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German Pages [190] Year 2018
ZEITGESCHICHTE
Ehrenpräsidentin: em. Univ.-Prof. Dr. Erika Weinzierl († 2014) Herausgeber : Univ.-Prof. DDr. Oliver Rathkolb Redaktion: em. Univ.-Prof. Dr. Rudolf Ardelt (Linz), ao. Univ.-Prof.in Mag.a Dr.in Ingrid Bauer (Salzburg/ Wien), SSc Mag.a Dr.in Ingrid Böhler (Innsbruck), Dr.in Lucile Dreidemy (Toulouse), Prof. Dr. Michael Gehler (Hildesheim), ao. Univ.-Prof. i. R. Dr. Robert Hoffmann (Salzburg), ao. Univ.Prof. Dr. Michael John / Koordination (Linz), Assoz. Univ-Prof.in Dr.in Birgit Kirchmayr (Linz), Dr. Oliver Kühschelm (Wien), Univ.-Prof. Dr. Ernst Langthaler (Linz), Dr.in Ina Markova (Wien), Univ.-Prof. Mag. Dr. Wolfgang Mueller (Wien), Univ.-Prof. Dr. Bertrand Perz (Wien), Univ.-Prof. Dr. Dieter Pohl (Klagenfurt), Dr.in Lisa Rettl (Wien), Univ.-Prof. Mag. Dr. Dirk Rupnow (Innsbruck), Mag.a Adina Seeger (Wien), Ass.-Prof. Mag. Dr. Valentin Sima (Klagenfurt), Prof.in Dr.in Sybille Steinbacher (Frankfurt am Main), Dr. Christian H. Stifter / Rezensionsteil (Wien), Univ.Doz.in Mag.a Dr.in Heidemarie Uhl (Wien/Graz), Gastprof. (FH) Priv.-Doz. Mag. Dr. Wolfgang Weber, MA, MAS (Vorarlberg), Mag. Dr. Florian Wenninger (Wien), Ass.-Prof.in Mag.a Dr.in Heidrun Zettelbauer (Graz). Peer-Review Committee (2018–2020): Ass.-Prof.in Mag.a Dr.in Tina Bahovec (Institut für Geschichte, Universität Klagenfurt), Prof. Dr. Arnd Bauerkämper (Fachbereich Geschichts- und Kulturwissenschaften, Freie Universität Berlin), Günter Bischof, Ph.D. (Center Austria, University of New Orleans), Dr.in Regina Fritz (Institut für Zeitgeschichte, Universität Wien/Historisches Institut, Universität Bern), ao. Univ.Prof.in Mag.a Dr.in Johanna Gehmacher (Institut für Zeitgeschichte, Universität Wien), Univ.Prof. i. R. Dr. Hanns Haas (Universität Salzburg), Univ.-Prof. i. R. Dr. Ernst Hanisch (Salzburg), Univ.-Prof.in Mag.a Dr.in Gabriella Hauch (Institut für Geschichte, Universität Wien), Univ.-Doz. Dr. Hans Heiss (Institut für Zeitgeschichte, Universität Innsbruck), Robert G. Knight, Ph.D. (Department of Politics, History and International Relations, Loughborough University), Dr.in Jill Lewis (University of Wales, Swansea), Prof. Dr. Oto Luthar (Slowenische Akademie der Wissenschaften, Ljubljana), Hon.-Prof. Dr. Wolfgang Neugebauer (Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstandes, Wien), Mag. Dr. Peter Pirker (Institut für Staatswissenschaft, Universität Wien), Prof. Dr. Markus Reisenleitner (Department of Humanities, York University, Toronto), Dr.in Elisabeth Röhrlich (Institut für Geschichte, Universität Wien), Univ.-Prof.in Dr.in Karin M. Schmidlechner-Lienhart (Institut für Geschichte/Zeitgeschichte, Universität Graz), Univ.-Prof. i. R. Mag. Dr. Friedrich Stadler (Wien), Assoc.-Prof. Dr. Gerald Steinacher (University of Nebraska), Ass.-Prof. DDr. Werner Suppanz (Institut für Geschichte/Zeitgeschichte, Universität Graz), Univ.-Prof. Dr. Philipp Ther, MA (Institut für Osteuropäische Geschichte, Universität Wien), Prof. Dr. Stefan Troebst (Leibniz-Institut für Geschichte und Kultur des östlichen Europa, Universität Leipzig), Prof. Dr. Michael Wildt (Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin).
zeitgeschichte 45. Jg., Heft 3 (2018)
Landwirtschaft und Ernährung im Nationalsozialismus Herausgegeben von Ernst Langthaler und Ina Markova
V& R unipress Vienna University Press
Inhalt
Ernst Langthaler/Ina Markova Editorial . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269
Artikel Gesine Gerhard Nie wieder Kohlrüben! Nationalsozialistische Ernährungspolitik im Zeichen des Zweiten Weltkrieges . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 Ernst Langthaler Völkischer Produktivismus. Nationalsozialismus und Agrarmodernisierung im Reichsgau Niederdonau 1938–1945 . . . . . . . 293 Ulrich Schwarz-Gräber „Gläserne Bauern“. Prinzipal-Agent-Probleme nationalsozialistischer Agrarpolitik am Beispiel der Regulierung der landwirtschaftlichen Pacht
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Gerhard Siegl Vom „österreichischen Problem“ zum „nationalen Heiligtum“. Die österreichische Berglandwirtschaft in der NS-Zeit . . . . . . . . . . . 343 Georg Weissenböck „Blut und Boden“-Kultur? Agrarwissenschaftliche Dissertationen an der Wiener Hochschule für Bodenkultur 1938–1945 . . . . . . . . . . . . . . 365
268
Inhalt
zeitgeschichte extra Melanie Dejnega Nationalsozialismus und Zwangsmigration. Opferidentität und (Mit-)Täterschaft in lebensgeschichtlichen Interviews mit „volksdeutschen“ Evakuierten, Geflüchteten und Vertriebenen in Österreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 391 Abstracts
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 423
Rezensionen Jirˇ& Pesˇek Thomas Winkelbauer (Hg.), Haus? Geschichte? Österreich?
. . . . . . . 429
Ljiljana Radonic´ Jacob S. Eder/Philipp Gassert/Alan E. Steinweiss, Holocaust Memory in a Globalizing World . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 433
Nachrufe Manfred Mugrauer Hans Hautmann (1943–2018), ein Nachruf . . . . . . . . . . . . . . . . . 439 Oliver Rathkolb Gerhard Jagschitz (1940–2018), ein persönlicher Nachruf . . . . . . . . . 441 Autor/innen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 443 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 445
Editorial
Landwirtschaft und Ernährung sind in der Forschung zum Nationalsozialismus in den letzten Jahren von ihrer randständigen Position in Richtung Zentrum gerückt. Das zeigen etwa Arbeiten zur deutschen Vernichtungspolitik gegen die jüdische und slawische Bevölkerung Osteuropas, zur Inklusion in die und Exklusion aus der nationalsozialistischen „Volksgemeinschaft“ sowie zur Rolle der Wissenschaften im „Dritten Reich“. Gemeinsam ist diesen Studien, dass sie zentrale Aspekte nationalsozialistischer Herrschaft und der Alltagspraxis der davon erfassten Bevölkerungsgruppen durch das Prisma von Landwirtschaft und Ernährung betrachten. Während die internationale Forschung zum Nationalsozialismus aus der Landwirtschafts- oder Ernährungsperspektive bereits vor Jahrzehnten angelaufen war, ließen größere Arbeiten in Österreich länger auf sich warten. Entsprechendes Interesse erweckte am Österreichischen Historikertag 2015 in Linz das Panel „Neue Forschungen zur Agrargesellschaft im Nationalsozialismus“, das vier laufende oder kürzlich abgeschlossene Diplomarbeits-, Dissertationsund Habilitationsprojekte zur Landwirtschaft im Nationalsozialismus präsentierte. Die daraus entstandenen Beiträge bilden den Kern des vorliegenden Themenheftes. Sie wurden ergänzt um einen internationalen Beitrag zur Ernährung im „Dritten Reich“. Den Auftakt setzt der Aufsatz von Gesine Gerhard, der zentrale Thesen ihrer kürzlich erschienenen Monografie Nazi Hunger Politics präsentiert. Die Autorin sieht Nahrung als ein wichtiges Regulativ der nationalsozialistischen „Volksgemeinschaft“: Nahrung diente einerseits zur Mobilisierung der „Volksgenossen“ für das Regime, andererseits aber auch als Waffe im Kampf gegen die nach rassistischen Kriterien aus der „Volksgemeinschaft“ Ausgeschlossenen. Der Beitrag von Ernst Langthaler verdichtet die Ergebnisse seiner Monografie Schlachtfelder, die erstmals zentrale Interaktionsfelder zwischen NS-Regime und Agrargesellschaft in der Ostmark beleuchtet. Am Beispiel des Reichsgaues Niederdonau revidiert der Autor die konventionelle Sichtweise der NS-Ära als Zwischenspiel oder Rückschritt. Vielmehr handelte es sich um eine Schwellen-
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zeit der Agrarmodernisierung, die weniger in technischer als in institutioneller Hinsicht nachhaltige Wirkung entfaltete. Der Artikel von Ulrich Schwarz-Gräber, der ebenfalls am Reichsgau Niederdonau ansetzt, thematisiert die Durchstaatlichung der Agrargesellschaft am Beispiel der landwirtschaftlichen Pacht. Anhand der Hofakten einer Region enthüllt er die mehr oder weniger subtilen Machttechniken des Reichsnährstandes als „Prinzipal“ gegenüber dem „gläsernen Bauern“ als dessen „Agent“. Der Beitrag von Gerhard Siegl, der auf seiner Monografie Bergbauern im Nationalsozialismus beruht, betont neben der ökonomischen Förderung der Berglandwirtschaft die ideologische Rolle des Bergbauerntums als „rassisches“ Rückgrat des „deutschen Volkes“. Dabei seien nicht die Arbeits- und Lebensverhältnisse der Menschen auf den Höfen, sondern die Interessen des NS-Regimes im Mittelpunkt gestanden. Den Schlusspunkt setzt der Aufsatz von Georg Weissenböck, der anhand der Dissertationen an der Wiener Hochschule für Bodenkultur die Agrarwissenschaften im Nationalsozialismus beleuchtet. Er rekonstruiert ein Diskursfeld, in dem sich verschiedene Forschungsansätze im Spannungsfeld von Grundlagenund Anwendungsforschung sowie Ökonomie- und Ideologieorientierung positionieren. Außerhalb des Themenschwerpunkts setzt sich Melanie Dejnega in ihrem Beitrag mit Interviews mit „volksdeutschen“ Evakuierten, Geflüchteten und Vertriebenen in Österreich nach 1944 auseinander, die sie in einer Grauzone zwischen Opferidentitäten und Zugeständnissen der Mittäterschaft ansetzt. Insgesamt wirft das vorliegende Themenheft nicht nur neues Licht auf einen scheinbar altbekannten Gegenstand, sondern vermag auch Anregungen für weitere Forschungen zur Landwirtschaft und Ernährung im Nationalsozialismus zu liefern.
Artikel
Gesine Gerhard
Nie wieder Kohlrüben! Nationalsozialistische Ernährungspolitik im Zeichen des Zweiten Weltkrieges
I.
Einleitung
Ich erinnere mich gut, wie meine Mutter eines Tages mit einem großen Stück Butterkuchen in der Hand von ihrem Arztbesuch zurückkam und verkündete, dass sie weiterhin Butter essen würde, egal wie hoch ihr Cholesterinspiegel sei. Der Arzt könne ja wohl nicht allen Ernstes erwarten, dass sie auf Butter verzichten würde. Ich habe damals nur gedacht, lecker, jetzt gibt’s Butterkuchen! Als Achtjährige habe ich der Episode keine weitere Bedeutung beigemessen. Aber heute weiß ich, dass die Reaktion meiner Mutter durch ihre Kindheit während und unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg geprägt war. Ihre eigene Mutter, die als Kriegswitwe die vier Kinder in einer Flüchtlingswohnung aufzog, konnte sich zehn Jahre lang nur Margarine leisten, bis sie eines Tages beschloss, wie die „Bonzen“ nur noch Butter aufs Brot zu schmieren. Die „gute Butter“ war ein Zeichen des Wohlbefindens und der sozialen Stellung, und sie war aus dem täglichen Bedarf nicht wegzudenken. Die Zeit des Nationalsozialismus hat die Essensgewohnheiten einer ganzen Generation von Deutschen in nachhaltiger Weise geprägt – mehr, als es sich die Nachkriegsgenerationen klargemacht haben. Die Liebe zur Butter und zum Quark, die Vielzahl von Eintopfgerichten, aber auch die Abneigung gegen Kohlrüben und Margarine und nicht zuletzt die geradezu einmalige Bedeutung des Vollkornbrotes in der Ernährung der Deutschen müssen in diesem Zusammenhang verstanden werden.1 Darüber hinaus fanden auch bestimmte Essens- und Haushaltsgewohnheiten in den zwölf Jahren der NS-Zeit weite Verbreitung – wie etwa die Resteverwertung, das Beeren- und Pilze sammeln (bis heute eine beliebte Freizeitbeschäftigung der Deutschen), das Einkochen von 1 Für einen Überblick über die Geschichte der deutschen Ernährungsgewohnheiten, siehe Ursula Heinzelmann, Beyond Bratwurst. A History of Food in Germany, London 2014. Für die Zeit des Nationalsozialismus siehe u. a. Nancy Reagin, Tischkultur : Food Choices, Cooking and Diet in Nazi Germany, in: Lisa Pine (Hg.), Life and Times in Nazi Germany, London 2016, 21–47.
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Marmelade (in den USA gibt es nicht einmal Gelierzucker), der noch im 21. Jahrhundert vereinzelt anzutreffende Kartoffelkeller, und in gewisser Hinsicht auch die stete Bemühung aus Sparsamkeit nichts verderben zu lassen. Natürlich hat der Nationalsozialismus diese Gewohnheiten nicht erfunden, sie waren bereits seit dem 19. Jahrhundert Tradition im deutschen Lebensstil.2 Ihre bewahrende und durchschlagende Wirkung erhielten sie aber erst in der verhältnismäßig kurzen und diktatorischen Herrschaft des „Dritten Reiches“. Das NS-Regime verstand es, in einer geschickten Mischung aus Versprechen auf einen verbesserten Lebensstandard und staatlicher Repression, die Lebensmittelversorgung zu einer der wichtigsten Legitimitätsgrundlagen des Regimes zu machen. Wer, was und wann man essen bzw. einkaufen konnte wurde zu einem Identitätsmarker der „Volksgemeinschaft“, der „Juden“ und andere als „soziale Außenseiter“ Gebrandmarkte ausschloss.3 Für die NSDAP stellte der Eingriff in die Lebensmittelversorgung und Ernährungsgewohnheiten den direktesten Zugang zur Bevölkerung dar. Eine erfolgreiche Ernährungspolitik war unerlässlich für die Machtbasis der NSDAP und diente nicht zuletzt der wirtschaftlichen Vorbereitung auf den Krieg. Dass die Ernährungspolitik für die Politik des NS-Regimes eine so große Bedeutung hatte, ist an der Stellung der Agar-und Ernährungspolitiker zu erkennen, die zum engsten Kreis um Adolf Hitler gehörten.4 Staatsminister im Reichsministerium für Ernährung und Landwirtschaft Herbert Backe, der in Agrarfragen die Fäden zog, lange bevor er seinen Chef, den Agrarminister Richard Walther Darr8, offiziell ablöste, war von Anfang an in die geheimen Kriegsvorbereitungen des sogenannten Barbarossafeldzugs eingeweiht,5 denn Hitler verließ sich für alle wichtigen Entscheidungen auf Backes Expertise in Ernährungsfragen.6 Bereits 1936 hatte Hermann Göring Backe als Ernährungsfachmann in die Vierjahresplanbehörde berufen, da dieser sich durch seine 2 Heinzelmann, Beyond Bratwurst. 3 Siehe Robert Gellately/Nathan Stoltzfus (Hg.), Social Outsiders in Nazi Germany, Princeton 2001. Zum Thema Hauswirtschaft und nationale Identität, insbesondere im Hinblick auf Geschlechterrollen, siehe Nancy Reagin, Sweeping the German Nation: Domesticity and National Identity in Germany, 1870–1945, Cambridge 2007. 4 Das Standardwerk zur Ernährungs- und Agrarpolitik im Nationalsozialismus ist nach wie vor Gustavo Corni/Horst Gies, Brot–Butter–Kanonen. Die Ernährungswirtschaft in Deutschland unter der Diktatur Hitlers, Berlin 1997. 5 Siehe Gesine Gerhard, Food and Genocide: Nazi Agrarian Food Policy in the Occupied Territories of the Soviet Union, in: Contemporary European History 18 (2009) 1, 45–65; Alex J. Kay, Exploitation, Resettlement, Mass Murder : Political and Economic Planning for German Occupation Policy in the Soviet Union, 1940–1941, New York 2006. 6 In Ursula Backes Tagebüchern findet sich eine Notiz, wonach Hitler nach einem Vortrag über Besatzungsfragen nur gefragt habe: „Was sagt da Backe? Was sagte Backe? Was sagt Backe?“ Siehe Tagebuch Eintrag Juli 1941 (genaues Datum unbekannt), Bundesarchiv Koblenz (BAK) NL Backe, fol. 20.
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großen Kenntnisse in Ernährungsfragen hervorgetan hatte. Die von ihm bis ins kleinste Detail ausgefeilte und mit Kriegsbeginn umfassend eingeführte Lebensmittelrationierung sowie Backes eiskalte Kalkulation, dass mit der Invasion der Sowjetunion Deutschland in den Besitz dringend benötigter Lebensmittel kommen würde, sicherte die Versorgung der Deutschen zumindest bis in das letzte Kriegsjahr.7 Das dabei zig-Millionen SowjetbürgerInnen verhungern würden, war von Anfang an Bestandteil des „Hungerplans.“8 Zwar wurden auch in Deutschland die Lebensmittel zunehmend knapper und mit Ersatzprodukten ausgetauscht, aber es kam nicht zu Hungerkrisen oder Hungerrevolten wie im Ersten Weltkrieg. Aufgrund der staatlich verordneten Ernährungskampagnen kann die nationalsozialistische Ernährungspolitik als erfolgreich bezeichnet werden, denn die skrupellose Planung und Ausbeutung alliierter und unterworfener Länder und vor allem die massenhafte Rekrutierung von ZwangsarbeiterInnen machte es möglich, dass Deutsche im Zweiten Weltkrieg mehr zu essen hatten als ihre europäischen Nachbarn. Der Hunger erreichte erst im letzten Kriegsjahr und insbesondere nach dem Krieg seinen dramatischen Einzug in deutsche Haushalte. Das heißt aber nicht, das Deutsche während des Krieges von allem genug zu essen hatten, im Gegenteil. Sie mussten ihre Ernährungsgewohnheiten umstellen, minderwertige Ersatzprodukte verwenden und ihre Geschmäcker anpassen. Besonders in den Städten kam es zu Mangelernährung und Lebensmittelknappheit.9 Aber gerade auf dem Gebiet der Lebensmittelversorgung waren die Nazis dennoch erfolgreich. Selbst wenn die Ernährung im Jahr 1938 noch unter dem Niveau von 1928 lag und sich im Laufe des Krieges zunehmend verschlechterte, so sind doch die 1930er-Jahre im Hinblick auf die Lebensmittelversorgung als „gute Jahre“ empfunden worden und vielen Deutschen als solche in Erinnerung geblieben.10 Wie war das möglich? Dieser Aufsatz widmet sich eben dieser Frage. Er untersucht nicht vorrangig die mörderische NS-Ernährungspolitik, die in den eroberten Gebieten sowie in Zwangslagern zu millio-
7 Zu Herbert Backe, siehe Joachim Lehmann, Herbert Backe – Technokrat und Agrarideologe, in: Ronald Smelzer/Enrico Syring/Rainer Zitelmann (Hg.), Die Braune Elite II. 21 Weitere Biographische Skizzen, Darmstadt 1993, 1–12; Bertold Alleweldt, Herbert Backe – Eine politische Biographie, Berlin 2011; Gesine Gerhard, Nazi Hunger Politics. A History of Food in the Third Reich, Lanham 2015. 8 Gerhard, Nazi Hunger Politics. 9 Ulrich Kluge, Kriegs- und Mangelernährung im Nationalsozialismus, in: Beiträge zur historischen Sozialkunde 15 (1985), 67–73. 10 Siehe u. a. Lutz Niethammer (Hg.), „Die Jahre weiß man nicht, wo man die heute hinsetzen soll“: Faschismuserfahrungen im Ruhrgebiet, Berlin und Bonn, 1983. Siehe auch Richard Grunberger, The 12-Year Reich. A Social History of Nazi Germany 1933–1945, New York 1971, 204.
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nenfachen Tod führte.11 Stattdessen liegt das Augenmerk auf den schlagkräftigen Nahrungsmittelkampagnen der 1930er-Jahre, die der Lenkung des Konsumverhaltens galten, und auf der Bedeutung der Ernährung für die „Volksgemeinschaft.“
II.
Konsum im Dritten Reich
Die NationalsozialistInnen benutzten die Lenkung und Regulierung des Konsums, um ihre Machtbasis zu erhalten und gleichzeitig Deutschland wirtschaftlich auf den Krieg vorzubereiten.12 Dabei wurden bestimmte Bevölkerungsgruppen bewusst ausgeschlossen – Juden und Jüdinnen, sozial Unerwünschte sowie ZwangsarbeiterInnen und vor allem sowjetische Kriegsgefangene, für die die Ernährungspolitik millionenfach zum Todesurteil wurde. Allein in der Sowjetunion sind schätzungsweise 4–7 Millionen Menschen der nationalsozialistischen Hungerpolitik zum Opfer gefallen.13 Die enge Verknüpfung von Krieg und Ernährung ging auf die Erfahrungen des Ersten Weltkrieges zurück, in dem viele Deutsche unter großer Hungersnot gelitten hatten.14 Insbesondere der verheerende „Kohlrübenwinter“ 1916/17 hatte sich tief in das kollektive Gedächtnis eingeprägt. Eine katastrophale Kartoffelernte hatte in jenem kalten Winter dazu geführt, dass sich die Bevölkerung fast ausschließlich von Steck- oder Kohlrüben ernähren musste. Die Lebens11 Die NS-Hungerpolitik ist an anderer Stelle detailliert analysiert worden, siehe u. a. Gerhard, Nazi Hunger Politics; Corni/Gies, Brot–Butter–Kanonen; Christian Gerlach, Kalkulierte Morde. Die deutsche Wirtschafts- und Vernichtungspolitik in Weissrussland 1941 bis 1944, Hamburg 1998. 12 Birthe Kundrus, Greasing the Palm of Volksgemeinschaft? Consumption under National Socialism, in: Martina Steber/Bernhard Gotto (Hg.), Visions of Community in Nazi Germany. Social Engineering and Private Lives, Oxford 2014, 157–170; Hartmut Berghoff, Enticement and Deprivation: The Regulation of Consumption in Pre-war Nazi Germany, in: Martin Daunton/Matthew Hilton (Hg.), The Politics of Consumption. Material Culture and Citizenship in Europe and America, Oxford/New York 2001, 165–184; Hartmut Berghoff, Von der „Reklame“ zur Verbrauchslenkung: Werbung im nationalsozialistischen Deutschland, in: Hartmut Berghoff (Hg.), Konsumpolitik: Die Regulierung des privaten Verbrauchs im 20. Jahrhundert, Göttingen 1999, 77–112. 13 Wigbert Benz, Hans-Joachim Riecke, NS-Staatssekretär. Vom Hungerplan vor, zum „Welternährer“ nach 1945, Berlin 2014, 54–55. Siehe auch Adam Tooze, Wages of Destruction: The Making and Breaking of the German Nazi Economy, New York 2008; Lizzie Collingham, The Taste of War : World War II and the Battle for Food, New York 2012; Wigbert Benz, Der Hungerplan im „Unternehmen Barbarossa“, 1941, Berlin 2011. 14 Belinda Davis, Home Fires Burning: Food, Politics and Everyday Life in World War I Berlin, Chapel Hill 2000; Hans-Jürgen Teuteberg, Food Provisioning on the German Home Front 1914–1918, in: Ina Zweininger-Bargielowska/Rachel Duffett/Alain Drouard (Hg.), Food and War in Twentieth Century Europe, Surrey 2011, 59–72.
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mittelversorgung erreichte im Frühjahr 1917 ihren absoluten Tiefpunkt. Insgesamt starben im Ersten Weltkrieg schätzungsweise 700.000–800.000 ZivilistInnen in Deutschland an den Folgen von Hunger und Unterernährung.15 Lebensmittelkrisen und Hunger gehörten auch nach dem Zusammenbruch des Kaiserreichs noch zur alltäglichen Realität, und hätten außerdem wie die Nazis fälschlich behaupteten, zur Niederlage im Ersten Weltkrieg geführt. Diese Behauptung wurde zum Kernstück der sogenannten „Dolchstoß-Legende“, die in den 1920er- und 1930er-Jahren immer wieder heraufbeschworen wurden. Ohne hinreichende Grundnahrungsmittel an der Heimatfront sei die Bevölkerung gegenüber sozialistischen Parolen von Brot und Arbeit anfälliger gewesen, und dies hätte letztendlich den revolutionären Kräften in Deutschland Auftrieb gegeben. Die Armee wäre an der Front angeblich unbesiegt geblieben, hätte aber einen „Dolchstoß von hinten“ (aus der Heimat) erhalten, der zum deutschen Niedergang geführt habe. Obwohl diese Geschichtsdeutung nicht den historischen Fakten entsprach, wurde sie fester Bestandteil einer revanchistischen Nachkriegspropaganda. Trotzdem kann die Bedeutung der Lebensmittelversorgung für die Aufrechterhaltung einer Durchhalte-Moral bzw. für den politischen Frieden nicht geleugnet werden. Der „Kampf ums Brot“, wie das Ziel der gesteigerten Nahrungsmittelproduktion und die anvisierte „Nahrungsmittelfreiheit“ propagandistisch tituliert wurden, sollte deshalb die NS-Politik für die Dauer des Regimes nachhaltig bestimmen.16 Es ging dabei jedoch nicht nur um die Versorgung mit Grundnahrungsmitteln, sondern auch um die relative Verbesserung des Lebensstandards für einen Teil der Bevölkerung. Deutschland befand sich in den 1930er-Jahren am Beginn der Konsumgesellschaft, die neue Produkte auf den Markt und „an den Mann“ brachte. Gleichzeitig wurden neue Bedürfnisse und die Hoffnung auf ein besseres Leben geweckt, die als Fortschritt und Teil des Modernisierungsprozesses dargestellt wurden. Das Radio erhielt massenhaft Einzug in Haushalte, aber auch andere moderne Küchengeräte wie etwa der Kühlschrank, Staubsauger oder die Waschmaschine fanden erste Verbreitung und sollten die Lebensgewohnheiten nachhaltig beeinflussen.17 Kinobesuche wurden zu einem beliebten Zeitvertreib 15 Heinzelmann, Beyond Bratwurst, 244. 16 Siehe z. B. die Schrift „Der Kampf ums Brot“ die 1938 von Wolfgang Clauß im Reichsnährstand Verlag herausgegeben wurde. Darin wird zunächst der historische Kontext für Deutschlands Ernährungsgrundlage dargestellt, sowie auf die verschiedenen Bereiche der Ernährungsproduktion eingegangen. Die liberale Wirtschaftspolitik des 19. Jahrhunderts wird für die Agrarkrise in den 1920er-Jahren sowie für Deutschlands Abhängigkeit von Lebensmittel-Einfuhren verantwortlich gemacht. 17 Im Jahr 1940 waren zwei Drittel aller Haushalte mit einem Radio ausgestattet. Berghoff, Enticement, 173. Die 1950er-Jahre werden in der Forschung ausgiebig behandelt und als Beginn der Konsumgesellschaft dargestellt. Die ersten Anfänge dazu finden sich jedoch bereits in den 1930er-Jahren. Siehe u. a. Michael Wildt, Am Beginn der „Konsumgesell-
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ebenso wie andere Freizeitangebote, die nun erstmals für größere Bevölkerungsgruppen erschwinglich wurden. Bisher unerreichbare Luxusgüter sowie Urlaubsreisen für die ganze Familie rückten, wenn auch nicht sofort, dann aber in greifbare Zukunft. Die NS-Organisation Kraft durch Freude (KdF) ermöglichte es mit erschwinglichen Angeboten, das sieben Millionen Deutsche zwischen 1934–1939 Ferien machten. Viele dieser Urlaubsreisen fanden in Deutschland statt, aber auch Auslandsreisen und Kreuzfahrten wurden häufiger.18 Die NationalsozialistInnen verstanden es somit, das Versprechen auf eine bessere Zukunft mit echten Verbesserungen des täglichen Lebens zu verbinden. Ähnlich wie das Radio (der „Volksempfänger“), sollte das Auto für alle „Volksgenossen“ durch den sogenannten KdF-Wagen erschwinglich werden. Familien wurden mit neuen Werbemethoden dazu animiert, im Voraus Ratenzahlungen für einen „Volkswagen“ zu leisten, die ihnen innerhalb von vier Jahren den Besitz eines eigenen Autos garantieren sollten.19 Inwieweit sich der Lebensstandard während der NS Zeit tatsächlich verbessert hat, schätzen HistorikerInnen unterschiedlich ein. Stieg der Konsum wirklich an und standen der Bevölkerung tatsächlich mehr Lebensmittel zur Verfügung, oder war dies eine rein subjektive Wahrnehmung, die diese Jahre in einem helleren Licht erscheinen ließen? Die Antworten sind geteilt. Während einige AutorInnen davon ausgehen, dass Deutsche tatsächlich mehr zu essen hatten und sogar Luxuswaren erhältlich waren – nicht zuletzt wegen der rücksichtslosen Ausbeutung unterworfener Völker – meinen andere, dass es in Wirklichkeit kaum zu einer Verbesserung der Lebensmittelversorgung kam.20 Die NationalsozialistInnen verstanden es vielmehr, die Illusion des Anbruchs einer besseren Zeit zu erzeugen, doch diese sozial-psychologische Wirkung während der 1930er-Jahre war alles, was sie aufzuweisen hatten.21 Letztendlich war entscheidend, wie die „Volksgenossen“ die Zeit erlebten, was nicht immer nur damit zu tun hatte, wieviel Essen auf dem Teller lag. Echte Knappheit und Ersatzmittel für viele Produkte wurden nicht unbedingt als solche empfunden, da sie raffiniert mit tatsächlichen Verbesserungen und bestimmten Luxusgütern gekoppelt waren, die nun für größere Bevölkerungsschichten erschwinglich waren.
18
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schaft“: Mangelerfahrung, Lebenshaltung, Wohlstandshoffnung in Westdeutschland in den fünfziger Jahren, Hamburg 1994. Alon Confino/Rudy Koshar, Regimes of Consumer Culture: New Narratives in TwentiethCentury German History, in: German History 19 (2001) 2, 135–162, 4. Siehe auch Shelley Baranowski, Strength through Joy : Consumerism and Mass Tourism in the Third Reich, Cambridge 2004. Allerdings blieb der Volkswagen nur ein Versprechen – die ersten Autos wurden erst nach dem Krieg ausgeliefert. Berghoff spricht hier von „virtuellem Konsum.“ Siehe Berghoff, Enticement, 178. Kundrus spricht von einem „minor Historikerstreit“. Kundrus, Greasing the Palm, 159. Berghoff, Enticement, 173.
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Erfahrung und Illusion gingen also Hand in Hand. Der nationalsozialistische Staat meisterte diese Gratwanderung, indem er sich dabei nicht nur als Garant eines Grundbedarfs präsentierte, sondern auch neue Bedürfnisse weckte und aufwertete. Die Sicherung der Grundbedürfnisse, neu geweckte Erwartungen und die Hoffnung auf zukünftige Anschaffungen führten zu einer positiven Beurteilung der eigenen Situation in den 1930er-Jahren.22 Da es vielen Deutschen im Vergleich zu den Jahren während und unmittelbar nach dem Ersten Weltkriegs auch wirklich besser ging, konnte sich das NS-Regime auf die Zustimmung eines Großteils der Bevölkerung verlassen oder zumindest darauf, dass es nicht zu Hungerrevolten wie im Ersten Weltkrieg kommen würde. Die Tatsache, dass dies nur auf Kosten anderen möglich war, die ausgegrenzt, ausgebeutet und ermordet wurden, wurde dabei geschickt ausgeblendet.
III.
„Der Kampf ums Brot“ – Nahrungsmittelkampagnen und Ernährungssicherung
In einer Rede am 9. September 1936 erklärte Adolf Hitler, was er als das vorrangige Ziel der Ernährungspolitik verstand. Die Ernährung zu sichern bedeutete nicht, „dass stets alle Lebensmittel in ausreichendem Masse vorrätig seien, vielmehr will man damit sagen, dass jede Gefahr einer Katastrophe für den Einzelhaushalt wie auch für das Volk insgesamt unter allen Umständen gebannt ist und das Verknappungserscheinungen auf dem Gebiet stets durch Ausgleichsmöglichkeiten auf anderen Nahrungsgütern abgeschwächt werden können.“23
Aus dieser Prämisse ergaben sich drei Aufgaben für die nationalsozialistische Ernährungspolitik: die Steigerung der Erzeugung, die Lenkung des Verbrauchs und die sparsame Verwendung der Produkte. Bereits 1934 waren Bauern und Bäuerinnen zur „Erzeugungsschlacht“ aufgerufen worden, die die einheimische Agrarproduktion erhöhen sollte. Die Agrarwirtschaft wurde gleichzeitig einer strikten Kontrolle unterworfen, die die Produktions-, Preis- und Absatzlenkung einbezog. Alle in der Landwirtschaft Tätigen wurden im Reichsnährstand (RNS) zusammengefasst, eine Zwangsorganisation, die alle Bereiche der landwirtschaftlichen Produktion dirigierte.24 Trotz der umfassenden Lenkung und Kontrolle konnte die einheimische Agrarproduktion in den 1930er-Jahren nur in begrenztem Masse gesteigert 22 Kundrus, Greasing the Palm, 177. 23 Zit. n. Margarete Adelung, Der „Kampf dem Verderb“ im Haushalt mit sparsamen Mitteln, phil. Diss., Universität München 1940, 1. 24 Gies/Corni, Brot–Butter–Kanonen, 75–250.
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werden. Deutschland war bereits seit dem Ende des 19. Jahrhunderts auf Nahrungsmittelimporte angewiesen, im Jahr 1933 deckte die einheimische Produktion gerade mal 81 % der inländischen Nachfrage.25 Die Forderung, die Unabhängigkeit der deutschen Wirtschaft vom Ausland zu erhöhen und die Einfuhr von Lebensmittel zu verringern, war insbesondere im Hinblick auf Getreide, Speiseöle und -fette sowie Fleisch unrealistisch. Spätestens seit 1936 befand sich auch der Vorsatz, die Nahrungsgrundlage zu steigern im Widerspruch mit dem Ziel, Deutschland vordringlich auf den nächsten Krieg vorzubereiten. Denn der im selben Jahr verkündete Vierjahresplan behandelte kriegswichtige Industrien und die Verwendung von Rohstoffen für die Kriegsindustrie als absolute Priorität. Das Ziel der schnellen Aufrüstung machte die Herstellung von „Kanonen“ wichtiger als „Brot und Butter“.26 Da Importe sich auf die Kriegsindustrie zu beschränken hatten, führte dies zu einer weiteren Verknappung der Nahrungsmittel und wirkte sich auch auf das Machtgefüge innerhalb der NSDAP aus. Reichsminister für Ernährung und Landwirtschaft Richard Walther Darr8 geriet zunehmend in Konflikt mit Hermann Göring, dem Beauftragten für den Vierjahresplan, der wirtschaftliche Entscheidungen auch im Bereich der Ernährungswirtschaft traf, ohne Darr8 einzubeziehen. Als Göring im Jahr 1936 Darr8s rechte Hand, den Staatssekretär Herbert Backe, als Ernährungsbeauftragten in der Vierjahresplanbehörde holte, kam es schnell zu einer Art Bruderkampf zwischen Backe und seinem Chef und ehemaligen Mentor, dem Reichsernährungsminister, der mit der Absetzung Darr8s im Mai 1942 endete.27 Als Ernährungsexperte im Vierjahresplan unter Göring hatte Backe de facto mehr Entscheidungsmacht als Reichsminister Darr8. Da die Agrarproduktion nur in begrenztem Masse gesteigert werden konnte und spätestens seit 1936 hinter die Kriegsvorbereitung zurücktreten musste, galt es auf anderen Wegen die Versorgung mit Lebensmitteln zu sichern. Die NationalsozialistInnen setzten deshalb alles auf eine weitreichende Lebensmittelkampagne, die die Essensgewohnheiten der Deutschen umstellen und an die vorhandenen Ressourcen anpassen sollte.28 In Vorbereitung auf den nächsten Krieg hieß es nun, sich auf einheimische Produkte zu konzentrieren, die Selbstversorgung zu erhöhen, und soweit es ging, auf eine Lebensmittelautarkie 25 Ebd., 265. 26 Siehe dazu ausführlich Gies/Corni, Brot–Butter–Kanonen, 261–280. Außerdem wurde jegliche Steigerung der Nahrungsmittelproduktion durch das Bevölkerungswachstum aufgehoben wurde. Deutschlands Bevölkerung wuchs um 7 % von 1933 bis 1939. Siehe Reagin, Tischkultur, 23. 27 Gerhard, Food and Genocide. Allerdings löste Backer Darr8 erst 1944 offiziell als Reichsminister für Ernährung und Landwirtschaft ab, da jeglicher Anschein einer Krise in der Ernährungswirtschaft verhindert werden sollte. 28 Reagin, Tischkultur, 22.
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hinzuarbeiten. Um dies zu erreichen, wurde eine strenge Produktions- und Verbrauchslenkung eingeführt, die alle Aspekte der Ernährung bis ins kleinste Detail kontrollierte. Im Jahr 1934 wurde zu diesem Zweck auch die Gesellschaft für Konsumforschung (GfK) gegründet, die sich auf Marktforschung spezialisierte. Viele der propagierten Maßnahmen und Essensumstellungen waren bereits aus der Krisenzeit des Ersten Weltkrieges bekannt, weshalb die NationalsozialistInnen alles daransetzten, die negativen Erfahrungen und Erinnerungen auszublenden und die Umstellung als etwas Neues anzupreisen. Wie im letzten Krieg war auch im nächsten mit einer britischen Blockade zu rechnen, die Deutschland von dringend benötigten Lebensmitteleinfuhren abschneiden würde. Ein Krieg würde erneut Massenspeisungen, Gulaschkanonen und Kriegskochbücher notwendig machen, aber dieses Mal sollte ein „Schweinemord“, der fatale Kohlrübenwinter und überhaupt jegliche Art von Hungererfahrung weitgehend vermieden werden.29 Reichsminister Joseph Goebbels inszenierte die Nahrungsmittelkampagnen mit geschickter Propaganda, so dass der nicht zu verleugnende Widerspruch zwischen Kriegsvorbereitung und erhöhter Lebensmittelversorgung verdeckt wurde. Und zwar bedienten sich die NationalsozialistInnen der Mittel von Zuckerbrot und Peitsche, indem sie geschickt zwischen der Verlockung mit bestimmten erhältlichen Konsumgütern und dem Versprechen auf zukünftige Produktion jonglierten, um den Großteil der deutschen Bevölkerung bei Laune zu halten.30 Während bestimmte Nahrungsmittel und Haushaltswaren wie etwa Kaffee, Fleisch, Käse und Zucker immer knapper wurden, wurde der Effekt dieses Entzugs geschickt mit der Aussicht auf etwas Neues ausgeglichen. Der schleichende Austausch von gewohnten Lebensmitteln mit minderwertiger Ersatzproduktion wurde in eine allumfassende Veränderung der Essensgewohnheiten eingebunden, die mit Hilfe eines endlosen Propagandafeldzugs schmackhaft gemacht wurde.
29 Der sogenannte Schweinemord bezieht sich auf die verordnete Massenschlachtung von Millionen von Schweinen im Frühjahr 1915, um auf diese Weise die Verfütterung von knappen und für den Menschen bestimmter Lebensmittel zu beenden (insbesondere Kartoffeln und Getreide). Die Aktion hatte aber fatale Folgen, da es an einer zentralen Verteilung der gesparten Kartoffeln fehlte und die Verringerung von tierischem Dünger letztendlich die Ernteerträge beeinträchtigte. Darr8 hatte sich ausführlich mit dem Thema beschäftigt und den „Schweinemord“ als einen Komplott jüdischer Akademiker dargestellt. Richard Walther Darr8, Der Schweinemord, München 1937. Siehe Tiago Saraiva, Technoscientific Organisms and the History of Fascism, Cambridge, MA 2016, 105. 30 Berghoff spricht in diesem Zusammenhang von einer Mischung aus „enticement and deprivation“. Siehe Berghoff, Enticement.
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IV.
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„Der Kochlöffel als Waffe der Hausfrau“
Frauen spielten eine wichtige Rolle für die Umstellung der familiären Essensgewohnheiten, weshalb sich die Veränderungen der Konsumgewohnheiten am stärksten auf ihre alltägliche Arbeit auswirkten.31 Die Frau wurde als „Vertreterin des Heeres der Konsumenten“ angesehen, in deren Macht es stand, Geschmäcker und Bräuche zu beeinflussen.32 Die Hausfrau wurde damit zur wichtigsten Adressatin nationalsozialistischer Propaganda. Eine Flut von Broschüren, Kochbüchern, Schulungen, Radiosendungen und Filmen widmete sich dem Thema der Essensumstellung.33 Bis 1940 erschienen allein 8,8 Millionen Werbebroschüren, die sich dem Thema Quark widmeten, der als Ersatz für Butter als einfach herzustellender Brotaufstrich benutzt werden sollte. 8 Millionen Broschüren erschienen zum Thema Marmelade, die mit selbstgepflückten Beeren in der eigenen Küche gekocht und für den nächsten Winter eingemacht werden konnte.34 Tausende von Plakaten animierten die Frauen, sich so erfinderisch wie möglich um eine bessere Resteverwertung zu bemühen und so am „Kampf dem Verderb“ teilzunehmen. Darüber hinaus gab es Werbehefte, Radiosendungen und Filme zu allen möglichen Aspekten der Verbrauchslenkung.35 In der in großer Auflage erschienen Zeitschrift „NS-Frauenwarte“, die vom Deutschen Frauenwerk herausgegeben wurde, befanden sich in jeder Ausgabe Rezeptseiten und hinreichend Ratschläge für die tüchtige und erfindungsreiche Hausfrau, um ihr den Verzicht und die Anpassung an die neuen Gegebenheiten zu erleichtern.36 So wurden beispielsweise „Schmackhafte Rezepte mit geringer Fleischeinlage“ angepriesen, „Hauptgerichte einmal ohne Fleisch“ gefeiert und Tipps für eine „Richtige Vorratswirtschaft“ gegeben.37 Der Ton in den Artikeln blieb auch während des Krieges noch froh gestimmt und aufmunternd, es sind keine Hinweise darauf zu finden, dass die Zeit hart oder gar zum Verzweifeln wäre. Die Tatsache, dass sich für Frauen damit der Arbeitsaufwand erheblich erhöhte, zumal sie in der Regel auch die Arbeit der an die Front gezogenen Männer
31 Nancy Reagin, Marktordnung and Autarkic Housekeeping: Housewives and Private Consumption under the Four-Year Plan, 1936–1939, in: German History 19 (2001) 2, 162–184. 32 Adelung, Kampf dem Verderb, 12. 33 Reagin, Tischkultur, 24. 34 Adelung, Kampf dem Verderb, 26–27. 35 Ebd. 36 Die Zeitschrift erschien alle zwei Wochen und hatte im Jahr 1938 eine Auflage von ungefähr einer Million Exemplare. Mehrere Jahrgänge sind bei der Universitätsbibliothek Heidelberg digitalisert einsehbar. URL: http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/frauenwarte (abgerufen 10. 2. 2018). 37 Siehe u. a. NS Frauenwarte, Heft 4, Jahrgang 10 (1941).
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übernehmen mussten, wurde mit der simplen Anregung „trotz wenig Zeit – gut gekocht“ abgetan.38 Dennoch konnte die Art und Weise, in der die Ratschläge „an die Frau“ gebracht wurden, auch als herablassend und kritisch empfunden werden, besonders wenn es um Lebensgewohnheiten und gesellschaftliche Veränderungen der Zeit ging.39 So wurden beispielweise erwerbstätige Frauen besonders in den Städten getadelt: „Nun ist es eine feststehende Tatsache, dass die Frau in vielen großstädtischen Haushaltungen nicht hauszuhalten versteht. Ihre mangelnde hauswirtschaftliche Tüchtigkeit bringt ihre Familie um den Segen der Häuslichkeit und treibt den Mann ins Wirtshaus.“40 Diese beklagenswerten Gewohnheiten sollten durch gezielte Schulungen verändert werden. Dies sei keine einfache Sache, denn die neuen Anforderungen an die Hausfrau wären besonders im Hinblick auf die Wirtschaftlichkeit so komplex, dass sie im Grunde „alle Künste des Finanzministers üben“ müssten.41 Die Leiterin der NS-Frauenschaft und Reichsfrauenführerin Gertrud Scholtz-Klink bezeichnete den Kochlöffel als „die Waffe der Hausfrau“,42 die einzusetzen ihre patriotische Pflicht sei. So schrieb Scholtz-Klink: „…nicht nur Kanonen, Tanks und Flugzeuge sind Waffen des Volkes, auch jede Hausfrau besitzt eine wirksame Waffe und bedient sich ihrer täglich.“43 Der Versuch, die Essensgewohnheiten zu verändern, zielte in erster Linie auf den erhöhten Verbrauch von einheimischen Produkten. Vollkorn- oder Roggenbrot sollte anstatt des weißen Weizenbrotes von Bäckereien gebacken und von den KonsumentInnen verzehrt werden. Kartoffeln wurden zum wichtigsten Nahrungsmittel überhaupt, dabei wurde der verfügbare Vorrat an Kartoffeln quasi zum Gradmesser der deutschen Ernährung und Stimmungslage im Krieg. Immer wieder neue Rezepte zur Verwendung der ganzen Kartoffel einschließlich der Kartoffelschalen wurden den Hausfrauen nahegebracht. Eine weitere beliebte Kampagne war die Forderung, weniger Fleisch und mehr Fisch essen. Insbesondere Hering eignete sich gut, da er hinreichend vorhanden war und einfach eingelegt und haltbar gemacht werden konnte.44 Er sollte daher als bevorzugtes Nahrungsmittel auf den Speiseplan gesetzt werden. Anstatt Butter wurde Quark als schmackhafter Brotaufstrich angepriesen, da Quark als Ne38 Siehe auch Rainer Hobelt/Sonja Spindler, Tante Linas Kriegskochbuch: Rezepte einer ungewöhnlichen Frau, in schlechten Zeiten zu überleben: Erlebnisse, Kochrezepte, Dokumente, Frankfurt 1985, 95. 39 Reagin, Tischkultur, 32–33. 40 Adelung, Kampf dem Verderb, 17. 41 Ebd., 23. 42 Zit. n. ebd., 24. 43 Ebd. 44 Reagin, Tischkultur, 28.
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benprodukt der Butterherstellung produziert werden konnte. Kohl und Äpfel sollten anstatt der importierten Apfelsinen und Bananen gegessen werden. Die Behörden stellten „Ernährungskalender“ zusammen und entwickelten detaillierte „Küchenzettel“, auf denen sättigende Mahlzeiten aus einheimischen Produkten vorgeschlagen wurden.45 Die Kampagnen machten auch vor den Schulen nicht halt, wo Kinder lernen sollten, wie wichtig es war, einheimische Produkte zu verwenden, Reste zu verwerten und bisher nicht Essbares zu sammeln. Wildkräuter und Wildgemüse, die bisher als ungenießbar galten, konnten von der erfinderischen Hausfrau beispielsweise zu einer schmackhaften Suppe verarbeitet werden. Das Beispiel einer solchen Hausfrau ist „Tante Lina“, die in ihrem Nachlass eine Sammlung von Rezepten, Zeitungsausschnitten und Plakaten zum Thema Ernährung hinterließ.46 Darunter finden sich Rezepte für Sauerampfersuppe, Brennesselauflauf, Gänseblumensalat und Holunderbeergelee, Speisen und Brotaufstriche, die aus Gräsern und Beeren hergestellt werden konnten, die bis dahin bestenfalls als Unkraut angesehen wurden. Den Humor schien „Tante Lina“ bis zum Ende nicht verloren zu haben. Sie gab ihren Speisen erfinderische Namen wie „Kriegsallerleisuppe“ oder „Gemüsescheiterhaufen“ und scheute kein Risiko, das Lebensmittelkartensystem zu ihrem eigenen Vorteil auszunutzen.47 So heiratete sie im Jahr 1944 sogar ihren Mitbewohner in einer Art ScheinEhe, um auf diese Weise Extra-Rationen zu ergattern, denn das NS-Rationierungssystem gewährte großzügige Zulagen für besondere Anlässe, wie eben die Hochzeit oder andere Familienfeiern. Das Festmahl, so wird in dem Buch berichtet, wurde von den anwesenden „Hochzeitsgästen“ anscheinend sehr genossen. Das eheliche Versprechen war nicht für die Ewigkeit gedacht und wurde nach dem Krieg einvernehmlich wieder aufgelöst.48 Die nationalsozialistischen Lebensmittelkampagnen erreichten in mancher Hinsicht ihr Ziel. So verdoppelte sich der Marmeladekonsum von 1934 bis 1936/7, der Fischkonsum stieg pro Kopf von 8,9 kg im Jahr 1934 auf 13 kg im Jahr 1938 an, und der Speisequarkverbrauch vervielfachte sich um 60 % in nur einem Jahr (1936/7).49 Auch die breitangelegte Eintopfkampagne kann als erfolgreich bezeichnet werden. Vor 1930 gab es das Wort „Eintopf“ im deutschen Sprachgebrauch nicht, aber nachdem am 5. Oktober 1933 der erste „Eintopfsonntag“ eingeführt wurde, wurden Eintöpfe zu Standardgerichten auf dem deutschen
45 Ebd., 27. 46 Nachfahren haben vierzig Jahre später aus dieser Sammlung „Tante Linas Kriegskochbuch“ zusammengestellt und veröffentlicht. Hobelt/Spindler, Tante Linas Kriegskochbuch. 47 Ebd., 31. 48 Ebd., 153–159. 49 Adelung, Kampf dem Verderb, 49.
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Menüzettel.50 Anstatt des üblichen Sonntagsbratens wurden Hausfrauen angewiesen Gemüse, Kartoffeln und Fleischreste in einem Topf zusammen zu kochen und so ein gehaltvolles Mahl zu schaffen das billiger sei. Der ersparte Betrag sollte anderen „Volksgenossen“ zu Gute kommen. Zusätzlich zum ökonomischen Nutzen diene das Eintopfessen auch der Volksgemeinschaft: „80 Millionen eint das Eintopfessen“ verkündete Plakate, die in hoher Anzahl gedruckt wurden.51 Wie reagierten die Hausfrauen auf diese groß angelegten Kampagnen, die sie ja direkt ansprachen und für die sie letztendlich verantwortlich gemacht wurden? Widerstand regte sich vor allem, wenn es darum ging, allgemein übliche Mahlzeiten wie etwa das „Abendbrot“ – eine kalte Brotmahlzeit mit Wurst und Käseaufstrich – zu verändern. Hausfrauen weigerten sich, das einfache und schnelle Mahl durch eine erst zu kochende warme Mahlzeit zu ersetzen, die den Arbeitsaufwand erheblich erhöht hätte.52 In Anbetracht dieses Widerstands verbreitete die nationalsozialistische Presse phantasievolle Aufstrichrezepte, die die knappe Wurst und den Käse ersetzen sollten. So finden sich in Tante Linas Sammlung „Kartoffelaufstrich“, „Falscher Harzer Käse“ oder auch Anleitungen zur Herstellung von „Falschem Gänsefett“.53 Hausfrauen waren außerdem skeptisch, Gerichte aus anderen Regionen auszuprobieren und in ihre Speiseplanung aufzunehmen.54 Auch auf die anfangs bereits erwähnte Butter wollten nur wenige verzichten, und die als Alternative angepriesene Margarine verlor nie ihren Ruf als ein nur minderwertiger Ersatz für die „gute Butter.“ Butter wurde bereits seit dem Jahr 1937 rationiert, und die Zulagen waren bis 1942 mit 150 g pro Woche relativ stabil. Allerdings hatte sich die Qualität zunehmend verschlechtert.55 Viele Hausfrauen reagierten mit Entrüstung auf die Versuche und Überredungskünste der NS-Propaganda, besonders wenn es um Fragen der Haushaltsführung ging.56 Andere Kampagnen waren erfolgreicher, da sie sich an Kantinen und Restaurants richteten, die sich dem Druck und staatlicher Regulierung schlechter entziehen konnten als Privathaushalte.57 Ein Beispiel hierfür ist noch einmal die 50 Konrad Köstlin, Der Eintopf der Deutschen. Das Zusammengekochte als Kultessen, in: Utz Jeggle et al. (Hg.), Tübinger Beiträge zur Volkskultur, 220–241, 231–332. Siehe auch Alice Weinreb, Modern Hungers. Food and Power in Twentieth Century Germany, Oxford 2017; Gerhard, Nazi Hunger Politics. 51 Köstlin, Der Eintopf, 233. 52 Reagin, Tischkultur, 34. 53 Tante Linas Kriegskochbuch, 95–96. 54 Reagin, Tischkultur, 32. 55 Heinzelmann, Beyond Bratwurst, 261. 56 Reagin, Tischkultur, 34. 57 Tante Lina scheint sich allerdings auch erfolgreich vielen Reglementierungen entzogen zu haben. Sie schaffte es, ihr „Balkonschwein“ zu schlachten, trotz des strikten Verbots von
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Kampagne zum Eintopfsonntag. Während private Haushalte nur schwer kontrolliert werden konnten bzw. lediglich dem Druck des Deutschen Winterhilfswerks ausgesetzt waren – es wurde sozusagen zu einer „freiwilligen Pflicht,“ den Sonntagsbraten mit einem Eintopf zu ersetzen58 – bekamen Restaurants Probleme mit der Polizei, wenn sie anstatt des Eintopfgerichts an den designierten Sonntagen etwas anderes anboten. Detaillierte Anweisungen legten dar, wieviel Pfennige die Bereitung des Eintopfgerichtes kosten sollte, zu welchem Preis es verkauft und wieviel eingespart werden konnte. Diese Summe wurde dann vom Winterhilfswerk als „Spende“ einkassiert. Restaurants fanden freilich eigene Wege, die Auflagen zu erfüllen und trotzdem ihr Geschäft zu machen. Besonders in feineren Restaurants wurden oft edle Gerichte serviert, deren Zutaten es kaum noch zu kaufen gab. Es kursierten auch Gerüchte über Parteikader, die in feinen Restaurants schlemmten, während sich die NormalverbraucherInnen mit mageren Fleischrationen und Ersatzprodukten abfinden mussten.59
V.
Rationen und der „politische Magen“
Mit dem Beginn des umfassenden Zuteilungssystems für Lebensmittel am 27. August 1939 wurde es für die KonsumentInnen schwieriger, sich den staatlich verordneten Ernährungskampagnen zu entziehen. Denn nun gab es keine Wahl mehr. Ersatzprodukte, sparsames Haushalten und die Resteverwertung boten die einzige Möglichkeit dar, knappe Lebensmittel soweit es eben ging zu strecken. Herbert Backe hatte die Einführung der Lebensmittelkarten seit 1936 detailliert vorbereitet und setzte alles daran, dass die Vorräte so lange wie möglich ausreichten. Lebensmittelzulagen wurden alle vier Wochen angepasst, denn es galt, die Rationen so wenig wie möglich zu verringern. Backes akribisch ausgearbeitetes Zuteilungssystem unterschied eine Vielzahl von Gruppen, deren Arbeitskraft die Rationensätze – und ihren Wert für die deutsche Gesellschaft – bestimmte. Schwer- und Schwerstarbeiter bekamen die höchsten Lebensmittelzulagen, genau wie Soldaten an der Front. Kinder erhielten besondere Milchzuteilungen und stillenden Müttern wurden extra Rationen zugestanden. Sogar Hunde hatten ihre eigene Zuteilungsgruppe.60 Außerdem gab es extra Rationen für besondere Anlässe, z. B. Marzipan zu Weihnachten, oder für be-
Schwarzschlachten. Ihr Erfindungsreichtum sowie ihre guten Verbindungen ermöglichten es ihr auch, zusätzliche Lebensmittel aus der ländlichen Umgebung Gelsenkirchens zu ergattern. Siehe Tante Linas Kriegskochbuch, 109–114. 58 Tante Linas Kriegskochbuch, 31. Siehe auch Köstlin, Der Eintopf, 234. 59 Heinzelmann, 274. 60 Corni/Gies, Brot–Butter–Kanonen, 555.
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sondere Umstände, wie im Krieg Ausgebombte und Frontsoldaten auf Urlaub.61 Das fein ausgetüftelte System führte tatsächlich dazu, dass einige Bevölkerungsgruppen, die bis dahin sozioökonomisch schwach gestellt waren, mit der Zuteilung von Rationen mehr zu essen hatten, als sie es sich zuvor hatten leisten können.62 Die allumfassende Wirtschaftslenkung regulierte auch Preise und legte daher Niedrigpreise für bestimmte Produkte fest. Essenszulagen im Nationalsozialismus gestalteten sich auf diese Weise zu „politischen Rationen“ und waren zugleich Ausdruck und Ergebnis einer gezielten Vernichtungs- und Rassenpolitik. Denn gerade auch der Lebensmittelrationierung lag ein radikal rassistisches Weltbild zugrunde, das bestimmte Gruppen nicht nur entscheidend benachteiligte, sondern zum Hunger verurteilte. „Juden“ erhielten geringere Rationen als „arische Volksgenossen“, sie durften nur in bestimmten Läden und zu eingeschränkten Zeiten einkaufen.63 Behinderte, sozial Geächtete und als „Erbkranke“ abgestempelte Menschen erhielten Rationensätze, die nicht genug zum Leben waren. Ausländische ZwangsarbeiterInnen und Gefangene in Lagern erhielten die niedrigsten Hungerrationen, die nach Ländern und „Rassen“ gestaffelt waren. Trotz aller Vorkehrungen und todbringender Maßnahmen und trotz in mancher Hinsicht erfolgreicher Essensumstellungen wurde die Ernährungslage auch in Deutschland immer angespannter. Die Rationen wurden schmaler und im Jahr 1942/43 standen dem „Normalverbraucher“ im Vergleich zum Jahr 1938 nur noch 62,5 % des Fettbedarfs, 32,9 % des Fleischs, und 80,4 % des Brotbedarfs zur Verfügung.64 Es folgten weitere drastische Kürzungen der rationierten Lebensmittel, bis das Zuteilungssystem im Oktober 1944 vollständig zusammenbrach. Im Dezember 1944 wurde sogar Trinkwasser so knapp, dass es in das Rationierungssystem einbezogen werden musste.65 Obwohl vielerorts Knappheit und Mangel herrschte, kam es doch nicht zu einer allgemeinen Hungersnot wie im Ersten Weltkrieg. Dabei machten sich die unterschiedlichen Zuteilungen innerhalb der „Volksgemeinschaft“ stark bemerkbar : Familien auf dem Land oder Stadtbewohner mit Verbindungen zu Bauernfamilien hatten Zugang zu zusätzlichen Lebensmitteln, die sie gegen andere begehrensweite Produkte eintauschten. Die Menschen in der Stadt wurden in ihrer Not immer erfindungsreicher und benutzten Balkone oder das kleinste Stück Land zum Anbau von Kartoffeln und anderem Essbarem. Es gab sogenannte „Balkonschweine“, 61 Siehe die Erinnerung von Frauen in Margarete Dörr, „Wer die Zeit nicht miterlebt hat…“ Frauenerfahrungen im Zweiten Weltkrieg und in den Jahren danach, Band 2: Kriegsalltag, Frankfurt/New York 1998, 9–37. Siehe auch Corni/Gies, Brot–Butter–Kanonen, 561. 62 Gruneberger, 211. 63 Collingham, Taste of War, 360; Reagin, Tischkultur 39. 64 Kluge, Kriegs- und Mangelernährung, 67. 65 Ebd., 68.
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aber auch Hühner und Hasen die vermehrt in der Stadt aufgezogen wurden und einen wichtigen Teil der Fleischzulage darstellten.66 Besser mit Lebensmittel versorgt waren auch Familien von Soldaten an der Front. Nicht selten waren Soldaten in der Lage, Essen von der Front nach Hause zu schicken. Insbesondere Soldaten an der Ostfront hatten die offizielle Erlaubnis, sich an der lokalen Bevölkerung zu bereichern und, was sie nicht selbst essen konnten, nach Hause zu schicken.67 Während an der Ostfront rassenideologische Vorstellungen die Begründung für den Raub von Essbarem lieferte („unnütze Esser“ sollten ausgerottet werden),68 kam auch eine nicht unwesentliche Menge an Lebensmittel aus den besetzen und alliierten Ländern im Westen nach Deutschland. Insbesondere Frankreich, die Niederlande und auch Dänemark zählten zu wichtigen Lebensmittellieferanten für Deutschland während des Krieges.69 Die offiziellen Rationen wurden darüber hinaus oft durch Korruption, Schwarz- und Schleichhandel aufgestockt. Trotz der Androhung von Strafen und strikter Regulierung riskierten es viele Menschen, auf illegalen Kanälen Essbares zu ergattern.
VI.
Vollkornbrot für Volksgenossen
Eine der bekanntesten und für den deutschen Geschmack wohl symbolträchtigsten Kampagnen zur Essensumstellung konzentrierte sich auf das Vollkornbrot.70 Wie kaum ein anderes Lebensmittel ist Brot Träger der kulturellen Identität der Deutschen. Regionale Traditionen und Bräuche spielen dabei eine besonders große Rolle. Brot macht nicht nur einen großen Teil der deutschen Ernährung aus, es steht auch für bestimmte Lebensgewohnheiten (hier sei nur an das Abendbrot, das üppige Frühstück mit Brötchen, oder das „Pausenbrot“ nicht nur für Schulkinder erinnert). In den 1930er-Jahren setzten die Nationalsozialisten alles daran, den Konsum von Weißbrot auf „Vollkornbot“ umzustellen, da zur Herstellung des vielerorts beliebten Weißbrots Weizen eingeführt werden musste während Roggen in vielen Gegenden Deutschlands angebaut wurde. Auch fiel bei der Herstellung von Vollkornmehl weniger Abfall an als beim feinen weißen Weizenmehl, das daher strikt rationiert und schnell zu einer Luxusware wurde. Obwohl besonders im Norden Deutschlands das Roggenbrot sowie 66 67 68 69 70
Reagin, 39. Siehe auch Tante Linas Kriegskochbuch. Heinzelmann, Beyond Bratwurst, 271. Gerhard, Nazi Hunger Politics. Reagin, Tischkultur, 39. Der Name Vollkornbrot erschien zuerst 1910 und bezog sich nicht nur auf das Vollkornmehl, sondern eben auch auf die angebliche Vollkommenheit und Verbundenheit mit Natur. Siehe Heinzelmann, Beyond Bratwurst, 256.
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Pumpernickel oder Schwarzbrot bereits seit dem 17. Jahrhundert bekannt waren, machte der Verzehr von Vollkornbrot (Schwarz- und Roggenbrot) im Jahr 1936 nur 6 % des gesamten Brotverzehrs aus.71 Der im Jahr 1939 gegründete Reichsvollkornbrotausschuss setzte das ehrgeizige Ziel, den Anteil des Vollkornbrotes auf 30 % zu erhöhen.72 Die erste Zielgruppe der Kampagne zur Erhöhung des Vollkornbrotkonsums waren die Bäckereien. Anstatt wie im Ersten Weltkrieg das Brotbacken zu standardisieren, sollten diesmal regionale Traditionen und Bräuche zugelassen und auch ausgenutzt werden. Bäckereien wurden aufgefordert, an Schulungen teilzunehmen und erhielten nach erfolgreicher Ablegung einer Prüfung Reklamematerial und Aufkleber, mit denen ihr Brot als „Vollkornbrot“ ausgezeichnet wurde. Der Gütestempel, der dem Vollkornbrot gegeben wurde, wies direkt auf die „Volksgesundheit“ hin und war mit dem Zusatz „Vollkornbrot ist besser und gesünder!“ versehen.73 Mehr als 150 Lebensmittel wurden mit dem Gütestempel ausgezeichnet.74 Schulen, Kantinen und Restaurants wurde vorgeschrieben, nur noch Vollkornbrot zu servieren. Spezielle Werbekampagnen verbreiteten die Botschaft des „guten“ Vollkornbrotes in Film, Rundfunk, Presse sowie auf dem grandios zelebrierten Erntedankfest, das bis 1938 jährlich auf dem Bückeberg bei Hannover stattfand. Vollkornbrot wurde jedoch nicht nur als gesünder und ökonomischer verkauft, es stünde auch im Gegensatz zu den angeblichen Krisenerscheinungen und Dekadenz der gegenwärtigen Zeit.75 In der NS-Propaganda wurde behauptet, das Weizenbrot ein Ausdruck von Verweichlichung und gar Feminismus sei, während das „kernige Vollkornbrot die männliche Stärke, die Abhärtung des Körpers“ darstelle.76 Da das Vollkornbrot aus einheimischen Ressourcen und eben nicht aus zu importierenden Getreidesorten bestand, bedeutete der Verzehr von Vollkornbrot auch eine Abgrenzung von allem „Undeutschen.“ In diesem Sinne diene – so die Propaganda – das Vollkornbrot gleichzeitig der Rassenhygiene und Erbpflege, da es den deutschen Menschen als herrschende Rasse stärke. Doch der Einfluss der „Imagekampagne des Vollkornbrots“ war, besonders im Vergleich zu anderen erfolgreichen Kampagnen wie das Eintopfessen, eher 71 Uwe Spiekermann, Vollkornbrot in Deutschland, in: Comparativ : Leipziger Beiträge zur Universalgeschichte und vergleichenden Gesellschaftsforschung 11 (2001), 27–50, 33. 72 Ebd., 42. 73 Schon Ende des 19. Jahrhunderts war versucht worden, das „Ganzmehlbrot“ als eine gesündere und natürlichere Alternative anzupreisen. Die Nationalsozialisten griffen auf diese gesundheitlichen Argumente zurück. Siehe auch Corinna Treitel, Eating Nature in Modern Germany : Food, Agriculture and Environment, c. 1870 to 2000, Cambridge 2017. 74 Heinzelmann, Beyond Bratwurst, 268. 75 Ebd., 256f. 76 Spiekermann, Vollkornbrot, 44.
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begrenzt. Es wurde weder ein deutsches „Urbrot“77 geschaffen, noch die Versorgung von Weißbrot auf Vollkornbrot umgestellt. Die Vorliebe zum Weizenbrot war vielerorts so groß, dass nur wenige VerbraucherInnen freiwillig ihren Konsum umstellten. Viele assoziierten das dunkle Brot nach wie vor mit dem „Kriegsbrot“ des Ersten Weltkriegs, und trotz gezielter Propaganda verlor das Vollkornbrot nicht das Image eines Ersatzmittels, das nur in Notzeiten gegessen werden müsse. Nach dem „Endsieg“, so die weitverbreitete Überzeugung, würde es daher wieder „weitgehend verschwinden.“78 Aufgrund der Preislenkung blieb der Preis des Brotes niedrig und der Verzehr stieg an, aber zugleich nahm die Qualität des Brotes ab, weil sich der Anteil von Maismehl und Kartoffelmehl vergrößerte. Als schließlich alles Mehl durch Kartoffeln oder Kartoffelschalen ersetzt wurde, wurde das Brot so feucht, dass es kaum noch genießbar war. Trotz aller Klagen über die schlechte Qualität des Vollkornbrotes war das „deutsche Brot“ dennoch deutlich besser als das für ZwangsarbeiterInnen und die Bevölkerung deutsch besetzter Länder. Ein speziell hergestelltes „Russenbrot“ für sowjetische Kriegsgefangene bestand aus Roggenmehl, Zuckerrüben, Zellmehl sowie einem Anteil von Strohmehl oder Laub.79
VII.
Schluss
Die Nahrungsmittelkampagnen der NS-Zeit haben die Geschmäcker und Essgewohnheiten einer Generation von Deutschen nachhaltig beeinflusst. Selbst wenn nicht alle Kampagnen in gleichem Masse „erfolgreich“ waren und viele der weitgesteckten Ziele des NS-Regimes – wie etwa die Unabhängigkeit von Lebensmittelimporten – nicht erreicht wurden, so war die Ernährungspolitik des Nationalsozialismus doch eines der wichtigsten und folgenschwersten Instrumente der NS-Herrschaft. Die Ernährungskampagnen müssen im Zusammenhang einer grausamen Agrar- und Ernährungspolitik gesehen werden, deren Auswirkungen Millionen von Menschen zum Opfer fielen. Der NS-Staat nutzte den Zugang zu Lebensmitteln zur Stabilisierung seiner Machtbasis, zur Identitätsstiftung in der „Volksgemeinschaft “und zur Ausgrenzung von Unerwünschten. Es gab größere Rationenzulagen für Bevölkerungsgruppen, die in der NS-Ideologie als „wertvoll“ eingeschätzt wurden, und Hungerrationen für 77 Ebd., 49. 78 Ebd., 48. 79 Jonathan North, Soviet Prisoners of War : Forgotten Nazi Victims of World War II, HistoryNet.com URL: http://www.historynet.com/soviet-prisoners-of-war-forgotten-nazi-vic tims-of-world-war-ii.htm (abgerufen 10. 2. 2018). Siehe auch Dieter Bach/Jochen Leyendecker, Ich habe geweint vor Hunger. Deutsche und russische Gefangene in Lagern des Zweiten Weltkrieges, Wuppertal 1997.
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Juden und Jüdinnen, „Volksfeinde“, KZ-Häftlinge und Kriegsgefangene. Ihre brutalste Anwendung fand die Ernährungspolitik in der Ermordung von Millionen von Kriegsgefangenen und Zivilisten in den besetzten Gebieten und Lagern. Demgegenüber kam der deutschen Hausfrau und Mutter im Ernährungsbereich die durchaus zwiespältige Aufgabe zu, durch rationales Wirtschaften mit einheimischen Produkten die heraufbeschworene Verbundenheit von „Blut und Boden“ zu stärken. Ihre Waffe sei der Kochlöffel, ihre Front die Küche. Den meisten Frauen ging es aber allein darum, die Versorgung der ihnen Nahestehenden zu sichern, wie das Verhalten Tante Linas exemplarisch veranschaulicht. Das trotz allem vielen Deutschen die 1930er-Jahre als gute Jahre in Erinnerung geblieben sind, hat nicht nur damit zu tun, dass die Jahre von zwei schweren Krisenepochen eingegrenzt waren, sondern damit, dass sie die zahllosen Opfer dieser rassistischen Hungerpolitik und eines zerstörerischen Eroberungskrieges ausblendeten und verdrängt haben. Richtig ist: Der Nationalsozialismus verstand es, den Konsum gezielt zu steuern, und alle Bereiche der Lebensmittelproduktion und Versorgung ihren mörderischen Zielen, der Eroberung von Land und der Vernichtung ganzer Völker unterzuordnen. Dennoch ist die Ernährungspolitik der NS-Zeit nur zynisch als „Erfolg“ zu bezeichnen – sie erreichte ihr Ziel, Millionen von Menschen zu ermorden, und gleichzeitig dem „deutschen Volk“ trotz Krieg und Zerstörung Essen auf die Teller zu bringen.
Ernst Langthaler
Völkischer Produktivismus. Nationalsozialismus und Agrarmodernisierung im Reichsgau Niederdonau 1938–1945
I.
Nationalsozialismus und Agrarmodernisierung
Im April 1938 brachte die im Landkreis Neunkirchen erscheinende Schwarzataler Zeitung einen ganzseitigen Artikel mit dem Titel „Unsere Heimat in 10 Jahren“. Der Autor versetzt sich darin in die Zeit „um das Jahr 1950“, um über den Wandel der regionalen Arbeits- und Lebensverhältnisse nach dem „Anschluss“ Österreichs an das „Großdeutsche Reich“ zu spekulieren. Darin kommt er auch auf den Agrarbereich zu sprechen: „Natürlich ist der einheimische Bauernstand trotz der mit staatlicher Hilfe aufs äußerste gesteigerten Produktion nicht mehr im Stande, den Bedarf an Nahrungsmitteln für unsere ansässige Bevölkerung zu decken, und es ist notwendig, auch von auswärts aus weniger gesegneten Gegenden Landesprodukte einzuführen; den Bauern jedenfalls geht es nicht mehr schlecht, sie bringen alles an, was sie nur irgend erzeugen können, ihre Schulden sind schon im ersten Jahre der Machtübernahme in langfristige Hypotheken umgewandelt worden, die Zins- und Steuerleistungen sind dem Erträgnis der Wirtschaft angepasst worden und mit dem Verkauf von einem oder dem anderen Villenbaugrund haben sich die meisten vollkommen schuldenfrei gemacht. Die Arbeit ist auch viel leichter geworden, man hat überall Maschinen und der Getreidebau, der soviel Mühe und Plage gebracht hat, hat ganz aufgehört, weil der Bauer seine Milch und seine Ochsen gut anbringen kann und darum Geld hat, sich Mehl zu kaufen.“1
Arbeitserleichterung durch Mechanisierung, Betriebsvereinfachung durch Spezialisierung und Einkommenssicherheit durch Rentabilität – so der gegenwartsgebundene Kontrast der zukünftigen „neuen Zeit“, der nationalsozialistischen „(Land-)Volksgemeinschaft“ als „rassisch“ eingehegter Wohlfahrtsgesellschaft, zur vergangenen, krisenhaften „Systemzeit“. Der Erwartungshorizont beginnt sich vom Erfahrungsraum abzuheben und öffnet sich für eine gegenüber
1 Schwarzataler Zeitung, 9. 4. 1938, 5. Für den Hinweis auf diesen Artikel und zahlreiche Gespräche über die Agrargesellschaft im Nationalsozialismus danke ich Ulrich Schwarz.
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der Vergangenheit grundlegend andere Zukunft.2 Diese Vision einer (Agrar-)Moderne scheint nicht nur denk-, sondern auch machbar – gelte doch deren Realisierung als „im Großen und Ganzen fast sicher“. Der Artikel aus einem Provinzblatt belegt, dass nicht nur in den Kommandozentralen des „Dritten Reiches“, sondern auch an peripher gelegenen Orten Modernitätsentwürfe im Windschatten des Nationalsozialismus Gestalt annahmen. Handelt es sich um einen Normal- oder Ausnahmefall – oder etwa um das von der Mikrohistorie bevorzugt untersuchte „außergewöhnlich Normale“?3 Jedenfalls lenkt der Fall unsere Aufmerksamkeit auf das Verhältnis von Nationalsozialismus und (Agrar-)Modernisierung. Die in den 1960er-Jahren losgebrochene, bisweilen hitzige Debatte um die Modernität des Nationalsozialismus ist mittlerweile abgekühlt. In einer abwägenden Forschungsbilanz charakterisiert Riccardo Bavaj den Nationalsozialismus als „Phänomen der Moderne“ – allerdings auf Basis eines veränderten Modernisierungsbegriffs, der zwischen „der Skylla einer modernisierungstheoretischen Aporie und der Charybdis einer kulturkritischen Verdammung“ hindurchsteuere. Der klassische, vom Geist des Kalten Krieges geprägte Modernisierungsbegriff war von einer zielstrebigen Industrialisierung und Demokratisierung nach westlichem Muster ausgegangen. Folglich erschien der Nationalsozialismus als Abweichung vom Normalweg der Modernisierung, als „deutscher Sonderweg“. Demgegenüber erweitert der reflexive Modernisierungsbegriff den Blick auf alternative – unter anderem auch faschistische – Verläufe einer ambivalenten Moderne, die das janusköpfige Potenzial von Zivilisation und Barbarei in sich birgt.4 Detlev Peukerts pionierhafter Erklärungsversuch des Nationalsozialismus als „Krankengeschichte der Moderne“ markiert einen Zwischenschritt in diesem Perspektivenwechsel: Zwar betont er die Ambivalenz von Zivilisation und Barbarei in der nationalsozialistischen „Volksgemeinschaft“; doch stützt die pathologisierende Metapher weiterhin die Annahme eines Normalweges.5 Gerade im Hinblick auf die Agrarentwicklung erscheint in diesem Zusammenhang James Scotts Konzept des Hochmodernismus (high modernism) relevant, das die oftmals barbarischen Ergebnisse zivilisatorischer Staatsprojekte in demokratischen, autoritären und totalitären Systemen betont. Im Zentrum 2 Vgl. Reinhart Koselleck, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, 2. Aufl., Frankfurt am Main 1992, 349–375. 3 Vgl. Hans Medick, Mikro-Historie, in: Winfried Schulze (Hg.), Sozialgeschichte, Alltagsgeschichte, Mikro-Historie, Göttingen 1994, 40–53, hier 46–47. 4 Vgl. Riccardo Bavaj, Die Ambivalenz der Moderne im Nationalsozialismus. Eine Bilanz der Forschung, München 2003, 13–56, 199–204. 5 Vgl. Detlev Peukert, Volksgenossen und Gemeinschaftsfremde. Anpassung, Ausmerze und Aufbegehren unter dem Nationalsozialismus, Köln 1982; Rüdiger Hachtmann/Sven Reichardt (Hg.), Detlev Peukert und die NS-Forschung (Beiträge zur Geschichte des Nationalsozialismus 31), Göttingen 2015.
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steht „a supreme self-confidence about continued linear progress, the development of scientific and technical knowledge, the expansion of production, the rational design of social order, the growing satisfaction of human needs, and, not least, an increasing control over nature (including human nature)“.6 Entgegen diesem totalitären oder auch nur autoritären Anspruch berücksichtigt das von Jess Gilbert ins Spiel gebrachte Konzept des low modernism demokratische Ansprüche der Zivilgesellschaft an Modernisierungsprojekte: „history, tradition, folk knowledge, regional cultures, local planning, midsized family farming, strong rural communities, gradual social change, and meaningful citizen involvement in public policy“.7 Damit steht ein Begriffsinventar zur Verfügung, um unterschiedliche Ausprägungen von (Agrar-)Modernisierung angemessen einzuordnen. Obwohl der klassische den reflexiven Modernisierungsbegriff langsam ablöst, zögern HistorikerInnen, der Agrarentwicklung im „Dritten Reich“ Modernität zuzuschreiben. Merkmale wie das Scheitern der staatlichen Produktionsoffensive („Erzeugungsschlacht“), die ideologiegetriebene Einführung eines ökonomisch ineffizienten Bodenrechts („Reichserbhofgesetz“) oder die Stilisierung des „Bauerntums“ als Kern eines rassistischen Gesellschaftsentwurfes („Volksgemeinschaft“) scheinen das anti-moderne Wesen der nationalsozialistischen Agrargesellschaft zu belegen. Modern anmutende Merkmale – etwa die Abwanderung von Landarbeitskräften in andere Wirtschaftszweige („Landflucht“), die technische „Aufrüstung“ der Bauernbetriebe oder die Professionalisierung der Berufsausbildung – erscheinen als ungewollt, vorgetäuscht oder wirkungslos. Folglich wird Agrarmodernisierung im „Dritten Reich“ gänzlich verneint oder mittels anti-moderner Attribute – „destruktiv“, „reaktionär“ oder „regressiv“ – nur eingeschränkt bejaht.8 In einer aktuellen Forschungsbilanz charakterisiert Gesine Gerhard die vorherrschende Sicht der NS-Ära als Zwischenspiel vor dem Durchbruch zur Hochmoderne: „The twelve years of the
6 James C. Scott, Seeing Like a State. How Certain Schemes to Improve the Human Condition Have Failed, New Haven/London 1998, 89. 7 Jess Gilbert, Planning Democracy. Agrarian Intellectuals and the Intended New Deal, New Haven/London 2015, 79. 8 So der Grundtenor verschiedener Überblickswerke der letzten Jahrzehnte: Gustavo Corni/ Horst Gies, Brot, Butter, Kanonen. Die Ernährungswirtschaft in Deutschland unter der Diktatur Hitlers, Berlin 1997; Ulrich Kluge, Agrarwirtschaft und ländliche Gesellschaft im 20. Jahrhundert (Enzyklopädie deutscher Geschichte 73), München 2005; Friedrich-Wilhelm Henning, Handbuch der Wirtschafts- und Sozialgeschichte Deutschlands, Bd. 3/II: Deutsche Wirtschafts- und Sozialgeschichte 1933 bis 1945, Paderborn u. a. 2013, 52–60, 304–324, 627–638; Gunter Mahlerwein, Grundzüge der Agrargeschichte, Bd. 3: Die Moderne (1880–2010), Köln/Weimar/Wien 2016.
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Third Reich were like an interlude in terms of modernization, offering a reprieve from the long-term trend of structural change taking place.“9 Der zögerliche Umgang der NS-Forschung mit der Modernität der Agrarentwicklung verweist auf die bislang nur unvollständige Reflexion des klassischen Modernisierungsbegriffs. Zwar wurde die räumliche Fixierung auf den westeuropäischen Normalweg aufgebrochen; doch die zeitliche Fixierung auf die „Wirtschaftswunderjahre“ bleibt ungebrochen.10 Im grellen Gegenlicht der Hochmoderne im Nachkriegsboom (Trente Glorieuses) verblassen jegliche Modernisierungsschritte der NS-Ära – vor allem dann, wenn allein technische (und nicht auch institutionelle) Aspekte im Blickpunkt stehen.11 Einem solchen Blendeffekt unterliegt auch die Charakterisierung der NS-Ära als „Proto-Modernisierung“, als Modernisierung vor der eigentlichen Modernisierung.12 Ein durchgängig reflexiver Modernisierungsbegriff überwindet räumliche und zeitliche Dichotomien; er bricht neben dem räumlichen Gegensatz zwischen dem Westen und dem „Rest“ auch den zeitlichen Gegensatz zwischen Tradition und Moderne auf. Einen solchen Brückenschlag versucht etwa das Konzept der „Übergangsgesellschaft“, das zwar die „Gemengelage moderner und traditionaler Strukturen und Werte“ betont, jedoch begrifflich dem zu überwindenden Gegensatz verhaftet bleibt.13 Einen weiterführenden Brückenschlag leistet die Transitionstheorie, die den schroffen Gegensatz von Tradition und Moderne durch fein abgestufte Modernitätsgrade eines Systems überwindet. Damit rückt der Zusammenhang von bislang als „traditional“ oder „modern“ voneinander abgetrennten Systemelementen ins Zentrum. Entlang einer Skala zwischen den Polen „modern“ und „nicht-modern“ (als Alternative zu den wertbesetzten Attributen „traditional“ und „anti-modern“) sind verschiedene Pfade von Systemübergängen von
9 Gesine Gerhard, The Modernization Dilemma: Agrarian Policies in Nazi Germany, in: Lourenzo Fern#ndez-Prieto/Juan Pan-Montojo/Miguel Cabo (Hg.), Agriculture in the Age of Fascism. Authoritarian Technocracy and Rural Modernization, 1922–1945 (Rural History in Europe 13), Turnhout 2014, 139–158, hier 140. 10 Vgl. Anselm Doering-Manteuffel/Lutz Raphael, Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, 3. Aufl., Göttingen 2012, 39–45. 11 Zur Produktivitätsentwicklung der Landwirtschaft in der Weimarer Republik, im „Dritten Reich“ und in der frühen Bundesrepublik Deutschland vgl. Stephanie Degler/Jochen Streb, Die verlorene Erzeugungsschlacht. Die nationalsozialistische Landwirtschaft im Systemvergleich, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte (2008) 2, 161–181. 12 Vgl. Klaus-Dieter Mulley, Modernität oder Traditionalität? Überlegungen zum sozialstrukturellen Wandel in Österreich 1938 bis 1945, in: Emmerich T#los/Ernst Hanisch/Wolfgang Neugebauer (Hg.), NS-Herrschaft in Österreich 1938–1945 (Österreichische Texte zur Gesellschaftskritik 36), Wien 1988, 25–48. 13 Vgl. Arnd Bauerkämper, Traditionalität in der Moderne, in: Zeitschrift für Agrargeschichte und Agrarsoziologie 51 (2003) 2, 9–33, hier 11.
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niedrigeren zu höheren Modernitätsgraden (und wieder retour) denkbar.14 Was im jeweiligen Zeit- und Raumkontext als „modern“ gilt, bedarf freilich der Präzisierung. Dafür bietet sich für die Agrargesellschaft Europas im 20. Jahrhundert das Konzept des Produktivismus an. Produktivismus bezeichnet eine kapitalintensive, hochspezialisierte und wachstumsorientierte Wirtschaftsweise, die die Landwirtschaft aus regionalen Gesellschafts- und Umweltbeziehungen herauslöst und in überregionale Warenketten, reguliert durch vor- und nachgelagerte Industrien, den bürokratischen Interventionsstaat und wissenschaftlich-technisches Expertentum, integriert.15 Der Übergang zum Produktivismus – die „Agrarische Transition“ – fällt für die meisten Staaten Europas in die Jahrzehnte zwischen der Weltwirtschaftskrise der 1930er-Jahre und dem Nachkriegsboom der 1950er- bis 1970er-Jahre.16 Die Transitionstheorie erfasst den produktivistischen Übergang des Agrarsystems auf mehreren Ebenen. Sie unterscheidet drei Ebenen, die wechselseitig aufeinander einwirken: auf der Makroebene die longue dur8e der Systemumwelt, die die äußeren Grenzen des Manövrierraums zwischen produktivistischem und nicht-produktivistischem Wirtschaften abstecken; auf der Mesoebene die mittelfristige Abfolge von Systemregimen, die die inneren Grenzen des Manövrierraums und damit des Hauptstroms der Agrarentwicklung beeinflussen; auf der Mikroebene die kurzzeitige Öffnung von Nischen, in denen AkteurInnen vom Hauptstrom abweichenden Pfaden folgen. In aufsteigender Richtung gewinnen die Strukturen des Systems und dessen Umwelt an Gewicht; in absteigender Richtung wächst die alltagspraktische Verhandlungsmacht (agency) der AkteurInnen.17 Damit lässt sich der produktivistische Übergang des Agrarsystems idealtypisch skizzieren: Die Systemumwelt verschiebt den Manövrierraum in die produktivistische Richtung, etwa durch die Erschließung fossiler Energieträger aus der Lithosphäre zum Einsatz in der Biosphäre; innovationsaffine AkteurInnen eignen sich produktivistische Wirtschaftsstile an und öffnen eine 14 Vgl. Geoff A. Wilson, Multifunctional Agriculture. A Transition Theory Perspective, Wallingford/Cambridge, MA 2007; John Grin/Jan Rotmans/Johan Schot, Transitions to Sustainable Development. New Directions in the Study of Long Term Transformative Change, New York/London 2010; Ulrich Ermann/Ernst Langthaler/Marianne Penker/Markus Schermer, Agro-Food Studies. Eine Einführung, Köln/Weimar/Wien 2018, 194–220. 15 Vgl. Brian Ilbery/Ian Bowler, From Agricultural Productivism to Post-Productivism, in: Brian Ilbery (Hg.), The Geography of Rural Change, London 1998, 57–84; Wilson, Agriculture, 213–270. 16 Vgl. Gunther Mai, Die Agrarische Transition. Agrarische Gesellschaften in Europa und die Herausforderungen der industriellen Moderne im 19. und 20. Jahrhundert, in: Geschichte und Gesellschaft 33 (2007), 471–514. 17 Vgl. Grin/Rotmans/Schot, Transitions, 18–28. Zur Verbindung von System- und Akteurperspektive in der Agrargeschichte vgl. Ernst Langthaler, Wirtschaften mit Stil. Historischanthropologische Perspektiven zum Agrarstrukturwandel als Praxis, in: Historische Anthropologie 20 (2012) 3, 276–296.
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Pioniernische, etwa durch den Kauf von Traktoren mit Verbrennungsmotor ; das Systemregime sucht diese Tendenzen mittels regulierender Eingriffe des Staates zu stärken, etwa durch Investitionszuschüsse und -kredite; die äußeren Grenzverschiebungen des Manövrierraums und das Vorbild der Pioniernische im Inneren leiten den Hauptstrom der Betriebe in Richtung Produktivismus, etwa im Zuge einer Traktorisierungswelle; innovationsaverse AkteurInnen halten an nicht-produktivistischen Wirtschaftsstilen fest und öffnen eine Rückzugsnische, etwa durch die Weiternutzung von Zugtieren als Kraftquelle; das Systemregime sucht die aus dem produktivistischen Übergang folgenden Probleme mittels regulierender Eingriffe zu dämpfen, etwa durch den Ausschluss nicht „entwicklungsfähiger“ Betriebe von der Investitionsförderung; der Hauptstrom der Betriebe vollzieht einen – teils gewählten, teils erzwungenen – Übergang, den die Pionierbetriebe bereits abgeschlossen haben; die Rückzugsbetriebe sehen sich dazu gedrängt, nachzuziehen oder auszuscheiden, zu wachsen oder zu weichen.18 Inwieweit dieser idealtypische Verlauf mit der realhistorischen Agrarmodernisierung im Nationalsozialismus übereinstimmt oder davon abweicht, behandelt dieser Artikel am Beispiel des Reichsgaues Niederdonau mit Ausblick auf die gesamte Ostmark. Niederdonau als Verwaltungseinheit des Deutschen Reiches wurde nach dem „Anschluss“ 1938 auf dem Gebiet des Bundeslandes Niederösterreich abzüglich der „Groß-Wien“ zugeordneten Gemeinden sowie zuzüglich des nördlichen Bundeslandes Burgenland und der ehemals südmährischen Kreise Neubistritz, Nikolsburg und Znaim errichtet.19 Grundsätzlich spricht für die Wahl Niederdonaus die agrarräumliche Vielgestaltigkeit, die von pannonischen bis zu alpinen, von zentrumsnahen zu peripheren, von klein- und gutsbetrieblich zu mittel- und großbäuerlich geprägten Regionen reicht. Pragmatisch gesehen bildet die trotz mancher Lücken günstige Quellenlage ein weiteres Auswahlkriterium. Beide Bedingungen ermöglichen vergleichende Lokal- und Regionalstudien, die ein breites Spektrum an Agrarsystemen abdecken. Vergleiche der lokalen und regionalen Fälle hinsichtlich Gemeinsamkeiten und Unterschieden ermöglichen überregional gültige Erkenntnisse.20
18 Vgl. Everett M. Rogers, Diffusion of Innovations, 5. Aufl., New York u. a. 2003. 19 Vgl. Klaus-Dieter Mulley, Niederdonau: Niederösterreich im „Dritten Reich“ 1938–1945, in: Stefan Eminger/Ernst Langthaler (Hg.), Niederösterreich im 20. Jahrhundert, Bd. 1: Politik, Wien/Köln/Weimar 2008, 73–102. 20 Die folgenden Ausführungen beruhen auf einer umfassenden Regionalmonografie des Autors: Ernst Langthaler, Schlachtfelder. Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945 (Sozial- und wirtschaftshistorische Studien 38), Wien/ Köln/Weimar 2016. Folglich werden im vorliegenden Artikel nur die wichtigsten Quellenund Literaturverweise angeführt.
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II.
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Wirtschaften im Hauptstrom
Das in der älteren Fachliteratur vorherrschende Bild des Verhältnisses von Agrargesellschaft und Nationalsozialismus ist von Traditionalismus, ja Antimodernismus geprägt: „Die Bauern verharrten in ihren bisherigen Gewohnheiten, nutzten, was ihnen von Vorteil erschien, versuchten jene Bestimmungen zu umgehen, die ihnen lästig waren, und verhielten sich alles in allem gegenüber der Obrigkeit so loyal wie eh und je.“21 Die hier auf das „Altreich“ bezogene Statik bäuerlichen Verhaltens („Resistenz“) trifft für die Ostmark, insbesondere für Niederdonau, nur zum Teil zu; insgesamt zeichnen neuere Forschungen ein überraschend dynamisches Bild.22 Zudem unterschlägt die Rede über „die Bauern“ die Vielfalt bäuerlicher Denk- und Handlungsweisen, die sich erst im Blickwechsel von der System- zur Akteursperspektive erschließen lässt.23 Schließlich bedarf auch das Argument, die rückwärtsgewandte „Blut und Boden“-Ideologie sei im schroffen Gegensatz zur fortschrittsorientierten Produktionsoffensive („Erzeugungsschlacht“) – personifiziert durch den Konflikt zwischen dem Ideologen Darr8 und den Pragmatiker Backe – gestanden, einer Korrektur. Diese scheinbar – und punktuell tatsächlich – widersprüchlichen Strukturelemente des NS-Agrarsystems wirkten in der alltäglichen Wirtschaftspraxis vielfach zusammen.24 Insgesamt erweiterte sich in Österreich 1938 bis 1945 der Manövrierraum der Betriebe in die produktivistische wie auch in die entgegengesetzte Richtung – und deren AkteurInnen manövrierten darin auf altbewährten oder neuen Pfaden (Abbildung 1). Gleichwohl unterlagen die Menschen im Alltag verschiedenen Systemregulativen, die über deren teilweisen oder gänzlichen Ein- und Ausschluss entschieden. Die staatlichen Regulative des „Bauernschutzes“, allen voran das der „Blut und Boden“-Ideologie folgende Erbhofrecht,25 erweiterten die Manövrierräume bäuerlicher Familienbetriebe. Das Reichserbhofgesetz bot eine Basis, um sich von den in der Agrarkrise der 1930er-Jahre drückenden Zwängen des Bodenund Kreditmarktes zu distanzieren. Bis Kriegende unterlagen in Niederdonau 20 % der Betriebe und 34 % der Betriebsfläche dem Erbhofrecht, wobei die
21 Friedrich Grundmann, Agrarpolitik im „Dritten Reich“. Anspruch und Wirklichkeit des Reichserbhofgesetzes, Hamburg 1979, 119. 22 Vgl. Langthaler, Schlachtfelder, 11–16; siehe auch die Beiträge von Ulrich Schwarz, Gerhard Siegl und Georg Weissenböck in diesem Heft. 23 Vgl. Langthaler, Wirtschaften. 24 Vgl. Uwe Mai, „Rasse und Raum“. Agrarpolitik, Sozial- und Raumplanung im NS-Staat, Paderborn u. a. 2002; Wolfram Pyta, „Menschenökonomie“. Das Ineinandergreifen von ländlicher Sozialraumgestaltung und rassenbiologischer Bevölkerungspolitik im NS-Staat, in: Historische Zeitschrift 273 (2001), 31–94. 25 Vgl. Grundmann, Agrarpolitik.
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Abbildung 1: Österreichische Agrargesellschaft im Übergang 1938–1945. (Quelle: Langthaler, Schlachtfelder, 744)
Quoten regional stark variierten.26 Der mittelbäuerliche Erbhof durfte nicht hypothekarisch belastet, zwangsversteigert, geteilt oder verkauft werden, sondern wurde entlang der – vorrangig männlichen – Blutslinie innerhalb einer volksdeutschen „Sippe“ weitervererbt. Gleichwohl maß die Erbhofgerichtsbarkeit die HofbesitzerInnen an der „Bauernfähigkeit“, vor allem der ideologisch abgeleiteten „Ehrbarkeit“ und der pragmatisch begründeten „Wirtschaftsfähigkeit“. Die Erbhofgerichtsbarkeit konnte diesem Maßstab nicht entsprechenden „Bauern“ (als ErbhofbesitzerInnen) und „Landwirten“ (als BesitzerInnen eines nicht als Erbhof registrierten Betriebs) die Betriebsführung zeitweilig oder dauerhaft entziehen. Die Spruchpraxis in den untersuchten Gerichtsbezirken Niederdonaus zeigt eine erhebliche Flexibilität, die meist pragmatische über ideologische Maßstäbe stellte.27 Eng verzahnt mit der Erbhofgerichtsbarkeit war die Entschuldungs- und Aufbauaktion, die auf Kreditmärkten verschuldete und von Zwangsversteigerung bedrohte Bauernbetriebe mit staatlichen Umschuldungs- und Investitionsmitteln versorgte – und darüber deren Leistungsfähigkeit wiederherzustellen 26 Vgl. Wochenblatt der Landesbauernschaft Niederdonau 32/1944, 342f. 27 Vgl. Langthaler, Schlachtfelder, 151–230. Quellenbasis: Niederösterreichisches Landesarchiv (NÖLA), BG Ebreichsdorf, Eggenburg, Haag und Tulln, Erbhofakten.
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suchte. Die mit der Abwicklung in den Gauen Wien und Niederdonau beauftragte Landstelle registrierte knapp 25.000 Anträge, das waren 12 % aller Betriebe.28 Die Staatshilfe des Deutschen Reiches zog die bürokratische Erfassung, Kontrolle und Steuerung der Betriebe nach sich, was dem bäuerlichen Autonomieanspruch widersprach. Die Aktion wirkte selektiv, indem sie maßgeschneiderte Entschuldungs- und Aufbaupläne umsetzte: Große, leistungsfähige Betriebe in Gunstlagen erhielten gemäß der betriebswirtschaftlich bemessenen „Lebensfähigkeit“ reichlich Investitionskredite; mittlere, leistungsschwächere Bergbauernbetriebe wurden gemäß der rassenideologisch zugeschriebenen „Lebenswertigkeit“ vor allem staatlich subventioniert; die übrigen, meist kleinen Aufbaubetriebe bekamen geringere Mittelzuweisungen.29 Gemäß der Inklusions- und Exklusionslogik der nationalsozialistischen „Volksgemeinschaft“ war der nach Leistungskriterien abgestufte „Bauernschutz“ gekoppelt mit der „Entjudung“, in deren Zuge der NS-Staat jüdischen Grundbesitz zur „Neubildung deutschen Bauerntums“ enteignete. Wie eng die Auslese des „deutschen Bauern“ und die Aussonderung jüdischer GrundbesitzerInnen zusammenhingen, zeigt die Errichtung des Truppenübungsplatzes Döllersheim für die Deutsche Wehrmacht: Ein Teil der großräumig ausgesiedelten Bauernfamilien erhielt auf den Gründen „arisierter“ Gutsbetriebe Neusiedlerstellen mit Erbhofstatus, deren Gebäude sich zwar äußerlich an der traditionellen Bauernhausästhetik orientierten, jedoch im Inneren optimierten Betriebs- und Haushaltsabläufen entsprachen.30 Auch die übrigen Regionen Niederdonaus zeigten den Zusammenhang von Exklusion und Inklusion, von „Arisierung“ jüdischen Gutsbesitzes und Festigung des „Bauerntums“ – so etwa im Landkreis Gänserndorf an der „volkspolitisch“ sensiblen Reichsgrenze mit ausgedehnten Agrarflächen in jüdischem Besitz. Zwar trieb hier das Leitmotiv des „Volkstumskampfes“ die Verbäuerlichung durch „Entjudung“; doch mussten die Landtransfers in den Augen der Entscheidungsträger auch betriebswirtschaftlichen Gesichtspunkten genügen.31 28 Vgl. August Lombar, Entschuldung und Aufbau der österreichischen Landwirtschaft, Klagenfurt 1953, 33. 29 Vgl. Langthaler, Schlachtfelder, 386–436. Quellenbasis: NÖLA, Amt NÖLReg, L.A. VI/12, Entschuldungsakten, AZ 263–289 (GB Matzen), AZ 328–354 (GB Litschau), AZ 909–934 (GB Mank), AZ 1378–1383 (GB Kirchberg/P.). 30 Vgl. Marion Schindler, Wegmüssen. Die Entsiedlung des Raumes Döllersheim (Niederösterreich) 1938–1942 (Veröffentlichungen des Österreichischen Museums für Volkskunde 23), Wien 1988; Maria Theresia Litschauer, Architekturen des Nationalsozialismus. Die Bauund Planungstätigkeit im Kontext ideologisch fundierter Leitbilder und politischer Zielsetzungen am Beispiel der Region Waldviertel 1938–1945. Ein konzeptkünstlerisches Forschungsprojekt, Wien/Köln/Weimar 2012. 31 Vgl. Langthaler, Schlachtfelder, 151–199. Quellenbasis: NÖLA, RStH ND, Unterabteilung IVc (Obere Siedlungsbehörde), Arisierung Niederdonau (AND).
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Der staatliche „Bauernschutz“ vor den kaum kalkulierbaren Marktkräften war nicht allumfassend, sondern knüpfte sich an ein bestimmtes Leistungsniveau. Wie in den Teilbereichen der Erbhofgerichtsbarkeit, der Entschuldungs- und Aufbauaktion sowie der „Arisierung“ jüdischen Grundbesitzes galt der Maßstab der „ordnungsgemäßen Bewirtschaftung“ auch für die Gesamtheit der Landwirtschaftsbetriebe. Ein weitgespanntes und tiefgreifendes Kontrollnetz knüpfte die Betriebsstatistik („Hofkarte“) des Reichsnährstandes, die auf einem mehrseitigen Erhebungsblatt für jeden Betrieb ab einer gewissen Mindestgröße eine Fülle von Merkmalen – Betriebs- und Haushaltsangehörige, Grundbesitz, Landund Ackernutzung, Viehbestand, Maschinenausstattung, Erträge der Pflanzenund Tierproduktion und so fort – verzeichnete und jährlich aktualisierte. Die Hofkarte diente vor allem dem Leistungsvergleich von Betrieb zu Betrieb sowie für den einzelnen Betrieb von Jahr zu Jahr. Neben der Urschrift der Hofkarte, die die Kreisbauernschaft führte, sollten sich HofinhaberInnen mittels des Heftes „Meine Hofkarte“ regelmäßig Rechenschaft über die Betriebsleistung zu verschaffen.32 Die Kombination von Fremd- und Selbstkontrolle glich einem „panopticon“, dessen InsassInnen stets annehmen mussten, von außen beobachtet zu werden – und sich zur Vermeidung von Fremddisziplinierung selbst disziplinierten.33 Die Hofkarte etablierte zusammen mit weiteren Datensammlungen, etwa den ebenfalls an den Kreisbauernschaften geführten Hofakten,34 ein Scharnier der subjektlosen Macht des Staates über das Subjekt des „gläsernen Bauern“.35 Trotz verschärfter Erfassungs-, Kontroll- und Steuerungsmaßnahmen drängte seit der Kriegswende 1941/42 der zunehmende Arbeitskräfte- und Betriebsmittelmangel den Hauptstrom der Betriebe in Richtung Extensivierung, in manchen Fällen sogar zur vorübergehenden Stilllegung. Die nationalsozialistische Kriegsführung beraubte die erst ansatzweise motorisierten Landwirtschaftsbetriebe ihrer Basisressource – der Muskelkraft der zum Militär eingezogenen Männer und Pferde. Die mehr- und überbelasteten Frauen und Jugendlichen der Bauernfamilien vermochten diesen Energieausfall trotz der massenhaft in der Landwirtschaft eingesetzten ZwangsarbeiterInnen kaum auszugleichen.36 Folglich sanken die Betriebsleistungen der österreichischen 32 Vgl. H. L. Fensch, Die bäuerliche Betriebsforschung des Reichsnährstandes, in: Konrad Meyer (Hg.), Gefüge und Ordnung der deutschen Landwirtschaft, Berlin 1939, 590–594. 33 Vgl. Michel Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, 2. Aufl., Frankfurt am Main 1977, 251. 34 Vgl. Michael Mooslechner/Robert Stadler, Die nationalsozialistische „Entschuldung“ der Landwirtschaft. Analyse der „Hofakten“ der Gemeinde St. Johann im Pongau 1938–1945, in: Zeitgeschichte 14 (1986), 55–68; siehe auch den Beitrag von Ulrich Schwarz in diesem Heft. 35 Vgl. Patrick Joyce/Chandra Mukerji, The State of Things: State History and Theory Reconfigured, in: Theory and Society 46 (2017) 1, 1–19 36 Vgl. Ela Hornung/Ernst Langthaler/Sabine Schweitzer, Zwangsarbeit in der Landwirtschaft
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Landwirtschaft bis zum Ende der NS-Ära deutlich unter das Anfangsniveau. Gemessen am Stand von 1937 blieb von 1938/41 bis 1942/44 zwar das Produktionsvolumen pro Beschäftigtem (Arbeitsproduktivität) mit 103 Indexpunkten konstant – ein Ausdruck zunehmender Selbstausbeutung der Familien und der Fremdausbeutung sonstiger (Zwangs-)Arbeitskräfte; doch das Produktionsvolumen pro Nutzflächeneinheit (Bodenproduktivität) fiel von 93 auf 81 Indexpunkte ab.37 Die Regulative des „Bauernschutzes“, die die betrieblichen Marktbeziehungen staatlicher Kontrolle unterwarfen, erweiterten den Manövrierraum alltäglichen Wirtschaftens in die nicht-produktivistische Richtung. In Richtung des Produktivismus wirkten die Regulative der staatlichen Produktionsoffensive („Erzeugungsschlacht“) im Rahmen der Kriegswirtschaft, die den Spielraum marktorientierten Wirtschaftens erweiterten.38 Vor dem „Anschluss“ hatte die Nachfrageschwäche des kleinstaatlichen, unter dem Kaufkraftschwund der industrieproletarischen und kleingewerblichen Bevölkerung leidenden Binnenmarktes – vor allem für das bergbäuerliche Angebot an Tier- und Waldprodukten – eine Expansionsbarriere gebildet; danach öffnete sich der scheinbar unersättliche Absatzmarkt „Großdeutschlands“.39 Auf der Input-Seite des Agrarsystems verschoben sich die Faktorgewichte: Waren zuvor Landarbeitskräfte reichlich vorhanden und billig sowie Agrartechnik knapp und teuer, kehrten sich 1938/39 die Preisrelationen um: „Landflucht“ und Militärdienst trieben die Landarbeiterlöhne in die Höhe; Zollsenkung und Förderaktionen verbilligten chemische und mechanische Betriebsmittel. Diese Preisverschiebungen befeuerten eine – regional und betrieblich ungleich greifende – Technisierungswelle, die den Handelsdüngereinsatz sowie die Motoren- und Maschinenausstattung der Betriebe steigerte. Auf der Output-Seite trieben ökonomische und außerökonomische Momente der Lebensmittelbewirtschaftung – amtliche Fix- und steigende Schwarzmarktpreise sowie Transportkostenzuschüsse einerseits, staatliche Produktionsappelle und Ablieferungszwänge andererseits – die betriebliche Marktverflechtung voran. Die von den staatlich regulierten Faktor- und Produktmärkten ausgehenden Impulse leiteten den Hauptstrom der Betriebe bis zur Kriegswende 1941/42 in Richtung wachsender Boden- und Arbeitsproduktivität: Gemessen am Stand von 1937 stiegen die
in Niederösterreich und dem nördlichen Burgenland (Veröffentlichungen der Österreichischen Historikerkommission 26/3), Wien/München 2004. 37 Vgl. Langthaler, Schlachtfelder, 726–742. 38 Vgl. Corni/Gies, Brot, 261–280. 39 Vgl. Harald Schöhl, Österreichs Landwirtschaft. Gestalt und Wandlung 1918–1938, Berlin 1938.
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entsprechenden Indexwerte von 90 bzw. 95 für 1930/37 auf 93 bzw. 103 für 1938/ 41.40 In welcher Weise beschritten die AkteurInnen den beidseitig erweiterten Manövrierraum ländlichen Wirtschaftens? Was oft pauschal als „die Bauern“ bezeichnet wird, entpuppt sich bei näherem Hinsehen als Vielfalt bäuerlichen Wirtschaftens. Diese Vielfalt lässt sich nach zwei Dimensionen hin unterscheiden: Die waagrechte Dimension beschreibt ein Intensitäts- und Größenprofil, dessen beide Pole in Richtung arbeitsintensiver Klein- bzw. kapitalintensiver Großbetriebe auseinanderstreben. Die senkrechte Dimension beschreibt den Produktionsschwerpunkt und strebt den gegenläufigen Polen Marktfruchtbau bzw. Mischwirtschaft zu. Wie die vier Pole der beiden Dimensionen verweisen auch ihre vier paarweisen Kombinationen in den Ecken des Feldes auf Idealtypen von Agrarsystemen: den kapitalintensiven Großbetrieb mit Mischwirtschaft rechts oben, den kapitalintensiven Großbetrieb mit Marktfruchtbau rechts unten, den arbeitsintensiven Familienkleinbetrieb mit Marktfruchtbau links unten und den arbeitsintensiven Familienkleinbetrieb mit Mischwirtschaft und Nebenerwerb, links oben. Dieser Raum umfasst die realen Ausprägungen von Agrarsystemen und damit korrespondierenden Wirtschaftsstilen: Zuckerrübenbauern, Maschinenmänner, Mischwirtschafter, Ochsenbauern, Gewerbebauern, Arbeiterbauernfamilien, Nebenerwerbsbauernfamilien, Weinhauerfamilien, Kleinbauernfamilien und Ackerbäuerinnen (Abbildung 2).41 Das bäuerliche Wirtschaften erwies sich nicht nur zum selben Zeitpunkt, sondern auch über die Jahre gesehen als vielfältig, wie das Produktionsverhalten in drei Regionen Niederdonaus 1941 bis 1944 zeigt: Zwar scheiterten knapp die Hälfte der Betriebe an der Vorgabe des Reichsnährstandes, eine Extensivierung der Landnutzung zu vermeiden. Doch gut ein Achtel verzeichnete konstante Bodenproduktivität und fast vier Zehntel vermochten den Betrieb sogar zu intensivieren. Ähnlich verteilen sich die Betriebe mit schrumpfendem, konstantem und wachsendem Produktionsvolumen. Insgesamt zeigen sich zwei auseinanderstrebende Pfade: Produktionssenkung bei Extensivierung (Stil des „Abwirtschaftens“) bei vier Zehntel der Betriebe, insbesondere bei den Ochsenbauern, sowie Produktionssteigerung bei Intensivierung (Stil des „Aufwirtschaftens“) bei einem Viertel der Betriebe, vor allem bei Ackerbäuerinnen, Zuckerrübenbauern und Maschinenmännern. Zudem verzeichnete etwa ein Viertel der Betriebe, etwa die Mischwirtschafter, eine vergleichsweise konstante Entwicklung (Stil des „Weitermachens“). Demzufolge lagen Erfolg und Misserfolg der „Kriegserzeugungsschlacht“ nahe beisammen. Entgegen der in der Literatur vertretenen Ansicht eines allumfassenden Produktivitäts- und Pro40 Vgl. Langthaler, Schlachtfelder, 626–742. 41 Vgl. ebd., 102–116. Quellenbasis: NÖLA, BBK Gänserndorf, Litschau und Mank, Hofkarten.
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Abbildung 2: Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens in den Regionen Litschau, Mank und Matzen 1941–1944. (Quelle: Langthaler, Schlachtfelder, 104)
duktionsrückgangs belegen diese Befunde das Auseinanderdriften von Schrumpfungs- und Wachstumsbetrieben.42 Allein auf die Produktivitäts- und Produktionsentwicklung der Betriebe zu achten, würde zu kurz greifen. Diese technischen Aspekten der Agrarentwicklung waren verzahnt mit institutionellen Aspekten, die das alltägliche Wirtschaften formell und informell regelten: von den Regulativen des Staats- und Marktsystems über die Konventionen regionaler und lokaler Kommunikati42 Vgl. ebd., 642–668. Quellenbasis: NÖLA, BBK Gänserndorf, Litschau und Mank, Hofkarten.
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onsnetzwerke bis zu den habituellen Denk- und Handlungsweisen der Frauen und Männer. Der Anspruch des nationalsozialistischen Interventionsstaates, den Agrarsektor wie einen Bauernhof zu führen, äußerte sich in der schrittweisen Kolonialisierung der Alltagswelt durch Systemregulative:43 Entbettung, Mediation und Normalisierung. In den einzelnen Kräftefeldern durchdrangen staatliche Umverteilungs- und überregionale Marktbeziehungen zunehmend die multifunktionalen Reziprozitätsnetze vor Ort – ohne diese völlig aufzulösen. Auf diese Weise ersetzten vertikale Abhängigkeiten von Staat und Markt die horizontalen Gemeinschaftsbeziehungen innerhalb der Agrargesellschaft beim Zugriff auf die Ressourcen Grundbesitz, Arbeitskraft, Betriebskapital, Agrarwissen und Agrargüter.44 Gegen diese Kolonialisierungsanläufe mobilisierte der Anspruch der AkteurInnen auf eine selbstkontrollierte Ressourcenbasis, ein Kernelement bäuerlicher Wirtschaftsstile, vielerlei Facetten von Eigensinn: „Meckern“ am Stammtisch, Ignorieren von Vorschriften, Ausweichen in die Schattenwirtschaft und so fort. Als Mediatoren in den Kräftefeldern wirkten mittlere und untere Amtsträger wie Kreis- und Ortsbauernführer, die – über ihre Rolle als Befehlsempfänger ihrer Vorgesetzten hinaus – oft auch Ermessensspielräume im Eigeninteresse und im Interesse ihrer dörflichen Klientel nutzten. Auf diese Weise vermochten sie den mit zunehmenden Kriegslasten schwindenden Konsens des „Landvolkes“ mit dem NS-Regime zwar kaum zu stärken; doch dämmten sie aufkeimenden Dissens auf ein für die Machthaber kontrollierbares Maß ein.45 Schließlich wurden regelmäßige Eingriffe von Systemregulativen – die Auskunft gegenüber Erhebungsorganen, das Führen der Hofkarte, die Lektüre des Mitteilungsblattes der Landesbauernschaft und so fort – durch oftmalige Wiederholung langsam zur Alltagsnormalität.46 Die schrittweise Kolonialisierung der bäuerlichen Alltagswelt lässt sich beispielhaft an der Entschuldungs- und Aufbauaktion im Feld des Betriebskapitals nachzeichnen. Während die durchführende Landstelle die laufenden Bankkredite festschrieb, wurden die oft von Nachbarn und Verwandten gewährten Privatkredite sowie Schulden bei örtlichen Gewerbetreibenden vom Deutschen Reich abgelöst und in staatliche Darlehen umgeschuldet. Folglich ersetzte das Schuldverhältnis zum Staat als dem (neben den Bankinstituten) Alleingläubiger die multifunktionalen Gläubiger-Schuldner-Beziehungen innerhalb der ländlichen Milieus. Die damit verbundene Umkehr des bäuerlichen Patron-Klient43 Vgl. Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 2, Frankfurt am Main 1981, 522. 44 Vgl. Karl Polanyi, Ökonomie und Gesellschaft, Frankfurt am Main 1979, 219–244. 45 Vgl. Daniela Münkel, Nationalsozialistische Agrarpolitik und Bauernalltag, Frankfurt am Main/New York 1996. 46 Vgl. Pierre Bourdieu, Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft, Frankfurt am Main 1993, 97–121.
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Verhältnisses, der Verlust an alltagsweltlicher Autonomie zugunsten finanzieller und bürokratischer Systemabhängigkeit, stieß jedoch am sprichwörtlichen „Bauernstolz“ auf Widerspruch – was Landesbauernschaft sowie Kreis- und Ortsbauernführer zu Vermittlungsversuchen drängte. Im Zuge der Verfahren bewerteten Gutachter der Landstelle mittels penibler Erhebungen vor Ort die Entschuldungsbedürftigkeit, -fähigkeit und -würdigkeit der AntragstellerInnen. Die daraus erstellten Entschuldungs- und Aufbaupläne, die die betrieblichen Leistungssteigerungen in Zahlen gossen, suchten den Imperativ betriebswirtschaftlicher Optimierung in den familienwirtschaftlichen Habitus der „Betriebsführer“ gleichsam einzuschreiben: nicht wie bislang ab- oder weiterwirtschaften, sondern künftig aufwirtschaften. Für den strebsamen Jungbauern, der die Hofkarte über den Zusammenbruch des „Dritten Reiches“ hinaus jahrelang weiterführte, war diese unternehmerische Logik bereits denk- und handlungsleitend – „normal“ – geworden.47
III.
Wirtschaften in den Rückzugsnischen
Obgleich die Messlatte der „ordnungsgemäßen Bewirtschaftung“ der Extensivierung der Land- und Viehnutzung Grenzen setzte, zogen sich ab der Kriegswende 1941/42 mehr und mehr Betriebe in die Nische abnehmender Wirtschaftsintensität – gemessen an den amtlich registrierten Leistungen – zurück. Der Rückzug von der Offensive der „Kriegserzeugungsschlacht“ erfolgte schrittweise: abkoppeln, zurückfahren und stilllegen. Zunächst koppelten sich BetriebsleiterInnen von der staatlichen Marktordnung und Bewirtschaftung nach und nach ab. Als Triebkraft wirkte weniger die milieugeleitete Resistenz gegenüber der nationalsozialistischen Ideologie, als vielmehr die stilgeleitete Resilienz gegenüber wirtschaftlichen Krisenmomenten. Krisen entstanden nicht nur im Inneren der Betriebe und Haushalte – Ehekonflikte, Krankheiten, Viehausfälle, Maschinenschäden, Brandunglücke und so fort –, sondern folgten vermehrt aus äußeren Umständen. Der Zugriff des Bewirtschaftungsapparats auf die Erträge der Pflanzen- und Tierproduktion und des Militärapparats auf die männlichen Arbeitskräfte, einschließlich der BetriebsleiterInnen, beraubte die Betriebe und Haushalte wichtiger Schlüsselressourcen. Die der bäuerlichen „Selbstversorgergemeinschaft“ amtlich zugemessenen Nahrungs- und Futtermittelquoten sowie die behördliche Zuteilung von „fremdvölkischen“ Arbeitskräften vermochten vielerorts diese Ausfälle nicht zu kompensieren. Gemäß der familienbetrieblichen Logik reagierten die bäuerlichen Haushalte mit Mehrarbeit und Minderverbrauch („Selbstausbeutung“) und zogen sich auf die be47 Vgl. Langthaler, Schlachtfelder, 43, 128–149, 385–436.
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triebseigene Ressourcenbasis zurück; auf diese Weise stärkten sie ihre Krisenfestigkeit („Resilienz“).48 Ausdruck der Abkoppelung von der staatlichen Marktordnung war auch das verstärkte Engagement in der Schattenwirtschaft, das nicht allein dem Profitstreben auf dem lukrativen Schwarzmarkt entsprang. Wie die wegen Verstößen gegen die Kriegswirtschaftsvorschriften geführten Sondergerichtsverfahren offenlegen, dienten Falschangaben über Vorräte, das „Schwarzschlachten“ oder das Verfüttern von Brotgetreide auch der Sicherung der selbstkontrollierten Ressourcenbasis, etwa um gewohnheitsmäßig die – angesichts der Arbeitskräfteknappheit noch unverzichtbareren – TagelöhnerInnen zu verköstigen.49 Während der amtliche Kontrollapparat die zunehmende Abkoppelung von Betrieben mehr oder weniger resignativ zur Kenntnis nahm, sah er sich in Fällen vermuteter oder offensichtlicher Vernachlässigung der Betriebsführung zum Einschreiten veranlasst. So etwa strengte der Reichsnährstand gerichtliche Überprüfungen der gesetzlichen „Bauernfähigkeit“ von ErbhofbesitzerInnen an. Waren „Wirtschaftsfähigkeit“ oder andere Voraussetzungen nicht gegeben, konnte das Gericht befristet oder dauerhaft die treuhänderische Verwaltung des Erbhofs anordnen. Ein genauer Blick in derartige Erbhofgerichtsverfahren enthüllt, dass hinter mangelnder „Wirtschaftsfähigkeit“ oft ein drückender Mangel an Arbeitskräften infolge von „Landflucht“ und Militärdienst stand. Damit gerieten vor allem von Frauen geführte sowie kleinere und ungünstig gelegene Betriebe, die kaum über Ersatz fehlender Familienarbeitskräfte durch Kriegsgefangene oder ausländische ZivilarbeiterInnen verfügten, in die Mühle der Erbhofgerichtsbarkeit. Die Kontrolle ging jedoch nicht nur von oben und außen, sondern auch von unten und innen aus. EhepartnerInnen, Familienangehörige und Verwandte nutzten mittels Anträgen zur Überprüfung der „Bauernfähigkeit“ die Erbhofgerichtsbarkeit als Vorderbühne, um auf der Hinterbühne des Alltags schwelende Konflikte im eigenen Sinn zu lösen. Auf diese Weise betrieben die AkteurInnen in ihrer Alltagswelt eine unbeabsichtigte, aber umso wirksamere Selbstkontrolle, die der Fremdkontrolle durch das NS-System zuarbeitete.50 Abkoppeln und Zurückfahren mündeten mit verschärftem Arbeitskräfte- und Betriebsmittelmangel in der Stilllegung von Betrieben. Im Zeitraum 1941 bis 1944 setzten am häufigsten Arbeiterbauernfamilien, Gewerbebauern, Nebenerwerbsbauernfamilien und Weinhauerfamilien, mithin Betriebe am unteren Ende 48 Vgl. Alexander Tschajanow, Die Lehre von der bäuerlichen Wirtschaft. Versuch einer Theorie der Familienwirtschaft im Landbau, Berlin 1923. 49 Vgl. Langthaler, Schlachtfelder, 570–620. Quellenbasis: Wiener Stadt- und Landesarchiv, Sondergericht, Verfahrensakten. 50 Vgl. ebd., 216–230. Quellenbasis: NÖLA, BG Ebreichsdorf, Eggenburg, Haag und Tulln, Erbhofakten.
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der Besitzgrößenhierarchie, die Landbewirtschaftung für ein Jahr oder länger aus. Unter Maschinenmännern, Mischwirtschaftern und Zuckerrübenbauern, die an der Spitze der Besitzgrößenhierarchie rangierten, fanden keine Betriebsstilllegungen statt. Die erzwungene oder gewählte Entscheidung zwischen Weiterbewirtschaftung und Stilllegung des Betriebs stellte sich vor allem für unterbäuerliche Gruppen; für Bauernhöfe, die dem rigiden Kontrollapparat von Reichsnährstand, Erbhofgerichtsbarkeit und Landstelle unterlagen, bestand diese Alternative kaum. Bäuerliche Familienwirtschaften vermochten die drückende Arbeitskräfteknappheit durch eine ihrer wichtigsten Ressourcen zu kompensieren: die flexible Mobilisierung von (vorwiegend weiblichen) Arbeitskraftreserven über Verwandtschaftsnetzwerke.51 Die familienökonomisch naheliegende Verweiblichung der bäuerlichen Arbeitskräftebasis kollidierte jedoch mit dem agrarideologischen Leitbild des männlichen „Betriebsführers“. In dem Maß, in dem Bauersfrauen die Betriebsführung ihrer zum Militär eingerückten Ehemänner übernehmen mussten, mehrten sich kritische Kommentare aus dem Agrarapparat. „Hofpatenschaften“ und „Kriegs-Höfegemeinschaften“, im Zuge derer männliche Betriebsleiter die Beaufsichtigung oder Leitung „verwaister“ – unter weiblicher Leitung stehender – Betriebe übernahmen, sollten die patriarchalische Geschlechterordnung auf dem Hof wiederherstellen.52 Letztlich oblag es den Frauen der Bauernfamilien, mit dem Widerspruch zwischen offiziellen Entlastungsmaßnahmen und alltäglichen Belastungen zurande zu kommen.
IV.
Wirtschaften in den Pioniernischen
Von den Kommandohöhen des NS-Agrarapparats aus gesehen bildete die Hauptfront der auf höchstmögliche Autarkie ausgerichteten „Kriegserzeugungsschlacht“ die „Fettlücke“, häufig auch als „Eiweiß- und Fettlücke“ bezeichnet. Während der Selbstversorgungsgrad des Deutschen Reiches 1933/34 bis 1938/39 bei Nahrungsmitteln insgesamt von 80 auf 83 % zunahm, stieg er bei Fetten lediglich von 53 auf 57 %.53 Dementsprechend konzentrierte der Reichsnährstand seine Produktionsoffensive auf pflanzliche und tierische Fette. Damit eröffneten sich manchen BetriebsleiterInnen Pioniernischen intensivierten 51 Vgl. ebd., 230–253. Quellenbasis: NÖLA, BBK Gänserndorf, Litschau und Mank, Hofkarten. 52 Vgl. Hugo Jury, Dorfkameradschaft. Kriegs-Höfegemeinschaften im Dienste der Nachbarschaftshilfe, in: Nationalsozialistische Landpost 42/1944, 1. 53 Vgl. Vgl. Heinrich E. Volkmann, Die NS-Wirtschaft in Vorbereitung des Krieges, in: Militärgeschichtliches Forschungsamt (Hg.), Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Bd. 1: Ursachen und Voraussetzungen der deutschen Kriegspolitik, Stuttgart 1979, 177–368, hier 301.
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zeitgeschichte 45, 3 (2018)
Wirtschaftens. Die mit Kriegsbeginn anlaufende Anbauoffensive von Ölfrüchten schnürte ein Förderungspaket, bestehend aus Prämienanreizen, Betriebsmittelzuteilungen und Expertenwissen, das – entgegen der nationalsozialistischen Bauerntumsrhetorik – den „Landwirt“ als männlich gedachten Unternehmer adressierte. Die in Wort, Schrift und Bild verbreitete Botschaft lautete, sich nicht in Selbstgenügsamkeit zu ergehen, sondern betriebs- und volkswirtschaftliche Höchstleistungen anzustreben (Abbildung 3). Die materiellen und ideellen Anreize fielen durchaus auf fruchtbaren Boden, wie die Expansion des Rapsanbaus in Niederdonau zwischen 1938 und 1943 von nahezu null auf über 6.200 Hektar zeigt.54 Die Bilanz der Ölfruchtanbauoffensive war jedoch nach Regionen und Betrieben ungleich verteilt. Neben großen Landgütern im östlichen Flachland Niederdonaus gingen hochmechanisierte, gewinnorientierte und von fachlich geschultem Personal geführte Bauernbetriebe in Gunstlagen – vor allem Maschinenmänner und Zuckerrübenbauern – zum Ölfruchtanbau über.55
Abbildung 3: Schaubild zum Ölfruchtanbau 1940. (Quelle: Wochenblatt der Landesbauernschaft Donauland 19/1940, beiliegendes Flugblatt, o. P.)
54 Vgl. Österreichisches Statistisches Zentralamt (Hg.), Ergebnisse der landwirtschaftlichen Statistik in den Jahren 1937–1944, Wien 1948. 55 Vgl. Langthaler, Schlachtfelder, 642–668. Quellenbasis: NÖLA, BBK Gänserndorf, Litschau und Mank, Hofkarten.
Ernst Langthaler, Völkischer Produktivismus
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Dieser (Teil-)Sieg an der Hauptfront der „Kriegserzeugungsschlacht“ gründete im Zusammenspiel von politischen und ökonomischen Produktionsappellen und -anreizen sowie unternehmerischen Wirtschaftsstilen, die mit den Eigenarten der Rapspflanze interagierten. Der Raps nötigte seinen an reichen Erträgen interessierten AnbauerInnen eine Reihe von Verhaltensweisen auf, wie die zeitgenössische Fachpresse ausführte: Die frostempfindliche Pflanze bevorzugte milde Lagen; sie erforderte den Zukauf „bewährter Sorten“ an Saatgut; sie drängte auf den Einsatz von Sämaschinen; sie verlangte „gute Weizenböden“; sie bedurfte als „Düngerfresser“ ausgiebiger Handelsdüngermengen; sie machte mehrmalige Bodenbearbeitungen nötig; sie zwang zur mechanischen oder chemischen Bekämpfung ihres Hauptschädlings, des Rapsglanzkäfers; sie setzte als Ackerneuling den Erwerb von Fachwissen voraus. So entspann sich zwischen dem Raps und seinen Kultivatoren ein Netz von wechselseitigen Abhängigkeiten, das menschliche und nicht-menschliche Eigenlogiken verband.56 Der damit korrespondierende Wirtschaftsstil beförderte die Intensivierung der Landnutzung und, über Rücklieferungen eiweißreichen Ölkuchens durch die Verarbeitungsindustrie, auch der Viehnutzung – mithin des gesamten betrieblichen Agrarsystems. Somit formierten sich die ÖlfruchtanbauerInnen als Avantgarde einer mit vor- und nachgelagerten Industrien verflochtenen Landwirtschaft, die in den Nachkriegsjahrzenten für die Mehrheit der Bauernbetriebe bestimmend wurde.57 Die Nische des Ölfruchtanbaus beschränkte sich auf die Gunstlagen der Ebenen. Doch auch in den klimatisch und verkehrsmäßig ungünstigen Gebirgslagen öffnete der Kampf gegen die „Fettlücke“ eine weitere Pioniernische: die Aufbauaktion im Allgemeinen und den „Gemeinschaftsaufbau im Bergland“ im Besonderen. Während der breit gestreute „Aufbau“, meist in Verbindung mit der „Entschuldung“, die Leistungsfähigkeit der Bergbauernbetriebe rasch zu heben suchte, unternahm der auf wenige Pilotprojekte beschränkte „Gemeinschaftsaufbau im Bergland“ einen Schritt zur „Aufrüstung des Dorfes“ nach dem – in immer weitere Ferne rückenden – „Endsieg“. Obwohl beide Pioniernischen die „Fettlücke“ mittels pflanzlicher Fette aus Ölfrüchten und tierischen Fetten aus Kuhmilch schließen sollten, waren die Leistungskriterien unterschiedlich gelagert: Während die Ölfruchtanbauoffensive an den unternehmerischen Landwirt als marktorientierten Produzenten appellierte, zielte der „(Gemeinschafts-)Aufbau“ auf die familienwirtschaftlich orientierten Bergbauern. Hier suchte der NS-Agrarapparat nicht allein das technische, sondern vor allem das
56 Vgl. Bruno Latour, Reassembling the Social. An Introduction to Actor-Network-Theory, Oxford 2005, 54–55. 57 Vgl. Langthaler, Schlachtfelder, 642–668.
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„völkische“ Leistungspotenzial – die abgehärtete, „erbgesunde“ und kinderreiche Bauernfamilie als „Blutsquell des Volkes“ – zu aktivieren.58 An der Gemeinde Ybbsitz lässt sich die Stoßrichtung des Gemeinschaftsaufbaus im Detail bestimmen. Laut Aufbauplan sollten die überwiegend aus öffentlichen Geldern finanzierten Maßnahmen die Bergbauernwirtschaft innerhalb von fünf Jahren grundlegend umformen: Auf der Input-Seite war die Aufstockung der durchschnittlichen Kapitalausstattung – des Viehbesatzes von 16 auf 33 Großvieheinheiten, des Maschinenneuwerts von knapp 2.000 auf über 10.000 Reichsmark – bei kaum veränderter Land- und Arbeitskräfteausstattung vorgesehen. Auf der Output-Seite rechneten die Planer mit dem massiven Ausbau der Milch- und Fleischvermarktung, um die Betriebsrentabilität zu steigern, verbunden mit dem Ausbau der Güterwege. Damit zielten die Planungen auf einen wachstums- und marktorientierten Wirtschaftsstil, der auch Geschlechterrollenentwürfe einschloss: Das Entwicklungsziel bildete der kapitalintensive, auf Grünlandbewirtschaftung und Milchviehhaltung spezialisierte Mittelbetrieb unter männlicher Führung. Die Ehefrau des Bergbauernhofbesitzers sollte vor allem als Hausfrau und Mutter „erbgesunden“ Nachwuchses dem Aufbau dienen. Dementsprechend entwarfen die Baupläne der zu errichtenden Wohn- und Wirtschaftsgebäude hinter der bodenständigen Hausfassade eine Architektur, die den Maßstäben betriebswirtschaftlicher Optimierung und verbürgerlichten Familienlebens folgte: vergrößerte Stall- und Hausfenster für mehr Tageslichteinfall, eigene Arbeitsräume zur Futter- und Milchverarbeitung, eine von der Wohnstube abgetrennte Küche. Entsprechend dem Bedürfnis der Milchkühe nach sorgsamer Behandlung, um Verletzungen und Krankheiten des Euters – vor allem beim Einsatz der produktivitätssteigernden Melkmaschine – zu vermeiden, sollten fast ausschließlich gut motivier- und kontrollierbare Familienangehörige als Arbeitskräfte zum Einsatz kommen. Zwar brach dieser Freilandversuch zur Züchtung eines technisch und „völkisch“ produktiven Bergbauern nach der Kriegswende 1941/42 wegen exogenen Ressourcenmangels in der Kriegswirtschaft und endogener Widersprüche in der „Aufbaugemeinschaft“ in sich zusammen. Gleichwohl zeichneten sich am Horizont die Konturen eines bergbäuerlichen Entwicklungspfades ab, der nach dem Krieg richtungsweisend werden sollte.59 Beide Pioniernischen verwiesen auf ein agrargesellschaftliches Entwicklungsprojekt, das die Zeit- und Raumkoordinaten bäuerlichen Wirtschaftens 58 Vgl. Gerhard Siegl, Bergbauern im Nationalsozialismus. Die Berglandwirtschaft zwischen Agrarideologie und Kriegswirtschaft (Innsbrucker Forschungen zur Zeitgeschichte 26), Innsbruck/Wien/Bozen 2013, und den Beitrag von Gerhard Siegl in diesem Heft. 59 Vgl. Langthaler, Schlachtfelder, 436–472. Quellenbasis: Österreichisches Staatsarchiv/Archiv der Republik, REM, Unterabteilung Bergland, Gemeinschaftsaufbau Niederdonau, Mappe Ybbsitz.
Ernst Langthaler, Völkischer Produktivismus
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neu justierte: In zeitlicher Hinsicht markierte es einen Bruch mit der abschätzig als „System“ bezeichneten Vergangenheit – vor allem der Unfähigkeit des „Ständestaats“, die anstehenden Agrarprobleme zu lösen. Zugleich richtete es das Wirtschaften an einer plan- und machbaren Zukunft nach dem „Endsieg“ aus. In räumlicher Hinsicht ordnete es die lokal und regional eingebettete Betriebs- und Haushaltsführung dem Nationalstaat als zentralen Regulator der überregionalen Faktor- und Produktmärkte unter. Dieses zukunfts- und nationalstaatsorientierte Entwicklungsprojekt war alles andere als antimodern gepolt; vielmehr zielte es auf eine andere Moderne als sie Liberalismus und Kommunismus verkörperten,60 eine – in den Worten eines Vordenkers – „organische Agrarrevolution“:61 Einerseits suchte es die biologische Leistung des Bauerntums als „rassisches“ Rückgrat des „Volkskörpers“ – in den Industriezentren des Reichsgebiets wie in den zu kolonialisierenden Agrarperipherien im „germanischen Großraum“– zu stärken. Andererseits suchte es angesichts verknappter Arbeitskraft- und expandierender Landressourcen „im Osten“ die ökonomische Leistung der ostmärkischen Landwirtschaft mittels technischer „Aufrüstung“, verbunden mit dem Richtungswechsel von der Boden- zur Arbeitsproduktivität, als Waffe der „Nahrungsfreiheit“ zu heben. Der Modernitätsentwurf des völkischen Produktivismus peilte eine „gesunde“, das heißt biologisch und ökonomisch optimierte Agrarstruktur mit mittelbäuerlichem Profil innerhalb der „rassisch“ eingehegten „Volksgemeinschaft“ an.62 Darin äußert sich kein explizit ausgearbeiteter Masterplan, sondern die implizite Systemlogik des Zusammenspiels („Emergenz“) einzelner – in der Forschung oft als Gegensatz betrachteter – Elemente des NS-Agrarsystems wie etwa der kriegswirtschaftlich begründeten Ölfruchtanbauoffensive oder des stärker rassenideologisch argumentierten „Gemeinschaftsaufbaus im Bergland“.63 Der völkische Produktivismus trug wie verwandte Projekte einer „radikalen Neuordnung“ in den europäischen Diktaturen der Zwischenkriegszeit64 Züge des Hochmodernismus, der planmäßigen, auch gegen Widerstände durchgesetzten 60 Vgl. Bavaj, Amivalenz, 201: „Weniger als Gegenentwurf zur Moderne, denn als Entwurf einer anderen Moderne lässt sich der Nationalsozialismus begreifen […].“ 61 Vgl. Werner Willikens, Organische Revolution, in: Nationalsozialistische Landpost 44/1939, 3f. 62 Insofern entgeht der Kritik, die These des völkischen Produktivismus sei nur vage mit der Vision der nationalsozialistischen „Volksgemeinschaft“ und dem in deren Namen geführten inneren und äußeren Rassenkrieg verzahnt, ein wesentlicher Aspekt. Vgl. die Rezension von Langthaler, Schlachtfelder, von Stefanie Fischer in: American Historical Review 123 (2018) 3, 1038–1039. 63 Vgl. Michael von Prollius, Das Wirtschaftssystem der Nationalsozialisten 1933–1939. Steuerung durch emergente Organisation und Politische Prozesse, Paderborn u. a. 2003, 327–359. 64 Vgl. Lutz Raphael, Imperiale Gewalt und mobilisierte Nation. Europa 1914–1945, München 2011, 186–230.
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Umwälzung gesellschaftlicher Verhältnisse durch einen autoritären Zentralstaat, getrieben von der Utopie wissenschaftlich-technischen Fortschritts.65 Doch forderten die Planungs- und Entscheidungseliten nur für „völkische“ oder produktivistische Selektionseingriffe – etwa gegenüber dem jüdischen Großgrundbesitz oder unterproduktiven „Kümmerbetrieben“ – staatliche Gewaltanwendung. Im Umgang mit dem „deutschen Landvolk“ setzten sie eher auf Leistungsanreize, Identifikationsangebote und Partizipationsmöglichkeiten. Das zeigt die von materiellen und ideellen Anreizen getragene Ölfruchtanbauoffensive ebenso wie der „Gemeinschaftsaufbau im Bergland“, der zusätzlich den – meist männlichen – Hofbesitzern die Mitgliedschaft in der Aufbaugenossenschaft eröffnete. Damit trug dieses Projekt auch Züge der am „menschlichen Maß“ orientierten Sozialtechnologie, die gesellschaftliche Fremdsteuerung durch Experten im staatlichen Auftrag nicht als Selbstzweck, sondern als Mittel zur Selbststeuerung des Einzelnen in seiner „organischen Gemeinschaft“ begriff.66 Der völkische Produktivismus teilte mit dem high modernism das revolutionäre Entwicklungsziel, mit dem low modernism die evolutionären Mittel auf dem Weg zum Ziel. Insgesamt umfasste der völkische Produktivismus ein Bündel unterschiedlicher, flexibel auf den jeweiligen Adressatenkreis zugeschnittener Modernisierungstechniken.
V.
Versuchsstation des völkischen Produktivismus
Die Ergebnisse der Niederdonau-Studie revidieren das konventionelle Geschichtsbild der NS-Ära in Österreich als belangloses Zwischenspiel oder Rückschritt.67 Vielmehr präsentieren sie die Periode 1938 bis 1945 als Schwellenzeit der Agrarmodernisierung – eine Neuinterpretation, die VertreterInnen der österreichischen und internationalen Geschichtswissenschaft erwartungsgemäß nicht nur anerkennen oder referieren,68 sondern auch skeptisch beur65 Vgl. Scott, Seeing, 87–102. 66 Vgl. Thomas Etzemüller, Social Engineering als Verhaltenslehre des kühlen Kopfes. Eine einleitende Skizze, in: ders. (Hg.), Die Ordnung der Moderne. Social Engineering im 20. Jahrhundert, Bielefeld 2009, 11–39. 67 Stellvertretend für die konventionelle Sicht vgl. Ferdinand Tremel, Wirtschafts- und Sozialgeschichte Österreichs. Von den Anfängen bis 1955, Wien 1969, 390–391. 68 Vgl. die Rezensionen von Langthaler, Schlachtfelder, von Gesine Gerhard in: German History 34 (2016) 4, 714–716, von Jan Vondr#cˇek in: Beiträge zur Geschichte des Nationalsozialismus 32 (2016), 260–261, von Gunter Mahlerwein in: Zeitschrift für Agrargeschichte und Agrarsoziologie 65 (2017) 1, 149–152, von Andreas Dornheim in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 104 (2017) 2, 336–337, von Stefanie Fischer in: American Historical Review 123 (2018) 3, 1038–1039, und von Ernst Hanisch in: zeitgeschichte 45 (2018) 1, 110–113.
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teilen.69 In der klassischen Schwellenzeit („Sattelzeit“) zwischen Mitte des 18. und Mitte des 19. Jahrhunderts erhielten kulturelle Schlüsselbegriffe neue Bedeutungen, bevor diese in der politisch-ökonomischen „Doppelrevolution“ gesellschaftsverändernd wirkten.70 In ähnlicher Weise etablierte die Periode 1938 bis 1945 (als Teil einer die 1930er bis 1950er-Jahre umspannenden Schwellenzeit) neue Agrarinstitutionen, bevor die „Grüne Revolution“ im Nachkriegsboom den agrartechnischen Durchbruch erzielte. Die Erwartungshorizonte von Planungsexperten, Funktionsträgern und Pionierbetrieben begannen sich, vor allem in der Aufbruchsphase zwischen „Anschluss“ 1938 und Kriegswende 1941/ 42, von den Erfahrungsräumen der krisenhaften „Systemzeit“ vor 1938 abzulösen. Sie fanden ihren gemeinsamen Fluchtpunkt im insgesamt noch virtuellen, aber teilweise bereits realisierten Entwicklungsprojekt des völkischen Produktivismus: der Erzeugung eines „rassisch“ und wirtschaftlich leistungsfähigen „Bauerntums“. In dieser Schwebelage zwischen dem Gestern und Morgen erfuhren Schlüsselbegriffe der Agrarsprache eine Neubewertung – so etwa der Leistungsmaßstab, der in den nationalsozialistischen Großraumplanungen von der Boden- zur Arbeitsproduktivität umschlug.71 Gleichwohl hielten ostmärkische Planungs- und Entscheidungseliten an der Bodenproduktivität fest, um die „völkisch“ bedenkliche Entsiedlung der Berg- und Grenzgebiete einzudämmen.72 Gemäß des Schwellenzeit-Charakters der NS-Ära begann ab 1938 der institutionelle Übergang dem technischen vorauszueilen, bevor jener diesen nach 1945 wieder einholte. Die Technisierungswelle zu Beginn der NS-Ära verdichtete zwar die Erfahrungen der österreichischen Landwirtschaft mit der fossilen Energiebasis der Industriegesellschaft. Der volle Zugriff blieb ihr jedoch wegen rüstungsindustrieller Prioritäten bis Kriegsende verwehrt – was umso mehr die Erwartung einer Technikrevolution nach dem Krieg nährte. Insofern trug der Technologietransfer in der österreichischen Landwirtschaft im Kontext
69 Vgl. die Rezensionen von Langthaler, Schlachtfelder, von Gustavo Corni in: Central European History 49 (2016) 3–4, 506–507, und von Roman Sandgruber in: Austrian History Yearbook 49 (2018), 329–330. 70 Vgl. Koselleck, Zukunft, 349–375; zur Adaption der „Sattelzeit“-Konzepts als „Schwellenzeit“ im 20. Jahrhundert vgl. Christian Geulen, Plädoyer für eine Geschichte der Grundbegriffe des 20. Jahrhunderts, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 7 (2010), 1, URL: http://www.zeithistorische-forschungen.de/16126041-Geulen-1-2010 (1. 2. 2018). 71 Vgl. Jochen Streb/ Wolfram Pyta, Von der Bodenproduktivität zur Arbeitsproduktivität. Der agrarökonomische Paradigmenwechsel im „Dritten Reich“, in: Zeitschrift für Agrargeschichte und Agrarsoziologie 53 (2005), 56–78. 72 Vgl. Ludwig Löhr, Die bäuerliche Arbeit unter betriebswirtschaftlicher und agrarpolitischer Beurteilung, in: Wiener Landwirtschaftliche Zeitung 9–17/1942, 91.
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des US-amerikanischen Marshallplans ab 1948 zur Realisierung einer bereits im Nationalsozialismus grundgelegten Modernitätsvision bei.73 Der völkische Produktivismus war mehr als eine Planungsblase und wirkte auf nicht wenige AkteurInnen denk- und handlungsleitend. Eine kritische Masse an Betrieben überschritt 1938 bis 1945 die Schwelle des produktivistischen Übergangs, ohne wieder dahinter zurückzufallen. Die „Agrarische Transition“ in der NS-Ära umfasste zwei Teilbewegungen: eine eher qualitativ und eine eher quantitativ bedeutsame. Qualitativ bedeutsam waren die Anknüpfungspunkte, die das vom NS-Agrarapparat betriebene Makroprojekt einer durchtechnisierten, marktverflochtenen und staatsgeleiteten Landwirtschaft den bäuerlichen Mikroprojekten bot. Obwohl viele AkteurInnen darauf nicht ansprachen oder sich abwandten, knüpfte einige Pionierbetriebe mittels marktorientierter Ölfrucht- oder Milcherzeugung daran an. Die BetriebsleiterInnen in den Pioniernischen, vor allem beim überambitionierten, wenig effektiven „Gemeinschaftsaufbau im Bergland“, verweigerten sich zwar manchen Eingriffen in ihren familienbetrieblichen Autonomiebereich. Doch sie setzten im jeweiligen Manövrierraum eigenständige Entwicklungsschritte, die sich in der Agrarrevolution der Nachkriegszeit – wie die Einführung des Vertragsanbaus von Sonderkulturen im Flach- und Hügelland oder die Umstellung von Ochsenaufzucht auf Milchkuhhaltung im Bergland – zu regionalen Entwicklungspfaden verfestigten.74 Auf diese Weise stellte das Makroprojekt des völkischen Produktivismus in Verbindung mit den Mikroprojekten pionierhafter Wirtschaftsstile Weichen, die über 1945 hinaus die regionalen Entwicklungspfade – und auf längere Sicht den Hauptstrom der Betriebe insgesamt – in Richtung des produktivistischen Übergangs lenkten. Quantitativ bedeutsamer als die Avantgarde der Pionierbetriebe wirkte die schrittweise Kolonialisierung der bäuerlichen Alltagswelt durch Systemregulative, die auch die Betriebe im Hauptstrom und in den Rückzugsnischen durchdrang. Auf diese Weise suchte das NS-Agrarsystem einen zentralen Widerspruch – jenen zwischen dem umfassenden Lenkungsanspruch des Interventionsstaates und der mangelhaften Informationslage über die zu lenkenden WirtschaftsakteurInnen an den verstreuten Standorten – aufzulösen. Staatliche Umverteilungs- und staatsregulierte Marktbeziehungen durchbrachen die 73 Vgl. Günter Bischof/Hans Petschar, Der Marshallplan. Die Rettung Europas und der Wiederaufbau Österreichs, Wien 2017. 74 Vgl. Ernst Langthaler, Agrarwende in den Bergen. Eine Region in den niederösterreichischen Voralpen (1880–2000), in: Ernst Bruckmüller/Ernst Hanisch/Roman Sandgruber (Hg.), Geschichte der österreichischen Land- und Forstwirtschaft im 20. Jahrhundert, Bd. 2: Regionen, Betriebe, Menschen, Wien 2003, 563–650, hier 588–610; Ernst Langthaler, Agrarwende in der Ebene. Eine Region im niederösterreichischen Flach- und Hügelland (1880– 2000), in: ebd., 651–740, hier 656–683.
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multifunktionalen Reziprozitätsnetze vor Ort und ersetzten vertikale durch horizontale Beziehungsmuster. Aufkeimender bäuerlicher Eigensinn wurde durch mittlere und untere Amtsträger (Kreis- und Ortsbauernführer, Landräte, Bürgermeister usw.) als Mediatoren eingedämmt. Somit wandelten sich regelmäßige Eingriffe von Funktionsträgern die die Betriebs- und Haushaltsabläufe langsam zur Alltagsnormalität. Im Zuge von Fremd- und Selbstdisziplinierung gerieten die AkteurInnen verstärkt in direkte und, über die staatliche Marktlenkung, indirekte Abhängigkeit vom (Industrie-)Staat als dem bestimmenden Regulator des Agrarsektors. Die zentrale Institution der Wirtschaftslenkung bildete der Reichsnährstand als über seine dezentral wirtschaftenden „Agenten“ wohlinformierter – und damit durchschlagskräftiger – „Prinzipal“.75 Die Durchstaatlichung von Markt- und ländlicher Alltagssphäre, die Anfang der 1930er-Jahre mit dem „agrarischem Kurs“ der Bundesregierung eingeleitet und nach dem „Anschluss“ vom NS-Regime forciert worden war, löste sich mit dem Zusammenbruch des „Dritten Reiches“ nicht auf. Die multilokalen Ausprägungen staatlicher Eingriffe – Betriebsstatistik, Landmedien, Wirtschaftsberatung und so fort – verliehen dem agrarischen Interventionsstaat Zug um Zug Anerkennung als Zentralmacht.76 Demgemäß schritt die Durchstaatlichung des Agrarsektors in der wiedererrichteten Republik Österreich weiter voran – symbolisiert in der Fortführung der Hofkarte des Reichsnährstands als Betriebskarte der Landwirtschaftskammer – und schrieb sich im Marktordnungsund Landwirtschaftsgesetz 1958/60 fest. Das „Tausendjährige Reich“ und seine Führer hatten nach sieben Jahren zwar abgewirtschaftet; doch der agrarische Interventionsstaat als Wirtschaftsführer des „nationalen Bauernhofes“ saß nach 1945 fester im Sattel als vor 1938. Der völkische Produktivismus, seiner rassistischen Begleitrhetorik entkleidet, klang im Hohelied auf die bäuerliche Hochleistungs-Familienwirtschaft als westeuropäisches Gegenleitmotiv zur USamerikanischen Farm und sowjetischen Kolchose nach.77 Die tragenden Bewegungen des völkischen Produktivismus – die Planungselite des Agrarapparats, die Avantgarde der Pionierbetriebe und die Masse der „gläsernen Bauern“ – stießen an letztlich unüberwindliche Grenzen. Das NSRegime beabsichtigte in der Ostmark zwar eine „totale Neuordnung“ der Landwirtschaft unter völkisch-produktivistischen Vorzeichen – und damit eine endgültige Lösung der „Agrarfrage“ in der Industriegesellschaft. Doch durchschlagende Wirkung entfaltete dieses Entwicklungsprojekt allein auf der insti75 Siehe den Beitrag von Ulrich Schwarz in diesem Heft. 76 Vgl. Joyce/Mukerji, State. 77 Vgl. Lorraine Bluche/Kiran Klaus Patel, Der Europäer als Bauer. Das Motiv des bäuerlichen Familienbetriebs im Westeuropa nach 1945, in: Lorraine Bluche/Veronika Lipphardt/Kiran Klaus Patel (Hg.), Der Europäer – ein Konstrukt. Wissensbestände, Diskurse, Praktiken, Göttingen 2009, 135–157.
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tutionellen, kaum jedoch auf der technischen Ebene des Agrarsystems. Kurz, die Agrarmodernisierung war zwar weitgehend intendiert, aber nur partiell wirksam. Eine „Grüne Revolution“ im vollen – institutionellen und technischen – Sinn vermochte der NS-Agrarapparat in den Alpen- und Donaureichsgauen nicht in Gang zu setzen. Gleichwohl bildete die NS-Ara eine gleichsam „vorrevolutionäre“ Schwellenzeit, die dem – durch die US-amerikanische Marshallplanhilfe befeuerten – technischen Take Off der Agrarrevolution tragfähige Institutionen hinterließ. Alles in allem verfehlte der Nationalsozialismus in Niederdonau und den übrigen Reichsgauen der Ostmark den großen Sprung in den völkischen Produktivismus; doch er stieß unumkehrbare kleine Schritte in Richtung des produktivistischen Übergangs an. Österreich bildete als nachhinkendes Entwicklungsgebiet des „Großdeutschen Reiches“ den Schauplatz eines Modernisierungsprojekts, das eine grundlegend andere Landwirtschaft nicht nur entwarf, sondern auch stückweise umsetzte – eine Versuchsstation des völkischen Produktivismus.
Ulrich Schwarz-Gräber
„Gläserne Bauern“. Prinzipal-Agent-Probleme nationalsozialistischer Agrarpolitik am Beispiel der Regulierung der landwirtschaftlichen Pacht1
I.
Einleitung
Ein umfassender Interpretationsrahmen der Entwicklung ländlicher Gesellschaften in Europa zwischen 1914 und 1945 sei noch nicht gefunden, konstatiert Laird Boswell jüngst in einem Forschungsüberblick.2 Im Gegensatz zu den formenden Momenten der sozialen Umwälzungen des 19. Jahrhunderts und den fundamentalen Transformationsprozessen der Landwirtschaft in der Nachkriegszeit erscheint dieses „Zeitalter des Umbaus“ (Karl Mannheim) häufig bloß als krisenhaftes Zwischenspiel.3 Die signifikanteste Entwicklung der europäischen Zwischenkriegszeit für die Landwirtschaft, so Boswell, war die sich auf unterschiedlichen Ebenen einnistende Anschauung, dass Landwirtschaft anders als andere Wirtschaftszweige und deshalb die Intervention des Staates – sowohl in der Unterstützung der Produktion als auch in der Regulierung des Marktes – unausweichlich sei.4 Ernst Langthaler spricht in diesem Kontext von einer „agrarinstitutionellen Revolution“, die sich insbesondere durch die tiefgreifende Regulierung des Agrarsektors im NS-Regime vollzogen hat und – im Gegensatz zur gehemmten agrartechnischen Entwicklung und relativen Stabilität ländlicher Sozialstruktur – der Zeit ihre eigene Dynamik verleiht.5 Ein Ausdruck dieser 1 Ich danke Rolf Bauer, Erich Landsteiner und Ernst Langthaler für die anregenden Diskussionen über die Bedeutung unterschiedlicher Pachtverhältnisse im Rahmen der Agrarian Studies Group am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Wien. 2 Laird Boswell, Rural Society in Crisis, in: Nicholas Doumanis (Hg.), The Oxford Handbook of Europe 1914–1945, Oxford 2016, 243–260, 243. 3 Vgl. Philip McMichael, A food regime genealogy, in: Journal of Peasant Studies 36 (2009) 1, 139–169. 4 Boswell, Rural Society, 250; vgl. Juri Auderset/Peter Moser, Krisenerfahrungen, Lernprozesse und Bewältigungsstrategien. Die Ernährungskrise von 1917/18 als agrarpolitische „Lehrmeisterin“, in: Schweizerisches Jahrbuch für Wirtschafts- und Sozialgeschichte 27 (2012), 133–149, 146–149. 5 Ernst Langthaler, Schlachtfelder. Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945, Wien u. a. 2016, 737.
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institutionellen Umwälzung ist die Normalisierung eines neuen Verhältnisses zwischen Nationalstaat und Agrarsektor – der agrarische Interventionsstaat wurde zum Normalzustand.6 Auch Albrecht Ritschl hat darauf hingewiesen, dass langfristige Wirkungen der nationalsozialistischen Wirtschaftsregulierung „in der Schaffung institutioneller Rahmenbedingungen“ zu suchen wären und die Wirtschaftsordnung der Nachkriegszeit „während der NS-Diktatur vorgeformt“ worden sei.7 Dieser Beitrag betrachtet diesen Formierungsprozess durch die nationalsozialistische Agrarpolitik und fragt nach dem „institutionellen Fußabdruck“, den dieser Prozess im Feld der Regulierung des Agrarsektors hinterließ. Die Metapher des „Fußabdrucks“ soll verdeutlichen, wie die österreichische Agrarverwaltung nach 1945 in zentralen Bereichen, etwa dem der Regulierung des landwirtschaftlichen Pachtwesens, „Wege beschritt“, die durch das NS-Regime etabliert worden waren. Theoretisch fassen lassen sich die enorm verwaltungsintensiven Regulierungsmaßnahmen, die durch die nationalsozialistische Agrarpolitik eingeführt wurden, durch eine Perspektive, die dem Prinzipal-Agent-Ansatz folgt und das Verhältnis zwischen Landwirtschaft und Nationalstaat, als eine Prinzipal-Agent-Beziehung begreift. Damit folgt dieser Beitrag einem neueren Trend in der Wirtschaftsgeschichte des Nationalsozialismus, in dem staatliche Regulierungsweisen mittels mikroökonomischer Prinzipal-Agenten-Modelle beschrieben werden.8 Ausgangspunkt dieser mikrohistorisch angelegten Studie sind Hofakten, Dossiers die durch die Kreisbauernschaften, die untersten Verwaltungsdienststellen des Reichsnährstandes, zu den einzelnen landwirtschaftlichen Betrieben angelegt worden waren. Die Untersuchung dieser Hofakten, die im Fall der Kreisbauernschaft Neunkirchen teilweise überliefert sind, erlaubt es, die Verwaltungs- und Regulierungspraxis des Reichsnährstandes vor Ort zu analysieren und verweist auf Bereiche der lokalen Regierungspraxis nationalsozialistischer Agrarpolitik, die bisher in der Forschung kaum thematisiert wurden. Ein solcher Bereich ist die intensive Regulierung des landwirtschaftlichen Pachtwesens 6 Ebd., 704 und 738; vgl. Boswell, Rural Society, 250. 7 Albrecht Ritschl, Der späte Fluch des Dritten Reichs. Pfadabhängigkeiten in der Entstehung der bundesdeutschen Wirtschaftsordnung, in: Perspektiven der Wirtschaftspolitik 6 (2005) 2, 151–170, 158, 162. 8 Mark Spoerer und Jochen Streb haben kürzlich in Bezug auf die Frage nach den Mechanismen der Unterordnung privater Unternehmer unter den Planungswillen der nationalsozialistischen Politik mithilfe des Prinzipal-Agenten-Modells argumentiert. Schon zuvor haben Christoph Buchheim und Jonas Scherner das nationalsozialistische Wirtschaftssystem dadurch charakterisiert, dass die Beziehung zwischen Staat und Industrie als Prinzipal-Agent Beziehung interpretiert werden könnte, Mark Spoerer/Jochen Streb, Neue deutsche Wirtschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts, München 2016, 161–171; Christoph Buchheim/Jonas Scherner, The Role of Private Property in the Nazi Economy : The Case of Industry, in: The Journal of Economic History 66 (2006) 2, 390–416, 410–411.
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durch das NS-Regime. Und gerade die Regulierung des Pachtwesens zeigt die Kontinuitäten im Bereich der Agrarverwaltung über die „Epochenschwelle“ 1945 hinweg besonders deutlich.
II.
„Gläserne Bauern“ „Akten, Akten, Akten. Dazu Hofakten und Betriebskarten. Wir Bauern, sagt Franz Zellnig, 66, sind einfach gläsern. Doppelt gläsern. Mehrfach gläsern. Nichts in unserem Leben bleibt geheim.“9
Mit diesen Zeilen eröffnet Alfred Worm im Frühjahr 1991 einen Artikel in der Zeitschrift „Profil“. Es war eine seiner weniger bekannten Recherchen als „Aufdecker“. Aufgedeckt hatte die Geschichte eigentlich der oben genannte Franz Zellnig, Abgeordneter zum Steiermärkischen Landtag und Obmann der SPÖ-Bauern. Es standen Wahlen der steirischen Landwirtschaftskammer bevor und mitten in die Wahlauseinandersetzung platzte eine Affäre. Zellnig hatte bemerkt, dass Funktionäre des ÖVP-Bauernbundes über detaillierte Informationen über den landwirtschaftlichen Betrieb seiner Familie verfügten. Recherchen zur Herkunft dieser Informationen führten ihn zur Bezirksbauernkammer, wo er erfuhr, dass diese Informationen aus dem „Hofakt“ stammen würden.10 Die Tageszeitung „Der Standard“ berichtete über diesen Fall und schrieb, dass diese „geheimen Akten […] in der NS-Zeit angelegt und bis heute weitergeführt“ worden wären.11 Zu dieser Praxis befragt, gab der zuständige Kammeramtsdirektor an, dass „in den Hofakten nur Tatsachen festgehalten [sind], die den Kammerbediensteten ,ablaufbedingt‘ im Rahmen der normalen Geschäftstätigkeit bekanntwerden“ und bezeichnete die Akten als „persönliche Hilfe“ für die Bauern und „zweckmäßigste Form der Ablage“, da „die Bauern häufig keine Aufzeichnungen über ihren Schriftverkehr führten“.12 Der zuständige Landesrat, an den die SPÖ-Landtagsabgeordneten eine dringliche Anfrage zu den Hofakten gestellt hatten, verwies in seiner Beantwortung auf die Aufgaben, die der Kammer als ausführendes Organ des Bundesministeriums und der Landesregierung bei der Abwicklung von Förderungsaktionen zugeteilt worden seien. Zur Unterstützung dieser Arbeiten habe jede Bezirkskammer gemäß der Büroordnung eine „betriebsbezogene Ablage der Geschäftsstücke“ angelegt, die als „Hofakt“ bezeichnet werde. Diese diene 9 Alpensaga, Profil, 25. 2. 1991, 28. 10 Vgl. Stenographischer Bericht (SB.), 46. Sitzung des Steiermärkischen Landtages. XI. Gesetzgebungsperiode (GP) – 5. und 6. März 1991, 4082. 11 Aufregung um „Geheimakte“, Der Standard, 16. 2. 1991, 6. 12 Ebd.
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dem Zweck, „den Schriftverkehr zwischen den Landwirtschaftsbetrieben und den Bezirkskammern in geordneter Form abzulegen“ und sei zudem ein „Serviceleistung“ für die Bauern und eine „Hilfe“ für die Betriebsberater, da sie neuste Daten über die Betriebe enthalte.13 In der hitzigen Debatte im Landtag verglich Franz Zellnig die Datensammlung der Kammer mit George Orwells Überwachungs-Dystopie „1984“ und verwies damit auf Ausführungen von Josef Riegler als ÖVP-Agrarsprecher im Zuge der parlamentarischen Debatte aus dem Jahr 1980 über eine Gesetzesvorlage des damals SPÖ-geführten Landwirtschaftsministeriums zur zentralen Erfassung von landwirtschaftlichen Betriebsdaten durch das „land- und forstwirtschaftliche Betriebsinformationsgesetz (LFBIS-Gesetz)“.14 Riegler hatte damals dem Minister vorgeworfen, sein neues Gesetz diene nicht dem Zweck, „eine bessere Agrarpolitik“ zu machen, sondern es gehe allein „um Machtpolitik“, „um Abhängigkeit“ und „um die Möglichkeit des direkten Zugriffes.“15 Der Minister versuche „bei allen Möglichkeiten den einzelnen Bauer immer mehr einzukreisen, immer mehr Einzelheiten zu erfassen, um dann [die] politische Planung und Vorgangsweise darnach ausrichten zu können.“16 Die regierende SPÖ dagegen verteidigte „dieses Gesetz für die Bauern“ dagegen als Mittel, welche eine „rasche Abwicklung der landwirtschaftlichen Förderung“ garantiere17 und dazu verwendet werde „um die Existenzgrundlage der Bauern zu verbessern.“18 Sowohl die Debatten der 1990er-als auch die der 1980er-Jahre zeigen, dass die engmaschige Erfassung von Daten von der jeweils regierenden Partei – der SPÖ im Landwirtschaftsministerium 1980 bzw. dem ÖVP-Bauernbund in der steiermärkischen Landwirtschaftskammer – als Hilfsmittel zur Beratung und Förderung landwirtschaftlicher Betriebe und als Serviceleistung für die landwirtschaftliche Bevölkerung dargestellt wurde. Die Argumentation der Partei in Opposition – gleich ob SPÖ oder ÖVP – dagegen unterstellte der regierenden Partei jeweils potentiell Machtmissbrauch durch Überwachung und politische Kontrolle. Was in der Debatte über den „gläsernen Bauern“, die sich bis hinein in die Gegenwart verfolgen lässt, rasch untergegangen war, war der historische Bezug, der zu Beginn der steirischen „Hofakten-Affäre“ noch Teil der Berichterstattung gewesen war.19 Im Bereich der Regulierung des landwirtschaftlichen Pachtwe13 SB., 46. Sitzung des Steiermärkischen Landtages. XI. GP – 5. und 6. März 1991, 4069–4070. 14 Ebd., 4081; Stenographisches Protokoll (SP.), 46. Sitzung des Nationalrates der Republik Österreich. XV. GP – 8. Oktober 1980, 4438–4439. 15 SP., 46. Sitzung des Nationalrates der Republik Österreich. XV. GP – 8. Oktober 1980, 4440. 16 Ebd., 4439. 17 Ebd., 4445. 18 Ebd., 4457. 19 „In der steirischen Landwirtschaftskammer ist eine Diskussion über angebliche ,Geheim-
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sens, auf das in der Folge genauer eingegangen werden soll, zeigt sich uns diese nahezu bruchlose Fortsetzung von Einrichtungen der NS-Agrarverwaltung in die Zweite Republik. Auch hier reicht diese Kontinuität bis hinein in die konkreten Formulare. An die Stelle der vom Reichsnährstand herausgegebenen „Einheitspachtverträge“ traten bald die von der Landwirtschaftskammer entworfenen „Pachtvertragsmuster“.20 Und die „Reichspachtschutzordnung“ aus dem Jahr 1940 mit ihren massiven Eingriffen in den Grundsatz der Vertragsfreiheit war in Österreich geltendes Recht bis 1969.21
III.
Die Hofakten der Kreisbauernschaft Neunkirchen
Der im Niederösterreichischen Landesarchiv archivierte Altaktenbestand der Bezirksbauernkammer Gloggnitz beinhaltet neben nur bruchstückhaft überlieferten „Landwirtschaftlichen Betriebskarten“ aus den Jahren 1956 bis 1970 sowie Dokumenten zu Förderung, Beratung und Fortbildung aus den 1970erund 1980er-Jahren auch einen Aktenbestand, der als „Hofkartei des NSReichsnährstandes“ inventarisiert wurde.22 Diese Hofkartei beinhaltet, nach Gemeinden geordnet, mehr oder weniger umfangreiche Dossiers zu den einzelnen landwirtschaftlichen Betrieben des jeweiligen Gemeindegebiets, in denen Schriftgut aus der Zeit zwischen 1938 bis Mitte der 1950er-Jahre abgelegt worden war. Diese Dossiers gleichen den Hofakten, wie sie im Steiermärkischen Landtag im Zuge der „Hofakten-Affäre“ im Jahr 1991 beschrieben wurden. Sie beinhalten, gleich den Hofakten der Bezirksbauernkammern aus den 1980er-Jahren, den akte‘ aus der NS-Zeit ausgebrochen.“ Aufregung um „Geheimakte“, Der Standard, 16. 2. 1991, 6. In Bezug auf die betriebsstatistischen Erhebungen der Landwirtschaftskammer wird zwar deren Funktion für die „Krisenvorsorge und Ernährungsplanung im Rahmen der wirtschaftlichen Landesverteidigung“ erwähnt (SB., 46. Sitzung des Steiermärkischen Landtages. XI. GP – 5. und 6. März 1991, 4069). Auch, dass die „Vorgänger der heutigen Betriebskarten […] während der Kriegszeit für die ernährungswirtschaftliche Planung notwendig waren“ (Stenographisches Protokoll, 46. Sitzung des Nationalrates der Republik Österreich. XV. GP – 8. Oktober 1980, 4440). Es ist jedoch bezeichnend für den österreichischen Vergangenheitsdiskurs, dass hier die „Kriegszeit“ anstelle des NS-Regimes erinnert wird, waren doch diese Erhebungsinstrumente schon in der Vorkriegszeit etabliert worden. Ernst Langthaler hat gezeigt, wie die niederösterreichische Landwirtschaftskammer 1946 den statistischen Erhebungsbogen zu jedem Betrieb, die „Hofkarte“ des Reichsnährstandes nahezu ident formatiert, als „Landwirtschaftliche Betriebskarte“ weiterführte, ohne die Kontinuität dieses Erhebungsmittels dabei zu thematisieren (Langthaler, Schlachtfelder, 751). 20 Vgl. 25 Jahre Bauerkammer in Niederösterreich. X. Tätigkeitsbericht der n.-ö. LandesLandwirtschaftskammer, Wien 1948, 244. 21 Bundesgesetz vom 26. November 1969 mit dem Bestimmungen über landwirtschaftliche Pachtverträge getroffen werden (Landpachtgesetz), BGBl., Nr. 451/1969. 22 Niederösterreichisches Landesarchiv (NÖLA), Bezirksbauernkammer (BBK) Gloggnitz, K. 7–16, Hofkartei des NS-Reichsnährstandes.
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Schriftverkehr zwischen den Landwirtschaftsbetrieben und der lokalen Agrarverwaltungsdienststelle.23 Der weitaus umfangreichste Teil der Vorgänge in diesen Akten betrifft die Regelung des Grundstücksverkehrs und der Landpacht samt Vertragsentwürfen und Verträgen. Dazu kommen Dokumente der „Entschuldungs- und Aufbauaktion“, Unterlagen zum „Erbhofverzeichnis“ und andere Vorgänge im Rahmen des „Reichserbhofgesetzes“ sowie Vorgänge zur Beschlagnahmung und „Arisierung“ landwirtlichen Besitzes. Weiters sind in diesen Akten Unterlagen der Überprüfung und Regelung der Bewirtschaftung, der Wirtschaftsüberwachung, der Ablieferung, Ordnungsstrafverfahren und Unterlagen zu diversen Förderaktionen abgelegt. Auch Korrespondenzen mit anderen Behörden und Eingaben der Personen, zu denen diese Akten geführt wurden, sowie Aktenvermerke und Notizen der Sachbearbeiter und Wirtschaftsberater sind in den Akten gesammelt. Über weite Strecken sind die Akten knappe Ablagen von Schriftgut zu standardisierten Vorgängen. Zum Teil bilden sie aber auch umfangreiche Dossiers zu einzelnen landwirtwirtschaftlichen Betrieben, die intime Details aus den Lebensumständen, zu den Konflikten und sozialen Kämpfen der Menschen offenbaren. Die Praxis, Hofakten zu führen, wurde nicht gemeinsam mit der Auflösung des Reichsnährstandes, und damit der Kreisbauernschaft, aufgegeben, sondern in der Bezirksbauernkammer, die die Akten der Kreisbauernschaft 1945 übernommen hatte, weitergepflegt. Auch die Bezeichnung dieser Verwaltungsdossiers blieb gleich. So findet sich etwa auf einem Durchschlag eines Schreibens der Bezirksbauernkammer Gloggnitz an die Agrarbezirksbehörde Wien, der in dem entsprechenden Akt abgelegt worden war, in der rechten oberen Ecke der handschriftliche Vermerk „Hofakt“.24 In der historischen Forschung wurden Hofakten bislang nur ein einziges Mal ausdrücklich erwähnt. Vor mehr als 30 Jahren veröffentlichten Michael Moos23 Vgl. SB., 46. Sitzung des Steiermärkischen Landtages. XI. GP – 5. und 6. März 1991, 4069. 24 NÖLA, BBK Gloggnitz, K. 15, Hofakt Peter R., Schreiben der Bezirksbauernkammer Gloggnitz an die Agrarbezirksbehörde Wien vom 8. 2. 1947. Obwohl die Bezeichnung „Hofakte“ schon in der Kreisbauernschaft (KBS) die offizielle Bezeichnung dieser Ablage war, findet sich dieser Terminus kaum in den Akten selbst (Vgl. Josef Zangel, Einrichtung und Führung der Wirtschaftsberatungsstellen im Rahmen der Landwirtschaftsschule und der Kreisbauernschaft, in: Landesbauernschaft Donauland (Hg.), Vorträge gehalten auf dem Beratungslehrgang der Wirtschaftsberater in Bad Aussee 1940, Wien 1941, 124–129, 127). Meist ist nur vom „Akt“ eines Betriebsbesitzers oder einer Betriebsbesitzerin die Rede. In einem einzigen Fall findet sich in einem Schreiben den Landesbauernschaft Niederdonau an die KBS Neunkirchen, in deren Verantwortungsbereich der Bezirksbauernschaft Gloggnitz zwischen 1938 und 1945 eingegliedert war, tatsächlich der Begriff „Hofakt“. Dort heißt es: „Auf Grund einer mit der zuständigen Landstelle getroffenen Vereinbarung übersende ich ihnen in der Anlage 16 Entschuldungs- und Aufbaupläne mit der Bitte, diese zu ihrem entsprechenden Hofakt zu nehmen.“ (NÖLA, BBK Gloggnitz, K. 11, Hofakt Franz S., Schreiben der Landesbauernschaft Niederdonau an die KBS Neunkirchen vom 18. 2. 1943).
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lechner und Robert Stadler in dieser Zeitschrift ihren, für die österreichische Forschung zur Agrargeschichte des NS-Regimes damals bahnbrechenden, Artikel zur nationalsozialistischen „Entschuldung“ der Landwirtschaft in einer Salzburger Gemeinde.25 Die Hofakten, die den Autoren von der Bezirksbauernkammer zur Verfügung gestellt worden waren, werden als „durch den Nationalsozialismus eingeführte Registratur“ bezeichnet, in der „alle relevanten Schriftstücke eines Hofes von der jeweiligen Kreisbauernschaft abgelegt“ worden waren. Diese Quellen würden gemeinsam mit dem betriebsstatistischen Instrument der Hofkarte, „eine neue Qualität der Agrarbürokratie“ und „ein völlig neues Verständnis des nationalsozialistischen Staates vom Bauerntum“ darstellen. Mit diesem „Hilfsmittel“ konnte der „landwirtschaftliche Produktionsbereich […] bis in den letzten Winkel beobachtet und effizient gelenkt werden“.26 Mehr über die Hofakten selbst erfährt man in diesem Artikel jedoch in der Folge nicht mehr, da Mooslechner und Stadler nur auf einen spezifischen Teil des Inhalts der „Hofakten“ eingehen, die Dokumente zur sogenannten „Entschuldung“.27 Zwar stellen Dokumente zur „Entschuldung“ auch in den Hofakten der Kreisbauernschaft Neunkirchen einen wichtigen Teil des Inhalts der Akten dar, insgesamt dominieren jedoch Dokumente zu Angelegenheiten des rechtsgeschäftlichen Verkehrs mit landwirtschaftlichen Grundstücken.28
25 Michael Mooslechner/Robert Stadler, Die nationalsozialistische „Entschuldung“ der Landwirtschaft. Analyse der „Hofakten“ der Gemeinde St. Johann im Pongau 1938–1945, in: zeitgeschichte 14 (1986) 2, 55–68. 26 Ebd., 55. 27 Ebd.; vgl. Kundmachung des Reichsstatthalters in Österreich, wodurch die Verordnung über die Entschuldung der Landwirtschaft im Lande Österreich (Österreichische Entschuldungsverordnung) vom 5. Mai 1938 bekanntgemacht, GBlÖ., Nr. 130/1938. 28 Während etwa ein Sechstel aller Dokumente die „Entschuldung“ betreffen, behandelt ein gutes Drittel der Vorgänge den Transfer von Besitz- und Nutzungsrechten von landwirtschaftlichen Grundstücken. Bei den Vorgängen, die letzteren Bereich betreffen, ist wiederum die Verwaltung des Pachtwesens besonders prominent vertreten, das ein Sechstel aller in den Hofakten gesammelten Vorgänge umfasst (NÖLA, BBK Gloggnitz, K. 7–16, Hofkartei des NSReichsnährstandes). Dieser Befund ist in mehrfacher Weise bemerkenswert und lässt sich nicht mit regionalen Besonderheiten des Landkreises Neunkirchen erklären. So lag der Anteil an landwirtschaftlichen Betrieben im Kreis Neunkirchen die Land pachteten nur bei rund einem Viertel, während dieser Wert im Reichsgau Niederdonau bei etwas über 50 Prozent lag, was in etwa auch dem Durchschnittswert des Deutschen Reichs entsprach, siehe: Statistisches Amt für die Reichsgaue der Ostmark (Hg.), Die land- und forstwirtschaftlichen Betriebe im Reichsgau Niederdonau nach den Ergebnissen der im Deutschen Reich am 17. Mai 1939 durchgeführten landwirtschaftlichen Betriebszählung, Wien 1941; Henry W. Spiegel, German Tenancy Problems and Policies, in: The Journal of Land & Public Utility Economics 15 (1939) 3, 333–343, 333.
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IV.
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Das Pachtwesen in den Hofakten
Die prominente Stellung, die das Pachtwesen in der Verwaltungspraxis der Kreisbauernschaft eingenommen hatte, findet kaum Entsprechung in bisherigen Forschungen zur nationalsozialistischen Agrargesellschaft und Agrarverwaltung.29 Vielmehr hat sich diese bisher vornehmlich mit agrarischen „Flaggschiffprojekten“ des NS-Regimes – dem „Reichserbhofgesetz“, der „Entschuldung“ oder der „Marktordnung“ – befasst. Dies mag einerseits pragmatische Gründe haben, da gerade für diese auch von der NS-Propaganda hervorgehobenen Maßnahmen umfangreiches Material zur Verfügung steht – kaum eine zeitgenössische Darstellung nationalsozialistischer Agrarpolitik kommt ohne jeweils eigenem Kapitel zu diesen Bereichen aus. Andererseits, und dies trifft insbesondere auf das „Reichserbhofgesetz“ zu, ist diese Auswahl Teil eines Geschichtsdiskurses, der die nationalsozialistische Agrarpolitik weniger in ihrer Einbettung in die Zeit davor und in ihren Wirkungen für die Zeit danach ana29 Daniela Münkel, die ihre wichtige Studie über die Umsetzung nationalsozialistischer Agrarpolitik im lokalen Kontext einer Kreisbauernschaft auf Quellenmaterial aufbaut, das den hier untersuchten „Hofakten“ ähnlich ist, die jedoch diesen Begriff nicht verwendet und von „Akten der Kreisbauernschaft“ spricht, verweist zwar auf die quantitative Bedeutung des Pachtwesens, geht jedoch nicht näher auf diesen Bereich ein, vgl. Münkel, Agrarpolitik, 200–201, 226–227. Am ausführlichsten findet sich das Pachtwesen noch in Ernst Langthalers Studie zur nationalsozialistischen Agrargesellschaft des Gaues Donauland behandelt, wobei es auch hier eher als Nebenschauplatz in Erscheinung tritt, vgl. Langthaler, Schlachtfelder, 163–164. Eine ausführliche Diskussion der agrarpolitischen Debatte um das Pachtwesen findet sich in Wilhelm Abels erstmals 1951 erschienen Überblickswerk über die Agrarpolitik, das jedoch an vielen Stellen eher als zeitgenössische Quelle denn als kritische Studie zu lesen ist; Wilhelm Abel, Agrarpolitik, Göttingen 1967, 186–192, 197–199. Die wichtigsten Studien zur nationalsozialistischen Pachtordnung sind noch immer zeitgenössische US-amerikanische Betrachtungen der Entwicklungen im Deutschen Reich sowie Publikationen des Reichsnährstandes, vgl. Karl Brandt, Public Control of Land Use in Europe, in: Journal of Farm Economics 21 (1939) 1, 57–71; Karl Brandt, Toward a More Adequate Approach to the Farm Tenure Program, in: Journal of Farm Economics 24 (1942) 1, 206–221; Henry W. Spiegel, German Tenancy Problems and Policies, in: The Journal of Land & Public Utility Economics 15 (1939) 3, 333–342; Henry William Spiegel, Land Tenure Policies at Home and Abroad, Chapel Hill 1941; Ernst Sauer/Fritz Steffen, Der Einheitspachtvertrag, Berlin 1940; Karl Hopp (Hg.), Reichspachtschutzordnung, Berlin 1940; Erich Pritsch, Das Pachtnotrecht des Deutschen Reiches, Berlin 1941. Aus rechtsgeschichtlicher Perspektive hat sich Werner Schubert ausführlich mit der Entwicklung des Landpachtrechts auseinandergesetzt. Seine Studie endet jedoch vor der NS-Zeit; Werner Schubert, Zur Entwicklung und Reform des Landpachtrechts vom ausgehenden 19. Jahrhundert bis zum Ende der Weimarer Zeit, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Germanistische Abteilung 108 (1991) 1, 237–281; Eine überaus wertvolle Quelle zur Expertendiskussion über das nationalsozialistische Landpachtrecht stellen die von Werner Schubert herausgegebene Protokolle des Ausschusses für landwirtschaftliches Pachtrecht im Rahmen der „Akademie für Deutsches Recht“ dar ; Ausschuß für landwirtschaftliches Pachtrecht, in: Akademie für Deutsches Recht, 1933–1945: Protokolle der Ausschüsse, Bd. 3/5, hrsg. v. Werner Schubert, Berlin/New York 1993, 457–603.
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lysiert, sondern den Schwerpunkt eher auf ihre Besonderheit legt, was wiederum einer analytischen „Verinselung“ der agrarpolitischen Maßnahmen des NSRegimes Vorschub leistete.30 Aber nicht nur der vergangenheitspolitische Diskurs scheint hier mitgespielt zu haben, sondern auch ein Spezifikum der deutschsprachigen Agrargeschichte, die, wie Stefan Brakensiek und Gunter Mahlerwein prägnant zusammenfassen, das wichtige Institut der Landpacht weitgehend vernachlässigte, da sie vorrangig mit der sozialen Figur des „Bauern“ beschäftigt war.31 Gegen eine solche Vernachlässigung spreizt sich der hier untersuchte Quellenbestand. Zu sehr war die Kreisbauernschaft mit dem Pachtwesen beschäftigt, als dass sie bei der Frage nach dem Wirken nationalsozialistischer Agrarverwaltung ignoriert werden könnte. Und wie im Folgenden gezeigt werden soll, lohnt es sich, diesen Bereich genauer in den Blick zu nehmen, da mit der Verwaltung des Pachtwesens verknüpfte Vorgänge sowohl Aufschluss darüber geben kann, wie die Rolle der Verwaltung des Reichsnährstands im lokalen Machtgefüge zu verorten ist als auch welchen institutionellen „Fußabdruck“ die nationalsozialistische Agrarverwaltung für die Zeit nach 1945 hinterließ. Wie die Kreisbauernschaft in Pachtverhältnisse eingebunden war, zeigt das folgende Beispiel. Am 12. Dezember 1938 wurde die Kreisbauernschaft Neunkirchen von der Agrarbezirksbehörde Niederdonau aufgefordert, zu einem Pachtvertrag, der gemäß der Vorgaben der „Grundstückverkehrsbekanntmachung“ zur Genehmigung eingereicht worden war, Stellung zu nehmen.32 Der Ortsbauernführer solle erheben lassen, „ob die Vertragsparteien arischer Abstammung sind, ob die gegenständlichen Grundstücke zu einem Erbhof gehören und ob die Parteien in Deutschland oder im Auslande (welcher Staat) heimatberechtigt sind.“33 Diese Anfragen leitete die Kreisbauernschaft an den zuständigen Ortsbauernführer weiter und fügte als Frage noch hinzu: „Wie eignet sich
30 Vgl. Martin Broszat, Eine Insel in der Geschichte? Der Historiker in der Spannung zwischen Verstehen und Bewerten der Hitler-Zeit, in: ders., Nach Hitler. Der schwierige Umgang mit unserer Geschichte, München 1987, 114–120. 31 „Tenancy has been neglected by German agrarian historians who have been preoccupied with the social figure of the peasant.“ Stefan Brakensiek/Gunter Mahlerwein, North-West Germany 1750–2000, in: Bas van Bavel/Richard Hoyle (Hg.), Social relations: property and power, Turnhout 2010, 253–283, 257. 32 Vgl. Bekanntmachung über den Verkehr mit landwirtschaftlichen oder forstwirtschaftlichen Grundstücken (Grundstückverkehrsbekanntmachung) vom 26. Januar 1937, RGBl. I Nr. 8/ 1937; Kundmachung des Reichsstatthalters in Österreich, wodurch die Verordnung über die Einführung der Grundstückverkehrsbekanntmachung im Lande Österreich vom 20. Juli 1938 bekanntgemacht wird, GBlÖ., Nr. 283/1938. 33 NÖLA, BBK Gloggnitz, K. 9, Hofakt Adolf W., Schreiben der Agrarbezirksbehörde Niederdonau an die KBS Neunkirchen vom 12. 12. 1938.
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Adolf W. als Pächter, gewährleistet er eine richtige Betriebsführung.“34 Der Ortsbauernführer beantwortete die Fragen schriftlich, bezeichnet den Pächter als „tüchtigen Landwirt“ und schrieb, die Verpächterin sei „Halbjüdin“. Letztere Bemerkung wurde jedoch durch den Stabsleiter der Kreisbauernschaft gestrichen und das Wort „arisch“ hinzugefügt.35 Hier zeigen sich bereits die zwei entscheidenden Kriterien nationalsozialistischer „Bodenordnung“: der rassistische Ausschluss von Personen, die im NS-Regime als Jüdinnen und Juden galten und die ökonomische Beurteilung der „Leistungsfähigkeit“. In einer weiteren Stellungnahme merkt die Kreisbauernschaft an, dass die Parteien angewiesen worden seien, die ursprünglich als Pachtzins vereinbarten Naturalleistungen durch Bargeld zu ersetzen. Naturalpacht sei, so die Kreisbauernschaft „derzeit nicht mehr statthaft“. Auch hätten sich die Parteien bereit erklärt, „den Vertrag nach den Grundsätzen des Reichsnährstandes abzuschließen.“36 Zudem verlangte die Kreisbauernschaft, dass im Vertragsentwurf die Pachtdauer verlängert und der Pachtpreis reduziert werden müsse.37 Im Hofakt zu Adolf W. findet sich dann auch ein mit dem Datum 19. 1. 1940 vom Landrat genehmigter „Einheitspachtvertrag für Pachtgrundstücke“, der die von der Kreisbauernschaft eingeforderte Pachtdauer und Höhe des Pachtschillings beinhaltet.38 Dieses Beispiel zeigt, wie ein anfangs zwischen den Vertragsparteien vereinbartes Arrangement durch die Intervention der Kreisbauernschaft vollständig durch letztere umgestaltet worden war. Der Vertragsvordruck des Reichsnährstandes, der „Einheitspachtvertrag“, gab den Text des Vertrags vor. Und die wenigen Variablen, die dieses Formular noch offen ließ, die Pachtdauer und das Pachtentgelt, wurden im Endeffekt auch noch durch die lokale Stelle des Reichsnährstands festgesetzt. Frei stand den Vertragsparteien nur noch, ihren Namen in den Vertrag einzusetzen und diesen zu unterzeichnen. Die Möglichkeit des Eingriffs staatlicher Stellen in das Verhältnis zwischen Vertragsparteien eines Pachtvertrags war kein Spezifikum nationalsozialistischer Agrarpolitik. Die Geschichte staatlicher Eingriffe in dieses Verhältnis beginnt in Österreich eigentlich mit dem Ersten Weltkrieg. Davor waren Pachtverhältnisse durch das Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch geregelt, durch dessen dürftige Vorschriften dieses Verhältnis als ein rein privatrechtliches ge34 NÖLA, BBK Gloggnitz, K. 9, Hofakt Adolf W., Schreiben der KBS Neunkirchen an Ortbauernführer Andreas W. vom 23. 12. 1938. 35 NÖLA, BBK Gloggnitz, K. 9, Hofakt Adolf W., Schreiben von Ortbauernführer Andreas W. an die KBS Neunkirchen vom 13. 1. 1939. 36 NÖLA, BBK Gloggnitz, K. 9, Hofakt Adolf W., Schreiben der KBS Neunkirchen an den Landrat Neunkirchen vom 31. 3. 1939. 37 NÖLA, BBK Gloggnitz, K. 9, Hofakt Adolf W., Schreiben der KBS Neunkirchen an den Landrat Neunkirchen vom 31. 3. 1939. 38 NÖLA, BBK Gloggnitz, K. 9, Hofakt Adolf W., Einheitspachtvertrag vom 1. 11. 1939.
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fasst war.39 Dies änderte sich im Sommer 1915, in dem durch eine kaiserliche Verordnung Verträge über die Übertragung landwirtschaftlicher Grundstücke unter Lebenden oder deren Verpachtung auf längere Dauer durch eine eigene Behörde, die „Grundverkehrskommission“ genehmigt werden mussten, um Gültigkeit zu erlangen.40 Diese Verordnung, die vorerst nur „für die Zeit der durch den Krieg geschaffenen außerordentlichen Verhältnisse“ in Kraft gesetzt gewesen war, erwies sich als nachhaltige Einrichtung der staatlichen Regulierung des Pachtwesens im 20. Jahrhundert. Schon 1919 wurde diese Verordnung, als „Grundverkehrsgesetz“ mit nur geringen Modifikationen, verlängert.41 Die Pachtgesetzgebung ist damit ein Beispiel für die Kontinuität von Gesetzen, die, in „außerordentlichen Verhältnissen“ erlassen, staatliche Eingriffe in den Agrarbereich legitimierten, aber nach Ende der jeweiligen Ausnahmesituation nicht wieder zurückgenommen wurden.42 Eine ähnliche Genese zeigen die „Pächterschutz“-Verordnungen seit 1919.43 Diese, jeweils zeitlich befristeten Verordnungen, wurden gestützt auf das „Kriegswirtschaftliche Ermächtigungsgesetz“ vom 24. Juli 1917 erlassen, um in Pachtverhältnisse regulierend einzugreifen.44 Auch diese Verordnung wurde regelmäßig verlängert und in ihrem Geltungsbereich ausgedehnt. Ergänzt wurde dieses immer wieder verlängerte Provisorium aus Anlass der Inflation durch die sogenannten Pachtänderungsgesetze, die bei langfristigen Pachtverträgen der Geldentwertung Rechnung tragen sollten.45 Obwohl im Laufe der 1920er-Jahre das Pachtrecht ein heiß diskutierter Gegenstand der österreichischen Agrarpolitik war und zahlreiche Vorschläge für ein 39 Vgl. Walter Schiff, Die Reform des landwirtschaftlichen Pachtrechtes in Österreich, in: Berichte über Landwirtschaft 16 (1930) Sonderheft/II, 159–263, 185–186; Adolf Buchenberger, Agrarwesen und Agrarpolitik, Leipzig 1914, 170. 40 Schiff, Reform, 194; Verordnung des Justizministers im Einvernehmen mit den beteiligten Ministern zur Durchführung der Kaiserlichen Verordnung vom 9. August 1915, über die Veräußerung land- und forstwirtschaftlicher Grundstücke, RGBl., Nr. 235/1915. 41 Schiff, Reform, 194; Gesetz vom 13. Dezember 1919 über die Veräußerung land- und forstwirtschaftlicher Grundstücke (Grundverkehrsgesetz), StGBl., Nr. 583/1919. 42 Vgl. Giovanni Federico, Feeding the World: an Economic History of Agriculture, 1800–2000, Princeton 2005, 220; Auderset/Moser, Krisenerfahrungen; Gary D. Libecap, The Great Depression and the Regulating State: Federal Government Regulation of Agriculture, 1884–1970, Michael D. Bordo/Claudia Dale Goldin/Eugene Nelson White (Hg.), The defining moment: the Great Depression and the American Economy in the Twentieth Century, Chicago 1998, 181–224; Robert Higgs, Crisis and Leviathan. Critical Episodes in the Growth of American Government, New York 1987. 43 Vollzugsanweisung vom 18. Dezember 1919 über den Schutz der Kleinpächter und der Pächter mittlerer landwirtschaftlicher Betriebe (Pächterschutzverordnung), StGBl., Nr. 589/ 1919. 44 Schiff, Reform, 201; Gesetz vom 24. Juli 1917 mit dem die Regierung ermächtigt wird, aus Anlass der durch den Kriegszustand verursachten außerordentlichen Verhältnisse die notwendigen Verfügungen auf wirtschaftlichem Gebiete zu treffen, RGBl., Nr. 307/1917. 45 Schiff, Reform, 198.
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einheitliches Gesetz von politischen Parteien und Körperschaften ausgearbeitet wurden, gelang es nicht, einen Konsens zu erzielen. In Kraft blieben die Provisorien aus der Kriegs- und unmittelbaren Nachkriegszeit, die regelmäßig verlängert und modifiziert wurden.46 Erst wieder unter kriegswirtschaftlichen Vorzeichen trat mit der „Verordnung zur Vereinheitlichung des Pachtnotrechts (Reichspachtschutzordnung)“ ab 1. November 1940 ein neues Pachtrecht in Kraft, das wiederum nur leicht modifiziert bis 1969 in Kraft bleiben sollte.47
V.
Regulierung der landwirtschaftlichen Pacht als „Werkzeug nationalsozialistischer Bodenpolitik“
Die „Reichspachtschutzordnung“ regelte vorrangig staatliche Eingriffe in das Verhältnis zwischen VerpächterIn und PächterIn – und diese waren weitreichend. Geschützt wurden in diesem „Schutz“-Gesetz allerdings nicht etwa die PächterInnen gegen sittenwidrige Ausbeutung, sondern vielmehr die „Pacht“ gegenüber Bewirtschaftungsstrategien, die nicht den kriegswirtschaftlich-biopolitischen Richtlinien entsprach. „Als Pächter ist förderungswürdig der tüchtige vor dem minder tüchtigen, der Kinderreiche und Erbgesunde vor dem Unverheirateten oder Erbkranken“ hieß es in den Richtlinien zur Umsetzung dieses Gesetzes.48 Als „Werkzeug nationalsozialistischer Bodenpolitik“ bezeichnete ein Jurist im Reichsjustizministerium dieses Gesetz, welches sich „in die Gesetzgebung des Dritten Reichs ein[reiht], die der Verwirklichung einer dem völkischen Ideal entsprechenden bäuerlichen Lebensordnung dient. […] An die Stelle des privaten Interessensausgleichs ist beherrschend der Gedanke des Gemeinnutzes getreten.“49 Nach preußischem Vorbild wurden durch diese „Reichspachtschutzordnung“ Pachtämter an den Amtsgerichten eingerichtet. Diese Pachtämter waren befugt, Verträge ohne das Einverständnis der Vertragsparteien zu verlängern oder aufzulösen „wenn dies zur Sicherung der Volksernährung oder zu einer gesunden Verteilung der Bodennutzung erforderlich ist“. Auch war das Pachtamt 46 Schiff, Reform, 208–229; in den Bundesländern Oberösterreich, Kärnten, Steiermark, und Burgendland wurde die Verordnung im Laufe der 1930er-Jahre außer Kraft gesetzt. 47 Verordnung zur Vereinheitlichung des Pachtnotrechts (Reichspachtschutzordnung) vom 30. Juli 1940, RGBl. I, Nr. 138/1940; Bundesgesetz vom 26. November 1969 mit dem Bestimmungen über landwirtschaftliche Pachtverträge getroffen werden (Landpachtgesetz), BGBl., Nr. 451/1969. 48 Anordnung des Reichsbauernführers vom 11. August 1937 – IG 6419/37 – betr. Genehmigung von Pachtverträgen nach der Grundstücksverkehrsbekanntmachung, in: Dienstnachrichten des Reichsnährstandes Nr. 31 vom 14. August 1937, Berlin 1937, 293; Karl Hopp (Hg.), Reichspachtschutzordnung, Berlin 1940, 33. 49 Pritsch, Pachtnotrecht, 8.
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ermächtigt, den Inhalt des Vertrags zu ändern „soweit er volkswirtschaftlich nicht gerechtfertigt ist, insbesondere einer Steigerung der Erzeugung entgegensteht.“50 Dieses Gesetz, so ein Kommentar in der Agrarpresse, würde es nun nicht mehr „den Beteiligten überlassen, das Pachtverhältnis so zu regeln, wie sie es für richtig hielten.“51 Antrags- und beschwerdeberechtigt bei diesen Pachtämtern waren nicht nur die VerpächterInnen und PächterInnen, sondern auch der Kreisbauernführer des jeweiligen Kreises. Auch wenn der Kreisbauernführer das Verfahren nicht beantragt hatte, war er zu Verhandlungen zu laden oder es musste zumindest im Vorhinein seine Stellungnahme eingeholt werden.52 Durch die Verfahrensordnung, die vorschrieb, die Stellungnahme des Kreisbauernführers im Verfahren zu hören, sowie durch das Initiativrecht des Kreisbauernführers war letzterer in der Praxis sowohl Beschwerdeführer als auch Entscheidungsinstanz in Personalunion. Diese umfangreiche Verfügungsgewalt wurde in den folgenden Jahren noch partiell erweitert. Etwa durch den „Erlaß des Führers über die Einschränkung des Verkehrs mit landwirtschaftlichen Grundstücken im Kriege“ vom 28. Juli 1942,53 der die Befugnisse der Kreisbauernschaft erweiterte, Landtransfergeschäfte abzulehnen. Dazu kam im Frühjahr 1943 noch eine verschärfte Fassung der „Landbewirtschaftungsverordnung“, die es der Kreisbauernschaft erleichterte, Zwangsverpachtungen vorzunehmen.54 In einem Zeitungskommentar heißt es dazu: „Diese Neufassung der Landbewirtschaftungsverordnung gibt nun dem Reichsnährstand und den Gerichten die Möglichkeit, in allen notwendigen Fällen einzugreifen und die Pflichten zur Sicherung der Volksernährung gegebenenfalls zu erzwingen.“55 Bemerkenswert ist hierbei, dass Reichsnährstand und Gerichte als gleichberechtigte Akteure beim Vollzug der Staatsgewalt genannt werden. Die schon zuvor nur noch nominell bestehende Verfahrensordnung wurde nun also auch in der öffentlichen Darstellung der Praxis angepasst. Tatsächlich stellte die „Reichspachtschutzordnung“ – typisch für die Regierungsweise des Reichsnährstands – nur eine nachträgliche Ausformulierung bereits zuvor praktizierter Verwaltungsvorgänge dar. Schon 1937, mit der so50 Verordnung zur Vereinheitlichung des Pachtnotrechts (Reichspachtschutzordnung) vom 30. Juli 1940, RGBl. I, Nr. 138/1940. 51 Das neue Pachtschutzrecht in der Ostmark, Wochenblatt der Landesbauernschaft Donauland, 23. 11. 1940, 1017–1018. 52 Verordnung zur Vereinheitlichung des Pachtnotrechts (Reichspachtschutzordnung) vom 30. Juli 1940, RGBl. I, Nr. 138/1940. 53 Erlaß des Führers über die Einschränkung des Verkehrs mit landwirtschaftlichen Grundstücken im Kriege vom 28. Juli 1942, RGBl. I, Nr. 82/1942. 54 Verordnung zur Durchführung und Ergänzung der Verordnung zur Sicherung der Landbewirtschaftung vom 20. Januar 1943, RGBl. I, Nr. 7/1943. 55 Zur Sicherung der Landbewirtschaftung, Wochenblatt der Landesbauernschaft Niederdonau, 6. 3. 1943, 155–156.
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genannten „Grundstückverkehrsbekanntmachung“,56 die eine Fortsetzung und Erweiterung der Bekanntmachungsverordnungen aus dem Ersten Weltkrieg darstellte, wurden Landtransfergeschäfte von einer Genehmigung staatlicher Behörden abhängig gemacht. Und mit der „Verordnung zur Sicherung der Landbewirtschaftung“, die im Zuge des „Vierjahresplans“ im Frühjahr 1937 erlassen wurde, konnten Nutzungsberechtigten landwirtschaftlicher Grundstücke diese Berechtigung durch die Dienststellen des Reichsnährstandes eingeschränkt oder entzogen werden.57 Durch die „Grundverkehrsbekanntmachung“ konnte die Genehmigung von Landtransfergeschäften versagt werden, wenn „der Ausführung des Rechtsgeschäftes ein erhebliches öffentliches Interesse entgegensteht.“58 Als Genehmigungsbehörde wurde der Landrat bestimmt, der jedoch laut Ausführungsanweisungen verpflichtet war, die Stellungnahme des Kreisbauernführers einzuholen, die „für die Genehmigungsbehörden ausschlaggebend“ sein sollte.59 „Jede Grundveräußerung und Verpachtung […] bedarf der Genehmigung und der Zustimmung des Kreisbauernführers“ hieß es dazu in der Agrarpresse.60 Über das Genehmigungsverfahren konnte der Reichsnährstand seine Vorschriften also schon seit 1937 durchsetzen. In Österreich wurde die „Grundstücksverkehrsbekanntmachung“ dann gemeinsam mit dem zweiten wichtigen „Bodenlenkungsgesetz“, dem „Reichserbhofgesetz“, am 1. August 1938 in Kraft gesetzt.61 „Entsprechend der Grundverkehrsbekanntmachung ist bei allen Veräußerungen und Verpachtungen […], der Kreisbauernführer zu hören“, schreibt der Kreisbauernführer der Kreisbauernschaft Neunkirchen am 2. August 1938 an die Bezirkshauptmannschaft, 56 Bekanntmachung über den Verkehr mit landwirtschaftlichen oder forstwirtschaftlichen Grundstücken (Grundstückverkehrsbekanntmachung) vom 26. Januar 1937, RGBl. I, Nr. 8/ 1937. 57 Verordnung zur Sicherung der Landbewirtschaftung vom 23. März 1937, RGBl. I, Nr. 43/ 1937. 58 Bekanntmachung über den Verkehr mit landwirtschaftlichen oder forstwirtschaftlichen Grundstücken (Grundstückverkehrsbekanntmachung) vom 26. Januar 1937, RGBl. I, Nr. 8/ 1937: konkretisiert wurde dieses „öffentliche Interesse“ als „Schaden an der Volksernährung“, als Übertragung eines Grundstücks an jemanden der „nicht als Landwirt im Hauptberuf anzusehen ist“, als „unwirtschaftlichen Zerschlagung des Grundstückes“, als „Aufhebung der wirtschaftlichen Selbstständigkeit eines landwirtschaftlichen Betriebs“ oder wenn „der Gegenwert in einem groben Mißverhältnis zum Wert des Grundstücks steht“. 59 Rudolf La"s, Vom Besitzwechsel an erbhoffreiem Grund und Boden. Was man vom Grundstückverkehrsrecht, insbesondere von der Grundstückverkehrsbekanntmachung, wissen muss, Berlin 1939, 57–58. 60 Der Bauer hat sein eigenes Recht, Wochenblatt der Landesbauernschaft Donauland, 13. 8. 1938, 461–462. 61 Kundmachung des Reichsstatthalters in Österreich, wodurch die Verordnung über die Einführung der Grundstückverkehrsbekanntmachung im Lande Österreich vom 20. Juli 1938 bekanntgemacht wird, GBlÖ., Nr. 283/1938; Bauerntum und Raumplanung, Wochenblatt der Landesbauernschaft Donauland, 8. 2. 1941, 122.
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und hebt hervor, dass „die Genehmigungsbehörde […] von der Stellungnahme des Kreisbauernführers nicht abweichen [kann].“62 Ein Ziel des Reichsnährstandes war es, alle Vertragsparteien in Pachtgeschäften dazu zu bewegen, den vom Reichsnährstand entworfenen „Einheitspachtvertrag“ zu verwenden. „Die einheitliche Normierung der Pachtbedingungen für das ganze Reich soll den Willen der Vertragsparteien an der vom Stand gebilligten Regelform ausrichten“ heißt es in der entsprechenden Dienstanordnung des Reichsbauernführers.63 Vordergründig wurde diese strikte Normierung pragmatisch argumentiert. Diese Vereinheitlichung sollte die Genehmigungsverfahren von Pachtverträgen „vereinfachen“ und als „Vertragshilfe“ dienen. „Die Genehmigung von landwirtschaftlichen Pachtverträgen wird wesentlich erleichtert durch die Benutzung der vom Reichsnährstand herausgegebenen Einheitspachtverträge“, so ein Kommentar zu dieser Vorschrift.64 Das Formular diente gleichzeitig auch der Disziplinierung der unteren Reichsnährstandsdienststellen – als „Mittel, die Arbeit der Bauernführer und Reichsnährstandsdienststellen einheitlich auszurichten.“65 Durch die Agrar- und Lokalpresse wurde verlautet, dass Pachtverträge nur genehmigt werden würden, wenn sie in Form der „Einheitspachtverträge“ abgefasst seien.66 Obwohl diese Musterverträge nirgends gesetzlich vorgeschrieben waren, erlaubte es die Rolle, die der Kreisbauernschaft im Genehmigungsverfahren von Landtransfergeschäften zukam, die Vorschrift des Reichsnährstands in den meisten Fällen auch gegen expliziten Widerstand durchzusetzen. Ein zeitgenössischer Beobachter bemerkt dazu, dass diese Vertragsvorschriften sogar ein stärkeres Regierungsmittel seien als Gesetze.67 Während Gesetze in ihrer Anwendung der Interpretation durch die involvierten Akteurinnen und Akteure bedurften, limitierte der Vertragsvordruck selbst diesen Interpretationsspielraum. Wie ein Fall am Pachtamt des Amtsgerichts Gutenstein zeigt, war die Kreisbauernschaft jedoch nicht immer erfolgreich. Vertreter der Gemeinde Wien, die in dieser Region über große Besitzungen verfügten, widersetzten sich erfolgreich dem Diktat des Reichsnährstands. Einem Aktenvermerk zu diesem Fall ist zu entnehmen, dass der Kreisbauernführer zwar einen Pachtvertrag durchsetzen konnte, „der in seinen wesentlichen Teilen den Einheitsverträgen 62 NÖLA, Bezirkshauptmannschaft (BH) Neunkirchen, Gruppe IX, 519, Schreiben der KBS Neunkirchen an die Bezirkshauptmannschaft Neunkirchen vom 2. August 1938. 63 Sauer/Steffen, Einheitspachtvertrag, 139. 64 La"s, Besitzwechsel, 29. 65 Sauer/Steffen, Einheitspachtvertrag, 9. 66 Die Einheitspachtverträge in der Ostmark, Volksruf. Mitteilungsblatt der NSDAP für die Kreise Wr. Neustadt und Neunkirchen, 26. 8. 1939, 11; Ein Jahr deutsches Bodenrecht in der Ostmark, Wochenblatt der Landesbauernschaft Donauland, 5. 8. 1939, 1147. 67 Spiegel, Land Tenure Policies, 128.
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des Reichsnährstandes entspricht.“ Die Forstverwaltung der Gemeinde Wien, die darauf beharrte, nicht den Vertragsvordruck des Reichsnährstandes zu verwenden, da, „ein gesetzlicher Zwang zur Verwendung der Einheitspachtverträge nicht vorliegt,“ bestimmte jedoch weiterhin die Form des Vertrags.68 Dieser Fall zeigt Grenzen der Machtausauübung des Reichsnährstands vor Ort. In seiner Beschwerde über das Verhalten der Gemeinde Wien schrieb der Kreisbauernführer an die Landesbauernschaft: „Die Aufstellung von Pachtverträgen, die den Richtlinien des Reichsnährstandes entsprechen, durchzusetzen, ist nicht immer leicht, jedoch sollten sich meines Erachtens öffentliche Stellen in erster Linie daran halten, da solche Fälle von verschiedenen Privatpersonen aufgegriffen werden und in ihnen die Meinung aufkommen lassen, daß auch sie sich nicht an die Richtlinien zu halten haben.“69
Wie hier erkennbar wird, sah die Kreisbauernschaft ihre Position im lokalen Machtgefüge nicht vollkommen abgesichert. In einem anderen Pachtkonflikt mit der Gemeinde Wien schrieb der Stabsleiter der Kreisbauernschaft: „Es ist auch vollkommen unmöglich, alle Privatpersonen, die Grundstücke verpachten, zur Abfassung richtiger Pachtverträge zu zwingen, wenn eine Gemeinde sich nicht dazu herbeiläßt, ebenfalls Pachtverträge abzuschließen.“70 Wiederholt versuchten sich Vertragsparteien, meist die verpachtende Partei, dem Diktat der Kreisbauernschaft zu widersetzen. Während in den zentralen Verwaltungsstellen des Reichsnährstandes nur noch von dem „angeblich noch bestehenden Grundsatz der Vertragsfreiheit“ die Rede war,71 versuchten mächtigere Akteure vor Ort Reste dieser Vertragsfreiheit doch noch für sich in Anspruch zu nehmen.
VI.
Die Heterogenität landwirtschaftlicher Pachtarrangements im Kreis Neunkirchen
Die strikte Vertragsschablone des „Einheitspachtvertrags“ stand im starken Kontrast zur Formenvielfalt der in den Hofakten überlieferten Pachtarrangements. Die normierenden Eingriffe der Kreisbauernschaft sind in den Hofakten gut dokumentiert – auch aufgrund von Widerständen bei deren Durchsetzung in der Bevölkerung –, wodurch sich einerseits die davor bestehende Heterogenität
68 NÖLA, BBK Gloggnitz, K. 14, Hofakt Karl G., Aktenvermerk vom 7. 11. 1942. 69 NÖLA, BBK Gloggnitz, K. 14, Hofakt Johann T., Schreiben der KBS Neunkirchen an die Landesbauernschaft Donauland vom 17. 4. 1940. 70 NÖLA, BBK Gloggnitz, K. 14, Hofakt Karl G., Schreiben der KBS Neunkirchen an das Pachtamt beim Amtsgericht Gutenstein vom 25. 6. 1942. 71 Sauer/Steffen, Einheitspachtvertrag, 12.
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an Vertragsarrangements, als auch der Normierungsprozess durch den Reichsnährstand gut rekonstruieren lassen. Die Mehrheit der in den Hofakten überlieferten Pachtverträge sind zwar als relativ einfache Geldpachtvereinbarungen über die Überlassung von landwirtschaftlichen Grundstücken oder ganzen Betrieben auf eine bestimmte Zeit abgefasst. Es finden sich jedoch auch zahlreiche Kontrakte, bei denen der Pachtzins nicht ausschließlich in Geld angegeben ist und durch die unterschiedliche Bereiche ländlichen Wirtschaftens miteinander verknüpft wurden. So zeigt sich etwa ein Kontinuum zwischen Pacht- und Arbeitsverträgen. Insbesondere bei größeren forstwirtschaftlichen Gütern wurden Teile des Lohns der Forstarbeiter als Deputat, als Überlassung eines kleinen Stückes Land, beglichen.72 Oder PächterInnen wurden dazu verpflichtet, Ochsen- oder Pferdegespanne zu halten und mit diesen zu Arbeitsspitzen den VerpächterInnen Zug- und Arbeitskräfte bereitzustellen.73 Nicht nur auf der Ebene einzelner Verträge zeigt sich diese enge Beziehung zwischen Arbeits- und Bodenmarkt. Vergleicht man etwa die landwirtschaftliche Besitzverteilung der Gemeinden, zu denen in diesem Bestand Hofakten überliefert sind, so zeigt sich eine klare Korrelation zwischen abnehmender Gleichverteilung und zunehmender Pachtrate. Diese Verbindung bildet die Ausgleichsfunktion des Pachtinstituts bei einem Ungleichgewicht zwischen verfügbarer Arbeitskraft und verfügbaren Boden ab. Auch zeigt sich in den Hofakten, dass Verpachtung von Land zum Beispiel bei Krankheitsfällen in der Familie, bei großen Generationenabständen oder auch in Fällen der Einziehung von Familienarbeitskräften zur Wehrmacht, eine Antwort auf die Knappheit der verfügbaren Arbeitskraft darstellte. Auch zur Bearbeitung bestimmter Flächen wurde im Gegenzug Land zur Nutzung überlassen.74 Oder gewisse Arbeitsschritte wurden gegen einen bestimmten Ertragsanteil an andere vergeben.75 Verpachtung trat auch als Gegenleistung für das Einstellen und die Pflege von Vieh in Erscheinung. Auch häusliche Dienste, wie regelmäßiges Kochen und Reinigung der Wäsche und Wohnung, wurden mittels Überlassung von land-
72 Vgl. etwa NÖLA, BBK Gloggnitz, K. 14, Hofakt Fritz G., Schreiben der KBS Neunkirchen an Fritz G. vom 14. 6. 1939; BBK Gloggnitz, K. 13, Hofakt Karl L., Schreiben der KBS Neunkirchen an den Ortsbauernführer (OBF) Hans Z. vom 13. 6. 1940. 73 Vgl. etwa NÖLA, BBK Gloggnitz, K. 14, Hofakt August G., Schreiben der W. Forstverwaltung an August G. vom 21. 6. 1944. 74 Vgl. etwa NÖLA, Amt der NÖ Landesregierung (Amt NÖLReg), Landesamt, VI/12, 1177–23. 75 Vgl. etwa NÖLA, BBK Gloggnitz, K. 11, Hofakt Karoline R., Schreiben der KBS Neunkirchen an den OBF Andreas W. vom 15. 4. 1939; NÖLA, BBK Gloggnitz, K. 11, Hofakt Karoline R., Schreiben der KBS Neunkirchen an den OBF Andreas W. vom 15. 4. 1939; NÖLA, BBK Gloggnitz, K. 11, Hofakt Marianne S., Schreiben der Marianne S. an die KBS Neunkirchen vom 5. 5. 1939; NÖLA, BBK Gloggnitz, K. 13, Hofakt Anton A., Gutachten des Kreishauptamtsleiters I der KBS Neunkirchen vom 6. 3. 1939.
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wirtschaftlichen Grundstücken vergütet und gesichert.76 Und Landpacht stellte auch eine Art Kranken- und Altersversicherung dar. Zum Beispiel wurde gegen die Zusicherung von Hilfeleistung und Versorgung im Krankheitsfall Land zur Nutzung überlassen.77 Versorgungsleistungen in Form von Naturalpacht waren generell häufig in den Verträgen zu finden und scheinen, wenn die verpachtende Partei vor Ort wohnte und selbst nicht landwirtschaftlich tätig war, eher die Norm gewesen zu sein. Oft waren solche Verträge als gemischtes Vertragsarrangement gestaltet, in dem neben einem in Geld bemessenen jährlichen Pachtschilling auch die Lieferung von Milch, Brennholz, Kartoffeln, Getreide oder anderen landwirtschaftlichen Erzeugnissen inbegriffen war.78 Aber auch Vorkaufsrechte auf bestimmte Erzeugnisse der verpachteten Flächen, meist Heu, wurden in manchen Verträgen festgeschrieben.79 Außerdem waren Pachtverträge auch mit dem Kapitalmarkt verknüpft. Etwa wurde ein Pachtverhältnis mit einem Darlehen verknüpft, indem ein Grundstück als Pfand dem Gläubiger überschrieben wurde. Der Schuldner bewirtschaftete zwar als Pächter dieses Grundstück weiterhin; erst nach Tilgung der Schuld sollte das Grundstück in den Besitz des ursprünglichen Besitzers zurückkehren.80 Die hier skizzierten Beispiele zeigen, dass Landbesitz- und Landnutzungsrechte im ländlichen Sozialgefüge weit mehr Funktionen erfüllten, als alleine die eines Produktionsfaktors bei der Erzeugung landwirtschaftlicher Produkte. Landbesitz- und Landnutzungsrechte waren neben der hier ausgeblendeten Dimension des Prestiges, den Landbesitz in der Agrargesellschaft der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit sich brachte, ein wichtiger Faktor für die Substituierung begrenzter Möglichkeiten der Ressourcenallokation auf Arbeits- und Kreditmärkten.81 Und Landpacht war auch ein Mittel, privilegierten Zugang zu Konsumgütern, insbesondere Nahrungsmitteln, zu erhalten. Hinter der zuvor skizzierten Vielfalt von Arrangements standen nicht nur lokale Gepflogenheiten und Strategien zur Subsistenzabsicherung. Die jeweilige Form des Kontrakts war auch unterschiedlichen ökonomischen Kalkülen geschuldet. Und um diese 76 Vgl. etwa NÖLA, BBK Gloggnitz, K. 13, Hofakt Anton A., Gutachten des Kreishauptamtsleiters I der KBS Neunkirchen vom 6. 3. 1939. 77 Vgl. etwa NÖLA, BH Neunkirchen, Gruppe IX, 518, Pachtvertrag vom 19. 3. 1939. 78 Vgl. etwa NÖLA, BBK Gloggnitz, K. 14, Hofakt Johann T., Schreiben der KBS Neunkirchen an die Landesbauernschaft Donauland vom 17. 4. 1940; NÖLA, BBK Gloggnitz, K. 13, Hofakt Anton A., Schreiben von Josef Carl L. an den Landrat des Kreises Neunkirchen vom 13. 4. 1943; NÖLA, BBK Gloggnitz, K. 13, Hofakt Anton A., Gutachten des Kreishauptamtsleiters I der KBS Neunkirchen vom 6. 3. 1939. 79 Vgl. etwa NÖLA, BBK Gloggnitz, K. 14, Hofakt Karl G., Abschrift des Schreibens der Wasserwerke der Gemeinde Wien an Karl G. vom 18. 6. 1942. 80 NÖLA, Amt NÖLReg, Landesamt, VI/12, 1178–2. 81 Vgl. Emmanuel Skoufias, Household Resources, Transaction Costs, and Adjustment through Land Tenancy, in: Land Economics 71 (1995) 1, 42–56.
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Kalküle näher betrachten zu können, bietet sich der aus der Neuen Institutionenökonomik entlehnte Prinzipal-Agent-Ansatz an.
VII.
Prinzipal-Agent-Probleme
Prinzipal-Agent Beziehungen sind Beziehungen zwischen zwei (oder mehreren) Parteien, in der eine (der Agent) im Auftrag einer anderen (dem Prinzipal) agiert.82 Diese Beziehung ist häufig durch Zielkonflikte zwischen den Parteien geprägt. Der Prinzipal-Agent-Ansatz befasst sich nun damit, wie Inhaber von Ressourcen (der Prinzipal) bei der Delegation der Bearbeitung dieser Ressourcen an eine ausführende Person (der Agent) die Wahrung seiner Interessen sicherstellen kann.83 Wie zum Beispiel eine Person, die Grund besitzt, diesen aber nicht selbst bewirtschaftet, einen Vertrag als Kompensationssystem für die Überlassung des Grundes entwerfen kann, der eine andere Person, die den Grund bewirtschaftet, dazu motivieren kann, möglichst im Interesse des Prinzipals zu agieren.84 Problematisch ist dieses Verhältnis in mehrfacher Weise. Die Aktionen des Agenten und die Umstände, unter denen er den Grund bewirtschaftet, sind für den Prinzipal ohne großen Aufwand kaum beobachtbar. Diese Informationsasymmetrie erfordert ein Kompensationssystem, das sicherzustellen sucht, dass der Agent seinen Informationsvorsprung nicht zu seinen Gunsten ausnützt. Ein solches Kompensationssystem kann zum Beispiel ökonomische Anreize für den Agenten beinhalten, die diesen dazu bewegen, möglichst in Übereinstimmung mit den Interessen des Prinzipals zu agieren, ohne dass dieser ihn ständig überwachen muss.85 Gleichzeitig hat aber auch der Agent ökonomische Interessen, deren Gewährleistung determiniert, ob er den Vertrag überhaupt eingeht. Etwa stehen den Anreizen, die eine Vertragsform bieten kann, auch Risiken gegenüber, die durch die Verpflichtung, die mit dem Vertragsabschluss eingegangen wird, entstehen.86 Stark vereinfachend können drei Grundformen landwirtschaftlicher Verträge nebeneinandergestellt werden, bei denen jeweils Besitz und Bearbeitung von 82 Stephen A Ross, The Economic Theory of Agency : The Principal’s Problem, in: The American Economic Review 63 (1973) 2, 134–139, 134. 83 Vgl. Wolfgang Seibel, Verwaltung verstehen. Eine theoretische Einführung, Berlin 2016, 45; Joseph E. Stiglitz, Principal and Agent (ii), in: Steven N. Durlauf and Lawrence E. Blume (Hg.), The New Palgrave Dictionary of Economics, London 2008, 637–644. 84 Vgl. Stiglitz, Principal and Agent, 637; Douglas Allen/Dean Lueck, The Nature of the Farm. Contracts, Risk, and Organization in Agriculture, Cambridge 2002. 85 Vgl. Claude Me´nard, A New Institutional Approach to Organization, in: Claude Me´nard/ Mary M Shirley (Hg.), Handbook of New Institutional Economics, Berlin/Heidelberg 2008, 281–318, 281. 86 Vgl. Allen/Lueck, Farm, 2.
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Land getrennt sind, die jedoch unterschiedliche ökonomische Anreize bereitstellen und gleichzeitig auch das ökonomische Risiko unterschiedlich verteilen: Lohnarbeit, Teilbau und Geldpacht.87 Bei fixen Lohnarbeitsverträgen trägt der Agent kein Risiko, hat jedoch auch kaum einen Anreiz, soweit unbeobachtet, große Anstrengungen in seine Arbeit zu investieren.88 Dementsprechend ist der Überwachungsaufwand für den Prinzipal in diesem Arrangement sehr hoch. Bei fixen Geldpachtverträgen hingegen gibt es einen starken Anreiz für den Agenten, den ihm überlassenen Grund möglichst gewinnbringend zu bewirtschaften, gleichzeitig trägt er aber auch das gesamte Risiko im Fall von Missernten, Viehseuchen oder anderen schwer kontrollierbaren Erfolgsfaktoren. Die Überwachungskosten für den Prinzipal sind in diesem Fall gering, da er unabhängig vom Ertrag des Grundstücks seinen Pachtzins vertraglich zugesichert hat. Bei Teilbaukontrakten, bei denen der Ertrag zu einem bestimmten Verhältnis zwischen Prinzipal und Agent geteilt wird, findet hingegen ein Abtausch von Risiken und Anreizen statt. Wenn das Risiko zwischen den Vertragsparteien aufgeteilt wird, verringert sich jedoch der Anreiz für den Agenten gegenüber der Geldpacht, da sein Arbeitseinsatz nur zum Teil durch höheren Gewinn belohnt wird. Ausgehend von dieser stark simplifizierenden Skizze von Vor- und Nachteilen unterschiedlicher Vertragsformen, lässt sich die oben geschilderte Vielfalt unterschiedlicher Vertragsformen als Ergebnis von Aushandlungsprozessen beschreiben, bei denen die Vertragsparteien zwischen ihren meist divergierenden Interessen einen Ausgleich zu finden suchten. Aus der Perspektive des Prinzipal-Agent-Modells lässt sich jedoch auch die Regulierung des Pachtwesens durch die nationalsozialistische Agrarverwaltung besser verstehen. Die Vorschrift des Reichsnährstandes, nur mehr Geldpachtverträge zu genehmigen, lässt sich so nicht nur als pragmatische Maßnahme zur Vereinfachung der Überprüfung der Höhe des Pachtzinses verstehen. Sie bedeutet für die PächterInnen auch, dass diesen vorgeschrieben wurde, Verträge einzugehen, bei denen sie das volle Risiko der Bewirtschaftung tragen mussten. Gleichzeitig bot der Geldpachtvertrag den stärksten ökonomischen Anreiz, den gepachteten Grund mit höchstmöglichem Arbeitsaufwand zu bewirtschaften und reduzierte damit theoretisch auch die Kosten der Überwachung der Be87 Vgl. Steven N. S. Cheung, Transaction Costs, Risk Aversion, and the Choice of Contractual Arrangements, in: Journal of Law and Economics 12 (1969) 1, 23–42, 25; Keijiro Otsuka/ Yujiro Hayami, Theories of Share Tenancy : A Critical Survey, in: Economic Development and Cultural Change 37 (1988) 1, 31–68. Teilbau (auch Teilpacht, Anteilwirtschaft oder Halbpacht genannt) bezeichnet eine Vertragsform, bei der das Pachtentgelt als Quote des Ertrages des Pachtgegenstandes entrichtet wird. 88 Eine in der Landwirtschaft häufig gewählte Alternative dazu, stellt der Akkordlohn dar, bei dem der Prinzipal einen höheren Arbeitsaufwand des Agenten mit höherer Entlohnung honoriert und sich so seine Überwachungskosten reduzieren.
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wirtschaftungsleistung. Auch die Gefahr, zu geringe Angaben über den Ertrag zu machen, für die etwa Teilbauarrangements Anlass gegeben hätten, bestand bei Geldpachtverträgen nicht. Das Vertragsarrangement des „Einheitspachtvertrags“ entsprach wenig überraschend in seiner Struktur ganz den Anforderungen der vom NS-Regime ausgerufenen „Erzeugungsschlacht“.89 Der Interessensausgleich zwischen den Vertragsparteien, der oben in Bezug auf die Wahl des Vertragsinhalts angesprochen wurde, war bei den Vertragsvorschriften des Reichsnährstandes nicht mehr gegeben. Der Reichsnährstand diktierte die Vertragsform nach seinen Interessen. In der Präambel des „Einheitspachtvertrags“ heißt es: „Durch die Verpachtung trennen sich Bodeneigentum und Bewirtschafter. Verpächter und Pächter müssen sich dann aber zu einer Pflichtgemeinschaft von Boden und Arbeit vereinigen, um durch Erhaltung und wenn möglich Steigerung der Ertragsfähigkeit deutschen Bodens an den großen Zielen des ganzen Volkes mitzuwirken.“90
Betrachtet aus der Perspektive des Prinzipal-Agent-Ansatzes nimmt in diesem Text das „Volk“, vertreten durch den Reichsnährstand, die Position des Prinzipals ein. VerpächterInnen und PächterInnen werden dagegen als „Pflichtgemeinschaft von Boden und Arbeit“ zu zwei Ausführenden der „großen Ziele des ganzen Volkes“ – zu Agenten. Auch wenn man die weiter oben beschriebene Praxis der Erstellung, Genehmigung und Durchsetzung der Verträge betrachtet, nimmt der Reichsnährstand die Position des Prinzipals ein. Im Rahmen der „Grundstücksverkehrsbekanntmachung“ und der „Reichspachtschutzordnung“, insbesondere aber in der Umsetzung dieser Regelungen vor Ort, agierte die Kreisbauernschaft als übermächtiger Prinzipal. Etwa wenn die Kreisbauernschaft im Rahmen der „Vertragshilfe“ Inhalte der Verträge bestimmte, den Abschluss der Verträge im Genehmigungsverfahren kontrollierte und wenn sie bei Streitschlichtungsverfahren vor den Pachtämtern als Partei und als Entscheidungsinstanz auftrat. Die Charakterisierung des Reichsnährstands als Prinzipal lässt sich aber auch über den konkreten Bereich des landwirtschaftlichen Pachtwesens hinaus ausdehnen. Der Prinzipal-Agent-Ansatz kann auch allgemein die Rolle des Reichsnährstandes in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft und Herrschaftsordnung beschreiben. Sowohl die Steuerungsansprüche der nationalsozialistischen Agrarpolitik, die durch den Reichsnährstand ins Werk gesetzt werden sollten, als auch die sich daraus ergebenden Probleme des Informationsdefizits über die zu steuernden Wirtschaftssubjekte entsprechen der Rolle 89 Können wir unsere Erzeugung noch steigern?, in: Wochenblatt der Bauernschaft für Niederösterreich, Wien und Burgenland, 14. 5. 1938, 8–9; Österreich mitten in der Erzeugungsschlacht, in: Wochenblatt der Bauernschaft für Niederösterreich, Wien und Burgenland, 14. 5. 1938, 2–3. 90 Sauer/Steffen, Einheitspachtvertrag, 93.
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eines Prinzipals.91 Die im Beginn dieses Beitrags betrachteten Hofakten können in diesem Zusammenhang als eine verwaltungstechnische Antwort auf das Problem der Informationsasymmetrie gedeutet werden. Sie entsprechen zumindest dem Bedürfnis eines Prinzipals, über möglichst vollständige Informationen über die Agenten zu verfügen. In Bezug auf die Kontinuität verwaltungstechnischer Mittel wie der Hofakten oder auch der Betriebsstatistik, stellt sich die Frage, inwieweit die Prinzipal-Agent-Beziehung auch als Beschreibungsmodell der korporativistisch organisierten Beziehung zwischen landwirtschaftlichen Betrieben und Nationalstaat in der Zweiten Republik taugt, die Josef Mooser prägnant als Annäherung an ein „Verlagssystem“ charakterisiert hat, in dem die Landwirtschaft zum „öffentlichen Dienst“ und „der Bauer zum Heimarbeiter im Verlag von Staat und Gesellschaft“ wurde.92 Der „gläserne Bauer“, wie er von der jeweils in Opposition befindlichen politischen Partei heraufbeschworen wurde, wäre für eine Regierung, die sich in der Rolle des Prinzipals sieht, der ideale Agent – die Informationsasymmetrie wäre aufgehoben.
VIII. Epilog – Kontinuitätslinien Während das „Reichserbhofgesetz“ durch die Provisorische Staatsregierung im September 1945 aufgehoben wurde,93 blieb das weniger prominente „Bodenlenkungsgesetz“, die „Reichspachtschutzordnung“, weiter in Kraft.94 Nur einzelne Bestimmungen wurden im Frühjahr 1947 adaptiert. Etwa traten „bei Pachtschutzsachen“ an die Stelle der „Kreisbauernführer die Bezirksbauernkammern, an die Stelle der Landesbauernführer die Landeslandwirtschaftskammern und an die Stelle des Reichsbauernführers das Bundesministerium für Land- und Forstwirtschaft.“95 Es bedarf noch weiterer Forschungen, um zu bestimmen, wie die Bezirksbauernkammern tatsächlich mit den weitgehenden Befugnissen, die sie dadurch übertragen bekommen hatten, umgingen. Und ob Kontinuitätslinien zwischen den „Pachtvertragsmustern“ der Landwirtschaftskammer und den „Einheitspachtverträgen“ des Reichsnährstandes zu finden 91 Vgl. Spoerer/Streb, Wirtschaftsgeschichte, 161–171. 92 Josef Mooser, Das Verschwinden der Bauern, in: Daniela Münkel (Hg.), Der lange Abschied vom Agrarland. Agrarpolitik, Landwirtschaft und ländliche Gesellschaft zwischen Weimar und Bonn, Göttingen 2000, 23–35, 27, 30. 93 Gesetz vom 19. September 1945 über die Aufhebung des Erbhofrechts und des Landbewirtschaftungsrechts, StGBl., Nr. 174/1945. 94 Verfassungsgesetz vom 1. Mai 1945 über die Widerherstellung des Rechtslebens in Österreich (Rechts-Überleitungsgesetz), StGBl., Nr. 6/1925, §2. 95 Bundesgesetz vom 21. März 1947 über vorläufige Maßnahmen auf dem Gebiete des Pachtschutzrechtes, StGBl., Nr. 86/1947.
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sind.96 Die Landwirtschaftskammer setzte sich jedenfalls dafür ein, die „Reichspachtschutzordnung“, die im April 1945 „vorgefunden“ worden sei, wie es in einem Bericht heißt, beizubehalten, „um einerseits die ungestörte Erledigung von Pachtstreitigkeiten sicherzustellen und andererseits Zeit zur Herstellung eines wohlüberlegten Pächterschutzgesetzes zu gewinnen.“97 Tatsächlich benötigte es fast ein Vierteljahrhundert, bis die „Reichspachtschutzordnung“ vom 30. Juli 1940 in Österreich außer Kraft gesetzt, und durch ein neues Landpachtgesetz ersetzt wurde.98
96 Vgl. 25 Jahre Bauerkammer, 244. 97 Ebd., 242–243. 98 Bundesgesetz vom 26. November 1969 mit dem Bestimmungen über landwirtschaftliche Pachtverträge getroffen werden (Landpachtgesetz), BGBl., Nr. 451/1969.
Gerhard Siegl
Vom „österreichischen Problem“ zum „nationalen Heiligtum“. Die österreichische Berglandwirtschaft in der NS-Zeit1
I.
Die Instrumentalisierung und Inszenierung bergbäuerlicher Not für die Ziele des NS-Regimes
Die Zeitschrift „Der Diplomlandwirt“ des Reichsbundes Deutscher Diplomlandwirte titelte am 15. September 1938 mit dem Aufmacher „Der Bergbauer – ein österreichisches Problem“.2 Der Berliner Autor Hans Dittmer bezeichnete darin „das Bergbauernproblem“ als „nicht zu übersehendes Problem, das nach dem Anschluß Deutschösterreichs3 an das Reich auch im Altreich interessiert“, denn die Bergbauernwirtschaft spiele im Rahmen der Erzeugungsschlacht „eine große Rolle“. Allerdings seien die extensive Grünlandwirtschaft („Alpwirtschaft“) und die Viehzucht „zum größten Teil in schlechter Verfassung“, wofür Dittmer mangelnde Pflege der Flächen sowie unzureichende Alpstallungen und Verkehrsinfrastruktur verantwortlich machte.4 Die Not der Bergbauernbetriebe sei weiters auf die stark gefallenen Viehpreise, die schwache Nachfrage und den hohen Verschuldungsgrad zurückzuführen, was wiederum einen geringen Lebensstandard der bergbäuerlichen Familien zur Folge hatte. Dittmer sprach von einer „kaum glaubwürdigen Einschränkung der Kosten“ und fügte zur Untermauerung seiner Empörung eine Beschreibung bergbäuerlicher Essgewohn1 Dieser Beitrag basiert auf erweiterten und ergänzten Ausführungen aus Gerhard Siegl, Bergbauern im Nationalsozialismus. Die Berglandwirtschaft zwischen Agrarideologie und Kriegswirtschaft (Innsbrucker Forschungen zur Zeitgeschichte 28), Innsbruck/Wien/Bozen 2013. 2 Hans Dittmer, Der Bergbauer – ein österreichisches Problem, in: Der Diplomlandwirt. Zeitschrift des Reichsbundes Deutscher Diplomlandwirte 19 (1938) 9, 305–307. 3 Die Bezeichnung „Deutschösterreich“ wurde schon 1919 durch das von den Alliierten auferlegte Anschlussverbot an Deutschland getilgt, siehe Rolf Steininger, Der Anschluß – Stationen auf dem Weg zum März 1938, in: Thomas Albrich/Klaus Eisterer/Rolf Steininger (Hg.), Tirol und der Anschluß. Voraussetzungen, Entwicklungen, Rahmenbedingungen 1918–1938 (Innsbrucker Forschungen zur Zeitgeschichte 3), 2. Aufl., Innsbruck/Wien/München/Bozen 2002, 9–42, 14. 4 Dittmer, Bergbauer, 305.
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heiten hinzu. Den kargen Lebensverhältnissen stellte er die „unerhört schwere Arbeit“ der BergbäuerInnen gegenüber, die durch Höhenlage, Steilheit, Klimaungunst und Mangel an Arbeitskräften, Kunstdünger und Güterwegen hervorgerufen wurde.5 Im Anschluss an diese geraffte Darstellung bergbäuerlicher Not sprach sich Dittmer klar dafür aus, den BergbäuerInnen zu helfen und nannte Argumente dafür. Diese Bevölkerungsgruppe sei nämlich „ein rassisch wertvolles Menschenmaterial mit großem Kinderreichtum […], das durch das Leben oben in den Bergen zäh und anspruchslos geworden ist“. Außerdem ruhten laut Dittmer „in der Bergbauernwirtschaft die größten Ertragsreserven zur Schließung der Fett- und Fleischlücke“. Durch großzügige Beihilfen solle „der Aufbau der Alpwirtschaften schnellstens einsetzen und die kärgliche Lebensgrundlage des Bergbauern sich ebenfalls heben“.6 Dittmers kurzer Beitrag vereinte die in der NS-Propaganda oftmals wiederholten und weit verbreiteten Vorurteile und Positionen des NS-Regimes in Bezug auf die Berglandwirtschaft: (1) Die Verunglimpfung der österreichischen Verwaltung in der sog. „Systemzeit“ unmittelbar vor dem „Anschluss“ im März 1938, die es verabsäumt habe, die Berglandwirtschaft besser zu unterstützen, weshalb das „Bergbauernproblem“ für das Deutsche Reich „akut“ geworden sei.7 (2) Das Herausstreichen einer übersteigert dargestellten allgemeinen Rückständigkeit und extremen ökonomischen Notlage der Berglandwirtschaft, die nur durch reichsdeutsche Hilfe gelindert werden könne, die nun, nach dem erfolgten „Anschluss“, endlich anlaufen könne. (3) Die Integration der Berglandwirtschaft in die „Erzeugungsschlacht“ unter Betonung ihrer als kriegswichtig eingestuften Bedeutung für die Versorgung mit Fett und Fleisch (Milch- und Viehwirtschaft). (4) Die Zuschreibung einer angeblichen rassischen Hochwertigkeit der BergbäuerInnen, die als vermeintlicher „Blutsquell des deutschen Volkes“, der nicht „versickern“ dürfe, geschützt werden müssten.8
5 Ebd., 306. 6 Ebd., 307. 7 Manuskript „Deutschland mit oder ohne Bergbauern?“. Österreichisches Staatsarchiv (ÖStA), Archiv der Republik (AdR), Reichsministerium für Ernährung und Landwirtschaft (RMfEL), Unterabteilung (UA) Bergland, Karton 56, Ordner „Schriftenwechsel des UStSekr. Ing. A. Reinthaller“; Reinthaller an die Parteikanzlei der NSDAP in München, Geschäftszahl IX B 3 – 2269 vom 13. 10. 1941. ÖStA, AdR, RMfEL, UA Bergland, Karton 17, Gemeinschaftsaufbau allgemein. 8 Tremesberger an Reichsarbeitsminister, 4. 12. 1940. ÖStA, AdR, RMfEL, UA Bergland, Karton 57, Gemeinschaftsaufbau allgemein, Mappe „Soziale Massnahmen in der Ostmark II. Wohnungsbauten, Familienlandhilfen, Ehestandsdarlehen u. a. Landarbeiterfragen“.
Gerhard Siegl, Die österreichische Berglandwirtschaft in der NS-Zeit
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Diese Narrative wurden einerseits durch die rassisch aufgeladene „Blut und Boden“-Ideologie und andererseits durch die Anforderungen der Kriegswirtschaft gespeist und befördert, wobei Zielkonflikte und Widersprüche systemimmanent waren. Im vorliegenden Beitrag wird versucht, diese Erzählungen historisch zu bewerten. Die kurze Zeitspanne der NS-Herrschaft wird dafür in einen längeren Betrachtungszeitraum eingebettet und die Auswirkungen für die Berglandwirtschaft diskutiert.
II.
Österreichs Agrarwirtschaft in der Zwischenkriegszeit
Die Entwicklung der Agrarwirtschaft in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg war nicht mit der allgemeinen Wirtschaftsentwicklung ident. Nach dem Wegfallen der Hauptanbaugebiete der Monarchie, vor allem Ungarns, bot sich der österreichischen Landwirtschaft mit der nunmehr allein aus heimischen Anbaugebieten zu versorgenden Bevölkerung die Chance für kräftiges Wachstum im Agrarbereich. Der österreichische Getreide- und Zuckerrübenanbau wurde forciert, um die Abhängigkeit von Importen zu vermindern. Erfolgreiche Neuerungen bei Düngung und Saatgut ließen die Produktion rasch ansteigen. Da von einer umfangreichen Technisierung bzw. Mechanisierung der österreichischen Landwirtschaft noch keine Rede sein konnte, beruhte die Mehrproduktion nicht auf der Erhöhung der Arbeitskraftproduktivität, sondern auf der verbesserten Flächenproduktivität. Allerdings stieg die landwirtschaftliche Produktivität weltweit an, wodurch bei gleichzeitig stagnierender und teilweise sogar sinkender Nachfrage sehr rasch ein Überangebot entstand. In der Folge nahmen ab 1927 die Erzeugerpreise und damit die Erlöse für landwirtschaftliche Produkte rapide ab, während sich gleichzeitig die Lagerhallen füllten.9 Die Weltwirtschaftskrise verstärkte diesen Trend. Die Einkommen der landwirtschaftlichen Betriebe gingen zurück, die Rentabilität sank und die Verschuldung stieg an. Parallel dazu fand eine schon früher einsetzende, aber sich stetig verstärkende allmähliche Veränderung am Arbeitsmarkt für Landarbeiter statt: Ländliche Arbeitskräfte lehnten die Entlohnung in Naturalien unterschiedlichster Art (z. B. Kost und Logis, Bekleidung) immer mehr ab und verlangten in Anlehnung an die Verhältnisse in anderen Branchen zusehends Barlöhne.10 Viele 9 Ulrich Kluge, Bauern, Agrarkrise und Volksernährung in der europäischen Zwischenkriegszeit. Studien zur Agrargesellschaft und -wirtschaft der Republik Österreich 1918 bis 1938 (Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Beiheft 86), Stuttgart 1988, 263–287. 10 Norbert Ortmayr (Hg.), Knechte. Autobiographische Dokumente und sozialhistorische Skizzen (Damit es nicht verlorengeht … 19), Wien/Köln/Weimar 1992, 334–339 und Norbert Ortmayr, Beim Bauern im Dienst. Sozialgeschichte des ländlichen Gesindes in Oberösterreich 1918–1938, phil. Diss., Universität Wien 1986, 129.
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landwirtschaftliche Betriebe flüchteten sich aufgrund dieser Entwicklung in Schulden oder in die Ausbeutung der (familien-)eigenen Arbeitskraft. Diese Phänomene waren in Bergbauerngebieten aufgrund der relativen Marktferne noch stärker als im Flachland ausgeprägt. Die Agrardepression hatte die überwiegende Mehrheit der Bergbauernhöfe „besonders nachhaltig“ ruiniert, sodass zwischen 1918 und 1932 um die 40.000 Betriebe aufgegeben worden sein sollen.11 Versteigerungen und Zwangsexekutionen landwirtschaftlicher Güter nahmen zu. Auf den Preisverfall für landwirtschaftliche Produkte reagierte Österreich mit einer künstlich herbeigeführten Stabilisierung des Preisgefüges. 1930 wurden billige Importe durch Zollerhöhungen unmöglich gemacht. In einer zweiten Etappe des Agrarprotektionismus kam es zu Preisstützungsmaßnahmen und Einfuhrverboten für die wichtigsten Agrarprodukte, während die inländische Überschussproduktion durch Dumpingexporte abgesetzt wurde. Schließlich wurde durch Produktionsbeschränkungen direkt auf die Erzeugung eingewirkt und so im Stil einer planwirtschaftlichen Vorgangsweise der Selbstversorgungsgrad Österreichs verbessert. Die Einschränkung der Überproduktion führte gemeinsam mit der sinkenden Binnennachfrage zu einem starken Sinken des Produktionsvolumens der österreichischen Landwirtschaft. 1934 war es auf ca. ein Drittel der erzeugten Menge des Jahres 1929 gesunken.12 Abgekoppelt vom Weltmarkt gelang es, ein stabiles Preisniveau für landwirtschaftliche Produkte aufrechtzuerhalten, die hohen Preise wirkten aber schädigend auf die Inlandsnachfrage. Eine nachhaltige strukturelle Verbesserung der wirtschaftlichen Lage der österreichischen Landwirtschaft setzte auch nach der Etablierung des Berufsstands der Land- und Forstwirtschaft im Jahr 193413 nicht ein. Der Austrofaschismus14 hatte die Landwirtschaft zwar in Worten, kaum aber in Taten gefördert. Die Bergbauernhilfs- und Besitzfestigungsaktionen Mitte der 1930er11 Kluge, Bauern, 277–278. Die Zahl von 40.000 entnahm Kluge einem Beitrag des Agrarbürokraten Anton von Pantz (Sektionschef im Ackerbauministerium, Direktor der niederösterreichischen Landwirtschaftskammer) aus dem Neuen Wiener Abendblatt vom 9. 12. 1932. 12 Gerhard Senft, Anpassung durch Kontraktion. Österreichs Wirtschaft in den dreißiger Jahren, in: Emmerich T#los/Wolfgang Neugebauer (Hg.), Austrofaschismus. Politik – Ökonomie – Kultur 1933–1938, 5. Aufl., Wien 2005, 182–199, 190–191. 13 Siehe dazu zeitgenössisch: Felix Feest/Anton Locker/Otto Maresch, Der berufsständische Aufbau der österreichischen Land- und Forstwirtschaft. Drei Vorträge im Klub der Landund Forstwirte in Wien, Wien 1936. 14 Der Begriff „Austrofaschismus“ wurde vom gleichnamigen Sammelband von Emmerich T#los und Wolfgang Neugebauer aus dem Jahr 2005 ungeachtet der Umstrittenheit dieses Terminus als Bezeichnung für das autoritäre Regime in Österreich von 1933 bis 1938 übernommen. Zur jüngsten Begriffsbestimmungen siehe Historicum. Zeitschrift für Geschichte, Neue Folge III–IV (2017).
Gerhard Siegl, Die österreichische Berglandwirtschaft in der NS-Zeit
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Jahre waren zu gering dotiert, um flächendeckend wirksam zu sein. Mit dem Scheitern des wirtschaftlichen Aufschwungs auf dem Land verlor auch die Idee einer berufsständisch verfassten Gesellschaft, anfangs von der ländlichen Bevölkerung begrüßt, an Strahlkraft. Trotz eines langsam anlaufenden allgemeinen Wirtschaftsaufschwungs war die Lage der österreichischen Bauernschaft vor 1938 „nicht besonders rosig“, jene der BergbäuerInnen wurde gar als „hoffnungslos“ und „dramatisch“, jedenfalls als „von einer tiefen Krise gekennzeichnet“ beschrieben.15 Das Berglandgebiet umfasste ca. 50 % aller landwirtschaftlichen Betriebe und des Viehstands in Österreich sowie ca. zwei Drittel der landwirtschaftlichen Nutzfläche und etwa 80 % der Waldfläche.
III.
Erwartungshaltungen und erste Maßnahmen der Nationalsozialisten
Die Schilderung der Situation der BergbäuerInnen macht verständlicher, weshalb die Landbevölkerung mitunter so große Erwartungen in den Nationalsozialismus setzte. Immerhin konnte das NS-Regime im Jahr 1938 auf eine fünfjährige Praxis im Agrarbereich verweisen, die auf den ersten Blick ansehnlich war : Die im Jahr 1933 gestartete Entschuldungsaktion verminderte die Schuldenlast der deutschen Landwirtschaft um mehr als ein Drittel von einer Milliarde (Mrd.) Reichsmark (RM) auf 650 Millionen (Mio.) RM im Jahr 1934/35.16 Weiters wurde die Umsatzsteuer auf Agrarprodukte um die Hälfte gesenkt. Parallel zur Verringerung der Belastungen stieg die Zunahme der Verkaufserlöse, nämlich von 6,7 Mrd. RM im Jahr 1933 auf 10,7 Mrd. RM im Jahr 1938. Dieses Wachstum blieb zwar hinter dem des Bruttosozialprodukts zurück, übertraf aber jenes der Industriearbeiterlöhne mit dem Ergebnis, dass es den selbständigen BäuerInnen besser als den ArbeiterInnen ging und auch „besser als jenem Teil des gewerblichen Mittelstands, der nicht von der Rüstungskonjunktur profitieren konnte“.17 Gefördert wurde unter anderem der Einsatz von Kunstdünger, der nach 1935 für den Anstieg der Agrarproduktion ausschlaggebend war. In den zehn Jahren von 1928 bis 1938 konnte der Grad der Selbstversorgung mit Agrarprodukten in Deutschland von 68 auf 83 % angehoben werden. Zudem war die Arbeitslosigkeit verschwunden, es herrschte im Gegenteil aufgrund der 15 Markus Rosinger, Österreichs Bauern im Dritten Reich. Die Entwicklung und die Struktur des Reichsnährstandes unter besonderer Berücksichtigung der Auswirkungen auf die Landesbauernschaft Donauland, phil. Diss., Universität Wien 1994, 193–195, 322; Kluge, Bauern, 468. 16 Ludolf Herbst, Das nationalsozialistische Deutschland 1933–1945, Frankfurt am Main 1996, 243. 17 Ebd.
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Kriegskonjunktur ein Mangel an Arbeitskräften. Diese (land-)wirtschaftliche Bilanz in Deutschland weckte nach dem „Anschluss“ Österreichs die Hoffnung auf ökonomische Verbesserungen. Rasch wurden die reichsdeutschen Agrargesetze (Marktordnung, Reichserbhofgesetz, Reichsnährstandsgesetz) auf Österreich übertragen und um Sofortmaßnahmen (Stopp der Zwangsversteigerungen, Beseitigung von Zollschranken) zur Hebung der Wirtschaftskraft ergänzt. Trotz dieser spürbaren Erleichterungen wurden jedoch sehr bald auf beiden Seiten Klagen laut: Bei den BetriebsführerInnen in der nunmehrigen „Ostmark“, weil die landwirtschaftlichen Arbeitskräfte unverzüglich und in hoher Zahl das Land verließen, weil die Entlohnung der verbliebenen Kräfte exorbitant stieg, weil erkannt wurde, dass die „Entschuldung“ in Wirklichkeit nur eine „Umschuldung“ war, weil der Antikatholizismus des Nationalsozialismus auf breite Ablehnung stieß und die Auswechslung des österreichischen Verwaltungspersonals durch reichsdeutsches nicht gut ankam. Im „Altreich“, weil Österreich nicht zu 83 % („Altreich“) oder gar 90 % („großdeutscher Wirtschaftsraum“ 1938/1939) autark war, sondern sich nur zu 75 % selbst mit Nahrungsmitteln versorgen konnte. Für die deutsche Ernährungswirtschaft war die Eingliederung Österreichs somit eine Belastung und wurde als „agrarökonomische Hypothek“ für Deutschland bezeichnet.18 Den österreichischen Überschüssen an Milchprodukten standen – ähnlich der Lage in Deutschland – Mängel bei Getreide, Futter- und Ölpflanzen und Schlachtvieh aller Art gegenüber.19 Zeitgenössische Beobachter konstatierten eine Verschlechterung der Nahrungsmittelversorgung mit den größten Nachteilen in der Getreide- und Fettversorgung.20 Zur Minderung der Fettknappheit forcierte die deutsche Agrarpolitik auch in Österreich den Anbau von Ölsaaten. Tatsächlich erfolgte in diesem Bereich eine Steigerung, allerdings war das Bergland dafür nicht geeignet. In der alpinen Landwirtschaft wurde ganz auf die Milch- und Viehwirtschaft und den Grünfutteranbau (Wiesen, Weiden, Almen) gesetzt. Zur „Erzeugungsschlacht“ konnte die „Ostmark“ aber augenscheinlich wenig beitragen, soviel durfte im Jahr 1938 immerhin offen gesagt werden: „Wenn vielleicht gelegentlich die Meinung auftaucht, daß die Eingliederung Österreichs vom Standpunkt der landwirtschaftlichen Erzeugung nicht eine Verbesserung, sondern eher eine Verschlechterung der gesamten Ernährungslage mit sich gebracht habe, so mag
18 Hans-Erich Volkmann, Landwirtschaft und Ernährung in Hitlers Europa 1939–45, in: Militärgeschichtliche Mitteilungen 35 (1984) 1, 9–74, 18–19. Allerdings profitierte Deutschland durch österreichische Rohstoff- und Holzvorkommen, Devisen- und Goldvorräte und Arbeitskräfte. 19 Norbert Schausberger, Der Griff nach Österreich. Der „Anschluss“, 3. Aufl., Wien/München 1988, 471. 20 Ebd.
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das für den Augenblick in bescheidenem Ausmaße vielleicht richtig sein.“21 Ähnliche Aussagen kamen aus den Reichsministerien und sogar vom Leiter der Berglandabteilung, Anton Reinthaller22. In Hinsicht auf den geplanten Krieg war die „Ostmark“ in der Ernährungsfrage weniger eine Entlastung, sondern vielmehr ein Klotz am Bein Deutschlands. Darüber wussten die handelnden Akteure in den Berliner Ministerien Bescheid. Die Vernachlässigung vieler und die Konzentration auf wenige Produktionszweige basierten auf den Vorgaben des Vierjahresplans. Die Erfordernisse der Produktionsmaximierung in Zusammenhang mit der Kriegsvorbereitungsund Kriegsernährungswirtschaft standen im Vordergrund. Dennoch gab es keine Gesamtstrategie für die Agrarwirtschaft der „Ostmark“. Bei Vorliegen eines konsistenten „Masterplans“ wäre eine die Rationalisierungs- und Produktionsmaximierungsstrategie so konterkarierende Bestimmung wie das Reichserbhofgesetz (REG) wohl nicht eingeführt worden. Das REG verstieß im ehemaligen Österreich einerseits gegen die gelebte Tradition von lokalen Erbsitten und hemmte andererseits die Kapitalaufnahme und damit die wirtschaftliche Entwicklung der Erbhöfe. Das „Erbhofkreditproblem“ verursachte in Deutschland bereits in den 1930er-Jahren ein wirtschaftliches Zurückbleiben der Erbhofbetriebe. Sehr bald mussten die mit dem REG verknüpften ideologischen Ziele einer Steigerung der Geburtenrate und einer Reagrarisierung der Bevölkerung zugunsten kriegswirtschaftlicher Zielsetzungen weichen. In der Folge wurden die Bestimmungen des REG verwässert oder – wie in Tirol – ganz aufgehoben.
IV.
„Blut und Boden“-Ideologie
Zielkonflikte wie jener um das REG waren in der NS-Agrarpolitik allgegenwärtig. Der gravierendste war jener zwischen der „Blut und Boden“-Ideologie und der Kriegswirtschaft. Die Landwirtschaft erfuhr im Nationalsozialismus eine ideo21 Ernst Feichtinger, Die ostmärkische Landwirtschaft in der Erzeugungsschlacht, in: Mitteilungen für die Landwirtschaft (1938) 34, 767–768, 768. 22 Anton Reinthaller (geb. 1895 in Mettmach in Oberösterreich, gest. 1958 ebendort), Offizier im Ersten Weltkrieg, 1922 diplomierter Forstwirt (Dipl.-Ing.), 1923 Eintritt in die NSDAP, 1933 „landwirtschaftlicher Landesfachberater der österreichischen Gaue“, 11. bis 13. März 1938 österreichischer Landwirtschaftsminister, danach Landwirtschaftsminister des reichsdeutschen „Landes Österreich“, ab 1940 Unterstaatssekretär im Reichsministerium für Ernährung und Landwirtschaft und Leiter der Unterabteilung Bergland, Landesbauernführer der Landesbauernschaft Donauland, Leiter des Landesernährungsamts Wien; SSOffizier (Brigadeführer), 1950 Verurteilung zu einer mehrjährigen Haftstrafe, 1952 begnadigt, erster Bundesparteiobmann der Freiheitlichen Partei Österreichs, siehe Siegl, Bergbauern, 87–89.
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logische Umwertung. Die Produktion von Nahrungsmitteln sollte nicht ihre einzige Funktion sein. Vielmehr unterlagen die im Primärsektor Tätigen der von Reichsernährungsminister und Reichsbauernführer Richard Walther Darr8 (1895–1953) in die Agrarpolitik getragenen „Blut und Boden“-Ideologie (verballhornt: „Blubo“). In diesem Konzept wurden völkisch-rassische („Blut“ als Zugehörigkeitsmerkmal zur „nordischen Rasse“) und imperialistische („Boden“ als Lebensraum und Nahrungslieferant) Weltanschauungen vermengt.23 Die „Blut und Boden“-Ideologie war ein Amalgam aus verschiedensten Einflüssen. Im Kern bestand sie aus rassischen, deutschnationalen, antisemitischen und expansionistischen Ideologemen. Sie erklärte den mittelalterlichen germanischen Bauern zum Idealbild der „nordischen Rasse“. Dieses Idealbild sei durch jahrhundertelange Degeneration nahezu bis zur (rassischen) Unkenntlichkeit verwässert worden. „Blut und Boden“ zeichnete ein ahistorisches Bild eines angeblich schleichenden Niedergangs der deutschen Landbevölkerung, die im NS-Regime ihre heilsgeschichtliche Erlösung finden sollte. Die „nordische Rasse“ sollte durch tierzüchterische Maßnahmen und nach „dem eisernen Gesetz der Leistungszucht“ wieder hergestellt („aufgenordet“) werden.24 Bäuerliches Leben und Agrarwirtschaft wurden als Wurzel des menschlichen Zusammenlebens und des Staats dargestellt, die Landbevölkerung wurde als „Jungbrunnen des Volkes“ und „Rückgrat der Wehrkraft“ bezeichnet. In diesem Gefahr-in-Verzug-Szenario nahmen die BergbäuerInnen die Spitzenstellung ein, denn noch mehr als die Landbevölkerung in den Ebenen seien die BewohnerInnen des Berglandes im „Kampf und das tägliche Brot gegen alle Härten der Umwelt“ zu einer „rassischen Auslese“ herangewachsen, die willensschwache und kränkliche Menschen „beseitigt“ habe.25 Das Leben stelle an „Gebirgsbauern“ höhere Anforderungen und sei deshalb „für das ganze Volk eine Quelle besten Blutes“.26 In diesem rassischen Kontext ist auch die Aussage von Reinthaller bzw. des unbekannten Überarbeiters eines seiner Aufsätze aus dem Jahr 1944 zu verstehen: Die österreichischen BergbäuerInnen seien einzig und allein durch die ihnen zugeschriebenen rassischen Adjektive – eiserner Wille, Mut, Ausdauer, außerordentliches Beharrungsvermögen, Bedürfnislosigkeit, un-
23 Siehe u. a. Uwe Mai, „Rasse und Raum“: Agrarpolitik, Sozial- und Raumplanung im NS-Staat, Paderborn/München/Wien/Zürich 2002; Daniela Münkel, Nationalsozialistische Agrarpolitik und Bauernalltag, Frankfurt am Main/New York 1996. 24 Richard Walther Darr8, Das Bauerntum als Lebensquell der Nordischen Rasse, München 1929, 375. 25 Ludwig Löhr, Bergbauerntum als völkischer Kraftquell, in: Deutsche Agrarpolitik 1 (1943) 5, 152 (sechs unpaginierte Seiten). 26 Monatsberichte des Wiener Institutes für Wirtschafts- und Konjunkturforschung 13 (1939) 7, 204.
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nachahmliche Ruhe, Kinderreichtum, soldatische Tugenden27 – zum „nationalen Heiligtum“28 aufgestiegen. Hitler, dessen eigene Weltanschauung nicht an allen Stellen kongruent mit der „Blut und Boden“-Ideologie war, interessierte sich für Landwirtschaft in erster Linie im Kontext der Ernährungsfrage im Kriegsfall. Abgesehen von dieser praktischen Frage spielte die Landwirtschaft auch in seinem Lebensraumkonzept eine Rolle. Dieses Konzept zielte darauf ab, agrarisch nutzbares Land zu erobern. Die Raumfrage war für Hitler zum Kriegsgrund geworden. Das Reichsgebiet hätte – zumindest laut NS-Diktion – nicht ausgereicht, um der landwirtschaftlichen Bevölkerung einen hinreichenden Lebensstandard zu bieten. Diese Gedanken veranlassten Adam Tooze zu der Annahme, dass die NSAgrarideologie grundlegend für das Verstehen der „außergewöhnliche[n] Militanz“ des Hitlerregimes sei.29 Die Agrarideologen bereiteten laut Tooze den Boden für die Expansion in den Osten vor : „Die Behauptung, dass es die Probleme der deutschen Landwirtschaft waren, die das Hitlerregime Schritt für Schritt radikalisierten, mag weit hergeholt erscheinen. Doch man bedenke, dass es die Landwirtschaft war, der sich Hitler als Erstes zuwandte, als er sein Konzept vom ,Lebensraum‘ tatsächlich mit konkreten Inhalten zu versehen begann.“30 Damit schrieb Tooze der „Blut und Boden“-Ideologie eine größere Bedeutung zu als es die scientific community bisher tat, die der Landwirtschaft diese weitreichende politische Relevanz nicht zugebilligt hatte und eher ein Scheitern der NSAgrarpolitik wie auch der NS-Agrarideologie sah. „Blut und Boden“ wurde von der Forschung als rückwärtsgewandte Utopie bezeichnet, die in der auseinanderklaffenden Scherenstellung zwischen Reagrarisierung, gesellschaftlicher Aufwertung der ländlichen Bevölkerung und Selbstverwaltung auf der einen Seite sowie Industrialisierung und Kriegswirtschaft auf der anderen Seite zerrissen wurde.31 Das „Blut und Boden“-Konzept habe sich als untauglich für die Kriegsvorbereitung erwiesen, weil es auf völkisch-rassischem Gedankengut anstelle von Produktionsmaximierung basierte. Aus diesem Grund sei es innerparteilich ab 1936 (Beginn zweiter Vierjahresplan) in den Hintergrund gerückt. Der Widerspruch zwischen „Blutsquell des deutschen Volks“ und „Sicherstellung der Volksernährung“ habe nicht aufgelöst werden können, sondern 27 Löhr, Bergbauerntum, 152. 28 Anton Reinthaller, Bauern auf kargen Böden, in: Deutsche Agrarpolitik 2 (1944) 8, 217–219, 219. 29 Adam Tooze, Ökonomie der Zerstörung. Die Geschichte der Wirtschaft im Nationalsozialismus, München 2008, 217. 30 Ebd., 237. 31 Eine ähnliche Einschätzung trifft Ernst Hanisch, Die Politik und die Landwirtschaft, in: Ernst Bruckmüller/Ernst Hanisch/Roman Sandgruber/Norbert Weigl, Geschichte der österreichischen Land- und Forstwirtschaft im 20. Jahrhundert, Bd. 1, Politik – Gesellschaft – Wirtschaft, Wien 2002, 15–189, 31.
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sich im Gegenteil immer mehr verstärkt. Bisher wurde angenommen, dass nach 1936, spätestens aber mit Kriegsausbruch bzw. der allmählichen Entmachtung Darr8s (Entlassung aus den Ämtern 1942) die Landwirtschaft einzig auf die Kriegsernährungswirtschaft und die Erfüllung der Planvorgaben ausgerichtet war und die ideologischen Komponenten der NS-Agrarpolitik hinter die Erfordernisse der Kriegswirtschaft zurückgetreten waren.32 Die Untersuchung der Berglandwirtschaft während der NS-Zeit bestätigt diesen Befund nur teilweise. Die „Blut und Boden“-Ideologie trat hier nicht in den Hintergrund.33 Bei der Schaffung der Berglandabteilung und der Aktion „Gemeinschaftsaufbau im Bergland“ war sie zentraler Bestandteil jener Argumentationslinien, die erfolgreich den administrativen Dienstweg durchliefen. Die Inszenierung der BergbewohnerInnen als die „ursprünglichsten“ oder „reinsten Germanen“, deren zahlreiche Nachkommen von den Bergen in die Täler und Städte wandern würden, um dort das Blut „aufzufrischen“, war bei den Entscheidungsträgern durchaus wirkungsvoll. In der landwirtschaftlichen Bevölkerung konnte die „Blut und Boden“Ideologie erfolgreich sein, weil jeder „Arier“ angesprochen wurde, egal in welcher wirtschaftlichen oder sozialen Stellung er sich befand. Blut als „intimer Bereich des Lebens“34 wurde als Trägersubstanz für die Verbindung mit dem Staat instrumentalisiert. Allerdings konnte die ideologische Überhöhung der Landwirtschaft, insbesondere der BergbäuerInnen, die offensichtlichen wirtschaftspolitischen Defizite des Regimes nicht ausgleichen oder überdecken. Propagandistische „Blut und Boden“-Phrasen in den Publikationen der Agrarpresse, die keine Entsprechung in den Taten des Regimes fanden, wurden als Enttäuschung wahrgenommen.35 Der skeptisch-pragmatische Zugang der ländlichen Bevölkerung zum Nationalsozialismus sowie die Affinität zwischen der traditionellen Bauerntumsideologie österreichischer Prägung und „Blut und Boden“ hätte in Kombination mit wirtschaftlichen Vorteilen im Vergleich zur Vorperiode durchaus die Öffnung des ländlichen Raumes für den Nationalsozialismus bewirken können. Dass dies nur ansatzweise geschah, beruhte nicht auf einer grundsätzlichen Abneigung gegen „Blut und Boden“, sondern vielmehr auf dem wirtschaftlichen Misserfolg des Regimes in Kombination mit der sich 32 Stellvertretend dafür siehe ebd., 140. 33 Siehe Gerhard Siegl, Der nationalsozialistische Gemeinschaftsaufbau im Bergland am Beispiel der Aufbaugenossenschaft Silbertal-Bartholomäberg. Rezeption, Ziele, Maßnahmen, Ergebnisse, in: Jahrbuch des Vorarlberger Landesmuseumsvereins 2017, Bregenz 2017, 150–173. 34 Mathias Eidenbenz, „Blut und Boden“. Zu Funktion und Genese der Metaphern des Agrarismus und Biologismus in der nationalsozialistischen Bauernpropaganda R. W. Darr8s (Europäische Hochschulschriften, Reihe III: Geschichte und ihre Hilfswissenschaften 580), Bern et al. 1993, 10. 35 Ernst Bruckmüller, Sozialgeschichte Österreichs, 2. Aufl., Wien 2001, 421.
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verschlechternden Kriegslage. Für Österreich sah Hanisch deshalb nach 1945 die Wiederauferstehung des konservativen Bauernbildes.36 Der Unmut der BäuerInnen blieb auch den Agrarfunktionären nicht verborgen, und der höchste Vertreter der BergbäuerInnen in der Reichsadministration, Unterstaatssekretär Anton Reinthaller, äußerte sich in internen Schriften mehrmals negativ zur Stimmungslage auf dem Land. Er war der Meinung, weder die Subventionspolitik, noch die Idee „für einen Gesamtausgleich des Fehlbetrages der Landwirtschaft durch die öffentliche Hand“ sei „des Nationalsozialismus würdig“. Beide Wege würden den Bauern zum „Staatspensionär“ degradieren, dem „aus allgemeinen Mitteln gegeben werden muß, was er nicht selbst an Werten erarbeiten könne“.37 Mit diesen Aussagen stellte sich Reinthaller in die Tradition des Narrativs des bäuerlichen Stolzes, der Hilfe von außen ablehnte. Vielmehr wollte er eine „Hilfe zur Selbsthilfe“ erreichen, also eine Anpassung der wirtschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen an die jeweilige Wirtschaftslage, sodass die BäuerInnen bei vernünftiger Wirtschaftsführung und ausreichenden Preisen für ihre Produkte auf keine Beihilfen der Öffentlichkeit, welcher Art auch immer, angewiesen wären. Die NS-Agrarpolitik hatte ein solches Szenario nach einer gewissen „Aufbauzeit“ in Aussicht gestellt. Dass sich die Realität hingegen seit dem „Anschluss“ noch weiter von dieser Wunschvorstellung entfernt hatte, musste nicht nur für die landwirtschaftlichen Betriebe, sondern auch für jene Agrarfunktionäre frustrierend gewesen sein, die Reinthallers Auffassung teilten. Aufgrund seiner oppositionellen Haltung zu den Ideen des „Neubauerntums“38 und der „Ostsiedlung“ favorisierte Reinthaller die Alternative des „Gemeinschaftsaufbaus im Bergland“. Mit dieser Strategie wollte er die Zielrichtung der landwirtschaftlichen Förderungen auf das Bergland fokussieren und den Bevölkerungsstand des Berglands halten. Seiner Meinung nach sollte zuerst die „deutsche“ Landwirtschaft wirtschaftlich und gesellschaftlich restrukturiert werden, bevor an die Umsiedlung landwirtschaftlicher Arbeitskräfte in den Osten gedacht werden konnte. Reinthaller setzte die Elemente der „Blut und Boden“-Ideologie für seine Argumentation zweckorientiert ein, wie er in einem rassisch getränkten Expos8 bewies: Ausschlaggebend für die Förderung der 36 Hanisch, Politik, 31. 37 Emmerich Exel, Der Reichsnährstand in Österreich. Eine Analyse der ideologisch bedingten volkswirtschaftlichen und agrarpolitischen Zielvorstellungen des Reichsnährstandes, deren praktische Verwirklichung und Auswirkung. Auf Grundlage der Dissertationsarbeit von Emmerich Exel, bearbeitet von Theo Fischlein (Schriftenreihe der österreichischen Gesellschaft für Agrar- und Umweltrecht 1), Wien 1991, 158. 38 Unter „Neubauern“ wurden in der NS-Nomenklatur (zumeist) jene Betriebe verstanden, die aufgrund einer Zerschlagung oder Zusammenlegung bestehender Güter entstanden waren, um möglichst viele Betriebe in Erbhofgröße zu erhalten und das zur Verfügung stehende Land auf diese Weise am effizientesten zu nutzen.
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Berglandwirtschaft sei laut Reinthaller die „Bodenverwurzelung“, der angebliche Kinderreichtum und die siedlungsspezifischen Charakteristika (Kampf gegen die Natur, Leben an der Siedlungsgrenze) gewesen, die in Summe „eine kämpferische Auslese an Menschen“ hervorgebracht habe, „denen das nordische Lebensideal im Blute“ liege. Würden diese Voraussetzungen durch „eine Entwurzelung und Verpflanzung“ der Menschen aus dem Bergland wegfallen, erfolge eine „umgekehrte Auslese“, also eine Degenerierung, das heißt, die Menschen würden ihre mühsam erworbenen Eigenschaften verlieren.39 Reinthaller stemmte sich weiters gegen alle angeblich kapitalistisch-liberalistischen Rentabilitätsgedanken für die bergbäuerlichen Wirtschaften, weil diese den nationalsozialistischen Ideen zuwiderlaufen würden. 1942 bezeichnete er in einer Auseinandersetzung mit dem Chef des Stabsamtes des Reichsmarschalls Hermann Göring, Ministerialdirektor Erich Gritzbach, die im Gespräch stehende Umsiedlung der BergbäuerInnen in klimatisch begünstigtere Länder als das „Ausschütten des Kindes mit dem Bade“. Gritzbach hatte zuvor geäußert, dass nur die Umsiedlung der Not leidenden BergbäuerInnen auf Dauer Abhilfe schaffen könne.40 Die Quellenlage würde den Schluss zulassen, dass Reinthaller ein Nationalsozialist war, der sich der „Blut und Boden“-Ideologie aus systemimmanenten Gründen bediente, darüber hinaus aber von der NS-Agrarpolitik abweichende Vorstellungen hatte und diese für das Berglandgebiet zumindest in einigen Punkten durchsetzen konnte. Eine fundierte Reinthaller-Biografie bleibt weiterhin ein Desiderat.
V.
Der „Gemeinschaftsaufbau im Bergland“
Neben der „Entschuldungs- und Aufbauaktion“ gehörte der auf alpine Bergbauernwirtschaften zugeschnittene „Gemeinschaftsaufbau im Bergland“ – zumindest auf dem Papier – zu den langfristig wirksamsten Maßnahmen des NSRegimes im Agrarbereich. Der Gemeinschaftsaufbau hatte zum Ziel, die strukturellen, produktionstechnischen und betriebswirtschaftlichen Bedingungen eines Dorfes, einer Talschaft und schließlich des gesamten Berglands grundlegend zu verbessern. Die dafür vorgesehenen Maßnahmen wurden „nach einem genauen Plan unter einheitlicher Leitung und zeitlich aufeinander abgestimmt“41 39 Expos8 „Deutschland mit oder ohne Bergbauern?“. ÖStA, AdR, RMfEL, UA Bergland, Karton 56, Ordner „Schriftenwechsel des UStSekr. Ing. A. Reinthaller“. 40 Reinthaller an Ministerialdirektor Gritzbach (Chef des Stabsamts Göring), 9. 2. 1942. ÖStA, AdR, RMfEL, UA Bergland, Karton 6, Ordner „Bauer und Volk I“. 41 Anmeldung zum Reichshaushalt 1941 Einzelplan X Kap. E 12, Tit. 46 Gemeinschaftsaufbau im Bergbauerngebiet (Gebietshilfe). ÖStA, AdR, RMfEL, UA Bergland, Karton 17, Gemeinschaftsaufbau allgemein, RMfEL, Referat VII B 1–3.
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durchgeführt. Laut offizieller Diktion wollte der NS-Staat durch infrastrukturelle und technische Neuerungen mittel- und langfristig die Sicherung der Bergbauernbetriebe und eine Ertragssteigerung erreichen. Darüber hinaus wurde der „Gemeinschaftsaufbau“ zeitgenössisch als Lösungsansatz der „Bergbauernfrage“ im Sinn einer „völlige[n] Gesundung des Bauernstandes“42 interpretiert, der die fortwährende Neuverschuldung und die starke Abwanderung der unterbäuerlichen Bevölkerung vermindern hätte sollen. Aufgrund seiner langfristigen Zielsetzung und des geplanten Ressourceneinsatzes war der Gemeinschaftsaufbau im Bergland ein enormes Programm. Im Reichsgau Tirol-Vorarlberg waren 180 Gemeinden als „vordringlich“ vorgesehen, in jeder Gemeinde wären innerhalb von fünf Jahren jeweils fünf Millionen RM investiert worden, also 900 Mio. allein in Tirol-Vorarlberg. Bis 1944 wurde dieser Kostenrahmen eingehalten.43 Folgende Arbeiten wurden im Rahmen der Aktion durchgeführt: (1) Verbesserung der inner- und außerlandwirtschaftlichen Infrastruktur (Straßen, Wege, Seilwege, Elektrifizierung, Wasserversorgung, Arrondierung); (2) Verbesserung der Leistungsfähigkeit der Betriebe, damit rasche Erfolge für die „Erzeugungsschlacht“ erzielt werden konnten (Viehaustausch, Saatgutwechsel, „Gesunddüngung“, Meliorationen, Anschaffung leichter Maschinen und Geräte, Bau von Silos und Gülleanlagen); (3) Umbau der Aufbaugemeinden nach den Vorstellungen der Planer : Neben der Einrichtung von Schießständen und Gemeinschaftshäusern sollten in Gemeinden mit zu dichten Ortskernen Höfe ausgesiedelt werden, um lebensfähige Erbhöfe mit arrondierter Betriebsfläche zu schaffen. Kriterien für die Auswahl der am Gemeinschaftsaufbau beteiligten Berglandgemeinden gab es nicht. Grundsätzlich sollten im Endausbau ja alle Gemeinden teilhaben. Zunächst dürften jene Gemeinden ausgesucht worden sein, die das Potential hatten, die in sie gesetzten Erwartungen am ehesten zu erfüllen. Der Gemeinschaftsaufbau wurde genossenschaftlich mit einem Obmann und einem Aufbauleiter an der Spitze organisiert. Der Beitritt war freiwillig – allerdings mit einem Begriff von „freiwillig“, der eher einem „freiwilligen Zwang“ entsprach. Auf BetriebsführerInnen, die der Aufbaugenossenschaft nicht beitreten wollten, wurde Druck ausgeübt. Obwohl der Gemeinschaftsaufbau langfristig angelegt war, ging man auch hier daran, zunächst die unmittelbar ertragssteigernden Maßnahmen durchzuführen. Mit der Ausnahme von Tirol und Vorarlberg verhinderte der Kriegsverlauf wegen verordneter Baustopps und in Richtung Rüstungsindustrie umgelenkter Ressourcen in den meisten Aufbau-
42 Innsbrucker Nachrichten, 20. 11. 1941, 3. 43 Siegl, Silbertal-Bartholomäberg, 171.
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gemeinden die Fertigstellung der Arbeiten.44 Die Beurteilung des Gemeinschaftsaufbaus durch Beamte der Berglandabteilung war deshalb zwiespältig und reichte von Enttäuschung (Salzburg) bis zu enthusiastischen Äußerungen (Oberdonau). Wo der Gemeinschaftsaufbau abgebrochen wurde, waren die Ergebnisse „äußerst bescheiden“,45 während in den ersten Tiroler und Vorarlberger Aufbaugemeinden (Eintragung 1941/42), wo bis 1945 am Gemeinschaftsaufbau gearbeitet wurde, durchaus wirtschaftliche Vorteile bis in die Nachkriegszeit ausstrahlten.46 Reaktionen der Betroffenen festzumachen, gelingt hingegen kaum. Die lokale Begrenztheit und die Konzentration auf wenige Dutzend Gemeinden47 machten direkte Äußerungen, noch dazu in einer Diktatur mit kontrollierter Presse, beinahe unmöglich. Das Aktenmaterial der Behörden gab zwischen den Zeilen manchmal eine Reaktion preis. Das Spektrum reichte von Zustimmung über kritische Beobachtung der Aufbauarbeiten bis zum Widerstand. Der Aufbauleiter von St. Georgen im Mühlviertel hielt fest: „Die Durchführung der Grundumlegung […] scheiterte bedauerlicherweise an dem vorläufigen Widerstand der vier betroffenen Auszusiedelnden.“48 Ein hartes Durchgreifen mit der Erzwingung der Grundumlegung war dennoch nicht erwünscht. Reichsernährungsminister Herbert Backe und Reinthaller waren sich einig, dass es unmöglich wäre, den Gemeinschaftsaufbau gegen den Willen der BetriebsinhaberInnen durchzusetzen. Sie fürchteten bei totaler Ablehnung der Betroffenen den Boykott und das Scheitern der Aktion und scheuten deshalb davor zurück, äußerste Mittel zu ergreifen. Diese Rücksichtnahme, die den BergbäuerInnen seitens der Agrarpolitiker trotz aller repressiven Möglichkeiten einer Diktatur entgegengebracht wurde, zeigt, dass die NS-Agrarpolitik ohne eine gewisse Akzeptanz seitens der ländlichen Bevölkerung kaum durchführbar war.49 Ein Bericht des kommissarischen Bezirkshauptmanns von Bludenz 44 Für Fallstudien zu zwei Vorarlberger Aufbaugemeinden siehe Albert Summer, Musterdorf Fraxern. Gemeinschaftsaufbau im Bergland in der Aufbaugemeinde Fraxern (Schriftenreihe der Rheticus-Gesellschaft 70), Feldkirch 2016; Siegl, Silbertal-Bartholomäberg. Im Gegensatz dazu die Lokalstudie von Ernst Langthaler zu Ybbsitz, wo ab 1942 ein Baustopp für Güterwege in Kraft war, siehe Ernst Langthaler, Schlachtfelder. Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945 (Sozial- und wirtschaftshistorische Studien 38), Wien/Köln/Weimar 2016, 445–472. 45 Langthaler, Schlachtfelder, 471. 46 Gerhard Siegl, Griff nach dem letzten Strohhalm? Der nationalsozialistische „Gemeinschaftsaufbau im Bergland“ am Beispiel des Reichsgaues Tirol-Vorarlberg, in: Ernst Langthaler/Josef Redl (Hg.), Reguliertes Land. Agrarpolitik in Deutschland, Österreich und der Schweiz 1930–1960 (Jahrbuch für Geschichte des ländlichen Raumes 2005), Innsbruck/ Wien/Bozen 2005, 161–169, 168. 47 Eine Aufstellung der betroffenen Gemeinden siehe Siegl, Bergbauern, 224–228. 48 „Bisher feststellbare Auswirkung von Aufbaumassnahmen in St. Georgen/Wald“, verfasst von Dr. Pfeiffer am 7. 10. 1943. ÖStA, AdR, RMfEL, UA Bergland, Karton 17. 49 Siegl, Griff, 165.
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(Vorarlberg), wonach die Ablehnung des Gemeinschaftsaufbaus seitens der Bartholomäberger Bevölkerung so groß gewesen sei, dass der Aufbauleiter nach Kriegsende „vor den Tätlichkeiten der erbitterten Bauern von Bartholomäberg geschützt werden musste“50, ist wegen fehlender Informationen zu den Umständen, die zu dieser Aussage geführt hatten, kritisch zu bewerten, aber immerhin ein Indiz für eine lokale Abwehrhaltung. Der Gemeinschaftsaufbau im Bergland weckte nach den ersten Erfolgen das Interesse der SS und von Konrad Meyer. Bei den Planungen für die „Generalbereinigung der Agrarstruktur im Altreich“ und im Rahmen des „Generalplans Ost“ spielte der Gemeinschaftsaufbau eine Rolle als Vorreiter und mögliches Vorbild für die „Dorfaufrüstung“. Eine Besichtigungsreise der SS durch einige Aufbaugemeinden im Gau Tirol-Vorarlberg unter der Leitung des Reichskommissars für die Festigung Deutschen Volkstums, Ulrich Greifelt (1896–1949), im August 1942 brachte dieses Ergebnis. Reinthaller unterstützte diese Vorbildfunktion und den Charakter des Gemeinschaftsaufbaus als Anschauungsobjekt, denn er konnte davon ausgehen, dass bei genügend großem Interesse der SS bzw. der maßgebenden Planer der Gemeinschaftsaufbau trotz des Kriegsverlaufs fortgesetzt werden würde. Als Probegalopp für die Nachkriegsplanung des ländlichen Raumes ging die Bedeutung des Gemeinschaftsaufbaus im Bergland somit weit über die eng begrenzten lokalen Räume seiner Umsetzung hinaus.
VI.
Sozial- und Steuerpolitik
Eine angebliche „außerordentliche Begünstigung“ der Landwirtschaft in der Preis- und Steuerpolitik, die Götz Aly als These propagiert hat, ist für das Bergland nicht verifizierbar.51 Im Gegenteil – und dies betraf alle landwirtschaftlichen Betriebe – brachte die Umstellung der Grundsteuerberechnung eine Mehrbelastung vor allem für kleinere Betriebe, während sie für Großbetriebe annähernd gleich blieb bzw. sogar leicht gesunken war. Ebenfalls für alle landwirtschaftlichen Betriebe galten die Erhöhungen bei den Sozialversicherungsabgaben, die sich – wieder abhängig von Betriebsgröße und Beschäftigtenzahl – in etwa verdoppelten.52 Wiederum waren Großbetriebe von den Erhöhungen der 50 Wolfgang Weber, Nationalsozialismus und Kriegsende 1945 in den Vorarlberger Gemeinden des Bezirks Bludenz. Ein Quellenband (Quellen zur Geschichte Vorarlbergs N.F. 2), Regensburg 2001, 36. 51 Vortrag vom Leiter der volkswirtschaftlichen Abteilung der Reichskreditgesellschaft Bernhard Benning vom 25. 3. 1943. Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde (BArch), R 8136/3810, zit. n. Götz Aly, Hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus, Frankfurt am Main 2005, 71. 52 Siegl, Bergbauern, 178.
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Beiträge zur Unfallversicherung und zur Invalidenversicherung weniger stark betroffen als Kleinbetriebe. Eine weitere erhebliche finanzielle Belastung war das Ansteigen der Löhne für landwirtschaftliche Arbeitskräfte. Das Problem der hohen Landarbeiterlöhne wurde aber durch den Kriegsverlauf gelöst, denn LandarbeiterInnen wurden, zunächst wegen der Landflucht, dann wegen der Rekrutierungen, sehr knapp und durch familieneigene Arbeitskräfte, Arbeitsdienstverpflichtete, durch Maschinenkraft und durch Fremd- und ZwangsarbeiterInnen ersetzt. Auch neue Sozialleistungen wie Ehestandsdarlehen oder Einrichtungszuschüsse können nur zum Teil als Zugeständnisse an die Landbevölkerung interpretiert werden, um ihre Zustimmung für den Krieg zu erkaufen. Die Leistungen waren nämlich an eine Gesundenuntersuchung gebunden, die nach rassischen Kriterien vorging:53 Waren keine Kinder zu erwarten, wurde das Ehestandsdarlehen nicht gewährt. Es durften auch keine geistigen oder körperlichen Erbkrankheiten vorliegen. Die Sozialleistungen gehörten daher teils zu den nach züchterischen Kriterien erfolgten „Aufnordungs“Maßnahmen. Allerdings darf nicht alles, was im Sozialbereich während der NSZeit passiert ist, unter dem Diktum von „Blut und Boden“ gesehen werden. Zum Teil handelte es sich um einen Aufholprozess der Landwirtschaft gegenüber anderen Bevölkerungsgruppen, die bei der Integration in das Sozialsystem zumeist einige Schritte voraus waren. Ein solcher Aufholprozess lag zum Beispiel bei der Ausdehnung der Unfallversicherungspflicht und beim Wechsel von einer Personen(unfall)versicherung zu einer Betriebs(unfall)versicherung vor. Der Ausbau der Sozialleistungen für die Landbevölkerung brachte auch eine Entwicklung in Gang, die mittelfristig auf eine Trennung von Selbständigen und Unselbständigen in der Landwirtschaft abzielte. Traditionell waren ständige familieneigene wie auch familienfremde Arbeitskräfte im bäuerlichen Haushalt gut integriert. Sie lebten und aßen mit der Familie und verrichteten gemeinsam die anfallenden Arbeiten. Demselben Milieu angehörig vertraten sie häufig eine ähnliche Weltanschauung. Dieses enge Band versuchte der Nationalsozialismus zu lockern. Die Förderung des Landarbeiterwohnungsbaus sollte vordergründig zu einer verbesserten Wohnsituation der Landarbeiter beitragen, führte aber auch zu einer räumlichen Trennung von den Dienstgebern. Der räumlichen Trennung sollte eine ideologische und politische Individualisierung folgen. Auch verbesserte Leistungen der Sozialversicherung und die Kinderbeihilfe, die Landarbeiterfamilien schon ab drei, Selbständige hingegen erst ab fünf Kindern und nur bis zu einer bestimmten Einkommensgrenze erhielten, führten zu einer Besserstellung der Landarbeiterfamilien. Die wirtschaftliche und soziale Emanzipation der LandarbeiterInnen in Kombination mit der Separierung von 53 Siehe Guenther Steiner/Gerhard Siegl, Ja, jetzt geht es mir gut … Die Entwicklung der bäuerlichen Sozialversicherung in Österreich, Wien 2010, 178.
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ArbeitgeberInnen und ArbeitnehmerInnen hätte dem Nationalsozialismus langfristig die Möglichkeit eröffnet, ideologisch in das Milieu des ländlichen Raumes einzudringen.
VII.
Brüche und Kontinuitäten
Das Leben und Wirtschaften der Bevölkerung des Berglands veränderte sich zu Beginn der NS-Herrschaft erheblich. Die neuen Machthaber brachten eine Zäsur in vielerlei Hinsicht, sei es in Bezug auf die Betriebsführung, die Agrarverwaltung, die Marktordnung oder den ideologischen Ansprüchen an die Landbevölkerung. Die BetriebsführerInnen verloren ihre wirtschaftliche Freiheit. Sie wurden im Gegenzug in ein System integriert, das ihnen die Entscheidungen über Anbau, Verkauf, Marktzugang, Handel und Weiterverarbeitung agrarischer Produkte abnahm und das selbst planend und kontrollierend tätig wurde. Neben dem Antikatholizismus und dem Versuch der Erodierung traditioneller Lebensformen war diese Zwangsintegration in ein alles vorgebendes System mit ein Grund für den Skeptizismus der Landbevölkerung gegenüber dem Nationalsozialismus. War der wirtschaftliche Bruch von der Zwischenkriegszeit zur NS-Zeit im Agrarbereich beträchtlich, so zeigte er sich von der NS-Zeit zur Nachkriegszeit weniger stark ausgeprägt. Zahlreiche Bestimmungen blieben nach 1945 weiterhin in Kraft, darunter das für die agrarische Bevölkerung so wichtige Reichsnährstandsgesetz und die Reichsversicherungsordnung (beide bis 1948). Einige aus der NS-Zeit stammende Impulse waren für die österreichische Agrarpolitik der Nachkriegszeit richtungweisend, wie beispielsweise die Erfahrungen mit einer straffen Marktordnung oder mit der Hofkarte.54 Auch die neuen Sozialleistungen für die ländliche Bevölkerung wurden nach 1945 weitgehend beibehalten und das in der NS-Zeit ausgebaute Pflanzen- und Viehzuchtwesen weitergeführt. Die Ausweitung der Landwirtschaftsberatung und -lehre sowie die Mechanisierung wurden nach 1945 als „wirksame Anknüpfungspunkte“ gesehen.55 Die langfristigen Auswirkungen der Entschuldungs- und Aufbauaktion trugen zu einer Verbesserung der Agrarstruktur bei und die Investitionen der NS-Zeit erwiesen sich – so Stefan Karner – nach 1945 als „teilweise von bleibendem Wert.“56 Dieser Befund ist auch für den Gemeinschaftsaufbau im 54 Zur Hofkarte siehe den Beitrag von Ernst Langthaler in diesem Heft. 55 Hans Schermer, Bewältigte Krisen, Krieg und Neuaufbau, in: Landeslandwirtschaftskammer für Tirol (Hg.), Bauern in Tirol. Vor 100 Jahren begann die Zukunft. 1882–1982, Innsbruck 1982, 77–128, 100. 56 Stefan Karner, Die Steiermark im Dritten Reich 1938–1945. Aspekte ihrer politischen, wirtschaftlich-sozialen und kulturellen Entwicklung, Graz/Wien 1986, 292.
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Bergland trotz seiner formalen Liquidierung im Jahr 1945 zutreffend. Ein weiterer Grund für die Annahme ausgeprägter Kontinuitäten von der NS-Agrarwirtschaft in die Nachkriegszeit liegt im ideellen Bereich. Die Agrarverwaltung und die BerglandbewohnerInnen sind im Rahmen der Entschuldungs- und Aufbauaktion und noch mehr durch die umfassende planerische Neugestaltung von Berggemeinden im Rahmen des Gemeinschaftsaufbaus mit neuen Ideen für die technische und betriebswirtschaftliche Modernisierung der Betriebsführung konfrontiert worden. Ernst Langthaler interpretierte den Gemeinschaftsaufbau als „Avantgarde eines Modernisierungsprojekts“, das die Agrarentwicklung in den Berggebieten in der Nachkriegszeit „über weite Strecken bestimmte“.57 Die Umsetzung war freilich nur durch den radikalen Bruch mit herrschenden Traditionen und den Einsatz autoritärer Methoden möglich, wie etwa der Aussiedlung von landwirtschaftlichen Betrieben aus Ortskernen zur Verbesserung der inneren und äußeren Verkehrslage der Betriebe oder der betriebswirtschaftlichen und ideologischen Bevormundung der BetriebsführerInnen. Es wurden während des Krieges dann auch nur die produktionssteigernden Maßnahmen umgesetzt, die langfristig wirksamen Maßnahmen wurden großteils zurückgestellt. Die nationalsozialistische Agrarpolitik strebte – der Krieg sollte ja nur ein Zwischenspiel sein – eine Strukturveränderung der Landwirtschaft an. In den Nachkriegsplanungen für den Agrarsektor gab die „Blut und Boden“-Ideologie die Leitlinien vor. Basierend auf den Kriterien „Rasse“ und „Volksgemeinschaft“ auf der einen und „Rationalität“ und „Produktivität“ auf der anderen Seite sollte – den gewonnenen Krieg vorausgesetzt – eine Sozialutopie verwirklicht werden, die in einer Überwindung von Kapitalismus und Sozialismus einen neuen gesellschaftlichen Weg eingeschlagen hätte. Welche Rolle die alpinen BergbäuerInnen in diesem Szenario gespielt hätten, wurde in der Planung nicht im Detail berücksichtigt. Sie wäre davon abhängig gewesen, ob sich Reinthaller mit seinen Vorstellungen für das Bergland oder die Planungsstäbe der SS um Konrad Meyer („Generalplan Ost“) durchsetzen hätten können. Reinthaller wollte die BergbäuerInnen auf ihren Betrieben halten. Nach Meyer hingegen wären die Bergbauerngebiete wohl wie andere landwirtschaftliche Regionen dem Planungsablauf zugeführt worden, was den strukturellen Vorgaben entsprechend für die Berglandwirtschaft den Entzug der Lebensgrundlage bedeutet hätte. Der gewichtigeren Position Meyers im Vergleich zu Reinthaller nach zu urteilen wäre wohl eher mit dem Auslaufen der Unterstützungsleistungen für die Bergbauernwirtschaft zu rechnen gewesen. Die Realteilung wäre untersagt, Klein- und Kleinstbetriebe wären aufgelassen worden, Teile der landwirtschaftlichen Bevölkerung wären im Rahmen der „Ostsiedlung“ zwangsumgesiedelt worden. Nur 57 Langthaler, Schlachtfelder, 471–472.
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dort, wo auch im Bergland eine rationelle Betriebsführung mit der Produktion von marktfähigen Überschüssen möglich war und die Topografie Betriebe ab mittlerer Größe zuließ, hätte die Berglandwirtschaft weiter existieren können. In vielen alpinen Regionen hätte sich die Landwirtschaft aus der Fläche zurückziehen müssen. Die Pläne, Teile des Alpenraums in KdF-Erholungsgebiete umzuwandeln, hätte zumindest die Fortführung der Landschaftspflege gewährleistet. Bei dem skizzierten Szenario wäre im NS-Staat nur für einen Bruchteil der alpinen Landbevölkerung ein ökonomisches Überleben in der Landwirtschaft möglich gewesen. Mit den Betrieben und Menschen wäre freilich auch die vielfach propagandistisch beschworene und wissenschaftlich unterfütterte58 völkisch-rassische Funktion der Berglandbevölkerung als „Zuchtmaterial“ bzw. „biologisches Kraftzentrum“ für die „Aufnordung“ des deutschen Volkes verloren gegangen.59
VIII. Resümee Jahrzehnte vor Beginn der NS-Herrschaft zeichnete sich bereits Ende des 19. Jahrhunderts ab, dass für die Berglandwirtschaft die Integration in den Weltmarkt aufgrund mehrerer limitierender Faktoren nicht möglich sein würde. Gleichzeitig war ein Verbleiben in der Subsistenzwirtschaft wegen steigender Lebensstandards anderer Bevölkerungsteile keine langfristige Option. Zur Erhaltung der Berglandwirtschaft war daher – damals wie heute – ein gesellschaftlicher Konsens erforderlich. Während sich die österreichische Agrarverwaltung der Zwischenkriegszeit zur Erhaltung der Berglandwirtschaft durchgerungen hatte, zweifelte die NS-Bürokratie anfangs, entschied sich aber letztlich auch zugunsten der Berglandbevölkerung. Das ideologische Moment darf für diese Entscheidung nicht unterschätzt werden. Die Positionierung der BergbäuerInnen als völkisch-rassisches „nationales Heiligtum“ war jedoch weder von den Betroffenen gewollt noch löste sie das angeblich „österreichische Problem“ der Übersetzung traditioneller Berglandwirtschaft in die moderne sozioökonomische Lebensrealität. Das Angebot des Nationalsozialismus, die strukturelle Krise der Berglandwirtschaft nach ideologischen Prämissen zu überwinden, scheiterte, während handfeste materielle Zuwendungen pragmatisch angenommen wurden. Zusammenfassend brachte die NS-Zeit für die Berglandwirtschaft eine 58 Siehe beispielsweise das Werk von Ferdinand Ulmer, Die Bergbauernfrage. Untersuchungen über das Massensterben bergbäuerlicher Kleinbetriebe im alpenländischen Realteilungsgebiet (Schlern-Schriften 50), Innsbruck 1942, besonders Kapitel III.4. „Das bevölkerungspolitische Argument“, 155–167. 59 Siegl, Bergbauern, 304–305.
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ideologische wie auch ökonomische Neubewertung. Die ökonomischen Vorteile der Integration in das Berglandgebiet lagen in erhöhten Beihilfesätzen, bevorzugten Betriebsmittelzuteilungen, Frachtkostenrückvergütungen, der Teilnahme am Gemeinschaftsaufbau und ermäßigten Beiträgen zum Reichsnährstand und zur Grundsteuer. Darüber hinaus kamen diverse Infrastrukturmaßnahmen nicht nur der Landwirtschaft, sondern allen EinwohnerInnen zugute. Die ideologische Zielsetzung des NS-Regimes lag in der Einpassung der Berglandbevölkerung in eine nationalsozialistische Volksgemeinschaft. Die „Blut und Boden“-Ideologie belegte die Menschen des Berglands mit der rassischen Mission der „Auffrischung deutschen Blutes“. Wie die betroffenen Menschen auf diese Funktionszuschreibung reagierten bzw. ob sie sich durch die idealistische Darstellung ihrer Lebenswelt geschmeichelt oder abgestoßen fühlten, war letztlich von der individuellen Einstellung zum Nationalsozialismus abhängig. Erlittene Kränkungen oder politische Verfolgung im Zuge des Regimewechsels sowie der der Verlust von Familienangehörigen im Krieg dürften dabei schwerer gewogen haben als etwaige materielle Gewinne. Ob die in das Berglandgebiet gepumpten Geldsummen ausreichend waren, um die Bevölkerung dem NS-Regime gewogen zu machen, wird deshalb zu Recht bezweifelt. Nichts desto weniger hatte die propagandistische Inszenierung der „Blut und Boden“-Ideologie Rückwirkungen auf die Realpolitik, wie in diesem Beitrag gezeigt wurde. Positive Konnotationen mit der „Entschuldungsaktion“ und dem „Gemeinschaftsaufbau im Bergland“ führten in der Nachkriegszeit mitunter zur Legendenbildung, wenn etwa 1953 geschrieben wurde, dass der Gemeinschaftsaufbau der erste praktische Versuch gewesen sei, um „die Bergbauernfrage mit ihren zahlreichen Problemen innerhalb eines begrenzten Bereiches mittels umfassender, allen Erfordernissen Rechnung tragender Maßnahmen zu lösen“.60 Zur Mythisierung trug auch das Stillschweigen in einem Nachkriegsösterreich bei, das sich als erstes Opfer von Hitlers Aggression wähnte. Im Kontext der „Opferthese“ war es nicht opportun, etwaige Profitnahmen aus dieser Zeit publik zu machen. So wurde der Gemeinschaftsaufbau jahrzehntelang totgeschwiegen, ebenso wie die Tatsachen, dass er nur auf Kosten von ZwangsarbeiterInnen durchgeführt werden konnte und seine Ziele nicht auf die Wohlfahrt der BergbäuerInnen, sondern auf kriegswirtschaftliche Bedürfnisse und rassenideologische Utopien ausgerichtet waren und ohne diesen Rahmen auch nicht denkbar ist. Die über Budgetdefizite und zulasten besetzter Länder und ihrer BewohnerInnen finanzierte Investitionstätigkeit des Dritten Reichs hinterließ den Eindruck, Hitler habe die „Modernisierung“ Österreichs eingeleitet bzw. stark be60 August Lombar, Entschuldung und Aufbau der österreichischen Landwirtschaft, Klagenfurt 1953, 90, FN 117.
Gerhard Siegl, Die österreichische Berglandwirtschaft in der NS-Zeit
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schleunigt. Die sichtbaren raschen Erfolge hätten sich in der „Erinnerung vieler Österreicher tief eingegraben“ und eine „starke Faszination“ ausgeübt,61 die freilich nach 1945 nicht mehr offen zur Schau gestellt werden konnte, gleichwohl aber nicht verschwunden ist.
61 Clemens Jabloner/Brigitte Bailer-Galanda/Eva Blimlinger/Georg Graf/Robert Knight/Lorenz Mikoletzky/Bertrand Perz/Roman Sandgruber/Karl Stuhlpfarrer/Alice Teichova, Schlussbericht der Historikerkommission der Republik Österreich. Vermögensentzug während der NS-Zeit sowie Rückstellungen und Entschädigungen seit 1945 in Österreich. Zusammenfassungen und Einschätzungen (Veröffentlichungen der Österreichischen Historikerkommission. Vermögensentzug während der NS-Zeit sowie Rückstellungen und Entschädigungen seit 1945 in Österreich 1), Wien/München 2003, 74–75.
Georg Weissenböck
„Blut und Boden“-Kultur? Agrarwissenschaftliche Dissertationen an der Wiener Hochschule für Bodenkultur 1938–19451
Das an landwirtschaftlichen Forschungsinstitutionen erzeugte Expertenwissen hatte innerhalb der agrarischen Wissensgesellschaft2 des „Dritten Reiches“ erheblichen Einfluss und Auswirkungen.3 Für die meisten österreichischen Hochschulen liegen zu den jeweiligen Forschungsschwerpunkten umfangreiche Untersuchungen vor.4 Die von Paulus Ebner unternommene Darstellung der Hochschule für Bodenkultur gibt dazu lediglich einen knappen Überblick.5 Dabei haben neuere Studien zur Agrarforschung im Nationalsozialismus fruchtbare Ergebnisse erbracht.6 Dissertationen stellen eine Schnittstelle zwi1 Der Beitrag beruht auf der 2015 an der Universität Wien angenommenen Diplomarbeit „Agrarwissenschaften im Nationalsozialismus am Beispiel der Dissertationen an der Wiener Hochschule für Bodenkultur 1938–1945“. Ein besonderer Dank gilt Ernst Langthaler, Ulrich Schwarz und Peter Wiltsche sowie den wertvollen Hinweisen im Rahmen des Begutachtungsverfahrens für diese Zeitschrift. 2 Zur Verwendung und Einordnung des Begriffs Wissensgesellschaft siehe Margit SzöllösiJanze, Wissensgesellschaft in Deutschland. Überlegungen zur Neubestimmung der deutschen Zeitgeschichte über Verwissenschaftlichungsprozesse, in: Geschichte und Gesellschaft 30 (2004) 2, 277–313; Jakob Vogel, Von der Wissenschafts- zur Wissensgeschichte. Für eine Historisierung der „Wissensgesellschaft“, in: Geschichte und Gesellschaft 30 (2004) 4, 639–660; Philipp Sarasin, Was ist Wissensgeschichte, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 36 (2011) 1, 159–172. 3 Vgl. Frank Uekötter, Die Wahrheit ist auf dem Feld. Eine Wissensgeschichte der deutschen Landwirtschaft, Göttingen 2012, 183–275; Willi Oberkrome, Ordnung und Autarkie. Die Geschichte der deutschen Landbauforschung, Agrarökonomie und ländlichen Sozialwissenschaft im Spiegel von Forschungsdienst und DFG (1920–1970) (Studien zur Geschichte der Deutschen Forschungsgemeinschaft 4), Stuttgart 2009; Ernst Langthaler, Schlachtfelder. Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945, Wien/ Köln/Weimar 2016, 497–568. 4 Beispielhaft seien genannt: Mitchell G. Ash (Hg.), Geisteswissenschaften im Nationalsozialismus. Das Beispiel der Universität Wien, Göttingen 2010; Juliane Mikoletzky/Paulus Ebner, Die Technische Hochschule in Wien 1914–1955. Teil 2: Nationalsozialismus – Krieg – Rekonstruktion (1938–1955), Wien 2016. 5 Paulus Ebner, Politik und Hochschule. Die Hochschule für Bodenkultur 1914–1955, Wien 2002, 150–161. 6 Vgl. Susanne Heim (Hg.), Autarkie und Ostexpansion. Pflanzenzucht und Agrarforschung im
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schen meist jungen Forschenden und dem bereits wissenschaftlich etablierten Lehrkörper dar. Sie eröffnen detaillierte Einblicke in das Spannungsfeld der Hochschulpolitik und dessen Rahmenbedingungen. Dissertationen wurden für Österreich in der NS-Zeit bisher lediglich in Ansätzen behandelt.7 Dieser Artikel setzt sich zum Ziel, thematische Schwerpunkte der Dissertationen im Zeitraum von 1938 bis 1945 zu erkunden, zu klären, in welcher Weise die Dissertationen durch machtvolle Diskurse geprägt waren sowie Auswirkungen der politisch-ökonomischen Lage auf den Forschungsbetrieb in der Gestalt von Rigorosenverfahren aufzuzeigen. Die Dissertationen wurden auf Entstehungszusammenhänge und -bedingungen, äußere Merkmale und inhaltliche Schwerpunkte hin untersucht. Die Kategorienbildung der anschließenden Inhaltsanalyse8 erfolgte sowohl deduktiv als auch induktiv, um eine möglichst hohe Formalisierung bei gleichzeitiger Offenheit zu erreichen.9 Ausgehend von den kategorisierten Dissertationsinhalten wurde eine multivariate Statistikanalyse angewandt, um die innere Struktur des Textkorpus zu erfassen.10 Diese Ergebnisse wurden durch Fallanalysen ausgewählter Dissertationen ergänzt.11
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Nationalsozialismus, Göttingen 2002; Susanne Heim, Kalorien, Kautschuk, Karrieren. Pflanzenzüchtung und landwirtschaftliche Forschung in Kaiser-Wilhelm-Instituten 1933 bis 1945 (Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus 5), Göttingen 2003; Volker Klemm, Von der Königlichen Akademie des Landbaus in Möglin zur Landwirtschaftlich-Gärtnerischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin, Berlin 1998. Vgl. die Beiträge von Walid Hetaba zur Technischen Hochschule sowie Georg Weissenböck und Oliver Schrot zur Hochschule für Bodenkultur in: Österreichischen HochschülerInnenschaft (Hg.), Österreichische Hochschulen im 20. Jahrhundert. Austrofaschismus, Nationalsozialismus und die Folgen, Wien 2013, 249–273. Die Arbeitsweise basiert auf: Philipp Mayring, Qualitative Inhaltsanalyse. Grundlagen und Techniken, Weinheim 2010; Werner Früh, Inhaltsanalyse. Theorie und Praxis, Konstanz 2011. Vgl. Werner Früh, Kategorienexploration bei der Inhaltsanalyse. Basiswissengeleitete offene Kategorienfindung (BoK), in: Werner Wirth/Edmund Lauf (Hg.), Inhaltsanalyse. Perspektiven, Probleme, Potentiale, Köln 2001, 117–139. Vgl. Klaus Backhaus/Bernd Erichson/Wulff Plinke/Rolf Weiber, Multivariate Analysemethoden. Eine anwendungsorientierte Einführung, Berlin 2016, 385–516. Als Beispiel für die Anwendung: Ulrich Schwarz, Politisieren, Vermarkten, Anpassen. Formationen des Agrarmediendiskurses im Österreichischen Bauernbündler 1950–1981, in: Historische Anthropologie 20 (2012) 3, 297–345. Vgl. Philipp Mayring, Einführung in die qualitative Sozialforschung. Eine Anleitung zu qualitativem Denken, Weinheim 2002, 41–46.
Georg Weissenböck, Agrarwissenschaftliche Dissertationen
I.
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Die Hochschule als „Erziehungsstätte deutscher Bauernführer und Lehr- und Forschungsstätte im Dienste deutscher Nahrungsfreiheit“12
Die Situation an der Hochschule für Bodenkultur war bereits vor der nationalsozialistischen Machtübernahme 1938 von politischen Machtkämpfen gekennzeichnet. Nach vermehrten nationalsozialistischen Kundgebungen und Versammlungen bis hin zu Bombenanschlägen wurde 1934 die Autonomie eingeschränkt und ein Bundeskommissär zur Aufsicht eingesetzt.13 Professoren und Studierende, die gegen das Dollfuß-Schuschnigg-Regime Stellung bezogen, wurden von der Hochschule verwiesen. Nach dem Krieg sollte der nunmehrige Rektor Alfred Till von einem „nationalsozialistischen Massenwahn“, „Fanatikern“ und einer „scharfen Trennung der Geister“ sprechen.14 Die nationalsozialistische Machtübernahme wirkte sich unmittelbar auf Strukturen, Inhalte und Rahmenbedingungen der gesamten österreichischen Hochschullandschaft aus.15 Für eine gewisse Zeitspanne übernahm Franz Sekera, führendes Mitglied des illegalen Nationalsozialistischen Deutschen Dozentenbundes (NSDDB), die Kontrolle an der Hochschule für Bodenkultur.16 In Summe mussten jeweils zehn Professoren und Dozenten die Hochschule verlassen, was mehr als die Hälfte des Lehrkörpers ausmachte.17 Dieser Anteil erscheint hoch im Vergleich zu anderen Universitäten im Deutschen Reich, wo er im Durchschnitt 15 Prozent der Lehrenden betrug.18 Diese Lücke füllte sich – zumindest an der Personenzahl ge12 Otto Porsch/Franz Sekera, Aufgaben und Ziele der Hochschule für Bodenkultur in Wien, in: Studienführer 1940, hg. von der Hochschule für Bodenkultur, Wien 1940, 5–7, 7. 13 Vgl. Ebner, Politik, 84–87. 14 Alfred Till, Geleitwort, in: Hermann Flatscher (Hg.), 75 Jahre Hochschule für Bodenkultur (Jahrbuch der Hochschule für Bodenkultur 1), Wien 1948. 15 Vgl. Brigitte Lichtenberger-Fenz, „Es läuft alles in geordneten Bahnen“. Österreichs Hochschulen und Universitäten und das NS-Regime, in: Emmerich T#los/Ernst Hanisch/Wolfgang Neugebauer/Reinhard Sieder (Hg.), NS-Herrschaft in Österreich. Ein Handbuch, Wien 2000, 549–569. 16 Hermann Flatscher, Die Hochschule für Bodenkultur 1938–1948, in: Flatscher (Hg.), 75 Jahre, 34–39, 34. Sekeras unter eher obskuren Umständen erreichte Stellung als „Kommissarischer Leiter“ der Hochschule wurde nach bemerkenswerten Eigenmächtigkeiten recht bald aufgehoben. Vgl. Ebner, Politik, 138–142. 17 Ebd., 124–126. Besonders tragisch ist das Schicksal von Zeßner-Spitzenberg, welcher als überzeugter Regimegegner und Monarchist nach Dachau überstellt wurde, wo er nach kurzer Zeit seinen dort erlittenen Verletzungen erlag. Vgl. Manfried Welan, Hans Karl ZeßnerSpitzenberg – einer der ersten toten Österreicher in Dachau, in: Forschungen zum Nationalsozialismus und dessen Nachwirkungen in Österreich. Festschrift für Brigitte Bailer, Wien 2012, hg. vom Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes, 21–41. 18 Sylvia Paletschek, The Invention of Humboldt and The Impact of National Socialism. The German University Idea in the First Half of the Twentieth Century, in: Margit Szöllösi-Janze (Hg.), Science in the Third Reich, Oxford/New York 2001, 37–58, 44.
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messen – jedoch rasch. Die Zahl der Professoren erreichte 1944/45 mit 27 einen Höchststand, die Zahl der sonstigen Lehrenden stieg auf 32.19 Der für die landwirtschaftliche Fakultät der Humboldt-Universität Berlin gezogene Schluss, dass sich die „personellen Verluste infolge des nationalsozialistischen Rassenwahns oder aus politischen Gründen […] in diesem wissenschaftlichen Bereich in verhältnismäßig engen Grenzen“20 hielten, lässt sich auch auf die Hochschule für Bodenkultur umlegen. Besonders bedeutend war dabei die Wiederanstellung des 1934 durch die staatliche Aufsicht entfernten wissenschaftlichen Personals.21 Die deutliche Präferenz von NSDAP-Mitgliedern und die Aufwertung der Stellung von Dozenten bildeten die in Deutschland schon früher durchgeführten Veränderungen ab.22 Bereits mit 30. April 1938 galt die Hochschule für Bodenkultur als „judenfrei“.23 Die Studierendenzahlen bewegten sich im Untersuchungszeitraum auf eher niedrigem Niveau, mit einem Minimum von nur 160 Hörerinnen und Hörern 1944/45.24 Markant ist der kriegsbedingt gestiegene Anteil weiblicher Studierender.25 Die 1933 eingeführte Hochschülerschaft wurde von der Deutschen Studentenschaft abgelöst, deren Aufgabe darin bestand, „die nationalsozialistische Idee zum Kernpunkt für den Studenten zu machen und ihn zu deutscher Ehrauffassung, Treue, Zucht und Einsatzbereitschaft zu erziehen.“26 Diese war eng mit den drei als Ersatz für die aufgelösten Farbenverbindungen gegründeten Kameradschaften verbunden.27 1942 fasste der damalige Rektor die Veränderungen des landwirtschaftlichen Studiums zusammen: 19 Vgl. Manfried Welan (Hg.), Die Universität für Bodenkultur Wien. Von der Gründung in die Zukunft 1872–1997, Wien/Köln/Weimar 1997, 264–268. 20 Klemm, Landwirtschaftlich-Gärtnerische Fakultät, 63. 21 Verdrängte Geschichte? Die Hochschule für Bodenkultur im Austrofaschismus und Nationalsozialismus, hg. von der Österreichischen Hochschülerschaft an der Universität für Bodenkultur, Wien 1985, 19–30. 22 Vgl. Lothar Mertens, Einige Anmerkungen zur NS-Wissenschafts- und Forschungspolitik, in: Rüdiger vom Bruch/Brigitte Kaderas, Wissenschaften und Wissenschaftspolitik. Bestandsaufnahme zu Formationen, Brüchen und Kontinuitäten im Deutschland des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 2002, 225–240; Klemm, Landwirtschaftlich-Gärtnerische Fakultät, 50–57. 23 Brigitte Lichtenberger-Fenz, Österreichs Universitäten und Hochschulen – Opfer oder Wegbereiter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft?, in: Gernot Heiß (Hg.), Willfährige Wissenschaft. Die Universität Wien 1938–1945, Wien 1989, 3–16, 7. 24 Vgl. Verdrängte Geschichte, 5; 100 Jahre Hochschule für Bodenkultur in Wien. 1872–1972, 1. Band, 100-Jahr-Bericht, hg. von der Hochschule für Bodenkultur, Wien 1972, 343. 25 Die hohe Zahl führte zu Überlegungen, für Frauen ein „Haushaltssemester“ mit Themen der Hauswirtschaft, Kindergartenarbeit und Ernährung einzuführen. Vgl. Adolf Staffe, Denkschrift zur Frage der Reform des akademischen Studiums der Landwirtschaft, Wien 1943, 24–25. 26 Luis Schipfer, Studenten der Hochschule für Bodenkultur!, in: Studienführer 1940, 8–10, 8. Frauen werden dort vor einer „falschen Romantik“ gewarnt und es wird ihre Aufgabe betont, nach abgeschlossenen Studium „ebenso gute Mutter [zu] sein wie jede Bäuerin“. 27 Vgl. Jo[l Adami/Fabian Frommelt, Der Nationalsozialistische Deutsche Studentenbund an
Georg Weissenböck, Agrarwissenschaftliche Dissertationen
369
„War dasselbe und damit die ganze Landwirtschaft früher erwerbswirtschaftlich ausgerichtet, so haben ihr heute die bevölkerungs-, kultur- und wirtschaftspolitischen Aufgaben des Nährstandes den Stempel aufgedrückt. Dieser Ideenwandel der Landwirtschaft im nationalsozialistischen Staate hat auch in der Ausbildung des akademischen Landwirtes seinen Niederschlag gefunden.“28
Dies entsprach der Tendenz wissenschaftlicher Einrichtungen, mit der Hoffnung auf einen Zugewinn an Ressourcen staats- und parteipolitische Erwartungen zu erfüllen.29 Institute und Forschungen, welche den Vorstellungen und Vorgaben folgten, erhielten erhebliche finanzielle Unterstützung.30 Innerhalb der Gruppe der naturwissenschaftlichen und technischen Fachrichtungen erhielten die Agrarwissenschaften besonders hohe Förderungen.31 Gemäß dem für Wien vorgegebenen Schwerpunkt auf Südosteuropa richtete die Hochschule für Bodenkultur das Südost-Agrarinstitut sowie das Südost-Institut für Wald und Holzforschung ein.32 Bewertungen des Verhältnisses des Nationalsozialismus zur Wissenschaft reichen von einer „Degradierung der Wissenschaft zur Magd der faschistischen Politik“33 bis hin zur Einschätzung, dass das Regime „keineswegs grundsätzlich wissenschaftsfeindlich, sondern vielmehr wissenschaftsutilitaristisch“ war und die wissenschaftlichen Arbeitsweisen nicht vorgab.34 Ebner teilt die Forschung an der Hochschule für Bodenkultur in zwei Bereiche: „auf der einen Seite die vermeintlich ,wertfreie‘ Wissenschaft, die für Kriegswirtschaft und Rüstung einsetzbar erschien, auf der anderen Seite die ,völkische‘ Wissenschaft, die in
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33 34
der Hochschule für Bodenkultur, in: Österreichischen HochschülerInnenschaft (Hg.), Österreichische Hochschulen im 20. Jahrhundert, 85–101. Adolf Staffe (Hg.), Das Studium an der Hochschule für Bodenkultur in Wien. Berufsausbildung und Berufsaussichten für den Landwirt, Forstwirt und Kulturtechniker, Wien 1942, 2–3. Vgl. Herbert Mehrtens, Kollaborationsverhältnisse. Natur- und Technikwissenschaften im NS-Staat und ihre Historie, in: Christoph Meinel (Hg.), Medizin, Naturwissenschaft, Technik und Nationalsozialismus. Kontinuitäten und Diskontinuitäten, Stuttgart 1994, 13–32. Ulrich Sieg, Strukturwandel der Wissenschaft im Nationalsozialismus, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 24 (2001) 4, 255–270, 259. Vgl. Thomas Wieland, „Die politischen Aufgaben der deutschen Pflanzenzüchtung“. NSIdeologie und die Forschungsarbeiten der akademischen Pflanzenzüchter, in: Heim (Hg), Autarkie, 35–56, 42–44. Ebner, Hochschule, 155–156. Für die Bedeutung Südosteuropas für Wien siehe: Petra Svatek, „Wien als Tor nach dem Südosten“ – Der Beitrag Wiener Geisteswissenschaftler zur Erforschung Südosteuropas während des Nationalsozialismus, in: Ash (Hg.), Geisteswissenschaften, 111–140. Klaus Scheel, Die Wissenschaftspolitik des deutschen Faschismus auf dem Weg in den Zweiten Weltkrieg, in: Burchard Brentjes (Hg.), Wissenschaft unter dem NS-Regime, Berlin et al. 1992, 15–37, 16. Martin Sabrow, Die deutsche Universität im Nationalsozialismus, in: Christoph Corneließen/ Carsten Mish (Hg.), Wissenschaft an der Grenze. Die Universität Kiel im Nationalsozialismus, Essen 2009, 379–404, 396.
370
zeitgeschichte 45, 3 (2018)
erster Linie der Ideologieproduktion diente.“35 Dabei bestimmt er für die Jahre 1938 bis 1940 eine Dominanz der ideologischen Herangehensweise. Für die Zeit danach konstatiert er einen Fokus auf kriegswichtige Forschung abseits offen gezeigter Ideologie.
II.
Dissertationen und Rigorosenverfahren als Untersuchungskorpus
Der Korpus der Untersuchung besteht aus den zwischen dem Wintersemester 1938/39 und dem Kriegsende positiv beschiedenen 37 Dissertationen im Bereich der Agrarwissenschaften. Zahlreiche Protokolle berichten von Verzögerungen durch Einrückungen oder die mangelnde Möglichkeit, Quellen einzusehen. Der Umfang der Dissertationen erweist sich, abhängig von Inhalten und Methoden, als sehr variabel. Die große Bandbreite der Herkunft der Dissertantinnen und Dissertanten36 entspricht der Ausrichtung der nationalsozialistischen Agrarpolitik, nach der in den Grenzen „eines anvisierten kontinentaleuropäischen Wirtschaftsraums unter deutscher Führung […] geplant und geforscht“37 werden sollte. Fünf der untersuchten Dissertationen stammen von Frauen. Deren Durchschnittalter beim Abschluss des Rigorosums lag mit etwas über 23 Jahren mehr als zehn Jahre unter jenem der männlichen Dissertierenden. In Summe waren zwölf der Autorinnen und Autoren jünger als 25 Jahre, zehn 40 Jahre oder älter. Nicht alle Rigorosenverfahren verliefen erfolgreich. Obwohl für die meisten Arbeiten Angaben zum Abbruch fehlen, lassen sich für einige Beispiele die Begleitumstände und der direkte Einfluss der Rahmenbedingungen auf die Verfahren rekonstruieren. Die dem Rigorosenakt von Richard Schewszik beiliegende Bewertung durch den Begutachter war vernichtend: „Leider ist die Arbeit, der eine logische Gliederung des Stoffes mangelt, derart lässig durchgearbeitet und von einer solchen Oberflächlichkeit, daß sie in dieser Hinsicht eher wie ein schlechter Mittelschulaufsatz denn als eine Dissertation anmutet.“38 Umso erstaunlicher erscheint die dennoch vorgeschlagene Möglichkeit, unter Vorbehalten die Zulassung zum Rigorosum angesichts des „an vorderster Front abgeleisteten Kriegsdienstes“ zu gestatten. Der Kandidat verfolgte das Verfahren jedoch nicht weiter. Das Rigorosenverfahren von Martina Wolf zeigt deutlich die 35 Ebner, Hochschule, 150. 36 Insgesamt 14 Autorinnen und Autoren stammten aus Gebieten außerhalb der heutigen Grenzen Österreichs. 37 Heim, Kalorien, 17. 38 Rigorosenakt Richard Schewszik. Archiv der Universität für Bodenkultur (AUfB), Rigorosenakte, 26/40.
Georg Weissenböck, Agrarwissenschaftliche Dissertationen
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Schwierigkeiten des Forschungsbetriebs in den letzten Kriegsmonaten.39 Obwohl ihre Dissertation bereits positiv begutachtet worden war, kam es nie zu einem Rigorosum. Der gestellte Antrag wurde zurückgewiesen, da „einer der Herren Prüfer zum Volkssturm einberufen“ worden war. 1947 zog sie die Dissertation zurück und reichte sie an der Landwirtschaftlichen Fakultät der Technischen Hochschule in Weihenstephan, wo sie später auch veröffentlicht werden sollte, neu ein.40 Eine weitere Besonderheit stellt das Verfahren von Heinrich Paul Kowala dar, über welches zwei Rigorosenakte vorliegen. Der erste Akt41 enthält einen Antrag auf einen „kurzfristigen Termin zur Rigorosenablegung“ sowie die Aufforderung des Rektorats, fehlende Unterlagen vorzulegen. Kowala zog das Gesuch daraufhin zurück. Der zweite, 1946 angelegte Akt42 erklärt die Umstände des Verfahrens in einem an die Österreichische Volkspartei gerichteten Briefes genauer. Die Dissertation war bereits positiv begutachtet worden. Als Mitglied des Cartellverbandes war es ihm in der NS-Zeit jedoch nicht möglich, das für die Zulassung notwendige politische Führungszeugnis zu erhalten.43 Die Dissertation enthält den Vermerk, dass die meisten Quellen nach der Verwüstung seiner Wohnung durch nationalsozialistische Behörden nicht mehr zitierbar seien.44 Bei der vermeintlichen Ablehnung des Dissertationsthemas von Heinz Konlechner intervenierten politische Stellen direkt. Es kam zu einem protokollierten Treffen, an welchem unter anderem Fritz Knoll, 1938 bis 1943 Rektor der Universität Wien, in seiner Stellung als Gaudozentenführer sowie der Regierungspräsident der Reichsstatthalterei Wien, Hans Dellbrügge, teilnahmen. Letzterer forderte den Rektor der Hochschule für Bodenkultur, Adolf Staffe, auf, „dass an Konlechner kein ,ausgefallenes Thema‘ gegeben werde, wie z. B. über den frz. Weinbau, sondern eine Arbeit, die K. bei seiner großen praktischen Inanspruchnahme auch ausführen könne.“45 Sein Rigorosum erfolgte am 21. März 1945, unmittelbar vor der Befreiung Wiens durch sowjetische Truppen.
39 Rigorosenakt Martina Wolf. AUfB, Rigorosenakte, 30/44. 40 Martina Körprich, Einfluß von Oxalsäure und Calciumoxalat auf die Verdauung, den Stickstoff-, Calcium- und Phosphorstoffwechsel beim Wiederkäuer, Diss., Technische Hochschule München 1952. 41 Rigorosenakt Paul Kowala. AUfB, Rigorosenakte, 30/40. 42 Rigorosenakt Paul Kowala. AUfB, Rigorosenakte, 8/46. 43 Im Jahr 1944 wurde Ladislaus Kopetz eine Professur an der Hochschule für Bodenkultur dezidiert wegen dessen Zugehörigkeit zum CV verwehrt. Vgl. Ebner, Hochschule, 130. 44 Vgl. Heinrich Kowala, Die Planwirtschaft der österreichischen Landwirtschaft, Diss., Hochschule für Bodenkultur Wien 1943, Vorwort. 45 Rigorosenakt Heinz Konlechner. AUfB, Rigorosenakte, 3/45.
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III.
zeitgeschichte 45, 3 (2018)
Inhaltliche Schwerpunkte der Dissertationen
Die Dissertationen wurden im Rahmen der Untersuchung in sieben inhaltliche Gruppen unterteilt: Pflanzen, Tiere, Wirtschaft, Agrarraum, Boden, Verarbeitung und Bildung. Die erste Gruppe kreist um die Beschäftigung mit Pflanzen. In mehreren Arbeiten werden sehr spezifische botanische Detailfragen behandelt.46 Dazu zählen beispielsweise die Begasung grüner Tomaten zur schnelleren Reifung mit Ethylen oder Keimversuche mit Klee. Drei Dissertationen beschäftigen sich mit landwirtschaftlichen Spezialkulturen wie Wein- oder Obstbau.47 Die Arbeiten sind häufig in unmittelbarer Verbindung mit dem wissenschaftlichen Betrieb der Hochschule und in Kooperation mit staatlichen Stellen entstanden. Alle Themen entsprechen den von Susanne Heim festgestellten nationalsozialistischen Schwerpunkten für die pflanzenbauliche und -züchterische Forschung.48 Die zweite Gruppe beinhaltet verschiedene Themen um den Bereich Nutztiere. Mehrere Arbeiten behandeln, dem staatlich vorgesehenen Fokus auf absolute Leistungsfaktoren und Effizienz in der Tierzucht und Fütterung entsprechend, die unmittelbare Steigerung diverser Leistungszahlen.49 Demgegenüber stehen eine archäozoologische Betrachtung altägyptischer Hausrinder und eine sehr allgemeine, fast romantisierende Beschreibung von Kamelen in Südamerika.50 Zwei Autoren untersuchen Zusammenhänge zwischen Tierhaltung und Milchproduktion.51 Während eine Arbeit zur Zucht von Schafen vor 46 Franz Philipp, Grünpflücke und Aethylenbegasung bei Tomaten, Diss., Hochschule für Bodenkultur Wien 1939; Josef Lang, Keimversuche an Klee und Gras unter Berücksichtigung von Reaktion und Osmose, Diss., Hochschule für Bodenkultur Wien 1940; Maria Niederle, Untersuchungen über den enzymatischen Pektinabbau von Obst-Sclerotiniatypen, Diss., Hochschule für Bodenkultur Wien 1941; Anton Jakovljevic, Zur Kenntnis über die optimalen Verfestigungsbedingungen bei Pektingallerten, Diss., Hochschule für Bodenkultur Wien 1943. 47 Franz Ollram, Untersuchungen über die Triebreife und Frosthärte von Unterlagsreben, Diss., Hochschule für Bodenkultur Wien 1941; Karl Duhan, Untersuchungen über die Blüh- und Befruchtungsverhältnisse bei Marillen, Diss., Hochschule für Bodenkultur Wien 1944; Heinz Konlechner, Über die Erziehung der Rebe, ihre Abhängigkeit vom Klima und ihre Beziehung zu Traubenertrag und Weinqualität, Diss., Hochschule für Bodenkultur Wien 1945. Die Arbeit von Duhan ist mit nur 25 Seiten Umfang die kürzeste Dissertation des Untersuchungszeitraums. 48 Vgl. Heim, Kalorien, 39. 49 Vgl. Oberkrome, Ordnung, 156–166. 50 Julius Pia, Rassenkundliche Untersuchungen von Schädelresten altägyptischer Rinder, Diss., Hochschule für Bodenkultur Wien 1939; Maria Bredow-Skene, Die neuweltlichen Schwielensohler, mit Beiträgen zur Abstammung des Alpaka, Diss., Hochschule für Bodenkultur Wien 1942. 51 Franz Turek, Untersuchungen über den Alterseinfluß auf die Milch- und Fettleistung, Fettgehalt der Milch, Laktationsdauer und Trockenzeiten bei vier steirischen Murbodner Rin-
Georg Weissenböck, Agrarwissenschaftliche Dissertationen
373
Kriegsausbrauch stark auf die Leistungsmaximierung im Rahmen der „Ernährungsschlacht“ abzielt, zeigen Fütterungsversuche mit Luzerneblatt zur Schweinemast die Notwendigkeit der Verwertung letzter noch vorhandener Ressourcen.52 Diese Nutzungsart ist als direkte Folge einer unmittelbaren Mangelsituation gegen Kriegsende zu betrachten.53 Eine Sonderstellung nimmt eine stark auf Laborversuche basierende Untersuchung zur bakteriziden Wirkung von Honig ein.54 Eine dritte Gruppe von Arbeiten beschäftigt sich mit volks- oder betriebswirtschaftlichen Fragestellungen. Teilweise zeigen sich deutliche Anknüpfungspunkte an staatliche Steuerungsmaßnahmen. Eine Dissertation zeigt Möglichkeiten zur Optimierung des Zuckersektors auf ehemals österreichischem Staatsgebiet auf.55 Die Auswirkungen politischer Maßnahmen werden mit der Analyse der Regulierung des Milchmarktes in Wien auf kleinerer Ebene evaluiert.56 Eine Dissertantin vergleicht die Effizienz von Betrieben in Abhängigkeit von ihrer Betriebsgröße.57 Bemerkenswert ist dabei die Aufteilung in technisch-wirtschaftliche Berechnungen und einen stark ideologisch geprägten zweiten Abschnitt, welcher dem ersten in seinen Urteilen teilweise widerspricht. Im Überblickswerk über die Weinbauwirtschaft in Wien kommt es zu radikal anmutenden Vorschlägen zur Umverteilung der Rebflächen.58 Die Arbeit über Milchviehbetriebe in Kärnten sieht in den Vorschlägen zur wirtschaftlichen Verbesserung eine Möglichkeit „zur Erhaltung der Volkskraft und der rassischen und völkischen Eigenart.“59 Die Gruppe zeigt deutlich den nicht immer aufzu-
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derherden, Diss., Hochschule für Bodenkultur Wien 1942; Franz Körber, Beiträge zur Frage der Rinderalpung, Diss., Hochschule für Bodenkultur Wien 1944. Turek arbeitete später als Professor an der Hochschule für Bodenkultur und wurde sogar zu deren Rektor ernannt. Richard Lapp, Die Herde Schoneboom-Suurhusen als Beispiel einer ostfriesischen Leistungszucht, Diss., Hochschule für Bodenkultur Wien 1939; Johann Kühnl, Versuche über die Gewinnung, den Nährstoffgehalt und die Verdaulichkeit von Luzerneblatt, Diss., Hochschule für Bodenkultur Wien 1944. Vgl. Gustavo Corni/Horst Gies, Brot, Butter, Kanonen. Die Ernährungswirtschaft in Deutschland unter der Diktatur Hitlers, Berlin 1997, 485. Erwin Plachy, Studie über die bakterizide Wirkung des Naturhonigs (Blüten- und Blatthonig) aus verschiedenen Höhenlagen sowie einige Untersuchungen über die Eigenschaften der antibakteriellen Humusstoffe im Naturhonig, Diss., Hochschule für Bodenkultur Wien 1941. Artur Primavesi, Aufbau und Entwicklungstendenzen der ostmärkischen Zuckerwirtschaft, Diss., Hochschule für Bodenkultur Wien 1940. Alois Alfonsus, Die Milchmarktregulierung in Wien, mit besonderer Berücksichtigung ihrer Auswirkung auf eine Wiener Großmolkerei, Diss., Hochschule für Bodenkultur Wien 1944. Anneliese Salomon, Die Produktivität der Landwirtschaft im pannonischen Raum unter dem Einfluss der Betriebsgröße, Diss., Hochschule für Bodenkultur Wien 1944. Ferdinand Engel, Die Weinbauwirtschaft im Reichsgau Wien, Diss., Hochschule für Bodenkultur Wien 1943. Hans Öllinger, Untersuchungen über die Milchwirtschaft im Gau Kärnten, Diss., Hochschule für Bodenkultur Wien 1942, Vorwort.
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lösenden Dualismus zwischen einer angestrebten Rationalisierung des landwirtschaftlichen Sektors durch staatliche Eingriffe und ideologisch-kulturellen Wunschvorstellungen auf.60 Die Dissertationen der vierten Gruppe behandeln eine bestimmte Landschaft oder Region, ohne einen klar bestimmbaren fachlichen Schwerpunkt aufzuweisen. In einer Arbeit über den Kreis Zwettl wirbt der Autor um Investitionen sowie eine Intensivierung der Landwirtschaft, betont die „biologische Kraft“ der Bevölkerung und führt die Ahnentafel Adolf Hitlers an.61 Eine ähnliche Argumentation wird verwendet, wenn über die Menschen des Kuhländchens, einer historischen Region in Mähren, festgestellt wird, dass die „blonden Haare und blauen Augen […] deutlich ihre nordisch-germanische Herkunft erkennen“ lassen.62 Die Dissertation über die deutsche Sprachinsel in der Zips preist ebenso die Eigenschaften der dortigen Bevölkerung, deren Hauptaufgabe in der „Verteidigung gegen die slawische Kultur“ gesehen wird.63 Die Machtübernahme Hitlers wird als Rettung des „deutschen Bauern“ eingestuft. Die Arbeiten zeigen eine inhaltliche Zentrierung auf kulturelle Aspekte mit zahlreichen ideologischen Begrifflichkeiten. Die Dissertationen der fünften Gruppe stehen eng mit den beiden Lehrenden im Bereich der Bodenkunde, Franz Sekera und Walter Kubiena, in Verbindung. Eine Arbeit vergleicht die Eigenschaften von Böden im Waldviertel mit anderen Bodenproben unter Verwendung des von Kubiena entwickelten Dünnschliffverfahrens.64 Ein anderer Autor beruft sich in seiner Dissertation über die Phosphorgehalte von Böden oft direkt auf Sekera, wendet eine von diesem geschaffene Methode an und sieht die Ergebnisse als Bestätigung von dessen Forschungsergebnissen.65 In der Beurteilung berichtet Sekera selbst von einer direkten inhaltlichen Einflussnahme.66 In der dritten Dissertation werden Verfahren beider Lehrender angewandt und die Auswirkungen von Ackerrainen auf die Bodenqualität untersucht.67 In der Gruppe Boden zeigt sich eine enge Zu60 Vgl. Oberkrome, Ordnung, 186–196. 61 Johann Schlager, Eine landwirtschaftlich-pflanzenbauliche Monographie des Kreises Zwettl, Diss., Hochschule für Bodenkultur Wien 1944, 1. 62 Erwin Görig, Agrargeographie des Kuhländchens, Diss., Hochschule für Bodenkultur Wien 1944, 66–67. 63 Oskar Forberger, Das deutsche Bauerntum und die deutsche Landwirtschaft in der OberZips, Diss., Hochschule für Bodenkultur Wien 1944. 64 Arnold Proißl, Mikroskopische Untersuchungen über Bodenbildung im niederdonauischen Waldviertel, mit besonderer Rücksicht auf Ausgangsgestein und Standort, Diss., Hochschule für Bodenkultur Wien 1940. 65 Hans Widhalm, Die Phosphoraktivität des Bodens, Diss., Hochschule für Bodenkultur Wien 1940. 66 Rigorosenakt Hans Widhalm. AUfB, Rigorosenakte, 38/40. 67 Richard Köhler, Bodenbiologische Studien am Acker und Ackerrain, Diss., Hochschule für Bodenkultur Wien 1943.
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sammenarbeit zwischen Professoren und Dissertanten, verbunden mit auf Methodik und Laborversuche ausgerichteten Inhalten. Die sechste Gruppe beschäftigt sich mit der Weiterverarbeitung landwirtschaftlicher Produkte. Das Ziel einer Arbeit ist beispielsweise eine schnellere und somit effizientere Erzeugung von Milchprodukten, wobei die Versuche von privaten Firmen und dem Forschungsdienst finanziell unterstützt wurden.68 Eine andere Dissertation untersucht die Auswirkungen verschiedener Verpackungsmaterialien und -techniken auf die Haltbarkeit von Milchprodukten.69 Die Forschungsgegenstände dieser Arbeiten zeigen eine klare Abhängigkeit vom Verlauf des Kriegsgeschehens. Der Fokus liegt auf Pragmatik und Effizienz. Eine Besonderheit stellt die siebente Gruppe dar. Der Schwerpunkt der ersten Arbeit liegt auf dem öffentlichen Schulwesen Litauens.70 Die zweite Dissertation beschäftigt sich mit der Beratung von landwirtschaftlichen Betrieben in Bulgarien.71 Als erreichbare Ziele sind angeführt: Einkommens- und Ertragssteigerung, Autarkie sowie eine Aufwertung der Landwirtschaft gegenüber dem industriellen Sektor. Die Autoren bewerten die Problemstellungen in ihren Herkunftsländern aus mitteleuropäischer Perspektive und führen zahlreiche Vorschläge zur institutionellen Verbesserung an. Beiden wurde ihr Aufenthalt durch ein Stipendium finanziert. Insgesamt zeigt sich ein weites inhaltliches Spektrum innerhalb der untersuchten Dissertationen. Diese reichen von Untersuchungen antiker Schädelknochen über höchst politische und ideologische Schriften bis hin zu in sachlichem Stil aufgelisteten und interpretierten Labordaten (siehe Tabelle 1). Tabelle 1: Charakteristiken der festgestellten inhaltlichen Gruppen (Quelle: eigene Darstellung beruhend auf der Inhaltsanalyse der 37 Dissertationen) Anzahl der Inhaltliche Schwerpunkte Dissertationen Gruppe 1 (Pflanzen): Spezifische botanische Fragestellungen, 9 Spezialkulturen, Kooperation mit Forschungsinstitutionen 68 Walter Parenth, Untersuchungen über die Anwendungsmöglichkeit des Turbozerstäubers in der Milchwirtschaft, Diss., Hochschule für Bodenkultur Wien 1940. 69 Heinrich Brunner, Vergleichende Untersuchungen über den Einfluß verschiedener Arten der Lagerung, Verpackung und chemischen Konservierung auf die physikalisch-chemischen und mikrobiologischen Eigenschaften der Butter und Beobachtung ihrer Haltbarkeit, Diss., Hochschule für Bodenkultur Wien 1944. 70 Juozas Dauparas, Probleme des landwirtschaftlichen Bildungswesens in einem Bauernstaat und das landwirtschaftliche Bildungswesen in Litauen, Diss., Hochschule für Bodenkultur Wien 1939. Dauparas war zuvor als Lehrer und Schuldirektor tätig. Vgl. Rigorosenakt Juozas Dauparas. AUfB, Rigorosenakte, 13/39. 71 Michail Witanoff, Grundlagen und Methoden einer zeitgemäßen landwirtschaftlichen Beratung, unter Berücksichtigung der bulgarischen Verhältnisse, Diss., Hochschule für Bodenkultur Wien 1940.
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(Fortsetzung) Anzahl der Inhaltliche Schwerpunkte Dissertationen Gruppe 2 (Tiere): Eigenschaften von Nutztieren, Milchwirtschaft, 9 Tierzucht, Leistungsmerkmale Gruppe 3 (Wirtschaft): Staatliche Steuerungsmaßnahmen, Auswir7 kungen auf Märkte, betriebswirtschaftliche Untersuchungen 4 3 3 2
IV.
Gruppe 4 (Agrarraum): Fokus auf Region, starke ideologische Prägung, an breites Publikum gerichtet Gruppe 5 (Boden): Laborversuche, strenge bodenkundliche Methodik, enge Anbindung an Lehrende der Hochschule Gruppe 6 (Verarbeitung): Qualität und Effizienz, Produktionsoptimierung, Abhängigkeit vom Kriegsgeschehen Gruppe 7 (Bildung): Beschreibung landestypischer Verbesserungsmöglichkeiten im Bildungsbereich
Motive der Autorinnen und Autoren
Die Forschungsfrage für die in mehreren Schritten72 erfolgte Kategorienbildung der Inhaltsanalyse lautete: Welche Motive, Anlässe, Auslöser und Ziele werden von den Autorinnen und Autoren für das Verfassen der Dissertationen genannt? Nach dem Studium der Dissertationen und maßgeblicher Literatur wurden theoriegeleitete Kategorien erstellt. Das Kategoriensystem wurde laufend ergänzt oder verändert. So entstanden in Summe zehn Hauptkategorien, in welche alle anhand der Forschungsfrage erarbeiteten, zuvor kodierten Textstellen in 56 Unterkategorien eingeordnet wurden. Die unter dem Begriff Leistung gesammelten Motive umfassen Ziele wie allgemeine Leistungssteigerungen und eine räumliche oder zeitliche Ausweitung der Produktion. Ebenso zählen dazu die Verbesserung von Produktionsabläufen und -grundlagen sowie Effizienzsteigerungen. Mehrere Autorinnen und Autoren stellen Qualität in den Mittelpunkt ihrer Texte. Sie nennen das Streben nach einer längeren Haltbarkeit und dementsprechend geringen Qualitätsverlusten, einer höheren Wirksamkeit oder einer Veränderung der Zusammensetzung von Produkten. In eine ähnliche Richtung gehen Nennungen von Auslösern, welche als Notwendigkeiten zusammengefasst sind. Es werden neu gewonnene Daten bearbeitet oder Anpassungen an durch den Krieg stark veränderte Produktionsbedingungen gesucht. Weiters finden sich Motive, welche stark ideologisch 72 Vgl. Helena Bilandzic/Friederike Koschel/Bertram Scheufele, Theoretisch-heuristische Segmentierung im Prozeß der empiriegeleiteten Kategorienbildung, in: Wirth/Lauf (Hg.), Inhaltsanalyse, 98–116.
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und kulturell geprägt sind. Diese werden als völkische Kultur bezeichnet. Dabei handelt es sich um den Erhalt des „germanischen Erbes“ oder die Sicherung der „deutschen Kultur“ und „bäuerlichen Lebensweise“. Im Kontrast dazu stehen Betonungen der Wissenschaftlichkeit – Untersuchungen sollen am bestehenden Forschungsstand anschließen, vorhandene Lücken ersetzen oder neue Forschungsmethoden etablieren. Mehrere Arbeiten beschreiben einen externen Einfluss. Sie sind von Professoren vorgegeben, Teil eines Forschungsprojekts oder bearbeiten von öffentlicher Seite bereitgestellte Datensätze. Im Gegensatz dazu nennen manche Autorinnen und Autoren explizit persönliche Gründe. Diese können sich als Interesse an der bearbeiteten Thematik, dem individuellen Berufsweg oder der Herkunft ausdrücken. Ein größeres Feld bildet die Kategorie staatliche Politik. Diese repräsentiert, teils vermeintliche, staatliche oder gesamtgesellschaftliche Interessen. Dazu zählen das Erreichen von Ernährungssicherheit, Rohstoffautarkie oder die Steuerung von Siedlungsaktivitäten. Daneben werden mitunter rein wirtschaftliche Ziele angegeben – neben betriebswirtschaftlichen Gesichtspunkten etwa die Analyse konkreter Auswirkungen auf den Markt durch gesetzte Normen und Einschränkungen. Schließlich gibt es noch sonstige Angaben, wozu etwa die Renaturierung von Lebensräumen zählt. Für die quantitative Weiterverarbeitung wurden die Ergebnisse auf ein ordinales Datenniveau gebracht. Den einzelnen Unterkategorien wurden, je nach Vorkommen in den Texten, Zahlenwerte zwischen 0 (vollkommenes Fehlen) und 3 (stark prägend) zugewiesen. Dies ermöglicht ein Rekonstruieren des zeitlichen Verlaufs der Ausprägungen. Während die Werte für Wissenschaftlichkeit und Leistung im Durchschnitt abnehmen, erreichen die Kategorien völkische Kultur, wirtschaftliche Ziele und staatliche Politik ihre höchsten Ausprägungen erst in den späten Kriegsjahren. Die Kategorie Notwendigkeiten wird in den ersten beiden Jahren kein einziges Mal genannt. Qualität, externer Einfluss, persönliche Gründe und sonstige Angaben zeigen keine eindeutigen Tendenzen über den Untersuchungszeitraum.
V.
Dimensionen und Forschungsansätze des Diskursfelds
Die Methode der Hauptkomponentenanalyse ermöglicht die Darstellung eines umfassenden Datensatzes anhand weniger, die Variablen zusammenfassender Faktoren.73 Diese Faktoren, in weiterer Folge Dimensionen genannt, ergeben einen mehrdimensionalen Raum. In diesem können die einzelnen Dissertationen aufgrund der in der Inhaltsanalyse generierten Daten für die einzelnen Unterkategorien verortet werden. Die im hierarchischen Verfahren durchge73 Backhaus/Erichson/Plinke/Weiber, Multivariate Analysemethoden, 413.
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qualita"v
führte Clusteranalyse gruppiert die untersuchten Dissertationen in zueinander heterogene Cluster, die in sich relativ homogen sind.74 Diese werden in der Beschreibung auch als Forschungsansätze bezeichnet, da sie Rückschlüsse auf dissertationsübergreifende Grundsätze in der wissenschaftlichen Herangehensweise erlauben. Der Ablauf der Teilschritte ist in Abbildung 1 dargestellt. Theoriegeleitete Bildung von Hauptkategorien
Offene Inhaltsanalyse, Einordnung und Ergänzung
Codiertes System aus Kategorien und Unterkategorien
quan"ta"v
Vergabe ordinaler Zahlenwerte Hauptkomponentenanalyse (Diskursfeld) Clusteranalyse (Forschungsansätze)
Abbildung 1: Qualitative und quantitative Teilschritte der Untersuchung. (Quelle: eigene Darstellung)
Auf der negativ korrelierten Seite der ersten durch die Hauptkomponentenanalyse bestimmten Dimension stehen Motive wie der Anschluss an bestehende Forschung, die Wichtigkeit des Themas oder die Sicherung von Qualität. Hohe positive Korrelationswerte zeigen Variablen der Kategorien wirtschaftliche Ziele und völkische Kultur. Eine besonders große Rolle spielen die bäuerliche Kultur und die Absicherung der ländlichen Bevölkerung, sowohl räumlich als auch ökonomisch. Diese Dimension lässt sich somit als Spannungsfeld zwischen wissenschaftlichen und völkisch-wirtschaftlichen Motiven skizzieren. Produktionstechnische Variablen liefern einen hohen negativ korrelierten Beitrag zur zweiten Dimension. Dazu gehören fast alle Motive der Kategorien Leistung und Qualität. Insbesondere der Praxisbezug der Forschung, eigene Berufserfahrungen, aber auch die Wichtigkeit für Autarkie oder Ernährungssicherheit zeugen von dem Fokus auf Erzeugung. Demgegenüber stehen Variablen wie die Betonung des historischen germanischen Erbes oder das Ziel, die Kenntnisse über 74 Ebd., 455.
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eine bestimmte Region zu erhöhen. Ebenso positiv korreliert sind Siedlungspolitik, neu gewonnene Staatsgebiete oder die Herkunft der Autorinnen und Autoren. Bei den Motiven spielen Wissenschaftlichkeit oder volkswirtschaftliche Ziele eine marginale Rolle. Damit beschreibt diese Dimension vor allem das Spannungsfeld zwischen produktionstechnischen und kulturräumlichen Motiven. Es lässt sich hier deutlich ein Kontrast zwischen materiellen und ideologischen Motiven erkennen. Das aus der Kombination der beiden Dimensionen entstehende Diskursfeld veranschaulicht die Anordnung der Dissertationen. Der größte Teil der Unterkategorien zeigt positive Korrelationen zur ersten Dimension, was auf eine hohe Bedeutung politischer Zielsetzungen verweist. Während sich die innerwissenschaftlich ausgerichteten Dissertationen zum Konfliktfeld zwischen Ideologie und materieller Produktion eher neutral zeigen, beschreibt die auffallende Streuung der auf staatliche Interessen orientierten Texte eine Teilung der diesbezüglichen Zielsetzungen. Die Anordnung die Dissertationen im zweidimensionalen Diskursfeld lässt drei Forschungsansätze erkennen. Die 13 Arbeiten des Ansatzes Produktionsorientierung bilden zwei Subcluster. Im ersten beschäftigen sich vier Dissertationen mit Wein-, Obst- und Gemüsebau sowie drei mit Milchwirtschaft und -produktion. Typisch ist die Verbindung von innerwissenschaftlichen und produktionstechnischen Fragen. Der zweite Subcluster zeigt einen markanten Fokus auf Leistungsaspekte. Er kombiniert produktionstechnische und agrarpolitische Motive. Das Ziel ist die durch den Krieg notwendige Effizienzsteigerung, ohne offenkundige ideologische oder kulturelle Elemente. Dieser Cluster enthält alle Dissertationen der inhaltlichen Gruppe Verarbeitung, jeweils vier aus Pflanzen und Tiere sowie zwei aus Wirtschaft. Die Motive rein produktionstechnischer Forschungen präsentieren sich als teilweise eindeutig von staatlichen Vorgaben abhängig. Der Forschungsansatz Volks- und Wirtschaftsraum besteht aus zwei Subclustern mit jeweils sieben Dissertationen, wobei sich fast alle mit einem bestimmten geografischen Gebiet beschäftigen. Der erste Subcluster steht im starken Gegensatz zu rein wissenschaftlichen Forschungsmotiven. Dabei dominieren agrarpolitische Ziele. Der zweite umfasst ideologische und regionale Motive; wirtschaftliche Ausrichtung besitzt keinen hohen Stellenwert und leistungsbezogene Variablen fehlen überwiegend. Der Cluster beinhaltet alle Arbeiten aus den Gruppen Agrarraum und Bildung, drei aus der Gruppe Wirtschaft, drei aus der Gruppe Tiere und zwei aus der Gruppe Pflanzen. Die Motivation der Erforschung geografisch-kultureller Besonderheiten und die Betonung der angeblichen biologischen Eigenschaften der Bevölkerung stehen im frappanten Widerspruch zu an hochschulinternen Arbeitsplätzen durchgeführten Laborarbeiten.
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D2: produk"onstechnische vs. kulturräumliche Mo"ve
Der Forschungsansatz Grundlagenforschung umfasst zehn Arbeiten und besitzt eine relativ homogene Ausrichtung. Alle Dissertationen weisen signifikant negative Werte für die erste Dimension auf. Staat und Ideologie spielen scheinbar eine untergeordnete Rolle. Ebenso werden kaum produktionstechnische Ziele genannt. Der Forschungsansatz der Produktionsorientierung zeigt über den gesamten Untersuchungszeitraum eine relativ gleichmäßige Verteilung, welche auch mit der Gesamtzahl der Dissertationen korreliert. Dies lässt auf eine gleichbleibende Relevanz der Motive Leistungs- und Qualitätssteigerung schließen. Der Schwerpunkt des Ansatzes Volks- und Wirtschaftsraum liegt in den letzten Kriegsjahren, nur eine Arbeit wurde vor dem Jahr 1941 fertiggestellt. Die charakteristischen ideologischen, kulturellen und gesellschaftspolitischen Motive scheinen im Laufe der Jahre an Bedeutung gewonnen zu haben. Diese These wird durch die Entwicklung des Ansatzes Grundlagenforschung bestärkt. Nur eine Dissertation wurde in den letzten beiden Jahren des Untersuchungszeitraums abgeschlossen. Die Einordnung der Dissertationen und Forschungsansätze lässt sich auf Abbildung 2 ablesen. Zusätzlich sind die Stellungen der in den Einzelfallanalysen näher untersuchten Dissertationen eingetragen.
Conrad
Grundlagenforschung Volks- und Wirtscha!sraum
Proißl
Produk"onsorientierung Primavesi
D1: wissenscha!liche vs. völkisch-wirtscha!liche Mo"ve
Abbildung 2: Anordnung der Dissertationen im Diskursfeld. (Quelle: eigene Darstellung beruhend auf der Inhalts-, Hauptkomponenten- und Clusteranalyse der 37 Dissertationen)
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VI.
381
„Staatliche Produktionssteuerung“, „Germanisierung des Ostens“ und „Hochschulinterne Grundlagenforschung“
Zur Vertiefung der bisherigen Ergebnisse werden an drei Fallbeispielen die Lebensläufe, Inhalte sowie politisch-ökonomischen Kontexte genauer analysiert. Die Position der Arbeit „Aufbau und Entwicklungstendenzen der ostmärkischen Zuckerwirtschaft“ von Artur Primavesi im Diskursfeld lässt auf eine gesellschaftspolitisch orientierte Untersuchung mit einem besonderen Augenmerk auf Produktionstechnik schließen. Der Fokus der Motive liegt auf den Kategorien Leistung, Notwendigkeiten durch den Krieg und staatliche Politik. Auffallend ist das Fehlen der Kategorien völkische Kultur und externer Einfluss. Primavesi selbst wurde 1918 in Jägerndorf im Sudetenland geboren und absolvierte ein Studium an der Hochschule Tetschen-Liebwerd.75 Die Bewertung der Arbeit durch die Begutachter war durchwegs positiv. Die Dissertation war Teil eines hochschulübergreifenden Forschungsprojekts, in welchem Arbeiten an der Universität Wien, der Hochschule für Welthandel sowie der Hochschule für Bodenkultur die „ostmärkische Zuckerwirtschaft“ aus verschiedenen Blickwinkeln betrachteten.76 Auf einen historischen Abriss der Zuckererzeugung bis zum Ende der Unabhängigkeit Österreichs folgen eine volkswirtschaftliche Betrachtung und eine Beschreibung einer möglichen zukünftigen Entwicklung der Zuckerindustrie. Die Lage nach dem Ersten Weltkrieg wird grundsätzlich positiv beschrieben. Eventuelle Probleme seien „aus reinen Zweckmäßigkeitsgründen und kalten politischen Berechnungen der Weststaaten“ erwachsen.77 Durch die Annexion der Sudetengebiete und den Krieg haben sich große Veränderungen ergeben. Als Ziel wird eine möglichst hohe Autarkie genannt, welche durch Verfütterung des Rübenblatts, eine Verringerung der Produktionskosten sowie eine Einschränkung der Zuckergroßhändler erreicht werden soll. Primavesi empfiehlt für die Kriegsdauer einen Ausbau des Zuckerrübenanbaues, verbunden mit steuerlichen Adaptionen und Protektionismus.78 Bereits vor Ausbruch des Krieges war Zucker als Nahrungsmittel durch die nationalsozialistische Agrarpolitik aktiv gefördert worden. Das Ziel war, die Bevölkerung zum stärkeren Konsum von Zuckerprodukten zu motivieren.79 Durch die gleichbleibenden festgelegten Preise stieg der Verbrauch tatsächlich enorm an und in Ermangelung von Importmöglichkeiten auch die Anbauflächen.80 Die Arbeit beschäftigt sich mit der möglichst effizienten Integration des ehemaligen 75 76 77 78 79 80
Rigorosen Protokoll II 1940–1964, 546. AUfB. Rigorosenakt Artur Primavesi. AUfB, Rigorosenakte, 4/41. Primavesi, Zuckerwirtschaft, 75. Ebd., 126–127. Corni/Gies, Brot, 155. Ebd., 481.
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Österreichs, des Sudetenlands sowie des Protektorats Böhmen und Mähren in den wirtschaftlichen Rahmen des Deutschen Reichs. Diese Miteinbeziehung neuer Agrargebiete bildete einen wichtigen Bestandteil agrarwissenschaftlicher Forschung im Nationalsozialismus.81 Die Dissertation steht für eine staatlichwirtschaftliche Motivation mit dem Ziel einer Optimierung der Produktionsverhältnisse unter veränderten geopolitischen Umständen. Eine in vielerlei Hinsicht exponierte Arbeit ist „Erzeugungsgrundlagen und Entwicklungsmöglichkeiten der Landwirtschaft im neuen Warthegau“ von Annemarie Conrad. Im Mittelpunkt der genannten Motive stehen kulturelle und staatliche Unterkategorien. Auffällig ist das komplette Fehlen der Kategorien Grundlagenforschung und Qualität. Conrad wurde am 3. Oktober 1920 geboren und war somit bei der Ablegung des Rigorosums erst 22 Jahre alt.82 Sie trat 1935 dem illegalen Bund Deutscher Mädel bei und wurde dort Ringführerin. 1937 wurde sie deshalb im Alter von 16 Jahren zu 14 Tagen Gefängnis verurteilt und von ihrer Schule verwiesen. Sie erwähnt in ihrem Lebenslauf eine freiwillige Meldung beim Reichsarbeitsdienst während des Feldzugs gegen Polen. Sie war in der Planungsabteilung des „Ansiedlungsstabs Litzmannstadt“ tätig, in welcher die genauen Entwürfe für zwangsweise Aus- und Umsiedlungen mitentwickelt wurden.83 Später leitete sie einen Studenteneinsatz für das Bodenamt Metz, wobei sie für Bodenschätzung und Siedlerberatung zuständig war.84 Ihr Lebenslauf entspricht dem „notwendigen Abwenden von der ,Studierstube‘“85, das Konrad Meyer, welcher als einer der wichtigsten Akteure innerhalb des Systems der Agrarforschung maßgeblich an den Planungen für die Neugestaltung des osteuropäischen Raums beteiligt war, für die Siedlungsarbeit gefordert hat.86 Die Begutachtung erfolgte durch Heinz Haushofer und Ludwig Löhr, die als Experten für Agrarpolitik und -ökonomik eine besondere Stellung innerhalb der agrarischen nationalsozialistischen Wissensgesellschaft aufwiesen.87 Löhrs Begut81 Heim, Kalorien, 17. 82 Rigorosenakt Annemarie Conrad. AUfB, Rigorosenakte, 14/42. 83 Vgl. Michael Fahlbusch, Wissenschaft im Dienst der nationalsozialistischen Politik? Die „Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften“ von 1931–1945, Baden-Baden 1999, 517–519. 84 Auch die Bodenämter leisteten einen entscheidenden wissenschaftlichen Beitrag zu den Umsiedelungsplänen. Vgl. Götz Aly/Susanne Heim, Vordenker der Vernichtung. Auschwitz und die deutschen Pläne für eine neue europäische Ordnung, Hamburg, 1991, 147. 85 Zit. n. Isabel Heinemann, Wissenschaft und Homogenisierungsplanungen für Osteuropa. Konrad Meyer, der „Generalplan Ost“ und die Deutsche Forschungsgemeinschaft, in: Isabel Heinemann/Patrick Wagner (Hg.), Wissenschaft – Planung – Vertreibung. Neuordnungskonzepte und Umsiedlungspolitik im 20. Jahrhundert (Beiträge zur Geschichte der Deutschen Forschungsgemeinschaft 1), Stuttgart 2006, 45–72, 63. 86 Vgl. Uwe Mai, „Rasse und Raum“. Agrarpolitik, Sozial- und Raumplanung im NS-Staat, Paderborn 2002, 337–338. 87 Vgl. Langthaler, Schlachtfelder, 500–501. Haushofer wurde nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs zu einem vielzitierten Vertreter der deutschen Agrargeschichtsschreibung. Als
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achtung besteht aus dem kurzen Urteil, dass die Arbeit den inhaltlichen und technischen Ansprüchen des Instituts für Agrarpolitik genüge, jedoch nicht druckreif sei.88 Haushofer spricht von einer „ausgesprochenen politischen Veranlassung“ und von „Vorteilen und Nachteilen einer solchen Entstehung“. Er sieht als Folge der vorangegangenen Tätigkeiten Conrads „jene Frische […] die allein eine praktische Lösung […] ermöglicht“, wobei er bemängelt, dass „vielfach nicht der Versuch gemacht worden [ist], die geschilderten Tatsachen in einen wissenschaftlichen Zusammenhang zu bringen.“ Trotz der von ihm attestierten Schwächen sei die Autorin zum Rigorosum zuzulassen.89 Ob des politischen Gehalts der Dissertation wurde diese von der „Parteiamtlichen Prüfungskommission zum Schutze des nationalsozialistischen Schrifttums“ kontrolliert und im Juni 1944 in die NS-Bibliografie aufgenommen. Die Dissertation beginnt mit einer allgemeinen geografischen Beschreibung des Warthegaues und seiner landwirtschaftlichen Strukturen. Die Autorin hebt die Wichtigkeit der Region hervor, „ganz gleichgültig, ob die Grenze des deutschen Reiches an der Weichsel oder am Dnjepr liegen wird.“90 Die polnische Bevölkerung wird als willenslos, schwach und sich anbiedernd bezeichnet.91 Sie soll komplett ersetzt werden und lediglich einen Bedarf an Landarbeitskräften decken. Es folgt ein genau beschriebener Durchführungsplan zur Ansiedlung von etwa 380.000 Personen unter „politischen Gesichtspunkten“.92 Unterschiedlich hohe Nahrungsmittelzuteilungen seien keine Bestrafung, sondern eine logische Konsequenz, da „der Pole von je her viel primitiver gelebt hat“; die Landtechnik sei in schlechtem Zustand, „weil der Bauer sehr faul“ war.93 Allen negativen Urteilen werden die positiven Merkmale des „deutschen Bauern“ gegenübergestellt. Im Warthegau sollte ein „Bauernland“ entstehen, in dem die Deutschen ein gesichertes wirtschaftliches Auskommen finden und so ein „Bollwerk des deutschen Volkstums“ errichten sollen, um dieses „weiter nach dem Osten vorzutragen.“94 Die Dissertation spiegelt beinahe detailgetreu die als „Generalplan Ost“ bekannten nationalsozialistischen Konzepte zur Neuordnung der in Osteuropa
88 89 90 91 92 93 94
Beispiel: Heinz Haushofer, Ideengeschichte der Agrarwirtschaft und Agrarpolitik im deutschen Sprachgebiet, 2. Band, Vom ersten Weltkrieg bis zur Gegenwart, München 1958. Rigorosenakt Annemarie Conrad. Die Begutachtung erfolgte erst im Juni 1943, als Haushofer unabkömmlich gestellt wurde. Zuvor war er, nach eigenen Worten, „als Kanonier sozusagen durch die grosse Wurstmaschine getrieben“ worden. Annemarie Conrad, Erzeugungsgrundlagen und Entwicklungsmöglichkeiten der Landwirtschaft im neuen Warthegau, Diss., Hochschule für Bodenkultur Wien 1943, 4. Ebd., 54. Ebd., 49–52. Ebd., 59–68. Ebd., 132–134.
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eroberten Gebiete wider.95 Dabei sind die Pläne durch drei grundlegende Eigenschaften gekennzeichnet: „durch extremen Rassismus und geplante umfangreiche Deportationen ,rassisch unerwünschter Menschen‘, durch die vorgesehene Ansiedlung von Deutschen, Deutschstämmigen und Angehörigen ,germanischer Völker‘ und durch die angestrebte Versklavung der autochthonen Bevölkerung“.96 Das beschriebene „Wehrbauernkonzept“ sah die polnische Bevölkerung als Arbeitssklaven unter deutscher Führung vor.97 Den im Warthegau etwa 500.000 vertriebenen Polinnen und Polen standen „110.000 Siedlerstellen mit einer Anbaufläche von fast 800.000 Hektar“ gegenüber.98 Die Dissertation dient als eindeutiges Beispiel für die aktive Mitarbeit von Hochschulen als wissenschaftliche Institutionen an politischen und ideologischen Planungen des NS-Regimes. Auf den ersten Blick erscheint die Arbeit „Mikroskopische Untersuchungen über Bodenbildung im niederdonauischen Waldviertel, mit besonderer Rücksicht auf Ausgangsgestein und Standort“ als gegenteilig zu Conrad. Die Stellung im Diskursfeld signalisiert eine innerwissenschaftliche Ausrichtung. Proißl wurde 1912 in Waidhofen an der Thaya geboren und absolvierte zwischen 1930 und 1934 das Studium der Landwirtschaft an der Hochschule für Bodenkultur.99 Zwischen Februar 1938 und September 1939 forschte er als wissenschaftliche Hilfskraft an seiner Dissertation bei Kubiena. Die Jahre danach arbeitete er als „Assistentenverwalter“ an der Hochschule. Seine vorhergegangene Stellenlosigkeit nach 1934 begründete er mit seinem öffentlichen Bekenntnis zum Nationalsozialismus.100 Die Begutachtung hebt den wissenschaftlichen Wert der Dissertation, „bodenkundlich hochstehend und richtungsweisend“, und die Anwendung neuer Methoden hervor.101 Tatsächlich weist sie einen, im Vergleich zu anderen Dissertationen, beeindruckenden Umfang auf. Proißl gibt einen geologischen und klimatologischen Überblick über die Untersuchungsregion, auf welchen Mineralanalysen folgen. Die Ergebnisse werden mit Böden anderer Gebiete verglichen und diskutiert. Der Autor orientiert sich direkt an der Person 95 Vgl. Czeslaw Madajczyk (Hg.), Vom Generalplan Ost zum Generalsiedlungsplan (Einzelveröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin 80), München 1994. 96 Heinemann, Wissenschaft, 53. 97 Lilli Segal, Im Osten sollte ein kulturloses Sklavenvolk einer germanischen Herrenrasse dienen, in: Brentjes (Hg.), Wissenschaft, 89–106, 92. 98 Corni/Gies, Brot, 507. 99 Rigorosenakt Arnold Proißl. AUfB, Rigorosenakte, 30/39. 100 Der – im Gegensatz zu vielen anderen dieser Zeit – im Archiv aufliegende Personalakt zeigt seine nach dem Ende des Krieges veränderte Perspektive. Sein Dienstverhältnis wurde im Juni 1945 aufgehoben. Er gibt in einem Schreiben an die Bundesregierung an, seine Angaben zur Mitgliedschaft bei SA und NSDAP nur gemacht zu haben, um seine „materielle Not zu beenden“. 101 Rigorosenakt Proißl.
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Kubiena und dem von diesem entwickelten Bodendünnschliffverfahren.102 Die Ausführungen zeugen von einer stringenten wissenschaftlichen Vorgehensweise. Tatsächlich stellt er deutliche Übereinstimmungen zwischen den Bodenproben des Waldviertels sowie anderer Regionen fest und gibt konkrete Vorschläge für mögliche anschließende Forschungsprojekte.103 Beschränkt man den Blick auf die Untersuchung als solche, sind keine ideologischen Aspekte erkennbar. Sie erscheint nüchtern, scheinbar abgehoben von den politischen und wirtschaftlichen Umständen. Dabei war der Begriff Boden im Nationalsozialismus ein Kampfbegriff. Er war als „Wurzelgrund rassisch wertvoller Geschlechter“ die „Grundlage der Wirtschaft und der Ernährung des Volkes“ und „lebenswichtig für das Volksganze“.104 Die „Zehn Gebote der Ernährungsschlacht“ empfahlen eine intensivere Bodennutzung, eine verbesserte Düngung sowie Meliorationen.105 Unter diesen Voraussetzungen erscheint die Anwendung neuer Bewertungs- und Analysemethoden von hoher politischer Bedeutung. Genaue Kenntnisse der Bodeneigenschaften waren angesichts der Düngemittelknappheit unerlässlich.106 Das Waldviertel mit seiner eher extensiven Bewirtschaftung und Böden mit geringer Qualität erscheint als ideales Untersuchungsgebiet. Erst in der genaueren Untersuchung zeigt sich auch die persönliche Nähe des Autors zum Nationalsozialismus. Das von Kubiena geleitete Institut für Geologie und Bodenkunde wurde als „kriegswichtiger Betrieb“ eingestuft.107 Er selbst erhielt noch 1945 das Kriegsverdienstkreuz „für seine bodenkartografischen Arbeiten im Dienste der Wehrmacht“.108
VII.
Resümee
Thematisch sind in den Dissertationen mehrere Schwerpunkte erkennbar, wobei sich ein erheblicher Teil mit pflanzlichen und tierischen Fragestellungen beschäftigt. Eine auf inhaltliche Gesichtspunkte beschränkte Einteilung erscheint aufgrund der inneren Heterogenität in Bezug auf Entstehungskontext und Fra102 Proißl, Mikroskopische Verfahren, 4–7. 103 Ebd., 102–104. 104 Hans Bach, Bauer und Boden. Leitfaden zur nationalsozialistischen Landpolitik, Leipzig 1942, 80–81. 105 Daniela Münkel, Nationalsozialistische Agrarpolitik und Bauernalltag (Campus Forschung 735), Frankfurt am Main/New York 1996, 110. 106 Gustavo Corni/Horst Gies, Blut und Boden. Rassenideologie und Agrarpolitik im Staat Hitlers (Historisches Seminar – Neue Folge 5), Idstein 1994, 61. Aus diesem Blickwinkel ist auch die Dissertation von Köhler zu betrachten, deren Thematik und Schlüsse für die Praxis durchaus von modernen Ökologen vertreten werden könnten. 107 Ebner, Hochschule, 159. 108 Ebd.
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gestellungen als nur bedingt sinnvoll. Die Rigorosenakte belegen unmittelbare Eingriffe politischer Stellen in die Verfahren. Das Kriegsgeschehen hatte erhebliche organisatorische und inhaltliche Auswirkungen auf die Dissertationen. Während die Autorinnen und Autoren einige der Motive und Ziele über den ganzen Untersuchungszeitraum anführen, zeigen sich bei anderen erhebliche Schwankungen und Häufungen. Durch die Hauptkomponentenanalyse wurden zwei maßgebliche Dimensionen dargelegt. Während die erste das Spannungsfeld zwischen wissenschaftlichen und völkisch-wirtschaftlichen Zielen beschreibt, stehen sich in der zweiten produktionstechnische und kulturräumliche Aspekte gegenüber. Im aus den Dimensionen gebildeten Diskursfeld wurden drei Forschungsansätze festgestellt. Die zeitliche Entwicklung zeigt eine Tendenz zum Forschungsansatz Volks- und Wirtschaftsraum bei gleichbleibender Bedeutung der Produktionsorientierung und abnehmender Grundlagenforschung. Die Fallanalysen ergänzen die Beobachtungen anhand der individuellen Lebensläufe und Forschungskontexte. Die Akteure und Akteurinnen der Wissensgesellschaft waren in ein vielseitiges Netzwerk eingebunden, weshalb man von keinem einseitigen Verhältnis sprechen kann – die Abhängigkeiten und Räume wurden im politischen und gesellschaftlichen Kontext ständig neu verhandelt.109 Kein einziges der im Untersuchungszeitraum untersuchten Beispiele zeigt einen Widerspruch zu den Zielen nationalsozialistischer Agrarforschung. Es finden sich keine Hinweise auf eine Ambivalenz der Forschung im Sinne von Alternativwegen oder Gegentendenzen zu vorgegebenen oder angepassten Denkmustern.110 Die von Ebner durchgeführte Zweiteilung in eine „wertfreie“111 und eine „völkische“ Wissenschaft an der Hochschule lässt sich um eine dritte Gruppe, angewandte Wissenschaft, ergänzen. Diese orientierte sich stark an politischen und wirtschaftlichen Bedürfnissen, ohne sich offen als ideologisch darzustellen. Die Entwicklung der Motive deutet auf einen sich steigernden Einfluss der Ideologie bei gleichbleibender Wichtigkeit der Anwendbarkeit hin: „Die wissenschaftliche Praxis stand erst im Dienst nationalsozialistischer Autarkievorstellungen und später des ,Endsiegs‘“.112 Ersichtlich ist dies bei der in mehreren Dissertationen betriebenen Volkstumsforschung, welche innerhalb der natio109 Vgl. Margit Szöllösi-Janze, National Socialism and the Sciences: Reflections, Conclusions and Historical Perspectives, in: Szöllösi-Janze (Hg.), Science, 1–36; Mitchell Ash, Wissenschaft und Politik als Ressourcen für einander, in: vom Bruch/Kaderas (Hg.), Wissenschaften, 32–51. 110 Vgl. Carola Sachse, Visionen, Expertisen, Kooperationen: Forschen für das „Dritte Reich“ – Beispiele aus der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, in: Gerhard Hirschfeld/Tobias Jersak (Hg.), Karrieren im Nationalsozialismus. Funktionseliten zwischen Mitwirkung und Distanz, Frankfurt am Main/New York 2004, 265–290, 280–283. 111 Gerade die scheinbar wertfreien Dissertationen waren häufig eng personell und institutionell mit staatlichen Stellen und Förderprogrammen verflochten. 112 Sieg, Strukturwandel, 265.
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nalsozialistischen Wissenschaftspolitik einen Beitrag zur Aufrechterhaltung der Moral leisten sollte.113 Neben Forschung nach dem utilitaristischen Motto „gut ist, was nützt“ – teilweise ohne Rücksicht auf wissenschaftliche Arbeitstechniken – wurde „normale“ Wissenschaft nach aktuellen und professionellen Standards durchgeführt.114 Auch Grundlagenforschung konnte von Nutzen für die Ziele des NS-Regimes sein.115 Dissertationen der Hochschule für Bodenkultur zeigen sich in ihren Inhalten und Themen als Beispiele für eine Selbstmobilisierung für nationalsozialistische Forschungsagenden116 – dies umso mehr, als die meisten Dissertationen keine konkreten Auftraggeber aufweisen und die Inhalte an eine wissenschaftliche Fachwelt gerichtet sind.117 Die Institutionen der Hochschule unterstützten dieses Vorgehen indirekt durch positive Begutachtungen und Rahmenbedingungen sowie direkt durch Themenvorgaben und -vermittlung.118
113 Vgl. Michael Fahlbusch, Für Volk, Führer und Reich! Die Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften und Volkstumspolitik, 1931–1945, in: Doris Kaufmann (Hg.), der KaiserWilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus. Bestandsaufnahme und Perspektiven der Forschung, Göttingen 2000, 468–489. 114 Szöllösi-Janze, National Socialism, 12–14. 115 Vgl. Michael Grüttner, Wissenschaftspolitik im Nationalsozialismus, in: Kaufmann (Hg.), Geschichte, 557–585. 116 Vgl. Noran DinÅkal/Christoph Dipper/Detlev Mares (Hg.), Selbstmobilisierung der Wissenschaft. Technische Hochschulen im „Dritten Reich“, Darmstadt 2009. 117 Vgl. Susanne Heim, „Vorderdenker der Vernichtung“. Wissenschaftliche Experten als Berater der nationalsozialistischen Politik, in: Kaufmann (Hg.), Geschichte, 77–91, 87–89. 118 Zielführende Ergänzungen für die von Umfang und Zeitressourcen begrenzte Untersuchung wären die Ausweitung des Untersuchungszeitraums, mit dem Ziel Kontinuitäten und Brüche darzustellen, sowie die Miteinbeziehung von Habilitationsverfahren und Publikationen des Lehrkörpers.
zeitgeschichte extra
Melanie Dejnega
Nationalsozialismus und Zwangsmigration. Opferidentität und (Mit-)Täterschaft in lebensgeschichtlichen Interviews mit „volksdeutschen“ Evakuierten, Geflüchteten und Vertriebenen in Österreich1
Bis zu zwölf Millionen Angehörige der „deutschen“2 Minderheiten in Ostmittelund Südosteuropa mussten zwischen 1944 und 1948 ihre Herkunftsländer verlassen. Neben Deutschland war Österreich eines ihrer Hauptaufnahmeländer : Rund eine Million strandete dort, um die 400.000 der großteils aus der Tschechoslowakei, Jugoslawien und Rumänien stammenden MigrantInnen blieben und errichteten dort ihren neuen Lebensmittelpunkt.3 Hatten sie während des Zweiten Weltkriegs noch als Teil der „Volksgemeinschaft“ zu „Komplizen“4 des 1 Die Forschungsarbeit für diesen Beitrag konnte mit freundlicher Unterstützung der Gerda Henkel Stiftung und des Zukunftsfonds der Republik Österreich stattfinden. 2 Ein zentraler theoretischer Ausgangspunkt dieses Beitrags ist die Vorstellung von Nationen (und nationalen Gruppen) als „imaginierte Gemeinschaften“ (Benedict Anderson). Zahlreiche historische Studien haben sich ausgehend davon mit dem Prozess der Herstellung nationaler Gruppenidentitäten in der Tschechoslowakei und Jugoslawien beschäftigt. Pieter Judson, Changing Meanings of „German“ in Habsburg Central Europe, in: Charles Ingrao/ Franz Szabo (Hg.), The Germans and the East, West Lafayette 2008, 109–128; Tara Zahra, Kidnapped Souls. National Indifference and the Battle for Children in the Bohemian Lands, 1900–1948, Ithaca 2009; Carl Bethke, Deutsche und ungarische Minderheiten in Kroatien und der Vojvodina 1918–1941. Identitätsentwürfe und ethnopolitische Mobilisierung, Wiesbaden 2009. Obwohl es gerade vor diesem Hintergrund richtig wäre, das Attribut „deutsch“ zur Bezeichnung der Bevölkerungsgruppe in der Tschechoslowakei und Jugoslawien unter Anführungszeichen zu setzen, werde ich aus Gründen der besseren Lesbarkeit in diesem Beitrag darauf verzichten. Um eine unhinterfragte Fortschreibung essentialisierender nationaler Kategorien im Text zu verhindern, habe ich Alternativ auch „deutschsprachig“ als Bezeichnung für die Bevölkerung verwendet. 3 Diese Zahl nennt Andreas Weigl unter Verweis auf Daten der Statistik Austria. Andreas Weigl, Migration und Integration, Innsbruck 2009, 16. Tony Radspieler führt zum Stichtag 30. Juni 1952 knappe 350.000 „ethnic Germans“ in Österreich an, siehe Tony Radspieler, The Ethnic German Refugee in Austria. 1945 to 1954, The Hague 1955, 36. In diese Zahl sind allerdings jene nicht mit einberechnet, die sich vorübergehend in Österreich aufhielten. 4 Nach Hannah Arendt hegten „accomplices“ Sympathie für Hitler und den Nationalsozialismus und sind somit für in seinem Namen begangene Verbrechen verantwortlich. Siehe Hannah Arendt, Organized Guilt and Universal Responsibility (1945), in: Hannah Arendt, Essays in Understanding 1930–1954: Formation, Exile and Totalitarianism, New York 2005, 121–132, 124–125.
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NS-Systems gezählt, waren sie nur wenige Jahre später zu VerliererInnen des Krieges geworden: Sein Ende bedeutete für sie nicht nur den Verlust ihrer (rassistisch begründeten) politischen und gesellschaftlichen Vormachtstellung, sondern mündete direkt in gegen sie gerichtete Maßnahmen, von Ausweisung und Enteignung bis hin zu physischer Gewalt, Internierung und Zwangsarbeit. Bei der Tradierung ihrer Erfahrungen bewegen sie sich in der deutschen und österreichischen Nachkriegsgesellschaft in einer Grauzone legitimer Erinnerung, die aus einem „Verlangen der Öffentlichkeit nach einer unzweideutigen Verteilung von Tätern und Opfern“5 in der Geschichte resultiert. Gerade in Biografien von sogenannten „Heimatvertriebenen“ treffen ambivalente Erfahrungen von Krieg, Nationalsozialismus und Zwangsmigration6 aufeinander und werden etwa bei einem lebensgeschichtlichen Interview, so die These, in eine sinnvolle biografische Ordnung gebracht. Wie aber sehen narrative Strategien zur Herstellung einer biografischen Ordnung in den Interviews aus? Inwiefern rahmen die Interviewten ihre Erfahrungen als jene von „Opfern“, „KomplizInnen“ oder „TäterInnen“? Welche anderen Deutungsmuster lassen sich in ihren Erzählungen über Krieg, Nationalsozialismus und Zwangsmigration finden? Um diesen Fragen auf den Grund zu gehen, habe ich Erzählungen über Nationalsozialismus und Zwangsmigration in lebensgeschichtlichen Interviews mit in Österreich lebenden „Heimatvertriebenen“7, die ich zwischen 2012 und 2015 geführt habe, mit Blick auf ihnen innewohnende narrative Strukturele5 Martin Schulze Wessel, Einleitung, in: Martin Schulze Wessel/K. Erik Franzen (Hg.), Opfernarrative, Konkurrenzen und Deutungskämpfe in Deutschland und im östlichen Europa nach dem Zweiten Weltkrieg, Oldenburg 2012, 1–8, 4. 6 Im Fall der im Rahmen dieses Projekts Interviewten hatten alle Migrationen zwanghaften Charakter – denn wenn nicht bereits die Ausweisung oder Flucht unter „Zwang“ erfolgte, so führten die Aberkennung der Staatsbürgerschaft dazu, dass die Betroffenen nicht mehr zurückkehren konnten und dauerhaft emigrieren mussten. Auf die genauen Umstände gehe ich auf den folgenden Seiten noch ein. Für eine ausführliche Diskussion des Begriffs der „Zwangsmigration“ und seiner Verwendung siehe Alf Lüdtke, Explaining Forced Migration, in: Richard Bessel/Claudia B. Haake (Hg.), Removing Peoples. Forced Removal in the Modern World, Oxford/New York 2009, 13–34; hinsichtlich der Frage nach dem zwanghaften Charakter der Migration der deutschen Minderheiten aus Südosteuropa auch Holm Sundhaussen, Forced Ethnic Migration, in: European History Online, URL: http://www.ieg-ego.eu/sundh aussenh-2010-en (abgerufen 18. 4. 2017). 7 In der Bundesrepublik waren im Bundesvertriebenengesetz § 1 mit „Heimatvertriebene“ all jene Geflüchteten gemeint, die vor dem 31. 12. 1937 als deutsche Staats- oder Volkszugehörige ihren Wohnsitz in den ehemaligen Ostgebieten des Deutschen Reiches oder außerhalb hatten und von diesen Staaten nach Kriegsende dazu gezwungen wurden, diesen aufzugeben. Siehe Matthias Beer, Flüchtlinge – Ausgewiesene – Heimatvertriebene: Flüchtlingspolitik und Flüchtlingsintegration in Deutschland nach 1945, begriffsgeschichtlich betrachtet, in: Matthias Beer/Martin Kintzinger/Marita Krauss (Hg.), Migration und Integration. Aufnahme und Eingliederung im historischen Wandel, Stuttgart 1997, 145–167. Für Österreich steht eine fundierte Untersuchung der Verwendung von Begriffen wie „Heimatvertriebene“, „Ausgewiesene“ etc. noch aus.
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mente und Sinngebungen ausgewertet. Da die Mehrheit der nach Österreich gekommenen „Heimatvertriebenen“ aus der Tschechoslowakei und Jugoslawien stammte, fokussiert das Sample an interviewten „Zeitzeugen“8 ausschließlich auf MigrantInnen aus diesen Ländern bzw. Regionen (mit Ausnahme der deutschsprachigen Minderheiten in Slowenien, da es dazu auf die Aufrufe kaum Rückmeldungen gab). Bevor ich zu den Ergebnissen meiner Analyse komme, werde ich auf die historischen Kontexte eingehen, in denen sich die Biografien der Interviewten bewegten.
I.
Die deutschsprachige Bevölkerung in der Tschechoslowakei, Kroatien und der Vojvodina vor der Zwangsmigration
Sowohl Böhmen und Mähren als auch Kroatien und die Vojvodina hatten vor 1918 zur Doppelmonarchie gehört, wenn auch zu jeweils unterschiedlichen Reichshälften. Nach dem Zerfall Österreich-Ungarns ähnelte sich die Situation der deutschsprachigen Bevölkerungen in beiden ehemaligen Reichshälften als nationale Minderheiten vor allem hinsichtlich ihrer veränderten, vulnerableren Position in Politik und Gesellschaft der damals jungen Staaten. Nach (empfundenen) Jahrhunderten habsburgischer Fremdherrschaft waren es andere Gruppen, die nun die Vorherrschaft anstrebten und ihre Interessen durchsetzen wollten: So war etwa die tschechoslowakische Bildungs- und Kulturpolitik ab den 1920er-Jahren von nationalistischen Maßnahmen geprägt. Diese richteten sich vor allem gegen die ungarische und deutsche Bevölkerung. Wie Tara Zarah und andere gezeigt haben, wurde von der Regierung in dieser Zeit viel unternommen, um den Anteil der Deutschen in der Bevölkerung nicht nur möglichst gering zu halten und die Bevölkerung auf lange Sicht zu „tschechisieren“.9 Aber auch wenn es allgemein zu einer Verschlechterung der Bedingungen für deutschsprachige Bildung und Kultur in Böhmen und Mähren kam, bestand jedenfalls dort, wo der Anteil an der lokalen Bevölkerung groß genug war, in der Zwischenkriegszeit sehr wohl noch Zugang zu deutschen Schulen, Bildungs- und 8 Rolle und Funktion von GesprächspartnerInnen in lebensgeschichtlichen Interviews als „Zeitzeugen“ sind durchaus kritisch zu bewerten und selbst historischen Transformationen unterworfen, siehe Martin Sabrow, Der Zeitzeuge als Wanderer zwischen den Welten, in: Martin Sabrow/Norbert Frei (Hg.), Die Geburt des Zeitzeugen nach 1945, Göttingen 2012, 13–32, 25. Ich verwende die Bezeichnung unter Anführungszeichen, da diese zum einen auf diese konstruierte Rolle verweisen, zum anderen aber auch oft dem Selbstverständnis von Interviewten als „Zeugen“ von Vergangenem entsprechen. 9 Siehe hierzu Jeremy King, Budweisers into Czechs and Germans. A Local History of Bohemian Politics, 1848–1948, Princeton 2002; Nancy M. Wingfield, Flag Wars and Stone Saints. How the Bohemian Lands Became Czech, Cambridge 2007; Tara Zahra, Kidnapped Souls. National Indifference and the Battle for Children in the Bohemian Lands, 1900–1948, Ithaca 2009.
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Kulturinstitutionen. Zudem gab es auch Parteien der deutschsprachigen Bevölkerung (Deutsche Sozialdemokratische Arbeiterpartei, Deutsche Nationalsozialistische Arbeiterpartei, später Sudetendeutsche Partei, Deutsche Christlich-Soziale Volkspartei), die ein Drittel der Gesamtbevölkerung ausmachte. Die Situation der deutschsprachigen Bevölkerung im Königreich Jugoslawien unterschied sich von jener in Böhmen und Mähren schon allein deshalb, weil die „Schwaben“ in Kroatien und der Vojvodina vor 1918 als weitestgehend assimiliert galten. Erst im Laufe der 1920er- und 1930er-Jahre änderte sich deren ethnisches Selbstverständnis und es kam zu einer Re-Germanisierung im Selbstverständnis bestimmter Gruppen, nicht zuletzt auf Grund wachsender politischer Einflüsse aus Deutschland und (weniger) aus Österreich. Diese waren – oft im Kleid so genannter „Volkstumspolitik“ – gemeinsam mit dem Erstarken des wirtschaftlichen und außenpolitischen Einflusses des Deutschen Reichs in der Region dafür verantwortlich, dass den bildungs- und kulturpolitischen Interessen der deutschen Bevölkerung in der Region im Laufe der 1930er-Jahre von Seiten der Regierung in Belgrad immer stärker nachgegeben wurde. Hinzu kam die grenznahe Lage zu Ungarn und dass man von Seiten des Königreichs Jugoslawiens eine Unterstützung ungarische Territorialinteressen durch die deutschsprachige Bevölkerung unbedingt verhindern wollte.10 Nach 1938 bzw. 1939/41 unterschied sich die Situation der deutschsprachigen Bevölkerung in Böhmen und Mähren dann grundlegend von jener in Kroatien und Serbien: Das sogenannte „Sudetenland“, wo mehr als drei Millionen Deutschsprachige lebten, wurde im September 1938 dem Deutsche Reich angegliedert. Nach Flucht bzw. Aussiedlung der (von den NationalsozialistInnen als „tschechisch“ klassifizierten Bevölkerung aus der Region – rund 177.000 Personen) während der ersten sechs Monate nach dem „Münchner Abkommen“,11 differierten die Erfahrungen der „Sudetendeutschen“ während des Krieges nicht wesentlich von jenen der deutschen Bevölkerung im Reich. Sie waren ab September 1939 ebenso in nationalsozialistischen Massenorganisationen erschlossen, waren Teil der deutschen „Volksgemeinschaft“ primäres Zielpublikum nationalsozialistischer Propaganda und wurden zu Reicharbeitsdienst und Wehrmacht einberufen. In abgeschwächter Form traf dies auch auf das Protektorat zu: Dort wurden jedoch nur „deutsche Volkszugehörige“ zu vollberechtigten 10 Zur sukzessiven „ethnopolitischen Mobilisierung“ der deutschsprachigen Bevölkerung in Kroatien und der Vojvodina siehe Bethke, Minderheiten; zur Situation im Königreich siehe außerdem Arnold Suppan, Hitler – Benesˇ – Tito: Konflikt, Krieg und Völkermord in Ostmittel- und Südosteuropa, Wien 2014, 613–653; kürzlich erschienen und nicht mehr umfassend berücksichtigt werden konnte Mirna Zakic´, Ethnic Germans and National Socialism in Yugoslavia in World War II, Cambridge 2017. 11 Diese Zahl nennt Philipp Ther, Die dunkle Seite der Nationalstaaten. „Ethnische Säuberungen“ im modernen Europa, Göttingen 2012, 110.
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Reichsbürgern und damit zu Mitgliedern der „Volksgemeinschaft“. Wie diese (in Abgrenzung zur tschechischen Bevölkerungsgruppe) zu definieren sei, sollte die nächsten Jahre hindurch immer wieder Gegenstand politischer Diskussion und (oft gegensätzlicher) Verordnungen und Erlässe sein.12 Im nach dem Einmarsch der Wehrmacht zwischen Deutschland und Italien aufgeteilten Königreich Jugoslawien stand jener Teil der Bevölkerung, der sich in deklariert deutschen Organisationen engagierte, zwar unter direktem nationalsozialistischem Einfluss, war aber im Unterschied zu den „Sudetendeutschen“13 keineswegs den BürgerInnen im Reich gleichgestellt. Nationalsozialistische Ideologie und Errungenschaften ihrer Politik im Reich waren zwar seit Ende der 1920er-Jahre über Medien und Reiseberichte in diesen Regionen präsent, fanden bis zur Machtübernahme und Gleichschaltung der Organisationen jedoch nur bedingt Zuspruch. Die seit den 1920er-Jahren bereits im „Schwäbisch-Deutschen Kulturbund“ bzw. der „Kultur- und Wohlfahrtsvereinigung der Deutschen in Slawonien“ (KWVD) organisierte Bevölkerung war in großen Teilen katholisch und aus einer konservativen Haltung heraus gegenüber den nationalsozialistischen Reformen skeptisch eingestellt.14 Ihre katholische Konfession hatte es den Deutschsprachigen zudem während der vergangenen Jahrzehnte erleichtert, sich mit UngarInnen und KroatInnen auf einer Alltagsebene zu vermischen, und milderte, so Zoran Janjetovic´, das anderswo erstarkende Nationalbewusstsein ab.15 Nationalsozialistische Ideen und Politik wurden vor allem von den (zumeist protestantischen) AnhängerInnen der „Erneuerungsbewegung“ verbreitet, die 1939 die „alte“ Kulturbundführung stürzte und sich
12 Für eine differenziertere Betrachtung der Unterteilung der im „Sudetengau“ ansässigen Bevölkerung in ReichsbürgerInnen und deutsche Staatsangehörige siehe Dieter Gosewinkel, Einbürgern und Ausschließen. Die Nationalisierung der Staatsangehörigkeit vom Deutschen Bund bis zur Bundesrepublik Deutschland, Göttingen, 2001, 402–403, sowie allgemeiner im Deutschen Reich Oliver Trevisiol, Die Einbürgerungspraxis im Deutschen Reich 1871–1945, Göttingen 2006, 52–58. 13 Die bis heute gängige Bezeichnung der deutschsprachigen Bevölkerung in den böhmischen Ländern als „Sudetendeutsche“ etablierte sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Ihre zunehmende Präsenz in Politik, Publizistik und Wissenschaft trug (und trägt bis heute) nicht nur zur Konstruktion einer Gemeinschaft gemeinsamer Interessen, sondern auch gemeinsamer Herkunft und Zukunft bei. Zur Genese und Verwendung des Begriffs siehe Tobias Weger, „Volkstumskampf“ ohne Ende? Sudetendeutsche Organisationen 1945–1955, Frankfurt am Main 2008. 14 Zur politischen Einstellung seiner Mitglieder meint Bethke, dass diese zwar „Affinität zum Deutschen Reich [hätten] und eine Bewunderung und Sympathie für die Errungenschaften Hitlers [hegten], aber nicht die NS-Weltanschauung [teilten],“ siehe Bethke, Deutsche und ungarische Minderheiten, 558. 15 Zoran Janjetovic, Die Donauschwaben in der Vojvodina und der Nationalsozialismus, in: Mariana Hausleitner/Harald Roth (Hg.), Der Einfluss von Faschismus und Nationalsozialismus auf Minderheiten in Ostmittel- und Südosteuropa, München 2006, 219–237, 225–226.
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vor allem aus AnhängerInnen einer (realen wie inszenierten) jüngeren, neuen Generation und Intellektuellen zusammensetzte.16 Anders als in Böhmen und Mähren wurden in der Vojvodina und in Slawonien wehrfähige Männer nur zu einem Bruchteil zur Wehrmacht eingezogen, die Mehrheit von ihnen wurde ab 1941 in mehreren Wellen zur Waffen-SS rekrutiert. Die ersten unter ihnen waren einzelne Angehörige der „Deutschen Mannschaft“17, die sich bereits im Herbst 1940 heimlich zur Waffen-SS gemeldet hatten und so die Wehrmacht beim Balkanfeldzug unterstützten. Die erste „richtige“ Rekrutierungswelle (damals noch auf freiwilliger Basis) setzte im Sommer 1941 ein.18 Ab Mai 1942 wurde das Freiwilligkeitsprinzip schließlich zugunsten einer aus der Volkszugehörigkeit resultierenden Wehrpflicht zurückgedrängt, die mit Voranschreiten des Krieges auf Anweisung Heinrich Himmlers auch „mit energischen Maßnahmen“ durchgesetzt werden sollte.19 Abgesehen von ihrem militärischen Beitrag zum Krieg und ihrer Involvierung in NS-Massenverbrechen benutzte die deutschsprachige Bevölkerung in der Region, wie jüngste Forschungen zeigen, den Nationalsozialsozialismus und das deutsche Expansionsstreben aber auch, um ihre eigenen politischen Interessen durchzusetzen. Auf diesem Wege wurde sie zu einem wichtigen Bestandteil und Handlanger nationalsozialistischer Politik in Südosteuropa.20
16 Carl Bethke hat sich ausführlich mit der Machtergreifung der „Erneuerer“ und der Bedeutung des Konzepts „Generations“ im Rahmen ihrer politischen Selbstinszenierung beschäftigt, siehe Bethke, Minderheiten, 381–418. 17 Die „Deutsche Mannschaft“ (DM) war eine zum Teil bewaffnete Massenorganisationen innerhalb der „Deutschen Volksgruppe in Kroatien“ (DVGK). 18 Martin Broszat, Die „Deutsche Mannschaft“ und die „Einsatzstaffeln“ der Deutschen Volksgruppe Kroatien, in: Institut für Zeitgeschichte (Hg.), Gutachten des Instituts für Zeitgeschichte, München 1958, 410–411; für die Rekrutierung in den Ungarn eingegliederten Regionen der Vojvodina siehe Lorant Tilkovszky, Die Rekrutierung deutscher Volkszugehöriger zur Waffen-SS in Rumänien und Ungarn (Specimina Nova Dissertationum. ex Instituto Historico Universitatis Quinqueecclesiensis de Iano Pannonio Nominatae), P8cs 1987. Zur tatsächlichen wie vermeintlichen „Freiwilligkeit“ bei der Rekrutierung von „Volksdeutschen“ zur Waffen-SS in Südosteuropa aktueller auch Stefan Hördler, Die KZWachmannschaften in der zweiten Kriegshälfte. Genese und Praxis, in: Angelika Benz/Marija Vulesica (Hg.), Bewachung und Ausführung. Alltag der Täter in den nationalsozialistischen Lagern, Berlin 2011, 127–145, 129–132. 19 Schreiben Himmlers vom 13. 7. 1942 an Lorenz, zitiert nach Holm Sundhaussen, Zur Geschichte der Waffen-SS in Kroatien 1941–1945, in: Südost-Forschungen 30 (1971), 176–196, 184. 20 Mirna Zakic´, The Price of Belonging to the Volk. Volksdeutsche, Land Redistribution and Aryanization in the Serbian Banat, 1941–44, in: Journal of Contemporary History 49 (2014) 2, 320–340; Thomas Casagrande/Michael Schvarc/Norbert Spannenberger/Ottmar Tras¸ca˘, The Volksdeutsche. A Case Study from South-Eastern Europe, in: Jochen Böhler/Robert Gerwarth (Hg.), The Waffen-SS. A European History, Oxford 2017, 209–251.
Melanie Dejnega, Nationalsozialismus und Zwangsmigration
II.
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Evakuierung, Flucht, Vertreibung
Eine für diesen Beitrag entscheidende Gemeinsamkeit der deutschsprachigen Bevölkerungen in Jugoslawien und der Tschechoslowakei ist, dass sie die Erfahrung teilten, auf Grund ihrer Identifikation als Deutsche zu Opfern von Nachkriegsgewalt geworden zu sein. In der Tschechoslowakei begann diese Gewalt bereits unmittelbar nach Kriegsende. Im Mai/Juni 1945 wurden Teile der deutschsprachigen Bevölkerung im Rahmen so genannter „wilder Vertreibungen“ (im Gegensatz zu den laut Potsdamer Abkommen geordneten „Bevölkerungstransfers“ im Spätsommer 1945) aus ihren Wohngebieten über die deutsche bzw. österreichische Grenze getrieben, ihr Eigentum konfisziert, Arbeitsfähige in Lagern interniert und dort zur Arbeit gezwungen.21 In Jugoslawien unterschied sich die Situation der deutschsprachigen Bevölkerung je nach Region: Während es in Batschka, Baranja und dem Banat nur vereinzelt zu Evakuierungen bzw. Fluchtbewegungen der deutschsprachigen Bevölkerung vor Kriegsende kam (allein im Banat erlebten 85.000 das Kriegsende mit), waren in Syrmien um die 90.000 Angehörige der deutschsprachigen Minderheit bereits im Herbst 1944 unter Anleitung der nationalsozialistischen Behörden ins Reich evakuiert worden.22 Für die meisten bedeutete die Evakuierung damals (im Einklang mit der nationalsozialistischen Propaganda) nur eine vorübergehende Maßnahme, die als Folge des Krieges betrachtet und zur eigenen Sicherheit durchgeführt wurde. Diejenigen unter ihnen, die sich nach Kriegsende auch tatsächlich wieder Richtung „Heimat“ aufmachten, sollten bitter enttäuscht werden. Bereits an der Grenze wurden sie verhaftet und in Lagern interniert. Ein anderer Teil hatte Jugoslawien nicht vor Kriegsende verlassen, sondern war dort geblieben. Auch sie wurden (insofern sie von den jugoslawischen Behörden als „deutsch“ identifiziert wurden) in Lagern interniert. Im Juni 1945 befanden sich zwischen 110.000 und 120.000 Personen in diesen Lagern.23 Ab dem Frühjahr 1947 tolerierten die jugoslawischen Behörden ihre Flucht, circa 11.000 Personen flohen so über die grüne Grenze nach Ungarn und weiter nach Österreich.24
21 Ausführlich zu dieser unmittelbaren Nachkriegsgewalt gegen die deutsche Zivilbevölkerung siehe u. a. Benjamin Frommer, National Cleansing. Retribution against Nazi Collaborators in Postwar Czechoslovakia, Cambridge 2005; Tom#sˇ Staneˇk, Verfolgung 1945. Die Stellung der Deutschen in Böhmen, Mähren und Schlesien (außerhalb der Lager und Gefängnisse), Wien 2002. 22 Michael Portmann, Die kommunistische Revolution in der Vojvodina 1944–1952. Politik, Gesellschaft, Wirtschaft, Kultur, Wien 2008, 225–228. 23 Ebd., 248. 24 Ebd., 265.
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III.
zeitgeschichte 45, 3 (2018)
„Heimatvertriebene“ in Österreich
Anders als Deutschland empfand sich Österreich weder für die 1947 aus Jugoslawien Geflüchteten noch für die bereits zuvor immigrierten „Volksdeutschen“25 zuständig. Bis Ende der 1940er Jahre versuchte man das Problem auf die Bundesrepublik abzuwälzen. Als diese einen Einreisestopp erließ, wurde für die österreichische Regierung die Perspektive, dass „volksdeutschen“ Flüchtlinge in Österreich bleiben würden, immer wahrscheinlicher. Anfang der 1950er-Jahre wurde schließlich eine Reihe von Gesetzen verabschiedet, die eine schnellere Integration der bis dahin rechtlich als „Ausländer“ Geführten erleichterte.26 Aber nicht nur hinsichtlich ihrer Flüchtlingspolitik in den Nachkriegsjahren, auch hinsichtlich des Umgangs mit dem Thema „Flucht und Vertreibung“ in der Erinnerungskultur27 unterscheiden sich Österreich und Deutschland bis heute eklatant voneinander : Anders als in der Bundesrepublik28 wurde die (Zwangs-) Migration der deutschsprachigen Bevölkerung aus Ostmittel- und Südosteuropa in Österreich noch nie zu einem zentralen Bestandteil in der Öffentlichkeit dominanter Vergangenheitsnarrationen. Die offizielle Deutung der nationalsozialsozialistischen Vergangenheit wurde in Österreich (abgesehen von der Be25 Im Nationalsozialismus galten jene Personen als „Volksdeutsche“, die sich zu deutscher Sprache und Kultur bekannten, aber außerhalb des Deutschen Reichs lebten und keine deutsche Staatsbürgerschaft besaßen. Zur Diskussion der Bedeutung und rassistisch-antisemitischen Aufladung des Konzepts siehe Doris L. Bergen, The Nazi Concept of ,Volksdeutsche‘ and the Exacerbation of Anti-Semitism in Eastern Europe, 1939–45, in: Journal of Contemporary History 29 (1994) 4, 569–582. 26 Zur Situation der deutschsprachigen Flüchtlinge in Österreich siehe Melanie Dejnega, Zwischen Nachkriegschaos und Kaltem Krieg. Alliierte Flüchtlingspolitik und die Versorgungssituation von „volksdeutschen Ex-Enemy DPs“ in Österreich, in: Corine Defrance/ Juliette Denis/Julia Maspero/Virginie Durand (Hg.), Personnes d8plac8es et guerre froide en Allemagne occup8e/Displaced persons and the Cold War in Occupied Germany/Displaced Persons und Kalter Krieg im besetzten Deutschland, Bruxelles et al. 2015, 213–229. 27 Ich verwende diesen Begriff an dieser Stelle nach der Definition von Christoph Corneließen, der vorschlägt, diesen als „formalen Oberbegriff für alle denkbaren Formen der bewussten Erinnerung an historische Ereignisse, Persönlichkeiten und Prozesse zu verstehen, seien sie ästhetischer, politischer oder kognitiver Natur.“ Siehe Christoph Corneließen, Erinnerungskulturen Version 2.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, URL: http://docupedia.de/zg/Erin nerungskulturen_Version_2.0Christoph_Corneli%C3%9Fen (abgerufen 24. 1. 2018). 28 Siehe u. a. Anna Jabukowska, Der Bund der Vertriebenen in der Bundesrepublik Deutschland und Polen 1957–2004. Selbst- und Fremddarstellung eines Vertriebenenverbandes, Marburg 2012; Maren Röger, Flucht, Vertreibung und Umsiedlung. Mediale Erinnerungen und Debatten in Deutschland und Polen seit 1989, Marburg 2011; Jutta Faehndrich, Eine endlose Geschichte. Die Heimatbücher der deutschen Vertriebenen, Köln et al. 2011; Elisabeth Fendl (Hg.), Zur Ästhetik des Verlusts. Bilder von Heimat, Flucht und Vertreibung, Münster 2010; Lebensgeschichtliche Zugänge bei Marita Krauss/Sarah Scholl-Schneider/Peter Fassl (Hg.), Erinnerungskultur und Lebensläufe. Vertriebene zwischen Bayern und Böhmen im 20. Jahrhundert – grenzüberschreitende Perspektiven, München 2013.
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tonung des Widerstands in den allerersten Nachkriegsjahren) bis Anfang der 1990er-Jahre über weite Strecken von der „Opferthese“ dominiert29 und stellte damit auch das zentrale Deutungsangebot für die Erfahrungen und Erinnerungen der „Heimatvertriebenen“ dar. Ein zentraler Bestandteil dieser nationalen Meistererzählung war ein integrationistisches Opferbild, welches unterschiedliche Arten von Opfern in sich vereinigte. Demnach seien Österreich und seine Bevölkerung zwischen 1938 und 1945 Opfer unterschiedlichster Vorgänge geworden, darunter auch von Hitler Betrogene, Kriegsopfer und Opfer alliierter Siegerpolitik.30 Diese sehr breite Opfer-Definition ermöglichte den „Heimatvertriebenen“ sowohl ihre Involvierung ins nationalsozialistische System als auch ihre Gewalterfahrungen nach dem Krieg in dieses Opferbild zu integrieren. Als eigenständiges Thema fanden „Flucht und Vertreibung“ jedoch nur punktuell und als politisches Argument Eingang in die öffentliche Debatte: Mitte der 1990er-Jahre bediente die politische Rechte damit in der Bevölkerung ohnehin latenten Antislawismus, so wie sie das Thema auch als Argument gegen „Wiedergutmachungs“-Forderungen jüdischer Organisationen einsetzte.31 Zusätzlich wurden „Flucht und Vertreibung“ im Zuge der Debatte um die Erweiterung der Europäischen Union um osteuropäische Staaten zu Beginn des Jahrtausends in mehreren Ländern zum Schauplatz geschichtspolitischer Debatten, darunter auch in Österreich. Nach der EU-Erweiterungsdebatte verebbte die mediale Aufmerksamkeit um „Flucht und Vertreibung“ zwar wieder, blieb aber, so Heidemarie Uhl, „subkutan“ in privaten und semi-öffentlichen Vergangenheitsnarrationen präsent und konnte immer wieder im Rahmen eines von politisch rechter Seite betriebenen „Aufrechnungsdiskurses“ sowie zur Unterfütterung antislawischer Ressentiments abgerufen werden.32 Diese Narrative konnten 29 Gerhard Botz/Gerald Sprengnagel (Hg.), Kontroversen um Österreichs Zeitgeschichte. Verdrängte Vergangenheit, Österreich-Identität, Waldheim und die Historiker, Frankfurt am Main 2008. 30 Acht Arten von Opfern, die in diesem Mythos in einem dynamischen Verhältnis zueinander stehen, nennt Gerhard Botz, Geschichte und kollektives Gedächtnis in der Zweiten Republik. „Opferthese“, „Lebenslüge“ und „Geschichtstabu“ in der Zeitgeschichtsschreibung, in: Wolfgang Kos/Georg Rigele (Hg.), Inventur 45/55. Österreich im ersten Jahrzehnt der Zweiten Republik, Wien 1996, 51–85. 31 Oliver Rathkolb betont, dass damals unter Verweis auf Enteignung und Zwangsmigration der „Sudetendeutschen“ Entschädigungsforderungen jüdischer Organisationen und Einzelpersonen relativiert werden sollten. Oliver Rathkolb, Verdrängung und Instrumentalisierung. Die Vertreibung der Sudetendeutschen und ihre verspätete Rezeption in Österreich, in: Barbara Coudenhove-Kalergi/Oliver Rathkolb (Hg.), Die Benesˇ-Dekrete, Wien 2002, 138–151, 148. 32 Siehe hierzu Heidemarie Uhl, Der gegenwärtige Ort von „Flucht und Vertreibung“ im deutschen und österreichischen Gedächtnisdiskurs, in: Peter Haslinger/K. Erik Franzen/ Martin Schulze Wessel (Hg.), Diskurse über Zwangsmigrationen in Zentraleuropa. Geschichtspolitik, Fachdebatten, literarisches und lokales Erinnern seit 1989, München 2008, 157–174, 158.
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problemlos neben dem seit den 1990ern in der Öffentlichkeit einsetzenden kritischeren Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit bestehen bleiben, da dieser keineswegs eine erinnerungskulturelle Zäsur war, sondern es vielmehr zu einer „Heterogenisierung von Narrativen und Handlungsmustern“33 hinsichtlich der österreichischen Rolle im Nationalsozialismus kam. In Deutschland wie Österreich fand zwar im selben Zeitraum einer verstärkte Hinwendung zu den „eigenen“ Opfern statt.34 Während in der Bundesrepublik bereits seit den 1990ern neben Bombardierungen und Vergewaltigungen auch „Flucht und Vertreibung“ eine zentrale Rolle bei der Re-Viktimisierung des nationalen Selbstbildes spielten, ist das Thema in Österreich aber bis heute kein Bestandteil öffentlicher Erinnerungskultur (sondern ist lediglich, wie zuvor ausgeführt, in alternativen Vergangenheitserzählungen präsent). Dies zeigte sich etwa auch im den öffentlichen Raum im „Gedankenjahr“ 2005 mitprägenden Kunstprojekt „25 peaces“, das das Leid der österreichischen Mehrheitsbevölkerung thematisierte, während es jenes der Opfer nationalsozialistischer Verfolgung marginalisierte.35 Aber selbst im Zuge dieser Fokussierung auf die „eigenen“ Opfer wurde die Ankunft von hunderttausenden evakuierten, geflüchteten und vertriebenen „Volksdeutschen“ in Österreich und ihr weiterer Verbleib im Land nicht thematisiert.36
IV.
Das Quellenmaterial: Auswahl, Durchführung und Auswertung
Das Quellenmaterial, auf das sich dieser Beitrag stützt, umfasst 22 in den Jahren 2012 und 2015 geführte biografisch-narrative Interviews (im Regelfall im Rahmen von zwei Terminen und mit einer Gesamtlänge zwischen drei und sieben 33 Cornelius Lehnguth, Waldheim und die Folgen. Der parteipolitische Umgang mit dem Nationalsozialismus in Österreich, Frankfurt/New York 2013, 464. 34 Für den Vergleich der Entwicklung dieser Re-Viktimisierungstendenzen in Deutschland und Österreich siehe Katrin Hammerstein, Gemeinsame Vergangenheit – getrennte Erinnerung? Der Nationalsozialismus in Gedächtnisdiskursen und Identitätskonstruktionen von Bundesrepublik Deutschland, DDR und Österreich (Diktaturen und ihre Überwindung im 20. und 21. Jahrhundert 11), Göttingen 2017, 448–456. 35 Siehe hierzu Karin Liebhart, Inszenierungen österreichischer Identität: Vom „Gedankenjahr“ 2005 zur EU-Ratspräsidentschaft 2006, in: Helmut Kramer/Karin Liebhart/Friedrich Stadler (Hrsg.), Österreichische Nation – Kultur – Exil und Widerstand (Schriften zur zeitgeschichtlichen Kultur- und Wissenschaftsforschung 6), Wien/Berlin/Münster 2006, 271–278. 36 Für einen thematischen Überblick siehe Eberhard Schrempf, Peace dokumentiert: [25 peaces]; März 2005 bis Juli 2006, Interventionen und Irritationen zur Erzeugung eigener Gedanken im Diesseits des öffentlichen Raumes und jenseits des offiziellen Gedankenjahres, Wien 2006.
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Stunden). Die Mehrheit der Interviewten hatte sich auf einen von mir 2012 geschalteten Aufruf gemeldet. Um eine bloße Reproduktion politisch aufgeladener Identifikationen von Interviewten als „Volksdeutsche“ oder „Vertriebene“ im Sample zu verhindern, wurden in den Zeitungsaufrufen zwischen 1944 und 1948 nach Österreich Gekommene (entsprechend dem heute gängigen Terminus) als „Migranten“ adressiert.37 Zusätzlich konnte Kontakt zu „Zeitzeugen“ aufgenommen werden, deren (auto)biogragische Auszeichnungen sich im Dokumentationsarchiv für lebensgeschichtliche Aufzeichnungen der Universität Wien befanden.38 Der Korpus lebensgeschichtlicher Interviews, auf dem dieser Beitrag fußt, setzt sich hinsichtlich Geschlecht und Herkunftsland der Interviewten folgendermaßen zusammen: Männer
Jugoslawien 4
Tschechoslowakei 4
Gesamt 8
Frauen Gesamt
7 11
7 11
14 22
Tabelle 1: Aufteilung der Interviewten nach Geschlecht und Geburtsland
Wie bereits erwähnt, wurden die Tschechoslowakei und Jugoslawien bewusst als Herkunftsregionen ausgewählt: zum einen weil die Mehrheit der als Konsequenz des Zweiten Weltkriegs nach Österreich gekommenen „Heimatvertriebenen“ aus diesen Ländern stammte; zum anderen aber auch, da es sich bei beiden Gruppen um (wenn auch unterschiedliche) Formen erzwungener Migration handelte, die eine unmittelbare Konsequenz der Niederlage Deutschlands war und aus der Perspektive der Betroffenen die Deutung, „Opfer“ alliierter Politik geworden zu sein, nahe legt. Dass mehr Frauen als Männer interviewt wurden, steht mit den Geburtsjahrgängen der Frauen im Gesamtrücklauf in Zusammenhang bzw. der Entscheidung, der generationellen Zugehörigkeit gegenüber einer ausgewogenen Geschlechterverteilung Vorzug zu geben. Die Anzahl an Faktoren, die Erzählungen in lebensgeschichtlichen Interviews beeinflussen können, ist – wie auch bei vielen anderen Quellen – nahezu unendlich und reicht von der Beziehung zwischen Interviewerin und Interviewten, den Inhalten aktueller medialer Berichterstattungen und dem Medienkonsum der Interviewten bis hin zu anderen diskursiven Einflüssen wie Unterhaltungen, die die Interviewten mit ihrem persönlichem Umfeld in letzter Zeit geführt 37 Die ersten Migranten der Zweiten Republik, Die Presse, 18. 2. 2012. Neben der „Presse“ wurden auch kleinere Inserate im „Kurier“, dem „Wiener Bezirksblatt“ sowie der „Wiener Zeitung“ geschaltet. 38 An dieser Stelle bedanke ich mich ganz herzlich bei Günter Müller vom Dokumentationsarchiv lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen der Universität Wien für seine Hilfe sowohl bei der Suche nach geeigneten Interviewpartnerinnen und Interviewpartnern als auch bei der Suche nach schriftlichen Dokumenten.
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haben und aktuellen Lebensereignissen. Qualität und Quantität der Einflüsse sind für Interpretierende kaum abzuschätzen und analytisch nur mit größtem interdisziplinärem Aufwand fassbar. Ein Weg, diese Komplexität an Deutungsebenen und -strukturen zu umgehen, ist sich allein auf das Interview und das Auffinden jener Strukturen in der Erzählung zu konzentrieren, die mit Blick auf die Gesamterzählung zur Bildung von Kohärenz und Sinnhaftigkeit beitragen.39 Dieser Ansatz wurde auch in diesem Projekt bei der Auswertung der Interviews verfolgt. Um dem Fallstrick einer zwanghaften Sinnbildung im Gehörten/Gelesenen unter Ausschluss möglicher Widersprüche zu entkommen,40 wurden die Interviews mit einem „dekonstruktiv-hermeneutischen“ (Assmann) Zugang analysiert.41 Sprechpausen, Satzabbrüche, Unvereinbarkeiten in der Erzählung sowie die Interviewsituation und „Vorgeschichte“ des aufgezeichneten Interviews sind ein zentraler Bestandteil einer solchen Quelleninterpretation. Im Sinne einer besseren Les- und Nachvollziehbarkeit meiner Argumentation habe ich mich in diesem Beitrag auf die exemplarische Darstellung von sechs Interviews konzentriert, auch wenn im Vorfeld durchwegs alle 22 Interviews hinsichtlich der Fragestellung ausgewertet wurden. Diese veranschaulichen drei im Sample dominante Erzählstrategien, die die Interviewten verwendet haben, um über Nationalsozialismus auf der einen und Zwangsmigration auf der anderen Seite zu sprechen: Die erste Erzählweise fokussierte ausschließlich auf die eigene Opfer-Erfahrung als „Vertriebene“ ohne Verweis auf andere Opfer.42 Eine zweite integrierte alle vor Ort an Krieg und Gewalt beteiligten AkteurInnen als Opfer in die Narration (d. h. neben der deutschen Bevölkerung auch die tschechische, serbische und jüdische oder die Roma). Die dritte schließlich inkludierte – wohl auch vor dem Hintergrund der bereits erwähnten zunehmenden Fragilität der „Opferthese“ – Komplizen- und Mittäterschaft der deutschsprachigen Bevöl39 Nach Pierre Bourdieu wohnt der „autobiografischen Erzählung immer zumindest teilweise ein Interesse an der Sinngebung“ inne, „am Erklären, am Auffinden einer zugleich retrospektiven und prospektiven Logik, einer Konsistenz und Konstanz, um derentwillen intelligible Relationen wie die von Wirkung und Ursache zwischen aufeinanderfolgenden Zuständen hergestellt werden, die damit zu Etappen einer notwendigen Entwicklung erhoben sind.“ Pierre Bourdieu, Die biographische Illusion [1986], in: Pierre Bourdieu (Hg.), Praktische Vernunft, Frankfurt am Main 1998, 75–83, 76. 40 Zu totalisierenden Tendenzen, die alles „Sperrige, Widersprüchliche“ im hermeneutischen Verfahren beseitigen, siehe Aleida Assmann, Im Dickicht der Zeichen, Berlin 2015, 301. 41 Dazu Assmann, Dickicht. 42 Maren Röger hat gezeigt, dass „durch die Auswahl der Zeitzeugen und deren Präsentation viele der jüngeren Geschichtsdokumentationen über die Zwangsaussiedlung der Deutschen eine Fokussierung auf die Deutschen als Opfer beförderten“. Maren Röger, Zeitzeugen von Flucht, Vertreibung und Heimatverlust im deutschen Geschichtsfernsehen. Funktionen und Funktionalisierungen, 1981–2010, in: Heinke M. Kalinke (Hg.), Zeitzeugenberichte zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa im 20. Jahrhundert. Neue Forschungen, Oldenburg 2011/2012, 1–17.
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kerung in ihre Erzählungen und verwies explizit auf die Vielzahl an nichtdeutschen Opfern. Diese in den subjektiven Vergangenheitsnarrationen von „volksdeutschen“ Zwangsmigranten dominanten Deutungsmuster entsprechen keineswegs einem Prinzip der Ausschließlichkeit oder gar Allgemeingültigkeit. Sie kommen in manchen Lebensgeschichten weit weniger scharf konturiert vor als in dem Bild, das ich in diesem Beitrag von ihnen zeichne. Dennoch ist die klare analytische Benennung wichtig: Diese hilft, solche Argumentationsmuster in Zukunft besser und schneller zu erkennen und einen bewussteren historiogragischen, aber auch vergangenheitspolitischen Umgang mit ihnen zu entwickeln.
V.
Opfer- und Täterschaft in den Interviews
5.1
Imagination „eigener“ Komplizen- und Täterschaft
Die meisten Interviewten waren zur Zeit des Krieges Kinder oder Jugendliche, wenige von ihnen waren bereits im jungen Erwachsenenalter. Dementsprechend waren sie auf sehr unterschiedliche Art und Weise in Nationalsozialismus und Krieg involviert, was hier aber nicht im Detail dargestellt werden kann. Ein zentraler Unterschied im Sample ist allerdings die regionale Herkunft der Interviewten, denn gerade hinsichtlich der Dauer und genauen Umstände der „Einverleibung“ der deutschsprachigen Minderheiten in die „Volksgemeinschaft“ unterschied sich die Situation in der Tschechoslowakei, wie bereits oben skizziert, grundlegend von jener in Jugoslawien. Die politische, militärische und ideologische Vereinnahmung von Kindern und Jugendlichen durch nationalsozialistische Organisationen und Weltbilder etwa differierte im 1938 angeschlossenen „Sudetenland“ nicht von jener im Deutschen Reich: Sie war umfassend, und alle politischen Organisationen und Medien waren gleichgeschaltet.43 In Kroatien und der Vojvodina hingegen wuchs der Einfluss Deutschlands auf die deutschsprachige Bevölkerung zwar bereits in den 1930er-Jahren mehr und mehr an, bekam aber erst mit dem Einmarsch 1941 seinen totalisierenden, auf eine (vorgestellte) Gesamtheit der deutschsprachigen Bevölkerung in
43 Anders war die Situation in der Slowakei, die mit dem Münchner Abkommen zu einem autonomen Staat unter dem „Schutz“ Deutschlands wurde. Dort erhielt Deutschland ähnlich wie im kroatischen Ustascha-Staat zwar über die Einsetzung eines nationalsozialistischen Volksgruppenführers und der Gleichschaltung deutscher Organisationen direkten Einfluss auf die deutschsprachigen Minderheiten im Land, die Staaten selbst galten aber (zumindest formal) als unabhängig.
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Kroatien und Serbien abzielenden, gleichgeschalteten Charakter.44 Im Herbst 1944 – also nur dreieinhalb Jahre nach der Errichtung des Ustascha-Staates in Kroatien und der deutschen Militärverwaltung in Serbien – begann dann bereits die Evakuierung der von den nationalsozialistischen Behörden als „deutsch“ identifizierten Bevölkerung. In diesem Beitrag geht es nicht darum, „wahre“ Beteiligung an nationalsozialistischen Verbrechen oder ideologische Überzeugungen nachzuzeichnen. Im Vordergrund steht vielmehr, inwiefern zum Zeitpunkt des Interviews der potentielle eigene Beitrag oder jener des nächsten sozialen Umfelds in der Herkunftsregion thematisiert und mittels welcher narrativen Strategien in der Erzählung eine biografische Ordnung hergestellt wurde. Einige Interviewte sprachen ihre eigene Begeisterung als Kind/Jugendlicher (oder die ihrer Eltern) für den Nationalsozialismus explizit an und machten die (kritische) Reflexion darüber zu einem zentralen Thema ihrer lebensgeschichtlichen Selbstdarstellung. Diese Reflexionen fanden vor dem Hintergrund imaginierter Mittäteroder Komplizenschaft statt, bei welcher es nach Margit Reiter „nicht nur um Täterschaft als erwiesenes historisches Faktum, sondern immer auch um (potentielle) Täterschaft als Denkmöglichkeit, als Imagination [geht].“45 Diese Räume des Potentiellen eröffneten sich in den lebensgeschichtlichen Interviews vor allem dann, wenn eine direkte Verstrickung mit in heutigen Debatten präsenten nationalsozialistischen Verbrechen im Raum stand. So etwa im Interview mit Dora H.46 (*1925 in Syrmien), die mit zunehmender Dauer des Interviews immer stärkere Zweifel an der „Anständigkeit“47 ihres Handelns hegte. Dora H. war ab 1941 in ihrer damals im Ustascha-Staat Kroatien gelegenen Herkunftsregion Syrmien als Ortsgruppenleiterin des „Deutschen Mädelbunds“ (DMB, sic!)48 aktiv gewesen. Nach einem Jahr brach die Siebzehnjährige ins „Reich“ auf, um dort eine weiterführende Schule zu besuchen. Die Erzählung darüber war von einer ambivalenten Haltung durchdrungen: Einerseits betonte sie die Vielfältigkeit der Ausbildung sowie ein Gefühl der Unabhängigkeit, das die 44 Aufschlussreich zum Scheitern nationalsozialistischer Rassenideologie in Kroatien und der Vojvodina ist Bethke, Minderheiten. 45 Margit Reiter, Die Generation danach. Der Nationalsozialismus im Familiengedächtnis, Innsbruck 2006, 21. 46 Interview mit Dora H., geführt von Melanie Dejnega, 18. 7. 2012 und 22. 12. 2012, Aufnahme bei der Autorin. Für diese Publikation wurden die Namen aller Interviewten pseudonymisiert. Alle für diesen Beitrag verwendeten Interviews wurden bereits an die Österreichische Mediathek zur digitalen Langzeitarchivierung übergeben und werden dort nach Verjährung einer Sperrfrist zugänglich sein. 47 „Anständigkeit“ als handlungsleitendes moralisches Prinzip war ein roter Faden in Dora H.s Selbstdarstellung. 48 Zu den nationalsozialistischen Organisationen der „Volksdeutschen“ in Kroatien siehe Johann Böhm, Die deutschen Volksgruppen im unabhängigen Staat Kroatien und im serbischen Banat. Ihr Verhältnis zum Dritten Reich 1941–1944, Frankfurt am Main 2012.
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jungen Frauen damals weit weg von zu Hause genossen hätten.49 Andererseits aber seien sie plötzlich auch mit anderen Dimensionen von Nationalsozialismus und Krieg konfrontiert gewesen. Während sie ihre Tätigkeiten und Erfahrungen in nationalsozialistischen Jugendorganisationen in ihrer Herkunftsregion nicht in Frage stellte, tat sie das sehr wohl hinsichtlich ihrer Erfahrungen im „Altreich“. Als ich sie nach Erinnerungen an „Fremdarbeiter“ während einer zweiwöchigen Aushilfsarbeit in einer Rüstungsfabrik fragte, schilderte sie eine Situation, in der sie Zeugin von schlechter Behandlung und Gewalt gegenüber Zwangsarbeitern wurde. Während ihrer Zeit in Baden-Württemberg habe die Schulklasse bei einem Ausflug eine Betriebsführung in einer Rüstungsfabrik erhalten. Auf dem Weg durchs Gelände hätten sie auch dort arbeitende „Ausländer“ gesehen. Der Kommentar des Betriebsführers, der die Gruppe durchs Gelände begleitete, habe sie damals zum Nachdenken gebracht. „Und [leicht gezogen] da haben, hat der, der die Führung gemacht hat, hat gesagt ,Und die/. Also von den, die, denen graust vor gar nichts!‘ Äh, da hat er uns gezeigt, so, wie so Kerzen, in der Größe. ,Und das, das fressen sie [betont].‘ – Und das war so ein Schmiermittel für die Maschinen. – Und da hab ich mir gedacht ,Ja und wieso essen die das [betont]? Die, die müssen ja einen wahnsinnigen Hunger haben, wenn’s das essen.‘ Das hat mir lang [betont] zu schaffen gemacht. Und da hab ich mich angefangen zu erkundigen, wieso [betont] kriegen die, müssen die vor lauter Hunger das essen?“50
Eindringlich schilderte Dora H. in dieser Sequenz, wie unerwartet sie mit der Lebenssituation der Zwangsarbeiter konfrontiert wurde. Die Episode wurde von einer abfälligen Bemerkung des Betriebsführers über die Zwangsarbeiter eingeleitet („denen graust vor gar nichts“). Gleich im Anschluss distanzierte sich Dora H. von der Situation, indem sie ihre damaligen Gedanken zitierte. Die Wiedergabe solch innerer Monologe hat aus erzähltheoretischer Perspektive die Funktion, die Distanz zur erlebenden Figur möglichst gering zu halten.51 Indem Dora H. in den inneren Monolog trat, kam sie als Autobiografin ihrer damaligen Haltung besonders nah, die zeitliche Distanz zwischen den beiden Rollen löste sich nahezu auf und lässt auf ihre fortwährende Irritation hinsichtlich des Erlebnisses (und ihrer Reaktion) schließen. Damalige Interpretationsschemata und später hinzu gekommenes Wissen verschwammen: Zwar hätte die nationalsozialistische Ideologie eine einfache und schnelle Antwort auf die Frage nach 49 Ein ähnliches Erzählmuster hat auch Elizabeth Harvey in ihrer Studie über Frauen „im Volkstumskampf“ in Polen beschrieben, siehe Elizabeth Harvey, Erinnern und Verdrängen. Deutsche Frauen und der „Volkstumskampf“ im besetzten Polen, in: Karen Hagemann/ Stefanie Schüler-Springorum (Hg.), Erinnern und Verdrängen. Deutsche Frauen und der „Volkstumskampf“ im besetzten Polen, Frankfurt/New York 2002, 291–310. 50 Transkript Dora H., 111. 51 Zur Gedankenrede siehe Mat&as Mart&nez/Michael Scheffel, Einführung in die Erzähltheorie, München 2012, 63–66.
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dem Grund parat gehabt, warum die Zwangsarbeiter Schmiermittel aßen („rassische Minderwertigkeit“, „mangelnde Zivilisation“). Diese Antwortmöglichkeit war allerdings kein Bestandteil des inneren Monologs. Vielmehr sei es der Hunger gewesen, der sie dazu gebracht habe – eine Erklärung, die (zumindest zum Teil) der Präsenz des Themas Zwangsarbeit im Nationalsozialismus in Medien und öffentlichen Debatten geschuldet ist. Nach dieser Feststellung verharrte meine Interviewpartnerin nochmals in der Irritation, die diese Erfahrung für sie damals bedeutet habe: „Lang“ habe ihr „das zu schaffen gemacht“. Letztendlich habe sie sich auch nach den Gründen für den enormen Hunger dieser Menschen „erkundigt“. Bei wem oder wo und in welcher Form sie das getan habe, führte sie allerdings nicht aus. Nach einer darauf folgenden fast zehn Sekunden dauernden Redepause wiederholte Dora H. den abwertenden Kommentar des NS-Funktionärs und schloss schließlich die Erzählung mit einem affirmativen „so war das“. Mein auf die Redepause folgender Kommentar, dass sie „damals sehr viel mitbekommen habe“, veranlasste sie, über ihre damalige Reaktion weiter zu reflektieren: „Gell, dadurch, dass – ich – das nicht notwendig gehabt hab, hab ich vielleicht auch mich zu wenig um das gekümmert. Gekümmert. Weil, man hätt’ ja da dagegen auch protestieren müssen [betont]! /mhm/ – Das hab ich halt nicht – nicht gemacht [leiser, langsamer].“52
Dass sie ihrem, aus der Gegenwart des Interviews heraus moralischen Anspruch nicht gerecht wurde, beendete die Sequenz, in der sie über ihre Zeugenschaft erzählte. Die Formulierung des Anspruchs hatte dennoch eine in der Erzählung Identität stiftende Bedeutung: Denn „anständig sein/bleiben“, also die Frage nach moralisch richtigem Handeln, war in ihrer Erzählung ein handlungsleitendes Motiv. Im Fall ihrer Reaktion auf den Hunger der Zwangsarbeiter wurde sie diesem Anspruch nicht gerecht. Indem sie aber von der Situation unter diesem Banner erzählte, konnte sie sie bruchfrei in ihre lebensgeschichtliche Selbstdarstellung integrieren. Zwar erwähnte Dora H. „Schattenseiten“ des Nationalsozialismus. Diese fanden erzählerisch jedoch ausschließlich fernab ihrer „Heimat“ Syrmien statt, die in ihrer Darstellung von Gewalt unberührt blieb. Dort habe es zwar vermehrt Übergriffe von „Partisanen“53 gegeben, keine Episode ihrer Darstellungen handelte aber von der deutschsprachigen Bevölkerung 52 Transkript Dora H., 111–112. 53 Wenn in den Interviews von „Partisanen“ gesprochen wird, kann damit eine propagandistische Aufladung des Begriffs aus der NS-Zeit und seiner Vermengung mit antisemitischen Konzepten einhergehen. Für das Sample konnte ich eine solche Konnotation des Begriffs anhand erster Stichproben allerdings nicht feststellen (eine genauere Untersuchung steht jedoch aus). Walter Manoschek, „Wo der Partisan ist, ist der Jude, und wo der Jude ist, ist der Partisan.“ Die Wehrmacht und die Shoah, in: Gerhard Paul (Hg.), Die Täter der Shoah. Fanatische Nationalsozialisten oder ganz normale Deutsche?, Göttingen 2002, 167–186.
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als Akteure der Gewalt. Sie und ihre Familie hätten vielmehr grundlos die „Heimat“ verlassen müssen, „nur, weil wir Deutsche waren [betont]. Weil wir die deutsche Muttersprache gepflegt haben wie unsere Vorfahren aus dem Schwarzwald oder aus dem Elsass.“54 Ganz im Gegensatz zu ihren Erzählungen über ihre Zeit in Deutschland blieben die „Donauschwaben“ in Syrmien in ihrer Lebensgeschichte gänzlich von Fragen nach (Mit)täterschaft verschont. Weder die Deportationen und Ermordung der jüdischen Bevölkerung Syrmiens fanden Erwähnung, noch kam sie auf den Krieg der Wehrmacht gegen vermeintliche „Partisanen“ zu sprechen. Obwohl die Verfolgung der jüdischen Bevölkerung im Ustascha-Staat bereits 1941/42, als Dora H. noch in Syrmien war, einsetzte,55 wurden diese an keiner Stelle des über sechsstündigen Interviews erwähnt. Die Verfolgung der serbischen Bevölkerung wurde ausschließlich als eine Art innerjugoslawischer Konflikt dargestellt, dem die „donauschwäbische“ Bevölkerung im Ort neutral beigewohnt habe. Die Auslagerung von Unrecht und Gewalt ins Zentrum des Deutschen Reiches half ihr dabei, Verfolgung, Enteignung und Aberkennung der Staatsbürgerschaft nach Ende des Krieges als kontextloses Unrecht darzustellen, welches die deutschsprachige Bevölkerung in ihrem Heimatort zu ausschließlichen Opfern werden ließ. So konnte ihre „Heimat“ (Dora H. verwendete fast ausschließlich diesen Begriff, wenn sie von ihrer Herkunftsregion Syrmien sprach) in ihrer Erzählung als paradiesischer, romantisierter Ort an der Peripherie des Reiches fortbestehen, der sich seiner Konflikt- und Gewaltgeschichte nicht stellen musste. Im Gegensatz zu ihr thematisierte mein Interviewpartner Magnus N. (*1929 in Pressburg/Bratislava) explizit die eigene nationalsozialistische Überzeugung sowie Konflikt und Gewalt in seiner Herkunftsregion. Wiederholt erzählte er von sich selbst als Jugendlichen, der von der nationalsozialistischen Idee überzeugt gewesen sei und schilderte einen Konflikt mit seinem Vater, der daraus hervorging, dass ihm dieser verboten habe, sich freiwillig zur Waffen-SS zu melden: „Es kann sich nicht jeder drücken!“56 habe er seinem Vater damals entgegnet. Auf meine Nachfrage hin, wie ihn die Propaganda damals genau beeinflusst habe, schilderte er folgende Episode: „Schauen Sie, ich hab auf der Fahrt, wie wir geflüchtet sind, sind neben mir Kolonnen von/. Wir sind mit dem Wagen gefahren, also mit dem Wehrmachtswagen und da unten sind die Judenkolonnen getrieben geworden. Und ich hab mich mit meinem Vater noch gestritten, dass das/. ,Das sind doch Verbrecher! Die, schau die an, mit dem KZ-Zeug!‘ und so weiter, hab ich zu meinem Vater gesagt. […] Und mein Vater hat gesagt ,Sei nicht 54 Transkript Dora H., 5–6. 55 Hierzu etwa Carl Bethke, (K)eine gemeinsame Sprache? Aspekte deutsch-jüdischer Beziehungsgeschichte in Slawonien, 1900–1945, Berlin 2013. 56 Interview mit Magnus N., geführt von Melanie Dejnega, 18. 12. 2014 und 16. 3. 2015, Aufnahme und Transkript bei der Autorin, siehe hier Transkript Magnus N., 40.
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so blöd, das sind keine Verbrecher, sondern das, da könntest du auch so dabeistehen!‘“57
Magnus N. schilderte in dieser Episode zwei Sichtweisen auf die im Namen nationalsozialistischer Ideologie verübte Gewalt: Seine eigene, die davon ausging, dass im Konzentrationslager „Verbrecher“ untergebracht seien und eine dementsprechende Behandlung verdienten. Dem entgegengesetzt stellte er die Ansicht des Vaters dar, der versucht habe, seinem Sohn die Willkür der Kategorisierung als „Verbrecher“ näherzubringen und mit den Worten „Da könntest du auch dabei stehen!“ Empathie für die Opfer zu erzeugen. In den Augen meines Interviewpartners hatte sein Vater damals Recht. Als Jugendlicher sei er aber leichte Beute gewesen, denn das Alter habe ihn für verschiedene, später auch unterschiedliche Identifikationsgruppen anfällig gemacht. So sei auch seine Begeisterung für „Deutschland“ und die Idee, dass dieses „wieder seinen Platz in der Welt kriegt“,58 nach Kriegsende bald von einem „großen Staunen“ gegenüber „den Amis“ abgelöst worden, die ihm als 16-Jährigen „in ihren Gummistiefeln wahnsinnig imponiert“ hätten.59 Magnus N. reflektierte im Interview fortwährend über Ursachen der damaligen Gewalt und seine eigene Sozialisation, konkrete TäterInnen kamen jedoch in keiner Episode vor und blieben gesichtslos. Auch in der oben auszugsweise wiedergegebenen Episode, in der er Augenzeuge der Evakuierungsmärsche aus den Konzentrations- und Zwangsarbeitslagern Richtung Westen wurde, rollte er im Fluchtwagen an der Gewalt vorbei. In der Erzählung beschrieb er die „KZ-ler“ vor allem als Opfer passiver und weniger von unmittelbarer, direkter Gewalt: Das von einer Zivilistin überbrachte Essen etwa hätten diese aus Gier verschlungen, obwohl ein „Volkssturmmann“ sie vor den gesundheitlichen Risiken gewarnt habe. Die Wachmannschaft habe „nichts“ getan, „die haben nicht geschossen, gar nichts.“60 AkteurInnen der Gewalt kamen in dieser Szene nicht vor, die Opfer waren vielmehr Opfer einer indirekten Form von Gewalt, nämlich des Hungers. Die Imagination potentieller Täterschaft wurde anhand ihrer Negativbeschreibung („haben nicht geschossen, gar nichts“) angeregt. Protagonist und zentraler Akteur in dieser Episode war weiterhin der jugendliche Magnus N., der alles beobachtete und zudem die ersichtlich schlechte Behandlung der KZ-Häftlinge zu rechtfertigen wusste. Anders als Dora H. externalisierte er seine Komplizenschaft bzw. jene der deutschsprachigen Bevölkerung in seiner Heimatstadt nicht, sondern ließ die nationalsozialistischen Verbrechen zu einem Teil seiner autobiografischen Selbstdarstellung über jene Zeit werden. Im Jahr 2014 stellte 57 58 59 60
Ebd., 96. Ebd., 72. Ebd., 115. Ebd., 97.
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sich mein damals 85-jähriger Interviewpartner als Jugendliche auf der Suche nach Identität und Gruppenzugehörigkeit dar. Seine nationalsozialistische Überzeugung konnte er als Protagonist seiner Lebensgeschichte, einem Entwicklungsroman gleich, anhand der nachfolgenden Identifikation mit einem nun anderen Idol („den Amis“) erfolgreich überwinden. Im Gegensatz zu Dora H. hegte Magnus N. kaum romantische Vorstellungen in Bezug auf seine Herkunftsregion, sondern erzählte seine Lebensgeschichte mit Fokus auf seine persönliche Entwicklung. Für eine plausible, konsistente Selbstdarstellung genügte es zu beschreiben, wie er selbst seine Überzeugungen überwunden hatte, ohne dass Konflikt und Gewalt aus der Erzählung über seine Herkunftsregion ausgeblendet werden mussten. Doch obwohl (Mit)TäterInnen immer wieder in seiner Darstellung auftauchten, taten sie das nicht als konkrete, oder gar handlungstragende Figuren, sondern blieben gesichts- und geschichtslos.
5.2.
Opfer auf allen Seiten, die TäterInnen sind anderswo
Eine andere Form über Krieg, Nationalsozialismus und Zwangsmigration zu sprechen, war die ausschließliche Fokussierung auf Opfer politischer Gewalt, egal welchen Ursprungs diese war. Komplizen- und Täterschaft konnte so weitestgehend aus den Erzählungen ausgeklammert werden. So verhielt es sich in der Erzählung von Rosa O. (*1930 in der Batschka), in welcher Opfer politischer Gewalt über alle Bevölkerungsgruppen und politische Organisationen hinweg vorkamen. Als „Partisanen“ die deutschsprachige Bevölkerung in der Region im Frühjahr 1945 zusammenfassten und in Dörfern internierten, wurde die damals Jugendliche gemeinsam mit ihrer älteren Schwester unter Schlägen in ein Nachbardorf getrieben. Evi, eine „alte Zigeunerin“,61 habe den beiden Mädchen helfen wollen, indem sie die Peiniger der Mädchen beschimpfte und bespuckte. Hätten die zwei „Partisanen“ (ein „Serbe“, ein „Zigeuner“) zunächst ausschließlich die beiden Mädchen geschlagen, habe sich einer von ihnen (der Rom) dann gegen die alte Frau gewandt, die versucht habe, auf „Zigeunerisch“ auf ihn einzureden. Schließlich habe der „Partisan“ so lange auf die Retterin eingeschlagen, bis diese nicht mehr gehen habe können und „im Staub dort, im Dreck mit ihren Kitteln davon gerutscht [ist].“62 Diese Sequenz ist ein gutes Beispiel dafür, wie Rosa O. über Gewalterfahrungen von Opfer- und Täterseite sprach, ohne dabei in einander exkludierende Rollenverteilungen zu verfallen. Sowohl „die Zigeuner“ als auch „die 61 Interview mit Rosa O., geführt von Melanie Dejnega, 16. und 22. 10.2015, Aufnahme und Transkript bei der Autorin, siehe hier Transkript Rosa O., 30. 62 Ebd., 31.
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Partisanen“ wurden beispielhaft anhand unterschiedlicher Verhaltensweisen dargestellt: Die „Zigeunerin Evi“ war die Retterin, die den beiden Mädchen zu Hilfe eilte, wurde letztendlich aber von einem Rom brutal niedergeschlagen. Dieser wiederum war nur einer der beiden „Partisanen“ in der Sequenz. Der zweite habe seinen Kollegen ausgelacht, „wahrscheinlich weil er den auch nicht hat haben wollen,“63 wie meine Interviewpartnerin schmunzelnd vermutete. Bei einer anderen Gelegenheit (der „Gefangennahme“ und Internierung der deutschsprachigen Bevölkerung) sei sie von einem der beiden „Partisanen“, die sie abführten, sexuell bedrängt und geschlagen wurde. Der andere aber sei ihr zu Hilfe gekommen, indem er seinen Kollegen zurechtwies und ihm mit Waffengewalt drohte, sollte er die 14-Jährige weiter schlagen. Sein Eingreifen habe sie letztendlich gerettet. Wenn meine Interviewpartnerin von Gewalt der „Partisanen“ gegenüber den Deutschsprachigen oder anderen EinwohnerInnen ihres Heimatortes erzählte, so stellte sie deren Verhalten stets anhand entgegengesetzter Verhaltensweisen dar. „Opfer“ und (noch vielmehr) „Täter“ waren in ihrer Erzählung, so der Eindruck, keiner eindeutigen Gruppe zuzurechnen, sondern allein eine Frage des Individuums und seines Handlungsspielraums. Erzählerisch setzte sie diese Auffassung bei der Darstellung von GewaltakteurInnen so um, dass diese zumeist in Paaren auftraten, bei welchen es eine gute (d. h. ihr gut gesinnte) und eine böse (gewaltvolle) Seite gab. (Mit)täterInnen und Opfer waren so zwar auf allen Seiten zu finden, die Verantwortung für die Gewalt lagerte meine Interviewpartnerin jedoch aus: Denn die Bevölkerung ihrer Herkunftsregion sei, wie auch bereits davor, während des Krieges und in der Nachkriegszeit lediglich Gegenstand politischer Entscheidungen gewesen, für welche sie nicht verantwortlich war. „Mitgehangen, mitgegangen“ war die Phrase, anhand derer sie mehrmals Situationen und Verhalten der Bevölkerung quer über alle Gruppen hinweg beschrieb.64 „Politik“ sei stets von außen an eine friedliche Bevölkerung herangetragen worden, zum Beispiel schon bei der verpflichtenden Magyarisierung der Nachnamen unter ungarischer Herrschaft und ihrer Slawisierung während der serbischen Vorherrschaft im SHS-Staat.65 Reinhard Kannonier und Waltraud Finster haben in Interviews mit Angehörigen der „Kriegs- und Kriegskindergeneration“ in Österreich ein ähnliches, Verantwortung an „die da oben“ übertragendes Narrativ identifiziert und es als „Unterwerfung unter Herrschaftsverhältnisse als gewissermaßen naturhaften Zu-
63 Ebd., 32. 64 Ebd., u. a. 119. Es ist für die Interpretation unklar, ob Rosa O. die Phrase bewusst oder unbewusst von im Volksmund gängigen „mitgehangen, mitgefangen“ auf „mitgehangen, mitgegangen“ abwandelte und damit auf den aktiven Beitrag der deutschsprachigen Bevölkerung in ihrer Heimatregion zum Nationalsozialismus („mitgegangen“) verwies. 65 Ebd.
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stand“ bezeichnet.66 Die Verantwortung für politische Gewalt liegt diesem nach allein bei der politischen Elite. Damit befreien die Erzählenden sich und ihr soziales Umfeld von moralischer (Mit-) Verantwortung und betonen gleichzeitig die gemeinsame Erfahrung von Leid und Machtlosigkeit. Anders war dies im Interview mit Karl G. (*1931 in Syrmien). Als ich ihn fragte, ob und inwiefern die örtliche Bevölkerung unter dem Krieg zu leiden hatte, verwies er zunächst auf Gewalt gegen die deutschsprachige Bevölkerung. Anschließend nahm die episodische Antwort allerdings eine überraschende Wendung. „Ich weiß noch, da bei uns, an einem Samstag, da war ein Markt. Da ist der Großvater heim gekommen und hat gesagt, ,Jetzt haben sie auf dem Salasch‘, das war ein, ein Gutshof, ,haben’s die Frau umgebracht und die zwei Kinder, also die Partisanen.‘ Und was war das für ein Erfolg? Da ist das Militär gekommen von Indija, hat eine Kontrolle gemacht, und haben sie gewisse Leute mitgenommen als Erpressung, weil sie gesagt haben, für einen werden zehn aufgehängt. Dann haben sie zehn zusammen gefangen, aus der Gegend dort, weil die richtigen haben sie ja nicht erwischt, die waren ja weg [betont], und haben die zehn aufgehängt, am Telegrafenmasten auf der Straße nach Indija, das sind 16 km weg. Zur Abschreckung.“ MD: „Das waren Leute von Ihnen aus dem Dorf ?“ KG: „Nein, nein. Das waren/ nicht von unserem Dorf, sondern von einem anderen.[…?], das war 16 km weg. … Auf alle Fälle waren das Serben oder Kr/ weiß ich nicht, was das waren. Auf alle Fälle haben die das gemacht. Das war die Wehrmacht.“67
Karl G. verwies in dieser Sequenz, in der weder er noch sein direktes Umfeld direkt vorkamen, explizit auf Wehrmachtsverbrechen hin. Seine abschließende, allgemeine Feststellung „Das war die Wehrmacht“ suggeriert zudem, dass dies als Beispiel für das übliche Vorgehen der Wehrmacht gemeint war. Karl G. war der einzige Interviewte im Sample, der Verbrechen deutscher Einheiten episodenhaft und anhand (vermeintlich) eigener Erinnerungen darstellte. Als Zwölfjähriger habe er bereits die Diskriminierung von Juden und Jüdinnen mitbekommen und diese als „Sauerei“ empfunden.68 Wiederholt schilderte er einschlägige Episoden, um darzustellen, dass er und auch andere im Dorf sehr wohl von den nationalsozialistischen Massenverbrechen und insbesondere vom Holocaust gewusst hätten.69 Er verwies auf die stark antisemitische Propaganda 66 Meinrad Ziegler/Waltraud Kannonier-Finster, Österreichisches Gedächtnis. Über Erinnern und Vergessen der NS-Vergangenheit, Wien 1997, 146. 67 Interview mit Karl G., geführt von Melanie Dejnega, 30. 10. 2015 und 20. 1. 2016, Aufnahme und Transkript bei der Autorin, siehe hier Transkript Karl G., 33–34. 68 Ebd., 11. 69 Interessanterweise steht diese Darstellung im Gegensatz zu vielen anderen Interviews, in denen das eigene Nichtwissen und jenes des sozialen Umfelds betont werden. Hierzu auch Harald Welzer/Olaf Jensen/Sabine Moller/Karoline Tschuggnall, „Opa war kein Nazi“. Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis, Frankfurt am Main 2005, 156–161.
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zu jener Zeit und erzählte von einem „Fronturlauber“, der in „Lublin, wo die Juden eingesperrt waren,“70 eingesetzt gewesen sei und seinem Großvater und ihm bereits im Sommer 1943 von der Gewalt gegenüber der jüdischen Bevölkerung berichtet habe. „Und wie er auf der Straße gekommen ist, hat der Großvater gefragt ,Lorenz – wie geht’s?‘ Sagt der Toni-Vedder71 ,Ich dürfte dir das gar nicht erzählen, was wir [betont] machen!‘ Sagt er ,Was?‘, sagt er : ,Sie glauben es nicht, wir stehen Wache. Da kommen’s mit den Waggons, die Juden, und werden in die Lager hinein transportiert. Oder zumindest müssen sie gehen. Und wir müssen links und rechts Wache stehen, /ja/ dass keiner fortgeht!‘ Jetzt sagt er ,Die geben uns Uhren und was weiß ich was alles, wir sollen sie auslassen!‘. Sagt er ,Wir dürfen ja nicht! Wenn wir nämlich was machen, die schießen uns sofort über den Haufen! [betont] Wissen Sie, was sie gesagt haben? Ihr Aprildeutschen, ihr werdet als letzte dann reinkommen, dass keiner was erfährt!‘ [leicht betont]. /ja/ Das waren ganz brutale Männer, /ja/ die was da die Hauptwache gehabt haben. Und das hat er meinem Großvater erzählt. Und da hab ich schon 1943 im Sommer gewusst, was da alles passiert.“72
Karl G. bezog zur Behauptung des Bekannten seines Großvaters, dass den jugoslawiendeutschen Soldaten und SS-Männern in Polen von „Reichsdeutschen“ damit gedroht worden sei, selbst in Lagern inhaftiert oder gar erschossen zu werden, nicht Stellung. Weder stützte er diese Aussage anhand anderer Narrationen, noch stellte er diese in Frage. Da er sie aber sowohl beim Erst- als auch beim Zweittermin erzählte, kommt dieser (vielleicht innerfamiliär tradierten) Episode zur Interpretation seiner Deutung der Vergangenheit eine Schlüsselfunktion zu. Er verpackte in ihr zwei Argumente, die sich zum einen mit dem Wissen über den Holocaust und zum anderen mit der „donauschwäbischen“ Beteiligung daran beschäftigten. Die „Donauschwaben“ seien demnach zwar an Verfolgung und Ermordung der jüdischen Bevölkerung beteiligt gewesen, ihre Verantwortung dafür ließe sich aber auf ein Mindestmaß reduzieren, da sie unter Androhung von Gewalt erzwungen worden sei. Die von ihm zitierte Bezeichnung der deutschsprachigen Bevölkerung Jugoslawiens als „Aprildeutsche“73 verweist auf eine Hierarchie innerhalb der „Volksgemeinschaft“, in welcher „Volksdeutsche“ aus Südosteuropa den „Reichsdeutschen“ untergeordnet waren.74 70 Aus der Schilderung geht nicht klar hervor, wo genau der „Einsatzort“ des Fronturlaubers war, ob im Lubliner Ghetto vor seiner Auflösung im Frühjahr 1942 und/oder in den Vernichtungslagern im Distrikt Lublin. 71 Dialektale, freundschaftliche Anrede unter Männern, „Vetter“. 72 Transkript Karl G., 38–39. 73 Diese Bezeichnung bezieht sich auf die Eroberung Jugoslawiens durch die Wehrmacht im April 1941. 74 Zur ihnen zugedachten Rolle der „Donauschwaben“ in der nationalsozialistischen Volkstums- und Außenpolitik siehe Tammo Luther, Volkstumspolitik des Deutschen Reiches 1933–1938, Stuttgart 2004.
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Diese Schlechterstellung habe in letzter Konsequenz die „Donauschwaben“ zu missbrauchten Gehilfen des Massenmords gemacht. Weil sie als nicht zuverlässig galten, sollten sie nach seiner Durchführung gar selbst zu Opfern der „Reichsdeutschen“ werden. Diese Unterscheidung hinsichtlich der Verantwortung der deutschsprachigen Bevölkerung Jugoslawiens einerseits und den „Reichsdeutschen“ andererseits hatte in der Erzählung eine doppelte Funktion: Erstens wurde über Komplizen- oder gar Täterschaft der „Donauschwaben“ beim Völkermord gesprochen. Zweitens regte die Episode aber auch die Imagination der deutschsprachigen Bevölkerung Jugoslawiens als nächstem Opfer an. In der Erzählung Karl G.s traten sie somit nicht nur als Opfer von Enteignung, Internierung und Zwangsmigration in Erscheinung, sondern auch – gleich Juden und Jüdinnen sowie anderer NS-Verfolgter – als Opfer (zukünftiger) nationalsozialistischer Politik. Diese Unterteilung ermöglichte meinem Interviewpartner, über von (Reichs-)Deutschen verübte Gewalt zu sprechen, im selben Atemzug aber die eigene Gruppe („Donauschwaben“) als Opfer darzustellen. Diese hätten zwar im Krieg und in nationalsozialistischen Organisationen mitgemacht, seien aber letztlich selbst von den („reichsdeutschen“) Nationalsozialisten „Betrogene“ gewesen. Der Vergangenheitsnarration von Rosa O. ähnlich, externalisierte auch Karl G. die „donauschwäbische“ Verantwortung an hierarchisch übergeordnete Gruppen: Waren es in der Erzählung von Rosa O. über alle Konfliktparteien hinweg ganz allgemein die politischen Eliten, denen das gemeine Volk ausgeliefert gewesen war, so lag in der Darstellung von Karl G. die Verantwortung für die nationalsozialistischen Verbrechen bei den „Reichsdeutschen“. Bereits ein Jahr nach dem Balkanfeldzug 1941, der Gleichschaltung der deutschen Volksgruppenorganisationen und den (zunächst noch freiwilligen) Rekrutierungen zur Waffen-SS setzte es die ersten großen Niederlagen, es folgten Zwangsrekrutierungen und ab Herbst 1944 die immer näher rückende Front.75 Das auch in anderen Interviews präsente Narrativ, von den „Reichsdeutschen“ betrogen worden zu sein, kann daher auch als Ausdruck damals enttäuschter Hoffnungen gelesen werden.76
75 Zu Freiwilligkeit und Zwang bei der Rekrutierung siehe Sundhaussen, Waffen-SS in Kroatien; Marie-Janine Calic, Die Deutsche Volksgruppe im „Unabhängigen Staat Kroatien“, 1941–1944, in: Mariana Hausleitner (Hg.), Vom Faschismus zum Stalinismus. Deutsche und andere Minderheiten in Ostmittel- und Südosteuropa 1941–1953, München 2008, 11–22; Thomas Casagrande, Die volksdeutsche SS-Division „Prinz Eugen“. Die Banater Schwaben und die nationalsozialistischen Kriegsverbrechen, Frankfurt/New York 2003. 76 Hierzu ausführlich Bethke, Minderheiten.
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Fokussierung auf „deutsches Leid“
Ein anderer Modus, mit der Komplexität von Gewalterfahrungen in den Kriegsund Nachkriegsjahren im Setting eines lebensgeschichtlichen Interviews umzugehen, ist die Fokussierung auf Opfer-Erfahrungen. Wenn diese Interviewten über Ereignisse politischer Gewalt erzählten, stand „deutsches Leid“ im Mittelpunkt. Andere (v. a. jüdische) Opfer fanden nur dann Erwähnung, wenn sich direkt im Anschluss ein Vergleich mit „deutschem Leid“ herstellen ließ. Wie Jutta Faehndrich für Vergangenheitsnarrationen in Heimatbüchern von „Vertriebenen“ in der Bundesrepublik Deutschland gezeigt hat, nahm eine solche „Anlehnung an den Referenzrahmen der Shoah“ zur Betonung des eigenen Opferstatus vor allem in „sudetendeutschen“ Heimatbüchern seit Mitte der 1980erJahre massiv zu.77 Die Shoah als Referenzrahmen für das „eigene“ Leid war als Argumentationsmuster auch in den lebensgeschichtlichen Interviews zu finden.78 Kontexte, die auf andere Opfererfahrungen als auf jene der deutschsprachigen Bevölkerung verwiesen hätten, wurden dabei aus der Erzählung ausgeblendet. So hatte etwa meine Interviewpartnerin Maria P. (*1933 in Nordböhmen) beim ersten Termin die jüdische Bevölkerung ihrer Heimatstadt mit keinem Wort erwähnt. Also fragte ich sie beim Zweittermin, ob sie in ihrer Kindheit Juden und Jüdinnen gekannt habe. „Das kann ich nicht beurteilen, aber ich glaub die Juden waren überall, weil man hat ja auch die Juden/ an das kann ich mich auch erinnern, dass meine Eltern gesagt haben: ,Stell dir vor, die nette Kundschaft, die haben sie jetzt abgeholt!‘ Und dann sind die ja mit einem Judenstern, so einem gelben, auf dem Mantel mussten sie sich das drauf nähen, das war so eine Plakatierung, ,Ich bin ein Jude‘. Die haben dann einen gelben Stern tragen müssen. An das kann ich mich auch noch erinnern. Was ich persönlich als Kind nicht ganz mitgekriegt hab, aber von Erwachsenen weiß, das haben die Tschechen dann mit uns gemacht! Die Deutschen haben müssen so eine Armbinde tragen /mit einem N oben/ Ja, damit man gleich von vornherein weiß, das ist ein/ ein/, ja.“79
Die direkte Antwort von Maria P. auf meine Frage fiel im erstem Moment sehr knapp und augenscheinlich antisemitisch aspiriert aus: Juden und Jüdinnenseien „überall“ gewesen. Sogleich kam sie auf die Verfolgung und Deportation von Juden und Jüdinnen in der NS-Zeit zu sprechen. Zur Entlastung leitete sie das Thema mit einem direkten Zitat ein, das die positive Einstellung ihrer Eltern gegenüber Juden und Jüdinnen im Allgemeinen anhand ihrer Sympathiebe77 Faehndrich, Geschichte, 193. 78 Heidemarie Uhl verweist auf die Bedeutung, die „Flucht und Vertreibung“ in der bundesdeutschen Debatte für die Unterscheidung zwischen „eigenem Leid“ und dem „Leid anderer“ hatte. Siehe Uhl, Flucht und Vertreibung. 79 Interview mit Maria P., geführt von Melanie Dejnega, 7. 9. 2015 und 25. 11. 2015, Aufnahme bei der Autorin.
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kundung gegenüber einem (einzelnen) jüdischen Kunden und ihre Überraschung abbilden sollte, als dieser deportiert wurde. Nach einer kurzen Affirmation, dass sie eigene Erinnerungen an die Kennzeichnungspflicht für die „jüdische“ Bevölkerung habe, fuhr sie mit einem Verweis auf die Kennzeichnungspflicht der von tschechischen AkteurInnen als „deutsch“ identifizierten Bevölkerung mit einem „N“ für „Neˇmec“ in den ersten Wochen nach Kriegsende fort. Wie die jüdische Bevölkerung während des Krieges sei in der Nachkriegszeit die deutschsprachige – so suggeriert die assoziative Erzählfolge – zur Kennzeichnung gezwungen gewesen.80 Dass die Implikationen dieser Kennzeichnung aber andere gewesen waren, blieb eine Leerstelle. Vielmehr stellte meine Interviewpartnerin anhand des Topos „gelber Stern“/Kennzeichnungspflicht eine Parallele zwischen der Verfolgung und Ermordung der jüdischen Bevölkerung und Verfolgungsmaßnahmen gegenüber „Sudetendeutschen“ nach dem Krieg her. Wie bereits erwähnt, ist ein Andocken an Narrationen über den Holocaust anhand bestimmter, in der medialen Öffentlichkeit dem Holocaust zugeordneter Topoi oder Begriffe wie Kennzeichnungspflicht, „Viehwaggon“ oder „Konzentrationslager“ ein gängiges Stilmittel der Vertriebenenpublizistik. Nach Auskunft der Interviewten war diese auch ihre Hauptinformationsquelle bei der Beschäftigung mit der Geschichte ihrer Herkunftsregion gewesen. Eine solche „Wechselrahmung“ im Sinne einer „Implementierung von Holocaust-Repräsentationen“ haben Harald Welzer, Sabine Moller und Karoline Tschuggnall auch in Interviews mit in Deutschland sozialisierten „Zeitzeugen“ und ihren Familien identifiziert – vor allem in solchen „Erzählungen, die Deutsche als Opfer zeichnen.“81 Die Fokussierung auf „deutsche“ Opfererfahrungen in der Nachkriegszeit bezog sich in der Selbstdarstellung von Maria P. jedoch nicht nur auf die Zwangsmigration, sondern auch auf eine von ihr als solche empfundene Dominanz von Meistererzählungen, die diese Zwangsmigration der „Sudetendeutschen“ vergessen würden. Als zentrale Motivation für ihre Bereitschaft zum Interview nannte sie, gegen das „Vergessen“ von „uns Sudetendeutschen“ anzukämpfen.82 Denn genau das sei in Österreich über Jahrzehnte hinweg passiert. Auf meine Frage hin, an welchen Gelegenheiten oder in welchen Situationen sie sich an ihre Ausweisung aus der Tschechoslowakei erinnert fühle, äußerte sie
80 Zur Kennzeichnungspflicht für Deutsche siehe Jan Kukl&k, Deutschland und die Personen deutscher Nationalität in der tschechoslowakischen Gesetzgebung (1940–1948), in: Manfred Kittel (Hg.), Deutschsprachige Minderheiten 1945. Ein europäischer Vergleich, München 2007, 1–130, 42. 81 Welzer/Jensen/Moller/Tschuggnall, Opa, 91. 82 Interview mit Maria P.
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ihren Ärger darüber, „dass man jedes Jahr Mauthausen hat“, während man das Schicksal der „Sudetendeutschen“ stets vergessen habe.83 In ein Extrem mündete eine solche (ausschließliche) Fokussierung auf die deutschsprachige Bevölkerung als Opfer von Gewalt in der lebensgeschichtlichen Erzählung von Burghard V. (*1929 in Nordwestböhmen): Er verschwieg nicht nur die Opfer nationalsozialistischer Verfolgungspolitik oder gebrauchte diese ausschließlich, um in der Folge auf „deutsches Leid“ zu verweisen, er leugnete gar ihre Existenz. Im Interview bat ich darum, mir etwas über die Haltung seiner Eltern gegenüber dem Nationalsozialismus zu erzählen. Nachdem der Interviewte von seinem deutschnational eingestellten Vater berichtet hatte, der nach der Machtübernahme vom „kumpelhaften Verhalten“ der NationalsozialistInnen enttäuscht gewesen sei, fragte ich ihn nach seiner Mutter. „Ja, die war eine Vollblutnationalsozialistin. Na Vollblut, ja. Es war nichts Schlechtes, um Himmels willen! Warum sagt man denn, dass das Verbrecher waren [betont]? War ja nichts Schlechtes [betont]! Und ich meine, da hat’s/. Diese Judengeschichte ist ja sowas von unnötig und bitte auch, und wenn nur ein Jude vergast worden wäre [betont], wäre das für eine Kulturnation, äh, ein, un/, un/ un/, entsetzlich [betont]! Aber es/. Ich will mich da jetzt nicht verblättern, aber es gibt da so Bücher, die also – nachweisen, ähm/. Lassen wir das. Lassen wir das.“84
Burghard V. klammerte die Vorstellung deutscher Komplizen- oder Täterschaft nicht nur aus seiner Erzählung aus, sondern verneinte diese sogar aktiv. Der Holocaust tauchte in seiner Darstellung lediglich im Konjunktiv auf, er formulierte ihn als Eventualität, die allem voran sein Empfinden bedrohte, wonach der Nationalsozialismus „nichts Schlechtes“ gewesen sei. Vehement wehrte er sich gegen Vorstellungen, die seine hohe Identifikation mit einer „deutschen Kulturnation“ störten. Der fatale Bruch, den solche Bezüge für sein Selbstbild bedeuteten, wird im Zitat oben anhand zunehmender Satz- und Wortabbrüche in einer sonst sehr fließenden Erzählweise erkennbar. Diese zeigen, wie sehr der Interviewte an dieser Stelle nach Worten rang, vielleicht auch sich des in die Illegalität abgleitenden Tenors seiner Vergangenheitsnarration bewusst wurde. Abrupt brach er die von ihm begonnene Imagination deutscher Täterschaft ab und besann sich auf die „Beweise“, die er gegen eine solche gesammelt hatte und die in Form geschichtsrevisionistischer Literatur seine Bibliothek füllten. Seine deutschnationale und später nationalsozialistische Sozialisation beleuchtete er an keiner Stelle des Interviews kritisch, sondern er tat alles dafür, die darauf beruhenden Freund/Feind-Schemata in der gesamten Erzählung durchzuhalten: „Die Tschechen“ in Böhmen seien stets neidisch auf die kulturellen Leistungen 83 Ebd. 84 Interview mit Burghard V., geführt von Melanie Dejnega, 2. 8. 2012 und 22. 12. 2014, Aufnahme bei der Autorin.
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„der Deutschen“ gewesen, was sie zu Sabotageakten und letztendlich auch dem Heydrich-Attentat veranlasst habe. Dass die darauf von deutscher Seite folgenden „Maßnahmen“ „grausam“ gewesen seien (Burghard V. meinte hier das Massaker an der Dorfbevölkerung in Lidice), habe lediglich eine „selbstverständliche Reaktion“ auf das Attentat dargestellt.85 Die zentralen Verbrechen des Krieges waren in seiner Darstellung die Bombenangriffe der Alliierten auf Dresden, wo er als Angehöriger der HJ zur Beseitigung des Schutts eingesetzt worden war. Aber auch die „Erfindung“ des Holocaust und die „üble Nachrede“, die die Wehrmacht in den letzten Jahrzehnten bekommen habe (damit bezog er sich wohl auf die „Wehrmachtsausstellung“)86, würden die Deutschen zu Opfern alliierter Propaganda machen. Da sich die Deutschen nichts zu Schulden kommen lassen hätten, seien sie die eigentlichen Opfer des Krieges. Die Konstruktion einer solchen ausschließlichen Opfer-Identität der deutschsprachigen Bevölkerung in der Tschechoslowakei (aber auch in Deutschland und Österreich) gelang Burghard V. nur, indem er sowohl den Holocaust leugnete, als auch andere, im Namen des „deutschen Volkes“ verübten Verbrechen während des Krieges legitimierte (wie im Fall von Lidice). So seien auch Verbrechen der Wehrmacht und der Massenmord an den Juden und Jüdinnen eine Erfindung der („jüdischen“) Siegermächte.87 In diesem Punkt unterschied sich seine Argumentationsweise von jener Maria P.s, die die Gewalterfahrungen von Juden und Jüdinnen sowie „Sudetendeutschen“ gegenseitig aufrechnete. Hinsichtlich der geschichtsrevisionistischen Ansätze stellte Burghard V. im Sample zwar eine Ausnahme dar,88 allerdings war dieser Argumentationsmodus, der Deutsche ausschließlich als Opfer von Gewalt konzipierte und ihre Rolle als KomplizInnen und TäterInnen nationalsozialistischer Verfol-
85 Transkript Burghard V., 32. Das Massaker an den Einwohnern von Lidice dient in der „sudetendeutschen“ Geschichtsnarration immer wieder als Beispiel für die „Harmlosigkeit“ des NS-Regimes, indem dieses als legitime Reaktion auf das Attentat auf den stellvertretenden Reichsprotektor Reinhard Heydrich dargestellt wird, siehe hierzu Volker Zimmermann, Geschichtsbilder sudetendeutscher Vertriebenenorganisationen und „Gesinnungsgemeinschaften“, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 53 (2005) 10, 912–924, 917. 86 Hannes Heer (Hg.), Wie Geschichte gemacht wird. Zur Konstruktion von Erinnerungen an Wehrmacht und Zweiten Weltkrieg, Wien 2003. 87 Transkript Burghard V., 70. 88 Zu revisionistischen Vergangenheitsnarrationen in Österreich siehe Brigitte Bailer-Galanda, „Revisionismus“ – Pseudowissenschaftliche Propaganda des Rechtsextremismus, in: Brigitte Bailer-Galanda/Wolfgang Neugebauer/Christa Mehany-Mitterrutzner (Hg.), „Ihrer Überzeugung treu geblieben. Rechtsextremisten, „Revisionisten“ und Antisemiten in Österreich, Wien 1996, 28–39; Helga Embacher, „… dass die Ehre der Kameraden unangetastet bleiben müsse.“ Die „Wehrmachtssausstellung“ und das Geschichtsbild des Kameradschaftsbundes, in: Helga Embacher/Albert Lichtblau/Günther Sandner (Hg.), Umkämpfte Erinnerung. Die Wehrmachtsausstellung in Salzburg, Salzburg 1999, 96–132.
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gungs- und Vernichtungspolitik ausklammerte, bei genauerer Betrachtung in abgeschwächter Form in vielen Interviews zu finden.
VI.
Conclusio und Ausblick: Die Latenz der Vertriebenenpublizistik und Chancen einer migrationsgeschichtlichen Lesart von „Flucht und Vertreibung“
In diesem Beitrag habe ich drei narrative Strategien beschrieben, wie „Vertriebene“ aus der Tschechoslowakei und Jugoslawien mit der Opfer/Täter-Ambivalenz umgehen, wenn sie in einem Interview ihre Lebensgeschichte erzählen: Das tun diese erstens, indem sie Komplizen- und Täterschaft in ihrem unmittelbaren Umfeld als Möglichkeit in die Erzählung mit einbinden und vor diesem Hintergrund die Ambivalenz ihre eigenen Erfahrungen als Opfer von Gewalt thematisieren. Zweitens, indem unterschiedliche Opfer-Erfahrungen nivelliert, die Verantwortung für die politische Gewalt externalisiert und einer bestimmten sozialen Gruppe zugeschrieben wird (etwa „den Mächtigen“, „den Politikern“). Eine dritte Strategie war, ausschließlich von Ereignissen zu berichten, in denen die deutsche Bevölkerung zum Opfer von Gewalt geworden war. Als Täter wurden in diesen Darstellungen die jeweils „anderen“ konzipiert – seien es TschechInnen, SerbInnen oder sogar – wir im Fall von Burghard V. – Jüdinnen und Juden. Ordnet man diese drei Erzählweisen den Herkunftsregionen der Interviewten zu, kommt man für eine qualitativ angelegte Studie wie diese zu einem überraschend eindeutigen Ergebnis: Während Interviewte, die sich in ihrer Narration mit der Vorstellung eigener Täter- oder Komplizenschaft (oder jener ihrer Familien) auseinandersetzten, aus unterschiedlichen Herkunftsregionen stammten, waren Interviewte, die exklusiv Erfahrungen der deutschsprachigen Bevölkerung als Opfer politischer Gewalt darstellen, aus Böhmen und Mähren nach Österreich gekommen. In ihren Erzählungen reduzierten sie die deutschsprachige Bevölkerung auf eine Opferrolle, während von ihr oder in ihrem Namen verübte Gewalt ausgeblendet oder sogar (wie im Fall von Burghard V.) geleugnet wurde. In Interviews mit aus Slawonien und der Vojvodina Zugewanderten dominierte hingegen ein Opfer unterschiedlicher ethnischer oder politischer Zugehörigkeiten inkludierendes Bild die Erzählung. Wie aber kommt es zu einer solchen tendenziellen Korrelation von regionaler Herkunft und Vergangenheitsnarration? Immerhin lebten die Befragten zum Zeitpunkt des Interviews bereits seit Kriegsende in Österreich. Sie teilten damit seit mehreren Jahrzehnten denselben, durch Politik und Medien geprägten
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Raum von Repräsentationen der Vergangenheit – ganz jenseits ihrer „eigentlichen“ Herkunft. Beantwortet werden kann die Frage auf zwei Ebenen: Erstens sozialgeschichtlich, da die jeweilige historische Situation und damit auch das Zusammenleben der ethnischen Gruppen in den einzelnen Regionen sich stark unterschieden. Gerade Interviewte aus kleineren, multiethnisch zusammengesetzten Ortschaften, wie sie etwa in der Vojvodina und vor allem in Slawonien typisch waren, betonten die große Zahl an Opfern, die es auf allen Seiten gegeben habe. Ehemaligen EinwohnerInnen „rein deutscher“89 Städte, wie sie vor allem in Böhmen und Mähren existierten, fiel es umgekehrt leichter, die ihnen unbekannte tschechische Bevölkerung in ihrer Erzählung ausschließlich als TäterInnen zu konzipieren. Erklärungen wie diese, die das Leben der Interviewten vor ihrer Migration adressieren, reichen aber für eine Begründung der Korrelation zwischen Herkunftsregion und Erzählmuster nicht aus. Wie erwähnt ist dafür bereits zu viel Zeit seit dem Verlassen der Herkunftskontexte vergangen, zu viele Erfahrungsschichten haben sich über die damaligen Ereignisse und Umstände gelegt.90 Erfahrungen, die nach dem Krieg gemacht wurden, sind deswegen für Erzählungen über die Kriegszeit mitunter genauso bedeutsam wie jene, die während des Krieges gemacht worden waren. Eine zweite Erklärungsebene für die Korrelation zwischen Herkunftsregion und Umgang mit der NS-Vergangenheit in der Lebensgeschichte stellt der diskursive Rahmen dar, in dem individuelle Erinnerung an Vergangenes stattfindet. Im Fall der „volksdeutschen“ Evakuierten, Flüchtlinge und Vertriebenen wird das Erzählen über ihre Migrationserfahrung auch durch die Lektüre von aus dem Umkreis der Vertriebenenorganisationen stammender Publizistik beeinflusst. Die dort dargestellten „historischen Fakten“ dienten den Interviewten oft als Belege, die ihre eigene Position untermauern oder Parallelen zu Erfahrungen anderer „Vertriebener“ herstellen sollten. Die Diskrepanz zwischen Erzählungen von aus Kroatien und der Vojvodina auf der einen und aus der Tschechoslowakei stammenden Interviewten auf der anderen Seite findet sich auch in Heimatbü89 Anhand des Attributs „rein deutsch“ beschrieben viele Interviewte ihre Herkunftsorte, wenn in diesen die deutschsprachige Bevölkerung die Mehrheit stellte. Zur Zusammensetzung der Bevölkerung in den einzelnen Gebieten und Ortschaften siehe: Volkszählung in der cˇechoslovakischen Republik vom 1. Dezember 1930, hg. vom Statistischen Staatsamte, Prag 1934, XX. Kritisch dazu Tara Zahra, Reclaiming Children for the Nation: Germanization, National Ascription, and Democracy in the Bohemian Lands, 1900–1945, in: Central European History 37 (2004) 4, 501–543, 517–522. 90 In diskursiver Hinsicht hat Ulrike Jureit in diesem Zusammenhang den Begriff der „diachronen Diskursaufschichtung“ geprägt. Ulrike Jureit, Das Leben wird vorwärts gelebt und rückwärts verstanden – Mündlich erfragte Fallgeschichten als Quellen historischer Forschung, in: Susanne Düwell/Nicolas Pethes (Hg.), Fall-Fallgeschichte-Fallstudie: Theorie und Geschichte einer Wissensform, Frankfurt am Main/New York 2014, 239.
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chern dieser beiden Gruppen in Deutschland wieder, wie Jutta Faehndrich festgestellt hat: Während in „sudetendeutschen“ Publikationen der Beitrag der „Sudetendeutschen“ zur nationalsozialistischen Verfolgungs- und Vernichtungspolitik „allein zum eigenen Positionieren im bundesdeutschen Opferdiskurs“91 thematisiert wurde, habe sich – so Faehndrich – in „donauschwäbischen“ Schriften bereits in den 1970er-Jahren eine „durchaus kritische Haltung“ etabliert, die auch Beiträge aus den eigenen Reihen anerkannte und das Verhalten der deutschen Bevölkerung während des Krieges als falsch bewertete.92 Zwischen diesen beiden Polen pendelte in den Interviews auch das Erzählen über Krieg, Nationalsozialismus und Zwangsmigration: An einem Ende stand ein Opferbild, das sehr unterschiedlichen Gruppen in der Bevölkerung einen Opferstatus zusprach – von den Deutschen über die Serben und Juden bis hin zu den Roma. Am anderen Ende wurde allein den Opfererfahrungen der deutschen Bevölkerung Gültigkeit zugesprochen.93 Der Abgleich dieser narrativen Strategien mit den von Faehndrich in den Heimatbüchern identifizierten Deutungsmustern lässt den Schluss zu, dass es auch über sechzig Jahre nach „Flucht und Vertreibung“ die Vertriebenenorganisationen sind, deren Vergangenheitsdeutungen die Erinnerungen an „Flucht und Vertreibung“ prägen und sich so in die Tradierung auch über Generationen hinweg einschreiben. Dieser starke Einfluss auf die biographischen Selbstdarstellungen der „Vertriebenen“ ist jedoch nicht nur aussagekräftig im Hinblick auf die Verstrickung von medialem Diskurs mit autobiografischem Erzählen. Sie verweist auch auf einen „blinden Fleck“ in der österreichischen Zeitgeschichte genauso wie in der österreichischen Erinnerungskultur, die den in Österreich sesshaft gewordenen „ZeitzeugInnen“ von „Flucht und Vertreibung“ bis heute keine alternativen Deutungsangebote für ihre Erfahrungen zur Verfügung gestellt haben. Vielleicht stellt ja die Eröffnung des Hauses der Geschichte Österreich im November 2018 diesbezüglich einen Wendepunkt dar, der nach und nach auch Niederschlag in subjektiven Vergangenheitsdeutungen findet: In der Dauerausstellung des HGÖ ist geplant, die Zuwanderung der deutschsprachigen Bevölkerung aus Ostmittel- und Südosteuropa nach Österreich als Teil des allgemeinen Globalisierungsgeschehens und, damit verbunden, als Teil österreichischer Migrations- und Integrationsgeschichte zu präsentieren.94 Der zuvor 91 Faehndrich, Geschichte, 188. 92 Ebd., 162. 93 Die dritte narrative Strategie (die Imagination „eigener“ d. h. deutscher Täter- und Komplizenschaft), die im Rahmen dieses Beitrags vorgestellt werden konnte, kam in Faehndrichs Analyse nicht vor – ein Resultat, das in der Auswahl des Quellenmaterial begründet liegt und Vorteile mündlicher Quellen sichtbar macht. 94 Siehe Oliver Rathkolb (Hg.), Umsetzungsstrategie für das Haus der Geschichte Österreich – Ideen und Entwürfe des Internationalen Wissenschaftlichen Beirates, Wien 2015, 55.
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geschilderten, von Rainer Ohliger geforderten Lesart der Geschichte von „Flucht und Vertreibung“ als Migrationsgeschichte wird auf diesem Weg (bewusst oder unbewusst) nachgekommen. Ein wichtiger Grundstein ist gelegt, damit vielleicht schon in naher Zukunft „Zeitzeugen“ wie die gemeine Öffentlichkeit in Österreich über „Flucht und Vertreibung“ sprechen können, ohne sogleich in binäre Opfer/Täter-Konzeptionen zu verfallen.
Abstracts
“Agriculture and Food in National Socialism”, edited by Ernst Langthaler and Ina Markova Gesine Gerhard No More Turnips! Nazi Food Politics in the Context of the Second World War Over the course of twelve years, the Nazis profoundly changed consumption habits and food distribution in Germany. This essay examines how the NSRegime used food to win and maintain political support, to create the myth of a people’s community that brutally excluded Jews and “social outsiders”, and to prepare and fight a war that would lead to the starvation and murder of millions of people the Nazis deemed inferior. The essay illustrates how food politics was one of the most important instruments for the Nazi state to exercise control and implement its racial ideology.
Ernst Langthaler Racial Productivism: National Socialism and Agrarian Modernization in the Reichsgau Niederdonau, 1938–1945 The article challenges the conventional wisdom that the Nazi era in Austria was an interlude or even a step back in agricultural development. Building upon a comprehensive body of sources and mixed methods, the study outlines the contours of a project directed towards an alternative modernity beyond liberalism and socialism: on the one hand, the peasantry as a backbone of the German race should be strengthened; on the other hand, farm productivity should be raised according to national autarky. The project of racial productivism – the creation of a both racially and technically productive peasant – was
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realized at different levels: at the technical level, state-supported pioneer farms managed to raise productivity, while the overwhelming majority of farmers tended to extensification due to lack of resources. At the institutional level, the interventionist state established itself as central regulator of the agricultural sector. Although the “great leap” failed, several small steps were taken along the productivist transition of Austria’s agrosystem – with multiple effects on the postwar development.
Ulrich Schwarz-Gräber “Transparent Peasants”. Principal-Agent Problems of the Regulation of Land Tenancy by the Nazi Regime Recent academic literature on agricultural policy during the first half of the twentieth century has foregrounded the trend of the growing state intervention into rural economies. From a microhistorical perspective, this article focuses on strategies of the Nazi agricultural administration to govern land tenancy – an area mostly neglected by the literature on Nazi agricultural policy up to now. The findings show that the efforts to control tenancy relations can reveal crucial features of state intervention by the Nazi regime. By analyzing these efforts as attempts to solve principal-agent problems, the case of tenancy relations can serve as example for a more general shift within the relationship between the state and the rural population.
Gerhard Siegl From the “Austrian Problem” to the “National Sanctuary”. Austrian Mountain Farming in the Nazi Era This article deals with the agricultural policy and racial ideology relating to mountain farming between 1938 and 1945, when Austria was a province of Nazi Germany. The Alpine farmers were confronted with numerous economic innovations and with the National Socialist “blood and soil” ideology, considering mountain farmers as the essential “raw material” for the “breeding” of a renewed German people. The paper reveals the importance of ideological ideas even after the outbreak of World War II and tries to situate the Nazi era in a wider context.
Abstracts
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Georg Weissenböck “Blood and Soil” Culture? Agronomic Dissertations at the Hochschule für Bodenkultur in Vienna, 1938–1945 The so far unexplored dissertations at the Hochschule für Bodenkultur, Vienna’s agricultural university, allow insights into agronomic research in Austria in the Nazi era. Besides thematic focuses, this study emphasizes the dissertations’ motives and objectives. Using qualitative content analysis as well as multivariate statistical analysis, the author identifies the dissertations as positions in a discursive field. Three approaches can be identified: production orientation, racial and economic space and basic research. Over the years 1938 to 1945, politicalideological motives increase while unpolitical-scientific reasons decrease. The results show how deeply agronomic research was involved in the Nazi regime.
Melanie Dejnega Between Perpetrators and Victims. National Socialism and Forced Migration in Life Story Narrations of German Evacuees, Refugees and Expellees in Austria This article explores life stories of members of German-speaking minorities in Czechoslovakia and Yugoslavia. Forced to leave their homes, they stayed in Austria after the war. The methodology thereby used is based on the narratologically inspired analysis of oral history interviews, all of which were conducted between 2012 and 2015. Thereby, the author sheds light on what interviewees had to tell about their manifold experiences of political violence more than 65 years after the end of the war. First, the article briefly introduces the political situation and living conditions before, during and after migration. The author then shows that – contrary to narratives established by expellee organizations – their life stories were not exclusively dominated by self-identifications as victims. On the contrary, they also contained narrations of perpetratorship and complicity with National Socialist mass violence.
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Thomas Winkelbauer (Hg.), Haus? Geschichte? Österreich? Ergebnisse einer Enquete über das neue historische Museum in Wien, Wien 2016, 300 Seiten. Nach der Lektüre dieses interessanten Sammelbandes, der die Diskussionsbeiträge einer Enquete über Sinn, Ort, Form, Ausrichtung und Ziele des geplanten, respektive zur Zeit bereits mit großem Engagement entstehenden „Hauses der Geschichte Österreich“ beinhaltet (ich verweise auf das bewusst ausgelassene Genetiv-S im Titel), drängt sich einem als Ergebnis ein Eindruck auf, der, wie ich zugebe, etwas anachronistisch wirken mag: Was für eine Kakophonie in Kakanien! Die Enquete wurde vom Institut für Österreichische Geschichtsforschung initiiert. In der Diskussion ging es generell vor allem darum, ob, warum, wo und in welcher Form Österreich ein solches Ausstellungsgebäude benötigt, das in historisch-aufklärerischer Weise auf die Zeitgeschichte, respektive die neuere Geschichte ausgerichtet ist. Es ist daher durchaus schlüssig, wenn gleich in der einleitenden Passage der Direktor des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung, Thomas Winkelbauer, die verschiedenen Standpunkte zusammenfasst – weniger jedoch die Ergebnisse der Enquete. Letzteres sollte übrigens auch der Innsbrucker Historikerin und Fachdidaktikerin Andrea Brait nicht gelingen, die sich an einem kritischen Fazit des Buches versucht hat (im Abschnitt „Statt einer Zusammenfassung“). Angesichts der 17 völlig unzusammenhängenden Statements und Diskussionsbeiträge, die unterschiedliche Aspekt des Projekts Haus der Geschichte – ausgehend von Positionen der kritischen Linken, der Rechten, der einen oder anderen konkurrierenden Institution oder Generationengruppe – kritisierten, war es schlicht unmöglich, zu einem Fazit zu gelangen. Doch ist die Angelegenheit im Grunde recht einfach: Oliver Rathkolb, eine der profiliertesten und historisch-konzeptuell avanciertesten Persönlichkeiten der österreichischen Geschichtsforschung der letzten drei Dekaden, nützte seine Nähe zum sozialdemokratischen Flügel der in Österreich lange Jahre regierenden rot-schwarzen Koalition und setzte im Jahre 2015 die Gründung der Institution Haus der Geschichte sowie seine Finanzierung durch – eine Gründung, die bereits seit 1945 angedacht, doch immer wieder verschoben worden war. In diesem sollen gemäß dem mittlerweile genehmigten Konzept die – zumeist problematischen – Schlüsselmomente der österreichischen Geschichte seit 1848, vor allem jedoch seit 1918 bis zur Gegenwart für eine breite Öffentlichkeit aufbereitet werden. Dies soll mit allen heute zur Verfügung stehenden Vermittlungsformen geschehen, wie Ausstellungen, Diskussionen, Workshops usw. Zugleich soll eine Debatte über die komplizierten internen und externen Kontexte dieser historischen Schlüsselmomente geführt werden, und zwar auch über die bis heute aktuellen „Orte des historischen Gedächtnisses“. Es soll also weder
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um die Schaffung oder Durchsetzung eines „verbindlichen staatlichen Konzepts“ zur österreichischen Zeitgeschichte, noch um die Durchsetzung einer „neuen historischen Identität“ (welche wäre diese?) der Österreicher und Österreicherinnen von heute gehen, wie einige Diskutanten und Diskutantinnen befürchtet hatten. Österreich wird hier überdies nicht isoliert wahrgenommen – als ein heute nicht sehr großes Staatsgebilde – sondern im Kontext seiner historisch unterschiedlichen Grenzen. Daher wurde auch die Zusammenarbeit mit den Nachbarländern der heutigen Republik gesucht und in die Planung des Gesamtprojektes Haus der Geschichte integriert. Soviel zu den wichtigsten Punkten der Einwände der Kritiker des Hauses der Geschichte, die sich als buntes Durcheinander durch den ganzen Band ziehen. Gegenstand der im Sammelband festgehaltenen Kontroversen ist darüber hinaus die Unterbringung der im Entstehen begriffenen Institution im Südflügel der Neuen Hofburg, also vis / vis von den – nur durch die Ringstraße getrennten – Kunst- und Naturhistorischen Museen. Das protzige, klobige und durchaus unpraktische neobarocke Gebäude dominiert den berühmt-berüchtigten Heldenplatz. Denn dieser ist für das heutige Österreich ein belasteter Ort, auf dem im Jahre 1938 die Österreicher Adolf Hitler begeistert zujubelten, als er vom hoch gelegenen „Hitler-Balkon“ des in den letzten Tagen der Monarchie errichteten Palastes zu ihnen hinunter sprach. Für den einen ist ein solcher historischer Kontext für das Haus der Geschichte a priori ein „no-go“, für Rathkolb hingegen stellt dies eine Herausforderung dar, nicht die Augen vor einer unangenehmen Vergangenheit zu verschließen, sondern sich kritisch (und nicht bloß in oberflächlich negierender Art) mit ihr auseinanderzusetzen: und zwar auf eine historiografische, politische und didaktische Art und Weise. Diese gleich zu Beginn entstehende „geografische Irritation“ würde bei einem Gebäude an der Peripherie fehlen (wobei ohnedies kein Geld für einen Neubau vorhanden ist), wenngleich ein solches, wie einige Kritiker verlangen, zweckmäßig, repräsentativ und von der Geschichte unbefleckt wäre. Rathkolbs Konzept situiert das Haus der Geschichte dagegen direkt in das historische Zentrum Wiens: unübersehbar, provokant und als Aufforderung, sich mit der Zeitgeschichte auseinanderzusetzen, in einer Zeit, in der in Österreich ein dramatisches Defizit auch nur grundlegender Kenntnisse der Zeitgeschichte zu verzeichnen ist, wie übrigens auch in den benachbarten mitteleuropäischen Staaten. Vielleicht wäre es vernünftig gewesen, wenn das Projekt Haus der Geschichte im vorliegenden Sammelband zuerst einmal vorgestellt, und erst dann über die Ergebnisse der (großteils verwirrenden) kritischen Einwände gesprochen worden wäre. Rathkolbs übersichtlicher, informativer und konzeptueller Text „Das Haus der Geschichte Österreich als Katalysator für ein zweites Museumsquartier“ speist sich aus den Materialien des Ausgangskonzepts, wie sie vom internationalen wissenschaftlichen Beirat des Hauses der Geschichte formuliert
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wurden (S. 63–82). Dieser Text wurde jedoch in eine Sektion hineingestellt, die dem „aktuellen Projekt eines Hauses der Geschichte Österreich“ gewidmet ist. Wir finden ihn also erst hinter den beiden sachlichen und grundlegenden Beiträgen von Dirk Rupnow („Braucht Österreich ein historisches Museum? Gescheiterte Projekte und heutige Antworten“) und Manfried Rauchensteiner („Anforderungen, Überforderungen, Herausforderungen. Anmerkungen zu einem Leidensweg“), die darüber berichten, dass das Projekt Haus der Geschichte eine lange Geschichte gescheiterter Vorgängerprojekte hinter sich hat. Die Sektion mit den Texten, die sich auf das aktuelle Projekt beziehen, beinhaltet insgesamt sieben Beiträge. Diese diskutieren und beleuchten die verschiedensten Aspekte des genehmigten Konzepts von unterschiedlichen Seiten und sind überwiegend sachlich, manchmal auch in kritischer Auseinandersetzung gehalten. Auch hier – vorwiegend bezüglich der Unterbringung des Hauses der Geschichte – siegt zuweilen das Temperament der renommierten Historiker über deren bereits unter Beweis gestellte Besonnenheit: So begrüßt zum Beispiel der Doyen der Forschung zum österreichischen Faschismus und Nationalsozialismus, Gerhard Botz, die Gründung des Hauses der Geschichte grundsätzlich, bezeichnet jedoch seine Unterbringung an einem „geschichtssymbolisch massiv aufgeladenen imperialen Ort“ als „Fremdenverkehrskitsch“ (S. 121). Im Sammelband folgt dann der Abschnitt „Fundamentalkritik“ mit Beiträgen, von denen zumindest ein kleiner Teil davon zeugt, dass das Angebot einer Diskussionsplattform gemeinhin auch solche Autoren anlockt, die sich nicht einmal der Mühe unterziehen, sich mit den vorliegenden Materialien zu befassen. Ein Beispiel dafür wäre Michael Hochedlinger, der den Beitrag „Geschichtsvernutzung im Zeitalter von Kulturkapitalismus und Moralismus. Eine Beschwerde“ beisteuerte. Hier spricht er unter anderem davon, dass der „belehrende, bisweilen indoktrinierende Blick zurück in die Vergangenheit – ,Geschichte als Mahnung‘ […] in einer Zeit, der die positive Zukunftshoffnung völlig abhandengekommen scheint, eine moralische ,Ressource‘ ersten Ranges“ darstelle (S. 149). Und er schreibt auch, dass Österreich eine gemeinsame Geschichte vor dem Jahre 1918 mit seinen „östlichen“ Nachbarn teile (S. 163). Der Rezensent, der sich als Nachbar aus dem Norden sieht, muss also gezwungenermaßen konstatieren, dass der „Eiserne Vorhang“ auch heute noch zumindest in den Köpfen einiger Historiker vorhanden ist und auch, dass Indoktrinierung, was die Geschichte anbelangt, sowie Moralisieren das Letzte wäre, was sich in Rathkolbs Text sowie im Konzept zum Haus der Geschichte finden ließe. Den letzten großen Block vor dem Schlusswort aus der Feder von Andrea Brait bildet das Konvolut „Weitere Vorschläge und Überlegungen“. Erwähnenswert ist hier vor allem die Idee, die im Text von Brigitte Mazohl am prägnantesten ausformuliert wurde: Eine Institution, die auf die Geschichte der Gegenwart fokussiert, werde nicht mit der Suche nach ihren Wurzeln im Zeitraum nach der
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Revolution des Jahres 1848 das Auslangen finden, sondern sie müsse tiefer dimensionieren: „Ohne das Österreich Maria Theresias und Metternichs kann auch das Deutschland Hitlers nicht verstanden werden“ (S. 234). Wäre dem so, dann könnte man sich auch fragen, ob man beim Jahr 1740 stehen bleiben sollte, oder ob es nicht besser wäre, bis zur Reformation, ja bis zur Türkenbelagerung von 1529 zurückzugehen, oder gleich zu markanten Ereignissen des Mittelalters? Könnte man dann nicht auch eine Linie ziehen zwischen der Verfolgung und Ermordung der Juden im mittelalterlichen Wien, die ja als Geldgeber den Ausbau der Stadt wesentlich mitfinanziert hatten, und dem Holocaust im 20. Jahrhundert? Wolfgang Maderthaner charakterisiert die Diskussion um das Haus der Geschichte als eine „wunderbare und zutiefst österreichische Debatte“ (S. 213), in der es um alles Mögliche ginge – um persönliche Ambitionen bis hin zu Themen, die verdrängt oder von anderen besetzt worden wären, über historisch belastete Balkons bis hin zu Versuchen, den Zeitpunkt zu bestimmen, wo denn „Geschichte einzusetzen habe“ – niemals jedoch und unter keinen Umständen stünden Inhalte (Narrative und konkrete Themen der Geschichte) zur Diskussion, die das Haus der Geschichte bearbeiten und vermitteln sollte (S. 213). Und dennoch legt der tschechische Leser das Buch mit einem gewissen Gefühl des Neides gegenüber seinen österreichischen Kollegen zur Seite, weil bei diesen zur Zeit eine derart interessante und bedeutungsvolle Institution mit historischpolitischen und kulturellen Inhalten entsteht. Andererseits bleibt eine gewisse Verwunderung darüber, dass seine österreichischen Kollegen über dieses so interessante Thema öffentlich zu streiten vermögen und so die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf sich ziehen, wenngleich die Form der Diskussion einen etwas schmunzeln lässt und zuweilen wenig sachlich ist. Das Haus der Geschichte Österreich wird im Jahr 2018 seinen Betrieb mit einer Ausstellung über die Kontexte der Entstehung der Ersten Republik aufnehmen. Wir haben also allen Grund, uns darauf zu freuen. Jirˇ& Pesˇek (Aus dem Tschechischen von Hanna Vintr)
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Jacob S. Eder/Philipp Gassert/Alan E. Steinweiss, Holocaust Memory in a Globalizing World, Göttingen 2017, 278 Seiten. Der Sammelband ist das Ergebnis interdisziplinärer Zusammenarbeit internationaler ForscherInnen zu drei Anlässen, die auch die drei Blöcke des Bandes ausmachen: Von Norbert Frei organisiert, ging es am Zentrum für die Geschichte des 20. Jahrhunderts 2013 in Jena darum, wie ethnische Minderheiten im ,Westen‘ mit Holocaust-Gedenken umgingen; unter der Leitung von Gilad Margalit in Haifa 2012 um den Umgang mit dem Holocaust in verschiedensten Gruppen innerhalb der israelischen Gesellschaft: bei ultraorthodoxen Israelis, Mizrahi-Autoren der zweiten Generation sowie unter arabischen Israelis. Die dritte Gruppe der Beiträge geht auf das erste Treffen 2011 in Augsburg zurück und behandelt die globale Dimension der Holocaust-Erinnerung, genauer gesagt die Frage, in welche Beziehung zum Holocaust sich Staat bzw. Gesellschaft in China, Indien, Südafrika bringen bzw. wie etwa Afroamerikaner in den USA die Geschichte des „Black Holocaust“ erzählen. Jacob S. Eder beurteilt in der Einleitung die Gleichsetzung des Holocaust mit aktuellen Phänomenen noch ambivalent – etwa als es 1998 galt, KosovoalbanerInnen vor „Serbien“ (S. 18) zu schützen. Doch bereits im nächsten Beitrag wendet sich Arnd Bauerkämpfer deutlich gegen diese Form der De-Historisierung, etwa bei der Gleichsetzung von Antisemitismus mit „Islamophobie“, einem strittigen Begriff, der vor allem dazu diene, den politischen Islam vor Kritik abzuschirmen (41). Es ist erfrischend, mit welcher Offenheit sich die AutorInnen mit dem Thema Antisemitismus in islamisch-migrantischen Communities auseinandersetzen und zugleich unmissverständlich auf eine scharfe Unterscheidung zwischen notwendiger Kritik der islamistischen und antisemitischen Ideologie einerseits und Empathie gegenüber individuellen MigrantInnen andererseits pochen. In einem Artikel über den französischen ,Komiker‘ Dieudonn8 zeichnet Fabien Jobard nach, wie aus einem aus der antirassistischen Szene stammenden Linken nach 2001 ein bereits mehrfach wegen Holocaust-Leugnung und Antisemitismus Verurteilter wurde, der Anti-Imperialismus, falsche Kapitalismuskritik, die Unterstützung palästinensischer Bewegungen und Holocaust-Leugnung und somit scheinbar unterschiedlichste politische Strömungen im ,Neuen Antisemitismus‘ vereinigt. Wenn es um die Frage geht, ob und wenn ja wie sich migrantische Communities mit Zweitem Weltkrieg und Holocaust auseinandersetzen, fehlt bei Eder (S. 23) und Bauerkämpfer jedoch der Hinweis, dass für manche MigrantInnen der Zweite Weltkrieg bereits in der Heimat im Fokus der nationalen Geschichtserzählung stand, diese also nicht zwingend „in zwei verschiedenen Gedenkwelten leben“ (S. 37). Oliver Rathkolb weist dann in Bezug auf die ex-jugoslawischen MigrantInnen auf diesen Punkt hin – ebenso wie auf die Tatsache, dass etwa in Mauthausen rund
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7.000 serbische Häftlinge inhaftiert waren (S. 53) – und trägt damit zu einer differenzierten Betrachtung bei. Im zwar nicht als solchem gekennzeichneten, aber inhaltlich klar erkennbaren zweiten Block beleuchten drei israelische AutorInnen die Heterogenität der israelischen Gesellschaft in Bezug auf den Umgang mit dem Holocaust. Der Vorteil der inner-israelischen Debatten, in die wir hier Einblick erhalten, ist, dass sie frei von der im deutschen Sprachraum so oft anzutreffenden ressentimenthaften Erörterung Israels Kritik üben – etwa an der Dominanz aschkenasischer Holocaust-Erinnerungen. So zeichnet Batya Shimony die Jahrzehnte währende Ausgrenzung von Mizrahi, etwa aus Griechenland, Libyen oder Marokko stammenden Jüdinnen und Juden und ihrer Erinnerung an den Holocaust nach, da sie im Gedenken an die Ermordung der ,europäischen Jüdinnen und Juden‘ nicht inbegriffen gewesen seien, ebenso wie die jüdische Bevölkerung aus Thessaloniki. Sarah Ozacky-Lazar begreift arabische Israelis als Vermittler zwischen der jüdischen Mehrheitsbevölkerung Israels, für deren Identität der Holocaust eine zentrale Rolle spiele, und der arabischen Bevölkerung außerhalb des Landes, wo Holocaust-Leugnung überwiege. Trotz der Hervorhebung beeindruckender Positivbeispiele für eine Aneignung der Bedeutung von ,Auschwitz‘ seitens arabischer Israelis wirkt der Beitrag zu optimistisch, angesichts dessen, dass die Autorin selbst eine Studie aus 2008 zitiert, der zufolge 40 % ebendieser HoffnungsträgerInnen den Holocaust anzweifelten (S. 150). Im dritten Abschnitt wird erörtert, wie so verschiedene Länder wie das undemokratische China, das post-koloniale Indien oder das Post-Apartheid-Südafrika an die universalisierte Holocaust-Erinnerung anknüpfen. Interessanterweise zeigt der Beitrag von Jonathan Goldstein über Holocaust- und jüdische Studien in China einige Übereinstimmungen mit europäischen (post-)sozialistischen Ländern auf: Lange war der Holocaust wie in den Ländern östlich des Eisernen Vorhangs kein Thema, da jüdische Opfer des Zweiten Weltkrieges nicht hervorgehoben wurden. Nach dem Grenzkrieg zwischen China und dem von der Sowjetunion militärisch ausgerüsteten Vietnam 1978/79 verbesserten sich jedoch die chinesischen Beziehungen zu Israel und der Holocaust durfte thematisiert werden. Im Zentrum steht dabei seither die chinesische Rettung der Jüdinnen und Juden, die nach Shanghai flüchteten. Die Rettung werde, so Goldstein, als eine kollektive chinesische Leistung begriffen, nicht als Verdienst einzelner. Die ambivalente Rolle Japans, das zwar einerseits antisemitisch agierte, in China jedoch in chaotischen Zeiten die jüdische Einwanderung bis 1943 nicht stoppte, werde im chinesischen Diskurs dabei ausgeblendet. (240) Ohne dass der Autor die Parallele thematisieren würde, erinnert dieser Fokus auf die Retter der Juden an die aktuellen Entwicklungen in post-sozialistischen Ländern, etwa in Polen, wo den polnischen Rettern in Markowa gerade erst ein großes Museum gewidmet wurde.
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Der Band ist empfehlenswert, weil er dem Umgang mit dem Holocaust auch in unerwarteten Zusammenhängen nachgeht. Ein Beitrag, der aus dem Rahmen fällt, fragt etwa danach, wie die jüdischen Opfer der argentinischen Militärdiktatur bzw. ihre Angehörigen ihre Verfolgung in eine Linie mit der NS-Verfolgung stellten, auch wenn 1976–1983 unter ihnen so unterschiedliche politische GegnerInnen der Militärjunta wie Kommunisten und Liberale waren. Die De-Historisierung des Holocaust wird in diesem Band kritisch unter die Lupe genommen, etwa wenn es bei Clarence Taylor heißt, die Parallelisierung von Holocaust und „Black Holocaust“ würde der Analyse beider Phänomene im Wege stehen, nichts zum Verständnis der 350 Jahre Sklaverei, des Unterschieds zwischen der Sklaverei im Norden und Süden der USA oder deren Ausprägung im 17. und 18. Jahrhundert beitragen. Ljiljana Radonic´
Nachrufe
Manfred Mugrauer
Hans Hautmann (1943–2018), ein Nachruf
Am 3. Juli, wenige Wochen vor seinem 75. Geburtstag, ist Univ.-Prof. Dr. Hans Hautmann, ehemaliger Vorstand des Instituts für Neuere und Zeitgeschichte der Universität Linz, in Wien gestorben. Hans Hautmann wurde am 22. August 1943 in Wien geboren. Nach der Matura am Bundesrealgymnasium Stubenbastei begann er ein Studium der Geschichte und Germanistik an der Universität Wien. 1968 promovierte Hautmann bei Ludwig Jedlicka mit einer Arbeit über die Frühgeschichte der KPÖ, die 1970 gedruckt erschien und 1971 unter dem Titel „Die verlorene Räterepublik“ neu aufgelegt wurde. Er verfasste damit eine der ersten Dissertationen, die sich mit der Geschichte der KPÖ beschäftigten. In der Wahl dieses Themas widerspiegelte sich auch Hautmanns Sozialisation und Prägung im kommunistischen ArbeiterInnenmilieu. Sein Vater Rudolf, ein Simmeringer Autoschlosser, war im April 1945 von der sowjetischen Kommandantur mit dem Aufbau eines „polizeilichen Hilfsdienstes“ beauftragt worden und war damit der erste Polizeipräsident des befreiten Wien. Hautmanns berufliche Tätigkeit als Historiker begann bereits 1966 – als ehrenamtlicher Mitarbeiter des 1963 gegründeten Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstandes, wo er bis 1968 am Aufbau der Bibliothek mitwirkte. Der wissenschaftliche Leiter des DÖW, Herbert Steiner, war es auch, der Hans Hautmann 1969 an den Linzer Universitätsprofessor Karl R. Stadler „vermittelte“, der ihn als Assistent am neu gegründeten Institut für Neuere und Zeitgeschichte der Johannes-Kepler-Universität Linz engagierte und fortan seine wissenschaftliche Karriere begleitete Hans Hautmanns akademische Laufbahn in den 1970er-Jahren fiel mit dem Aufstieg der ArbeiterInnenbewegungsgeschichte in Österreich zusammen. Gleichzeitig mit seiner Lehrtätigkeit an der Universität Linz war er auch am dort angesiedelten Ludwig-Boltzmann-Institut für Geschichte der Arbeiterbewegung aktiv. In der Buchreihe dieses Instituts erschien 1974 sein gemeinsam mit Rudolf Kropf verfasstes Werk „Die österreichische Arbeiterbewegung vom Vormärz bis 1945“, das zu einem Klassiker wurde und bis 1978 drei Auflagen erlebte. Haut-
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mann hat sich nicht nur wissenschaftlich mit der Geschichte der ArbeiterInnenbewegung beschäftigt, sondern sich auch im Rahmen der organisierten ArbeiterInnenbewegung engagiert. Er war Mitglied der Historischen Kommission der KPÖ und einer der Autoren der 1987 erschienenen offiziellen „Parteigeschichte“. 1982 habilitierte sich Hautmann an der Universität Linz zum Universitätsdozenten. Seine Habilitationsschrift über die „Geschichte der Rätebewegung in Österreich 1918–1924“ erschien 1987 im Europa-Verlag und ist bis heute eine der umfassendsten Darstellungen der Rätebewegung außerhalb Russlands überhaupt. 1988 erfolgte die Ernennung zum Assistenzprofessor. In diesem Jahr wurde Hautmann mit dem Victor-Adler-Staatspreis für Geschichte der Arbeiterbewegung ausgezeichnet. 1997 wurde ihm der Titel eines außerordentlichen Universitätsprofessors verliehen. 1996 bis 1998 sowie 2000 bis 2005 war Hautmann Vorstand des Instituts für Neuere Geschichte und Zeitgeschichte der Universität Linz – ein seltenes Beispiel einer akademischen Karriere eines Historikers mit kommunistischem Hintergrund in Österreich. Neben der Geschichte der ArbeiterInnenbewegung waren Hautmanns Forschungsschwerpunkte die die Geschichte des Ersten Weltkriegs, Justizgeschichte, die Theoriegeschichte des Sozialismus sowie ganz allgemein die österreichische Geschichte des 20. Jahrhunderts. Zahlreiche seiner Arbeiten nahmen sich Themen an, die von der österreichischen Geschichtswissenschaft wenig beachtet wurden, wie etwa die Verbrechen der k.u.k. Militärjustiz im Ersten Weltkrieg. Als marxistischer Historiker war Hautmann neben seiner akademischen Laufbahn stets auch im außeruniversitären Bereich aktiv. Von 1998 bis 2007 war er Präsident des Vereins zur Förderung justizgeschichtlicher Forschungen, einer der beiden Gründungsvereine der Zentralen österreichischen Forschungsstelle Nachkriegsjustiz, deren Kuratorium er angehörte. Als 1993 die Alfred Klahr Gesellschaft gegründet wurde, um das Archiv der KPÖ wissenschaftlich zu erschließen, gehörte Hautmann zu den Gründungsmitgliedern und fungierte bis 2005 als ihr. Bis zuletzt hat er wie kein anderer ihr öffentliches Erscheinungsbild geprägt. Zu seinem 70. Geburtstag im Jahr 2013 erschien eine Festschrift mit Beiträgen von FachkollegInnen, MitarbeiterInnen und FreundInnen Hautmanns aus vier Jahrzehnten gemeinsamer Arbeit mit dem Titel „Geschichtsschreibung als herrschaftskritische Aufgabe. Beiträge zur ArbeiterInnenbewegung, Justizgeschichte und österreichischen Geschichte im 20. Jahrhundert“. Die Festschrift enthält auch ein detailliertes Schriftenverzeichnis all seiner Publikationen. Die Geschichtsschreibung der österreichischen ArbeiterInnenbewegung verliert mit Hans Hautmann einen ihren wichtigsten Vertreter.
Oliver Rathkolb
Gerhard Jagschitz (1940–2018), ein persönlicher Nachruf
Mit großer Trauer schreibe ich diesen Nachruf auf einen bedeutenden Zeithistoriker, der nicht nur Wissenschaftler, sondern auch ein engagierter Demokrat und Akteur der Zivilgesellschaft gewesen ist. Jagschitz gehörte der zweiten Generation der Zeithistoriker in Österreich an und begann seine Karriere als Assistent bei Ludwig Jedlicka 1968 mit einer leider nie publizierten, spannenden Dissertation über „Die Jugend des Bundeskanzlers Engelbert Dollfuß“. Sein erstes Buch, mit dem er sich 1978 habilitierte, war dem gescheiterten Putschversuch der Nationalsozialisten 1934 gewidmet. 1985 wurde er Universitätsprofessor für Neuere Geschichte mit besonderer Berücksichtigung der Zeitgeschichte. Zwischen 1994 und 2001 war er überdies ein sehr aktiver Vorstand des Instituts für Zeitgeschichte. Von frühesten Beginn seiner Tätigkeit am Institut für Zeitgeschichte an begann er aber neben seiner umfangreichen und sehr erfolgreichen Lehr- und Forschungstätigkeit eines der bedeutendsten zeitgeschichtlichen Bildarchive in Österreich aufzubauen und engagierte sich intensiv mit Gleichgesinnten an der Institutionalisierung audiovisueller Quellensammlungen. Wichtige Bildbände beispielsweise aus der Sammlung des Starphotographen Lothar Rübelt dokumentieren eindrucksvoll diese Arbeit. Jetzt befinden sich – mit seiner Zustimmung – diese seine Sammlungen im Bildarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek bzw. – was die Tonquellen betrifft – in der Mediathek des Technischen Museums, mit der er ein umfangreichreiches Oral History Projekt in mehrstündigen lebensgeschichtlichen Gesprächen mit über 1.500 Männern und Frauen, Jugendlichen Erwachsenen und Senioren durchgeführt hat. Gerhard Jagschitz war ein wesentlicher Pionier im Bereich der Dokumentation und Verwendung audiovisueller Quellen und hat überdies in seinen theoretischen Arbeiten international Anerkennung gefunden. Gerhard Paul, eine der bedeutendsten Bildtheoretiker der Gegenwart, wies darauf hin, dass Jagschitz als erster im deutschsprachigen Bereich den Begriff „Visual History“ verwendet hat. Jagschitz war ebenso als Ausstellungsgestalter in Niederösterreich erfolgreich
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– u. a. mit Themen wie 1985 auf der Schallaburg „Die wilden 50iger Jahre“ oder mit Stefan Karner gemeinsam 1995 mit „Menschen nach dem Krieg. Schicksale 1945–1955“. Es war Jagschitz ein großes Anliegen, zeitgeschichtliche Themen in gediegener wissenschaftlicher Form einer breiten Öffentlichkeit näher zu bringen. Ich selbst habe bei Jagschitz mein erstes Seminar absolviert, und er hat mich von der mittelalterlichen Geschichte zur Zeitgeschichte weggelockt. Mit Dankbarkeit erinnere ich mich an seine perfekte umfassende Betreuung meiner Dissertation in der Zeit des Interregnums zwischen Jedlicka und Erika Weinzierl. Er war ein engagierter und kompetenter akademischer Lehrer wie zahlreiche andere ehemalige Studenten bestätigen können. Durch seine Gutachten in Neonaziprozessen, die auf umfassenden Quellenforschungen zur Geschichte des Holocaust beruhten, ermöglichte er eine klare Rechtsprechung gegen Neonazis und deren permanente Verleugnung des Holocaust. Jagschitz scheute sich nicht, kritisch in die eigene Familiengeschichte zu blicken und in einem Buch über seinen Großvater Max Ronge, der bis zum Ende der Monarchie Chef des Geheimdienstes der k. u. k. Armee war, gemeinsam mit Verena Moritz und Hannes Leidinger unter dem Titel Im Zentrum der Macht (2007), dessen Tätigkeit zu rekonstruieren: „Mein Großvater“, meinte Gerhard Jagschitz in einem Interview für Die Zeit 2007, „war nach den heute gültigen Regeln ein Massenmörder.“ Ein vergleichbares Statement findet sich selten, aber dokumentiert die strenge wissenschaftliche Prägung des Zeithistorikers Jagschitz. Ebenso streng ging Jagschitz immer wieder mit dem Zustand der politischen Kultur in Österreich und Europa ins Gericht. Er sah die EU primär als Gefahr für die Souveränität Österreichs an, aber kritisierte ebenso den Zustand der Politik in Österreich, wenn er einen „bananenrepublikanischen Hauch“ im Zusammenhang mit dem Eurofighter-Ausschuss konstatierte. Schon als Mittelbauvertreter an der Universität Wien hat er sich erfolgreich für die Basisdemokratie engagiert und blieb in vielen Bereichen zivilgesellschaftlichen Gruppen eng verbunden. Gerhard Jagschitz und seine durchaus scharfen und pointierten Stellungnahmen werden fehlen, seine zeitgeschichtlichen Studien und seine umfangreichen Sammlungen hingegen werden die Erinnerung an ihn und eine kritische österreichische Zeitgeschichte wach halten.
Autor/innen
Melanie Dejnega, Mag. phil. Universität Bielefeld und Ludwig Boltzmann Institut für Geschichte und Gesellschaft in Wien, [email protected] Gesine Gerhard, Prof. Dr. Drake University in Des Moines, Iowa, [email protected] Ernst Langthaler, Univ.-Prof. Dr. Johannes Kepler Universität Linz, [email protected] Ina Markova, Dr. Wien, [email protected] Manfred Mugrauer, Mag. Dr. Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes, manfred.mugrauer @doew.at Jirˇ& Pesˇek, prof. PhDr. Karls-Universität Prag, [email protected] Ljiljana Radonic´, Dr. Österreichische Akademie der Wissenschaften, [email protected] Oliver Rathkolb, Univ.-Prof. DDr. Universität Wien, [email protected] Ulrich Schwarz-Gräber, Mag. Institut für Geschichte des ländlichen Raumes, St. Pölten, ulrich.schwarz@rural history.at
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Gerhard Siegl, Dr. Heidegger, Hilber und Siegl. Die HISTORIKERinnen, Innsbruck, siegl@diehisto riker.at Georg Weissenböck, Mag. Dipl.-Ing. Institut für Geschichte des ländlichen Raumes, St. Pölten, georg.weissenboeck@ ruralhistory.at
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Zitierregeln Bei der Einreichung von Manuskripten, über deren Veröffentlichung im Laufe eines doppelt anonymisierten Peer Review Verfahrens entschieden wird, sind unbedingt die Zitierregeln einzuhalten. Unverbindliche Zusendungen von Manuskripten als word-Datei an: [email protected]
I.
Allgemeines
Abgabe: elektronisch in Microsoft Word DOC oder DOCX. Textlänge: 60.000 Zeichen (inklusive Leerzeichen und Fußnoten), Times New Roman, 12 pt, 1 12-zeilig. Zeichenzahl für Rezensionen 6.000–8.200 Zeichen (inklusive Leerzeichen). Rechtschreibung: Grundsätzlich gilt die Verwendung der neuen Rechtschreibung mit Ausnahme von Zitaten.
II.
Format und Gliederung
Kapitelüberschriften und – falls gewünscht – Unterkapiteltitel deutlich hervorheben mittels Nummerierung. Kapitel mit römischen Ziffern [I. Literatur], Unterkapitel mit arabischen Ziffern [1.1 Dissertationen] nummerieren, maximal bis in die dritte Ebene untergliedern [1.1.1 Philologische Dissertationen]. Keine Interpunktion am Ende der Gliederungstitel. Keine Silbentrennung, linksbündig, Flattersatz, keine Leerzeilen zwischen Absätzen, keine Einrückungen; direkte Zitate, die länger als vier Zeilen sind, in einem eigenen Absatz (ohne Einrückung, mit Gänsefüßchen am Beginn und Ende). Zahlen von null bis zwölf ausschreiben, ab 13 in Ziffern. Tausender mit Interpunktion: 1.000. Wenn runde Zahlen wie zwanzig, hundert oder dreitausend nicht in unmittelbarer Nähe zu anderen Zahlenangaben in einer Textpassage aufscheinen, können diese ausgeschrieben werden. Daten ausschreiben: „1930er“ oder „1960er-Jahre“ statt „30er“ oder „60er Jahre“. Datumsangaben: In den Fußnoten: 4. 3. 2011 [Leerzeichen nach dem Punkt, nicht 04. 03. 2011 oder 4. März 2011]; im Text den Monat ausschreiben [4. März 2011]. Personennamen im Fließtext bei der Erstnennung immer mit Vor- und Nachnamen. Namen von Organisationen im Fließtext: Wenn eindeutig erkennbar ist, dass eine Organisation, Vereinigung o. Ä. vorliegt, können die Anführungszeichen weggelassen werden: „Die Gründung des Öesterreichischen Alpenvereins erfolgte 1862.“ „Als Mitglied im Womens Alpine Club war ihr die Teilnahme gestattet.“ Namen von Zeitungen/Zeitschriften etc. siehe unter „Anführungszeichen“.
446 Anführungszeichen im Fall von Zitaten, Hervorhebungen und bei Erwähnung von Zeitungen/Zeitschriften, Werken und Veranstaltungstiteln im Fließtext immer doppelt: „“ Einfache Anführungszeichen nur im Fall eines Zitats im Zitat: „Er sagte zu mir : ,….‘“ Klammern: Gebrauchen Sie bitte generell runde Klammern, außer in Zitaten für Auslassungen: […] und Anmerkungen: [Anm. d. A.]. Formulieren Sie bitte geschlechtsneutral bzw. geschlechtergerecht. Verwenden Sie im ersteren Fall bei Substantiven das Binnen-I („ZeitzeugInnen“), nicht jedoch in Komposita („Bürgerversammlung“ statt „BürgerInnenversammlung“). Darstellungen und Fotos als eigene Datei im jpg-Format (mind. 300 dpi) einsenden. Bilder werden schwarz-weiß abgedruckt; die Rechte an den abgedruckten Bildern sind vom Autor/von der Autorin einzuholen. Bildunterschriften bitte kenntlich machen: Bild: Spanische Reiter auf der Ringstraße (Quelle: Bildarchiv, ÖNB). Abkürzungen: Bitte Leerzeichen einfügen: vor % oder E/zum Beispiel z. B./unter anderem u. a. Im Text sind möglichst wenige allgemeine Abkürzungen zu verwenden.
III.
Zitation
Generell keine Zitation im Fließtext, auch keine Kurzverweise. Fußnoten immer mit einem Punkt abschließen. Die nachfolgenden Hinweise beziehen sich auf das Erstzitat von Publikationen. Bei weiteren Erwähnungen Kurzzitat. Wird hintereinander aus demselben Werk zitiert bitte den Verweis „Ebd.“ bzw. mit anderer Seitenangabe „Ebd., 12.“ gebrauchen. Kein „Ders./ Dies.“ Zwei Belege in einer Fußnote mit „;“ trennen: Gehmacher, Jugend, 311; Dreidemy, Kanzlerschaft, 29. Bei Übernahme von direkten Zitaten aus der Fachliteratur „Zit. n.“ verwenden. Monografien: Vorname und Nachname, Titel, Ort und Jahr, Seitenangabe [ohne „S.“]. Beispiel Erstzitat: Johanna Gehmacher, Jugend ohne Zukunft. Hitler-Jugend und Bund Deutscher Mädel in Österreich vor 1938, Wien 1994, 311. Beispiel Kurzzitat: Gehmacher, Jugend, 311. Bei mehreren AutorInnen/HerausgeberInnen: Dachs/Gerlich/Müller (Hg.), Politiker, 14. Reihentitel: Claudia Hoerschelmann, Exilland Schweiz. Lebensbedingungen und Schicksale österreichischer Flüchtlinge 1938 bis 1945 (Veröffentlichungen des LudwigBoltzmann-Institutes für Geschichte und Gesellschaft 27), Innsbruck/Wien [bei mehreren Ortsangaben Schrägstrich ohne Leerzeichen] 1997, 45. Dissertation: Thomas Angerer, Frankreich und die Österreichfrage. Historische Grundlagen und Leitlinien 1945–1955, phil. Diss., Universität Wien 1996, 18–21 [keine ff. und f. für Seitenangaben, von–bis mit Gedankenstrich ohne Leerzeichen]. Diplomarbeit: Lucile Dreidemy, Die Kanzlerschaft Engelbert Dollfuß’ 1932–1934, Dipl. Arb., Universit8 de Strasbourg 2007, 29.
447 Ohne AutorIn, nur HerausgeberIn: Beiträge zur Geschichte und Vorgeschichte der Julirevolte, hg. im Selbstverlag des Bundeskommissariates für Heimatdienst, Wien 1934, 13. Unveröffentlichtes Manuskript: Günter Bischof, Lost Momentum. The Militarization of the Cold War and the Demise of Austrian Treaty Negotiations, 1950–1952 (unveröffentlichtes Manuskript), 54–55. Kopie im Besitz des Verfassers. Quellenbände: Foreign Relations of the United States, 1941, vol. II, hg. v. United States Department of States, Washington 1958. [nach Erstzitation mit der gängigen Abkürzung: FRUS fortfahren]. Sammelwerke: Herbert Dachs/Peter Gerlich/Wolfgang C. Müller (Hg.), Die Politiker. Karrieren und Wirken bedeutender Repräsentanten der Zweiten Republik, Wien 1995. Beitrag in Sammelwerken: Michael Gehler, Die österreichische Außenpolitik unter der Alleinregierung Josef Klaus 1966–1970, in: Robert Kriechbaumer/Franz Schausberger/ Hubert Weinberger (Hg.), Die Transformation der österreichischen Gesellschaft und die Alleinregierung Klaus (Veröffentlichung der Dr.-Wilfried Haslauer-Bibliothek, Forschungsinstitut für politisch-historische Studien 1), Salzburg 1995, 251–271, 255–257. [bei Beiträgen grundsätzlich immer die Gesamtseitenangabe zuerst, dann die spezifisch zitierten Seiten]. Beiträge in Zeitschriften: Florian Weiß, Die schwierige Balance. Österreich und die Anfänge der westeuropäischen Integration 1947–1957, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 42 (1994) 1, 71–94. [Zeitschrift Jahrgang/Bandangabe ohne Beistrichtrennung und die Angabe der Heftnummer oder der Folge hinter die Klammer ohne Komma]. Presseartikel: Titel des Artikels, Zeitung, Datum, Seite. Der Ständestaat in Diskussion, Wiener Zeitung, 5. 9. 1946, 2. Archivalien: Bericht der Österr. Delegation bei der Hohen Behörde der EGKS, Zl. 2/pol/57, Fritz Kolb an Leopold Figl, 19. 2. 1957. Österreichisches Staatsarchiv (ÖStA), Archiv der Republik (AdR), Bundeskanzleramt (BKA)/AA, II-pol, International 2 c, Zl. 217.301-pol/ 57 (GZl. 215.155-pol/57); Major General Coleman an Kirkpatrick, 27. 6. 1953. The National Archives (TNA), Public Record Office (PRO), Foreign Office (FO) 371/103845, CS 1016/205 [prinzipiell zuerst das Dokument mit möglichst genauer Bezeichnung, dann das Archiv, mit Unterarchiven, -verzeichnissen und Beständen; bei weiterer Nennung der Archive bzw. Unterarchive können die Abkürzungen verwendet werden]. Internetquellen: Autor so vorhanden, Titel des Beitrags, Institution, URL: (abgerufen Datum). Bitte mit rechter Maustaste den Hyperlink entfernen, so dass der Link nicht mehr blau unterstrichen ist. Yehuda Bauer, How vast was the crime, Yad Vashem, URL: http://www1.yadvashem.org/ yv/en/holocaust/about/index.asp (abgerufen 28. 2. 2011). Film: Vorname und Nachname des Regisseurs, Vollständiger Titel, Format [z. B. 8 mm, VHS, DVD], Spieldauer [Film ohne Extras in Minuten], Produktionsort/-land Jahr, Zeit [Minutenangabe der zitierten Passage]. Luis BuÇuel, Belle de jour, DVD, 96 min., Barcelona 2001, 26:00–26:10 min.
448 Interview: InterviewpartnerIn, InterviewerIn, Datum des Interviews, Provenienz der Aufzeichnung. Interview mit Paul Broda, geführt von Maria Wirth, 26. 10. 2014, Aufnahme bei der Autorin. Die englischsprachigen Zitierregeln sind online verfügbar unter : https://www.verein-zeit geschichte.univie.ac.at/fileadmin/user_upload/p_verein_zeitgeschichte/zg_Zitierregeln_ engl_2018.pdf Es können nur jene eingesandten Aufsätze Berücksichtigung finden, die sich an die Zitierregeln halten!