesellschaftliche Ordnungen neu, sondern auch Geschlechterordnungen. Madame de Staël hat elf Jahre vor ihrem Roman „Corinna“ eine Schrift über Leidenschaften veröffentlicht: „De l’influence des passions sur le bonheur des individus et des nations“.103 In dieser moralphilosophischen Schrift widmet 100 Vgl. Edeltraud Kapl-Blume, Liebe im Lexikon. Zur Semantik von Liebe, Ehe und Sexualität in Nachschlagewerken des 18. und 19. Jahrhunderts, Hausarbeit Universität Bielefeld 1985. 101 Foucault, Sexualität und Wahrheit, 75. 102 Stendhal, Über die Liebe, Zweites Vorwort, 34–41, 34f; Viertes Vorwort, 43–48, 44. 103 Madame de Staël, De l’influence des passions sur le bonheur des individus et des nations, in: dies., Œuvres completes de Madame la Baronne de Staël-Holstein, Bd. 2, Paris 1838, 1–141.

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sie ein Kapitel der Liebe, die sie als verhängnisvolle Leidenschaft betrachtet. Zwar habe Gott den Menschen die Idee von „einer himmlischen Existenz“ gegeben, indem er sie in ihrer Jugend eine leidenschaftliche Liebe erfahren lasse, die sie über die Alltagserfahrung hinaustrage, aber dieses intensive Glück sei kurz, so de Staël. Der Schmerz über den Verlust sei so groß, dass er nur durch den Freitod aufgefangen werden könne. Wenn diese dramatischen Liebeserfahrungen auch offensichtlich beide Geschlechter betreffen, so sind sie für Frauen tiefgreifender und tragisch. Frauen seien in der Liebesordnung, verursacht durch Natur und Gesellschaft, benachteiligt. Stärke, Genie, Mut und Unabhängigkeit zeichne nur Männer aus: „L’amour est la seule passion des femmes“, die Liebe sei die einzige Leidenschaft der Frauen.104 Während Männer zahlreichen Leidenschaften nachgehen könnten, wie der Liebe zum Ruhm, zum Spiel, zum Ehrgeiz, würden Frauen nur die Liebe zur Liebe kennen. Mit ihr könnten zwar auch sie Macht entfalten, aber diese sei ohne wahre Grundlagen und reiche über die zweite Lebenshälfte nicht hinaus, vielmehr „bleiben noch dreißig Jahre zu durchleben, wenn die Existenz schon beendet ist“.105 Nicht den Verlust der Reproduktionsfähigkeit, sondern jenen der sexuellen Beziehungsfähigkeit und damit der leidenschaftlichen Liebe meint de Staël. „L’amour est l’histoire de la vie des femmes, c’est une épisode dans la vie des hommes.“106 Die Liebe sei die Geschichte des Lebens der Frauen und sie sei eine Episode im Leben der Männer. Dieser Satz, der fälschlicherweise Lord Byron zugeschrieben wurde, charakterisiert weite Teile der Liebesliteratur bzw. jener ebenso zahlreichen Texte, die sich mit Frauen beschäftigen. Die Äußerungen sind Legion. Berühmt-berüchtigt sind jene Fichtes, der Frauen in einer Liebe ohne Geschlechtstrieb aufgehen sieht.107 Nach Stendhal scheinen Frauen den Großteil ihrer Zeit nur an Liebe zu denken.108 Von ihm lässt sich das allerdings auch sagen. Die Romantiker dachten nicht anders. Unter den Frauen gäbe es keine Uneingeweihten, „denn jede hat die Liebe schon ganz in sich“, meinte Friedrich Schlegel in „Lucinde“.109 Dieser Kult ist Teil der „Polarisierung der Geschlechtscharaktere“, die Frauen das Terrain Liebe und Familie 104 105 106 107

de Staël, De l’influence des passions, 61. de Staël, De l’influence des passions, 61. de Staël, De l’influence des passions, 61. Johann Gottlieb Fichte, Grundlage des Naturrechts nach Prinzipien der Wissenschaftslehre. Erster Anhang: Grundriß des Familienrechts, Johann Gottlieb Fichtes Werke, hg. von Fritz Medicus, Bd. 2, Leipzig 1908, Deduktion der Ehe, § 4, 100: „Im unverdorbenen Weibe äussert sich kein Geschlechtstrieb, und wohnt kein Geschlechtstrieb, sondern nur Liebe; und diese Liebe ist der Naturtrieb des Weibes, einen Mann zu befriedigen.“ 108 Stendhal, Über die Liebe, 65f. 109 Friedrich Schlegel, Lucinde. Ein Roman, Coburg 1868, 35.

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zuschreibt und den Männern jenes von Vernunft und Staat und die damit die jeweiligen Orte des Wirkens definiert. Karin Hausen hat darin die Metaebene einer Gesellschaft gesehen, die Familienleben vom Erwerbsleben trennte.110 Dennoch gibt es beträchtliche Unterschiede in den Konzepten, die sich keineswegs alle auf Familie beziehen. De Staël hat auch keine sanfte Sicht auf Frauen und Liebe, denn sie erachtet es als (biologisches) Schicksal und (implizit) als gesellschaftliche Übereinkunft, dass Frauen in der Lebensmitte aus der Liebe ausgeschlossen werden. In der zweiten Lebenshälfte verbleiben den Frauen in de Staëls Vorstellung nur Pflichten, die Kinder, die „erhabenen“ Gefühle der Mutter, „deren Genuss in dem besteht, was es gibt“. Von Sexualität, die de Staëls Liebeskonzept ausfüllt, sind sie aber ausgeschlossen.111 Die Ehe erscheint ihr ebenfalls nur in Ausnahmefällen als Ort der Liebe, eine Auffassung, die in das 17. Jahrhundert zurückreicht. Dennoch ist ihr Traktat über die Liebe mehr als das Fortschreiben dieses Konzepts. Sie sieht, worauf Niklas Luhmann hingewiesen hat, in der Liebe die „Steigerung aller Relevanzen durch Bezug auf einen anderen Menschen“.112 Die Geschlechterordnung, die Frauen sich unter den Schutz von Männern stellen lässt, bewirkt jedoch, dass Liebe für Frauen eine unheilvolle Leidenschaft wird. Es ist daher eine Konsequenz dieser unheilvollen Ordnung, dass Frauen „sich befreien, indem sie sich ausliefern, und durch den Exzess ihrer Aufopferung verlieren“.113 Keine Kritik an einer paradoxen Liebesordnung, die von Frauen getragen wird und deren Opfer sie dennoch werden, übt Stendhal in seiner Schrift „De l’amour“.114 Sie erschien 1822 und wurde ein großer Misserfolg.115 In den Jahren zwischen 1814 und 1821 lebte er in Mailand und ging durch die Straßen, in Salons, in die Oper, zur Geliebten mit einem Notizbuch in der Hand und zeichnete alles auf, was über Liebe erzählt, gerätselt und erfahren wurde und was er selbst fühlte und erlebte. Er agierte als teilnehmender Beobachter. Die Luft schwirrte von Liebeserzählungen, über die sich zu verständigen ebenso Anlass zu Introspektion bot, wie über soziale Beziehungen nachzudenken. Liebe war das große Thema der Zeit, was aber nicht mit dem Ende der napoleonischen Kriege im Zusammenhang stand, sondern bereits im späten 18. Jahrhundert eingesetzt hatte. Stendhal löste die Geschlechterliebe von den Qualitäten der 110 111 112 113 114 115

Hausen, Die Polarisierung der „Geschlechtscharaktere“. de Staël, De l’influence des passions, 64. Luhmann, Liebe als Passion, 167. de Staël, De l’influence des passions, 63. Stendhal, De l’amour, Paris 1822. Vgl. Carsten Peter Thiede, Einleitung, in: Stendhal, Über die Liebe, 7–15, 7; ebd., Viertes Vorwort, 46.

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geliebten Person und verankerte sie in der Phantasie. Er fand dafür den Begriff der „Kristallisation“, für den ihm der physikalische Prozess ein Vorbild war, der aus einem Zweig, in ein Salzburger Salzbergwerk geworfen, ein Kristallgebilde herstellte. Kristallbildung ist, auf die Geschlechterliebe übertragen, die „Tätigkeit des Geistes, der bei jedem Anlaß neue Vorzüge an der Geliebten entdeckt“.116 Liebe ist für Stendhal ein Produkt der in Bewegung gesetzten Phantasie und daher unabhängig von Alter, Schönheit und theoretisch auch Geschlecht. Diese Emotion und soziale Beziehung ist in jedem Lebensalter für beide Geschlechter möglich. „Die Schönheit wird von der Liebe entthront“, lautet eine Kapitelüberschrift seines Werks.117 Stendhal teilte also nicht de Staëls Auffassung von der extremen Benachteiligung der Frauen im Bereich der Liebe, aber auch er war der Auffassung, dass das Leben von Frauen in Liebe aufgeht. Er sieht sie im Zentrum des Liebeskosmos, denn sie kultivieren das Schamgefühl, das für Stendhal der Liebe erst ihren Rang verleiht. „Die Liebe ist das Wunder der Kultur. Bei wilden oder barbarischen Völkern findet man nur die roheste Sinnenliebe.“118 Dieses Wunder wird durch das Schamgefühl bewirkt. Die Verweiblichung des Schamgefühls war schon ein Topos des 17. Jahrhunderts; seit dem späten 18. Jahrhundert sollte sich der Anspruch an dieses moralische Gefühl jedoch vertiefen. Kant sah in der Schamhaftigkeit eine Kraft, die die Erniedrigung der Frauen zu einem bloßen Mittel der Befriedigung verhindere und den Mann vor dem „Laster der Unkeuschheit“ bewahre. Die Schamhaftigkeit galt als Ursprung der Liebe, da sie Sexualität bändigt, während im 17. Jahrhundert ihre erotische Kraft bewundert wurde.119 Liebe entsteht durch die Bändigung der Sexualität, und dies zu erreichen, liegt in der Kompetenz der Frauen. Neben dieser Theorie über die Genese von Liebe präsentiert Stendhals Schrift den Zusammenhang von Liebe und Kommunikation: Das Beobachten, Erfahren der Liebe und das Sprechen über sie, sind Generatoren der Kommunikation. Stendhal sah dies allerdings kulturspezifisch. Er kommentierte, nationale Vorurteile kultivierend und geistreich, spezifische Liebesformen europäischer Völker, von deren Existenz er überzeugt war. Er nannte das Kapitel „Die Nationen im Vergleich mit der Liebe in Frankreich“,120 nicht um Frankreichs Liebespraktiken besonders hochzuhalten, im Gegenteil. Ohnehin ist er der Meinung, dass Liebe nur in Italien gedeihen könne, eine Konstellation, die er mit der „Tugend der 116 117 118 119 120

Stendhal, Über die Liebe, 55. Stendhal, Über die Liebe, Kap. 17, 82. Stendhal, Über die Liebe, 105. Saurer, Über die Beziehung von Schamhaftigkeit, 68. Stendhal, Über die Liebe, Kap. 41, 172.

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mittelalterlichen Freistaaten“, dem „wunderbaren Himmel“ und der Fähigkeit, sich „den Eingebungen des Augenblicks“ zu überlassen, erklärt. Außerdem höre man in den Salons „ganz laut allgemeine Liebesregeln aussprechen“. Jedermann kenne „die Symptome und den Verlauf dieser Krankheit“.121 Sprechen über Liebe (auch der anderen) ist also nach Stendhals Auffassung für die Entstehung einer für die Liebe offenen Kultur entscheidend. Sprechen bedeutet Kommunikation. Die Ehe interessiert ihn dabei weniger – ein Grund, warum er in Kulturen, die sich um die Ehe zentrieren, Langeweile herrschen sieht. In England nimmt er dies, gepaart mit der Unterwürfigkeit von Ehefrauen, in der Neigung der Ehemänner zum allabendlichen Besäufnis und zum Spaziergang wahr. „In England gehen die Reichen, die sich zu Hause langweilen, unter dem Vorwand einer notwendigen Leibesübung täglich drei bis vier Stunden spazieren, als wäre der Mensch zum Laufen geschaffen. So verbrauchen sie die Nervenkraft mit den Beinen, statt mit dem Herzen. Dabei wagen sie von weiblichem Zartgefühl zu sprechen und auf Spanien und Italien herabzusehen.“122 Stendhals Unbehagen entzündete sich am englischen (Ehe-)Paar, das von Historikern mit einer Ethik der Beständigkeit und mit der Liebesehe in Zusammenhang gebracht wurde. Früher als am Kontinent, nämlich im 17. und 18. Jahrhundert, sei hier dieses Ideal entstanden, wovon auch auszugehen ist.123 Stendhal sympathisierte vielmehr mit einem offenen Liebessystem, das den Liebhaber der Ehefrau etwa, den cicisbeo, den cavaliere servente, zum besten Freund des Ehemannes werden ließ.124 Das kann als Anknüpfung an eine adelige Kultur verstanden werden, die er zugleich überschritten hat. Der utopische Gehalt von Stendhals Schrift umfasst eine Gesellschaft, die sich über Liebesabenteuer, Liebesbeziehungen, Liebesbeobachtungen und Liebeserfahrungen verständigt, fähig ist, sich darüber zu verständigen, und sich auf diese Weise als „Liebesgesellschaft“ konstituiert und ständig reproduziert. Ehe und Familie, Reproduktion und Elternschaft sind für Stendhal kein Thema. Destutt de Tracy, sensualistischer Philosoph, zunächst in der Französischen Revolution engagiert, mit dem Stendhal in Kontakt stand, hat kurze Zeit vor ihm über Liebe geschrieben.125 Er sah in dem Bedürfnis nach Repro121 Stendhal, Über die Liebe, 179. 122 Stendhal, Über die Liebe, 191. 123 Vgl. dazu Alan MacFarlane, Marriage and Love in England. Modes of Reproduction, Oxford 1986. 124 Vgl. dazu Roberto Bizzocchi, Cicisbei. La morale italiana, in: Storica. Rivista quadrime­strale 9 (1997), 63–90; ders., Cicisbei. Morale privata e identità nazionale in Italia, Bari 2008; Edmund Leites, Puritanisches Gewissen und moderne Sexualität, Frankfurt a. M. 1988. 125 Antoine-Louis-Claude Destutt de Tracy, De l’amour, in: ders., Traité de la volonté et de ses effets, Paris 1815, 568–572.

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duktion den ersten Grund für eine Anziehung zwischen den Geschlechtern. Zu diesem Bedürfnis gesellt sich die Sympathie. Die so entstandene Liebe ist die wichtigste aller Neigungen, denn durch sie pflanzt sich die Menschheit fort und es entsteht die Gesellschaft. Sein Liebesmodell konzentriert sich auf die Familie. Wenn er auch der Auffassung ist, dass bei der Eheschließung Interessen und nicht nur Gefühle eine Rolle spielen, so denkt er doch an eine weitgehende Selbstbestimmung der Söhne und Töchter. Der wichtigste Schritt zur Absicherung von Liebesehen ist aus seiner Sicht die Ehescheidung. Ein einziges Gesetz, so Destutt de Tracy optimistisch, würde drei Viertel der glücklosen Mitgiftehen verhindern. Das Wissen um die Möglichkeit der Scheidung bewirke lebendige Gefühle und Harmonie, denn jeder Partner wisse, dass der/ die andere eigene Wege gehen könne.126 Konkurrenz, so das Konzept, führe zur Kultivierung von Gefühlen, halte sie wach und lebendig. Destutt de Tracy stand mit dieser Auffassung, dass die Ehescheidung ein Instrument zur Durchsetzung und Erhaltung der Liebe sei, nicht allein. Ein ebenso überzeugter wie pointierter Befürworter war der italienische Jakobiner Melchiorre Gioia. Wenn bei falscher Warendeklaration ein Geschäftsvertrag aufgelöst werden könne, dann müsse dasselbe auch für die Ehe gelten, wenn Fehler und Laster verheimlicht wurden. Er war wie andere davon überzeugt, dass in einer glücklichen Ehe mehr Kinder geboren würden und dass die Scheidung die Partner zu mehr Beziehungsengagement veranlasse. Sie mache den Ehemann menschlich und milde, denn er sehe eine Fluchtmöglichkeit aus einer unglücklichen Ehe. Die Ehefrau hingegen nehme all ihre Kräfte in Anspruch, um die Gefühle ihres Mannes zu fesseln.127 Die Rechtspraxis sollte Gioia widersprechen, denn in Frankreich und auch in anderen Ländern, in denen die Ehescheidung mit den napoleonischen Gesetzen eingeführt wurde, wollten nicht die Männer aus der Ehe flüchten, sondern die Frauen. Hinter Gioias Formulierung steht die Überzeugung von einer Geschlechterordnung, in der Frauen Männer an ihrer Seite halten müssen, da sie von ihrem Schutz abhängig sind. Die Argumente der Scheidungsbefürworter basierten auf einer Glückslehre, die davon ausging, dass Freude und Genuss den Arbeitseinsatz stimuliere. Es handelt sich um eine Kette, deren Glieder nicht herausgelöst werden können: Liebe, Arbeit, Tugend. Die Tugend sei die „erstgeborene Tochter der Freude“, so Gioia.128 126 Antoine-Louis-Claude Destutt de Tracy, Sui mezzi di fondare la morale di un popolo, Milano 1863 [franz. 1798], 28f. 127 Melchiorre Gioia, Teoria civile e penale del divorzio ossia necessità, cause, nuova maniera d’organizzarlo, Milano 1803, 55. 128 Gioia, Teoria civile e penale del divorzio, 81.

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Was Destutt de Tracy und Gioia forderten, hatte in Frankreich bereits Gesetzeskraft. 1792 war ein radikales Scheidungsgesetz eingeführt worden, das der Code civil 1804 wiederum einschränkte. 1816 wurde das Scheidungsgesetz aufgehoben und erst 1884 wieder eingeführt. Die Ehescheidung war insbesondere in den katholischen Ländern umstritten, aber auch in den protestantischen wurde sie selten angewandt. In England war die Ehescheidung bis 1858 nur über einen Parlamentsakt und wegen Ehebruches möglich. Zwischen 1670 und 1857 gab es hier 325 Scheidungen – nur in vier Fällen hatten Frauen die Scheidungsklage eingereicht.129 In Preußen hatte das Allgemeine Landrecht von 1794 die Scheidung mit gegenseitiger Einwilligung bei kinderlosen Ehen und bei gegenseitiger großer Abneigung ermöglicht und war damit Stein des Anstoßes für konservative Rechtswissenschaftler, denen in den 1840er Jahren eine Einschränkung dieser Freiheiten gelang.130 Wenn auch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Scheidungsbefürworter an Terrain verloren, so war für katholische Staaten dennoch ein neuer Denkhorizont eröffnet, denn die bislang von der Kirche genehmigte „Trennung von Tisch und Bett“ erlaubte keine Wiederverheiratung. In der Französischen Revolution war die Scheidung als individuelles Freiheitsrecht – „qui résulte de la liberté individuelle“, heißt es stolz in der Präambel des Gesetzes – formuliert worden.131 Ehescheidung ist a­ llerdings nicht notwendigerweise als ein Individualrecht aufzufassen. Entscheidend sind nicht nur die rechtlich festgelegten Scheidungsgründe – je nachdem ob das Verschuldensprinzip oder das Zerrüttungsprinzip galt oder beidseitiges Einverständnis gefordert war –, sondern auch die Regelungen bezüglich der Alimentation. Vielfach mussten bestimmte Voraussetzungen erfüllt sein, und nicht jeder und jede, der oder die dies wollte, konnte die Scheidung einreichen. War diese Möglichkeit jedoch gegeben, dann ist Ehescheidung nicht nur als individuelles Recht zu betrachten, sondern auch als ein wichtiges Element individualisierter Lebensgestaltung. Für die Romantikerinnen stellte Ehescheidung kein zentrales Thema dar, nicht nur deshalb, weil die Ehe selbst für sie nicht jener Ort war, an dem sie Liebe diskutierten, sondern auch weil ihnen diese, sofern sie Protestantinnen oder Jüdinnen waren, offen stand und von ihnen auch praktiziert wurde, wie etwa von Dorothea Veit, Caroline Schlegel-Schelling und Sophie Mereau. Wenn sie auch im romantischen Liebesdiskurs keinen Platz hat, so ist sie dennoch als rechtlicher Rahmen von Bedeutung. Das „Lieben des Liebens“, wie Luhmann die romantische Liebe bezeichnet hat, und die Herstellung von 129 Vgl. Merry E. Wiesner-Hanks, Christianity and Sexuality in the Early Modern World. Regulating Desire, Reforming Practice, London/New York 2000, 79. 130 Vgl. Dirk Blasius, Ehescheidung in Deutschland 1794–1945, Göttingen 1987, 27–32. 131 Siehe http://les.guillotines.free.fr/loi%20sur%20le%20divorce.htm.

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„Liebe um Liebe“ als „Existenzformel“132 bedurften einer Freiheit zur Lösung einer Bindung, auch innerhalb der Ehe. In den Traktaten hat die christliche Liebesvorstellung bzw. der christliche Glaube keinen Platz, auch nicht im Sinne einer Übertretung des christlichen Konzepts von Sünde. Eine Ausnahme stellt Ludwig Feuerbach dar. Seine 1841 erschienene Schrift „Das Wesen des Christentums“ ist eine Erörterung der Beziehung zwischen Liebe und religiösem Glauben. „Der Glaube“, so seine These, „ist das Gegenteil der Liebe.“ Denn: „Die Liebe erkennt auch in der Sünde noch die Tugend, im Irrtum die Wahrheit.“ Die Liebe ist demnach eine kognitive Kraft, die Grenzsetzungen nicht akzeptiert, sondern diese infolge ihrer Natur überschreitet. Die Nichtakzeptanz des Vorgefundenen und auch der Glaubensgebote bewirkt die Identität von Vernunft und Liebe. „Nur wo Vernunft, da herrscht allgemeine Liebe. Die Vernunft ist selbst nichts andres als die universale Liebe. Der Glaube hat die Hölle erfunden, nicht die Liebe, nicht die Vernunft.“133 Die Liebe ist daher wie die Vernunft eine säkularisierende Kraft, eine Art Säkularisierungsmaschine. Das Christentum verpflichtet zwar nicht nur zum Glauben, sondern auch zur Liebe, aber es hat „die Liebe nicht freigegeben“. Die Liebe bleibt der „Herrschaft des Glaubens unterworfen“, die Liebe ist im Christentum „befleckt durch den Glauben, sie ist nicht frei, nicht wahrhaft erfasst“.134 Die „neue“ Liebe, die sich vom christlichen Vorbild befreit hat, schreckt vor Dogmen nicht zurück, denn sie ist „ungläubig“. Sie sucht wie die Vernunft die Wahrheit und ist eine emanzipatorische Kraft. Feuerbachs „Liebe“ ist ganz im Unterschied zu den anderen hier diskutierten Konzepten nicht alleinige Geschlechterliebe, und er konzipiert sie als tendenziell subversiv. Er hebt den Gegensatz von Vernunft und Liebe auf, der in den Geschlechterideologien und -stereotypien festgelegt war. Hat Feuerbach die soziale Kraft Liebe vom Christentum abgekoppelt, so versuchten Theologen ihrerseits Liebe verstärkt in die Religion hinein zu reklamieren und zu anthropologisieren. Gott müsse „in den Liebenden sein, ihre Umarmung ist eigentlich seine Umschließung“, so Schleiermacher.135 Gotteserfahrung geschieht über die Erfahrung des/der anderen im Liebesakt. Nicht das Individuum nimmt an der Gotteserfahrung teil, sondern die Liebenden in der 132 Luhmann, Liebe als Passion, 175. 133 Ludwig Feuerbach, Das Wesen des Christentums, in: ders. Werke in sechs Bänden, Bd. 5, Frankfurt a. M. 1976 [1841], Kap. Der Widerspruch von Glaube und Liebe, 290–316, 302. 134 Feuerbach, Das Wesen des Christentums, 311. 135 Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Vertraute Briefe über Friedrich Schlegels Lucinde (1800), in: ders., Kritische Gesamtausgabe, hg. von Hans-Joachim Birkner u. a., 1. Abt., Bd. 3: Schriften aus der Berliner Zeit 1800–1802, hg. von Günter Meckenstock, 143–216, Berlin 1988, 165.

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Erfahrung des/der anderen. Die Liebenden halten auch in der christlichen Vorstellung vom Himmel Einzug, er wird zum Ort der Vereinigung sich liebender Paare; die Gottesanschauung, zuvor im Zentrum, tritt in den Hintergrund.136 Die Romantiker haben in ihren literarischen Schriften Liebe ebenfalls als ident mit Religion, einer christlichen oder einer nicht näher spezifizierten ursprünglichen, verstanden und nicht als Säkularisierungsmaschine konzipiert. Dennoch haben sie in einem Modell weitergedacht, das das aufgeklärte Denken geformt hat, nämlich in jenem der Positionierung der Geschlechterliebe an der obersten Stelle der Liebes-Hierarchien und in jenem der Radikalisierung der Zweierbeziehung in ihrer Beziehung zur Umwelt. Günter Dux spricht vom „Verlust der Welt“ in der Romantik,137 der nur durch Liebe gekittet werden konnte. Die Romantiker verstanden Liebe als „angewandte Religion“, die sich jedoch in ihrem Anspruch auf totale Erfüllung aus dieser Symbiose lösen konnte. Das Konzept Liebe wird daher in seiner romantischen Version zu einem „Akt der Gottesbeseitigung“138 und zu einem Element der Säkularisierung. Das schließt religiöse Ansätze romantischer Denker wie jene Franz von Baaders, der in seiner „Erotischen Philosophie“139 eine enge Verwandtschaft zwischen Religion und Liebe annahm, nicht aus. Für ihn waren „Erkennen und Lieben eins“, denn Liebe beruht auf einem erkennenden Akt. Geschlechterliebe ist für ihn mit Gottesliebe ident, denn Gott liebe durch die Liebenden und nur durch die Geschlechtsliebe entstehe ein Gottesbild.140 Bemerkenswert ist seine Auffassung von der ursprünglichen Androgynität des Menschen: Erst durch den Sündenfall sei die Trennung der Geschlechter entstanden. „In der wahren Liebe strebe der Mensch seine androgyne Natur wieder zu erlangen“, kommentiert Paul Kluckhohn Baaders Sicht. Daher gäbe es in den edlen Naturen eine „Wehmut über das Getrennthalten der Gemüter durch die Geschlechtsdifferenz“. Gemeint ist damit die Wehmut über die Sexualität – „tierische Begierden“.141 Seine Vorstellung von Androgynität hat daher mit jener Friedrich Schlegels, die auf erotischem Spiel beruht, nichts gemein. Für jene, die in der Tradition der Aufklärung standen, sie aber radikalisierten, war das Gefühl ein Motor, der unermessliche Kräfte in Bewegung setzen 136 Vgl. Colleen McDannell u. Bernhard Lang, Heaven. A History, New York 1990, 234. 137 Günter Dux, Geschlecht und Gesellschaft. Warum wir lieben. Die romantische Liebe nach dem Verlust der Welt, Frankfurt a. M. 1994. 138 Peter von Matt, Liebesverrat. Die Treulosen in der Literatur, München 1989, 213. 139 Franz von Baader, Sätze aus der erotischen Philosophie, in: ders., Über Liebe, Ehe und Kunst. Aus den Schriften, Briefen und Tagebüchern, München 1953, 94–107. 140 Paul Kluckhohn, Die Auffassung der Liebe in der Literatur des 18. Jahrhunderts und in der deutschen Romantik, Halle 1931, 542–553, Zitat: 543. 141 Kluckhohn, Die Auffassung der Liebe, 550.

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konnte. Der utopische Sozialist Charles Fourier sah in der Geschlechterliebe eine Produktivkraft. Sie sei notwendig, um Männer und Frauen zu großen und kreativen Arbeitsleistungen zu stimulieren. „Man wird begreifen [...], daß man allein mit dem Hebel der Liebe einhundertundzwanzig Millionen Legionäre beiderlei Geschlechts zusammenbringen kann, um Arbeiten auszuführen, bei deren bloßer Vorstellung unsere Söldlingsseelen vor Schreck erstarren würden.“142 Um diese Kräfte freisetzen zu können, bedürfe es aber einer Neuordnung der Geschlechterbeziehungen, ein Heraustreten aus dem Zwangsverband der Ehe, so Fourier. Wie im Bereich der Arbeit, sollte das Prinzip der Assoziation auch in jenem der Liebe angewendet werden. Die Liebe darf nicht bei der Paarfigur stehen bleiben. Warum soll eine Frau nur einen Mann lieben dürfen und umgekehrt? Je mehr Menschen durch Liebe miteinander verbunden werden, desto enger sei der gesellschaftliche Zusammenhalt. Dies galt für heterosexuelle wie für gleichgeschlechtliche Beziehungen. „Die Liebe soll bis ins Unendliche die sozialen Bindungen vermehren.“ Liebe ist für Fourier die „Leidenschaft, mit der man rechnen muss, um soziale Beziehungen zu erweitern“.143 Sie schafft eine Gleichheit, die die Religionen erst im Jenseits vorsehen. Der Fürst kann die Magd lieben. Liebe reißt soziale Schranken nieder und ist das bewegende Element der Geschichte, der „geschichtsmächtigste Modernisierungsfaktor“.144 Fourier wollte die Grenzen niederreißen, die zwischen Liebenden errichtet worden waren, radikal alle Tabus entfernen, wie auch jenes des Inzests. Fourier sieht Geschlechterliebe als sozialen Kitt. Um dieses Konzept ausführen zu können, gab er das Paarmodell auf und dachte in Serien: Mann – Frau – Mann – Frau – Mann – Frau oder Mann – Mann – Mann – Mann, die Frau – Frau – Frau – Frau gegenüber stehen. Wenn auch die Zeitgenossen von Fouriers Vorstellungen schockiert waren, so sind diese dennoch – wenn auch außergewöhnlich in ihrer Radikalität – Teil eines breiten Liebesdiskurses, in dem es zahlreiche Überschneidungen und Ausprägungen gab. Fourier war implizit der Auffassung, dass Liebe Berge versetzen kann. Loui­ se­Dittmar hat unmittelbar nach der Erfahrung der Revolution von 1848 den Zusammenhang von Demokratie und Liebe hergestellt. Liebe versteht sie als 142 Charles Fourier, Œuvres complètes, Bd. 1: Théorie des quatre mouvements, Paris 18412, 263, hier zitiert in der Übersetzung von Daniel Guérin, Vorwort, in: Charles Fourier, Aus der neuen Liebeswelt, Berlin 1977, 7–36, 14. 143 Charles Fourier, Le nouveau monde amoureux, Paris 1979 [1816], 236, 231. 144 Ute Daniel, Die Liebe, das Klima und der Kosmos. Das revolutionäre Potential des Privatlebens in der Utopie des Frühsozialisten Charles Fourier, in: Karin Hausen u. Heide Wunder (Hg.), Frauengeschichte – Geschlechtergeschichte, Frankfurt a. M./New York 1992, 89–98, 95.

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emanzipatorische Kraft, die den Polizeistaat aus den Angeln heben könne.145 Dass Liebe Freundschaft und „große Gesinnung“ produziert und daher die Tyrannei untergräbt, davon war auch Pausanias in Platons Gastmahl überzeugt.146 Für Louise Dittmar aber bedarf es rechtlicher und gesellschaftlicher Voraussetzungen, damit Liebe diese Kraft entfalten kann, so vor allem der Befreiung der Frauen aus ihrem Sklavendasein, aus ihrer physischen und moralischen Verwahrlosung. Ihre „verkochte, verwaschene und verbügelte Seele oder schlimmer noch eine roman- und teeverwässerte“ müssen sie ablegen können,147 dann könne Liebe Teil einer neuen politischen Ordnung sein. „Wie der Begriff Staat nur durch Verwirklichung der Demokratie erfüllt wird, so wird das gesellschaftliche Leben, die innere Ordnung des Staates nicht eher erreicht werden, bis die Liebe, die Grundbedingung aller menschlichen Verbindungen, der Inbegriff und die Spitze aller persönlichen Freiheit, befreit ist vom ökonomisch politischen Zwang, bis die Regelung ehelicher Verhältnisse den Rechtsverhältnissen entzogen und den allein Beteiligten übergeben ist.“148 So viel sagen uns Dittmar und Fourier: Liebe ist eine gesellschaftsverändernde, eine politische Kraft, die über die Geschlechterbeziehungen hinausreicht. Sie ist selbst ordnungssetzend. Sie öffnet den Weg zu einer gerechten Gesellschaft, die Gleichheit zwischen den Geschlechtern mit einbezieht. Nicht alle Liebestheoretiker dachten so, denn sie haben Geschlechterdichotomien auf ihrem Liebeskonzept aufgebaut, indem sie Liebe in die Kompetenz von Frauen verwiesen. Die Forschung hat wiederholt hervorgehoben, dass diese Zuordnung in der Praxis keine Geltung hatte. Es ist kein Zweifel, dass auch Männer damit konfrontiert waren, sich in einer Zeit, in der Liebe zu einer zentralen Dimension von Individuum und Gesellschaft erklärt wurde, mit der ‚Wahrheit‘ ihrer Gefühle auseinanderzusetzen. Dennoch differierte die Erwartungshaltung an Frauen. Die Frage nach der Wahrheit der Liebe meinte nicht nur, dass in der Intimsphäre alle Rollenzwänge abgelegt werden können,149 sondern richtete sich vor allem auf das eigene Innere. Liebe wurde zum Transmissionsriemen bei der Erfahrung des Ich: Liebe ich, werde ich geliebt? Diese Frage stellten 145 Louise Dittmar, Das Wesen der Ehe, in: Renate Möhrmann (Hg.), Frauenemanzipation im deutschen Vormärz. Texte und Dokumente, Stuttgart 1978, 126–149, 143. 146 Platon, Das Gastmahl oder Von der Liebe, Stuttgart 1996, 45. 147 Louise Dittmar, Wider das verkochte und verbügelte Leben der Frauen, in: Möhrmann, Frauenemanzipation im deutschen Vormärz, 55–58, 56. 148 Dittmar, Das Wesen der Ehe, 143f. 149 Manfred Schneider, Die kranke schöne Seele der Revolution. Heine, Börne, das „Junge Deutschland“, Marx und Engels, Frankfurt a. M. 1980, 14, zit. nach Jutta Greis, Drama Liebe. Zur Entstehungsgeschichte der modernen Liebe im Drama des 18. Jahrhunderts, Stuttgart 1991, 22.

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Männer und Frauen an sich selbst, aber auch an Freunde und Verwandte, an literarische Texte. Lektüre, Gespräch, Beobachtung und die kommunikative Handlung selbst waren die Lehrmeister. Liebe war ein interaktives Programm. Rebekka Habermas hat diese Interaktionen ausgehend von dem Liebespaar Heinrich Eibert Merkel und Regina Dannreuther aufgezeigt, die in den Jahren von 1783 bis 1785 darüber nachdachten und erörterten, ob sie sich liebten. Ähnliche Probleme hatte der Advokat Ferdinand Beneke: Schlaflose Nächte quälten ihn, der sich die Frage stellte, ob er der richtige Mann für die einstweilen Auserwählte sei. Mit der Hilfe von Freunden konnte er seine Entscheidung treffen.150 Von Liebe wurde erwartet, dass sie ein authentisches Gefühl ist, das eine Wahrheit über Liebende und Geliebte enthält. Die Liebenden lasen und schrieben Briefe und Tagebücher. Der Brief wurde zu einem wichtigen Medium der Liebenden und für Liebende, denn er ­zirkulierte, er wurde kopiert, an Freunde und Verwandte verteilt. Briefe setzten Gefühls-Standards, wie jene Meta Klopstocks, die sie an ihren Verlobten und späteren Mann den Schriftsteller Friedrich Gottlieb Klopstock schrieb.151 „[G]lauben Sie, daß ich wie eine Meta Sie liebe?“, fragte Caroline Flachsland ihren Verlobten Johann Gottfried Herder.152 So wollte sie lieben. In der Herstellung und Verbreitung einer Semantik der Liebe und in der Konstituierung eines Liebesgedächtnisses nehmen Briefe und Tagebücher einen wichtigen Platz ein. Jutta Greis hat aufgezeigt, wie in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts „Liebe als Sujet das [deutsche] Drama“ eroberte und wie sich im Verlauf des 18. Jahrhunderts eine neue Liebessemantik entwickelte. Romantische Liebe sieht sie in dieser Tradition.153 Dem soll hier zugestimmt werden. Geschlechter150 Rebekka Habermas, Spielerische Liebe oder Von der Ohnmacht der Fiktionen. Heinrich Eibert Merkel und Regina Dannreuther (1783–1785), in: Eva Labouvie (Hg.), Ungleiche Paare. Zur Kulturgeschichte menschlicher Beziehungen, München 1997, 152–174; vgl. auch Anne-Charlott Trepp, Sanfte Männlichkeit und selbständige Weiblichkeit. Frauen und Männer im Hamburger Bürgertum zwischen 1770 und 1840, Göttingen 1996, 103ff. 151 Es sind wunderliche Dinge, meine Briefe. Meta Klopstocks Briefwechsel mit Friedrich Gottlieb Klopstock und mit ihren Freunden 1751–1758, hg. von Franziska Tiemann, München 1980. 152 Brief von Flachsland an Herder vom 25. und 26. August 1770, in: Herders Briefwechsel mit Caroline Flachsland. Nach den Handschriften des Goethe- und Schiller-Archivs, hg. von Hans Schauer, Bd. 1: August 1770 bis Dezember 1771, Weimar 1926, 7; vgl. auch Ulrike Prokop, Liebe und Lektüre oder: Was bedeuten die Tränen der Leserin? Aus dem Briefwechsel zwischen Caroline Flachsland und Johann Gottfried Herder 1770–1773, in: Jürgen Belgrad u. a. (Hg.), Zur Idee einer psychoanalytischen Sozialforschung. Dimensionen szenischen Verstehens. Alfred Lorenzer zum 65. Geburtstag, Frankfurt a. M. 1987, 259–303, 274. 153 Greis, Drama Liebe, 3.

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liebe hat den Triumphzug vollziehen können, den sie vollzogen hat, nicht allein weil sie an die Stelle der Religion trat – was sie nur in Ansätzen tun konnte –, sondern auch weil sie mit Individualrechten in Zusammenhang gebracht wurde. Das Recht auf Liebe und damit auf eine selbstgewählte Ehe wurde zwar zu keinem expliziten Menschenrecht – die selbstgewählte Ehe sollte erst in der UNO Menschenrechtserklärung von 1948 verankert werden –, aber auch die ungeschriebenen Rechte entfalteten eine Wirksamkeit. Das Lob der Ehescheidung und die Forderung nach ihrer Einführung haben den Gedanken der Konkurrenz in die Liebeskultur eingebracht, die sich allerdings auf sehr ungleiche Partner bezog, denn die Geschlechterbeziehungen waren nicht nur in der Ehe auf Asymmetrie aufgebaut. Schließlich wurde Geschlechterliebe das Modell für eine geschichtsmächtige Erfindung, nämlich die Nation. Herder hatte die Vaterlandsliebe auf derselben Ebene angesiedelt wie die Geschlechterliebe. „Jeder“, schrieb er, „liebt sein Land, seine Sitte, seine Sprache, sein Weib, seine Kinder; nicht weil sie die besten auf der Welt, sondern weil sie die bewährten Seinigen sind.“154 Liebe wird hier an Nähe gebunden, an das Vertraute und Vorgefundene, an Besitz. Es gibt jedoch eine Gleichrangigkeit von Land und Frau und Kind im Gefühlskosmos des von Herder angenommenen Mannes. Das sollte so nicht bleiben. Die Liebe zur Nation wird zur höchsten Form der Liebe: Welcher Geist ist es, fragt Fichte, der den „Widerstrebenden“ zwingt, „daß er alles, bis auf sein Leben, in Gefahr setze? Nicht der Geist der ruhigen bürgerlichen Liebe der Verfassung und der Gesetze, sondern die verzehrende Flamme der höheren Vaterlandsliebe, die die Nation als Hülle des ewigen umfaßt, für welche der Edle mit Freuden sich opfert, und der Unedle, der nur um des ersten willen da ist, sich eben opfern soll.“155 Die „Reden an die deutsche Nation“, 1807/08 geschrieben, sind das Produkt der antinapoleonischen Kriege, aber kein zufälliges und einzigartiges. Fichte knüpft an sein Geschlechterliebeskonzept an. Die Frau gibt dem Mann alles hin, was sie hat, muss dies auch tun: „Nur mit ihm vereinigt, nur unter seinen Augen und in seinen Geschäften hat sie noch Leben und Thätigkeit. Sie hat aufgehört, das Leben eines Individuums zu führen; ihr Leben ist ein Theil seines Lebens geworden […].“156 Ebenso hört der Patriot auf, ein Individuum zu sein, denn er geht in der Nation auf und ist bereit, alles zu opfern, auch das eigene Leben. 154 Johann Gottfried Herder, Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1784– 1791), Bd. 1, Leipzig 1841, 13. Vgl. dazu Maurizio Virioli, For Love of Country. An Essay on Patriotism and Nationalism, Oxford 1995, 122. 155 Johann Gottlieb Fichte’s Reden an die deutsche Nation, Tübingen 1869, 108. 156 Fichte, Grundlage des Naturrechts, Grundriß des Familienrechts, § 6, 316.

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Die Liebe zum Vaterland umfasst das Opfer für das Vaterland, das Märtyrertum. In politischen, in literarischen Texten, in Selbstzeugnissen wird diese Forderung von europäischen Patrioten des frühen und auch späteren 19. Jahrhunderts kontinuierlich erhoben. Die Lektüre patriotischer Texte bestätigte die jungen Männer, so auch in den italienischen Staaten, in ihrem Wunsch. „Für Italien jegliche Gefahr auf sich zu nehmen, das Exil zu ertragen, das Gefängnis, ja das Leben selbst zu opfern, das erschien uns als eine Krönung des beneidenswerten Martyriums,“ konstatierte der Patriot Marco Minghetti.157 In dieser Situation, in der das sich Opfern für die Nation eine Verantwortung von Männern ist, sind die Nations-Allegorien weiblich: Marianne, Germania, Italia, Britannia, Moder Svea, Mor Danmark, Polonia oder Helvetia. Sie sind die Mütter, die die verwandtschaftlichen Verbindungen zwischen den Angehörigen der Nation herstellen, die alle Söhne und Töchter, Brüder und Schwestern sind: „Su, figli d’Italia! Su, in armi, coraggio!“ „Auf, Söhne Italiens! Auf, zu den Waffen, Mut!“158 Der Mann opfert sich der Nation, sei es, weil sie unter Fremdherrschaft leidet, sei es, weil sie geteilt und nicht geeint oder bedroht ist. Er verteidigt die Nation auch symbolisch in der Ehre der Frauen. In der patriotischen Literatur des frühen 19. Jahrhunderts – und weit darüber hinaus – verschmilzt die Ehre der Nation mit jener der Frauen. Eine Bedrohung der sexuellen Integrität der Frauen durch Fremde ist auch eine Bedrohung der Ehre der Nation. Beispielhaft für diese Symbiose ist die „Sizilianische Vesper“, ein Ereignis, das von der Geschichtswissenschaft, von der Literatur, der Musik und der bildenden Kunst des frühen 19. Jahrhunderts aufgegriffen und erzählt wurde: 1282 war in Palermo eine Sizilianerin durch die Berührung eines französischen Soldaten entehrt worden. Ihr Bruder rächte diesen Verlust ihrer Ehre, tötete den Franzosen und initiierte den Aufstand der Palermitaner. Am Körper der Frauen findet die Demütigung oder Unversehrtheit der Nation ihren Ausdruck. Die Ehre der Frauen ist doppelt gefährdet: durch die Gewalttätigkeit des Feindes und durch die Liebe der Frauen zu ihm. Die patriotische (Musik-)Literatur greift dieses Thema in der Interpretation von Schuld und nationalem Unglück auf. Im „Assedio di Corinto“ von Luigi Balocchi und Alexandre Soumet, von Gioacchino Rossini vertont, liebt die Griechin Pamira einen Unbekannten, nämlich, wie sich zeigen sollte, den Türken Mohammed II. Als sie sieht, dass viele Jungfrauen die Stadt gegen die Türken verteidigen, „erkennt sie, dass ihr Platz nicht auf 157 Alberto Mario Banti, La nazione del Risorgimento. Parentela, santità e onore alle origini dell’Italia unita, Torino 2000, 41. 158 Aus Giovanni Berchets Ode, All’armi! All’armi! (1831). Berchet war ein italienischer Literat (1783–1851) und an den Kämpfen im Kontext der italienischen Einigung beteiligt.

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der Seite des Feindes sein kann, sondern dass es ihre Pflicht ist, dem Vater zu gehorchen und den Bräutigam zu akzeptieren, den er gewählt hat“.159 Der pater familias tritt auf neue Weise in die europäischen Liebesgeschichten ein, diesmal nicht auf Basis des Rechts, sondern mit nationaler Legitimität ausgestattet, die von der Literatur aufgegriffen und verbreitet wird. In einer Lyrik Giovanni Berchets „Il Rimorso“, „Die Reue“, von 1824 hat eine „schöne Lombardin“ einen österreichischen Soldaten geheiratet. Sie wird von allen gemieden und klagt: „Or chi sono? L’apostata esosa / Che vogliosa – al suo popolo mentí. / Ho disdetto i comuni dolori, / Ho negato i fratelli, gli oppressi, / Ho sorriso ai superbi oppressori, / A seder mi son posta con essi.“160 „Wer bin ich nun? Die verhasste Apostatin. Die Lüsterne, die ihr Volk belog. Von den gemeinsamen Schmerzen habe ich mich losgesagt. Die Brüder, die Unterdrückten, habe ich verleugnet. Den stolzen Unterdrückern habe ich zugelächelt. An einen Tisch mich mit ihnen gesetzt.“ Die Liebe zum ‚Feind‘ wird von der nationalen Gemeinschaft bestraft, und im Bewusstsein eines ‚Verrats‘ richtet sich die Ausgeschlossene selbst. Auf diese Weise entsteht eine Gefühls­ ökonomie, die in ihren Ausschlüssen nicht auf niedergeschriebene Verbote angewiesen ist. Der nationale Diskurs grenzt aus, und diese Ausgrenzung wird von den Geschlechtern mit vollzogen und mitgestaltet. Die mehr als zwanzigjährigen europäischen Kriege, die der Französischen Revolution folgten, blieben nicht ohne Auswirkungen auf das Konzept und die Erfahrung von Männlichkeit. Die Militärpflicht, in Frankreich 1793, in Preußen 1813 und im Laufe des 19. Jahrhunderts in einem Großteil der europäischen Staaten eingeführt, hat das mehrjährige Leben als Soldat zum Teil männlicher Sozialisation gemacht.161 Jeder männliche Staatsbürger sollte ungeachtet seines Standes und seines Vermögens Militärdienst leisten; Privilegierungen, die vom Militärdienst befreiten, waren aufgehoben. Der neue Mann ist Soldat und greift zu den Waffen. „Zu den Waffen! Zu den Waffen! / Als Männer hat uns Gott geschaffen, / Auf, Männer, auf! und schlaget drein!“,162 schrieb Ernst Moritz Arndt 1810, als ob er sich mitten im Schlachtengetümmel befände. Diese blutrünstigen Texte sind in den antinapoleonischen Kämpfen entstanden, an der Wiege der preußischen Nationswerdung. Die ‚sanften‘ 159 Banti, La nazione del Risorgimento, 88. 160 Zit. nach Banti, La nazione del Risorgimento, 90. 161 Vgl. dazu den Band Roland G. Foerster (Hg.), Die Wehrpflicht. Entstehung, Erscheinungsformen und politisch-militärische Wirkung, München 1994. 162 Ernst Moritz Arndt „Schlachtengesang“ (1810), zit. nach Karen Hagemann, Nation, Krieg und Geschlechterordnung. Zum kulturellen und politischen Diskurs in der Zeit der antinapoleonischen Erhebung Preußens 1806–1815, in: Geschichte und Gesellschaft 22, 4 (1996), 562–591, 576.

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Männer wurden zu Außenseitern. „Wir hoffen, dass keiner zurückbleibe, ... wenn die männlichen Männer ausrücken, daß es keinen geben werde, dem unsere Jungfrauen sagen müssen: weiche von uns, du Feigling, wir wollen Männer, welche den Muth haben, unser höchstes Gut, unsere Ehre, unsere Freiheit, unser Leben, unsern Heerd zu vertheidigen!“163 Der Soldat wurde zum Idol von Männern und Frauen, zur Konfiguration einer idealen Männlichkeit. Frauen sollten nur Männer als Schwiegersöhne und Ehemänner akzeptieren, die sich im Krieg gegen Napoleon als Soldaten bewährt hatten.164 Das nationale Bewusstsein zog neue Grenzlinien zwischen den Geschlechtern: Die Legitimität der Beziehungen beruhte auf der nationalen Homogenität des Paares und ihrem nationalpolitischen Engagement. Allerdings war die Zeit vor 1848 nicht nur von nationalen Gegensätzen gekennzeichnet, sondern auch von Symbiosen nationaler Kulturen, von einer Hybridität im Sinne vielfältiger nationaler Zuordnungen. So hat der „Vater der tschechischen Nation“ František Palacký im Jahre 1827 Therese Miechura geheiratet, die deutscher Muttersprache war und mit der er bis zu ihrem Tod im Jahr 1860 eine umfangreiche Korrespondenz in deutscher Sprache führte. Jiří Kořalka betont, dass Palacký damit in den Augen der „national Erweckten“ und ihrer Nachkommen eine „unverzeihliche Sünde“ begangen habe.165 Er dachte anders, aber die neue Zeit ging nicht mit ihm. 1.4 Die Ordnung des Besitzens

Über die nicht nur ökonomische, sondern auch soziale und kulturelle Bedeutung des Erbrechts sowie über seine Auswirkungen auf Emotionen waren sich die Zeitgenossen einig. Destutt de Tracy hat das zum Ausdruck gebracht. Die Aufhebung der Testierfreiheit und die Einführung des gleichen Erbteils für Söhne und Töchter würden die „Wurzel eines Großteils des Geschwisterhasses“ ausreißen, meinte er, denn der Alleinerbe hätte Vermögen akkumuliert und als (unglücklicher) Müßiggänger gelebt. Viel glücklicher aber sei der, der 163 Bote von Remsthal, 12. Mai 1849, zit. nach Carola Lipp, Liebe, Krieg und Revolution. Geschlechterbeziehung und Nationalismus, in: dies. (Hg.), Schimpfende Weiber und patriotische Jungfrauen. Frauen im Vormärz und in der Revolution 1848/49, Moos/BadenBaden 1986, 353–384, 368. 164 Vgl. Karen Hagemann, „Deutsche Heldinnen“: Patriotisch-nationales Frauenhandeln in der Zeit der antinapoleonischen Kriege, in: Ute Planert (Hg.), Nation, Politik und Geschlecht. Frauenbewegung und Nationalismus in der Moderne, Frankfurt a. M./New York 2000, 86–112, 101. 165 František Palacký, Briefe an Therese. Korrespondenz von František Palacký mit seiner Braut und späteren Frau aus den Jahren 1826–1860, hg. von Jiří Kořlaka, Dresden 2003, 6.

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einer ehrenhaften Arbeit nachgeht. Mit der Einführung des gleichen Erbteils für Söhne und Töchter fiele auch die Bedeutung der Mitgift und mit ihr die Mitgiftspekulation. Hierin sah er die Voraussetzungen für die Durchsetzung der Liebesehe gegeben. Drei Säulen seien die Basis familiären Glücks: die Ehescheidung, die Gleichheit im Erbrecht und die Abschaffung der Testierfreiheit.166 Bemerkenswert ist, dass sich zwei der drei Säulen auf das Erbrecht beziehen. Damit gibt er uns einen Einblick in die Bedeutung dieses Rechts, die nicht nur im Zusammenhang mit Vermögenstransfers gesehen wurde, sondern auch mit Gefühlen und sozialen Beziehungen. Im Hintergrund dieser Forderung nach Einschränkung der Testierfreiheit stand die Skepsis gegenüber dem Erblasser selbst, denn „nichts regt so sehr die Leidenschaften des Hasses, des Neides, des Eigennutzes und selbst des Truges auf, als die von der menschlichen Eitelkeit so sehr gesuchte Freyheit, noch nach dem Tod wirken zu wollen“.167 Diese Freiheit konnten in umfassendem Maße jene in Anspruch nehmen, die etwas zu vererben hatten, und das waren mehrheitlich Männer, Familienväter, die im Besitz von Haus und Hof und eines großen Teils der Vermögen standen.168 Zweifelsohne, ein Testament wirft seinen Schatten schon lange Zeit vor dem Tod des Testators, und Jahre und Jahrzehnte danach ist sein Einfluss immer noch bemerkbar. Beides bezieht sich auf zwischenmenschliche Beziehungen und Emotionen, wie dies ein italienischer Jurist zum Ausdruck brachte: „L’ordine naturale delle affezioni ch’è il fondamento e la norma delle successioni, è pure il fondamento della legittima e della dote [...].“169 Die natürliche Ordnung der Gefühle sei die Basis und die Norm der Nachfolgeordnung und auch das Fundament des Pflichtteils und der Mitgift. Die Erbrechtsnormen spiegeln eine legistisch erwünschte Gefühlsordnung wider; darin waren sich die Zeitgenossen einig und das bestätigt auch die Forschung. Mit den Reformen des Erbrechts 1793 in Frankreich wurden die Testierfreiheit gänzlich aufgehoben und gleiche Pflichtteile für die Nachkommen, Söhne und Töchter, eingeführt. Die Aufhebung der Testierfreiheit betraf Männer und Frauen, hatte aber für erstere wesentlich mehr Bedeutung, denn sie beschnitt die Rechte des pater familias ganz entscheidend. In der Folge wurden dem Erblasser wieder mehr Rechte eingeräumt. Der Code civil von 1804 gab ihm die Möglichkeit, je nach Anzahl der Kinder über eine Quote von einem Viertel bis 166 de Tracy, Sui mezzi di fondare la morale, 29–32. 167 von Zeiller, Abhandlung über die Principien, 192f, Anm. 168 Vgl. Raffaele Romanelli, Donne e patrimoni, in: Angela Groppi (Hg.), Il lavoro delle donne, Roma 1996, 345–367, 347–354; Margareth Lanzinger, Das gesicherte Erbe. Heirat in lokalen und familialen Kontexten. Innichen 1700–1900, Wien/Köln/Weimar 2003, 224. 169 Cause italiane civili, criminali e commerciali discusse dal 1800 fino ai giorni nostri avanti i primi tribunali, Prato 1849: Causa Guarini, Ricasoli e Malvezzi.

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höchstens der Hälfte des Erbes frei zu verfügen, wodurch es trotz der Einführung von gleichen Pflichtteilen für Söhne und Töchter zu einer Privilegierung einzelner Kinder kommen konnte. Der egalitäre Ansatz verhinderte nicht, dass das Erbrecht des Code civil von 1804 die Rechte des überlebenden Partners hinter jene der Deszendenten, Aszendenten und Kollateralen des Verstorbenen reihte, das bedeutete hinter die Kinder und deren Nachkommen, hinter die Eltern und deren Vorfahren und hinter die Geschwister und deren Nachkommen, und zwar bis zum zwölften Grad der Verwandtschaft. Der überlebende Ehepartner konnte nur erben, wenn der Verstorbene keine Verwandten mit Erbrecht hinterlassen hatte, was bei einem Konzept von zwölf Graden sehr unwahrscheinlich war. Das gilt für breite Teile Europas bis ins 20. Jahrhundert, wenn auch mit größeren Unterschieden. So sah das Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch 1811 im Fall von Kinderlosigkeit ein Erbrecht des überlebenden Partners an einem vierten Teil des Erbes vor, im Falle des Vorhandenseins von Kindern aber nur den Fruchtgenuss. Dieser sogenannte „Witwenquart“ war auch in anderen Ländern wie etwa den italienischen Staaten nach 1815 – teilweise als „Quart der armen Witwe“ – und in Preußen üblich. In England hat sich die Situation für Witwen hingegen nach 1833 drastisch verschlechtert. Sie verloren das bislang geltende Recht, ein Drittel des Vermögens ihres verstorbenen Mannes zu erben. Das Argument, das in den Augen der Befürworter für dieses neue Gesetz sprach, war, dass nur auf diese Weise „fortune hunters“ abgeschreckt werden könnten.170 In mehreren europäischen Ländern gab es im frühen 19. Jahrhundert daher eine Schlechterstellung des überlebenden Ehepartners, der zwar grundsätzlich männlich und weiblich war, aber vom Gesetz her als weiblich verstanden wurde. Die Erbrechtsgesetze sind zentrale Orte, in denen Verwandtschaft definiert wird. Caroline Brettells Feststellung, dass „Blut nicht notwendigerweise dicker als Wasser“ sei, und dass „Verwandtschaft kontinuierlich konstruiert und vergegenständlicht“ werden müsse,171 ist insbesondere für das Erbrecht

170 Zum Ehegattenerbrecht und Erbrecht allgemein vgl. Ernst Holthöfer, Fortschritte in der Erbrechtsgesetzgebung seit der französischen Revolution, in: Mohnhaupt, Zur Geschichte des Familien- und Erbrechts, 121–175, insbes. 156–165 und 121–127. Zum Dotalrecht in der Republik Venedig und im Regno d’Italia vgl. Maria Elisabetta Baldassarre, Né per obbligo né per amore: sistema dotale e regime patrimoniale tra coniugi nella Venezia napoleonica, in: Atti dell’istituto Veneto di Scienze, Lettere ed Arti CLII (1993–1994), 451–520, darin zu Mitgift und Ehre 515ff; zu England vgl. Leonore Davidoff u. Catherine Hall, Family Fortunes. Men and Women of the English Middle Class, 1780–1850, London 1988, 209f. 171 Caroline B. Brettell, Kinship and Contract: Property Transmission and Family Relations in Northwestern Portugal, in: Comparative Studies in Society and History 33, 3 (1991), 443–465, 460.

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von Geltung. Im Unterschied zu den kirchlichen Endogamieverboten, zu den katholischen und protestantischen, aber auch jenen anderer Religionen, finden Ehepartner und deren Verwandtschaftslinien hier keine Berücksichtigung, sondern nur die patrilinearen und matrilinearen Verwandten des Verstorbenen. Dabei kommt jenes Moment zum Tragen, das Michael Mitterauer als ein Spezifikum des mittelalterlichen Europas bezeichnet hat, dass nämlich das Verwandtschaftssystem nicht partilinear, sondern bilateral orientiert war.172 Für das Erbrecht weiter Teile des 19. Jahrhunderts trifft dies deshalb nicht zu, weil der Ehepartner und mit ihm die Allianzbeziehung, die Schwägerschaft, ausgeklammert wurden. Die Veränderungen, die im Verlauf des 19. Jahrhunderts einsetzten, trugen dem Umstand Rechnung, wie Ernst Holthöfer herausgearbeitet hat, dass die Hinterlassenschaft eines Verstorbenen „nicht mehr das von ihm selbst übernommene und bewirtschaftete Familienerbe, sondern das Resultat seiner eigenen Wertschöpfung“ war.173 Dieses Resultat verdankte der Ehepartnerin mehr als den Verwandten. Die Nachrangigkeit der Allianzbeziehung gegenüber der Blutsverwandtschaft wurde im Laufe des 20. Jahrhunderts schrittweise aufgehoben. In dieser Entwicklung des Erbrechts finden nicht nur neue Gewichtungen und Vorstellungen von Verwandtschaft einen Ausdruck, sondern auch vom Ehepaar selbst. Die Forschung hat die Entstehung des „Paares“, zunächst als Ehepaar verstanden, nicht nur über das Liebeskonzept definiert, sondern auch über dessen Heraustreten aus Verwandtschaftszusammenhängen. Im Erbrecht fand dies spät statt, erst zu einem Zeitpunkt, als das bürgerliche Erbrecht seine Bedeutung für die (Grund-)Versorgung von Individuen bereits verloren hatte.174 Das sozialstaatliche Netz sollte diese Funktionen, zumindest für viele, übernehmen. Allerdings steht der Eindeutigkeit der Normen eine Vielfalt von Praktiken gegenüber. Dies verweist uns nicht nur darauf, dass die Betroffenen Wert auf die Beibehaltung von Traditionen legten, sondern auch darauf, dass sie die geltende Rechtslage kannten und zu vermeiden wussten. Sie setzten jene zum Erben ein, die das geltende Recht nicht vorsah. Sie konnten das, indem sie die Möglichkeit in Anspruch nahmen, in Eheverträgen auch die materielle Situation von Witwen zu definieren. Detailliert wurden hier die Rechte der Witwe aufgezählt, wie Margareth Lanzinger aufgezeigt hat, etwa die ihr zustehende Benutzung der Räume bzw. des Sitzplatzes samt Himmelsrichtung, der An172 Mitterauer, Warum Europa, 78. 173 Holthöfer, Fortschritte in der Erbrechtsgesetzgebung, 157. 174 Vgl. dazu Rainer Schröder, Der Funktionsverlust des bürgerlichen Erbrechts, in: Mohnhaupt, Zur Geschichte des Familien- und Erbrechts, 281–294.

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spruch auf einen Teil des Gartens und auf Heizmaterial. Diese genau abgesteckten und abgesicherten Bewegungsradien und Nutzungsrechte verweisen darauf, dass der Platz der Witwe sichergestellt wurde, aber auch werden musste. Auf diesem Wege konnten Witwen vor den Verwandten des Verstorbenen das Erbe antreten, jedoch immer nur im Sinne eines Fruchtgenusses, der über die Ehe hinaus ausgedehnt werden konnte, wie im Falle des Johann Ortner aus Innichen in Südtirol im Jahr 1801. So konnte das gesetzliche Erbrecht umgangen werden.175 Für die Vererbungspraxis relevant war jedoch auch der Güterstand, das Ehegüterrecht, das als Gütergemeinschaft und Gütertrennung definiert war. Letzteres ging bis in das 20. Jahrhundert mit dem Dotalrecht konform. Dieses war eine Einrichtung des römischen Rechts und beruhte auf der obligatorischen Ausstattung der Braut mit einer Mitgift, meistens durch ihre Herkunftsfamilie. Deren Verwaltung und Fruchtgenuss wurde dem Ehemann übertragen, die Mitgift selbst blieb jedoch Eigentum der Ehefrau und fiel im Falle des Todes des Mannes an sie zurück. In mehreren europäischen Ländern, vor allem in jenen mit einer großen Tradition des römischen Rechts, sollte eine Reihe von Maßnahmen die Einhaltung des Dotalrechts und den Schutz der Mitgift gewährleisten. So wurde in den italienischen Staaten der Ehemann verpflichtet, die Mitgift durch eine Hypothek auf sein immobiles oder mobiles Vermögen abzusichern, was in anderen Ländern nicht der Fall war. Diese Absicherung lag jedoch im Interesse der Herkunftsfamilie der Braut, die mit der Erstellung der Mitgift auch Einfluss auf die Ehe und den Ehemann nahm bzw. nehmen konnte und wollte.176 Wie hoch der Stellenwert der Mitgift in zahlreichen europäischen Gesellschaften war, zeigen die verschiedenen Institutionen, die eingerichtet wurden, um die Töchter damit ausstatten zu können. Das trifft auf die Bruderschaften zu, bei denen arme Mädchen um eine Mitgift ansuchen konnten, und auf die Monti di Dote oder Monti di Famiglia, von Familien gestiftete Banken, die aus den Kapitalien vermögender Familien gespeist wurden, um die Bereitstellung der Mitgift zu ermöglichen.177 Ansatzweise gab es Versuche dieser Art 175 Lanzinger, Das gesicherte Erbe, 284. 176 Vgl. Angiolina Arru, Die nicht bezahlte Mitgift. Ambivalenzen und Vorteile des Dotal­ systems im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert, in: L’Homme. Z.F.G. 22, 1 (2011), 55–69. 177 Vgl. Mauro Carboni, Le doti della „povertà“. Famiglia, risparmio, previdenza: il Monte del Matrimonio di Bologna (1583–1796), Bologna 1999; Marina D’Amelia, Economia familiare e sussidi dotali. La politica della Confraternita dell’Annunziata a Roma (secoli XVII– XVIII), in: Simonetta Cavaciocchi (Hg.), La donna nell’economia, secc. XIII–XVIII. Atti della „Ventunesima Settimana di Studi“, 10–15 aprile 1989, Firenze 1990, 195–215.

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auch in anderen Ländern, wie etwa jene, arme und tugendhafte Mädchen an Lottogewinnen Anteil nehmen zu lassen178 oder durch einschlägige Vereine zu unterstützen.179 Diese Aktivitäten eröffnen einen Einblick in die gesellschaftliche Bedeutung von Ehe und sind weniger ein Zeichen der Geringschätzung lediger Frauen, wie Caroline Brettell angenommen hat.180 Der Vorteil des Mitgiftsystems für Frauen bestand darin, dass sie Eigentümerinnen der Mitgift blieben und damit auch eine entsprechend starke Position in der Ehe einnehmen konnten. Als Gegensatz zur Mitgift gilt der Brautpreis, der Brautkauf, der die Braut in Hinblick auf Besitz rechtlos dem Ehemann ausliefert. In Europa stellt er die Ausnahme dar. Neuere Forschungen relativieren diesen Gegensatz, indem sie darauf verweisen, dass Mitgift und Brautpreis auch gemeinsame Praktiken, wie in Bulgarien, darstellen konnten.181 In Europa dominierte die Mitgift und mit ihr das Dotalrecht, das die entsprechenden Rechte und Pflichten der Ehepartner festlegte. In zahlreichen Ländern war mit diesem System der Ausschluss der Töchter vom Erbe verbunden, etwa in Südfrankreich und in den italienischen Staaten.182 In letzteren mussten Frauen (bis 1865) nach dem Erhalt der Mitgift ausdrücklich auf ihr Erbe verzichten, während im nördlicheren Europa – abgesehen vom Adel – das Heiratsgut vom Erbe abgezogen wurde. Es mochte sein, dass die Höhe der Mitgift jener des Erbes entsprach, wie dies für Bologna herausgearbeitet wurde,183 und es mochte auch sein, dass sie mit größeren Sicherheiten verbunden war als das Erbe, dennoch gab es für die Zeitgenossen genügend Gründe, das Dotalrecht zu lockern. Diese bezogen sich einerseits auf die Beziehungen innerhalb der Herkunftsfamilie der Braut. Zur Aufbringung der Mitgift waren nicht nur die Eltern und die Großeltern verpflichtet, sondern auch die Brü178 Vgl. Edith Saurer, Straße, Schmuggel, Lottospiel. Materielle Kultur und Staat in Niederösterreich, Böhmen und Lombardo-Venetien, Göttingen 1989, 329. 179 Vgl. Michaela Hafner, Mitgift und Frauenbildung, ‚Mannweiber‘ und ‚Einzelexistenzen‘. Ehelose bürgerliche Frauen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Wien, Diplomarbeit Universität Wien 2005, 85f. 180 Caroline B. Brettell, Property, Kinship, and Gender. A Mediterranean Perspective, in: David I. Kertzer u. Richard P. Saller (Hg.), The Family in Italy from Antiquity to the Present, New Haven/London 1991, 340–353, 351. 181 Vgl. Tzetvana Bonceva u. Anelia Kassabova-Dintcheva, Brautpreis und/oder Mitgift in Bulgarien, in: L’Homme. Z.F.G. 14, 1 (2003), 131–139. 182 Vgl. Barbara B. Diefendorf, Women and Property in Ancien Régime France. Theory and Practice in Dauphiné and Paris, in: John Brewer u. Susan Staves (Hg.), Early Modern Conceptions of Property, London/New York 1995, 170–193; Giulia Calvi u. Isabelle Chabot (Hg.), Le ricchezze delle donne. Diritti patrimoniali e poteri familiari in Italia (XIII– XIX), Torino 1998. 183 Vgl. Manuela Martini, Dote e successioni a Bologna nell’Ottocento. I comportamenti patrimoniali del ceto nobiliare, in: Quaderni storici 31, 92 (1996), 269–304, 293.

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der. Im Spanien des 18. und 19. Jahrhunderts musste zudem die Mitgift, die der älteste Sohn einbrachte, so hoch sein, dass die Schwestern ihrerseits mit einer Mitgift ausgestattet werden konnten. Brüder und Schwestern hatten auf diese Weise ein von den Lebensentscheidungen des anderen stark bestimmtes Erwachsenenleben. Individuelle Liebes- und Heiratsgeschichten waren hier nur schwer möglich, denn Heiraten war das Ergebnis der Anstrengungen aller Familienmitglieder.184 Das Unbehagen an der „Mitgiftehe“ reichte andererseits über diese familiären Konstellationen hinaus. Feministisch gesinnte Frauen, die das gleiche Erbrecht und die „Union der Gefühle“ forderten, wie Anna Maria Mozzoni und andere Journalistinnen und Schriftstellerinnen, lehnten sie ab.185 Staatlicherseits wurden Besorgnisse über den möglichen Niedergang des väterlichen Vermögens und die Schädigung von Eigentum durch den Dotationszwang geäußert. Manche sahen die mit einer Mitgift ausgestatteten Frauen als „müßiggängerische und unnütze Zeugen der gefährlichen und peinlichen Unternehmungen ihres Ehemannes“ und stellten sie dem Fleiß jener Frauen gegenüber, die in Gütergemeinschaft lebten.186 Der Code civil hob 1804 die Dotationspflicht auf und führte das gleiche Erbrecht für Söhne und Töchter ein, was von vielen, nicht nur in Frankreich, als Ruin der Familie beklagt wurde, denn der Einfluss des pater familias wurde damit entscheidend geschmälert. Die Bedeutungsveränderung der Mitgift führte zu innerfamilialen Entlastungen. Das Ende der Dotationspflicht kam in den anderen Ländern im Verlauf des 19. und 20. Jahrhunderts, zuletzt 1986 in Griechenland. 187 Die Mitgift blieb jedoch in diesem ganzen Zeitraum eine Praxis, auch wenn sie sich zum Großteil auf Adel und Großbürgertum beschränkte.188 Aber auch erwerbstätige Frauen haben das, was sie schon im 18. Jahrhundert getan haben, im 19. Jahrhundert weiterhin praktiziert, nämlich für die Mitgift gespart: „Während der Gesindezeit legten sich die Mägde die Mitgift zu, die sie brauchten, um eine attraktive ‚Hochzeiterin‘ zu sein. Auch bei ärmeren Leuten, zu denen die Mäg184 Vgl. Lorenç Ferrer i Alòs, Fratelli al celibato, sorelle al matrimonio. La parte del cadetto nella riproduzione sociale dei gruppi agiati in Catalogna (secolo XVIII–XIX), in: Quaderni storici 28, 83 (1993), 527–554. 185 Vgl. Ida Fazio, Trasmissione della proprietà, sussistenza e status femminili in Sicilia (Capizzi, 1790–1900), in: Annali dell’Istituto Alcide Cervi 12 (1990), 181–199, 197. 186 Discussions du Code Civil, 301. 187 Vgl. Jane Lambiri-Dimaki, Dowry in Modern Greece: An Institution at the Crossroads between Persistence and Decline, in: Marion Kaplan (Hg.), The Marriage Bargain. Wom­en and Dowries in European History, New York 1985, 165–178; Violetta Hionidou, Nuptiality Patterns and Household Structure on the Greek Island of Mykonos, 1849–1959, in: Journal of Family History 20, 1 (1995), 67–102. 188 Vgl. Martini, Dote e successioni, 293.

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de gehörten, schaute einer aufs Geld, wenn er sich eine Frau suchte, und auf die Mitgift, die ihm ins Haus kommen würde“, schreibt Regina Schulte über baye­rische Mägde um 1900.189 Die Höhe der Mitgift selbst aber war das Ergebnis eines Marktes, nämlich des Heiratsmarktes. Auf diesem zählten nicht nur das Ansehen der Familien, die eigene Tätigkeit, das Vermögen und die Profession des Ehemannes, sondern auch der Altersunterschied und die Einschätzung des Aussehens der Braut. Das Errechnen der Mitgift bedurfte umfangreicher Kalkulationen und Verhandlungen. Über die Beziehung zwischen Mitgift, sozialer Herkunft und Vermögensstand wurde viel nachgedacht: „[J]e größer das Vermögen des Bräutigams, und je geringer sein Stand ist, desto weniger hat die Braut als Heiratsgut anzusprechen“, schrieb etwa Franz Xaver Nippel Anfang des 19. Jahrhunderts.190 Wenn die Eltern einen ausgezeichneten Stand hatten, konnte die Mitgift umso geringer ausfallen. Schließlich übernahm die Tochter den Stand des Mannes. Ein 72-jähriger Bologneser, der eine 19-Jährige heiratete, musste selbst die Mitgift bezahlen.191 Die Mutter von Theodor Lessing erhielt, als sie einen Arzt heiratete, eine doppelt so hohe Mitgift wie ihre drei anderen Schwestern, „denn der Vater hatte Aussteuer, Mitgift und Erbe der Töchter genau nach deren Reizen und Tugenden abgemessen“ und er hielt sie weder für „tüchtig noch hübsch“.192 Die symbolische Bedeutung der Mitgift schloss die Ehre der Frauen mit ein. Durch Gewalt oder Verführung ‚entehrte‘ Frauen konnten ihre Ehre in einer durch eine hohe Mitgift abgesicherten Ehe wiederfinden. Des Ehebruchs schuldige Frauen verloren ihr Eigentum an der Mitgift.193 Die Mitgift war Teil eines Regelsystems, das den Wert der an der Transaktion Beteiligten hob oder senkte. Das betraf auch Männer, in einem stärkeren Maße jedoch Frauen, deren Wert es war, der in der Mitgift primär dargestellt wurde. Das Ende der Mitgift lag nicht nur in den genannten innerfamiliären Spannungen und den Attacken gegen „Mitgiftehen“, die nicht auf Liebe basieren würden, begründet, sondern auch der Finanzmarkt nahm Anstoß an gebundenen Kapitalien, die zum Begleichen der Schulden eines Mannes nicht verfüg189 Regina Schulte, Das Dorf im Verhör. Brandstifter, Kindsmörderinnen und Wilderer vor den Schranken des bürgerlichen Gerichts, Oberbayern 1848–1910, Reinbek bei Hamburg 1989, 138f. 190 Franz Xaver Nippel, Die Darstellung der Rechte der Ehegatten in Beziehung auf ihr Vermögen, Linz 1824, 52. 191 Vgl. Martini, Dote e successioni, 277. 192 Gunilla-Friederike Budde, Auf dem Weg ins Bürgerleben. Kindheit und Erziehung in deutschen und englischen Bürgerfamilien, Göttingen 1994, 29. 193 Vgl. Baldassarre, Né per obbligo, 519.

1. „Sie konnten zueinander nicht kommen ...“

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bar waren. Der Ehemann wollte das Vermögen, dessen Zinsen ihm zustanden, auch verkaufen können. Die Rhythmen der Kapitalverwertung waren schneller geworden.194 Schließlich hatte sich die Ausbildung von Frauen verbessert. Damit veränderte sich auch die Vorstellung von „Mitgift“, dem Einbringen von Gütern in die Ehe: Ausbildung und Beruf erhielten eine größere Relevanz, vielleicht auch soziales Wissen, das jedoch bereits zur Hochzeit der Mitgift hoch geschätzt war. Mit der Aufhebung bzw. dem Auslaufen des Dotalrechts wurde der Einfluss der Herkunftsfamilie der Frau stark eingeschränkt. Die Frauen- und Geschlechtergeschichte hat sich intensiv mit der „ehemännlichen Vorherrschaft“, mit der cura maritalis, auseinandergesetzt, die in die großen Privatrechtskodifikationen als „puissance marital“, „autorizzazione maritale“ oder in der Position des Mannes als „Oberhaupt der Familie“ eingegangen ist. Sie beruht auf der patria potestas, der „väterlichen Gewalt“, über die Familie, erhält aber eine spezifische Ausprägung in der Beziehung zur Ehefrau. Ursula Vogel hat in dieser Herrschaftsform „Grundzüge des mittelalterlichen Status-Vertrages zwischen Personen ungleichen Ranges bewahrt“ gesehen. Der Mann erwarb mit der Ehe „umfassende Leitungs- und Kontrollbefugnisse sowie Vertretungs- und Unterhaltsverbindlichkeiten. Dem entsprachen auf Seiten der Frau Folge- und Gehorsamspflichten einerseits, Ansprüche auf Schutz und materielle Versorgung andererseits.“195 Materielle Versorgung bedeutet die Sicherung des Unterhalts und umfasste daher eine zentrale Anspruchsberechtigung der Ehefrauen. Die Macht der Ehemänner bezog sich nicht auf einzelne, spezifische Leistungen, sondern auf „das gesamte Betragen einer Person“.196 Ohne Erlaubnis des Ehemannes konnten Frauen keine Rechtsgeschäfte tätigen, keine Vormundschaft übernehmen und sie unterstanden seiner Kontrolle auch im Alltag. In vielen Ländern war ihre Verfügung über Besitz eingeschränkt, und sie konnten auch nicht ohne Erlaubnis des Ehemannes einer Erwerbstätigkeit nachgehen, während ihre Mitarbeit im Geschäft ihres Ehemannes als Teil ihrer persönlichen Pflichten aufgefasst wurde. „Anders als der moderne Lohnarbeiter war die Ehefrau nicht einmal Eigentümerin ihrer eigenen Arbeitskraft“, kommentiert Ursula Vogel.197 Wenn die Einschränkung der Verfügungsrechte über Besitz auch nicht in allen Ländern vorgesehen war, so deckte sie dennoch weite europäische Land194 Zum Verleihen der Mitgift vgl. Romanelli, Donne e patrimoni, insbes. 360. 195 Ursula Vogel, Gleichheit und Herrschaft in der ehelichen Vertragsgesellschaft – Widersprüche der Aufklärung, in: Gerhard, Frauen in der Geschichte des Rechts, 265–292, 275. 196 von Zeiller, Commentar, Bd. 1, 253, zit. nach Vogel, Gleichheit und Herrschaft, 275. 197 Vogel, Gleichheit und Herrschaft, 276; vgl. auch Monica Fioravanzo, Sull’autorizzazione maritale. Ricerche intorno alla condizione giuridica della donna nell’Italia unita, in: Clio. Rivista trimestrale di studi storici 30, 4 (1994), 641–725.

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schaften ab, nämlich jene Frankreichs, der italienischen Staaten bzw. nach 1861 Italiens, Preußens und vor allem auch Englands. Die hier verankerten Einschränkungen der Erwerbs- und Besitzverfügungsrechte der Ehefrauen sind umso bemerkenswerter, als die Verfügungsfreiheit über Besitz als eines der wichtigsten Rechte galt, das im Zuge der Aufklärung und der Französischen Revolution errungen worden war. Mit diesem Recht waren nicht nur ökonomische Möglichkeiten verbunden, sondern auch soziale, die in der Herstellung und Gestaltung von Beziehungen lag. Die Regelungen des Dotalrechts waren für Ehefrauen insofern günstiger, als sie Eigentümerinnen ihrer Mitgift blieben, eines Vermögens, das nicht veräußert werden durfte. In der sogenannten Gütergemeinschaft hingegen – der gesetzliche Güterstand des Code civil – verwaltete der Mann die zur Gemeinschaft gehörigen Güter allein. „Er kann sie ohne Mitwirkung der Frau verkaufen, veräußern und zur Hypothek stellen“, so das Gesetz (Art. 1421),198 und zwar ohne Mitwirkung der Frau, das konnte auch bedeuten, ohne ihr Einverständnis. Die Situation in England war ähnlich. Dort herrschte die Rechtsfiktion von der Ehe als „Unity of person“, Frau und Mann hätten dieselbe Rechtsidentität, seien eine Person und diese Person war der Mann. Er verfügte daher über den Besitz und die Einkünfte seiner Frau, wenn das englische Rechtssystem auch Vermeidungsstrategien kannte, wie die Einsetzung von Treuhändern und die Option für das Dotalrecht. Die englische Ehefrau konnte allerdings auch ihr Testament nicht ohne Einverständnis des Ehemannes verfassen. Durch spektakuläre Fälle, die in der englischen Öffentlichkeit breit diskutiert wurden, aufgerüttelt, haben Frauen seit den 1850er Jahren versucht, mit Hilfe des Parlaments die Gesetzeslage zu verändern. 1870 und 1882 hat der „Married Women’s Property Act“ verheirateten Frauen die Möglichkeit des Besitzens und der Verfügung über Besitz gegeben; nun konnten sie auch Testamente ohne Erlaubnis des Ehemannes aufsetzen.199 Schon früh, nämlich 1874, verabschiedete sich Ungarn vom Konzept des „Mannes als Haupt der Familie“, Norwegen folgte 1888, Italien 1919, Österreich und Frankreich 1975, Deutschland 1976. Die Daten geben uns einen Einblick in beträchtliche nationale Unterschiede im legistischen Umgang mit Geschlechterbeziehungen. Die Geschichte der Durchsetzung von Geschlechtergleichheit beruht auf komplexen rechtlichen und gesellschaftlichen Verhältnissen und sie steht nicht mit der Stärke oder Schwäche nationaler Frauenbewegungen in einem Zusammenhang. 198 Vogel, Gleichheit und Herrschaft, 287. 199 Vgl. Tim Stretton, Married Women and the Law in England since the Eighteenth Century, in: L’Homme. Z.F.G. 14, 1 (2003), 124–130; Susan Staves, Married Women’s Separate Property in England, 1660–1833, London 1990.

1. „Sie konnten zueinander nicht kommen ...“

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Im Unterschied zu den zahlreichen verheirateten Frauen konnten die l­edigen über ihren Besitz frei verfügen, sofern sie nicht in jenen Ländern ­Europas lebten, die auch noch im frühen 19. Jahrhundert die cura sexus, die Geschlechtsvormundschaft, praktizierten. Diese umfasste die „Vormundschaft über solche Frauenspersonen, welche nicht mehr unter der Altersvormundschaft oder in väterlicher Gewalt stehen“,200 und hatte die Aufgabe, sowohl ledige als auch verheiratete Frauen bei Rechtsgeschäften zu beraten und bei Prozessen Beistand zu leisten. Ende des 18. Jahrhunderts gab es zahlreiche Länder, in denen dieses Rechtsinstitut keine Geltung mehr hatte, wie in Österreich und Bayern. Der Code civil hat die cura sexus für ledige und verheiratete Frauen aufgehoben und das galt auch für die von ihm bestimmten Territorien wie Italien oder die Niederlande. Die Aufhebung der Geschlechtsvormundschaft ging jedoch nicht mit jener der cura maritalis einher. Mit deren Fortbestehen war eine Stärkung der ehemännlichen Vorherrschaft verbunden, denn die Vormünder, die den Ehefrauen Rechtsbeistand geleistet hatten, hatten sie selbst auswählen können und sie wählten sie meistens aus dem Kreis ihrer Verwandten – Brüder, Väter, Onkel oder Cousins –, die ein Gegengewicht zu den Interessen des Ehemannes darstellten. In Württemberg, jener Region mit der sich David Sabean in einer Mi­ krostudie auseinandergesetzt hat, war der Ehemann der Verwalter der mobilen und immobilen Güter seiner Frau. „Die Ehefrau konnte nicht gezwungen werden, ihren Besitz für die Schulden ihres Ehemannes zu verpfänden, es sei denn, sie tat dies aus eigenem Willen und Interesse. In dieser Konstellation aus verwandtschaftlichen Linien und ehelicher Allianz kam es einzig und allein darauf an sicherzustellen, daß die Ehefrau nicht unter Zwang ihre Zustimmung erteilte.“201 Das sollte durch die Hinzuziehung des Geschlechtsvormunds gewährleistet werden. Als die Geschlechtsvormundschaft 1828 in Württemberg aufgehoben wurde, hatten Hypotheken an Bedeutung zugenommen. „Um Geschäfte abzusichern, wurden immer häufiger Immobilien als Pfand eingesetzt.“202 Amtsinhaber mussten nun mit ihrem Vermögen bürgen und das galt gleichermaßen für deren Ehefrauen. Diese sollten in der Zeit wachsenden Finanzbedarfs allein über ihre Bereitschaft entscheiden, ihre Güter für die öko200 Karl Wilhelm Ernst Heimbach, Art. „Vormundschaftsrecht“, in: Julius Weiske (red.), Rechtslexikon für Juristen aller teutschen Staaten, Bd. 13, Leipzig 1859, 327–964, 521; vgl. dazu auch Ernst Holthöfer, Die Geschlechtsvormundschaft. Ein Überblick von der Antike bis ins 19. Jahrhundert, in: Gerhard, Frauen in der Geschichte des Rechts, 390–451, 390. 201 David Warren Sabean, Allianzen und Listen: Die Geschlechtsvormundschaft im 18. und 19. Jahrhundert, in: Gerhard, Frauen in der Geschichte des Rechts, 460–479, 477. 202 Sabean, Allianzen und Listen, 479.

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nomischen Interessen ihres Ehemannes zur Verfügung zu stellen, die sie vielleicht im wachsenden Ausmaß auch als ihre eigenen verstanden oder jedenfalls verstehen sollten. Aus der Sicht der Befürworter der „ehemännlichen Herrschaft“ war diese ein Schutz für Frauen. „So sehr auch die Gesetze die Gleichbehandlung der Frauen begünstigen mögen, so darf diese doch nie so weit gehen, dass Frauen sich selbst völlig überlassen bleiben und zwar für ihr eigenes Bestes und für die Bewahrung der Ordnung der Familie“, meinte der Jurist und Philosoph Gian Domenico Romagnosi zu Beginn des 19. Jahrhunderts.203 Seine Stimme war ein Votum für die patria podestà, die noch weit ins 20. Jahrhundert hinein eine, wenn auch von der Frauenbewegung stark bekämpfte Geltung besitzen sollte. Das Ende der Geschlechtsvormundschaft, das im Verlauf der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Rest der europäischen Staaten erfolgte, beschränkte neuerlich eine rechtlich mögliche Mitsprache der Familie der Frau und brachte das Ende einer spezifischen Form der Vormundschaft, aber es versetzte (verheiratete) Frauen nicht in eine Zeit der Freiheit und Autonomie; im Gegenteil. In der Schweiz wurde die cura sexus für ledige Frauen im Jahr 1881 abgeschafft. Sie hatte zu diesem Zeitpunkt armenrechtliche Funktionen, indem sie den Konsum der Frauen beschränken sollte.204 Für die Geschlechtsvormundschaft gilt wie für die „ehemännliche Vorherrschaft“, dass sie zu sehr unterschiedlichen Zeiten in den europäischen Staaten aufgehoben wurde. Dazu haben unterschiedliche ökonomische Entwicklungen ebenso beigetragen wie Verwaltungsstrukturen und Rechtstraditionen sowie das transnationale Wirken der Frauenbewegungen.

203 Gian Domenico Romagnosi, Istituzioni di civile filosofia ossia di giurisprudenza teorica, Bd. 1, Firenze 1839, Buch 6, Kap. 3, 436. 204 Vgl. Holthöfer, Die Geschlechtsvormundschaft, 442; Annamarie Ryter, Die Geschlechtsvormundschaft in der Schweiz: Das Beispiel der Kantone Basel-Landschaft und BaselStadt, in: Gerhard, Frauen in der Geschichte des Rechts, 494–506, 494.

2. Gesicherte Verhältnisse

2.1 Geschlechtertrennung, Arbeitsplatz und väterliche Liebe

Anstößig fanden viele die großen Gruppen von Männern und Frauen, die als Arbeiter und Arbeiterinnen in Fabriken und als Taglöhner und Tagelöhnerinnen in der Landwirtschaft zusammen arbeiteten und die auf dem Nachhauseweg das Straßenbild prägten. Sie sahen dies als Menetekel am Horizont der europäischen Zukunft, das Revolution und Promiskuität verkündete. Die Sozialwissenschaft des frühen 19. Jahrhunderts, an gesellschaftlichen und vor allem moralischen Problemen interessiert, hat sich bald dieser Frage angenommen. So bereiste der Arzt Louis-René Villermé in den Jahren von 1835 bis 1837 Frankreich, um im Auftrag der „Akademie der moralischen und politischen Wissenschaften“ den „physischen und moralischen Zustand“ der Arbeiterklasse in der französischen Baumwoll-, Woll- und Seidenindustrie zu erforschen. An dreißig Orten führte er seine Untersuchungen durch, beobachtete und beschrieb die geschlechtsspezifischen Arbeitsaufgaben, die Maschinen, die Lohnhöhen und Wohnverhältnisse, die sanitären Zustände, die Ernährung, das Heiratsverhalten, die Beziehungen zwischen den Geschlechtern in der Fabrik und im privaten Raum sowie die Kinderarbeit. Er erhob Materialien und machte Reformvorschläge, denn das Beobachtete beunruhigte ihn: so die „mélange des sexes“, die Geschlechtermischung, die die „Sitten verdirbt“, die zu langen Arbeitszeiten für Kinder, die die „Gesundheit zerstören“ und die Lohnvorschüsse, die das „Elend erzeugen“.1 In der Folge wurden die Arbeitszeiten für Kinder verkürzt und die Lohnvorschüsse verboten; die Geschlechtertrennung am Arbeitsplatz und dessen näherem Umfeld hingegen konnte nicht durchgesetzt werden. Villermé war nicht der einzige, der sie gefordert hat.

1

Louis Villermé, Tableau de l’état physique et moral des ouvriers employés dans les manufactures de coton, de laine et de soie, Paris 1840, Teil 2, 355, zit. nach Edith Saurer, Social Investigators and Gender Reform. The Villermés and Their Moral Preoccupations, in: Paedagogica Historica 38, 2/3 (2002), 437–449, 437f, 442, 444.

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In französischen Fabriksordnungen, die nie Gesetz wurden, war sie geplant. In England war die Gesetzgebung erfolgreicher, denn 1867 wurden die „mixed gangs“, Gruppen von Landarbeitern und Landarbeiterinnen, oft 200 Personen, die von Farm zu Farm zogen, verboten.2 In diesem Sinne aktiv waren auch englische und deutsche Fabrikanten, die versuchten, ihr Unbehagen an einem räumlich unstrukturierten Arbeitseinsatz der Geschlechter in ihrer Fabrik durch Errichtung eigener Eingänge für Männer und Frauen und eine zeitliche Staffelung des Arbeitsschlusses zu mindern.3 Manchmal ergriff eine Landesregierung Maßnahmen, wie die Mindener Regierung, die in den 1850er Jahren die Zusammenarbeit männlicher und weiblicher Zigarrenarbeiter in einem Raum verbot.4 Warum diese Sorgen? Villermé sprach von obszönen Worten, die gewechselt wurden, und von einer Einübung in Verhaltensweisen, die zu Promiskuität und Inzest führen würden.5 Männer und Frauen gaben sich neue Kommunikationsregeln, die Wissenschaftler und Pfarrer gleichermaßen störten. Dass Männer und Frauen gemeinsam arbeiteten, war nicht neu. Sie taten dies in der Familienökonomie, nicht nur als „Arbeitspaar“,6 sondern auch als Lohnabhängige in- und außerhalb familiärer Kontexte. An der Notwendigkeit der gemeinsamen Arbeit von Mägden und Knechten wurde nicht gezweifelt. Allenthalben gab es Regeln für das gemeinsame Auftreten der Geschlechter im öffentlichen Raum, die vom sozialen Status und von verwandtschaftlichen bzw. freundschaftlichen Beziehungen abhingen. Eine räumliche Segregation von Frauen hat es im 19. Jahrhundert nur vereinzelt gegeben. Unverheiratete Adelige in Zakynthos etwa und vermutlich auch in anderen Teilen Europas durften bis in die ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts das Haus nicht alleine verlassen.7 Es ist davon auszugehen, dass es Regeln für ein gemeinsames Auftreten von Männern und Frauen im öffentlichen Raum gab, die auch noch im 20. Jahrhundert angewandt wurden. William Reddy wies auf den „unsichtbaren Code“ hin, nach dem es als unanständig galt, wenn eine Frau in der Begleitung eines Mannes gesehen wurde, der nicht ein Verwandter oder ein Freund 2 3

4 5 6 7

Pamela Horn, Victorian Countrywomen, Oxford 1991, 162. Vgl. Kathleen Canning, Languages of Labor and Gender. Female Factory Work in Germany, 1850–1914, Cornell 1996; Sonya O. Rose, ‚Gender at Work‘: Sex, Class and Indus­ trial Capitalism, in: History Workshop 21, 1 (1986), 113–132. Vgl. Jürgen Kocka, Arbeitsverhältnisse und Arbeiterexistenzen. Grundlagen der Klassenbildung im 19. Jahrhundert, Bonn 1990, 468. Villermé, Tableau de l’état physique, Teil 1, 31, 83; Saurer, Social Investigators, 444f. Zum Begriff vgl. Wunder, Er ist die Sonn’, insbes. Kap. 4. Vgl. Helen Dendrinou Kolias, Introduction, in: Moutzan-Martinengou, My Story, XV– XXXI, XXf.

2. Gesicherte Verhältnisse

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der Familie war. Jedenfalls war das Einverständnis des Vaters oder Ehemannes erforderlich.8 Der städtische Raum hat seit den 1880er Jahren jedoch, wie etwa in London, Frauen neue Bewegungsmöglichkeiten geboten, die diese Praxis in Frage zu stellen begannen. Judith Walkowitz fasst diese unter den zwei Gesichtspunkten „West End shopping“ und „East End philanthropy“ zusammen.9 Die Verlockungen des wachsenden, öffentlich ausgestellten Warenangebots und die Ausweitung des Konsums haben diese Regeln zunehmend außer Kraft gesetzt. Die Philanthropinnen und Freiwilligen, die dem Arbeiterelend Einhalt gebieten wollten, konnten solche, wenn auch ungeschriebenen Bewegungsgesetze ebenfalls nicht brauchen.10 Es gab Traditionen, an die Villermé mit seiner Kritik anknüpfen konnte – etwa die Sakralräume, in denen, mit unterschiedlicher Rigidität, Geschlechtertrennung praktiziert wurde. Hier war es die Vorstellung von Unreinheit und Tabu, die dieser Ordnung zugrunde lag und die im Christentum, Judentum und Islam Frauen von Männern in unterschiedlicher Form und Strenge trennte. In der Praxis gab es in den christlichen Kirchen eine Variation regionaler Praktiken, die generationelle Zugehörigkeit, Zivilstand, soziale Zugehörigkeit und moralische Bewertung als Klassifikationskriterien aufgriffen, wenn auch Geschlecht die zentrale Kategorie war.11 Die Kämpfer für eine Geschlechtertrennung am Arbeitsplatz werden aber den Sakralraum nur insofern als Vorbild genommen haben, als er Bilder eines traditionellen Ordnungssystems vermittelte. Das Bild vom Familienbetrieb als Gegenmodell zu industrialisierten Betrieben, in dem Familienangehörige, das heißt miteinander verwandte Personen und von diesen abhängige, nichtverwandte Personen zusammenarbeiteten, mag ebenso einflussreich gewesen sein. In ihm gab es zwar keine Geschlechtertrennung, aber dies schien durch den Rahmen der Familie gerechtfertigt. Die Zentrierung von Arbeit um die Familie und die Verhinderung ihrer ‚Verstreuung‘ war auch noch zwanzig Jahre nach Villermé in Frankreich ein Thema wissenschaftlicher Analysen und gesellschaftlicher Hoffnungen.

8

William M. Reddy, The Invisible Code. Honor and Sentiment in Postrevolutionary France, 1814–1848, Berkeley u. a. 1997, 71. 9 Walkowitz, City of a Dreadful Delight, 46. 10 Vgl. dazu Edith Saurer, Die Praxis der Moral. Kommentare zur Geschichte räumlicher Geschlechtertrennung, in: Forschungen zur Landeskunde von Niederösterreich 30 (2004), 133–144 (zugleich Festschrift Heide Dienst zum 65. Geburtstag, hg. von Anton Eggendorfer u. a.); dies., Auf der Suche nach Ehre und Scham. Europa, sein mediterraner Raum und die Mittelmeeranthropologie, in: Historische Anthropologie 10, 2 (2002), 206–224, insbes. 220–223. 11 Vgl. Edith Saurer, Einleitung, in: dies. (Hg.), Die Religion der Geschlechter, Wien/Köln/ Weimar 1995, 7–14, 9.

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Der französische Bergbauingenieur Fréderic Le Play hat 1855 seine bekannte europaweite Untersuchung „Les ouvriers européens. Études sur les travaux, la vie domestique et la condition morale des populations ouvriers de l’Europe“ veröffentlicht.12 In dieser Arbeit, die auf Feldforschungen beruhte, die er mit seinen Mitarbeitern durchführte, hat er sich nicht nur mit der sozialwissenschaftlichen Methode der Erfassung von Arbeitsverhältnissen auseinandergesetzt, sondern auch 36 Einzelfälle vorgestellt. Er und seine Mitarbeiter lebten in den Arbeiterfamilien, registrierten ihre Sprache, ihre „Gefühle und Leidenschaften“.13 Sie erforschten den Wohn- bzw. Arbeitsort und dessen ökonomische Grundlagen, die Arbeitsaufgaben der Männer, der Frauen und der Kinder. Im Zentrum der Einzelfälle aber stand das Familienbudget, das in der Darstellung einem Inventar gleicht, da es vom Grundbesitz bis zum Leintuch allen Besitz erfasst und die Arbeitserträgnisse sowie die Ausgaben für Nahrung, Kleidung, Wohnung und Gerätschaften festhält. Diese Genauigkeit beim Erfassen der Arbeits- und Vermögensverhältnisse von Menschen und der Gegenstände, mit denen sie sich umgaben, hatte nicht nur einen wissenschaftlichen Zweck. Le Play suchte aus diesen zunächst 36 und in der später erweiterten Ausgabe aus 120 Fällen eine ideale Form der Arbeits- und Geschlechterbeziehungen zu eruieren, zwischen denen er ­einen engen Zusammenhang herstellte. Er unterscheidet vier Kategorien von Arbeit in (s)einem Europa, das vom Ural über das Osmanische Reich nach Zentral-, West- und Südeuropa reicht: Das Nomadentum, das System der „erzwungenen Arbeit“, jenes „freiwilliger permanenter“ und jenes „momentaner“ Arbeit.14 Letzteres trifft auf die Industriearbeit zu, wo die Arbeitenden ihren Arbeitgeber nicht kennen und keine Bindung an Arbeitsplatz und Wohnort haben. Er erachtete sie als die neuen Nomaden. In diesem System, das er in Norwegen, Schweden, der Schweiz, England, Frankreich, Belgien und Norddeutschland verwirklicht sah, würden die Arbeiter und Arbeiterinnen demokratische Institutionen fordern. Le Play konstatierte jedoch nur den Niedergang der Moral.15 Die idealen Arbeits- und Geschlechterbeziehungen fand er ausschließlich im dritten System, jenem der „permanenten“ Arbeit, das seiner Ansicht nach in Schweden, in Zentraleuropa sowie in Süd- und Westeuropa (noch) verbreitet war. Diese ideale Ordnung ist die Familienökonomie, in der

12 Fréderic Le Play, Les ouvriers européens. Études sur les travaux, la vie domestique et la condition morale des populations ouvrières de l’Europe, Paris 1855 [zweite erweiterte Auflage Tours/Paris 1877–1879]. 13 Le Play, Les ouvriers européens, 12. 14 Le Play, Les ouvriers européens, 9f. 15 Le Play, Les ouvriers européens, 10.

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Erwerbs- und Familienleben zusammenfallen.16 Le Plays Kampf galt jedoch nicht nur dem Erhalt von Familienbetrieben, sondern auch der Abschaffung des Erbrechts des Code civil, das allen Kindern, Söhnen und Töchtern, einen Pflichtteil zusprach. Er verband negative Folgen damit: Die Kinder würden eher dem Erbe als ihren eigenen Anstrengungen vertrauen, und die zentrale Säule jeder Gesellschaft, nämlich die väterliche Autorität, würde in ihren Grundfesten geschwächt. Der Vater, so schreibt er in seiner Schrift „La réforme sociale en France“, habe die Mission, das Werk der Schöpfung fortzusetzen, nämlich die Reproduktion des Menschen. Seine Autorität beruhe jedoch nicht nur auf dieser Funktion, sondern auch auf der väterlichen Liebe, „la plus durable et la moins égoïste des affections humaines“, „dem dauerhaftesten und am wenigsten egoistischen aller menschlichen Gefühle“.17 Bezeichnenderweise spricht er von väterlicher Liebe und nicht von Geschlechterliebe, denn diese geht in Familienfunktionen auf. Aus diesem Grund sind auch die Handlungen des Vaters als Akt der Gerechtigkeit und Liebe zu sehen und zu akzeptieren, wobei Le Play vor allem an die freie Verfügung über das Erbe denkt, dessen Ordnung die Gefühlskosmen bestimmt. Diese Funktion eines Stellvertreters Gottes auf Erden, die Le Play dem pater familias aufträgt, hat zur Folge, dass er die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern nicht als ein Übel, sondern als eine Wohltat für die Frauen erachtet. Er habe, schreibt Le Play, durch seine europäische Forschungsarbeit feststellen können, dass die Frauen dort am glücklichsten seien, wo die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern klug eingehalten werde. Das wahre Bedürfnis der Frauen sei nicht die Unabhängigkeit, die persönlicher Besitz zu vermitteln vermag, sondern geliebt und beschützt zu werden: vom Vater, von den Brüdern und schließlich vom Ehemann.18 Die Vorstellungen Le Plays von einer ‚gerechten‘ Ungleichheit zwischen den Geschlechtern sind umso interessanter, als er nicht mit dem zeitüblichen Verweis auf die Geschlechtscharaktere, etwa mit rationalen Männern und emotionalen Frauen, argumentiert. Vielmehr argumentiert er mit Besitz und Arbeit. Der Besitz stellt idealiter eine Beziehung zwischen den unterschied­ lichen Klassen der Gesellschaft her und sichert ein soziales Gleichgewicht. In einer idealen Gesellschaft gibt es nach Le Play nur (männliche) Besitzende, wenn auch mit unterschiedlichem Vermögen. Nach der Religion sieht Le Play im Besitz die wichtigste Stütze sozialer Ordnung. Dieser kann nur als Familienbesitz erhalten werden, und um dies zu garantieren, müssen Frauen vom 16 Le Play, Les ouvriers européens, 9. 17 Fréderic Le Play, La réforme sociale en France déduite de l’observation comparée des peuples européens, Bd. 1, Paris 1864, 199f, Zitat: 200. 18 Le Play, La réforme, 181–198.

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Erbe ausgeschlossen werden und manche Söhne unverheiratet bleiben. Der Wirkungsradius von Frauen ist der häusliche Bereich. Männer leisten mehr in ihren öffentlichen und privaten Verpflichtungen, je größer ihre familiären Freuden sind. So wirken Frauen indirekt für das Gedeihen des Staates. Allerdings ist Le Play nicht der Ansicht, dass Frauen keinem Erwerb nachgehen sollen. Wichtig ist ihm nur, dass dieser nicht außerhalb des Hauses oder dessen unmittelbaren Umfeldes geschieht. Geschlechtertrennung als Konsequenz der Geschlechterdifferenz wird dort bedeutungslos, wo verwandtschaftliche Beziehungen herrschen. Als räumliches Strukturierungselement von Erwerbsarbeit fungierte die Beziehung von Verwandtschaft und Geschlecht jedoch nicht. Als soziales Netzwerk für die Vermittlung von Arbeit war Verwandtschaft höchst effizient und breit akzeptiert. Das galt für die Arbeiter und Arbeiterinnen in den Fabriken, die oft als Familienverband eintraten, und ebenso für Männer, die leitende Funktionen anstrebten.19 John Stuart Mill, der englische Staatswissenschaftler, schreibt, ohne zu zögern, in seiner Autobiographie: „Im Mai 1823 fand ein Entscheid statt über meinen Beruf und meine Stellung während der nächsten fünfunddreißig Jahre meines Lebens, indem mein Vater mir einen Posten bei der ostindischen Kompagnie in der unter ihm stehenden PrüfungsKommission der indischen Korrespondenz verschaffte.“20 Knaben und Mädchen wurden zu Verwandten „in Dienst“ gegeben. Frauen waren jedoch nicht veranlasst, nur bei Verwandten zu arbeiten, im Unterschied zu anderen Ländern, wo sie einer landwirtschaftlichen Tätigkeit nur bei Verwandten nachgehen konnten.21 Geschlechterdifferenz am Arbeitsmarkt wurde primär über den Lohn sichtbar, und dieser schuf ‚Frauenarbeitsräume‘ wie in der Textilindustrie. Von den besorgten Diskussionen um Arbeit, Familie, Verwandtschaft, Geschlechtertrennung und Moral, die ein ganzes Jahrhundert lang geführt wurden, blieb im Bereich der Arbeitswelt schließlich wenig Institutionelles übrig, nämlich getrennte Sanitärräume. Darüber hinaus gab es Geschlechtertrennung an den Schulen, in Spitälern und Gefängnissen, die mit der Reform dieser Einrichtungen nach 1800 eingeführt wurde, wenn auch aus ökonomischen Gründen nicht sofort und lückenlos. Ohne Einschaltung des Staates wäre diese Entwicklung nicht durchsetzbar gewesen. Erving Goffman sollte sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts darüber wundern, denn er sah in diesen Einrichtungen das Wirken einer „institu19 Vgl. Tamara K. Hareven, Family Time and Industrial Time. The Relationship between the Family and Work in a New England Industrial Community, Cambridge 1984. 20 John Stuart Mill’s Selbstbiographie, Stuttgart 1974 [1873], 67. 21 Vgl. Alice Kessler-Harris, Reframing the History of Women’s Wage Labor: Challenges of a Global Perspective, in: Journal of Women’s History 15, 4 (2004), 186–206, 190.

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tionellen Reflexivität“ und „mehr ein Mittel zur Anerkennung, wenn nicht gar zur Erschaffung dieses Unterschiedes“,22 nämlich des Geschlechtsunterschiedes. In Hinblick auf die lange und bewegte Geschichte der räumlichen und institutionellen Geschlechtertrennung, die zunächst vor allem im sakralen und religiösen Bereich ausgeprägt war, ist zu unterstreichen, dass sie als zentrales Ordnungssystem aufgefasst wurde, als notwendige Konsequenz der Geschlechterdifferenz. Deren symbolische Bedeutung hat jedoch nicht ausgereicht, um im Bereich der Arbeitswelt wirksam werden zu können. 2.2 Unterhalt und Schutz

Seit den 1830er Jahren wurde Arbeit so gelobt wie nie zuvor – auch von Fréderic Le Play: Der Mensch gewöhnt sich nur an die Arbeit, indem er kraft seines Willens seine „sinnlichen Instinkte“ zähmt; dadurch gewinnt er jedoch die Herrschaft über die physische Welt.23 Arbeit sieht er, ähnlich wie der deutsche Staatswissenschaftler Friedrich List, als Signum der Zivilisation.24 Karl Marx hat in seinen 1844 verfassten „Pariser Manuskripten“ von der „Erzeugung des Menschen durch die menschliche Arbeit“ gesprochen und Arbeit daher noch fundamentaler angesetzt, ungeachtet seiner Kritik an den Arbeitsverhältnissen, die „Wunderwerke für die Reichen“, aber „Entblößung für den Arbeiter“ produziert.25 Das Lob der Arbeit kam von allen Seiten. Thomas Carlyle, der englische Schriftsteller und Historiker, sah „Heiliges“ in der Arbeit, „Arbeit ist Leben“,26 während sein Zeitgenosse Herbert Spencer die Angelegenheit pragmatischer betrachtete und in seiner Autobiographie die Auffassung vertrat, dass der Fortschritt der Zivilisation es gerade ermögliche, weniger zu arbeiten und mehr „relaxation“ zu genießen.27 Ungeachtet der artikulierten Kritik, dominierte ein Kult der Arbeit, der über die Notwendigkeit der Existenzsicherung weit hinausging. In den Ar22 23 24 25

Erving Goffman, Interaktion und Geschlecht, Frankfurt a. M. 20012, 134. Le Play, La réforme, 238. List, Art. „Arbeit“, 644. Karl Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte aus dem Jahre 1844, in: ders. u. Friedrich Engels, Werke. Ergänzungsband, 1. Teil, Berlin 1968, 465–588, Zitate aus: Privateigentum und Kommunismus, 546, Die entfremdete Arbeit, XXIII. 26 Thomas Carlyle, Past and Present, London 1843, 3. Buch, Kap. 11 „Labour“, 264: „For there is a perennial nobleness, and even sacredness, in work“ und 266: „Labour is Life“. 27 Herbert Spencer, An Autobiography, Bd. 1, New York 1904, 478: „The progress of mankind is, under one aspect, a means of liberating more and more life from mere toil and leaving more and more life available for relaxation – for pleasurable culture, for aesthetic gratification, for travels, for games.“

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beitserfahrungen von Männern und Frauen mag er nicht immer dominant gewesen sein, auch weil die Arbeitsbedingungen sich dramatisch voneinander unterschieden. Dennoch mehren sich die Hinweise von der wachsenden gesellschaftlichen und individuellen Bedeutung von Arbeit. Jene, die von den Renteneinkünften ihres Vermögens hätten leben können, zogen es zunehmend vor zu arbeiten, wie Dolores L. Augustine am Beispiel deutscher Millionärssöhne aufzeigt.28 Das verweist auf die geringere Attraktion des Lebens als Rentier, im Vergleich zum Ancien Régime, als nicht nur die Oberschicht von Renten leben konnte und wollte. „Arbeit“ war ein Dachbegriff für eine Vielfalt von Tätigkeiten, für Erwerbsarbeit, Familienarbeit, unbezahlte und schlecht bezahlte Arbeit, für die Arbeit mithelfender Familienangehöriger. Zu spezifischen Formen der Erwerbsarbeit war auch nicht jeder und jede zugelassen. In manchen Gebieten Europas existierte mit der Leibeigenschaft bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts noch eine Form von Zwangsarbeit. Arbeitsverbote gab es für Verheiratete. Diese konnten nicht Papst, katholischer Priester, Nonne oder Mönch werden. Von den Verboten primär betroffen waren Frauen: Lehrerinnen, wie in einigen Schweizer Kantonen und Kronländern der Habsburgermonarchie, in mehreren deutschen Staaten und schließlich in Deutschland, wo es ein Arbeitsverbot für verheiratete Beamtinnen gab. Die europäischen Staaten handhabten die Möglichkeit der Ausschließung von verheirateten Frauen von spezifischen Berufen sehr unterschiedlich. In Belgien, England, Frankreich, Finnland, Holland und Italien stand der Lehrerin die Heiratsberechtigung zu. Telefonistinnen mussten in England, Österreich, Russland, Schweden, im Großteil der deutschen Staaten und in einigen Kantonen der Schweiz ledig sein, nicht so in Ungarn, Frankreich, Belgien, Dänemark, Norwegen und in Italien nach 1899.29 Hinter diesen Daten verstecken sich allerdings vielfältige regionale Regelungen, die etwa eine Heirat an eine kommunale Genehmigung binden konnten, wie dies beispielsweise für Lehrerinnen in Florenz der Fall war.30 Die Verbote wurden zum Großteil nach dem Ersten, teilweise erst nach dem Zweiten Weltkrieg aufgehoben.31 Es gab jedoch nicht nur explizite Arbeitsverbote für 28 Dolores L. Augustine, Patricians and Parvenus. Wealth and High Society in Wilhelmine Germany, Oxford 1994, 145. 29 Vgl. Ursula Nienhaus, Vater Staat und seine Gehilfinnen. Die Politik mit der Frauenarbeit bei der deutschen Post (1864–1945), Frankfurt a. M. 1995; Die verheiratete Lehrerin, in: Der Bund. Zentralblatt des Bundes österreichischer Frauenvereine 6, 3 (März 1911), 7–9. 30 Vgl. Simonetta Soldani, Maestre d’Italia, in: Groppi, Il lavoro delle donne, 358–397, 393. 31 Vgl. Gudrun Kling, Die rechtliche Konstruktion des „weiblichen Beamten“. Frauen im öffentlichen Dienst des Großherzogtums Baden im 19. und frühen 20. Jahrhundert, in: Gerhard, Frauen in der Geschichte des Rechts, 600–616, 612.

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verheiratete Frauen, sondern auch Verbote für alle Frauen, und zwar auf dem Umweg über den fehlenden Zugang zu höherer Bildung und über das Verbot des aktiven und passiven Wahlrechts, wodurch Berufe, die eine akademische Ausbildung erforderten – wie Regierungsämter und der höhere Staatsdienst –, für sie in der Regel bis ins frühe 19. Jahrhundert, aber auch darüber hinaus verschlossen blieben. Die Verbote, Zünften beizutreten, die es für Frauen und Juden in den meisten europäischen Ländern gab,32 haben mit dem Niedergang der Zünfte ihre Bedeutung bzw. Aussagekraft verloren. Arbeitsverbote oder Zölibatszwang für Männer gab es in einem weit geringeren Ausmaß. Doch sind die Heiratsgenehmigungen zu erwähnen, die im Kontext der Grundherrschaft oder eines Pachtverhältnisses, wie etwa der Mezzadria, erforderlich waren. Mit der zunehmenden Ausdifferenzierung der Berufe und den mit diesen möglicherweise verbundenen Aufstiegschancen, mit breiten Berufsfeldern, die auch bürgerliche Frauen sehr interessierten, wurden die Forderungen von Frauen nach einem Recht auf Erwerbsarbeit lauter. Seit der Französischen Revolution als Menschenrecht formuliert, griffen engagierte Frauen, wie die deutsche Feministin Luise Otto-Peters, diese nun auf: „Wer nicht frei für sich erwerben darf, ist Sklave“, erklärte sie33 und brachte damit zum Ausdruck, dass Erwerbsarbeit die Voraussetzung eines selbständigen und freien Lebens darstellt. Europaweit organisierten Frauen Vereine wie die britische „Society for Promoting the Employment of Women“. Für verheiratete Frauen gab es allerdings ein Rechtsinstitut, das diesen Forderungen ihre politische Schärfe nehmen sollte, nämlich die Unterhaltspflicht des Ehemannes. Diese besagte, dass der Ehemann seinem Vermögen entsprechend für die Ehefrau zu sorgen habe. Ungeachtet dieses Rechts haben Ehefrauen durch eine Mannigfaltigkeit von Eigenleistungen selbst zum Familienunterhalt ihren Beitrag geleistet. Sie brachten Vermögen in die Ehe, das, wie im Falle der Mitgift, vom Ehemann verwaltet wurde und dessen Zinsen ihm zuflossen. Ehefrauen waren oft selbständig erwerbstätig, wobei in mehreren europäischen Ländern wie in England oder der Schweiz ihre Erwerbseinkünfte dem Ehemann zustanden. Der Zusammenhang mit dem Unterhaltsanspruch wurde dabei ausdrücklich hervorgehoben.34 Die Frau hatte dem Ehemann in der „Erwerbung nach Kräften 32 Vgl. Josef Ehmer u. Edith Saurer, Art. „Arbeit“, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 1, Stuttgart 2005, Sp. 507–533, 518, 520. 33 Luise Otto-Peters, Das Recht der Frauen auf Erwerb, Hamburg 1866, 103. 34 Privatrechtliches Gesetzbuch für den Kanton Zürich, Zürich 1855, § 143: „Das Recht des Mannes auf den Erwerb der Frau und den Ertrag ihres Vermögens ist an die Voraussetzung geknüpft, daß derselbe für den Unterhalt der Frau und Kinder und ihre laufenden Verpflichtungen gehörig sorge.“ Auch das deutsche Bürgerliche Gesetzbuch von 1900 hielt

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beizustehen“(ABGB § 92).35 Das bedeutet im Zusammenhang mit ihrem Unterhaltsanspruch, dass sie dies unentgeltlich tat und tun sollte. Schließlich waren die Tätigkeiten im Haushalt und in der Kindererziehung von den bürgerlichen Gesetzen bis weit in das 20. Jahrhundert hinein als alleinige Pflicht der Ehefrau festgesetzt. Auf den Unterhaltsanspruch konnte sie nicht verzichten, da er öffentlich-rechtlicher Natur war. Sollte sie verarmen, musste der Ehemann für sie sorgen, nicht die öffentliche Armenversorgung. Die Alimentation durch den Ehemann ist daher in einer geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung begründet, die allerdings keineswegs messerscharf getrennt war. Ihre Folgen waren dennoch deutlich sichtbar, denn sie führten zu einer Asymmetrie der Geschlechterbeziehungen und zu einer Entlastung der öffentlichen Hände. Die zivilrechtliche Verankerung des Ehemannes als Haupt der Familie fand in seiner Unterhaltsverpflichtung eine Begründung, ungeachtet dessen, dass die Ehefrau selbst dieser unterlag. Allerdings war sie nicht in allen europäischen Ländern verpflichtet, einen zum Unterhalt unfähigen Mann zu unterstützen. Zwar haben Juristen in der Habsburgermonarchie diese Frage immer wieder erörtert, aber der Oberste Gerichtshof entschied wiederholt, dass die Gattin zur „Alimentation des Gatten nicht verpflichtet“ sei,36 wohl aber zum Unterhalt der Kinder, falls der Ehemann „inops“, also dazu nicht in der Lage war. Das kanonische Recht kannte eine andere Tradition: Hier war die Ehefrau in einem solchen Fall zum Unterhalt verpflichtet, eine Tradition, die der Codice Albertino, das Bürgerliche Gesetzbuch des Königreichs Piemont, 1838 aufgriff.37 Ihm folgte der Codice civile des Königreichs Italien von 1865. In anderen europäischen Ländern wurde diese Bestimmung viel später eingeführt, so in Deutschland im Jahr 1900: „Die Frau hat dem Manne, wenn er außer Stande ist, sich selbst zu unterhalten, den seiner Lebensstellung entsprechenden Unterhalt nach Maßgabe ihres Vermögens und ihrer Erwerbsfähigkeit zu gewähren.“38 Norwegen und Schweden haben 1918 bzw. 1920 die gleiche Unterhaltsverpflichtung für Ehepartner festgelegt, wobei in Schweden die Tätig-

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für den Fall der Gütertrennung fest, dass die Ehefrau aus ihrem Vermögen bzw. durch ihre Erwerbsarbeit einen Beitrag zum „ehelichen Aufwand“ zu tragen habe (§ 1427). Vgl. auch BGB § 1356: „Zu Arbeiten im Hauswesen und im Geschäfte des Mannes ist die Frau verpflichtet, soweit eine solche Thätigkeit nach den Verhältnissen, in denen die Ehegatten leben, üblich ist.“ Das Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch für das Kaisertum Oesterreich. Anläßlich der Jahrhundertfeier seiner Geltung, Wien 1911, 58; Hervorhebung im Original gesperrt gedruckt. „La femme doit contribuer à l’entretien du mari, lorsqu’il ne peut y subvenir lui même“ (Art. 128), Concordance entre les codes civils, 9. Das Bürgerliche Gesetzbuch für das Deutsche Reich nebst dem Einführungsgesetze, Berlin o. J., § 1360.

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keit der nicht erwerbstätigen Ehefrau in Haushalt und Familie dem Einkommen des Ehemanns gleichgestellt werden konnte.39 Die schwedische Volksrente von 1913 erfasste alle schwedischen Bürger und Bürgerinnen, auch die nicht erwerbstätigen verheirateten Frauen.40 Deren Beiträge mussten die Ehemännern bezahlen, mit dem Verweis auf die Relevanz der Hausarbeit. Damit wurden individuelle soziale Rechte anerkannt,41 die auch vor dem Familien­ ernährermodell nicht Halt machten. Wie in Frankreich fiel in Österreich die Unterhaltspflicht des Ehemannes erst 1975. In der Praxis mag die in zahlreichen Ländern lange fehlende Verpflichtung der Ehefrau, für ihren erwerbsunfähigen Ehemann zu sorgen, nicht immer von Bedeutung gewesen sein, da sie dieser Verpflichtung auch ohne Rechtsvorschrift nachkam. Rechtsnormen umfassen jedoch Wunschbilder von Geschlechterordnungen und den Anspruch auf deren gesellschaftliche Anerkennung. Rechtsnormen sind auch einklagbar, und wie die Prozesse zeigen, die von der ehemännlichen Unterhaltspflicht ihren Ausgang nahmen, wurde diese vielfältig interpretiert. So war es äußerst schwierig zu bestimmen, was unter einem „anständigen“ bzw. „standesgemäßen“ Unterhalt zu verstehen sei. Auf eine Konkretisierung dieser Verpflichtungen konnte sich das bürgerliche Recht nicht einlassen, denn die sozialen und kulturellen Divergenzen in Hinblick auf den möglichen Umfang der Verpflichtungen und auf die Bedürfnisse in einer immer stärker differenzierten Konsumwelt erlaubten dies nicht. Dies tat hingegen das Eherecht, das für die Mohammedaner des hanefitischen Ritus Bosniens und Herzegowinas Geltung hatte, das detailliert festschrieb, was wann als Unterhalt zu leisten sei: nämlich Nahrung, Wohnung und Kleidung. In Bezug auf die Kleidung hielt es in Artikel 158 fest: „Der Gatte ist verpflichtet, seiner Gattin jährlich zwei vollständige Anzüge, und zwar einen Winter- und einen Sommeranzug zu geben, welche den Vermögensverhältnissen der Gatten und den localen Gebräuchen angemessen sind.“42 Wenn auch die Zivilgesetzbücher von einem Unterhalt in natura ausgegangen waren, so war dessen Ablösung als „Geldrelutum“ im 19. Jahrhun39 Vgl. Lena Sommestad, Welfare State Attitudes to the Male Breadwinning System: The United States and Sweden in Comparative Perspective, in: International Review of Social History 42, Supplement S5 (1997), 153–174; Silke Neunsinger, Die Arbeit der Frauen – die Krise der Männer. Die Erwerbstätigkeit verheirateter Frauen in Deutschland und Schweden 1919–1939, Uppsala 2001, 59f. 40 Vgl. Sommestad, Welfare State, 168. 41 Vgl. Wiebke Kolbe, Elternschaft im Wohlfahrtsstaat. Schweden und die Bundesrepublik im Vergleich 1945–2000, Frankfurt a. M./New York 2002, 35f. 42 Eherecht, Familienrecht und Erbrecht der Mohamedaner nach dem hanefitischen Ritus, Wien 1883, 41–54, 48.

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dert schon längst die übliche Praxis. Ehefrauen erhielten ein Haushaltsgeld.43 Geld war vielseitig verwendbar und entsprach den Bedürfnissen jener Gesellschaften, in denen es sich als Zahlungsmittel weitestgehend durchgesetzt hatte. Allerdings war es oft ein knappes Gut. In den Beziehungen zwischen der nichterwerbstätigen Ehefrau und dem erwerbstätigen Ehemann führte die Verteilung der Einkünfte häufig zu Konflikten, die immer wieder auch die Gerichte beschäftigten. Das Haushaltsbudget, über das Frauen verfügen konnten, hatte nicht nur unterschiedliche Höhen, sondern auch einen unterschiedlichen Anteil an den Einkünften des Ehemannes und reichte vielfach nicht aus. Bei vermögenden Paaren und in jenen Fällen, in denen Frauen über eigenes Vermögen oder eigene Einkünfte verfügten, stellte sich das Problem nur dann nicht, wenn diese nicht auf die Unterhaltspflicht des Ehemannes rekurrieren wollten bzw. tatsächlich über ihr Vermögen und ihre Einkünfte selbst verfügen konnten. Dies traf jedoch für England bis in die 1880er Jahre nicht zu. Hier war, was die Probleme mit der Definition von Standesgemäßheit des Unterhalts verschärfte, seit dem 18. Jahrhundert mit einer Diversifizierung des Warenangebots die Konsumfreudigkeit rasant angestiegen. So versuchten etwa zahlreiche Modehändler, die Unterhaltsverpflichtung einzuklagen, wenn der Ehemann die Rechnungen seiner Frau nicht begleichen wollte. Allerdings haben die englischen Gerichte vielfach eine andere Lösung angestrebt, wie dies im Fall der Mrs. Thistlethwayte aus dem Jahre 1878 aufgezeigt werden kann. Die Frau eines Fähnrichs, der ein bedeutendes Vermögen geerbt hatte, verfügte über 500 Pfund Kleidergeld, das sie als „für ihre soziale Position“ nicht ausreichend ansah. Das Paar stritt viel über Geld, und Mr. Thistlethwayte warnte die Geschäftsleute davor, dass er die Schulden seiner Frau nicht bezahlen würde. Der Modewarenhändler Schwaebe ignorierte diese Warnung und musste dem Gericht auch noch „gestehen“, dass viele seiner Kundinnen „nur“ über 500 Pfund Kleidergeld verfügen konnten. Er wurde schließlich verurteilt, weil er Mrs. Thistlethwaytes „frivolen und schockierenden Ausgaben Vorschub“ geleistet habe. 44 Dieser Ausgang und ähnliche Urteile englischer Gerichte beruhten auf einer Vorstellung von moralischem Konsum. Sie sollten das Übel an der Wurzel 43 Vgl. Nr. 116: BGB 91. 92. Zulässigkeit der Klage der Ehefrau gegen den Mann auf Verabreichung eines Kostrelutums bei bestehender Hausgemeinschaft, in: Leo Geller u. Hermann Jolles (Hg.), Die Praxis des Obersten Gerichtshofs. Sammlung der oberstgerichtlichen Entscheidungen aus den Gebieten des bürgerlichen Rechts, Bd. 7, Wien 1906, 221–224, 223. 44 Erika Rappaport, „A Husband and His Wife’s Dresses“. Consumer Credit and the Debtor Family in England, 1864–1914, in: Victoria de Grazia u. Ellen Furlough (Hg.), The Sex of Things. Gender and Consumption in Historical Perspective, Berkeley 1996, 163–187, 171.

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packen, nämlich den Handel daran hindern, in Ehefrauen besonders ideale Kundinnen zu sehen. Der englische Tuchhandel war empört. In Österreich entschieden Gerichte in den Jahren 1906 und 1907 auf der Basis ähnlicher Argumentationen. Neuerlich handelte es sich um Kleidung und um einen Schneider, der den Ehemann der Kleiderkäuferin auf die Bezahlung ihrer Einkäufe klagte, und zwar mit der Argumentation, dieser sei zu einem „anständigen Unterhalt“ seiner Ehefrau verpflichtet. Die Richter der Erstinstanz hatten der Klage stattgegeben, da unter die „Schlüsselgewalt“ der Ehefrau auch die „Anschaffung ihrer Kleidungsstücke“ falle, der Ehemann bislang hohe Summen für ihre Kleidung bezahlt habe und schließlich bei der Auslegung der Verhältnisse „die Sitte und der Brauch des Lebens heranzuziehen“ seien. Die Obergerichte argumentierten hingegen, dass der Ehemann seiner Ehefrau verpflichtet sei, nicht aber einem Dritten. Darüber hinaus hätte sich der Schneider als vorsichtiger Geschäftsmann über die „Vermögensverhältnisse des Mannes sowie über dessen Bereitwilligkeit zur Zahlung“ vergewissern sollen, „widrigens ihn das Risiko der Unterlassung“ träfe.45 Handel und Gewerbe sollten die Konsumwünsche von Frauen nicht auf Kosten ihrer Ehemänner anheizen, sondern vielmehr exemplarisch dafür bestraft werden, so die Botschaft der Gerichtsurteile. Die Konflikte, die vor Gericht um Unterhaltsfragen ausgetragen wurden, betrafen nicht nur Modewaren, sondern gelegentlich auch Lebensmittel, die allerdings in einem Gerichtsurteil von 1907 nicht näher spezifiziert wurden. Spezifiziert wurde hingegen, dass diese von der Familie konsumiert worden waren, was den Ehemann aber nicht daran hinderte, die Bezahlung zu verweigern. Der Oberste Gerichtshof in Wien verurteilte ihn zur Zahlung.46 Die zahlreichen verhandelten Fälle zeugen von einem hohen Konfliktpotential, das in der Unterhaltsverpflichtung angelegt war. Ansatzweise machten sich die Richter auch Gedanken darüber, was denn diese sei. Manche Äußerungen rückten Ehefrauen in die Nähe von Dienstpersonen, wenn es etwa hieß: „Nach § 1032 [ABGB] sind aber Dienstgeber und Familienhäupter nicht verbunden, das, was von ihren Dienstpersonen oder anderen Hausgenossen in ihrem Namen auf Borg genommen wird, zu bezahlen. Daß aber die Ehegattin ebenfalls zu den Hausgenossen des Mannes gehört, wird nicht bezweifelt werden 45 Nr. 129: BGB 91. 1032. 1042. Keine unmittelbare Verpflichtung des Mannes aus Geschäften der Ehefrau: Voraussetzung für die Versionsklage gegen den Mann, in: Leo Geller (Hg.), Die Praxis des Obersten Gerichtshofs. Sammlung der oberstgerichtlichen Entscheidungen aus den Gebieten des bürgerlichen Rechts, Bd. 9, Wien 1908, 246–250. 46 Nr. 130: BGB 91. 1042. Unmittelbare Verpflichtung des Mannes aus den von der Ehefrau über den Haushalt gemachten Bestellungen, in: Gellner, Die Praxis des Obersten Gerichtshofs, Bd. 9, 250–251.

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können“.47 Dennoch war unbestritten: „Für die Führung des Haushaltes kann die Gattin keinen Lohn beanspruchen.“48 Sie erhielt zwar von ihrem Mann ein Haushaltsgeld, aber ihre Kaufautorität war beschränkt. Es gab unterschiedliche Auffassungen von standesgemäßem Unterhalt, von Sparsamkeit und Lebensstil, die sich vor Gericht entfalten konnten. Wenn die gerichtsanhängigen Fälle auch nicht den Standard von Beziehungen in Fragen des Unterhalts darstellen, so geben sie dennoch einen signifikanten Einblick in Problemlagen, die mit der ökonomischen Abhängigkeit der Ehefrau in Zusammenhang standen, aber auch mit der ihr rechtlich zustehenden Möglichkeit, Klage zu führen. Oft jedoch waren die Ressourcen so knapp, dass die Unterhaltspflicht de facto an Bedeutung verlor. So sahen sich (englische) Arbeiterfrauen oft gezwungen, ohne Wissen ihrer Ehemänner, die dies als nicht respektabel erachten mochten, kleinen Beschäftigungen nachzugehen, um das Haushaltsgeld aufzubessern. Gezwungen waren sie auch, Kredite bei Geldleihern und -leiherinnen aufzunehmen bzw. Habseligkeiten in der Pfandleihanstalt zu versetzen.49 Verpfändet wurde bis zum Ende des 19. Jahrhunderts hauptsächlich die Kleidung von Frauen und diese wurde auch später als jene von Männern und Söhnen ausgelöst, da diese mehr in der Öffentlichkeit auftraten oder die Annahme bestand, dass dies der Fall sei. Es waren überwiegend Frauen, die die Pfandleihanstalt in Anspruch nahmen, wie Melanie Tebbutt für England herausgearbeitet hat. „Während die erwerbstätigen Männer über ihr eigenes Geld für ihre Ausgaben verfügten, musste die Hausfrau nackte Notwendigkeiten des Lebens verpfänden, um zu etwas Geld zu kommen.“50 Das lange Leben der Unterhaltsverpflichtung des Ehemannes, die mit seiner Funktion als Haupt der Familie im Zusammenhang zu sehen ist, ist als erwünschte gesellschaftliche und politische Orientierung zu verstehen, die mit der gesellschaftlichen Praxis klassen- und geschlechterspezifisch verbunden war. Sie war in den städtischen und ländlichen Unterschichten aus ökonomischen Gründen nicht realisierbar. Das mag auch ein Grund dafür gewesen sein, warum der male breadwinner, der männliche Familienerhalter, ab der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine Forderung der Arbeiterbewegung geworden ist, zunächst in England. Auf jeden Fall kann er als eine Konsequenz der 47 Nr. 130, Unmittelbare Verpflichtung, 250. 48 Das Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch für das Kaisertum 1911, 58. 49 Vgl. Pat Ayers u. Jan Lambertz, Marriage Relations, Money, and Domestic Violence in Working Class Liverpool, 1919–1939, in: Jane Lewis (Hg.), Labour and Love. Women’s Experience of Home and Family 1850–1940, Oxford 1986, 196–219, 201; Melanie Tebbutt, Making Ends Meet: Pawnbroking and Working-Class Credit, New York 1983. 50 Tebbutt, Making Ends Meet, 38.

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ehemännlichen Unterhaltsverpflichtung verstanden werden, nicht nur in Hinblick auf Lohnforderungen, sondern auch in Hinblick auf seine symbolische Ausstattung als Familienoberhaupt. Die Forschung hat sich mit dieser Figur intensiv auseinandergesetzt, allerdings hauptsächlich um auf die Frage nach der Segregation von Frauen am Arbeitsmarkt bzw. „ihre häusliche Subordination in den industriell-kapitalistischen Gesellschaften“ eine Erklärung zu finden.51 Während die Unterhaltsverpflichtung eine Rechtstatsache mit sozialen Folgen war, war der male breadwinner zunächst ein politisches Ideal, das für die Arbeiter gefordert wurde, nachdem es in den Mittelschichten zumindest eine teilweise Realisierung gefunden hatte. Er charakterisiert nicht nur die Intention einer geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung, sondern bezieht sich auch auf ein „spezifisches Modell der Haushaltsorganisation“,52 das während des ganzen 19. Jahrhunderts und darüber hinaus eine rechtliche Basis hatte, nämlich die der Verpflichtung zum Unterhalt von Frau und Kindern. Seine Realisierung ist in den europäischen Ländern sehr unterschiedlich gewesen, und dies zeigt in exemplarischer Weise auf, wie die Geschlechterbeziehungen in Hinblick auf ihre Position am Arbeitsmarkt von einer Vielfalt von gesellschaftlichen, rechtlichen und kulturellen Momenten abhängen. Der männliche Familienerhalter konnte sich in Großbritannien tendenziell seit der Mitte des 19. Jahrhunderts entwickeln, und zwar mit Unterstützung der Arbeiterbewegung und der Gewerkschaften. Die Chartisten, eine sozialpolitische Bewegung, vertraten schon seit den 1830er Jahren die Idee des Familienerhalters mit Elan. Der Führer der „London Working Men’s Association“ William Lovett brachte dies 1853 zum Ausdruck und er sprach dabei für viele: „A man must indeed have lost all self-respect to allow himself and his offspring to be dependent on his wife’s labour.“53 So sollte es auch generell nicht sein, denn ein englischer Familienvater brachte vier Fünftel des Familieneinkommens auf. Detailliertere historische Arbeiten verweisen jedoch darauf, dass es zwischen der Situation der Bergarbeiter, die über ein hohes Einkommen verfügten und deren Ehefrauen zu Hause blieben, den schlechtbezahlten Landarbeitern, deren Frauen dies aus ökonomischen Gründen nicht tun konnten, und den Fabrikarbeitern, die aufgrund von „Arbeitsgelegenheiten, lokalen 51

Colin Creighton, The Rise of the Male Breadwinner Family: A Reappraisal, in: Comparative Studies in Society and History 38, 2 (1996), 310–337. 52 Angélique Janssens, The Rise and Decline of the Male Breadwinner Family? An Overview of the Debate, in: International Review of Social History 42, Supplement S5 (1998), 1–23, 3. 53 Zit. nach Sonya O. Rose, Limited Livelihoods. Gender and Class in Nineteenth Century England, Berkeley 1992, 148.

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Normen und einem relativ hohen Lebensstandard“ auf den Beitrag von Frauen- und Kinderarbeit zählten, große Unterschiede gab.54 In den Niederlanden konnte sich der männliche Familienerhalter aufgrund eines hohen Lebensstandards und eines bürgerlichen Familienmodells, das in das 17. Jahrhundert zurückreichte, etablieren. In Frankreich verfügten die Gewerkschaften nur über schwache nationale Bünde und konnten eine strikte Politik der Exklusion (verheirateter) Frauen nicht durchsetzen. Die Regierung baute seit den 1880er Jahren die Kinderkrippen aus und erleichterte dadurch die Erwerbstätigkeit von Müttern. Das bedeutet nicht, dass es nicht auch dort Verfechter eines Familienlohns gab und die Arbeit in Haushalt und Familie von beiden Geschlechtern getragen wurde. Die Erwerbstätigkeit verheirateter Frauen war jedoch gesellschaftlich akzeptiert.55 Schweden war ebenfalls ein schwacher „Familienernährerstaat“, was darauf zurückzuführen ist, dass noch 1910 die Hälfte der Bevölkerung von der Landwirtschaft lebte und der Staat die Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern nicht förderte, im Gegenteil. Staatliche Politik, Arbeitsmarkt, Lebensstandard, die Stärke der Gewerkschaften und schließlich eine spezifische Arbeitskultur ebneten die Wege für die Durchsetzung bzw. die Nichtdurchsetzung des Familienernährers in der Arbeiterklasse. Steuerpolitik und Sozialpolitik sollten vor allem im 20. Jahrhunderts ebenfalls einflussreich sein. Viel schwieriger als die Aufzählung von Institutionen und Maßnahmen, die diesen Prozess begleiteten, ist ein Einblick in die subjektiven Einstellungen von Männern und Frauen. Die Geschlechterbeziehungen werden nicht nur von Ökonomie und Recht bestimmt, sondern auch von kulturellen Mustern und Selbstbildern. Sonya O. Rose hat darauf verwiesen, dass für (englische) Arbeiter ihr Status als Vater und Oberhaupt der Familie untrennbar mit einer ehrenhaften Arbeit und einem spezifischen Arbeitskönnen verbunden war. Arbeit war ihr „Eigentum“. Sie lobten das „domestic life“ von Frauen und sahen hierin einen Garanten ihrer Ehrbarkeit.56 Solche Wünsche waren nicht nur auf Industriearbeiter beschränkt, wie zahlreiche Autobiographien des 19. Jahrhunderts bestätigen. Drei sollen hier exemplarisch ausgewählt werden. Karl Renner, der spätere sozialistische Politiker und österreichische Bundespräsident, aus einer armen mährischen Bauernfamilie stammend, studierte Ende des 19. Jahrhunderts in Wien und finanzierte sein Leben mit Nachhilfestunden. Seine Frau und er hatten ein kleines Kind, 54 Sara Horrell u. Jane Humphries, The Origins and Expansion of the Male Breadwinner Family: The Case of Nineteenth-Century Britain, in: International Review of Social History 42, Supplement S5 (1997), 25–64, 63f. 55 Vgl. Michael Hanagan, Family, Work and Wages: The Stéphanois Region of France, 1840– 1914, in: International Review of Social History 42, Supplement S5 (1997), 129–151, 146. 56 Rose, Limited Livelihoods, 140f, 151f.

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das sie in Pflege geben mussten, da ihnen eine gemeinsame Wohnmöglichkeit fehlte. Er fand gut bezahlte Nachhilfestunden und „schwamm [...] in Geld [...]. Ich hatte von zwei bis sieben täglich zu arbeiten und ein Einkommen von mehr als hundert Gulden und ging daran, sozusagen meinen Hausstand zu ordnen, vor allem meine Frau ihrer Arbeit zu entheben“, schreibt er in seinen Lebenserinnerungen.57 Denselben Wunsch äußerte der Landarbeiter Franz Rehbein, der mit seiner Frau und seinem Neugeborenen in den 1880er Jahren in einer verfallenen Hütte in einem Ort in Schleswig-Holstein lebte, am Rande der Armut und lange arbeitslos. Zur Zeit der Ernte fand er Arbeit, wie er in seinem Buch „Das Leben eines Landarbeiters“ schreibt: „Meine Frau half mir dort treulich mit. Bis dahin wollte ich immer nicht, daß sie mitarbeiten sollte, denn es widerstrebte mir, sie ebenfalls ins Joch zu spannen; meiner Ansicht nach mußte der Mann allein so viel verdienen können, wie zum Lebensunterhalt der Familie notwendig war [...].“58 Seine Frau sah das allerdings anders. „Doch mein Weibchen meinte, man könne nicht wissen, wie es wieder zum Winter werde; sie ließ es sich nicht nehmen, während der Ernte mitzuschaffen. Unsern Jungen fuhren wir in einem für alt gekauften Kinderwagen mit aufs Feld, dort wurde er hinter den Hocken gepackt, und dann konnte er schlafen, spielen oder schreien, solange er Lust hatte; er mußte es beizeiten anwerden, daß er nur ein Tagelöhnerkind war.“59 Mit der Heirat sollte für Frauen eine Zäsur gesetzt werden. So dachten nicht nur lohnabhängige Männer und vielleicht ihre Frauen, sondern auch Gewerbetreibende, wie der Betreiber eines Bahnhoflokals in Avellino. Als er seine Frau arbeiten sah, zog er sich auf die Toilette zurück und weinte. „Ich wollte gern meinen Arbeitseifer verhundertfachen, um mir solch einen Anblick künftig zu ersparen.“60 Selbst der Betreiber eines Familienbetriebs hätte seine Frau lieber auf die häusliche Sphäre beschränkt gesehen. In dieser Geschlechterkonstellation handelte es sich mit der Herstellung einer Arbeitsteilung und der damit verbundenen sozialen Reputation auch um die Ausprägung einer spezifischen Form von Liebe, einer Liebe, die mit Schutz verbunden war. Der Ehemann schützte die Ehefrau, indem er ihr einen als ideal verstandenen Platz in der häuslichen Sphäre zuwies und für ihren Unterhalt sorgte. Der Code civil sah im Gehorsam der Frau die Entsprechung zum Schutz, den der Ehemann gewährte: „Le mari doit protection à sa femme, la 57 58 59 60

Karl Renner, An der Wende zweier Zeiten, Bd. 1, Wien 19462, 240. Franz Rehbein, Das Leben eines Landarbeiters, Darmstadt/Neuwied 1973 [1911], 256. Rehbein, Das Leben eines Landarbeiters, 256. Angelo Muscetta, Memorie di un commerciante, Avellino 1984, 59, zit. nach Heinz-Gerhard Haupt u. Geoffrey Crossick, Die Kleinbürger. Eine europäische Sozialgeschichte des 19. Jahrhunderts, München 1998, 134.

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femme obéissance à son mari“ (Art. 213). Der Schutz habe sich auch auf die Freiheit der Ehefrauen zu beziehen, meinte der italienische Philosoph Gian Domenico Romagnosi in den 1830er Jahren und er sprach daher von „geschützter Freiheit“, „libertà protetta“,61 denn Frauen seien nicht sich selbst zu überlassen. Schutz bedeutete im Falle der Ehefrau Fernhalten, nicht nur von Erwerbsarbeit, sondern oft auch von der Verfügung über Eigentum. Dieses Amalgam von Schutz, Gehorsam, Verzicht auf Erwerbsarbeit, Unterhalt und Liebe hat sich vielen Frauen insofern eingeprägt, als sie einen Gegensatz zwischen Erwerbsarbeit und Liebe sahen. Die 1858 geborene Sozialforscherin Beatrice Webb schrieb in ihrer Autobiographie über jene Zeit, als sie im Londoner East End die Verwaltung von Arbeiterwohnungen übernommen hatte und reflektierte über ihren damaligen emotionalen Zustand: „Aus meinen Tagebuchnotizen schließe ich, daß ich mich damals für eine gespaltene Persönlichkeit hielt. Einmal schien ich eine normale Frau, die ihr privates Glück in der Liebe sucht, wie man sie im Rahmen einer gelungenen Ehe gibt und empfängt; mein anderes Ich aber nahm für sich zu jeder Zeit das Recht auf freie Entfaltung eines ‚klaren analytischen Verstandes‘ in Anspruch. Aber ständig fragte ich mich, ob die Kapazität meines Denkvermögens wirklich rechtfertigt, daß ich mein Glück opferte und vielleicht sogar meinen Seelenfrieden durch die Unruhe eines aufrührerischen Verstandes auf Spiel setzte. Denn damals, als es üblich war, daß die Frau sich dem Mann unterordnete [...], wäre es unmöglich gewesen, das Leben der Liebe mit dem des Verstandes zu vereinen.“62 In Webbs Überlegungen handelt es um den Gegensatz zwischen Liebe bzw. Ehe und Arbeit bzw. Vernunft: Eine denkende Frau kann bei dem geltenden Eherecht nicht heiraten. Sie muss dann auf Liebe verzichten. Es gab die Option für den Verzicht, den Webb schließlich nur durch ihre gemeinsame wissenschaftliche und politische Tätigkeit mit Sydney Webb vermeiden konnte. Die englische Feministin Leigh Smith Bodichon trat in ihrer 1857 verfassten Schrift „Frauen und Arbeit“ für den Verzicht ein: „Wir wollen nicht sagen, dass Arbeit den Platz der Liebe im Leben einnehmen wird, das ist unmöglich; tut sie das bei Männern? Aber wir wünschen sehr, dass Frauen nicht die Liebe zu ihrem Beruf machen. Liebe ist nicht das Ende des Lebens. Sie ist nichts, wonach man suchen sollte; sie sollte kommen. Wenn wir arbeiten, kann die Liebe uns im Leben treffen; wenn nicht, haben wir noch etwas, was nicht mit Gold aufzuwiegen ist.“63 Die Botschaft, die Smith Bodichon 61 Romagnosi, Istituzioni di civile filosofia, 436. 62 Webb, Meine Lehrjahre, 320. 63 Barbara Leigh Smith Bodichon, Frauen und Arbeit, in: Ursula I. Meyer (Hg.), Frauenmacht und Arbeitswelt. Drei philosophische Analysen, Aachen 2002, 29–92, 36.

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vermittelt, bezog sich primär auf die Sicherheit und den sozialen und persönlichen Wert, die Arbeit eigen sind. Liebe sei nicht die einzige Erfüllung im Leben lediger und verheirateter Frauen. Die Problematik oder Dramatik dieses Gegensatzes fand auch eine literarische Aufarbeitung in dem 1893 erschienenen Roman „The Odd Women“ des viktorianischen sozialkritischen Schriftstellers George Gissing. Er setzte sich darin mit einer Gruppe von Frauen auseinander, die die Erwerbsarbeit und die Gesellschaft von Frauen der Geschlechterliebe vorzogen, und zwar auch dann, wenn sie einen Mann liebten. Sie werde ihre Arbeit nie aufgeben, meinte Rhoda Nunn dem Mann gegenüber, der ihr eben seine Liebe erklärt hatte, die sie erwiderte. Daran änderte auch seine ironische Frage: „What is your work? Copy­ing with a type machine, and teaching others to do the same-isn’t that it?“64 nichts. Es waren nun die Frauen, die in der (Erwerbs-)Arbeit Selbstverwirklichung und den Garanten von Unabhängigkeit sahen. Die Frauenbewegungen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und darüber hinausgehend haben diese Perspektive vorzubereiten begonnen. Das war kein Mehrheitsprogramm, aber ein Programm, das Fragezeichen setzte hinter einem ‚Liebe als Schutz–Programm‘, das das Zivilrecht und die Ökonomie bestimmen sollte. Allerdings gab es auch andere Ansätze, die die Veränderungen in der gesellschaftlichen Rolle von Frauen und in der Beziehung zu Männern als Ergebnis zivilisatorischen Fortschritts erachteten, wie etwa der Ökonom Friedrich List in seinem 1834 erschienenen Artikel über Arbeit: „Im rohen Naturzustand erscheint dem Menschen überall die Arbeit als ein Uebel. Daher die unterwürfige und dienende Stellung der Kinder und Frauen im wilden und pa­ triarchalischen Zustande [...].“65 Nicht nur als Ergebnis der Zivilisation, sondern darüber hinaus als eine Stifterin von Beziehungs- und politischer Kultur interpretierte der französische Soziologe Émil Durkheim in seiner 1893 abgeschlossenen Dissertation „Über soziale Arbeitsteilung“ die Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern.66 Für eine Geschichte der Geschlechterbeziehungen ist Durkheims Schrift deshalb von besonderem Interesse, weil sie den langen Atem einer Geschlechterideologie beschreibt, die als Grundlage einer spezifischen Gesellschaftsordnung aufgefasst wird. Durkheim befasst sich in seiner Schrift mit der Frage nach dem Zusammenhalt der Gesellschaft, nach dem sozialen Band, das diesen herstellt. Die 64 George Gissing, The Odd Women, Harmondsworth 1993 [1893], 208. 65 List, Art. „Arbeit“, 644. 66 Emile Durkheim, Über soziale Arbeitsteilung. Studie über die Organisation höherer Gesellschaften, Frankfurt a. M. 19923 [orig.: De la division du travail social. Étude sur l’organisation des sociétés supérieures, Paris 1893].

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Antwort liegt für ihn in der Arbeitsteilung, die bewirkt, dass Kommunikation zwischen Individuen befördert wird. Aus ihr entsteht Solidarität und Moral, die durch das Recht, das die Regeln festlegt, abgestützt wird.67 Arbeitsteilung ist die „Quelle der Zivilisation“.68 Am Beispiel von Freundschaft und sexueller Arbeitsteilung versucht er die Grundprinzipien seiner These darzustellen. In den Freunden suche jeder die Eigenschaften, die ihm selbst fehlten. „Einer schützt, der andere tröstet.“69 Und: „Die Geschichte der Ehe bietet uns ein noch eindrucksvolleres Beispiel desselben Phänomens.“70 Die „sexuelle Arbeitsteilung ist die Quelle der ehelichen Solidarität, und darum haben die Psychologen richtig festgestellt, daß die Trennung der Geschlechter ein Hauptereignis in der Entwicklung der Gefühle gewesen ist: sie hat das vielleicht stärkste aller uneigennützigen Gefühle ermöglicht.“71 Die Arbeitsteilung zwischen Ehemännern und Ehefrauen bzw. darüber hinausgehend die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung im allgemeinen Sinne führt nach der Auffassung Durkheims zu einer spezifischen Gefühlskultur. Sie basiert nicht nur auf Uneigennützigkeit, sondern auch auf der Unähnlichkeit der beiden Partner: „Gerade weil Mann und Frau sich unterscheiden, suchen sie sich mit Leidenschaft.“72 Dennoch sind sie „nur die verschiedenen Teile eines und desselben konkreten Ganzen, das sie, indem sie sich vereinen, wiederherstellen“.73 Ungeachtet dieser möglichen bzw. wiederkehrenden Aufhebung der Trennung bleibt die sexuelle Arbeitsteilung bestimmend für die Geschlechterbeziehungen. Durch sie hätten sich vor allem die Frauen verändert, die erst mit dem „Fortschritt der Moralität“ jenes „schwache Wesen“ geworden seien,74 das sie zu Durkheims Zeit waren. Mit Schwäche meinte er nicht nur den Körper und die Psyche, die „Sanftmut“ der Frauen, sondern auch ihre geringer entwickelte Intellektualität, die sich in ihrem im Vergleich zum Mann geringeren Gehirngewicht äußere.75 Die Hauptqualität der sexuellen Arbeitsteilung besteht für Durkheim nicht darin, dass sie zu einer Ertragssteigerung führt, sondern darin, dass sie „voneinander abhängig macht“, dass sie Gesellschaften erst ermöglicht, „die ohne sie nicht existieren würden [...]. Wenn sich die Geschlechter überhaupt nicht 67 68 69 70 71 72 73 74 75

Durkheim, Über soziale Arbeitsteilung, insbes. Kap. 1. Durkheim, Über soziale Arbeitsteilung, 96. Durkheim, Über soziale Arbeitsteilung, 102. Durkheim, Über soziale Arbeitsteilung, 102. Durkheim, Über soziale Arbeitsteilung, 103. Durkheim, Über soziale Arbeitsteilung, 103. Durkheim, Über soziale Arbeitsteilung, 103. Durkheim, Über soziale Arbeitsteilung, 103. Durkheim, Über soziale Arbeitsteilung, 104f.

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getrennt hätten, wäre eine ganze Form des sozialen Lebens überhaupt nicht entstanden.“76 Er meint damit eine „Sozial- und Moralordnung sui generis. Individuen sind untereinander verbunden, die sonst unabhängig wären. Statt sich getrennt zu entwickeln, vereinigen sie ihre Anstrengungen. Sie sind solidarisch, und diese Solidarität wirkt sich nicht nur in den kurzen Augenblicken aus, in denen sie Gefälligkeiten tauschen, sondern weit darüber hinaus.“77 Die eheliche Solidarität hätte Auswirkungen auf jede „Einzelheit“ des Lebens. Diese Gesellschaften beruhen nicht darauf, „daß Gleiches das Gleiche anzieht. Sie müssen anderes eingerichtet sein, auf anderen Grundlagen ruhen und sich an andere Gefühle wenden.“78 2.3 Lohn und der Wunsch nach selbständigem Leben

Die Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern, für Durkheim und viele andere die Voraussetzung zivilisatorischer Entwicklung, hatte Auswirkungen auch auf die Löhne. Deren Ordnungssystem sollte Verpflichtungen und Rechte abstützen, wie dies in den Fragen des Unterhalts, der ehemännlichen Vorherrschaft und des männlichen Familienlohns aufgezeigt wurde. Darüber hinaus eröffnet der Lohn für jene, die über keine anderen Einkünfte verfügen, einen finanziellen Rahmen für die Gestaltung von Lebensformen und Lebensstil. Dies bezieht sich auf die Entscheidung für Konstellationen des Zusammenlebens, für Mobilität, Migration und Konsum bzw. in einem sehr weiten Sinne für die Gestaltung einer Bedürfniskultur. Auch unter der Annahme, dass Löhne nicht immer individualisiert, sondern in einen gemeinsamen ‚Topf‘ geworfen wurden, bleibt ihr Bezug zum Lohnempfänger, zur Lohnempfängerin bestehen. Sie markieren eine Leistung, auch wenn die Leistungslöhne in Hinblick auf geschlechtsspezifische Entlohnung keineswegs Standard waren. Vielmehr wogte der Streit zwischen dem Prinzip „gleicher Lohn für gleiche Leistung“ und einem „Bedürfnislohn“ bzw. um die Frage, ob es sich bei den Leistungen von Männern und Frauen um die gleichen Leistungen handeln könne. Zunächst ist festzuhalten, dass die Löhne von Männern 25 bis 50 % über jenen der Frauen lagen, nicht nur im Bereich der Indus­ triearbeit, sondern etwa auch bei Lehrern. Dies ist teilweise darauf zurückzuführen, dass Männer in den besser bezahlten Industriebranchen arbeiteten, wie der Maschinenindustrie, und Frauen in den Niedriglohnbereichen, wie der Textilindustrie. Die Löhne, so Jürgen Kocka, richteten sich nach „Herkömm76 Durkheim, Über soziale Arbeitsteilung, 107f. 77 Durkheim, Über soziale Arbeitsteilung, 108. 78 Durkheim, Über soziale Arbeitsteilung, 108.

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lichkeiten und sie unterstellten soziale Bedürfnisse. Sie reflektierten die traditionelle Ungleichheit zwischen Männern und Frauen wie zwischen den Lebensaltern.“ In ihnen artikulierte sich die Annahme, dass Frauen und Kinder nur einen Beitrag zu einem Familieneinkommen liefern würden, und die Daten schienen ihr Recht zu geben. So betrug in der bayerischen Fabrikindustrie der Anteil Verheirateter unter den Frauen 25 % und unter den Männern 42 %.79 Trügerisch waren die Daten dennoch, denn immerhin waren über 50 % der Männer ledig. Wesentlich irreführender sind diese Daten im Falle der Lehrer und Lehrerinnen. Die für Deutschland 1895 erhobenen Zahlen scheinen zunächst imposant: Denn von den 66.000 weiblichen Erwerbstätigen in Erziehung und Unterricht waren 61.000 ledig und die restlichen 5.000 waren Witwen oder Frauen erwerbsunfähiger Männer. Von den männlichen Erwerbstätigen in dieser Branche waren 48.000 ledig, 99.000 verheiratet und 4.000 verwitwet oder geschieden.80 Die Daten sind insofern irreführend, als es in den meisten deutschen Bundesstaaten eine Zölibatsverpflichtung für Lehrerinnen, jedoch nicht für Lehrer gab. Von der größeren Bedürfnislosigkeit der Lehrerinnen wie generell der erwerbstätigen Frauen wurde dennoch weiterhin gesprochen, die unter anderem mit ihrem geringeren Konsum von Genussmitteln verbunden wurde. Die finanziellen Verpflichtungen von Frauen und auch von Männern wurden ausschließlich im Zusammenhang mit der Gründung einer eigenen Familie gesehen, die Herkunftsfamilie oder andere soziale und rechtliche Verpflichtungen in die Kalkulation der Lohnhöhen nicht einbezogen. Bekannt ist allerdings, dass auch für ärmere Mittelschichtfamilien der finanzielle Beitrag der Töchter eine wichtige Ressource darstellte. Dies galt nicht nur für Lehrerinnen, sondern auch für den aufsteigenden Beruf der Angestellten, wie etwa für das „Tippfräulein“ in Banken, die sich ebenfalls an den Zölibat zu halten hatten. Ihre Erwerbstätigkeit stärkte ihre Position in ihrer Familie und eröffnete ihnen neue Handlungsspielräume.81 Die geringere Entlohnung der Frauenarbeit, die nicht zwischen Verheirateten und Unverheirateten unterschied, was gleichermaßen für Männer galt, ließ Frauen jedoch zu einer Konkurrenz für Männer werden. Von „Lohndruck“ wurde 79 Kocka, Arbeitsverhältnisse, 465f. 80 Vgl. Helene Lange u. Gertrud Bäumer (Hg.), Handbuch der Frauenbewegung, Teil 4: Die deutsche Frau im Beruf, unter Mitarbeit von Robert Wilbrandt u. Lisbeth Wilbrandt, Berlin 1902, 329. Zu den Löhnen deutscher Lehrerinnen vgl. Gudrun Wedel, Lehren zwischen Arbeit und Beruf. Einblicke in das Leben von Autobiographinnen aus dem 19. Jahrhundert, Wien/Köln/Weimar 2000, insbes. 149–166. 81 Vgl. dazu Carmen Sacco, Il lavoro delle donne in ufficio. Le signorine del Banco di Napoli (1899–1926), Roma 2009. In dem hier untersuchten Zeitraum galt in der Bank ein Zölibatsgebot für Frauen.

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gesprochen. Die Lösung dieses Problems schien für die Verfasserinnen und den Verfasser des vierten Bandes des „Handbuchs der deutschen Frauenbewegung“ in der Teilung des Arbeitsmarkts zu liegen: „Im allgemeinen aber ist jede Arbeit, in der die Frauen ohne Schaden dasselbe wie die Männer leisten können, als weibliche anzusehen; um die Herabdrückung ihrer Löhne zu vermeiden, sollten die Männer diese Arbeiten so schnell als möglich verlassen, ebenso wie die Handarbeit der Maschine so schnell als möglich weichen muss. Was die Frauen besser oder schneller machen, ist selbstverständlich weibliches Monopol; denn da ist für die teurere männliche Arbeit die Konkurrenz von vornherein ausgeschlossen.“82 Die sexuelle Arbeitsteilung sollte sich in den Löhnen widerspiegeln, in der Praxis wie im Diskurs, wenn dieser auch vielschichtig war. Ungeachtet dessen ging Jan de Vries in seiner 1994 erstmals erschienenen Untersuchung der europäischen frühneuzeitlichen Haushaltsökonomie davon aus, dass es die Löhne von Frauen und Kindern gewesen seien, die eine Marktorientierung des Haushalts bewirkt hätten. Er nennt diese Zeitspanne zwischen 1750 und 1850 „industrious revolution“, die sich danach in ihr Gegenteil verkehrt habe, denn Frauen und Kinder hätten sich vom Arbeitsmarkt zurückgezogen und es sei die Zeit des male breadwinner gekommen. Die neuen Werte seien in Häuslichkeit und Kindererziehung gelegen. Erst in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts sei eine neue Version der „industrious revolution“ eingetreten, in der die Zunahme der Frauenarbeit eine weitreichende Auslagerung von Haushaltsaktivitäten, wie Kinderbetreuung und Gesundheitsfürsorge, in den Marktbereich ermöglicht bzw. notwendig gemacht habe.83 Die Löhne von Frauen und Kindern garantierten ein zusätzliches Einkommen, das vielfach der Existenzsicherung diente. Die Marktorientierung eines Haushalts steht zwar mit Löhnen, Einkünften und Vermögen in einem Zusammenhang, vor allem aber mit Angeboten, die vermehrten Konsum bzw. die Auslagerung von Haushaltsaktivitäten und teilweise der Kindererziehung erst ermöglichen bzw. fördern, wie dies in einem umfassenden Maße seit dem späten 20. Jahrhundert der Fall ist. Frauenerwerbsarbeit ist nicht nur unter ökonomischen Gesichtspunkten zu sehen, denn die Forderung nach ihrer Erweiterung, die insbesondere in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gestellt wurde, verweist auf den expliziten Wunsch nach Neuorientierung. Des Weiteren ist Frauenarbeit signifikant versteckt, wie in den Familienbetrieben, wobei an diesem Phänomen auch die Berufsstatistiker ihren Anteil ha82 Lange/Bäumer, Handbuch, Bd. 4, 408. 83 de Vries, The Industrial Revolution, insbes. 255–266; vgl. auch ders., The Industrious Revolution. Consumer Behavior and the Household Economy, 1650 to the Present, Cambridge 2008.

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ben. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts haben sie jene aus der Statistik entfernt, die weder Lohnabhängige noch Selbständige waren und deren Zuordnung in Berufskategorien schwierig schien. Das traf auf die „mithelfenden Familienangehörigen“ zu. Die Familienbetriebe umfassten sowohl Höfe, die auf Subsistenz­ wirtschaft beruhten, als auch Handels- und Gewerbebetriebe, die am Markt zum Teil für großen Gewinn arbeiteten. In der Praxis erhielten die „mithelfenden Familienangehörigen“ keinen Lohn, sondern nur Unterhalt. Darunter waren auch Männer, ledige Brüder etwa, die am Bauernhof mitarbeiteten; jedoch zu drei Vierteln bestanden sie aus Frauen, zumindest in der Habsburgermonarchie, wie Birgit Bolognese-Leuchtenmüller aufgezeigt hat.84 Sie sollten wie in Russland und 1881 auch in England in die Berufsstatistik nicht mehr aufgenommen werden. Statistisch relevante Arbeit verengte sich zu Arbeit gegen Entgelt, gegen Gewinn, zu Erwerbsarbeit. Diese Bestimmung machte in Russland 23 Millionen Frauen, die um 1900 in bäuerlichen Betrieben arbeiteten, für die Statistik inexistent. Das waren jene, die eine prekäre Existenz führten, denn sie waren nicht nur auf Naturalentlohnung angewiesen, sondern sie konnten auch jeder Zeit überflüssig werden.85 Arbeiten ohne Entgelt sollte darüber hinaus für die öffentliche Wahrnehmung unsichtbar werden. Dazu haben die Unsicherheiten der Statistiker mit der Vielfalt der neuen Berufe einen Beitrag geleistet. So stieg in den italienischen Berufsstatistiken die Anzahl der Hausfrauen im Gegensatz zu jener der erwerbstätigen Frauen steil an, während letztere sank. 1881 betrug die Frauenerwerbstätigkeit 51,8 %, 1900 waren es 41,2 % und 1936 schließlich 29,9 %. Die Zahl der Hausfrauen hingegen entwickelte sich, wie Silvia Patriarca dargelegt hat, in derselben Zeitspanne rasant und erhöhte sich von 33,7 % auf 56,1 %. Der Grund für diesen Aufstieg der Hausfrauen lag darin, dass die italienischen Statistiker als Beruf nur eindeutige Bezeichnungen wie „Arbeiter“ anerkannten, hybride Kombinationen wie Hausfrau und Weberin hingegen auf Hausfrau reduzierten. In anderen Ländern war die Situation ähnlich.86 84 Birgit Bolognese-Leuchtenmüller, Bevölkerungsentwicklung und Berufsstruktur, Gesundheits- und Fürsorgewesen in Österreich 1750–1918, Wien 1978, 136. 85 Vgl. Marcelline J. Hutton, Russian and West European Women 1860–1939. Dreams, Struggles, and Nightmares, Lanham u. a. 2001, 74; Horn, Victorian Countrywomen, 32. Sie bezieht sich mit ihrem Verweis auf das Überfüssigwerden einer mithelfenden Familienangehörigen auf die Autobiographie von Mary Smith. Catherine Hall, White, Male and Middle-Class: Explorations in Feminism and History, Cambridge 1992, 180, zeigt auf, dass erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts Gesellschaften mit beschränkter Haftung die Einpersonen-Unternehmen abgelöst haben. 86 Silvia Patriarca, Gender Trouble: Women and the Making of Italy’s „Active Population“, 1861–1936, in: Journal of Modern Italian Studies 3 (1998), 144–163; Josef Ehmer, Frauenarbeit und Arbeiterfamilie in Wien. Vom Vormärz bis 1934, in: Geschichte und Gesellschaft 7, 3–4 (1981), 438–473, 441f.

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Mitte des 19. Jahrhunderts hat Le Play die Berufssituation von Frauen noch anders bewertet. Er unternahm den Versuch, die Lebensbedingungen europäischer Familien vergleichbar zu machen: Denn Lebenshaltungskosten, Lohnauszahlungsmodalitäten, Lohnhöhen und Arbeitsbedingungen differierten zwischen den halbnomadischen mohammedanischen Baschkiren des Urals, den leibeigenen Bauern in Russland, den Industriearbeiterinnen und -arbeitern in Sheffield und den Halbpächtern in Spanien beträchtlich. Le Play hat das Problem der Vergleichbarkeit insofern gelöst, als er den französischen Francs als allgemeine Währung einführte und aus halbnomadisierenden Schäfern und Halbpächtern Alt-Kastiliens Taglöhner machte, die einen Lohn erhielten. Dieser wurde in Francs berechnet, ungeachtet dessen, dass die ‚Löhne‘ bzw. die Einkünfte eigentlich aus Naturalien bestanden. Für Frauen berechnete er geringere ‚Löhne‘, als sie die Männer erhielten, nämlich für die Bewirtschaftung des Bodens bzw. der Wiesen die Hälfte, obwohl es sich hierbei um rein fiktive Berechnungen handelte. Le Play hat nicht daran gezweifelt, dass Frauen einen geringeren Lohn erhalten (sollen) als Männer. Er und seine Mitarbeiter haben darüber hinaus beobachtet, klassifiziert und niedergeschrieben, was vor ihnen noch niemand getan hat, nämlich die Jahresarbeitszeit von Männern und Frauen. Die Arbeitszeit der Frauen wurde von den Forschern dann höher angesetzt, wenn sie in der Familienökonomie arbeiteten, wie dies bei Bauern der Fall war, denn sie gingen von deren Mitarbeit in der Landwirtschaft aus. Für die Halbpächter aus Kastilien errechnete Le Play 291 Tage Jahresarbeitszeit, für deren Frauen 309 Tage, von denen sie 120 Tage in den „traveaux de ménage“, in der Hausarbeit, tätig waren, nämlich in der „Nahrungszubereitung, Herstellung des Maisbrotes („torta“), Pflege der Kinder, Reinigung des Hauses, Instandhaltung und Waschen von Kleidung und Wäsche“, einer Tätigkeit, die nicht in Geld bzw. Naturallohn umgerechnet wurde, sondern in der Rubrik „Löhne der Frauen“ aufscheint. Hier finden sich zwei kleine Schrägstriche, die markieren, dass Hausarbeit nicht entlohnt wurde.87 Sie finden sich auch bei den fünf Tagen, die der ledige Kärntner Köhler und Knecht im Jahr für die Hausarbeit aufgebracht haben soll. Dabei hat er Wert darauf gelegt, regelmäßig drei Mahlzeiten einzunehmen.88 Bei einem Taglöhner aus Sheffield, der Lebensmitteleinkäufe für den Familienkonsum übernahm, sind zehn Tage angegeben.89 87 Le Play, Les ouvriers européen, Kap. 20: Paysan-agriculteur (métayer) de la Vieille-Castille, 176–181, 177f. 88 Le Play, Les ouvriers européen, Kap. 12: Charbonnier des Alpes de la Carinthie, 129–133, 129f. 89 Le Play, Les ouvriers européen, Kap. 23: Coutelier de la fabrique urbaine collective de Sheffield, 194–199, 196.

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Hausarbeit blieb in der Untersuchung Le Plays die einzige unbezahlte Arbeit. Für Arbeit in Familienbetrieben gab es fiktive Löhne, so bei den Halbpächtern aus Kastilien und deren Frauen. Bemerkenswert ist, wie präzise Le Play und seine Mitarbeiter unbezahlte Hausarbeit von (möglichen) kommerziellen Aktivitäten unterschieden. Die Frau eines Akkordarbeiters in der Genfer Uhrenindustrie arbeitete nicht nur 144 Tage für dieselbe und führte den Haushalt (110 Tage), sondern nähte auch Kleidung und strickte Strümpfe (30 Tage), vermutlich für den Verkauf gedacht. Dieselbe Aktivität für die Familie wurde jedoch nicht erwartet: Unter den unbezahlten Haushaltsaktivitäten rangierten nur „Entretien des vetements et du linge“, die Instandhaltung von Kleidung und Wäsche.90 Die Frau eines Bergarbeiters und Gießers in der Krain nähte die Kleidung für ihre Familie und pflegte den Garten; beide Tätigkeiten unterlagen nach den Le Play’schen Klassifikationen einem (fiktiven) Stundenlohn. Die unbezahlte Haushaltstätigkeit umfasste daher Kochen und Kindererziehung, was nicht immer erwähnt ist, sowie die Instandhaltung von Kleidung und Möbeln. Aus den Haushaltstätigkeiten explizit ausgelagert war hingegen die Herstellung von Kleidung und Möbeln.91 Die frühe Konsumgesellschaft hatte nicht nur in die Familien der Industriearbeiter Einzug gehalten. Vielleicht ist es eine zu weitreichende Interpretation zwischen der Lohnsituation, in der sich Frauen befanden, sei es als (schlecht bezahlte) Erwerbstätige, sei es als unbezahlte Hausfrauen, und dem Kult der Selbstlosigkeit, der mit ihnen in Zusammenhang gebracht wurde und der den Verzicht auf Entlohnung inkludierte, herzustellen. Auffallend ist jedoch, dass Entlohnung bzw. Bezahlung von Frauen auch unter Frauen ein Thema war. Die englische Feministin Barbara Leigh Smith Bodichon hat sich mit dem Vorurteil gegenüber Frauen auseinandergesetzt, die für ihre Arbeit Geld nahmen oder besser gesagt, sie hat es für notwendig erachtet, sich mit diesem Vorurteil auseinanderzusetzen – denn dieses gab es. Geld, meinte sie, sei nur ein „praktisches Symbol für wünschenswerte Dinge“ und gäbe Macht, auch Gutes zu tun. Sie insistierte auf der Notwendigkeit für etwas, was hergestellt wurde, Geld zu nehmen. „Man neigt dazu, die Würde der notwendigen Arbeit zu verringern; als ob Arbeit für das tägliche Brot nicht auch um der Liebe Christi willen sein könnte!“92 Das Vorurteil sollte zwar auch die freiwillige Tätigkeit von Frauen in Wohlfahrtsvereinen abstützen, aber es ging über diese weit hinaus. Es zementierte die 90 Le Play, Les ouvriers européen, Kap. 28: Horloger (permier type) de la fabrique urbaine collective de Genève, 164–169, 164, 166. 91 Le Play, Les ouvriers européen, Kap. 13: Mineur et fondeur de la corporation des mines de mercure de la Carniole, 134–139, 134, 136. 92 Bodichon, Frauen und Arbeit, 72.

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Forderung nach weiblicher Selbstlosigkeit, wie sie an zahlreichen poetischen, philosophischen und publizistischen Orten zu finden war – so in einem umfangreichen lyrischen Text, dem „Angel in the House“ (1854 bzw. 1862) von Coventry Patmore, der breit rezipiert wurde, auch kritisch. Der „Engel“ war selbstlos: „Man must be pleased; but him to please is woman’s pleasure.“ Eheliche Liebe, basierend auf der Fähigkeit der Frauen, mehr Freude zu bereiten als diese selbst zu suchen, ist ein großes Thema des Gedichts. Virginia Woolf wusste sich von seiner Botschaft nur zu befreien, indem sie den „Engel“ (in einem Vortrag) tötete: „She was immensely charming. She was utterly unselfish. ... She sacrificed herself daily. [...] Had I not killed her, she would have killed me.“93 Das war eine Absage an das Selbstopfer und damit auch an den Verzicht auf Entlohnung, an Gratisarbeit. Doch war dies in der Praxis eine weitreichende ökonomische Notwendigkeit, die von einer lauten Stimme übertönt wurde. Der Haushalt sollte ungeachtet der Durchsetzungskraft, die die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung in diesem Bereich zeigte, im 19. und im 20. Jahrhundert ein Experimentierfeld für Reformen werden. Sie nahmen von dem Ungenügen ihren Ausgangspunkt, das viele an der Organisation des Haushalts kritisierten. Die fehlende Berücksichtigung erwerbstätiger Frauen wurde ebenso moniert wie die fehlende Verantwortung der Gesellschaft für Kindererziehung. Andere Sichtweisen forderten eine Rationalisierung und Technisierung als Schritt in eine neue familiäre Zukunft. Die Diskussion reicht in das frühe 19. Jahrhundert zurück und ist auch im 21. Jahrhundert noch nicht abgeschlossen. Philosophen, Architekten, Feministinnen und Unternehmer entwickelten Projekte, die die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung einer Revision unterziehen sollten. Weniger auffällig war zunächst der Prozess der Auslagerung und Kommerzialisierung der Hausarbeit, der, wie wir schon in der Kategorisierung von Le Play verfolgen konnten, bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts festgestellt wurde. Im Adel war diese Entwicklung schon längst erfolgt, wenn die Auslagerung auch innerhalb des Hauses blieb. Im frühen 19. Jahrhundert haben die Frühsozialisten, die eine Neuordnung der Geschlechter- und Arbeitsbeziehungen anvisierten, den Haushalt mehrerer Familien als Kooperative und eine Zentralisierung von dessen Aufgabenbereichen geplant. Die utopischen Feministinnen hatten gleichermaßen eine Befreiung der Frauen von der „Sklaverei der Hausarbeit“ vor Augen. Rationalisierung und/oder Sozialisierung der Hausarbeit bzw. gesellschaftliche Verantwortung für Kindererziehung sollten im 19. und 20. Jahrhundert die großen 93 Virginia Woolf, Professions for Women, in: dies. Women and Writing, hg. von Michèle Barrett, New York 1979, 59, zit. nach Bonnie S. Anderson, Joyous Greetings. The First International Women’s Movement, 1830–1860, Oxford 2000, 45.

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Projekte für Haus- bzw. Familienarbeit bleiben. In den Vereinigten Staaten gab es früh, in Weiterentwicklung der europäischen frühsozialistischen Entwürfe, detailliert ausgearbeitete Pläne des „cooperative housekeeping“, die auch eine feministische Kritik des Wohnbaus umfassten, wie Gisela Dörr herausgearbeitet hat. Privat organisierte Hausarbeit wurde entschieden kritisiert, denn sie behindere die ökonomische Unabhängigkeit von Ehefrauen. Die Lösung des Problems wurde in einer gemeinschaftlich organisierten Haushaltsführung und Kinderbetreuung gesehen. Diese Vorstellungen griffen Städteplaner auf. Der Engländer Ebenezer Howard konzipierte Ende des 19. Jahrhunderts küchenlose Siedlungshäuser, die sich um ein zentrales Küchenhaus gruppierten.94 Gebaut wurde das Einküchenhaus, wenn auch keineswegs europaweit. In Kopenhagen, in Berlin und in Wien setzten es progressive Architekten in Planungen um und in der Sowjetunion kam es zur Errichtung von Wohnhotels und Kollektivhäusern. In Budapest bemühten sich Feministinnen, wie Susan Zimmermann ausgeführt hat, um die Realisierung einer Zentralhaushaltung im kommunalen Wohnbau, aber die Gemeinde war davon nicht zu überzeugen.95 Das Ziel dieser Einrichtungen war die Entlastung der Hausfrauen durch eine Auslagerung von Tätigkeiten in die kollektive Verantwortung. Auch Lily Braun sah in der „genossenschaftlichen Organisation des Haushalts“ einen Ausweg aus der Situation, die vor allem den überbelasteten Arbeiterinnen zugutekäme.96 Das Einküchenhaus hatte letztlich keinen überragenden Erfolg, wobei die Gründe sowohl in den hohen Mieten der Wohnungen lagen als auch in der Organisation einer Gesellschaft, die auf Ehe und Familie als einem eigenen Mikrokosmos ausgerichtet war. Der Versuch, die Rigidität einer Arbeitsteilung auf dem Weg des Einküchenhauses aufzuweichen, ist zwar gescheitert, doch sollten Vorhaben dieser Art in der Folge nicht aufgegeben werden. Erfolgreich hingegen war die Einrichtung von Kindergärten für berufstätige Mütter. Die Auffassung, dass Familienarbeit, nämlich Kindererziehung und Pflegetätigkeit, auch gesellschaftliche Aufgaben darstellen, hat sich auf Umwegen herausgebildet und ist im 21. Jahrhundert immer noch ein Thema von politischer Tragweite. Rationalisierungsmaßnahmen für den Bereich des Haushalts hatten zunächst mehr Erfolg, denn sie beabsichtigten nicht, die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung grundlegend zu reformieren. Das neue Motto lautete: „Effizi94 Gisela Dörr, Der technisierte Rückzug ins Private. Zum Wandel der Hausarbeit, Frankfurt a. M./New York 1996, 58–70. 95 Susan Zimmermann, Die bessere Hälfte. Frauenbewegungen und Frauenbestrebungen im Ungarn der Habsburgermonarchie 1848 bis 1918, Wien 1999, 292f. 96 Lily Braun, Die Frauenfrage, ihre gesellschaftliche Entwicklung und wirtschaftliche Seite, Leipzig 1901, 196f.

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enz“. Mütterberatung, Steigerung hygienischer Ansprüche, das Vorbild „wissenschaftlicher Betriebsführung“, Bewegungsstudien und die Entwicklung neuer Küchenformen wie der Frankfurter Küche in den 1920er Jahren intendierten einen effizient geführten Haushalt und eine ebensolche Kindererziehung. Die Hausfrau sollte zur „Home Managerin“ werden. Das Vertrauen in den Fortschritt der Technisierung hat in den 1920er Jahren der Diskussion neue Horizonte eröffnet, die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung aber nicht auf den Kopf gestellt, wenn auch deren Problematik präsent war. Ein drittes Konzept zur ‚Lösung‘ des ‚Problems‘ Haus- und Familienarbeit war die Forderung nach Lohn für Mutterschaft. Die schwedische Feministin Ellen Key hat diese in ihrem Buch „Über Liebe und Ehe“, das 1904 auf Deutsch erschienen ist, erhoben. Sie sieht in der Ehe wesentliche Nachteile für Frauen, denn sie müssten auf ihre „Rechte über ihre Kinder, ihr Eigentum, ihre Arbeit, ihre Person“ verzichten.97 Das werde auch nicht durch die Unterhaltspflicht des Ehemannes ausgeglichen, vielmehr könnte diese oft demütige Abhängigkeit nur dadurch aufgehoben werden, „dass ihre häusliche Arbeit ökonomisch bewertet wird“.98 Key schlägt daher einen „Gesellschaftslohn“ für Frauen vor,99 wobei sie auf ältere Vorschläge eines dänischen Professors und zweier schwedischer Feministinnen zurückgreift. Mütter sollten während der ersten drei Lebensjahre jedes Kindes von der Gesellschaft versorgt werden – vorausgesetzt, dass sie volljährig waren und die „weibliche Wehrpflicht“, nämlich eine einjährige Ausbildung in Kinder- und eventuell Krankenpflege, absolviert hatten. Vorausgesetzt war auch, dass sie das Kind selbst pflegten und über nicht ausreichendes eigenes Vermögen verfügten. Frauen sollten sich auf diese Weise ihrer „Geschlechtsaufgabe“ hingeben können, was ihnen bei Berufstätigkeit oder Abhängigkeit vom Ehemann nicht möglich sei.100 Damit sah Key nicht nur die national wünschenswerte Aufgabe der Kindererziehung erfüllt, die ihr ein Anliegen war, sondern auch die Beziehung zwischen dem Ehepaar entlastet. Dies galt ihr als eine Voraussetzung der persönlichen Liebe, die sie als „höchste[n] Wert des Lebens“ verstand.101 Key möchte durch ihr Lohnmodell jedoch zugleich die Hausarbeit aufwerten, notwendigerweise durch Geld, das der „Massstab des ökonomischen Wertes geworden ist“.102 Ihr Modell wurde in ihrer Zeit nicht realisiert, wenn es auch im Verlauf des 20. Jahrhunderts zahlreiche Ansätze zur staatlichen Gratifikation der Mutterschaft bzw. gegen 97 98 99 100 101 102

Ellen Key, Über Liebe und Ehe, Berlin 1904, 400. Key, Über Liebe, 422, Hervorhebung im Original gesperrt gedruckt. Key, Über Liebe, 417. Key, Über Liebe, 406f. Key, Über Liebe, 4. Key, Über Liebe, 418.

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Ende des 20. Jahrhunderts von Elternschaft geben sollte. Zu diesen drei Konzepten hinzuzufügen ist der erfolgreiche Weg der Auslagerung von Haus- und Familienarbeit, sei es auf dem Weg der Kommerzialisierung, sei es auf jenem staatlicher Förderung. Das bekannte Buch des amerikanischen Autors Edward Bellamy „Looking Backward 2000 – 1887“, 1888 erschienen, wurde in der „Berliner Arbeiterbibliothek“ 1894 ausschnittweise unter dem Titel „Ein sozialistischer Roman“ veröffentlicht. In ihm gelangt Herr West durch einen Tiefschlaf vom Jahr 1887 in das Jahr 2000. Hier begegnet er einer neuen Welt. Die Produktionsmittel sind vergesellschaftet, und die Geschlechterbeziehungen basieren auf neuen Voraussetzungen. Frauen sind nun wie Männer in den Arbeitsprozess eingebunden. „Die Heirat bedeutet für sie keine Einkerkerung und dieselbe trennt sie in keiner Weise von den großen Interessen der Gesellschaft.“103 Herr West schlussfolgert dementsprechend, dass der Umstand, dass die Frau „in ihrem Lebensunterhalte vom Manne“ nun nicht mehr abhängig sei, die „Beziehungen der Geschlechter wesentlich“ beeinflussen müsse. Ein Ergebnis dessen könne er selbst sehen: „Es kann jetzt nur noch Heiraten aus Liebe geben!“104 Die Vorstellung eines untrennbaren Zusammenhanges von ökonomischer Unabhängigkeit und Liebe fand in diesem Roman einen Ausdruck, der auf diese Weise von der sexuellen Arbeitsteilung eine entschiedene Distanz nahm, aber auch von einem Konzept von Liebe (als Schutz), das als Teil dieser verstanden wurde. Bellamy konnte nicht wissen, dass im Jahr 2000 das Thema unter anderen Perspektiven noch immer aktuell sein würde. 2.4 Der Wunsch nach dem Kinde

Politisch und religiös Verantwortliche zweifelten nicht daran, dass die Zeugung und Erziehung von Kindern – neben der gegenseitigen Beistandsleistung – als ein wesentlicher Zweck der Ehe und als Verpflichtung der Ehepaare anzusehen sei. Das galt für das 19. und für das 20. Jahrhundert. Auch im frühen 21. behalten diese Vorstellungen von ehelichen Pflichten Rechtsgeltung, wenn die Praxis sich auch insofern nicht daran hält, als kinderlose Paare ebenso zur Norm gehören wie unverheiratete Paare mit Kindern. Das sind Formen des Zusammenlebens, die erst gegen Ende des 20. Jahrhunderts weitgehend gesellschaftlich akzeptiert werden. Das Ehe- und Familienrecht des 19. Jahrhunderts hat neben Zeugung – ein Begriff, der aber nicht immer Verwen103 Edward Bellamy, Ein Rückblick aus dem Jahre 2000 auf 1887, hg. von Georg von Giżycki, Leipzig 1890, 210. 104 Bellamy, Ein Rückblick, 214, 216.

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dung findet – und Erziehung von Kindern die Aufrechterhaltung ehelicher Gemeinschaft und die gegenseitige Beistandspflicht als Ehezwecke definiert. Es orientierte sich hierbei stark am kanonischen Recht, das neben der gegenseitigen Hilfeleistung im „procreationis appetitus“ einen zentralen Ehezweck sieht, nämlich im Zeugungswunsch und in der Zeugungsfähigkeit in Hinblick auf die Vermehrung der Christenheit.105 Verbunden war er mit dem dritten, von der katholischen Kirche nicht erst seit dem Konzil von Trient festgehaltenen Ehezweck, nämlich mit der Disziplinierung der „schwer zu bändigende[n] Fleischeslust“.106 Das Motto, „Melius nubere, quam uri“, „Besser heiraten als brennen“, war bereits im Neuen Testament vorformuliert und in der Folge ein geflügelter Ratschlag.107 Hierbei handelte es sich um einen Ehezweck, der ex negativo zur Vermeidung der „Sünde der Ausschweifung“ gedacht war. Daher wurde die Fähigkeit zum Geschlechtsverkehr von den Theologen als Basis der Ehe verstanden, „weil ohne dieselbe der letzte Zweck der Ehe als des einzig rechtmäßigen Institutes zur Fortpflanzung des Geschlechtes niemals erreicht werden kann“.108 Das Konzept der Vermeidung der „Sünde der Ausschweifung“ wurde von den Bürgerlichen Gesetzbüchern nicht aufgegriffen. Allerdings wurde es durch jenes der „ehelichen Pflicht“ ersetzt. Die Formulierungen wechseln: „Vor allem haben beide Teile eine gleiche Verbindlichkeit zur ehelichen Pflicht, Treue und anständigen Begegnung“, heißt es im Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuch von 1811, während der Code civil nur eine männliche Verpflichtung zum Geschlechtsverkehr kennt, was wohl als Teil des legistischen Konzepts der männlichen Vorherrschaft in der Ehe zu verstehen ist: „La femme est obligée d’habiter avec le mari, et de le suivre partout où il juge à propos de résider; le mari est obligé de la recevoir […].“109 Ob die „eheliche Pflicht“ einklagbar war, darüber gab es unter den Juristen Uneinigkeit. Impotenz, sofern sie schon bei der Heirat vorhanden war, galt in jenen Ländern, die sich stark am kanonischen Recht orientierten, als Ehe-

105 Johann Kutschker, Das Eherecht der katholischen Kirche nach seiner Theorie und Praxis. Mit besonderer Berücksichtigung der in Österreich bestehenden Gesetze, Bd. 1, Wien 1856, 37. Kutschker bezieht sich hier auf die Bestimmungen des Tridentinums. 106 Kutschker, Das Eherecht der katholischen Kirche, Bd. 1, 38. 107 Samuel Singer u. a., Thesaurus proverbiorum medii aevi. Lexikon der Sprichwörter des romanisch-germanischen Mittelalters, Bd. 1, Berlin u. a. 1995, 94f. Als Abbildung: Nikolaus Reusner, Aureola Emblemata, Straßburg 1587, auf http://www.uni-mannheim.de/ mateo/camena/reus4/jpg/s052.html. Für den Hinweis danke ich Margareth Lanzinger. 108 Kutschker, Das Eherecht der katholischen Kirche, Bd. 3, 6. 109 Allgemeines Bürgerliches Gesetzbuch von 1811, § 90; Code civil von 1804, Art. 214.

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hindernis, das allerdings unter Rechtswissenschaftlern umstritten war.110 Würde nämlich die Verpflichtung zum Geschlechtsverkehr und zur Zeugung von Kindern einklagbar sein, so dürfte auch nicht die Möglichkeit bestehen, Ehen auf dem Totenbett oder im hohen Alter zu schließen. Zwar gab es ein Ehefähigkeitsalter für die Jugend, aber keines für das Alter. Hohes Alter war daher in den Zivilgesetzbüchern kein Ehehindernis. Die orthodoxe Kirche hatte diesbezüglich allerdings andere Regelungen. Als zwischen den beiden Weltkriegen in Serbien nur religiöse Eheschließungen anerkannt wurden, waren die serbisch orthodoxen Geistlichen angewiesen, „Ehen von Männern über 60 und von Frauen über 50 Jahren nicht einzusegnen“. Ebenso verboten war eine Ehe bei zu großem Altersunterschied.111 Dies war jedoch eine Ausnahme. Das Scheidungsrecht eröffnete mehr Möglichkeiten, wegen Impotenz oder Kinderlosigkeit die Ehe zu trennen. Das Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794 etwa erlaubte eine Scheidung bei kinderlosen Ehen, sofern eine beidseitige Einwilligung vorhanden war.112 Keineswegs kannten alle bürgerlichen Gesetzbücher das Eheverbot und den Scheidungsgrund der Impotenz, so nicht der Code civil und das Schweizerische Zivilgesetz.113 Distanz zum kanonischen Recht und zu dessen Ehekonzept, das auf der Fähigkeit der Paare zum Geschlechtsverkehr und zur Zeugung beruht, kommt hier zum Ausdruck. Kinderlosigkeit war bis in das späte 20. Jahrhundert mehr ein gesellschaftliches, familiäres, auch politisches, denn ein rechtliches Problem. Die Verankerung der Erziehung und – in manchen Fällen von Zeugung – von Kindern als Ehezweck in den Zivilgesetzbüchern hatte überwiegend die Aufgabe die Nachkommenschaft zu legitimieren, was für das Erbrecht ebenso von Bedeutung war wie für politische Lösungen, die die Erhöhung der Geburtenrate anvisierten. Kinder unverheirateter Paare konnten nur das Erbe ihrer Mutter antreten: „Ein uneheliches Kind und dessen Vater gelten nicht als verwandt“, 110 Ein katholischer Bischof hat 2008 in Italien einem querschnittgelähmten Mann die kirchliche Trauung mit Verweis auf die vorhandene Impotenz verweigert, das Faktum subjektiver Entscheidungen nicht berücksichtigend: http://www.welt.de/vermischtes/ article2081848/Wegen-Impotenz-Bischof-verweigert-Trauung.html. 111 Jivoin Péritch, Rechtsgebiet Serbien, in: William Loewenfeld, Georg Crusen, Friedrich Steuber, Erwin Loewenfeld u. Günther Löwenfeld (Hg.), Das Eherecht der europäischen Staaten und ihrer Kolonien, Berlin 19322 bzw. 1937, 897–984, 907f. Der Band scheint 1932 gedruckt, aber nicht ausgeliefert worden zu sein, offensichtlich aufgrund der bald erfolgten Machtergreifung der Nationalsozialisten in Deutschland. Ein zweites Deckblatt nennt als Erscheinungsjahr 1937, aber nicht mehr die Herausgeber mit dem Namen Loewenfeld. 112 Vgl. Blasius, Ehescheidung in Deutschland, 30. 113 Vgl. Joseph Schnitzer, Katholisches Eherecht. Mit Berücksichtigung der im Deutschen Reich, in Österreich, der Schweiz und im Gebiete des Code Civil geltenden staatlichen Bestimmungen, Freiburg i. Br. 18985, 365.

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formulierte deutlich das deutsche Bürgerliche Gesetzbuch (§ 1589).114 Darüber hinaus galt die „eheliche Pflicht“ als einzig legitimer Geschlechtsverkehr, woraus ein Rechtsexperte den Schluss zog, dass „der an dem Ehegatten erzwungene Beischlaf niemals das Verbrechen der Notzucht begründen“ könne.115 Diese Sichtweise sollte bis Ende des 20. Jahrhunderts, als eheliche mit außerehelicher Vergewaltigung gleichgestellt wurde, Rechtsgeltung behalten. Die Forschung hat die Rationalität des (europäischen) Reproduktionsverhaltens immer wieder behauptet, auch für einen Zeitraum, als von einer Trennung von Sexualität und Reproduktion noch kaum gesprochen werden kann. Empfängnisverhütende Maßnahmen waren zwar seit der Renaissance zumindest bekannt, aber jeweils nur kleinen Gruppen, so dass sie keine allgemeine Anwendung fanden. Ein Regulativ stellte allerdings das Heiratsverhalten dar, dessen Rationalität der Statistiker John Hajnal postuliert hatte. Diese basiere, so Hajnal, auf dem Konzept, für Heiraten eine ökonomische Basis einzufordern. Darin läge der Grund für späte Heiraten und eine hohe Ledigenrate, denn weniger Kinder erziehen zu müssen, bedeute mehr Ersparnisse anlegen zu können. Dieses „europäische Heiratsmuster“ hätte es seit dem frühen 18. Jahrhundert bis in die 1940er Jahre überall in Europa mit der Ausnahme von Ost- und Südosteuropa gegeben.116 Diese Thesen haben zu einer langen Forschungsdebatte geführt, in der sie, nach anfänglicher Akzeptanz, zunehmend kritischer diskutiert wurden. Bezweifelt wurden der Zusammenhang von ökonomischer Unabhängigkeit und Eheschließung sowie das Konzept eines Haushaltes „als ökonomisch unabhängige Einheit“. Demgegenüber unterstrichen neuere Forschungen die Bedeutung sozialer Vernetzung wie in der Verwandtschaft und hoben die Vielfalt von Heiratspraktiken hervor, die jeweils innerhalb der von Hajnal getrennten Räume vorzufinden ist.117 Die Frage, ob rationales ökonomisches Handeln die Entscheidung für eine Ehe bzw. den Zeitpunkt der Eheschließung bestimmt, wurde auch in Hinblick auf den Geburtenrückgang gestellt, der mit Ausnahme Frankreichs, wo er bereits im späteren 18. Jahrhundert einsetzte, in den europäischen Ländern im Verlauf des letzten Drittels des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts erfolgte. „Der Geburtenrückgang wird dabei mit Kosten und Nutzen von Kin114 Vgl. dazu auch Margareth Lanzinger u. Edith Saurer, Einleitung, in: dies. (Hg.), Politiken der Verwandtschaft. Beziehungsnetze, Geschlecht und Recht, Göttingen 2007, 7–22, 16. 115 Eduard Rittner, Oesterreichisches Eherecht, systematisch und mit Berücksichtigung anderer Gesetzgebungen, Leipzig 1876, 311, Anm. 2. 116 Hajnal, European Marriage Patterns. 117 Vgl. dazu Christophe Duhamelle u. Jürgen Schlumbohm, Einleitung: Vom „europäischen Heiratsmuster“ zu Strategien der Eheschließung?, in: dies. (Hg.), Eheschließungen im Europa des 18. und 19. Jahrhunderts. Muster und Strategien, Göttingen 2003, 11–33, 14f.

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dern, mit dem Interesse an Sicherung oder Erhöhung des Lebensstandards, mit dem Wunsch nach sozialem Aufstieg für sich und seine Nachkommen, mit den Austauschbeziehungen und den Transfers zwischen den Generationen […] in Zusammenhang gebracht.“ Ein zweiter Erklärungsansatz arbeitet mit „Kulturen der Empfängnisverhütung“, die im weitesten Sinne Normen und Praktiken der Geschlechterbeziehungen berücksichtigen.118 Welche untrennbare Einheit Ökonomie und Kultur darstellen, soll im Folgenden an einem Fallbeispiel dargestellt werden. Es handelt sich um die Familie des italienischen Schriftstellers Alessandro Manzoni und seiner ersten Frau Enrichetta Blondel. Im Jahr 1821 war Enrichetta Blondel das neunte Mal schwanger. Sie schreibt an eine Cousine: „Ich versichere Ihnen, daß mir diese neue Aufgabe sehr beschwerlich ist ... aber wir müssen uns in Gottes Willen schicken.“119 Ihr Mann Alessandro Manzoni berichtet an einen Freund: „Enrichetta ist im siebten Monat einer ziemlich mühseligen Schwangerschaft, die auf ein glückliches Ende hoffen läßt, aber mit viel Ruhe und Geduld erkauft werden muß.“120 Enrichetta sollte diese schwere Schwangerschaft trotz Kindbettfiebers überleben. Ein Jahr später ist sie neuerlich schwanger und „ohne bettlägerig zu sein, fast immer leidend; ihre Augen sind in einem erbärmlichen Zustand, der uns traurig macht; doch man lässt uns hoffen, man versichert uns fast, daß diese neuerliche Schwächung von der Schwangerschaft verursacht ist und nach der Entbindung verschwinden wird“.121 Die Briefe der Manzonis, die sie an ihre zahlreichen Freunde und Verwandten schrieben, sind voll der Klage über schwierige Schwangerschaften und Geburten. Enrichetta stirbt 1833 im Alter von 42 Jahren. Zwischen ihrem 17. und ihrem 39. Lebensjahr hatte sie zwölf Schwangerschaften, drei Kinder überlebten die Geburt nur kurze Zeit. Als Manzoni 1873 starb, lebten nur mehr seine Tochter Vittoria und sein Sohn Enrico. Alessandro und Enrichetta haben jung geheiratet, viel jünger als andere Paare ihrer Zeit, nämlich mit 23 bzw. 17 Jahren. Das durchschnittliche Heiratsalter von Frauen in Turin im Jahre 1802 betrug hingegen 22,8 Jahre, im Umfeld der Stadt 23,1 Jahre, jenes der Männer war bedeutend höher, nämlich 28 und 27,6 Jahre. In anderen Städten, wie Venedig, heirateten Frauen im Durchschnitt noch bedeutend später, nämlich mit 26,9 Jahren.122 Ein höheres Heiratsalter 118 Josef Ehmer, Bevölkerungsgeschichte und historische Demographie 1800–2000, München 2004, 108. 119 Natalia Ginzburg, Die Familie Manzoni, Düsseldorf 19882, 73. 120 Ginzburg, Die Familie Manzoni, 74. 121 Ginzburg, Die Familie Manzoni, 76. 122 Vgl. Barbagli, Sotto lo stesso tetto, 534f; Renzo Derosas, A Family Affair: Marriage, Mobility, and Living Arrangements in Nineteenth-Century Venice, 1850–1869, in: Frans van Poppel, Michael Oris u. James Lee (Hg.), The Road to Independence. Leaving Home in Western and Eastern Societies 16th–20th Centuries, Bern 2004, 143–196, 155.

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entschied über die Zahl der Geburten; das waren im Durchschnitt etwa fünf pro Frau in diesen Jahrzehnten. Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts aber erreichte nur etwas mehr als die Hälfte der Geborenen das Erwachsenenalter.123 Das Ehepaar Manzoni hatte, gemessen am Durchschnitt, früh geheiratet und Enrichetta Blondel, ebenfalls gemessen an den Durchschnittszahlen, viele Kinder geboren. Aber die Geschichte von Personen und von Ehepaaren und ihres Kinderwunsches kann nicht zur Bestätigung des Durchschnitts herangezogen werden. Vielmehr gibt uns die Geschichte der Familie Manzoni einen spezifischen Einblick in die Beziehung zwischen Eltern und Kindern, auch in Hinblick auf Emotionalität. Alessandros Mutter Giulia war von ihrem Vater Cesare Beccaria, dem Verfasser der Schrift „Dei delitti e delle pene“,124 nach dem Tod ihrer Mutter in ein Kloster abgeschoben und 1782 mit dem 23 Jahre älteren Grafen Pietro Manzoni verheiratet worden, der über ein bescheidenes Vermögen verfügte. Die Ehe war unglücklich, und der 1785 geborene Sohn Alessandro wurde zu einer Amme aufs Land gegeben. 1792 trennte sich das Paar mit Gerichtsbeschluss, der Sohn blieb beim Vater bzw. in einem Internat. Giulia lebte seit 1796 in Paris gemeinsam mit Carlo Imbonati, einem reichen und hochgeschätzten Mann, und verkehrte hier in Intellektuellenkreisen. „An den kleinen Jungen, den sie in Merate im Internat der Somascaner Patres hatte, dachte sie nicht oft. Er gehörte zu ihrem alten, verachtenswerten und dunklen Leben, und über jenem Kinderkopf lagen Schatten, lasteten Schuldgefühle, an die sie nicht rühren und sich erinnern mochte. Sie schrieb ihm nie“, bemerkt Natalia Ginzburg, die die Briefe der Familie Manzoni für ihre Erzählung über diese Familie ausgewertet hat.125 Auch sein Vater hatte kein großes Interesse an Alessandro. Dieser war 19 Jahre alt, als er eine Mutter 1805 in Paris wiedersah, und für beide war diese Begegnung der Beginn einer großen Liebe. Sowohl Giulia als auch Alessandro hatten die Erfahrung gemacht, von ihren Eltern wenig bis gar nicht beachtet worden zu sein. Die Entscheidung, die Giulia und Pietro Manzoni getroffen hatten, ihren Sohn zu einer Amme auf einen Bauernhof zu geben, war eine traditionsreiche Praxis europäischer Ehepaare, die allerdings um 1800 weniger üblich wurde und in der Folge kein Massenphänomen mehr darstellen sollte. Die Gründe für diese Praxis lagen in der Erwerbstätigkeit von Frauen, im Falle von Giulia

123 Vgl. Ehmer, Bevölkerungsgeschichte, 42. 124 Cesare Beccaria, Dei delitti e delle pene, Livorno 1764 / Paris 1766 [dt.: Über Verbrechen und Strafen, Frankfurt a. M. 1966]. 125 Ginzburg, Die Familie Manzoni, 17.

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und Pietro Manzoni in einer unbefriedigenden Ehe.126 Giulia riss sich aus dieser Beziehung und aus der Erinnerung an ihre unglückliche Mailänder Kindheit heraus und begann in Paris ein neues Leben zu führen, in einer Zeit, die den Bruch mit der Vergangenheit als politische, soziale und kulturelle Kraft verstand. Die Eltern Enrichetta Blondels waren Calvinisten, der Vater Schweizer. Kurz nach der Eheschließung trat Enrichetta 1810 zum Katholizismus über, ein ungewöhnlicher Akt in ihrer Zeit, der zu großen Konflikten mit ihrer Herkunftsfamilie führte. Der Katholizismus sollte für das Ehepaar und für Giulia Beccaria Manzoni, die alle drei nach Italien zurückkehrten, das zentrale Orientierungselement werden. Enrichetta Manzoni Blondels Gesundheit litt unter den zahlreichen Geburten. Ihr Dasein, so Natalia Ginzburg, „spielte sich zwischen diesen vier Hauptpunkten ab: Ehe, Mutterschaft, Krankheit, Glaube“.127 Es sollte hinzugefügt werden: Briefeschreiben. Die Belastung durch Schwangerschaften, Geburten und das Aufziehen der Kinder war jedoch so groß, dass die 1822 geborene Tochter Vittoria mit neun Jahren in das Internat zu den Englischen Fräulein nach Lodi geschickt wurde und in der Folge nie wieder kontinuierlich mit ihrer Familie leben sollte. Für Enrichetta war dies eine schwere Entscheidung. „Wie oft, seitdem Du mich verlassen hast, meine liebe Kleine, habe ich meine Augen umherschweifen lassen, um Dich zu suchen, wie oft haben meine Ohren geglaubt, Deine Stimme zu vernehmen! ... Und wenn meine mütterliche Fürsorge wie aus Gewohnheit forscht, wo Du sein magst, antwortet mir mein Herz: ‚Sie ist an sicherem Ort, ist in guten Händen …‘ Und dann wird der Kummer, den mir Deine Abwesenheit bereitet, leichter.“128 Die Briefe, die Vittoria von ihrer Mutter und ihrer Großmutter erhielt, setzten emotionale Standards in der Beziehung zu Kindern und Enkelkindern. Sie sollten der Tochter das Gefühl des Verlustes geben, den ihr Weggang verursacht hatte. Vittoria blieb in einem räumlichen Außen, auch wenn die (Brief-)Kontakte eng waren. Nach dem Tod ihrer Mutter kam sie in ein Kloster nach Mailand und als zwei ihrer – verheirateten – Schwestern schwer erkrankten, half sie bei der Pflege. Nach deren Tod nahm sich eine „Tante“ ihrer an, die zweite Frau ihres Schwagers, und zog mit ihr in die Toskana. Hier sollte sie dann mit 24 Jahren heiraten. Sie nahm ihre jüngste – unverheiratete – Schwester in ihr Haus auf; diese war noch von der finanziellen Unterstützung ihres Vaters abhängig, was sie belastete. Sie war schwer krank. „Lieber Papa, die Ausgaben hier steigen in schmerzlicher Weise, und meine Kasse ist jeden Augenblick leer! 126 Vgl. Barbagli, Sotto lo stesso tetto, 378–392. 127 Ginzburg, Die Familie Manzoni, 48. 128 Ginzburg, Die Familie Manzoni, 154f.

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ich brauche so viel Beistand, zwei Frauen sind nachts, und man kann sagen, den ganzen Tag bei mir im Zimmer, weil ich von mir aus nicht die geringste Bewegung machen kann, so klein sie auch sei, und dann kann man sich gar nicht vorstellen, wie kostspielig eine Krankheit wie die meine ist. Lieber Papa, und Du bist knapp dieses Jahr! Glaub mir, daß ich mehr als einmal geweint habe!“129 Sie stirbt vierzehn Tage später mit 26 Jahren. Die Beziehung zwischen den Geschwistern, wenn auch nicht zwischen allen, war eng; sie halfen sich in Notsituationen. Das galt auch für Verwandte und Freunde. Alessandro Manzoni, der nochmals geheiratet hatte, musste nicht nur seine unverheiratete Tochter erhalten, sondern auch zweien seiner Söhne, die schwer verschuldet waren, immer wieder finanziell unter die Arme greifen, auch wenn er es nicht immer tat und auch wenn er deren Verarmung und sozialen Abstieg nicht verhindern konnte. Allerdings hatte Manzoni den Fruchtgenuss jenes nicht unbeträchtlichen Vermögens erhalten, das seine Frau und seine Mutter ihren Kindern bzw. Enkeln vererbt hatten. Er musste dieses Erbe seinen Kindern jedoch nur im Fall einer Heirat der Töchter als Mitgift ausbezahlen. Die unverheirateten Töchter und seine Söhne erhielten ihren Erbteil erst nach seinem Tod, denn Manzoni verzichtete nicht auf den usufructus. Da es seine beiden Söhne aber nicht verstanden hatten, im Erwerbsleben ausreichend Fuß zu fassen, um sich und ihre Familie zu erhalten, waren sie auf seine Unterstützung angewiesen. Sein Sohn Filippo beabsichtigte mit 24 Jahren, ein Darlehen aufzunehmen, „indem er die Erträge der Erbteile belieh, die ihm testamentarisch von der Großmutter und der Mutter zugesprochen worden waren“.130 Das war ein offensichtliches Zeichen dafür, dass er in den Besitz dieses Erbes gelangen wollte. Manzoni hingegen wies dies mit Entschiedenheit zurück und verfasste einen eindringlichen Appell: „Filippo! Es ist die Stimme Deines Vaters, die Dich ruft: die Stimme, die, sanft oder streng, Dir nie anderes kundgetan hat als den Wunsch um Dein Wohlergehen; und zum Zeugen dessen rufe ich Dein Gewissen an. Filippo! kehre um auf einem Weg, der Dich nur zum Abgrund führen kann […].“131 Als Filippo weiterhin hohe Schulden machte, dachte Manzoni an Entmündigung. Schließlich erhielt er vom Vater eine Rente aus dem von der Mutter und Großmutter hinterlassenen Erbe, dessen Verwalter der Vater blieb. Das galt auch für den Sohn Enrico. So sind die Briefe voll mit Forderungen der Söhne an den Vater und dessen Zusagen von Holzfuhren oder Lebensmitteln. „Schon seit etlichen Tagen bin ich ohne 129 Ginzburg, Die Familie Manzoni, 374. 130 Ginzburg, Die Familie Manzoni, 324. 131 Ginzburg, Die Familie Manzoni, 324.

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Holz, und nur mit Mühe habe ich ein wenig Feuer am Brennen halten können … Ich habe bei der Wäscherin drei Monate zu bezahlen … […] Nur ich weiß, wie ich leide, daß ich Dir ständig schreiben muß, und gewiß, um Dir zur Last zu fallen. […] Während ich zur Feder griff, um Dir für den schönen Obstkorb zu danken, den Du mir gestern geschickt hattest, erhalte ich herrliche Äpfel, drei Hühner und Kartoffeln“, so Enrico.132 Briefe, die die Notlage darstellten und die fehlenden Güter des Alltags vom Hut bis zum Reis aufzählten, erreichten Alessandro Manzonis bis kurz vor zu seinem Tod. Als er 85 war, weigerte er sich, weitere Briefe anzunehmen. Er bevorzugte in seinem Testament seinen ältesten Sohn Pietro, der sein Gut verwaltet und ihn in seiner Arbeit immer unterstützt hatte. Dieser war der einzige, der noch auf dem Familiengut Brusuglio mit seiner Familie lebte. Die anderen Söhne und Töchter – mit Ausnahme Vittorias und Matildes – hatten (erst) mit der Heirat das elterliche Haus endgültig verlassen und es nach der Wiederverheiratung Manzonis auch verlassen wollen. Die Notwendigkeit des sich Versorgens hatte sich für alle gestellt. Für die Töchter hatte das die Ehe bedeutet, für die Söhne nur in begrenztem Ausmaße eine Erwerbsarbeit; einer war damit gescheitert und hatte sie aufgegeben, der andere gar nicht systematisch damit begonnen. Die finanzielle Abhängigkeit der Söhne vom Vater währte bis zum Tod ­Filippos und bis zum 54. Lebensjahr Enricos, als Alessandro Manzoni starb. Eine rechtliche Verpflichtung der Eltern, für ihre Kinder zu sorgen, gab es nur bis zur Großjährigkeit. Dennoch war das Erbrecht bzw. das Erbe wirksam genug, um die Beziehungen weit über die Großjährigkeit hinaus zu gestalten. Das verstärkte die Machtposition dessen, der über das Erbe verfügen konnte. Das Erbe nahm in der Frühen Neuzeit und bis weit in das 19. Jahrhundert hinein einen zentralen Stellenwert für Lebenschancen ein, denn der Umlauf von Geld und der Zugang zu Bargeld waren beschränkt133 und die Möglichkeit eines lebenslangen Erwerbslebens unsicher. Wie erbrechtliche und ökonomische Verhältnisse bewirken konnten, dass sich die finanzielle Abhängigkeit der Kinder von den Eltern über Jahrzehnte erstreckte, so konnten auch umgekehrt die Eltern von den Kindern ökonomisch abhängig und auf deren frühe Erwerbsarbeit angewiesen sein. Wenn auch die Arbeit von Kindern unter 14 Jahren seit den 1840er Jahren rückläufig war, so blieb sie dennoch bis weit in das 20. Jahrhundert hinein üblich. Für einen englischen Industriearbeiterhaushalt in den Jahrzehnten zwischen 1840 und 1872 betrug der Beitrag der Kinderarbeit zum Familienbudget 132 Ginzburg, Die Familie Manzoni, 401. 133 Zur Frühen Neuzeit vgl. Craig Muldrew, The Economy of Obligation. The Culture of Credit and Social Relations in Early Modern England, Basingstoke 1998, 100.

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23 %, im Bergbau 13 %.134 Wie Hilde Bras und Jan Kok für die westlichen Niederlande und Utrecht im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert aufzeigten, erwarteten Eltern von ihren Kindern, dass sie sobald als möglich zur Haushaltsökonomie beitrugen. In den Niederlanden war seit 1889 Kinderarbeit unter 13 Jahren verboten, das bezog sich aber nicht auf die Feldarbeit und den Dienst im Haushalt. Im Jahr 1901 wurde hier die bis zum Alter von zwölf Jahren dauernde Schulpflicht festgelegt, was nicht bedeutete, dass Kinder nicht weiterhin in der Landwirtschaft oder in anderen Wirtschaftsbereichen saisonal beschäftigt waren. Nach dem Zivilrecht der Niederlande hatten die Eltern ein Anrecht auf die Löhne ihrer Kinder, sofern diese mit ihnen zusammenlebten, und sie machten vollen Gebrauch davon. Unterstrichen wird dies durch die Worte eines Vaters gegenüber seinem Sohn. „Ich habe Kinder und keine Untermieter. Wenn Du eine Untermiete möchtest, musst Du woanders hingehen.“135 Damit brachte er zum Ausdruck, dass die Beziehung zwischen Eltern und Kindern nicht auf Dienstleistungen und deren Entgelt zu reduzieren ist. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg wurde es üblich, dass erwerbstätige Söhne und Töchter ihren Eltern für Wohnung und Ernährung einen mehr oder weniger aliquoten Anteil bezahlten. Auf diese Weise wurde ‚Kindern‘ eine gewisse Autonomie jenseits der Familie zugestanden. Voraussetzung war auch, dass die finanziellen Verhältnisse den Eltern diese Lösung erlaubten. Wenn auch in anderen europäischen Ländern die rechtlichen Bestimmungen – in Hinblick auf die Verpflichtungen der erwerbstätigen Kinder gegenüber ihren Eltern oder hinsichtlich der Verlängerung der Schulpflicht auf sechs Jahre – divergierten, so gab es dennoch ab etwa 1890 eine Entwicklung, in der Eltern die Zahl ihrer Kinder radikal reduzierten. Diese Entwicklung steht mit den zuvor herausgehobenen Eltern-Kind-Beziehungen bzw. deren Veränderungen in einem Erklärungszusammenhang. Ab etwa 1890 verzeichneten alle europäischen Staaten mit Ausnahme Frankreichs, wo sich dieser Prozess schon seit der Französischen Revolution vollzog, einen bemerkenswerten Rückgang der Geburtenrate, der vor allem auf einen Rückgang der ehelichen Fruchtbarkeit zurückzuführen ist und nicht auf ein verändertes Heiratsverhalten. Ebenso war die Anzahl der nicht ehelich geborenen Kinder in ganz Europa rückläufig. Die Geburtenrate – die Zahl der Geburten pro Jahr auf 1.000 Einwohner gerechnet – sank kontinuierlich: in Spanien innerhalb von vier Jahrzehnten von 38,4 (1850) auf 30,6 (1913), in Italien von 38,0 134 Vgl. Horrell/Humphries, The Origins and Expansion, 52. 135 Hilde Bras u. Jan Kok, „Naturally, Every Child Was Supposed to Work“. Determinants of the Leaving Home Process in the Netherlands, 1850–1940, in: Poppel/Oris/Lee, The Road to Independence, 403–450, 413. Das Zitat stammt aus dem späten 19. Jahrhundert.

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(1862) auf 31,7 (1913), in den Niederlanden von 34,6 (1850) auf 28,2 (1930), in Schweden von 31,9 (1850) auf 23,2 (1913) und in Russland von 49,7 (1861) auf 43,1 (1913). Englische Paare, die in den Jahren zwischen 1861 und 1869 heirateten, hatten im Schnitt 6,16 Kinder, Ende des Jahrhunderts waren es 4,13, in den Jahren zwischen 1920 und 1924 dann 2,31.136 Dennoch gab es durch das Sinken der Sterbeziffern einen Geburtenüberschuss. Am Sinken der Mortalität war der Rückgang der Säuglings- und Kindersterblichkeit in einem hohen Maß beteiligt. Der Rückgang der Geburtenrate wurde als „stille Revolution“ bezeichnet.137 Dieser Begriff bezieht sich sowohl auf jene Verhältnisse und Verhaltensformen, die ihn ermöglicht haben, als auch auf die Folgen in den Beziehungen zwischen Eltern und Kindern und zwischen den Partnern selbst. In dem „Princeton Fertiliy Project“, das zwischen den 1960er und 1980er Jahren diesen Rückgang der Geburtenrate erforschte, wurden auch die Veränderungen in den emotionalen Beziehungen und hier insbesondere jene zwischen Kindern und Müttern hervorgehoben. John Gillis geht von einer „Individualisierung“ der Mutter-Kind-Beziehung aus.138 Mutterschaft sei um 1850 für Frauen ebenso wichtig geworden wie die Karriere für deren Männer. In dieser Zeit hätte der Geburtenrückgang in den Ober- und Mittelschichten eingesetzt. Die physischen Beschwerden bei der Kinderaufzucht seien geringer geworden, die kulturellen Herausforderungen und Ansprüche größer. Entscheidend für den Geburtenrückgang seien daher nicht die höheren Kosten der Kinder, sondern die veränderte Bedeutung der Elternschaft. Nach Wally Seccombe hat sich auch die Vorstellung verändert, dass zahlreiche Kinder als Beweis von Männlichkeit zu verstehen seien. Vielmehr wurden sie nun als Kennzeichen von Unvorsichtigkeit und als Grund für Armut angesehen.139 Diese mentalen Veränderungen sind sicherlich Elemente in dem Prozess des Rückgangs der Geburtenrate, vor allem aber stellen sie seine Folgen dar. Wie uns die Einstellung der Enrichetta Blondel zu ihren zahlreichen Schwan136 Für die Daten vgl. David I. Kertzer u. Marzio Barbagli, Introduction, in: dies., (Hg.), The History of the European Family, Bd. 2: Family Life in the Long Nineteenth Century, 1789–1913, New Haven/London 2002, IX–XXXVIII, XXIV; zur britischen Situation vgl. Angus McLaren, The Sexual Politics of Reproduction in Britain, in : John R. Gillis, Louise A. Tilly u. David Levine (Hg.), The European Experience of Declining Fertility, 1850–1970. The Quiet Revolution, Cambridge/Oxford 1992, 85–100, 85. 137 John R. Gillis, Louise A. Tilly u. David Levine, Introduction: The Quiet Revolution, in: dies., The European Experience, 1–9, 1. 138 John R. Gillis, Gender and Fertility Decline among the British Middle Classes, in: ders./ Tilly/Levine, The European Experience, 31–47, 32, 37–44. 139 Wally Seccombe, Men’s „Marital Rights“ and Women’s „Wifely Duties“: Changing Conjugal Relations in the Fertility Decline, in: Gillis/Tilly/Levine, The European Experience, 66–84, 78f.

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gerschaften und Geburten und den damit verbundenen Problemen deutlich gemacht hat, nahm sie diese als Teil ihres Lebens und ihres Schicksals an. Der Rückgang der Säuglings- und Kindersterblichkeit hatte hingegen gezeigt, dass ein früher Tod kein Schicksal sein musste. Der Wunsch und die Fähigkeit der Eltern, die Anzahl ihrer Kinder selbst bestimmen zu können, hingen jedoch nicht nur mit dieser veränderten Einstellung zusammen. Wie wir am Beispiel von Alessandro Manzoni und seinem lebenslangen Fruchtgenuss am Erbe seiner Kinder sehen konnten, haben an dieser Konstellation und der Bedeutung, die sie einnahm, sowohl ein in seinen Möglichkeiten begrenzter Arbeitsmarkt als auch ein schwach ausgeprägter Geldverkehr mitgewirkt. Ebenso konnten ökonomische Verhältnisse bis ins 20. Jahrhundert hinein Kindererwerbsarbeit im Familienkontext erforderlich machen. Beides bedeutet nicht, dass diese Beziehungen der Eltern zu den Kindern als instrumentelle zu betrachten seien; aber es bedeutet, dass die Autonomie der Kinder lange nicht respektiert wurde. Um die Kinderzahl zumindest annähernd selbst bestimmen zu können, bedurfte es eines Wissens um Empfängnisverhütung. Diese wurde erst im 20. Jahrhundert ein Massenphänomen. Das Wissen mag zwar schon im frühen 19. Jahrhundert weiter verbreitet gewesen sein als allgemein angenommen, aber die kirchlichen und politischen Widerstände gegen diese Praxis waren groß. So empfahl etwa ein Amtsschreiber im kleinen niederösterreichischen Ort Braunsdorf der Dorfjugend Fischblasen, um ein freies Sexualleben führen zu können. Der dörfliche Freigeist wurde 1830 auf Initiative des Ortsvorstehers und mit Unterstützung des Pfarrers aus dem Ort „abgeschafft“.140 Sicherlich waren es nicht nur die Dorfhonoratioren, die hier die Sittlichkeit bedroht sahen. In Frankreich hingegen wurde bereits seit dem späten 18. Jahrhundert Empfängnisverhütung, meistens mit der Methode des coitus interruptus, erfolgreich praktiziert. In manchen Gebieten Ungarns haben protestantische Kleinbauern schon in der Mitte des 19. Jahrhunderts ein rigoros eingehaltenes „Einkind-System“ durchgesetzt, das durch Abstinenz, Abtreibung, coitus interruptus, Kondome und eine gesellschaftliche Kontrolle des Sexualverhaltens erreicht wurde. Als Grund für dieses Reproduktionsverhalten wird Landknappheit angeführt.141 Das reicht als Erklärungsmodell allerdings nicht aus, 140 Schreiben des Pfarrers Hellmann an das Konsistorium vom 5. August 1830, Diözesan­ archiv Wien, Pfarre Braunsdorf; zit. nach Edith Saurer, Scham- und Schuldbewußtsein. Überlegungen zu einer möglichen Geschichte moralischer Gefühle unter besonderer Berücksichtigung geschlechtsspezifischer Aspekte, in: Heide Dienst u. dies. (Hg.), „Das Weib existiert nicht für sich“. Geschlechterbeziehungen in der bürgerlichen Gesellschaft, Wien 1990, 21–40, 34. 141 Vgl. Ildiko Vasary, „The Sin of Transdanubia“: The One-Child System in Rural Hungary, in: Continuity and Change 4, 3 (1989), 429–468.

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denn diese gab es auch an anderen Orten. Es waren auch kulturelle Praktiken, die ein solches Reproduktionsverhalten ermöglicht haben. Um dieses in einem breiten Ausmaße durchsetzen zu können, war die Mitwirkung von Männern und Frauen erforderlich, wenn auch Frauen aufgrund von Schwangerschaften und Geburten weitaus betroffener waren. Die Anwendung empfängnisverhütender Methoden weist jedenfalls darauf hin, dass der Glaube an eine gottgewollte Anzahl von Geburten und Kindern bzw. auch deren früher Tod von Männern, mehr aber noch von den Frauen nicht mehr akzeptiert wurden. Insofern ist die Vorstellung von der Machbarkeit gesellschaftlicher Verhältnisse, wie sie die Aufklärung und die Französischen Revolution zum Ausdruck brachten, auch in die Beziehungen zwischen den Geschlechtern und zu den Kindern eingezogen. In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts wurde Empfängnisverhütung zu einem breiten gesellschaftlichen und auch wissenschaftlichen Anliegen. Mary Stopes hat in Großbritannien im frühen 20. Jahrhundert eine Aufklärung über Geburtenkontrolle initiiert, Bücher dazu veröffentlicht und eine Klinik für Familienplanung eingerichtet. Sie erhielt zahlreiche Briefe von Männern, vor allem aber von Frauen, die sie veröffentlichte. „Please Help Me! I have had my share [...] My life is only a living hell“, schrieb ihr eine Frau im Jahr 1930.142 Der Anspruch auf die Verwirklichung eines sexuellen Vergnügens, das sich von der Fortpflanzung entkoppeln ließ, hatte sich verallgemeinert. Stopes argumentierte ihren Einsatz für Empfängnisverhütung damit, dass Frauen dasselbe Recht zu sexueller Erfüllung hätten wie Männer, allerdings galt das in ihren Augen nur für verheiratete. Der Wunsch nach dem Kinde sollte mit einer angstfreien und befriedigenden Sexualität in Einklang gebracht werden können. In dem Augenblick, so Angus McLaren, als Frauen erkannten, dass sie nicht schwanger werden müssten, sahen sie Geburten in einer ganz neuen Weise. Jene, die erwerbstätig waren, begannen, wie die britischen Arbeiterinnen, als erste Empfängnisverhütung zu praktizieren. Auch in Frankreich artikulierten Frauen: „Wir sind Herrinnen unserer selbst.“143 Ungeachtet dessen, dass europäische Nationalstaaten schon ab der Mitte des 19. Jahrhunderts begannen, Werbung für Kontrazeptiva zu verbieten, konnten Klagen gegen eine Übertretung des Verbots zu einem Freispruch führen, wie 1929 in Chemnitz, mit folgender Begründung. „Dazu kommt, daß die Gleichberechtigung der Frau, die gesetzlich gewährleistet ist, zu einer Betonung des Gedankens geführt hat, daß ebensowohl die unverheiratete wie die verheiratete selbst zu 142 Zit. nach Seccombe, Men’s „Marital Rights“, 70. 143 Angus McLaren, A History of Contraception. From Antiquity to the Present Day, Oxford 1992, 197–205.

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bestimmen habe, wie oft sie gebären wolle, und daß es geradezu als unsittlich in weiten Kreisen des Volkes angesehen wird, die Ehefrau durch eine zu große Anzahl von Geburten in ihrer Schönheit, Gesundheit und Lebensdauer zu beeinflussen.“144 Diese Elemente eines Diskurses und einer möglichen Praxis, die in den Wünschen von Männern und verstärkt von Frauen tief verankert waren, nämlich die Trennung von Sexualität und Fortpflanzung, die Bestimmung einer Wunschkinderzahl, eine Emanzipation von Reproduktionsgesetzen demnach, blieben nicht unwidersprochen. Ein scharfer Widerspruch kam von der katholischen Kirche: Die Ehe, so Leo XIII. in seiner Enzyklika über die Ehe „Arcanum divinae sapientiae“ von 1880, habe „Gott zum Urheber“ und sie sei „Abbild der Menschwerdung Jesu Christi“.145 Implizit sprach er sich damit gegen Geburtenkontrolle aus. Deutsche Bischöfe taten dies 1914 explizit: „Schwere Sünde aber ist es, die Vermehrung der Kinderzahl dadurch verhüten zu wollen, daß man die Ehe zu bloßer Lust missbraucht und dabei mit Wissen und Wollen ihren Hauptzweck vereitelt. Das ist schwere Sünde, sehr schwere Sünde, mit welchen Mitteln und auf welche Weise immer es geschehen mag.“146 Als die anglikanische Kirche das Verbot lockerte, unterstrich Pius XI. 1930 in seiner Enzyklika „Casti connubii“: „Jeder Gebrauch der Ehe, bei dessen Vollzug der Akt absichtlich seiner natürlichen Kraft zur Weckung neuen Lebens beraubt wird, verstößt gegen das Gesetz Gottes und der Natur, und die dieses tun, beflecken ihr Gewissen mit schwerer Schuld.“147 Die Betroffenen gingen zumeist jedoch ihre eigenen Wege: „Eine Frau ist kein weibliches Kaninchen“, „keine Gebärmaschine“, formulierten sie,148 und auch viele jener, die dies nicht formulierten, handelten in diesem Sinne. Als Element der Distanzierung von der katholischen Kirche sollte diese Problematik, die das Intimleben von Personen und die Gestaltung von Beziehungen betraf, nicht unterschätzt werden. Im Islam gab es vergleichbare Eingriffe, so Alan Duben und Cem Behar, aufgrund einer größeren Offenheit gegenüber den Praktiken der Geburtenkon­ trolle, nicht.149 144 Rudolf Wassermann, Die Verhütung der Empfängnis im Wandel der Zeiten, in: Zeitschrift für Sexualwissenschaft und Sexualpolitik 16 (1929), 555–564, 563, zit. nach Robert Jütte, Lust ohne Last. Geschichte der Empfängnisverhütung, München 2003, 239. 145 Zit. nach John T. Noonan, Empfängnisverhütung. Geschichte ihrer Beurteilung in der katholischen Theologie und im kanonischen Recht, Mainz 1969, 514. 146 Zit. nach Noonan, Empfängnisverhütung, 521. 147 Zit. nach Jütte, Lust ohne Last, 281f. 148 Jütte, Lust ohne Last, 285. 149 Vgl. Alan Duben u. Cem Behar, Istanbul Households. Marriage, Family and Fertility 1880–1940, Cambridge 1991, 176.

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Welche Auswirkungen hatte dieser Triumph der Empfängnisverhütung und des Geburtenrückgangs auf die Beziehungen zwischen den Geschlechtern und auf die Beziehung zu Kindern? Die rechtliche und häufig ökonomische Abhängigkeit der Ehefrauen von ihren Ehemännern, auch im Sinne mangelnder Verfügungsmöglichkeit über ihren Erwerb und ihr Eigentum, hat erstere auf ihre Mutterrolle verwiesen, deren Pflichten zunehmend gesellschaftlich, politisch und religiös eingefordert wurden. Das galt auch für die Väter, allerdings im Sinne des „Familienerhalters“, des male breadwinner, die einen gesellschaftlichen Anspruch stellten, der einer individuellen Einlösung bedurfte. Die Reduktion der Kinderzahl ermöglichte zumindest eine zeitlich verstärkte Zuwendung zu Kindern, die der Mutterschaft neue Bedeutung verlieh. Um diese exemplarisch darzustellen, greife ich eine Quelle heraus, nämlich das Säuglings- und Kindertagebuch oder „Tagebuch der Mutter“, das zu Beginn des 20. Jahrhunderts auch von Ärzten propagiert wurde als „Anleitung zur Beobachtung der körperlichen und geistigen Entwicklung des Kindes“.150 Allerdings machten die Mütter ihre eigenen Kindertagebücher, wie eine dreißigjährige Wienerin, die ihr „Tagebuch geschrieben von Ida Qualtinger für unser Kindchen Helmut Qualtinger“ am 30. Januar 1928 schon mit dem Beginn ihrer Schwangerschaft einsetzen ließ. Das Tagebuch ist zwar für den lang ersehnten Sohn – später Schriftsteller, Kabarettist und Schauspieler – geschrieben, aber auch für die Mutter selbst, die das Erleben von Schwangerschaft und Geburt und die ersten Jahre der Mutterschaft festhalten möchte. Der erste Eintrag markiert die lange Erwartungshaltung: „Erste Ahnung. Alle Vorzeichen sind vorhanden.“ Und drei Monate später: „Jetzt ist es bald 3 Monate, daß ich Dich unter dem Herzen trage – und wie das Blümchen durch die Sonne erwächst – so wächst auch Du durch die Sonne, die Liebe Deines Vaters in mir! O, welch Wunder Gottes erleben wir!!“ Am 26. November, etwa einen Monat nach der Geburt, vermerkt sie: „Helmut gelächelt am Morgen um ½ 6 h! Süße Stunde.“151 Ida Qualtinger schreibt sich in die Einzigartigkeit der Beziehung zu ihrem Sohn ein, in das außergewöhnliche Erleben der Mutterschaft. Die neuen Reproduktionstechnologien haben am Ende des 20. Jahrhunderts die Beziehungen zu Kindern insofern geändert, als der Geschlechtsverkehr keine Voraussetzung der Mutterschaft mehr sein muss. Hatte die wachsende Akzeptanz der Empfängnisverhütung und die technische Erweiterung 150 Maria-Pia Gabriel, Das Tagebuch der Marianne Hütter, 1934–1951, Diplomarbeit Universität Wien 2008, 14. 151 Wien Bibliothek, Bestand Helmut Qualtinger, Tagebuch 1928, H.I.N 219483. Für die mir zur Verfügung gestellten Kopien danke ich Christine Karner und Ingrid Brommer.

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ihrer Möglichkeiten, wie „die Pille“ seit 1961, Geschlechtsverkehr auch ohne Reproduktion ermöglicht, so bedarf die Reproduktion nun des Geschlechtsverkehrs nicht mehr. 2.5 Migrationen, Trennungen und Verbindungen

Gibt es Auswirkungen dessen auf das Konzept der Geschlechterdifferenzen? Das System des zum Unterhalt verpflichteten Ehemanns und Familienernährers konnte aus ökonomischen Gründen nie ganz verwirklicht werden, aber es wurde auch aus prinzipiellen Gründen in Frage gestellt. Migrationen haben auf unterschiedliche Weise ebenfalls an ihm gerüttelt. Massenmigrationen, seien es temporäre Arbeitsmigrationen, kleinräumige Binnenmigrationen, weite Distanzen überwindende Fernwanderungen oder Flucht, kennzeichneten die europäischen Gesellschaften vor allem der zweiten Hälfte des 19. und des frühen 20. Jahrhunderts. Mehr als 50 Millionen Menschen verließen im 19. Jahrhundert und bis 1914 Europa.152 Dazu kamen die Millionen, die in Europa selbst auf Arbeitssuche waren, innerhalb von Regionen, Nationen oder auf transnationalem Wege. Sie alle mussten Trennungen von Partnerinnen und Partnern, Kindern, Freunden, Verwandten und Nachbarn bewältigen, sich auf neue Arbeits- und Lebensverhältnisse einstellen und eventuell auch die alten neu ordnen. Die Forschung hat sich die Fragen gestellt, ob durch die mit Migrationen verbundenen Trennungen die Beziehungen zwischen den Geschlechtern neu verhandelt wurden, werden konnten, ob die Partnerinnen, die im Herkunftsland verblieben waren, vor Herausforderungen standen, die Auswirkungen sowohl auf ihre Geschlechtsidentität als auch auf die Beziehungen hatten, ob jene, die als ledige das Ankunftsland erreichten, über eine Heirat mit einem Partner, einer Partnerin aus der ansässigen Bevölkerung eine Integration suchten.153 Eine Ökonomisierung der Gefühle war in allen Fällen notwendig, ob die Migration nun saisonal war und einige Monate umfasste oder aber Jahre oder ob sie zu einer endgültigen wurde. Das galt auch für all jene, die aufgrund von Verfolgungen flüchten mussten, aus ‚rassischen‘ oder politischen Gründen. Zwischen 1880 und 1925 wanderten mehr als 2,5 Millionen osteuropäischer Juden aus Russland und Osteuropa auf der Flucht vor Pogromen und Armut nach Amerika und in westeuropäische Staaten aus.154 152 Vgl. Saskia Sassen, Migranten, Siedler, Flüchtlinge. Von der Massenauswanderung zur Festung Europa, Frankfurt a. M. 1996, 58. 153 Vgl. Luigi Lorenzetti, Immigrazione e reti di relazione: considerazioni sul caso di Ginevra nell’Ottocento, in: Quaderni storici 36, 106 (2001), 153–176. 154 Vgl. Sassen, Migranten, 93.

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Migrationen und Trennungen konnten einerseits eine Befreiung von Zwängen und die Realisierung neuer Lebensperspektiven mit sich führen und die traditionellen Verhaltensformen zwischen den Geschlechtern in Frage stellen. Andererseits manifestierten sich auch Heiratsmuster mit einer Präferenz für eine gemeinsame regionale Herkunft des Paares, die als Garant einer vertrauten Ordnung verstanden wurde. Für die Millionen Binnenwanderer und Binnenwandererinnen, die vom Land in die Stadt zogen oder als Arbeitsmigranten temporär auf den größeren und kleineren Baustellen der expandierenden industriellen und infrastrukturellen Unternehmungen oder in der Landwirtschaft tätig waren, galt es nicht nur, die Beziehungen zu Verwandten und Freunden zu gestalten, sondern auch die Geschlechterbeziehungen und vor allem die Eheschließung neu zu planen. Das hohe Heiratsalter von Männern und Frauen, die beträchtliche Anzahl unverheirateter Frauen und die große Anzahl illegitimer Kinder im Nordwesten Portugals in den letzten drei Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts hat Caroline Brettell auf die Arbeitsmigration der Männer zurückgeführt, die schon seit dem späten 18. Jahrhundert nach Spanien und ein Jahrhundert später nach Brasilien emigriert sind. „Emigration gab jenem jungen Mann eine Fluchtmöglichkeit, der die Verantwortung für Frauen und Kinder nicht übernehmen wollte.“ Die Frauen, die in dem portugiesischen Dorf Lanheses blieben und hauptsächlich in der Landwirtschaft arbeiteten, waren in einem hohen Ausmaß zeitlebens ledig, aber keineswegs immer kinderlos.155 Wie stark die Geschlechterbeziehungen von der Emigration betroffen waren, wurde auch für das Gebiet um Biella, im italienischen Alpenraum gelegen, aufgezeigt. Auch hier blieben die Frauen in der Landwirtschaft tätig, während die Männer saisonal in der Baubranche arbeiteten. Zwischen Februar und März brachen sie zu Baustellen im Westen und im Zentrum Europas auf. Die Heiratszeit konzentrierte sich aus diesem Grund auf den Zeitraum zwischen Dezember und Januar, und auch die Geburten folgten diesem Zeitfenster. Das änderte sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts, als sich die Arbeitsmigranten nicht mehr nur einen Teil des Jahres, sondern für mehrere Jahre nach Übersee entfernten. Der Siegeszug des mechanischen Webstuhls hatte die Überseemigration verstärkt, wobei die Männer die Kontakte zum Ort dennoch intensiv weiterpflegten. Patrizia Audenino, die den Zusammenhang zwischen Migration und Heirat in Biella erforscht hat, ist der Auffassung, dass sich die Geschlechterbeziehungen durch die Feminisierung der Landwirtschaft und die Kompetenzerweiterungen der Frauen veränderten. 155 Caroline B. Brettell, Men Who Migrate, Women Who Wait. Population and History in a Portuguese Parish, Princeton 1986, 260, 113.

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Zu ergänzen wäre die Bedeutung, die Frauen für die Aufrechterhaltung sozialer Netzwerke hatten, die sich nicht nur zwischen den Emigranten und jenen spannten, die im H ­ erkunftsland geblieben waren. Nachdem zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine ganze Frauengeneration auf die Rückkehr der Männer, die nicht zurückkehrten, gewartet hatte, ist die nächste nach 1927 schließlich selbst ausgewandert.156 Die beiden hier genannten Beispiele aus Portugal und Italien repräsentieren unterschiedliche Folgen der Emigration und divergierende Forschungsperspektiven. Die Partnerwahl von Migrantinnen und Migranten wird von der Forschung als Indikator von Integration diskutiert, wobei allerdings der Wunsch nach Integration nicht mit seiner Realisierbarkeit in Einklang stehen muss. Hinzu kommt, dass deren Heiratsverhalten keineswegs homogen ist, sondern von ihrer numerischen Stärke, ihrer beruflichen Positionierung und von zeitlichen Faktoren abhängt. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts ist der Anteil der Immigranten in den Städten stark angestiegen. In Genf waren 1837, um ein Beispiel für viele andere Städte zu geben, 39,8 % der Bevölkerung nicht in der Stadt geboren; von ihnen stammten 21 % aus anderen Teilen der Konföderation, 18,8 % waren Ausländer. Luigi Lorenzetti verweist für das frühe 19. Jahrhundert auf das endogame Heiratsverhalten kleiner Gemeinschaften, die auf diese Weise „sozio-kulturelle Nischen“ schufen, um die Gruppensolidarität zu verstärken. Heirat mit anderen Immigrantinnen und Immigranten versteht er als Ausdruck einer schwachen Integration in das soziale Gewebe der Stadt.157 Wie sehr exogame Heiraten von der Dauer der Ansässigkeit abhängig sind, zeigen andere Beispiele. Jene Uhrmacher, Arbeiter und Dienstbotinnen, die seit dem späten 18. Jahrhundert aus dem Kanton Vaud nach Genf gezogen waren, haben in der ersten Generation zumeist ebenfalls Zugewanderte geheiratet, in der zweiten nur mehr zu 30 % und in der dritten überwiegend gebürtige Genfer. Demnach kam es in der dritten Generation zu einer Verdichtung ihrer Integration in die städtische Gesellschaft.158 Allerdings ist nicht nur der Zeitfaktor von Relevanz, sondern auch die soziale Zugehörigkeit. Angehörige hochqualifizierter Berufe, in denen auch zahlreiche in der Stadt geborene tätig waren, wie für Turin nachgewiesen wurde, haben erhöhte Chancen, sich mit einer Ortsansässigen zu verehelichen – auch deshalb, weil die Tendenz zur Endogamie innerhalb von Berufen stark war.159 156 Patrizia Audenino, Le custodi della montagna: donne e migrazioni stagionali in una comunità alpina, in: Annali dell’istituto Alcide Cervi 12 (1990), 265–287. 157 Lorenzetti, Immigrazione e reti di relazione, 158ff, Zitat: 162. 158 Vgl. Lorenzetti, Immigrazione e reti di relazione, 170f. 159 Vgl. Maria Carla Lamberti, Immigrate e immigrati in una città preindustriale. Torino all’inizio dell’Ottocento, in: Angiolina Arru u. Franco Ramella (Hg.), L’Italia delle mi-

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Das gilt allerdings nur für Männer. Sie heirateten auch mehr einheimische Frauen als dies umgekehrte der Fall war. Sozialprestige und berufliche Kontakte mit Ortsansässigen konnten entscheidend für ihre Partnerwahl sein. Allerdings setzte ein solches Muster der Partnerwahl im 19. Jahrhundert die Zugehörigkeit zur selben Konfession, Religion und zunehmend zur selben ethnischen Gruppe voraus. Die protestantischen Schweizer Bankiers und Unternehmer, die sich für hundert Jahre bis zum Ersten Weltkrieg in Neapel niederließen, heirateten protestantische Schweizerinnen, wo auch immer diese lebten, und hielten enge Kontakte zur Schweiz aufrecht. Sie pflegten den Status einer Minderheit mit transnationalen Bezügen.160 Die Eheschließungen waren ein Mittel, um dieses Konzept zu realisieren. Religion war über das 19. Jahrhundert hinaus ein Instrument der Distinktion mit Auswirkungen auf den Heiratsmarkt – vermutlich von größerer Bedeutung als Ethnizität, die erst in den drei letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts virulent werden sollte. Damit kam es zur Einschränkung von Ausländerbeschäftigung wie in Preußen, wo Aufenthalts- und Beschäftigungsbeschränkungen für Auslandspolen eingeführt wurden, die zu mehreren Hunderttausend in der Landwirtschaft des preußischen Ostens arbeiteten.161 Aus nationalistischen Überlegungen, die auch im Zusammenhang mit Befürchtungen vor polnischen Aufständen standen, wurden für sie sowohl ein Legitimationszwang als auch eine Rückkehrpflicht eingeführt. Die Landarbeiter und -arbeiterinnen mussten jeweils vom 20. Dezember bis zum 1. Februar in ihre Ausgangsländer zurückkehren. Mit dieser Maßnahme sollten soziale Beziehungen, insbesondere jene zwischen den Geschlechtern, die über die unmittelbaren Arbeitsbeziehungen hinausgingen, verhindert werden. Schwangerschaft bildete einen Ausweisungsgrund; der Rücktransport hatte auf eigene Kosten zu geschehen.162 Liebesbeziehungen, vor allem aber Heirat als Ausdruck eines Ordnungssystems, das die jeweils politisch, sozial und familiär erwünschten Ein- und Ausschlüsse, Über- und Unterordnungen repräsentieren sollte, war an der Gestaltung der Beziehungen

grazioni interne. Donne, uomini, mobilità in età moderna e contemporanea, Roma 2003, 161–205, 183f. 160 Vgl. Daniela Luigia Caglioti, Élites in movimento: l’emigrazione svizzero-tedesca a Napoli nell’Ottocento, in: Arru/Ramella, Italia delle migrazioni interne, 207–226; dies., Eine Welt für sich. Endogamie und Nicht-Integration einer schweizerisch-deutschen Wirtschaftselite in Süditalien im 19. Jahrhundert, in: L’Homme. Z.F.G. 17, 2 (2006), 61–80. Zu Rom vgl. Angiolina Arru, Reti locali, reti gobali: il credito degli immigrati (secolo XVIII–XIX), in: dies./Ramella, Italia delle migrazioni interne, 77–110, 81–85. 161 Vgl. Klaus J. Bade, Europa in Bewegung. Migration vom späten 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, München 2000, 221–231. 162 Vgl. Bade, Europa in Bewegung, 222f.

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zwischen Migrantinnen bzw. Migranten und der Herkunftsbevölkerung zentral beteiligt. Ledige und verheiratete Männer und Frauen migrierten, wobei der Anteil letzterer an der Gesamtmigration in die USA bis 1870 zwischen 30 und 40 % betrug. Ab den 1930er Jahren umfasste er über 50 %, wobei die Einwanderungsbestimmungen ebenso zu bedenken sind wie die Migrationsgründe, die auch durch die großen Fluchtbewegungen verursacht wurden. Etwa eine gleiche Anzahl von Männern und Frauen war ledig, nämlich zwischen 43 und 46 %. Allerdings gab es große nationale Unterschiede bei den Wandernden. Italienerinnen oder Griechinnen wanderten viel seltener in die USA aus als Skandinavierinnen oder Deutsche. In den meisten europäischen Städten war der häusliche Dienst zu einem Beruf lediger Frauen geworden, der von Binnenmigrantinnen getragen war.163 Ein Frauenberuf war auch jener der Ammen. An seinem Beispiel zeigt sich die Kraft des „Lohnsoges“,164 der nicht nur den Radius der Migration bestimmte, sondern auch gesellschaftliche Ideale beiseiteschob und neue Beziehungen kreierte, so die „transnationale Mutterschaft“.165 Die Ammen gingen einem traditionsreichen Beruf nach, der auf ihren reproduktiven Fähigkeiten und ihrer Mutterschaft beruhte. In der Frühen Neuzeit haben sie ihn in adeligen Familien, als Pflegemütter und in Findelhäusern ausgeübt. Elisabeth Badinter hat sich in ihrem 1980 erschienenen Buch „Die Mutterliebe“ mit diesen sozialen Praktiken auseinandergesetzt und erst für das späte 18. Jahrhundert, nach ihrem Rückgang, eine Emotionalisierung der Beziehung zwischen Kindern und Müttern festgehalten.166 Der Beruf der Amme allerdings war im 19. und frühen 20. Jahrhundert in vermögenden bürgerlichen Familien weiterhin verbreitet und transnational sowie regional organisiert. Die Ammen kamen etwa aus der Slowakei, der Niederlausitz, aus Friaul, der mittelitalienischen Ciociara und der Toskana. Sie waren temporäre Arbeitsmigrantinnen, die gegen Bezahlung Kinder in fremden 163 Vgl. Annemarie Steidl, Jung, ledig, räumlich mobil und weiblich. Von den Ländern der Habsburgermonarchie in die Vereinigten Staaten der USA, in: L’Homme. Z. F.G. 15, 2 (2004), 249–269, 253; Donna Gabaccia, From the Other Side. Women, Gender, and Immigrant Life in the U.S., 1820–1990, Bloomington 1994, 28–30; Sylvia Hahn, Migration – Arbeit – Geschlecht. Arbeitsmigration in Mitteleuropa vom 17. bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts, Göttingen 2008, 250. 164 Zum Begriff vgl. Klaus J. Bade, Sozialhistorische Migrationsforschung, Göttingen 2004, 144, 155, 196. 165 Katie Willis u. Brenda Yeoh, Introduction, in: dies. (Hg.), Gender and Migration, Cheltenham/Northampton 2000, XI–XXII, XVII. 166 Elisabeth Badinter, Die Mutterliebe. Geschichte eines Gefühls vom 17. Jahrhundert bis heute, München 1981, 113 sowie Kap. 2: Ein neuer Wert der Mutterliebe.

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Familien stillten. Sie blieben nicht immer in der Nähe ihrer eigenen Kinder und konnten diese auch nicht in die Familien ihrer Arbeitgeber mitnehmen. Die Ammen von Ponte Buggianese in der Toskana blieben zu 40 % in dieser Region; 25 % von ihnen entschlossen sich zu einer temporären Arbeitsmigration, die sie in andere Teile Italiens führte, und 35 % gingen in andere Länder, vor allem nach Frankreich, aber auch nach Tunesien und Algerien. Vom Ende des 19. Jahrhunderts bis in die 1950er Jahre waren es mehrere Hundert, die für etwa drei Jahre ihre eigenen Kinder in Betreuung bzw. zu einer lokalen Amme gaben und zu einer ihnen unbekannten Familie zogen. Ihre Männer waren oft schon selbst emigriert, und die Entscheidung über die Annahme eines Arbeitsangebots musste über den Ozean ausgehandelt werden. So lautete das Einverständnis eines Ehemanns: „Geh nur nach Marseille und schau, dass Du so viel als möglich ersparst …, denn hier unten in Amerika ist es nicht so wie man dort bei Euch glaubt.“167 Hierin kommen zentrale Motive der Arbeitswanderung zum Ausdruck: die Armut und das Wissen um Arbeitsmöglichkeiten. „Wir waren arm und es gab hier diese Industrie [Ammendienst, E.S.] und sie kamen und suchten Frauen.“168 Die Ammen erhielten im Ausland einen Lohn, mit dem sie eine Amme in ihrem Heimatort bezahlen und Geld beiseitelegen konnten. Sie fanden beste Arbeitsbedingungen vor, denn eine körperlich und psychisch gesunde Frau galt als ideale Amme. In der Erinnerung blieb ihnen jedoch das Trauma der Trennung präsent. Ihre Migration verstanden sie als Opfer für ihre Familie. Ihre Wanderung führte zur Notwendigkeit und zum Phänomen eines „transnational mothering“,169 denn sie mussten von ferne auch für ihre Kinder sorgen. Die Sorge implizierte Kommunikation und diese, die primär über Briefe erfolgte, schuf eine virtuelle Bewegung in beide Richtungen, in jene der Herkunfts- und jene des Ziellandes. Die Briefe, die zwischen den Kontinenten und den getrennten Partnerinnen und Partnern zirkulierten, verweisen nicht nur auf das Bedürfnis, die Beziehungen nicht abreißen zu lassen, sondern geben auch einen Einblick in die Belastungen, denen diese ausgesetzt waren. „Liebe Frau“, schrieb 1899 der Schuster Tommasino, der in New York einen Laden eröffnet hatte, an seine Frau Fortuna, eine Schneiderin in Neapel, „jetzt gehen die Geschäfte schlecht, aber wenn Du nach Amerika kommst, arbeiten wir beide friedlich zusammen 167 Zit. nach Adriana Dadà, Partire per un figlio altrui: racconti delle balie nel Novecento, in: Dinora Corsi (Hg.), Altrove. Viaggi di donne dall’antichità al Novecento, Roma 1999, 111–134, 119. 168 Zit. nach Dadà, Partire per un figlio altrui, 114. 169 Willis/Yeoh, Introduction, XVII.

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und Du verdienst 30–35 Lire wöchentlich und ich ebenso […]; so bleiben wir hier einige Zeit und wenn Gott es will, kehren wir in die Familie zurück.“170 Fortuna kam, andere wollten nicht kommen, denn die Emigration bedeutete die Trennung von Verwandten, Freunden und von Vertrautem. So lassen sich auch Schreie über den Kontinent hören, die vom Briefpapier kaum gebändigt werden konnten: „ai Capito si o no“, „hast Du verstanden, ja oder nein“,171 rief ein Verzweifelter, der seine Frau nach New York beordern wollte, seine Autorität aber schwinden sah. Er hatte, wie viele andere, ein gewichtiges Werkzeug in der Hand, um seine Wünsche durchzusetzen, nämlich die Geldüberweisungen. Viele drohten damit, sie einzustellen, sollte ihre Frau ihnen nicht an den Zielort ihrer Emigration nachfolgen. Manche schalteten den Bürgermeister ihres Heimatortes ein172 oder beriefen sich auf den Codice civile, der Ehefrauen verpflichtete, ihrem Mann an seinen Wohnort zu folgen. Die Sehnsucht aber diktierte auch Briefe, die solchen Überlegungen keinen Platz einräumen konnten und wollten. „Meine süße Liebe, ich erwarte Dein Kommen mehr als jenes meines Vaters, wenn er auf die Welt zurückkehren würde […]. Meine Liebe, stell Dir vor, dass ich in der Nacht drei oder viermal aufgewacht bin und an Dich gedacht habe, ich bete zur Jungfrau, dass ich nicht wahnsinnig werde.“173 Mit den zahllosen Briefen, die europäische Staaten und den Ozean durchquerten und die die Beziehungen zu einer Myriade von Freunden, Verwandten, Ehepartnern und Emigranten aufrechterhielten, entstand eine neue virtuelle Realität, in der viele jahre- und jahrzehntelang ein zweites Leben lebten. Daher wurden dessen Erfordernisse auch ausgehandelt, sofern dies möglich war. Der Migrant erhielt nicht nur detailreiche Informationen über kleinere und größere Ereignisse, die sich an dem Ort, von dem er aufgebrochen war und in dem seine Frau und Familie lebten, ereigneten, sondern er wollte über alle Ausgaben und Entscheidungen seiner Frau Kenntnis haben. In den Briefen einer polnischen Bäuerin wird diesen Erwartungen des Mannes Folge geleistet, wenn auch offenkundig ist, dass sie ungeachtet dessen selbständig Entscheidungen treffen musste und traf. Sie schrieb über die Kultivierung des Bodens, die Aussaat von Getreide und Gemüse, teilte auf die Kronen genau 170 Zit. nach Franco Ramella, Reti sociali, famiglie e strategie migratorie, in: Piero Bevilacqua, Andreina De Clementi u. Emilio Franzina (Hg.), Storia dell’emigrazione italiana, Bd. 1: Partenze, Roma 2001, 143–160, 153. 171 Zit. nach Antonio Gibelli u. Fabio Caffarena, Le lettere degli emigranti, in: Bevilacqua/De Clementi/Franzina, Storia dell’emigrazione, Bd. 1, 563–574, 565. 172 Zu einem Süditaliener, der den Bürgermeister von Avellino eingeschaltet hat, vgl. Andreina De Clementi, I ruoli scambiati. Donne e uomini nell’emigrazione italiana, in: dies. u. Maria Stella (Hg.), Viaggi di donne, Napoli 1995, 171–195, 176. 173 Zit. nach Ramella, Reti sociali, 154.

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mit, wie sie das von ihrem Mann erhaltene Geld verwendet hatte. Sie gab seiner Mutter davon und bezahlte Schulden sowie das Dreschen von Getreide und kaufte Dünger. Im Winter aber hatte sie kein Geld für Holz. Am Jahresende 1913 konnte sie jedoch, nachdem wieder mehr Geld von ihrem Mann eingetroffen war, ein Haus kaufen. „Der Vertrag ist unterzeichnet“, schrieb sie,174 und dieser lautete vermutlich auf ihren eigenen Namen. Die Überweisungen der Arbeitsmigranten bestimmten die Handlungsspielräume der Frauen, die zurückgeblieben waren und meistens Landwirtschaft betrieben, deren Einkünfte zum Leben aber nicht ausreichten. Mussten sie länger auf die Beträge warten, so waren sie gezwungen, sich zu verschulden. Oft hungerten sie auch oder sie mussten sich auf andere Weise arrangieren. Sie verkauften Grund mit einem Rückkaufrecht, von dem sie sobald als möglich Gebrauch machten, wie dies für Süditalien nachgewiesen wurde.175 Die Situation konnte sich deshalb zuspitzten, da mit dem Ehemann eine Arbeitskraft verloren gegangen war, die durch Geldüberweisungen ersetzt werden musste, die aber oft unregelmäßig eintrafen. „Lieber Ehemann: Du schreibst, dass Dein Verdienst nur für Dein Leben reicht. Dann komm zurück in unser Land. Genug von diesem Amerika. Du schreibst, Du verdienst nur genug für Dein eigenes Leben; aber wer wird für uns verdienen? Wenn Du nur für Dein Leben verdienst, kann ich für meines nicht verdienen […]. Ich habe nur Arbeit und Sorgen. Ich habe Dich, lieber Mann, gefragt, was ich tun soll, aber habe keine Antwort erhalten, warum? Großvater ist krank, Geld wird benötigt, Arbeit muss gemacht werden, und hier gibt es niemanden für die Arbeit. Denn hier wird ein Mann benötigt. So überlege und komm“, schrieb eine polnische Bäuerin im Juni 1914 an ihren Ehemann.176 Das Warten auf Briefe und Geld konnte Monate, oft auch Jahre dauern – so im Fall der Teofila Borkowska aus Warschau, die ihre Miete nicht bezahlen konnte, darbte und zu einem Fall der Armenfürsorge wurde.177 Manche Männer schrieben aus Scham nicht, weil sie kaum Einkünfte hatten, andere, weil sie neue Lebensperspektiven vor sich sahen. Ein Ehe- und Familienleben auf zwei Kontinenten aufrecht zu erhalten, war schwierig. Dies galt sowohl für 174 Jósefa Pawlak an ihren Mann, 15. August 1912 bis 17. April 1914, in: William I. Thomas u. Florian Znaniecki, The Polish Peasant in Europe and America, Bd. 1, New York 1958, 824–828, Zitat: 827. 175 Vgl. Andreina De Clementi, Dove finiscono le rimesse. I guadagni dell’emigrazione in una comunità irpina, in: Arru/Ramella, L’Italia delle migrazioni interne, 294–338, 319–322. 176 Maryanna Łazowska an ihren Mann, 1. Juni 1914, in: Thomas/Znaniecki, The Polish Peasant, 841. 177 Vgl. Teofila Borkowska an ihren Mann bzw. ihre Situation betreffende Briefe, 21. Juli 1893 bis 8. Februar 1903, in: Thomas/Znaniecki, The Polish Peasant, 869–900.

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die materiellen Zuwendungen als auch für die emotionalen. Die Überweisungen waren notwendig zum Überleben, trafen jedoch nicht immer ein, und die emotionalen Zuwendungen wurden oft als enttäuschend wahrgenommen. Das stand auch damit im Zusammenhang, dass die alten Ordnungen nicht einfach fortgeschrieben werden konnten, auch wenn ihre Übertretung nicht geplant war. Verbote über den Ozean hinweg ausgesprochen, die sich auf die Heirat der Kinder oder deren Berufswünsche bezogen, waren weniger leicht durchzusetzen. Abwesende verlieren an Autorität. Für jene Männer, die diese Ordnung weiterhin durchsetzen wollten, waren die Enttäuschungen groß und sie bezogen sich auch auf Kleinigkeiten – wie den nicht eingetroffenen Dank für eine der Ehefrau zugesandte Photographie. „Das ist der Dank, den ich erhalte. Ich dachte, dass ich zu Hause eine gute Frau gelassen habe, aber ich wurde enttäuscht; der Mann ist weit weg. Ich schrieb Briefe wie an eine Ehefrau, aber ich habe keine gute Antwort bekommen.“178 In die Geschlechterordnung kamen Risse. Die rechtliche und gesellschaftliche Konzeption vom Ehemann als Haupt und Ernährer der Familie war im 19. Jahrhundert auch dort in Frage gestellt und problematisiert worden, wo es keinen Migrationszusammenhang gab. In diesem aber radikalisierten sich die Abhängigkeiten auf beiden Seiten. Ehefrauen, Eltern und Geschwister waren von den Geldüberweisungen des Ausgewanderten abhängig, und dieser von der Bewirtschaftung seines Bodens, sofern er aus dem ruralen Bereich stammte. Frauen lösten sich aus dem Autoritätsgefüge, in dem sie sich befunden hatten und trafen selbständige Entscheidungen auch in Fragen des Vermögenstransfers. Die Spannungen, die aus dieser Konstellation entstanden, konnten durch die unterschiedlichen Erfahrungswelten noch verstärkt werden. Der Amerikataumel, die Wahrnehmung einer neuen, satten Welt, prägten auch das Liebeskonzept. Auf ihren Vorwurf, er würde Geld mehr lieben als sie, schreibt ein Pole aus Glassport an seine Frau, dass er sie und das Geld lieben würde. Wenn sie Geld hätten, dann könnten sie essen und trinken und sich gut kleiden und es wäre schön, einander anzusehen, „dann werden wir uns noch mehr lieben, wir werden Lippe an Lippe führen, und das Herz wird schlagen, und dann wird die Liebe besser sein als vorher, als wir hungrig und zerlumpt waren, denn wenn ein Mann hungrig ist, dann möchte er nicht lieben“.179 Der Lebensstandard, so die Sichtweise des Mannes, geht mit dem Liebesstandard eine Einheit ein. Liebe bedarf einer materiellen Grundlage. Armut sei liebesfeindlich. Die (Aus-)Wanderung zielte zwar auf die Erreichung eines besseren Lebens178 Jan Kukiełka an seine Frau, 15. Februar 1914, in: Thomas/Znaniecki, The Polish Peasant, 834. 179 Adam Struciński an seine Frau, 26. November 1911, in: Thomas/Znaniecki, The Polish Peasant, 864.

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standards, aber Migranten konnten auch scheitern: in Hinblick auf die Möglichkeit eines ausreichenden Erwerbs und auf eine Eheschließung, die ersteres erleichtert hätte. Władek Wiszniewski, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts als polnischer „Deutschlandgeher“ in Preußen arbeitete, gibt uns in seinem „LifeRecord of an Immigrant“ einen Einblick in seine Arbeits- und Liebeswelt.180 Er hat seine Autobiographie im Auftrag von William Thomas und Florian Znaniecki zu Beginn des Ersten Weltkrieges gegen Bezahlung geschrieben, als er bereits in die Vereinigten Staaten emigriert war. Die Autoren des Bandes „The Polish Peasant in Europe and America“ unterstreichen die Aufrichtigkeit der Schrift, deren Übersetzung aus dem Polnischen ins Englische sie veranlassten. Die spezifischen Umstände der Aufzeichnungen sind jedoch zu beachten. Władek schrieb sie in einer Zeit großer finanzieller Not in Chicago, die ihn sein bisheriges Leben mit den jahrzehntelangen und gescheiterten Kämpfen um materielle Absicherung in aller Schärfe und in vielen Einzelheiten erkennen und darstellen ließ. Thomas und Znaniecki sahen in der Autobiographie keinen historischen, sondern wie sie schreiben, nur einen wissenschaftlichen Wert, denn für die kulturelle Entwicklung Polens sei er als typischer Repräsentant der „kulturell passiven“ Masse völlig bedeutungslos.181 Władek Wiszniewski ist ein Repräsentant, wenn auch nicht der „kulturell passiven“ Masse, sondern der Migrationsvielfalt des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Er war Wandergeselle, Deutschlandgeher und Übersee-Auswanderer. In exemplarischer Weise gibt er einen Einblick in die Arbeitsbedingungen und -beziehungen, in Lebensformen und Mentalitäten sowie in soziale Beziehungen. Vor allem gibt er einen bemerkenswert offenen und ausführlichen Einblick in seine Beziehungen zu Frauen. Detailreich schildert er sein Leben, das er selbst als eine Geschichte des Scheiterns darstellt, wenn es auch kurzfristige Erfolge gab. Władek stammte aus Russisch-Polen, aus einem Dorf in der Provinz Kalisz, sein Vater hatte verschiedene Berufe: Er war Schmied, Soldat, Kaufladenbesitzer und Pächter eines Wirtshauses. Der Sohn machte die Lehre bei einem Bäcker unter sehr schlechten Arbeitsbedingungen, wurde Geselle und begann seine Gesellenwanderung. Ihm begegneten viele Mädchen, durch die er eine „sentimentale Erziehung“ erhielt, die vor allem eine der Sinne war. Eine Heirat plante er noch nicht, auch wenn er das Terrain oft sondierte und beim Anblick der Töchter reicher Eltern an Mitgift dachte, „aber die Wurst ist nicht für den

180 William I. Thomas u. Florian Znaniecki, Life-Record of an Immigrant, in: dies., The Polish Peasant in Europe and America, Bd. 2, New York 1958, 1915–2226. 181 William I. Thomas u. Florian Znaniecki, Life-Record of an Immigrant. Introduction, in: dies., The Polish Peasant, Bd. 2, New York 1958, 1831–1914, 1907.

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Hund“, ergänzt er.182 Er zielte auf einen anerkannten Platz in der Gesellschaft und den würde er nur durch eine sichere Existenz erlangen, wie beispielsweise durch die Gründung einer Bäckerei. So wollte er für eine eigene Bäckerei sparen. Als er jedoch auf seiner Gesellenwanderung zunehmend vor der Schwierigkeit stand, einen Arbeitsplatz finden zu können, entschied er sich spontan für den Übertritt nach Preußen und kaufte einem „Deutschlandgeher“ den Pass ab. Er kam nach Pommern, arbeitete in der Landwirtschaft, konnte aber aufgrund seiner guten Schreibkenntnisse und des raschen Erlernens des Deutschen in der Verwaltung mithelfen. Er war sozial erfolgreich, aber er schämte sich, ein „Deutschlandgeher“, ein „parobek“, zu sein.183 Erfolgreich war er auch in seinen Liebesbeziehungen, hatte er doch enge zu zwei Frauen, zum Dienstmädchen Ludwika, die polnischer Abstammung war, aber nicht mehr polnisch sprechen konnte, und zu einer vermögenden Deutschen. Władeks Selbstbewusstsein als Mann war nicht nur vom Erfolg in der Arbeit, sondern auch wesentlich vom Erfolg bei Frauen abhängig. Aus diesem Grund nahm die Eroberung von Frauen, ihres Körpers, einen zentralen Platz in der Autobiographie ein. In seinem Selbstbild war er ein von Frauen begehrter Mann. Ihre Zuneigung gewichtete er entsprechend ihrer sozialen Position und ethnischen Zugehörigkeit. Ludwika musste er zwar die Ehe versprechen, ehe es zu einer sexuellen Beziehung kam, aber: „Eine feine Karriere – ein Dienstmädchen zu heiraten und ein feiner und beneidenswerter Job – ein Fahrer auf einer preußischen Farm zu werden.“184 Das kam für ihn nicht in Frage. Auch eine längere Liebesbeziehung zu einer vermögenden Deutschen zog er nicht in nähere Erwägung. „Sie ist eine Dame, hat ein eigenes Haus und ich bin ein parobek. Sie ist eine Deutsche und ich bin ein Pole. Und wenn sie fünfmal so reich und schön wäre, würde ich mich ihr niemals für immer geben.“185 Hinter Władeks Worten stehen nationale und soziale Spannungen, die den Stellenwert seiner Beziehungen zu Frauen bestimmten. Er ließ sich auf keine Risiken ein. Ungeachtet der sozialen Position und der emotionalen wie sexuellen Überversorgung, die ihm in Pommern zuteil wurde, verließ er das Land. Seine Männlichkeit war von der nationalen Situation ebenso bestimmt wie von dem niedrigen Sozialprestige eines parobek. Er ging nach Berlin und scheiterte völlig. Für kurze Zeit kehrte er nach Russisch-Polen zurück, wurde Soldat in der russischen Armee, was ihn in Konflikt mit seiner eigenen, polnisch gesinnten 182 183 184 185

Thomas/Znaniecki, Life-Record, 2061. Thomas/Znaniecki, Life-Record, 2109. Thomas/Znaniecki, Life-Record, 2108. Thomas/Znaniecki, Life-Record, 2122.

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Familie brachte, und suchte eine Frau mit einer Mitgift, die ihm den Besitz der lang ersehnten Bäckerei ermöglicht hätte. Die Mitgift von Helena, die er als Ehefrau ins Auge gefasst hatte, reichte dazu aber nicht aus. Zutiefst enttäuscht von seinen Geschwistern, Verwandten und Eltern, die ihm keinerlei Hilfe gaben, verließ er Polen und wanderte nach Chicago aus. Hier wohnte er zunächst bei seiner Schwester, was jedoch Konflikte zur Folge hatte. Es gelang ihm nicht, einen längerfristigen Arbeitsplatz zu finden und er geriet in große ökonomische Schwierigkeiten. Er entschied sich sehr schnell für eine Heirat mit einer Cousine von Helena, Ludwika, die er aus Polen kannte und die mittlerweile ebenfalls in die Vereinigten Staaten emigriert war. Sein Heiratsantrag erfolgte brieflich: „Wenn Du noch dieselbe bist, die ich im Haus Deiner Tante in Sadlno kennengelernt habe und wenn Du den Bäcker Wiszniewski nicht vergessen hast, dann bitte ich Dich sehr, geruhe mir zu antworten, nach guter Überlegung, ob Du meine Frau werden und mit mir gutes und schlechtes Schicksal teilen möchtest […].“186 Nach einer Woche bekam er eine positive Antwort. Die Vereinigten Staaten waren nicht der Ort, eine Frau mit Mitgift zu suchen. Władek konnte nicht mehr an die Aufrechterhaltung von männlichen Ansprüchen denken, sondern nur mehr ans Überleben. Eine Frau aus Polen zu wählen, die er kannte, war die schnelle Entscheidung, die er traf. Władek blies in Chicago ein kalter Wind ins Gesicht. Er fand kaum Arbeit und wenn, nur schlecht bezahlte. Bei seinen Verwandten fand er wenig Unterstützung. Die Heirat versprach zumindest eine emotionale und eine gewisse materielle Absicherung, denn auch Ludwika war erwerbstätig. Władek ist, wie seine Selbstdarstellung zeigt, an der Armut seiner Familie gescheitert, die eine reiche Heirat nicht erlaubte, sowie an seinem männlichen und nationalen Selbstbewusstsein und schließlich an seinen Erwartungen an Verwandtschaftsnetzwerke in der Neuen Welt. Allerdings funktionierte nur die Eheschließung mit einer Konnationalen, der meist erfolgreiche Schritt eines ehewilligen Migranten. Die Geschlechterbeziehungen sind durch die Binnenmigrationen wie auch durch die Überseemigrationen auf komplexe Weise beeinflusst worden. Die väterliche und ehemännliche Autorität konnte in der traditionellen Form, die Kontrolle und Gehorsam beanspruchte, über den Atlantik ausgeübt, nicht aufrechterhalten werden. Aber es bedurfte gar nicht dieser Entfernung, um die Beziehungen zwischen Männern und Frauen zu verändern. Frauen, die in ihrer Heimatgemeinde zurückgeblieben waren, verwalteten die Geldüberweisungen, legten die Ersparnisse an, die auf ihren Namen lauteten und kauften Häuser und taten damit das, was nach zahlreichen europäischen Gesetzgebungen 186 Thomas/Znaniecki, Life-Record, 2218.

2. Gesicherte Verhältnisse

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ausschließlich Aufgabe der Männer zu sein hatte. Der Handlungsspielraum von Frauen erweiterte sich, und dies wurde vom Partner akzeptiert, musste akzeptiert werden. Diese Veränderungen in den Geschlechterbeziehungen waren jedoch nur dann realisierbar, wenn die Ehefrau in ihrem Arbeits- und Lebensraum Bedingungen vorfand, die dies erlaubten. Schwiegerväter konnten dies auch verhindern. Verheiratete Männer, die alleine ausgewandert und dann remigriert waren, fanden sich in ihrer Männlichkeit gestärkt.187 Briefeschreiben, eine Alltagspraxis der Migranten, erforderte Artikulation und Vermittlung von Erfahrungen und Gefühlen. Ledige Männer und Frauen, die sich zu einer Auswanderung entschlossen hatten oder deren Migration zu einer permanenten geworden war, standen vor der Herausforderung, ihre sozialen und sexuellen Beziehungen zu gestalten und ihre Partnerwahl zu treffen. Spätestens dann war die regionale oder nationale Herkunft von entscheidendem Einfluss.

187 Vgl. Ann-Catrin Östman, Working Together? Different Understandings of Marital Relations in Late Nineteenth-Century Finland, in: Maria Ågren u. Amy Louise Erickson (Hg.), The Marital Economy in Scandinavia and Britain 1400–1900, Aldershot 2005, 157–172.

3. Gefährdete und gefährliche Beziehungen

Zahlreiche Institutionen bemühten sich um eine Ordnung der Geschlechterbeziehungen. Diese waren jedoch auch dort gefährdet, wo sie am sichersten schienen, nämlich in der Ehe und in Liebesbeziehungen: durch Leidenschaften, die Normen hinwegfegten, durch Gewalt, die in den Falten von Beziehungswelten verborgen war, durch Krankheiten wie Syphilis, die durch den Geschlechtsakt hervorgerufen wurden. Das Bewusstsein dieser Gefährdungen war im Verlauf des 19. Jahrhunderts gewachsen. Sie schienen die Gesellschaft insgesamt zu unterwandern und in der Prostitution ihren allgemeinen Ausdruck zu finden. Gegen Ende des Jahrhunderts trat eine neue wissenschaftliche Richtung auf, die Sexualwissenschaften, die gleichermaßen eine Erklärung und eine Lösung dieser Problemlagen beanspruchten. Das Wissen um Sexualität, ein junger Begriff, schienen sie an der Wurzel fassen und analysieren zu können. Zeitgleich eskalierten die Spannungen zwischen den Geschlechtern, für die in der Forschung der Begriff „Geschlechterkampf“ verwendet wird. Er steht in der Konflikttradition, die sich aus dem asymmetrischen Eherecht ergab, dessen Unrecht nicht nur von der Frauenbewegung angeklagt, sondern auch von den Betroffenen zunehmend bewusst erfahren wurde. Er ist jedoch auch Teil von Veränderungen der Berufs- und Familienstruktur, die von den Einzelnen und von den Paaren in die Alltagspraxis integriert werden mussten, und dies verlief nicht konfliktfrei. Am Ende des 19. Jahrhunderts radikalisierten sich diese Konflikte, die in den Großstädten stärker zum Ausdruck kamen als in Kleinstädten und im ruralen Raum. Die Diskussionen um Sexualität, Leidenschaften und Syphilis haben ein Konfliktpotential erzeugt, das im Kontext einer zunehmend militarisierten und rassistischen Gesellschaft gewaltförmige Polarisierungen annehmen konnte. Der Erste Weltkrieg ist Teil dieser Entwicklung. 3.1 Ehe, Ehekritik und Ehebruch

Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts wurde die Kritik an der Ehe schärfer und erhielt große öffentliche Aufmerksamkeit. Mona Caird, eine englische Feministin, bezeichnete sie als „a vexatious failure“ und verwies auf Vergewal-

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tigung in der Ehe, auf die getrennten Sphären zwischen Männern und Frauen und auf die Rechtsungleichheit zwischen ihnen. In Folge ihres Artikels „Marriage“ wurden beim „Daily Telegraph“ im Jahre 1888 nicht weniger als 27.000 Zuschriften eingesandt, die das breite Interesse manifestieren, das dieses Problem in der Öffentlichkeit hervorrief.1 Viele waren davon betroffen und wollten und konnten hier ihre Meinung sagen, denn nur 12,1 % der 45- bis 49-jährigen Männer (1851) und zwischen 15 und 19 % der 35- bis 45-jährigen Frauen (1851– 1911) waren unverheiratet.2 Diese Zahlen mögen zwar in den Augen vieler, vor allem was die Frauen betrifft, besorgniserregend gewesen sein, sie machen dennoch deutlich, dass der überwiegende Teil der Bevölkerung in einer Ehe lebte. Ein wichtiger Teil der Kritik bezog sich auf die fehlenden sexuellen Rechte von Ehefrauen. Vergewaltigung in der Ehe war bereits für John Stuart Mill ein Thema gewesen. Das Strafrecht sprach von Vergewaltigung nur in jenen Fällen des Geschlechtsverkehrs mit Frauen gegen ihren Willen, wenn es sich nicht um Ehefrauen handelte. Feministinnen sahen Ehefrauen hier in der Rechtslage von Sklavinnen, die an einen Harem verkauft worden waren.3 Öffentlichkeit erhielten jene Gerichtsverfahren, in denen es um die „restitution of conjugal rights“ getrennt lebender Paare ging. Diese rechtliche Verpflichtung zur (Wieder-)Erfüllung ehelicher Rechte betraf fast ausschließlich Frauen. Die Rechtsprechung folgte den Ehemännern, die diese Rechte einforderten, denn, so ein Richter, „she has no right or power to refuse her consent“,4 nämlich ihr Einverständnis, die Verpflichtungen einer Ehefrau zu erfüllen. Die öffentliche und breite Kritik an der Ehe ist kein Spezifikum Englands, vermutlich aber konnten hier die sexuellen Selbstbestimmungsrechte von Frauen sehr früh thematisiert werden. Nachdem – als Ergebnis eines langen Kampfes – der „Married Women’s Property Act“ 1882 Ehefrauen Besitzrechte eingeräumt hatte, erfuhr die sexuelle Selbstbestimmung von Frauen hier eine stärkere Betonung als in jenen Ländern, in denen dies nicht der Fall war. Die europäische Ehelandschaft war jedoch generell um 1900 in Bewegung geraten,

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Mona Caird, Marriage, in: Westminster Review 130 (August 1888), 186–201, zit. nach A. James Hammerton, Cruelty and Companionship. Conflict in Nineteenth-Century Married Life, London/New York 1992, 159. Zu den Daten vgl. Josef Ehmer, Heiratsverhalten, Sozialstruktur, ökonomischer Wandel. England und Mitteleuropa in der Formationsperiode des Kapitalismus, Göttingen 1991, 86; Pat Jalland, Women, Marriage, and Politics 1860–1914, Oxford 1986, 254. Vgl. Mary L. Shanley, Feminism, Marriage, and the Law in Victorian England, 1850–1895, Princeton 1989, 184. Diese Äußerung fiel anlässlich eines Gesetzentwurfes, der nicht realisiert wurde. Die Rechtspraxis aber gab es in Großbritannien bis 1991, in Deutschland bis 1997; in Österreich und in der Schweiz ist Vergewaltigung in der Ehe seit 2004 ein Offizialdelikt. Shanley, Feminism, 185.

3. Gefährdete und gefährliche Beziehungen

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durch frauenbewegte Frauen, durch engagierte Sozialisten und Sozialistinnen, durch Ärzte und Sexualwissenschaftler und durch die Paare selbst. In Deutschland kamen die Diskussionen anlässlich der Verabschiedung des Bürgerlichen Gesetzbuchs 1896, das Enttäuschung und Empörung hervorrief, in Gang: Frauen und Mütter wurden weiterhin bevormundet, die Machtlosigkeit von Ehefrauen über ihr Vermögen und über ihre Kinder hatte sich nicht geändert, nicht eheliche Kinder waren weiterhin nicht mit den ehelichen gleichgestellt und die Einschränkung der Scheidungsgründe erweiterte nicht die Scheidungsmöglichkeiten, sondern verringerte sie. In Österreich wurden Petitionen zur Reform des Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuches mit ähnlichen Inhalten verfasst. In den Ländern, die unter Osmanischer Herrschaft gestanden waren, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts unabhängige Staaten wurden oder sich innerhalb der Habsburgermonarchie eigene politische und rechtliche Räume gaben, sah die Situation anders aus, so in Ungarn. Das Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch Österreichs war hier 1861 außer Kraft gesetzt worden, und es herrschten bis 1954 Übergangsregelungen. Das Eherecht von 1894, das die Zivilehe mit Ehescheidung einführte, folgte der ‚klassischen‘, das heißt der in Europa herrschenden ehemännlichen Vorherrschaft; Ehefrauen konnten jedoch über ihr eigenes Vermögen verfügen. Der Diskurs der Rechtswissenschaftler lobte den ungarischen Weg des Ehe- und Familienrechts als eine Mischung von europäischer und ungarischer Tradition, die (Ehe-)Frauen besondere Freiheit gewährte. Dies wurde als ein Ausdruck nationaler Überlegenheit verstanden, wie Anna Loutfi herausgearbeitet hat.5 Kritik am Eherecht war nur schwach entwickelt, da einerseits Patriotismus gefordert war und da die Frauenbewegungen andererseits befürchteten, die positiven Einrichtungen zu verlieren. 6 Ungarns Beispiel zeigt, dass die Juristen die „europäischen Normen“ der Bürgerlichen Gesetzbücher genau verfolgten und diese den nationalen, ungarischen gegenüberstellten. In Russland, wie Natalia Pushkareva feststellt, waren die Feministinnen froh, wenn Gesetze eingehalten wurden. Erst nach der Revolution von 1905 forderten sie die gleichen politischen und bürgerlichen Rechte.7 5

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Anna Loutfi, Legal Ambiguity and the „European Norm“. Women’s Independence and Hungarian Family Law, 1880–1913, in: Edith Saurer, Margareth Lanzinger u. Elisabeth Frysak (Hg.), Women’s Movements. Networks and Debates in post-communist Countries in the 19th and 20th Centuries, Wien/Köln/Weimar 2006, 507–521, 514. Vgl. Ute Gerhard, Unerhört. Die Geschichte der deutschen Frauenbewegung, Hamburg 1990, 231; zu Österreich vgl. Elisabeth Frysak, Legale Kämpfe. Die petitionsrechtlichen Forderungen der österreichischen bürgerlichen Frauenbewegung zur Änderung des Eheund Familienrechtes um die Jahrhundertwende, in: L’Homme. Z.F.G. 14, 1 (2003), 65–82. Natalia Pushkareva, Feminism in Russia: Two Centuries of History, in: Saurer/Lanzinger/ Frysak, Women’s Movements, 365–382, 372.

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Teil 1: Vom frühen 19. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg

Das Eherecht war ein Konfliktherd, wobei sich die Diskussion an Reformvorhaben Bürgerlicher Gesetzbücher bzw. an der Veröffentlichung von Gerichtsurteilen entzündete, wenn sie auch von individuellen und kollektiven Erfahrungen in Hinblick auf rechtliche Diskriminierungen nicht zu trennen war. Für Juristen und politisch Verantwortliche standen bei deren Gestaltung spezifische ordnungspolitische Vorstellungen im Vordergrund. Die Loslösung von religiösen bzw. kirchlichen Einflüssen war zwar ein verbreitetes politisches Desiderat, aber keineswegs in allen europäischen Ländern realisiert, wie etwa die Geschichte des Scheidungsrechts und der Zivilehe zeigt. Ein Konsens bestand für diese Personengruppe allerdings in der Konzipierung der ehelichen Gemeinschaft als männliche Vorherrschaft. Caroline Arni hat auf die Spannung zwischen den Konzepten Gemeinschaft und Herrschaft sowie weiblicher Emanzipation und dem „Bollwerk Familie“ verwiesen.8 In den „Frankfurter Studien über Autorität und Familie“ wird auf den illusionären Charakter des Begriffs „Gemeinschaft“ in diesem Kontext aufmerksam gemacht. „Die Verklärung der Rechtsbeziehung zwischen Ehegatten wird hie und da auch noch von der ausdrücklichen Behauptung begleitet, dass die Vorherrschaft des Mannes nicht etwa in seinem Interesse, sondern im Interesse des Ganzen, eben jener Gemeinschaft, ausgeübt werden müsse.“9 Auch die individuellen Erwerbs- oder Besitzinteressen von Frauen sollten in der Ehe nicht oder nur nachrangig zum Tragen kommen können, wie dies etwa für die Schweiz oder Deutschland galt. Auf diese Weise werden in der Ehe „nicht nur Verhältnisse und Beziehungen von Frauen und Männern gestaltet, sondern darin werden auch und grundlegender noch Geschlechterdifferenz und eine ihr entsprechende symbolische und soziale Ordnung von Gesellschaft artikuliert“.10 Die Ordnung, die Justiz und Politik für die Ehe anvisierten, gestaltete Geschlechterbeziehungen und Familie sowie einen Rahmen für Reproduktivität und Generationenfolge. Diese Ordnung konnte nicht unverändert Jahrzehnte überdauern, doch waren sie bestrebt, die Durchlässigkeit gegenüber neuen gesellschaftlichen Entwicklungen so weit als möglich einzuschränken. Die traditionsreiche geschlechtsspezifische Arbeitsteilung, die auf normativer Ebene gegeben war, sollte beibehalten werden. Genau dies aber wurde von den Frauenbewegungen bekämpft.

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Caroline Arni, Entzweiungen. Die Krise der Ehe um 1900, Köln/Weimar/Wien 2004, 44. Ernst Schachtel, Das Recht in der Gegenwart und die Autorität in der Familie, in: Max Horkheimer (Hg.), Studien über Autorität und Familie. Forschungsbericht, Lüneburg 1987 [1936], 587–642, 587ff, zit. nach Arni, Entzweiungen, 43. 10 Arni, Entzweiungen, 4.

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Allerdings ist dieser Protest nicht nur in Hinblick auf die Bedürfnisse von Frauen zu sehen, sondern es ist zu beachten, dass die ökonomische Entwicklung und die damit verbundenen neuen Möglichkeiten auch jene der Männer verändert hat. Das sehen wir sehr klar in einem von Caroline Arni untersuchten Berner Scheidungsfall. Der Ehemann, ein Arzt, der im Jahr 1912 die Scheidung einreichte, hatte seine Praxis zunächst am Land und in einer Kleinstadt eingerichtet, ehe er eine radiologische Praxis in Bern eröffnete, die er getrennt von seiner Wohnung führte. Was er als sozialen Aufstieg und Professionalisierungserfolg wahrnahm, sah in den Augen seiner Frau anders aus. Diese verlor mit deren Auslagerung die Möglichkeiten der täglichen Kooperation in der Arztpraxis, über die sie verfügte, solange „Erwerbs- und Familienleben“ eine Einheit bildeten und ihre Familie noch einen „umfassenden Arbeits- und Lebenszusammenhang“ dargestellt hatte.11 Dies zählte für sie umso mehr, als sie auf die Privilegien einer Arztgattin, die keiner Erwerbsarbeit nachgehen musste, nicht verzichten wollte – obwohl sie ausgebildete Lehrerin war. Ihre Vorstellungen von Arbeit und geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung gingen konform mit einem Ehemodell, das auch den Gesetzgebern noch immer Vorbild war. Allerdings hatte der Ehemann über seine rechtlich abgesicherte Herrschaftsfunktion die Möglichkeit, von diesem Modell abzuweichen, ohne die Zustimmung seiner Frau einzuholen. Generell konnten die Schweizer Ehemänner Einspruch gegen eine unabhängige Erwerbstätigkeit ihrer Frau erheben, wenn sie sie für Haushalt oder Beruf zu benötigen glaubten. Für autonome Berufsentscheidungen von Ehefrauen, die in der Erwerbsarbeit offene Räume für Lebensgestaltung sahen, war hier kein Platz. Ehekritik ist traditionsreich. Sie war auch im mittelalterlichen Christentum ein Topos, wie sich in der Schrift „Christus und die minnende Seele“ zeigt. Dieser mystische Dialog entwirft ein erschreckendes Bild der Ehe: das einer Ehefrau, die in einem kontinuierlichen Martyrium mit einem gewalttätigen Mann lebt. Diesem Szenario wird die himmlische Ehe mit Christus gegenübergestellt.12 Im Vergleich zur „irdischen“ Ehe sei das monastische Leben vorzuziehen, das war damals die Botschaft gewesen, die im 19. Jahrhundert jedoch von der katholischen Kirche nicht mehr mitgetragen wurde, denn für sie war Ehepolitik nunmehr ein großes Anliegen geworden. 11 Arni, Entzweiungen, 102, 104. 12 Vgl. Hildegard Elisabeth Keller, Von ehelicher Privation zu erotischer Privatheit? Zur Allegorese der Geschlechterbeziehungen. Ein Beitrag zu „Christus und die minnende Seele“, in: Gert Melville u. Peter von Moos (Hg.), Das Öffentliche und das Private in der Vormoderne, Köln 1998, 461–498.

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Ehekritik war auch um 1800 geübt worden, und in diesem Zeitraum wurde ebenfalls von einer Krise der Ehe gesprochen. Sie bezog sich jedoch auf die Forderungen nach der Durchsetzung eines bürgerlichen Ehemodells, in Absetzung vom adeligen. Sie verlangte eine Beschränkung der Eheverbote und insbesondere des väterlichen Einflusses. Die ehelichen Binnenbeziehungen waren Thema in der Argumentation für und wider die Ehescheidung. Jene Themen aber, die in dieser Zeit vom peripheren Standort sozialistischer Denker und Denkerinnen aus formuliert worden waren, wurden erst gegen Ende des Jahrhunderts einer breiten Öffentlichkeit zugänglich. Dazu zählte auch die Diskussion um „freie Liebe“, ein Reizwort für Juristen und konservative Politiker der Zeit. Immerhin reichte die Verwendung dieses Begriffs in einem Zeitungsartikel für eine Gefängnisstrafe aus. Adelheid Popp, die österreichische frauenbewegte Sozialistin und Herausgeberin der Arbeiterinnen-Zeitung, wurde aus diesem Grund zu einer vierzehntägigen Arreststrafe verurteilt.13 Der Artikel hatte das herrschende Ehemodell kritisiert.14 Popp rechtfertigte sich mit Verweis auf die patriarchale Ehe. Die heutigen Ehegesetze, so Popp, würden noch immer den Geist der Zeit atmen, in der der Mann die Peitsche oberhalb des Ehebettes hängen hatte. Unter „Freier Liebe“ verstünde sie eine Beziehung, die „ohne Zwang aus freier, innerer Ueberzeugung“ entstünde.15 Der Staatsanwalt hingegen sah in den Formulierungen einen Angriff „gegen die ganze Institution der Ehe“. Dementsprechend lautete seine Urteilsbegründung: „Der § 305 des Strafgesetzes schützt unter Anderem auch die theoretische Mißhandlung, möchte ich sagen, der Institution der Ehe und der Familie. Der Gesetzgeber ist der Ansicht, daß der Staat und die ganze Gesittung und die ganze Cultur auf dem Spiele steht, wenn man die Ehe und die Familie herabwürdigt.“16 Von „freier Liebe“ sprachen auch die Sexualwissenschaftler, wie Iwan Bloch und Helene Stöcker. Der Begriff bzw. das Konzept meinte allerdings nicht eine Absage an die Ehe. Iwan Bloch hat das Konzept mit rhetorischem Pathos präsentiert und die „Zukunft der Kultur und die endgültige Erlösung und Befreiung aus den durch die Zwangsehe geschaffenen schmachvollen Zuständen des Liebeslebens der Gegenwart“ von dessen Realisierung abhängig gemacht. Er beeilte sich jedoch hinzuzufügen: „Die freie Liebe ist weder, wie böswillige Gegner imputieren, die Aufhebung der Ehe noch die Organisation des außer13

Freie Liebe und bürgerliche Ehe. Schwurgerichtsverhandlung gegen die „ArbeiterinnenZeitung“, durchgeführt bei dem k. k. Landes- und Schwurgericht in Wien am 30. September 1895, Wien 1895, 16. 14 Bei dem in der Arbeiterinnen-Zeitung erschienenen Artikel handelt es sich um „Frau und Eigenthum“, erschienen in: Arbeiterinnen-Zeitung 4, 13 (1895). 15 Freie Liebe und bürgerliche Ehe, 8. 16 Freie Liebe und bürgerliche Ehe, 10.

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ehelichen Geschlechtsverkehrs.“17 Er wollte mit seinem Liebesmodell vor allem die Prostitution abschaffen und sexuelle Beziehungen vor der Ehe, die auf ernsthafter Zuneigung beruhten, kulturell und sozial konsensfähig machen. Er klagte die Doppelmoral an, die den Geschlechtsverkehr von Ehemännern mit Prostituierten tolerierte, den außerehelichen oder vorehelichen von (Ehe-) Frauen mit Männern, die nicht ihre Ehemänner waren, jedoch nicht. Unter Zwangsehe verstand er nicht eine Ehe, in die die Paare von familiären Interessen hineingezwungen wurden, sondern eine Notwendigkeit, um legitimen Geschlechtsverkehr ausüben zu können. Helene Stöcker, feministische Schriftstellerin und Gründerin des „Bundes für Mutterschutz“, sah dies ähnlich. Deshalb trat sie für den Schutz lediger Mütter ein, für die Möglichkeit der Empfängnisverhütung und für die Straffreiheit von Abtreibung. Die Propagierung der freien Liebe als Teil eines alternativen Lebensstils stellte eine Ausnahme dar, wie sie auf dem Monte Verità in Ascona (Tessin) realisiert wurde. Im Jahr 1900 gründeten Henri Oedenkoven, ein belgischer Fabrikant, und Ida Hofmann, eine Pianistin, und mehrere andere Personen eine Kolonie in Ascona. 1901 entstanden die ersten Wohn- und Lufthütten, die auf das „Kräftesammeln“ ausgerichtet waren.18 Zu jenen, die sich hier niederließen, zählte auch der Arzt und Psychoanalytiker Otto Groß. Von freier Liebe erwartete er nicht nur sexuelle Intensität, sondern auch eine Steigerung des Bewusstseins. Von sexuellen Zwängen wollte er sich, seine Patienten und die Gesellschaft befreien. Er kultivierte und propagierte „Orgiastisches Erleben“ und Sexualität ohne Besitzansprüche. Rausch und Ekstase waren für ihn Mittel der Befreiung aus dem „Vaterrecht“. Es war dann sein eigener Vater, Professor des Strafrechts, der ihn entmündigen ließ.19 Es war eine kleine Minderheit, die auf institutionelle Stützen und rechtlich privilegierte Beziehungsformen wie die Ehe verzichtete. Wenn sie auch Erregungen hervorrief, so hielten sich diese in Grenzen. Zu sehr war Ehe eine in allen sozialen Schichten breit akzeptierte Lebensform. Das zeigt sich auch an dem großen gesellschaftlichen Interesse am Ehebruch, vor allem an der Ehebrecherin. Die Romane von zumindest europäischem Ruf, wie Gustave Flauberts „Madame Bovary“, Theodor Fontanes „Effi Briest“ und Nikolaj Tolstojs „Anna Karenina“, sind literarischer Ausdruck dieses Interesses. 17 Iwan Bloch, Das Sexualleben unserer Zeit in seinen Beziehungen zur modernen Kultur, Berlin 1908, 263. 18 Vgl. Harald Szeemann, Monte Verità – Berg der Wahrheit, in: Monte Verità. Berg der Wahrheit. Lokale Anthropologie als Beitrag zur Wiederentdeckung einer neuzeitlichen sakralen Topographie. Ausstellung im Museum des 20. Jahrhunderts, Milano 1978, 5–9. 19 Emanuel Hurwitz, Otto Gross – Von der Psychoanalyse zum Paradies, in: Monte Verità, 107–116.

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In den 1930er Jahren hat der Schweizer Literaturwissenschaftler Denis de Rougemont die Auffassung vertreten, dass das europäische Liebesmodell den Ehebruch verherrliche und mit ihm die Leidenschaft – doch „ohne es zu wissen, haben die Liebenden wider Willen nur den Tod geliebt“.20 „Tristan und Isolde“ hielt er für den paradigmatischen Ausdruck europäischer Liebe. Diese Dichtung verstand er als die seit dem 12. Jahrhundert immer wieder aufgegriffene und verbreitete Parabel von Liebe, Leiden und Leidenschaft, die aus dem Christentum und seinen „Häresien“, vor allem jener der Katharer und deren Verachtung der Ehe, entstanden sei. Sie dominiere die europäische Mystik ebenso wie sie Literatur, Politik, Klassenkampf und Nationalgefühl bestimme, so seine Sichtweise. Er war beeindruckt von wachsenden Scheidungsraten und auch von den politischen Radikalismen, Nationalismen und Rassismen seiner Zeit, umso mehr als er ein Verfechter eines Vereinten Europa war. Allerdings galten selbst für das 19. Jahrhundert, in dem der Ehebruch auf literarischer Ebene ein Faszinosum darstellte, de Rougemonts Interpretationen nur bedingt. Richard Wagners Oper „Tristan und Isolde“ hat die unaufhaltsame und als solche subversive und zerstörerische Liebe zum Gegenstand. Der Ehebruch, aber mehr noch Loyalitätsbrüche zwischen Männern sind nur die Folie für diese dramatische Erzählung. Die Liebe macht vor dem Leben der Liebenden nicht Halt, und im Tod erfüllt sich ihr Anspruch auf Unendlichkeit oder auch auf die Befreiung von ihr. Das ist eine Lesart der Oper: „Um die Darstellung dieses unaufhaltsamen Drangs geht es, der sich in ständiger Steigerung befindet, nie jedoch an sein Ziel gelangt: Erotik als zwanghafter Trieb; jenseits von Lust und Glück; der Tod wird ersehnt, weil er von der Liebe befreit“, meint Egon Voss.21 Eine Radikalisierung dieser Sichtweise der Geschlechterliebe findet in Tristan und Isolde statt: „So starben wir, / um ungetrennt, / ewig einig, / ohne End’, / ohn’ Erwachen, / ohne Bangen, / namenlos / in Lieb’ umfangen, / ganz uns selbst gegeben / der Liebe nur zu leben.“22 Diese Entscheidung – und das bleibt sie doch –, den Liebestod zu suchen, verdeckt allerdings die vielfältigen mentalen, politischen und Loyalitätsprobleme, in denen das Paar gestanden ist und die Wagner anschneidet. Tristan liebt die Frau seines Lehensherrn und Freundes König Marke, und Isolde, irische Königstochter, sieht in Tristan nicht nur den Vasallen ihres Ehemannes, sondern auch einen Krieger, der gegen Irland gekämpft und ihren damaligen 20 Denis De Rougemont, Die Liebe und das Abendland, Köln 1966 [1939], 55. 21 Egon Voss, Tristan ohne Mythos, in: ders., „Wagner und kein Ende“. Betrachtungen und Studien, Zürich/Mainz 1996, 110–117, 116. 22 Richard Wagner, Tristan und Isolde. Textbuch mit Varianten der Partitur, hg. von Egon Voss, Stuttgart 2005, 64f.

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Bräutigam getötet hat. Damit brachte Wagner die transgressiven Elemente von Liebe ebenso zum Ausdruck wie das Scheitern daran. Ehefrauen waren es, deren Ehebruch das literarische Interesse hervorrief. Darin kommt die stärkere soziale und häufig auch rechtliche Sanktionierung zum Ausdruck, der diese ausgesetzt waren. Der Ehebruch war schon im Flaggschiff der Aufklärung, in der „Encyclopédie“, als das nach dem Mord am meisten strafbare Verbrechen bezeichnet worden, denn, so die Argumentation, er sei von allen Diebstählen der grausamste, er führe zu Morden und zu den bedauernswertesten Exzessen.23 Vor allem das französische Strafgesetz insistierte auf unterschiedlichen geschlechtsspezifischen Verantwortlichkeiten für die Ehe bzw. den Ehebruch. So konnte die Ehefrau nach dem Code civil die Scheidung nur dann beantragen, wenn ihr Ehemann seine Geliebte in den gemeinsamen Haushalt mitgenommen hatte. Umgekehrt reichte bei der Ehefrau allein der Tatbestand aus, um eine Scheidung zu rechtfertigen (Art. 230, 229). Auch wurde das Vergehen strafrechtlich ungleich geahndet, nämlich mit bis zu zwei Jahren Gefängnis für Ehefrauen, während Ehemänner nur mit einer Geldstrafe zu rechnen hatten. Schließlich war die Ermordung einer in flagranti ertappten Ehefrau und ihres Geliebten durch den Ehemann „entschuldbar“ (Code pénal, Art. 337, 339, 324). Diese stärkere Bestrafung des Ehebruchs der Frauen steht in der Tradition des römischen Rechts. Das kanonische Recht machte diesen Unterschied nicht. Ihm folgten viele europäische Staaten wie Österreich, Deutschland, Russland, Schweden, Norwegen, die Niederlande und Ungarn. Die Ehebrecher sollten jedoch nach dem Tod des Ehepartners bzw. der Ehepartnerin oder nach einer Scheidung an einer gemeinsamen Ehe gehindert werden. Das Ehehindernis des Ehebruchs, das im 12. Jahrhundert eingeführt worden war, hatte in zahlreichen Ländern Geltung, so in Deutschland bis 1976 und in Österreich bis 1983. Dessen Eintreten war zwar an eine gerichtliche Verurteilung gebunden, aber das insistente Fragen eines Priesters konnte dieselbe Wirkung tun.24 In Frankreich war das entsprechende Gesetz schon 1904 gefallen. Das Ehehindernis bedeutete, dass die Ehebrecher, um heiraten zu können, einer Dispens bedurften. Dies galt auch für jene Eheleute, die schon viele Jahre getrennt waren und mit einem anderen Partner, einer anderen Partnerin zusammenlebten. Lawrence Stone hat in seiner Untersuchung englischer Ehescheidungsfälle des 18. und 19. Jahrhunderts die Bedeutung der Medien für breite Erörterun23 François-Vincent Toussaint, Art. „Adultère“, in: Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers, Bd. 1, Paris 1751, 150–151, 150. 24 Vgl. Edith Saurer, Frauen und Priester. Beichtgespräche im frühen 19. Jahrhundert, in: Richard van Dülmen (Hg.), Arbeit, Frömmigkeit und Eigensinn. Studien zur historischen Kulturforschung, Frankfurt a. M. 1990, 141–170, 157.

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gen von Ehebruchsfällen unterstrichen. Das Interesse galt zwar dem Skandal, vor allem bei einem entsprechenden Bekanntheitsgrad der Personen, Teil der Diskussion war jedoch auch die Ehe selbst, die mit ihr verbundenen Grenzsetzungen oder möglichen Überschreitungen, die (berechtigten) Erwartungen an den Ehepartner, die Wirkung großer Altersunterschiede und die ehelichen Interaktionen.25 Während die Gesetze eine eindeutige Verbots- und Bestrafungssprache führten, war die Sichtweise in der literarischen Vermittlung ambivalent. Dies zeigt der Zensur-Fall „Madame Bovary“. Gustave Flaubert, zugleich Drucker und Herausgeber der Zeitschrift, in der der Roman zunächst in Fortsetzungen zwischen Oktober 1856 und Januar 1857 erschien, wurde von der Zensurbehörde wegen der Verletzung öffentlicher Moral, guter Sitten und der Religion angeklagt. Dem Ankläger Ernest Pinard fehlte in dem Roman der Kontext der christlichen Moral als Grundlage der Zivilisation. Dass nicht nur er als Ankläger diese Auffassung vertrat, zeigt der Umstand, dass der Herausgeber der Zeitschrift den Roman bei seinem Erscheinen schon zensuriert hatte, indem er die „Kutschenszene“ strich.26 Der „Kutschenszene“ lässt sich der Vorwurf der Verletzung öffentlicher Moral allerdings nicht machen, da die Herstellung amoralischer Zusammenhänge den Lesenden allein obliegt. Im Text werden schweißtriefende Pferde und ein verzweifelter Kutscher sichtbar, der die Kutsche stundenlang durch Rouen treiben muss. Das Innere der Kutsche, in der sich Emma und ein – so die Annahme der Bezüge herstellenden Lesenden – eben als Liebhaber sich bewährender Mann befinden, wird nur durch eine Stimme – „‚Weiterfahren!‘, rief eine Stimme aus dem Innern“27 – und durch eine „weiße Hand unter dem gelben Fenstervorhang“, die „einen Haufen Papierschnitzel“ hinauswarf, greifbar.28 Dennoch: Die Szene galt als anstößig, gerade weil der Autor keine Lektüreanweisungen gab, wie Dominick LaCapra feststellte. Die „radikale Negativität des Romans“ ließ viele Lesarten offen,29 die Emma Bovarys Handeln unterschiedlich bewerteten. Emma, in einem französischen Provinzort an der Banalität der Ehe mit einem Landarzt leidend, wollte diesem Leiden durch eine Romanze entfliehen. „Die Liebe, so glaubte sie, muß plötzlich kommen, unter Donner und Blitz, wie ein Sturmwetter, das vom Himmel fällt, das ganze Leben erschüttert, die Willen der Menschen gleich Blättern mit sich reißt und das ganze Herz in 25 26 27 28 29

Vgl. Lawrence Stone, Road to Divorce. England 1530–1987, Oxford 1990, 250–260. Vgl. dazu Dominick LaCapra, „Madame Bovary“ on Trial, Ithaca/London 1982, 17–42. Gustave Flaubert, Madame Bovary, Zürich 1952 [1857], 391. Flaubert, Madame Bovary, 393. LaCapra, Madame Bovary, 54.

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einen Abgrund schwemmt. Sie wußte nicht, daß das Regenwasser sich auf den Terrassen der Häuser zu Seen sammelt, wenn die Dachtraufen verstopft sind, und sie wäre in dem Zustand trügerischer Sicherheit verblieben, wenn sie nicht eines Tages einen Riß in der Mauer bemerkt hätte.“30 Ihre zwei Liebhaber, zunächst die große Leidenschaft, verursachten ihr nicht nur eine individuelle Enttäuschung, da sie sie verließen, sondern ihre Affären hatten einen schalen Nachgeschmack. „Nichts auf Erden lohnte die Mühe des Suchens; alles log! Jedes Lächeln verbarg ein Gähnen der Langeweile, jede Freude eine Verwünschung, jeder Genuss den Ekel, der ihm folgte, und die heißesten Küsse hinterließen auf den Lippen nur die unerfüllbare Begierde nach einer tiefen Wollust.“31 Madame Bovary konnte ihre „metaphysische Sehnsucht nach dem Absoluten“,32 nach der Unendlichkeit von Gefühlen und sexueller Erfüllung nicht stillen, und auch nicht jene nach Luxus und Großzügigkeit, die sie in die Verschuldung und in den Tod trieben, denn „sie kümmerte sich um ihre Geldangelegenheiten nicht mehr als eine Erzherzogin“.33 Emmas Verhalten verstieß gegen Grundpfeiler der bürgerlichen Ordnung „in its threatening tendency to reveal the hollow core of two pillars of bourgeois order: the family and property“.34 Charles Bovary, der Ehemann, gleichermaßen ahnungslos über das Doppelleben seiner Ehefrau wie wissend und alle Hinweise auf den Ehebruch verweigernd, hat mehr als 120 Jahre nach dem Erscheinen der „Madame Bovary“ in Jean Améry einen Verteidiger gefunden. Dieser lobt das Pflichtbewusstsein des Charles und seine Arbeit als Arzt. Mit dem Lob der Arbeit intendiert er die Rehabilitation des bürgerlichen Mannes, der ihm im Roman Flauberts zu kurz gekommen ist.35 Für Emma gab es die Dimension der (Erwerbs-)Arbeit nicht, sie war die „reine Konsumentin“.36 Ihr Leiden an Ehemann und sozialem Umfeld konnte sie nur über ihren Körper und ihre Träume bekämpfen und sich weder an der Liebe noch an der Arbeit abarbeiten. Von der Liebe erhoffte sie eine Auferstehung, die sie nicht erreichte. Flaubert wurde von der Anklage freigesprochen. In das Genre der „Ehekritik“ fällt seine „Madame Bovary“ dennoch, die umso schärfer ausfällt, als sie nicht beim Ehemann stehen bleibt – der auch nicht als Bösewicht dargestellt wird, im Gegenteil –, sondern eine Gesellschaft einbezieht, die diese Institution trägt. 30 31 32 33 34 35 36

Flaubert, Madame Bovary, 166. Flaubert, Madame Bovary, 451. LaCapra, Madame Bovary, 178. Flaubert, Madame Bovary, 451. LaCapra, Madame Bovary, 120. Jean Améry, Charles Bovary, Landarzt. Porträt eines einfachen Mannes, Stuttgart 1978. LaCapra, Madame Bovary, 181.

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Es war die französische Kleinstadt im Kaiserreich Napoleons III., in der private Biederkeit gepaart mit sozialer Gleichgültigkeit und Raffsucht gelebt wurde. Die Geschichtswissenschaft verfügt nur selten über vollständig dokumentierte Fälle von Liebesbeziehungen. Insofern befindet sie sich im Nachteil gegenüber literarischen Texten. Die Bruchstückhaftigkeit von Überlieferungen stellt zugleich besondere Anforderungen an die Interpretation und Kontextualisierung und zwingt dazu, Leerstellen zu akzeptieren. Das gilt für die Geschichte von Emilia und Federico, die zwischen 1872 und 1881 eine Liebesbeziehung hatten. Emilia war die Ehefrau eines viel älteren Mailänder Grafen, der ein Verhältnis mit ihrer Mutter eingegangen war, Federico war Offizier. Von dieser Beziehung sind nur die Briefe Emilias an Federico überliefert, die Federicos Verwandte in den 1980er Jahren dem „Archivio Diaristico Nazionale“ in Pieve übergaben, das sie veröffentlichte.37 Wir kennen ihn und die Beziehung der beiden nur aus diesen Briefen, aus der Brechung ihrer Geschichte durch die Feder Emilias. Emilia hatte 1875 eine offizielle Trennung von ihrem Mann erreichen können. Dadurch hat sich die Beziehung zu Federico, der in Sizilien war und in Süditalien die Briganten bekämpfte, worunter er, wie aus Bemerkungen Emilias hervorgeht, litt, nicht verändert. Es gab keine Ehescheidung in Italien, und ihre Liebe blieb daher weiterhin ihr Geheimnis. „Deine Emilia darf nicht von übler Nachrede beleidigt werden“, schrieb sie.38 Die Briefe, die Emilia neun Jahre lang an ihren Geliebten richtete, verweisen einerseits auf den Gefühlsraum, den sie sich geschaffen hatte, andererseits aber auf die seltenen und immer heimlichen Treffen, die sie in diesen Jahren organisieren konnten. „Ich finde keine Worte, um meiner Freude Ausdruck zu verleihen!! Federico, in ein paar Stunden werde ich dich wiedersehen ...“39 Die Briefe eröffnen zugleich einen Einblick in das Leben Emilias mit ihren fünf Kindern, von denen sie nach der Trennung nur ihre beiden Töchter behalten durfte. Die Entfremdung zu Federico mag auch auf den Einfluss ihrer Schwester bzw. ihrer Familie zurückzuführen sein. Emilia trennte sich 1881 von Federico und dabei blieb es auch nach dem etwa zeitgleich erfolgten Tod ihres Mannes, der sie mit Schuldgefühlen belastete. Vier Jahre später heiratete sie erneut, Federico beging Selbstmord. Emilia und Federico hatten mit ihrer Liebesbeziehung, die wesentlich auf dem Schreiben und Lesen von Briefen beruhte, ein Jenseits ihres Alltags ge37 Emilia, Le parole nascoste, Milano 1987. 38 Emilia, Le parole nascoste, 47: „La tua Emilia non deve essere offesa dalla maldicenza […].“ 39 Emilia, Le parole nascoste, 55: „Non ho parole per esprimerti tutta la mia gioia!! Federico, fra poche ore ti rivedrò …“

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schaffen. Für Emilia bedeutete dies einen Gefühlsfreiraum und eine Selbstbestätigung, die sie in ihrem sozialen Umfeld nicht finden konnte. Federico, der in Sizilien militärische Aufgaben übernehmen musste, die er nicht ausführen wollte – so ist wohl eine Bemerkung von Emilia zu verstehen – und wo er offensichtlich wenig in das gesellschaftliche Leben eingebunden war, fand darin eine tiefe Akzeptanz, die seinen Charakter und die Probleme betrafen, die sich aus seinen Berufs- und Lebensverhältnissen ergaben. Ehescheidung und größere berufliche Mobilität von Federico hätten dieser Beziehung einen anderen Rahmen gegeben und ihr mehr Entscheidungsmöglichkeiten eröffnet. 3.2 Die großen Leidenschaften und Skandale

Ein gesellschaftliches Interesse an großen Leidenschaften, ihren Turbulenzen, allfälligen Kontakten mit Gerichten, Selbstmord und Mord, hat nicht erst das 19. Jahrhundert gezeigt. Neu waren jedoch die Möglichkeiten, die sich durch die Massenmedien boten und die im folgenden Jahrhundert noch weiter und rasanter ausgebaut wurden. Durch diese Form der Vermittlung von Sozialverhalten, sei es auch eines, das die Normen radikal übertrat, verbreitete sich nicht nur die Diskussionsbasis rein quantitativ, sondern es setzte auch ein qualitativer Sprung ein, der in der politischen und rechtlichen Instrumentalisierung außergewöhnlicher Ereignisse bestand. Die Wissenschaft hielt sich nicht abseits. Zumindest kommentierte sie. Der italienische Anthropologe Cesare Lombroso war vom Liebes-Doppelselbstmord fasziniert: „Mögen Moralprediger und Theologen sagen, was sie wollen, in diesem geschäftigen und frechen Zeitalter erfüllen uns solche Begebenheiten, weit davon entfernt, einen Abscheu wie vor einem Verbrechen hervorzurufen, vielmehr Augen und Herz mit einer tiefen Bewegung; sie zeigen uns, daß wir es auch heute vermögen, starke, ideale und uninteressierte Leidenschaften zu empfinden und für sie zu sterben.“40 Die Sexualwissenschaften, die Anthropologie, Psychiatrie und Kriminologie, die um die Definition von „Deviantem“, „Perversem“ und „Kriminellem“ rangen, wurden von ihrem eigenen Konzept von Liebe häufig überrascht bzw. bewegten sich auf einem wissenschaftlichen Terrain, das mehrere Interpretationen zuließ. So konnte der Liebes-Doppelselbstmord als Verbrechen, psychische Unreife und ideale Liebe gleichermaßen gesehen werden. Für Elias Hurwicz, der 1920 seine Studie über diese Form des Selbstmordes vorgelegt hat, stand 40 Cesare Lombroso, L’uomo delinquente in rapporto all’antropologia, alla giurisprudenza ed alle discipline carcerarie, Bd. 2, Torino 1889, 159, zit. nach: Elias Hurwicz, Der LiebesDoppelselbstmord. Eine psychologische Studie, Bonn 1920, 6.

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fest, dass Frauen besonders häufig „als geistige Urheberinnen der Doppelselbstmorde erscheinen“.41 Erklärung dafür bot ihm das große Liebesbedürfnis der Frauen und ihr Ausgeliefertsein an die Biologie, der die Psyche keinen Widerstand entgegensetzen könne – eine Interpretation, die eine häufige Wiederkehr feiern sollte, ein Phänomen der Repetition, ein Baustein der europäischen Geschlechtergeschichte. In gewisser Hinsicht folgerichtig war, dass häufiger der Mann überlebte, der, nachdem er die Frau getötet hatte, nicht mehr die Kraft fand, dies auch für sich selbst zu tun. Hurwicz entschuldigte diesen statistischen Befund damit, dass der Mann von der Frau überredet worden sei.42 Faktum bleibt, dass der Liebes-Doppelselbstmord häufig ein Mord und ein Selbstmord ist, auch wenn der Mord auf dem Einverständnis des Partners beruht. Überlebte ein Partner, so führte dies zur Klage, zu Gerichtsverfahren und zur Verurteilung. Liebe verband sich mit Kriminalität und bewegte aufgrund der Schwierigkeiten der Tatsachenfeststellung die Forschung und die Öffentlichkeit – wie im Fall der Madame Grille. Die 30-jährige protestantische Engländerin, mehrfache Mutter und Ehefrau eines höheren französischen Kolonialbeamten in Algerien, von bestem Ruf, wurde tot neben dem 22-jährigen Schriftsteller und Studenten Henri Chambige aufgefunden.43 Dieser gab an, dass der Doppelselbstmord auf Madame Grille zurückzuführen sei, weil sie die Liebe zu ihm und zu ihren Kindern nicht in Einklang bringen habe können. Zahlreiche Experten hielten sie für ein Opfer des Wahnsinns, der sie veranlasst habe, dem Schriftsteller in die Villa Sidi-Mabrouk zu folgen. Die Familie von Grille sah in dem Fall Verführung, Vergewaltigung und Mord. Der Fall beschäftigte Zeitungen, Zeitschriften und die Zeitgenossen. Chambige wurde zu sieben Jahren Gefängnis verurteilt, nach drei Jahren begnadigt.44 1889, ein Jahr nach diesem Vorfall, erschien ein ausführlicher Artikel des Kriminologen Gabriel Tarde unter dem Titel „L’Affaire Chambige“ in den „Archives d’anthropologie criminelle“, in dem er die Ernsthaftigkeit der Aussagen des Schriftstellers über den geplanten Doppelselbstmord nicht in Frage stellte. Madame Grille, die in der Öffentlichkeit mit Madame Bovary verglichen worden war, diagnostizierte er als „halb-geisteskrank“, „demi-aliénée“.45 Paul Bourget schrieb über die „Affaire“ den Roman „Le Disciple“ (1889), in dem

41 Hurwicz, Der Liebes-Doppelselbstmord, 21; im Original gesperrt gedruckt. 42 Hurwicz, Der Liebes-Doppelselbstmord, 26–29. 43 Vgl. dazu Ruth Harris, Melodrama, Hysteria, and Feminine Crimes of Passion in the Finde-Siècle, in: History Workshop 25, 1 (1988), 31–63, 54. 44 Vgl. Harris, Melodrama, 54f. 45 Gabriel Tarde, L’Affaire Chambige, in: Archives d’anthropologie criminelle 4 (1889), 92– 108, 101, zit. nach Harris, Melodrama, 55 und Anm. 61.

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er junge Männer für traditionelle Werte gewinnen wollte.46 Wissenschaft und Literatur begleiteten, kommentierten und interpretierten das Ereignis. Es gab Einblick in die destruktive Kraft von Liebe und in die Schattenseiten von Geschlechterbeziehungen. Nicht jeder Liebes-Doppelselbstmord ist allerdings auf Hindernisse in der Realisierung von Beziehungen zurückzuführen. Wie wirkungsvoll rechtlich und gesellschaftlich die Vorstellung von den „starken, idealen und uninteressierten Leidenschaften“ war und welche Symbiosen diese mit medizinischen und psychiatrischen Gutachten, die Geisteskrankheit diagnostizierten, eingehen konnten, zeigen die „Verbrechen aus Leidenschaft“. Das „Verbrechen aus Leidenschaft“ beruhte in der Strafpraxis auf der Hypothese einer spezifischen Form von Leidenschaft, nämlich jener, die ein Verbrechen zur Folge hatte. Einen eigenen Strafrechtstatbestand stellte dieses in Frankreich dar, und zwar im Fall des Mordes an der Ehebrecherin und ihrem Geliebten durch den gehörnten Ehemann, sofern diese in flagranti ertappt worden waren. Der Code pénal von 1810, von Napoleon eingeführt und von mehreren europäischen Ländern übernommen, definierte ihn als entschuldbar (Art. 324). Strafrecht und Strafrechtspraxis verurteilten gewisse Leidenschaften, wie sie diese andererseits auch entschuldigen konnten. Wenn der Strafrechtstatbestand des „entschuldbaren Mordes“ auch nur auf den betrogenen Ehemann Anwendung finden sollte, der seine Ehefrau in fla­ granti ertappt und daher aus Leidenschaft gehandelt hatte, so galt dies nicht in der Strafrechtspraxis. Frauen konnten sich ebenfalls darauf berufen, sofern gewisse Voraussetzungen erfüllt waren. Der Großteil der „Mörderinnen aus Leidenschaft“, die in Frankreich in den Jahren zwischen 1880 und 1910 ihre Ehemänner oder Geliebten umgebracht haben und glaubhaft machen konnten, dass sie damit die Ehe und/oder ihre Ehre verteidigt haben, ging straffrei aus. Das „Verbrechen aus Leidenschaft“ war, wie Ruth Harris feststellte, ein „allgemein anerkanntes kulturelles Phänomen“.47 Dessen Behandlung vor Gericht und in der Öffentlichkeit hing von der Selbstdarstellung der Mörderinnen ab, die in die Rolle romantischer Heldinnen schlüpften, und von den Identifikationsmöglichkeiten, die die Angeklagten Frauen und auch Männern boten. Das Interesse der Öffentlichkeit an den „crimes passionnells“ war bemerkenswert groß. Im Jahr 1880 folgte die Schauspielerin und Sängerin Marie Béraldi ihrem früheren Geliebten und seiner neuen Freundin in den Straßen von Paris, schoss ihm in den Rücken und stellte sich anschließend der Polizei. Sie hatte Rache dafür genommen, dass er sie nach der Geburt ihres Kindes verlassen und dieses nie zur Kenntnis genommen hatte, auch nicht dessen Tod. Die 46 Paul Bourget, Le Disciple, Paris 1889; vgl. auch Harris, Melodrama, 55f. 47 Harris, Melodrama, 37.

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Geschworenen sprachen Béraldi frei.48 Freigesprochen wurde auch Eugénie Dançiot, die ebenfalls ihren Geliebten ermordete, der ihr die Heirat versprochen hatte und der Vater ihres Kindes war, das er der „Assistance Publique“ übergeben wollte. Als er die Heirat mit einer anderen Frau plante, tötete sie ihn. Das zum Großteil weibliche Auditorium der Gerichtsverhandlung war in Tränen aufgelöst, berichteten die Zeitungen.49 Das Verlassenwerden nach langjährigem Zusammenleben verminderte nach Auffassung der Geschworenen die späteren Heiratschancen von Frauen und machte das „Verbrechen aus Leidenschaft“ entschuldbar. Ärzte und Psychiater, die dem Gericht als Gutachter zur Seite standen, hatten, wie Harris feststellte, die delikate Aufgabe, die Grenze zwischen Leidenschaft und Krankheit zu ziehen. Sie entschieden sich eher für „leidenschaftliche Frauen“ als für „kranke“, zumal sie Frauen grundsätzlich als nicht voll verantwortungsfähig ansahen.50 Wie eine medizinhistorische Studie aufzeigt, waren im 18. Jahrhundert und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts jene Erklärungsansätze der „Liebeskrankheit“ weit verbreitet, die zwischen normaler und krankhafter Form der Liebe nicht unterschieden, denn Liebe sei für sich genommen ein Gefühl ohne Maß. Das änderte sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als „erotische Verrücktheit“ eine größere Rolle spielen sollte. Dennoch waren die Gerichtsurteile von anderen Kriterien bestimmt: von Ehrverletzung, Rohheit und Gewalttätigkeit der Männer gegenüber Frauen. Das Töten wurde oft durch Vitriol und körperliches Verunstalten ersetzt. So erschrocken die Öffentlichkeit über ein solch grausames Vorgehen auch war, kam es dennoch zu Freisprüchen – wie im Fall der Comtesse de Létil, Mutter von vier Kindern, deren Mann notorisch viele Beziehungen zu Frauen hatte. Vor Gericht sagte die Gräfin aus, nachdem sie 1880 Vitriol auf ihre Rivalin gegossen hatte: „Ich wollte das Gesicht des Mädchens markieren ... nicht weil sie die Geliebte meines Mannes war, auch nicht deshalb, weil sie den Namen meiner Familie mit Schande befleckt hat, sondern deshalb, weil sie nach meinem Tod die Mutter meiner Kinder hätte werden können.“51 Als Mutter wollte sie keine Nachfolgerin. Ihr Freispruch kann auch als Verteidigung der Ehe angesehen werden, die stärker ins Gewicht fiel als die massive Körperverletzung, die Létil der Geliebten ihres Ehemannes zugefügt hatte.

48 49 50 51

Vgl. Harris, Melodrama, 31 u. 41–43. Vgl. Harris, Melodrama, 45. Harris, Melodrama, 49. Gustave Macé, La Police parisienne, femmes criminelles, Paris 1904, 21, zit. nach Ruth Harris, Murders and Madness. Medicine, Law, and Society in the Fin de Siècle, Oxford 1989, 239.

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Ob diese Botschaft in der Öffentlichkeit als Verteidigung der Ehe angekommen ist, ist unklar. In Diskussion waren vielleicht mehr die enttäuschten Erwartungen von Frauen, die sie an die Ehe und/oder an Männer hatten. So ist auch der große Erfolg zu erklären, den die im Gefängnis geschriebenen Memoiren der Marie Lafarge verbuchen konnten, die 1840 des Mordes an ihrem Ehemann angeklagt worden war, den sie jedoch immer abstritt. Bis Ende des Jahrhunderts wurden ihre Memoiren von Frauen gerne gelesen. „Das Unglück dieses Lebens ist“, so schrieb sie, „dass man davon träumt, bevor man es lebt, und nichts ist so traurig, wie von seinen Träumen enttäuscht zu werden.“52 Ruth Harris vergleicht die Milde, die das Gericht den „Verbrecherinnen aus Leidenschaft“ entgegenbrachte, mit jener, die Kindsmörderinnen seit der Aufklärung erfuhren. Die Verletzung ihrer „Geschlechtsehre“ stand im Vordergrund. Hinzu kam aber nun am Ende des 19. Jahrhunderts, so Harris, der Aufstieg des Feminismus, der die Geschlechterbeziehungen zu verändern schien und der die Zeitgenossen verunsicherte.53 Vor allem aber, so wäre zu ergänzen, bewirkte eine Interpretation von Leidenschaft, die Destruktivität und Verbrechen als ihr inhärent verstand, ein bedrohliches Szenario, in dem die Geschlechterbeziehungen in einem grellen Schlaglicht standen. Dieses Szenario lässt sich auch an anderen Stellen orten. Jürgen Wertheimer hat herausgearbeitet, wie um die Mitte des 19. Jahrhunderts die literarische Figur des Don Juan jener des Ritters Blaubart Platz machte, die mit neuem und spezifischem Leben erfüllt wurde. Er tötet seine Ehefrauen. „Wo Don Juan verzweifelt endet, beginnt Blaubart, beim systematischen, kalkulierten Mord an seiner Frau […] – die Ehe als Fleischwolf, durch den die Gemahlinnen gedreht werden.“54 Der Verführer macht dem Beherrscher Platz. „Die Ikonographie Blaubarts zeigt von Beginn an die Insignien der Macht und der Dominanz.“55 Wertheimer verweist auf zahlreiche Autoren der Moderne, wie Joris-Karl Huysmans und Béla Balaz, den Librettisten von Béla Bartóks Oper „Herzog Blaubarts Burg“ (1918), die das Thema aufgegriffen haben, das auch im 20. Jahrhundert nicht an Attraktivität verlor.56 Mit ihm wurde Gewalt im Ehemann und in der Ehe verortet. Für die Ehefrauen gab es keine Möglichkeit, dieser Gewalt zu entrinnen. Die Ehekritik bzw. die – allerdings oft ambi52 Le Procès de Madame Lafarge, Paris 1840, zit. nach Lisa Lieberman, Crimes of Reason, Crimes of Passion: Suicide and the Adulterous Woman in Nineteenth-Century France, in: Journal of Family History 24, 2 (1999), 131–147, 136. 53 Harris, Murders and Madness, 239–242. 54 Jürgen Wertheimer, Don Juan und Blaubart. Erotische Serientäter in der Literatur, München 1999, 12f. 55 Wertheimer, Don Juan, 90. 56 Wertheimer, Don Juan, 13.

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valente – Kritik des gewalttätigen Ehemannes erfuhr hier eine Radikalisierung. Im 20. Jahrhundert griffen feministische Schriftstellerinnen wie Ingeborg Bachmann dieses Thema auf, indem sie auch die psychische Gewalt darstellen, die Blaubart anwendet, um seine Ehefrau zu töten.57 Wertheimer beantwortet seine Frage, „wie lange und auf welche Weise überlieferte Geschichten imstande sind, Erfahrungen und Probleme einer sehr viel späteren Kulturstufe tragfähig darzustellen“, damit, dass auf diese Weise „private Erfahrung an einer allgemeinen Struktur gespiegelt, gebrochen, mit ihr verglichen wird. Umgekehrt erfährt die von allem Individuellen ferngerückte Wirklichkeit des Märchens eine größere psychologische Eindringlichkeit.“58 Im Kontext der Diskurse von Ehekritik, Leidenschaften, Prostitution und Gewalt, die vom letzten Drittel des 19. Jahrhunderts bis in die Zwischenkriegszeit hinein geführt wurden, und zwar in zahlreichen Ländern wie Deutschland, Österreich, England und Frankreich, zeigt sich, dass diese Legende in einer Zeit aktuell wurde, als Ehe und Gewalt, aber auch Gewalt gegen Frauen große Themen darstellten. Die „Jack the Ripper“-Morde sind nicht nur ein Beispiel dafür, sondern sie lassen auch die Entstehung eines neuen Mythos verfolgen. Sie ereigneten sich in London im Jahre 1888, innerhalb von zehn Wochen, zwischen dem 31. August und dem 9. November in Whitechapel, einer armen Gegend mit einer großen Anzahl von Obdachlosen und ausländischen Migranten und Migrantinnen, darunter viele Juden, die vor den Pogromen in Osteuropa geflohen waren. Es war das „verfemte“ London, eine Stadt, deren Einwohnerschaft von 1,1 Millionen im Jahr 1800 auf 7,3 Millionen im Jahr 1910 angewachsen war, wie auch andere Städte in dieser Zeit: Berlin von 172.000 auf 2 Millionen, Wien von 247.000 auf dieselbe Zahl, St. Petersburg von 200.000 auf 1,5 Millionen. In den Städten spitzten sich die Klassengegensätze zu, wobei die Sorge der Londoner Mittelschicht mehr der Straßenkriminalität und Prostitution galt als den sozialen Problemen selbst, wie Judith Walkowitz ausführt.59 Jack the Ripper ermordete mit großer Brutalität fünf Frauen aus der Londoner Unterschicht, die teilweise als Prostituierte arbeiteten, um ein Bett für die Nacht bezahlen zu können. Er wurde nie gefasst, umso mehr wurde über ihn geschrieben, so viel und so dicht, dass die Erzählung über ihn „zum modernen Mythos männlicher Gewalt gegen Frauen“ werden sollte.60 Die Boulevardpres57 58 59 60

Ingeborg Bachmann, Der Fall Franza, Requiem für Fanny Goldmann, München 1979. Wertheimer, Don Juan, 111f. Walkowitz, City of a Dreadful Delight, insbes. 26–39. Judith R. Walkowitz, Jack the Ripper and the Myth of Male Violence, in: Feminist Studies 8, 3 (1982), 543–574.

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se hatte Jack the Ripper als „Medienhelden“ aufgebaut, übertrieb den Terror männlicher Gewalt und griff dabei Bausteine der melodramatischen Moritat auf.61 Eine Folge der Ripper-Morde war, so Walkowitz, dass sie „Feindseligkeiten von Männern gegen Frauen“ sanktionierten und die männliche Autorität stärkten. „Sie erzeugten ein allgemeines Vokabular und eine allgemeine Art bildlicher Darstellungen von männlicher Gewalt gegen Frauen, die über alle Klassenschranken hinweg in der gesamten Gesellschaft verbreitet waren und die verschleierten, welche unterschiedlichen materiellen Bedingungen in der jeweiligen Gesellschaftsschicht zu sexuellen Tätlichkeiten führten.“62 Diese Folgen reichten über London und England hinaus, denn die Figur des „Jack the Ripper“ und sein Umfeld – Gewalt, Sexualität, Stadt, der Lustmord – übten eine Faszination auf Künstler aus. 1918 stellte sich George Grosz in einem Selbstporträt als Jack the Ripper dar, dreißig Jahre nach den historischen Morden und nach der Zäsur des Ersten Weltkrieges. Er griff den Mythos auf, vermutlich auch, weil er die Stadt als einen Ort der Degeneration sah: „und immer böse Menschen, entartete, / großhändig, mit Ballenfüßen“. In diesem bedrohlichen und hässlichen Raum der Großstadt hat der Lustmord seinen Platz: „Oder Kohlenkeller / Nachher findet einer mal ein blutiges / Stück Taft oder einen Wollstrumpf / Oder die Rechnung mit Handabdruck.“63 Grosz malte Lustmorde seit 1912/13. Die Forschung hat auf die biographische Bedeutung von Schauerromanen verwiesen, die Grosz in der Kindheit las, auf seine Auseinandersetzung mit sozialen Ängsten und mit der „Frauenfrage“ bzw. der Frauenbewegung. Von einer misogynen Antwort der Künstler und Intellektuellen wurde gesprochen. „Yet time and again, these murderers are constructed as sons seeking revenge against women – against mothers as agents of sexual prohibition or against women in general as icons of licentious sexuality.“64 Sie brachten darüber hinaus den Zusammenhang von Sexualität, Leidenschaft und Gewalt zum Ausdruck, der im urbanen Raum eine besondere Sichtbarkeit und Resonanz fand und ein Faszinosum darstellte. Otto Dix malte sich als Lustmörder.65 Neben der Gefährlichkeit der Großstädte wurde jene der Sexualität aufgezeigt. Lustmord, immer von Männern an Frauen be61 Walkowitz, Jack the Ripper, 546. 62 Walkowitz, City of a Dreadful Delight, 220. 63 George Grosz, Gedichte und Gesänge 1916–1917, Litomysl 1932, zit. nach Beth Irwin Lewis, Lustmord: Inside the Windows of the Metropolis, in: Charles W. Haxthausen u. Heidrun Suhr (Hg.), Berlin Culture and Metropolis, Minneapolis/Oxford 1991, 111–140, 112. 64 Maria Tatar, Lustmord. Sexual Murder in Weimar Germany, Princeton 1995, 7. 65 Otto Dix, Der Lustmörder (Selbstporträt), Radierung 1920 (Kupferstichkabinett, Staatliche Museen zu Berlin).

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gangen, ist in der Kunst des späten Wilhelminischen Reiches und der Weimarer Republik ein großes Thema. Im Zentrum steht die Prostituierte. 3.3 Die käufliche Liebe

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verdichtete sich die öffentliche Diskussion über Prostitution, an der eine wachsende Anzahl von Akteuren und Akteurinnen teilnahmen: Politiker und Publizisten, Mediziner und Kriminologen, Frauen aus der Frauenbewegung, Geistliche und Schriftsteller. In der Rede über Prostituierte wurden gesellschaftliche Ängste laut und Reformvorhaben entwickelt, die weit über die Lösung jener Probleme hinausgingen, die unmittelbar mit ihnen in einem Zusammenhang gesehen werden können. Reform der Prostitution konnte Verschiedenes bedeuten: in einem engen Sinne die Legalisierung der Prostitution, die in zahlreichen Ländern verboten war, oder die Aufhebung ihrer staatlichen Regulierung; in einem weiteren Sinne die ‚Lösung‘ der „sexuellen Frage“, die, als Teil der Emanzipation der Geschlechterbeziehungen aufgefasst, das Ende der käuflichen Liebe herbeiführen sollte. Vielen galt Prostitution als Chiffre für Ausbeutungsverhältnisse in der bürgerlichen Gesellschaft. Vor allem aber wurde sie als Gefahrenherd, als Produktionsstätte der Syphilis verstanden, die Sexualität, Geschlechterbeziehungen und die gesamte Gesellschaft ins Verderben zog. Umso mehr wurde Prostitution als Bedrohung wahrgenommen, als viele sie gleichzeitig als eine unvermeidbare und notwendige Institution erachteten. Schließlich gab Prostitution Gelegenheit, über den Zusammenhang von Geld und Liebe, über die Käuflichkeit von Liebe nachzudenken. Diese Gemengelage führte zur Vorstellung von ‚Degeneration‘ und Niedergang der Zivilisation als Signatur der Zeit. Warum ist gerade Prostitution das schwarze Faszinosum des 19. Jahrhunderts, das bald ein Thema internationaler Kooperationen wurde, obwohl die käufliche Liebe über eine so lange Geschichte verfügt? Die Prostituierte, die sexuelle Dienstleistungen und mit diesen oft psychologische Hilfestellungen an ihre männlichen Kunden verkaufte, war im 19. Jahrhundert weitgehend gesellschaftlich verfemt. Von der biblischen Gestalt der Maria Magdalena und ihrer Einbindung in die Heilsgeschichte sind nur die „Magdalenenheime“ übriggeblieben, die die Prostituierten resozialisieren wollten. Die Gründe für diese Ächtung sind vielfältig und sie sind als Teil der Geschlechterordnung, der Vorstellungen von Liebe und Leidenschaft sowie der Syphilisängste zu sehen. Die Käuflichkeit der Liebe, der Tausch einer sexuellen Dienstleistung mit Geld und die Herstellung einer Ware Sexualität auf einem von Angebot und Nachfrage bestimmten Liebesmarkt waren zentra-

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le Argumente gegen die Prostitution. Das die Prostituierte herabwürdigende Moment bestünde darin, so der deutsche Soziologe Georg Simmel im Jahr 1900, dass „hier die völligste und peinlichste Unangemessenheit zwischen Leistung und Gegenleistung“ herrsche „oder vielmehr“, fährt er fort, „das eben ist die Erniedrigung durch die Prostitution, daß sie den persönlichsten und auf die größte Reserve angewiesenen Besitz der Frau so herabsetzt, daß der allerneutralste, allem Persönlichen fernste Wert als angemessenes Äquivalent für ihn empfunden wird“.66 Sexualität dürfe daher vor allem bei Frauen nicht mit Geld aufgewogen werden, denn „der Einsatz der Frau [ist] ein unendlich persönlicherer, wesentlicherer, das Ich umfassenderer [...] als der des Mannes und [...] das Geldäquivalent dafür also das denkbar Ungeeignetste und Unangemessenste [...], dessen Geben und Annehmen die tiefste Herabdrückung der Persönlichkeit der Frau bedeutet“.67 Allerdings, schränkt Simmel ein, kann das „Unangemessene“ des Einsatzes durch eine Veränderung des Preises zumindest minimiert werden, indem es „durch seine exorbitante Höhe dem Verkaufsobjekte die Herabdrückung erspart, die ihm sonst die Tatsache des Verkauftwerdens überhaupt bereitet“.68 Simmel argumentiert mit der Unvereinbarkeit von Liebe und Geld für Frauen, die er demnach als Geschlechterproblem versteht und nicht als ein allgemein menschliches Problem. Die Wirkung des Geldes kann diese Unvereinbarkeit jedoch verringern, denn mit der Höhe des Entgelts erhöht sich der soziale Status. Dieser hängt damit von jenem ab, den Simmel ausgeklammert hat, vom Kunden. Karl Marx hat ihn, den Kunden, als Ausbeuter, vergleichbar dem Kapitalisten gesehen, denn: „Die Prostitution“ sei „nur ein besonderer Ausdruck der allgemeinen Prostitution des Arbeiters, und da die Prostitution ein Verhältnis ist, worin nicht nur die Prostituierte, sondern auch der Prostituierende fällt – dessen Niedertracht auch größer ist –, so fällt auch der Kapitalist etc. in diese Kategorie.“69 Beide, Arbeiter und Prostituierte, befinden sich demnach in einem Ausbeutungsverhältnis, an dessen anderem Ende der Kapitalist steht. Carole Pateman hat Karl Marx 1988 vorgeworfen, die spezifischen Elemente des Sexualvertrages übersehen zu haben, der dem „Prostitutionsvertrag“ zugrundeliege. Der Arbeiter, so Pateman, schließe immer einen Vertrag mit ­einem Kapitalisten, nicht jedoch die Prostituierte, und oft sei der Kunde ein 66 Georg Simmel, Philosophie des Geldes, Gesamtausgabe, hg. von David P. Frisby, Bd. 6, Frankfurt a. M. 1989, 515. 67 Simmel, Philosophie des Geldes, 517f. 68 Simmel, Philosophie des Geldes, 525. 69 Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte, Zitat aus: Privateigentum und Kommunismus, 538.

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Arbeiter. Auch gelte das primäre Interesse des Unternehmers dem Profit, der den Einsatz von Maschinen und Rationalisierungsmaßnahmen mit sich führen könne. Für die Prostituierte gelte dies nicht, denn hier sei nur relevant, dass der Käufer einseitige Rechte auf den direkten sexuellen Gebrauch des Körpers der Frauen besitze. Pateman sieht die Prostitution als dramatischstes Beispiel „patriarchaler Rechte“.70 Die Metapher, die die Prostitution für Marx darstellt, mag ihre Schwächen haben, sie hat jedoch auch wesentliche Stärken: Sie erfasst Prostitution als Arbeit und geht daher gar nicht darauf ein, dass es sich hier um käufliche Liebe handeln könnte. Hat Marx den Warencharakter der Prostitution herausgearbeitet, so haben andere sie als Ausdruck der sexuellen Probleme ihrer Zeit verstanden: als eine Folge von Ehen, die nicht aus Liebe geschlossen wurden, die aber in der Logik der bürgerlichen Gesellschaft lagen. Diese komme ohne Prostitution nicht aus. „Die Prostitution wird also zu einer notwendigen sozialen Institution für die bürgerliche Gesellschaft, ebenso wie stehendes Heer, Kirche, Unternehmerschaft“, so der deutsche Sozialdemokrat August Bebel.71 Iwan Bloch, einer der Gründer der Sexualwissenschaften, sah ebenfalls einen Zusammenhang zwischen der (Zwangs-)Ehe als einzig legitimem Ort der Sexualität und der Prostitution. Darüber hinaus aber verstand er Prostitution und die mit ihr verbundenen Geschlechtskrankheiten als „den Kern, das Zentralproblem der sexuellen Frage“,72 „ohne dessen Lösung eine Reform, Veredelung und Vervollkommnung des Liebeslebens unserer Zeit unmöglich“ sei.73 Die Lösung ortete er in der „freien Liebe“, nämlich in einer Partnerschaft, die auf inniger Liebe und freier beidseitiger Entscheidung beruht.74 Diesen Prozess erachtete er als „Menschwerdung der Dirne“, als Selbstauslöschung der Prostitution und als Befreiung von den Geschlechtskrankheiten75 – was durch die jahrhundertelange Entwicklung der Liebe möglich würde, denn „die Liebe des Kulturmenschen der Gegenwart ist ein Auszug, eine abgekürzte, gedrängte Wiederholung des ganzen Entwicklungsganges der Liebe von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart. Und die allgemeine Richtung dieser Entwicklung kehrt auch in der Liebe des Individuums wieder. Diese Richtung geht [...] vom Allgemeinen zum Individuellen, vom Jenseits zum Diesseits.“76 Der Sieg individualisierter Geschlechterliebe würde Prostitution überflüssig machen. Obwohl Bloch 70 71 72 73 74 75 76

Carole Pateman, The Sexual Contract, Cambridge 1988, 204. August Bebel, Die Frau und der Sozialismus, Berlin 1976 [1879], 207f. Bloch, Das Sexualleben, 342. Bloch, Das Sexualleben, IV. Bloch, Das Sexualleben, 313. Bloch, Das Sexualleben, 452f, Zitat: 453. Bloch, Das Sexualleben, 104.

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die Wiederaufnahme der Prostituierten in die Gesellschaft als ideale Entwicklung anstrebte, bezeichnete er die Prostitution dennoch als „ein fressendes Geschwür am Körper der Gesellschaft“.77 Die Prostitution fand kräftige Befürworter in einer Gesellschaft, die sie gleichermaßen verdammte. Die Befürworter wurden nicht müde, auf die Prostitution als eine notwendige soziale Einrichtung zu verweisen, die dem Faktum Rechnung trage, dass der sexuelle Instinkt von Männern befriedigt werden müsse. Sexuelle Abstinenz sei – für Männer – schädlich, so die Argumentation, wenn dies unter den Wissenschaftlern auch ein strittiger Punkt war. Prostitution sei daher das geringere Übel, denn sie verhindere Vergewaltigungen und Ehebruch, sie sei ein „Bollwerk für das Heim“, ein „Schutzschild für die Familie“ und eine „Hüterin der jungfräulichen Keuschheit“, so der englische Sexualwissenschaftler Henry Havelock Ellis.78 Diese Sichtweise richtete es sich bequem neben einer Definition der Prostitution ein, die diese als „Selbstaufgabe von Frauen aufgrund von Lohn oder Laster“ bezeichnete.79 Es war der Körper der Prostituierten, der kontrolliert werden musste, um die Symbiose von Akzeptanz und Unterdrückung aufrechterhalten zu können. Dies garantierte – zunächst – das „französische System“,80 das in der Französischen Revolution entwickelt wurde und einen Großteil der europäischen Staaten beeindrucken sollte. Dies führte in vielen europäischen Ländern zu einer (zentral-)staatlichen Regulierung bzw., wie es sich auch formulieren lässt, zu einer Bewirtschaftung der Prostitution. Das System beruhte auf Bordellen, „maisons de tolérance“ genannt, und der Zwangsregistrierung von Prostituierten. Der Begriff „Haus der Toleranz“ erfasst die dominante Sichtweise der Prostitution. Sie wurde geduldet. In manchen Ländern, wie der Habsburgermonarchie, war sie strafrechtlich verboten, aber durch Hintertüren ließ sich das ebenso große Anliegen wie jenes des Verbots, nämlich sie praktizieren zu können, durchsetzen. So machte das Strafgesetz in der Habsburgermonarchie Prostitution zu einem Polizeivergehen, dessen Verfolgung der Ortspolizei überlassen war. Diese konnte das „Unzuchtsgewerbe“ dulden und die zwangsregistrierte Prostituierte zu medizinischen Untersuchungen zwingen. Diese Doppelmoral, die die 77 Bloch, Das Sexualleben, 342. 78 Henry Havelock Ellis, Geschlecht und Gesellschaft. Grundzüge der Soziologie des Geschlechtslebens, Bd. 2, Würzburg 1911, 51f, zit. nach Sybille Krafft, Zucht und Unzucht. Prostitution und Sittenpolizei im München der Jahrhundertwende, München 1996, 130. 79 Quintilio Mirti della Valle, Art. „Prostituzione“, in: Il Digesto Italiano. Enciclopedia me­ todica e alfabetica di legislazione, dottrina e giurisprudenza, diretta da Luigi Lucchini, Bd. 19, Torino 1925, 827–851, 827. 80 Yvonne Svanström, Policing Public Women. The Regulation of Prostitution in Stockholm 1812–1880, Stockholm 2000, Kap. 4.

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Gegner einer staatlichen oder kommunalen Organisation der Prostitution anprangerten, gab der Exekutive ein Rechtsinstrumentarium in die Hand, das die Prostituierte in die staatliche Abhängigkeit brachte. Die Bordelle waren ein ‚idealer‘ Ort, um polizeiliche Kontrolle auszuüben. Die „Bordellmutter“, die „Madame“, registrierte die Prostituierten und ermöglichte die regelmäßigen Zwangsuntersuchungen. Alain Corbin bezeichnete sie als „Agentin der Regierung“.81 Die staatliche Regulierung der Prostitution wurde jedoch gegen Ende des 19. und im Verlauf des 20. Jahrhunderts wieder aufgehoben: 1877 in Belgien, 1912 in Frankreich, 1958 in Italien. Damit war aber noch nicht das Ende der staatlichen Verwaltung von Sexualität gekommen, denn während des Ersten und Zweiten Weltkrieges haben die Militärverwaltungen, die sich für die sexuelle Befriedigung der Soldaten zuständig sahen, sie wieder eingerichtet. In Großbritannien war der kommerzielle Sex nicht verboten, und die Zwangsregistrierung nicht verpflichtend. Das änderte sich zuerst in den Kolonien: Im Jahr 1857 wurden in Hongkong Zwangsuntersuchungen für Prostituierte eingeführt. Es folgten Malta und Korfu. Eine zunächst nationale, dann aber internationale Bewegung gegen die Zwangsuntersuchungen entstand erst 1864 im Gefolge der „Contagious Diseases Acts“, die Zwangsuntersuchungen für Prostituierte in britischen Garnisonstädten vorschrieben und eine Erweiterung dieser Maßnahme im Verlauf der 1860er Jahre nach sich zogen. Die große Anregerin des Kampfes gegen die Zwangsuntersuchungen von Prostituierten war Josephine Butler, die sich über die Ungleichbehandlung empörte, die allein Frauen dem Zwang aussetzte und die Kunden verschonte. Von „medizinischer Vergewaltigung“ wurde gesprochen und von der Degradierung von Frauen zu Sklavinnen – „that man in this nineteenth century has made woman his degraded slave“, schrieb Butler an einen Freund.82 Die leidenschaftlichen medial ausgetragenen Diskussionen gaben Gelegenheit zu griffigen und polemischen Formulierungen, wie zu Christabel Pankhursts Forderung „Votes for Women and Chastity for Men“.83 Die Gefahr wurde in der männlichen Sexualität gesehen, und der Keuschheitsappell der bekannten Suffragette hatte nicht nur rhetorische Bedeutung. Sicherlich, die englischen Feministinnen vertraten einen „social purity approach“, wie ihn Peter Baldwin bezeichnete,84 aber die Auswirkungen be81

Alain Corbin, Les filles de Noce. Misère sexuelle et prostitution (19e et 20e siècles), Paris 1978, 27. 82 Josephine Butler an Mr. Stansfeld, Dezember 1874, in: Josephine E. Butler, An Autobiographical Memoir, hg. von George W. u. Lucy A. Johnson, Bristol 1928, 133. 83 Christabel Pankhurst, The Great Scourge and How to End It, London 1913, VII. 84 Peter Baldwin, Contagion and the State in Europe, 1830–1930, Cambridge 1999, 394, 397f, 501.

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schränkten sich nicht darauf. Sie erreichten, dass 1883 die Zwangsuntersuchungen in England aufgehoben wurden und sensibilisierten Frauen in vielen europäischen Ländern, es ihnen gleich zu tun. Sie waren damit nicht zuletzt deshalb erfolgreich, weil Reglementierung, Registrierung und Zwangsuntersuchungen von Prostituierten jede Frau verdächtig machen konnten, eine Geheimprostituierte zu sein. In den englischen Kolonien hat die Aufhebung der „Contagious Diseases Acts“ länger auf sich warten lassen, denn „the spectre of black infection, and the prospect of its transference to a white population, were effective political tools“.85 Die britische Kolonialverwaltung sah Syphilis als „racial poison“.86 Die Auseinandersetzungen um die „Contagious Dis­eases Acts“ bzw. generell um die Zwangsuntersuchungen von Prostituierten, die nicht nur europaweit, sondern über die Aktivitäten der Feministinnen und durch die Maßnahmen in den Kolonien weltweit geführt wurden, verweisen auf den Zusammenhang von Sexualität und Politik. Allerdings konnten der Staat und die Gemeinden nicht unangefochten regulierende Maßnahmen setzen. Dazu war das Interesse anderer gesellschaftlicher Gruppen zu groß, wie in diesem Fall jenes der Frauenbewegungen. Die schwächste Stimme hatten die Betroffenen selbst, die Prostituierten. Im Kampf gegen die Syphilis, die zu einer Pandemie geworden war – 10 bis 12 % der männlichen Bevölkerung in europäischen Großstädten war von ihr erfasst87 –, haben die europäischen Staaten zu unterschiedlichen Mitteln gegriffen. In Skandinavien waren die Zwangsuntersuchungen schon sehr früh nicht auf Prostituierte beschränkt worden. Nach einer Verordnung aus dem Jahre 1812 wurden in Schweden auch Kellnerinnen, Soldaten, Hebammen, Glasbläser, Tagelöhner und Vazierende speziell auf die Ansteckung durch Syphilis untersucht.88 Dieser schwedische „Sonderweg“ ist nach Yvonne Svanström darauf zurückzuführen, dass Prostitution in Schweden bis 1870 kein Thema gewesen ist und dass außerehelicher Sex sehr streng bestraft wurde, wodurch all jene ins Visier des staatlichen Auges gerieten, die der Promiskuität verdächtigt wurden. Ebenfalls in Betracht zu ziehen ist die große Verbreitung der Syphilis bereits im 18. Jahrhundert, vor allem auch im ruralen Raum. Nach 1918 waren in Schweden alle Personen, die glaubten, geschlechtskrank zu sein, zu ärztlicher 85 Philippa Levine, Public Health, Venereal Disease and Colonial Medicine in the Later Nine­teenth Century, in: Roger Davidson u. Lesley A. Hall (Hg.), Sex, Sin and Suffering. Venereal Disease and European Society Since 1870, London 2001, 160–172, 165. 86 Philippa Levine, Prostitution, Race, and Politics. Policing Venereal Disease in the British Empire, New York/London 2003, 4, 195. 87 Vgl. Baldwin, Contagion, 425. 88 Vgl. Anna Lundberg, Passing the „Black Judgement“. Swedish Social Policy on Venereal Disease in the Early Twentieth Century, in: Davidson/Hall, Sex, Sin, 29–43.

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Pflege verpflichtet, die kostenlos war. Die Ärzte hatten Meldepflicht. Ähnliche Entwicklungen gab es in den anderen skandinavischen Ländern.89 Der „Sonderweg“ Skandinaviens bestand darin, dass die Bekämpfung der Syphilis nicht nur bei den Prostituierten ansetzte. Dadurch wurden diese nicht als Zentrum der Geschlechtskrankheiten angesehen, sondern die Gesundheitskontrollen umfassten die gesamte Bevölkerung. Der Grund für den „Sonderweg“ hängt mehr mit einem generellen Kampf gegen Promiskuität zusammen als mit einer neuen Interpretation eines Zentrums des Geschlechtsverkehrs. Dennoch bleibt der Abstand zu anderen Ländern groß. Im Zustand der Krankheit wurde in Deutschland während des Ersten Weltkrieges Geschlechtsverkehr zunächst nur bei Prostituierten bestraft, zu Kriegsende bei Männern und allen Frauen. In Frankreich wurde diese Erweiterung erst 1960 durchgeführt.90 Die Theorie von der Erblichkeit der Syphilis, die zwischen 1860 und 1885 entwickelt wurde, verstärkte das Gefühl vom Elend der Sexualität. Vor allem Männer sind als Opfer einer Geschlechterordnung angesehen worden, die ihnen aus ökonomischen und sozialen Gründen eine späte Heirat auferlegte. Die Literatur griff diese Lebensentwürfe mit ihren Krankheitsfolgen auf und verbreitete ein Wissen über den Verlauf der Syphilis. Es waren Männer, die von Geisteskrankheit erfasst wurden oder gezwungen waren, Selbstmord zu begehen, wie in den um 1900 erschienenen Romanen André Couvreurs „Les Mancenilles“ und Michel Cordays „Vénus ou Les deux risques“.91 Darin treten die Kunden der Prostituierten und der Frauen des demie-monde auf und bekommen das Gesicht des Opfers. Hier schließt sich der Kreis, und es ist neuerlich die Prostituierte, die die Krankheitsüberträgerin ist, auch wenn das Thema in einem breiteren sozialen Kontext diskutiert wird. Täterin ist auch die geldgierige Verführerin, die wie Nana Männer in den Ruin treibt.92 Émile Zola hat zwanzig Jahre nach dem Erscheinen seines Romans dessen Intention zusammengefasst: „Ich hatte den zweifellos zu großen Ehrgeiz, eine Dirne hinzustellen, die erstbeste, wie es ihrer ein paar tausend in Paris gibt, und damit wollte ich gegen die vielen Marion Delormes, gegen die Kameliendamen, die Marcos und die Musetten protestieren, gegen dieses ornamentale Geschlinge des Lasters, von dem ich glaube, daß es für die Sitten gefährlich ist und einen unheilvollen Einfluß auf die Vorstellungswelt unserer Mädchen ausübt.“93 Es 89 Svanström, Policing Public Women, 95–117, 124–135. 90 Vgl. Baldwin, Contagion, 433f. 91 André Couvreur, Les dangers sociaux. Les Mancenilles, Paris 1900; Michel Corday, Vénus ou Les deux risques, Paris 1901. 92 Émile Zola, Nana, Paris 1880. 93 Émile Zola, Le Voltaire (28. Oktober 1899), zit. nach Werner Hofmann, Nana. Eine Skandalfigur zwischen Mythos und Wirklichkeit, Köln 1999, 43.

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sind unschuldige Männer, die durch Prostituierte verführt werden. Nicht der Kunde sucht die Prostituierte, sondern diese ihn. Wie sehr das Wissen um Geschlechtserkrankungen das Leben der Eltern und Kinder beeindrucken und beeinflussen konnte, zeigt sich in Freuds Darstellung im „Fall Dora“. Dora, die sich 1899 in Freuds Behandlung befand, war von der Angst erfüllt, dass die Geschlechtskrankheit ihres Vaters an ihrer psychischen Erkrankung schuld sei. „Der Vater war also durch leichtsinnigen Lebenswandel krank geworden, und sie nahm an, daß er ihr das Kranksein erblich übertragen habe. Ich hütete mich“, schrieb Freud weiter, „ihr zu sagen, daß ich [...] gleichfalls die Ansicht vertrete, die Nachkommenschaft Luetischer sei zu schweren Neuropsychosen ganz besonders prädisponiert.“94 Damit schloss sich erneut ein Kreis: zwischen außerehelicher Sexualität, Syphilis und Erkrankung der Nachkommenschaft. Kondome, seit dem 17. Jahrhundert in Gebrauch, verhinderten die Übertragung der Krankheit, was zumindest Ende des 19. Jahrhunderts bekannt war. Ein weitreichendes Experimentieren mit diesen technischen Möglichkeiten wurde jedoch vermieden. Das kann nicht nur mit dem päpstlichen Breve von 1826 zu tun haben, das Kondome verbot. Vielmehr durften bis an die Schwelle des 20. Jahrhunderts in großen Teilen Europas empfängnisverhütende Mittel nicht verkauft und beworben werden. Erst danach änderte sich die staatliche Politik. Dennoch wurden diese Präventivmaßnahmen nicht breit genutzt. Sie galten als „unzüchtige Mittel“, die die Libertinage beförderten. Zumindest englische Feministinnen sahen mit ihnen auch die letzte Barriere gegen die unkontrollierte Lust der Männer fallen. Allerdings hatten offensichtlich auch Männer ihre Vorbehalte. Eine Französin berichtete 1902 davon, dass ihr Mann sie fast getötet habe, als sie die „Natur betrügen wollte“.95 Hier handelte es sich zwar um ehelichen Sex, aber es zeigt sich dennoch eine spezifische Auffassung von „Natur“. Der zögerliche Gebrauch von Kondomen war ein gesellschaftliches Phänomen. Das mag auch ein Grund dafür gewesen sein, warum Prostituierte nicht auf der Verwendung von Kondomen insistierten oder insistieren konnten, wenn sie auch die Kenntnis besaßen. Diagnostizierbar und heilbar wurde Syphilis erst im Verlauf des frühen 20. Jahrhunderts. Die Geschlechtskrankheiten und das öffentliche Interesse an Sexualität drängten die primären Ursachen der Prostitution und des Mädchenhandels in den Hintergrund: die Armut von Frauen bzw. ihrer Familien sowie loka94 Sigmund Freud, Bruchstück einer Hysterie-Analyse, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 5, London 1942, 161–286, 237. 95 Zit. nach Angus McLaren, Sexuality and Social Order. The Debate over Fertility of Wom­en and Workers in France, 1770–1920, New York 1983, 133.

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le, regionale, nationale und globale Ungleichheiten. Prostitution war im 19. Jahrhundert als „Mädchenhandel“ oder „white slave trade“, als „slavery not for labour but for lust“96 ein internationales Phänomen geworden, das internationaler Organisationen bedurfte, um es zu bekämpfen. Aus Galizien, einem der ärmsten Teile der Habsburgermonarchie, sollen jährlich etwa 1.000 Mädchen, größtenteils aus den jüdischen Stetl, außer Landes und meistens nach Argentinien, aber auch nach Ägypten und Indien gebracht worden sein. „Sie führen sie nun auch sicher nach Montevideo und Buenos Aires in Trupps von 15–30, wo sie dann sofort bei ihrer Ankunft ohne weitere Bescheid und ohne ihre Zustimmung an die Besitzer der prachtvollen öffentlichen Freudenhäuser und zu fabelhaften Preisen verkauft werden [...], ohne Kenntnis der spanischen Landessprache gleich Sklavinnen hinter einer sicheren eisernen Pforte [...] eingesperrt, einer grausamen Behandlung von Seiten der Eigentümer ausgesetzt, gehen die nun in prächtigen seidenen und samtenen Gewändern eingekleideten armen unglücklichen und der elenden Prostitution geopferten jungen kaum aus dem Kindesalter entgangenen anmutigen Sklavinnen moralisch und psychisch zugrunde.“97 Nach einigen Monaten wurden sie in andere Städte weiterverkauft. Sie konnten die Bordelle nicht verlassen, waren Zwangsarbeiterinnen. Manche ihrer verzweifelten Briefe fielen in die Hände der Polizei. Die Suche der Eltern nach den minderjährigen Töchtern blieb meistens erfolglos. Der „Jüdische Frauenbund“ in Deutschland, vor allem Bertha Pappenheim, hat den Mädchenhandel, der jüdische Mädchen und jüdische Mädchenhändler betraf, jahrzehntelang bekämpft. Die größten Importeure waren die Länder Lateinamerikas, wobei auch viele Französinnen, Italienerinnen, Deutsche und Spanierinnen in lateinamerikanische Bordelle verbracht wurden. Die Prostituierten folgten den großen Migrationswellen, den Kolonialherren bzw. den Kriegen. Der Handel erstreckte sich auch auf den Orient. 75 % der Mädchen, die nach Ägypten verschifft wurden, kamen aus der österreichisch-ungarischen Monarchie. Häufig waren sie zuvor in Harems am Bosporus. In Alexandrien wurden Frauen für die Bordelle in Bombay oder die großen chinesischen Häfen gekauft. In Ägypten war der Mädchenhandel nicht verboten. Aber auch dort, wo er verboten war, wie in den europäischen Staaten, gelang es nicht, die Händler der „weißen Sklavinnen“ zu überführen. Der Mädchenhandel wur96 Alfred S. Dyer, The European Slave Trade in English Girls: A Narrative of Facts, London 1880, 6, zit. nach Levine, Prostitution, 245. 97 Konsularbericht aus Buenos Aires, 1876, zit. nach Anna Staudacher, Die Aktion „Girondo“. Zur Geschichte des internationalen Mädchenhandels in Österreich-Ungarn um 1885, in: Dienst/Saurer, „Das Weib existiert nicht für sich“, 97–138, 100.

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de international bekämpft, zahlreiche Organisationen wurden seit den 1870er Jahren zu diesem Zweck gegründet: „L’Union internationale des amies de la jeune fille“, die „National Vigilance Association“, das „Œuvre catholique internationale de la protection de la jeune fille“, die „Jewish association for the protection of girls and women“ und 1901 die „Association pour la Répression de la Traite des blanches et la Préservation de la Jeune Fille“. Die Öffentlichkeit war informiert, aber die Erfolge bescheiden, denn rechtlich konnte nur gegen den Handel mit Minderjährigen eingeschritten werden. Der Mädchenhandel erreichte auch die britischen Kolonien, obwohl die europäischen Prostituierten hier nur eine kleine Minderheit darstellten. In Kalkutta waren es im Jahr 1911 etwa 15.000 Frauen, die ihr Leben durch Prostitution verdienten, darunter 63 Europäerinnen, 28 Jüdinnen – vermutlich ebenso Europäerinnen, die, wie Philippa Levine darstellt, auch in den Kolonien Diskriminierung ausgesetzt waren – und 80 Japanerinnen. Die Europäerinnen genossen Privilegien wie jenes, die Zwangsuntersuchungen durch Ärzte ihrer Wahl vornehmen lassen zu können.98 Die Kolonialbeamten vertraten generell die Auffassung, dass Prostitution in den Kolonien nicht stigmatisiert sei, was sie als ein Zeichen geringerer zivilisatorischer Entwicklung erachteten. Umso mehr wollten sie den käuflichen Sex unter Kontrolle halten, um ein Scheitern der Kolonialherrschaft zu verhindern, wie sie meinten: „for the failure to exercise control over native sexuality would threaten the success of colonial rule“.99 Das Problem war die ‚Rassenmischung‘; zumindest sollte die europäische Klientel von der einheimischen getrennt werden. In Hongkong, so Levine, hatten die Europäer ‚ihr‘ Bordell im East End, die Chinesen ihres im West End. Nicht immer jedoch waren die Kunden auf diese Weise voneinander zu segregieren, und das Gewaltpotential, das dann entstand, beunruhigte die Kolonialherren.100 Die Sorge galt auch sexuellen Freizügigkeiten kolonialer Gesellschaften und ihren Auswirkungen auf britische Soldaten. Aus diesem Grund gab die Kolonialverwaltung die Zwangsregistrierungen und Zwangsuntersuchungen von Prostituierten nur mit Mühe ab, wenn sie es je wirklich tat. Die Prostitution in den (britischen) Kolonien bot Anlass, sich über Sexualitäten politisch zu verständigen, und diese Verständigung zeigt, wie groß der politische und gesellschaftliche Stellenwert von Sexualität insbesondere unter kolonialen Bedingungen war, auch wenn das Wissen darum nur selten an die Öffentlichkeit gelangte. 98 Levine, Prostitution, 231, 243. 99 Levine, Prostitution, 325. 100 Levine, Prostitution, 205.

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Ein „goldenes Zeitalter“ sieht Alain Corbin für die (französische) Prostitution in den Jahren 1871 bis 1914,101 eine Zeit des Wirtschafts- und des Städtewachstums und des schnellen Reichtums. Die ‚große‘ Zeit der Bordelle waren die 1860er und 1870er Jahre. Die Frauen, die dort arbeiteten, wurden ihres Vornamens als Bestandteil ihrer Identität enteignet. Verordnet wurde ihnen der Verlust ihres Namens und die Übernahme eines Pseudonyms. In Frankreich waren Carmen und Mignon am beliebtesten; verbreitet waren auch Diminutive wie Violette und Yvette. Der Prozess der Enteignung des alten Ich sollte die Herstellung einer neuen Identität bewirken. „Stigma“ nannte der amerikanische Soziologe Erving Goffman diese Form der Enteignung.102 Der Kunde kauft nicht die sexuellen Dienste einer Frau mit einer spezifischen Geschichte, die mit ihrem Namen identifizierbar ist, sondern einer der zahlreichen Mignons. Die Bordellwirtin versuchte, die Mädchen zu verschulden, was nicht schwer war, denn sie erhielten selten Ausgang und mussten alles Nötige bei ihr kaufen. Die Pässe und Ausweise der Frauen befanden sich bei ihr. Ein Verlassen des Bordells gegen ihren Willen war daher nur schwer möglich. Aus der Warte der Kunden sah vieles anders aus, denn sie kamen des Vergnügens wegen in die Bordelle, auch wenn deren Ausstattung, je nach Vermögen der Kunden, sehr unterschiedlich war – „it was all a question of income, appetites, and erotic hab­its“, meint Peter Gay und zitiert die Eindrücke, die das mittelklassige Bordell Tellier in Paris auf Guy de Maupassant machte, die unter dem Begriff „cozy domesticity“ zusammenzufassen sind.103 Allerdings verdeckt dieser Eindruck den Umstand, dass Frauen in Bordelle kamen, um sich ihren Lebens­ unterhalt zu verdienen. Die Bordelle machten einen Wechsel zwischen verschiedenen Formen der Erwerbsarbeit unmöglich, wie er in England bis in die 1860er Jahre üblich war. Eric Trudgill zeigt auf, dass Prostitution eine von den Unterschichten akzeptierte Form der Erwerbsmöglichkeit war. „In the hopeless squalor at the base of the social pyramid, prostitution was an accepted occupation that rarely attached any shame to its practitioners.“104 Prostitution stellte eine Alternative 101 Corbin, Les filles, 311. 102 Erving Goffman, Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität, Frankfurt a. M. 1969; zum „Verlust des Namens“ vgl. auch ders., Asyle. Über die Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen, Frankfurt a. M. 1973, 29. 103 Peter Gay, The Bourgeois Experience. Victoria to Freud, Bd. 2: The Tender Passion, New York 1986, 354. 104 Eric Trudgill, Prostitution and Paterfamilias, in: H. J. Dyos u. Michael Wolff (Hg.), The Victorian City. Images and Realities, Bd. 2, London/Boston 1973, 693–705, 700, zit. nach Krafft, Zucht und Unzucht, 115.

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für ungelernte Arbeiterinnen, deren Verdienst meistens unter dem Existenz­ minimum lag, und für Arbeitslose dar. Das galt für unverheiratete, aber auch für verheiratete Frauen. Frauen kehrten in ihre ursprüngliche Erwerbsarbeit zurück, wenn sie dort wieder genügend Geld verdienen konnten. Das Switching zwischen den Berufen fand teilweise auch in der Zeit der Registrierung statt. Regina Schulte berichtet von einer Kartonagearbeiterin, die ihr Gesundheitsbuch dann zurückgab, wenn in der Branche die Hauptarbeitszeit begann und sie genügend verdienen konnte.105 Das Gesundheitsbuch und die Registrierung erschwerten jedoch den Umstieg. Der Kampf der Abolitionistinnen und Abolitionisten gegen die staatliche Verwaltung der Prostitution, wie sie primär in den Bordellen Ausdruck fand, hatte gegen Ende des 19. Jahrhunderts einen gewissen Erfolg. In vielen Ländern wurde diese Art geschlossener Einrichtung abgeschafft, und die Straßenprostitution gewann an Bedeutung. Sie wirbt mit Blicken, Gestik und Kleidung um Kunden. Die Polizei reagierte schnell. ‚Provozierendes‘ Gehen etwa wurde in Wien Ende des 19. Jahrhunderts mit Gefängnis von bis zu acht Tagen bestraft. Das ist die Zeit der Zuhälter. Der Zuhälter drängt Frauen zur Prostitution, partizipiert an ihrem Erwerb oder verfügt darüber und macht daraus seinen Erwerb und ist ihr Geliebter. „Er verkörpert“, so Regina Schulte, „nicht nur eine neue Variante des Ausbeutertums, sondern für die Prostituierte selbst auch einen Rest von Humanität“.106 Diese bestand in ihren eigenen Gefühlen dem Zuhälter gegenüber und in dem Schutz, den er ihr gab, der jedoch Gewalttätigkeit ihr gegenüber nicht ausschloss. Wie unterschiedlich das Gesicht der Prostitution war, zeigt ein britisches Beispiel: Die Frauen hatten oft Stammkunden in den Pubs. Vor allem in Häfen boten sie nicht nur sexuelle Dienste an, sondern auch soziale. Sie ließen Matrosen zu günstigen Preisen bei sich übernachten und hoben deren Geld auf. Auf diese Weise entstand eine spezifische Form von ‚Polyandrie‘, wie dies eine Prostituierte zum Ausdruck brachte „I know very many sailors – six, eight, ten, oh! more than that. They are my husbands. I am not married, of course not, but they think me their wife while they are on shore.“107 Im Unterschied zum Bordellsystem, aber auch zur Straßenprostitution, entstand hier eine Beziehung zwischen Prostituierter und Kunden, die über den Tausch sexueller Leistung gegen Geld hinausging. 105 Regina Schulte, Sperrbezirke. Tugendhaftigkeit und Prostitution in der bürgerlichen Welt, Frankfurt a. M. 1979, 99. 106 Schulte, Sperrbezirke, 39. 107 Zit. nach Judith R. Walkowitz, Prostitution and Victorian Society. Women, Class, and the State, Cambridge 1982, 29.

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Mit der Erweiterung der politischen Rechte für Frauen wurde die Verfemung der Prostituierten neuerlich sichtbar. In Belgien wurden Prostituierte 1920 vom kommunalen Wahlrecht ausgeschlossen, in Österreich 1918 vom nationalen Wahlrecht, und zwar mit der lapidaren Begründung, dass dies eine „notwendige und selbstverständliche Folge der Erweiterung des Wahlrechts auf die Frauen“ sei. Im Jahr 1923 wurde diese Bestimmung aufgehoben.108 Prostitution war das schwarze Faszinosum des 19. Jahrhunderts, an dem zentrale Probleme diskutiert wurden: außereheliche Sexualität, die Diskriminierung von Frauen, die Beziehungen zwischen den Geschlechtern, Geschlechtskrankheiten, Governance im Sinne des Umfangs von Staatsaufgaben, der internationale Mädchenhandel und in den Kolonien ‚Rassenprobleme‘. Prostitution stand für gefährliche Beziehungen, die an den gesellschaftlichen und staatlichen Grundfesten rüttelten. 3.4 Der Aufstieg der Sexualwissenschaften – Devianz und Norm

Die Wissenschaften hatten an der Formulierung der Probleme der Geschlechterbeziehungen und an Vorschlägen zu ihrer Lösung einen großen Anteil. Auf jeden Fall beanspruchten sie diesbezügliche Kompetenz. Das galt und gilt für die Sozialwissenschaften des frühen 19. Jahrhunderts, viel länger für die Medizin und die Rechtswissenschaften, die sich allerdings nicht direkt als Geschlechterdisziplinen verstanden. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts trat eine Wissenschaft hinzu, die sich ausschließlich mit einem Aspekt dieser Beziehungen auseinandersetzte, mit der Sexualität. Zunächst konzentrierten sich Ärzte und Psychiater auf deren gefährliche und gesundheitsschädliche Aspekte, auf die „Psychopathia sexualis“, die vor allem als das Werk des Psychiaters Richard von Krafft-Ebing bekannt wurde.109 Devianz wurde wissenschaftlich untersucht, und in der Folge Normalität wissenschaftlich formuliert. Die Sexualwissenschaft entwickelte sich vor allem durch Iwan Bloch – der den Begriff 1906 prägte – zu einer interdisziplinären Wissenschaft, die nicht nur Biologie und Medizin, sondern auch Geschichtswissenschaft und Anthropologie umfasste. Sie verstand sich ausdrücklich als für Sexualität und in einem weiteren, wenn auch nicht ausformulierten Sinn für Geschlecht in einem biologischen und sozialen Sinn zuständig. Sie lässt sich daher als die erste Wis108 Beilagen zu den Stenographischen Protokollen der Provisorischen Nationalversammlung für Deutsch-Österreich 1918 und 1919, Wien 1919, Nr. 77, 5, zit. nach Birgitta Bader-Zaar, Bürgerrechte und Geschlecht. Zur Frage der politischen Gleichberechtigung von Frauen in Österreich, 1848–1918, in: Gerhard, Frauen in der Geschichte des Rechts, 547–562, 562. 109 Richard von Krafft-Ebing, Psychopathia sexualis, Stuttgart 1912.

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senschaft bezeichnen, die sich ausschließlich den Fragen nach den Ausdrucksformen und der Bedeutung von Geschlecht widmete. Obwohl die Sexualwissenschaftler zahlreiche Werke verfassten, die das Sexualleben ganz allgemein erforschten, wurden ihre Forschungen von der Perspektive des ‚Devianten‘ geprägt; darunter fielen Homosexualität, auch „conträre Sexualempfindung“ genannt, Transsexualität, Sado-Masochismus, Auto-Erotismus u. a. Diese Forschungsergebnisse zementierten zwar das Bild von einem ‚normalen‘ sexuellen Verhalten, konnten aber nicht vermeiden, Sexualität als gefährliche Leidenschaft darzustellen – trotz aller Bemühungen, die die Sexualwissenschaftler als Sexualreformer setzten. „Es scheint“, schreibt Marcel Proust in einem ironischen Kommentar, „dass das Laster eine exakte Wissenschaft geworden ist.“110 Die Sexualwissenschaftler nahmen Einfluss auf das Strafrecht, waren als Gutachter in Gerichtsprozessen und als Sexualberater tätig. Über weite Strecken betrieben sie angewandte Wissenschaft. Harry Oosterhuis hat jene über 1.000 Schriftstücke analysiert, die Krafft-Ebing über seine Patienten angelegt hat und in denen autobiographisches Material enthalten ist, das dem Psychiater von den Betroffenen zugesendet worden war. Diese Texte machen deutlich, wie breit rezipiert die Arbeiten Krafft-Ebings, vor allem seine „Psychopathia sexualis“, waren und wie sehr sie das Selbstverständnis jener prägten, deren Sexualverhalten in dem Buch diskutiert wurde. Allerdings zeigt sich auch, dass die Männer, die an Krafft-Ebing Briefe adressierten, den Anspruch erhoben, ihre Sexualität und Gefühle selbst zu beschreiben, auch als Beitrag für wissenschaftliche Erkenntnisse. Im Juli 1900 erreichte Krafft-Ebing das Schreiben eines 21-Jährigen aus Russland, eines Homosexuellen, der sein Sexualleben systematisch genau darlegte und kommentierte. „Obgleich ich befürchten muss, möglicherweise durch mein Schreiben Ew. Hochwohlgeboren lästig zu fallen – sprechen Sie ja im Vorwort zu Ihrer ‚Psychopathia sexualis‘ von ‚Zahllosen Zuschriften solcher Stiefkinder der Natur‘ – unternehme ich es dennoch, mich vertrauensvoll an Sie zu wenden in der Hoffnung des Laien vielleicht einiges dem Gelehrten berichten zu können, was nicht ganz ohne Interesse […].“111 Das wissenschaftliche Schreiben über Sexualität fand in einem Interaktionsprozess statt, der Homosexuelle mit einschloss, die ihre rechtliche und soziale Diskriminierung nicht einfach hinnehmen wollten. „Da diese Liebe als kriminell 110 George D. Painter, Marcel Proust, A Biography, Bd. 2, New York 1987, 270, zit. nach George L. Mosse, Masculinity and the Decadence, in: Roy Porter u. Mikuláš Teich (Hg.), Sexual Knowledge, Sexual Science. The History of Attitudes to Sexuality, Cambridge 1994, 251–266, 251. 111 Fragment eines Briefes eines Herren von R., Nachlass Richard von Krafft-Ebing. KrafftEbing Familienarchiv, Graz, zit. nach Harry Oosterhuis, Stepchildren of Nature. KrafftEbing, Psychiatry, and the Making of Sexual Identity, Chicago 2000, 3–6, 3.

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betrachtet wird, bin ich nicht in Harmonie mit der äußeren Welt, obwohl ich mit mir selbst harmoniere, da ich genieße“, schreibt ein anderer Informant des Psychiaters.112 Seit den 1860er Jahren traten Homosexuelle und Lesben öffentlich auf. Männer und Frauen, die in Paris lebten, verteidigten in Büchern und Zeitschriften ihre Neigungen zum gleichen Geschlecht. Harry Oosterhuis geht von der These aus, dass Ende des 19. Jahrhunderts der „moderne Homosexuelle“ entstanden sei: Dieser zeige ein neues Selbstbewusstsein, das ihn von dem „Sodomiten“ der Frühen Neuzeit unterscheide. Er verbinde sexuelles Bedürfnis mit (romantischer) Liebe, was sich davon ableiten ließe, dass er sich nun weigere, zur Wahrung eines moralischen Scheins eine Frau zu heiraten, wie dies zuvor Praxis gewesen war. Schließlich ortet Oosterhuis einen Wandel in der homosexuellen Identität, von der „gender inversion“ zur Objektwahl: Der Homosexuelle habe sich nicht mehr als feminisierter Mann gesehen, sondern als Mann der einen anderen Mann begehrt.113 Oosterhuis positioniert sich in einer breiten und kontroversiellen Diskussion, die – im Gegensatz zu der einflussreichen Interpretation Michel Foucaults – die Anfänge des „modernen Homosexuellen“ im 18. Jahrhundert verortet, in einem urbanen Kontext und unabhängig von der sexualwissenschaftlichen Diskussion. Er greift mit Modifikation den Ansatz Foucaults auf, der die Identität des „modernen“ Homosexuellen in der Zuschreibung durch die Wissenschaft aufgehen lässt. „Der Homosexuelle des 19. Jahrhunderts ist zu einer Persönlichkeit geworden, die über eine Vergangenheit und Kindheit verfügt, einen Charakter, eine Lebensform, und die schließlich eine Morphologie mit indiskreter Anatomie und möglicherweise rätselhafter Physiologie besitzt. Nichts von alledem, was er ist, entrinnt seiner Sexualität. […] Der Sodomit war ein Gestrauchelter, der Homosexuelle ist eine Spezies.“114 Ungeachtet der autobiographischen Texte, die im Zusammenhang mit der Erforschung des Krafft-Ebing’schen Archivs ausgewertet wurden und die einen Einblick in die Selbstreflexion Homosexueller ermöglichen, verliert der Foucault’sche Ansatz nicht an Erklärungskraft, der den Einfluss der Wissenschaften auf die Auffassung von Geschlecht und Sexualität unterstreicht. Spät haben sich die Sexualpathologen der weiblichen Homosexualität zugewandt. Die Sexualwissenschaft war bald eine internationale Bewegung, auch wenn es erst 1928 zur Gründung der „Weltliga für Sexualreform“ kommen sollte. 112 Richard von Krafft-Ebing, Neue Forschungen auf dem Gebiet der Psychopathia sexualis. Eine medicinisch-psychologische Studie, Stuttgart 18912, 107, zit. nach Oosterhuis, Stepchildren, 226. 113 Oosterhuis, Stepchildren, 248–251. 114 Foucault, Sexualität und Wahrheit, 58. Zu den Diskussionen um die Thesen von Foucault vgl. auch Franz X. Eder, Kultur der Begierde. Eine Geschichte der Sexualität, München 2002, 152–167.

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Deren erste Präsidenten waren Magnus Hirschfeld, „The Einstein of Sex“, Gründer des Instituts für Sexualwissenschaft in Berlin, das 1933 zerstört wurde, Henry Havelock Ellis, der unter anderem „Das konträre Geschlechtsgefühl“ (1896) verfasste, und der Schweizer August Forel, zu dessen Werk ein umfangreiches Buch über „Die sexuelle Frage“ (1905) zählt. Zeitschriftengründungen, internationale Tagungen und zahlreiche Publikationen machten das neue Fachgebiet breitenwirksam.115 Die neue Wissenschaft traf offensichtlich einen Nerv der Zeit, den sie selbst entdeckt hatte, indem sie sich mit der Frage nach Sexualität und ihren Ausformungen sowie mit der Lösung der „sexuellen Frage“ auseinandersetzte. Iwan Bloch stellte seinem 1908 veröffentlichten Band „Das Sexualleben unserer Zeit in seinen Beziehungen zur modernen Kultur“ ein Zitat aus der Schrift „Ueber die Kunst, ein hohes Alter zu erreichen“ aus dem Jahr 1813 voran: „Es scheint zwar, als wenn die Natur dem Menschen den Zeugungstrieb nur zur Erhaltung der Gattung verliehen und dabei keine Rücksicht auf das Individuum genommen habe; allein es ist unleugbar, daß bei jener hohen Bestimmung dieses Triebes das Individuum nicht vergessen ward.“116 Bloch nimmt mit diesem Motto Anschluss an eine Zeit, für die, wie Isabel Hull schreibt, der Geschlechtstrieb als stark, natürlich und gottgewollt angesehen und darüber hinaus als Motor der Gesellschaft geschätzt wurde. Er galt als gesund und sollte in der Ehe gelebt werden.117 In der Zeit nach 1815 sollte diese positive Sichtweise von Sexualität nicht mehr mit diesem allgemeinen Anspruch artikuliert werden, wenn auch das Viktorianische Zeitalter viel von seiner prüden Reputation verloren hat. Peter Gay vertritt eine revisionistische Position und spricht vom „Eros im schwarzen Rock“,118 von den sexualfreudigen Bürgern und Bürgerinnen des Viktorianischen Zeitalters: „Die Mittelschichts-Kultur des 19. Jahrhunderts war elektrisch geladen mit Spannungen und widersprüchlichen Impulsen. Der Eros im schwarzen Rock barst vor Vitalität; er war sich seiner sinnlichen Bedürfnisse genau bewußt, wurde aber zugleich häufig ein Opfer unerfreulicher Hemmungen.“119 Das bürgerliche Jahrhundert, so fährt Gay fort, war „im Innersten erotischer […] als andere Zeiten, die unbefangener über ihre fleischli-

115 Zur Geschichte der Sexualwissenschaften vgl. Erwin J. Haeberle u. Christoph Zink, Anfänge der Sexualwissenschaft. Historische Dokumente, Berlin 1983. 116 Bloch, Das Sexualleben, 1. 117 Isabel V. Hull, Sexuality, State, and Civil Society in Germany, 1700–1815, Ithaca/London 1996, 172–179. 118 So lautet die Überschrift des Epilogs: Gay, Die zarte Leidenschaft, 394. 119 Gay, Die zarte Leidenschaft, 424f.

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chen Gelüste und Beglückungen sprachen“.120 Allerdings bezieht sich diese Aussage auf das Bürgertum und nicht auf die Unterschichten, die nach Gay kein schwelgerisches Aufgehen in Sexualität kannten.121 Er folgt mit dieser Aussage – eindrucksvollen – autobiographischen Quellen, die oft im Gegensatz zu normativen Texten, wie etwa ärztlichen Ratschlägen und verschiedenster Traktatliteratur, stehen. Autobiographische Texte sind aber auch von der Selbstinszenierung ihrer Autoren und Autorinnen geprägt. Mit der Kultivierung der Sprache muss jedoch nicht gleichermaßen eine Kultivierung von Gefühlen einhergehen. Sexualität jedenfalls war das große Thema der Zeit. Für Bloch stellte sie einen untrennbaren Teil individueller Identität dar, wobei sie idealiter mit Zuneigung verbunden war. „Der moderne Kulturmensch“, schreibt er in der Einleitung zu seiner Schrift „Das Sexualleben unserer Zeit“, „der die Geschichte auffaßt als den Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit, hat auch die ganz gewaltige individuelle Bedeutung der Liebe für sein eigenes inneres Wachstum, für die eigene Entwicklung seines freien Menschentums erkannt. Die echte, erlebte Liebe des Kulturmenschen der Gegenwart ist einer der ‚Wege zur Freiheit‘ […]. In ihr offenbart und durch sie entwickelt sich sein innerstes, individuelles Wesen.“122 Liebe stellt daher in seiner Sicht einen Transmissionsriemen zur Erfahrung des Ich (seiner Zeit) dar und die Voraussetzung für die Entwicklung des Individuums. Trieb und Zuneigung sieht er in einer notwendigen Einheit. Für die beiden Elemente übernimmt er die Begriffe „Mischliebe“ – „Verschmelzung der männlichen Sperma- mit der weiblichen Eizelle“ – und „Distanzliebe“ – „Vorstellung zur Liebe des modernen Kulturmenschen“.123 Ergänzt wird diese Entwicklung zum „freien Menschentum“ durch die auch mentalen Geschlechtsunterschiede zwischen Männern und Frauen, die Bloch ebenfalls als großen Kulturfortschritt sieht. Das „dritte Geschlecht“, wie Hermaphroditen und Homosexuelle, die „sexuellen ‚Zwischenstufen‘“, mochten zwar eine gewisse Rolle im „Kulturprozesse“ spielen, aber letztlich seien sie vom Fortschritt ausgeschlossen.124 Diese Sichtweise von der einerseits biologisch verankerten, andererseits kulturell erwünschten und vorangetriebenen Geschlechterpolarisierung hat seit 1800, seit dem Aufstieg der Anthropologie, rasant an Bedeutung gewonnen. Die Naturwissenschaften sollten diese Annahme von der natürlichen Verankerung der Geschlechtscharaktere in der Folge mit großer Überzeugung wei120 121 122 123 124

Gay, Die zarte Leidenschaft, 426. Vgl. Gay, Die zarte Leidenschaft, 413f. Bloch, Das Sexualleben, 3f, Hervorhebung im Original gesperrt gedruckt. Bloch, Das Sexualleben, 20. Bloch, Das Sexualleben, 15.

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ter ausbauen und begründen. Cynthia Eagle Russett erzählt eine signifikante Anekdote. Charles Darwin habe John Stuart Mills Buch „The Subjection of Wom­en“ gelesen, das sich sehr eindringlich nicht nur gegen die Unterdrückung von Frauen wendet, sondern auch den Zusammenhang von Unterdrückung, Erziehung, Geschichte und Geschlechtscharakter aufzeigt, und sich über diese Lektüre zu seiner Sommernachbarin, der Schriftstellerin Frances Power Cobbe, geäußert: „Mill could learn some things from physical science; and […] it is in the struggle for existence and (especially) for the possession of women that men acquire their vigor and courage.“ Russett fügte hinzu: „It was nature, not nurture, that mattered.“125 Darwin erachtete „den Kampf ums Weibchen neben dem Kampf ums Dasein als die entscheidenden Wurzeln für die Fortentwicklung aller Lebewesen einschließlich der Menschheit“.126 Wenn auch die Männer seiner eigenen Zeit, so Darwin, diesen „Kampf ums Weibchen“ nicht mehr führen müssten, so hätten sie doch während ihres Mannesalters einen heftigen Kampf zu bestehen, um sich selbst und ihre Familien zu erhalten, und dies erfordere, „die geistigen Kräfte auf ihrer Höhe zu erhalten oder selbst zu vergrößern und als Folge hiervon auch die jetzige Ungleichheit zwischen den Geschlechtern gleich groß zu halten oder noch bedeutender zu machen“.127 Darwin hat die Ebene eines natürlichen oder besser eines naturbedingten Kampfes „um das Weibchen“ als wesentliche Ursache für die Entwicklung der Menschheit ohne Probleme mit jener kulturell und rechtlich bedingten vertauscht, ohne sie allerdings aus ihrer biologischen Bedingtheit herauszulösen. Die geistigen Unterschiede zwischen den Geschlechtern sieht er in der Natur breit verankert. „Niemand wird bestreiten, daß dem Temperament nach der Bulle von der Kuh, der wilde Eber von der Sau, der Hengst von der Stute und [...] die Männchen der größeren Affen von den Weibchen verschieden sind.“128 Kultur und Natur stützen sich in diesem Erklärungsmodell gegenseitig ab – wie auch bei Iwan Bloch. Er war davon überzeugt, dass Kultur die Sexualdifferenzen steigere, eine Auffassung, die er mit seiner These von der „Individualisierung der Liebe“129 in Zusammenhang brachte. Dennoch blieben „Samen- und Eizelle […] Urbilder des geistigen Wesens von Mann und 125 Cynthia Eagle Russett, Sexual Science. The Victorian Construction of Womanhood, Cambridge, Mass. 1989, 2. 126 Franz von Stuck, Der Kampf ums Weib, 1905, in: Barbara Eschenburg, Der Kampf der Geschlechter. Der neue Mythos in der Kunst 1850–1930, hg. von Helmut Friedel, München/Köln 1995, Katalogteil, 102–103, 102. 127 Charles Darwin, Die Abstammung des Menschen, Wiesbaden 1986, 640 [orig.: The Descent of Man, and Selection in Relation to Sex, 2 Bde, London 1871]. 128 Darwin, Die Abstammung, 637. 129 Bloch, Das Sexualleben, Kap. 8, 177–197.

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Frau“.130 Versuchen von Feministinnen, wie jenen Rosa Mayreders aus Wien, die physischen Geschlechtsunterschiede als bedeutungslos für die „geistige Natur“ anzusehen, erteilte Bloch eine Absage.131 Dieser problemlose Wechsel von Kultur und Natur, die keine Gegensätze darzustellen scheinen, war ein Kennzeichen zahlreicher zeitgenössischer Abhandlungen über Liebe, die in der Pflanzen- und Tierwelt gesucht, ehe sie beim Menschen demonstriert wurde. Auf diese Weise verfuhr der italienische Sexualwissenschaftler und Anthropologe Paolo Mantegazza, der zahlreiche Werke über die Liebe schrieb: In seiner „Physiologie der Liebe“ hielt er sich an diese Vorstellung der Einheit von Natur und Mensch. Die „Liebe“ bzw. der Geschlechtsakt binde Menschen an die Natur und den Mann an die Frau.132 Mantegazzas Schriften wurden in viele Sprachen übersetzt und breit rezipiert. Aus Freuds Schrift über den „Fall Dora“ wissen wir, dass seine Patientin Mantegazza gelesen hat und sich, „durch solche Lektüre erhitzt“, den Liebesantrag des Herrn K. nur eingebildet habe, wie Freud meinte.133 Sicher aber erhielt sie in dieser Schrift eine Art Sexualaufklärung und erfuhr, dass Männer und Frauen als Teil der Naturgeschichte ihre mentalen Geschlechtsunterschiede erhalten haben. Die Sexualwissenschaftler verstanden sich als Sexualaufklärer und daher auch als Teil der Aufklärung: Das Problem der Religion sei gelöst, jenes der Arbeit „auf eine praktikable Grundlage gestellt“, es bleibe „die Frage der Sexualität“, konstatierte Henry Havelock Ellis.134 Tatsächlich hat die Sexualwissenschaft vieles in Bewegung gesetzt bzw. dabei mitgeholfen – so in Bezug auf die Forderung nach Straffreiheit der Homosexualität sowie hinsichtlich einer Neubewertung außerehelicher Sexualität und mit ihr der ledigen Mutterschaft. Helene Stöcker und andere Frauen und Männer haben in dem 1905 gegründeten „Bund für Mutterschutz“ eine Mutterschaftsversicherung gefordert, um den ledigen Müttern eine wirtschaftliche Selbständigkeit zu ermöglichen. Sie forderten des Weiteren die Gleichstellung ehelicher mit unehelichen Kindern. In der von ihr gegründeten Zeitschrift „Mutterschutz. Zeitschrift zur Reform der sexuellen Ethik“ – weitergeführt von Max Marcuse unter dem Titel „Sexual-Probleme“ – setzte sich Stöcker für „freie Liebe“ und für eine neue Sexualmoral ein, die ledigen Müttern ein Leben ohne Marginalisierung ermöglichen sollte. Dabei handelte es sich um die Durchsetzung sexueller Rechte, auch für Frauen. 130 131 132 133 134

Bloch, Das Sexualleben, 76. Bloch, Das Sexualleben, 73–76. Paolo Mantegazza, Physiologie der Liebe, Berlin/Leipzig 1889. Freud, Bruchstück einer Hysterie-Analyse, 184. Henry Havelock Ellis, Studies in the Psychology of Sex, Bd. 1: Sexual Inversion, London 1897, IXf, zit. nach Gay, Die zarte Leidenschaft, 240.

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Die Sexualwissenschaftler verwendeten „Sexualität“ und „Liebe“ oft als austauschbare Begriffe. Der Terminus „Sexualität“ war offensichtlich für das, was er ausdrückte, nicht unumstritten. So äußerte sich Freud: „Wer die Sexualität für etwas die menschliche Natur Beschämendes und Erniedrigendes hält, dem steht es ja frei, sich der vornehmeren Ausdrücke Eros und Erotik zu bedienen. Ich hätte es auch selbst von Anfang an so tun können und hätte mir dadurch viel Widerspruch erspart. Aber ich mochte es nicht, denn ich vermeide gern Konzessionen an die Schwachmütigkeit. Man kann nicht wissen, wohin man auf diesem Wege gerät; man gibt zuerst in Worten nach und dann allmählich auch in der Sache.“135 Im Unterschied zu den Sexualwissenschaftlern konzipierte Freud Sexualität als einen Prozess, der – dem Alter und dem Geschlecht entsprechend – teleologisch und geglückt verlaufen oder, aus der Bahn gekommen, zu Krankheit führen kann. Allerdings ist die Normalentwicklung nicht, wie Sabine Mehlmann ausführt, einfach das Ergebnis „einer biogenetischen Programmierung“,136 da nach Freud auch „Akzidentielles“ – wie psychische Verarbeitungsprozesse und familiäre Konstellationen – hinzuzurechnen seien. Darüber hinaus sah Freud in der Praxis bei Männern und Frauen „weder im psychologischen noch im biologischen Sinne eine reine Männlichkeit oder Weiblichkeit“.137 Wenn diese Anmerkung Freuds auch nicht seine Auffassung von den Geschlechtern ausschließlich oder maßgeblich bestimmt hat, so konnte er sie dennoch schreiben und hiermit die Geschlechterpolarität, die im 19. Jahrhunderts so fest verankert war, in Frage stellen. Die Bedeutung, die Sexualität bei Freud erhält, umfasst einen Zusammenhang mit Kultur, insofern als die Ansprüche des Sexualtriebes mit den Anforderungen der Kultur in Konflikt geraten können. „Die Triebsublimierung ist ein besonders hervorstechender Zug der Kulturentwicklung, sie macht es möglich, daß höhere psychische Tätigkeiten, wissenschaftliche, künstlerische, ideologische, eine so bedeutsame Rolle im Kulturleben spielen.“138 Die Dynamik, die Freud in das Konzept von Sexualität gebracht hat, indem er es in Zusammenhang mit individueller Lebensgeschichte und sozialen, kulturellen Bedingungen setzt, hat die wissenschaftliche und gesellschaftliche Aufmerksamkeit für diese Dimension langfristig geprägt. Über die therapeutische Funktion und Intention der Psychoanalyse hat sich diese Sichtweise von Sexualität auch dem 135 Sigmund Freud, Massenpsychologie und Ich-Analyse, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 13, London 1940, 71–161, 99. 136 Sabine Mehlmann, Das doppelte Geschlecht. Die konstitutionelle Bisexualität und die Konstruktion der Geschlechtergrenze, in: Feministische Studien 18, 1 (2000), 36–51, 44. 137 Sigmund Freud, Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 5, London 1942, 27–145, 121, Anm. 1. 138 Freud, Das Unbehagen, 457.

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individuellen Leben eingeschrieben und jenen Zusammenhang hergestellt, den Foucault als „die Lust an der Wahrheit der Lust“ bezeichnet hat, die sich im Geständnis realisiert.139 Die abendländische Sexualität sieht er von einem Willen zu Wissen und Wahrheit bestimmt, der sich über die christliche Buße und die Geständnisverfahren des späten 19. und des 20. Jahrhunderts, zu denen er auch die Verfahren der Psychoanalyse zählt, umsetzen kann. Über Liebe hat Freud seine Auffassungen oft verändert, wie Theodor Reik ausgeführt hat.140 Erich Fromm hat ihm in seiner Schrift über die Liebe vorgeworfen, sie überhaupt negiert zu haben.141 Dennoch räumt er ihr, wenn auch verstreut und fragmentarisch, Platz ein. In seiner Schrift „Das Unbehagen in der Kultur“ stellt er die große Verführungskraft von Liebe dar, denn: „alle Befriedigung aus dem Lieben und Geliebtwerden“ zu erwarten, sei „eine psychische Einstellung“, die „uns allen nahe genug“ läge. Die geschlechtliche Liebe könne so überwältigende Lustempfindungen vermitteln, dass dieser Weg zum Glück immer wieder gesucht würde. Die Schwachstelle dieses Weges aber liege darin, dass er auch die größten Leiden verursachen könne, denn nichts mache unglücklicher als ein Verlust des/der Geliebten.142 Freud sah Liebe als (prekäres) Lust- und Glücksgefühl an. Damit reflektierte er die Untiefen von Liebe, die in ihr, ungeachtet des höchsten Glücksgefühls, angesiedelt sind. Franz Wellendorf hat noch auf einen anderen Zusammenhang von Liebe in der Psychoanalyse verwiesen, nämlich auf ihre Funktion in der Erfahrung des Unbewussten. Er liest dies primär aus einem Text heraus, und zwar aus dem „Bruchstück einer Hysterie-Analyse“ aus dem Jahr 1905, das den „Fall Dora“ behandelt. Zwischen Freud und der Patientin habe sich, gemäß Wellendorf, eine Beziehung entwickelt, die zur Voraussetzung hat, dass sie zu keiner Verbindung führen kann.143 Empathie müsse mit Distanz zum Anderen verbunden werden, so Waltraud Kannonier-Finster und Meinrad Ziegler. 144 Gerade dies aber und das besondere Setting der Beziehung ermögliche eine ungewöhnliche und neue Erkenntnis: „[D]ie Verbindung zwischen einem Arzt und seiner jugendlichen Patientin, in der ohne Einschränkung über Sexualität 139 140 141 142 143

Foucault, Sexualität und Wahrheit, 91. Theodor Reik, Geschlecht und Liebe, Stuttgart 1950, 23. Erich Fromm, Die Kunst des Liebens, Stuttgart 1983, 101–104, insbes. 102. Freud, Das Unbehagen, 441. Franz Wellendorf, Der Fall Dora: eine Mésalliance. Überlegungen zu Liebe und Erkenntnis in der Psychoanalyse, in: Jürgen Belgrad u. a. (Hg.), Zur Idee einer psychoanalytischen Sozialforschung. Dimensionen szenischen Verstehens. Alfred Lorenzer zum 65. Geburtstag, Frankfurt a. M. 1987, 70–84, 78. 144 Waltraud Kannonier-Finster u. Meinrad Ziegler, Liebe, Fürsorge und Empathie im soziologischen Verstehen, in: Bauer/Hämmerle/Hauch, Liebe und Widerstand, 50–68, 61.

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und Liebe geredet wird; das sind, aus der Perspektive der Gesellschaft, Mésalliancen, ‚falsche Verknüpfungen‘, die sich der Kraft der Liebe verdanken. Freud macht aus der Mésalliance ein Medium der Erkenntnis verborgener Wünsche“, schreibt Wellendorf.145 Erst später hat Freud darüber theoretisch reflektiert und das Konzept von „Übertragung und Gegenübertragung“ entwickelt. Die Vorstellung, dass Liebe mit Erkenntnis in einer Verbindung steht, ist nicht neu. Davon waren auch Feuerbachs Überlegungen zu Liebe getragen. Das spezifische Setting und das therapeutische Ziel stellen hingegen in ihrer klar ausgerichteten Orientierung einen weiteren Schritt dar. Franziska Lamott hat den geschlechtsspezifischen Bias dieser Konstellation herausgearbeitet, der wirksam ist, wenn der Analytiker einer Patientin gegenübersteht, denn „jede gegengeschlechtliche therapeutische Beziehung [ist] immer schon in die Matrix herrschender Geschlechterverhältnisse eingebunden“.146 3.5 Geschlechterkampf und Erster Weltkrieg

Der Erste Weltkrieg, der „Große Krieg“, traf Europa nicht nur in einer Zeit verstärkter Nationalismen und Rassismen, einer Aufwertung des Militarismus und der Spannungen zwischen den europäischen Mächten, sondern auch der Spannungen zwischen den Geschlechtern. Diese wurden an den Bruchlinien der Beziehungen sichtbar, die gesellschaftliche und/oder wissenschaftliche und strafrechtliche Aufmerksamkeit erregten. Bruchstellen ermöglichen einen Einblick in Beziehungskonflikte und eine Korrektur der Vorstellungen von Homogenität und Konformität. Der Erste Weltkrieg hat die Konflikte unter den Bedingungen von Tod, Gemetzel, Hunger und Trennungen radikalisiert, wobei diese Radikalisierung nicht nur in Hinblick auf die unmittelbaren Geschlechterbeziehungen zu verstehen ist, sondern auch in Bezug auf die Einstellung zum Staat, der unter Kriegsbedingungen seine Befugnisse hinsichtlich der Beziehungen zwischen den Geschlechtern erweiterte. Françoise Thébaud hat auf die „wesentliche Rolle“ hingewiesen, „die im System des Ersten Weltkriegs dem Geschlecht zukam“. 147 Diese bezieht sie auf die Mobilisierung von Männern und Frauen für den Krieg, auf die Erfah145 Wellendorf, Der Fall Dora, 80. 146 Franziska Lamott, Phantasierte Unzucht – unzüchtige Phantasien. Über Freuds Erfindung des analytischen Raums, in: L’Homme. Z.F.G. 9, 1 (1998), 26–40, 37. 147 Françoise Thébaud, Der Erste Weltkrieg. Triumph der Geschlechtertrennung, in: Georges Duby u. Michelle Perrot (Hg.), Geschichte der Frauen, Bd. 5: 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M./New York 1995, 33–91, 91.

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rungsunterschiede der Geschlechter im Verlauf des Krieges und deren Folgen, auf die Erwerbstätigkeit von Frauen und auf „das Scheitern des weiblichen Pazifismus“. Zu dieser strukturellen Bedeutung von Geschlecht für den Krieg kommt die Einschätzung der Folgen des Krieges für die Geschlechterbeziehungen, die in der Forschung ausführlich und kontroversiell diskutiert werden. Der Erste Weltkrieg war ein „totaler Krieg“: durch die „tendentielle Aufhebung der Grenzen zwischen Front und Heimat“, die durch die allgemeine Mobilisierung für den Krieg, von Militär und Zivilbevölkerung, von Männern und Frauen erreicht wurde, und dadurch, dass „alle Mitglieder der kriegführenden Staaten“ durch Blockaden, Besetzungen und Plünderungen von der militärischen Gewalt betroffen werden konnten.148 Die Massenheere konzentrierten Millionen Männer an der Front und in Stellungskriegen, 8 Millionen Franzosen, 13 Millionen Deutsche, 7,8 Millionen Österreicher, 5,7 Millionen Soldaten aus Großbritannien, 15 Millionen Russen (bis 1917) – 8,5 Millionen sollten aus diesem Krieg nicht mehr zurückkehren. Der Erste Weltkrieg war ein Krieg, in dem alles für die Zerstörung der Gegner eingesetzt wurde. „Niemals zuvor in der Geschichte wurden in so umfassender Weise produktive Kräfte für den Zweck der Zerstörung mobilisiert.“149 Dass die direkte Zerstörung, der Kampf mit der Waffe, eine Aufgabe der Männer sei, darüber gab es weitgehend Konsens. Auf der allgemeinen Wehrpflicht, die seit der Französischen Revolution im Verlauf des 19. und frühen 20. Jahrhunderts in den europäischen Staaten, in Großbritannien 1916, eingeführt worden war, beruhte das politische System – zumal in Hinblick auf die Geschlechterordnung. Der Ausschluss der Frauen vom Wahlrecht – 1914 gab es allein in Finnland das Allgemeine Männer- und Frauenwahlrecht – wurde von den politisch Verantwortlichen auch mit dem Militärdienst der Männer gerechtfertigt. Die mehrjährige Militärpflicht der Männer führte, wie die Forschung erarbeitet hat, zu neuen Formen der Männlichkeit.150 Im Kriegsfall erwarteten Militär und Politik ein Volksheer mit patriotischem Elan. Im August 1914 trat dieser Fall ein. Im August 1914 zogen die 148 Karen Hagemann, Heimat – Front. Militär, Gewalt und Geschlechterverhältnisse im Zeitalter der Weltkriege, in: dies. u. Stefanie Schüler-Springorum (Hg.), Heimat – Front. Militär und Geschlechterverhältnisse im Zeitalter der Weltkriege, Frankfurt a. M./New York 2002, 13–52, 17. 149 Wolfgang Kruse, Einleitung, in: ders. (Hg.), Eine Welt von Feinden. Der Große Krieg 1914–1918, Frankfurt a. M. 1997, 7–9, 7. 150 Vgl. Christa Hämmerle, Zur Relevanz des Connell’schen Konzepts hegemonialer Männlichkeit für „Militär und Männlichkeit/en in der Habsburgermonarchie (1868–1914/18)“, in: Martin Dinges (Hg.), Männer – Macht – Körper. Hegemoniale Männlichkeiten vom Mittelalter bis heute, Frankfurt a. M./New York 2005, 103–121.

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Männer in den Krieg, und die Frauenbewegungen der kriegführenden Staaten beschlossen, ihre Kämpfe um gleiche Rechte – darunter das Wahlrecht – hintanzustellen und nationalen Interessen Folge zu leisten. „Frauen, euer Land braucht euch! Erweist euch als würdig, seine Bürgerinnen zu sein, mag man uns unser Ziel [das Wahlrecht, E.S.] auch verwehren“, meinten französische und englische Feministinnen.151 In Deutschland, in der Habsburgermonarchie und in Russland lautete die Maxime nicht viel anders. „Vaterländische Arbeit an der Heimatfront“ sei zu leisten, hieß es etwa in Deutschland. Hier gründete der „Bund deutscher Frauenvereine“ den „Nationalen Frauendienst“, eine vom Staat anerkannte Institution, an der auch die sozialdemokratische Frauenbewegung beteiligt war und die nicht nur bei der Organisation der Kriegskrankenpflege mitwirkte und bei der Versorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln half, sondern auch in der Arbeitsvermittlung aktiv war.152 In allen kriegführenden Staaten waren Frauen als Rotkreuzhelferinnen und Krankenschwestern zunehmend in der Nähe der Front tätig. „Freiwillige Krankenpflege im Krieg wurde als weibliches Pendant zur Wehrhaftigkeit der Männer konzipiert.“153 Rekrutinnen kamen in Großbritannien im „Women’s Army Auxiliary Corps“ als Köchinnen, Schreibkräfte und Mechanikerinnen zum Einsatz, Frauen in Deutschland als Etappenhelferinnen in den Schreibstuben des Militärs. Darüber hinaus sammelten und verfertigten Mädchen und Frauen „Liebesgaben“ für die Soldaten im Feld, seien es Socken, Kriegsdecken, Bekleidung oder andere Gebrauchsgüter. Diese Aktionen sollten, worauf Christa Hämmerle verwiesen hat, Frauen und Mädchen militarisieren und die Kontakte zwischen einander Unbekannten – Soldat und Mädchen bzw. Frau – stärken.154 An der Geschlechterordnung sollte nach dem Willen der Politik – weniger der Militärs, für die ausschließlich militärische Kalkulationen zählten – nicht gerüttelt werden. Das zeigt das System der „separation allowances“ in Großbritannien und der „Familienunterstützungen“ in Deutschland mehr als deutlich. Die „allowances“ wurden den Ehefrauen von Soldaten ausgezahlt, auch wenn diese vom Verdienst ihres Mannes nicht abhängig waren. Sie galten als Recht 151 Thébaud, Der Erste Weltkrieg, 39. 152 Hagemann, Heimat – Front, 21. 153 Bianca Schönberger, Mütterliche Heldinnen und abenteuerlustige Mädchen. RotkreuzSchwestern und Etappenhelferinnen im Ersten Weltkrieg, in: Hagemann/Schüler-Springorum, Heimat – Front, 108–127, 109. 154 Christa Hämmerle, „Wir strickten und nähten Wäsche für Soldaten …“. Von der Militarisierung des Handarbeitens im Ersten Weltkrieg, in: L’Homme. Z.F.G. 3, 1 (1992), 88–128; dies., „Habt Dank, Ihr Wiener Mägdelein …“. Soldaten und weibliche Liebesgaben im Ersten Weltkrieg, in: L’Homme. Z.F.G. 8, 1 (1997), 132–154.

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der Männer, die ‚ihre Pflicht‘ erfüllten, das ihre Ehefrauen auf dem Postweg einlösen konnten. Der Trennungszuschuss war relativ hoch, insbesondere im Vergleich zum deutschen, aber auch zum französischen. Außerhalb der Städte ging seine Bedeutung über eine sozial- und geschlechterpolitische Maßnahme hinaus, denn er traf auf eine Wirtschaft mit wenig Bargeld.155 Die englische Regierung hatte ein Unterstützungssystem gewählt, das dem Muster des male breadwinner folgte. Der Ehemann war unterstützungsberechtigt, und aus seiner Unterhaltspflicht folgte die Berechtigung der Ehefrau. Frankreich wählte ein System, das in einer anderen Tradition stand. Unterstützungsberechtigt waren hier jene Familienmitglieder, die ihre ökonomische Abhängigkeit von dem Soldaten nachweisen konnten. Zusätzlich gab es Unterstützungen von Seiten der Arbeitgeber für kinderreiche Familien, die zusammen mit dem Lohn zur Auszahlung kamen. Damit wurden Praktiken aus dem 19. Jahrhundert fortgeführt, die für die hohe Erwerbsquote verheirateter Frauen verantwortlich gemacht werden.156 Susan Pedersen kommt im Vergleich zwischen der Sozial- und Geschlechterpolitik Frankreichs und Englands zum Schluss, dass in England sowohl der Arbeitsmarkt als auch das Sozialstaatssystem der Figur des Familienernährers folgte, indem das Einkommen zugunsten des Mannes verteilt wurde. In Frankreich hingegen war der Sozialstaat auf die Eltern hin ausgerichtet, die für Kinder Unterstützung erhielten und nicht der Mann für die Ehefrau.157 Der politische Fluchtpunkt war die Familie, repräsentiert durch den Vater, und nicht durch das Individuum. Der Krieg brachte daher eine spezifische Logik des Sozialstaates und neue institutionelle Strukturen hervor, die für die Familien- und damit für die Geschlechterpolitik wegweisend werden sollten. Die deutsche Familienunterstützung erfasste als Bezugsberechtigte neben den Ehefrauen alle Personen, die bislang von dem Soldaten unterstützt worden waren, so auch ledige Kinder und deren Mütter. Birthe Kundrus hat das deutsche System in seiner Intention – nämlich die asymmetrische Geschlechterordnung aufrechtzuerhalten – und in seinen ambivalenten Folgen analysiert.158 Die Kriegsunterstützung, die den Ehefrauen ausgezahlt wurde, stellte eine Art Entschädigung für den Lohnausfall des Ernährers dar, des Ehemannes, der seiner Pflicht als Soldat nachging. In Deutschland gab es bereits seit den 1880er Jahren das Selbstverständnis von Staat und Gemeinden, dass sie die 155 Vgl. Susan Pedersen, Family, Dependence, and the Origins of the Welfare State. Britain and France, 1914–1945, Cambridge 1993, 111–115. 156 Vgl. Pedersen, Family, Dependence, 115–119. 157 Pedersen, Family, Dependence, 11. 158 Birthe Kundrus, Kriegerfrauen. Familienpolitik und Geschlechterverhältnisse im Ersten und Zweiten Weltkrieg, Hamburg 1995, erster Teil, insbes. 43–70.

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zivilrechtlich festgelegte Unterhaltspflicht des Ehemannes im Kriegsfall übernehmen müssten, und dieses System wurde während des Ersten Weltkrieges weiter ausgebaut. Die Unterstützung erhielt nicht der Soldat, der Krieger, da der Militärdienst als Ehrendienst verstanden wurde und daher nicht entlohnt werden konnte. Vermutlich standen aber auch finanzielle Überlegungen hinter dieser Entscheidung. Die Familienunterstützung sollte den Männern garantieren, dass auch in ihrer Abwesenheit für Haushalt und Familie gesorgt sei. Wie Birthe Kundrus aufzeigt, meldeten sich zahlreiche Kritiker dieses Systems zu Wort, da es Frauen einen direkten Zugang zum Familienbudget ermöglichte, das sie eigenständig verwalten konnten. Das Fehlen der ehemännlichen Leitung tat sich in den Augen dieser Kritiker und Kritikerinnen in der Verschwendungssucht der Frauen und im Niedergang der Moral kund: „Tausende von Euren Männern müssen noch bluten, weil ihr Frauen nicht vorsichtig im Reden und Handeln seid.“159 Es gab viele Versuche dieser Art, Zusammenhänge zwischen der ‚Moral‘ der Frauen und dem Kriegsglück herzustellen. Sie sollten auch nach Kriegsende nicht zum Schweigen kommen. In Anbetracht der Höhe der deutschen Familienunterstützung ist allerdings nicht davon auszugehen, dass sie die Möglichkeit einer Verschwendung geboten hat. Kundrus hat die hohen Einkommensverluste der Familien herausgearbeitet: Diese betrugen 70 bis 80 % des zuvor erreichten Einkommens. Staatlicherseits wurde erwartet, dass eine kinderlose Frau oder Mutter von zwei Kindern einer Erwerbsarbeit nachgehen würde. In Hinblick darauf, dass sich die Unterstützung um die Lohnhöhe verringerte, kann jedoch nicht von einem großen Anreiz gesprochen werden, erwerbstätig zu werden. Daraus ergab sich ein Dilemma, nicht nur für die einzelnen Frauen, deren Unterstützung für das Leben nicht ausreichte, sondern auch für den Staat und seinen Arbeitskräftebedarf. Dieser hat seinem Unterstützungssystem eine geschlechtsspezifische Arbeitsteilung zugrunde gelegt, die im Kontrast zu seinen ökonomischen und militärischen Interessen an der Erwerbsarbeitskraft von Frauen stand. Die Frauenerwerbstätigkeit in Deutschland ist, wie Ute Daniel gezeigt hat, während des Krieges nicht stark angestiegen. Die Ursachen für das Scheitern der Frauenmobilisierung sieht sie darin, dass die Rüstungsindustrie Facharbeiter benötigte und Männer, auch Kriegsgefangene und ausländische Arbeitskräfte, vorzog. Dazu kam, so Daniel, dass Frauen wussten, dass sie bei Kriegsende den rückkehrenden Männern wieder Platz machen mussten.160 In anderen kriegführenden Ländern kam es während des Krieges hingegen zu 159 Zit. nach Kundrus, Kriegerfrauen, 201. 160 Ute Daniel, Arbeiterfrauen in der Kriegsgesellschaft. Beruf, Familie und Politik im Ersten Weltkrieg, Göttingen 1989, 259f.

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einer Zunahme der Frauenarbeit – vor allem in England. Dort erhöhte sich der Erwerbsanteil von Frauen und Mädchen im Alter von über zehn Jahren von 31 % auf 37 %.161 Sie waren in der Rüstungsindustrie stark vertreten, was das Rüstungsministerium gezielt gefördert hatte, und waren darüber hinaus infolge spezieller Maßnahmen in neuen Berufsfeldern vertreten. Sie eroberten, wie Françoise Thébaud schreibt, Geschäfte, Büros und Banken.162 Allerdings hatte die Regierung den Gewerkschaften zugesagt, „daß alle Veränderungen in der Zugänglichkeit der Arbeitsplätze für Ungelernte und Frauen nur für die Kriegszeit Bestand haben würden“.163 In Frankreich drangen Frauen ebenfalls in neue Berufsfelder vor bzw. feminisierten sie. 1918 betrug hier der Anteil der Industriearbeiterinnen an den Industriearbeitskräften 40 %.164 In Russland war deren Anteil von 30 % im Jahr 1913 auf 40 % im Jahr 1916 gestiegen.165 Nach Kriegsende verließen die englischen Frauen ungern ihre Erwerbstätigkeit und sahen sich bald als Kriegsprofiteure stigmatisiert, während sie zuvor als Verteidigerinnen des Vaterlandes gepriesen worden waren. Vor allem der Umstand, dass sie sich weigerten, in den häuslichen Dienst zurückzukehren, erregte Ärgernis. Ein nach Geschlecht segregierter Arbeitsmarkt wurde dennoch wieder hergestellt. Nicht so dramatisch war die Entwicklung in Frankreich, auch weil die Regierung keine Maßnahmen zur Rückkehr in den Vorkriegszustand und zur Privilegierung „weiblicher Arbeitsplätze“ setzte und die Gewerkschaften hier nicht die Stärke der englischen besaßen. Zwar kam es zu Entlassungen, aber nicht in einem vergleichbaren Ausmaß wie in England. Im Jahr 1921 stellten Frauen in Frankreich 40 % der Erwerbstätigen, in England waren es 29 %.166 Ungeachtet des Systems der Familienunterstützung, das es vermutlich in den meisten kriegführenden Ländern gegeben hat, so etwa auch in der Habsburgermonarchie und in Russland, ist die Frauenerwerbstätigkeit während des Krieges überwiegend gestiegen. Für den Staat brachte diese Veränderung über das bereits skizzierte Dilemma hinaus noch weitere Problemfelder mit sich. Durch die Verschlechterung von Lebens- und Arbeitsbedingungen im Verlauf des Krieges kam es zu wachsenden Protesten der Bevölkerung unter großer Beteiligung von Frauen. Den Pariser Streik von 1917 hatten Industriearbeite161 Vgl. Pedersen, Family, Dependence, 89. 162 Thébaud, Der Erste Weltkrieg, 42. 163 Susanne Rouette, Frauenarbeit, Geschlechterverhältnisse und staatliche Politik, in: Kruse, Eine Welt von Feinden, 92–126, 108. 164 Vgl. Pedersen, Family, Dependence, 90. 165 Vgl. Peter Gatrell, Russia’s First World War. A Social and Economic History, Harlow 2005, 68. 166 Pedersen, Family, Dependence, 124.

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rinnen initiiert. Seit Februar 1915 gab es in Deutschland und Österreich Proteste gegen die schlechte Versorgungslage, gegen das Schlangenstehen vor den Geschäften und den Hunger. Die Übergriffe auf Lebensmittelgeschäfte trugen zum Großteil Frauen. Die Gewerkschaften, die den inneren Frieden garantieren wollten, sahen sich außerstande einzugreifen, auch weil Frauen einen geringeren Organisationsgrad aufwiesen als Männer. „Insbesondere seien es die zahlreichen Arbeiterinnen, die unausgesetzt hetzten und schürten“, hieß es 1916 in einem Bericht.167 In Österreich waren Arbeiterinnen an den Streiks führend beteiligt und beunruhigten das Kriegsministerium, das 1917 staatlichen Unternehmen die Weisung erteilte, Arbeiterinnen nur dann einzusetzen, wenn es für die Produktion unerlässlich sei, da sie, wo immer „sie in Industrien massiert verwendet werden, stets dasjenige Element darstellen, welches die Ruhe und Ordnung der Betriebe durch ihre zumeist angeborene schürende Tätigkeit stört und wiederholt die Ursache von Streiks bildet“.168 Die Arbeiterfrauen, so Ute Daniel, waren die ersten, die Kritik am Krieg äußerten.169 Mit Unbehagen sahen die Kriegsverantwortlichen auch den Feldpostverkehr mit den Botschaften, die von der Heimatfront an die Front gelangten. Die Zensurbehörden griffen ein, konnten jedoch nicht Millionen Briefe zensurieren. So erreichten diese ihre Adressaten mit Nachrichten über das knappe Überleben und Darben an der Heimatfront. Margit Sturm hat jene 1.500 Briefe und Karten analysiert, die der Kadettenaspirant und spätere Leutnant und noch spätere sozialistische Politiker und österreichische Bundespräsident in der Zweiten Republik Adolf Schärf mit seiner Freundin und späteren Frau Hilda Hammer Schärf wechselte. Mitte Januar 1916 verdeutlichte diese ihre kritischen Worte: „Unsere Mißwirtschaft empfinde ich wohl schwer nein sie empört mich schon geradezu. Um ein Stückl Brot muß man sich in dieser Jahreszeit um 6 Uhr früh anstellen, weshalb zögert man solange mit der Rayonierung? Und mit Petrolium ist’s dasselbe, so auch mit den Erdäpfeln, wenn sie überhaupt zu haben sind. Der Staat verlangt das Teuerste von seinem Volk, aber er bringt nicht einmal eine Broteinteilung zustande. Hier herrscht so viel Ungerechtigkeit, wer da nicht zur Revolutionärin wird, die möchte ich kennen …“170 167 Bundesarchiv/Militärarchiv Freiburg i. Br., RM3/4670, Monatsberichte für Juni 1916, 13, zit. nach Daniel, Arbeiterfrauen, 247. 168 Haus-, Hof- und Staatsarchiv Wien, Kriegsarchiv, Kriegsministerium 1917, 10. Abt. 213.134-1917, zit. nach Sigrid Augeneder, Arbeiterinnen im Ersten Weltkrieg. Lebens- und Arbeitsbedingungen proletarischer Frauen in Österreich, Wien 1987, 195. 169 Daniel, Arbeiterfrauen, 246. 170 Verein für Geschichte der Arbeiterbewegung, Wien, Nachlass Schärf, Privatkorrespondenz, 1.1.1.14, Brief von Hilde Schärf vom 16. Januar 1916, zit. nach Margit Sturm, Lebens-

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Frauen haben mit der katastrophalen Versorgungslage Einblicke in soziale Zusammenhänge erhalten, die sie, verbunden mit dem Wissen um Massensterben, Verwundungen und Verunstaltungen an der Front, zu Regierungsgegnerinnen werden ließen. Wie groß die Verzweiflung über Front und Heimatfront war, zeigt der Brief einer Frau aus Chorzow an ihren kriegsgefangenen Mann im Oktober 1917: „Mein heis geliebter Emil! Soeben Deine Photographie erhalten. Du bist ja mehr eine lebende Leiche wie einem Menschen ähnlich. Ich habe mich ja über das Bild entsetzt. Jetzt habe ich den richtigen begrif wie du es mein ärmster Emil dort haben musst. […] Wie ich dich […] heute auf dem Bild sehe, Emil ich sage dir es gibt keinen Gott. Wäre ein Gott gäbe es eine Gerechtigkeit. Häte da nicht schon längst ein Ende all dem schrecklichen Morden und Euch aller die Ihr in dieser Gefangenschaft lebend verbannt seit sein müssen. […] Ja es wäre besser du würdest selbst ein Ende diesem furchtbaren Leben alsbald machen. Und ich mit den Kindern folge dir nach. Denn selbst die Hölle kann nicht schrecklicher sein für alle verdamten, wie das jetztige Dasein ist.“171 Zur völligen Delegitimierung der Regierung trat der moralische Zusammenbruch, im Sinne einer Selbstaufgabe, hinzu. Frauen waren in der Artikulation dieser Situation radikaler als Männer, die zögerten, über Töten und Leiden zu schreiben. Das mag mit Überlebenswillen zu tun haben, der im Schreiben eine verlorene Ordnung wieder herstellen wollte. So berichtete Adolf Schärf mehr über seine alltäglichen Bedürfnisse wie Essen und Hygiene als über das Kriegsgeschehen. Das mag des Weiteren durch Rücksicht auf seine Frau und durch eine innere Zensur bedingt gewesen sein. Hinzu kommen Vorstellungen von Männlichkeit, die Klagen nicht erlaubten. Aus dem Briefwechsel geht jedoch auch hervor, wie sehr sich Hilda Schärf im Laufe der Kriegsjahre von seinem Einfluss unabhängig gemacht hat und selbständig Entscheidungen traf, auch gegen seinen ausdrücklichen Willen. Das sollte sich aber wieder ändern. Vermutlich trifft diese Erzählung paradigmatisch das, was über die Geschlechterbeziehungen von Kriegs- und unmittelbarer Nachkriegszeit zu berichten ist. In der Forschung wurde viel über die Frage diskutiert, ob der Erste zeichen und Liebesbeweise aus dem Ersten Weltkrieg. Eine sozialdemokratische Kriegsehe im Spiegel der Feldpost, in: Christa Hämmerle u. Edith Saurer (Hg.), Briefkulturen und ihr Geschlecht. Zur Geschichte der privaten Korrespondenz vom 16. Jahrhundert bis heute, Wien/Köln/Weimar 2003, 237–259, 243f. 171 Bayerische Staatsbibliothek, Handschriftenabteilung, Schinnereriana, Brief einer Frau aus Chorzow an ihren kriegsgefangenen Mann vom 25. Oktober 1917, zit. nach Benjamin Ziemann, Geschlechterbeziehungen in deutschen Feldpostbriefen des Ersten Weltkriegs, in: Hämmerle/Saurer, Briefkulturen, 261–282, 274.

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Weltkrieg einen Emanzipationsschub für Frauen gebracht habe. Dieser lässt sich in Hinblick auf eine Erweiterung der Erwerbsarbeit, auf die Möglichkeit des selbständigen Handelns, nicht zuletzt ausgehend von den Familienunterstützungen, behaupten. Öffneten sich nicht neue Horizonte, die auch nach 1918 noch wirksam waren, wenn man an die Einführung des Frauenwahlrechts in manchen europäischen Ländern denkt, an den Bubikopf und die kurzen Röcke? Dieser Sichtweise wurde der Rückgang der Frauenerwerbstätigkeit in der Nachkriegszeit entgegengehalten, wie auch die Nichteinführung des Frauenwahlrechts in zahlreichen europäischen Ländern in der Nachkriegszeit, und es wurde Kritik an einem zu engen Emanzipationsbegriff geübt. Ute Daniel erweitert diese Sicht auf die sozialen Protestformen der Kriegszeit in Deutschland, die auf die Nachkriegszeit nicht anwendbar seien.172 Allerdings konnte über sie etwas realisiert werden, was in Verdun und an der Front nicht möglich war, nämlich den Krieg in Frage zu stellen. Nach 1918 war es der politische Wille, ein Geschlechtermodell zu propagieren, das der Staat auch während des Krieges genutzt hat, nämlich das des Ehemannes als Haupt der Familie und der von ihm ökonomisch abhängigen Frau. In ihm dachte der Staat, ein klares Ordnungsmodell gefunden zu haben, das allerdings schon während des Krieges ambivalente, ungeahnte und ungeplante Auswirkungen gezeigt hatte. Dennoch, der Staat hatte die Heimkehrer im Blick und schickte die Frauen nach Hause. Von Emanzipation kann daher nicht gesprochen werden, umso weniger, als der Faschismus bald die politischen Vorstellungen vieler in eine andere Richtung lenkte. Mehr als von einem längerfristigen Emanzipationsschub für Frauen ist daher von einer Radikalisierung der Spannungen zwischen den Geschlechtern zu sprechen, die über das Jahr 1918 hinaus- und in das späte 19. Jahrhundert zurückreichen. Susanne Rouette hat sie als „negative Reaktion auf die nachdrückliche Bekräftigung einer neuen weiblichen Identität um die Jahrhundertwende“ bezeichnet.173 Der Schock des Krieges, die Gewalt, das Morden, das Massensterben, die Verstümmelungen, die Nervenerkrankungen haben zu einer großen Klage der Krieger geführt, die ihre „Entmannung“ reflektierten: „Wo sind die Nächte hin, Pierrot ... wo sind die Weiber? Abenteurer?? – Und die Freunde zerhackt, zerstoben, genarrt, verhext in feldgraue Schlachtgesellen!! ... O Finale des Infernos, des wüsten Hin und Hermordens – Ende des Hexensabbat, grausigster Entmannung, Hinabschlachtens, Kadaver über Kadaver, schon glotzt grün verwesende Leiche aus Gemeinen! – Wenn doch bald ein Ende herankäme!!“174 172 Daniel, Arbeiterfrauen, 233–241. 173 Rouette, Frauenarbeit, Geschlechterverhältnisse, 96. 174 Brief an Otto Schmalhausen vom April 1917, in: George Grosz, Briefe 1913–1959, hg. von

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Teil 1: Vom frühen 19. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg

So beschrieb George Grosz, der 1917 das entfesselte Morden beklagte, das Verwesen der Körper. Die Klage reichte über das Kriegsende hinaus und wurde nicht nur in Deutschland, sondern auch in England und Frankreich geführt, obwohl sie hier, so Françoise Thébaud, von einem geringeren Aggressionspotential gegen Frauen getragen war. Sie richtete ihren Fokus auf das Sterben der jungen Männer für Väter und Frauen und klagte Letztere an, für die Misswirtschaft verantwortlich zu sein. Dazu kam die Vorstellung von den „Kriegsgewinnlerinnen“.175 Beruhten diese Klagen auf den Opfern, die junge Männer im Krieg erbracht haben, so gibt es auch Aggressionen gegen Frauen, die auf der Verherrlichung des Krieges gründen. Klaus Theweleit hat in seinem Klassiker „Männerphantasien“ die Frauenbilder der Mitglieder von Freikorps entfaltet, wie sie in Romanen, Briefen und Autobiographien nachgelesen werden können. In diesem literarischen und autobiographischen Mikrokosmos wird die Kriegserfahrung als Rausch männlicher Leidenschaften dargestellt – wie in den Worten von Ernst Jünger: „Wenn das Blut durch Hirn und Adern wirbelte wie vor ersehnter Liebesnacht und noch viel heißer und toller (…) Die Feuertaufe! Da war die Luft so von überströmender Männlichkeit geladen, daß jeder Atemzug berauschte, daß man hätte weinen mögen, ohne zu wissen warum. O Männerherzen, die das empfinden können!“176 Der Krieg ist, so gesehen, ein Privileg des Mannes, der durch gemeinsame Erfahrung eint und von Frauen abschottet. Fern sind hier Verwundungen und Verstümmelungen, Kriegsneurosen und „Zitterer“. Frauen sind von der Erfahrungswelt der „Feuertaufe“ ausgeschlossen. Sie agierten hingegen in den „Männerphantasien“ in anti­ militaristischen Demonstrationen, die sich gegen Freikorps richteten: „Weiber kreischen fäusteschüttelnd auf uns ein. […] Die Weiber sind die schlimmsten. Männer prügeln, Weiber spucken auch und keifen und man kann so ohne weiteres nicht die Faust in ihre Fratzen pflanzen.“177 Der „Kampf der Geschlechter“ war zwischen 1850 und 1930 ein zentrales Thema der bildenden Kunst. In London und Paris, in Brüssel und Berlin entstanden Werke, „in denen die grausamen Frauen der antiken Mythologie und vor allem des Alten Testaments eine große Rolle spielten“.178 So auch in Franz

175 176 177 178

Herbert Knust, Reinbek bei Hamburg 1979, 49f, zit. nach Lewis, Lustmord, 124 (engl. Übersetzung im Text), 139, Anm. 53 (dt. Version). Thébaud, Der Erste Weltkrieg, 82. Klaus Theweleit, Männerphantasien, Bd. 1: Frauen, Fluten, Körper, Geschichte, Reinbek bei Hamburg 1980, 69. Theweleit, Männerphantasien, 73. Barbara Eschenburg, Der Kampf der Geschlechter. Der neue Mythos in Literatur, Philosophie und Kunst, in: dies., Der Kampf der Geschlechter, 9–42, 23.

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von Stucks „Judith und Holofernes“ aus dem Jahre 1926, der die nackte Judith knabenhaft und mit Bubikopf ausstattet, die mit dem Schwert in der Hand triumphierend auf den am Boden liegenden Holofernes blickt.179 Im Kontext des Großen Krieges gelesen, greift die alttestamentarische Erzählung von Judith, die ihre Stadt vor der Einnahme der Assyrer rettet, indem sie deren General Holofernes den Kopf abschlägt, Elemente des zeitgenössischen Diskurses auf, der Sexualität, Leidenschaften und die Gefährdung des Mannes durch die Frauen umfasst. Frauen, die Rechtsansprüche artikulierten und ökonomische und politische Interessen – oft implizit – formulierten, die traditionsreiche und öffentlich gestützte Geschlechterordnungen in Frage stellten, galten vielen als sexuelle und politische Gefahr.

179 Siehe http://www.museum-schwerin.de/wp-content/uploads/2011/05/4-H%C3%A4user2011-final.pdf, 5.

Teil II: Vom frühen 20. Jahrhundert bis in die Gegenwart

4. Verbote und Vernichtung

Fast die gesamte erste Hälfte des 20. Jahrhunderts sollte zu einem wissenschaftlichen und politischen Experimentierfeld der Neugestaltung der Geschlechterbeziehungen werden. Es gab drei große Experimente. Im Zuge der Russischen Revolution wurden Ehe und Lebenspartnerschaft einander de facto gleichgestellt und die ehemännliche Vorherrschaft abgeschafft. Die Sozialisierung von Familien- und Hausarbeit sowie die Aufwertung der Erwerbsarbeit sollten Frauen ökonomische und mentale Unabhängigkeit ermöglichen. Ein Ziel der Reformen war die radikale Säkularisierung und Individualisierung des Eherechts und die Konzipierung einer neuen Sexualethik. Diese Reformen wurden ab 1936, im Stalinismus, zurückgenommen. Sie entsprachen in den Jahren ihrer Umsetzung nicht den Intentionen anderer europäischer Staaten. Das Ideal des gesunden Paares, das seine Beziehungen von eugenischen Befunden bestimmen ließ, war das zweite Experiment, das zunächst wesentlich erfolgreicher war als jenes der Russischen Revolution – umso mehr als die Eugenik verschiedene Ausprägungen hatte, die auch Sozialreformen inkludieren konnten. Deren Folge waren jedoch eine europaweite eugenische Propaganda, die Erweiterung eugenischer Ehehindernisse und schließlich Eingriffe in den Körper wie Zwangssterilisationen. Das dritte Experiment war jenes, das sich an der Kategorie ‚Rasse‘ orientierte und in den Kolonien wie in Europa selbst Ehe- und Liebesverbote für Beziehungen zwischen Angehörigen verschiedener ‚Rassen‘ einführte. Dass von Verboten zur Vernichtung nur einige Verwaltungsschritte gegangen werden mussten, zeigte sich im Nationalsozialismus. 4.1 „… nicht das Ergebnis von Aberglauben und Tradition“

In seinem 1929 veröffentlichten Buch „Marriage and Morals“ schrieb Bertrand Russell, dass es kein Land auf der Welt und keine Zeit in der Weltgeschichte gäbe, in dem bzw. in der Sexualethik und sexuelle Institutionen „in einem

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solchen Ausmaß von rationalen Überlegungen bestimmt wären“ wie in der Sowjetunion, und er fügte hinzu: „I do not mean to imply that the institutions of Soviet Russia are in this respect perfect; I mean only that they are not the outcome of superstition and tradition, as are, at least in part, the institutions of all other countries in all ages.“1 Russell, der 1920 die Sowjetunion bereist hatte, fand dort nicht das erhoffte „gelobte Land“. Sexualethik und Sexualinstitutionen aber beeindruckten ihn. Wie sahen diese „traditionslosen“, „rationalen“ Gesetze und Normen aus? Es ist offensichtlich, dass die bolschewistische Regierung den Geschlechterverhältnissen ein großes gesellschaftliches und politisches Gewicht beimaß, denn bereits im Dezember 1917 dekretierte sie ein neues Eherecht, das mit der Zivilehe auch die Gleichberechtigung der Ehepartner einführte. Als Konsequenz dessen musste die Ehefrau nicht automatisch in die Staatsbürgerschaft ihres Mannes eintreten, wie dies in den meisten Ländern Europas der Fall war. Das sowjetische Eherecht löste das zaristische konfessionelle ab, das den Religionen freien Raum gelassen hatte. Zivilrechtlich war in diesem der Mann das Oberhaupt der Familie gewesen, aber im Unterschied zu vielen anderen europäischen Ländern hatten die Ehefrauen volle Verfügung über ihren Besitz und ihre Einkünfte und sie waren auch in den Rechten gegenüber den Kindern dem Mann gleichgestellt. Der Schritt, den das neue Eherecht setzte, war dennoch sehr groß, vor allem in Hinblick auf die Ehescheidung und die Eheschließung selbst. Die Ehescheidung, die das Schuldprinzip nicht kannte, konnte ohne Angabe von Gründen und auf Wunsch auch nur eines Ehepartners ohne bürokratischen Aufwand durchgeführt werden, während sie im vorrevolutionären Russland nur unter großen Hindernissen möglich gewesen war. Die radikalste Neuerung betraf jedoch die Eheschließung selbst: Es genügte eine einfache Registrierung vor dem Standesbeamten, die in der Folge (1926) mit nichtregistrierten, faktischen Ehen gleichgestellt bzw. fast gleichgestellt wurde. Diese Lebenspartnerschaften, deren Anerkennung bestimmten Kriterien zu folgen hatte, entsprach, unter Ausklammerung des Namensrechts, rechtlich einer Ehe. Nur das registrierte Ehepaar jedoch konnte entscheiden, ob es einen gemeinsamen Familiennamen führen wollte oder ob jeder/jede den eigenen beibehielt. Es gab demnach nur auf dieser symbolischen Ebene einen Unterschied. Konsequenterweise wurde nicht zwischen legitimen und illegitimen Kindern unterschieden. In beiden Formen, in der registrierten und in der faktischen Ehe, gab es keine Verpflichtung zu einem gemeinsamen Wohnsitz. Die Unterhaltspflicht war geschlechtsneutral und von der Bedürftigkeit bzw. Arbeitsunfähigkeit eines Partners abhängig. Sie musste nach der Scheidung nicht länger als ein Jahr geleistet werden. 1

Bertrand Russell, Marriage and Morals, New York 1929, 5.

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Es galt getrenntes Güterrecht; die ökonomischen Beziehungen zwischen Partner und Partnerin und erst recht zwischen ihnen und ihren Herkunftsfamilien sollten schwach sein. „Die Sowjetehe soll eine freie Arbeitsgemeinschaft von Frau und Mann sein, bei der die beiden Teile nicht stärker gebunden sind, als sie sich selbst binden wollen“, konstatierte Heinrich Freund.2 Auch wenn oder gerade weil in der sowjetischen Gesellschaft die Arbeit für das Kollektiv eine zentrale Bedeutung hatte, führte das Eherecht zu einem großen Individualisierungsschub. Es waren und blieben Individuen, die der Erwerbsarbeit nachgingen, nachgehen mussten und die jeweils über ein eigenes Einkommen verfügten. Die Vorstellung eines male breadwinner konnte unter diesen Rechtsvoraussetzungen nicht entstehen. Die Privatsphäre der Ehepartner sollte per legem gewahrt sein. Dementsprechend haben Kommentatoren des Eherechts die Einmischung des Ehepartners, der Ehepartnerin in Geschäfte, in Freundschaftsbeziehungen und in die Korrespondenz des anderen untersagt, wie Richard Stites bemerkt.3 Das Recht auf ein „eigenes Zimmer“ sollte gewahrt bleiben. Die Rechtsnormen intendierten, die Erwartungen in Hinblick auf Emotionalität und Treue niedrig zu halten. So galt der Ehebruch, der in allen anderen europäischen Staaten als zentraler Verstoß gegen eheliche Treue verstanden und strafrechtlich geahndet wurde, im sowjetischen Eherecht weder als Strafdelikt noch als Scheidungsgrund. Die Vorstellungen von der Paarbeziehung, auf denen das Eherecht beruhte, waren zwar nicht traditionslos, denn auch die Ehekritik um 1900 und Fouriers Liebes- und Arbeitskonzepte hatten ähnliche Beziehungswelten entwickelt, doch stellte das sowjetische Eherecht von 1917, 1918 und 1926 eine europäische Ausnahme dar. Dessen Ausnahmecharakter wurde durch die Entkriminalisierung von Abtreibung (1920) und gleichgeschlechtlicher Liebe erwachsener Männer und Frauen (1922) noch unterstrichen. Diese Rechtsentwicklung ist, wie Dan Healey herausgearbeitet hat, auch als radikale Säkularisierung und Modernisierung der Sprache zu sehen.4 Die religiöse Terminologie wurde durch jene der Gerichtsmedizin und der Kriminologie ersetzt. Die Entkriminalisierung von Homosexualität geschah hier zu einer Zeit, als in Deutschland für dieselben Handlungen fünf Jahre Gefängnis verhängt werden konnten, in England lebenslänglich. 2 3 4

Heinrich Freund, Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken, in: Loewenfeld, Das Eherecht der europäischen Staaten, 1932/1937, 319–376, 340. Richard Stites, The Women’s Liberation Movement in Russia. Feminism, Nihilism, and Bolshevism, 1860–1930, Princeton 1991, 363. Dan Healey, Homosexual Desire in Revolutionary Russia. The Regulation of Sexual and Gender Dissent, London 2001, 121–125.

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Der Einschnitt, den das Eherecht und das Sexualstrafrecht in der Russischen Sowjetischen Republik brachten, war radikal – und das galt noch viel mehr für die moslemischen Territorien der Sowjetunion. Die Frauen aus diesen Gebieten hatten schon vor der Oktoberrevolution Forderungen nach rechtlicher Gleichstellung der Geschlechter erhoben5 und sind für die Abschaffung des Brautkaufs – des „Kalym“, des Brautpreises, der dem Vater der Frau zufiel – und der Polygamie eingetreten. Sie forderten die Erhöhung des Heiratsalters von Mädchen, die Abschaffung von Bordellen und der staatlichen Reglementierung von Prostitution.6 So fortschrittlich das neue Eherecht im internationalen Vergleich war – und zwar in Hinblick auf die Gleichberechtigung der Ehepartner und Ehepartnerinnen, auf deren ökonomische Unabhängigkeit, auf die Gleichstellung von Ehe und Lebensgemeinschaften –, so schwierig erwies sich seine Durchsetzung. Probleme ergaben sich vor allem für jene Frauen, die in faktischer, nichtregistrierter Ehe lebten. Sie wurden häufig nach der Geburt eines Kindes von ihren Männern verlassen, die die Anerkennung der Lebensgemeinschaft als Ehe verweigerten, die Vaterschaft bestritten und keine Alimente zahlten. Sie waren, „zu arm, zu krank, zu mobil oder zu verantwortungslos“, meint Richard Stites, der zugleich von einer rasanten Zunahme der Straßenkinder spricht.7 Was für die Städte galt, wog noch schwerer im ruralen Raum der Sowjetunion. Die Bäuerinnen beklagten ebenfalls die Verantwortungslosigkeit ihrer Männer, die in Anbetracht dessen, dass bäuerliche Betriebe auf Familienarbeit und Mehrfamilienhaushalten basierten, hier besonders ins Gewicht fiel. Hinzu kam die Sorge wegen der schnellen Ehescheidungsmöglichkeit.8 Das Eherecht setzte ökonomisch gleich starke Individuen voraus, die bereit waren, die gleichen Belastungen auf sich zu nehmen. Diese Voraussetzungen waren allein schon deshalb nicht gegeben, weil die Frauenlöhne, wenn sie auch nach 1914 angehoben wurden, immer noch niedriger waren als jene der Männer. Kindererziehung blieb eine Angelegenheit der Frauen, wenn es auch Kinderkrippen, Kindergärten und Volksküchen gab. Dennoch haben viele Frauen in den neuen Partnerschaftsformen Chancen für eine Neugestaltung von Beziehungen gesehen, wie dies eine Arbeiterin artikulierte: Sie verfüge nur über ein Zimmer und hier möchte sie allein sein. Sie möchte ihr eigenes Zimmer, ihren Namen, eine Arbeit und Freiheit. Jede Begegnung mit ihrem Mann 5 6 7 8

Vgl. Marc Ferro, La révolution de 1917, Paris 1997 [1967], 809. Vgl. Freund, Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken, 358f. Stites, The Women’s Liberation Movement, 371. Vgl. Beatrice Farnsworth, Rural Women and the Law: Divorce and Property Rights in the 1920s, in: dies. u. Lynne Viola (Hg.), Russian Peasant Women, New York/Oxford 1992, 167–188, 167ff.

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sollte eine neue „Eroberung“ sein, Liebe nicht durch den gemeinsamen Alltag verbraucht werden.9 Die Forschung nennt diese Zeitspanne von Oktober 1917 bis zur Mitte der 1930er Jahre eine „Sexuelle Revolution“. Das Familienrecht von 1936 erschwerte die Ehescheidung wiederum, und die Abtreibung wurde bis auf wenige Ausnahmen verboten. 1944 wurde die faktische Ehe aufgehoben. Die „Pravda“ begrüßte 1936 das neue Familienrecht mit dem Kommentar, dass dieses die Sowjetfamilie stärken, „freie Liebe“ und „ungeregeltes Sexualleben“ entmutigen würde.10 Die Ehe sollte auf der ideologischen Nähe der Partner beruhen und als gemeinsames Ziel die Reproduktion haben. Die Zeiten der Suche nach Unabhängigkeit und Selbstverwirklichung waren damit vorbei. Die Diskussion um die „Sexuelle Revolution“ nimmt meist von Alexandra Kollontai ihren Ausgang.11 Kollontai hatte zunächst als Volkskommissarin für soziale Fürsorge und als Mitglied des Zentralkomitees großen Einfluss auf Politik und Recht, zog sich später aber in den diplomatischen Dienst zurück bzw. musste sich als Mitglied der Arbeiteropposition zurückziehen. Sie war als Rednerin, politische Kommentatorin und Publizistin, als Schriftstellerin und Leiterin der Frauenzentrale tätig. Sie war an der Erarbeitung des Eherechts beteiligt gewesen und hatte die Einführung sozialer Rechte, wie des Mutterschutzgesetzes, initiiert. Schon 1912 hatte sie sich mit dieser Thematik in „Mutterschaft und Gesellschaft“ beschäftigt, ein Buch, das von Helene Stöcker und dem „Bund für Mutterschutz“ stark beeinflusst war und das die europäischen Gesetzgebungen aufarbeitete.12 Anhand dieses Beispiels können wir die internationalen Verbindungen sehen, die es in den Diskussionen zum Sozialrecht, aber auch zum Eherecht gegeben hat. Als Volkskommissarin führte Kollontai einen bezahlten Mutterschaftsurlaub ein und setzte sich für die Errichtung einer Zentrale für Mutterschafts- und Säuglingsfürsorge sowie von Kindergärten und Kinderkrippen ein. Kollontais Vorstellungen von Liebe und sexueller Freiheit, ihre viel diskutierte „neue Moral“, sind von ihrer Sichtweise der Frauenemanzipation und hier in erster Linie der Erwerbsarbeit nicht zu trennen. Diese war nach Auffassung des Marxismus und aller sozialistischen Parteien das zentrale Element im menschlichen Dasein. Dem Arbeitsrecht galt nach 1917 demnach eine gleich große Aufmerksamkeit wie dem Eherecht: Bereits kurz nach dem Ende der Oktoberrevolution wurde der Achtstundentag eingeführt und Nachtarbeit für 9 Zit. nach Stites, The Women’s Liberation Movement, 364. 10 Zit. nach Stites, The Women’s Liberation Movement, 386–390, Zitat: 387. 11 Zu Kollontai vgl. Barbara E. Clements, Bolshevik Feminist. The Life of Aleksandra Kollontai, Bloomington 1979. 12 Vgl. Alexandra Kollontai, Autobiographie einer sexuell emanzipierten Kommunistin, Berlin 1989 [1926], 51–53, 27f.

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Frauen und Jugendliche verboten. In der Folge sollte die Sowjetunion mit einem einmonatigen Urlaub und einer 46-Stundenwoche das fortschrittlichste Arbeitsrecht der Welt haben und ein Vorbild für zahlreiche Reformen darstellen.13 Mit der Einführung des Achtstundentages folgten 1918 Finnland, Norwegen, Deutschland, Polen, die Tschechoslowakei und Österreich, 1919 Spanien, Portugal, die Schweiz, die Niederlande, Schweden und Frankreich.14 Auf der Basis der täglichen Arbeitszeitverkürzung um zwei Stunden, einer geplanten Sozialisierung der Hausarbeit und des neuen Eherechts entwickelte und propagierte Kollontai eine Reform der Geschlechterbeziehungen, in deren Zentrum ihre Visionen von einer neuen Frau standen: „Die Frau umschmeichelt nicht mehr wie früher ihren Gatten/Versorger, und sie unterwirft sich auch nicht mehr seinen Wünschen. Sie steht jetzt auf eigenen Füßen, geht zur Arbeit, hat ein eigenes Arbeitsbuch und ihre eigene Bezugskarte (für rationierte Lebensmittel und andere Gebrauchsgegenstände). Der Mann kann sich nicht mehr als Herr im Haus, als Familienvorstand oder Oberhaupt aufspielen. Was bleibt ihm auch anderes übrig, seitdem jede Frau ihre eigene Bezugskarte hat, auf der auch die Kinder aufgeführt sind. Die Frau war also nicht mehr von einem Privatunternehmer und von ihrem Gatten/Familienversorger abhängig. In Sowjetrussland gibt es nur noch ein Oberhaupt für die Arbeiterinnen und Arbeiter: die Sowjetunion.“15 Die rechtlichen und ökonomischen Verhältnisse der Sowjetunion – wo Krieg und Bürgerkrieg zu einer Rationierung der Lebensmittel geführt hatten – ermöglichten Frauen, so Kollontai, einen neuen Handlungsspielraum, denn sie seien von Männern unabhängig geworden. Sie sind erwerbstätig und verfügen über Lebensmittelkarten für sich und ihre Kinder und benötigen daher keinen Familienerhalter. Als Basis des Staates sieht sie das erwerbstätige, männliche und weibliche Individuum. Kollontais Auffassung von der Erwerbsarbeit als Voraussetzung der Frauenemanzipation hat eine Tradition, die auf die Geschichte des Sozialismus und Feminismus zurückverweist. Die Rahmenbedingungen für die Realisierung dieser Emanzipationsvorstellungen hatten sich in Russland seit dem späten 19. Jahrhundert durch eine rasante Industrialisierung und im Verlauf des Ersten Weltkrieges durch eine Erweiterung der Frauenarbeit entschieden verändert. 13

Vgl. William Chase u. Lewis Siegelbaum, Worktime and Industrialization in the U.S.S.R., 1917–1941, in: Gary Cross (Hg.), Worktime and Industrialization. An International History, Philadelphia 1988, 183–216. 14 Gary Cross, Worktime in International Discontinuity 1886–1940, in: ders., Worktime and Industrialization, 155–181, 162ff. 15 Alexandra Kollontai, Die Situation der Frau in der gesellschaftlichen Entwicklung. Vierzehn Vorlesungen vor Arbeiterinnen und Bäuerinnen an der Sverdlov-Universität 1921, Frankfurt 1977, 170.

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Diese Bedingungen sollten nach der Oktoberrevolution durch eine zumindest teilweise erfolgte Sozialisierung der Familien- und Hausarbeit verbessert werden. Erwerbsarbeit hat in Kollontais Perspektive jedoch nicht nur eine zentrale Rolle für die Beziehungen zwischen den Geschlechtern, sondern auch für jene zwischen den Klassen, denn es dürfe keine „Parasiten“ geben: „Wer nicht arbeiten will, soll auch nicht essen“, schreibt sie lapidar.16 Ihren Kult der Arbeit haben viele ihrer Mitstreiter und Mitstreiterinnen geteilt: Der „neue Mensch“ sollte der „entschlossene, arbeitende, kultivierte Arbeitssoldat“ sein.17 Das war das Programm für die Männer, das stark auf Leistungssteigerung hin orientiert war. Die Unterhaltsbestimmungen des Eherechts hielt Kollontai für Übergangslösungen, denn für kranke Bürger und Bürgerinnen sei der Staat bzw. in ihrer Diktion die „Gesamtgesellschaft“ zuständig. „Es erscheint mir außerdem vollkommen korrekt, daß in einer solchen Situation der Ehepartner von dem im Dekret vorgeschriebenen Versorgungspflichten gegenüber seinem Partner befreit wird, mögen sich die beiden Menschen auch noch so lieb haben. In einem solchen Fall ist es die Aufgabe der Gesamtgesellschaft, diese Verantwortung zu übernehmen […].“18 Kollontais Insistenz auf der Entlastung der Lebens-EhePartner und -Partnerinnen von Pflegetätigkeit ist als Teil ihres Verständnisses von Liebe zu sehen. Sie verstand Liebe historisch als Machtinstrument, das einerseits die Herrschaft des Mannes über die Frau absichere, andererseits zu viele Lebensenergien an sich ziehe. Die mit Liebe verbundenen Leiden und Qualen beschrieb sie als Vergeudung von Energie: „Es war eine ganz unglaubliche Vergeudung unserer Seelenenergie, eine Herabsetzung unserer Arbeitskraft, die sich in unerschöpfliche Gefühlserlebnisse verströmte“, schreibt sie in ihrer Autobiographie.19 Zu sich persönlich, führte sie weiter aus, dass sie noch aus einer Generation stamme, die von der Vorstellung des Liebesglücks angezogen gewesen sei. Zwar sei immer Arbeit und nicht Liebe im Mittelpunkt des Lebens gestanden, dennoch hätte sie mit dem Problem „Arbeit oder Ehe und Liebe“ kämpfen müssen.20 Mit dieser Formulierung griff Kollontai Diskussionen auf, die (frauenbewegte) Frauen, aber auch Männer seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts beschäftigten. Sie löste das Problem jedoch nicht individuell, sondern strukturell und politisch. Frauen sollten ihre Kraft primär in Arbeit investieren. „Vor uns steht nicht mehr das ‚Weibchen‘, der Schatten des Mannes, – vor uns steht die Persönlichkeit, das 16 Kollontai, Die Situation der Frau, 170f. 17 Stefan Plaggenborg, Revolutionskultur. Menschenbilder und kulturelle Praxis in Sowjetrussland zwischen Oktoberrevolution und Stalinismus, Köln/Weimar/Wien 1996, 40. 18 Kollontai, Die Situation der Frau, 221. 19 Kollontai, Autobiographie, 11. 20 Kollontai, Autobiographie, 11.

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Weib als Mensch.“21 Kollontais Verständnis von Liebe und Arbeit ist von jenem Freuds nicht weit entfernt, der auf den schwankenden Boden der Liebe und die Sicherheit des Realitätsprinzips Arbeit verwiesen hat; allerdings bezog sich Kollontais Verweis im Unterschied dazu ausschließlich auf Frauen. Es sei jedoch davon auszugehen, dass sich die Beziehungen zwischen den Menschen generell verändern würden. Die „Menschen des Jahrhunderts schärfster Klassengegensätze und der individualistischen Moral“ würden „immer noch unter einer unentrinnbaren seelischen Einsamkeit“ leiden und entwickelten daher eine „krankhafte Gier, sich an die Illusion einer ‚verwandten Seele‘ zu klammern“.22 In der kollektivistischen Gesellschaft der Sowjetunion hingegen werde es, so ihre Sicht, weniger Egoismus und stattdessen Beziehungen zwischen vielen Menschen geben. Die Beziehungen zwischen den Geschlechtern würden sich daher – geprägt von „Gleichheit und Aufrichtigkeit kameradschaftlicher Solidarität“ – grundsätzlich verändern. In der Zukunft würden viele Möglichkeiten der Geschlechterliebe zur Auswahl stehen, nicht nur die „große Liebe“.23 Kollontais Vision der Geschlechterbeziehungen wurde von den Bolschewisten zunehmend angegriffen. Es gäbe wichtigere Fragen als Sexualität und Familie, hieß es, und sie wurde des „George-Sandismus“ beschuldigt, der Verherrlichung des Feminismus und der sexuellen Freizügigkeit in den Spuren der französischen Schriftstellerin George Sand.24 Bertrand Russell, der von der Traditionslosigkeit der sowjetischen Sexualethik überzeugt war und hierbei nicht ganz recht hatte, reflektierte in seinem Buch über Ehe und Moral selbst über einen Zusammenhang von Arbeit und Liebe. Neben der Religion – diese allerdings nicht notwendigerweise – sei das Evangelium „von Arbeit und ökonomischem Erfolg“, wie es vor allem in den Vereinigten Staaten gepredigt werde, ein großer Gegner der Liebe. Die Karriere werde als ein vorrangiges individuelles und gesellschaftliches Ziel verstanden, das der Liebe nicht geopfert werden dürfe. Doch weder Arbeit noch Liebe sollten einander geopfert werden, so Russell, sind sie doch beide notwendig, um Beziehungen zu anderen, „zum Rest der Welt“, aufzubauen. Liebe, Kinder und Arbeit seien die fruchtbarsten Quellen, um solche Beziehungen herzustellen.25 Kinder sieht er als Korrektiv des auch anarchischen Charakters der Liebe. 21 Alexandra Kollontai, Die neue Moral und die Arbeiterklasse, Münster 1977 [Berlin 1920], 43. 22 Kollontai, Die neue Moral, 72; vgl. auch Iring Fetcher, Nachwort, in: Kollontai, Autobiographie, 69–104, 81. 23 Kollontai, Die neue Moral, 73; vgl. auch Fetcher Nachwort, 82; Clements, Bolshevik Feminist, 227; Stites, The Women’s Liberation Movement, 349. 24 Vgl. Clements, Bolshevik Feminist, 233. 25 Russell, Marriage and Morals, 118–129, Kap. 9: The Place of Love in Human Life, Zitate: 120, 126.

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4.2 Der Kult des gesunden Paares

Im Unterschied zur Sowjetunion, wo Eugenik nur eine geringe Rolle spielte, hat sie in anderen europäischen Ländern einen Siegeszug angetreten. Die Eugenik, die „Wissenschaft vom guten Erbe“, wollte die Geschlechterbeziehungen auf eine wissenschaftliche Basis stellen, um eine optimale Nachkommenschaft zu erzielen. Eugenik und ‚Rassenlehre‘ haben insbesondere seit dem Ende des 19. Jahrhunderts die Geschlechterpolitik zu bestimmen begonnen und in den 1930er und frühen 1940er Jahren standen sie im Zenit ihres Einflusses. Die Annahme, dass Menschen durch ‚Rassenzugehörigkeit‘ und Erbanlagen biologisch determiniert seien, ließ Individualrechte unter dem Gesichtspunkt der Erreichung einer gesunden ‚heilen‘ Welt zurücktreten. Dies traf die durch wissenschaftliche Ergebnisse und politische Entscheidungen nun in Frage gestellte freie Partnerwahl. Die Optimierung des Erbgutes wurde zum zentralen Anliegen, und als dessen Voraussetzung galten gesunde Körper. Eugenik und ‚Rassenlehre‘ verstanden sich als Instrumente der Wissenschaft gegen das die Gesellschaften bedrohende Phänomen der ‚Degeneration‘, verursacht durch Krankheiten, moralischen Verfall und durch die Folgen der Modernisierung und Industrialisierung. Die ‚Rassenlehre‘ hat darüber hinaus das Heil von der ‚reinen Rasse‘ erwartet, und die ideale Nachkommenschaft daher ausschließlich durch die Einhaltung biologischer Gesetze gewährleistet gesehen. Der Staat, der nationalsozialistische, verstand sich als Garant dieser Einhaltung, die er schließlich bis zur Ausgrenzung und Vernichtung anderer ‚Rassen‘ betrieb. Die Eugenik konnte auch Anstoß zu sozialen Reformen geben. So umfassten die sozialdemokratischen Ansätze der Eugenik die Hebung des Lebensstandards durch Sozialhygiene, eine bessere Ernährung, den Sieg über den Alkoholismus und durch Sexualaufklärung. Diesen Weg gingen das „Rote Wien“, vor allem aber die skandinavischen Länder, wie etwa Schweden, durch die Bereitstellung billiger Wohnungen, durch kostenlose Schulausspeisung, Legalisierung der Abtreibung, Propagierung der Geburtenkontrolle und Sexualkundeunterricht. Dennoch kam es auch hier zu Eingriffen in den Körper durch Sterilisationen. In den skandinavischen Staaten wurden früh eugenisch indizierte Eheverbote eingeführt. So bestimmte Schweden im Jahr 1915 Geistes- und Geschlechtskrankheiten sowie Epilepsie als Ehehindernis. In Dänemark umfasste das 1938 erweiterte Eheverbot erbliche Blindheit und Taubheit, in Norwegen seit 1918 Geisteskrankheit und Syphilis. Eugenische Bestimmungen hatte auch das Eherecht Finnlands seit 1929.26 Der Staat übernahm die 26 Vgl. dazu Gunnar Broberg u. Mattias Tydén, Eugenics in Sweden: Efficient Care, in:

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Aufgabe eines Regulators der Geschlechterbeziehungen, eine Aufgabe, aus der er sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts zunehmend zurückgezogen hatte, nicht zuletzt durch die Einführung der Zivilehe. Die skandinavische Gesetzgebung wurde von den Eugenikern und Politikern in Europa aufmerksam verfolgt – so in Italien. Dort erhielt die Einführung ärztlicher Gesundheitszeugnisse in Norwegen – apostrophiert als „ein fortschrittliches und friedliebendes Land“27 –, die bestätigten, dass die Ehewerber nicht an Geschlechtskrankheit litten, Applaus und führte zu einer großen, langanhaltenden Diskussion über Ehetauglichkeitszeugnisse, die jedoch keine rechtlichen Folgen hatte. Wissenschaftliche Diskussionen allein reichten nicht aus, um Ehekontrollen und Eheverbote einzuführen. In Kroatien wurde von ehewilligen Männern der Nachweis der Freiheit von Geschlechtskrankheiten zwei Jahre lang eingefordert, dann wurde diese Bestimmung fallengelassen,28 im Unterschied zu Bulgarien, wo Epilepsie und Syphilis seit 1895 als Ehehindernis galten.29 Ein ärztliches Zeugnis wurde allerdings nicht verlangt, wodurch das Gesetz wohl schwer durchsetzbar war. Österreich ging seine eigenen Wege, die sich an psychischen und sexuellen Normen orientierten, und legte Hysterie, „konträr sexuelles Empfinden“, Homosexualität, „abnormes geschlechtliches Empfinden“ schon ab der Jahrhundertwende als Ehehindernisse fest.30 Wie diese Empfindungen festgestellt werden sollten, ist unklar. Die Heilssuche in der Gesundheit erlaubte ein Ausufern in psychisches, moralisches und sexuelles Verhalten. In Rumänien kriminalisierte das Strafrecht von 1936 Ehen zwischen einer gesunden Person und einer, die an einer Geschlechtskrankheit oder einer epidemischen Krankheit litt. Der Strafrahmen bewegte sich zwischen einem und drei Jahren. Die Strafhöhe bei nicht­ ehelichem Geschlechtsverkehr unter denselben Voraussetzungen war niedriger angesetzt. Allerdings war die Voraussetzung der Strafverfolgung eine Anzeige von Seiten des Opfers. Maria Bucur hat auf die schwierigere Ausgangslage für

27 28 29 30

Gunnar Broberg u. Nils Roll-Hansen (Hg.), Eugenics and the Welfare State. Sterilization Policy in Denmark, Sweden, Norway, and Finland, East Lansing 1996, 77–149, 100; Bent Sigurd Hansen, Something Rotten in the State of Denmark: Eugenics and the Ascent of the Welfare State, in: ebd., 9–76, 57; Nils Roll-Hansen, Conclusion: Scandinavian Eugen­ic in the International Context, in: ebd., 259–272. Claudio Pogliano, Scienza e stirpe: Eugenica in Italia (1912–1939), in: Passato e Presente 5, 1 (1984), 61–97, 74. Vgl. Eduard Lovrić, Rechtsgebiet Kroatien-Slawonien, in: Loewenfeld, Das Eherecht der europäischen Staaten, 1932/1937, 985–1038, 1005. Vgl. Venelin Ganeff, Bulgarien, in: Loewenfeld, Das Eherecht der europäischen Staaten, 1932/1937, 793–819, 801. Robert von Neumann-Ettenreich u. Karl Satter, Österreich, in: Loewenfeld, Das Eherecht der europäischen Staaten, 1932/1937, 117–223, 140f.

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Frauen hingewiesen, die sich bei einer Anzeige dem Prostitutionsverdacht aussetzten, während Männer bei vorehelichem Geschlechtsverkehr mit keinerlei Zumutungen rechnen mussten.31 Die ‚Biopolitik‘ europäischer Staaten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat sexuelle Beziehungen und Partnerwahl dem Bereich des Intimen und Privaten enthoben. Es kam zu einer wachsenden „Verwissenschaftlichung“ und „Vergesellschaftung“ der Ehe, so Gabriele Czarnowski, wenn dies auch nicht in allen Teilen Europas gleichermaßen erfolgreich war.32 Das trifft auch auf die Ehe- und Sexualberatungsstellen zu, die allerdings vielfältige Aufgaben übernahmen und nicht nur als Zentralen eugenischer Propaganda zu verstehen sind. So gaben sie auch Sexualaufklärung, wie etwa das Institut für Sexualwissenschaft von Magnus Hirschfeld. Eine der ersten Eheberatungsstellen Europas wurde 1922 in Wien durch eine sozialdemokratische Verwaltung eingerichtet. Der „neue Mensch“, den die Sozialdemokratie heranbilden wollte, war aufgeklärt, bildungs-, leistungsund arbeitsorientiert und er sollte auch gesund sein. In einem Merkblatt der „Gesundheitlichen Beratungsstelle für Ehewerber“ hieß es: „Die Gesundheit der Ehegatten ist für das Glück der Ehe wichtiger als Geld und Gut.“33 Die Besucher und Besucherinnen wurden in „Gesunde“, „Venerische“, „Tuberkulose“ und „Sexualleidende“ eingeteilt.34 Diese Klassifikation schuf potentielle Exklusionen und Inklusionen und damit potentielle Liebesgebote und -verbote. Allerdings war der Zulauf zur Eheberatungsstelle schwach. Im Jahr 1929 suchten 892 Personen Rat.35 Männer und Frauen waren offensichtlich an Ratschlägen zur Partnerwahl nicht interessiert bzw. hielten Distanz zu einer öffentlichen Einrichtung, die Einfluss auf ihr Sexualleben nehmen wollte. Die Vorsicht der Bevölkerung gegenüber den Beratungsangeboten war nicht unbegründet. Eugeniker und Politiker dachten bald an die Einführung von obligatorischen Gesundheitszeugnissen für Ehewerbende. So wurde in Deutschland seit den späten 1910er Jahren, „Ueber den gesetzlichen Austausch von Gesundheitszeugnissen vor der Eheschließung und über rassenhygienische 31 Maria Bucur, Eugenics and Modernization in Interwar Romania, Pittsburgh 2002, 203f. 32 Gabriele Czarnowski, Die Ehe als „Angriffspunkt der Eugenik“. Zur geschlechterpolitischen Bedeutung nationalsozialistischer Ehepolitik, in: Dagmar Reese u. a. (Hg.), Rationale Beziehungen? Geschlechterverhältnisse im Rationalisierungsprozeß, Frankfurt a. M. 1993, 251–269, 252. 33 Zit. nach Karin Lehner, Verpönte Eingriffe. Sozialdemokratische Reformbestrebungen zu den Abtreibungsbestimmungen in der Zwischenkriegszeit, Wien 1989, 78. 34 Lehner, Verpönte Eingriffe, 81. 35 Vgl. Maria Mesner, Geburten / Kontrolle. Reproduktionspolitik im 20. Jahrhundert, Wien/Köln/Weimar 2010, 68f.

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Eheverbote“ diskutiert.36 Ehetauglichkeitszeugnisse erfuhren hier als Initiative von ‚Rassenhygienikern‘ nach 1914 „eine erste politische Konjunktur“, und nach 1923 entstanden in zahlreichen deutschen Städten Eheberatungsstellen, die „Zeugnisse über die gesundheitliche und erbgesundheitliche Eignung zur Ehe“ ausstellen sollten.37 In Frankreich forderten Eugeniker jahrzehntelang voreheliche medizinische Untersuchungen, ehe sie unter dem Vichy-Regime 1942 eingeführt wurden und bis heute in Form einer Gesundheitskarte eingefordert werden.38 In Rumänien konnten Eheberatungsstellen auf nationaler Ebene nicht durchgesetzt werden, aber einzelne Ärzte veranlassten ihre Patienten zu vorehelichen Gesundenuntersuchungen, wie Maria Bucur schreibt.39 Die politische Kontrolle von Partnerwahl und sexuellen Beziehungen ist bei den Adressaten auf geringen Widerhall gestoßen. Sie zogen es vor, ihre Entscheidungen und ihre sexuellen Beziehungen selbst zu regeln. Aber auch die politische Durchsetzung stieß auf Hindernisse, wie die unterschiedlichen einschlägigen Maßnahmen der europäischen Staaten zeigen. Zugleich handelte es sich dabei um einen Angriff auf das Ideal der Liebesehe bzw. auf die freie Wahl des Partners, der Partnerin, das sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts tendenziell durchsetzen konnte. Diese Entwicklung beruhte nicht nur auf dem Handeln von Männern und Frauen, sondern auch auf einer Rechtsentwicklung, die mit der Einführung der Zivilehe zahlreiche Eheverbote außer Kraft gesetzt hatte. Die Eugeniker drehten das Rad zurück und sahen in der Liebe eine Täuschung, die agiere „wie ein Unbewusstes, wie ein Wahnsinniger das heißt wie ein Krimineller“, so der Eugeniker Adolphe Pinard 1914.40 Es war die Nichtkalkulierbarkeit dieses Gefühls, die sie ablehnten. Sie propagierten ein durch eugenische Entscheidungen gezähmtes Gefühl. Wissenschaft und Politik verstanden sich auch als Interventionsagenturen, die die Betroffenen zum Eheverzicht veranlassen sollten. Dazu gehörten Sexualwissenschaftler wie Paolo Mantegazza, der nicht nur Anthropologe und 36 Eine Aussprache im Rahmen von zwei Versammlungen, organisiert von der Berliner Gesellschaft für Rassenhygiene 1916/17, zit. nach Czarnowski, Die Ehe, 255. 37 Peter Weingart, Jürgen Kroll u. Kurt Bayertz, Rasse, Blut und Gene. Geschichte der Eugenik und Rassenhygiene in Deutschland, Frankfurt a. M. 1992, 274–276. 38 Vgl. William H. Schneider, The Eugenics Movement in France, 1890–1940, in: Marc B. Adams (Hg.), The Wellborn Science. Eugenics in Germany, France, Brazil, and Russia, New York/Oxford 1990, 69–109, 84f. 39 Bucur, Eugenics and Modernization, 201–204. 40 Siehe Adolphe Pinards Ankündigung des Vortrags „L’avenir de la race humaine“, in: Revue scientifique 20 (Juni 1914), 771, zit. nach Anne Carol, Les enfants de l’amour: à propos de l’eugénisme au XIXe siècle, in: Romantisme 68 (1990), 87–95, 92: „[…] l’Amour, et on le laisse agir comme un inconscient, comme un fou, c’est-à-dire comme un criminel trop souvent.“

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Arzt war, das Anthropologische Museum in Florenz gegründet hatte, auf ein großes wissenschaftliches Œuvre blicken konnte, sondern auch literarische Werke verfasste. Sein Buch „Un giorno a Madera“ von 1925 ist als ein Roman der Liebespädagogik zu bezeichnen; er selbst spricht von „Liebeshygiene“. Der Roman war ein großer Erfolg, 1943 erschien er bereits in der vierzigsten Auflage. Er handelt von der großen Liebe zwischen William und Emma, die aber nach dem Wunsch von Emmas Vater nicht erfüllt werden durfte, denn Emmas Blut sei, wie das ihres Vaters und ihrer früh verstorbenen elf Geschwister, „vergiftet“. Eine genauere Angabe zur Art der „Vergiftung“ wird nicht gemacht, vermutlich geht man aber nicht fehl, dabei an Syphilis zu denken. Emma dürfe alles in ihrem Leben tun, aber nie heiraten. „Du musst mit der Tante Anna leben“, so der Vater zu Emma auf seinem Totenbett. Er hinterlässt ihr als Vermächtnis sein, wie anzunehmen, erst nach der Geburt seiner Kinder erworbenes oder artikuliertes Wissen um die Notwendigkeit des Liebesverzichts: „Wer krank ist und Kinder möchte, ist der schlechteste Vater, denn er gibt ihnen das Gift zu trinken; er ist schlechtester Bürger, denn er gibt der Nation schlechte Bürger; er ist ein elender Mensch, weil er das wichtigste Gut der menschlichen Familie zerstört: die Gesundheit und die Kraft.“41 Emma verzichtet daher auf ihre Liebe und weiß um ihren nahen Tod. William bleibt der Schmerz und die Verpflichtung zu einer beruflichen Karriere. Eine kinderlose Ehe haben sie nicht erwogen. So erfolgreich der Roman war, so wenig wurden seine Forderungen politisch realisiert, denn das faschistische Italien entschloss sich nicht zu eugenisch begründeten Eheverboten, 1938 allerdings zu ‚rassisch‘ begründeten. Für den geringen Erfolg der Eugenik in Italien, soweit sie Eheverbote betrifft, war auch die katholische Kirche verantwortlich, nicht nur im Sinne ihrer Machtposition, sondern auch im Sinne einer Tradition, die in den Lateranverträgen von 1929 zwischen dem faschistischen Staat und der katholischen Kirche eine Aufwertung erfuhr. Was die Rezeption betrifft, so lässt sich „Ein Tag in Madera“ als Roman einer großen, am Verbot des Vaters gescheiterten Liebe lesen, ohne notwendigerweise der Eugenik einen großen Stellenwert einzuräumen. Das Lob des gesunden Paares kann aber für die Vorstellung vom idealen Körper dennoch einflussreich gewesen sein. Die Gesunden waren auch die Schönen und diejenigen, die fähig waren, an sich zu arbeiten, so eine zentrale Überlegung in der deutschen Nacktkulturbewegung, die Maren Möhring erforscht hat.42 41 Paolo Mantegazza, Un giorno a Madera. Una pagina dell’Igiene dell’amore, Firenze 1943 [1874], 87 u. 91. 42 Maren Möhring, Marmorleiber. Körperbilder in der deutschen Nacktkultur (1890–1930), Köln/Weimar/Wien 2004.

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Großbritannien führte ebenwenig Ehebeschränkungen aufgrund eugenischer Überlegungen ein, obwohl es hier eine starke und gut organisierte eugenische Bewegung gab, die vom Feminismus kräftig unterstützt wurde. Die politischen Parteien hielten sich jedoch von eugenischen Forderungen fern, um individuelle Freiheiten nicht zu verletzen. Allerdings ist ein Vergleich zwischen den eugenisch begründeten Einschränkungen von Ehe und Fortpflanzung in verschiedenen europäischen Ländern schwierig durchzuführen, da Ehe- und Reproduktionsverbote nicht nur explizit, sondern auch implizit im Recht verankert werden konnten. So sah der „Mental Deficiency Act“ von 1913 unter bestimmten Voraussetzungen die Einweisung von Geistesschwachen in eine Anstalt vor, wobei die Verhinderung von Elternschaft ein Argument darstellte. Eine Einweisung konnte auch ein effizienter Akt zur Verhinderung von Liebesbeziehungen sein.43 Die eugenischen Forderungen wurden medial aufbereitet. Sie bedurften jedoch einer breiten und administrativen Infrastruktur und einer wissenschaftlich-technischen Bürokratie,44 die nicht immer zur Verfügung standen. Eine generelle Durchsetzung obligatorischer medizinischer Untersuchungen vor der Eheschließung gelang auch dem Nationalsozialismus nicht in vollem Umfang. Seine im „Gesetz zum Schutz der Erbgesundheit des deutschen Volkes“ („Ehegesundheitsgesetz“) von 1935 eugenisch definierten Eheverbote – sie bezogen sich auf ansteckende Krankheiten, Geistesstörungen und Erbkrankheiten – konnte er im Unterschied zu den ‚rassisch‘ begründeten und im „Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre“ („Blutschutzgesetz“) festgelegten institutionell nicht umfassend absichern.45 Dies gelang allerdings in Zusammenhang mit den Ansuchen auf „Ehestandsdarlehen“, auf die Gewährung eines Darlehens bei der Eheschließung: Die Interessenten waren – auch gegen ihren Willen – zu einer Untersuchung verpflichtet. Gabriele Czarnowski hat die Bedeutung dieser Einrichtung für Kontrollen über Paarbeziehungen und Ehewünsche, über Physis und Psyche sowie über Familienverhältnisse aufgezeigt.46 Darüber hinaus war diese Form der Unterstützung ein Anstoß für den Ausbau der Gesundheitsämter und des damit verbundenen technisch-bürokratischen Apparats, der die Aufgaben der Selektion erst übernehmen konnte.47 Die Gesuche um ein Ehestandsdarlehen 43 Vgl. dazu Ann Taylor Allen, Feminism and Eugenics in Germany and Britain, 1900–1940: A Comparative Perspective, in: German Studies Review 23, 3 (2000), 477–505. 44 Vgl. Gabriele Czarnowski, Das kontrollierte Paar. Ehe- und Sexualpolitik im Nationalsozialismus, Weinheim 1991, 16 sowie Kap. 1. 45 Vgl. Czarnowski, Das kontrollierte Paar, 73–79; dies., Die Ehe, 256–258. 46 Vgl. Czarnowski, Das kontrollierte Paar, Kap. 4; dies., Die Ehe, 260–262. 47 Vgl. Czarnowski, Das kontrollierte Paar, 107f.

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endeten für die Paare oft mit einem Eheverbot bzw. einer Zwangssterilisation. Die Untersuchung auf Ehetauglichkeit umfasste die „Fortpflanzungsfähigkeit“ und die sexuelle Leistungsfähigkeit, die Beurteilung des „ehelichen Sozialverhaltens und der Kindererziehungskompetenz“ des Paares. Gesundheit war ein dehnbarer Begriff, der nicht nur den Körper, sondern auch die Moral und das Sozialverhalten mit einschloss. Ehestandsdarlehen konnten auch wegen mangelnden Schulerfolges der Frau oder wegen „Asozialität“ abgelehnt werden. In diesen Argumenten öffnete sich das ganze Spektrum obligatorischer Attribute von Ehepaaren: Deutsch oder „artverwandten Blutes“ mussten sie sein, vom Nationalsozialismus überzeugt, gesund und wirtschaftlich in der Lage, „einen einigermaßen gesicherten Haushalt zu führen“.48 Mit den eugenischen und ‚rassischen‘ Anforderungen verbunden war politische und soziale Konformität. Das „Ehegesundheitsgesetz“ stattete den Standesbeamten mit der Vollmacht aus, im Fall des Zweifels an der Gesundheit der Ehewilligen den Amtsarzt einzuschalten. Deren Abhängigkeit vom Wohlwollen der Amtspersonen und der Nachbarn wuchs. Denunziationen haben auch bei der Durchführung des „Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ von 1933 mitgewirkt. Gisela Bock hat dieses Gesetz treffend als das „rassenhygienische Ei des Columbus“ bezeichnet.49 Im Verhindern der Reproduktionsfähigkeit waren Zwangssterilisationen wirkungsvoller als Eheverbote. Sie waren Teil einer Politik des „Antinatalismus“,50 die trotz des dezidierten Wunsches des nationalsozialistischen Regimes nach einer Steigerung der Geburtenrate umgesetzt wurde. Die Interpretationen über die Ursachen „erbranken Nachwuchses“ gaben breite Spielräume. Sterilisiert wurden Roma und Sinti, „Mischlinge“ und sozial Unangepasste, jene, die sich nicht an die Geschlechterrollen hielten – wie Männer, die im Erwerbsleben versagten, oder Frauen, denen „Haltlosigkeit in sexueller Beziehung“ unterstellt wurde. Auch ledige Mütter erregten politisches Misstrauen: „Bei unehelich Gebärenden wird es sich in vielen Fällen um geistesschwache Personen handeln, die unter das Gesetz fallen dürften. Solche Personen sind dann dem zuständigen Bezirksarzt zur Anzeige zu bringen“, verfügte der Reichsinnenminister am 9. Juli 1934 in einer Verordnung für

48 Schlagwort „Ehestandsdarlehen“, in: Egbert Mannlicher, Wegweiser durch die Verwaltung unter besonderer Berücksichtigung der Verwaltung im Reichsgau Wien sowie in den Reichsgauen Kärnten, Niederdonau, Oberdonau, Salzburg, Steiermark und Tirol mit Vorarlberg, Berlin/Leipzig/Wien 1942, 99–100, 99. 49 Mit Bezug auf Agnes Bluhm, Das GVeN [Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses], in: Die Frau 41 (1934), 529–538, 537f, zit. nach Gisela Bock, Zwangssterilisation im Nationalsozialismus. Studien zur Rassenpolitik und Frauenpolitik, Opladen 1986, 131. 50 Bock, Zwangssterilisation, 83, 461–463.

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Hebammen.51 Die 200.000 Männer und 200.000 Frauen, die in Deutschland in den Jahren von 1934 bis 1945 zwangssterilisiert wurden, durften ihrerseits nur Zwangssterilisierte heiraten. Sie sollten eine eigene Kaste Unfruchtbarer, Stigmatisierter und Segregierter bilden. Soweit sind die anderen europäischen Länder, die sich zur Einführung der Zwangssterilisierung entschlossen hatten, wie die skandinavischen Staaten, nicht gegangen. Norwegen und Schweden, Finnland und Dänemark hatten 1934 bzw. 1935 entsprechende Gesetze eingeführt, die sich auf Geisteskrankheit bezogen. In Schweden allerdings sollte es in der Folge, nämlich ab 1941, nicht dabei bleiben. Zwangssterilisiert wurde „aus eugenischen, sozialen, humanitären oder kriminologischen Gründen“.52 Diesen weitreichenden gesetzlichen Möglichkeiten entsprechend, wurden in Schweden, verglichen mit den anderen skandinavischen Staaten, die meisten Zwangssterilisationen durchgeführt. Diese trafen primär Frauen, und zwar vielfach ledige Mütter, deren Kinder von der öffentlichen Wohlfahrt lebten. Die nordischen Staaten und Estland waren die einzigen Demokratien Europas, die Zwangssterilisationen einführten. Nils Roll-Hansen verweist auf deren ähnliche und relativ egalitäre Sozialstrukturen, die Bedeutung der lutherischen Kirche und die Stärke der Arbeiterparteien. „The Scandinavian model for the welfare ­state was well on its way.“53 Zu unterstreichen ist in diesen Fällen, dass es sich um ein Agieren des Staates mit einem großen gesellschaftlichen Rückhalt handelte. Die Befürworter und Befürworterinnen sahen in der Sterilisation ein Wohlfahrtsinstrument, das die Gesundheit der Kinder garantierte. Wenige, aber geistig und körperlich gesunde Kinder galten als erstrebenswert, vor allem für viele Frauen. Die Gegner sprachen von Klassenunterdrückung und Freiheitsbeschränkung. Da sich Befürworter und Gegner in allen politischen Parteien fanden, sind die rechtlichen und institutionellen Folgen der Eugenik nicht Diktaturen oder Demokratien zuordenbar. Der italienische Faschismus lehnte Zwangssterilisationen ab, wobei in diesem Fall der Einfluss der katholischen Kirche von Gewicht war, der auch darin seinen Ausdruck fand, dass frisch Vermählte die Enzyklika „Casti connubii“ von 1930, die sich gegen eugenisch motivierte Eheverbote und Eingriffe wandte, vom faschistischen Staat als Geschenk erhielten. Diese widersprachen zugleich der „sensibilità latina“,54 die auf einem nationalen Selbstverständnis gründete. Distanz gab es zudem von 51 52 53 54

Zit. nach Bock, Zwangssterilisation, 406. Broberg/Tydén, Eugenics in Sweden, 108. Roll-Hansen, Conclusion, 268. Von der „sensibilità latina“ spricht Roberto Maiocchi, Scienza italiana e razzismo fascista, Firenze 1999, 21, 24.

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politischer Seite: Die eugenischen Maßnahmen Hitlers wurden als „Mystik der Erlösung“,55 als Irrationalismus verdammt. Diese Ansicht verhinderte jedoch nicht den Erlass der „Rassengesetze“ von 1938. Das „Gesetz zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre“, das die Verbote von Ehe und Geschlechtsverkehr zwischen Juden und nichtjüdischen Deutschen einführte, brachte die allgemeine Verpflichtung des Vorweises eines „Ahnenpasses“ mit sich, der dem „Ariernachweis“ diente. Vor einer Eheschließung mussten Angaben „über die Rassezugehörigkeit und die Religion der Großeltern gemacht, ferner auf Verlangen des Standesbeamten noch weitere Personenstandsurkunden und gegebenenfalls auch ein Nachweis über die Ehegesundheit ...“56 vorgelegt werden. Der „Ariernachweis“ war obligatorisch, das Ehegesundheitszeugnis konnte, musste aber nicht angefordert werden. Hinter der Vorstellung vom gesunden Paar stand der wissenschaftliche und politische Wunsch nach der Exklusion oder Segregation der ‚Kranken‘, wobei der Begriff sehr weit gefasst wurde. Diese Politik konnte im überwiegenden Teil Europas nicht realisiert werden, denn religiöse und rechtliche Traditionen waren oft von größerem Gewicht als weltweit erfolgreiche internationale wissenschaftliche Strömungen. 4.3 ‚Rassenideologie‘ und Liebesverbote

In der Geschichte des europäischen Rassismus nehmen die Vermischungsängste einen zentralen Platz ein. „Mestizentum“, „meticciato“, „miscegenation“, „métissage“ sind Begriffe, die den ‚Horror‘ vor der sexuellen Beziehung zwischen Angehörigen unterschiedlicher ‚Rassen‘ zum Ausdruck bringen. Die Folgen dieser Vermischung wurden von den ‚Rassentheoretikern‘ negativ bewertet. Sie sahen mit dem Verlust von ‚Rassenunterschieden‘ die Mediokrität und das Chaos des Ununterscheidbaren herrschen. Die Herstellung einer Einheit trotz der natürlichen Unvereinbarkeit führe zu Disharmonie, Krankheit und Kriminalität, und der Bruch mit der biologischen Ordnung zu Sterilität. Bis ins 20. Jahrhundert gab es in Europa – im Unterschied zu den Vereinigten Staaten – keine Verbote interethnischer Ehen, wenn auch, wie bereits dargestellt, insbesondere das Eheverbot aufgrund von Religionsverschiedenheit diese Vermischungsängste aufgefangen hatte. Hingegen stellten die europäischen Kolonien eine Art genuinen Ortes für die Bearbeitung dieser Ängste bzw. die Erprobung der ‚Rassentheorien‘ dar.

55 Pogliano, Scienza e stirpe, 97. 56 Schlagwort „Aufgebot“, in: Mannlicher, Wegweiser durch die Verwaltung, 45–46, 45.

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Die Kolonialherren, die in Afrika und Asien ihre Herrschaft antraten, zweifelten nicht an der Überlegenheit der ‚weißen Rasse‘ und an ihrer zivilisatorischen Mission. Von diesen Prämissen ist auszugehen; dennoch kam es zu sehr unterschiedlichen rechtlichen und gesellschaftlichen Erörterungen der ‚Mestizenfrage‘. Diese entstand dadurch, dass die Beziehungen zwischen ‚Kolonialherren‘ und Kolonisierten auch sexuelle Beziehungen umfassten. Die unterschiedlichen Erörterungen hingegen hingen eng mit der Geschichte Europas, jener des Rassismus und der Spannungen in den Kolonien selbst zusammen. Konflikte um Land und Rechte verschärften die Abgrenzungen zwischen Besatzern und Besetzten. In den britischen und französischen Kolonien war es bis in die 1880er Jahre vollauf akzeptiert, dass weiße Männer, vor allem Soldaten, mit Frauen der lokalen Bevölkerung zusammenlebten und interethnische Familien gründeten. Diese Akzeptanz galt nicht für den umgekehrten Fall, nämlich das Zusammenleben weißer Frauen mit einheimischen Männern. Darin lag der eigentliche Tabubruch, der zu verhindern war. Dass sich die Toleranz gegenüber interethnischen Liebesbeziehungen änderte, hing damit zusammen, dass die europäischen Regierungen der eugenischen und der ‚Rassenfrage‘ eine wachsende Bedeutung beimaßen, die nun auch in den Kolonien zum Tragen kam und hier zur Forderung nach ‚Rassentrennung‘ führte. Im Jahr 1909 wurde für die englischen Kolonien ein Konkubinatsverbot erlassen, das sich auf englische Beamte und einheimische Frauen bezog. Die britischen Frauen, die in zunehmendem Maß in den Kolonien eintrafen, hatten die Aufgabe, einen spezifischen Raum für die weiße Familie herzustellen und zu bewahren, „wo Kinder mit den Werten der Heimat aufgezogen und Ehemänner zu gesunden Annehmlichkeiten und häuslicher Partnerschaft geführt werden“.57 Die ‚Rassenschranken‘, die zwischen den Geschlechtern wirksam wurden, sollten die Vorherrschaft der Weißen absichern. Die Angst vor der ‚schwarzen Gefahr‘ fegte über die britischen Kolonien. In Südrhodesien konnte ein Schwarzer, der eine weiße Prostituierte besuchte, mit einer fünfjährigen Gefängnisstrafe belegt werden; das umgekehrte war allerdings nicht der Fall. Ungeachtet der Ablehnung inter­ ethnischer Geschlechterbeziehungen und deren Perhorreszierung durch große Teile der englischen Öffentlichkeit kam es in den britischen Kolonien jedoch zu keinen Eheverboten, trotz der Einführung des südafrikanischen „Immoral­ ity Act“ von 1927, der interethnische Ehen verbot und vielen als Vorbild galt. In der Praxis waren Verbote für die kolonialen Machtinteressen oft nicht nötig, da die koloniale Welt ohnehin nach ‚Rassen‘ segregiert war. Dennoch kommt 57 Rosalind O’Hanlon, Gender in the British Empire, in: The Oxford History of the British Empire, Bd. 4: The Twentieth Century, Oxford 1999, 379–420, 392–394, Zitat: 393.

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dem Instrumentarium des Rechts eine besondere Aussagekraft zu, da es den politischen Willen zur ‚Rassentrennung‘ deutlich zum Ausdruck bringt. Die Kolonialverwaltungen griffen zu vielfältigen Strategien, um interethnische Ehen zu verhindern, ohne sie zu verbieten. Im Jahr 1912, nachdem sie von Teilen Marokkos Besitz ergriffen hatte, verbot die spanische Regierung Ehen zwischen muslimischen Frauen und Nichtmuslimen. Mit dieser Maßnahme hielt sie sich an das islamische Gesetz, das dieses Verbot vorsah, denn die Ehefrau hatte der Religion des Ehemannes zu folgen. Erlaubt war dem gegenüber die Ehe einer Christin mit einem Moslem. Das kanonische Recht allerdings verbot beide Formen der interreligiösen Ehe. In Spanien gab es im Zeitraum von 1868 bis 1875, in der kurzen Periode der Zweiten Republik, die Zivilehe. Im Jahr 1889 allerdings wurde die kanonische Ehe für Katholiken und die zivile für Nichtkatholiken eingeführt. Personen, die zivil heiraten wollten, mussten ihre Apostasie beweisen. 1921 wurde darüber hinaus eine Eheschließung dann verboten, wenn der Bräutigam nicht die spanische Staatsbürgerschaft besaß, die Marokkaner selten erhielten. 1941 waren die Ehen ungültig, wenn die spanische Ehefrau nicht ein Zertifikat über ihren Status als „nicht katholisch“ vorgewiesen hatte. Schließlich wurden ab demselben Jahr die nach islamischem Recht geschlossenen Ehen nicht länger anerkannt. Die spanischen Eheverbote entfalteten sich schrittweise und waren zunächst und vordergründig von religiösen Erwägungen bzw. Anpassungen an die religiöse Kultur des Islam bestimmt. Dennoch waren ethnische Überlegungen implizit enthalten. Komplexer wurden diese Ehekonstellationen dadurch, dass die marokkanischen Behörden ihr Einverständnis zur Eheschließung nur für eine getaufte Spanierin geben wollten. Dies sahen aber die spanischen Gesetze nicht vor. Trotz aller Verbote und Behinderungen kam es zu einigen Eheschließungen mit Muslimen und Juden. Konversionen zum Islam waren nicht verboten. Nicht verboten, wenn auch unwillkommen, war das interreligiöse Konkubinat. Spanier konnten nur mit marginalisierten Marokkanerinnen zusammenleben. Die Behinderung der interethnischen Eheschließungen durch die spanischen Kolonialherren, so Josep Lluís Mateo Dieste, stand im Widerspruch zur offiziell verkündeten Doktrin der historischen marokkanisch-spanischen ‚Rassenvermischungen‘.58 Auch die zweite Kolonialmacht Marokkos, die französische, scheute vor direkten Eheverboten zurück. Sie untersagte allerdings den muslimischen Richtern, Übertritte aus dem Judentum und dem Christentum zum Islam anzunehmen. Auf diese Weise verhinderte sie Ehen von Französinnen mit Marokkanern. In Algerien, so Jeanne M. Bowlan, ka58 Josep Lluís Mateo Dieste, La „hermandad“ hispano-marroquí. Política y religión bajo el Protectorado español en Marruecos (1912–1956), Barcelona 2003, 246f.

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men Ehen und nichteheliches Zusammenleben zwischen Algerierinnen und Franzosen bzw. Algeriern und Französinnen kaum vor.59 In den italienischen Kolonien verschärfte sich die Gesetzgebung über ‚Rassenmischungen‘ im Verlauf des frühen 20. Jahrhunderts. 1890 wurde Eritrea italienische Kolonie. Die Kolonisierten blieben „Untertanen“ und erhielten, von Ausnahmen abgesehen, nicht die italienische Staatsbürgerschaft. Der Entwurf für einen Codice civile für Eritrea aus dem Jahr 1905 verbot Ehen zwischen Italienerinnen und „Untertanen“, vier Jahre später wurde das Verbot verschärft. Das Gesetzbuch trat zwar nie in Kraft, dennoch blieb es eine implizite Norm. Allerdings waren Ehen zwischen Europäerinnen und Eritreern äußerst selten. In den wenigen Fällen musste das Paar die Kolonie verlassen – das galt auch für eine schwedische Missionarin und ihren Ehemann. Diese Reglements bezogen sich nicht auf den umgekehrten Fall, nämlich auf die Ehe eines weißen Mannes mit einer tigrinischen Frau, wenn sie auch als „soggetto“, als Untertanin, nicht, wie es das europäische zeitgenössische Zivilrecht vorsah, die Staatsbürgerschaft ihres Mannes erhalten konnte.60 Die Beziehung zwischen den Tigrinerinnen und den Italienern entsprach den zumindest artikulierten Träumen weißer Männer, wie sie in italienischen Romanen Ausdruck fanden. Der Wunsch nach der sexuellen Eroberung der afrikanischen Frau war, so Bruno Wanrooij, auch eine Kritik an der emanzipierten weißen Frau. Der weiße Mann figurierte gleichermaßen als Liebhaber und Herr der schwarzen Sklavin.61 Die „madama“ lebte mit dem weißen Herren, der sie zu erhalten hatte, solange er in der Kolonie weilte. Gianluca Gabrielli hat die Form des „madamato“ mit der lokalen Tradition des „dumoz“ in Zusammenhang gebracht, einer Ehe, die die christlichen Kopten für eine bestimmte Zeit abschlossen, die jedoch in ihrer Frauendiskriminierung an den „madamato“ nicht herangereicht hätte.62 Nach der Eroberung Äthiopiens verschärfte sich die Rassenpolitik. 1937 wurde die Kohabitation von weißen Männern mit einheimischen Frauen – in 59 Jeanne M. Bowlan, Civilizing Gender Relations in Algeria: The Paradoxical Case of Marie Bugéja, 1919–1939, in: Julia Clancy-Smith u. Frances Gouda (Hg.), Domesticating the Empire. Race, Gender, and Family Life in French and Dutch Colonialism, Charlottesville/London 1998, 175–192, 188. 60 Barbara Sòrgoni, Parole e corpi. Antropologia, discorso giuridico e politiche sessuali interrazziali nella colonia Eritrea (1890–1941), Napoli 1998, 91–125, insbes. 109–111; vgl. auch Giulia Barrera, Patrilinearità, razza e identità. L’educazione degli italo-eritrei durante il colonialismo italiano (1885–1934), in: Quaderni storici 37, 109 (2002), 21–53. 61 Bruno P. F. Wanrooij, Storia del pudore. La questione sessuale in Italia, Venezia 1990, 128ff. 62 Gianluca Gabrielli, Un aspetto della politica razzista nell’impero: il „problema dei meticci“, in: Passato e presente 15, 41 (1997), 77–105.

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Afrika und im Königreich Italien – mit einer Gefängnisstrafe im Ausmaß von einem bis zu fünf Jahren bestraft, und interethnische Ehen wurden verboten. Bestraft wurde nur der weiße Partner, da er, „höher zivilisiert“, eine höhere Verantwortung habe – so die Argumentation der Behörden. Signifikant für die Intention der Strafe ist, dass der kommerzialisierte Geschlechtsverkehr straffrei blieb. Das Verbot sollte demnach nur Liebesbeziehungen, die auf der affectio maritalis beruhten, umfassen. Dies wurde im Prozess gegen Giuseppe Puccinelli und seine Lebensgefährtin expressis verbis artikuliert. So heißt es im Gerichtsprotokoll, dass beide more uxorio zusammenleben würden und Ascalè Zaudiè für ihre verschiedenen Leistungen – sexuelle und Haushaltstätigkeiten – nie Geld erhalten habe. Dies sei der Beweis für die affectio maritalis. Das Gericht rechtfertigte die Verurteilung Puccinellis damit, dass die Rechtsprechung die Entstehung eines Volkes der Mestizen zu verhindern habe, da ein solches physisch und moralisch minderwertig sei. Außerdem habe sie den Autoritätsverlust abzuwenden, den eine Verbindung zwischen einem, der dem herrschenden und einer, die dem beherrschten Volk angehörte, mit sich bringen würde.63 Gefühlsverbote führten zu gerichtlichen Untersuchungen über die Wahrheit der Gefühllosigkeit. Diese kriminalistischen Wanderungen in die Gefühlswelt machen die faschistische Kolonialpolitik deutlich. Sie bezweckte die Durchsetzung der Vorstellung von einer ‚Herrenrasse‘ und deren politisch-sozialer Praxis, die sich gegenüber einheimischen Frauen in deren sexueller Instrumentalisierung ausdrücken sollte. Mit den „Rassengesetzen“ von 1938 wurde das Verbot auf das Mutterland und die jüdisch-nichtjüdischen Beziehungen ausgedehnt. Die „Nürnberger Gesetze“ waren Vorbild, und die eigene Kolonialgeschichte hatte die Einübung in den Rassismus erlaubt. 1940 wurde italienischen Männern verboten, ihre Kinder aus einer italo-afrikanischen Beziehung anzuerkennen und ihnen Alimente zu bezahlen. Dieses Gesetz war, so Giulia Barrera, der Höhepunkt einer Kampagne gegen die „Plage des Mestizentums“ und das genaue Gegenteil der früheren Politik. Diese hatte beabsichtigt, die Väter zu einer Anerkennung ihrer Kinder zu motivieren und die Verleihung der Staatsbürgerschaft an sie zu fördern.64 Für die tigrinischen Mütter, die aus der größten Volksgruppe Eritreas stammen, war dies eine Selbstverständlichkeit, da sie der Auffassung waren, dass der Vater die soziale Identität der Kinder prägt. Nach 1940 verblieben die Kinder aus diesen interethnischen Beziehungen jedoch im Rechtsstatus kolonisierter Untertanen. Legitimiert wurden 63 Gianluca Gabrielli, La persecuzione delle „unioni miste“ (1937–1940) nei testi delle sentenze pubblicate e nel dibattito giuridico, in: Studi piacentini 20 (1996), 83–140, 89ff. 64 Barrera, Patrilinearità, 21.

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diese Gesetze mit der Notwendigkeit, die physische und moralische Überlegenheit der ‚weißen Rasse‘ zu erhalten.65 Die italienische Kolonialpolitik konnte nicht mit religiösen Eheverboten spielen, da die Bevölkerung in Eritrea und Äthiopien zum Großteil christlich, wenn auch orthodox war. Die Folge war eine nackte ‚Rassenpolitik‘, die gleichermaßen eine Geschlechterpolitik war, indem sie Verbote und Verantwortlichkeiten geschlechtsspezifisch gestaltete. Der Übergang zu den „Rassengesetzen“ von 1938 geschah daher stufenweise. Die deutsche Kolonialmacht, die sich spät und kurz, nämlich zwischen 1884 und dem Ersten Weltkrieg etablieren konnte, hat in ihrer ‚Mischlings‘Gesetzgebung noch radikalere Akte gesetzt. Sie übernahm die Macht in einer Zeit des lautstarken und sich institutionell absichernden Rassismus. Die schon traditionellen Praktiken deutscher Handelsagenten, die mit schwarzen Frauen zusammenlebten, wie dies etwa in Togo der Fall, wurden zunächst nicht geahndet, aber die ‚Rassenschranken‘ sollten bei den ‚Mischlingen‘ nicht fallen, die den ‚Eingeborenen‘ und nicht den Kolonialherren zugerechnet wurden.66 In Deutsch-Südwestafrika hingegen verboten die Gouverneure 1905 alle Ehen zwischen ‚Weißen‘ und ‚Eingeborenen‘ und machten das Verbot auch rückwirkend für die zuvor geschlossenen ‚Mischehen‘ geltend. In den folgenden Jahren wurden ‚Mischehen‘-Verbote für Deutsch-Ostafrika und Samoa erlassen. Die Kolonialverwaltung bekämpfte zugleich den nichtehelichen Geschlechtsverkehr. Deutsche Männer, die mit einer Afrikanerin verheiratet waren oder mit ihr offenkundig zusammenlebten, verloren ihre bürgerlichen und politischen Rechte, waren nicht mehr wahlberechtigt und konnten keinen Grundbesitz erwerben oder staatliche Hilfe in Anspruch nehmen. Der weiße Ehepartner – der immer ein Mann war – wurde vom deutschen Vereinsleben in den Kolonien ausgeschlossen.67 Hinter dieser Maßnahme stand erneut der Horror vor der Vermischung, der sich auf die Nachkommenschaft und das Paar selbst erstreckte. Die „heterogene Mischung“ bewirke, so ein bekannter zeitgenössischer Sozialanthropologe, „disharmonische geistige Eigenschaften“ und ein asoziales Verhalten.68 Im Jahr 1912 hob der Deutsche Reichstag die 65 Barrera, Patrilinearità, 31, 21, 38, 42–45. 66 Vgl. Cornelia Essner, „Wo Rauch ist, da ist auch Feuer“. Zu den Ansätzen eines Rassenrechts für die deutschen Kolonien, in: Wilfried Wagner (Hg.), Rassendiskriminierung, Kolonialpolitik und ethnisch-nationale Identität, Münster 1992, 145–160; Peter Sebald, Kolonialregime und Mischlinge. Das Beispiel der deutschen Kolonie Togo 1884–1914, in: ebd., 108–118. 67 Vgl. Fatima El-Tayeb, Schwarze Deutsche. Der Diskurs um „Rasse“ und nationale Identität 1890–1933, Frankfurt a. M./New York 2001, 94–96. 68 Eugen Fischer, Die Rehobother Bastards und das Bastardisierungsproblem beim Menschen, Jena 1913, 298f, zit. nach El-Tayeb, Schwarze Deutsche, 88.

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Gesetze auf. Die Kolonialverwaltungen suchten jedoch weiterhin, ihre eigenen Wege zu gehen und dies gelang ihnen auch. Wie stark es dabei um eine Symbolwirkung ging, zeigt der Umstand, dass es in Deutsch-Südwestafrika im Jahr 1908 nur 20 Ehen gab, an denen Deutsche beteiligt waren.69 Die europäischen Kolonialmächte, die von der zivilisatorischen Überlegenheit der ‚weißen Rasse‘ überzeugt waren, haben die Regelungen der inter­ ethnischen Geschlechterbeziehungen eingesetzt, um ‚Rassensegregationen‘ durchzuführen, die ihnen für die Abstützung ihrer Kolonialmacht förderlich schienen. Allerdings gab es bei diesen Regelungen große Unterschiede. Die Briten erließen keine allgemeinen Eheverbote, die Franzosen versuchten es auf gewissen Umwegen, erließen aber letztlich auch keine und waren bestrebt, eine Diskriminierung der ‚Mestizen‘ zu verhindern.70 Die Spanier nutzten das kanonische und das islamische Recht, um unerwünschte Ehen zu verhindern, erließen aber keine direkten Eheverbote. Ehe- und Konkubinatsverbote gab es hingegen in deutschen und italienischen Kolonien – zu unterschiedlichen Zeiten und mit unterschiedlicher rechtlicher Ausstattung, aber sie wurden realisiert. Die europäischen Kolonisatoren des späten 19. und der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts waren sich bewusst, dass ‚Rassensegregation‘ durch spezifische Regelungen der interethnischen Geschlechterbeziehungen erreicht werden konnte, auch wenn diese zahlenmäßig bescheiden waren. Die Phantasmagorie der ‚Rassenmischung‘ beherrschte die öffentliche Diskussion. Für die Herstellung, Begründung und Anwendung von Hindernissen, die Gruppen voneinander trennen sollten, haben die Geschlechter in der europäischen Geschichte auch schon zuvor einen Knotenpunkt dargestellt. Die religiös begründeten Ehehindernisse haben auch noch in den Kolonien ihre Anwendung erfahren. Um 1900 gingen Rassismus und der lange religiös argumentierte Antisemitismus auf der Ebene der Bilder und in der politischen Praxis auf dem Kontinent eine Symbiose ein. Die „racialization“ europäischer Politik71 beeinflusste nicht nur Parteien, politische Gruppierungen und die Publizistik in Hinblick auf die Herstellung von ‚Rassenfeinden‘, sondern sie ortete auch deren Bündnispartner 69 Vgl. Harald Sippel, Rechtspolitische Ansätze zur Vermeidung einer Mischlingsbevölkerung in Deutsch-Südwestafrika, in: Frank Becker (Hg.), Rassenmischehen – Mischlinge – Rassentrennung. Zur Politik der Rasse im deutschen Kolonialreich, Stuttgart 2004, 138–164, 138. 70 Vgl. Marc Schindler-Bondiguel, Die „Mischlingsfrage“ in französisch Indochina zwischen Assimilation und Differenz (1894–1914) – „Rasse“, Geschlecht und Republik in der imperialen Gesellschaft, in: Becker, Rassenmischehen, 269–303. 71 Neil Macmaster, Racism in Europe 1870–2000, Basingstoke 2001, 25 sowie die Einleitung passim.

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und Bündnispartnerinnen. Der ‚Rassenmischung‘ und dem „kulturellen Niedergang“ wurde in den Augen der Rassenfetischisten durch Frauenemanzipation der Weg bereitet. Sie warnten die „Höherrassigen“ vor den „frauenrechtlerisch erzogenen Frauen“, die nach den „schwarzen Männern lüstern Ausschau halten“ und dadurch „das von außen unbesiegbare deutsche Volk von innen her mit Hilfe des geilen deutschen Weibes rassenhaft und damit auch politisch“ vernichten.72 Dies war eine vorweggenommene „Dolchstoßlegende“ und die (kurzhaarigen) Frauenrechtlerinnen sollten pro futuro für alle Niederlagen verantwortlich gemacht werden. Es waren ihre sexuellen Bedürfnisse, die das Deutschtum in den Niedergang rissen, so die Visionen eines Lanz-Liebenfels. Sie sahen nicht, dass „Schönheit“ und „Kreativität“, „Schöpferkraft“ und „Güte“ überragend nur bei der weißen und blonden ‚Rasse‘ vertreten seien: „Die Dunkelrassigen und die Rassenbewußtlosigkeit der Höherrassigen, besonders der frauenrechtlerisch erzogenen Frauen, sind die Feinde aller Lebenskunst und Schönheit.“73 ‚Rassenmischung‘ ist in diesem Vorstellungshorizont sozusagen die sich auf Ebene der Geschlechterbeziehungen vollziehende alltägliche Niederlage und Vergewaltigung der ‚deutschen Rasse‘. Notwendig seien daher „Absonderung, strenge Zucht, Reinlichkeit und Arbeit“,74 um die ‚reine Rasse‘ zu bewahren. Sexuelle Beziehungen zwischen ‚hellen‘ und ‚dunklen Rassen‘ öffnen aus dieser Sicht eine Art Büchse der Pandora, aus der Unheil herausquillt. Der Fetisch des Lanz-Liebenfels, eines ehemaligen Mönchs, der um 1900 in Wien lebte, die ‚rassenreinen‘ Liebesbeziehungen, sollten 23 Jahre nach dem Erscheinen seiner Schrift im „Blutschutzgesetz“ Rechtsnorm werden. Die darin festgelegten Liebesverbote wurden schon früh gefordert und literarisch verbreitet – so von Artur Dinter in seinem 1922 publizierten Roman „Die Sünde wider die Liebe“. Der Held des Romans, der Kommunismus und Judentum gleichermaßen bekämpft und für eine neue Auffassung vom Christentum eintritt, stellt unmissverständliche Forderungen: „[D]as deutsche Blut muß gegen jüdische Schändung und Bastardierung geschützt werden. Ehen zwischen Deutschen und Juden sind gesetzlich zu verbieten. Ein Jude, der ein deutsches Mädchen, oder eine deutsche Frau verführt mit oder gegen ihren Willen, wird mit Zuchthaus bestraft. Ein deutsches Mädchen oder eine deutsche Frau, die sich einem Juden hingibt, wird durch Abschneiden des Kopfhaares öffentlich an den Pranger gestellt. Ein Deutscher, der sich mit einer Jüdin einläßt, wird 72 Jörg Lanz-Liebenfels, Rassenbewußtlose und rassenbewußte Lebens- und Liebeskunst, ein Brevier für die reife, blonde Jugend. Ostara. Bücherei der Blonden und Mannesrechtlicher, Nr. 60, Rodaun 1912, 2, 8. 73 Lanz-Liebenfels, Rassenbewußtlose, 2. 74 Lanz-Liebenfels, Rassenbewußtlose, 14.

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als Schänder seiner Rasse öffentlich gebrandmarkt.“75 Als flankierende Maßnahmen sah er Enteignung jüdischen Grundbesitzes und ein Einwanderungsverbot für Juden nach Deutschland vor. Dinter wollte mit dem Verbot von Beziehungen zwischen Juden, Jüdinnen und den nichtjüdischen Deutschen die Minderheit in Ghettos verbannen, die es nicht mehr gab. Damit sollte aber mehr gemeint sein als eine Rückkehr in die Frühe Neuzeit. Das Verbot der Eheschließungen und des Geschlechtsverkehrs zwischen Juden und ‚Ariern‘ bzw. präziser „Nichtjuden“ wurde 1935 in Deutschland, 1938 in Österreich („Ostmark“), 1941 mit dem „dritten Judengesetz“ in Ungarn sowie im selben Jahr in der Slowakei und in Kroatien eingeführt. Italien und Rumänien hatten 1938 bzw. 1940 das Verbot von Eheschließungen eingeführt, nicht jedoch jenes des Geschlechtsverkehrs und der Lebenspartnerschaft.76 Die Verfasser dieser Gesetze hätten gewiss auf Kolonialpolitiken zurückgreifen können, aber die innereuropäische Geschichte gab genügend Nahrung für dieses Gesetz, die aus der Tradition des Antisemitismus einerseits, der Verbote von Ehe und außerehelichem Geschlechtsverkehr andererseits kam. Damit standen Instrumente zur Verfügung, auf die nun unter veränderten Kontexten rekurriert wurde. Die rassistische Gesetzgebung in den Kolonien war Teil ­einer Machtpolitik, die ebenfalls Geschlechterbeziehungen instrumentalisierte, um Segregationen aufrechterhalten zu können, dies zumindest versuchte. Liebesbeziehungen stellen als intensive soziale Beziehungen eine Gefährdung dieses politischen Konzepts dar. Bei den Verboten wurden teilweise religiöse Praktiken, die im Islam bzw. im Christentum Geltung besaßen, aufgegriffen, teilweise der ‚Rassendiskurs‘ in legistische Maßnahmen gegossen. Die Kolonien waren ein Experimentierfeld für den Umgang mit den ‚Fremden‘, die die Mehrheit darstellten. In allen europäischen Staaten waren Juden eine Minderheit, die erst im Verlauf des 19. Jahrhunderts in die Mehrheit hineinheiraten konnte und dies auch tat. Das „Gesetz zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre“ vom September 1935 unterband dies. „Durchdrungen von der Erkenntnis, daß die Reinheit des deutschen Blutes die Voraussetzung für den Fortbestand des Deutschen Volkes ist, und beseelt von dem unbeugsamen Willen, die Deutsche Nation für alle Zukunft zu sichern, hat der Reichstag einstimmig das fol75 Artur Dinter, Die Sünde wider die Liebe. Ein Zeitroman, Leipzig 1922, 83. 76 Vgl. Tamás Stark, La legislazione antiebraica in Ungheria dal 1920 al 1944, in: Anna Capelli u. Renata Broggini (Hg.), Antisemitismo in Europa negli anni trenta. Legislazione a confronto, Milano 2001, 58–69; Gila Fatran, La legislazione antiebraica nella Slovacchia di Tiso, in: ebd., 70–95; Lya Benjamin, Nazionalismo e antisemitismo nella legislazione del regime autoritario di re Carol II di Romania, 1938–1940, in: ebd., 139–149; Dennis Reinhartz, La legislazione antiebraica in Croazia, in: ebd., 150–157; Michele Sarfatti, Gli ebrei nell’Italia fascista. Vicende, identità, persecuzione, Torino 2000, 152.

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gende Gesetz beschlossen, das hiermit verkündet wird: Eheschließungen zwischen Juden und Staatsangehörigen deutschen oder artverwandten Blutes sind verboten. [...] Außerehelicher Verkehr zwischen Juden und Staatsangehörigen deutschen oder artverwandten Blutes ist verboten.“77 Das Gesetz sollte auch, wie die Ausführungsverordnungen zeigen, ‚Mischlinge‘ und alle jene ‚Rassen‘ umfassen, die als ‚minderwertig‘ eingestuft wurden. Die Realisierung dieses letzteren Vorhabens wurde aufgrund internationaler Proteste, insbesondere befreundeter Staaten, schwierig. Umso mehr konnte es sich bei jenen Völkern realisieren, die sich schon unter der Herrschaft der Nationalsozialisten befanden. Das galt für Eheschließungen von Deutschen mit Polen oder Tschechen. „Lediglich, wenn es sich bei den Tschechen und Polen um rassisch besonders wertvolle Menschen mit einwandfreier Gesinnung handelt, die eine loyale Einstellung zum deutschen Volkstum bewiesen haben“, konnte ein Ehetauglichkeitszeugnis erteilt werden.78 Dies war letztlich auch eine Möglichkeit der Germanisierungspolitik. „Die Auswahl der zu assimilierenden Tschechen ist genau und streng zu treffen [...].“79 Es gab demnach eine genehmigungspflichtige ‚Konversion‘ von der ‚minderwertigen‘ zur ‚höherwertigen Rasse‘, die über physische und politische Eignungen lief. Das sollte aber die Ausnahme bleiben, eine Ausnahme, die es für Juden und Jüdinnen praktisch nicht gab. Sie waren von diesen ‚Konversionen‘, von den Möglichkeiten des ‚Rassen‘-Tausches ausgeschlossen. Diese rechtlichen Maßnahmen waren einerseits Ausdruck des politischen Willens und, indem sie durchgeführt werden konnten, waren sie andererseits ein Hinweis auf eine breite Akzeptanz in der Bevölkerung. Umso bemerkenswerter sind die Übertretungen der NS-Gesetzgebung. 4.4 ‚Blutschande‘ und ‚Rassenmischehe‘

Die Verbote von Eheschließung und Geschlechtsverkehr zwischen Juden und nichtjüdischen Deutschen waren nicht nur auf eine Zukunft der Apartheit 77 Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre vom 15. September 1935, in: Werner Schubert (Hg.), Das Familien-und Erbrecht unter dem Nationalsozialismus. Ausgewählte Quellen zu den wichtigsten Gesetzen und Projekten aus den Ministerialakten, Paderborn u. a. 1993, 17. 78 Schreiben des Reichsministers des Innern vom 14.5.1940 an die Ressorts […] über Eheschließungen von Deutschen mit Tschechen und Polen, in: Schubert, Das Familien- und Erbrecht, 716–717, 716. 79 Protokoll des Reichsprotektors in Böhmen und Mähren über die Besprechung beim Führer am 23.9.1940 in der Reichskanzlei zu Berlin, in: Schubert, Das Familien- und Erbrecht, 726–727, 727.

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und der Auslöschung der Juden gerichtet, sondern auch auf die Zerstörung einer Vergangenheit und die Außerkraftsetzung einer Entwicklung, in der sich Juden und Christen auf verschiedenste Weise angenähert hatten. Die Ehen, die zwischen ihnen geschlossen wurden, sind in zahlreichen europäischen Staaten seit dem 19. Jahrhundert angestiegen. In Italien etwa haben in den Jahren 1932 bis 1934, am Vorabend der „leggi razziali“, 33 % der Juden und Jüdinnen, die eine Ehe schlossen, eine Christin bzw. einen Christen geheiratet, in Triest waren es in den 1920er Jahren 42 %. Der Großteil der Kinder aus diesen Ehen, nämlich 77 %, wurde in einer nichtjüdischen Religion erzogen, überwiegend katholisch.80 In Deutschland war die Entwicklung ähnlich. 1875 gingen 4,9 % der jüdischen Eheschließenden eine ‚Mischehe‘ ein, 1933 waren es 22,4 %, in Hamburg zeitweise 57,6 %. 1933 gab es ungefähr 35.000 christlich-jüdische Ehen in Deutschland.81 In den Jahren zwischen 1901 und 1905 schlossen in Budapest 7,9 % der sich verheiratenden jüdischen Männer und 7,1 % der sich verheiratenden jüdischen Frauen eine interreligiöse Ehe ab, zwischen 1931 und 1935 waren es 19,3 % bzw. 16,5 %.82 Diese Vermischungstendenz, die im Judentum und im Christentum umstritten war, war Teil eines Säkularisierungsprozesses einerseits, einer Assimilierung andererseits, die trotz oder wegen des latenten Antisemitismus in einem großen Teil der europäischen Staaten als Weg in die Zukunft erschien – der allerdings für Männer leichter zu gehen war. In Ländern wie den Niederlanden, wo der Antisemitismus gering und die Bedeutung religiöser Zugehörigkeit bis in die 1960er Jahre groß waren, gab es hingegen kaum christlich-jüdische Ehen. Die Wege des Zusammenlebens sind verschieden – und die Eheschließung zwischen Angehörigen unterschiedlicher Religionen oder ethnischer Gruppen lässt nicht notwendigerweise auf ein konfliktfreies Zusammenleben schließen. Vielmehr kann sie gerade auf Konflikte verweisen, die über Heiraten bewältigt werden sollten. Es ist der soziale und kulturelle Kontext, der über die Bewertung entscheidet, und dieser muss für den Einzelfall jeweils rekonstruiert werden. Davon zu unterscheiden ist die zeitgenössische Wahrnehmung, die in dieser Entwicklung ein Symptom der Annäherung sah, der beunruhigenden Annäherung – in den Augen der Nationalsozialisten. Die Vorstellungen von Ehe sollten sich mit dem Nationalsozialismus rasant verändern. Nach dem „Blutschutzgesetz“ erhielt sie den Charakter eines „völ80 Vgl. Sarfatti, Gli ebrei nell’Italia fascista, 36f; vgl. auch Renzo De Felice, Storia degli ebrei italiani sotto il fascismo, Torino 1988, 16–18. 81 Vgl. Beate Meyer, „Jüdische Mischlinge“. Rassenpolitik und Verfolgungserfahrung 1933– 1945, Hamburg 1999, 24f; Marion A. Kaplan, Between Dignity and Despair. Jewish Life in Nazi Germany, Oxford 1998, 76. 82 Vgl. Karady, Vers une théorie sociologique, 55.

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kischen Sakramentes“, das den Angehörigen derselben ‚Rasse‘ vorbehalten war. In den „10 Geboten für die Gattenwahl“ heißt es unter Punkt fünf: „Wähle als Deutscher nur einen Gatten gleichen oder nordischen Blutes. Wo Anlage zu Anlage paßt, herrscht Gleichklang. Wo ungleiche Rassen sich mischen, gibt es einen Mißklang. Mischung nicht zueinander passender Rassen (Bastardierung) führt im Leben der Menschen und Völker häufig zu Entartung und Untergang; um so schneller, je weniger die Rasseneigenschaften zueinander passen. Hüte Dich vorm Niedergang, halte Dich von Fremdstämmigen außereuropäischer Rassenherkunft fern! Glück ist nur bei Gleichgearteten möglich.“83 Diese Glücksvorstellungen sollten via „Blutschutzgesetz“ mit Zwang durchgesetzt werden. Jede Eheschließung zwischen Juden bzw. „Mischlingen ersten Grades“ und „Deutschblütigen“ war verboten. Manche Paare versuchten, ins Ausland auszuweichen, wo dies möglich war, denn es gab Staaten, die das Staatsangehörigkeitsprinzip vertraten, so dass das ehewillige Paar nach den rechtlichen Voraussetzungen ihres Heimatlandes heiraten musste. Das „Ehehindernis der Rassenverschiedenheit“ wurde von Belgien, Estland, Finnland, Frankreich, Griechenland, Jugoslawien und Österreich (bis 1938) theoretisch angewandt, jedoch nicht alle hielten sich daran, wie Frankreich und Belgien. Nach der Besetzung durch die Deutschen kamen die Paare, die hier nach 1935 geheiratet hatten, vor Gericht. Die nationalsozialistische Regierung hätte das Eheverbot gerne rückwirkend erlassen. Aus juristischen Gründen und politischen Überlegungen tat sie dies jedoch nicht, sehr zum Unwillen vieler Juristen, die schon vor 1935 davon überzeugt waren, „daß nach dem Durchbruch der nationalsozialistischen Revolution und nach der Aufnahme des nationalsozialistischen Gedankenguts durch den weit überwiegenden Teil des deutschen Volkes zahlreichen in einer rassischen Mischehe lebenden Menschen die Fortsetzung der Ehe, deren Eingehung sie als größten Fehler und Irrtum ihres Lebens erkannt haben, zur Qual, wenn nicht unmöglich geworden ist. Die innige Lebensgemeinschaft, die die Ehe nach deutschen Recht und dem Recht zahlreicher anderer Kulturstaaten sein soll, kann nicht bestehen zwischen einem arischen Menschen und einem artfremden Ehegatten. Gerade die wertvollsten Menschen aller Rassen empfinden diese Unmöglichkeit am tiefsten und leiden am meisten unter dem Zwang, diese Ehe fortführen zu müssen. Beiden Ehegatten, dem nichtarischen Eheteil nicht minder als dem arischen, wäre am besten gedient, wenn die tatsächlich schon zerfallene Ehegemeinschaft auch rechtlich getrennt und jedem Ehegatten die Möglichkeit gegeben würde, eine neue Ehe mit ei83

10 Gebote für die Gattenwahl, in: NS Frauenwarte 3, 10 (1934), 295. Vgl. auch Raul Hilberg, Die Vernichtung der europäischen Juden, Frankfurt a. M. 1990, Bd. 1, 73f, Bd. 2, 445–449.

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nem arteigenen Rassegenossen zu gründen.“84 Es sollte in der Folge tatsächlich Scheidungserleichterungen geben, die vor allem mit dem Irrtum über die persönlichen Eigenschaften des Partners argumentierten. Diesen sei auch insofern Relevanz zugekommen, als vielen erst der Nationalsozialismus das Bewusstsein von der Bedeutung der ‚Rasse‘ vermittelt habe.85 Der soziale Druck auf den nichtjüdischen Partner, die Scheidung einzureichen, war groß. Arbeitgeber und Familienangehörige gaben ihn weiter: Der Schwiegersohn bedrängte den Schwiegervater, sich von seiner jüdischen Frau zu trennen. „Du weißt“, schrieb der Bankfilialleiter Walther Z. an seinen Schwiegervater im Jahre 1938, „daß ich seit Jahren immer und immer wieder versucht habe, Dir die Notwendigkeit der Scheidung Deiner Ehe vor Augen zu führen.“ Er erörterte nachfolgend die beruflichen Konsequenzen und schrieb weiter: „Du wirst sicher zugeben müssen, daß Du, wenn Du bereits vor Jahresfrist meinem Rat gefolgt wärst, dabei ganz gut gefahren wärest. Ich bin außerdem der Überzeugung, daß das, was den Juden bis heute widerfahren ist, bestenfalls erst die Hälfte dessen ist, was in Zukunft noch mit ihnen geschieht.“86 Der Schwiegervater, in zweiter Ehe lebend, von den Kindern aus der ersten zur Scheidung gedrängt, tat dann das, wozu er gedrängt wurde. Das Gerichtsurteil gibt uns einen Einblick in eine Ehe, die die Zeichen der neuen Ordnung trägt: Der Ehemann beschuldigte seine Frau – dafür sollte es aber keine Beweise geben –, dass sie die Kinder aus seiner ersten Ehe als „Nazigesellschaft“ bezeichnet habe. Sie konnte mit Zeugen beweisen, dass er sie beschimpft habe, mit Ausdrücken wie „Dreckmaul, Judengusche“ und tätlich angreifen wollte. Die Ehe wurde, nicht wie der Kläger gefordert hatte, aufgehoben, sondern nach der Widerklage der Beklagten, geschieden, was alimentationsrechtlich von Bedeutung war.87 Das Leben in ‚Mischehen‘ sollte durch sozialen und politischen Druck erschwert werden. Dazu gehörten auch zahlreiche institutionalisierte Schikanen, wie die Unterscheidung zwischen „privilegierter“ und „nichtprivilegierter Mischehe“. Diese Unterscheidung basierte einerseits auf dem Glaubensbe84 Franz Maßfeller, § 1333 BGB. Unter welchen Voraussetzungen kann eine rassische Mischehe zwischen einem arischen und einem dem Judentum angehörenden Ehegatten wegen Irrtums angefochten werden, in: Deutsche Justiz 96, 34/35 (1934), 1100–1103, 1102f. 85 Vgl. Ernst Noam u. Wolf-Arno Kropat, Juden vor Gericht 1933–1945. Dokumente aus hessischen Justizakten, Wiesbaden 1975, 56f. 86 Schreiben des Bankfilialleiters Walther Z., Oberursel, an seinen Schwiegervater, den Immobilienmakler [Albert Rasch] vom 9. Dezember 1938, zit. nach Noam/Kropat, Juden vor Gericht, 63f. 87 Urteil des Landgerichts in Frankfurt am Main vom 2. März 1939, zit. nach Noam/Kropat, Juden vor Gericht, 64–66.

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kenntnis der Kinder, das, sofern es christlich war, zu der Privilegierung der Ehe führte. Andererseits beruhte die Differenzierung im Fall von Kinderlosigkeit auf der ‚Rassenzugehörigkeit‘ der Ehefrau: War sie „deutschblütig“, so führte dies zu einer „Nichtprivilegierung“ der Ehe. Die Unterscheidung in „privilegierte“ und „nichtprivilegierte“ Ehen sollte einen Keil zwischen die in die Marginalität Verdammten treiben. Victor Klemperer, der in einer „nichtprivilegierten Mischehe“ lebte, hat dies beschrieben: „Die Privilegierten traten nur in den jüdischen Arbeitergruppen in den Fabriken in Erscheinung; ihre Bevorzugung bestand gerade darin, daß sie keinen Stern zu tragen und nicht im Judenhaus zu wohnen brauchten.“ Das Tragen des Sterns war eine Stigmatisierung, die den Alltag und die eheliche Beziehung beeinflussen sollte. Victor Klemperer wollte nach der Einführung des „Judensterns“ nicht mehr von seiner Frau Eva auf der Straße begleitet werden. „Soll ich auf der Straße mitansehen, wie du um meinetwillen beleidigt wirst? Und dann: wer weiß, wem du dich verdächtigt machst, der dich bisher nicht kennt, und wenn du meine Manuskripte fortschaffst, läufst du ihm in die Arme.“88 Jüdische Ehefrauen mussten den „Judenstern“ nicht tragen. Dieser Verzicht auf Stigmatisierung war die Folge des nur durch den Ehemann vermittelbaren Status. Dennoch widerstand der Großteil der Paare dem Druck, der durch Entrechtung, Existenzbedrohung und Ghettoisierung auf ihnen lastete. Nathan Stoltzfus schätzt, dass 93 % der ‚Mischehen‘ nicht geschieden wurden. Der jüdische Partner verlor seine Arbeit, konnte zu Zwangsarbeit verpflichtet, der nichtjüdische entlassen werden. Trotzdem war das Leben in einer ‚Mischehe‘ für das Überleben entscheidend. Das Leben in einer ‚Mischehe‘ schützte die jüdischen Partner und Partnerinnen vor Deportation. In Deutschland hatten zu Kriegsende und nach der Shoa fast nur jene Juden und Jüdinnen überlebt, die eine ‚Mischehe‘ geschlossen hatten. Das waren 13.217.89 Die Wienerin Therese Lindenberg, die ebenfalls in einer „nichtprivilegierten“ Ehe lebte, hat in ihrem Tagebuch die täglichen Demütigungen festgehalten, denen sie und ihr jüdischer Mann ausgesetzt waren, und den sozialen Druck beschrieben. „3. August [1939] Heute bekamen wir die Kündigung. [...] Als wir einzogen, in das eben fertiggestellte Haus – war es eine Wüste, jetzt ein – verlorenes Paradies.“ „15. Februar [1941] […] Der Parteimann kam, um mich zur Scheidung zu überreden Tiefste Verzweiflung.“ „Samstag 13. Februar [1943] Welche Zeit!!!! Mein Lieber kann mit dem Stern nicht zum Begräbnis 88 Victor Klemperer, LTI. Notizbuch eines Philologen, Leipzig 199615, 217, 214. 89 Nathan Stoltzfus, Widerstand des Herzens. Der Aufstand der Berliner Frauen in der Rosenstraße – 1943, München 2002, 21.

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kommen Welche Zeit! Wie schäme ich mich in einer solchen zu leben! Würde man dies in späterer Zeit glauben?“ „Freitag 10. März!!!! [1944] Heute früh – um ½ 8 Uhr ... SS – Dokumente vorzeigen. Der Nachbar Spitz wurde geholt ... Plötzlich zum Mann: ‚Sie müssen in einer Viertelstunde gepackt haben.‘ Ich sagte: ‚Wir leben doch schon 30 Jahre zusammen.‘ Antwort: ‚Lange genug.‘ Ich: ‚Der Mann ist 69 Jahre alt.‘ Antwort: ‚Er ist alt genug geworden.‘ [...] In etwa einer halben Stunde kam er zurück. Alle kamen zurück, außer Spitz. Er lebte von seiner Frau getrennt.“ Donnerstag, 12. April 1945 „Die vierte totale Nacht im Keller. Die Menschen nervös, unleidlich. Als wir uns anfangs im Keller versammelten, meinte der ‚Blockwart‘ – hie Juden, hie Arier. ‚Nein‘, sagte ich, zusammen gelebt, zusammen sterben. So gab es keine Trennung …“90 Mit der Ehescheidung verlor der jüdische Partner den durch die ‚Mischehe‘ gegebenen Schutz. Dies galt auch für den Todesfall des ‚arischen‘ Teils, der zur Deportation in Konzentrationslager führte, eine Maßnahme, die für jüdische Frauen erst nach 1944 ergriffen wurde. „Ich nenne das nationalsozialistische Witwenverbrennung“,91 schrieb Victor Klemperer, im Versuch die Distanz des Analytikers zu bewahren. Der Tod seiner Eva hätte auch für ihn den Tod bedeutet. Ende 1942 sollte in Berlin durchgegriffen und die in ‚Mischehen‘ lebenden jüdischen Partner sollten in Konzentrationslager deportiert werden. Dieser Versuch ist gescheitert. Die nichtjüdischen Partner, vor allem Partnerinnen, haben die Deportation verhindert. Ihr Widerstand ist als „Aufstand der Frauen von der Rosenstraße“ bekannt geworden. Als am 27. Februar 1943 und in den folgenden Tagen zweitausend Juden und Jüdinnen, die in einer ‚Mischehe‘ lebten, an ihren Arbeitsplätzen oder in ihrer Wohnung verhaftet und in das Gefängnis in der Rosenstraße transferiert wurden, versammelte sich eine wachsende Anzahl von Menschen, vor allem Frauen, in der Straße. Sie harrten Tag und Nacht aus. Sie wichen auch dann nicht zurück, als sie mit Gewehren bedroht wurden. Am 6. März 1943 kapitulierte die Regierung vor diesem Protest; die Verhafteten wurden freigelassen, was auch auf jene 35 Männer zutraf, die bereits nach Auschwitz deportiert worden waren.92 Der Protest der „Frauen in der Rosenstraße“ hat zu einer Forschungskontroverse geführt. Ausgangspunkt war das Buch „Resistance of the Heart. Inter90 Christa Hämmerle u. Li Gerhalter (Hg.), Apokalyptische Jahre. Die Tagebücher der Therese Lindenberg 1938–1946, Köln/Weimar/Wien 2010, 71, 76, 86, 90, 97. 91 Victor Klemperer, Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1942–1945, hg. von Walter Nowojski, Berlin 1995, 495, Eintrag vom 12. März 1944. 92 Vgl. Wolf Gruner, The Factory Action and the Events at the Rosenstrasse in Berlin: Facts and Fictions about 27 February 1943 – Sixty Years Later, in: Central European History 36 (2003), 179–208.

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marriage and the Rosenstrasse Protest in Nazi Germany“ des amerikanischen Autors Nathan Stoltzfus.93 Dieser sieht in dem Protest eine spezifische Form des Widerstandes, nämlich jenen des Herzens. Mehr „Widerstand des Herzens“, so seine These, hätte den Nationalsozialismus zu mehr Konzessionen zwingen können als der Widerstand der Verschwörer des 20. Juli 1944. Die Einwände gegen seine Interpretation des Protestes beziehen sich sowohl auf eine Hinterfragung der Intentionen des Reichssicherheitshauptamtes, das nach Auffassung von Wolf Gruner keine Deportationen von Juden aus ‚Mischehen‘ plante, als auch auf eine Interpretation des Begriffs „Widerstand“ bzw. „Resistenz“, der nach Christof Dipper zu Unrecht eine politische Dimension erhalten habe.94 Diese Diskussion soll hier nicht weitergeführt, es sollen nur zwei Aspekte herausgegriffen werden. Zunächst jener der ‚Mischehe‘ selbst, die in der Tradition unerwünschter Eheschließungen steht, da sie häufig gegen Widerstände von Familien und sozialem Umfeld und immer gegen Widerstände der religiös-kirchlichen Institutionen geschlossen wurde. Die Ehen, die mit einer kirchlichen und zivilen Dispens eingegangen werden konnten, sei es aus den Gründen des Ehehindernisses disparitas cultus oder jener der Verwandtschaft, um zwei Möglichkeiten zu nennen, haben einen großen bürokratischen Apparat in Bewegung gesetzt und eines aufwändigen Verfahrens bedurft, um realisiert werden zu können. Sie sind gegen die erwünschte Norm geschlossen worden und sollten eine Ausnahme bleiben. Dennoch haben sie, da es nicht bei Einzelfällen blieb, dazu beigetragen, Wahlmöglichkeiten in der Folge zu erweitern, die Gesetze zu verändern oder zu Fall zu bringen, wie das Ehehindernis der Religionsverschiedenheit. Damit soll hervorgehoben werden, dass Säkularisierung kein abstrakter Prozess ist, sondern ein konkreter, zu dem auch die Optionen von Ehepaaren, von Lebenspartnern oder Singles ihren Beitrag geleistet haben. Die Ehen zwischen Juden und ‚Deutschblütigen‘, die im Nationalsozialismus verboten bzw. geächtet waren, haben ihrerseits dessen Segregationspolitik beeinträchtigt. Das mag wenig sein in Hinblick auf die gegenüber Juden und Jüdinnen eingesetzte NS-Vernichtungsmaschinerie, aber es ist viel im Sinne der Aufrechterhaltung von Kommunikation. Der zweite Aspekt betrifft die Deportation von Juden und Jüdinnen aus ‚Mischehen‘. Wie in Deutschland sollte es auch in Italien einen Schutz für den 93 Nathan Stoltzfus, Resistance of the Heart. Intermarriage and the Rosenstrasse Protest in Nazi Germany, New York 1996. 94 Christof Dipper, Schwierigkeiten mit der Resistenz, in: Geschichte und Gesellschaft 22 (1996), 409–416; Nathan Stoltzfus, „Third Reich History as if the People Mattered“. Eine Entgegnung auf Christof Dipper, in: Geschichte und Gesellschaft, 26 (2000), 672–684.

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jüdischen Partner in ‚Mischehen‘ geben, und noch 1944, als die Deportation aller in Italien lebenden Juden angeordnet wurde, sollten sie davon ausgenommen bleiben. Auf ausdrücklichen Wunsch der deutschen Besatzer bzw. der SS, die für die Deportationen verantwortlich war, galt dies nicht in der Repubblica Sociale Italiana di Salò. Hier fiel die Schutzfunktion der ‚Mischehe‘ für den jüdischen Partner weg. Ein Fall sei herausgegriffen. Clara Pirani Cardosi, eine zum Katholizismus übergetretene Jüdin, hatte 1924 standesamtlich und kirchlich einen nichtjüdischen Italiener geheiratet. Beide waren Lehrer, ein Beruf, dessen Ausübung ihr 1938 untersagt wurde. Das Paar lebte in Gallarate in der Lombardei. Im Mai 1944 wurde Clara verhaftet und ins Gefängnis nach Mailand gebracht; kurz darauf kam sie in das Konzentrationslager Fossoli und wurde im August mit 300 Juden aus ‚Mischehen‘ nach Auschwitz deportiert, wo sie in den Gaskammern ermordet wurde.95 Der Fall von Clara Pirani Cardosi zeigt den Willen der SS, keine Ausnahmeregelungen für Juden zu akzeptieren, wenn es für sie durchsetzbar war. Die Repubblica di Salò stand unter ihrer Herrschaft und sollte dies auch spüren. Die jüdisch-‚arischen‘ Paare, die in einer Lebensgemeinschaft zusammenlebten oder kurzfristige sexuelle Beziehungen hatten, blieben nicht nur ohne Schutz, sondern ihre Beziehung war für den jüdischen Teil auch strafbar. Die sexuellen Beziehungen zwischen Juden und Christen galten als „krankheitserregend“. Die Angst vor der „Ansteckung“ veranlasste die nationalsozialistische Regierung 1942, Soldaten und Parteimitgliedern die Heirat mit jenen Frauen zu verbieten, die zuvor mit einem Juden verheiratet gewesen waren.96 Entsprechend diesen Vermischungsphobien sollten vorhandene Ehen geschieden und sexuelle Beziehungen bestraft werden. Der Kampf gegen jüdisch-‚arische‘ Geschlechterbeziehungen, denen Zusammenleben und Geschlechtsverkehr in der Praxis und später auch in der Intention nachgewiesen werden konnte, lief unter dem Begriff „Rassenschande“. Diese wurde strafrechtlich als Verbrechen geahndet. Die Definition des Tatbestandes war sehr weit. „Unter Geschlechtsverkehr ist zwar nicht nur der Beischlaf, das heißt die natürliche Vereinigung der Geschlechtsteile, zu verstehen, sondern auch beischlafähnliche Handlungen, z. B. gegenseitige Onanie“, aber Küsse und Umarmungen zählten nicht dazu, hieß es in einer juristischen Stellungnahme aus dem Jahr 1935,97 die schon die Klassifikation 95 Vgl. Giuliana, Marisa u. Gabriella Cardosi, Das Problem der „Mischehen“ während der Rassenverfolgung in Italien 1938–1945, Darmstadt 1985, 59–61, 73, 83f. 96 Kundrus, Kriegerfrauen, 231. 97 Andreas Rethmeier, „Nürnberger Rassegesetze“ und Entrechtung der Juden im Zivilrecht, Frankfurt a. M. 1995, 280.

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von Geschlechtsakten vornahm, die in der Folge in den Gerichtsverhandlungen zum Repertoire gehörte. Die Intention des Gesetzgebers ist eindeutig: Er wollte jüdisch-‚arische‘ Beziehungen dort treffen, wo sie am intensivsten gelebt werden konnten. In Deutschland kam es schon vor dem 15. September 1935 zu Gewalttätigkeiten gegen nichtjüdische Frauen, die mit Juden zusammenlebten, und es herrschte eine Pogromstimmung gegenüber Paaren in einer jüdisch-nichtjüdischen Beziehung. Vor Gericht konnten sie aber erst nach dem Erlass des „Blutschutzgesetzes“ gestellt werden. Nach dem „Blutschutzgesetz“ war der Geschlechtsverkehr strafbar, theoretisch konnte nur der Mann verurteilt werden, denn er sei, so ein Credo führender Nationalsozialisten, beim „außerehelichen Geschlechtsverkehr [...] regelmäßig der bestimmende Teil“.98 Vor allem aber sollten Frauen durch diese Strafunwürdigkeit nicht das Auskunftsverweigerungsrecht erhalten können. Der § 5/2 des „Blutschutzgesetzes“, der die alleinige Strafbarkeit des Mannes festhält, hatte demnach auch die Aufgabe, zwischen den Verantwortlichkeitskompetenzen der Geschlechter zu differenzieren. „Der Mann, der dem Verbot des § 2 zuwiderhandelt, wird mit Gefängnis oder Zuchthaus bestraft.“ In der Praxis wurde diese Strafschonung meistens nicht angewandt, und auch Jüdinnen wurden bestraft und in Konzentrationslager verbracht. So geschah es im Fall der Erna Musik, einer Wienerin, nach den Definitionen der „Nürnberger Gesetze“ „Halbjüdin“, die nach Auschwitz deportiert wurde. Ihre Geschichte, über die sie selbst geschrieben hat, gibt auch einen Einblick in Beziehungszusammenhänge und Gefühlsstrukturen. Erna Musiks Gefährte war Revolutionärer Sozialist; sie hatte ihn schon vor 1938 kennengelernt. „Wegen der Arbeitslosigkeit wollte ich nicht heiraten, erst wollten wir eine Wohnung haben. Dann ist der Hitler gekommen, und wir konnten nicht mehr heiraten, und die Wohnung war eingerichtet und ist nie eine Minute von uns bewohnt worden.“99 Die Arbeitslosigkeit hat viele Ehen verhindert, aber auch geschiedene – katholische – Männer und Frauen konnten zu Lebzeiten des früheren Partners, der früheren Partnerin keine neuerliche Ehe schließen. Die am 1. August 1938 in der „Ostmark“ eingeführte Zivilehe, die die Wiederverheiratung ermöglicht hätte, hat für die ‚rassisch gemischten‘ Paare insofern keine Wirkung mehr gehabt, als bereits am 20. Mai 1938 das „Blutschutzgesetz“ eingeführt worden war. Es ist ein Zynismus, der sich aus dieser zeitlichen Abfolge ergibt. Gesetze, Sprache, Bilder und soziales Umfeld haben die jüdischen Partner und Partnerinnen auch in ihrer Beziehung, in der sie emotionalen Schutz 98 Rethmeier, Nürnberger Rassegesetze, 285. 99 Erna Musik, in: Jüdische Schicksale. Berichte von Verfolgten, hg. vom Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes, Wien 1992, 252–255, 253.

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erwarten konnten, verunsichert. Ihr späterer Mann, so Musik, habe „eisern“ zu ihr „gehalten, und manchmal [...] habe ich mich selbst ein bisserl als Mensch zweiter Klasse gefühlt. Da hat mir mein Mann immer wieder gesagt ‚Bist du wahnsinnig, was ist denn los?‘“100 1942 hat sie ein Kind bekommen. „Ich wollte von meinem Mann ein Kind haben. Ich habe gar nicht nachgedacht, was für Konsequenzen das haben könnte.“101 1943 wurde sie, nachdem die Widerstandsgruppe ihres Mannes aufgeflogen war, verhaftet und nach Birkenau deportiert. Ihr Mann, wegen ‚Rassenschande‘ und Mitgliedschaft einer Widerstandsgruppe angeklagt, ging in den Untergrund. Nach Kriegsende haben beide geheiratet.102 Auch in anderen Fällen kam es zur Deportation der jüdischen Partnerin in ein KZ. Der männliche Partner, sei er Jude oder ‚Deutscher‘ gewesen, wurde zu ein oder zwei Jahren Haft verurteilt. Zwischen 1938 und 1943 kamen in Wien 185 ‚Rassenschande‘-Fälle vor Gericht,103 in Hamburg waren es 390 zwischen 1936 und 1944. Im Altreich gab es in zehn Jahren 2.211 Strafverfahren wegen ‚Rassenschande‘.104 Es handelte sich um kein Massenphänomen, aber diese einzelnen Fälle verweisen auf das Widerstandspotential von Liebesbeziehungen; sie verweisen aber auch darauf, dass die in den „Nürnberger Gesetzen“ hergestellte ‚Rasse‘ Jude in diesen Beziehungen keine Bedeutung hatte. Während die Verfasser des „Blutschutzgesetzes“ von der totalen Machbarkeit von Beziehungen ausgegangen waren, zeigen die Liebespaare die Grenzen dieses Konzeptes auf. Sie forderten das Recht auf individuelle Glücksvorstellungen und subjektive Entscheidungen, ein Recht, das es im Nationalsozialismus nicht gab. Emotionen und Handlungen sollten im NS-Staat auf die Bedürfnisse der ‚Volksgemeinschaft‘ ausgerichtet sein. Als Vertreter dieser ‚Volksgemeinschaft‘ traten die Denunzianten in das Leben der Paare ein, das auf einem zur Ausnahme gewordenen Beziehungsideal beruhte. Der Großteil der ‚Rassenschande‘-Fälle kam über Denunziationen vor Gericht.105 In diesem politischen und sozialen Alltag gab es überall Augen und Ohren: „W. ist nun gestern bei einem gewissen G., Wien 20., Staudingerg. 1 abgestiegen und soll sich auch daselbst polizeilich gemeldet haben.“ Er schlafe 100 Erna Musik, 253. 101 Erna Musik, 254. 102 Vgl. Erna Musik kommt mit einem Einzeltransport ins KZ Auschwitz, in: Jüdische Schicksale, 558–560. 103 Statistisches Jahrbuch der Stadt Wien 1939–1942, 428, vgl. dazu Edith Saurer, Verbotene Vermischungen. „Rassenschande“, Liebe und Wiedergutmachung, in: Bauer/Hämmerle/ Hauch, Liebe und Widerstand, 341–361, 349. 104 Vgl. Alexandra Przyrembel, „Rassenschande“. Reinheitsmythos und Vernichtungslegitimation im Nationalsozialismus, Göttingen 2003, 499. 105 Vgl. Przyrembel, „Rassenschande“, 210–222.

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aber nicht dort, fährt der Denunziant fort, „sondern bei der J.“ W. war Jude, J. hingegen ‚Arierin‘.106 Vor Gericht wurden die sexuellen Beziehungen nach quantitativen Gesichtspunkten und in ihrer Negativität erhoben, mit dem Ziel aufzuzeigen, dass es zwischen ‚gemischten‘ Paaren keine Liebesbeziehung geben könne. Das Zählen und Klassifizieren des Geschlechtsverkehrs führte, wie Patrizia Szobar betonte, zu einer Sexualisierung der Rechtsrhetorik. „Sinnliche Blicke“ konnten zur Verurteilung ausreichen, und intensive Gefühle waren ebenso strafbar wie der sexuelle Akt selbst. In der Rechtsrhetorik wurde aus dem Geschlechtsverkehr ein ekelerregendes Geschehen, und die Beteiligten wurden als sexuell abhängig dargestellt.107 Die Denunziationen verweisen auch auf einen voyeuristischen Blick, den die Angehörigen der Mehrheit auf die Sexualität der Minderheit warfen. Dagmar Herzog hat in ihrer Auseinandersetzung mit der Sexualität in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts die weniger prüde Einstellung des Nationalsozialismus herausgearbeitet. Er hätte bürgerliche Moral abgelehnt und sowohl Gelegenheiten geschaffen, voreheliche Sexualität zu praktizieren, wie etwa im Reichsarbeitsdienst, als auch auf vielfältige Weise dazu angeregt. Gelegenheit zu sexuellen Beziehungen hätte es gegeben, die auch genutzt wurden: „Dem Erotischen – blieb es im Rahmen der Rassengesetze und entsprach es dem sogenannten gesunden Volksempfinden – war keine Grenze gezogen“, zitiert sie einen Zeitzeugen.108 Das SS-Journal „Das schwarze Korps“ wurde zum „wichtigsten Sprachrohr derjenigen, die Prüderie für sträflich und unnatürlich hielten und den sexuellen Äußerungen des Menschen eine potenziell transzendentale Natur zuschrieben“, so Herzog.109 Welche Bedeutung diese Entwicklung für die während des Krieges zunehmend langen Trennungen von Ehepaaren hatte, zeigt Elizabeth Heineman auf: „Als Männer in den Krieg zogen, veränderte sich das soziale und sexuelle Leben aller Frauen auf dramatische Weise.“110 Alle Frauen lebten wie Alleinstehende. Verheiratete Frauen sahen ihre Ehemänner kaum. Dies galt schon für die Braut. Bald nach Kriegsbeginn wurde die – in Abwesenheit des Soldaten, aber in Anwesenheit eines Stahlhelms – am Wohnort der Verlobten geschlossene „Ferntrauung“ 106 Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstandes (DÖW), Kontakt mit rassisch Verfolgten, 1.669. 107 Patricia Szobar, Telling Sexual Stories in the Nazi Courts of Law. Race Defilement in Germany, 1933 to 1945, in: Journal of the History of Sexuality 11, 1/2 (2002), 131–163, 163. 108 Dagmar Herzog, Die Politisierung der Lust. Sexualität in der deutschen Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts, München 2005, 81. 109 Herzog, Die Politisierung der Lust, 43. 110 Elizabeth D. Heineman, What Difference Does a Husband Make? Women and Marital Status in Nazi and Postwar Germany, Berkeley u. a. 1999, 45.

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eingeführt. „Mit dem Stahlhelm verheiratet“, hieß es im Volksmund. Die „Ferntrauung“ sollte nicht nur Eheschließungen unter Kriegsbedingungen erleichtern, sondern auch Beziehungen zu ‚Fremdvölkischen‘ verhindern, so die Vorstellung des Gesetzgebers. Allerdings kam es immer häufiger vor, dass „Ferntrauungen“ mit einem Toten geschlossen wurden. Der Geheimerlass von 1941, der eine post mortem-Eheschließung vorsah, hat dies explizit ermöglicht.111 Mögliche neue sexuelle Partner waren Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene, aber gerade hier gelangten die Frauen an die Grenzen ihrer ‚sexuellen Freiheit‘, denn dieser zum Großteil verbotene Kontakt wurde von der Gestapo geahndet und konnte zur Streichung des Familienunterhalts führen – Sanktionen, die die Männer an der Front nicht fürchten mussten. Dort hatte die Militärverwaltung Wehrmachtsbordelle eingerichtet. Der Kontakt mit der Zivilbevölkerung, insbesondere Liebesbeziehungen mit Frauen aus den besetzten Gebieten, war verboten, aber das Verbot nicht durchsetzbar, wie etwa in Frankreich.112 Die sexuelle Freiheit konnten jene genießen, die in die ‚richtige Rasse‘ geboren worden waren und den oder die ‚Richtigen‘ liebten, die ‚gesund‘ waren bzw. keine Angst vor dem Amtsarzt haben mussten, die politisch konform waren, gerade die richtige Machtposition innehatten – wie deutsche Soldaten in Frankreich 1940 –, nicht zu den ‚asozialen‘ Unterschichten zählten und die richtige sexuelle Orientierung hatten. Sie alle mussten sich an einen Rahmen anpassen. Der Psychotherapeut Johannes Schultz, der Erfinder des „autogenen Trainings“, der in seinem Buch „Geschlecht, Liebe, Ehe“ viel über die Kultivierung und Sensibilisierung von Sexualität schrieb und Ratschläge gab, sah die Einzelehe als „das menschliche Mittel für unsere Einfügung in den ewigen Strom unseres deutschen Volkes“.113 Das ist der Horizont, der unausweichliche, auf den sich Sexualität und Liebe im Jahre 1940 zu beziehen hatten; es gab genügend Institutionen, die ihn einmahnen konnten. Vor diesem Horizont standen auch die Paare, die in ‚Mischehen‘ lebten oder als ‚Rassenschänder‘ vor Gericht zitiert und verurteilt wurden. Für eine Geschichte der Geschlechterbeziehungen sind sie deshalb von besonderem Interesse, weil sie einen Einblick in Beziehungen unter extremen Bedingungen geben, die mit der Beziehung selbst in einem Zusammenhang stehen. Das Sich-nicht-Fügen in politische und soziale Anforderungen, die Beziehungen 111 Vgl. Cornelia Essner u. Edouard Conte, „Fernehe“, „Leichentrauung“ und „Totenscheidung“. Metamorphosen des Eherechts im Dritten Reich, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 44, 2 (1996), 201–227. 112 Vgl. Insa Meinen, Wehrmacht und Prostitution während des Zweiten Weltkriegs im besetzten Frankreich, Bremen 2002, 69. 113 Johannes H. Schultz, Geschlecht, Liebe, Ehe. Die Grundtatsachen des Liebes- und Geschlechtslebens in ihrer Bedeutung für Einzel- und Volksdasein, München 1940, 136.

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von einem Tag auf den anderen illegalisierten bzw. diffamierten, verweist auf den widerständigen Aspekt von Liebesbeziehungen. Und Widerständigkeiten führten zu Gefängnis, Deportation, zu Trennungen und oft zum Tod eines Partners oder beider. Das europäische 20. Jahrhundert war ein Jahrhundert der Trennungen. Durch Deportationen, die Einrichtung von Konzentrationslagern und die Shoa, durch Massenfluchten, Um- und Aussiedlungen sowie Zwangsumsiedlungen wurden Millionen Menschen von ihren Angehörigen getrennt. Im Frühjahr 1940 gab es fünf Millionen Flüchtlinge in Zentral- und Südfrankreich, in der Folge befanden sich zwölf Millionen Sowjets, Polen und Ukrainer auf der Flucht. 455.000 Juden flüchteten aus Deutschland und den eingegliederten Gebieten, 160.000 blieben zurück, in Polen waren es drei Millionen, die nicht fliehen konnten, in der Tschechoslowakei 140.000, in Ungarn 550.000, 200.000 in Rumänien, 2,2 Millionen in der UdSSR, 28.000 in Belgien, 76.000 in Frankreich, 100.000 in den Niederlanden. In den Jahren von 1939 bis 1945 gab es 50 bis 60 Millionen Flüchtlinge, Vertriebene und Deportierte in Europa.114 Die Emigration ermöglichte für Juden und andere Verfolgte das physische Überleben, stellte jedoch gleichzeitig an das psychische die größten Anforderungen, denn Emigration bedeutete Trennung von nahestehenden Personen, von Eltern, Ehepartnern, Kindern, Freunden, Geliebten, Nachbarn. Durch diese gewaltsamen Trennungen, die oft auch keine Briefkontakte mehr möglich machten, wurden Beziehungen in die Virtualität der Erinnerung gedrängt. Getrennt wurde der österreichische Journalist Otto Leichter von seiner Frau Käthe Leichter, Sozialwissenschaftlerin und Leiterin der Frauenabteilung der Wiener Arbeiterkammer. Unmittelbar nach dem 13. März 1938, dem „Anschluss“ Österreichs an das nationalsozialistische Deutschland, ist Otto Leichter aus Wien geflüchtet. Seiner Frau gelang die Flucht nicht mehr. Sie war davon ausgegangen, dass sie weniger gefährdet sei als ihr Mann, der – wie sie – in der Sozialdemokratie engagiert war. Sie war mit dieser Auffassung nicht allein. Es emigrierten mehr Männer als Frauen: Der weibliche Anteil an der jüdischen Bevölkerung in Deutschland stieg von 52,3 % im Jahr 1933 auf 57,5 % im Jahr 1939, wie Marion Kaplan herausgearbeitet hat.115 Mehr Frauen als Männer wurden deportiert und in den Konzentrationslagern getötet. Viele waren ältere Frauen. Käthe Leichter wurde in Wien verhaftet. Otto Leichter floh nach Paris und schrieb hier ein Jahr lang fast täglich nie abgesandte Briefe an seine Frau.116 114 Vgl. Bade, Europa in Bewegung, 284–296. 115 Kaplan, Between Dignity and Despair, 62ff. 116 Otto Leichter, Briefe ohne Antwort. Aufzeichnungen aus dem Pariser Exil für Käthe Leichter 1938–1939, hg. von Heinz Berger, Gerhard Botz u. Edith Saurer, Wien/Köln/Wei-

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Dieses „Brieftagebuch“ wollte er ihr bei dem erwarteten Wiedersehen überreichen, um sie Einblick in sein Leben und sein Nachdenken über ihre Beziehung in der Zeit der Trennung nehmen zu lassen. Dazu kam es nicht. Käthe Leichter wurde nach Ravensbrück deportiert und 1942 ermordet. Für Otto Leichter war das Tagebuch ein Mittel der Alltagsbewältigung und der Herstellung von Erinnerung an seine Frau und von damit verbundener Nähe. Die Trennung, das Leben in der Emigration bzw. in der Haft haben Otto und Käthe Leichter auf unterschiedliche Weise mit der Dimension der Erinnerung konfrontiert. Im Herbst 1938 begann Otto Leichter an seinem „Brieftagebuch“ zu schreiben und Käthe Leichter in der Isolationshaft in der Zelle E 125 im Wiener Landesgericht mit der Arbeit an ihren „Lebenserinnerungen“. Für beide hatte Erinnerung jene Qualität, die ihr Jean Paul zugedacht hatte: „Die Erinnerung ist das einzige Paradies, aus dem man nicht vertrieben werden kann“,117 die Käthe Leichter in ihren „Lebenserinnerungen“ zitiert. Otto Leichters „Brieftagebuch“ weist die Orte aus, an denen Erinnerung wachgerufen wird. In der Kommunikation mit den gemeinsamen Kindern, die bei Otto Leichter leben, spricht Käthe Leichter mit. „Es ist überhaupt unglaublich, wie gegenwärtig Du mir bist. Ich weiss auch bei allen anderen Dingen, politischen, geistigen usw., was Du jetzt sagen würdest, wie Du Dich zu den Dingen einstellen würdest usw.“118 Die Kommunikation mit der Partnerin geschieht über die Vergegenwärtigung vergangener Ereignisse, und ihre damals geführte Rede erhält eine beinahe sakrale Kraft. Die Erinnerung, genährt durch materielle Gegenstände, die Kinder, Handlungen, Wiederholungen, soziale Kontakte, macht jedoch auch die Kluft zwischen der Gegenwart und der Vergangenheit schockartig deutlich. Der Herkunftsraum und die Position, die der einzelne in diesem eingenommen hat, sind weit entfernt. Erinnerung stellt, im Fall einer Trennung, die wenig bis gar keinen Informationsaustauch kennt, eine Kommunikationsform dar, die Vergegenwärtigung ebenso umfasst wie das Wissen um Verlust. Otto Leichter drückt dies in seinem „Brieftagebuch“ aus: „Ich habe manchmal schon das Gefühl, dass Du weit weg bist, dann habe ich wieder das Gefühl, dass Du neben mir liegst, und ich empfinde Deinen Körper so frisch und warm, wie

mar 2003; Heinz Berger, Briefe als Protokoll einer erzwungenen Trennung. Otto Leichters Pariser Brieftagebuch für Käthe Leichter, in: Hämmerle/Saurer, Briefkulturen und ihr Geschlecht, 203–218; Edith Saurer, „Aber wie unendlich weit ist diese Stimme …“. Nähe und Erinnerung in Otto Leichters Brieftagebuch, geschrieben in der Pariser Emigration 1938/39, in: ebd., 219–236. 117 Jean Paul, Impromptü’s, welche ich künftig in Stammbücher schreiben werde, in: Jean Paul’s Sämmtliche Werke, Bd. 32, Berlin 1842, 73–85, 80, Nr. 29. 118 Leichter, Briefe ohne Antwort, 101f.

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wenn ich ihn wirklich umfassen könnte.“119 Trotz dieser Fähigkeit der Vergegenwärtigung, die von Körpererinnerungen gespeist ist, bleibt Otto Leichter das Gefühl des Schleiers, der auf dem Erinnerten ruht und den Charakter des Unwirklichen vermittelt. Vergegenwärtigung bringt auch der Traum: „Vorgestern mein Traum unmittelbar nach Deiner Ankunft, ich gehe Dich anmelden; gestern ein sehr langer und lebendiger Traum; Du kommst, wirst begrüßt, wir sprechen über Amerika, Du sagst, daß Du hier bleiben willst, dann ein langer erotischer Traum [...].“120 Otto Leichter möchte nicht vergessen, sondern die Distanz durch Erinnerung bekämpfen. Am 24. August 1939 jedoch schreibt er den letzten Brief. Das „Brieftagebuch“ hat er nicht auf die Flucht nach Südfrankreich und in die Vereinigten Staaten mitgenommen. Es wurde 1996 im Moskauer Sonderarchiv gefunden. Erinnerung und Traum, die Trennungen begleiten, sind Elemente der Geschichte des 20. Jahrhunderts. Beiden gelang es, Beziehungen ungeachtet der Trennung herzustellen, deren Virtualität aber war bei aller Dichte der Vergegenwärtigung unüberwindbar. Die Extremsituationen, denen Menschen ausgesetzt waren, die flüchten mussten, Freunde, Eltern, Kindern, Ehepartner, Geliebte verloren, hat sie zugleich nahe an andere herangeführt. Stefanie Schüler-Springorum gibt einen Einblick in diese Situation, indem sie Marek Edelmann, einen Anführer des Warschauer Ghettoaufstandes, die Frage nach der Liebe im Ghetto beantworten lässt: „Ob die Menschen sich geliebt haben? Weißt du, mit jemandem zusammen zu sein, war die einzige Möglichkeit, im Ghetto zu leben. Der Mensch schloss sich irgendwo mit einem anderen Menschen ein, im Bett, im Keller, wo auch immer, und war bis zur nächsten Aktion nicht mehr allein. Dem einen wurde die Mutter weggeholt, dem anderen der Vater an Ort und Stelle erschossen oder die Schwester per Transport fortgeschafft; wenn jemand wie durch ein Wunder hatte fliehen können und noch lebte, musste er sich an einen anderen lebendigen Menschen anschließen.“121 4.5 Zwangsarbeit und Segregation

Die Ungleichheit, die zwischen ‚Rassen‘, ‚gesunden‘ und ‚kranken‘ Körpern und entlang dieser Kategorien zwischen den Geschlechtern hergestellt wur119 Leichter, Briefe ohne Antwort, 83. 120 Leichter, Briefe ohne Antwort, 158. 121 Hanna Krall, Schneller als der liebe Gott, Frankfurt a. M. 1980, 65, zit. nach Stefanie Schüler-Springorum, Liebe im Ausnahmezustand. Geschlechterbeziehungen im jüdischen Widerstand in Osteuropa, in: Bauer/Hämmerle/Hauch, Liebe und Widerstand, 328–337, 328.

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de, hatte Auswirkungen auf die Liebesbeziehungen und auf die Arbeitswelt. Der Krieg hat diese Elemente in eine neue Gemengelage gebracht. Im Zweiten Weltkrieg kämpften 20 Millionen deutsche Männer an der Front, was bedeutete, dass sie ihre zivilen Lebens- und Arbeitsverhältnisse verlassen hatten. Das bedeutete auch, dass der dadurch verursachte Verlust an Arbeitskraft ausgeglichen werden musste. Der nationalsozialistischen Herrschaft gelang es nicht, die Erwerbstätigkeit von Frauen wesentlich zu steigern; ihren Arbeitskräftemangel behob sie daher mit Zwangs- und ‚Fremdarbeitern‘ und -arbeiternnen, mit der Arbeit von Kriegsgefangenen und KZ-Insassen. Das Scheitern des Versuchs, ‚deutschblütige‘ Frauen stärker in die Arbeitsprozesse zu integrieren, hatte zahlreiche Gründe – zunächst laut propagierte, ideologische. Die Regierung hatte bald nach der Machtübernahme versucht, Geschlechterkonfigurationen zu realisieren, die bereits eine Tradition in der nationalsozialistischen Literatur und Publizistik sowie in entsprechenden Gesetzesvorstößen aufweisen konnten. So hatte die NS-Fraktion 1932 im preußischen Landtag beantragt, dass nur mehr jene Firmen öffentliche Aufträge erhalten sollten, die verheirateten Frauen kündigten und deren Stellen mit Männern nachbesetzten.122 Jene, die über die „Soldaten der Arbeit“, das NSArbeitsideal, nachdachten, formulierten es vorsichtiger: „[E]s ist durchaus möglich, ältere Arbeiter, Arbeitsbeschränkte überhaupt, ja – wenn es sein muß – sogar Frauen mit produktiver, d. h. volkswichtiger, Arbeit zu beschäftigen.“123 Die Ehestandsdarlehen öffneten nicht nur die Möglichkeit eugenischer Kontrollen, sondern wurden 1933 als Teil des „Gesetzes zur Verhinderung der Arbeitslosigkeit“ eingeführt. Dieses machte denn auch zur Darlehensbedingung, dass eine erwerbstätige Frau nach der Eheschließung ihren Beruf aufgab. Vier Jahre später musste diese Bedingung allerdings wieder fallengelassen werden, denn der Arbeitskräftemangel wurde akut. Dieses Hin und Her traf auch auf andere Maßnahmen zu, wie die Einführung von Quoten für Studentinnen oder ein Berufsverbot für Richterinnen und Rechtsanwältinnen, denn eine Arbeitsmarktpolitik auf Kosten von Frauenarbeit stieß bald an ihre Grenzen. Das „Doppelverdienergesetz“, das ein Berufsverbot für verheiratete Beamtinnen eingeführt hatte, wurde nach Kriegsbeginn nicht mehr angewandt. Dennoch konnte diese neue Strategie der Integration von Frauen in die Erwerbsarbeit nicht durchgehalten werden. Dazu trug auch der Familienunterhalt bei, der, eine Lehre aus dem Ersten Weltkrieg, bedeutend höher war als die Familienunterstützung der Jahre 122 Vgl. Johanna Gehmacher, „Völkische Frauenbewegung“. Deutschnationale und nationalsozialistische Geschlechterpolitik in Österreich, Wien 1998, 127. 123 Karl Arnhold, Wehrhafte Arbeit. Eine Betrachtung über den Einsatz der Soldaten der Arbeit, Leipzig 1939, 28f.

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1914 bis 1918. Die Einkommenshöchstgrenze betrug 85 % des bisherigen Familieneinkommens. Die Frauen von Soldaten, die schon vor deren Kriegseinsatz geheiratet hatten, erhielten einen Familienunterhalt, der knapp 73 % des bisherigen Einkommens betrug. In England waren es 38,1 %, in den USA 36,7 %.124 Dazu kam, dass die ‚deutschblütigen‘ Frauen mit den Behörden über Unterhalt und zusätzliche Zahlungen verhandeln konnten. In diesen individuellen Aushandlungsmöglichkeiten sieht Birthe Kundrus einen Grund dafür, dass es zu keinen kollektiven Protestformen von Frauen gekommen ist wie im Ersten Weltkrieg.125 Das Aufrechterhalten der Versorgung bis 1944 hatte darauf ebenfalls einen Einfluss. Eine Folge dieser Entwicklung war, dass im Mai 1944 die Frauenerwerbstätigkeit nur um 1,2 % mehr betrug als vor dem Krieg, während sie in den USA und England um 50 % angestiegen war, so Elizabeth Heineman.126 Die Regierung hat spät, nämlich 1941 und vor allem 1943, versucht, das zu ändern. 1943 mussten sich alle Frauen, die nicht schwanger waren und keine Kinder im Vorschulalter zu betreuen hatten, registrieren lassen. Von den drei Millionen registrierten nahm nur eine halbe Million eine volle Erwerbstätigkeit auf.127 Vor allem unter den verheirateten Frauen, die Familienunterhalt bezogen, konnte die Arbeitspflicht nicht durchgesetzt werden – im Unterschied zu den unverheirateten Frauen, die das „Pflichtjahr“ und den weiblichen Reichsarbeitsdienst abzuleisten hatten. Die Erinnerung an den Ersten Weltkrieg, an die allarmierenden Feldpostbriefe empörter Frauen, an die Streiks und Demonstrationen hat diese Entscheidung der Nationalsozialisten mitbestimmt. Zugleich gab es Versuche von der Industrie selbst, durch Einrichtung von Betriebskindergärten, Stillstuben, durch Kinderzulagen und Geburtsbeihilfen Müttern die Erwerbstätigkeit zu erleichtern.128 Die Regierung setzte zusätzliche Maßnahmen. Sie führte den Hausarbeitstag ein. 1942 erließ sie das „Gesetz zum Schutz der erwerbstätigen Mutter“. Carola Sachse hat in der „menschenverachtende[n] und menschenvernichtende[n]“ Behandlung der ‚Fremdarbeiterinnen‘ die Begleitmaßnahme des „Gesetzes zum Schutz der erwerbstätigen Mutter“ von 1942 gesehen. Der Schutz der „deutschen“ Mütter und die totale Entrechtung der nichtdeutschen Mütter waren die Folgen des Rassismus, der für sich beanspruchte, den Wert von Leben zu bestimmen.129 124 125 126 127 128

Vgl. Kundrus, Kriegerfrauen, 434. Kundrus, Kriegerfrauen, 293, 418–421. Heineman, What Difference, 63. Vgl. Heineman, What Difference, 63. Vgl. Rüdiger Hachtmann, Industriearbeit im „Dritten Reich“. Untersuchungen zu den Lohn- und Arbeitsbedingungen in Deutschland 1933–1945, Göttingen 1989, Kap. 8. 129 Carola Sachse, Normalarbeitstag und Hausarbeitstag: (Ost)deutsche Variationen einer Mesalliance, 1943–1991, in: L’Homme. Z.F.G. 11, 1 (2000), 49–64, 53; dies., Das natio-

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Spät wollten sozialpolitische Maßnahmen die Frauenerwerbstätigkeit erhöhen, allerdings blieben sie erfolglos. Annexionen und Okkupationen in großen Teilen Europas ermöglichten es der nationalsozialistischen Herrschaft, ein riesiges Heer von Arbeiterinnen und Arbeitern unterschiedlicher nationaler Herkunft in der deutschen Wirtschaft einzusetzen. Von den 7,6 Millionen ausländischen Arbeitskräften, die 1944 im „Großdeutschen Reich“ eingesetzt waren, waren „1,9 Millionen Kriegsgefangene und 5,7 Millionen zivile Arbeitskräfte; darunter 250.000 Belgier, 1,3 Millionen Franzosen, 590.000 Italiener, 1,7 Millionen Polen, 2,8 Millionen Sowjets. Mehr als die Hälfte der polnischen und sowjetischen Zivilarbeiter waren Frauen, ihr Durchschnittsalter lag bei etwa 20 Jahren. Fast die Hälfte aller in der deutschen Landwirtschaft Beschäftigten waren Ausländer, im Metall-, Chemie-, Bau- und Bergbausektor etwa ein Drittel, in reinen Rüstungsbetrieben bis zu 50 %. […] die gesamte Kriegswirtschaft war spätestens seit dem Herbst 1941 alternativlos auf Arbeitskräfte aus dem Ausland angewiesen.“130 Zu ergänzen wäre die Zwangsarbeit der in- und ausländischen Juden und Jüdinnen, vorzüglich in Konzentrationslagern. Von den Zivilarbeitern war nur ein geringer Prozentsatz freiwillig und aufgrund von Anwerbungen nach Deutschland gekommen – wie bereits vor Kriegsausbruch Italiener, Polen und Niederländer. Der Großteil der ausländischen Arbeitskräfte bestand aus Zwangsarbeitern und -arbeiterinnen. In Polen wurden ab 1940 alle Jahrgänge von 1915 bis 1925 zur Arbeit im Deutschen Reich verpflichtet. Bei Nichteinhaltung der Kontingente erfolgten Zwangsmaßnahmen, die ab 1943 allgemein zur Anwendung kamen. Polen mussten ein Kennzeichen mit dem Buchstaben „P“ tragen.131 Die „Osterlasse“ bereiteten den massenhaften Einsatz sowjetischer Arbeiter vor, die meistens durch Razzien erfasst und zwangsverpflichtet wurden. Alle sowjetischen Arbeiter waren mit einem „Ost“-Abzeichen gekennzeichnet. Gewaltsam nach Deutschland gebracht wurden auch die ‚Ostarbeiterinnen‘, denn selten gab es freiwillige Meldungen. Dies war der 16-jährigen Jewdokia Schapowal aus Jastrebinoje in der Ukraine widerfahren, die sich mit einer Freundin vor den Arbeitskräftesuchenden im Obstgarten versteckt hatte. Sie wurde entdeckt und mit anderen Jugendlichen nach Deutschland transportiert. „Ohne eine Möglichkeit, sich von der Familie und von FreundInnen zu verabschieden oder persönliche Sanalsozialistische Mutterschutzgesetz. Eine Strategie zur Rationalisierung des weiblichen Arbeitsvermögens im Zweiten Weltkrieg, in: Reese, Rationale Beziehungen, 270–292. 130 Ulrich Herbert, Fremdarbeiter. Politik und Praxis des „Ausländer-Einsatzes“ in der Kriegswirtschaft des Dritten Reiches, Berlin 19862, 11. 131 Vgl. Herbert, Fremdarbeiter, 82–88.

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chen oder Kleidung mitzunehmen.“132 Jewdokia Schapowal kam in die Hermann-Göring-Werke in Linz und wurde „Eisengießerin“.133 Die Zwangsarbeiter und -arbeiterinnen waren täglich mit der Situation des Zwangs konfrontiert. „Diese Arbeit ist so furchtbar, weil wir dazu gezwungen werden. Man kann sie sich nur erträglich machen, wenn man über diesen Zwang hinwegkommt ... Wenn ich mir selbst die Aufgabe stelle, mit der Arbeit fertig zu werden, dann hat die Zwangsarbeit ihren Stachel verloren“,134 schreibt Elisabeth Freund, die als Jüdin 1941 in einer Berliner Großwäscherei arbeitete. Mit dem Arbeitszwang verbunden war ethnisch differenzierte Rechtlosigkeit. Die etwa acht Millionen ‚Fremdarbeiter‘, die sich durch ethnische Zugehörigkeit, Geschlecht und Art der Rekrutierung voneinander unterschieden und auch einen unterschiedlichen Rechts- bzw. Unrechtsstatus erhielten, stellten die Bürokratie vor ein logistisches Problem. Einerseits sollte eine Trennung zwischen den ‚Fremdarbeitern‘ und den ‚arischen‘ Deutschen durchgeführt werden, andererseits sollten innerhalb der großen Gruppe der ausländischen und jüdischen Arbeitskräfte ebenfalls Klassifikationen zum Einsatz kommen. In der Hierarchie der Zwangsarbeiter standen die Arbeitskräfte ‚germanischer Abstammung‘ (Flamen, Holländer, Dänen, Norweger) an der obersten Stelle, gefolgt von den befreundeten Staaten (Italiener, Spanier) sowie den Franzosen und Belgiern. Am Fuße der Hierarchie befanden sich nach den Polen die ‚Ostarbeiter‘. Sie wurden in geschlossenen Lagern untergebracht und hatten nur beschränkte Möglichkeiten, diese zu verlassen. Unterhalb der untersten Ebene der Zwangsarbeiter befanden sich die Juden, die als Zwangsarbeiter und KZHäftlinge ebenfalls zur Arbeit, vor allem in der Industrie herangezogen wurden. Die Löhne entsprachen der rassistischen Hierarchie: Franzosen erhielten 80 bis 90 % des Durchschnittslohns eines inländischen Arbeiters, Polen zwischen 50 und 85 %, ‚Ostarbeiter‘ oft nur 25 % und ‚Ostarbeiterinnen‘, so scheint es, noch weniger.135 Für besonders anstrengende Arbeiten gab es eine „Sonderversorgung“: Reichsangehörige Männer erhielten zwei Zigaretten, Frauen eine, Polen und ‚Ostarbeiter‘ ebenfalls eine. „Polinnen und Ostarbeiterinnen erhalten die zusätzliche Versorgung nicht.“136 132 Gabriella Hauch, Zwangsarbeiterinnen und ihre Kinder: Zum Geschlecht der Zwangsarbeit, in: Christian Gonsa u. a., Zwangsarbeit – Sklavenarbeit: Politik-, sozial- und wirtschaftshistorische Studien, Wien/Köln/Weimar 2001, 355–448, 368. 133 Hauch, Zwangsarbeiterinnen und ihre Kinder, 367f. 134 Carola Sachse (Hg.), Als Zwangsarbeiterin 1941 in Berlin. Die Aufzeichnungen der Volkswirtin Elisabeth Freund, Berlin 1996, 25. 135 Dies lässt es sich errechnen aus den Angaben bei Michael John, Zwangsarbeit und NSIndustriepolitik am Standort Linz, in: Gonsa, Zwangsarbeit, 23–146, 78; zu den Löhnen der Polen vgl. Herbert, Fremdarbeiter, 92. 136 John, Zwangsarbeit, 76.

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Diese Lohn- und Sonderversorgungshierarchien waren von der politischen Absicht getragen, ‚Rassen‘-Bewertungen bis in Details festzulegen und festzustellen. Mit dieser Intention verbunden war die Unterbindung von Kommunikation. „Unsere Fabrik hat eine ganze Abteilung Franzosen, die hier draußen in einer Baracke untergebracht sind. [...] Nach dem Merkblatt ist es den deutschen Arbeitern streng verboten, mit ihnen mehr als nur sachlich über die Arbeit zu sprechen.“137 Noch rigoroser gehandhabt wurde die Separierung der ‚arischen‘ Arbeiterinnen von den jüdischen; Bretterverschläge sollten den Sichtkontakt nehmen. Elisabeth Freund beschreibt so ihre Arbeitsstätte in ­einer Berliner Großwäscherei, in der sie kaum atmen konnte. Gestaffelte Zeiten für Arbeitsbeginn und -ende und eigene Ausgänge für die jüdischen Arbeiter und -arbeiterinnen ließen die ‚Rassentrennung‘ perfektionieren. Unvermeidbar war die „Sondertoilette“ für Juden.138 In der multiethnischen Gesellschaft des nationalsozialistischen Deutschland sollten Verbote, Grenzziehungen und Segregationen Kontakte und Kommunikationen verhindern. Segregation und Kategorisierung hatten daher nicht nur symbolische Bedeutung in Hinblick auf die Stigmatisierung der Ausgeschlossenen. Vermieden werden sollten damit auch freundschaftliche Gesten, Gespräche und Liebesbeziehungen zwischen diesen und Deutschen. Strafbar war dies unter dem Delikt „verbotener Umgang“. Dieser reichte vom freundlichen Wort – „Jedes freundliche, menschliche Wort zu einem Polen wird bestraft.“139 – bis zu einer Liebesbeziehung zwischen Deutschen und Zwangsarbeitern bzw. -arbeiterinnen. Das Verbot von Freundschaft und Liebesbeziehungen erstreckte sich nicht auf die ‚Fremdarbeiter‘, die freiwillig in das Land gekommen waren, wie etwa die Italiener in Folge des deutsch-italienischen Abkommens von 1937. Sie ­arbeiteten in der Landwirtschaft – hier auch Frauen – und in der Industrie. Bis 1943 zählten sie zu den Verbündeten, konnten sich frei bewegen und die kulturellen Unterschiede in den Geschlechterbeziehungen erfahren. Diese zählten zu den positiven Erinnerungen, die sie an diese Zeit hatten. Die deutschen Frauen kamen und suchten sich einen von ihnen zum Tanz aus, „und dann konntest du alles machen“, erzählte ein Maurer, der vier Jahre in Bremen gearbeitet hatte. „Als ich das im 41jahr sah, war ich sprachlos. Obwohl ich aus einer Stadt kam, ich lebte in Rom. Und ich sagte mir: ‚Ma porca miseria, wenn das eine Frau bei uns machen würde ...‘ […] Mir gefiel das, weil das eine größere Ehrlichkeit war. Es schien mir ganz richtig, dass eine Frau frei war und das tat, was sie wollte.“140 137 138 139 140

Sachse, Als Zwangsarbeiterin 1941 in Berlin, 66. Sachse, Als Zwangsarbeiterin 1941 in Berlin. Sachse, Als Zwangsarbeiterin 1941 in Berlin, 50. Cesare Bermani, Al lavoro nella Germania di Hitler. Racconti e memorie dell’emigrazione italiana 1937–1945, Torino 1998, 122.

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Teil II: Vom frühen 20. Jahrhundert bis in die Gegenwart

Wenn die italienisch-deutschen Liebesbeziehungen auch nicht verboten waren, so waren sie dennoch ungern gesehen: von deutschen Männern, von der Partei und der Polizei. Die Rede war von der „rassischen Inferiorität“ der Italiener. Der italienische Botschafter berichtete von deutschen Frauen, die geschoren und geteert wurden, weil sie Liebesbeziehungen zu Italienern eingegangen waren. Dennoch: Slowaken, Kroaten, Rumänen Bulgaren, Ungarn und Spanier konnten an Liebesbeziehungen mit Deutschen nicht gehindert werden. Allerdings waren auch die Verbote nicht durchsetzbar – wie zunächst bei den Franzosen. Die Franzosen, die in Deutschland arbeiteten, waren überwiegend Männer und sie arbeiteten über das ganze Land verteilt, als Knechte in der Landwirtschaft oder als Facharbeiter in der Industrie. Sie wurden bei Bombenschäden eingesetzt und waren von der deutschen Bevölkerung daher, zumindest räumlich, nicht zu trennen; dementsprechend konnten Kontakte nicht unterbunden werden. Französische Kriegsgefangene wurden bei der Aufdeckung von Liebesbeziehungen mit deutschen Frauen mit drei bis sechs Jahren Gefängnis bestraft; jene mit französischen Zivilarbeitern waren straffrei. Das Eingehen von Liebesbeziehungen mit ‚Fremdarbeitern‘ war nicht notwendigerweise Ausdruck einer NS-feindlichen Gesinnung. E. D., eine 48-jährige 12-fache Mutter, verheiratet, Mitglied der NSDAP und der Frauenschaft, Putzfrau im Parteiheim im niederösterreischischen Süßenbrunn, verliebte sich in einen französischen Kriegsgefangenen, der ihr beim Kohlentragen geholfen hatte. Sie besuchte ihn, als er versetzt wurde, begleitet von ihrer Freundin, ­einer Zeitungsausträgerin. „Bei ihrer Festnahme hatte die Angeklagte D. eine Aktentasche mit Wurst, Brot, Käse, Zigaretten und einer leeren Weinflasche bei sich. Ob sie dem Gefangenen etwas zugesteckt hatte, konnte nicht mehr festgestellt werden.“ Sie wurde mit zwei Jahren und sechs Monaten Zuchthaus bestraft, ihre Freundin mit einer Gefängnisstrafe von drei Monaten. Bei ihrer Einvernahme erklärte sie, dass „sie eine große Zuneigung zu dem Gefangenen gefaßt [habe] und [...] immer geschlechtlich erregt gewesen“ sei.141 Das Verbot und ihre Parteizugehörigkeit hinderten sie an der Zuneigung nicht. Über ihren französischen Freund war aus den Akten nichts zu erfahren. Die Empörung von NS-Politikern über solche ‚Fehltritte‘ deutscher Frauen war groß, und die Rachephantasien ebenfalls. Diskussionen über die Verhängung der Todesstrafe bei Geschlechtsverkehr mit ‚Ost‘- und ‚Westarbeitern‘ gab es immer wieder, aber die ‚rassischen‘ Kategorien und die außenpolitischen Rücksichtnahmen verhinderten dies bei den ‚Westarbeitern‘. „In G ­ otha wurde am 24. August 1940 ein siebzehnjähriger polnischer Arbeiter wegen Geschlechtsverkehrs mit einer deutschen Prostituierten gehängt. 50 Polen mußten 141 Landgericht Wien, 28. März 1942, DÖW, 18.979.

4. Verbote und Vernichtung

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zwangsweise, etwa 150 Deutsche aus der Gegend wollten freiwillig der Exekution beiwohnen.“142 Deutsche Frauen, vor allem verheiratete, die Beziehungen zu ‚Ostarbeitern‘ und Polen eingingen, wurden härter bestraft als dies umgekehrt bei Männern der Fall war. Die Strafunterschiede waren das Ergebnis von „rac­ ism, militarism, and masculinity“, wie es Birthe Kundrus formulierte.143 Eine Königsidee glaubten die Politiker in der Errichtung von Bordellen für ‚Fremdarbeiter‘ gefunden zu haben. Seit Kriegsausbruch war Prostitution wieder polizeilich geregelt, und 1940 wurde das erste Bordell für ausländische Arbeiter in den Hermann Göring Werken in Linz errichtet. Als Prostituierte durften nur Ausländerinnen zugelassen werden. Ab 1941 gab es dann in jeder größeren Stadt und bei großen Betrieben Bordelle für Ausländer. Der Reichsarbeitsminister war der Auffassung, „es sei grundsätzlich [...] Aufgabe der freien Wirtschaft, neben den Wohnbaracken für ihre fremdvölkischen Arbeiter auch Bordelle einzurichten“.144 Bordelle hatten hier wie auch in anderen Fällen die Aufgabe, Beziehungen zwischen Zwangsarbeitern und ‚arischen‘ Frauen bzw. auch zu anderen Zwangsarbeiterinnen zu verhindern. Zur Überraschung der Funktionäre, wie des Gauleiters Eigruber, wurden Zwangsarbeiterinnen schwanger. „Ich habe im Gau Oberdonau Tausende von Ausländerinnen und mache nun die Feststellung, dass diese ausländischen Arbeiterinnen ... schwanger werden und Kinder in die Welt setzen.“145 Zunächst schien die Lösung dieses Problems, das im Arbeitsausfall und in der Geburt eines Kindes bestand, einfach zu sein. Schwangere Arbeiterinnen wurden nach Hause geschickt. Viele benutzten diese Möglichkeit, um nicht mehr an den Zwangsarbeitsplatz zurückzukehren. Da die Regierung jedoch Arbeitskräfte benötigte, wurde schwangeren Frauen aus der Sowjetunion und Polen die Heimkehr verboten, und es kam zur Gründung von „Betriebsentbindungsstationen“ und „Entbindungsanstalten“. Die hygienischen und medizinischen Bedingungen in diesen Anstalten waren berüchtigt. Nach der Geburt wurden die Kinder von den Müttern getrennt und kamen in „Fremdvölkische Säuglingsheime“ und Kinderkrippen, wo die Überlebenschancen aufgrund von Unterernährung und fehlender Hygiene gering waren. Die NS-Regierung, die Abtreibung bei ‚deutschblütigen‘ Frauen drakonisch bestrafte – seit 1943 konnte die Todesstrafe verhängt werden –, förderte sie bei 142 Herbert, Fremdarbeiter, 128. 143 Birthe Kundrus, Forbidden Company. Romantic Relationships between Germans and Foreigners, 1939 to 1945, in: Journal of the History of Sexuality 11, 1/2 (2002), 201–222, 221. 144 Herbert, Fremdarbeiter, 127. 145 Eigruber an Himmler, 15. Juli 1942, zit. nach Hauch, Zwangsarbeiterinnen und ihre Kinder, 414.

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Teil II: Vom frühen 20. Jahrhundert bis in die Gegenwart

Zwangsarbeiterinnen. Seit 1943 war sie für die ‚Ostarbeiterinnen‘ und Polinnen straffrei. In der Folge wurden auch Zwangsabtreibungen durchgeführt; die Kosten trug das Arbeitsamt. Es gab Fälle, wie jenen der Ukrainerin Raissa S., die in den Hermann Göring Werken in Linz arbeitete und innerhalb von zwei Jahren fünf Mal einen Abortus durchführen musste.146 Es war möglich, Menschen zur Arbeit zu zwingen, aber es war nicht möglich, ihnen einen Entzug von Liebe und Sexualität zu verordnen. Die emotionale Widerstandsfähigkeit befähigte zu Überschreitungen, die das Leben als Zwangsarbeiter, als Zwangsarbeiterin erträglicher machten. Das zeigt auch die Liebesgeschichte zwischen der Ukrainerin Lina Rodgers und dem Tschechen Bohuslaw Vales in den Hermann Göring Werken in Linz. „Verschleppt ins Tausendjährige Reich ohne Hoffnung auf Heimkehr, der Zwang, im Schichttakt unter Entbehrungen in einem Eisenwerk zu schuften, war verdrängt durch aufregende Leidenschaft, Sehnsucht nach einem Brief, nach einem Treffen mit dem Geliebten. Gefühle, die die ganze Lebenssituation zu konterkarieren imstande waren; und das bis heute“, so beschreibt Karl Fallend die Beziehung.147 Nach Kriegsende fand das Paar zusammen und übersiedelte in die Tschechoslowakei. In Europa entstanden jedoch neue Grenzen, und Lina Rodgers musste in die Ukraine zurückkehren, wo sie ihr Kind gebar. Ihren Geliebten hat sie nie wieder gesehen, aber die Erinnerung kultivierte sie. Lina Rodgers bewahrte die kleinen Zettel, die ihr Freund ihr in Linz geschrieben hatte, zeitlebens auf und las sie immer wieder. „Ich lernte viel aus diesen Briefen“, erzählte sie ihrem Interviewer.148 Die Geschlechterbeziehungen im nationalsozialistischen Deutschland, in den besetzten und im Krieg eroberten Gebieten waren von ‚Rassentrennung‘ bestimmt, die für Frauen deshalb folgenreicher war, weil sie schwanger wurden. Dadurch arrogierten die NS-Funktionäre das ‚Recht‘ über den Körper der Frauen mit Gewaltanwendung zu bestimmen. Es lag in der Logik der Zwangsarbeit, dass die Körper der Arbeitenden, wenn möglich, ohne Unterbrechung zur Verfügung standen. Unterbrechung bedeutete auch das Eingehen von Beziehungen. Emotionalität sollte unterbunden, und Sexualität nur einigen Gruppen von Zwangsarbeitern ermöglicht werden; Frauen und ‚Ostarbeiter‘ befanden sich nicht darunter. Die Reaktionen der Betroffenen auf die Bedingungen der Zwangsarbeit zeigen, dass in dieser Situation der völligen Entrechtung Liebesbeziehungen ungeachtet der damit verbundenen Probleme ein Element des Überlebens darstellten. 146 Vgl. Hauch, Zwangsarbeiterinnen und ihre Kinder, 425f. 147 Karl Fallend, Zwangsarbeit – Sklavenarbeit in den Reichswerken Hermann Göring am Standort Linz. (Auto)Biographische Einsichten, Wien/Köln/Weimar 2001, 156. 148 Fallend, Zwangsarbeit – Sklavenarbeit, 156.

5. Die Zeit der Versprechungen

5.1 Der schwierige Weg der Gleichberechtigung und der Kalte Krieg um die Ehe

Als 1948 die allgemeine Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte den Anspruch aller Menschen auf diese Rechte, ohne Unterschied von „Rasse, Farbe, Geschlecht, Sprache, Religion, politischer oder sonstiger Überzeugung, nationaler oder sozialer Herkunft, nach Eigentum, Geburt“ erhob (Art. 2), wurden, soweit Unterscheidungen aufgrund von Geschlecht dabei betroffen sind, damit zwar Konsequenzen aus einer längeren teilweise stürmisch verlaufenen Entwicklung gezogen, aber die Zeitgenossen griffen dieses Postulat nur zögerlich auf. Dies fiel den Beobachterinnen und Beobachtern umso mehr ins Auge, als die gleichen Rechte von Männern und Frauen in mehreren Ländern schon seit dem frühen 20. Jahrhundert gesetzliche Geltung erlangt hatten, wie in der Weimarer Verfassung von 1919 und vor allem in den Verfassungen, die unmittelbar nach Ende des Zweiten Weltkrieges erlassen wurden, wie 1945 und 1946 in Österreich, Italien und Frankreich. Allerdings war nun, nicht zuletzt durch entsprechende Forderungen verschiedener gesellschaftlicher Gruppen, deutlich geworden, dass die Realisierung der Rechtsgleichheit weitreichende Folgen nach sich ziehen und Lohnhöhe, Arbeitsplatz, Eherecht, Sozialpolitik und Lebensformen umspannen würde, ja es schälte sich langsam die Einsicht heraus, dass Rechtsgleichheit in den verschiedenen Rechtsbereichen schwieriger umzusetzen war, als es zunächst schien. Manche Verfassungsrichter haben dies geahnt und zum Verfassungsgrundsatz der Rechtsgleichheit zwischen den Geschlechtern sogleich hinzugefügt, „daß die Geschlechter ausnahmsweise ungleich behandelt werden“ können, „jedoch darf dies nur dann geschehen, wenn die ungleiche Behandlung ihre Rechtfertigung in der Natur des Geschlechts findet“.1 Der juristische Vorbehalt war damit angemeldet. 1

Ludwig Adamovich (Hg.), Die Bundesverfassungsgesetze samt Ausführungs- und Nebengesetzen, Wien 1947, 629.

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Teil II: Vom frühen 20. Jahrhundert bis in die Gegenwart

Die Erklärung von 1948 allerdings war von Optimismus getragen und hielt auch die Gleichberechtigung der Ehepartner neben dem individuellen Recht auf freie Partnerwahl ausdrücklich fest. Damit wandte sie sich primär gegen elterlichen bzw. familiären Einfluss. „1. Heiratsfähige Männer und Frauen haben ohne jede Beschränkung auf Grund der Rasse, der Staatsangehörigkeit oder der Religion das Recht, zu heiraten und eine Familie zu gründen. Sie haben bei der Eheschließung, während der Ehe und bei deren Auflösung gleiche Rechte. 2. Eine Ehe darf nur bei freier und uneingeschränkter Willenseinigung der künftigen Ehegatten geschlossen werden.“2 (Art. 16) Weder familiäre Interessen noch nationale, religiöse oder von ‚rassischen‘ Überlegungen getragene sollten Eheschließungen beeinflussen können. Darüber hinaus aber sollten die Ehepartner über die gleichen Rechte verfügen. Die allgemeine Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte war ein Schritt in die Richtung einer Universalisierung der darin formulierten Rechte; aber diese ließ auf sich warten. Die Europäer ihrerseits nahmen die Erklärung zum Anlass, im Jahr 1950 die „Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten“ zu unterzeichnen, und zwar mit dem ausdrücklichen Ziel der „Herbeiführung einer größeren Einigkeit“ unter den Mitgliedern des Europarats – das waren 1950 dreizehn europäische Staaten. Darin war das Diskriminierungsverbot auf Grund von Geschlecht zwar festgeschrieben, es erstreckte sich jedoch nicht auf die Ehe. Deren Ausgestaltung blieb den nationalen Gesetzgebungen überlassen und damit auch die Definition der Rechtsnorm. „Mit Erreichung des Heiratsalters haben Männer und Frauen das Recht, eine Ehe einzugehen und eine Familie nach den nationalen Gesetzen, die die Ausübung dieses Rechts regeln, zu gründen.“3 (Art. 12) Die Ehegesetze europäischer Staaten sahen eine Gleichberechtigung der Ehepartner demnach im Jahre 1950 überwiegend nicht vor. Diese sollte erst 1988 in der Konvention ihren Platz erhalten. Dennoch haben in der Folge vor allem der Europäische Gerichtshof und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte durch ihre Tätigkeit einen kontinuierlichen Einfluss auf die nationalen Gesetzgebungen ausgeübt. Jane Lewis meinte pointiert, dass Geschlechtergleichheit von den 1950er bis zu den 1970er Jahren „was virtually the be-all and end-all of Community social policy“.4 An dieser Politik gab und gibt es von feministischer Seite scharfe 2 3 4

Siehe http://www.un.org/depts/german/grunddok/ar217a3.html. Siehe http://www.staatsvertraege.de/emrk.htm. Jane Lewis, Introduction: Women, Work, Family and Social Policies in Europe, in: dies. (Hg.), Women and Social Policies in Europe. Work, Family and the State, Aldershot u. a. 1993, 1–24, 23.

5. Die Zeit der Versprechungen

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Kritik, denn, so Lewis, der Begriff Gleichheit wurde als „sameness to men“ verstanden und vor allem auf den Arbeitsmarkt angewandt, der von Ungleichheit geprägt war. Aus einer geschichtswissenschaftlichen Perspektive stellt sich aus dem Gleichheitsdiskurs und den Diskussionen, die um seine Rechtsanwendung entstanden waren, ein Panorama dar, in dem die verschiedenen Modelle der Geschlechterbeziehungen vorgestellt und umkämpft wurden. Dies war in erster Linie das Modell des Ehepaares, das sich aus Familienerhalter, Hausfrau und Mutter zusammensetzte. Die Gleichheitsforderungen drangen hier nur schwer ein, weil das Modell auch dem Sozial- und Arbeitsrecht zugrundelag, das in den europäischen Ländern allerdings in unterschiedlicher Stärke ausgeprägt war. Das Konzept des Schutzes für erwerbsarbeitende und hausarbeitende Frauen hatte sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts in der Sozialpolitik und schon zuvor im Zivilrecht entwickelt. Der nach Geschlecht segregierte Arbeitsmarkt bewirkte durch seine Verflechtung mit dem Konzept des Schutzes nicht eine Infragestellung, sondern erhielt eine Verstärkung. Er basierte auf einer engen Verknüpfung von Erwerbsarbeit und unbezahlter (Liebes-)Arbeit. Die Gleichheitsforderungen, die seit den 1950er Jahren kontinuierlich auf europäischer Ebene erhoben und in der Folge durch soziale Bewegungen beschleunigt in die Geschlechterordnungen hineingetragen wurden, haben zu deren Veränderung beigetragen. Wenn auch in den 1950er Jahren die Geschlechterbeziehungen primär unter dem Stichwort „Familie“ abgehandelt wurden, so entbehrt diese „Abhandlung“ schon deshalb nicht der Dynamik, weil sie Stoff für politische Kontroversen von welthistorischer Bedeutung lieferte, nämlich für jene des Kalten Krieges. Geschlechterbeziehungen, die Stellung von Frauen und die Ehe waren Gegenstand in einer politischen Arena, die Unterschiede zwischen Ost und West in das Privat- und Intimleben hineintragen und dort kultivieren sollte. Wie Robert Moeller feststellt, brechen „Kriege auch Grenzen auf, die auf Landkarten nicht verzeichnet sind: die Abgrenzungen zwischen Frauen und Männern. Im Unterschied zu den Grenzziehungen zwischen Staaten und Völkern“ seien diese Grenzen jedoch „nie exakt festgelegt“. „Familienpolitik und politische Entscheidungen über den Status der Frauen sind wesentlicher Bestandteil des allgemeinen Übergangs vom Krieg zum Frieden.“ Die „politische Rekonstruktion der Familie“ hätte nach 1945 in allen Ländern, die am Zweiten Weltkrieg teilgenommen hatten, stattgefunden. Besonders ausgeprägt sei dies in Deutschland gewesen, wo er Gender als eine „politische Kategorie“ erachtet.5 Die Geschlechterpolitik wurde zwar auf mehreren Ebenen rechtlich 5

Robert G. Moeller, Geschützte Mütter. Frauen und Familien in der westdeutschen Nachkriegspolitik, München 1997, 13.

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Teil II: Vom frühen 20. Jahrhundert bis in die Gegenwart

und kulturell wirksam, wie im Arbeitsrecht und in der Sozialpolitik; nach dem Selbstverständnis großer Teile der Bevölkerung, darunter auch der politischen Führungskräfte, war ihr idealer Ort jedoch die Ehe- und Familienpolitik sowie das Ehe- und Familienrecht.6 Die „Rekonstruktion der Familie“ erfolgte in einem spezifischen historischen Kontext, der nicht nur von der Nach-Weltkriegszeit geprägt war, sondern sehr bald auch von einem Kalten Krieg. Dieser und die mit ihm verbundene Polarisierung zwischen einem Westen und einem Osten Europas umfassten in ihrem Waffenarsenal auch Ehe, Familie und die Rolle der Frauen in der Gesellschaft. Am sichtbarsten wurde diese Konfrontation um die richtige Ehe-, Familien- und Geschlechterpolitik in der Bundesrepublik Deutschland und in der Deutschen Demokratischen Republik, die sich in einer Art politischem Nahkampf befanden. Während in der ersteren dominante politische und gesellschaftliche Kräfte von der Überzeugung getragen waren, dass es eine „Aufgabe von geradezu historischer Bedeutung“ sei, „Europa von der Familie her gegen das Überspültwerden vom Osten lebenskräftig zu erhalten“,7 sah die Deutsche Demokratische Republik ihr Familienrecht von 1965/66, dessen erster Entwurf 1955 veröffentlicht worden war, in der Tradition des Marxismus, eines revolutionären Humanismus und eines Feminismus stehend. Wegweisend war insbesondere das „Vermächtnis“ von Helene Lange, „der großen bürgerlichen Kämpferin für die Gleichberechtigung der Frau“.8 Die Deutsche Demokratische Republik legte auf die feministische Tradition großen Wert, wenn sie hierbei auch auf eine bürgerliche Denkerin rekurrierte und die sozialistischen, die es auch gegeben hätte, wie Clara Zetkin und viele andere, nicht erwähnte. Das war ein Appell an die Frauen des Westens. In der Fassung von 1955 war dies noch viel ausdrücklicher formuliert worden.9 Vermutlich ebenfalls mit Blick auf den Westen, jedenfalls in Abgrenzung von ihm, findet sich in der „Verordnung über Eheschließung und Eheauflösung“ folgender Passus: „In der Deutschen Demokratischen Republik ist die Ehe eine für das Leben geschlossene Gemeinschaft zwischen Mann und Frau, 6 7 8

9

Zu Eherecht und Pensionsberechtigung vgl. Heineman, What Difference, 198–200. Änne Brauksiepe, Der Mensch in der Familie, Redebeitrag auf dem dritten CSU-Parteitag im Oktober 1952, zit. nach Moeller, Geschützte Mütter, 185. Manfred Gerlach, Humanistische Ideale des deutschen Bürgertums, in: Ein glückliches Familienleben – Anliegen des Familiengesetzbuches der DDR. Aus der Tätigkeit der Volkskammer und ihrer Ausschüsse, hg. von der Kanzlei des Staatsrates, Heft 7 (4. Wahlperiode) 1965, 44–46, 45. Vgl. Maria Hagemeyer, Zum Familienrecht der Sowjetzone. Der „Entwurf des Familiengesetzbuches“ und die „Verordnung über Eheschließung und Eheauflösung“, Bonn 1956, 29.

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die, gegründet auf Gleichberechtigung, gegenseitiger Liebe und Achtung, der gemeinsamen Entwicklung der Ehegatten und der Erziehung der Kinder im Geiste der Demokratie, des Sozialismus, des Patriotismus und der Völkerfreundschaft dient. Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutz der Verfassung.“10 Der letzte Satz verband die beiden Deutschlands miteinander, nämlich der hohe Stellenwert, der Ehe und Familie in der Gesellschaft eingeräumt wurde und der sie unter besonderen Verfassungsschutz stellen ließ. Die Rhetorik, die diesen Schritt begleitete, unterschied sich allerdings – nicht nur wegen des Appells an die Notwendigkeit sozialistischer Erziehung und Entwicklung, sondern auch wegen der Zitierung von „Liebe“ im Recht. Die Bürgerlichen Gesetzbücher haben den Begriff gemieden. Das Bürgerliche Gesetzbuch der Bundesrepublik formulierte als „Wirkungen der Ehe“ nüchtern: „Die Ehegatten sind einander zur ehelichen Gemeinschaft verpflichtet“ (§ 1353). Der Code civil in der Fassung von 1957 nennt Treue, Hilfe und Unterstützung als gegenseitige Verpflichtung der Ehepartner (Art. 212). Das ­österreichische ABGB von 1970 spricht von „unzertrennlicher Gemeinschaft“ und gegenseitiger Beistandsleistung (§ 44). Dass Liebe im Bürgerlichen Gesetzbuch keinen Platz fand, mag nicht nur mit der aristotelischen Trennung von Freundschaft und Recht in Zusammenhang stehen,11 sondern auch damit, dass sie als Gefühl verstanden wurde, das nicht überprüfbar und daher nicht einklagbar ist. Das Auftauchen des Begriffs „Liebe“ im Familienrecht der Deutschen Demokratischen Republik erklärt sich einerseits dadurch, dass dieses – wie in anderen sozialistischen Ländern auch – nicht als Teil des Zivilrechts konzipiert war und daher aus grundsätzlichen Überlegungen heraus Ehe und Familie nicht mit Eigentumsverhältnissen in einen Zusammenhang stellen wollte. Diese bewusst gesetzte Distinktion erlaubte, noch einen Schritt weiter zu gehen und mit der Nennung von „Liebe“ andererseits den Gefühlskosmos sozialistischer Länder darzustellen, der eben nicht auf „Geldverhältnisse“ zurückzuführen sei. „Die Zurückführung aller Verhältnisse auf Geldverhältnisse“ mache im Kapitalismus auch Liebe käuflich, so die Kritik.12 Die Polarisierung von Geld und Liebe, die nicht nur in marxistischen Liebeskonzepten zu finden war, erlaubte Liebe programmatisch als Teil einer Gesellschaftsordnung darzu10 Zit. nach Hagemeyer, Zum Familienrecht, 59. 11 Vgl. Irène Théry u. Marie-Josèphe Dhavernas, Elternschaft an den Grenzen zur Freundschaft: Stellung und Rolle des Stiefelternteils in Fortsetzungsfamilien, in: Marie-Thérèse Meulders-Klein u. dies. (Hg.), Fortsetzungsfamilien. Neue familiale Lebensformen in pluridisziplinärer Betrachtung, Konstanz 1998, 163–204, 167. 12 V. A. Tarchow, Ehe und Familie in der sozialistischen Gesellschaft und die Grundprinzipien des sowjetischen sozialistischen Familienrechts, Leipzig/Jena 1955, 10.

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stellen. Hinzu kam die Überzeugung, dass Liebe nur zwischen Gleichen, im Sinn einer rechtlichen und sozialen Positionierung, möglich sei: „Wahre Liebe setzt Gegenseitigkeit voraus, aber Gegenseitigkeit ist nur bei der Befreiung der Frau möglich.“13 In den nichtmarxistischen Ländern gab es die Sorge, diese Emanzipation würde Liebesbeziehungen verunmöglichen, als deren Voraussetzung eine Kultivierung der Geschlechterdifferenz galt.14 Der Begriff „Liebe“ im Familienrecht der Deutschen Demokratischen Republik und der Sowjetunion war demnach eine programmatische Erklärung; er erhielt eine staatstragende und politische Funktion und sollte nationale und internationale Signalwirkungen entfalten. Vor allem aber kam ihm eine pä­ dagogische Aufgabe zu: Liebe ist eheliche und staatsbürgerliche Pflicht – darin lag keine politische Sprengkraft. Diese war jedoch im Gleichheitspostulat enthalten, wie dies etwa in Mazedonien, einer Teilrepublik des 1945 gegründeten sozialistischen Jugoslawien formuliert wurde. Die muslimischen Frauen trugen hier einen Gesichtsschleier. Es gab, wie Violeta Achkoska ausführte, Frauenhandel und Entführungen, Polygamie, die Einschließung von Frauen im Haus nach ihrem zehnten Lebensjahr, sexuellen Missbrauch von Ehefrauen und den Wiederverkauf von Frauen und Mädchen, nachdem sie vorher gekauft worden waren. Die jugoslawische Verfassung von 1946 hielt fest, dass „Frauen Männern in allen Bereichen von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft“ gleichgestellt seien. In einem Gesetz aus dem Jahre 1951 wurde der Gesichtsschleier als Zeichen der „Abhängigkeit“ und der „kulturellen Rückständigkeit“ abgeschafft. Die muslimische Bevölkerung fasste das Gesetz als Verletzung ihrer Ehre auf. In der Folge kam es zu einer Migrationswelle in die Türkei, zu der allerdings auch Enteignungen beitrugen.15 Die Forderung nach einer Gleichberechtigung der Geschlechter stieß in zahlreichen Fällen auf Widerstand, nicht nur bei Muslimen. Hier aber griff sie auch in den symbolischen Bereich ein, der als Teil sozialer und kultureller Identität einer religiösen Minderheit verstanden wurde. In zahlreichen europäischen Ländern war es vor allem die rechtliche Gleichstellung der Ehepartner, die Widerstand hervorrief. Sie sollte in der Bundesrepublik, in Frankreich, Österreich, Italien und Irland hingegen erst in den 1970er Jahren durchgesetzt 13 Tarchow, Ehe und Familie, 15. 14 Vgl. Geneviève Fraisse, Über die angebliche Unvereinbarkeit von Liebe und Feminismus, in: dies., Geschlecht und Moderne. Archäologien der Gleichberechtigung, hg. von Eva Horn, Frankfurt a. M. 1995, 132–142, 132f. 15 Violeta Achkoska, Lifting the Veils from Muslim Women in the Republic of Macedonia Following the Second World War, in: Miroslaw Jovanović u. Slobodan Naumović (Hg.), Gender Relations in South Eastern Europe. Historical Perspectives on Womanhood and Manhood in 19th and 20th Century, Münster 2004, 183–194, 183, 185, 188f.

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werden können. Dieser Verzicht auf die Gleichstellung hat nicht verhindert, dass die meisten die Ehe als Lebensform wählten, er hat aber bewirkt, dass sie das große Thema der Zeit war. „Familienpolitik“ stellte ein „eigenes Politikfeld“ dar.16 Das bis dahin herrschende Ehemodell baute auf den getrennten Verantwortungskompetenzen der Partner auf. So war die Ehefrau in der Bundesrepublik zu einer Erwerbstätigkeit nur soweit verpflichtet, als „die Arbeitskraft des Mannes und die Einkünfte der Ehegatten zum Unterhalt der Familie nicht ausreichen“ (BGB § 1365). Auch der Soziologe der deutschen Nachkriegszeit, Helmut Schelsky, sah die Arbeit der Frauen in der „mütterlichen Daseinsfürsorge für die Nachkommenschaft“ angelegt.17 Erwerbstätig sollten nur jene Frauen der Oberschichten sein, die durch die Haushaltstätigkeit nicht ausgefüllt seien und bei denen es zu einer Überbetonung des „Liebesverhältnisses zwischen den Geschlechtern, also eine[r] steigende[n] Erotisierung“ komme.18 Unbezahlte und bezahlte Arbeit treffen sich damit in einer gemeinsamen Funktion, nämlich in jener, die Erotik zu disziplinieren. Erotik, so die Botschaft, ist ein Element der Gefährdung, das der Diszi­ plinierung durch Arbeit bedarf. Unumstritten waren diese Sichtweisen nicht; das gilt auch für den symbolischen Bereich. Die Forderung bundesdeutscher feministischer Anwälte, den Namen der Ehefrau zum Familiennamen zu machen oder eine Bindestrichlösung einzuführen, stieß auf großen Widerstand. Bestärkt wurde dieser mit Blick auf die sozialistischen Länder und fand seine Argumente darin, dass dies im „sowjetrussischen Recht“ praktiziert werde, was zu einer „Anonymisierung“ der Familien, zu einer „Verflachung und schließlich Auflösung der menschlichen Existenz“ führe.19 An anderer Stelle wurde dies noch viel konkreter formuliert, indem in der Weiterführung des Mädchennamens einer verheirateten Frau die „Tendenz“ geortet wurde, „die Erhaltung der unbeschränkten Selbständigkeit der verheirateten Frau auch nach außen hin kenntlich zu machen“.20 Schließlich schreckten auch die Juristen der Deutschen Demokratischen Republik vor dieser Namensregelung zurück. Im 16 Maria Mesner, Die „Neugestaltung des Ehe-und Familienrechts“. Re-Definitionspotentiale im Geschlechterverhältnis der Aufbau-Zeit, in: Zeitgeschichte 24, 5/6 (1997), 186–210, 192f. 17 Helmut Schelsky, Die Aufgabe einer Familiensoziologie in Deutschland, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 2 (1949/50), 218–247, 222f, zit. nach Moeller, Geschützte Mütter, 189. 18 Helmut Schelsky, Die Gleichberechtigung der Frau und die Gesellschaftsordnung, in: Sozialer Fortschritt 1, 6 (1952), 129–132, 130. 19 Entwurf eines Gesetzes über die Gleichberechtigung von Mann und Frau auf dem Gebiete des bürgerlichen Rechts und über die Wiederherstellung der Rechtseinheit auf dem Gebiete des Familienrechts, Deutscher Bundestag, 1. Wahlperiode, Drucksache Nr. 3.802, 46, zit. nach Moeller, Geschützte Mütter, 138f. 20 Hagemeyer, Zum Familienrecht, 11.

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Teil II: Vom frühen 20. Jahrhundert bis in die Gegenwart

Familienrecht von 1965 war ein gemeinsamer Familienname vorgesehen, der allerdings wahlweise jener des Mannes oder jener der Frau sein konnte. Der Grund für diesen Rückzug lag in den Protesten der Bevölkerung, die Wert auf einen gemeinsamen Familiennamen und damit auf den symbolischen Nachweis einer legitimen Beziehung legte.21 Politischer Wille und gesellschaftliche Bedürfnisse befanden sich hier in einem Widerspruch. Der Weg zur Geschlechtergleichheit war steinig, nicht zuletzt aufgrund der Praxis geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung. Familien- und Hausarbeit fielen auf jeden Fall in die Kompetenz verheirateter Frauen, wodurch diese, sofern sie erwerbstätig waren, in die Falle der „Doppelbelastung“ gerieten. Diese war seit August Bebel ein „theoretisches Werkzeug, um die Notwendigkeit der Rücksichtnahme auf die spezifischen Bedingungen des weiblichen Alltags zu rechtfertigen“.22 Diese Rücksichtnahme fand in einer größeren Anzahl von Gesetzen einen Ausdruck. Dies galt mit Abstufungen für alle Länder Europas, wobei die Abstufungen mit der stärkeren oder geringeren Überzeugung zusammenhingen, den Sozialstaat für diese Rücksichtnahme in Anspruch nehmen zu müssen. Die Einrichtung eines bezahlten monatlichen Hausarbeitstages in der Deutschen Demokratischen und in der Bundesrepublik zeigt auf, dass Doppelbelastung in beiden Ländern als Problem vorhanden war, wahrgenommen und grundsätzlich akzeptiert wurde. Der Hausarbeitstag war eine ebenso einfach zugeschnittene wie paradigmatische Lösung dieses Problems. Er galt als Schutzmaßnahme für Frauen, wenn auch zunächst nicht für alle. Bis 1977 schloss die DDR alleinstehende Frauen sowie Frauen, die in Lebensgemeinschaft lebten und kinderlos waren – im Unterschied zu kinderlosen Ehefrauen –, von dessen Genuss aus. Dieses Stolpern bei der Definition von Doppelbelastung und die Privilegierung legitimer Beziehungen stellten einen symbolisch relevanten Akt dar. Schließlich fühlten sich in West und Ost Männer ungerecht behandelt. So fragte ein geschiedener Mann 1981: „Warum soll ich nun – nur weil ich männlichen Geschlechts bin – keinen Hausarbeitstag erhalten?“23 Es waren die Gerichte, die entschieden, „welche Differenzen weiterhin sozialstaatlich geschützt wer-

21 Vgl. Ute Schneider, Hausväteridylle oder sozialistische Utopie? Die Familie im Recht der DDR, Köln/Weimar/Wien 2004, 219f. 22 Regina Wecker, Brigitte Studer u. Gaby Sutter, Die „schutzbedürftige Frau“. Zur Kon­ struktion von Geschlecht durch Mutterschaftsversicherung, Nachtarbeitsverbot und Sonderschutzgesetzgebung, Zürich 2001, 59. 23 Zit. nach Carola Sachse, Der Hausarbeitstag. Gerechtigkeit und Gleichberechtigung in Ost und West 1939–1994, Göttingen 2002, 244.

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den“ sollten.24 Der Gang zu Gericht und Klagen, dass der Gleichheitsgrundsatz verletzt werde, brachten den bundesrepublikanischen Männern insofern einen Erfolg, als seit den 1960er Jahren der Hausarbeitstag der Frauen an Bedeutung verlor, wenn er auch erst 1994 endgültig aufgehoben wurde. In der DDR, wo er länger aufrecht blieb, wurde er auch Männern zugänglich, sofern sie alleinstehend oder pflegende Ehemänner waren.25 Der Hausarbeitstag war keine europäische Norm. Dennoch war die Kategorie „Doppelbelastung“ in arbeitsrechtliche Maßnahmen eingedrungen, die in weiten Teilen Europas praktiziert wurden. Das galt für die Arbeitszeitverkürzung für Frauen und Jugendliche wie auch für das Nachtarbeitsverbot für Frauen, die beide schon am Ende des 19. Jahrhunderts eingeführt worden waren. Regina Wecker, Brigitte Studer und Gaby Sutter haben darauf verwiesen, dass die Schutzbestimmungen zwar Gesundheitsschutz anpeilten, aber nicht geeignet waren, „Frauen als gleichberechtigte Arbeitskräfte zu etablieren“.26 Geschützt werden sollten vor allem die reproduktiven Funktionen aller Frauen; Männer hingegen „wurden nicht in ihrer Sexualität und als Geschlechtswesen geschützt, sondern als Arbeitskräfte“.27 Diese arbeitsrechtlichen und sozialstaatlichen Maßnahmen haben der Figur des männlichen Familienerhalters, die von Beruf, Erwerb und Leitungsfunktionen in Ehe und Familie geprägt war, nicht nur im Zivilrecht, sondern auch am Arbeitsmarkt eine rechtlich abgestützte Geltung verschafft. Auf diese Weise wurden „kulturelle Geschlechterordnungen gestützt oder erneut bekräftigt“.28 So amalgamierten sie zu einem gesellschaftlichen Gebilde, das weit über körperliche, mentale, emotionale und soziale Beziehungen hinausreichte und auf diese wiederum zurückwirkte. Das Nachtarbeitsverbot für Frauen ist ein Beispiel für die zahlreichen arbeitsrechtlichen Regelungen, die von Doppelbelastung, Gefährdung von Gesundheit und Moral ausgingen und damit den geschlechtsspezifischen Arbeitsmarkt rechtlich fundiert stärker ausprägten. Dies führte zu einer Perpetuierung und Verschärfung geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung29 und verringerte den Lohn von Fabrikarbeiterinnen, die primär von diesem Gesetz betroffen waren. Das Gesetz war schon im Verlauf des 19. Jahrhunderts in vielen europäischen Staaten eingeführt worden, und es war allein die Schweiz, die – und 24 25 26 27 28 29

Sachse, Der Hausarbeitstag, 395. Vgl. Sachse, Der Hausarbeitstag, 244–252. Wecker/Studer/Sutter, Die „schutzbedürftige Frau“, 234. Wecker/Studer/Sutter, Die „schutzbedürftige Frau“, 244. Wecker/Studer/Sutter, Die „schutzbedürftige Frau“, 84. Vgl. Alice Kessler-Harris, Jane Lewis u. Ulla Wikander, Introduction, in: Wikander/ Kessler-Harris/Lewis (Hg.), Protecting Women. Labor Legislation in Europe, the United States, and Australia, 1880–1920, Urbana/Chicago 1995, 1–27, 3, 23.

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das stellte einen Einzelfall dar – das Verbot auch für Männer erlassen hatte.30 Als aber das Nachtarbeitsverbot 1919 von der Internationalen Arbeitsorganisation neben dem Achtstundentag und der Arbeitslosenversicherung in einer Konvention festgeschrieben wurde, sollte es in Europa sozialrechtlicher Standard werden. Umstritten war es in England und Frankreich, die das Prinzip grundsätzlich in Frage stellten, mit dem Argument es würde Frauen aus besser bezahlten Branchen ausschließen, führe zu niedrigen Löhnen und schränke die Selbstbestimmung von Frauen am Arbeitsmarkt ein.31 Das Nachtarbeitsverbot für Frauen wurde 1991 vom Europäischen Gerichtshof mit der Begründung aufgehoben, es würde den Gleichheitsgrundsatz verletzen, womit vorzüglich gemeint war, dass Geschlechterdifferenz kein Prinzip des Arbeitsrechts sein sollte. Allerdings sind die Verflechtungen von Recht, Ökonomie, Gesellschaft und Geschlecht zu fest gewoben, als dass sie mit einem Gesetz geändert werden könnten, denn über Kapillarsysteme war das Familienerhaltermodell tief in die europäischen Gesellschaften eingedrungen. Es hatte Steuersysteme erfasst, die den männlichen Familienernährer bevorzugten, wie für die Bundesrepublik und Schweden nachgewiesen wurde. Im Fall der Bundesrepublik war diese ökonomische, soziale und symbolische Intention bis 1957 noch dadurch verstärkt, dass Ehefrauen nur mit Einverständnis des Ehemannes erwerbstätig sein durften.32 Verstärkt wurde es auch durch das Pensionsrecht. Ehefrauen konnten nach dem Tod ihres Mannes eine Witwenrente erhalten, was umgekehrt nicht der Fall war. Schweden hat aus Gleichberechtigungsgründen dieses System ganz abgeschafft, wobei es allerdings eine Volksrente gibt, auf die alle, ungeachtet ihres Zivilstandes, Anrecht haben. Die Bundesrepublik ging einen anderen Weg und ermöglichte auch die Witwerpension.33 Politisch war das Modell Familienerhalter/Hausfrau in der Nachkriegszeit erwünscht und gesellschaftlich weitgehend akzeptiert. Auf jeden Fall wurde nie so viel geheiratet wie in diesen Jahrzehnten. 1950 waren 98 % der bundesdeutschen Männer unter 60 Jahren verheiratet und 86,4 % der Frauen.34 Die Erwerbstätigkeit verheirateter Mütter war niedrig: Im Jahr 1950 betrug sie in der Bundesrepublik 25 % (bei Müttern mit Kindern unter 15 Jahren), 1961 waren es 33 %. Generell war die Erwerbsquote von Frauen gering: In der 30 Regina Wecker, Regulierung und Deregulierung des „kleinen Unterschieds“: Nachtarbeitsverbot und Konstruktion von Geschlecht, 1864–1930, in: L’Homme. Z.F.G. 11, 1 (2000), 37–48, 40. 31 Vgl. Wecker, Regulierung und Deregulierung, 46. 32 Vgl. Kolbe, Elternschaft im Wohlfahrtsstaat, 41–44. 33 Vgl. Kolbe, Elternschaft im Wohlfahrtsstaat, 45. 34 Vgl. Gerhard Baumert, Deutsche Familien nach dem Kriege, Darmstadt 1954, 30.

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Bundesrepublik lag sie 1950 bei 44 %, in der Schweiz belief sie sich auf 37,1 % und der weibliche Anteil an den Berufstätigen auf 29,7 %.35 Allerdings dürfen die Nebentätigkeiten und die Teilzeitarbeit, die oft zur Existenzsicherung, zur Steigerung des Konsums oder aus psycho-sozialen Gründen nötig waren, nicht vergessen werden. Sie differenzieren das Bild von der „Nur-Hausfrau“, ohne jedoch an der Dominanz des männlichen Familienerhalters etwas zu verändern. Das Sozialmodell schlechthin war das heterosexuelle Paar bzw. das Ehepaar. Wie stark es sich als dominant und verhaltensformend erwies, zeigen zahlreiche Oral-History-Projekte. Eine Kriegerwitwe, die in Frankfurt lebte, brachte es viele Jahre später auf den Punkt: „Man hat sich eigentlich, man hat sich immer versteckt. Ich hab mich auch in der Bahn versteckt. […] Ich fand mich selbst so schrecklich in meiner Situation (..) Naja, also zumindest, dass es ein Minus ist, keinen Mann zu haben.“ Freundschaften mit Frauen wurden als nicht gleichwertig erachtet. „Na, also, mit Frauen was unternehmen, das fand ich auch doof. Man war irgendwie, war man nicht voll gültig.“36 So kennzeichnend für die 1950er und frühen 1960er Jahre diese Aussage zumindest für den deutschsprachigen Raum ist, so bedeutet dies nicht, dass es nicht Stimmen gab, die für Frauen einen anderen Platz in der Gesellschaft forderten, vor allem in Bezug auf Erwerbsarbeit. Breit diskutiert wurde das 1956 erschienene Buch von Alva Myrdal und Viola Klein „Women’s Two Roles. Home and Work“,37 in dem die Autorinnen ein zeitlich gestaffeltes Dreiphasenmodell für Frauen vorschlugen, das es ihnen erlauben sollte, nach einer Zeit der Erwerbsarbeit in der Jugend eine Zeit anzuschließen, die der Familie gewidmet war, der neuerlich eine Zeit folgen sollte, in der Platz für Erwerbsarbeit war. Zum kulturellen Kapital, das ein Ehemann nicht nur in der Bundesrepublik Deutschland darstellte,38 und das Auswirkungen auf Unverheiratete hatte, gesellte sich das ökonomische. Männer verdienten im Durchschnitt um 30 bis 40 % mehr als Frauen. 1951 erließ die Internationale Arbeitsorganisation das Übereinkommen, das „gleichen Lohn für gleichwertige Arbeit“ beschloss.39

35 Zu Deutschland vgl. Ingrid N. Sommerkorn, Die erwerbstätige Mutter in der Bundesrepublik: Einstellungs- und Problemveränderungen, in: Rosemarie Nave-Herz (Hg.), Wandel und Kontinuität der Familie in der Bundesrepublik Deutschland, Stuttgart 1988, 115–144, 117; zur Schweiz vgl. Wecker/Studer/Sutter, Die „schutzbedürftige Frau“, 75. 36 Vera Lukow, Das Interview mit Lieselotte W., in: Johanna Meyer-Lenz (Hg.), Die Ordnung des Paares ist unbehaglich. Irritationen am und im Geschlechterdiskurs nach 1945, Münster 2000, 151–171, 170, 169, Hervorhebung im Original fett gedruckt. 37 Alva Myrdal u. Viola Klein, Women’s Two Roles. Home and Work, London 1956 [dt.: Die Doppelrolle der Frau in Familie und Beruf, Wien 1956]. 38 Vgl. für England Barbara Caine, English Feminism 1780–1980, Oxford 1997, 240–254. 39 Wecker/Studer/Sutter, Die „schutzbedürftige Frau“, 211.

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Seit 1957 forderte die europäische Union die Gleichheit des Lohnes. Großbritannien erließ den „Equal Pay Act“ 1970, Frankreich 1972, die Niederlande und Belgien 1975, Schweden 1980, um einige Beispiele für diese Erfolgsgeschichte eines Prinzips zu geben, das in der Praxis so erfolgreich nicht war, ungeachtet der Judikatur des Europäischen Gerichtshofs. Die Forderung nach gleichem Lohn verfing sich immer wieder im Dschungel stereotypisierter Geschlechtervorstellungen einerseits und vielfältiger Argumentationsstrategien andererseits. So argumentierte Cammell Laird Shipbuilders Ldt gegen die Klage einer Köchin, sie werde ungeachtet gleichwertiger Tätigkeit geringer bezahlt als drei ihrer Kollegen, mit der Gewährung anderer Vergünstigungen, die letztlich als Teil des Lohnes betrachtet werden müssten.40 Das House of Lords als Oberster Gerichtshof hat diese Ansicht allerdings nicht geteilt. Das war 1984. Sechs Jahre später erhielten die Engländerinnen 66 bis 75 % des Lohns der Engländer. Viele Frauen arbeiteten in Niedriglohngruppen und viele arbeiteten in Teilzeit. Beides war auch eine Antwort auf die Doppelbelastung und das Kennzeichen einer marginalisierten Position am Arbeitsmarkt, die allerdings in der Doppelbelastung nicht aufging. Die Trennung der Geschlechter in der Arbeitswelt blieb jedenfalls bestehen und mit ihr eine Grundcharakteristik der Geschlechterbeziehungen. Einen Zusammenhang zwischen geringerer Entlohnung und einem gesellschaftlich geforderten Mehr an Gefühlsarbeit hat Arlie Russell Hochschild in ihrer Studie über Flugbegleiterinnen von „Delta Airlines“ hergestellt. Den Grund dafür sieht sie in den „erschwerten Bedingungen, über einen unabhängigen Zugang zu Geld, Macht, Autorität […] Status“ zu erlangen: Mangels anderer Möglichkeiten bieten Frauen Gefühle im Austausch gegen materielle Mittel an. „Deshalb stellt für Frauen die Fähigkeit zum Gefühlsmanagement und zur ‚Beziehungsarbeit‘ eine entscheidende Möglichkeit dar.“41 Zu den sozialen Voraussetzungen des Gefühlslebens gehört auch die Sozialgesetzgebung und ihr Ordnungssystem, die nicht nur ökonomische Verantwortlichkeiten festlegten, sondern auch soziale und emotionale. Das Verbot der Nachtarbeit für Frauen hatte Prioritäten in ihren Zuständigkeiten festgeschrieben. Diese lagen in Familien-, Pflege- und Hausarbeit. Eine analoge Gesetzgebung gab es für Männer nicht. In Hinblick auf Zivilrecht, auf Arbeits- und Sozialrecht, die in einer breiten Konstruktion und Verästelung Geschlechterordnungen zum Ausdruck brach40 Christopher McCrudden, Equality in Law between Men and Women in the European Community. United Kingdom, Dordrecht u. a. 1994, 282–292. 41 Arlie Russell Hochschild, Das gekaufte Herz. Die Kommerzialisierung der Gefühle, Frankfurt a. M./New York 2006, 132f.

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ten und herstellten, lässt sich jedenfalls von der Intention unterschiedlicher Verantwortlichkeiten und den damit verbundenen Emotionen sprechen. In der Frauen- und Geschlechterforschung wurde die von Carol Gilligan formulierte Annahme geschlechtsspezifischer moralischer Gefühle, einer (weiblichen) Fürsorgeethik einerseits und einer (männlichen) Gerechtigkeitsethik andererseits, sehr kontrovers diskutiert.42 Die Debatte fand zum Großteil im Kontext der Philosophie statt. Gilligans These wurde als „eine Reduktion im Hinblick auf die Vielfalt möglicher moralischer Orientierungen“ verstanden.43 So sehr dies zutrifft, so wenig sind die durch historische Entwicklungen herbeigeführten Rechtsverhältnisse und sozialen Strukturen als „kontingent“ für die Entwicklung moralischer Gefühle zu bezeichnen.44 Die lange Dauer spezifischer Formen der Geschlechterbeziehungen liegt gerade darin, dass sie eine Abstützung durch einen umfassenden gesellschaftlichen und kulturellen Apparat erhalten haben, der wesentlich an der Herstellung von Gefühlen beteiligt war. Die Fürsorgeethik bzw. die politisch und gesellschaftlich gewollte Zuständigkeit von Frauen für Erziehungs- und Pflegetätigkeit manifestiert sich mannigfach, nicht zuletzt auch in ihrer starken Präsenz in Pflegeberufen. Auch Ende des 20. Jahrhunderts, als das Ideal des männlichen Familienerhalters zunehmend an rechtlicher und ökonomischer Basis verlor, als die Individualisierung des Sozialrechts voranschritt und die europäischen Staaten große Anstrengungen im Bereich von Kindergeld und Elternurlaub unternahmen, um die Verantwortlichkeit der Mütter durch jene der Eltern zu ersetzen, wird die Pflegetätigkeit von Männern immer noch weniger eingefordert als von Frauen und auch weniger geleistet. Die Wege sind durch Hinweistafeln gekennzeichnet, die niemand lesen muss. Dennoch gab es schon in den 1950er Jahren Anzeichen von Veränderungen bzw. wurden unter den politisch intendierten und den gesellschaftlich erfolgreichen Geschlechterordnungen Entwicklungen sichtbar, die diese in Frage stellten. Es gab Bücher, die dies vehement zum Ausdruck brachten – ich werde sie im übernächsten Abschnitt diskutieren. Zum Ausdruck kamen sie aber auch durch Lebensformen, die sich gegen die Mainstream-Geschlechterord42 Carol Gilligan, In a Different Voice: Psychological Theory and Women’s Development, Cambridge, Mass. 1982 [dt.: Die andere Stimme. Lebenskonflikte und Moral der Frau, München 1984]. 43 Gertrud Nunner-Winkler, Zur Einführung: Die These von zwei Moralen, in: dies. (Hg.), Weibliche Moral. Die Kontroverse um eine geschlechtsspezifische Ethik, Frankfurt a. M./ New York 1991, 9–27, 15f. 44 So Nunner-Winkler, Zur Einführung, 16: „Zu den nur kontingent (d. h. historisch oder kulturspezifisch) an das Geschlecht gebundenen Faktoren zählen etwa Unterschiede in der Chance zur Teilhabe an gesellschaftlich ausdifferenzierten Teilsystemen wie Bildungssystem, Berufswelt, Familiensystem […].“

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nung wandten. Das taten nicht nur Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre, die auf autonomen Handlungs- und Beziehungsmöglichkeiten insistierten, ungeachtet ihrer emotionalen, intellektuellen und sexuellen Verbindung. Freie Liebe und feste Paarbindung sollten eine Einheit bilden. Das taten auch andere, wenn auch nicht so konsensual wie das bekannte Schriftstellerpaar. Als die beiden Schweizer Iris Meyer und Peter von Roten 1946 heirateten, stellte die Braut die Forderung nach freier Liebe in der Ehe: „So war sie überzeugt davon, dass Erotik und Sexualität aus dem Korsett jeglicher Moral befreit und als Urenergie des menschlichen Lebens begriffen werden mussten. […] Nur durch sie konnte ein Mensch zur vollen geistigen, körperlichen und seelischen Entfaltung gelangen.“45 Es zählte die Selbstbestimmung, und die Protestantin Iris forderte daher, dass sie ihrer sexuellen Selbstverwirklichung auch außerhalb der Ehe nachgehen könne. Für ihren sehr katholischen Mann waren dies Schock und Herausforderung gleichermaßen. Er sollte sich jedoch schnell und erfolgreich mit dieser Möglichkeit anfreunden, erfolgreicher als sie, die diesen Lebensentwurf eingefordert hatte. Er ging für sie im Kampf um eine berufliche Etablierung unter. „Ich möchte einen adäquaten Platz im Gemeinschaftsleben einnehmen und eine recht bezahlte Arbeit haben. […] Ohne Geld ist man nicht sich selber. Man verliert seinen Charakter, seine Würde, alles. […] Ich spüre, wenn ich eine recht bezahlte Tätigkeit hätte, wäre ich die lebenslustigste Person. Anstatt dessen dieser Dämmerzustand ohnmächtigen Zorns. Ja, ich werde ein Buch über diese Entrechtung schreiben.“46 Das sollte sie.47 5.2 Die Herausforderungen interkultureller Geschlechterbeziehungen

Iris und Peter von Roten sind auch noch auf einem anderen Terrain eigene Wege gegangen. Iris war Protestantin, Peter Katholik, und das erschwerte die Eheschließung, denn „eine Ehe mit einer Protestantin wäre im ganzen Oberwallis ein Skandal“, meinte Peter von Roten und argumentierte mit seiner religiösen Überzeugung: „Dass aus meiner positiven Zugehörigkeit zur katholischen Kirche […] heraus eine Ehe mit einer Nicht-Katholikin verboten ist, ist eine Tatsache. Du solltest doch überlegen, dass tatsächlich die Religion für mich etwas Wichtiges und Entscheidendes ist, etwas Wesentliches, in dem man nicht zweierlei Meinung sein kann.“48 Er und seine Familie forderten von 45 46 47 48

Wilfried Meichtry, Verliebte Feinde. Iris und Peter von Roten, Zürich 2007, 359. Meichtry, Verliebte Feinde, 369. Iris von Roten, Frauen im Laufgitter. Offene Worte zur Stellung der Frau, Bern 1958. Meichtry, Verliebte Feinde, 314, 316f.

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Iris Meyer die Konversion zum Katholizismus, die sie jedoch nicht vollzog. Das Paar heiratete trotzdem. Die impliziten Verbote, die in Traditionen konfessioneller und religiöser Gruppen verankert waren und deren Funktion es auch war, kulturelle Milieus zu erhalten, hatten ihre Wirksamkeit noch nicht eingebüßt. Diese Inklusionsund Exklusionskraft von Konfessionen sollte jedoch im Verlauf der 1960er Jahre an Bedeutung verlieren, was allerdings nicht für alle europäischen Länder galt, so nicht für Nordirland, wo konfessionelle, politische und soziale Konflikte miteinander verschmolzen waren. Hier lebten 1989 nur 6 % der Christen in einer interkonfessionellen Ehe, und viele ließen ihre Ehe nicht registrieren, um eine gesellschaftliche Ächtung zu vermeiden.49 Stellen Konfessions- und Religionszugehörigkeit Elemente dar, die Nähe und Distanz zwischen Personen bestimmten oder bestimmen sollten, so machen sie nur einen Teil jener Fälle aus, in denen sich gesellschaftliche Gruppen abschotteten oder abgeschottet wurden oder Distinktionen kultivierten. Keineswegs handelte es sich dabei um vorgegebenes Verhalten, sondern vielmehr um Prozesse kontinuierlicher Veränderung, an denen die Geschlechterbeziehungen einen wesentlichen Anteil haben. Dieser Anteil kann an interkulturellen Liebesbeziehungen und binationalen Ehen gemessen werden, die einen Beitrag zur Überschreitung kultureller Grenzen darstellen können. Inwieweit sie sich auf das Rollenverständnis von Männern und Frauen und die Beziehungen zwischen ihnen auswirkten, ist abhängig vom sozialen und historischen Kontext. Wie wirksam und ‚produktiv‘ implizite Verbote und die mit ihnen verbundenen Sanktionen waren und welche Momente sie außer Kraft zu setzen vermochten, kann am Beispiel der Beziehungen alliierter Soldaten zu italienischen, österreichischen und bundesdeutschen Frauen aufgezeigt werden. Als alliierte Soldaten im September 1943 in Salerno landeten und am 1. Oktober Neapel besetzten und als sie 1945 in Österreich und Deutschland ihre Truppen stationierten, wurden sie zum Großteil als Befreier von der deutschen Armee bzw. vom Nationalsozialismus begrüßt. Dieser Willkommensgruß sollte jedoch, wie sich in den folgenden Jahren zeigte, die Akzeptanz der Liebesbeziehungen zwischen alliierten Soldaten und einheimischen Frauen nicht mit einschließen. Vielmehr haben große Teile der neapolitanischen, österreichischen und deutschen Männer, aber auch staatliche und kirchliche Vertreter diese abgelehnt. Die Gründe dafür lagen in einer Konkurrenzsituation zwischen alliierten, primär amerikanischen Soldaten und Heimkehrern bzw. italienischen 49 Vgl. Gabriele Marranci, Muslim Marriages in Northern Ireland, in: Barbara Waldis u. Reginald Byron (Hg.), Migration and Marriage. Heterogamy and Homogamy in a Chang­ ing World, Wien u. a. 2006, 40–66, 47.

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Soldaten einerseits und im Faszinosum bzw. in der Ablehnung der amerikanischen Konsumkultur andererseits. Die Alliierten selbst hatten ihre Vorbehalte gegenüber Liaisons ihrer Soldaten mit einheimischen Frauen, die in Fraternisierungsverboten ihren Ausdruck fanden. In Italien und so auch in Neapel mit seinen 100.000 alliierten Soldaten gab es keine Fraternisierungsverbote, was durch die politische Entwicklung zu erklären ist, denn Italien befand sich – abgesehen von der faschistischen Enklave im Norden – seit 13. Oktober 1943 im Krieg mit dem Deutschen Reich. Fraternisierungsverbote erließen die Alliierten – mit Ausnahme der Franzosen – nur für Deutschland und Österreich nach Kriegsende, wobei Amerikaner und Briten sie bald wieder aufhoben. Das bedeutete jedoch nicht, dass die Oberkommandierenden Liebesbeziehungen und Eheschließungen ihrer GIs mit deutschen und österreichischen Frauen förderten. Eine Heiratserlaubnis zu bekommen, dauerte in Deutschland etwa acht Monate. Die Bräute wurden auf ihre Moral, Intelligenz und politische Vergangenheit und Gegenwart geprüft. In Neapel gab es Schulen für die künftigen Ehefrauen, vom amerikanischen Roten Kreuz organisiert. Diese sollten Sprach-, Geschichts-, Geographiekenntnisse und politische Bildung vermitteln, um die „Amerikanisierung“ zu erleichtern.50 Schwarze GIs erhielten umso seltener eine Heiratserlaubnis, als in 24 amerikanischen Staaten bis 1967 noch die „miscegenation laws“ das heißt „interracial“ Eheverbote Anwendung fanden.51 Ungeachtet zahlreicher Barrieren, die nicht nur von den Alliierten selbst errichtet worden waren, kam es zu mehr als 5.000 Eheschließungen von deutschen Frauen mit amerikanischen Soldaten. In der Stadt Salzburg waren es 1.200, in Neapel 10 % aller Eheschließungen. Es ist eine Pointe der Migrationsgeschichte, dass mehr als die Hälfte der amerikanischen Soldaten, die Neapolitanerinnen heirateten, italienischen Ursprungs war.52 Sie verweist nicht nur auf die Migrationen der Elterngenerationen und auf eine Art Rückkehr der Soldaten zu ihrer italienischen Herkunft, sondern auch auf die Illusion, es gäbe so etwas wie eine ‚unvermischte‘ Herkunft. Allerdings war das Ablehnungsspektrum dieser Liebesbeziehungen vielfältig und deckte breite Argumentations- und politische Emotionsfelder ab. Da waren die deutschen und österreichischen Heimkehrer, die in der „Ami-Braut“ 50 Maria Porzio, Arrivano gli alleati! Amori e violenze nell’Italia liberata, Roma/Bari 2011, 173. 51 Maria Höhn, GIs and Fräuleins. The German-American Encounter in 1950s West Germany, Chapel Hill 2002, 105f. 52 Zu Deutschland bezogen auf die 1950er Jahre vgl. Höhn, GIs und Fräuleins, 105; zu Salzburg für den Zeitraum zwischen 1945 und 1955 vgl. Ingrid Bauer, Welcome Ami, Go Home. Die amerikanische Besatzung in Salzburg 1945–1955. Erinnerungslandschaften aus einem Oral-History Projekt, Salzburg/München 1998, 150; zu Neapel vgl. Porzio, Arrivano gli alleati, 146.

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eine Zerstörerin ihnen allein zustehender Rechte wahrnahmen. Da waren in Deutschland jene, die moralischen Rückhalt in der Ordnung der Familie und in der „Tugend“ der Geschlechterbeziehungen suchten. Beide schienen durch die „Fräuleins“, die „Veronikas“,53 in Österreich „Dollarflitscherln“ genannt,54 gefährdet. Die Justiz griff daher durch und verordnete das Verbot der Prostitution in Orten unter 20.000 Einwohnern in Rheinland-Pfalz, wo sich die großen amerikanischen Militärniederlassungen befanden. Vor Gericht kamen auch Frauen, die nichts mit Prostitution zu tun hatten, denn nach Auffassung des Bundesgerichtshofs war jeglicher sexuelle Akt außerhalb der Ehe als Prostitution zu betrachten.55 Zu dieser neuen und alten Moral gehörte auch die (kurzfristige) Ablehnung der amerikanischen Konsumkultur, die, stark von den Kirchen getragen, den neuen „Materialismus“ geißelte.56 Dieser jedoch, so sehr er auf die Befriedigung elementarer Bedürfnisse gerichtet war, transportierte auch einen „political way of life“. „Das alliierte Heer war das reichste der Welt, alle Soldaten (mit Ausnahme der Neger) schienen Offiziere zu sein und alle Offiziere waren groß, sauber, fröhlich. Sie zogen die Halbinsel hinauf, von Sizilien nach Neapel, Anzio, Rom und dann Florenz, Bologna, Mailand, brachten Weißbrot, Dosenfleisch, Erbsenmehl, die Camel, […] und riefen eine unbeschreibliche und bebende Lebenslust hervor […].“57 Amerikanische Männer galten auch in diesem Zusammenhang als „more manly and sexually attractive“ als die einheimischen.58 Ihr späterer Mann, meinte eine ehemalige neapolitanische Braut, sei zwar hässlich, aber eben „anders“ gewesen: Sprache, Geruch, die schöne Uniform.59 Den Verlockungen einer neuen Konsumkultur, die sich meist nur auf lang entbehrte und weniger auf unbekannte Nahrungsmittel und auf einen beschwingten Lebensstil bezogen, erlagen die meisten. So verstummten die Gegner, die mit den „Veronikas“ die neue Konsumkultur attackiert hatten. Die Ehen zwischen amerikanischen Soldaten und deutschen oder österreichischen Frauen verloren an Anstößigkeit, die Amerikaner ihre ‚Fremdheit‘. Der starke kulturelle Einfluss der USA auf weite Teile Europas in den Jahrzehnten nach 1945 fand in diesen Liebesbeziehungen einen ersten signifikanten Ausdruck. 53 Höhn, GIs and Fräuleins, 120. 54 Ingrid Bauer, Die „Ami-Braut“ – Platzhalterin für das Abgespaltene. Zur (De-)Konstruktion eines Stereotyps der österreichischen Nachkriegsgeschichte 1945–1955, in: L’Homme. Z.F.G. 7, 1 (1996), 107–121, 114. 55 Vgl. Höhn, GIs and Fräuleins, 138. 56 Höhn, GIs and Fräuleins, 120. 57 Porzio, Arrivano gli alleati, 31f. 58 Höhn, GIs and Fräuleins, 131. 59 Porzio, Arrivano gli alleati, 193.

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Die Beziehungen zwischen den GIs und den deutschen, österreichischen und italienischen Frauen sind als interkulturelle höchst erfolgreich gewesen. Sie stellten allerdings als solche einen Sonderfall dar. Die ausschließlich männlichen Soldaten siegreicher Armeen, mit dem Flair von erstrebenswerten Konsum- und politischen Kulturen ausgestattet, stießen nur zeitweise auf Ablehnung, die auch Folgen für die mit ihnen befreundeten Frauen hatten. Der Begriff Interkulturalität wird gegenwärtig als relevant in Hinblick auf Globalisierung, internationale Mobilität und Migration und die daraus folgende ‚Multikulturalität‘ gesehen. Sofern wir ihn im Zusammenhang europäischer Geschlechterbeziehungen betrachten, müssen wir feststellen, dass er auch innerhalb national ‚homogener‘ Kulturen angenommen werden kann, die unterschiedliche Religionen, Konfessionen und soziale Zugehörigkeiten umfassen, die jeweils verschiedene Kulturen konstituieren. Da sich die Forschungspraxis am genannten Verständnis interkultureller Beziehungen orientiert, übernehme ich diese Begrifflichkeit für den gesamten Zeitraum nach 1945. Interkulturelle Geschlechterbeziehungen sind als Liebesbeziehungen für unseren Zusammenhang von besonderem Interesse, weil sie sich an der Schnittstelle von ‚Fremdheit‘ und Nähe befinden. Eine Folge dieser Beziehungen ist nicht notwendigerweise eine Integration beider Partner in die Mehrheitsgesellschaft, sondern zunächst geht es um den Versuch des Zusammenlebens, der politisch oft in Frage gestellt wird. Dazu zählt auch die Verleihung der Staatsbürgerschaft, die einen zentralen, wenn auch nicht den einzigen Faktor in der Definition des/der ‚Fremden‘ darstellt. So unterschiedlich die Normen für die Verleihung der Staatsbürgerschaft in den europäischen Staaten waren, so ähnlich nahmen sich die Bestimmungen in Hinblick auf die geschlechterspezifischen Aspekte aus und so grundsätzlich bedeutungsvoll waren sie für die jene, die den Zugang suchten – entschieden sie doch über Möglichkeiten der Inklusion, der Teilnahme an Rechten und über gesellschaftliche Anerkennung. Frauen mussten mit der Eheschließung die Staatsbürgerschaft des Ehemannes annehmen. Über die Anpassungsverpflichtung der Ehefrau sollte das männliche Vorrecht, die Einheit des Paares bestimmen zu können, aufrechterhalten werden. Einen ‚Fremden‘ zu heiraten, sollte mit dem Verlust nationaler Zugehörigkeit sanktioniert werden, auch wenn dies manchen willkommen war. In den Vereinten Nationen wurde diese weltweit angewandte Praxis bereits 1947 kritisiert, und die allgemeine Menschenrechtserklärung von 1948 hielt das individuelle Recht auf eine Nationalität fest. 1957 haben die Vereinten Nationen in der „Convention on the Nation­ ality of Married Women“ das Recht verheirateter Frauen auf eine autonome Staatsbürgerschaft unterstrichen, wenn diese auch das Recht beibehielt, für die Staatsbürgerschaft des Ehemannes zu optieren. Eine analoge Lösung für die

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Ehemänner gab es nicht. Die Akzeptanz der Konvention durch die Mitgliedsstaaten war zögerlich.60 Selbst jene europäischen Länder, die die Konvention bald ratifizierten, wie die Niederlande 1963, behielten zunächst Unterschiede zuungunsten des männlichen ausländischen Ehepartners bei. Dieser hatte bis 1977 keine Option auf die holländische Staatsbürgerschaft, im Unterschied zur Ehefrau.61 Acht Jahre später wurde diese Option beiden entzogen. Die Aufhebung der vom Ehemann abgeleiteten Staatsbürgerschaft hat längerfristig zu einem levelling down im Eherecht geführt. Durch die Ehe wurden zunehmend weniger Sonderrechte vermittelt, wobei Aufenthaltsrechte und Arbeitsgenehmigungen noch Bedeutung haben. Zu unterstreichen ist trotzdem, dass es die Ehen zwischen Migranten, vorzüglich Arbeitsmigranten bzw. -migrantinnen und Asylanten, gewesen sind, in denen Probleme der Gleichberechtigung durch ein levelling down ‚gelöst‘ wurden.62 Nicht immer allerdings handelte es sich für Arbeitsmigranten darum, die Staatsbürgerschaft des Ziellandes zu erhalten. Die großen innereuropäischen Arbeitswanderungen, die zwischen den 1950er und 1970er Jahren 15 Millionen Migrantinnen und Migranten primär aus dem euromediterranen Raum und der Türkei nach Zentral-, Nord- und Westeuropa brachten,63 haben das Thema Staatsbürgerschaft zunächst nicht virulent werden lassen, da deren Rückkehr in die Herkunftsländer geplant war. Umso mehr galt dies, als die Industrieländer, die gezielt Arbeitskräfte anwarben, zunächst auf ledige Männer setzten, geleitet von dem Prinzip, das damals noch unerkannt war oder auf jeden Fall diesen bezeichnenden Namen nicht trug: vom zero drag, der „Null Reibung“.64 Das bedeutete, dass sich zwischen Arbeit und Leben keine Verschleißstellen bilden sollten, sondern „Arbeit zum Zuhause“ wurde. Daher waren die Arbeiter in Heimen untergebracht, wie die italienischen Bergarbeiter in Belgien in Holzbaracken, die während des Zweiten Weltkrieges für die russischen Kriegsgefangenen errichtet worden waren. In der Schweiz wohnten die Männer in den Baracken der Baustellen und die nachkommende Ehefrauen, die mit einer Arbeitserlaubnis ausgestattet waren, im Schlafsaal der Fabrik.65 Das zero 60 The United Nations and the Advancement of Women 1945–1996, The United Nations Blue Book Series VI, New York 1996, 167f, 20. 61 Vgl. Betty de Hart, The Unity of the Family? Legal Perspectives on Nationally Mixed Marriages in Postwar Europe, in: Waldis/Byron, Migration and Marriage, 179–199, 182, 189. 62 Vgl. de Hart, The Unity of the Family, 185. 63 Vgl. Bade, Europa in Bewegung, 314. 64 Vgl. dazu Arlie Russell Hochschild, Einleitung, in: dies. (Hg.), Keine Zeit. Wenn die Firma zum Zuhause wird und zu Hause nur Arbeit wartet, Wiesbaden 20062, XXV–XXXIV, XXXIIIf. 65 Vgl. Giovanna Meyer Sabino, In Svizzera, in: Piero Bevilacqua, Andreina De Clementi u.

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­drag-Prinzip wurde durch die zunächst vom Großteil der Arbeits­migranten und den Anwerbenden getragenen Auffassung eines begrenzten Aufenthalts und einer baldigen Rückkehr in die Ausgangsländer bestärkt. Letzteres trifft auf die italienischen „Gastarbeiter“ der Volkswagenwerke in Wolfsburg zu. Die etwa 10.000 Italiener, die hier arbeiteten, kamen für kurze Zeit. Es waren nicht nur enttäuschte Erwartungen, die dies bewirkten: „Erzählt ruhig, dass es einem in Deutschland gut geht, aber fügt auch hinzu, dass fast alle Italiener hoffen, so früh wie möglich zurückzukehren,“ hieß es in einer Zeitschrift der italienischen Gemeinde von Wolfsburg im Jahr 1973.66 Die Arbeiter waren zum Großteil in Heimen untergebracht, zu viert und später zu dritt in einem Zimmer. Besuche waren verboten, ein Intimleben war nicht möglich. „Das Leben in einer reinen Männergesellschaft und die Beschränkung des Sexuallebens durch die Gemeinschaftssituation waren eine prägende Erfahrung der Migranten“,67 die Auswirkungen auf die Geschlechterbeziehungen hatten. Die deutsche Presse berichtete von „heißblütigen Italienern“. Frauen forderten – mit dem Argument, Essen und Arbeiten seien zum Leben nicht genug – die Einrichtung von Bordellen für sie und klammerten damit soziale Beziehungen in einem breiteren Sinne aus. Deutsche Männer sahen in ihnen Konkurrenten um die Herzen der Frauen. Es kam zu Prügeleien. Kneipen und Tanzlokale verweigerten Italienern den Zutritt. Und dennoch, wenn wir einem 1997 Interviewten glauben wollen, waren die Werbungen der Italiener erfolgreich: „Sie mussten nicht viel Geld für Miete oder Familie aufbringen, darum hatten sie die Möglichkeit schneller zu einem Fahrzeug zu kommen als die Deutschen und dann ein Mädchen mitzunehmen.“68 „Fahrzeuge“, ob nun Motorroller oder Auto, waren gewiss gewichtige Attribute von Männlichkeit. Aber die Mithilfe in der Landwirtschaft der Eltern oder eine geplante Eheschließung blieben starke Gründe für eine Heimkehr. Alleinstehende Männer waren in den Aufnahmeländern als Arbeitskräfte sehr willkommen, wenn sie auch als mögliche Konkurrenten am ‚Liebesmarkt‘ mit Skepsis betrachtet wurden. Anders sollte es in Sizilien sein, wo etwa zeitgleich mit den italienischen Arbeitern in Wolfsburg maghrebinische Arbeiter eintrafen, die in der Landwirtschaft und im Fischfang tätig waren. Hier entwickelten sich Regeln des Emilio Franzina (Hg.), Storia dell’emigrazione italiana, Bd. 2: Arrivi, Roma 2002, 147– 158, 152; Anne Morelli, In Belgio, in: ebd., 159–170, 168. 66 Anne von Oswald, Volkswagen, Wolfsburg und die italienischen „Gastarbeiter“ 1962– 1975. Die gegenseitige Verstärkung des Provisoriums, in: Archiv für Sozialgeschichte 42 (2002), 55–79, 70; Enrico Pugliese, In Germania, in: Bevilacqua/De Clementi/Franzina, Storia dell’emigrazione italiana, Bd. 2, 121–132, 124. 67 von Oswald, Volkswagen, 75. 68 von Oswald, Volkswagen, 76.

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Ausweichens. Die Maghrebiner, die im Fischfang arbeiteten, lebten in der Altstadt von Mazara, die als „Kasbah“ bezeichnet und Ende der 1960er Jahre, als sich Tunesier dort niederließen, als „männlicher“ Ort angesehen wurde, den die einheimischen Frauen mieden. Sie wählten andere Wege. Die „Kasbah“ wurde zu einem geschlossenen Raum, von Männern bewohnt, die Formen der Soziabilität praktizierten, die den Sizilianern fremd waren. „Nicht selten kann man in Mazara beobachten, wie die Immigranten auf den Straßen des antiken Viertels spazieren und sich an den Händen halten wie Kinder.“ Diese Situation änderte sich erst, als Frauen nachzogen und Verbindungen zum sozialen Umfeld herstellten, was ihnen möglich war. 69 Die Anwerbung alleinstehender Frauen, die westliche Industriestaaten in der Folge ebenfalls ins Auge fassten, war schwierig. Es gab einen entsprechenden Bedarf, da in dem bislang von inländischen Frauen abgedeckten und zunehmend verlassenen Niedriglohnbereich ein akuter Arbeitskräftemangel herrschte, wie in der Nahrungs- und Genussmittelindustrie oder im Hauswirtschaftsbereich. Die These, dass der geschlechtsspezifisch geteilte Arbeitsmarkt Deutschlands, vermutlich aber auch anderer Länder, durch die Arbeit ausländischer Frauen aufrechterhalten werden konnte, hat eine Plausibilität,70 sofern er als ausgeprägt segregierter Arbeitsmarkt verstanden wird. Die Anwerbung lediger Frauen war, vor allem in den katholischen Ländern Italien, Spanien und Portugal, sehr umstritten: Italienerinnen unter 21 Jahren waren davon ausgeschlossen. Spanierinnen in derselben Altersgruppe konnten nur im Familienverband migrieren, Spanierinnen und Türkinnen bedurften bis zu ihrem 25. Lebensjahr der elterlichen Zustimmung, sofern sie ledig waren, bzw. der Zustimmung des Ehemannes, sofern sie verheiratet waren. Mit Anwerbeschwierigkeiten, die auf der Vorstellung beruhten, dass Frauen von ihrer Familie nicht getrennt werden sollten, war daher zu rechnen. Zu den Beruhigungsmaßnahmen, die von den Arbeitgebern ergriffen werden mussten, zählte die Errichtung von Unterkünften für Frauen, die unter einer Leitung standen. Dadurch sollten moralische Bedenken zerstreut werden.71 Dennoch gab es – trotz der ursprünglichen Präferenz für ledige Männer – ledige und zunehmend auch verheiratete Migrantinnen. Im Jahr 1968 waren in der Bundesrepublik 71 % der „Gastarbeiter“ und 64 % der „Gastarbeiterinnen“ verheiratet.72 Ungeachtet der Rückwanderungen und des Stopps von Anwer69 Mario Giacomarra, Immigrati e minoranze. Percorsi di integrazione sociale in Sicilia, Palermo 1994, 42, 39. 70 Vgl. Monika Mattes, „Gastarbeiterinnen“ in der Bundesrepublik. Anwerbepolitik, Migration und Geschlecht in den 50er bis 70er Jahren, Frankfurt a. M./New York 2005, 184. 71 Vgl. Mattes, „Gastarbeiterinnen“, 83ff. 72 Vgl. Mattes, „Gastarbeiterinnen“, 189.

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bungen nach den frühen 1970er Jahren kam es durch den Familiennachzug zu einem weiteren Anstieg der Verheirateten. Die zweite Generation türkischer Migranten, die bereits als Kinder mit ihren Eltern in das Zielland gekommen sind, haben, so Forschungen für Deutschland und Belgien, zu einem überwiegenden Teil transnational geheiratet, nämlich Partnerinnen in ihren Herkunftsländern gesucht. 1991 betrug der Anteil von in Belgien lebenden Türken, die ihre Ehefrauen in der Türkei fanden, 74,7 %, jener der Türkinnen, die ihren Ehegatten aus der Türkei nachholten, 68,7 %. Die entsprechenden Daten für Heiraten in der Migrantengruppe selbst betrugen 18,3 % bzw. 27,5 % und für jene, die Westeuropäer heirateten, 7,0 % bzw. 3,8 %.73 Dieses Heiratsmuster, das in Deutschland sehr ähnlich ist, hat die Forschung umso mehr beschäftigt, als der Ehegattennachzug als traditionelles Verhalten gewertet wurde, das auf eine individuelle Partnerwahl weniger Wert zu legen und einen geringen Integrationswillen zum Ausdruck zu bringen schien. Allerdings zeigt dieses Heiratsverhalten eine soziale Logik, die mit dem Begriff der „Traditionalität“ nicht voll zu fassen ist. So mag – wie etwa für Deutschland – die geringere Anzahl türkischer lediger Migrantinnen zu diesem Heiratsverhalten beigetragen haben, wenn auch diese selbst überwiegend ihren Ehegatten aus der Türkei holten, wenn auch zögerlicher. Die Interpretationen des Heiratsverhaltens türkischer Frauen, die transnational heiraten, divergieren sehr: Sie sehen sozialen Druck auf Frauen ausgeübt, die in Tauschbeziehungen eingebunden sind und dem Familieninteresse in arrangierte Ehen folgen müssen. Oder ganz im Gegenteil dazu unterstreichen sie die individuellen, von Emotionalität getragenen Entscheidungen dieser Frauen, die auch durch das Eingehen einer transnationalen Ehe den Einfluss der Familie des Ehemannes und ihre eigene Abhängigkeit vom Ehemann verringern möchten. John Lievens findet diese letztere Annahme dadurch bestätigt, dass es mehr Frauen mit höherer Bildung sind, die transnationale Ehepartner bevorzugen. Voraussetzung der Entscheidung für diese Ehen sind jedoch, bei aller Heterogenität der Migrantengruppe, transnationale Netzwerke, verwandtschaftliche Beziehungen und das Interesse an einer Verbindung mit dem Herkunftsland.74 Darin findet eine Distanz zum Zielland ihren Ausdruck. Interkulturelle Ehen beruhen nicht nur auf einer Entscheidung der Migranten, sondern auch auf jener der Mehrheitsbevölkerung. Der Erfahrung von Be73 Vgl. John Lievens, Family-Forming Migration from Turkey and Morocco to Belgium: The Demand for Marriage Partners from the Countries of Origin, in: International Migration Review 33, 3 (1999), 717–744, 723. 74 Lievens, Family-Forming Migration, 740; vgl. auch Gaby Straßburger, Heiratsverhalten und Partnerwahl im Einwanderungskontext: Eheschließungen der zweiten Migrantengeneration türkischer Herkunft, Würzburg 2003, 310, 263f.

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freiung, die, nach Werner Schiffauer, die türkischen Bauern aus Subay erfahren haben, die nach Deutschland migrierten, stehen neue Formen von Entwürdigung und Unfreiheit gegenüber. Die Erfahrungen der Diskriminierung mögen zu der geringen Zahl interethnischer Ehen beigetragen haben, wenn dies auch nicht die einzige Erklärung sein kann. Türkische Frauen schließen seltener als türkische Männer eine interethnische Ehe. Es ist davon auszugehen, dass das religiöse Verbot, das muslimischen Frauen die Heirat mit einem Andersreligiösen untersagt, einen Einfluss ausübt. Umgekehrt wird von nichtmuslimischen Frauen der Übertritt zum Islam erwartet und, sofern eine Rückkehr in die Türkei erfolgt, die Anpassung an die herrschende Geschlechterordnung.75 „Mytheme“ kommen hinzu: Das „Verschlungenwerden durch die deutsche Frau“ oder aus Sicht türkischer Männer formuliert: „Im Laufe der Zeit gerät alles unter den Einfluss der Frau.“76 Eheschließungen von Deutschen mit Muslimen sind von umgekehrten Mythemen getragen. Das ist aus der Konversionsforschung bekannt. „[J]ede dritte Konversion eines Mannes und fast jede zweite Konversion einer Frau“ steht, so Monika Wohlrab-Sahr, „in direktem Zusammenhang mit einer Partnerschaft“. Ein starkes Motiv ist die „Betonung einer klaren, als ‚natürlich‘ angesehenen Geschlechterordnung, die Angst vor der Auflösung der Geschlechts­identität“ und die damit verbundene Option für spezifische Kleidung und Schleier. Eine Re-Konversion zum Christentum wurde von den Konvertiten und Konvertitinnen deshalb nicht gewählt, weil ein Grund des Übertritts die erwünschte Distanz zur Herkunftsgesellschaft, die Distinktion war. Der Islam, so Wohlrab-Sahr, „ist darüberhinaus, was die Präsenz der Gläubigen angeht […], keine feminisierte Religion, wohingegen in den christlichen Kirchen Frauen die überwiegende Mehrheit der aktiven Mitgliedschaft ausmachen“.77 Konversionen zum Islam wie auch umgekehrt und noch seltener vom Islam zum Christentum bleiben Ausnahmen, dennoch sind sie ein Indikator von Beziehungen auch zwischen den Geschlechtern. Religiöse Zugehörigkeit und die mit ihr verbundene Geschlechterordnung können erwünschte Zeichen der Distinktion setzen. Die Geschlechtsidentität der Migrantinnen und Migranten ist von der Konfrontation mit der Mehrheitsgesellschaft betroffen, was bis zu einem gewissen Ausmaß auch für den umgekehrten Fall gilt.78 75 Werner Schiffauer, Die Migranten aus Subay. Türken in Deutschland: Eine Ethnographie, Stuttgart 1991, 110, 235. 76 Schiffauer, Die Migranten aus Subay, 298f. 77 Monika Wohlrab-Sahr, Konversion zum Islam in Deutschland und den USA, Frankfurt a. M./New York 1999, 361, 367, 369. 78 Vgl. Paul Scheibelhofer, Zwischen zwei … Männlichkeiten? Probleme, Ressourcen und Identitätskonstruktionen von männlichen türkischen Migrantenjugendlichen in Wien, Diplomarbeit Universität Wien 2004, 122f.

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Dennoch ist auch der Wunsch nach Aufrechterhaltung der Ethnizität ein Element, das innerethnische Ehen bestimmt, wenn auch der historische Kontext hierbei entscheidend ist. Pnina Werbner hat dies am Beispiel der Pakistani aufgezeigt, die als Arbeitsmigranten in den 1950er und 1960er Jahren in wachsender Zahl nach Manchester kamen. Werbner beschreibt den Prozess der Herstellung und Aufrechterhaltung der Ethnizität dieser Gruppe, für die Eheschließungen einen Markstein darstellten. Begleitet war diese Entwicklung von einer Veränderung der für die Minderheit wichtigen Kategorien Verwandtschaft und Kaste, die vor allem in der zweiten Generation zum Tragen kam. Für die Pakistani bedeuteten die Loyalitäten zu Verwandten und zu Abhängigen sowie familiäre Verpflichtungen Grundstrukturen ihrer sozialen Organisation. Sie teilten nicht die britische Auffassung, dass Ehen auf freier Wahl beruhen sollten. Wichtig war ihnen noch immer die Heirat zwischen Cousins und Cousinen ersten Grades. Dennoch traten in diesem System, das für den Erhalt der Gruppe als so wichtig erachtet wurde, Risse auf. Das zeigt etwa der Wunsch des Mustafa nach einer Liebesehe, den Werbner in einer case study, die sie Ende der 1970er Jahre recherchierte, vorstellt. Mustafa verliebte sich in eine schöne pakistanische Frau, die aber aus einer niedrigeren Kaste als er selbst stammte. Erst nach langem Zögern gab er dem Widerstand seiner Familie gegen diese Beziehung nach und heiratete seine Kreuzcousine, die Tochter des Bruders seiner Mutter, die aus seiner und ihrer Geburtsstadt in Pakistan nach Manchester übersiedelte. Trotz Verehelichung weigerte er sich, mit ihr zu leben. Es kam schließlich zur Scheidung, und er heiratete seine große Liebe. Für ihn, den erfolgreichen Geschäftsmann, hatten das Kastensystem und die Loyalität gegenüber Verwandten keine vorrangige Bedeutung mehr. Für seine weitverzweigte Verwandtschaft, die auf drei Kontinente verstreut lebte, galt dies jedoch nicht. Ein Bruder der Mutter ließ sich, empört über Mustafas Verhalten, von seiner zweiten Frau, einer Schwester von Mustafas Schwager, scheiden und eine andere, ebenfalls durch Verwandtschaft verbundene Ehe war am Rande des Scheiterns. Mustafas Eltern akzeptierten die neue Frau, wenn auch zögerlich, nicht zuletzt, weil Mustafa große geschäftliche Fähigkeiten besaß. Der Fall des Mustafa zeigt sowohl die Schwierigkeiten auf, die auftraten, wenn die Reziprozität verwandtschaftlicher Verbindungen aufgekündigt wurde, als auch die Voraussetzungen, die dies dennoch ermöglicht haben: nämlich der für Eltern und Geschwister wichtige große geschäftliche Erfolg des Mustafa, die offensichtliche Durchlässigkeit einer Gesellschaft, in der Kastenzugehörigkeit kein Ordnungssystem darstellt und schließlich die Insistenz des jungen Mannes und der jungen Frau aus der niederen Kaste auf ihrer Liebesbeziehung. Der von Verwandtschaftsbeziehungen bestimmte Heiratsmarkt

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und die darauf aufbauenden ökonomischen Verbindungen begannen brüchig zu werden.79 An der Durchlässigkeit ethnischer und religiöser Grenzziehungen sind zahlreiche Faktoren beteiligt, wie im konkreten Fall das soziale Umfeld im Manchester der 1970er Jahre, aber auch das Handeln von Individuen als Akteure, das bei der Durchsetzung ihrer Beziehungswünsche unerlässlich war. Binationale oder interethnische Ehen wurden lange als ein Indikator von Assimilation, als „test of assimilation“ gewertet.80 Barbara Waldis und Laurence Ossipow sehen in ihnen hingegen auch einen Faktor von Integration, da der ausländische Partner, die ausländische Partnerin die „lokale Sprache erlernen, eine Arbeit suchen und sich auf die neue Familie einstellen muss“.81 Darüber hinaus eröffnen interethnische Ehen die Möglichkeit, dass Angehörige verschiedener Kulturen erwünschte gemeinsame Lebensperspektiven interaktiv gestalten. Dies kann durch massive Ablehnung dieser Lebensform durch die Mehrheitsbevölkerung, durch Rassismus und Marginalisierungen erschwert werden. Interethnische Ehen werden oft als Normübertretung aufgefasst oder können dazu werden. Letzteres war ein Phänomen des Jugoslawienkrieges in den Jahren zwischen 1991 und 1995 und traf in besonderem Maße auf die Eheschließungen zwischen Kroaten, Serben, Bosniern und anderen ethnischen Gruppen zu. Es fehlen derzeit allerdings genaue Daten und eine Folgenabschätzung für jene, die in interethnischen Ehen lebten. Im Jahr 1993, noch während des Krieges, publizierte die „Anthropology of East Europe Review“ ein Heft über den Krieg in Jugoslawien und erörterte auch dieses Problem. Die Autoren waren nach den ihnen vorliegenden Daten der Auffassung, dass in Jugoslawien ein endogames Heiratsverhalten vorgeherrscht habe: Männer und Frauen hätten, so ihre Darstellung, ihre Partner und Partnerinnen zum Großteil in der eigenen ethnischen Gruppe gesucht. In ganz Jugoslawien hätte es in den Jahren von 1980 bis 1982 nur 12,7 % binationale Ehen gegeben, wobei allerdings große Unterschiede zwischen den nationalen Gruppen festzustellen seien: Serben und Montenegriner heirateten am häufigsten exogam. Für die Autoren Nikolai Botev und Richard Wagner ist dies der Beweis für die Wirkweise binationaler Ehen als Mittel der sozialen Integration, denn Serben und Montenegriner hätten die Aufrechterhaltung 79 Pnina Werbner, The Migration Process. Capital, Gifts and Offerings among British Paki­ stanis, New York 1990, 87–90. 80 Barbara Waldis, Introduction: Marriage in an Era of Globalization, in: dies./Byron, Mi­ gration and Marriage, 1–19, 11. 81 Waldis, Introduction, 4. Bezug genommen wird in dieser Passage der Einleitung auf die Studie von Barbara Waldis u. Laurence Ossipow, Couples binationaux et sociétés multiculturelles, in: Hans-Rudolf Wicker, Rosita Fibbi u. Werner Haug (Hg.), Migration et la Suisse, Zürich 2003, 375–403.

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Jugoslawiens im Sinne eines multinationalen Staates am meisten unterstützt und sie fügen hinzu: „In general, it is usually assumed that dominant ethnic groups are less homogamous.“82 So gesehen, wären binationale Ehen eine Herrschaftstechnik der Mehrheit und nicht primär eine Normübertretung, wie zuvor festgehalten; dies hätten sie erst während des Krieges sein können. Für die Autoren des Beitrags ist der Befund für Jugoslawien eindeutig: Jugoslawien war nie integriert, die binationalen Ehen sind von den 1960er Jahren bis zum Kriegsausbruch nicht angestiegen. Sie sehen das als Beweis dafür, dass es keine jugoslawische Identität gegeben habe. Jedenfalls binden sie diese Identität an Formen der Ehe. Diese Sichtweise blieb nicht unwidersprochen. Ein Jahr später kritisierte ein Autor den methodischen Zugang von Botev und Wagner. Es wäre notwendig gewesen, kleine Räume zu untersuchen, einen mikrogeschichtlichen Zugang zu wählen, dann wären die Ergebnisse viel differenzierter ausgefallen. Gerade in jenen Regionen, in denen der Bürgerkrieg am stärksten gewütet habe, seien binationale Ehen am weitesten verbreitetet gewesen, wie in der Region von Sarajevo, wo sie 25 % betragen haben. Er nimmt daher an, dass der Krieg von außen nach Jugoslawien hineingetragen worden sei.83 Andere Daten verweisen auf einen noch höheren Prozentsatz an binationalen Ehen in Sarajevo, nämlich von 30 %, die zwischen bosnischen Musliminnen/Muslimen, Kroatinnen/ Kroaten und Serbinnen/Serben erfolgt waren. 27 % der Eheschließungen in Kroatien waren im Jahre 1991 binational; mehrheitlich handelte es sich dabei um Heiraten zwischen Serbinnen/Serben und Kroatinnen/Kroaten.84 Diese Ehen, und dasselbe gilt gewiss für Liebesbeziehungen, waren vielen unerwünscht: religiösen Führern und Nationalisten. Im frühen 19. Jahrhundert galt das Anathema diesen Beziehungen, sofern sie auf der Liebe zwischen nationalen Feinden basierten. In Jugoslawien war der Prozess umgekehrt – so scheint es wenigstens nach den bisherigen Forschungen, denn aus Ehe- und Liebespartnern sollten Feinde werden. In den Gerichtsprotokollen des „International Criminal Tribunal for the Former Jugoslavia“ finden sich Äußerun82 Nikolai Botev u. Richard A. Wagner, Seeing Past the Barricades: Ethnic Intermarriage in Yugoslavia During the Last Three Decades, in: The Anthropology of East Europe Review 11, 1/2 (1993), 28–37, 31. Eine spätere Version des Aufsatzes erschien unter dem Namen von Nikolai Botev, Ethnic Intermarriage in Former Yugoslavia, 1962–1989, in: Joel M. Halpern u. David A. Kideckel (Hg.), Neighbors at War. Anthropological Perspectives on Yugoslav Ethnicity, Culture, and History, University Park, PA 2000, 219–233. 83 V. P. Gagnon, Reaction to the Special Issue of AEER: War among the Jugoslavs, in: An­ thropology of East Europe Review 12, 1 (1994), 79–81. 84 Vgl. Vesna Peric Zimonjic, Mixed Marriages on Rise Again, in: http://other-news.info/ index.php?p=1526 (Zugriff: 12.09.2007).

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gen von Angeklagten über ‚Mischehen‘, die dies belegen: „The Accused spoke openly against mixed marriages.“ Interethnische Liebespaare waren starkem nationalistischen Druck ausgesetzt. Manche mussten ihre Heimatstadt verlassen, wie die Kroatin Dijana und der Serbe Sinisa aus Vukovar, da ihre Beziehung zu Beginn der 1990er Jahre von der lokalen Gesellschaft nicht mehr akzeptiert wurde.85 Wie viele binationale Ehepaare durch Nationalismus und Krieg nicht nur zur Flucht gezwungen wurden, sondern sich getrennt haben, müssen weitere Forschungen erst klären. Die Geschichte binationaler Ehen in Jugoslawien zeigt, dass die (politischen) Erwartungen, die an sie gerichtet wurden, nämlich einen Weg in die Integration zu ebnen, nicht erfüllt werden konnten. Die Erwartung der Herstellung einer jugoslawischen Identität mochte sich in dieser Beziehungsform vielleicht ausdrücken, die Trennung dessen, was sie verbinden wollten, konnten sie dennoch nicht verhindern. Der Nationalhass hat sich nicht nur gegen binationale Ehen und Liebesbeziehungen gewendet, sondern auch zu Massenvergewaltigungen von Frauen und Mädchen geführt. Vergewaltigungen sind eine wirksame Waffe des Krieges, denn die Vergewaltiger wollen durch eine Zerstörung der körperlichen Integrität von Frauen den Gegner treffen und demütigen. Die Geschichte interkultureller Geschlechterbeziehungen im Europa der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verweist auf Grundprobleme einer connected history. Interkulturelle Liebesbeziehungen und binationale Ehen sind wesentliche Elemente von inter- bzw. transnationalen Vernetzungen, doch werden sie in jenen gesellschaftlichen Bereichen, die von Amts wegen an der Herstellung von Verbindungen zwischen Nationen beteiligt sind, nicht sichtbar: so in der Außenpolitik, in der Diplomatie, in Handelsbeziehungen, in der Ökonomie und bisweilen, wenn auch in einem geringeren Maße, in der Kultur. Ihre Geschichte zeigt jedoch auf, wie schwierig es ist, diese Verbindungen herzustellen und aufrechtzuerhalten – nicht nur deshalb, weil Emotionalität von historischen Kontexten mitgestaltet wird, sondern auch, weil daran interessierte Gruppen – politische und religiöse Funktionäre oder Mitglieder von Verwandtschaftsverbänden – nicht selten direkt intervenieren. Lokale und globale Machtverhältnisse setzen Rahmenbedingungen, die das transgressive Potential, das interkulturelle Liebesbeziehungen enthalten, in ihr Gegenteil verkehren können. 85 Vgl. Netherlands Institute of Human Rights. Utrecht School of Law, ICTY, Angeklagter: Radoslav Brdjanin, Judgment: The accused’s role and his responsibility in general, 01.09.2004, Nr. 328, in: http://sim.law.uu.nl/sim/caselaw/tribunalen.nsf/ac9cb6430e6e0049c12571b50050bed9 (Zugriff: 14.09.2007); Veronika Wengert, Binationale Ehen sind tabu, in: http://www.eurasischesmagazin.de/artikel/?artikelID=2007011, 4 (Zugriff: 31.01.2007).

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Das trifft zumindest teilweise auf die internationale Heiratsmigration zu, die meistens von Osten nach Westen verläuft und die eine Antwort auf spezifische Bedürfnisse darstellt: auf Bedürfnisse von Bauern, die nur mit Schwierigkeiten Ehefrauen finden, wie jene 80.000 bis 100.000 unverheirateten Männer, die 1996 im ländlichen Raum Serbiens lebten und in den ukrainischen Frauen slawische Ehefrauen suchten, oder jene Männer Deutschlands und Österreichs, die Frauen von den Philippinen heiraten, für die mit ihrer Anspruchslosigkeit und Sanftmut geworben wird, die sie von den europäischen ‚Emanzen‘ unterscheide.86 Gerade unter Berücksichtigung der ökonomischen Interessen der an diesen Ehen beteiligten Frauen, die das Ergebnis einer ungleichen Verteilung von Vermögen im globalen Raum sind, ist auf ein strukturelles Machtgefälle zu verweisen, das es auch innerhalb Europas gibt. Das Machtgefälle, angelegt zwischen Regionen und Nationen, deckt sich mit dem Gefälle innerhalb der Geschlechterbeziehungen, wenn der Sextourismus ins Auge gefasst wird. Sofern interkulturelle Geschlechterbeziehungen Teil dieser Machtbeziehungen sind und in ihnen auch Ausdruck finden, können sie diese, wie oben ausgeführt, zugleich in Frage stellen und für ihren Lebensbereich außer Kraft setzen. 5.3 Nachdenken über Gefühle

Die Geschichte der europäischen Geschlechterbeziehungen wird auf vielfältige Weise von Diskussionen und Lebensstilen beeinflusst, die in den Kontinent ‚importiert‘ wurden. An diesem ‚Import‘ sind Immigranten und Immigrantinnen ebenso beteiligt wie Emigranten und Emigrantinnen, jene, die Entscheidungen über ihre Lebens- und Arbeitsformen und eine spezifische Partnerwahl trafen, und jene, die Bücher schrieben, in denen sie über Sexualität, Liebe, Geschlechterbeziehungen, Arbeit und Emanzipation nachdachten. Letzteres traf auf mehrere zu, die, vom Nationalsozialismus aus Europa vertrieben, in die Vereinigten Staaten und andere Aufnahmeländer ausgewandert sind. Ihr Nachdenken und die daraus entstandenen Schriften waren sowohl das Ergebnis europäischer Erfahrungen als auch neuer Eindrücke. Ihre Schriften sollten in Europa erst wirksam werden, lange nachdem sie geschrieben worden sind, wie Herbert Marcuses „Eros and Civilization“.87 Wenn Politik 86 Vgl. Rada Drezgić, International Matchmaking: Ukrainian Brides for Serbian Men, in: Jovanović/Naumović, Gender Relations in South Eastern Europe, 305–320; Bettina Beer, Deutsch-Philippinische Ehen. Interethnische Heiraten und Migration von Frauen, Berlin 1996, 73. 87 Herbert Marcuse, Eros and Civilization. A Philosophical Inquiry into Freud, Boston 1955.

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und Recht in den 1950er und frühen 1960er Jahren die Ehe auch ins Zentrum der Geschlechterordnung stellten und sie zur Lebensnorm deklarierten, so begannen sich zugleich divergierende Auffassungen zu artikulieren, die in der Beziehungswelt einer sich entwickelnden Konsum- und Wohlstandsgesellschaft zunehmend Anwendung finden konnten. Vor allem aber wurden Liebe und Erotik Themen wissenschaftlicher und populärer Auseinandersetzungen. In den 1960er und 1970er Jahren sollte die Diskussion nicht weniger werden, wenn auch wesentlich kritischer und politischer. Unmittelbar nach Kriegsende, nach der Shoa und dem Abwurf der Atombombe fragte sich Günther Anders, was denn aus der Liebe geworden sei. Der Emigrant aus Deutschland beobachtete nicht nur das Verhalten von Emi­ grantenpaaren, sondern dachte grundsätzlich, wenn auch punktuell, über den Zusammenhang von Gesellschaft und Gefühlen nach. Letztere sah er langsameren Veränderungen ausgesetzt als dies beim Denken der Fall sei. Die Ereignisse im Kontext des Zweiten Weltkrieges wertete er als die große Zäsur in den Erwartungen an die Geschlechterliebe. Die Liebe des 19. Jahrhunderts hätte einen „Erlösungsersatz“ dargestellt, da der Wirtschaftsliberalismus die „Erlösung durch Gemeinschaft“ zerstört habe. Sie „erlöste“ von „Institutionen, Alltag und Vereinsamung“.88 Die Liebe der zweiten Hälfte der 1940er Jahre war aus seiner Sicht auf wesentlich bescheidenere Ansprüche reduziert. Sie sei „zum letzten, das Dasein des einzelnen noch haltenden Notanker“ geworden, „nein, nicht wie im letzten Jahrhundert zum ‚Daseinsgrund‘ oder zum ‚Ewig Weiblichen‘, das uns hinaufzieht, aber eben doch zur letzten Bürgschaft dafür, daß ein Minimum von Freude uns doch nicht mißgönnt sei“. Liebe sei „nachlässiger, plumper, witzloser, unritterlicher geworden“. Niemand könne sich heute den „Luxus der Selbst-Dramatisierung“ leisten.89 Anders hat diese Überlegungen in seinem in den Jahren von 1947 bis 1949 in den Vereinigten Staaten geführten Tagebuch niedergeschrieben. Die Perspektiven auf den Gefühlskosmos änderten sich rasant. Was bei Anders noch präsent war, nämlich der Einbruch von Krieg, Vernichtung und Vertreibung auf das Gefühlsleben von Männern und Frauen, hat bei Fromm und vor allem bei Marcuse eine scharfe Wendung in Richtung auf eine verstärkte Gesellschaftskritik und das utopische Potential von Liebe genommen. Erich Fromm veröffentlichte sein populäres Buch „The Art of Loving“ im Jahr 1956; Marcuses „Eros and Civilization“ war ein Jahr zuvor erschienen. Für Fromm und Marcuse war das Nachdenken über Liebe und Erotik mit der Suche nach einer idealen Gesellschaft verbunden, die Liebe, Erotik und Arbeitswelt in ei88 Günther Anders, Lieben gestern. Notizen zur Geschichte des Fühlens, München 19892, 11. 89 Anders, Lieben gestern, 12f, 24.

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nen neuen Zusammenhang bringen sollte. Geschlechterbeziehungen wurden hierbei nur implizit angesprochen bzw. erhielten nicht jenen vorrangigen Platz zugeteilt, den sie im 19. und frühen 20. Jahrhundert eingenommen hatten. Dennoch stellen sie die Schnittstelle zwischen Gesellschaft und Liebe bzw. Erotik dar. Fromm geht wie Anders davon aus, dass Liebe von der Gesellschaftsstruktur nicht zu trennen sei. Im Kapitalismus sieht er eine Gesellschaftsform, in der Liebe nicht zu einem „gesellschaftlichen Phänomen“ werden könne, denn sie baue auf mechanischer Arbeit, auf Konsum sowie der Trennung von privatem und öffentlichem Leben auf.90 Die ideale Liebe findet Fromm in der biblischen Nächstenliebe, die er jedoch aus der Glaubensfrage herauslöst. Mitleid, als Teil der Nächstenliebe, führe zur „Erkenntnis“ und zur Fähigkeit der Identifikation mit anderen. Sie sei „universal“ im Unterschied zur „exklusiven“ erotischen Liebe.91 Oft würde man zwei „Verliebte“ finden, die außer den jeweiligen Partnern und Partnerinnen niemanden lieben würden. Sie sonderten sich von der übrigen Menschheit ab und blieben daher voneinander getrennt und einander fremd. Zweisamkeit allein, ohne weiterreichende soziale Bezugnahmen, führe zu Vereinzelung. Bedroht sieht Fromm die Geschlechterliebe nicht nur durch den „Egoismus zu zweit“,92 sondern auch durch Nivellierungstendenzen in der US-amerikanischen Gesellschaft. Zwar begrüßte er die Gleichberechtigung der Frau, „aber die positiven Seiten dieser Gleichheitstendenz dürfen uns nicht darüber hinwegtäuschen, daß es sich hier auch um die Tendenz zur Ausmerzung von Unterschieden handelt. [...] Die Polarität der Geschlechter ist im Verschwinden begriffen, und damit verschwindet auch die erotische Liebe, die auf dieser Polarität beruht.“ Wie die Güter in der modernen Massenproduktion werden Menschen standardisiert und „diese Standardisierung nennt man dann ‚Gleichheit‘“. Eine „Herdenkonformität“ mache sich breit.93 Fromm geht es darum, die Differenz zwischen den Geschlechtern in einem umfassenden Sinn beizubehalten, die er als Voraussetzung des Begehrens erachtet. Männer sollten als Männer, Frauen als Frauen erkennbar sein. Dass Geschlechterdifferenz die Voraussetzung der Geschlechterliebe sei, ist ein Thema, das den Liebesdiskurs des 19. und bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts begleitet. Für Fromm ist sie insofern zentral, als er sie auch als Zeichen des Widerstandes gegen einen Kapitalismus sieht, der den und die Einzelnen zu einer Schraube im ökonomischen Getriebe degradiert. Allerdings verfolgt 90 91 92 93

Fromm, Die Kunst des Liebens, 146, 98f. Fromm, Die Kunst des Liebens, 58, 64. Fromm, Die Kunst des Liebens, 67. Fromm, Die Kunst des Liebens, 25f.

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er diese Sichtweise nicht weiter und erwähnt Arbeit nur unspezifisch und mit Bezug auf das Alte Testament, in dem Zusammenhang, „daß Liebe und Arbeit nicht voneinander zu trennen sind. Man liebt das, wofür man sich müht, und man müht sich für das, was man liebt.“94 Er verweist immer wieder auf den Zusammenhang von Gesellschaft, Ökonomie und Liebe und fordert eine Gesellschaftsform, in der die „soziale, liebevolle Seite des Menschen nicht von seiner gesellschaftlichen Existenz getrennt, sondern mit ihr eins wird“.95 Liebe sollte demnach nicht nur ein Signum des Privaten sein. Den Lesern und Leserinnen seines äußerst erfolgreichen Buches, von dem 2005 bereits 25 Millionen Exemplare verkauft worden waren und das in 50 Sprachen übersetzt erschienen ist, gab er den Ratschlag, den Willen auch im Gefühlsleben einzusetzen. Liebe sei erlernbar. Während Arbeit für Fromm am Rande seiner Überlegungen stand, steht sie für Marcuse im Zentrum seines Gesellschaftskonzepts. Seine Utopie von der Erotisierung der Gesellschaft setzt eine Liberalisierung sexueller Praktiken und eine nicht entfremdete Arbeit voraus. In beiden Fällen bedeutet dies eine Durchsetzung des Lustprinzips. Marcuse sieht in der gesellschaftlichen und ökonomischen Entwicklung seiner Zeit den Moment gekommen, das Leistungsprinzip und die mit ihm verbundene „Unterdrückung“ abzuschaffen, denn: „Die Ideologie der Lebensnot, der Produktivität von Mühsal, Herrschaft und Triebverzicht hat sowohl ihre triebhafte als ihre rationale Grundlage verloren.“96 Arbeit soll sinnlich erfahrbar werden, „sie muß libidinöse Lust sein“. Damit verbunden ist die Vorstellung einer gesellschaftlich notwendigen Sublimierung von Begierden und Trieben, wodurch sich eine „polymorphe“ Sexualität entfalten könne, ein „Eros“, der auch Agape umfasst. „Eine ungebrochene Linie erotischer Erfüllung führt von der körperlichen Liebe für den Einen zu der für die Anderen, zu der Liebe zum schönen Werk und Spiel […] und schließlich zur Liebe zu schönem Wissen […].“97 Die Kette der Liebenden, die Marcuse als Ergebnis einer libertären Gesellschaft imaginiert, erinnert an Fouriers „Liebeswelt“98 und an die Vorstellung von der die sozialen Beziehungen revolutionierenden Kraft einer nicht auf Monogamie und Fortpflanzung reduzierten Sexualität. Mit ihr würde auch die Trennung von Geist und Körper fallen. Marcuse analysiert weder heterosexuelle noch homosexuelle Beziehungen, dennoch stehen sie im Zentrum des Buches, denn ohne ihre Liberalisierung 94 Fromm, Die Kunst des Liebens, 38. 95 Fromm, Die Kunst des Liebens, 145. 96 Herbert Marcuse, Triebstruktur und Gesellschaft. Ein philosophischer Beitrag zu Sigmund Freud, Frankfurt a. M. 1965, 106. 97 Marcuse, Triebstruktur und Gesellschaft, 208. 98 Fourier, Le nouveau monde amoureux.

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ist die von ihm angepeilte Erotisierung der Gesellschaft nicht möglich. Geltung sollte sein Modell gleichermaßen für Frauen wie für Männer haben. Ihrer unterschiedlichen Position in Recht, Gesellschaft und Ökonomie gilt sein Augenmerk nicht. Zu sehr ist seine Utopie von Vergangenheit, Zukunft und Erinnerung durchtränkt. „Der Eros, der ins Bewußtsein eindringt, wird von der Erinnerung bewegt; mit ihr wendet er sich gegen die Ordnung des Verzichts; er benutzt die Erinnerung in seiner Bemühung, die Zeit in einer Welt, die von der Zeit beherrscht ist, zu überwinden. […] Die Zeit verliert ihre Macht, wenn die Erinnerung die Vergangenheit wieder zurückbringt.“99 Marcuse bezieht diese Sätze nicht nur auf das Körpergedächtnis, sondern auch auf eine kollektive Erinnerung, die die Rückholung eines paradiesisch erlebten Zustandes einfordert. Eine von Walter Benjamins geschichtsphilosophischen Thesen zitierend, die die Aufsprengung des Kontinuums der Geschichte, die Revolution als Kampf gegen die Zeit versteht, fordert Marcuse die Erinnerung an die geschichtliche Aktion zu binden. Der Eros als Erinnerungsgenerator und das Paradies als Fluchtpunkt der Erinnerung sollten in einen revolutionären Akt münden.100 Marcuses Buch sollte in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre wirkungsvoll werden, als die Studentenbewegungen und die Studentenrevolution von 1968 eine Gesellschaft mit mehr Raum für Sinnlichkeit und Phantasie anvisierten und das Ende der Leistungsgesellschaft forderten. Dessen Erfolg war an den Erfolg seines erst 1964 erschienenen „One-Dimensional Man“ gebunden.101 „Eros and Civilization“ wurde rasch in zahlreiche Sprachen übersetzt, 1957 und 1965 ins Deutsche, 1963 ins Französische, 1964 ins Italienische, 1968 ins Schwedische und 1969 ins Niederländische. 1970 waren Bücher Marcuses „in nahezu allen Ländern des englischen, romanischen, deutschen und skandinavischen Sprachraums präsent“.102 Marcuse wurde in der Zeit der Studentenunruhen und von Gesellschaften, die für Reformen offen waren, breit aufgegriffen. „Eros and Civilization“ steht für die Vorstellung, dass eine Liberalisierung sexueller Beziehungen und eine repressionslose, lustbetonte Arbeitswelt unter veränderten gesellschaftlichen Bedingungen realisierbar seien – eine Vorstellung, die in weiten Teilen gesellschaftlichen Bedürfnissen entsprach. Begleitet wurde es von der Neuauflage anderer Werke, auch in Form von Raubdrucken, 99 Marcuse, Triebstruktur und Gesellschaft, 229f. 100 Marcuse, Triebstruktur und Gesellschaft, 230f. 101 Herbert Marcuse, The One-Dimensional Man. Studies in the Ideology of Advanced Industrial Society, Boston 1964. 102 Günter C. Behrmann, Kulturrevolution: Zwei Monate im Sommer 1967, in: Clemens Albrecht u. a. (Hg.), Die intellektuelle Gründung der Bundesrepublik. Eine Wirkungsgeschichte der Frankfurter Schule, Frankfurt a. M./New York 1999, 312–386, 379f.

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die Sexualität ins Zentrum politischer Diskussionen stellten, wie in erster Linie jene von Wilhelm Reich. Einen analytischen Zugang zur Geschlechtsliebe hatte weder Fromm noch Marcuse. Ihr Interessensspektrum umfasste primär die Auswirkungen von Liebe, Sexualität und Erotik auf das gesellschaftliche Zusammenleben, wenn auch in einer sehr unterschiedlichen Weise. Fromm beschäftigte sich in bewahrendem Sinne mit Geschlechterdifferenz, Marcuse blendete sie aus. Der Zusammenhang von Liebe und Macht, Liebe und Subjektwerdung geriet nicht oder kaum in ihr Blickfeld. Die Möglichkeit, auf diesen Zusammenhang aufmerksam zu werden, wäre nahe gelegen, denn 1953 war „The Second Sex“, die amerikanische Übersetzung von Simone de Beauvoirs „Le deuxième sexe“,103 erschienen. Wie in Frankreich wogte auch in den Vereinigten Staaten von Amerika die Empörung über diese Analyse des psychischen und sozialen Zustands von Frauen und der Machtverhältnisse in den Geschlechterbeziehungen. Allerdings war die Zeit des großen Erfolgs und der breiten Rezeption von „Das andere Geschlecht“ noch nicht gekommen. Eine Übersetzung verweist auf ein verlegerisches und intellektuelles Interesse größerer oder auch kleinerer sozialer Gruppen und auf die Möglichkeit, dieses zu realisieren, nicht aber auf eine breitere gesellschaftliche Rezeptionsfähigkeit oder -willigkeit. Von der katholischen Kirche auf den Index gesetzt, wurde das Buch dennoch in katholischen Zeitschriften kritisch rezensiert, so in Deutschland, Österreich und Spanien. Es war vor allem Beauvoirs Feststellung, dass Frauen nicht als Frauen geboren, sondern dazu gemacht würden, die vehementen Widerspruch hervorrief. Mit dieser Sichtweise stand Beauvoir im deutlichen Gegensatz zur christlichen Lehre, die vom göttlichen Ursprung der herrschenden Geschlechterordnung und der Geschlechterdifferenz ausging. In Spanien erschien die erste Übersetzung aus dem Französischen daher erst 1999. Aus anderen Gründen, aber mit denselben Folgen der späten Übersetzung, wurde eine russische Ausgabe erst 1998 veröffentlicht. Im Jahr 1989, einen Monat nach dem Mauerfall, kam in der Deutschen Demokratischen Republik eine Übersetzung auf den Markt.104 In den sozialistischen Ländern waren zumindest die politisch Verantwortlichen davon ausgegangen, die Geschlechterasymmetrie abgeschafft zu haben. 103 Simone de Beauvoir, Le deuxième sexe, 2 Bde, Paris 1949. 104 Vgl. Gloria Nielfa, La diffusion en Espagne, in: Christine Delphy u. Sylvie Chaperon (Hg.), Cinquantenaire du Deuxième sexe, Paris 2002, 453–459, 459; Svetlana Aȉvazova, Le deuxième sexe en russe: les aléas et les problèmes de la transmission, in: ebd., 482–487; Irene Selle, La publication en République démocratique allemande, in: ebd., 488–493.

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5.4 Selbstbestimmung und „Sexuelle Revolution“

In den 1960er und 1970er Jahren setzte der große Erfolg von Beauvoirs Buches in den USA und einem großen Teil Europas ein. Er entstand durch die Lesefreudigkeit der Frauenbewegung105 und durch eine weitere Buch-Konstellation. Betty Friedans 1963 erschienenes Buch „The Feminine Mystique“, das 1964 auf Französisch und 1966 auf Deutsch veröffentlicht wurde,106 wirkte durch seinen Bezug auf „Le deuxième sexe“ als Verstärker der Botschaft.107 Marcuses Erfolg in West- und Mitteleuropa setzte etwa zeitgleich ein und war Teil jener „[m]oralische[n], sexuelle[n] und politische[n] Rebellion“, die sich gegen die „Gesellschaft als Ganzes“ wandte, der Revolution von 1968.108 Beauvoir intendierte keine sexuelle Revolution in einem allgemeinen Sinn, sondern eine auch die Sexualität umfassende Bewusstwerdung von Frauen, die die Fähigkeit, die Grenzen des Ich aufzubrechen und den „Zugriff auf die Welt zu erweitern“, mit einschloss.109 Sie fokussierte auf den Binnen-Mikrobereich der Beziehungen zwischen den Geschlechtern und analysierte zahlreiche Fallgeschichten. Sie warf Schlaglichter auf die Asymmetrie der Geschlechterbeziehungen. Im Feld der Liebe würden Frauen die völlige „Selbstaufgabe zugunsten eines Herrn“ praktizieren.110 Sie definierten sich über die Beziehung zum Mann und über jene zu Kindern, „während das einzig authentische Verfahren darin besteht, es [das Leben, E.S.] frei auf sich zu nehmen“.111 Eine Veränderungsmöglichkeit dieser mentalen und sozialen Konstellation liegt aus der Sicht Beauvoirs nur in der Erwerbsarbeit: „Arbeit allein vermag ihr [der Frau, E.S.] eine konkrete Freiheit zu garantieren. […] Zwischen ihr und dem Universum braucht es dann keinen männlichen Mittler mehr.“112 Dennoch sei es schwierig, Autonomie in einer heterosexuellen Beziehung zu realisieren. Darin liege der Grund, warum Frauen oft eine lesbische Beziehung 105 Vgl. Kristina Schulz, D’un simple livre à la „bible“ du mouvement des femmes. Le deuxième sexe en République fédérale allemande, in: Delphy/Chaperon, Cinquantenaire du Deuxième sexe, 412–419. 106 Betty Friedan, Der Weiblichkeitswahn oder Die Mystifizierung der Frau, Reinbek bei Hamburg 1966 [orig.: The Feminine Mystique, New York 1963]. 107 Vgl. Rupa Mitra, Simone de Beauvoir et Betty Friedan: écho transatlantique, in: Delphy/ Chaperon, Cinquantenaire du Deuxième sexe, 440–446. 108 Ingrid Gilcher-Holtey, Die 68er Bewegung. Deutschland – Westeuropa – USA, München 20053, 54. 109 Simone de Beauvoir, Das andere Geschlecht. Sitte und Sexus der Frau, Reinbek bei Hamburg 1974, 607. 110 de Beauvoir, Das andere Geschlecht, 607. 111 de Beauvoir, Das andere Geschlecht, 507. 112 de Beauvoir, Das andere Geschlecht, 638.

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suchten, denn diese sei frei von Machtverhältnissen bzw. jede der Partnerinnen sei „Herrscherin und Sklavin zugleich“. Wenn die Gleichheit der Geschlechter verwirklicht würde, so fiele dieses Hindernis für das Eingehen einer heterosexuellen Beziehung.113 Lesbischen Beziehungen schrieb Beauvoir auch die Funktion eines Übergangsstadiums zu, in dem das Mädchen zur reifen Frau heranwuchs. Ihr Befund der Ehe hält einerseits die Notwendigkeit für die nicht erwerbstätige Frau fest, diese einzugehen, wobei sie auch die niedrige Entlohnung weiblicher Arbeiten ins Treffen führt – „Die Ehe ist eine vorteilhaftere Laufbahn als viele andere.“114 –, andererseits sei der Alltag der Ehe zwischen Haushalt und Sexualität unbefriedigend. Solange Frauen, die „sitzenbleiben“, als ein gesellschaftliches „Abfallprodukt“ gesehen werden, solange die „herkömmliche Moral“ Frauen dazu anhält, sich unterhalten zu lassen, behalte die Ehe ihre Vorrangstellung in den Karrieremustern für Frauen.115 Die ökonomischen Veränderungen, die Beauvoir bereits erkennen konnte, seien allerdings dabei, die „Ehe umzustürzen“. In Zukunft werden sich zwei autonome Persönlichkeiten frei vereinigen.116 Sowohl Marcuse als auch Beauvoir sahen in den gesellschaftlichen und ökonomischen Entwicklungen ihrer Zeit eine Chance für freiere Entfaltung menschlicher Kräfte. In diesem Punkt, nämlich im Fortschrittsglauben, überschneiden sich die beiden Konzepte von Beziehungen zwischen den Geschlechtern. Ansonsten überwiegen die Unterschiede, nicht nur in Hinblick auf Beauvoirs kritische Auseinandersetzung mit der Situation von Frauen und mit Geschlechterbeziehungen, sondern auch in Hinblick auf den Stellenwert von Sexualität. Von der Notwendigkeit einer „Sexuellen Revolution“ für die Herstellung einer neuen Gesellschaft war Wilhelm Reich bereits in den 1930er Jahren überzeugt. In seinem Buch „Die Sexualität im Kulturkampf. Zur sozialistischen Umstrukturierung des Menschen“,117 das 1968 in einem Raubdruck erschien, sah er die „Sexuelle Revolution“ in der frühen Sowjetunion verwirklicht, in der Folge jedoch Einschränkungen ausgesetzt. Vor dem Hintergrund des in Deutschland triumphierenden Nationalsozialismus hatte Reich den Zusammenhang von Politik, Gesellschaft und Sexualität entwickelt. „Der Lebensbejahung muss in ihrer 113 114 115 116 117

de Beauvoir, Das andere Geschlecht, 392, 386. de Beauvoir, Das andere Geschlecht, 403. de Beauvoir, Das andere Geschlecht, 401. de Beauvoir, Das andere Geschlecht, 399. Wilhelm Reich, Die Sexualität im Kulturkampf. Zur sozialistischen Umstrukturierung des Menschen, Kopenhagen 1936. Dies ist die zweite erweiterte Auflage von Geschlechtsreife, Enthaltsamkeit, Ehemoral, von 1930. Dieses Buch wurde 1934 als „La Crise sexuelle“ ins Französische übersetzt.

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subjektiven Form als Bejahung der Sexuallust und in ihrer objektiv gesellschaftlichen Form als sozialistischer Planwirtschaft zur subjektiven Bewusstheit und zur objektiven Entfaltung verholfen werden.“118 Die Herstellung von Lust- und Lebensbejahung ist daher eine politische, gesellschaftliche und didaktische Aufgabe und, jedenfalls zunächst, nicht lustbetont. Reich sieht Sexualität als die „produktive Lebensenergie“ schlechthin, wobei er sie mit „vagischer Erregung“ gleichsetzt. Um „seelische Massenerkrankungen“ – worunter Reich Führergläubigkeit, Resignation, Hörigkeit, Selbstschädigung versteht – zu verhindern, bedürfe es einer „sozialen Ordnung“ des Geschlechtslebens.119 Marcuse und Reich haben Sexualität zwar nicht in völlig neuen textuellen Zusammenhängen gedacht, aber in spezifischen gesellschaftlichen. Ihre Arbeiten bzw. deren Rezeption in West-, Mittel- und Nordeuropa sind Ausdruck des hohen kulturellen Stellenwertes der Sexualität in Gesellschaften, die an einer Liberalisierung nicht nur rechtlicher und politischer, sondern auch geschlechtlicher Beziehungen arbeiteten. Es ist eine Forschungsdebatte, ob die Zeit nach der Mitte der 1960er Jahre tatsächlich als Zeit der „Sexuellen Revolution“ bezeichnet werden kann. Der Begriff impliziert, dass die Zeit zuvor einen anderen, repressiven Begriff von Sexualität hatte. Mit der „Repressionshypothese“ setzte sich Michel Foucault 1976 auseinander und relativierte sie, indem er die Perspektive veränderte und auf den Zusammenhang von Diskurs über Sexualität, Macht und Lust verwies. Aus dieser Perspektive produziert auch die Repression ihre Rede über Sex und ihre eigenen Lüste. Was den Sex-Diskurs seiner Gegenwart betraf, so hat Foucault seine Verwunderung darüber geäußert, dass sich „die lyrische Begeisterung und die Religiosität, die lange Zeit das revolutionäre Projekt begleiteten, in den industriellen, abendländischen Gesellschaften weitgehend auf den Sex übertragen haben“.120 Der Sex stand im Zentrum utopischer Entwürfe. Die Geschichtswissenschaft hat eine Menge Material zusammengetragen um aufzuzeigen, dass die Diskussion über Sexualität schon in den 1950er und frühen 1960er Jahren neue Wege eingeschlagen hatte. Sie verwies auf die Kinsey Reports, die das Sexualverhalten von Amerikanern und Amerikanerinnen untersuchten, auf die Aufklärungsfilme Oswalt Kolles in Deutschland und auf die „Pille“, die neue und nicht mechanische Form der Empfängnisverhütung, die 1961 auf den Markt kam.121 Die hier besprochenen Schriften Herbert Mar118 119 120 121

Reich, Die Sexualität im Kulturkampf, 246, im Original gesperrt gedruckt. Reich, Die Sexualität im Kulturkampf, IX, VIII. Foucault, Sexualität und Wahrheit, 17. Vgl. Franz X. Eder, Die „Sexuelle Revolution“ – Befreiung und/oder Repression?, in: Bauer/Hämmerle/Hauch, Liebe und Widerstand, 397–414, 407f.

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cuses, Simone de Beauvoirs und Wilhelm Reichs wurden in den 1930er, 1940er und 1950er Jahren geschrieben. Wenn auch schon Ende des 19. Jahrhunderts die Sexualwissenschaften Sexualität in einen sozialen und wissenschaftlichen Kontext gestellt haben, der ihr einen sichtbaren Stellenwert verlieh, so ist ihre Anbindung an ein revolutionäres Projekt in den drei Jahrzehnten nach 1930 erfolgt, die aber erst in den 1960er Jahren an Sichtbarkeit gewann und breitere gesellschaftliche Resonanz erhielt. Die Überzeugung, dass Sexualität den zentralen Zugang zum Wissen über Menschen und dass ihre „Befreiung“ den Weg zu einer Gesellschaft eröffnet, die auf sozialer Gerechtigkeit und Arbeitsfreude beruht, sollte sich auf den Liebesdiskurs einschneidend auswirken. Er wurde als „Heuchelei“ und „Selbstbetrug“ demaskiert. „Die putzige Situation, daß eine Frau die Werbung eines Mannes ablehnt, weil er ‚nur‘ mit ihr schlafen will, ihn aber sofort erhört, sobald er die magischen Worte ‚Ich liebe dich‘ intoniert, ist für Menschen aus manchen anderen Kulturen ein Beweis der Heuchelei und des Selbstbetrugs unserer Kultur.“122 Ernest Bornemann, Analytiker und Sexualforscher, hat sich in dem kurzen Text mit dem Titel „Die sogenannte Liebe: Ein historischer Diskurs“, aus dem hier zitiert wurde, die Frage gestellt, wie sich denn Liebe von anderen Varianten des Paarungswunsches unterscheide, nämlich, „[d]adurch, daß sie diesen Wunsch auf ein bestimmtes Individuum einengt und an die Stelle objektiver und verifizierbarer Eigenschaften dieses Individuums (z. B. Temperament, Potenz, Kraft, Ebenmaß der Körperproportionen) subjektive, nicht verifizierbare setzt, die nur für den Liebenden ersichtlich sind und zum großen Teil von diesem in jenen hineingelesen werden“.123 Bornemann geht davon aus, dass Sexualität bzw. sexuelle Anziehung die objektiven Kriterien bei einer Partnerwahl darstellen würden. Als gesellschaftlichen Kontext, der die Liebe überhaupt erst als dominanten Bezugspunkt für Männer und Frauen geschaffen hat, sieht er die Kleinfamilie, den Bedeutungsverlust der Religion und der Politik. Liebe sei der letzte Glaube einer „agnostischen Zivilisation“.124 Bornemann war nicht der Einzige, der Geschlechterliebe für eine Heuchelei hielt und in den sexuellen Beziehungen die Wahrheit fand. Andere verbanden Geschlechterliebe als Teilelement bzw. Voraussetzung mit der Vaterlandsliebe. „Liebe macht blind – in dem geflügelten Wort steckt schon die halbe 122 Ernest Bornemann, Die sogenannte Liebe: Ein historischer Diskurs, in: Rolf Gindorf u. Erwin J. Haeberle (Hg.), Sexualität als sozialer Tatbestand. Theoretische und empirische Beiträge zu einer Soziologie der Sexualitäten, Berlin/New York 1986, 79–92, 79. 123 Bornemann, Die sogenannte Liebe, 79. 124 Bornemann, Die sogenannte Liebe, 84; vgl. auch das Kapitel „Die irdische Religion der Liebe“ von Ulrich Beck, in: ders./Beck-Gernsheim, Das ganz normale Chaos der Liebe, 222–266.

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Wahrheit ihrer politischen Macht. Wer liebt, merkt nicht, daß sein Interesse zu kurz kommt. Die andere Hälfte: Der Blinde muß lieben – denn es fehlt ihm die Erkenntnis, daß seine Unterdrückung ‚vernünftig‘ ist. Beide Seiten, zusammengesehen, liefern ein fertiges Bild bürgerlicher Herrschaftstechnik im ‚gewaltfreien‘ Zustand. Der Hebel ist die Liebe zu Land und Leuten; Erkenntnis und Interesse wirken auch, doch in engen Grenzen.“ „Bürgerliche Liebe ist immer ein ausschließendes, nie das universelle Gefühl. Überall durchziehen soziale Gräben die sentimentale Landschaft: Mann soll seine Frau lieben, nicht die des anderen; man soll den Nächsten lieben, nicht den Fernsten; man soll die eigene Arbeit lieben und nicht darauf schauen, ob darüber der andere seine verliert; man soll sein Land über alles lieben und dafür auch fremde vernichten etc.“125 Geschlechterliebe ist Teil der bürgerlichen Gesellschaft und stützt sie. Sie verstärkt die Instrumentalisierbarkeit der Bürger, denn sie geht nahtlos über in die Liebe zum eigenen Staat und zum nahe stehenden Nächsten. Die Dekonstruktion der „bürgerlichen“ Liebe war kein neues Phänomen, sie hat ihre eigene Geschichte, an der Charles Fourier, Friedrich Engels, August Bebel u. a. mitgewirkt haben. Sie steht aber nun in einem intertextuellen und sozialen Kontext, der sie wirkungsmächtig macht. Wie schon bei Simone de Beauvoir deutlich wurde, die allerdings selbst in einer Tradition der Liebeskritik stand, kritisierte der Feminismus zwar auch die „bürgerliche“ Liebe, aber unter ganz anderen Kriterien. Die Herrschaft des Mannes über die Frau, die in der Liebe einen spezifischen Ausdruck von Zuständigkeiten gewann, konstituierte den Fokus der Kritik. Sexualität stieg im Stellenwert der Diskussion vor allem in Verbindung mit Selbstbestimmung.126 Das war schon bei Simone de Beauvoir angeklungen, verstärkte sich jedoch im Verlauf der 1960er und 1970er Jahre. Selbstbestimmung umfasste nicht nur die Beziehung zu einem Partner, sondern auch die Bestimmung über den eigenen Körper, was in dem Slogan der 1970er Jahre „Mein Bauch gehört mir!“ einen Ausdruck fand. Diese ebenso in feministischer Literatur und in publizistischen Debatten wie in der Öffentlichkeit vertretene politische Forderungen der Frauenbewegung war erfolgreich. Sie sollte schließlich in weiten Teilen Europas, wenn auch mit unterschiedlichen Rechtsbestimmungen im Detail, zu einer Straffreiheit der Abtreibung in den ersten drei Monaten der Schwangerschaft führen und damit eine jahrhundertelange Tradition – unterbrochen nur von den Bestimmungen unmittelbar nach der Russischen Revolution – der Be125 Anne Drescher, Josef Esser u. Wolfgang Fach, Die politische Ökonomie der Liebe. Ein Essay, Frankfurt a. M. 1986, 7. 126 Vgl. Edith Saurer, Liebe, Geschlechterbeziehungen und Feminismus, in: L’Homme. Z.F.G. 8, 1 (1997), 6–20.

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strafung beenden.127 Die Erfindung der „Antibabypille“ hat das Postulat nach körperlicher Selbstbestimmung in einem weit höheren Ausmaß ermöglicht, als dies bis dahin der Fall gewesen war. Die Überlegungen der Feministinnen, die Privates und Politisches gleichstellten und damit Ehe- und Familienrecht sowie Sexualstrafrecht in den Bereich eines breiten öffentlichen Interesses hoben, wurden von den Diskussionen aus dem Umfeld der Studentenbewegung begleitet bzw. beeinflusst. Sowohl diese soziale Bewegung und in deren Folge die neuen Organisationen des Zusammenlebens in Kommunen als auch die Sexualwissenschaft waren von einer starken Skepsis gegenüber einem Liebeskonzept getragen, in dem sie ein Instrument der Herrschenden erblickten. Liebe wurde als „ideologisches Spiegelbild“ der Sexualität verstanden. „Sie ist sowohl Verinnerlichung der herrschenden Sexualordnung wie auch Überwachen dieser Ordnung – nicht nur Objekt der gesellschaftlichen Normierung, sondern auch deren Subjekt.“ 128 Liebe verhindert demnach sexuelle Freiheiten. In den 1980er Jahren verzichtete der Feminismus weiterhin auf eine (geschlechter-)politische Diskussion der Liebe; sein Interesse hatte sich auf die Thematisierung der Sexualität verschoben. Die Diskussionen wurden wie schon zuvor transnational geführt. Der Feminismus diskutierte Sexualität aber nicht nur im Zusammenhang mit Selbstbestimmung, sondern auch mit Gewalt.129 ***

127 Vgl. Jütte, Lust ohne Last. 128 Bornemann, Die sogenannte Liebe, 90. 129 Vgl. Shulamith Firestone, The Dialectic of Sex, London 1971; Catharine MacKinnon, ­Feminism, Marxism, Method and the State. Toward Feminist Jurisprudence, in: Signs 8, 4 (1983), 635–658.

Ausblick

An dieser Stelle endet das Manuskript des Buches. Edith Saurer wollte, einem früheren Inhaltsverzeichnis sowie ihren Notizen und Exzerpten nach zu schließen, im letzten Abschnitt dieses Kapitels hauptsächlich auf zwei Themenbereiche eingehen: auf die gleichgeschlechtliche Liebe sowie auf die Veränderungen im Verhältnis von Liebe und Arbeit seit den 1990er Jahren. Im Konzeptpapier zum Abschlusskapitel hat sie die provokante Frage gestellt, ob wir uns „auf dem Weg in die geschlechterlose Gesellschaft“ befinden. Anzeichen dafür ortete sie unter anderem in der „Sozialverwissenschaftlichung der Geschlechterbeziehungen“, in einer feministischen Definition von Liebe, die darin vornehmlich „eine Falle für Frauen“ sieht, in den neuen Reproduktionsmethoden, die den Geschlechtsverkehr nicht mehr erfordern, im Coming-out der Schwulen und Lesben, in den aus der Queer-Perspektive geführten Diskussionen über Geschlecht. Intensiv beschäftigt hat sie sich in diesem Zusammenhang mit dem Kapitel „The Discourse of the Couple“ aus dem 2005 erschienenen Buch von Joan Scott „Parité! Sexual Equality and the Crisis of French Universalism“.130 Scott geht darin vom Spannungsverhältnis zwischen den Anerkennungsansprüchen einzelner Gruppen und einer in den 1980er und 1990er Jahren in Frankreich als Antwort darauf entfalteten Rhetorik des Universalismus, im Sinne der Gleichheit aller vor dem Recht, aus. Virulent wurde die Frage des Umgangs damit vor allem in zwei Bereichen, die Scott in ihrer Analyse miteinander verknüpft: einerseits in Bezug auf die Gleichstellungspolitik zugunsten von Frauen und andererseits in Bezug auf die rechtliche Gleichstellung homosexueller Paare. Damit verbunden ist die Forderung nach Anerkennung von Differenz, in die ein weiteres Spannungsfeld eingelagert ist – jenes zwischen kategorialen Entitäten, die damit zugleich geschaffen bzw. zementiert werden, und dem Individualismus. Um die Frage von Universalismus und Differenz ging es sowohl in der Forderung nach einem Ende der Diskriminierung von Frauen in der Politik wie in der Forderung nach rechtlichem Schutz für homosexuelle Paare – jedoch wurden die davon Betroffenen auf unterschiedliche Weise adressiert: Die Gleichstellungsinitiative, das parité-Gesetz des Jahres 2000, schrieb eine 130 Joan Wallach Scott, Parité! Sexual Equality and the Crisis of French Universalism, Chicago/London 2005.

Ausblick

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geschlechterparitätische Besetzung von Kandidatenlisten bei Wahlen vor und zielte damit auf Frauen als abstrakte Individuen, während gleichgestellte Partnerschaftsmodelle für Homosexuelle die rechtliche und soziale Situation des Paares im Blick hatten – und zugleich die heterosexuelle Norm überschritten. Kontrovers geführt wurde die Debatte darüber im Kontext der Einführung des PaCS, des pacte civil de solidarité, den hetero- wie homosexuelle Paare in Frankreich seit Ende 1999 schließen können. Er inkludiert Verantwortung und Rechte, die jedoch hinsichtlich des Erbens, der Besteuerung sowie in Hinblick auf die soziale Absicherung weniger günstig sind als in einer Ehe. In ihren Notizen greift Edith Saurer einige Statements heraus: So unterstrich ein Berichterstatter im Jahr 1999, dass dem PaCS ein republikanischer Charakter zukomme, „which seeks to create a global and unified framework for couples of different sexes or of the same sex. It is the universalist principle of rights that leads us to reject all communitarian tendencies of the Anglo-Saxon type and so not to have a statute only for homosexual couples.“131 Ein sozialistischer Deputierter sah darin, demselben Tenor folgend, die Anerkennung dessen, dass die „Bindungen der Liebe universal“ seien.132 Dieser auf das Paar zentrierten Betonung der Universalität stand zum einen allerdings der Rekurs auf Geschlechtsunterschiede gegenüber, wenn es darum ging, Ausschlüsse zu legitimieren,133 zum anderen aber auch – wissenschaftlich unterfüttert – eine vehemente Verteidigung der Geschlechterdifferenz. Die Familiensoziologin Irène Théry sah in der Aberkennung aller Unterschiede eine Gefahr: „The passion for desymbolization“ sei „one of the most disturbing passions of our time“, denn die symbolische Ordnung gründe auf der Geschlechterdifferenz.134 Die Sozialanthropologin Françoise Héritier hatte Geschlechterdifferenz als primäre Differenz definiert, als eine fundamentale Opposition, „that allows us to think. Because to think is first of all to classify, to classify is first of all to differentiate, and the fundamental differentiation is based on the difference of the sexes.“135 Unsere Art zu denken basiere ebenso wie unsere soziale Organisation auf der Wahrnehmung der Geschlechterdifferenz – die damit zwar zu einer allen Kulturen und Gesellschaften gemeinsamen und damit universalen Kategorie wird, doch sei sie nicht auf homosexuelle Paare übertragbar. 131 132 133 134

Zit. nach Scott, Parité! Sexual Equality, 104. Zit. nach Scott, Parité! Sexual Equality, 106. Vgl. Scott, Parité! Sexual Equality, 109. Irène Théry, Le contrat d’union sociale en question, in: Esprit 10 (1997), 159–211, 170, zit. nach Scott, Parité! Sexual Equality, 110f. 135 Françoise Héritier, Aucune société n’admet de parenté homosexuelle. Interview mit Marianne Gomez, in: La Croix (9. November 1998), 16, zit. nach Scott, Parité! Sexual Equality, 111.

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Die in der unterschiedlichen Bewertung hetero- und homosexueller Paare angelegte Polarisierung erfuhr in der Debatte eine weitere Verstärkung, dadurch dass der Reproduktion eine zentrale Rolle zugeschrieben wurde.136 Der Versuch, die Norm der Zweigeschlechtlichkeit auf diese Weise einmal mehr festzuschreiben, umfasste aber noch vielmehr. Als paradigmatisch dafür kann ein Medienkommentar eines Psychiaters angesehen werden, der Homosexuellen die Liebesfähigkeit absprach: Homosexuelle Liebe, wenn man überhaupt davon sprechen könne, sei narzisstisch, „a love of self“.137 Die französische Historikerin und Schriftstellerin Mona Ozouf schloss aus der Heftigkeit der Reaktionen auf eine französische Besonderheit, die sie an der Komplementarität zwischen sexueller Differenz und nationalem Selbstverständnis festmacht: „Sexual difference, in the shape of the heterosexual couple, became a way of figuring national identity; protecting this couple then meant defending the values of the republic, maintaining the integrity of France.“ Im französischen Selbstbild seien Republikanismus und Geschlechterdifferenz untrennbar miteinander verflochten.138 Das Recht auf steuerliche, sozial- und erbrechtliche Gleichstellung homosexueller Partnerschaften, das Recht auf Eheschließung und Adoption für Homosexuelle steht weiterhin auf der Agenda europäischer Staaten. Die in zahlreichen Ländern gesetzten Schritte in diese Richtung sind das Ergebnis eines sich über mehrere Jahrzehnte erstreckenden Prozesses – wenn man bei den ersten Partnerschaftszertifikaten, wie sie in Dänemark 1989 eingeführt wurden, ansetzt. Dieser Prozess folgte unterschiedlichen Chronologien und erzielte bislang unterschiedlich weitreichende Resultate. Er wurde und wird immer wieder auch von heftigen Widerständen begleitet – sowohl von Seiten politischer Interessensvertreter und Entscheidungsträger wie auch von Seiten gesellschaftlicher Teilgruppen. In einem Textbaustein greift Edith Saurer die Frage des Rechts auf Adoption für homosexuelle Paare nochmals auf, da diese ein Feld aktueller Auseinandersetzung konstituiert, das auf einen breiteren Kontext verweist: Die in der jüngeren Vergangenheit insgesamt häufiger werdende Adoption stelle vor die Aufgabe einer Re-Definition genealogischer Bindungen sowie des Verhältnisses zwischen sozialer und biologischer Elternschaft und führe – was ebenso die künstliche Befruchtung durch Samenspenden betrifft – weiter zum Problem der Anonymität der Herkunft bzw. des Rechts darauf, diese zu kennen. Die ebenfalls umstrittene Leihmutterschaft sieht sie als ein Phänomen an, das die Mutterschaft in einer neuen Weise professionalisiert bzw. kommerzialisiert, wie 136 Scott verweist hier auf Sylviane Agacinski, Politique des sexes, Paris 1998. 137 Zit. nach Scott, Parité! Sexual Equality, 113. 138 Mona Ozouf, Les Mots des femmes: Essai sur la singularité française, Paris 1995, 395, zit. nach Scott, Parité! Sexual Equality, 115.

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dies zuvor – wenn auch anders gelagert – nur bei Ammen möglich gewesen war. Zu fragen ist in Anbetracht der Veränderung von Paarmodellen und Paarkonstellationen nicht zuletzt nach Veränderungen der Ehe als Institution. Edith Saurer resümiert: „Die Zivilehe, die Einführung der Ehescheidung in katholischen Ländern bzw. deren Liberalisierung hatten zahlreiche Beschränkungen hinweggefegt, die die freie Partnerwahl und Eheschließung zuvor beengt hatten. Aus diesen Maßnahmen ging der Nationalstaat gestärkt hervor, der auf kirchliche Einwände nur mehr begrenzt Rücksicht nehmen musste. Das Eheverbot der Religionsverschiedenheit entfiel, das lange Zeit die Definition des ‚Fremden‘ im Kontext der Ehe bestimmt hatte. Das Verbot der Heirat von Verwandten schrumpfte tendenziell auf die Angehörigen der geraden Linie zusammen, auf Eltern und Großeltern sowie Brüder und Schwestern. Wenn auch gewisse Unterschiede fortbestanden, so ist insgesamt doch ein erleichterter Zugang zur Ehe in den europäischen Ländern festzustellen. Dies sollte allerdings nicht den Rückzug des Staates aus den Eheangelegenheiten bedeuten, sondern eine Verlagerung der Kräfteverhältnisse.139 Darüber hinaus meldeten sich zahlreiche soziale Gruppen, die auf die Gestaltung der Ehe Einfluss nehmen wollten und konnten, etwa im Zusammenhang mit Aufenthaltsrechten oder gleichgeschlechtlichen Partnerschaften, zu Wort. Zugleich verlor die Ehe in Europa ihre zentrale Bedeutung – wenn diese auch immer unterschiedlich ausgeprägt gewesen ist – als Norm für das Zusammenleben von Männern und Frauen. Alleinleben wird möglich, nicht nur im Sinne einer grundsätzlichen gesellschaftlichen Anerkennung, sondern auch unter dem Aspekt der ökonomischen Möglichkeiten und der Aufwertung von Freundschaftsbeziehungen.“ Edith Saurer stellt schließlich die Frage, ob sich die europäischen Geschlechterbeziehungen im Zuge dieses Prozesses ähnlicher werden und welche Bedeutung dabei den innereuropäischen Migrationen wie auch den Zuwanderungen nach Europa zuzuschreiben ist. Die Diskussion über das Verhältnis von Liebe und Arbeit seit den 1990er Jahren sollte davon ausgehen, dass einerseits Arbeit und sozialer Aufstieg zentrale Orientierungsmomente darstellen und dass andererseits Geschlechterliebe – auch wenn vielen anderen Formen von Beziehungen große Relevanz zukommt – dennoch an oberster Stelle der Hierarchie der sozialen Beziehungen steht. Ein Novum sei, dass Frauen nie zuvor in der Weise einen sozialen Aufstieg über Arbeit erreichen konnten, wie dies in der jüngeren Vergangenheit der Fall ist. Doch gelte es, Spielregeln zu beachten, und weiterhin gäbe es eine ungleiche Verteilung 139 Vgl. dazu Paola Ronfani, Family Law in Europe, in: David I. Kertzer u. Marzio Barbagli (Hg.), The History of the European Family, Bd. 3: Family Life in the Twentieth Century, New Haven/London 2003, 113–151.

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von Chancen. Kommentieren wollte sie unter anderem den autobiographischen Roman „Lise du plat pays“, der das Leben einer französischen Arbeiterin im 20. Jahrhundert porträtiert.140 Lise erfährt Gewalt in ihrer ersten Ehe und Armut, die so groß ist, dass sie ihr erstes Kind zu ihr unbekannten Leuten geben muss. Doch schafft sie es letztlich, die Widrigkeiten des Lebens zu meistern. Edith Saurer konstatiert schließlich, dass die Diskussion über Liebe zwar seit den 1960er und 1970er Jahre nie wirklich zum Stillstand gekommen sei, dass jedoch die kritischen Stimmen dominant blieben – so dominant, dass sich Roland Barthes zu einer Verteidigung dieser Kommunikationsform veranlasst gesehen habe: „Die Notwendigkeit des vorliegenden Buches hängt mit der folgenden Überlegung zusammen: daß der Diskurs der Liebe heute von extremer Einsamkeit ist. Dieser Diskurs wird wahrscheinlich (wer weiß?) von Tausenden von Subjekten geführt, aber von niemandem verteidigt; er wird von den angrenzenden Sprachen vollständig in Stich gelassen: entweder ignoriert oder entwertet oder gar verspottet, abgeschnitten nicht nur von der Macht, sondern auch von ihren Mechanismen (Techniken, Wissenschaften, Künsten). Wenn ein Diskurs, durch seine eigene Kraft, derart in die Abdrift des Unzeitgemäßen gerät und über jede Herdengeselligkeit hinausgetrieben wird, bleibt ihm nichts anderes mehr, als der wenn auch winzige Raum einer Bejahung zu sein. Diese Bejahung ist im Grunde das Thema des vorliegenden Buches.“141 Edith Saurer würde Roland Barthes’ Bejahung des Diskurses der Liebe fraglos zustimmen. „Es kann,“ schrieb sie – und das soll das Schlusswort sein, „davon würde ich ausgehen, kein Zweifel daran bestehen, dass die Geschichte der Geschlechterliebe einen elementaren Bestandteil der Geschlechterbeziehungen darstellt und zwar primär über die Erinnerung. Die kontinuierlichen Erzählungen über Liebe sind Teil europäischer Kultur, aber auch der Ökonomie und Politik, des Rechts und der Theologie, um nur einige Felder anzuführen. Sie stellen einerseits ein zeitübergreifendes Netzwerk dar, aus dem sich auch jene Erzählungen nicht herauslösen können, die als Bruch gedacht sind, und andererseits eine Kodifikation zum Großteil ungeschriebenen Rechts, die eine Exegese im Alltagshandeln oder -lieben erfährt und aus der Bausteine entnommen und immer wieder neu zusammengesetzt werden. Allenthalben liegt darin aber auch die lange Dauer emotionaler Geschlechterordnungen verankert, verstärkt durch die Sehnsucht nach einem verlorenen Paradies. Diese Sehnsucht, die auf einer (ungefähren) Erinnerung beruht, produziert viele Bilder, nicht nur jene eines revolutionären, egalitären Anfangs, sondern auch jene der Rückkehr in vorgestellte Schutz- und Abhängigkeitsbeziehungen.“ 140 Louise Vanderwielen, Lise du plat pays. Roman, Lille 1983. 141 Barthes, Fragmente einer Sprache der Liebe, 13, im Original kursiv gedruckt.

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Register

A Abu Taleb, Mirza 46 Achkoska, Violeta 238 Améry, Jean 143 Anders, Günther 261f Anderson, Nancy F. 39 Arendt, Hannah 12 Arndt, Ernst Moritz 62 Arni, Caroline 136f Arthaber, Josef 39 Arthaber, Katharina 39 Atatürk, Kemal 27 Audenino, Patrizia 120 Augustine, Dolores L. 82 B Bachmann, Ingeborg 150 Badinter, Elisabeth 123 Balaz, Béla 149 Baldwin, Peter 156 Balocchi, Luigi 61 Barrera, Giulia 205 Barrett, Edward 32 Barrett, Elizabeth 32 Barthes, Roland 21, 276 Bartók, Béla 149 Bau, Antonia 29 Bebel, August 154, 240, 270 Beccaria, Cesare 109 Beccaria Manzoni, Giulia 109f Behar, Cem 117 Bellamy, Edward 104 Beneke, Ferdinand 59 Benjamin, Walter 264 Béraldi, Marie 147f Berchet, Giovanni 61, 62

Berding, Dietrich 30 Bloch, Iwan 138, 154, 164, 167–170 Blondel, Enrichetta 108–110, 114 Bock, Gisela 11f, 199 Bodichon, Barbara Leigh Smith 92, 100 Bolognese-Leuchtenmüller, Birgit 98 Borkowska, Teofila 126 Bornemann, Ernest 269 Botev, Nikolai 257f Bourget, Paul 146 Bowlan, Jeanne M. 203 Bras, Hilde 113 Braun, Lily 102 Brettell, Caroline B. 65, 68, 120 Brommer, Ingrid 118 Browning, Robert 32 Bucur, Maria 194, 196 Butler, Josephine 156 C Caird, Mona 133 Carlyle, Thomas 81 Chambige, Henri 146 Cobbe, Frances Power 169 Compagnoni, Giuseppe 45 Comtesse de Létil 148 Corbin, Alain 156, 162 Corday, Michel 158 Couvreur, André 158 Czarnowski, Gabriele 195, 198 D Dançiot, Eugénie 148 Daniel, Ute 177, 179, 181 Dannreuther, Regina 59 Darwin, Charles 169

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de Beauvoir, Simone 246, 265–267, 269f de Maupassant, Guy 162 de Rougemont, Denis 140 de Sénancour, Etienne Pivert 45f de Staël, Madame 22, 24–25f, 48–51 de Tracy, Antoine-Louis-Claude Destutt 52–54, 63 de Vries, Jan 97 Deledda, Grazia 42 Delille, Gérard 35 Dieste, Josep Lluís Mateo 203 Dinter, Artur 208f Dipper, Christof 216 Dittmar, Louise 57f Dix, Otto 151 Dörr, Gisela 102 Duben, Alan 117 Duden, Barbara 11f Durkheim, Émil 93–95 Dux, Günter 56 E Edelmann, Marek 224 Egloff, Elise 41 Eigruber, August 231 Engels, Friedrich 46, 270 F Falkson, Ferdinand 28 Fallend, Karl 232 Feuerbach, Ludwig 55, 173 Fichte, Johann Gottlieb 49, 60 Flachsland, Caroline 59 Flaubert, Gustave 139, 142f Fontane, Theodor 139 Forel, August 167 Foucault, Michel 18, 48, 166, 172, 268 Fourier, Charles 57f, 187, 263, 270 Fox, Robin 35 Freud, Sigmund 10f, 159, 170–173, 192 Freund, Elisabeth 228f Freund, Heinrich 187 Friedan, Betty 266

Register

Fromm, Erich 172, 261–263, 265 Frost, Ginger 46 G Gabrielli, Gianluca 204 Gay, Peter 19, 162, 167f Giddens, Anthony 13f Gilligan, Carol 245 Gillis, John 114 Ginzburg, Natalia 109f Gioia, Melchiorre 53f Gissing, George 93 Goffman, Erving 80, 162 Greis, Jutta 59 Groß, Otto 139 Grosz, George 151, 182 Gruner, Wolf 216 H Habermas, Rebekka 59 Hajnal, John 14, 107 Hammer Schärf, Hilda 179f Hämmerle, Christa 175 Harris, Ruth 147–149 Hausen, Karin 18, 50 Havelock Ellis, Henry 155, 167, 170 Healey, Dan 187 Heineman, Elizabeth 220, 226 Heinrich VIII. 36 Henle, Jacob 40f Herder, Johann Gottfried 59f Héritier, Françoise 273 Herzog, Dagmar 220 Hill, Isabel 22 Hirschauer, Stefan 16, 47 Hirschfeld, Magnus 167, 195 Hitler, Adolf 201, 218 Hofmann, Ida 139 Holthöfer, Ernst 66 Hörisch, Jochen 9 Howard, Ebenezer 102 Hull, Isabel 167 Hunt, Lynn 15 Hurwicz, Elias 145f

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Register

Huysmans, Joris-Karl 149 I Illouz, Eva 19 Imbonati, Carlo 109 J Jack the Ripper 150f Jünger, Ernst 182 K Kannonier-Finster, Waltraud 172 Kant, Immanuel 51 Kaplan, Marion 222 Karner, Christine 118 Key, Ellen 103 Klein, Viola 243 Klemperer, Eva 214f Klemperer, Victor 214f Klopstock, Friedrich Gottlieb 59 Klopstock, Meta 59 Kluckhohn, Paul 56 Kocka, Jürgen 95 Kok, Jan 113 Kolle, Oswalt 268 Kollontai, Alexandra 189–192 Kořalka, Jiří 63 Krebs, Angelika 11f Kristeva, Julia 9 Kronenberg, Salomon Jacob 28 Kundrus, Birthe 176f, 226, 231 Kutschker, Johann 105 L LaCapra, Dominick 142 Lafarge, Marie 149 Lamott, Franziska 173 Lange, Helene 236 Lanzinger, Margareth 66, 105 Lanz-Liebenfels, Jörg 208 Le Play, Fréderic 78–81, 99–101 Leake, William Martin 27 Leichter, Käthe 222f Leichter, Otto 222–224

Leo XIII. 117 Lessing, Theodor 70 Lévi-Strauss, Claude 34 Levine, Philippa 161 Lewis, Jane 234f Lievens, John 254 Lindenberg, Therese 214 List, Friedrich 13, 81, 93 Lombroso, Cesare 145 Lord Byron 49 Lorenzetti, Luigi 121 Loutfi, Anna 135 Lovett, William 89 Lübbings, Anne-Catherine 28 Luhmann, Niklas 17, 21, 50, 54 M Madame Grille 146 Mantegazza, Paolo 170, 196 Manzoni, Alessandro 108f, 111f, 115 Manzoni, Enrico 108, 111f Manzoni, Filippo 111f Manzoni, Matilde 112 Manzoni, Pietro 109f, 112 Manzoni, Vittoria 108, 110, 112 Marcuse, Herbert 260f, 263–269 Marcuse, Max 170 Maria Theresia 26 Marx, Karl 81, 153f Mayreder, Rosa 170 McLaren, Angus 116 Medick, Hans 17 Mehlmann, Sabine 171 Mereau, Sophie 54 Merkel, Heinrich Eibert 59 Meyer, Iris 246f Michelet, Jules 41 Miechura, Therese 63 Mill, John Stuart 80, 134, 169 Minghetti, Marco 61 Mitterauer, Michael 15, 66 Moeller, Robert 235 Möhring, Maren 197 Möller, Friederike 28

316

Moretti, Franco 23, 25 Moutzan-Martinengou, Elisavet 32f Mozzoni, Anna Maria 69 Musik, Erna 218f Myrdal, Alva 243 N Napoleon 147 Napoleon III. 144 Nippel, Franz Xaver 70 O Oedenkoven, Henri 139 Oosterhuis, Harry 165f Ortner, Johann 67 Ossipow, Laurence 257 Otto-Peters, Luise 83 Ozouf, Mona 274 P Palacký, František 63 Pankhurst, Christabel 156 Pappenheim, Bertha 160 Passerini, Luisa 20 Pateman, Carole 153f Patmore, Coventry 101 Patriarca, Silvia 98 Paul, Jean 223 Pedersen, Susan 176 Pinard, Adolphe 196 Pinard, Ernest 142 Pirani Cardosi, Clara 217 Pius XI. 117 Platon 58 Pontamione, Angelo 29 Popp, Adelheid 138 Proust, Marcel 165 Puccinelli, Giuseppe 205 Pushkareva, Natalia 135 B Qualtinger, Helmut 118 Qualtinger, Ida 118

Register

R Reddy, William 76 Rehbein, Franz 91 Reich, Wilhelm 265, 267–269 Reik, Theodor 172 Renner, Karl 90 Rodgers, Lina 232 Roll-Hansen, Nils 200 Romagnosi, Gian Domenico 19, 74, 92 Rose, Sonya O. 90 Rossini, Gioacchino 61 Rouette, Susanne 181 Russell, Bertrand 185f, 192 Russell Hochschild, Arlie 244 Russett, Cynthia Eagle 169 S Sabean, David Warren 17, 37, 39, 73 Sachse, Carola 226 Sand, George 192 Sartre, Jean-Paul 246 Saurer, Edith 272–276 Schabert, Ina 25 Schapowal, Jewdokia 227f Schärf, Adolf 179f Schelsky, Helmut 239 Schiffauer, Werner 255 Schlegel, Dorothea 22 Schlegel, Friedrich 49, 56 Schlegel-Schelling, Caroline 54 Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst 55 Schüler-Springorum, Stefanie 224 Schulte, Regina 70, 163 Schultz, Johannes 221 Schumann, Robert 33 Scott, Joan 272 Seccombe, Wally 114 Simmel, Georg 153 Smelser, Neil J. 10f Smith, Mary 98 Soumet, Alexandre 61 Spencer, Herbert 81 Stendhal 9, 13, 48–52

317

Register

Stites, Richard 187f Stöcker, Helene 138f, 170, 189 Stoltzfus, Nathan 214, 216 Stone, Lawrence 141 Stopes, Mary 116 Studer, Brigitte 241 Sturm, Margit 179 Sutter, Gaby 241 Svanström, Yvonne 157 Szobar, Patrizia 220 T Tarde, Gabriel 146 Tebbutt, Melanie 88 Thébaud, Françoise 173, 178, 182 Théry, Irène 273 Theweleit, Klaus 39, 42, 182 Thomas, William 128 Tolstoj, Nikolaj 139 Trollope, Anthony 39 Trudgill, Eric 162 V Vales, Bohuslaw 232 Veit, Dorothea 54 Villermé, Louis-René 75–77 Vogel, Ursula 70 von Baader, Franz 56 von Krafft-Ebing, Richard 164–166 von Roten, Peter 246 von Stuck, Franz 182f von Zeiller, Franz 30 Voss, Egon 140 W Wagner A. Richard 257f Wagner, Richard 140 Waldis, Barbara 257 Walkowitz, Judith 19, 77, 150f Wanrooij, Bruno 204 Webb, Beatrice 12, 92 Webb, Sydney 12, 92 Wecker, Regina 241 Wellendorf, Franz 172f

Werbner, Pnina 256 Wertheimer, Jürgen 149f Wieck, Clara 33 Wiszniewski, Władek 128–130 Wohlrab-Sahr, Monika 255 Woolf, Virginia 101 Wunder, Heide 12 Z Zaudiè, Ascalè 205 Zetkin, Clara 236 Ziegler, Meinrad 172 Zimmermann, Susan 102 Znaniecki, Florian 128 Zola, Émile 158

HISTORISCHE ANTHROPOLOGIE KULTUR – GESELLSCHAFT – ALLTAG HERAUSGEGEBEN VON G. ALGAZI, C. ARNI, S. BURGHARTZ, P. BURSCHEL, M. FÜSSEL, R. HABERMAS, B. JUSSEN, G. KRÜGER, L. KUCHENBUCH, B. KUNDRUS, E. LANDSTEINER, M. LANZINGER, A. LÜDTKE, S. PALETSCHEK, N. SCHINDLER, R. SCHULTE, J. TANNER, S. TEUSCHER, B. WAGNER-HASEL, M. WILDT

Die Vielfalt und Widersprüchlichkeit historischer Praxis, in der die Menschen sich Welt aneignen, steht im Blickpunkt der Zeitschrift „Historische Anthropologie“. Befindlichkeiten und Einstellungen, Deutungen und Imaginationen, Verhaltens- und Handlungsweisen sollen in ihren historisch-sozialen Bezügen untersucht und dargestellt werden. Die „Historische Anthropologie“ bietet ein Forum für die wissenschaftliche Diskussion aktueller Themen und neuer Zugangsweisen zur Geschichte von der Antike bis zur Gegenwart. BAND 21,3 (2013)

BAND 21,1 (2013)

SUSANNA BURGHARTZ,

FELIX BRAHM, ANGELIKA EPPLE,

SYLVIA PALETSCHEK (HG.)

REBEKKA HABERMAS (HG.)

OKKULTISMUS

LOKALITÄT UND TRANSNATIONALE

2013. IV, 315-476 S. 12 S/W-ABB. BR.

VERFLECHTUNGEN

ISBN 978-3-412-22195-9

2013. IV, 154 S. 12 S/W-ABB. BR. ISBN 978-3-412-21085-4

BAND 21,2 (2013) PETER BURSCHEL,

ERSCHEINUNGSWEISE:

BIRTHE KUNDRUS (HG.)

DREIMAL JÄHRLICH

DIPLOMATIEGESCHICHTE

ISSN 0942-8704

2013. IV, S. 155-314. 3 S/W-ABB. BR.

EINZELHEFT: € 24,90 [D] | € 25,60 [A]

ISBN 978-3-412-22194-2

JAHRGANG: € 65,00 [D] | € 66,90 [A] STUDIERENDE: € 39,00 [D] | € 41,10 [A] ERSCHEINT SEIT 1993

böhlau verlag, ursulaplatz 1, d-50668 köln, t: + 49 221 913 90-0 [email protected], www.boehlau-verlag.com | wien köln weimar

L’HOMME EUROPÄISCHE ZEITSCHRIFT FÜR FEMINISTISCHE GESCHICHTSWISSENSCHAFT HERAUSGEGEBEN VON: C. ARNI, G. BARTH-SCALMANI, I. BAUER, M. BOSCH, S. BURGHARTZ, B. CHOLUJ, C. HÄMMERLE, G. HAUCH, H. HAVELKOVÁ, U. KRAMPL, M. LANZINGER, S. MASS, C. OPITZ-BELAKHAL, R. SCHULTE, G. SIGNORI, C. ULBRICH

L’HOMME

erscheint seit 1990 als erste deutschsprachige Zeitschrift für

feministische Geschichtswissenschaft. In Themenheften werden Forschungsprobleme und Forschungsergebnisse der Frauen- und Geschlechtergeschichte vom Mittelalter bis in die jüngste Vergangenheit erörtert. Neben deutschen werden auch englische Texte veröffentlicht sowie Übersetzungen aus anderen Sprachen. Ein Anliegen der Zeitschrift ist es, die verschiedenen Wissenschaftskulturen sichtbar zu machen. BAND 24,2 (2013)

BAND 23,2 (2012)

CLAUDIA ULBRICH, GABRIELE JANCKE

ALMUT HÖFERT, CLAUDIA OPITZ-

UND MINEKE BOSCH (HG.)

BELAKHAL, CLAUDIA ULBRICH (HG.)

AUTO/BIOGRAPHIE

GESCHLECHTERGESCHICHTE GLOBAL

2013. 170 S. 4 S/W-ABB. BR.

2012. 164 S. 1 S/W-ABB. BR.

ISBN 978-3-412-22154-6

ISBN 978-3-412-20897-4

BAND 24,1 (2013)

ERSCHEINUNGSWEISE: HALBJÄHRLICH

CHRISTA HÄMMERLE, INGRID BAUER (HG.)

ISSN 1016-362X

ROMANTISCHE LIEBE

EINZELHEFT: € 24,90 [D] | € 25,60 [A]

2013. 174 S. BR.

JAHRGANG: € 44,90 [D] | € 45,90 [A]

ISBN 978-3-412-21076-2

STUDIERENDE: € 29,90 [D] | € 30,50 [A] ERSCHEINT SEIT 1990

böhlau verlag, ursulaplatz 1, d-50668 köln, t: + 49 221 913 90-0 [email protected], www.boehlau-verlag.com | wien köln weimar

CHRISTINA VON BRAUN, INGE STEPHAN (HG.)

GENDER@WISSEN EIN HANDBUCH DER GENDER-THEORIEN (UTB 3926 M)

Gender@Wissen hat sich seit seinem ersten Erscheinen 2005 zu einem Standardwerk entwickelt. Jetzt liegt das Studienbuch in einer dritten überarbeiteten und erweiterten Auflage vor. Zu den ursprünglich zwölf thematisch geordneten Beiträgen über zentrale Wissensfelder wie Identität, Körper, Zeugung, Reproduktion, Sexualität, Gewalt, Globalisierung, Repräsentation, Lebenswissenschaften, Natur, Sprache und Gedächtnis treten in der dritten Auflage drei weitere über Rassismus, Geld und Mythos. Die abschließenden fünf Beiträge zu Postmoderne, Queer Studies, Postcolonial Theory, Media Studies und Cultural Studies situieren das komplexe Verhältnis von Geschlecht und Wissen in übergreifenden theoretischen Kontexten und Debatten. Dieser Titel liegt auch für eReader, Tablet und Kindle vor. 3. ÜBERARBEITETE UND ERWEITERTE AUFLAGE 2013. 559 S. BR. 215 X 150 MM | ISBN 978-3-8252-3926-8 | eISBN 978-3-8463-3926-8

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